R. Kreienberg H. Ludwig 125 Jahre Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe Werte · Wissen · Wandel
R. Kreienberg H. Ludwig
125 Jahre Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe Werte · Wissen · Wandel
Mit 256 Abbildungen und 49 Tabellen
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Prof. Dr. med. Rolf Kreienberg Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe Universitätsfrauenklinik Ulm Prittwitzstrasse 43 89075 Ulm
[email protected] Prof. Dr. med. Hans Ludwig Wartenbergstr. 9 CH 4052 Basel
[email protected]
ISBN 978-3-642-15011-1 Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Springer-Verlag GmbH ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden.
Planung: Renate Scheddin Projektmanagement: Diana Kraplow Lektorat: Monika Merz, Sandhausen Einbandgestaltung: deblik, Berlin Satz: TypoStudio Tobias Schaedla, Heidelberg SPIN 80020292 Gedruckt auf säurefreiem Papier
18/5135/DK – 5 4 3 2 1 0
V
Vorwort Die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie wurde 1885 in Straßburg gegründet, hervorgegangen aus einer gynäkologischen Sektion der Naturforscherversammlung (1822, Lorenz Oken, Leipzig). Obgleich von Anfang an naturwissenschaftlich ausgerichtet, waren die Gründer Kliniker. Der 1. Präsident unserer Gesellschaft (Franz von Winckel, 1837-1911) kam aus München. Ein glücklicher Umstand führt die Gesellschaft wieder nach München an den Wirkungsort ihres 1. Präsidenten und wir können hier anlässlich des 58. Kongresses den 125. Geburtstag unserer Gesellschaft feiern. Aus Überlegungen, wie die wissenschaftliche und klinische Tradition der Gesellschaft, die seit jeher über Deutschland hinausgriff, gewürdigt werden könnte, entstand die Idee, das Errungene aufzuzeichnen, um damit den Wandel sichtbar zu machen und auf dieser Grundlage einen Ausblick in die Zukunft zu versuchen. Von Sachkennern der jeweiligen Materie sollte der Wandel auf der Basis des Wissens und seine gesicherten Werte aufgezeichnet werden – vom Beginn über die Gegenwart hinweg mit einem Blick auf die zu ahnende Zukunft. Dabei zeigte sich schon durch die Zahl der Kapitel sehr anschaulich, wie groß dieses Fach inzwischen geworden ist, weit über die klassische Geburtshilfe und die anfänglich vor allem operative Gynäkologie hinausreichend. Man hätte versucht sein können, vier bis sechs getrennte Disziplinen aus der Frauenheilkunde und Geburtshilfe entstehen zu lassen. Dieser Versuchung hat man bis heute widerstanden, obschon unzweifelhaft die materno-fetale Medizin, die Onkologie und die sich rasch entwickelnde Reproduktionsmedizin auf den ersten Blick nichts Gemeinsames mehr zu haben scheinen, es sei denn, den Dienst der Wissenschaft an den Bedürfnissen der Frau. Und hier wird auch das vereinigende Band sichtbar: Von der Psychosomatik zur Radikaloperation; von der Kinderwunschbehandlung zur elektronischen Wissensvermittlung; von der endokrinen Regulation als gemeinsamer Basis, zur Plazenta als einem so kurzlebigen Organ des Menschen und dennoch einem der interessantesten; von der Anwendung der immer noch geltenden Regeln für die manuelle Entbindungskunst bis zur geburtshilflichen Analgesie, die von Rücksichten auf Mutter und Kind geprägt wird; von den molekularbiologischen Grundlagen der Physiologie der Konzeption zur Fetalentwicklung als Kulmination der Funktion des weiblichen Reproduktionstraktes; von der Morphologie und Genetik eines Tumors bis zur pränatalen, ja präkonzeptionellen Diagnostik; die Schwangerschaft schließlich als einer natürlichen Herausforderung für den mütterlichen Organismus bis an die Grenzen seiner Belastbarkeit, welche deren Kreislauf, Hämostasevermögen und Immunbiologie herausfordern und die prospektive Potenz für die weitere Gesundheit der Frau mitbestimmen muss, und nicht nur der Mutter, auch des Kindes. Überall ist es ein Dienst an der Frau geblieben, der diese Wissenschaft ebenso wie diese praktische Medizin gewidmet blieb. Wenn eines aus dem vorliegenden Buch klar wird, dann ist es diese Vielfalt und interdependente Dynamik des Fortschreitens von Wissen ebenso wie von Anwendungen im täglichen ärztlichen Handeln. Wollte man die gern gebrauchte Metapher vom State of the art einfügen, hier ist sie in ihrem wörtlichsten Sinne abgebildet. Aber die Fülle des Wissens wird immer der Kunst der gerade richtigen Anwendung bedürfen, will man sich nicht in Einzelheiten verirren.
VI
Vorwort
Ja, es ist auch heute noch möglich, alles zu begreifen, wenn auch nicht mehr, alles zu gebrauchen. Verstehen, Können und Geschicklichkeit eines Einzelnen reichen dafür nicht mehr aus, wohl aber seine Erkenntniskraft, dass ein immenses Wissensgebiet entstanden ist. Dieses gilt es künftig zu verfeinern, zu erhalten und weiterzureichen. Dem Weitergeben des Gewachsenen an die jüngere Generation dient dieses Buch vor allem anderen. In ihm kann geblättert, nachgeschlagen oder studiert werden: Es ist die Gynäkologie und Geburtshilfe des Jahres 2010 in unserem Land. Das war das Anliegen, nicht mehr und nicht weniger, so sollte es von dazu Berufenen aufgezeichnet werden. Ohne die engagierte Mitarbeit der Autoren aller Kapitel wäre aus dieser Idee und daraus folgenden Initiative nichts geworden. Ihnen gilt der Dank unserer Fachgesellschaft. Der Verlag hat ungeachtet des Zeitdruckes sichergestellt, dass der Band zu Beginn des 58. Kongresses in München aufliegt. Möge er seinen Zweck erfüllen. Ulm, im Mai 2010 Rolf Kreienberg Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe 2008/2010
Anmerkung der Herausgeber: Der besseren Lesbarkeit wegen wurden die bezifferten Literaturhinweise im Text weggelassen mit Ausnahme dort, wo die Identifikation der Quelle ohne solche verunmöglicht worden wäre.
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Inhaltsverzeichnis Frauenheilkunde im Wandel – Werte und Wissen im Konflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1 Hermann Hepp
1
Geschichte der Qualitätssicherung in der Geburtshilfe und Gynäkologie . . . . . . . . . . . . .31 Diedrich Berg
2
Vom Lehrbuch zum Mausklick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Ausbildung, Weiterbildung, E-Learning Urs Haller
3
Anmerkungen zur Geschichte der psychosomatischen Frauenheilkunde in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Matthias David, Friederike Siedentopf, Heribert Kentenich
4
Infektionserkrankungen in Gynäkologie und Geburtshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Ioannis Mylonas, Klaus Friese
5
Geschichte der operativen Gynäkologie am Beispiel der Hysterektomie – eine Zeitreise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Angela Köninger, Rainer Kimmig
6
Laparoskopie – Endoskopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Sven Becker, Harald Abele, Sara Brucker, Tanja Fehm, Konstantinos Gardanis, Eva-Maria Grischke, Markus Hoopmann, Ines Gruber, Oliver Kagan, Bernhard Krämer, Christl Reisenauer, Ralf Rothmund, Wolfgang Zubke, Diethelm Wallwiener
7
Urogynäkologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Heinz Kölbl
8
Die Pathophysiologie von Endometriose und Adenomyose. Morphologische, funktionelle und molekularbiologische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Gerhard Leyendecker, Ludwig Wildt
9
Blutgerinnung, Blutungen und Thromboembolie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Im Spiegel der Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe Hans Ludwig
10
Ultraschalldiagnostik in der Frauenheilkunde – Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Bernhard-Joachim Hackelöer
11
Ultraschall in der Gynäkologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Heinrich Prömpeler
VIII
12
Inhaltsverzeichnis
Entwicklung und Bedeutung der Mammasonographie in der Gynäkologie . . . . . . . 273 Helmut Madjar
13
Entwicklung der 3D/4D-Sonographie in der pränatalen Diagnostik, Gynäkologie und der Mammadiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Eberhard Merz
14
Ultraschalldiagnostik in der Frauenheilkunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Bernhard-Joachim Hackelöer
15
Pränatale Medizin – Entwicklung von der invasiven zur nichtinvasiven Diagnostik und von der Diagnose zur Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Wolfgang Holzgreve, Xian Yan Zhong
16
Die Zukunft der Geburtshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Peter Husslein, Wibke Blaicher
17
Entwicklungen in der Geburtshilfe – Die Überwachung des Kindes unter der Geburt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Wolfgang Künzel, Volker Lehmann
18
50 Jahre Perinatalmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Klaus Vetter
19
Gynäkologische Onkologie – Dysplasien und Karzinom der Zervix . . . . . . . . . . . . . . . 371 Erkenntnisse in Diagnostik und Behandlung von gestern als Grundlage für heute und morgen Jörg Baltzer
20
Gynäkologische Onkologie – Radikaloperationen bei Zervixkarzinom . . . . . . . . . . . 393 Markus C. Fleisch, Hans Georg Bender
21
Gynäkologische Onkologie – Endometriumkarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Günter Emons
22
Ovarialkarzinom: alte Probleme und neue Lösungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 Hans-Gerd Meerpohl
23
Vulva- und Vaginalkarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 Hans-Georg Schnürch
24
Brusttumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 Walter Jonat, Corinna Crohns
25
Hereditäres Mamma- und Ovarialkarzinom: BRCA1, BRCA2 und BRCA3 . . . . . . . . . . 487 Marion Kiechle
IX Inhaltsverzeichnis
26
Entwicklung der Chemotherapie in der Gynäkologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 Rolf Kreienberg, Stephanie Gossmann
27
Gynäkologische Strahlentherapie: geschichtliche Entwicklung und wissenschaftliche Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 Jens Bahnsen, Hans-Joachim Frischbier
28
Neuroendokrine Regulation der Ovarialfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535 Ludwig Wildt, Gerhard Leyendecker
29
Familienplanung und Empfängnisverhütung bei der Frau in Deutschland . . . . . . . 555 Thomas Rabe
30
Erinnerung an Siegfried Trotnow (1941-2004) und das erste»In-vitro-Baby« in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587 Hans Ludwig
31
Reproduktionsmedizin: Kontroversen und Sachstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589 Georg Griesinger, Klaus Diedrich
32
Geschichte der deutschen gynäkologischen Endokrinologie und Fortpflanzungsmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601 Thomas Strowitzki
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625
XI
Autorenverzeichnis Abele, Harald, Dr. med.
David, Matthias, PD Dr.med.
Universitäts-Frauenklinik Tübingen Calwer Str. 7 72076 Tübingen
Univ.-Kliniken Charité Campus Virchow Augustenburger Platz 1 Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe 13353 Berlin
[email protected]
Bahnsen, Jens, Prof. Dr. med. 39576 Stendal
[email protected]
Diedrich, Klaus, Prof. Dr. med. Baltzer, Jörg, Prof. Dr. med. Jentgesallee 72 47799 Krefeld
[email protected] Becker, Sven, Prof. Dr. med. Universitäts-Frauenklinik Tübingen Calwer Str. 7 72076 Tübingen
[email protected]
Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck Ratzeburger Allee 160 23538 Lübeck
[email protected] Emons, Günter, Prof. Dr. med. Robert Koch Strasse 40 37075 Göttingen
[email protected]
Bender, Hans Georg, Prof. Dr. med. Moorenstrasse 5 40225 Düsseldorf Berg, Dietrich, Prof. Dr. med. Schwaigerstr. 33 92224 Amberg
[email protected] Blaicher, Wibke, Dr. med. Frauenklinik, AKH Wien Währinger Gürtel 18-20 A 1090 Wien Brucker Sara, PD Dr. med. Universitäts-Frauenklinik Tübingen Calwer Str. 7 72076 Tübingen
Fehm, Tanja, Prof. Dr. med. Universitäts-Frauenklinik Tübingen Calwer Str. 7 72076 Tübingen Fleisch, Markus C, Prof. Dr. med. Moorenstrasse 5 40225 Düsseldorf
[email protected] Friese, Klaus, Prof. Dr. med. Ludwig-Maximilians-Universität München Klinik und Poliklinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe - Klinikum Großhadern und Innenstadt Maistrasse 11 80337 München
[email protected]
Crohn, Corinna, Dr. med. Arnold Heller Str. 3, Haus 24 24105 Kiel
Frischbier, Hans-Joachim, Prof. Dr. med. Marschweg 43a 22559 Hamburg
XII
Autorenverzeichnis
Gardanis, Konstantinos, Dr. med.
Husslein, Peter, o. Univ. Prof. Dr. med.
Universitäts-Frauenklinik Tübingen Calwer Str. 7 72076 Tübingen
Frauenklinik, AKH Wien Währinger Gürtel 18-20 A 1090 Wien
[email protected]
Gossmann, Stephanie, Dr. med. Prittwitzstrasse 43 89075 Ulm Griesinger, Georg, PD Dr. med. Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck Ratzeburger Allee 160 23538 Lübeck
[email protected]
Jonat, Walter, Prof. Dr. med. Dr. med. h.c. Arnold Heller Str. 3, Haus 24 24105 Kiel
[email protected] Kagan, Oliver, PD Dr. med. Universitäts-Frauenklinik Tübingen Calwer Str. 7 72076 Tübingen Kentenich, Heribert, Prof. Dr. med.
Hackeloeer, Bernhard-Joachim, Prof. Dr. med. Asklepios Klinik Hamburg-Barmbek Rübenkamp 220 22291 Hamburg
[email protected]
Univ.-Kliniken Charité Campus Virchow Augustenburger Platz 1 Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe 13353 Berlin Kiechle, Marion, Prof. Dr. med.
Haller, Urs, Prof. Dr. med. Gaishausstr. 12 CH 9050 Appenzell
[email protected]
Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München Ismaninger Str. 22 81675 München
[email protected]
Hepp, Hermann, Prof. Dr. med. Dr. med. h.c.
Kimmig, Rainer, Prof. Dr. med.
Schlossstr. 15 82266 Buch
[email protected]
Hufelandstrasse 55 45122 Essen
[email protected]
Holzgreve, Wolfgang, Prof. Dr. med. Dr. med. h.c. mult.
Kölbl, Heinz, Prof. Dr. med.
Münsterplatz 2 CH 4051 Basel
[email protected]
Langenbeckstr. 1 53131 Mainz
[email protected] Köninger, Angela, Dr. med.
Hoopmann, Markus, Dr.med. Universitäts-Frauenklinik Tübingen Calwer Str. 7 72076 Tübingen
Hufelandstrasse 55 45122 Essen
[email protected]
XIII Autorenverzeichnis
Krämer, Bernd, Dr. med.
Merz, Eberhard, Prof. Dr. med.
Universitäts-Frauenklinik Tübingen Calwer Str. 7 72076 Tübingen
Universitäts-Frauenklinik Langenbeckstr.1 53131 Mainz
[email protected]
Kreienberg, Rolf, Prof. Dr. med. Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe Universitätsfrauenklinik Ulm Prittwitzstrasse 43 89075 Ulm
[email protected] Künzel, Wolfgang, Prof. Dr. med. Goethestrasse 7 35390 Gießen
[email protected] Lehmann, Volker, Prof. Dr. med. Vogelerstr. 55 21075 Hamburg
Mylonas, Ioannis, PD Dr. med. Ludwig-Maximilians-Universität München Klinik und Poliklinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe - Klinikum Großhadern und Innenstadt Maistrasse 11 80337 München
[email protected] Prömpeler, Heinrich, Prof. Dr. med. Universitätsklinikum Freiburg Hugstetterstrasse 55 76106 Freiburg i Brsg
[email protected] Rabe, Thomas, Prof. Dr. med. Dr. med. h.c.
Leyendecker, Gerhard, Prof. Dr. med. Bratusstrasse 9 64293 Darmstadt
[email protected]
Universitäts-Frauenklinik Heidelberg Voss Strasse 9 59120 Heidelberg
[email protected]
Ludwig, Hans, Prof. Dr. med.
Rothmund, Ralf, Dr. med.
Wartenbergstr. 9 CH 4052 Basel
[email protected]
Universitäts-Frauenklinik Tübingen Calwer Str. 7 72076 Tübingen
Madjar, Helmut, Prof. Dr. med.
Schnürch, Hans-Georg, Prof. Dr. med.
Deutsche Klinik für Diagnostik Wiesbaden Abteilung für Gynäkologie und Brustzentrum der DKD Aukammallee 33 65191 Wiebaden
[email protected]
Preussenstr. 84 41464 Neuss
[email protected]
Meerpohl, Hans- Gerd, Prof. Dr. med. Frauenklinik St. Vincentius Kliniken 76137 Karlsruhe
[email protected]
Siedentopf, Friederike, Dr. med. Univ.-Kliniken Charité Campus Virchow Augustenburger Platz 1 Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe 13353 Berlin
XIV
Autorenverzeichnis
Strowitzki, Thomas, Prof. Dr. med. Universitäts-Frauenklinik Heidelberg Voss Strasse 9 69115 Heidelberg
[email protected] Vetter, Klaus, Prof. Dr. med. Vivantes-Klinikum Rudowerstr. 48 12 351 Berlin
[email protected] Wallwiener, Diethelm, Prof. Dr. med. Dr. med. h.c. Universitäts-Frauenklinik Tübingen Calwer Str. 7 72076 Tübingen
[email protected] Wildt, Ludwig, Prof. Dr. med. Klinik für Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin Medizinische Universität Innsbruck Anichstrasse 35 A 6062 Innsbruck
[email protected] Zhong, Xiao Yan, Prof. Dr. med. Universitäts-Frauenklinik, Spitalstrasse 21 CH 4031 Basel Zubke, Wolfgang, PD Dr. med. Universitäts-Frauenklinik Tübingen Calwer Str. 7 72076 Tübingen
Frauenheilkunde im Wandel – Werte und Wissen im Konflikt Hermann Hepp
2
Frauenheilkunde im Wandel – Werte und Wissen im Konflikt
Bei meiner Antrittsvorlesung in Homburg/Saar 1978 sprach ich noch über den Wandel der Gynäkologie und Geburtshilfe, bei meiner Abschiedsvorlesung 2005 in München-Grosshadern musste ich den Umbruch der Medizin konstatieren. Im Frühjahr 2005, wenige Tage vor der Übergabe der Frauenklinik der Ludwig-Maximilians-Universität, Campus Großhadern, eröffnete mir mein die operative Station betreuender Oberarzt vor der Visite, drei operierte Patientinnen müssten nach der Visite entlassen werden. Auf meine erstaunte Rückfrage, wie er ohne Kenntnis des weiteren postoperativen Verlaufes und der aktuellen klinischen Situation der genannten Patientinnen diese Entscheidung vertrete, erhielt ich als Antwort, die Fallpauschale der drei »Fälle« sei aufgebraucht, ein weiterer Verbleib dieser Patientinnen würde die Station in die roten Zahlen führen. Dieser Dialog signalisierte mir unmissverständlich, dass sich aus einem kontinuierlichen Wandel ein Umbruch der Medizin von einer, dem leidenden Menschen verpflichteten Medizin zu einer sich dem Primat der Ökonomie unterwerfenden Medizin vollzieht. In einem ersten allgemeinen Teil versuche ich, aus meiner in 43 Jahren frauenärztlicher Tätigkeit entwickelten, persönlichen Sicht den Strukturwandel der Medizin bzw. der Frauenheilkunde und Geburtsmedizin mit ihren Ursachen und Folgen aufzuzeigen. Auf diesem Hintergrund werde ich in Teil II anhand von besonders konflikthaften Themen der Frauenheilkunde und Geburtshilfe, nämlich dem Schwangerschaftsabbruch, der Reproduktionsmedizin, der Frühgeburtsmedizin an der Grenze der Lebensfähigkeit, der Wunsch-Sektio, der Pränatalmedizin, der Präimplantationsdiagnostik (PID), der Stammzellmedizin eine Wertediskussion im Spannungsfeld des wissenschaftlichen Fortschritts führen.
Wandel der Medizin (1962-2005) Fünf zum Teil vielschichtige und sich bedingende Ursachen sind für den Wandel der Medizin zu nennen: 1. Fortschritt der Medizin 2. demographische Entwicklung 3. Verrechtlichung der Medizin 4. Arbeitswelt 5. Fallpauschale
Fortschritt der Medizin Gynäkologie und Geburtshilfe als »Heil«-Kunde bewirkten und erfuhren im Sog und als Teil des medizinischen Fortschritts einen tiefen Strukturwandel. Es ist müßig zu fragen, ob es der medizinische Fortschritt ist, der die Bedürfnisse weckt oder ob es neue Ansprüche sind, welche ihrerseits Fortschritte induzieren. Jede neue medizintechnische und pharmakologische Entwicklung führt bei entsprechender sozialpsychologischer Aufbereitung zur gesellschaftlichen Nachfrage [67]. Maio spricht vom modernen Anspruch an ein Leben ohne Mangel [54]. Die Knappheit der Mittel im Gesundheitswesen steigt schon allein dadurch, dass der medizinische Fortschritt neue Möglichkeiten in Diagnostik und Therapie (z. B. Kernspintomographie, Gendiagnostik, Chemotherapie, Antikörpertherapie etc.) eröffnet. Wir haben keine Kosten-, sondern zunächst eine Leistungsexplosion, einen Überfluss des Machbaren, welcher die Anspruchsspirale antreibt. Diese dreht sich unter
3 Fortschritt der Medizin
immer stärkerem Zeitdruck und bewirkt eine immer größere Spannung zwischen dem Anspruch des Patienten und der Wirklichkeit der Finanzierbarkeit. Von einer Fortschritts- [47] und Gesundheitsfalle [1] ist die Rede. »Medizin erzeugt Kranke« ist in diesem Kontext eine immer wieder geäußerte, wenn auch zynische Behauptung. In der Wechselwirkung von Anspruch und medizinischem Fortschritt durch die Forschung sind wir »konfrontiert mit Erwartungen und Hoffnungen einer Gesellschaft, die von der Medizin eine neue Heilkultur erhofft und mit ihr schließlich das Modell einer Weltbewältigung erwartet« (Schipperges 1978). Die Wirklichkeit der Medizin ermöglicht in ihrer Begrenztheit nur Hoffnung auf Linderung oder Heilung. Gesundheit als eine sogar einklagbare Ware führt zur Utopie der Erwartung [91] bzw. eines Anspruchs auf Gesundheit. Zu fordern ist, dass wir uns nicht dem zunehmenden Erwartungsdruck der Patienten unterwerfen, indem wir in überzogener Weise die Patientenautonomie, die Voluntas aegroti zum alleinigen Handlungsprinzip erheben und eine Hierarchie der Gefälligkeit anstelle von Kompetenz bzw. Qualität ärztlichen Handelns setzen. Voluntas aegroti – ja (!) – solange und soweit dieser Wille dem Heil des Patienten dient. Das Heil des Kranken, die Salus aegroti, in der die Autonomie der Patientenpersönlichkeit, die Voluntas teil hat, muss, eingebunden in den Informed Consent, Priorität behalten. Voluntas und Salus stehen so nicht in Konkurrenz. Dieser Gedanke wurde in der politischen Debatte über die Patientenverfügung m. E. nicht zu Ende gedacht. In dem so hoch sensiblen Bereich der auf den Tod hin kranken Menschen, droht den Ärzten/innen, in der Konfrontation mit Verfügungen zu Dienstleistern degradiert zu werden. Man mag dies als paternalistische, längst überholte Position ansehen. Das Handeln des Arztes bedarf einer Basis des Vertrauens. An diesem Vertrauen haben wir zunächst selbst zu arbeiten. Nur indem wir täglich an unserer ärztlichen und ethischen Kompetenz arbeiten, sind wir in der Lage, die Beziehung zu den uns an – vertrauten Patienten auf eine Basis des Vertrauens zu stellen und dadurch ein Gleichgewicht zwischen Salus und Voluntas aegroti zu halten [31]. Der Respekt des Arztes gegenüber der Autonomie der Patientin, ohne blinde Unterwerfung, begründet die Glaubwürdigkeit des Arztes/in und ist die Basis für das dem Arzt entgegengebrachte Vertrauen [95]. Die schnell sich entwickelnde prädiktive Medizin mittels Gentechnologie (s. u.) induziert eine weitere und neue Wirklichkeit: In Zukunft geht es nicht mehr nur um die Diagnose und Therapie von vermuteten oder manifesten Erkrankungen, sondern um die Suche und das Erkennen von Krankheitsdispositionen, wodurch der vermeintlich Gesunde zum sich Krankfühlenden wird. Spätestens hier wird Kranksein nicht mehr als Schicksal empfunden. Der Druck der Gesellschaft auf die Inanspruchnahme der prädiktiven Tests wird steigen. Es droht eine Entsolidarisierung. Dieser Bedrohung versucht das jüngst in Kraft getretene Gendiagnostikgesetz (GenDG) u. a. entgegen zu wirken [22] (s. u.). Ohne Ökonomie ist alles nichts, aber Ökonomie ist nicht alles. Ärzte/innen und Patientinnen müssen Abschied nehmen von der Vollkaskomentalität. Zur medizinischen Versorgung aller uns anvertrauten Patienten/innen auf hohem Niveau müssen wir die tägliche Herausforderung zum Therapieverzicht, zum Therapieabbruch, zur Solidarität und zur Priorisierung [40] annehmen. Deckelung der Ansprüche, das Aufhalten der Anspruchsspirale ist die Forderung der Stunde. Das heißt: Rückbesinnung des Patienten auf seine Eigenverantwortung im Sinne risikoärmeren Verhaltens. »Wahre Zivilisation«, so Mahatma Gandhi, »besteht nicht in der Vervielfältigung der Bedürfnisse, sondern in der überlegten Reduzierung der Wünsche«. Hinzu treten muss die Förderung des Pflichtbewusstseins gegenüber der Solidargemeinschaft, das Hinführen zur Grunderfahrung der Endlichkeit des Menschen als dessen reale Wirklichkeit. Dies sind die Aufgaben einer dringend notwendigen großen
4
Frauenheilkunde im Wandel – Werte und Wissen im Konflikt
Erziehungsarbeit. Das heißt auch, dass wir Ärzte/innen den Identitätswandel oder gar den drohenden Verlust des Wesens der Medizin und darin auch des Arztes/in erkennen und unser Denken und Handeln wieder primär am Heil des Patienten orientieren. Nur so vermögen wir einer weiteren politischen Fremdbestimmung zu entgehen. Schon vor Jahren prognostizierte ich [32], dass eine Bewältigung der Krise des Gesundheitswesen in der BRD nur zu erreichen ist, wenn die Ansprüche der Solidargemeinschaft nicht größer werden, als diese bereit ist zu bezahlen, unabhängig davon, ob die Finanzierung über Kopfpauschale, Prämien und/oder Steuern erfolgt. Die Forderung an uns Ärzte/innen kann nur lauten: Keine ökonomisch beeinflusste Indikationsausweitung, keine unnötige und teure Apparatemedizin zur Finanzierung der zeitintensiven – jedoch bisher nicht entsprechend honorierten – sprechenden Medizin, keine Defensivmedizin, keine Gefälligkeitsatteste, keine unberechtigte Krankschreibung und Rezeptierung, keine IGEL1–Leistung gleichsam als Wunschanbieter – auch eigener Wünsche. Nicht alles medizinisch Machbare und Wünschenswerte ist bezahl- und über Sozialversicherungssysteme abwickelbar. Die Rede ist von der Qualität ärztlichen Handelns als ethischer Imperativ, die kontinuierliche Fort- und Weiterbildung zur Voraussetzung hat. Hierin sind wir nie am Ziel. Nicht, ob Medizin tun darf, was sie kann, schon gar nicht, ob sie tun muss, was sie kann, ist die zentrale Frage, sondern ob wir in der Lage sind, dem Sog der Technologie hin zu einer Technokratie ein Menschenbild entgegenzusetzen, das uns die segensreichen Errungenschaften moderner Medizintechnologie und Pharmazie dankbar gebrauchen lässt, das aber alles ärztliche Handeln an die Frage nach der Verantwortbarkeit der Mittel und Verfahren bindet [24]. H. Ludwig (2006) bringt die Herausforderung auf den Punkt »Was wir sehen sollten ist, dass konsequentes Kosten-, Nutzendenken die althergebrachte, mitmenschliche Motivation der Heilberufe gefährdet, nämlich zu helfen, wo es nötig ist und das mit den bestmöglichen wirksamen Mitteln und ohne Ansehen der Person«. Wir bedürfen vor allem einer geistigen Gesundheitsreform.
Demographische Entwicklung Seit mehreren Jahren erleben wir den demographischen Wandel zu einer Gesellschaft der Alten. Jeder 5. Bürger Münchens ist über 60 Jahre alt. Dieser Wandel ist in der BRD zuerst bewirkt durch das veränderte Familienbild mit 1,3 Kindern pro Familie. Hinzu kommt der medizinische Fortschritt, der die Menschen unserer Gesellschaft älter werden lässt. Beide Entwicklungen bewirken die zunehmende Umkehr der Alterspyramide. Wir werden älter – von einer Vergreisung der Republik ist die Rede – oft um den Preis der Multimorbidität, was wiederum kostentreibend die Leistungsfähigkeit der Sozialversicherungssysteme belastet. Die veränderte Arbeitswelt in der derzeitigen Finanzkrise verschärft diese Belastung und mangels Kinder kehrt sich zunehmend die soziale und demographische Pyramide zu Lasten der in das System Einzahlenden um. Derzeit versorgen drei Einzahlende einen Rentner. In 10 Jahren hat ein Beitragszahler je einen Rentner zu versorgen. Die Rationierungs- und Priorisierungsdiskussion wird u. a. auch und vor allem von dieser Entwicklung stimuliert. Der Umgang mit dieser neuen Wirklichkeit unserer Gesellschaft wird die ethische Herausforderung des nächsten Jahrzehntes sein. Die Sorge ist berechtigt, dass wir über die Ökonomie bzw. Verknappung 1
IGEL: Individuell geforderte und erbrachte Gesundheitsleistungen
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der medizinischen Versorgung auf eine soziale Triage zusteuern. Mit Mut zur Evaluation von Leistungen und Setzen von Prioritäten ist es allein nicht getan. Die Verantwortung für jede Art der Rationierung – eine heimliche Rationierung erleben wir schon seit vielen Jahren – hat die Politik zu übernehmen. Es ist Aufgabe der Politik und nicht allein der Ärzteschaft, die Notwendigkeit der Rationierung bzw. der Priorisierung ärztlicher und medizinischer Leistungen den Bürgern zu vermitteln. Wir Ärzte/innen benötigen hierfür vom Gesetzgeber einen vernünftigen gesetzlichen Rahmen – nicht rechtliche Ermahnungen durch z. T. groteske Urteile.
Verrechtlichung der Medizin Der juristisch geforderte Sicherheitsstandard in der Medizin übertrifft alles, was in anderen Lebensbereichen üblich ist. Hinzu kommt, dass die Patientin Komplikationen in Diagnostik und Therapie, auch nach eingehender Information und Aufklärung, gar nicht mehr in Erwägung zieht und ein Recht auf Gesundheit postuliert. Nachlassende Risikobereitschaft und der suggerierte Glaube an das risikofreie Machbare, Mitverursacher für den immer höheren Anspruch führen schnell zu Haftungsklagen. Immer öfter sind wir mit Gerichtsurteilen konfrontiert, die millionenschwere Folgekosten verursachen [19], was aus Sicht der Patientinnen zu verstehen ist. Der Arzt/in steht hierdurch jedoch unter einem hohen Haftungsdruck, der zunehmend eine Defensivmedizin bewirkt. Diese schadet den Patientinnen und ist kostentreibend. An die Stelle fachkompetenter Entscheidungen in Diagnose und Therapie tritt vielfach eine nicht nur unter ökonomischen Gesichtspunkten unvertretbare Überdiagnostik und -therapie oder sogar unterlassene Hilfeleistung. Bei der Reflexion über den Wandel der modernen Medizin sind noch zwei das Arzt- und Menschenbild und damit auch die Interaktion Arzt-Patient/in stark beeinflussende Veränderungen zu benennen: Die veränderte Arbeitswelt mit dem Arbeitszeitgesetz (ArbZG) und die Einführung der diagnosebezogenen Fallpauschalen (Diagnostic Related Groups, DRGs).
Arbeitswelt Wohl an wenigen Orten hat sich die Arbeitswelt so grundlegend verändert wie innerhalb eines Klinikbetriebs. Die Gründe sind vielschichtig und vielfältiger Natur. Eine der Ursachen ist ohne Zweifel die veränderte Einstellung der weiblichen und männlichen Ärztegeneration zu Beruf, Freizeit und Familie bzw. deren Gewichtung in der persönlichen Entfaltung, der sog. Work-Balance [6]. Hinzu kommt, dass der Anteil der Medizinstudentinnen in 17 Jahren kontinuierlich von 33% auf 41% gestiegen ist (bei den Erstsemestern sind es heute an vielen Universitäten mehr als 70%) und sich um eine Facharztweiterbildung in Frauenheilkunde fast nur noch Frauen bewerben. Diese sind in der Regel gegenüber den wenigen männlichen Mitbewerbern deutlich besser qualifiziert. Die Folge ist der im Vergleich zu anderen Fachgebieten (Ausnahme Anästhesie und Pädiatrie mit traditionell hoher Frauen-»Quote«) hohe und stetig wachsende Anteil meist hochqualifizierter Frauenärztinnen. Von »Feminisierung« der Medizin ist die Rede. Dieser, die aktuelle Situation beschreibende Begriff, hat leider auch eine diskriminierende Komponente. Tatsache ist jedoch, falls es nicht gelingt, kurzfristig familienfreundliche Rahmenbedingungen, z. B. Teilzeitarbeit in der Familienaufbauphase, arbeitszeitkonforme Kinderbetreuungsstätten, Korrektur von Mutterschutzbestimmungen mit pauschalen Tätigkeitsverboten, Habilitationsstipendien und vor allem eine gesellschaftliche
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Akzeptanz von Beruf (Karriere) und Familie zu schaffen, wird einerseits die Forschung und Lehre des Fachgebiets massiv behindert, andererseits der qualifizierte Bewerberkreis um Spitzenpositionen unseres Faches noch kleiner. In Wechselwirkung zu den soziologischen Veränderungen der Arbeitswelt steht das Arbeitszeitgesetz (ArbZG). Grundtenor des Gesetzes ist die Gleichschaltung der Arbeitsstrukturen für alle Berufe, was für die Wirklichkeit der Medizin und insbesondere die Hochschulmedizin absurd ist. Arztsein an einer Universitätsklinik – und nur darüber kann ich aus eigenem Erleben berichten – verbunden mit Forschung und Lehre ist mehr als eine Dienstleistung, die über einen Schichtdienst zu leisten wäre. Bei nicht entsprechend kompensiertem Stellenzuwachs entstehen eine wachsende Arbeitsverdichtung und mangels Präsenz der Ärzte/ innen auch Weiterbildungsdefizite der sich in Weiterbildung befindenden Ärzte/innen. Der Freizeitausgleich für geleistete Überstunden anstelle von Geld bewirkt neben der Einkommenseinbuße ebenfalls aufgrund mangelnder Präsenz in der Kernarbeitszeit Defizite in der Aus- und Weiterbildung. Die zunehmenden arztfremden Leistungen (s. DRG) und die sich verschärfende Unvereinbarkeit von Beruf, Freizeit und Familie, die vielschichtige soziologische und personalspezifische (s. o.) Gründe hat, provozieren einen in den letzten Jahren zu beobachtenden Exodus hoch qualifizierter Ärzte und Ärztinnen. Hinzu kommt, dass durch den verstärkten ökonomischen Druck den Lehrern nicht mehr genügend Zeit für die »Schüler« zur Verfügung steht. Weiterbildung ist kostenrelevant, insbesondere in Krankenhäusern unter privater Trägerschaft (Rendite!), und kontra-»produktiv«. Ebenso kostenrelevant ist der Faktor Zeit für den Patienten. »Keine Zeit für Barmherzigkeit« titelte das Deutsche Ärzteblatt schon vor Jahren. Die schlimmste Rationierung im Gesundheitswesen ist die Rationierung der Ressource Zeit, was letztlich den Verlust der Identität des Arztes/in beschleunigt. Worte stehen für die veränderten Inhalte: der Arzt/in ist Leistungserbringer(Provider), das Krankenhaus nicht mehr ein Haus für Kranke, sondern Profitcenter, der Patient nicht mehr der auf Hilfe angewiesene, heilsuchende Kranke, sondern Kunde. Ein Kunde aber ist unabhängig und erhebt den Anspruch auf Gesundheit: Voluntas aegroti!
Fallpauschalen Die Einführung der Diagnostic related groups (DRGs) hat die Ökonomisierung der Medizin und der in diesem System Handelnden verschärft und z. T. pervertiert. Unter dem Diktat der Ökonomie reduziert sich der kranke Mensch auf eine Kosten-Normgröße. Neben einer weiteren Bürokratisierung der Medizin durch einen enormen, zeitraubenden Dokumentationsaufwand bewirken die DRG’s Defizite in der Lehre und Weiterbildung, vor allem aber eine Verdrängung der sprechenden und hinwendenden Medizin, noch verschärft durch das Arbeitszeitgesetz (s. o.). I.-D. Hoppe, Präsident der BÄK, spricht zu Recht von der zu befürchtenden Abkehr von der Zuwendungs- zur Zuteilungsmedizin. Nicht der Heilsuchende, sein Schicksal tragende kranke Mensch tritt dem Arzt gegenüber, sondern ein Erlös relevanter Fall. Eine Erlös optimierende Kodierpraxis (Upcoding) ist daher gefordert, wodurch der Arzt/ in zum Wünsche des Patienten und der Kostenträger erfüllenden Dienstleister i. S. eines Erlösmanagers pervertiert wird. Im DRG-System hat sich der Arzt/in dem ethischen Konflikt in der Interaktion Arzt/in-Patientin zu stellen. Die, die Fallpauschale überschreitende Kranke, wird nach Möglichkeit gar nicht erst stationär aufgenommen oder die Computeranalyse entscheidet über die Liegezeit und führt je nach Kostenrelevanz zur vorzeitigen Entlassung, ohne dass im ambulanten Bereich die Rahmenbedingungen zur Betreuung dieser Patientinnen vorhanden
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sind. Umgekehrt kann dieses System zur Anwerbung von besonders Erlös-relvanten »Fällen« verführen und/oder die stationäre Liegezeit künstlich verlängern. Im System der DRG’s nicht oder nur schwach abgebildet ist vor allem die Betreuung der chronisch Kranken, der Multimorbiden und die Palliativmedizin. In Kenntnis der demographischen Entwicklung (s. o.) bahnt sich eine bedrohliche, die Identität der Medizin pervertierende Entwicklung an. Die Versorgung alter, multimorbider Menschen ist, vor allem für die Krankenhäuser der Maximalversorgung nicht Erlös-relevant. Verschärft wird die Bedrohung der Identität der Medizin als Dienst am Menschen noch durch den mit der Ökonomisierung verbundenen und gewollten Wettbewerb.
Werte und Wissen im Konflikt Auf dem Hintergrund des skizzierten Wandels der Medizin, will ich in Teil II anhand besonders konfliktreicher Themen exemplarisch das Spannungsfeld von Wissenschaft und Werten beschreiben. Im Mittelpunkt wird jeweils die Frage stehen, wo denn nach einem z. T. atemberaubenden technischen Aufbruch, der in eine grenzenlose Technikgläubigkeit einzumünden droht, unsere frauenärztliche Position zwischen Naturwissenschaft und Humanität zu orten ist. Der Januskopf jeden wissenschaftlichen Fortschritts wird besonders scharf in der Frauenheilkunde und Geburtsmedizin sichtbar. Keine Arztgruppe ist so stark mit ethischen Konflikten konfrontiert wie die der Frauenärzte und zwar sowohl am Beginn, wie auch während und am Ende des Lebens: Ästhetische Chirurgie an Brust, Körperform und äußerem Genitale, Anti-Aging mittels Sexualhormonen, Antikonzeption, Sterilisation, Schwangerschaftsabbruch, Pränatalmedizin, assistierte Reproduktionstechnik (ART), Heterologe Insemination und In-vitro-Fertilisation (IVF) oder intracytoplasmatische Spermainjektion (ICSI), IVF/ICSI als Einstiegstechnik in die Gentechnologie, »Reduktion« von Mehrlingen, Frühgeburtsmedizin an der Grenze der Lebensfähigkeit, Wunsch-Sektio – um nur die wichtigsten Bereiche zu benennen. In der Gynäkologie, und hier besonders in der gynäkologischen Onkologie, sind die bio- und sozialethischen Fragen weitgehend identisch mit jenen der Medizin im Allgemeinen. In der Reproduktionsmedizin, der Schwangerschafts- und Geburtsmedizin jedoch haben wir Frauenärzte/innen in jeder diagnostischen und therapeutischen Entscheidung das Heil zweier Leben, das beginnende, primär dem Schutz durch die Mutter anheim gegebene Leben des Ungeborenen und das der Mutter zu achten und zu schützen. Ich werde mich auf wenige besonders konflikthafte Felder unseres Fachgebietes konzentrieren und dabei aufzeigen, wie wir Frauenärzte/innen im Sog des in Teil I dargestellten Wandels der Medizin, in der die Autonomie der Patientin auch Fremdbestimmung einschließt (Mein Bauch gehört mir) und Schicksal durch die Zauberformel Zumutbarkeit ersetzt ist, besonders gefährdet sind, durch gesellschaftliche und staatliche Interessen zu Dienstleistern degradiert zu werden.
Schwangerschaftsabbruch nach Pflichtberatung (§218a, Abs.1 StGB) In der im Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz (SFHÄndG) vom 21.08.1995 zur Fristenregelung mit Beratungspflicht (§ 218a, Abs.1 StGB) mutierten ehemaligen Notlagenindikation setzte der Gesetzgeber auf eine Frauenärzteschaft, die bis 12 Wochen post
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conceptionem (p.c.) rechtswidrig, jedoch straffrei tötet – und den flächendeckenden Sicherstellungsauftrag bei Einräumung einer Freistellungsklausel nach Art.12, Abs.1 GG und § 5 der BO. erfüllt. Vorausging das mehrheitlich im Deutschen Bundestag am 27.07.1992 verabschiedete Gesetz (§ 218a, Abs.1 StGB), wonach ein Schwangerschaftsabbruch innerhalb von 12 Wochen p.c. als nicht rechtswidrig und straffrei deklariert wurde. Erst der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) hat mit seinem Urteil vom 28.05.1993 dieses vom Deutschen Bundestag verabschiedete Gesetz (Fristenregelung ) als Bruch (!) der Verfassung (§ 2, Abs.2, GG: »Jeder hat ein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit«) aufgehoben. Mit Hinweis auf die in Art.1 GG aus der Menschenwürde abgeleitete Schutzpflicht des Staates gegenüber dem elementaren und unveräußerlichten Lebensrecht des Ungeborenen wurde die im Bundestag beschlossene befristete Straffreiheit (Fristenlösung ) akzeptiert, in der normativen Wertung jedoch mit Streichung des Wortes nicht (rechtswidrig) die nicht rechtswidrige Fristenregelung verworfen und somit dem Leben des Ungeborenen Vorrang vor der Selbstbestimmung der Mutter eingeräumt. Danach handelt der den Abbruch durchführende Arzt/in rechtswidrig, bleibt jedoch nach Pflichtberatung straffrei. Seitdem sind wir Frauenärzte/innen durch staatliche bzw. gesellschaftliche Interessen fremdbestimmt, indem man uns gleichsam im Sinne einer Dienstleistung die Exekutive aufdrängt. Indem der Staat alle Schutzwirkungen auf einer dem Leben dienenden Beratung und einem der Bewahrung und Erhaltung des Lebens verpflichteten Arzt/in aufbaut – letzteres hatte der Gesetzgeber versäumt in § 218a, Abs.1 StGB festzuschreiben – wird das Schutzkonzept über die Qualität und die Wirksamkeit der Beratung entschieden (BVerfG: Die staatliche Schutzpflicht erfordert es, dass die im Interesse der Frau notwendige Beteiligung des Arztes zugleich Schutz für das ungeborene Leben bewirkt.). Das bedeutet, dass sich im Interesse der Frau, einschließlich der gesundheitlichen Schutzwirkung, in unserer Gesellschaft ausreichend Ärzte finden, die einerseits bereit sind, das fundamentale Lebensrecht der Ungeborenen wissentlich zu verletzen und die andererseits durch ihre indirekte Einbindung in das Beratungskonzept die Gesamtzahl der Tötungen zu reduzieren versuchen. Der Arzt als Täter bleibt auch durch die nach Pflichtberatung »bescheinigte« Unzumutbarkeit eingebunden in einen von außen auf ihn übertragenen Konflikt. Trotz der Freistellungsklausel, wonach der Arzt/in nicht gegen seine Überzeugung und sein Gewissen verpflichtet werden darf, Schwangerschaftsabbrüche vorzunehmen – in praxi oft nur von rechtsphilosophischer Bedeutung – sind wir Frauenärzte/innen eingebunden in ein gesetzliches Tötungssystem und erkennen, dass sich bereits ein Bewusstseinswandel hinsichtlich der Rollenverteilung Arzt/in-Patient vollzogen hat, der zu einem soziokulturellen Phänomen wurde. Den tiefsten Widerspruch sehe ich darin, dass mit Aufhebung des Strafrechtsschutze töten nach Pflichtberatung innerhalb einer Frist legitimiert, die Tat selbst jedoch rechtswidrig bleibt. Dieser innere Widerspruch im Urteils des BVerfG’s zwischen dem aufgrund der Einmaligkeit und individuellen Menschenwürde (Art.1 und 2 GG ) hohen normativen Anspruch hinsichtlich des Lebensschutzes für jeden vorgeburtlichen Menschen und einer der real existierenden Wirklichkeit angepassten Lösung wird vom Staat uns Frauenärzten/innen zugemutet. Es ist ein sehr schwer nachvollziehbarer Spagat, dass ethisch und ärztlich vertretbar sein soll, etwas Rechtswidriges zu tun. Das Gesetz setzt in seinem Spagat auf eine Frauenärzteschaft, die in Anerkennung einer hohen Norm und der von dieser abgeleiteten Rechtswidrigkeit dennoch, weil straflos, tötet. Ich kenne keinen Berufsstand, dem dies von Seiten des Staates zugemutet wird. Schon vor Jahren sprach ich von der durch die Degradierung zum ausübenden Organ einer lebensfeindlichen Politik induzierten, unzumutbaren Not des Arztes. Mit Verweis auf die ambivalente Berufswelt der Frauenärzte/innen, Helfer zum Tod und Helfer zum Leben
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(Stoll 1980) zu sein, fragte J. Zander anlässlich des 42. Bayerische Ärztetages 1989 »ob hier z. Zt. nicht eine natürliche Ordnung der Wertvorstellungen in Unordnung gerät und ob in der täglichen Übung dieser Unordnung nicht schliesslich auch die Massstäbe für ärztliches Handeln gefährdet werden« [94]. Diese durch die Gesellschaft und die Politik bewirkte Fremdbestimmung der Frauenärzte/innen zur rechtswidrigen, jedoch straffreien Tötung Ungeborener wird eines nicht mehr so fernen Tages hineinwirken in eine wegen ökonomischer Unzumutbarkeit und begleitender Mitleidsethik erfolgender aktiven Tötung siechender, dementer Greise, Behinderter und auf den Tod hin Kranker.
Geburtsmedizin Die Geburtshilfe hat einen tiefgreifenden Wandel von einer den physikalischen und geburtsmechanischen Gesetzen folgenden und gegebenenfalls mit gezielten Handgriffen unterstützenden Kunst(Ars Obstetrica), bis in die 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts paternalistisch geprägt, zu einer technisierten und partnerschaftlichen, von gegenseitigem Vertrauen bestimmten Medizin erfahren. Diese Entwicklung wird von allen am Geburtsgeschehen Beteiligten als ein sehr positiver Wandel erlebt.
Frühgeburtsmedizin an der Grenze der Lebensfähigkeit Wie wohl in keinem anderen Bereich der Medizin hat die biomedizinische Entwicklung der letzten 30 Jahre einen nicht für möglich gehaltenen Fortschritt in der Frühgeburtsmedizin erzielt. Dieses Fortschreiten in bis vor kurzem nicht lebensfähige Bereiche hat ethische Fragen provoziert. Auch und gerade im Zusammenhang mit dem Problem der Frühgeburtlichkeit im Grenzbereich der Lebensfähigkeit wird immer wieder gefragt, ob alles Machbare getan werden darf. Diese Fragestellung wird durch Wiederholung in ihrer Trivialität nicht abgeschwächt. Wir sind uns, Geburtshelfer und Neonatologen, bewusst, dass nicht alles Machbare getan werden darf. Wir haben uns jedoch in der Regel mit der Situation auseinander zu setzen, dass wir durch direkte und indirekte Zwänge von außen dazu angehalten werden, alles Machbare zu tun. Bei qualifizierte Nutzung der modernen Medizintechnik kann in personell und apparativ gut ausgerüsteten Zentren, sofern Geburtshelfer und Neonatologen eng kooperieren, selbst im kritischen Bereich zwischen 25 und 28 Schwangerschaftswochen (SSW) ein Überleben in 60-90% erreicht werden. Daraus folgt, dass die präpartale Verlegung der Mütter bei drohender Frühgeburt in ein perinatologisches Zentrum entsprechend der Definition und der Leitlinien der Fachgesellschaft ein ärztlich-ethisches Gebot ist. Sozialethisch zu fordern ist, dass auf diesem Feld berufspolitische Interessen zurückstehen und Geburtshelfer und Pädiater auf die Gesundheitspolitik der Länder einwirken, die Regionalisierung dieser Zentren nach strengen Qualitätskriterien voran zu treiben. Im Grenzbereich der Lebensfähigkeit eines Frühgeborenen fallen die Entscheidungen der Behandlungspflicht, des Therapieverzichts, des Therapieabbruchs und der Therapieart prä-, intra- und postpartal. Alle drei Phasen bedingen sich. So deklariert beispielsweise der Verzicht auf eine Überwachung des Kindes während der Geburt, da geburtshilflich keine therapeutische Schlussfolgerung gezogen würde (z. B. Sektio), die Prognose des Kindes als infaust, was jedoch über eine langwährende Hypoxie und/oder eine schwere Infektion
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unter der Geburt den Neonatologen in die wirkliche Aporie seiner ethischen Entscheidung drängen kann. Prä- wie postpartal sind in diesem Grenzbereich des Lebens hinsichtlich der Prognose des Frühgeborenen drei Optionen möglich: Behinderung, Tod, gesundes Überleben. Keine dieser drei Möglichkeiten der weiteren Entwicklung des Kindes ist für den Arzt/in im Moment seiner prospektiv zu treffenden Entscheidung vorhersehbar. Das Ziel jeder ärztlichen Entscheidung und Maßnahme ist stets das gesunde Überleben des Kindes. In jedem Einzelfall ist der Konflikt des Handelns oder Unterlassens in diesem Grenzbereich des Lebens dadurch definiert, dass wir erst nach einem längeren Follow-up die Ergebnisse unserer Entscheidungen und Handlungen erhalten. Dies bedeutet, dass wir in der aktuellen prä- und postpartalen Situation unserer Entscheidung nicht selten auf »Erfahrung« (?), Hypothesen bzw. Vermutungen angewiesen sind. Die jeweils prospektiv zu treffenden Entscheidungen sind: a. Nichtstun im Sinne einer passiven Sterbebegleitung: Diese Entscheidung setzt voraus, dass intrauterin oder post partum erhobene Befunden eindeutige (?) Hinweise (z. B. Anenzephalie) geben, die es verbieten, das Leben weiter zu erhalten und aktive Maßnahmen nur den sicheren Tod hinauszögern würden. Diese Haltung lässt gelegentlich jedoch offen, ob der Tod tatsächlich eintritt und ob evtl. gerade durch die Entscheidung zur Passivität bzw. die zu frühe Änderung des Therapieziels von der Intensiv- zur Palliativmedizin krankes Leben induziert wird. Diese Aporie stellt sich nicht bei Kindern mit einer absolut infausten Prognose, z. B. bei einem Kind mit einer Anenzephalie. b. Aktivität um jeden Preis: Diese Position lässt den Arzt/in im Ungewissen, ob er den Tod verhindert und krankes Überleben verursacht. c. Kontinuierliche Überwachung intra partum mit der Konsequenz aktiver Entscheidungen und des Einsatzes intensivmedizinischer Maßnahmen zur Substitution der funktionell unreifen Zentren des Frühgeborenen nach jeder Geburt eines lebenden Kindes, jedoch ohne fanatische Einstellung: Gefordert ist hierbei ein jeweiliges Innehalten und Reflektieren des klinischen Gesamtbildes mit Blick auf das, dem Frühgeborenen Möglichen und Vernünftigen. Auf die einschlägige Stellungnahme der Fachgesellschaften sei verwiesen. Bei Ablehnung der ersten beiden Positionen stellt man sich offensiv dem Risiko oft erst spät nach der Geburt sich manifestierender Behinderungen und damit Schadenersatzforderungen mit entsprechenden Ermittlungen. Nur eine außerordentlich sorgfältige Dokumentation, verbunden mit zahlreichen aufklärenden Gesprächen mit den Eltern, falls möglich präpartal und kontinuierlich postpartal, sowie ein offener Diskurs mit im Medizinrecht erfahrenen Juristen können uns Ärzten/innen in diesem ethischen und rechtlichen Konflikt zumindest eine Hilfe sein. Nach meiner Überzeugung ist nur die dritte Position, die kontinuierliche Überwachung und medizinische Versorgung des Frühgeborenen vernünftig und ethisch vertretbar, wobei es sich auch hier nur immer um die relativ beste Entscheidung handelt. Man muss in fast jedem Fall eines Frühgeborenen an der Grenze der Lebensfähigkeit eine Intensivtherapie beginnen, um zu erkennen, ob sie sinnvoll, d. h. indiziert war oder nicht. Eine sehr hohe fachliche Kompetenz ist in diesem Grenzbereich, wie auch in der Erwachsenenmedizin, gleichsam der ethische Imperativ der Geburtsmedizin und der Neonatologie. Diese ist auf hohem Niveau nur über eine lebenslange Fort- und Weiterbildung zu halten. Nur diese Kompetenz vermag im Spannungsfeld zwischen der Technik und der Humanität und dem ihm anvertrauten Patienten zu vermitteln. Bei mangelnder medizinischer und ärztlicher Kompetenz kann der Arzt/
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in dem Druck von Seiten der Eltern nach immer mehr Technik in Diagnostik und Therapie nicht standhalten und wird der Versuchung nachgeben, sich einer Klage durch defensivmedizinische Entscheidungen entziehen. Auf die Werte-Konflikte der iatrogenen Frühgeburt nach Pränataldiagnostik, nach Abruptio und nach reproduktionsmedizinischer Therapie wird in den Abschnitten Höhergradige Mehrlingsschwangerschaft und Pränataldiagnostik eingegangen.
Wunsch-Sektio Ich hoffe gezeigt zu haben, dass der Einsatz moderner Techniken in der Geburtsmedizin nicht zu deren Verfremdung führen muss. Diese droht m. E. jedoch von der rasanten Zunahme der Kaiserschnittgeburten. In über einem Drittel der Geburten sind wir mittlerweile in unserem Lande mit dem Phänomen des Wunsch-Kaiserschnitts konfrontiert. In den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts lag die Sektio-Frequenz aus Rücksicht auf das damals noch relativ hohe medizinische Risiko für die Mutter – zu Lasten des Kindes (!) – in den deutschen Universitäts-Frauenkliniken zwischen 3% und 5%. Heute wird in der BRD jede dritte Frau durch Sektio entbunden – Tendenz steigend. In dem unscharfen Begriff Wunsch-Sektio subsummiert sind die zahlreichen relativen, präventivmedizinischen Indikationen wie Beckenbodenschädigung, Darmverletzung, postpartale sexuelle Dysfunktion, Schädigung des Kindes, Planbarkeit – auch von Seiten der Kreißsaalorganisation – und haftungsrechtlicher Druck (Defensivmedizin s. o.). Unter Sektio auf Wunsch im engeren Sinne, auch Gefälligkeitssektio genannt, verstehen wir die operative Entbindung über eine Laparotomie in Leitungsanästhesie ohne medizinische Indikation. Die Mutter/Eltern bestimmen in extremer Ausprägung ihrer Autonomie den Geburtsmodus. Der Geburtshelfer wird zum Dienstleister. Verweigert er die indikationsfreie Sektio, muss er die Patientin in eine andere Geburtsklinik verlegen, was wiederum nur vor Beginn des Geburtsgeschehens ärztlich und medizinisch verantwortbar ist.
