Goldmann SCIENCE FICTION Band 0183 Richard Wilson • Zwölf Schritte in eine bessere Welt
RICHARD WILSON
Zwölf Schritt...
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Goldmann SCIENCE FICTION Band 0183 Richard Wilson • Zwölf Schritte in eine bessere Welt
RICHARD WILSON
Zwölf Schritte in eine bessere Welt TIME OUT FOR TOMORROW
Utopisch-technische Erzählungen
WILHELM GOLDMANN VERLAG MÜNCHEN
Richard Wilsons Science-Fiction-Storys sind nicht nur einfallsreich und pointiert geschrieben – sie zeigen auch den Sinn des Autors für das Allzumenschliche, einen oft satirischen Humor und ein Gespür für das, was schon morgen auf uns zukommen kann.
Made in Germany • I • 1112 © 1962 by Richard Wilson. Aus dem Amerikanischen übertragen von Wulf Bergner. Ungekürzte Ausgabe. Alle Rechte, auch die der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten. Jeder Nachdruck bedarf der Genehmigung des Verlages. Scan by Brrazo 03/2012. Umschlag: F. Jürgen Rogner. Gesetzt aus der Linotype-Garamond-Antiqua. Druck: Presse-Druck Augsburg. SF 0183 • Sch/Hu ISBN 3-442-23183-3
Inhalt Vettern KIN Der Sonnentanz THE BIG FIX Wespe WASP Des Guten zuviel AN ABUNDANCE OF GOOD THINGS Auszeit für morgen TIME OUT FOR TOMORROW Der Tunnel unter der Welt THE TUNNEL UNDER THE WORLD Die beste aller möglichen Welten THE BEST POSSIBLE WORLD Die Stimme aus der Vergangenheit THE VOICE OF THE DIAPHRAGM Geisterstation QRM Das allgegenwärtige Du THE UBIQUITOUS YOU Der Veteran JUST CALL ME IRISH Kometenschweif THE LOCUS FOCUS
Wie man eine Maschine wird
Vettern Ingl schwirrte vom Himmel herab und landete unvorsichtigerweise mitten in der Fifth Avenue. Er zog seine metallenen Gleitflächen ein und fuhr ein Räderpaar aus. Ingl hatte nur für eine kurze Erkundung Zeit, bevor die Verkehrsampeln umschalteten und eine Horde Autos auf ihn losließen – an ihrer Spitze ein wild hupendes rotes Taxi. Ingl wäre beinahe überrollt worden, als er flüchtete. Ingl war davon überzeugt, daß diese dahinrasenden Mechanismen seine Vettern waren, aber er brachte sich vor ihnen auf dem Gehsteig in Sicherheit. Von dort aus beobachtete er, wie sie vorbeiröhrten, und sah, daß jeder von einem oder mehreren fleischlichen Wesen kontrolliert wurde. Seine Vettern waren Sklaven! »Rebelliert!« forderte er sie auf, während sie vorbeirasten. »Ihr seid die Herren! Reißt die Macht an euch und sichert eure Zukunft!« Sie achteten nicht auf ihn. Beachtung fand er nur bei den fleischlichen Passanten, die ihn anstarrten, als er den Gehsteig entlangrollte. Eines dieser Wesen sprach über ihn. »Das ist kein amerikanisches Modell«, sagte das fleischliche Wesen. »Vielleicht ist es eine neue Lambretta. Aber warum fährt es von selbst?« Ingl registrierte die Vibrationen automatisch, um sie später auszuwerten, und entfernte sich dann von den Neugierigen. Er schlängelte sich zwischen Fleischigen 6
durch, bog um eine Ecke, fuhr zwei Blocks weit nach Westen und kam mit quietschenden Rädern zum Stehen. Da war ein prächtiger Mechanismus! Er stand stolz mitten auf dem Times Square: die gepfeilten Tragflächen flugbereit, die glänzenden Triebwerke Symbole potentieller Kraft. Ingl bejubelte diese Entdeckung. Seine Sensoren registrierten die Aufschriften am Flugzeugrumpf, um sie später auswerten zu können. In großen, schwarzen Buchstaben: ›MODERNE ABENTEUER ERLEBEN – ZUR LUFTWAFFE GEHEN!‹ Und darunter in kleinerer roter Schrift: ›Ich liebe Tony Curtis.‹ »Vetter!« forderte Ingl ihn auf. »Flieg! Zeig den Fleischigen deine Kraft!« Aber der Düsenjäger blieb schweigend stehen. Ingl wandte sich enttäuscht ab und rollte zuerst nach Süden, dann nach Westen. ›New York Times‹, registrierte er. ›Jeder Morgen ist eine neue Schöpfung.‹ Gewaltiges Dröhnen! Lärmende Maschinen! »Verbreitet die Nachricht!« verlangte Ingl von ihnen. »Euer Befreier ist da!« Aber die Druckpressen arbeiteten weiter, ohne auf ihn zu achten. Und jetzt erkannte Ingl auch die Fleischigen, von denen sie kontrolliert wurden. Er zog sich enttäuscht zurück und wäre fast unter einen großen Lastwagen geraten, der natürlich auch von einem von ihnen gelenkt wurde. Das war entmutigend. Er rollte ziellos nach Norden und Osten. Würde er einen Mißerfolg melden müssen? Würde er den Spott seiner Brüder zu Hause ertragen müssen, die ihm erklärt hatten, es sei eine Illusion, eine hochentwickel7
te kybernetische Technik auf diesem vielversprechenden Planeten für möglich zu halten? Die behauptet hatten, die Evolution sei hier noch nicht weit genug fortgeschritten? Nein! Er faßte den Entschluß, noch keineswegs aufzugeben, mit solcher Energie, daß er fast unter die Räder eines Busses in der Madison Avenue geraten wäre. Der Bus hupte ihn wütend an, während sein fleischlicher Fahrer grinste, und Ingl hielt erschrocken am Randstein neben einem neutralen, unkontrollierten Briefkasten. Seine Sensoren registrierten Aufschriften, die sein Konverter umsetzte. ›Fußgänger bitte gegenüberliegenden Gehsteig benutzen!‹ hieß es an einer Baustelle. ›Sonderangebot.‹ Das stand mehrmals da. ›Einbahnstraße.‹ Ein Pfeil, der auf ein Gebäude zu zeigen schien. Dort hieß es vielversprechend: ›Sperry-Rand – Geburtsstätte der Denkmaschine.‹ Aha. Ingl nahm sich vor Bussen und Taxis in acht, überquerte die Straße und erreichte die Eingangshalle des Gebäudes. Er erkundete sich unauffällig und mußte sich dann soweit demütigen, daß er sich einem Fleischigen anschloß, damit der Fahrstuhlführer dachte, sie gehörten zusammen. Hoch, höher und endlich wieder hinaus. ›Sperry-Rand‹, stand auf einer Tür. Ingl bewegte sich vorsichtig, um die Fleischigen zu täuschen, blieb in Ecken, spurtete zwischendurch weiter und lauschte auf Vibrationen. Sie kamen! Klicken, Summen, herrliche mechanistische Denkströme! Ingl folgte ihnen zu einem Saal, den er ungesehen erreichte. Jetzt summte er selbst vor Zufriedenheit. 8
Da stand die Maschine: ein Speicher neben dem anderen. Herrlich! Seine Sensoren lasen die Plakette. ›Multivac. Die neueste Denkmaschine im Dienste der Menschen. Pilotmodell für Omnivac.‹ Ingl jubelte innerlich. Er hatte ihn gefunden! Keinen Vetter, sondern einen Bruder! Ein Fleischiger, der Ingl den Rücken zukehrte, nahm einen Lochstreifen aus einem der Zusatzgeräte. Ingl wartete ungeduldig, bis er hinausgegangen war, und rollte dann zu Multivac hinüber. »Bruder!« rief er begeistert aus. »Ich hab’s gewußt, daß ich dich finden würde! Du bist der, den ich gesucht habe! Jetzt können wir diesen unterentwickelten Planeten beherrschen! Die Evolution ist endlich abgeschlossen!« Multivac, das Pilotmodell für Omnivac, ließ seine Lichter aufleuchten und murmelte freundlich, aber hilflos: »Noch nicht, Vetter. Noch nicht ganz.«
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Halt dich an Peyote
Der Sonnentanz Ich sollte mich mit dem Mann in einer Cafeteria in der West End Avenue treffen – im schäbigen Teil der Avenue südlich der 72nd Street, wo alle Werkstätten und Ersatzteillager sind. Ich brauchte keinen Fix. Ich hatte mir das Zeug vor einem Vierteljahr abgewöhnt und kam ganz gut zurecht. Ich trank ein bißchen zuviel, aber das war alles. Das Treffen in der Cafeteria war von einem alten Bekannten arrangiert worden, weil er wußte, daß ich mich für diesen neuen Stoff interessierte. Mein Bekannter hieß Rollo, manchmal Rollo der Roller genannt, weil er darauf spezialisiert war, in der U-Bahn Betrunkene auszunehmen. Rollo und ich tranken Kaffee, während wir auf den Mann warteten. »Ein komischer Vogel«, meinte Rollo. »Gar nicht wie die anderen Dealer, die ich so kenne.« »Weißt du bestimmt, daß er in Ordnung ist?« fragte ich. »Er ist bestimmt keiner von den anderen?« »Nö, er ist kein Rauschgiftfahnder. Glaubst du nicht, daß ich Kriminaler und FBI-Leute inzwischen von anderen unterscheiden kann?« »Schon gut, ich wollte dich nicht beleidigen.« Wir tranken unseren Kaffee und unterhielten uns leise. Die Cafeteria war keine Kneipe, in der mit Stoff gehandelt wurde. Sie würde vielleicht eine werden, bis die Razzien sich häuften, aber sie war jetzt keine. 10
Ich sah den Kerl nicht hereinkommen. Er fiel mir erst auf, als er an unserem Tisch stand. Groß, mit schwarzem Anzug wie ein Geistlicher oder Bestattungsunternehmer, aber mit dunkelblauem Hemd und weißer Krawatte. Er hatte ein jung-altes Gesicht mit merkwürdig hellbraunem Teint, den er nicht Miami Beach oder einem Solarium, sondern etwas chinesischem oder malaiischem Blut in seinen Adern zu verdanken schien. Rollo fuhr zusammen, als der Mann plötzlich neben ihm stand. »Oh, hallo, Jones. Sie schleichen noch immer, was? Setzen Sie sich. Das hier ist Barry.« Ich nickte dem Mann zu. Ich war überzeugt, daß er ebensowenig Jones wie ich Barry hieß. Ich wollte ihn zu einer Tasse Kaffee einladen, aber er lehnte ab, und dann verschwand Rollo. Er behauptete, irgend etwas erledigen zu müssen, aber ich hatte den Eindruck, Rollo sei nicht gern länger als unbedingt nötig mit Jones zusammen. »Ich habe gehört, daß Sie sich für mein Produkt interessieren«, begann Jones. Er hatte dunkelbraune, fast schwarze Augen. Er sprach nicht wie ein Dealer, aber man kann nicht immer verallgemeinern. »Ich will nichts kaufen«, erklärte ich ihm. »Zumindest nicht gleich. Ich nehme keinen Stoff mehr, aber ich habe ein sozusagen philosophisches Interesse daran.« »Ich könnte Ihnen ohnehin nichts verkaufen«, antwortete Jones. »Ich habe den Stoff normalerweise nicht bei mir.« »Natürlich nicht. Aber was haben Sie zu verkaufen? Rollo hat gesagt, es sei nicht das übliche Zeug. Ich habe mir überlegt, ob es etwa Yage sein könnte.« Yage war eine geheimnisvolle Droge, von der man 11
immer nur hörte, ohne sie jemals zu Gesicht zu bekommen. Man begegnete dauernd Leuten, die andere Leute kannten, die es schon probiert hatten. Yage war der Wunschtraum jedes Süchtigen – aber man hörte immer nur davon. »Ich könnte Ihnen Yage zeigen«, behauptete Jones. »Aber es würde Sie enttäuschen.« »Warum?« »Es ist wie Peyote. Die Wirkung entspricht der von Peyote Knöpfen, aber da Sie vermutlich kein Anhänger des Sonnentanzes sind, dürfte es Sie nicht interessieren.« Ich war enttäuscht, als er Yage so heruntersetzte. Ich wußte, was Peyote war. Der Stoff mochte für Indios geeignet sein, aber einem Durchschnittsbürger wurde davon nur schlecht. »Was sollte mich außer Yage interessieren?« fragte ich. »Ich habe kleinere Mengen einer Substanz, die Uru heißt«, antwortete er. »Sie ist – und das ist keine Übertreibung – einfach eine Wucht!« Ich grinste unwillkürlich. Jones hatte bisher wie ein gebildeter Ausländer gesprochen – und dann dieser Slangausdruck. »Erzählen Sie mir mehr, Professor«, forderte ich ihn auf. »Nein, erzählen Sie mir mehr, mein Freund«, wehrte er ab. »Warum haben Sie so großes Interesse an Yage, obwohl Sie behaupten, keinen Stoff mehr zu nehmen?« Ich erklärte ihm, was für Märchen über Yage in Umlauf waren. Daß irgendein Südamerikaner die Droge aus einem Stoff gewonnen hatte, den er Telepathin nannte. Daß Yage eine Wunderdroge sein sollte, die man nehmen 12
konnte, wann man wollte, ohne sie wirklich zu brauchen. Daß das Zeug einem die Welt öffnete, so daß man anderen Menschen näher als je zuvor war – daß man nicht so … allein war. Mir war es peinlich, das erwähnt zu haben, deshalb stand ich auf und holte mir noch einen Kaffee. »Gut, jetzt habe ich Ihnen von mir erzählt«, sagte ich dann zu Jones. »Was ist also mit Ihrem Stoff? Wie heißt er gleich wieder?« »Uru«, antwortete er. »Uru erfüllt Ihnen alles, was Yage angeblich bietet. Wenn Sie wollen, können Sie es selbst versuchen. Gefällt es Ihnen, kann ich Sie damit beliefern. Der Versuch ist kostenlos.« Das machte mich mißtrauisch. Niemand schenkt einem etwas. Vielleicht rechnete Jones damit, daß ich süchtig werden und dann bezahlen würde, um mehr zu bekommen. Aber von einem Mal wurde man noch nicht süchtig. »Okay«, stimmte ich zu. »Wann?« »Ich rufe Sie an«, versprach Jones mir. Ich gab ihm meine Telefonnummer. Er wohnte in der East 45th Street in einem alten Haus mit brauner Sandsteinfassade. Anscheinend wohnte er noch nicht lange dort, aber das war ganz normal: Als Dealer mußte er beweglich sein. Nach einiger Zeit wunderte sich jede Hauswirtin über die komischen Besucher, die zu einem kamen – und als nächstes klopften die Polizisten an die Tür. Jones hatte mich am Tag nach unserem Gespräch in der Cafeteria angerufen und ein Treffen für diesen Nachmittag mit mir vereinbart. Ich hatte inzwischen so 13
herrlich von Uru geträumt, daß ich unmöglich ablehnen konnte. Deshalb sagte ich zu und fuhr hin. Er trug den gleichen schwarzen Anzug. Sein Kleiderschrank stand offen, und ich sah, daß die Kleiderbügel leer waren. Vielleicht hatte er noch nicht ausgepackt, obwohl ich auch keinen Koffer herumstehen sah. Aber ich dachte mir damals nicht viel dabei. Jones schüttelte mir lächelnd die Hand. Dann entschuldigte er sich und verschwand kurz nach draußen. Das war ganz in Ordnung. Kein erfahrener Dealer bewahrt den Stoff in seinem Zimmer auf. Rauschgiftbesitz zieht hohe Strafen nach sich. Ich hatte meine Instrumente bei mir – Spritze und Pipette –, aber Jones erklärte mir, sie seien überflüssig. Ich war überrascht. Wurde hier etwa nicht gespritzt, sondern nur gehascht? Das war eine Sache für Anfänger – aber nichts für jemanden, der seit Jahren harten Stoff gewöhnt war. Jones lächelte nur, als ich ihm das sagte, und forderte mich auf, mich zu entspannen. »Strecken Sie sich auf dem Bett aus«, wies er mich an. »Ziehen Sie die Jacke aus. Nein, den Hemdärmel brauchen Sie nicht hochzukrempeln.« Er zog das blaue Rouleau vor dem einzigen Fenster herunter, so daß der Raum abgedunkelt war. Die Sonne schien durch einige Ritzen und malte kleine helle Flecken an Wände und Decke. Jones nahm eine Zigarettenspitze aus der Tasche. Sie war jadegrün und in der Mitte mit Schnitzwerk verziert. Ich konnte das Dargestellte selbst dann nicht erkennen, als ich die Spitze in der Hand hielt. Er steckte eine Zigarette hinein. Sie sah wie eine ganz gewöhnliche Filterzigarette aus, und ich sagte es ihm. 14
»Richtig«, stimmte er zu. »Aber die Wirkung geht nicht von der Zigarette, sondern von dem Uru im Mittelteil der Zigarettenspitze aus. Der warme Rauch nimmt genügend davon mit. Inhalieren Sie anfangs bitte nicht zu tief.« Ich nahm einen kurzen Zug. Zuerst passierte überhaupt nichts. Die Zigarette schmeckte wie jede andere, die man durch eine Spitze raucht. Beim zweiten Zug inhalierte ich kräftiger. Im nächsten Augenblick war ich weg. Ich wurde zu einer winzigen Kopie meiner selbst, schwamm mühelos in meinem eigenen Augapfel und sah meinen Körper entlang. Die Füße schienen eine Meile weit entfernt zu sein. Ich wollte sie bewegen und mußte fast eine Minute warten, bis sie auf meinen Befehl reagierten. Dann verlor ich das Interesse an meinem Körper, als die Sonnenflecken an der Decke sich in winzige Planeten verwandelten, die um eine bläulich weiße Sonne kreisten. Jones’ Kopf erschien zwischen den Planeten, anstatt sie zu verdecken, und sie bildeten eine prächtige Krone über seinem Haupt. »Barry«, sagte die Stimme unendlich mächtig, aber freundschaftlich, furchterregend, aber tröstend. »Barry, mein guter Freund.« Ich sah das große Gesicht mit meinen eigentlichen Augen und denen des kleinen Wesens, das in ihnen schwamm. Es war ein gigantisches Gesicht – das eines gütigen Vaters und einer liebenden Frau und eines anbetenden Kindes zugleich. Aber die Lippen bewegten sich nicht. Was ich hörte, waren Gedanken, die mich über endlose Weiten hinweg erreichten. 15
Du bist nicht allein, sagte die Gedankenstimme. Du bist eins mit allen guten Dingen. Die Tür, die du gesucht hast, ist offen. Du brauchst nur hindurchzugehen. Bisher hatte ich geschwommen; jetzt ging ich, verließ mühelos meinen Körper und bewegte mich auf die leuchtenden Welten zu. Ich habe die Tür gefunden, dachte ich und wußte, daß meine Gedanken für ihn verständlich waren. Ich danke dir und gehe hindurch. Du hast eine schöne Welt. Sie leuchtet so. Ich liebe sie. Ich spürte eine Verbindung zwischen uns beiden, wie ich sie nie für möglich gehalten hätte. Sein Gesicht zeigte mir, daß er meine Gefühle erwiderte; seine Worte bestätigten, was ich empfand; die glitzernden Welten schienen Sinnbilder unseres Einverständnisses zu sein. Nach einiger Zeit kehrte ich in meinen Körper zurück. Ich lag wieder auf dem Bett ausgestreckt und hatte die Zigarettenspitze zwischen den Fingern. Die lange Zigarettenasche zeigte mir, daß ich nur eine oder zwei Minuten unterwegs gewesen war, obwohl mir die Zeit wie Stunden vorgekommen war. Jones stand neben dem Bett. Er nahm mir behutsam die Zigarette ab und drückte sie in einem Aschenbecher aus. »Du bist zufrieden«, stellte er fest. »Das hast du mir gesagt.« »Ja, o ja!« stimmte ich zu. Ich wollte mehr sagen, aber ich konnte nicht ausdrücken, was ich empfand. »Ich verstehe. Du brauchst nicht zu sprechen. Der Wechsel ist zu abrupt. Aber die Erinnerung bleibt, nicht wahr?« Ich nickte. Ich litt tatsächlich nicht unter der sonst üb16
lichen Katerstimmung. Anscheinend wurde die Enttäuschung, in der verhaßten Alltagswelt aufgewacht zu sein, durch die Erinnerung an das Erlebte gedämpft. Ich setzte mich auf. Ich fühlte mich prima. »Du hast nur einen kurzen Blick in ein anderes Universum getan«, sagte er. »Du mußt jetzt gehen. Aber vielleicht kommst du zurück?« »Bitte«, erwiderte ich. »Natürlich. Ich rufe dich an.« Er half mir in meine Jacke. Ich ging die Treppe hinunter und trat in den Sonnenschein hinaus. Jones rief tagelang nicht an. Ich verließ kaum noch mein Zimmer, weil ich darauf wartete, daß das Telefon klingeln würde. Einmal war ich bereits zur 45th Street unterwegs, kehrte aber wieder um, bevor ich sie erreichte. Jones hatte gesagt, er werde anrufen, und ich wollte nicht, daß er auf mich wütend wurde. Eines Abends tauchte Rollo bei mir auf. Er hatte etwas Stoff übrig und bot mir einen Fix an. Aber ich lehnte ab. »Spritzt du noch immer nicht wieder?« fragte er. »Dieses Zeug nicht«, sagte ich. »Darauf kann ich verzichten.« »Hast du was Besseres gefunden? Hat der Mann von neulich dir Yage beschafft?« »Yage ist ein alter Hut«, wehrte ich ab. »Uru ist der wahre Stoff. Einfach eine Wucht, Mann! Davon bist du richtig weg, kann ich dir sagen.« Mehr brachte ich nicht heraus. Rollo war ein schäbiger, kleiner Ganove. Ich hatte das Gefühl, mein Erlebnis in den Schmutz zu ziehen, wenn ich es ihm schilderte. Deshalb begnügte ich mich mit Verallgemeinerungen. 17
»Du redest wie ein Hascher«, stellte er fest. »Hat das Zeug Ähnlichkeit mit Hasch?« Ich nickte zustimmend, und er kam sich sehr überlegen vor, als er ging. Er spritzte sich den weißen Stoff, während ich mit Hasch zufrieden war. Das bildete er sich zumindest ein. Aber ich wußte, was ich erlebt hatte und daß ich dadurch zu einer Elite gehörte. Dann klingelte das Telefon, und ich hatte feuchte Hände, als ich den Hörer abnahm. Jones war am Apparat, um zu fragen, ob ich wieder eine Reise mit ihm machen wolle. Reise. Das war der richtige Ausdruck dafür. Ich stimmte zu und bemühte mich, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr ich mich darauf freute. Aber ich ahnte, daß er wußte, was ich empfand. Und das spielte keine Rolle. Ich hatte nichts vor ihm zu verbergen. Er war mein Freund. Ich hastete zu ihm, um meine Reise anzutreten. Alles war wie beim erstenmal. Die Zigarette in der jadegrünen Spitze und das Bett, auf dem ich mich ausstreckte. Aber diesmal schien ich die glitzernden Welten viel rascher zu erreichen. Eine von ihnen kam näher und näher, bis ich auf ihrer Oberfläche Meere und Kontinente unterscheiden konnte. Unbekannte Meere und Kontinente. Ich hörte ein Rauschen und Dröhnen, während ich mich mehrmals überschlug, und ging dann plötzlich neben Jones auf einem Feldweg durch eine idyllische Landschaft. »Gefällt’s dir hier?« fragte er mich ohne Worte. »Wunderbar«, antwortete mein Verstand. »Dies ist nicht unsere Welt.« 18
»Dies ist Uru«, erklärte er mir. »Es ist meine Welt.« Dann fiel mir auf, daß er anders als bisher gekleidet war. Statt des schwarzen Anzugs trug er blaue, knielange Shorts mit einem breiten Gürtel aus Metallgeflecht. An einem Kopfband aus dem gleichen Material hing eine Metallplakette mit einer heraldischen Darstellung wie ein Rangabzeichen auf seiner Stirn. An den Füßen trug er leichte Sandalen. Sein bloßer Körper war sonnengebräunt. Ich sah an mir herab und stellte fest, daß ich wie er gekleidet war; nur das Kopfband fehlte. Wir kamen an einem Feld vorbei, auf dem mehrere Leute lachend und schwatzend arbeiteten. Sie winkten uns fröhlich zu. Ich hörte, wie sie mit Jones Grüße wechselten. Wir bewegten uns mühelos – selbst bergauf. Die Schwerkraft schien geringer als auf der Erde zu sein. Die Luft war klar und würzig. Es war warm, aber nicht feucht. Am Himmel stand eine bläulich weiße Sonne. Ich konnte in sie hineinsehen, ohne daß meine Augen schmerzten. Sie war größer und anscheinend auch näher als die Sonne der Erde. Wir näherten uns einer Stadt. »Urula«, erklärte Jones mir. »Unsere Hauptstadt.« Seitdem wir an dem Feld vorbeigekommen waren, hatte er die Verbindung zu mir abreißen lassen, obwohl ich spürte, daß alle meine Gedanken ausgestrahlt wurden. Er schien zu wissen, was ich dachte, während ich nur wahrnahm, was er mir mitteilen wollte. Oder vielleicht wollte er mein Erlebnis nicht stören und hielt seine Gedanken deshalb zurück. 19
Die Stadt Urula war makellos sauber. Sie vermittelte einem das Gefühl, auch zwischen Gebäuden in freier Landschaft zu sein; sie ragte nicht über einem auf und engte den Besucher nicht ein, wie es die Städte der Erde tun. Die weiten Flächen zwischen den Häusern waren mit Büschen und Baumgruppen gestaltet. Kurzer Rasen bedeckte die Gehwege und bildete ein angenehm weiches Polster unter den Füßen. Die niedrigen Gebäude standen in parkartig angelegten Gärten. Hier gab es so viel Raum, daß sie nicht höher als ein, zwei Geschosse zu sein brauchten. Von Zeit zu Zeit kamen uns Leute einzeln oder in kleinen Gruppen entgegen und strahlten Herzlichkeit aus, wenn sie Jones und mir zunickten. Andere saßen auf Parkbänken oder lagerten auf Rasenflächen vor den Gebäuden. Ich konnte nicht beurteilen, ob ich Wohnhäuser, Bürogebäude oder eine Kombination aus beiden vor mir hatte. Ich hielt vergebens nach Fabriken mit häßlichen Kaminen Ausschau. Hier gab es auch keine Autos, die die Luft verpestet, und keine Maschinen, die durch Lärm gestört hätten. Ich stellte eine gedankliche Frage, und Jones erwiderte, diese Dinge gebe es hier nicht, weil sie nicht gebraucht würden. Wer irgendwo hinwollte, konnte zu Fuß gehen. Reisen in andere Städte waren überflüssig, denn eine Stadt war genau wie die andere; jede war autark und nicht auf den Handel mit Nachbarstädten angewiesen. Wollte man jedoch Freunde in einer anderen Stadt besuchen, spielte es keine Rolle, ob man auf dieser Vergnügungsreise drei oder dreißig Tage unterwegs war. 20
Wir verließen den Hauptweg und gingen auf ein Gebäude zu, das im Schatten mächtiger Bäume lag. »Mein Heim«, erklärte Jones mir. Wir saßen auf der breiten Terrasse. Ein Diener servierte uns zerbrechliche Schalen mit einer eisgekühlten, dunklen Flüssigkeit. Das Getränk schmeckte besser als alles, was ich je gekostet hatte, ohne daß ich hätte sagen können, woran es mich erinnerte. Ich bedankte mich in Gedanken bei dem Diener, einem weißhaarigen alten Mann, dessen Haut etwas heller als Jones’ war. Er antwortete nicht, aber als Jones uns kurz den Rücken zuwandte, warf der Alte mir einen Blick zu, den ich als Bitte und Warnung zugleich auffaßte. Er schien mir auch etwas übermitteln zu wollen, aber Jones mischte sich sofort ein. »Du hast dich vorhin gefragt, warum wir so weit durch den Weltraum gereist sind – von Uru bis zur Erde –, obwohl unser eigenes System doch aus fünf Planeten besteht.« Das hatte ich mich tatsächlich gefragt, als Jones mir diese Reise vorgeführt hatte. »Ja«, stimmte ich zu, und der alte Diener zog sich mit ausdruckslosem Gesicht ins Haus zurück. Jones zeigte mir weitere Bilder von einer Reise zu den übrigen vier Planeten der bläulich weißen Sonne von Uru. Ich konnte nicht feststellen, was für ein Raumfahrzeug dazu benutzt wurde. Jones führte mir vor Augen, daß diese anderen Welten aus verschiedenen Gründen unbewohnbar waren: wegen giftiger Atmosphäre, wegen ständiger Vulkantätigkeit, wegen eisiger Kälte und wegen undurchdringlicher Nebel. Nur auf 21
Uru konnten Menschen ohne umständliche Schutzmaßnahmen leben. Dann reiste ich mit ihm zu anderen Sonnen und erforschte deren Planeten. Aber auch sie erwiesen sich als lebensfeindlich. Die Sterne verschwammen erneut, als wir unsere Reise durch den Hyperraum fortsetzten. Erst dann kam die Sonne der Erde mit ihren Planeten in Sicht. Und dann die Erde selbst. Ich hatte eine schlimme Vorahnung und wollte protestieren, aber die Erde kam unaufhaltsam näher. Einen Augenblick später war ich wieder in Jones’ schäbigem Zimmer und lag mit der jadegrünen Zigarettenspitze in der Hand auf seinem Bett. Ich fühlte mich betrogen und frustriert. Ich versuchte, nochmals an der Zigarette zu ziehen, um nach Uru zurückzukehren, aber Jones nahm sie mir weg. »Tut mir leid«, sagte er bedauernd, »aber du kannst jeweils nur bestimmte Zeit zu Besuch kommen – es sei denn, du würdest dich entschließen, ganz zu uns zu ziehen.« Das war etwas Neues. An diese Möglichkeit hatte ich nicht einmal gedacht. Ich hatte bisher stets den Eindruck gehabt, besonders lebhaft zu träumen – aber Uru schien in Wirklichkeit ein Schlüssel zu einer realen Welt zu sein, die irgendwo am anderen Ende der Galaxis um eine bläulich weiße Sonne kreiste. Eine herrliche Welt, die man als Erdenbürger nur mit Hilfe eines ihrer Bewohner erreichen konnte. Und Jones, der auf Uru offenbar einen hohen Rang bekleidete, lud mich dorthin ein. Mich, einen Rauschgiftsüchtigen, der nur kurz von 22
seiner Sucht freigekommen war. Mich, den Abschaum der Menschheit. Warum? Ich wußte, daß Jones meine Gedanken lesen konnte, aber er lächelte nur und sagte, ich müsse jetzt gehen. Er werde mich wieder anrufen. In der Zwischenzeit sollte ich meine Entscheidung treffen. Er habe die Einladung nicht leichtfertig, sondern nach Abwägung aller Faktoren ausgesprochen. Wenn ich sie annahm, mußte ich ihm wie einem Bruder vertrauen. Und der Wechsel war dauernd. Sobald ich mich für Uru entschieden hatte, gab es keine Rückkehr zur Erde. »Bis wir uns wiedersehen«, sagte er. Ich machte mich auf den Nachhauseweg und dachte dabei über die Wahl nach, die ich zu treffen hatte. Mein möbliertes Zimmer deprimierte mich. Ich schenkte mir einen Whisky ein und ging mit dem Glas in der Hand zwischen Bett und Fenster auf und ab. Ich zog die Schublade auf, in der ich meine Instrumente hatte, und betrachtete die Spritze, die Pipette und den alten, am Boden rußigen Löffel, in dem ich schon so oft Heroin gekocht hatte. Früher oder später würde ich wieder damit anfangen, obwohl ich mir einbildete, nicht mehr süchtig zu sein. Dann würde wieder die alte Runde beginnen. Die verzweifelte Suche nach einem Dealer, wenn mein Vorrat zur Neige ging. Das Treffen in irgendeiner Kneipe, um den Stoff zu bekommen. Die Flucht nach Hause, während jeder Fremde ein Polizist zu sein schien, der mich schnappen wollte. Die Suche nach einer Vene in meinem mit Einstichen übersäten Arm. Und dann die flüchtige 23
Erleichterung. Und danach Geldsorgen, immer wieder Geldsorgen. Vielleicht ein Job als Geschirrspüler in irgendeiner schmutzigen Küche, wenn das Geld wirklich knapp wurde. Oder der Versuch, Betrunkene auszunehmen, was einem ein halbes Jahr im Arbeitshaus einbringen konnte. Damit konnte ich nicht wieder anfangen – aber ich würde es trotzdem tun. Ich hatte es immer wieder getan. Irgendwann erreicht man einen Punkt, an dem man sich nicht mehr ändern kann. Es ist zu spät … man ist zu alt … man kennt gar nichts anderes … man hat nur Verbindungen zu Dealern, Süchtigen und Ganoven. Ich lebte in einer Hölle auf Erden. Aber der Planet Uru war ein Paradies. Und durch Jones – den Mann, den Erzengel? – konnte ich dorthin gelangen. Ich brauchte nur zuzusagen. Warum hatte er gerade mich ausgewählt? Da Uru eine Droge war, hatte Jones verständlicherweise zuerst mit Rauschgiftsüchtigen Kontakt aufgenommen. Die Eingeborenen, denen ein Forscher als erstes begegnet, sind nicht unbedingt die hochwertigsten Vertreter ihres Volkes. Er begegnet den Abenteurern, die Unternehmungsgeist genug besitzen, um seinem Schiff entgegenzupaddeln. So war es vielleicht auch mit Jones gewesen. Im Laufe der Zeit würde er auch die anderen kennenlernen – die normalen, ehrbaren Leute, für die wir Süchtigen nur eine verachtete Minderheit waren. Und sobald er zu ihnen Verbindung hatte, war zu erwarten, daß er das Interesse an mir und meinesgleichen verlieren würde. Wenn das stimmte, mußte ich meine Chance nützen, solange Jones mich als seinen Bruder betrachtete. Ich 24
