Thomas Kurtz · Michaela Pfadenhauer (Hrsg.) Soziologie der Kompetenz
Wissen, Kommunikation und Gesellschaft Schriften...
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Thomas Kurtz · Michaela Pfadenhauer (Hrsg.) Soziologie der Kompetenz
Wissen, Kommunikation und Gesellschaft Schriften zur Wissenssoziologie Herausgegeben von Hans-Georg Soeffner Ronald Hitzler Hubert Knoblauch Jo Reichertz
Wissenssoziologinnen und Wissenssoziologen haben sich schon immer mit der Beziehung zwischen Gesellschaft(en), dem in diesen verwendeten Wissen, seiner Verteilung und der Kommunikation (über) dieses Wissens befasst. Damit ist auch die kommunikative Konstruktion von wissenschaftlichem Wissen Gegenstand wissenssoziologischer Reflexion. Das Projekt der Wissenssoziologie besteht in der Abklärung des Wissens durch exemplarische Re- und Dekonstruktionen gesellschaftlicher Wirklichkeitskonstruktionen. Die daraus resultierende Programmatik fungiert als Rahmen-Idee der Reihe. In dieser sollen die verschiedenen Strömungen wissenssoziologischer Reflexion zu Wort kommen: Konzeptionelle Überlegungen stehen neben exemplarischen Fallstudien und historische Rekonstruktionen stehen neben zeitdiagnostischen Analysen.
Thomas Kurtz Michaela Pfadenhauer (Hrsg.)
Soziologie der Kompetenz
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16222-5
Inhalt
Der Kompetenzbegriff in der Soziologie ........................................................... 7 Thomas Kurtz 1
Zumutung
Kompetenz-Bildung: Programm und Zumutung individualisierter Bildungspraxis. Über Möglichkeiten einer erweiterten Bildungssoziologie .............................. 29 Reiner Keller Kompetente Subjekte: Kompetenz als Bildungs- und Regierungsdispositiv im Postfordismus ............................................................................. 49 Boris Traue Kompetenz – Eine neue Rationalität sozialer Differenzierung? ....................... 69 Inga Truschkat Zivilisierungstheorie als Kompetenztheorie: Elias, Foucault und Goffman ........................................................................................................... 85 Herbert Willems 2
Implementation
Begriffskonjunkturen und der Wandel vom Qualifikations- zum Kompetenzjargon ........................................................................................... 107 Bernd Dewe Von Bildung zu Kompetenz. Semantische Verschiebungen in den Selbstbeschreibungen des Erziehungssystems ............................................... 119 Achim Brosziewski
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Inhalt
„Schülerkompetenzen“ im Nadelöhr kollektiver Kompetenzen. Ein Versuch der Erneuerung des Governanceregimes der Schule ................. 135 Thomas Brüsemeier 3
Orientierung
Kompetenz als Qualität sozialen Handelns .................................................... 149 Michaela Pfadenhauer Wissen, Handeln, Können. Über Kompetenzen, Expertise und epistemische Regime .............................. 173 Rainer Schützeichel Kompetenz und kompetentes Handeln als Gestaltung der Biografie und des Lebenslaufs ....................................................................................... 191 Matthias Vonken Kompetente Organisation oder wie man das Leben von 007 rettet ................ 209 Thomas Klatetzki 4
Realisierung
Von der Kompetenz zur Performanz. Wissenssoziologische Aspekte der Kompetenz ............................................. 237 Hubert Knoblauch Wann kommuniziert man kompetent? ........................................................... 257 Jo Reichertz Ächtung des Selbstlobs und Probleme der Kompetenzdarstellung ................ 275 Stefan Kühl
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ....................................................... 293
Der Kompetenzbegriff in der Soziologie Thomas Kurtz
1.
Einleitung
Man kann darüber streiten, ob mit dem Begrif der Kompetenz wirklich neue Sachverhalte angesprochen werden oder ob es sich dabei lediglich um ein Modewort handelt, welches sich in den unterschiedlichsten Kontexten der Gesellschaft festsetzt. Aber die zu beobachtende Konjunktur und geradezu Inflationierung des Kompetenzbegriffs hat etwa die Erwachsenenbildungsforscher John Erpenbeck und Volker Heyse vor 10 Jahren dazu veranlasst, den unzähligen vorhandenen Gesellschaftsbegriffen mit der so genannten Kompetenzgesellschaft (Erpenbeck/Heyse 1999: 30) einen neuen hinzuzufügen. Insofern wäre zu testen, inwieweit wir es hier mit einer weiteren Selbstbeschreibungsformel der Gesellschaft zu tun haben, was die Beschäftigung der Soziologie mit dem Kompetenzthema geradezu zwingend erscheinen lässt. Merkwürdigerweise ist die Stimme der Soziologie hier aber nur vereinzelt zu vernehmen, so dass wir mit unserem Sammelband zur Soziologie der Kompetenz in gewisser Weise soziologisches Neuland betreten. Als eigenständiges Thema ist Kompetenz in der Soziologie bisher nicht, jedenfalls nicht auffällig in Erscheinung getreten. Das Kompetenzthema ist in der Soziologie und in ihren Teildisziplinen immer ein untergeordnetes Thema unter größeren und die Disziplin bestimmenderen Themen gewesen – wie insbesondere denen der Organisation, der Kommunikation, dem Wissen aber natürlich auch denen der sozialen Ungleichheit oder der Bildung. Und obschon die Soziologie unter diesen Schwerpunkten auch wichtige Beiträge zum Kompetenzthema geliefert hat, wird wohl niemand auf die Idee kommen wollen, die Soziologie als die Disziplin zur Erforschung von Kompetenzen in der modernen Gesellschaft und schon gar nicht für die Frage der Form des Erwerbs solcher Kompetenzen zu bestimmen, wenngleich man für letzteres an die Untersuchungen zur Form des Erwerbs kultureller Kompetenzen bei Pierre Bourdieu (1982) denken mag. Andere Disziplinen wie etwa die Psychologie oder die Pädagogik und disziplinübergreifend die Empirische Bildungsforschung, in der der Kompetenzbegriff seit einigen Jahren ins Zentrum vieler Untersuchungen gestellt wird, sind da zuerst einmal näher an der Thematik dran, was insbesondere damit zu-
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sammenhängt, dass der Kompetenzbegriff im Gegensatz zum Qualifikationsbegriff sehr stark personengebunden verwendet wird, während es in der Soziologie bekanntermaßen eher um das Soziale geht – seien das nun die Gesellschaft und ihre Teilbereiche, Organisationen oder Interaktionen. Andererseits – und da kommt jetzt die Soziologie wieder ins Spiel – sind natürlich Kompetenzen nutzlos, wenn sie im Individuum versteckt bleiben und von anderen in der Kommunikation nicht wahrgenommen werden können bzw. dort keinen Einfluss ausüben. Insofern verweist eine soziologische Analyse von Kompetenz über Fähigkeiten bzw. Befähigungen von Personen hinausgehend immer auch auf den sozialen Aspekt. Soziologisch gesehen sind Kompetenzen also eher sozial zugeschriebene Qualitäten, die sich über vielgestaltige Kommunikationen und Interaktionen manifestieren bzw. als sich manifestierend dem Subjekt attestiert werden. Wenn man die soziologische Literatur überblickt, dann kann man insbesondere drei grundlegende Herangehensweisen an das Kompetenzthema unterscheiden, die ich in diesem einführenden Beitrag zur Bedeutung des Kompetenzbegriffs in der Soziologie kurz ansprechen werde: als Bestimmung der Form Organisation, als kommunikative Kompetenz und als Form des Umgangs mit Wissen bzw. Nichtwissen.1 2.
Zuständigkeit in Staat und Organisation
Schon in der Phase der Begründung der Soziologie als autonome Wissenschaft hat Max Weber einen Kompetenzbegriff geprägt, der sich von dem aktuellen auf subjektive Fähigkeiten und Befähigungen zielenden Begriff deutlich unterscheidet.2 Weber verwendet den Kompetenzbegriff insbesondere in seiner Herr-
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Natürlich kann damit nicht Vollständigkeit beansprucht werden – weitere Aspekte werden ausführlich in den einzelnen Beiträgen des Sammelbandes thematisiert. Aber mit diesen drei klassischen Bereichen sollen zuerst einmal die Bereiche angesprochen werden, bei denen die Soziologie nicht nur mitarbeitet, sondern Grundlagen beigesteuert hat. So beteiligt sich die Soziologie zwar auch an der (empirischen) Bildungsforschung und damit an der Analyse von Kompetenzen in Bildungs-, Ausbildungs- und Weiterbildungsprozessen, wobei allerdings dort oftmals das Eigenständige der Soziologie als soziologische gegenüber der pädagogischen Bildungsforschung nicht mehr sichtbar ist; siehe dazu auch den Beitrag von Reiner Keller in diesem Band sowie Kurtz 2007a. Allerdings sei hier darauf verwiesen, dass dieser auf personale Fahigkeiten zielende Kompetenzbegriff zwar mit der im Juni 1999 in Bologna beschlossenen Schaffung eines Europäischen Hochschulraumes und der im März 2000 beschlossenen Schaffung des Europäischen Forschungsraumes in Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit zunehmend an Bedeutung gewonnen hat, dass dabei aber zugleich der nicht unbegründete Eindruck aufkommt, dass die damit angestrengten Reformen von Bildung und Forschung im Wesentlichen auf eine Ökonomisierung des Wissens abzuzielen scheinen (siehe Mein 2004; Liessmann 2006) oder im
Der Kompetenzbegriff in der Soziologie
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schaftssoziologie zur Bestimmung des modernen Staates, des Beamtentums und der bürokratischen Organisationsform. Kompetenz fungiert bei Weber gleichsam als eine Grundkategorie rationaler Herrschaft und wird ähnlich wie im juristischen Kontext oder aber auch der politischen Theorie mit Zuständigkeit gleichgesetzt – man denke dabei etwa an Gesetzgebungskompetenz, Verwaltungskompetenz oder Richtlinienkompetenz. Diese Verwendung des Kompetenzbegriffs bei Max Weber braucht nun nicht weiter zu überraschen, und das nicht nur, weil Weber zuerst einmal zum Juristen ausgebildet wurde und dann erst über die Nationalökonomie die Soziologie mitbegründet hat. Dieser Gebrauch ist vor allem deshalb nicht überraschend, weil Weber hiermit nur der Deutung seiner Zeit folgt – während nämlich der Kompetenzbegriff zu Beginn im 16. Jahrhundert noch so etwas wie das „Recht auf Einkünfte“ bezeichnete, setzte sich dann im 19. Jahrhundert weitgehend die juristische Deutung der Kompetenz als Zuständigkeit durch.3 Weber definiert in seiner großen aus dem Nachlass herausgegebenen Studie Wirtschaft und Gesellschaft Kompetenz bzw. Zuständigkeit als „einen kraft Leistungsverteilung sachlich abgegrenzten Bereich von Leistungspflichten“ (Weber 1985/1922: 125), dem dafür erforderliche Befehlsgewalten inklusive der Anwendung der eventuell zulässigen Zwangsmittel zugeordnet sind, und versucht auf dieser Grundlage den modernen Staat, das Beamtentum und die bürokratische Organisation zu bestimmen. So entfaltet nicht nur die moderne Regierung ihre Tätigkeit kraft legitimer Kompetenz (siehe Weber 1985/1922: 389), sondern Weber definiert den modernen Staat ganz allgemein als eine nach Kompetenzen gegliederte Staatsanstalt (siehe Weber 1985/1922: 393f.), in welcher Beamte aufgrund einer generell geregelten Qualifikation bestimmte Zuständigkeiten ausüben, wobei sich ihre Befehlsgewalt immer ganz konkret danach richtet, ob sie dafür eine spezielle – durch eine Regel festgestellte – Kompetenz vorweisen können, also zuständig sind.4 Die Legitimation über Kompetenzen ersetzt dabei die Legitimation über Herkunft und wird von Weber im Unterschied zu früheren Gesellschaftsformationen gleichsam als das Merkmal der modernen Gesellschaft bestimmt. Weber erkennt die Kompetenzgrundlage am nachhaltigsten in der bürokratischen Organisation als einer der Formen legitimer Herrschaft – und das umfasst sowohl die (Verwaltungs-) Behörde als auch den (Wirtschafts-) Betrieb. Damit kann er
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Sinne von Münch (2009): als Übergang vom Fachwissen zu verwertbaren Grundkompetenzen. Siehe genauer zur Herkunft des Kompetenzbegriffs den Beitrag von Hubert Knoblauch in diesem Band. Siehe Weber 1985/1922: 580f. Richard Münch (1984: 452) beschreibt dies als Kompetenzordnung. Für ein Plädoyer zur Wiederaufnahme des Zuständigkeitsaspekts in den Kompetenzbegriff vgl. den Beitrag von Michaela Pfadenhauer in diesem Band.
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dann auch die Struktur der Bürokratie entlang seiner allgemeinen Definition des Kompetenzbegriffs bestimmen: In bürokratischen Organisationen finden wir nämlich eine „feste Verteilung der (…) erforderlichen, regelmäßigen Tätigkeiten als amtliche Pflichten“ (Weber 1985/1922: 551); jedes Organisationsmitglied hat feste Zuständigkeiten – also Kompetenzen und Entscheidungsbefugnisse – und die zur Erfüllung dieser Pflichten notwendige Befehlsgewalt: also bestimmte Weisungsbefugnisse.5 Max Webers Kompetenzbegriff unterscheidet sich damit grundlegend von dem in der neueren Bildungsforschung gebräuchlichen Begriff, da er in seiner Bürokratietheorie keine personenbezogene, sondern sozusagen eine organisationsbezogene Form von Kompetenz beschreibt. Die Kompetenzen, die Weber in den bürokratischen Organisationen beobachtet, sind nämlich „nicht individuell und im Einzelfall auf die persönlichen Eigenschaften der Mitglieder hin konzipiert, sondern durch Regeln (…) personenunabhängig und generell festgelegt“ (Kieser 1995: 40). Ob wir solche Organisationen heute überhaupt noch in der Gesellschaft vorfinden, ist nicht die Frage, wichtig an dieser Stelle ist zunächst einmal nur, dass Weber mit dieser Bestimmung von Kompetenz gleichsam eine radikal soziologische Position eingenommen hat, die nicht von der Person, sondern vom sozialen System ausgeht – eine Position, die sich gleichsam bis in die Organisationstheorie von Niklas Luhmann weiterverfolgen lässt, wenngleich dieser – wie überhaupt die neuere Organisationsforschung ganz generell – nicht mehr von vorgegebenen Zuweisungen ausgeht, die mit Sachkompetenz identisch sind, sondern ausdrücklich die fachlichen Kompetenzen von den hierarchischen Kompetenzen unterscheidet: Während mit den fachlichen Kompetenzen sozusagen über die im Bildungssystem ausgebildeten Personen die Umwelt in das Organisationssystem hineinkopiert wird, werden die hierarchischen Kompetenzen – also die Zuweisungen zu festen Positionen – erst intern konstruiert.6
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Interessanterweise ist die Zuständigkeitsmetapher nun weniger in der Organisationsforschung als vielmehr in der Professionsforschung weitergeschrieben worden (siehe zum Verhältnis von Organisation und Profession allgemein Kurtz 2006a). So geht etwa Andrew Abbott (1988) in seiner Theorie der Professionen davon aus, dass die Zuständigkeit (‚jurisdiction‘) der einzelnen Professionen für bestimmte Aufgabengebiete durch das jeweils relevante professionelle Wissen und die Fähigkeiten zur Lösung bestimmter Probleme legitimiert wird. Siehe Luhmann 2000: 312ff. Damit kombiniert Luhmann in bezug auf Organisationen die beiden Bedeutungen des Kompetenzbegriffes, wenn er schreibt, dass der Begriff der Kompetenz „im fachlichen wie im hierarchischen Sinne zwei ganz verschiedene Funktionen erfüllt (…). Zum einen geht es um ein Können, um unterstellte kognitive und motivationale Fähigkeiten, die durch die Person des Stelleninhabers mehr oder weniger gut realisiert werden. Dazu zählt auch die in den oberen Bereichen der Hierarchie stärker geforderte Fähigkeit, bei unzureichender Information und bei mangelndem fachlichen Wissen trotzdem entscheiden zu können. Außerdem hat die Kompetenz im sozialen System der Kommunikation aber auch die Funktion einer Adresse. Sie kommt nicht zum Zuge, wenn niemand von ihr weiß; oder wenn man erst lange suchen muss und dabei laufend entmutigt wird; und sie kommt nur sehr be-
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Dabei interessiert sich Luhmann in Organisation und Entscheidung dann insbesondere dafür, welche Auswirkungen eine unterschiedliche Kompetenzverteilung auf den Entscheidungsprozess in Organisationen hat (Luhmann 2000). 3.
Kommunikative Kompetenz
Neben der Form Organisation wird der Kompetenzbegriff in der Soziologie noch auf einer weiteren Ebene sozialer Systeme thematisiert – nämlich als so genannte kommunikative Kompetenz in Interaktionen; ein Begriff, für den zuerst einmal der Name des Soziologen und Philosophen Jürgen Habermas steht, der den Kompetenzbegriff von Noam Chomsky (1981) in den sozialwissenschaftlichen Diskurs eingebracht und um die sozialen Regeln der Kommunikation ergänzt hat. In seiner 1981 veröffentlichten Theorie des kommunikativen Handelns hat Habermas ausführlich unter Bezugnahme auf sprachtheoretische Erkenntnisse aufgezeigt, wie Menschen in ihrer kommunikativen Alltagspraxis Gebrauch von Sprache machen und geht dabei davon aus, dass dieses Handeln in den teleologischen bzw. strategischen, den normregulierten und den dramaturgischen Formen zumindest in Ansätzen, aber insbesondere im kommunikativen Handeln explizit verständigungsorientiert geschieht (Habermas 1981). Wenn nämlich Menschen kommunizieren – so die Überlegung von Habermas – so gehen sie immer von bestimmten Vorstellungen aus, denen so etwas wie eine kommunikative Vernunft inhärent ist. Und genau an dieser Stelle kommt bei Habermas die kommunikative Kompetenz ins Spiel (siehe Habermas 1971). Sie ist geradezu die grundlegende Schlüsselkompetenz des Menschen, um in Gemeinschaft zu leben und damit die Basis der sozialen Ordnung einer Gesellschaft. Denn mit der kommunikativen Kompetenz – deren Erwerb bereits in der frühen Kindheit beginnt – ist nicht nur die Fähigkeit gemeint, grammatisch richtige Sätze zu produzieren, sondern sie umfasst darüber hinaus auch noch die Fähigkeit, sich in der Interaktion auf die Welt um uns herum zu beziehen. Die kommunikative Kompetenz meint also nicht weniger als die Beherrschung der universalen Regeln, die jeder menschlichen Verständigung zugrunde liegen, wobei diese Regeln im Prozess des Erlernens von Sprache immer zugleich auch schon miterworben werden. Neben Habermas hat sich insbesondere auch der in der Tradition der Chicago School of Sociology stehende amerikanische Soziologe Erving Goffman mit den notwendigen Kompetenzen in der Kommunikation unter Anwesenden
schränkt zum Zuge, wenn es reiner Zufall ist, dass die Kommunikation eine Kompetenz bemerkt“ (Luhmann 2000: 320f.).
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beschäftigt. Während Habermas mit seiner Theorie des kommunikativen Handelns zugleich auch in der Nachfolge von Adorno und Horkheimer die kritische Theorie der Gesellschaft fortschreiben will, ist Goffman eher der Soziologe der kleinen Formen. Ihm geht es nicht um die großen sozialen Gebilde wie Gesellschaften, gesellschaftliche Teilsysteme und Organisationen. Er beschränkt sich als qualitativ forschender empirischer Soziologe schon aus Gründen der Machbarkeit auf die kleinen Welten und Ereignisse (Hettlage 2003), wenn er die alltäglichen Interaktionen und Begegnungen etwa in Nachtclubs und auf Parties, bei Telefongesprächen, in Tankstellen und Kasinos, in der Interaktion zwischen Arzt und Patienten und natürlich auch in den Begegnungen am Arbeitsplatz untersucht. Wenn das Grundthema der Soziologie die Beantwortung der Frage ist, wie soziale Ordnung möglich sei? – womit insbesondere die Ordnung der Gesellschaft gemeint ist – dann geht es Goffman mehr um die Erforschung der sozialen Ordnung von Interaktionen, oder anders: um die von ihm so benannte Interaktionsordnung (interaction order) (Goffman 1983). Goffman geht dabei im Wesentlichen davon aus, dass die Interaktion eine unsichere Struktur hat und dass man demzufolge gewisse (soziale) Kompetenzen haben muss, um in ihr zu bestehen.7 Die grundlegende Kompetenz bezeichnet er allgemein als Interaktionskompetenz, mit der so etwas wie das „‚Gespür‘ (Augenmaß, Fingerspitzengefühl) für objektiv limitierte und sanktionierte Spielräume“ (Willems 1997: 71) gemeint ist. Daneben beschäftigt er sich etwa mit den Kompetenzen der Informationskontrolle, macht darauf aufmerksam, dass die „Handlungskompetenz, die man für eine wahre Darstellung braucht“, im Wesentlichen „die gleiche (ist), die auch zur Täuschung verwendet wird“ (Willems 1997: 103) und legt schließlich in seinen Untersuchungen großen Wert auf die Entschlüsselung der Form strategischer Interaktion und den dafür notwendigen grundlegenden Basiskompetenzen strategisch agierender Akteure.8
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Aber nicht nur das; man kann natürlich auch die Interaktionssituation nutzen, um Kompetenz zu präsentieren, so dass etwa Michaela Pfadenhauer (2003: 115ff.) den Professionellen als Kompetenzdarsteller beschreiben kann. Um Erfolg in der Interaktion zu haben, müssen diese etwa „alle möglichen Handlungsweisen und ihre Folgen (…) überdenken, und zwar aus dem Blickwinkel aller beteiligten Parteien; die Gewohnheit, alle persönlichen Gefühle und alle Impulsivität bei der Analyse der Situation und der Durchführung eines Handlungsplans beiseite zu setzen; die Fähigkeit, unter Druck zu denken und zu handeln, ohne nervös zu werden oder sich etwas anmerken zu lassen; die Fähigkeit, auf momentane Demonstrationen von Scharfsinn und Charakter zugunsten langfristiger Interessen zu verzichten; und natürlich die Fähigkeit und Bereitschaft, in jeder Hinsicht zu täuschen, auch bezüglich der eigenen Fähigkeiten als Spieler“ (Goffman 1981: 86).
Der Kompetenzbegriff in der Soziologie
4.
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Wissen und Nichtwissen in der Wissensgesellschaft
Damit komme ich zum dritten Schwerpunkt, den ich für das Kompetenzthema in der Soziologie sehe und meine damit, kurz gesagt, das besondere Problem des Umgangs, oder genauer: des kompetenten Umgangs mit Wissen, aber auch mit Nichtwissen in der Wissensgesellschaft. Ich habe hier jetzt nicht den Raum, genauer auf den Begriff der Wissensgesellschaft einzugehen – auf einen Begriff, der insbesondere in der Politik und in den Medien komplexitätsreduzierend zumeist doch nur als Schlagwort verwendet wird. Gleichwohl möchte ich mit einem wichtigen – aber immer noch zu wenig beachteten – Vordenker der Theorie der Wissensgesellschaft beginnen, und zwar mit dem amerikanischen Soziologen Talcott Parsons (siehe auch Stichweh 1998). Für die Soziologie ist Parsons natürlich zuerst einmal deshalb von besonderer Bedeutung gewesen, weil er es war, der seit dem Ende der 1930er Jahre aufbauend auf einer Synthese des klassischen soziologischen Wissens erstmals eine eigenständige soziologische Theorie begründet hat (siehe Parsons 1968/1937), von der sich dann für lange Zeit alle nachfolgenden Theorien abzusetzen bemühen mussten. Aber auch zum Kompetenzthema hat Parsons schon Grundlegendes beigesteuert. Parsons hat in mehreren Büchern und am deutlichsten in der 1973 zusammen mit Gerald M. Platt veröffentlichten Studie The American University darauf verwiesen, dass es neben der industriellen und der demokratischen Revolution insbesondere die Revolution des Bildungswesens gewesen ist – deren Höhepunkt er übrigens in der modernen (amerikanischen) Universität erblickt – die zur Transformation der Gesamtstruktur der modernen Gesellschaft beigetragen hat, und dies über die Entwicklung und Anwendung akademischen Wissens (siehe Parsons/Platt 1990/1973). Die Theorie der Universität und des Wissenssystems der Gesellschaft sind bei Parsons konsequent im Rahmen des so genannten allgemeinen Handlungssystems geschrieben, in dem er hervorhebt, dass soziale Systeme immer in einem bestimmten Austauschverhältnis mit anderen nichtsozialen Systemen stehen: die Schulklasse etwa mit den Persönlichkeitssystemen der Teilnehmer und dem kulturellen System der Bildungsideen, Lehrmethoden und Wissensvorräte (siehe Parsons 1959). Die Universität ist in diesem Sinne für Parsons ein durch rationales Handeln charakterisiertes soziales System, welches über Wissen bzw. Wissenschaft mit dem kulturellen System, über das Medium Intelligenz mit den Verhaltenssystemen und über kognitives Lernen und Kompetenz mit Persönlichkeitssystemen verknüpft ist, und zusammenfassend die Funktion der treuhänderischen Verwaltung kognitiver Rationalität ausübt. Und in gewisser Weise ist eine Soziologie der Universität – wie sie hier von Parsons und Platt mit diesen Verbindungslinien vorgelegt wurde – dann auch mehr als eine Soziologie des Sozialsystems Wissenschaft. Die Universität ist dabei der zentrale Punkt, von dem aus neben der Wissenschaft auch Fragen
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der akademischen Berufe, der Erziehung und Sozialisation sowie solche, die die Persönlichkeit betreffen, beantwortet werden können. Als Kompetenz bezeichnen Parsons und Platt dann ganz konkret „die Fähigkeit der individuellen Persönlichkeit, Ziele durch Wahlentscheidungen zu erreichen, bei denen gültiges und signifikantes Wissen eine zunehmende Rolle spielt“ (Parsons/Platt 1990/1973: 97), wobei sich der kompetente Umgang mit dem Wissen auch in den Formen seiner Anwendung in sozialen Systemen zeigt – Goffman würde dies als strategische Interaktion beschreiben. Und wenn man sich die vor über 30 Jahren veröffentlichte Studie zur amerikanischen Universität näher ansieht, dann findet man hier mehrere Stellen, die umstandslos auch in neueren Arbeiten zu Wissensberufen bzw. zur Wissensgesellschaft stehen könnten. Exemplarisch sei dazu nur angeführt, wie die Autoren die Form des kompetenten Umgangs mit Wissensangeboten bestimmen, wenn sie schreiben: „Es geht nicht so sehr um das, was man bereits weiß, sondern darum, wie kompetent man ist, das in Erfahrung zu bringen, was man wissen muß, und sich ständig zu informieren“ (Parsons/Platt 1990/1973: 302). Es wird nicht übertrieben sein zu behaupten, dass genau damit eine der wesentlichen Schlüsselkompetenzen für den modernen Menschen angesprochen ist. Neben der Frage aber, wie kompetent jemand ist, das richtige Wissen zur Lösung bestimmter Probleme auszuwählen und anzuwenden, gibt es in der neueren wissenssoziologischen Debatte noch einen weiteren Punkt zum Verhältnis von Wissen und Handeln. Was immer man von der Beschreibung der Gesellschaft als Wissensgesellschaft halten mag, von einer Gesellschaftsbeschreibung also, die sich sozusagen ähnlich wie die der Risikogesellschaft oder der Organisationsgesellschaft auf einen Begriff reduzieren lässt und damit zeigt, was für sie das herausragende Merkmal zur Bestimmung der modernen Gesellschaft ist, so macht sie doch auf ein grundlegendes Problem des Handelns in der modernen Gesellschaft aufmerksam. Wer nämlich vom Handeln spricht, muss zugleich immer auch dessen andere Seite – das Wissen – mitthematisieren. Denn sowohl in traditionalen Gesellschaften als auch in der modernen Wissensgesellschaft ist Wissen notwendige Voraussetzung für Handeln. Das Wissen kann mit Nico Stehr als Handlungsvermögen, als die „Fähigkeit zum sozialen Handeln“ definiert werden (Stehr 2000: 81). Ohne Wissen gäbe es nur instinktives Verhalten, aber kein absichtsvolles Handeln, das Wissen ist – wie Parsons und Platt formulieren – „die primäre Adaptationsquelle für Handeln im allgemeinen“ (Parsons/Platt 1990/1973: 96). Aber genau dieses Wissen, welches Bedingung für das Handeln ist, wird in der modernen Wissensgesellschaft zugleich auch zum Problem des Handelns – macht also aus dem Handeln unsicheres Handeln (Kurtz 2006b). Was ist damit gemeint? Gegenüber vormodernen und frühmodernen Gesellschaften hat sich das Verhältnis von Wissen und Handeln in der Moderne
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radikal verändert. Die immense Zunahme von Wissen in der heutigen Gesellschaft eröffnet eine solche Vielfalt von Handlungsmöglichkeiten, dass das Wissen zusehends an Sicherheit verliert. Denn mit der Zunahme von Wissen nimmt immer zugleich auch das Nichtwissen als dessen andere Seite zu (siehe auch Wehling 2006) – und die Adaption von bestimmtem Wissen lässt sogleich die Frage aufkommen, ob anderes Wissen nicht angemessener gewesen wäre. In diesem Sinne folgt aus der zunehmenden Wissensbasierung der Gesellschaft nicht nur eine Multioptionalität des Handelns (im Sinne von Gross 1994), sondern zugleich auch das Risiko, die falsche Entscheidung zu treffen. Das sich vervielfältigende und sich oftmals widersprechende Wissen in der Moderne führt geradezu zum Verlust von Handlungssicherheit. Man kann heute nicht mehr alle Handlungsoptionen in seine Entscheidungsfindung einbeziehen, und daraus ergibt sich letztendlich der Zwang zum Handeln ohne ausreichend sichere Wissensgrundlagen. Und so wird es dann auch nicht überraschen, dass heute eine besondere Form der Kompetenz immer mehr an Bedeutung gewinnt; nämlich die Kompetenz, mit Unsicherheit und Ungewissheit umzugehen.9 Man braucht sich dazu exemplarisch nur große Organisationen anzuschauen, die eine enorme Menge an Kapital, Zeit und Personal in die Informationsbeschaffung investieren; diese Organisationen suchen konsequent ihre Umwelt nach etwaigem Überraschungspotential ab (siehe dazu etwa Feldman/March 1990). Das was ich hier zum Verhältnis von Wissen und Handeln und zur Bedeutung des kompetenten Umgangs mit Nichtwissen in der Wissensgesellschaft gesagt habe, ist sicherlich kein ganz neues Phänomen; neu ist dabei aber „das Ausmaß an Ungewissheit und das zu bewältigende Mischungsverhältnis von Wissen und Nichtwissen“ (Willke 2002: 44). Grundlegend gilt dieses Phänomen natürlich auch für die so genannten klassischen Professionen der Ärzte, Rechtsanwälte, Seelsorger und Lehrer, die es mit kranken Personen, streitenden Personen, mit der Seelsorge bedürftigen Personen und mit zu erziehenden Personen zu tun haben (siehe ausführlicher Kurtz 2005: 135ff.). Und dies sind im Übrigen auch genau die Berufsgruppen, an denen man in der Soziologie zuerst auf die Unsicherheitsthematik im beruflichen Handeln gestoßen ist. Berücksichtigen
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Und in diesem Sinne bestimmt Helmut Willke „die Unfähigkeit, mit Nichtwissen kompetent umzugehen“ als die Krises des Wissens in der modernen Gesellschaft (Willke 2002: 18). Zur daran anschließenden Frage, wie man denn die notwendigen Kompetenzen zum Umgang mit unsicheren Wissensangeboten vermitteln und erwerben sollte, wird es sicherlich die unterschiedlichsten Vorschläge geben, wobei ich hier nur einen – bisher gleichwohl ziemlich unbeachteten – kurz erwähnen möchte, der mir nämlich eine Richtung anzudeuten scheint, an der man etwa bei Studienreformen ansetzen könnte. Dieser Vorschlag stammt von Niklas Luhmann und findet sich in dem aus seinem Nachlass posthum veröffentlichten Werk Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Luhmann schlägt dort nämlich vor, „daß das Lernen von Wissen weitgehend ersetzt werden müßte durch das Lernen des Entscheidens, das heißt: des Ausnutzens von Nichtwissen“ (Luhmann 2002: 198).
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muss man hier allerdings, dass bei ihnen das grundlegende Problem der Wissensgesellschaft, dass nämlich das vielfältige Wissen nicht nur Voraussetzung, sondern zugleich auch noch das Problem für das Handeln ist, noch verschärft wird durch die Abhängigkeiten von der Person des Klienten und von der Interaktionssituation. Das Problem bei diesen professionellen Interventionen ist nämlich, dass sie eigentlich immer auf die Mitarbeit der Klienten angewiesen sind. Kein Arzt kann Patienten zwingen, gesund zu werden, der Pfarrer kann nicht für den Ungläubigen oder aber auch Gläubigen glauben und auch der im Unterricht agierende Lehrer kann die Probleme seiner Schüler nicht im Sinne eines technischen Experten kausaladäquat für sie lösen. Er kann ihnen zwar das Lernen durch günstige Lernarrangements so angenehm wie möglich gestalten, er kann ihnen aber das Lernen nicht abnehmen, lernen müssen die Schüler selbst; und wie jeder weiß, können diese dann auch immer ganz anders reagieren als sich das der professionelle Praktiker vorgestellt hat. Und dadurch, dass diese Arbeit immer in der direkten Interaktion zwischen Professionellem und Klienten stattfindet, muss auch immer in der konkreten Situation entschieden werden, und zwar ohne auch immer über das für die Situation optimal notwendige Wissen zu verfügen. Oder in den Worten von Niklas Luhmann: „Der Arzt muß verschreiben oder operieren, der Richter muß die vorgetragenen Fälle entscheiden und der Lehrer muß Fragen der Schüler beantworten und Leistungen zensieren; (und) bei allen Möglichkeiten der Vertagung oder des routinierten Zeitgewinns bleibt ein Rest von Unsicherheit, der durch Entschlußkraft zu überwinden ist.“10 Aber wie gesagt, die Unsicherheitsproblematik ist nicht auf diese Form der direkten Professionellen-Klienten-Interaktion beschränkt. Auch die Handlungslogik der immer mehr an Einfluss gewinnenden Berufsgruppe der Experten, Ratgeber und Berater ist nicht mehr die einer technisch-instrumentellen Anwendung von wissenschaftlichem Regelwissen, das wie die aus naturwissenschaftlichen Gesetzen abgeleiteten Technologien verstanden werden kann. Wie das Wissen der Professionen, so ist auch das Expertenwissen ein sozusagen „interpretationsbedürftiges, kontingentes, fortwährend zu reproduzierendes Wissen (...), das keineswegs unbeirrbar effiziente Lösungen produziert“.11 Und wenn denn auch die Notwendigkeit des kompetenten Umgangs mit Nichtwissen und Ungewissheit nicht unbedingt ein neues Phänomen darstellt, so findet es sich doch in der modernen Wissensgesellschaft als ein geradezu gesell-
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Luhmann o. J.: 6. Bei diesem Zitat handelt es sich um eine der frühen Aussagen Luhmanns zu den Professionen, das sich in einem Anfang der 1970er Jahre geschriebenen Teilkapitel seiner bis heute unveröffentlicht gebliebenen Studie zur Theorie der Erziehung findet. Stehr 1994: 371. Dazu, dass Unsicherheit in der modernen Gesellschaft nicht nur eine Herausforderung in Arbeit und Beruf ist, sondern geradezu ein Alltagsphänomen darstellt, siehe etwa Hörning 2001.
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schaftsweit generalisiertes Phänomen, das nicht nur auf Individuen zutrifft, sondern auch – worauf schon früh Erving Goffman hingewiesen hat – auf Interaktionssituationen, aber natürlich auch auf Organisationen und die Gesellschaft im Ganzen. Damit sind wir in gewisser Weise wieder bei Max Weber angekommen, wenngleich dieser noch geglaubt hatte, das Unsicherheitsproblem durch starre Regeln lösen zu können, während heute eher Kompetenzen im Sinne von Kreativität und Reflexivität eine Rolle spielen und sich zudem im Kontext der Wissensgesellschaft weder Personen noch Organisationen mehr damit begnügen können, bestimmte einmal erworbene Kernkompetenzen zu haben, sondern diese ständig weiterentwickeln müssen. 5.
Auf dem Wege zu einer Soziologie der Kompetenz
Ich hatte am Anfang meiner Überlegungen behauptet, dass wohl niemand auf die Idee kommen würde, gerade die Soziologie als die Grundlagenwissenschaft bzw. als die leitende Wissenschaft zur Erforschung des Kompetenzerwerbs in der modernen Gesellschaft zu bestimmen, und hatte das damit begründet, dass die Verwendung des Kompetenzbegriffs im Wesentlichen auf die Fähigkeiten und Befähigungen von Personen zielen würde. Aber jetzt, nachdem ich einige grundlegende soziologische Herangehensweisen an das Kompetenzthema angesprochen habe, kann man fragen: Warum eigentlich nicht, warum sollte man nicht gerade der Soziologie eine größere Rolle bei der Bestimmung dieses Themas zuweisen? Denn der Überblick hat doch zumindest gezeigt, dass Kompetenz letzten Endes vielleicht doch etwas mehr ist als nur die Fähigkeit einer Person. Kompetenzen sind sowohl relevant für Personen, für Organisationen12 wie auch für die Gesellschaft im Ganzen, so dass sich der Kompetenzbegriff etwa anbieten würde, das Zusammenwirken von Person und Organisation13 aber auch von Organisation und Gesellschaft genauer zu bestimmen. Das Themenspektrum möglicher soziologischer Forschungen zu Kompetenzen und zum Kompetenzerwerb hat dann mindestens zwei Seiten. Die eine Seite setzt an der Form Person an und fragt nach den Wissens- und Kompetenzstrukturen, die man erwerben muss, um sich in einer unsicheren Welt zurechtzu-
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So hat etwa die neuere Organisationsforschung gezeigt, dass wir nicht mehr nur von kompetenten Personen ausgehen können, sondern immer auch von der kompetenten Organisation. Siehe dazu etwa den Beitrag von Thomas Klatetzki in diesem Band sowie das Teilkapitel „Die kompetente Organisation“ in Baecker (2003: 185ff.), in dem die kompetente Organisation als eine Organisation definiert wird, „die über ein Wissen verfügt, mit dessen Hilfe Informationen kommuniziert werden können, die anläßlich von Variationen in der Umwelt des Systems oder im System auf die Veränderung der eigenen Strukturen zielen“ (Baecker 2003: 190). Siehe etwa zum Verhältnis von Person, Organisation und Wissen Kurtz 2002.
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finden. Die andere Seite setzt an der Form der modernen Organisation an und fragt etwa danach, welche personalen Kompetenzen Organisationen brauchen, um sich in der Wirtschaft der Gesellschaft zu halten; also dort, wo sich – wie Dirk Baecker (1993: 14) formuliert – das Schicksal der Organisation entscheidet. Berücksichtigt werden muss dabei allerdings immer auch, dass etwa in Ausbildungsprozessen Kompetenzen in einer Organisation vermittelt werden, die in einer anderen Organisation – die nach anderen, nämlich eigenen Regeln operiert – angewendet werden sollen, was schlichterdings in einer einfachen Eins-zu-eins-Übertragungslogik nicht vorstellbar ist (siehe Kurtz 2007b). Und genauso wenig können etwa Organisationen davon ausgehen, dass die Summe der kompetenten Organisationsmitglieder zugleich auch schon eine kompetente Organisation ausmacht; die kompetente Organisation setzt sich nicht aus dem im Gedächtnis von Personen abgespeicherten Wissen zusammen, sondern aus der Form des kommunizierten Organisationswissens (Stichwort: intelligente, lernende bzw. wissende Organisation – siehe dazu Vollmer 1996). Dies wären aber nur zwei mögliche Perspektiven einer Soziologie der Kompetenz. Formen von Kompetenz sind Thema in allen Funktionsbereichen der Gesellschaft, und so ist vielleicht gerade die Soziologie, die sich ja nicht als eine Reflexionstheorie zur wissenschaftlichen Betreuung eines einzelnen Funktionssystems und deren Organisationen etabliert hat, die Disziplin, welche die Verbindungslinien zwischen den unterschiedlichen Formen von Kompetenz in der Gesellschaft aufzeigen kann. Im Sinne der Auslotung der Relevanz des Kompetenzbegriffs für die Soziologie versammelt der vorliegende Sammelband programmatische Beiträge, die aus unterschiedlichen Perspektiven, also anhand verschiedener soziologischer Theorien und Themenfelder die Möglichkeiten einer soziologischen Annäherung an die Kompetenzthematik testen. Bei aller Vielfalt und Breite der Auseinandersetzung mit Kompetenz weist das Spektrum der Beiträge folgende vier Akzentuierungen auf: Die Beiträge im ersten Teil des Bandes nähern sich von theoretischen Ansätzen und Überlegungen her, anhand derer sich Kompetenz vor allem als Zumutung begreifen lässt. Die im zweiten Teil des Bandes versammelten Beiträge beleuchten Gründe für die Durchsetzung bzw. Übernahme des Kompetenzbegriffs sowie Probleme und Konsequenzen der Implementation von Kompetenz im Bildungs- bzw. Erziehungssystem. Die Beiträge im dritten Teil des Bandes betrachten Kompetenz vor allem im Hinblick auf die Orientierung des Handelns sowohl individueller als auch kollektiver Akteure. Mit dem Fokus auf Performanz und Inszenierung steht in den im vierten Teil des Bandes versammelten Beiträgen schließlich die Realisierung von Kompetenz im Mittelpunkt. Implizit oder explizit stellen die Autoren letztlich auch die Frage nach dem Sinn und Nutzen des Kompetenzbegriffs als soziologische
Der Kompetenzbegriff in der Soziologie
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Kategorie, um dergestalt den Boden zu bereiten für eine dezidiert soziologische Kompetenzforschung.14 Die Beiträge im Einzelnen 1
Zumutung
Ausgehend von der Beobachtung, dass das Eigenständige der Bildungssoziologie gegenüber erziehungswissenschaftlichen Herangehensweisen gegenwärtig kaum zu erkennen ist und dass diese in der aktuellen Kompetenzdiskussion eher still geblieben ist, unternimmt Reiner Keller in seinem Beitrag den Versuch, die Bildungssoziologie in der Wissenschaftslandschaft neu zu positionieren. Dies kann in seiner Perspektive nicht dadurch gelingen, dass man den praxisbezogenen Fragestellungen der Bildungswissenschaften folgt und nach den Optimierungsbedingungen von Kompetenz fragt. Ein Programm der Bildungssoziologie könnte vielmehr darin bestehen, die an Kompetenz gestellten Erwartungen in öffentlichen und wissenschaftlichen Diskursen herauszuarbeiten und auf dieser Basis zu untersuchen, welche Formen des Umgangs soziale Akteure im Rahmen ihrer „alltäglichen Lebensführung“ mit den insbesondere in der Theorie reflexiver Modernisierung thematisierten Ungewissheitsbedingungen entwickeln. Boris Traue untersucht in seinem Beitrag die im Bildungssystem und in der Arbeitswelt stattfindende Umstellung von Qualifikation auf Kompetenz und fragt dabei danach, inwieweit veränderte Formen der Produktionsweise die Konzepte des Arbeitsvermögens beeinflusst haben, welche neuen Formen von Expertise in diesem Zusammenhang entstehen und wie sich damit schließlich auch das Verhältnis des Einzelnen zu sich selbst verändert hat. Dabei zeigt er, dass die Einführung des Kompetenzbegriffs zwar der zunehmenden Subjektorientierung im Bildungssystem geschuldet ist, dass aber die damit verbundenen reformistischen und emanzipatorischen Ansprüche nicht gänzlich eingelöst werden konnten. Zwar sind die Einzelnen jetzt mehr oder weniger selbst für die Entwicklung der Kompetenzen verantwortlich, die sie am Arbeitsmarkt präsentieren müssen, ob sie damit aber wirklich kompetente Subjekte sind, wird immer noch von Experten definiert. Auch Inga Truschkat hebt in ihrem Beitrag hervor, dass mit der Einführung des Kompetenzbegriffs stärker die neuen Anforderungen an das Individuum sowie seine Fähigkeiten gefasst werden sollen. Diese neuen Zumutungen an das Individuum in der modernen Arbeitswelt umfassen jetzt insbesondere auch
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Ein Nachfolgeband mit empirischen Studien im Rahmen einer solchen Soziologischen Kompetenzforschung ist in Planung.
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Thomas Kurtz
dessen zunehmende Selbstverantwortung im Sinne einer Selbstorganisation und Selbstrationalisierung. Von diesen Überlegungen ausgehend wird danach gefragt, ob die im Zusammenhang mit dem Aufkommen des Kompetenzbegriffs zu verzeichnende Subjektivierung der Anforderungen in der Arbeitswelt nicht auch neuen Formen der sozialen Differenzierung im Sinne von Veränderungen im Inklusions- und Exklusionsgefüge der modernen Gesellschaft zur Folge hat. Herbert Willems nimmt sich in seinem Beitrag die Zivilisierungstheorie von Norbert Elias vor und reformuliert diese, ergänzt um Überlegungen von Michel Foucault und Erving Goffman, als besondere Form einer soziologischen Kompetenztheorie. Dem liegt die These zugrunde, dass man Zivilisiertheit als spezifische Kompetenz bestimmen kann und dass Zivilisation „deren Genese auf der Ebene der historischen Entwicklung der Gattung Mensch und auf der Ebene der (individuellen) Sozialisation“ bedeutet. Dabei hebt er hervor, dass es in der modernen Gesellschaft nicht nur die Zivilisierung der Gesellschaft geben kann, sondern in Korrelation mit funktionaler Differenzierung auch eine Differenzierung der Zivilisierungen, und legt in seiner Analyse besonderes Gewicht auf die professionalisierten Lernprozesse initiierenden Institutionen: den pädagogischen Komplex, den Gesundheits- und den Beratungskomplex. 2
Implementation
Bernd Dewe untersucht in seinem Beitrag die besondere Form der Aneignung des Kompetenzbegriffs in der Erziehungswissenschaft und dabei insbesondere der Erwachsenenbildung. Wenn man berücksichtigt, dass die aktuellen Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt mit Qualifikation und Berufstätigkeit sowie mit Arbeit und Identität zwei ehemals als Einheit gefasste Verhältnisse mehr und mehr entkoppeln, dann – so die These – kehrt „die Idee einer ganzheitlichen sozialen Kompetenzbildung als Zitat im Zeitalter ihrer Unmöglichkeit“ wieder. Kritisch wird daran anschließend der Kompetenzdiskurs in der Pädagogik hinterfragt, wenn dort etwa vorgegeben wird, die negativen Folgen sozialer Differenzierungsprozesse durch pädagogische Kompetenzkonzepte zu heilen. Achim Brosziewski bestimmt in einer systemtheoretischen Perspektive den zu beobachtenden Wandel der Begrifflichkeit von Bildung zu Kompetenz im Erziehungssystem als semantische Verschiebung in den Selbstbeschreibungen dieses Funktionssystems und fragt nach den Plausibilitätsbedingungen für diese Umstellung der pädagogischen Selbstbeschreibungsform. Während Niklas Luhmann und Karl Eberhard Schorr bekanntermaßen einen doppelten Übergang der so genannten Kontingenzformel im Erziehungssystem – von humaner Perfektion über Bildung zur Lernfähigkeit – beschrieben haben, geht Brosziewski nicht soweit zu behaupten, dass Kompetenz bereits vollständig an die Stelle der klassischen Bildungsformel getreten sei, konstatiert allerdings, dass Kompetenz
Der Kompetenzbegriff in der Soziologie
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gegenüber Bildung zunehmend an Bedeutung gewinnt, und beschreibt die damit zusammenhängenden strukturellen Entwicklungen dieses Systems. Thomas Brüsemeister analysiert in seinem Beitrag die neue pädagogische „Leitwährung“ Kompetenz im Rahmen des Versuchs einer Erneuerung des Governanceregimes der Schule in Deutschland. Dabei wird der diesem Erneuerungsprozess zugrunde gelegte psychologische Kompetenzbegriff einer kritischen Bestandsaufnahme unterzogen und um einen in der Educational Governanceforschung gebräuchlichen soziologischen Begriff der kollektiven Kompetenz erweitert. Der Unterschied zwischen diesen beiden Kompetenzbegriffen besteht darin, dass sich der Begriff der kollektiven Kompetenz nicht auf die Kompetenz eines Individuums bezieht, sondern auf das Ergebnis bestimmter Akteurskonstellationen. Und in diesem Sinne wird dann der von der Bildungspolitik über den Kompetenzbegriff gesetzte „semantische Link“ mit den Schülern problematisiert, da dabei den Lehrkräften gewissermaßen das Endergebnis ihres Unterrichts aus den Händen genommen wird. 3
Orientierung
Michaela Pfadenhauer unternimmt in ihrem Beitrag eine Klärung der unterschiedlichen Bedeutungen des Kompetenzbegriffs, um damit die Leerstelle zu markieren, an der ein genuin soziologischer Kompetenzbegriff ansetzten kann. Demnach setzt sich Kompetenz in soziologischer Perspektive immer aus dem Zusammenwirken dreier Komponenten zusammen: nämlich Befähigung, Bereitschaft und Befugnis, wobei mit der Einbeziehung von Befugnis bzw. Zuständigkeit die soziale Dimension von Kompetenz wieder stärker ins Blickfeld gerät. Auf der Grundlage dieses Kompetenzbegriffs wird dann im Kontrast zu einem Verständnis von Organisationskompetenz, wie es im Projektmanagement geläufig ist, exemplarisch die Kompetenz zum Organisieren bestimmt, und in einem kurzen Ausblick erste Überlegungen zu einer genuin soziologischen Kompetenzforschung skizziert. Auch Rainer Schützeichel zielt mit seinem Beitrag auf die Entwicklung einer in der Soziologie bisher nur in Ansätzen vorhandenen Soziologie der Kompetenz ab. Dabei fragt er nach den unterschiedlichen Formen von Kompetenz und Expertise und fasst Expertise als die besondere Form der Kompetenz von Spezialisten und Experten. Kompetenz und Expertise gemeinsam ist ihr Rekurs auf eine bestimmte Form des Könnens; beide zehren von einem impliziten Wissen und zielen auf eine „kontextspezifische Handlungs- und Problemlösungsfähigkeit“. In einem zweiten Schritt zeigt Schützeichel, dass und wie sich diese beiden Formen des Könnens in epistemischen Regimes als einer besonderen Form sozialer Praxis realisieren, indem hier die Zuschreibungsmodi für Wissen
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Thomas Kurtz
und Kompetenz definiert werden. Diese Überlegungen werden schließlich kurz am Beispiel der Profession der Seelsorge veranschaulicht. In Anlehnung an Jürgen Habermas interpretiert Matthias Vonken in seinem Beitrag kompetentes Handeln als eine besondere Form kommunikativen Handelns und definiert es als „das selbständige, selbstverantwortliche, kreative, selbstorganisierende und flexible Treffen von Entscheidungen zur Reduktion der Komplexität einer (sozialen) Situation“. Auf der Grundlage von Interviewdaten zweier Forschungsprojekte, in denen ältere Arbeitnehmer und Arbeitslose zu ihrer beruflichen Biographie befragt wurden, analysiert Vonken die Formen der Komplexitätsreduktion im Lebenslauf und verweist auf die Bedeutung der hier herausgearbeiteten Form kompetenten Handelns bei der Bewältigung beruflicher Veränderungen. Anhand einer Szene aus dem Film „Casino Royal“, in dem James Bond mit Hilfe der im Hintergrund agierenden Organisation des britischen Secret Service ein Pokerturnier meistern soll, veranschaulicht Thomas Klatetzki sein Verständnis einer kompetenten Organisation als eine besondere Choreographie dreier Formen von Kompetenz: Kompetente Organisationen benötigen zur Bewältigung schwieriger Situationen, wie sie in der Filmszene dargestellt werden, Fachkompetenzen, die auf die Fähigkeit von Individuen verweisen, sozial zugewiesene Amtskompetenzen sowie Teamkompetenz als gemeinsam geteiltes Situationsverständnis bzw. -wissen. 4
Realisierung
Hubert Knoblauch analysiert in seinem Beitrag den Begriff der Kompetenz und seine Realisierung als Performanz aus einer wissenssoziologischen Perspektive. Nach einer kurzen Skizzierung der Begriffsgeschichte der Kompetenz wird in einem wissenschaftstheoretischen Teil die Neukonzeption des Kompetenzbegriffs in der Chomsky nachfolgenden jüngeren Linguistik vorgestellt, deren soziolinguistische Wende in der Soziologie bisher nur wenig zur Kenntnis genommen worden ist. Knoblauch legt dabei im Weiteren ein besonderes Augenmerk darauf, dass zumindest in institutionellen Kontexten die Performanz immer als die zweite Seite der Kompetenz erscheint, in denen nämlich weniger die subjektiven Kompetenzen als vielmehr standardisierte Formen thematisiert werden, die es ermöglichen sollen, auf die jeweilige Kompetenz zu schließen. Und genau mit dieser engen Kopplung von Kompetenz und Performanz wird auf ein Forschungsdesiderat in den Sozialwissenschaften verwiesen. Jo Reichertz fragt in seinem Beitrag danach, wann man denn überhaupt kompetent kommuniziert und wie man die dafür notwendige Kompetenz erwirbt und macht dabei insbesondere darauf aufmerksam, dass die Kompetenz, kompetent zu kommunizieren – also die kommunikative Kompetenz – sehr viel mehr
Der Kompetenzbegriff in der Soziologie
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ist als nur die, im Sinne Chomskys regelgeleitet zu sprechen. So müssen etwa die Disziplinierungen des Kommunizierens als Disziplinierung des Sprechens, der Verantwortungsübernahme, des Zuhörens und des Antwortens berücksichtigt werden, die für die soziale Ordnung der Kommunikation sorgen. Darüber hinaus erweist sich die Kompetenz zum kommunikativen Handeln nicht einfach in der korrekten Anwendung bestimmter Regeln und Prinzipien der Kommunikation, sondern in der Fähigkeit, mit diesen in der Situation kontextsensibel zu spielen, so dass kompetentes Kommunizieren immer auch eine „praktisch erworbene und dabei verkörperte Mitspielkunst“ ist. Stefan Kühl analysiert in dem diesen Sammelband abschließenden Beitrag die Probleme der Kompetenzdarstellung. Er geht dabei von der soziologischen Bestimmung von Kompetenz als zugerechneter Zuständigkeit aus, die man qua Amt und qua Wissen erlangen kann, wobei diese beiden Kompetenzen gleichwohl nicht immer zusammenfallen müssen. In vielen Bereichen der Arbeitswelt steht Kühl zufolge vor der Anwendung der Kompetenzen zuerst einmal die Notwendigkeit, dass der Leistungserbringer von seinen Klienten auch als kompetent wahrgenommen wird. Dies gilt insbesondere für die professionellen Berufe, die in ihrer Arbeit auf die Mitarbeit der Klienten angewiesen sind, zugleich aber gegenüber Nichtprofessionen auch den Vorteil der über Institutionen gestützten Kompetenzvermutung genießen, was Kompetenzdarstellung seines Erachtens obsolet werden lässt.
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Thomas Kurtz
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Zumutung
Kompetenz-Bildung: Programm und Zumutung individualisierter Bildungspraxis Über Möglichkeiten einer erweiterten Bildungssoziologie Reiner Keller
1.
Eine Erweiterung bildungssoziologischer Perspektiven
Der nachfolgende Beitrag verortet die soziologische Frage nach der gegenwärtigen Konjunktur und Erscheinungsweise von „Kompetenz“ in einem erweiterten bildungssoziologischen Forschungsrahmen und in Diskussionen über zukünftige Ausrichtungen der Bildungssoziologie.1 Einem aktuellen Call for Papers der Sektion Bildung und Erziehung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (zur Herbsttagung 2009; vgl. Scherr 2008) ist zu entnehmen, wie schwierig es geworden ist, genuine Aufgaben der Bildungssoziologie zu benennen. In der Folge des „Aufschwungs und Ausbaus der empirischen Bildungsforschung (…) ist das Profil einer eigenständigen soziologischen Bildungsforschung gegenwärtig kaum erkennbar“, heißt es ebd. Und weiter: „Welche Theoriebezüge und Forschungsfragen, welches Bildungsverständnis, welche methodischen Vorgehensweisen konturieren eine sich als genuin bildungssoziologisch verstehende Forschung und Theorieentwicklung?“ Auch wenn zugestanden werden kann und sollte, dass die damit angesprochene ‚prekäre Lage‘ des soziologischen Zugangs keine Einzelerscheinung in der wissenschaftlichen Landschaft darstellt – die allseitig sprießende Flora der ‚XX Studies‘ mag dafür als knapper Beleg gelten – so lässt sich diese Frage doch mit einiger Berechtigung stellen. Wie kann die Bildungssoziologie (und das heißt auch: die Bildungssoziologie als Kompetenzforschung) ihre vergleichsweise randständige Lage inmitten einer überbordenden gesellschaftlichen und bildungswissenschaftlichen Diskussion über Bildungsprozesse verlassen? Vor dem Hintergrund der explosionsartigen Institutionalisierung der Bildungswissenschaften in der bundesdeutschen Universitätslandschaft sind soziologische Zugangsweisen in alle beteiligten Disziplinen diffundiert und kommen
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Ich greife dabei auf einen Vortrag zum Thema „Bildung und Lebensführung in der Wissensgesellschaft“ (Keller 2005) zurück, den ich im Dezember 2005 an der Universität KoblenzLandau gehalten habe.
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Reiner Keller
zum Einsatz, um die empfundenen Probleme, Defizite, Mängel und Verbesserungspotenziale des deutschen Bildungssystems in den Blick zu nehmen. Entsprechende Problematisierungen sind allgegenwärtig: Politische Entscheidungsträger starren gebannt auf die Ranglisten und Platzierungen der deutschen Schülerinnen und Schüler in internationalen Vergleichstests und fordern effiziente – und wenn möglich: kostenneutrale oder -sparende – Technologien und Lernarrangements zur Kompetenzoptimierung. Wirtschaftsverbände erwarten eine verstärkte Praxis- bzw. Verwertungsorientierung der Bildungsprozesse. Manche Eltern engagieren sich für die Verteidigung oder vielmehr Schaffung eines mehr oder weniger neuen angstfreien schulischen Bildungsraumes, während andere – ablesbar am Boom der Privatschulen – für die Bestplatzierung ihres Nachwuchses in den anstehenden Verdrängungswettbewerben Vorsorge treffen. Zwar steht die schulische Bildung im Zentrum der öffentlichen Debatte. Doch auch weitere Bildungsfelder, insbesondere die Hochschulen sind in den letzten Jahren vergleichbaren – und wahrscheinlich noch stärkeren – Veränderungen unterworfen. Die Wissenschaftsorientierung des Hochschulstudiums wird zwar nicht vollständig beseitigt, aber doch stark durch Fragen der ökonomischen Nutzen- oder Verwertungslogik im neuen Bildungswettlauf und Wirtschaftskampf der Nationen und Weltregionen überlagert. Ähnliche Prozesse lassen sich derzeit in vielen Ländern beobachten, und dies nicht zufällig. Tatsächlich geht die internationalisierte vergleichende, messende, schulbezogene Bildungs-/Kompetenzforschung einher mit einer letztlich globalisierten Neuformierung der Bildungssysteme, in der spätestens seit Anfang der 1970er Jahre, beginnend mit dem Bericht der UNESCO-Bildungskommission „Wie wir leben lernen. Der Unesco-Bericht über Ziele und Zukunft unserer Erziehungsprogramme“ (Faure et al. 1973), die institutionellen Gefüge der UNESCO, der UN, der OECD und auch der EU eine top-down Reformierung der nationalen Bildungssysteme angehen. Die Bildungsforschung nimmt in diesem Kontext eine instrumentelle Haltung ein, zugunsten von Schülern und Schülerinnen, Lehrpersonal und ‚Marktanforderungen‘. Sie untersucht organisierte Bildungsprozesse meist bezogen auf Schulen und mit starkem Anwendungsbezug; in jüngerer Zeit wird dies verstärkt durch Hinweise auf die Bedeutung außerschulischer Bildungsorte. Ziel ist die Verbesserung der institutionellen Bildungsangebote, bspw. durch die Optimierung der Vermittlung von Lerninhalten, um deren gesteigerte Passungsfähigkeit im Hinblick auf Arbeitsmärkte, aber auch um den Abbau von sozialen Ungleichheiten in den Selektionsprozessen der Bildungsinstitutionen. Ergänzt wird dies durch Analysen der familialen Einbettung von Bildungsbeteiligung bis hin zur Kompetenzentwicklung und Fördermaßnahmen für ‚Lebenslanges Lernen‘ bzw. ‚Lernen des Lernens‘ durch neue Schultypen, veränderte Unterrichtsmethoden oder unterschiedlichste Förderangebote. Neben den Herausforderungen durch den ökonomischen Strukturwandel zur ‚Wissens-
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gesellschaft‘ sind es vor allem Prozesse der Globalisierung und die Anforderungen der Migrationskulturen, welche die öffentliche Diskussion und die Forschung beschäftigen. Wie müssen Bildungssysteme aufgerüstet oder umorganisiert werden, wenn sie Individuen befähigen sollen, unter den sich ändernden strukturellen Bedingungen zum ökonomischen Wohle ihrer Selbst und ihres Landes beizutragen? Zu erwarten ist, dass die Steigerungslogik des Vergleichs und des Rankings hierauf keine abschließende Antwort zulassen wird, sondern trickreich immer neue Defizite nachweisen kann: Gut ist nicht gut genug; nicht alle können den ersten Platz einnehmen. Folglich muss immer etwas getan werden. Die Bildungssoziologie ist in dieser unübersichtlichen Gemengelage merkwürdig stumm geblieben. Der Zusammenhang von sozialer Lage und schulischen Bildungserfolgen ist ihr lange bekannt, die theoretischen Grundparadigmen (zwischen Pierre Bourdieu und Raymond Boudon bzw. James Coleman, zwischen Habitustheorie und Rational Choice; vgl. in jüngerer Zeit Georg 2006; Becker/Lauterbach 2008) seiner Erklärung existieren wohletabliert in mehr oder weniger verflochtener Weise; der Wandel der sprichwörtlichen verkörperten Ungleichheitsfigur – vom katholischen Arbeitermädchen auf dem Land zum großstädtischen islamischen Migrantenjungen – wurde vielfach beschrieben. Auch die Interventionsmöglichkeiten (durch Reformschulen, andere Unterrichtsformen, finanzielle Förderungen usw.) werden seit Jahren beforscht und diskutiert, ohne dass politischer Gestaltungswille darauf erkennbar zugreift. Auf die Ausgangsfrage nach einer neuen Positionierung der Bildungssoziologie gibt der vorliegende Beitrag die folgende Antwort: Dies wird gerade nicht durch die Nachahmung oder Übernahme der praxisbezogenen Frageinteressen der Bildungswissenschaften gelingen, sondern viel eher dann wenn sich die soziologische Beschäftigung mit Fragen der Bildung und Kompetenz entschieden von zwei zentralen Relevanzkriterien ihres Gegenstandsfeldes abkoppelt, ‚emanzipiert‘. Das erste dieser Kriterien lautet: Kompetenzvermittlung in institutionellen Bildungsprozessen muss zum Wohle aller effektiver, effizienter und gerechter erfolgen. Das zweite Kriterium besagt: Gefragt sind passungsfähige und realistische Vorschläge zur Reform. Dagegen lässt sich mit Howard S. Becker (2003) einwenden: Relevant wird (Bildungs-)Soziologie in dem Maße, wie sie sich eigenen Forschungsinteressen und Themensetzungen zuwendet; das ist die Voraussetzung dafür, neue oder andere Lesarten auf soziale Bildungsprozesse und Kompetenzentwicklungen zu entfalten und in dieser Weise einen ‚Mehrwert an Wissen‘ zu erzeugen. Wie kann dies geschehen? Der Vorschlag, der dazu in aller Vorläufigkeit entwickelt wird, lautet: durch eine stärkere Besinnung auf gesellschaftliche Zusammenhangsfragen einerseits, durch eine Hinwendung zur ‚gelebten Bildungspraxis‘ unter Individualisierungsbedingungen andererseits. Die mögliche Richtung und auch den Zusammenhang einer solchen Perspektivenverschiebung der Bildungssoziologie mit dem Kompetenz-
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begriff, um den es im vorliegenden Band ja vornehmlich geht, hat Heinz Bude (2008) in seiner kürzlich erschienenen Schrift über die ‚Ausgeschlossenen‘ angedeutet. Dort weist er auf eine bislang wenig diskutierte Implikation der öffentlichen und auch wissenschaftlichen Debatten über die gegenwärtigen Probleme der Bildung hin. Das, was als Bildung und Kompetenz verhandelt wird, hat einen spezifischen Zuschnitt. Keineswegs ist dies ein ‚unschuldiges‘ Bildungs- oder Kompetenzverständnis, sondern Resultat einer – in meinen Worten – kontingenten diskursiven Formatierung. Vielleicht liegt darin die erste Aufgabe einer erweiterten Bildungssoziologie und Kompetenzforschung: Nicht der Frage nachzugehen, wie Kompetenz nach Maßgabe bildungspolitischökonomischer oder bildungsidealistischer Programmatiken optimiert zu erwerben sei. Sondern den Akzent darauf zu legen, wie, wo und welche Kompetenzerwartungen in der seit den 1960er Jahren ansetzenden Problematisierungen des Bildungsgeschehens gefordert, begründet, formiert werden, bspw. in öffentlichen und wissenschaftlichen Diskursen, in lokalen, transnationalen, globalen institutionellen Settings. In einem zweiten Schritt kann es dann um die Frage gehen, wie spezifische Kompetenzvorstellungen als zugemutete Aufgabe in der individualisierten Bildungspraxis reflexiv-moderner und kosmopolitischer Gesellschaften erworben, angeeignet, zurückgewiesen, gelebt werden – und wo sie ihrem ‚Anderen‘ begegnen, also bspw. ‚abweichenden‘ Kompetenzformen des gesellschaftsweit generalisierten Großstadt-„Dschungelcamps“ im Zeichen von Arbeitsmarktflexibilisierungen, Einkommenseinbrüchen, Genialitäten des Durchwurstelns und Überlebenskünsten des prekären Alltags. Darauf wird weiter unten zurückzukommen sein.2 Die vorgestellten Überlegungen möchte ich nachfolgend in drei Schritten entfalten. Zunächst skizziere ich kurz das Panorama der Bildungsdiskussion und Bildungssoziologie. Anschließend erläutere ich die Forderung nach einer erweiterten Bildungs- und Kompetenzforschung, welche die gesellschaftlichen und institutionellen Bildungskontexte sowie deren Wandel in den Blick nimmt. Im dritten Punkt diskutiere ich die Möglichkeiten einer auf die – in Begriffen Foucaults: diskursiv und gouvernemental – ‚angerufenen Bildungssubjekte‘ bezogenen Bildungs- und Kompetenzforschung, die sich nicht in vorauseilendem Gehorsam an den Kompetenzprogrammatiken des „bildungsindustriellen Kom-
2
Dies meint nicht die in den letzten Jahren entstandene Diskussion über ‚Bildung neben der Bildung‘, die sich insbesondere auf nicht-schulische Bildungskontexte und -orte richtet (wie Vereine und Verbände, Musikschulen etc., die unter längeren Schulanwesenheitszeiten und gesellschaftlichen Individualisierungsprozessen leiden), und ebenfalls einem Verwertungsverständnis von ‚Bildung‘ folgt. Die Fragen lauten stattdessen: Was wird mit der zugemuteten Bildung ‚getan‘ und was lässt sich in einem erweiterten Kompetenzverständnis in den Blick nehmen?
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plexes“ (Heinz Bude) orientiert, sondern sich für die Vielfalt gelebter Bildungsund Kompetenzpraxis öffnet. 2.
Bildungsdebatten und Bildungssoziologie
Nur wenige Themen haben die deutsche Öffentlichkeit in den letzten Jahren so bewegt wie die „Bildungsdiskussion“. Dafür stehen insbesondere die Debatten um die im Jahre 2000 erschienene PISA-Studie und ihre späteren Verwandten. Groß war das Entsetzen über das im internationalen Vergleich als defizitär markierte Abschneiden der Schülerinnen und Schüler in Deutschland. Und mindestens ebenso groß war die Entrüstung über die besonders hohe Selektivität der Bildungschancen. Es handelt sich um eine neuerliche deutsche „Bildungskatastrophe“. Manches daran klingt vertraut. Bereits 1964 war von einer solchen Katastrophe die Rede. Damit bezeichnete Georg Picht (1964) die vergleichsweise geringere Abiturientenzahl und die niedrigeren Bildungsausgaben in Deutschland. Ralf Dahrendorf (1965) formulierte vor dem Hintergrund der damit ebenfalls einsetzenden Debatte über Ungleichheiten im deutschen Bildungssystem: „Bildung ist Bürgerrecht“. Die politische Reaktion bestand im Ausbau insbesondere der ländlichen Bildungsinfrastrukturen, in der Einführung des SchülerBAFöG sowie in der Einrichtung des Deutschen Bildungsrates, der 1970 einen „Strukturplan für das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland vorlegte“ (Deutscher Bildungsrat 1970). Darin wurde vorgeschlagen, die Bildungschancen für benachteiligte Gruppen zu verbessern und insgesamt die „Wissenschaftsorientierung der Bildung“, d.h. aller Lehr- und Lernprozesse für jede Altersstufe angemessen umzusetzen: „Der Wissenschaftsbestimmtheit des Lernens entspricht formal der Grundsatz vom Lernen des Lernens. Die Bildungsgänge vermitteln nicht nur Kenntnisse und Fertigkeiten, sondern auch die Fähigkeit, immer wieder neu zu lernen, sei es in anderen Gegenstandsbereichen, sei es im gleichen Gegenstandsbereich, jedoch auf höherem Niveau.“ (Deutscher Bildungsrat 1970: 33) Die inzwischen zur ‚Kompetenzfrage‘ mutierte Rede von den lebenslänglich neu zu bestimmenden und anzupassenden Kenntnissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten (Truschkat 2008, Haeske 2008, Alheit/Dausien 2002, Tuschling 2004)3 kann auf eine beachtliche, jahrhundertealte Tradition zurückblicken. So heißt es in einem Beschluss der französischen Nationalversammlung aus dem Jahre 1792, wenige Jahre nach erfolgter Revolution: „Wir haben schließlich darauf geachtet, dass der Unterricht die Individuen nicht in dem Augenblick preisgeben darf, in dem sie die Schulen verlassen; dass er vielmehr alle Alters-
3
Vgl. dazu auch den Beitrag von Inga Truschkat in diesem Band.
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stufen umfassen muss, dass es keine gibt, in der zu lernen nicht nützlich und möglich ist“ (zit. nach Tuschling 2004: 152). Mit der begrifflichen Umstellung auf Kompetenz ist eine Veränderung des Assoziationshaushaltes verbunden: Die Vorstellung von in institutionellen Ausbildungsgängen abschließend erworbenen und abrufbaren Kenntnissen, die durch Bildungstitel zertifiziert sind, wird durch die Idee des Erwerbs von Dispositionen ersetzt, die permanente Selbststeuerungen im Hinblick auf sich verändernde Wissens- und Handlungserfordernisse der zunehmend flexibilisierten und entstandardisierten, bspw. projektförmigen beruflichen Arbeitskontexte ermöglichen. Entsprechend gilt die Angst einer alarmierten Öffentlichkeit nunmehr dem Problem des ‚Kompetenzniveaus‘. Auf die aktuellen Ergebnisse der international vergleichenden Kompetenzforschung hat die bundesdeutsche Politik mit einem Ausbau der Bildungsforschung reagiert; Professuren für Bildungsforschung und Bildungssoziologie florieren. Die Etablierung eines regelmäßigen deutschen Bildungsberichts wurde beschlossen. Vorschul-, schul- und hochschulbezogene Evaluationen und Reformprozesse sind im Gange. Dabei liegt der Verdacht und die Beobachtung nahe, dass in erster Linie geforscht und ‚prämiert‘ wird, sich jedoch an den realen äußerst defizitären personellen und materiell-infrastrukturellen Ressourcen-Bedingungen der Bildungspraxis wenig ändert. Beate Krais (2003: 82) verweist in einem Überblick darauf, die seit den 1950er Jahren institutionalisierte Bildungssoziologie habe trotz ihrer langen Tradition und geradezu konträr zur hohen öffentlichen Bedeutung von Bildungsfragen keinen „Zustand innerer Festigkeit“ und der „Unbestrittenheit ihres Forschungsterrains“ erreicht. Wie in anderen Spezialsoziologien auch lassen sich Konkurrenzen unterschiedlicher theoretischer Paradigmen, methodischer Zugänge sowie Fragestellungen auf der gesellschaftlichen Makro-, Mikro- und Mesoebene festhalten (Allmendinger/Aisenbrey 2002: 41). Diese fokussieren bei aller Heterogenität zwei hauptsächliche Fragekomplexe, die überwiegend auf Schulen und Hochschulen als Bildungsorte bezogen sind. Zum einen interessiert der Zusammenhang von Bildung und sozialer Ungleichheit; zum zweiten richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Beziehungen zwischen ‚Bildung und Beschäftigung‘.4 Das Verhältnis von Bildung und sozialer Ungleichheit ist das klassische Thema der Bildungssoziologie. Gero Lenhardt (2001: 327) schrieb dazu vor einiger Zeit: „Kaum ein anderer Gegenstand der Soziologie wird mit größerem Aufwand untersucht wie die Gleichheit und Ungleichheit der Bildungschancen. Man kann diese Forschungspraxis mit dem Zugewinn an soziologischem Wissen kaum erklären. Sie verdankt sich eher der Aufmerksamkeit, die die Gesellschaft der Gleichheitsnorm und ihrer Verletzung widmet.“ Das Ungleichheitsthema entwickelte sich in den 1960er Jahren als Diskussion über
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Für weitere soziologische Beschäftigungen mit dem Thema Bildung vgl. bspw. Löw (2003).
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die Verteilung von Bildungschancen in zweifacher Hinsicht: in Bezug auf die ungleiche Bildungsbeteiligung verschiedener sozialer Schichten und Geschlechterlage und in der Frage nach der Reproduktion sozialer Ungleichheiten durch das Bildungssystem. Dabei dominieren Erklärungen, die sich an der „Illusion der Chancengleichheit“ von Bourdieu/Passeron (1988 [1970]) oder Varianten des Rational Choice im Anschluss an James Coleman und Raymond Boudon bzw. deren Verflechtungen orientieren (vgl. Georg 2006). Defizite der bildungssoziologischen Ungleichheitsdiskussion lassen sich im nach wie vor bestehenden Mangel an mikroanalytisch-qualitativen Studien ausmachen, welche die Feinheiten inner- und außerschulischer Prozesse der Ungleichheitsreproduktion in den Blick nehmen (Krais 2003: 85; zur Rolle der Familie Büchner/Brake 2006). Schon in der Diskussion der 1960er Jahre war die mit der Ausrichtung auf den Kompetenzbegriff stärker akzentuierte Frage nach dem Passungsverhältnis von Bildung und Arbeitsmarkt oder Beschäftigung enthalten. Hier geht es darum, wie im Bildungssystem Erwerbschancen selektiert werden, wie die individuelle Bildungswahl sowie die organisierten Bildungsangebote mit den Erfordernissen des Arbeitsmarktes abgestimmt werden können und wie Bildungstitel und deren ‚Inflation‘ die Erwerbsoptionen oder -chancen beeinflussen (z.B. Weymann 1987). Dazu tritt in jüngerer Zeit die Diskussion über die Möglichkeiten des Praxisbezugs, etwa im Umbau der Hochschulen oder im Gegeneinander von wissenschaftsorientierten Bildungskonzepten und solchen, die auf die Bedeutung von Erfahrungswissen hinweisen (Böhle 2009). 3.
Globalisierende Formierungen: Bildung, Wissensgesellschaft und der Kompetenz-Komplex
Der Begriff der „Bildung“ ist, das haben die bisherigen Überlegungen bereits angedeutet, sowohl in der öffentlich-politischen wie auch in der wissenschaftlichen Debatte mit einer gewissen Unschärfe oder besser: mit sehr unterschiedlichen Konnotationen belegt; er changiert (in den Worten von Martina Löw 2003) zwischen „Ideal und Kapital“, und dies schon seit Beginn der modernen Bildungsinstitutionen (Friedeburg 1992). Häufig steht er idealistisch-emphatisch für Bildung als herausgehobenen Wert. So heißt es im Jahre 2004 im Bildungsbericht der OECD, Bildung sei der „Prozess der persönlichen Entwicklung, der Kultivierung und Integration der Persönlichkeit unter Einbeziehung kognitiver, sozialer, kultureller und ethischer Aspekte“ (zit. nach Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2005: 53). Anfang der 1970er Jahre beschrieb der Deutsche Bildungsrat „Bildung als Fähigkeit des einzelnen zu individuellem und gesellschaftlichem Leben, verstanden als seine Fähigkeit, die
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Freiheit und die Freiheiten zu verwirklichen, die ihm die Verfassung gewährt und auferlegt“ (Deutscher Bildungsrat 1970: 29). Der Kinder- und Jugendbericht der Deutschen Bundesregierung definiert etwas nüchterner: „Bildung ist (...) die Befähigung zu einer eigenständigen und eigenverantwortlichen Lebensführung in sozialer, politischer und kultureller Eingebundenheit und Verantwortung.“ (2005; S. 109) Solchen Bestimmungen stehen stärker instrumentell orientierte Vorstellungen gegenüber, in denen Bildung als hergestelltes, qualitativ besseres oder schlechteres Produkt, als Mittel des Zugangs zu Erwerbschancen fungiert, etwa die „Bildung für den Arbeitsmarkt“ oder die anvisierte „Arbeitsmarkttauglichkeit“ von schulischen und hochschulischen Bildungsprozessen. Bildungs- und wirtschaftspolitisch scheint dieser Variante die größere Resonanz zuzukommen. Claus Offe schrieb schon im Jahre 1963: „Die gesellschaftliche, also nicht auf das ausgebildete Subjekt beschränkte Funktion der Ausbildung ist es, Leistungspotential zu produzieren. (...) Die Steigerung der Produktion eines qualifizierten Leistungspotentials ist unter diesen Bedingungen der Bedarfslage ein Gebot der ökonomischen Rationalität“ (zit. nach Krais 1996: 124). Sehr fern ist dem die 1966 von Adorno (1970) an die Pädagogik und die Bildungsinstitutionen gerichtete Maxime: „Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung.“ Als Konsequenz ihrer bereits angesprochenen Bilanz des bildungssoziologischen Forschens fordert Beate Krais von der zukünftigen Bildungssoziologie eine „sozialhistorische Konfigurationsanalyse“ von Bildungsprozessen „im Kontext der gesellschaftlichen Entwicklung“ (Krais 2003: 90). Dies betreffe insbesondere die Herausforderung durch die „Wissensgesellschaft“ sowie die immer komplexere Produktion und Zirkulation des ‚Kulturellen‘. Zwar teile ich die von Krais erhobene Forderung nach einer sozialhistorisch und gesellschaftstheoretisch erweiterten Analyse von Bildung. Doch der Hinweis auf die mitunter als „Mythos“ eingestufte „Wissensgesellschaft“ (Bittlingmayer 2005; Bittlingmayer/Bauer 2006; Kübler 2005) läuft Gefahr, diese Erweiterung erneut einer durch öffentliche Themenkonjunkturen vorab reduzierten Perspektive zu unterwerfen. Die umstrittene und gleichwohl politisch erfolgreiche Gesellschaftsdiagnose der „Wissensgesellschaft“ beschreibt einen in erster Linie ökonomischen Strukturwandel von der Industrieproduktion und -arbeit hin zu einer ‚wissensbasierten Ökonomie‘. Nico Stehr (1994), einer der Protagonisten dieser Diskussion, betont, es handele sich dabei gerade wegen der allseitig verteilten und erhobenen Wissensansprüche um ‚zerbrechliche Gesellschaften‘. Neben den allseitigen Wissenszuwachs und einen Zuwachs an Handlungsvermögen auf der Seite der Individuen trete ein Verlust des Vertrauensvorschusses in Expertenwissen unterschiedlichster Art. Auch gewinnen in diesen Gesellschaften spezifische Wissenspolitiken, d.h. Programme und Konflikte um die Erzeugung von spezifischem Wissen besondere Bedeutung.
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Gewiss akzentuiert die Rede von der ‚Wissensgesellschaft‘ gerade in ihrer ökonomistisch reduzierten Verwendung nur einen Aspekt gegenwärtiger gesellschaftlicher Wandlungsprozesse. Diese müssten – wie das bspw. in der Theorie reflexiver Modernisierung der Fall ist (Beck/Bonß 2001; Beck/Lau 2004) – ergänzt werden um Prozesse der Individualisierung, der Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen, der Hybridisierung von Natur-Gesellschaftsgrenzen, der Kosmopolitisierung u.a. mehr, die allesamt zu einer bildungs- und kompetenzrelevanten Veränderung von Bildungskontexten beitragen (vgl. Keller 2009). Im Zusammenhang des vorliegenden Bandes kommt jedoch der ‚Situationsdefinition‘ der Wissensgesellschaft eine hervorgehobene Bedeutung zu, weil sie bereits seit einiger Zeit unmittelbare bildungspolitische und bildungspraktische Handlungskonsequenzen auf nationaler, EU-weiter und globaler Ebene entfaltet: „Wenn das Lernen gelehrt und gelernt werden soll, rücken ‚Schlüsselqualifikationen‘ in den Vordergrund. Das Lissabonner EU-Memorandum bestimmt diese als Kompetenzen, die ‚Voraussetzung sind für eine aktive Teilhabe an der wissensbasierten Gesellschaft und Wirtschaft‘. Sie sollen es den Bürgerinnen und Bürgern ermöglichen, sich eine Identität zu erarbeiten und Lebensziele vorzugeben.“ (Tuschling 2004: 157) Entsprechend leitet die Bildungsforschung aus der Diagnose der Wissensgesellschaft die Anforderung an die Individuen ab, sich auf lebenslanges Lernen einzustellen und entsprechende Kompetenzen des individuellen Wissensmanagements auszubilden. Das ist die neue ultimative Maxime des Arbeitsmarktes: „Kontinuierliches Erlernen neuer Wissensbausteine, Erweiterung von Kompetenz ist zwingend notwendig, um den neuen Anforderungen der Organisationen und Unternehmen gerecht zu werden. Längere Ausbildungszeiten, fortlaufende Um- und Weiterbildungsprogramme, lebenslange Kompetenzentwicklung werden dabei immer selbstverständlicher.“ (Tippelt et al. 2003: 349) In dieser Perspektive bedeutet Wissensgesellschaft in erster Linie eine enorm beschleunigte Entwertung angeeigneter Wissensbestände und Fertigkeiten auf dem Arbeitsmarkt, die es durch veränderte Bildungsprozesse aufzufangen gilt. Die Rede ist nicht nur vom individuellen Kompetenzmanagement, sondern auch von der Kompetenzbiographie, in der sich die Bildungssubjekte permanent und eigenständig ‚upgraden‘ (vgl. ebd.): „Eine Kompetenz ist dabei mehr als die Summe der aktivierten Ressourcen. Ressourcen sind: Temperament, Begabungen, kulturspezifische Erfahrungen, Interessen, Motive, implizites und explizites Wissen, Fakten- bzw. lexikalisches Wissen, Fertigkeiten, Erfahrung in ähnlichen Situationen, physische Ressourcen (z.B. Kraft, Schnelligkeit, Geschicklichkeit), soziale Ressourcen, Zugänge zu Wissen und Erfahrung.“ (zit. nach dem deutschen Bildungsserver; wiki-Bildung, www.bildungsserver.de, Zugriff vom 20.1.2009)
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Heinz Bude hat kürzlich darauf hingewiesen, dass ein solcher Kompetenzbegriff keineswegs ‚unschuldig‘ ist. Vielmehr handelt es sich um eine spezifische Zuschneidung, die Vieles und Viele ausblendet, die über Fähigkeiten und Fertigkeiten gänzlich anderer Art verfügen, als es die Marktchancen der Wissensgesellschaft zu verlangen scheinen: „Auffällig sind jedenfalls die Defizitdiagnosen, die auf klaren und scharfen Vorstellungen darüber beruhen, was man in der modernen Welt der Schrift braucht, um wertvolle Güter zu erwerben und persönliche Projekte zu verfolgen. Das Lachen gehört genausowenig dazu wie die Fähigkeit zum Unterlaufen, Überspielen und Aushebeln von disziplinierenden Anforderungen und festlegenden Ansprachen. Das Anderssein wird zum Defekt. (...) So besiegelt die sekundäre Stigmatisierung durch eine Gemeinde von Bildungsforschern die institutionelle Segregation dieser bildungspolitischen Problempopulation. Die bessere Beschulung verheißt eine unbestimmte Zukunft für eine Gruppe, die auf die bestimmte Vergangenheit ihrer Herkunft festgelegt wird.“ (Bude 2008: 102f) Bude spricht in Anlehnung an früher gängige Politund Analysefloskeln von einem „bildungsindustriellen Komplex“ aus Experten, politischen Unternehmern, privaten Bildungsanbietern u.a.m. und deren „Machbarkeitsphantasien“, die sich die Bevölkerung zum lohnenden Objekt ihrer (auch ökonomischen) Begierde auserkoren haben. Dieser Komplex vertrete einen „funktionalen Begriff von Bildung“, dem es in erster Linie um den Beitrag der Bildung zum ökonomischen Reussieren des Einzelnen und seines Landes gehe, um ein „‚Kapital‘ der Selbstdurchsetzung und Sozialformierung.“ (ebd.: 103) Bildung ist einem Projekt der Ökonomisierung und Vermarktlichung unterworfen, in dem sich zunehmend Anbieter/Kunden-Konstellationen etablieren, nicht nur in den Universitäten. Außerhalb bzw. an den Rändern der Bildungssoziologie sind die entsprechenden Problematisierungen und Transformationen von Bildungspraxis verschiedentlich aus einem weiteren Blickwinkel in den Blick genommen worden. Dies gilt bspw. für die Strategien der ‚Eliten- und Exzellenzbildung‘ an den deutschen Hochschulen und deren Kritik (Münch 2006) oder den europäischen Bolognaprozess (z.B. Schultheis et al. 2008; Dippelhofer-Stiem 2008). Prisching (2008) beschreibt in seinem „zeitdiagnostischen Essay an der Schwelle von Wissensgesellschaften“ unterschiedliche „Bildungsideologien“, die derzeit im Wettstreit miteinander liegen. Den wohl weitesten Bezugsrahmen für die Analyse von Bildungssystemen und -prozessen nutzen John Meyer und seine Mitarbeiter. Sie sprechen von einer „globalen Standardisierung der Bildung“ (Meyer/Ramirez 2005), die sich nach neo-institutionalistischer Lesart aus dem Modell des Nationalstaates, aus globalen Diffusions- und Nachahmungsprozessen kultureller Vorbilder ergeben. Eine Vielzahl international vergleichender Untersuchungen zu Lehrplänen, Organisationsformen und institutionellen Strukturierungen der Bildungsprozesse fügen sich zu folgendem Bild zusammen: „In
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einer Weltkultur, die Bildung als wichtigen Bestandteil von Fortschritt definiert, gehören die Bildungsstrategien der dominanten Länder zu den ersten Dingen, die kopiert werden. (...) Zusätzlich zu direkten Anleihen oder Imitationen betreiben die einzelnen Länder jetzt zunehmend die Inszenierung von allgemeineren oder abstrakteren Blaupausen oder Drehbüchern der Bildung, zum Beispiel von pädagogischen Theorien und Lehrplänen, die angeblich ein aktives Lernen oder ein Lernen des Lernens fördern. (...) Eine vorhandene Weltordnung stellt den einzelnen Ländern jetzt Modelle zum Kopieren zur Verfügung. Ein dichtes Netzwerk internationaler Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen einschließlich der UNESCO und der Weltbank erarbeitet klare Definitionen der Probleme, deren Lösung Bildung ist, und der Typen von Bildung, die dafür am besten geeignet sind. (...) Der dritte und wahrscheinlich wichtigste Aspekt ist der, daß Bildung als rationalisierte Institution immer mehr verwissenschaftlicht wird und die Praktiker des Bildungssystems immer mehr professionalisiert werden. Ausgefeilte, standardisierte wissenschaftliche und professionelle Analysen über die Eigenschaften und Vorzüge der Bildung durchziehen die globale Kommunikation. (...) Die Professionalisierung und Verwissenschaftlichung der Bildung beschleunigt die weltweite Kommunikation und Standardisierung und umgekehrt.“ (Meyer/Ramirez 2005: 219f) Ergänzt wird diese großformatige Diagnose durch Analysen in der Tradition der aus dem Foucaultschen Spätwerk heraus entfalteten Gouvernementalitätsforschung. Letztere konstatiert, bezogen auf die europäischen und damit auch deutschen Bildungsfelder und die dort in den letzten Jahrzehnten eingeführten Programmatiken eine ökonomische Gouvernementalisierung von „Bildungsräumen“ im Gestalt von Diskursen und institutionellen Transformationsprozessen. Darin mutieren einerseits die Lernenden durch Selbsttechnologien zum „unternehmerischen Subjekt“ (vgl. Bröckling 2007), während andererseits auch die Bildungsinstitutionen und ihr Personal ihrerseits zur bspw. „unternehmerischen Hochschule“ sich wandeln (Masschelein/Simons 2005; Ricken/Liesner 2008; Rößer 2006): „Selbstmobilisierung bedeutet, stets und ständig, immer und überall sein Humankapital ‚arbeiten zu lassen‘ oder darin zu investieren (...) Konkret läst sich diese Aufforderung zur Selbstmobilisierung und zum ‚Arbeiten lassen‘ an Begriffen wie ‚Kompetenzen‘ und ‚employability‘ oder ‚Einsatzfähigkeit‘ verdeutlichen. Unter Kompetenz wird zumeist die Fähigkeit verstanden, in einer bestimmten Situation eine Aufgabe erfüllen zu können. Diese Fähigkeit umfaßt eine Gesamtheit von Fertigkeiten und Einstellungen. So enthält der Text, der die Basiskompetenzen für Lehrkräfte in Flandern festlegt, eine ‚Beschreibung des Wissens, der Fertigkeiten und Einstellungen, über die jeder Universitätsabsolvent verfügen muß, um vollwertig als Berufsanfänger funktionieren zu können‘.“ (Masschelein/Simons 2005: 37f)
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Aus der neo-institutionalistischen und der gouvernementalen Perspektive lassen sich spezifische Hinweise für die erste anvisierte Erweiterung bildungsund kompetenzsoziologischer Forschungsperspektiven gewinnen. Die Analysen von Meyer u.a. zeigen nachdrücklich, dass nationale – und damit auch bundesdeutsche – Bildungskontexte nicht als isolierte Inseln der Bildung analysiert werden sollten. Allerdings kann die ihnen unterlegte Makroperspektive kaum die spezifischere Frage beantworten, wie sich die beschriebenen Transformationsprozesse in den einzelnen Ländern vollziehen und neuartige ‚glokale‘ (Roland Robertson) Bildungsräume entstehen lassen. Zwar wird den Prozessen der „Institutionalisierung“ (im Sinne von Peter Berger & Thomas Luckmann) von kulturellen Regelwerken der Bildung große Beachtung geschenkt, aber die Frage nach deren je spezifischer „diskursiver“ Konstruktion fällt aus dem Blick (ein Defizit, das Meyer u.a. zugestehen). Umgekehrt nutzen die Arbeiten der Gouvernementalitätsforschung den Diskursbegriff gleichsam selbstverständlich, ohne jedoch das konkrete Prozessgeschehen, die implizierten Akteurskonstellationen, Ressourcen und diskursiven Auseinandersetzungen in ihrer soziohistorischen Einbettung und die daraus enstehenden Strukturierungen der Bildungsräume in den Blick zu nehmen. Insofern beschreiben sie in erster Linie destillierte Programmatiken des Bildungsumbaus, ohne deren Genealogie, ihr materiales Hervortreten und ihre gesellschaftlichen Effekte genauer zu fassen. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse (Keller 2008a) formuliert hier ein Theorie- und Forschungsangebot, das die beschriebenen Schwachstellen beider Ansätze ausgleichen kann. Die daraus zu entwickelnde Analyse der „Problematisierung von Bildung“ (im Sinne des Foucaultschen Konzepts der Problematisierung, vgl. Keller 2008b: 59ff) zielt auf die sozio-historischen Figurationsprozesse von Bildung und die diskursive Formierung von ‚Kompetenz‘, ohne die Diagnose der Wissensgesellschaft als reale oder real-fiktive Rahmenbedingung vorauszusetzen. 4.