Reproduktionsmedizin Die Therapie der ungewollten Kinderlosigkeit mit Hilfe der assistierten Reproduktionstechnik (ART) und alle von ihr abgeleiteten Verfahren machen den Januskopf medizinischen Fortschritts besonders sichtbar. Die ART beinhaltet Handlungen zum Leben, die unmittelbar übergehen können zum Tod [93]. Nicht wenige Stimmen fordern, Sterilität und Infertilität seien schicksalhaft mit Verzicht auf eigene Kinder anzunehmen oder mittels der Adoption zu »therapieren«. Diese Position lehnt die Sterilität eines Paars als Krankheit mit Leidensdruck ab, was auch sozial-ethische und sozial-politische Fragen aufwirft – und im Gesundheitssystem-Modernisierungsgesetz (01.01.2004) hinsichtlich der Finanzierung durch die Solidargemeinschaft seinen Niederschlag gefunden hat. Konsens besteht darüber, dass bei Anerkennung des Leidensdrucks der Partner die Therapie vor allem auf das künftige Wohlergehen des Kindes auszurichten ist: Andernfalls würde das Kind als Objekt, als Mittel zum Zweck missbraucht. Der zentrale Einwand gegen die ART richtet sich jedoch auf den Akt selbst. Die ART sei ohne ein anthropologisches Konzept übernommen worden, d. h. ohne auf die leib-seelische Natur des Menschen Rücksicht zu nehmen (Petersen 1985). Für Spaemann gehört zur Gestalt des Menschen »dass ihr Anfang
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und Ende das Resultat zweckrationalen Machens anderer Menschen sind« und dass ihr Anfang »anlässlich eines menschlichen Aktes geschieht, der zwei Menschen als Liebende im Ganzen integriert, und der gar nicht unmittelbar die Hervorbringung eines ‘Werkes’ zum Ziel hat«. In der Instruktion der Kongregation für die Glaubenslehre über die Achtung vor dem beginnenden menschlichen Leben und die Würde der Fortpflanzung (10.03.1987) lehnt das Lehramt der katholischen Kirche jede extrakorporale Befruchtung mit Embryotransfer als in sich widersittlich ab [41, 42]. Diese Ablehnung beruht u. a. auf dem gleichen Prinzip, das in der Enzyklika Humanae vitae als Verbot jeder künstlichen Empfängnisverhütung genannt wird. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) lehnte auf ihrer Jahressynode 1987 die ART nicht ausdrücklich ab, riet jedoch von dem Therapieverfahren ab [11, 12]. Bei Achtung der unantastbaren Würde der Person, der Anerkennung des Embryos als Subjekt und Achtung des ganzen menschlichen Seins bzw. des sich liebenden Paares, dessen Liebe nur durch künstliche Befruchtung ihre Vollendung erreichen kann, benutzt der behandelnde Arzt in der homologen IVF/ET im Sinne einer Ultima Ratio lediglich die Natur [s. ausführlich 4, 5, 10, 25, 26, 36]. Unter dieser Prämisse konnte auch der katholische Moraltheologe Ziegler 1985 sagen: »Ich bin dafür, dass man dafür ist«. In Kenntnis des hohen Missbrauchpotentials der ART, wie es in Ländern ohne gesetzliche Regelung zur Wirkung kommt, steht die Frage im Raum, ob Ethik und Recht die machtvollen, im internationalen wissenschaftlichen wie wirtschaftlichen Wettbewerb vorandrängenden Entwicklungen der Befruchtungs- und Genbiologie binden können, oder ob die Theorie der Eigengesetzlichkeit des technischen Fortschritts gleichsam als serviceorientierte Biotechnologie (Würfel 2002) ihre Bestätigung erfahren wird. In Antizipation des Missbrauchspotentials haben der Wissenschaftliche Beirat (WBR) der Bundesärztekammer (BÄK) parallel zur Benda-Kommission bereits 1983 in einer interdisziplinären Kommission die berufsrechtlich verbindlichen Richtlinien zur Durchführung von IVF/ ICSI und ET als Behandlungsmethode der menschlichen Sterilität erarbeitet und publiziert [63] und diese kontinuierlich [65] bis zur (Muster-) Richtlinie 2006 fortgeschrieben [57]. Sie waren und sind Grundlage des 1991 in Kraft getretenen Embryonenschutzgesetzes (ESchG). In diesen Richtlinien wird u. a. ersichtlich, was in den Bereich der Lifestyle-Medizin auszulagern und nicht der »Heil«-Kunde zuzuordnen ist. Zwei Entwicklungen werden im Folgenden aufgezeigt, die die Theorie der Eigengesetzlichkeit einer serviceorientierten Biotechnologie bestätigen: die höhergradige Mehrlingsschwangerschaft und die statusrechtliche Entwicklung.
Höhergradige Mehrlingsschwangerschaft Durch die alleinige hormonale Stimulation der Eireifung oder in Verbindung mit der Invitro-Fertilisation (IVF)oder intracytoplasmatischen Spermainjektion (ICSI) kommt es in etwa 25% der ausgetragenen Schwangerschaften zu Mehrlingsgeburten, was einer Erhöhung der Rate an Mehrlingen um das 20-Fache (weit überwiegend Zwillinge) gegenüber der natürlichen Inzidenz von 1,19% entspricht. Jede nicht spontan eingetretene höhergradige Mehrlingsschwangerschaft muss man aufgrund der hohen gesundheitlichen Risiken für Mutter und Kind (Frühgeburt und/oder Fehlbildung) als eine sehr ernste Komplikation der jeweiligen Sterilitätstherapie ansehen [32]. Zander sprach in diesem Zusammenhang bereits 1987 zu Recht von einer »Fehlleistung« der Medizin [92]. Zur Abwehr der medizinischen und psychosozialen Risiken für Mutter und Kind wird seit Beginn der 1990er-Jahre das »therapeutische«
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Prinzip der »Reduktion« oder des Totalabbruchs höhergradiger Mehrlingsschwangerschaften praktiziert. Der Begriff Reduktion kaschiert die Tatsache, dass es sich stets um die Tötung eines oder mehrerer Embryonen (Embryozid, bis zur vollendeten 8. Woche p.c.) oder Föten (Fetozid, nach der 8. Woche p.c.) handelt. Der Embryozid/Fetozid dient gleichsam der Korrektur einer »überschießenden« Sterilitätstherapie im Sinne der »Prävention« einer extremen Frühgeburtlichkeit und der mütterlichen Bedrohung durch spezifische, mit einer höhergradigen Mehrlingsgravidität verbundenen Schwangerschafts- und Geburtsrisiken. Das in der Regel gesunde Kind ist gegenüber dem Geschwisterkind ein im Hinblick auf die drohende Dystrophie und Unreife »schädlicher« Einfluss. Während bei einer Einlingsabruptio die Schwangerschaft zu Ende ist, gilt es bei der Teilabruptio einer Mehrlingsschwangerschaft das medizinische und psychosoziale (?) Risiko des/ der verbleibenden Mehrlings/e in die Abwägung zu nehmen – abgesehen von den körperlichen und psychischen Abruptiorisiken der Mutter. Es ist festzustellen, dass mit Wahrnehmung und gesellschaftlicher Akzeptanz des Embryo- oder Fetozids nicht mehr das potentielle und kaum abschätzbare medizinische Risiko für die Mutter und /oder die kaum abwägbare Bedrohung der Kinder durch Frühgeburt und Wachstumsretardierung als Rechtfertigung für eine Abruptio aller oder den Fetozid einzelner Kinder dient, sondern die Abwehr der langwierigen psychosozialen Belastung durch die höhergradigen Mehrlinge. Es gibt – leider – Hinweise darauf, dass der unselektive Embryo- oder Fetozid von einzelnen Ärzten prospektiv in den Behandlungsplan der ART eingebunden wird, gleichsam zur Korrektur der »überschießenden« Sterilitätstherapie. Der Frauenarzt ist zunächst Helfer zum Leben und wenige Wochen später Helfer zum Tod (Stoll 1980). Dieser Ansatz pervertiert die Behandlung eines Paares mit »Kinderwunsch« und ist ethisch nicht vertretbar. In Kenntnis der erheblichen mütterlichen Belastungen und medizinischen Risiken in der Pränatalperiode, der Risiken der Kinder durch Retardierung und/oder Frühgeburt, der langfristigen und außerordentlichen psychosozialen Belastungen der Eltern nach der Geburt, der Bedrohung aller Kinder durch eine Gesamtabruptio oder einzelner durch einen unselektiven Embryozid/Fetozid (Teilabbruch) mit allen bei weiterhin bestehender Schwangerschaft innewohnenden Risiken, ist die Prävention höhergradiger Mehrlinge – auch unter Inkaufnahme einer niedrigeren Schwangerschaftsinzidenz – ein zentrales Gebot ärztlicher Ethik. Wenn wir nicht alle präventivmedizinischen Steuerungsmöglichkeiten einsetzen und uns im prätherapeutischen Gespräch nicht zu einem klaren Nein hinsichtlich einer etwaigen Reduktion der höhergradigen Mehrlingsgravidität mittels Fetozid bekennen, sind wir konsequenterweise der Nötigung zur »Korrektur« der Fehlleistung ausgesetzt. Neben der qualifizierten Handhabung der hormonalen Stimulation der Eierstöcke gilt dank der Entwicklung der morphologischen Klassifizierung der Embryoreifung mit Auswahl des potentiell entwicklungsfähigsten Embryos der elektive Single-Embryotransfer (eSET) oder maximal der elektive Double-Embryotransfer (eDET) als eine zielführende Prävention einer höhergradigen Mehrlingsschwangerschaft – bei gleichzeitiger Erhöhung der Schwangerschaftsrate (Diedrich 2007). Immer lauter wird daher die Zulassung dieses Verfahrens durch ein neues Fortpflanzungsmedizingesetz oder durch das EschG gefordert. Einzelne Juristen vertreten die Position, dass bei korrekter Interpretation des ESchG’s der eSET oder der eDET bereits heute de lege lata mit dem § 1 Abs.1 Nr. 3 und Nr. 5 kompatibel seien [17, 18, 28, 29]. Das EschG sagt: »Mit Freiheitsstrafe bis zu 3 Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer (Nr. 3)......es unternimmt, innerhalb eines Zyklus mehr als drei Embryonen auf eine Frau
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zu übertragen« – sog. Dreierregel – und in Nr. 5 »es unternimmt, mehr Eizellen einer Frau zu befruchten, als ihr innerhalb eines Zyklus übertragen werden sollen«. Mit dem Gebot, nicht mehr Embryonen zu erzeugen, als übertragen werden sollen, wurden vom Gesetzgeber zwei zentrale Ziele verfolgt: Die Vermeidung überzähliger bzw. »verwaister« Embryonen und die Verhinderung der Herstellung von Embryonen, gleichsam auf Vorrat zu Forschungszwecken. Mit der Regelung in Nr. 3 (§ 1) wurde intendiert, sowohl die Chance für die Herbeiführung einer Schwangerschaft zu erhöhen als auch das Risiko für Mutter und Kind durch eine Mehrlingsschwangerschaft zu begrenzen – was nicht gelungen ist. Die Interpretation der Dreierregel des ESchG’s in § 1, Abs.1, Nr. 3 und Nr. 5 wird kontrovers diskutiert. Nach Auffassung der o. g. Juristen sind die Nr. 3 und die Nr. 5 nicht im Kontext zu lesen: § 1, Abs.1, Nr. 5 schreibe, anders als Nr. 3 keine starre Quote der zu befruchtenden Eizellen vor. Die Zahl der zu befruchtenden Eizellen sei in das Bemessen und die Einschätzung des Arztes/in gestellt und daher der eSET und eDET nach dem ESchG zulässig. Dieser Interpretation des ESchG’s bzw. dessen Dreierregel ist die (Muster-) Richtlinie der BÄK 2006 nicht gefolgt [50]. Auch die juristische Auslegung der Dreierregel durch U. Riedel entspricht jener des WBR der BÄK. Für die mit den Techniken moderner Reproduktionsmedizin arbeitenden Ärztinnen und Ärzte besteht, nicht zuletzt auch aufgrund der bestehenden Rechtsunsicherheit ein schwerwiegender ethischer Konflikt: Einerseits sind sie vom Standesrecht angehalten, durch Vermeidung einer höhergradigen Mehrlingsschwangerschaft die Gesundheit von Mutter und Kind zu schützen, andererseits hat das ESchG durch die Vermeidung überzähliger Embryonen (toleriert sind nur aufgrund eines Notfalls, z. B. Verweigerung des ET, Krankheit, Tod der Mutter vor dem ET, übrig bleibende Embryonen) vorrangig die Schutzwürdigkeit des/der Embryonen zum Ziel, deren Anzahl durch einen eSET oder eDET bewusst deutlich erhöht würde – und über deren Handhabung das ESchG keine Regelung getroffen hat. Hiermit tritt der moralische Status des Embryos in das Zentrum der ethischen Diskussion. Denn nur wenn man den pränidativen Embryo nicht dem geborenen Menschen gleichsetzt – und die Statusfrage ist gleichermaßen entscheidend relevant bei der Akzeptanz oder Ablehnung der Präimplantationsdiagnostik (PID) und der Stammzellforschung (s. u.) – sind Abwägungen der Güter Lebensschutz/Würde des Embryos und Kinderwunsch der Eltern einschließlich Vermeidung höhergradiger Mehrlinge ethisch vertretbar. Die Diskussion über diese so zentrale Frage, nämlich den Status des Embryos bzw. den Beginn personalen Lebens kann (leider) mit Rücksicht auf den Umfang dieses Beitrags nicht geführt werden. Auf die sehr differenzierte und auch kontroverse theologische und philosophische Auseinandersetzung insbesondere mit dem Potentialitäts-, Kontinuitäts- und Identitätsargument kann hier nur verwiesen werden [5, 45, 46, 48, 61, 62, 69].
Statusrecht Die aktuelle (Muster-) Richtlinie der BÄK bindet das Verfahren an die Verantwortung des, das Paar behandelnden, Arztes/in. In Anlehnung an das Kindschaftsreformgesetz (01.07.1993) ist die Behandlung nicht verheirateter Paare zulässig »wenn die behandelnde Ärztin / der behandelnde Arzt zu der Entscheidung gelangt ist, dass die Frau mit einem nicht verheirateten Mann in einer fest gefügten Partnerschaft zusammenlebt und – dieser Mann die Partnerschaft an dem so gezeugten Kind anerkennen wird, – und das Wohl des Kindes im Rahmen der Partnerschaft gewährleistet erscheint«.
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Die heterologe IVF ist, wie alle von dieser Technik abgeleiteten Methoden, aufgrund der rechtlichen Konsequenzen und Unwägbarkeiten zusätzlich an enge Voraussetzungen geknüpft. Ziel ist, dem so gezeugten Kind eine möglichst stabile Beziehung zu beiden Elternteilen zu sichern [30], wobei für das Kind die Fremdheit der Beziehung vorgegeben ist. Die ART schuf mit der Möglichkeit nicht nur der heterologen Samen-, sondern auch der Eizellspende neue Möglichkeiten der Kinderwunschbehandlung und weckte damit auch entsprechende Begehrlichkeiten. Ob die angemahnte Ungleichbehandlung durch die im ESchG § 1, Nr. 1 verbotene Eizellspende aufrechtzuerhalten ist, steht derzeit in Diskussion. Abgesehen davon, dass die Eizellgewinnung für die Frau eine größere Belastung als die Samenzellgewinnung für den Mann darstellt, war und ist das tragende Argument gegen die Eizellspende die Verhinderung einer genetischen Anonymität des Kindes durch die heterologe Samen und Eizellspende. Hinzu kommt bei der Eizellspende ein weiteres spezifisches Problem. Besteht bei der alleinigen heterologen Samenspende »nur« eine unbekannte Vaterschaft, hat das aus einer Eizellspende entstandene Kind neben der genetischen Mutter (Eizellspenderin) eine zweite Mutter, nämlich die, das Kind austragende leibliche, soziale Mutter. Diese bewusste Trennung von sozialer und genetischer Mutterschaft ist mit Blick auf das Kindeswohl das tragende Argument gegen ein Zulassung der Eizellspende. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg hat in seinem Urteil vom 01.04.2010 das Urteil des Verfassungsgerichtshofs Wien verworfen. Österreich verstoße mit seinem Verbot von Eizellen- und Samenspenden für Befruchtungen im Labor gegen das Grundrecht auf Schutz der Familie. Außerdem diskriminiere dieses Verbot unfruchtbare Paare. Den zwei klagenden Paaren hat Österreich 10.000 Euro zu zahlen. Eine mögliche Berufung gegen das Urteil steht aus. Die Kinderwunschbehandlung mittels ART männlich-homosexueller Paare wird fast einhellig abgelehnt. Sie wäre nur über eine Eizellspende mit IVF/ICSI und Leihmutterschaft (EmbryonenSpende) unter bewusster Inkaufnahme einer dem Kind fehlenden Mutter-KindBeziehung durchführbar – zumal die Leihmutterschaft generell abgelehnt wird. Es besteht weitgehend Konsens, dass hierbei eine Instrumentalisierung der Frau erfolgt und sie in ihrer Menschenwürde verletzt wird. Hinzutreten die Nachteile für das Kind, nämlich komplizierte Personenstandsverhältnisse – genetische und soziale versus biologische Mutter und genetischen Vater – sowie die Gefahr einer Kommerzialisierung. Zur Zeit haben sich alle Richtlinien der BÄK seit 1985 und auch der 88. Deutsche Ärztetag sowie das ESchG gegen jede Form der Leihmutterschaft ausgesprochen. Gesellschaftlicher Druck aufgebaut wird auch von Seiten lesbischer Paare zur Zulassung der ART. Die bei lesbischen Paaren in der Regel fehlende Vater-Kind-Beziehung hinsichtlich des Kindeswohls wird nicht mehr als ablehnendes Argument anerkannt. Es ist sicher arztrechtlich und ethisch problematisch, in Fällen, in denen üblicherweise keine medizinische Indikation (z. B. Tubenfaktor) für eine fortpflanzungsmedizinische Therapie vorliegt, eine assistierte Reproduktion mittels heterologer Insemination oder, bei pathologischem Tubenfaktor, die IVF/ICSI mit ET zuzulassen. Letztlich stellt sich auch hier wie in vielen Bereichen der Medizin die Frage nach dem ärztlichen Selbstverständnis, d. h. inwieweit wir Ärzte uns in Lifestyle-Bedürfnisse und -Ansprüche einbinden lassen. Werden wir auch auf diesem Felde überwiegend serviceorientierte Dienstleister? Es gibt kein positives Recht auf Fortpflanzung. War die ART primär auf die Therapie der Sterilität ausgerichtet und hatte, abgesehen von der Forschung zur Entwicklung der ART, nichts mit Forschung an und mit Embryonen zu tun, so wurde im Fortschreiten des Wissens doch sehr schnell die IVF als Einstiegstechnik für
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die Diagnostik des Embryos in vitro (s. u.) in der Präimplantationsphase (PID) und die Forschung an und mit Embryonen, z. B. für die Gewinnung humaner embryonaler Stammzellen (hES) erkannt und genutzt. Auch dieses Wissen provozierte eine heftige Wertediskussion in unserer Gesellschaft.
Humane embryonale Stammzellen Im Mittelpunkt der Rechts- und Ethik-Diskussion über die Forschung in der Reproduktionsmedizin in der BRD stehen die zwei Artikel des Grundgesetzes (GG), nämlich Art.5, Abs.3 und Art.1, Abs.1.: Nach Art.5, Abs.3 GG sind Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre von Rechts wegen frei. Diesem Grundrecht steht Art.1, Abs.1 GG gegenüber: »Die Würde des Menschen ist unantastbar«. Die Freiheit der Forschung hat demnach ihre Grenze an der Würde des Menschen. Nach Taupitz [79] gibt es jedoch nicht nur eine rechtliche, sondern auch eine herausfordernde Dimension des Würdeprinzips, indem auch ein Unterlassen der Hilfe und die Verhinderung gegenwärtigen und künftigen Leids (Art.2, Abs.2) gegen die Menschenwürde verstoßen können. Es gibt also nicht nur eine Verantwortung für die Forschung, sondern auch zur Forschung. Nichtforschen wird zur verweigerten Hilfeleistung. Jede medizinische Forschung an und mit Embryonen wirft die Frage nach dem Menschen und dem Menschenbild des Forschers auf. Es geht um den Status dessen, an dem wir handeln. Das Problem liegt nicht in der Forschung selbst, sondern im Objekt der Forschung. Diese Tatsache führt zur drei zentralen Fragen: ▬ Ab wann ist dem neuen menschlichen Leben »Würde« und damit Lebensrecht und Schutz zuzubilligen? ▬ Worin liegt die Begründung und wie ist der Umfang der zu gewährenden Grundrechte bemessen? ▬ Ist das Grundrecht der Forschungsfreiheit in diesem Bereich zu beschränken oder gar aufzuheben? Wenn ja, wodurch? Die Debatten der letzten Jahre über die Forschung mit humanen embryonalen Stammzellen (hES) und deren Zulassung durch den Gesetzgeber, wie auch über die PID (s. u.) zeigen einen tiefgreifenden Dissenz in der Gesellschaft über die Frage nach dem moralischen Status des Embryos. So unstrittig die Frage nach dem aus der Naturwissenschaft ableitbaren Beginn artspezifischen neuen menschlichen Lebens ist, so erheblich besteht gesellschaftlicher Dissenz in der Frage nach dem Beginn personalen neuen Lebens. Diese zentrale Frage ist mit den Denkkategorien der Naturwissenschaft nicht zu beantworten. Es geht um die Einführung eines Wertaxioms, letztlich um Hermeneutik: Ob wir im pränidativen Embryo einen »Zellhaufen wie Du und Ich« (Graupner 2002), d. h. eine Person sehen. Dieser präformistischen kategorischen Position steht die epigenetische Position gegenüber, die den Lebensschutz von wenigen Tagen alten verwaisten Embryonen im Falle einer gebotenen ethischen Güterabwägung zurücktreten lässt, also von Abstufungen des Lebensschutzes ausgeht. Bereits 1985 hat der WBR der BÄK in seiner Präambel zu den Richtlinien zur Forschung an frühen menschlichen Embryonen [64] gleichsam programmatisch gefordert: »Dem Wissenschaftler legt sein Anspruch auf Freiheit der Forschung eine besondere Verantwortung gegenüber der Gesellschaft auf. Ist menschliches Leben Gegenstand und Einsatz der Forschung, dann muss der Forscher selbst die Verpflichtung, Grenzen zu ziehen erkennen und danach handeln«. Die Autoren der Richtlinien sprachen damals keinem grenzenlosen Utilitarismus das Wort, dem
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bei etwaigen hochrangigen Forschungs- und Therapiezielen das Lebensrecht menschlicher Embryonen unterzuordnen sei. Sie sprachen sich vielmehr für ein »grundsätzliches« Verbot zur Erzeugung von Embryonen zu Forschungszwecken aus und verwiesen auf die in freiwilliger Selbstbindung gesetzten Schranken: »Diese gründen sich auf die gesellschaftlichen Wertvorstellungen über die Schutzwürdigkeit frühen menschlichen Lebens sowie der menschlichen Individualität und Art.«. Im Passus 2.3 des Kommentars dieser Richtlinie heißt es: »Die Diskussion über die ethische Vertretbarkeit von Forschungen an menschlichen Embryonen ist ein Spiegelbild des Pluralismus unserer Wertvorstellungen. Die einen betrachten die moralische Gültigkeit des Tötungsverbots als unüberwindliches Hindernis und lehnen jegliche Forschung ab, bei der ein Embryo zum Zweck des verbrauchenden Experiments erzeugt und menschliches Leben zum Experimentiermaterial degradiert wird«. Es wurde damals eine vorsichtige Öffnung hinsichtlich der Verwendung von »verwaisten« Embryonen zu Forschungszwecken befürwortet: »Unter derartigen Bedingungen erscheint eine Verwendung überzähliger Embryonen für Forschungen, die mittelbar oder unmittelbar dem Allgemeinwohl dienen, ethisch vertretbar und sinnvoller als sie sterben zu lassen«. Dieses bedingte Ja wurde an die 14 Tage-Begrenzung gebunden, da »zu diesem Zeitpunkt die Implantation in der Gebärmutter unter in-vivo-Bedingungen vollzogen ist, die Omnipotenz des Vielzellers und die Möglichkeit der physiologischen Zwillingsbildung verloren geht und die Organogenese beginnt«. Die aktuelle gesellschaftliche und politische Diskussion hat keine neuen Aussagen und vor allem keine überzeugenderen Begründungen für die jeweilige Position entwickelt. Alle »Papiere« der zahlreichen, seit 1983 eingesetzten Kommission beschreiben die beiden Positionen, ohne diese in einen Konsens zusammenführen zu können. Für Honnefelder stellt sich somit allenfalls die Frage »ob zwischen diesen beiden Positionen ein im Blick auf die Nutzung von dem Tod anheim fallenden Embryonen für Forschungszwecke ein partieller Konsens, zumindest hinsichtlich der rechtlichen Regelung hergestellt werden kann«. Es gibt also seit 20 Jahren keine neuen Argumentationslinien in der ethischen Diskussion um den Status des Embryos. Alle Stellungnahmen und Empfehlungen zum Import von hESZellen, zuerst in der Senatskommission für Grundsatzfragen der Genforschung der DFG [13] 2001, in der Enquetekommission des Deutschen Bundestages 2002 [14], in der Bioethik-Kommission Rheinland-Pfalz 2005 [2], im nationalen Ethikrat 2001/2007 [58, 59], in der zentralen Ethikkommission zur Stammzellforschung und im Wissenschaftlichen Beirat der BÄK 2002 [74] spiegeln in aller Schärfe die bereits 1985 geführte Diskussion um den Status des Embryos wider – jetzt allerdings im Hinblick auf konkreter sich abzeichnende, sog. hochrangige Ziele. Die Herstellung von Embryonen zu Forschungszwecken über IVF oder das »therapeutische« Klonen nach dem Dolly-Verfahren, das reproduktive Klonen, die Keimbahnintervention und die Herstellung von Chimären wurden von der DFG (03.05.2001), wie auch bereits 1997 von der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) in Artikel 18.2, unmissverständlich abgelehnt. In der Diskussion steht jedoch nach wie vor die »Verwendung« überzähliger bzw. verwaister Embryonen, über deren Handhabung im Deutschen ESchG keine Regelung getroffen wurde. Es bleibt problematisch, wenn nicht Ausdruck einer Doppelmoral, von anderen Ländern zu fordern, die Herstellung embryonaler Stammzellen aufzugeben, was derzeit nur über den Verlust von Embryonen gelingt, um über den Import dieser Stammzellen an der aktuellen Forschung zu partizipieren, analog jenem in den frühen 1980er-Jahren stattgefundenen Import des in England durch Forschung mit Embryonen entwickelten Verfahrens der IVF/ET. Unter verwaisten Embryonen versteht man nach einer Notfallsituation – Erkrankung oder Tod der Frau, Verweigerung des Embryotransfers (ET) in der Zeit zwischen IVF und
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ET – definitiv nicht mehr zurücksetzbare Embryonen. Nach dem Deutschen IVF-Register (D.I.R) existieren derzeit in der BRD wenige aufgrund einer Notsituation verwaiste Embryonen. Diese Embryonen besitzen keinerlei Möglichkeit mehr, sich in Verbindung mit einer Mutter zu einem Individuum zu entwickeln (außer über eine Embryonenspende). »In Bezug auf diese verwaisten Embryonen von einem absoluten Lebensrecht zu sprechen«, wäre nach R. Wolfrum, Federführender der DFG-Senatskommission, »eine Fiktion, deren argumentativer Wert zu hinterfragen ist«. Ist es vertretbar, fragt Wolfrum, einen absoluten Schutz von verwaisten Embryonen zu postulieren, auch wenn diese in der Realität keine Möglichkeit haben, sich zu einem Individuum mit ihrer Mutter zu entwickeln? »Es widerspräche der Logik, einen Embryo außerhalb des Mutterleibes, der keine natürlichen Entwicklungsmöglichkeiten mehr hat, stärker zu schützen, als denjenigen im Mutterleib, der diese Chance hat«. Die Alternative zur Forschung an verwaisten Embryonen läge in der endlosen Fortsetzung der Kryokonservierung oder im Verwerfen, absterben lassen oder in der Embryonenspende (s. o.) bzw. Adoption (Leihmutterschaft). Das am 01.07.2002 in Kraft getretene Stammzellgesetz (StGZ) basiert auf den durch das ESchG vorgegebenen Prämissen. Es trägt daher den Titel »Gesetz zur Sicherstellung des Embryonenschutzes im Zusammenhang mit Einfuhr und Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen«. Grundsätzlich gilt, dass die Einfuhr und Verwendung von hES-Zellen verboten ist (§ 4, Abs.1 StGZ). Die Zulassung wird an Bedingungen geknüpft: Die Einhaltung des Stichtags 01.01.2002, d. h. die hES-Zellen sind im Herkunftsland vor dem 01.02.2002 gewonnen worden (»Für die deutsche Forschung sollen keine Embryonen sterben«), die hES-Zellen stammen aus »überzähligen« (IVF-)Embryonen und nicht aus nach PID verworfenen Embryonen, womit eine Forschung an Zelllinien mit bestimmten genetischen Defekten untersagt wird und die Embryonen sind nicht nach Zellkerntransfer (Dolly-Verfahren) entstanden. Als weitere Bedingungen sind der Nachweis hochrangiger Forschungsziele (§§ 5 u. 6, Abs.4, Nr. 3 ), die nur mit hES-Zellen möglich sind und die Beachtung des Genehmigungsverfahrens durch das Robert-Bosch-Institut und die Zentrale Ethikkommission (ZES) für Stammzellforschung (§§ 8 u. 9 ) festgelegt. Das Gesetz ist wie das ESchG ein Kompromiss in Achtung der genannten drei Rechtsgüter: Schutz der Menschenwürde (Art.1, Abs.1 GG ), Recht auf Leben (Art.2, Abs.2 GG) und Freiheit der Forschung (Art.5, Abs.3 GG ). Das zentrale Ziel des Gesetzes war und ist »zu vermeiden, dass von Deutschland aus eine Gewinnung embryonaler Stammzellen oder eine Erzeugung von Embryonen zur Gewinnung embryonaler Stammzellen veranlasst wird« (§ 1, Nr. 2 StGZ). Der Import und die Verwendung von hES-Zellen ist nach dem StGZ wie schon nach dem ESchG nicht verboten. Stammzellen sind, was viele politisch Verantwortliche nicht wissen oder nicht zur Kenntnis nehmen wollen, nicht Träger der genannten Grundrechte. Neben der Grundlagenforschung sind es derzeit die regenerative Medizin und Therapieansätze im Bereich der degenerativen Erkrankungen, die von Jahr zu Jahr konkreter, wenn auch noch in die Zukunft weisend, Hoffnungen stimulieren. Die Argumente für die Zulassung dieser Forschung sind: Die Tierexperimente sind in ihrer Aussage nicht ausreichend, eine vergleichende Forschung von adulten Zellen (multipotent) zu embryonalen Zellen (pluripotent) ist notwendig, eine Beschränkung auf wenige hES-Zellenlinien führt zum Ausschluss von internationalen hES-Banken, und die Beteiligung an der Herstellung pluripotenter Stammzellen aus adulten Stammzellen und Körperzellen ist möglicherweise (s. u.) zukunftsweisend. Im Zentrum der Werte-Diskussion steht wiederum das Grundrecht auf Lebensschutz und körperliche Unversehrtheit (Art.2, Abs. 2), welches der Staat jedoch nicht nur eindimensional, auf den Embryo hin, verpflichtet ist zu schützen. Der Konflikt ist (wiederum) durch den
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moralischen Status des Embryos auf der einen und das Recht auf Leben und Unversehrtheit des potentiellen Patienten auf der anderen Seite definiert und daher auch nur durch die Antwort auf die Statusfrage, hier im Besonderen der »überzähligen« Embryonen lösbar. Dieser in unserem Land offenbar an der Statusfrage scheiternde Werte-Konflikt – auch als ethisches Dilemma bezeichnet – findet durch die Fortschritte des Wissens bzw. der Grundlagenforschung evtl. eine Lösung, nämlich durch die Reprogrammierung von Körperzellen. Fast gleichzeitig gelang den Forschergruppen um Yamanaka und Thomson [77, 78] ein entscheidender Durchbruch, nachdem 2006 die Arbeitsgruppe von Engel [27] in Göttingen über die Gewinnung von pluripotenten Stammzellen aus Hodenzellen der Maus und das Team um Jaenisch [84] über die Reprogrammierung von Fibroblasten einer Maus in pluripotente hESZellen berichtet hatten. Durch Einschleusung von vier Steuergenen mittels eines Retrovirus haben Yamanaka und Thomson [90] ausdifferenzierte Fibroblasten der menschlichen Haut zu sog. induzierten pluripotenten Stammzellen (iPS) reprogrammiert, die zwar embryonalen Stammzellen gleichen, deren vergleichbare Potenz hinsichtlich Differenzierung in einzelne Gewebearten noch nachgewiesen werden muss. Schöler und seinem Team gelang eine Vereinfachung der von den japanischen und amerikanischen Forschern angewandten Technik, indem im Mausexperiment die Zahl der eingeschleusten Gene zunächst auf zwei [44] und schließlich auf nur noch ein Gen (Oct 4) gesenkt werden konnte [8]. Mit Bezug auf die Statusdiskussion spricht man seit den Erfolgen der Reprogrammierung von den »ethischen Alleskönnern« der modernen Biomedizin – was derzeit noch verfrüht ist. Nachgewiesen ist, dass dieser große Schritt des Wissens ohne die Erkenntnisse der embryonalen Stammzellforschung nicht möglich geworden wäre. Auf die aktuelle, sehr informative und ausgewogene Stellungnahme der interdisziplinären Arbeitsgruppe Gentechnologiebericht der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften gemeinsam mit der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften sei verwiesen [21]. In Kenntnis der rasanten Entwicklung des Wissens war der Ruf der »Science Comunity« in der BRD, vertreten durch den Nationalen Ethikrat, die DFG, die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften u. a., an den Gesetzgeber nach einer Novellierung des StZG nur konsequent: Teilhabe an nicht kontaminierten, neuen Zelllinien (internationale Stammzellbank), Aufhebung der Rechtsunsicherheit – insbesondere der internationalen Zusammenarbeit, Öffnung der Forschung auch auf einen in Zukunft evtl. möglichen therapeutischen Einsatz entsprechend den EU-Richtlinien (nach § 4, Abs.2 StGZ) sind in der BRD Zelllinien nur zu Forschungszwecken einsetzbar im Sinne einer Güterabwägung zwischen Forschungsfreiheit (Art.5, Abs.3 GG ) und Recht auf Leben (Art.2, Abs.3 GG) des verwaisten Embryos. Als Optionen bzw. Anträge standen im Deutschen Bundestag fraktionsübergreifend zur Abstimmung, und zwar nach heftiger und qualifizierter Debatte: Verschiebung des Stichtags, nachlaufender Stichtag, Aufhebung des Stichtags (Einzelfallprüfung in der ZES), Öffnung zur klinischen Forschung, Rechtssicherheit – Entkriminalisierung (Strafrecht vs. Verwaltungsrecht). Schließlich gab es eine nicht kleine Gruppe, die mit einem weiteren Antrag die Aufhebung des StZG von 2002 mit Verbot der Stammzellforschung zum Ziel hatte. Das Ergebnis ist bekannt: Die Abgeordneten konnten sich im April 2008 nur zu einem kleinen gemeinsamen Nenner durchringen, nämlich zur Verschiebung des Stichtags auf den 01.05.2007 (§ 4, Abs.2, Nr. 1). Die Statusdiskussion wurde nicht erneut aufgenommen. Die protektive, dem ESchG in § 8 zugrunde liegende Position wurde gehalten und die o. g. Optionen bzw. Forderungen der verschiedenen fraktionsübergreifenden nach Gesetzesänderungen nicht aufgegriffen.
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Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik Pränataldiagnostik Jede Schwangerenvorsorgeuntersuchung ist für die Mutter und das Kind eine pränataldiagnostische Maßnahme. Die Pränataldiagnostik (PND) ist Bestandteil der Mutterschaftsrichtlinien. Sie soll Risikoschwangerschaften frühzeitig erkennen und Gefahren für Leben und Gesundheit von Mutter und Kind abwenden. Mit der Entwicklung vielfältiger, nicht invasiver (Ultraschall, Magnetresonanztomographie, Blutuntersuchung) und invasiver Techniken (Amniozentese, Chorionbiopsie, Hautbiopsie) ist das Ungeborene im Falle einer diagnostizierten Erkrankung und/oder Fehlbildung zum Patienten geworden. Zu Recht hat die PND heute einen hohen und positiven Stellenwert in der Geburtsmedizin und in der Gesellschaft erhalten. Der überwiegenden Zahl der schwangeren Frauen können die Sorgen und Ängste vor einem kranken und/oder fehlgebildeten Kind genommen werden. Von weitreichender medizinischer Bedeutung sind die Früherkennung eines zurückbleibenden Wachstums des Kindes aufgrund einer Plazentainsuffizienz, die Diagnostik einer vorliegenden Plazenta mit Blutungsgefahr, die Diagnostik von Fehlbildungen des Kindes, auch von mit dem Leben nicht zu vereinbarenden Fehlbildungen, die Diagnostik von Mehrlingen, die Diagnose einer monochorealen Zwillingsbildung mit der Bedrohung der Kinder durch ein feto-fetales Transfusionssyndrom etc. Dabei ergeben sich jeweils verschiedene Optionen und in der Regel interdisziplinäre Entscheidungen: Das Abwägen einer möglichen invasiven intrauterinen Therapie (medikamentös und/oder operativ), eine auf die Erkrankung des Kindes abgestimmte Geburtsplanung hinsichtlich Geburtszeitpunkt und Geburtsmodus und schließlich die Planung und Vorbereitung der postnatalen Versorgung des Kindes einschließlich evtl. notwendiger kinderchirurgischer Maßnahmen. Im Zentrum der PND steht demnach der informative und über die Beratung nicht selten lebenserhaltende und, zunehmend möglich auch der intrauterin therapeutische Ansatz. Neben diesen positiven Aspekten hat die PND auch Ansprüche und Begehrlichkeiten geweckt und vertieft. Die Janusköpfigkeit dieses medizinischen Fortschritts ist manifest. Anstelle »guter Hoffnung zu sein« sind wir mit dem »Anspruch auf ein gesundes Kind« konfrontiert, zu dessen Erfüllung ggf. auch ein Abbruch der Schwangerschaft in Kauf genommen und von Einzelnen gegenüber dem Arzt sogar im Sinne eines vermeintlichen Rechtsanspruchs postuliert wird. Viel Wissen erzeugt gesellschaftlichen Druck auf Patientin und Arzt. Dem »Recht auf Wissen« steht jedoch gleichwertig das »Recht auf Nicht-Wissen« gegenüber, was sich z. B. in der Ablehnung einer Ultraschalluntersuchung äußern kann. Nicht-Wissen lässt Raum für Hoffnung und bedeutet Freiheit (Maio 2008), kann jedoch, z. B. bei einer Placenta praevia oder einer schweren Wachstumsretardierung des Kindes zu schwerwiegenden Komplikationen für die Mutter und/oder das ungeborene Kind führen. Die PND ist daher heute (s. Mutterschaftsrichtlinien) zur Routine der Schwangerenvorsorge geworden. Eine schwangere Frau kann sich heute diesem Wissen um Risiken für sich und ihr Kind kaum entziehen, wodurch sie unter einen individuellen und auch gesellschaftlichen Erwartungsdruck geraten ist, Risiken ausschließen zu müssen. Da sich die Schere zwischen den diagnostischen Möglichkeiten und den Chancen einer Prävention und/oder intrauterinen Therapie immer weiter öffnet, wird heute beim Nachweis einer Fehlbildung des Kindes ein Schwangerschaftsabbruch als »Therapie-Option« gesehen und oft realisiert. Daher ist die PND mit ihren, wenn auch geringen Risiken solange fragwürdig, als eine intrauterine Therapie des beim Ungeborenen diagnostizierten Leidens nicht möglich ist
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und nur die Tötung des Kindes als »Therapie« folgt. Beim Nachweis des genetischen Defekts der Trisomie 21 (Down-Syndrom) beispielsweise erfolgt in 96% der Fälle ein Abbruch der Schwangerschaft. Bei der Neufassung des § 218a StGB auf dem Boden des Senatsurteils des Bundesverfassungsgerichts vom 28.05.1993 wurde am 29.06.1995 im Deutschen Bundestag im Sinne eines »schrägen« politischen Kompromisses die Streichung der embryopathischen Indikation beschlossen und diese im § 218a, Abs.2 StGB (medizinisch-soziale Indikation) subsummiert. Mit der Subsumtion der embryopathischen unter die medizinisch-soziale Indikation wurde die zeitliche Begrenzung des Abbruchs nach PND auf einen Zeitraum von 22 Wochen p.c., die Beratungspflicht und die Dreitagefrist zwischen Beratung und Abbruch (bei der Fristenregelung bis 12 Wochen p.c. verpflichtend), sowie die statistische Erfassung der Abbrüche aufgehoben. Wie bei der traditionellen medizinischen Indikation war nun auch nach PND eine nicht rechtswidrige, straffreie Tötung des Kindes über die bis 1995 gültige Grenze von 22 Wochen p.c. hinaus bis zum Geburtstermin möglich geworden. Ob mit Neufassung des § 218a, Abs.2 StGB auch die Freistellungsklausel nach § 12, Abs.2 SchKG, welche dem Arzt mit Ausnahme der traditionellen medizinischen Indikation ein Weigerungsrecht einräumt, aufgehoben wurde, ist nach eingehender juristischer Diskussion zugunsten des Arztes entschieden worden. Diese mit der Reform der Reform des § 218a, Abs.2 StGB entstandenen konflikthaften Probleme waren ärztlicherseits bereits früh erkannt worden. Eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe des WBR der BÄK hat unter meiner Leitung bereits 1998 in einer Erklärung zum Schwangerschaftsabbruch nach Pränataldiagnostik [15] eine Revision der unter die medizinische Indikation subsumierten ehemaligen embryopathischen Indikation gefordert. Was ist bei dieser Reform der Reform geschehen? Dem Diskriminierungsargument der Kirchen- und Behindertenverbände folgend verabschiedete der Gesetzgeber ein eindimensionales Gesetz, in dem er die Embryopathie, welche letztlich die medizinisch-soziale Indikation begründet, in dieser Indikation »versteckte«. Der Fehler der Gesetzessystematik des reformierten § 218a, Abs.2 besteht darin, dass einerseits die zweite Dimension, nämlich die Tötung des Kindes aufgrund der Embryopathie der medizinischen Indikation subsummiert wurde, andererseits die beiden Indikationsbereiche, die medizinische Bedrohung der Mutter und die Embryopathie, unterschiedliche Inhalte und Ziele haben. Bei der traditionellen medizinischen Indikation ist nicht die Tötung des Kindes das Ziel der Tat. Inhalt dieser Indikation ist stets die Rettung von Leben und/oder Gesundheit der Mutter, was gelegentlich ohne den Tod des Kindes (Leben gegen Leben) nicht möglich ist. Das Ziel dieser Indikation zur Beendigung der Schwangerschaft ist primär nicht der Tod des Kindes, sondern die Beseitigung der unmittelbaren Bedrohung der Mutter durch die Schwangerschaft. Stets ist das Ziel die Rettung der Mutter, und, wenn irgend möglich, auch die des Kindes. Bei der durch eine Embryopathie des Kindes bewirkten medizinisch-sozialen Indikation zur Beendigung der Schwangerschaft ist nicht das Ziel, die Mutter aufgrund einer unmittelbaren medizinischen Bedrohung ihrer Gesundheit von der Last der Schwangerschaft, sondern eine in der Regel gesunde Mutter für die Phase nach der Geburt von der Last des geschädigten und/oder behinderten Kindes zu befreien. Auf den Tod des Kindes kann nicht, wie bei der traditionellen medizinischen Indikation, verzichtet werden, will man das inhaltliche Ziel, die Unzumutbarkeit des Austragens des Kindes für die Mutter bzw. die Eltern, erreichen. Theoretisch könnte man die Tötung des Kindes nach der Geburt vollziehen, was jedoch strafrechtlich verfolgt würde, da die Geburt bzw. der Beginn von Eröffnungswehen oder bei einem Kaiserschnitt die Eröffnung des Uterus für die Bewertung der Tötung (noch) eine juristische Zäsur darstellt [34].
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Mit Blick auf die »versteckte« zweite Dimension, nämlich die Tötung eines als krank diagnostizierten Kindes, geschieht, unabhängig von der Indikationszuordnung, immer auch Selektion durch aktive Tötung, die intrauterin akzeptiert und praktiziert wird. Die Bezeichnung »Früheuthanasie« ist in diesem Zusammenhang falsch und irreführend, da es sich beim Ungeborenen nicht um einen einwilligungsfähigen Menschen und in der Regel nicht um einen Sterbenden handelt. Es geht auch nicht um das Recht auf einen sanften Tod, sondern um die frühzeitige Beendigung eines defekten Lebens. Die Streichung dieser Indikation hat meines Erachtens, entgegen der gut gemeinten Intention der Kirchen und Behindertenverbände, das Bewusstsein für die andere Seite des Januskopfes der PND, nämlich die Selektion nach PND, immer stärker geschwächt. Es ist nicht abwegig zu vermuten, dass durch die das Rechtsbewusstsein prägende Kraft jedes und auch dieses Gesetzes, die in unserer Gesellschaft vorhandene Bereitschaft zur Rechtfertigung der Tötung kranken, ungeborenen Lebens einmal auch das Leben nach der Geburt einbeziehen wird. Der die Indikation zum Abbruch stellende und der tötende Arzt/in könnten für sich und die Mutter mit ausschließlichem Blick auf die Zumutbarkeit der Mutter/Eltern den ethischen Konflikt lösen, indem sie als Helfer bei der Lösung einer psychosozial unzumutbaren Situation tätig werden. Die Auslese gesunder und die Tötung kranker Kinder wird dabei gewissermaßen als »Nebenwirkung« in Kauf genommen. Der Arzt/in als Täter kann jedoch dem ethischen Dilemma nicht ausweichen. Die Gesetzessystematik des § 218a, Abs.2 mit Subsummierung der ehemals embryopathischen in die medizinische Indikation hat u. a. zur Folge, dass intrauterine Tötungen auch in einer Phase der extrauterinen Lebensfähigkeit des Kindes (nach 22 Wochen p.c.) vorgenommen werden. Dies bewirkt eine besonders konflikthafte Situation, die übrigens auch bei drohender spontaner Frühgeburt im Grenzbereich der Lebensfähigkeit mit unsicherer Prognose hinsichtlich bleibender schwerer Behinderung entstehen kann. Zur Vermeidung eines lebenden Frühgeborenen mit oder ohne schwere Fehlbildung und/oder Behinderung, welches eigentlich tot sein sollte, wird heute anstelle der Weheneinleitung mittels Prostaglandin die direkte Tötung mittels Fetozid angewendet. Diese Technik wurde, wie oben ausgeführt zur »Reduktion« höhergradiger Mehrlinge entwickelt. Der biomedizinische Fortschritt der Neonatologie hatte schon vor der Reform der Reform 1995 in eines der Ziele der gesetzlichen Begrenzung – keine Tötung bei Lebensfähigkeit des Kindes – eine Lücke gerissen. In Einzelfällen begegneten sich auch schon vor 1995 Geburtshelfer und Neonatologe, die bei der spontanen Frühgeburt gemeinsam um das Überleben des Kindes gerungen und bei der iatrogen induzierten Geburt eines überraschend lebenden Frühgeborenen diametral entgegengesetzte Ziele verfolgt haben. Der indirekte Fetozid durch Wehenmittelgabe belässt die Eltern und den Arzt im Ungewissen, ob eine iatrogene Frühgeburt im Sinne von Leben als »Komplikation« resultiert. Der direkte Fetozid mittels ultraschallgelenktem Herzstich und Injektion von Kaliumchlorid gilt als »Prävention« dieser »Komplikation«. Außerdem soll diese Form der Tötung einen schmerzfreien Sekundenherztod (?) bewirken und verhindern, dass das kranke und/oder fehlgebildete Ungeborene durch die Wehenwirkung eine Hypoxie erleidet und das die Abtreibung überlebende Neugeborene dadurch zusätzliche Schäden davonträgt – mit allen haftungsrechtlichen Folgeproblemen. Die schon immer gestellte Frage wird mit dem lebendgeborenen Kind, welches eigentlich tot sein sollte, transparenter: Warum ist das kranke Leben mit Beginn der Geburtswehen oder der Eröffnung der Gebärmutter beim Kaiserschnitt plötzlich dem vollen Rechtsschutz unterstellt, so dass die »missglückte« Tötung abgebrochen werden muss? Totschlag ist nach
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unserer Rechtsprechung am Beginn des Lebens nicht gleich Totschlag, sondern ist vom Alter des Opfers abhängig (Eberbach 1989). Ausgehend von der 1998 veröffentlichten Erklärung, fortgeschrieben 2003 im Positionspapier Schwangerschaftsabbruch nach Pränataldiagnostik [75] der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG), hat die DGGG gemeinsam mit dem WBR der BÄK Vorschläge zur Änderung der gesetzlichen Vorschriften zum Schwangerschaftsabbruch aus medizinischer Indikation erarbeitet und der Öffentlichkeit und dem Gesetzgeber unterbreitet [83]. Wir vertraten u. a. die Position, dass ein Spätabbruch nur zulässig sein sollte, wenn eine unmittelbare Gefahr für das Leben der Mutter besteht oder, wenn der Fetus an einer unbehandelbaren Krankheit oder Fehlbildung leidet, bei der nach der Geburt durch den Neonatologen keine lebenserhaltenden Maßnahmen ergriffen würden. In dieser psychisch außerordentlich belastenden Situation tragen nach einfühlsamer ärztlicher Beratung viele Mütter ihr auf den Tod hin krankes Kind aus, erfahren mit Annahme ihres schweren Schicksals in der Sterbebegleitung, im Abschiednehmen und der Beisetzung ihres Kindes eine tiefe Beziehung. Das geboren Kind ist und bleibt stärker im Verbund der Familie als das vor der Geburt getötete Kind. Eine verantwortungsbewusste Beratung sollte in dieser Notsituation stets diese Option ansprechen, auch wenn schließlich einzelnen Müttern doch die Kraft zum Austragen des schwerkranken Kindes fehlt. Nach über 10-jährigem Wirken der DGGG, zuletzt gemeinsam mit dem WBR der BÄK im politischen Raum, u. a. im zuständigen Bundestagsausschuss, hat der Deutsche Bundestag am 26.08.2009 das Gesetz zur Änderung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes (SchKG) verabschiedet. Es trat am 01.01.2010 in Kraft. Zwei der vier Gesetzeslücken wurden geschlossen. Nach § 2a, Abs.1 SchKG besteht nun eine gesetzliche Beratungspflicht für den, die Diagnose mitteilenden Arzt, wenn »nach den Ergebnissen von pränataldiagnostischen Maßnahmen dringende Gründe für die Annahme (sprechen), dass die körperliche oder geistige Gesundheit des Kindes geschädigt ist«. Im Zusammenhang mit der Beratung muss der Arzt auch darüber informieren, dass die Schwangere einen Anspruch auf eine psychosoziale Beratung hat. In Abs.2 des § 2a SchKG sind die Pflichten des, die Indikation stellenden Arztes neu geregelt: Beratung über medizinische und psychische Aspekten eines Schwangerschaftsabbruchs, über den Anspruch auf weitere und vertiefende psychosoziale Betreuung, die Vermittlung zu psychosozialen Beratungsstellen im Einvernehmen mit der Patientin und die Einhaltung der Dreitagefrist zwischen Diagnose und schriftlicher Indikationsstellung zum Schwangerschaftsabbruch. Diese Frist muss nicht eingehalten werden bei Hinweis auf eine »gegenwärtige erhebliche Gefahr für Leib und Leben der Schwangeren«. Der die Indikation stellende Arzt muss schließlich bei der Feststellung eine schriftliche Bestätigung der Schwangeren einholen, dass sie beraten und weiter vermittelt wurde bzw. dass sie hierauf verzichtet hat [43]. Vom Gesetzgeber nicht berücksichtigt blieben die Forderungen der DGGG und des WBR der BÄK hinsichtlich der statistischen Erfassung der Abbrüche aus medizinischsozialer Indikation und hier insbesondere des Fetozids bei Mehrlingsschwangerschaften und bei potentieller Lebensfähigkeit des Kindes (Spätabtreibung) und vor allem der, die Indikation auslösenden Fehlbildungen. Somit wird die Gesellschaft auch nicht erfahren, ob die eingeführten § 2a, Abs.1 und Abs.2 SchKG den Lebensschutz der Ungeborenen nach PND verbessern werden. Einer Auseinandersetzung mit der Gesetzessystematik des § 218a, Abs.2 StGB, wodurch die Spätabtreibung bis zum Ende der Schwangerschaft ermöglicht wurde, verweigerten sich alle Parteien des Bundestags. Damit entzog sich der Gesetzgeber auch jeder Diskussion über
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das so bedrückende Problem der »Schwangerschaft auf Probe« [29, 35]. Wir erleben nicht selten, dass Paare im Wissen um die medizinischen Möglichkeiten der PND und der möglichen Konsequenz des Schwangerschaftsabbruchs, z. B. bei Bestehen eines deutlich erhöhten Altersrisikos für die Empfängnis eines Kindes mit Trisomie 21 (Down-Syndrom) eine Schwangerschaft auf Probe anstreben, erleben und nach »positiver« PND den Abbruch durchführen lassen. Die sog. Altersindikation ist nicht mehr und nicht weniger als die Antizipation dieses Konflikts (s. u.). Im ethischen Diskurs über Wissen und Werte ist diese, die Tötung des Kindes a priori in das Schwangersein einbeziehende Handlungsweise anders zu beurteilen, als wenn die Patientin durch das Ergebnis der PND in Not und Panik gerät (Zumutbarkeit) und der Abbruch nach § 218a, Abs.2 Nr.1 die Not wendet [88]. Die Parlamentarier aller Fraktionen fürchteten wohl eine grundsätzliche Debatte über den § 218 StGB und eine Aufkündigung des 1993/1995 so mühsam errungenen gesellschaftlichen Kompromisses. Geregelt, nicht im § 218 StGB, sondern in dem 2010 in Kraft getretenen Gendiagnostikgesetz (GenDG) wurde u. a. die mittels molekulargenetischer Analyse möglich gewordene prädiktive Diagnostik: Basiert die Indikation zur PND und evtl. nachfolgenden »Therapie« mittels eines Schwangerschaftsabbruchs auf der mütterlichen und elterlichen nicht zumutbaren Belastung durch eine manifeste Erkrankung und/oder Fehlbildung des Kindes, so sucht die prädikive genetische Diagnostik nach krankmachenden Genen, deren Wirkung erst spät im Leben einsetzt. Die Diagnostik sucht nach dem potentiell kranken Ungeborenen, das besser nicht erleben sollte, was ihm sein genetisches Programm befiehlt [71]. Es geht hierbei also nicht mehr um die unmittelbare, nicht zumutbare Belastung der Mutter während und nach der Schwangerschaft, sondern darum, dass dem Ungeborenen nach der Geburt die Zeitspanne bis zum Ausbruch der genetischen Erkrankung und die Erkrankung selbst erspart bleiben soll. Das Argument der Nichtzumutbarkeit eines kranken Kindes für die Eltern entfällt. Das Leiden des Kindes entwickelt sich jenseits der elterlichen Fürsorge. Nach § 15, Abs.2 GenDG ist die prädiktive genetische Diagnostik einer Erkrankung verboten, die »erst nach Vollendung des 18. Lebensjahres ausbricht.«
Präimplantationsdiagnostik Nur wenigen mit der Pränatalmedizin befassten Ärzten/innen in Praxis und Klinik ist bewusst, dass nicht die PND an sich, sondern nur die Schwangerschaft auf Probe mit der Präimplantationsdiagnostik (PID) nach einer »Zeugung auf Probe« korreliert, mit anders gearteten und derzeit höheren medizinischen Risiken. Die PID kann also nicht, wie vielfach geäußert, schlichtweg als eine vorverlegte PND angesehen werden. Zunächst hat die PID das mit körperlichen und seelischen Risiken für die Mutter behaftete Verfahren der In-vitro-Fertilisation zur Voraussetzung. Darüber hinaus weist die PID eine andere ethische Handlungsqualität auf. Die konventionelle PND hat in der Regel nicht primär einen selektiven oder sogar eugenischen Ansatz. Im Zentrum der PND steht der informative, über Beratung nicht selten lebenserhaltende und zunehmend auch intrauterin therapeutische Ansatz. Für die Eltern eines genetisch und auf den Tod hin schwer erkrankten Kindes erfolgt, im Gegensatz zur allgemeinen Altersindikation, das Begehren einer PID aus der erlebten Wirklichkeit. Aufgrund der anamnestischen Erfahrung eines genetisch schwer kranken Kindes steht das Lebensrecht des Embryos bzw. Fötus gegen die antizipierte, gesundheitliche Gefährdung der zukünftigen Mutter und bewirkt so eine Analogie von Embryoselektion in
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vitro nach PID und Schwangerschaftsabbruch in vivo nach PND, da »die real existierende Schwangerschaft für das Bestehen des Konflikts nicht konstitutiv ist« (Woopen 1999). Für ein Hochrisikopaar ist also der Konflikt auch ohne Schwangerschaft antizipierbar, vergleichbar jenem Paar, welches erst durch die PND in einen Konflikt gestürzt wird. Es gibt demnach nicht nur die unter Vorbehalt stehende (bedingte) Zeugung bzw. Befruchtung, sondern im Hinblick auf die Möglichkeit der PND auch die unter Vorbehalt stehende Schwangerschaft. Nur bei diesem Ansatz ist die PID tatsächlich eine zeitlich vorverlegte PND – mit anders gearteten und derzeit höheren medizinischen Risiken. Es kann wohl nicht sein, dass der Gesetzgeber im Bereich der Pränatalmedizin den Schutz der Menschenwürde und des Lebens relativiert und eine Güterabwägung bis zur Geburt zulässt, den Arzt in Beratung und Diagnostik einem immer höheren Haftungsdruck aussetzt, den Lebensschutz für den Embryo in der Präimplantationsphase jedoch absolut einfordert: ▬ Diagnostik und »Therapie« in vivo in exzessiver Form bis zur Geburt unter haftungsrechtlicher Bedrohung: Ja. ▬ Diagnostik an der nicht totipotenten Blastomere in vitro und eventuelles Verwerfen des Embryos: Nein. ▬ Schwangerschaft auf Probe mit Spätabbruch: Ja. ▬ Zeugung auf Probe, d. h. unter Vorbehalt mit Einsatz der PID in Antizipation des Konflikts mit evtl. Unterlassung des Embryotransfers: Nein. Der hohe Schutzanspruch des Embryo in vitro mit dem Verbot der PID basiert auf dem in § 8 des ESchG’s zugrundegelegten Status des Embryos vom Zeitpunkt der abgeschlossenen Befruchtung. In vivo beginnt menschliches Leben und dessen Lebensschutz erst nach Abschluss der Einnistung, wonach der Gesetzgeber auf eine rechtliche Sanktionierung der Präimplantationsphase verzichtet. Der § 218 StGB greift erst nach dem Ende der Nidation, weshalb die instrumentelle (intrauterine Spirale) und medikamentöse (postkoitale Hormonpille) Nidationshemmung gesetzlich zulässig bzw. gar nicht erfasst ist. Bei Zulassung einer Schwangerschaft auf Probe ist es wertungswidersprüchlich, eine Zeugung auf Probe strafrechtlich (ESchG, § 1, Abs.1, Nr. 2 und § 2, Abs.1) zu verbieten. Man kann einwenden, dass eine Schwangerschaft auf Probe im § 218a nicht abgebildet sei, und daher, sollte es diese Praxis geben, diese nicht als Präjudiz herangezogen wird. Die Anerkennung und Zulassung der PID in streng definierten Indikationsbereichen ist, wie im Diskussionsentwurf für Richtlinien zur Präimplantationsdiagnostik des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer befürwortet, mit Blick auf die derzeitige Handhabung der PND nur über eine Güterabwägung bzw. über eine Abwägung des kleineren anstelle des größeren Übels möglich. Legt man den im ESchG (§ 8) definierten Status des Embryos zugrunde, ist eine klare ethische Lösung des antizipierbaren Konfliktes nur über den Verzicht auf eine weitere Schwangerschaft, eine Adoption oder die bewusste Annahme des Wiederholungsrisikos eines kranken Kindes mit Austragen der Schwangerschaft möglich. Die PID ist gesetzlich nicht geregelt, auch das am 01.02.2010 in Kraft getretene GenDG enthält keine explizite Regelung der PID. Es bleibt abzuwarten, ob der nach einer Selbstanzeige eines betroffenen Arztes erfolgte Freispruch durch die 12. Große Strafkammer des Landgerichts Berlin (14.05.2010) auch die beim Bundesgerichtshof (BGH) eingelegte Revision am 06.07.2010 übersteht.* * Der 5. (»Leipziger«) Strafsenat des BGH hat mit Urteil vom 6.7.2010 – 5 StR 386/09 die Revision abgewiesen und hiermit die PID bei Verdacht auf »schwere genetische Schäden« befürwortet.