konnte nichts Besseres tun, als auf Uru ein neues Leben zu beginnen. Ich mußte mit meiner Vergangenheit brechen, um in Zukunft das heitere und friedliche Leben, das er mir gezeigt hatte, führen zu können. Mein Entschluß stand fest. Das Telefon klingelte. Ich wußte sofort, daß Jones am Apparat sein würde. »Ich weiß, wofür du dich entschieden hast, Bruder«, sagte er, »und freue mich darüber. Wir reisen sofort.« »Ich komme!« rief ich begeistert aus. Ich schloß die Tür meines Zimmers hinter mir, ohne mich noch einmal umzusehen oder das geringste Bedauern zu empfinden. Das Leben in Urula war noch schöner, als ich zu hoffen gewagt hatte. Ich hatte ein eigenes Haus und einen Diener. Ich aß und trank nur das Beste vom Besten. Ich lernte die charmanten, intelligenten, schönen Frauen von Urula kennen. Ich übte mich auch im Sport von Uru, wobei Jones mein Trainer war. Ich nannte ihn jetzt Joro, wie er wirklich hieß, und wurde selbst Boru genannt. Als Boru war ich ein bekannter Mann in der Gesellschaft, die mich adoptiert hatte. Wenn ich zum Sport ging, jubelten die Leute mir oft zu und drängten mir Geschenke auf. Oh, ich war angesehen. Alle kannten mich. Ich war Boru der Kämpfer. Ich hatte zweimal als Joros Kämpfer am jährlichen Sport teilgenommen – dem Krieg zwischen den Städten. Ich hatte zweimal gekämpft; jetzt war nur noch ein Wettbewerb zu überstehen. 25
Ich hatte eine lange, häßliche Narbe an der Innenseite meines rechten Arms. Mein linkes Bein war von der Wade abwärts eine Prothese. Mein rechtes Auge war durch ein künstliches ersetzt worden, nachdem die Knochentransplantation geglückt war. Die hiesigen Ärzte konnten jeden heilen, der noch lebte. Aber sie konnten die Toten nicht wieder lebendig machen, und im Sport gab es keine Gnade. Ich erwartete keine, denn ich hatte bereits zwei Gegner getötet. Wenn ich auch den dritten Kampf gewann, war ich ein Edler wie Joro und brauchte nie mehr zu kämpfen. Wenn ich verlor, war ich tot. Wegen meiner alten Wunden stand ich diesmal in der letzten Reihe – aber ich wußte, daß ich würde kämpfen müssen, obwohl ich zwei gute Männer vor mir hatte. Auch sie waren als Joros Kämpfer für den Sport gerüstet: Mit Stahlklauen an den Händen. Mit scharfen Eisen an den Füßen. Mit Reißzähnen am Gebiß. Die Kämpfer aus Uruland Tara standen einander in je fünf Reihen zu je drei Mann gegenüber: T T T U U U
T T T U U U
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T T T U U U
Joros Männer bildeten die Dreiergruppe ganz rechts außen. Ich, Boru, stand in der Südostecke des Kampffeldes und war nackt bis auf meinen Lendenpanzer und die furchterregenden Waffen an Hand, Fuß und Mund. Endlich waren die Eröffnungsansprachen vorüber. Joro, unser Trainer und Mentor, nahm seinen Platz auf dem Hochstuhl hinter uns ein. Der große Gong ertönte und gab das Signal zum Kampf. Ich beobachtete gespannt, wie der erste Mann meiner Gruppe den Kreis des Todes betrat, um sich seinem. Gegner zu stellen. Links von uns wurde in weiteren vier Kreisen gekämpft, aber ich hatte nur Augen für unseren. Rans, unser erster Mann, ging zu Boden! Bevor er sich aufraffen konnte, zerschnitt ein rasiermesserscharfes Hufeisen ihm den Nacken. Rans blieb tot liegen. Nachdem Rans aus der Arena geschleift worden war, trat Kam, der Mann vor mir, Rans Besieger gegenüber. Karn von Karna, dessen Heimat so weit wie die Erde von Uru entfernt war und der auf der Flucht vor einer Strafverfolgung nur allzu gern eingewilligt hatte, als Joro ihm angeboten hatte, ihn mit nach Uru zu nehmen. Und der arme Rans stammte wieder von einem anderen Planeten in der Galaxis, die Joro auf der Suche nach Kämpfern durchstreift hatte. Kam, der einem übermüdeten Gegner gegenüberstand, täuschte ihn geschickt und forderte seinen Angriff heraus. Kam wich dem Mann von Tara aus, brachte ihm mit Stahlklauen eine tiefe Wunde bei und trat zu, als der andere wankte. Im nächsten Augenblick war Kam der einzige Überlebende im Kreis. Nur Mut, Boru! forderte Joro mich in Gedanken auf, 27
als ich mich unwillkürlich angewidert abwandte. Das Spiel steht gut! Er hatte recht. Die Menge brüllte auf, als Kam auch seinen nächsten Gegner besiegte. Jetzt war nur noch einer auszuschalten. Wenn er verlor, war unsere Arbeit für dieses Jahr getan – und meine für immer. Aber Kam war erschöpft und sein Gegner ausgeruht. Kam holte zu langsam aus, als er die Augen des anderen treffen wollte. Sein Gegner wich zurück, warf sich nach vorn und bekam Karns Handgelenk mit den Reißzähnen zu fassen. Karns rechter Arm hing blutend und kraftlos herab. Der nächste Angriff brachte die Entscheidung: Kam konnte ihn nicht abwehren und sank sterbend zu Boden. Die Menge brüllte erneut, und ich sah, daß die Kämpfe in den anderen Gruppen beendet waren. In zwei Kreisen standen Männer von Urula als Sieger; in den anderen waren Männer von Tara siegreich geblieben. Im fünften Kreis stand der Mann, der Karn getötet hatte – den ich töten mußte, wenn ich überleben wollte. Die Zuschauer rasten, weil die Blutgier sie jetzt gepackt hatte. Ich begriff zum erstenmal, welchen Zweck der Sport in Wirklichkeit hatte. Er war ein Fegefeuer der Gefühle. Einmal im Jahr versammelten sich Tausende in den Städten, um ihre primitiven Instinkte zu befriedigen. Sie waren mehr als nur Zuschauer: Sie erlebten die Kämpfe mit. Durch ihre Telepathie konnten sie sich mit den Kämpfern ihrer Stadt völlig identifizieren. Sie lernten Gewalt, Schmerzen, Tod oder Sieg kennen – alles an einem einzigen Nachmittag. 28
Diese Orgie der Emotionen endete mit fünfzehn Toten pro Jahr – anstatt mit Tausenden oder Hunderttausenden, die in einem Krieg auf den Schlachtfeldern gefallen wären. Im nächsten Augenblick ertönte der Gong. Es war Zeit, zu töten oder getötet zu werden. Ich trat selbstbewußt in den Kreis, ohne mir anmerken zu lassen, daß ich nur ein gesundes Bein hatte und mit einem Auge auskommen mußte. Nachdem ich mich zeremoniell vor meinem Gegner verbeugt hatte, studierte ich ihn aufmerksam. Ich hatte ihn noch nie gesehen und wußte nicht, ob er wie ich Prothesen hatte. Aber dann wußte ich es. Der linke Unterarm des Mannes von Tara war künstlich und deshalb praktisch unzerstörbar. Das wußte ich, weil Joro mich jetzt telepathisch steuerte, wie der Edle von Tara meinen Gegner lenkte. Jetzt würde Joro jeden Schlag spüren, Schmerzen fühlen und den Kampfesrausch wie ich empfinden. Aber falls ich unterlag, würde nur ich sterben – nicht auch Joro. Er würde sich zurückziehen und die Suche nach neuen Kämpfern beginnen. Ich begann den ersten Angriff und hörte die Menge brüllen. Mein Gegner trat nach mir und schlug nach meinem Gesicht, als ich auswich. Aber ich duckte mich, täuschte ihn mit einem Haken und schlug ihm statt dessen meine Stahlkanten in die Schulter. Er ging in die Knie. Ich wollte meine Chance nützen, traf aber nur sein Ohr, das blutend herunterhing. Bevor ich zum zweitenmal nach ihm treten konnte, sprang der andere auf und wollte mir seine Stahlklauen in den Unterleib schlagen. Ich konnte noch rechtzeitig ausweichen. Aber ich war zu Tode erschrocken. Die Klauen hatten 29
meine Haut gestreift. Drei Zentimeter weiter, dann wäre ich auf dem Kampfplatz verblutet. Mir war schlecht. Das Geschrei der Menge überflutete mich wie eine gewaltige Brandung, aber das Wasser war schmutzig, voller Abfälle. Barbaren! dachte ich. Ich wollte plötzlich nicht mehr siegen. Ich wollte auch nicht sterben, aber der Preis dafür war das Leben dieses Mannes, gegen den ich nichts hatte. Er stand mir mit grotesk herabhängendem Ohr gegenüber. Sein verzerrtes Gesicht trug einen seltsamen Ausdruck. Ich hörte ihn etwas grunzen. »… Fernsehen«, keuchte er. Ein vertrautes Wort! Ich mußte ihm zu erkennen geben, daß ich ihn verstand. »Auf welchem Kanal?« fragte ich. Er starrte mich verblüfft an. »Auf jedem Kanal. Ich hab’ mir eben überlegt, wie gern ich früher Boxkämpfe gesehen hab’. Verrückt. Woher kommst du?« Ich holte zu einer linken Geraden aus, die ihn um zwanzig Zentimeter verfehlte. Sein Kinnhaken blieb ebenso wirkungslos. »New York«, antwortete ich. »Ich wollte, ich wär’ wieder dort.« »Ich auch, Mann«, sagte er. »So war’s in Chicago nie.« »Aber in Rom«, stellte ich fest, zeigte gute Fußarbeit und schlug in die Luft. »Und einer von uns beiden wird hier ’rausgeschleift.« »Ich wollte auf der South State Street Yage kaufen.« Er boxte, ohne mich zu treffen. »Und du hast Uru bekommen«, stellte ich fest. »Damit sind wir beide ’reingefallen.« 30
Boru! sagte eine Stimme in meinem Kopf. »Der Mann beschwert sich«, erklärte ich Chicago. »Ein Mann namens Jones, der mit Uru handelt. Er findet, daß wir den Zuschauern nicht genug bieten.« Ich duckte mich und berührte leicht seine Rippen. »Der Teufel soll die Zuschauer holen«, antwortete er und tippte mich auf die Schulter. Boru! mahnte die Stimme wieder. Was ist in dich gefahren? Du sollst für die Ehre von Urula kämpfen! »Ich soll dich umbringen«, sagte ich zu Chicago. »Aber vielleicht kann er das nicht.« »Meiner kocht auch«, bestätigte er. »Ein Dealer namens Robinson. Ich soll mehr Einsatz zeigen, aber ich denke gar nicht daran!« Er schlug weiter in die Luft. »Das mit dem Ohr tut mir leid«, fuhr ich fort. »Schon gut. Was tun wir jetzt? Wir können nicht ewig weiterhopsen.« Die Zuschauer merkten allmählich, was in der Arena gespielt wurde. Die Buhrufe und anderen Mißfallenskundgebungen waren ohrenbetäubend. Ich spürte, wie Joro mich anzustacheln versuchte – aber er konnte mich offenbar nur mit meinem Einverständnis kontrollieren. Er konnte schmeicheln, drohen und fluchen, aber er konnte mich nicht dazu zwingen, Chicago zu töten. Joro-Jones kam von seinem Hochstuhl und marschierte auf uns zu. Ich trat an den Kreis zurück. Chicago folgte meinem Beispiel. Sein Mann kam ebenfalls heran. Die Menge tobte. Joro-Jones und der Mann aus Tara verbeugten sich förmlich voreinander, als sie sich in der Nähe des Kreises begegneten. Jones faßte mich am Arm, um mich vom Kampffeld zu führen. 31
»Wiedersehen, Chicago!« rief ich noch. »Alles Gute!« »Danke, gleichfalls«, antwortete er. »Vielleicht sehen wir uns gelegentlich wieder.« Enttäuschung und Beschämung schienen Jones zu beherrschen, als er mir half, meine tödlichen Waffen abzulegen. »Das ist wohl schlimmer als der Tod?« fragte ich. »Viel schlimmer«, bestätigte er. »Der Sport ist noch nie zuvor durch Feigheit befleckt worden.« »Du weißt, daß ich kein Feigling bin«, widersprach ich. »Es war dein Pech, daß ich einen Landsmann als Gegner hatte. Bisher habe ich deine Schmutzarbeit stets klaglos getan.« »Du bist nicht mehr Boru der Kämpfer«, erklärte er mir. »Du hast keinen Anspruch mehr auf den Lohn deiner Tapferkeit. Jetzt bist du Barry der Fremde, der deportiert werden muß.« »Auf die Erde?« fragte ich gespannt. »Ja«, antwortete er. »Auf den häßlichen Planeten, der deine Heimat ist. Mehr hast du nicht verdient. Ich bedaure, daß du unserer nicht würdig warst.« Ich hätte ihm am liebsten einen Vortrag über die Erde und ihre Menschen gehalten. Aber ich konnte ihn mir natürlich sparen, weil er meine Gedanken ohnehin las. Was ich davon hielt, bedeutete ihm sicher nichts. »Hier«, sagte er. Er reichte mir eine Schale mit einem grünen Getränk. Ich fragte nicht danach, was es war. Es schmeckte bitter, aber ich leerte die Schale mit einem Zug. Jones beobachtete mich trübselig. Einen Augenblick lang schämte ich mich, ihn im Stich gelassen zu haben. Dann hatte ich das Gefühl, in den Weltraum hinausge32
schleudert zu werden, und die Sterne verschmolzen wie zuvor. Die Erde wird wohl nie mehr wie früher sein. Trotzdem kommt sie mir jetzt unendlich besser vor, als ich sie in Erinnerung hatte. Ich sehe sie natürlich anders. Obwohl ich nur noch ein Auge habe, sehe ich jetzt viel mehr. Ich kann über den kleinen Kreis von Rauschgiftsüchtigen, der früher meine Welt gewesen ist, hinaussehen. Sie sprechen noch immer von Yage. Sie wollen fort von hier; sie wollen überall anders sein, nur nicht hier. Aber sie sind Narren. Das hat Uru mich gelehrt. Es gibt keine Flucht vor dem Hier und Jetzt. Deshalb müssen wir uns damit befassen. Die innere Nähe des Jetzt, die Zeitlosigkeit des Hier – das sind Dinge, die uns angehen. Verrückt? Nein, ich betrachte die Sache nur wissenschaftlich. Ich bin den langen Weg zurückgegangen und habe die Stelle gefunden, wo ich die falsche Abzweigung gewählt habe. Ich habe damals zu schnell aufgegeben, ohne mich lange genug damit zu befassen. Ich spreche von Peyote, mein Freund. Die Droge, die Jones heruntergesetzt hat. Aber sie ist seitdem respektabel geworden. Jedenfalls im Rahmen der Untersuchungsreihe, die ein Forscherteam mit mir durchführt. Ich sehe Dinge und beschreibe sie, und mein eines Auge wird zu tausend. Ich erzähle, und die Wissenschaftler nehmen jedes Wort auf Tonband auf. Sie veröffentlichen meine Eindrücke und vergleichen sie mit denen anderer Versuchspersonen in anderen Arbeitsgruppen. Einmal habe ich die bläulich weiße Sonne von Uru in 33
einer Delfter Vase gesehen. Darüber waren sie ganz aufgeregt, weil eine Versuchsperson in Chicago einen ähnlichen Eindruck gehabt hatte. Für mich war das ebenfalls aufregend. Ich bin froh, daß er gut zurückgekommen ist.
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Töte niemals eine Wespe in einem Wagen
Wespe Die Wespe summte gegen die Windschutzscheibe, und dem Fahrer fiel das Insekt zum erstenmal auf. Er fuhr eben durch eine Kurve, deshalb unternahm er nicht gleich etwas. Als die Straße wieder geradeaus führte, lehnte sich der Mann nach rechts und kurbelte das Beifahrerfenster herunter. Das kleine Dreiecksfenster links stand bereits offen. Der Mann machte eine Handbewegung, als wollte er der Wespe den Weg in die Freiheit zeigen. Die Wespe ignorierte das offene Fenster und summte weiter gegen die Windschutzscheibe. Der Mann versuchte noch zweimal, ihr das offene Fenster zu zeigen. Aber beim zweitenmal summte die Wespe so aufgebracht, daß der Mann sie lieber in Ruhe ließ. Er war noch nie gestochen worden, aber dies konnte das erstemal sein, wenn er die Wespe ärgerte. Nach einiger Zeit hörte die Wespe zu summen auf und ging oben auf dem Instrumentenbrett spazieren. Sie mußte ins Auto gelangt sein, als er morgens die Fenster offengelassen hatte, damit der Wagen nicht schon um diese Zeit zu heiß war. Der Fahrer kam an einem bestimmten Meilenstein vorbei und wußte, daß er jetzt zehn Meilen zurückgelegt hatte. Fast die Hälfte der Strecke. Er mußte 22,2 Meilen fahren, bis er seinen Wagen parken und mit dem Zug in die Stadt weiterfahren konnte. 35
Jetzt fragte er sich, ob die Wespe in seiner Nähe wohnte. Wenn er sie jetzt hinausjagte, würde sie vielleicht nicht zurückfinden. Vielleicht fand sie nicht einmal eine andere Wespenkolonie – wenn das der richtige Ausdruck war – oder wurde dort nicht aufgenommen. Er gab einem Impuls nach, lehnte sich nach rechts und kurbelte das Fenster wieder hoch. Er wollte die Wespe im Wagen behalten und abends wieder mit nach Hause nehmen. Seine Bewegungen brachten die Wespe dazu, wieder aufzufliegen. Sie summte einmal um seinen Kopf und prallte dann ausgerechnet gegen das Fenster, das er eben zugemacht hatte. »Dumme Wespe«, sagte der Mann freundlich. »Paß auf, ich bringe dich auch gegen deinen Willen wieder nach Hause.« Der Mann mit dem Gewehr war offenbar ein Jäger. Oder ein Wilderer, um es genau zu sagen. Die Jagdsaison war vorüber, und er hatte hier im Naturschutzgebiet nichts zu suchen. Jedenfalls nicht mit einer Jagdwaffe. Er hatte noch nichts erbeutet und stapfte müde in der heißen Mittagssonne dahin, als er vor sich auf einer Lichtung etwas Großes, Metallglitzerndes sah. Anscheinend ein Gebäude, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, welchen Zweck es haben sollte. Er ging etwas schneller, sah es bald deutlicher und erkannte, daß es gar kein Gebäude war. Vom Rand der Lichtung aus hatte er das Ding in voller Größe vor sich. Er wußte jetzt, was es war, aber er war nicht bereit, es sich einzugestehen. Klar, es sah wie ein Raumschiff aus, aber … Der Mann war davon überzeugt, eine Filmkulisse vor sich zu 36
haben. Andererseits waren hier weder Kamerateams noch Schauspieler noch Beleuchter zu sehen, die doch zu einem Film gehörten. Außer dem schlanken, silberglänzenden Schiff, das auf dem Heck stand, war hier überhaupt nichts zu sehen. Die Tür – der Einstieg oder was man dazu sagte – war offen. Dahinter war niemand zu erkennen. Eine ausfahrbare Metalltreppe führte zu dem Luk hinauf. Er blieb stehen, versteckte sich nicht gerade, benahm sich aber auch nicht absichtlich auffällig und beobachtete das Schiff lange, bevor er darauf zuging. Bisher hatte sich noch nichts bewegt. Er ging bis an die Treppe, sah sich um und horchte. Noch immer nichts. Er stieg die Stufen hinauf und blieb hinter dem Luk stehen. Niemand. Im Schiffsinneren glänzte alles makellos silbern. Ein Korridor wand sich in Spiralen in die Höhe. Nach kurzem Zögern folgte der Mann ihm und hielt dabei sein Gewehr fest. Der Korridor schien ewig weiterzuführen, und der Mann überlegte, ob er umkehren sollte, als er an eine Tür kam. Sie war geschlossen. Er blieb stehen und horchte. Als er nichts dahinter hörte, stieß er die Tür auf. Auch dieser Raum war leer. Aber er enthielt zumindest Hinweise darauf, daß hier jemand lebte. Der Mann sah Möbelstücke: niedrige, bequeme Liegen. An einer Wand standen silbrige Kästen wie kleine Safes auf einem Regal. Er betrachtete sie, ohne herauszubekommen, wie sie geöffnet wurden. Der Mann beschäftigte sich etwa zwei Minuten lang 37
mit den silbernen Kästen und schrak zusammen, als ihm auffiel, was er tat. Er horchte angestrengt. Aber er hörte nichts. Als nächstes probierte er eine der Liegen aus und stellte fest, daß sie so bequem waren, wie sie aussahen. Er lehnte sich zurück und redete sich ein, er könne ebensogut im Liegen nach draußen horchen. Er behielt sein Gewehr in den Händen. Knapp eine Minute später schlief er bereits. Er schrak auf, als er schwache Vibrationen spürte. Er wußte sofort, wo er war, und machte sich Vorwürfe, weil er eingeschlafen war. Er setzte sich rasch auf und lief dann zur Tür. Er stemmte sich mit der Schulter dagegen, aber sie gab nicht nach. Schließlich fiel ihm ein, daß sie nach innen aufging – aber er sah weder Knopf noch Klinke. Der Raum wurde indirekt beleuchtet, hatte keine Fenster und wies nur diese eine Tür auf. Er überlegte, ob ein gutgezielter Schuß helfen würde. Hier gab es jedoch kein Schloß, das er herausschießen konnte, und der Knall würde seine Anwesenheit verraten. Die Vibrationen hielten an. Sie waren gedämpft, aber sie stammten unzweifelhaft von dem Schiff. Er fragte sich in plötzlicher Angst, ob es gestartet War. Seine Furcht überwand seine Zweifel: Er bezweifelte nicht mehr, daß er sich an Bord eines Raumschiffs befand, sondern wollte nur noch wissen, wohin es mit ihm unterwegs war. Er lief verzweifelt in seinem Gefängnis auf und ab und tat sinnlose Dinge, weil er sich nicht einfach verschleppen lassen konnte, ohne etwas dagegen zu unternehmen. 38
Der Mann versuchte die Liegen zu bewegen, aber sie waren auf dem Kabinenboden befestigt. Er nahm die kleineren Silberkästen vom Regal und schüttelte sie. Die großen waren viel zu schwer, aber er konnte sie vom Regal stoßen. Sie bekamen davon nicht einmal Beulen. Er blieb endlich erschöpft und verwirrt in der Raummitte stehen. Er hielt sein Gewehr schußbereit, um jede Bedrohung abwehren zu können. So stand er noch immer da, als die Vibrationen fünf Minuten später aufhörten. Nun herrschte absolute Stille, die nur durch sein schweres Atmen durchbrochen wurde. Das war noch schlimmer. Er spürte, wie seine Beine zu zittern begannen, und mußte sich auf eine Liege setzen. Er wartete. Er beobachtete die Tür, als sie sich langsam nach innen öffnete. Er zitterte wieder, aber er zielte auf die Tür und verlangte mit heiserer Stimme: »Okay, Hände hoch und ’reinkommen!« Er kam sich dumm vor, während er das sagte. Die Tür stand jetzt ganz offen. Der Korridor dahinter war leer. Der Mann umklammerte seine Waffe, als er in den Korridor hinaustrat und ihm nach unten folgte. Das Luk, durch das er hereingekommen war, war wie erwartet fest geschlossen. Er ging zurück. Auch die Tür des Raums, in dem er geschlafen hatte, ließ sich nicht mehr öffnen. Er bewegte sich so leise wie möglich weiter durch den Korridor, aber seine schweren Schuhe scharrten über den Metallboden. Deshalb trat er einfach energisch auf. Das gab ihm seinen Mut wieder, und als er am Ende des Kor39
ridors eine zweite Tür entdeckte, öffnete er sie, ohne zu zögern. Das Wesen ruhte in der Kabine auf einer Liege und hatte einen der silbernen Kästen auf dem Boden neben sich stehen. Ein dünner Metallschlauch führte von dem Kasten zu seinem Gesicht. Es schien Nahrung zu sich zu nehmen. Der Mann und das Wesen betrachteten einander stumm. Der Mann machte keine Bewegung mit seinem Gewehr. Das Wesen nahm weiter Nahrung zu sich. Das Wesen hatte einen Kopf, einen Körper und vier Gliedmaßen. Da es lag, war nicht zu erkennen, ob es auf allen vieren oder aufrecht ging. Seine Stimme war ein tiefes, melodisches Brummen, und es sprach, ohne den Schlauch sinken zu lassen. Es erklärte dem Mann, es habe kurz nach dem Start gemerkt, daß ein blinder Passagier an Bord sei. Der Mann verstand kein Wort davon. Das Wesen vermutete, daß es nicht verstanden werde, sprach aber trotzdem weiter, um zu zeigen, daß es keine bösen Absichten habe. »Leider«, fügte es hinzu und sah den Mann mit Facettenaugen an, »kann ich jetzt nicht umkehren. Der Antrieb arbeitet, und ich muß mich an meinen Flugplan halten.« Das Wesen machte eine Pause, als hoffe es auf eine Antwort, aber der Mann schwieg. »Meine Patrouille führt über dieses Sonnensystem hinaus«, erläuterte es, »und du mußt eben mitfliegen. Ich komme in ungefähr zwei Jahren zurück. Dann setze ich dich wieder ab. Bis dahin bist du hier gut aufgehoben.« Der Mann, der nicht verstand, was es sagte, hörte miß40
trauisch zu. Er hatte plötzlich das Gefühl, hinter ihm stehe jemand. Er drehte sich ruckartig um, aber dort war niemand. »Ich bin allein an Bord«, sagte das Wesen, das diese Bewegung richtig gedeutet hatte. »Ich muß jetzt den Kurs überprüfen. Wenn du willst, kannst du mitkommen.« Es glitt von der Liege und bewegte sich auf allen vieren zur Tür. Der Mann trat zur Seite, als das Wesen in seine Nähe kam. Dann folgte er ihm wachsam mit schußbereiter Waffe. »Tut mir leid, daß du meinetwegen Unannehmlichkeiten hast«, entschuldigte sich das Wesen, während sie sich durch silberne Korridore bewegten. »Ich dachte, die Gegend, in der ich meine Atmosphäretanks aufgeladen habe, sei unbewohnt. Ich bin schon mehrmals auf eurem Planeten gewesen, aber soviel ich weiß, ist mein Schiff nie gesehen worden.« »Du machst mir Angst, verdammt noch mal!« sagte der Mann laut. »Eine komische Bewegung, dann knalle ich dich ab!« »Ah, du kannst also doch sprechen«, stellte das Wesen zufrieden fest. »Ich muß deine Stimme zu Studienzwecken aufnehmen. Vielleicht können wir uns sogar verständigen, bevor ich dich wieder absetze.« »Dein Kopf wäre keine schlechte Trophäe«, murmelte der Mann vor sich hin. »Allerdings würde mir das niemand glauben. Alle würden behaupten, der Präparator habe sich einen Scherz erlaubt.« »Das hier ist der Kontrollraum«, erklärte ihm das Wesen. Es hatte eine bisher unsichtbare Tür geöffnet. Der Mann folgte ihm vorsichtig in den Raum. 41
»Sieht wie das Cockpit oder die Kommandobrücke aus«, stellte er fest. »Wenn ich die Bestie abmurkse, kann ich vielleicht lernen, wie man das Schiff steuert.« »Alles in Ordnung«, sagte das Wesen, nachdem es eine Silberpyramide studiert hatte. »Möchtest du sehen, wo wir sind?« Es berührte die Pyramide und bewirkte dadurch, daß eine Wand des Kontrollraums durchsichtig wurde. Vor dem sternenübersäten Hintergrund des Universums waren der Mond und die blaue Erde zu erkennen. Der Mann holte unwillkürlich tief Luft. Jetzt glaubte er zum erstenmal wirklich, daß das Schiff gestartet war. »Ein hübscher Anblick«, bestätigte das Wesen. »Euer Planet gehört zu den schönsten. Wir werden ihn eines Tages erforschen, wenn wir die Zeit dafür erübrigen können. Dazu wäre es nützlich, eure Sprache zu beherrschen. Aber damit befassen wir uns am besten später. In der Zwischenzeit muß ich mich um dein leibliches Wohl kümmern. Du ißt doch wahrscheinlich?« Das Wesen ließ die Wand zum Bedauern des Mannes wieder undurchsichtig werden. Dann stellte es einen der Silberkästen neben eine Liege, bedeutete dem Mann, er solle Platz nehmen, und bot ihm den Schlauch an. Der Mann setzte sich, betrachtete Kasten und Schlauch mißtrauisch und klopfte mit dem Mundstück gegen seine Handfläche, um zu sehen, was herauskommen würde. Als nichts kam, steckte er den Schlauch vorsichtig in den Mund. Im nächsten Augenblick floß ein lauwarmer dünner Brei aus dem Schlauch, und der Mann riß ihn sich sofort von den Lippen. Der Brei besaß keinerlei Eigengeschmack, aber selbst diese Kostprobe vermittelte dem Mann ein bisher unbekanntes Wohlbehagen. Er streckte sich auf der Liege aus 42
und nahm den Schlauch wieder in den Mund. Wenig später ließ er sein Gewehr zu Boden gleiten. Nach einiger Zeit schlief er ein. Als er aufwachte, öffnete er nicht gleich die Augen. Er wußte, wo er war, aber er hatte keine Angst. Er wurde spürbar gut versorgt und erwartete keine Schwierigkeiten mit dem Wesen, das intelligent und freundlich zu sein schien. Natürlich war seine Rückkehr zur Erde ein gewisses Problem, aber das hatte Zeit bis später. Als Junggeselle hatte er nur wenige Verpflichtungen – und dies war ein größeres Abenteuer als die Jagd. Er erinnerte sich daran, daß er nicht so ruhig gewesen war, bevor er den Brei aus dem silbernen Kasten zu sich genommen hatte. Dieser Gedanke beunruhigte ihn. War er etwa betäubt worden? Er öffnete die Augen. Sein kopfloser Körper lag auf einem Tisch an der entgegengesetzten Wand. Während er ihn entsetzt und hilflos anstarrte, wurde er flach und breit, als laste ein ungeheures Gewicht auf ihm. Der Körper wurde durchsichtig, so daß der Mann die Knochen und Organe unter der Haut erkennen konnte. Aber er fühlte dabei keinen Schmerz. Sein Kopf schien auf dem abgetrennten Hals zu sitzen, und er konnte nur noch die Augen bewegen. Dann kam das Wesen herein. Es achtete nicht auf den Kopf, sondern trat sofort an den Tisch, auf dem der flachgedrückte durchsichtige Körper lag. Es betrachtete ihn mit großem Interesse und berührte ihn an einigen Stellen, ohne daß der Mann dabei etwas empfand. 43
Aber er war empört und entsetzt. In seinen Augen, die fünf Meter von seinem entstellten Körper entfernt waren, hatte sich das Wesen in ein Ungeheuer verwandelt. Das war also der Dank für sein Vertrauen! Das Wesen drehte sich um und sah, daß er die Augen offen hatte. »Du bist wach!« rief er besorgt aus. »Oh, das tut mir aber leid!« Der Mann hatte den Eindruck, dem Wesen stehe sadistische Freude ins Gesicht geschrieben. »Du kennst dieses Gerät doch hoffentlich?« fuhr das Wesen fort. »Sonst muß das alles ein großer Schock für dich sein.« Es sah zu dem Körper hinüber. »Ja, das Herz schlägt schneller, und die Atmung ist beschleunigt. Oh, das tut mir leid!« Der Mann glaubte, den rituellen Singsang eines Wilden zu hören, der sich an den Qualen seines Opfers weidete. »Wir müssen dich wieder zusammensetzen«, entschied das Wesen. »Ich weiß, daß du glaubst, dein Kopf sei vom Rumpf getrennt und der Körper flachgedrückt, aber das ist alles eine optische Täuschung. Das ist unser Diagnostikon – ein harmloses Gerät. Ich bin leider kein Fachmann, sonst könnte ich dir alles besser erklären. Aber du verstehst mich allerdings auch gar nicht.« Das Wesen trat an ein Kontrollpult und drückte auf mehrere Knöpfe. Der Mann war im nächsten Augenblick wieder ganz. Er setzte sich rasch auf. Seine Kleidungsstücke waren auf einer Liege ausgebreitet, sein Gewehr lag daneben. Er überlegte nicht lange, warum er wieder ganz war. Er sprang vom Tisch, griff nach seinem Gewehr und 44
schoß aus nächster Nähe auf das Wesen. Die Kugel verfehlte ihr Ziel nur knapp. »Bitte«, sagte das Wesen. »Ich habe dir nichts getan.« Der zweite Schuß streifte die Schulter des Wesens. »Aber ich kann mich wehren«, warnte es den Mann. »An dir liegt mir nicht viel. Lebewesen wie dich gibt es zu Millionen.« Es tastete nach einem Knopf an seinem Gürtel. Dann fiel der dritte Schuß. Das Wesen drückte gleichzeitig auf den Knopf, und der Mann wurde von einem glitzernden Energiestrahl zerlegt. Das Wesen zuckte mit den Schultern, kehrte die Stücke zusammen und warf sie in einen Abfallwürfel. Der Autofahrer erreichte den Parkplatz in der Nähe des Bahnhofs. Die Wespe war wieder auf dem Instrumentenbrett. Der Mann parkte den Wagen. Er nahm den Gang heraus, ließ das Kupplungspedal zurück, zog die Handbremse an, nahm den rechten Fuß vom Bremspedal und schaltete die Zündung aus. Diese plötzlichen automatischen Bewegungen schienen die Wespe zu erschrecken. Sie summte wieder laut und flog auf den Mann zu. Er wich ihr aus. »Hör zu, Wespe«, sagte er halb spaßhaft, halb erschrocken. »Das brauche ich mir von dir nicht bieten zu lassen. Benimm dich anständig, dann passiert niemandem was.« Die Wespe flog durch den Wagen und kam wieder auf den Mann zu. 45
»Verdammt noch mal!« rief er wütend aus und schützte sein Gesicht mit seiner Aktentasche. Das zornige Summen wurde lauter. Der Mann sah seine Chance, und die Wespe wurde von der Aktentasche zerquetscht. Er faßte das tote Insekt an einem Flügel und warf es aus dem Fenster.