Bildung, Kompetenz, Lebensführung – zur individualisierten Bildungspraxis der Gegenwart
Ich möchte mich nun in einem etwas kürzeren letzten Argumentationsschritt der zweiten Akzentsetzung einer erweiterten bildungs- und kompetenzsoziologischen Forschungsperspektive zuwenden. Diese richtet sich auf die handlungspraktischen Umgangsweisen von Individuen mit den bildungspolitischen Zumutungen einerseits, aber auch auf die Frage, welche anderen Erscheinungsformen jenseits der institutionalisierten Bildungsanforderungen Kompetenzbildung annehmen kann. Dabei wird grundsätzlich von der Individualisierungsdiagnose der Theorie reflexiver Modernisierung ausgegangen. Diese bezeichnet Prozesse
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der „institutionalisierten Individualisierung“ (zuletzt: Beck 2008: 123ff), die Individuen in unterschiedlichsten Handlungsfeldern in Situationen der chancenund risikoreichen Wahl und Entscheidung versetzen, und entsprechend Verantwortung zurechnen. In der bildungswissenschaftlichen Diskussion wird dieses Thema inzwischen als Übergang von der planbaren und institutionalisierten Bildungskarriere zur (riskanten) Bildungsbiographie aufgegriffen und als neue Herausforderung an Bildungs- und Lernprozesse beschrieben (Rauschenbach 2005; Harney/Rahn 2003; Kade 2003; Alheit/Dausien 2002). Hinzu kommen eine steigende hybride Kulturalität der sozialen Beziehungen und alltäglichen Erfahrungen durch Globalisierungs- und Transnationalisierungsprozesse, die immer weiter reichende Medialisierung der Wissensvermittlung und der sozialen Begegnungen (bspw. im Web 2.0) oder die Transformationsprozesse in der Erwerbsarbeit. Darauf lässt sich die im Rahmen der Theorie reflexiver Modernisierung entwickelte These beziehen, dass es sich bei der „Wissensgesellschaft“ zugleich – und dies mag zunächst paradox erscheinen – um eine ‚NichtWissensgesellschaft‘ handelt (vgl. dazu Wehling 2006). Schon vor einiger Zeit hatte Anthony Giddens die besondere Lage moderner Gesellschaften mit der ‚Enttraditionalisierung‘, also dem Verlust der handlungsprägenden Kraft der Traditionen bestimmt. Zugleich wies er auf die wachsende Bedeutung von Expertensystemen für alle Bereiche der Handlungspraxis hin. Die Anerkennung von Expertenwissen setzt Vertrauen voraus. Die beschleunigte Erfahrung des Veraltens, aber mehr noch die der Komplexität, Heterogenität, Umstrittenheit, Spezialisierung und Fragmentierung von Expertenwissen untergräbt jedoch dieses Vertrauen. Auch die in den Massenmedien zirkulierenden Wissenskonflikte etwa im Bereich der Finanzmärkte, der Zukunftsprognosen, der Umweltprobleme, insgesamt der politischen und ökonomischen Gestaltungsprozesse vermitteln eine generalisierte gesellschaftliche Erfahrung dessen, dass man weiß, nichts sicher zu wissen. Die entgrenzte Wissens- oder Informationsflut, die Wissenskonkurrenz zwischen formalen und informellen Bildungsorten, für die das Internet mit seinen Suchmaschinen paradigmatisch steht, bilden weitere Mosaiksteine der ‚Ungewissheit‘. Dadurch entstehen permanente Irritationen des Handelns, Situationen also, in denen gehandelt werden muss, ohne dass dafür eine angemessene Wissensgrundlage vorhanden ist. „Handlungs-Kompetenz“ meint in dieser unübersichtlichen Gemengelage das Aushalten und ‚Bearbeiten‘ einer permanenten Konfrontation mit der Unüberwindbarkeit von NichtWissen. „Lebenslanges Lernen“, so schreibt Tuschling (2004: 158), trete in Erscheinung „als Technik der Selbstführung mit dem Telos eines umfassenden Wandlungs- und Anpassungsvermögens. (...) Freiheit von der Forderung, lernen zu müssen, gibt es erst mit dem Tod.“ Diese Feststellung bezieht sich jedoch auf die Ebene der gegenwärtig hegemonialen Bildungsprogrammatik und adressiert
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eine spezifische Weise ökonomistisch individualisierter Lebensführung, die allenfalls einen Teil oder einen Typus der angesprochen Individualisierung meint (vgl. Beck 2000). Handlungskompetenz in einem weiteren Sinne lässt sich im Horizont der Theorie reflexiver Modernisierung als (wie auch immer) gelingender Umgang mit „Modernisierung als Handlungsproblem“ (Hitzler 1999), d.h. vor allem: im Umgang mit Entscheidungen unter vielfältigen Ungewissheitsbedingungen begreifen. Dies markiert einen deutlichen Unterschied zu Fragen nach dem ‚Lebenslangen Lernen‘ und der Einbindung von Bildungsprozessen in den Lebenslauf, die einen zeitlichen Längsschnitt anvisieren. So hat bspw. der Frankfurter Erziehungswissenschaftler Jochen Kade (2003) in seinen Plädoyers für die Anerkennung der Rolle des ‚Nicht-Wissens‘ gegen das Konzept des lebenslangen Lernens eingewandt, dessen Problem sei eben auch, dass man ja nicht wisse, wofür zu lernen sei und auch um die Konsequenzen und Erträge des Lernens nicht weiß; insoweit handelt es sich bei Lernentscheidungen um ‚riskante Entscheidungen‘ (vgl. Helsper et. al. 2003). Die in den bildungspolitischen Diskussionen angesprochenen arbeitsmarktbezogenen Kompetenzen beziehen sich nur auf einen Teil des umfangreichen Kompetenzspektrums der Lebensbewältigung. Dem gegenüber stehen nicht nur alltagspraktisch vielfältige Brechungen und Verflechtungen von institutioneller Adressierung und bspw. privater, familialer Bildungsarbeit, also die Seite der Reproduktion der Bedingungen, unter denen schulische und hochschulische, auch berufliche Bildung erst funktionieren kann. Zusätzlich lässt sich mit Bude festhalten, dass Kompetenzen einer erfolgreichen Alltagsbewältigung völlig anders in Erscheinung treten können und dass nicht per se davon ausgegangen werden kann und sollte, dass die Adressierung des unternehmerischen Bildungs-Subjekts erfolgreich ist. Mit Bezug auf die berühmte Studie von Paul Willis zum „Spaß am Widerstand“, die im Original den Titel „Learning to labour“ trägt, heißt es bei Bude zur gegenwärtigen Bildungsdiskussion: „Die Widerständigkeit der Betroffenen, ihre Eigenständigkeit als Subjekte und ihr Anspruch auf Subjektivität kommt in diesem Denken nicht mehr vor.“ (Bude 2008: 105). Willis hatte im Rahmen einer Schulethnographie danach gefragt, wie das, was aus Sicht der Institution eine ‚Störung des Unterrichts‘ bedeutet, aus der Perspektive der Störer als Vorbereitung auf deren zukünftiges Arbeitsleben und die dort erforderlichen, freilich durchaus ‚bildungsfernen‘ Kompetenzen verstanden werden kann. Eine erweiterte Kompetenzforschung kann in diesem Sinne danach fragen, was in unterschiedlichen gesellschaftlichen Handlungsfeldern und Milieus als Kompetenz gilt und nachgefragt wird: Improvisieren, Organisieren, die Klappe halten, Späße machen, einen Blog-Eintrag verfassen, Freunde in Facebook zu gewinnen usw. Ein bildungssoziologischer Anschluss an diese Perspektive impliziert, nicht länger die Anpassung der Bildungssubjekte an die Erwartungen zu fokussieren, sondern sich umgekehrt den
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vielfältigen Subversionen dieser Erwartung und ihrer Einbettung in unterschiedlichste Ordnungen der ‚Aushandlung‘ unter Individualisierungsbedingungen zu nähern. Die Rede davon, Bildung solle zur eigenständigen und aktiven Lebensführung befähigen, bekommt vor diesem Hintergrund eine andere Wendung, die sich mit dem von Günter Voß, Werner Kudera u.a. ausgearbeiteten Konzept der „alltäglichen Lebensführung“ präzisieren lässt. „Alltägliche Lebensführung“ ist „der systematische Ort, an dem Personen in ihrem praktischen Alltagshandeln die gleichbleibenden oder wechselnden Anforderungen der unterschiedlichen, gesellschaftlich ausdifferenzierten Arbeits- und Lebensbereiche sowie ihre sozialen Beziehungen koordinieren, synchronisieren und integrieren müssen. Alltägliche Lebensführung ist der individuelle Handlungsrahmen, in dem die Personen ihre Lebenskonzepte, Bedürfnisse und Ansprüche mit den gegebenen Möglichkeiten, Risiken und Notwendigkeiten permanent ausbalancieren müssen. Alltägliche Lebensführung ist schließlich Basis und Medium, in dem Stabilität und Kontinuität der individuellen Existenz auf der Ebene des Alltagshandelns produziert und reproduziert werden.“ (vgl. Kudera 1995: 7f). „Lebensführung“ verweist auf die gestaltgebende, prekäre und „bastlerische“ Anstrengung von Individuen, die verschiedenen heterogenen Bereiche ihres Alltagslebens – Arbeit, Familie, Freizeit – zu verbinden und im alltagsorganisatorischen Vollzug abzustimmen. Meine These ist, dass das Konzept der ‚alltäglichen Lebensführung‘ einen analytischen Zugriff auf die horizontale Situiertheit von Bildungsprozessen und Kompetenzen eröffnet, welche die bisherige, vorwiegend an Kategorien der Sozialstrukturanalyse und institutionalisierten Bildungskarrieren orientierte Bildungssoziologie in einem wichtigen Punkt ergänzt. Denn damit kommen die alltagspraktisch aktiven ‚Bildungsunternehmungen‘ sozial eingebetteter Individuen in einer Querschnittsbetrachtung, d.h. in ihrer Vermittlung mit anderen Bereichen des alltäglichen Lebensvollzugs in den Blick. Das geht nicht in den existierenden bildungsbiographischen Fragestellungen auf. In Umkehrung der Bildungsforschung gilt es, Lebensführung nicht als Ergebnis mehr oder weniger gelungener Bildung, sondern als Ort oder Handlungsrahmen für einen multipelhybriden Kompetenzerwerb sowie die Auseinandersetzung mit Bildungsprozessen zu verstehen, in dem sie in Lebenspraxis eingebettet sind und durch diese geformt werden. Diese These lässt sich in Forschungen umsetzen, die in einem ersten Schritt den Stellenwert von Bildungsprozessen und Kompetenzen im Rahmen der Lebensführung empirisch genauer zu bestimmen trachten.5 Wie
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Vgl. auch einige Arbeiten und Projektthesen am ausgelaufenen Bremer SFB 186 über ‚Statuspassagen und Risikolagen im Lebenslauf‘ (bspw. Projekt 1 von Walter Heinz und Helga Krüger über ‚Soziale Ungleichheit und Geschlechterverhältnis im Wandel‘).
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also werden Bildungsprozesse in den Querschnitt alltäglicher Lebensführung als Praxis integriert (z.B. zeitlich, über Alltagstheorien, usw.), welcher ‚Nutzen‘ wird daraus gezogen und wie unterscheidet sich das nach bekannten und unbekannten Kategorien sozialer Lagen (Schicht, Geschlecht, ethnische Herkunft, Alter, Familienstand)? Welche Rolle spielen dabei die unterschiedlichsten Medien, Arenen, Orte der Bildung? In einem zweiten Schritt lässt sich das noch einmal auf die skizzierten Diagnose des Nicht-Wissens hin ausrichten: Wie erscheint Nicht-Wissen in paradigmatischen Handlungssituationen im Rahmen der Lebensführung (bspw. in wichtigen biographischen Entscheidungen, in Bezug auf medizinische Diagnosen, im Hinblick auf alltagspragmatische Erfordernisse)? Welche Strategien des Umgangs mit Nicht-Wissen (Ignoranz; Ausweichen auf andere Wissensformen; permanente selbstgesteuerte Bildungsanstrengungen, Handlungsentlastung durch Traditionalität u.a.) werden verfolgt? Das Konzept der Lebensführung besitzt im Hinblick auf die Untersuchung der aufgeworfenen Fragen einige Vorteile gegenüber anderen möglichen forschungsbezogenen ‚Erdungen‘. Im Unterschied zum Begriff des Lebensstils bedarf derjenige der Lebensführung keiner Annahme einer einheitlichen, stilisierten und konsistenten Ausrichtung der Alltagspraxis (auch wenn das gewiss ein Sonderfall sein kann). Auch verweist „Lebensführung“ auf die aktive Vermittlung einer sowohl innerlichen wie äußeren Strukturierung der Handlungspraxis, die weder der Konsistenzannahmen des Habitus folgen muss noch nahelegt, in welcher sozialen Lage und für welche Handlungsprobleme erfolgreiche Kompetenzen im Umgang mit Nicht-Wissen entwickelt werden. So mag sich bspw. gerade die Gleichgültigkeit gegenüber konfligierenden Wissensansprüchen der Experten alltagspragmatisch als hilfreicher erweisen als die vorangetriebene Auseinandersetzung mit und Aneignung von Wissensangeboten (Poferl/ Keller 1994). Statt also danach zu fragen, wie organisierte Bildung die individuelle Kompetenz zum permanenten Wissenserwerb optimieren kann, plädiere ich dafür, zu untersuchen, welche Umgangsformen soziale Akteure im Rahmen ihrer Lebensführung mit den aufgeworfenen Problem und Unwägbarkeiten entwickeln. 5.
Vorläufiges Fazit
Die als zweite Erweiterung bildungssoziologischer Fragestellungen skizzierten Überlegungen lassen sich abschließend noch einmal rückbinden an die Frage nach der diskursiven Formierung von Bildungsinstitutionen und Bildungsprozessen. In öffentlichen, politischen, wissenschaftlichen, religiösen und ethischen Diskursen wird verhandelt, was gesellschaftlich als Bildung gilt, wie Wissen und Nicht-Wissen relationiert werden, welche Anforderungen an individuelles
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Bildungsverhalten als legitim gelten und welche Risiken der ‚Bildungsverweigerung‘ drohen. Bildungsdiskurse verbreiten und verfestigen das gesellschaftliche Motivvokabular (Charles W. Mills) und Interpretationsrepertoire (Keller 2008a), d.h. die Geschichten, Deutungen, Argumente und Problembezüge des Bildungshandelns. Sie konstituieren auch die materiellen Infrastrukturen der Bildung. Welche Rolle solche Bildungsdiskurse für die alltägliche Bildungspraxis im Rahmen der Lebensführung spielen, lässt sich nicht aus der Beobachterperspektive ableiten. Dass sich soziale Akteure damit auseinandersetzen, ist wohl unausweichlich. Wie dies geschieht, wäre zu untersuchen.6 Die vorgeschlagene Erweiterung bildungs- und komptenzsoziologischer Perspektiven versteht sich nicht als Grundsatzkritik an bisherigen Schwerpunktsetzungen. Eher sehe ich darin eine notwendige Ergänzung, um den gesellschaftlichen und alltagspraktischen Stellenwert von Bildungsprozessen und Kompetenzen in einer Weise soziologisch in den Blick zu nehmen, die den gegenwärtigen Wandel unserer Gesellschaften berücksichtigt und ihre Fragen nicht vorschnell dem (gewiss legitimen) gesellschaftlichen Problemlösungsbedarf unterstellt. Dabei die üblichen Fragen nach der optimalen Gestaltung von Bildung oder der Verbesserung der Bildungsgerechtigkeiten gegen den Strich zu kämmen, scheint mir eine lohnende und dringliche Aufgabe, deren gesellschaftlicher Nutzen freilich schwerlich in kurzfristigem Kalkül bestimmt werden kann.
Literatur Adorno, Th. W. (1970): Erziehung nach Auschwitz. In: ders.: Erziehung zur Mündigkeit, Vorträge und Gespräche mit Hellmuth Becker 1959 – 1969. Frankfurt/ Main, S. 92–109 ]1966] Alheit, P./Dausien, B. (2002): Bildungsprozesse über die Lebensspanne und lebenslanges Lernen. In: Tippelt, R. (Hg.), Handbuch der Bildungsforschung. Opladen, S. 569-589 Allmendinger, J./Aisenbrey, S. (2002): Soziologische Bildungsforschung. In: Tippelt, R. (Hg.): Handbuch der Bildungsforschung. Opladen, S. 41-60 Beck, U. (2000): Freiheit oder Kapitalismus. Frankfurt/Main Beck, U. (2008): Der eigene Gott: Von der Friedensfähigkeit und dem Gewaltpotential der Religionen. Frankfurt/Main Beck, U./Bonß, W. (Hg.) (2001): Die Modernisierung moderner Gesellschaften. Frankfurt/Main
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Dieser Frage geht bspw. Sasa Bosancic (Universität Augsburg) in einem Dissertationsprojekt nach, das sich mit den Widerständigkeiten gegenüber Weiterbildungsmaßnahmen bei ungelernten Arbeitern befasst. Laura Behrmann (Universität Augsburg) untersucht dagegen die Lebensführung der schul-‚erfolgreichen Mädchen‘.
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Kompetente Subjekte: Kompetenz als Bildungs- und Regierungsdispositiv im Postfordismus Boris Traue
Der im Kontext von Bildung und Arbeit verwendete Begriff der „Qualifikation“ wird zunehmend durch den umfassenderen und komplizierteren Begriff der „Kompetenz“ ergänzt und ersetzt. Aus wissenssoziologischer Warte ist die Ablösung eines Begriffs durch einen Anderen – und entsprechender Praktiken und institutioneller Strukturen – ein Symptom gesellschaftlichen Wandels, den es anhand der begrifflichen Neubestimmung und den Veränderungen der damit verbundenen Praxisformen zu erklären gilt. Im Folgenden interessieren nicht die sozialwissenschaftliche Verwendungsweise und (mögliche) substanzielle Definitionen des Kompetenzbegriffs, sondern eine ökonomische und historische Kontextualisierung des Geflechts von aktivierenden und responsibilisierenden Diskursen, Gattungen und Dispositiven, in denen der Begriff der Kompetenz eine zentrale Stellung einnimmt. Dabei stehen folgende Fragen im Vordergrund: Welcher Wandel der Produktionsweise hat die Erweiterung von Konzepten des Arbeitsvermögens begünstigt oder hervorgebracht, welche Formen von Expertise entstehen dabei, und wie verändern neue Produktionsweisen und Formen von Expertise das Verhältnis des Einzelnen zu sich selbst? Einen ersten Hinweis finden wir im zentralen Stellenwert, den Max Weber dem Begriff der Kompetenz in seiner Herrschaftssoziologie zuweist.1 Weber beschreibt die Grundzüge rationaler Herrschaft bekanntlich als „kontinuierliche[n] regelbundene[n] Betrieb von Amtsgeschäften, innerhalb: einer Kompetenz [Hervorh. M.W.] (Zuständigkeit), welche bedeutet: a) einen kraft Leistungsverteilung sachlich abgegrenzten Bereich von Leistungspflichten, — b) mit Zuordnung der etwa dafür erforderlichen Befehlsgewalten [...]“ (Weber 1972,
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Die Bedeutungsverschiebung, die der Begriff beim Übergang vom juridischen und staatswissenschaftlichen Bereich in die Pädagogik erfahren hat, ist hier unbestritten. Bedeutungsverschiebungen sind allerdings oft, und so auch hier, mit einem Übertrag von den alten zu den neuen Funktionen eines Ausdrucks verbunden. Kluges etymologischem Wörterbuch können wir entnehmen, dass sich die Begriffsverwendung, ausgehend vom lateinischen Partizip Präsens ‚competens‘ – gemeinsam Zuständigkeit verlangend – von kollektiven Zuständigkeitsbewerbungen über die Zuständigkeits- und Fähigkeitsfeststellung hin zur individuellen Fähigkeit verschoben hat.
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S. 125). Die abgrenzbare Zuständigkeit für einem Bereich, für den zugleich Leistungspflichten gelten, also steht im Mittelpunkt rationaler Herrschaft. Gilt dies für die pädagogische und bildungspolitische Verwendung des Ausdrucks ebenso, übertragen auf die Person? Handelt es sich bei der Beschreibung von Handlungen und Personen als „kompetent“ grundlegend um eine Zuständigkeitszuweisung, verbunden mit Pflichten ihrer Ausübung und gar einer Zuordnung von Befehlsgewalten? Die durch Michel Foucaults Vorlesungen der späten 1970er Jahre inspirierte Gouvernmentalitätstheorie bietet dabei einen Ansatz zur Analyse der Funktionalität und der Wirkungen eines diskursiven Ereignisses. Der Ansatz lenkt die Aufmerksamkeit auf die „Führung der Führung“ (Foucault 1993), d.h. auf die Techniken, die eine Ausrichtung der politisch-bürokratischen Interventionen mit den selbstregulativen Fähigkeiten von Individuen erlauben, wodurch diese Fähigkeiten zugleich gefördert und benutzt werden. Die Evaluation von Bildungsgängen und Arbeitsleistungen schließt die Bildungsbemühungen von Individuen an gesellschaftliche Verwertungszusammenhänge an. Das Regime der Kompetenz ist somit auch ein mediales Regime. In der Analyse soll deutlich werden, dass die Umstellung auf Kompetenz und ihre Evaluation einerseits Ausdruck einer zunehmenden Subjektorientierung von Bildungsprogrammen (und Bildungsbegriffen) ist, der gängige Kompetenzbegriff aber andererseits lediglich eine Anpassung des Qualifikationsbegriffs an postfordistische Verhältnisse darstellt — und damit nicht ohne Weiteres in der Lage ist, die mit ihm konnotierten reformistischen und emanzipatorischen Ansprüche einzulösen. Der Aufstieg des Kompetenzbegriffs und der korrespondierenden „audit culture“ (Power 1997) der Evaluation soll aber nicht (lediglich) als vertiefte Ökonomisierung von Bildungsprogrammen und Bildungsprozessen verstanden werden: Eine diskursanalytische Untersuchung der Hybridisierung von therapeutischer Kultur und Personalverwaltung, die im Folgenden zusammengefasst dargestellt ist, zeigt, dass der Erfolg des Kompetenzdiskurses die Erneuerung des Verhältnisses von Arbeitsverwaltung und Selbstführung anzeigt. Die (Selbst-)Beschreibung von Subjekten im Zeichen der Kompetenz verspricht eine Versöhnung von Selbstentfaltung und kapitalistischer Ausbeutung. 1.
Kredentialismus: Politische Ökonomie der Qualifikation im Fordismus
Im Zuge der Entfaltung der fordistischen Produktionsweise wurden, zunächst in den hochindustrialisierten Gesellschaften, beinahe alle Bildungsgänge und -abschlüsse formalisiert sowie von staatlichen Institutionen begleitet und überwacht. Die Zertifizierung von Bildung war bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts
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den Professionen und akademischen Berufen vorbehalten, deren Aufgaben als Kernbereiche staatlicher Ordnung und Leistung angesehen wurde. Das Endergebnis dieser Entwicklung hin zu einer Formalisierung und Bürokratisierung von schulischer und beruflicher Bildung insgesamt wird in den Sozialwissenschaften bekanntlich als Kredentialismus bezeichnet. Welche Funktion nimmt die kredentialistische Organisation der Bildung in der fordistischen Ökonomie wahr? Das staatlich beaufsichtigte Bildungswesen testet und misst Leistungen, vergleicht sie mit denen anderer Schüler, registriert und zertifiziert sie – und reguliert so die Zugänge zu Ausbildungsgängen. Das Kredentialien vergebende Bildungswesen verkoppelt damit die Institutionalisierung qualitativer und hierarchischer Differenzierungen in den Bildungsgängen mit den Berufsausbildungen und dazugehörigen Arbeitsplätzen sowie Erwerbschancen. Wie ist diese Verkopplung zu begreifen? Das Bildungswesen besitzt die selbst definierte Aufgabe, einen allgemeinen Bildungsauftrag wahrzunehmen, der, ausgehend von einer universitären Ausbildung des Klerus und der Professionen sowie einer von Zünften organisierten handwerklichen Lehre, verallgemeinert wurde. Dass die Verallgemeinerung dieses Bildungsauftrags auf eine qualifizierende Ausbildung aller Kinder und Jugendliche noch nicht abgeschlossen ist, zeigt sich am erklärten bildungspolitischen Ziel der EU, die Zahl der Schul- und Ausbildungslosen zu verringern. Neben der allgemein wohlfahrtswirksamen Leistung des Bildungswesens erfüllt dieses zum anderen eine Funktion im Rahmen der kapitalistischen Wirtschaftsweise. Besonders stark ausgeprägt ist – insbesondere im Rahmen des korporatistisch geprägten Verhältnisses zwischen Unternehmen und Staat – die Erwartung, dass das Bildungswesen Arbeitskräfte ,bereitstellt‘. Diese Arbeitskräfte sollen an ihre zukünftigen Aufgaben möglichst bereits durch die schulische Ausbildung herangeführt worden sein, und zwar hinsichtlich ihrer Qualifikationen, d.h. ihrer geprüften formalen Kenntnisse und ihrer Erwerbsorientierung bzw. ‚Motivation‘; beides soll wesentlich am Zertifikat ablesbar sein. Dass die Unternehmen das staatlich organisierte (im Fall der Privatschulen zumindest staatlich kontrollierte) Bildungswesen dafür zuständig halten, wird symptomatisch an den Klagen nicht nur der bundesdeutschen Unternehmen über einen Mangel an qualifizierten Bewerbern deutlich. Insbesondere im korporatistischen Arrangement sind Absprachen und Aushandlungen zwischen Unternehmen, Organisationen beruflicher Interessenvertretung und Vertretern des Bildungswesens die Regel. Berufe werden in diesem Kontext zugeschnitten und als staatlich anerkannte Ausbildungsgänge eingerichtet – mit einer ausgeprägten vertikalen und vergeschlechtlichten Segmentierung. Die Unternehmen verlassen sich größtenteils auf die Leistung des Staates. Der Bereitstellung von qualifizierten und zertifizierten Arbeitskräften liegt aber nicht nur das allgemeine Interesse an der Verfügbarkeit möglichst hoch qualifizierter Beschäftigter zugrunde.
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Die Selektion von Individuen im Ausbildungswesen ist zugleich mit einer Individualisierung als Rechtspersonen verbunden. Die Absolventen und Absolventinnen von Bildungsgängen sind arbeitsrechtlich verpflichtet, Leistungen zu erbringen, die von einer Person auf der jeweiligen Qualifikationsstufe zu erwarten sind. Auf diese Weise wird im Bildungswesen de facto auch die Arbeitvertragsfähigkeit der Zertifizierten festgestellt. Mit Zertifikaten dokumentieren Bildungsinstitutionen gegenüber potentiellen Arbeitgebern, dass eine verwertbare Qualifikation vorliegt. Durch die Ergänzung der Qualifikationen durch Kompetenzen werden die Einzelnen stärker in diesen Dokumentationsprozess einbezogen; sie müssen lernen, ihre Vermögen selbst zu dokumentieren und im richtigen Augenblick zu inszenieren. 2.
Kompetenz und Postfordismus
Der Kredentialismus ermöglicht eine Kontrolle über den Zugang zu Arbeitsplätzen – und dient damit zur legitimen sozialen Schließung von Berufsgruppen. Seit etwa zwanzig Jahren wird er jedoch wie eingangs erwähnt durch ein System ergänzt, „das nicht mehr ausschließlich auf der ,äußerlichen‘, d.h. staatlich anerkannten Verleihung von Bildungstiteln („Qualifikationen“) durch Bildungsinstitutionen beruht, sondern auf der Feststellung von ‚innerlichen‘ Eigenschaften der Person. Diese Eigenschaften werden durch die Personen selbst oder autorisierte Experten festgestellt. Beides, Qualifikationen und Kompetenzen, sind für den Marktwert des angebotenen Arbeitsvermögens relevant. Qualifikationen werden durch staatliche oder staatlich kontrollierte Stellen zertifiziert, Kompetenzen sind dagegen nicht formal prüfbar; sie können aber dargestellt und evaluiert werden. Diese Evaluationen folgen nicht immer den Formalitäten der Gattung Prüfung, dienen aber der Entdeckung einer Wahrheit über Personen, vermittelt durch evaluierende „tests“ (vgl. Ronell 2005). Beispiele für diese Form von Evaluation sind Bewerbungsgespräche (vgl. Truschkat 2008 und in diesem Band), Arbeitsbewertungen, ‚Feedback‘, Mitarbeitergespräche etc. Die staatliche und betriebliche Förderung und Messung von ‚Kompetenz‘ zielt darauf ab, das Verhältnis des Einzelnen zum Arbeitsprozess zu vertiefen – angeleitet etwa von der Humankapitaltheorie (siehe unten). Bildungsexperten reagieren auf diese Veränderung betrieblicher Anforderungen – und teils auch Forderungen der Beschäftigten (vgl. Baethge 1991) – mit einer Modifizierung ihres Verständnisses des staatlichen Bildungsauftrags. Eine Datierung dieses Übergangs ist auf gewisse Weise willkürlich; der Zeitpunkt, zu dem der angesprochene Wandel in einer breiteren Expertenöffentlichkeit offiziell wurde, ist in Deutschland die Einführung des Begriffs der „Schlüsselqualifikationen“. Der Volkswirt Dieter Mertens, damaliger Leiter des Insti-
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tuts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, führt diesen Begriff 1972 auf der ‚3rd World Future Research Conference‘ in Bukarest ein. Er versteht darunter überfachliche Qualifikationen, die Folgendes umfassen können: „Förderung der Fähigkeit zu lebenslangem Lernen und zum Wechsel sozialer Rollen, Distanzierung durch Theoretisierung, Kreativität, Relativierung, Verknüpfung von Theorie und Praxis, Technikverständnis, Interessenanalyse, gesellschaftswissenschaftliches Grundverständnis; Planungsfähigkeit; Befähigung zur Kommunikation, Dekodierungsfähigkeit; Fähigkeit hinzuzulernen, Zeit und Mittel einzuteilen, sich Ziele zu setzen, Fähigkeit zur Zusammenarbeit, zur Ausdauer, zur Konzentration, zur Genauigkeit, zur rationalen Austragung von Konflikten, zur Mitverantwortung, zur Verminderung von Entfremdung, Leistungsfreude“, und zusammenfassend: „Die mentale Kapazität soll nicht mehr als Speicher von Faktenkenntnissen, sondern als Schaltzentrale für intelligente Reaktionen genutzt werden. Bildung bedeutet hier vor allem Befähigung zur Problembewältigung, Schulung ist Denkschulung. […] Schlüsselqualifikationen sind demnach solche Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten, welche [...] a) die Eignung für eine große Zahl von Positionen und Funktionen als alternative Optionen zum gleichen Zeitpunkt, und b) die Eignung für die Bewältigung einer Sequenz von (meist unvorhersehbaren) Änderungen von Anforderungen im Laufe des Lebens“ (Mertens 1974, S. 7f) erbringen. Diese Definition zeigt an, wie die bildungspolitische Erfassung der menschlichen Vermögen auf das Denken selbst und das affektive und kognitive Verhältnis zu sich selbst ausgedehnt wird. Mertens spricht hier auch von der „allgemeine Basisqualifikation ‚Lernfähigkeit‘, die durch ‚Lernen lernen‘ vermittelt werden soll“ (ebd., S. 40). Schlüsselqualifikationen, und dies ist der Unterschied zu zertifizierbaren Qualifikationen, sind keine Qualifikationen im formalen Sinn. Daher sind sie auch nicht auf formale Ausbildungszeiten beschränkt.2 Insbesondere in der Europäischen Bildungspolitik wurde die einflussreiche Vorstellung eines ‚lifelong learning‘ entwickelt, die auch die bundesdeutsche Bildungspolitik (vgl. Engemann/Tuschling 2006) geprägt hat: die lebenslange Arbeit an den eigenen Vermögen soll durch eine Bildungspolitik flankiert werden, die die Entfaltung dieser Vermögen ermöglicht. Die Stellung der Kompetenzen in den postfordistischen Arbeitsverhältnissen besteht nicht nur in einer modifizierten Zuschreibung von ‚employability‘, sondern in der Neuausrichtung des Verhältnisses der Arbeitsvermögen zum
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Die Vorstellung einer ‚non-formal-education‘ wurde schon 1947 durch die UNESCO in einem Bericht über Bildung in der Dritten Welt geprägt: ‚Fundamental Education: Common Ground for All People‘.
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Arbeitsprozess und zum eigenen Körper, zur eigenen Seele. Kompetenzen liegen im besonderen Verantwortungsbereich der Person selbst, da sie in besonderer Weise in der individuellen, vor allem der inneren, etwa motivationalen Eignung begründet sind, und nicht in einem abprüfbaren fachlichen Leistungsspektrum. Während eine Qualifikation durch den ‚Gang‘ durch ein Bildungsprogramm erlangt wird, müssen Kompetenzen vom Einzelnen – mit Unterstützung von Beratern – selbst entfaltet werden. Kompetenzen gelten als Eigenschaften der Gesamtperson, die, ähnlich wie ‚Talent‘, nie ein für allemal ausgereizt sind und damit eine Unabschließbarkeit aufweisen. Sie lassen sich nicht, wie etwa ein höchster Bildungsabschluss ‚erlangen‘, sondern sie zeichnen sich durch ein virtuelles Mehr aus, für dessen Aktualisierung die Einzelnen, im Anschluß an Max Webers Definition, zuständig sind. Damit trägt der Kompetenzbegriff zur Responsibilisierung (vgl. Rose 1989, Cruikshank 1993) des Einzelnen in postfordistischen Arbeitsverhältnissen (vgl. Voß/Pongratz 1998), im ‚neo-sozialen‘ Wohlfahrtsstaat (vgl. Lessenich 2009) sowie in der Gesundheitsvorsorge (vgl. Greco 2004) bei, insofern Kompetenzkonzepte und -praktiken in diesen Bereichen zum Tragen kommen. Indem nicht nur der Berufsmensch, sondern gewissermaßen der ganze Mensch thematisiert wird, kommt dem Kompetenzbegriff auch eine besondere appelative Qualität zu. Die Anrufung des Kompetenzdiskurses lautet: Begreife dich als kompetent, oder werde kompetent, indem du dich selbst bearbeitest! Die Subjekte des Kompetenzdiskurses sind aufgerufen, sich selbst zu modellieren – zu ihrem eigenen Vorteil. Poststrukturalistische Autoren vertreten seit den späten 1970er Jahren die These, die aus dem Marxismus der 1970er Jahre stammende Unterscheidung zwischen Arbeit und Affekt sei für eine Analyse des postfordistischen Kapitalismus überflüssig geworden, da man „unabhängig von irgendeiner Arbeit Mehrwert schafft (das Kind, der Pensionär, der Arbeitslose, der Fernsehzuschauer)” (Deleuze/Guattari 1997, S. 681 zitiert nach Lazzarato 2002, 130). Walter Benjamins Unterscheidung zwischen Arbeit und Wahrnehmung wird dadurch ebenso prekär wie jene zwischen Arbeit und Konsum. Die Produktion der Subjektivität, so die poststrukturalistischen Autoren, ist Grundlage der Schaffung von Wert im informationellen Kapitalismus. Die Individuen sind dabei zunehmend aufgefordert, sich an der Ausgestaltung und Dokumentation ihrer Subjektivität, insofern diese marktrelevant wird, zu beteiligen. Der Topos der Kompetenz, d.h. ein alltägliches Verständnis von Vermögen als unterteilbare individuelle Fähigkeiten, bildet einen zentralen (normalisierenden) Bezugspunkt der alltäglichen Gestaltung von Erfahrungsweisen und Vermögen durch die Subjekte. Zugleich bieten die wissenschaftlichen Kompetenzkonzepte und ihre Operationalisierungen die Möglichkeit formalisierten Messung und Evaluation der Vermögen durch biographische Gatekeeper (vgl. Heinz 2002).
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Im Folgenden wird die Entwicklung der Dispositive, die den sich selbst steuernden, kompetenten Menschen hervorbringen (sollen), genauer in den Blick genommen. Der Kompetenzbegriff ist dabei, wie bereits erwähnt, nur ein begriffliches Konzept in einem ganzen Geflecht aus Begriffen, Gegenständen, Techniken und Figurationen, die auf die Aktivierung von Subjekten durch Beratung, etwa „Coaching“, abzielen. Ausgangsüberlegung ist dabei, dass sich seit den 1970er Jahren therapeutische und ökonomisch-manageriale Diskurse zunehmend verbinden und eine hybride Diskursgestalt annehmen — dies gilt insbesondere für das Feld der Beratung. 3.
Zur Genealogie der Verbindung von Personalverwaltung und therapeutischer Beratung
In welchem diskursiven und institutionellen Nexus stehen die Entwicklungen im Bereich der Therapie mit jenen im Bereich der Personalführung? Im folgenden Abschnitt soll zunächst die Geschichte der Personalentwicklungs-Dispositive nachvollzogen werden, um abschließend zu demonstrieren, wie das Vokabular des Managements und das Vokabular der Therapeutik in systemischen Beratungsformen wie dem Coaching zusammenfließen. Dieser Prozess ist durch den gemeinsamen Bezug auf die Kybernetik vermittelt und durch den Einsatz digitaler Medien sowie die Entstehung von durch digitale Medien ermöglichten visuellen Erfahrungen gestützt. Dem Arbeitsvermögen von Beschäftigten als solchem wird in der ökonomischen Theorie wie auch in der frühen Fabrikkultur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. In der Nachkriegszeit avanciert die Steigerung des individuellen Arbeitsvermögens hingegen zu einem der wichtigsten Themen der Ökonomie. Das Problem der Arbeitskraft wird zu einem bestimmenden Thema der Ökonomie und zum Geburtsproblem einer neuen humanwissenschaftlich-ökonomischen Disziplin, der Personalführung bzw. dem ‚Human Ressource Management‘. Die damit verbundenen Wissenspraktiken der Personalführung werden in diesem Abschnitt dargestellt. Die hier dargestellten Befunde sind Teil einer wissenssoziologisch-diskursanalytischen (vgl. Keller 2005) Untersuchung von Beratung (vgl. Traue 2008). Die betriebliche Menschenführung im fordistischen Produktionsmodell war weitgehend durch Praktiken der Einschließung und der Disziplinierung charakterisiert. Die Überwachung und Beeinflussung der Lebensführung von Arbeitern, z.B. in den Fabriken Henry Fords, folgte in etwa den polizeilichen Ansätzen, die im Bereich kommunaler Polizeiarbeit entwickelt worden waren. Erst allmählich bildete sich ein eigener Wissens-Macht-Komplex und damit auch Fachwissen über Personalführung heraus. Die ersten firmenübergreifenden, branchenbezogenen Versionen von Vorarbeiter-Handbüchern
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(‚Foreman’s Handbook‘)“ bilden die Anfänge der Professionalisierung der Personalarbeit (vgl. Leiter 1948). Vorarbeiter übernahmen allmählich allgemeine Bildungs- und Sozialisationsaufgaben, die darin bestanden, Betriebsangehörige in technische und bürokratische Prozeduren sowie in soziale Umgangsweisen einzuführen. Erst im Laufe der 1970er Jahre hat sich die heute übliche, ‚prozessorientierte‘ Organisations- und Personalberatung entwickelt, indem stärker sozialund humanwissenschaftlich orientierte Personalverwaltungsansätze zusammengeführt wurden. Vorbereitet wurde dies durch die von der Psychotechnik und der Human Relations-Bewegung entwickelten Ansätze seit der Jahrhundertwende. Damals führten Humanwissenschaftler Modellprojekte in Unternehmen durch und erste Industriezweige öffneten sich versuchsweise für therapeutische Zugänge der Humanwissenschaften (vgl. Breisig 1990). Die Herausbildung eigenständiger Abteilungen für das Personalwesen vollzieht sich in den USA und in Europa erst später; vor allem im Zuge eines Imports von Sozialtechniken aus der Psychologie in die Personalführung (vgl. Rose 1989), die im Rahmen umfassender betrieblicher Bildungsprogramme notwendig wurden. Dabei wurde die Psychotechnik Münsterbergs und anderer Psychologen in die Personalarbeit implementiert: Insbesondere die Eignungsdiagnostik, die Auswahl von Fachkräften sowie die systematische Schulung von Arbeitskräften an Maschinen wurde im Zuge dieses Verwissenschaftlichungsschubes eingeführt. Die heute in der Betriebswirtschaftslehre als ,Personalfunktion‘ bezeichnete ‚Managementfunktion‘ war noch im frühen zwanzigsten Jahrhundert zwischen den Vorarbeitern und dem Lohnbüro aufgeteilt. Das Lohnbüro war im wesentlichen für die Verwaltung der Daten der Arbeiter, die Buchhaltung sowie die Auszahlung der Löhne zuständig. Die Human Relations-Bewegung (vgl. Rose 1975) führte in der Industrie zu einer Abmilderung der fordistischen Fabrikdisziplin und der Monotonie industrieller Arbeit durch die Einführung von job-enrichment, job-enlargement und anderer Umgestaltungen der innerbetrieblichen Arbeitsteilung. Diese Formen der Restrukturierung lassen sich als Veränderung der Aufschreibesysteme des Wirtschaftens beschreiben. Das alte nationalökonomische Problem, welche Faktoren der Arbeit denn wertschöpfend seien, wird informationstechnisch gelöst: die Buchhaltungsverfahren des strategischen Managements versprechen eine Berechenbarkeit von Wertschöpfungsbeiträgen einzelner Produktionseinheiten. Dazu werden Unternehmen nicht mehr als jährlich oder vierteljährlich zu überprüfende Input-Output-Maschine behandelt, sondern mit einer engmaschigen Matrix von Erhebungspunkten verbunden. An diesen Erhebungspunkten werden in Echtzeit Parameter erhoben und vermittels Tabellierungen und Aggregationen zueinander in Relation gesetzt. Die betriebswirtschaftliche Gesamtrechnung wird somit durch ein Netz von Relationen ersetzt, dessen Quo-
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tienten als Ausdrücke einer parzellierten Wertschöpfung gelten. Dezentralisierung der Personalverwaltung bedeutet also im Kontext der betrieblichen Restrukturierung: Zentralisierung der Informationstechnologie bei gleichzeitiger Dezentralisierung der Steuerungsebenen. Kritik am zentralistischen Personalwesen wurde seitens avancierter Personalmanager und Akteure in der Wissenschaft seit seiner Einrichtung laut (es sei unflexibel und ineffizient). Aber erst im Zuge der Dezentralisierungswelle der späten 1980er und der 1990er Jahre setzte sich diese Kritik durch, begründet durch eine neue Aufgabenstellung des Personalmanagements. Die neuen Personalmanager beanspruchten in dieser Konstellation eine Zuständigkeit und Verantwortung für zunehmend wichtigere Erfolgsvariablen: die Qualifikation, Motivation und Flexibilität der Beschäftigten. Dabei handelt es sich nicht nur um einen konzeptgesteuerten Abbau hierarchischer Organisationsstrukturen, der sich an den ‚Vorgaben‘ des Marktes bzw. an Umgestaltungen der Rechenhaftigkeit orientieren. Die Ausgliederung von Unternehmens- und Arbeitsbereichen aus der zentralen Verwaltung wurde als ‚marktgesteuerte Dezentralisierung‘ (vgl. Bahnmüller/Fiesecker 2003) beschrieben. Dezentralisierung ist dabei üblicherweise als ‚strategische‘ Dezentralisierung gefordert und durchgesetzt worden, d.h. als Dezentralisierung, die sich eng am Erfolg auf Märkten orientiert. Kosteneinsparung, Effizienzsteigerung sowie die Erschließung von Produktivitätsreserven und Innovationspotentialen sollen nunmehr durch die Bildung von autonomen Unternehmenseinheiten und durch Outsourcing von Personalberatung erreicht werden. Die von der neoklassischen Ökonomie angeregte Humankapitaltheorie fungiert als Hintergrundannahme des humankapitaltheoretischen Kompetenzansatzes: 1961 wird Theodore Schultz’ „Investment in Human Capital“ veröffentlicht, 1964 Gary Beckers „Human Capital“. Beide Autoren befassen sich mit der ‚amorphen‘ Qualität von Selbstinvestitionen; diese lassen sich zwar schwer definieren, dafür aber anhand ihrer Wirkung messen. ‚Human investments‘, als Drittes neben Konsumption und Produktion, sichert eine Erweiterung des marktrelevanten individuellen Humankapitals und zugleich die Einbringung diese Kapitals in Wertschöpfungsprozesse. Mit dieser Neubestimmung betrieblicher Aufgabenbereiche wird zugleich ein normatives Raster und eine Vorlage für Subjektivierungsprozesse von Beschäftigten entworfen: der Imperativ zur Investition in sich selbst unter Aufrechterhaltung der eigenen Gesundheit und Konsumptionsfähigkeit ist in dieser Definition in nuce enthalten. Sie stellt zugleich eine selbstwidersprüchliche Figur auf, die ihre eigene Unabschließbarkeit enthält: Investitionen in Humanressourcen sind von der Allgemeinheit ermöglicht und werden vom Individuum vollzogen. Sie dürfen einerseits nicht in eine Askese der Beschäftigten umschlagen, die die Einsetzbarkeit, Flexibilität und Belastbarkeit der Arbeitskraft gefährden würde. Andererseits dürfen Beschäftigte
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aber auch nicht in eine Befriedigung ihrer Interessen und Bedürfnisse verfallen, die sie ‚marktunabhängig‘ werden lassen. Ziel der Humaninvestitionen ist es, eine verbesserte Selbtgenußfähigkeit der Beschäftigten (Bildung als Gegenstand intrinsischer Motivation) zu erreichen und zugleich ihre Produktivität zu steigern. Die Erziehung zum Genuss hochwertiger Konsumgüter soll den unvermeidbaren konsumptiven Überschuss der Bildungsinvestitionen in produktive Bahnen lenken. Was an reiner Selbstgenussfähigkeit Resultat der Bildung ist, soll entsprechend geformt werden. Der normative Kern der Humankapitaltheorie und ihres angewandten Zweiges, in Hinblick auf welchen die Theorie freilich entwickelt wurde, ihre Interpellation an die Subjekte ist damit zweifach: Einerseits enthält sie ein Verbot, Konsumgüter und sich selbst verschwenderisch zu genießen, andererseits enthält sie das Gebot, sich selbst im Dienst der Verfügbarkeit (für sich selbst und den Markt) zu pflegen. Als Ergebnis kann zunächst festgehalten werden, dass sich im Personalführungsdiskurs mit seinem Netz von Steigerungs- und Kontrolltopoi und seiner spezifischen neo-disziplinären Ordnung, die sich als Überschneidungspunkt von marginalistischer Ökonomie und Psychologie (und Sozialwissenschaft) erweist, die Umrisse einer biopolitischen Gouvernementalität abzeichnen. Allerdings verfügte dieser Diskurs in der Zeit seiner Formulierung noch nicht über die Mittel, d.h. die Medien zu seiner Durchsetzung. Entscheidend für die Durchsetzung der Programmatik des Humankapitals in der Personalführung ist die Entwicklung und Installation von Dokumentationsregimen und Aufschreibesystemen. Erst diese ermöglichen die Zurichtung von realen Akteuren auf das Idealmodell des geniessenden und zugleich in sich investierenden Beschäftigten. Im nächsten Abschnitt wird die Entstehung von alternativen therapeutischen Praktiken dargestellt, die in diese neue Form von Personalverwaltung eingelassen sind. 4.
Beratung und ihre Rolle in der Personalverwaltung
In den 1970er Jahren setzt eine Welle der Neuerfindung therapeutischer Praktiken ein, die durch die Entwicklung der humanistischen Therapien in den 1940er Jahren vorbereitet wurde (vgl. Willems 1994; Ehrenberg 2002; Traue 2008). Die Genealogie der alternativen Therapien wird hier anhand der Charakteristika des gegenwärtig vorläufigen Endpunkts dieser Entwicklung im sogenannten „Coaching” dargestellt. Coaching ist eine Beratungsform (mit einer spezifischen Programmatik der Selbstdeutung und Selbstmodellierung), die Ende der 1970er Jahre im Zuge der
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‚systemischen‘ Wende in der Therapie entstanden ist. Die Bezeichnung „Coaching“ trägt historisch zuerst eine verkehrstechnische Bedeutung: Die Bezeichnungen Coach, Kutsche, Carozza, Carruaje, Coche, Kareta sind vom Namen des ungarischen Städtchen Kocs abgeleitet, in dem im 16. Jahrhundert die ersten Pferdefuhrwerke mit Federung hergestellt werden. Um 1830 wird im Oxforder Universitäts-Slang als ‚coach‘ ein Tutor bezeichnet, der Studenten durch eine Prüfung ‚trägt‘. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wird der Begriff auf sportliche Ausbilder übertragen. Der Coach ist dabei für die Vermittlung von körperlichen Fähigkeiten verantwortlich, aber auch für die individuelle, ‚mentale‘ Betreuung des einzelnen Sportlers. Die Sport-Coaches besitzen gemäß der Sportpsychologie „sportlich-technische Fähigkeiten“, einen Blick für die „Eigenschaften und Bedürfnisse von Teilnehmern”, „pädagogischen Fähigkeiten”, und nicht zuletzt „wünschenswerte Persönlichkeits- und Charaktereigenschaften“ die im Kontext der Personalführung auf Berater übertragen werden. „Haben Sie die x-Eigenschaft – Energie, Enthusiasmus, Stabilität, Hingabe, Ehrlichkeit, Integrität, Mut, Loyalität, Sinn für Humor und andere wünschenswerte Persönlichkeits- und Charaktereigenschaften, die sich auf die Teilnehmer übertragen, die eher beiläufig als planvoll aufgegriffen werden, und die Stolz und Durchhaltevermögen produzieren, die notwendige Eigenschaften von Gewinnern sind?“ (Fuoss/Troppman 1981). Der Coach soll also nicht nur Technokrat und Virtuose sein, sondern auch Kraft eines Charismas wirksam werden. Seit Mitte der 1970er Jahre etabliert sich der Begriff im Feld der Beratung. Coaching als besondere Beratungspraxis wird in den Vereinigten Staaten bereits Ende der 1970er Jahre als ‚zielgerichtete und entwicklungsorientierte Mitarbeiterführung durch Vorgesetzte‘ begriffen. Ungefähr Mitte der 1980er erweiterte sich die Anwendung von Coaching in den Vereinigten Staaten auf junge Führungskräfte und wurde etwa zur gleichen Zeit im europäischen Raum aufgegriffen. In Deutschland werden in dieser Zeit die ersten Aufsätze veröffentlicht, die auf Coaching als Beratungsmethode aufmerksam machen. Anfang der 1990er Jahre werden die ersten Ausbildungsgänge für Coaching angeboten. Diese typischerweise mehrmonatigen Weiterbildungen werden unter anderem von Personalentwicklern absolviert, die anschließend ‚internes Coaching‘ für ihre Kollegen im Unternehmen anbieten. Ausgehend vom Topos des sportlichen Wettbewerbs kann hier eine erste These zur Funktion der Programmatik des Coaching formuliert werden: eine der Aufgaben des Coaching ist es, einen ,Spielsinn‘ für Konkurrenz herzustellen. Der Wettkampf soll allerdings nicht mehr durch eine Unterwerfung des Leibes unter einen stählernen Willen gewonnen werden, sondern durch die ‚Imagination‘ der Bewegungen, die im Wettkampf auszuführen sind. Die Technik der inneren bildhaften Vorwegnahme des sportlichen Wettbewerbs, das ‚innere Spiel‘, wird dabei auf die Motorik des Wirtschaftslebens übertragen: vom ‚inner
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game of tennis‘ zum ‚inner game of work‘. Die Metapher des ‚sportlichen Wettkampfs‘ stößt im beruflichen Habitus des Managements auf Resonanz. Sie zeigt aber auch die Umgestaltung des therapeutischen Denkens an: ein Wandel von der Problematisierung der inneren Gedanken und Gefühle zu einer Problematisierung der ‚Psychomotorik‘, d.h. der psychisch bedingten Handlungsfähigkeiten, ist auch in der die klinischen Therapeutik und der Psychiatrie seit dieser Zeit zu beobachten (vgl. Ehrenberg 2002). Das Angebot der Therapeutik besteht im Zuge dieser Verschiebung auch weniger in der Einfühlung durch verständnisvolle Professionelle, sondern in Verhaltensbeobachtung und ‚Führung‘. Wie im Sport-Coaching hat der Business-Coach eine dreifache Funktion: Übungsleiter, Beistand und charismatischer Enthusiasmierer. Coachs bezeichnen sich selbst in Ihren Publikationen als ‚Prozessbegleiter‘, als ‚Ansprechpartner für Leid und Freud im Beruf‘, als ‚facilitators‘ oder, als ‚Katalysatoren‘. Eine an anderer Stelle durchgeführte (vgl. Traue 2008, 2009) Analyse der Beratungsmanuale und Interviews hat ergeben, dass durch die Beratung unterschiedliche Formen von Selbstdeutungs- und Selbstmodellierungsvorgaben in Umlauf geraten: a) Anweisungen zur Durchführung von Techniken der Selbstreflexion, zur Lebensplanung und zur Bearbeitung der eigenen Identität sowie zur Mobilisierung von Unterstützung (z.B. ‚Glaubensarbeit‘, ‚Zielfindung ); b) Explizite Selbstdeutungsschablonen, mit denen direkt und offen an den Einzelnen appelliert wird, ein angemessenes Selbstverständnis und Selbstverhältnis zu etablieren (z.B. ‚Begreifen sie ihre Psyche als inneres Team, das sie für ihre Ziele begeistern können‘); c) Implizite Selbstdeutungsvorschläge, die die Form von anthropologischen Theoremen (z.B. ‚Manche Menschen bleiben gern in ihrer Komfortzone‘) oder zeitdiagnostischen Aussagen annehmen (‚die heutige Arbeitswelt erfordert lebenslange Neuorientierungs- und Anpassungsleistungen‘) oder auf die Abwertung als veraltet geltender Lebensweisen abzielen (z.B. ‚der eigene Partner hat sich nicht mitentwickelt, ist immer noch bescheiden, schüchtern oder spießig‘); d) Gegenstandsbeschreibungen und Theorien, die Handlungen orientieren, indem sie ein Ursache-Wirkungsgefüge oder Sichtbarkeitsverhältnisse und Beobachtungsweisen beschreiben, denen Individuen unterworfen sind bzw. an denen sie sich orientieren sollen. Die Spezifik der Selbsttechniken lässt sich anhand der Ablösung von älteren Selbstdeutungs- und Selbstmodellierungsvorgaben durch Neuere bzw. Reaktualisierte beschreiben. Das für die Coaching-Beratung so charakteristische ‚Kommunikationstraining‘ bzw. die Schulung in Kommunikationstechniken (wie z.B. Konfliktbearbeitung, ‚positive Kommunikation‘) soll das Individuum zu genau diesen neuen Selbstmodellierungspraktiken führen. Coaching zielt auf die individuelle Befähigung von Personen mittels einer Inszenierung ihrer als ‘kompetente‘ Person. Die derart angeregte Selbstorganisation als neue Kompetenz von Beschäftigten kann nicht ohne Sichtbarkeits- und Erfassungsdispositive der Personalverwal-
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tung auf Dauer gestellt und institutionalisiert werden. Wie angekündigt, soll abschließend beschrieben werden, wie die Praktiken der Personalführung und Therapeutik den kommunikativen und institutionellen Rahmen für individuelle Kompetenzentwicklung von Beschäftigten durch Coaches herstellen. Kompetenzen werden gefördert, indem die Selbstorganisation durch beraterische Fremdorganisation gesteigert wird.3 Anhand der knapp rekapitulierten Rekonstruktion der diskursiven Transformationen in beiden Bereichen, Personalverwaltung und alternativer Therapeutik, konnte gezeigt werden, dass seit 1950 eine Konvergenz beider Bereiche stattgefunden hat. Dies bedeutet nicht, dass eine völlige Auflösung der Grenzen zwischen beiden Bereichen zu beobachten ist, weder institutionell noch hinsichtlich der ‘Veridiktion‘ (Foucault 2004) beider, d.h. der Regel(mäßigkeiten) zur Formulierung wahrer Aussagen. Es ist vielmehr so, dass beide Bereiche und Aussagesysteme einander Funktionen zuweisen: wenn in der Ökonomie die Produktivität des Humankapitals thematisiert wird, verweisen ihre Texte auf die Möglichkeiten der angewandten Humanwissenschaften. ‘Coaching‘ ist in dieser Hinsicht ein Mittel zur Realisierung der Personalfunktion des Managements. Für die Beratung ist die Managementberatung – und die Beratung all jener, die beruflich oder privat ‘kompetenter‘ agieren wollen und sollen – einerseits ein organisationelles Praxisfeld, in dem sie Klienten und Auftraggeber vorfindet. Für die Beratung hat das Feld des ökonomischen Handelns aber auch noch eine funktionale und symbolische Bedeutung: das ökonomische, d.h. produktivitäts-, kooperations- und konkurrenzhafte Handeln stellt einen Kontext zur Verfügung, in der sich Beratung bewähren kann – messbar am Erfolg oder Misserfolg ihrer Klienten. Die Effektivität der Umbildung von individuellen Handlungs- und Denkmustern durch Beratung wird vor allem in leistungs- und konkurrenzorientierten Kontexten deutlich. Professionelle und informelle Beratung ist ein zentrales Medium der Subjektivierung im Paradigma der Kompetenz. Beratung zielt als Kompetenzschulung darauf ab, Personen kompetent zu machen, indem ihnen beigebracht wird, ihre Vermögen und ästhetischen Kräfte zu erfahren, sie zu inszenieren, und in Prozeduren der Evaluation von Kompetenz zu bestehen. In Beratungsdispositiven wird das Spiel der eigenen Kräfte in einem sozialen Beziehungstypus erfahren, der durch wechselseitige Inszenierung von Kräften und einer Bewertung der Vermögen bestimmt ist. Dadurch werden die Subjekte der Kompetenzförderung zugleich über ihre eigenen Optionen informiert und für die Entfaltung dieser Optionen responsibilisiert.
3
Günter Voß hat für die Arbeitskraftunternehmerthese den Ausdruck der „fremdorganisierten Selbstorganisation“ geprägt.
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Veridiktion der Kompetenz: Die Messung der Kompetenzen und des Humankapitals
Michel Foucault hat mit dem Begriff der Veridiktion vorgeschlagen, die wahrheitsstiftende Funktion außerdiskursiver Mechanismen zu untersuchen. Vor allem der Markt gilt ihm als ein ‚Ort‘, der den Handelnden nicht nur anzeigt, wie erfolgreich sie sind, sondern auch, ob ihre Intentionen gesellschaftlich wahrheitsfähig, ihre Identitäten anerkennungsfähig sind. Diese Perspektive auf ein komplementäres – nicht: antagonistisches oder inkommmensurables – Verhältnis von Markt und Wahrheit hat in der Soziologie eine lange, durch Max Webers Kapitalismusanalysen angestoßene Tradition. Das ‚Wahrsprechen‘ des Marktes kann allerdings nicht immer unmittelbar abgehört werden, da der Tauschwert von Waren und Humanvermögen nicht immer in Tauschprozessen gemessen werden kann: gerade die Humanvermögen werden nur gelegentlich unmittelbar getauscht. Um die mangelhafte Frequenz der Veridiktionsakte des Marktes auszugleichen, werden – vor allem seit den 1970er Jahren mit dem Aufkommen der Qualitätszirkel„bewegung“ – eine Reihe von Bewertungen entwickelt, die sich am potentiellen Tauschwert von Dingen und Vermögen orientieren, diesen aber in eigenen Ritualen der Verifikation ermitteln, die Michael Power (1997) in ihrer Gesamtheit als „audit culture“ bezeichnet hat. Seit den späten sechziger Jahren gibt es dementsprechend in der Unternehmens- und Personalbuchführung erfolgreiche Versuche, das Humankapital als relevante Größe aufzunehmen (vgl. Traue 2009). Human Ressource Accounting bzw. Human asset accounting, in der deutschen Literatur als Humanvermögensrechnung, Humankapitalrechnung, Humanpotenzialrechnung, Personalvermögensrechnung oder personalbezogenes Rechnungswesen übersetzt, beruht auf der Grundintention, die Mitarbeiter als einen Teil des Unternehmenswerts zu bilanzieren. Unterschiedliche Verfahren werden eingesetzt, um Humankapital zu quantifizieren. Während buchhaltungsorientierte Verfahren seit Ende der 1970er Jahre stagnieren, wurden seitdem eine Reihe von anderen Verfahren entwickelt, insbesondere von Beratungsunternehmen, die vor allem unmittelbar auf die Subjekte und ihre vertiefte Einbeziehung in den Arbeitsprozess abzielen. Die Überwachung der Arbeitsprozesse durch Prüfungen und die Erzeugung von Kennzahlen wird auf die ‚individuellen‘ Prozesse der Beschäftigten übertragen. Diese Prozesskontrolle wird durch entsprechende Erfassungs- und Kontrolldispositive ausgeübt und soll außerdem von den Subjekten in bestimmten Selbsttechniken praktiziert werden. Die ‚äußerliche‘ Prozesskontrolle wird durch eine Reihe von Maßnahmen des informatisierten Human Resource Managements realisiert: Mit Führungskräften aller Hierarchieebenen werden sogenannte „Assessments“ durchgeführt, die mittlerweile zum Alltag in großen und
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mittleren Unternehmen gehören. Die Kontrollverfahren und -rituale der „Audit Society” (Power 1997) haben vielfältige Formen angenommen: Kunden- und Mitarbeiterbefragungen gehören dazu ebenso wie ‚Führungsaudits‘ und Selbsteinschätzungen. Diese Verfahren werden teils von den unternehmenseigenen Personalabteilungen, oft jedoch von spezialisierten Beratungsfirmen durchgeführt. Seit einiger Zeit finden Instrumente wie das „360°-Feedback“, die diese älteren Methoden kombinieren, auch im deutschsprachigen Raum zunehmend Verbreitung. Im 360°-Feedback wird die Leistung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowohl durch Kollegen, Vorgesetzte, Untergebene und Kunden als auch durch eine Selbsteinschätzung bewertet. Die Beurteilten erhalten die Ergebnisse gewöhnlich in Form eines Leistungsprofils zurück. Auf Grundlage des Leistungsprofils wird, meist in Zusammenarbeit mit externen oder internen Beratern, nicht selten ein Beratungsbedarf festgestellt. Die Beratungen, die die Beurteilungsergebnisse nahelegen, werden dann von Beratern durchgeführt, die das Unternehmen den Mitarbeitern zuweist, oder die sie sich (seltener und abhängig vom firmeninternen Status) selbst aussuchen dürfen. Die Beratung ist schließlich selbst ein Aufschreibesystem besonderer Art, nämlich eines, das nicht Kennzahlen schreibt, sondern Lebensgeschichten. Die ‚kybernetischen‘ Selbsttechniken, so die hier verfolgte These, bilden das wichtigste Medium der Durchsetzung und Verbreitung des mit dem Kompetenztopos bezeichneten Anforderungsprofils. Zusammenfassend: Die Spezialdiskurse und mathematisch-buchhalterischen Verfahren des Managements von komplexen Produktionsprozessen werden in ein Verweisungsverhältnis zur Behauptung von natürlich-prozesshafter Subjektivität in therapeutischen Praktiken gesetzt. Erst durch digitale Protokollierung, Speicherung und darauf zurückgreifende Lektüren wird die Vorstellung einer umfassenden Lenkung von Produktionsprozessen bei gleichzeitiger Entwicklung des Einzelwesens sichtbar, sagbar und erfahrbar. Die in den Beratungsdispositiven vorgenommene Modalisierung von Zeitperspektiven als Zukünftigkeit (vgl. Traue 2009 und Duttweiler 2007), die sich aus einer Imagination von Entscheidungsbewegungen auf einem Markt von Optionen realisieren lasse, trägt Züge einer Marginalisierung der Erinnerung. Eine solche Betreuung der Imagination des Zukünftigen erleichtert zweifellos die Orientierung im zersplitterten Wissenshorizont der Gegenwart – auf problematische Weise. In diesem Sinn leistet Beratung eine ‚Integration‘ von Handlungsorientierungen in der ‚Wissensgesellschaft‘. Sie fördert den Willen, sich selbst in möglichen Zukünften zu imaginieren, zu schreiben und schreiben zu lassen. Seit der kybernetischen Wende in Beratung und Therapie wird die Kultur des Konflikts, die bis zu diesem Zeitpunkt sowohl für gesellschaftliche Prozesse des Interessensausgleichs als auch die Theorie des Subjekts zentralen Stellenwert hatte (vgl. Ehrenberg 2002), abgelöst durch eine Kultur der Moderation, der Evaluation und des ‚Monitoring‘ (vgl. Krasmann 2004). Dies ist mit
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einer tiefgreifenden Re-Konfiguration des Politischen verbunden, an der die Beratung einen Anteil hat. Die Dethematisierung von Konflikt ist nicht nur mit einem neutralen, ‚konstruktivistíschen‘ Schweigen zu bestehenden Konflikten verbunden, sondern mit einer Abwertung der Option ‚Konflikt‘ im öffentlichen Handeln und in Bezug auf das Verhältnis zu sich selbst (vgl. Ehrenberg 2002). Die Beratungsdispositive bringen zweifellos eine Intensivierung des Selbstbezugs mit sich, der aber auch die Spaltung des (post-)modernen Subjekts vertieft. 6.
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Optionalisierende Beratungsdispositive, die Kompetenzen ‚stärken‘ sollen, sind ein Bestandteil postfordistischer Regierungsformen, obwohl und weil deren Praktiken auf eine Ausweitung von persönlichen Optionen durch das Ingangsetzen eines freien Spiels innerer Kräfte und Imaginationen abzielen.4 Berater sind in diesem Sinn ‚hidden technocrats‘ (Kellner/Heuberger 1992), leisten sie doch mit ihrem Credo der Kreativität und ihrem Evangelium der Selbstentfaltung einen Beitrag zur Umgestaltung der Lebensführungen und des Politischen. Die vielfach konstatierte These des Responsibilisierung des Individuums (vgl. Cruikshank 1993, Rose 1998, Bröckling 2007) bzw. der neo-sozialen Umgestaltung des Staates (Lessenich 2009) spiegelt sich in der Kategorie der Kompetenz. Die Produzenten werden in gewisser Weise als Verwalter ihres eigenen Arbeitsvermögens eingesetzt; sie sind aufgerufen, sich als ‘kompetent‘ erleben, ihre Kompetenzen zu ‚schreiben‘ und diese Schrift (beispielsweise in Lebensläufen) gegenüber den Beratern und relevanten ‚Gatekeepern‘ zu inszenieren und damit
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An dieser Stelle könnte der Einwand geltend gemacht werden: Ist diese Kritik der Kompetenz nicht allzu pessimistisch, verliert sie nicht die möglichen emanzipatorischen oder ‚humanisierenden‘ Potentiale des bildungstheoretischen Kompetenzkonzepts aus dem Blick? Die vorgelegte Analyse bezieht sich auf die Genealogie, d .h. also die Gewordenheit der beschriebenen Wissensformen und Praktiken. Als solche kann sie m.E. nicht optimistischer ausfallen. Es wäre allerdings überlegenswert, wie an alternative politische und wissenschaftliche Wissensund Praxisformen angeschlossen werden kann, die die egalitären und in einem anderen Sinn subjektorientierten Aspekte eines Begriffs der Humanvermögen stärken. Kompetenz müsste schließlich als kollektiv erzeugte Eigenschaft von Personen in intersubjektiven und ökonomischen Kontexten gedacht werden. Die Sozialphilosophin Martha Nussbaum schlägt etwa in einem rechtsphilosophischen Rahmen ein Konzept von ‚capabilities‘ vor, das nichtinstrumentell („principle of each person’s capability, based on a principle of each person as end“, Nussbaum 2001: 5) und kulturübergreifend angelegt ist – und daher ökonomistischen und individualisierenden Engführungen anderer Produktivitäts- und Kompetenzkonzepte entgeht. Die bildungsrechtlichen, bildungspolitischen und ökonomischen Voraussetzungen und Konsequenzen eines nicht-individualistischen und nicht-ökonomistischen Verständnisses menschlicher Vermögen können hier allerdings nicht weiter ausgeführt werden.
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lesbar zu machen. Andererseits sind sie, je nach habitueller Ausstattung, in die Lage versetzt, sich durch geschickte Selbstinszenierung auf vorteilhafte Weise lesbar zu machen. Diese Supra-‚Kompetenz‘ ist allerdings nicht, wie es scheint, universell für alle zugänglich, sondern ungleich verteilt – je nach Alter, Geschlecht, Ethnizität und Qualifikation der Beschäftigten. Dieser Aspekt kann hier nicht weiter ausgeführt werden, ist aber für die Reproduktion und Transformation von sozialen Ungleichheiten von großer Bedeutung. Die Anforderung, kompetent zu ‘sein‘, übersetzt sich für den Einzelnen zunächst darin, sich als kompetent zu zeigen. So beschreibt etwa Michaela Pfadenhauer (2003) die „Kompetenzdarstellungskompetenz” als zentrale Anforderung für die Etablierung des Expertenstatus. Kompetenzdarstellung ist eine Form immaterieller Arbeit (vgl. Negri et al.1998), die sich wesentlich in einer Sichtbarmachung qua Selbstinszenierung und Selbstarchivierung (z.B. in ausführlichen Lebensläufen und einer CV-orientierten Lebensführung) realisiert. Der Wert der Kompetenz (auf Arbeitsmärkten, im Betrieb), erweist sich nur, wenn sie sichtbar, d.h. lesbar wird. Damit stellt der Formenkreis der Kompetenzentwicklungs- und Prüfungspraktiken als Visibilisierungs- und Erfahrungsdispositiv, wie bereits erwähnt, auch eine neue Form sozialer Differenzierung mit spezifischen Teilungspraktiken dar. Die Anrufung zur allgemeinen und fachlich-spezifischen Ausbildung von Kompetenz bleibt den Subjekten allerdings nicht äußerlich: Die besondere Attraktivität dieses Konzepts liegt darin, dass es individuellen Erwerbserfolg, Selbstgenuß durch Bildung sowie Freiheitsgrade in der Darstellung der eigenen Person verspricht. Die Definitionsmacht darüber, wer und womit man als kompetent gilt, bleibt dabei trotz aller Autonomieversprechen in der Hand von Expertinnen und Experten, während die Verantwortung, sich kompetent zu machen bzw. kompetent und ‚employable‘ zu halten, weitgehend an die Einzelnen delegiert wird.
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Kompetenz – Eine neue Rationalität sozialer Differenzierung? Inga Truschkat
Die aktuelle Prominenz des Begriffs Kompetenz leitet sich vor allem daraus ab, dass mit ihm die neuen (komplexeren) Anforderungen an das Individuum zu fassen versucht werden. Der Wandel der Erwerbsarbeit – so eine gängige Argumentation (vgl. stellvertretend Vonken 2001) – führe dazu, dass der Qualifikationsbegriff überholt sei. So sei er an ein stabiles Berufs- und Beschäftigungssystem gebunden und entspräche somit viel eher einem Positionsbegriff (vgl. Erpenbeck/Heyse 1996; kritisch dazu vgl. Arnold 1997). Die sich wandelnden Bedingungen machten aber eine Vorhersagbarkeit der notwendigen Fertigkeiten und Fähigkeiten, die zum dauerhaften Bestehen im Berufsleben erforderlich sind, zunehmend schwieriger. Mit dem Kompetenzbegriff sollen deshalb stärker die individuumsbezogenen Fähigkeiten gefasst werden. Die Einführung des Begriffs der Kompetenz lenke somit den Fokus auf die Subjektivierung von Anforderungen, welche die zunehmende Selbstverantwortung des Individuums (vgl. Moldaschl 2002; Schönberger/Springer 2003) und somit die Selbstorganisation und Selbstrationalisierung des arbeitenden Subjekts (vgl. Kratzer 2003) umfasst. Vermutlich, weil mit dem Begriff Kompetenz versucht wird, etwas Kontingentes greifbar und bearbeitbar zu machen, herrscht in den unterschiedlichen Bezugsdisziplinen alles andere als Einigkeit darüber, wie Kompetenz konzeptionell und inhaltlich zu füllen ist. So lässt sich eine unendliche Vielzahl an Bemühungen finden, den Kompetenzbegriff zu bestimmen. Kompetenzen werden definiert, operationalisiert, gemessen und geschult; und so bleibt in diesem „Dschungel der Kompetenzen“ (Huber 2004) eines schließlich auf der Strecke: die Klarheit darüber, was Kompetenz eigentlich meint. Und dennoch – und hierin liegt meines Erachtens der besondere Reiz dieses Konzepts – handelt es sich um ein Konstrukt, das nicht nur Gegenstand eines mehr oder weniger wissenschaftlichen Diskurses ist, sondern das zugleich eine beachtliche lebensweltliche Bedeutung besitzt. Die alltagsweltliche Prominenz des Begriffs wird besonders dort deutlich, wo es um das Identifizieren, Bewerten und Vergleichen von Individuen geht. Dies gilt ebenso für das Bildungs- wie für das Beschäftigungssystem, also gerade in jenen Institutionen, die einen zentralen Stellenwert bei der Bereitstellung und Verteilung von sozialer Teilhabe und somit von Le-
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benschancen besitzen. Im Beschäftigungssystem ist der Begriff der Kompetenz beispielsweise aus Stellenbeschreibungen, Stellenausschreibungen, in Eignungstests oder in Bewerbungsunterlagen, also gerade da, wo es um das Auswählen von geeigneten, ‚kompetenten‘ Mitarbeiter(innen) geht, kaum mehr wegzudenken. Im Rahmen dieser Auswahl- und Selektionsprozesse wird entschieden, wer passt und wer nicht, wer den Anforderungen der (modernen) Arbeitswelt entspricht und wer nicht. So geht in dem Maße, wie mit dem Konstrukt Kompetenz eine Vorstellung von passend und nicht passend, von geeignet und nicht geeignet und letztlich von kompetent und nicht kompetent verbunden ist, mit ihm auch ein Prozess der sozialen Differenzierung einher. Wenn nun mit dem Begriff Kompetenz die Subjektivierung der Anforderungen fokussiert wird und er ebenso zentral ist für Selektionsprozesse, stellt sich unweigerlich die Frage, ob mit seinem Auftauchen auch neue Formen der sozialen Differenzierung verbunden sind. Ist der Kompetenzbegriff schließlich im Sinne Foucaults (1994) Ausdruck neuer Wahrnehmungs- und Beurteilungsstrategien, die sich in den sozialen Teilungspraktiken wie der Personalauswahl widerspiegeln? Treten bei solchen Selektionsprozessen tatsächlich stärker subjektive Anteile in den Vordergrund und wird dadurch schließlich die Benachteiligung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen überwunden? Stellen sich somit Fragen der Inklusion und Exklusion zukünftig neu? Unterliegt die soziale Differenzierung letztlich einer neuen Rationalität? Diesen Fragen wird in den folgenden Überlegungen nachgegangen. Dafür liegt es nahe, zunächst zu klären, was eigentlich gemeinhin unter dem Begriff Kompetenz gefasst wird. Hierzu werden Erkenntnisse einer Untersuchung des Kompetenzdiskurses herangezogen (vgl. Truschkat 2008a), die aufzeigen, dass sich grundlegend zwei Konzeptionalisierungsweisen von Kompetenz unterscheiden lassen (1). In einem zweiten Schritt werden dann die Teilungspraktiken thematisiert, in denen sich eine solche soziale Differenzierung vollzieht. Anhand einer Analyse von Bewerbungsgesprächen wird aufgezeigt, dass sich auch hier zwei unterschiedliche Selektionspraktiken identifizieren lassen (2). In einem dritten Abschnitt wird schließlich geklärt, inwieweit sich Diskurs und Teilungspraktiken zu spezifischen Rationalitäten sozialer Differenzierung verschränken (3), um letztlich in einem abschließenden Fazit die gewonnenen Erkenntnisse dahingehend zu diskutiert, inwieweit mit jenen Rationalitäten sozialer Differenzierung alte Formen sozialer Ungleichheit überwunden werden (können) (4). 1.
Der Kompetenzdiskurs
Bei der Auseinandersetzung mit dem Konstrukt Kompetenz wird rasch deutlich, dass es sich hierbei um einen Gegenstand handelt, der nur dadurch existiert,
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dass er als solcher benannt wird. So wird Kompetenz per se nicht greifbar, sondern bedarf stets eines Prozesses des Bezeichnens. Das Konstrukt Kompetenz erhält seinen Realitätscharakter also gerade dadurch, dass es zum Gegenstand eines Diskurses wird (vgl. Foucault 1981). Die Analyse dieses Diskurses, die auf publizierten Abhandlungen zur Kompetenzthematik innerhalb der Arbeitswelt basiert (vgl. Truschkat 2008a), ließ deutlich werden, dass sich innerhalb der Vielzahl der Auseinandersetzungen zwei idealtypische Diskursstränge unterscheiden lassen: der strukturell-normative und der individual-dispositive Kompetenzdiskurs. Der strukturell-normative Kompetenzdiskurs zeichnet sich dadurch aus, dass die Kompetenzthematik aus der Sicht des Bedarfs des Unternehmens aufgegriffen wird. Kompetenz ist Motor für Innovation, die ihrerseits als notwendige Bedingung für wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit interpretiert wird. Das kompetente Individuum wird hier als ein trieb- und interessengesteuertes Wesen gedacht, dessen Regulationsmechanismen im Sinne naturwissenschaftlicher Theoreme ableitbar sind. Das Menschenbild des strukturell-normativen Kompetenzdiskurses ist somit an einem behavioristischen Modell orientiert. Die Konzeptionalisierung von Kompetenz weist im strukturell-normativen Kompetenzdiskurs ein hohes Maß an Operationalisierungsbemühungen auf, was in einem engen Verhältnis zu den Bestrebungen steht, eine Art optimales Kompetenzmodell zu entwerfen. So zeigt sich in der Analyse des Diskurses, dass häufig eine Differenzierung zwischen einem Handlungsvermögen und einem Handlungsantrieb vorgenommen wird. Unter der Komponente des Handlungsvermögens werden die einzelnen Fähigkeiten als aggregierbare und technizistische Fertigkeit verhandelt. Durch die richtigen Techniken und das passende Equipment – so wird suggeriert – sei jede(r) in der Lage, sich nach dem Baukastenprinzip das notwendige Handlungsvermögen additiv zusammenzustellen. Der Aspekt des Handlungsantriebs hingegen wird weitaus weniger intensiv behandelt und es werden auch weitaus weniger Versuche unternommen, diesen zu operationalisieren. Hier wird mit Begrifflichkeiten wie Motivation, Werte, Persönlichkeit etc. operiert. Der Handlungsantrieb wird als eine Art ‚Black Box‘ dargestellt, die von außen nicht einsehbar und manipulierbar ist. Der innere Aufbau und die inneren Funktionsweisen einer solchen Black Box bleiben unbekannt. Im Gegensatz zum Handlungsvermögen werden die Kompetenzanteile, die den Handlungsantrieb betreffen, deshalb (fremdgesteuert) auch als kaum entwickelbar erachtet, gelten aber als die zentrale Triebfeder des Handelns. Vor diesem Hintergrund ist die Frage von Autonomie und Hierarchie im strukturell-normativen Kompetenzdiskurs relativ dominant. So wird anstelle einer Kontrolle durch hierarchisch übergeordnete Vorgesetzte der Handlungsantrieb und somit die Selbstorganisation des Einzelnen/der Einzelnen zum Garanten wirtschaftlichen Erfolgs erklärt. In Abgrenzung zum Taylorismus, bei dem durch repressive
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Macht erwünschtes Verhalten bewirkt wird, wird hier ein subtileres Machtverhältnis zwischen Vorgesetzten und Untergebenen entworfen. Der Vorgesetzte wird als Coach konstituiert. Anstelle einer hierarchischen Vertragsbeziehung soll sich eine Vertrauensbasis etablieren; anstelle repressiver Macht wirkt eine Form der Pastoralmacht, durch welche die Selbstorganisation des Einzelnen/der Einzelnen, oder anders ausgedrückt der Handlungsantrieb aktiviert werden soll (vgl. Truschkat 2008a) Im Gegensatz dazu zeichnet sich der individual-dispositive Kompetenzdiskurs dadurch aus, dass sein Ausgangspunkt der Umgang eines jeden Einzelnen/einer jeden Einzelnen mit den gesellschaftlichen und ökonomischen Wandlungsprozessen ist. Vor dem Hintergrund der Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung nimmt hier also das Prinzip der „Sorge um sich“ (vgl. Foucault 1993) einen großen Stellenwert ein. Somit ist auch hier die Selbstregulation ein zentrales Moment der Konzeptionalisierung von Kompetenz. Die besondere Bedeutung der Selbstregulation findet sich im individual-dispositiven Kompetenzdiskurs in der dynamischen Form der Konzeptionalisierung von Kompetenz wieder. Kompetenz wird hier im Gegensatz zum strukturell-normativen Diskurs nicht so sehr durch seine Einzelbestandteile definiert, als vielmehr durch einen systemischen Charakter. Das System Kompetenz zeichnet sich durch eine dynamische Stabilität aus, dessen Systemgestalt nicht durch ein Identisch-bleiben der Systemelemente und der zwischen ihnen bestehenden Verknüpfungen erhalten bleibt, sondern durch die selbstreferentielle Operationsweise. Dieses Kompetenzmodell beinhaltet im systemischen Sinne sowohl eine retrospektive als auch eine prospektive Dimension. Die temporal rückwärts gerichtete Aufmerksamkeit zielt auf den Aspekt der Erfahrungsaufschichtung, der einen Strukturbildungsprozess beschreibt und somit weitaus integrativer angelegt ist als die additiv-funktionalistische Kompetenzentwicklung des strukturell-normativen Diskursstrangs. Die Struktur des Systems Kompetenz beeinflusst ihrerseits aber auch zukünftiges Handeln; Kompetenz umfasst somit auch eine dispositive Seite. Während das kompetente Individuum im strukturell-normativen Kompetenzdiskurs also durch eine außenstehende Instanz im Sinne der Pastoralmacht aktiviert und begleitet werden muss, um selbstreguliert handlungsfähig zu sein, wird das Individuum im individual-dispositiven Kompetenzdiskurs weitaus deutlicher als sozial Handelnder und als Gestalter seines eigenen Bildungsprozesses in die Pflicht genommen (vgl. Herzberg/Truschkat 2008). 1
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Idealtypisch sind diese Diskursstränge, weil sie im Sinne Webers (1988) in dieser Reinform nur selten bis gar nicht vorkommen. So finden sich in vielen Abhandlungen starke Verschränkungen zwischen ihnen, die sich häufig dahingehen äußern, das grundlegend konzeptionelle Überlegungen des individual-dispositiven Diskursstrangs mit den Operationalisierungsbemühungen des strukturell-normativen Diskursstrangs verwoben werden.
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Insgesamt wird aus der Analyse des Kompetenzdiskurses deutlich, dass mit dem diskursiven Konzept Kompetenz nur bedingt neue Anforderungen an das Individuum verbunden sind. So weist gerade der strukturell-normative Kompetenzdiskurs große Parallelen mit dem Konstrukt der Qualifikation auf. Qualifikationen ebenso wie Kompetenzen werden gemessen an normativen Vorgaben, die mit einer spezifischen Form der Deutungsmacht verbunden sind. Neu scheint hier allenfalls die größere Aufmerksamkeit für die individuelle Verantwortlichkeit zu sein und der damit verbundene vermeintliche Verlust der Fremdsteuerung des Individuums. Die Prominenz des Konzepts Kompetenz ist im Fall des strukturell-normativen Kompetenzdiskurses somit viel eher als eine Mode des Begriffs zu interpretieren, die eine Neuansatz-Illusion (vgl. Arnold 1997) zur Folge hat. Der populäre Hinweis, dass der Kompetenzbegriff in Abgrenzung zur Qualifikation eine Erweiterung darstellt, mit dessen vergrößerter Perspektive die Anforderungen einer sich rascher wandelnden (Arbeits-)Gesellschaft besser gefasst werden könnten und mit dem eine höhere Aufmerksamkeit für individuelle Fähigkeiten verbunden ist, trifft weitaus stärker auf den individual-dispositiven Kompetenzdiskurs zu. Um nun der Frage weiter nachzugehen, inwiefern sich diese diskursiven Konstruktionen (vgl. Keller u.a. 2005) auch in sozialen Praktiken manifestierten und ob sich hier neue Rationalitäten sozialer Differenzierung erkennen lassen, die alte, auf die Benachteiligung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen ausgelegte Formen der sozialen Differenzierung ablösen, werden im Folgenden konkrete soziale Teilungspraktiken in den Blick genommen. 2.
Die sozialen Teilungspraktiken
Wie bereits dargestellt wird der Kompetenzbegriff gerade dort bemüht, wo es um das Identifizieren, Bewerten und Vergleichen von Individuen geht und somit dort, wo über gesellschaftliche Teilhabe und Lebenschancen entschieden wird. Solche Akte der Entscheidung lassen sich aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive als Gatekeepingprozesse (vgl. Struck 2001) verstehen, mit denen stets eine machtvolle Sanktion (vgl. Giddens 1997) über Richtig oder Falsch, über Passend oder Nicht-Passend und somit eine soziale Differenzierung verbunden ist. Relativ bedeutende Praktiken der sozialen Differenzierung, in denen der Kompetenzbegriff vielfach bemüht wird, stellen jene Gatekeepingprozesse dar, in welchen über die Teilhabe am Beschäftigungssystem entschieden wird. Deshalb sollen im Folgenden die Praktiken der Personalauswahl in den Blick genommen werden. Durch eine Analyse von 35 Bewerbungsgesprächen, die in unterschiedlichen Unternehmen (klassisches Finanzunternehmen, modernen Finanzunter-
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nehmen, Zeitarbeitsfirma, Chemiekonzern) geführt wurden (vgl. Truschkat 2008a), kann aufgezeigt werden, dass sich zwei grundlegend andersartige Gesprächsinszenierungen erkennen lassen, die ihrerseits mit bestimmten, der Gesprächssituation vorgängigen, Strukturmomenten (vgl. Giddens 1997) des Arbeitsmarkts korrespondieren. So kann zwischen einem formal-exklusiven und einem informell-kontingenten Gesprächsrahmen unterschieden werden (vgl. Truschkat 2008a). Der formal-exklusive Gesprächsrahmen findet sich in den internen Bereichen des Arbeitsmarkts, also dort, wo relativ stabile Arbeitsverhältnisse, geregelte Arbeitsbedingungen, mehr oder weniger festgelegte Karrieremuster und formale Qualifikationsanforderungen vorherrschen. Wichtige Passungsmerkmale sind Kontinuität und Kohärenz (vgl. Sengenberger 1978; Piore 1978). Während sich Kontinuität vor allem in einer geradlinigen Berufsbiografie widerspiegelt, zeigt sich Kohärenz in der „Aggregation von einzelnen Übergängen und Sequenzen zu Gesamtverläufen (vgl. Sackmann und Wingens 2001)“ (Kohli 2003: 531). Diese Kohärenz bezieht sich jedoch nicht nur auf die Berufsbiografie selbst, sondern auch darauf, Anknüpfungspunkte an die aktuelle Gesprächssituation herzustellen, beispielsweise durch den Verweis auf ein gemeinsam geteiltes Wissen. Erfolgreiche Bewerber(innen) nehmen in ihren Selbstpräsentationen angepasste, aber im Sinne Bourdieus (1998) nicht zwingend rationale Antizipationen vor und zeigen individuelle Wahrnehmungs-, Denk- und Deutungsmuster auf, die dem Unternehmen oder allgemeiner gesagt, dem sozialen Feld entsprechen. Passung ist im Falle der formal-exklusiven Gesprächsrahmen somit eine Form der habituellen Passung. Dies geht damit einher, dass in dieser Form der Gesprächsinszenierung die Einmündung in die Organisation als ein knappes Gut behandelt wird. Das Bewerbungsgespräch wird somit zu einem Selektionsprozess, der nur einigen wenigen den Eintritt in das Unternehmen ermöglicht. Vor diesem Hintergrund agieren die Vertreter(innen) der Organisation als ‚representatives‘, die Entscheidungsträger(innen) dieses Selektionsprozesses sind. Das Bewerbungsgespräch ist hier also, wie es Grießhaber (1987) formuliert, ein Entscheidungsfindungsdiskurs über Passung und Nicht-Passung. Letztlich handelt es sich bei den formal-exklusiven Gesprächspraktiken folglich um einen „normierenden Blick“ (Foucault/Seitter 1994: 238) und somit um eine Form der disziplinarischen Prüfung (vgl. Truschkat 2008b). Der informell-kontingente Gesprächsrahmen hingegen ist typisch für externe Bereiche des Arbeitsmarkts, die sich durch eher unsichere Arbeitsverhältnisse, freie Arbeitsbedingungen, keine festgelegten Karrieremuster und einer geringeren Bedeutung formaler Qualifikationen auszeichnen (vgl. Sengenberger 1978; Piore 1978). Zwar handelt es sich auch bei diesem Gesprächstyp um eine strategische Interaktion, das zu verteilende Gut weist aber im Gegensatz zu den formal-exklusiven Gesprächspraktiken keine Exklusivität auf. Die Einmündung
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in das Unternehmen ist ein teilbares Gut und wird weniger als Statuspassage konstruiert, als vielmehr als Möglichkeitsraum. Das Bewerbungsgespräch ist deshalb im engeren Sinne kein Entscheidungsfindungsdiskurs, sondern spiegelt viel eher die Über-Inklusivität der Organisation wider. Die für diese Inszenierungsweise charakteristische Informalität steht demnach in einem Zusammenhang mit der Kontingenz der Situation, mit der prinzipiellen Offenheit und Unbestimmtheit von Passungen. So lässt sich hinsichtlich der Modi und Charakteristika der Selbstpräsentationen der Bewerber(innen) im informell-kontingenten Gesprächsrahmen festhalten, dass sich eine erfolgreiche Selbstbeschreibung durch eine gewisse Veränderungsdynamik auszeichnet. Deshalb erzeugen hier gerade jene Präsentationen Passungen, die einer Logik der Patchwork- oder der Designerbiographie unterliegen (vgl. Alheit 1994). Die mit solchen Erwerbsbiographien verbundene Kontingenz entspricht der Anforderung an Flexibilisierung. Vor diesem Hintergrund gestaltet sich Kohärenz und Aggregation viel eher als kontraproduktiv (vgl. Truschkat 2008a). Im Ergebnis lassen sich hier somit zwei soziale Ausschlusslogiken unterscheiden. Während sich die Teilungspraktiken des formal-exklusiven Gesprächsrahmens als das Setzen von Grenzen beschreiben lassen, ist der informell-kontingente Gesprächsrahmen an dem Eröffnen von Horizonten orientiert. „Grenzen schließen Wirklichkeitsbereiche ab. Horizonte eröffnen Möglichkeitsbereiche. Das ist nicht nur terminologisch, sondern ontologisch die prinzipielle Differenz dieser beiden Abschlußparadigmen. Aber indem sie Wirklichkeitsbereiche abschließen und allererst konstituieren, implizieren Grenzen zugleich auch ein reales Außen, eine andere Wirklichkeit, von der aus sie in Frage gestellt und zu der hin sie überschritten werden können. Anders Horizonte. Indem sie Möglichkeitsbereiche eröffnen, implizieren sie ein imaginäres Innen, das zwar erweitert und potentiell ins Unendliche ausgedehnt, aber nicht verlassen werden kann.“ (Makropoulos 1999: 339)
So basiert die distinktive Differenzierungslogik der formal-exklusiven Teilungspraxis auf einer dichotomen Grenzziehung von Inklusion, im Sinne einer Zugehörigkeit durch Passung, und Exklusion, im Sinne einer Ausgrenzung durch Nicht-Passung. Die informell-kontingente Rationalität der Differenzierung ist hingegen vielmehr durch das Eröffnen eines Möglichkeitsbereichs und somit durch eine hierarchische Opposition von Inklusion und Exklusion (vgl. Stichweh 1997) charakterisiert. Die daraus resultierende Überinklusivität führt dazu, dass Inklusion und Exklusion keine Gegensatzpaare darstellen, sondern vielmehr ineinander aufgehen.2 Dies führt zu einer schnelleren Reversibilität der Lagen und somit zu einer dynamischen Form der sozialen Differenzierung.
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Dies wird bei der Zeitarbeit besonders deutlich. Inklusion, d.h. die Aufnahme in den Mitarbeiterstamm bedeutet keinesfalls eine Garantie für die Teilhabe am Arbeitsmarkt. So stellen nicht eingesetzte Mitarbeiter gute Beispiele für eine Exklusion in der Inklusion dar. Ähnliches gilt für die sogenannten 1-Euro-Jobber, die zwar am Arbeitsmarkt präsent sind, dadurch aber kei-
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Die Rationalitäten sozialer Differenzierung
Bisher konnte aufgezeigt werden, dass sich zwei verschiedene Diskursstränge unterscheiden lassen: der strukturell-normative und der individual-dispositive Kompetenzdiskurs. In einem zweiten Schritt ging es im Rahmen der Analyse von Bewerbungsgesprächen darum, die lebensweltlichen Teilungspraktiken nachzuzeichnen. Als Ergebnis ließen sich zwei typische, weil institutionalisierte Gesprächspraktiken herausarbeiten: der formal-exklusive und der informellkontingente Gesprächsrahmen. Ausgehend von diesen Erkenntnissen stellt sich nun die Frage, inwiefern der Diskurs und die sozialen Teilungspraktiken in einem Zusammenhang stehen. Handelt es sich bei dem, was über Kompetenz diskursiv erzeugt wird allein um Worthülsen, um (pseudo-)theoretische Konstrukte oder werden die hier nachgezeichneten Rationalitäten tatsächlich handlungswirksam? Um diesen Fragen nachzugehen wurde an anderer Stelle eine vergleichende Analyse der charakteristischen Deutungsmuster vorgenommen (vgl. Truschkat 2008a). Hierbei konnte festgestellt werden, dass zwischen Diskurs und sozialen Teilungspraktiken spezifische Verschränkungen festzustellen sind. Diese Verschränkungen bestehen zwischen dem strukturell-normativen Kompetenzdiskurs und dem formal-exklusiven Gesprächsrahmen einerseits und dem individualdispositiven Kompetenzdiskurs und dem informell-kontingenten Gesprächsrahmen andererseits. Im Ergebnis lassen sich so zwei unterschiedliche Kompetenzdispositive unterscheiden.3 Während Kompetenz im ersten Fall als ein Konstrukt einer disziplinarischen Normation fungiert, ist es im zweiten Fall als Konstrukt einer flexibilisierenden Normalisierung zu verstehen. Diese Erkenntnisse sollen im Folgenden exemplarisch hergeleitet werden. 3.1 Kompetenz als Konstrukt einer disziplinarischen Normation Im ersten Fall wird das Konstrukt Kompetenz als ein Produkt der Disziplinierung des Individuums konstituiert. Charakteristisch für die Disziplinierung ist nach Foucault die „anfänglich vorschreibende Eigenschaft der Norm, und mit Bezug auf diese gesetzte Norm werden die Bestimmungen und die Kennzeichnung des Normalen und Anormalen möglich“ (Foucault/Sennelart 2006: 89/90).