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Unabhängig der Entscheidung des BGH, wird auch der Gesetzgeber sich in dem seit langer Zeit geforderten Fortpflanzungsmedizingesetz den Wertungswidersprüchen zwischen dem derzeitig hohen Schutzanspruch in vitro im ESchG mit dem Verbot der PID und dem Verzicht auf rechtliche Sanktionierung der Präimplantationsphase in vivo im § 218 StGB mit Zulassung von Nidationshemmern und der nicht rechtswidrigen Schwangerschaft auf Probe mit PND und evtl. Schwangerschaftsabbruch (ohne zeitliche Zäsur!) stellen müssen. Ich habe die Pränatalmedizin (PND und PID) und deren Januskopf ausführlicher gezeichnet, da sie das Thema Werte, Wissen, Wandel besonders scharf, wie durch ein Brennglas fokussiert. Wir bewegen uns auf immer unsicherem Boden. Wir haben die intrauterine aktive Tötung als »Therapie« bis zum Beginn der Geburt als nicht rechtswidrige und straffreie Tat akzeptiert und nehmen dabei wahr, wie schmal der Grat ist zwischen der passiven und aktiven Sterbehilfe bei nach der Geburt diagnostizierten schweren Fehlbildungen oder Behinderungen oder bei trotz Abbruch lebend zur Welt gekommenen Kindern. Wir Frauenärzte/innen sind eingebunden in ein gesetzliches Tötungssystem (R. Esser). Die Bedrohung des Menschen durch den Menschen über den modernen Anspruch der »Unzumutbarkeit«, der das »Schicksal« menschlichen Lebens verneint, muss und wird hineinwirken in die auch in unserem Lande in den letzten Jahren kontrovers geführte Euthanasiedebatte. Die Fremdbestimmung und Degradierung zum ausführenden Organ einer lebensfeindlichen Politik und die damit bewirkte Zumutung, gleichzeitig »Helfer zum Leben und Helfer zum Tod« (Stoll 1980) zu sein, entfremdet uns dem Heilberuf und droht unseren Berufsstand aufzulösen.
Schlussbemerkung Die Diskussion über Werte, fortschreitendes Wissen und den in Wechselwirkung stehenden Wandel der letzten 25 Jahre in unserer Gesellschaft, spiegelbildlich im Deutschen Bundestag und innerhalb der DGGG, machen bei jedem der hier besprochenen Themen die Zielkonflikte zwischen der Beachtung der Menschenwürde und dem aus ihr abgeleiteten Lebensschutz sowie der Forschungsfreiheit bzw. der Pflicht zur Forschung deutlich. Die kontroverse Wertediskussion in unserer Gesellschaft über die Reproduktionsmedizin, die Auswahl von Embryonen mit dem Ziel des eSET zur Vermeidung höhergradiger Mehrlinge und zum Gesundheitsschutz der prospektiven Mutter und die aus der IVF abgeleitete PID und Forschung mit hES-Zellen ist programmiert durch die unterschiedlichen Positionen hinsichtlich des moralischen Status des Embryos. Ich weiß um die letzte Verantwortlichkeit, die den handelnden Arzt/in in jeder konflikthaften Situation auf seine persönliche Gewissensentscheidung zurückwirft und ihn gegebenenfalls nicht frei von Schuld lässt. Entscheidend scheint mir, dass der Arzt/in bei seinem (Be-)Handeln die Empfindsamkeit für sein objektives Mitschuldigwerden im Mitleiden bewahrt. Ob dies genügt? Gewiss ist, soll unser ärztliches Handeln nicht noch stärker pervertiert werden, müssen wir uns kontinuierlich mit diesen Konflikten geistig auseinandersetzen. Medizin ist und muss sein, ob uns das bedrängt oder nicht, immer mehr auch eine Geisteswissenschaft. Denn wir stürzen in Systeme des Denkens, nach denen die Medizin rechtlich darf, was sie kann und über die Haftung immer öfter auch tun muss, was sie kann. Mit jedem neuen Schritt im Fortschreiten der Medizin müssen wir jedoch immer wieder neu jene Grenze suchen und erkennen, wo die Medizin der Utopien, die inhumane Medizin beginnt. Es geht stets um das Thema Werte, Wissen, Wandel.
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Geschichte der Qualitätssicherung in der Geburtshilfe und Gynäkologie Diedrich Berg
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Kapitel 1 · Geschichte der Qualitätssicherung in der Geburtshilfe und Gynäkologie
Qualität ist so alt wie die Menschheit. So gab es bei den Ägyptern beispielsweise Leute, die sich mit Messungen beim Bau der Pyramiden beschäftigten. Hammurabi, König von Babylon um 1700 v. Chr., führte für schlecht gebaute Häuser radikale Strafen ein. Es müssen daher Qualitätsanforderungen bekannt gewesen sein. Auch aus Rom und dem Mittelalter sind Qualitätsanforderungen bekannt. Bis zum Beginn der Industrialisierung waren es vornehmlich Zünfte und andere Berufsorganisationen, die Regeln zur Arbeit oder zum Produkt aufstellten. Mit dem Aufkommen von Fabriken setzte auch die Arbeitsteilung ein. Der ungelernte Arbeiter konnte nicht auch noch die Qualitätskontrolle übernehmen. Diese Tätigkeit wurde an andere Personen oder Abteilungen übertragen. Vor allem Mathematiker und Statistiker entwickelten in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts Modelle zur Überwachung von Produktion und zur Verbesserung der Berechnung von Stichproben. Während des Ersten Weltkriegs wurde in den USA ein statistisches Verfahren entwickelt, dessen Anwendung den Aufwand an Materialprüfungen gegenüber anderen Verfahren bei gleicher Fehlerwahrscheinlichkeit um bis zu 60% reduzierte. Die Statistik war und ist eine wichtige Facette der Entwicklung des Qualitätswesens. Es war der Chirurg Billroth (1829-1894), der die Möglichkeiten der Geburtshilfe zur Aufstellung von Statistiken und damit zur Qualitätsverbesserung erkannte: »In der glücklichsten Lage, Vergleichsstatistiken zu treiben, sind die Gebärhäuser, weil sie immer mit Individuen gleichen Geschlechts, und immer nur mit der Schwangerschaft und Wochenbett zu thun haben; in der That ist die Geburtshülfe in der Statistik am weitesten, und ihre Resultate sind praktisch am verwendbarsten.« Der Amerikaner W. Edwards Deming entwickelte den berühmten PDCA-Zyklus zur permanenten Qualitätsverbesserung: Planen (Plan) → Ausführen (Do) → Überprüfen (Check) → Verbesserung (Act) →… 1987 wurde die Qualitätssicherung nach ISO 9000ff eingeführt und ab 1994 das Qualitätsmanagement nach ISO 9000:1994ff und andere Modellen (TQM, EFQM).
Entwicklung in der Geburtshilfe Zwischen 1965 und 1970 wurden immer wieder Statistiken präsentiert und auch in den Medien diskutiert, die zeigten, dass die perinatale Mortalität im Raum München höher als in anderen Regionen Deutschlands war. Vorwürfe gingen besonders in Richtung der belegärztlichen Geburtshilfe, die in Bayern eine große Rolle spielte und spielt. Seit den 60er-Jahren erstellten Münchener Kinderkliniken Statistiken über die ihnen zugewiesenen Neugeborenen. Es wurde bald klar, dass Erfolge oder Misserfolge in der kinderärztlichen Tätigkeit ohne Kenntnis anamnestischer Daten aus Schwangerschaft und Geburt nicht zu interpretieren waren. Dies, und die öffentlichen Vorwürfe, waren der Grund, warum seit 1970 in unregelmäßigen Abständen und in unregelmäßiger Zusammensetzung Diskussionsrunden zwischen Pädiatern und Geburtshelfern aus dem Großraum München entstanden. Dieser ungewöhnliche Dialog ging nicht von den Universitäten aus, sondern von niedergelassenen Frauenärzten und Belegärzten! Federführend war der Berufsverband der Frauenärzte in der Person von Dr. Fried Conrad und Dr. Eduard Koschade2. Die Kinderkliniker wurden vom Chefarzt des Kinder2
Ihm als damals Anwesenden verdanke ich wichtige Einzelheiten der geschichtlichen Entwicklung der Perinatalerhebung.
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krankenhauses an der Lachnerstraße, Herrn Dr. Scheppe, und Herrn Prof. Dr. Riegel vom Hauner’schen Kinderspital vertreten. Nach vielen Vorgesprächen in den Jahren 1970-1972 kam es zur Gründung der Perinatologischen Arbeitsgemeinschaft München, in der 16 Münchner Frauenkliniken sowie 9 Frauenkliniken aus einem Umkreis von ca. 50 km, ferner die Frauenklinik Amberg unter der Leitung von Prof. Dr. Dietrich Berg zusammenkamen. Der erste Erhebungsbogen wurde von Dr. Hans Lochmüller, damals Leiter der Strahlenabteilung der Frauenklinik in der Maistraße und Dr. Koschade entworfen. Nach Entwicklung eines EDV-auswertbaren Bogens konnte diese Pilotphase 1974 als erfolgreich beendet angesehen werden. Die Ziele der Münchner Perinatologischen Arbeitsgemeinschaft ließen sich wie folgt beschreiben: 1. Die Erprobung einer dem Klinikpersonal zumutbaren Erhebungsform aller Geburten in den beteiligten Kliniken, 2. die Beobachtung der perinatologischen Situation einer begrenzten Region in ihrer räumlichen und zeitlichen Entwicklung, 3. die Unterstützung der internen Selbstkontrolle und die Schaffung von differenzierten Vergleichsmöglichkeiten zu externer Selbstkontrolle der teilnehmenden Kliniken, 4. die Gewinnung statistischer Unterlagen für die Bearbeitung gegenwärtiger und zukünftiger perinatologischer Fragestellungen, 5. die Erstellung einer Datenbasis für spätere Einzelfallanalysen. Es war ein Glücksfall, dass sich Prof. Dr. Sewering als Präsident der Bayerischen Landesärztekammer und zugleich Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns dafür einsetzte, dass das Zentralinstitut für die Kassenärztliche Versorgung einen Teil der Kosten übernahm, wobei die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns ihre EDV-Anlage kostenlos zur Verfügung stellte. Hier ist besonders Herr Berthold Müller, Leiter der EDV-Abteilung der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns mit seinen wissenschaftlichen Mitarbeitern Dr. Thieme, Dr. Lack und Frau Dr. Gröbl zu nennen. Prof. Dr. Konrad Selbmann, Oberassistent am Institut für medizinische Informationsbearbeitung, Statistik und Biomathematik der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU), hat bereits in der Pilotphase mit großer fachlicher Kompetenz mitgewirkt. Mit seiner Hilfe konnte das Datenmaterial jetzt ausgewertet werden. Die Münchner Perinatalstudie war zunächst auf den Zeitraum von 1975-1977 angelegt. Die Akzeptanz bei den teilnehmenden Kliniken war erfreulich hoch und vor allen Dingen freiwillig. Im Jahr 1975 wurden 92,8% der Neugeborenen erfasst, 1997 waren es schon 96,4%. In dieser Zeit verbesserte sich die perinatale Mortalität von 17,1‰ auf 12,6‰. Die Zahlen lagen zur damaligen Zeit deutlich unter denen der Bundesrepublik. Der Erfolg der Münchner Perinatalstudie veranlasste Prof. Sewering, den Startschuss für die Bayerische Perinatalerhebung zu geben. Ab 1978 übernahm die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns die Kosten der Perinatalerhebung für belegärztliche Gynäkologen. Die Kosten in hauptamtliche Abteilungen wurden auf Initiative von Dr. Koschade in Absprache mit der Bayerischen Krankenhausgesellschaft in den Pflegesatz eingerechnet. Damit konnte die Bayerische Perinatalerhebung 1979 flächendeckend in Bayern eingeführt werden. Der nächste Innovationsschub kam aus Niedersachsen mit dem Beginn der Neonatalerhebung seit 1978 (Dr. Pörksen, Prof. Natzschka, Dr. Hons, Prof. Bernsau, Prof. Weitzel). Von Besonderheit ist dabei die gelungene und mit dem niedersächsischen Datenschutz kompatible
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Kapitel 1 · Geschichte der Qualitätssicherung in der Geburtshilfe und Gynäkologie
gemeinsame Erfassung der Daten von Mutter und Kind. 1979 wurde in Niedersachsen auf Initiative der Frauenklinik der Medizinischen Hochschule Hannover (Prof. Jörg Schneider, Prof. Dr. Hans Weitzel) und der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsens (Prof. Weinhold) beschlossen, eine Perinatalstudie nach bayerischem Muster einzuführen. Die methodische Betreuung erfolgte durch den damaligen Koordinator der Perinatologischen Arbeitsgemeinschaft Niedersachsen, Prof. Dr. Otto Rienhoff, zugleich Lehrstuhlinhaber der Fakultät für medizinische Informatik an der Universität Marburg. 1983 lief diese niedersächsische Vorbereitungsphase aus. Sie wurde ersetzt durch eine Niedersächsische Perinatalerhebung, die mit dem bayerischen Ansatz identisch war und ähnlich wie in Bayern finanziert und statistisch ausgewertet wurde. Seit Anbeginn ist die Perinatologische Arbeitsgemeinschaft Niedersachsen, später Zentrum für Qualitätsmanagement, federführend für das Datenmanagement der Neonatalerhebung. Unter Ihrer Regie entstand die Dokumentationssoftware Neodok für den Einsatz in den Kliniken, sowie das zentrale Verwaltungs-und Auswertungsmodul Neoadmin. Neodok wurde bundesweit eingesetzt, die Verwaltungssoftware Neoadmin wurde von der BAQ (Bayerischen Arbeitsgemeinschaft für Qualitätssicherung) in Bayern übernommen. Ebenso richtungsweisend waren die damals 1980 und 1981 von Dr. Klaus Hartmann entwickelten Routinen zur Verknüpfung neonatologischer und perinatologischer Datensätze. Das Verfahren wurde seitdem von Herrn Dr. Lack, Herrn Wenzlaff und Frau Dr. Sens fortgeführt und weiterentwickelt. Für Longitudinalanalysen ist es inzwischen eine unabdingbare Voraussetzung. Seit 1996 wird das etablierte Verfahren ergänzt durch ein Pilotprojekt zur Erhebung von Langzeitergebnissen bei Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht <1500 g (1. Projektphase) beziehungsweise einem Geburtsgewicht <1000 g (2. Projektphase). Dem Beispiel Niedersachsens folgten in den kommenden Jahren alle alten Bundesländer, sowie Finnland und Südtirol. Datenerfassung und -auswertung entsprachen voll dem bayerisch-niedersächsischen Muster und sicherten so die Vergleichbarkeit der Daten mit den alten Bundesländern. Besondere Initiativen entwickelten neben Bayern und Niedersachsen die Bundesländer Nordrhein-Westfalen (Dr. Wolf und Dr. Bredehöft) und Hessen (Prof. Künzel, Dr. Goerke, Frau Stillger und Dr. Misselwitz). Träger sind in Deutschland unterschiedlich die Ärztekammern, die Kassenärztlichen Vereinigungen, beide zusammen und vereinzelt auch die Krankenhausgesellschaften und Krankenkassen. Nach der Wiedervereinigung schlossen sich die neuen Bundesländer der westdeutschen Peri- und Neonatalerhebung an, so dass seit Mitte des Jahrzehnts die dezentral entstandenen und weiterhin dezentral arbeitenden Perinatalerhebungen der Länder etwa 96% aller deutschen Schwangerschaften und Geburten erfassten. Diese bundesweite Perinatalerhebung war als Vollerhebung für alle Schwangerschaften und Geburten in Krankenhäusern konzipiert. Es wurden alle versorgungsrelevanten Informationen zur Mutter und zum Neugeborenen dokumentiert. Wie die Auswertung und Analyse mussten Qualitätsindikatoren entwickelt werden. Hierzu entstanden aus den jährlichen gemeinsamen Konferenzen Bayerns und Niedersachsens Arbeitsgruppen für Geburtshilfe (primäre Leitung: D. Berg), Neonatologie (primäre Leitung: F. Pohlandt) und Methodik (zeitweilige Leitung: Frau Haeske-Seeberg, spätere wichtige Mitglieder waren Frau Dr. Sens, Frau Berlage, Dr. Lack und Dr. Wolf), die jede für sich sowie gemeinsam ▬ Risikomerkmale aus Anamnese und Befund entwickelten, die auch in den neuen deutschen Mutterpass integriert wurden, ▬ Qualitätsindikatoren definierten, die gute von schlechter Qualität unterscheidbar machten und die teilweise noch heute angewandt werden.
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Die Arbeitsgruppen hatten insgesamt die Aufgabe ▬ Erfassungsmerkmale zu erarbeiten, ▬ Plausibilitätskriterien zu entwickeln und anzuwenden, ▬ Auswertungskriterien zu definieren, ▬ Qualitätsindikatoren zu beschreiben, ▬ Statistiken, Tableaus und Klinikprofile zu erstellen, ▬ die Teilnehmer zu beraten, ▬ die wissenschaftliche Auswertung der Daten zu unterstützen. Ein Koordinierungsausschuss aus Vertretern der 3 Arbeitsgruppen sorgte für die Zusammenführung und Anwendung der arbeitenden Regelungen und für die Vorbereitung der Perinatalkonferenzen in München. Charakteristika der Perinatalerhebung waren: ▬ Freiwillige Teilnahme der Kliniken3 ▬ anonyme Teilnahme der Klinik und die Anonymität der Patientin bzw. des Kindes ▬ totale Erfassung aller Geburten einer Klinik: Der Datensatz enthielt die wichtigsten und unverzichtbaren Merkmale des Schwangerschaftsverlaufs, der Geburt und des Wochenbetts einschließlich aller getroffenen Maßnahmen, der Komplikationen, des mütterlichen und kindlichen Ergebnisses. Kataloge kodierten anamnestische und befundete Schwangerschaftsrisiken, Geburtsrisiken, Indikationen zur operativen Entbindung, kindliche Morbidität, Todesursachen und Verlegungsgründe. Erfasst wurden alle Schwangerschaften unabhängig von der Schwangerschaftsdauer. ▬ Erstellung von klinikbezogenen und problemspezifischen Perinatalstatistiken ▬ Eigenverantwortlichkeit der Teilnehmer beim Ziehen von Schlussfolgerungen Die Entwicklung der Gesetzeslage und die damit verbundene Verpflichtung zur Qualitätssicherung und der zunehmende staatliche Einfluss bedeuteten zunächst eine Gefährdung des bestehenden bundesweiten Perinatalstatistik-Konzeptes. In persönlichen Gesprächen des Autors mit Herrn Dr. Scheinert, dem Vertreter des in der Qualitätssicherung federführenden VdAK, am 10. Juli 1995 in Norderstedt und nachfolgenden Gesprächen mit dem Bundesministerium für Gesundheit beziehungsweise dem Bundeskuratorium für Qualitätssicherung konnte erreicht werden, dass die Perinatalerhebung in ihrer bestehenden Struktur in das zukünftige Konzept der Qualitätssicherung der SQS (Servicestelle Qualitätssicherung )übernommen wurde. Nachdem der Gesetzgeber die Einführung der Dokumentation der Diagnosen nach ICD-9 und der Eingriffe nach dem OPS 301 gefordert hatte, lag es nahe, die erforderliche Dokumentation mit der Perinatalerhebung zu kombinieren. Die Integration der Anforderungen an die Qualitätssicherung für Fallpauschalen und Sonderentgelte in die bisherige Perinatalerhebung war erheblich komplizierter als ursprünglich angenommen wurde und dauerte relativ lange. Die Umsetzung der Datenerfassung und -auswertung in moderne EDV-Systeme der Industrie forderte ebenfalls Zeit. Bis zum Wiederbeginn einer kreativen Tätigkeit dauerte es nach meiner Schätzung 7 Jahre ab Beginn der staatlichen Reglementierung.
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in Hamburg wurde die Teilnahme an der Perinatalerhebung durch Rechtsverordnung zur Pflicht gemacht.
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Kapitel 1 · Geschichte der Qualitätssicherung in der Geburtshilfe und Gynäkologie
Veranstaltungen und Publikationen Der Umgang mit Erfassungsbelegen, die weitere Datenverarbeitung und vor allem die Auswertung resultierender Statistiken wurden den teilnehmenden Kliniken in zahlreichen dezentralen Veranstaltungen vorgestellt. Insbesondere die Einführung EDV-gestützter Systeme verlangte nach Schulungen. Die enge Zusammenarbeit der bayerischen und niedersächsischen Kommissionen gründete sich auf Klausurtagungen, die seit 1980 jährlich abgehalten wurden. Hier wurde federführend für die Perinatalerhebungen der anderen Länder die Weiterentwicklung besprochen und etwa alle 5 Jahre sowohl Erfassungs- wie auch Auswertungsmodule an veränderte Fragestellungen und Kenntnisse angepasst. Als Beispiel der niedersächsisch-bayerischen Zusammenarbeit mag hier die retrospektive Kohortenanalyse zu möglichen Schädigungen in der Nachfolge der Tschernobyl-Katastrophe von 1986 dienen. Herr Dr. Thieme und Herr Dr. Lack hatten damals in einer methodisch anspruchsvollen Arbeit zeigen können, dass in 2 Vergleichsregionen mit unterschiedlich starker Strahlenbelastung während der Organogenese kein direkter Nachteil für das Outcome von Schwangerschaften entstanden war. Als weiteres Beispiel mögen die 1989 entwickelten neonatologischen Tableaux (Dr. Lack) genannt werden, die mittels indirekter Standardisierung eine wirksame und einfach zu berechnende Form der Risikoadjustierung für die Neonatalerhebung erlauben. Seit 1984 finden in München, erstmals auf Einladung der Bayerischen Landesärztekammer (Prof. Sewering) jährliche Perinatalkonferenzen statt, an denen Vertreter aller Landes-Projektgeschäftsstellen Deutschlands und ihrer Träger teilnehmen. Themen waren jeweils methodische Probleme, inhaltliche Weiterentwicklungen der Perinatalerhebung, sowie statistische Ergebnisse geburtshilflicher und pädiatrischer Auswertungen. 1998 wurde der Name in Münchner Konferenz für Qualitätssicherung-Geburtshilfe-Neonatologie-operative Gynäkologie geändert. Weitere Tagungen, die vorwiegend die Perinatalerhebung Bayerns zum Gegenstand hatten, wurden 1980 in Regensburg (J. Zander: Jahrestagung der Bayerischen Gesellschaft für Geburtshilfe und Frauenheilkunde) und 1992 in Amberg (D. Berg: 1. Interdisziplinäre Qualitätssicherungskonferenz) abgehalten. Ferner wurden zahlreiche Ergebnisse der Perinatalerhebung auf der Jahrestagung der Bayerischen Gesellschaft für Geburtshilfe und Frauenheilkunde 2000 in Landshut (H. Elser) vorgestellt.
Perinatal-Nachrichten Viele Perinatalkommissionen publizierten, ausgehend von Bayern 1991, jährlich ihre Ergebnisse und Auswertungen in Form von gebundenen Broschüren. Zusätzlich wurden bei aktuellen Anlässen auch sog. Telegramme an die teilnehmenden Kliniken und Ärzte versandt.
Publikationen Die Zahl wissenschaftlicher Publikationen, die sich auf Ergebnisse der Perinatalerhebungen gründen, ist nicht annähernd abzuschätzen. Sie dürfte in einer Größenordnung von 500-1000 liegen.
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Bereits 1977 publizierte das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland einen Bericht mit dem Titel Münchner Perinatal-Studie 1975. Weitere Hefte in dieser Reihe folgten 1980 (Münchner Perinatal-Studie 1975-1977) und 1982 (Wege zu einer verbesserten Perinatalversorgung). Besonders hervorzuheben ist die ARVO-YLLPÖ-Studie, eine bayerisch-finnische Studie zum Outcome verlegter Frühgeborener, die Klaus Riegel 1995 vorlegte.
Die Entwicklung der Qualitätssicherung in der früheren DDR Bis etwa 1980 hatte die ehemalige DDR bessere Ergebnisse in der Senkung der Säuglingssterblichkeit erreicht als die bundesrepublikanischen Länder. Danach waren die Ergebnisse in den alten Bundesländern geringfügig besser. Die beeindruckenden guten Ergebnisse der früheren DDR waren möglicherweise verursacht durch ▬ das umfassende System der Schwangerenbetreuung in Polikliniken und speziellen Schwangerschaftsbetreuungsstellen, ▬ die Konzentration der Risikogeburten, ▬ die Tätigkeit der Säuglingssterblichkeit-Kommissionen, ▬ die Orientierung auf den perinatologisch tätigen Frauenarzt und auf die neonatologische Spezialisierung des Kinderarztes, ▬ die systematische Verlaufsforschung im zentralen Forschungsprojekt Perinatologie, ▬ die Umsetzung der Ergebnisse in der Gesellschaft für perinatale Medizin. Die Richtlinien für die Schwangerenbetreuung vom 18.03.1988 (Verfügungen und Mitteilungen des Ministeriums für Gesundheitswesen der DDR) legten die Rahmenbedingungen fest und ordneten an »Die Schwangerenbetreuung wird in Schwangerenbetreuungsstellen durch Fachärzte für Gynäkologie und Geburtshilfe gemeinsam mit Hebammen und Fürsorgerinnen durchgeführt«. Diese Stellen waren entweder einem Krankenhaus, einer Poliklinik oder einer Ambulanz angeschlossen. Eine Reihe von körperlichen, laborchemischen und mindestens 3 Ultraschalluntersuchungen wurden in der Richtlinie für die Schwangerenbetreuung empfohlen. Bestimmte Indikationen zogen besondere medizinische und fürsorgerische Betreuungsmaßnahmen nach sich. Risikogeburten wurden in verschiedenen Einrichtungen (Stufe I bis Stufe III) betreut. Es gab klare Indikationen für die frühzeitige Verlegung einer Schwangeren in ein Zentrum dieser 3 Stufen. Jeder Säuglingstod wurde durch eine Säuglingssterblichkeitskommission der entsprechenden geburtshilflichen Einrichtung, des Landkreises oder des Bezirks untersucht und in einer sehr selbstkritischen Diskussion in die Gruppen vermeidbar, bedingt vermeidbar und unvermeidbar eingestuft. 1969 wurde vom Ministerium für Gesundheitswesen das Forschungsprojekt Neonatologie (später Perinatologie) inauguriert. Die Tagungen der Forschungseinrichtung wurden auf einer Vielzahl von Jahrestagungen, Symposien und Arbeitsgesprächen der Gesellschaft für perinatale Medizin diskutiert und an die Kollegen weitervermittelt. Eine systematische landesweite Erfassung aller Schwangerschaft und Geburt fehlte also in den Ländern der früheren DDR. Durch die Konzentration auf Problemschwerpunkte der Geburtshilfe in Versorgungzentren konnten allerdings ebenfalls ausgezeichnete Ergebnisse erzielt werden.
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Kapitel 1 · Geschichte der Qualitätssicherung in der Geburtshilfe und Gynäkologie
Qualitätssicherung operative Gynäkologie Die Anfänge der Qualitätssicherung in der operativen Gynäkologie gehen auf Günter Stark aus Nürnberg zurück. Auf einem seiner jährlichen Symposien hatten 1977 die Teilnehmer beschlossen, sich an einer Studie zur Erfassung von Operationskomplikationen zu beteiligen. Von 119 angeschriebenen Kliniken hatten sich 85 mit insgesamt 7560 Betten beteiligt, das entsprach 10% der damaligen deutschen Frauenkliniken. Es wurden insgesamt 150.000 operative Eingriffe ausgewertet. Die Struktur dieser Qualitätssicherungsmaßnahmen litt unter der Vielzahl der erfassten Eingriffe mit ihren verschiedenen Kombinationen mit Nebeneingriffen. So zeigte sich, dass einer der Standardeingriffe der Gynäkologie, die Hysterektomie, wegen ihrer vielen Kombinationsmöglichkeiten und unterschiedlichen Indikationen für eine Qualitätssicherungsanalyse fast völlig ungeeignet war. Anfang 1984 hat Helmut Koester, Dortmund, mit einer Studie begonnen, die nur 3 exemplarische Eingriffe zum Gegenstand hatte. Allerdings wurden neben Komplikationen auch Indikationsstellung und der Ort der Durchführung (klinisch oder ambulant) erfasst. Diese Studie wurde durch die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe unterstützt und es kam zum Einsetzen einer Kommission, der die Herren Koester, Berg, Rauskolb, Scheidel und Selbmann angehörten und die unter der professionellen Leitung von Herrn Prof. Geraedts stand. Unterstützt wurde die Studie QSgyn vom Bundesministerium für Gesundheit. Ziele des Projektes, das auf den Erfahrungen der Pilotstudie 1984 von Eichhorn, Koester, Selbmann, ferner auf den von Stark gemachten Erfahrungen basierte, waren unter anderem: ▬ Entwicklung geeigneter Instrumente für den Routineeinsatz zur Erfassung qualitätsrelevanter Daten durch Papierbelege und EDV-Systeme ▬ Entwicklung geeigneter Qualitätsindikatoren für die externe und interne Qualitätssicherung ▬ Entwicklung von Qualitätsmonitoren für die interne Qualitätskontrolle und Problemerkennung ▬ Information der teilnehmenden Kliniken über Qualitätsunterschiede ▬ Unterweisung der Teilnehmer in Techniken zur Qualitätsverbesserung Für das Projekt QSgyn waren etwa 50 Kliniken mit insgesamt etwa 50.000 operativen Eingriffen geplant. Die Auswahl der Studienteilnehmer erfolgte aus einem Pool von 150 Kliniken, größtenteils aus dem Raum Nordrhein-Westfalen. Hinzu kamen jeweils eine Klinik aus Bayern, Hamburg, Niedersachsen, Hessen und Thüringen. Beteiligt wurden Belegabteilungen, Tageskliniken und gynäkologische Abteilungen unterschiedlicher Größenordnung. Es wurden Qualitätsindikatoren entwickelt, die der Rumba-Regel folgten (Qualitätsindikatoren sollten relevant, understandable, measurable, behaviourable und achievable sein). Mit Qualitätsindikatoren betrachtete Aspekte sollten mit hoher Frequenz durchgeführt, mit hohem Risiko behaftet oder allgemein problemträchtig sein. Sie sollten hinsichtlich Fallzahl und abgebildeter Variabilität zwischen den Kliniken für eine weitere Verwendung geeignet sein. So entstand ein Set von 25 Qualitätsindikatoren, von denen einige genannt seien: ▬ Anteil Revisions-Operationen unter allen Ersteingriffen ▬ Anteil von Fällen mit Organverletzung unter allen Fällen mit laparoskopischen Operationen ▬ Anteil der Fälle ohne histologische Organpathologie unter allen Fällen mit isolierten Adnex-Eingriffen (außer Sterilisation)
39 Gesetze und Verordnungen
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▬ Anteil der Fälle mit Organverletzung unter allen Fällen mit vaginaler Uterusoperation ▬ Anteil der Fälle mit Hormonrezeptor-Analyse unter allen Fällen mit Mammakarzinom ▬ Anteil der Fälle mit geplanter abjuvanter Therapie unter allen Fällen von Mammakarzinom mit positiven Lymphknoten Mit Hilfe dieser Indikatoren konnte auch der Prozess der Indikationsstellung zur Operation in vielen Fällen überprüft werden. Die Ergebnisse wurden in sog. Qualitätsmonitoren für jede Klinik dargestellt. Ein Qualitätsprofil zeigte die Ausprägungen aller Qualitätsindikatoren für die jeweilige Klinik. Das Ziel der grafischen Darstellung war nicht die Orientierung am Mittelmaß, sondern vielmehr an einem definierten oder noch zu definierenden Qualitätsoptimum. Gezeigt wurde die Ausprägung des jeweiligen Qualitätsindikators in Bezug zu dem aller Kliniken. So konnte jede teilnehmende Klinik den eigenen Standort im Gesamtkollektiv erkennen und evtl. Abweichungen zu korrigieren versuchen. Die zuständige Fachgesellschaft, die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe wurde ersucht, durch Leitlinien die Sollwerte der geforderten Qualität zu definieren.
Gesetze und Verordnungen4 Als Ausdruck unzureichend vorausschauender Gesetzesentwicklung entstand eine ganze Reihe weiterer Gesetze zur Qualitätssicherung, wobei unter Reform häufig bestenfalls Nachbesserung zu verstehen ist. Von wesentlicher Bedeutung ist die Tatsache, dass die bisherige freiwillige und ärztlich finanzierter Qualitätssicherungsmaßnahmen Perinatologie jetzt auf gesetzlicher Grundlage, verbindlich und sanktionsbewehrt durchzuführen ist. 1989 wurde in den §§ 137 und 112 SGB V die Teilnahme an der externen Qualitätssicherung für den stationären Bereich verpflichtend. Mit der Bundespflegesatzverordnung und der Einführung von Fallpauschalen und Sonderentgelten wurde die Verpflichtung verbunden, das geänderte Entgeltsystem qualitätssichernd zu begleiten. Insgesamt ist die Liste der gesetzlichen Vorgaben zur Qualitätssicherung in deutschen Krankenhäusern lang: ▬ 1989 Gesundheitsreformgesetz Nach § 137 SGB V (in Verbindung mit § 112 SGB V) werden auf Landesebene 2-seitige Verträge über vergleichende Qualitätssicherung für Krankenhäuser ohne Beteiligung ärztlicher Institutionen geschlossen. ▬ 1993 Gesundheitsstrukturgesetz (§ 137 SGB V) Es werden auf Landesebene 3-seitige Verträge unter Beteiligung der Ärztekammern und Krankenpflegeberufe geschlossen. Davon unbeschadet war das Recht, Qualitätssicherungsgremien und Projektgeschäftsstellen auf Landesebene zu betreiben, Auswertungen durchzuführen und die Teilnehmer zu beraten. Als erstes Bundesland schloss Bayern im April 1995 einen 3-seitigen paritätischen Vertrag zwischen Landesärztekammer, Krankenkassen und Landeskrankenhausgesellschaft ab, der die Qualitätssicherung stationärer Leistungen sichern sollte. Im November fand die 4
Für die Zusammenstellung der gesetzlichen Regelungen bin ich Frau Dr. Kastenholz vom Bundesministerium für Gesundheit zu großem Dank verpflichtet.
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Kapitel 1 · Geschichte der Qualitätssicherung in der Geburtshilfe und Gynäkologie
konstituierende Sitzung der Bayerischen Arbeitsgemeinschaft für Qualitätssicherung im stationären Bereich (BAQ) statt. ▬ 1997 2. GKV-Neuordnungsgesetz BÄK, GKV, DKG und GKV bildeten eine Arbeitsgemeinschaft zur Abstimmung über einheitliche Qualifikations- und Qualitätssicherungsanforderungen (§ 137b SGB V), dabei erarbeiteten BÄK, GKV und DKG Empfehlungen über besondere Qualitätssicherungsmaßnahmen für ärztliche Leistungen. GKV und DKG entwickelten einheitliche Rahmenempfehlungen zur Auswahl dieser Leistungen und zur Umsetzung der von der BÄK beschlossenen Anforderungen an die Qualitätssicherung und deren Prüfung (§ 137a SGB V). Mittelfristig mussten bis zum 01.01.1996 Qualitätssicherungsmaßnahmen für alle Leistungen definiert sein, die durch Fallpauschalen und Sonderentgelte (FP/SE) bezahlt wurden. Das 2. GKV-Neuordnungsgesetz vom 01.07.1997 änderte die Situation, als die Bundesärztekammer für die Qualitätssicherung der ärztlichen Berufsausübung als 3. Vertragspartner in den bestehenden Rahmenvertrag einzubeziehen war. Im September wurde auf der Basis des zum 01.07.1997 in Kraft getretenen § 137a eine entsprechende Zusatzvereinbarung zwischen jetzt 3 Vertragspartnern geschlossen. Entsprechend § 3 (1) der Zusatzvereinbarung von 1997 hat das Bundeskuratorium Fachgruppen eingerichtet. Jeder Vertragspartner benennt 2 Ärzte als Mitglieder der jeweiligen Fachgruppe, einen weiteren je Fachgruppe die zuständige wissenschaftliche Fachgesellschaft, in unserem Fall die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe. Die administrative Betreuung der Fachgruppen erfolgte bis einschließlich 1999 durch die Servicestelle Qualitätssicherung (SQS). Das Gesetz verpflichtet alle Krankenhäuser zur Qualitätssicherung aller dort erbrachten Leistungen. Das Bundeskuratorium ist oberster Auftraggeber für Qualitätssicherungsmaßnahmen und bedient sich als Exekutivstelle der SQS. ▬ 2000 GKV-Gesundheitsreformgesetz Bei der Reform 2000 des SGB V strich die rotgrüne Regierungskoalition diesen § 137a, der die gleichberechtigte Beteiligung der Bundesärztekammer vorsah. In § 137 Absatz (1) wird erneut lediglich eine Beteiligung der Bundesärztekammer an Maßnahmen der Krankenkassen und der Deutschen Krankenhausgesellschaft zur Qualitätssicherung gefordert. In Absatz 3, der die Leitungsstruktur der Qualitätssicherung definiert, taucht die Bundesärztekammer überhaupt nicht mehr auf. Bemerkenswert ist in diesem Fall das Verhalten der Deutschen Krankenhausgesellschaft und der Spitzenverbände der Krankenkassen: Die Vereinbarungspartner haben die Bundesärztekammer in Erweiterung der gesetzlichen Vorgaben über eine formale Beteiligung hinaus wie einen gleichwertigen Partner einbezogen. Abweichend von der gesetzlichen und vertraglichen Regelung, Qualitätssicherungsmaßnahmen nur für Leistungen einzuführen, die nach Fallpauschalen und Sonderentgelten bezahlt werden, hat das Bundeskuratorium beschlossen, die Perinatalerhebung als geburtshilfliches Totalerfassungssystem ebenso unverändert zu übernehmen wie, stillschweigend auch die Neonatalerhebung. Die Servicestelle Qualitätssicherung wurde 2001 zur Bundesgeschäftsstelle Qualitätssicherung in der stationären Versorgung (BQS). Auf Landesebene entstanden ebenfalls Geschäftsstellen mit zum Teil eigener Aufgabenstellung. Insbesondere obliegt ihnen die Umsetzung der statistischen Auswertungen und der Kontakt mit den teilnehmenden
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Kliniken. Die Definition von Erfassungs- und Auswertungsmerkmalen bleibt Sache der BQS (und ihren Fachgruppen für Geburtshilfe, Neonatologie, operative Gynäkologie und Mamma-Chirurgie), die auch die zentrale bundesweite Auswertung übernimmt. Die bisherigen Fallpauschalen und Sonderentgelte wurden durch ein Diagnose-RelatedGroup-System (DRG) zur Leistungsbezahlung abgelöst. Das Jahr 2001 galt als Kalkulationsjahr, 2002 als Erprobungsjahr. Ab 2005 ist das System bindend. ▬ 2002 Gesetz zur Reform des Risikostrukturausgleichs Es führt Disease-Management-Programme (DMP) mit Anforderungen an die Qualitätssicherung nach § 115b SGB V ein5. ▬ 2002 Fallpauschalengesetz (Mindestmengen) Das Gesetz verlangt die Erstellung von 2-jährigen Qualitätsberichten der Kliniken (erstmals 2004). Ferner führt es einen Katalog von planbaren Leistungen ein, bei denen ein Zusammenhang zwischen Qualität und Menge bestehen könnte und definiert verpflichtende Mindestmengen für ausgewählte Leistungen. ▬ 2004 GKV-Modernisierungsgesetz Der § 137e SGB V wird aufgehoben. Unter Beteiligung von PKV, BÄK und Pflegeverbänden legt der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) alle Anforderungen der Qualitätssicherung für Krankenhäuser fest. ▬ 2007 GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (iqwig) Der G-BA erhält den Auftrag, Qualitätssicherung in der Regel sektorenübergreifend zu gestalten. Das Gesetz (§ 137a SGB V) regelt ferner die Beauftragung einer unabhängigen Institution (iqwig) zur – Messung und Darstellung der Versorgungsqualität,– – Entwicklung der Dokumentation für die einrichtungsübergreifende Qualitätssicherung, – Beteiligung an einrichtungsübergreifender Qualitätssicherung, – Darstellung der Ergebnisse der Qualitätssicherung. ▬ 2009 Krankenhausfinanzierungsreformgesetz Die Vorgaben der Qualitätssicherung gelten grundsätzlich für alle Patienten unabhängig von ihrer Krankenversicherung. Die PKV, BÄK und Pflegevertreter werden bei den Richtlinien des G-BA zur Qualitätssicherung beteiligt (§ 137 SGB V).
Die Situation heute und Ausblick Die Bundesebene (BQS) ist verantwortlich für die bundesweite Auswertung der bei den Teilnehmern erfassten Daten. Sie ist allerdings nicht in der Lage, eine einzelne teilnehmende Abteilung zu erkennen. Auf Landesebene (in Bayern: BAQ) überwacht ein Kuratorium nach gesetzlicher Vorgabe mit Gleichberechtigung aller Partner die Durchführung der Qualitätssicherungsmaßnahmen in allen Gebieten der Medizin. Fachspezifische Fachgruppen aus von der jeweiligen Fachgesellschaft benannten Mitgliedern, Vertretern der Krankenkassen, der Bayerischen Krankenhausgesellschaft und der Pflegeverbände analysieren die eingegangenen Daten aus dem eigenen Bundesland und kümmern sich um die Umsetzung der daraus gewonnenen Erkenntnisse.
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Meines Erachtens ein 1. Schritt in Richtung einer Staatsmedizin.
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Kapitel 1 · Geschichte der Qualitätssicherung in der Geburtshilfe und Gynäkologie
In Bayern, wie auch in anderen Bundesländern, werden Konsequenzen aus den Krankenhaus-spezifischen Ergebnissen gezogen: ▬ Dafür werden Qualitätsindikatoren für die Identifikation derjenigen Kliniken genutzt, bei denen gehäufte und/oder gravierende Abweichungen vom Sollwert bestehen. Zunächst werden diese Abteilungen aufgefordert, sofern die Ausprägung der Qualitätsindikatoren zu wünschen übrig lässt, ihre Abweichungen vom wünschenswerten Sollwert schriftlich zu begründen. Häufig liegen Dokumentationsprobleme vor. ▬ In einem nächsten Schritt werden sog. strukturierte Dialoge mit den teilnehmenden Kliniken angeboten und in der Regel positiv aufgenommen. Derartige Gespräche finden in Kliniken und Abteilungen statt, die in der Ausprägung ihrer Qualitätsindikatoren Mängel signalisieren, aber auch mit solchen, die durch besonders gute Leistungen auffallen (Benchmarking). Nach eigenen Erfahrungen sind diese Gespräche außerordentlich wertvoll und nützlich. So konnte in vielen Fällen die personelle, organisatorische und apparative Ausstattung von geburtshilflichen Abteilungen verbessert werden. ▬ Theoretisch ist daran zu denken, dass Teilnehmer, die über mehrere Jahre hinweg durch eine geringe Ausprägung der Qualitätsindikatoren auffallen, dem sog. Kuratorium (Lenkungsgremium) gemeldet werden, dass seinerseits Sanktionen verfügen könnte. Meines Wissens ist das bisher nicht der Fall gewesen. Im Rahmen einer europaweiten Ausschreibung hat das AQUA-Institut 2009 den Zuschlag als fachlich unabhängige Institution im Sinne des § 137a SGB V erhalten. Seine Aufgabe besteht in der Unterstützung des G-BA bei der Erfüllung seiner gesetzlichen Aufgaben, insbesondere bei der Fortführung und Fortentwicklung der bisher sektoralen Qualitätssicherung hin zur Durchführung einer sektorenübergreifenden Qualitätssicherung. Das bisherige (BQS)-Verfahren, das auf die stationäre Versorgung beschränkt war, soll zum 01.01.2010 übernommen werden. Welche Auswirkungen auf Strukturen und Inhalte unserer fachspezifischen Qualitätssicherungsinstrumente entstehen werden, ist unbekannt. Mit ziemlicher Sicherheit kann erwartet werden, dass sie erheblich abgespeckt werden. Damit droht meines Erachtens die Gefahr, dass Informationen für den strukturierten Dialog nur noch unzureichend verfügbar sind und vor allem, dass das Problem der Mehrfachdokumentation verschärft wird, nämlich die getrennte Erfassung von ▬ klinischer und fallspezifischer medizinischer Dokumentation, ▬ der Dokumentation für Qualitätssicherung und ▬ der Dokumentation für DRGs. Ziel ist es, die Qualitätsanforderungen beider Sektoren, stationär und ambulant, künftig sinnvoll aufeinander abzustimmen, um im Interesse von Patienten und Ärzten eine bessere und effizientere Versorgungsqualität zu erreichen. Projektverantwortlich ist das AQUA-Institut, Göttingen. Weitere Einzelheiten sind unter http://www.sqg.de/ abrufbar.
Zusammenfassung Qualitätssicherung ist ein uraltes Instrument zur Verbesserung menschlicher Leistungen. In der Geburtshilfe, die für die statistische Erfassung von Daten besonders geeignet ist, entwickelte sich aus bescheidenen Anfängen in den 70-Jahren des letzten Jahrhunderts die bundesdeut-
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sche Perinatalerhebung, die zum Schluss etwa 96% aller bundesdeutschen Geburten erfasste. Ende der 60-Jahre entstanden auf gesetzlicher Basis Qualitätssicherungsmaßnahmen in allen Fachgebieten der Medizin, so auch in der Geburtshilfe, der operativen Gynäkologie und der Mamma-Chirurgie. Die Entwicklung wird beschrieben und es wird versucht, an der Entwicklung maßgeblich beteiligte Persönlichkeiten zu würdigen.
Literatur Eichhorn S, Koester H, Selbmann HK (1989) Qualitätssicherung in der operativen Gynäkologie. Ergebnisse der Pilotstudie 1984. Materialien und Berichte der Robert Bosch Stiftung. Bd. 31. Bleicher Verlag, Gerlingen Gmyrek D, Link M, Dittmer A et al. (1990) Wie gut war die DDR-Perinatologie? Ärztliche Praxis 42:12-16 Gmyrek D, Link M (1991) Säuglingssterblichkeit in der ehemaligen DDR und der Bundesrepublik – wie geht es weiter? Monatsschrift Kinderheilkunde 139:303-306 Link M, Gmyrek D (1994) Die Einzelfallanalyse als Methode der Qualitätssicherung in der Perinatologie. Erfahrungen aus der Tätigkeit der Kommissionen der Säuglings- und Kindersterblichkeit in der ehemaligen DDR. Frauenarzt 35:778-780 Stark G (1987) Qualitätssicherung in der operativen Gynäkologie. Arch Gynec Obstet 242: 42-47
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Vom Lehrbuch zum Mausklick Ausbildung, Weiterbildung, E-Learning Urs Haller
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Kapitel 2 · Vom Lehrbuch zum Mausklick
Einleitung
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Die Wandlungen des Medizinstudiums und der Medizin selbst spiegeln eine lange und keineswegs geradlinige, z. T. konfliktreiche Entwicklung wider, die über zahlreiche Umwege und auch Irrwege ging. In jahrzehntelangen Debatten um Reformen des Medizinstudiums und der ärztlichen Weiterbildung schlug sich die zunehmende Aufspaltung einerseits in hochdifferenzierte Spezialfächer und andererseits in den Kernbereich medizinischer Grundaufgaben nieder. So erfuhr auch das Fachgebiet der Frauenheilkunde zunehmend eine Differenzierung in Spezialgebiete, was sich sowohl in ständig im Wandel begriffenen Weiterbildungs-Konzepten als auch im Ausbildungs-Curriculum der Studierenden niederschlug. Dass dieser Prozess der Stoffvermittlung dynamischer denn je war, zeigt die moderne Entwicklung von internetbasierten, interaktiven E-Learning-Konzepten. Lehrtafeln, Fotosammlungen, vor allem aber Lehrbücher aus den Hinterlassenschaften von medizinhistorischen Institutionen lassen erkennen, wie in der Vergangenheit gelehrt und gelernt wurde. Die Zunahme des Fachwissens und der Zahl der Studierenden erforderten die Integration neuer Medien in der Wissensvermittlung, von Lehrtafeln über Moulagen, Phantomen hin zu Filmen, audiovisuellen Techniken mit Computeranimationen und schließlich zum interaktiven E-Learning per Mausklick als Grundlage zur zeitgemäßen Didaktik und Lerntechnologie des Blended-Learning. In diesem Sinn gehört die alte Ordinarienuniversität, in der jeder Professor sein Fachgebiet vom Katheder »liest«, der Vergangenheit an. Bevor auf die Methoden der modernen Wissensvermittlung in der Medizin per Mausklick und Internet eingegangen wird, soll zum 125. Jahrestag des Bestehens der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) rückblickend beschrieben werden, wie in der Vergangenheit der letzten 125 Jahre im deutschen Sprachbereich vornehmlich über das Buch gelehrt und gelernt wurde, wenn auch nicht vergessen werden darf, dass schon immer der persönliche Kontakt vom Lehrer zum Schüler, sei es am Krankenbett, im Operationssaal (⊡ Abb. 2.1) oder im Hörsaal für die Aus- und Weiterbildung von größter Bedeutung war und auch heute noch ist.
⊡ Abb. 2.1. Um 1890: Hofrat Prof. Dr. Rudolf Chrobak mit seinen Schülern im Operationssaal, Radierung von Ferdinand Schmutzer, im Besitz der II. Universitäts-Frauenklinik Wien, aus Schaller A (1992) Die Wertheimklinik. Verlag Wilhelm Maudrich, Wien München Bern, S 57
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Das Lehrbuch Es geht hier nicht um die wissenschaftlichen Verdienste und die damit verbundenen Namen der meist männlichen Professoren, sondern um die Würdigung ihres Einsatzes für die Lehre, die ja erfahrungsgemäß immer im Schatten der Wissenschaft und der Forschung stand. In Berücksichtigung dieser Verdienste um das Lehrbuch sollen neben den Herausgebern die hochbegabten Zeichner, die jeweils für die subtilen Abbildungen verantwortlich waren, nicht unerwähnt bleiben. Der aus Zürich stammende Paul Zweifel, von 1876-1887 Direktor der Erlanger Universitäts-Frauenklinik, von 1887-1921 als Nachfolger von Carl Credé Ordinarius in Leipzig, war ein begeisterter Lehrer, der neben dem Lehrbuch für Hebammen (mit Leopold, 7. Auflage 1902) in vorbildlicher Weise seine Vorlesungen über klinische Gynäkologie mit 14 lithographischen Tafeln und 61 Figuren im Text im Verlag von August Hirschwald Berlin, herausgab. In der Vorrede zu seiner Erstausgabe 1892 stellt er anlässlich des Neubezugs der Klinik für Geburtshilfe und Frauenkrankheiten der Universität Leipzig fest, dass es keine bessere Gelegenheit gäbe als die Einweihung des neuen Instituts, um mit der Veröffentlichung von 15 Vorlesungen rückhaltlose Berichterstattung über die Tätigkeit der gynäkologischen Klinik in Leipzig in den ersten 5 Jahren seines Aufenthaltes darzubringen. Die Abbildungen sind ausnahmslos von ausgezeichneter Qualität von Herrn Bruno Keilitz auf Papier, z. T. auch auf Stein gezeichnet (⊡ Abb. 2.2).
⊡ Abb. 2.2. Schematische Zeichnung über das Verfahren bei der Abbindung der Ligg. lata, aus Zweifel P (1892) Vorlesungen über klinische Gynäkologie. Verlag von August Hirschwald, Berlin
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Kapitel 2 · Vom Lehrbuch zum Mausklick
Es ist beachtlich, wie sich Zweifel, z. B. im Zusammenhang mit der Ureterenverletzung, in schonungsloser Offenheit zum Advokat für Qualitätssicherung machte und so Pionierarbeit leistete für das heute moderne Critical Incident Reporting (CIR), das sich mit der Fehlerkultur in der Medizin befasst: »Die Verletzung der Ureteren ist ein Capitel, an dem sehr viele Veröffentlichungen über Uterusexstirpationen vorbeihuschen, wie der Schatten an der Wand. Kein Sachkundiger lässt sich durch die zarte Behandlung dieses Themas täuschen! Weil ich für die medicinischen Veröffentlichungen den Zweck nur erfüllt finde, wenn rückhaltlose Offenheit auch für die vorgekommenden Missgriffe und Unglücksfälle aus dem ganzen Inhalt hervorgeht, so stehe ich keinen Augenblick an das Capitel »Ureterenverletzung« bei der Totalexstirpation mit der Ausführlichkeit zu berücksichtigen, die allein für Andere Interesse bieten kann«. Nicht nur eine einflussreiche Persönlichkeit mit scharfem Verstand, sondern auch ein begabter Hochschullehrer, war Prof. Ernst Bumm, 1896-1901 Direktor der Universitäts-Frauenklinik Basel, 1901-1903 in gleicher Position in Halle, ab 1904 in Berlin, zuerst als Direktor der Frauenklinik an der Charité, ab 1910 an der neu erbauten Universitäts-Frauenklinik Artilleriestrasse. Es ist nicht erstaunlich, dass er als einer der Ersten ein zukunftsweisendes Lehrbuch unter dem Titel Grundriss zum Studium der Geburtshilfe veröffentlichte, das 14 Auflagen erfuhr und auch ins Russische, Spanische, Ungarische, Italienische und Französische übersetzt wurde. Der Inhalt ist in Form von 28 Vorlesungen abgefasst, mit dem Ziel »der Veranschaulichung des Textes durch Abbildungen mehr Platz einzuräumen, als bisher in den deutschen Lehrbüchern der Geburtshilfe üblich war«. Es gelang ihm dabei, mit hoher Kunstfertigkeit in der zeichnerischen Wiedergabe die Vielfalt der geburtshilflichen, z. T. komplizierten Situationen, zur Darstellung zu bringen. Dazu fertigte er auf Grund genauer Messungen mit Tastzirkel und Bandmaß viele Hunderte von Zeichnungen an, die dann durch Albert Mayer, einen jungen Künstler aus Basel, umgesetzt wurden. So entstanden über 600 bildliche Darstellungen im Text und auf 3 Tafeln, die sich alle durch höchste Qualität auszeichneten (⊡ Abb. 2.3). Von Interesse ist das Bekenntnis, das Bumm zu seinem Werk im Vorwort zur 1. Auflage 1902 niederschrieb: »In den theoretischen Vorlesungen über Geburtshilfe wird jetzt wohl überall von dem Prinzipe des »Anschauungsunterrichtes« der ausgedehnteste Gebrauch gemacht. Es wird niemand mehr einfallen, den Geburtsmechanismus zu beschreiben, man zeigt und erläutert ihn am Phantom. Um dasselbe Prinzip in einem Lehrbuche durchzuführen, braucht man viele und instruktive Abbildungen. Diese sind allerdings nicht leicht zu beschaffen und ich gestehe, dass mir die Abbildungen viel mehr Mühe gemacht haben, als die Abfassung des Textes«. Neben diesen Beispielen aus der Zeit der Wende zum 20. Jahrhundert, ließe sich in der Folge eine ganze Reihe weiterer ausgezeichneter akademischer Lehrer und Lehrbücher aufzählen, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, die aber Erwähnung verdienen (⊡ Tab. 2.1). Als nächster bedeutender Schritt auf dem Gebiete der Weiterbildung in unserem Fach, erschien im Jahr 1960 die Erstauflage des Atlas der gynäkologischen Operationen von Prof. Otto Käser, zusammen mit Franz A. Iklé, im Thieme Verlag. Mit diesem Werk bestätigte Käser, damals Chefarzt an der Frauenklinik des Kantonsspitals St. Gallen, seinen Ruf als herausragender gynäkologischer Operateur. Hier seien auch die hohen zeichnerischen Fähigkeiten von K.-H. Seeber erwähnt (⊡ Abb. 2.4). Bald nach dieser Erstauflage wurde Käser an die Universitäts-Frauenklinik Frankfurt berufen, wo er 1962-1969 seine operative Schule aufbaute und weiterhin für Neuauflagen seines begehrten Atlas sorgte, weil die Autoren erkannten, dass eine Operationslehre einen zeitlich beschränkten Horizont hat. 1969 folgte Käser dem
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⊡ Abb. 2.3. Verschleppte Querlage, aus Bumm E (1902) Grundriss zum Studium der Geburtshilfe. JF Bergmann, Wiesbaden
Ruf an den Lehrstuhl der Universität und als Direktor der Universitäts-Frauenklinik Basel. Auch hier folgten weitere Auflagen. Das Entgegenkommen des Thieme-Verlages für das bis in die neuste Auflage so aufwändige Referenzwerk der gynäkologischen Operationen verdient Beachtung.