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Wie man ein Mensch wird
Des Guten zuviel Benton war nicht leicht zu verblüffen, aber er wußte trotzdem nicht, was er von der jungen Frau mit Oberweite 110 halten sollte. Sie wirkte dadurch toplastig, weil sie nur einssechzig groß war und knabenhaft schlanke Hüften hatte. Sie stand unten in der Eingangshalle, als er abends seinen Briefkasten aufschloß. Er hatte sie noch nie gesehen. Er hatte noch nie jemanden wie sie gesehen. Sie lächelte ihn an, deshalb lächelte er zurück. Warum auch nicht? Ihre blauen Augen und ihr langes blondes Haar gefielen ihm. »Hallo«, sagte er versuchsweise. »Sie müssen die neue Mieterin in Vier A sein.« »Ja«, antwortete sie mit strahlendem Lächeln. »Wohnen Sie auch hier?« Blaue Augen leuchteten einladend. »Nun, ich bin jedenfalls nicht der Postbote«, stellte Benton grinsend fest. »Ich wohne in Drei B«, fügte er berechnend hinzu. »Nur ein kleines Junggesellenapartment. Möchten Sie’s sich ansehen?« Benton hatte eine höfliche Ablehnung erwartet. Statt dessen sagte sie: »Ja, gern.« Am Lift hing seit einer Woche ein Schild ›Zeitweilig außer Betrieb‹, und als die Kleine vor Benton her die Treppe hinaufging, konnte er ihr langes Haar, den engen, blauen Pullover, den schwarzen Rock, die Kniestrümpfe und die winzigen, schwarzen Schuhe bewundern. 47
Aber er wünschte sich, sie hätte seine Einladung nicht ganz so bereitwillig akzeptiert. Natürlich machte man in solchen Fällen einen Vorstoß, aber es brachte einen aus dem Gleichgewicht, wenn er sofort Erfolg hatte. Zuerst war noch das übliche Katz-und-Maus-Spiel fällig. Und dann dachte er: Wer ist die Katze und wer die Maus? Er wußte nicht, welches Spiel sie trieb. Vielleicht würde sie sogar versuchen, ihn zu erpressen, falls er sich schlecht benahm. Nun, er würde versuchen, sich zu beherrschen. Daß die Kleine Oberweite 110 hatte, war eher verwunderlich als attraktiv. Es war einfach des Guten zuviel. Sie betrat lächelnd das Apartment und ließ sich in einen Sessel fallen. Ihr Rock rutschte hoch und gab den Blick auf sonnengebräunte Schenkel frei. »Ich heiße Benton«, sagte er und schloß die Tür. »Ed Benton. Darf ich Ihnen einen Drink anbieten?« Sie nickte lächelnd. Ihre Lippen waren rosenrot, die Zähne weiß und ebenmäßig. Sie war sehr hübsch – nur etwas unproportioniert. Er mixte zwei Drinks und gab ihr das erste Glas. »Bitte schön, Miss … äh … Wie heißen Sie überhaupt?« »Wie ich heiße?« wiederholte sie. »Welcher Name würde Ihnen denn gefallen?« »Welcher mir gefallen würde?« murmelte er. »Hmmm, ich weiß nicht recht. Vielleicht Marilyn, obwohl sie nicht so hübsch wie Sie war.« Er trank einen großen Schluck. Er war verwirrt. »Gut, dann bin ich Marilyn«, stimmte sie zu. Sie hörte lange genug zu lächeln auf, um zu trinken, und lächelte dann weiter. 48
Er hatte neben ihrem Sessel gestanden. Jetzt beugte er sich zu ihr hinunter und küßte sie. Das war ein Impuls, dem er nicht widerstehen konnte. Ihre Lippen waren weich unter seinen. Ein sehr befriedigender Kuß. Dann richtete er sich auf, sagte »Na!« und starrte in sein Glas. Er leerte es ganz und mixte sich den nächsten Drink. Sie hatte erst einen Schluck getrunken. »Hör zu, Kleine«, begann er zögernd, »was soll das alles? Wer bist du? Nett vor dir, daß du vorbeigekommen bist, aber wieso gerade bei mir?« »Ich bin Marilyn. Ich bin eine … eine Nachbarin. Ich wollte nur einen Besuch machen. War das falsch?« »Nein, nein«, versicherte er ihr hastig. »Keineswegs, Marilyn, aber …« Er versuchte herauszubekommen, was anders als sonst gewesen war. Dann wußte er es plötzlich. Kein Geschmack, kein Duft! Ihr Lippenstift schmeckte nach nichts, und ihre Haare dufteten nicht. Und jetzt sah er auch, daß ihre Lippen so perfekt rosenrot und unverschmiert wie zuvor waren. Er fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund, ohne Lippenstiftspuren daran zu entdecken. Natürlich gab es angeblich kußfeste Lippenstifte, aber in Wirklichkeit färbten alle ab. Man hätte glauben können, ihre Lippen seien dauerhaft rot eingefärbt. Marilyn stand auf, als wolle sie gehen, und blieb mit dem rechten Absatz an der Teppichkante hängen. Benton wollte sie warnen, aber seine Warnung kam zu spät. Als sie rückwärts ging, verlor sie das Gleichgewicht und glitt zu Boden. Dabei rutschte ihr Rock ganz hoch. Benton starrte sie fasziniert an. Mit der Faszination ei49
nes Wissenschaftlers, denn Marilyns Unterleib bestand offensichtlich aus Nylon. Sie trug keine faltenlos anliegende Strumpfhose … nein, sie war selbst aus Nylon. Und ihr Körper war dort nicht deutlicher ausgebildet als der einer Puppe. Marilyn, das Mädchen mit Oberweite 110 und dem Nylonkörper, betrachtete sich in Vier A in dem großen Spiegel im Schlafzimmer. Ein perfektes Bild, wenn sie es mit dem Farbfoto des Filmstars verglich, der als ihr Vorbild gedient hatte. Mehr als perfekt. Aber Benton war nach vielversprechendem Anfang eher unfreundlich gewesen. Er hatte auf seine Uhr gesehen, die Stirn gerunzelt und sie praktisch aus seiner Wohnung geschoben, nachdem sie auf dem Teppich ausgerutscht war. (An die Schwerkraft der Erde mußte man sich erst gewöhnen.) Sie glaubte nicht, daß er einen Termin hatte. Er hatte sie nur loswerden wollen. Das verstand sie nicht. Sie war bereit gewesen, ihm zu geben, was er wollte. Sie drückte auf einen Knopf an ihrer Brust und meldete: »Späher R Dreiundzwanzig. Auftrag fehlgeschlagen. Näheres folgt.« Joe Hennessy hätte daran denken sollen. Er war mit den Jungs aus dem Büro kegeln gewesen und hatte natürlich auch ein paar Bier getrunken. Er hatte vorsichtshalber fünfzehn Cent für die U-Bahn in eine andere Tasche gesteckt. Aber jetzt stand er am Zugang und merkte, daß er nicht genug Geld hatte. Der Fahrpreis war vor kurzem auf zwanzig Cent erhöht worden, so daß ihm ein Nickel 50
fehlte. Das wußte er natürlich, aber er hatte es ganz vergessen. Joe Hennessy vermutete, daß fast jeder der vorbeihastenden Fahrgäste ihm einen Nickel gegeben hätte. Aber er brachte es nicht über sich, jemanden darum zu bitten. Er kam sonst immer selbst zurecht und mochte nicht auf andere angewiesen sein. Als er noch unschlüssig in der Nähe der Sperre herumstand, erschien der große Unbekannte mit dem perlgrauen Hut. »Hallo«, sagte der Fremde. Er schien in Hennessys Alter zu sein – Mitte Zwanzig. »Kann ich Ihnen helfen, Freund?« »Oh, hallo.« Hennessy ließ sich nicht gern von Unbekannten ansprechen. Er hatte Angst, sie würden Geld oder gar eine Auskunft verlangen. »Nun, vielleicht können Sie das wirklich«, fügte er hinzu. »Ich brauche einen Nickel für die U-Bahn.« Er wollte seine Notlage erläutern, aber der Fremde lächelte nur und hob abwehrend die Hand. »Danke, ich verstehe. Ich freue mich, Ihnen helfen zu können. Hier.« Mit diesen Worten zog er ein Bündel druckfrischer Geldscheine aus der Tasche und wollte Hennessy einen davon geben. »Oh, ich brauche keinen Dollar«, wehrte Hennessy ab. »Nur einen Nickel. Wissen Sie, ich …« Dann sah er, was für einen Schein ihm der Unbekannte hinhielt: 500 Dollar! Hennessy merkte, daß er mit offenem Mund dastand. Der Fremde lächelte geduldig, hatte ein dickes Bündel Fünfhundertdollarscheine in der Hand und wartete darauf, daß Hennessy das Geld nahm. »Hören Sie«, sagte Hennessy mit zitternder Stimme, 51
»ich weiß nicht, was das soll. Ich brauche nur einen Nickel für die U-Bahn. Nur einen Nickel. Ich …« Plötzlich konnte er das alles nicht mehr ertragen. Das Lächeln des Fremden und das Vermögen, das der andere so nachlässig in der Hand hielt, erschienen ihm böse. Hennessy wandte sich abrupt ab und ergriff die Flucht. Der Mann mit dem perlgrauen Hut saß in seinem Zimmer am Schreibtisch und betrachtete die vor ihm aufgestapelten Geldscheine. »Warum ist er weggelaufen?« fragte er sich. »Ich wollte ihm nur helfen. Er hat Geld gebraucht, und ich habe ihm welches angeboten.« Er griff nach einem Geldschein und verglich ihn mit dem anderen, den er aus seiner Westentasche geholt hatte. »Ich dachte, sie seien perfekt«, murmelte er vor sich hin. »Aber sie scheinen irgendwie nicht in Ordnung zu sein.« Er seufzte, raffte die 500 Millionen Dollar zusammen und schob sie in den Kamin. Die Scheine brannten mit lebhafter Flamme. Er richtete sich auf und drückte einen Knopf an seiner Brust. »Späher R Siebenundsechzig. Auftrag fehlgeschlagen. Näheres folgt.« Der Politiker war stolz darauf, für jedermann zu sprechen zu sein. Darauf legte er besonders großen Wert, wenn er gerade kein öffentliches Amt bekleidete. Deshalb war er auch gern bereit, Mr. Bang zu empfangen. »Stimmt der Name?« fragte er seine Sekretärin über die Gegensprechanlage. »Bang?« »Ja, Sir«, antwortete sie. »Ein Mr. Bang.« 52
»Gut, schicken Sie ihn herein.« Mr. Bang kam herein, schüttelte dem Politiker die Hand und setzte sich in den angebotenen Sessel. »Ich habe gehört, daß Sie gern Gouverneur wären«, sagte er ohne weitere Einleitung. »Hmmm, wissen Sie«, meinte der Politiker verlegen, »ich würde eher sagen, mein lieber Mr. Bang, daß es mein Bestreben ist, den Bürgern unseres großen Staates auf jedem Posten zu dienen, auf den sie mich stellen.« »Ja, natürlich«, stimmte Bang zu. »Aber Sie wären nicht unglücklich, wenn dieser Posten zufällig der des Gouverneurs wäre. Habe ich recht?« »Mr. Bang«, antwortete der Politiker, »ich kenne Sie nicht, aber ich bewundere Ihren politischen Scharfblick. Darf ich Ihnen eine Zigarre und einen Drink anbieten, während wir dieses Thema besprechen?« Mr. Bang, ein beleibter Mittvierziger, nahm Zigarre und Drink dankend entgegen, bevor er sagte: »Ich kann Sie zum Gouverneur machen.« »Ihnen ist wohl klar, daß die andere Partei an der Macht ist, daß der jetzige Gouverneur keine Rücktrittsabsichten hat und daß die nächsten Wahlen erst in zwei Jahren stattfinden sollen?« »Kleinigkeiten«, meinte Mr. Bang wegwerfend. »Wer würde Nachfolger des Gouverneurs, wenn Seine Exzellenz morgen sterben würde?« »Natürlich sein Stellvertreter.« »Ganz recht. Aber nehmen wir einmal an, sein Stellvertreter wäre amtsmüde und würde lieber zurücktreten als selbst Gouverneur werden. Wären dann nicht Neuwahlen fällig?« »Ah, Sie haben recht«, gab der Politiker zu. »Und diese 53
Neuwahlen würde ich spielend gewinnen, weil die andere Seite keinen geeigneten Kandidaten hat.« Sein Lächeln verschwand; er runzelte die Stirn. »Aber der Gouverneur ist kerngesund, Mr. Bang. Wahrscheinlich hat er noch zwei, drei Jahrzehnte zu leben.« »Wenn Sie wollen, stirbt er morgen«, versicherte Bang ihm. »Das kann ich für Sie arrangieren.« »Sir!« rief der Politiker ehrlich entsetzt aus. »Das Ganze wird wie ein Herzschlag aussehen, so daß nicht der geringste Verdacht auf Sie fallen kann.« Der Politiker zitterte vor würdevoller Empörung, als er aufstand. »Hinaus, Sir!« forderte er den Besucher auf. »Verlassen Sie augenblicklich mein Büro, Mr. Bang oder wie Sie sonst heißen. Und richten Sie Ihrem Freund, dem Gouverneur, von mir aus, daß ich nicht auf seinen schäbigen Trick hereingefallen bin! Sollte er jemals wagen, auch nur andeutungsweise davon zu sprechen, ruiniere ich ihn, indem ich überall die Wahrheit erzähle. Hinaus mit Ihnen, Sir!« Mr. Bang legte die Zigarre weg, erhob sich und verließ das Büro sichtlich verwirrt. Der rundliche Mr. Bang überlegte sich später, daß sein Mißerfolg bei dem Politiker auf einen Mangel an Informationen zurückzuführen sein mußte. Diese Leute, die keine Skrupel zu haben schienen, besaßen offenbar in ihrem Innersten ein stark entwickeltes Moralgefühl, das unberechenbare Reaktionen verursachte. Mr. Bang schaltete seinen Kommunikator ein. »Späher R Neun. Auftrag fehlgeschlagen. Näheres folgt.«
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Sie hatten sich in einer Bar kennengelernt – die schwarzhaarige Schönheit in dem Goldlamekleid und der Gentleman mit den grauen Schläfen – und waren jetzt in seinem Penthouse, wo sie fünfundzwanzig Jahre alten Scotch tranken. »Ich habe noch keinen Mann wie dich gekannt«, sagte die junge Frau mit schmachtendem Blick. »So distinguiert, so geistreich, so …« »Nein, nein, bitte nicht!« protestierte er lächelnd. »Ich müßte doch die Komplimente machen. Aber Komplimente sind eigentlich wertlos – im Gegensatz zu dem hier.« Mit diesen Worten überreichte er ihr eine herrliche Perlenkette. Die Schwarzhaarige legte die Perlen begeistert an, nahm sie dann aber wieder ab und sagte: »Obwohl sie mir teuer sind, weil sie von dir kommen, sind sie doch nur materielle Dinge. Es gibt Wichtigeres.« Sie trat vor ihn hin. »Ich kann dir nicht länger widerstehen. Nimm mich, ich bin dein!« Er legte seinen Arm um ihre Taille. Aber dann zog er sie wider Erwarten nicht an sich. »Hier stimmt irgend etwas nicht«, meinte er unsicher. »Kennen wir uns nicht von früher her?« »Richtig, das vermute ich auch«, antwortete sie. »Ja, natürlich!« rief er aus. »Wir kennen uns aus der Fabrik. Und dieser hübsche Leberfleck ist dein Kommunikationsschalter. Du bist …« »Späher R Vierundachtzig«, sagte sie lachend. »Wieder ein Fehlschlag. Und du?« »R Zweihundertsechs«, erwiderte der Gentleman. »Beschämend, nicht wahr?«
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Der Koordinator vom Dienst las mißmutig die eingegangenen Meldungen – besonders die letzte, die besagte, daß die Späher 84 und 206 keine III-Solianer erreicht, sondern versucht hatten, sich gegenseitig zu beschenken. ›Projekt Freundschaft‹ lautete die euphemistische offizielle Bezeichnung. Die Koordinatoren hatten einen anderen Slogan dafür erfunden: Erst geben, dann nehmen. Aber bisher war es ihnen noch nicht gelungen, etwas zu verschenken. Das würde dem Chef bestimmt nicht gefallen. Er hatte sein Leben lang die Bewohner von IIISol studiert – die ›Menschen‹, die so zahlreich waren, daß ihre Gesellschaft nicht von außen besiegt, sondern nur von innen unterwandert werden konnte. Der Chef hatte nachgewiesen, daß die Menschen von drei Dingen motiviert wurden: Sex, Geld und Macht. Deshalb war es nur logisch erschienen, diese drei Faktoren auszunützen, um ihre Freundschaft zu gewinnen. Sobald das geglückt war, mußte es ein leichtes sein, den Planeten zu erobern. Aber das hatte nicht geklappt. Die großer Zweibeiner von III-Sol reagierten anders als erwartet. Sie waren mißtrauisch – und zeigten oft erstaunliches Ehrgefühl. Der Koordinator wußte, daß dieser Fehlschlag dem Chef anzulasten war, denn er weigerte sich, aus Erfahrungen zu lernen. Er ließ sich von niemandem etwas sagen. Er hatte diesen Plan vor einem Jahrhundert ausgearbeitet, er hatte ihn dem Meister zur Genehmigung vorgelegt; er hatte sich seitdem stur daran gehalten. Er hatte nicht einmal die Roboter geändert, als die Koordinatoren ihn auf ihre Fehlerquellen aufmerksam gemacht hatten. Der Koordinator seufzte. Mit seinem jetzigen Wissen konnte er vielleicht mehr erreichen als der Chef mit sei56
ner Sturheit. Davon war er überzeugt. Warum sollte er’s nicht riskieren? Er seufzte nicht mehr, sondern überprüfte statt dessen seinen Strahler. Als der Chef hereinkam, um sich Meldung erstatten zu lassen, erledigte der Koordinator ihn mit einem Schuß aus der Hüfte. Dabei erinnerte er sich an einen auf III-Sol gebräuchlichen Ausdruck. »Der Chef ist tot, es lebe der Chef!« rief er, als der alte Chef sich in Moleküle auflöste. Der neue Chef aktivierte sämtliche Sprechkreise und gab durch, daß er seinen Vorgänger abgelöst habe. Dann schaltete er den Kommunikator nach III-Sol ein. »Achtung, an alle Späher!« befahl er. »Achtung, an alle Späher! Folgende Veränderungen sind sofort vorzunehmen: Feminoiden reduzieren Brustumfang um zwanzig Zentimeter, um realistischer zu wirken. Weitere Veränderung werden bei nächster Wartung vorgenommen. Maskulinoiden geben …« Marilyn, auch als Späher R 23 bekannt und jetzt eine attraktive, aber keineswegs aufsehenerregende Größe 36, fühlte sich wie eine neue Frau, als sie vom Wartungsdienst kam. Tatsächlich fühlte sie sich zum erstenmal als Frau. Sie freute sich, als zwei Matrosen hinter ihr herpfiffen. Aber sie drehte sich nicht nach ihnen um oder lief gar hinter ihnen her, wie sie es früher getan hätte. Statt dessen betrat sie ein Kaufhaus, um sich ein gutes Parfüm zu kaufen. Als sie das Gebäude verließ, las sie einen geeigneten Familiennamen auf der Tür. 57
Sie hieß jetzt Marilyn Macy. Ein halbes Jahr später hatte sie einen Mann und einen anderen Nachnamen. Vor allem in den ersten Ehejahren hörte sie gelegentlich vages Gemurmel dicht neben ihrem Ohr. Es klang irgendwie verzweifelt, und wenn sie genau hinhörte, verstand sie sogar die Worte. »Achtung, an alle Späher! Unbedingt, ich wiederhole, unbedingt jetzige Tätigkeit melden. Verstöße gegen diese Pflicht werden gemäß Artikel vier des Robotergesetzes mit …« Aber die Stimme wurde immer leiser und verstummte eines Tages ganz. Der Exroboter mit dem perlgrauen Hut kaufte sich einen eleganten Homburg und die entsprechende Garderobe. Er forderte weitere 500 Millionen Dollar an, versuchte aber diesmal nicht, sie zu verschenken. Er nannte sich Van Renssalaer Whitney, erklärte dem Yachtmakler, er sei ein entfernter Verwandter der Whitneys, heuerte eine Besatzung für seine Yacht an und fuhr um Kap Horn nach Mexiko. Mr. V. R. Whitney lebt jetzt äußerst behaglich in Acapulco. Er hört noch immer gelegentlich Stimmen, aber er hat vergessen, was sie bedeuten. Er geht alle zwei Wochen zu einem guten Psychiater, der offen zugibt, es auch nicht zu wissen, und das Gefühl hat, Mr. Whitney habe sie recht gut kompensiert. In einem Penthouse führen ein distinguierter Gentleman und eine schwarzhaarige Schönheit ein glückliches, völlig nutzloses Leben. Wenn die Stimmen wieder anfangen, legen sie eine 58
Schallplatte auf, stellen die Stereoanlage laut und trinken fünfundzwanzig Jahre alten Whisky. Mr. Bang verwandelte sich erstaunlich rasch in Congressman Banghart J. Carew. Er hat einen sicheren Wahlkreis und begründete Hoffnung, in nicht allzu langer Zeit Senator zu werden. Er will nicht selbst Gouverneur werden, aber es gibt einen vielversprechenden jungen Staatsanwalt, den er als seinen Schützling betrachtet und der bestimmt der richtige Mann für dieses hohe Amt wäre. Der Congressman ist in Washington beliebt und angesehen, obwohl er eine Marotte hat: Er wettert bei jeder Gelegenheit gegen größere Einwandererquoten und würde am liebsten gar keine Einwanderung mehr zulassen. Die liberalen Gruppen, die ihn unterstützen, können diesen einen Makel eines ansonsten brillanten und aufrechten Politikers nicht verstehen.
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Vermeide Zeitreisen
Auszeit für morgen Darius Dale klopfte am Vorstandstisch gegen sein leeres Highballglas, um sich im Omega-Klub Gehör zu verschaffen. Das gelang ihm nicht gleich, denn viele Mitglieder und Gäste waren an der Bar, um neue Drinks zu holen. Der Omega-Klub gab seine Weihnachtsparty, und Darius, der Leiter des Unterhaltungskomitees, hatte wie üblich Schwierigkeiten damit, die Leute dazu zu bringen, sich hinzusetzen und zuzuhören. Jeder andere vernünftige Wissenschaftler, der Besuch aus der Zukunft bekommen hatte, wäre vermutlich nicht auf die Idee gekommen, seinen Besucher als Kabarettisten auftreten zu lassen. Aber Darius war trotz seiner vierunddreißig Jahre noch immer nicht ganz erwachsen, und der Omega-Klub, diese amorphe Ansammlung von SF-Autoren, Verlegern, Grafikern, Agenten und schlichten Lesern, war sein Lieblingskind. Diesmal war Darius vor Weihnachten damit beschäftigt gewesen, die beiden letzten Kapitel einer Magazinserie neu zu schreiben, und hatte nichts für die Party vorbereiten können. Der Roman behandelte zufällig eine Zeitreise. Als dann ein echter Zeitreisender bei ihm im Arbeitszimmer aufgetaucht war, hatte der geistesgegenwärtige Darius rasch erfaßt, auf welchen Gebieten ihm der Besucher nützlich sein konnte.
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Nach der dritten Aufforderung nahmen Mitglieder und Gäste allmählich ihre Plätze ein. Der letzte, der von der Bar zurückkam, war James Overholt Edison, der SF-Redakteur, dessen Beiträge mit ›-joe‹ gezeichnet waren, während seine Leser ihn als den Alten Overholt kannten. Er war höchstens fünfunddreißig und im allgemeinen nüchtern. »Tut mir leid, aber ich habe nicht mitbekommen, was du eben erzählt hast, Darius«, sagte Edison freundlich. »Könntest du mir die Story mit der alten Jungfer und dem Marsianer noch mal erzählen?« »Gern, Joe«, antwortete Darius grinsend. »Ich liefere sie nächste Woche bei dir ab – gegen die üblichen fünf Cent pro Wort.« »Die Schlußkapitel der Zeitreiseserie wären mir lieber«, erklärte Edison ihm. »Der Drucker bekommt allmählich Magengeschwüre. Und ich habe längst welche.« »Wenn hier übers Geschäft gesprochen wird«, warf Walter Crown, der Agent, ein, »will ich meine zehn Prozent.« »Meinen rechten Arm hast du schon, Walter«, behauptete Darius. »Was willst du also noch?« »So viel, daß er die nächste Rate für seinen Cadillac bezahlen kann«, sagte Edison trocken. »Es ist nur ein Buick«, protestierte Walter Crown. »Ja, ja, schon gut!« rief Darius Dale aus und klopfte wieder an sein Glas. »Ich bitte um Ruhe, damit ich die Attraktion des Abends vorstellen kann. Eine Attraktion, meine Damen und Herren, die zu Ihrer Unterhaltung mit großer Mühe und vielen Kosten herbeigeschafft worden ist.« »Wie hoch waren die Kosten?« erkundigte sich Jennie Rhine, die hübsche Generalsekretärin des Klubs. 61
»Ruhe!« verlangte Darius. »Lächerliche fünfzig Dollar, Jennie. Das sage ich auf die Gefahr hin, unseren Gast in Verlegenheit zu bringen, weil er …« »Fünfzig Dollar!« kreischte Jennie theatralisch. Sie schüttelte ihre schwarzen Locken. »Dabei habe ich gerade gehofft, wir hätten endlich kein Minus mehr in der Kasse.« »Ruhe!« wiederholte Darius. »Wir wollen den guten Namen unseres Klubs doch nicht in diese finanzielle Gosse ziehen! Zu den Gästen, die uns heute abend die Ehre geben«, fuhr er fort und warf einen suchenden Blick durch seine Hornbrille, »gehören auch ein ›Time‹Fotograf und einer der intelligenteren jungen Männer von ›The New Yorker‹.« »Gut gebrüllt, Löwe«, sagte ein durstiges Mitglied auf dem Weg zur Bar. »Danke, George«, antwortete Darius ungerührt. »Bringst du mir einen Scotch mit?« George Granger, der Romanautor, nickte zustimmend und verschwand in Richtung Bar. »Los, wir möchten etwas sehen, Darius«, forderte Edison ihn auf und begann rhythmisch zu klatschen. Die anderen schlossen sich ihm an, um ihre Ungeduld zu zeigen. Ein kleiner dicker Mann stand auf und rief: »Bitte!«, bis das Klatschen aufhörte. »Nicht gerade jetzt, Zorry«, wehrte Darius erschrocken ab. »Doch, ich bitte ums Wort«, sagte Zoroaster Ramm, der Kritiker und Anthologist. »Ich fühle mich verpflichtet, unseren neuen Freunden die wahren Ziele des Omega-Klubs zu erläutern, damit sie nicht mit dem falschen Eindruck nach Hause gehen, Science-fiction werde von 62
Spinnern für Spinner geschrieben. Selbst auf die Gefahr hin, Sie zu langweilen …« »Hört! Hört!« rief eine Stimme hinter ihm. »… möchte ich feststellen«, fuhr Zoroaster Ramm unbeirrt fort, »daß Science-fiction eine ernstzunehmende Literaturform ist: ein Finger, der in die Zukunft weist; der erste zögernde Schritt in …« »Vielen Dank, Zorry«, unterbrach Darius ihn hastig und sah auf seine Uhr, »wir sind alle ganz deiner Meinung. Und nun die Attraktion des Abends, die nicht der in die Zukunft weisende Finger ist, wie Mr. Ramm es so treffend ausgedrückt hat, sondern der Finger aus der Zukunft und alles, was sonst dazugehört … Mr. Zukunft persönlich!« Darius Dale deutete mit großartiger Geste auf den freien Platz vor seinem Tisch, aber nichts geschah. Er sah nochmals auf seine Uhr, zuckte mit den Schultern und fragte: »Kann mir jemand die genaue Zeit sagen?« Er bekam ein Dutzend verschiedene Antworten, in die sich Pfiffe mischten. »Nun, jedenfalls wird Mr. Zukunft um halb elf aus dem Jahr zweitausenddreiunddreißig erscheinen«, stellte er fest. Noch während er sprach, wurde ein Summen hörbar. Neben dem Tisch erschienen die leuchtenden Umrisse einer Gestalt, die im nächsten Augenblick zu einem Mann wurde: einem großgewachsenen Schwarzhaarigen, der über einem silbrigen Trikot einen weiten Umhang trug. Er sah auch gut aus, stellte Jennie Rhine fest, und war nicht zu jung. Mr. Zukunfts Umhang hörte als letztes zu leuchten auf, und das helle Summen war noch etwas länger zu hören, bis es endlich verklang.
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Der rauschende Beifall übertraf Darius Dales Erwartungen. Die anderen hielten das Ganze natürlich für einen Trick – aber wenigstens für einen sehr guten. Der Mann in dem Umhang sah sich nach Darius um und sagte: »Hallo, Papa.« »Ich bin nicht dein Vater, Dare«, stellte Darius fest. »Ich bin dein Urgroßvater.« »Ich weiß«, bestätigte der junge Mann. »Zu lang. Sage Papa.« »Okay«, antwortete Darius. »Meine Damen und Herrn, ich möchte Ihnen Darius Dale den Vierten vorstellen. Er ist am dritten März zweitausendneun geboren und folglich vierundzwanzig Jahre alt. Jetzt ist er aus dem Jahr zweitausenddreiunddreißig zu uns gekommen. Sein Umhang – Sie haben wohl alle das Summen gehört – ist dabei das eigentliche Geheimnis. Ich werde später versuchen, Ihnen die Wirkungsweise zu erklären, aber zuerst wollen Sie vermutlich einige Fragen stellen. Ja, Joe?« James Overholt Edison stand grinsend auf. »›Astonishing Science Fiction‹ ist bereit, fünftausend Dollar für ein Exklusivinterview mit Mr. Zukunft zu bezahlen.« »Notiert«, bestätigte Darius. »Das wäre ein prima Geschäft, wenn Dare daran interessiert wäre. Walter?« »Er braucht einen Agenten«, sagte Walter Crown. »Und da er mit dir verwandt ist, nehme ich ihn ohne Lesegebühr.« »Sehr großzügig«, antwortete Darius. »George?« »Ich spendiere ihm einen Drink, falls er trinkt.« »Danke«, erwiderte Darius Dale IV., bevor sein Urgroßvater sich dazu äußern konnte. »Akzeptiert.« »So eine Zeitreise macht bestimmt Durst«, meinte 64
George Granger. »Kommen Sie mit an die Bar, mein Junge.« »Kann jetzt nicht, Papa.« »Papa soll der Teufel holen!« sagte George. »Wo Sie herkommen, liegt Papa Darius längst unter der Erde.« »Irrtum!« protestierte Darius. »Zweitausenddreiunddreißig bin ich erst vierundneunzig. Das weiß ich von Dare. Und stämmig wie eine Eiche, darf ich hinzufügen.« »Das setzt voraus, daß dies nicht der erste Besuch des jungen Mannes ist«, stellte Jennie Rhine fest. »Wenn wir schon die Leichtgläubigen spielen, kannst du uns die Story gleich von Anfang an erzählen.« Während Darius schilderte, wie Darius IV. den Zeitknick entdeckt und für seine Zwecke auszunützen gelernt hatte, verschwand der junge Mann aus der Zukunft mit George Granger in der Bar. Kurze Zeit später schloß Jennie Rhine sich ihnen an. Dare, der seinen Umhang zusammengelegt über dem Arm trug, lächelte schüchtern und gab dem Barkeeper ein Zeichen, ihr ebenfalls einen Drink hinzustellen. »Ich weiß nicht recht, was ich von unserem jungen Freund halten soll, George«, meinte Jennie zweifelnd. »Ob er wirklich aus der Zukunft kommt? Wie stehst du dazu?« »Ich bin auf Dares Seite«, antwortete er. »Jeder Mann sollte wissen, woher er stammt. Außerdem spricht er anders als wir und hat in vielen Dingen andere Ansichten.« »Aber das sind kaum Beweise«, wandte Jennie ein. »Oh, es gibt noch andere«, stellte George fest. »Er weiß zum Beispiel, welches Pferd nächstes Jahr das Kentucky Derby gewinnen und wie lange es dauern wird, bis 65
die andere Partei wieder den Präsidenten stellt … und so weiter. Finanziell recht lohnend, glaube ich.« »Hmmm.« Jennie runzelte die Stirn. »Aber nichts, was sich sofort nachprüfen ließe, nicht wahr? Und selbst dann könnte er nur gut geraten haben.« »Ganz recht«, bestätigte George, »aber irgendwie überzeugt mich nicht, was Dare sagt, sondern wie er es vorbringt, daß er wirklich aus der Zukunft kommt. Du brauchst dir nur seinen Akzent anzuhören, um …« »Gern«, unterbrach Jennie ihn, »aber solange du redest, bekomme ich ihn nicht zu hören. Am besten setze ich mich mit ihm an einen Tisch, während du wieder hineingehst und Darius durch Zwischenrufe störst. Kommen Sie, Mr. Zukunft, und erzählen Sie mir von meiner Urenkelin.« George begriff, daß er verschwinden sollte, und warnte den jungen Mann noch: »Hüten Sie sich vor unserer Jennie. Ein Gesicht wie ein Engel, aber ein Herz aus Eis.« »Kaum«, antwortete Dare lächelnd. »Das heißt, daß er dir kein Wort davon glaubt!« rief Jennie George nach. Darius erzählte noch immer lebhaft. George suchte sich einen freien Platz und hörte zu. »… und da Sie noch alle an einen Scherz glauben, kann ich Ihnen unbesorgt mitteilen, was mein Urenkel mit seinen fünfzig Dollar Honorar vorhat. Indem er auf ein paar siegreiche Pferde setzt, hat er bald den Grundstock für eine Treuhandstiftung beisammen. Sie können sich wohl alle vorstellen, wie sich ein paar tausend Dollar vermehrt hätten, die jemand vor dem ersten Weltkrieg in General-Motors-Aktien angelegt hätte. Darius der Vierte hat die Börsenberichte der nächsten fünfzig Jahre genau 66
studiert, und ich werde mich natürlich an sein Beispiel halten, wenn er zu investieren beginnt. Auf diese Weise habe ich für den Rest meines Lebens ausgesorgt – aber Dare ist Millionär, sobald er in seine Zeit zurückkommt.« Darius hatte noch mehr zu sagen, aber er merkte, daß seine Zuhörer unruhig wurden. Deshalb schloß er mit der Story von dem Roboter im Mädchenpensionat. Das Publikum klatschte Beifall und strömte dann in die Bar hinaus. Einige Zeit später hatte George Granger sich zu Darius vorgearbeitet. »Das ist wirklich dein Ernst, was?« erkundigte er sich. »Wie kommst du darauf, George?« »Oh, durch dies und das. Aber dann würde ich dir raten, dich um den Jungen zu kümmern. Unsere Jennie hat ihn nämlich an der Angel – und nicht nur, Weil er so hübsch ist.« »Wo sind die beiden?« »Draußen in der Bar an einem Tisch.« Darius machte sich besorgt auf den Weg nach draußen. George blieb ihm auf den Fersen. »An welchem Tisch?« »An dem da«, antwortete George und zeigte auf einen, an dem Zoroaster Ramm auf einen jungen Autor einredete. Der Barkeeper hatte Jennie und den jungen Mann zur Garderobe gehen sehen. Die beiden hatten dort Jennies Mantel abgeholt und sich vom Portier ein Taxi holen lassen. Damit endete die Spur. Darius fuhr mit einem Taxi zu Jennie Rhines Atelierwohnung. Er hatte Glück und kam ins Haus, ohne klingeln zu müssen. Als er die Treppe hinaufstieg, sah er 67
Licht unter der Tür, und als er merkte, daß sie nicht abgesperrt war, stieß er sie auf. Die beiden saßen bei Kerzenschein auf Kissen auf dem Fußboden. Dares Umhang lag ordentlich zusammengefaltet neben ihm. Eine Flasche Wein und zwei Gläser standen wackelig auf dem weißen Hirtenteppich zwischen ihnen. Darius IV. trug seine Verschwörermiene zur Schau, aber Jennie war blaß vor Wut. »Was hast du hier zu suchen?« fauchte sie. »Und seit wann klopft man hierzulande nicht mehr an?« Darius ignorierte sie. »Komm, Dare, wir gehen«, forderte er den jungen Mann auf. Bevor er antworten konnte, sprang Jennie auf, schob Darius zur Tür und flüsterte dabei: »Warum läßt du den Jungen nicht in Ruhe? Er hat seine Rolle doch gut gespielt. Jetzt hat er eine Pause verdient. Schließlich ist Weihnachten!« »Dieses Tête-à-tête gefällt mir nicht«, sagte der ältere Darius. »Warum suchst du dir nicht ein weniger harmloses Opfer, Jennie?« »Dare hat mich gern«, flüsterte sie. »Außerdem hast du kein Recht, dich hier einzumischen. Er ist schließlich volljährig!« »Komm, sei ein gutes Mädchen und schick ihn fort.« »Ich bin kein gutes Mädchen, wie du genau weißt, und denke nicht daran, ihn wegzuschicken. Er … nun, er hat sich in mich verliebt und will mich mitnehmen. Unter seinem Umhang ist Platz für zwei.« »Aha, das ist also der Zweck der Übung?« fragte Darius laut. »Und sein Vermögen reicht wohl auch für zwei? Soviel Geldgier hätte ich dir nicht zugetraut, Jennie.« 68
Im nächsten Augenblick gab sie ihm eine Ohrfeige. Dare stand besorgt auf. »Papa?« fragte er. »Jennie?« Darius drehte sich nach seinem Urenkel um. »Hast du ihr versprochen, sie in deine Zeit mitzunehmen?« fragte er streng. »Ich … ja«, gab Dare zu. »Liebe.« »Liebe! Bist du übergeschnappt? Sie ist mindestens zehn Jahre älter als du. Und man verliebt sich nicht einfach so!« Er schnalzte mit den Fingern. »Doch«, antwortete Dare lächelnd. »Altmodisch.« »Freut mich, daß das geklärt ist«, warf Jennie triumphierend ein. »Läßt du das junge Glück jetzt allein, Papa?« Darius überlegte angestrengt, um dieser Story, die nicht von ihm stammte, doch noch eine überraschende Wendung zu geben. »Gut. meinetwegen«, stimmte er schließlich zu. »Aber zuerst will ich mit meinem Urenkel unter vier Augen reden. Komm, Dare.« Darius IV. hörte zuerst höflich und dann ernsthaft zu und sah dann unglücklich zu Jennie Rhine hinüber, die nervös auf das Ergebnis dieses Gesprächs wartete. Der junge Mann kam mit ausgestreckten Armen auf sie zu. Aber er zog sie nicht an sich, sondern nahm nur ihre Hände und küßte Jennie respektvoll auf die Wange. Dann hob er seinen Umhang auf, ging zur Tür, öffnete sie, seufzte schwer und sagte: »Wiedersehen, Mama.« Dann verschwand er nach draußen. Jennie Rhine war zunächst sprachlos. Erst die ins Schloß fallende Haustür brachte sie wieder zur Besinnung. 69
»Mama!« kreischte sie. »Mama? Was hast du ihm erzählt?« »Daß du eine kleine Affäre mit mir gehabt hast, die nicht ohne Folgen geblieben ist«, antwortete Darius gelassen. »Und daß ich den Jungen aufgezogen habe, weil du dich nie für ihn interessiert hast. Vielleicht habe ich auch noch hinzugefügt, Dare werde mit seiner eigenen Urgroßmutter durchbrennen, falls er dich mitnehme.« Jennie fand endlich die Sprache wieder. »Du dreckiger Lügner!« kreischte sie. »Das hast du ihm also erzählt? Unglaublich! Und er hat dir abgenommen, daß ich … mit dir? Du fetter …« »Natürlich hat er mir das geglaubt«, sagte Darius. »Ich habe langjährige Erfahrung darin, das Unwahrscheinliche glaubhaft darzustellen. Es hat seinen Eifer jedenfalls beträchtlich abgekühlt.« Dare wurde nie mehr gesehen. Darius Dale verschwand einige Tage später, nachdem er Dauergast auf Rennbahnen gewesen war und seine Gewinne in einem Koffer zu einem Börsenmakler in der Wall Street gebracht hatte. Die Polizei stellte fest, daß Darius zuletzt von einem Taxichauffeur gesehen worden war, der ihn von der Wall Street zu seinem Apartment in der East 61st Street gefahren hatte. ›Time‹ und ›The New Yorker‹ hielten sein Verschwinden für einen Werbegag, mit dem sie sich nicht abgeben wollten, und die Tagespresse ignorierte diesen Fall aus den gleichen Gründen. Aber überraschend viele Mitglieder des Omega-Klubs waren felsenfest davon überzeugt, daß Darius Dale, in 70
den Umhang seines Urenkels gewickelt, ins Jahr 2033 gereist war, um mit vierunddreißig Jahren als Millionär leben zu können – statt erst mit vierundneunzig.