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neswegs aus dem sozialen Sicherungssystem herausfallen. Diese Menschen befinden sich somit in einer fragilen Inklusion bei fortbestehender Exklusion. Das Dispositiv soll hier begriffen werden als die Verschränkung diskursiven Wissens mit lebensweltlichen und institutionalisierten Praktiken. Zum Begriff des Dispositivs bei Foucault siehe Foucault (1983, 1978); zur umfassenderen Auseinandersetzung mit dem Dispositivbegriff auch mit aktuellen Ansätzen siehe Schneider/Hirseland (2005) und Bührmann/Schneider (2008).
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Diese Orientierung an der Norm äußert sich im strukturell-normativen Kompetenzdiskurs vor allem durch die besonderen Bemühungen um die Operationalisierung von Kompetenz. Das relativ schematische Baukastenprinzip, in dem die scheinbar zentralen Fertigkeiten und Fähigkeiten additiv aufgelistet werden, bietet die Möglichkeit, Ist- und Soll-Zustand zu bestimmen. Im Rahmen der formal-exklusiven Gesprächsführung geht es ebenso um eine Norm. Passung ist hier eine Frage des entsprechenden Habitus und somit eine Frage von Richtig oder Falsch. Im disziplinarischen Kompetenzdispositiv fungiert Kompetenz somit als optimales Modell, an dem es sich auszurichten gilt. ‚Normal‘ sind diejenigen, die sich diesem Modell, dieser Norm fügen (können). Kompetenz als optimales Modell zu begreifen impliziert, dass dieses Ideal realisierbar ist. Diese prinzipielle Erreichbarkeit wird im strukturell-normativen Kompetenzdiskurs vor allem durch die besondere Betonung der Komponenten des Handlungsvermögens konstituiert. Handlungsvermögen ist erzielbar durch disziplinierende Übung, durch Training und Schulung; es ist operationalisierbar und messbar und findet somit seinen Ausdruck in formalen wie informellen Qualifikationen. In dem Maße, wie Handlungsvermögen, und in diesem Sinne Handlungskompetenz, Ergebnis einer pädagogischen (Selbst-)Disziplinierung ist, der man sich aussetzen kann oder nicht, ist Kompetenz eine Frage der Bereitschaft und der Leistung. Inkompetenz – so der Umkehrschluss – ist selbstverschuldet. Die soziale Teilungspraxis zeigt aber auf, dass hier gerade jene Aspekte passungsrelevant werden, die den Handlungsantrieb betreffen. So wird deutlich, dass die Teilungspraktiken des formal-exklusiven Gesprächsrahmens sich nach einer habituellen Passung organisieren. Diese Erkenntnis macht offensichtlich, dass Kompetenz als optimales Modell eben gerade nicht durch seine prinzipielle Erreichbarkeit gekennzeichnet ist. Habituelle Muster sind nicht ohne weiteres schulbar; (Selbst-)Disziplinierung ist dann nicht im Sinne einer pädagogischen Intervention zu begreifen, sondern als Sozialisations- und Habitualisierungsprozess. Kompetenz als Normation meint dann vielmehr ein ‚so sein und nicht anders‘. Somit verknüpft das disziplinarische Konstrukt Kompetenz auf interessante Weise die klassische Ungleichheitsdimension der sozialen Herkunft mit dem hegemonialen Diskurs der Subjektivierung der Arbeit. Subjektivierung illustriert zum einen eine sich verändernde Form des Zugriffs auf die Arbeitnehmer(innen), genauer gesagt einen veränderten Modus der Leistungsregulierung. Das tayloristisch organisierte Kontrollparadigma – so eine verbreitete Zeitdiagnose – wird ersetzt durch die Selbstverantwortung des Individuums (vgl. Moldaschl 2002; Schönberger/Springer 2003). Subjektivierung meint somit Selbstorganisation und Selbstrationalisierung, wodurch die Individualität des arbeitenden Subjekts vom Störfaktor zum Potential erklärt wird (vgl. Kratzer 2003).
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Subjektivierung bedeutet aber auch den erweiterten Zugriff auf menschliche Eigenschaften und avanciert so zu einem wichtigen Leistungskriterium (vgl. ebd.). Dem Diskurs der Subjektivierung liegt somit eine leistungsbezogene Rationalität sozialer Differenzierungen zugrunde. Soziale Herkunft hingegen fokussiert die Verteilung der sozialen Positionen durch die Verfügungsgewalt über ökonomische, kulturelle und soziale Ressourcen (vgl. Bourdieu 1983) qua Geburt und stellt somit eine Dimension sozialer Ungleichheit dar. Eine solche sozialstrukturelle Rationalität der Zuordnung von Bildung, Besitz, Macht und Prestige lässt sich mit dem Leistungsprinzip kaum vereinen und widerspricht dem hegemonialen Gerechtigkeitsdenken: „Als ‚legitim‘ gelten gemeinhin Ungleichheiten, die sich mit Unterschieden in den individuellen Bildungsinvestitionen bzw. beruflichen Anstrengungen verbinden – und als ‚illegitim‘ werden meist jene Ungleichheiten angesehen, die sich nicht auf individuelle Leistungsunterschiede beziehen lassen.“ (Berger/Konietzka 2001: 10f)
Die Verknüpfung dieser beiden Rationalitäten der Differenzierung im disziplinarischen Kompetenzdispositiv kann somit als eine Strategie der versteckten Legitimation verstanden werden. Hinsichtlich der leistungsbezogenen Rationalität, die sich eben auf die Komponenten des Verhaltens, also des Handlungsvermögens bezieht, nutzt das Dispositiv die Macht der Eindeutigkeit. Kompetenzelemente werden identifiziert, gemessen, systematisiert, geschult; es werden Vergleichsmaßstäbe entwickelt, die letztlich leistungsgerechte Vergleichbarkeit ermöglichen. Hinter dieser fesselnden Eindeutigkeit lassen diskursive Uneindeutigkeiten – vor allem hinsichtlich des Handlungsantriebs – aber gleichzeitig den Raum für Anknüpfungspunkte jener sozialstrukturellen Differenzierungen (vgl. Truschkat 2008b). Die soziale Herkunft als Rationalität sozialer Zuordnungsprozesse kann somit als diskursiver ‚blinder Passagier‘ begriffen werden, der sich an einen hegemonialen und somit legitimen Diskurs anschließt. 3.2 Kompetenz als Konstrukt einer flexibilisierenden Normalisierung Während die Disziplin sich also durch eine anfängliche Norm auszeichnet, vor dessen Hintergrund richtig oder falsch oder eben normal und anormal agiert werden kann, liegt die besondere Charakteristik des sicherheitstechnologischen Kompetenzdispositivs in seiner Ausrichtung am ‚Gegebenen‘, an ‚Realitäten‘, an ‚empirischen Wahrheiten‘ (vgl. Foucault/Sennelart 2006). Der natürliche Gang der Dinge – in diesem Fall des Arbeitsmarkts – erzeugt bestimmte Normalitätskurven oder Normalitätsaufteilungen, die durch Häufigkeitsverteilung und Aussichten auf Erfolg über Normalität und Anormalität des Handelns Aufschluss geben. Kompetenz lässt sich somit als Normalformerwartung innerhalb eines bestimmten Milieus, nämlich dem Arbeitsmarkt, fassen. Das Agieren des Einen/der Einen in diesem Milieu ist angebrachter, Erfolg versprechender, eben
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kompetenter als das Agieren eines Anderen/einer Anderen. Handlungsfähigkeit, Wettbewerbsfähigkeit, Flexibilisierung und, alles zusammennehmend, Selbstregulation sind also keine Norm im disziplinarischen Sinn, sondern eine sicherheitstechnologisch identifizierte Normalität. Je flexibilisierter und selbstbestimmter – so ließe sich sagen – desto kompetenter. Kompetenz ist somit nicht als optimales Modell zu verstehen; es ist nichts prinzipiell Erreichbares, was durch disziplinierende Übung zu erwerben wäre. Dies wird bereits durch die systemische Form der Konzeptionalisierung von Kompetenz deutlich, spiegelt sich aber auch in der besonderen Aufmerksamkeit in den informell-kontingenten Gesprächspraktiken für Kontingenz und Flexibilisierung wider. Die Rationalität des sicherheitstechnologischen Kompetenzdispositivs liegt vielmehr in der Relativität der Differenzierung begründet. Differenzierung vollzieht sich nicht im Sinne einer Einteilung in richtig oder falsch, sondern in besser und schlechter. „Im Ergebnis entstehen dynamische Verteilungen, die veränderbar sind und den Individuen Statuswechsel von »normal« zu »anormal« und umgekehrt von »anormal« zu »normal« ermöglichen. Die Trennlinie zwischen dem Normalen und dem Unnormalen ist nicht nur durchlässig, sondern auch unscharf, nur gültig für bestimmte Lebensbereiche und befristete Zeiträume. Sie muss stets von neuem erkundet und ausgelotet werden.“ (Waldschmidt 2004: 193; Hervorheb. i.O.)
Das sicherheitstechnologische Konstrukt Kompetenz unterliegt somit einem „Diktat des Komparativs“ (Bröckling 2000). Mit dieser Rationalität der Relativität geht schließlich eine prinzipielle Unabschließbarkeit einher. Das sicherheitstechnologische Kompetenzdispositiv ist dann als ein Imperativ der „fortschreitenden Vervollkommnung“ (Makropoulos 2003: 11) zu lesen. Nur wer sich permanent selbst entwickelt, kann seine Stellung im Gefüge der dynamischen Verteilung behaupten. Die Rationalität der Differenzierung des sicherheitstechnologischen Kompetenzdispositivs unterliegt also im engeren Sinne keinem hierarchisch organisierten Selektionsprozess. Selektion ist vielmehr als eine evolutive, natürliche Selektion zu denken. Der ‚Markt‘ sortiert; wer sich selbst nicht steigert, entwickelt, optimiert, eben ökonomisiert, läuft Gefahr, überholt zu werden, sich in der fortschreitenden Dynamik der Verteilung zu verschlechtern. So wird jenen, „die im alltäglichen survival of the fittest unterliegen, die alleinige Verantwortung für ihr Scheitern aufbürdet“ (Bröckling 2004: 275; Hervorheb. i.O.). Die sicherheitstechnologische Differenzierung unterliegt somit scheinbar nicht der Rationalität der Gruppenselektion als einer dauerhaften Benachteiligung bestimmter sozialer Gruppen im Sinne klassischer sozialer Ungleichheit. Die Rationalität der Differenzierung organisiert sich vielmehr als Individualselektion, die sich nach der Überlebenstüchtigkeit des Einzelnen/der Einzelnen regelt. Ihre Rationalität scheint einer ‚natürlichen‘ Auslese des Markts zu unter-
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liegen. Das bedeutet: „from Chance to choice“ (Fach 2004: 232), vom Verteilungs- zum Leistungsprinzip und somit vom Opfer zum Verursacher sozialer Ausgrenzung. Insgesamt geben die gewonnen Erkenntnisse also Aufschluss darüber, dass zwischen verschiedenen Rationalitäten sozialer Differenzierung unterschieden werden muss. Während im disziplinarischen Kompetenzdispositiv an alten Dimensionen sozialer Ungleichheit wie der sozialen Herkunft festgehalten wird, scheinen diese im sicherheitstechnologischen Kompetenzdispositiv zugunsten einer stärker leistungsbezogenen Rationalität sozialer Differenzierung regelrecht überwunden worden zu sein. Um aber zu hinterfragen, ob sich infolgedessen soziale Differenzierung auch sozial gerechter gestalten wird, sollen die Ergebnisse im Folgenden hinsichtlich der prognostizierten Entwicklungen der Arbeits- und Organisationsstruktur reflektiert werden. 4.
Kompetenz als Ausdruck einer neuen Rationalität sozialer Differenzierung? – Ein Fazit
Wie deutlich wurde, finden die zu differenzierenden Rationalitäten in unterschiedlichen Bereichen des Arbeitsmarkts ihren Raum. Während das disziplinarische Kompetenzdispositiv in den internen Bereichen des Arbeitsmarkts, mit Sengenberger (1978) gesprochen also bei der Stammbelegschaft, wirksam ist, organisieren sich externe Arbeitsmarktbereiche, in denen eher Randbelegschaften im Sinne einer fragileren Organisationszugehörigkeiten auftreten, nach dem Prinzip des sicherheitstechnologischen Kompetenzdispositivs. Entsprechend der Tatsache, dass nach wie vor das Normalarbeitsverhältnis im Gegensatz zu so genannten atypischen Beschäftigungsformen überwiegt (vgl. Statistisches Bundesamt 2008),4 stellt – und dies bestätigt auch die eigene Analyse – das disziplinarische Kompetenzdispositiv das gesellschaftlich dominante Wissensprofil dar. Das sicherheitstechnologische Kompetenzdispositiv ist demgegenüber noch vielmehr als ein „Gegenwissensprofil“ (Alheit 1989) zu interpretieren. Nun zeigen die Zahlen aber auch, dass atypische Beschäftigung kontinuierlich zunimmt. Während ihr Anteil 1997 noch bei 17,5% lag, stieg dieser bis zum Jahr 2007 auf 25,5% an (vgl. Statistisches Bundesamt 2008). Eine entsprechende Entwicklung wird auch für die organisationale Entwicklung des Arbeitsmarkts prognostiziert, nämlich die Ausbreitung einer neuen Architektur der Institutionen (mit flachen Hierarchien, flexibleren Arbeitsprozessen und variablen Belegschaften) (vgl. Sennett 2007; Castells 2001). Entsprechend der vorliegenden
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Unter atypischen Beschäftigungsverhältnissen werden befristete und geringfügige Beschäftigung sowie Zeitarbeitsverhältnisse gefasst (vgl. Statistisches Bundesamt 2008).
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Erkenntnisse würde somit auch das sicherheitstechnologische Kompetenzdispositiv an Bedeutung gewinnen. Zeigt sich in diesen Trends also nicht nur eine Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse, sondern zugleich die Chance, sozialstrukturelle Selektionskriterien zu überwinden? Zunächst ist zu vermuten, dass eine solche Verschiebung zu einer entsprechenden Aufwertung des internen Arbeitsmarktsegments führen würde. Interne Beschäftigungsverhältnisse sind als unteilbare Güter zu verstehen, die gerade aus ihrer Unteilbarkeit ihre diskriminierende Wertigkeit ziehen (vgl. Struck 2001). So liegt es nahe, dass eine zunehmende Exklusivität solcher sicheren Arbeitsformen deren hierarchische Dominanz gegenüber anderen, unsicheren Formen der Beschäftigung perpetuiert. Die Dynamik der Inklusions- und Exklusionsverhältnisse würde sich dann hin zu einer zunehmend distinktiven Inklusion entwickeln, der eine fragile Inklusion und eine sozial sanktionierte, weil selbstverschuldete Exklusion gegenüberstehen. Eine solche Aufwertung der distinktiven Inklusion würde dann sozialstrukturelle Verteilungsmechanismen in diesen Bereichen – so ist zu vermuten – eher verstärken.5 Gleiches scheint für die externen Arbeitsmarktbereiche zu gelten. Je höher hier die Konkurrenz – so eine These – desto mehr hängt auch hier das Bestehen im Arbeitsmarkt von sozialstrukturellen Aspekten ab. So stellen Flexibilität, Selbstbestimmung und die Fähigkeit, sich selbst stets neu zu erfinden, Basiskompetenzen dar, die damit einhergehen, sich von der Notwendigkeit des strategischen Denkens, von der Entwicklung eines lesbaren sozialen (Lebens-)Plans freimachen zu können. Die Möglichkeit des Freimachens von einem strategischen Plan hängt im entscheidenden Maße davon ab, wie Diffusitäten, Neuorientierungen und Einkommensausfälle kompensiert werden können. Flexibilität und Selbstbestimmung gehen somit eng einher mit der Verfügung über Ressourcen, über kulturelles und ökonomisches, aber vor allem über soziales Kapital (vgl. Bourdieu 1983). Denn gerade das Lossagen von einer strategischen Lebensplanung und die Konzentration auf die Gegenwart, birgt Risiken und Konfusionen, die sich vor allem jene leisten können, die von privilegierten sozialen Netzwerken umgeben sind und dieses soziale Kapital, besonders in Krisen, nutzen können (vgl. Sennett 2007). Das Fehlen solcher Netzwerke macht Auszeiten kritischer und erzeugt größere institutionelle Abhängigkeiten; ein Zustand, der in Zeiten einer propagierten Selbstverschuldung und eines Rückzugs des Sozialen umso bedrohlicher wird. Je dynamischer die Inklusionsmodelle werden – so lässt sich vermuten –, desto existenzbedrohlicher ist letztlich die Exklusion.
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Dies lässt sich beispielsweise aus den Analysen Hartmanns (2002) ableiten, die aufzeigen, dass gerade bei der Besetzung von Spitzenpositionen in der Wirtschaft die sozialstrukturelle Selektion besonders ausgeprägt ist.
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Kompetenz lässt sich schließlich sowohl als Anzeichen einer solchen Entwicklung als auch als deren Motor begreifen. Hinter dem Konstrukt Kompetenz liegt schließlich sowohl in dem einen als auch in dem anderen Fall eine Form der sozialen Differenzierung begründet, welche alte Rationalitäten der Differenzierung nicht vollends überwindet, sondern sie allenfalls weniger adressierbar macht. Durch die Betonung der Eigenverantwortlichkeit des Subjekts wird somit eine Leistungsgerechtigkeit propagiert und gleichzeitig – mal mehr, mal weniger offensichtlich – alte, sozialstrukturelle Ungleichheiten perpetuiert. Die Überwindung dessen erfordert meines Erachtens eine verstärkte Aufmerksamkeit für das Individuum selbst, eine Sensibilität für individuelle Begabungen, Besonderheiten, aber auch für Widerstände, Gebrochenheit und Eigensinnigkeiten. Um das Potential des Kompetenzbegriffs, nämlich die Wertschätzung individuumsspezifischer Fähigkeiten und Fertigkeiten, zu nutzen, bedarf es somit einer verstärkten biografieorientierten und empirischen Fundierung dieses Konzepts (vgl. Herzberg/Truschkat 2008; Wittwer 2001; Münchhausen 2004; siehe auch Vonken in diesem Band). Die diesbezüglichen Bemühungen stehen noch am Anfang und bedürfen weiterer empirischer Untermauerung, um schließlich ein Konzept biographischer Kompetenzentwicklung formulieren zu können, das der Perpetuierung gesellschaftlicher Macht- und Ungleichheitsstrukturen entgegenwirkt.
Literatur Alheit, Peter (1989): Erzählform und "soziales Gedächtnis": Beispiel beginnender Traditionsbildung im autobiographischen Erinnerungsprozeß. In: Alheit, Peter/Hoerning, Erika M.: Biographisches Wissen: Beiträge zu einer Theorie lebensgeschichtlicher Erfahrung. Frankfurt am Main; New York: Campus Verlag, Seite 123-147. Alheit, Peter (1994): Arbeit und Bildung im Modernisierungsprozeß: Entkoppelung oder neue Synthese? In: al., Peter Alheit et: Von der Arbeitsgesellschaft zur Bildungsgesellschaft? Perspektiven von Arbeit und Bildung im Prozeß europäischen Wandels, Seite 23-47. Arnold, Rolf (1997): Von der Weiterbildung zur Kompetenzentwicklung. Neue Denkmodelle und Gestaltungsansätze in einem sich verändernden Handlungsfeld. In: Arbeitsgemeinschaft Qualifikations-Entwicklungs-Management Berlin: Kompetenzentwicklung ´97: Berufliche Weiterbildung in der Transformation – Fakten und Visionen. Münster; New York; München; Berlin: Waxmann, Seite 253-307. Berger, Peter A./Konietzka, Dirk (2001): Die Erwerbsgesellschaft. Neue Ungleichheiten und Unsicherheiten. Opladen: Leske + Budrich. Bourdieu, Pierre (1983): Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Kreckel, Reinhard: Soziale Ungleichheiten. Soziale Welt, Sonderband 2, Seite 183-198.
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Zivilisierungstheorie als Kompetenztheorie: Elias, Foucault und Goffman Herbert Willems
Im Folgenden wende ich mich der Frage der Kompetenz bzw. der Kompetenzgenese aus der Perspektive des Zivilisationsbegriffs zu, wie ihn Norbert Elias entwickelt. Zivilisiertheit bedeutet spezifische Kompetenz, und Zivilisation bedeutet deren Genese auf der Ebene der historischen Entwicklung der Gattung Mensch und auf der Ebene der (individuellen) Sozialisation. Den verschiedenen, im engeren oder weiteren Sinne zivilisationstheoretischen oder zivilisationstheoretisch lesbaren Ansätzen der Soziologie – von Max Weber über Norbert Elias bis Michel Foucault – sind verschiedene und verschiedenartige Faktoren oder Generatoren von Zivilisierung/Zivilisiertheit zu entnehmen, die in den jeweiligen zivilisationstheoretischen Diskursen allerdings nicht systematisch unterschieden werden. Auch in der explizitesten und wichtigsten Zivilisationstheorie, der von Elias, wird die Diversität der ‚Wurzeln‘ der Zivilisierung nicht hinlänglich geklärt. Eine solche Klärung wäre aber für die weitere zivilisationstheoretische bzw. kompetenztheoretische Diskussion von basaler Bedeutung. In diesem Sinne und auch in der Absicht, einen Beitrag zu einer integrativen Zivilisationstheorie zu leisten, wie sie Alois Hahn (vgl. 1984) programmatisch vorgeschlagen und ansatzweise entwickelt hat, unterscheide ich im Folgenden – immer im Bewusstsein nur relativer Trennschärfe – generative Kontexte und Ebenen von Zivilisierung. 1.
Soziale (System-)Differenzierung, Verflechtung und Gewaltmonopolisierung
Auf einer grundlegend gesellschaftlichen und gesellschaftlich grundlegenden Ebene sind Zivilisiertheiten und Zivilisierungsprozesse anzusiedeln, die mehr oder weniger unmittelbar mit den Formen jener sozialen (Beziehungs-)Strukturbildungen und (System-)Differenzierungsprozesse zusammenhängen, die Elias mit Begriffen wie (wachsende) Funktionsteilung, Verflechtung, Interdependenzgeflecht und Verflechtungsordnung/Verflechtungssphäre belegt hat.
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Herbert Willems
Um den hier zunächst gemeinten Zusammenhang zwischen sozialer Ordnung und Ordnungsgenese einerseits und (bio-psychischer) Habitus-Ordnung andererseits anschaulich zu machen, kann an das von Elias gegebene Beispiel des modernen Straßenverkehrssystems erinnert werden: Es erfordert und (re-) produziert als Voraussetzung seines Funktionierens und als Voraussetzung erfolgreicher Partizipation von Akteuren ein systematisches und spezifisches Maß an Selbst- bzw. Körper- und Affektkontrolle, Pazifizierung (‚Friedlichkeit‘), Vorsicht, Übersicht und „Langsicht“ (Elias), Einfühlungsvermögen, Gelassenheit, Aufmerksamkeit, Geschicklichkeit, Urteilskraft usw. Ein anderes Beispiel sind berufliche Arbeitsroutinen in standardisierten industriellen oder bürokratischen Produktionsprozessen, oder man denke an den Gebrauch medientechnologischer (Kommunikations-)Systeme, deren Praxen ebenfalls als solche zivilisatorische Implikationen und Effekte haben. Neben den hier gemeinten Einzelstrukturen und Einzelsystemen als solchen (wie etwa bestimmten ‚formalen Organisationen‘ oder beruflichen Arbeitsabläufen) stellt die jeweilige sich im Individuum gleichsam verknotende (gesellschaftlich, kontextuell, individuell spezifische) Struktur ihrer praktischen Zusammenhänge und der daraus resultierenden Handlungs- und Unterlassungszwänge einen Faktor der Zivilisierung dar. Die entsprechende sequentielle Verkettung von Zwängen in Tagesabläufen und Lebensläufen bildet ein Profil zivilisatorischer Anforderungen und zugleich einen ‚Zivilisator‘, etwa im Hinblick auf Affektkontrolle, (‚psychologische‘) Empathie, emotionale Beweglichkeit oder Zeitbewusstsein/ Zeitdisziplin. Auf den sozialen Ordnungsebenen, um die es hier geht, ist Zivilisiertheit/Zivilisierung also sozusagen zwangsläufig, unverzichtbar und als Implikation von Praxis unvermeidlich – eine (‚subjektive‘) Funktion objektiver sozialer (Beziehungs-) Strukturen. Wie immer es sich mit den (immer wieder kontrovers diskutierten) Fragen des zivilisatorischen Fort- oder Rückschritts (des Vor- oder Zurückrückens von Scham- und Peinlichkeitsgrenzen, der Normalisierung von ‚Gewöhnlichkeit‘ usw.) verhält, es kann nicht bezweifelt werden, dass die Figuration der modernen Gesellschaft, das Funktionieren ihrer spezifischen Ordnungszusammenhänge, ohne eine entsprechende – und entsprechend stabile – Zivilisiertheit (längst nicht nur Disziplin) ihrer Akteure nicht möglich ist. Diese Zivilisiertheit wird von den jeweiligen sozialen Figurationen, die sie brauchen und als Ressource voraussetzen (vom Verkehrssystem bis zur ‚Bürokratie‘), immer auch vermittels ihrer Praxis (re-)produziert. Die Logik der Zivilisierung entspricht auf dieser Ebene der Logik der sozialen (System-) Differenzierung, die einerseits differentielle zivilisatorische Anforderungsprofile und Zivilisierungseffekte für die unterschiedlichen, an den jeweiligen Praxen partizipierenden Akteursklassen und (z.B. Berufs-) Gruppen nach sich ziehen. Andererseits findet auf einer basalen Ebene eine gesellschaft-
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liche Zivilisierung, eine Zivilisierung durch die strukturelle Form der (modernen) Gesellschaft und das entsprechende ‚gesellschaftliche (Er-, Mit-) Leben‘ statt. Ihr Ergebnis ist sozusagen eine (idealtypisch konstruierbare) JedermannsZivilisiertheit. Wie mit Elias, aber auch mit Bezug auf Luhmann, zu zeigen ist, hängt der Prozess der Zivilisierung als Prozess der Erstellung, Herstellung und Umstellung personaler Verhaltensdispositionen (Habitus) mit diversen sozialen Differenzierungsprozessen zusammen. Historisch relativ neue oder erneuerte Figurationen (wie die formale Organisation oder die computervermittelte Kommunikation) und Figurationen von Figurationen wie die funktional differenzierte, d.h. mit Elias in verschiedenartige ‚Verflechtungssphären‘ zerfallende Gesellschaft implizieren und generieren verschiedenartige Zivilisierungsprozesse, individuelle Habitusensembles und Habitusschichtungen. Zivilisierung wird in diesen sozialen Zusammenhängen immer spezifisch vorausgesetzt und (lebens-)praktisch kontinuierlich erzeugt. Soziale Differenzierung und Zivilisierung hängen insofern ebenso systematisch mit Individualisierung zusammen wie mit der sozialen Generalisierung bestimmter habitueller Grunddispositionen. Diese erwachsen sozusagen aus der erfahrenen Modernität der Gesellschaft. Für Elias (1980, Bd. 2: 322) ist dabei entscheidend, dass die historischen Differenzierungsprozesse und damit „die Ausweitung der Handlungsketten und Interdependenzen im gesellschaftlichen Raume“ („Soziogenese“) untrennbar mit der „Monopolisierung der körperlichen Gewalt“ (ebd.) verbunden sind. Aus der Entstehung und Verfestigung des staatlichen Gewaltmonopols ergibt sich ein historisch generalisierter und intensivierter Zivilisierungszwang und permanenter Zivilisierungsdruck. 2.
Zivilisierende Ungleichheiten: Konkurrenzen, Aufstiege und Distinktionen
Kämpfe und Konkurrenzen zwischen Individuen oder Gruppen um (knappe) ‚Güter‘, seien sie materieller oder symbolischer Art, haben insofern eine prinzipielle und spezifische zivilisatorische Kraft, als sie diejenige (Selbst-)Kontrolle oder (Selbst-)Disziplinierung der Akteure (und keine andere) motivieren oder erzwingen, die erforderlich ist, um den jeweiligen Konkurrenten (Gegner, Feind) zu überbieten oder zu bezwingen. Diese zivilisatorische Logik ist als zivilisatorische Logik der sozialen Ungleichheit und Konkurrenz bzw. des sozialen Aufstiegs auf allen sozialen Ebenen wirksam und unübersehbar: von den
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unmittelbaren Interaktionen des Alltagslebens1 bis hin zu strategischen Kämpfen in und zwischen modernen (Groß-)Organisationen oder sogar Staaten. Selbst wenn es nur darum geht, einem anderen den Schädel einzuschlagen, ist Selbstkontrolle am Platz, nämlich die, die zum Ziel führt. Allerdings sind die zivilisatorischen ‚Tugenden‘, die von sozialen Ungleichheits- und Konkurrenzverhältnissen abverlangt und, um mit Elias zu sprechen, herangezüchtet werden, ihrerseits zivilisatorisch und sozial-kontextuell voraussetzungsvoll. Die Prestige- und Gunstkonkurrenz der Höflinge z.B. war in anderer Weise und mit anderen Ergebnissen zivilisierend als es die Statuskonkurrenz in den ‚Bürowelten‘ moderner Bürokratien (vgl. Kuzmics 1986) oder die Marktkonkurrenz zwischen Unternehmen und Unternehmern ist. Der Konkurrenzmechanismus funktioniert m.a.W. als Moment des (historischen) Zusammenhangs von Sozio- und Psychogenese spezifisch zivilisatorisch. Eine besondere generative Ebene der Zivilisierung kann in den sozialen Aufstiegs-, Konkurrenz- und Distinktionsbewegungen gesehen werden, die Elias und Bourdieu zwischen und innerhalb von sozialen Gruppen und Gruppierungen bzw. Schichten identifiziert haben. Für Elias, und durchaus sehr ähnlich für Bourdieu in seinen Analysen der Klassenverhältnisse des modernen Frankreich, spielt der Aufstiegs- und Überlegenheitsantrieb und der soziale Konkurrenzmechanismus sowohl in den Beziehungen zwischen individuellen Akteuren und ‚Ensembles‘ als auch im Rahmen der großen Bewegungsgesetzlichkeit ‚sozialer Ungleichheit‘ bzw. Schichtung eine verhaltensmotivierende und verhaltenssteuernde und letztlich habitusprägende, d.h. zivilisatorische, Rolle. Das Streben nach sozialer Überlegenheit und sozialem Aufstieg und – damit zusammenhängend – die soziale Konkurrenz um Positionen, Ränge und Ressourcen (materielle/ökonomische wie symbolische) sind bei Elias wie bei Bourdieu von geradezu anthropologischer, aber zugleich auch soziologischer (historischer) und (d.h.) sozialisatorischer/zivilisatorischer Bedeutung. Grundlegend ist bei Elias und Bourdieu die Annahme nicht nur von objektiven ‚Oben/Unten‘-Differenzen in und zwischen sozialen Schichten (Klassen), sondern auch von entsprechend antagonistischen habituellen und habitusgenerativen Orientierungen und Strategien in und zwischen Schichten, die als obere Schichten nach Abgrenzung und Distinktion und als untere Schichten nach Aufstieg und Identifikation streben. Hier gilt dann nicht oder nur in einem bestimmten Sinne das besagte ‚Gesetz‘ des Panoptismus, dass man sich kontrollie-
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Auf diese Ebene, aber nicht nur auf diese Ebene, bezieht sich Goffmans Vorstellung des interaktionellen Image-Kampfs im Sinne einer offensiven oder „aggressiven Image-Pflege“. Ihr entspricht ein spezifisches Profil der Zivilisiertheit, das Goffman mit Begriffen wie Gelassenheit oder „sang froid“ belegt. Der Gegenbegriff dazu ist Verlegenheit. Er steht für eine eigentümliche Performanz- und Kompetenzstörung, die wesentlich mit einer Überwältigung durch Affekte zu tun hat.
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ren muss, um nicht kontrolliert (und sanktioniert) zu werden. In der hier gemeinten Konstellation muss man sich vielmehr kontrollieren und kontrolliert an sich selbst und seiner Selbstkontrolle ‚arbeiten‘, um sich einerseits sozial nach ‚oben‘ bewegen zu können – als Aufsteiger oder aufsteigende Schicht. Und andererseits und umgekehrt muss man sich kontrollieren und kontrolliert an sich selbst und seiner Selbstkontrolle ‚arbeiten‘, um seinen Distinktionswert oder seine Distinktionswerte zu erhalten und zu steigern bzw. um sich gegenüber Aufstiegsaspiranten zu distinguieren, sei es als aufgestiegenes Individuum oder als aufgestiegene (herrschende) Schicht. Sozialer Status heißt unter der Bedingung der modernen, primär funktional differenzierten Gesellschaft, von der Elias wie Luhmann ausgeht, hauptsächlich beruflicher Status, sozialer Aufstieg heißt beruflicher Aufstieg. Der Beruf und die berufliche Karriere sowie die entsprechenden, teils vorlaufenden und teils parallel laufenden (Aus-)Bildungsprozesse werden damit (nach dem Untergang der primär stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft) zivilisatorisch zentral. Jeder Beruf hat sein eigenes Zivilisiertheits- und Zivilisierungsprofil und seine eigene Zivilisierungslogik. Jede berufliche Karriere ist immer auch eine Zivilisierungskarriere. Die funktionale Differenzierung der Gesellschaft impliziert damit auch eine Differenzierung der Zivilisierungen. Die Zivilisierung des Lastkraftfahrers ist eine andere als die des Berufspolitikers, die des ‚Models‘ eine andere als die des Lehrers, die des Hochschullehrers eine andere als die des Grundschullehrers usw. Neben der beruflichen Status- und Karrierelogik wird im Zuge der historischen Entwicklung der (post-)modernen Gesellschaft, der ‚Erlebnisgesellschaft‘, zunehmend die freizeitliche Aktivität und die entsprechende Art von Karriere in bestimmten Szenen und Spezialkulturen zu einem Faktor (Generator) der zivilisatorischen Habitusbildung. Nachdem der Mensch der Moderne sich vom Geständnistier und Arbeitstier zunehmend (auch) zum (Parallel-)Erlebnistier entwickelt hat, entwickelt er in seinen ‚Freizeitkarrieren‘ das, was man eine Konsum- oder Erlebnsizivilisiertheit nennen könnte. 3.
(Oberschicht-)Modelle, Modellierungen und Sickerprozesse
Elias versteht den sozialen Aufstiegs- und Konkurrenzmechanismus als einen universellen und zugleich historischen Zivilisierungsfaktor, der in der ‚höfischen Gesellschaft‘ (Oberschicht) seine für die Entwicklung der modernen (Welt-)Gesellschaft und (Welt-)Kultur entscheidende Form annahm und Dynamik gewann. In jenem ‚sozialen Raum‘ sieht Elias eine sich im Zuge sozialer Verflechtungsprozesse entfaltende und bis heute wirksame, wenn auch gegenüber funktionaler (System-)Differenzierung sekundär gewordene Prägekraft
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oberschichtlicher Verhaltensmodelle. In der Sequenz der historisch „modellgebenden Schichten“ (z.B. Elias 1980, Bd. 2: 345ff.) erscheint die höfische Oberschicht als zentrale Quelle und gleichsam als Vorlage für ein stilbildendes und stilfortbildendes Lernen am Modell, für ein allmähliches ‚Durchsickern‘ oberschichtlicher Verhaltensmuster in immer breitere Schichten. „Die höfische Aristokratie konnte auf Grund der eigentümlichen Verflechtung, in der sie lebte, nicht verhindern, ja sie trug selbst durch ihre Kontakte mit reichen, bürgerlichen Schichten, die sie in dieser oder jener Form brauchte, dazu bei, dass sich ihre Manieren, ihre Gebräuche, ihr Geschmack und ihre Sprache über andere Schichten hin ausbreiteten, zunächst im 17. Jahrhundert über kleine Spitzengruppen des Bürgertums hin (…), dann im 18. Jahrhundert über breitere Schichten des Bürgertums (…).“ (ebd.: 350f.)
Der historische Prozess impliziert demnach also zunächst innerhalb der „abendländischen Zivilisation“ ein Durchsickern oberschichtlicher Verhaltensmodelle auf nach oben drängende untere Schichten, so dass sich, und das ist für Elias ein entscheidender zivilisatorischer Prozess und ein entscheidendes zivilisatorisches Prozessergebnis, die „Kontraste des Verhaltens zwischen den jeweils oberen und den jeweils unteren Gruppen verringern“ (ebd.: 348), und sich zugleich je nach der „Strukturgeschichte eines Landes im Rahmen des zivilisierten Verhaltens recht verschiedene Modellierungen oder Spielarten“ herausbilden (ebd.: 349). Diese zivilisatorische Entwicklungslogik betrachtet Elias als eine „Bewegung, die sich zunächst durch Jahrhunderte innerhalb des Abendlandes selbst vollzogen hat“ (ebd.: 344), um sich dann „global“ durchzusetzen. So verstanden bedeutet Globalisierung die weltweite Ausbreitung der „abendländischen Zivilisation“ als eine Art Leitmodell, das langfristig (in Konfrontationen, Kollisionen, Konflikten mit traditionellen (Lebens-)Stilen und Habitus) auch jenseits der „abendländischen Gesellschaft“ durchdringt.2 Elias verwendet in diesem Zusammenhang den Schichtbegriff als einen metaphorischen Begriff und gelangt zu dem Schluss: „Von der abendländischen Gesellschaft – als einer Art von Oberschicht – breiten sich heute, sei es durch Besiedlung mit Okzidentalen, sei es durch Assimilierung von Oberschichten anderer Völkergruppen, abendländisch ‚zivilisierte‘ Verhaltensweisen über weite Räume jenseits des Abendlandes hin aus, wie sich ehemals innerhalb des Abendlandes selbst von dieser oder jener gehobenen Schicht, von bestimmten, höfischen oder kaufmännischen Zentren her Verhaltensmodelle ausbreiteten.“ (Elias 1980, Bd. 2: 344 f.)
Geht man von dem Eliasschen ‚Sickermodell‘ bzw. von der Metapher einer Welt-Oberschicht aus, dann liegt es nahe zu vermuten, dass in der jüngeren Vergangenheit den diversen Medien bzw. den Massenmedien und dem Internet
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Zur Bewertung von Elias’ Theorie des Zivilisationsprozesses als Bezugspunkt der Globalisierungsdiskussion vgl. Mennell (1990) und Robertson (1992: 115 ff.).
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ebenso spezifische wie zunehmend wichtige Rollen in dem entsprechenden (kulturellen/zivilisatorischen) Globalisierungsprozess zugewachsen sind und zuwachsen3: als Träger, Informatoren, Verstärker und Indikatoren/Symptome jener Entwicklungslogik und Entwicklungsdynamik, die Elias unter dem Begriff der Zivilisation versteht. In der global verbreiteten kommerziellen Produktkultur der ‚Weltoberschicht‘ (Coca Cola, McDonalds usw.) und ihrer (Global-)Werbung z.B. werden die entsprechenden stilistischen Modelle und kosmologischen Sinngehalte geradezu rituell zelebriert und einem (laut Elias) bereits geschmacklich disponierten Publikum (weiter) schmackhaft gemacht. Der sozialisatorische/zivilisatorische Mechanismus liegt in diesem Fall – wie im Falle anderer Mediengattungen – also nicht in einer Logik des sozialen ‚Systemzwangs‘ oder der sozialen Kontrolle, sondern in der Generalisierung und Performanz bestimmter symbolisch (rituell) signifikanter Informationen. Indem Medieninszenierungen wie die der Reklame jene Verhaltensmodelle und kosmologischen ‚Botschaften‘ der westlichen ‚Welt-Oberschicht‘ (welt-)gesellschaftsweit, permanent, massiv, attraktiv und attrahierend (verführerisch) verbreiten, erfüllen sie in dem von Elias gemeinten Sickerprozess wichtige Vermittlungs-, Orientierungs- und Verstärkerfunktionen. Folgt man Elias, dann bedeutet dies einen zweiseitigen und ambivalenten Prozess: einerseits und hauptsächlich eine gewisse globale Vereinheitlichung, nämlich eine langfristige ‚Verringerung der Kontraste‘ auf Weltniveau. Gleichzeitig – und dies ist die andere Seite dieser (ein und derselben) Medaille – kommt es zu einer Differenzierung, nämlich einer ‚Vergrößerung der Spielarten‘.4 Mit Elias kann man also die vermeintlichen Gegensatzpaare Einheitlichkeit/Verschiedenheit, Vereinheitlichung/Differenzierung als Alternativen der historischen Entwicklung/Entwicklungsrichtung in einen sozusagen dialektischen Zusammenhang auflösen. In diesem Rahmen sind Wandlungen und mit ihnen Vielfalt, Inkonsistenz, Hybridität usw. nicht nur zu erwarten und zu erklären, sondern auch historisch einzuordnen und d.h. zu relationieren und zu relativieren.
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Die historische Kulturbedeutung und kulturelle Globalisierungsbedeutung der Massenmedien (und erst recht des Internets) hat Elias zwar noch kaum im Blick, doch fällt es nicht schwer, seine ‚Sickerthese‘ dahingehend zu deuten. Elias spricht auch von „Amalgamierungen“.
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4.
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Institutionelle Zivilisierungen und Zivilisierungsgrenzen
Als eine eigene zivilisatorische (zivilisatorisch (re-)generative) Ebene können die speziellen und spezialisierten Institutionen und institutionellen Praktiken und Verfahren betrachtet werden, die bezwecken, Menschen zu bilden, zu erziehen oder umzuerziehen, auszubilden, umzubilden, zu (re-)sozialisieren, von Schuld zu befreien, zu heilen, zu disziplinieren, zu normalisieren, zu sensibilisieren, zu coachen, zu trainieren usw. Totale Institutionen wie das Gefängnis, die Klinik/die Psychiatrie, die (militärische) Kaserne oder das Erziehungsheim spielen in diesem Zusammenhang eine historische Sonderrolle und auch Schlüsselrolle – sozusagen als Brennpunkte in dem komplexen „Figurationsprozeß“ (Elias) der Zivilisierung. Darüber hinaus und daneben ist ein immer dichter werdendes Netz von Institutionen, das heute die ganze Gesellschaft und jedermanns Existenz überzieht, zivilisatorisch voraussetzungs- und wirkungsvoll. Ich meine ein immer expansiveres und mächtigeres Spektrum von Institutionen, das von der Vorschule über Beratungseinrichtungen bis zu dem Feld der Psychotherapien reicht. Die zivilisatorische Bedeutung dieser Institutionen werde ich im Folgenden ebenso betrachten wie den Typus der totalen Institution. 4.1 (Totale) Institutionen und (der) Zivilisierung Elias’ Zivilisationstheorie lässt sich in diesem Zusammenhang in ein weitgehendes theoretisches und sachliches Parallel- und Komplementärverhältnis zu Untersuchungen von Michel Foucault5 und Erving Goffman6 setzen. 4.1.1 Foucault und Elias Foucault bestätigt und ergänzt Elias vor allem durch die in historischer Perspektive erfolgende Beschreibung institutioneller Faktoren und Prozesse, die zu habituellen Dispositionen der Selbstkontrolle, insbesondere des Körpers bzw. der Triebhaftigkeit, führen. Elias und Foucault fokussieren diesbezüglich in mehr oder weniger expliziter Bezogenheit auf Freud zwei menschliche Triebsphären: die aggressive und die sexuelle. Allerdings setzt Elias einen Akzent auf die physische Gewalttätigkeit, während Foucault (vgl. 1977b: 14) den ‚Sex‘ stärker in den Vordergrund rückt.
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Foucault und Elias haben sich allerdings wechselseitig nicht zur Kenntnis genommen. Elias und Goffman haben sich zwar wechselseitig wahrgenommen. Elias hat Goffman allerdings vollständig auf die ‚mikrosoziologische‘ Dimension verkürzt und die zivilisationstheoretischen Implikationen seines Werks verkannt (vgl. Elias 1978). Goffman wiederum hatte im Rahmen seiner eher formalen Soziologie bzw. seines Forschungsprogramms („Interaktionsordnung“) keinen wirklichen Sinn für die (Makro-)Figurationssoziologie.
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Die Struktur der hier ins Auge zu fassenden Dispositionen der Selbstkontrolle versteht Foucault analog zu Elias. Wie erwähnt spricht er in „Überwachen und Strafen“ (1977a) ganz im Sinne der Eliasschen Habitus(zivilisierungs)theorie (und anderer Habitustheorien) von einer „Automatik der Gewohnheiten“ (1977a: 173) als Effekt institutioneller Kontroll-, Überwachungs- und Sanktionsmechanismen. Speziell Foucaults Vorstellung von der „Bio-Macht“ (1977b: 167), von der Durchdringung der Körper durch anonyme Kontrollen, die sich dem Bewusstsein und dem Willen (der ‚Subjektivität‘) der Akteure entziehen, sind den Eliasschen Vorstellungen von (habitueller) Zivilisiertheit und Zivilisierung sehr ähnlich (vgl. Hahn 1984). Auch Elias’ empirisch-analytische Kernthese einer historisch fortschreitenden Zivilisierung der aggressiven Triebhaftigkeit des Menschen findet eine Parallele bei Foucault. Auf eine Arbeit von N. W. Mogensen gestützt, stellt er in Übereinstimmung mit Elias’ Vorstellung von Zivilisierung als Pazifizierung fest: „Es scheint also, als hätte es eine fortschreitende Senkung des Pegelstandes – ‚eine Entschärfung der Spannungen in den menschlichen Beziehungen ... eine bessere Kontrolle der gewaltsamen Triebe‘ gegeben ...“ (Foucault 1977a: 96f.). Ganz im Sinne der Eliasschen Zivilisierungsthese kann auch der von Foucault in „Überwachen und Strafen“ beschriebene Pazifizierungs- und Rationalisierungsprozess der institutionellen Strafpraxis (die „Geburt des Gefängnisses“) verstanden werden. Wie Foucault spannt auch Elias (1980, Bd. 2: 323) den historischen Bogen von spektakulären und „extremen Formen der körperlichen Qual“, von der Marter, die Foucault am Anfang von „Überwachen und Strafen“ an einem historischen Beispiel (heute) quälend beschreibt, bis zur ‚modernen‘ Strafpraxis, die er, mit Foucault sachlich übereinstimmend, durch Entpersönlichung, ‚Affektneutralisierung‘, Reglementierung und Milderung (‚Humanisierung‘) gekennzeichnet sieht (vgl. Elias 1980, Bd. 2: 323). Elias und Foucault konvergieren aber nicht nur im Verständnis von Zivilisiertheit als Selbstkontrolle (‚Automatik‘ der Selbstkontrolle/„Selbstzwang“) und von Zivilisierung als einem historischen Prozess der Sozio- und Psychogenese, sondern auch im Bezug auf die operative und generative (Sozio-)Logik von Zivilisierungsprozessen, kurz gesagt: in der Beantwortung der Frage nach dem Wie der Genese und der Generierung von Zivilisiertheit. Im Bezug auf totale Institutionen (Gefängnisse, psychiatrische Anstalten, Militär u.a.m.) entwickelt Foucault die Vorstellung von einer zivilisatorischen Mechanik, die er unter dem Titel „Panoptismus“ (1977a: 251 ff.) fasst und behandelt. Damit meint er ein psychogenetisches Funktionsprinzip der sozialen Kontrolle, das auch Elias im Sinn hat, wenn er, speziell im Bezug auf die als eine Art totale Institution zu verstehende ‚höfische Gesellschaft‘, davon spricht, das sich „Fremdzwänge (…) in Selbstzwänge verwandeln“ (1980, Bd. 2: 313).
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Alois Hahn betrachtet das hier gemeinte Prinzip als fundamentales soziales Zivilisierungsprinzip, das er jenseits von ‚höfischer Gesellschaft‘ und totalen Institutionen auch – und historisch vorrangig – im Bereich religiöser Institutionen, insbesondere der Beichte, am Werk sieht. Im Hinblick auf das Foucaultsche Beispiel der Überwachungsutopie des Benthamschen Panoptikums stellt er so etwas wie einen kleinsten gemeinsamen (Operations- und Funktions-) Nenner diverser zivilisatorischer Kontexte fest: „Hier (nach Bentham, H. W.) sollen in einem Mauerkreis Einzelzellen erbaut werden, die von einem im Hof errichteten Turm aus ständig einsehbar sind, ohne daß die Zelleninsassen sehen können, ob dieser besetzt ist oder nicht. Da sie nicht wissen können, ob sie beobachtet werden, müssen sie sich stets so verhalten, als ob sie es würden, selbst wenn der Aussichtsposten tatsächlich leer ist. An die Stelle der äußeren spektakulären Strafrituale tritt so die permanente Überwachung, die schließlich auch wegfallen kann, weil die Fiktion der Überwachtheit ausreicht, um die Insassen gefügig zu machen. Der Überwachte übernimmt die Perspektive des Überwachenden. Das Wissen, überwacht zu werden, wirkt auf den Anstaltsinsassen, wie ihn Foucault beschreibt, analog wie auf den von Norbert Elias dargestellten Höfling die Permanenz der kommunikativen Situationen oder auf den Weberschen Puritaner der zur Erlangung subjektiver Heilsgewißheit ständig wirksame Kontrolldruck.“ (Hahn 1984: 183)
4.1.2 Goffman, Elias und Foucault In den Zusammenhang dieser Überlegungen kann auch Goffman (1973) mit seiner allerdings nicht historisch angelegten Analyse totaler Institutionen, insbesondere psychiatrischer Anstalten, gestellt werden.7 Die Goffmansche Analyse („Asyle“) ist hier zunächst insofern von besonderer Relevanz, als sie mit der Ritualtheorie bzw. mit der Theorie der rituellen Interaktionsordnung einen Begriff von Zivilisiertheit liefert, der an Elias’ Verständnis angeschlossen werden kann und der dieses Verständnis spezifiziert (vgl. Goffman 1971a, 1971b).8 Gefasst wird damit ein symbolischer Ordnungsund Grenzenraum, um den es auch Elias geht: Anstand, Benehmen, Höflichkeit, Selbstachtung, Scham, Peinlichkeit usw. (s. o.).
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Auf die Parallelität zwischen Goffman und Foucault weist unter anderen Tom Burns hin: „Goffman’s picture of the pressures exerted not only by total institutions but by work organisations generally on the behaviour and self-conception of the people who belong to them amounts, as I have already suggested, to a small-scale version of that presented by Michel Foucault some years later. It is almost as of Foucault had taken up Goffman’s interpretation of the process by which organisations impose an appropriate identity on their members and expanded it into a much wider thesis about how political power exerted in modern society. The connection is all the more striking because neither of them, as far as one can judge, was aware of the other’s writings“ (Burns 1992: 160; vgl. auch ebd.: 160ff.). Wie er auch umgekehrt durch die Figurationssoziologie spezifiziert, insbesondere historisiert und ‚psychologisiert‘ wird.
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(Auch) Goffmans Ausgangs- und Bezugspunkt der Institutionenanalyse ist das räumliche Setting mit seinen Außen- und Innengrenzen. In ihm sieht er sowohl eine Strategie der sozialen Exklusion zivilisatorischer Abweichler, nämlich vor allem der (Schwer-)Verletzer der Normativität und Normalität der rituellen Interaktionsordnung, als auch eine Voraussetzung und Komponente einer Strategie der disziplinarischen (Re-)Normalisierung. Das heißt: Der institutionellen (psychiatrischen) Exklusion entspricht die Inklusion des Abweichlers in ein System, das eine bestimmte Überwachungslogik einerseits und eine bestimmte Sanktionierungslogik andererseits in ein Verhältnis zueinander setzt. Folgt die institutionelle Überwachung/Kontrolle einem Prinzip der Totalität durch Grenzenlosigkeit, Unbestimmtheit und (damit) Unberechenbarkeit, so folgt die disziplinarische Sanktionierung im Zusammenhang damit einer Logik der Knappheit, der Verknappung und Entknappung von (zivilisatorischen) Selbstverständlichkeiten des „bürgerlichen Selbst“ (Goffman 1973). Goffman spricht diesbezüglich von einem „Privilegiensystem“ (1973: 156ff.), das die (Selbst-)Normalisierung des Insassen auf der Verhaltensebene durch die schrittweise Wiedergewährung (vorher institutionell beraubter) normaler Existenzbedingungen honoriert (und umgekehrt Abweichungen durch Entzüge bestraft). Der Sache nach findet sich das Disziplinierungsprinzip des Panoptismus auch bei Goffman beschrieben – ergänzt vor allem um die Vorstellung einer institutionell (ökologisch) strukturierten, aber auch aktiven Selbstnormalisierung des Insassen (Abweichlers), der sich sozusagen mit der Implikation von Arbeit an sich selbst sozial hocharbeitet. Mit der Anstalt und ähnlichen institutionellen ‚Veranstaltungen‘ stellt auch Goffman eine disziplinarische Macht-WissensSanktions-Struktur vor, die normalerweise mindestens Anpassungen, wenn nicht Zivilisierungen im Sinne eines Umschlags von ‚Fremdzwang‘ in ‚Selbstzwang‘ organisiert: Man muss sich selbst „kontrollieren, um nicht kontrolliert zu werden. Aber eben jene Kontrolle, die man selbst vornimmt, um der Fremdkontrolle zu entgehen, ist nichts anderes als deren Vorwegnahme ins eigene Innere, deren Steigerung ins Beispiellose“ (Hahn 1984: 202). Allerdings relativiert Goffman den disziplinarischen Panoptismus der Anstalt in bedeutsamen Punkten. In der typischen Anstalts-Praxis sieht er weitaus weniger zivilisatorische (Wirk-)Macht und weniger zivilisatorische Substanz (im Sinne des Umschlagens von ‚Fremdzwängen‘ in ‚Selbstzwänge‘) als Foucault. Zwei systematische Grenzen des Panoptismus sind in diesem Zusammenhang auszumachen: 1.
Die ‚Widerständigkeit‘ und ‚Gegenmacht‘ des Insassen. Goffman (1973) betont auf seiner empirischen Basis (als ‚teilnehmender Beobachter‘ einer psychiatrischen Anstalt) die typischen Grenzen der institutionellen Kontrolle und Überwachung, die durch den Insassen als Selbst und als Akteur
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gesetzt sind. Auch hier kommen wieder Habitus ins Spiel, nämlich durchaus zivilisierte Habitus der ‚veranstalteten‘ Individuen, die selbst unter extremen Bedingungen moralisch-symbolische Hartnäckigkeit sowie ‚subversive‘ Souveränität und Findigkeit, ja ‚Handlungskunst‘ unter Beweis stellen. Es gibt demnach keine totale oder auch nur annähernd totale Macht und Kontrolle der Institution bzw. keine völlige Ohnmacht auf der Seite des Kontrollierten. Vielmehr gibt es neben sozialen auch psychische Hindernisse institutioneller Kontrolle, die der institutionellen Macht Grenzen setzen. Die Inkonsistenz der Machtausübung. Die Praxis der Anstalt erscheint bei Goffman nicht als durchgängig oder auch nur überwiegend rational im Sinne eines idealtypischen (panoptistischen) Begriffs von Kontrolle, Disziplinierung oder Zivilisierung, sondern vielmehr als unter disziplinarischen (zivilisatorischen) Gesichtspunkten ambivalent, gebrochen und paradox: Das wegen bestimmter ‚Unzivilisiertheiten‘ gesellschaftlich exkludierte Individuum wird auf der Basis zivilisierter Habitus im Sinne einer (Selbst-) Renormalisierung zivilisiert und zugleich jenen in gewisser Weise entzivilisierenden Erfahrungen unterworfen, die ich oben unter dem Goffmanschen Titel der (negativen) „moralischen Karriere“ dargestellt habe. Psychiatrische Anstalten (und andere totale Institutionen) haben demnach die Tendenz, genau jene ‚Tugendhaftigkeit‘ zu beschädigen, die Elias als das Herzstück der Zivilisierung und des Zivilisierten beschreibt: die moralische Selbstgebundenheit, Selbstbindung und Selbststeuerung, das ‚Über-Ich‘, das Schamgefühl. Der Insasse kann also aus der Anstalt in gewisser Weise unzivilisierter herauskommen, als er hineingegangen ist.
Im Anschluss an Goffmans Theorie und Empirie der totalen Institutionen lassen sich auch allgemeine zivilisationstheoretische Schussfolgerungen – sozusagen im Blick auf die Zivilisierung jedermanns – ziehen: 1.
Jedermann ist (habituell) geneigt und befähigt, sich sozialer Kontrolle (Macht) zu entziehen, sich Spielräume für sich (seine Interessen) zu verschaffen und ‚Gegenmacht‘ auszuüben. Die Bedingungen der Gegenwartsgesellschaft kommen dem (dieser Neigung und Fähigkeit) bei gleichzeitiger Ausweitung und Intensivierung bestimmter Überwachungen und Kontrollen historisch einmalig entgegen. Zumindest in vielen gesellschaftlichen Bereichen war es nie so leicht und erfolgversprechend wie heute möglich, sozialen Kontrollen/Überwachungen auszuweichen, sie zu unterlaufen und zu hintergehen. Neben Varianten von Panoptismus sind zunehmend Phänomene und Tendenzen der sozialen Unsichtbarkeit, der ‚Blindheit‘, der ‚toten Winkel‘ und des ‚Übersehens‘ getreten, die auch individuell genutzt werden und die gerade der findige ‚Gegenmachthaber‘ ausnutzen versteht.
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Totale Institutionen und ihre panoptistische Überwachungslogik sowie verwandte Überwachungslogiken wie etwa der Glaube an den allwissenden Gott haben historisch an Bedeutung und damit auch an zivilisatorischer Bedeutung verloren. Nicht nur ist die höfische ‚Überwachungsgesellschaft‘ untergegangen, auch das Überwachungsprinzip der Religion (Gott) hat bekanntlich massiv an Bedeutung und damit auch an zivilisatorischer Wirkmacht verloren. Von nicht unerheblicher Relevanz ist hier weiterhin, dass sich die Militärzeit in den westlichen Gesellschaften tendenziell verringert hat und das Militär wie auch andere totale Institutionen (Psychiatrie, Gefängnis) erheblich an ‚Totalität‘ (insbesondere Verweildauer) verloren haben.
4.2 Institutionelle Diskursivierung und diskursive Zivilisierung Mit Elias bzw. der Eliasschen These einer langfristig gerichteten zivilisatorischen Entwicklung konvergiert Foucault nicht nur auf der Ebene impliziter Habitus/Gewohnheiten, sondern auch da, wo er gewisse Zivilisierungen von Diskursen behauptet. So konstatiert er, dass es eine Zivilisierung der Sprache und des Sprechens gegeben hat, dass sich insbesondere in der „Diskursivierung des Sexes“ zensorische Schwellen und (Selbst-)Kontrollen aufgebaut und erhöht haben. Foucault sieht „eine Säuberung – und zwar eine unerbittliche Säuberung – des zugelassenen Vokabulars (...) Zweifellos haben neue Regeln des Anstandes die Worte gefiltert: Polizei der Aussagen. Und es gab auch eine Kontrolle der Äußerungen“ (Foucault 1977b: 27ff.).9 Der hier entscheidende Punkt ist jedoch nicht die Zivilisierung von Diskursen oder anderen Sphären menschlichen Verhaltens, sondern die Zivilisierung durch Diskurse und Diskursivierungen. Foucault fokussiert in diesem Zusammenhang den zivilisatorischen Schlüsselbereich des ‚Sexes‘.10 Das „Wesentliche“, von dem er im 1. Band von „Sexualität und Wahrheit“ ausgeht und auf das er zielt, ist für ihn die sich historisch verstärkende Diskursivierung des Sexes,
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Für Foucault ist dies allerdings nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite sieht er eine Explosion enthüllender und benennender Diskurse über den Sex, und er vermutet auch eine Zunahme „‚unziemlicher‘ frevlerischer Diskurse, die rücksichtslos, voller Spott für die neuen Schamhaftigkeiten, den Sex beim Namen nennen; wahrscheinlich hat die Verschärfung der Anstandsregeln im Gegenzug eine Aufwertung und Intensivierung der unanständigen Rede hervorgerufen“ (Foucault 1977b: 28). Allerdings schickt Foucault seinen Überlegungen zu „Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen“ die programmatische Erklärung voraus, dass es ihm am Beispiel der ‚Sexualität‘ um ein „allgemeines Problem“ geht: „Wie ist in den abendländischen Gesellschaften die Produktion von Diskursen, die (zumindest für eine bestimmte Zeit) mit einem Wahrheitswert geladen sind, an die unterschiedlichen Machtmechanismen und -institutionen gebunden?“ (1977b: 8).
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die „Vermehrung der Diskurse über den Sex, die im Wirkungsbereich der Macht selbst stattfindet: institutioneller Anreiz, über den Sex zu sprechen, und zwar immer mehr darüber zu sprechen; von ihm sprechen zu hören und ihn zum Sprechen zu bringen in ausführlicher Erörterung und endloser Detailanhäufung“ (ebd.: 28). Dieser Ansatz bzw. diese Perspektive ist durchaus nicht nur in einem allgemeinen zivilisationstheoretischen Sinne zu verstehen, sondern er lässt sich auch der Eliasschen Zivilisationstheorie direkt an die Seite stellen, als Ansatz nämlich, von dem aus strukturelle, methodische und epochale Seiten der Zivilisierung – gerade im Umkreis der Moderne – ins Auge zu fassen und zu konzipieren sind, die bei Elias eher im Dunkeln bleiben. Während es diesem primär um die eher implizite Ebene des Habitus (der Habitualisierung) und dessen langfristige, wesentlich implizit verlaufende Umstellung im Sinne fortschreitender Triebkontrolle und Triebformung (Scham und Peinlichkeit, Triebdämpfung) geht, rückt bei Foucault neben diese Ebene und im Bezug auf sie die Ebene der Reflexion, der Semantisierung, der Beobachtung und Thematisierung in den Rahmen bestimmter Institutionen und Institutionengefüge ins Zentrum. Für Foucault haben die institutionellen Diskurse über den Sex eine spezifische Macht-Ladung, Macht-Funktion und Macht-Wirkung, die jenem sozialen und bio-psychischen Transformationsprozess zumindest nahe kommt, den Elias meint. Der Sex bzw. das mit ihm zusammenhängende Erleben und Handeln wird demnach nicht einfach unterdrückt und verdrängt („Repressionshypothese“), sondern eher gleichsam im Medium des Diskurses verarbeitet und durchgeformt, zu einem Objekt der sozialen Kontrolle, des Wissens, der ‚Behandlung‘, der reflexiven und semantischen Durchdringung und schließlich – sozusagen als Kultur-Sex – der Internalisierung und Inkorporation. Der (abendländische) Mensch gerät also auch bei Foucault zunehmend in Distanz zu seiner (körperlichen) Natur, der sich ‚die Macht‘, d.h. die Gesellschaft, in Form von Institutionen11 bemächtigt und die sie in einem umfassenden und tiefdringenden Sinne verwandelt. Inbegriff dieser Prozesse, die von Elias als Zivilisiertheit und Zivilisierung angesprochen werden, ist der Begriff der ‚Sexualität‘ selbst sowie die Wissenschaft von der ‚Sexualität‘, die „Scientia sexualis“ (vgl. Foucault 1977b: 69 ff.; ders. 1986: 9). Hierin ist Zivilisiertheit und Zivilisierung im Eliasschen Sinne insofern zu erkennen, als der Sex – und das individuelle Verhalten und Bewusstsein überhaupt – durch die entsprechenden Diskurse und Diskursivierungen (und damit auch Semantisierungen) einer effizienteren, sozusagen tiefer gelegten Kontrolle unterworfen und (um-) geprägt wird, und zwar wesentlich in der Logik der für Elias zentralen Zivilisie-
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Schließlich und bis heute sind das insbesondere Institutionen der Selbstthematisierung wie die Beichte oder die Psychoanalyse.
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rungsprozesse der Rationalisierung und Psychologisierung (Elias 1980, Bd. 2: 369ff.). Damit geht es auch um eine Distanzierung von sich selbst und eine (zunehmende) Distanz zu sich selbst, zu den eigenen (Körper-) Impulsen, Reaktionen und Affekten, sowie um eine rationalisierten, verwissenschaftlichten, technisierten Blick auf sich und andere bzw. auf eigene und fremde Körperlichkeit und Triebhaftigkeit. Als Basen und Generatoren dieser (Zivilisierungs-) Prozesse beschreibt Foucault – komplementär zu Elias – Institutionen bzw. „Instanzen der diskursiven Produktion“ (Foucault 1977b: 22), die als Systeme spezifischer und spezifisch zusammenhängender Bedingungen (Semantiken, Praktiken, Verfahren, Rituale) das Individuum einerseits transzendieren und andererseits ihren strukturierten Prozessen unterwerfen. Grundlegend (zivilisatorisch grundlegend) ist auch hier das panoptistische Prinzip der Transparenz, sind (Selbst-)Enthüllung und Überwachung, jedoch übernimmt der Überwachte zunehmend (bis heute zunehmend) selbst die Funktion, sich selbst transparent zu machen. Für Foucault ist das Geständnis spätestens seit dem Mittelalter sozusagen eine Schüsselpraktik, eines der „Hauptrituale“ der abendländischen Gesellschaften, durch das ‚die Macht‘ sich des Individuums bemächtigt und es mit dem Versprechen der „Produktion der Wahrheit“ (ebd.: 75) in ihren Dienst stellt. „Im Abendland ist der Mensch ein Geständnistier geworden“ (ebd.: 77). Im Verständnis des Geständnisses (der Selbstthematisierung) als Technik einer Macht, die das sich selbst thematisierende Selbst immer auch in ihrem Sinne verändert und erschafft12, zeigt sich wiederum eine Parallele und ein Komplement zu Elias und zu einem seiner Begriffe von der Genese von Selbstkontrolle („Selbstzwang“). Wiederum geht es um totalitäre Überwachung, nun aber im Kontext einer intensivierten, effizienteren und (weil) individuelleren Kontrolle, die einen Zusammenhang zwischen Zivilisierung und Individualisierung herstellt, der bei Elias eher vernachlässigt wird. „Das Geständnis der Wahrheit hat sich ins Herz der Verfahren eingeschrieben, durch die die Macht die Individualisierung betreibt“ (ebd.: 76). Foucault und die Diskurstheorie/Diskursanalyse treffen an dieser Stelle und überhaupt mit diversen institutionellen Diskursen vor allem Kontexte und Ebenen der Zivilisierung, die im Zuge der Modernisierung der Gesellschaft und der Habitus zunehmende Bedeutung oder überhaupt erst Bedeutung erlangt haben. Hier ist in erster Linie die soziale Differenzierung von (Spezial-)Diskursen zu beachten, d.h. die Entfaltung feldspezifischer (‚funktionssystemspezifischer‘) (Spezial-)Diskurse, die Praxisvorgaben (praktische Sinn-, Orientierungsvorgaben) für die Akteure darstellen. Die Entwicklung und Pluralisierung dieser Dis-
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In diesem Sinne einer institutionellen Selbstschöpfung hat Alois Hahn von „Biographiegeneratoren“ gesprochen (vgl. 1987).
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kurse mitsamt ihrer je besonderen zivilisatorischen Implikationen folgt der Logik der sozialen (Feld-, System-)Differenzierung. Es geht also um eine sich historisch steigernde „Vielheit von Diskursen über den Sex (…) Produkte einer Serie von Apparaten, die innerhalb verschiedener Institutionen funktionieren. Das Mittelalter hatte um das Thema des Fleisches und die Praktik der Beichte einen weitgehend einheitlichen Diskurs organisiert. Im Laufe der letzten Jahrhunderte ist diese relative Einheit zerlegt, verstreut und vermehrt worden durch eine Explosion verschiedener Diskursivitäten, die in der Demographie, der Biologie, der Medizin, der Psychiatrie, der Psychologie, der Moral, der Pädagogik und der politischen Kritik Gestalt angenommen haben“ (ebd.: 47). Diese Diskurse/Diskursivitäten haben in ihrer Besonderheit und in ihrem Zusammenhang neben den und mit den von Elias thematisierten (zivilisierenden) Strukturebenen (Differenzierung, Verflechtung, Gewaltmonopolisierung) immer auch Konsequenzen für die Beeinflussung, Steuerung und Selbststeuerung von Menschen, für ihre Zivilisierung. Von besonderer aktueller Relevanz in diesem Kontext, aber auch von eigenständiger Bedeutung, sind die (diskursiv) differenzierten Diskurssphären der Massenmedien und des Internets. Diskursive Zivilisierung findet hier z.B. in Form der normalistischen Werbung (s. u.) oder auch durch Ratgeberdiskurse statt. Schließlich ist hier wiederum der ganze Komplex der zunehmend auch (internet-)medial verankerten und teilweise neu ins Leben gerufenen Kontexte, Praktiken und Institutionen der Selbstthematisierung von großer Bedeutung. Sie setzen spezifisch zivilisierte Habitus und Diskurse voraus, zivilisieren aber auch durch die Diskurse, die sie strukturieren, entfachen, entfalten und verwalten. 4.3 Der institutionelle ‚Bildungskomplex‘ In mehr oder weniger engen Zusammenhängen mit speziellen Diskursen und Diskursivierungen stehen jene Institutionen, die unter Zivilisierungsgesichtspunkten insofern besonders relevant sind, als sie im weitesten Sinne ‚subjektiv‘ relevante bzw. ‚subjektivierende‘ (normativ orientierte, wertorientierte) Lernprozesse bezwecken und bewirken. Die historische Entwicklung, die zunehmende Ausbreitung, Pluralisierung, Professionalisierung und technische Elaboration dieser Institutionen ist als ein Ausdruck, aber auch als eine spezifisch generative Seite, als eine Ursachenseite von Zivilisierungsprozessen zu verstehen. Sie hängen in verschiedenen Formen und sachlichen Hinsichten wesentlich auch mit dem hier gemeinten, immer dichter werdenden Netz von Institutionen (des Lehrens und Lernens, des Erziehens und Ausbildens, Therapierens usw.) zusammen, das die Gesellschaft sozusagen parallel zu (anderen) Differenzierungs- und Verflechtungsprozessen überzogen hat und überzieht.
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In diesen Zusammenhang gehören verschiedene institutionelle Sphären oder Institutionenklassen, die sich (und ihre Gesellschaft) dadurch auszeichnen, dass sie historisch zunehmend an sozialer und sozialisatorischer/zivilisatorischer Bedeutung gewonnen haben. Drei historisch ebenso expandierte und expansive wie in ihren Funktionsweisen und Methoden zunehmend intensivierte institutionelle ‚Komplexe‘ sind zumindest potentiell mehr oder weniger stark habituswirksam und damit auch von zivilisatorischer Relevanz: a.
der ‚pädagogische Komplex‘ mit seinen sich immer stärker ausweitenden und differenzierenden Erziehungs- und Ausbildungskomponenten (von der Kinderkrippe bis zur Volkshochschule, von der Fahrschule bis zur Universität). Von zivilisationstheoretischem Belang ist hier die empirische Tendenz zu immer früher einsetzenden, sich immer länger hinziehenden (‚lebenslänglichen‘), immer vielseitiger werdenden, immer umfassender ambitionierten, immer methodischer verlaufenden und immer mehr Gruppen einschließenden (Aus-)Bildungsprozessen. ‚Vorschule‘, ‚Weiterbildung‘, ‚Erwachsenenbildung‘ und mit Begriffen wie Coaching, Training oder ELearning belegte neuere Bildungs- und Selbstbildungsformen sind hier ebenso symptomatisch wie die Tendenz zu ‚höheren‘ (und längeren) Schulen bzw. die Tendenz zum Gymnasium als ‚Hauptschule‘. Alle diese Bildungsformen, Bildungs- und ‚Verschulungsprozesse‘, die zunehmend auch von Mediatisierungen (vom Massenmedium über das Internet bis zu ‚Power Point‘) getragen, gestützt und strukturiert werden, setzen Selbstkontrollen (Affektkontrollen, ‚Langsicht‘, ‚methodische Lebensführung‘ etc.) voraus und forcieren und prägen (immer auch ungeplant) entsprechende (zivilisierte) habituelle Dispositionen. Die immer häufiger aus beruflichen Gründen betriebenen und unternommenen (Selbst-)Bildungsversuche, ‚Schulungen‘ in den diversen Bereichen ‚sozialer (‚interpersonaler‘) Handlungskompetenz‘ (‚Personalführung‘, ‚selbstbewusstes Auftreten‘, ‚Empathie‘, ‚Gruppendynamik‘ etc.) können als spezifische Zivilisatoren verstanden werden. Es gibt neben zunehmenden ‚sachlichen‘ Bildungserfordernissen und Bildungsbedürfnissen eine zunehmende Tendenz zur Bildung genereller Beobachtungs-, Selbstdarstellungs- und Interaktionskompetenzen im Sinne dessen, was Elias Rationalisierung und Psychologisierung genannt hat. Von besonderer zivilisatorischer (und zivilisationstheoretischer) Bedeutung ist im Zusammenhang dieses wie des folgenden ‚Komplexes‘ die Tatsache, dass in den jeweiligen Praxen immer auch eigentümliche soziale Kontrollen, Überwachungen, (Über-)Prüfungen und Sanktionen oder wie Sanktionen wirkende Reaktionen im Spiel sind. Hier greift teilweise auch die oben beschriebene Logik des Panoptismus: Man muss sich kontrollieren, um nicht kontrolliert und sanktioniert zu werden. Das gilt auch und ge-
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rade für diejenigen, die in formalisierten Ausbildungsprozessen die Entwicklung und den Nachweis von Kompetenzen anstreben. Daneben verstärkt sich aber die zivilisatorisch voraussetzungs- und wirkungsvolle Tendenz zur Selbst(aus)bildung. Wir leben auch in einem Zeitalter der Autodidakten und Selbsterzieher. Der medizinisch-psychologisch-psychotherapeutische (Gesundheits-)‚Komplex‘ (von der ‚gesundheitsbewussten‘ Ernährung über das ‚Selbsterfahrungswochenende‘ bis zur jahrelangen Psychoanalyse). Auch diese institutionelle Sphäre, die auch oder in erster Linie auf die Herstellung von Selbstkontrollen und Kompetenzen, d.h. habituellen Eigenschaften, zielt, wird historisch immer wichtiger, massiver und differenzierter, und sie wirkt immer stärker und intensiver in die (Er-)Lebenswelten und Befindlichkeiten der Individuen hinein. Ziel und Folge einschlägiger Praxis und Lernprozesse sind in diesem Fall insbesondere zivilisatorisch signifikante Rationalisierungen und Psychologisierungen in den Selbst- und Fremdverhältnissen des Individuums und in seinem Selbst- und Fremdverhalten, etwa in den Bereichen der Ernährung, der ‚Körperpflege‘, der Sexualität oder der interpersonalen ‚Beziehungen‘. Die Medizin, die mit ihr verknüpfte (Pseudo-)Gesundheitsindustrie und die wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Gesundheitsdiskurse/Ratgeberdiskurse zu Themen wie Krankheitsprophylaxe, Schönheit, Schlankheit, Fitness, Wellness, Diät usw. sind sicher von erheblicher und (weil) massenwirksamer Zivilisierungsrelevanz. In diesen Zusammenhängen geht es typischerweise auch um das Ziel gesteigerter Selbstkontrolle, aber auch um (Dauer-)Selbstbeobachtung, Selbstreflexion, ‚Langsicht‘ und ‚methodische Lebensführung‘ im Zusammenhang mit Versuchen, dieses Ziel, z.B. ‚selbstbewusstes Auftreten‘, zu erreichen. Besondere Relevanz haben in dieser institutionellen Sphäre und darüber hinaus in den Feldern der persönlichen (interaktiven) Beratung und der medialen Ratgeberdiskurse psychologische und psychotherapeutische Einrichtungen (der Selbstthematisierung und Selbstveränderung). Deren zivilisatorische und zivilisationsgeschichtliche Bedeutungen bestehen neben veränderten oder geschaffenen (biographischen) Selbstkonzepten auch in einem Ensemble von (habituellen) Selbstkontrollen, Orientierungen, Sensibililitäten und kommunikativen Handlungskompetenzen, insbesondere von ‚Behandelten‘. Darüber hinaus sind psychologische und psychotherapeutische Diskurse und Deutungen heutzutage auch insofern zivilisatorisch relevant, als sie für die Selbst- und Weltauslegung jedermanns und damit auch für seine (zivilisierte und zivilisierende) Lebensführung Folgen haben. Der feldspezifische, aber auch felderübergreifende ‚Beratungskomplex‘ hat in den und mit den genannten institutionellen Sphären, aber auch jenseits
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von ihnen gerade in medialen Kontexten an sozialer und sozialisatorischer/zivilisatorischer Bedeutsamkeit gewonnen.13 Professionelle oder professionalisierte Beratung spielt sich heute in zwei Grundformen ab, die beide von immer größerer Bedeutung für die Orientierungen der Akteure, für ihr Wissen und (Selbst-, Welt-) Bewusstsein und für ihre Lebensführung werden. Zum einen gibt es sie innerhalb institutionell kontextierter RollenBeziehungen und unmittelbarer (Beratungs-)Interaktionen zwischen Beratern und Ratsuchenden/Beratungssuchenden im Rahmen bestimmter ‚Stellen‘. Die entsprechenden Einrichtungen, (Beratungs-) Akteure und Kommunikationen (Diskurse) sind in ihrer Gesamtheit sicher zivilisatorisch wirkungsvoll, weil sie ein massenhaftes Publikum in allen Lebens- und Verhaltenssphären ‚bedienen‘ und mehr oder weniger differenziert und individualisiert instruieren können (vgl. Bergmann et al. 1998). Eine zentrale Rolle spielt diesbezüglich auch die (Doppel-)Autorität der Berater, die gegenüber ihren Publika, sei es interaktiv oder vermittelt (als Berater oder ‚Ratgeber‘), typischerweise als Interessenvertretung (Allianz) und zugleich mit der „funktionalen Autorität“ (Luhmann) von Experten und Spezialisten auftreten, die definieren, was ‚eigentlich vorgeht‘ und ‚vorgehen sollte‘, was normal und was abweichend ist und was ‚zu tun‘ ist usw. Damit sind sie nicht nur ‚definitorisch‘ besonders effektiv, eindringlich und nachdrücklich, sondern gerade auch auf jene Grenzen bezogen, die von Elias unter den Begriffen der Zivilisiertheit und der Zivilisierung verstanden werden. Dies zeigt sich beispielsweise auf dem Feld der Sexualberatung (vgl. Bergmann et al. 1998: 184ff.), wo (Grenz-) Begriffe und (Grenz-) Deutungen von Normalität und (Selbst-) Verantwortlichkeit eine große Rolle spielen. Zum anderen entfaltet sich der ‚Beratungskomplex‘ immer mehr in Form von diversen und diversifizierten Beratungsdiskursen in den Massenmedien14 und – mit dynamisch wachsender Tendenz – im Internet15. In diesen Medien und durch sie wird Beratung im Sinne einer Interessenvertretung und Kompetenz beanspruchenden Instruktion zu einem Massenerlebnis und auch zivilisatorisch massenwirksam. In gewisser Weise kann man im Anschluss an Bergmann, Goll und Wiltschek (1998) feststellen, dass die medialen Beratungsdiskurse bei aller sachlichen und ‚weltanschau-
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Dies hängt natürlich systematisch mit den allseits bekannten Modernisierungsprozessen und Merkmalen der Moderne (Komplexität, Anomie, Fremdheit, Kontingenz usw.) zusammen, aus denen sich Informations- und Orientierungsbedürfnisse ergeben. Man denke an die klassischen Ratgebersendungen und ‚Lebenshilfen‘ und an neuere Formate wie ‚Super Nanny‘, die Beratung und Unterhaltung kombinieren. Vgl. dazu die aufschlussreichen Untersuchungen von Ernst von Kardorff 2008.
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lichen‘ Heterogenität oder scheinbaren Neutralität zumindest tendenziell auch in einem kosmologischen Sinne instruieren und zivilisieren. Sie verbreiten und forcieren insbesondere eine Semantik und Kosmologie des (pluralistischen) „anything goes“ (Bergmann et al. 1998: 213), der verwissenschaftlichten Sachlichkeit und der Selbstverantwortung.
Literatur Bergmann, Jörg/Goll, Michaela/Wiltschek, Ska (1998): Sinnorientierung durch Beratung? Funktion von Beratungseinrichungen in der pluralistischen Gesellschaft. In: Luckmann, Thomas (Hrsg.): Sinnvermittlung und moralische Kommunikation in intermediären Institutionen. Gütersloh: Bertelsmann, S. 143-218. Burns, Tom (1992): Erving Goffman. London: Routledge. Elias, Norbert (1978): Zum Begriff des Alltags. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 20, S. 22-29. Elias, Norbert (1980): Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2 Bde. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Foucault, Michel (1977a): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main. Suhrkamp. Foucault, Michel (1977b): Sexualität und Wahrheit. Bd. 1: Der Wille zum Wissen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Foucault, Michel (1986): Sexualität und Wahrheit. Bd. 2: Der Wille zum Wissen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Goffman, Erving (1971a): Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Goffman, Erving (1971b): Verhalten in sozialen Situationen. Strukturen und Regeln der Interaktion im öffentlichen Raum. Gütersloh. Goffman, Erving (1973): Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Hahn, Alois (1984): Theorien zur Entstehung der europäischen Moderne. In: Philosophische Rundschau 31, S. 178-202. Hahn, Alois (1987): Identität und Selbstthematisierung. In: Hahn, Alois/Kapp, Volker (Hrsg.): Selbstthematisierung und Selbstzeugnis. Bekenntnis und Geständnis. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 9-24. von Kardorff, Ernst (2008): Virtuelle Netzwerke – neue Formen der Kommunikation und Vergesellschaftung? In: Willems, Herbert (Hrsg.): Weltweite Welten. Internet-Figurationen aus wissenssoziologischer Perspektive. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 23-56. Kuzmics, Helmut (1986): Verlegenheit und Zivilisation. Zu einigen Gemeinsamkeiten und Unterschieden im Werk von E. Goffman und N. Elias. In: Soziale Welt 37, S. 465-486. Mennell, Stephen (1990): The Globalization of Human Society as a Very Long-Term Social Process: Elias’s Theory. In: Featherstone, Mike (Hrsg.): Global Culture. Nationalism, Globalization and Modernity. London: Sage, S. 359-371. Robertson, Roland (1992): Globalization. Social Theory and Global Culture. London (u.a.): Sage.
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Implementation
Begriffskonjunkturen und der Wandel vom Qualifikationszum Kompetenzjargon Bernd Dewe
In diesem Beitrag wird der Übergang von der Qualifikations- zur Kompetenzdiskussion nachgezeichnet, der mit einem Wechsel der Perspektive von den Institutionen des Bildungs- und Beschäftigungssystems hin zur lernenden und lehrenden Person einhergeht. Kompetenz gilt als Vorbedingung für die in komplexen organisatorischen Entscheidungssystemen erforderliche Zusammenarbeit sowie als Basis für den pädagogischen Umgang mit einer vorher nicht eindeutig antizipierbaren Teilnehmer- oder Arbeitsgruppe unter den Bedingungen von Ungewissheit, Offenheit und Mehrdeutigkeit. Betont wird, dass der lernende Umgang mit sozialen Kompetenzen eher in Bildungsprozessen stattfindet, in denen es nicht um die Aneignung konkreter Handlungsmuster in impliziten Bildungsprozessen geht, sondern um den Erwerb von Strukturen bzw. um den Erwerb der Kenntnis der Regeln sozialkompetenten Handelns. Ihre Vermittlung ist über explizite Formen des Lernens und Trainierens nur unvollständig möglich. Die These dieses Beitrages besagt, dass vor dem Hintergrund von Arbeitsmarktentwicklungen, die sowohl durch eine Entkopplung von Qualifikation und Berufstätigkeit, als auch von Identität und Arbeit die Idee einer ganzheitlichen sozialen Kompetenzbildung als Zitat im Zeitalter ihrer Unmöglichkeit wiederkehrt. Die Folgen sozialer Differenzierungsvorgänge und gesellschaftlicher Desintegrationsprozesse sollen durch pädagogische Kompetenzkonzepte geheilt werden. Es wird kritisiert, dass diese Diskussion bisher nahezu ausschließlich präskriptiv-normativ geführt wird und sich in der Folge in reinem Kompetenzansinnen erschöpft. 1.
Von der Qualifizierung zum Training von Kompetenzen – Zur Karriere eines Begriffes
Die vor einigen Jahren entbrannte pädagogische Debatte um Kompetenzen – besonders um soziale Kompetenzen – in den institutionalisierten Feldern der Bildung und Erziehung ist nur angemessen zu verstehen vor dem Hintergrund des Scheiterns eindimensionaler Qualifizierungs- und Beschulungskonzepte und
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in der Folge des Reflexivwerdens der Qualifikationsdebatte besonders in beruflichen und betrieblichen Lernkontexten. Dieser Übergang von der Qualifikations- zur Kompetenzdiskussion bedeutet einen Wechsel der Perspektive von den Institutionen des Bildungs- und Beschäftigungssystems hin zur lernenden und lehrenden Person. Ihre große Chance bekam die Diskussion um Kompetenzen in dem Moment, als die sträfliche Vernachlässigung kommunikativer Prozesse in der primär auf ökonomische Verwertbarkeit und Statuserhöhung abzielenden Qualifikationsdiskussion (vgl. Hund u.a. 1973) als Problem erkannt wurde. Die Folge war eine verstärkte Thematisierung der Subjektivität der beteiligten Akteure sowie des sozialen Interaktionsprozesses selbst und der Bedeutung von Kommunikation als wesentliche Voraussetzung und konstitutives Merkmal jedes Bildungsprozesses. Mit dem programmatischem Interesse an Kompetenzen als neuer Zielbestimmung für die Professionalisierung des pädagogischen Praktikers ebenso wie für die Entwicklung des Teilnehmers an internationalen Lernprozessen wurde der Begriff der Qualifikation relativiert (vgl. bspw. Houston 1974; zur aktuellen Debatte vgl. Franke 2001; Maus et al. 2008). Damit wurde zunächst der kritischen Analyse des Qualifikationsbegriffs Rechnung getragen, die den instrumentelltechnischen, d.h. primär auf bloße Effizienz gerichteten Charakter dieses Begriffes deutlich gemacht hatte (vgl. Dewe 1990). Eine derart eingeschränkte Bedeutung wird – so die neue Einsicht – den Anforderungen pädagogischen und weiterbildnerischen Handelns nicht gerecht, das sich an den Interessen und Bedürfnissen bereits (vor-)qualifizierter Personen und Gruppen orientiert. Bereits der Deutsche Bildungsrat hatte Kompetenz und Qualifikation in ähnlichem Sinne unterschieden. Qualifikation bezeichne den Lernerfolg besonders im Hinblick auf seine Verwertbarkeit, Kompetenz vorwiegend im Hinblick auf die Person des Lernenden (vgl. Deutscher Bildungsrat 1970). Professionelle, d.h. entwickelte (Sozial-)Kompetenz unterscheidet sich nun von der Kompetenz für alltägliches Handeln, die jedermann hat, also auch jeder Teilnehmer an institutionalisierten Bildungsprozessen, sofern sie ihm nicht ausdrücklich abgesprochen wird. Dabei wurde die Frage nach der (Sozial-)Kompetenz zunächst als die „nach den Methoden“ gestellt. Die Perspektive der (Weiter-)Entwicklung und Steigerung von Kompetenzen jedermanns wurde zum Programm moderner Bildungskonzepte erklärt (vgl. Faix/Laier 1996). Diese Bemühungen erfreuen sich in jüngerer Zeit ungebrochener Beliebtheit, wie ein jüngerer Band von Monika Rapold (2006a) belegt. Allerdings finden sich in diesen zurzeit offenbar fröhlich Urständ feiernden Debatten auch aktuelle kritische Beiträge, wie etwa die Monographie von Ramona Klinger (2009). Der Aufbau einer professionellen Kompetenz hat sich allerdings zwingend an allgemeinen Kompetenzen für soziales Handeln zu orientieren. Professionelle (Sozial-)Kompetenz will allgemeine Kompetenz für soziales Handeln aber dort
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korrigieren, wo sie sich durch vordergründige Rechtfertigungen in der Form von zur Routine gewordenen Wissensbeständen und Handlungskonzepten gegen kritische Prüfung und Reflexion zu immunisieren droht. Da die Kompetenz des Dozenten im (Weiter-)Bildungsbereich vor allem in seiner Fähigkeit zum situationsgerechten und verantwortungsbewussten Handeln mit anderen (Berufs-) Praktikern, d.h. zum sozialreflektierten Handeln besteht, ist es für die Ausbildung dieses Berufes aus kompetenztheoretischer Sicht geradezu Voraussetzung, über eine professionelle Kompetenz für soziales Handeln im besonderen Maße zu verfügen (vgl. Dewe 1999). Dieses erfordert, dass die Ausprägung, Erweiterung und Differenzierung der allgemeinen Kompetenz für soziales Handeln bereits Bestandteil der Befähigung zur Ausübung erziehender und bildender Berufe selbst wird, also Kernelement der Ausbildung sein muss, aber darüber hinaus etwa in der Dozentenfortbildung an Strukturproblemen des pädagogischen Handelns ständig zu schärfen ist. Definitorisch steht Kompetenz in den pädagogischen Konzepten für die Fähigkeit zum kollegialen und kooperativen Umgang mit anderen Personen, was die Fähigkeit zum Wechsel von Rollenperspektiven ebenso einschließen soll wie eine gesteigerte Konflikt- und Integrationsfähigkeit (vgl. u.a. Glagow 1990; Nieke 1982; Faix/Laier 1996). Beispielhaft könnte ebenso die Fähigkeit zur flexiblen Einarbeitung in neue Aufgabenstellungen und zur kurzfristigen Erarbeitung pragmatischer Problemlösungen angeführt werden. Eine solche soziale Kooperationskompetenz gilt als Vorbedingung für die in komplexen organisatorischen Entscheidungssystemen erforderliche Zusammenarbeit sowie als Basis für den pädagogischen Umgang mit einer vorher nicht eindeutig antizipierbaren Teilnehmer- oder Arbeitsgruppe unter den Bedingungen von Ungewissheit, Offenheit und Mehrdeutigkeit. 2.