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Kapitel 2 · Vom Lehrbuch zum Mausklick
⊡ Tab. 2.1. Erstauflagen deutschsprachiger Lehr- und Handbücher (nicht vollständig)
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Autor
Lehrbuch
W. Stöckel (1920)
Lehrbuch der Geburtshilfe. G. Fischer, Jena
H. Martius (1936)
Lehrbuch der Geburtshilfe. Thieme, Stuttgart
Th. Koller (1944)
Lehrbuch der Geburtshilfe. Schwabe, Basel
H. Schmitt-Matthiesen (1976)
Lehrbuch der Gynäkologie und Geburtshilfe. F. K. Schattauer, Stuttgart
K. Knörr, F.K. Beller, Ch. Lauritzen, H. KnörrGärtner (1979)
Lehrbuch der Gynäkologie und Geburtshilfe. Springer, Heidelberg
G. Martius, M. Breckwoldt, A. Pfleiderer (1994)
Lehrbuch der Gynäkologie und Geburtshilfe. Thieme, Stuttgart
H. Schneider, P. Husslein, K.T.M. Schneider (1999)
Geburtshilfe. Springer, Heidelberg
J. Baltzer, K. Friese, M. Graf, F. Wolff (2004)
Praxis der Gynäkologie und Geburtshilfe. Thieme, Stuttgart
M. Kaufmann, S. Costa, A. Scharl (2006)
Gynäkologie. Springer, Heidelberg
Autor
Handbuch
J. Halban, L. Seitz (1924)
Biologie und Pathologie des Weibes. Urban & Schwarzenberg, Berlin Wien (8 Bände)
O. Käser, V. Friedberg, K.G. Ober, K. Thomsen, J. Zander (Hrsg, 1967)
Gynäkologie und Geburtshilfe, Bd II, Georg Thieme, Stuttgart (3 Bände)
G. Döderlein, H. Schwalm (1972)
Klinik der Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Urban und Schwarzenberg, München Wien Baltimore
H. Wulf, H. Schmidt-Matthiesen (1980)
Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Urban & Schwarzenberg, München
Die Vereinigung deutschsprechender Professoren und Privatdozenten in der Geburtshilfe und Gynäkologie wurde 1957 auf Anregung von Prof. Th. Koller, Basel gegründet, wobei die Selbstbestimmung Europas auf eigene Werte das Ziel bildete, das durch Zusammenarbeit und Erfahrungsaustausch über die Landesgrenze hinaus im gleichen Sprach-und Kulturbereich erreicht werden sollte. An der 1. Tagung in Basel im Jahre 1957 sind 181 Teilnehmer zusammengekommen. Sie vertraten 9 europäische Länder mit einem Einzugsgebiet von 114 Mio. Einwohnern und etwa 500.000 Patientinnen pro Jahr. Der Tradition nach dient die Akademische Tagung deutschsprechender Hochschullehrer, die 2009 bereits zum 21. Mal ausgetragen wurde, neben dem grenzüberschreitenden Meinungs- und Erfahrungsaustausch vor allem als Forum für jüngere Professoren, Privatdozenten und Habilitanden. Gerade in der heutigen Zeit sind wir in unserem Fach verstärkt darauf angewiesen, dass unsere akademischen Lehrer mit ihrem wissenschaftlichen Nachwuchs zusammen die Diskussion pflegen, sich den Problemen, nicht zuletzt auch der Entwicklung der Lehre und ihrer Methoden stellen, nach Lösungen suchen und der Gynäkologie und Geburtshilfe neuen Aufschwung geben.
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⊡ Abb. 2.4. Abdominale Radikaloperation, Lypmphadenektomie. Entfernung des Fett-Bindegewebes aus der Fossa obturatoria, aus Käser O, Iklé FA (1960) Atlas der gynäkologischen Operationen. Georg Thieme Verlag, Stuttgart
Studieren per Mausklick Die Auseinandersetzung mit den modernen Informationstechnologien stellt in unserer rasch sich wandelnden Welt ein Muss dar, denn diese sind Bestandteil des täglichen Lebens geworden. Die Hochschulen bedienen sich seit Jahren zunehmend computerbasierter und internetgestützter Unterrichtseinheiten. Die Studierenden sind heute seit der Primarschule oder bereits im Kindergarten mit den multimedialen Möglichkeiten des Lernens und Lehrens vertraut und erwarten deshalb auch im tertiären Bildungsbereich die kompetente Anwendung einer zeitgemäßen Didaktik und Lerntechnologie. Den Dozierenden an Hochschulen eröffnet das moderne Spektrum der didaktischen Methoden ideale Möglichkeiten, Lerninhalte methodisch möglichst optimal zu erschließen. Unter E-Learning wird allgemein das Lernen mittels elektronischer Medien und mediendidaktisch aufbereiteter Lerninhalte verstanden. Hierbei sollen die elektronischen Lehrmittel möglichst auf Interaktion ausgelegt sein. Dadurch wird Studierenden die Gelegenheit zu einer mehrdimensionalen Erarbeitung der Lerninhalte geboten, was die persönliche Lernleistung wesentlich verbessern kann. Komplexität und kontinuierlicher Wissenszuwachs machen es in der akademischen Lehre unumgänglich, mit den aktuellsten E-Learning-Erkenntnissen und stetiger Anpassung zu arbeiten. So lässt sich in E-Learning-Angeboten höchste Aktualität der Inhalte erzielen.
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Kapitel 2 · Vom Lehrbuch zum Mausklick
E-Learning in der Medizin
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An der Medizinischen Fakultät Zürich verdichtete sich im Jahr 2001 die Strategie, vorhandene Lehrkonzepte der Lehrstuhlinhaber und Lehrverantwortlichen zu konzentrieren. Mittels Pilot-Entwicklungen sollte zudem verstärkt auf E-Learning-Konzepte der klinischen Medizin hingearbeitet werden. Die Alternative, ein Modell von außerhalb der Universität zu übernehmen, erwies sich nicht als sinnvoll. Zwar ließen sich aus Pionierprojekten anderer medizinischer Fakultäten und Medical Schools einige Anhaltspunkte zu den Anforderungen an E-Learning für die medizinische Lehre gewinnen. Doch Schlüsselfragen zur Umsetzbarkeit, Lernwirksamkeit und Nachhaltigkeit von E-Learning wurden vorerst kontrovers diskutiert, womit eine breit anerkannte Methode zum langfristigen Einsatz von E-Learning im Medizinstudium international damals noch nicht verfügbar schien. Bei der curriculären Planung legte die Fakultät fest, dass dem E-Learning ein ungefähr 15%-iger Anteil am Gesamtangebot der Lehrveranstaltungen zukommen solle. Als fachspezifische Herausforderung wurde die besonders hohe Dynamik und Komplexität der Lerninhalte geortet, wie sie für die klinische Medizin charakteristisch ist. Anders als in manch anderen Hochschuldisziplinen ist es in der Medizin wahrscheinlich, dass in Jahresfrist eine Aktualisierung der E-Learning Inhalte notwendig wird. Es ging somit nicht darum, die Präsenzlehre durch virtuellen Unterricht zu ersetzen, sondern darum, mit der Wahl des Blended-Learning den didaktischen Rahmen zu bestimmen. Dabei wird nicht jedem Themenbereich nur entweder eine Lehrveranstaltung der Präsenzlehre oder des E-Learnings zugeordnet. Beim Blended-Learning greifen pro Themenbereich beide didaktischen Methoden koordiniert ineinander, um sich in gegenseitiger Abhängigkeit zu verstärken.
Vor- und Nachteile des E-Learnings in der medizinischen Lehre Die Umsetzung von E-Learning an Hochschulen erwies sich als zeit- und budgetintensiv. Dies nicht zuletzt deshalb, weil oft erst durch eine Neuordnung im Curriculum konkrete Zeitfenster für E-Learning beziehungsweise strukturiertes Selbststudium freigemacht werden mussten. Politiker, die sich von E-Learning noch zum Ende des letzten Jahrhunderts willkommene Sparmöglichkeiten ausrechneten, wurden oft ernüchtert. Die Erfahrung hat gezeigt, dass multimediales E-Learning sich wesentlich aufwändiger und kostenintensiver als erwartet gestaltet, sodass ein flächendeckendes E-Learning-Angebot viele Hochschulbudgets wohl überfordern würde. Es schlägt dabei auch die für die Medizin typische Komplexität und Dynamik der akademischen Inhalte zu Buche. Ein minimalistisch produziertes E-Learning darf aber an Hochschulen nicht die Lösung sein, weil es dem akademischen Anspruch der Universität widersprechen würde. Auch kann der spezifische Vorteil von E-Learning-Angeboten nur durch besondere didaktische und fachliche Qualität zum Tragen kommen. So ist ein inhaltlich und didaktisch möglichst professionelles E-Learning anzustreben, selbst wenn es aus Gründen des finanziellen oder zeitlichen und personellen Aufwands nicht flächendeckend bereitgestellt werden kann. Ein deutlicher Mehrwert für Studierende wie für Dozierende entsteht beim BlendedLearning. Hier werden insbesondere die elementaren Lerninhalte zu E-Learning-Einheiten aufbereitet. So kann es gelingen, die Dozierenden in der Präsenzlehre vom Vermitteln solchen
53 Vor- und Nachteile des E-Learnings in der medizinischen Lehre
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Basiswissens zu entlasten, womit Raum gewonnen wird für Fallbesprechungen am Krankenbett und Patientenvorstellungen, welche am nächsten an der täglichen klinischen Realität angesiedelt sind. Dozierende der klinischen Medizin können die damit gewonnene Zeit maßgeblich dazu nutzen, den Studierenden persönlich ihre klinische Denk- und Handlungsweise vorzuleben: die vornehmste Aufgabe eines klinischen Dozenten! So kann eine Konzentration auf vermehrt berufs-und praxisbezogene Unterrichtsthemen sowie auf den verstärkten Dialog mit den Studierenden stattfinden. Regelmäßige Evaluationen durch die Studierenden gewährleisten, dass der Aufbau eines E-Learning-Portals nicht an den Bedürfnissen vorbei entwickelt wird, denn der heutigen Generation Studierender sind die Vorteile, aber auch die Risiken und Nebenwirkungen des E-Learnings sehr wohl bewusst. Bemerkenswert scheint eine Sensibilisierung gegenüber einer Online-Datenflut, die auf kein Lernziel hingerichtet ist. Die Studierenden können durch diese Problematik abgelenkt, überfordert und letztlich in ihrer gesamten Lernmotivation nachteilig beeinflusst werden. Auch die Anforderungen an die Dozierenden ändern sich mit dem Einsatz von ELearning: Statt ihre Lehre mehr oder weniger alleine am Schreibtisch vorzubereiten, werden sie Teil eines Multimedia-Produktionsablaufs, mit der besonderen Herausforderung an das Kooperationsverhalten. Von Wichtigkeit ist natürlich die Frage, inwieweit eine Fakultät ihre E-Learning-Angebote so zu lenken vermag, dass die spezifischen didaktischen Errungenschaften des E-Learnings wie Interaktivität sowie generelle Eigenschaften, wie Lernzielorientiertheit, wirklich erreicht und sichergestellt werden. Neben fakultätsweiter Koordination ist auch die Kooperation zwischen den Kliniken und Instituten verschiedener Universitäten in E-Learning-Projekten von Vorteil. So können Entwicklungen und Betriebsbudgets im Kostenrahmen gehalten werden, indem nicht jede medizinische Fakultät die Anfangsinvestitionen neu tätigen muss. E-Learning bedeutet weit mehr als nur Lehrbücher ins Internet zu stellen und mit trendigem Design auszustatten. Massen von laufenden Texten, thematisch womöglich redundant, verfehlen Anspruch und didaktische Vision des E-Learnings. Ein bedeutender Vorteil des E-Learnings liegt in den Möglichkeiten, Inhalte nach praxisrelevanten Gestaltungsprinzipien, die experimentell auf Lernförderlichkeit geprüft sind, unter verschiedenen Perspektiven multimedial bzw. interaktiv darzustellen. Die große Verantwortung für die Realisation liegt bei den Dozierenden, den E-Learning-Verantwortlichen sowie den Multimedia-Produktionsteams. Hohe Grade an Interaktivität, Flexibilität und Aktualität kommen gerade an Hochschulen den heterogenen Lerninhalten in besonderem Maße entgegen. Die interaktiven Abläufe gestatten mehrdimensionale Lernprozesse. Spielerische Abläufe, welche Spaß machen, sollen das Lernen erleichtern. Eine automatische Bewertung am Computer, z. B. beim Lösen von interaktiven Selbsttestübungen, gestattet dabei die Selbstkontrolle der persönlichen Lernfortschritte. Interaktion mit der präsentierten Information kann eine zielgerichtete Auseinandersetzung mit dem Stoff ermöglichen, anstelle einfachen Auswendiglernens. Das soll zu einem verstehenden Wissen führen, denn Interaktivität ist ein spezifischer Erfolgsfaktor für das Lernen. Zu einem gegebenen Lerninhalt bieten E-Learning-Angebote klinisch-medizinischer Auslegung deshalb bevorzugt mehrdimensionale Komponenten, nämlich: 1. Informationsvermittlung des Grundstoffes 2. Wissensvertiefung und interaktive multimediale Visualisierung 3. Repetition, Selbstkontrolle und Prüfungsvorbereitung 4. virtuelle klinische Falltrainings auf der Basis des Problem Based-Learning (PBL)
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Eine weiterer Vorteil des E-Learnings bietet die Möglichkeit, die Inhalte direkt mittels Updates stets auf dem Stand des Wissens zu halten. Das Privileg einer Online-Publikationsmethode ist es, den wissenschaftlichen Fachinhalt – zwischen traditionellen Buchdeckeln ansonsten auf Datum des Redaktionsschlusses limitiert – nun mit viel größerer Aktualität anbieten zu können. Online-Inhalte verlieren allerdings ihren spezifischen Sinnvorsprung, wenn sie nicht aktuell gehalten werden. Damit E-Learning wirklich mit Mehrwert von den Studierenden genutzt werden kann und Akzeptanz erlangt, bedarf es des Zusammenspiels mehrerer Faktoren, welche leicht außer Acht zu geraten drohen: ▬ Auf Präsenzveranstaltungen abgestimmte Onlineangebote, welche dem tatsächlichen vorläufigen Ausbildungs- und Wissensstand der Lernenden entsprechen ▬ motivierendes, attraktiv lernfreundlich ausgestaltetes Grunddesign ▬ Selbstbeschränkung auf das wirklich Wissenswerte ▬ Präsentation aller Onlineinhalte mit klarer Systematik ▬ lückenlose Aktualität sämtlicher Online-Inhalte ▬ Ergebnisrückmeldung an die Lernenden bei Übungen und Simulationen ▬ Online-Inhalte in klinischen Fachbereichen aus der ganzen Palette des klinischen Anschauungsmaterials, wie Grafiken, klinische Fotografien, Videosequenzen und problemorientierte Fallbeispiele mit interaktivem Kommentar
Das Beispiel EGONE Ein besonders weit entwickeltes Modell für Mediziner ist EGONE6, das an allen 5 Universitäten der Schweiz und unterdessen an 6 Universitäten Deutschlands für die Studierenden der Medizin eingesetzte Online-E-Learning-Portal für Gynäkologie (Gynecology), Geburtshilfe (Obstetrics), Neonatologie (Neonatology) und Endokrinologie & Reproduktion (Endocrinology). EGONE wurde ursprünglich als E-Learning-Projekt unter der Bezeichnung Gynäkologie Online für die Studierenden der Medizin (Klinische Semester) an der UniversitätsFrauenklinik Zürich gegründet und während der Jahre 2001-2004 weiterentwickelt zu EGONE. Ab 2004 wurde der Inhalt des Konzeptes unter der Mitwirkung der UniversitätsFrauenkliniken und Neonatologischen Universitätskliniken von Basel, Bern und Lausanne erneut weiterentwickelt. Das Projekt wurde durch die Universität Zürich, Swiss Virtual Campus (SVC), Stiftungen, medizinische Dekanate und Frauenkliniken der Universitäten von Basel, Bern, Lausanne und Zürich mit einem Kostenaufwand von ca. 1,6 Mio. Franken finanziert. Der Stoff wurde von allen Lehrstuhlinhabern der erwähnten schweizerischen Universitäts-Frauenkliniken und Neonatologischen Universitätskliniken als Staatsexamensstoff erklärt und basiert auf dem Schweizerischen Lehr- und Lernzielkatalog, welcher seinerseits auf dem internationalen Vorbild des Dutch Blueprint (NL) aufgebaut ist. EGONE besitzt einen modularen Aufbau. Lernende können aus unterschiedlichen Komponenten diejenigen
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EGONE, E-Learning in Gynecology, Obstetrics, Neonatology and Endocrinology & Reproduction: das E-LearningPortal für Frauenheilkunde und Neonatologie. Projektleitung: U. Haller, unter Projektmitarbeit von H. Chr. Maag, M. Adé-Damilano; online via: www.vam.uzh.ch
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auswählen, die ihrem Wissensniveau entsprechen. Das Konzept besteht aus einem Skriptum und einem interaktiven Teil mit Aufgaben zur Selbstkontrolle, Bildgalerien, Videoclips und klinischen Fallbeispielen. Damit die nachhaltige Finanzierung gewährleistet werden konnte, hat die Schweizerische Fachgesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, SGGG gynécologie suisse, 2008 das Projekt und Konzept EGONE übernommen, mit der Auflage, dass EGONE für die Bedürfnisse der Weiter- und Fortbildung weiterentwickelt wird. So gestaltet sich EGONE neu wie folgt: ▬ EGONE basic ist das bestehende Projekt und ist das Produkt für die strukturierte Ausbildung der Studierenden in den Klinischen Semestern. EGONE basic soll für die Studierenden unentgeltlich sein. Der Inhalt ist ein Konsensprodukt der Lehrstuhlinhaber, ex officio verantwortlich für die akademische Lehre. EGONE basic ist in deutscher und französischer Sprache konzipiert und passwortgeschützt. Die Studierenden erhalten mit persönlichem Account Zugang zu EGONE basic (⊡ Abb. 2.5). ▬ EGONE plus ist das neu entwickelte Produkt für die strukturierte Weiterbildung zum Facharzt im Rahmen des Logbuches und für die Fortbildung der Fachärzte. EGONE plus ist in deutscher und französischer Sprache konzipiert und passwortgeschützt. Die Anwender von EGONE plus haben mit persönlichem Account Zugang zum ganzen EGONE gynécologie suisse Projekt, d. h. EGONE basic und EGONE plus. Die Produktion von EGONE erfolgt seit 2008 unter der Verantwortung der EGONE Kommission der SGGG und einem Produktionsteam.
⊡ Abb. 2.5. Begrüßungsbildschirm des E-Learning-Portals EGONE deutsch, Untertitel egone basic gynecology. Links am Rand die übrigen anzusteuernden Bereichen EGONE basic oder EGONE plus für die 4 Fachbereiche und tabellarische Übersicht über die Einsatzmöglichkeiten für egone basic gynecology: ERARBEITEN, ANWENDEN, FALLBEISPIELE. Rechts unter dem Begriff Inhalt ist das Angebot der dazu gehörigen interaktiven Tools für egone gynecology aufgelistet
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Struktur und Angebot von EGONE basic für die Ausbildung der Studierenden: ▬ Unter der Rubrik »Erarbeiten« befinden sich professionell ausgestattete Online-Skripte. ▬ Unter der Rubrik »Anwenden« können die Studierenden ihre durch das Skript erarbeiteten Kenntnisse überprüfen, indem sie in interaktiven Bildgalerien ihre Beurteilung abgeben, die Selbsttestaufgaben in den Repetitionstools lösen oder gar aus einer Großzahl von interaktiven Videosequenzen überprüfen, ob sie das erlernte Wissen verstanden haben. ▬ Unter der Rubrik »Problemorientierte klinische Fallbeispiele« kann beim Lösen von klinischen Fallbeispielen das theoretisch erworbene und bereits durch Selbsttest geprüfte Wissen in berufsbezogene Anwendungskompetenzen übergeführt werden. Für das richtige Lösen solcher Fallbeispiele können im Rahmen des Bologna-Projektes Kredit-Punkte vergeben werden (ECTS=European Credit Transfer System). Die Online-Skripte und das interaktive Konzept wurden von den Studierenden und von einem internationalen Evaluations-Gremium mehrfach evaluiert und mit dem Prädikat »hohe
⊡ Abb. 2.6. Das Design der online geschalteten Skripten unterstützt eine lernfreundliche Vermittlung des aktuellen Fachwissens. Am linken Bildrand interaktiver Index, der erlaubt gezielt Untertitel oder das ganze Thema anzuwählen. Der Hauptteil des Bildes wird eingenommen durch den Skripttext mit integrierten Abbildungen, Grafiken und Übersichtstabellen
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Lerneffizienz« ausgezeichnet. In Ergänzung zu den basic-Scripten für die Ausbildung der Studierenden sind für EGONE plus (Weiter-und Fortbildung) die Skripten entsprechend weiterführend oder mit Zusatzkapiteln versehen. Das Angebot bietet im Detail folgende Möglichkeiten: ▬ Zum Krankheitsbild im linken Bildschirmdrittel wird der interaktive Index gezeigt (⊡ Abb. 2.6). Damit lassen sich alle Lerninhalte wie Definitionen, diagnostische Vorgehensweise und Therapiestrategie punktuell oder gesamthaft aufrufen, je nachdem, ob gezieltes Nachlesen oder das Studium des gesamten Lerninhaltes benötigt wird. Die Hauptfläche des Bildschirms wird eingenommen vom Skript mit dessen integrierten Abbildungen und Übersichtstabellen. ▬ Zum Beispiel einer interaktiven Lernhilfe (Denksynopsis) zum Thema Gynäkologische Infektiologie, welche die spezifischen Symptom-Befund-Konstellationen bei unterschiedlichen Erregern darstellt, ⊡ Abb. 2.7. Die Lernenden wählen zunächst aus der Auflistung am rechten Rand einen Erreger, z. B. Candida-Pilz.
⊡ Abb. 2.7. Unter der Rubrik ANWENDEN wird der interaktive Bereich angesteuert. Unter der Rubrik SCRIPTREPI kann u. a. die Denksynopse Infektiologie angewählt werden. Durch Klicken am rechten Rand kann ein Erreger gewählt werden, z. B. Candida. Durch weiteres Klicken auf die klinischen Piktogramme, wird angezeigt, wie der Erreger diagnostiziert oder therapiert wird oder auch, ob er z. B. für ein ungeborenes Kind gefährlich ist. Das Klicken auf unterschiedliche Orte des weiblichen Genitales informiert, wo die Infektion und mit welchen Beschwerden in Erscheinung treten kann. Einzelne Antworten werden im Feld unten rechts zusätzlich mit Fotos (z. B. Mikroskop), die sich vergrößern lassen, dokumentiert. Ein Klicken auf grüne Pfeile lässt erkennen, über welche Stationen der Ausbreitungsweg der Infektion läuft
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– Durch Klicken auf die klinischen Piktogramme, z. B. Mikroskop etc., wird ihnen im freien Feld angezeigt, wie der Erreger diagnostiziert oder therapiert wird, oder auch, ob er z. B. für ein ungeborenes Kind gefährlich ist. – Einzelne Antworten werden im Feld unten rechts zusätzlich mit Fotos, die sich auch vergrößern lassen, dokumentiert. – Das Klicken auf unterschiedliche Orte des weiblichen Genitales informiert, wo die Infektion und mit welchen Beschwerden in Erscheinung treten kann. – Ein Klicken auf grüne Pfeile, etwa zwischen Scheide und Harnblase, zeigt an, über welche Stationen der Ausbreitungsweg der Infektion verläuft. – Durch Klicken auf das Gesicht, das den untersuchenden Arzt darstellt, erscheinen Leitbefunde. – Der Klick auf die Wellenlinien vor der Nase zeigt evtl. Geruchssymptome an. Am effizientesten setzen Studierende solche Werkzeuge ein, wenn sie zu allen dargestellten Piktogrammen versuchen, die Fragen für sich selbst zu beantworten, um daraufhin mit der Maus die entsprechenden Orte anzuklicken und die richtige Lösung präsentiert zu bekommen. Vor Prüfungsterminen sind darüber hinaus die Selbsttestaufgaben in den Repetitionstools besonders gefragt, um persönlich herauszufinden, ob das Wissen verstanden wurde (⊡ Abb. 2.8).
⊡ Abb. 2.8. Interaktives, spielerisch gestaltetes Repetitorium zum theoretischen Grundlagenwissen, bei welchem Kerninhalte als Lückentext präsentiert werden. Die Lernenden wählen jeweils eines der beiden möglichen Antwortfelder rechts durch Anklicken aus. Nach Beantwortung aller Fragen kann der Gesamtscore an richtigen und falschen Antworten abgerufen werden (hier 5 richtig von 9), was den persönlichen Wissensstand abschätzen lässt
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Daneben gibt es eine interaktive Videosequenz, welche in der Hauptanzeige oben links abgespielt werden kann. (⊡ Abb. 2.9) Sie zeigt den daneben beschriebenen gynäkologischen Eingriff. Mittels der Bildanordnung unter dem Videoclip können einzelne Teilsequenzen der Videosequenz, zusammen mit spezifischen Kommentaren aufgerufen werden. Der Einsatz des Mediums Film vermag Krankheitsbefunde und das therapeutische Vorgehen bei der Operation besser zu veranschaulichen und den Studierenden eine größere Nähe zur klinischen Realität zu ermöglichen, als etwa eine statische Fotografie oder eine Grafik in einem Handbuch. Mittels der problemorientierten Fallbeispiele (⊡ Abb. 2.10) werden den Studierenden klinische Fälle aus der Praxis vorgestellt, bei denen sie sich in Diagnostik und Therapie üben können, um den jeweiligen Fall zu lösen. Fiktive Untersuchungen können selbsttätig angeordnet werden, so wie z. B. das angezeigte Dopplersonogramm. EGONE fragt nach diagnostischen und therapeutischen Entscheidungen. Wenn jeweils ein Entscheid richtig getroffen wurde, kann der Fall weiter bearbeitet werden, bis er definitiv gelöst ist und allenfalls
⊡ Abb. 2.9. Qualitativ hochstehende Videosequenzen lassen sich nach interaktiver Aufbereitung nutzen, um Krankheitsbefunde und wichtige Therapieschritte unmittelbar zu veranschaulichen. Die Videosequenz kann in der Hauptanzeige oben links abgespielt werden: Die Abbildung zeigt hier die verschiedenen Formen eines Krankheitsbildes und dessen operative Möglichkeiten. Mittels der Bildanordnung unterhalb der Videosequenz können einzelne Teilsequenzen, zusammen mit spezifischen Kommentaren, abgerufen werden
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⊡ Abb. 2.10. Problemorientiertes klinisches Fallbeispiel aus der Praxis zum Lösen: Durch komplexe interaktive Abläufe gestattet E-Learning eine realitätsnahe Nachbildung von klinischen Modellsituationen, in welchen die Lernenden diagnostische und therapeutische Entscheide treffen müssen. Bei richtigem Lösen des Falles können Kreditpunkte vergeben werden
der Ausbildung der Studierenden entsprechende ETCS-Punkte nach dem Bologna-System vergeben werden können. Generell ist die Vergabe von solchen Credit-Points allerdings nicht unumstritten, da in letzter Zeit in den europäischen Ländern eine gewisse Sammlermentalität Einzug hielt, die nicht nur viel Aufwand für die Hochschulen bedeutete, sondern auch falsche Anreize für das Lernen der Studierenden geschaffen hat. Denn eigentlich sollten Universitäten ein Bildungsverständnis entwickeln, welches sich nicht an Punkten nach Arbeitszeitaufwand, sondern an Neugier und Verantwortung misst, denn Bildung ist mehr als nur Wissensvermittlung, sondern vielmehr die Kunst zu selbständigem Denken, verstandenem Wissen und verantwortungsvollem Handeln anzuregen.
Struktur und Inhalt von EGONE in der Übersicht Das E-Learning Portal EGONE basic ▬ präsentiert 4 Fachdisziplinen der klinischen Medizin: E-Learning Gynecology, Obstetrics, Neonatology, Endocrinology & Reproduction,
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▬ ist das Portal für die Ausbildung der Studierenden der Klinischen Medizin, ▬ basiert inhaltlich auf dem schweizerischen Lehr-und Lernzielkatalog (www.smifk.ch), der seinerseits auf dem international anerkannten niederländischen Blueprint-training of doctors in the Netherlands beruht, ▬ ist in deutscher und französischer Sprache konzipiert, ▬ ist in seinem Inhalt ein curriculäres Konsens-Produkt der Lehrstuhlinhaber für Frauenheilkunde und Neonatologie der Schweiz, ▬ wurde von diesen zum offiziellen Stoff für das medizinische Staatsexamen erklärt, ▬ bietet für die 4 Fachbereiche stets verfügbare Modalitäten: Online-Skript, interaktive Selbsttest-Übungen mit Bildgalerien und Videos sowie interaktiven Fallbeispielen, ▬ ermöglicht den Lernenden durch den modulären Aufbau diejenige Komponente zu wählen, die ihrem Wissensniveau entspricht, ▬ garantiert Wissen auf neuestem Stand mit jährlichem Update, ▬ zeichnet sich aus durch medizinische Aktualität, praxisnahe Visualisierung und klinische Einprägsamkeit, ▬ erlaubt im interaktiven Teil die Selbstkontrolle der persönlichen Lernfortschritte, ▬ bietet die Möglichkeit für zeit- und ortsungebundenen Einsatz und somit Mobilität während des Studiums, ▬ berücksichtigt die besonders hohe Dynamik und Komplexität der medizinischen Lerninhalte und bewältigt den rasanten Wisssens-Turnover durch zeitnahes Angebot, ▬ unterstützt die EU-orientierte Reform des Medizinstudiums im Bologna-Prozess, ▬ wurde mehrfach national und international mit besten Ergebnissen evaluiert, ▬ unterstützt im Medizin-Curriculum das moderne Ausbildungskonzept Blended-Learning mittels eines Portfolios an systematischen, deskriptiven, explorativen und PBL-orientierten Online-Komponenten, ▬ ist passwortgeschützt und nur mittels persönlichem Account einsehbar, ▬ macht für die Dozenten das ganze Spektrum computerisierbarer Medizin nutzbar, ▬ bietet den Dozenten mehr Zeit für ihre wichtigste Aufgabe: den Studierenden persönlich ihre klinische Denk- und Handlungsweise vorzuleben (Tutorate, Bedside-Teaching). Das E-Learning Portal EGONE plus ▬ ist das Portal für die Weiterbildung zum Facharzt und für die Fortbildung in der Frauenheilkunde, ▬ basiert auf der modularen Struktur von EGONE basic, ▬ ist in deutscher und französischer Sprache konzipiert, ▬ sichert an universitären und nichtuniversitären Kliniken mit ihrer Funktion als Weiterbildungsstätten für Frauenheilkunde und Neonatologie die Weiterbildung der Facharztanwärter durch Ergänzung des Inhaltes zu jedem basic-Kapitel, ▬ bietet zusätzliche, spezifische Weiterbildungskapitel, ▬ garantiert alle Vorteile und Optionen, die auch EGONE basic bietet, ▬ garantiert Wissen auf neuestem Stand mit regelmäßigen Updates, ▬ sichert mit zusätzlichen spezifischen Fortbildungsmodulen lebenslanges Lernen (Continous Medical Education), ▬ ist passwortgeschützt und nur mittels persönlichem Account einsehbar.
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Mehrwert des E-Learnings und Ausblick
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E-Learning blickt auf eine vergleichsweise kurze Geschichte zurück. Die Lerninhalte könnten auch mittels Lehrbuch vermittelt werden. Das E-LearningAngebot bringt aber den Vorteil, komplexe Informationen schnell verfügbar zu machen, grafisch überschaubar darzustellen und jeweils aus unterschiedlich gewünschten Blickwinkeln anzuordnen. Zudem kann das erworbene Wissen selbst einfach geprüft werden. Medizinstudierende schöpfen selten zu Beginn ihres mehrjährigen Studiums die Angebote in ihrer ganzen Breite und über alle Komponenten aus. Studienanfänger nutzen zunächst bevorzugt die Wissensvermittlung der Online-Skripte. Anschauliche Wissensvertiefung im Anwendungsbereich von EGONE gynécologie suisse, in Form kommentierter Bildgalerien und klinischer Videos führen im klinischen Studium weiter, parallel zu den ersten realen Patientenkontakten am Krankenbett. Fortgeschrittene Studierende interessieren sich für eine Realitätssimulation mittels problemorientierter klinischer Fallbeispiele. Vor Prüfungsterminen sind darüber hinaus die Selbsttestaufgaben in den Repetitionstools besonders gefragt, um festzustellen, ob das erworbene Wissen auch verstanden wurde. Lehrstuhlinhaber und Lehrverantwortliche für Aus-und Weiterbildung, die sich entschließen, die dazu notwendigen Inhalte mittels E-Learning anzubieten, sollten sich im Klaren darüber sein, dass dazu verschiedenste Ressourcen nötig sind: Zeit, Fachkompetenz und wesentliche finanzielle Mittel. Besonders im Bereiche der klinischen Medizin mit ihrem rapiden Wissens-Turnover, ist hohe Aktualität, eine Kernkompetenz des E-Learnings, gefordert. In Evaluationen durch die Studierenden und internationale Institutionen erhielt EGONE gynécologie suisse positive Bewertungen für die Aktualität, die niveaugerechte Aufbereitung der Themen und große Akzeptanz für geeignet umgesetztes E-Learning in seiner praktischen Anwendung. Diese Tatsache hat sicher auch dazu geführt, dass bereits 6 deutsche Universitäts-Frauenkliniken eine EGONE basic-Lizenz für ihre Studierenden besitzen. Die Tatsache, dass mit EGONE plus bis Ende 2010 der ganze Inhalt auch für die Weiterbildung zum Facharzt zur Verfügung steht, macht EGONE zu einem globalen E-Learning Portal für Aus-, Weiter- und Fortbildung im Fach Frauenheilkunde. Auch für diesen Bereich konnten zunehmend renommierte Hochschullehrer der DGGG als Autoren gewonnen werden. Die Erfordernisse des modernen klinischen Managements, die zunehmende Spezialisierung, die verkürzten Anwesenheitszeiten in der Klinik im Rahmen des Arbeitszeitschutzgesetzes sowie die Verkürzung der Liegezeiten fordern dauernd Anpassungen der Weiterbildungskonzepte. Hier leistet das E-Learning-Portal EGONE plus einen wichtigen Beitrag zum Konzept von Weiterbildungsetappen mittels Logbuch.
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Ludwig H (2004) Ernst Bumm (1858-1925) Forscher, Lehrer, Leitfigur. Gynäkologe,37: 863-866 Maag H-C, Haller U (2008) Studieren per Mausklick. In: Ritzmann I, Schweer W, Wolff E (Hrsg) Innenansichten einer Ärzteschmiede. Chronos Verlag, Zürich, 211-224 Prowaznik B (2004) Gibt es einen Mehrwert von E-Learning? Ketzerisches zu einer trendigen Lernform. Neue Zürcher Zeitung 108 , 70 Rey GD (2009) E-Learning-Theorien. Gestaltungsempfehlungen und Forschung. Verlag Hans Huber, Bern, 240 Ritzmann I, Schweer W, Wolff E (2008) Innenansichten einer Ärzteschmiede, Chronos Verlag, Zürich, 239 Vatter M (2005) Ungenutzte Chancen: E-Learning in der Weiterbildung noch immer verkannt. Neue Zürcher Zeitung 107, 10.05.2005, B 25 Vetter K, Haller U, Rhiem K et al. (2008) Erfolg durch Weiterbildung. In: Jonat W, Maass N, Strauss A (Hrsg) Educational Booklet zum 57. DGGG-Kongress, Hamburg 2008, Deutsche Nationalbibliothek Zweifel P (1892) Vorlesung über klinische Gynäkologie. Verlag August Hirschwald, Berlin, 440 smifk:http://sclo.smifk.ch/ Bürgi H, Bader Ch, Bloch R et al Swiss Catalogue of Learning Objectives for Undergraduate Medical Training. Geneva, Joint Conferencs of Swiss Medical Faculties (Schweizerische Medizinische Interfakultäts-Kommision) 2008
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Anmerkungen zur Geschichte der psychosomatischen Frauenheilkunde in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert Matthias David, Friederike Siedentopf, Heribert Kentenich
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Kapitel 3 · Anmerkungen zur Geschichte der psychosomatischen Frauenheilkunde
Psychosomatische Medizin in der Frauenheilkunde, wie wir sie heute verstehen und wie sie sich auf den Kongressen der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) oder der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe (DGPFG), in wissenschaftlichen Vorträgen und auf Fortbildungsveranstaltungen präsentiert, blickt auf eine Traditionslinie zurück, die etwa bis in das letzte Viertel des 19. Jahrhundert zurückreicht. Drei Quellen lassen sich im Wesentlichen identifizieren, aus denen die Entwicklungen mehr oder weniger stark, bis hin zum Profil der heutigen Psychosomatik in Deutschland gespeist wurden, bis schließlich Mitte der 60er-, Anfang der 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts die gesellschaftlichen, fachpolitischen und wissenschaftlichen Prozesse soweit gereift waren, dass die durch die Studenten- und Frauenbewegung induzierten Veränderungen auch der Etablierung der Psychosomatik sowohl in der damaligen Bundesrepublik Deutschland als auch in der DDR einen entscheidenden Schub gaben. Diese 3 Wurzeln sind im Einzelnen: Die Freudsche Psychoanalyse, die Frauenkunde und das Konzept der Einbeziehung biopsychosozialer Ursachenfaktoren in das Krankheitsgeschehen. Nachfolgend soll zunächst in 3 kurzen Kapiteln auf die Herkunftsgeschichte dieser Quellen der psychosomatischen Frauenheilkunde eingegangen werden. Um zu überprüfen und zu illustrieren, seit wann und wie im weitesten Sinne psychosomatische Überlegungen in der gynäkologischen Fachliteratur eine Rolle spielten, wurden in 2 der renommiertesten und ältesten gynäkologischen Fachzeitschriften, nämlich dem Archiv für Gynäkologie und dem Zentralblatt für Gynäkologie, nach Artikeln mit solchen Themen gesucht. Die Veröffentlichungspraxis kann als Spiegel der wissenschaftlichen Beschäftigung mit solchen Themen in einem definierten Zeitraum angesehen werden. Sie zeigt quasi den wissenschaftlichen Zeitgeist und sich abzeichnende Strömungen. Im Zentralblatt wurde von seiner Gründung 1877-1949 recherchiert, im Archiv für Gynäkologie von seiner Gründung 1870 bis Ende der 1970er-Jahre. Um die nur sehr allmähliche Etablierung, dann aber zunehmende Verankerung der Psychosomatik in der deutschen Frauenheilkunde nachzuweisen, wurde außerdem analysiert, wann und welche Hauptthemen auf den Versammlungen der DGGG seit ihrer Gründung 1885-1980 einen psychosomatischen Bezug aufwiesen und ob es kleinere Vorträge mit im weiteren Sinne Psychosomatik-Themen gab.
Psychoanalyse Auf das Leben und Werk Sigmund Freuds soll hier nicht im Einzelnen eingegangen werden. Zum Einfluss der Psychoanalyse auf die (deutsche) Gynäkologie hat sich H. J. Prill in seinem Beitrag zur Entwicklung der psychosomatischen Geburtshilfe und Gynäkologie aus Anlass des 100-jährigen Bestehens der DGGG bereits ausführlich geäußert. Als die DGGG im September 1885 in Straßburg gegründet wurde, war Freud gerade zum Privatdozenten ernannt worden. Im Oktober 1885 begab er sich zu einem fast 5-monatigen Studienaufenthalt bei J. M. Charcot, dem berühmten Direktor der Nervenklinik der Pariser Salpetriere. Die eigentliche Entwicklung der Psychoanalyse datiert in den Zeitraum zwischen 1887-1902. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts hatte Freud bereits mehrere Aufsätze u. a. zur Traumdeutung veröffentlicht. Es folgten der weitere Ausbau und die Etablierung seiner Lehre sowie die Begründung einer »Schule« in den nächsten Jahren, durchaus gegen Widerstände breiter Fach- und gesellschaftlicher Kreise. Die eigentliche Freudsche Bewegung setzte erst 1907 ein und wurde zunächst als psychische Infektion unter den Ärzten, als eine geistige Seuche affektvoll niederkritisiert.
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Freuds neue Denkweise in der Medizin machte sich dennoch sowohl in den Veröffentlichungen der ersten beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts bemerkbar als auch bei der Gestaltung gynäkologischer Kongresse und wissenschaftlicher Versammlungen. Die Arbeitskontakte und familiären Bindungen Sigmund Freuds nach Berlin waren besonders eng. So widmete die Berliner Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe dem Thema Psychotherapie und Frauenkrankheiten 1925 einen ganzen Sitzungsabend, der von Paul Straßmann geleitet wurde. Dieser merkte in der Diskussion an: »In jedem Fall bin ich der Ansicht, dass der Gynäkologe die Psychotherapie ebenso anwenden und beherrschen muss wie die operativen Methoden, wenn er nicht auf dem Standpunkt des Technikers herabsinken will. Alle guten Ärzte sind von jeher gute Psychotherapeuten gewesen, wenn sie auch Psychotherapie mehr oder minder unbewusst angewandt haben...«. Und Karl Abraham, einer der Hauptreferenten des Abends, den man als ersten deutschen Psychoanalytiker bezeichnen kann, schloss seinen Vortrag mit den Worten: »Der heutige Abend ist nicht ohne Bedeutung im medizinischen Leben Berlins. […] Dass es gerade eine Vereinigung von Frauenärzten war, die als erste in Berlin diesen Schritt tat, beruht nicht auf bloßem Zufall, sondern auf der Tatsache eben jener nachbarlichen Beziehungen zwischen unseren Wissensgebieten…«. Beim 16. Kongress der DGGG 1920 in Berlin hatte sich erstmals ein größerer Vortrag in der Geschichte der Gesellschaft mit einem psychologisch-psychosomatischen Thema beschäftigt. Obwohl der Schwerpunkt der Versammlung auf der Strahlentherapie lag, gelang es Wilhelm Liepmann (Berlin) mit seinem Vortrag über die Beeinflussung der weiblichen Psyche durch Röntgenstrahlen, in dem er die Folgen der Röntgenkastration für die betroffenen Frauen darstellte, eine Brücke zwischen Leibe und Seele zu bauen. Im Programm der 17. Versammlung der DGGG in Innsbruck 1922 findet sich ein Beitrag August Mayers (Tübingen) zu Konstitutionsfragen in der Frauenheilkunde, der sich der Beziehung zwischen Soma und Psyche widmet: »…zahlreiche gynäkologische Beschwerden wurzeln in seelischen Vorgängen…«. V. Heberer (Dresden) sprach über die Bedeutung der Psychotherapie in der Gynäkologie unter ausführlicher Bezugnahme auf die Freudsche Psychoanalyse. Auch unter den 75 Vorträgen auf der nächsten Tagung der DGGG 1923 in Heidelberg finden sich zwei mit psychosomatischem Bezug: Wilhelm Liepmann referierte über Sexualpsychologie, Max Walthard über Klinische Bedeutung bedingter Reflexe (Pawlow) im weiblichen Genitale. Erst 1958 gibt es dann wieder einen Vortrag zu einem psychosomatischen Thema auf einem DGGG-Kongress, das Hauptreferat zum Klimakterium aus psychiatrischer und psychologischer Sicht (F. Mauz). Dass es ab Beginn der 1930er-Jahre kaum noch Veröffentlichungen zu diesem Thema gab, dürfte den politischen Veränderungen in Deutschland geschuldet sein. Nach Uexküll beendete die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten 1933 den Dialog zwischen Innerer Medizin, anderen Fächern und der Psychoanalyse, der in den 20er- und frühen 30er-Jahren in Deutschland begonnen hatte. Dies war eine Folge zum einen der Emigration vieler jüdischer Wissenschaftler, z. B. W. Liepmann, zum anderen einer ausgesproch antipsychologischen Einstellung der nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik. 1933 wurden u. a. in Deutschland die psychoanalytischen Institute aufgelöst und ab 1938 wurde die Psychoanalyse verboten. Die Weiterentwicklung der psychosomatischen Medizin vollzog sich dann bis nach dem Zweiten Weltkrieg vornehmlich in den USA. Bis auf die Vorträge der Kongresse 6-16 (1895-1920), die separat beim Verlag Breitkopf & Härtel/Leipzig erschienen sind, wurden alle Verhandlungen der DGGG auch im Archiv für Gynäkologie publiziert. Alle Hefte dieser Zeitschrift seit ihrer Gründung 1870 wurden ergänzend auf Artikel mit psychosomatischem Kontext hin durchsucht. 1876 findet sich eine erste solche Publikation über Vaginismus, 1895 zwei weitere Arbeiten über Dysmenorrhoe
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Kapitel 3 · Anmerkungen zur Geschichte der psychosomatischen Frauenheilkunde
und über psychische Probleme beim Abort. Aber erst 1925, quasi korrespondierend zum ersten Hoch der psychosomatischen Diskussion in Geburtshilfe und Gynäkologie in Deutschland, finden sich wieder 2 Artikel. Im ersten geht es wiederum um Dysmenorrhoe, im zweiten legt M. Walthard ausführlich das Problem der psychisch bedingten Genitalneurosen dar. Bis Ende der 1970er-Jahre lassen sich dann lediglich 3 Publikationen mit, zumindest teilweise, psychosomatischer Themenstellung in den Heften des Archivs für Gynäkologie finden: 1934 und 1939 jeweils eine Übersichtarbeit zur Ätiologie und Therapie der Hyperemesis gravidarum sowie 1946 ein Artikel über Kriegsamenorrhoe. Etwas anders war das Profil der Veröffentlichungen im Zentralblatt für Gynäkologie. Hier finden sich zwischen 1896 und 1907 10 Artikel, die sich kasuistisch oder im Rahmen einer Übersicht mit im weiteren Sinne psychologischen bzw. psychosomatischen Fragestellungen beschäftigten. Bereits 1908 veröffentlichte Walthard hier den Übersichtsartikel Über die sogenannten psycho-neurotischen Ausfallserscheinungen in dem er schrieb: »Dabei haben wir nicht nur die funktionellen Störungen der weiblichen Genitalorgane von den durch nachweisbare materielle Veränderungen bedingten Störungen trennen gelernt; wir lernten auch umgekehrt die Bedeutung anatomischer Veränderungen an den weiblichen Genitalien, sowie die Bedeutung der Entfernung der inneren Genitalien für die Genese psycho-neurotischer Erscheinungen kennen…«. 1912 folgte ein weiterer Artikel, in dem er ausführte: »Es kommt für uns Gynäkologen und unsere Wissenschaft zunächst weniger darauf an, dass wir alle ins gesunde Genitale verlegten psycho-neurotischen Erscheinungen heilen, als vielmehr darauf, dass wir sie als funktionelle Symptome erkennen und deshalb von jeder gynäkologischen örtlichen Behandlung ausschließen. […] Es scheint mir deshalb der Mühe wert, dass sich der Gynäkologe mit Psychotherapie beschäftigt. Dadurch wird die Zahl der gynäkologischen Operationen und Lokalbehandlungen abnehmen, aber die Zahl der Heilerfolge in der Gynäkologie wird zunehmen…«. Relativ viele Arbeiten zu psychosomatischen Themen erschienen dann auch im Zentralblatt zwischen 1917 und 1929 mit einem Höhepunkt 1925 (6 Arbeiten, davon 4 Übersichten). Besondere erwähnt sei ein Beitrag August Mayers von 1922, der an Aktualität kaum etwas eingebüßt hat: »... ihre glänzenden Triumphe feierte die operative Gynäkologie in der Hauptsache als ’Organspezialität’, und in dieser ihrer Stärke lag zugleich auch ihre Schwäche. Rein chirurgisch erfolgreich angreifbar waren natürlich nur einseitige, imposante Organerkrankungen, vor allem die großen Geschwülste des Genitaltraktus. Gefördert wurde darum hauptsächlich die sogenannte große Gynäkologie. […] Es blieb dabei außer Acht, dass so viele gynäkologische Beschwerden gar nicht einem reinen gynäkologischen Organleiden entspringen, sondern ihre Wurzeln im allgemeinen Körper der Frau haben, und dass die Frauen neben einem Uterus auch andere Organe besitzen. ... man behandelte darum oft anstatt kranker Frauen gynäkologische Symptome…«. Nach 1933 finden sich im Zentralblatt für Gynäkologie praktische keine Arbeiten mehr, die sich psychosomatisch-frauenheilkundlichen Themen widmen.
Frauenkunde 1941 hielt Paul Diepgen, der damalige Direktor des Berliner Instituts für Geschichte der Medizin, den eindrucksvollen Festvortrag vor den Teilnehmern der 26. Tagung der DGGG in Wien mit dem Thema Die Kulturgeschichte der Frau und die Frauenheilkunde. Er äußerte sich hier auch über die Entwicklung unseres Faches: »Es klingt heute fast banal, wenn man daran erinnert, daß die Gynäkologie, die vor 100 Jahren in ihrer modernen Form als Organspezialismus entstand, sich zur Frauenkunde gewandelt hat. [...] Daneben wirkte das Streben des
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romantischen Zeitalters, alle Einzelheiten im Rahmen des Ganzen zu betrachten und Seelisches und Körperliches aufs engste zu verbinden, günstig auf die Entwicklung. [...] So wurde vor etwa 100 Jahren aus dem Geist der Aufklärung und der Romantik die moderne Gynäkologie als Frauenkunde geboren. Es ist ein tragisches Moment in ihrer Entwicklung, daß das naturwissenschaftliche Zeitalter, welches dann gleich einsetzte, bei aller Förderung in Einzelheiten von dieser umfassenden Betrachtung der Frau ablenkte und die analytische Organgynäkologie ohne die Ergänzung entstehen ließ. [...] Die Anfänge der Frauenkunde moderner Prägung entstehen erst mit dem Beginn unseres Jahrhunderts[...] Auf der anderen Seite ist die Gynäkologie ohne Zweifel erst mit der Steigerung des Interesses der Allgemeinheit für die Frau groß und von den Zeitfragen befruchtet worden...«. Hier wird ein ganz entscheidender inhaltlicher Aspekt deutlich: die wichtige Unterscheidung zwischen Frauenheil- und Frauenkunde. Frauenkunde ist die »...Wissenschaft von der Frau in allen ihren Lebensbeziehungen und Lebensäußerungen...«, so charakterisierte jedenfalls Max Hirsch, einer der Protagonisten dieser umfassenderen, auf präventive, soziale und psychische Fragen orientierte Betrachtungsweisen in der Frauenheilkunde 1912 sein Konzept. Einige Jahre später schrieb er ergänzend: »Soziale Medizin und soziale Hygiene bilden den Unterbau ärztlichen Denkens und Handelns. [...] Die Gynäkologie muss als Sozialgynäkologie gelehrt und betrieben werden...«. Die ideengeschichtlichen Wurzeln dieses erweiterten Frauenheilkundebegriffs, also dessen, was wir heute als ganzheitlich orientierte Frauenheilkunde umschreiben, reichen bis in das 19. Jahrhundert zurück. Sie sind auch eine Quelle der heutigen psychosomatischen Frauenheilkunde. Als Vorläufer frauenkundlicher Forschung nennt Paul Diepgen 1941 neben Adam Elias von Siebold, Johann Jörg und Carl Gustav Carus Ludwig Fraenkel, Alfred Hegar, Hugo Sellheim und Max Runge. Letzterer hatte bereits 1896 geschrieben: »Zweifellos fällt aber unter die Gynäkologie die Psychologie des Weibes. Ihre Kenntnis ist zum wahren Verständnis der Physiologie sowohl, wie der Pathologie unerlässlich, denn ungleich grösser wie beim Manne sind beim gesunden und kranken Weibe die reciproken Beziehungen zwischen Soma und Psyche...«. Zwei wesentliche Protagonisten des Konzepts Frauenkunde erwähnte Diepgen in seinem DGGG-Festvortrag 1941 nicht: Max Hirsch und seinen Kollegen Wilhelm Liepmann, beide jüdischen Glaubens, beide nach 1933 von den Nationalsozialisten zur Emigration gezwungen. Insbesondere Hirsch hat sich über nahezu 20 Jahre, u. a. mit der Gründung des Archivs für Frauenkunde, der Durchsetzung der Konzepte Sozialgynäkologie und Frauenkunde gewidmet. Seine Ideen verdeutlichen dieses Zitat aus dem Handbuchbeitrag Biologie und Pathologie des Weibes von 1924 »Jahrzehntelang als Organspezialität getrieben, hat die Frauenheilkunde diesen engen Rahmen heute verlassen, hat Anschluss gesucht und gefunden an die Grenzgebiete der Medizin, an andere naturwissenschaftliche Fächer. Aber auch der soziologischen Erkenntnisse kann die Frauenheilkunde wie andere Wissenszweige nicht mehr entraten. Über Individuum und Familie hinaus gilt ihre Sorge den höheren sozialen Einheiten: Gesellschaft und Staat. So wird die Frauenheilkunde zur Sozialgynäkologie... Sozialgynäkologie und Frauenkunde ... wirken ... dem Organspezialistentum entgegen, welches neben und trotz ihnen noch immer in üppiger Blüte steht und dessen Jünger den Blick mit Scheuklappen umgeben auf die Genitalorgane der Frau fixiert halten und darüber den Menschen, das Weib, vergessen. So bilden Sozialgynäkologie und Frauenkunde eine Abwehr gegen gedankenlose Vielgeschäftigkeit, welche genitale Symptome behandelt und darüber andere Organe, konstitutionelle und psychische Grundleiden und soziale Faktoren vernachlässigt…« Gegen die Etablierung einer solchen neuen Ausrichtung des Faches Frauenheilkunde sprach aber die naturwissenschaftliche Durchdringung der Geburtshilfe und Gynäkologie, die diese bis heute dominiert. So wurde die Bearbeitung sozialgynäkologischer und psycho-
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Kapitel 3 · Anmerkungen zur Geschichte der psychosomatischen Frauenheilkunde
somatischer Probleme an den wissenschaftlichen Zentren, den Universitäts-Frauenkliniken, wenn überhaupt dann nur am Rande betrieben. Die Pionierarbeiten auf dem Gebiet der sozialen Gynäkologie wurden außerhalb der Hochschulkliniken geleistet. In einer Rede eines Präsidenten bei seiner Eröffnungsansprache tauchte der Begriff Frauenkunde erstmals bei Hugo Sellheim 1929 in Leipzig auf, als er über Zukunftspläne der Geschlechtsbeziehungen und Frauenkunde referiert. Er sagt hier unter anderem: »Eine Frauenklinik soll sein für ihr Teil eine soziale Fürsorgeanstalt aller ersten Ranges«. Beim nächsten, 22. Kongress im Jahr 1931 unter dem Präsidenten Ludwig Seitz in Frankfurt a. M., ging dieser explizit auf eine Erweiterung der Frauenheilkunde in Richtung einer allgemeinen medizinischen und einer sozialen Seite hin ein: »Unser Fach versucht, den engeren Rahmen, in den es bisher eingezwängt war, zu sprengen und sich kräftig und weiter zu entfalten. Die Frauenheilkunde steht im Begriff, zur Frauenkunde zu werden, wie das auch den ursprünglichen Sinn des griechischen Wortes [...] entspricht. Je mehr unsere Fachwissenschaft sich bemüht, ihre Grundlagen zu verbreitern, je mehr sie statt der einzelnen Teile die Gesamtpersönlichkeit erforscht, je mehr sie bestrebt ist, das Einzelindividuum als das Produkt einer langen Entwicklung des gesamten Volkskörpers und dessen äußerer Daseinsbedingungen anzusehen, desto mehr wird sie die inneren Zusammenhänge in der Entwicklung und in dem Werdegang der einzelnen Frauenpersönlichkeit verstehen, desto sicherer vermag sie einer ungünstigen Entwicklung von Körper und Seele vorzubeugen, desto wirksamer kann sie entstandene Krankheitszustände beheben, und desto vollkommener wird sie im Dienst des Allgemeinwohles wirken können...«. Auf dieser Tagung hielt Hirsch, der eine Praxisklinik in Berlin-Schöneberg betrieb, ein Hauptreferat über einige sozialgynäkologische Fragen. Eine Publikation zu einem solchen Thema von ihm oder einem anderen Autor findet sich allerdings darüber hinaus im Archiv für Gynäkologie nur 1925 (soziale Faktoren und Prolaps uteri). Im Zentralblatt für Gynäkologie hatte Hirsch in den 1920er-Jahren dagegen 5 Arbeiten mit sozialgynäkologischen Themen publiziert, außerdem finden sich 5 Artikel anderer Autoren zu diesem Themenkreis in dieser Zeitspanne. Die inhaltlich von Hirsch vorangetriebene Entwicklung bricht jedoch mit dem Jahr 1933 jäh ab. Eine Weiterführung seines Werkes, eine weitere Erwähnung in der Literatur, gibt es danach nicht mehr.