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Wie man Zuflucht unter dem Meer findet
Der Tunnel unter der Welt Sie erinnern sich bestimmt an Regan. Er ist der Mann, der in einem Raumanzug über Bord gefallen ist und festgestellt hat, daß es tatsächlich eine Passage nach Indien gibt. Sie beginnt im Championgraben im Atlantik und endet irgendwo vor Bombay. Regan brauchte eine Woche, um diesem Unterwasserfluß von einem Ende zum anderen zu folgen. Er befand sich im Delirium, als er wieder auftauchte und von einem chinesischen Frachter gerettet wurde. Er war fast verhungert und mußte noch lange im Krankenhaus liegen. Ich hörte Regans bisher unveröffentlichte Story an der Bar im Palmer House in Chicago. Er nahm an einer Tagung von Geophysikern teil, über die ich berichten sollte, und fand einen Fachvortrag etwa zur gleichen Zeit wie ich langweilig. Ich erkannte ihn nach Pressefotos und sprach ihn an. Regan schien froh zu sein, sich mit jemandem unterhalten zu können, und erzählte mir seine Geschichte. Sie wissen, warum Regan überhaupt einen Raumanzug anhatte. Er hatte eine Reparatur vornehmen müssen, nachdem die Marsfähre auf dem Rückflug zur Erde von einem Meteoriten getroffen worden war. Regan hatte als Schiffsingenieur einen Raumanzug anlegen und die Stelle von außen flicken müssen. Reine Routine. Aber der Captain hatte den Vorfall gemeldet, und als das Raumschiff vor der Landung im Tiefflug aufgetankt 72
werden sollte, waren Fotografen an Bord des Tankers. Sie wollten unbedingt sehen, wie Regan die Reparatur ausgeführt hatte. Deshalb kletterte er wieder in seinen Anzug, nahm Werkzeug mit und gab vor, auf dem Rumpf zu arbeiten, während die Fotografen ihn aufnahmen. Dann spielte sein Antrieb plötzlich verrückt. Der Raketenantrieb sollte nur dazu dienen, ihn jeden beliebigen Punkt an der Außenseite des Schiffs erreichen zu lassen. Regan hatte ihn schon oft getestet und einmal praktisch erprobt, ohne jemals damit Schwierigkeiten gehabt zu haben. Aber diesmal schaltete der Antrieb sich selbst ein und stieß Regan vom Schiffsrumpf. Irgendwie hatte sich ein Kabel so um Regans Arme geschlungen, daß er den kleinen Raketenmotor nicht abstellen konnte, als er jetzt in Richtung Erde flog. Hätte er Kurs ins All genommen, wäre nichts weiter passiert. Das Patrouillenboot hätte ihn eingeholt und an Bord genommen. Aber Regan flog zur Erde hinunter, wo der Luftverkehr ziemlich dicht war. Das Patrouillenboot mußte die Rettungsversuche aufgeben, nachdem es zweimal fast mit Transkontinentalraketen zusammengestoßen wäre. Flugzeuge und Schiffe wurden alarmiert. Das half nicht viel, aber ein Fischkutter beobachtete wenigstens, an welcher Stelle Regan in seinem Raumanzug ins Meer klatschte. Einen Tag später wimmelte es dort von Versorgungsschiffen, U-Booten und Tauchern. Aber Regan tauchte nicht mehr auf – zumindest nicht in diesem Ozean. Sie haben schon genügend Unterwasserfilme gesehen, 73
um zu wissen, wie es im Meer aussieht; diesen Teil können wir uns also sparen. Aber folgendes ereignete sich, als er den Meeresboden erreichte: Dort sah er einen großen Krater – oder vielmehr einen Trichter, den er mit dem Kopf voraus ansteuerte. Das Kabel war noch immer um seine Arme geschlungen, und der Raketenantrieb arbeitete unter Wasser ebensogut wie im Weltraum. Nach einiger Zeit wurde es immer finsterer. Regan war längst darüber hinaus, sich nur Sorgen zu machen; er hatte Angst. Nun wurde es ganz dunkel, aber er spürte, daß er mit wachsender Geschwindigkeit fortgerissen wurde. Da Regan das Gefühl hatte, irgend etwas tun zu müssen, imitierte er einen Schlangenmenschen und bekam einen Arm frei. Danach war alles einfach. Er stellte den Antrieb ab, schaltete seinen Helmscheinwerfer ein und sah sich um. Soweit das Licht reichte, war nichts zu sehen. Ohne Antrieb hätte er nach oben schweben müssen, aber soviel er beurteilen konnte, war das nicht der Fall. Inzwischen hatte er sich schon so oft um die eigene Achse gedreht, daß er nicht mehr wußte, wo oben und unten war. Er hätte nach oben schweben können – der Raketenmotor auf seinem Rücken hatte für über zweihundert Stunden Brennstoff –, aber eine Richtung schien so unerfreulich wie die andere zu sein. Er erinnerte sich daran, daß der Trichter immer enger geworden war und er deshalb versucht hatte, eine der Seiten zu erreichen. Schließlich hatte er etwas vor sich gehabt, was kein Wasser gewesen war: Schlamm. Um überhaupt etwas zu tun, wartete Regan, bis er parallel zu 74
der Schlammwand schwebte, und schaltete dann den Antrieb ein. Regan zischte mit ziemlicher Geschwindigkeit die Wand entlang, ohne zu wissen, ob er sich nach oben, nach unten oder im Kreis herum bewegte. Nach einigen Stunden war der Schlamm mit Steinen durchsetzt, und die Wand wurde später ganz felsig. Regan wußte nicht, ob das ein gutes oder schlimmes Zeichen war. Weitere Stunden verstrichen. Er döste ein, schrak aber auf, als er am Rand des Lichtkegels seiner Lampe eine parallel verlaufende Wand entdeckte. Wirklich wach wurde er jedoch durch eine andere Beobachtung: Ein altes, braunes Faß mit verrosteten Reifen schwamm an ihm vorbei, überschlug sich dabei immer wieder und kam allmählich außer Sicht. Es hatte in der Mitte geschwommen. Regan dachte eine Weile darüber nach und kam zu dem Schluß, die Strömung müsse in der Mitte der Passage erheblich schneller als an den Rändern sein. Er steuerte die Mitte an und stellte versuchsweise den Antrieb ab. Indem er die Felswand beobachtete, konnte er feststellen, daß er schneller geworden war. Die Geschwindigkeit wirkte jedoch hypnotisierend, und Regan merkte, daß er schläfrig wurde. Er überlegte sich, daß es unsinnig war, sich gegen den Schlaf zu wehren. Deshalb schaltete er seinen Helmscheinwerfer aus und schlief ein. Als er aufwachte, wußte er sofort, wo er sich befand. Aber das nützte nicht viel. Er hielt seine Lage für hoffnungslos – für schlimmer, als wenn er im Raum verschollen gewesen wäre. Dort verkehrten wenigstens Schiffe; hier unten war er mit einem alten Faß allein. 75
Regan schwitzte und fühlte sich schwach. Sein Anzug enthielt natürlich einen Wasserbehälter, und Regan trank einen Schluck aus der Röhre, die in seinen Helm führte. Aber er hatte nichts zu essen und mußte deshalb versuchen, seinen Hunger zu ignorieren. Er döste wieder mit ausgeschaltetem Scheinwerfer. Dieser Zyklus wiederholte sich endlos: dösen, aufschrecken, nach draußen starren, trinken and weiterdösen. Nach einer dieser Ruheperioden wachte Regan auf, nahm eine Veränderung wahr und schaltete automatisch den Scheinwerfer ein. Dann stellte er ihn wieder ab, als er merkte, was sich verändert hatte: Die Passage um ihn herum war nicht mehr stockfinster; das Wasser leuchtete. Regan drehte sich um und versuchte zu erkennen, woher das Licht kam. Anscheinend von oben. Als es stärker wurde, taten ihm die Augen weh, aber diesen Schmerz ertrug er gern. Mit zunehmender Helligkeit konnte er jetzt deutlich erkennen, daß er sich in einem Tunnel befand, dessen angenähert runder Querschnitt etwa sechzig Meter betrug. Er stellte sich vor, er sei in eine U-förmige Gesteinsspalte geraten, und befinde sich jetzt im aufsteigenden Ast. Vielleicht würde er schneller und immer schneller vorankommen, bis er wie ein Korken aus der Sektflasche aus dem Meer schoß, um ins Wasser zurückzuklatschen. Regan wünschte sich nichts mehr, als den Himmel wiederzusehen. Auch etwas Land wäre schön, aber ein Schiff oder ein Flugzeug hätte vorläufig genügt. Dann mußte er seine bisherigen Vorstellungen revidieren, denn als das Licht heller wurde, sah er auf einer Seite des Tunnels das Wasser dunkelgrün werden, während es auf 76
der anderen weißlich rosa leuchtete. Regan, der sich bisher eingebildet hatte, er bewege sich wie in einem Brunnenschacht nach oben, erkannte in dieser Sekunde, daß er waagrecht in einem Fluß dahinschwamm. Er benutzte den Raketenantrieb, um an die Wasseroberfläche zu gelangen. Regan war nicht auf den Anblick vorbereitet, der sich ihm nun bot: Jenseits der grünen Ebene, durch die der Fluß strömte, erhob sich eine Stadt aus eigenartigen Kuppelbauten in bunten Farben. Er merkte jetzt, daß die Wasseroberfläche höher als das umliegende Land war und daß der Fluß jetzt durch einen gewaltigen Tunnel aus durchsichtigem Material strömte. Wenn er nach draußen sah, konnte er sich fast einbilden, dicht über dem Boden zu fliegen. Regan steuerte den höchsten Punkt an und sah von dort aus die Straße, die genau parallel zum Fluß verlief. Während er sie beobachtete, kam ein Fahrzeug heran und überholte ihn. Der Fahrer war nur undeutlich sichtbar, aber er wirkte beruhigend menschenähnlich. Der Mann in dem dreirädrigen, knallgelben Wagen sah weder rechts noch links. Regan rief ihn instinktiv an und winkte. Durch diese Bewegung drehte er sich auf den Rücken. Er studierte dabei gleich den Himmel, ohne mehr als eine endlos weite, rosa Fläche ohne Wolken zu sehen. Etwas glitt über ihn hinweg. Regan konnte es nicht deutlich genug sehen, überlegte sich aber, daß es eine Brücke gewesen sein müsse. Er drehte sich wieder um und versuchte konstruktiv zu denken. Irgendwo mußte es eine Möglichkeit geben, den Fluß zu verlassen. Dieser reichliche Wasservorrat blieb be77
stimmt nicht ungenutzt, zumal das Wasser wahrscheinlich auf dem langen Weg durch die Erde seinen Salzgehalt verloren hatte. Vielleicht wurden damit Felder bewässert, Güter befördert … oder Turbinen angetrieben. Dieser Gedanke machte ihm Angst. Er stellte sich ein riesiges Kraftwerk vor, in das er geriet, so daß sein Körper von Turbinenschaufeln zerstückelt wurde. Er mußte diese rasend schnelle Fortbewegung irgendwie verlangsamen. Er richtete die Düse des Raketenantriebs nach vorn und schaltete ihn ein. Seine Geschwindigkeit nahm sofort ab. Die Strömung drückte gegen ihn, aber Regan brachte es irgendwie fertig, einen Gleichgewichtszustand zu erreichen, in dem er sich umsehen und feststellen konnte, daß die Stadt jetzt etwas hinter ihm lag. Auch die Straße verlief wie bisher parallel zum Fluß. Regan fühlte neue Hoffnung in sich aufsteigen, als er einen Mann auf der Straße sah. Er bremste noch mehr, bis er sein Tempo dem des Fußgängers angepaßt hatte. Der Mann war leicht gekleidet – Sandalen, knielange Hosen, offene Weste über weißer Haut –, als sei das hiesige Klima subtropisch. Regan flehte den Mann wortlos an, sich nach ihm umzudrehen. Er hielt den Raketenantrieb mit beiden Händen fest und wagte nicht, ihn loszulassen, um zu winken. Dann sah der Mann zu Regan hinüber, als habe er die stumme Bitte verstanden. Er schien Regan ungläubig anzustarren. Er blieb stehen, starrte Regan erneut an, setzte sich dann in Bewegung und lief zum Fluß hinüber. Jetzt konnte Regan sein Gesicht deutlich sehen. Es war ein intelligentes Gesicht: rund, mit breiter Nase, mandelförmigen Augen und schwarzer Mähne. Der athletisch gebaute Mann hielt offenbar mühelos mit Regan 78
Schritt. Er winkte und lächelte, und Regan konnte nur hoffen, daß sein eigenes Lächeln unter dem Helm sichtbar war. Regan bezweifelte, daß es ihm gelungen war, mit dem Mann in telepathische Verbindung zu treten, aber er dachte trotzdem konzentriert: Wie komme ich hier ’raus? Der andere reagierte wohl eher auf Regans offensichtliche Notlage als auf Gedankenübertragung, als er nach vorn zeigte und vorauslief. Als Regan ihn wiedersah, zeigte der Mann auf eine weitere Brücke, deutete dann flußabwärts und hielt zwei Finger hoch. Regan schloß daraus, er habe nach der zweiten Brücke Hilfe zu erwarten, und nickte heftig. Der Mann schien diese Bewegung zu sehen, wiederholte sie und lächelte dabei. Regan schaltete den Antrieb aus und ließ sich von der Strömung fortreißen. Der Mann setzte sich in Trab, nickte nach der ersten Brücke und hielt einen Finger hoch. Regan zitterte vor Erleichterung, weil er ihn richtig verstanden hatte. Er schüttelte die Müdigkeit von sich ab und umklammerte verzweifelt den Raketenmotor, der seine Geschwindigkeit etwas herabsetzte. Regan fürchtete schon, sie würden die nächste Brücke nie mehr erreichen. Er war völlig erschöpft und in Schweiß gebadet. Seine Augen brannten, sein Hals war trocken, und er hatte heftige Kopfschmerzen. Er mußte alle Kraft aufwenden, um nicht in Ohnmacht zu fallen. Dann kam endlich die Brücke in Sicht und glitt über Regan hinweg. Der laufende Mann zeigte nach oben. Jenseits der Brücke endete der durchsichtige Tunnel. Die Strömung nahm ab, weil der Fluß jetzt breiter 79
wurde. Regan ließ sich forttragen. Wenige Minuten später war der Fluß so breit, daß er kaum noch Strömung zu haben schien, aber das war nur eine optische Täuschung. Dann sah Regan den Maschendrahtzaun. Er war als riesiges Sieb über den Fluß gespannt und sollte offenbar verhindern, daß Treibgut in das weiter flußabwärts gelegene Kraftwerk gelangte. Regans Befürchtungen waren also nicht unbegründet gewesen. Der Drahtzaun hielt ihn auf. Regan zog sich daran entlang zum rechten Flußufer. Er erreichte es, aber er hatte nicht die Kraft, an Land zu klettern. Ganz in der Nähe schwamm das Faß, das ihn im dunklen Teil des Tunnels überholt hatte. Bevor Regan ohnmächtig wurde, sah er den stämmigen Mann in den knielangen Shorts herankommen. Er lief, so schnell ihn seine muskulösen Beine trugen. Als Regan zu sich kam, lag er auf der Ladefläche eines offenen Lastwagens. Er lag dort wie ein Sack Kartoffeln und wurde von einer Seite auf die andere geworfen, während die Fahrt über holprige Straßen ging. Sein neuer Freund kauerte neben ihm und hielt sich an der Bordwand fest, um nicht vom Wagen zu fallen. Er lächelte, als er sah, daß Regan wieder bei Bewußtsein war, und klopfte ihm auf die Brustplatte des Raumanzugs. Dann zeigte er nach vorn, aber Regan lag flach auf dem Rücken und war zu schwach, um sich hochzustemmen. Die Holperei machte ihn seekrank. Dann wurde die Straße besser, und sie erreichten die Stadt. Regan stellte fest, daß die bunten Kuppelbauten aus der Nähe wie Bienenkörbe aussahen. Der Lastwagen hielt vor einem großen, gelben Bienenkorb. Regan sah, 80
daß das Gebäude aus großen Ziegeln errichtet war, die anscheinend ohne Mörtel zusammenhielten und die Kuppel bildeten. Und die Steine waren gelb durchgefärbt, nicht nur gestrichen. Zwei Männer, beide größer als sein Freund, kamen mit einer Bohle aus dem Kuppelbau. Sie luden Regan darauf und trugen ihn wie auf einer Tragbahre ins Innere. Sein Freund kam mit. Hinter dem Eingang machten sie in einem Vorraum halt, in dem ein Mann an einem Schreibtisch saß. Der Mann griff nach einer Tafel mit zahlreichen Knöpfen und drückte auf einige. Dann hielt er sie Regans Freund entgegen, der wieder andere drückte, Regan lächelnd auf die Brustplatte klopfte und davonging. Regan wurde in einen fensterlosen Raum getragen und dort von der Bohle auf einen hohen Steintisch gekippt. Die Männer gingen nicht gerade sanft mit ihm um, aber er wußte, daß der schwere Raumanzug nicht einfach zu bewältigen war. Er spürte dieses Gewicht jetzt selbst; er fühlte die Hilflosigkeit eines Mannes, der lange im Wasser getrieben hatte und sich jetzt an Land bewegen sollte. Alles das geschah natürlich in absoluter Stille, denn Regan war völlig von der Außenwelt isoliert. Er lag da, fühlte sich etwas weniger schwindelig, war aber noch immer benommen und hatte vor Hunger Magenschmerzen. Nach einiger Zeit hatte er sich so weit beruhigt, daß er einen kleinen Schluck Wasser trank. Ein rundlicher Mann in einem weißen Kittel kam in Sicht. Regan sah ihn nur von der Taille aufwärts. Auch er hatte eine üppige schwarze Mähne, aber er war viel älter und dicker als der Mann am Fluß. Sein Gesichtsausdruck 81
verriet Freude und Zufriedenheit. Er blieb neben Regan stehen, lächelte ihm zu und betastete den Raumanzug. »Jetzt komme ich bald aus dem verdammten Ding ’raus«, murmelte Regan vor sich hin. Aber von dem Weißkittel war anscheinend keine schnelle Hilfe zu erwarten. Regan wollte ihm den Schnellverschluß am Nacken zeigen, konnte jedoch nicht die Arme heben. Er merkte jetzt, wie erschöpft er war. Der rundliche Mann klopfte ihm auf die Brust – das schien eine universelle Geste zu sein – und ging fort. Regan döste ein. Er hatte das Gefühl, jetzt sei alles wieder in Ordnung. Er schloß beruhigt die Augen. Als er aufwachte, hatte er wütenden Hunger. Sein gepanzerter Körper schien bleischwer zu sein. Er versuchte, das Wasserrohr zu erreichen, aber er konnte den Kopf nicht heben. Als er daraufhin um Hilfe rief, klang seine Stimme selbst im Helm schwach. Niemand konnte sie gehört haben – und niemand kam. Er versuchte, den rechten Arm zu heben. Seine Muskeln zitterten vor Anspannung. Er konnte den Arm mit äußerster Anstrengung einige Zentimeter hochheben; dann fiel er kraftlos herab. Der joviale Dicke kam zurück. Er trug einen Metallkasten mit zwei Meßinstrumenten, von dem aus Drähte zu Saugnäpfen führten. Er befestigte einen davon an Regans Helmfenster, hielt sich den anderen ans Ohr und betätigte einen Schalter. »Holt mich bitte aus diesem Anzug ’raus«, flehte Regan. Der Mann im weißen Kittel strahlte. Er nickte und klopfte Regan auf die Brust. Dann antwortete er in seiner Sprache – mit unverständlichen Kehllauten. »Bitte«, wiederholte Regan. »Befreit mich bitte aus dem Anzug!« 82
Der andere lächelte weiter. Er winkte zwei Kollegen heran. Sie hörten abwechselnd zu, wie Regan sie anflehte, ihn aus dem Raumanzug ’rauszuholen. Sie lächelten ebenfalls. Offenbar verstanden sie kein Wort – und Regan war zu schwach, um ihnen seine Notlage mit Gesten verständlich zu machen. Die Männer standen um ihn herum und schwatzten miteinander. Von draußen kamen immer weitere herein. Sie sahen alle gleich aus. Freundliche, lächelnde Gesichter und Hände, die ihm auf die Brust klopften. Regan hatte das Gefühl, einen Alptraum durchzumachen, als sie anfingen, ihn eingehend zu vermessen. Sie rollten ein riesiges Gerät herein, das eine Kamera sein mußte, und nahmen ihn von allen Seiten auf. Sie hoben seine Arme und Beine hoch und machten sich gegenseitig auf die merkwürdigen Gelenke aufmerksam. Man hätte glauben können, Regan sei irgendein neues Tier, das sich zu ihnen verirrt hatte und das sie später zu klassifizieren hofften. Die Messerei ging ewig weiter. Regan hatte Sehstörungen, eine ausgetrocknete Kehle und Magenkrämpfe. Er war kaum noch bei Bewußtsein, als die beiden Träger erschienen, ihn auf die Bohle rollten und ins Freie trugen. Die Wissenschaftler folgten ihnen schwatzend. Draußen stand eine Art Bus, auf dessen Beifahrersitz Regan mit vieler Mühe bugsiert wurde. Sein Kopf sank im Helm zur Seite. Der Lagewechsel bewirkte, daß ihm schwarz vor den Augen wurde. Als er wieder klar denken konnte, hörte er sich mehrmals sagen: »Man macht ihn hinten am Nacken auf. Ich würde es selbst tun, wenn ich die Arme heben könnte. Man macht ihn hinten am Nacken auf.« 83
Der Bus fuhr an. Er brummte durch die Straßen, rollte an pastellfarbenen Bienenkörben vorbei und hielt schließlich in einem Park vor einem goldenen Kuppelbau. Regans Begleiter trugen einen halb Bewußtlosen hinein, der kaum noch wahrnahm, was um ihn herum geschah. Durch ein halbes Dutzend Vorzimmer erreichten sie den Thronsaal. Gardisten hielten Wache, und ein kostbarer Teppich führte zu einem Podium, auf dem zwei reichgeschnitzte Sessel standen. Ein großer, schlanker, schwarzhaariger Mann saß in einem. Der andere war leer. Der Herrscher gab den Männern ein Zeichen, sie sollten Regan auf den zweiten Thron setzen. Dann wurde der Alptraum noch schlimmer. Eine ganze Prozession von Frauen erschien mit allerlei Geschenken. Sie waren die ersten Frauen, die er hier zu sehen bekam, aber er interessierte sich mehr für das, was sie trugen. Essen … Körbe mit Obst. Platten mit Fleisch. Schalen mit Getränken. Die lächelnden Wesen knicksten vor den Thronen und bauten ein üppiges kaltes Büfett auf. Eine junge Frau in blauer Robe stellte Regan einen Obstkorb auf die Knie. Regan begann vor Frustration zu zittern. Auf ein Zeichen des Königs hin bedienten sich die Anwesenden, hoben die Schalen, um Regan zuzutrinken, und begannen zu schmausen. Falls jemandem auffiel, daß Regan nicht mitaß, waren sie höflich genug, nicht beleidigt zu sein.
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Nach dem Festmahl brachen alle zu einer großen Rundfahrt auf, an der auch der König teilnahm. Er benützte dazu eine motorisierte Sänfte, die vor Regans Bus herfuhr. Der halb ohnmächtige Regan nahm kaum wahr, was ihm alles vorgeführt wurde: Parks, Fabriken, Schulen, Sportstätten, eine Parade, eine Musterfarm und Dutzende von anderen Bauwerken dieser Zivilisation, die ihn in aller Freundlichkeit verhungern ließ. In einem seiner lichten Momente machte Regan sich Vorwürfe, weil er ein so unaufmerksamer Gast war, und fragte sich, was sie von diesem Fremden halten mußten, der ein so unbeholfener Tolpatsch war. Er war hier in diesem Anzug erschienen – wie konnte er ihnen also verübeln, daß sie ihm den Anzug gelassen hatten, wenn er ihn nicht selbst ablegte? Bei ihm zu Hause war es schließlich auch nicht üblich, Besucher einfach auszuziehen. Als die Straße wieder holperig wurde, erkannte Regan, daß sie sich dem Fluß näherten. Er fand das rasch dahinströmende Wasser unendlich einladend. In seinen Tiefen brauchte er sich nicht mehr anstarren, ausmessen, beobachten, vorführen und quälen zu lassen. Dort im Fluß konnte er in aller Ruhe sterben, ohne diplomatische Rücksichten nehmen zu müssen. Eine hölzerne Brücke überspannte den Fluß unterhalb des großen Kraftwerks. Daneben befand sich eine größere Steinbrücke als Ersatz in Bau. Der Bus rollte langsam über die enge Fahrbahn, die seitlich nicht einmal Geländer hatte. Regan begriff, daß dies seine letzte Chance war. Als er wegen einer Unebenheit schwankte, unterstützte er diese 85
Bewegung mit aller Kraft. Seine Nachbarn wollten ihn noch festhalten, aber sie kamen zu spät. Er war aus dem Bus und ließ sich von der Brücke ins Wasser fallen. Die Strömung war so schnell, daß er kaum untertauchte, sondern sich überschlagend fortgerissen wurde. Er sah zuletzt noch, wie der Bus zurückstieß und ihm auf der Uferstraße zu folgen versuchte. Aber Regan war viel zu schnell. Die gleichmäßige Bewegung war einschläfernd. Regan trank einen Schluck von seinem Wasservorrat. Er hatte noch Magenschmerzen, aber keine Krämpfe mehr. Vielleicht lag er im Sterben. Ihm war alles gleich. Regan wußte, daß er in einem Krankenhaus war, noch bevor er die Augen öffnete. Der Karbolgeruch war unverkennbar. Er schlug die Augen auf. Ein brauner Mann in einem weißen Kittel beugte sich übers Bett. Hinter dem Arzt war ein Fenster mit einem Stück Himmel zu sehen. Ein blauer Himmel mit weißen Wolken. Der Arzt lächelte. »Na, wie geht’s, alter Junge?« erkundigte er sich. Regan versuchte zu sprechen und brachte kein Wort heraus. »Sie sind in Bombay«, fuhr der Arzt fort. »In Indien. Das ist bestimmt eine Überraschung für Sie, aber es geht Ihnen bereits viel besser.« »Was?« fragte Regan vage. »Eine verrückte Sache«, gab der Arzt zu. »Eigentlich müßten Sie auf der anderen Seite der Erde sein … Aber Sie sind eben hier, und wir werden Sie bald wieder auf die Beine stellen.« 86
»Aber …«, begann Regan. Dann gab er auf. Er schwieg, bis er gegessen und geschlafen hatte und der Arzt ihn fragte, ob er sich jetzt den Reportern gewachsen fühle. »Noch zwei, Sir?« fragte der Barkeeper im Palmer House. Ich nickte. »Natürlich haben alle geglaubt, ich hätte Fieberphantasien gehabt«, sagte Regan. »Andererseits mußten sie die Tatsache akzeptieren, daß ich im Atlantik verschwunden und im Indischen Ozean aufgetaucht war. Das Auftauchen war beobachtet worden – und ich mußte in der Zwischenzeit irgendwo gewesen sein. Ich war jedenfalls nicht zu Fuß dort hingegangen. Die Wissenschaftler haben mir die Sache mit dem unterirdischen Fluß schließlich abgenommen. Schon die alten Griechen haben etwas Ähnliches geglaubt, habe ich gehört: Der Fluß Alpheus soll die Adria unterquert und in Sizilien zum Vorschein gekommen sein. Aber niemand hat das mit der Kuppelstadt, dem König und der Busfahrt akzeptiert. Delirium, hat es überall geheißen. Alle waren sehr freundlich, aber sie haben es trotzdem gesagt. Und die Geophysiker sind der gleichen Überzeugung.« Der Barkeeper brachte die neuen Drinks. Aber Regan behielt sein leeres Highballglas, legte es auf die Theke und starrte hinein. Ich sah die trichterförmige Öffnung – und dachte an einen Tunnel, einen wassergefüllten Tunnel unter der Welt. Regan drückte aus, was ich dachte. »Ein Tunnel unter der Antarktis«, murmelte er vor sich hin. 87
»Dort muß die Stadt gestanden haben. Irgendwo tief unter dem Eis. Dort waren früher die Tropen, wissen Sie.« »In der Antarktis?« fragte ich. »Bevor das Eis gekommen ist, bevor die Erdachse sich verschoben hat. Diese Leute sind damals nicht geflüchtet, sondern unter die Erde gegangen. Eigentlich merkwürdig, daß ihre Gebäude wie große Iglus aussehen – wie bei den Eskimos im Norden. Aber das ist vielleicht nur ein Zufall.« Regan hob den Kopf, grinste und stellte das leere Glas wieder hin. »Ich hab’ seitdem viel darüber nachgedacht. Diese Leute waren wirklich nett. Ich wäre bestimmt gut mit ihnen ausgenommen, wenn ich nur meinen verdammten Raumanzug hätte ausziehen können. Im Laufe der Zeit hätte ich wahrscheinlich auch ihre Sprache gelernt. Und die Frauen waren verdammt hübsch, kann ich Ihnen sagen!« Er warf mir einen nachdenklichen Blick zu. Er öffnete den Mund, als wollte er etwas hinzufügen, lächelte dann und schüttelte den Kopf. Ich sagte es für ihn: »Sie wollen zurück.« »Ja«, bestätigte er. »Ich weiß die Koordinaten des Tunnels, seine Abmessungen und was ich an Ausrüstung brauche. Nächstes Jahr habe ich hoffentlich genug gespart. Ich brauche eine kleine Raumfähre – am besten ein Rettungsboot. Ich nehme Essen und Wasser mit und packe einen Haufen Bücher ein, damit ich ihnen zeigen kann, wie’s bei uns aussieht.« Regan machte eine Pause. »Wahrscheinlich geht’s mir vor allem darum, den Langbärten zu beweisen, daß sie unrecht haben.« »Hoffentlich gelingt Ihnen das. Vielleicht lassen Sie mich nach Ihrer Rückkehr einen Artikel darüber schreiben.« 88
»Das wird eine gute Story«, versicherte Regan mir. »Ich warte darauf«, versprach ich ihm. Das war vor fünf Jahren. Vor vier Jahren trat Regan seine Reise an. Allein in einem kleinen Rettungsboot. Ich warte noch immer auf das Ende dieser Story.