Zum sozialwissenschaftlichen Kompetenzverständnis
Der wissenschaftliche Kompetenzbegriff, wie er etwa von dem Linguistikforscher Chomsky (1970; 1972) verwendet und von Jürgen Habermas (1971) im sozialwissenschaftlichen Theoriegebrauch benutzt wird, hat auch in der Erwachsenenbildung mittlerweile Tradition (vgl. Dewe 1990). Begriffsgeschichtlich stammt der Kompetenzbegriff jedoch aus einer ganz anderen Disziplin, nämlich der Biologie. Dort meint Kompetenz („Zuständigkeit“) die Fähigkeit und „Bereitschaft embryonaler Zellen, auf einen bestimmten Entwicklungsreiz zu reagieren“ (vgl. Baacke 1973, S.261f). In der sozialwissenschaftlichen Rezeption des Kompetenzbegriffes gewinnt seine Bedeutung an Varianz. Es ist damit nicht mehr nur die Fähigkeit gemeint, dass bestimmte Reize eine genetisch festgelegte Reaktion (einen Entwicklungsprozess) provozieren. Angewendet auf Kommunikation in einem weiten Sinne, der sowohl Sprechen als auch Handeln umfasst,
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bezeichnet Kompetenz die Fähigkeit, prinzipiell über die Richtigkeit jedes Kommunikationsaktes entscheiden zu können und eine prinzipiell unbegrenzte Variation von Worten, Sätzen und Handlungen produzieren zu können. Auf einen Sprachcomputer, der „hören“ und „sprechen“ kann, würde demnach das Charakteristikum der Kompetenz nicht zutreffen, weil der Computer nur die Worte und die Syntax „versteht“, die er „kennt“, und auch nur das „sprechen“ kann, was er „kennt“. Ein im Sinne kommunikativer Kompetenz kompetenter Mensch jedoch kann auch Wortkombinationen und Sätze verstehen, die er noch nie vorher gehört hat, und er kann auch Sprachkombinationen entwickeln, die er vorher noch nie benutzt hat. Kommunikative Kompetenz verweist also auf die der Sprache und der menschlichen Sprachbeherrschung inhärente Fähigkeit, Sprechen und Verhalten frei variieren – generieren – zu können. Ein entscheidender Schritt besteht allerdings darin, diese generative Kompetenz im tatsächlichen Verhalten einer Person über Performanz in konkretes soziales Handeln umsetzen zu können. Damit ordnet sich Kompetenz unterhalb einer sachlich definierten Wissensebene ein. Es meint kein Faktenwissen, das konditionierbar lernbar und abrufbar ist, sondern beinhaltet eine autonome Fähigkeit, mit Wissen umzugehen, es anzuwenden und zu interpretieren. Anthropologisch festgelegt ist allerdings lediglich die Voraussetzung der Möglichkeit, dass Menschen kompetent kommunizieren und handeln können. Welche faktische Kompetenz sie zu entwickeln in der Lage sind, hängt neben individuellen Veranlagungen ab von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, in denen die Menschen leben, und von den Lern- und Sozialisationsprozessen, die sie durchlaufen. Allgemein charakterisiert der Kompetenzbegriff also eine ganz bestimmte Qualität von Wissen, die nicht inhaltlich oder sachlich bestimmt, sondern höher aggregiert ist. Kompetenz als Wissen bzw. als kognitive Fähigkeit betrifft keine sachliche Phänomenebene, sondern die Fähigkeit im Umgang mit Wissen selbst. Diesen Fähigkeiten eines kompetenten Umgangs mit Wissen wird in der Erwachsenenbildung schon seit längerer Zeit hohe Bedeutung beigemessen. Die immense Quantität und die hohe Komplexität des Wissens, mit denen heute Erwachsene im Alltag und im Beruf konfrontiert werden, lassen es kaum mehr zu, die notwendigen Selektionen des zu vermittelnden sachlichen Wissens durch Bildungsprozesse der Erwachsenenbildung vorzunehmen und dann die jeweils geeigneten „Wissenspakete“ weiterzugeben. Lange Zeit herrschte in der qualifikationsorientierten Weiterbildung und in der freien Erwachsenenbildung zwar eine Vorstellung vor, man könne das für allgemeine Bildung bzw. für Berufe und berufliche Weiterbildung relevante Wissen kanonisieren und über eine curriculare Systematik an Erwachsene weitergeben. Spätestens jedoch mit der Relativierung von „Bildung“ und mit der Dynamisierung und ständigen Erneuerung und Erweiterung beruflichen Wissens konnte diese Vorstellung
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bildungspolitisch und -theoretisch nicht mehr legitimiert werden. Nachdem sich eine klassen- bzw. schichtenspezifische Definition von „Hochkultur“ nicht mehr ohne weiteres gegen die Konkurrenz alternativer Kulturvorstellungen durchsetzen ließ und die inhaltlichen Kriterienkataloge für allgemeine Bildung zunehmend unübersichtlicher wurden und nachdem die Halbwertzeit des berufsrelevanten Wissens, beeinflusst durch technologische Innovationen und neue Konzepte betrieblicher Organisation, eine durchschnittliche Berufsbiographie deutlich unterschritten hatte, musste die Erwachsenen- und Weiterbildung bildungstheoretisch reagieren. Tendenziell tritt an die Stelle der Vermittlung sachlichen Wissens nun die Vermittlung genau derjenigen Qualität von Wissen, auf die sich auch der Kompetenzbegriff bezieht. An diesem Punkt weisen bildungstheoretische Diskurse in der Erwachsenenbildung Schnittstellen zum Konzept von (Handlungs-)Kompetenz auf. Deutlich soll das im Rekurs auf die ältere Debatte der Schlüsselqualifikationen (vgl. Mertens 1974) gemacht werden. Schlüsselqualifikationen sollten in der Erwachsenenbildung dem Dilemma eines zunehmend unüberschaubaren und immer schneller wechselnden (Berufs-)Wissens begegnen. Als „Zauberformel“ bzw. „Zielformel“ (Zabeck 1989) wiesen sie in den siebziger Jahren in eine neue Zukunft der Erziehung, in der nicht mehr Faktenwissen, sondern die Fähigkeit des adäquaten Erwerbs von Wissen und der Anwendung von „Verweisungswissen“ (A. Schütz) im didaktischen Fokus stand (vgl. auch Arnold 1991, S.70ff). Mertens (1974) differenzierte Schlüsselqualifikationen in vier Elemente aus: Basisqualifikationen, Horizontqualifikationen, Breitenelemente und Vintagefaktoren. Ich werde mich im folgenden allerdings an die gängige Auffächerung von Schlüsselqualifikationen in „Sachkompetenz“, „Selbstkompetenz“ und „Sozialkompetenz“ (vgl. Reetz 1989, S.9) halten und diese erläutern. Das Konzept der Schlüsselqualifikationen ist von Dieter Mertens explizit in einen bildungsplanerischen Zusammenhang gestellt worden. Es sollte als Alternative zu defizitären Prognosemöglichkeiten von arbeitsmarktrelevanten Bildungsinhalten dienen. Schlüsselqualifikationen wurden genau in die Kluft platziert, die sich zwischen einem Arbeitsmarkt mit dynamischen und wechselnden Qualifikationsanforderungen und einem curricular festgelegten Bildungs- und Ausbildungssektor auftat. Die Schwierigkeit der Bildungsplanung, nicht mehr exakt vorhersagen zu können, auf welche zukünftigen Qualifikationsprofile hin welche Bildungsinhalte bzw. Qualifikationsprofile zu vermitteln seien, spielte dabei die zentrale Rolle. Schlüsselqualifikationen sollten diese Schwierigkeiten kompensieren helfen, und die „Anpassungsfähigkeit an nicht Prognostizierbares (wurde) zum Angelpunkt bildungsplanerischer Entscheidungen“ (Elbers u.a. 1975, S.27; vgl. auch Arnold 1991, S.73). In diesem Kontext schlug Mertens auf der Suche „nach den optimalen ‚gemeinsamen Dritten‘ verschiedenartiger und sich wandelnder Qualifikationsanforderungen auf dem Arbeitsmarkt“ (Mertens
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1974, S.215) das Konzept der Schlüsselqualifikationen vor, das vor allem die „Befähigung zur Problembewältigung“ (ders., S.217) beinhaltete. Die drei Dimensionen der Schlüsselqualifikationen: Sach-, Selbst- und Sozialkompetenz, umschließen dabei sowohl fachliches bzw. sachliches Wissen, Verweisungswissen wie auch identitäre und soziale Komponenten (siehe dazu Abb.1). Arnold (1991, S.73f.) charakterisiert in Anlehnung an Mertens die drei Dimensionen folgendermaßen: „Sachkompetenz“ – so ließen sich seine (Mertens) Vorschläge in unseren Differenzierungsvorschlag (Sach-, Selbst- und Sozialkompetenz) „einbinden“ – kann im Hinblick auf die sich wandelnden Arbeitsmarktanforderungen nicht länger im Sinne eines „enumerativ-additiven Bildungsverständnisses“ vermittelt werden. Dieses sei vielmehr durch ein „instrumentelles Bildungsverständnis“ abzulösen, welches „Zugriffswissen“, „know how to know“ und „key knowledge“ in den Vordergrund rückt und sich auf die Vermittlung der „übergeordneten strukturellen Gemeinsamkeiten“ beschränkt. Auf die Entwicklung von Selbstkompetenz und Sozialkompetenz weisen die Forderungen zur „Förderung der Fähigkeit zu lebenslangem Lernen“ und zum Wechsel sozialer Rollen, Distanzierung durch Theoretisierung, Kreativität; Planungsfähigkeit; Befähigung zur Kommunikation, Dekodierungsfähigkeit, Fähigkeit hinzuzulernen, Zeit einteilen, sich Ziele setzen, Fähigkeit zur Zusammenarbeit, zur Ausdauer, zur Konzentration, zur Genauigkeit, zur rationalen Austragung von Konflikten, zur Mitverantwortung, zur Verminderung von Entfremdung, Leistungsfreude hin. Abbildung 1:
Schlüsselqualifikationen als Sach-, Selbst- und Sozialkompetenz (in Anlehnung an Nieke 2002)
Sachkompetenz
Selbstkompetenz
Sozialkompetenz
(tätigkeitsbezogene Qualifikationen)
(persönlichkeitsbezogene Grundfähigkeiten)
(sozial ausgerichtete Fähigkeiten)
Zugriffswissen, know how to know, key knowledge;
lebenslanges Lernen, kognitive Flexibilität;
Fähigkeit zum Wechsel von Rollenperspektiven;
Transferfähigkeit;
Fähigkeit des Sich-selbstBefähigens (Tietgens);
Kommunikationsfähigkeit; Konfliktfähigkeit;
Selbsterfahrung; Selbstdistanz;
Integrationsfähigkeit;
Erschließungskompetenz durch Sachkompetenz; Problemlösefähigkeit
Reflexivität
Kooperations- und Rückkopplungsfähigkeit
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3.
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Verschiebungen des Kompetenzbegriffs und Verlust des sozialen Kontextes
Mit dieser Ausdifferenzierung von Schlüsselqualifikationen ist zum einen eine Modifikation, zum anderen durch den Kompetenzbegriff aber auch eine Erweiterung des ursprünglichen Konzepts vorgenommen worden. Die Idee der Schlüsselqualifikationen hat sich in der Debatte Schritt für Schritt in Richtung auf „Erschließungskompetenz“ (Tietgens 1989) bewegt, auch und gerade im Kontext Neuer Medien (vgl. Petsch/Tietgens u.a. 1989). Gemeint ist damit die Fähigkeit einer autonomen, sach- und situationsadäquaten Erschließung von Fertigkeiten und Wissensbeständen. Die Funktion der Erwachsenenbildung konzentriert sich in dieser Perspektive weniger auf die Vermittlung konkreter Inhalte. Vielmehr soll durch geeignete Bildungsmaßnahmen und didaktische Konzepte gerade diese Erschließungskompetenz ausgebildet und unterstützt werden, so dass Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Erwachsenenbildungsveranstaltungen in ihren Kompetenzen gestärkt werden, um sich später in Eigeninitiative diejenigen Kenntnisse aneignen zu können, die sozialer Wandel oder technologische Innovationen im Alltag oder im Beruf konkret erfordern. Methodische Konzepte, die Kompetenzen vermitteln und entwickeln helfen, sind dabei neben „Lernstattkonzepten“ (Peters 1990), offenen Curricula, themenund teilnehmerzentrierten Verfahren, Suggestopädie, handlungs- und erfahrungsorientierte(n) Lernformen sowie dem Metaplanansatz und der „Neurolinguistische Programmierung“ (Arnold 1991, S.78), vor allen Dingen Konzepte einer „impliziten Didaktik“ (Burkart 1985) sowie Bildungsvorstellungen, die im Sinne einer rekonstruktiv-strukturalen Hermeneutik, wie sie Oevermann zu entwickeln versucht, vorgehen (vgl. Dewe 1991). Eine Person lernt so betrachtet nur dann sinnverstehend, wenn sie nicht Element für Element eines enzyklopädisch angehäuften und in mannigfache Lernziele zerlegten Wissensbestandes adaptiert, sondern die Möglichkeit realisiert, beispielsweise die „Ernstsituation“ zukünftigen beruflichen Handelns in Hinblick etwa auf technologische Herausforderungen zu antizipieren, indem derartige Situationen in Bildungsprozessen gewissermaßen simuliert werden. Folglich geht es aus soziologischer Sicht nicht um das Antrainieren bzw. die Vermittlung stofflichen Wissens in explizierter Form, sondern um den Erwerb der Kenntnis der Regeln sozialkompetenten Handelns. Solche impliziten Lern- und Erwerbsprozesse sind nicht mit dem Konzept „learning by doing“ zu verwechseln, wie es häufig in sogenannten Kompetenzzentren suggeriert wird (vgl. Kompetenzzentrum 1999). In Differenz zu jenem Ansatz, dem ein naives Verständnis der Relation von Theorie und Praxis zugrunde liegt und der betont, das es nicht ausreiche, bloß Theoriewissen zu lernen, geht es in impliziten Bildungsprozessen nicht um die Aneignung konkre-
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ter Handlungsmuster, sondern um den Erwerb von Strukturen (vgl. Levi-Strauss 1975; Piaget 1976). In linguistischer Terminologie lässt sich behaupten, dass nicht Performanz, sondern Kompetenz im Mittelpunkt steht. In impliziten Bildungsprozessen wird im erfolgreichen Falle eine generative Regelstruktur erworben, gewissermaßen eine Handlungsgrammatik, auf deren Basis der Vollzug sozialkompetenter Handlungen erst aussichtsreich wird. Diese lassen sich aber kaum als kognitiv-expliziter Wissensbestand bzw. als Technologie aneignen, wie es in modifizierter Form auch in aktuellen Beiträgen durchaus vertreten wird (vgl. Rapold 2006b, Nieke 2006). Beispielsweise kann die Kenntnis der Grammatik einer Fremdsprache, d.h. ihre Regeln explizit angeben zu können, allemal mit der Unfähigkeit einhergehen, die fremde Sprache akzeptabel zu sprechen. Umgekehrt kann eine völlige Regelunkenntnis kompatibel sein mit der perfekten lebens- oder berufspraktischen Sprachbeherrschung. Mit anderen Worten: Regeln werden in ihrem sozialen Gebrauch, in der konkreten sozialen Situation verständlich. Dieser Diskrepanz zwischen kognitiv-explizitem und strukural-implizitem Wissen entspricht in der Alltags- und Berufserfahrung der Differenz zwischen rationaler Einsicht und formaler Kenntnis einerseits und faktischem, situativem Können andererseits. Sozialkompetenz schließt mithin stets ein „Können“ ein. Ihre Vermittlung ist über explizite Formen des Lernens und Trainierens nur unvollständig möglich, da Sozialkompetenz in der Fähigkeit besteht, gewissermaßen den strukturellen Kern einer sozialen Handlungsanforderung immer wieder für jede konkrete Handlungssituation neu rekonstruieren zu können. Soziologisch gesehen findet hier ein Lernen von Aspekten der Handlungsfähigkeit statt, das man gelegentlich für nicht „lernbar“ hält, weil es angeblich auf bloßer Intuition fußt bzw. eine Kunst(-lehre) darzustellen scheint (Burkart 1985, S. 87). Ein zentrales Merkmal dieser Konzepte besteht in ihrer „Ganzheitlichkeit“ und „Offenheit“. Sinnzusammenhänge statt partikularer Wissenselemente, Aufgabenstellungen mit offenen Lösungsmöglichkeiten statt vorgegebener Lernwege, Teilnehmerbezug statt Faktenbezug und Eigeninitiative statt Befolgung vorgegebener Lernschritt sollen diejenigen Kompetenzen evozieren, die zu einem eigenverantwortlichen Agieren mit einer komplexen werdenden Alltagsund Berufswelt befähigen. Sachkompetenz behält hierbei selbstverständlich ihre Bedeutung. Kompetentes Agieren Erwachsener erfordert weiterhin inhaltliche Kenntnisse und Fachqualifikationen. 4.
Kritik des pädagogischen Kompetenzjargons
Im pädagogischen Diskurs tritt an die Stelle der Vermittlung sachlichen Wissens nun die Vermittlung genau derjenigen Qualität im sozialen Handeln, auf die sich
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der Kompetenzbegriff bezieht. Nunmehr sollen durch Bildungsmaßnahmen und didaktische Vorkehrungen soziale Kompetenzen ausgebildet werden, die die Teilnehmer von Bildungsveranstaltungen in die Lage versetzen (sollen), sich später in Eigeninitiative diejenigen Kenntnisse aneignen zu können, die sozialer Wandel oder technologische Innovation in Alltag oder Beruf konkret erfordern. Sachkompetenz behält hierbei selbstverständlich ihre Bedeutung. Kompetentes Handeln im beruflichen und privaten Alltag erfordere auch weiterhin inhaltliche Kenntnisse und Fachqualifikationen. Allerdings müssten – so die einhellige Überzeugung der pädagogischen Kompetenzvertreter – solche sachlichen Kompetenzen unverzichtbar flankiert werden durch eine hinreichend ausgebildete Identität (Ich-Stärke, Reflexivität, Kritikfähigkeit), die ihrerseits erst durch soziale Kompetenzen wie Kooperations-, Kommunikations- und Deutungsfähigkeit sozialer Situationen vollständig zur Geltung gelange. Vor dem Hintergrund von Arbeitsmarktentwicklungen, die sowohl durch eine Entkopplung von Qualifikation und Berufstätigkeit als auch durch eine Entkopplung von Identität und Arbeitslosigkeit gekennzeichnet sind, kehrt hier die Idee einer ganzheitlichen Kompetenzbildung wieder als Zitat im Zeitalter ihrer Unmöglichkeit. Die Folgen sozialer Differenzierungsvorgänge und gesellschaftlicher Desintegrationsprozesse sollen durch pädagogische Kompetenzkonzepte geheilt werden: Erneuerte gesellschaftliche Integration erzeugt durch die Kraft umfassender Kompetenzen der Handelnden, lautet die heimliche Botschaft! Ein weiterer Mangel der pädagogischen Diskussion um Kompetenzen besteht darin, dass diese Diskussion bisher nahezu ausschließlich präskriptivnormativ geführt wurde und sich in der Folge in reinem Kompetenzansinnen erschöpft hat. Was ein Praktiker können und wissen soll, um sich als kompetent präsentieren zu können, war die bisher beherrschende, theorie- und praxisdominierende Fragestellung, die der Weiterbildungswirklichkeit als Anforderungskatalog präsentiert wurde (siehe hierzu u.a. Pichler 2001). Aus diesem Grund lässt sich eine radikale Kritik an den erwähnten Handlungskompetenzmodellen vornehmen. Eine diametral entgegengesetzte Perspektive, wie sie bspw. von Lau/Wolff (1982) in einem frühen Beitrag zur Debatte vorgeschlagen wird und in jüngerer Zeit bspw. von Geißler/Orthey (2002) aktualisiert wird, erscheint sinnvoll, welche die immanenten Kompetenzmodelle der Handelnden selbst und ihrer Bezugsgruppen zum Ausgangspunkt weiterer Überlegungen macht. Ein solcher Ansatz, der sich an der faktischen Rekonstruktion latenter Kompetenzverständnisse der an pädagogischen Handlungen beteiligten Akteure orientiert, fasst den Kompetenzbegriff zwangsläufig primär deskriptiv auf. Die Kritik setzt damit an zwei Punkten an: Zum einen zeigt sie, dass sich Pädagogen autorisiert fühlen, ungeachtet praktischer Relevanz, idealisierte Vorstellungen über und für eine pädagogische Praxis zu entwickeln,
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und zum anderen legt sie offen, dass die bestehenden (Sozial-) Kompetenzmodelle prinzipiell auf Defizitannahmen in Bezug auf das tatsächliche soziale Handeln der Adressaten pädagogischer Angebote beruhen. Konsequenterweise lehnt sie jede Formulierung kontextunabhängiger Kompetenzen ab und verweist stattdessen auf die Variabilität und Offenheit von Interaktions- und Unterrichtsprozessen. Die Kritik kann verdeutlichen, dass diesem pädagogischen Denken offenbar die normative und sozialtechnologische Vorstellung zugrunde liegt, soziale Kompetenzen ließen sich beliebig pädagogisch herstellen, sicherstellen bzw. manipulieren. Grundsätzlich suggeriert die Debatte um soziale Kompetenzen die fragwürdige Möglichkeit, vorwiegend gesellschaftlich bedingte Ursachen von Lernproblemen, Wissensdefiziten und Bildungsbenachteiligungen in der Interaktion mit den jeweiligen Teilnehmern (sozial-)kompetent von pädagogischer Seite her lösen zu können, was ein deutliches Strukturdefizit dieses Denkens offenbart. Des Weiteren steht m.E. diese Debatte für den Versuch, explizit persönlichkeitsspezifische Merkmale von Pädagogen lediglich additiv in pädagogisch normativer Perspektive zu listen. Sie sind somit auf die Person des einzelnen Pädagogen orientierte Umschreibungs- und Bestimmungsversuche einer Berufsrolle, die möglicherweise nicht über ein materiales und das heißt hier eindeutiges und homogenes Problemlösungspotenzial definiert werden kann, sondern im Rahmen einer gleichsam unterdeterminierten Mehrzuständigkeit einen weiten Deutungsspielraum bietet, in den die Kompetenzmodelle nur allzu leicht eindringen können. Der Absicht, die Strukturmerkmale sowie die interne Logik pädagogischen Handelns zu rekonstruierten, wird damit die bisherige Kompetenzdebatte nicht gerecht. Als Kernpunkt kann somit festgehalten werden: Kontextunspezifische bzw. sozialkontextfreie Kompetenzen kann es im Rahmen eines sozialwissenschaftlichen Verständnisses nicht geben. Wissen und der Kontext der Anwendung von Wissen sind nicht zu trennen. Es handelt sich hier vielmehr um emergente Prozesse, welche nicht nach einer Seite hin zu bestimmen bzw. aufzulösen sind.
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Von Bildung zu Kompetenz Semantische Verschiebungen in den Selbstbeschreibungen des Erziehungssystems Achim Brosziewski
Mein Beitrag analysiert die auffällige Konjunktur des Kompetenzbegriffs1 als eine semantische Verschiebung innerhalb der Selbstbeschreibungen des Erziehungssystems. Kompetenz wird mithin nicht als ein Begriff gesehen, der „objektiv“ gegebene Sachverhalte für die Wissenschaft „abbildet“ und auf andere „objektive“ Sachverhalte verweist, etwa auf das vermeintliche Aufkommen einer „Wissensgesellschaft“, die zunehmend auf Kompetenzen angewiesen sei. Mein Vorgehen liegt vielmehr im Rahmen einer methodologischen Tradition, die man als wissenssoziologisch bezeichnen kann. Das Wissen, das um den Begriff der Kompetenz versammelt, verdichtet und verkettet wird, wird als das Wissen eines bestimmten sozialen Systems angesehen, namentlich des Erziehungssystems. Allerdings wird die soziale Referenz anders als in früheren wissenssoziologischen Ansätzen nicht in Ideologie oder in Interessen, auch nicht in der Lebenswelt typisierbarer Individuen gesucht. Vielmehr tritt der schon erwähnte Begriff der Selbstbeschreibung in die Funktionsstelle, die soziale Referenz des fraglichen Wissens zu bezeichnen. In einem ersten Schritt sind die Form und die Funktion von Selbstbeschreibungen genauer darzulegen. Dieser Begriff hat in der soziologischen Systemtheorie durch Niklas Luhmann eine Zentralstellung erlangt (Luhmann 1997, Kap. 5; Fuchs 1992; Kieserling 2004; Brosziewski 2007). Danach benötigen komplexe und variable Sozialsysteme zur Orientierung der eigenen Operationen (Kommunikationen) nicht nur Informationen, die sie der Umwelt zurechnen können, sondern auch Zeichen für ihre eigene Einheit. Die Bestimmung, Einordnung und Tradierung solcher Einheitszeichen gehören zur Funktion von Selbstbeschreibungen; Selbstbeschreibungen, die im Erziehungssystem bislang vornehmlich von der Pädagogik betreut wurden (vgl. Luhmann/Schorr 1988). Der Begriff der „Bildung“ kann als klassischer Ordnungsbegriff innerhalb der
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Diese Konjunktur lassen Klieme/Hartig 2007 nach einer Durchsicht von einschlägigen Datenbanken und Verzeichnissen mit den 1970er-Jahren beginnen, mit einem deutlichen Aufschwung nach der Jahrtausendwende.
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(deutschsprachigen) Selbstbeschreibungssemantik angesehen werden (Luhmann 2002, S. 186-198; Stichweh 1994). Seinen semantischen Führungsleistungen ist es zuzurechnen, dass der Bildungsbegriff trotz aller Kritik von außen (soziologisch-gesellschaftskritisch, etwa durch die Arbeiten Bourdieus 2006; 2008) und von innen (pädagogisch-erziehungswissenschaftlich, siehe Benner/Brüggen 2004) bislang unersetzbar wirkte. Ein zweiter Abschnitt befasst sich eingehender mit dem Begriff der Kompetenz sowie mit seiner Eignung in den Selbstbeschreibungen des Erziehungssystems. Einem Vorschlag von Dirk Baecker mit einer kleinen Modifikation folgend, kann Kompetenz als symbiotisches Symbol des Erziehungssystems verstanden werden (Baecker 2006, S. 47-49). Symbiotische Symbole sind Symbole, die explizit die Körperlichkeit der beteiligten Menschen referieren, wie beispielsweise „Sexualität“ im spezifischen Kontext von Liebeskommunikationen oder „Gewalt“ im spezifischen Kontext von Machtkommunikationen oder „Wahrnehmung“ im spezifischen Kontext von Wahrheitskommunikationen. Kompetenz entwirft eine vergleichbare Körperreferenz in Bezug auf das Medium des Erziehungssystems: in Bezug auf Intelligenz. Intelligenz gibt es nur als verteilte Intelligenz, während Kompetenz qua Übung, Routinisierung und Habitualisierung am und im Körper der einzelnen und konkreten Individuen in einem fast wörtlichen Sinne „festgemacht“ werden kann.2 Mit der Referenz auf Kompetenzen bezeichnet das Erziehungssystem Resultate eigenen Operierens, die extern, eben in Körperlichkeit, realisiert sind und in dieser Form als Erziehungsleistungen an andere Systeme abgegeben werden können, ohne dass das Erziehungssystem festlegen müsste oder könnte, was andernorts mit den Resultaten anzufangen ist. Diese doppelte Referenz auf Externes, auf Körper und auf andere Funktionssysteme, macht die semantische Eignung des Kompetenzbegriffs in der Selbstbeschreibung des Erziehungssystems aus. Der Begriff stiftet der Beschreibung eine Verankerung in der Welt. Der dritte und letzte Abschnitt fragt nach den Plausibilitätsbedingungen einer von Bildung auf Kompetenz umgestellten Form von Selbstbeschreibung. Das Problem liegt hierbei darin, dass das Konzept der Selbstbeschreibung nicht von einer irgendwie inhärenten Überzeugungskraft von Texten und Reden ausgeht, so konsistent und rhetorisch geschickt sie auch aufgebaut sein mögen. Selbstbeschreibungen funktionieren nur als Kommunikationen. Sie sind damit, wie jede Kommunikation, dem Ablehnungsrisiko ausgesetzt, und zwar sowohl innerhalb als auch außerhalb des Systems. Sie brauchen Anlehnungen an bestehende oder an sich entwickelnde Strukturen des Systems, um das Ablehnungsrisiko zu überwinden. Der dritte Abschnitt entwickelt und vertritt die These, dass
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Deshalb lässt sich Kompetenz auch individuell und persönlich „managen“, was für Bildung oder Intelligenz nur etwas krampfhaft gesagt werden könnte.
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der Kompetenzbegriff sich in Strukturentwicklungen einpasst, die im Bereich der Rollendefinitionen stärker die Organisationen als die Professionen profilieren; und die im Bereich der akademischen Vertretung des Erziehungssystems eine empirisch orientierte Erziehungswissenschaft zuungunsten der hermeneutisch-geisteswissenschaftlichen Pädagogik forcieren. Während der Selbstbeschreibungsrekurs auf Bildung einen Kontext stärkt und von ihm wiederum hochgehalten wird, in dem Bildung, Individualität, Subjektivität und Profession aufeinander verweisen, organisiert Kompetenz eine Selbstbeschreibungssemantik, die Kompetenz, Personenklassen, Objektivität (im Sinne von Messbarkeit) sowie Kontrolle durch und von Organisationen miteinander vernetzt. Die These geht nicht soweit zu sagen, dass Kompetenz die klassische Bildungsformel in den Selbstbeschreibungen des Erziehungssystems bereits vollständig verdrängt und ersetzt hätte oder dass dies zwangsläufig einmal der Fall sein wird. Sie besagt nur, dass Kompetenz zugunsten von Bildung an Bedeutung gewonnen hat, und dass dies mit strukturellen Entwicklungen einhergeht, die diese Bedeutungsverschiebung absichern und je nach weiteren Strukturentwicklungen stärken werden. 1.
Bildung in der Selbstbeschreibung des Erziehungssystems
Alle modernen Sozialsysteme haben es mit Kontingenz zu tun (Luhmann 1992); mit dem Phänomen, dass alles, was ist, anders sein könnte; und alles, was werden soll, anders kommen könnte. Dabei ist Kontingenz nicht allein auf der Sachebene zu verorten, nicht allein im Bereich der Dinge, ihrer Zustände, ihrer Prozesse, ihrer technischen Manipulationsmöglichkeiten sowie des „Chaos“, das in all dem lauert. Kontingenz wird vielmehr auch sozial realisiert.3 Andere Sozialsysteme installieren andere Perspektiven, andere Reduktionen der Gesamtwirklichkeit und damit andere Potentiale der Kritik, des Widerstandes, der Kooperations- und Leistungsverweigerung. Kontingenz heißt in diesem Kontext, dass jedes Sozialsystem dauerhaft mit einer Fragwürdigkeit zu kämpfen hat, die alle Systemkomponenten betrifft oder, als Virtualität, betreffen könnte: jede einzelne Operation, jede Struktur oder gar das System als Einheit. Selbstbeschreibungen sind Einrichtungen des Umgangs mit dieser basalen Kontingenz. Sie ermöglichen Orientierung und Kriterienbildung, wann immer Zweifel aufkommen und artikuliert werden (könnten). Gerade in einem wissenschaftlichen Kontext ist besonders darauf hinzuweisen, dass es für die Orientierungsfunktion nicht auf Wahrheit ankommt, ja schärfer noch, gar nicht auf Wahrheit ankom-
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Siehe zur Unterscheidung von Sach- und Sozialdimension (plus Zeitdimension) allen Sinns und den durch ihre Ausdifferenzierung forcierten Kontingenzen Luhmann 1984, S. 111-135.
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men kann (vgl. ausführlicher Brosziewski 2007). Erstens sind Selbstbeschreibungen, zur Absorption von Kontingenz erstellt, darauf angewiesen, etwas Gewisses an die Stelle zu setzen, wo jede Wissenschaft ihre Zweifel (Hypothesen) ansetzen müsste, wenn sie Wahrheit im Hinblick auf mögliche Unwahrheit prüfen möchte. Zweitens arbeiten Selbstbeschreibungen mit einem exklusiven und exkludierenden Privileg: Nur das System selbst kann sie anfertigen. Alles andere sind Fremdbeschreibungen ohne Autorität im System. Wo es aber nur einen zuständigen Beobachter gibt, kann es keine Überprüfung, keine Intersubjektivität, keine Objektivität und erst Recht keine Wahrheit geben. Die bisherige Formel, mit der die Wissenschaft auf diese Beschränkung ihres Kontrollzugriffs reagierte, lautete: Ideologie. Das Konzept der Selbstbeschreibung tritt, mit mehr Funktionsbewusstsein und mehr Tiefenschärfe ausgestattet, an die Stelle des Ideologieverdachts.4 Auf der abstrakten Ebene der Funktion haben die Selbstbeschreibungen des Erziehungssystems keine Besonderheiten aufzuweisen. Letztere zeigen sich erst auf der Ebene der Form von Selbstbeschreibungen. Ein wichtiges Kennzeichen von Selbstbeschreibungen ist ihre Kontingenzformel (vgl. Luhmann 1997, S.470; 2000, S. 120). Darunter ist ein Zentralbegriff zu verstehen, der die Kontingenz aller Systemkomponenten anerkennt, mit der wichtigen Ausnahme der Existenz des Systems selbst. Alles ist anders möglich, solange sich das System reproduziert, das die Möglichkeiten möglich macht. Auf diese Weise kombinieren Kontingenzformeln Kontingenz (der Einzelheiten) mit Notwendigkeit (der Systemreproduktion). Diese Eigenheit begründet ihre Zentralstellung im Kontext von Selbstbeschreibungen. So konstatiert die Kontingenzformel der Wirtschaft „Knappheit“, dass jede konkrete Güterverteilung auf Produktion und Konsum, dass jede konkrete Transaktion auch anders möglich wäre, dass aber in jedem Moment irgendeine bestimmte Verteilung realisiert sein muss, damit das System überhaupt weiß, woran es eine etwaige Änderung (qua Tausch) vornehmen kann (Luhmann 1989, S. 191f.). Keine Selbstbeschreibung der Wirtschaft kann Knappheit ignorieren. Sie repräsentiert die letzte, nicht auflösbare Einheit der Wirtschaft für die Wirtschaft selbst und für alle anderen Sozialsysteme, auch wenn keine einzelne Wirtschaftsoperation (Zahlung) einkalkulieren muss, dass sie Knappheit reduziert und vermehrt. Dasselbe gilt für Legitimität als Kontingenzformel des politischen Systems (Luhmann 2000, S. 120-126). Amtsmacht ist als änderbar gegeben, kann auf andere Themen, Organisationen und Personen gelenkt werden. Aber, und das hält der Rekurs auf Legitimität fest, das Faktum von Amtsmacht ist zu akzeptieren. Auch Revolutionäre und gerade sie
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Der Ideologieverdacht dürfte sich bei näherer Analyse seinerseits als Element der Selbstbeschreibung der Wissenschaft herausstellen, die ihr eigenes Beobachtungsverhältnis zu anderen Sozialsystemen ordnet und legitimiert. Folglich gehörte der Ideologieverdacht zur Ideologie der Wissenschaft.
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müssen wissen, welche Fakten sie angreifen, welches Handeln in welchem Moment als „legitimes Handeln“ gilt und dementsprechend durch Gegenhandeln provoziert werden kann. Wie Knappheit und Legitimität für Wirtschaft respektive Politik formuliert Bildung die Einheit von Kontingenz (der Einzelheiten) und Notwendigkeit (des Ganzen) für das Erziehungssystem. Auf den ersten Blick zielt Bildung auf die Selbstständigkeit des Einzelmenschen, auf die selbstverantwortete und selbstevaluierende Eigenständigkeit eines individuellen Weltverhältnisses (vgl. hierzu und zum Folgenden Vierhaus 2004). Als Gebildeter hat der Einzelmensch keine Erziehung (mehr) nötig. Genau damit wird die Kontingenz des Erziehungssystems gekennzeichnet, wird die „Überflüssigkeit“ seiner Operationen konstatiert. Doch gehört eine selbstreflexive Komponente notwendig zum Begriff und zum Sachverhalt der Bildung hinzu. Der Gebildete weiß a) um seine Bildung und b) um deren unaufhebbare Unvollständigkeit, denn zur Bildung gehört das Wissen ihrer Beschränktheit. Bildung sieht sich stets im Spiegel der Bildung anderer. Sie realisiert sich nicht nur an ihren Rändern, sondern basal als Wissen des Nichtwissens. Dieser Kern der Bildung, ihre selbstreflexive Relativität, ihre Selbstbespiegelung, verweist zurück auf das Erziehungssystems. Denn nur ein Kommunikationssystem kann die Vergleiche organisieren und die Vergleichsmaßstäbe identifizieren, in deren Netzwerk Zustände als Beschränkungen festzustellen und gleichwohl positiv zu bewerten sind: Nichtwissen ist gut – denn es fordert, als erkanntes, als reflektiertes Nichtwissen, zur Bildung auf. Die Selbstständigkeit der Bildung des Gebildeten verweist auf die Notwendigkeit des Erziehungssystems, das sich in dieser Stellung dann Bildungssystem nennen und auch Erwachsene einbeziehen kann. In der Literatur über Erziehung nimmt Bildung auf diese Weise die Position einer nicht-negierbaren Kategorie ein. Denn selbst wer Bildung und/oder die Zustände des Systems kritisieren will, muss ja wissen, wovon die Rede ist, muss also selbst gebildet sein oder es zumindest vorgeben können. Auch Bourdieu hat an den Eliteschulen Frankreichs gelernt – um schließlich seine Kritik der Bildung an ihnen zu lehren. Es wird immer wieder notiert, dass Bildung kaum in andere Sprachen übersetzbar ist (z.B. Vierhaus 2004, S. 508). Begriffe wie „cultivation“ (engl.) oder „formazione personale“ (ital.) treten an seine Stelle, mit etwas weniger Emphase ausgestattet. Dementsprechend fallen anderssprachige Selbstbeschreibungen des Erziehungssystems auch nüchterner aus. Zuweilen wird Pädagogik gar als ein „deutsches Syndrom“ betrachtet (Schriewer 1983). Doch auch hier ist die Formel abgeschwächt worden, etwa zum „Lernen des Lernens“, zum „lebenslangen Lernen“ oder ganz technisch zur „Lernfähigkeit“ (Luhmann 2002, S. 194; Luhmann/Schorr 1988, S. 84-94). Keine dieser Formeln kann die Prägekraft des Bildungsbegriffs ganz erreichen und die Funktion der Kontingenzformel mit derselben Autorität ausfüllen. Wahrscheinlich verweist die Wortgruppe um
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„Lernen“ doch zu eindeutig auf das Erziehungssystem, seine Grundoperationen und ihre Kontingenzen. Wenn Lernen gefragt ist, kann allzu rasch auf Nichtlernen gesetzt werden, während die Negation von Bildung, die Unbildung, kaum als wählbar gelten kann. Mag Bildung daher auch abgenutzt und verbraucht erscheinen (Vierhaus 2004, S. 551) – für die Berufung auf die Einheit und Notwendigkeit des Systems war der Begriff bislang schwer ersetzbar. 2.
Kompetenz als symbiotisches Symbol des Erziehungssystems
Der Begriff der Kompetenz hat in den letzten Jahren eine Konjunktur erlebt, die man fast schon als Inflation bezeichnen muss (Nuissl et al. 2002; Klieme/Hartig 2007). Kaum eine Verhaltensweise scheint davon ausgenommen, sich als Kompetenz darstellen, anfordern und erlernen zu lassen.5 Dem Begriff scheint die Einschränkung zu fehlen, derer es für eine wissenschaftliche Brauchbarkeit bedürfte (Arnold 2002, S. 27; Geißler/Orthey 2002). Eine soziologisch interpretierbare Begrenzung des Kompetenzbegriffs wurde von Dirk Baecker im Rahmen einer Kommunikations- und Medientheorie der Erziehung entwickelt. Baecker schlägt es vor, Kompetenz als „symbiotischen Mechanismus“ eines Kommunikationsmediums „Intelligenz“ zu verstehen (Baecker 2006). Ich möchte diesen Vorschlag aufgreifen, jedoch lieber mit Luhmann von einem „symbiotischen Symbol“ sprechen (Luhmann 1997, S. 378-382), da der Ausdruck „Mechanismus“ in meinen Augen erstens zu stark auf „Funktionieren“ abstellt und zweitens anders als Symbol die kommunikationsinterne Konstitution leichter vergessen lässt. Symbiotische Symbole haben die Funktion, das Verhältnis der Kommunikation zur Körperlichkeit der beteiligten Individuen zu regulieren. Der Ausdruck „Regulierung“ besagt schon, dass es nicht darum gehen kann, die Körper als Körper in die Kommunikation hineinzuholen und so dann doch Menschen zu Teilen sozialer Systeme zu machen. Auch symbiotische Symbole fungieren
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Bereits seit der Etablierung des Kompetenzbegriffs in den Erziehungswissenschaften, die man auf das Erscheinen von Heinrich Roths „Pädagogische Anthropologie“ (Band 2, 1971) datiert (Klieme/Hartig 2007, S. 19), ist die Reihe von Selbst-, Sach- und Sozialkompetenz geläufig – eine Trias, die in jedem Verhalten zur Geltung kommt und nur durch normative Setzungen unterscheidungsfähig wird. Weiterhin finden sich: Sprachkompetenz, Methodenkompetenz, Kommunikationskompetenz (ein Literaturverzeichnis der hier zitierten Texte wandelt gar Habermas‘ „Theorie des kommunikativen Handelns“ von 1981 zur „Theorie der kommunikativen Kompetenz“), Handlungskompetenz, Reflexionskompetenz, Lesekompetenz, Problemlösekompetenz, Informationskompetenz, Computerkompetenz, Internetkompetenz, Medienkompetenz, Technikkompetenz, interkulturelle Kompetenz, naturwissenschaftliche Kompetenz, mathematische Kompetenz, Führungskompetenz, Kernkompetenz, Schlüsselkompetenz, Metakompetenz ... .
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in und für die Kommunikation lediglich als Zeichen. Das Besondere dieser Zeichen ist, dass sie den Individuen deren eigene Körper oder genauer, bestimmte Körperprozesse als Quellen der Vergewisserung anbieten, so dass Zweifel nicht als Nachfragen oder gar als Ablehnungen in den Kommunikationsprozess selbst zurückfließen. Symbiotische Symbole offerieren auf kommunikative Weise den Individuen eine nichtkommunikative „Selbstprüfung“, die sie nur an sich selbst, an ihren eigenen Körperbefindlichkeiten vollziehen können. „Körperliche Bedürfnisse“ können beispielsweise als symbiotische Symbole der Wirtschaft und ihres Erfolgsmediums „Geld“ gelten. Geld soll als Kommunikationsmedium ein stillhaltendes Erleben motivieren, während andere handelnd auf Güter und Dienste zugreifen, mit dem Effekt der Exklusion aller anderen möglichen Zugriffe („Knappheit“). Das „Stillhalten“ ratifiziert die Kommunikationszumutung. Im Rückgang auf eigene Körperzustände oder auf solche, die es an anderen wahrnehmend beobachtet, kann und muss das Individuum mit sich aushandeln, ob und wie es sich in den entsprechenden Kommunikationszusammenhang einfädelt oder aber versucht, sich seinen Zumutungen zu entziehen. Körperzustände, die für diese Funktion ausdifferenziert werden, werden als „Bedürfnisse“ identifiziert – um von den Körperzuständen unterschieden werden zu können, die für andere Kommunikationsmedien dieselbe Funktion ausüben: Sexualität für das Medium Liebe, Gewalt für das Medium Macht, Wahrnehmung für das Medium Wissenschaft. All diese Symbole erfüllen Bestätigungsfunktionen innerhalb ihrer spezifischen Kommunikationsbereiche – mit dem deutlich erkennbaren Indikator, dass diese Kommunikationsbereiche in Krisen geraten, wenn die erwarteten Bestätigungen ausbleiben und sich als Hunger, sexuelle Lustlosigkeit, illegitime Gewalttätigkeiten oder scheiternde Messungen kommunikativ Geltung verschaffen. Wie Sexualität, wie Gewalt, wie Bedürfnis und wie Wahrnehmung, so ist auch Kompetenz nicht ein „von sich aus“ unterschiedener Körpersachverhalt. Er muss vielmehr erschlossen und bestimmt werden, sei es vom Selbst-, sei es vom Fremdbeobachter, sei es in deren wechselseitiger Abstimmung. Kompetenz schließt immer Verhaltenskomponenten mit ein, erschöpft sich aber nicht in ihnen. Der Verhaltensaspekt sichert die individuelle Zurechenbarkeit – ein ganz zentraler Unterschied von Wissen und Kompetenz. (Wissen ist immer allgemeines, zumindest prinzipiell verallgemeinerbares Wissen. Kompetenz hingegen ist immer jemandes Kompetenz.) Kompetenz unterscheidet sich von seinen Verhaltenskomponenten durch ein nicht-triviales, durch ein problemlösendes Verhältnis zur Situation, in der das Verhalten ausgeführt wird.6 So lässt sich unter
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Den Bezug zur Bewältigung „reale(r) Anforderungssituationen“ erheben auch Klieme/Hartig (2007, S. 14) zum entscheidenden Kriterium, das dem Kompetenzbegriff die Beliebigkeit nimmt.
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Kompetenz die „auf dieses zurechenbare Fähigkeit eines Individuums (verstehen), in Situationen problemstellend und problemlösend aktiv zu werden.“ (Baecker 2006, S. 48, Parsons paraphrasierend) Kompetenzen kann es also nur geben, wo es Probleme gibt, und wo es soziale Situationen gibt, in denen sich Probleme so auszeichnen lassen, dass sie nicht rein kognitiv (zum Beispiel qua „Erklärung“ oder „Erzählung“) gelöst werden, sondern ein Verhalten erfordern und auslösen, das zugleich individuell und situationsbezogen zugerechnet werden kann. Von ihrer Konstitution her betrachtet, erscheint Kompetenz erst einmal als etwas Unwahrscheinliches, Problematisches, Ungewisses und gerade nicht geeignet, als symbiotisches Symbol, als Quelle für Selbstvergewisserungsprozesse fungieren zu können. In der Tat kann man ja auch feststellen, dass überall dort, wo über Kompetenzen dezidiert gesprochen wird, es in der Regel darum geht, Zweifel über das Vorhandensein oder die konkrete Qualität der Kompetenzen zu streuen – um innerhalb der so gesetzten Zweifel Bildungsprozesse initiieren zu können.7 Die Vergewisserungsqualität von Kompetenz zeigt sich erst auf einer zweiten Ebene: auf der Ebene einer überwundenen Unwahrscheinlichkeit. Wenn ein Individuum sich selbst eine Fähigkeit zu problemlösendem Verhalten zurechnen kann, wo die Probleme und die sozialen Prozesse ihrer Fixierung und Auflösung solch einer Individualisierung eigentlich entgegenstehen, dann kann dieses Gelingen ein Sicherheitsmoment darstellen in Situationen, die das Individuum in anderen Aspekten in Frage stellen könnten. Bildlich gesprochen: Der Gedanke „ich kann“ mag Kommunikationen, die Zweifel an individuellen Qualitäten bewegen, ertragen lassen. Doch inwiefern sollte das letztlich körperbezogene Sicherungsmoment von Kompetenz ausgerechnet die Unwahrscheinlichkeiten betreuen, die in erzieherischer Kommunikation begründet sind und von ihr ausgehen? Erzieherische Kommunikation identifiziert sich an der Absicht, die Änderung einer Person bewirken zu wollen (Luhmann/Schorr 1992; Kurtz 2006); eine Änderung im Hinblick auf die Einschränkungen und Spielräume der dieser Person sozial zurechenbaren Verhaltensmöglichkeiten. Nicht nur die erleidende Seite solch einer Personenänderungskommunikation ist motivational schwierig zu besetzen. Zur Erziehung muss auf beiden Seiten, auf Seite des zu Erziehenden wie auf Seiten des Erziehenden motiviert werden, wenn es doch hochgradig wahrscheinlich ist, dass man bei Änderungsansinnen auf Widerstand stößt. Im Rahmen der Theorie der Erfolgsmedien wird diskutiert, ob es dem Erziehungssystem überhaupt gelungen sei, ein für sein Motivationsproblem angemessenes Kommunikationsmedium zu entwickeln; oder ob nicht viele strukturelle Probleme der Erziehungssystems daraus resultieren, dass für seine Spezialkommunikation
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Alle Kompetenzmessungen realisieren diese Struktur.
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kein Spezialmedium profiliert werden konnte (Baecker 2006, S. 34-39; Kade 2006; Kurtz 2006, S. 125-128). Luhmann selbst hatte zunächst die Konstruktion des „Kindes“ (im Sinne von Philippe Ariès und anderen) als Medium erwogen (Luhmann 1991), später und mit Rücksicht auf das lebenslange Lernen auf ein Medium „Lebenslauf“ umgestellt (Luhmann 2002, S. 92-96). Dirk Baecker schlägt vor, Intelligenz als Erfolgsmedium des Erziehungssystems anzusehen (Baecker 2006). Bei allen drei Varianten des Erziehungsmediums – Kind, Lebenslauf, Intelligenz – geht es auf jeden Fall um eine personale Attribution von Nichtwissen: das unreife Kind, der wissensabhängige Lebenslauf eines Individuums, die Nichttrivialität einer individuellen Problemlage. In keinem Fall geht es um ein „echtes“ Kind aus Fleisch und Blut, um ein sich in seiner Dauer „wirklich“ selbst erlebendes Leben oder um eine computergleiche, kopfinterne biochemisch-physiologische Verschaltung von Neuronen. Die Symbole Kind, Lebenslauf oder Intelligenz zeigen an, dass es um eine Transformation von Nichtwissen in Wissen geht, die eine Person im Blick auf eigene künftige Handlungsmöglichkeiten an sich selbst vornehmen soll. Diese „Sorge um sich“ (frei nach Foucault) soll motivieren, sich auf die Offerten erzieherischer Kommunikation einzulassen, vor allem natürlich auf das in ihr dargebotene Wissen. Das Symbol „Kind“ bereitet die Wissensdifferenz als Rollenasymmetrie Kind/Erwachsener auf, mit der Maßgabe an den Erwachsenen, die Zukunft des Kindes für beide Seiten im Blick zu halten respektive in den Blick zu rücken. Die Kommunikation gelingt, wenn das Kind tatsächlich glaubt (oder wenigstens nicht offen den Unglauben ausagiert), dass der Erwachsene sein Bestes will. Das Symbol „Lebenslauf“ signalisiert, dass die Differenz von persönlichem Erfolg und Misserfolg auf dem Spiel steht und nur durch die zugemutete Transformation des Nichtwissens in Wissen auf die positive Seite gebracht werden kann. Intelligenz ist allgemeiner gefasst und schließt die beiden anderen Symbole als mögliche Konkretisierungen mit ein. Das Symbol „Intelligenz“ signalisiert, dass ein Problem auf eine Weise gestellt und gelöst wird, die von einem Beobachter nicht oder zumindest nicht auf all ihre Bedingungen hin beobachtet, kontrolliert und nachvollzogen werden kann.8 Intelligenz führt die Nichttrivialität eines Zusammenhangs von Problem und Problemlösung vor.9 Intelligenz kann als
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„‚Intelligenz‘ ist die Bezeichnung dafür, daß man nicht beobachten kann, wie es zustande kommt, daß das selbstreferentielle System im Kontakt mit sich selbst die eine und nicht die andere Problemlösung wählt.“ (Luhmann 1984, S. 158) „Nichttrivialität“ ist hier weder als Wertkategorie noch als Synonym für „kompliziert“, sondern streng begrifflich gemeint, im Sinne der Unterscheidung von trivial und nichttrivial nach Heinz von Foerster (1994, S. 245-252). Trivial sind Probleme, die auf immer gleiche Auslöser immer gleiche Antworten erfordern, so zum Beispiel die meisten Schul- und Testaufgaben. Nichttrivial sind Probleme, bei denen das problemlösende System in seiner Selbstreferenz ermittelt, welches Verhältnis von Problem und Lösung oder auch von Lösung und Problem ihm am besten „passt“, woraus sich für den externen Beobachter ein Problem der Unberechenbar-
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Erfolgsmedium wirken, weil es zusammen mit der Nichttrivialität der Probleme auch die Nichttrivialität der Personen auszeichnet, die sich mittels des jeweils thematischen Wissens verändern sollen oder wollen. Intelligenz motiviert zur Selbständerung durch Wissensannahme, weil sie das vorherige und zu beseitigende Nichtwissen der Person nicht als Unreife oder gar als Dummheit zu identifizieren zwingt. Anders als die (potentiellen) Medien Kind und Lebenslauf ist das Medium Intelligenz auch nur in geringem Maße auf institutionell festgelegte Rollenverteilungen angewiesen, insbesondere weniger auf Rollenasymmetrien (Baecker 2006, S. 40). Intelligenz kann (und soll) im System fluktuieren, mal die Lehrerin, mal den Schüler, mal auch die Texte oder gar die „Kontexte“ selbst auszeichnen, um Änderungen und Lernbereitschaften an allen möglichen Stellen auftreten zu lassen, eben zu ihnen zu „motivieren“. Intelligenz kann (und soll) daher auch in institutionell ungerahmten Situationen auftreten und so mit dazu beitragen, dass Erziehung auch dort stattfinden kann, wo die Gesellschaft zunächst nicht mit ihr rechnet; heutzutage vor allem im Kontext „intelligenter Organisationen“ mit ihren Einrichtungen, Verfahren und Rhetoriken zur permanenten „Personalentwicklung“ (vgl. für viele Schwaninger 1999). Dass Systembeobachter gleichwohl „viel zu wenig Intelligenz“ im System beklagen, kann im Rahmen unserer Überlegungen als Bestätigung ex negativum für die Annahme gelten, dass Intelligenz die Stelle eines Erfolgsmediums einnimmt (oder zumindest anstrebt), deren Funktion es ja ist, Unwahrscheinliches wahrscheinlich zu machen. Die Klage über mangelnde Intelligenz im System lässt nur die basale Unwahrscheinlichkeit des Erfolgs und die Wahrscheinlichkeit fehlender Motive wieder in den Vordergrund treten. Erfolgsmedien haben eine starke selbstreferentielle Komponente – auch dies am Medium Geld am deutlichsten ablesbar. Erfolgsmedien verweisen auf sich selbst, eben auf ihre bisherigen und ihre erwartet-zukünftigen Erfolge, um zur Beteiligung zu motivieren (Luhmann 1997, S. 393ff.). Mit Geld kann man kaufen – und dies motiviert zum Verkaufen wie zum Kaufen. Auch Intelligenz motiviert zum Lernen vorwiegend dadurch, dass sie zuvor zum Lernen motivierte und es auch künftig zu tun verspricht. Erzieherische Kommunikation verweist auf erzieherische Kommunikation. Symbiotische Symbole haben, wie oben angeführt, die Funktion, den Selbstbezug von Kommunikation (das Eigenleben im Reich der Zeichen) durch Körperbezug zu unterbrechen, zu ergänzen und gegebenenfalls auch zu ersetzen, sobald und sofern es darum geht, Zweifel zu bearbeiten, die anlässlich der Kommunikation entstehen und doch nicht in ihr wirksam werden sollen. Die Kommunikation mag Motive anbieten, zum Beispiel das Motiv, sich „intelli-
keit und Unvorhersehbarkeit ergibt. Deshalb eignen sich nichttriviale Probleme kaum für Schulunterricht und für (Kompetenz-)Tests.
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gent“ anstellen zu wollen. Der Rückgriff auf Körperliches, im Fall der Erziehung auf Kompetenzen, bietet Anlass und Möglichkeiten zu prüfen, ob und wie viel sich mit den Motiven zur Personenänderung durch Lernen denn individuell anfangen lässt – seien sie über das Medium Kind, über das Medium Lebenslauf oder über das Medium Intelligenz angetragen. Auf eigene Kompetenzen oder Kompetenzerweiterungen, oder auch auf solche, die es wahrnehmend an anderen beobachten kann, kann sich ein Individuum prüfend aus der Kommunikation herausnehmen, um abzuschätzen, wie tragbar die zugemuteten Motive für es sind; seien es Motive, erzogen zu werden, seien es Motive, zu erziehen. In den so erreichbaren und mehr noch, in den so vergleichbaren Kompetenzen muss (und kann) sich das Erziehungssystem individuell „beweisen“ – in einer Form, die sich der Kommunikation auf kommunikativ gebilligte Weise entzieht und sich durch die Billigung doch auch wieder auf Kommunikation einlässt. Der Körper, sofern und soweit in Kompetenzen zerlegt und als Kompetenzbündel wieder zusammengesetzt, fungiert als Externalisierung des Erziehungssystem, als Nichtkommunikatives der Kommunikation, als „realer“ Gegenhalt einer bestimmten semiotischen Realität. 3.
Kompetenz in den Selbstbeschreibungen des Erziehungssystems
Selbst wenn man akzeptieren kann, Kompetenz als symbiotisches Symbol erzieherischer Kommunikation zu begreifen, bleibt die Frage offen, ob sich Kompetenz auch als Zeichen für die Einheit des Systems und damit im Gebrauch von Selbstbeschreibungen eignet. Im Vergleich und im Verhältnis zu Bildung kann man gewisse Gemeinsamkeiten, aber auch entscheidende Unterschiede ausmachen. Wie bei Bildung, so haben wir es auch bei Kompetenz mit einer Kombination von Individualisierung und hochgradiger Universalisierung tun. Der Einzelne ist angesprochen, und dies in einer Weise, die jedes seiner Welt- und Situationsverhältnisse betrifft – oder im Modus der Potentialität betreffen könnte. Bildung und Kompetenz sind als in allem Erleben und Handeln als mitwirkend vorzustellen; und dies in positiver wie in negativer Form, als Ideal wie als Defizit (in Form von Unbildung und Inkompetenz). Wo immer sich der Einzelne selbst verorten mag, und wie prinzipiell oder wie situativ dabei orientiert: das Spiel der Differenzen von Bildung/Unbildung und Kompetenz/Inkompetenz verweist auf das Wirken des Erziehungssystems, auf seine Kontingenzen im Konkreten (jedes Individuum ist in jeder Situation irgendwie gebildet und ungebildet sowie kompetent und inkompetent) wie auf seine Notwendigkeit im Allgemeinen (ohne Bildung/Unbildung sowie ohne Kompetenzen/Inkompetenzen käme keine anspruchsvolle Sozialität zustande). Kompetenz ist wie Bildung geeignet, das Erziehungssystem als Einheit von Offenheit (für konkretes Ge-
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schehen) und Geschlossenheit (der Systemreproduktion) zu repräsentieren. Doch worin liegen die Unterschiede, die einen Wechsel in der semantischen Führung von Bildung hin zu Kompetenz begründen oder gar erklären könnten? Oder anders gefragt: Warum hat Kompetenz gegenüber Bildung soviel an Plausibilität gewonnen? Bildung ist seiner (deutschen) Tradition nach zentral auf das Bewusstsein und seine Selbstreflexivität ausgerichtet. Leitend war in der Begriffsbildung die Innen-Außen-Unterscheidung, die auf beiden Seiten Formen vorsieht (die Formen des Ichs und die Formen der Welt) und Bildung als Tatbestand und Prozess der Passung von Innen und Außen im Innen des Bewusstseins, des Selbst, des Individuums, der Person postulierte (siehe neben den genannten Quellen auch die Stichworte „Bildung“ und „Bildungstrieb“ in Eisler 1904, S. 156). Bildung hieß, nicht nur Subjekt zu sein, sondern Subjekt seiner Subjektivität zu werden und dies, als Aufgabe, permanent zu reproduzieren. Der klassische Bildungsbegriff zielte und zielt immer noch im Kern auf Freiheit (Stichweh 1994; S. 217), auf die Steigerung individueller Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten – und bezieht von dorther seine basalen Plausibilitäten, seine „Selbstverständlichkeiten“. Die strukturellen Korrelate im Erziehungssystem sind einerseits die Profession der Erzieher, die ihre Probleme und ihre Legitimität aus der Erziehung in und zur Freiheit beziehen, und andererseits die Geisteswissenschaften, die anhand ihrer „Objekte“ (Literatur, Kunst, inzwischen „Zeichensysteme“ und „Medien“ aller Art) den Umgang mit Selbstreflexivität erweitern, systematisieren, einüben und immer wieder einmal auch theoretisieren. Kompetenz hat, wie gezeigt, zwar auch einen klaren Individuenbezug, doch läuft dieser Bezug nicht über die Subjektivität des Bewusstseins, sondern über die Präsenz (und Präsentierbarkeit) des Körpers. Kompetenz verweist vom individuellen Körper – dem, was „er kann“ und was „ihm zugetraut“ wird – auf soziale Situationen.10 Die Komplexität des Sozialen tritt an die Stelle der „inneren Unendlichkeit“ des Subjekts, der Selbstreferenz und auch der Selbstreflexivität. Dass für Kompetenz Selbstreflexivität gerade nicht wie für Bildung konstitutiv ist, sieht man daran, dass Reflexion für eine besondere Kompetenz gehalten und eigens namentlich gekennzeichnet wird: als „Reflexionskompetenz“. Die strukturellen Korrelate im Erziehungssystem sind nicht die Erziehungsprofession und nicht die Geisteswissenschaften. Die strukturellen Korrelate sind vielmehr die Organisationen des Erziehungssystems sowie die „neue“, die empirische Erziehungswissenschaft. Beide Einrichtungen arbeiten an der Objektivierung von Kompetenz, die faktisch auf eine organisatorisch gestützte und
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An dieser Theoriestelle könnte das Verhältnis zu Bourdieus Begriff des Habitus diskutiert werden. Ein Ergebnis wäre wohl, dass der Kompetenzbegriff stärker als Habitus die Referenz des Erziehungssystems hervorhebt und weniger direkt auf das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft schließt.
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verwirklichte Kontrolle von Kompetenz hinausläuft.11 Die Organisationen des Erziehungssystems arbeiten an Feststellungen, was die Individuen in den Perioden, die sie in den Organisationen verbringen, an Kompetenzen erwerben.12 Die empirischen Erziehungswissenschaften erarbeiten Skalen, die Kompetenzen klassifizieren und mindestens ordinal, im Idealfalle auch metrisch ordnen (Hartig 2007) und anhand von Populationen messen, was an Kompetenzen „wirklich verwirklicht“ ist13 – und je nach Interpretation als Produkt der Erziehungsarbeit, als Eigenschaft den Individuen oder als Rest- und Störvariable der erzieherisch unkontrollierten Gesellschaft (dem „Herkunftsmilieu“) zugerechnet werden kann. Ohne die „Äußerlichkeiten“, die der Körper zustande bringt, und sei es die Manipulation von Stift und Papier oder von Tasten und Bildschirminhalten, wären Objektivierung, Messung und Kontrolle nicht möglich. Wie meistens bei solchen Fragen, wird man nicht im Sinne einer Kausalerklärung feststellen können, ob strukturelle Veränderungen (im Verhältnis von Profession und Organisation respektive von geisteswissenschaftlicher Pädagogik und empirischer Erziehungswissenschaft14) die semantischen Verschiebungen von Bildung zu Kompetenz „bewirkt“ hätten oder aber umgekehrt. Das Verhältnis von Struktur und Semantik, von Systemen und ihren Selbstbeschreibungen ist viel zu komplex für Kausaltheorien, vor allem dann, wenn die Aussagen auch noch für empirische Prüfung zugänglich sein sollen. Man wird sich, ganz im Sinne kulturwissenschaftlicher Erkenntnistraditionen, mit Annahmen über „Entsprechungen“ begnügen müssen. Aber selbst mit dieser schwachen Einschränkung ist immerhin gesagt, dass auch Selbstbeschreibungen nicht selbstgenügsam funktionieren; dass es keinen Begriff gibt, der dauerhaft „von sich aus“ überzeugt, weil er „das Wesen der Sache“ träfe. Das gilt beim hier verhandelten Thema sowohl für Bildung als auch für Kompetenz. Wer ihre Funktion und Eignung für Selbstbeschreibungen des Erziehungssystems verstehen will, darf sich nicht mit einer Hermeneutik der Begriffe und einem Zugriff auf „die Sache selbst“ (Erziehung) begnügen. Die Plausibilität von Bildung schöpft aus einem Bezugsfeld von Individualität, Freiheit, Profession und Geisteswissenschaften, während Kompetenz auf soziale Kontexte, auf Kontrolle, auf Organisation (inklusive Populationen der sie durchlaufenden Individuen) und
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Siehe für den organisationsbezogenen Aufbau von Kompetenzmessungen Erpenbeck/Rosenstiel 2003. Insofern Organisationen anderen Typs angeben, dass ihre Mitglieder bei ihnen Kompetenzen erwerben, sind sie an erzieherischer Kommunikation beteiligt und selber Elemente der „Entgrenzung des Pädagogischen“ (Lüders et al. 1995; speziell für Organisationen Göhlich 2005, S. 9, auch Kurtz 2004, S. 28-33). Ohne den Kompetenzbegriff wäre die Diskussion um die „Wirksamkeit des Bildungssystems“ kaum vorstellbar (vgl. Wissinger 2007). Siehe für Profession/Organisation Helsper et al. 2007; Kurtz 2004, Böttcher/Terhart 2004; sowie für Pädagogik/Erziehungswissenschaft Brezinka 1972; Wulf 2003.
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auf Empirie zurückgreift, sich in ihnen abstützt und ihnen umgekehrt semantische Unterstützung gewährt. Diese These immerhin sollte empirischer Prüfung zugänglich sein, wenn man Autorschaft und Konstruktionen von „impliziten Lesern“ von Selbstbeschreibungen als Indikatoren gelten lässt. Nach diesen Merkmalen sollten sich „Bildungstexte“ von „Kompetenztexten“ unterscheiden lassen15 – und wie immer, wenn es antithetisch zugeht, sollten Syntheseversuche früher oder später zu vermerken sein. Ob Kompetenz bereits jetzt die Führung über Bildung erlangt hat und ob sich die Bildungsidee unter der Dominanz von Kompetenz doch einmal endgültig erledigen wird, wird sich nach all dem Gesagten nicht allein auf dem Feld der Diskurse entscheiden. Man wird die Strukturen mitbeobachten müssen, die sich mehr auf die eine oder mehr auf die andere Formel stützen und sie für ihre Zwecke weiter ausbauen.
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15
Man halte nur einmal, als „Mini-Empirie“, von Hentig-Bücher (Hentig 2007a; Hentig 2007b) den nationalen und regionalen Bildungsberichten gegenüber (z.B. Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung 2007; Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008): Hie ein Einzelautor, bildungsbewusste Individuen und selbstbewusste Erzieherinnen ansprechend, klassische Bildungswerte vertretend und verfechtend; da Autorenkollektive, abhängig von Organisationen der politischen Bürokratie, der Forschungsfinanzierung und der Beschulung, um Kompetenzniveaus und -verteilungen innerhalb von Populationen festzustellen, die Bildungsorganisationen durchlaufen. Was in letzterer Art Selbstbeschreibung von Professionen und Professionalität übrig bleibt, sind: Lehr-Kompetenzen (Baumert/Kunter 2006).
Von Bildung zu Kompetenz
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Achim Brosziewski
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„Schülerkompetenzen“ im Nadelöhr kollektiver Kompetenzen Ein Versuch der Erneuerung des Governanceregimes der Schule Thomas Brüsemeister
In diesem Beitrag wird problematisiert, ob es der Bildungspolitik gelingt, ein erneuertes schulisches Governanceregime zu errichten, dessen Akteure auf verschiedenen Ebenen der Zentrale, der intermediären Instanzen und der Einzelschule enger zusammenarbeiten sollen, zentriert um den Begriff der „Schülerkompetenzen“, der aus der Psychologie stammt. Dem Konzept nach beobachtet die Bildungspolitik im Zuge von Bildungsstandards, welche Kompetenzen Schülerinnen und Schüler erreichen; intermediäre Instanzen wie die Schulinspektion helfen bei derartigen Beobachtungen in den Schulen. In Frage steht jedoch für die Bildungsforschung, wie die Lehrkräfte reagieren. Offensichtlich handelt es sich um ein Mehrebenenspiel, in dem sich verschiedene Akteure – Bildungspolitiker, Schulinspekteure, Lehrkräfte – neu um den psychologischen Kompetenzbegriff von Schülern gruppieren (sollen). Die Educational Governanceforschung untersucht dabei die kollektive Kompetenz, wie Akteure es schaffen, über verschiedene Ebenen hinweg Konzepte zu transferieren und zu implementieren. Nach allem, was der Governanceansatz theoretisch weiß und empirisch zu Tage fördert, ist diese kollektive Kompetenz in den meisten Systemen schwach ausgeprägt. Der vorliegende Beitrag handelt also von der aktuellen Geschichte der Einführung des psychologischen Kompetenzbegriffs und den mit ihm bestehenden Hoffnungen einer engeren Verbindung von verschiedenen Systemebenen. Dieser Versuch wird dekonstruiert mit den Analysemitteln der Educational Governanceforschung, welche darauf verweisen, dass die kollektive Kompetenz zu einer integrativen Ebenenüberschreitung teilweise Wunschtraum ist, der sich an vorhandenen antagonistischen Konstellationen zwischen den Akteuren bricht. Der Beitrag möchte damit einen soziologischen, in der Educational Governanceforschung benutzten Begriff der kollektiven Kompetenz erläutern. Dieser Begriff ist deutlich anders gefasst, da es sich um eine akteurtheoretische Betrachtungsweise von Institutionen handelt und sich nicht auf die „Kompetenz“ eines Einzelnen bezieht wie in der Psychologie. Kollektive Kompetenz wird als Möglichkeit oder Unmöglichkeit mehrerer Akteure vorgestellt, sich über Ebenen hinweg zu verständigen und ein kollektives Gut zielgerichtet zu erstellen. Kurz: Das Schicksal der Leitidee einer psycholo-
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Thomas Brüsemeister
gischen Kompetenzmessung von Schülerleistungen hängt vom Nadelöhr kollektiver Kompetenzen ab, durch die diese Leitidee hindurch muss, soll sie realisiert werden. Im ersten Teil (1) wird auf den Begriff der kollektiven Kompetenz eingegangen, um anschließend (2) Dimensionen des erneuerten Governanceregimes skizzieren zu können, in dem der Begriff der Schülerkompetenzen eine wichtige Rolle spielt. Am Ende (3) folgt ein Resümee. 1.
Kollektive Kompetenzen aus Sicht der Educational Governanceforschung
Kompetenzen, wie sie gegenwärtig für Schüler diskutiert werden, werden in der soziologischen Sicht, wie sie in die Educational Governanceforschung eingehen, erheblich weiter beobachtet als es in dem gegenwärtig im allgemeinschulischen Bereich dominierenden Kompetenzbegriff der kognitiven Psychologie der Fall ist, nämlich innerhalb eines Mehrebenensystems der Schule (Kussau/Brüsemeister 2007: 63ff.). In der soziologischen Sicht bedingen sich Kompetenzen wechselseitig, als Ergebnis einer von Akteuren hervorgebrachten Konstellation. Es wird in dieser konflikttheoretischen Lesart der Educational Governanceund empirischen Bildungsforschung (Kussau/Brüsemeister 2007) davon ausgegangen, dass verschiedene professionelle Akteure in einem Mehrebenensystem „interdependent“ miteinander verflochten sind, insofern jede Gruppe mindestens um den Erhalt, wenn nicht um die Erweiterung ihres Einflusses bestrebt ist, was jedoch nur um den Preis von Ressourcen möglich ist, die eine andere Gruppe zumindest teilweise kontrolliert. Gemäß dieser Sicht sind die Interaktionen zwischen den Akteuren mehrperspektivisch, da sie analytisch gesehen sowohl die Abhängigkeit als auch die Unabhängigkeit voneinander betonen. Zwar sollen Systeme wie das öffentliche Schulsysteme kollektive Güter herstellen – hier: Bildung für Schülerinnen und Schüler –, was zumindest eine teilweise Abstimmung der verschiedenen Akteure in einem Mehrebenensystem erfordert. Konkreter gesprochen wird seit vielen Jahren der Traum der Schulentwicklungsansätze geträumt, dass zumindest in der Einzelschule die Akteure ihre jeweiligen Fähigkeiten durch Zusammenlegung steigern – und so auch die Qualität der Schule. Heute wird dieser Traum überlagert durch den Traum evaluationsbasierter Steuerungsmaßnahmen: Mit den Ergebnissen der Evaluation von Schülerkompetenzen erhofft man sich, auf verschiedenen Ebenen koordiniert gegensteuern zu können, wenn bestimmte Schülergruppen bestimmte Kompetenzwerte nicht erreichen. Der Traum der kollektiven Abstimmung und kollektiven Handlungsfähigkeit ist hier sogar noch breiter und tiefer; breiter, weil alle Ebenen des Schulsystems mit speziellen Daten erfasst und beliefert werden; tiefer,
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137
weil die Daten wissenschaftsbasiert sind und der Glaube an die Richtigkeit und Wichtigkeit wissenschaftlicher Daten zum Rationalitätsmythos der Moderne gehört. Die theoretische und empirische Analyse zeigt jedoch, dass diese kollektive Handlungsfähigkeit – man kann auch sagen: kollektive Kompetenz – schwer herzustellen ist. Akteure sind in vorhandenen Abhängigkeiten verfangen – und wollen sie manchmal gern beibehalten, da sich Vorteile daraus ziehen lassen. Für viele Akteure kann es ein größerer Gewinn sein, nicht zu kooperieren und die Kosten der Nichtkooperation anderen in die Schuhe zu schieben. Durch die spezialisierten Tätigkeitsprofile und speziellen Handlungslogiken der jeweiligen Akteure ist es nur schwer vorstellbar, dass sich eine einzige Semantik – wie derzeit „Schülerkompetenzen“ – im Mehrebenensystem bruchlos durchsetzt. Jede Semantik eines Akteurs kann ein anderer Akteur aus seiner Semantik heraus anders sehen oder gar missverstehen. Ein Beispiel ist die gegenwärtige Semantik der Bildungsstandards, die weiter unten detaillierter angesprochen wird. Hier soll der Hinweis auf die offensichtliche Kernaussage genügen, denn mit Bildungs„standards“ wird das Bedürfnis nach Sicherheit ausgedrückt – was offensichtlich auch sein Gegenteil mit ausdrückt, nämlich Unsicherheit. Genau dies können Akteure auf anderen Ebenen des Schulsystems empfinden. In Mehrebenensystemen finden sich somit analytisch gesehen mehrperspektivische Sprachspiele, die zu vereinheitlichen eine kollektive Kompetenz wäre. Faktisch lässt sich jedoch, schon wenn man nur zwei Akteure betrachtet, eine Vieldeutigkeit der Stimmen vernehmen.
Bildungspolitik
Lehrkräfte
Sicherheit B-Standards
Unsicherheit (Zonen der Nicht-Kontrollierbarkeit schaffen)
Unsicherheit
Sicherheit
Schüler
In „Mehrebenenspielen“ können zum Beispiel Sicherheitsabsichten einer Seite durch die gegenteilige Betonung von Unsicherheit „ausgebremst“ werden. Tatsächlich erleben Lehrkräfte – gemäß den ersten empirischen Befunden (vgl. Altrichter 2008) – Bildungsstandards als Verunsicherung. In der Konstellation der beiden Akteure Bildungspolitik und Lehrkräfte wird die Sicherheitsstrategie der Politik in „Unsicherheit“ umcodiert. Dies geschieht innerhalb politischer
138
Thomas Brüsemeister
Auseinandersetzungen teilweise bewusst, insofern Lehrerverbände gegen die vorherrschende Politik eine andere setzen möchten; teilweise in direkter Reaktion und Interaktion auf ein Gegenüber innerhalb der Akteurkonstellation. In theoretischer Hinsicht sind derartige Reaktionen der Versuch, sich Zonen der Nichtkontrollierbarkeit und professionellen Autonomie zu erhalten – was die Politik erneut motiviert, gerade deshalb auf Standards setzen zu müssen. Auf diese Weise können sich Kommunikationspaare wie Sicherheit/Unsicherheit gegenseitig hochschaukeln, mindestens aber stabilisieren. Diese in einer Akteurkonstellation negativen Aspekte bedeuten gleichzeitig, nüchterner gesehen, dass jedem Akteur in Reaktion auf einen anderen Handlungsspielräume eröffnet sind. Auf jeden Fall gibt es im Mehrebenensystem niemals „die eine Strategie“. Vielmehr wird diese durch die wechselseitige Aufeinanderbezugnahme mehrerer Akteure, also durch Interdependenz, mehrfach gebrochen – was intentional als Leiden an begrenzten Möglichkeiten oder auch als Zwang zum Intervenieren-Müssen wahrgenommen werden kann. Eine ergänzende theoretische Grundlage ist der konflikttheoretische Ansatz von Institutionen (Lepsius 1997), der unterstellt, dass Akteure verschiedene Leitideen durchzusetzen suchen, um je eigene Interessen zu realisieren. Hierbei dominiert nie nur eine einzige Leitidee; vielmehr gibt es einen permanenten Kampf, d.h. Versuche, bisherige Leitideen zu delegitimieren (De-Institutionalisierung) bzw. neue zu legitimieren (Institutionalisierung). Für die Gegenwart lässt sich ein Kampf zwischen der „älteren“ Leitidee der überwiegend rein innerschulischen Schul- und Organisationsentwicklung ausmachen, während heute versucht wird, die Schulentwicklung einem übergreifenden systemischen Steuerungskontext zu subsumieren, nämlich externen Evaluationsmaßnahmen und im Rahmen von Kompetenzbegriffen, wie sie in Bildungsstandards formuliert sind. Angesichts der Stabilität des bisherigen bürokratischen Governanceregimes nach dem Zweiten Weltkrieg ist zwar nicht zu erwarten, dass die um den Begriff der Kompetenz herum gruppierten erneuerten Verfahrensweisen von den Lehrkräften bereits als legitime Orientierungen des eigenen Handelns angesehen werden. Dennoch lassen sich in bestimmten Bereichen Veränderungen des Governanceregimes feststellen. 2.
Zur Erneuerung des Governanceregimes
Das historisch entstandene bürokratische Steuerungsmodell argumentiert vom Input und dem System her (Fend 2001: 41). In der Bildungspolitik der Wohlfahrtsstaaten geht es darum, bei Bildungschancen, orientiert an einer Idee der Gleichheit und organisiert durch eine staatliche Governance, Benachteiligungen abzubauen. Diese Vorstellungen beinhalten, zielgerichtete Effekte in der Um-
„Schülerkompetenzen“ im Nadelöhr kollektiver Kompetenzen
139
welt zu erzeugen und interne Steuerungsebenen im Hoheitsbereich des Schulsystems – die Ebene der einzelnen Schule, Lehrer, Schüler und Eltern – vernachlässigen zu können, weil sie als homolog zu den Inputzielen gesehen werden. Damit gibt es insgesamt eine Dominanz der Systemebene, die so lange legitim erscheint, wie der zentrale Ausbau von Leistungen vorangetrieben werden kann. Positiv ist, wie Edwin Keiner (2001: 227) die Leistungen des Bildungssystems nach dem Zweiten Weltkrieg zusammenfasst, dass sich der „gesellschaftliche Inklusionsgrad des Bildungssystems“ auf der schulischen Ebene bis hin zur Universität deutlich erhöht, dass regionale Disparitäten ausgeglichen werden, „wenn auch nicht im durchgängig linearen Trend“ (ebd.). Insbesondere Mädchen bzw. Frauen profitieren von der größeren Durchlässigkeit des Schulsystems. Negativ wird resümiert, dass traditionelle Mechanismen der Selektion nicht wesentlich verändert werden, so dass Zugänge „zum oberen Sekundar-, insbesondere zum Hochschulbereich“ (ebd.: 228) nach wie vor „durch informelle Selektionsmechanismen und schichtabhängige, selbst-selektive Entscheidungen präformiert“ bleiben (ebd.). Insbesondere die PISA-Untersuchungen haben dann gezeigt, dass der Abbau von Benachteiligungen z.T. nur auf der Ebene des talk – statt auf der von „action“ (Brunsson 1989) – anzusiedeln ist, da es dem deutschen Bildungssystem offensichtlich nicht in dem Ausmaß wie anderen Ländern gelingt, sozialstrukturelle Benachteiligungen tatsächlich zu verringern. Der Ausweg der deutschen Bildungspolitik besteht in der Übernahme des internationalen Mainstreams, d.h. der fortlaufenden Evaluierung und Testung von Schülerkompetenzen. Die Qualität von Bildungsangeboten wird durch Evaluation und Formen des Berichtswesens zu heben gesucht (Böttcher et al. 2006). Zugleich sollen Leistungen von Bildungsangeboten und auch der Bildungspolitik selbst besser öffentlich dargestellt werden. Die Bildungspolitik der Bundesländer stand nach PISA 2000 unter erheblichem Druck, reagieren zu müssen – wobei dann teilweise von den Ländern Konzepte als neu präsentiert wurden, die längst beschlossen waren (Tillmann u.a. 2008). Geht man die Konzepte der Länder durch, fallen zentrale Begriffe auf, die um Kompetenz und Bildungsstandards kreisen. Im Kompetenzbegriff setzt die Bildungspolitik gleichsam einen direkten semantischen Link zwischen sich und den Schülern. Dies ist das Einfallstor für den Umbau der gesamten Institutionenlandschaft: 1.
Die Politik stellt heraus, dass sie sich für Schülerleistungen – neu als Kompetenzen bezeichnet – verantwortlich sieht und die Aufgabe hat, diese Leistungen im Interesse der Öffentlichkeit zu überprüfen. Diese Aufgabe ist nicht neu, aber sie wird mit anderen Mitteln umgesetzt: dem KompetenzBegriff.
140
2. 3.
4.
Thomas Brüsemeister
Es wird unterstellt, dass Lehrer allein diese Leistung nicht mehr erbringen (können). Dies wird vor allem an den Konsequenzen ersichtlich, denn es werden intermediäre Instanzen der externen Evaluation aufgebaut – insbesondere die Schulinspektion –, die die Lehrkräfte mit Informationen über Schülerleistungen versorgen sollen. Intermediäre Instanzen eröffnen damit insgesamt der Politik Entscheidungsspielräume und -optionen.
Zum einen lassen sich mit den Evaluationsinstanzen die politischen Bedürfnisse nach Legitimation befriedigen (es muss eine öffentliche Aufsicht des Schulsystems geben); zum anderen kann die Politik beobachten, welche der Maßnahmen – ob konventionelle Schulverwaltung oder neue Inspektion; das Umgehen der Lehrkräfte mit Evaluationsdaten – wie funktionieren. In dieser Hinsicht ermöglichen die intermediären Instanzen der Bildungspolitik gerade gegenüber der zentralen Leistungsebene, den Lehrkräften, neue Handlungsmöglichkeiten. Eine wichtige Schlussfolgerung aus dem PISA-Desaster lautete für die Kultusministerkonferenz, mit ersten Bildungsstandards für Deutsch, Mathematik und die erste Fremdsprache (Englisch/Französisch) für die Jahrgangsstufe 10, die seit Ende 2003 erlassen wurden, ein Kalibrierungssystem zu erstellen, um Ergebnisse anschließender flächendeckender Evaluationen von Schüler-Kompetenzen darauf beziehen zu können. Ende 2004 wurden zu erreichende Kompetenzen für weitere Fächer festgelegt.1 Die Schulen sind damit – erstmalig systematisch und flächendeckend, d.h. alle Schulen betreffend – angehalten, Rechenschaftslegung über die erreichten Schülerkompetenzen zu organisieren. Dazu wurden neu geschaffene Schulinspektionen (teilweise heißen sie Visitationen, wie in Brandenburg, teilweise Schul-TüV) eingerichtet. Neben dem Beschluss der Bundesländer, auf PISA mit einem Maßnahmenkatalog zu reagieren, haben auch wissenschaftliche Studien den Kompetenzbegriff entscheidend mit vorangebracht. Ein Meilenstein dazu war diesbezüglich die so genannte Klieme-Expertise, die aus Sicht der kognitiven Psychologie argumentiert (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2003):
Die Klieme-Expertise sagt aus, dass Bildungsstandards durch allgemeine Bildungsziele bestimmt werden. Sie dienen zur Festlegung von Kompetenzen, welche die Kinder und Jugendlichen der jeweiligen Jahrgangsstufen mindestens erworben haben sollten. Kompetenzen verbinden Wissen mit Können und werden als Dispositionen verstanden, die Personen befähigen, bestimmte Situationen und Aufgaben
1
Vgl. verschiedene Veröffentlichungen der KMK unter http://www.kmk.org/doc/beschl/ aschulw.htm.
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zu bewältigen. Es wird davon ausgegangen, dass die individuell vorhandenen oder erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten in variablen Situationen durch Problemlösungen bereitwillig, erfolgreich und verantwortungsvoll angewendet werden. Wichtig ist, dass Kompetenzen in Aufgabenstellungen sowie Testverfahren umsetzbar und erfassbar sind. Diese Kompetenzen können nur leistungsbezogen erfasst und gemessen werden. Kompetenz wird als Verbindung zwischen Wissen und Können verstanden und dient der Bewältigung von Aufgaben und Situationen. Um Kompetenz zu operationalisieren, müssen konkrete Anforderungssituationen geschaffen werden, die in ihrer Ganzheit ein breites Leistungsspektrum abdecken müssen.
Die Mitglieder der Kultusministerkonferenz erhoffen sich durch die Einführung von Bildungsstandards mehr Übersicht und Vergleichbarkeit der Lernergebnisse der Schüler auf Landes- und Bundesebene. Dies führt dazu, dass auch entsprechende Organisationen gebildet werden, die mit psychologischen Kompetenzmodellen arbeiten bzw. das Erreichen von Kompetenzen und die dafür notwendigen Qualitätsbedingungen einer Schule in Test- und Prüfverfahren organisieren. Über den Kompetenzbegriff wird damit auch die Organisationsfähigkeit des Schulsystems erhöht. 2.1 Der Aufbau von Inspektionssystemen2 Eine an die Kompetenzbegrifflichkeit angekoppelte Steuerungsmaßnahme besteht in neu eingeführten Schulinspektionen. Um die Unabhängigkeit der Evaluationsfunktion und Qualitätsorientierung der Inspekteure zu erreichen, ist eine stimmige institutionelle Verankerung wichtig, jenseits der klassischen Schulaufsicht. So ist z.B. der Träger der Schulinspektion in Hessen das neu geschaffene „Institut für Qualitätsentwicklung (IQ)“, als eigenständige Einrichtung, die direkt dem Kultusministerium unterstellt ist. Inspektorenteams erhalten die Aufgabe, nacheinander alle Schulen eines Bundeslandes zu besuchen und eine Art TÜV-Bericht über wesentliche Schulund Unterrichtsqualitätsmerkmale zu verfassen. Den Bericht erhalten die Schule und das zuständige Schulaufsichtsamt. Die Inspektoren haben keine Aufsichtsfunktionen im Sinne der Schulämter und verfügen über keine Sanktionsmöglichkeiten im Sinne des Dienstrechts, sondern werden als unabhängige Fachbeurteilungen verstanden (so explizit in der Schweiz, aber inhaltlich genau so in Deutschland), die den Schulen alle vier bis fünf Jahre Rückmeldung geben bzw. ihnen ihre Leistung spiegeln.
2
Das Folgende ist angelehnt an Kussau/Brüsemeister 2007.
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Thomas Brüsemeister
In einigen Ländern wie z.B. im Kanton Zürich wird überlegt, ob die Inspektion auch Kompetenzdaten, die in den nächsten Jahren flächendeckend für alle Schüler aller Schulen als „Output-Qualitäten“ vorliegen werden, verwenden könnte. So lange dies nicht möglich ist, geben die Berichte (notgedrungen) nur Prozessqualitäten wider (vgl. Bildungsdirektion des Kantons Zürich 2001: 31). Trotzdem besteht keine „lose Kopplung“ zwischen dem Konzept der Bildungsstandards und den darauf bezogenen Kompetenzen auf der einen Seite sowie der externen Evaluation auf der anderen Seite. Vielmehr wird von den Hoheitsträgern im deutschen Schulsystem, den Kultusministerien, in Bezug auf die zentrale Semantik der Schülerkompetenzen ein Umbau des bestehenden Regelkreislaufs der schulischen Governance in Angriff genommen. Hierbei werden nicht nur Schüler, sondern auch Schulen anders adressiert. Sie werden nun als selbständig handelnde Einheiten und nicht mehr als ‚nachgeordnete Behörden‘ angesehen. Daraus ergibt sich für die Bildungs- und Schuladministration als zentrale Konsequenz, von ihnen Rechenschaftslegung zu verlangen. Des Weiteren sind die intermediären Systeme der externen Evaluation dazu da, diese Rechenschaftslegung der Schulen organisatorische Praxis werden zu lassen. Notwendige Bedingung ist freilich, dass klare bildungspolitische Ziele in Form von Leistungsstandards zu formulieren sind, damit sich die Rechenschaftslegung daran orientieren kann. Diese Bedingung haben die Länder und die KMK mit der Festlegung von Bildungsstandards erfüllt. Die neue Schulinspektion kann nun damit verzahnt werden. 2.2 Reibungen zwischen der bisherigen Arbeitsorganisation und der neuen Leitidee3 Die Berichte der Schulinspektion haben in wesentlichen Inhaltsdimensionen wissenschaftlichen Charakter bzw. stellen kondensierte wissenschaftliche Beobachtungsrahmen dar; es wird in allen deutschen Bundesländern ein wissenschaftlicher Qualitätsrahmen verwendet. Dies ist jedoch mit Schwierigkeiten behaftet, da Lehrkräfte von ihrer beruflichen Praxis her keine Wissenschaftler sind.4 Insofern ist für Lehrkräfte das wissenschaftsgeprägte Kondensat der Berichte ein fremdes Medium. Aus Sicht des bestehenden Governanceregimes gibt es Reibungspunkte, die neue Leitidee – mit dem Begriff „Schülerkompetenzen“ im Zentrum – und die daran angekoppelten Evaluationsmaßnahmen umzusetzen. Lehrkräfte müssen zwar innerhalb ihrer Arbeitsorganisation ihrem Dienstherrn folgen, der inner-
3 4
Dieser Abschnitt folgt Kussau/Brüsemeister 2007: 87ff. Die Wissenschaftsorientierung, das zeigt die Forschung, endet spätestens mit dem Praxisschock im Referendariat, was auch durch anschließende wissenschaftliche Weiterbildung nicht mehr revidiert werden kann; vgl. z.B. Keuffer/Oelkers 2001.
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halb eines Tausches von Leistungen gegen Lohn asymmetrisch die Erfüllung von Leistungen erwarten und bei Nichterfüllung erzwingen kann. Die Beeinflussung des Lehrberufs hat jedoch von Anbeginn an mit einer – theoretisch gesprochen – Principal-Agent-Beziehung zu kämpfen, innerhalb derer Machtanteile auch Lehrkräften zufallen, da deren professionelle Leistungsbausteine nicht administrativ, im Modus der Mitgliedschaft einer Arbeitsorganisation, erzwungen werden können. In dieser Hinsicht wird die asymmetrische Machtverteilung aus der arbeitsorganisatorischen Beziehung um eine abhängige Beziehung der Administration gegenüber den Lehrkräften ergänzt. Diese Beziehung beruht machttheoretisch darauf, dass die Administration nicht selbst unterrichten sowie die Profession nicht durch andere Akteure austauschen kann, da niemand anderes zur erwünschten Leistungserbringung fähig ist; sie beruht kommunikationstheoretisch darauf, dass es Diskurse der Profession gibt, und diese verlaufen anders als die entscheidungsförmige Kommunikation der Administration, denn in der Profession zählen bessere Argumente und nicht Macht; in der Interaktion mit Schülern gibt es einen Input an Vertrauen in die gute pädagogische Absicht, während der derzeitige Manageralismus der Administration auf harte Überprüfungen (Outputs) setzt. Das Dominieren professioneller Argumente führt dazu, dass Steuerungsmaßnahmen mit Blick auf die Bedeutung für die Unterrichtsinteraktion mit Schülern beurteilt werden, und nicht nach einem organisationalem Zweck, hier der Evaluation. Professionsbezogene Argumente brechen damit regelmäßig entscheidungsförmige und an Mitgliedschaft orientierte Kommunikationen. Das an Kompetenzen orientierte Berichtswesen erwartet dagegen, dass der Output eines Handelns dokumentiert werden kann und sich daraus gezielt Folgehandlungen ableiten lassen. Es gibt jedoch derzeit keine Methode, die hochgradig flexible Unterrichtsgeschehnisse am Ort und im Zeitpunkt ihres Geschehens dokumentiert, so dass aus Sicht der Lehrkräfte Evaluationen und Berichte nur nachgeschobene Tätigkeitsbeschreibungen sind, die mit der eigenen Praxis wenig zu tun haben. Es ist aus Sicht der Lehrkräfte überhaupt nicht einsichtig, was Berichtssysteme, die systematisierte Folgeentscheidungen ermöglichen sollen, mit ihrem Unterricht zu tun haben; denn in ihm gibt es keine systematischen Entscheidungen in dem Sinne, dass an dokumentierte frühere Entscheidungen angebunden wird, sondern es wird und muss flexibel – angesichts einer Verantwortung gegenüber variablen Reaktionen von Schülern, die nicht dokumentiert sind, – situativ reagiert werden. Diesbezüglich haben Interaktionen eine eigene Geschichte, auf die Berichtssysteme überhaupt nicht eingehen, sondern daraus allenfalls punktuelle Kompetenzmessungen (bei externen Schülerleistungstests) herausgreifen oder summative, die Unterrichtskultur der ganzen Schule betreffende Dokumente erstellen (bei Schulinspektionen), die beide den Unterricht der ein-
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zelnen Lehrkraft nicht treffen. Vielmehr stellen diese Maßnahmen je eigene administrativ erzwungene Systeme dar, was unter anderem erklärt, dass Lehrkräfte darauf mit einem „teaching to the test“ im Rahmen ihrer arbeitsorganisatorischen Rolle reagieren. Diese Differenzen zwischen den Kommunikationseigenarten der Ebene Zentrale und der Lehrkräfte ließen sich fortführen. Sichtbar wird jedoch auch so, dass das Gesamtarrangement zwischen beiden Akteuren den Charakter einer antagonistischen Kooperation hat, die ein tiefgreifendes Nichtverstehen impliziert. Tatsächlich hat sich die antagonistische Kooperation bislang als stabil gezeigt, so lange von den Lehrkräften im Rahmen der Arbeitsorganisation eine Befolgung von „Standardnormen“ erwartet werden konnte. Dieses Arrangement wurde gerade in der expansiven Phase des Ausbaus des Schulsystems im Wohlfahrtsstaat nach 1945 gefestigt, sofern es sich gleichsam in die Fläche gehend vervielfältigen ließ, ohne dass an der antagonistischen Kooperation etwas geändert wurde. Nach der expansiven Phase erleben wir jedoch gegenwärtig eine intensive Phase, in der zwecks Steigerung der schulischen Qualität verstärkte Abstimmungen zwischen Akteuren (innerhalb eines Systembereichs sowie zwischen verschiedenen Systembereichen) für notwendig erachtet werden. Dies beinhaltet Qualitätskreisläufe inklusive die Nutzung von Kompetenzdaten auf verschiedenen Ebenen, angesichts derer eine antagonistische Kooperation zu einem Hemmschuh wird, der am Erfolg der Maßnahmenbündel zweifeln lässt. Die bisherige Veränderungsresistenz der antagonistischen Kooperation könnte erklären, warum Akteure der Zentrale einfachere Lösungen des Problems versuchen. Denn es gibt keine Bemühungen, diese Art der Nicht-Kooperation zu verändern, vielmehr werden mit der Schulinspektion und Testverfahren Veränderungen auf intermediären Ebenen installiert. Der Staat umgeht gleichsam die antagonistische Kooperation, indem er dritte Akteure in das Governancespiel hinzunimmt, die dann die Qualität der Schule beobachten und indirekt beeinflussen sollen. Statt die Arbeitsorganisation der Lehrkräfte zusammen mit diesen Akteuren auf direktem Wege neu zu verhandeln, wird ein indirekter Weg über massiv verstärkte Beobachtungen gewählt. Nur davon verspricht man sich offensichtlich eine Beeinflussung der Schulen. Es handelt sich hierbei um eine „Externalisierung“ von Kontrollen (Altrichter/Heinrich 2006: 53). Die politischen und operativen Bemühungen gehen dahin, dass mit Bildungsstandards und Kompetenzbegriffen indirekt in den Zuständigkeitsbereich des Unterrichts eingegriffen wird, da flächendeckend der Leistungsstand der Schülern gemessen wird, die wiederum outputbezogene Folgeentscheidungen administrativer Art möglich machen. Aus Sicht der Lehrkräfte wird ihnen gleichsam das Endergebnis des Unterrichts aus den Händen genommen. Dies kann von der Profession symbolisch als gravierender Vertrauensentzug empfun-
„Schülerkompetenzen“ im Nadelöhr kollektiver Kompetenzen
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den werden. Mit den aktuellen Regelmechanismen der Governance wird also auf massive Veränderungen im Modus der Beobachtung und dann auch der indirekten Beeinflussung gesetzt, jedoch nicht auf Verhandlungen mit Lehrkräften und auf eine gemeinsame Verabredung von Leistungen – was dann sicher auch zu Fragen nach der Ressourcenausstattung der Arbeitsorganisation führen würde. 3.