Bedeutung psychosozialer Faktoren für das Krankheitsgeschehen Nach H. Weiner (1986) wurde der eigentliche Gegenstand der psychosomatischen Medizin im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in den USA und Deutschland definiert. Sigmund Freud inspirierte und beeinflusste eine tiefgreifende und systematischere Beschäftigung mit der Rolle psychischer Faktoren in der Pathogenese von Krankheiten. Die prägenden Persönlichkeiten der psychosomatischen Medizin von 1920 bis in die späten 1950er-Jahren lebten und arbeiteten zunächst in Mitteleuropa und dann zumeist in Nordamerika. »Sie nahmen Freuds Auffassung von der Pathogenese hysterischer Konversionssymptome als Modell auf und konstatierten, körperliche Erkrankungen seien das Ergebnis eines unbewussten Konflikts, den sie symbolisch repräsentierten…«. Anfang der 1960er-Jahre setzte dann ein Paradigmenwechsel ein: Soziale Faktoren wurden für Gesundheit und Krankheit bedeutsam. Das Spektrum dieser Faktoren reichte von Problemen bei der Arbeit bis zu sozioökonomischen Faktoren, die alle als potentiell krankheitsrelevant angesehen wurden. Das Konzept der Sozialgynäkologie erlebte im Konzept der integrativen Medizin teilweise eine Renaissance. Die einfachen psychologischen Erklärungen von Krankheitszuständen mit der Rolle von Emotionen und psy-
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chischen Konflikten als Ursache wurde nicht mehr als ausreichend angesehen. Prill schreibt dazu 1986: »Aus der Lehre von den psychogenen Erkrankungen ist also eine biopsychosoziale Krankheitslehre geworden. […] Daher darf nicht mehr formale Psychotherapie als das Ziel der psychosomatischen Medizin hingestellt werden. Vielmehr geht es um die Frage, wie der Gynäkologe oder auch der Allgemeinarzt sein therapeutisches Verhalten um den psychosozialen Bereich erweitern kann, ohne seine traditionellen Aufgaben aufzugeben und ohne aus dem Rahmen seiner traditionellen Praxis herauszutreten…«. Nachdem allein H. J. Prill 1964 und 1966 auf den DGGG-Kongressen in München und Hannover zunächst nur in kleineren Vorträgen über die Behandlung von Patientinnen mit funktionellen gynäkologischen Erkrankungen berichten konnte, kam mit dem Jahr 1968 auf dem 37. DGGG-Kongress in Travemünde der Durchbruch der Psychosomatik als ein gleichberechtigtes Tagungsthema neben anderen. Möglicherweise spielte auch der damals herrschende Zeitgeist eine Rolle, bestimmte Prozesse und Entwicklungen waren herangereift. Unter den 67 Vorträgen beschäftigen sich nicht nur 2 Hauptreferate und 3 weitere kleinere Vorträge mit sozialmedizinischen/sozialgynäkologischen Fragen, außerdem widmeten sich 1 Hauptreferat (H. Roemer) und 8 Kurzvorträge psychosomatischen Themenfeldern. Alexander Mitscherlich sprach in seinem Festvortrag über Psychosomatische Probleme in der Gynäkologie und führte aus: »Die These der Psychosomatiker ist es…, dass diese ... Abwehr psychischer Probleme beim Patienten und beim Arzt die Fehleinschätzung relativ sehr vieler Krankheiten in unserer technisch hochzivilisierten Gesellschaft fördert; aber der Rückzug auf die potente Droge, die ziemlich risikofreie Operation und ähnliche Maßnahmen – statt der schwierigen Verständigung zwischen Arzt und Kranken – wird deshalb nicht zu einem befriedigenden Ersatz für eine ärztliche Hilfe, in welcher das erlebende Subjekt in die Beobachtungen und das diagnostische sowie therapeutische Kalkül einbezogen wird…«. 1972 in Wiesbaden beim 39. Kongress der DGGG führt das Programm 3 Hauptreferate mit psychosomatischen Themen auf: Konflikte und Krankheiten der Frau (H. E. Richter), Konflikte der Frau in der heutigen Zeit (H. J. Prill) und Eheliche Konflikte und ihre psychosomatischen Auswirkungen (V. Frick/H. Roemer). Auf den nachfolgenden Tagungen waren psychosomatische Themen dann mit 1 Hauptreferat und/oder einigen Kurzvorträgen praktisch immer präsent und damit etabliert. Die Synopsis der Verhandlungsberichte der Kongresse der DGGG 1886-2002 führt insgesamt 16 Themenschwerpunkte auf. Nach einer Zählung von Ludwig für die Jahre 1886-1976 machte die Psychosomatik mit 12 Nennungen 4% der Themen aus, von 1978 bis zum Jahre 2000 waren es 7%. Somit zeigt sich neben der Verankerung der Psychosomatik im Programm an sich auch ein positiver Trend.
Gründung und Entwicklung der wissenschaftlichen Gesellschaften für psychosomatische Frauenheilkunde im Westen und Osten Deutschlands Erst durch die Gründung der deutschen und internationalen Gesellschaft für Psychosomatische Geburtshilfe und Gynäkologie gelangte dieses Fach zu vermehrter Anerkennung und zu einer eigenen Identität. Zuvor gab es nur wenige ’Pioniere’, die mit großem Engagement Aspekte der psychosomatischen Frauenheilkunde speziell an Universitätsfrauenkliniken lehrten…«, so äußerte sich Stauber 1999. In der Bundesrepublik Deutschland gab es aufgrund der engen Verbindung mit der in dieser Zeit sich etablierenden ISPOG (International Society of Psychosomatic Obstetrics and Gynecology) bereits in den 1960er- und 1970er-Jahren psychosomatische Arbeitsgruppen an einigen Universitätsfrauenkliniken, z. B. in Würzburg, Tübingen,
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Kapitel 3 · Anmerkungen zur Geschichte der psychosomatischen Frauenheilkunde
Berlin, Düsseldorf und Freiburg. Die Gründung als DSPGG (Deutsche Sektion für Psychosomatische Geburtshilfe und Gynäkologie) erfolgte am 19.11.1980 in der Wohnung H. J. Prills. Die Gründungsmitglieder waren neben ihm Fried Conrad, Viola Frick-Bruder, Hans Molinski, Ortrun Jürgensen, Herwig Poettgen, Dietmar Richter und Manfred Stauber. Doch erst nach einem kaum erwarteten großen Interesse und einem starken Mitgliederzulauf betonte die DSPGG ein Stück Eigenständigkeit durch eine Satzungsänderung, ohne die wichtige Bindung zu den beiden Muttergesellschaften ISPOG und DGGG zu lockern: Es wurde 1985 in einer Mitgliederversammlung die Bezeichnung »Sektion« durch das Wort »Gesellschaft« psychosomatische Geburtshilfe und Gynäkologie (DGPGG) ersetzt, obwohl die DGGG lieber die Bezeichnung »Arbeitsgemeinschaft« gesehen hätte (⊡ Tab. 3.1). Der Gründung der DSPGG gingen ab 1972 jährliche Seminarkongresse zunächst in Gießen (Leitung: Kepp und Bailer), dann in Mainz (Leitung: Langen und Prill) voraus. Traditionell wurden die Beiträge in Buchform publiziert. Die ersten 10 Jahre finden sich zusammengefasst in dem Sammelband Der psychosomatische Weg zur gynäkologischen Praxis (Herausgeber: Prill und Langen). Die späteren Seminarkongresse wurden dann jährlich unter den Titeln Psychosomatische Probleme in der Gynäkologie und Geburtshilfe (1982-1986) und Psychosomatische Gynäkologie und Geburtshilfe (1987-andauernd) veröffentlicht. Das Selbstverständnis der Gesellschaft war von Beginn an so, dass sie sich einerseits als integraler Bestandteil der DGGG und andererseits als Deutsche Sektion der ISPOG verstand. Die bisherigen Darstellungen skizzierten die Herausbildung der psychosomatischen Frauenheilkunde in Westdeutschland, wo die Ansätze der 1920er-Jahre nach 1945 wieder aufgegriffen und durch Mayer, Schaetzing, vor allem aber durch Roemer, Lucas, Langen und Prill u. a. fortentwickelt wurden. Im anderen Teil Deutschlands nahm die Entwicklung der Psychosomatik in Gynäkologie und Geburtshilfe zunächst einen völlig anderen Verlauf. Es gab zwar auch im Osten Deutschlands Bemühungen, der Psychoprophylaxe in der Geburtsvorbereitung durch die Anwendung der Erkenntnisse Pawlows mehr Gewicht zu verleihen und auch die von Aresin aufgebaute Ehe- und Sexualberatungsstellen der DDR bildeten eine offizielle Verbindung der Psychotherapie mit der Frauenheilkunde, diese separierten sich aber sehr bald wieder von diesem Fach. Tiefenpsychologische Denkansätze wurden unterdessen fast 25 Jahre unterdrückt. Bereits seit den 1960er-Jahren fanden in der DDR regelmäßig Psychotherapietagungen statt, die aber vorwiegend von Internisten und Psychiatern getragen wurden. Eine psychosomatische Frauenheilkunde gab es bis in die 1970er-Jahre hinein in der DDR nicht. Im Jahr 1973 erschien jedoch das erste und einzige zusammenfassende Buch zu diesem Thema Psychotherapie in der modernen Gynäkologie« von dem Internisten Kurt Höck, der immer wieder Frauenärzte ermutigte, sich für psychische Aspekte in ihrem Fach zu öffnen. Auf dem VII. Kongress der Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (der DDR) im Mai 1978 gab es erstmals unter der Leitung der bereits erwähnten Frau Aresin eine Problemdiskussion zum Thema Psychotherapeutische Aspekte in Gynäkologie und Geburtshilfe. Hier hielten P. Knorre und P. R. Franke, die späteren Gründungsmitglieder der AG bzw.
⊡ Tab. 3.1 Vorsitzende der AG Psychosomatische Gynäkologie bzw. der (O)GPGG Zeitraum
Vorsitzender
1979-1996
Paul Franke
1996-2000
Carmen Dietrich
73 Gründung und Entwicklung der wissenschaftlichen Gesellschaften
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Gesellschaft für Psychosomatische Geburtshilfe und Gynäkologie (GPGG) Vorträge zu psychosomatischen Themen. Paul Franke rief im Anschluss an seinen Vortrag dazu auf, eine Arbeitsgruppe für Psychosomatische Gynäkologie zu gründen und bot an, dass Interessierte sich bei ihm melden könnten. Am 16.11.1979 fand auf einer Sitzung in der Frauenklinik der Medizinischen Akademie Magdeburg die Gründung der Arbeitsgemeinschaft für Psychosomatische Gynäkologie und Geburtshilfe statt. Die Gründungsmitglieder waren E. Bäßler (Berlin-Kaulsdorf), Paul Franke (Magdeburg), H.-R. Hamann, (Halle), R. Kirchner (Cottbus), Peter Knorre (Frankfurt/Oder) und Arndt Ludwig (Zwickau). Der Vorstand der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR beschloss im April 1980 die Aufnahme der AG als »zeitweilige Arbeitsgruppe«. Im Mai 1980 lehnte die Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe der DDR auf ihrer Vorstandssitzung die Anerkennung der Arbeitsgemeinschaft mit der Begründung ab, dass die Initiative dazu, wenn überhaupt, nur vom Vorstand ausgehen könne. Zwischen 1980 und 1983 traf sich die AG 2-3-mal jährlich zu Arbeitsberatungen an wechselnden Orten, bei denen sich die Mitglieder über ihre wissenschaftlichen Arbeiten und über Methoden der Psychotherapie und der Psychodiagnostik informierten, weiterbildeten und Balintgruppen durchführten. Durch die Mitglieder wurden zahlreiche Vorträge auf gynäkologischen und psychotherapeutischen Tagungen und Kongressen gehalten, was einen allmählichen Anstieg der Mitgliederzahl auf etwa 16 Frauenärztinnen und -ärzte bewirkte. Auf der 9. Arbeitstagung der AG in Bagenz wurde der Beschluss gefasst, 1984 einen Kongress in Magdeburg zu veranstalten. Ebenfalls 1983 kamen die Vorstände der Gesellschaften für Ärztliche Psychotherapie der DDR und für Gynäkologie und Geburtshilfe der DDR über ein, die AG gemeinschaftlich als Interdisziplinäre Arbeitsgruppe für Psychotherapie und Medizinische Psychologie der beiden Gesellschaften zu führen. 1985 folgte die Entwicklung eines Kurssystems durch R. Kirchner, bestehend aus Grund- und Aufbaukursen, zur Vermittlung psychosomatischer und psychotherapeutischer Kompetenz für Frauenärzte (heute: Psychosomatische Grundversorgung). 1988 übernahm die Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe der DDR die AG als Arbeitsgemeinschaft für Psychosomatische Gynäkologie und Geburtshilfe. 9 Jahre nach ihrer Gründung. Nach einstimmigen Beschluss aller Mitglieder gründete sich aus der AG am 26.06.1990 die Gesellschaft für Psychosomatische Gynäkologie und Geburtshilfe (GPGG), als 1. Vorsitzender wurde der bisherige Vorsitzende der AG, Paul Franke, gewählt (⊡ Tab. 3.2). Mit der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten stellte sich auch rasch das Thema eines Zusammenschlusses der Ost- und der West-Gesellschaft zu einer gemeinsamen
⊡ Tab. 3.2 Präsident/inn/en der DGPGG bzw. DGPFG Zeitraum
Präsident/in
1980-1984
Dietmar Richter
1984-1990
Manfred Stauber
1990-1993
Barbara Fervers-Schorre
1993-1999
Heribert Kentenich
1999-2005
Mechthild Neises
2005-dato
Martina Rauchfuß
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Kapitel 3 · Anmerkungen zur Geschichte der psychosomatischen Frauenheilkunde
wissenschaftlichen Fachgesellschaft, jedoch verging bis dahin noch einige Zeit der Vorbereitung. Zunächst wurde 1994 ein Kooperationsvertrag zwischen GPGG und der DGPGG abgeschlossen. 1997 wurde auf einer Mitgliederversammlung der GPGG die Umbenennung der Gesellschaft in Ostdeutsche Gesellschaft für Psychosomatische Gynäkologie und Geburtshilfe (OGPGG) beschlossen, um mit dieser territorialen Abgrenzung die Vereinigung mit der DGPGG allmählich vorzubereiten. Es sollte eine Vereinigungskommission aus je 3 Mitgliedern der Vorstände beider Gesellschaften gebildet werden. »Die Vereinigung der beiden psychosomatischen Gesellschaften in Ost und West wurde nach der politischen Wende bewußt von den Vorständen nicht forciert. Ein langsames Zusammenwachsen ohne Pression sollte möglich sein. Es setzte ein längerer Diskussionsprozeß ein, der auch durch die Teilnahme von Mitgliedern beider Gesellschaften auf den jeweiligen Kongressen und Vorstandssitzungen konkretisiert wurde. Es gab immer wieder Bedenken und formale Schwierigkeiten in der Vereinigungsdiskussion, die auch durch die sehr unterschiedliche Größe der Gesellschaften zustande kam.« so Stauber im Jahre 1999. »Die bisherige Zusammenarbeit der beiden Gesellschaften seit 10 Jahren, die auf der Basis von gegenseitigem Respekt und Verständigung über das gemeinsame Ziel funktionierte, […] mündete in der Vereinigung zur DGPFG. Die Notwendigkeit und Chance, […] verstärkt am gemeinsamen Ziel, der Integration von psychosomatischen Denken und Handeln in die Frauenheilkunde, zu arbeiten und wissenschaftlich Psychosomatik in die Praxis aufzunehmen, wurde mit dieser Vereinigung unterstrichen.« stellte Weidner 2000 fest. Dieser behutsame Modus der Vereinigung zweier in Ost und West präexistenter wissenschaftlicher Gesellschaften nach der Wiedervereinigung Deutschlands ist als außergewöhnlich anzusehen. Auf der 29. Jahrestagung der DGPGG, die gemeinsam mit der OGPGG in Dresden vom 16.-19.02.2000 veranstaltet wurde, beschlossen die Mitgliederversammlungen beider Gesellschaften deren Auflösungen und die Gründung einer gemeinsamen Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe (DGPFG) unter der Präsidentin Mechthild Neises. Die DGPFG ist mit derzeit ca. 800 Mitgliedern die mitgliederstärkste Arbeitsgemeinschaft der DGGG. Auf wissenschaftlicher Ebene besteht außer mit der DGGG eine enge Zusammenarbeit mit dem DKPM (Deutsches Kollegium für Psychosomatische Medizin) und der DGPM (Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin). Weitere Kooperationen sind eine projektbezogene Zusammenarbeit mit der BZgA (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung) bei Themen rund um Schwangerschaft und Geburt, Sexualerziehung, Früherkennung und Gesundheitsprophylaxe sowie mit dem AKF (Arbeitskreis Frauengesundheit e.V.) und dem Nationalen Netzwerk Frauen und Gesundheit, z. B. bei der Erstellung von Aufklärungsbroschüren zu HPV-Impfung und Mammographiescreening. 2009 fand der Jahreskongress erstmalig in Form einer sehr erfolgreichen 3-Ländertagung in Zusammenarbeit mit der Österreichischen Gesellschaft für Psychosomatik in der Gynäkologie und Geburtshilfe und der Schweizer Arbeitsgemeinschaft für psychosomatische Gynäkologie und Geburtshilfe in Salzburg statt. Dieses Tagungsmodell soll fortgesetzt werden.
Psychosomatische Frauenheilkunde heute Wenn heute im klinisch-ärztlichen Alltag der Begriff Psychosomatik gebraucht wird, können damit je nach Kontext 3 verschiedene Bedeutungsinhalte gemeint sein:
75 Psychosomatische Frauenheilkunde heute
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1. Ein allgemeiner Psychosomatikbegriff umfasst ein urärztlich selbstverständliches Anliegen, nämlich die Berücksichtigung psychischer Faktoren bei Diagnosestellung und Therapie. 2. Der Begriff Psychosomatik wird weiterhin in philosophischer Weise gebraucht, um die Einheit der Persönlichkeit in seiner körperlichen und seelischen Dimension zu erfassen. 3. Die spezielle Psychosomatik im eigentlichen Sinne als spezifische Behandlungs-(und Forschungs-) Richtung, die versucht, mit Hilfe physiologischer und psychologischer Methoden psychisch (mit)bedingte Einflüsse und Ursachen körperlicher Erkrankungen zu eruieren und der Kausalkette entsprechend zu behandeln. Eine andere Definition bezeichnet die psychosomatische Medizin als die Lehre von körperlichen-seelischen Wechselwirkungen in der Entstehung, im Verlauf und in der Behandlung von menschlichen Krankheiten. Sie muss ihrem Wesen nach als personenzentrierte Medizin verstanden werden. In der Frauenheilkunde wird die psychosomatische Sichtweise für Frauenärzte bei jedem Arzt-Patientin-Kontakt deutlich sichtbar. Sehr augenfällig z. B. sind Ängste und Depressionen bei der Diagnose einer malignen Erkrankung. Die psychischen Veränderungen der Frauen während Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett gehören ebenfalls zum Erfahrungsschatz eines jeden Frauenarztes. Die Bewältigung von Krisen wie Sterilität oder Klimakterium sind Teil der täglichen Erfahrung, insbesondere in der Praxis des niedergelassenen Frauenarztes. Das psychosomatische Anamnesegespräch in Praxis und Klinik hat 3 Informationsebenen: ▬ die Sachebene (verbale Informationen mit objektiven und subjektiven Inhalten wie Fakten, Entwicklungen, mehr oder weniger bewussten Informationen), ▬ die Ausdrucksebene (umfasst nonverbale Informationen, Wahrnehmungen und Beobachtungen wie Körperhaltung, Gestik, Blickkontakt, Aussehen, Geruch, Lautstärke, Wortwahl, »Hören mit dem 3. Ohr«) und ▬ die Beziehungsebene. Hier werden die Information eher szenisch vermittelt (Erwartungen, Einstellungen, Gefühle bzw. Phantasien, die beim Arzt/ bei der Ärztin geweckt werden). Es ist dabei zu berücksichtigen, dass die Patientinnen häufig regressive Verhaltensmuster zeigen, da sie unter dem Druck von Angst, Gefahr und Hoffnung stehen. Wesentlich für eine gelungene Kommunikation erscheint auch das Rollenverständnis von Arzt und Patient zu sein. In den letzten Jahrzehnten hat sich mehr und mehr ein partizipatives Arzt-Patienten-Verhältnis ausgebildet, im Gegensatz zum paternalistischen Konzept, welches mittlerweile nur noch von einer Minderheit präferiert wird. Diese zugewiesene Rolle und das Rollenverständnis einer partizipativen Kommunikation haben ebenfalls nachgewiesenen therapeutischen Effekt (⊡ Tab. 3.3). Wenngleich eine Aufteilung von Körper und Psyche artifiziell ist, so kann man doch körperliche und psychische Reaktionsbildungen aufzeigen. Eine Krebserkrankung kann zu einer somato-psychischen Reaktion führen, wenn sich Angst und Depression nach Diagnose und Therapie ausbilden. Auf der anderen Seite können psychische Traumata zu körperlichen Reaktionen führen, wie zu chronischem Unterbauchschmerz oder Dyspareunie. Zusätzlich haben viele Patientinnen bereits bestehende psychische Störungen. Die Besonderheit besteht darin, dass insbesondere Angststörungen, affektive Störungen und somatoforme Störungen bei Frauen häufiger vorkommen als bei Männern. Die 1-Jahres-Prävalenz psychi-
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Kapitel 3 · Anmerkungen zur Geschichte der psychosomatischen Frauenheilkunde
⊡ Tab. 3.3 Therapeutische Auswirkungen eines partizipativen Arzt-Patienten-Verhältnisses (Stewart 1995; modifiziert nach Moerman 2002, Bundesärztekammer 2010)
3
Form der Patientenbeteiligung
Nachgewiesene therapeutische Auswirkungen
Patient wird aufgefordert, mehr Fragen zu stellen
Angstreduzierung
Patient bekommt mehr Informationen
Veränderung physiologischer Parameter
Arzt gibt verständliche Informationen in Verbindung mit emotionaler Unterstützung
Reduzierung der Krankheitssymptome
Arzt und Patient stimmen in der Beurteilung des Gesundheitsproblems überein
Besserung der Symptome
Arzt zeigt Bereitschaft zum shared-decision making
Angst wird reduziert
scher Störungen bei Erwachsenen vom 18.-65. Lebensjahr in einem Gesundheitssurvey des Robert-Koch-Instituts 2008 erbrachte, dass bei etwa jeder 3. Frau mit einer vorbestehenden psychischen Störung zu rechnen ist, unabhängig davon, ob der betreffende Anlass, d. h. ArztPatientin-Kontakt aus Anlass einer Krebsfrüherkennungsuntersuchung, Blutungsstörung etc., wiederum zusätzliche psychische Probleme oder eine Verstärkung der betreffenden Störung zur Folge hat.
Bedürfnisse der Frauen Wenn also jeder Kontakt mit der Patientin einen somatischen und einen psychischen Inhalt hat und wenn die Häufigkeit psychischer Störungen bei Frauen relativ groß ist, so ergibt sich daraus ein Handlungsbedarf für den Arzt im Sinne einer psychosomatischen Sichtweise. Insofern verwundert es nicht, dass in Bezug auf die Frage: »Was ist ein guter Arzt?« in einer Bevölkerungsumfrage des Allensbach-Instituts 1999 (⊡ Abb. 3.1) die emphatischen Bedürfnisse an die Ärztin/den Arzt im Vordergrund standen. Gut verständlich ist weiterhin, dass besonders die Frauenärzte in hohem Maße geeignet sind, diesen Bedürfnissen gerecht zu werden. Bei einer Untersuchung zur Patientinnen-Zufriedenheit bei der letzten Arztkonsultation zeigte sich, dass in der Zufriedenheitsskala die Frauenärztin/der Frauenarzt mit 97,3% an der Spitze lag, vor dem Allgemeinarzt (96,4%), Internisten (96,3%) oder Augenarzt (95,3%). Die heutige Auffassung von einer humanen Medizin und einer Arzt/Ärztin-PatientinnenBeziehung führt zwangsläufig zu der Schlussfolgerung, dass eine psychosomatische Sichtweise in Diagnose, Therapie und Forschung unabdingbar und eine isolierte somatische Sichtweise nicht zeitgemäß ist.
Weiterbildungsordnung Um dem auch in der Facharztausbildung Rechnung zu tragen, wurde zuletzt 2003 die Muster-Weiterbildungsordnung geändert. In der Weiterbildung zur/zum Fachärztin/Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe ist nunmehr die Erlangung der Psychosomatischen
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77 Gesetze, Richtlinien, Leitlinien
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60% 49%
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⊡ Abb. 3.1. Antworten (in %) auf die Frage »Was ist ein guter Arzt?« (Repräsentative Bevölkerungsumfrage, Allensbach 1999)
Grundversorgung obligatorisch vorgesehen. Es handelt sich um eine 80 h-Weiterbildung gemäß § 4 Abs. 8 WBO in der Psychosomatischen Grundversorgung. Diese umfasst: 20 h Theoriebildung, 30 h Balintgruppenarbeit und 30 h verbale Interventionstechnik. Zusätzlich sind psychosoziale und psychosomatische Inhalte in der Weiterbildung zur/zum Fachärztin/ Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe sowie in den Schwerpunkten Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin, Spezielle Geburtshilfe und Perinatalmedizin und Gynäkologische Onkologie festgehalten. Als Resultat ist die Psychosomatik in der Frauenheilkunde im Rahmen der Weiterbildungsordnung gut integriert.
Gesetze, Richtlinien, Leitlinien Auch in Gesetzgebungsverfahren der Bundesrepublik Deutschland zeigt sich aktuell der Einfluss des psychosomatischen Denkens. Im Schwangerschaftskonfliktgesetz des Jahres 2010 hat die Beratung für die Frau in Konfliktsituationen (medizinische Indikation) deutlich an Bedeutung gewonnen. Dieses bezieht sich sowohl auf die ärztliche als auch die psychosoziale Beratung. Im Gendiagnostikgesetz 2010 wurde ebenfalls geregelt, wie die Beratung der Patientin im Vorfeld von Untersuchungen (Zytogenetik, weitere genetische Untersuchungen) sowie insbesondere in der Schwangerschaft (prädiktive Tests) zu regeln ist. Auch hier ist der Gedanke der Information, Aufklärung und psychologischen Beratung vor Durchführung der Tests gut verankert. Außerdem ist das Recht auf Nicht-Wissen festgeschrieben. Zu wesentlichen Fragen der Diagnostik und Therapie gibt die Bundesärztekammer Richtlinien und Leitlinien heraus, beispielsweise die Muster-Richtlinie zur Durchführung der assis-
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Kapitel 3 · Anmerkungen zur Geschichte der psychosomatischen Frauenheilkunde
tierten Reproduktion, 2006. In der Fortschreibung der Richtlinie aus dem Jahre 1998 konnte erreicht werden, dass bio-psycho-soziale Aspekte in Aufklärung und Beratung einfließen. Die Richtlinie ist eingebettet in ethische Überlegungen, die das Wohl des ungeborenen Kindes und der Mutter zum Inhalt haben. Ebenfalls Erwähnung finden soll hier die Leitlinie zum Umgang mit Frauen mit weiblicher Genitalverstümmelung, 2006. Diese soll eine Handlungsanweisung bieten für Frauen, die (insbesondere) in ihrem Heimatland beschnitten worden sind und nun vor allem an den körperlichen Folgen dieser Eingriffe leiden. Da diese Frauen sowohl medizinisch als auch psychosozial stark von dieser menschenverachtenden Handlungsweise betroffen sind, haben biologische, psychische und soziale Aspekte gleichermaßen eine Bedeutung. Im Rahmen der Erstellung und Aktualisierung von AWMF-Leitlinien (Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlicher medizinischer Fachverbände) ist die Integration psychosomatischer Aspekte zunehmend gefragt. Konkret war und ist die DGPFG bei folgenden Leitlinienprojekten involviert (Stand April 2010): ▬ S2k-Leitlinie Chronischer Unterbauchschmerz der Frau, ▬ S2-Leitlinien »Psychosomatisch orientierte Diagnostik und Therapie bei Fertilitätsstörungen, Konsiliar- Liaisonversorgung von Patienten mit psychischen/psychosomatischen Störungen und Belastungen im Krankenhaus und Indikationen und Methodik der Hysterektomie sowie ▬ die S3-Leitlinien Brustkrebs-Früherkennung, Hormontherapie in der Peri- und Postmenopause, Somatisierung/somatoforme und funktionelle Störungen und Psychoonkologische Beratung, Diagnostik und Behandlung von Krebspatienten.
Perspektiven Ein Ausblick muss sich zum einen auf die Psychosomatik als ärztliche Haltung, zum anderen auf die Psychosomatik als Wissenschaft von Psyche und Körper beziehen. Die Psychosomatik als Ausdruck einer ärztlichen Haltung ist in der Frauenheilkunde inzwischen gut integriert. Über weitere Veränderungen im Studium (Reform- oder Modellstudiengänge) wird es hoffentlich auch zu einer Veränderung des ärztlichen Denkens und Handelns von Beginn des Studiums an kommen. Wenn es weiter gelingt, die psychosomatische Grundversorgung innerhalb der Weiterbildungsordnung fest zu verankern und mit hoher Qualität vorzuhalten, dann werden wahrscheinlich in Zukunft Ärztinnen und Ärzte ausgebildet, denen die Einbeziehung bio-psycho-sozialer Aspekte in der Behandlung und Betreuung von Patientinnen in der täglichen Praxis problemlos gelingt. Die Bedeutung der Psychosomatik als Wissenschaft wird sicherlich zunehmen. Die Frage ist nur: Wo und Wie? Während das letzte Jahrzehnt bestimmt war durch die Entschlüsselung des menschlichen Genoms und durch die Erfolge der Molekularbiologie, wird die Wissenschaft des menschlichen Denkens, Fühlen und Handelns die kommende(n) Dekade(n) prägen. Die Erforschung des Gehirns und der dort ablaufenden Vorgänge bleibt eine wesentliche Aufgabe. Wir werden bessere Grundlagen dafür bekommen, psychosomatische Krankheitsbilder und somato-psychische Reaktionen zu verstehen. Die Forschung auf diesem Gebiet kann aber nur gemeinsam geleistet werden in Kooperation mit den Grundlagenwissenschaften, mit der Anatomie, Histologie, Physiologie und Pathophysiologie, den diagnostischen Fachdisziplinen wie Radiologie und Neurologie und den angewandten Fachgebieten wie Psychosomatik, Psychiatrie und nicht zuletzt der Frauenheilkunde.
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Kapitel 3 · Anmerkungen zur Geschichte der psychosomatischen Frauenheilkunde
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Infektionserkrankungen in Gynäkologie und Geburtshilfe Ioannis Mylonas, Klaus Friese
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Kapitel 4 · Infektionserkrankungen in Gynäkologie und Geburtshilfe
Einleitung
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Die Grundlagen der Infektiologie wurden vor mehr als 100 Jahren gelegt. Infektionserkrankungen finden sich in fast allen ärztlichen Fachbereichen, voran in der Inneren Medizin, Chirurgie, Pädiatrie sowie Gynäkologie und Geburtshilfe, so dass in diesen Disziplinen eine eigene infektiologische Forschung existiert. Interessanterweise wurde der Begriff Infektiologie von Felix Höring und Werner Lang erst 1973 geprägt, um die Mikrobiologie von den jeweiligen klinischen Erkrankungen zu trennen. Für die Frauenheilkunde waren früher die Geschlechtskrankheiten sowie das Kindbettfieber von ganz besonderer Bedeutung. Schon im Alten Testament gibt es Hinweise auf Geschlechtskrankheiten, die sich Teile des jüdischen Volkes auf der Flucht ins Gelobte Land im Rahmen der rituellen »heiligen« Prostitution bei den Moabiterinnen zuzogen. Ähnliche Tempelprostitutionen gab es im frühen Babylon. Gonorrhoe und Ulcus molle wurden nachweislich in römischen Bädern übertragen, die die Funktion von Bordellen übernahmen. Die Geburtshilfe hingegen genoss als medizinisches Fachgebiet in der Frühzeit nur ein sehr geringes Ansehen. Geburtshilfliche Abteilungen lagen häufig in alten und häufig desolaten Klinikteilen. Sowohl die Einrichtungen selbst als auch die hygienischen Verhältnisse waren extrem desolat und die Mehrzahl der Patientinnen kam aus ärmlichen Verhältnissen. Dieser Beitrag versucht einen kurzen historischen Abriss der Geschichte der gynäkologischen Infektiologie zu liefern, kann aber aufgrund der zahlreichen ausgezeichneten Wissenschaftler und Kliniker, die sich im Laufe der Zeit mit der Infektiologie beschäftigt haben, nicht alle Aspekte und Personen umfassend berücksichtigen.
Am Anfang war das Mikroskop Antoni van Leeuwenhoek (1632-1723) war ein niederländischer Naturforscher und Mikroskopbauer. Im Jahr 1675 beobachtete er Protozoen und Bakterien im Teich- und Regenwasser sowie im menschlichen Speichel. Diese Beobachtung wurde jedoch von den Kollegen mit außergewöhnlichem Spott und Verachtung kommentiert. Er beschrieb 3 Bakterienformen: Bazillen, Kokken und Spirillen. 1677 beobachtete er als Erster Spermatozoen und widerlegte die bis dahin gültige Theorie zur Entwicklung der kleinsten Lebewesen. Ebenfalls entdeckte er Bakterien im eigenen Zahnbelag.
Romeo und Julia – kann Küssen gefährlich sein? Die genitale Manifestation des Herpes simplex wurde bereits von Hippokrates als Symptom einer sich ausbreitenden Bläschenkrankheit beschrieben. Die Übertragbarkeit der Erkrankung war spätestens in der römischen Antike bekannt; Kaiser Tiberius hat das Küssen bei öffentlichen Zeremonien verboten, da die Ausbreitung einer Bläschenerkrankung an den Lippen beobachtet wurde. Im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts war der Herpes labialis weit verbreitet und seine Übertragung durch Küssen allgemein bekannt. Dies findet sich auch in der Tragödie Romeo und Julia von William Shakespeare wieder. Der Herpes genitalis wurde 1736 von Jean Astruc als eigene Erkrankung erkannt, bis dahin wurden Bläschen im Genitalbereich als Variante der Gonorrhoe oder Syphilis angesehen. 1883 beschrieb der deutsche Dermatologe Paul Gerson aus Unna das häufige, gleichzeitige
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Auftreten dieser Symptomatik mit anderen Geschlechtskrankheiten. Wilhelm Gürtler gelang es 1913 den Erreger der Herpes-Keratitis (Herpes corneae) experimentell auf ein Kaninchenauge zu übertragen und Ernst Löwenstein bewies die gleiche Identität des Erregers mit der Übertragung von Bläscheninhalt des Herpes labialis auf ein Kaninchenauge. Schließlich wurde das Herpes-simplex-Virus (HSV) erstmalig von Slavin und Gavett 1946 isoliert und charakterisiert, wobei erst in den 1960er-Jahren die 2 verschiedenen Virusspezies durch Andre Nahmias und Karl Eduard Schneeweis beschrieben wurden.
Die Syphilis beeinflusste die Weltpolitik Die Ursprünge der syphilitischen Erkrankung werden seit vielen Jahrhunderten ausgiebig diskutiert. Am wahrscheinlichsten ist, dass die Syphilis 1493 durch Soldaten und Matrosen des Amerika-Entdeckers Kolumbus nach Europa eingeschleppt wurde, da dieses Krankheitsbild in den Schriften vor dieser Zeit in Europa nicht auftaucht. Die Ausbreitung dieser Geschlechtskrankheit in den von Kolumbus angelaufenen Hafenstädten Palos in Südspanien, über den Fluss Guadalquivir nach Sevilla und anschließend nach Barcelona lässt sich genau nachverfolgen. Das Heer des französischen Königs Karl VIII., der 1494 in Neapel einfiel, hatte in seinem Söldnerheer einen hohen Anteil spanischer Hilfstruppen. Über diese bereits in Spanien infizierten Soldaten breitete sich die Krankheit zuerst über ganz Italien, dann in ganz Europa (1495), Indien (1498) und sogar China (1505) aus. Die Syphilis wurde auch als die Großen Pocken, Lues venerum (Geschlechtskrankheit), Morbus Gallicus (französische Krankheit) sowie als italienische, spanische, deutsche oder polnische Krankheit bezeichnet. Aber der Name, der in der alltäglichen Umgangssprache verwendet wurde, war Syphilis. Hieronymus Fracastorius soll um 1530 der Erste gewesen sein, der den Begriff Syphilis in seinem Gedicht Syphilis Sive Morbus Gallicus prägte, wahrscheinlich abgeleitet von einem mythischen Schäfer namens Syphilus. Die Infektion wurde sehr schnell zu einer Erkrankung aller sozialen Schichten, die nicht einmal vor Päpsten und Herrscherhäusern haltmachte. Die Infektionserkrankung nahm Einfluss auf die Geschichte und politischen Wandlungen und war von großer Bedeutung, da Syphilis zu Früh- und Totgeburten führte. Prominentes Beispiel war der an der Syphilis erkrankte englische König Heinrich VIII. Seine vielen Ehen sind durch früh- und totgeborene Kinder gekennzeichnet. Seine erste Frau, Katharina von Aragon, wurde 5-mal Mutter, aber alle Kinder waren bei der Geburt entweder tot oder verstarben kurz darauf. Nur eine Tochter blieb am Leben. Da er keinen männlichen Erben hatte, wollte er sich von seiner Frau trennen. Papst Clemens VII. lehnte dies jedoch ab und Heinrich VIII. gründete die englische Staatskirche, zu deren Oberhaupt er sich ernannte. Seine zweite Frau, die junge Anna Boleyn, heiratete er im Februar 1533 und am 7. September 1533 kam Prinzessin Elisabeth zur Welt, die spätere Königin Elisabeth. Von dieser Monarchin wird behauptet, dass sie nicht das Kind von König Heinrich VIII. sei. Alle weiteren Schwangerschaften seiner jungen Ehefrau endeten mit einer Fehlgeburt. Unter dem Vorwand des Ehebruchs wurde sie dann im Londoner Tower hingerichtet. Die im Mai 1536 geheiratete Jane Seymour gebar einen Sohn, den späteren König Edward VI, und sie selbst starb im Wochenbett. Die weiteren Ehen von König Heinrich VIII. blieben, wahrscheinlich aufgrund seiner fortgeschrittenen syphilitischen Erkrankung, kinderlos. Auch die Menschen des Barock und Rokoko litten unter den Auswirkungen der Syphilisepidemie und verhüllten ihre Körper häufig bis auf das Gesicht, um die Stigmata der Syphilis (Roseolen) zu verstecken. Aus dieser Zeit stammt ebenfalls das Tragen von Perücken und das
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Kapitel 4 · Infektionserkrankungen in Gynäkologie und Geburtshilfe
Pudern des Gesichtes, um die Hauterscheinungen und den Haarausfall zu verbergen. Während die Erkrankung am Hof von Ludwig XIV. und Ludwig XV., welche beide infiziert waren, als Kavaliersdelikt angesehen wurde, herrschte in der Bevölkerung und unter den Prostituierten eine ausgeprägte Stigmatisierung mit streckenweise sozialer Ausgrenzung. In der damaligen Zeit glaubte man, dass Syphilis und Gonorrhoe die gleiche Krankheit seien. Erst 1838, als der Pariser Arzt Philippe Ricord in völlig unethischen Menschenversuchen die getrennten Krankheitsbilder von Syphilis und Gonorrhöe demonstrierte, wurden diese als unterschiedliche Krankheitsbilder definiert. Ricord war auch der Erste, der eine Unterteilung der Syphilis in primäre, sekundäre, und tertiäre Phase vorschlug. Giovanni Lancisi (1654-1720) und Herman Boerhaave (1668-1738) beschrieben die Syphilis als Ursache kardiovaskulärer Krankheit. Alfred Fournier (1832-1914) erkannte die syphilitischen Ursprünge der Neurosyphilis. Paul Diday (1812-1894) und Jonathan Hutchinson (1828-1913) trugen sehr zu unserem Wissen angeborener Infektionen bei. Im Jahre 1905 wurde der Erreger der Syphilis von Schaudinn und Hoffman in der Flüssigkeit von sekundären syphilitischen Verletzungen nachgewiesen. Es handelte sich um eine Auftragsarbeit an der Berliner Syphilis-Klinik für das Kaiserliche Gesundheitsamt und der Nachweis gelang gleich beim ersten Versuch. Die erstmalige mikrobiologische Kultivierung des Erregers gelang 1911 dem japanischen Mikrobiologen Noguchi Hideyoi. Der Japaner war es auch, der 2 Jahre später erstmals einen Zusammenhang zwischen der Infektion mit Treponema pallidum, der progressiven Paralyse und Tabes dorsalis herstellen konnte, da er die Treponemen im Gehirn und im Knochenmark nachgewiesen hatte. August von Wassermann konnte eine Serum-Reaktion für Syphilis 1906 beschreiben und hat somit die serologischen Untersuchungen für Syphilis initiiert. Damals erfolgte die Behandlung der Syphilis vorwiegend durch Quecksilber, organische Arsenverbindungen und Wismut. Im Jahre 1943 wurden die ersten 4 Fälle von Syphilis erfolgreich mit Penicillin behandelt und mehr als ein halbes Jahrhundert danach bleibt Penicillin immer noch das Medikament der Wahl.
Selbstversuch und Gonorrhoe Sehr frühe Beschreibungen der Gonorrhoe finden sich im Alten Testament und in den fragmentiert erhaltenen Schriftstücken des Aretaios, eines griechischen Arztes der hippokratischen Schule. Gonorrhoe und Syphilis wurden als Morbus venereus zusammengefasst und als eine einzige Erkrankung aufgefasst. Der schottische Chirurg und Anatom John Hunter (1728-1793) versuchte 1767 in einem Aufsehen erregenden Selbstversuch, diese beiden Erkrankungen als unterschiedliche Ausprägungen einer einzigen Krankheit zu belegen, indem er Eiter aus der Harnröhre eines Tripperkranken mit einem Skalpell in seinen eigenen Penis einbrachte. Leider war der Erkrankte mit beiden Infektionserkrankungen infiziert, so dass Hunter die typischen syphilitischen Symptome entwickelte und dachte, den gemeinsamen Ursprung bewiesen zu haben. Dieser Irrtum wurde erst 50 Jahre später entdeckt. Dem französischen Arzt Phillippe Ricord gelang 1867 erstmals der Nachweis, dass es sich bei Gonorrhoe um eine eigenständige, von der Syphilis zu unterscheidende Krankheit handelt. Der Breslauer Dermatologen Albert Neisser (1855-1916) identifizierte im Jahre 1879 Gonokokken, als Erreger des Trippers, und beendete damit die Jahrhunderte währende Diskussion der gemeinsamen Herkunft der Syphilis und Gonorrhoe. Der Gynäkologe und Geburtshelfer Ernst Bumm (1858-1925) züchtete diese Erreger erstmals auf Nährböden und
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bewies sie als Ursache der Gonoblennorrhoe der Neugeborenen. Im Jahre 1884 führte Karl Sigmund Franz Credé (1819-1892) in Leipzig Einträufelung 1%iger Silbernitratlösung in die Augen Neugeborener unmittelbar nach der Geburt zur Verhinderung der Gonoblennorrhoe ein. Sie war bis 1987 in der Hebammendienstordnung verpflichtend vorgeschrieben.
Ignoranz, Arroganz und Intrigen – die Historie des Kindsbettfiebers Im Jahr 1847 ordnete der damalige Assistenzarzt Ignaz Semmelweis in der Ersten Geburtshilflichen Klinik des Allgemeinen Krankenhauses in Wien an, dass sich Ärzte und Studenten mit einer 4%igen Chlorkalklösung die Hände waschen müssen. Vorausgegangen war der plötzliche Tod durch Blutvergiftung eines befreundeten Gerichtsmediziners, der von einem Studenten mit dem Skalpell während einer Leichensektion verletzt wurde und wenige Tage später verstarb. Da eine Blutvergiftung ein ähnliches Krankheitsbild wie das gefürchtete Kindsbettfieber darstellte, glaubte Semmelweis, dass das sog. Leichengift die Ursache für beide Erkrankungen war (Bakterien waren damals unbekannt). Damals führten die Medizinstudenten klinische Sektionen durch und untersuchten nach diesen Leichensektionen Frauen während der Entbindung. Interessanterweise war die Inzidenz des Kindsbettfiebers in der Zweiten Abteilung sehr gering; die dort betreuenden Hebammenschülerinnen kamen nicht mit Leichen in Berührung und eine Studentenausbildung fand nur in der Ersten Abteilung statt. So konnte mit dieser einfachen Maßnahme innerhalb von 3 Monaten die Müttersterblichkeit von 12,2% auf 1,9% gesenkt werden! Diese wegweisende Maßnahme blieb lange Zeit unbeachtet. Einerseits hielten die Studenten diese Vorschläge für unnötig, andererseits feindeten viele Ärzte Semmelweis aufgrund des Widerspruchs zum damaligen Ärztebild sehr stark an. Eine Verlängerung seiner Assistenzarzttätigkeit wurde ihm deshalb verwehrt. Die angeregte Bildung einer Kommission zur Prüfung seiner Thesen wurde zwar einstimmig von der ärztlichen Gesellschaft angenommen, aber auf Betreiben seines damaligen Klinikdirektors Prof. Klein ministeriell abgelehnt. Auf Grund von Arroganz und Intrigen der Kollegen wurde er 1850 nur zum Privatdozenten für theoretische Geburtshilfe ernannt. Dies veranlasste ihn, innerhalb von 5 Tagen nach seiner Berufung, nach Pest/Ungarn zu gehen. Dort war er ab 1855 ordentlicher Professor für Geburtshilfe an der Universität. Im Juli 1865 wurde Semmelweis ohne Diagnose von 3 Ärztekollegen in die Irrenanstalt Döbling bei Wien eingeliefert. Zwei Wochen nach seiner Einweisung starb er im Alter von 47 Jahren an einer Blutvergiftung infolge einer kleinen Verletzung, die er sich bei einem Kampf mit dem Anstaltspersonal zugezogen hatte, wobei anderen Berichten zufolge er auf dem Anstaltshof von Pflegern erschlagen worden sei. In seinen Unterlagen wird Gehirnlähmung als Todesursache angegeben. Nach seinem Tod wurde die vom schottischen Chirurgen Joseph Baron Lister (18271912) im Jahr 1867 zur Versorgung der Wunden in Karbolsäure getauchten Verbände (Listerscher Verband) in die Chirurgie eingeführt. Ein drastischer Rückgang der Operationsmortalität und der Patientensterblichkeit war die Folge. Nach den Erkenntnissen von Ignaz Semmelweis führten diese Forschungsergebnisse von Lister zu den Grundsätzen von Asepsis und Antisepsis im Gesundheitswesen. Später wiesen Robert Koch und Louis Pasteur nach, dass bestimmte Krankheiten von Mikroorganismen verursacht werden. Pasteur erkannte, dass Bakterien durch Hitze abgetötet werden können, worauf es zur Entwicklung der medizinischen Instrumentensterilisation kam.
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Kapitel 4 · Infektionserkrankungen in Gynäkologie und Geburtshilfe
Noch heute gibt es im englischen Sprachraum den durch Robert Anton Wilson geprägten Begriff des Semmelweis-Reflexes. Dieser Begriff beschreibt die unmittelbare Ablehnung einer Information oder wissenschaftlichen Entdeckung ohne weitere Überlegung oder Überprüfung des Sachverhaltes und führt eher zu einer Bestrafung als zu einer entsprechenden Anerkennung.
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Was eine Beobachtungsgabe und das kritische Hinterfragen bewirken kann Röteln werden durch den sog. Rubella-Virus verursacht. Die Erstbeschreibung dieser Erkrankung erfolgte durch de Bergan im Jahre 1752 und Orlow 1758. Zu der Zeit wurden Röteln als eine Manifestation der Masern angesehen. Aufgrund des damals großen deutschen Einflusses auf die Medizin des angloamerikanischen Raums, wurden Röteln als German measles bezeichnet. Erst 1814 wurden von Georg de Maton Röteln als eigenständiges Krankheitsbild erkannt und als Rötheln benannt. Die Ansicht, dass Röteln eine harmlose Kinderkrankheit seien, wurde erst 1941 von dem australischen Opthalmologen Norman Gregg widerlegt. Im Frühjahr und Sommer des Jahres 1940 trat in Australien eine Rötelnepidemie auf, welche wahrscheinlich durch die Kriegsmobilisation begünstigt wurde. Gregg beobachtete eine erhöhte Inzidenz von kongenitalen Katarakten bei Neugeborenen, welche mit anderen Deformitäten assoziiert waren. Er versuchte durch eine genaue Anamnese eine Ursache für diese Malformationen zu finden. Seine Beharrlichkeit führte zur Entdeckung der Verbindung zwischen Rötelninfektion und kongenitale Deformationen in der Frühschwangerschaft. Gregg beobachtete 13 Fälle in seiner eigenen Praxis, zusammen mit Kollegen konnten insgesamt 78 Fälle von Kindern mit angeborenem Katarakt gesammelt werden. Von diesen 78 Fällen gaben 68 Mütter eine Rötelninfektion in der Frühschwangerschaft an. Somit wurde die Idee des teratogenen Potentials eines Virus eingeführt. Obwohl weitere solche Fälle beobachteten wurden, erweckten Greggs Beobachtungen keine große Aufmerksamkeit in medizinischen Kreisen. Erst nach einer Publikation von Wesselhoeft 1947, wurde die wahre Bedeutung von Greggs Beobachtungen akzeptiert. Obwohl schon 1938 durch Hiro und Tasaka eine virale Ätiologie von Röteln angenommen wurde, konnte die indirekte in-vitro-Isolierung der Rötelnursache erst 1962 von 2 verschiedenen Forschergruppen nachgewiesen werden. Trotz vieler Maßnahmen, wie z. B. aktive Impfung im Kindesalter oder Mutterschaftsvorsorge, treten auch heute noch vor allem nach Rötelnepidemien Rötelnembryopathien auf. Die mit Röteln assoziierte Embryopathie (Embryopathia rubeolosa) wird im angloamerikanischen Sprachraum congenital rubella syndrome (CRS) genannt.
Kann Salat krank machen? Obwohl die Listeriose, im Vergleich zu anderen infektiösen Erkrankungen, eine eher untergeordnete Rolle in der menschlichen Historie spielt, hat sie dennoch den Lauf der Geschichte beeinflusst. Königin Anne von England (1665-1714) aus dem Hause Stuart, war mit Georg, einem dänischen Prinzen verheiratet. Anne war 17-mal schwanger, aber es blieb kein leiblicher Erbe übrig: Eine persistierende Listeriose wird als Ursache rekurrierender Aborte und Totgeburten vermutet. Außer einem Kind, dem Duke of Glouster, starben alle Kinder entweder bald nach der Geburt oder wurden bereits tot geboren. Glouster selbst hatte eine angeborene
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Infektion und auch ihm wurden zunächst wenige Überlebenschancen nach der Geburt eingeräumt. Später entwickelte sich bei ihm ein Hydrozephalus, so dass die normalen Perücken nicht passten. Erst im Alter von 6 Jahren konnte er gehen. Im Alter von 11 Jahren starb er an Scharlach. Nachdem also diese Ehe wegen den Listerien keine Nachfolger hervorgebracht hatte, ging die Regentschaft an das verwandte deutschstämmige Haus Hannover über. Die Krankheit wurde erstmals 1923 von Everitt George Dunne Murray und Kollegen bei Kaninchen und Meerschweinchen beschrieben. Der Erreger wurde 3 Jahre später isoliert. Wieder 3 Jahre später wurde in Dänemark der erste nachgewiesene Fall bei Menschen von Nyfeldt beschrieben. 1940 wurde der Erreger zu Ehren des britischen Naturwissenschaftlers Joseph Lister Listeria monocytogenes benannt. Allerdings blieb die Listeriose als eigenständige Erkrankung eine eher unbeachtete Krankheit. 1952 erkannte Jürgen Potel vom Hygieneinstitut der Universität Halle die Bedeutung der Listerien als Ursache der Granulomatosis infantiseptica. Obwohl schon länger vermutet, war die Übertragung von Listeriose durch Nahrungsmittel lange Zeit nicht nachgewiesen worden. Erst 1981, nach einem endemischen Auftreten in einer kanadischen Provinz mit 41 infizierten Patienten und einer Mortalität von 27%, konnten Nahrungsmittel als Ursache für eine Listeriose identifiziert werden. L. monocytogenes Serotyp 4b konnte von einem Krautsalat, welcher im Kühlschrank eines Patienten gefunden wurde, kultiviert werden. Obwohl kein Anhalt für eine Kontamination beim Lieferanten des Krautsalates gefunden wurde, konnte der Serotyp 4b von einer ungeöffneten Packung Krautsalat nachgewiesen werden. Eine groß angelegte Suche nach der Herkunft der Krautsalate führte zu einem Bauern, der ebenfalls Schafe züchtete. Zwei seiner Schafe waren an Listeriose gestorben und der Bauer nutzte die Ausscheidungen der Schafe als natürlichen Dünger für die Salatproduktion. Somit wurde die Epidemie durch direkte Kontamination von Kohlköpfen durch Bewirtschaftung mit infiziertem Dünger von infizierten Schafen ausgelöst. Diese ungewöhnliche Untersuchung zeigte zum ersten Mal eine Assoziation zwischen Nahrungsmitteln und Listeriose.
Fischgeruch in der Gynäkologie Der Gynäkologe Herman Lawrence Gardner (1912-1982) stellte im Jahre 1954 seine Arbeit mit dem Bakteriologen Dukes vor, die kurz darauf unter dem Titel Haemophilus vaginalis vaginitis – a newly defined specific infection previously classified ‘non-specific’ vaginitis erschienen ist. Sie fanden bei 141 von 1181 untersuchten Frauen (12%) ein gramnegatives Stäbchen, das sie Haemophilus vaginalis nannten. Gardner und Dukes versuchten die 4 Henle-Koch-Postulate nachzuweisen, was auch teilweise gelang. Nachdem bei 15 vaginal gesunden freiwilligen Frauen der Fluor von Frauen mit Haemophilus-vaginalis-Vaginitis in die Scheide eingebracht wurde, zeigten sich bei 11 der 15 infizierten Patientinnen die typischen Symptome der heute sog. bakteriellen Vaginose, welche verstärkt mit fischig riechendem Ausfluss, Rötung des Vaginalepithels sowie manchmal mit einer Schmerzsymptomatik wie Brennen und Pruritus einhergeht. Mit diesen Arbeiten von Gardner und Dukes begannen neue Impulse in der Erforschung der vaginalen Infektionen. Neben der Bedeutung der anaeroben Vaginalflora und ihrer Bedeutung für gynäkologische Infektionen sind auch die gewonnen Erkenntnisse über den Zusammenhang einer Frühgeburt mit vaginalen Infektionen von entscheidender Bedeutung für die heutige klinische Praxis. Zu Ehren des Frauenarztes Gardner, erhielt der Leitkeim der bakteriellen Vaginose den Namen Gardnerella.
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Kapitel 4 · Infektionserkrankungen in Gynäkologie und Geburtshilfe
Die Probleme gehen (leider) weiter
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Um die Entdeckung und den Ursprung des HI-Virus und der AIDS-Erkrankung ranken sich zahlreiche Geschichte und Annahmen. Im Jahre 1981 berichtete der Immunologe Michael Gottlieb von 4 homosexuellen Patienten mit einer atypischen Pneumocystis-carinii-Pneumonie im Zusammenhang mit einem ausgeprägten immunen Defizit der Patienten. Es wurde eine infektiöse Ursache angenommen und eine groß angelegte Suche nach den Risikofaktoren und der Ursache begann. Das HI-Virus wurde 1983 zum ersten Mal von Luc Montagnier und Françoise Barré-Sinoussi vom Pariser Institut Pasteur beschrieben. Für diese Entdeckung wurden sie 2008 mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet. Der Ursprung dieses Virus war lange Zeit unbekannt. Im Mai 2005 gelang erstmals der Nachweis, dass der Ursprung von HIV beim Affen liegt. Etliche Proben der in der Wildnis lebenden Schimpansen wiesen Antikörper gegen das Simiane-Immundefizienz-Virus (die Version für Affen des HI-Virus) auf, wobei sogar 12 Proben fast identisch mit dem HIV-1 bei Menschen waren. Allerdings sind die Schimpansen nicht die ursprüngliche Quelle des HI-Virus, da sich diese mit hoher Wahrscheinlichkeit von anderen Affenarten infiziert haben. Wie das Virus auf den Menschen übertragen wurde, ist unklar. Der älteste, anhand von Blutproben gesicherte Nachweis einer HIV-Infektion, stammt 1959 aus dem Kongo. Um 1966 soll der HI-Virus nach Haiti und von dort aus in die USA gelangt sein. Mittlerweile hat sich die HIV-Infektion weltweit verbreitet und stellt aufgrund der fehlenden Impfung und der unzureichenden Therapie in Dritte-WeltLändern ein großes globales gesundheitsökonomisches Problem dar. Im Bereich der Geburtshilfe hat die HIV-Infektion intensive Forschung in Gang gesetzt, so dass seit Mitte der 80er-Jahre deutsche Gruppen intensiv daran gearbeitet haben, die Übertragungsrate auf die Neugeborenen zu reduzieren, wobei zu Beginn der Infektion überhaupt keine Therapieoptionen bestanden. Während das Infektionsrisiko für das ungeborene Kind in Deutschland bei 30-40% für eine postpartale Infektion lag (wie es heute in Afrika immer noch ist), ist mittlerweile durch eine intensive Forschung und Behandlungskombination, zuerst mit einer Monotherapie mit Retrovir, dann zusammen mit der obligaten Sektio vor Wehenbeginn und mittlerweile durch eine kombinierte, hoch dosierte Therapie, das Risiko einer Infektion im Schnitt auf 1,5% gesunken. Mittlerweile geben die Daten die Option her, dass bei einem fehlenden Virusnachweis unter der Nachweisgrenze von 50 bis weniger als 20 Viruskopien pro μl auch eine Vaginalgeburt, bei entsprechender Aufklärung, möglich ist.
Die HPV-Infektion – Infektiologie wird onkologisch Das Verdienst des im Jahre 2008 durch den Nobelpreis geehrten Prof. Harald zur Hausen ist, dass er zuerst die Herpes-Viren untersuchte, aber dann Humanpapillomaviren (HPV-Viren) identifizierte und in konsequenter Forschungsarbeit nachweisen konnte, dass diese Ursache des Zervixkarzinoms der Frau sind. Zur Hausen hatte dabei Widerstände, auch bei Gynäkologen oder Zytologen, zu überwinden und andererseits haben viele wissenschaftlich tätige Gynäkologen, insbesondere in seiner Zeit als Direktor des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) in Heidelberg, ihn intensiv durch Materialsammlung unterstützen können. Durch die Herstellung der 2 kommerziell erwerblichen Impfstoffe ist es nun gelungen, durch eine Impfung von noch nicht HPV-infizierten Mädchen, das Zervixkarzinom zurück zu drängen. Es gibt bereits in diesem Jahr aus England Rechenüberlegungen von Epidemiologen, die bei der in England konse-
89 Die jüngere gynäkologische Infektiologie in Deutschland
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quent angewendeten Impfung einen Rückgang für das Zervixkarzinom im Jahr 2025 von fast 60% in der geimpften Gruppe postulieren. Leider ist dieser enorme Vorteil in Deutschland nicht zu erwarten, da im Rahmen der allgemeinen Impfmüdigkeit und der nicht priorisierten Impfung durch die Gynäkologen derzeit nicht einmal 30% der betroffenen Population an Mädchen zwischen 12 und 17 Jahren geimpft werden. Die Zukunft wird zeigen, ob eine weitere Ausdehnung auf die noch fehlenden Erregertypen mit onkogenem Potential eine höhere Akzeptanz der Impfung erreichen wird.