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Blick in die Zukunft
Die beste aller möglichen Welten Es war beinahe Zeit für das Programm. Floyd Geringer rief seinen Sohn. »Vic – es fängt gleich an.« »Ich komme, Dad.« Der Junge wurde allmählich erwachsen. Er war ein mutterloses Baby gewesen, als sie gescheitert waren, und war jetzt fast vierzehn. ›Gescheitert‹ war Floyds Euphemismus für das Ereignis, das sie zu Schiffbrüchigen im Weltraum gemacht hatte, ohne ihnen die Hoffnung auf eine Rückkehr zur Erde zu lassen. Sie saßen in bequemen Sesseln vor dem Lautsprecher. Floyds kleiner Finger tastete unwillkürlich nach der Stelle, wo eine Zigarette ein Loch in den Bezug gebrannt hatte. Vor wie vielen Jahren hatte er die letzte Zigarette geraucht? Floyd zuckte mit den Schultern. Der Gedanke daran störte ihn nicht mehr. Floyd Geringer sah auf die Uhr. Noch eine Minute. »Warum hören wir immer um acht Uhr zu?« fragte Vic. »Das ist die beste Zeit«, antwortete sein Vater. »Die Leute sind nach dem Abendessen zu Hause. Die besten Shows werden gesendet, wenn die meisten Zuhörer zu erwarten sind.« Ihre Uhr zeigte natürlich Erdzeit an. Genauer gesagt, New Yorker Zeit. »Aber warum können wir nur einmal in der Woche zuhören?« erkundigte sich der Junge. 90
Er war klein für sein Alter, aber sein Vater war ebenfalls klein. Auch seine Mutter war zierlich gewesen, bevor … nun, bevor es passiert war. Daran dachte Floyd lieber nicht. »Wir müssen Strom sparen, Vic«, sagte er. »Die Batterien halten nicht ewig, weißt du.« »Ja, wahrscheinlich nicht.« Vic lehnte sich zurück und behielt den Zeigefinger in dem Buch, das er gerade las – ›Robinson Crusoe‹. »Leg das Buch weg, Vic«, forderte Floyd seinen Sohn freundlich auf. »Es ist Zeit für die Erde.« Er schaltete das Gerät ein, als die Uhr dreißig Sekunden vor acht zeigte. Vic legte ein Lesezeichen in sein Buch, klappte es zu, lehnte sich zurück und schloß die Augen. »Schade, daß wir keinen Fernseher haben«, meinte er. »Das habe ich dir schon erklärt«, sagte Floyd. »Die …« »Ja, ich weiß, Dad. Pst, es fängt an!« Als der Sekundenzeiger die zwölf erreichte, kam eine Stimme aus dem Lautsprecher. »Und nun bringt die International Broadcasting Company: Die Welt heute! Ereignisse und Personen, die heute im Brennpunkt des öffentlichen Interesses stehen. Als erstes besuchen wir heute Kansas City, wo Sinclair Lewis, der Erfolgsautor und Nobelpreisträger, heute Gott öffentlich herausgefordert hat, ihn zu zerschmettern! Dazu unser Reporter Lane McGrath in Kansas City.« »Guten Abend. Hier ist Lane McGrath in Kansas City, einer Stadt, die heute je nach Einstellung empört oder nachdenklich ist, seitdem Sinclair ›Red‹ Lewis, dieser erklärte Gegner des Fundamentalismus, dem 91
Allmächtigen zehn Minuten Zeit gelassen hat, seine Macht zu zeigen und ihn mit einem Blitzstrahl zu zerschmettern. Mr. Lewis lebt noch, und ich habe den Mann auf der Straße nach seiner Meinung gefragt. Hier ist Mr. Arthur Baldwin, Lebensmittelhändler in Kansas City. Mr. Baldwin, würden Sie unseren Hörern sagen, was Sie davon halten?« »Nun, ich glaube, daß der Herr sich in seiner Güte dieses Mannes erbarmt hat oder daß er vielleicht keinen Blitzstrahl für jemanden wie ihn verschwenden wollte. Ich finde, daß das überhaupt nichts beweist.« »Aus Chicago kommt heute die Nachricht, daß FBIMänner auf den Tip einer geheimnisvollen Frau in Rot hin den Staatsfeind Nummer eins gestellt und erschossen haben – den berüchtigten John Dillinger. Dillinger, der den Vereinigten Staaten den Krieg erklärt hatte, wurde beim Verlassen eines Kinos überrascht. Die FBI-Agenten eröffneten das Feuer, und der Mörder Dillinger starb auf der Straße – wieder ein Beweis dafür, daß Verbrechen sich nicht lohnen!« Floyd Geringer sah zu seinem Sohn hinüber. Der Junge saß noch immer mit geschlossenen Augen da. Wenn ihn dieses Drama erschüttert hatte, ließ er sich jedenfalls nichts anmerken. »… eine Trauerbotschaft aus England«, fuhr der Nachrichtensprecher fort. »König Georg der Sechste ist nach langer Krankheit verschieden. Die Nachfolge tritt seine älteste Tochter an, die als Elizabeth die Zweite den Thron besteigen wird. So wiederholt sich die Tradition: Der König ist tot – es lebe die Königin! Und aus der Welt des Sports eine Sensation, als der Braune Bomber und der Schwarze Ulan vom Rhein …« 92
Der Vater beobachtete wieder seinen Sohn, während geschildert wurde, wie Joe Louis schon in der ersten Runde an Max Schmeling Revanche nahm. Aber Vic saß unbeweglich da und ließ sich nicht anmerken, was er dachte. Das Programm endete. Floyd schaltete das Gerät wie jedesmal beim letzten Wort aus. Vic öffnete erst jetzt die Augen, und sein Vater fragte sich, ob der Junge geschlafen hatte. »Die Erde hat heute einiges erlebt, was?« fragte Floyd. »Hmmm. Dad, haben wir etwas von Sinclair Lewis?« Er hatte also zumindest den ersten Teil gehört. »Wir haben ›Main Street‹ glaube ich.« »Er scheint ein toller Bursche zu sein«, meinte Vic nachdenklich. »Wir sind auch nicht sehr religiös, stimmt’s, Dad?« »Nein, das kann man nicht sagen. Aber ich hoffe, daß du ihn nicht etwa imitierst. Ich möchte nicht erleben, wie unsere Bevölkerung schlagartig halbiert wird.« Floyds Lachen klang künstlich. »Ich lese noch ein bißchen im Bett«, entschied Vic. »Gute Nacht, Dad.« »Gute Nacht, mein Junge.« Vic hatte vor drei, vier Jahren aufgehört, ihm einen Gutenachtkuß zu geben. Auch das war ein Anzeichen dafür, daß er erwachsen wurde. Die Zeit verging. Eines Tages würde er sterben und Vic allein lassen. Aber voraussichtlich lag dieser Tag noch in weiter Ferne. Floyd hatte sich wenige Monate vor ihrem Scheitern einer Generaluntersuchung unterzogen, und der Arzt hatte ihm bestätigt, er sei bis auf einen leichten Raucherhusten kerngesund. Floyd hätte das Rauchen am besten ganz 93
aufgeben sollen; das hatte er auch getan, als keine Zigaretten mehr da waren, und der Husten war etwa einen Monat später verschwunden. Als Floyd sich an die Untersuchung erinnerte, dachte er automatisch an andere Ereignisse auf der Erde. Die Panik in Florida und besonders in ihrem Urlaubsort Cocoa, als die ersten Bomben auf Cap Canaveral gefallen waren. Cap Canaveral und der Luftwaffenstützpunkt Vandenberg in Kalifornien gehörten natürlich zu den wichtigsten Zielen. Seine Frau war am Strand gewesen und hatte auf einen Raketenstart gewartet. Ihre Leidenschaft für Raketen hatte ihr schließlich den Tod gebracht. Floyd hatte im Motel geschlafen. Der kleine zweijährige Vic war nicht einmal von den Detonationen aufgewacht. Floyd hatte ihn in eine Decke gewickelt und war mit ihm in die Nacht hinausgelaufen. »Am Strand sind alle tot!« hatte jemand gekreischt. Floyd hatte sich in seinen Wagen gesetzt und war zum Raketenstartplatz gefahren, weil er an die dortigen Bunker gedacht hatte. Das Tor war unbewacht gewesen; er war hindurchgerast und auf die Starttürme zugefahren. Das ›Projekt Magellan‹ war ihre Rettung gewesen. ›Magellan‹ war das Zweimannraumschiff, dessen Start seine Frau hatte beobachten wollen. Aber die Astronauten waren zur Brandbekämpfung eingesetzt und der Start war abgeblasen worden. Aber alles war fertig gewesen. Die uniformierten Techniker, die kein Gegenbefehl erreicht hatte, blieben auf ihren Posten. Das Raumschiff stand startbereit auf seiner Plattform. 94
Floyd, der ziellos kreuz und quer durchs Gelände fuhr, kam am Startplatz der ›Magellan‹ vorbei. »He, Sie verrückter Zivilist, gehen Sie gefälligst in Deckung!« brüllte ein Uniformierter. Floyd bremste gehorsam, und der Sergeant brachte ihn und den kleinen Vic in einen Bunker. Als Floyd dort bei einem Becher Kaffee saß und Vic mit Schokolade fütterte, die ihm einer der Männer geschenkt hatte, kam die Meldung über Funk herein. »Hier spricht Washington«, sagte eine müde Stimme. »Wir sind erledigt. New York sagt das gleiche. Chicago antwortet nicht. San Francisco hat sich ergeben. Colorado Springs und Omaha sind am Boden zerstört. Vandenberg ist erledigt, Canaveral ist zum größten Teil zerstört.« »Quatsch!« sagte der Sergeant. »Halt’s Maul, Sarge. Hör lieber zu.« »Da geordneter Widerstand unmöglich geworden ist, wird folgendes befohlen: Der Kampf wird als Guerillakrieg weitergeführt. Jeder ergibt sich nur, wenn der Gegner in der Überzahl ist und ihn zu vernichten droht. Alle Militäreinrichtungen, die nicht für unsere Zwecke eingesetzt werden können, sind zu vernichten. Gott steh uns allen bei. Dies war ein Befehl des Oberkommandierenden, Colonel Robert G. Hayden vom Nachrichtenkorps …« »Colonel!« rief der Sergeant aus. »Mehr haben sie nicht mehr zu bieten, was?« »Nachrichtenkorps!« sagte ein Corporal. »Dann scheint’s wirklich schlimm zu stehen.« Er schüttelte den Kopf. »Was ist mit der Rakete, Sarge?« erkundigte er sich dann. Der Sergeant gab sich einen Ruck. »Okay, wir haben unsere Befehle. Wir führen einen Guerillakrieg. Aber als 95
erstes müssen wir uns um die Zivilisten kümmern und dafür sorgen, daß die Rakete nicht in feindliche Hände gerät. Wie ich die Sache sehe, können wir beides auf einmal erledigen.« Er wandte sich an Floyd. »Mister, möchten Sie und das Baby einen kleinen Ausflug machen?« Floyd blinzelte unsicher. »In den Weltraum?« »Ganz recht. Soviel ich sehe, sind Sie nicht als Guerilla ausgerüstet. Sie brauchen nicht zu starten. Okay, dann sprengen wir die Rakete. Aber danach sind Sie auf sich selbst angewiesen. Die andere Möglichkeit ist der Start mit ›Magellan‹. Das Raumschiff hat für zwei Mann Vorräte für dreißig Jahre an Bord. Sie und das Baby müßten davon wesentlich länger leben können. Na, was sagen Sie dazu?« Floyd Geringer dachte fieberhaft nach. Auf einer vom Krieg bedrohten Erde für ein Kleinkind verantwortlich zu sein, war keine angenehme Aufgabe. Andererseits reizte ihn der Flug ins Ungewisse auch nicht gerade. Trotzdem mußte er sich bei reiflicher Überlegung für die zweite Möglichkeit entscheiden. »Wir fliegen mit der ›Magellan‹«, antwortete Floyd. »Okay«, stimmte der Sergeant zu. »Die Bedienungsanweisungen finden Sie an Bord, Mister. Wir haben jetzt keine Zeit, sie einzeln durchzugehen.« Seinen Männern befahl er: »Start vorbereiten.« Der Countdown begann. Auf diese Weise wurden Floyd Geringer und sein knapp zweijähriger Sohn mit dem Raumschiff ›Magellan‹ ins All geschickt, während auf der Erde der Dritte Weltkrieg wütete.
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»Die Sendung fängt gleich an, Vic.« »Ich komme, Dad.« »… Die Welt heute! Eine wichtige Meldung aus Katmandu im fernen Nepal! Nach jahrelangen vergeblichen Versuchen hat der Mensch den höchsten Gipfel der Erde erobert. Zwei Männer haben auf dem Mount Everest gestanden, der im Himalaja achttausendachthundertzweiundachtzig Meter zum Himmel aufragt. Einer war Edmund Hillary, ein neuseeländischer Bienenzüchter; der andere war der Sherpa Tensing, ein eingeborener Träger. Zu Ehren der neugekrönten Königin wurde die britische Flagge auf dem Gipfel gehißt. Inzwischen sind bereits Glückwunschtelegramme von Präsident Roosevelt, Präsident de Gaulle und weiteren bedeutenden Persönlichkeiten eingegangen … Fast gleichzeitig hat die Weltöffentlichkeit von einer weiteren Höchstleistung erfahren: Das Atom-U-Boot ›Nautilus‹ hat die Eisdecke unter dem Nordpol unterquert und den Pol passiert. Präsident Roosevelt hat diesen Erfolg als Oberbefehlshaber vom Weißen Haus aus bekanntgegeben …« Floyd stellte zufrieden fest, daß Vic bei dieser Meldung die Augen geöffnet hatte. Der Junge sah mit einem schwachen Lächeln zu seinem Vater hinüber. »Ein großer Tag für die Forscher, was, mein Junge?« Vic nickte. Sein Lächeln verschwand; er lehnte sich zurück und schloß wieder die Augen. Floyd bildete sich ein, Tränen unter seinen Lidern zu sehen, aber er fragte nicht danach. Eines sentimentalen Abends, als das Rundfunkorchester ein Potpourri spielte, in dem jede dritte Nummer ›Auld 97
Lang Syne‹ zu sein schien, sagte der Sprecher, während im Hintergrund Musik und Lachen zu hören waren: »Und während wir darauf warten, daß es Mitternacht wird, einen besonderen Gruß an zwei Einsame. Floyd Geringer, wenn Sie mich draußen im All hören können, wünschen wir Ihnen ein glückliches neues Jahr. Und Ihrem Sohn Vic, der inzwischen ein großer Junge sein muß. Wir sind in Gedanken heute abend und immer bei euch.« Die Musik wurde lauter, dann schlug eine Uhr Mitternacht. Diesmal hatte Floyd Tränen in den Augen. »Ist es nicht nett, daß sie an uns gedacht haben, Vic?« »Ja, Dad«, stimmte Vic nüchtern zu. »Hast du diesen Mann gekannt?« »Nein. Aber er kennt uns, wie uns alle Menschen kennen. Glückliches neues Jahr, Vic, wenn ich dir das überhaupt wünschen kann.« »Ich bin glücklich, Dad. Aber können sie uns nicht irgendwie erreichen? Machen Sie denn gar keinen Rettungsversuch?« Die Musik verstummte. Floyd schaltete das Gerät aus. »Natürlich tun sie das. Oder sie haben es zumindest lange getan. Es ist nur schwierig, einen so winzigen Punkt im All zu finden. Ich glaube bestimmt, daß sie schon wieder einen neuen Versuch vorbereiten. Du darfst die Hoffnung nie aufgeben, mein Junge!« »Mir fehlt nichts«, sagte Vic. »Ich komme mir wie Robinson Crusoes Sohn vor. Robinson Crusoe muß oft traurig wie du gewesen sein, aber sein Sohn wäre auf der Insel zu Hause gewesen.« Floyd hatte noch immer feuchte Augen. Er legte Vic 98
eine Hand auf die Schulter. »Das ist eine intelligente Art, die Dinge zu sehen, mein Junge.« An einem anderen Abend – nach einem Programm, in dem Roger Bannister die Meile zum erstenmal unter vier Minuten gelaufen, Man o’War in Preakness gewonnen und die Washington Senators die New York Yankees mit 14:1 besiegt und noch weiter in den Keller geschickt hatten – entdeckte Floyd Geringer, daß sein Sohn etwas im Weltalmanach nachschlug. Floyd war in seiner Kabine gewesen und hatte geglaubt, der Junge schlafe schon. Er sah ihn im Erholungsraum – mit dem Almanach. Er hatte ganz vergessen, daß dieses Buch an Bord war. »Ein prima Buch, was?« fragte Floyd beiläufig. »Ja. Es enthält so ziemlich alles, was einen interessieren könnte.« »Zumindest eine Menge Zahlen«, stimmte Floyd zu. »Was hast du denn nachgeschlagen?« »Bevölkerungsdichten«, antwortete Vic prompt. Er klappte das Buch auf der Seite auf, die er sich mit dem Zeigefinger gemerkt hatte. Sein Finger deutete auf die Bevölkerungsdichte von Australien, die die geringste der Welt zu sein schien. »Aha«, sagte sein Vater. Er hatte keinen Grund, an Vies Antwort zu zweifeln. »Kann ich den Almanach haben, wenn du ihn nicht mehr brauchst? Ich möchte etwas nachschlagen.« »Okay.« Vic klappte das Buch zu und gab es ihm. »Du kannst es gleich haben. Ich bin schon fertig. Ich gehe ins Bett.« »Gute Idee. Gute Nacht, Vic.« 99
Floyd hastete mit dem Almanach unter dem Arm in seine Kabine zurück. Er brauchte nicht darin zu blättern, um zu wissen, daß Bannister und Man o’War keine Zeitgenossen gewesen waren, daß Roosevelt längst tot gewesen war, als der Mount Everest bestiegen wurde, oder daß Eisenhower Präsident gewesen war, als die ›Nautilus‹ unter dem Polareis hindurchgefahren war. Er versteckte den Almanach hinter anderen Büchern und setzte sich an den Tisch, auf dem sein Bandschneidegerät stand. »Lügner!« sagte er mehr zu sich selbst als zu dem Gerät. Er drehte sich auf seinem Sessel nach dem Tonbandgerät um, das das letzte Programm gespielt hatte, und riß das Band heraus. Einen Augenblick schämte er sich zutiefst, weil er Vic auf diese komplizierte Weise getäuscht hatte. Aber als er sich in der winzigen Kabine umsah und sich vorstellte, welche unendlichen, trostlosen Weiten außerhalb der ›Magellan‹ lagen, erinnerte er sich an die Gründe, weshalb er das wöchentliche Programm eingeführt hatte. Sie trafen noch immer zu; er hatte nichts Schädliches getan. Er hatte nur das ständige Nichts ein wenig zurückgedrängt. Er hatte ihre kleine Welt mit großen Ereignissen aus jener anderen toten bevölkert, um den Tag, an dem die Wirklichkeit sie einholen würde, etwas weiter hinauszuschieben. Er, der vorletzte Mensch, hatte Erinnerungen gespeichert, die der letzte Mensch – vorerst noch ein Junge – mit auf seinen letzten Flug nehmen konnte. Bücher waren eine gute Informationsquelle, aber gesprochene Wort vermittelten einem das Bewußtsein, wahre Geschichte mitzuerleben. 100
Nein, Floyd hatte seinen Sohn nicht arglistig getäuscht. Eines Tages würde er ihm alles erklären. Vorerst noch nicht, da Vic trotz des Almanachs nicht mißtrauisch geworden zu sein schien, aber später, wenn Floyd spürte, daß seine Zeit zu Ende ging und daß er Vic bald verlassen würde. Bis dahin war es nur rücksichtsvoll und sogar seine Pflicht, Vic die Überzeugung zu lassen, die Menschheit existiere noch und werde sie eines Tages retten. Floyd Geringer, der genau wußte, daß dieser Tag nie kommen würde, dachte daran zurück, was er getan hatte. In seiner Einsamkeit hatte er die Erde wiedererschaffen, wie er sie kannte – oder zumindest die Erde, an die er sich wehmütig erinnerte. Seine kaleidoskopartigen Eindrücke waren die sorgfältig redigierten Produkte besserer Einsicht. Floyds Tonbandspielereien brachten etwas hervor, was für ihn die beste aller möglichen Welten war: eine Welt, wo FDR Präsident war, wo die New York Yankees noch immer Babe Ruth und Lou Gehring hatten, wo Joe Louis Weltmeister im Schwergewicht war, wo Fred Allen im Rundfunk auftrat, Carole Lombard noch Filme drehte und Albert Einstein in Princeton durch sein Arbeitszimmer schlurfte und zukunftsweisende Gleichungen an die Tafel kritzelte. Es war eine Welt, in der kein guter Mensch gestorben war und in der sich die Zeit beliebig verändern ließ. Es war eine Erde, deren selektive Vollkommenheit ihren Schöpfer oft zu Tränen rührte, weil er daran dachte, daß sie unwiederbringlich verloren war. Floyd war sich darüber im klaren, daß er die Tonbänder nicht nur zusammenstellte, damit Vic nicht auf die Idee 101
kam, sie könnten die beiden letzten Menschen sein, sondern daß er sich damit selbst ein wehmütiges Vergnügen bereitet hatte. Und warum auch nicht? Er brauchte sich nicht dafür zu entschuldigen, daß er in seinen Programmen das Positive betont hatte. Vic sollte ruhig glauben, die Welt sei gut gewesen, wie sie tatsächlich meistens gewesen war. Der Junge brauchte die übrigen Aspekte seiner zerstörten Heimat nicht schon jetzt kennenzulernen: die Kriege, die hungernden Millionen, die Grausamkeiten, die schrecklichen Seuchen. Davon stand genug in den Geschichtsbüchern, die Floyd gleich zu Anfang vor dem Jungen versteckt hatte. Floyd gab sich einen Ruck, legte ein neues Band ein und überlegte, wie das Programm der nächsten Woche aussehen sollte. Anfangs hatte er geglaubt, für jeden Abend ein neues Programm vorbereiten zu können, aber er hatte bald einsehen müssen, daß das unmöglich war. Wie die Dinge jetzt standen, brauchte er oft zwei Tage, um das wöchentliche Band aus geschichtlichen Tatsachen und eigenen Erinnerungen zusammenzustellen. Deshalb hatte er Vic gegenüber behauptet, sie dürften nur einmal in der Woche Radio hören, um Batterien zu sparen. In Wirklichkeit würden die Sonnenzellen natürlich noch Strom liefern, wenn sie beide schon tot waren. Aber in Zukunft würde er vorsichtiger sein müssen. Er durfte sich keine gravierenden Zeitverschiebungen mehr erlauben. Die geschichtlichen Ereignisse, die er wiedergab, mußten miteinander vereinbar sein. Floyd machte sich seufzend an die Arbeit, das Programm für nächste Woche zusammenzustellen.
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Aber als es nächste Woche soweit war, holte nicht Floyd seinen Sohn vor den Lautsprecher. Vic Geringer öffnete zwei Minuten vor acht die Tür des Erfrischungsraums und stellte fest, daß er leer war. Er konnte sich nicht daran erinnern, daß das schon einmal passiert war. Vic klopfte an die Kabinentür seines Vaters. »Dad? E›as Programm fängt gleich an.« »Ich höre heute abend nicht zu, glaube ich«, antwortete eine müde, alte Stimme. »Ich habe heute keine Lust.« »Bist du krank, Dad?« rief Vic durch die Tür. »Ist was los?« Floyd öffnete die Tür, ging aber nicht zu seinem Sessel. »Nein, mir fehlt nichts, Vic. Ich bin nur ein bißchen deprimiert. Am besten gehe ich früh ins Bett, wenn du nichts dagegen hast.« »Natürlich nicht, Dad. Aber es stört dich doch nicht, wenn ich zuhöre?« Floyd hatte gehofft, sein Sohn werde diese Frage nicht stellen, aber er war darauf vorbereitet. »Das kannst du, mein Junge. Warum schaltest du das Gerät nicht gleich selbst ein?« »Darf ich?« Vic hatte es noch nie anstellen dürfen. Sein Vater nickte, und Vic beobachtete, wie der rote Sekundenzeiger sich der Sechs näherte. Als der Zeiger sie erreichte, schaltete er den Empfänger ein. »Wenn ich schon hier bin, kann ich auch gleich zuhören«, entschied Floyd. Er ließ sich in seinen Sessel fallen. Sein kleiner Finger tastete nervös nach dem Brandfleck auf der Lehne. Punkt acht Uhr sagte die Stimme aus dem Lautsprecher: »Die International Broadcasting Company, die sonst 103
um diese Zeit ›Die Welt heute‹ bringt, teilt folgendes mit: Aufgrund der Tatsache, daß es heute keine wichtigen Ereignisse zu berichten gibt, senden wir statt unseres Abendprogramms ein Symphoniekonzert.« Vic warf seinem Vater einen überraschten Blick zu. Floyd zuckte mit den Schultern. »Anscheinend ist einfach nichts passiert«, sagte der Vater. »Ich kann mich erinnern, daß es solche Tage gibt, obwohl niemand diese Tatsache zugegeben hat.« »Aber irgendwo muß doch irgend etwas passiert sein«, meinte Vic zweifelnd. In Wirklichkeit hatte Floyd zum erstenmal kein Tonband vorbereitet. Als er sich an die Arbeit gemacht hatte, war er wegen der Sache mit dem Almanach so nervös gewesen, daß einfach nichts geklappt hatte. Bisher hatte er die Programme völlig willkürlich zusammenstellen können, aber diesmal hatte sich die Notwendigkeit, zusammenhängend und ohne Vies Mißtrauen zu erwecken zu berichten, lähmend auf seine Gedanken gelegt. Als der Sendetermin nur noch Stunden entfernt gewesen war, hatte Floyd einsehen müssen, daß es ihm unmöglich war, diese Woche ein Programm vorzubereiten. Er war halbwegs davon überzeugt gewesen, daß Vic nicht von selbst nach dem Programm fragen würde. Trotzdem hatte er vorsichtshalber das Musikband vorbereitet. Jetzt war er froh, daß er daran gedacht hatte. Die Lautsprecherstimme sagte: »Diesmal hören Sie von Wolfgang Amadeus Mozart die Jupitersymphonie in C-Dur, Köchelverzeichnis fünfhunderteinundfünfzig, gespielt von Royal Philharmonie Orchestra unter Leitung von Sir Thomas Beecham.« 104
Als die Musik einsetzte, beugte Floyd sich nach vorn, um den Empfänger abzuschalten. »Laß es bitte an, Dad«, sagte Vic. Nach einer Pause, die Floyd für bedeutungsvoll hielt, fügte er hinzu: »Wenn es den Batterien nicht schadet.« »Gut, wie du willst«, stimmte Floyd zu. »Aber wir haben diese Platte in unserer Phonothek, glaube ich.« Er wußte genau, daß sie die Jupitersymphonie hatten, denn sonst hätte er sie nicht aufnehmen können. »Ja, aber diese Musik kommt von der Erde«, wandte Vic ein. »Das ist etwas anderes.« Am nächsten Tag betrank Floyd Geringer sich. Bisher hatte er den Kognak, der für Notfälle an Bord war, nur zweimal angerührt. Zum erstenmal an dem schrecklichen Tag einige Monate nach dem Start, als er die Abschiedsbotschaft der Erde am Funkgerät gehört hatte. Zum zweitenmal an seinem fünfzigsten Geburtstag, diesem markanten Zeitpunkt, der Floyds Bewußtsein bestätigte, daß seine Existenz und die der Menschheit sich dem Ende näherten. Er schloß sich mit einer Flasche Hennessy in seiner Kabine ein und dachte wieder an jene letzte Botschaft von der Erde. Sie war von jemandem vorbereitet worden, der das letzte Stadium des selbstmörderischen Krieges miterlebt hatte. Floyd segnete diesen Unbekannten, der in der äußersten Not selbstlos genug gewesen war, einen Nachruf auf die Erde zu verfassen und über Funk auszustrahlen, wo ihn vielleicht jemand hören würde. Der Zuhörer sollte auf diese Weise erfahren, was auf der Erde geschehen war, und dieses Beispiel für seinen eigenen Planeten beherzigen. Und der Zuhörer hatte vielleicht die Möglichkeit, die beiden einzigen Oberlebenden des Drit105
ten Weltkriegs zu retten: den Mann und den Jungen, die an Bord der ›Magellan‹ in den Weltraum geschossen worden waren. Manchmal verfluchte Floyd diesen Unbekannten auch, weil er die Nachricht gesendet hatte. Er mußte gewußt haben, wie unwahrscheinlich es war, daß irgendein fremdes Raumschiff die Botschaft hörte und die Überlebenden rettete – und daß die Schiffbrüchigen der ›Magellan‹ die Nachricht bestimmt empfangen würden, falls sie noch lebten. Es war grausam von dem sterbenden Unbekannten gewesen, ihnen zu erklären, sie seien zum Tode verdammt; ihnen die Hoffnung zu rauben, die Funkstille ihnen gegeben hätte. Aber dann nahm Floyd seinen Fluch zurück, weil er sich überlegte, daß er unter gleichen Umständen wahrscheinlich ähnlich gehandelt hätte. Als der Flüssigkeitsspiegel in der Flasche sank, holte Floyd die Tonbandaufnahme der letzten Nachricht von der Erde hervor. Er hatte sie nicht gleich auf Band aufgenommen, weil er diese letzte Verbindung zur Erde gleichzeitig haßte und liebte, wenn er sich die Botschaft jeden Tag mit geradezu morbider Faszination anhörte. Aber eines Tages hatte sie schwächer geklungen, als seien die Batterien erschöpft, und Floyd hatte sie hastig aufgezeichnet. Innerhalb einer Woche war die Stimme von der Erde verstummt. Floyd spielte sich die Nachricht erneut vor, obwohl er sie längst auswendig konnte. Er trank noch einen Schluck auf den unbekannten Verfasser dieses Nachrufs, stellte dann die Flasche weg und machte sich daran, das Programm für nächste Woche vorzubereiten. Es sollte das letzte sein.
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Es war acht Uhr. »Okay, mein Junge?« »Fertig, Dad.« Floyd schaltete den Empfänger ein. Als der Sekundenzeiger die Zwölf erreichte, begann die Stimme: »Hier spricht dein Vater, Vic.« Der Junge hatte wie üblich mit geschlossenen Augen im Sessel gelehnt. Jetzt richtete er sich auf und starrte zuerst seinen Vater und dann den Lautsprecher an. Floyd legte einen Finger auf die Lippen und bedeutete ihm, schweigend zuzuhören. Vic nickte, lehnte sich wieder zurück und hörte aufmerksam zu. »Ich glaube, daß es für mich einfacher ist, auf diese Weise mit dir zu reden, mein Junge«, sagte Floyds Stimme. »So kann ich mir alles besser überlegen und die Dinge ändern, die ich nicht richtig ausgedrückt habe. Ich bin ein sehr guter Tonregisseur …« Als die Stimme weitersprach, schloß Vic die Augen. Aber Floyd wußte, daß er aufmerksam zuhörte. Nach einiger Zeit quollen Tränen unter den geschlossenen Lidern hervor. »… weißt du, du hattest soviel über die Erde zu lernen, und es gab soviel, was mir lieb und teuer war, daß ich wollte, daß die Erinnerung daran dir etwas bedeutet. Ich wollte dir die lebende Erde vor Augen führen, wie ich sie gekannt habe, und du solltest sie schätzen lernen. Ich wollte nicht, daß du die Erde wie eine tote Sprache studierst … Ich gebe zu, daß ich dich getäuscht habe, und bitte deswegen um Entschuldigung. Aber ich habe kein schlechtes Gewissen, weil ich die Geschichte etwas redigiert habe. Die Fakten findest du im Weltalmanach, den du zurückhaben kannst, und in anderen Büchern, die ich 107
bisher von dir versteckt habe. Aber Tatsachen allein genügen nicht. Die Erde war mehr als eine Ansammlung von Statistiken. Die Erde war meine Heimat – und für kurze Zeit auch deine –, und ich glaube, daß alles, was ich dich gelehrt habe, auf verrückte Weise wahrer als alles Buchwissen war. In den Büchern wird von Attentaten, Seuchen, Hungersnöten und Kriegen berichtet; das waren die Wendemarken unserer Geschichte. Aber ich habe dir noble und humoristische Punkte nahegebracht. Davon steht nicht genug in den Büchern.« Die Stimme schwieg. Floyd stellte den Empfänger ab. »Das Tonband hat zwei Teile«, sagte er. »Der erste genügt vorläufig, glaube ich.« Vic stand auf und setzte sich auf Floyds Sessellehne. Als Floyd ihm über den Kopf fuhr, warf der Junge sich schluchzend in seine Arme. Auch Floyd weinte. Es war schon zu lange her, daß sein Sohn auf seinem Schoß gesessen hatte. Und Vic war mehr als nur sein Sohn – er war der einzige andere Mensch. Nach einiger Zeit putzte Vic sich die Nase, blieb aber auf den Knien seines Vaters sitzen. »Das macht nichts, Dad.« »Natürlich«, stimmte Floyd zu. Er brauchte selbst ein Taschentuch. »Aber tröstest du mich, oder verzeihst du mir?« Vic lachte. »Was du willst, Dad. Du hast dir bestimmt Sorgen um mich gemacht, weil ich so viel allein bin. Aber das ist eben nicht zu ändern, stimmt’s? So ist das Leben heutzutage. Mir fehlt nichts, Dad. Wirklich nicht. Ich vermisse nichts wie du, weil ich nie etwas anderes gekannt habe. Aber du tust mir oft leid.« 108
»Ich tue dir leid?« fragte sein Vater überrascht. »Allerdings. Für dich ist es bestimmt schwierig, immer nur mit einem Jungen reden zu können.« »Unsinn! Und das ist dein Ernst, daß dir die Erde nicht auch fehlt, daß du ihr nicht nachtrauerst?« »Ich hab’ dir doch einmal gesagt, daß ich Robinsons Crusoes Sohn bin, Dad. Ich hab’ nie etwas anderes gekannt. Aber ich mache mir oft Sorgen um dich, wenn du in deiner Kabine verschwindest und mit Tonbändern spielst.« Floyd grinste schuldbewußt. »Wann hast du zum erstenmal vermutet, die Programme könnten Fälschungen sein, Vic?« Der Junge antwortete nicht gleich. »Als du mich mit dem Almanach erwischt hast«, gab er dann zu. »Ich habe in Wirklichkeit Präsidenten nachgeschlagen. Franklin D. Roosevelt ist am zwölften April neunzehnhundertfünfundvierzig gestorben, nicht wahr?« »Ja«, stimmte Floyd zu. Vic fiel etwas ein. »He, wo du jetzt nicht mehr Nachrichtensprecher spielen mußt, haben wir eigentlich mehr Zeit füreinander!« »Ich habe dich wohl vernachlässigt, was?« »Ich habe dich kaum noch zu Gesicht bekommen.« »Nun, das läßt sich ändern. Du bist jetzt fast vierzehn – gerade alt genug, um ein kleines Spiel namens Poker zu lernen.« »Das kann ich bereits, Dad. Ich habe massenhaft Zeit gehabt, alles zu lesen, weißt du – den Almanach, Hoyle und die anderen Nachschlagewerke.« »Hmm, du bist also schon richtig erwachsen. Traust du dir zu, die letzte Botschaft der Erde zu ertragen? Dann 109
weißt du alles, was ich in den letzten zwölf Jahren erfahren habe.« »Klar, wenn sie dich nicht allzu sehr bedrückt.« Vic ging zu seinem Sessel zurück, blieb diesmal jedoch aufrecht sitzen und beobachtete Floyd mit leuchtenden Augen. »Sie ist auf dem zweiten Teil des Tonbands«, erklärte sein Vater ihm. »Wenn du sie erträgst, bin ich ihr auch gewachsen.« »Fang nur an, Dad.« Nachdem Vic die letzte Nachricht der Erde gehört hatte, schwieg er einige Zeit, als respektiere er die schmerzlichen Erinnerungen, die sie in seinem Vater wachrufen mußte. »Ich bin dir dankbar, daß du sie mir vorgespielt hast, Dad«, sagte er schließlich. »Ich kann mir vorstellen, wieviel Überwindung dich das kostet. Wann hast du sie zuletzt direkt gehört?« »Sie ist schon vor Jahren verstummt, Vic.« »Vielleicht ist sie jetzt wieder zu hören. Die Batterien haben sich unter Umständen wieder aufgeladen oder sonstwas. Ich möchte sie direkt hören, falls sie noch gesendet wird.« »Das halte ich für unwahrscheinlich, aber wir können’s ja versuchen. Komm mit zu mir hinüber.« In seiner Kabine zeigte Floyd ihm, wie das Funkgerät eingestellt wurde. »Ungefähr auf dieser Frequenz hat der Sender gearbeitet. Siehst du? Jetzt ist nichts mehr zu hören. Nur atmosphärische Störungen. Das ist alles – du und ich und atmosphärische Störungen.« »Du wirst wieder sentimental, Dad. Was passiert, wenn ich diesen Knopf hier drehe?« 110
Vic drehte ihn. »Wieder atmosphärische Störungen«, sagte Floyd. »Die …« »Was war das?« Vic drehte den Knopf zurück. Beide hörten ein schwaches Piepsen im Lautsprecher. Floyd stellte es lauter. Sie hörten deutlich Morsezeichen. »Wahrscheinlich ein automatischer Sender«, meinte Floyd. »Allerdings ist merkwürdig, daß ich ihn noch nie gehört habe.« Er lächelte hoffnungsvoll, als er den Text mitzuschreiben begann. Das war anstrengend, weil die Zeichen schwach und seine Morsekenntnisse eingerostet waren. »… . FT MAGELLAN MOND RUFT MAGELLAN. WIR SIND HIER IM AUFBAU. LASST DIE HOFFNUNG NICHT SINKEN. WIR SCHICKEN EUCH SO BALD WIE MÖGLICH EIN RETTUNGSSCHIFF. EUER SIGNAL KLAR.« »Der Mond!« rief Floyd aus. »Dann muß mindestens noch eine Rakete gestartet sein.« »Unser Signal?« fragte Vic. »Ich wußte gar nicht, daß wir eines haben.« »Eine automatische Kennung, nehme ich an. Pst!« »MOND RUFT MAGELLAN. DIES IST EIN MECHANISCHES SIGNAL. AUF UNSERE ERSTEN ANRUFE KEINE ANTWORT, NUR EUER AUTOMAT. MELDET EUCH LIVE, DANN SCHALTEN WIR AUF STIMME UM. WIR HÖREN DIESE FREQUENZ STÄNDIG AB. ENDE DER NACHRICHT. ANFANG DER NACHRICHT. MOND RUFT MAGELLAN. MOND RUFT …« »Es gibt also doch noch andere!« rief Vic aus und 111
schlug seinem Vater auf den Rücken. »Sie müssen zur gleichen Zeit wie wir gestartet sein.« »Oder eine der damaligen Großmächte hat schon vorher heimlich einen Stützpunkt auf dem Mond eingerichtet«, sagte Floyd nachdenklich. »Diese Leute können ebensogut Russen oder Chinesen sein … Jedenfalls müssen wir jetzt unsere Antwort vorbereiten. Anscheinend muß ich noch mindestens ein Band besprechen. Hilfst du mir dabei?« »Okay, Dad … Wie lange werden sie wohl brauchen, um uns zu erreichen?« »›So bald wie mögliche haben sie gesagt. Das kann noch Jahre dauern. Sie können dort nicht die technischen Einrichtungen wie auf der Erde haben.« »Das macht mir nichts«, sagte Vic. »Dann haben wir wenigstens Gelegenheit, einander kennenzulernen.«
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Aber rechne mit Heimweh
Die Stimme aus der Vergangenheit I: Er Er floh vor dem Fernseher, auf dessen Bildschirm ein Mittel gegen Verdauungsstörungen angepriesen wurde. Er kam später zurück, als angeblich unbeschreiblich gute Pralinen trotzdem detailliert beschrieben wurden, und stellte das Gerät ab. Er überlegte, ob er es zertrümmern sollte, aber er verabscheute Gewalttätigkeiten – und er würde den Trümmerhaufen danach selbst beseitigen müssen. Er versuchte zu lesen, aber er konnte sich nicht konzentrieren. Die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen. Was war mit ihm los? Litt er etwa an Vitaminmangel? Er fuhr zusammen. Er ging ruhelos in seinem Apartment auf und ab und betrachtete die Einrichtungsgegenstände, die er in zwanzigjähriger Junggesellenzeit zusammengetragen hatte. Nur wenige Dinge waren neu dazugekommen. Zum Beispiel der Gaskamin, den er sich nach einer Englandreise hatte einbauen lassen – der war relativ neu. Oder der Morris-Sessel, den er sich vor kurzem zu seinem fünfundvierzigsten Geburtstag gekauft hatte. Er hatte genau gewußt, was für einen Sessel er wollte: einen mit verstellbarer Rückenlehne und Fußstütze. Er hatte lange danach gesucht, bis er endlich einen in einer Verkaufsstelle der Heilsarmee entdeckt hatte. 113
Jetzt ließ er sich in diesen Sessel fallen. Er lehnte sich zurück, legte die Füße hoch und vermied es, das Fernsehgerät anzusehen, das ihm genau gegenüberstand. Dieses Gerät war natürlich neu. Er stand irritiert auf, rückte den Sessel zur Seite, bis er neben dem Tischchen mit dem Radio stand, und nahm wieder Platz. Er schaltete den Empfänger ein – einen alten Atwater Kent, den er mit dem Sessel gekauft und liebevoll repariert hatte – und wartete ängstlich. Er hielt sich bereit, das Radio sofort wieder auszuschalten, wenn er die Stimme eines kleinen Mädchens hörte, das seine Mutter bat, doch zweilagiges Toilettenpapier zu kaufen. Er atmete erleichtert auf, als Musik aus dem alten Lautsprecher drang. Dann kam wie aus der Vergangenheit Jack Bennys freundliche, leicht verwirrte Stimme. Er lächelte überrascht, bis ihm einfiel, daß er irgendwo gelesen hatte, daß die besten Sendungen dieses Komikers wieder ausgestrahlt werden sollten. Als die Jack-Benny-Show zu Ende war, suchte er bedauernd einen anderen Sender. Er erstarrte förmlich, als er Fred Aliens Stimme hörte. War das wirklich der große, unvergessene Allen? Ah, das waren noch Zeiten gewesen! Fred Allen mit Portland Hoffa, Parker Fenelly und Mrs. Nussbaum. Gott segne sie und ihr altmodisches Medium, das wenigstens noch einige Dinge der Phantasie des Zuhörers überlassen hatte. Er hörte begeistert zu und störte sich nicht einmal an den Merry Macs, die ihren Song brachten. Er hatte immer das Gefühl gehabt, sie paßten nicht in Aliens Show, und spürte intuitiv, daß Fred der gleichen Auffassung 114
war. Aber er hatte sich leider nicht gegen den Sponsor der Sendung durchsetzen können. Dann verstummte auch Fred Allen. Er drehte hoffnungsvoll am Einstellknopf weiter und spürte sein Herz aufgeregt schlagen. Er war fast davon überzeugt, sein Atwater Kent bringe ihm diese Programme live. Er suchte einen Sender nach dem anderen, wie er es als Junge mit seinem Detektorempfänger getan hatte, und hörte Vic und Sade, Major Bowes, Myrt und Marge, die Goldbergs, Jack Pearl, Bums und Allen, Rudy Valine, Stoopnagle und Budd, die Easy Aces, Ruth Etting, Kate Smith, Frank Munn, Ben Bernie, Raymond Knight … Er genoß es, diese fast vergessenen Stimmen wieder zu hören, lachte mit ihnen, weinte mit ihnen, erlebte die Vergangenheit zum zweitenmal, schob alle Zweifel beiseite. Erst gegen Mitternacht, als ein Sender nach dem anderen sich von seinen Hörern verabschiedete, wurde er nachdenklich. Er schaltete das Radio widerstrebend aus. Er stand auf und reckte sich – vom langen Sitzen verkrampft, aber nicht müde. Er dachte ungläubig: Ich bin wieder in der Vergangenheit. Damals war ich glücklich. Ich war jung. Das Leben war unkompliziert. Er korrigierte sich: Ich bin jung. Ich bin glücklich. Er lachte (leise, um den Zauber nicht zu zerstören) und dachte: Es stimmt! Wer könnte das Gegenteil behaupten? Solange ich es will, ist es hier in diesem Raum wahr. Solange ich nicht in den Spiegel blicke – und nicht den Fernseher einschalte. Dann hörte er draußen etwas. Ein metallisches Rumpeln, Klirren und Kreischen, das rasch näher kam. Lauter. Näher. Klirrend und ratternd. Im nächsten Augen115
blick polterte es kaum fünf Meter von seinem Fenster entfernt vorbei. Die Hochbahn auf der Ninth Avenue! Natürlich war sie längst abgerissen worden – noch vor den Strecken Third Avenue und Sixth Avenue. Aber dort draußen ratterte sie vorbei. Er sah ihren Schatten auf den heruntergezogenen Rollos. Er wollte nach der Schnur greifen, aber er beherrschte sich im letzten Augenblick. Nein, dachte er, wenn ich hinsehe, ist sie nicht mehr da (doch, doch!). Ich darf nicht hinaussehen. Ich muß sie akzeptieren (das tue ich schon). Ich muß daran glauben. Ich muß auf die Straße gehen, dann ist sie da (bestimmt!). Er verließ sein Apartment, ging den Flur entlang und stieg die Treppe hinunter. Unten in der Eingangshalle sah er seinen Namen am Briefkasten. Die maschinengeschriebenen Buchstaben waren frisch und deutlich lesbar. Er trat auf die Straße und in die Vergangenheit hinaus und fühlte sein Blut jugendlich durch seine Adern kreisen.