Schluss
Mit Evaluationsdaten, die auf Kompetenzen der Schüler verweisen, werden Schulen und Lehrkräfte für zuständig erklärt, Konsequenzen zu ziehen – ohne dass, wie oben gezeigt, Politik und Verwaltung Voraussetzungen auf der Ebene der Arbeitsorganisation der Lehrkräfte schaffen. Stattdessen beauftragt die Politik neue dritte Instanzen der Evaluation, welche die Rechenschaftslegung der Schulen organisieren. Die Rechenschaftspflichtigkeit wird dabei mit den Evaluationsverfahren erst massiv erhöht. Und den Kernbegriff des neuen Regelkreislaufes bildet hierbei das Konzept der Schülerkompetenzen. Das erneuerte Governanceregime ist, wie angedeutet, radikal anders konstruiert, sofern von der Politik über den Kompetenzbegriff sozusagen ein direkter Link mit den Lernern (Schülern) errichtet ist und sich daran unmittelbar Folgeentscheidungen hinsichtlich einer Rechenschaftspflichtigkeit der Schulen und des Aufbaus von externen Evaluationsinstanzen anschließen. Widerstände gegen die Handlungswirksamkeit dieses institutionellen Umbaus liefert aber allein schon die bisherige Arbeitsorganisation der Lehrkräfte, die nicht angetastet wird und die den Lehrkräften eigene Relevanzen faktisch erlaubt (was u.a. innerhalb eines Prinzipal-Agenten-Modells erklärt werden kann). Die neue „Leitwährung“ Kompetenz und der angefügte institutionelle Umbau beziehen sich also auf Neben- oder Sekundärsysteme, die an der bisherigen Vorherrschaft der Lehrkräfte vorbei errichtet werden – weil sich die Politik auf direktem Wege nicht traut, die in ihrer Hoheit liegenden Arbeitsorganisationen so umzugestalten, wie sie es eigentlich für richtig hält. Die Freiheitsversprechen, die ein Kompetenzbegriff, würde man als Bezugspunkt eine Person zu Grunde legen, enthalten mag, beinhalten in der Akteurkonstellation die radikale Abwertung all derjenigen, die versuchen, sich außerhalb des Evaluationskreislaufes zu stellen. Ob jedoch die „alte“ Principal-Agenten-Konstellation durch ganz andere, gleichsam seitwärtige Bewegungen wie z.B. Intensivierung von Wissenschaftlichkeit und Organisationsgrad über- bzw. unterspült werden kann, ist eine empirisch zu klärende Frage. Deutlich ist jedoch, dass die bestehende Hoffnung auf eine erhöhte Problemlösefähigkeit der verschiedenen Systembereiche, sprich die Hoffnung auf erhöhte kollektive Kompetenz, sich allein am antagonistischen
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Modus der Akteurkonstellation zwischen Bildungspolitik und Lehrkräften bricht.
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Orientierung
Kompetenz als Qualität sozialen Handelns Michaela Pfadenhauer
Von ‚Kompetenz‘ ist derzeit gerade in wissenschaftlichen Kontexten viel die Rede.1 Gerade auch in der Bildungspolitik sowohl auf nationaler als auch auf übernationaler Ebene wurde die von Rolf Arnold (1997) so bezeichnete „kompetenzorientierte Wende“ in einem Ausmaß (mit-)vollzogen, dass kaum noch vorstellbar ist, wie hier bislang ohne diese Vokabel auszukommen war. Die vielerorts bereits thematisierte Konjunktur des Kompetenzbegriffs geht mit einer massiven Verdrängung herkömmlicher Begrifflichkeiten einher: Wo bislang von „Qualifikation“, von „Lernziel“, ja: von „Bildung“ die Rede war, scheint „Kompetenz“, wo bislang von Wissenserwerb die Rede war, scheint – bis hin zu Lehrstuhldenominationen – „Kompetenzerwerb“, wo bisher von „Lernen“ die Rede war, scheint „Kompetenzentwicklung“, und wo bis anhin von Aus-, Fort und Weiterbildung die Rede war, scheint „Kompetenzvermittlung“ der treffendere, ausdrucksstärkere oder schlicht der modischere Terminus zu sein. Substanzlosigkeit bzw. Inhaltsleere und Willfährigkeit in der Hingabe an den Zeitgeist ist eine relativ gemäßigte Einrede, mit der diese semantische Verschiebung in Intellektuellenkreisen kommentiert wird; Naivität hinsichtlich der Wirkungsmacht dieser neuen „Diskursformation“ lautet ein bereits schärfer vorgetragenes Argument, und die Unterstellung strategischen Kalküls einer neuen Kontroll- und Überwachungs-Elite ist eine in alarmierender Absicht geäußerte Warnung, die gegen diese (nicht nur begriffliche) Transformation des Bildungswesens ins Feld geführt wird. Die emotionalen Reaktionen, welche die Begriffsverwendung in akademischen Kreisen außerhalb der empirischen Bildungsforschung inzwischen hervorruft und gegen die sich diejenigen, die den Begriff mehr oder weniger unbedarft in den Mund nehmen, mitunter dadurch zu wappnen versuchen, dass sie ihn mit
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Diese Rede wird zwar keineswegs nur, aber nicht zum wenigsten in dem aus der Zusammenlegung der Universität Karlsruhe und des Forschungszentrums Karlsruhe entstandenen Karlsruher Institut für Technologie (KIT) geführt, dessen Forschungsaktivitäten derzeit zur Profilierung in einem hierarchischen Aufbau von Kompetenzzentren, Kompetenzschwerpunkten, Kompetenzbereichen und Kompetenzfeldern gebündelt werden und das mit seinem „House of Competence“ (HoC) über eine zentrale Einrichtung zur Koordination des in immer mehr akkreditierten Studiengängen verbindlich festgeschriebenen „außer- und überfachlichen Lehrangebots“, d.h. zur Schlüsselqualifizierung des studentischen Klientels verfügt.
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der Schutzvokabel ‚neudeutsch‘ versehen, zeigen deutlich an, dass das Modewort ‚Kompetenz‘ zwischenzeitlich zu einem Reizwort avanciert ist. Auch wenn es durchaus reizvoll wäre, der Frage nachzugehen, ob diese Gereiztheit nun der Unschärfe des Begriffs geschuldet ist, die in der einschlägigen Literatur nachgerade durchgängig bemängelt wird, oder ob damit ein genereller Unmut zum Ausdruck gebracht wird, der sich gegen Entwicklungen im Bildungssystem richtet, die mit Schlagworten wie Bologna-Prozess, PISA, Bildungsnotstand, Evaluation usw. verbunden sind, werde ich im folgenden nicht dem Impuls nachgeben, ein wenig Küchenpsychologie zur Frage zu betreiben, welcher wunde Punkt in der Intellektuellenseele damit berührt sein könnte. Mit den nachfolgenden Ausführungen wird vielmehr allen (auch den in diesem Band versammelten) Kritikern Recht gegeben, denen zufolge mit dem, was ‚Kompetenz‘ bezeichnet, kein neuer Sachverhalt beschrieben wird. Allerdings werde ich dabei – unter Verzicht auf die Häme, mit der der Begriff (und mitunter auch seine Verwender) mancherorts (nicht aber in diesem Band) überzogen werden –, zugleich auch die These vertreten, dass das, was damit bezeichnet wird, ‚heutzutage‘ offenbar zur Sprache gebracht werden will. Mit einer Klärung der unterschiedlichen Begriffsbedeutungen wird zunächst die Leerstelle markiert, die ein genuin soziologisches Kompetenzverständnis zu füllen vermag (1). Gegenüber den gängigen Kompetenzklassifikationen wird im Weiteren am Beispiel der Kompetenz zum Organisieren skizzenhaft aufgezeigt, wie sich diese Kompetenz aus der subjektiven Perspektive darstellt (2). Anhand dieser Ausprägung wird schließlich die These formuliert, dass die Frage nach „Kompetenz“ unter Bedingungen, die derzeit insbesondere unter dem Label „Wissensgesellschaft“ zu fassen versucht werden, zur SelbstVergewisserung des situationsbezogenen Problemlösungsvermögens dienlich ist, über das man tatsächlich verfügt bzw. dessen man selber habhaft werden kann (3). Der Beitrag schließt mit ersten Überlegungen zu einem Programm einer genuin soziologischen Kompetenzforschung. 1.
Äquivokationen des Kompetenzbegriffs
Alltagssprachlich lassen sich mindestens zwei Konnotationen von ‚Kompetenz‘ unterscheiden: Gemeint ist damit zum einen Zuständigkeit bzw. Befugnis – auch im politisch-juristischen Sinne, wenn Bildung hierzulande beispielsweise als Länderkompetenz ausgewiesen wird. Zum anderen konnotiert ‚Kompetenz‘ Fähigkeit bzw. Befähigung. Diesem zweiten Begriffsverständnis zufolge meint ‚Kompetenz‘ im engeren Sinne die Befähigung zur Bewältigung unterschiedlicher Anforderungssituationen, im weiteren Verstande das Ensemble aller „Fähigkeiten, Wissensbestände und Denkmethoden (…), die ein Mensch in seinem
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Leben erwirbt und betätigt“ (Weinberg 1996: 213). Nicht durchgesetzt hat sich die der juristischen Diktion entlehnte dichotome Unterscheidung einer eine übertragene Zuständigkeit intendierenden formalen Kompetenz gegenüber einer erworbene Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten konnotierenden materialen Kompetenz (vgl. Bunk 1994). Das Interesse der so genannten „Empirischen Bildungsforschung“ fokussiert vielmehr ausschließlich auf den Fähigkeitsaspekt, während Zuständigkeit, Befugnis und auch die ursprüngliche Konnotation von Wettbewerb, auf die Odo Marquard (1981) hinweist, und damit der soziale Aspekt von Kompetenz, den es neben dem subjektiven Gehalt zu berücksichtigen gilt, zwischenzeitlich weitgehend aus dem Blickfeld der Kompetenzdebatte geraten sind – vermutlich nicht zuletzt auch deshalb, weil sich Soziologen bei dieser bzw. zu dieser bislang sehr zurückgehalten haben. 1.1 Kompetenz in der Empirischen Bildungsforschung Auch wenn die bildungspolitisch evozierte Empirische Bildungsforschung als multidisziplinäres Forschungsprogramm angelegt ist, wird der damit verbundene Kompetenzdiskurs maßgeblich von zwei Disziplinen – der Erziehungswissenschaft (hier vor allem von der Berufs- und Wirtschaftspädagogik, aber auch der Erwachsenenpädagogik) und der Psychologie (und hier vor allem in der pädagogischen und der differenziellen Psychologie) – geführt.2 In der (deutschsprachigen) Erziehungswissenschaft dominiert ein weites Kompetenzverständnis, das im Hinblick auf eine umfassende Handlungsfähigkeit und Mündigkeit nicht nur kognitive, sondern auch affektuelle und motivationale Komponenten einbezieht und das, dieser pädagogischen Zielsetzung Rechnung tragend, einem geplanten Berufsbildungs-PISA zugrunde gelegt wird (vgl. Achtenhagen/Winther 2008, Baethge et al. 2006). In der (Berufs- und Erwachsenen-)Pädagogik hat sich der Kompetenzbegriff gerade aufgrund seiner Offenheit und Breite seit den 1970er Jahren durchgesetzt, da er den alten Disput über das Verhältnis von allgemeiner und beruflicher Bildung zu umgehen versprach.3 Die Verlagerung der einschlägigen Semantiken auf den Kompetenzbegriff versprach einerseits, die – jedenfalls unterstellte – enge Beschränkung auf kognitive Aspekte der (Berufs-)Bildung und
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Auch wenn in die bildungspolitischen Großprojekte ebenso wie in die großen Forschungsprogramme immer auch Soziologen eingebunden sind, werden erst in jüngerer Zeit Versuche unternommen, dezidiert soziologische Beiträge zur Kompetenzforschung zu bündeln. Der vorliegende Band ist eine solche Maßnahme, auf dessen Grundlage der Austausch mit Kompetenzforschern anderer Disziplinen vorangetrieben werden soll. „‚Kompetenz‘ ist nicht nur in Deutschland einer der meist diskutierten Zielbegriffe der Ausund Weiterbildung. Auch auf internationaler Ebene bestimmt die Debatte um competencies, compétences oder competencias den aktuellen Stand der Auseinandersetzung um Qualifizierungsziele in der beruflichen Bildung“ (Clement 2002: 29).
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eine allzu eng gefasste Vermittlung von Fertigkeiten im Hinblick auf den je unmittelbaren (Berufs-)Tätigkeitsbezug in der beruflichen Aus-, Fort und Weiterbildung in Richtung auf eine ganzheitliche, die gesamte Persönlichkeit umfassende Kompetenzentwicklung aufzuheben. Andererseits wurde vor dem Hintergrund der Diagnose einer individualisierungsbedingten Erosion des Berufsprinzips die Frage gestellt, inwieweit der „homo competens“4 – in dem Maße, in dem er nicht mehr einen Beruf ‚habe‘, sondern über eine sich aus wechselnden Kontexten seiner Bildungsgänge und seiner beruflichen Erfahrungen amalgamierende „Kompetenz-Collage“ (Arnold 2002: 23) verfüge – mit den ihm biographisch ‚zugewachsenen‘ Wissensbeständen und Fähigkeiten zu (in welcher Hinsicht auch immer) adäquatem Handeln in seinen zunehmend wechselnden Arbeitskontexten in der Lage sei. In der auf kognitive Leistungsdimensionen ausgerichteten (Differenziellen) Psychologie ist demgegenüber ein engeres Verständnis von Kompetenz als „Befähigung (Disposition) zur Bewältigung unterschiedlicher Anforderungssituationen“ aufzufinden (Jude/Klieme 2008), das 2007 im DFG-Schwerpunktprogramm „Kompetenzmodelle zur Erfassung individueller Lernergebnisse und zur Bilanzierung von Bildungsprozessen“ aufgegriffen worden ist. Kompetenzen werden hier – in Abgrenzung zur für die Intelligenzdiagnostik symptomatischen Dekontextualisierung5 – definiert als „erlernbare kontextspezifische Leistungsdispositionen, die sich funktional auf Situationen und Anforderungen in bestimmten Domänen beziehen“ (Klieme/Hartig 2007: 14). Hier wird Kompetenz („competency“) – in Abgrenzung von „ability“ als einem angeborenen Potential zum Kompetenzerwerb einerseits und „expertise“ als Steigerungsform von Kompetenz andererseits6 – also, allerdings in einem funktionalen Verstande, auf konkrete Aufgabenstellungen bezogen, wobei die durch den Erwerb spezialisierten Wissens angeeignete Befähigung zur Aufgabenbewältigung (nicht nur7) diesem Verständnis nach im Hinblick auf die Bewältigung der do-
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Der „homo competens“ zeichne sich – im Unterschied zum nutzenmaximierenden „homo oeconomicus“ – dadurch aus, dass sein Verhalten von der „Bereicherung seines ‚Bestandes an Kompetenzen‘ motiviert sein dürfte“ (Alaluf/Stroobants 1994: 54). Die Betonung des Umweltbezugs (vgl. White 1959), des Situationsbezugs (vgl. Bandura 1990) bzw. der Kontextspezifität (vgl. Weiner 2001) von Kompetenzen hat eine lange Tradition in (Teilen) der Psychologie. „Ability can be defined as one’s potential for learning knowledge that supports cognitive performance. (…) Competency can be defined as the specialised knowledge one has acquired that support cognitive performance, and expertise is a very high level of competency“(Meyer 2003: 265) Gerade auch die wirtschaftspädagogische Kompetenzliteratur ist durch Modellierung und Messung gekennzeichnet. Nicht zuletzt infolge der Aufnahme der Kompetenzthematik hat die zur empirischen Erziehungswissenschaft mutierte Pädagogik einen erheblichen Quantifizierungsschub erfahren.
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mänenspezifisch gestellten Aufgaben psychometrisch modelliert und gemessen werden kann. 1.2 Kompetenz als iteratives Problemlösungsvermögen Der folgende Definitionsvorschlag greift einerseits den Problembezug von Kompetenz und damit gleichsam den pragmatischen, nicht aber den funktionalen Bezug einer von außen, d.h. objektiv definierten Anforderung auf, und ist zugleich weit gefasst, will Kompetenz also nicht auf Fähigkeit, und schon gar nicht auf die kognitive Dimension beschränkt wissen. Denn ein Verständnis von Kompetenz lediglich im Verstande der Befähigung zur Lösung eines (wie auch immer gearteten) Problems ist im Hinblick auf problemlösendes Handeln zu eng angelegt.8 Denn Befähigung auf der Basis von aus eigener Erfahrung gewonnenem und sozial vermitteltem sedimentiertem (Rezept-, Routine- und explizitem) Wissens ist lediglich eine Voraussetzung dafür, ein Problem wiederholbar zu bewältigen. In einem handlungsbezogenen Sinn kann von Kompetenz erst dann gesprochen werden, wenn zur Befähigung die Bereitschaft hinzu tritt, ein (warum auch immer) vorliegendes Problem zu bewältigen. Dieses Kompetenzverständnis klingt, allerdings noch unterkomplex, an in der Definition von Partizipationskompetenz „als Summe der Fähigkeiten zu partizipativem Handeln und des Willens, diese Fähigkeiten in konkreten Handlungsvollzügen zu (re-)aktivieren, mithin die Befähigung und die Motivation sich zu beteiligen“ (Greifenstein et al. 1990: 15). In diesem, an mikropolitischen Machtspielen in der Verwaltung interessierten Bestimmungskontext wird zum einen Fähigkeit, zum anderen Motivation – hier: zur Teilnahme an Entscheidungsprozessen – als Kriterium für Kompetenz ausgewiesen. Für kompetentes Handeln bedarf es einer durch Relevanzen und Interessen bedingten Motivation, die insofern über die gewöhnliche Handlungsmotivation, den Entwurf in die Tat umzusetzen, hinausgeht, als hierfür eine analytisch-synthethische Haltung zur Problemdurchdringung erforderlich ist, die nicht naturgegeben ist, sondern ‚künstlich‘ eingenommen werden muss. Kompetenz impliziert aber nicht nur die Befähigung und die Bereitschaft zur Problemlösung. Der Begriff „verweist darüber hinaus auf die Frage der Zuständigkeit und auf die Annahme, dass Kompetenz sich in einer entsprechend der erwarteten Standards geleisteten Tätigkeitsdurchführung zeigt“ (Hof 2002: 158). Kompetenz wird hier als „situationsbezogene Handlungsfähigkeit“ (ebd.) konkretisiert. Überdies klingt dabei an, dass Kompetenz als soziale Zuschreibung zu begreifen ist, die im Rekurs darauf vorgenommen wird, dass sich als
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Vgl. hierzu auch Klieme/Hartig 2007, denen zufolge sich eine solche Einschränkung nur forschungsstrategisch, d.h. im Hinblick auf eine Operationalisierung von Kompetenz zu Zwecken der Modellierung und Messung rechtfertigen lässt.
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kompetent beobachtetes Verhalten als (impliziten) Erwartungen oder (expliziten) Standards entsprechend erweist. Dem Problem der Zuschreibung hat sich – sehr grundlegend, nämlich im Hinblick auf seine handlungskonstitutive Bedeutung – Ingo Schulz-Schaeffer (2007) gewidmet. Handlungskonstitution durch Zuschreibung ist ihm zufolge als zweite Form der Konstitution von Ereignissen als Handlungen zu verstehen, die als „eigenständige Interpretationsleistung“ (14) „zu der Handlungskonstitution durch den Handelnden entweder ergänzend hinzutreten, mit ihr konkurrieren oder auch die einzige Form der Konstitution des fraglichen Ereignisses als Handlung sein“ [kann].9 Zuständigkeit ist also nicht einfach als Zuschreibung von außen („für zuständig erachtet werden“)10, sondern – im Sinne von ‚sich zuständig wähnen‘ – als ein in handlungstheoretischer Hinsicht komplex entstehender subjektiver Anspruch zu begreifen: Hier geht es um die Wahrnehmung einer Handlungssituation als einer, die mich tangiert, die mich etwas angeht, aber nicht nur aufgrund meiner individuellen Motivation, sondern aufgrund der (auch für mich) geltenden bzw. gültigen Interaktionsordnung (vgl. Goffman 2001). In beiderlei Hinsicht konnotiert der Begriff Kompetenz also „Verantwortlichkeit“. Im ersten Fall ist der Akteur gegenüber jemandem verantwortlich, nämlich dem gegenüber, der ihn für etwas verantwortlich macht. Im zweiten Fall ist der bzw. wähnt sich der Akteur für das verantwortlich, was er tut bzw. tat (vgl. Schütz 1972: 256). Die reziproke, langdauernde und Situationen überschreitende Zuschreibung von Verantwortung ist Thomas Luckmann (2007) zufolge ein Ergebnis der Individualisierung (bzw. Individuierung) sozialer Beziehungen im Zuge der Evolution und Ontogenese. Demnach beinhaltet der Kompetenzbegriff also erstens die Komponente der Befähigung, zweitens die Komponente der Bereitschaft und drittens – im Kompetenzdiskurs eher selten thematisiert – die Komponente der Zuständigkeit. Kompetent ist ein Akteur also weder dann, wenn er befähigt und bereit, aber
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Handlungstheoretisch geht es hierbei um die Frage, wie ein Verhalten bzw. ein Ereignis von anderen als Handeln gedeutet wird. Phänomenologisch informiert wird diese Frage mit der Unterscheidung von ursprünglicher und abgeleiteter Konstitution von Handlungssinn, d.h. dahingehend beantwortet, dass der Handlungssinn, der Ereignissen bzw. Verhaltensweisen zugeschrieben wird, von dem Sinn abgeleitet wird, den der Handelnde seinem Handeln zuschreibt. Schulz-Schaeffer zufolge verliert der subjektiv gemeinte Handlungssinn mit zunehmender Mittelbarkeit an Bedeutung für die Handlungsdeutung. Aber auch für die subjektive Konstitution von Handlungssinn ist ihm zufolge Handlungszuschreibung konstitutiv. Die „Vorgegebenheit intersubjektiver, insbesondere gesellschaftlich objektivierter Typisierungen“ ist demnach „die konstitutive Bedingung der Möglichkeit, mit Handlungen auf Handlungen (d.h. auf als Handlungen gedeutete Ereignisse) reagieren zu können“ (Schulz-Schaeffer 2007: 135). Diese enge Vorstellung von Zuständigkeit liegt der Unterscheidung von formaler und materialer Kompetenz bzw. der systemtheoretischen Unterscheidung von Kompetenz qua Amt und Kompetenz qua Wissen (vgl. die Beiträge von Stefan Kühl und Thomas Klatetzki in diesem Band) zugrunde.
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nicht dafür zuständig ist, ein Problem zu bearbeiten, noch dann, wenn er befähigt und zuständig, aber nicht bereit ist, dies zu tun, noch dann, wenn er bereit und zuständig, aber zu einer Problemlösung nicht befähigt ist. Erst das Zusammenwirken aller drei Komponenten ist – bereits Odo Marquard (1981: 24) zufolge – als Kompetenz zu begreifen: "Kompetenz hat offenbar irgendwie zu tun mit Zuständigkeit und mit Fähigkeit und mit Bereitschaft und damit, dass Zuständigkeit, Fähigkeit und Bereitschaft sich in Deckung befinden." Kompetenz ist als das – die Tätigkeitsmodifikationen Können, Wollen und Dürfen bzw. Müssen umfassende11 – Vermögen zur iterativen Problemlösung zu begreifen. In der Berücksichtigung dieser drei Komponenten geht der hier gemeinte Begriff des Problemlösungsvermögens als Synonym für Kompetenz über das Aristotelische Verständnis von Vermögen als einer „aktiven Potenz“ hinaus, da in diesem ebenfalls der soziale Aspekt ausgeblendet ist.12 Kompetenz ist als ein Problemlösungsvermögen zu begreifen, über das ein Akteur nicht nur situativ ‚verfügt‘, sondern das ihm ‚gehört‘, das er sozusagen habituell besitzt13 bzw. das ihm sogar inkorporiert zuhanden ist, und das von ihm bewahrt, gepflegt und ausgebaut werden kann. Dieses ‚Vermögen‘ kann vielseitig, d.h. zur Lösung unterschiedlicher Probleme und unterschiedlicher Arten von Problemen ‚abgerufen‘ und eingesetzt werden. Es versetzt den Akteur in die Lage, Probleme nicht nur zufällig, sondern absichtsvoll, nicht nur ‚irgendwie‘, sondern systematisch, nicht nur einmalig, sondern wiederholt zu bewältigen.14
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Insofern ist die am 2. Januar 2009 in der FAZ notierte, aus der für Jürgen Kaube bekannt spitzen Feder geflossene Bemerkung, Kompetenz sei „inzwischen als betriebswirtschaftlicherziehungswissenschaftlicher Doppelbalg zum geschwollenen Ersatzbegriff für ‚Können‘ geworden“ zwar unterhaltsam, aber unterkomplex. Nach Kant lassen sich alle Vermögen des menschlichen Gemüts ohne Ausnahme auf das Erkenntnisvermögen, das Gefühl der Lust und Unlust und das Begehrungsvermögen zurückführen. Eine gewisse Nähe dieses Kompetenzbegriffs zum Bourdieuschen Kapitalbegriff ist nicht von der Hand zu weisen. Allerdings teile (auch) ich nicht Bourdieus (1987: 730) Auffassung, dass die Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata alltäglicher sozialer Praxis „aus der objektiven Trennung von ‚Klassen‘ hervorgegangen“ sind und „jenseits von Bewußtsein und diskursivem Denken“ wirken. Diese Wiederholbarkeit ist nicht identisch mit, sondern sie beruht auf der von Alfred Schütz von Edmund Husserl übernommenen zweiten lebensweltlichen Idealität des „Ich kann immer wieder“. In den „Strukturen der Lebenswelt“ wird diese selbstverständliche Handlungsannahme nicht nur in Hinsicht auf die zeitliche Reichweite, sondern auch in ihrer biographischen Dimension beschrieben: „Zu der Erfahrung des Älterwerdens gehört vor allem, dass man bemerkt, wie sich die Grenzen der ‚Vermöglichkeit‘ verschieben. Zunächst erweitern sich die Grenzen sprunghaft; dann halten sie sich auf einem gewissen Niveau ohne erhebliche Veränderung; früher oder später beginnen sie zu schrumpfen (Schütz/Luckmann 2003: 481). Allerdings weisen die Autoren in diesem Zusammenhang dezidiert auf die „technologische“ Unterstützbarkeit dieser „Vermöglichkeit“ hin: „Es macht für den Aufbau von Handlungsentwürfen selbstverständlich einen Unterschied, ob man dem nachlassenden Gedächtnis schriftkundig mit Notizen nachhelfen kann oder nicht …“ (Schütz/Luckmann 2003: 482). Dies gilt nahe
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Die (Wieder-)Aufnahme von Zuständigkeit in die Bestimmung des Kompetenzbegriffs ist ein Versuch (unter anderen), die soziale Dimension von Kompetenz wieder stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken. Der soziale oder auch kulturelle Bezug war mit dem (hier noch normativ verstandenen) Konzept der Akzeptabilität15 bereits im linguistischen Kompetenzbegriff angelegt, und wird in allen Bestimmungsversuchen kommunikativer Kompetenz mit der Betonung der situativen Angemessenheit von verbalen und nonverbalen Äußerungen pointiert, wobei nicht mehr eine normative Setzung, sondern der realzeitliche Bezug von Performance, d.h. der Bezug zur Situation mit den hier jeweils geltenden Regeln bzw. ihrer (Interaktions-)Ordnung impliziert ist.16 Schließlich sind auch die Bestimmungsversuche von Kompetenzdarstellung, die irrtümlicherweise häufig als Falschdarstellung, als „Posen“ bzw. als strategische Verschleierungstaktik von ‚eigentlicher‘ Inkompetenz interpretiert werden17, dahingehend auf den Aspekt des Sozialen gerichtet, als Kompetenz hier – dezidiert aus subjektiver Perspektive – als ein Phänomen der Ko-Präsenz betrachtet wird (vgl. dazu Hitzler 1991 und 1998, Pfadenhauer 1999 und 2003).
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liegender weise nicht nur für den Aufschub des Verfalls, sondern grundsätzlich für die Entfaltung von problembezogenem Handlungsvermögen, also für Kompetenz im hier gemeinten Sinn. Als ‚akzeptabel‘ gelten Äußerungen, die „völlig natürlich und unmittelbar verständlich sind“, die also in keiner Weise „bizarr oder fremdartig klingen“ (Chomsky 1969: 22f). Der ideale bzw. idealisierte Sprecher-Hörer, der hier unterstellt wird, lebt in einer homogenen Sprachgemeinschaft, kennt seine Sprache ausgezeichnet und ist bei der Anwendung seiner Sprachkenntnis in der aktuellen Rede nicht von grammatisch irrelevanten Bedingungen wie begrenztes Gedächtnis, Zerstreutheit und Verwirrung, Verschiebung in der Aufmerksamkeit und im Interesse sowie von (zufälligen oder typischen) Fehlern affiziert (vgl. Chomsky 1969: 13). Der seiner Sprache mächtige Sprecher-Hörer gilt dementsprechend als Träger von Kompetenz. Vgl. zu Performanz den Beitrag von Hubert Knoblauch, zu kommunikativer Kompetenz den Beitrag von Jo Reichertz in diesem Band. Vgl. zu weiteren Perspektiven auf das Soziale die Beiträge von Achim Brosziewski und Rainer Schützeichel in diesem Band: während ‚Kompetenz‘ Brosziewski zufolge eine Selbstbeschreibungsfunktion des Erziehungssystems zukommt, betont Schützeichel das „Desiderat einer Soziologie des Könnens“ und bestimmt Expertise, die nur im Modus impliziten Wissens möglich sei, als hierfür spezifische Wissensform. Vgl. zu einer dergestalt kritischen, das Phänomen der Kompetenzdarstellung als „mitgeteilte Kompetenz“ interpretierenden und insbesondere mit Blick auf Professionsangehörige problematisierenden Auseinandersetzung mit inszenierungstheoretischen Ansätzen den Beitrag von Stefan Kühl in diesem Band.
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Die Vielschichtigkeit von Kompetenz
Komposita wie Sozialkompetenz, Medienkompetenz. Organisationskompetenz u.v.a.m. weisen darauf hin, dass es sich bei Kompetenz um ein vielschichtiges Phänomen handelt. Den Oberbegriff bildet dabei in der Regel Handlungskompetenz, welche als ein Konstrukt verstanden wird, das aus einer Reihe von Teilkompetenzen zusammengesetzt ist. Anspruch aller Kompetenz-Klassifikationen, von denen im Folgenden die drei bekanntesten kurz skizziert werden, ist es, den gesamten Handlungsbereich abzudecken. Diesem Anspruch entsprechend sollten die Grundtypen zugleich so ausdifferenziert sein, dass sich verschiedene Handlungen als Elemente der Performanz möglichst eindeutig auf einen von ihnen zurückführen lassen (vgl. Heursen 1989: 880). 2.1 Mehrdimensionale Kompetenzkonzepte 1.
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Im viel zitierten, in der PISA-Konzeption18 wieder aufgegriffenen Klassifikationsversuch von Heinrich Roth (1971: 180)19 wird Kompetenz entsprechend den grundlegenden Objektbereichen der Erfahrung – Sachen, andere Menschen und das eigene Selbst – in Sach-, Sozial- und Selbstkompetenz zerlegt: „Selbstkompetenz“ meint dabei die „Fähigkeit, für sich selbst verantwortlich handeln zu können“, „Sachkompetenz“, die „Fähigkeit, für Sachbereiche urteils- und handlungsfähig und damit zuständig sein zu können“, und „Sozialkompetenz“ die „Fähigkeit, für sozial, gesellschaftlich und politisch relevante Sach- oder Sozialbereiche urteils- und handlungsfähig und also ebenfalls zuständig sein zu können“. Neben der deskriptiven Vagheit und normativen Ausrichtung fällt bei dieser Klassifizierung vor allem auf, dass dem Aspekt der Sprache bzw. des Sprechens, der für die auf Chomsky rekurrierenden Kompetenzentwürfe zentral ist, keine besondere Bedeutung zugewiesen wird. Anders verhält es sich bei der von Jürgen Habermas (1984; erstmalig bereits 1971) vorgelegten, an den Dimensionen der menschlichen Entwicklung orientierten Unterscheidung einer kognitiven, sprachlichen und interaktiven Kompetenz. Im Zuge seiner Vorarbeiten zu einer Theorie kommu-
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Begründet wird diese Bezugnahme damit, dass Interagieren in sozial heterogenen Gruppen, selbständiges Handeln und der interaktive Einsatz von „Sachen“ (tools) als die drei zentralen Handlungsanforderungen unterschieden werden, deren Bewältigung entsprechende Kompetenzen, also eben Sozial-, Selbst- und Sachkompetenz erfordern (vgl. Rychen/Salgalnik 2003: 83). Auf den weitaus weniger rezipierten, nicht normativ gemeinten Vorschlag des Erziehungswissenschaftlers Wolfgang Brezinka (1987), „Tüchtigkeit“ alternativ zu „Mündigkeit“ als Ziel von Erziehung zu begreifen, weisen Klieme und Hartig (2007: 27, Anmerkung 4) hin.
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nikativen Handelns hat Habermas den linguistischen Kompetenzbegriff Chomskys und das entwicklungspsychologische Kompetenzkonzept Piagets insofern erweitert, als sich sein Interesse weder (nur) auf das sprachfähige, noch (nur) auf das erkenntnisfähige, sondern (überdies bzw. letztendlich) auf das handlungsfähige Subjekt richtet. Kompetenzen bilden sich demnach nicht nur in einer adaptiven, sondern in einer konstruktiven Auseinandersetzung des Subjekts mit seiner Umwelt heraus, wobei diese in drei ‚Regionen‘ – äußere Natur, Sprache und Gesellschaft – zu differenzieren sei: „Die kognitive Kompetenz bildet sich im manipulativen Umgang mit Objekten der äußeren Natur, interaktive und sprachliche Kompetenzen bilden sich im Umgang mit kommunikativen vergesellschafteten Subjekten und deren Äußerungen“ (Habermas 1984: 194). Dieser Auffassung zufolge konstituiert sich das Ich, d.h. „erfährt es sich in seiner Subjektivität“ in Vorgängen der Ich-Abgrenzung von der Objektivität der äußeren Natur, der Normativität der Gesellschaft und der Intersubjektivität der Sprache.20 Die Entwicklung sprachlicher Kompetenz lässt sich demnach als Ausbildung einer zugrunde liegenden Redestruktur begreifen, die Entwicklung kognitiver ebenso wie die Entwicklung interaktiver Kompetenz lässt sich als „Evolution eines jeweils zugrunde liegenden Handlungsschemas verstehen“ (Habermas 1984: 224). Wenngleich in beiden Fällen Handlungskoordinierungen interiorisiert werden, weisen die Handlungsschemata strukturelle Unterschiede – Prinzip der Logik und manipulativer Umgang mit der Umwelt hie, Prinzip der Moral und interaktiver Umgang mit der Umwelt da – auf. Denn: interaktives Handeln ist „motiviert, d.h. an der Erwartung einer symbolisch verallgemeinerten Gratifikation bzw. an der Vermeidung des Gratifikationsentzugs orientiert, und es ist auf die Intentionen eines Anderen bezogen“ (Habermas 1984: 218). Gegenüber dieser in Teilen der Schul- und Bildungsforschung aufgegriffenen Differenzierung einer kognitiven, sprachlichen und interaktiven Dimension (vgl. Krüger/Lersch 1993), wird in der Kompetenzforschung, wie sie von der Berliner Arbeitsgemeinschaft Qualifikations-EntwicklungsManagement (QUEM) betrieben wird, geistiges, instrumentelles, kommunikatives und reflexives Handeln unterschieden und jeder dieser Handlungsformen jeweils eine Kompetenzausprägung als Disposition zugeord-
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Das bedeutet: In der Erfahrung, dass jeder andere ‚in meiner Lage‘ dasselbe wahrnehmen, jeder andere ‚in meiner Lage‘ Institutionen und Werte ebenso anerkennen oder verwerfen, jeder andere ‚in meiner Lage‘ (also alle, die meine Sprache teilen) sie verstehen würde, erfahre ich mich als Subjekt. Diese unsere, von Alfred Schütz als „Generalthese der Reziprozität der Perspektiven“ bezeichnete Annahme basiert ihm zufolge auf den Idealisierungen der Vertauschbarkeit der Standpunkte und der Kongruenz der Relevanzsysteme (vgl. Schütz/Luckmann 2003: 99).
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net. Demnach erfordert geistig selbstorganisiertes Handeln Fachkompetenz, instrumentell selbstorganisiertes Handeln Methodenkompetenz, kommunikativ selbstorganisiertes Handeln Sozialkompetenz, reflexiv selbstorganisiertes Handeln personale Kompetenz und gesamtheitlich selbstorganisisertes Handeln schließlich Handlungskompetenz (vgl. Erpenbeck/Heyse 1999:157). Obwohl dieser Kompetenzkonzeption aus der betriebswirtschaftlichen Managementpraxis mangelnde wissenschaftliche Seriosität bescheinigt wird (vgl. Klieme/Hartig 2007: 23), ist diese, insbesondere die Ermöglichung von Kreativität betonende Auffächerung von Handlungskompetenz in Fachkompetenz, Methodenkompetenz, Sozialkompetenz und personale Kompetenz bzw. Reflexionskompetenz (vgl. Faulstich 1997: 165f) zwischenzeitlich weit verbreitet, häufig allerdings unter Ausblendung der systemischen, auf das Prinzip der ‚Selbstorganisation‘ abhebenden Anlage dieser Konzeption: Lernende (Personen wie Unternehmen) als „selbstorganisierende Systeme“ aufzufassen meint, eine spontane Bildung von Strukturen vielfältiger (physikalischer, chemischer, biotischer, nervaler, sozialer und geistiger) Art anzunehmen. Strukturen werden demnach durch innersystemische Zustände hervorgebracht, auf die von außen lediglich Energie- Materie- und Informationsflüsse einwirken. Volker Heyse und John Erpenbeck (1997: 29) zufolge meint Selbstorganisation schlicht „Strukturbildung von selbst“.21 Zur Erläuterung des „Prinzips der Selbstorganisation“ rekurrieren Erpenbeck/Heyse (1999: 48) auf die Chomskysche Unterscheidung von Kompetenz und Performanz22: „Das, was hier auf das Generieren, sprich Erzeugen sprachlicher Performanz bezogen wird, entsteht aus dem, was mit dem Prinzip der Selbstorganisation gemeint ist.“ In diesem Kompetenzverständnis wird auch die strukturtheoretische Auffassung geteilt, dass Kompetenzen „nicht direkt prüfbar, sondern nur aus der Realisierung der Dispositionen erschließbar und evaluierbar sind“ (Erpenbeck 1997: 311). Kompetenz sei demnach stets eine Form von Zuschreibung aufgrund eines Beobachterurteils: „Wir schreiben dem physisch und geistig selbstorganisiert Handelnden auf Grund bestimmter, beobachtbarer Verhaltensweisen
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Vgl. dazu auch Arnold (1996: 14): „Der Begriff Selbstorganisation kennzeichnet dabei die stochastische, strukturdeterminierte Tendenz von Systemen, Gleichgewichtszustände in einem autopoietischen Prozess hervorzubringen und ständig Restabilisierungen auf neuen Niveaus zu erreichen. Voraussetzung für eine realistische Konzipierung von und für einen angemessenen Umgang mit solchen komplexen Systemen ist ein vernetztes Denken in Zusammenhängen.“ „Kompetenz“ und „Performanz“ sind dieser linguistischen Tradition zufolge bekanntlich als Komplementärbegriffe zu begreifen. Kompetenz meint hier „das Befolgen von Regeln oder Gesetzmäßigkeiten der Kombinatorik auf der Basis einer kalkulierbaren Zahl von Elementen“, während unter Performanz „die konkrete Realisierung von Ausdrucksmitteln und Formen in einer bestimmten Situation durch individuelle Akzente“ zu verstehen ist, allerdings eben die „Realisierung systemisch angelegter (Tiefen-)Strukturen“ (Soeffner 2003: 663).
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bestimmte Dispositionen als Kompetenzen zu“ (Erpenbeck/von Rosenstiel 2003: XI). Demgegenüber ist in den mannigfaltigen Kompetenzmodellen, auf deren Basis in der Empirischen Bildungsforschung Kompetenzen gemessen werden, der Fokus auf das gerichtet, was im Anschluss an den linguistischen Kompetenzbegriff als „Performanz“ bezeichnet wird. 2.2 Kompetenz-Dimensionen des Projektmanagements Derlei Kompetenz-Klassifikationen bleiben nahe liegender Weise abstrakt, wenn sie nicht auf einen speziellen Handlungsfall bezogen werden. Konkretisiert an einer bestimmten Form des Handelns – dem Organisieren – werde ich im Folgenden der Frage nach der Vielschichtigkeit darauf bezogener Kompetenz nachgehen. ‚Organisieren‘ ist ein integraler Bestandteil vieler Berufe und damit zunehmend auch Gegenstand allgemeiner und beruflicher Weiterbildung – nicht nur in Veranstaltungen zum Zeitmanagement, zur Selbstorganisation usw., sondern auch in Kursen zur Projektorganisation bzw. zur Weiterqualifizierung mittels (international anerkannter) Kompetenzzertifikaten zum Projektmanager (GPM).23 Dementsprechend wird Organisationskompetenz – anders als bei den vorgenannten Differenzierungsvorschlägen – im Kompetenzprofil von Projektmanagern bzw. Projektleitern als eine eigene Kompetenzdimension neben drei weiteren – nämlich Grundlagenkompetenz, Methodenkompetenz und Sozialkompetenz – ausgewiesen: Als Grundlagenkompetenz wird hier die Fähigkeit etikettiert, das Spezialistenwissen anderer Beteiligter richtig einbeziehen zu können und ihre Sprache und Arbeitsweise so gut zu kennen, dass das Potenzial dieses Wissens maximal genutzt werden kann (vgl. Weeber u.a. 2001: 126). Der Projektleiter verfügt demnach nicht (notwendigerweise) über ein detailliertes Spezialistenwissen in den einzelnen Arbeitsgebieten, in denen Aufgaben zur Bewerkstelligung eines Vorhabens (oder von Teilen) zu bewältigen ist.24 Er ist vielmehr verantwortlich
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Der Stellenwert von Organisieren z.B. im Architektenberuf zeigt sich daran, dass auf Wunsch der Architektenschaft im Honorarsystem für Architekten § 31 HOAI die Leistung der Projektsteuerung festgeschrieben worden ist. Diese umfasse – über die Leistung der Generalplanung, d.h. „den fachübergreifenden Zusammenschluss aller zur Realisierung erforderlichen Planungsleistungen“ (Bremmer et al. 2000: 1403) hinaus – Organisations- und Beratungsleistungen in Übernahme der Management- und Kontrollfunktion des Bauherrn. Der Projektsteuerer berät demnach bei Methodenproblemen und beschafft Lösungen für Organisationsprobleme, worunter hier z.B. mangelhafte Leistungen von Vertragspartnern gerechnet werden. Dies bestätigen unsere Untersuchungen im Rahmen einer Fallstudie zum organisierenden Erhandeln von Events, konkret des Katholischen Weltjugendtags (vgl. Pfadenhauer 2008a): In der Schilderung der Projektleitung eines Bauvorhabens für die Abschlusskundgebung dieses von uns so bezeichneten Hybrid-Events (vgl. Forschungskonsortium WJT 2007) nimmt der Projektleiter keine Spezialistenkompetenz für sich in Anspruch, sondern weist in vielen Ein-
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dafür, den Kern von Problemen (und alternativen Lösungen), die ihm von Spezialisten vermittelt werden, rasch zu erfassen und auf Folgeprobleme zu hinterfragen, die das Problem (und seine möglichen Lösungen) in parallel laufenden oder nachfolgenden Abläufen erzeugen kann. Dies impliziert bereits, dass er einen Überblick über die gesamten Abläufe zur Realisierung des Vorhabens (entwickelt) hat: sowohl über die Positionierung einzelner Abläufe (vor, parallel zu oder nach anderen Abläufen) als auch über deren typische Dauer. Unter Methodenkompetenz wird die Fähigkeit von Projektleitern verstanden, „sowohl zur Umsetzung des relevanten Fachwissens als auch zur Problemlösung die geeigneten Hilfsmittel einzusetzen, so dass die Fachkompetenz organisatorisch sinnvoll, effektiv und im Sinne innovativer Weiterentwicklung genutzt wird. Dazu gehören z.B.: Konzeptionelle und analytische Fähigkeiten, vernetztes Denken, Präsentations- und Moderationstechniken und die Versiertheit im Projektmanagement“ (Hugo-Becker 2000: 72). Unter Sozialkompetenz wird im Kompetenzportfolio von Projektleitern insbesondere Durchsetzungsfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit und Motivationsfähigkeit im Kompetenzprofil von Projektleitern verortet. Generell gelten auch Teamfähigkeit, Kooperationsfähigkeit und Konfliktfähigkeit als wesentliche Facetten von Sozialkompetenz.25 Obwohl es sich hierbei um diejenige Kategorie handelt, die typischerweise und auch in diesem Fall relativ unspezifisch bestimmt wird, wird sie von Projektmanagement-Experten, d.h. in der eigenen Zunft, eindeutig als die wichtigste Kompetenzdimension von Projektmanagern bewertet: Wenngleich nicht ganz klar wird, was im einzelnen unter ‚Sozialkompetenz‘ verstanden werden soll, rangieren diese und andere ‚Soft Skills‘ dezidiert vor ‚harten‘ Kompetenzelementen wie etwa dem des Managements von Veränderungsprozessen und des Wissensmanagements.26
25 26
zelaspekten auf das Sonderwissen von Sachverständigen hin. Er sieht sich selber nicht zuständig für Detailfragen, beansprucht für sich aber eine Überblickskompetenz und damit die Zuständigkeit für das Wesentliche sowie die Fähigkeit, auch in Bezug auf Detailaspekte das Wesentliche erkennen zu können. Er formuliert sozusagen eine Generalistenkompetenz: er bespricht sich mit Sachverständigen bzw. Gutachtern (für Bodengeologie, für Landwirtschaft, für Umweltschutz usw.), er klärt Auflagen mit Behördenvertretern, er eruiert die Interessen der Bodeneigentümer, der Gemeinden, Anwohner, er sondiert die finanziellen und materiellen Leistungsangebote von Sponsoren usw. und sammelt dergestalt Expertisen, Vorgaben und Erwartungen ein, die er dann – gebündelt und versehen mit einer sachliche Empfehlung, die durchaus mehrere Alternativen enthalten kann und die sich vor allem durch ein Abwägen technischer mit kaufmännischen Aspekten auszeichnet – ‚seinem‘ Bauherrn, in diesem Fall: dem Geschäftsführer der Weltjugendtags GmbH, vorträgt und plausibilisiert. Vgl. aus pädagogischer Sicht die Beiträge in Pätzold/Walzik 2002 sowie kritisch dazu den Beitrag von Bernd Dewe in diesem Band; vgl. aus Sicht der Pädagogischen Psychologie Spinath/Spinath 2004. Dieses Ergebnis formuliert Seibert (2004: 4) als ein zentrales Resumée aus Expertenbefragungen zur Zukunft des Projektmanagements.
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Als vierte Dimension neben Grundlagenkompetenz, Sozialkompetenz und Methodenkompetenz wird in der Projektmanagement-Literatur schließlich Organisationskompetenz ausgewiesen. Diese Dimension wird hier häufig auch als effiziente Projektorganisation und effizientes Controlling bezeichnet, womit einerseits vor allem auf vorbereitende Maßnahmen wie die Ausdifferenzierung und zeitliche Anordnung von Arbeitsschritten, andererseits auf die Überwachung der Einhaltung dieser funktionalen und zeitlichen Ordnung abgehoben wird (vgl. www.projektmagazin.de).27 Während der Befähigung zum Organisieren im Kontext von Projektmanagement also eine eigenständige Bedeutung zugewiesen bekommt, wird ‚Organisationskompetenz‘ in der gängigen Differenzierung von Kompetenz in Fachkompetenz, Methodenkompetenz, Sozialkompetenz und Selbstkompetenz mitunter unter Methodenkompetenz subsumiert – „im Sinne einer strategisch geplanten und gezielten Umsetzung vorhandener Kenntnisse, Fertigkeiten und Verhaltensweisen (Organisationsfähigkeit, Problemlösungsverhalten, selbständiges Arbeiten, Zeitmanagement, Fähigkeit, vorhandenes Wissen auf neue Probleme anzuwenden, Fähigkeit, Wissenslücken zu erkennen und zu schließen, kritisches Denken, analytische Fähigkeiten)“ (vgl. Schaeper/Briedis 2003: 5). Im folgenden soll demgegenüber deutlich gemacht werden, dass es für kompetentes Organisieren eines umfassenden Vermögens bedarf, das die gesamte Facette von Handlungskompetenz impliziert. 2.3 Die Kompetenz zum Organisieren Gegenüber der sich an von außen gesetzten, an normativen Zielvorgaben orientierenden Auffächerung des Kompetenzprofils von Projektorganisatoren stellt sich das Kompetenzbündel von mit dem Organisieren eines Projekts befassten Akteuren aus deren Perspektive anders dar.28 Unternommen wird hiermit nicht
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In einem anderen Strang der Managementliteratur konnotiert ‚Organisationskompetenz‘ – analog zum Konzept des organisationalen Lernens in der systemtheoretisch orientierten Organisationssoziologie – die „Fähigkeit“ eines Unternehmens, „sowohl kurzfristige Transformationen als auch den langfristigen, organisationalen Wandel auf eine Art und Weise zu gestalten, die eine nachhaltige Unternehmensentwicklung erlaubt“ (Thom/Zaugg 2001: 5). – Vgl. zur kompetenten Organisation und damit zur Zuschreibung von Kompetenz an einen Kollektiv-Akteur den Beitrag von Thomas Klatetzki in diesem Band. Die hierfür zugrunde gelegte phänomenologische Methode zielt ab auf die Analyse des Erlebens bzw. des Erlebten statt auf die Analyse der sozial approbierten Deutungen (vgl. Pfadenhauer 2008b). Die Wahl dieser Methode begründet sich hier nicht etwa dadurch, an der subjektiven Perspektive festhalten zu wollen. Vielmehr geht es darum, der Begriffsarbeit das von Alfed Schütz (1971) formulierte Postulat der Adäquanz zugrunde zu legen, demzufolge die wissenschaftliche Typenbildung die Strukturen der alltäglichen Typenbildung berücksichtigen muss. Der konstruierte Begriff genügt nur dann allen Anforderungen an die Konstruktion objektiv gültiger Idealtypen menschlichen Handelns, wenn er im Rekurs auf die subjektive Per-
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nur ein Schwenk von einer Außen- zu einer Binnenperspektive, sondern zugleich, in der Abkehr von der Erwartungsformulierung an unter Kompetenzdruck gesetzte Bildungssubjekte, eine Hinwendung zur Beschreibung, wodurch – durch welche Erfahrungen, Motive und Dispositionen, Wissenselemente und Relevanzen, Problemstellungen und Problemlösungen – ihr Handeln für sich selber aufgrund gelingender Problembewältigung als kompetent erachtenden Akteure gekennzeichnet ist.29 Kompetent organisiert demnach, wer organisatorische Prozesse in ‚überschaubare‘ Aufgaben und (Teil-)Projekte zerlegt, diese in möglichst eindeutige Handlungsschritte gliedert, deren räumliche Anordnung und zeitliche Abfolge im Handlungsablauf festlegt und – weil es hier eben um das Organisieren des Handelns anderer geht – die Umsetzung bzw. Ausführung all dessen den jeweils relativ am besten ‚geeigneten‘ Akteuren zur Realisierung zuweist. Organisieren bedeutet dabei nicht, wie landläufig angenommen wird, die identifizierten Arbeiten selber zu erledigen. Es bedeutet stattdessen, das, was zu tun ist, sinnvoll einzuteilen, zu ordnen, zuzuweisen, die Durchführung zu überwachen und zu bewerten. Dazu setzen kompetente Organisatoren Verfahren und Techniken der Aufgabengliederung ein (von schlichten Aufgabenlisten, bis zur aufwändigen, weil voraussetzungsvollen Form der EDV-gestützten Netzplantechnik), die ihnen später auch helfen, den Überblick über die Details und das Gesamtgeschehen zu bewahren und die Einhaltung von Arbeits- und Zeitplänen zu kontrollieren und ggf. zu korrigieren. Diese Maßnahmen stellen die Voraussetzung für arbeitsteiligen Vollzug her. Denn damit ist das Handlungsproblem in Teilprobleme zerlegt, zu deren Bearbeitung einzelne Aufgaben ausgewiesen werden können, vereinfacht ausgedrückt: Es ist arbeitsteilig zergliedert. Kompetent organisiert sozial arbeitsteilige Projekte, wer möglichst klar und präzise festlegt, was von wem wann, wo und auf welche Weise zu bewerkstelligen ist, und wer mit dieser ‚Geschäftsordnung‘ eine verbindliche und verlässliche und zugleich gegenüber unbeabsichtigten Entwicklungen, Folgen und Nebenwirkungen flexible Grundlage für von anderen auszuführende Handlungen her- und bereitstellt. Kompetent organisierende Akteure rekurrieren dabei weniger auf Detailwissen über spezielle Vollzüge als auf eine Art Struktur- bzw. „Matrix“-Wissen, das sie (jederzeit) zu einem zügigen Vordringen zum Kern und zur (Ersatz-)Lösung von im Prozess auftauchenden Problemen befähigt –
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spektive gewonnen worden ist. Vgl. zur mit dieser Forderung einhergehenden Zuspitzung des Intersubjektivitätsproblems Schneider 2005: 275ff sowie grundlegend Eberle 1984 und Hitzler/Eberle 2000; vgl. zum Vorschlag einer methodologischen Objektivierung im Rekurs auf die Schützsche Unterscheidung einer Welt der Mitmenschen und einer Welt der Zeitgenossen und die darin implizierte Kritik an der Ethnographie Wing-Chung Ho 2008. Vgl. zur Idee einer dergestalt „erweiterten Kompetenzforschung“ den Beitrag von Reiner Keller in diesem Band.
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unter Absehung von hierfür nicht bzw. nur am Rande relevanten Details. Diese Bereitstellungsmaßnahmen stellen die Voraussetzungen für soziale Arbeitsteilung her. Kompetent organisiert soziale Arbeitsteilung, wer dafür zu sorgen vermag, dass die an der Projektrealisierung beteiligten Akteure jeweils das tun, was den Ziel-, Form- und Zeitvorgaben entsprechend von ihnen zu tun ist. Zur Steuerung und Lenkung der funktional gegliederten, zeitlich und räumlich (an-)geordneten und sozial ver- bzw. zugeteilten Aktivitäten in die durch (interaktiv ausgehandelte) Zielsetzungen vorgegebene Richtung rekurriert ein kompetenter Organisator unter den heute typischerweise gegebenen Bedingungen nicht nur nicht mehr auf physische Gewalt, sondern auch nicht nur auf Überredungskünste. Neben altbewährten Motivationsmitteln wie versteckten und offenen Drohungen (bzw. Sanktionen) und versteckten oder offenen Versprechungen (bzw. Gratifikationen) werden zur Lenkung der Aktivitäten anderer in die gewünschte Richtung gezielt kommunikationstechnisch avancierte und immer öfter auch visualisierende Plausibilisierungs- und Überzeugungsstrategien eingesetzt – wie z.B. Daten und Verlaufskurven auf Monitoren, die Ereignisse, Prozesse, Entwicklungen abbilden (vgl. Luff et al. 2000) sowie, weit gebräuchlicher, PowerpointPräsentationen (vgl. dazu Schnettler/Knoblauch 2007, Knoblauch 2009), die den Eindruck vermitteln, zu einem Großen und Ganzen beizutragen und dementsprechend moralisch unter Zugzwang setzen. Sensibilität für die so genannte „Schnittstellenproblematik“, d.h. für Anschlüsse und Übergänge zwischen den projektbezogenen Arbeitspaketen verschiedener ausführender Akteure, die für Missverständnisse anfällig sind und Anlässe für Missstimmungen bieten und an denen deshalb (zielführungsrelevante) Informationen zu versickern oder Übergaben zu scheitern drohen, eine solche Sensibilität und daraus erwachsende Vorkehrungen und Maßnahmen an den Stellen, an denen die Teilprozesse wie „Zahnräder“ ineinander greifen müssen, erweisen sich somit als wesentliche Elemente organisatorischer Kompetenz. Daraus (erst) resultiert soziale Arbeitsteilung im Vollzug. (Sozial) kompetent organisiert schließlich, wer die von wem, wie, wo und wann auch immer ausgeführten Handlungen hinsichtlich ihres sachadäquaten Beitrags für die Zielvorgaben auch sachangemessen reflektiert und bewertet. Anders ausgedrückt: Ein organisierender Akteur erweist sich letztlich dann und dadurch als kompetent, wenn und dass er auch ‚richtig‘ einzuschätzen vermag, welche Resultate grundsätzlich ebenso wie typischerweise mit den jeweils eingesetzten Mitteln und Werkzeugen von welcher Art von Akteuren unter welchen Bedingungen in welcher Zeit erzielt werden können, und wenn er die konkret tatsächlich erbrachten Leistungen daran messen und beurteilen kann. Damit kann gewährleistet werden, dass sozial arbeitsteilig durchgeführte Projekte im Vollzug die anvisierten Ergebnisse der Problemlösung zeitigen.
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In der sinnhaften Aufschichtung dessen, was organisierende Akteure erleben, finden die stereotypen Kategorisierungen in Grundlagen- bzw. Fach-, Methoden-, Sozial- und Reflexionskompetenz also keine Entsprechung (vgl. auch dazu auch Pfadenhauer 2008b). Diese literaturnotorische Binnendifferenzierung taugt folglich allenfalls für eine gewisse heuristische Sensibilisierung, sie kann jedoch nicht schematisch oder gar nach dem ‚Entweder-Oder-Prinzip‘ zum Sortieren je dominierender Kompetenzaspekte eingesetzt werden. Die Kompetenz zum Organisieren erscheint aus der subjektiven Perspektive eines organisierenden Akteurs vielmehr selber als ein Bündel von Wissensbestandteilen, Techniken und Verfahren, Strategien und Reflexionen dafür, Aktivitäten anderer im Hinblick auf ein bestimmtes Handlungsziel vorzubereiten, hierfür Voraussetzungen bereitzustellen, diese anderen in ihrem Tun zu beeinflussen und deren Handeln im Hinblick auf die Zielerreichung zu bewerten, kurz: zu organisieren.30 Kompetentes Organisieren ist folglich ein soziales Handeln, das ein anderes Handeln oder das Handeln anderer nicht ‚irgendwie‘ und nicht zufällig, sondern wiederholbar unter Einsatz bestimmter Arten von Wissen, von bestimmten Techniken und Verfahren, von bestimmten Strategien und einer bestimmten Art von Reflexionsvermögen vorbereitet, dessen Handlungsvoraussetzungen bereitstellt, es in Richtung einer Zielvorgabe beeinflusst und hinsichtlich seines Beitrags zur Zielerreichung beurteilt. Die Kompetenz zum Organisieren setzt sich dementsprechend augenscheinlich aus diversen Teilkompetenzen zusammen, die ihrerseits wieder jeweils alle im üblichen Klassifikationsschema unterschiedenen Arten von Handlungskompetenz tangieren. 3.
Kompetenzdarstellung als Selbstvergewisserungspraxis
Die vorangestellte, lediglich skizzenhafte Beschreibung zeigt zunächst einmal, dass Organisieren ‚an sich‘ und weit mehr noch: kompetentes Organisieren komplex ist. Dies gilt nicht nur für diese Form sozialen Handelns, sondern z.B. auch für Kommunikation (vgl. nochmals Reichertz in diesem Band). Kompetentes Organisieren erfordert – ebenso wie kompetentes Kommunizieren – Übung, Erfahrung, Praxis. Und es erfordert Zuwendung zur jeweiligen Situation, die
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Vgl. zu diesem Verständnis von Organisieren als einem sozialen Handeln, das ein anderes Handeln und das Handeln anderer vorbereitet (das impliziert grosso modo: das dessen materielle und immaterielle Voraussetzungen bereitstellt), das die vorbereiteten Handlungen in eine bestimmte Richtung beeinflusst, und das dieses Handeln hinsichtlich seines Beitrags zur Zielerreichung bewertet Pfadenhauer 2008a: 205. Um den Bezug zu dieser Form sozialen Handelns deutlich zu machen, ist hier absichtsvoll nicht von ‚Organisationskompetenz‘, sondern von einer ‚Kompetenz zum Organisieren‘ die Rede.
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dem Akteur als zugleich ‚gegeben‘ und definierbar erscheint. D.h.: Der Akteur erfährt die Situation zumeist als durch Institutionen wie z.B. Sitten, fixierte oder Interaktions-Ordnungen usw., d.h. durch Komplexe von Verhaltensmustern, Werten, Einstellungen geprägt, also als bereits mit einem Anspruch auf Verbindlichkeit vor-definiert. In seine Situationsdefinition gehen neben diesen ‚gegebenen‘ Bedingungen aber auch seine subjektiven Erfahrungen und Interessen ein und weisen so auch den sozial objektivierten Definitionen ihren je spezifischen Stellenwert für ihn, den Handelnden zu.31 Das aber gilt für Handeln schlechthin: Jegliches Handeln, das nicht um seiner selbst willen, sondern im Hinblick auf etwas anderes (im Kommunikationsfall: um jemanden zu informieren, zu überzeugen, zu überreden etc.) getan wird, ist komplex, vielschichtig und voraussetzungsvoll. Jede Situation, in der gehandelt wird, hat mehrere Aspekte: andere Akteure (aber nicht unbedingt), „Sachen“ (im weiten Verstande von Technik(en), Sprache und Wissen), das Selbst in seiner je konkreten geistig-mentalen und körperlich-leiblichen Verfassung (gesund/krank, nüchtern/berauscht etc.), Umgebung(en) (Temperatur, Luft, Atmosphäre, Wetter), Räumlichkeit (Enge, Weite, Klarsicht, Nebel), Geräusche (Lärm/Ruhe), Gerüche, Geschmacksvarianten u.v.a.m., kurz: Korrelate von Sinneswahrnehmungen, auf die sich die Erfahrung und Wahrnehmung lenken lässt – und zumindest teilweise gelenkt werden muss, wenn sie den eigenen Erwartungen, Vorstellungen, Zielsetzungen entsprechend gemeistert werden will bzw. soll. Und jedes Handlungsproblem wirft für seine Bewältigung eine Reihe von Voraussetzungen auf, die im Einzelnen zur Kenntnis genommen und in der Folge zu einem guten Teil auch kontrolliert werden können.32 Häufig ist keine Zeit oder aber es besteht – oft – keine Notwendigkeit, sich diesen Voraussetzungen zuzuwenden. Die Zuwendung, Aufmerksamkeit, die ihnen in jüngerer Zeit geschenkt wird, kann gewissermaßen als eine Errungenschaft der „Wissensgesellschaft“ angesehen werden. Wenngleich es nach wie vor sehr viele Handlungszusammenhänge bzw. Arbeitskontexte gibt, in denen die Devise „mach es einfach – egal wie“ lautet, ist dennoch eine Tendenz fest-
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Der hier vertretene Ansatz ignoriert also keineswegs, wie mitunter kolportiert wird, den Stellenwert von Institutionen und anderen harten („objektiven“) Tatsachen. Er weist vielmehr lediglich naive Vorstellungen zurück, denen zufolge diese brute facts bereits ‚an und für sich‘ eine Bedeutung haben. Sie haben diese Bedeutung, wenn und weil Menschen sie als real definieren (und akzeptieren). Diese Ansicht hat auch bereits William I. Thomas vertreten, demzufolge sich menschliches Verhalten weder nur an gesellschaftlich geltenden noch nur an individuell erfundenen Definitionen, sondern sozusagen an einer Kombination von ‚subjektiven‘ und ‚objektivierten‘, d.h. gesellschaftlich geltenden Situationsdefinitionen orientiert. – Vgl. zu dieser Interpretation des Thomas-Theorems Hitzler 1999. Für Hinweise darauf, dass zz.B. Scham als Komplement von Kompetenz bzw. als emotionale Reaktion auf Kompetenzdefizite, d.h. als präreflexive Erfahrung des Nicht-Könnens (z.B. bei Kindern) betrachtet werden kann bzw. muss, vgl. Seidler 2001, Hilgers 1996.
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stellbar, (zumindest sich selber gegenüber) in Auskunftspflicht zur Frage des Wie der Problembewältigung zu geraten. Es scheint fast so, dass in Zeiten der Proklamation lebenslangen Lernens das schulische Nachweisprinzip mathematischen Lernerfolgs, nicht nur ein Rechenergebnis, sondern überdies den hierfür eingeschlagenen Lösungsweg zu liefern, in immer mehr Kontexten Geltung gewinnt.33 Gemeint ist keine distanziert-reflektierende, sondern eine praxisnahe Art der Zuwendung zum eigenen Können; im Unterschied zu praxistheoretischen Ansätzen (vgl. Reckwitz 2003) ist allerdings eine problembezogene Zuwendung zu „skillful performance“ gemeint. Jede nicht nur kognitive Problemlösung basiert auf einem Konglomerat von Wissenselementen, Relevanzen, Motiven, Techniken, Strategien, Reflexionen, das in mannigfaltige Einzelaspekte zerlegbar ist, von denen ein Gutteil bewusst (gemacht) werden kann, wenn man sich dem zuzuwenden beginnt, a) was man typischerweise tut (und tun muss) und b) wie, unter Einsatz welcher Techniken (und das meint auch Körpertechniken34), sozialen Strategien, Verfahren etc. man das gelingend bewerkstelligt, was man tut. Bei einer solchen Analyse des eigenen Problemlösungshandelns vernachlässigt man nahe liegender Weise aber auch eine ganze Reihe von problemlösungsrelevanten Aspekten, wie z.B. die eigene Wirkung, implizites Wissen, nicht-intendierte Effekte etc. Auch wenn ‚Kompetenz‘ das gesamte Problemlösungsvermögen meint, das sich aus existentiellen Voraussetzungen, aus Grundelementen des Wissens, aus Rezeptund Routinewissen, d.h. aus (mehr oder weniger) habitualisierten Fertigkeiten und Fähigkeiten, sowie aus expliziten Wissensbestandteilen aufschichtet, gibt, wer (sich) über (seine) Kompetenz Auskunft gibt, in aller Regel nur über die (von ihm) angebbaren Bestandteile dessen Auskunft, was er pragmatisch als zur wiederholbaren Problembewältigung erforderlich ansieht. Kompetenzerwägungen dienen folglich der (Selbst-)Vergewisserung über problembezogenes Wissen und „Vermögen“, das man tatsächlich (zu Teilen inkorporiert) hat. Und Anlass für derlei auf Kompetenzdarstellungskompetenz rekurrierende Selbstvergewisserungen besteht insbesondere dann, wenn Zweifel geboten sind – Zweifel anderer in Anbetracht einer Problembewältigung oder eigene Zweifel daran, dass man das tatsächlich bewältigen kann, wofür man sich warum auch immer als ‚eigentlich‘ bereit, als ‚eigentlich‘ befähigt und gleichsam ‚auf jeden Fall‘ als zuständig begreift.
33 34
Mit Heidegger ist hier an die Verbreitung „rechnerischen Denkens“, mit Max Weber an „Rationalisierung“ zu denken. Zum (hier noch unzureichend berücksichtigten) Körperbezug von Kompetenz, systemtheoretisch gesprochen: zu Kompetenz als symbiotischem Symbol, vgl. die Beiträge von Brosziewski und Knoblauch in diesem Band.
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Ausblick In welchem Maße diese Zweifel durch die bekannten gesellschaftlichen Modernisierungs-Treiber – Pluralisierung, d.h. der Vervielfältigung und der daraus resultierenden Unübersichtlichkeit von Wertvorstellungen und Sinnangeboten, Individualisierung, d.h. der Freisetzung aus überkommenen Bindungen, in deren Zuge immer mehr Menschen abverlangt wird, das eigene Leben ohne verlässliche Anweisungen zu führen und zu gestalten, und Globalisierung, d.h. dem Bewusstwerden zunehmender Interdependenz weltweit verstreuter Aktivitäten und der damit verbundenen Universalisierung von Anforderungsprofilen – evoziert oder doch zumindest befördert werden, ist eine gesellschaftstheoretisch bedeutsame Frage, die sich einer soziologischen Kompetenzforschung stellt.35 Inwieweit die oben skizzierte Kompetenzdarstellung als Selbstvergewisserungspraxis als Epi-Phänomen des Kompetenzdiskurses begriffen werden muss und auf welche Weise dieser sich in der beruflichen (Fort-)Bildungspraxis niederschlägt, sind empirische Fragen einer soziologischen Kompetenzforschung, die z.B. in einem Landau-Karlsruher-Forschungsprojekt exemplarisch an Ingenieuren und Weinbauern untersucht werden sollen (vgl. zu vergleichbaren Problemstellung die Beiträge von Inga Truschkat und Thomas Brüsemeister in diesem Band). Vor dem Hintergrund divergenter Kompetenzverständnisse ist das Augenmerk einer soziologischen Kompetenzforschung schließlich auch auf praxisrelevante Effekte zu richten: Zu gewärtigen ist – im Jargon der Subjective Expected Utility-Theorie gesprochen – ein sich möglicherweise selbstverstärkendes ‚Mismatching‘ von Kompetenzerwerb und Kompetenzdarstellung seitens der Akteure selber und jener an Kollektive adressierten ‚objektivierten‘ Kompetenzerwartung, die sich in vergleichenden Kompetenzmessungen manifestiert. Auch Strategien des Unterlebens ebenso wie Techniken der Anpassung oder aber Mikropolitiken mannigfaltiger Art dürften sich somit als weites Feld einer soziologischen Kompetenzforschung erweisen.
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Die Suche nach den je eigenen Neigungen entsprechenden Konstellationen posttraditionaler Vergemeinschaftung ist eine weitere Konsequenz dessen, dass der individualisierte Mensch im Möglichkeitsraum der Globalisierung prinzipiell freigesetzt ist aus herkömmlichen Milieubindungen, aber auch aus Milieufürsorglichkeiten (vgl. Hitzler/Pfadenhauer 2009).
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Wissen, Handeln, Können Über Kompetenzen, Expertise und epistemische Regime Rainer Schützeichel
Welche Formen von Kompetenz oder von Expertise lassen sich unterscheiden? Dies ist die Frage, die im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen steht. Dabei wird unter Kompetenz oder Expertise eine bestimmte Form des Könnens verstanden, eine kontextspezifische Handlungs- und Problemlösungsfähigkeit, und zwar eine solche, die von einem impliziten Wissen oder einer ‚knowledge of acquaintance‘ zehrt. Kompetenz und Expertise zeigen sich in einem praktischen Tun. Im Gegensatz zu solchen Auffassungen, die Expertise oder Kompetenz als eine robuste Form des Wissens betrachten, wird hier also davon ausgegangen, dass es sich um ‚weiche‘ Formen des Könnens handelt. Es wird weiterhin die These vertreten, dass man Formen von Kompetenz oder Expertise danach unterscheiden kann, welche Möglichkeiten sie für die Teilnahme an sozialen Praktiken oder die Inklusion in soziale Systeme eröffnen. Dies gilt für Kompetenz und Expertise gleichermaßen. Im Folgenden wird aber ‚Expertise‘ als eine besondere Form von Kompetenz betrachtet, nämlich als die Kompetenz, die im Rahmen der kognitiven Arbeitsteilung von besonderen Virtuosen, Spezialisten oder Experten ausgeübt wird. Wenn man soziale Praktiken in den Vordergrund rückt, dann stellt sich eine zweite Frage ein. Wem wird Kompetenz oder Expertise zugeschrieben? Man mag über Kompetenz oder Expertise verfügen, aber das heißt nicht, dass man über den Status verfügt, spezifische Praktiken realisieren oder an ihnen teilnehmen zu können oder dürfen. Und es gilt sicherlich auch umgekehrt, dass einem eine gewisse Kompetenz zugestanden wird, man aber die erwarteten Praktiken nicht realisieren kann. Sozial zugeschriebener Status einerseits, Kompetenz andererseits kommen nicht immer zur Deckung. Dies gilt sowohl in diachroner Hinsicht in Bezug auf den Erwerb von Statuspositionen im Laufe von biographischen Prozessen wie auch in synchroner Hinsicht in Bezug auf die soziale Verteilung von Positionen im sozialen Raum. Daraus kann erstens gefolgert werden, dass die Zuschreibung von Kompetenz anhand von öffentlichen Kriterien erfolgt. Solche Kriterien sind in ‚epistemischen Regimen‘ institutionalisiert. Dieser Terminus bezieht sich auf die epistemische Ordnung in sozialen Systemen. In solchen Regimen wird durch Kriterien und Regeln festgelegt, wem die
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Artikulation und Generierung von Wissen, Können und Kompetenzen zugestanden wird. Die öffentlichen Kriterien der Zuschreibung von Kompetenz weisen nun aber, so die zweite Folgerung, eine bidirektionale Orientierung auf. Sie beziehen sich zum einen auf den Status in einem epistemischen Regime und zum anderen auf die personalen Fähigkeiten eines Individuums. Die Zuschreibung von Kompetenz oszilliert zwischen diesen beiden Polen. Damit also ist der Argumentationsgang dieses sich als programmatisch verstehenden Beitrags umrissen1: In einem ersten Schritt werden im Hinblick auf eine ‚Soziologie des Könnens‘ Formen von Kompetenz und Expertise unterschieden (1). Dies wird eingebettet in eine differenzierende Betrachtung von epistemischen Regimen als der Ordnung, in der sich diese Formen realisieren und artikulieren müssen (2). Schließlich wird in einem dritten Schritt der Versuch unternommen, diese Ergebnisse für die Analyse spezifischer epistemischer Regime fruchtbar zu machen, nämlich für die Analyse von Professionen (3). 1.
Kompetenz und Expertise
‚Kompetenz‘ oder ‚Expertise‘ sind Begriffe, die in der Soziologie bisher keine Heimstatt haben. Die Soziologie arbeitet in ihrem grundbegrifflichen Fundament mit anderen Konzepten, mit ‚Wissen‘, mit ‚Handeln‘, mit ‚Entscheiden‘. Ihr fällt es schwer, ihre beiden großen Traditionslinien, die Handlungstheorie wie die Wissenssoziologie, aufeinander zu beziehen und begrifflich zu integrieren (vgl. zu dieser Diagnose und einem Therapievorschlag Luhmann 1995). In der Soziologie sitzt die ‚Kompetenz‘ gleichsam zwischen allen Stühlen. Eine Soziologie der Kompetenz stellt ein Desiderat dar. Ein Können sprechen wir weder demjenigen zu, der etwas weiß, noch demjenigen, der schlichtweg handelt. Ein Können bezieht sich eher auf ein gelingendes Handeln, auf ein Handeln, welches sein Gelingen einem bestimmten Wissen verdankt. In diesem Sinne soll hier der Terminus der ‚Kompetenz‘ verstanden werden. Kompetenz schreiben wir demjenigen zu, der bestimmte Probleme lösen und Ziele realisieren kann – und dies unabhängig davon, ob er sein Können reflexiv und explizit zu bestimmen weiß. Kurz: Kennzeichnend für Kompetenz ist der Modus des ‚impliziten Wissens‘. Was aber heißt implizites Wissen? Es gibt keine ausgearbeitete soziologische Wissenskonzeption. Das Terrain des ‚impliziten Wissens‘ ist nicht sonderlich erkundet. In der Soziologie kommen diesbezüglich verschiedene Ansätze zum Tragen. Die Unterscheidung von ‚Knowing-how‘ versus ‚Knowing-that‘
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Dabei greife ich auf Überlegungen zurück, die jüngst an anderer Stelle schon veröffentlicht wurden (Schützeichel 2008).
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geht vor allem auf die Überlegungen von John Dewey (1922) und Gilbert Ryle (1949) zurück. Ryle unterscheidet zwischen einem ‚knowing how to do so-andso‘ bzw. einem ‚knowing how to go on‘ einerseits, einem ‚knowing that so-andso is the case‘ andererseits. Das ‚knowing-how‘ stelle ein Können, eine praktische Fähigkeit dar, welche mit spezifischen Fertigkeiten verbunden ist. Das ‚knowing-that‘ hingegen sei ein inferentielles Wissen um Gründe, Ursachen und Regeln. Zwischen zwei anderen Wissensmodi differenzierte William James (1890). Er unterschied zwischen ‚knowledge of acquaintance‘ und ‚knowledgeabout‘, zwischen ‚noscere‘ und ‚scire‘, zwischen ‚kennen‘ und ‚wissen‘. ‚Knowledge of acquaintance‘ beruhe auf einem durch Wahrnehmungen oder ‚feelings‘ vermittelten Bekannt-sein mit den Dingen, ‚knowledge-about‘ sei ein gedankliches, begriffliches Wissen um die Dinge. Auf Bertrand Russell (1913) geht die etwas anders gelagerte Differenzierung von ‚knowledge by acquaintance‘ und ‚knowledge by description‘ zurück. Trotz mancher Analysen ist unklar geblieben, was mit dieser Unterscheidung genau gemeint ist. Es gibt mindestens drei verschiedene Auffassungen: (1) In einer ersten, Parallelen zu der These von James aufweisenden Unterscheidung wird als ‚knowledge by acquaintance‘ dasjenige Wissen bezeichnet, welches aus einer unmittelbaren Bekanntschaft, Erfahrung, Könnerschaft erwachse. Eine ‚knowledge by description‘ beruhe hingegen auf logischen Schlüssen – es handele sich um ein inferentielles Wissen. Man wisse um den Sachverhalt ‚p‘, wenn man ihn aus Aussagen über andere Sachverhalte ‚m‘ oder ‚n‘ erschließen könne. (2) Diese Unterscheidung wird aber auch zur Abgrenzung eines propositionalen von einem nichtpropositionalen Wissens verwendet. Ein ‚knowledge by description‘ wäre ein Wissen, welches man propositional formulieren könne, ein ‚Knowledge by aqcuaintance‘ hingegen ein nichtpropositionales Wissen. (3) Die Unterscheidung wird aber auch in einem dritten Sinne dazu benutzt, um ein Wissen aus erster Hand (knowledge by acquaintance) von einem Wissen aus zweiter Hand (knowledge by description) zu unterscheiden. In dieser Form dürfte diese Unterscheidung eine zunehmende soziologische Relevanz besitzen, denn ein Großteil unseres Wissens ist ‚knowledge by description‘, ein Wissen, welches wir durch Vermittlung von Massenmedien, Schulen oder Experten gewinnen. Die größte Prominenz erlangte schließlich die Unterscheidung eines impliziten von einem expliziten Wissen. Populär geworden ist diese Unterscheidung durch Michel Polanyi (1958, 1966/1985, vgl. einleitend Dua 2004). Nach Polanyi ist das ‚tacit knowledge‘ ein Wissen, welches sich nicht explizit formulieren lässt. Es ist ein Wissen, welches sich nicht propositional entfalten und erfassen lässt, sondern tief in sinnliche und körperliche und soziale Erfahrungen einge-
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bunden ist.2 Das implizite Wissen ist denn auch eher ein Können als ein Wissen, ein ‚knowing how‘ als ein ‚knowing that‘. Es umfasst neben physiologischen Konditionalisierungen jegliche Formen von Problemidentifizierung, von Intuition, von Einfühlung, ja von Wahrnehmung überhaupt. Denn bei diesen psychischen Akten und physiologischen Prozessen sind – Polanyi bezieht sich auf die Gestaltpsychologie – implizite Gestalt- und Formgebungen am Werk. Dem impliziten Wissen gegenüber steht ein explizites, formalisiertes Wissen. Implizites Wissen ist nach Polanyi in all seinen verschiedenen Formen von dem unterschwelligen und stummen, nicht explizierbaren, bis hin zu dem marginalen, mitunter explizierbaren Wissen ein genuines Wissen (vgl. Baumgartner 1993: 159ff.), also keine Vorform eines eigentlichen Wissens. Gegen jeden Versuch, das implizite Wissen als eine Vorform des expliziten Wissens einzustufen oder das implizite in formalisiertes Wissen zu überführen, richtet Polanyi den Einwand, dass das Wissen sich dadurch selbst aufhebe. Polanyi unterscheidet weiterhin zwischen einem somatischen und einem sozialen impliziten Wissen. Das somatisch verankerte implizite Wissen bezieht sich auf die körperlichen (physischen und psychischen) Voraussetzungen dafür, etwas tun zu können. Das soziale implizite Wissen bezieht sich auf die Voraussetzungen, an einer sozialen, gemeinsamen Praxis teilnehmen zu können. Man kann sich diese Unterscheidung an dem von Polanyi diskutierten Beispiel des Radfahrens verdeutlichen. Die somatischen Voraussetzungen liegen in einem körperlichen und psychischen ‚Können‘. Wenn ich jedoch als Radfahrer am Straßenverkehr teilnehmen will, muss ich über andere Kompetenzen verfügen, eben ein Wissen um Regeln, Konventionen und Bedeutungen haben, welches ich nur durch Teilnahme und Einübung in soziale Praxen erwerben kann. Diese Überlegungen fließen nun ein in die jüngeren soziologischen Diskussionen hinsichtlich einer expliziten Bestimmung des Begriffs der Kompetenz3. Diese Diskussionen werden vornehmlich im Rahmen der ‚Sociology of Expertise‘4 geführt, einem, wie von den Protagonisten betont, neuen Paradigma wissens- und wissenschaftssoziologischer Forschung. Kompetenz wird hier defi-
2
3 4
Unmittelbare soziologische Referenztheorie der Epistemologie des impliziten Wissens ist die so genannte ‚Soziologie der Praxis‘ (vgl. als programmatischer Auftakt Schatzki u.a. 2001, als Überblick Hillebrandt 2009 und als Kritik Bongaerts 2007). In dem Rekurs auf das implizite Wissen liegen ihre Stärken, aber auch ihre Grenzen, denn so wichtig eine stärkere Fokussierung auf das implizite Wissen für die Soziologie auch ist, so handelt man sich bei einer Nichtberücksichtigung des expliziten oder deliberativen Wissens wiederum nur spiegelbildlich eine vereinseitigende, reduktionistische Position ein. Hierbei differenziere ich, wie in der Einleitung schon angedeutet, präziser als die Vertreter der ‚Sociology of Expertise‘ zwischen allgemeinen Kompetenzen und der Kompetenz spezifischer Expertengruppen, also ihrer Expertise. Vgl. Collins 2001, 2004 u. 2007; Collins/Evans 2002, 2003, 2007a; Collins et al. 2006; Evans 2008; Ribeiro/Collins 2007; als Kritik: Jasanoff 2003 und Rip 2003.
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niert als Fähigkeit, an sozialen Praxen teilnehmen zu können. Dies ist eine auf den ersten Blick ungewöhnliche Definition, werden doch in der Regel Kompetenz oder Expertise bestimmt als ein „für den Spezialfall generiertes Handlungswissen, das den Bedingungen epistemischer und sozialer Robustheit entsprechen muss“ (Weingart et al. 2007: 293), also eher als explizites denn als implizites Wissen. Die ‚sociology of expertise‘ streicht demgegenüber den Zusammenhang von Kompetenz und implizitem Wissen heraus. „At some stage all human expertise touches on tacit knowledge, that is, an understanding of rules that cannot be expressed.“ (Collins/Evans 2007a: 17) Sie unterscheidet verschiedene Formen von Kompetenz in Abhängigkeit davon, welches implizite Wissen bei der Ausübung von sozialen Praxen unerlässlich ist. Weshalb gerade die Betonung des impliziten Wissens? In einer Studie über die Replikation wissenschaftlicher Experimente (vgl. Collins 1974) stellte Collins fest, dass Experimente einer Forschergruppe von einer anderen Forschergruppe nur dann wiederholt werden konnten, wenn ein Mitglied der ersten Forschergruppe an der Replikation teilnahm. Sie konnten hingegen nicht wiederholt werden aufgrund einer bloßen schriftlichen Anleitung oder sonstigen mündlichen Anweisungen, nicht also durch bloße Kommunikation, und zwar aus dem Grunde, so Collins, weil dabei das implizite, eben nicht-kommunizierbare Wissen, welches zu einer erfolgreichen Durchführung des Experiments nötig ist, fehlte. Es werden – den Begriff des impliziten Wissens in verschiedene Dimensionen untergliedernd – folgende Formen von Kompetenz und Expertise unterschieden: 1.
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die ubiquitäre oder, wie man auch formulieren könnte, die lebensweltliche Kompetenz, über die man als Teilnehmer lebensweltlicher Praktiken verfügt. die Formen spezialisierten Expertenwissens. Expertise benötigen wir, wenn spezifischen Praktiken ausgeübt weden sollen. Diesbezüglich kann man zwischen einem niedrigen und einem hohen Level an Expertise differenzieren: 2.1 Auf einem niedrigen Level bewegen sich die Formen des ‚beer-mat knowledge‘, des ‚popular understanding‘ und des ‚primary source knowledge‘. Hierbei handelt es sich um graduelle Abstufungen der Formen, in welchen wir über ein spezifisches Thema instruiert werden oder in welchen wir uns über eine Praxis informieren können. Sie weisen kaum implizites Wissen über den jeweiligen Gegenstand auf, sondern sind das Resultat kommunikativer Aneignung. (2.1.1) ‚Beer-mat knowledge‘ ist ein Wissen, welches sich in einer Information über Dinge, Sachverhalte oder Praktiken erschöpft.
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(2.1.2) ‚Popular Understanding‘ ist ein Wissen, welches sich auf kommunikative Vermittlungen von expertokratischen oder wissenschaftlichen Ausführungen ergibt. (2.1.3) ‚Primary source knowledge‘ ist ein Wissen, welches aus der direkten Lektüre oder Kenntnisnahme von wissenschaftlichen oder sonstigen spezialisierten Ausführungen resultiert. 2.2 Das hohe Level der Expertise beruht nicht auf einer kommunikativen Vermittlung, sondern setzt die Teilnahme an sozialen Praxen von epistemischen Gemeinschaften voraus. Hier finden sich zwei Formen: (2.2.1) ‚Interactional Expertise‘: Die interaktionale oder kommunikative Kompetenz besteht in der Fähigkeit, mit den Vertretern einer sozialen Praxis kommunizieren zu können. Interaktionale Kompetenz besitzt derjenige, der in seinen kommunikativen Kompetenzen nicht von Vertretern einer jeweiligen Praxis unterschieden werden kann. Implizites Wissen ist auch insofern für interaktionale Expertise notwendig, als man zumindest implizit um die Bedeutung der sprachlichen und sonstigen Symbole wissen muss. (2.2.2) ‚Contributory Expertise‘: Diese höchste Form der Kompetenz besitzt derjenige, der an den Praktiken einer sozialen Gemeinschaft teilnehmen kann und der sich diesbezüglich nicht von den anderen Mitgliedern unterscheiden lässt. Er muss also das implizite Wissen der ‚Lebenswelt‘ einer epistemischen Gemeinschaft teilen.
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Abbildung 1:
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Formen von Kompetenzen und Expertise
Man kann erkennen, dass in diese – hier in einigen Punkten, insbesondere bezüglich der Unterscheidung von allgemeinen Kompetenzen und spezifischen Expertisen modifzierten – „periodic table of expertises“ (Collins/Evans 2007a: 13ff.) neben der Differenzierung eines impliziten und eines expliziten Wissens auch die Unterscheidung eines ‚knowledge of description‘ von einem ‚knowledge of acquaintance‘ Anwendung findet. Bedeutsam ist insbesondere die Unterscheidung von interaktionaler und kontributorischer Kompetenz: Sie verweist auf die diversen Möglichkeiten der Partizipation von Experten an Formen sozialer Praxis. Als Soziologe kann man sicherlich die interaktionale Kompetenz erwerben, um mit Vertretern einer spezifischen Praxis problemlos kommunizieren zu können. Diese Kompetenz reicht in aller Regel, um eine soziologische Untersuchung dieser Praxis vornehmen zu können. Man muss dazu nicht in der Lage sein, diese Praxis selbst zu beherrschen. Umgekehrt verhält es sich bei dem Erlernen von Forschungsmethoden. Hier sei nur daran erinnert, dass nach Anselm Strauss Forschungsmethoden nur in angeleiteter Praxis erlernt werden
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können, nicht durch die Lektüre von Lehrbüchern oder der Teilnahme an Universitätsseminaren. 2.
Epistemische Regime
Expertise und Kompetenzen realisieren sich in sozialen Praxen. Damit ist das Problem der sozialen Verteilung und der Zuschreibung von Expertise und Kompetenzen verbunden. Die Dimension, in welcher sich in sozialen Systemen die Zuschreibungskriterien institutionalisieren, kann man als die Wissensordnung dieser sozialen Systeme bezeichnen. Die Unterscheidung von Sozial- und Wissensordnungen ist eine nur analytische Unterscheidung. Es gibt also keine Wissensordnungen ohne entsprechende soziale Ordnungen, aber es gibt auch keine sozialen Ordnungen ohne Wissensordnungen. In der Soziologie gibt es für solche Wissensordnungen eine Reihe von Kandidaten – Wissensmilieus (nach Matthiesen 2007), Wissens- oder epistemische Kulturen (vgl. Detel 2007 oder Knorr-Cetina 1999) und Diskurse (vgl. Keller 2007), um nur einige zu nennen. In den letzten Jahren hat sich mit dem ‚Wissensregime‘ oder – wie es hier, um die Pluralität der involvierten Wissensformen zu betonen, genannt wird – mit dem ‚epistemischen Regime‘ ein Begriff in den Vordergrund geschoben, der mit einer besonderen Prägnanz die soziale und die epistemische Dimension verklammert. Epistemische Regime können bestimmt werden als strukturierter „Zusammenhang von Praktiken, Regeln, Prinzipien und Normen des Umgangs mit Wissen und unterschiedlichen Wissensformen, zumeist bezogen auf einen bestimmten Handlungs- und Problembereich“ (Wehling 2007: 704). Sie regulieren die epistemische Ordnung in sozialen Systemen:
Bezogen auf ihren jeweiligen Problembereich legen sie in der Sachdimension fest, welche epistemischen Formen, Modi und Stile in einem jeweiligen Kontext als angemessen gelten und in welchen Abhängigkeitsverhältnissen diese untereinander stehen. In der Sozialdimension regulieren sie die Dominanz der epistemischen Akteure, also die Frage, welche Akteure bzw. welche Gruppen von Akteuren legitimiert sind, Wissen und Kompetenz zu generieren, zu distribuieren und zu konsumieren und welchem Personenkreis Vertrauen in ihre Kompetenzen entgegengebracht wird. In der Temporaldimension bestimmen sie die Kriterien, nach denen Wissen und Kompetenz selektiert und transferiert werden.