Die gute alte Zeit? – Infektiologie in Deutschland Neben Ländern wie Frankreich (Louis Pasteur), England (Joseph Lister), USA (Simon Flexner) oder Japan (Shibasaburo Kitasato, Kiyoshi Shiga) nahm Deutschland jahrzehntelang eine führende, wenn nicht sogar eine herausragende Position in der Infektiologie ein, die durch Persönlichkeiten wie Rudolf Virchow, Emil von Behring, Paul Ehrlich, Gerhard Domagk und Robert Koch geprägt wurden. Nicht umsonst erhielten 4 dieser Persönlichkeiten den Nobelpreis. Robert Koch gilt als Begründer der modernen Bakteriologie. Robert Koch stellte durch seine kontagionistischen Lehre die Kausalität Infektionserkrankung in den Vordergrund ohne auf evtl. sozialpolitische Aspekte einzugehen, welche der Münchner Wissenschaftler Max von Pettenkofer oder auch Rudolf Virchow vertraten. Noch heute stehen die 3 Henle-KochPostulate, etwas variiert und um ein Postulat ergänzt für den Beweis, dass pathogene Keime die Verursacher von Infektionskrankheiten sind. Wenn es sich nun aber nachweisen ließe: ▬ erstens, dass der Parasit in jedem einzelnen Falle der betreffenden Krankheit anzutreffen ist, und zwar unter Verhältnissen, welche den pathologischen Veränderungen und dem klinischen Verlauf der Krankheit entsprechen; ▬ zweitens, dass er bei keiner anderen Krankheit als zufälliger und nicht pathogener Schmarotzer vorkommt; und ▬ drittens, dass er von dem Körper vollkommen isoliert und in Reinkulturen hinreichend oft umgezüchtet, imstande ist, von neuem die Krankheit zu erzeugen. Als 4. Postulat gilt heute, dass der Mikroorganismus reisoliert werden und identisch mit dem ursprünglichen Erreger sein muss. Auch im Bereich der Therapie der Infektionserkrankungen sind entscheidende Impulse aus Deutschland ausgegangen. Gerhard Domagk führte als Erster die Sulfonamide in die Chemotherapie der bakteriellen Infektionen ein. Für die Entdeckung der antibakteriellen Wirkung des Sulfonamids Prontosil erhielt er 1939 den Nobelpreis für Medizin zugesprochen, wobei er aufgrund einer Anordnung Hitlers, dass »Reichsdeutschen« ab 1937 verboten war den Nobelpreis anzunehmen, diesen nicht entgegennehmen konnte. Erst 1947 konnte ihm der Preis ausgehändigt werden, jedoch ohne das Preisgeld.
Die jüngere gynäkologische Infektiologie in Deutschland Der Münchner Lehrstuhlinhaber Prof. Albert Döderlein (1860-1941) beschäftigte sich, sehr beeinflusst von Ignaz Semmelweis, schon als junger Assistenzarzt mit infektiologischen Fragen. Nach ihm wurden die von ihm 1892 erstmals im Sekret der Vagina beschriebenen
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Kapitel 4 · Infektionserkrankungen in Gynäkologie und Geburtshilfe
Milchsäurebakterien Döderlein-Bakterien benannt und deren Wechselwirkung mit Bakterien und Pilzen im Scheidensekret beschrieben (Das Scheidensekret und seine Bedeutung für das Puerperalfieber, Döderlein 1892). Er führte später aus aseptischen Gründen Gummihandschuhe (Touchierhandschuhe) in die klinische Praxis zur Verhinderung der Puerperalsepsis ein (Untersuchungen über das Vorkommen von Spaltpilzen in den Lochien des Uterus und der Vagina gesunder und kranker Wöchnerinnen, Döderlein 1887). Interessant erscheint für die damalige Zeit die Meinung Döderleins, lediglich ein bakteriologisch normales von einem bakteriologisch pathologischen Scheidensekret zu unterscheiden. Während der ersten Jahre des 20. Jahrhunderts arbeiteten Wissenschaftler in Deutschland und europaweit bevorzugt über die normale sowie pathologische Scheidenphysiologie. Maunu af Heurlin beschäftigte sich 1914 ausführlich mit den Bakteriologischen Untersuchungen der Genitalsekrete der nicht Schwangeren und nicht puerperalen Frau vom Kindes- bis ins Greisenalter unter physiologischen und gynäkologisch-pathologischen Verhältnissen und versuchte eine Unterteilung des Scheidenmileus in Reinheitsgrade. Diese Reinheitsgrade wurden vom Rostocker Gynäkologen Robert Schröder (1921), Ludwig Nürnberger (1930) und Otto Jirovec (1948) modifiziert und verändert. Diese Unterteilung hatte bis vor ein paar Jahren breite Verbreitung im deutschsprachigen Raum. Der Mikrobiologe Eyer (1961) setzte sich ausgiebig mit der gestörten Mikrobiologie der Scheide auseinander und assoziierte das das Prinzip der ehelichen Treue mit der Bakteriologie. Der Gynäkologe Hans A. Hirsch thematisierte die Anaerobierinfektionen und deren Bedeutung im Bereich Gynäkologie und Geburtshilfe. Die Kollegen Herbert Werner, Christina Krasemann und Norbert Lang wiesen auf den wichtigen klinischen Einfluss der anaeroben, fakultativ pathogenen Flora des Genitaltraktes hin. In der ehemaligen DDR hatte sich besonders Heinz Spitzbart (1930-2008) in Leipzig und Erfurt seit den 60er-Jahren mit den Laktobazillen und den Schwankungen des pH-Wertes und seinen Störungen beschäftigt und fasste dies in zahlreichen Publikationen und Lehrbüchern zusammen. Es entstand im Jahr 1965 die Arbeitsgemeinschaft Mikrobiologie und Krankenhaushygiene in der Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe. In der BRD wurde im Jahr 1987 die Arbeitsgemeinschaft für Infektionen in der Gynäkologie und Geburtshilfe (AGI) gegründet, die ab 1993 in Arbeitsgemeinschaft für Infektionen und Infektionsimmunologie (AGII) umbenannt wurde. Im Jahre 1991 vereinigten sich die Gesellschaften aus Ost und West.
Abschluss Obwohl Infektionserkrankungen in der Frauenheilkunde und Geburtshilfe zu den wichtigsten und praktisch relevantesten Aspekten unseres Fachgebietes zählen, finden sie mittlerweile keine adäquate oder ausreichende Berücksichtigung, sowohl in Ausbildung als auch in der Spezialisierung und Weiterbildung unseres Fachbereichs. So ist z. B. das Wort Infektion nicht in der Weiterbildungsordnung anzutreffen, obwohl z. B. die Beurteilung des vaginalen Nativpräparats mittels Phasenkontrastmikroskopie die tägliche Arbeit aller Gynäkologen und sogar Geburtshelfer darstellt. In Zeiten, in denen sich alles um Geld, Finanzierung, Krise und Profilierung geht, ist leider fast jeder der Versuche der mittlerweile sehr wenigen, engagierten gynäkologischen Infektiologen, das Wissen um Diagnose und Therapie von Infektionskrankheiten in der Gynäkologie voranzubringen, zum Scheitern verurteilt, umso mehr ein Desaster in Anbetracht der wissenschaftlichen Erkenntnisse und die daraus resultierende verbesserte Betreuung unser Patientinnen (z. B. HPV Impfung).
91 Literatur
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Literatur Döderlein A (1887) Untersuchungen über das Vorkommen von Spaltpilzen in den Lochien des Uterus und der Vagina gesunder und kranker Wöchnerinnen. Arch Gynäkol 31: 412-447 Döderlein A (1892) Das Scheidensekret und seine Bedeutung für das Puerperalfieber. Besold, Leipzig Eckart WU (2009) Geschichte der Medizin: Fakten, Konzepte, Haltungen. 6. Auflage. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokio Eyer H (1961) Über Biologie und Bakteriologie des Scheidensekretes. Arch Gynäkol 195:11-14 Friese K, Schäfer A, Hof H (2002) Infektionskrankheiten in Gynäkologie und Geburtshilfe. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokio Gardner HL, Dukes CD (1954) New etiologic agent in non-specific baterial vaginitis. Science 120: 853 Jirovec O, Peter R, Malek J (1948) Neue Klassifikation der Vaginalbiocoenose auf sechs Grundbildern. Gynaecologia (Basel) 126: 77 Karger-Decker B (2000) Die Geschichte der Medizin. Von der Antike bis zur Gegenwart. Patmos Kohl PK, Winzer I (2005) 100 Jahre Entdeckung der Spirochaeta pallida. Hautarzt 56: 112-115 Lang N, Werner H, Krasemann C (1980) Die Rolle der Anaerobier im Wochenbett: klinische Bedeutung und Therapie. Geburtsh Frauenheilk 40: 671-677 Ludwig H (2003) Albert Döderlein (1860–1941): Von der Vaginalflora zur Strahlentherapie des Uteruskrebses. Gynäkologie 36: 554-556 Mendling W (2006) Vaginose, Vaginitis, Zervizitis und Salpingitis. 2. Auflage, Springer, Berlin Heidelberg New York Tokio Nürnberger L (1930) Die Erkrankungen der Scheide. In: Stoeckel (Hrsg.) Handbuch der Gynäkologie. 3., völlig neu überarbeitete und erweiterte Auflage des Handbuches der Gynäkologie von Veit J, Bd. 5. Bergmann, München Porter R (2006) Geschröpft und zur Ader gelassen: Eine kurze Kulturgeschichte der Medizin. Fischer Spitzbart H. Holtorff J, Engel S (1981) Vulvitis – Kolpitis. Barth, Leipzig
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Geschichte der operativen Gynäkologie am Beispiel der Hysterektomie – eine Zeitreise Angela Köninger, Rainer Kimmig
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Kapitel 5 · Geschichte der operativen Gynäkologie am Beispiel der Hysterektomie
Einleitung
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Esther Fischer-Homberger schreibt in ihrem 1979 erschienen Buch Krankheit Frau: »Die Geschichte der Gynäkologie und Geburtshilfe ist zunächst durch ihre enge Beziehung zur Geschichte der Frau charakterisiert. Die Frau ist historisch weitgehend stumm. […]. So sind weite Gebiete der Vergangenheit der Gynäkologie und Geburtshilfe hagiographisch nicht erfassbar und nicht erfasst.« Liegt es an der Benachteiligung der Frau, dass wir über die Anfänge der Gynäkologie, und in diesem Kontext der Geschichte der Hysterektomie, so wenig wissen oder ist diese Geschichte ein viel komplexere, die erst in der Neuzeit begonnen hat und noch nicht zu Ende geschrieben ist? Ernst Held schreibt 1966 in Die abdominale erweiterte Hysterektomie: »Wollte man die Leistungen der Operateure zu verschiedenen Zeiten gerecht beurteilen, so müsste man parallel zu einem historischen Abriss über den Eingriff selbst auch die Geschichte der Narkose, des Blutund Flüssigkeitsersatzes, der Asepsis und der Antisepsis, der Chemotherapie und der Antibiotika, ja der Beleuchtungstechnik und anderer technischer Einrichtungen schreiben.« Vielleicht bringt Kurt Semm diese vielschichtige Geschichte auf den entscheidenden Punkt: »Die Gebärmutterentfernung ist die höchste chirurgische Leistung des gynäkologischen Operateurs. Für die Frau ist diese Operation in ihrer jetzigen Form ein die Persönlichkeit desintegrierendes Geschehen«. Die Geschichte der Hysterektomie ist also eine Geschichte der Frau und eines ihrer wichtigsten Organe, welches untrennbar mit dem Muttersein verbunden ist. Sie ist ein Bestandteil, ein Nutznießer, der Geschichte der operativen Medizin und der Medizintechnik. Und sie ist eine Geschichte der Operateure – ihres Wissens, ihres Mutes und ihrer Tradition. Die nachfolgenden Seiten versuchen, alle drei Aspekte der Geschichte der Hysterektomie zu berücksichtigen und dem Leser neben den historischen Fakten auch einen Einblick in die Rolle der Gebärmutter für die Frau zu vermitteln sowie einige bedeutende Gynäkologen und ihre Lebensgeschichte zu skizzieren.
Bedeutung der Gebärmutter im Laufe der Zeitgeschichte Die folgenden Ausführungen haben nicht zum Ziel, die psychischen Zusammenhänge von Frausein und Besitz bzw. Verlust einer Gebärmutter zu erörtern: Dies würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Vielmehr geht es darum, die integrative Bedeutung des Uterus im menschlichen Körper zu erörtern. Ein wenig erklärt das, warum es lange Zeit keine Hysterektomie gegeben hat, denn sowohl die anatomische Lage und die Funktion des Uterus, wie z. B. die Menstruationsblutung, hatten über viele Jahrhunderte eine von der heutigen Wissenslage abweichende Rolle inne. Die folgenden Ausführungen sollen anhand bedeutender Theorien und Vertreter einen historischen Abriss von der Antike bis in das mittlere 20. Jahrhundert geben und aufzeigen, wie die Menschen über die Gebärmutter und ihre Hauptfunktionen, Empfängnis und Austragen der Schwangerschaft sowie die monatliche Blutung, gedacht haben. Neben dem durch die Geschichte ziehenden Gedankengut der Hysterielehre werden im Folgenden ein Vertreter der Antike, Soranus von Ephesus, und eine Vertreterin des Mittelalters, Hildegard von Bingen, exemplarisch dargestellt. Die beiden letztgenannten sind in ihren Schriften ausführlich auf die Bedeutung des Uterus eingegangen. Zuletzt soll aufgezeigt werden, welche Vorstellungen vom Endokrinium der Frau das beginnende 20. Jahrhundert innehatte.
95 Exkurs in die Imaginationslehre
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Auch wenn dies den Leser aus den historischen Fakten der Hysterektomiegeschichte zu entfernen scheint, so steht er doch mitten in der Geschichte der Gebärmutter und gelangt mit dem beginnenden 20. Jahrhundert an die historische Schwelle der sich etablierenden Hysterektomie.
Hysterielehre von der Antike bis in das 20. Jahrhundert Zur Zeit des Hippokrates galt die Gebärmutter als zentraler Teil des weiblichen Organismus. Die Fähigkeit wachsendes neues Leben auszutragen wurde mit einer gewissen Autonomie des Uterus sowie einem lokalisierbaren Sitz von Leben, Krankheiten und Leidenschaften »vertauscht«. Man schrieb dem Uterus eine Dislokationsfähigkeit zu anderen Organen, wie Leber, Herz und Gehirn zu. Dies führte schließlich zu sog. hysterischen Krankheiten, z. B. dem hysterischen Erstickungsanfall. Hierzu einige historische Quellen: In einem Brief Demokrits an Hippokrates ist zu lesen, dass die »Gebärmutter die Ursache von 1000 Übeln sei«. Platon schrieb über den Uterus: »Wenn nun in der Blüte ihres Lebens lange Zeit vergeht ohne dass sie eine Frucht bringen, so führt dies zu einem Zustand schwer zu ertragender Unzufriedenheit, er (der Uterus) zieht überall im Körper umher, versperrt die Durchgänge der Luft und lässt keine Luft aufnehmen. Dieser Zustand führt die Weiber in die äußerste Ausweglosigkeit und bereitet ihnen mannigfach andere Krankheiten«. Ähnliche Aussagen findet man bei Aretaeus, dem Kappadocier 50 n. Chr.: »Wenn er nun plötzlich in die Höhe steigt, hier eine längere Zeit verweilt und die Eingeweide mit Gewalt verdrängt, so bekommen die Frauen Erstickungsanfälle wie bei der Epilepsie […]«. Als später die Ortsständigkeit des Uterus konstatiert wurde, wandelte sich der Begriff Hysterie in frauentypische, psychische Krankheitsschemata. Warum ausgerechnet der Uterus als Ursache für andere Krankheiten hergenommen wurde, erklärt die Imaginationslehre, die Lehre von den Einbildungen.
Exkurs in die Imaginationslehre Die Zeugung erfolgte nach Aristoteles als eine »Einbildung« des Vaters, der sein Bild im Sinne eines »formenden Prinzips« auf das Menstrualblut als »Substrat des neuen Menschen« überträgt. Diese sog. Imaginationslehre, die bis in das 17. Jahrhundert reicht, und vor allem von van Helmont (1577-1644) propagiert wurde, sah in der Schwängerung einen EinBildungsprozess im eigentlichen Sinn des Wortes. Sie lieferte auch ein Erklärungsmodell für Miss- und Fehlgeburten oder Kinder, die mit den Eltern, insbesondere dem Vater, keine Ähnlichkeit aufwiesen: affen-, frosch- und katzenähnliche Kinder (wahrscheinlich gemeint sind Kinder mit Anenzephalus oder Trisomie 18) entstanden nach Begegnungen der Mutter mit den genannten Tieren in der Schwangerschaft bzw. diese »bildeten sich in den Konzeptus« ein. Gleichermaßen erklärbar waren Hasenscharten und der Wolfsrachen. Der Uterus wurde nicht nur im Hinblick auf die Nachkommen zu einem Ort der Einbildungen, sondern auch im psychischen Bereich. Wenn unpassende Bilder in die Gebärmutter hineingerieten, entstanden hysterische Einbildungsleiden. Im 18. Jahrhundert wurde die Imaginationslehre im Hinblick auf Fehl- und Missgeburten revidiert und als falsches Erklärungsmodell für mütterlichen Ehebruch durch August Blondel (1665-1734, ⊡ Abb. 5.1) entlarvt.
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Kapitel 5 · Geschichte der operativen Gynäkologie am Beispiel der Hysterektomie
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⊡ Abb. 5.1. »Kaninchengeburt« – Auf dem Boden der Imaginationslehre entstand die Behauptung der Mary Toft, 1726 Kaninchen geboren zu haben. Kupferstichkabinett der Nationalbibliothek Paris
Im Hinblick auf die Hysterielehre wurde aber die Vorstellung von körperlich-krankmachenden Einbildungen, sprich psychogen bedingte Leiden, beibehalten. Der Gedanke, dass seelische Eindrücke zu körperlichen Leiden führen, lässt sich bis zur Neurosenlehre Freuds (1856-1939) verfolgen, wobei hier insbesondere das sexuelle Trauma einen bedeutenden Platz einnimmt. Zur Zeit der Ketzerei und Hexenverfolgung entstand aus der differenzierten Sichtweise des Edward Jordans (1569-32) eine erste Abhandlung über die Hysterie. Er unterschied psychopathologische Symptome von Besessenheit und Hexerei. Er betonte, dass Erfahrung und gute Unterscheidungskraft erforderlich seien, um die Hysterie als Krankheit (des Uterus) erkennen zu können. Dass psychische Erkrankungssymptome gleichsam auch bei Männern auftreten, erklärte Sydenham, wobei er die identische Krankheit bei Frauen als Hysterie und bei Männern als Hypochondrie bezeichnete. Somit dürfte endgültig eine anatomische Verbindung von Psychopathologika zur Gebärmutter gelöst worden sein, während die inhaltliche Verbindung vorerst noch lange bestehen blieb: Die Hysterie wurde weiterhin als ein präferentiell die Frau befallender Symptomkomplex beschrieben, laut Kraepelin (1856-1926) eine »amplification de la mentalite feminine«. Merkmale wie »gleichgültig gegen fremdes Leid, rücksichtslos gegen ihre Umgebung«, »Virtuosen des Egoismus«, die »nicht selten in unglaublichster Weise« ihre Umgebung »tyrannisieren und ausbeuten«; Neigungen zu »Verdrehung der Tatsachen, zur Lüge und Verläumdung«, »nimmer ruhende Unzufriedenheit, das ungemein anspruchsvolle Wesen« kennzeichnen die Hysterie und lassen sich in »enge Beziehungen zu den natürlichen, dauernden Eigentümlichkeiten des weiblichen Geschlechtes« setzen.
97 Soranus von Ephesus – Vertreter der Antike
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Das regelmäßige Auftreten der Menstruation wurde im 19. Jahrhundert mit einem weiteren neurologisch-psychiatrischen Begriff, der Reflexlehre, wie sie im Kontext der Epilepsie bekannt war, in Verbindung gebracht: Nach Pflüger führte das kontinuierliche Wachstum von Eizellen zu einer kontinuierlichen Reizung der Ovarialnerven, zu einer Summierung im »menstrualen Reflexzentrum des Rückenmarks« und nach Überschreitung eines Schwellenwertes zum »reflektorischen Ausschlag mit Blutkongestion nach den Genitalien«. Im Kontext der Reflexepilepsie und der Hysterie mit teilweise überschneidenden Symptomen wurde die ovariell getriggerte Hysterie formuliert, wobei man die hysterischen Attacken dem Ovar und nicht mehr dem Uterus als Ursprungsort zuordnete. Prä- und perimenstruelle Beschwerden bei ansonsten Gesunden bestätigten den Zusammenhang zwischen Nervensystem und Ovarien: »Jedes Weib gerät alle vier Wochen in einen Zustand, welcher eine Abweichung von ihren normalen körperlichen und geistigen Funktionen erkennen läßt« (Max Runge, 1902). Die regelmäßig wiederkehrende Menstruation und die Analogisierung zu Reflexneurosen im Kontext der Hysterie (s.o.) verleiteten schließlich zu operativen Maßnahmen im Sinne von Heilungsversuchen der psychiatrischen Erkrankungen. Die Erfolglosigkeit derselben führte zusammen mit der Entdeckung der Endokrinologie zur endgültigen Loslösung des anatomischen Zusammenhanges zwischen Psyche und Genitalorgane: Gottfried Ewald (1888-1963) schrieb diesbezüglich: »Das Naheliegendste scheint zunächst, dass irgendein endokriner Reiz, der mit der Menstruation oder Ovulation verbunden ist, zu einer zentralnervösen Erregung führt, die die Psychose ins Rollen bringt. Dem widersprechen aber die operativen und röntgenologischen Kastrationserfolge. Uns selbst lehrte die völlige Erfolglosigkeit von Röntgenkastration, Ovariektomie und schließlich sogar Totalexstirpation bei einer klassischen menstruell wiederkehrenden Psychose…, dass die Dinge keineswegs so einfach endokrinologisch zu lösen sind«.
Soranus von Ephesus – Vertreter der Antike Die antike Hochschulmedizin der Schüler des Asklepios, hinterlässt mit einem ihrer bedeutendsten Vertreter, Soranus von Ephesus (2. Jh n. Chr.), und dessen Schriften eine der Wirklichkeit nähere Vorstellung von Anatomie und Physiologie. Soranus war ein in Alexandrien ausgebildeter Arzt, Philosoph und Grammatiker, wirkte in Rom und gilt als ein wichtiger Vertreter der sog. Methodiker. Durch seine hinterlassenen Schriften über Hygiene, Arzneimittel- und Verbandslehre, aber auch Chirurgie und Frauenheilkunde (»Vier Bücher über weibliche Krankheiten« nach den Worten des Byzantiners Suidas) ist er der Nachwelt bekannt geworden. Er hat ein gynäkologisches Werk veröffentlicht, was insbesondere Ausführungen zum Hebammenberuf, zur Geburtshilfe und Säuglingspflege, aber insbesondere auch zu Krankheiten der Gebärmutter enthält. Er beschrieb eine sehr detaillierte Vorstellung der Uterus-, Scheiden- und Vulvaanatomie sowie angeborenen Fehlbildungen, widersprach den Vertretern der Dislokationslehre des Uterus und relativierte die Wichtigkeit der Gebärmutter: »Man muss nicht annehmen, dass die Gebärmutter für das Leben von großer Bedeutung ist. Denn sie fällt nicht nur vor, sie wird auch bei manchen herausgeschnitten, ohne den Tod herbeizuführen, wie Themison erzählt«. Er revidiert Diokles, welcher »...behauptet, auch Saugnäpfe […] befänden sich in dem weiten Raum der Gebärmutter; vorsorglicherweise seien sie von der Natur geschaffen, damit der Embryo schon vorher lerne die Warzen der Mutterbrust anzuziehen. Doch dies ist ein anatomischer Irrthum«.
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Kapitel 5 · Geschichte der operativen Gynäkologie am Beispiel der Hysterektomie
Exkurs in die Lehre der Humoralpathologie
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Die antike Humoralpathologie, mit ihrem wichtigsten Vertreter Hippokrates, sah den menschlichen Organismus als ein Zusammenspiel der vier verschiedenen Säfte an: Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle. Die qualitativen und quantitativen Relationen der Säfte zueinander bedingten Gesundheit oder Krankheit. Äußere Einflüsse wie Temperaturschwankungen, fehlerhafte Ernährung, Gifte oder aber auch Vererbung konnten zu einem Ungleichgewicht der Säfte und damit zur Krankheit führen. Die Reaktion des Körpers auf das Ungleichgewicht der Säfte bestand z. B. in einer Temperaturerhöhung, wobei die verdorbenen Säfte durch die Erhitzung gekocht und in eine andere Form gebracht wurden, z. B. Blut in Eiter. Schließlich kam es zur Ausscheidung der Säfte, z. B. im Schweißausbruch, Erbrechen und Abführen. Die Menstruation galt als eine monatliche Reinigung der Frau, die aufgrund ihrer weiblichen Konstitution als feuchter, weniger dicht und weniger stark als die des Mannes erschien. Die Menstruation »zeigt an, dass der weibliche Körper sein humorales Gleichgewicht verloren hat, zugleich behebt sie diesen Zustand«. Bleibt die Menstruation aus, so kommt es in der Humoralpathologie zur »Dekompensation mit Fieber, schleimigem Erbrechen oder blutigem Urin sowie zu Ablagerungen des Blutes in anderen Organen, z. B. der Lunge mit der Folge der Schwindsucht.« (nach Meyer-Steineg) Soranus von Ephesus sah entgegen der humoralpathologischen Lehre in der Menstruation die Voraussetzung der Zeugung und einen Reinigungsprozess. Da er amenorrhoische Frauen beobachtete, die keine gesundheitlichen Nachteile aufwiesen, erschien ihm der Reinigungsprozess nicht für das allgemeine Wohl, sondern als Voraussetzung der Zeugung notwendig: »Auch sind die Jungfrauen, welche noch nicht menstruiert haben, keineswegs in ihrer Gesundheit dadurch benachteiligt. Wenn diese sich aber andauernder Gesundheit erfreuen, so kann die Reinigung nicht zur Gesundheit beitragen, sondern nur zur Kinderzeugung. Denn ohne Menstruation gibt es keine Conception«. Er glaubte auch, das sich die Frucht vom Menstrualblut ernähre, weshalb er schrieb: »Die Menstruation heisst »Emmenon« und »Katamenion«, weil sie jeden Monat eintritt und »Epimenion«, weil sie als Nahrung für die Früchte bestimmt ist, wie man ja auch den Proviant der Seefahrer »Epimania« nennt.«
Hildegard von Bingen – Vetreterin des Mittelalters Hildegard von Bingen (⊡ Abb. 5.2), die berühmte deutsche Äbtissin und Ärztin, lieferte entgegen der landläufigen Meinung einer frauen- und wissenschaftsfeindlichen Kirche bereits im 11. Jahrhundert eine für die damalige Zeit fortschrittliche, wenn auch nicht anatomisch korrekte Vorstellung von der Gebärmutter: »Nachdem der Samen des Mannes an die richtige Stelle gekommen ist, so dass er menschliche Gestalt annehmen soll, wächst nun aus dem Monatsblut des Weibes ein Häutchen um diese Gestalt herum, damit sie sich nicht hin- und herbewegen oder fallen kann; denn das geronnene Blut sammelt sich dort, so dass diese Gestalt in seiner Mitte ruht wie der Mensch im Wohnraum seines Hauses. In ihm hat sie Wärme und Beistand, in ihm wird sie bis zur Geburt von dem dunklen Blut von der Leber der Mutter ernährt. Das Kind bleibt so lange in diesem Gefäß, bis die Vernunft in ihm voll ausgebildet ist und ausbrechen will. […]. Wenn die Geburt bevorsteht, zerreißt das Gefäß, in das das Kind eingeschlossen ist, und die ewige Macht […] bringt alle Winkel der Behausung des weiblichen Körpers aus ihrer Lage. […]. Wenn die Geburt bevorsteht […] öffnet die göttliche Macht den Verschluß der Gebärmutter.« Aufbauend auf der Vier-Säfte-Lehre hatte die Menstruation in Hildegards Augen eine reinigende Funktion. Ähnlich Soranus sah sie einen direkten Zusammenhang zwischen
99 Hildegard von Bingen – Vetreterin des Mittelalters
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⊡ Abb. 5.2. Hl. Hildegard von Bingen. Mosaik im Seitenschiff der Abteikirche Rüdesheim-Eibingen
Menstruation und Empfängnis: »Vor dem Beginn dieser Blutung öffnen sich die Glieder, die den männlichen Samen aufnehmen sollen, so dass sie nun leichter als zu einer anderen Zeit empfangen. Auf ähnliche Weise empfangen Frauen leicht, wenn die Monatsblutung bereits zu Ende geht und schon aufhört, weil dann ihre Glieder noch offen sind. Dann mischt sich das Monatsblut mit diesem Samen, macht ihn blutig und lässt ihn zu Fleisch werden.« Der Gedanke, das monatliche Blut ernähre das Kind bis zur Geburt, liefert die Erklärung der Amenorrhoe in der Schwangerschaft. Hildegard schien Blutungsanomalien intensiv beobachtet zu haben und sah in ihnen anatomische Gründe: »Bei einigen jungen Frauen beschränke sich das ausfließende weibliche Blut infolge Trauer so sehr, dass die Gefäße, die dieses Blut führen und ausfließen lassen, sich durch die Seufzer zusammenziehen und austrocknen.« Hier dürfte wohl eine hypothalamische Amenorrhoe infolge Schock- und Trauerzuständen von der Heiligen beobachtet worden sein. Auch gab es wohl zur damaligen Zeit schon eine Amenorrhoe bei extremer Adipositas: »Es gibt auch noch andere Frauen, die schwaches und dickes Fleisch haben, das mehr infolge ihrer Schwäche und ihrer schlimmen Konstitution als infolge rechter Wachstumskraft wächst. Dieses Fleisch überwuchert die Gefäße und drückt sie so sehr, dass sie so stark verengt werden und zur richtigen Zeit nicht ausfließen können.«
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Kapitel 5 · Geschichte der operativen Gynäkologie am Beispiel der Hysterektomie
Verständnis der Menstruation vom 18. bis in das 21. Jahrhundert
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Im 18. Jahrhundert wurden Zivilisationsprozesse als Erklärungsmodelle der Menstruation herbeigezogen. Neben zu üppigem Essen und zu wenig Bewegung machten Jean-Jaques Rousseau (1712-1778) und Samuel Schaarschmidt (1709-1747) die sexuelle Unterdrückung der Frau verantwortlich für die monatlichen Blutungen: »Sie, Product der Eingeschränktheit des Geschlechtstriebes, erbte sich von der Mutter zur Tochter fort, da auch dieser der Geschlechtsgenuss versagt, und meistens jahrelang versagt wurde, ungeachtet die Natur des zur vollständigen Ausbildung gediehenen Weibes es forderte. Die ersten Generationen des weiblichen Geschlechtes waren sicher von diesem Blutfluß befreit.« (nach Oken) Im 19. Jahrhundert schließlich kam man der Wahrheit immer näher: Regnier de Graaf (1641-1673) hatte schon 200 Jahre zuvor die Verbindung des von ihm entdeckten Follikels mit dem weiblichen Ei hergestellt und den Begriff des Ovars geprägt. Ernst Karl von Baer entdeckte 1828 schließlich das Säugetier-Ei und Charles Negrier den monatlichen Eisprung.
Rudolf Virchow sah in der Menstruation das Zeichen der nichtausgelebten Schwangerschaft ebenso Robert Barnes: »Die Menstruation kann ohne Übertreibung einem Abortus verglichen werden. Sie ist eine verfehlte oder enttäuschte Schwangerschaft«. Bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts setzte man aber das Konzeptionsoptimum mit der Menstruation gleich. Nach Barnes ist zum Zeitpunkt der Menstruation »alles für die Konzeption bereit«. Erst die Erkenntnisse von Knaus und Ogino, publiziert 1934, konstatierten das Konzeptionsoptimum in die Zyklusmitte. Damit waren auch die wissenschaftlichen Grundlagen der Zeitwahlmethoden gelegt, die eine Empfängnisregelung ermöglichten. Die nachfolgende rasante Entwicklung im 20. Jahrhundert schaffte ein völlig neues Verständnis von weiblicher Fertilität und menstruellem Zyklus. Die bisherige Dominanz der menstruellen Vorgänge im Hinblick auf Frauengesundheit, vor allem im Kontext psychischer Symptome, wurde durch die Erschütterungen der Weltkriege aus dem praktischen und durch die Zunahme wissenschaftlicher Erkenntnisse aus dem gesellschaftlichen Denken verdrängt. Die Antikonzeption und deren einfache Durchführung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts führte schließlich zur faktischen Loslösung von Frausein und Fertilität.
Historische Fakten der Geschichte der Hysterektomie Die eigentliche Geschichte der Hysterektomie beginnt mit der perioperativen Medizin.
Geschichte der perioperativen Medizin Die folgenden Ausführungen zeigen lediglich die Vorarbeiten, die zu den prinzipiellen Möglichkeiten der großen gynäkologischen Operationspraxis führten und diese begleiteten. Die Errungenschaften des 20. und 21. Jahrhunderts detailliert auszuführen, sprengt den Rahmen dieses Aufsatzes. Zumindest kann man festhalten, dass in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die perioperative Medizin keinen Hemmschuh für den gynäkologisch-operativen Fortschritt mehr darstellte. Anders verhielt es sich im 19. und anfänglichen 20. Jahrhundert, wo vor allem die mangelnde Antisepsis und nicht zu kompensierende Blutungen bzw. Kreislaufdekompensationen die operative Gynäkologie begrenzten. Die hohe perioperative Mortalität der Laparotomie prägte das Vorgehen der Operateure mit vorzugsweise vaginalem Operieren
101 Antisepsis
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oder grundsätzlichem Verzicht auf Operationen. Aus diesen Gründen sei das Augenmerk insbesondere auf die Entwicklung der Antisepsis geworfen. Was die Verwendung technischer Gerätschaften und Nahtmaterial betrifft, sei hier auf die detaillierten Beschreibungen der einzelnen Operationen und ihrer Begründer verwiesen.
Antisepsis »Das Schicksal hat mich zum Vertreter der Wahrheiten, welche in dieser Schrift niedergelegt sind, erkoren. Es ist meine unabweisbare Pflicht, für dieselbe einzustehen«. Dies sind Worte von Ignaz Semmelweis, der die infektiöse Ursache der Puerperalinfekte 1848 entdeckte und selbst an einer Sepsis 1865 verstarb. Es wäre aber falsch, den früheren Jahrhunderten, insbesondere der antiken Medizin, den Sinn für Antisepsis absprechen zu wollen. Wenn auch keine Quellen zu antiseptischen Maßnahmen vorliegen, so lassen die Instrumente, aus Metall gearbeitete schlichte Formen, zur Zeit des Hippokrates dennoch erkennen, dass Reinlichkeit ein dominierender Faktor gewesen sein muss. Die Ära der Antisepsis und Entstehung von Krankheiten durch Mikrorganismen, wie wir sie heute kennen, leitete der Anatom Jakob Henle (1809-1885) mit seiner Hypotheses eines »Contagium animatum« ein. Ein weitere wichtiger Meilenstein in der Erkenntnis von Mikroorganismen und deren Verhalten waren u. a. die Entdeckung des Gärungsprozesses von Hefepilzen durch Cagniard de la Tour und der Keimfreiheit mittels Hitzeeinwirkung durch Louis Pasteurs (1822-1895). Die Tierärzte Pollender und Brauell entdeckten im 19. Jahrhundert die stäbchenförmigen Erreger des Milzbrandes und Davaine bahnte erste Vermutungen über die Milzbrandtoxine. Robert Koch (843-1910) entdeckte schließlich bahnbrechend am Beispiel des Milzbrandes sowohl Sporen wie auch Bakterientoxine, die Verschiedenheit der Bakterien und folglich die möglichen diversen Infektionskrankheiten. Fortschritte in der Mikroskopie ließen ihm die Entdeckung des Tuberkel- und Choleraerreger gelingen. Zeitgleich entdeckten Neisser die Gonokokken und Hansen die Lepraerreger. Behring, Ehrlich und Pfeiffer stießen im ausklingenden 19. Jahrhundert auf die Antigenbildung im menschlichen Organismus nach durchlaufener Infektion und eröffneten somit erste Schritte auf dem Weg zu Impfungen. Joseph Lister (1827-1912) veröffentlichte mit On the antiseptic principle in the practice of surgery Maßnahmen zur Antisepsis mit Karbolsäure. Diese wurde zur Geruchsbekämpfung von Abwasser eingesetzt und hatte eine bakterizide Wirkung. Kliniker sprachen vom Listern, was die Vernebelung mit Karbolwasser bedeutete. Hintergrund war der Gedanke, dass Bakterien über die Luft verbreitet würden. Semmelweis veröffentlichte 1861 die Schrift Ätiologie, Begriff und Prophylaxis des Kindbettfiebers, nachdem er bereits 1848 die wirksame Prophylaxe der Erkrankung durch Chlorwaschungen entdeckt und eine Krankheitsübertragung durch die vom Sezieren kommenden Studenten vermutet hatte. Ein englischer Zeitgenosse von Semmelweis, Oliver Wendel Holmes (1809-1894), hatte wenige Jahre zuvor bereits ein Kadavergift als Ursache des Kindbettfiebers formuliert. James Marion Sims schilderte 1866 in seinem Buch Klinik der Gebärmutterchirurgie im Rahmen der gynäkologischen Untersuchung die peinliche Händewaschung des Arztes, nicht zuletzt damit »die Hände warm und weich sind, man der Reinlichkeit sicher sein kann und weil es die Patientin über jede Verunreinigung durch die Berührung beruhigt.« Den ersten Lehrstuhl für Krankenhaushygiene in Deutschland hatte Max von Pettenkofer 1865 inne.
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Kapitel 5 · Geschichte der operativen Gynäkologie am Beispiel der Hysterektomie
Aus Walter Stoeckels Erinnerungen eines Frauenarztes erfährt man viel über die Praxis des beginnenden 20. Jahrhunderts (⊡ Abb. 5.3, ⊡ Abb. 5.4). Als er 1907 sein Ordinariat in Marburg antrat, setzte er durch, dass neben der alkoholischen Händedesinfektion das Tragen von Gummihandschuhen in der Geburtshilfe eingeführt wurde. Er schrieb in diesem Kontext, dass nach seinen Berechnungen in den vergangenen 60 Jahren 365.000 Frauen in Preußen am Wochenbettfieber verstorben seien. In der Autobiographie Walter Stoeckels
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findet man folgende Anekdote, die veranschaulicht, wie modern die heutige Antisepsis ist: Er schrieb über seinen Chef der Universitätsfrauenklinik Erlangen im Jahr 1903, Prof. Veit: »Von seiner langen Nase floß der Schweiß ungehindert in die Bauchhöhle, so dass Bauchfellentzündungen nach den simpelsten Eingriffen keine Seltenheit waren. Ich fühlte mich in die Zeit vor Ignaz Semmelweis versetzt. Die Infektionen nahmen schließlich so verheerend zu, dass der Hygieniker Heim, obgleich er wenig davon verstand, den Auftrag erhielt, die Asepsis des Operationssaales zu reformieren. Bisher war ohne Gummischutz, ohne Schleier und ohne Kopfkappe operiert worden! Veit wetterte gegen die »neumodische Pedanterie« und band sich ostentativ dicke Handtücher kreuzweise um den Kopf. Er sah jetzt aus wie ein altes Bauernweib, das Zahnschmerzen hatte. Die Patientinnen erschraken bei seinem Anblick. Heim ordnete bakteriologische Untersuchungen und Keimzüchtungen auf allen möglichen Nährböden an, um dem geheimnisvollen Erreger auf die Spur zu kommen. Vorsichtig wagte ich auf die vermutbare Quelle allen Übels hinzuweisen, aber man glaubte mir nicht. Für mich stand fest, dass die absolute Unfähigkeit des Chefs auf chirurgischem Gebiet alleinige Ursache der hohen Sterbeziffern war.« Während vor Einführung der Antisepsis unter Spencer Wells (1818-1897) nur 25% der Frauen eine Laparotomie überlebten, waren es am Ende des 19. Jahrhunderts bereits 90%. Die
⊡ Abb. 5.3. Operationsbekleidung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, aus Franz K, Gynäkologische Operationen
⊡ Abb. 5.4. Operationsbekleidung der Hand und des Vorderarms mit Gummihandschuh, darüber ein Zwirnhandschuh. Zwischen Handschuh und Ärmel abschließend Wickelbinde, aus Franz K, Gynäkologische Operationen
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Phase der antibiotischen Therapie wurde hingegen erst nach dem Zweiten Weltkrieg eröffnet. 1945 erhielt Alexander Fleming den Nobelpreis für die Entdeckung des Penicillins, welches ihm 1926 zufällig durch einen in eine Staphylokokkenkultur geratenen Schimmelpilz gelang. 1897 wusste jedoch der damals 23-jährige Dissertant Ernest Duchesne um die Wirkung des antibakteriellen Penicillins. Er war Militärarzt und beobachtete Stallknechte, die die Pferdesattel in feuchten Räumen aufbewahrten, um einen Schimmelpilzbefall zu provozieren. Dies führte zur schnelleren Abheilung von Wunden der Reiter, die die Sattel benutzten.
Anästhesie Bereits die früheste nachchristliche Zeit kannte den Einsatz eines anästhesierenden Trankes aus der Alraunwurzel mit scopolaminähnlicher Wirkung. Auch Lokalanästhesien sind aus dem Altertum bekannt: Plinius der Ägypter praktizierte die Einreibung der Haut mit Lapis memphiticus und Essig. Zum Meilenstein in der operativen Gynäkologie wurde die erste Laparotomie zu einer Ovariotomie bei einem großen Ovarialtumor durch Ephraim McDowell im Jahr 1809. Die Patientin stand im Glauben, sie erwarte Zwillinge, was wohl den Hauptanlass zu der Operation ergab. Als Narkotikum, oder besser Ablenkungsmanöver, wurde das Singen von Hymnen eingesetzt. Die Patientin überlebte den Eingriff. 1798 entdeckte Sir Humphry Davy das Lachgas. 1844 ging es durch Beobachtungen und Selbstversuche des Zahnarztes Horace Wells in die praktische Medizin ein. 1846 wurde die erste Äthernarkose durch Morton und Warren angewandt, nachdem auf einem Zufall beruhend, der Bostoner Arzt Charles Jackson Schwefeläther als Narkotikum entdeckt hatte (⊡ Abb.5.5). 1847 führte der Geburtshelfer James Young Simpson das Chloroform, primär
⊡ Abb. 5.5. Beginn der Inhalationsnarkose um die Jahrhundertwende des 19./20. Jahrhunderts, aus Bumm E, Operative Gynäkologie, Bd. 1
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Kapitel 5 · Geschichte der operativen Gynäkologie am Beispiel der Hysterektomie
gedacht zur Geburtserleichterung, in die Änästhesiologie ein. 1848 erstellte Nunnely eine Mischung aus Chloroform und Äther, den Chloräther. Albert Niemann extrahierte 1860 Kokain als zukünftiges Lokalanästhetikum aus den Kokablättern. Unter Edmund W. Andrews ging 1868 die Kombination von Sauerstoff und Lachgas in die klinische Praxis ein. Narkosegeräte entstanden zu Anfang des 20. Jahrhunderts.. 1927 wurde die Spinalanästhesie unter Pitkin etabliert.
Es folgte eine rasante, den Rahmen dieses Aufsatzes sprengende Entwicklung der Anästhesieverfahren im 20. Jahrhunderts, welche die radikalsten chirurgischen Verfahren ermöglichten.
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Die im Folgenden aufgeführten Berichte gynäkologischer Operateure veranschaulichen die klinische Praxis bei der im gynäkologischen Bereich relevanten und die Ära der großen gynäkologischen Operationen eröffnende Laparotomie um die Jahrhundertwende und erlauben auch weitere Einblicke in die perioperative Medizin: Professor Alfred Hegar aus Freiburg veröffentlichte 1876 eine ausführliche Darstellung über 15 Laparotomien zum Zwecke der Adnexektomie (Ovariotomie). Es wurden Längslaparotomien über die Nabelhöhe hinaus vorgenommen. Hierbei beschrieb er folgende Desinfektion: »Das Operationslocal wurde am Tag vorher ausgeschwefelt und am Tag der Operation wurden […]Gefäße mit Chlorkalk hineingestellt. Eine Wärterin legte die in eine Lösung von übermangansaurem Kali vorher eingetauchten Instrumente […] zurecht. Die Operateure und Assistenten […] wuschen sich die Hände und Vorderarme mit Seife und einer Lösung von übermangansaurem Kali. Vor der Incision wurde das Abdomen mit Chlorwasser (durch Einleiten von Chlorgas in Wasser gewonnen) abgewaschen. […] Besonders sorgfältig wurden die Schnürstücke mit Chlorwasser abgewaschen; auch (wurden) die Seidenfäden vor ihrem Gebrauch durch solches hindurchgezogen«. »Wir halten es (das Chlorwasser) für das beste […] Desinfektionsmittel. Es hat den besonderen Vorzug vor der Carbolsäure, dass es concentrirt wenig reizt, die Gewebstheile etwas zusammenzieht und die Blutung eher stillt, als befördert.« Trotz der Fortschritte in der Desinfektion waren intraabdominelle Abszessbildungen und Peritonitiden die häufigsten und gefürchtetsten Komplikationen. Hegar beschrieb anschaulich dramatische Fälle mit Perforation von Abszessen durch die Bauchwand und in den Darm. So berichtete er den Fall einer Patientin, welche nach Ovariotomie mit dem Stuhl ein abgestorbenes Gewebsstück mit einer »am Ende desselben herumliegenden Ligatur« ausstoß. Ursächlich als Abszessherd sah man nekrotische Gewebsmassen und Hämatome an. Professor Robert Michaelis von Ohlshausen widmete einen ausführlichen Vortrag dem Thema der antiseptischen Operation angesichts der gefürchteten Peritonitiden infolge einer Laparotomie. Er datierte eine der ersten Laparotomien mit Ovariotomie in das Jahr 1873, die trotz strenger Antisepsis tödlich endeten. Gängige Verfahren waren die Vaginaldrainage mit dem Hintergedanken, man drainiere infektiöses Peritonealsekret durch mehrfach täglich angewendete Spülungen. Die Methode wurde aber wegen ausbleibendem Erfolg sehr bald verworfen. Weiterhin wandte man Karbolspray intraoperativ auf das Wundgebiet an. Man fürchtete vor allem Schmierinfektionen, sah aber keine Möglichkeit Ärzte ausschließlich für die Laparotomie zur Verfügung zu stellen und diese von anderen, infektösen Kranken abzuhalten: »Diese Forderung müßte zur Ausbildung spezieller Ovariotomisten führen, die nichts anderes sind und nichts weiter treiben dürften.« Professor Spencer Wells (⊡ Abb. 5.6) hatte 1878 die Hunter-Professur für Chirurgie und Pathologie inne und ist wegen seiner über 600 Laparotomien mit Ovariotomie in die Medizingeschichte eingegangen. Zur Narkose verwandte er Chlormethylen. Er nannte eine Lampe nach Collins, die es ermöglichte, in die Tiefe des Bauchraumes zu blicken. Vorher
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⊡ Abb. 5.7. Laparotomie durch Spencer Wells: Illustration aus dem Werk Diagnostic et traitment chirurgical des tumeurs abdominales. Paris Bibliothek der alten medizinischen Fakultät
hatte man bei Tageslicht gearbeitet und die Patientinnen in Fensternähe platziert. Postoperativ wurden Opiate zur Hemmung der Darmperistaltik verwandt, wovon Wells im Laufe der Zeit jedoch abkam. Auch fand Alkohol, im Laufe der Zeit aber immer weniger, einen Platz im Genesungsprozess: »Excitantia wie Brandy und Champagner sollten der Wärterin mit der Anweisung überlassen werden, von denselben nur dann Gebrauch zu machen, wenn der Zustand der Kranken, wie: das Gefühl von Ohnmacht, Frösteln oder Zeichen der Erschöpfung, diese erforderten«. Karl Hennig aus Leipzig lehnte sich betreffend der Desinfektion an Ohlshausen, Hegar und Spencer Wells an. Zur Narkose verwandte er Methylenchlorid, da darunter weniger Brechreiz als bei Chloroform auftritt. Bei Gebärmutteroperationen erscheint dies deshalb relevant, weil durch Erbrechen Darmschlingen in das Operationsfeld vorfallen. Die Kranke durfte eine Stunde vor der Operation schwarzen Tee ohne Milch trinken und ein Stück geröstetes Weißbrot essen. Im Operationssaal herrschte 18° Reaumur und Abdecktücher wurden verwendet. Haken und Tücher zum Abstopfen bzw. Weghalten des Darmes wurden eingesetzt (⊡ Abb. 5.7). Den postoperativen Kostaufbau beschrieb Hennig folgendermaßen: »Ehe nicht Blähungen oder Kot abgegangen, erhält die Kranke nur Eis in kleinen, glatten Stückchen, verdünnten Rothwein, Molken und Fleischsaft abwechselnd. Fällt sie rasch zusammen, so wird nach Esmarch Chinin in starker lauwarmer Lösung oder Portwein als Klistier angewendet; hilft dies nicht bald, so rathe ich Ihnen, nach Thomas’ Vorgange frische kuhwarme Milch zu transfundieren.« Klinisch praktikable Vorstellungen zur Blut- und Flüssigkeitstransfusion gab es damals noch nicht (⊡ Abb. 5.8, ⊡ Abb. 5.9).
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Kapitel 5 · Geschichte der operativen Gynäkologie am Beispiel der Hysterektomie
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⊡ Abb. 5.6. Beckenhochlagerung nach Trendelenburg, wie sie bei Laparotomien eingesetzt wurde, um den Darm fernzuhalten, aus Bumm E, Operative Gynäkologie, Bd. 1
⊡ Abb. 5.8. Bluttransfusion um die Jahrhundertwende 19./20. Jahrhundert, aus Amreich I, Peham H (1930) Gynäkologische Operationslehre, Urban & Schwarzenberg
⊡ Abb. 5.9. Bluttransfusion über einen Zweiwegehahn von Vene zu Vene, aus Amreich I, Peham H (1930) Gynäkologische Operationslehre, Urban & Schwarzenberg
107 Zeittafel der Hysterektomiegeschichte
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Zeittafel der Hysterektomiegeschichte Die Geschichte der Hysterektomie orientiert sich an den Indikationen. Neben ihrer engen Beziehung zur Therapie von Myomen und dem Descensus uteri ist sie untrennbar mit der Geschichte des Zevixkarzinoms verbunden. Warum ausgerechnet mit dem Zervixkarzinom? Die Operation des Zervixkarzinoms bedeutete ein gesellschaftspolitisches Moment: Siechtum und Qual der Kranken bewegten die Operateure zur heroischen Pionierarbeit. »Jede Krebskranke war in meiner Lehr- und Lernzeit bis 1878 ein Gegenstand des Grauens für den Arzt. Der ältere Kollege suchte sich so schnell wie möglich […]dieser Kranken zu entledigen und übertrug den jüngeren, speziell den Assistenten die schwere Rolle, solche Kranken zu Tode zu pflegen.[…] Jedes Spital hatte ein isoliertes Zimmer für unheilbar Krebskranke hergerichtet, der Schrecken des Spitalarztes. Unwillkürlich fielen ihm Dantes Worte, die über dem Eingang zur Hölle stehen sollen, ein: »Ihr, die ihr hier eintretet, lasset alle Hoffnung draußen«.[…]Dieses traurige Bild wurde durch eine gelungene Operation günstig verwandelt. Am 30. Januar 1878 habe ich die erste abdominelle Totalexstirpation an einer 62 Jahre alten Frau […] ausgeführt« schrieb Wilhelm Alexander Freund. Einzelne Hysterektomien sind bereits in die frühe Medizingeschichte eingegangen, wie z. B. die des Soranus von Ephesus in der Antike. Im 19. Jahrhundert führte Johann Friedrich Osiander (1759-1822) in Göttingen eine vaginale Hysterektomie bei Zervixkarzinom durch (was aber von W.A. Freund geleugnet wurde), Johann Sauter 1822 in Konstanz und Recamier 1824 in Frankreich. Hierbei handelte es sich um Einzelgeschichten ohne systematische Darstellung der Hysterektomie. Wilhelm Alexander Freund beschrieb erstmals die systematische abdominale Hysterektomie beim Kollumkarzinom. Er leitete damit die Ära der abdominalen Hysterektomie ein. Aufgrund der hohen Mortalität einer Laparotomie blieb diese vorerst nur tödlich verlaufenden Erkrankungen wie dem Kollumkarzinom vorbehalten. Im auslaufenden 19. Jahrhundert, nachdem Antisepsis und Narkose die Durchführung und das Überleben von Laparotomien grundsätzlich ermöglichten, erweiterte sich die Indikation vorerst auf Ovarialtumoren. Nachdem sich erfreuliche Resultate einstellten, wagte man sich zunehmend an Uterusoperationen, vorerst organerhaltend, insbesondere Myome betreffend. Führende Vertreter der gynäkologischen Abdominalchirurgie um die Jahrhundertwende im deutschsprachigen Raum waren Gustav Simon (1824-76), Alfred Hegar (1830-1914), Carl Schröder (1838-87), Robert von Ohlshausen (1835-1915), Rudolf Kaltenbach, Alwin Mackenrodt (1859-1926), Ernst Bumm (1855-1926), und Karl Franz (1870-1926). Französische Vertreter waren Jules Emile Pean und Eugene Koeberle. Ernst Wertheim etablierte die radikale abdominale Hysterektomie, die erstmals onkologische Gesichtspunkte berücksichtigte und Dauerheilungen anstrebte. Nach Erforschung der Radiosensitivität des Zervixkarzinoms konkurrierte bzw. ergänzte die Radiotherapie die Operation. Zeitgenossen der damaligen Expertendiskussion waren neben Walter Stoeckel, Albert Döderlein aus München und Bernhard Krönig aus Freiburg. Aufgrund der geringeren Morbidität und Mortalität der vaginalen Hysterektomie entstand ein langer Expertenstreit hinsichtlich der onkologischen Operationen und auch der vaginale Weg wurde vielfach propagiert: Voraussetzungen der vaginalen Hysterektomie bzw. der vaginalen und damit der gynäkologischen Operationen überhaupt, waren vaginale Untersuchungstechniken und erster Einsatz entsprechender diagnostischer und operativer Instrumente. Federführend genannt sei hier James Marion Sims, der Erfinder des Spekulums.
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Kapitel 5 · Geschichte der operativen Gynäkologie am Beispiel der Hysterektomie
Vaginale Myomenukleationen können als Zwischenschritt der kleinen vaginalen Eingriffe und der vaginalen Hysterektomie angesehen werden. Pioniere der vaginalen Hysterektomie waren Karl August Schuchardt aus Stettin (18561901) und Karl Staude aus Hamburg (1875-1916). Vincent Czerny, ein Schüler Theodor Billroths, etablierte die vaginale Hysterektomie beim Zervixkarzinom, während Friedrich Schauta durch die vaginale Radikaloperation mit Parametrienresektion als Erweiterung von Czernys Verfahren in die Medizingeschichte einging. Walter Stoeckel (1871-1961), Isidor Amreich (1885-1972) und Wilhelm Latzko (1863-1945) verfeinerten die Schauta’sche Methode. Führende operative Gynäkologen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die sich der gynäkologischen Onkologie widmeten, waren Walter Stoeckel (1871-1961), Isidor Alfred Amreich (1885-1972) und Heinrich von Peham (1871-1930). Bei benignen Erkrankungen waren sowohl die totale als die suprazervikale Hysterektomie, vaginal und abdominal, klinischer Alltag. Nachdem Pfannenstiels (1862-1909) weniger traumatisierender Aponeurosenquerschnitt klinischen Eingang fand, wurde in den 30er-Jahren die abdominale suprazervikale Hysterektomie Standard. 1960, so Kurt Semm, wurde auf der 33. Versammlung der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe beschlossen, die totale Hysterektomie als Methode der Wahl zu erklären, da Zervixstumpfkarzinome und Blutungen aus der Restzervix vermieden werden sollten. Mortalitätsunterschiede wurden verneint, was in den Vorjahren der Hauptgrund der suprazervikalen Hysterektomie gewesen war. Bei malignen Erkrankungen, insbesondere das Kollumkarzinom betreffend, entstand in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (⊡ Abb. 5.10) ein Expertenstreit mit Vertretern auf beiden Seiten: Abdominaler Wertheim oder vaginaler Schauta? Erweitert wurde Wertheims Operationsprinzip durch die von Joe Vincent Meigs (1892-1963) standardisierte Lymphonodektomie. Weitere Pioniere der onkologischen Gynäkologie waren Tassilo Antoine (1895-1980), Georg
⊡ Abb. 5.10. Instrumente zu Beginn des 20. Jahrhunderts, aus Franz K, Gynäkologische Operationen
109 Meilensteine der Hysterektomiegeschichte
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August Wagner (1873-1947), Ernst Navratil (1902-1979) und Franc Novak. Nach Kenntnis der Bedeutsamkeit der Lymphonodektomie wurde das abdominale Verfahren mit der Möglichkeit der Lymphonodektomie zum Standard in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In der jüngsten Zeit minimieren sich Spätfolgen, insbesondere Blasen- und Darmlähmungen durch die Technik der nervenschonenden radikalen Hysterektomie, der totalen mesometrialen Hysterektomie mit Berücksichtigung anatomisch-embryologischer Strukturen, die durch Michael Höckel im ausgehenden 20. Jahrhundert weiterentwickelt wurde. Technische Fortschritte eröffneten die Ära der minimal-invasiven Operationen: Kurt Semm führte 1980 die erste endoskopische Hysterektomie durch, Harry Reich 1989 in den USA die laparoskopisch assistierte vaginale Hysterektomie. Semm etablierte 1991 die CISH (Classical intrafascial Semm Hysterectomie) als beckenbodenschonende Methode mit Resektion der zervikouterinen Mukosa ohne Kolpotomie. Auf Jaques Donnez geht die 1993 beschriebene laparoskopische suprazervikale Hysterektomie (LASH) zurück. Etabliert sind heute die LAVH (laparoskopisch assistierte vaginale Hysterektomie), die TLH (totale laparoskopische Hysterektomie) und die LASH (laparoskopic supracervical hysterectomy, suprazervikale laparoskopische Hysterektomie). Kilkku et al berücksichtigten 1983 erstmals in der Literatur die sexuellen Folgen einer Hysterektomie bei Resektion des perizervikalen Nervengeflechtes. Die suprazervikale Hysterektomie erlebte eine Renaissance, insbesondere angesichts der genannten minimal-invasiven Operationsmöglichkeiten. Daneben besteht mittlerweile die Option der laparoskopischen Lymphadenektomie. Diese ermöglicht beim frühen Zervixkarzinom und Kinderwunsch ein organerhaltendes Vorgehen (in Kombination mit der Konisation oder radikalen Trachelektomie) oder ein Lymphknotenstaging bei primärer Radiochemotherapie. Frühstadien des Endometriumkarzinoms erlauben in Kombination mit der laparoskopischen Lymphonodektomie die LAVH mit Adnexektomie. Eine Maximalvariante der LAVH ist die laparoskopisch assistierte vaginale Radikaloperation(LAVRH), welche in Deutschland federführend von Achim Schneider evaluiert wurde. Aufgrund der höheren Komplikationsrate im Vergleich zur abdominalen radikalen Hysterektomie, insbesondere den Ureter- und Blasenbereich betreffend, wurde das Vorgehen wieder verlassen. Maximaler Eingriff bei minimalem Trauma ist die Überschrift, die wir derzeit über die Errungenschaften der gynäkologischen Operationen mit ihrem Kernelement der Hysterektomie schreiben können. Die Meilensteine auf dem langen und doch –angesichts der Menschheitsgeschichte- kurzen Weg seien im Folgenden anhand einzelner Operateure dargestellt.