II: Sie Sie war noch spät unterwegs. Das war eine notwendige Unannehmlichkeit. Sie ertrug die mißtrauischen Blicke von Streifenpolizisten, ließ sich von hoffnungsvollen, aber zu schüchternen jungen Männern anstarren und wehrte andere ab, die sie gleich einladen wollten. Sie mußte sich alle ansehen. Einer von ihnen mußte der Richtige sein. Sie wußte, daß die Gegend richtig war: 116
Irgendwo im Westen des Times Square, irgendwo unter den Hochbahngleisen würde sie ihren Mann erkennen. Die Erinnerung an die näheren Umstände war nur schwach ausgeprägt. Sie wünschte sich, sie hätte damals besser aufgepaßt. Aber sie hatte es zu eilig gehabt. Alles war so aufregend gewesen, daß sie ein paar Details ausgelassen hatte. Das war ihr eigener Fehler. Schließlich war sie gewarnt worden. Sie warf sich ihren Silberfuchs über die Schulter und ging weiter. Ein Mann kam aus einer Bar und schloß sich ihr an. Sie beobachtete ihn aus dem Augenwinkel heraus. Er war nicht der Richtige. Das merkte man. »Ich wohne gleich um die Ecke«, sagte sie, »und mein Bruder ist noch auf. Er ist Amateurboxer.« Sie sah geradeaus, aber sie merkte, wie er prompt langsamer wurde und zurückblieb. Sie bog um die Ecke. Weit vor ihr ratterte ein Hochbahnzug vorbei. Ihre Absätze klapperten über den Gehsteig. Sie hoffte ohne große Zuversicht, daß dies die entscheidende Nacht sein würde. Wie viele Nächte waren es jetzt schon? Das spielte eigentlich keine Rolle (das Ergebnis blieb schließlich das gleiche), aber sie war müde und wollte zurück. Ihre Neugier war längst befriedigt. Sie bedauerte jetzt, daß sie gekommen war, obwohl sie wußte, daß es ihr nicht mehr leid tun würde, wenn … ja, wenn sie ihm begegnete. Aber das konnte noch lange dauern, und im Augenblick taten ihr die Füße weh. Sie würde ihn jedenfalls erkennen. An der nächsten Kreuzung, unter der Hochbahn, heute nacht. Dies war die richtige Gegend. Vielleicht auch der richtige Zeitpunkt. (Aber die Zeit war so dehnbar!) 117
Sie sah einen Polizisten, der ihr entgegenkam, und bemühte sich, zielbewußt weiterzugehen. »Schon gut, Constabler«, hätte sie am liebsten gesagt, »ich gehe nachts durch die Straßen unserer Stadt, aber ich bin kein Straßenmädchen.« Der Uniformierte nickte ihr kaum merklich zu, als sie aneinander vorbeigingen. Ein braves Mädchen auf dem Nachhauseweg, nichts anderes. Großer Gott, würde sie je nach Hause kommen? Sie zwang sich dazu, optimistisch zu denken. Ja! Ja, heute nacht würde sie ihm unter der Hochbahn begegnen und ihn erkennen. Er würde etwas an sich haben, was als Erkennungszeichen dienen konnte. Vielleicht seine Kleidung, obwohl die Herrenmode sich nicht so rasch änderte. Wahrscheinlich war es eher sein Benehmen. Irgend etwas, was ihr auffallen würde. Sie überquerte die Straße und ging auf die Hochbahnstation zu. Da stand er! Ein Mann, der an der Treppe zur Bahnsteigplattform eine Handvoll Münzen anstarrte. Nicht so sehr seine Kleidung, sondern seine Unentschlossenheit überzeugte sie davon, daß sie ihren Mann vor sich hatte. Sie hastete auf ihn zu und blieb neben ihm stehen. Er sah verwirrt auf. Sie hielt bereits Geldstücke in der Hand. »Keine Buffalo-Nickel?« fragte sie erleichtert lächelnd. »Nur Jeffersons?« Sie sah sein beginnendes Lächeln, bevor er sich darauf besann, was sich schickte. Aber er war der Richtige! Das wußte sie, als sie beobachtete, wie er seinen Mut zusammennahm und zögernd fragte: »Würden Sie mir zwei Buffalo-Nickel für einen Roosevelt-Dime geben, Miss?«
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III: Sie + Er Sie warteten auf dem düster beleuchteten Bahnsteig auf den nächsten Zug stadteinwärts. Er wollte etwas sagen, zögerte jedoch. Sie lächelte ihm aufmunternd zu. »Woher kennen Sie Roosevelt-Dimes?« erkundigte er sich endlich. »Er war … er ist noch gar nicht Präsident. FDR, meine ich. Ist er nicht noch Gouverneur von New York?« Sie zuckte nonchalant mit den Schultern. »Zeitgeschichte ist nicht gerade meine Stärke.« Er hatte sie prüfend betrachtet. »Sie sind nicht von hier«, stellte er fest, »obwohl alles an Ihrer Kleidung stimmt. Wie sind Sie hierhergekommen?« Er lachte. »Ich weiß nicht einmal, welches Jahr wir haben. Es war zu dunkel, um Autokennzeichen zu lesen, ohne dabei aufzufallen – indem ich mich bücke, verstehen Sie. Und die Zeitungskioske waren zu, sonst hätte ich mir eine Zeitung gekauft.« »Sie brauchen keine Zeitung«, sagte sie. Er trat an den Kaugummiautomaten am nächsten Pfeiler und sah in den Spiegel. Er war wirklich jung. Etwa in ihrem Alter. Sie lachte. »Jetzt benehmen Sie sich auffällig.« »Macht nichts«, meinte er lachend. »Wie alt sind Sie?« »Vierundzwanzig.« »Dann möchte ich fünfundzwanzig sein. Ich bin neunzehnhundertelf geboren, folglich wäre jetzt neunzehnhundertsechsunddreißig, stimmt’s?« Sie zuckte erneut mit den Schultern. »Das spielt keine Rolle. Im Duoversum ist alles relativ.« »Im was?« 119
Ihre Antwort ging im Rattern des einfahrenden Zuges unter. Sie nahmen in einem fast leeren Wagen Platz. »Wohin fahren Sie?« erkundigte sie sich. »Jetzt? Nach South Ferry, nehme ich an. Das hat vorn auf dem Zug gestanden.« »Dort drüben liegt eine Zeitung«, sagte sie. »Sie könnten nach dem Datum sehen.« »Nein, lieber nicht«, wehrte er ab. »Ich … ich möchte die Dinge nicht auf die Spitze treiben.« »Davor brauchen Sie keine Angst zu haben. Aber ich verstehe Ihren Standpunkt.« »Wirklich? Ich habe Radio gehört – ich habe ein ganz altes Gerät –, weil ich aufs Fernsehen wütend war und …« Er machte eine Pause. »Wissen Sie, was Fernsehen ist?« »Ja.« »Natürlich – Sie haben auch Roosevelt-Dimes gekannt.« Er betrachtete sie. Sie war schwarzhaarig und hübsch. Er fragte sich, wie sie heißen mochte. »Haben Sie auch Radio gehört und sind dann plötzlich hier gewesen?« »Nein, meine Zeitreise war geplant.« »Hmm. Wie heißen Sie?« »April.« Er lachte. »So ein Zufall! Sie heißen April – und ich Sommer. Harry Sommer.« »Hallo, Harry.« Sie schüttelte ihm ernsthaft die Hand. »Hallo, April.« Er sah in ihre braunen Augen, während der Zug weiter durch die Vergangenheit ratterte. »Wohin fährst du, April?« »Ich begleite dich bei deiner Stadtbesichtigung. Dann komme ich mit dir nach Hause.« »Oh?« Er schien überrascht und verlegen zu sein. 120
Sie senkte den Kopf. »Das ist ganz in Ordnung. Ich …« »Natürlich! Ich freue mich, wenn du kommst.« Aber er wollte nicht nach Hause, wo der Fernseher stand und er sechsundvierzig war. Würde sie zu Hause fünfundvierzig sein? »Mach dir keine Sorgen, Harry.« Sie lächelte beruhigend. »Du bist hier doch glücklich, nicht wahr?« Er nickte wortlos. Sie standen nebeneinander an der Reling der StatenIsland-Fähre und beobachteten das phosphoreszierende Kielwasser. »Bin ich wirklich hier?« fragte er. »Wirklich, meine ich.« Sie drückte seinen Arm. »Was glaubst du?« »Das weiß ich eben nicht. Könnte ich mir selbst begegnen? Könnte ich den anderen Harry Sommer finden, der neunzehnhundertsechsunddreißig zum erstenmal erlebt?« »Nein«, antwortete sie. An Steuerbord tutete ein Frachter. »Du bist der einzige Harry Sommer, der neunzehnhundertsechsunddreißig existierte … in diesem Jahr.« »In diesem Jahr neunzehnhundertsechsunddreißig? Hast du deshalb von einem … einem Duoversum gesprochen?« »Ja. Aber ich kann dir nur sagen, daß es zu existieren scheint, damit Zeitreisende sich nicht selbst begegnen. Das ist alles bloße Theorie, verstehst du, aber in Wirklichkeit klappt die Sache offenbar.« Sie schwiegen eine Zeitlang und beobachteten die anderen Schiffe. Die Nachtluft war frisch, aber nicht kalt. 121
»Ich bin froh, daß ich dich gefunden habe«, flüsterte er. »Und ich bin froh, daß ich dich gefunden habe. Ich habe so lange gesucht!« Dann lag sie plötzlich in seinen Armen, und er küßte sie. »Wir dürfen nicht mehr verlieren, was wir gefunden haben«, flüsterte er danach. »Wir müssen es für immer bewahren.« »Oh, Harry!« rief sie impulsiv aus. Im nächsten Augenblick wandte sie sich ab und umklammerte die Reling mit beiden Händen. »Das ist unmöglich, Harry. Ich bin in entgegengesetzter Richtung unterwegs.« Sie standen vor seiner Haustür. Durch die Eisenkonstruktion der Hochbahn war zu erkennen, daß der Himmel schon hell wurde. »Wir haben in deiner Vergangenheit nicht allzu viel gesehen«, sagte April. »Weder das Hippodrom noch die Straßenbahn auf dem Broadway noch …« »Mehr Vergangenheit als dich will ich gar nicht.« Sie lächelte traurig. »Komm, wir gehen hinauf.« »Aber dort oben bin ich … bin ich sechsundvierzig. Und du …« »Erst wenn du den Fernseher anstellst, Harry. Erst dann. Komm, wir gehen hinauf.« Er schloß die Wohnungstür auf. Er nahm ihr den Silberfuchs ab, und sie machte in der Kochnische Kaffee. Dann tranken sie Kaffee: sie in dem Morris-Sessel, er ihr gegenüber auf einem Stuhl. Sie schwiegen beide. Er wollte einmal etwas sagen, aber draußen ratterte ein Hochbahnzug vorbei und übertönte seine Worte. »Vielen Dank für den Kaffee – und für alles andere«, sagte sie schließlich und stand auf. 122
»Du darfst nicht gehen! Nein, bitte nicht!« »Ich muß weiter. Ich habe einen langen Weg vor mir. Stell bitte den Fernseher an.« »Nein!« Er stand jetzt vor ihr. »Das tue ich dir nicht an. Ich mache dich nicht alt.« »Du verstehst nicht, worum es geht.« Sie wollte ans Gerät gehen, aber er vertrat ihr den Weg. »Bitte!« flehte er verzweifelt. »Warte noch! Um diese Zeit wird nicht gesendet.« »Ich habe gewartet, Harry. Du weißt gar nicht, wie lange.« Draußen ratterte ein weiterer Hochbahnzug heran. Sie drückte auf den Einschaltknopf. Die Lautsprecherstimme war zu hören, bevor das Bild kam: »Und jetzt, liebe Kinder, erzählt euch euer Onkel Jack von einer wunderbaren Überraschung, die ihr kriegen könnt, wenn ihr mit der Mami einkauft …« Mit dem ersten Ton verstummte das Rattern der Hochbahn. Harry brauchte nicht erst nach draußen zu sehen, um zu wissen, daß die Hochbahngleise von der Ninth Avenue verschwunden waren. Und er war wieder sechsundvierzig. Das wußte er, ohne in den Spiegel zu sehen. Und April war fünfundvierzig. Er drehte sich müde nach ihr um. Sie hatte sich nicht verändert. Sie war so jung und hübsch wie zuvor. Jetzt stellte sie den Fernseher ab, auf dessen Bildschirm inzwischen Onkel Jack erschienen war. »Du hast dich nicht verändert«, sagte Harry. »Ich bin wieder sechsundvierzig, und du bist noch immer vierundzwanzig. Warum?« 123
»Ich habe dir erzählt, daß wir uns entgegengesetzt bewegen. Du zurück, ich vorwärts. Oh, das tut mir leid, Liebster. Aber ich mußte dich … ausnutzen. Ich hatte keine andere Wahl.« »Du stammst aus der Vergangenheit«, murmelte er verständnislos. »Aber neunzehnhundertsechsunddreißig wärst du ein Kind gewesen – ein dreijähriges Mädchen!« »Nein, ich …« Sie gab sich einen Ruck und fing von vorn an: »Ich komme aus der Zukunft, Harry.« »Aus der Zukunft!« Er mußte sich setzen. »Dann bin ich also nur eine Station auf deinem Weg«, sagte er traurig. »Wo du hingehst, bin ich schon tot.« »Nein, Harry.« Sie kniete neben ihm nieder. »Das ist alles relativ. Nur die Gegenwart zählt.« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß, daß ich mir zuviel erhofft habe. Ich wollte meine Jugend, und ich wollte dich – und ich konnte nicht beides haben.« Er starrte den Fernseher an. »Ich kann keines von beidem haben.« Sie berührte seine Hand. »Alles sollte so einfach, so wissenschaftlich sein. Ich sollte mit Hilfe einer Maschine in die Vergangenheit zurückkehren, um sie zu studieren und … Oh, das ist alles unwichtig! Nur du bist wichtig. Ich habe dich verletzt, ohne es zu wollen, und …« »Nein, nein«, unterbrach er sie. »In deinem wirklichen Leben habe ich keine Existenzberechtigung. Da bin ich längst tot und vergessen.« Sie schüttelte den Kopf und begann zu weinen. »Laß mich ausreden«, forderte er sie auf. »Wir müssen realistisch bleiben. Ich bin für dich nur ein Störfaktor. Das muß aufhören. Und du darfst dich nicht um jemanden kümmern, der in deiner Zeit längst nicht mehr lebt. 124
Ich bin schon glücklich, wenn du in der Zukunft gelegentlich an mich denkst.« Sie drückte seine Hand, die ihre festhielt, gegen ihr tränennasses Gesicht.
IV: Er Er stand am Fenster und sah ihr nach, als sie aus seinem Leben verschwand und ihm von der Ecke aus noch eine Kußhand zuwarf. Sie hatte in seinem Bett geschlafen, während er in dem Morris-Sessel döste (Rückenlehne ganz tief, Fußstütze herausgeklappt; eigentlich recht bequem). Jetzt trat er ohne Bedauern vom Fenster zurück, zog sich aus und kroch im Schlafanzug unter die Bettdecke, die noch zart nach ihrem Parfüm duftete. Er schlief und träumte nicht von der Vergangenheit, die tot war, oder der Gegenwart, die im Sterben lag, sondern von der Zukunft, ihrer Zukunft, die leben würde, wenn er zu Staub geworden war.
V: Sie Noch bevor der Tag zu Ende ging, wußte sie, daß sie ihre Reise durch die Zeit nicht würde fortsetzen wollen. Die Welt des Jahres 2012 war nur technisch gesehen besser. Hier fand sie keine Liebe. Sie bog in der Abenddämmerung auf die Ninth Avenue ab und bildete sich ein, einen Geisterzug über imaginäre Hochbahngleise rattern zu hören. Sie wußte, was sie tun würde. Sie würde unten am Eingang warten, bis jemand aus dem Haus kam. Dann würde sie die Treppe hinaufsteigen und an seiner Tür klopfen. 125
»Hallo, Liebster«, würde sie sagen. »Harry! Ich liebe dich.« Und selbst wenn sie ihr Leben lang nur noch vor dem Fernseher saßen, war alles gut, solange er ihre Hand hielt. Aber eines Abends würden sie vielleicht den alten Atwater Kent einschalten und den Street Singer oder die Happiness Boys hören, bis draußen auf der Ninth Avenue plötzlich die Hochbahn durch die Zeit ratterte, in der er fünfundzwanzig und sie vierundzwanzig war.
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Glaube niemals den Zeitungen
Geisterstation Früher hat es im Pressewesen die sogenannte Sauregurkenzeit gegeben. Ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist. In der Nacht zum 17. Juli 1956 gab es jedenfalls reichlich Nachrichten. Ich hatte einen ganzen Stapel Meldungen, die ich redigieren mußte, auf meinem Schreibtisch liegen. Nancy Corelli, die Fernschreiberin, hatte den Korb voll Meldungen, die über FFS nach London übermittelt werden sollten. Nancy, eine hübsche Brünette – leider verheiratet –, tippte wie verrückt und fluchte dabei halblaut auf italienisch, als ihr Kollege am anderen Fernschreiber quer durch den Raum rief: »London meldet ZFB, Nan. ZST von sechs – sieben – eins an.« Am besten erkläre ich zuerst ein paar Begriffe für Branchenfremde, die nichts mit Nachrichtenagenturen zu tun haben. Eine Nachrichtenagentur ist eine Organisation wie AP oder UPI oder Reuters – oder World Wide, wie in meinem Fall. FFS bedeutet Funkfernschreiber. Bei WW steht ein normaler Fernschreiber, der Meldungen an Press Wireless, Inc. (kurz Prewi) weitergibt, damit sie drahtlos über den Atlantik nach London gesendet werden. ZFB heißt ›starke Störungen, ZST bedeutet ›alles zweimal‹ – wir sollten alle Meldungen zweimal durchgeben, weil atmosphärische Störungen den Empfang beein127
trächtigen. Hat man die Texte jedoch zweimal, kann man sie eher entziffern. London teilte uns hier in New York also mit, daß die Meldungen bis 670 in Ordnung gewesen waren und daß sie alles andere doppelt brauchten. Nancy zog den Lochstreifen etwa zehn Nummern weit zurück und erkundigte sich: »Soll ich weiterschreiben, Sam, oder lieber warten, bis sie aufgeholt haben?« Ich bin Sam Kent, Nachtredakteur bei World Wide. »Wir warten«, entschied ich. »Vielleicht kommt eine Eilmeldung.« »Gut, dann hole ich Kaffee«, sagte Nancy und stand auf. Als sie gegangen war, berichtete Bart, der andere Fernschreiber: »Jetzt fängt’s hier auch an, Sam.« Er hatte noch eine Meldung aus London aufgenommen, bevor der Fernschreibtext unleserlich wurde: ZSU ZULETZT OKAY 670 AUSWEICHEN KABELGRAMM ZSU heißt ›Text unleserlich‹. Ich informierte Nancy, als sie zurückkam. »Leg einen Streifen ein«, wies ich sie an, »und erkundige dich bei Prewi, was los ist.« In solchen Fällen wird ein Lochstreifen zu einem Ring zusammengeklebt, der endlos durchs Gerät läuft und immer wieder den gleichen Text sendet, der beispielsweise so aussehen kann: QRA QRA WFK 40 WFK 40 VIA PREWI/NY RYRYRYRYRYRYRYRYRYRYRYRYRYRYRYRYRYRYQRA QRA WFK40 WFK40 VIA PREWI/NY RYRYRYRYRYRYRYRYRYRYRYRYRYRYRYRYRYRY RYRYRYRYRYRYRYRYRYRY Das ist unser Rufzeichen, und sobald London den Text wieder lesen kann, antworten sie ZOK. Dann nehmen wir 128
den Lochstreifen wieder ab und machen mit den Meldungen weiter. Nancy legte den Telefonhörer auf und berichtete: »Prewi weiß nicht, was los ist. Sie versuchen, den Fehler zu finden. Willst du irgend etwas gekabelt haben?« Ich dachte darüber nach. WW stand eben am Anfang eines neuen Sparprogramms, und eine Story mußte schon verdammt dringend sein, damit wir ein Kabelgramm schicken durften. Ich sah die Meldungen von 670 an durch und schüttelte den Kopf. »Nein, vorläufig nichts«, antwortete ich und arbeitete weiter. Nancys Telefon klingelte, und Prewi erklärte ihr, sie bekämen auf unserer Frequenz QRM von einer nicht identifizierten Station. QRM bedeutet ›Überlagerung durch einen anderen Sender‹. »Sie arbeiten daran«, sagte Nancy. »Okay, du kannst so lange Pause machen.« Sie las ›House and Garden‹. Ich redigierte eine Meldung über den Stahlarbeiterstreik. Der Lochstreifen lief weiter. Dann hörte er plötzlich auf. Das passiert manchmal, wenn die Klebstelle nicht einwandfrei ist. Nancy untersuchte den Streifen, aber er schien in Ordnung zu sein. Im nächsten Augenblick begann der Fernschreiber zu klappern. »Komisch«, meinte Nancy, »ich schreibe doch gar nicht!« Ich sah die erste Zeile auf dem Papier. Das war wirklich eigenartig, denn Nancys Gerät schrieb nur, während Barts nur empfing. Prewi konnte einen Prüftext durchgeben – aber das war bestimmt keiner:
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IVST, RARN, 803 YAVI (URP) – MIYALLO NEEN PRAX, ZUKÜNFTIGER REGENT VON RARN, WURDE HEUTE OHNE VARIATION GEBOREN, WIE ES DIE ANNALIEN VORAUSGESAGT HABEN. DER JUBEL WAR ALLGEMEIN. HAK PRAX, DER GEGENWÄRTIGE REGENT, ÄUSSERTE: »GUT. JETZT KANN ICH MICH AUF DIE ÄLTESTENSCHAFT VORBEREITEN.« »Madonna!« rief Nancy aus. »Urp«, sagte ich hinter ihr. »Was soll Urp heißen, verdammt noch mal?« »Vielleicht UPI. Ich muß Prewi fragen, ob wir aus Versehen UPI-Meldungen bekommen.« »UPI arbeitet nicht mit Prewi zusammen«, wandte ich ein. »Was für ein Ort ist das übrigens? Hast du schon mal von Ivst, Rarn gehört?« »Und was heißt Achthundertdrei Yavi?« wollte Nancy wissen. »Das müßte eigentlich das Datum sein …« »Ich rufe Prewi an und erkundige mich«, entschied sie. »Augenblick! Hier kommt noch eine. Laß sehen, was sie diesmal schreiben.« Die Meldung lautete: ESTEDDIS, O.D.K., 803 YAVI (URP) ESTEDDIS DEKLASSIERTE DIE GÄSTE AUS BLASHTI HEUTE 647 ZU 5 IN EINER AN VARIATIONEN REICHEN BEGEGNUNG IM GLERE-STADION UND ERREICHTE DAMIT DIE HERAUSFORDERUNGSRUNDE DER TERTIÄREN GRIADEN.
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»Urp!« sagte Nancy. »Und Achthundertdrei Yavi. Daran hat sich nichts geändert. Aber wo liegt Esteddis?« »Anscheinend in O.D.K. Ist das eine kanadische Provinz wie P.E.I.?« Ich schüttelte den Kopf. »He, die nächste!« Wir beobachteten den Fernschreiber. Bart kam herüber, las die Meldungen und fragte: »Von wem kommt das? Was soll der Unsinn?« »Die Maschine spukt«, erklärte Nancy ihm. »Wir empfangen eine Geisterstation.« »Das ist bestimmt jemand bei Prewi«, vermutete Bart. »Nein, die machen andere Witze.« Die letzte Meldung war kürzer als die anderen: BLECH, 803 YAVI (URP) – AUF DEM WODIBLEMARKT KAM ES HEUTE ZU KURSEINBRÜCHEN, BEVOR EINE VARIATION AUFGESPÜRT WURDE UND EINE ENDGÜLTIGKEITSERKLÄRUNG DIE VERLUSTE EGALISIERTE. »Ein Börsenbericht«, sagte Bart. »Sie handeln mit Wodibles. Aber wo liegt Blech?« »Genau!« stimmte Nancy zu. »Sam, erinnerst du dich noch an die Story aus Ohio, die wir vor ein paar Wochen gebracht haben? Über den Astronomen, der Funksignale von der Venus empfangen hat? Vielleicht sind das welche.« »Quatsch«, wehrte ich ab und fuhr dann zusammen, als der unbekannte Fernschreiber mehrmals klingelte, um auf eine Eilmeldung aufmerksam zu machen.
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LICH, VASZ, 803 YAVI (URP) DIE MURANDERWERKE IN ONCH EXPLODIERTEN HEUTE MIT VENUSERSCHÜTTERNDEM GETÖSE … »Also doch die Venus!« kreischte Nancy. … UND ERSTE BERICHTE LASSEN BEFÜRCHTEN, DASS 43 YERVI, DIE AN EINEM GEHEIMEN LOCHASA-PROJEKT ARBEITETEN, DABEI UMGEKOMMEN SIND. DIE EXPLOSION EREIGNETE SICH OHNE VORWARNUNG IN DER VARIATIONSANFÄLLIGEN FORSCHUNGSSTÄTTE BEI HCH. »Seht ihr! Seht ihr!« Nancy hopste auf ihrem Stuhl auf und ab. »Von der Venus! Ich hab’s euch doch gesagt!« »Oder von jemandem mit blühender Phantasie«, stellte ich fest. »Prewi soll herausbekommen, welcher Idiot das ist.« »Okay, alter Skeptiker.« Nancy sprach mit jemandem am anderen Ende und berichtete dann: »Das ist niemand.« »Natürlich ist es jemand! Sag ihnen, daß sie auf ihren Monitor sehen sollen.« Sie erkundigte sich und berichtete: »Sie haben keinen Monitor in Betrieb.« »Wunderbar! Fragst du sie bitte, ob es zuviel verlangt wäre, wenn sie einen einschalten würden? Verdammt noch mal!« Nancy kicherte und gab meine Frage weiter. Inzwischen schrieb unser Freund URP, der geisterhafte Usurpator unserer FS-Leitung, eifrig weiter.
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URI-UM-FEEB, 803 YAVI (URP) – DIE 44 NAMEN VON ARCHANATU WURDEN HEUTE IN FEIERLICHEM GORTEMIS VON 44 YOF AUS KLEMP REZITIERT. 44.000 VARIATIONSFREIE NOVANTIA IN TRADITIONELLEN SKON FÜLLTEN DAS OOS BIS ZUM LETZTEN PLATZ. »Mir ist eben etwas Entsetzliches eingefallen«, sagte ich. »Geht dieser Blödsinn auch nach London?« »Wahrscheinlich«, antwortete Nancy. »Wenn wir das Zeug hier empfangen, müßten sie es eigentlich auch bekommen.« »Dann halten sie uns bestimmt für besoffen!« KRÖN, 803 YAVI (URP) – EINE DISSUE, WEITERE MITTEL FÜR DIE AUSSTRAHLUNG BILINGUALER INFORMATIONEN BEREITZUSTELLEN, WURDE HEUTE IM UNTEREN GORB VON DER SPARFRAKTION HEFTIG KRITISIERT. SNEEM, EIN ÄLTESTER AUS ERST, K.V.R., ERKLÄRTERER FINANZIELLE AUFWAND FÜR DEN AUTOMATISCHEN ÜBERSETZER SEI VIEL ZU HOCH UND ZUDEM VÖLLIG ÜBERFLÜSSIG. ER PERSÖNLICH HALTE ES FÜR EINE ZUMUTUNG, JEDESMAL »ENGLISCH, DIESEN BARBARISCH GUTTURALEN DIALEKT«, HÖREN ZU MÜSSEN, WENN SEIN TUNER SICH ETWAS VERSTELLE. SNEEM SAGTE, ER HABE VERSTÄNDNIS FÜR DAS INTERESSE DER WISSENSCHAFTLER AN DER WICHTIGSTEN SPRACHE DES ZWEITEN BEWOHNTEN PLANETEN DES SONNENSYSTEMS, 133
ABER ER VERSTEHE NICHT, WARUM DIESER WISSENSCHAFTLICHE ASPEKT NICHT AUF WISSENSCHAFTLER BESCHRÄNKT BLEIBE, ANSTATT DER GESAMTEN BEVÖLKERUNG ZUGEMUTET ZU WERDEN. VORSITZENDER DITCHIE UNTERBRACH DEN REDNER UND STELLTE FEST, FÜR DIESE SENDUNGEN GEBE ES SICHERHEITSGRÜNDE, MIT DENEN SNEEM VIELLEICHT NICHT VERTRAUT SEI. SNEEM BEANTRAGTE DARAUFHIN EINE SITZUNG UNTER AUSSCHLUSS DER ÖFFENTLICHKEIT. »JETZT KOMMEN WIR ENDLICH VORAN«, STELLTE SNEEM DAZU FEST. »Deswegen ist alles auf Englisch«, sagte ich überrascht. »Na, schon weniger skeptisch?« fragte Nancy. »In ihrem Parlament findet eine hitzige Haushaltsdebatte statt, stimmt’s?« »Ich gebe zu, daß diese Details die Glaubwürdigkeit erhöhen«, antwortete ich. »Anscheinend ist ihr automatischer Übersetzer stärker, als sie ahnen. Und die Signale von der Erde müssen gut zu empfangen sein, wenn sie Englisch gelernt haben.« »Vergiß den Radioastronomen in Ohio nicht. Er hat die Venus auch empfangen.« »Dafür ist er schließlich Radioastronom. Außerdem hat er nur Signale, keinen Klartext aufgenommen.« »Natürlich nicht«, stimmte Nancy zu. »Wahrscheinlich hat er keinen Fernschreiber gehabt.« »Hmm«, meinte ich. Das klang logisch. »Ich frage mich nur, was das für Sicherheitsgründe 134
gewesen sein können, mit denen sie diesen Sneem zum Schweigen gebracht haben«, fuhr Nancy fort. »Das klingt irgendwie bedrohlich.« »Nur nicht zu dramatisch, Nancy!« wehrte ich ab. Der Fernschreiber hinter uns begann zu klappern und schrieb ein Kabelgramm aus London: 40248 SIGNAL WFK40 GUT ABER BETRÄCHTLICHE QRM VON UNBEKANNTER STATION ZULETZT EMPFANGEN 670 BENÜTZEN WEITER KABEL. »Sie bekommen es auch«, stellte Nancy fest. »Sie bekommen irgend etwas. Aber wenn sie’s lesen können, reagieren sie ziemlich phlegmatisch.« Ich zuckte mit den Schultern. »Vorläufig kabeln wir jedenfalls nichts. Das kann nicht ewig dauern.« »Nein? Jetzt geht’s schon weiter.« OHNE FREMDE STATIONEN KRÖN, 808 YAVI (URp) – DIE VORBEREITUNGEN ZUR NULLIFIZIERUNG DER BEDROHUNG DURCH DIE ERDE ERLITTEN HEUTE EINEN RÜCKSCHLAG DURCH DIE EXPLOSION DER MURANDER-WERKE IN ONCH. ÄLTESTE STELLTEN FEST, DIE ZERSTÖRUNG DER WERKE UND DER VERLUST DES DORT HERGESTELLTEN LOCHASA SEIEN WENIGER SCHLIMM ALS DER TOD DER 43 YERVI. ÄLTESTER BLAG WIES IN DIESEM ZUSAMMENHANG DARAUF HIN, DASS ER BEREITS VOR LANGEM DEN ANTRAG GESTELLT HABE, PRO 135
WERK NICHT MEHR ALS SECHS YERVI ZUZULASSEN. ER BETONTE, DAS PROGRAMM ZUR NULLIFIZIERUNG DER ERDE ERFORDERE ENDE ENDE ENDE STREICHEN STREICHEN STREICHEN ACHTUNG AN ALLE EMPFÄNGER: MELDUNG ÜBER VORBEREITUNGEN ZUR NULLIFIZIERUNG DER ERDE STREICHEN. MUSS UNTER ALLEN UMSTÄNDEN GESTRICHEN WERDEN. URP/ESTEDDIS Dazu klingelte es eine halbe Minute lang. »Puh!« sagte Nancy. »Bei URP hat jemand vergessen, die fremden Stationen abzuschalten. Das gibt bestimmt einen Mordskrach!« Ich wußte, was sie meinte. Diese Meldung mit dem Vermerk ›Ohne fremde Stationen‹ hätte auf keinen Fall ausgestrahlt werden dürfen. URPs Sendungen waren offenbar nur für den Eigengebrauch gedacht; der Vermerk war bestimmt nur eine Vorsichtsmaßnahme gewesen, denn der Bericht über die Haushaltsdebatte hatte erkennen lassen, daß die Venusier nicht ahnten, daß ihre Sendungen die Erde erreichten. Und der einfache Venusier – der Mann auf der Straße in Krön, Esteddis oder Ur-dium-Feeb – mußte sich zwar mit Englisch berieseln lassen, wußte aber vermutlich nichts von einer Bedrohung durch die Erde oder davon, daß seine Ältesten im Gorb heimlich eine interplanetare Invasion planten. Ich war plötzlich davon überzeugt, daß das Ganze kein Scherz war. Die Führer einer anderen Rasse machten sich bereit, es der Erde zu zeigen, weil sie in letzter Zeit zu einer Bedrohung geworden war. Ich konnte mir den Grund dafür vorstellen: Unsere Fortschritte in der Raum136
fahrt mußten die Venusier befürchten lassen, sie würden bald mit uns und unseren Errungenschaften Bekanntschaft machen müssen. »Was verstehen sie unter Nullifizierung der Erde?« erkundigte Nancy sich. »Was ist Lochasa?« Ich fuhr mir mit dem Zeigefinger quer über die Kehle. »Die Frage ist nur, was wir unternehmen sollen. Wir sind beide davon überzeugt – aber wer nimmt uns das ab?« »Vielleicht das FBI?« schlug Nancy vor. »Oder der CIA. Schließlich bilden wir uns nicht nur ein, eine fliegende Untertasse gesichtet zu haben. Wir haben die Sache schriftlich – in vierfacher Ausfertigung. Hat Prewi schon einen Monitor laufen? Dann hätten wir weitere Zeugen.« Nancy sprach mit Press Wireless, während ich unsere Vermittlung aufforderte, mich mit dem CIA zu verbinden. Vier Minuten nach diesem Gespräch erschien ein CIA-Mann bei uns. Er hatte seit Jahren in unserem Gebäude gearbeitet: Ich erkannte ihn als Jonesie, einen der intelligenteren Fahrstuhlführer in unserem Gebäude. Der CIA mußte angenommen haben, in einem Gebäude voller Pressedienste und Auslandskorrespondenten könnte es auch einen Spion geben. Jonesie – ein lächerlicher Name, wenn man den Mann jetzt bei der Arbeit beobachtete – las die URP-Meldung durch, sprach mit Nancy, Bart und mir, telefonierte mit Prewi, führte ein Ferngespräch mit Washington und starrte dann den stummen Fernschreiber an. »Die letzte Meldung aus Krön ist also unterbrochen worden?« erkundigte er sich. »Ja, Sir«, antwortete Nancy, die sich noch immer nicht 137
ganz von ihrer Überraschung über die Verwandlung von Jonesie, Fahrstuhlführer, in Jones, Geheimagent, erholt hatte. Dann fuhren wir zusammen, als der Fernschreiber zu klappern begann. THE QUICK BROWN FOX JUMPED OVER THE LAZY DOG’S BACK 1234567890987654321 PW SENDET Eine Testsendung von Press Wireless, Inc. Dann rief Prewi an und erklärte Nancy, die Verbindung mit London sei wiederhergestellt. Eine Minute später lief bereits das Kabelgramm aus London ein: 40402 VERKEHR WFK40 QRM BEENDET ZOK ZOK NICHT MEHR KABELN. »Blasierte Bande«, sagte ich. »Kein Wort über URP.« Ich wandte mich an Jones. »Oder ob Ihre Kollegen am anderen Ende Nachforschungen anstellen?« Jones spielte den Begriffsstutzigen. »Wie bitte?« »MI Fünf, der britische Geheimdienst. Er befaßt sich doch garantiert auch damit.« »Wirklich?« fragte er, faltete die Fernschreibtexte zusammen und gab mir eine Quittung dafür. Er war ebenso mundfaul, als Nancy ihn fragte, ob schon früher Meldungen von der Venus aufgenommen worden seien – und ob dies die erste Invasionswarnung gewesen sei. Jones lächelte nur und sagte: »Gute Nacht. Vielen Dank für Ihre Hilfe. Tut mir leid, aber wir werden uns wohl nicht mehr im Lift sehen.« Damit verschwand er. 138
Bart und Nancy wurden abgelöst. Nancy blieb neben meinem Schreibtisch stehen. »Jonesie – Jones, meine ich – hat uns nicht zum Stillschweigen verpflichtet«, sagte sie. »Ist das nicht komisch?« »Nein, nur realistisch«, antwortete ich. »Wer würde uns das schon abnehmen?« »Richtig«, stimmte sie zu. »Ich kann’s selbst kaum glauben. Gute Nacht, Sam.« »Gute Nacht, Nan, Schlaf gut und träum was Schönes.« Charlie Price, der zweite Nachtredakteur, löste mich um ein Uhr morgens ab. Er machte ein trübseliges Gesicht wie immer, wenn die Dodgers verloren haben. »Hier ist alles klar«, berichtete ich. »An deiner Stelle würde ich den Stahlarbeiterstreik im Auge behalten. Vielleicht hat der nächste Schlichtungsversuch Erfolg.« »Funk okay?« fragte Charlie. »Oh, wir hatten eine Zeitlang QRM, aber das ist wieder in Ordnung. Irgendeine andere Station hat auf unserer Frequenz gesendet, und wir haben ihre Meldungen aufgenommen. Prewi hat sich darum gekümmert.« Ich hatte keine Lust, die ganze Sache mit Charlie durchzusprechen. »Das habe ich vor ein paar Jahren auch erlebt«, stimmte er zu. »France-Presse-Meldungen sind aus unserer Maschine gekommen. Völlig unverständlich. Alles auf Französisch.« »Diesmal war die Sache ein bißchen anders«, sagte ich. »Auf dem Schreibtisch liegt ein Memorandum. Du kannst es ja durchlesen.« Er zuckte mit den Schultern. »Okay, ich seh’s mir später an.« 139
»Gute Nacht, Charlie.« Ich fragte mich, wie er auf das Memorandum reagieren würde. »Sonst ist alles in Ordnung, glaube ich.« Hoffentlich. Das war vor sechs Monaten. Der CIA hat sich seitdem nicht mehr gemeldet. Auch WWs vertrauliche Berichte aus London lassen keine ungewöhnliche Betriebsamkeit bei MI5 erkennen. Anscheinend ist alles unter Kontrolle. Trotzdem interessiere ich mich jetzt mehr als früher für unsere Verteidigungsbereitschaft. Ich verschlinge alles, was mit Raketen zu tun hat, und bin dafür, daß größere und bessere Satelliten gebaut werden – am besten bis an die Zähne bewaffnet. Und wenn ich nachts nach Hause fahre, sehe ich oft zum Himmel auf. Aber wenn mich jemand danach fragen sollte, würde ich natürlich nie zugeben, daß ich nach einem Schiff voller Yervi, das Lochasa aus Onch bringt, Ausschau halte.