In den bisherigen Forschungen zu epistemischen Kulturen oder Regimen wird häufig die Supposition mitgeführt, es handele sich um eindimensionale, homogene, symmetrische Erscheinungen. Das Gegenteil dürfte der Fall sein. Episte-
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mische Regime stellen ‚soziale Arenen‘ (Anselm Strauss) dar, in denen um ‚epistemische Stile‘ gerungen und verhandelt wird. Mit dem Terminus des ‚epistemischen Stils‘ greifen wir einen alten wissenssoziologischen Terminus von Karl Mannheim und Ludwik Fleck auf. Fleck definiert einen Denkstil als ein „gerichtetes Wahrnehmen, mit entsprechendem gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrgenommenen“ (Fleck 1980: 130) innerhalb eines ‚Denkkollektivs‘ als Träger des Wissens. Denkstile strukturieren die ‚Gestalt‘ der Problemdefinition und Problembearbeitung, der Erkenntnismittel und der Methoden. Wir geben diesem Begriff aber insofern eine Wendung ins Soziologische, als wir die von Mannheim und Fleck überbetonte Eindeutigkeit und Homogenität von Denkstilen als einen Spezialfall und ihre Heterogenität, ihre Konkurrenz und ihren Konflikt als den Regelfall betrachten. Eine wichtige Funktion von epistemischen Regimen ist es, dass sie mit Hilfe öffentlicher Kriterien gewisse Standards der Zuschreibung für ‚Wissen‘ oder ‚Kompetenz‘ definieren. Diese Zuschreibungsmodi vollziehen sich aber stets kontextbezogen. In manchen epistemischen Kontexten ist die Aussage ‚Ich weiß, dass ich zwei Hände habe‘ trivial, ja albern. In anderen Kontexten, beispielsweise philosophischen, in denen ein Gott mich irre machen könnte oder meine Aussage auch vor radikalen Skeptizisten Stand halten muss, die mir entgegen halten könnten, ich sei nur ein ‚Gehirn-in-einem-Tank‘, ist diese Aussage hingegen alles andere als selbstverständlich, sondern begründungsbedürftig (vgl. Dretske 2000). Und in manchen Kontexten zählt die Kompetenz, diese Aussage begründen zu können, viel, in anderen hingegen gar nichts. Epistemische Kontexte werden maßgeblich durch den Gehalt und die Zahl der relevanten Alternativen bestimmt. Man ‚weiß‘ dann etwas (im Sinne eines expliziten Wissens in einem gegebenen argumentativen oder diskursiven Kontext), wenn man relevante Alternativen begründbar ablehnen kann. Und man verfügt über ‚Expertise‘ oder ‚Kompetenz‘ dann, wenn man in seiner kontextspezifischen Praxis, in seinen Tätigkeiten gleichsam reibungs- und alternativlos und ohne Umwege zu seinem Ziel kommt. In Bezug auf kommunikationspragmatische Überlegungen (vgl. Schneider 2004) lassen sich Expertise und Kompetenz also als eine evaluativen Standards gehorchende Kategorie verstehen, die Personen dann zugesprochen wird, wenn diese in Bezug auf spezifische Aufforderungen oder Anforderungen in einem relevanten Kontext ein bestimmtes ‚Können‘ aufweisen. Dass in der Tradition binär zwischen knowing-that und knowing-how oder zwischen implizitem und explizitem Wissen unterschieden wurde, ist aus soziologischer Sicht sicherlich auch darauf zurückzuführen, dass man sich kommunikativ ganz unterschiedlich auf die eine oder andere Form beziehen muss. Ein mitgeteiltes Wissen kann man (im Gegensatz zu einer mitgeteilten Meinung) unbesorgt zur Grundlage seines eigenen Handelns machen. Aber ein implizites Wissen, also ein Können, ist kommunikativ weder mitteilbar noch distribuier-
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bar. An dem Können des Anderen können wir nicht kommunikativ teilhaben, sondern wir können es nur insoweit nutzen, als wir ihm stellvertretend die Bearbeitung oder Lösung eigener Probleme zugestehen. Wir lassen handeln (vgl. Weiß 1998). Wissen und Kompetenz sind also mit unterschiedlichen Formen der Bezugnahme verbunden. Die Kompetenz des Anderen kann für uns nur stellvertretend nutzbar gemacht werden, das explizite und explizierbare Wissen des Anderen können wir hingegen als eigene Handlungsressource übernehmen. Aus diesem Grunde ist es auch sinnvoll, zwischen einer allgemeinen, lebensweltlichen Kompetenz und spezifischen Formen von Expertise zu unterscheiden. Die Kriterien der Zuschreibung von Expertise in epistemischen Regimen weisen eine bidirektionale Orientierung auf. Als Arzt kann jeder arbeiten, der über entsprechende Qualifizierungs- und Zertifizierungsnachweise verfügt. Ob die Patienten ihm aber auch Expertise zusprechen, hängt von seinen Kompetenzen, nicht von seinem Wissen ab. Nicht jeder Experte hat auch die Expertise, Probleme in seinem Handlungsfeld zu lösen. Nicht jeder Arzt ist auch ein ‚guter Arzt‘. Nicht jeder Seelsorger hat die Kompetenz, auf die Seelennöte der Gläubigen einzugehen, aber man würde ihn erst gar nicht fragen, wenn er denn kein Seelsorger wäre. Man könnte auch formulieren: Bei dem Problem der Zuschreibung von Kompetenz und Expertise tritt uns der Experte über seinen ‚Status‘ hinaus auch immer als ‚Person‘ entgegen, und man kann sich in beidem täuschen, in der ‚Person‘ wie in ihrem ‚Status‘. Aus diesem Grunde wird auch heute noch an Vertreter von Professionen eine doppelte Kompetenz- und Expertiseerwartung in Form einer allgemeinen praktischen Erfahrung, mitunter sogar einer Lebenserfahrung, wie auch einer zertifizierten Ausbildung gerichtet. Die Zuschreibung von Expertise verbindet also in der Regel soziale und personale Kriterien – damit widersprechen wir also solchen Positionen, die entweder nur das personale Moment berücksichtigen (wie Collins 2007) oder nur das soziale Moment (wie Fuller 2006). Über Kompetenzen und Expertise kann man nicht sprechen, ohne zugleich ‚Vertrauen‘ zu erwähnen. Damit kommen wir auf einen weiteren wichtigen Punkt zu sprechen, den wir aber an dieser Stelle nur kurz erwähnen können (siehe die ausführlicheren Hinweise in Schützeichel 2007b). Epistemische Regime regulieren nicht nur Kompetenzen, sondern auch Vertrauen. Kompetenzen schreiben wir nur dann jemandem zu, wenn wir ein Vertrauen in die Kompetenzen einer Person haben. Es wäre doch recht merkwürdig und eigentümlich, wenn wir jemandem Expertise oder Kompetenzen zuschreiben, ihm aber gleichzeitig kein Vertrauen in seine Kompetenzen schenken würden. Vertrauen in das Können einer Person ist gleichsam der Indikator für die Zuschreibung von Kompetenz. Kompetenz und Vertrauen stehen also in epistemischen Regimen in einem intrikaten intrinsischen Verhältnis zueinander.
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Epistemische Regime bestehen aus einem Geflecht unterschiedlicher epistemischer Stile. In einer ersten Annäherung lässt sich in Anlehnung an Collins (Collins 2007, Collins/Evans 2007b) mit Hilfe einer Kreuztabellierung anhand der Dimensionen ‚Macht‘ bzw. ‚Status‘ mit den beiden Ausprägungen ‚Kooperation‘ und ‚Zwang‘ einerseits, der Dimension ‚epistemischer Stil‘ mit den beiden Ausprägungen ‚homogen‘ und ‚heterogen‘ andererseits, folgende Matrix erstellen5: Abbildung 2:
Formen epistemischer Regime
5
Diese in Anlehnung an Collins/Evans (2007b: 664) entworfene Matrix weicht in einigen substantiellen Punkten von ihrem Vorbild ab. Sie fügt der Dimension ›Macht‹ diejenige des ›Status‹ hinzu, da die Anerkennung von epistemischen Stilen nicht nur eine Frage der Macht, sondern auch des Status ist. Die wichtigste Modifikation ist diejenige, dass sie den von Collins/Evans an dieser Stelle vernachlässigten Modus der kontributorischen Expertise berücksichtigt.
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Es können also folgende epistemischen Regime unterschieden werden:
3.
Kontributorische Expertise trifft man in solchen epistemischen Regimen an, welche in einer kooperativen Weise zu einer gemeinsamen Praxis und damit zu einem gemeinsamen epistemischen Stil gefunden haben. Im Wissenschaftssystem trifft man solche Expertiseformen beispielsweise bei der Entstehung solcher Disziplinen an, die, wie die Biochemie oder die Nanowissenschaften (Gorman 2002) aus der kooperativen Synthese anderer Disziplinen entstanden sind. Interaktionale Expertise als eine Form heterogener Koooperation (vgl. Gläser/Meister/Schulz-Schaeffer/Strübing 2004) liegt in vielen epistemischen Konstellationen vor, beispielsweise in inter- oder transdisziplinären Arbeitsformen, in der Beratungspraxis oder in Expertenbeziehungen. Kennzeichnend ist, dass trotz der Heterogenität der epistemischen Stile die eine Seite mit der anderen problemlos kommunizieren kann. Die als ‚Boundary Object‘ (Star/Griesemer 1989) bezeichnete polykontexturale Form heterogener Kooperation orientiert sich an ‚Grenzobjekten‘, die für epistemische Akteure mit jeweils eigener Perspektive eine gemeinsame Referenz, ein gemeinsames Themas oder einen gemeinsamen ‚Gegenstand‘ bilden. Beispiele solcher ‚Grenzobjekte‘ sind etwa die ‚Wissenschaft‘ als Objekt solcher wissenschaftlicher Disziplinen wie der Wissenschaftstheorie, der Wissenschaftsgeschichte oder der Wissenschaftssoziologie, die sich mit ihrem Gegenstand aus ganz unterschiedlicher Perspektive befassen. Diese Form der heterogenen Kooperation setzt über die Bezugnahme auf ein Grenzobjekt hinaus keine weiteren gemeinsamen Sprachen oder epistemischen Stile voraus. Zur Hegemonie von epistemischen Stilen kommt es immer dann, wenn ein epistemischer Stil einen anderen verdrängt. Es handelt sich sicherlich um einen Grenzfall, denn epistemische Stile sind nicht völlig durch andere ersetzbar, zumindest solche nicht, die lebensweltlich verankert sind. Zum Konflikt von epistemischen Stilen kommt es dann, wenn verschiedene Akteure über genügend Ressourcen verfügen, ihren Stil im Widerstreit zu behaupten. Die epistemischen Regime der Professionen – ein Ausblick
Wie kann man nun diese analytische Matrix professionssoziologisch fruchtbar machen, wenn man unter Professionen solche Berufs- bzw. Expertengruppen versteht, die für die strukturmodifizierende Bearbeitung von Lebensproblemen von Individuen zuständig sind? Auch professionale Beziehungen stellen episte-
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mische Regime dar, stoßen doch in den Arbeitsbündnissen zwischen den Professionsvertretern und den ‚Laien‘ unterschiedliche Kompetenzen und Stile aufeinander. Zunächst wird man feststellen müssen, dass Professionen in Abhängigkeit von ihrer gesellschaftlichen Funktion alle Formen epistemischer Regimebildung repräsentieren können. Wenn sie, wie die Juristen, Lehrer und mitunter auch die Ärzte oder Sozialpädagogen, den gesellschaftlichen Auftrag haben, bestimmten Standards des Erlebens (Wissens) und Handelns zur Durchsetzung zu verhelfen, so dürften sie auf eher hegemoniale oder konfliktäre Formen zurückgreifen. Wenn sie sich, wie beispielsweise Architekten, Ingenieure oder Therapeuten, als eine eher beratende Profession verstehen, dann spielt sich die Zusammenarbeit mit den Klienten in einer eher kooperativen Weise ab. Die analytische Matrix lässt sich jedoch auch fruchtbar einsetzen, um den Wandel in den epistemischen Regimen von Professionen zu beschreiben. Dies sei an dem Beispiel der Seelsorge erläutert (vgl. auch Schützeichel 2004 u. 2007a). Die Geschichte der Seelsorge als einer genuinen Form religiöser Kommunikation beginnt im Grunde genommen erst mit Schleiermacher. Schleiermacher grenzt die Seelsorge streng sowohl gegen eine allgemeine Lebensberatung wie gegenüber einer allgemeinen Tugendlehre ab. Seelsorge wird als spezifische Form religiöser Kommunikation gleichberechtigter Partner aufgefasst, und zwar als sich interaktiv vollziehende Einzelseelsorge. Die Individualität der Gläubigen sei das höchste Gut, welches in der Seelsorge bewahrt bzw. wieder hergestellt werden müsse. Eine zweite wichtige Etappe wird in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der Einrichtung der wissenschaftlichen Reflexionstheorie der Poiemenik als der Seelsorgelehre eingeleitet. Einer ihrer wichtigsten Protagonisten ist der Schleiermacher-Schüler Carl Immanuel Nitzsch (1868), dem zufolge Methoden und Ziele der Seelsorge einer wissenschaftlichen Reflexion bedürfen und eine Umformulierung des professionalen Leitbildes vom Hirten zum Arzt erforderlich machen. Im 20. Jahrhundert entwickelt sich eine breite Phalanx unterschiedlicher Seelsorgekonzepte. Man kann diese zwischen zwei Eckpfeiler einordnen, die kerygmatische Seelsorge einerseits, die beratenden Formen andererseits. Die kerygmatischen Ansätze vertreten das Programm, Seelsorge sei eine sich im Gespräch zwischen Seelsorger und Gläubigem vollziehende Form der Verkündigung. Auf den Punkt gebracht wird es in der Beschreibung der Seelsorge als eines Kampfgespräches um den richtigen Glauben (vgl. Asmussen 1934). Die partnerzentrierte, therapeutische oder manchmal auch einfach ‚Beratung‘ genannte Form betrachtet Seelsorge als ein partnerschaftliches, mitunter therapeutisches Geschehen. Kennzeichnend ist das offene Gespräch als Ziel und Mittel der Seelsorge (vgl. insgesamt Schmidt-Rost 1988). Diesen unterschiedlichen Ansätzen kann man nun die oben ausgeführten epistemischen Regime zuordnen:
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Abbildung 3:
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Epistemische Regime der Seelsorge
Mit der in Abb. 3 skizzierten analytischen Matrix ist ein tragfähiges wissenssoziologisches Fundament gewonnen für die Analyse professionaler epistemischer Regime – wobei die Frage, welches epistemische Regime sich durchsetzt, nur in einer korrelativen Analyse von epistemischen und sozialen Ordnungen beantwortet werden kann. Mit Hilfe dieses Modells lassen sich auch die Konfliktlinien gegenwärtiger professionaler Beziehungen bestimmen. Wie entwickeln sich diese, wenn den Laien immer mehr Möglichkeiten der Kompetenzbildung, der Selbstexpertisierung und der Selbstorganisation zur Verfügung stehen? Zwingt dies die Mediziner, Anwälte, Sozialpädagogen oder andere Gruppen dazu, die Form ihrer Kompetenz zu ändern? Kommt es zu einer verstärkten Orientierung an Formen interaktionaler Expertise, oder ist man versucht, den eigenen Status zu wahren oder zu stärken, indem man zu dominanten und hegemonialen Kommunikations- und epistemischen Ordnungen Zuflucht sucht? Ist kontributorische Expertise (bzw., wie dies in professionalen Ausbildungsgängen betont wird, ‚Lebenserfahrung‘) nötig, um die lebenspraktischen Probleme der Klienten überhaupt erfassen zu können? Oder reicht interaktionale
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Expertise aus? Und welche hegemonialen Strategien sind erforderlich, um die gesellschaftliche Funktion zu erfüllen? All diese Fragen aber müssen weiterer Forschung vorbehalten bleiben.
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Kompetenz und kompetentes Handeln als Gestaltung der Biografie und des Lebenslaufs Matthias Vonken
Einleitung Biografieforschung und Kompetenzentwicklung sind zwei Themenbereiche, die schon auf den ersten Blick einen engen Zusammenhang aufweisen. Wie anders, wenn nicht in der Betrachtung einer Biografie, ließe sich die Entwicklung von Kompetenz verstehen. Während Biografie ein vergleichsweise einheitlich benutzter Begriff ist, stellt Kompetenz immer noch ein vielfach kontrovers diskutiertes Konstrukt dar. Unabhängig davon, welchen der vielen verschiedenen Ansätze zu Kompetenz man präferieren mag, lässt sich kaum leugnen, dass sie als eine Variable der Persönlichkeitsentwicklung auf die Biografie des Kompetenzträgers verweist. In diesem Artikel werde ich versuchen, einen Ansatz zur Interpretation biografischer Daten mit Hilfe einer eigenen Theorie von Kompetenz zu präsentieren. Dazu werde ich zunächst einige handlungs- und systemtheoretische Grundlagen zur Betrachtung von kompetentem Handeln und von Biografie referieren bzw. entwickeln. Daran anschließend werden Ergebnisse qualitativer Interviews mit älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie älteren Arbeitslosen in Bezug auf ihre Kompetenzentwicklung untersucht. Ziel ist es, zu zeigen, wie kompetentes Handeln im Lebenslauf, präsentiert in der Biografie, dazu beiträgt, den weiteren Lebenslauf in dem Sinne zu formen, dass für den Einzelnen eine positive berufliche Entwicklung konstatiert werden kann. 1.
Theoretische Vorbemerkungen
An anderer Stelle (Vonken 2005) habe ich versucht zu beschreiben, wie sich kompetentes Handeln als besondere Form kommunikativen Handelns (Habermas 1987a) konstituiert. Ein solches kann dabei sowohl eine Reaktion auf bestehende Situationen als auch das Erzeugen von Situationen selbst bedeuten. Im ersten Fall bestünde die weitere Aufgabe dann in der Definition und Bewältigung der Situation, im zweiten in der Auswahl eines Ausschnitts der Lebenswelt und seiner Thematisierung. In beiden Fällen bedeutete kompetentes Handeln das
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selbständige, selbstverantwortliche, kreative, selbstorganisierende und flexible Treffen von Entscheidungen zur Reduktion der Komplexität einer (sozialen) Situation unter Berücksichtigung verschiedener intentionaler Aspekte. Bei diesen intentionalen Aspekten sind für das Weitere vor allem die präintentionalen von Bedeutung. Unter präintentionalen Aspekten einer Handlung versteht man diejenigen biografisch bedingten Aspekte, die der Bildung einer Absicht und damit der Möglichkeit einer Handlung zu Grunde liegen (Brandtstädter/Greve 1999). Das Bilden von Absicht ist einerseits selbst kein intentionaler Akt, andererseits geschieht es nicht bedingungslos. Vielmehr lassen sich Absichten zumindest teilweise auf die jeweilige Entwicklung zurückführen, denn es ist eindeutig, dass wir nicht losgelöst von biografischer und gesellschaftlicher Prägung handeln, dass also „das individuelle System von Durchführbarkeiten sozusagen eine biografische Dimension“ hat (Luckmann 1992, S. 61). Die präintentionalen Aspekte sind deswegen hier bedeutsam, weil sie das Erzeugen von Situationen erst ermöglichen. Situationen präsentieren einen Ausschnitt der Lebenswelt, die wiederum verstanden wird als „ein Reservoir von Selbstverständlichkeiten oder unerschütterlichen Überzeugungen, welche die Kommunikationsteilnehmer für kooperative Deutungsprozesse benutzen“ (Habermas 1987b: 189). Situationen werden erzeugt durch das Thematisieren eines Ausschnitts der Lebenswelt, sind ein Bestandteil davon. Das Erzeugen bzw. Thematisieren wiederum geschieht vor dem Hintergrund der präintentionalen Aspekte, der jeweiligen biografischen und gesellschaftlichen Bedingtheit. Kompetentes Handeln ist daher in Form der Erzeugung und Bewältigung von Situationen nur vor diesem Hintergrund verstehbar. Ein solches Handeln kann sich auf alle (sozialen) Lebensbereiche (Familie, Beruf, Freundschaften etc.) beziehen. Hier möchte ich es insbesondere in Bezug auf den Beruf und auf die jeweils subjektiven Entwicklungen im Berufsleben – in der Berufsbiografie – betrachten. Dazu bietet sich zum einen ein Rückgriff auf die Systemtheorie an als einer Möglichkeit, soziale Strukturen und ihre Zusammenhänge zu erläutern. Zum anderen stehen biografische Prozesse mit ihren soziologischen und handlungstheoretischen Implikationen im Vordergrund. Wenn sich kompetentes Handeln darin äußert, selbständig, selbstverantwortlich, kreativ, selbstorganisierend und flexibel Entscheidungen zur Reduktion von Komplexität zu treffen, dann bezieht sich das vornehmlich auf soziale Systeme (vgl. kommunikatives Handeln). „Kompetentes Handeln“ bezieht sich also zunächst auf eine Operation im psychischen System, nämlich die Entscheidung. Im sozialen System wirkt sich diese Operation als Kommunikationsereignis über die getroffene Entscheidung aus. Von Komplexitätssteigerungen sind jedoch psychische Systeme ebenso betroffen. Dadurch, dass ein psychisches System an ein soziales gekoppelt ist und zur Kommunikation beiträgt, steigert
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es die Komplexität in letzterem ebenso wie andere Systeme in der Umwelt. Umgekehrt gilt das gleiche, also ein Komplexitätsaufbau im psychischen System durch die jeweils relevanten sozialen Systeme (Luhmann 1999: 100ff.). Bedingt durch die Homöostasebestrebungen jedes Systems muss jeweils Komplexität soweit reduziert werden, dass sie für das jeweilige System auszuhalten ist. Dies gilt sowohl für psychische, als auch für soziale Systeme. Für Biografie bzw. Lebenslauf haben diese Vorüberlegungen einige Bedeutung. Ich möchte im Weiteren zunächst zwischen diesen beiden Begriffen unterscheiden (siehe auch, wenn auch mit anderem Fokus, Kade 2005), auch wenn eine Differenzierung von Lebenslauf und Biografie nicht in allen Fällen theoretisch unproblematisch ist (vgl. Brose 1986: 7; Sackmann 2007: 50ff.). Unter einem Lebenslauf soll für das Weitere der tatsächliche (‚objektivierbare‘) Verlauf eines individuellen Lebens verstanden werden. Als solcher ist er zunächst analog in dem Sinne, dass er in der Spanne zwischen Geburt und Tod keine natürlichen Haltepunkte hat, sondern kontinuierlich abläuft. Der Lebenslauf wird erst durch seine Beschreibung – durch die Biografie – in Segmente unterteilt und damit digitalisiert.1 Dazu werden Brüche, Wendepunkte, Institutionen usw. mit ihren subjektiven Begründungen als Orientierungs- und Strukturierungshilfen verwendet: „Biographien als konkret gelebtes Leben beinhalten immer beides: Emergenz und Struktur“ (Alheit/Dausien 2006: 417)2. Biografie meint die Beschreibung eines Lebenslaufes, ist „immer Resultat individueller Wahrnehmungs- und Deutungsakte“ (Kade 2005: 3) und als solche nicht mit ihm identisch. Sie ist notwendigerweise digital, da andernfalls die Beschreibung eines Lebenslaufes ähnliche Zeiträume beanspruchen müsste. Genau so, wie die analoge Zeit als a priori durch den Menschen a posteriori in Sekunden, Minuten etc. unterteilt und damit digitalisiert wird (Kant 2003: 67ff.), reduziert die Biografie das Analoge des Lebenslaufs durch Digitalisierung. Eine Biografie bezieht sich auf besondere Stationen und zeitliche Segmente im Umfeld der Stationen, die Digitalisierung führt zur Segmentierung des Lebenslaufs. Die dazwischen liegenden Abläufe verbleiben dabei weitestgehend unthematisiert im Kontinuum des bisher gelebten Lebens. Eine Digitalisierung wird in Biografien jeweils am konkreten Thema vorgenommen: Eine Berufsbiografie präsentiert z.B. andere Stationen, andere zeitliche Abschnitte als eine Lernbiografie, ohne dass diese Abschnitte jeweils trennscharf wären. Biografie stellt dabei sowohl eine (interne) Reflexion als auch eine (externalisierte) Beschreibung eines Lebenslaufs dar. Im Falle des Zusammentreffens
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In der Biografieforschung wird die Unterteilung als „Segmentierung“ bezeichnet. Hier ist jedoch nicht der Ausschnitt, sondern der Umstand des Setzens von Zäsuren gemeint, daher der Ausdruck „digitalisieren“. Ergänzend ließe sich hinzufügen, dass Biografie durch die Beschränkung auf Abschnitte des Lebenslaufs immer auch Kontingenz besitzt.
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von Reflexion und Beschreibung sprechen wir von einer Autobiografie. Eine externe Beschreibung ist zwar nicht notwendigerweise auf die interne Reflexion des Biografieträgers angewiesen. Unter seiner Auslassung fehlt jedoch die Rationalisierung der jeweiligen Passagen des Lebenslaufs, und die Biografie wird lediglich zur Beschreibung des extern wahrnehmbaren Teils. Man könnte vermuten, dass es sich dann mehr um die Rekonstruktion eines Lebensverlaufs handelt, in dem die subjektiven Momente notwendigerweise ausgegrenzt werden.3 In aller Regel können wir jedoch davon ausgehen, dass Biografien nicht ohne die (auch indirekte) Beteiligung des Trägers der Biografie in der einen oder anderen Form (z.B. schriftlich) zu Stande kommen. Durch die Digitalisierung als Verweisung auf einzelne Themen und deren zeitliches Umfeld – mithin als Selektionsleistung – reduziert eine Biografie die einem Lebenslauf inhärente Komplexität: Das Analoge wird strukturiert und damit begreifbar. Auf der Ebene des psychischen Systems wird so der Strom der Ereignisse auf ein jeweils situationsabhängig verarbeitbares Maß reduziert. Das bedeutet auch, dass die Existenz von Struktur ermöglichenden Themen nötig ist. Fehlen diese Themen, dann reduziert die Biografie die Komplexität zu stark; sie wird aussagelos, weil sie sich lediglich auf wenige Punkte beziehen kann. Das kann bspw. in Bezug auf Berufsbiografien bei langen Passagen der Arbeitslosigkeit der Fall sein, wo die Biografie strukturierenden Momente nicht mehr oder nur noch spärlich auffindbar bzw. nicht dem Beruf zuzuordnen sind.4 Andererseits kann eine Vielzahl von relevanten Themen zu einer erhöhten Komplexität der Biografie selbst führen und damit das reduzierende Moment ein Stück weit unterminieren. In beiden Fällen liegt daher das mögliche Aktionsfeld der Komplexitätsveränderung des Lebenslaufs nicht lediglich im psychischen, sondern auch in den Umweltsystemen. Dazu müssen wir zunächst den Lebenslauf selbst und die dazugehörigen Wechselwirkungen zwischen psychischem und Umweltsystem noch genauer betrachten. Wenn wir den Lebenslauf als das Kontinuum zwischen Geburt und Tod ansehen, dann hat er sowohl eine individuelle als auch eine soziale Dimension, die sich gegenseitig bedingen. Die individuelle Seite repräsentiert das persönliche Erleben. In ihm macht das Individuum Erfahrungen, hier entwickeln sich Handlungsabsichten, die den weiteren Lebenslauf beeinflussen bzw. gestalten können. Die soziale Seite bezieht sich auf das unvermeidliche Einwirken des Individuums auf seine soziale Umwelt. Dieses Einwirken hat natürlich wiederum Folgen für das Individuum selbst in Bezug auf seine Identitätsentwicklung (vgl. z.B. Mead 1998) und beeinflusst so das Erleben im Lebenslauf. Systemtheoretisch ausgedrückt: Die strukturelle Kopplung eines psychischen Systems an ein
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Es ließe sich darüber diskutieren, in wie weit es sich hier noch um eine Biografie handelt. Vgl. hierzu die Analyse von benachteiligten Jugendlichen bei Heisler (2008).
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oder mehrere Systeme in seiner Umwelt führt zu gegenseitiger Irritation und gegenseitigem Komplexitätsaufbau. Für das psychische System stellt sich dieser Komplexitätsaufbau im Lebenslauf in der beschriebenen doppelten Hinsicht dar: zum einen als Autopoiesis des Erlebens, zum anderen als Interpenetration von Umwelt und psychischem System. Zur Reduktion dieser Komplexität stehen nun verschiedene Mechanismen zur Verfügung, die sich wiederum nach ihrer Wirkrichtung unterscheiden. In Bezug auf die Autopoiesis des Erlebens wird das Erlebte zumeist erstmal subjektiv strukturiert, um es bereits Erlebtem zuordnen bzw. letzteres ergänzen zu können (vgl. auch von Glasersfeld 1998). Wenn wir davon ausgehen, dass ein Erlebnis zunächst einen analogen Strom von Ereignissen bedeutet, dann findet im Rahmen dieser Zuordnung eine erste Digitalisierung in Form der Konzentration auf das Verarbeitbare (und damit eine Komplexitätsreduktion) statt.5 Diese Prozesse sind vornehmlich nach innen gerichtet. Aber auch nach außen kann die Komplexität des Erlebens reduziert werden, indem der Einzelne entweder nach dem Verarbeiten oder bereits antizipierend (was letztlich auch eine Form der Verarbeitung darstellt) auf die Umweltsysteme entsprechend einwirkt. Gelingt ihm dabei eine Reduktion der Komplexität in seiner Umwelt, so bedeutet das gleichzeitig eine Verminderung der weiteren Erlebenskomplexität. Indem er den Lebenslauf als Medium benutzt, gibt er ihm so eine verarbeitbarere Form (Luhmann 1997). Diese Form der Komplexitätsreduktion des Lebenslaufs nach außen soll uns im Weiteren beschäftigen. Mit ihrer Hilfe möchte ich zeigen, wie sich kompetentes Handeln in Berufsbiografien äußert, wie es von den Biografieträgern dargestellt wird und welche Auswirkungen es auf die jeweilige berufliche Perspektive hat. 2.
Kurze methodische Anmerkung zur Datenerhebung
Das diesen Betrachtungen zu Grunde liegende Datenmaterial wurde im Rahmen von zwei Forschungsprojekten erworben.6 Für den vorliegenden Zweck erscheinen solche Biografien als besonders geeignet, die einen möglichst langen Zeitraum umfassen, da hier eine Entwicklung kompetenten Handelns wahrscheinlicher ist. In den zu Grunde gelegten Projekten wurden „ältere“ Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Unternehmen verschiedener Branchen sowie Arbeitslose in Thüringen mittels Leitfaden gestützter Interviews zu ihrer beruflichen
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Möglich wäre natürlich auch das Ignorieren nicht verarbeitbarer Erlebnisse, was jedoch zumindest längerfristig kaum zu einer Reduktion der Komplexität führt. Das eine Projekt mit dem Kurztitel „AgeQual“ wurde im Rahmen des europäischen Leonardoda-Vinci-Programms gefördert, das zweite („IntegrAL“) aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds im Freistaat Thüringen.
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Biografie befragt. Der Terminus „Ältere“ verweist dabei auf eine Altersspanne zwischen 45 und 64 Jahren. Zu diesen Zeitpunkten liegen zumeist 25 und mehr Berufsjahre hinter den Befragten. Die Reflexion, die Digitalisierung dieser Lebensspanne zeigt auf, wie sie in dieser Zeit mit sich ändernden beruflichen Anforderungen umgegangen sind. Ausgangspunkt der Interviews war zunächst eine Schilderung der jeweiligen Berufsbiografie, wobei bei einzelnen Punkten wie Arbeitsplatzwechseln und Weiterbildungen sowohl nach der Verantwortlichkeit als auch nach den Gründen gefragt wurde. Daran anschließend wurden die noch beschäftigten Teilnehmerinnen und Teilnehmer unter der Prämisse, dass es heutzutage keine Selbstverständlichkeit mehr sei, jenseits des 50. Lebensjahres noch erwerbstätig sein zu können, dazu angeregt, ihren eigenen Beitrag zu dem Umstand zu schildern, dass sie nach wie vor einen Arbeitsplatz hätten. Die Frage zielte darauf ab herauszufinden, welche individuellen oder strukturellen Gründe die Einzelnen für eine „erfolgreiche“ (im Sinne von persistierende) Berufslaufbahn verantwortlich machen. Korrespondierend dazu wurden die älteren Arbeitslosen danach gefragt, welche Gründe sie für ihre Arbeitslosigkeit anführten.7 Präzisiert wurden diese Aspekte bei beiden Gruppen um die Nachfrage nach persönlich erlebten Einflussmöglichkeiten und -gegebenheiten bei diesen Prozessen. Aus den so gewonnenen Daten ließen sich individuelle und quer vergleichbare „Berufsschicksale“ konstruieren, die einen guten Überblick über die jeweils individuelle Digitalisierung der beruflichen Lebensläufe ergeben und zugleich aufzeigen, an welchen Stellen in der Biografie aktiv eingegriffen wurde, um die Komplexität des Lebenslaufes zu beherrschen bzw. zu reduzieren. Das eigentliche Ziel der Interviews, individuelle Strategien zur Bewältigung eines Berufslebens aufzuzeigen, führte zu einer Herangehensweise an die Interviews nach den Ideen der Grounded Theory (vgl. z.B. Glaser et al. 2008). Es zeigte sich in der Auswertung der ersten 20 Interviews mit älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, dass sich Muster wiederholten. Auch weitere Befragungen ergaben bezüglich unserer Fragestellungen keine neuen Hinweise, weswegen hier lediglich die ersten 20 Fälle dargestellt werden sollen sowie die der 10 Arbeitslosen.8
7 8
Die Leitfäden enthielten noch weitere Elemente, die sich mehr auf Personalentwicklung im Betrieb bezogen und im vorliegenden Zusammenhang keine Rolle spielen sollen. Letztere konnten im Rahmen der Projekte nur unter Schwierigkeiten zu Interviews bewegt werden. Die Auswahl kann nicht den gleichen Anspruch wie die der Beschäftigten erheben.
Kompetenz als Gestaltung von Biografie und Lebenslauf
3.
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Digitalisierung beruflicher Lebensläufe zu Berufsbiografien
Die Charakteristik qualitativer Daten ist ein vergleichsweise große Unüberschaubarkeit der Ergebnisse. Will man sich nicht auf die Ebene der Einzelfalldarstellung begeben, so ist die Herausarbeitung von Vergleichsaspekten notwendig. Methodisch befinden wir uns hier in einem Dilemma: Um Daten zu vergleichen, bietet sich vorrangig eine quantitative Herangehensweise an, die genug Fälle generiert, um zu validen Aussagen zu kommen. Im Hinblick auf das hier dargestellte Thema wäre mit einem solchen Vorgehen jedoch die antizipative Kodierung möglicher Verläufe verbunden, was aufgrund der potentiellen Vielfalt der Möglichkeiten und der Kreativität der Einzelnen im Umgang mit beruflichen Herausforderungen zu einschränkend wäre (siehe auch das Interviewbeispiel unten). Ein qualitativer Zugang bietet hier den Vorteil, die Begründungszusammenhänge interpretieren zu können. Allerdings leidet unter einem interpretativen Zugang ein Stück weit der Aspekt der Vergleichbarkeit. Im vorliegenden Fall wurde daher versucht, aus den Texten Vergleichsaspekte zu kodieren und zu quantifizieren.9 Einen weiteren methodischen Aspekt betrifft die Anlage der Untersuchung als Retrospektive im Gegensatz zu der Möglichkeit der Verwendung von Beobachtungsdaten. Gezeigt werden soll, wie sich kompetentes Handeln manifestiert, welche Strategien Personen angeben, entwickelt zu haben, um mit beruflichen Umbruchsituationen umzugehen. Natürlich verklärt sich die Betrachtung der Biografie in der Retrospektion ein Stück weit. Jedoch sind die Strategien der Bewältigung nicht ohne weiteres an einzelnen, aktuellen Situationen fest zu machen, denn die Langfristigkeit der Entwicklungen macht es nahezu unmöglich, eine „echte“ Umbruchsituation für eine Untersuchung zu terminieren, die nicht durch den Einfluss des Beobachters verfälscht wird. Die Retrospektiven zeigen, wann und wie Personen angeben, Situationen reaktiv oder proaktiv erfolgreich bewältigt zu haben. Der Nachteil der „Verklärung der Vergangenheit“ lässt sich durch den Vergleich der Fälle und die Entdeckung von Gemeinsamkeiten ein Stück weit abmildern. In Bezug auf Berufsbiografien bedeutet das, dass wir uns zunächst Gedanken darüber machen müssen, was sich zur Charakterisierung von beruflichen Biografien eignet, um sie möglichst anschaulich und untereinander vergleichbar darstellen zu können. Wir benötigen also Kategorien zur Aufarbeitung des biografischen „Rohtextes“. Dabei kommen uns die Mechanismen der individuellen Digitalisierung des Lebenslaufs zu Hilfe. Wie einleitend bereits dargestellt,
9
Unter dieser Perspektive ist die Untersuchung als ein erster Ansatz zu verstehen, der mit weiteren, quantitativen Untersuchungen zu ergänzen ist. Aktuell befindet sich eine solche Untersuchung in der Konzeptionsphase.
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findet diese anhand einzelner Themen statt, an Stationen, die für den Biografieträger bedeutsam sind. In Berufsbiografien sind solche leicht aufzufinden. Das, was eine Berufsbiografie immer strukturiert, sind Wechsel der Tätigkeit und Wechsel des Betriebs. Sie markieren subjektiv wichtige (Wende-)Punkte im Lebenslauf. Oftmals, aber durchaus nicht immer, sind sie auch Ereignisse, die der jeweils individuellen Entscheidung unterworfen sind, und stellen damit Aspiranten auf die Verdeutlichung kompetenten Handelns dar. In den Fällen, in denen solche Wechsel nicht der individuellen Entscheidung unterliegen (bspw. Betriebswechsel nach Entlassung, Tätigkeitswechsel nach längerer Arbeitslosigkeit), stellt das Umgehen mit solchen Umbruchsituationen im Hinblick auf die subjektive Verarbeitung in der Biografie den oben dargestellten Fall der Autopoiesis des Erlebens dar. Tätigkeits- und Betriebswechsel sind zunächst wertneutral. Ob ein solcher Wechsel für das weitere Berufsleben förderliche oder hemmende Auswirkungen hat, lässt sich aus der bloßen Tatsache nicht ablesen. Insofern stellen die beiden Wechselpunkte zwar prinzipielle Möglichkeiten kompetenten Handelns dar, sind allein jedoch nicht hinreichend, um zu beurteilen, ob es zu einer Reduktion der Komplexität des beruflichen Lebenslaufes gekommen ist. Notwendig sind vielmehr ergänzende Kategorien, die die Qualität der Wechsel illustrieren. Dafür bieten sich zum einen „Einkommen“ und zum anderen „beruflicher Status“ an.10 Während „Einkommen“ eine vergleichsweise leichter zu quantifizierende Kategorie darstellt, die im Bezug auf Berufsbiografien mit der subjektiven Empfindung eines Mehrwerts der neuen, besser bezahlten Tätigkeit gleichgesetzt werden kann, meint „beruflicher Status“ eine stärker qualitative, schwierig zu quantifizierende Kategorie. Allerdings ist bekannt, dass Entscheidungen über berufliche Veränderungen nicht nur auf der Grundlage monetärer Anreize getroffen werden, so dass die Frage des Status für eine Betrachtung über kompetentes Handeln im Lebensverlauf einige Bedeutung bekommt. Die vorliegenden Daten wurden nach diesen Kategorien klassifiziert, die sich aus den geschilderten Berufsbiografien extrahieren und für eine bessere Darstellung in Zahlenwerte überführen lassen. Dabei wurden für die Betriebswechsel alle Wechsel nach der ersten beruflichen Ausbildung (inklusive Studium) gezählt. Unter „Tätigkeitswechsel“ fielen alle solchen beruflichen Veränderungen, die eine nicht nur geringfügige Veränderung des Aufgabenbereichs umfassten. Dazu gehörten sowohl Aufwertungen der Arbeit im gleichen Tätigkeitsfeld (z.B. zusätzlich Übernahme von Leitungsfunktionen) als auch horizontale Verschiebungen (Wechseln von einer Tätigkeit in eine inhaltlich andere,
10
Unter beruflichem Status soll hier das berufliche Selbstverständnis, die subjektive Zufriedenheit mit Arbeitstätigkeiten und das gesellschaftliche Ansehen der ausgeübten Tätigkeiten verstanden werden
Kompetenz als Gestaltung von Biografie und Lebenslauf
199
jedoch gleichwertige) oder berufliche Abstiege (bspw. von Facharbeiter- zu ungelernten Tätigkeiten). Zur besseren Übersichtlichkeit wurden die Tätigkeitswechsel nicht nur gezählt, sondern zusätzlich in einem fünfstufigen Raster eingeordnet, das auch ansatzweise den beruflichen Status aus der Beobachterperspektive widerspiegelt. Das Raster hat die folgende Form: Tabelle 1: Kodierung der Tätigkeiten 1
Un- und angelernte Tätigkeiten
2
Tätigkeiten mit Berufsausbildung (Standard)
3
Planende Tätigkeiten (Vorarbeiter, Planer, Schichtmeister)
4
Einfache Leitungsaufgaben (Abteilungsleiter)
5
Leitende Tätigkeiten, F&E, Selbständigkeit
Bewusst wurde nicht nach dem Abschluss klassifiziert, sondern nach der Tätigkeit selbst. „Tätigkeiten mit Berufsausbildung“ meint daher einen Aufgabenbereich, der eine abgeschlossene Berufsausbildung erfordert, und nicht den Umstand, dass jemand einen Abschluss erworben hat (obschon das meist koinzidierte). Die qualifizierenden Merkmale „beruflicher Status“ und „Einkommen“ wurden direkt erfragt.11 Diese Vorgehensweise ist natürlich mit einiger Unsicherheit bezüglich der Retrospektive der Interviewpartner behaftet. Der Aspekt „beruflicher Status“ konnte anhand der verschiedenen Tätigkeiten nachvollzogen werden. In Bezug auf die Einkommensveränderungen konnte keine derartige Gegenüberstellung stattfinden. Es ist jedoch anzunehmen, dass eine generelle finanzielle Entwicklung über ein Berufsleben hinweg von jedem Interviewten eingeschätzt werden kann. Die beiden Merkmale „beruflicher Status“ und „Einkommen“ wurden aus den Texten heraus in eine Ordinalskala kodiert. Mit Hilfe einer solchen doppelten Kodierung lassen sich die Veränderungen im Lebenslauf grafisch darstellen. Die Darstellungen geben einen Überblick über die und einen Vergleich der jeweiligen Berufsverläufe.
11
„Waren die erwähnten Berufs-, Arbeitsplatz- oder Betriebswechsel (I: erwähnte wiederholen!) für Sie persönlich eher ein Aufstieg, ein Abstieg oder hat sich für Sie nichts verändert? (I: sowohl finanziell als auch Status)“
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Abbildung 1: Berufssverläufe älterer Beschäftigter
Die hier dargestellteen Linien geben Auf- und Abstiege im Verlaufe jeweills eines bisherigen Berufsleebens wieder. Zu sehen sind Berufsverläufe von derr „Normalbiografie“ (Linie auf einer Ebene über verschiedene Wechsel hinwegg) über „Karrieren“ (steilerr Anstieg und Verbleib auf hoher Ebene) bis hin zuu völlig willkürlich erscheinnenden Berufsverläufen mit teilweise extremen Auuf- und Abstiegen in der Quualität der Tätigkeiten. Die hier dargestellten 20 Fällee bilden die Gruppe der „Errfolgreichen“, also derjenigen, die mit über 50 Jahreen noch erwerbstätig sind. Im Kontrast dazu steht die Gruppe der älteren Arbeittslosen. Ihre Berufsverläufe haben große Ähnlichkeiten insofern, als sie im Vergleich zu e den älteren Beschäfftigten zunächst sehr unstrukturiert und wechselhaft erscheinen. Natürlich ist der d aktuelle Endpunkt bei allen dieser Gruppe „0“, was w den Status der Arbeitsloosigkeit angibt. Die Wege dahin unterscheiden sich jedoch beträchtlich.
Kompetenz als Gestalttung von Biografie und Lebenslauf
201
Wie zu sehen ist, waren die Ausgangssituationen different, wir finden m ehemals leitenden Tätigkeiten als auch solche mit „Stanebenso Personen mit dard“-Tätigkeiten. Bemerkenswert B ist, dass die Arbeitslosigkeit zumeist über Zwischenstationen erreicht wurde, die jeweils auf niedrigeren Ebenen als die B vorherigen Tätigkeiiten angesiedelt waren. An solchen Punkten wird der Berufslebenslauf zur Beruufsbiografie digitalisiert. Und hier können wir festtstellen, inwieweit die Intervviewpartner in der Lage waren, kompetent zu handeeln, um die Komplexität dees beruflichen (und auch des korrespondierenden prrivaten) Lebenslaufs zu reduuzieren. Abbildung 2: Berufssverläufe älterer Arbeitsloser
202
4.
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„Strategien“ zur Bewältigung des Berufslebens – kompetentes Handeln im Lebenslauf
Der Lebenslauf als analoges Kontinuum verläuft in Teilen selbst bestimmt, in anderen Teilen haben Individuen eher den Eindruck, dass sie „machtlos“ als Spielball anderer, zumeist gesellschaftlicher Kräfte durch das Leben gehen. Für unsere Untersuchung ist der Umstand interessant, dass es in Bezug auf den beruflichen Lebenslauf unterschiedliche Grade an Eigenaktivität beim Einzelnen gibt, die darüber Aufschluss geben, mit welchen Mitteln jemand versucht, sein Leben zu gestalten. Im Weiteren sollen diese Vorgänge „Strategien“ genannt werden, auch wenn sie streng genommen und in Bezug auf teleologisches Handeln keine solchen sind. Sie dienen der Illustration der jeweiligen retrospektiven Betrachtung des eigenen Lebenslaufs und der Illustration der individuellen Digitalisierungsbemühungen. Die Interviewten wurden im Anschluss an die Schilderung ihrer Biografie gefragt, wie selbst- oder fremdbestimmt die jeweiligen Wechsel waren und ob sie so etwas wie eine „Strategie“ zum Umgang mit sich ändernden beruflichen Anforderungen entwickelt hätten. Die Aussagen hierzu variieren von „keine Strategie“ bis hin zu ausgesprochen erstaunlichen Vorgängen, die erhebliche Aktivität und Kreativität im Umgang mit Veränderungen attestieren. Die Aussagen zu den Strategien wurden zunächst aus den Texten heraus kodiert und anschließend in vier Stufen eingeteilt: „keine Strategie“, „passiv“, „Weiterbildung“ und „informelles Lernen/Informationssuche“. Diese Kodierung spiegelt den Grad der Eigenaktivität wieder zwischen den Polen „keine Strategie“ und dem aktiven Bemühen, seine eigene Employability durch das Bemühen um Informationen für die eigene berufliche Weiterentwicklung zu sichern. Betrachtet nach den Kategorien „beschäftigt“ bzw. „arbeitslos“ fällt auf, dass von letzteren lediglich zwei Personen eine Art Strategie entwickelt hatten. Diese beruhte auf „learning by doing“ und auf der aktiven Informationssuche. Alle anderen verhielten sich gegenüber Veränderungen passiv in dem Sinne, dass sie zwar selbst nicht aktiv an der Bewältigung von Veränderungen gearbeitet haben, jedoch auf Hilfsangebote eingegangen sind. Wieder andere gaben an, keine Strategien entwickelt zu haben. Bei den aktuell in Beschäftigung befindlichen Personen ist das Spektrum an Strategien deutlich breiter. Auch hier finden sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die weitgehend passiv durch ihr Berufsleben geschritten sind, aber auch deutlich andere Fälle. Das Spektrum reicht von der Aussage, dass Weiterbildung strategisch eingesetzt werde, über das Bestreben, so viele berufliche Informationen wie möglich zu sammeln, bis hin zu selbstgesteuertem Lernen durch den eigeninitiativen Besuch von Fachmessen oder das Anfordern und Studieren von Probeexemplaren zukünftig im Betrieb einzusetzender Software
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mit anschließender Multiplikatorentätigkeit. Exemplarisch für solche Strategien sei hier ein kurzer Ausschnitt aus einem Interview mit einem älteren Arbeitnehmer gegeben (Hervorh. durch M.V.): „Beworben habe ich mich auch viel; wo ich noch zwischen 48 und 50 [war], habe ich mich immer beworben. Weil ich immer der Meinung war, man hat zwar einen ordentlichen Job, aber man muss mal das... was draußen noch so, was es so gibt. Und habe mich hauptsächlich da beworben, wo sie hingeschrieben haben, sie suchen nur junge, dynamische, erfolgreiche Mitarbeiter. (…) ich schreibe dahin, und glattweg haben Sie mich auch noch immer eingeladen. (…) weil wir führen ja auch oben Personaleinstellungen, deswegen, jeder weiß ja dann, wie er sich zu verhalten hat (…). (…) für mich war das einfach (…) eine Fachbildung“ (I7m, 171-188). Eine kurze Erläuterung ist hier angebracht: Der Interviewpartner arbeitete zum Interviewzeitpunkt bereits seit vielen Jahren in „seinem“ Betrieb. Insbesondere im bereits fortgeschritteneren Alter bewarb er sich aus der ungekündigten Stellung heraus mehrfach in anderen Unternehmen. Dabei hatte er nach eigenen Angaben zu keinem Zeitpunkt die Absicht, seine Stellung zu wechseln. Vielmehr nutzte er die Bewerbungen zur Überprüfung des eigenen Arbeitsmarktwertes und vor allem dazu, sich selbst Kenntnisse über das Führen von Vorstellungsgesprächen anzueignen, insbesondere im Hinblick auf gewisse Besonderheiten einer derartigen Situation. Diese Kenntnisse setzte er dann in der Rolle des Einstellenden in seiner Firma um. Eine solche Aktivität soll im Weiteren als „Strategie des selbstorganisierten Lernens“ bezeichnet werden. Aus der eingangs skizzierten Perspektive heraus betrachtet, stellt die Vorgehensweise des Interviewten eine kompetente Handlung dar. Sie war in hohem Maße selbständig, selbstverantwortlich, kreativ, selbstorganisierend und zeugte von einer gewissen Flexibilität in Bezug auf die Bewältigung von Situationen. Im vorliegenden Fall wurde nicht nur eine Situation mehr oder weniger reaktiv erfolgreich bewältigt, sondern – da es keinen unmittelbaren und konkreten Anlass gab – eine solche selbst erzeugt. Offensichtlich thematisierte der Interviewpartner in dem diskutierten Zeitraum einen Ausschnitt seiner eigenen Lebenswelt. Deren Inhalt, seine Überzeugungen etc., war es u.a., dass zukünftige berufliche Situationen durch entsprechende eigene Aktivitäten vorzubereiten seien. Diese Vorbereitungsabsicht setzte er in der ungewöhnlichen Art seiner „Weiterbildung“ um. Dadurch wurde nicht nur die Komplexität künftiger beruflicher Konstellationen reduziert, sondern auch sein eigener beruflicher Lebenslauf. Dazu sollten wir an dieser Stelle klären, was mit „Komplexitätsreduktion“ in Bezug auf den Lebenslauf gemeint ist. Wie einleitend ausgeführt, kann sich biografisch relevantes kompetentes ‚Handeln‘ auf soziale und auf psychische Systeme beziehen. Wesentliches Merkmal ist, dass Entscheidungen zur Reduktion der Komplexität des Lebens-
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laufs in den jeweiligen Bezugssystemen getroffen werden. Für das soziale System könnte eine Reduktion der Komplexität bspw. bedeuten, dass unintendierte berufliche Wechsel vermieden bzw. intendierte forciert werden. In Bezug auf das psychische System wird Komplexität u.a. dann reduziert, wenn die persönliche berufliche Zukunftsaussicht sicherer erscheint. In beiden Fällen gilt, dass der Inhalt der Komplexitätsreduktion natürlich subjektiver Natur ist und den jeweiligen Intentionen bzw. präintentionalen Aspekten folgt. Es wäre dabei vermessen anzunehmen, dass singuläre Handlungen eine solche Reduktion leisten können. Vielmehr ist es die „Fähigkeit“ zur Thematisierung von Ausschnitten aus der Lebenswelt, die im Weiteren dazu führt.12 In Bezug auf Berufsbiografien können wir davon ausgehen, dass positive berufliche Aussichten für das psychische System eine Reduktion der Komplexität des Lebenslaufs bedeuten. Dadurch werden andere Verweisungszusammenhänge wie bspw. Sorge über die eigene berufliche Zukunft, damit einher gehende, eventuell notwendige Entscheidungen im familiären Umfeld (Umzug etc.) sowie finanzielle Aspekte vermindert. Allerdings können wir nicht ohne weiteres konstatieren, dass das Vorhandensein von Strategien zu positiven Aussichten führt. Die Interviewten wurden daher gefragt, wie sie selbst ihre berufliche Zukunft sehen. Wieder wurden die Aussagen zunächst aus den Texten extrahiert, in die Kategorien „pessimistisch“ und „optimistisch“ überführt und ordinal skaliert. In einem nächsten Schritt und zur Vorbereitung größerer Untersuchungen sollen Zusammenhänge zwischen den einzelnen Faktoren der Berufsbiografie überprüft werden Betrachten wir für das eingeschränkte Sample die Zusammenhänge zwischen dem Vorhandensein von Strategien, der Anzahl der Betriebswechsel und der Tätigkeitswechsel mit den persönlichen Aussichten, so lassen sich Korrelationen ausschließlich für den Zusammenhang mit Betriebswechseln finden
12
An bereits zitierter Stelle habe ich diesen Umstand als das beschrieben, was eigentlich „Kompetenz“ bedeutet.
Kompetenz als Gestaltung von Biografie und Lebenslauf
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Tabelle 2: Korrelation zwischen der Anzahl der Betriebswechsel und der individuellen Zukunftsperspektive
Spearman-Rho
Aussicht
Betriebswechsel
Aussicht
Betriebswechsel
Korrelationskoeffizient
1,000
-,592(**)
Sig. (2-seitig)
.
,001
N
26
26
Korrelationskoeffizient
-,592(**)
1,000
Sig. (2-seitig)
,001
.
N
26
30
Wie zu sehen ist, besteht bei den Interviewten älteren Beschäftigten und Arbeitslosen ein signifikanter negativer Zusammenhang der Anzahl der Betriebswechsel mit den persönlichen beruflichen Aussichten. Das führt unsere Analyse kompetenten Handelns nicht ins Leere, sondern zeigt vielmehr die Bedeutung präintentionaler Aspekte. Die Erfahrung häufiger Betriebswechsel lässt das Individuum hier offenbar den zukünftigen beruflichen Lebenslauf negativ antizipieren, auch und gerade vor dem Hintergrund des Wissen über die Schwierigkeit, im fortgeschrittenen Alter einen weiteren Wechsel vollziehen zu können. Bei denjenigen, die mehr als vier Betriebswechsel erlebt haben, findet sich darüber hinaus keine Strategie zum Umgang mit Veränderungen. Die Lebenswelt dieser Personen enthält offenbar wenig positive Erfahrungen, die sie thematisieren könnten, um kompetent zu handeln. Neun der dreißig Interviewten gaben an, eine Strategie zur Bewältigung beruflicher Veränderungen entwickelt zu haben. Es ist auffallend, dass diese neun „Strategen“ maximal vier Betriebswechsel in ihrer Biografie zu verzeichnen hatten, sieben von ihnen sogar maximal zwei. Das präsentiert keinen statistischen Zusammenhang. Vielmehr könnten wir schlussfolgern, dass die Entwicklung von Strategien diesen Personen vor dem Hintergrund ihrer bisherigen Erfahrungen im Betrieb eine gewisse Sicherheit gibt, diesen Status zu erhalten, was sich in positiven Zukunftsaussichten niederschlägt. Mit anderen Worten: Ihr kompetentes Handeln (ihre Entscheidung) hat für sie zu einer Reduktion der Komplexität des beruflichen Lebenslaufs im psychischen System geführt. Einen weiteren Anhaltspunkt für diese Feststellung liefert uns die Zusammenschau zwischen der Ausprägung von Strategien und der jeweiligen finanziellen Entwicklung. Hier sehen wir, dass ein positiver Zusammenhang zwischen diesen
206
Matthias Vonken
beiden Aspekten besteht.13 Wenn wir davon ausgehen, dass eine finanzielle Aufwärtsentwicklung bei abhängiger Beschäftigung zumindest ein Stück weit mit beruflicher Sicherheit einhergeht, dann zeigt sich auch hier die Komplexitätsreduktion. Tabelle 3: Korrelation zwischen der Ausprägung der Strategien und der individuellen finanziellen Entwicklung in Bezug auf Entlohnung Spearman-Rho
Strategien
Finanz. Entw.
Strategien
Finanz. Entw.
Korrelationskoeffizient
1,000
,418(*)
Sig. (2-seitig)
.
,033
N
29
26
Korrelationskoeffizient
,418(*)
1,000
Sig. (2-seitig)
,033
.
N
26
27
Fazit Dieser Aufsatz ist ein Versuch, die Theorie kompetenten Handelns für die Auswertung und Interpretation biografischer Interviews zu nutzen. Dafür wurden qualitative Daten zum Teil quantifiziert, um sie für eine vergleichende Betrachtung leichter nutzbar zu machen. Im Ergebnis zeigt sich, dass sich kompetentes Handeln an der Entwicklung von Strategien zur Bewältigung beruflicher Veränderungen verdeutlichen lässt. Dadurch, dass ein Handelnder durch seine Entscheidungen aktiv seinen Lebenslauf gestaltet, und zwar unter Beachtung der intentionalen Aspekte und selbständig, selbstverantwortlich, kreativ, selbstorganisierend und flexibel, reduziert er die Komplexität in Bezug auf das Selbst. Er benutzt so den Lebenslauf als Medium, um ihm eine verarbeitbare Form zu geben: „Formbildung ist dabei nicht an die soziale Operation Kommunikation gebunden, die Medium/Form-Differenz kann auch zur Analyse von Operationen des Bewusstseins verwendet werden“ (Kade 2006: 17). Insofern bezieht sich die
13
Naheliegend wäre hier die Annahme, dass die Strategien zur Erzielung eines höheren Einkommens benutzt werden. Das lässt sich jedoch aus den qualitativen Daten so nicht entnehmen, da der zeitliche Zusammenhang zwischen beiden unklar bleibt.
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Komplexitätsreduktion sowohl auf den sozialen wie auf den individuellen Aspekt des Lebenslaufs. Dies geschieht wesentlich vor dem Hintergrund der Befähigung zum Thematisieren von Ausschnitten aus seiner Lebenswelt, also in Folge seiner Kompetenz (vgl. Vonken 2005). Zu sehen ist das bspw. am Zusammenhang zwischen Betriebswechseln und beruflichen Aussichten: Enthält die Lebenswelt des Einzelnen keine oder nur wenige Aspekte, die ihn zukünftige berufliche Veränderungen positiv antizipieren lassen, dann spiegelt sich das in einer negativen Zukunftserwartung und damit in einer erhöhten potentiellen Komplexität des weiteren Lebenslauf wieder. Auf der anderen Seite erscheint es plausibel anzunehmen, dass die biografischen Stabilitätserfahrungen und das Vorhandensein von Strategien insofern zusammenhängen, dass die jeweilige Lebenswelt genügend potentielle Situationen enthält, die der einzelne zur Aktualisierung kompetenten Handelns thematisieren kann und so die Komplexität im Weiteren reduziert. Sie tragen so gleichzeitig dazu bei, die präintentionalen Aspekte zu verfestigen, die selbst konstitutiv für die weitere Kompetenzentwicklung sind. Kompetentes Handeln in Bezug auf sich selbst hilft hier dabei, die Komplexität des Lebenslaufs zu bewältigen. Solche Betrachtungen haben durchaus auch eine praktische Dimension. Kompetenz wird im Verlaufe eines Lebens erworben, wobei man nicht davon ausgehen kann, dass jedem Menschen die gleichen Möglichkeiten zu ihrer Entwicklung individuell und gesellschaftlich zur Verfügung stehen. In der Analyse biografischer Daten vor dem Hintergrund kompetenten Handelns zeigten sich individuelle Strategien, die jedoch überindividuell vermittelbar sein können. Praktisch gewendet könnte man hier fordern, dass Menschen in ihrem beruflichen Lebenslauf bei der Entwicklung von Strategien zur Bewältigung sich ändernder Anforderungen unterstützt werden sollten. Der Weiterbildung kann hier eine wichtige Aufgabe zukommen, in dem sie mittels alternativer Tätigkeitserfahrungen eine solche Entwicklung unterstützt (vgl. bspw. Grimm-Vonken et al. 2008).
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Kompetente Organisation oder wie man das Leben von 007 rettet Thomas Klatetzki
In dem Film „Casino Royal“ erhält der Geheimagent 007 James Bond des britischen Secret Service MI6 den Auftrag, in einem Pokerturnier 100 Millionen Dollar zu gewinnen. Das Pokerturnier ist von dem Schurken Le Chiffre initiiert worden, der dank Bonds vorheriger Arbeit in finanzielle Schwierigkeiten geraten ist und der die Gewinnsumme von 100 Millionen Dollar braucht, um weiter im Geschäft der Finanzierung terroristischer Gruppierungen tätig sein zu können. Und eben das soll Bond verhindern. Begleitet wird 007 bei dieser Mission von einer Mitarbeiterin des britischen Schatzamtes, Vesper Lynd, die darüber zu entscheiden hat, ob Bond im Laufe des Turniers, neben des für die Teilnahme an den Pokerspielen nötigen Einsatzes von 10 Millionen Dollar, weitere 5 Millionen Dollar als Einsatz zur Verfügung gestellt werden. Während des Turniers wird Bond von dem Schurken Le Chiffre mit einer tödlichen Dosis Digitalis in einem Cocktail vergiftet. Als Bond die Wirkung des Giftes spürt, verlässt er zielstrebig den Spieltisch und geht in die Waschräume des Spielcasinos. Auf dem Weg dorthin nimmt er von einem Tisch ein Wasserglas und einen Salzstreuer. In den Waschräumen füllt er das Glas mit Wasser, kippt den ganzen Inhalt des Salzstreuers hinein, trinkt diese Mischung und übergibt sich, um das sich noch in seinem Magen befindliche Gift loszuwerden. Da aber mittlerweile schon größere Mengen des Giftes in den Blutkreislauf gelangt sind und zu wirken beginnen, schleppt sich Bond in sein Auto. Im Handschuhfach seines stets gut ausgestatteten Wagens befinden sich Geräte für medizinische Notfälle, u.a. auch ein Defilibrator. Bond setzt sich zunächst eine Kanüle, die mit einem Gerät verbunden ist, das Bonds körperliche Verfassung medizinisch erfasst. Mit seinem Mobiltelefon stellt 007 dann eine Verbindung zur Zentrale des MI6 her, so dass die Daten über seinen physischen Zustand übermittelt werden und er mit den dortigen Mitarbeitern sprechen kann. Bei Anwesenheit der Chefin des Geheimdienstes, M, stellen die Mitarbeiter in der Zentrale mit Hilfe eines Computers in Windeseile fest, 1. womit Bond vergiftet wurde und 2. was dagegen zu tun ist. Sie teilen daraufhin 007 mit, dass in ca. zwei Minuten sein Herz stehen bleiben wird, und sie geben ihm Anweisungen, wie er die Situation dennoch überleben kann. Dazu soll Bond sich 1. ein Gegenmittel injizieren, das die Wir-
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kung des Digitalis reduziert, er soll sich 2. die Elektroden des Defilibrators auf die Brust kleben und 3. im Moment des Herzstillstandes auf Kommando aus der Zentrale den Defilibrator aktivieren, um sein Herz wieder zum Schlagen zu bringen. Zwar kann sich Bond das Gegenmittel verabreichen und die Elektroden anbringen, aber als er im entscheidenden Moment den Defilibrator aktivieren soll, funktioniert der nicht. Wie Bond noch bemerkt, liegt das daran, dass ein Kabel des Defilibrators mit den Elektroden nicht richtig verbunden ist. Aber es ist zu spät: Wie auf den Monitoren in der Zentrale zu sehen ist, hört Bonds Herz auf zu schlagen und er wird ohnmächtig. Das Schicksal des Geheimagenten ihrer Majestät wäre damit besiegelt – wenn nicht in diesem Moment Vesper Lynd auftauchen würde. Sie schließt die Kabel richtig an und betätigt den Defilibrator. Auf diese Weise überlebt James Bond den Anschlag auf sein Leben. Er kann das Pokerspiel fortsetzen und legt dem Schurken Le Chiffre nach einigen weiteren lebensgefährlichen Situationen am Ende natürlich das Handwerk. Was in dieser Filmszene am Werke ist, ist eine kompetente Organisation und ich benutze diese Szene im Folgenden, um zu erläutern, was man darunter verstehen kann. Als Kompetenz bezeichne ich die Fähigkeiten eines Akteurs, Probleme zu lösen. Kompetenz ist ein Potential, das nicht unbedingt zum Einsatz kommen muss, sondern das ungenutzt bleiben und auch auf Vorrat angeeignet werden kann. Mit Akteuren sind natürliche Personen und kollektive Akteure, d.h. hier: Organisationen gemeint. In Anlehnung an Chester Barnard (1938) und James Coleman (1986, 1990) verstehe ich unter einer Organisation ein System von bewusst koordinierten Aktivitäten und/oder Kräften, das rechtlich konstituiert ist. Um zu beschreiben, was eine kompetente Organisation ausmacht, gehe ich von der theoretischen Annahme aus, dass soziale Realitäten mit Hilfe dreier Perspektiven verstanden werden können (Mouzelis 1995), nämlich 1. der Perspektive der individuellen Dispositionen der Akteure. Die damit zur Verfügung stehenden individuellen Fähigkeiten zur Bewältigung von Problemen werde ich der Einfachheit halber auch als Fachkompetenzen bezeichnen. Die zweite Perspektive ist die der sozialen Position, die ein Akteur in einer sozialstrukturellen Formation einnimmt. Soziale Positionen statten Akteure mit Handlungsbefugnissen aus, die nicht auf ihr individuelles Können zurückführbar sind. In modernen Gesellschaften werden soziale Positionen vor allem im Rahmen von Organisationen erzeugt. Die damit entstehenden Handlungsfähigkeiten bezeichne ich in Anlehnung an Max Weber (1972) als Amtskompetenzen. Die dritte Perspektive ist die einer gemeinsamen Praxis. Durch das aufeinander abgestimmte Handeln von Akteuren, die ein gemeinsames Projekt verfolgen, emergiert eine Form der Kompetenz, die nicht auf individuelle und/oder positionale Kompetenzen reduzierbar ist. Diese Fähigkeit gemeinsamer Praxis werde ich wiederum der terminologischen Einfachheit halber als Teamkompetenz bezeichnen.
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Die drei Formen von Kompetenz stehen in folgendem Verhältnis zu einander: Individuell erworbene Fachkompetenzen und sozial zugewiesene Amtskompetenzen sind notwendig, aber nicht hinreichend zur Entfaltung von Teamkompetenz. Die Kombination aller drei Fähigkeiten erlaubt die Bewältigung schwieriger Situationen. Anhand der Filmszene wird dieser Zusammenhang unmittelbar deutlich. Die zur Problembewältigung unabdingbare Fachkompetenz des einzelnen Akteurs zeigt sich exemplarisch bei 007: Bond hätte den Anschlag nicht ohne seine ungewöhnlichen individuellen Fähigkeiten überstanden. Aber Bonds Kompetenzen allein hätten offensichtlich zur Problemlösung nicht ausgereicht. Dafür sind weiterhin Amtskompetenzen von Nöten: Nur aufgrund seiner Position kann Bond nämlich über ein Auto verfügen, das passender Weise mit einem computerbasierten medizinischen Notfallset ausgestattet ist, und nur aufgrund ihrer Positionen sind die Mitarbeiter im Hauptquartier des MI6 befugt, Bonds Zustand zu diagnostizieren und ihm Handlungsanweisungen zu geben. Aber auch die Amtskompetenzen sind nicht hinreichend zur Rettung des Geheimagenten ihrer Majestät. Dazu bedarf es zudem eines kompetenten Zusammenwirkens der beteiligten Akteure. 007, die Mitarbeiter in der Zentrale und Vesper Lynd müssen ihre Handlungen so koordinieren, dass sich auf der Ebene gemeinsamer Praxis eine Problemlösungsfähigkeit einstellt, der Bond schließlich sein Leben verdankt. Diese drei Formen von Kompetenz sollen in dem nachstehenden Text näher erläutert werden.1 In Bezug auf natürliche Personen wird dabei davon ausgegangen, dass sie aufgrund ihrer biologischen Ausstattung über bestimmte Kompetenzen verfügen, wie z.B. die Fähigkeit, eine Sprache zu erlernen. Zusätzlich erwerben natürliche Personen Kompetenzen durch Sozialisation, Ausbildung und Training. Diese sozialen Fähigkeiten lassen sich am besten dadurch erfassen, indem man beschreibt, was die Person weiß. Wissen verleiht Personen Kompetenzen über ihre biologischen Möglichkeiten hinaus. Was für die Fach-
1
Um diese Erläuterungen anhand der Filmszene noch etwas mehr organisationstheoretisch einzubetten, sei auf die Umstellung militärischer Strukturen von Hierarchien auf netzwerkförmige Organisationen verwiesen (Alberts 2001, Alberts et al. 2001, Alberts/Hayes 2003, Alberts/Hayes 2006). Das hierfür entwickelte Konzept des “Network Centric Warfare“ (NCW) beruht auf der Nutzung neuer internetbasierte Informationstechnologien mit einer „post smart pull“ Strategie (vgl. Fußnote 10) und der Etablierung von „Edge Organisationen“. Das Konzept der Edge Organisation beschreibt die Einführung von Handlungsstrukturen, die zur Etablierung von Agilität führen. Agilität meint, dass die Organisation robust, resilient, responsiv, flexibel, innovativ und anpassungsfähig ist. Erreicht werden soll Agilität durch eine Verschachtelung unterschiedlicher Netzwerkstrukturen (Buchanan 2003, Barabasi 2003). Ein Empowerment der operativen Ebene voll verbundener Netzwerke („at the edge“) wird mit Hilfe folgender Schlüsseleigenschaften erreicht: Eine gemeinsame Vorstellung von der auszuführenden Mission, professionelle Kompetenz, Vertrauen und „situation awareness“. Man darf, wie die Ausführungen im weiteren Text deutlich machen, davon ausgehen, dass Bonds MI6 bezüglich der Implementation dieser Konzepte auf dem neuesten Stand ist.
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kompetenz gilt, gilt auch für die Amts- und Teamkompetenz. Allerdings geht es hier nicht nur um das Wissen jeweils einzelner Personen, sondern um das Wissen einer Mehrzahl von Akteuren, um das Wissen eines Kollektivs. Die Kompetenz eines kollektiven Akteurs – wozu er fähig ist über die addierten biologischen Kompetenzen seiner Mitglieder hinaus – hängt davon ab, was das Kollektiv weiß. Wenn man über das Wissen eines Kollektivs spricht, muss nicht nur spezifiziert werden, was gewusst wird, sondern auch wo es gewusst wird und wie die unterschiedlich verorteten Wissenselemente miteinander integriert werden. Kollektive Akteure manifestieren eine mentale und physikalische Arbeitsteilung und ihre Kompetenz ist abhängig von einem gelungenen Zusammenwirken dieser Arbeitsteilung. Im Folgenden wird die Kompetenz natürlicher Personen und kollektiver Akteure also anhand ihres Wissens beschrieben. Zunächst geht es dabei um das Wissen der natürlichen Person. Welches Wissen hat James Bond, das ihn befähigt, zu seiner eigenen Lebensrettung beizutragen? 1.
Die Fähigkeit des Individuums: Fachkompetenz
Was wesentlich, aber eben nicht ausschließlich, dazu beiträgt, dass James Bond überlebt, ist sein eigenes Handeln. 007 erfasst schnell, dass er vergiftet worden ist, und er trifft unmittelbar die richtigen Handlungsentscheidungen. Welches Wissen solchen Leistungen zu Grunde liegt, wird seit gut 20 Jahren im Rahmen einer Forschungsrichtung untersucht, die als „naturalistic decision making“ bezeichnet wird (Klein et al. 1993; Connolly/Koput 1997; Zsambok/Klein 1997; Lipshitz et al. 2001). Diese Forschungsrichtung eint das Interesse am Prozess des Entscheidens in realen Handlungssituationen, die durch Komplexität, Dynamik und Risiken gekennzeichnet sind. Solche Handlungssituationen weisen folgende Eigenschaften auf:
Die Probleme sind schlecht strukturiert. Die vorhandenen Informationen sind unvollständig, mehrdeutig und verändern sich ständig. Die Ziele verändern sich fortwährend, sind unklar definiert und/oder stehen in Konkurrenz zueinander. Entscheidungen sind in multiple Feedbackkreisläufe eingebettet. Es existieren Zeitbegrenzungen. Viele Teilnehmer tragen zur Entscheidung bei. Der Akteur muss persönliche Entscheidungen mit organisatorischen Zielen und Normen in Einklang bringen. Es steht viel auf dem Spiel.
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Die Forschungsrichtung des „naturalistic decision making“ versteht Entscheidungen in realen Handlungszusammenhängen als Bestandteil von Problemlösungsaktivitäten. Um die Situation bewältigen zu können, müssen die Akteure, erstens das Problem definieren, also eine Antwort auf die Frage „Was geht hier vor?“ geben; zweitens sich eine Vorstellung davon machen, wie eine akzeptable Problemlösung aussehen kann; drittens Handlungen vornehmen, um diese Problemlösung zu erreichen; und schließlich viertens die Wirkungen dieser Handlungen bewerten. Das wohl bekannteste Modell, das das Entscheiden im Sinne eines solchen Problemlösungsprozesses skizziert ist das Modell des „recognition primed decision making“ (RPD) von Gary Klein (1993, 1998/2003). Klein hat in den letzten 20 Jahren individuelle Entscheidungsprozesse in dynamischen und riskanten Umwelten z.B. bei Feuerwehren, auf Ölplattformen, auf Kriegsschiffen oder im Krankenhaus untersucht. Sein Modell beschreibt, wie die Akteure auf ihr im Gedächtnis gespeichertes Erfahrungswissen zurückgreifen, um konkrete Situationen einzuschätzen und wie mit dem (Wieder-)Erkennen der Situation die Handlungsentscheidung unmittelbar gefallen ist. Zum Zwecke einer einfachen Darstellung des RPD Modells lassen sich zwei Varianten unterscheiden: 1. 2.
Das einfache Modell: Dies gilt für die Einschätzung von Situationen, die den Akteuren gut bekannt und vertraut sind. Das komplexe Modell: Dies gilt für die Einschätzung von Situationen, die den Akteuren wenig bekannt und vertraut sind. In diesen Situationen kann es zudem zu Evaluationen und Modifikationen einer einmal gewählten Handlungsstrategie durch die Akteure kommen.
Ad 1: Wenn den Akteuren die Situation gut bekannt und vertraut ist. Die empirischen Untersuchungen zum RPD zeigten, dass in den meisten Fällen kompetente Akteure sich in Situationen befinden, die ihnen gut bekannt und wohl vertraut sind. Ein Beispiel ist ein Feuerwehrhauptmann, der zu einem Häuserbrand kommt: Er nimmt in der Umwelt eine Reihe von Hinweisreizen (cues) wahr. So sieht er z.B. Rauch unter den Dachziegeln hervorquellen, er sieht eine rote Flamme aus dem Dachfenster lodern und er sieht, dass sich eine gelbe Flamme im zweiten Stock eines angrenzenden Hauses bildet. Das RPD nimmt an, dass diese Hinweisreize dazu führen, dass der Feuerwehrhauptmann sich an ähnliche, analoge oder prototypische Situationen erinnert. Eine prototypische Situation ist ein Amalgam aus vielen Situationen, die er erlebt hat. Das RPD geht davon aus, dass die erinnerten Situationen oder Prototypen zusätzliche Informationen enthalten
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über kritische Hinweisreize, auf die zu achten ist (am Beispiel des Häuserbrandes: Windstärke und Windrichtung), über Ziele, die unter den gegebenen Bedingungen erreichbar sind (etwa: das Haus kann nicht gerettet werden, wohl aber der angrenzende Bau), über typische Handlungsweisen (drei getrennte und zwei konvergierende Wasserströme sind nötig, um das angrenzende Haus zu retten) und über Erwartungen (die gelbe Flamme sollte in fünf Minuten unter Kontrolle sein).
Der einfache Fall des RPD ist, dass die neu einzuschätzende Situation zur erinnerten passt und die Sinnkonstitution unproblematisch ist. Dieser einfache Fall des RPD, der ‚simple match‘, ist in Abbildung 1 dargestellt. Diese Form der Situationseinschätzung produziert Informationen über eine Handlungsstrategie, die automatisch implementiert werden kann. Im Gegensatz zum Entscheidungsmodell rationaler Wahl erfolgt im RPD also kein nutzenmaximierendes Abwägen verschiedener Handlungsoptionen. Mit der Sinnkonstitution ist die Handlungsentscheidung vielmehr gefallen. Abbildung 1:
Der einfache Fall des RPD Erleben der Situation in einer riskanten Umwelt Einschätzung der Situation als prototypisch Wiedererkennen beinhaltet Erwartungen
Erreichbare Ziele
relevante Hinweisreize Typische Hand-
Implementation der Handlungen
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Ad 2: Wenn den Akteuren die Situation wenig bekannt und vertraut ist. Aus der Perspektive des RPD sind Situationen wenig bekannt und vertraut, wenn
anfänglich viele Hinweisreize der aktuellen Situation nicht zu den im Gedächtnis des Akteurs gespeicherten Informationen über frühere Situationen passen oder wenn der Akteur die Situation zwar zunächst als bekannt und vertraut einschätzt, jedoch seine Erwartungen über die weitere Entwicklung der Situation falsifiziert werden.
Wenn diese Bedingungen gegeben sind, dann sagt das RPD vorher, dass der Akteur eine Neueinschätzung der Situation vornehmen wird. Eine Strategie für eine solche Neueinschätzung ist das „feature matching“, das darin besteht, dass der Handelnde einzelne Merkmale der Situation nutzt, um eine Hypothese über das Geschehen zu generieren oder um verschiedene Hypothesen über die situativen Ereignisse miteinander zu vergleichen. Eine zweite wichtige, oftmals angewandte Strategie ist das Konstruieren einer Geschichte. Hierbei stellt sich der Akteur eine Ereignisabfolge vor, die plausibler Weise die gegenwärtige Situation hervorgebracht hat. Die Einbettung in eine narrative Wissensstruktur macht Abbildung 2:
Diagnostizieren unbekannter Situationen im komplexen Modell des RPD
Erleben der Situation in einer riskanten Umwelt nein „feature matching“
Ist die Situation prototypisch? ja
Klärung
Anomalie
Wiedererkennen beinhaltet Erwartungen
relevante Hinweisreize
Erreichbare Ziele
Typische Handlungen
Implementation der Handlungen
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dem Akteur die Situation verständlich, sie produziert Sinn und ermöglicht damit Handeln. Kann die Situation durch die Konstruktion von Geschichten bzw. Hypothesen dann als bekannt und vertraut eingestuft werden, wird das bereits beschriebene ‚simple matching‘ stattfinden. Diese Form der Diagnose ist in Abbildung 2 dargestellt. Aber auch in den Fällen, in denen die Situation weiter wenig vertraut und bekannt bleibt, in denen also Erwartungen enttäuscht werden und/oder in denen die Zeit für weitere Diagnosen zu knapp wird, sind erfahrene Akteure weiterhin handlungsfähig, und zwar, weil sie in der Lage sind, mentale Simulationen des zukünftigen Handlungsverlaufs vorzunehmen, und weil sie in der Lage sind, eine einmal eingeschlagene Handlungsstrategie zu modifizieren. Die Untersuchungen zum RPD zeigten nämlich, dass die Akteure auf unvorhergesehene Situationsveränderungen nicht in der Weise reagieren, dass sie den anfänglichen Teil der Ereignissequenz z.B. als „Typ Situation A“ und einen späteren Teil als „Typ Situation B“ diagnostizieren. Die Akteure rufen also aus ihrem Gedächtnis nicht jeweils unterschiedliche Informationspakete über Handlungsstrategien, Erwartungen, Ziele und relevante Hinweisreize bei einer Änderung des Situationsgeschehens ab. Haben sich erfahrene Akteure vielmehr aufgrund einer mentalen Simulation für die Implementation einer Handlungsstrategie entschieden, dann überprüfen sie die gewählte Handlungsstrategie, wenn die Situation sich wandelt, und sie modifizieren die Strategie, wenn die Evaluation ergibt, dass dies sinnvoll ist. Sie erhalten sich also ihre Handlungsfähigkeit durch ein über Feedbackmechanismen laufendes ‚muddling through‘ (vgl. Abbildung 3). In der Filmszene sieht man, dass James Bond, nachdem er beginnt, körperlich auf das Gift zu reagieren, nicht sofort weiß, in welcher Situation er sich befindet. Ein Seitenblick auf das von ihm gerade geleerte Cocktailglas legt ihm jedoch eine mögliche Erklärung für seine körperlichen Reaktionen nahe. Nach diesem „feature matching“ – Bond verwendet also wahrscheinlich hier die zweite Variante des RPD – weiß Bond aber dann intuitiv, was zu tun ist. Für 007 dürfte wohl die Stärke seiner körperlichen Reaktion auf den Cocktail ein kritischer Hinweisreiz für die Potenz des Giftes sein. Und das bedeutet, dass er so schnell wie möglich handeln muss. Das Ziel kann für ihn nur eins sein: den Anschlag zu überleben. Er wird dabei erwarten, dass ihm wenig Zeit bleibt und er wird erwarten, dass er das medizinische Notfallset in seinem Wagen nutzen und auf die Hilfe der Mitarbeiter in der Zentrale rechnen kann. Man kann auch davon ausgehen, dass der Spezialagent die typische Vorgehensweise bei Vergiftungen kennt: die tödliche Substanz aus dem Körper bringen und medizinische Hilfe suchen. Dies setzt er unmittelbar in die Tat um, indem er sich zunächst in die Waschräume und dann in seinen Wagen begibt.
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Abbildung 3:
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Mentale Simulation im komplexen Modell des RPD Erleben der Situation in einer riskanten Umwelt
Einschätzung der Situation als prototypisch
Wiedererkennen beinhaltet Erwartungen Erreichbare Ziele
relevante Hinweisreize Handlungen 1…n
Evaluation von Handlungen (mentale Simulation)
Modifikation
ja, aber
nein Funktioniert es? ja
Implementation der Handlung
Die Situation wird dabei für 007 aber dadurch erschwert, dass der Stress für ihn extrem hoch ist. Hoher Stress hat aber negative Auswirkungen auf die Aufmerksamkeit von Akteuren, ihre analytischen Fähigkeiten und ihre Performanz. Ein hohes Erregungsniveau führt dazu, dass Situationen nur verengt wahrgenommen und daher auch nur unvollständig verstanden werden. Die Folge sind fehlerhafte Handlungsweisen. Um diese negativen Effekte hoher Erregung zu vermeiden, gibt es, wie aus der militärischen Ausbildung bekannt ist, Bewältigungsstrategien, von denen für Bond in seiner gegenwärtigen Lage vor allem zwei relevant sein dürften (Weick 1985): nämlich das Überlernen von Handlungsweisen und die Entwicklung von Resilienz. Überlernen meint das Weiterlernen, nachdem eine Aktivität bereits zu 100% beherrscht wird. Ein solches ausgedehntes Üben führt zur Automatisierung von Verhaltensweisen. Die Strategie des Überlernens zielt darauf, dominante Reaktionsmuster zu erzeugen. Man weiß, dass bei hohen Erregungsniveaus dominante Verhaltensweisen bevorzugt werden, und eben diesen Um-
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stand versucht man, für die Bewältigung belastender Situationen zu nutzen. Besonders erfolgreich lässt sich diese Strategie bei einfachen Aufgaben etablieren, denn einfache Aufgaben verlangen Schnelligkeit und nicht Qualität. Um automatische Prozesse zu erzeugen, muss eine große Anzahl von Übungen (2000 bis 2500 trials) absolviert werden. Die bevorzugte Methode dafür ist der „good old fashioned drill“. Man darf davon ausgehen, dass Bond in seiner Ausbildung zum Spezialagenten in vielerlei Hinsichten gedrillt worden ist, und zwar gerade auch, was Anschläge auf das eigene Leben betrifft. Er verdankt seine individuelle Kompetenz zur Bewältigung extremer Stresssituationen daher Prozessen organisatorischer Sozialisation. Der für Elitesoldaten übliche Drill führt wohl daher dazu, dass die Situation des Vergiftetseins zu seinem professionellen Erfahrungsrepertoire passt und er auch bei hoher Erregung über die angemessenen dominanten, in diesem Fall auch einfachen und bekannten Verhaltensweisen verfügt: nämlich möglichst schnell das Gift loswerden und ärztliche Hilfe holen. Eine zweite Strategie zur Bewältigung von hohem Stress besteht in der Ausbildung von Resilienz. Resilienz meint Widerstandsfähigkeit und lässt sich u.a. durch zwei Faktoren erzeugen, nämlich Commitment und Kontrolle. Commitment bezeichnet die Bindung an ein soziales System und wird in den Sozialisationsprozessen militärischer Organisationen durch die Identifikation mit nationalen Symbolen erzeugt. Dass Bond mit Haut und Haaren dem britischen Königreich und Vaterland verpflichtet ist, und daher jederzeit bereit ist, sein Leben dafür zu geben, gehört zur conditio sine qua non eines Topagenten des MI6. Kontrolle, der zweite Faktor, der zur Resilienz beiträgt, meint die Vorstellung, die Situation beherrschen zu können. Wenn Personen der Meinung sind, dass sie die Situation kontrollieren können – auch wenn sie de facto dazu gar nicht in der Lage sind – dann erhalten sie sich ihre Handlungsfähigkeit. Die Entwicklung solcher Kontrollvorstellungen beruht auf der Fähigkeit zur Autosuggestion sowie der Entwicklung eines Gefühls von Selbstwirksamkeit (Bandura 1997). Letzteres dürfte bei James Bond außerordentlich gut entwickelt sein, denn sein Ego ist, das ist allgemein bekannt, überdimensional groß.2 Die Vorstellung der Kontrollierbarkeit wird aber schließlich auch dadurch erlangt, dass für Doppelnullagenten die Unvermeidlichkeit des Todes fester Bestandteil ihres Berufswissens ist. Eben dieses Wissens führt dann zur Reduzierung von Stress und erhöht die Handlungsfähigkeiten. All das macht deutlich: Bonds Fachkompetenz beruht auf einem Erfahrungswissen, das ihm ermöglicht, die Situation intuitiv richtig einzuschätzen und zu verstehen. Mit dem (Wieder-)Erkennen der Situation ist die Handlungs-
2
Vesper Lynd sagt vorher an einer Stelle des Films zu Bond (als sie in einem Hotellift steht): „Nehmen Sie den nächsten. Hier ist nicht genug Platz für mich und ihr Ego.“
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entscheidung unmittelbar gegeben. Auch die Fachkompetenz der anderen in der Filmszene beteiligten professionellen Mitarbeiter beruht wesentlich auf solchen intuitiven Kompetenzen. Das medizinische Personal in der Zentrale des MI6 kann aus den Mustern auf ihren Computerbildschirmen Bonds körperlichen Zustand diagnostizieren und ihm unmittelbar Anweisungen geben, was er zu tun hat. Die diagnostischen Fähigkeiten von Medizinern z.B. bei der Beurteilung von Röntgenbildern sind ein prominentes Beispiel, an dem die Struktur von Expertenwissen untersucht worden ist.3 Individuen erwerben solche Kompetenzen in der modernen Gesellschaft vor allem dadurch, dass sie in Organisationen ausgebildet und sozialisiert worden sind. Jean Laves und Etienne Wengers (1991) Konzept der peripheren legitimen Partizipation erklärt z.B., wie durch die Teilnahme an organisierten Praxen Kompetenzen erlernt werden und wie es zur Ausbildung eines professionellen Habitus kommt. Aber die Rolle von Organisationen beschränkt sich nicht darauf, dass sie in den Köpfen und Körpern von Individuen bestimmte Fähigkeiten implementieren. Zudem statten Organisationen ihre Mitglieder auf der Basis von Positionen mit Handlungsbefugnissen aus, die im Rahmen gemeinsamer Aktivitäten eine kollektive Problemlösungskompetenz bilden, die weit über die inkorporierten Fähigkeiten des individuellen Akteurs hinausreicht. 2.
Die Fähigkeit der sozialen Position: Amtskompetenz
Die Entstehung von Kompetenz beruht nicht nur auf organisatorischen Sozialisationsprozessen. Kompetenzen erhalten Personen auch dadurch, dass sie Positionen in Organisationen einnehmen. Ein Beispiel für diese Form der Kompetenz in dem Film ist Vesper Lynds Entscheidungsbefugnis über den Einsatz weiteren Geldes im Pokerturnier. Diese Kompetenz ist dem Umstand geschuldet, dass sie eine Position im britischen Schatzamt bekleidet. Ein anderes Beispiel ist M, die Chefin des Geheimdienstes. Sie ist aufgrund ihrer Amtskompetenz berechtigt, Bond Anweisungen zu geben. Und die bekannteste und berüchtigste Amtskompetenz des Geheimagenten ihrer Majestät ist sein Doppelnullstatus: die Lizenz zum Töten. Personen erhalten diese Amtskompetenzen, in dem sie Positionen in Organisationen einnehmen. Mit diesen Positionen sind Handlungsrechte und Handlungspflichten verbunden. Die Einnahme einer Position ist ein „Empowerment“: Personen werden zusätzliche Handlungsfähigkeiten verliehen, über die sie ohne die Einnahme der Position nicht verfügen könnten. Eine Person mag wissen, wie
3
Das zweite prominente Beispiel ist die Untersuchung des Expertenwissens von Schachspielern (de Groot/Gobet 1996).
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man einen Blinddarm operiert. Sie kann diese individuelle Fertigkeit aber erst zur Anwendung bringen, wenn sie eine Stelle als Arzt in einem Krankenhaus hat. Die Akteure verlieren diese Kompetenzen daher auch wieder, wenn sie die ihnen zugewiesene Position verlassen. Durch die Festlegung von Amtskompetenzen wird zugleich bestimmt, welche individuellen Kompetenzen eine Person in einer Organisation zum Einsatz bringen kann und welche nicht. In Organisationen sind Positionen im Allgemeinen hierarchisch angeordnet, so dass mit den Amtskompetenzen der höheren Positionen Weisungsbefugnisse in Bezug auf die unteren Positionen verbunden sind. Durch eine passende Kombination von unterschiedlichen Positionen wird auf diese Weise eine mentale und physikalische Arbeitsteilung realisiert, die einem Kollektiv von Akteuren ein größeres Problemlösungspotential verleiht als einer Gruppierung, die keine formale positionale Bestimmung und Differenzierung von Handlungsrechten und -pflichten aufweist. Dabei wird zwar oftmals unterstellt, dass mit der Amtskompetenz eine entsprechende Fachkompetenz verbunden ist. Aber eine solche Kongruenz ist in Organisationen vielfach nicht vorhanden und muss auch nicht notwendig vorhanden sein.4 Und schließlich kann man Amtskompetenzen im Unterschied zu Fachkompetenzen übertragen. Ein Positionsinhaber kann einem anderen Positionsinhaber Handlungsfähigkeiten zur Verfügung stellen, indem er ihn autorisiert, an seiner statt zu handeln. Auch dies vergrößert die Problemlösungsfähigkeit kollektiver Akteure. Im Unterschied zu Fachkompetenzen, die ihren Sitz im Körper des Individuums haben, sind Amtskompetenzen außerhalb von Personen verortet. Sie beruhen auf der kollektiven Zuweisung und Aufrechterhaltung eines sozialen Status und den damit verbundenen Funktionen an eine Person. Die kollektive Zuweisung von Statusfunktionen hat John Searle (1995) als konstitutive Regel beschrieben. Konstitutive Regeln haben die Form: X zählt als Y im Kontext C. Durch ihre Anwendung entstehen gesellschaftliche Realitäten oder wie Searle es nennt: institutionelle Tatsachen. Searle verwendet zur Illustration als Beispiel Geld. So wird etwa aus einem Stück Papier (X) eine 10 Euro Banknote (Y) im Kontext der Bevölkerung der Europäischen Union (C). Die kollektive Zuweisung von Statusfunktionen mittels der Verwendung konstitutiver Regeln kann vertikal unendlich iteriert und horizontal unendlich ausgeweitet werden. Auf diese Weise entstehen die komplexen Sachverhalte der gesellschaftlichen Realität. Ein Beispiel für die Schaffung komplexer institutioneller Tatsachen durch Aufwärtsiteration ist folgende Kette: Ein Körper (X1) gilt als Person (Y1), eine Person (Y1=X2) gilt als Staatsbürger (Y2), ein Staatsbürger (Y2=X3) gilt als Mitarbeiter einer Geheimorganisation (Y3), ein Mitarbeiter einer Geheimorganisation (Y3=X4) gilt als Doppelnullagent (Y4), alles
4
Hochstapler machen sich eben diesen Sachverhalt zu Nutze.