Meilensteine der Hysterektomiegeschichte Altertum und anekdotische Hysterektomien vor der Ära der systematischen Hysterektomie Soranus von Ephesus widmet ein Kapitel seines Buches Die Gynäkologie dem Thema Vorfall der Gebärmutter. Darin enthalten ist auch ein Abriss über die damals gängigen Therapien, sowie die Modelle zur Krankheitsentstehung. Ursachen des Gebärmuttervorfalls waren »Gemütsaffekte wie die Nachricht vom Verlust der Kinder oder das Herannahen des Feindes […]. In solchen Fällen wird der Vorfall dadurch veranlasst, dass durch Entkräftung der ganzen Körperkonstitution auch die Gebärmutter herabgleitet« aber auch »Abspannung der den Uterus stützenden
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Kapitel 5 · Geschichte der operativen Gynäkologie am Beispiel der Hysterektomie
Bänder und Muskeln«. Er wehrt sich gegen eine zeitgenössische Meinung, wenn er schreibt »Es trennt sich nämlich nicht, wie manche glauben, die Gebärmutter vollständig von ihrer Umgebung und fällt ganz heraus«. Auch revidiert er die Ansicht der Schüler des Hippokates und Herophilus, welche meinten, der Muttermund löse sich von der Gebärmutter ab und falle heraus. Soranus beschreibt die Therapie des Euryphon, welcher Frauen mit Uterusprolaps »einen Tag und eine Nacht mit den Füßen an eine Leiter hängt und sie dann rücklings zurückfallen lässt« und das Vorgehen des Diokles, welcher mit einem Schmiedeblasebalg Luft in den Uterus trieb, ihn so in die richtige Lage brachte und dann Granatäpfel, welche er zuvor abschälte und in Essig tauchte, einführte. Weiter schreibt er: »Manche applizieren auch einen Beutel aus Haaren in den Uterus, damit durch den Reiz der Haare die schmerzende Gegend zusammengezogen wird« sowie »Doch die Mehrzahl der Ärzte verordnet wohlriechende Arzneien und räuchert von unten mit widerlich riechenden Substanzen, indem sie meinen, der Uterus fliehe als lebendiges Wesen vor allen üblen Gerüchen und lasse sich von Wohlgerüchen anziehen.« All diesen Ansätzen widersteht Soranus, der für die verschiedenen Stadien des Vorfalls differenzierte Therapien vorhält: von Tamponierungen (»Man mache sich dann aus Wolle einen Pfropf, welcher der Gestalt und dem Umfange nach in die weibliche Scheide passt«) über Sitzbäder, ausführlich beschriebene Externa (»Die Gegend über der Scham, die Hüften und der Unterleib sind mit Rubefacientien zu behandeln, leicht zu erwärmen, mit Salben, milden Reizmitteln zu röthen und Mutterzäpfchen aus Natron, Rosinen, Salz und aus allen übrigen, den Körper umstimmenden Stoffen«) und schließlich bis zur Hysterektomie: »Wenn aber infolge längeren Verweilens ausserhalb des Körpers der vorgefallene Teil der Gebärmutter schwarz geworden ist, so muss man die gegen die fressenden Geschwüre gebräuchlichen Mittel anwenden […]. Nützen diese nichts, so muss der schwarz gewordene Teil abgeschnitten werden[…]. Ist der ganze Uterus schwarz geworden, ist er auch ganz herauszuschneiden.[…] Wenn beim widerholten Vorfall das vorgefallene Stück durch Geschwürsbildung mit den Schamlippen zusammenwächst, was nach den Berichten mancher Ärzte vorkommt, so soll man diese widernatürliche Verbindung mit dem Messer in derselben Weise durchtrennen, wie man die Gedärme vom Peritoneum trennt.« Die Hysterektomie scheint aber bereits damals etabliert gewesen zu sein, denn Soranus fährt fort: »Wir tun dies nicht nur im Vertrauen auf die Autorität jener bereits oben erwähnten Ärzte, welche berichten, das Ausschneiden sei gefahrlos, sondern auch weil das abzuschneidende Glied nicht mehr ein notwendiger Bestandteil sondern zum Fremdkörper geworden ist«. Die nächste in die Literatur eingegangene Hysterektomie wird dem Vater Giaccomo Berengario da Capi (1480-1559) zugeschrieben (zitiert nach Semm in Intrafasziale Hysterektomie) und eine weitere Uterusexstirpation wird auf den Mailänder Chirurgen Paletta in das Jahr 1812 zurückgeführt. Dieser wollte ein Kollumkarzinom entfernen und führte schließlich versehentlich eine Hysterektomie durch. Johann Sauter, der Stadtphysikus von Konstanz, führte 1822 komplette vaginale Hysterektomien durch. Alle 19 von ihm operierten Patientinnen verstarben allerdings intra- oder postoperativ. Wilhelm Alexander Freund, welcher die erste systematische Hysterektomie beschrieb, wandte aber ein, dass zu früheren Zeiten andere anatomische Nomenklaturen vorlagen und von nicht reproduzierbaren, unglaubhaften Uterusexstirpationen berichtet wurde: Beispielsweise im Tageblatt der Dresdner Versammlung, wo von einem Arzt berichtet werde, der mit einer Polypzange eine Hysterektomie vorgenommen habe und das Organ anschließend von der Patientin im Garten vergraben wurde. »Den ganzen Uterus?« fragte man »Freilich, den ganzen mit allem Zubehör«. »Wer hat das Präparat untersucht«? »Ja, das hat die Frau, die munter umherging, andern tags selbst im Garten vergraben«. Die gelegentlich in der Literatur angegebenen totalen Hysterektomien durch Osiander und Langenbeck wurden von Freund klar bestritten.
111 Beginn der Vaginalchirurgie bis zur vaginalen radikalen Hysterektomie
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Beginn der Vaginalchirurgie bis zur vaginalen radikalen Hysterektomie Die Möglichkeit der operativen Gynäkologie setzte die Exploration des weiblichen Genitales voraus. Vor den Zeiten Sims, auf den das heutige Vaginalspekulum zurückgeht, scheint die Scheu vor der gynäkologischen Untersuchung vielen Frauen zum fatalen Verhängnis geworden zu sein. 1866 schrieb Dr. Hermann Beigel im Vorwort zu James Marion Sims’ Werk Klinik der Gebärmutterchirurgie (⊡ Abb. 5.11): »Denn wer heutzutage an die Behandlung irgendeines Gebärmutterleidens gehen wollte, ohne vorher eine gründliche Exploration des erkrankten Organes vorgenommen zu haben, würde auf den Anspruch eines rationellen Arztes verzichten müssen. So gingen denn Hunderte von Frauen ihr Leben lang mit der Sehnsucht um Nachkommenschaft im Herzen, aber gleichzeitig einem mechanisch verstopften Muttermund umher, andere bluteten sich an einem Polypen zu Tode, und staunten vielleicht mit ihrem Arzt um die Wette, dass alle innerlich gereichten Mittel ihre Wirkung versagten. Ein unbedeutender mechanischer Eingriff, eine kaum nennenswerte Operation hätte in vielen Fällen die sehnlichsten Wünsche der einen Patientin erfüllt und das Leben der anderen erhalten.[…].Als ich Sims zuerst eine Exploration vornehmen sah, war ich über die Deutlichkeit erstaunt, mit welcher ich die Vagina und deren Inhalt überblicken konnte. So klar hatte ich sie vorher noch niemals gesehen […].Der Möglichkeit, die Theile, gegen welche Angriffe zu richten sind, deutlich in Sicht zu bringen, verdankt Sims zum großen Teil seine Erfolge in der Behandlung der uterinen Erkrankungen […].« Die Enttabuisierung der gynäkologischen Untersuchung eröffnete die Ära der operativen Gynäkologie. James Marion Sims hinterließ 1866 die Klinik der Gebärmutterchirugie, was aufgrund der Tatsache, dass Sims eine Reihe von anatomischen Gegebenheiten mittels
⊡ Abb. 5.11. Gynäkologische Untersuchung im 19. Jahrhundert (Stich zur illustration des Buches Les nouvelles demonstrations dáccouchements von J. P. Mavgrier Paris 1822)
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Kapitel 5 · Geschichte der operativen Gynäkologie am Beispiel der Hysterektomie
seiner erfundenen Instrumente selbst entdeckte, einer Poinierarbeit entsprach. Auf ihn geht das zweiteilige Spekulum zurück, was eine Exploration der Vagina und Zervix ermöglichte. Neben der Behandlung von Myomen, Polypen und dem Descensus uteri widmete er sich ausführlich der Kinderwunschtherapie. Auf ihn geht der Postkoitaltest (Sims-Huhner-Test) zurück. Im Folgenden seien einige seiner Operationen aufgeführt: ▬ Submuköse Myome und Polypen: Sims war ein großer Verfechter des sog. Press-
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schwammes, welcher zu seiner Zeit aus der Chirugie bekannt war und durch Sims Einzug in die Gynäkologie fand. Ein Pressschwamm ist einem heutigen Tampon ähnlich vorzustellen und wurde in die Zervix eingeführt. Dort sog er sich mit Sekret voll und dilatierte somit den Zervixkanal, was anschließend die digitale Exploration der Uterushöhle ermöglichte. Zudem entstand durch die Expansion des Schwammes mechanischer Druck auf pathologische Veränderungen, so dass wohl eine Durchblutungsstörung und folglich Regression derselben resultierte. Das Entfernen des Pressschwammes schließlich führte zu einem Abtragen des mit ihm verwobenen Gewebes. Auf diese Art und Weise entfernte Sims sog. Granulationen, Schleimhautpolypen und Myome. Auch beschreibt er die Anwendung des Presschwammes zusammen mit der Recamier’schen Kürette, wobei hier der Schwamm als Zervixdilatator fungierte. Obwohl der Schwamm, wenn er längere Zeit im Uterus lag, einen abstoßenden Foetor abgegeben haben muss, verneint Sims Infektionen (Metritis), wenn der Schwamm rechtzeitig entfernt wurde. Durch unglückliche Wetterverhältnisse kam es wohl mehrfach zu einem verzögerten Entfernen des Schwammes, da die Patientinnen nicht rechtzeitig in die Klinik kommen konnten. Mit Hilfe des Pressschwammes entfernte Sims intrauterine Tumore: »Vor Einführung des Schwammes vor letzter Woche wurde die Geschwulst genau vermessen, ihr Volumen, ihre Dichtigkeit und ihre Anheftung bestimmt, was leicht geschehen konnte. Es war ein derber, fester Polyp von der Gestalt etwa wie abgebildet, aber etwas größer […]. Man kann sich mein Erstaunen denken, als ich nach Entfernung des Schwammes bei Einführung des Fingers keine Spur der Geschwulst entdecken konnte.« Die Blutstillung erfolgt mit Chloreisen bzw. dem weniger irritierenden schwefelsauren Eisenoxyds. In der Zeit zuvor waren Todesfälle durch Verbluten keine Seltenheit. Als weiteres Instrument, gestielte Myome und Polypen abzutragen, beschreibt Sims den sog. Ecraseur nach Chaissenac. Hierbei handelt es sich um eine Kettenschlinge, welche um den Stil der Raumforderung geschlungen wurde. Somit konnten auch große intrauterine Geschwülste entfernt werden. Sims zögert nicht, trotz seiner einschneidenden Erfolge, gelegentliche Todesfälle zu schildern, so die Myomenukleation einer 28-jährigen Patientin: Er schnitt die Myomkapsel transversal ein und »zerriss« mittels einer Sonde das »Zellgewebe, welches die hintere Wand des Uterus mit dem Tumor verband«. Nach wochenlangem Warten stieß die Patientin das Myom aus, so dass sich »ein Teil des Gewebes […] durch den Muttermund in die Vagina hinein drängte«. Schließlich band er einen Bindfaden um das »kindkopfgroße« Myom, um es endgültig abzutrennen, was zu einer massiven Blutung und schließlich zum Tode führte. Da die Patientin zwischenzeitlich an Diphtherie erkrankt war, mag dies zu einer vorbestehenden Anämie geführt und das Lebensende mit begünstigt haben. ▬ Erste Hysterektomien: Zu Sims’ Zeiten scheint eine Inversio uteri ein häufiges Problem gewesen zu sein, z. B. infolge einer Plazentaadhärenz, wobei man scheinbar so lange an der Nabelschnur zog, bis sich das Kavum umstülpte. Sims beschreibt einige Fälle mit jahrelanger Inversio uteri. An dieser Stelle findet man erstmals eine vaginale Hysterektomie eines invertierten und prolabierten Uterus mit dem Ecraseur
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beschrieben. Sims ist jedoch sehr zurückhaltend mit der Hysterektomie. Er zitiert die von ihm und anderen Zeitgenossen etablierten konservativen Verfahren wie die manuelle Reposition, die langsame Reposition mit Hilfe eines Luftballon-Tampons und schließlich erst als Ultima Ratio die Organentfernung. Vorab unternahm er noch den Versuch, mit seitlichen Inzisionen die zirkulär angelegten Muskelstränge abzutragen, um die Reposition zu erleichtern. ▬ Zervixkarzinome: Sims setzte neben einiger seiner Zeitgenossen (Lisfranc und Huguier) die Zervixamputation bei Krebsleiden oder beim Prolaps uteri ein. Eindrücklich beschreibt er einen Fall, bei dem er den Douglas versehentlich geöffnet hatte und die Peritonealhöhle einsehen konnte. Die Patientin verstarb an einem Rezidiv. Auch vernähte er den Zervixstumpf nach Amputation mit Vaginalhaut, um so die Heilung zu beschleunigen und die Blutung zu minimieren. ▬ Descensus: Bei Uterusprolaps setzte man im 19. Jahrhundert großzügig Pessare (Meigs’Ring, Hodge’s Hebepesssarium, Glycerin-getränkte Baumwolltampons u. a.) ein. Sims berichtet von einer 30-jährigen Krankenschwester mit einem Uterusprolaps und Hernien, welche »in Bruchbändern und Bandagen gepanzert war« und der er ein Pessarium mit einem Stabe und mit einer T-Binde konstruierte, um die »Teile im Becken zu erhalten«. Nach genauer Untersuchung sah er, dass nicht der Uterus, sondern die vorderen Vaginalwand im Sinne einer Zystozele prolabierte und entschloss sich, die Blase zu entfernen, um das Übel zu beseitigen. Er führte die Operation durch, diese gelang nicht im ursprünglich intendierten Sinn, denn er entfernte nicht die Blase, sondern nur die überschüssige vordere Scheidenhaut. Damit war die Ära der Vaginalplastik eröffnet. ▬ Vaginal- und Hymenalatresie: Bei Vaginalatresie und rückgestautem Menstrualblut wurden mittels des Spekulums Blutegel aufgesetzt und Hymenalatresien wurden bereits im 19. Jahrhundert mit einem Kreuzschnitt eröffnet. Mutterkornalkaloide wurden zur uterinen Kontraktion gegeben, wenn bereits eine massive Hämatometra bestand. Auch spontane Hymenalrupturen wurden zur damaligen Zeit beschrieben. Sims’ Zeitgenossen in Deutschland Prof. Alfred Hegar (1830-1914) aus Freiburg beschrieb 1876 ausführlich die bimanuelle gynäkologische Untersuchung und zeigt dabei, dass neben Sims auch andere Zeitgenossen gleiche Errungenschaften in der gynäkologischen Diagnostik und Therapie erzielten. »Wem eigentlich der Verdienst gebührt (Beschreibung der kombinierten vaginalen Untersuchung), zuerst auf den Werth dieses Verfahrens aufmerksam gemacht zu haben, lässt sich schwer sagen. Wenn in neuerer Zeit Sims als der Entdecker genannt wird, so ist dies unrichtig. Schon vor dem Erscheinen des Werkes über Gebärmutterchirurgie ist in Arbeiten von Schultze (Jenaische Zeitschrift für Medizin und Natur, Leipzig 1864, S. 279) und Holst (Beiträge zur Geburtshilfe und Gynäkologie, Tübingen 1865, S.1) jene Methode besprochen und erläutert worden. Etwas später finden wir sie in dem Lehrbuche von Veit (Krankheiten der weiblichen Geschlechtsorgane, 2. Auflage, Erlangen 1867, S 254) angeführt.«. Im Rahmen eines Vortrages für Natur- und Heilkunde in Dresden am 20.11.1875 veröffentlichte F. Winckel eine Zusammenfassung über den Stand der Gynäkologie im Hinblick auf Ätiologie und Behandlung von Myomen, was zeigt, dass auch in Deutschland die Myombehandlung, allerdings noch nicht per Hysterektomie, en vogue war: Er benennt die Hauptkomplikationen von Myomen mit Septikämie als Folge von Verjauchung und Verblutung trotz be-
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Kapitel 5 · Geschichte der operativen Gynäkologie am Beispiel der Hysterektomie
reits möglicher Transfusion. Aber nur wenige Myome galten als operabel und die Menopause wurde folglich als erlösendes Moment herbeigesehnt: »Durch Eintritt in die Menopause wurde das hauptsächlichste Symptom, die Blutung beseitigt, und die Patientinnen lebten neu auf.«. Aus diesem Grunde wandte Hegar die Ovarieektomie zur artifiziellen Menopause an, um Blutungen ein Ende zu setzen. Winckel zitierte in seinem Vortrag die ersten durchschlagenden operativen Erfolge der Myomchirurgie, u. a. mittels Enukleation per Laparotomie. Neben den operativen Maßnahmen hatten konservative Therapien analog zu Sims große Bedeutung: Subkutane Ergotamin-Injektionen und intramurale Eisenchlorid-Injektionen gehörten zu den symptomatischen Therapieoptionen. Gustav Simon (1824-1876), Professor der Chirurgie in Rostock und später in Heidelberg, veröffentlichte 1862 das bedeutende Werk Über die Operation der Blasen-Scheiden-Fisteln durch die blutige Naht. Zusammen mit Alfred Hegar gilt er als der führende Vaginalchirurg Deutschlands, insbesondere die Deszensuschirurgie betreffend. August Breisky (1832-1989), Lehrstuhlinhaber für Gynäkologie an der deutschen Universität Prag und später in Wien, Vorgänger Friedrich Schautas in Prag und Robert Chrobaks in Wien, schrieb in seinem Buch Die Krankheiten der Vagina: »Um die Einführung und methodische Ausbildung der gegenwärtig üblichen operativen Behandlung der Vorfälle der Scheide und des Uterus haben sich in Deutschland vor allem G. Simon und A. Hegar verdient gemacht.« Neben der Kolporrhaphie erwähnt Breisky die Zervixamputation als Mittel zur Deszensustherapie. Simons Nachfolger in Heidelberg, Vincenz Czerny (1842-1916), ein Schüler des Chirurgen Theodor Billroth, bezeichnet Simon zusammen mit Hegar und König »auf dem Gebiet der vaginalen Operationen als bahnbrechend«. Er selbst hospitierte auch bei Koeberle in Frankreich und bei Spencer Wells in London und praktizierte die vaginale Hysterektomie: »Die Hauptsache mußte ich mir autodidaktisch anlernen. […]. Als Frucht meiner gynäkologischen Operationen konnte ich neben Verbesserungen der Dammrissoperationen, die vaginale Uterusexstirpation, […] und manche kleine Verbesserungen der Technik, die sich auf meine Schüler übertrugen, verzeichnen.« Czernys vaginale Hysterektomie gilt als Vorläufer-Operation für die, von Friedrich Schauta beschriebene radikale vaginale Hysterektomie. Die Ansätze der vaginalen Hysterektomie, wie von Vincenz Czerny vertreten, erbrachten bei Kollumkarzinomen praktisch keinen onkologischen Erfolg. Analog zur radikalen Karzinomchirurgie der Mamma etablierte sich die abdominale Radikaloperation, mit Resektion der Parametrien und Exploration der regionären Lymphknoten unter Federführung von Ernst Wertheim. Trotz fallender Sterblichkeit und steigender Dauerheilungen durch die abdominale Radikaloperation gelang es jedoch nicht, die Mortalität unter 10% zu senken. Friedrich Schauta, ein Landsmann von Ernst Wertheim, beschrieb deshalb die vermeintlich weniger komplikationsreiche, erweiterte vaginale Hysterektomie mit annähernd gleicher Radikalität im Hinblick auf die Entfernung von Uterus und Parametrien. Er baute damit auf die Pionierarbeit Karl August Schuchards aus Stettin auf, welcher 1893 erstmals die vaginale totale Hysterektomie bei Gebärmuttermalignomen beschrieb. Die Lymphonodektomie bei vaginalem Zugang war jedoch ausgeschlossen. Im Hinblick auf die Wertigkeit der Lymphonodektomie entfachte sich ein Expertenstreit, der sich bis in die Monographien der beiden großen Operateure detailliert fortsetzt. Während die Vertreter der vaginalen Chirurgie die geringere Morbidität der Methode verteidigten, rechtfertigten die Vertreter des abdominalen Zugangs denselben mit der Lymphonodektomie. Schauta schrieb in seinem Werk, dass der abdominale Weg zwar bei großen Myomen zu dieser Zeit gewählt wurde, Karzinomoperationen aber unvergleichlich komplikationsreicher verliefen. Als Hauptkomplikation galt die Sepsis, wobei man dem Tumorgewebe selbst die
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Beherbergung von Keimen zuschrieb: »Bei Karzinomen finden sich im Tumor und in den Parametrien nicht selten Keime, selbst pathogene Wundkeime: besonders bei zerfallenden Tumoren werden solche kaum je fehlen. Bei der Laparotomie besteht die Gefahr, selbst wenn es gelingt, den Hauptherd der Erkrankung vollständig vom Peritoneum fernzuhalten, während der Durchtrennung der Parametrien derartige Wundkeime auf ’s Bauchfell zu verbreiten. Auch vertragen die alten, durch ihre Krankheit herabgekommenen Individuen die Narkose bei Laparotomie schlechter als bei vaginaler Operation«. Schauta hielt die Lymphonodektomie für sinnlos: »Der Beweis für die Nutzlosigkeit der Drüsenentfernung war leicht zu erbringen. Die Anhänger derselben haben ihn selbst erbracht dadurch, dass alle – oder fast alle- Fälle, in denen karzinomatöse Drüsen bei der Operation gefunden und entfernt worden waren, rezidiv geworden sind. […]… denn nicht so sehr die Laparotomie an sich, als die durch die Drüsensuche verursachte Verlängerung der Operationsdauer bildet die Vermehrung der Gefahr.« Die Mitentferung der Parametrien war in den Augen Schautas auch vaginal möglich: »Bleibt also der Beweis offen, dass man von unten die Parametrien in derselben Ausdehnung zu entfernen vermag, wie dies von oben möglich ist.« ▬ Ablauf der Schauta’schen Operation (⊡ Abb. 5.12): Zur Narkose verwandte er »1 Teil
Chloroform, 1 Teil Petroleumäther und 2 Teile Äthersulfat«. Es wurden Gummihandschuhe getragen. Zuerst schabte er »mit großen scharfen Löffeln« bröckeliges Tumormaterial ab, einerseits um die Tumorausdehnung zu Blase und Rektum besser bestimmen zu können (mit Hilfe einer Sonde), aber auch um Impfmetastasen zu vermeiden und »bakterienbeladenes Gewebe« zu entfernen. Nichtsdestotrotz entstanden Rezidive durch Tumorverschleppung im Bereich der Scheidendammnaht. Schuchard7 seinerseits führte die vorherige Präparation des Karzinoms nicht durch. Schauta entfernte großzügig die Scheide, wenn nötig auch Anteile der Vulva, die komplette vordere Scheidenwand und die Harnröhre, teilweise auch Blasen- oder Rektumanteile. Als Nahtmaterial beschrieb er Catgutnähte. Ein ausgedehnter Befall der Blase oder der Ureteren war für Schauta ein Kriterium der Inoperabilität. 1. Zu Beginn der Operation stand die Umschneidung der Scheidenmanschette. Schauta empfahl anders als Schuchardt, die ausreichende Resektion von Scheidenwand. Die Darstellung der Begrenzung erfolgte mit Kugelzangen. 2. Nach Durchtrennung des Scheidenrohres erfolgte die Vereinigung der vorderen mit der hinteren uteruswärtigen Scheidenwand, nicht zuletzt, um den Scheidenrest vor weiterem Karzinomkontakt zu schützen. Die Fäden wurden lang gelassen und dienten als Zügel für den Uterus. 3. Es folgte das Abschieben der Blase; Bei Tumoreinbruch in die Blasenwand wurde diese an dieser Stelle ggf. reseziert und die Lücke anschließend vernäht. Da der Scheidendammschnitt an dieser Stelle noch nicht angelegt war, konnte man die Operation ggf. aber auch abbrechen. 4. Anlage des Scheidendammschnittes. Dieser wurde von Schuchardt zu Beginn der Operation bereits angelegt. Bei Palliativsituation wurde auf diesen Schnitt, der sehr traumatisierend war, verzichtet. Die Schnitte dienten der Verbesserung des Zuganges zur vaginalen Radikaloperation. Staude gab eine weitere Variation an. 5. Präparation der Ureteren: Zuerst erfolgte die Fortsetzung der Blasenpräparation: Die Blasenpfeiler werden abgeschoben und der Ureter dahinter getastet. Bei starker Mobilität der Blasenpfeiler und möglich weitem Hochschieben, so Schauta, ertaste man den Ureter nicht, da man ihn mit hochschob und »braucht sich nicht weiter um ihn zu kümmern«. Schauta gab 7
Karl August Schuchardt (1856-1901) Frauenarzt in Stettin
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⊡ Abb. 5.12. Präparation des Ureters nach Friedrich Schauta, aus Schauta F (1908) Die erweiterte vaginale Totalexstirpation des Uterus bei Kollumkarzinom, Verlag Josef Safar
an, in seinem Krankengut in diesen Fällen nie eine Ureterverletzung erlebt zu haben. Bei karzinomatöser Umgebung musste der Ureter nun freipräpariert werden. Fälle, in denen der Ureter nicht vom Karzinom losgelöst werden konnte »wären besser unoperiert geblieben.« 6. Ligatur des uterinen Bündels mit der Deschampschen Nadel 7. Eröffnen des Douglasperitoneums »mit einem Scherenschlag«. Bei Tumoreinbruch in das Rektum erfolgte ggf. die Teilresektion desselben (⊡ Abb. 5.12). 8. Abschneiden des Parametriums von der lateralen Beckenwand, ggf. Fassen mit einer Klemme und Unter-Zug-Setzen des Parametriums, um möglichst viel abzuschneiden. »Die Durchtrennung des Parametriums erfolgt vollkommen aus freier Hand ohne Präventivligatur oder Abklemmung«. Neben venösen Blutungen sei hier allenfalls eine Blutung aus der A. haemorrhoidalis zu erwarten. Das freie Schneiden sollte eine möglichst beckenwandnahe Resektion der Parametrien ermöglichen. 9. Absetzen des Lig. rotundum und der Adnexe 10. Verschluss des Peritoneums und Extraperitonealisierung der Stümpfe (⊡ Abb. 5.13) 11. Ausstopfen des supravaginalen Raumes mit Gaze 12. Verschluss des Scheidendammschnittes Ohlshausen, Orthmann, Staude und Jordans waren neben Schauta bedeutende Verfechter des vaginalen Zugangs. Nicht zuletzt wegen der Scheidenwandrezidive nach vaginalem Vorgehen mit unzureichender Scheidenwandresektion wurde die Wertheim’sche Methode in Deutschland vorgezogen (⊡ Abb. 5.14). Eine Erweiterung der Schauta’schen Vorgehens erfolgte unter Walter Stoeckel (1871-1961). Sein wesentlicher Schritt ist die Anlage des beidseitigen Scheidendammschnittes zur Erweiterung des Operationsfeldes. Um die Situation in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts
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⊡ Abb. 5.13. Peritonealverschluss am Ende der Operation nach Friedrich Schauta, aus Schauta F (1908) Die erweiterte vaginale Totalexstirpation des Uterus bei Kollumkarzinom, Verlag Josef Safar
zu skizzieren, seien einige Aspekte seiner klinischen Laufbahn erwähnt: Walter Stoeckel wurde am 01.08.1901 erster gynäkologische Oberarzt unter Prof. Heinrich Fritsch, seinem Schwiegervater, in Bonn. Er habilitierte sich bei Prof. Veit in Erlangen über die Zystoskopie und gilt als der Vater der Urogynäkologie. Nach einem Jahr wechselte er zu Prof. Bumm an die Charite nach Berlin. Mit 34 Jahren wurde er zum Professor ernannt. Nach nur drei Jahren wurde er als Ordinarius nach Greifswald, Tübingen und Marburg berufen. Den Ruf nach Marburg nahm er 1907 an und wechselte 1910 nach Kiel. Nach 12 Jahren wurde er Ordinarius in Leipzig. Dort löste er Zweifel ab und schrieb (⊡ Abb. 5.15): »Als ich zum ersten Mal in Leipzig einen Adnextumor operierte, fuhr den Assistenten, die mich noch nicht kannten, spürbar der Schreck in die Glieder. Sie glaubten, bei meiner Technik würden Mastdarm und Blase kurz und klein gerissen. […] Von vaginaler Operationstechnik hatten sie überhaupt keine Ahnung.«
Zur radikalen Hysterektomie beim Kollumkarzinom schrieb er: »Das war 1910, als sich die abdominale Radikaloperation trotz der kolossalen Opfer, die ihrem Ausbau gebracht werden mußten, durchgesetzt hatte. Die meisten Operateure, darunter recht gute, resignierten jedoch und verzichteten darauf, sie auf sich zu nehmen. Wir Jungen aber stürzten uns begeistert auf die neuen und großen operativen Probleme. Wir versuchten, den radikalsten Radikalismus zu entwickeln.«. Von 1910-1922 führte Stoeckel 372 abdominale Radikaloperationen durch. Er erreichte ein krankheitsfreies 7-Jahres-Überleben von 28,2% bei einer Mortalität von 13%. Allerdings »schnellte die Sterblichkeitsziffer« in Leipzig nach oben, was Stoeckel auf die Nachkriegszeit und die schlechtere Konstitution der Sächsinnen verglichen zu den »starken Holsteinerinnen«, die er in Kiel behandelte, zurückführte. Schließlich »wechselte« er wieder zum vaginalen Vorgehen und etablierte die erweiterte vaginale Hysterektomie nach Schauta-Stoeckel: »Beherrschung der Technik führte mich in vierjährigem Bemühen zu weiteren Verbesserungen der Methode Schautas.« Er
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⊡ Abb. 5.14. Impfmetastase im Scheidendammschnitt nach vaginaler Karzinomoperation – die Radikalität des Verfahrens wurde in Frage gestellt, aus Bumm E, Operative Gynäkologie, Bd. 1
⊡ Abb. 5.15. Stoeckel beim Operieren, aus Stoeckel W (1966) Erinnerungen eines Frauenarztes. Kindler Verlag
führte den doppelseitigen Scheidendammschnitt durch und als geübter Urogynäkologe bereitete ihm die Reimplantation des Ureters in die Blase nach Verletzung desselben keine Schwierigkeiten. Die Exstirpation palpatorisch auffälliger Lymphknoten geschah blind. Stoeckel verteidigte das vaginale Operieren sehr und gab als Grund der Ablehnung desselben durch viele Zeitgenossen deren Unerfahrenheit im vaginalen Operieren an. Während er operable Kollumkarzinome »radikal-vaginal« sanierte, behandelte er die inoperablen zuerst mit in den Uterus eingelegten Radiumträgern, um sie dann sekundär zu operieren und postoperativ weiter zu bestrahlen, insbesondere im Hinblick auf die nicht entfernten Lymphknoten. 1932 verzeichnet Stoeckel eine absolute Heilungsrate von 38,7% und schrieb in seiner Autobiographie von einem »Weltrekord«. Sellheim, Stoeckels Nachfolger in Leipzig, sagte: »So sicher Schauta die Priorität der erweiterten vaginalen Karzinom-Operation gebührt, so sicher hat Stoeckel das Verdienst, das Interesse an dieser Operation in Deutschland wiederbelebt zu haben.« Anlässlich seines 85. Geburtstag präsentierte Ernst Kraussold eine Statistik mit 6949 Patientinnen, die zwischen 1910-1950 nach Schauta-Stoeckel operiert wurden und eine absolute Dauerheilung in 31,6% eingetreten war. Stoeckel schrieb seinen Schülern, insbesondere Felix Mikulicz, noch bessere Heilungsraten von 50-55% zu, die auf die ausgefeilte Technik und die überstandenen Schwierigkeiten der Nachkriegszeit zurückgingen. Eine Erweiterung der Schauta’schen Operation erfolgte durch Isidor Amreich (⊡ Abb. 5.16). Er berücksichtigte insbesondere die verschiedenen anatomischen Schichten und präzisierte somit das operative Vorgehen. Das Resultat ging auch als radikale vaginale Hysterektomie nach Schauta-Amreich in die Literatur ein (⊡ Abb. 5.17, ⊡ Abb. 5.18).
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⊡ Abb. 5.16. Operationspräparat nach Schauta-Amreich-Operation, aus Tapfer S (1961) Typische gynäkologische Operationen unter Berücksichtigung ihrer technischen Vorteile, Urban & Schwarzenberg
⊡ Abb. 5.17. Schauta-Amreich: Scheidendammschnitt, aus Amreich I, Peham H (1930) Gynäkologische Operationslehre, Urban & Schwarzenberg
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⊡ Abb. 5.18. Schauta-Amreich: Darstellung der Parametrien (Ligamentum Mackenrodt), aus Amreich I, Peham H (1930) Gynäkologische Operationslehre, Urban & Schwarzenberg
Von der ersten abdominalen Hysterektomie zur totalen mesometrialen Hysterektomie Erste Hysterektomien bei benignen Erkrankungen Nachdem die Laparotomie zur Entfernung der Eierstöcke ausgiebig von u. a. Alfred Hegar und Robert von Ohlshausen beschrieben wurde, stellte Prof. Karl Hennig aus Leipzig die Hysterektomie als den »gefährlicheren Eingriff in den weiblichen Organismus [..] als die Oophorotomie« dar und schrieb 1877, dass die bisher durchgeführten Hysterektomien »wahrscheinlich zufällig,[…] d.h. in der Absicht unternommen wurden, einen Ovarialtumor zu entfernen«. Hennig selbst veröffentlichte 142 Fälle von Laparotomien bei Uterus myomatosus, 82 davon mit tödlichem Ausgang. Hauptprobleme waren Blutungen und Peritonitiden. Die Blutstillung wurde mittels sog. Glühen vorgenommen und thrombembolische Ereignisse im kleinen Becken infolge des Glühens beschrieben. Interessant ist folgende Bemerkung: »Wir kündeten die wirkliche Vornahme (der Operation) erst am frühen Morgen des Operationstages an, da es sonst schlaflose Nächte giebt«. Hennig gab im Kontext der Laparotomie auch Gründe für die subtotale Hysterektomie an: nach Entbindung im Sinne einer Sectio-Hysterektomie, bei Uterus myomatosus oder bei ausgedehntem Myombefall. Die Tatsache, dass er schrieb, man solle nur so viel Mutterhals stehen lassen, dass der Bauchraum nach der Scheide zu geschlossen bleibe, veranschaulicht das sub-
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totale Vorgehen. Auch riet er zur konsequenten Adnexektomie aus Gründen wie Blutungsgefahr aus den verbleibenden Adnexstümpfen, Bauchhöhlenschwangerschaft und menstruale Hämatome. Zur Operationsweise ist zu entnehmen, dass die Harnblase abpräpariert und das Corpus uteri mit einer Drahtschlinge (oder einer Ecraseurkette oder einem Glühdraht) abgesetzt wurde. Auch hier wurden schwerwiegende Komplikationen, wie Blutungen aus dem Stumpf und Darmverletzungen beschrieben. Der Zervixstumpf wurde schließlich nach extraperitoneal verlagert bzw. man vereinigte die Perionealflächen über dem Zervixstumpf. Im weiteren Verlauf etablierte sich eine intraperitoneale Methode, bei der man die Gefäße des Zervixstumpfes ligierte, anschließend eine gemeinsame Schnürschlinge um den Stumpf legte und diesen erglühte. T. Spencer Wells aus London führte über 600 Ovariotomien durch und hinterließ der Nachwelt in sechs Vorträgen, welche 1877 publiziert wurden über Die Diagnose und chirurgische Behandlung der Unterleibsgeschülste einen Einblick in seine Pionierarbeit. Er warnte jedoch davor, maligne Ovarialtumoren zu operieren, da »die Krankheit gewiß […] wiederkehren würde«. Er führte die Längslaparotomie mit dem Skalpell durch und legte sie als subumbilikalen Schnitt an. Blutende Gefäße wurden unterbunden oder torquiert, d. h. eine Pinzette wurde daran geheftet bis zum Operationsende. Auch wurde mittels Kompression, teilweise über mehrere Tage (Nadeln, Korkplatten) Blutstillung betrieben. Zur Versorgung des Stiels, also des zurückbleibenden Teils nach Absetzen einer Ovarialgeschwulst, führte er neben der dreifachen Ligatur eine Klammer ein, mit der er Geschwülste absetzte und den verbleibenden Stiel anschließend mit Eisenchlorid oder Eisensulfat in eine »harte lederartige Masse« verwandelte. Eine weitere Methode zum Absetzen von erkrankten Strukturen war das Glüheisen (nach John Clay, Baker Brown, Maslowsky, Wright und, von Wells präferiert, nach Paquelin). Der Bauchdeckenverschluss fand nach sorgfältiger Lavage statt und wurde im Tierexperiment erprobt. Amüsant ist sein Bericht über die Vorwürfe der Tierversuche: »Ich wurde derzeit in Anti-Vivisections-Journalen heftig angegriffen und der Grausamkeit angeklagt. Die vollständige Liste meiner Verbrechen in Bezug auf Vivisectionen beschränkt sich auf 14 Versuche; die Opfer meiner Grausamkeit waren sechs Kaninchen, vier Meerschweinchen und vier Hunde«. In den ersten Jahren der Ovariotomie ließ man die Fäden des Stieles durch eine Öffnung der Bauchdecke nach außen ragen und erhoffte sich so eine Wunddrainage über die ausgeleiteten Fäden. Wells führt die Reduktion der Sterblichkeit von 70-80% auf 20-30% auf die Tatsache zurück, dass die Fäden nicht mehr ausgeleitet wurden und man die komplette Bauchdecke verschloss. Später wandte man zur Drainage Glasrohre, z. B. nach Keith und nach Koeberle, und Kautschukrohre an. Über diese konnte man Sekret absaugen und desinfizierende Spülungen einspritzen. Drainiert wurde durch die Bauchdecke oder durch eine Stichinzision durch die Vagina. Der Wundverband gestaltete sich etwas komplizierter als heute: Wells verwendete vorzugsweise Thymol-Gaze mit antiinfektiven Eigenschaften, Heftpflaster und eine Flanellbinde. Eine totale Hysterektomie findet man in Wells dokumentierten Fällen nicht, jedoch beschrieb er die suprazervikale Hysterektomie. Da seine Fallbeschreibungen oft große Mengen Aszites angeben, muss in einigen Fällen von Malignomen ausgegangen werden, die die hohe Mortalität mitbestimmt haben könnten. Dr. August Rheinstaedter aus Köln hinterließ in einem Aufsatz des von Volkmann 1877 herausgegebenen Werkes Klinische Vorträge einen Aufsatz über Die extrapuerperalen Gebärmutterblutungen, ihre symptomatische und radicale Behandlung. Als Maximaltherapie der Myombehandlung wird die supravaginale Hysterektomie angegeben. Die totale Hysterektomie wurde noch den Karzinomerkrankungen vorbehalten. Prof. Walter Stoeckel legte das von seinem Schwiegervater Fritsch begründete Lehrbuch der Gynäkologie zusammen mit Prof. Reifferscheid aus Göttingen neu auf. Aus diesem Lehr-
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buch gehen diverse Indikationen für die Hysterektomie hervor. Bei Prolaps uteri operierte Stoeckel u. a. mit der vaginalen Hysterektomie. Zwischen 1910-1922 hatte er in Kiel 2000 Prolapse operiert. Dass die Hysterektomie jedoch auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch eine Seltenheit war, beweist seine Aussage: »Die Totalexstirpation wird von vielen völlig verworfen.« Zur Myomtherapie schrieb er »Behandlungsbedürftige Myome können operiert oder mit Röntgenstrahlen bestrahlt werden; alle anderen Behandlungsmethoden sind als veraltet und unzweckmäßig abzulehnen.« Die Mortalität der operativen Myomtherapie betrug 1924 1,7-3%. Lungenembolien spielten dabei eine entscheidende Rolle. Etabliert waren die Myomenukleation, die supravaginale und totale Hysterektomie, sowohl abdominal wie vaginal.
5 Erste abdominale Hysterektomie bei Zervixkarzinom Wilhelm Alexander Freund (1833-1917) wird die erste systematisch beschriebene abdominale Hysterektomie bei Uteruskarzinom zugeschrieben. Wie aus seinen Schriften hervorgeht, war zur damaligen Zeit eine partielle Uterusentfernung jedoch keine Seltenheit. In Analogie zur Mamma vertrat man die Theorie, dass bösartig erkrankte Organe vollständig im Gesunden entfernt werden müssten. Hinsichtlich des Uterus trauten sich die damaligen Operateure aber nicht, die Scheide zu eröffnen, was man als großes Problem im Kontext der Karzinomchirurgie mit Wunsch nach kompletter Organexstirpation ansah. Die Laparotomie mit suprazervikaler Hysterektomie einschließlich Tuben und Ovarien war gängig, doch »an dieser Barriere des Abschlusses der Peritonealhöhle von der Scheidenhöhle machte man halt. Reichte eine karzinomatöse Degeneration vom Cervix in das Corpus hinein, so sah man von der Amputation ab, um jene Grenze zu respectieren«. Freund erwähnte lediglich, dass »hin und wieder ein muthiger Arzt jene Barriere übersprang […], und eine vollständige Exstirpatio uteri carcinomatosi […]« berichtet wurde. Man forderte Blutstillung, Vermeidung von Organverletzungen und den Verschluss der Peritonealhöhle, was wohl als unüberwindlich erschien. Zu seiner ersten Hysterektomie führt Freund aus: »Mein Assistent verlangte nach einer Konsultation bei der ihm überwiesenen 62jährigen Frau. Ich wollte mich nach meinen bisherigen Erfahrungen an der bisher eingeführten Behandlung nicht beteiligen. Auf die dringende Bitte des Dr. Martini […] fasste ich den Entschluß, die Totalexstirpation zu machen. Merkwürdigerweise trat mir sofort ein ungemein lebendiges Erinnerungsbild vor die Seele, nämlich der Zustand der totalen Inversio uteri […]. In veralteten Fällen wird der Inversionstrichter durch Verklebung der Peritonealflächen abgeschlossen. Dieser Vorgang zeigte den Weg zum Verschlusse des großen durch Entfernung des Uterus gesetzten Defektes. Der Gedanke war so lebendig, dass ich sofort im Allerheiligenspital an einer Leiche den Versuch machte, das Organ nach vorheriger Unterbindung der zuführenden Gefäße auszuschneiden und den entstandenen Defekt durch Vernähung der hinteren und der vorderen Peritonealplatte zu schließen. Die Einzelheiten wurden in weiteren Leichenversuchen studiert«. Freund löste mit seiner Hysterektomie in der Folge eine Welle an, teilweise auch falsch indizierten Hysterektomien aus: »[…] Ich habe mit der Wiedereinführung dieser Operation den Sturm (wahrhaft unabsichtlich) entfesselt. […] Die Operation wurde Mode. Hysterische verlangten so behandelt zu werden.[…] Gegen diese Ausschreitung habe ich die Arbeit »Über die Methoden und Indikationen der Totalexstipation des Uterus« […] geschrieben.« Freunds Meilenstein ging an einer anderen Stelle in die Weltliteratur ein, die einerseits die Hoffnung auf die neue Methode beleuchtet, andererseits aber an Freunds Kommentar darüber zu erkennen gibt, dass Heilungen damals eine Seltenheit waren. Er schreibt in seiner Autobiographie: »1879 wurde mir Storms letzte Novelle »Ein Bekenntnis« von unbekannter
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Hand zugesandt. Der Inhalt besagt, dass ein junger Arzt (einige Stellen lassen mich ganz klar als seinen Lehrer erkennen) dem Drängen seiner krebskranken Frau nachgibt und sie durch eine tödliche Morphiumgabe erlöst. Er liest kurz hintendrein die »neue Methode zur Totalexstipation des Uterus« seines Lehrers und gerät in trostlose Verzweiflung. So romanhaft das Ganze klingt, […] so sind doch gewisse Einzelheiten (wörtliche Ausführungen aus meinen Publikationen über diesen Gegenstand) so realer Natur, […]dass ich mich an Storm wenden wollte, um nötigenfalls dem selbstquälerischen traurigen Helden seiner Novelle […] Entlastung bringen zu können. Da erfuhr ich, dass Storm sehr bald nach dieser Publikation gestorben war. Hoffen wir, dass wenn der Selbstzweifler wirklich lebt, er durch die inzwischen konstatierten wenig erfreulichen Statistiken über Dauerheilung des Krebses durch diese Operation aus seiner melancholisch verzweifelten Stimmung herausgerissen sein mag.«.
Noch zu Freunds Lebzeiten wurde die Strahlentherapie etabliert: »Diese glückliche Entwicklung in der chirurgischen Behandlung des Uteruskrebses wird aber neuerdings durch Erfahrungen über Behandlung mittels strahlender Energie möglicherweise, sagen wir hoffentlich übertrumpft. Es scheint begründete Aussicht vorhanden zu sein, dass sowohl gutartige als bösartige Neubildungen an äußeren und inneren Organen durch diese Behandlung radikal geheilt werden können. Damit wäre das Ideal ärztlicher Behandlung erreicht. Jedes herausgeschnittene Organ ist ein schwerwiegendes Armutszeugnis der Kunst«. Operatives Vorgehen nach Freund Chloroformnarkose. Zugang: Längslaparotomie in Beckenhochlagerung. Nahtmaterial: Silbersuturen (»mit Carbolwachs gekochte, gedrehte Seidenfäden«). Desinfektion: Carbolsäurelösung (nach Lister). Die Operation beinhaltete drei wesentliche Schritte: 1. Unterbindung der Parametrien in drei Portionen (Es wurden drei Schlingen gelegt, die obere durch Tube und mit Stich durch das Lig. ovarii proprium, die mittlere mit Stich durch Lig. ovarii und Lig. rotundum und die kaudale mit Stich durch das Lig. rotundum und die Scheidenhaut vorne und hinten lateral durchziehend, ⊡ Abb. 5.19) 2. Eröffnung des vorderen Scheidengewölbes nach Abschieben der Blase und Eröffnung des hinteren Scheidengewölbes im Douglas. Anschließend Absetzen des Uterus beidseits lateral der Schlingenanlage durch die Parametrien (⊡ Abb. 5.20) 3. Die Fäden der drei Schlingen beidseits durch die Parametrien wurden in die Scheide verlagert und die Parametrien mit Tubenenden und Ovarien scheidenwärts verlagert durch Zug an den Fäden in die Scheide hinein. Anschließend wurden die Peritonealflächen mit Einzelknopfnähten vereinigt (⊡ Abb. 5.21). Der Verschluss der Peritonealflächen erschien Freund am wichtigsten. Auch das Belassen von Parametrienanteilen, die zu einem besseren Peritonealverschluss führten, war seines Wissens nach bedeutsamer als dessen Resektion, wie wir es heute aus onkologischer Sicht anstreben. Die Haltung kam daher, dass man am meisten Infektionen fürchtete und im peritonealen Verschluss eine Sicherheit gegenüber Scheidensekret bzw. Wundsekret, welches man für infektiös hielt, sah: »Je mehr Substanz vom Beckenperitoneum, also auch von den breiten Bändern zurückgelassen werden kann, desto bequemer wird sich die Absicht einer guten Peritonealversorgung des Beckens , die ich für das Hauptmoment meiner Methode der totalen Uterusexstirpation halte, verwirklichen lassen«. Freund dachte davon abgesehen jedoch sehr systematisch, rechtfertigte seine Indikationsstellung durch Ausschluss einer Infiltration von Blase oder Darm,
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Kapitel 5 · Geschichte der operativen Gynäkologie am Beispiel der Hysterektomie
⊡ Abb. 5.19. Unterbindung der Parametrien in drei Portionen nach W. A. Freund, aus R. Volkmann (Hrsg) Sammlung klinischer Vorträge in Verbindung mit deutschen Klinikern. Gynäkologie. Leibzig, Verlag Breitkopf und Härtel
⊡ Abb. 5.20. Absetzen des Uterus nach W.A. Freund, aus R. Volkmann (Hrsg) Sammlung klinischer Vorträge in Verbindung mit deutschen Klinikern. Gynäkologie. Leibzig, Verlag Breitkopf und Härtel
⊡ Abb. 5.21. Versorgung der Parametrien- und Adnexstümpfe nach W. A. Freund, aus R. Volkmann (Hrsg) Sammlung klinischer Vorträge in Verbindung mit deutschen Klinikern. Gynäkologie. Leibzig, Verlag Breitkopf und Härtel
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benannte die mögliche Ureterverletzung und ließ den entfernten Uterus pathologisch untersuchen. Auch hatte er ein Bewusstsein für lymphogene Metastasierung, benannte allerdings nur die Untersuchung der Leistenlymphknoten. Nichtsdestotrotz beschrieb Ahlfeld 1880 eine Mortalität von 72% durch die Freund’sche Operation.
Erweiterte radikale abdominale Hysterektomie beim Zervixkarzinom Professor Ernst Wertheim aus Wien (1864-1920) schrieb in der Einleitung seines Werkes Die erweiterte abdominale Operation bei Carcinoma colli uteri, dass im Jahr 1878 die abdominale Operation des Zervixkarzinoms, wie Freund sie beschrieb, wegen der hohen Mortalität aufgegeben wurde. Es wurde weitgehend nur noch die vaginale Hysterektomie vorgenommen und nur in Ausnahmefällen sekundär zur Laparotomie übergegangen. Vereinzelte Vertreter des abdominalen Zugangs vor Wertheim waren einige Schüler Freunds (H. W. Freund und Funke) sowie Gustav Veit und Alwin Mackenrodt. Neben Mackenrodt darf Wilhelm Latzko (1863-1945) nicht ungenannt bleiben, da auf die beiden Letztgenannten die Idee der Parametrienresektion zurückgeht. Als weiterer bedeutender Vorläufer ist J. G. Clark zu nennen. 1895 tauchte erstmals mit Rieß die Idee der regionalen Lymphonodektomie auf (Zeitschrift für Gynäkologie und Geburtshilfe 1895 und 1897). Wertheim berichtete in seiner Einleitung einige historische Berichte, in denen gezielt auf die Ureteren geachtet wurde, sah es aber als seine Pionierarbeit an, die Ureteren zu schonen bzw. systematisch freizulegen. Die von Wertheim 1898 etablierte erweiterte Hysterektomie ermöglichte auch die Resektion weiter fortgeschrittener Stadien, als dies bisher dem vaginalen Weg zugetraut wurde. Letztlich durchgreifend waren die von Wertheim beobachteten Spätresultate seiner Operationstechnik, die denen der vaginalen Operationen deutlich überlegen waren. Zahlreiche bedeutende Kollegen folgten Wertheim (Alwin Mackenrodt, Alfons von Rosthorn, Joseph Amann, Gustav Döderlein, Carl Menge, Paul Zweifel, Karl Franz) und in weniger als fünf Jahren gewann seine Operationsmethode internationale Akzeptanz (z. B. Gynäkologenkongress in Rom 1902, DGG 1905). 1911 veröffentlichte Wertheim 500 operierte Fälle.
Operationstechnik nach Wertheim 1. Vor Einleitung der Narkose »exakte Vorbereitung des Carcinoms«: mit scharfem Löffel und Paquelin, Ausstopfung der Vagina mit Sublimat-getränkter Gaze 2. Längslaparotomie in Beckenhochlagerung 3. Nach Lösen von Verwachsungen: Fassen des Fundus uteri mit einer Zange und Hochziehen desselben 4. Mediane Ablösung der Blase 5. Trennung des Lig. infundibulopelvicum, Entfaltung der beiden Blätter des Lig. latum digital. Durchschneiden des vorderen Blattes bis zum Lig. rotundum. Durchtrennung des Lig. rotundum 6. Freilegen des Ureters bis zum Eintritt in das Parametrium. Durchschieben des Zeigefingers entlang des Ureters bis durch das Parametrium. Aufladen des uterinen Bündels und Durchtrennung desselben. Weitere Verfolgung des Ureters bis zur Pars vesicalis, von hier aus weitere Freipräparation der Blase (⊡ Abb. 5.22) 7. Gleiches Vorgehen auf der kontralateralen Seite
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Kapitel 5 · Geschichte der operativen Gynäkologie am Beispiel der Hysterektomie
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⊡ Abb. 5.22. Ureterpräparation nach Wertheim, aus Wertheim E (1911) Die erweiterte abdominale Operation bei Carcinoma colli uteri (auf Grund von 500 Fällen), Urban & Schwarzenberg
⊡ Abb. 5.23. Absetzen des Lig. sacrouterinum nach Wertheim
8. Eröffnen des Douglasperitoneums 9. Absetzen der Parametrien von der seitlichen Beckenwand mit den gebogenen Parametrienklemmen, beginnend vom Lig. sacrouterinum aus schrittweise bis zur Scheide (⊡ Abb. 5.23) 10. Entfernung der Sublimat-getränkten Gaze aus der Scheide, dann Absetzen der Scheide mit den rechtwinkligen Wertheimklemmen (⊡ Abb. 5.24) 11. Säumen der Scheidennaht, Ersatz der Parametrienklemmen durch Ligaturen 12. Aufsuchen und eventuelle Exstirpation vergrößerter Lymphknoten8 13. Einlegen einer Jodoformgaze von abdominal in die Scheide, dann Verschluss der Scheide und des Peritoneums über der Scheide 14. Verschluss der Laparotomie Auch noch zu Wertheims Zeiten war man überzeugt, der Tumor enthalte »gefährliche Keime« und diese seien die Hauptursache der gefürchteten Peritonitiden. Man versuchte zuerst die
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Vor der eigentlichen Hysterektomie führte Wertheim deshalb zuerst die Exploration der Lymphknoten und die Überprüfung der Ureterdilatation sowie der Blasen- und Rektuminfiltration durch. Bei inoperablem Zustand, d. h. der Unmöglichkeit makroskopische Tumorfreiheit zu erreichen, wurde die Operation abgebrochen. In Einzelfällen wählte auch Wertheim das vaginale Vorgehen: bei ausgeprägter Adipositas, kardiale Dysfunktion, Kachexie und hohem Alter sowie auch bei sehr kleinen, nur mikroskopisch erkannten Karzinomen nach bereits erfolgter vaginaler Hysterektomie.
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⊡ Abb. 5.24. Absetzen der Scheide nach Wertheim
Genitalorgane und Parametrien abzutrennen und zuletzt die Scheide mit dem hineinragenden Tumor abzusetzen. Zeitweise nahm man den letzten Schritt von vaginal vor, nachdem vorher das Peritoneum von abdominal verschlossen wurde. Wegen starken Blutungen verließ Wertheim wieder diesen vaginalen Schritt. Stattdessen ließ er die rechtwinklig gebogenen Wertheim-Klemmen anfertigen, um so den Scheidenschlauch von abdominal abzusetzen. Ziel war es, den Tumor möglichst »verborgen zu halten«. Nachdem es gehäuft zu seitlichen Einrissen und »Freilegung« des Tumorgewebes beim Hochziehen des Uterus kam, führte er erneut die vorherige »Excochleation und Paquelinisation« (Verbrennung mit dem Kugelbrenner) des Tumorbettes mit anschließender Plombierung mit 1‰-Sublimat-getränkter Gaze ein (⊡ Abb. 5.25). Wertheim wehrte sich unter dem Aspekt der Infektionsgefahr vehement gegen seine Zeitgenossen (z. B. Bumm, Breisky und Bröse), welche die Scheide zuerst von vaginal umschnitten, nicht zuletzt, um den vaginalen Tumorbefall sicher in sano auszuschneiden. Die Angst vor bakterieller Superinfektion veranlasste die Operateure zur vaginalen Drainage. Diese erfolgte unter Wertheim mittels einer Jodoform-getränkten Tamponade, welche unterhalb des Verschlusses der Peritonealblätter zu liegen kam und nach vaginal ausgeleitet wurde. Sie wurde vom 4.-9. postoperativen Tag schrittweise herausgezogen. Alternativ wurde auch ein Drainrohr nach retroperitoneal eingelegt. Eine häufige Ursache einer retroperitonealen Eiteransammlung lag in Ureterläsionen bzw. Ureterfistelungen und superinfizierten Urinomen. Später etablierte sich unter Ernst Bumm und Gustav Veit das Offenlassen der Vagina mit und ohne Vernähung der Peritonealblätter am Scheidenstumpf im Sinne einer offenen vaginalen Drainage. Die Frage der Blutstillung löste Wertheim mit Einführen der Prametrienklemmen, nachdem die vorher eingesetzte prophylaktische Unterbindung der Aa. hypogastricae keinen ausreichenden Erfolg erbrachte.