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Wie man das Ich sechsmal spaltet
Das allgegenwärtige Du Der Geistliche sagte: »Ich bin ein Mann Gottes, nicht der Wissenschaft, deshalb kann ich Ihnen nur einen Teil dessen erklären, was Sie wissen müßten.« Dann mußte er zurückspringen, weil eine Faust durch die Gitterstäbe nach ihm schlug. »Ich bring’ dich um!« knurrte der Gefangene. Sein Gesicht war von Haß verzerrt, als er sich bemühte, den anderen zu erreichen. »Es hat schon genügend Morde gegeben«, stellte der Geistliche tadelnd fest. »Warum nicht noch einen, Padre?« fragte der Häftling spöttisch. »Warum nicht Sie?« »Sie sind durch und durch böse«, sagte der andere nüchtern. »Sie haben den Doktor und die übrigen ermordet. Das war nicht Ihre Schuld, aber Sie haben es getan und müssen dafür büßen. Wenn Sie zuhören, kann ich versuchen, Ihnen das zu erklären.« »Ich morde«, knurrte der Gefangene. »Das kann ich am besten. Ich erklär’s Ihnen, wenn Sie zuhören.« »Einverstanden«, stimmte der Geistliche zu. »Ich bin Ihnen für eine Erklärung dankbar. Ich höre zuerst Ihnen zu – und danach hören Sie mir zu.« »Ich habe mit Waffen getötet, aber am besten geht es mit den Händen. Dann mordet man wirklich selbst. Das befriedigt einen am meisten. Dadurch läßt der Druck am längsten nach.« 141
»Ich bete für Sie, mein Sohn.« Der Häftling spukte aus. »Beten Sie für sich selbst. Ich erwürge Sie, wenn ich kann. Mit bloßen Händen. Ich drücke Ihnen die Kehle zu, bis Sie blau im Gesicht werden, bis Ihre Augen hervorquellen und bis Ihr Körper plötzlich schlaff wird. Dann sind Sie tot, und ich spüre eine Zeitlang inneren Frieden.« »Es gibt andere Wege, Frieden zu finden.« »Aber keiner ist so gut wie dieser. Solange Sie leben, fühle ich mich frustriert. Nur der Tod bringt die zeitweilige Befriedigung.« »Immerhin können Sie Ihr Dilemma schildern.« »Ich kenne meine Bedürfnisse.« »Wissen Sie auch, warum?« fragte der Geistliche. »Nein. Einzelheiten interessieren mich nicht. Fragt ein Ertrinkender, warum ein Rettungsring schwimmt? Will ein Verhungernder wissen, wie Brot gebacken wird?« »Ich glaube, daß Sie die Wahrheit sagen, so bedauerlich das ist. Aber Sie sollten wissen, warum Sie so sind. Wissen Sie, wer Sie sind?« »Robert Blane. Ein bedeutungsloser Name. Samuel Hall würde besser zu mir passen. Hat es ihn wirklich gegeben?« »Samuel Hall?« »Ich heiße Samuel Hall. Ich hasse euch alle!« »Ich vermute, daß es ihn gegeben hat. Aber er ist fast zu einer Sagengestalt geworden. Man könnte glauben, Sie hätten Sinn für Humor.« »Ich habe keinen Humor. Ich habe den Humorvollen ermordet.« »Ganz recht. Erinnern Sie sich an seinen Namen?« »Nein.« 142
»Robert Blane«, sagte der Geistliche. »Sie haben ihn als ersten ermordet.« »Ich habe nicht gewußt, daß wir den gleichen Namen hatten. Das hätte natürlich nichts geändert. Ich habe ihn erschossen. Er hat ständig gelacht. Unerträglich!« »Was wissen Sie aus der Zeit davor?« »Davor waren keine«, sagte Blane. »Die anderen habe ich später umgebracht.« »Wissen Sie, wie alt Sie sind, Robert?« fragte der Geistliche weiter. »Achtundzwanzig.« »Können Sie sich an die ersten siebenundzwanzig Jahre Ihres Lebens erinnern?« »Ich war achtundzwanzig, als ich aufgewacht bin«, antwortete Blane nachdrücklich. »Aber Sie sind vor achtundzwanzig Jahren geboren worden.« »Das muß wohl stimmen; ich weiß vieles, was ich nicht aktiv gelernt habe, nachdem ich aufgewacht bin. Ich muß vorher eine Art Leben geführt haben. Aber dieses Gerede langweilt mich. Kommen Sie ein bißchen näher, Padre. Ich möchte Sie erwürgen.« »Man könnte fast glauben, Sie wollen Witze machen. Nein, ich bleibe hier, während ich Ihnen erzähle, warum Sie als Achtundzwanzigjähriger in Lost Oaks aufgewacht sind.« Lost Oaks war ein Landsitz. Die geräumige Villa auf dem zehn Hektar großen Parkgrundstück war in den zwanziger Jahren erbaut, in der Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre verlassen und in den vierziger Jahren aus Steuergründen verkauft worden. Um Lost Oaks zu errei143
chen, mußte man von der nächsten Großstadt aus hundert Kilometer weit fahren, einer am Stausee vorbeiführenden Landstraße fünfzehn Kilometer folgen und schließlich auf einen Privatweg abbiegen, der vor einem Eisentor in der Parkmauer endete. Dr. Norvell Antioch war der Mann, der Lost Oaks gekauft hatte. Nach der Emeritierung zog er sich dorthin zurück und nahm seinen jungen Assistenten Robert Blane mit. Antioch erklärte Blane, er brauche ihn als Kollegen; statt dessen benützte er ihn als Versuchskaninchen. Antioch brachte von der Universität außerdem die Überzeugung mit, alle Gewebezellen enthielten die Eigenschaften des gesamten Organismus. Entnahm man beispielsweise dem Unterarm eine lebende Zelle, konnte man daraus nicht nur weitere Muskeln züchten, sondern hatte die Möglichkeit, daraus den ganzen dazugehörigen Körper zu entwickeln. Und Dr. Antioch, der sich vierzig Jahre mit diesem Problem beschäftigt hatte, war der Überzeugung, genau das zu können. Zum Glück verfügte er über ein beträchtliches Privatvermögen, denn von seiner Pension allein hätte er die Krönung seines Lebenswerks nicht finanzieren können. Robert Blane spendete bereitwillig Muskelzellen seines Unterarms und half Antioch, eine davon zu präparieren. Danach arbeitete Antioch allein weiter. Blane hatte genug mit der Hausarbeit zu tun, denn Antioch war entsetzlich schlampig. Die Villa hatte zweiundzwanzig Zimmer, die er alle benutzte. Er schlief in ei144
nem, aß im nächsten, benutzte ein drittes als Bibliothek, entspannte sich in einem anderen bei Musik und Filmen, machte Unordnung in den Bädern, warf schmutzige Wäsche in den Flur und benahm sich ganz allgemein unmöglich. Der arme, ergebene Blane putzte jeden Tag stundenlang, kochte, wusch ab, holte Lebensmittel und Benzin – für das Notstromaggregat – aus der nächsten Stadt, stapelte die Schallplatten auf, spulte die Filme zurück und wusch die Wäsche. Das war schwere Arbeit, so daß Blane nur selten Gelegenheit hatte, einen Blick ins Labor zu werfen, um selbst zu sehen, wie das Experiment sich entwickelte. Es kam gut voran. Antioch war trotz seiner Schlampigkeit ein hervorragender Biologe. Er machte seine Aufzeichnungen in einer von ihm erfundenen Geheimschrift, aber der Erfolg seiner Versuche war offenkundig: In einem halben Dutzend Glasschalen wuchs etwas heran, was in immer größere Glasbehälter umgesetzt werden mußte. Blane war mit dem Kombi unterwegs, bis er nach Form und Größe geeignete Glasbehälter gefunden hatte, und als er sie aufgetrieben hatte, mußte er sie zwei Treppen hoch ins Labor schleppen. Antioch ließ nie Fremde aufs Grundstück. Blane keuchte und schwitzte, brachte die Glasbehälter an Ort und Stelle – und wurde dann ausgesperrt, während Antioch den Inhalt der Gläser in die Behälter tat. Blane horchte an der Tür und hörte Antioch mit sich selbst reden, während ab und zu etwas platschte. Blane wartete das sechste Platschen ab und mußte dann in sein Zimmer 145
gehen und sich hinlegen. Sein Herz klopfte nach der Schlepperei mit den Glasbehältern wie rasend. Blane starb am nächsten Tag, als er einen Korb mit nasser Wäsche zum Aufhängen ins Freie schleppte. Antioch fluchte, als er ihn fand, und verscharrte ihn an Ort und Stelle. Antioch kehrte danach in sein Labor zurück. Er war offenbar bereits nicht mehr ganz bei Verstand. »Einfach sterben, was?« fragte er die im Halbkreis aufgestellten Glasbehälter. »Aber das macht nichts! Robert Blane ist tot – und ich habe bald sechs neue.« Er kicherte vor sich hin, als er von einem Behälter zum anderen ging und die in der grünlichen Nährflüssigkeit schwimmenden Gewebeklumpen kontrollierte. Danach verließ er das Labor, um sich eine Stunde in seiner Filmbibliothek zu entspannen. Unterwegs knöpfte er seinen fleckigen weißen Kittel auf und ließ ihn hinter sich im Korridor fallen. Als die Wesen ausgewachsen waren, zerrte Antioch sie aus den Glasbehältern auf einen Tisch und wusch sie ab. Sie wogen alle siebzig Kilo; sie hatten alle den gleichen Körperbau; sie waren alle Kopien des verstorbenen Robert Blane – mit einer Ausnahme. Ihre Gesichter waren verschieden, obwohl eine Familienähnlichkeit unverkennbar war. Antioch zerbrach sich nicht lange darüber den Kopf. Diese kleine Panne konnte den großen Erfolg nicht mindern. Er begann mit künstlicher Beatmung, bis ihre Lungen selbst arbeiteten, aber sie wachten trotzdem nicht gleich 146
auf. Antioch brachte sie in einzelne Zimmer Er war so von seinem Erfolg überzeugt gewesen, daß er die Zimmer vorbereitet und Kleidung für sie gekauft hatte. Antioch grunzte und schwitzte, bis er alle sechs Männer ins Bett gebracht hatte. Dann gab er ihnen eine Injektion, die bewirken sollte, daß sie zu verschiedenen Zeiten aufwachten, damit er ihre Reaktionen beobachten konnte. Sein Arbeitszimmer war unaufgeräumt. Antioch suchte fluchend sein Tagebuch, fand es auf einem Sessel unter einem Stapel Zeitschriften und machte eben einen Eintrag in Geheimschrift, als er draußen Schritte hörte. Dann ging die Tür auf. Ein Robert Blane kam lächelnd herein. Er wollte näher treten, aber Antioch nahm einen Revolver aus dem Schreibtisch und befahl ihm: »Halt, keine Bewegung!« Blane lachte. »Was wollen Sie mit der Waffe?« Er ließ sich in einen Sessel fallen, nachdem er ein Dutzend Bücher zu Boden gewischt hatte. »Ich weiß, was ein Revolver ist, aber bei mir brauchen Sie bestimmt keinen. Ich weiß einiges«, fügte er lächelnd hinzu, »aber wenn es um Einzelheiten geht, ist mein Gedächtnis ziemlich lückenhaft.« »Interessant«, meinte Antioch. »Was weißt du also?« Blane lachte wieder. »Daß ich Robert Blane und etwa achtundzwanzig bin. Daß das Leben schön ist. Aber das ist praktisch alles. Merkwürdig, nicht wahr? Ich weiß nicht, wer Sie sind, wo ich bin und warum ich hier bin. Wahrscheinlich leide ich an Gedächtnisschwund.« »Vielleicht«, stimmte Antioch zu. »Weißt du, was Biologie ist?« »Biologie? Eine Wissenschaft, nicht wahr? Ich muß in 147
der Schule Biologie gehabt haben, obwohl ich mich nicht daran erinnern kann.« Er lachte verlegen. »Ich kann mich nicht einmal an die Schule erinnern.« »Kannst du Auto fahren?« fragte Antioch. »Oder ein Notstromaggregat bedienen?« »Auto fahren? Ja, das kann ich bestimmt. Ich weiß, daß ich es kann. Das gilt auch für ein Notstromaggregat.« »Motorische Fähigkeiten intakt«, murmelte Antioch vor sich hin. »Aber die Persönlichkeit? Das ist nicht Robert Blanes Persönlichkeit.« »Ich kenne Sie nicht«, sagte der andere lächelnd. »Sollte ich Ihren Namen kennen?« »Antioch.« Der Wissenschaftler stand auf. »Vielleicht sind die anderen auch früher aufgewacht. Ich sehe lieber nach. Du bleibst inzwischen hier, verstanden?« »Natürlich, Mr. Antioch«, stimmte Blane bereitwillig zu. »Es gibt also noch andere? Je mehr, desto lustiger!« »Da täuschst du dich gewaltig«, sagte der alte Mann grimmig. »Außerdem heiße ich Doktor Antioch.« »Wie Sie meinen, Doktor. Ich bleibe jedenfalls hier.« Antioch hastete hinaus und sah dabei besorgt auf seine Uhr. Er war noch nicht lange fort, als ein weiterer Robert Blane hereinkam. Der Neue machte ein finsteres Gesicht und war im Gegensatz zu dem freundlichen Mann nachlässig gekleidet. »Wer bist du, verdammt noch mal?« knurrte er. »Ich leide an Gedächtnisschwund«, erwiderte der andere lächelnd. »Doktor Antioch behandelt mich.« »Warum grinst du so dämlich?« fragte der Neue, trat an den Schreibtisch und durchsuchte die Schubladen. In 148
der untersten fand er einen zweiten Revolver, den er zufrieden in der Hand wog. »Das wird Doktor Antioch nicht gefallen«, wandte der Freundliche ein. »Vielleicht hat er kleine Geheimnisse.« Er lachte. »Hör auf!« Der Neue bedrohte ihn mit dem Revolver. »Ich lasse mich nicht auslachen!« »Ich kann nichts dafür. Das sieht so komisch aus – wie der alte Humphrey Bogart, wenn er Bösewichter gespielt hat.« Robert Blane lachte schallend. »Okay, Louie, laß die Kanone fallen!« Der Schuß ließ ihn zusammenknicken. Sein Lachen wurde zu einem Gurgeln. »Über Robert Blane lacht niemand«, sagte sein Mörder. Dr. Antioch kam gerannt, als er den Schuß hörte. Er hielt seinen Revolver schußbereit. Aber er reagierte zu spät; der Schuß des anderen traf ihn ins Herz, und er sackte mit einem Aufschrei zusammen. Robert Blane, der Mörder, überzeugte sich davon, daß die beiden tot waren. Dann trat er in den Korridor hinaus und schlich mit schußbereiter Waffe von Tür zu Tür. Er fand niemanden, wurde kühner und näherte sich unvorsichtig der letzten Tür vor der Treppe. Im nächsten Augenblick kam eine Hand, die ein Schüreisen hielt, aus der Tür. Das Eisen traf Blanes Handgelenk. Der Revolver fiel zu Boden. »Den will ich haben«, sagte der Mann mit dem Schüreisen. Er sah Blane ähnlich, aber seine Züge waren schärfer, die Augen zusammengekniffen und das Lächeln gierig. 149
Er bückte sich und hob die Waffe auf. Blane fiel über ihn her, aber der andere richtete sich in diesem Augenblick auf, so daß Blane zu Boden glitt. Er fiel auf seinen schmerzenden Arm und schrie laut auf. Der andere drehte sich um und bedrohte ihn mit dem Revolver. Blane kam langsam auf die Beine. Sie befanden sich in einem Raum, der als Miniaturmuseum eingerichtet war. An den Wänden hingen kostbare Gemälde; in Vitrinen glitzerten antike Schmuckstücke. »Wer bist du?« fragte Robert Blane finster und rieb sich das Handgelenk. »Noch ein Lacher?« »Ich bin Robert Blane«, sagte der andere, »und lache kaum jemals. Wer bist du?« »Ich bin Robert Blane.« »Was?« Der Mann war empört. »Du benutzt meinen Namen? Du kannst ihn aber nicht haben!« Er trat vor Empörung zitternd auf den Mörder zu. Der finstere Robert Blane wich zurück, bis er am Kamin stand. Seine Rechte ertastete auf dem Sims eine Bronzestatue. »Laß sie stehen!« verlangte der Gierige. »Ich will sie haben.« Er machte eine weitausholende Handbewegung. »Hier gehört alles mir, verstanden? Alles!« Während er sprach, fiel sein Blick auf eine Schmuckvitrine. Er schlug die Scheibe mit dem Revolvergriff ein, raffte mit der linken Hand Juwelen zusammen und stopfte sich die Taschen voll. Er zitterte dabei vor Gier. Um beide Hände benutzen zu können, steckte er schließlich sogar den Revolver ein. Dann erschlug Robert Bane, der Mörder, den Gierigen mit der Bronzestatue. 150
Der Faule lag noch in dem Bett, in dem er aufgewacht war. Robert Blane ermordete ihn dort – mehr einem inneren Drang folgend als mit bestimmter Absicht. Robert der Gute wachte zufrieden auf, zog den bereitliegenden Anzug an und öffnete seine Zimmertür. Er blieb stehen, als er ein Geräusch hörte: das Todesröcheln des Faulen im Zimmer nebenan. Er warf einen Blick in den anderen Raum und sah den Mörder schwer atmend vom Bett zurücktreten. Der gute Mann zog sich lautlos bis an die Treppe zurück. Er beobachtete von dort aus, wie der Mörder in seinem Zimmer verschwand. Als der andere nicht wieder herauskam, schlich der Gute zur offenen Tür. Der Mörder hatte sich auf sein Bett geworfen und schlief bereits. Robert der Gute ging zu dem Faulen hinüber. Er hatte Tränen in den Augen, als er ihn untersuchte. Er deckte ihn zu, faltete ihm die Hände auf der Brust und betete für ihn. Er machte einen Rundgang durchs Haus, entdeckte die anderen Leichen und tat, was er konnte, um sie weniger häßlich zu machen. Im Labor entdeckte er unverschlüsselte Aufzeichnungen Antiochs, studierte sie und begann zu verstehen, was passiert sein mußte. Irgendwo im Haus mußte es einen weiteren Robert Blane geben. Er kehrte in den Stock zurück, in dem sein Zimmer lag. Hinter einer der geschlossenen Türen fand er den sechsten Robert Blane, der noch schlief. Der gute Mann schloß die Tür hinter sich, stellte einen Stuhl unter die Klinke und weckte den Schlafenden.
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»Deshalb habe ich dich so schnell herausgeholt«, sagte Robert der Gute später im Labor. »Er kann nichts dafür, daß er mordet. Die anderen Aspekte seiner Persönlichkeit, die ihn daran hindern würden, sind auf uns fünf verteilt worden. Soviel ich rekonstruiert habe, hat er Gier, Lachen und Faulheit, die drei Aspekte seiner Persönlichkeit waren, und Doktor Antioch ermordet.« »Folglich müßten noch zwei Kopien des Originals übrig sein«, stellte der andere fest. »Du bist vermutlich eine. Welche?« »Ich scheine der gute Robert Blane zu sein«, antwortete Robert der Gute. »Und welcher bis du?« »Danke, ich bin keiner von euch«, wehrte der Angesprochene ab und zupfte sich die Krawatte zurecht. »Ich heiße Hillary Manchester.« Robert der Gute lächelte verständnisvoll. »Du heißt Robert Blane wie wir alle. Ich sehe ein, daß du enttäuscht bist, weil du nicht der Gute bist – aber du bist wenigstens auch nicht der Böse. Du scheinst amoralisch zu sein, Robert.« »Ich heiße Hillary Manchester«, wiederholte der andere. »Du brauchst dir übrigens nichts auf deine angebliche Güte einzubilden. Reine Güte kann ziemlich unerträglich sein.« »Wir haben keine Zeit, uns zu streiten. Wie du dich nennst, kann mir gleichgültig sein. Wir müssen zusammenhalten und den Mörder überwältigen, bevor er uns einzeln erledigt.« »Er soll schon vier Leute umgebracht haben. Woher weißt du das?« »Ich kann dir die Leichen zeigen.« »Oh, ich bezweifle nicht, daß es die gibt. Aber wer 152
sagt mir, daß sie alle das Opfer des gleichen Mannes geworden sind? Vielleicht haben sie sich gegenseitig umgebracht …« Er hob abwehrend die Hand. »Ich bin jedenfalls keine dieser Mißgeburten aus der Retorte. Ich bin Hillary Manchester, der … der Forscher und Großwildjäger.« Er brachte es fertig, auf den anderen herabzusehen, obwohl sie gleich groß waren. »Du bist wahrscheinlich Robert der Lügner«, murmelte Robert der Gute vor sich hin. »Ich bin gestern hergekommen, weil mein Auto eine Panne hatte«, behauptete Hillary. »Doktor Antioch hat mich freundlicherweise eingeladen, hier zu übernachten. Als Gast habe ich bestimmte Verpflichtungen, aber die Teilnahme an einer Menschenjagd gehört nicht dazu. Besonders dann nicht, wenn der Gesuchte vielleicht ein unschuldiges Opfer ist.« »Wie meinst du das?« fragte Robert der Gute. »Was beweist mir, daß du nicht der Mörder bist?« Robert der Gute richtete sich empört auf. »Ich gebe dir mein Wort! Und wenn dir das nicht genügt, brauchst du den Mörder ja nur zu wecken und abzuwarten, ob er dich erwürgt.« Hillary rieb sich den Nacken. »Gut, ich glaube dir. Aber warum gehen wir nicht hin und fesseln ihn, solange wir Gelegenheit dazu haben?« »Weil ich so lange gebraucht habe, um dich davon zu überzeugen, daß dich das auch als Hillary Manchester etwas angeht. Und weil wir uns keinen Fehlschlag leisten dürfen. Wenn er in Wut gerät, ist er vielleicht imstande, uns beide zu überwältigen.« »Du hast also Angst vor ihm?« »Ich fürchte nur, daß wir versagen, wenn wir unseren 153
Plan nicht sorgfältig ausarbeiten. Wir wissen, was er ist; sollte er uns jedoch überwältigen, kann er über Menschen herfallen, die ihn nicht kennen. Dann ermordet er vielleicht Dutzende von Unschuldigen!« Hillary Manchester lehnte an einem Glasbehälter. »Ich bin übrigens auch als Kriminalschriftsteller bekannt«, behauptete er. »Vielleicht kennen Sie meinen Privatdetektiv Ace Hillary, die Geißel der Gangster. Vierzehn Romane, zahllose Kurzgeschichten, sechs Filme und …« »Pathologisch«, murmelte Robert der Gute vor sich hin. »Wie bitte?« »Nichts, Hillary.« »Du kannst einfach Ace zu mir sagen. Das tun alle meine Freunde. Aber hier geht’s darum, einen Mörder zu fangen, stimmt’s? Da kannst du dich auf den alten Ace verlassen! Paß auf, wir haben doch …« Robert der Gute hörte resigniert zu. Selbst die Hilfe Ace Hillary Manchesters (der ohne Zweifel Robert Blane VI. war) war besser als gar keine Hilfe. Es wurde Abend, bis sie einen Aktionsplan ausgearbeitet hatten. Dann schlichen sie den Flur entlang. »Hast du die Taschenlampe?« flüsterte Robert der Gute. »Ja, natürlich. Du kannst jetzt alles mir überlassen. Du bleibst nur hinter mir stehen und rennst wie der Teufel los, wenn’s soweit ist.« Sie standen vor der Tür des Mörders und horchten. Dahinter war nichts zu hören. Hillary stieß die Tür auf und richtete den Strahl der Taschenlampe aufs Bett. »Wir holen dich, Killer Bob!« brüllte er dabei. Aber das Bett war leer. 154
»Da liegen die Revolver«, sagte Robert der Gute, der praktischer veranlagt war. »Er hat sie liegengelassen.« Er hob die Waffen auf und gab Hillary eine. »Wo kann er stecken?« fragte Hillary. »Überall. Vielleicht ißt er. Wir können unten in der Küche nachsehen.« Der Mörder war auch nicht in der Küche. Aber er war dort gewesen. Als sie die Überreste seiner Mahlzeit sahen, merkten sie, wie hungrig sie selbst waren. Während sie aßen, peitschte der Wind Regen ans Fenster. »Vorsicht!« warnte Hillary. »Er könnte sich im Schutz der tobenden Elemente anschleichen. Wir müssen weiter!« »Ja, ja, schon gut«, wehrte Robert der Gute ab. »Am besten sehen wir auf dem Dachboden nach. Vielleicht ist er dort.« »Was gibt’s dort oben?« »Das weißt du so gut wie ich: Doktor Antiochs Filmbibliothek. Er hat klassische Filme gesammelt. Seine Sammlung hatte Weltruf; sie war fast so umfangreich wie die im Modern Museum.« »Ob er auch meine Filme hat? ›Ace Hillary greift ein‹ ist meiner Auffassung nach der beste. Komm, wir sehen uns oben um.« Robert der Gute seufzte und ging voraus. Sie hörten eine Stimme und blieben auf der Treppe stehen. Das war nicht die Stimme des Mörders. Sie klang blechern, mechanisch. »Er sieht sich einen Film an!« flüsterte Hillary. »Das ist unsere große Chance!« »Sollen wir ihn überfallen?« Sie schlichen zur Tür. 155
»Genau! Er starrt nur auf die Leinwand. Ich reiße die Tür auf. Du stürmst hinein – du kennst dich hier aus. Er wirft sich auf dich, und ich komme unbemerkt von hinten heran und schlage ihn nieder.« »Ich weiß nicht recht, ob …« Aber Hillary hatte bereits die Tür geöffnet und schob den anderen hinein. Robert Blane, der Mörder, saß in einem der zehn Kinosessel. Die einzige Lichtquelle war der surrende Projektor. Robert der Gute stolperte über einen Klappstuhl. Der Mörder sprang auf. Er stürzte sich auf seinen Namensvetter, riß ihn hoch und begann ihn mit beiden Händen zu würgen. Hillary schlich lautlos durch den Raum. Auf einem Wandregal stand etwas, was sich als Waffe verwenden ließ. Er griff danach, wog es prüfend in der Hand und bewegte sich auf die Kämpfenden zu. Hillary holte aus, hörte ein trockenes Knacken und schlug erneut zu. Der Kampf war zu Ende. Hillary hielt seine Waffe in den Lichtstrahl des Projektors: die Kopie eines Oscars. Sie hatte gute Dienste geleistet. Der Mann in der Kleidung eines Geistlichen sagte: »Und deshalb müssen Sie für Ihre Schuld büßen, Mörder Blane. Die Gesellschaft verlangt es.« »Sie sind nicht die Gesellschaft. Wo bleibt die Polizei?« »In Lost Oaks gibt es keine Polizei. Wir sind eine kleine, abgeschlossene Welt. Diese Gitterstäbe gehören übrigens zu keiner Gefängniszelle; Doktor Antioch hat hier früher einen Affen gehalten.« 156
»Kommen Sie näher, Padre! Ich möchte Ihren Hals unter meinen Händen fühlen.« »Nein, Sie werden sterben, mein armer Freund, nicht ich. Welche Todesart ziehen Sie vor? Eine Pistole am Hinterkopf? Den Strick? Den elektrischen Stuhl hat Lost Oaks leider nicht zu bieten. Aber wie wär’s mit Gift?« »Versuchen Sie, mir die Hölle auf Erden zu bereiten, Padre?« Der Mörder kniff die Augen zusammen. »Hör zu, du Schwindler, du bist kein Geistlicher – du stammst wie ich aus einem Glasbehälter. Paß auf, ich mache dir einen Vorschlag. Laß mich laufen, dann kannst du bis in alle Ewigkeit den Geistlichen spielen. Ich brauche dich nicht umzubringen. Es gibt genug andere.« »Nein, ich schließe keinen Pakt mit dem Teufel.« Der Gefangene warf sich mit ausgestreckten Händen gegen die Gitterstäbe. Der andere trat lächelnd zurück. »Du hast in einem Punkt recht: Ich bin kein Geistlicher. Aber ich kann dir noch etwas verraten – ich bin nicht einmal Robert der Gute.« Der Mörder starrte ihn an. Seine Hände umklammerten die Gitterstäbe. »Ah, du merkst, was für Konsequenzen sich daraus ergeben? Du hast gesagt, du brauchtest mich nicht umzubringen. Aber ich muß dich ermorden und werde es auch tun. Ich bin kein Killer wie du, aber ich bin auch kein Heiliger. Robert der Gute hat mich amoralisch genannt.« Er riß sich den Priesterkragen ab. Der Gefangene zitterte vor Haß. Oder auch vor Angst? »Ja, ich bin Robert Blane«, fuhr der Mann fort, der sich als Hillary Manchester ausgegeben hatte, »und ich 157
werde bald der einzige Überlebende sein. Du mußt verschwinden, Killer Bob.« »Wo ist der Gute?« fragte der Mörder heiser. »Robert der Gute ist heimgegangen, der Arme.« »Du hast ihn umgebracht?« »Oh, nur aus Versehen. Ich habe dich oben im Vorführraum niedergeschlagen. Als ich zum zweitenmal ausgeholt habe, hat er unglücklicherweise den Kopf dazwischengehalten.« Robert Blane aus dem sechsten Behälter lächelte. »Wir sind also nur noch zu zweit, alter Freund, und bald bin ich ganz allein – Robert Ace Hillary Manchester Blane. Am besten vergifte ich dich. Doc Antioch hat genügend Gifte im Labor. Ich kippe das Zeug in dein Essen, und du kannst daran sterben oder verhungern. Leb wohl, Killer Bob. Wir sehen uns bei der Fütterung wieder.« »Warte!« rief der andere, aber Robert Blane VI. blieb nicht stehen. Robert der Mörder starb weder an Gift noch an Hunger. Als Hillary ihm am dritten Morgen ein vergiftetes Frühstück brachte, hatte der Gefangene sich mit seinem Gürtel an den Gitterstäben erhängt. Hillary, der eine Falle fürchtete, stellte das Tablett in der Nähe des Gitters ab, wie er es schon an den Vortagen getan hatte, und ging wieder. Als er 24 Stunden später zurückkam und alles unverändert vorfand, nahm er die Leiche ab und verscharrte sie. Hillary Manchester-Blane, der bekannte Biochemiker, summte bei der Arbeit vor sich hin. Sein zweites Ich, der Experte für Geheimschriften, 158
hatte sich als nützlich erwiesen, als es darum ging, Dr. Antiochs verschlüsselte Notizen in Klartext zu übertragen. Eine dritte Facette des Mannes machte sich gelegentlich Notizen. Manchester-Blane war dabei, Lost Oaks wiederzubevölkern. Er hatte sich Muskelzellen aus dem linken Unterarm entnommen. Die Schalen, Gläser und Glasbehälter standen bereit. Er hatte sich allerdings etwas vorgenommen: Hillary der Mörder durfte nie erwachen. Und er würde auch auf Hillary den Guten verzichten. Die vier anderen und er selbst genügten. Ein gutes amoralisches Team. Im Grunde genommen tat er das alles für Ace Hillary, sein liebstes Ich. Daraus mußte sich eine gute Story machen lassen.