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jeweils im Kontext der britischen Gesellschaft (C). Die horizontale Ausweitung, die Verkettung institutioneller Sachverhalte lässt sich an folgendem einfachen Beispiel illustrieren: Der Geheimagent 007 nimmt an einem Pokerturnier teil, bei dem er Geld einsetzt, das vom Finanzministerium auf ein Konto bei einer Bank überwiesen wurde. Die in dieser Formulierung vorkommenden Begriffe Geheimagent, Teilnahme, Geld, Pokerturnier, Einsatz, Finanzministerium, Konto, Bank und Überweisung stellen institutionelle Tatsachen dar und ihr Zusammenhang verdeutlicht, dass man es nicht mit einer isolierten institutionellen Realität, sondern stets mit einem Netz von institutionellen Realitäten zu tun hat. Die Schaffung von gesellschaftlichen Realitäten durch die kollektive Zuweisung von Statusfunktionen beruht auf der menschlichen Fähigkeit, auf zwei Ebenen wahrzunehmen und zu denken: Wir können einen biologischen Körper sehen und zugleich auch einen Beamten des britischen Geheimdienstes. Zu beachten ist dabei, dass durch die Zuweisung von Funktionen ein normatives Element ins Spiel kommt, denn die Funktionen werden erfüllt im Hinblick auf Zwecke oder Ziele und das heißt: wünschenswerte Zustände oder Vorgänge. Durch die Akzeptanz von Statusfunktionen anerkennen wir also die verschiedensten Rechte, Pflichten, Verantwortlichkeiten, Autorisierungen, Erlaubnisse, Verbote, Erfordernisse und Beschränkungen. Und das bedeutet wiederum nichts anderes, als dass durch die Akzeptanz von Statusfunktionen Handlungsfähigkeiten für Personen geschaffen werden. Die akzeptierte Zuweisung von Statusfunktionen ist das bereits oben erwähnte „Empowerment“: Personen haben aufgrund ihres Status nun die Möglichkeit Handlungen vorzunehmen, die sie ohne die Funktionszuweisung nicht in der Lage wären auszuführen. Die Konstitution institutioneller Realität ist im Kern ein Vorgang der Ermöglichung; institutionelle Tatsachen haben nicht, wie im durkheimianischen Verständnis, vornehmlich einen Zwangscharakter. Institutionelle Tatsachen werden erzeugt, weil sie eine enorme Ausweitung von Handlungs- und Problemlösungsmöglichkeiten mit sich bringen. Organisationen sind nun gewissermaßen der Ort par excellence für die Generierung von Handlungsmöglichkeiten, weil diese institutionellen Tatsachen willentlich und relativ einfach durch die vorhandenen rechtlichen Konstruktionen erzeugt werden können. Organisationen sind institutionelle Realitäten, die in der modernen Gesellschaft durch die Anwendung zivilrechtlicher Satzungen konstituiert werden (Searle 2006). Auf ihrer Basis ist dann die Konstitution von Positionen oder „Stellen“ möglich, die, meist hierarchisch geordnet, mit entsprechenden Handlungsmöglichkeiten verbunden sind, die die individuellen Fähigkeiten von natürlichen Personen ergänzen und erweitern. Auf diese Weise entstehen die Amtskompetenzen von Personen. Amtskompetenzen bekommen Personen zugesprochen. Die kollektive Zuweisung einer Statusfunktion beruht dabei auf einer Verteilung von Wissen in
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einem Kollektiv (Barnes 1988, 1993). Bei dieser Wissensverteilung gibt es aber keine 1:1 Korrespondenz zwischen der sozialen Kompetenz, die mit einer bestimmten organisatorischen Position verbunden wird, und einem spezifischen Element des kollektiven Wissens. Vielmehr wird die Amtskompetenz einer Person nur durch die Betrachtung der gesamten Wissensverteilung verständlich. Entsprechend wandeln sich die sozialen Kompetenzen einer Person mit dem Wandel des kollektiven Wissens über Positionen in einer Organisation. Das meint nicht nur den bekannten Sachverhalt, dass sich die Kompetenz einer Person ändert, wenn sie eine andere oder neue Position einnimmt. Es meint auch den Sachverhalt, dass sich die Amtskompetenzen einer Person ohne ihr Zutun in Abhängigkeit von der Verteilung des Wissens in einem Kollektiv ändern können. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist der Sachverhalt, dass der amerikanische Präsident mit dem nahenden Ende seiner Amtszeit zur „lame duck“ wird. Da eine ausreichende große Zahl an Akteuren der Ansicht ist, dass ein Präsident weniger Handlungsfähigkeiten hat, weil er demnächst aus dem Amt scheidet, hat dies zur Folge, dass der Präsident tatsächlich an Handlungskompetenz einbüßt. Wie das letzte Beispiel zeigt, ist die kollektive Wissensverteilung die Amtskompetenz. Die kollektive Wissensverteilung hat dabei die Eigenschaft, selbstreferentiell und selbstvalidierend zu sein, und sie funktioniert wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Die Selbstreferentialität und die Selbstvalidierung kollektiver Wissensverteilungen lassen sich folgendermaßen verdeutlichen: Wenn ich z.B. weiß, dass M als Chefin des britischen Geheimdienstes die Amtskompetenz hat, James Bond Befehle zu erteilen, dann überprüfe ich die Korrektheit meines Wissens, indem ich mich darüber informiere, was die Mitglieder des MI6 über die Amtskompetenz von M wissen und wie sie sich aufgrund dieses Wissens gegenüber M verhalten. Mein Wissen über Ms Amtskompetenzen ist dann richtig, wenn es dem allgemein akzeptierten Wissen der Mitarbeiter des MI6 entspricht und ich daher ebenfalls in der Lage bin, mich M gegenüber so zu verhalten, wie es allgemein üblich ist. Ms Amtskompetenz wird also in dem Maße konstituiert, indem allgemein geglaubt wird, dass M aufgrund ihres Amtes die Kompetenz besitzt, den Mitarbeitern Befehle zu erteilen. Betrachtet man dieses Wissenssystem über Ms Amtskompetenz als Ganzes und fragt, worauf es sich bezieht, worüber es ein Wissen ist, so lautet die Antwort: Es ist ein Wissen über sich selbst, über seine eigene Verteilung. Mein Wissen über Ms Amtskompetenz bezieht sich auf das Wissen der anderen über Ms Amtskompetenz. Deren Wissen bezieht sich auf mein Wissen über Ms Amtskompetenz. Dies macht das Wissenssystem insgesamt selbstreferentiell. Worauf sich Wissen bezieht ist das, was wir betrachten, um zu überprüfen, ob es Gültigkeit besitzt. Selbstreferentielles Wissen impliziert zugleich seine eigene Validierung: Die soziale Akzeptanz
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des Wissens macht es zu einem gültigen Wissen, eine soziale Zurückweisung macht es zu einem ungültigen Wissen. Das selbstreferentielle und sich selbst validierende Wissenssystem der Amtskompetenz von M hat somit den Charakter einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung (Barnes 1988): Ms Amtskompetenz als institutionelle Realität existiert, weil die Individuen glauben, dass sie existiert und weil die Individuen sich in diesem Glauben wechselseitig bestätigen. Auf der Basis dieses Wissens handeln sie dann. Und dieses Handeln bestätigt wiederum ihren Glauben, dass Ms Amtskompetenz Realität ist. Die Gesamtkompetenz eines organisierten Handlungssystems beruht nun aber nicht allein darauf, dass Amtskompetenzen verbunden mit Fachkompetenzen in arbeitsteilig passender Form zur Verfügung stehen. Vielmehr wird das Problemlösungspotential weiterhin wesentlich dadurch bestimmt, dass das System in der Lage ist, die beiden Kompetenzformen an der Stelle einzusetzen, wo sie gebraucht werden. Das ist bei einer hierarchischen Organisation nicht automatisch gegeben. Die Amtskompetenzen der höheren Positionen fallen vielmehr typischerweise nicht mit der nötigen Fachkompetenz zusammen, um komplexe und dynamische Problemsituationen zu bewältigen. Um mit solchen Problemlagen zu Recht zu kommen, muss eine Organisation strukturell flexibel sein. Strukturelle Flexibilität meint eine Veränderbarkeit der positionalen Form der Organisation. Konkret bedeutet das, dass die Amtskompetenzen dorthin wandern, wo die relevanten individuellen Fähigkeiten für Problemlösungen sitzen und dass somit die fachkompetenten Personen auch zum Handeln autorisiert sind. Strukturelle Flexibilität kann erreicht werden, indem Amtskompetenzen delegiert oder bewusst nicht eingesetzt werden. Exemplarisch lässt sich das in sog. „high reliability organizations“ beobachten (Roberts 1993). Als hochzuverlässige Organisationen werden Organisationen bezeichnet, die aufgrund ihrer komplexen, interdependenten Technologie ein extrem hohes Schadenspotential haben und denen es gelingt, ohne Verursachung von Katastrophen zu operieren. Typische Beispiele für „high reliability organizations“ sind Atomkraftwerke oder Flugzeugträger. Empirische Untersuchungen auf Flugzeugträgern zeigen nun, wie sich eine hierarchische militärische Kommandostruktur angesichts von schnellen Problemeskalationen und eines damit entstehenden Katastrophenpotentials selbsttätig in eine dezentrale Struktur wandelt. Es entstehen in solchen Situationen informelle Netzwerke von Experten, die sich bei auftretenden Problemen spontan bilden und danach wieder auflösen und die zeigen, dass sich auf Flugzeugträgern ein verschachteltes Strukturierungssystem findet, das sich je nach Umweltsituation von einem bürokratisch hierarchischen Modus in eine kollegiale Expertenform übergeht (La Porte/Consolini 1991). Wesentlich dabei ist: Diese Strukturveränderungen werden nicht von oben angewiesen, sondern
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vollziehen sich selbstorganisiert auf der Basis der Situationseinschätzungen der Akteure (Rochlin u.a. 1998). In der Filmszene ist ähnliches zu beobachten: Die Mitarbeiter in der Zentrale des MI6 machen sich unmittelbar an die Arbeit, als Bonds Notruf samt seiner medizinischen Daten bei ihnen einlaufen. Zwar ist bei all dem die Chefin M anwesend, aber sie braucht keinerlei Anweisungen zu geben. Und sie interveniert auch in keiner Weise, sondern lässt das fachkompetente Personal seine Arbeit machen. Was eine solche strukturelle Flexibilität einer Organisation ermöglicht, ist eine gemeinsame Situationseinschätzung der Akteure. Eine solche Gemeinsamkeit der Situationseinschätzung ist nicht einfach gegeben, sie muss von den Akteuren fortwährend erzeugt und erhalten werden. Gelingt ihnen das, dann entsteht in Kollektiven eine Kompetenz, die nicht auf individuelle Fachkompetenzen oder auf die mit Positionen verbundene Amtskompetenz reduziert werden kann. Diese Fähigkeit ist die Kompetenz eines Teams. 3.
Die Fähigkeit gemeinsamer Aktivität: Teamkompetenz
Weder James Bonds individuelle Fachkompetenz noch die auf kollektivem Wissen beruhenden, hierarchisch gestaffelten arbeitsteiligen Amtskompetenzen hätten ausgereicht, um 007 das Leben zu retten. Dazu bedarf es der kompetenten Zusammenarbeit der an der Mission beteiligten Akteure. Ohne die Hilfe der Mitarbeiter in der Zentrale des MI6 und schließlich ohne das Eingreifen von Vesper Lynd wäre es um Bond geschehen gewesen. Die gekonnte Zusammenarbeit mehrerer Akteure bei der Lösung von Problemen lässt sich als Teamkompetenz bezeichnen. Ein Team ist „a distinguishable set of two or more people who interact dynamically, interdependently, and adaptively toward a common and valued goal/objective/mission who have each been assigned specific roles or functions to perform, and who have a limited span of membership“ (Salas et al. 1992). Die Kompetenz eines Teams ist nicht einfach a priori vorhanden, sondern sie entsteht im Zuge der gemeinsamen Aktivität und hat daher einen emergenten Charakter. Ihre Grundlage ist ein „shared situation awareness“, ein gemeinsames Situationsverständnis.5 Der Begriff der „situation awareness“
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Dieses gemeinsame Situationsverständnis ist ein wechselseitiges Wissen. Ein solches Wissen besteht, wenn: 1. Bond weiß, dass er Poker spielt, um die weitere Finanzierung des Terrorismus zu verhindern. 2. Vesper Lynd weiß, dass Bond Poker spielt, um die weitere Finanzierung des Terrorismus zu verhindern. 3. Bond weiß, dass Vesper Lynd weiß, was er weiß. Und 4. Vesper Lynd weiß, dass Bond weiß, was sie weiß. Unter diesen Bedingungen haben beide ein gemeinsames Situationsverständnis. Diese Gedankenkette ist zwar im Prinzip unendlich iterierbar, aber: „Note that this is a chain of implications, not of steps in anyone’s actual reasoning. Therefore there is nothing improper about its infinite length“(Lewis 1969: 53).
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(SA) bezieht sich in seiner ursprünglichen Bedeutung auf den Bewusstseinszustand eines einzelnen Individuums und wird definiert als „the perception of elements in the environment within a volume of time and space, the comprehension of their meaning, and the projection of their status in the near future” (Endsley 1988: 97). Die SA ist eine Repräsentation der dynamischen Umwelt des Akteurs, die ihm eine effektive Bewältigung seiner Arbeitsaufgaben ermöglicht.6 Als Mitglied eines Teams stellt die durch seine spezifische Position bestimmte Arbeitsaufgabe des Einzelnen ein Handlungselement der gemeinsamen kollektiven Aktivität dar. Die Interdependenz der Handlungen impliziert eine Überlappung der individuellen SAs der Akteure. Diese Überlappung ist die gemeinsame SA eines Teams. Die gesamte SA eines Teams setzt sich demnach aus zwei Aspekten zusammen, nämlich 1. der individuellen SA jedes Mitglieds für seine Arbeitsaufgabe und 2. die gemeinsame SA der Teammitglieder, die durch die Notwendigkeit der Koordination der Einzelhandlungen bedingt ist (Endsley/Jones 2001). Die gemeinsame SA eines Teams lässt sich anhand der in der Definition verwendeten Elemente Wahrnehmung, Verständnis und Projektion beschreiben. Eine gemeinsame Team SA verlangt demnach 1. eine gemeinsame Wahrnehmung der Situation, in der das Team handelt (In welcher Situation befinden wir uns?), 2. ein gemeinsames Verständnis in Bezug auf den Status der gemeinsamen Arbeitsaufgabe (Was ist der gegenwärtige Stand unserer gemeinsamen Aktivität?) und 3. eine gemeinsame Projektion weiterer Handlungen (Was ist als nächstes zu tun?). Kurz zusammengefasst ist damit folgendes gemeint: Die gemeinsame Wahrnehmung der Situation meint zum einen die Wahrnehmung der Umwelt, in der das Team operiert. Hierzu gehören die Wahrnehmung der räumlichen und zeitlichen Dimensionen wie auch das Vorhandensein konkurrierender Prioritäten. Zum anderen geht es um die Wahrnehmung der anderen Teammitglieder, und zwar hinsichtlich ihrer Rollen und Funktionen (also Amtskompetenzen), ihrer individuellen Fähigkeiten (Fachkompetenzen) und auch hinsichtlich ihres aktuellen Zustandes (z.B. in Bezug auf Stress, Müdigkeit oder ihr Commitment). Das Verständnis des Status der gemeinsamen Arbeitsaufgabe umfasst ein Wissen der Teammitglieder über die jeweils aktuellen Relevanzen, und zwar in Bezug auf die Anforderungen und Ziele der eigenen Arbeitsaufgabe wie auch in Bezug auf die Ziele und Anforderungen der Arbeitsaufgaben der anderen Teammitglieder. Zu diesem Verständnis des gegenwärtigen Standes der Dinge gehört weiterhin ein Wissen über die Wirkungen, die die eigenen Handlungen auf die anderen Mitglieder haben. Ebenso muss ein Verständnis darüber vor-
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Dieses Verständnis von SA ist vollkommen kompatibel mit dem „recognition primed decision model“ (RPD), das in Abschnitt 1 benutzt wurde (vgl. Endsley 1997, Klein 2000).
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handen sein, welche Effekte die Handlungen der anderen auf das eigene Tun und in Bezug auf das Gesamtziel der Teamaktivität haben. Schließlich verlangt eine gemeinsame, die Performanz eines Teams befördernde SA, dass eine Vorhersage darüber möglich ist, was die Teammitglieder als nächstes tun werden. Eine erfolgreiche Koordination ist davon abhängig, dass die Mitglieder die Handlungen der anderen Teilnehmer mit einiger Genauigkeit voraussagen können. Die gemeinsame SA eines Teams stellt sich nicht von allein ein. Dazu bedarf es des Einsatzes unterschiedlicher Methoden und Hilfsmittel. Hierzu zählen insbesondere 1. eine gemeinsame räumliche und zeitliche Umwelt, 2. alle Arten von Anzeigen („Displays“), 3. verbale und nonverbale Kommunikationen und 4. gemeinsame mentale Modelle. Diese vier Aspekte sollen kurz erläutert werden (Endsley/Jones 2001):
Ad 1) Eine gemeinsame räumliche und zeitliche Umwelt. Wenn ein Team am gleichen Ort zur gleichen Zeit arbeitet, so erleichtert dies eine gemeinsame Wahrnehmung der Situation. Eine Pilotencrew in einem Flugzeug hat nicht nur durch die Fenster des Cockpits eine gemeinsame Sicht, sondern erhält z.B. zusätzliche gemeinsame Informationen über die Umwelt durch den Klang der Triebwerke, die Vibrationen der Flugzeughülle oder Veränderungen des Gleichgewichtssinns beim Rollen oder Nicken der Maschine. Eine gemeinsame räumliche und zeitliche Umwelt erleichtert aufgrund der face-to-face Situation der Teammitglieder zudem auch das Verständnis des Status der gemeinsamen Aktivität, weil die Handlungen anderer Teammitglieder unmittelbar beobachtet werden können. Wäre Vesper Lynd bei der Pokerrunde nicht im gleichen Raum wie Bond gewesen, hätte sie dessen abrupten Abgang gar nicht mitbekommen. Und diese Wahrnehmung ist die Voraussetzung dafür, dass sie dem Helden schließlich zu Hilfe eilen kann. Ad 2) Alle Arten von Anzeigen („Displays“). Zur Etablierung der gemeinsamen SA eines Teams tragen vor allem visuelle und klangliche Hilfsmittel wie automatische Ansagen, Alarmtöne, Computerbildschirme oder auch einfach beschriftetes Papier bei. Die Rolle und Vielfalt dieser Hilfsmittel darf keinesfalls unterschätzt werden: Es sind die Dinge, die uns klug machen (Norman 1994). Die Relevanz und die Unersetzbarkeit von Papier zur Etablierung von gemeinsamer SA machen Untersuchungen der Arbeit von Flugkontrolleuren deutlich (Sellen/Harper 2003). Sie verwenden bei der Zusammenarbeit Papierstreifen, da deren vielfältige Verwendungsmöglichkeiten es gestattet, gleichzeitig mehr Informationen anzuzeigen und mitzuteilen als dies mit elektronischen Geräten möglich ist. James Bond hätte den Anschlag auf sein Leben nicht überstanden, wenn die Informationen über seinen körperlichen Zustand den medizinischen Experten im Haupt-
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quartier des MI6 nicht durch das Internet auf Computerbildschirmen zugänglich gewesen wären. Hätte 007 nur ein Telefon zur Verfügung gehabt, um mit der Zentrale in Verbindung zu treten, wäre es um ihn geschehen gewesen.7 Ad 3) Verbale und nonverbale Kommunikation. Gewissermaßen ein natürliches Mittel, um in einem Team eine gemeinsame SA zu erzeugen oder zu erhalten, ist die mündliche Rede. Teammitglieder tragen durch verbale Vorabsprachen, Erklärungen, Hinweise oder Erinnerungen zur gemeinsamen SA bei. Verbale Kommunikation hat aber nicht nur eine Inhaltsebene, sondern zudem mindestens noch eine Beziehungs- und Selbstoffenbarungsebene. Es werden also nicht nur Informationen zur Sache mitgeteilt, sondern zugleich werden durch die Art der Kommunikation Informationen über die Beziehung zum Gesprächspartner sowie über den eigenen Zustand mitgeteilt. So schätzen z.B. Piloten am Klang der Stimme von Flugkontrolleuren und anderen Piloten deren Kompetenz ein (Orasanu 1993). Neben verbaler Kommunikation kommt den nonverbalen Mitteilungen, dem Signalisieren z.B. durch Gesten eine wichtige Rolle zu. Wie jeder Fußballfan weiß, entwickeln Mannschaften ein ganzes Repertoire von Signalen, um eine gemeinsame SA zu erzeugen und zu erhalten. Ad 4) Gemeinsame mentale Modelle. Teams verlassen sich nicht ausschließlich auf externe Methoden und Hilfsmittel, um eine gemeinsame SA zu kultivieren. Sie entwickeln zudem interne Mechanismen in Form von mentalen Modellen. Mentale Modelle sind besonders wichtig, wenn es um das Verstehen der Situation und die Projektion von weiteren Handlungen geht. Es lassen sich grundsätzlich zwei Typen von mentalen Modellen unterscheiden, nämlich aufgabenbezogene mentale Modelle und teambezogene mentale Modelle (Cannon-Bowers et al. 1993). Aufgabenbezogene mentale Modelle sind Wissensstrukturen über die zu verrichtende Arbeit, teambezogene mentale Modelle sind Wissensstrukturen über die Mitglieder und
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Hier wird sichtbar, dass der Einsatz der vielfältigen Möglichkeiten zur Informationsübermittlung durch das Internet eine entscheidende Grundlage für netzwerkzentrische Kriegsoperationen darstellt (vgl. Fußnote 2). In der Filmszene ist das am Werke, was als „post smart pull“ Strategie beschrieben wird. Bond muss die Daten über seinen körperlichen Zustand nur ins Netz stellen („post“) und das medizinische Fachpersonal sucht sich die relevanten Informationen heraus („smart pull“). Eine Informationsübermittlung per Telefon basiert demgegenüber auf einer „smart smart push Strategie“. Bond hätte hier die Telefonnummer des Hauptquartiers wissen müssen („smart“), er hätte weiterhin wissen müssen, dass zu diesem Zeitpunkt medizinisches Fachpersonal erreichbar ist („smart“) und er hätte den Experten die Informationen über seinen körperlichen Zustand mitteilen müssen („push“). Angesichts der gegebenen Zeitknappheit hätte die Technologie des Telefons dazu geführt, dass 007 die Vergiftung nicht überlebt hätte. Mit anderen Worten: Der Organisation hätte es an Responsivität gemangelt.
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die Interaktionsformen des Teams. Bei der Ausführung gemeinsamer Aktivitäten sind stets beide Typen involviert. Gemeinsame aufgabenbezogene mentale Modelle lassen sich auf verschiedene Weisen etablieren. Eine Möglichkeit besteht darin, die gemeinsame Aktivität strukturiert vorzubereiten und das Vorgehen explizit zu kommunizieren. Auf diese Weise wird in den Köpfen der Mitglieder ein gemeinsamer Plan bzw. ein gemeinsames Skript implementiert. Gemeinsame mentale Modelle entstehen zudem auch durch gemeinsames Üben. In diesem Fall kann das Team auch auf das Wissen über Präzedenzen bauen: Hier wird dann ein Wissen über Normen und Erwartungen verwendet, das auf den spezifischen Erfahrungen beruht, die die Beteiligten während früherer Vollzüge der gemeinsamen Aktivität gemacht haben. Schließlich können Konventionen als mentale Modelle verwendet werden. Handlungsphasen werden dann kombiniert mit Hilfe des in einer Kultur vorhandenen Wissens über Verhaltensweisen, die mehr oder weniger formal formuliert sein können. Dass im Falle der Koordination durch Konventionen auf Kultur als Koordinationsmechanismus zurückgegriffen wird, impliziert, dass hier Wissensbestände verwendet werden, die außerhalb einer bestimmten Episode einer gemeinsamen Aktivität liegen. In der Filmszene ist zunächst ein auf Konventionen basierendes aufgabenbezogenes mentales Modell am Werk. Das Wissen über den Ablauf eines Pokerspiels ist ein kulturelles Skript. Dieses mentale Modell erlaubt es Vesper Lynd nun überhaupt erst zu verstehen, dass etwas nicht stimmt, als Bond plötzlich den Spieltisch verlässt. Es ist in diesem Fall die Abweichung von der für ein Pokerspiel üblichen Vorgehensweise, die Lynd ein Problem signalisiert. Ein gemeinsames Situationsverständnis ist jetzt nicht mehr gegeben. Der Verlust der Basis der gemeinsamen Aktivität veranlasst Lynd, sich Klarheit über den gegenwärtigen Stand der Dinge zu verschaffen, indem sie Bond sucht und ihn schließlich in seinem Wagen findet. Dass Vesper Lynd nach Bond sucht, verweist auf das Operieren des teambezogenen mentalen Modells. Auch dieser Typ lässt sich durch explizite Planung oder gemeinsames Training etablieren. Teambezogene mentale Modelle beinhalten, neben dem Wissen über die Mitglieder (ihre Kompetenzen, Funktionen, Einstellungen etc.), ein Wissen über die Art und Weise, wie im Team miteinander umzugehen ist. Das von den Akteuren verwendete Wissen über die Form der wechselseitigen Bezugnahme aufeinander hat einen entscheidenden Effekt auf die Performanz des Teams. Karl Weick hat die Form von Bezugnahme, die zu besseren Teamleistungen bei der Bewältigung von Problemen führt, als eine achtsame („heedful“) Umgangsweise bezeichnet (Weick/Roberts 1993, Weick et al. 1999). Achtsamkeit meint ein vorsichtiges, kritisches, konsistentes, absichtliches, aufmerksames, gelehrtes, wachsames, bewusstes, sachdienliches aufeinander Bezugnehmen von Handlungen bei der Ausübung einer gemeinsamen Aktivität. Ein achtsames teambezogenes mentales Modell findet seinen
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Ausdruck bei der Etablierung und der Erhaltung einer gemeinsamen SA z.B. in folgenden Verhaltensweisen:
Durch fortlaufende Klärungen und Erinnerungen während der Ausführung der Aktivität wird die gemeinsame SA expliziert und bewusst gemacht. Indem andere stets über den neuesten Stand informiert werden („updating“), erlangen sie das nötige Wissen über Veränderungen, die außerhalb ihrer direkten Zuständigkeit liegen. Die Teammitglieder verwenden Salienzen. Salienzen sind Sachverhalte, die aus einem Kontext hervorgehoben werden und dadurch dem Bewusstsein aller Akteure leichter zugänglich sind als nicht saliente Sachverhalte. Durch ein wechselseitiges Monitoring lässt sich feststellen, ob die Gemeinsamkeit der SA gefährdet ist oder bereits zusammengebrochen ist. Ungewöhnliche Vorgänge und Ereignisse (Anomalien) werden als Signal für den potentiellen Verlust der gemeinsamen SA verstanden. Es besteht im Team eine Norm des Infragestellens und der Selbstüberprüfung. Es werden während der gemeinsamen Aktivitäten bewusst Kontingenzen thematisiert, um ggf. in der Lage zu sein, andere Handlungsweisen projizieren zu können.
Achtsame teambezogene mentale Modelle zeichnen sich grundsätzlich dadurch aus, dass die Mitglieder ein selbstverständliches Bewusstsein über die Unabdingbarkeit einer gemeinsamen SA besitzen. Zudem ist den Mitgliedern klar, dass eine gemeinsame SA kein feststehender Sachverhalt ist, den ein Team hat oder nicht hat, sondern ein Prozess, der mit der Zeit variiert und je nach Situation unterschiedlich, aber nie perfekt ist. Aktivitäten wie das Monitoring oder Updating dienen dazu, Diskrepanzen zu erfassen, bevor sich ernste Probleme einstellen. Das Team weiß um die Notwendigkeit des fortwährenden Reparierens der SA, denn nur so lässt sich eine verlorene Gemeinsamkeit der Aktivitäten wieder herstellen. Eine achtsame Bezugnahme in Teams beruht letztendlich darauf, dass die Mitglieder Verantwortung nicht nur für ihre eigenen Arbeitsaufgaben übernehmen, sondern dass sie sich auch zuständig fühlen für das Gelingen des Handelns der anderen Teammitglieder und des gesamten gemeinsamen Projekts. Achtsame Teams praktizieren eine Moral der Verantwortung und Fürsorglichkeit (Gilligan 1984, Nunner-Winkler 1991, Bauman 1992). Diese Moral dürfte, neben dem Respekt vor der Fach- und Amtskompetenz der anderen (Weick/Sutcliff 2003), auch eine wesentliche Basis des in kompetenten Teams vorhandenen Vertrauens der Mitglieder ineinander sein (Baier 1986). Hätte sich Vesper Lynd also nicht um Bond gesorgt, sondern sich nur um ihre eigenen Zuständigkeiten
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gekümmert, wäre sie nie im richtigen Moment zur Stelle gewesen, um den Defilibrator zu verkabeln und zu betätigen. 4.
Kompetente Organisation
Was eine kompetente Organisation ist, kann mit Hilfe dreier Formen von Kompetenz verstanden werden: 1. den individuellen Fähigkeiten des Individuums, der Fachkompetenz, 2. der mit einer Position verbundenen Fähigkeit, der Kompetenz eines Amtes und 3. der im Zuge einer gemeinsamen Aktivität emergierenden Fähigkeit einer Mehrzahl von Akteuren, der Teamkompetenz. Kompetenzen lassen sich am besten beschreiben anhand des Wissens, das die Lösung von Problemen erlaubt. Die Fachkompetenz eines Individuums ist ein auf Sozialisationserfahrungen basierendes Expertenwissen, das mit dem „recognition primed decision making model“ (RPD) genauer erfasst werden kann. Sie hat ihren Sitz im Körper des Individuums und ist insofern ein transportables Wissen, das in unterschiedlichen Situationen zum Einsatz kommen kann. Amtskompetenzen beruhen dagegen auf einer Verteilung von Wissen über soziale Positionen in einem Kollektiv. Es ist ein situationsübergreifendes, nicht an konkrete Zeiten und Orte gebundenes Wissen. Das Wissen über Amtskompetenzen ist ein sozialstrukturelles Wissen, es ist kein Wissen über das einzelne Individuum. Amtskompetenzen werden einem Akteur verliehen und wieder entzogen, sie können delegiert und auch situativ ausgesetzt werden. Fachkompetenz und Amtskompetenz können, müssen aber nicht zusammenfallen. Teamkompetenz schließlich ist das gemeinsame Situationswissen („situation awareness“), das im Zuge einer gemeinsamen Aktivität von mindestens zwei Akteuren entsteht. Dieses Wissen ist nicht transportabel oder situationsübergreifend. Es hat seinen Sitz in einer konkreten Praxis und ist auf Fach- und Amtskompetenzen angewiesen. Diese beiden Wissensformen sind die Bedingung der Möglichkeit von Teamkompetenz. Ob sich diese Möglichkeit einstellt, ist von Umweltbedingungen, technischen Möglichkeiten, Kommunikation und mentalen Modellen abhängig. Eine kompetente Organisation entsteht durch die Choreographie dieser drei Kompetenzformen. Choreographie meint die Kombination und Anwendung der Kompetenzformen in der Weise, dass ein Problem erfolgreich gelöst werden kann.8 In der Filmszene weist die erfolgreiche Problemlösung, die Rettung des
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Choreographiert werden genauer gesagt, die einzelnen Handlungsphasen einer gemeinsamen Aktivität, wobei dem Signalisieren des Beginns bzw. des Endes einzelner Handlungsphasen wie auch des Anfangs und des Endes der gesamten Aktivität eine besondere Bedeutung zukommt (Clark 1996, Klein et al. 2005). Die Schwierigkeit der Choreographie in der Filmszene liegt vor allem auch darin, dass im Zuge einer Aktivität (Pokerspielen) auf eine andere für die
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Lebens von 007, folgende Choreographie auf: Zunächst sind beim anfänglichen Pokerspiele die Fach- und Amtskompetenz von James Bond, die Amtskompetenz von Vesper Lynd und die Teamkompetenz der beiden im Einsatz. Von Bond wird, nachdem er vergiftet wurde, seine Fach- und Amtskompetenz genutzt, um in seinem Auto eine Verbindung zum Hauptquartier des MI6 herzustellen. Die dann einsetzenden Aktivitäten der Mitarbeiter in der Zentrale beruht auf Fachkompetenz, Amtskompetenz (auch das Aussetzen von Amtskompetenz bei M) und Teamkompetenz (letzteres schließt Bond ein). Parallel dazu führt die durch Bonds plötzlichen Abgang vom Zusammenbruch bedrohte Teamkompetenz Vesper Lynd dazu, Bond zu suchen. Ihr gerade noch rechtzeitiges Auftauchen zeigt dann schließlich den Einsatz von Fachkompetenz bei der Handhabung des Defilibrators.9 Wie man an dieser Choreographie sieht, hat sie etwas Glückliches an sich, denn die Sache wäre beinahe anders ausgegangen. Man kann die Choreographie von Kompetenzen natürlich planen und man kann die Realisierung eines solchen Plans üben. Das Problem dabei ist, militärisch formuliert: Kein Plan überlebt den ersten Feindkontakt.10 Und eben das erfährt Bond bei seiner Mission. Mit anderen Worten: Die Choreographie einer kompetenten Organisation lässt sich nicht determinieren. Es ist nie ausgeschlossen, dass Kompetenzen anders als auf die passende Art und Weise eingesetzt werden und ebenso kann der Einsatz von Kompetenzen verhindert werden. Auf der anderen Seite ist die Lebensrettung von 007 keine Sache des bloßen Zufalls. Der kombinierte Einsatz von Kompetenzen dient ja genau dazu, einige Ereignisse wahrscheinlicher zu machen als andere. Ob sich aber eine hinreichend kompetente Organisation zur Bewältigung einer komplexen, dynamischen und gefährlichen Problemlage etabliert, ist letztlich eine Frage der zeitlichen und örtlichen Koinzidenz11 von Wissensformen. Kleine Diskrepanzen können daher katastrophale Konsequenzen haben.
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Akteure unerwartete und unter den gegebenen Bedingungen ungeskriptete gemeinsame Aktivität (Bonds Lebensrettung) übergegangen werden muss. Es bleibt in dem Film allerdings unklar, woher Vesper Lynd (eine Mitarbeiterin des Schatzamtes!) die Kompetenz hat, zu erkennen, was ein Defilibrator ist, wie man ihn richtig verkabelt und wie man ihn betätigt. Man kann aber wohl vermuten, dass die Bond-Girls seit den Zeiten Honey Ryders erhebliche Kompetenzgewinne gemacht haben. Man muss daher davon ausgehen, dass Vesper Lynd eine Doppelqualifikation hat und im Zweitberuf Rettungsmedizinerin ist. Diese Einsicht verdankt das militärische Wissen dem preußischen Feldmarschall Helmut von Moltke. Das Wissen über Koinzidenzen ist ein narratives Wissen, es ist somit ein Wissen über vergangene Ereignisse. Man könnte daher in einem gewissen Sinn sagen, dass man nachher zwar immer kompetenter, aber dadurch für die Zukunft doch nicht schlauer geworden ist. Zum Begriff der Koinzidenz s. Becker (1998), zur Rolle des Zufalls s. Taleb (2001).
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Realisierung
Von der Kompetenz zur Performanz Wissenssoziologische Aspekte der Kompetenz Hubert Knoblauch
Einleitung Kompetenz kommt in Mode. Wie Huber (2002) in seiner vorzüglichen begriffsgeschichtlichen Übersicht erwähnt, sind von den 716 deutschsprachigen Buchtiteln zum Thema Kompetenz fast drei Viertel seit 1990 erschienen, mit einem beinahe exponentialen Wachstumsverlauf.1 Das Aufkommen dieses Begriffes ist für die Wissenssoziologie nicht unbedeutend. Handelt es sich hier um einen von ihr übersehenen Grundbegriff, den die Wissenssoziologie endlich rehabilitieren sollte? Handelt es sich um einen spezialsoziologischen Begriff, der im Zusammenhang des Fach- und Expertenwissens ein spezifisches Phänomen benennt?2 Oder hat er mit neuen gesellschaftlichen Entwicklungen zu tun, die von der zunehmenden Verwendung dieses „heiß“ gewordenen Begriffes angezeigt wird? Wie die Fragen schon andeuten, möchte ich mich hier mit dem Begriff beschäftigen. Es geht also nicht um eine empirische Bestimmung von Phänomenen, die mit dem Begriff der Kompetenz bezeichnet werden können. Vielmehr geht es mir um eine Klärung des Begriffes selbst. In der Folge Kossellecks (1972) und Luhmanns (1980)werden solche Begriffsklärungen häufig als „Semantik“ bezeichnet, obwohl diese Bezeichnung vielfach, wie auch hier, irreführend ist. Zunächst geht es ja nicht um eine Klärung der Extension oder Intension des Bedeutungsfeldes der „Kompetenz“; die erste wissenssoziologische Frage richtet sich nämlich auf das schiere Aufkommen dieses Begriffes, also seiner, wenn man so will, Verbreitung im sozialen Lexikon bzw. seiner Anerkennung als Thema bzw. Topos, mit dem in der Gesellschaft kommuniziert werden kann (vgl. ausführlicher dazu Knoblauch 2001). Erst wenn ein Begriff eine solche Funktion erfüllt, macht es aus soziologischen Gründen Sinn, nach seiner „Semantik“ zu fragen. Aber auch die Frage nach der Semantik hat einen doppelten Boden; als wissenschaftliche Frage geht es um die Klärung eines Begriffes im
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Auf diese Quelle stütze ich mich auch bei den nachfolgenden begriffsgeschichtlichen Ausführungen. Vgl. dazu etwa Knoblauch 2005; Pfadenhauer 2003.
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Rahmen der wissenschaftlichen Kommunikation, häufig, wie auch in meinem Fall, mit einem historisierend-begriffgeschichtlichen Zug. Sofern der Begriff auch außerhalb der Wissenschaft Verwendung findet, geht es aber auch um eine Klärung dieser Verwendung, die notwendig empirische Züge annimmt (heute oft mit diskurstheoretischen Bezügen). Auch wenn ich eine solche Empirie hier nicht bieten kann, möchte ich doch beides tun: Zum einen möchte ich einzelne semantische Aspekte des wissenschaftlichen Begriffes in einem Bereich der wissenschaftlichen Diskussion herausstellen, der bedeutend ist, aber häufig vernachlässigt wird; indem ich argumentiere, dass diese Aspekte wissenschaftlich keine neue Bedeutungen schaffen, möchte ich zum anderen auf die gesellschaftliche Bedeutung der Begriffe hinweisen. Mein Beitrag teilt sich deswegen in einen kurzen begriffsgeschichtlichen Teil, in dem ich die Begriffsentwicklung kurz skizzieren möchte. In einem wissenschaftstheoretischen bzw. -historischen zweiten Teil möchte ich mich vor allem auf die Neukonzeption des Begriffes in der jüngeren Linguistik konzentrieren. Obwohl Chomsky und die Sprechakttheorie durchaus bekannt sind, ja rituell zitiert werden, ist die darüber hinausgehende linguistische Diskussion gerade in der soziologischen und kulturwissenschaftlichen Diskussion nur mangelhaft bekannt, obwohl sie eine dezidiert kulturanthropologische und soziolinguistische Wendung vollzieht. Auch dort ist der Begriff unmittelbar mit einem zweiten Modebegriff verbunden, der Performanz, der, wie Soeffner (2003) zu recht bemerkt, ein Komplementärbegriff zur Kompetenz ist. Der linguistische Begriff der Kompetenz führt, wie wir sehen werden, sofort in den der kulturellen Kompetenz über. Diese überschneidet sich weitgehend mit dem, was in der Wissenssoziologie als (handlungsleitendes) Wissen angesehen wird. Die Skizze dieses Wissensbegriffs im dritten Teil hilft nicht nur, eine Reihe von Aspekten der Kompetenz (Wissen, Angemessenheit, Generativität und Subjektivität) aufzuzeigen, sondern deutet auch auf besondere Bedeutungsaspekte hin, die sich mit dem grundlagentheoretischen Begriff nicht decken und auf jüngere gesellschaftliche Veränderungen hinweisen, die im vierten und letzten Teil umrissen werden. Kompetenz ist mit einer Betonung der Subjektivität verbunden, die paradoxerweise der Performanz ein größeres Gewicht zuweist und, sofern sie dieser nicht Rechnung trägt, eine Tendenz zur Verdinglichung aufweist. 1.
Zur Etymologie und Semantik des Begriffs
Kompetenz leitet sich aus dem lateinischen „competere“ ab, das „zusammentreffen“, „etwas gemeinsam erstreben“, „gesetzlich erfordern“ oder auch „zustehen“ bedeutet. Seine Prägung erhielt es im Römischen Recht, wo das Adjektiv
Von der Kompetenz zur Performanz
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„competens“ soviel wie „zuständig“, „befugt“, „rechtmäßig“ und „ordentlich“ bedeutet. Das Adjektiv wird für Personen verwendet, die sich Gott und den Anderen gegenüber angemessen verhalten. In der Neuzeit fügt sich zu dieser Kategorie der Angemessenheit, die sowohl im Recht wie in der Rhetorik leitend ist, ein weiterer Aspekt hinzu: „Eine kompetente Person wäre im 16. Jahrhundert eine Person, die geschickt, ordentlich und fügsam ist, sich gebührlich benimmt, aber auch im Wettbewerb mit anderen steht, welche um dieselbe Sache streiten“ (Huber 2002: 165). Neben dem Wettbewerb, der den aufkommenden Kapitalismus reflektiert, spiegelt sich aber auch die zunehmende bürokratische Organisation im Begriff wider. So definiert Zedler in seinem Universallexikon aus dem Jahre 1735 „Competentia, die Competenz, Bequemlichkeit, Füglichkeit, Zugehörung, Item die rechtmäßige Gewalt des Richters, das Befügniß, Item die Mitbewerbung wegen einer Stelle“ (Zedler 1733: 870). Während nun der wettbewerbliche Aspekt allmählich verblasst, rückt die juristisch-bürokratische Bedeutungsvariante in den Vordergrund. Im 18. Jahrhundert nimmt der Begriff die Bedeutung von „zuständig“, „fähig“ und „sachverständig“ an vgl. Braun 1989: 888). Diese Bedeutung folgt aus einer juristischen Tradition, in der das Wort aus dem Lateinischen übernommen wurde, und so verwundert es nicht, dass der Begriff dann auch in den modernen deutschen Rechtstexten auftaucht. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts bezeichnet Kompetenz im Staatsrecht die Rechte, Pflichten und Zuständigkeit eines Staatsorgans und im Verwaltungsrecht betont er die Bindung einer Behörde an ihre Aufgaben. Kompetenz bleibt aber keineswegs auf „kollektive Akteure“ beschränkt. So redet man zur selben Zeit schon von „competenten Personen“, wenn jemand kraft seiner Einsichten und Kenntnisse über eine Sache urteilen kann. Die Kompetenz bedeutet dann auch die Befugnis zu etwas, das, wie man sagen könnte, „anerkannte Vermögen zum angemessenen Handeln“. Während der Aspekt der Angemessenheit durchgängig zur Kompetenz gehört und die dem Begriff wesentliche Sozialität (im Sinne eines „akzeptierten Wissens in und für eine gewisse differenzierte soziale Ordnung) anzeigt, sollt man auch auf den zweiten Aspekt hinweisen, der selbst bei kollektiven Akteuren zum Tragen kommt. Das Wissen ist ein Vermögen im Subjekt. Eine deutliche Hervorhebung erfährt dieser Aspekt der Subjektivität im 20. Jahrhundert. Auf der einen Seite wird er 1959 bezeichnenderweise in der Psychologie von White eingeführt, wo er grundlegende persönliche Fähigkeiten meint, die vom Individuum selbst hervorgebracht werden. Er bezieht sich auf die Fähigkeit eines Organismus, mit seiner Umwelt effizient zu interagieren. Kompetenz verweist für White auf das allmähliche Lernen des Individuums, das dieser Interaktion entspringt (vgl. dazu Cofer 2006). Noch subjektiver aber ist, dass White diese Kompetenz in einer intrinsischen Motivation zur Auseinandersetzung mit der Umwelt verankert.
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Während White außerhalb der Psychologie wenig rezipiert wurde, wird der Begriff der Kompetenz noch von einem anderen Autor aufgenommen, der eine enorm breite Rezeption weit über sein Fach hinaus genießt: Noam Chomsky. Es ist vermutlich kein Zufall, dass eine komplizierte linguistische Theorie den Ausgangspunkt dieser Rezeption bildet, steht die Linguistik in dieser Zeit doch durch den Strukturalismus im Mittelpunkt des Interesses und gilt als Beispiel für eine Sozialwissenschaft, der es gelingt, die schwer zu fassende Sozialität und die ebenso flüchtige Subjektivität in Gesetzesaussagen und allgemeine Regeln zu fassen. Die linguistische Kompetenz ist ein geradezu paradigmatischer Fall dafür. Weil sie von hieraus eine Verbreitung nicht nur in die Wissenschaften, sondern auch in populärwissenschaftliche und professionelle Diskurse hinein erfahren hat, müssen wir uns mit dieser Vorstellung und ihrer Diskussion in der Linguistik etwas eingehender befassen. 2.
Von der linguistischen Kompetenz über die Performanz zum kulturellen Wissen
Der neuere Begriff der Performance leitet sich ab von Chomskys linguistischer Unterscheidung zwischen Kompetenz als dem grammatischen Wissen und der Performance als der Ausführung dieses Wissens im alltäglichen Sprechen. Kompetenz ist „das System von Regeln und Prinzipien, von denen wir annehmen, dass sie auf gewisse Weise in einer Person, die eine Sprache kennt, mental repräsentiert sind und dass sie dem Sprecher im Prinzip ermöglichen, einen beliebigen Satz zu verstehen und einen Satz, der seinen Gedanken ausdrückt, hervorzubringen“ (Chomsky 1981: 203). Der Begriff der Kompetenz bezeichnet also das „Vermögen“, die sprachlichen Regeln auf eine Weise anzuwenden, die Chomsky als „generativ“ ansah. Der Begriff des „Vermögens“ hat nicht zufällig eine Kantianische Denotation. In der Tat muss die Linguistik davon ausgehen, dass diese Regeln eine Verankerung haben, die wir gemeinhin im Subjekt suchen. Wesentlich also für die Kompetenz ist auch hier eine Art der Subjektivität. Genauer gesagt sollten wir von Bewusstsein oder gar von Gehirn reden (wenn man davon ausgeht, dass die Tiefenstrukturen der Sprachen eine Entsprechung in der neuronalen Struktur haben), denn die Regeln unterscheiden sich ja keineswegs von Subjekt zu Subjekt; sie haben vielmehr eine gemeinsame, ja universale Struktur – und dieser universalen Struktur war die Linguistik denn auch lange Zeit auf den Fersen. In der linguistischen Theorie weist diese Verankerung im Bewusstsein ein sehr eigenwilliges Merkmal auf. Denn das Regelwerk der Sprache führt nicht zu einer bloßen Ausführung der Regeln in immer derselben Weise. Vielmehr leistet sie im Rahmen der strukturalistischen Linguistik etwas, das für Menschen eben-
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so charakteristisch ist wie für Kulturen: Wir können mit denselben Strukturen und Regeln immer neue Sätze hervorbringen (eine Leistung, die übrigens auch Schimpansen leisten können). Diese Regeln sind generativ auf eine Weise, die wir heute als kreativ bezeichnen würden. Allerdings ist dieses Vermögen zum Generieren nicht eigentlich eine Folge der Subjektivität selbst; diese ist, wie wir sehen werden, eher ein Grund für Fehlleistungen, die in der Performanz zutage treten. Der generative Charakter verdankt sich der Strukturen der in Bewusstsein oder Gehirn verankerten Regeln. Anstatt diese Strukturen und damit Chomskys Kompetenz intentional zu erläutern, möchte ich den Begriff hier extensional im Kontrast mit einem anderen Begriff bestimmen, der als sein Komplement angesehen wird, nämlich den der Performanz. Performanz bezeichnet die Durchführung der Regeln, die Realisierung der Struktur. Allerdings handelt es sich keineswegs um eine bloße Umsetzung. Vielmehr sieht Chomsky Performance als eine abweichende und unvollständige Verwirklichung des idealen Regelwerks der Sprache an. Vielleicht könnte man auch diese Fehlerhaftigkeit als eine Quelle für die Kreativität der Sprache ansehen, doch entspricht das nicht Chomskys Auffassung. Denn für ihn ist die Performanz voller Fehler und Verzerrungen, weil sie von grammatikalisch irrelevanten Faktoren beeinflusst werde: „Nur in der Idealisierung kann die Sprachverwendung als direkte Widerspiegelung der Sprach-Kompetenz aufgefasst werden, in Wirklichkeit besteht ein so direktes Verhältnis offensichtlich nicht. Eine Aufzeichnung natürlicher Rede zeigt stets zahlreiche falsche Ansätze, Abweichungen von Regeln, Abänderungen der Strategien mitten im Sprechen usw.“ (Chomsky 1978: 14). Kompetenz als Virtualität und Vermögen zeugt also von einer Reinheit, die die Performanz des Realen nie erfüllt, weil hier Subjekte in ihrer Konkretion, Situationen, Körper, Medialität und Materialität ins Spiel kommen. Diese Reinheit des Begriffes der Kompetenz bleibt jedoch selbst in der Linguistik nicht erhalten. Um dies zu verstehen, müssen wir noch etwas bei der Performanz bleiben, bevor wir zur Kompetenz zurückkehren. Denn Chomskys Annahme, dass Sprechen eine fehlerhafte Realisierung eines quasi-idealen Systems sei, geriet in dem Maße ins Wanken, wie sich die Wissenschaft mit Aufzeichnungen natürlicher Rede – also der Performanz – beschäftigte.3 Man sollte bedenken, dass die Aufzeichnungen „natürlicher Rede“ der Entwicklung entsprechender Technologien verdankt, die erst im Laufe der 1960er Jahre so mobil wurde, dass auch tatsächlich „natürliches“ Reden aufgezeichnet wurde. Mit der Zuwendung zu den tatsächlichen Äußerungen richtete sich das Augenmerk auf
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Ein markantes Beispiel dafür bietet die Konversationsanalyse, die bezeichnenderweise zuerst in der Soziologie aufkam, bevor sie in der Linguistik adaptiert wurde. Allerdings spielt der Begriff der Performance bei diesem stark anti-theoretisch ausgerichteten Ansatz eine unbedeutende Rolle. Vgl. Bergmann 1981.
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die Äußerungen in Zeit und Raum selbst. Diese Verlagerung auf das natürliche Reden kann man als Ausgangspunkt für die erste, häufig ignorierte performative Wende ansehen. Angedeutet hatte sich diese Wende schon mit den ersten Arbeiten zur Sprechakttheorie, die von Austin initiiert worden waren. (Dass parallel dazu auch russische Praxis-Theoretiker eine soziologisch sehr viel fruchtbarere Theorie des Sprechhandelns entwickelten (z.B. Wygotsky 1969), die allerdings aufgrund des Kalten Krieges viel weniger rezipiert wurden und werden, gehört zu den Volten der Wissenschaftsgeschichte.) Austin hatte den Begriff des Performativen als besondere Formen von Äußerungen (es geht also insgesamt nicht um im logischen Sinne Propositionen, sondern um „utterances“) beschrieben, die sich durch zwei Merkmale auszeichnen: zum einen besagen sie nicht nur etwas, sondern vollziehen eine Handlung („action“); zum zweiten sind sie weder wahr noch falsch, sondern gelingen oder gelingen nicht („infelicitous“ oder „unhappy“). Aus diesem Grund sind sie ein Musterbeispiel für das, was Austin als Sprechhandlung („speech act“) bezeichnet, wie sie mustergültig etwa in Äußerungen wie: „ich verurteile Sie hiermit zu fünf Jahren Gefängnis“ zum Ausdruck kommen.4 In der Soziologie wird der Begriff der Performance vor allem durch Goffman berühmt. In den deutschen Übersetzungen seiner Schriften wird das Wort allerdings gern mit „Darstellung“ und „Schauspielen“ übersetzt, so dass diese Bedeutung verloren geht. Goffman (1980) meint damit zwar auch tatsächlich das Darstellen, doch bleibt der zweite Aspekt des Performance-Begriffes verdeckt. Er meint nämlich den realzeitlichen Vollzug des Handelns, das auf die Beobachtung von anderen und ihre Reaktion hin entworfen wurde. Konnte diese beobachtbare Performance erst ansatzweise durch visuelle Technologien aufgezeichnet und analysiert werden,5 dominiert zunächst noch die Linguistik der Analyse der natürlichen Performanz. Die Fokussierung auf die Performanz führte jedoch nicht nur zu einer dramatischen Umstellung der Linguistik, sondern auch zu einer Umdeutung der Kompetenz insbesondere durch Dell Hymes. Er bestritt Chomskys These vehement, dass die Sprache regelhaft, das natürliche Sprechen (also die „Performanz“) dagegen immer fehlerhaft sei. Der von ihm geprägte Begriff der Performance betont vielmehr, dass nicht nur das abstrakte System der Zeichen, sondern ihre Verwendung in kommunikativen Situationen
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5
Vgl. Austin 1979. Diesen Handlungsaspekt von Äußerungen bezeichnet er dann auch genau als den „illokutionären Akt“ – eine analytische Unterscheidung, die ja in der Theorie des kommunikativen Handelns von Habermas aufgenommen wurde. Die dahinter liegenden sozialen Voraussetzungen wurden u.a. von Goffman und von Bourdieu herausgearbeitet. Man sollte bedenken, dass Goffman ein Schüler von Ray Birdwhistell war, der als einer der ersten, Analysen natürlicher Interaktionen auf Film durchgeführt hat.
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eine eigene Ordnung aufweise. Diese Regeln allerdings sind keine abstrakten Regeln der Sprache, sondern Regeln des Sprechens in sozialen Situationen. Im Grunde handelt es sich also um soziale Regeln, die das Sprechen leiten. Dieser Aspekt des Sozialen wird auch schon in der Kategorie der Angemessenheit angedeutet, die dem alten Kompetenzbegriff zugrunde lag. Allerdings wurde dieser Begriff damals noch normativ verstanden – ein Verständnis, das noch bei Chomsky nachhallte. Im Unterschied zu seiner Annahme, dass die sprachliche Performanz im Vergleich zur idealisierten Kompetenz defizitär und fehlerhaft sei, betonte die von Hymes initiierte Richtung der Sprachforschung, dass die fehlerhafte Verwendung der Sprache durchaus regelkonform sein könne. Das mag sich zunächst paradox ausnehmen, wird aber schnell plausibel, wenn man bedenkt, dass im Grunde jeder Dialekt oder Soziolekt – also jede in bestimmten Regionen oder sozialen Gruppen gepflegte und als sozial anerkannte lexikalisch, syntaktisch und prosodisch besonderte Sprechweise – in eben diesem sozialen Zusammenhang als angemessen und korrekt angesehen wird und häufig eine Voraussetzung für die Zugehörigkeit zur entsprechenden sozialen Gruppe gelten kann. Das neue Paradigma richtete sich also nicht mehr auf idealisierte Voraussetzungen des Sprechens, sondern auf die realzeitlichen Äußerungen in sozialen Situationen selbst. Hymes (1976) verortete dieses Paradigma deswegen zutreffend in der Soziologie bzw. Soziolinguistik und sprach, was häufig vergessen wird, ausdrücklich von „performance“. Der Begriff der Performanz spielte für ihn keineswegs eine unbedeutende Rolle, sondern galt ihm als Titel für diese Untersuchung des Sprechens in sozialen Situationen. Das machte er schon 1975 deutlich, als er einen „breakthrough into performance“ verkündete, also eine paradigmatische Wende in der Erforschung der Sprache, hin zur Betrachtung des Vollzugs von Äußerungen in sozialen Situationen (vgl. Hymes 1975). Man sollte beachten, dass sein Begriff der Performanz weiter über das hinausgeht, was die Sprechakttheorie oder andere Theoretiker darunter fassten. Es geht hier nicht mehr nur um die solitären Sprechakte, wie sie von Austin bestimmt wurde; es geht auch nicht um die kommunikativen Handlungen, die sich in Sprechakten ausdrücken, wie sie Habermas (1981) formuliert, und auch Foucault (1981) bemerkt zwar die soziale Dimension der „enoncés“, ohne jedoch wirklich ihre performativen Aspekte zu beachten. Während in all diesen Theorien auch realzeitliche Äußerungen weitgehend wie schriftliche Texte behandelt werden, führt die performative Wende zu einer empirischen Erforschung realer Äußerungen in sozialen Sprechsituationen (und in der Folge auch zu einer Betrachtung der sozialen Rezeptionssituation medialer Texte). Dazu zählt beispielsweise die von Hymes (1979) selbst mit begründete „Ethnographie des Sprechens“ bzw. „Ethnographie der Kommunikation“, die eine mit ethnographischen Mitteln betriebene Beschreibung von Kommunikationsabläufen in unter-
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schiedlichen Kulturen verfolgte: amerikanischer „Rap“ der 1960er Jahre, politische Reden pazifischer Häuptlinge oder genealogische Rezitationen in BantuKönigstümern sind Beispiele für diese Methode. Diese Forschung hat unter dem Titel der Performanz zahllose Arbeiten hervorgebracht, wie etwa der Forschungsüberblick von Bauman und Sherzer (1974) zeigt, die leicht zugänglich sind. Performanz bezeichnet hier keineswegs nur „instrumentelles“ strategisches Handeln; bezeichnenderweise richten sich schon früh zahlreiche Studien kommunikativer Performanz ja gerade auf ästhetische Texte (vgl. Bauman/Briggs 1990, Bauman 1975). Auch in der neueren Forschung spielt die alltagsästhetische Performanz eine ebenso bedeutende Rolle wie die künstlerische Performanz (vgl. Turner 1986, Knoblauch/Kothoff 2001). Performanz bedeutet vielmehr, dass das Reden im sozialen Kontext selbst eine Regelhaftigkeit in der Zeit entfaltet, die sowohl eine Ressource der gesellschaftlichen Akteure wie ein Gegenstand wissenschaftlicher Forschung ist. In der Soziologie wurde dieser Aspekt unter anderem von der Konversationsanalyse aufgenommen, die sich dem realzeitlichen Aspekt der Kommunikation mithilfe von Tonbandaufzeichnungen näherte (vgl. nochmals Bergmann 1981). Um die Reduktion auf die bloß sprachlich-akustischen Aspekte der Performanz zu vermeiden, hat sich in der Folge eine eigene Tradition der Videoanalyse ausgebildet (vgl. Knoblauch u.a. 2006). Diese spricht jedoch häufiger von Interaktion oder Kommunikation und meidet den Begriff der Performanz, da die Kulturwissenschaft den Begriff aus der sprechakttheoretisch verengten Rezeptionslinie aufnimmt, ihn zwar kritisiert, den schon lange vollzogenen „breakthrough into performance“ jedoch ignoriert (vgl. hierzu Knoblauch 2008a). Diese Erläuterungen zur Performanz bilden den Hintergrund für das weitere Verständnis des linguistischen Kompetenzbegriffes. Denn parallel zu Chomsky betrachtet auch Hymes (1971) die Kompetenz als Pendant zur Performanz. Doch wie er sich in seiner Definition der Performanz von Chomsky unterscheidet, so differiert auch sein Begriff der Kompetenz. Bezeichnenderweise spricht Hymes auch nicht mehr nur von linguistischer Kompetenz, sondern von kommunikativer Kompetenz. Hymes schließt damit an die klassische, schon von Wilhelm von Humboldt formulierte Vorstellung an, dass Sprachen eben von jedem einzelnen Individuum hervorgebracht werden können. Diese beschränkt sich nicht auf das Vermögen der Sprecher zur richtigen Anwendung grammatischer Regeln, sondern bezieht auch ihre Fähigkeiten mit ein, diese Äußerungen in sozialen Situationen angemessen anzuwenden. Er enthält also neben dem Wissen um Sprache und ihre Regeln auch das Wissen um ihre soziale Angemessenheit in bestimmten sozialen Situationen. Auch dieser Begriff der Kompetenz also nimmt die soziale Dimension auf: „Kommunikative Kompetenz bezieht sowohl das Wissen wie auch die Erwartungen ein, wer in einer bestimmten Situation sprechen darf und wer nicht, wann man sprechen darf und wann man
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schweigen sollte, mit wem man reden darf und wie man zu Personen mit verschiedenem Status und unterschiedlichen Rollen reden darf. Ebenso schließt er die an die Situation angemessenen Formen des nonverbalen Verhaltens ein, die Routinen des Redezugwechsels im Gespräch, die Form des Fragens nach oder Erteilens von Information, wie Bitten gestellt, Angebote unterbreitet, Hilfe oder Mitarbeit angeboten, Befehle formuliert, Disziplin eingefordert werden kann und so weiter – also alles, was mit dem Gebrauch der Sprache und anderer Dimensionen in besonderen sozialen Situationen zu tun hat“(Saville- Troike 1982: 21). Diese Ausweitung des neuen linguistischen Begriffs der Kompetenz wird auch von Habermas vollzogen, der schon 1971 neben der sprachlichen von einer kognitiven und einer interaktiven Kompetenz spricht (vgl. dazu auch Habermas 1984/1974). Diese Ausweitung allerdings ist folgenreich. Denn dadurch, dass nun auch das soziale Regelwerk selbst zum Inhalt der Kompetenz werden kann, sind die Grenzen der spezifisch linguistischen Betrachtungsweise gesprengt. Er braucht nun nicht mehr nur auf bestimmte Aspekte der sprachlichen Kommunikation beschränkt zu werden (grammatische Kompetenz, soziale Kompetenz, strategische Kompetenz usw.), sondern kann nun so breit werden, dass er sich auf alle Bereiche der Kultur beziehen kann. Man kann diese Ausweitung sehr anschaulich nachvollziehen, wenn man sich die Liste der Merkmale ansieht, die SavilleTroike (1982: 24) im Anschluss an Hymes als Aspekte der kommunikativen Kompetenz anführt: 1.
Linguistisches Wissen a. b. c. d. e.
2.
Sprachliche Elemente Nichtsprachliche Elemente Muster aus diesen Elementen in bestimmten Sprechereignissen Die Bandbreite möglicher Varianten Die Bedeutung dieser Varianten in bestimmten Situationen
Interaktionsfähigkeiten a. Wahrnehmung bestimmender Elemente der Kommunikationssituation b. Auswahl und Deutung der in der Situation bzw. die Rollen und Beziehungen angemessenen Formen c. Organisation der Rede d. Normen der Interaktion und der Deutung e. Strategien der Zielerreichung
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3.
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Kulturelles Wissen a. b. c. d.
Soziale Struktur Werte und Einstellungen Kognitive Landkarten und Schemata Enkulturationsprozesse (Vermittlung von Wissen und Fähigkeiten)
Wie immer man zu der Systematik der Liste stehen mag, macht sie doch sehr anschaulich, dass selbst die Rede von der linguistischen bzw. kommunikativen Kompetenz die gesamte kulturelle Kompetenz impliziert. Es ist nur konsequent, dass daraus ein Begriff der „kulturellen Kompetenz“ erwächst, der das „Gesamt[e] an Wissen und Fähigkeiten [umfasst], die ein Sprecher in eine Situation einbringt“ (Saville-Troike 1982: 22f). 3.
Kompetenz – wissenssoziologisch eingeordnet
Was aber soll „kulturelle Kompetenz“ bedeuten? Wenn sich dieser Begriff nicht mehr auf die Sprache beschränkt, sondern auf die gesamte Kultur und wenn er überdies auf das Vermögen verweist, in einer Kultur angemessen zu handeln, dann bezeichnet er allgemein nichts anderes als kulturelles Wissen. Freilich mag man „Wissen“ für allzu kognitivistisch halten und den Bezug auf das Handeln vermissen. Allerdings wird in der Wissenssoziologie Wissen als ein Aspekt des Handelns gefasst. (Und auch wer den Begriff des „Sinns“ im Zusammenhang mit Kultur bevorzugt, dürfte im Weberschen Begriff des sinnhaften Handelns diesen engen Zusammenhang leichthin entdecken.) Für die Wissenssoziologie ist der Zusammenhang von Wissen als etwas, das Handeln leitet, schon seit Berger und Luckmann (1969) zur Selbstverständlichkeit geworden. Wissen wird hier sogar definitorisch auf Handeln bezogen, ist doch Handeln durch Wissen bzw. Sinn definiert. Indem sie auf die Verbindung von Wissen und Handeln verweist, rührt die Kompetenz an einer Grundüberzeugung der Wissenssoziologie: dass Wissen dem Handeln nicht äußerlich, sondern als Sinn immer intrinsisch mit dem Handeln verbunden ist.6 Auch der Hinweis von Habermas, dass hiermit die Handlungsfähigkeit des Subjekt betont würde, erscheint keine sehr nützliche Ergänzung, da Subjekte in der Handlungstheorie gerade durch ihre Handlungsfähigkeit definiert werden.7
6 7
Im Unterschied zu Weber, der es bei der Definition bewenden lässt, hat die Wissenssoziologie den konstitutiven Zusammenhang von Sinn für Handeln rekonstruiert. Vgl. dazu Schütz 1974. Vgl. Habermas 1984 (1974); die weitere Unterscheidung in eine kognitive, eine interaktive und eine sprachliche Kompetenz bereitet die Vervielfältigung vor, die letzten Ende in der kulturellen Kompetenz, also in der Gleichsetzung von Wissen und Handeln endet.
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Der Begriff der Kompetenz aber enthält noch weitere Aspekte, die sich mit den Mitteln der Wissenssoziologie sehr gut fassen lassen. Als „Vermögen zum angemessenen Handeln“ bezieht er sich nicht auf etwas Äußerliches, sondern auf etwas Subjektives. Dieser Aspekt kommt im Kantianischen Begriff des Vermögens zum Ausdruck. Doch auch dieses Vermögen ist der Wissenssoziologie keineswegs unbekannt. So sprachen Berger und Luckmann schon 1966 vom „subjektiven Wissensvorrat“, um genau auf jenen subjektiven Aspekt des gesellschaftlichen Wissens abzuheben. Im Unterschied zu den kulturalistischen Strukturtheoretikern, die den subjektiven Wissensvorrat lediglich als Reflex der Kultur betrachten, betonen Berger und Luckmann damit eine konstitutive Eigenständigkeit des Subjektiven.8 Es beruht zwar auf gesellschaftlichem Wissen, doch hat dieses Wissen immer auch eine zusätzliche subjektive Dimension, der es ursprünglich entspringt. Schon seit Husserl wird diese ursprüngliche Subjektivität als Bewusstsein bezeichnet, und zwar auf eine Weise, die dem Chomskyschen Begriff der Kompetenz sehr nahe kommt. Denn wie Chomsky geht auch Husserl davon aus, dass dieses Bewusstsein eine elementare Struktur aufweist, die gleichsam als Generator von Sinn und damit als Matrix für jedes sozialisierbare Wissen gilt. Für ihn kann Kompetenz nicht erlernt werden, sondern ist dem Bewusstsein eingeschrieben als ein ein universales Merkmal der menschlichen Fähigkeiten. Genau so wenig wie Chomsky diese Fähigkeit auf die Sprache begrenzt, weitete auch schon Husserl (1977) dieses Wissen auf vorsprachliches Wissen aus. Und ebenso wie Chomsky sieht auch Husserl in diesem grundlegenden Wissen als „Lebenswelt“ eine universale Struktur – eine „mathesis universalis“, wie Luckmann (1980) sie später nennt – die man als Ausgangspunkt jedes kulturspezifischen Wissens ansehen kann. Das Bewusstsein ist damit nicht nur etwas jeweils Besonderes, also konkrete Subjektivität, sondern weist allgemeine Merkmale auf: Es handelt sich um eine abstrakte Subjektivität.9 In dieser abstrakten Subjektivität ist die Eigenart des „Vermögens“ verankert, die Chomsky mit dem Begriff des Generativen fasst und die in seinen Augen auf der Tiefenstruktur basiert. Wie gesagt, beschränkt sich diese Tiefenstruktur jedoch nicht auf die Sprache, sondern erstreckt sich – analog zur Ausweitung auf die Kultur – auf alle Fähigkeiten des Bewusstseins (vgl. Lepschy 1970). Wenn wir nach einer Beschreibung einer solchen generativen Struktur suchen, werden wir ebenfalls in der Wissenssoziologie fündig, die das Bewusst-
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9
Dieser Aspekt wird auch von Habermas hervorgehoben, der die „Interaktionskompetenz“ an den Begriff der Identität bindet – ähnlich wie das Berger und Luckmann vor ihm und Oevermann nach ihm getan hat. Vgl. Habermas, Jürgen: Notizen zur Entwicklung der Interaktionskompetenz, in: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984 (EA 1974). Zu dieser Unterscheidung vgl. Knoblauch 2008b.
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sein als ein eigentätiges Gebilde ansieht.10 Ausgehend von den detaillierten phänomenologischen Analysen der Grundzüge dieser Eigentätigkeit (vor allem in der Konstitution der inneren Zeit) wandte sich etwa Alfred Schütz den Grundlagen des Wissens zu (vgl. Schütz 1976; Schütz/Luckmann: 2003 sowie bereits Schütz 1974). Den grundlegenden Prozess der Generierung von Wissen sieht er in der Typisierung von Erfahrungen, die durch Relevanzen geregelt wird. Solche Typisierungen beziehen sich auch auf Handlungen, die aus phänomenologischer Sicht lediglich als eine Sonderform der Erfahrung auftreten – womit der Handlungsbezug hergestellt wäre. Wissen baut sich auf leiblichen, räumlichen und zeitlichen Grundstrukturen auf und beinhaltet körperliche Fertigkeiten, Rezept und Gewohnheitswissen wie auch objektivierte Wissensbestände. Während sich die Ablagerungen des Wissens noch durch die generativen Leistungen des einzelnen Bewusstseins erklären lassen, bilden sich objektivierte Wissensbestände allein in der Interaktion mit anderen, also in der Gesellschaft aus. Genauer gesprochen sollte man auch erst an dieser Stelle von Wissen reden, während wir es davor mit Sinn zu tun haben. Allerdings ist diese Unterscheidung weitgehend analytischer Natur, ist doch das meiste Wissen, über das wir empirisch verfügen, schon von anderen konstituiert – wir übernehmen es als Wissen. Dass wir es aber sinnhaft verwenden können, weil wir ein generatives Bewusstsein haben und weil auch die anderen, von denen wir es übernehmen, ein solches Bewusstsein haben, ist eben die Grundlage dieser Kompetenz. An dieser Stelle, dem Übergang von der Konstitution zur Konstruktion, erscheint auch ein weiterer Aspekt der Kompetenz. Es handelt sich ja nicht nur um ein subjektives Vermögen, sondern um ein soziales Vermögen zu angemessenem Handeln. Wie wir gesehen haben, verweist diese Angemessenheit nicht auf eine technische Geeignetheit, sondern trägt eindeutig soziale Spuren: Es geht um das richtige Handeln in Situationen mit anderen und es geht um sozial anerkannte Formen des Wissens. Angemessenheit in sozialen Situationen wird wissenssoziologisch durch eine Reihe von Prozessen geleistet. Auf der Grundlage der Typisierung spielen hier vor allem Habitualisierungen und Routinisierungen eine große Rolle, wie sie von Berger und Luckmann (1969) ausführlich beschrieben wurden. Es handelt sich dabei um Formen des praktischen Wissens, die vom gemeinsamen Sägen – dem Beispiel, das Berger und Luckmann bringen – über das Führen von Gesprächen bis hin zu hochgradig technischen Fertigkeiten reicht. Ein Beispiel dafür mag das Autofahren sein; betrachten wir zuerst die subjektive Seite dieses Wissens: Wir erinnern uns, wie wir (jedenfalls die meisten unter uns) diese
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Eine solche generative Struktur finden wir auch in Bourdieus Begriff des Habitus. In der Tat verweist Bourdieu sogar ausdrücklich auf die Kompetenz. Es ist aber bezeichnend für die geringe analytische Schärfe dieses Begriffs, dass er Kompetenz nicht nur mit Habitus gleichsetzt, sondern gleich auch mit Kapital (vgl. Bourdieu 1982).
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Praxis unter Mühen erlernt haben. Nach und nach haben wir gelernt, die einzelnen Handlungsschritte in der richtigen Reihenfolge sozusagen körperlich feinmechanisch zu vollziehen – zuerst zu kuppeln, dann den Gang einzulegen, langsam Gas zu geben, langsam wieder zu entkoppeln usw. Nach jahrelanger Übung jedoch vollziehen wir dieses Handlungsmuster ‚wie im Schlaf‘. Wir haben den gesamten Ablauf leiblich habitualisiert. Nahezu automatisch folgt ein Schritt auf den anderen, und während wir fahren, sind wir in der Lage, gleichzeitig den Verkehr zu beobachten, zu reden, zu rauchen, Musik zu hören usw. Je häufiger wir die Handlung vollziehen, um so mehr explizit entworfene Handlungsschritte werden sedimentiert. Als Ergebnis des Sedimentierungsprozesses (der ja seinerseits wieder Typisierungen voraussetzt) greifen wir auf die zahlreichen, polythetischen (einzeln und explizit entworfenen) Handlungsschritte des Autofahrens sozusagen monothetisch (‚en bloc‘ und automatisch) zu. Die Leistung des Bewusstseins besteht also darin, polythetische Handlungen einem monothetischen Zugriff zugänglich zu machen, ein Prozess, den Schütz Sedimentierung nennt. Damit bezeichnet er die Ablagerung typisierter Erfahrungen und Handlungen in den Hintergrund des Bewusstseins. Die dabei ablaufenden Bewusstseinsprozesse, die phänomenologisch beschrieben wurden, können hier nicht rekonstruiert werden. Vielmehr soll die soziale Seite der Angemessenheit hervorgehoben werden. Denn zum einen ist das Auto selbst schon eine soziale Objektivierung, in das Ingenieure und Arbeiter eine eigene Handlungsstruktur eingebaut haben – die wir dann auch in etwa vollziehen. Zum zweiten erlernen wir diese Handlung des Autofahrens selten allein, sondern unter der Anleitung Anderer, über die das meiste Wissen vermittelt wird. Und schließlich wird dieses praktische Wissen weitgehend institutionalisiert: Fahrschulen sind die offiziellen, rechtlich und amtlich gesicherten Vermittlungsinstanzen, es gibt institutionalisierte Wege des Erwerbs dieses Wissens als Spezialwissen, und der Prozess der Vermittlung des Wissens ist in festgefügten Veranstaltungen mit klaren Ablaufsstrukturen geregelt. Hier erwerben wir dann auch das meiste Wissen, das oben aus der subjektiven Perspektive geschildert wurde – und damit auch die Kompetenz zum angemessenen Autofahren. (Und wer seit mehreren Jahren fährt, weiß auch, dass sich die Art der Angemessenheit deutlich verändert hat.) Die soziale Anerkennung des Ganzen wird schließlich durch einen amtlich beglaubigten Führerschein besiegelt. Dieses Siegel zeugt nicht nur von der Macht des Staates, der diese Beglaubigung ausspricht, sondern auch von den anderen mächtigen Institutionen, die damit verbunden sind: etwa der Autoindustrie, den Produzenten und Regulatoren des öffentlichen Verkehrs sowie der damit verbundenen Autoritäten, ihren Legitimationen und den damit verbundenen Auseinandersetzungen (etwa um alternative Antriebe, Fortbewegungsmittel, Systeme).
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Allerdings klingt „Kompetenz“ mit Bezug aufs Autofahren seltsam unangemessen. Denn das Autofahren gehört zu einem sehr verbreiteten praktischen Wissen, für das wir eigentlich gar kein anderes Wort brauchten. In der Tat deckt sich das, was wir bisher beschrieben haben, mit dem Wissensbegriff, der einleitend angedeutet wurde, so dass man schließen müsste, dass der Begriff der Kompetenz dem des praktischen Wissens wenig hinzufügte.11 Weiterhin deutet der Missklang auf einen zusätzlichen Aspekt der Semantik von „Kompetenz“ hin, den wir zu den bisherigen Aspekten hinzufügen müssen. Dieser Aspekt ist jedoch weniger auf der grundlagentheoretischen Ebene verortet, wie all die bisher angedeuteten Konzepte, die auf die verschiedensten Arten von Gesellschaften und Kulturen anwendbar sind. Kompetenz scheint etwas zu sein, das erst die moderne Gesellschaft kennt und das in der späten Moderne an Bedeutung gewinnt. Diesem letzten Endes spezifischen Aspekt möchte ich den abschließenden Teil des Beitrags widmen. 4.
Zur gesellschaftlichen Bedeutung von Kompetenz: Sonderwissen und Subjektivität
Der Begriff der Kompetenz erlebt in den letzten Jahren nicht nur eine rasante Vermehrung rein quantitativer Art; er breitet sich auch in den unterschiedlichsten Bereichen aus – ein Aspekt, den ja auch die Ausweitung des Begriffes nach Chomsky schon vorbereitet. Neben der linguistischen, der interaktiven, der kognitiven oder der kommunikativen Kompetenz gibt es auch eine soziale, eine rhetorische, eine interkulturelle Kompetenz und dergleichen mehr. Erhalten bleibt auch die alte Fachkompetenz, doch wird sie auch leicht methodisiert als „Problemlösungskompetenz“ oder gar als Methodenkompetenz bzw. „Wissen über Wissen“ (vgl. dazu Pfadenhauer 2008: 204ff). Auch wenn eine genaue empirische Analyse dieser Ausweitung noch aussteht, so gibt es doch Hinweise darauf, dass sie mit der raschen Spezialisierung des Wissens verbunden ist. So wie der Begriff der „Kompetenz“ beim Fahrlehrer angemessener klingt als bei gewöhnlichen Autofahrern, so scheint er in einer Verbindung mit ausdifferenzierten Wissensbeständen zu stehen. Je mehr Bereiche des Sonderwissens (und damit wissenssoziologisch: spezialisierte Institutionen) ausgebildet werden,
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Es ist erstaunlich, dass dieses simple Beispiel zu Missverständnissen führt. Wissen wird hier, wie das Beispiel zeigt und wie in der phänomenologisch orientierten Wissenssoziologie (Knoblauch 2005) gängig, als etwas verstanden, das mit dem Handeln definitorisch verbunden ist; es ist also hier nicht das gemeint, was ein Fahrlehrer sagt, sondern was jemand macht, wenn er oder sie das Schalten (ein)übt. Für eine solche ungenaue Missdeutung, die zu entsprechend falschen Schlüssen führt, vgl. Kastl (2007).
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umso mehr scheint der Begriff der Kompetenz zutreffend zu sein. Die Vervielfältigung von Sonderwissen scheint zwar ein besonderes Merkmal moderner Gesellschaften zu sein, ist aber nicht auf sie beschränkt. Das neue Merkmal, auf das die Bezeichnung „Kompetenz“ zusätzlich hinweist, ist, dass mit dem Begriff das Sonderwissen selbst als Sonderwissen beobachtet wird. Wir haben es hier weniger mit dem zu tun, was die Systemtheorie als „Beobachtung zweiter Ordnung“ in eine beinahe isolierte Kategorie stellt (vgl. z.B. Luhmann 1998). Der Blick auf die Kompetenz ähnelt vielmehr dem, was Schütz und Luckmann als „Strukturen des Nichtwissens“ bezeichnen: Wer den Begriff verwendet, richtet sich auf die Kompetenz, ohne diese Kompetenz selbst notwendig zu besitzen. Das soll keineswegs als Vorwurf oder Enthüllung verstanden werden, sondern als Unterscheidung zwischen dem Wissen, das Handelnde benötigen, um ihr Sonderwissen anwenden zu können, und dem Wissen, das dieses Sonderwissen beobachtet und vermittelt. Wer Kompetenz besitzt, verfügt über praktisches Wissen; wer aber den Begriff verwendet, hat Wissen über dieses Wissen. Ein Fahrlehrer muss vermutlich auch ein guter Autofahrer sein (wenigstens ein sicherer), auf jeden Fall aber muss er gute Autofahrer beurteilen können; ein Rhetoriker hingegen, der über die Kompetenz von Rednern urteilt, muss selbst kein guter Rhetoriker sein (dasselbe gilt für Literaturwissenschaftler und nebenbei auch für Soziologen).12 Dabei sollte man das Sonderwissen entschieden von dem unterscheiden, was als „funktionale Differenzierung“ bezeichnet wird. Denn Kompetenz beschränkt sich keineswegs auf funktional voneinander unterschiedene Bereiche und die damit verbundenen Institutionen. Vielmehr betrifft die Kompetenz auch jene zahlreichen Formen des Brückenwissens, die zwischen den funktionalen Bereichen vermitteln. Auch die Ausbildung eines Brückenwissens, das die Differenzen zwischen verschiedenen Professionen und ihrem Sonderwissen überbrückt, wurde schon angezeigt. Coaching, kommunikative Kompetenz, interkulturelle Kommunikation, „Metawissen“ und „Wissensmanagement“ sind beredte Ausdrücke für dieses Brückenwissen, das nicht auf einzelne Systeme beschränkt ist und doch entschieden „Kompetenz“ erfordert. Wie der Begriff der Kompetenz aber selbst schon auf praktisches Wissen zielt, haftet auch seiner Beobachtung ein praktischer Zug an. Im Unterschied zum wissenssoziologischen Begriff des Wissens geht es der Kompetenz immer auch um eine Beurteilung des Wissens, das beobachtet wird. Das bleibt keineswegs folgenlos, denn Kompetenz setzt damit das voraus, was es beurteilt. Der Begriff ist deswegen tendenziell mit einer Verdinglichung des Wissens verbun-
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Ob der Umkehrschluss gilt, dass die Beobachtung bzw. Beurteilung des praktischen Wissens, also der Kompetenz, selbst geradezu den Mangel der entsprechenden Kompetenz voraussetzt, ist ja Gegenstand eines berühmten, wenn auch zurecht umstrittenen soziologischen Gesetzes.
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den, die Wissen als etwas Beobachtbares ansieht.13 Diese Verdinglichung bezieht sich keineswegs nur auf das Wissen, sondern auch auf einen weiteren Aspekt, der mit dem Begriff radikalisiert wird. Kompetenz weist nicht nur auf die subjektive Dimension des praktischen Wissens hin, es hebt vielmehr gerade die Subjektivität dieses Wissens ganz wesentlich hervor. Das Aufkommen der Kompetenz ist ja verbunden mit einer Abwendung vom mechanisch anwendbaren Regelwissen, welches das Subjekt zum Exekutivorgan der Strukturen macht. Es geht nicht einfach um das Funktionieren in rationalen, instrumentellen Organisationen. Während moderne Arbeitsorganisationen die Befolgung der formalen Regeln fordern, erwarten moderne Organisationen einen eigenständigen Beitrag der Handelnden. Sie sollen situativ angemessen gerade auf das reagieren, was nicht regelhaft erwartbar ist, oder kreativ das entwerfen, was die Erwartung übersteigt (vgl. dazu Beck 1985, Baethge 1991). Ob die Gründe in der Einsparung von Strukturierungs- und Verwaltungskosten, der betrieblichen Deregulierung der Arbeitsverhältnisse oder der wachsenden Flexibilisierung liegen, dient die Subjektivität als eine der wesentlichen Ressourcen, um diese Aufgabe zu meistern. Kompetenz zielt auf diese tiefer gelegte Subjektivität, die etwas leistet, das aus Quellen schöpft, die in der Subjektivität liegen (vgl. Sennett 1998). Selbstorganisationsdispositionen, Selbststeuerung und, im Extrem, Kreativität sind deswegen nicht einfach nur beiläufige Merkmale, sondern wesentliche Anforderungen, die mittlerweile an ganze Klassen gestellt werden (vgl. Florida 2004). Weist Kompetenz auf die Bedeutung der Subjektivität nicht nur für die Funktionsbereiche, sondern auch für die sie überbrückenden Bereiche hin, so wirft sie aber auch ein Problem auf, das gerade in der Betonung dieser Subjektivität liegt. Denn die Subjektivität lässt sich ebenso wenig beobachten wie ein „Vermögen“. Die paradoxe Aufgabe, ein „subjektives Vermögen“ zu beobachten, bringt den Komplementärbegriff ins Spiel – in der Regel unausgesprochen. Wo immer nämlich die Kompetenz eine institutionelle Rolle spielt, müssen die Beobachter notwendigerweise auf die Performanz blicken. Anstatt der subjektiven Kompetenzen werden objektivierte Leistungen, Produkte und Äußerungen betrachtet, die es erlauben sollen, auf die Kompetenz zu schließen. Das Subjekt wird in seiner „performance“ beobachtet. Ja mehr noch, die Beobachtung der Kompetenz erzeugt eigene Formen und Formate, in denen das, was jemand kann, beobachtbar und damit beurteilbar gemacht werden soll: Ob es sich um die Evaluation von Ergebnissen und Berichten, um die Prüfung oder um die Einschätzung des Auftretens geht – in vielen gesellschaftlichen Bereichen haben sich eigenständige kommunikative Formen der Performanz eingespielt, so dass die Kompetenz zurecht als Kompetenzdarstellungskompetenz erscheint: „Der
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Zur Verdinglichung des Wissens etwa im Wissensmanagement vgl. Knoblauch 2004.
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Erfolg von Kompetenzdarstellern hängt davon ab, ob sie erkannt und anerkannt werden“ (Pfadenhauer 2003: 116). Selbst die Kompetenz kollektiver Einrichtungen, wie etwa von Universitäten oder ganzen Nationen wird an ihren „Auftritten“ etwa in Gestalt von hybriden Mulitmediashows oder PowerpointPräsentationen festgemacht (das reicht von den Vorstellungen der Universitäten bei der Exzellenzinitiative bis zur Präsentation der Bundesrepublik bei der Vergabe der Fussballweltmeisterschaft). Es ist bezeichnend für die subjektivistische Perspektive, dass bei der Beurteilung der Kompetenz durch diese Performanzen hindurchgeschaut wird, als handelte es sich um Glas: Nicht die Präsentation war gut, sondern die Universität ist gut, nicht das Land hat eine gute Show geboten, sondern ist gut aufgestellt. Diese Ausblendung der Performanz ist durchaus verwunderlich, ist sie doch ein ausdrückliches Thema in einer Reihe von wissenschaftlichen und künstlerischen Disziplinen. Während die stark praktisch orientierte Literatur zur Kompetenz kaum auf die Performanz blickt, ignoriert die stark theoretischkulturwissenschaftliche Diskussion um die Performanz den Begriff der Kompetenz fast vollständig. Während dies auf der Seite der Kulturwissenschaften zu einer eigenartigen Ignoranz des Subjekts führt, hat es für die eher praktisch orientierten Wissenschaften, die sich mit der Kompetenz beschäftigen, andere Folgen: Indem es die Performanz lediglich als Anzeichen von Kompetenz fasst, führt es zu einer Substantialisierung nicht nur der Kompetenz, sondern auch des Wissens, das Kompetenz ausmacht. Und weil dieses Wissen gar nicht substantiell ist, muss auch jeder von uns so tun, als wäre dieses Wissen wirklich – in der Performanz.
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Wann kommuniziert man kompetent? Jo Reichertz
1.
Kommunikation ist mehr als Sprechen
Menschen können kommunizieren. Menschen können jedoch, haben sie sich einmal wahrgenommen, nicht nicht kommunizieren. Natürlich können sie beschließen, es nicht zu tun, doch es wird ihnen nicht gelingen, so lange sie im Wahrnehmungsfeld von anderen bleiben. Menschen können sprechen. Menschen können auch, haben sie sich einmal wahrgenommen, beschließen, nicht mehr zu sprechen. Aber auch wenn ihre Stimme schweigt, wird ihr Körper weiter sprechen. All dies ‚sehen‘ nicht nur Beobachter von außen, sondern all dies wissen auch die, die an der Kommunikation beteiligt bzw. in ihr verstrickt sind: Sie rechnen damit, dass sie immer kommunizieren, wenn andere sie sehen, sie spielen damit und: sie arbeiten auch daran, neue Formen kommunikativen Handelns zu entwickeln. Obwohl sie all das wissen und tun, haben die wenigsten eine Vorstellung davon oder sicheres Wissen darüber (und natürlich haben sie auch keine Theorie darüber), weshalb sie in einer kommunikativen Situation etwas tun, weshalb sie es auf diese Weise tun und welche Folgen ihr Tun hat. Und vor allem: Sie wissen nicht, weshalb sie das können, was sie können. Diejenigen, die sich (auch) theoretisch mit Kommunikation befassen, also Kommunikationswissenschaftler, glauben zumindest gelegentlich daran, dass sie zu einigen dieser Fragen über Antworten in Form von Konzepten und Theorien verfügen.1 Sie verzichten jedoch darauf – so sie denn etwas Lebenserfahrung haben – sich von ihren Theorien in der alltäglichen Kommunikation führen zu lassen. Dies im Übrigen nicht, weil sie glauben, dass ihre Theorien falsch wären, sondern vor allem weil sie wissen, dass theoretisch angeleitete Kommunikation etwas strukturell anderes ist und deshalb andere Folgen hat als alltägliche Kommunikation. Wer theoriegeleitet kommuniziert, der ist bald allein. Dennoch gibt es gute Gründe dafür, sich aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht Gedanken darüber zu machen, weshalb Menschen kommunizieren
1
Ähnliches gilt auch für Therapeuten, Lehrer, Berater und Kommunikationstrainer.
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Jo Reichertz
können. Oder kleiner (da die grundsätzliche Frage uns ins Gebiet der Biologie, der Gehirnforschung im Allgemeinen und der Spiegelneuronen im Besonderen bringen würde2): Wie erwirbt der Mensch die Kompetenz, kompetent mit anderen Mitgliedern seiner Gruppe zu kommunizieren, und darf man hierfür eigentlich den Begriff der ‚Kompetenz‘ benutzen? Um diese Frage zu klären, wird es hilfreich sein, erst einmal den Begriff der Kompetenz zu erläutern, um dann zu beschreiben, was hier unter kommunikativem Handeln und Tun verstanden wird. Wenn das geleistet ist, lässt sich auch beurteilen, ob den kommunikativen Aktivitäten des Menschen eine oder mehrere Kompetenzen zugrunde liegen oder ob man gänzlich auf den Kompetenzbegriff verzichten muss. 2.
Kompetenz als Regelbeherrschung
Der Mainstream soziologischer, pädagogischer, psychologischer und auch der kommunikationswissenschaftlichen Literatur hat sich lange Zeit beim Kompetenzbegriff auf der sicheren Seite gefühlt. Mit großer Gelassenheit und Regelmäßigkeit wurde, kam der Begriff der Kompetenz einmal in den Fragehorizont, auf die Arbeiten von Noam Chomsky verwiesen.3 Letzterer hat nämlich in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts die auch von Saussure (langue – parole) und Humboldt ansatzweise entworfene Unterscheidung zwischen Kompetenz und Performance ausgearbeitet und weiter bestimmt,4 wobei Chomsky letztlich auf biologische Prämissen zurückgreift und – das ist sehr wichtig – vor allem und ausschließlich die linguistische Kompetenz gemeint hat, also nicht die Kompetenz, den richtigen Ausdruck zu finden oder gar die kommunikative Kompetenz. In einigen aktuellen, keineswegs selbstverständlichen soziologischen und kommunikationswissenschaftlichen Diskursen wird (teils mit massiver Kritik an Chomsky) die Zweiteilung zwischen verkörpertem Wissen (auch gerne Habitus
2 3 4
Vgl. hierzu Pauen 2007, Rizzolatti & Sinigaglia 2008, Reichertz & Zaboura 2006; Bayram & Zaboura 2006, Zaboura 2009. Wegweisend für diese Praktik waren frühe Arbeiten von Habermas (Habermas 1974a und 1974b) und von vielen Vertretern der Linguistischen Pragmatik (vgl. Kochan & Wallrabenstein 1974). Diese Behauptung hat ihren Grund nicht darin, dass ich Saussure und Humboldt unterstelle, dass sie (wie Chomsky das tut) bereits mit der Idee endogener Programme gearbeitet haben, sondern darin, dass die Bindung der Kompetenz an den idealen Sprecher bei Chomsky zur Folge hat, dass sich Sprache und Kompetenz sehr ähnlich werden (vgl. auch Bourdieu 2005: 48). Chomsky, aber auch Saussure, Humboldt und auch Bühler und viele andere greifen dabei auf die bereits von Aristoteles ins Spiel gebrachte Unterscheidung zwischen Potenz (dynamis, potentia) und Akt (energeia, actus) zurück. Erstere meint die (noch) nicht verwirklichte Möglichkeit, das zweite die Umsetzung der Möglichkeit in die Tat.