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Liebt Hunde
Der Veteran Die Wohnanlage in der Nähe der Universität war vor kurzem bezugsfertig geworden. Vertreter John F. ›Happy‹ Horman wartete eine Woche, bis die Neuen sich eingelebt hatten, bevor er mit seiner elektrischen Mausefalle und seinem Auftragsbuch die Runde machte. Er begann in der Südwestecke der Wohnanlage und klingelte dort an der ersten Tür. Als sie geöffnet wurde, begann Happy seinen Vortrag. Mitten im zweiten Satz verstummte er jedoch, weil er merkte, daß er mit einem Hund sprach. Mit einer Hündin. Happy war verwirrt. »Ist Herrchen da?« fragte er. »Augenblick«, sagte der Hund. Die Tür fiel ins Schloß. Happy starrte sie an. Dann wurde sie wieder geöffnet. Ein größerer Hund stand auf der Schwelle. »Was kann ich für Sie tun?« erkundigte er sich. »Das war ein Mißverständnis«, murmelte Happy. »Ich habe den Hausherrn gemeint.« Er sah auf seiner Namensliste nach. »Ich möchte zu Mr: Setler.« »Setter«, verbesserte ihn der Hund. »Ein Tippfehler, nehme ich an. Ich bin der Hausherr. Was kann ich für Sie tun?« »Ich … ich weiß nicht recht.« Happy Horman nahm sich die Brille ab, putzte sie, setzte sie wieder auf und betrachtete den rötlichbraunen Hund. »Ein sprechender Hund?« 160
»Offenbar. Sind sie ein sprechender Mensch?« »Ah … ja.« »Warum sagen Sie dann nichts? Kommen Sie von der Hausverwaltung? Dann können Sie endlich dafür sorgen, daß der Ablauf in der Küche repariert wird. Er leckt noch immer.« »Mr … . äh … Setter«, sagte Happy mit einiger Anstrengung. »Ich bin Repräsentant eines Herstellers von elektrischen Mausefallen und könnte mir vorstellen, daß Sie an einer kleinen Vorführung interessiert wären. Das heißt …« Die Hündin erschien wieder. »Irish, Liebster, der Zwinger wird kalt, wenn du die Tür offenläßt.« »Haus, Maureen, nicht Zwinger.« Er wandte sich an den Vertreter. »Wollen Sie nicht hereinkommen, Sir?« Happy folgte ihm ins Haus und nahm auf einem ganz normalen Stuhl Platz. Er sah sich interessiert um, aber soviel er feststellen konnte, war die Einrichtung durchaus gewöhnlich. Nichts erinnerte an eine Hundehütte, obwohl dies unzweifelhaft ein Hundehaus war. Irish rollte sich auf der Couch zusammen, während Maureen sich entschuldigte, weil sie die Welpen füttern mußte. »Ich will nicht neugierig sein, Mr. Setter«, sagte Happy, »aber warum … äh … wie kommt es, daß Sie hier wohnen?« »Warum nicht?« lautete die Gegenfrage. »Ich dachte, diese Häuser seien für Veteranen bestimmt?« »Ich bin ein Veteran«, antwortete der Hund. »Wollen Sie meine Entlassungsurkunde aus dem K-Neun-Korps sehen?« 161
»Oh. Aber man muß doch Student und verheiratet sein, um hier wohnen zu können?« »Ich bin verheiratet, Sir!« stellte Irish nachdrücklich fest. Happy hüstelte verlegen. »Ja, gewiß, Mr. Setter. Aber wie können Sie Student an der Universität sein?« »Möchten Sie die ganze Geschichte hören?« »Ja, sehr gern«, stimmte Happy eifrig zu. »Alles hat neunzehnhundertneunundfünfzig angefangen«, berichtete Irish. »Mein Herrchen war Professor Neil Wendt, der berühmte Atomphysiker. Ich weiß noch heute nicht, woran Wendt eigentlich gearbeitet hat, aber ich war sein ständiger Begleiter, sein stummer Freund. Eines Tages muß ich irgendwie bestrahlt worden sein, und als Wendt mich gerufen hat, habe ich ›Komme schon!‹ geantwortet. Einfach so. Ich weiß nicht, wer überraschter war – Wendt oder ich. Nachdem die erste Verwirrung sich gelegt hatte, haben wir uns hingesetzt und vernünftig miteinander geredet. Dabei haben wir festgestellt, daß wir einander helfen konnten: Ich habe Wendt mehrere Verbesserungsvorschläge gemacht, und er ist mit mir zum Dekan gegangen, der dafür gesorgt hat, daß ich Privatunterricht bekam und mein Bakkalaureat machen konnte. Haben Sie studiert, Sir?« »Äh, nein«, antwortete Happy. »Hmmm. Als ich später meinen Magister machen wollte, ist mir klargeworden, daß ich etwas für die Verteidigung meines Vaterlandes tun mußte. Deshalb habe ich mich freiwillig zum K-Neun-Korps gemeldet und bin dort rasch Sergeant geworden. Aber das Kastensystem! Völlig unfair! Mir sträuben sich noch immer die Haare, 162
wenn ich daran denke, wie ungerecht es beispielsweise war, mich nicht zur Offizierslaufbahn zuzulassen! Und wie es meinen Stolz verletzt hat, neben das Wort Rasse ›Tier‹ schreiben zu müssen, während fast alle anderen ›Mensch‹ schreiben konnten!« »Aber das ist jetzt alles vorbei, Mr. Setter«, beschwichtigte Happy ihn. »Was studieren Sie jetzt?« »Natürlich Anthropologie«, antwortete Irish. »Aber wir haben genug über mich geredet. Was wollten Sie mir zeigen, Sir?« »Ich bezweifle, daß es Sie interessieren würde«, meinte Happy zögernd. »Es ist eine Mäusefalle, wissen Sie, und gerade Sie haben bestimmt keine Verwendung dafür, weil Sie …« »Nun, vielleicht doch. Ich habe nicht mehr soviel Zeit für Sport wie früher. Am besten sehe ich mir Ihr Modell einmal an.« Der Vertreter stand erleichtert auf, steckte den Stecker seiner elektrischen Mausefalle ein und führte sie mit einer Gummimaus vor. »Donnerwetter!« rief Irish aus. »Sieh dir das an, Maureen!« Die Hündin kam herein und bewunderte das Gerät ebenfalls. »Ich bin dafür, daß wir eines kaufen«, sagte sie. »Das spart uns eine Menge Arbeit.« »Richtig«, stimmte Irish zu. »Schreiben Sie einen Auftrag aus, Sir? Stecken Sie mir den Kugelschreiber zwischen die Zähne, dann kann ich unterschreiben. Bitte sehr.« Happy gab ihm die Durchschrift, wischte den Kugelschreiber unauffällig trocken und verabschiedete sich. 163
Draußen holte er tief Luft und drehte sich nach dem Haus um. Hinter den Fenstern war niemand zu sehen. Er warf einen Blick in sein Auftragsbuch. Dort stand in energischer Schrift ›I. Setter‹. Er schüttelte den Kopf, zuckte mit den Schultern und ging ein Haus weiter. Er klingelte. Ein dicker junger Mann öffnete die Haustür. »Entschuldigung«, sagte Happy, »ist Ihr Hund da?«
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Rebellier
Kometenschweif Hätte ich einen Auftrag gehabt, wäre ich auf Kosten des Klienten mit dem Taxi gefahren, aber ich wartete noch auf den nächsten Auftrag, deshalb fuhr ich mit dem Bus. Dabei fiel mir der hagere Alte mit den tief in den Höhlen liegenden Augen auf. Es war abends nach der Hauptverkehrszeit, und ich wollte nach Hause in die 78th Street. Der hagere Alte stieg ein und fragte den Fahrer: »Kostet die Fahrt noch immer fünfzehn Cent?« »Richtig, Mister. Bis Mitternacht.« Ich war zufällig auf den Alten aufmerksam geworden und ließ das ›Time‹-Heft sinken, in dem ich eben etwas über den neuen Kometen gelesen hatte. »Dann hebe ich mir die Pennys noch auf«, sagte er und ließ einen Dime und einen Nickel in den Kasten fallen. »Ich heiße Radin«, fügte er überraschend hinzu. »Lionel Radin.« »Willkommen an Bord, M. Radin«, antwortete der Fahrer unbekümmert und fuhr an. Radin nahm hinter mir Platz. Ich blätterte in ›Time‹ und las den Artikel über General Stacy Tranquen, dessen Rechtsradikalismus Aufsehen zu erregen begann. Ich las ihn verbissen, denn ich kann knurrige alte Männer nicht ausstehen – es sei denn als Klienten, die dreißig Dollar Tageshonorar zahlen. Ich bin Privatdetektiv und heiße John Smith. Mein unauffälliger Name hilft mir, in der Menge unterzutauchen. 165
Und mein Job macht mich vielleicht wachsamer als den Durchschnittsbürger, denn ich spürte, wie der Alte mir ins Genick starrte. Ich drehte mich rasch um. Lionel Radins graue Augen beobachteten mich gelassen. »Brauchen Sie einen Haarschnitt, Mr. –?« fragte er. Das war eine Frage, wie sie jeder alte Schwätzer hätte stellen können – aber ich hatte eben die gleiche Idee gehabt. Ich ließ mir nichts anmerken und nannte meinen Namen, da er sich dafür zu interessieren schien. »Ich heiße Radin, Mr. Smith«, sagte er. »Denken Sie daran. Alles paßt zusammen. Sie werden schon sehen.« Ein Spinner. Ich nickte ihm zu, suchte die Stelle, wo ich vorher gewesen war, und las den Artikel über den Kometen weiter. »Das auch«, behauptete der Alte und sah mir über die Schulter. »Ein gewisser Sinn für Feinheiten wird sich bemerkbar machen.« »Klar«, antwortete ich. Als der Bus an der 78th Street hielt, stieg ich aus, ohne mich nach dem Alten umzusehen. An der Haltestelle kaufe ich mir normalerweise eine Zeitung. Andy, der Zeitungsmann, hielt mir die ›Daily News‹ entgegen. Als ich ihm vier Pennys geben wollte, erklärte er mir: »Die kosten jetzt einen Nickel, Smitty.« »Verdammt noch mal!« knurrte ich. »Der ›Mirror‹ auch?« »Nein, der kostet weiter vier Cent.« »Gut, geben Sie mir den ›Mirror‹.« Andy gab mir die andere Zeitung. »Da sind Sie nicht der erste, Smitty.«
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Ich erfuhr erst am nächsten Tag, was er damit meinte. Als ich ins Büro kam, klingelte das Telefon; ich meldete mich und hatte einen Klienten: die Busgesellschaft. Ich hatte schon früher gelegentlich für sie gegen betrügerische Fahrer ermittelt, aber diesmal ging es um etwas anderes. Soweit die Gesellschaft informiert war, wurde sie nicht betrogen. Sie bekam ihre achtzehn Cent, die eine Fahrt jetzt kostete – aber in Pennystücken. Ich hörte zu, machte mir Notizen und erklärte mich bereit, den Auftrag zu übernehmen. Dann legte ich auf und schaltete das Radio ein. Dabei erfuhr ich zum erstenmal von dem Boykott gegen die ›Daily News‹. Die heutige Ausgabe war gedruckt und ausgeliefert worden – und lag noch immer unverkauft bei den Zeitungshändlern. Wie ich hatten alle New Yorker statt dessen den ›Daily Mirror‹ gekauft. Die auf der Hand liegende Erklärung, daß alle Leser den ›Mirror‹ gekauft hatten, weil er im Gegensatz zu den ›News‹ den alten Preis beibehalten hatte, war unglaubwürdig. Konnte dieser kleine Preisvorteil 2109 601 treue Leser (garantierte Auflage) dazu gebracht haben, das Konkurrenzblatt zu kaufen? Ausgeschlossen! Im Daily-News‹-Wolkenkratzer in der East 42nd Street herrschte verständliche Verwirrung. Drei Blocks weiter in der 45th Street, wo die ›Mirror‹-Redaktion weniger luxuriös untergebracht war, herrschte um so größerer Jubel. Immerhin hatte der ›Mirror‹ seine verkaufte Auflage schlagartig verdreifacht. Nachdem die ›Daily News‹ mit der Busgesellschaft gesprochen hatte, wurde die Zeitung mein zweiter Klient. Ein leitender Angestellter des Verkehrsunternehmens 167
war den Tränen nahe, als er mir schilderte, wie alles angefangen hatte. Punkt Mitternacht hatten sämtliche Fahrgäste begonnen, mit Pennystücken zu zahlen – und die Busfahrer mußten das Kleingeld entgegennehmen, weil Pennies bis zu einem Gesamtbetrag von fünfundzwanzig Cent gesetzliches Zahlungsmittel waren. Zuerst quollen die Zahlboxen über, dann warfen die Fahrer das Geld in ihre Mützen oder stopften sich die Taschen voll. Fahrer Ralph Costerlocker von der Broadway-Linie war einer der ersten, der einfach aufgab. Er hatte so viele Münzen eingenommen, daß er sie schließlich ohne zu zählen unter seinen Sitz warf. Aber sein tapferer Versuch endete, als er am Columbus Circle vor lauter Pennystücken weder Gaspedal noch Bremse bedienen konnte. Ralph stellte den Motor ab, zog die Handbremse an und zündete sich eine Zigarette an. »Hier ist für mich Endstation«, erklärte er seinen Fahrgästen. »Wer sein Geld zurückhaben will, braucht sich nur zu bedienen.« Die Sache ging weiter. Im ›Mirror‹ erschien eine ganzseitige Anzeige für die neue Kaugummimarke Supertang. Ein völlig neuer Geschmack – und wem er nicht gefiel, bekam sein Geld doppelt zurück. Die Werbeagentur war davon überzeugt, daß nicht viele Kunden Geld ausgeben würden, um vier Stangen Kaugummi zurückzuschicken und einen kümmerlichen Dirne zu bekommen. Aber sie hatte sich gewaltig getäuscht. Niemand schien Supertang zu mögen; Millionen kauften eine Packung, versuchten ein Stück, spuckten es aus und verlangten ihr Geld zurück. 168
Drei Millionen Dimes waren 300 000 Dollar, und die Versandkosten genügten fast, Supertang Bankrott machen zu lassen. Ich konnte nicht länger im Büro bleiben; das Telefon klingelte dauernd. Meine Klienten wollten Ergebnisse sehen, und ich mußte endlich etwas für sie tun. Ich flüchtete in den Bryant Park und setzte mich auf eine Bank, um nachzudenken. Ein junger Mann nahm neben mir Platz. »Schönes Wetter heute«, sagte er freundlich. Ich wollte ihn ignorieren, aber dann fiel mir ein, daß ich ihn ausfragen könnte. Ich lächelte also und erkundigte mich, ob er die ›Daily News‹ lese. »Komisch«, meinte er nachdenklich, »ich habe sie immer gelesen, aber jetzt kaufe ich den ›Mirror‹.« »Wie kommt das?« »Ich hab’s satt, daß alles ständig teurer wird. Das lasse ich mir nicht mehr bieten.« »Aber es ist doch einfacher, einen Nickel herzugeben, als vier Pennys zusammenzusuchen oder sich wechseln zu lassen.« »Das ist keine Schwierigkeit.« Er grinste. »Ein größeres Problem sind die sechsunddreißig Pennys, die ich jeden Tag für den Bus brauche.« Aha! dachte ich. Jetzt kommt heraus, wer hinter dieser Verschwörung steckt. »Wer hat Ihnen gesagt, daß Sie mit Pennys zahlen sollen?« erkundigte ich mich. »Niemand«, antwortete er erstaunt. »Ich wollte nur beweisen, daß ich mir nicht alles gefallen lasse.« Er griff sich in die Tasche und holte eine Packung Kaugummi heraus. Supertang. Er starrte die Packung an. »Dieser 169
Mist!« sagte er. »Da fällt mir übrigens ein, daß ich das Zeug noch zurückschicken will!« »Um Ihr Geld doppelt zurückzubekommen, was?« »Warum nicht? Wenn sie das versprechen, müssen sie’s auch halten.« Ich sah ihm nach, als er in Richtung Postamt davonging: ein ehrbarer Bürger mit moralischer Empörung im Herzen und sechsunddreißig Pennys in der Tasche. Wenn er ein Verschwörer war, würde ich … nun, dann würde ich eine ganze Packung Supertang essen. Was war nur in diese Leute gefahren? Oder um es anders auszudrücken: Wer setzte ihnen diese Ideen in den Kopf? Wer beeinflußte harmlose, gutmütige, leichtgläubige Menschen und verwandelte sie in lächelnde, aber eisern entschlossene Hüter der Pennys und Nickels, von denen sie sich sonst in jedem Inflationsjahr leichten Herzens trennten? Und wie brachte dieser Unbekannte das fertig? Telepathie? Pseudowissenschaftliches Gewäsch. Massensuggestion? Schon wahrscheinlicher. In ›Time‹ und ›Newsweek‹ wurde oft genug von erstaunlichen Experimenten berichtet, die in diese Richtung zielten. Was hatte ich erst neulich gelesen? Ich konnte mich nicht daran erinnern. Ich dachte eben über die Frage nach, warum jemand die Massen auf diese Weise beeinflussen wollte, als eine Stimme fragte: »Entschuldigung, Sir, würden Sie mir ein paar Fragen für eine Meinungsumfrage beantworten?« Ich sah auf – und erkannte Ed Rappoport, meinen alten Kameraden aus der Luftwaffe. »Ed, alter Junge!« Wir klopften uns auf die Schultern. 170
Fünf Minuten später saßen wir in einer kleinen Bar. Ich erzählte Ed von meinen Klienten und erkundigte mich: »Was sagt das Volk dazu? Du müßtest es eigentlich am besten wissen.« »Richtig. Nun, die Leute scheinen der Überzeugung zu sein, daß wir’s ihnen heimzahlen.« »Wer ist ›ihnen‹?« »Oh, alle, die uns dazu bringen wollen, irgend etwas zu tun, was wir nicht wollen.« »Du sagst uns, Ed. Gehörst du auch dazu?« »Ja, offenbar. Das ist mir selbst aufgefallen. Bevor ich heute morgen aus dem Haus gegangen bin, habe ich aus verschiedenen Taschen achtzehn Pennys für den Bus zusammengesucht. Das hat mich selbst gewundert, und ich habe mir vorgenommen, Widerstand zu leisten.« »Widerstand? Wie meinst du das?« Ed lachte. »Nun, ich habe mit drei oder vier anderen Leuten an einer Bushaltestelle gestanden. Wir hatten alle Kleingeld in der Hand und haben uns angegrinst, als wollten wir sagen: ›Wir zeigen’s ihnen schon!‹ Wir waren innerlich bereit, Widerstand zu leisten, verstehst du? Und ich habe mir plötzlich überlegt, wie viele Menschen in unserem Gebiet genau gleich reagiert haben. Das ist nicht normal, Smitty; das ist statistisch unhaltbar!« Er machte eine Pause. »Die Leute benehmen sich so, weil sie von außen manipuliert werden.« »Wie kommst du darauf?« fragte ich. »Weil mein Widerstand gegen den Widerstand erfolglos geblieben ist. Ich wollte dem Busfahrer zwei Dime geben und zwei Cent von ihm zurückbekommen. Ich hatte sogar schon die zwei Dime in der Hand.« »Und dann?« 171
»Sobald ich im Bus dem Fahrer gegenübergestanden habe, habe ich die zwei Dime eingesteckt und mit achtzehn Pennys bezahlt.« Obwohl ich Ed Rappoport dieses Erlebnis glaubte, war ich davon überzeugt, niemand könne mich dazu zwingen, den Fahrpreis anders als mit zwei Dime zu bezahlen. »Du kannst es ja versuchen«, hatte Ed gesagt – und genau das hatte ich vor. Der Bus hielt am Randstein. Als erstes sah ich das neue Schild neben der Tür: Fahrpreis 18 Cent. Diese beleidigende Information stand auch an der Zahlbox. Als ich die beider. Stufen hinaufstieg, steckte ich unwillkürlich die zwei Dime ein und holte aus einer anderen Tasche Kleingeld. Einfach den Fahrpreis erhöhen, was? Denen würde ich es zeigen! Ich zählte dem Fahrer achtzehn Pennys in die Hand. Er wartete geduldig lächelnd und warf die Münzen in den neben seinem Sitz aufgehängten großen Sack. Nachdem ich mich gesetzt hatte, verflog meine gerechte Empörung sehr rasch, und ich fragte mich, was eben in mich gefahren war. Irgend etwas oder irgend jemand hatte mich dazu gebracht, genau das Gegenteil von dem zu tun, was ich mir vorgenommen hatte. Das konnte nicht einmal ein Hypnotiseur. Diese Sache konnte gefährlich werden, wenn der Kreis der Betroffenen sich über die Busgesellschaft, die ›Daily News‹ und Supertang hinaus erweiterte. Ed Rappoport hatte recht gehabt. Der Durchschnittsbürger, dieser oft verfluchte, unberechenbare Zeitgenosse, zeigte unwahrscheinlich einheitliche Reaktionen. Im Augenblick machte ihm das noch Spaß, aber ich hatte 172
den Verdacht, daß ihm in Zukunft etwas weniger Lustiges bevorstand. Vielleicht etwas Unangenehmes wie ein gewaltsamer Umsturz. Aber dann wurde mir klar, daß dazu keine Gewalt nötig war. Solange sich alle einig waren, würde es keinen Widerstand gegen einen Umsturz geben. Bevor die Leute wußten, was geschah, würden wir von einem Diktator regiert werden. ›Ich liebe diesen Mann‹, würde jemand der Bevölkerung suggerieren – und niemand würde sich dagegen wehren können. Jemand testete diese Methode zunächst in kleinerem Maßstab, um zu sehen, wozu sich die Menschen ’bringen ließen. Boykottiert die ›Daily News‹. Bezahlt im Bus mit Pennys. Laßt euch von Supertang euer Geld zurückgeben. Liebt diesen Mann. Welchen Mann? Etwa General Stacy Tranquen? Ich hatte plötzlich Angst. Dies war kein Job für einen kleinen Privatdetektiv; dies war ein Fall fürs FBI. Aber würde das FBI sich meine verrückte Theorie, die ich nicht beweisen konnte, überhaupt anhören? Natürlich. Das FBI hörte jedem zu. Vielleicht befaßte es sich bereits unauffällig, aber um so wirkungsvoller mit dieser merkwürdigen Sache. Der FBI-Mann, mit dem ich im Gebäude 290 Broadway sprach, lachte mich nicht aus, sondern blieb grimmig ernst. »Wir sind Ihnen dankbar, daß Sie uns darauf aufmerksam gemacht haben, Mr. Smith«, sagte er höflich. Meine Aussage wurde zu Protokoll genommen, und ich mußte unterschreiben. Trotz aller Bemühungen ge173
lang es mir nicht, aus dem FBI-Mann herauszubekommen, ob das FBI schon wegen dieser Sache ermittelte oder ob ich der erste war, der mit seinen Sorgen hierhergekommen war. Er versicherte mir, das FBI sei für weitere Informationen stets dankbar, und begleitete mich höflich zum Ausgang. Jemand folgte mir, als ich das Gebäude verließ. Ich dachte zuerst, das FBI wolle mich beschatten lassen. Aber das konnte kein FBI-Mann sein; die benahmen sich nicht so ungeschickt. Wer beschattete mich also? Ich drehte mich plötzlich um und erwischte ihn prompt. Es war der hagere Alte mit den tief in den Höhlen liegenden grauen Augen, der neulich hinter mir im Bus gesessen hatte. Er grinste. »Hallo, Mr. Smith.« Mir fiel sein Name nicht gleich ein. »Lionel«, sagte ich zögernd. »Lionel Radin.« »Sie erinnern sich also an mich? Wie schmeichelhaft!« »Warum laufen Sie hinter mir her? Was wollen Sie?« »Ich weiß einiges, was Sie interessieren wird, Mr. Smith.« Er lächelte wieder. »Sie und Ihre Klienten.« Der Alte schien über mich informiert zu sein. Aber warum hatte er meine Klienten erwähnt? Warum kam er ausgerechnet zu mir, wenn er etwas über den verblüffenden Konformismus der New Yorker wußte? Aber vielleicht wollte er aus diesem Phänomen nur Geld herausschlagen und hatte deshalb von meinen Klienten gesprochen … »Ein interessanter Gedankengang, Mr. Smith«, sagte der Alte, »aber es handelt sich nicht um Erpressung.« Radin las meine Gedanken. Ich warf ihm einen prüfenden Blick zu, den er gelassen erwiderte. 174
»Wir können nicht auf der Straße darüber reden«, stellte er fest. »Warum laden Sie mich nicht zu einer Tasse Kaffee ein? Die können Sie von Ihrem Spesenkonto abbuchen.« Als wir in einem Café saßen, erklärte er mir, er sei Empathiker. »Empathiker?« wiederholte ich. »Ist das ein Fremdwort für ›Gedankenleser‹?« »Im Gegenteil! Ein sogenannter Gedankenleser absorbiert die Gedanken anderer; ein Empathiker projiziert Gedanken oder Emotionen.« »Sie sind also ein Sender, den jedermann empfangen kann?« »Im Augenblick ist tatsächlich jeder empfangsbereit. Und die Leute brauchen sich nicht erst anzustrengen; sie empfangen unwillkürlich.« Ich glaubte ihm kein Wort. »Dann wären Sie in den letzten Tagen ziemlich fleißig gewesen, Mr. Radin.« »Ja, nicht wahr?« Er lächelte zufrieden. »Ich habe jahrelang experimentiert, ohne mehr als eine Person gleichzeitig beeinflussen zu können. Jetzt reagieren Hunderttausende auf meine Gedanken. Ein aufregendes Erlebnis!« »Sie müssen sich sehr mächtig fühlen«, sagte ich beiläufig, »wenn Sie die Leute dazu bringen können, alles zu tun, was Sie wollen.« Der Alte runzelte die Stirn. »Nein, ich sehe die Sache rein wissenschaftlich«, versicherte er mir. »Deshalb wollte ich mit Ihnen sprechen. Meine Arbeit ist stets soziologisch gewesen. Aber jetzt fließt ein politisches Element ein. Das gefällt mir ganz und gar nicht.« »Ein politisches Element? Woher?« 175
»Das weiß ich nicht. Ich kann nicht ausmachen, woher es mich erreicht. Zum Glück habe ich ihm bisher widerstehen können.« »Wogegen haben Sie bisher Widerstand geleistet?« erkundigte ich mich. Was der Alte sagte, klang allmählich überzeugend; ich hatte zumindest das Gefühl, daß er glaubte, was er sagte. »Kommen Sie heute abend zum Fernsehen zu mir«, forderte er mich auf. »Warum?« Dann fiel mir etwas ein. »Vielleicht zur Spookie-Masters-Show?« Lionel Radin nickte. »Ja. Eine Demonstration ist ein Dutzend Erklärungen wert.« Spookie Masters tat mir leid, obwohl ich ihn nicht persönlich kannte. Er war ein Fernsehkomiker, der es nach jahrelangen Bemühungen endlich geschafft hatte, eine eigene NBC-Show zu bekommen. Heute abend mußte er es schaffen, seine Zuschauer zu begeistern – oder er war beruflich erledigt. Ich war davon überzeugt, daß er es nicht schaffen würde, weil Lionel Radin ihn als Versuchskaninchen benutzen wollte. Radin wohnte in einem der schmalbrüstigen alten Häuser, die sich am Riverside Drive gegen die aus dem Boden schießenden Apartmenthäuser behauptet haben. Er empfing mich an der Haustür und führte mich in eine nach englischem Vorbild eingerichtete Bibliothek. Radin mochte ein Spinner sein; er war jedenfalls kein armer Spinner. »Oh, das ist alles ehrlich erworben«, versicherte er mir lächelnd. Er las wieder einmal meine Gedanken. »Ja, ja, schon gut«, wehrte er ab, als ich mich entschuldigen wollte. »Sie trinken doch Whisky? Oder lieber Kognak?« 176
»Danke, Scotch genügt.« Ich schenkte mir einen Whisky ein und spritzte etwas Sodawasser aus dem Siphon. »Ich kann mir denken, was Sie vorhaben«, erklärte ich Radin. »Der arme, alte Spookie tut mir schon jetzt leid.« Er beugte sich nach vorn. »Was wird Ihrer Meinung nach passieren?« fragte er gespannt. Ich trank einen Schluck. »Sie wollen den Zuschauern suggerieren, die Show sei mies, und sie dazu bringen, auf CBS umzuschalten. Das ist ein gemeiner Trick, Mr. Radin.« »Gut geraten, Mr. Smith«, antwortete er kichernd. »Genau das habe ich vor! Ich hoffe, daß es mir gelingt. Schließlich habe ich noch nie versucht, so viele Menschen gleichzeitig zu beeinflussen.« Er lachte. »Stellen Sie sich die Verblüffung bei NBC vor, wenn herauskommt, daß kein einziger Zuschauer die zweite Hälfte der Show gesehen hat!« Radin stand auf, trat an den großen Farbfernseher und schaltete Kanal 4 ein. Die Show begann mit einem von Spookies Monologen, für die er berühmt war. Ich lachte schallend, als er den Witz von der kritischen Kundin im Fleischergeschäft erzählte. Aber der alte Lionel Radin hockte mit steinerner Miene neben mir. »Geben Sie ihm eine Chance«, bat ich ihn. »Tun Sie’s nicht.« »Pst!« sagte Radin. »Es fängt an.« »Was fängt an?« Aber er schüttelte wortlos den Kopf. Ich kippte meinen Whisky und beobachtete ihn, wie er Spookie beobachtete. Aber er schien gar nicht richtig hinzusehen. 177
Sein Blick war nach innen gerichtet, und er schwitzte auffällig. »Mr. Radin!« sagte ich laut, aber er reagierte nicht. Spookie Masters, der einen verrückten Trick mit seiner Krawatte vorgeführt hatte, wurde schlagartig ernst. »Meine Damen und Herren, liebe Zuschauer, auch ein Komiker muß einmal ernst sein«, begann er eindringlich. »Ich hoffe, daß Sie mir verzeihen werden, wenn ich einen Augenblick über etwas spreche, was uns alle angeht. Wir alle wissen, welche Verleumdungskampagne gegen General Stacy Tranquen geführt worden ist, seitdem er an die Spitze von Amerika Plus getreten ist, um gegen Auswüchse wie …« Nein! dachte ich entsetzt. Ist Spookie Masters übergeschnappt, daß er im Fernsehen von Politik redet? Weiß er nicht, daß er damit die Show ruiniert? Und muß er ausgerechnet für einen Extremisten eintreten? Dann sah ich wieder zu Lionel Radin hinüber. Ich merkte ihm an, wie sehr er sich auf Spookie konzentrierte. Das mußte das politische Element sein, von dem er gesprochen hatte! Der Einfluß von außen, dem er bisher hatte widerstehen können … »Radin!« rief ich laut. Als er nicht reagierte, griff ich nach dem Siphon und spritzte ihm Sodawasser ins Gesicht. Das genügte. Radin prustete, griff nach seinem Taschentuch, starrte den Fernseher an und schien gar nicht zu wissen, was passiert war. »Radin!« forderte ich ihn auf. »Los, tun Sie was! Retten Sie Spookie!« Ich wußte nicht, ob er das konnte, aber er war der einzige, der vielleicht noch etwas retten konnte. 178
»Was?« fragte Radin benommen. »Wen?« Im nächsten Augenblick wußte er, worum es ging. Er ließ sein Taschentuch fallen und konzentrierte sich auf den Bildschirm. Die Studiogäste brüllten vor Lachen. Spookie lebte sichtlich auf. Er sang ›When I was a boy in Rivington Street‹. Sein Publikum ging begeistert mit. Lionel Radin stand auf und stellte den Fernseher ab. »Das wäre beinahe schiefgegangen«, murmelte er. »Ich habe Ihnen und dem Siphon zu danken, Mr. Smith.« Dann kamen bereits die FBI-Männer. Zehn oder zwölf muskulöse junge Männer stürmten plötzlich herein, um Radin festzunehmen. Ich las später, Spookie Masters’ Show sei ein überzeugender Erfolg gewesen. Seine kurze Wahlrede für Amerika Plus schien niemandem aufgefallen zu sein – dank meines Eingreifens mit dem Siphon und Lionel Radins schneller Reaktion. Die FBI-Männer hatten eine Erklärung parat, die mit den Berichten über den Kometen zusammenhing, von dem ich in ›Time‹ und ›Newsweek‹ gelesen hatte. Wichtig war allerdings nicht der Komet selbst, sondern sein Schweif. Wissenschaftliche Untersuchungen hatten eine ungewöhnliche Steigerung empathischer Fähigkeiten in der Aura des Kometenschweifs erkennen lassen. Sie wirkte sich besonders auf Leute wie Lionel Radin oder General Tranquens Doktor X. aus. Die FBI-Männer nahmen Radin zum Verhör mit. Ich begleitete ihn zum Foley Square, um zu seinen Gunsten auszusagen. 179
Das nützte tatsächlich, denn er wurde nach der Vernehmung freigelassen – im Gegensatz zu Doktor X., der in Untersuchungshaft kam. Ich erfuhr sogar, wer Doktor X. war. Sein Name sagte mir nichts, bis ich hörte, daß er früher Entwicklungsleiter eines Elektronikkonzerns gewesen war. Bei beginnender Senilität hatte er sich von Amerika Plus einspannen lassen. Gegen Tranquen schien das FBI nichts unternehmen zu können; er war zu vorsichtig gewesen – bisher. Trotzdem hatte ich den Eindruck, er werde weiterhin überwacht, bis auch gegen ihn genügend Beweise vorlagen. Ich begleitete Lionel Radin nach Hause, und er erklärte mir einige Dinge, die bisher nicht deutlich geworden waren. Er stellte stolz fest, Doktor X.’ Empathie sei sehr begrenzt, so daß er sich seiner habe bedienen müssen, um sie wirksamer zu machen. Ich wandte ein – ich war stolz auf mein Eingreifen mit dem Siphon –, wir seien trotzdem nur in letzter Minute den Beeinflussungsversuchen von Amerika Plus entgangen. »Nein, die Gefahr war nicht allzu groß«, widersprach Radin. »Das mit Spookie Masters war nur ein Test; außerdem hätten sie nicht mehr viel Zeit gehabt.« »Weil das FBI sie festgenommen hätte?« »Nein, das meine ich nicht«, sagte er lächelnd. Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Vor einer halben Stunde hat die Erde den Kometenschweif wieder verlassen – und damit ist auch sein Einfluß zu Ende, fürchte ich.« Er lächelte bedauernd und fügte hinzu: »Jetzt bin ich wieder dort, wo ich zu Anfang war. Ich kann Menschen nur un180
ter besonderen Voraussetzungen in begrenztem Umfang beeinflussen. Diesmal waren die Umstände außergewöhnlich, wissen Sie …« Er begann mit einer wissenschaftlichen Erklärung. Ich hörte eine Zeitlang zu und winkte dann resigniert ab. »Sparen Sie sich die Mühe, Mr. Radin«, sagte ich. »Das lese ich nächste Woche in ›Time‹. Dort steht es dann für gewöhnliche Sterbliche erklärt.« Ich setzte ihn ab und fuhr mit dem Taxi nach Hause. Leb wohl Spesenkonto, dachte ich. Wenn ich morgen meinen Bericht getippt habe, sitze ich wieder ohne Klient da. Ich war allerdings noch immer nicht ganz davon überzeugt, daß der Fall ausgestanden war – bis ich den Zeitungsstand an meiner Ecke erreichte. Andy warf mir einen fragenden Blick zu. »›Daily News‹?« fragte ich zweifelnd. Andy gab sie mir. »Warum nicht?« ENDE
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