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genannt – siehe Bourdieu 2005) und konkreter Sprechäußerung entweder aufgenommen oder aufgegeben zugunsten eines Akteurmodells, nach dem das handelnde Subjekt strategisch oder zumindest gesellschaftlich angeleitet eine bestimmte Aufführung seiner Selbst bzw. seiner Handlungen inszeniert, also eine Performance gibt (Goffman 1991, Schütz 2004). Die vorliegende Arbeit wird sich jedoch nur implizit mit diesen aktuellen soziologischen Konzepten zur Erklärung der Befähigung menschlicher Akteure zur Kommunikation auseinandersetzen – einfach deshalb, weil an dem Kompetenzbegriff die Besonderheit dieser Befähigung trennscharf herausgearbeitet werden kann. Kompetenz, so die immer wieder vorgetragene Definition von Chomsky, ist „das System von Regeln und Prinzipien, von denen wir annehmen, dass sie auf gewisse Weise in einer Person, die eine Sprache kennt, mental repräsentiert sind und dass sie dem Sprecher im Prinzip ermöglichen, einen beliebigen Satz zu verstehen und einen Satz, der seinen Gedanken ausdrückt, hervorzubringen“ (Chomsky 1981: 203). Kompetenz besteht in dieser Sicht aus einem endlichen Satz von Regeln, mit dem sich unendlich viele Sätze produzieren und verstehen lassen. Sprachliches Handeln, also jeweils konkretes Sprechen, wird begriffen als Performance, die sich direkt aus der Regel-Kompetenz ergibt oder anders: Das jeweilige Sprechen wird verstanden als Ausdruck einer zugrunde liegenden Kompetenz, wobei, so Chomsky, die Performance gegenüber der Kompetenz immer fehlerhaft sein kann bzw. sein muss, da die sprechenden Menschen durch eine Reihe von Faktoren gar nicht in der Lage sind, immer korrekt die Regeln anzuwenden. „Nur in der (…) Idealisierung kann die Sprachverwendung als direkte Widerspiegelung der Sprach-Kompetenz aufgefasst werden, in Wirklichkeit besteht ein so direktes Verhältnis offensichtlich nicht. Eine Aufzeichnung natürlicher Rede zeigt stets zahlreiche falsche Ansätze, Abweichungen von Regeln, Abänderungen der Strategie mitten im Sprechen usw.“ (Chomsky 1978: 14). Die Sprache selbst kennzeichnet Chomsky als Symbolsystem mit einer konsistenten, hierarchisch gegliederten Regelhaftigkeit, die jedem Individuum qua Gattungszugehörigkeit als ,endogenes Programm‘ zur Verfügung steht. Die Fähigkeit zur sprachlichen Kompetenz selbst ist angeboren. Genetisch determinierte mentale Strukturen sorgen dafür, dass unsere Kompetenz, Sprache zu produzieren, erweckt wird und sich je nach Umgebung in spezifischer Form, also in bestimmten Sprachen, ausblüht. Kompetenz entfaltet sich also endogen programmiert und aufgrund äußerer Stimuli, die allerdings an der Struktur des Entfaltungsprozesses (wohl aber an den Erscheinungsformen) nichts Grundsätzliches ändern können. Kompetenz liegt voll entwickelt erst bei einem in die jeweilige Sprache sozialisierten Erwachsenen vor. Die voll entwickelte Kompetenz gibt das Modell
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der Kompetenz ab. Auf dieses Modell werden alle Entwicklungsstufen der Sprachfähigkeit bezogen. Das Wissen um die grammatischen Regeln ist weitgehend unbewusst. „Diese Regeln und Prinzipien sind zu einem Großteil unbewusst und außerhalb dessen, was man bewusst erfassen kann. Auch die vollkommene Kenntnis der Sprache, die wir sprechen, erlaubt uns keinen privilegierten Zugang zu diesen Prinzipien; wir können nicht erhoffen, sie mithilfe von Introspektion oder Reflexion gleichsam ‚von innen her‘ zu bestimmen“ (Chomsky 1981: 232). Die Regeln besitzen einen generativen Charakter, d.h. mit einer begrenzten Anzahl von Regeln kann eine unbegrenzte Anzahl von Sätzen produziert werden. Die regelgerecht produzierten Sätze und Äußerungen bilden die Ebene der Performanz. Performanz ist die (teilweise) realisierte Kompetenz. Die generativen Regeln der Kompetenz sind nur über die Analyse der Performanz zu bestimmen. Als solche sind sie empirische Regeln, und somit ist die eingeborene Kompetenz keine transzendentallogische Bestimmung, die wahr und nicht überprüfbar ist, sondern empirisch überprüfbar. Die empirisch prüfbare inhaltliche Bestimmung der Kompetenz rekonstruiert dann die Regeln, die als reale Bewusstseinsstrukturen jedem Gattungssubjekt mitgegeben sind. Inhalte bzw. Bedeutungen tauchen in diesem System Chomskys nicht auf. Und was noch wichtiger ist: Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Chomsky geneigt war anzunehmen, dass dieses Modell von Kompetenz auch für die Fähigkeit gilt, den rechten Ausdruck im rechten Augenblick zu finden oder die, kompetent zu kommunizieren. Und zurecht haben schon sehr früh diejenigen Wissenschaftler (z.B. Hymes 1979), die Kommunikation nicht auf ‚Sprechen‘ reduzieren wollten, darauf hingewiesen, dass ‚Kommunikation‘ mehr und anderes ist als zu einem anderen Menschen zu sprechen. Dennoch haben (insbesondere in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts), viele Sozialwissenschaftler, Pädagogen und Philosophen die Fähigkeit, kompetent in einer Gesellschaft zu kommunizieren, analog zum Begriff der Kompetenz bei Chomsky benutzt und diese Tugend ‚kommunikative Kompetenz‘ genannt. Es herrschte große Einigkeit nicht nur darüber, dass die kommunikative Kompetenz eine Schlüsselkompetenz für Mitglieder moderner Gesellschaften darstellt (weshalb sie auch bald in allen Lehrplänen für den Deutschunterricht und später in jedem Managementtraining auftauchte),5 sondern auch darüber, dass die kommunikative Kompetenz erheblich komplexer gedacht werden müsse als die linguistische Kompetenz, aber dass sie dennoch mit dem Kompetenz-
5
Eine neue, wenig sinnvolle Belebung findet der Begriff der kommunikativen Kompetenz seit einigen Jahren in der Kombination mit ‚interkulturell‘ (siehe auch Bolten 2007). Auch in dieser Diskussion wird implizit unterstellt, interkulturelle kommunikative Kompetenz sei eine personal gebundene Fähigkeit, mit fremden Kulturen zu kommunizieren, und nicht eine kulturell gebundene Art und Weise, mit dem Nicht-eigenen, dem Fremden umzugehen.
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Performanz-Modell hinreichend gut beschrieben ist. Aber es fragt sich, ob dies kein Kurzschluss war, ob die ‚kommunikative Kompetenz‘ in der Tat nach dem gleichen Modell gedacht werden soll wie die linguistische Kompetenz. Die Antwort auf diese Frage hängt natürlich davon ab, wie man ‚Kommunikation‘ bestimmt. Deshalb hier ein kleiner Exkurs ins Grundsätzliche der Kommunikationstheorie und der Kommunikationsforschung. 3.
Was heißt hier Kommunikation?
Tiere kommunizieren. Menschen auch. Allerdings tun sie es auf unterschiedliche Weise – weshalb im Weiteren nur von menschlicher Kommunikation gesprochen werden wird. Kommunikation ist aus meiner Sicht, die sich am Wissen aus der pragmatischen Philosophie, dem Interaktionismus und der Wissenssoziologie orientiert, stets eine Form sozialen Handelns, ihr Ausgangspunkt ist ein Handlungsproblem. Menschliche Kommunikation hat deshalb immer eine pragmatische Funktion, das heißt, es geht immer um menschliche Handlungen und um deren Koordination oder deren Koorientierung – dazu gehört immer und unhintergehbar auch die Darstellung und Feststellung der eigenen Identität, der des Gegenübers, des Verhältnisses zueinander und dessen, was die Wirklichkeit sein soll. Kommunikation übermittelt ohne Zweifel auch Botschaften, aber wesentlicher ist, dass in gesellschaftlicher Kommunikation Identität, Wirklichkeit und eine bestimmte Form von Beziehung zugeschrieben, behauptet, aufgeführt, festgestellt und geändert wird. Kommunikation ist die Basis für all das, da sie Identität, Wirklichkeit, Gesellschaft und Beziehung konstituiert (Mead 1973, Tomasello 2002). Kommunikation dient nicht allein der Übermittlung (von Botschaften), sondern vor allem der Vermittlung (sozialer Identität und sozialer Ordnung). ‚Kommunikation‘ bezeichnet also weder allein den Vorgang der Informationsübertragung von einem Sender zu einem Empfänger, noch allein den Vorgang, durch einen spezifischen Symbolgebrauch beim hörenden Gegenüber eine bestimmte innere Erfahrung hervorzurufen bzw. aufgrund von Deutungsprozessen aus dem Gehörten die spezifische innere Erfahrung des Sprechers festzustellen (vgl. Ungeheuer 1987) . Mit Hilfe von Kommunikation, also kommunikativem Handeln wie kommunikativem Tun, wird gesellschaftliche Wirklichkeit gesellschaftlich und auch kommunikativ konstruiert (Knoblauch 2008, Luckmann 2002, Ivanyi 2003, Reichertz 2007). Kommunikation stellt nicht nur Wirklichkeit, Identität, Beziehung und Gesellschaft fest, sondern liefert darüber hinaus auch Anhaltspunkte dafür, was jeweils davon zu halten ist – weshalb es Sinn macht, in Anlehnung
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an einen berühmten Titel soziologischer Literatur (Berger & Luckmann 1994) von der ‚kommunikativen Konstruktion von Wirklichkeit‘ zu sprechen. Um die oben angesprochene Handlungskoorientierung zu erreichen, bedienen sich Menschen, die einander wahrnehmen, bestimmter Medien: der Stimme, der Sprache und des Körpers. Darüber hinaus setzen sie für die Anstrengung, sich aufeinander abzustimmen, Kleidung, Gegenstände, situative Rahmungen und Sequenzierungen ein. Über Zeit und Raum ausdehnen kann man die Reichweite der Koorientierungsbemühungen durch Medien wie Schrift, Radio, Fernsehen und Computer. Mit Hilfe der Medien, derer sich die Kommunizierenden bedienen (und das ist ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zu den meisten nicht-menschlichen Verhaltensformen), werden soziale Zeichen, Symbole aller Art – also sprachliche wie nicht-sprachliche, natürliche, ähnliche wie arbiträre – wahrnehmbar gemacht, die innerhalb einer Interaktionsgemeinschaft eine (nicht beliebige) Handlungsbedeutung haben. ‚Kommunikation‘ ist deshalb symbolisch vermittelte Interaktion. ‚Symbolisch‘ meint, dass die verwendeten Bewegungen und Gesten sich nicht in sich selbst erschöpfen, sich selbst genügen, sondern dass sie stets auf etwas anderes, das für die Kommunikation relevant sein soll, verweisen. Wichtig ist nicht die Bewegung, die Oberfläche, der Anschein, die Handlung, sondern das, auf was mit dieser Bewegung, mit dieser Handlung verwiesen wird. Kommunikation meint hier den gesamten sozialen Prozess der Verständigung, der Verstehen als Voraussetzung hat, sich jedoch nicht in Verstehen erschöpft. Kommunikation ist symbolvermitteltes Handeln von konkreten Menschen für konkrete Menschen, in bestimmten Situationen und bestimmten Soziallagen und: mit bestimmten Absichten. Deshalb ist jede kommunikative Handlung eine soziale Handlung, d.h. sie ist an eine soziale Identität gerichtet und erwartet eine Antwort-Handlung. Kommunikation zu verstehen bedeutet dann immer, den in einen bestimmten Kontext eingebetteten Handlungsprozess zu verstehen. Die wissenschaftliche Analyse und auch das wissenschaftliche Verstehen von Kommunikation können sich deshalb aus meiner Sicht nicht auf das Erfassen von Intentionen von Sprechern begrenzen. 4.
Man kann nicht nicht kommunizieren
Eine wichtige Frage in der Kommunikationswissenschaft, wenn nicht sogar die Gretchenfrage, ist die, wie man es mit der Intention der Kommunizierenden hält. Ist nur das Kommunikation, hinter dem auch die Absicht des ‚Sprechers‘ steht, es dem ‚Hörer‘ zu übermitteln? Gehört nur das zum kommunikativen Geschehen, was die Beteiligten auch absichtsvoll einander vermitteln wollen: also Bitten, Befehle, Beleidigungen und Besserwissereien und vieles andere
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mehr; Und liegt alles andere, also die gedankliche, strategische Planung des kommunikativen Handelns, die Kleidung, das Handeln und all das am Körperausdruck, was wir ihm nicht absichtsvoll geben (können), außerhalb des kommunikativen Geschehens? Zugespitzt ist diese Frage debattiert worden in der Auseinandersetzung um einen Satz, den nicht nur in der Kommunikationswissenschaft jeder kennt. Es ist das Axiom, dass ‚man nicht nicht kommunizieren kann‘. In dieser Form in die Welt gebracht wurde diese Behauptung in dem Buch „Menschliche Kommunikation“, verfasst von Paul Watzlawick, Janet Beavin und Don Jackson im Jahr 1967 (Watzlawick & Beavin & Jackson 1969: 51). Der Haupteinwand gegen das Axiom von der Unmöglichkeit, nicht zu kommunizieren, lautet in etwa so: Da für Watzlawick et al. ‚Kommunikation‘ gleich ‚Verhalten‘ und ‚Verhalten‘ alles sei, sei auch Kommunikation alles. Damit würde sich ‚Kommunikation‘ völlig auflösen, denn dann würden auch fallende Bäume, im Weg liegende Steine und Löcher in Hosen ‚kommunizieren‘. All die genannten Dinge würden sich nämlich im Sinne Watzlawicks ‚verhalten‘ und durch ihr Verhalten etwas mitteilen. Eine solche Ausweitung des Kommunikationsbegriffs sei sinnlos, weil er alles und damit zugleich auch nichts mehr sage. Denn nur wenn der Begriff ‚Kommunikation‘ sich klar abgrenzen ließe und nur auf eine bestimmte Sache bezogen sei, könne er innerhalb wissenschaftlicher Forschung und Theoriebildung von Nutzen sein. Was gerne dabei übersehen wird, ist die Bestimmung Watzlawicks et al., dass nicht alle paralinguistischen Phänomene, Körperhaltungen und Ausdrucksbewegungen Mittel der Kommunikation sind, sondern nur die, die innerhalb eines bestimmten Kontextes benutzt werden. Und dieser Kontext ist die „zwischenpersönliche Situation“ (Watzlawick et al.: 51), das heißt, die Situation, in der sich Menschen gegenseitig wahrnehmen. Paradigmatisch für eine solche Situation ist die Begegnung Auge in Auge, aber natürlich liegt eine solche zwischenpersönliche Situation auch dann vor, wenn Menschen sich über die Ohren, die Nase, die Hände oder Medien etc. wahrnehmen oder auch nur glauben, wahrgenommen zu werden. Sobald man sich in einer solchen Situation befindet, kann man nicht mehr nicht kommunizieren. „Wenn man also akzeptiert, dass alles Verhalten in einer zwischenpersönlichen Situation Mitteilungscharakter hat, das heißt Kommunikation ist, so folgt daraus, dass man, wie immer man es auch versuchen mag, nicht nicht kommunizieren kann. Handeln oder Nichthandeln, Worte oder Schweigen haben alle Mitteilungscharakter: Sie beeinflussen andere, und diese anderen können ihrerseits nicht nicht auf diese Kommunikation reagieren und kommunizieren damit selbst“ (Watzlawick et al.: 51). Diese Eingrenzung ist sehr klar. Es gibt keinen Hinweis von Watzlawick et al., der es rechtfertigen würde, auch Verhalten außerhalb einer zwischenpersön-
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lichen Situation als Kommunikation zu begreifen. Für eine Ausweitung des Kommunikationsbegriffs auf das Verhalten gegenüber Tieren, Bäumen und Steinen gibt es also keinen Grund. Außerhalb einer zwischenpersönlichen Situation, also beim einsamen Spaziergang durch den Wald, dem nächtlichen Wachliegen, während die Frau neben einem fest schläft, dem einsamen Arbeiten am Computer etc., kann man deshalb sehr wohl nicht kommunizieren. 5.
Vom intimen Blick zur peripheren Wahrnehmung
Entscheidend dafür, dass menschliches Verhalten der Kommunikation zugezählt werden kann, ist nun der Umstand, dass die miteinander Kommunizierenden sich in irgendeiner Weise wahrnehmen – auch darauf haben viele Sozialwissenschaftler immer wieder hingewiesen. Doch was bedeutet ‚wahrnehmen‘ und ‚gegenseitig wahrnehmen‘? Ganz allgemein bedeutet es einmal, dass der Eine nicht nur den Anderen wahrnimmt, sondern alle auch wahrnehmen, dass sie wahrgenommen werden – also die Wahrnehmung der Wahrnehmung und damit: gegenseitige Wahrnehmung. Und die besonders wichtige Form der Wahrnehmung ist das Sehen, das sich Ansehen. Allerdings gibt es verschiedene Formen und Intensivierungsstufen gegenseitiger Wahrnehmung. So gibt es (und das ist wohl ein äußerer Pol dieser Begriffsverwendung) den gezielten und tiefen Blick in das Gesicht und speziell in die Augen des Gegenübers – ein Tun, das man bei Liebenden häufig findet. Der direkte Augenkontakt ist aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht eine besondere und eine besonders relevante Form der gegenseitigen Kenntnisnahme: Hierzu Simmel: „Der Blick in das Auge des anderen dient nicht nur mir, um jenen zu erkennen, sondern auch ihm, um mich zu erkennen; auf der Linie, die beide Augen verbindet, trägt er die eigene Persönlichkeit, die eigene Stimmung, den eigenen Impuls zu dem anderen hin“ (Simmel 1998: 139). Der direkte Augenkontakt verbindet, schafft Nähe, weil er Nähe zulässt, liefert Einsicht und die Ansicht auf den Ausdrucksbereich des menschlichen Körpers, der sich nur mit großem Können bewusst gestalten und verstellen lässt. Den anderen äußeren Pol der Begriffsverwendung von Wahrnehmung bildet das peripherische Wahrnehmen. In den Augenwinkeln sehe ich, dass etwas passiert, dass dort etwas ist. Ich nehme es zur Kenntnis, wende mich ihm jedoch nicht zu, entweder weil es (noch) nicht wichtig ist oder weil es nicht will, dass es wahrgenommen wird und ich mich diesem Wunsch beuge oder weil es unschicklich ist, sich ihm ausdrücklich zuzuwenden. Natürlich kann ich mich dem peripher Wahrgenommen immer wieder ausdrücklich zuwenden, kann es fokussieren. Aber, und das ist hier der Punkt, immer weiß ich, dass es mit mir im gleichen Raum anwesend ist und dass deshalb mit ihm zu rechnen ist und ich
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mit ihm zu rechnen habe. Goffman hat immer wieder auf diese Art des kommunikativen Handelns, die er „höfliche Gleichgültigkeit“ nennt, in öffentlichen Räumen oder auf öffentlichen Plätzen hingewiesen (Goffman 1971: 84ff.). In der ‚Mitte‘ zwischen intimem Blick und peripherischem Sehen findet sich dann das Wahrnehmen in normaler Blickeinstellung und aus mittlerer Distanz. Ich nehme wahr, dass dort jemand ist, ich nehme ihn explizit zur Kenntnis – ohne ihn jedoch genau zu mustern und zu zerlegen. Ich schaue ihn an, er sieht, dass ich ihn nicht nur sehe, sondern auch ansehe, aber er sieht auch, dass ich ihn nicht fixiere oder taxieren will – das kann ich zwar tun, aber das hat dann Folgen. Der hier gemeinte Blick ist der Blick auf mittlere Distanz, der im Alltag der normale ist, der ein gewisses Maß an Nähe schafft, jedoch jedem seinen Raum lässt. 6.
Kommunikatives Tun und kommunikatives Handeln
Innerhalb der kommunikationswissenschaftlichen Diskussion werden, wenn es um kommunikative Ereignisse geht, vor allem drei Begriffspaare gehandelt, um diese Ereignisse zu ordnen: zum ersten das Paar ‚intentional und nichtintentional‘ zum anderen das Paar ‚sprachlich und nicht-sprachlich‘ und zum dritten das Paar ‚Handeln und Verhalten‘. Je nach Verständnis, was Kommunikation ist, wird dann der Gegenstandsbereich der Kommunikationswissenschaft bestimmt: Manche beschränken dann ihren Gegenstand auf das intentionale, vor allem sprachliche Handeln, andere beziehen auch noch Teile des nichtintentionalen, nicht-sprachlichen Verhaltens mit ein – wobei es dann meist sehr schwer fällt, eine kommunikativ bedeutungslose Bewegung von einer bedeutungsvollen zu unterscheiden. Aber so lange man nur ‚Verhalten‘ auf der einen und ‚Handeln‘ auf der anderen Seite hat, bleibt nur die falsche Wahl. Stattdessen scheint es aus meiner Sicht sinnvoll (und einige Schwierigkeiten mit dem Kommunikationsbegriff ließen sich vermeiden), wenn man eine dritten Handlungstyp einführt: das kommunikative Tun. Gekennzeichnet ist dieses kommunikative Tun dadurch, dass es zwar (in der Situation) nicht bewusst gesetzt wurde (wie z.B. das Tragen eines Schals) aber dennoch sinnhaft ist und auch immer in einer kommunikativen Situation als sinnhaft eingeführt wird. Es gibt nämlich nicht nur sinnloses Verhalten, bedeutungslose Körperbewegung, Rauschen und Ticks auf der einen, der Verhaltensseite, und Versprechen, Drohungen und Worte auf der anderen, der Handlungsseite. Das Problem mit diesen beiden Begriffen ist, dass sie stets nur die aktuelle Kommunikationssituation im Blick haben und zur Kommunikation nur das zählen, was die Akteure zum Zwecke der Verständigung (bewusst) tun. Wenn Kommunikation
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aber immer nur in Situationen vorkommt, dann hat Kommunikation ein Vorher und ein Nachher. Und das Vorher reicht stets in die aktuelle Kommunikation hinein – und natürlich hat es immer auch für das Nachher Folgen (vgl. auch Goffman 2005). Der junge Mann, der sich, um einen besseren Eindruck zu machen, für sein Vorstellungsgespräch in feines Zwirn gesteckt hat, kommuniziert ohne Zweifel später mit seinem Anzug. Das ist auch seine Absicht. Das gleiche Tun, nämlich das Tragen des Anzugs, ist aber keine Kommunikation mehr, wenn er gerade wegen dieses Anzugs von einem Straßenräuber überfallen wird. Zeichen haben also als kommunikative Einheiten unterschiedliche (Lebens-) Dauern und Reichweiten. Kleider ‚leben‘ länger als gesprochene Worte oder das angedeutete Lächeln. Auch haben sie eine andere Reichweite, da sie von mehr Menschen wahrgenommen werden können. Gepflegte Zähne ‚leben‘ noch länger, können sich aber auch im Laufe der Zeit bedeutungsrelevant verändern. Auch Zeichen und deren Gebrauch haben also ihre Geschichte. Kommunikation ist deshalb sehr viel mehr als das, was in dem kleinen Raum- und Zeitfenster aktueller und personaler face-to-face-Begegnung zum Zwecke gegenseitiger Absichtsrealisierung passiert. Der Versuch vieler kommunikationswissenschaftlicher Ansätze, nur die Symbole zum kommunikativen Geschehen zu zählen, die bewusst von den Akteuren in der Situation selbst zum Zwecke der Kommunikation produziert werden (Töne, Sätze und die sie begleitenden nonverbalen Symbole), macht damit das Verstehen und das Verständnis von kommunikativen Prozessen nicht leichter, sondern schwerer, da Kommunikation unterbestimmt bleibt – kennt sie doch so kein Vorher und kein Nachher. Aus dieser Sicht gehen die Akteure mit einer Geschichte in jede Kommunikationssituation: sie schließen an Altes an (Kontext) und sie bereiten sich vor, indem sie sich und ihren Körper gestalten. All dies ist Tun, das auch in der kommunikativen Situation für die Kommunikation bedeutungsvoll ist. Vor dem Verhalten und Handeln in der Situation liegt also eine Aktivitätsform, die vor der aktuellen Kommunikation liegt. Das ist der Bereich, der aus der Körperbewegung eine typische, weil typisierte gesellschaftliche Handlung macht. Aufgrund dieser Typisierung ist sie erkennbar als Handlung, auch wenn nicht kommuniziert werden soll, dass diese Handlung gerade getätigt wird. Das sich Bewegen in typisierter Form ist die Aufführung einer bestimmten gesellschaftlichen Handlung in einem bestimmten gesellschaftlichen Drama. Derjenige, der sich so verhält, hat nicht die Absicht, dies in der aktuellen Kommunikationssituation zu kommunizieren. Dennoch tut er es. Sein Verhalten ist sinnhaft, aber nicht bewusst – manchmal war es bewusst, manchmal kann man es sich später bewusst machen. Aber zweifellos hatte es Bedeutung und beeinflusst das kommunikative Geschehen maßgeblich mit. Es ist die Rahmung einer explizit kommunikativen Handlung, ohne die sie gar nicht verstanden werden kann.
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Kommunikatives Agieren darf deshalb nicht allein verstanden werden als bewusste und strategisch geplante Akte der Selbstfeststellung und Selbstbehauptung bzw. als bewusste und strategisch geplante Akte der Durchsetzung eigener Interessen, sondern der weitaus größte Teil kommunikativen Agieren entzieht sich der Intention und der Planung, liegt jenseits von Absicht und Strategie, findet statt, bevor die Kommunikation stattfindet. Gewichtige Teile kommunikativen Handelns resultieren aus der gesellschaftlichen Semiotisierung des Körpers, aus dem inkorporierten Habitus, aus der Interaktionsdynamik, aus dem Machtverhältnis der Kommunizierenden zueinander. Entscheidende Teile kommunikativen Handelns sind weder dem Verhalten noch dem Handeln zuzuordnen, sondern sind dem kommunikativen Tun zuzurechnen, also dem Bereich, der der Reflexion zwar prinzipiell zugänglich ist, doch im Alltag meist mit Recht unthematisiert bleibt, bleiben muss. 7.
Die Disziplinierungen des Kommunizierens
Kommunikative Verständigung ist nur dann möglich, wenn Worte und Taten miteinander korrespondieren, wenn Worte ‚wahr‘ sind. Wäre nämlich jedes Sprechen unwahr, dann wäre es bedeutungs- und wirkungslos. Sprechen muss zumindest in gewissem Maße und für bestimmte Gruppen eine bestimmte Form von Verbindlichkeit haben, sonst könnte und müsste man es lassen. Verbindliches und somit folgenreiches Sprechen bildet also eine wesentliche Grundlage menschlicher Gemeinschaft und menschlicher Handlungskoordination. Worte sind (so die gesellschaftliche Norm) gerade nicht wie der Wind, der verweht, sondern gesprochene Worte sind Handlungen, die bleiben. Oder besser: Sie sollen Handlungen sein und können aber nur dann wirkende Handlungen sein, wenn Handlung und Wort (normativ) aneinander gekoppelt werden. Aus dieser Sicht kann man die Geschichte der Menschheit auch lesen als einen permanenten Versuch, das Verhältnis von Wort und Handlung zu regulieren und stabil zu halten. Die Macht der Worte verdankt sich in dieser Sicht der Dinge also der machtvollen Durchsetzung bestimmter Formen der Vergesellschaftung oder anders (in Anlehnung an die Ausdrucksweise von Foucault 2004): bestimmter Disziplinierungen. Die Macht der Worte beruht – so die hier vertretene Behauptung – auf einer vierfachen Disziplinierung des Menschen, die keinesfalls in allen Kulturen in gleicher Weise stattfindet. Gemeint sind mit den vier Disziplinierungen (siehe hierzu ausführlicher Reichertz 2007: 293-326):
die Disziplinierung des Sprechens, die Disziplinierung der Verantwortungsübernahme,
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die Disziplinierung des Zuhörens und schlussendlich auch die Disziplinierung des Antwortens.
Diese vier Disziplinierungen des Menschen haben sich historisch entfaltet und wurden jeweils in historisch spezifischen Formen eingeübt und sanktioniert. Auch die Wertigkeiten dieser Disziplinierungen oder anders: der Wert, den die jeweilige Gesellschaft dem Verhältnis der Disziplinierungen beimisst, ist historisch variabel. Ort der Disziplinierungen war und ist weniger das Bewusstsein der Akteure, sondern deren Praxis von Kommunikation und Interaktion. Ziel der Disziplinierungen war und ist das Führen durch Selbstführung aufgrund von Normen, die sich in die Körper eingeschrieben haben. Zu dieser Selbstführung gehört im übrigen immer auch ein Hinweis darauf, wann und von wem mit welchen Gründen die Disziplinierung verlassen werden kann – also neue Formen der Kommunikation verwendet werden dürfen. Neben den genannten vier Disziplinierungen, die vornehmlich dafür sorgen sollen, dass kommunikatives Handeln in bestimmten Formen und Ordnungen stattfindet, die zum einen Intersubjektivität und zum anderen eine gewisses Maß an Zukunftssicherheit schaffen, finden sich in jeder Gesellschaft auch soziale Vorgaben, (a) wie mit undiszipliniertem kommunikativem Handeln und auch (b) wie mit der Disziplin selbst, also der Ordnung der Kommunikation umzugehen ist. Zu (a): Oft entspricht kommunikatives Handeln nicht ganz der Disziplin: es ist unvollständig, unklar, verletzt Regeln, ist doppeldeutig, lässt aus oder macht zu viel oder auf falsche Weise. Es sind Verletzungen der Ordnung, die als solche auch von den Kommunizierenden erkannt werden. Diese fehlerhaften und missverständlichen kommunikativen Äußerungen verletzen zwar die Disziplin, setzen sie jedoch nicht außer Kraft – im Gegenteil: sie machen sie sichtbar. Für alle diese Verletzungen der Kommunikationsdisziplin gibt es sowohl für die ‚Sprecher‘ als auch für die ‚Hörer‘ Praktiken, damit umzugehen, sie zu reparieren. Kompetente Kommunikationsakteure wissen darum und halten sich daran. Es ist diese Fähigkeit bzw. es sind diese Praktiken des Umdeutens, nachträglichen Verbesserns, des Zurücknehmens und des Präzisierens (auf der Sprecherseite) und die Praktiken des Ergänzens und Vervollständigens und stillen wie lauten Verbesserns und Wortergänzens (auf der Hörerseite), die alltäglich zum Einsatz kommen, wenn man kommuniziert. Auf der Hörerseite kommen diese Praktiken vor allem dann zum Einsatz, wenn man mit Akteuren kommuniziert, die noch nicht oder nicht mehr oder aufgrund körperlicher Ausfälle nicht hinreichend die kommunikative Ordnung kennen bzw. beherrschen können oder ihre Beherrschung für kurze Zeit verloren haben (Kinder, Senile, Ausländer, Stottern, Wut, Zorn, Hass etc.). Diese Praktiken sind aber nicht nur gut dazu geeignet, die Kommunikation weiter fließen zu
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lassen, sondern können auch dazu genutzt werden, den Anderen herab- und sich selbst heraufzusetzen, also kommunikatives Patronising zu betreiben, was Lehrer gerne mit Schülern, Einheimische mit Ausländern, Eltern mit Kindern und (manche) Männer mit (manchen) Frauen treiben. Der Alltag kennt die ‚bedeutungslosen‘ Versprecher und er hat Praktiken entwickelt und bereitgestellt, wie Äußerungen auch im Nachhinein als solche gekennzeichnet werden können und wie ihnen so eine andere Bedeutung verliehen werden kann. Kommunikative Rahmung wie: ‚Das habe ich nicht so gemeint‘, ‚Da hab ich mich versprochen‘6, ‚Das wollte ich nicht sagen‘, etc. schaffen es, das einmal Gesagte aus der Welt zu schaffen oder zumindest den Worten die Lizenzierung zu versagen. Zur kommunikativen Kompetenz eines Teilnehmers alltäglicher Kommunikation gehört genau dieses Wissen von der prinzipiellen Fehlerhaftigkeit des Sprechens und vor allem die Fähigkeit, die bedeutungslosen von den bedeutungsvollen Versprechern unterscheiden zu können. Zu (b): Da kommunikatives Handeln immer wieder (also nicht nur) in Situationen mit offenem Ausgang stattfindet, liefern die gesellschaftlichen Ordnungen der Kommunikation nicht immer die ‚passenden‘ Antworten und Formen. Immer wieder muss die Disziplin verletzt, erweitert, angepasst werden. Bestimmte gesellschaftliche Gruppen (Künstler, Wissenschaftler, Werber) sind sogar qua Berufsnormen zur Erweiterung der kommunikativen Ordnung angehalten, weshalb dies, also die Erweiterung der kommunikativen Ordnung, zu ihrem täglichen Geschäft gehört. Strittig ist in der Wissenschaft allein, wie genau die Erneuerung der kommunikativen Ordnung gelingen kann: Verdankt sie sich dem Zufall (Bateson 1987), der nicht zügelbaren Kreativität des ‚I‘ (Mead 1973), dem seine Handlungen reflektierenden und rational planenden Ich (Schütz 2004), dem moralisch motivierten Wunsch, die bestehende kommunikative Ordnung zu verbessern (Habermas 1981), dem Willen, die eigene Macht zu erhalten und zu legitimieren (Bourdieu 2005), den gesellschaftlichen, nicht wirklich berechenbaren Diskurskämpfen (Foucault 2005), den Dingen, die mit uns ihr Spiel treiben (Latour 2002) oder der Unberechenbarkeit der Dynamik der Praxis der Kommunikation – wie hier vorgeschlagen wird?
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Eine spezielle Variante des kommunikativen Patronising ergibt sich daraus, dass Erkenntnisse der Freudschen Psychoanalyse, der Hermeneutik und der Kommunikationsforschung trivialisiert in die Alltagspraxis diffundiert sind: Zufällige Versprecher, abseitige Doppeldeutigkeiten, selbst das Fehlen von kommunikativen Handlungen werden als bedeutungsvoll gedeutet und in die Kommunikation wieder eingebracht.
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Folgt man der Überlegung, dass Kommunikation immer eine spezifische Form sozialen Handelns ist und dass diese Art des sozialen Handelns aus mindestens den oben genannten, sozial erlernten und sozial sanktionierten Teilleistungen besteht, dann folgt daraus, dass für die Beschreibung der Leistungen eines kompetenten Kommunikationsakteurs der Begriff der Kompetenz, so wie er weiter oben entwickelt wurde, nicht nur völlig unterkomplex ist, sondern auch gar nicht den Kern der Sache, also den Kern kommunikativen Handelns trifft. Dies aus vier Gründen: (a) Kommunikation ist immer praktisch erworbene und dabei verkörperte Mitspielkunst, (b) Kompetentes Kommunizieren beruht nicht nur auf der Regelanwendung, sondern vor allem auf der Kenntnis vieler Einzelfälle, (c) Kommunikation schafft immer neue Formen und Folgen und (d) Kommunikation ist immer auch Tugend. a.
b.
Die Fähigkeit, kompetent mitzukommunizieren, ruht gewiss einer basalen, biologisch verankerten und phylogenetisch erworbenen Ausstattung der Gattung Mensch auf (hierzu auch Tomasello 2002). Diese basale Ausstattung (Stimmbänder, Gehirnstruktur, Spiegelneuronen, Imitationslernen, Handlungen der Gattungsmitglieder als solche erkennen, etc.) reicht jedoch noch nicht einmal annähernd aus, um zu erklären, weshalb Menschen in der Lage sind, kompetent zu kommunizieren. Diese Fähigkeit, so die These, ist entgegen der allen Kompetenztheorien impliziten Unterstellung jedoch nicht Ergebnis eines nur personal verankerten Vermögens zur Ermächtigung, sondern die Fähigkeit, kompetent zu kommunizieren ist eine soziale Art und Weise, in bestimmten Gesellschaften mittels Symbolgebrauch Identitäten darzustellen und Handlungen (erfolgreich) durchzuführen. Die kommunikative Kompetenz besteht gerade nicht aus einem Satz von Regeln und Prinzipien, mit deren Hilfe eine endlose Zahl korrekter kommunikativer Akte produziert werden kann. Auch liegt der Fähigkeit, kompetent zu kommunizieren, kein Algorithmus zugrunde, der von sich aus richtiges kommunikatives Handeln heraustreibt. Die Fähigkeit, kompetent zu kommunizieren adressiert dagegen die Fähigkeit, mit Prinzipien und Regeln zu spielen, sie auf die Situation passend zu machen. Diese Fähigkeit erwirbt man vor allem durch Mitspielen oder genauer: durch sehr häufiges Mitspielen. Letzteres sorgt dafür, dass einem die Kunst des Kommunizierens in Fleisch und Blut übergeht, sich im wahrsten Sinne des Wortes verkörpert. Die Fähigkeit, kompetent zu kommunizieren, beruht, und hier gibt es ein großes Maß an wissenschaftlicher Erkenntnis, auf einem gewissen basalen Bestand an Regeln und Prinzipien, wobei die Regeln angeben, wann etwas
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‚richtig‘ und ‚falsch‘ erstellt ist und die Prinzipien angeben, wie mit einer Gruppe von Ereignissen umgegangen werden soll. Anfänger wenden, gehen sie einer Tätigkeit nach, Regeln an – und sie wenden sie an, wie es vorgesehen ist. Könner haben aufgrund von vielen und vielfältigen Erfahrungen gelernt, wann und wie die Regeln geändert werden (müssen), will man sein Ziel erreichen. Kommunikation wird nämlich nicht am Fließband produziert, so dass immer wieder das gleiche Produkt entsteht, sondern Kommunikation ist immer Einzelfertigung – unter Berücksichtigung von Situation, Teilnehmern, Medien, Interessen, Zeit und vielem anderen mehr. Jede Kommunikation ist anders, auch wenn uns vieles bekannt vorkommt. Denn es gibt immer wieder in der Kommunikation neu hervorgebrachte Formen und Praktiken. Keine Kommunikation gleicht der anderen – und was zu einem früheren Zeitpunkt erfolgreich war, läuft später ins Leere, auch wenn die gleichen Personen miteinander agieren, einfach deshalb, weil eine Wiederholung, einmal erkannt, andere Folgen hat, als das Original. Deshalb entstehen immer wieder neue Formen und neue Folgen und Konsequenzen. Diese neuen Formen entstehen aus Zufall, wegen der immer vorhandenen Kreativität der Kommunizierenden, deren Rationalität oder deren moralisch motivierten Wunsch, es besser, humaner zu machen; sie entstehen auch aufgrund des Willens zur Macht und des Kampfes um die Macht und den Dingen, die bei der Kommunikation ihre eigenen Rollen spielen und natürlich weil die Dynamik der Praxis der Kommunikation immer wieder neue Formen und Folgen schafft. Das Neue verdankt sich also nicht einer Quelle, sondern vielen. Sind die neuen kommunikativen Formen und Folgen einmal in der Welt, dann werden sie, so sie denn in irgendeiner Weise ‚erfolgreich‘ waren, von denen, die daran beteiligt sind, in ihrer weiteren kommunikativen Geschichte, also im weiteren kommunikativen Handeln und Tun erprobt, abgeändert und, so sie denn weiter ‚erfolgreich‘ sind, auch ausgearbeitet, bewahrt und immer wieder eingesetzt. Und nicht nur sie tun es, sondern auch andere – wenn sich diese kommunikative Praktiken auch bei ihnen bewähren, und bald tun das auch weitere, so dass sich die Praxis kommunikativen Handelns und Tuns immer wieder neu gestaltet und später auf die beschriebene Weise dann institutionalisiert.7 Weil das so ist, können Mitglieder einer Interaktionsgemeinschaft die ‚Bildungsgesetze‘ und auch die
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Bei diesem Prozess spielen die Medien (Buch, Zeitschrift, TV, Computer) eine besondere und besonders wichtige Rolle: Nicht nur, weil in den Medien und hier insbesondere in bestimmten Formen der Mediennutzung (Literatur, Werbung, Kommunikation) oft und gerne neue Formen und Folgen der Kommunikation auftauchen, sondern weil sie zudem auch mittels Medien fixiert, gespeichert und an jeden Ort dieser Welt verbreitet werden können.
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d.
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Praktiken der Kommunikation nur mehr oder weniger gut kennen und beherrschen. Im Vorteil ist, wer viel kommuniziert. Man lernt nicht nur, wie man kompetent kommuniziert, wenn man erwachsen wird, und man vergisst, wenn man älter wird, sondern man lernt kompetent zu kommunizieren und festigt und erlangt eine gewisse Virtuosität in diesem Tun, wenn man viel kommuniziert, wenn man vielfältig kommuniziert, wenn man in verschiedenen Rahmen kommuniziert, wenn man in neue Situationen gerät oder wenn man mit Angehörigen anderer Kulturen ins Geschäft kommt. Die Fähigkeit, kompetent zu kommunizieren, variiert also nicht nur mit der Sozialschicht (Bourdieu 2005), sondern auch mit dem Lebensalter, mit der Erfahrung, den eigenen Horizonten, der Übung und der Reflexion. Denn nur ein (ohne Zweifel großer) basaler Teil kommunikativen Handelns und Tuns beruht auf Regeln und Prinzipien: Die Feinarbeit, die Abstimmung kommunikativen Handelns und Tuns auf die jeweilige Situation, ist stets eine interaktive Einzelanfertigung, die sich aus den Erinnerungen an erfolgreiches Kommunizieren speist. Und es sind diese Erinnerungen an konkrete Einzelfälle, die einen dazu befähigen, die jeweils aktuelle Kommunikationssituation kompetent auf die jeweiligen Ziele, Hoffnungen, Befürchtungen, Machtverteilungen etc. abzustimmen. Wer nur mit Regeln und Prinzipien kommuniziert, ist ein Anfänger, der das Spiel zwar mitspielen und so im Spiel bleiben kann, aber er ist nicht wirklich kompetent: er entspricht eher einem Expertensystem als einem Experten. Kommunikatives Handeln erschöpft sich, wie eben ausgeführt, nicht in der regelgerechten Produktion von medial gestützten Symbolen und in der situativen Schaffung neuer Formen und Folgen, sondern zum kommunikativen Handeln gehört unhintergehbar eine mit dem Symbolgebrauch verbundene Verpflichtung – sei sie noch so klein. Insofern gehört zu einem kommunikativen Handeln nicht nur die Fertigkeit, ordnungsgemäß mit Symbolen umzugehen, sondern immer auch eine Haltung zu den Symbolen – und diese Haltung ist mit dem Begriff der Kompetenz nicht mehr zu fassen, fällt sie doch sehr viel mehr in den Bereich von Tugenden. Ohne eine solche Haltung wäre kommunikatives Handeln vergleichbar mit dem, was fiktionale Figuren auf der Theaterbühne (Macbeth und Duncan) und im Film (Finanzmogul Edward Lewis und die Prostituierte Vivian Wart im Film Pretty Woman) tun, wenn sie mit einander umgehen: sie sprechen regelgerecht, ihr Körperausdruck und ihr Umgang miteinander sind stimmig. Aber sie kommunizieren nicht wirklich miteinander. Sie sagen Texte auf und nehmen Körperhaltungen ein. Sie simulieren Kommunikation, kommunizieren jedoch nicht.
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Wenn jemand mittels Theater und Film kommuniziert, dann sind das Autor und Regisseur des Stücks bzw. des Films, die gemeinsam oder gegeneinander mit einem vorgestellten oder realen Publikum kommunizieren. Deshalb sind alle kommunikativen Handlungen der fiktionalen Figuren auf der Bühne und im Film doppelt adressiert: nicht nur an das Gegenüber, sondern immer auch an das Publikum. Sicherlich kommunizieren auch die Schauspieler mit dem Publikum, also auch Richard Gere und Julia Roberts: allerdings nicht mit dem Text, den sie einander aufsagen, sondern mit ihrem Körper, der sagt: „Höre und sehe und beurteile, wie gut ich schauspielern kann.“ Und gewiss kommunizieren auch die Schauspieler miteinander, wenn sie zusammen ein Stück aufführen – schon allein, um ihren Einsatz nicht zu verpassen. Und manchmal, in seltenen Fällen, wenn die Schauspieler auch im wirklichen Leben ein Paar sind, dann bedeuten die auf der Bühne und im Film gesprochenen Worte: „Ich liebe Dich!“ auch im Leben der Schauspieler etwas – falls sie es denn schaffen, dem anderen trotz der Spielszene und in der Spielszene zu kommunizieren, dass man ihn tatsächlich liebt. Und dann zeigt sich in besonderem Maße, dass die Kompetenz, kompetent zu kommunizieren, wenig mit der Kompetenz, regelgeleitet zu sprechen zu tun hat, sondern damit, im richtigen Augenblick, das Richtige mit dem richtigen Körperausdruck zu tun. Das kann nicht jeder. Auch nicht jeder Schauspieler.
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Ächtung des Selbstlobs und Probleme der Kompetenzdarstellung1 Stefan Kühl
Der Begriff der Kompetenz wird in der Pädagogik, Psychologie und Betriebswirtschaftslehre häufig positiv besetzt. Sowohl für kleine Kinder als auch für große Unternehmungen wird die Notwendigkeit von „Kompetenzentwicklung“ betont. Es wird die Bildung von „Kompetenznetzwerken“ gefordert, in denen die „Kompetenzpartner“ am Ende kompetenter sein sollen als vorher. Unter dem Begriff der „sozialen Kompetenz“ werden so unterschiedliche Merkmale wie „Empathiestärke“, „Menschenkenntnis“, „Sensibilität“, „Motivierungsvermögen“ oder „Konfliktfähigkeit“ zusammengefasst, und damit suggeriert, dass diese Fähigkeiten notwendig sind, um als Person sich heutzutage zurechtzufinden. Soziologisch gesehen beschreibt Kompetenz lediglich zugerechnete Zuständigkeit – die Zuständigkeit, einem psychisch Kranken zu helfen, ein schwieriges Problem in einer Verwaltung oder einem Unternehmen anzugehen oder für die öffentliche Ordnung in einer Stadt zu sorgen. Schon die Herkunft vom lateinischen Begriff „competere“ (sowohl „zustehen“ als auch „fähig sein“) macht darauf aufmerksam, dass man diese Zuständigkeit auf der Basis von zwei Grundlagen erlangen kann: Kompetenz qua Amt und Kompetenz qua Wissen (vgl. Luhmann 2000: 320f). In der Praxis werden sich als zuständig erklärende Leistungserbringer daher immer im Hinblick auf diese beiden Gesichtspunkte beobachtet: „Darf der das?“ und „Kann der das?“ Häufig können die beiden Aspekte von Kompetenz zusammenfallen. Eine Managerin hat kraft ihres Amtes als Geschäftsführerin eines Unternehmens eine formal abgesicherte Zuständigkeit für Entscheidungen,
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Die Gedanken zur Kompetenzdarstellung wurden auf der Tagung „Profession, Habitus und Wandel“ der Sektion Professionssoziologie im November 2007 an der Humboldt-Universität in Berlin und auf der Abschlusskonferenz des Seminars „Interaktion und Organisation“ an der Universität Bielefeld präsentiert. Eine Readers-Digest-Variante des Arguments ist unter dem Titel „Die verflixte Sache mit der Kompetenzdarstellung“ (Kühl 2008a) im Einführungsbuch von Uwe Schimank und Nadine Schöneck erschienen. In meinem Buch über Coaching und Supervision findet sich ein Vergleich von Kompetenzdarstellungsschwierigkeiten von Professionen und Nichtprofessionen inklusiver einer Fallstudie zur personenorientierten Beratung (Kühl 2008b).
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und diese Zuständigkeit könnte auch dadurch gestützt werden, dass ihre Mitarbeiter sie von ihrem Wissen her als fähig einschätzen, wichtige Entscheidungen zu treffen. Aber häufig ist auch ein Auseinanderfallen dieser beiden Komponenten zu beobachten. Es wird festgestellt, dass ein Berater zwar für zuständig erklärt wurde, aber von seinen begrenzten Fähigkeiten her nicht die „richtige Intervention“ findet. Oder es wird vermutet, dass eine Supervisorin wohl die Fähigkeit habe, eine Problemlage „aufzuklären“, ihr aber nicht die Zuständigkeit dafür gegeben wird (vgl. Luhmann 1964: 278). Bei beiden Fällen von Kompetenz besteht die Funktion darin, Rückfragen des Gegenübers zu entmutigen (vgl. Luhmann 2000: 204). Man geht davon aus, dass der „Kompetente“ sehr gute Gründe hat, so zu handeln, wie er handelt. Bei der Entmutigung dieser Rückfragen ist es erst einmal eine zweitrangige Frage, ob diese Gründe durch organisatorische Rollen, ein staatliches Gewaltmonopol oder durch staatliche Lizenzierungen gestützt werden oder aufgrund von angenommenen Wissensvorsprüngen zustande kommen.2 Von Vertretern des so genannten dramaturgischen, dramatologischen bzw. inszenierungstheoretischen Ansatzes wird die These aufgestellt, dass Kompetenz zu einem erheblichen Teil auf der Kompetenz in der Darstellung von Kompetenz – auf gut gemachtem Eindrucksmanagement – basiert. Management, so beispielsweise Iain L. Mangham (1986), fuße darauf, sich im richtigen Moment als „fachlich fähig“ und „organisatorisch zuständig“ zu präsentieren. Der Kern einer erfolgreichen Beratung, so Timothy Clark (1995), sei die Kunst des „Impression Managements“, die von Unternehmensberatern immer weiter verfeinert werde. Der Kern der Tätigkeit von Professionen wie Ärzten, Juristen oder Geistlichen bestehe, so Michaela Pfadenhauer (2003), in einer ausgeprägten und akzeptierten „Kompetenzdarstellungskompetenz“, mit der besonders die fachliche Fähigkeit signalisiert werden soll. Die Gefahr bei solchen Beschreibungen von Eindrucksmanagement und Kompetenzdarstellung besteht darin, dass sie zu einer Form von Entlarvungsliteratur verkommen. Überspitzt ausgedrückt: Es wird nicht nur der ironisierende Spruch „There is no business without show business“ (vgl. Neuberger 1990: 90) aufgegriffen, sondern die Interpretation droht häufig auf die Aussage hinauszulaufen „Business is show business“. Der König trage zwar scheinbar schöne Kleidung, aber in Wirklichkeit sei er nackt. Man müsse nur genauer hinschauen, dann erkenne man dies.
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Die Anregung, bei der Analyse von Kompetenzen in Anschluss an Luhmann noch systematischer diese beiden Aspekte, also „Kompetenz kraft Amt“ und „Kompetenz kraft Wissen“ zu unterscheiden und den Hinweis auf die Funktion der Unterdrückung von Rückfragen verdanke ich Veronika Tacke. Michaela Pfadenhauer danke ich für Hinweise zum dramatologischen bzw. inszenierungstheoretischen Ansatz.
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Dabei wird aber übersehen, dass es in vielen Bereichen notwendig ist, vom Klienten als kompetent wahrgenommen zu werden, um überhaupt seine Kompetenzen anwenden zu können. Jeder, der mit Klienten arbeitet, ist gezwungen, nicht nur kompetent zu agieren, sondern bei den Kunden auch Kompetenzvermutungen zu mobilisieren: Ein Friseur ist darauf angewiesen, seinen Kunden Kompetenz zu signalisieren, damit ihm diese eine möglichst störungsfreie Beschneidung ihrer Haare erlauben. Ein Beratungsteam muss dem Klienten die Sicherheit vermitteln, dass es ein Problem lösen kann – und zwar auch dann, wenn es das erste Mal auf so ein Problem stößt und keine bewährten Routinen für dessen Lösung hat.3 Der Arztbesuch (oder, häufig noch schlimmer, der Friseurbesuch) kleiner Kinder macht dies deutlich. Bei Kindern herrscht noch keine Kompetenzvermutung gegenüber den Ärzten (und häufig erst recht nicht gegenüber Friseuren), die Behandlung gestaltet sich deswegen in der Regel schwieriger als bei Erwachsenen. Die Interaktionsbestrebungen der Leistungserbringer sind nicht selten darauf ausgerichtet, mühsam Vertrauen beim Klienten aufzubauen. Es werden Vertrautheitssurrogate in Form der beruhigenden Anwesenheit von Eltern aufgebaut, bevor eine Behandlung einsetzen kann. Aber in ihrem weiteren Lebensverlauf entwickeln sich Kinder dann – jedenfalls meistens – zu Klienten, die den Leistungserbringern mehr oder minder berechtigterweise mit einer Kompetenzvermutung gegenübertreten. Berufe, die ihre Leistung am Klienten (oder noch besser in Kooperation mit dem Klienten) erbringen, stoßen auf ein Paradox: Ein Leistungserbringer muss einem Klienten vermitteln, dass er ihm bei seinen Problemen kompetent helfen kann, weil es sonst nur schwer möglich ist, ihm zu helfen. Dass dem Dienstleis-
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Ich versuche, mich in meiner Argumentation auf den im angloamerikanischen Sprachraum entstandenen und zurzeit im deutschsprachigen Raum als kleines Pflänzchen gedeihenden „dramaturgischen“, „dramatologischen“ bzw. „inszenierungstheoretischen Ansatz“ zu beziehen. Die für dieses Thema relevanten Auseinandersetzungen aus „dramatologischer Perspektive“ bezogen sich anfangs auf Selbstinszenierungen des Managements (vgl. besonders Mangham 1978; Mangham/Overington 1987), später dann besonders auf die Darstellungskompetenzen von Beratern (vgl. besonders Clark 1995; Clark/Salaman 1996a; 1996b), und werden in neuerer Zeit im deutschsprachigen Raum vorrangig für die Untersuchung von Professionen genutzt (vgl. besonders Pfadenhauer 2003; Buer 2004). In diesem auf Inszenierungen ausgerichteten Ansatz wird die Gesellschaft als ein ständiger Strom wechselseitiger Inszenierungen mit zugrunde liegenden, teilweise beachtlichen dramaturgischen Leistungen der Darsteller beschrieben (vgl. dazu Hitzler 1991; Hitzler 1992). Dahinter steckt die Idee, dass Personen ihre Überzeugungen, ihr Können, ihre Einstellung und ihre Gefühle von „innen“ nach „außen“ bringen müssen und sich dabei inszenieren. Die Stärke des Ansatzes ist sicherlich, dass durch ihn die „Techniken der Imagepflege“ (Goffman 1986) für sehr unterschiedliche Felder wie die Gothic-Szene, Papstbesuche oder Ärzte-Patienten-Verhältnisse beleuchtet werden. Aber die Gefahr ist – wie bei vielen anderen soziologischen Ansätzen – dass ein interessanter Gedanke auf Expansion gesetzt wird und letztlich dann der Anspruch entsteht, eine ganze Gesellschaftstheorie tragen zu müssen.
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ter eine Kompetenzvermutung entgegengebracht wird, ist deswegen zentral, weil die Leistungserbringung auf das „Gelingen“ von einfachen Face-to-FaceInteraktionen angewiesen ist (Luhmann 1972: 270). Eine Lehrerin kann ihren Schülern nur dann etwas beibringen, so schon eine alte pädagogische Binsenweisheit, wenn die Schüler – in ihre Kompetenz vertrauend – mitarbeiten. Eine Psychoanalyse setzt eine Aneinanderreihung gelungener Interaktionen zwischen Analytiker und Klient voraus. Damit die Interaktion mit dem Klienten gelingt, ist es notwendig, dass dieser die Aneinanderreihung von „Hmms“, „Hmms“ nicht als Sprachfehler des Analytikers, sondern als kompetente professionelle Gesprächsführung begreift. Auch der Erfolg eines Gesprächs zwischen Supervisor und Supervisand, zwischen Coach und Coachee stützt sich darauf, dass der Klient dem Berater eine Kompetenzvermutung entgegenbringt. Aber wie macht man das? Wie erzeugt man beim Klienten eine Kompetenzvermutung? 1.
Die Schwierigkeiten mit der Kompetenzdarstellung oder weswegen es häufig besser ist, auf Kompetenzdarstellungen zu verzichten
Personen versuchen, den Eindruck, den sie bei anderen machen, zu kontrollieren. Gerade bei Leistungserbringern lässt sich beobachten, dass sie versuchen, bei anderen als möglichst kompetent zu erscheinen (vgl. grundlegend aus sozialpsychologischer Perspektive Tedeschi 1981). Bei der Darstellung von Kompetenz gibt es jedoch ein großes Problem: Es löst Irritationen aus, wenn jemand versucht, sich selbst als kompetent darzustellen. Wenn eine Studentin nicht nur gute Leistungen bringt, sondern auch noch offensiv mitteilt, dass sie gut ist, dann kommt es in der Regel genauso schlecht an wie die öffentliche Verkündigung eines Coaches, dass er bereits Top-Führungskräften fast aller 30 DAXUnternehmen geholfen hat. Auch eine mehr oder weniger verkleidete Variante der Kompetenzdarstellung kann ähnliche Effekte erzeugen. Wenn ein Professor auf seiner Website, in den Klappentexten seiner Bücher oder in den Ankündigungen zu seinen Vorträgen damit wirbt, dass er vom Spiegel einmal als „Zeitmanagement-Papst“ bezeichnet wurde, verweist er zwar auf die Kompetenz(oder vielleicht eher Prominenz-) Zurechnung anderer, löst aber allein schon durch die Wiedergabe des Zitats auf seiner (!) Website Irritation aus. Eine personenorientierte Beraterin mag sich von einem Berufsverband die Bezeichnung „Senior Coach“ verleihen lassen, gerät aber in Darstellungsprobleme, wenn sie
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selbst das „Senior“ zu offensiv zu Markte trägt. „So fühlt man Absicht und man ist verstimmt“ (Goethe 1999: II Aufzug, 1. Auftritt).4 1.1 Die Ächtung des Selbstlobs Der Hintergrund dieses Problems ist eine der zentralen Grundregeln von Faceto-Face-Interaktionen: die Ächtung von Selbstlob (vgl. Pomerantz 1978).5 Mit Sprichwörtern wie „Eigenlob stinkt“ oder „Bescheidenheit ist eine Zier“ ist diese Interaktionsregel auch in das Alltagswissen eingegangen. Wir kennen diese Grundregel und die Probleme, die aus ihrer Missachtung entstehen, aus ganz verschiedenen Gesprächssituationen: Der Latin Lover, der allzu offensiv seine Fähigkeiten im Liebesakt preist, weckt bei der potentiellen Geschlechtspartnerin Misstrauen bezüglich seiner realen Fremdbefriedigungskompetenz. Die Verkäufer von Templeton-Fonds, die allzu offensiv ihre UnterschichtHerkunft durch Reichtumssignale zu kaschieren suchen, erwecken bei potentiellen Käufern Zweifel angesichts dieser offensiven Zurschaustellung von Auto, Uhr und Anzug.6 Bei dem Problem der dargestellten Kompetenz ist es zweitrangig, ob der Leistungsanbieter „in Wirklichkeit“ kompetent ist oder nicht. Allein die „mitgeteilte Kompetenz“ macht misstrauisch. Der Latin Lover mag im Bett eine Kanone sein, aber das Herausstellen dieser Fähigkeiten im Vor-Vorspiel reduziert die Wahrscheinlichkeit, dass er dort auch landen wird. Die Chirurgin mag zu den Koryphäen ihres Feldes gehören, aber allein eine überzogene Darstellung von Kompetenz macht einen Patienten, wenn er denn noch wach ist, misstrauisch. Ein Senior-Supervisor mag bereits eine Reihe von Vorstandsmitgliedern in DAX-Unternehmen aus persönlichen Krisen geführt haben, aber es entsteht Irritation, wenn er dies mit geschwollener Brust auf einer Konferenz mitteilt. Das Problem liegt darin, dass ein Wortbeitrag, eine Geste oder ein Symbol zu offensichtlich instrumentell eingesetzt wird, um die eigene Kompetenz darzustellen. Man kennt dies aus ganz alltäglichen Situationen. Man sagt etwas,
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Für Hinweise auf die Soziologie des Selbstlobs und eine anschauliche und höchst amüsante empirische Schilderung des Kompetenzdarstellungsproblems von Fonds- und Versicherungsverkäufern danke ich André Kieserling. Anika Pomerantz (1978) nennt dies „self-praise avoidance rule“. Siehe sehr früh schon Luhmann 1964: 347. Luhmann verwendet später den besser an seine Gesellschaftstheorie anschlussfähigen Begriff des „Selbstbefriedigungsverbots“; siehe Luhmann 1997: 381f. Die Problematik des Selbstlobs wird auch im dramatologischen Ansatz angesprochen (vgl. Pfadenhauer 1999: 275). Dass dies in Ausnahmefällen auch mit deutlich höherer Kompetenzdarstellungskompetenz gelingen kann, zeigt der Fall Jürgen Harksen, der in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts als Anlageberater in Hamburg Kapitalanlegern um die 100 Millionen DM abgenommen hat (siehe auch Harksen 2006).
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aber letztlich will man etwas ganz anderes als das Gesagte zum Ausdruck bringen. Der Berater meldet sich in einem Workshop zu Wort, nicht weil er etwas zu sagen hat, sondern weil er vermutet, dass von ihm jetzt ein kluger Beitrag verlangt wird.7 In der Interaktionspraxis wird häufig unklar gehalten, ob es neben dem mitgeteilten Inhalt noch eine versteckte Mitteilung gibt. Der Berater mag einerseits das Ziel verfolgen, die Diskussion mit einem ganz wichtigen Gedanken voranzubringen, andererseits spielt aber auch die Erwartung, dass er in dieser Situation etwas beizutragen hat, eine wichtige Rolle dafür, dass er sich zu Wort meldet. Jede Kommunikation wird vom Empfänger daraufhin gescannt, ob nicht eventuell etwas anderes mitgeteilt wird. 1.2 Kompetenzdarstellung über indirekte Kommunikation Wegen der Ächtung des Selbstlobs beobachten wir Kompetenzdarstellung meistens in der Form indirekter Kommunikation. Fast alle sprachanalytischen, psychologischen und soziologischen Theorien stimmen darin überein, dass Kommunikationen nicht nur in direkter, sondern auch in indirekter Form auftreten können. Während direkte Kommunikation eine Form von verbindlich zu verstehender Kommunikation ist („ich sage, was ich will“), handelt es sich bei indirekter Kommunikation um eine Form der Kommunikation, von der sowohl Empfänger als auch Sender bestreiten können, dass sie stattgefunden hat.8 Durch den „unterschwelligen Sinn ausdrücklicher Mitteilungen“, „durch Betonung“, „durch Wahl zweideutiger Begriffe“, durch „aufschlussreiches Zögern“, „wohlgezielte Pausen“ und „durch Nichteingehen auf Anregungen“ werden Informationen gesendet, aber wenn der Empfänger den Sender auf diese Infor-
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In der Soziologie gibt es die gut eingeführte Unterscheidung zwischen expressiven und instrumentellen Komponenten der Kommunikation (vgl. für die Anwendung in der Analyse von Kleingruppen z.B. Bales 1951; Marcus 1960, und für die Anwendung auf Organisationen z.B. Etzioni 1965; Luhmann 1983). Bei instrumenteller Kommunikation wird die Kommunikation in der Form präsentiert, in der es um die Erreichung von Zielen geht: Man fragt, um eine Information zu bekommen, man gibt einen Kommentar ab, um etwas klarzustellen, man liefert einen Redebeitrag ab, um zusätzliche Informationen in die Debatte zu bringen. Bei expressiver Kommunikation dagegen hat die Kommunikation nicht die Funktion, einen übergeordneten Zweck zu erreichen, sondern dient dem unmittelbaren Ausdruck von Gefühlen, Wünschen und Bedürfnissen. Wenn man diese Unterscheidung hier nutzen wollte, müsste man die Kompetenzdarstellung über den Hinweis auf ein eigenes Buch als instrumentell bezeichnen, den selbstlosen Verweis als expressiv. Mir scheint es jedoch sinnvoller, diese beiden Aspekte als zwei unterschiedliche Formen instrumentellen Verhaltens zu betrachten. Das Phänomen der direkten Kommunikation wird auch als analoge Kommunikation oder als denotative Möglichkeit bezeichnet wird, während indirekte Kommunikation auch als digitale Kommunikation oder als konnotative Möglichkeit benannt wird (vgl. Kieserling 1999: 148ff.).
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mationen anspricht, kann dieser sich arglos geben und die Intentionen bestreiten (vgl. Luhmann 1964: 364).9 Wenn Kompetenzen dargestellt werden sollen, dann können sie eigentlich nur in Form von indirekter Kommunikation dargestellt werden. Und dabei gilt die Regel: Je indirekter die Kommunikation, desto besser. Das Misstrauen gegenüber dargestellter Kommunikation entsteht, wenn die Kommunikation sich als eine Kommunikation präsentiert, „die meint, was sie sagt“, der Empfänger aber den Eindruck hat, dass noch etwas ganz anderes mitgeteilt werden soll. Der Hinweis auf das gerade erschienene eigene Buch wird nicht dankbar als Hinweis auf zusätzliche Informationsquellen verstanden, sondern misstrauisch als Darstellung eigener Wichtigkeit wahrgenommen und noch verstärkt, wenn im Klappentext des gekauften Buches der Autor sich als „Coach im Top-Management (sic!) bei internationalen (sic!) Firmen“, „brillanten Berater“ und „einer der bedeutendsten Forscher, Modell- und Methodenentwickler“ im Bereich der Beratung präsentiert. Das Aushängen von Diplomen ist sicherlich eine eher ungeschickte und auch nur im angloamerikanischen Kontext akzeptierte Praxis. Die Hinweise einer Sekretärin, wie gefragt ihre juristisch, medizinisch, seelsorgerisch, therapeutisch oder beraterisch aktive Chefin ist, belasten eine Interaktion weniger, als wenn es die Chefin selbst vermittelt. 1.3 Entscheidend ist die Wahrnehmung beim Empfänger Für die Interaktion ist es zweitrangig, ob dem Leistungserbringer klar ist, dass er gerade dabei ist, seine Kompetenz darzustellen. Wichtig für die Interaktion ist, wie eine Mitteilung beim Empfänger ankommt. In Gesprächen wird mit Hilfe von Nebenbemerkungen, Betonungen oder kleinen Zeichen von beiden Seiten austariert, worum es genau geht. Dabei wird in der Regel danach gestrebt, die andere Seite nicht in eine unangenehme Situation zu bringen. Wenn beispielsweise der Empfänger seine Irritation angesichts der zu offensichtlichen Bemühungen um Kompetenzdarstellung zum Ausdruck bringen würde, wäre eine betretene oder gar aggressive Reaktion auf Seiten des Kompetenzdarstellers zu erwarten. Eine Aussage, dass der andere doch bitte nicht zu sehr aufschneiden soll, oder ein zu offensichtlich genervter Blick angesichts der
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Man kann sich die Unterscheidung zwischen direkter und indirekter Kommunikation am Kommunikationsbegriff deutlich machen. Kommunikation besteht – systemtheoretisch gesprochen – aus drei Elementen: Information (welche Information wird vermittelt?), Mitteilung (wie wird die Information vermittelt?) und Verstehen (wie wird die Information verstanden?). Direkte und indirekte Kommunikation unterscheiden sich jetzt darin, wie eine Information (z.B. die eigene Kompetenz) vermittelt wird: Bei der direkten Kommunikation kann der Sender gegenüber dem Empfänger nicht bestreiten, dass die Information mitgeteilt worden ist. Bei der indirekten Kommunikation kann der Sender die Mitteilung bestreiten, aber auch der Empfänger kann so tun, als ob er sie nicht verstanden hat.
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Schilderung eines erfolgreichen öffentlichen Auftrittes eines Soziologen, eines Managers oder eines Beraters in vier verschiedenen Ländern kann zu einer nur noch schwer zu beherrschenden Interaktionskrise führen. Das Thema sind dann nicht mehr die erfolgreichen Auftritte in Dänemark, Schweden, Norwegen und Finnland, sondern es verlagert sich zu der häufig konfliktuös geführten Diskussion der Frage, ob und weshalb der vermeintliche Kompetenzdarsteller sich gezwungen sieht, seine Kompetenz so penetrant darzustellen oder – als Verteidigungsreaktion – weshalb der Empfänger eine Schilderung so missverstehen konnte. Aber diese Interaktionskrisen sind auch bei offensiv dargestellter Kompetenz eher selten. Der Takt verlangt vom Klienten in der Regel, über unglaubhafte Kompetenzdarstellungen hinwegzusehen und den anderen im Interesse der Fortführung des Gesprächs in seiner Selbstdarstellung zu unterstützen. Statt deutlich zum Ausdruck zu bringen, dass einem die Aufschneiderei lästig ist, wird freundlich und unterstützend genickt. Man ignoriert die kompetenzdarstellende Komponente in der Kommunikation und behandelt den Hinweis des Coaches auf sein neues Buch als Information, oder man bricht angesichts der Schilderung der erfolgreichen Auftritte in den vier skandinavischen Ländern in große Bewunderung aus. Dabei ist diese Form des Taktes gegenüber Personen, von denen man abhängig ist (interaktionell zu pflegende Chefs, wichtige Kunden, neue Schwiegereltern), wahrscheinlich. Aber die freundliche Stützung der Kompetenzdarstellung lässt sich häufig auch bei Personen beobachten, zwischen denen eine Machtbalance herrscht. Vielleicht wird durch ein indirektes Zeichen – durch Körperhaltung, einen Blick oder ein Lächeln – eine Irritation angesichts der Kompetenzdarstellung zum Ausdruck gebracht. Sehr selten wird es dazu kommen, dass der Klient den Leistungserbringer direkt darauf anspricht (zu Takt allgemein siehe Goffman 1983: 212ff.; zu Takt in Organisationen siehe Luhmann 1964: 358). 1.4 Das Paradox der Kompetenzdarstellung Aufgrund der Ächtung des Selbstlobs kommt es zu einem Paradox der Kompetenzdarstellung. Je weniger ein Leistungsanbieter darauf angewiesen ist, seine Kompetenz als Kompetenz zu bewerben, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass er beim Empfänger auch auf eine Kompetenzvermutung trifft. Eine Künstlerin, die allseits gefeiert wurde und deswegen Bescheidenheit zelebrieren kann, trifft nicht nur wegen ihrer Reputation – des Lobes anderer – auf Kompetenzvermutungen, sondern auch deswegen, weil sie nicht durch aggressive Vermark-
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tung ihrer Kompetenz Misstrauen bei den Betrachtern ihrer Bilder auslöst.10 Eine Organisationsberatungsgruppe, der ein guter Ruf vorauseilt, braucht sich nicht selbst aktiv zu loben und verstärkt dadurch noch die Kompetenzvermutungen bei den Klienten. 2.
Der Nutzen von Professionen: Die Entlastung von der Notwendigkeit der individuell zurechenbaren Kompetenzdarstellung
Die Notwendigkeit, seine Kompetenzen darzustellen, kann je nach Tätigkeit unterschiedlich verteilt sein. Eine Polizistin braucht seine Kompetenz zur Nutzung einer Pistole in der Regel nicht unter Beweis zu stellen. Man bringt ihr – jedenfalls meistens – schon aufgrund ihrer durch die Uniform signalisierten Zugehörigkeit zu einer Berufsgruppe eine Kompetenzvermutung bei der Nutzung einer Pistole entgegen. Einem Piloten begegnet der Kunde – vorausgesetzt, er leidet nicht unter pathologischer Flugangst – mit einem so hohen Maß an Kompetenzvermutung, dass in der Regel keine zusätzlichen Kompetenzdarstellungen durch den Piloten benötigt werden. „Echte Profis“, so könnte man überspitzt formulieren, brauchen keine Kompetenzdarstellungskompetenz.11 2.1 Vom Vorteil der Profession: Der Nutzen der Kompetenzvermutung Die Berufs- und Professionssoziologie hat sich in Berufsprestigestudien immer wieder mit der Frage beschäftigt, welche Berufsgruppen von der Bevölkerung am kompetentesten und vertrauenswürdigsten eingeschätzt werden.12 Bei der quantitativen Messung der Reputation von Berufen schneiden die Professionen fast immer am besten ab. Wenn gefragt wird, welche Berufsgruppe sie am meisten schätzen und bei wem sie am meisten Kompetenz vermuten, gehören die Professionen der Ärzte, Richter und Anwälte, Lehrer und Geistlichen immer zu den am höchsten bewerteten Berufsgruppen. Auf den hinteren Rängen landen
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Carina Gruber verdanke ich den Hinweis, dass aber auch Bescheidenheit im Auftritt als Inszenierung „entlarvt“ werden kann und dann Irritation beim Gegenüber auslöst. Ich parasitiere dabei an einer Formulierung Michaela Pfadenhauers (2003), die lautet: „Echte Profis haben Kompetenzdarstellungskompetenz“, drehe die Aussage der These jedoch um 180 Grad. Die These Pfadenhauers wird überspitzt ausgedrückt in der Zusammenfassung des Buches in einer Presseerklärung der Universität Dortmund vom 26.3.2003. Leider ist bei der Formulierung der Fragen in den verschiedenen Berufsprestige-Studien nicht eindeutig, ob Prestige, Vertrauenswürdigkeit oder Kompetenzvermutung abgefragt wird. Wie das Beispiel der Prostitution zeigt, kann es vorkommen, dass Kompetenzvermutung und niedriges Berufsprestige kombiniert sein können. Es ist aber – wie das Beispiel der Ärzte oder Lehrer deutlich macht – sehr unwahrscheinlich, dass hohes Prestige und geringe Kompetenzvermutungen zusammen auftreten.
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immer Berufe wie Politiker, Prostituierte oder Manager, die zwar ihre Leistungen in Interaktionen mit ihren Klienten erbringen, aber nicht als Profession etabliert sind. Die Ergebnisse dieser mehr oder minder gut gemachten Reputationsmessungen sind seit den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts überraschend stabil und variieren zwischen den einzelnen Ländern auffällig wenig (vgl. früh schon den empirischen Überblick bei Hodge et al. 1964; siehe zur theoretischen Einordnung Kieserling 2004).13 Diese Kompetenzvermutungen gegenüber Professionen werden nicht nur – und dieser Gedanke ist zentral – durch konkrete Erfahrungen von Klienten mit Professionsangehörigen generiert. Sie werden vielmehr durch eine Vielzahl von „Institutionen“ gestützt, die jenseits der eigentlichen Interaktion zwischen Leistungserbringern und Klienten liegen: das Sich-darauf-Verlassen, dass der Tätigkeit des Professionellen ein standardisierter Verhaltenskodex zugrunde liegt; eine wissenschaftliche Verankerung dieses Verhaltenskodexes; die Gewissheit, dass der Professionelle sich diesen Verhaltenskodex in einer mehrjährigen Ausbildung angeeignet hat, und die Sicherheit, dass sich die Profession in einer Form selbst kontrolliert, die es ermöglicht, Kunstfehler zu identifizieren und zu sanktionieren.14 Durch die Verselbstständigung der Kompetenzvermutung haben Professionen „Inszenierungsvorteile“ gegenüber Nichtprofessionen. Die Familienanwäl-
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Auf die umfangreiche Berufsprestigeforschung kann hier nicht im Detail eingegangen werden (siehe den Überblicke bei Nakao (1992) oder die neure Diskussion bei Xueguang 2005). Es gibt sicherlich gruppenspezifische Unterschiede, wie das Prestige von Berufen eingeschätzt wird (vgl. dazu z.B. Guppy/Goyder 1984). Es lassen sich Abweichungen von dem hier beschriebenen Trend beobachten. In neueren Untersuchungen wird deutlich, dass die durch Professionen angeleiteten Berufe wie beispielsweise der der Krankenschwester sich in ihrem Ranking an den hoch reputierten Leitberuf anschließen (vgl. für Deutschland Allensbacher Institut für Demoskopie 2005). Auffällig ist, dass in Deutschland Polizisten in der Regel hoch bewertet werden, während im Gegensatz zu anderen Ländern die Reputation von Offizieren auffällig gering ist. Diese Abweichungen ändern aber nichts an der grundlegenden Beobachtung über das hohe Berufsprestige von Professionen. Der soziologisch häufig unterbestimmte Begriff der „Institution“ wird hier bewusst in Anführungszeichen eingeführt, weil er als Begrifflichkeit nicht mit der üblichen soziologischen Begrifflichkeit in diesem Beitrag abgestimmt ist. Ich verwende ihn jedoch, um auf die meines Erachtens zentrale Schwäche des dramatologischen Ansatzes hinzuweisen – die Missachtung all dessen, was jenseits der Interaktionen stattfindet. Meines Erachtens ist die Darstellung von Michaela Pfadenhauer, die viel für das soziologische Interesse an Kompetenz und Kompetenzdarstellung getan hat, widersprüchlich. Einerseits wird in ihrem Buch über Professionalität ausführlich der Gedanke entwickelt, dass Professionelle über Kompetenzdarstellungskompetenz verfügen (müssen), andererseits kann man bei ihr in einem kleinen Hinweis lesen, dass Kompetenzdarstellungen nicht nötig sind für etwas, was allen Beteiligten selbstverständlich ist (vgl. Pfadenhauer 2003: 114). Hier droht die These von „Professionellen als Kompetenzdarsteller“ (vgl. Pfadenhauer 2003: 115) zurückgenommen zu werden, wenn man Professionen gerade dadurch gekennzeichnet sieht, dass deren Kompetenzglaubwürdigkeit „verselbstständigt“ wird.
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tin braucht der nach Scheidung strebenden Ehefrau nicht erst die zentralen Paragraphen des Familiengesetzbuches aufzusagen, damit sich diese auf ein Arbeitsbündnis einlässt. Der Geistliche kann sich jedenfalls im Erstkontakt auf die Reputation seines Berufsstandes verlassen, und der Klient vermutet erstmal, dass er einigermaßen predigen, die Beichte abnehmen und die zu kritischen Lebenslagen passenden Bibelstellen rezitieren kann. Dem Mediziner wird insofern vertraut, als dass man – jedenfalls bei Standardbehandlungen – bereit ist, sich einen Praktiker aus dem Telefonbuch herauszusuchen. Erst bei schwerwiegenderen Eingriffen zieht man dann weitere Quellen wie Empfehlungen durch Bekannte oder Gerüchte heran.15 Diese Kompetenzvermutung gegenüber Professionen kann man an dem wohl prominentesten Kleidungsstück einer Profession verdeutlichen: dem Ärztekittel. Vorsoziologisch wurde der Ärztekittel immer wieder als notwendiges Instrument zur Kompetenzdarstellung einer Profession interpretiert. Der Arztkittel sei, so die auch immer wieder in Cartoons aufgegriffene Vermutung, Ausdruck ärztlichen Standesbewusstseins. Erst im und durch den weißen Kittel werde der Arzt zum Arzt. Aber schon empirisch fällt auf, dass viele medizinische Praktiker keinen Kittel tragen: Psychiater tragen ihn nicht, Kinderärzte legen sehr selten einen an, und Hausärzte tragen ihn immer weniger (siehe hierzu und zum Folgenden die populärwissenschaftliche Darstellung von Murphy 2007). Wie wenig Ärzte auf eine Kompetenzdarstellung über den Arztkittel angewiesen sind, lässt sich zur Zeit in einem Realexperiment beobachten. Mediziner in Großbritannien sollen – einer Vorgabe des britischen Gesundheitsministeriums folgend – seit 2008 keine weißen Kittel mehr tragen. Hintergrund: In vielen Staaten haben gerade die Infektionen durch gegen Antibiotika resistente Stämme wie Staphylococcus aureus oder Clostridium difficile in den letzten Jahren stark zugenommen. Neben den Krawatten der männlichen Leistungserbringer sind dabei die Ärztekittel die Hauptüberträger dieser Infektionen, weil sie, so zeigen Studien, seltener gereinigt werden als Alltagskleidung. Statt des
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Der Standardeinwand gerade aus professoralen Kreisen ist, dass man sich doch sehr wohl über Unterschiede bei Medizinern, Anwälten und Therapeuten bewusst sei und sich vor dem Aufsuchen eines Professionals informiere, wer der „Beste“ seines Faches sei. Hier spielt sicherlich eine Rolle, dass gerade unter Wissenschaftlern die Kontaktmöglichkeiten zu Angehörigen anderer Professionen hoch sind und darüber ein zusätzliches Selektionskriterium besteht. Ulrich Oevermann hat in einem gemeinsamen Workshop diese Vermutung geäußert. Aufschlussreich war jedoch ein anschließendes Meinungsbild unter den Studierenden, in dem ein Großteil von ihnen zum Ausdruck brachte, dass sie sich ihren Arzt aus dem Telefonbuch heraussuchen würden. Aber das ist – zugegeben – anekdotische Empirie. Es sei hier wenigstens darauf verwiesen, dass es empirische Studien zur Arztwahl gibt, die leider jedoch in der Regel keinen Vergleich zur Wahl von nicht als Profession organisierten Leistungserbringern bieten (vgl. zuletzt für den deutschsprachigen Raum z.B. Kriwy/Aumüller 2007).
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Kittels empfiehlt das britische Gesundheitsministerium das Tragen von Hemden mit kurzen Ärmeln oder T-Shirts, die tagtäglich gewechselt werden. Nur wenn mit Blut, Eiter oder Exkrementen hantiert wird, sollte mit Plastikschürze, Einmalhandschuhen und Mundschutz gearbeitet werden, die dann unmittelbar nach der Behandlung entsorgt werden (vgl. Bartens 2007). Überraschend ist, wie problemlos sich die Abschaffung des Ärztekittels in Großbritannien durchzusetzen scheint. Mehrere Studien haben gezeigt, dass die hauptsächliche Funktion von Ärztekitteln darin besteht, besonders in Krankenhäusern den Patienten eine schnelle Identifikation des ärztlichen Personals zu ermöglichen (siehe z.B. Ikusaka et al. 1999). Aber gerade dafür gibt es auch andere, weniger infektiöse Möglichkeiten: Namensschilder.16 2.2 Die Notwendigkeit von „Kompetenzhygiene“ durch Professionsangehörige Selbstverständlich kann dieser hier nur idealtypisch dargestellte Prozess in der konkreten Interaktion zwischen Professionsangehörigen und ihren Klienten immer wieder gebrochen werden. Wenn ein Mandant durch den Hinweis eines befreundeten Anwalts einen Schnitzer bei der Erstellung einer Urkunde durch seine Notarin entdeckt, führt dies in dem konkreten Fall zu einer Reduktion der Kompetenzvermutung. Ein Zahnarzt, der für seine Klienten sichtbar nicht die habituelle Selbstverständlichkeit bei der Behandlung von Karies zeigt, sondern regelmäßig bei seiner Arzthelferin nachfragt, was er denn jetzt machen soll, reduziert Kompetenzvermutungen beim Patienten.17 Die Professionellen reagieren auf solche reduzierte Kompetenzvermutung ihrer Klienten häufig mit übermäßig inszenierten Kompetenzdarstellungen, die die Interaktionskrisen dann weiter verschärfen – wenn z.B. junge Ärzte mit einem für sie unbekannten Problem konfrontiert werden, gegenüber dem Patienten häufig mit übertriebener Kompetenzdarstellung auftreten. Bei jungen Lehrern, die durch eine Klasse unter Druck gesetzt werden, lässt sich nicht selten beobachten, dass sie die Situation noch dadurch verschlimmern, dass sie zu
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In der einzigen mir bekannten Auseinandersetzung Luhmanns mit dem Arztkittel sieht er die Funktion vorrangig darin, einerseits „Statusansprüche, Rollentypen oder Berufszugehörigkeiten (zu) manifestieren und zugleich entsprechende Handlungen“ anzukündigen (vgl. Luhmann 1964: 363f.). Ein großer Teil der empirischen Studien über Ärztekittel kommt aus der Medizinwissenschaft. Es wäre sicherlich ein interessantes Forschungsfeld, die Funktion von Ärztekitteln und die Effekte ihrer Abschaffung soziologisch zu untersuchen. Dabei besteht dann natürlich auch die Möglichkeit, dass eine Enttäuschung mit einem Angehörigen einer Profession auf alle Angehörigen dieser Berufsgruppe übertragen wird und negative Urteile über die Lehrer, die Ärzte oder die Juristen entstehen (vgl. Luhmann 1974: 3).
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aggressiv versuchen, ihre Kompetenzen, die von den Schülern in Frage gestellt werden, darzustellen.18 Zur Vermeidung von solchen Interaktionkrisen müssen Angehörige von Professionen in ihrer Beziehung zu Klienten „Kompetenzhygiene“ betreiben – um die Idee des Hygienefaktors von Frederick Herzberg zu paraphrasieren. Kurz: Sie müssen darauf achten, dass ihre Klienten nicht an ihren durch Institutionen abgesicherten Kompetenzen zweifeln. Wenn ein Patient stirbt oder ein Schüler nicht lernt, muss sichergestellt werden, dass dies nicht auf Fehler des Professionellen zurechnet wird, sondern entweder auf ein nicht beeinflussbares Schicksal („jeder muss mal sterben“, „warum habe ich einen so dummen Sohn“) oder auf den Klienten selbst („hätte er doch die Medikamente genommen“, „hätte er doch mehr gelernt“). Unterschiedliche Auffassungen über eine Vorgehensweise, die immer wieder in einem Ensemble von Professionellen auftreten können, gehören, so die häufig herrschende Interaktionsregel, nicht vor dem Klienten ausdiskutiert, um nicht Kompetenzzweifel aufkommen zu lassen. Unsicherheiten eines Professionellen in Bezug auf die nächsten Arbeitsschritte werden häufig auf der Hinterbühne unter zur Hilfename der „Klinikleitfaden“ geklärt und dem Klienten gleichzeitig eine „Sicherheitsfassade“ geboten. Die Leistung von Hochstaplern ist, dass sie diese „Kompetenzhygiene“ hinbekommen, ohne dass sie die entsprechenden Fachkenntnisse anerzogen bekommen haben und ohne dass sie über lange Jahre den einen professionellen Habitus ansozialisiert bekommen haben. Ob man sich die in der Regel hervorragend gemachten Imitationen eines Offiziers durch Wilhelm Voigt (siehe Zuckmayer 1995 für eine romanhafte Aufarbeitung), eines Augenarztes durch Karl May (siehe Hülsman 1969), eines Psychiaters durch Gert Postel (siehe Postel 2001), eines Piloten durch Frank W. Abagnale (siehe Abagnale/Redding 2003) oder die Imitationen des Habitus von Oberschichten durch Anlagebetrüger wie Jürgen Harksen (siehe Harksen 2006) anschaut: Die Kunst besteht darin, einen sehr spezifischen Habitus darstellen zu können, den man in der Regel nur über langjährige Sozialisation erwerben kann.19 Aber abgesehen von solchen Krisensituationen sind Mitglieder von Professionen, so die These, vom Zwang zur übermäßig offensiven Kompetenzdarstellung befreit, weil sie sich zu einem nicht unerheblichen Teil auf die Kompe-
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Vgl. für eindrucksvolle Reaktionen von Professionellen bei Krisen aufgrund von Kompetenzzweifeln besonders anschaulich Moers 1990: 12. Auch Buer würdigt die Darstellungsleistung Postels mit sehr treffsicheren Referierungen der besonders aufschlussreichen Stellen aus dessen Buch, scheint dann aber mit der Aussage, dass „offensichtlich ..die Darstellungskompetenz oft viel entscheidender (ist) als die fachliche und moralische Kompetenz, einer professionellen Tätigkeit angemessen nachgehen zu können“ (Buer 2004: 172) einer inszenierungstheoretischen Interpretation zuzuneigen, die professionelles Handeln vorrangig als Darstellungskompetenz begreift.
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tenzvermutungen der Klienten gegenüber Professionen stützen können. Um den Gedanken zusammenfassend noch einmal zuzuspitzen: Professionen entlasten die Leistungserbringer davon, ihre Kompetenz zu inszenieren. Die Kompetenzvermutung der Klienten gegenüber Professionen reduziert für die Leistungserbringer die Notwendigkeit, ihre Kompetenz offensiv darzustellen und dadurch in das Problem des Selbstlobs zu geraten. 3.
Zum Zusammenhang von Kompetenz und Kompetenzdarstellung
Dem dramatologischen Ansatz wird von Vertretern anderer Theorieschulen vorgeworfen, dass er sich zu viel mit Kompetenzdarstellung und zu wenig mit Kompetenzen auseinander setzt. Der Ansatz, so beispielsweise der Vorwurf von Vertretern der objektiven Hermeneutik, verkenne, dass es gerade bei professionalisierungsbedürftigen Tätigkeiten wie dem Recht, der Therapie, der Medizin oder der Religion nicht darauf ankomme, Kompetenzen darzustellen, sondern die Probleme der Klienten kompetent zu bearbeiten. Diese Kritik am dramatologischen Ansatz ist sicherlich berechtigt, aber ein Aspekt wird aus meiner Sicht übersehen. Häufig ist es erst die Kompetenzvermutung des Klienten, die es den Leistungserbringern ermöglicht, den Arbeitsrahmen zu kontrollieren. Und erst durch die Kontrolle des Arbeitsrahmens können sie nach den eigenen Standards „guter Arbeit“ wirken. Schon frühe Studien über so unterschiedliche Arbeitsfelder wie Restaurants, Schnellzüge und Psychiatrien haben gezeigt, dass der Erfolg eines Arbeitsverlaufs davon abhängt, dass der Angestellte die Initiative ergreift: Der Kellner vermittelt Kunden zwar das Gefühl, dass er ihnen zu Diensten steht, aber er strebt danach, die Kontrolle über den Arbeitsablauf zu behalten (vgl. Whyte 1949). Die Zugbegleiterin bietet zwar dem Kunden ihre Serviceleistungen in Form von Zugauskünften oder Kaffee an, aber sie lässt keinen Zweifel daran, dass sie die Oberhand behält (vgl. Heindl 2005). In der Psychiatrie verlangt zwar das Krankheitsbild der Klienten, dass die Psychiater auf Feindseligkeit mit Wärme und Verbindlichkeit reagieren, aber gleichzeitig sind sie darauf angewiesen, die Arbeitssituation komplett zu kontrollieren (vgl. Goffman 1956). Eine solche Kompetenzvermutung des Klienten muss gerade in der Anbahnungsphase mobilisiert werden. Erving Goffman (1983:15) hat darauf hingewiesen, wie wichtig der Erstkontakt gerade in Interaktionen zwischen Professionellen und Klienten ist.20 Besonders deutlich wird dies bei Dienstleistern, die es mit
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Dieser Ansatz ist jedoch mit der These ins Absurde übertrieben worden, dass der Erfolg einer Interaktion weitgehend vom „ersten Eindruck“ abhängt (siehe zu einer psychologischen Auseinandersetzung Bergler/Hoff 2001).
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einer eher widerständigen Klientel zu tun haben. Viele Lehrer nähmen, so Goffman, den Standpunkt ein, dass es zentral sei, „von Anfang an den richtigen Eindruck zu machen“. Man müsse von Anfang an zeigen, wer der „Stärkere“ ist, sonst könne man gar nicht erst seine Kompetenzen darstellen. Bei manchen Wärtern in Nervenheilanstalten sei es, so Goffman, eine feste Überzeugung, dass man dem Patienten gleich am ersten Tag klar machen müsse, wer „der Herr im Haus ist“. Damit würde man später viele Schwierigkeiten vermeiden. Aber auch bei Dienstleistern, die es mit einer Klientel zu tun haben, die freiwillig kommt und auch bereit ist, für die Dienstleistung zu bezahlen, gibt es die Notwendigkeit, in einem sehr frühen Stadium beim Klienten eine Kompetenzvermutung gegenüber dem Dienstleister zu erzeugen. Ist das Arbeitsbündnis zwischen Leistungserbringer und Klient erst einmal etabliert, reduziert sich dieses Problem der Kompetenzvermutung erheblich. Genauso wie ein Patient, der über längere Zeit in der Behandlung durch eine Ärztin ist, sich irgendwann nicht mehr die Frage nach deren Kompetenz stellt, wird es auch einem Klienten gehen, der nach einer Reihe von Beratungssitzungen die Kompetenzvermutungen auf der Basis von als erfolgreich wahrgenommenen Supervisions- und Coachingsitzungen aufgebaut hat und aufgrund der gemeinsamen Interaktionsgeschichte mit Kompetenzvermutungen an die Beratung herangeht.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Brosziewski, Achim, Prof. Dr., geb. 1961, Bildungssoziologe an der Pädagogischen Hochschule Thurgau, Privatdozent an der Universität St. Gallen, Lehrbeauftragter an der Universität Luzern Brüsemeister, Thomas, Prof. Dr., geb. 1962, Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Sozialisation und Bildung an der Justus-Liebig Universität Gießen Dewe, Bernd, Prof. Dr., geb. 1949, Professor für berufliche und betriebliche Weiterbildung an der Philosophischen Fakultät III der Martin-LutherUniversität Halle Wittenberg Keller, Reiner, Prof. Dr., geb. 1962, Professor für Allgemeine Soziologie an der Universität Koblenz-Landau, Campus Landau, Institut für Sozialwissenschaften Klatetzki, Thomas, Prof. Dr., geb. 1956, Professor für Soziologie, insbesondere Organisationssoziologie an der Universität Siegen Knoblauch, Hubert, Prof. Dr., geb. 1959, Professor für Allgemeine Soziologie an der Technischen Universität Berlin Kühl, Stefan, Prof. Dr., geb., 1966, Professor für Organisationssoziologie an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld Kurtz, Thomas, PD Dr., geb. 1961, Privatdozent an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld und derzeit Vertretungsprofessor für Bildungsmanagement und Bildungsforschung an der Universität Paderborn Pfadenhauer, Michaela, Prof. Dr., geb. 1968, Professorin für Soziologie (unter besonderer Berücksichtigung des Kompetenzerwerbs) an der Universität Karlsruhe/Karlsruher Institut für Technologie (KIT) Reichertz, Jo, Prof. Dr., geb. 1949, Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Duisburg-Essen
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Autorinnen und Autoren
Schützeichel, Rainer, Dr., geb. 1958, vertritt derzeit die Professur für Mikrosoziologie und Qualitative Sozialforschung an der FernUniversität in Hagen Traue, Boris, Dr., geb. 1973, Visiting Fellow am ‚Centre for the Study of Invention and Social Process‘ (CSISP) des Department of Sociology, Goldsmiths College/University of London Truschkat, Inga, Prof. Dr., geb. 1975, Juniorprofessorin für Sozial- und Organisationspädagogik an der Universität Hildesheim Vonken, Matthias, Dr., geb. 1971, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt Willems, Herbert, Prof. Dr., geb. 1956, Professor für Soziologie an der JustusLiebig-Universität Gießen