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Kapitel 5 · Geschichte der operativen Gynäkologie am Beispiel der Hysterektomie
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⊡ Abb. 5.25. Ausgebrannter Karzinomtrichter, aus Bumm E, Operative Gynäkologie, Bd. 1
Die Freilegung der Ureteren wurde von Wertheim ausführlich beschrieben. Nach Auffinden derselben wurden sie freigelegt und bis zum Eintritt in die Parametrien verfolgt. Auf den Vorschlag Bumms und Krönigs hin etablierte Wertheim zuerst die Durchtrennung des Lig. infundibulopelvicum und die nachfolgende stumpfe Durchtrennung der beiden Blätter des Lig. latum. Der Zeigefinger wurde nun zwischen Ureter und Uteringefäße geschoben, welche nachfolgend ligiert wurden. Anschließend wurde der Ureter bis zu seinem Eintritt in die Blase freigelegt. In nur 11 von 500 Fällen kam es zur versehentlichen Ureterverletzung mit nachfolgend erfolgreicher Ureterreimplantation. Ureterscheidenfisteln stellten mit 32 von 500 Fällen die häufigere Komplikation dar und die aufsteigenden Infektionen mit Pyelonephritis waren sehr gefürchtet. Als Ursache sah man die Nekrose durch vaskuläre Minderversorgung an. Gestörte Ureterperistaltik und Ureterdilatation infolge vaskulärer Minderversorgung führten zum Harnaufstau und zur sekundären Pyelonephritis. Diese behandelte man mit Silbernitrat- oder Protargol-Einspritzungen in das Nierenbecken. Die Ablösung der Blase geschah schrittweise mit Hilfe einer Schere mit abgerundeten Spitzen. Blasenverletzungen waren bei fortgeschrittenen Karzinomen keine Seltenheit (45/500). Blasenscheidenfisteln, Blasenatonie mit Restharnbildung und Zystitiden waren häufig. Wertheim sah in diesen Komplikationen »ein unvermeidbares, durch die Radikalität der Operation bedingtes Übel« an und führte tägliche Katheterisierungen und Blasenspülungen mit desinfizierenden Lösungen durch. Die Lymphonodektomie wurde nur bei auffälligen Tastbefunden vorgenommen. Dies wurde am Ende der Operation durchgeführt, mit Ausnahme großer und fixierter Lymphknotenpakete, welche bereits als erster Schritt der Operation angegangen wurden, um diese bei Unmöglichkeit der Resektion der Bulky-Nodes abbrechen zu können. Als Folge der erweiterten abdominalen Hysterektomie konnte die Indikationsstellung erweitert werden. Im Vergleich zur vorher etablierten vaginalen Hysterektomie gelang es nun, ausgedehntere Karzinome mit Parametrieninfiltration und Fixierung an Blase oder Darm zu operieren. Während die Wiener Schule mit dem vaginalen Vorgehen nur 15% der Patientinnen operieren konnte, erreichte Wertheim 61,9% Operationsfähigkeit. Ähnlich der heutigen Situation erwies sich die präoperative Einschätzung der Karzinomausdehnung als unzurei-
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chend und Wertheim erklärte jede Laparotomie bei Zervixkarzinom als »Explorativlaparotomie«. Dieser Aspekt war in den Augen Wertheims ein relevanter Punkt zur Rechtfertigung des abdominalen gegenüber dem vaginalen Vorgehen. Die Mortalität sank stark im Laufe der Erfahrungsjahre der Wertheim’schen Operation. Während von seinen ersten 100 operierten Patientinnen 30 starben, waren es nur noch 15 der letzten 100 Operierten im Gesamtkollektiv der 500 veröffentlichten Fälle. Hauptursachen waren Peritonitis (39/93), Herzschwäche und Kachexie (22/93) und Pyelonephritis (9/93). Die Abnahme der Peritonitiden im Laufe der Jahre schrieb Wertheim der vaginalen Vorbehandlung des Karzinoms und dem Einsatz der Wertheimklemmen zu. Auch spiele das Alter eine wesentliche Rolle: 50% der Über-60-Jährigen starben in Folge der Operation verglichen zu 16,4% der Unter-60-Jährigen. Rosthorn und Mackenrodt forderten die komplette Lymphonodektomie, worauf Wertheim antwortete: »Eine vollständige Exstirpation des regionären Lymphsystems ist allerdings […] nicht möglich. Vom prinzipiellen Standpunkt aus wäre sie gewiß das Richtige, in der Praxis erweist sie sich aber als undurchführbar.« Zum Zeitpunkt der Publikation lag in 250 Fällen eine 5-jährige Nachbeobachtungszeit vor. Hierbei traten 78 Rezidive, 66 Todesfälle und 106 krankheitsfreie Fälle auf. Rezidive waren meistens Lymphknotenmetastasen. Als Risikofaktor galt u. a. der histologische Subtyp und am relevantesten der Lymphknotenbefall. Nur 5 von 41 Fällen mit Lymphknotenbefall aus dem Wertheim’schen Kollektiv war nach 5 Jahren rezidivfrei. Damit ergab sich eine Rezidivrate von 87,8% bei Nodalpositiven und von 29,5% bei Nodalnegativen (nach o. g. Lymphknotensampling). Wertheim schlussfolgerte, dass die bisher durchgeführte Lymphknotenresektion von nur vergrößerten Lymphknoten ungenügend sei und dass auch paraaortale Lymphknoten mitbefallen sein könnten, wie die Rezidivmuster zeigten. Bezogen auf die, in einem bestimmten Zeitraum gesamthaft vorstellig gewordenen Patientinnen (einschließlich der nichtoperierten), ergab sich eine absolute Leistung von 18,4% auf das krankheitsfreie 5-Jahres-Überleben. Das vaginale Vorgehen erreichte eine absolute Leistung von 4-5%. Die von Schauta Operierten hatten jedoch nur in 31,8% ein krankheitsfreies 5-Jahres-Überleben, verglichen zu 57,6% der von Wertheim Operierten. Die absolute Leistung der von Schauta Operierten lag bei 12,6%. Wertheim konstatierte aufgrund der sehr niedrigen Erfolgsraten der seinerseits vorgenommenen Lymphonodektomien, dass der bessere Erfolg der abdominalen Operation nicht darauf zurückgeführt werden konnte. Er führte den besseren Erfolg auf die größere Radikalität, insbesondere die Parametrien betreffend, sowie auf die genauere Präparation zurück. Auch waren folglich Verletzungen von Nachbarorganen wesentlich seltener. Die Mortalität bei Wertheim lag mit 11,7% unwesentlich über der Schautas mit 10,7%. Wertheim widerlegte Schautas Behauptung, dass die »Drüsensuche« das »Mortalitätsprozent wesentlich belaste« (6 Todesfälle von 62 Operierten).
Weitere Geschichte der Hysterektomie beim Kollumkarzinom bis in das Jahr 2010 »Hatte im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts die Streitfrage gelautet: Schauta oder Wertheim? So hieß sie jetzt: Operation oder Bestrahlung?« schrieb Walter Stoeckel, nachdem 1913 auf dem Gynäkogenkongress in Halle die Radiumtherapie des Zervixkarzinoms vorgestellt und von namhaften Gynäkologen wie Döderlein aus München, Krönig aus Freiburg und Gauß proklamiert wurde. Die Erforschung der richtigen Technik und die hohen finanziellen
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Preise stellten die ersten Schwierigkeiten der Therapie dar. Stoeckel war ein Verfechter des kombinierten Verfahrens, was wesentlich zu seinen hohen Heilungsraten beitrug. Die Radikalität des Eingriffs präzisierend, insbesondere die Ureterpräparation und die Parametrienpräparation betreffend, gingen Wilhelm Latzko und Alwin Mackenrodt auch in der sog. Post-Wertheimschen Ära weiter in die Literatur ein. Drei japanische Operateure, Okabayashi 1921, Yagi 1952 und Magara 1960, bauten die Parametrienresektion weiter aus. Joe Vincent Meigs, welcher die erweiterte radikale Hysterektomie im angelsächsischen Raum verbreitete, standardisierte schließlich 1949 die systematische pelvine Lymphonodektomie (Operation nach Wertheim-Reis-Clark-Meigs). 1974 führten Piver, Smith und Ruthledge eine Klassifikation der Radikalität der Hysterektomie ein. Nachdem sich zeigte, dass im Falle des pelvinen Lymphknotenbefalls auch paraaortale Metastasierung möglich ist, etablierte sich zunehmend die zusätzliche paraaortale Lymphonodektomie in höheren Tumorstadien. Prof Dr. Dr. Michael Höckel aus Leipzig etablierte in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts auf dem Boden eines neuen Verständnisses der Anatomie und der Tumorausbreitung entlang dessen morphogenetischer Grenzen seiner Entstehung eine neuartige Form der radikalen Hysterektomie. Höckel konnte zeigen, dass sich der Tumor entlang seiner embryonalen Entstehungseinheit, hier dem Müller-Mesenchym, ausbreitet. Die bisher konventionellen Begriffe der Parametrien und Parakolpien werden von Höckel in die innerhalb des MüllerMesenchyms befindlichen Mesometrien und Mesokolpien umbenannt. Das Entfernen des tumortragenden uterovaginalen Kompartiments erlaubt das Belassen anderer wichtiger Strukturen, die embryologisch diesem Kompartiment nicht angehören, wie z. B. das Mesorektum und die Versorgungsstrukturen der Harnblase. Das Konzept der neuen Radikalität erschließt eine minimale Traumatisierung von Nachbarstrukturen mit bisher schwer beherrschbaren Langzeitfolgen wie Blasen- und Uretertonusstörungen. Laut Höckel kann auf eine adjuvante Strahlentherapie komplett verzichtet werden. Prospektive Studien werden in den kommenden Jahren weitere Auskünfte zum onkologischen Therapieerfolg zeigen.
Hysterektomie in der Mitte des 20. Jahrhunderts Um die Epochen während und nach dem Zweiten Weltkrieg zu skizzieren, sei ein Abschnitt aus der Autobiographie Stoeckels abgedruckt und einige Auszüge aus Siegfried Tapfers Buch Typische gynäkologische Operationen aus dem Jahr 1952 dargestellt. In Walter Stoeckels Erinnerungen eines Frauenarztes liest man: »Die gynäkologischen Operationen wurden zugunsten der Geburtshilfe eingeschränkt und nur noch lebensbedrohlich Kranke, z. B. bei Extrauteringravidität, wurden operiert. Die Kollumkarzinome wurden bestrahlt«. Am 24.11.1943 wurde die Berliner Universitätsfrauenklinik bombardiert und stand in Flammen. Auf der Höhe des Krieges operierte Stoeckel »bei Petroleumlampen und Kerzen durch Bauchschüsse zerrissene Mägen, durchsiebte Därme und rupturierte Milzen von Soldaten, Frauen und Mädchen«, »Zwischen Magen- und Darmeingriffen erfolgten auf demselben Operationstisch Zangenoperationen, Kaiserschnitte, Placenta-praevia-Fälle und Extrauteringraviditäten. Alles mußte schnell gehen. Langwierige Vorbereitungen konnten nicht getroffen werden. Die Asepsis kam stets zu kurz. Und trotzdem erlebten wir keinen einzigen Fall von Wochenbettfieber! Aber viele Schwerverwundete starben uns unter den Händen, ihre Leichen stapelten sich rings um den Bunker«. Nach Kriegsende beschrieb Stoeckel den Neubeginn: »Ich lebte auf, als sich die gynäkologische Station, wenn auch unter primitiven Umständen, füllte und ich wieder operieren konnte, vorerst weiter im Bunker. Bald kamen Tage, an denen ich wie einst fünf bis
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sechs Stunden hintereinander am Operationstisch stand. An einem Vormittag drei vaginale Radikaloperationen waren keine Seltenheit«. Die akademische Situation in Deutschland schien verheerend: »Es fehlte überall im besetzten Deutschland an Lehrkräften. Zwanzig gynäkologische Lehrstühle waren vakant.« Prof. Siegried Tapfer aus Innsbruck gab knapp 20 Jahre (1961) später ein Buch über die Typischen gynäkologischen Operationen unter besonderer Berücksichtigung technischer Vorteile heraus. In seinem Vorwort erklärt er, dass er sowohl die Schauta’sche wie Wertheim’sche Schule genossen hatte und zeigte somit, wohin die verschiedenen Schulen in der klinischen Praxis führten. Wie man lesen kann, sind die Operationsmethoden von den heutigen nur wenig abweichend: ▬ Bei der abdominalen supravaginale Hysterektomie wurde nach Absetzen der Zervix
die Vorder- und Hinterwand der Zervix mit einem Faden sowie die seitliche Zervixwand unter Mitfassen des Parametrienstumpfes durchstochen. Die Peritonealblätter wurden über der hinteren Zervixwand unter Fassen der Adnexstümpfe mit Halbtabaksbeutelnähten vernäht (⊡ Abb. 5.26). ▬ Die abdominale Totalexstirpation des Uterus und der Adnexe wurde mit der Blasenpräparation begonnen und anschließend Adnexe, Parametrien und Lig. rotundum mit Klemmen und Ligaturen abgesetzt. Nach Absetzen der Scheide wurde diese von vorne nach hinten, danach beide Seiten vereinigend (lateral-lateral) und mit Knoten im offen gelassenen Scheidenlumen vernäht. Das Peritoneum wurde über der offen gelassenen Scheide unter Mitfassen der Stümpfe von Lig. rotundum und Lig. infundibulopelvicum verschlossen (⊡ Abb. 5.27).
⊡ Abb. 5.26. Vernähen des Zervixstumpfes nach suprazervikaler Hysterektomie, aus Tapfer S (1961) Typische gynäkologische Operationen unter Berücksichtigung ihrer technischen Vorteile, Urban & Schwarzenberg
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Kapitel 5 · Geschichte der operativen Gynäkologie am Beispiel der Hysterektomie
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⊡ Abb. 5.27. Scheidennaht nach abdominaler Hysterektomie, aus aus Tapfer S (1961) Typische gynäkologische Operationen unter Berücksichtigung ihrer technischen Vorteile, Urban & Schwarzenberg
⊡ Abb. 5.28. Parametrienligatur bei vaginaler Hysterektomie, aus aus Tapfer S (1961) Typische gynäkologische Operationen unter Berücksichtigung ihrer technischen Vorteile, Urban & Schwarzenberg
133 Minimalinvasive (laparoskopische) Hysterektomie
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⊡ Abb. 5.29. Vaginale Hysterektomie mit Myomenukleation, aus Tapfer S (1961) Typische gynäkologische Operationen unter Berücksichtigung ihrer technischen Vorteile, Urban & Schwarzenberg
▬ Die vaginale Hysterektomie wurde eingeleitet durch das digitale Abschieben der Blase
durch die Scheidenwand hindurch. Die vordere Scheidenwand wurde mit dem Messer geöffnet. Es erfolgte nach weiterem Abschieben der Blase die Umschneidung der Portio, anschließend die Eröffnung des Douglasperitoneums. Das Lig. sacrouterinum wurde mit der Deschamp’schen Nadel und das Parametrium unterhalb des uterinen Bündels ligiert, dann erst wurden Parametrienklemmen angelegt. Nach Eröffnen des Blasenperitoneums erfolgte das Absetzen der Adnexe mit zwei Klemmen und Ligaturen. Nach Amreich wurde der Parametrienstumpf mit dem Adnexstumpf vernäht Das Peritoneum wurde mit zwei Halbtabaksbeutelnähten unter strenger Extraperitonealisierung der Stümpfe verschlossen und die Scheide offengelassen. Im Falle von Myomen wurde der Uterus längs gespalten und die Myome enukleiert (⊡ Abb. 5.28, ⊡ Abb. 5.29). Minimalinvasive (laparoskopische) Hysterektomie »Unabhängig von der eigentlichen Operation […] stellt das Bauchdeckentrauma die größte physische Belastung für die Patientin dar. Deshalb neigt man bei der Laparotomie mehr zur Entfernung des erkrankten Organs, als zum Versuch einer konservierenden operativen Behandlung, um die Möglichkeit eines Rezidivs, d. h. der Re-Laparotomie, völlig auszuschließen. Die zuneh-
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Kapitel 5 · Geschichte der operativen Gynäkologie am Beispiel der Hysterektomie
mende Erkenntnis der Physiologie der Organe und der Operationstechniken steht aber seit Mitte dieses Jahrhunderts im Gegensatz zu dieser destruktiven Einstellung« schrieb Kurt Semm im Vorwort zu seiner Monographie Pelviskopie – ein operativer Leitfaden, erschienen 1988. Während in der Münchner II. Universitätsfrauenklinik die Grundlagen zur Pelviskopie geschaffen wurden, konnten unter Semms Aufsicht 70% der abdominalen gynäkologischen Operationen in laparoskopische Verfahren überführt werden. Dieser Wandel fußt auf 19.000 Laparoskopien zwischen 1970 und 1990.
Geschichte der Pelviskopie
5 Die Geschichte der Laparoskopie begann 1906 im Oberbauch mit Kelling und 1909 mit Jacobäus. Boesch führte bereits 1935 laparoskopische Eileitersterilisationen mit elektrischem Strom durch. Palmer etablierte 1946 die Laparoskopie des kleinen Beckens. Die ersten Laparoskopien in Deutschland wiesen leider eine Mortalität von 1% auf. Erst Semm konnte der Laparoskopie 1967 wieder zu gutem Rufe verhelfen, nachdem er das Pneumoperitoneum und die Kaltlichtquelle einführte. Darmverletzungen und Verbrennungen durch die frühere Glühlampe wurden immer seltener, so dass die Mortalität verschwindend gering wurde. Die Umstiege auf eine Laparotomie wurden dann selten, als Semm 1973 die Endokoagulation und 1974 Ligatur und Naht einführte. Betreffend der laparoskopischen Uteruschirurgie begann diese 1975 mit der Enukleation subseröser und 1979 intramuraler Myome. Seit 1980 führte Semm als Ordinarius in Kiel laparoskopische Hysterektomien durch (⊡ Abb. 5.30).
⊡ Abb. 5.30. Laparoskopie
135 Laparoskopische Hysterektomie bei benignen Erkrankungen
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Laparoskopische Hysterektomie bei benignen Erkrankungen 1992 wurden in der BRD 149.000 Hysterektomien durchgeführt, 90% davon aufgrund benigner Erkrankungen. Bereits 1992 gab es erste klinische Erfahrungen mit laparoskopischer Lymphonodektomie, die »atraumatischer, blutungsfreier und sicherer« erschien als die offenchirurgische Methode. Klinisch etabliert war sie damals aber noch nicht, so dass die radikale Gebärmutterentfernung bei Malignomen der Laparotomie vorbehalten war. Kurt Semm kann der Vater der endoskopischen gynäkologischen Chirurgie genannt werden. Er führte seit 1980 laparoskopische Hysterektomien durch und etablierte 1991 die intrafasziale Hysterektomie mit Erhaltung der Topographie des Beckenbodens durch Verzicht auf die Parametriendurchtrennung und Ausstanzen des Zervixgewebes mit Hilfe eines von ihm entwickelten Instrumentes. Dabei formulierte er den Gedanken an die Desintegrität des Beckenbodens infolge einer Hysterektomie mit Deszensusproblemen und Libidoverlust. Die Methode hat sich klinisch allerdings nicht durchgesetzt. Harry Reich unterdessen beschrieb 1989 die laparoskopisch assistierte vaginale Hysterektomie (LAVH). U. a. haben Charles Miller, Marshall Smith, William Saye und John Bertrand die LAVH weiter im Detail beschrieben, insbesondere unter Anwendung neuer Naht- und Schneidetechniken. Indikationen für die totale laparoskopische Hysterektomie ist die Unmöglichkeit der vaginalen Hysterektomie. Sie stellt somit eine Alternative zur abdominalen offen-chirurgischen Hysterektomie dar. Erste Publikationen stammten z. B. von Chapron aus dem Jahr 1994. Auf Jaques Donnez geht die 1993 beschriebene laparoskopisch assistierte suprazervikale Hysterektomie (LASH) zurück. Donnez et al beschrieben 1990 erstmals die laparoskopische suprazervikale Hysterektomie und veröffentlichten 2009 die von ihnen erhobenen Daten zwischen 1990 und 2006. Von 1990-1993 wurde der Uterus durch eine hintere Kolpotomie vaginal entfernt, nach 1993 wurden Morcellatoren eingesetzt und der morcellierte Uterus über einen 15 mm-Trokar entfernt. Vorteile der LASH gegenüber der LAVH sind kürzere Operationszeiten, geringerer Blutverlust und schnellere Rekonvaleszenz. Weitere Protagonisten waren Mage, Nisolle und Lyons.
Operationsablauf Der Operationsbeginn bei der LAVH, TLH oder LASH ist stets der gleiche: Es werden drei Einstichstellen mit Trokaren angelegt. Nach systematischem Abschieben des Darmes aus dem kleinen Becken heraus und Adhäsiolyse beginnt die eigentliche Hysterektomie. Die Autoren unterscheiden sich in der Reihenfolge; manche beginnen mit dem Absetzen der Ligg. rotunda und dem anschließenden Aufspalten der Blätter des Lig. latum. Der Ureter wird aufgesucht. Je nach Indikation zur Adnexektomie werden das Lig. infundibulopelvicum oder das Lig. ovarii prorium und die Tube abgesetzt (⊡ Abb. 5.31). Andere Autoren beginnen mit dem Absetzen der Adnexe. Das Blasenperitoneum wird eröffnet und die Blase abgeschoben. Bei der LAVH wird die Operation folgend vaginal fortgesetzt. Bei der TLH und LASH werden die Uteringefäße aufgesucht und koaguliert. Bei der LASH erfolgt nun das elektrische monopolare Absetzen des Corpus uteri. Anschließend werden Endometriuminseln im isthozervikalen Übergang bipolar destruiert. Bei der TLH werden die Parametrien bipolar oder mit Ultraschall abgesetzt. Manche Autoren verwenden für das Absetzen der Parametrien Klammergeräte, andere raten wegen der Ureternähe davon ab. Die Scheide wird inzidiert und der Uterus in
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⊡ Abb. 5.31. LAVH: Absetzen der rechten Tube
der Regel von vaginal entfernt (Stürzen des Uterus = Döderleinmanöver). Die Scheidennaht erfolgt entweder laparoskopisch oder vaginal.
Die laparoskopische Hysterektomie führte zur Entwicklung neuer Naht- und Koagulationstechniken: Zum Koagulieren eignet sich bipolarer Strom und Ultraschall. Teure, aber komfortable Einweginstrumente vereinen Strom bzw. Ultraschall mit Schneideklinge. Auch stehen dreilagige Klammergeräte zur Verfügung. Vergleich der Verfahren Suprazervikale versus totale Hysterektomie
Grundsätzliche Vorteile der suprazervikalen Hysterektomie verglichen mit der vaginalen und abdominalen Operationsmethode ermittelten Kives et al 2010 anhand der Publikationen von 1950-2008. Sie zogen die Schlussfolgerung, dass die vaginale Hysterektomie grundsätzlich die geringste Komplikationsrate aufweist. Bei Frauen mit Blutungsstörungen führt die Hysterektomie, unabhängig vom Verfahren zu einer verbesserten Lebensqualität und verbesserter sexueller Funktion. Manche Autoren ermittelten eine bessere Sexualfunktion nach suprazervikaler versus totaler Hysterektomie, andere ermittelten keine Unterschiede. Wenn die suprazervikale Hysterektomie einerseits zu geringerem Blutverlust und kürzerer Operationszeit
137 Zusammenfassung
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führt, so ist dies laut dieser Metaanalyse nicht signifikant und rechtfertigt die suprazervikale Hysterektomie aus Gründen der peri- und postoperativen Morbidität nicht. Gleichermaßen erscheint die suprazervikale Hysterektomie auch nicht das Versprechen geringerer urogenitaler Komplikationen im Vergleich zur totalen Hysterektomie zu erfüllen.
Abdominale versus vaginale versus laparoskopisch assistierte totale bzw. suprazervikale Hysterektomie Donnez et al. ermittelten an einem großen, monozentrisch operierten Kollektiv keine signifikanten Unterschiede in den Komplikationsraten zwischen den vier Operationsarten. Was das laparoskopische Operieren betrifft, zeigte sich jedoch eine mit den Jahren regrediente Komplikationsrate, nicht zuletzt mag dieser Lern- und Erfahrungsbias in anderen, vor allem multizentrischen Studien dem laparoskopischen Operieren eine erhöhte Komplikationsrate zuschreiben.
Laparoskopische Hysterektomie bei malignen Erkrankungen Nachdem die laparoskopische Lymphonodektomie in den klinischen Alltag einging, öffnete sich die Tür zu modifizierten Verfahren der Hysterektomie beim Zervix-und Endometriumkarzinom. 1994 beschrieb Dargent die Trachelektomie (trachelos, griechisch=Hals) bei Frauen mit Zervixkarzinom und Wunsch nach Organerhalt. Hierbei wird eine Restzervix von 10 mm erhalten und die zervixnahen Anteile der Ligg. sacrouterina und Parametrien sowie eine Scheidenmanschette abgesetzt. Aktuell wurde sie von Achim Schneider weiterentwickelt, um die erhöhte Rate urologischer Komplikationen, welche mit dem vaginalen Verfahren verbunden sind, weiter zu reduzieren. Ein weiterer Schritt zur minimal-invasiven Präszisionschirurgie stellt zweifelsohne die Robotic Surgery dar, welche gegenwärtig beginnt, die operative Medizin (noch) unmerklich zu revolutionieren. Sie wird jedoch nach Überzeugung der Verfasser ein Schritt in eine neue Dimension der operativen Möglichkeiten und Radikalität darstellen.
Zusammenfassung Diese Reise durch die Frauen-, Medizin- und Gebärmuttergeschichte beginnt langsam und hat den Charakter einer exponentiellen Kurve: Über viele Jahrhunderte schien man an eine Hysterektomie gar nicht zu denken, abgesehen davon, dass die technischen Voraussetzungen nicht gegeben waren. Die wirklichkeitsnahen Vorstellungen vom Uterus, von der Empfängnis und von der Menstruation blieben bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts ein sich nur langsam enthüllendes Geheimnis. Mit zunehmendem Ausbau einer perioperativen Medizin wurde Operieren aber erst möglich. An der Schwelle zu einer solchen Grundlage mit Antisepsis und Anästhesie wagten mutige Operateure, durch ihre Krankheit, vornehmlich das Zervixkarzinom, zum Tode verurteilte Frauen zu operieren. Hier liegt die Geburtsstunde der standardisierten Hysterektomie. Durch raschen Fortschritt und potentielles Überleben von Operationen erstreckten sich deren Indikationen zunehmend auch auf benigne, die Frau in allen Zeitaltern stark beeinträchtigende Erkrankungen: die Gebärmuttersenkung und den Uterus myomatosus.
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Kapitel 5 · Geschichte der operativen Gynäkologie am Beispiel der Hysterektomie
Heute sind wir bei der minimalinvasiven Chirurgie angelangt: Bei minimalem Trauma werden maximale operative Eingriffe möglich, von der radikalen Hysterektomie bis zur Lymphonodektomie. Dem Gipfel der operativen Möglichkeiten nahe (man glaubte allerdings vor 100 Jahren schon, dass der Gipfel nahezu erreicht sei und ahnte nicht, was noch kommen sollte) liefert die moderne Medizin aber auch die Vision des Paradigmenwechsels und berechtigt zu der Frage, ob man in einigen Jahrzehnten Hysterektomien überhaupt noch braucht. Schafft es z. B. die Impfung gegen HPV das Zervixkarzinom auszurotten? Zumindest arbeitet die heutige Gynäkologie mit Zytologie, Kolposkopie und Konisation aktiv an diesem Ziel in Bezug auf das Zervixkarzinom. Die Geburtenraten sinken und der Wunschkaiserschnitt nimmt zu: Gibt es in 50 Jahren noch Frauen mit deszendiertem Uterus? Myome können heutzutage organerhaltend therapiert werden, sei es mit Medikamenten oder Embolisation. Moderne Gestagene verhindern Endometriumhyperplasien und Blutungsstörungen werden mit einer Gestagenspirale geheilt! Wie sieht die operative Gynäkologie in 100 Jahren aus? Gibt es dann überhaupt noch Frauenärzte, die wissen, wie man hysterektomiert? Solange es Frauen gibt, wird nach unserer Überzeugung weder die Gynäkologie noch die Hysterektomie aussterben. Aber sie wird sich verändern, so wie sich die Frau, und mit ihr die Frauenheilkunde, verändert. Ein guter Grund für stabile Werte, weites Wissen und rechtzeitigen Wandel!
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Kapitel 5 · Geschichte der operativen Gynäkologie am Beispiel der Hysterektomie
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Laparoskopie – Endoskopie Sven Becker, Harald Abele, Sara Brucker, Tanja Fehm, Konstantinos Gardanis, Eva-Maria Grischke, Markus Hoopmann, Ines Gruber, Oliver Kagan, Bernhard Krämer, Christl Reisenauer, Ralf Rothmund, Wolfgang Zubke, Diethelm Wallwiener
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Kapitel 6 · Laparoskopie – Endoskopie
Einleitung Die Geschichte der modernen deutschen gynäkologischen Chirurgie beginnt zeitgleich mit der Gründung gynäkologisch-geburtshilflicher Abteilungen an den Universitätskliniken Mitte des 19. Jahrhunderts und erlebte eine erste Blüte und ersten Höhepunkt in der Etablierung der klassischen Operationsverfahren bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Die heute gebräuchlichen Techniken der vaginalen und abdominalen Hysterektomie bis zu den radikal-onkologischen Verfahren beim Zervixkarzinom gehen bis ins Detail auf diese frühen, erstaunlichen Jahre zurück. Zum operativen Spektrum der Tübinger Universitätsklinik, ⊡ Abb. 6.1a,b.
6
UFK 1870−1890: 700 Operationen Prof. v. Säxinger Laparatomien
7%
11%
Prolaps-Op's
16%
Karzinom-Op's 12%
Fistel-Op's Kl.vag.Op's 26%
Sonstige/Mamma
28% a
UFK 1897−1904: 3959 Operationen UFK 1897-1904: 3959 Operationen Prof. Döderlein
Prof. Döderlein
7% 7%
11% 11%
Malignom Malignom
21% 21%
Myom
Myom Kystom
25%
25%
Kystom Entzündl.Erkr. Eileiterschw. Entzündl.Erkr.
36% b
Eileiterschw.
⊡ Abb. 6.1a,b. a Verteilung der Operationen an der Universitäts-Frauenklinik Tübingen 1870-1890 (J.v. Säxinger) b Verteilung der Operationsindikationen an der Universitäts-Frauenklinik Tübingen 1897-1904 (A. Döderlein)
143 Einleitung
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Welche gewaltige Lernkurve in diesen revolutionären Jahren durchlaufen wurde, in die Meilensteine wie die Entdeckung der Asepsis und die Verwendung von Operations-Handschuhen fiel, zeigen weitere Zahlen aus Tübingen (⊡ Abb. 6.2a,b). Als Folge der großen Kriege, der Wirtschaftskrise der 20er-Jahre sowie der langen Wiederaufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg folgte dann, trotz wichtiger Fortschritte vor allem im Bereich der Anästhesie und der Antibiotikatherapie, eine gewisse Stagnation, die bis in die 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts reichte. Beginnend in den 80er-Jahren lassen sich dann wieder in allen Bereichen der Operationslehre und auch bei den gynäkologischen Operationen, neue Ansätze erkennen. Hierbei
80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% 1860
a
1890
1910
Wertheim-OP - Mortalität - UFK
40,00%
36,60%
35,00% 30,00% 25,00% 20,00% 10,80%
15,00% 10,00% 5,00% 0,00% b
1902
1905
⊡ Abb. 6.2.a,b. a Rückgang der operativen Mortalität an der Universitäts-Frauenklinik Tübingen 1860-1910. b Rückgang der operativen Mortalität bei Radikaloperationen (Wertheim) an der Universitäts-Frauenklinik Tübingen 1902-1905
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Kapitel 6 · Laparoskopie – Endoskopie
UFK 1997-2006: 42.409 Operationen
1459
3125
Mammakarzinom Endoskopie
7381 Beckenbodenrekonstruktion 9741
Hysterektomie/Myomektomie Kaiserschnitte
6
4393 3158
Malignomoperationen ohne Mamma
⊡ Abb. 6.3. Operationsspektrum der Universitätsfrauenklinik (UFK) Tübingen der Jahre 1997-2006
hat kein Bereich zu einer derart revolutionären Umordnung des gynäkologisch-operativen Spektrums geführt wie die Entwicklung der endoskopischen bzw. minimalinvasiven Operationsverfahren während der 80er- und 90er-Jahre, deren Einführung in die breite operative Routine in den 90er-Jahren sowie während der ersten 10 Jahre dieses Jahrhunderts. Es kam zu einer tiefgreifenden Verschiebung des operativen Repertoires, dem neben dem vaginalen und dem abdominal-offenen Zugangsweg nun noch ein dritter, völlig neuer endoskopischer bzw. abdominal-laparoskopischer Ansatz hinzugefügt wurde (⊡ Abb. 6.3). Inzwischen werden an modernen gynäkologischen Abteilungen mehr als 50% aller Eingriffe endoskopisch operiert. Man darf gespannt sein auf die nächsten Entwicklungen der Technik, die sich mit den Roboter-assistierten Eingriffen sowie den Single-Port-Access-Verfahren bis hin zu den Natural Orifice Transluminal Endoscopic Surgery (NOTES) abzeichnen.
Geschichte der Laparoskopie Die Laparoskopie ist heute eine gängige Standardtechnik in der operativen Medizin. Immer mehr Operationen werden laparoskopisch durchgeführt, dies gilt sowohl für die Zahl der Operationen, als auch für den Schwierigkeitsgrad. Vielerorts ist bereits der laparoskopische Wertheim die Standardtherapie des operablen Zervixkarzinoms. Die Laparoskopie ist uns eine Selbstverständlichkeit geworden. Erst die Beschäftigung mit der Geschichte der Laparoskopie zeigt, wie viele Einzelschritte erforderlich waren, um diese komplexe Operationstechnik so zu etablieren, wie wir sie heute kennen. Schon im Altertum wurde erste Schritte in Richtung Endoskopie unternommen. So beschrieb die Schule von Hippokrates von Kos (460-375 v. Chr.) ein Spekulum zur rektalen Untersuchung. Vergleichbare endoskopische Instrumente zur Untersuchung der Scheide fanden sich auch in den Ruinen von Pompeji und wurden auch in anderen Kulturkreisen beschrieben. Die Untersuchungsmöglichkeiten wurden durch das verfügbare Licht limitiert.
145 Geschichte der Laparoskopie
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⊡ Abb. 6.4. Links oben: Abbildung des ca. 35 cm hohen Lichtleiters mit verschiedenen »Sehröhrchen«. Rechts oben: Selbstbildnis von Philipp Bozzini. Unten: Schematischer Querschnitt des Lichtleiters. Das einfallende Licht der Kerze ist gelb dargestellt, die Sicht des Betrachters ist rot dargestellt. (aus http://www.chirurgie-ffm-hoechst.de)
Die Ausleuchtung des Untersuchungsfeldes ist ein Schwerpunkt, der sich wie ein roter Faden durch die Entwicklung der Endoskopie bis heute zieht. Der maurische Arzt Abulkasim von Cordoba (980-1037), der größte Chirurg des europäischen Mittelalters, versuchte mit Hilfe von Spiegelsystemen eine bessere Ausleuchtung durch reflektiertes Licht zu erzielen. Auch Bernard von Gordon, 13./14. Jahrhundert, verwendete einen Spiegel um Licht in die Scheide zu reflektieren, und so den Gebärmutterhals zu betrachten. Jerome Cardan (1501-1576) verwendete erstmals eine mechanische Lampe, Giulio Caesare Aranzi (1530-1589) bündelte das Licht mit Hilfe einer Camera obscura. Der Chirurg und Gynäkologe Georges Arnaud de Ronsil konstruiert 1768 die erste endoskopischen Untersuchungslampe, ein Wachslicht, umgeben von einem inneren versilberten Kasten, dessen Licht durch einen Spalt nach außen dringt und durch eine Linse gebündelt wird. Dieses Instrument für die Vaginoskopie wurde von Aime Argand (1750-1803) durch die Verwendung eines Gasbrenners verbessert und populär (u. a. Reuter 1998a). Philipp Bozzini (1779-1809, ⊡ Abb. 6.4) gelang 1806 mit seinem sog. Lichtleiter die bahnbrechende Erfindung (Bozzini 1807). Visionär wollte Bozzini nicht nur die natürlichen
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Kapitel 6 · Laparoskopie – Endoskopie
Körperhöhlen inspizieren, er wollte auch endoskopischen Operationen mit Gefäßligaturen, Nähten, Fremdkörperentfernungen, aber auch endoskopische Hysterektomien mit seinem Gerät ermöglichen. Bozzinis Erfindung wurde unterschiedlich aufgenommen. Kritiker betrachteten sie als Spielzeug. Offizielle Gutachten der österreichischen Regierung beziehungsweise der Wiener Universität kamen zu kontroversen Ergebnissen, sie zeigten Stärken und Limitierungen des Lichtleiters: zu kleines Blickfeld, für enge Körperöffnungen kaum geeignet, aber man kann Strukturen erkennen, die palpabel oder noch nicht palpabel sind. Bozzini wurde für seine Entwicklung des Lichtleiters von der österreichischen Regierung für einen höheren Orden vorgeschlagen, den er erhalten sollte, wenn er seine Erfindung noch weiter verbessere. Hierzu kam es nicht mehr. Bozzini hatte sich in Ausübung seines Berufes als Armenarzt mit Typhus infiziert und starb 1809 an der Erkrankung (u. a. Richter 1998a). In der Praxis konnte sich Bozzinis Lichtleiter nicht durchsetzen. Es ist Bozzini aber gelungen seine Idee von einem Lichtleiter zu verbreiten und zahlreiche Nachfolger zu finden, die sein Gerät verbesserten. Hier ist besonders der französische Chirurg J Antonin (18151894) zu nennen. Er verwendete 1853 eine stärkere Lichtquelle, die mit einer alkoholischen Lösung arbeitete, reflektiert das Licht durch einen Konkavspiegel und fokussiert es mit einer Sammellinse. Ferner führte er einen in der Mitte durchbohrten Planspiegel ein. Desormeaux nannte sein Instrument Endoskop und führte somit diesen Namen in die Medizin ein. Er war auch der Erste, der mit einem Endoskop einen Menschen untersuchte. Insbesondere wegen der besseren Lichtquelle fand das Endoskop eine gewisse Verbreitung und trug dem Erfinder den Ehrentitel »Vater der Endoskopie« ein, obgleich er sich eigentlich nur mit der Zystoskopie beschäftigte und dort auch Erfolge vorweisen konnte. Er beschrieb Strikturen der Harnröhre, führte so die erste Urethrotomie und auch die erste Exzision eines Harnröhrenpapilloms durch. Ein Nachteil des Endoskops war die enorme Hitzeentwicklung der Lichtquelle, die zu Verbrennungen führte (Desormeaux 1867, Charles et al. 1998, Reuter 1998a). Auch die weitere Entwicklung der Endoskope betraf zunächst die Zytoskopie. 1867 führte der Zahnarzt Julius Bruck die erste interne Lichtquelle ein, indem er ein platinbeschichtetes Kabel zum Glühen brachte und mit einem doppelten Glaszylinder kühlte (Luys 1918). Ein ähnliches endoskopisches Gerät wurde von dem französischen Ingenieur Trouve entwickelt und wurde Grundlage für Nitzes Zystoskop (Reuter 1998a). Am 9. Mai 1879 demonstrierte Max Nitze sein erstes Urethro -und Zytoskop der Öffentlichkeit, das er in Zusammenarbeit mit dem Wiener Instrumentenbauer Leiter entwickelt hatte (⊡ Abb. 6.5, Nitze 1879). Die Lichtquelle befand sich an der Spitze des Instruments, ein neu entwickeltes Linsensystem zeigte ein größeres Sichtfeld und eine korrekte Umkehr und Vergrößerung des Bildes. Obgleich dieses Instrument eine sensationelle Verbesserung der vorhergehenden Instrumente war, erfuhr es zunächst keine Verbreitung, möglicherweise lag es am hohen Preis, möglicherweise war es seine komplizierte Bedienung. Nitze verbesserte sein Instrument weiter, entwickelte ein Operations-Zystoskop und gab nicht auf. Nach entscheidenden Verbesserungen, wie einer besseren Handhabbarkeit der Batterie, stellte sich dann doch der Erfolg ein. Nitze fühlte mit diesem Instrument entscheidende Untersuchungen und Operationen der Harnblase durch, so dass er auch »Vater der Urologie« genannt wurde und in der Tat steuerte er wesentliche Schritte zur Begründung des Faches Urologie bei (Reuter 1998a). Die Erfindung der Glühlampe durch Edison im Jahr 1879 beziehungsweise die später erfolgte Miniaturisierung in Form der Mignonlampe revolutionierte erneut der Endoskopie. Der Amerikaner David Newman installierte 1883 als Erster die Mignonlampe in ein Zystoskop. Weitere folgten, auch Nitze 1887, der sich diese Technik allerdings schon 1879 patentie-
147 Geschichte der Laparoskopie
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ren ließ. Die Mignonlampe benötigte weniger Strom, erforderte somit eine deutlich kleinere Batterie und führte zu einer deutlich leichteren Handhabbarkeit des Zystoskops, das auch durch die Glühlampe deutlich billiger wurde und auch damit eine weitere Verbreitung fand. Das Zystoskop von Nitze war nun geeignet sämtliche Körperhöhlen über natürliche Zugänge zu untersuchen. Georg Kelling (⊡ Abb. 6.6), ein Internist und Gastroenterologe aus Dresden beschäftigte sich mit der intraabdominalen Blutstillung. So wollte er durch die Insufflation von Luft in das Abdomen mit hohem Druck (50-80 mmHg) intraabdominale Blutungen stillen. Um den Effekt seiner »Lufttamponade« auf die Organe des Bauchraumes zu kontrollieren, brachte er das Zystoskop von Nitze durch die geschlossene Bauchdecke in das Abdomen ein und führte damit die erste Laparoskopie im heutigen Sinne durch. Diese Technik nannte er Coelioskopie, demonstrierte sie auf einem Kongress in Hamburg 1901 und veröffentlichte sie ein Jahr später (Kelling 1902). Er legte mit steriler gefilterter Luft bei einem Hund ein Pneumoperitoneum an und führte dann das Zytoskop ein. Seine Lufttamponade konnte sich nicht durchsetzen, aber mit seiner Coelioskopie führte er die Laparoskopie in die Medizin ein. Da sein Augenmerk auf die Lufttamponade und nicht auf die Laparoskopie gerichtet war, entwickelte er die von ihm quasi en passant eingeführte endoskopische Technik wohl nicht wesentlich weiter. Lediglich 1912 berichtete er von 45 Patientinnen, die er mit seiner Technik untersucht hatte. Allerdings sind von ihm auch für seine Zeit visionäre Vorstellungen bekannt. Er forderte die endoskopische Abklärung bei onkologischen Erkrankungen, ein Training der Operateure an der Leiche, sah die ambulante Durchführung endoskopischer Eingriffe voraus und berücksichtigte auch ökonomische Aspekte (Schollmeyer u. Semm 2002).
⊡ Abb. 6.5. Zystoskop von Nitze (aus: Neurosurg Focus; Am Ass. Neurological Surgeons, 2005)
⊡ Abb. 6.6. Georg Kelling (aus: Wikipedia, G. Kelling)
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Kapitel 6 · Laparoskopie – Endoskopie
Die erste laparoskopische Untersuchung bei Menschen wurde im gleichen Jahr, 1901, von Dimitri Oskarovich Ott in Sankt Petersburg beschrieben. Er eröffnete das hintere Scheidengewölbe und stellte sich mit Spekula den Douglas-Raum und die Abdominalhöhle dar. Er bediente sich einer externen Lichtquelle, die er über einen Stirnspiegel, wie er damals bei vielen Gynäkologen gebräuchlich war, in das Operationsfeld reflektierte. Seine Methode nannte er Ventroskopie. Seine Ventroskopie sowie auch die Coeliskopie Kellings blieben in der Fachwelt weitgehend unbeachtet: Andere Autoren konnten die Laparoskopie deshalb scheinbar neu erfinden. So berichtete der schwedische Internist Hans Christian Jacobaeus (⊡ Abb. 6.7) zunächst 1910 über seine Erfahrungen bei 17 Patienten mit Aszites und 1912 bei 115 Patienten, die er untersuchte (Jacobaeus 1910). Er führte den Trokar direkt in die Bauchhöhle ein ohne Pneumoperitoneum, ließ dann Aszites ab und insufflierte erst anschließend gefilterte Raumluft. Seine Methode nannte er Laparothorakoskopie. Der Begriff Laparoskopie blieb bis heute die dominierende Bezeichnung für die Bauchspiegelung. Jacobaeus war u. a. Vorsitzender des Nobelpreis-Komitees. Er war auch der Erste, der auf mögliche Gefahren der Laparoskopie hinwies, so auf Darmverletzungen, der aber auch Training an Tieren und Leichen sowie weitere Verbesserungen der Technik forderte (Hatzinger et al. 2006). In den USA erfolgte die erste Laparoskopie ein Jahr später, 1911, durch Bertram M. Bernheim am Johns Hopkins University Hospital. Er nannte seine Methode Organoskopie. Ähnlich wie Jacobaeus führte er das Endoskop direkt, hier ein 12 mm-Proktoskop, durch eine epigastrische Inzision ohne Pneumoperitoneum ein (Kaiser u. Connan 2001). Bernheim führte zunächst Tierexperimente durch und erhielt den ersten seiner beiden laparoskopierten Patienten durch Halsted zugewiesen. Er führte das Proktoskop ein, erleuchtete den Situs mit einer Stirnlampe und konnte eine vergrößerte Gallenblase sehen. Erst die anschließende Laparotomie wies die eigentliche Diagnose nach, ein Pankreaskarzinom. Nach der Veröffentlichung seiner Organoskopie wandte sich Bernheim weniger der Laparoskopie als der Gefäßchirurgie zu (Morgenstern 2007). Die Laparoskopie wurde von anderen Autoren kontinuierlich weiter verbessert. Benjamin H. Orndorff führte 1920 den 3-kantigen Trokar ein (Orndorff 1920). Er berichtete von 42 diagnostischen Laparoskopien, oder wie er es nannte, Peritoneoskopien, bei denen er verschiedene Krankheiten laparoskopisch erkannte: Eileiterschwangerschaften, Adnexitiden und Ovarialtumore.
⊡ Abb. 6.7. Hans Christian Jacobaeus (aus: www.anestesia.com).
149 Geschichte der Laparoskopie
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Auch die Insufflation des Peritoneums wurde verbessert. Otto Goetze (⊡ Abb. 6.8), ein chirurgischer Assistenzarzt, beschäftigte sich primär nicht mit chirurgischen, sondern mit radiologischen Problemen und nutzte bei Röntgenaufnahmen des Abdomens zur besseren Kontrastierung Sauerstoff. Um den Sauerstoff gefahrlos in das Abdomens einbringen zu können entwickelte er nach dem Prinzip des festen Verdrängens eine doppelwandige Kanüle, die der Veress-Nadel entspricht. Seine Veröffentlichung, die einen Tag nach Ende des Ersten Weltkrieges erschien (Goetze, 1918), ist in Vergessenheit geraten und so wurde seine Nadel zirka 20 Jahre später von Veress scheinbar wieder erfunden. Das Pneumoperitoneum wurde zunächst in erster Linie mit einer Injektionsspritze aufgebaut, 1921 führte Otto Goetze einen Insufflator ein, der mit einer Fußpumpe arbeitete. Auch der Begriff Pneumoperitoneum wurde durch ihn geprägt. 1924 ersetzte der Schweizer Gynäkologe Richard Zollikofer die Luft zur Insufflation des Pneumoperitoneums durch CO2, weil das Kohlendioxyd schneller absorbiert wird und das Risiko einer Explosion minimiert (Lau et al. 1976, Litynski et al. 1995). Mit zunehmender Verbreitung der Laparoskopie zeigte sich die Notwendigkeit die Erfahrungen in einem Atlas niederzuschreiben. So veröffentlichte 1927 Roger Korbsch das erste Lehrbuch mit einem ersten Atlas der Laparoskopie und Thorakoskopie (Korbsch 1927). Auch direkte Verbesserungen der Optik erfolgten. 1929 führte der Gastroenterologe Heinz Kalk ein Laparoskop mit einer 135°-Optik ein. Diese Optik bot ein größeres Sichtfeld und erleichterte Biopsien von Leber und Gallenblase (Kalk 1929). Nicht nur die Gerätetechnik entwickelte sich weiter, mit zunehmender Erfahrung konnte auch das operative Spektrum erweitert werden. 1933 gelang Carl Fervers die erste laparoskopische Adhäsiolyse und damit die erste operative Laparoskopie im heutigen Sinne. Er führte insgesamt gut 50 Laparoskopien durch, entnahm Leberbiopsien und durchtrennte schmerzende Adhäsionen (Fervers 1933). Der Amerikaner J. C. Ruddock berichtete 1934 bzw. 1937 von bereits über 500 laparoskopische Eingriffe mit Biopsien, vor allem aus dem Bereich der Leber (Ruddock 1934, 1937). Der Internist, der allerdings seine Arbeiten in chirurgischen Journalen veröffentlichte, verwandte hierbei eine Zange mit einem Stromanschluss für Koagulationen. Ruddock gab auch erstmals eine größere Komplikationsstatistik an. Es kam bei seinen insgesamt über 5000 Eingriffen zu 8 größeren Perforationen, die allesamt beherrscht wurden, einen Patienten verlor er allerdings an einer Blutung aus einer Lebermetastase (Morgenstern 1996).
⊡ Abb. 6.8. Insufflations-Nadeln: A nach Goetze, B nach Veress (modifiziert nach Semm, 1989)
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Kapitel 6 · Laparoskopie – Endoskopie
Das Spektrum der operativen Laparoskopien wurde zügig erweitert. Bereits 1935 beschrieb der Schweizer Arzt P. F. Boesch wundervolle Überblicke im weiblichen, nicht verwachsen Genitale der Frau und äußerte sich über das Freilegen versteckter Organe, z. B. der Ovarien mit einem Elevatorium, einem Taststab. 1936 konnte er mit einer entsprechend isolierten Koagulationszange auf endoskopischem Wege unter Kontrolle des Auges die Tuben an mehreren Stellen über 3-5 min monopolar hochfrequent koagulieren und so die erste Tubensterilisation durchführen (Boesch 1936). 1941 wurde durch F. H. Power und A. C. Barnes in den Vereinigten Staaten eine ähnliche Methode der laparoskopischen Sterilisationen entwickelt (Power u. Bernes 1941). Ein weiterer Meilenstein in der Entwicklung der heutigen Laparoskopie wurde 1938 durch den ungarischen Arzt Janos Veress gesetzt, als er seine Insufflationsnadel einführte, die eigentlich schon vorher von Goetze beschrieben wurde, die aber in Vergessenheit geraten war. Die Veress-Nadel besteht aus einer scharfen Hohlnadel, in die ein stumpfer Mandrin gesteckt wird. Über einen Federmechanismus weicht der Mandrin zurück, wenn die Nadel durch festes Gewebe geschoben wird, schnellt aber wieder vor, wenn die Abdominalhöhle erreicht ist und schützt den Darm so vor Verletzungen. Veress hatte ursprünglich die Nadel nicht zu Laparoskopie entwickelt, sondern um einen therapeutischen Pneumothorax bei Lungentuberkulose anzulegen (Veress 1938). Wesentliche Akzente, vor allem in der gynäkologischen Laparoskopie wurden durch Raoul Palmer, ein amerikanischer Arzt schwedischer Abstammung, gesetzt. Er arbeitete in Paris und beschäftigte sich primär mit der Sterilitätsdiagnostik und deren Behandlung. Er erkannte hierbei den überragenden Wert der Laparoskopie und setzte die Technik, die sich in den Händen der Internisten weitgehend zu Hepatoskopie entwickelt hatte, seit 1943 zur Sterilitätsdiagnostik und so wieder vermehr in der Gynäkologie ein (Palmer 1946). 1944 führte er die Trendelenburglagerung zur Laparoskopie des kleinen Beckens ein und konnte das innere Genitale so besser beurteilen, Biopsien aus den Ovarien entnehmen, Elektrokoagulationen, Adhäsiolysen und Zystenpunktionen vornehmen (Schlogel 1996). Palmer baute 1943 auch den ersten CO2-Insufflator, der den intraabdominalen Druck konstant hielt (Litynski u. Paolucci, 1996). Des Weiteren entwickelte er einen Uterusmanipulator. Auch wenn eine Inzisionsstelle kaudal des linken Rippenbogens nach ihm benannt ist, führte er 1946 die Inzision am Bauchnabel ein und bevorzugte ihn. Er arbeitete auch schon mit Mehrfacheinstichen (Schollmeyer u. Semm 2002). 1943 konnte nach Einführung der Kaltlichtquelle durch Fourestiere et al. 1943. die Gefahr intraabdominaler thermischer Läsionen reduziert und damit die Sicherheit der Laparoskopie weiter erhöht werden (Drife u. Magowan 2004, ⊡ Abb. 6.9). Aufgrund der, dennoch weiter bestehenden, wenn auch geringen, Verletzungsgefahr bei der transabdominalen Laparoskopie führte Albert Decker dann 1946 die diagnostische Kuldoskopie ein (Decker 1946), die über gut 2 Jahrzehnte in Amerika dominierte, in Europa dann doch wieder früher von der Laparoskopie abgelöst wurde. Dies war vor allem auf das Wirken von Hans Frangenheim zurückzuführen. Frangenheim entwickelte zunächst ein verbessertes Gerät zur kontinuierlichen und kontrollierten Insufflation von CO2, kooperierte mit R. Palmer, konnte dann die Vorzüge der Laparoskopie gegenüber der Kuldoskopie aufzeigen und Indikationen für die diagnostische Laparoskopie definieren (Frangenheim 1958, 1959). Zur gleichen Zeit entwickelte Harold Hopkins sein Stablinsensystem. In Kooperation mit der Fa. Karl Storz wurde dieses System optimiert, mit Glasfasern zur Beleuchtung umhüllt und dann als Hopkins-Optik (⊡ Abb. 6.10) vertrieben (Reuter 1998b). Das Stablinsensystem ermöglichte eine deutlich bessere Lichtübertragung, als sie bisher möglich war und erlaubte
151 Geschichte der Laparoskopie
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einen engeren Laparoskop-Durchmesser. 1957 führten Basil Hirschowitz und Mitarbeiter in Ann Arbor ein flexibles Glasfaser-Endoskop ein (Hirschowitz et al. 1957). Wesentliche Impulse erhielt die Laparoskopie durch die Arbeiten von Kurt Semm. Nach einer Feinmechanikerlehre studierte Semm Medizin, forschte zunächst gemeinsam mit dem Nobelpreisträger A. Butenandt über Enzyme und widmete sich dann, angeregt durch die Arbeiten von Hans Fragenheim und Raoul Palmer, der Laparoskopie. Um diese Technik von der mehr internistischen Laparoskopie des Oberbauches zu differenzieren nannte er sie Pelviskopie. Sein Ziel war, über die Diagnostik hinaus zur operativen Laparoskopie zu gelangen. Als gelernter Feinmechaniker entwickelte er viele Instrumente selber. Eine seiner ersten Entwicklungen war ein verbesserter CO2-Insufflator, der CO2-Pneu (Semm 1963). 1974 stellte er in New Orleans einen Endokoagulator zur Blutstillung vor, der den direkten Kontakt von Strom mit dem Gewebe vermied. Er entwickelte ferner eine ganze Palette von Instrumenten für die endoskopische Naht und zum endoskopischen Knoten. Mit seinem Instrumentarium führte er Ovarektomien und die erste laparoskopische Appendektomie durch (Semm 1983). 1974 begann er auch mit der Entwicklung eines Saug- und Spülgerätes für die Laparoskopie, dem Aquapurator. Ein erster Morcellator wurde 1977 entwickelt und im Laufe der nächsten Jahre deutlich verbessert (Schollmeyer u. Semm 2002). Weitere Entwicklungen innovativer laparoskopischer Instrumente folgten. Auch ist sein Name mit der Renaissance der suprazervikalen Hysterektomie, jetzt als laparoskopische Technik, verbunden (Semm 1991, Mettler u. Semm, 1995). Nicht immer waren seine Innovationen von Beifall begleitet. Gerade seine laparoskopische Appendektomie rief Widerstand hervor. Bis vor ca. 30 Jahren führte der Operateur die Optik selbst und hatte nur eine Hand zum Arbeiten frei, der Assistent hatte keinen Einblick in das Operationsfeld. Dies änderte sich mit Einführung einer endoskopischen Videokamera und der Übertragung des Bildes auf einen Monitor. So hatte der Operateur beide Hände frei und der Assistent konnte die Operation direkt auf dem Bildschirm verfolgen. Die ersten Kameras waren schwer und unhandlich und nicht für die Routine geeignet. Dennoch konnte Yves Bruneaux 1959 die erste Bronchoskopie übertragen (Bruneaux et al. 1960). Weitere verbesserte Kamerasysteme wurden in den Folgejahren entwickelt. Diese Röhrenkameras wogen trotzdem noch zwischen 4 und über 7 kg. Erst in den 80er-
⊡ Abb. 6.9. Prof. Raoul Plamer (1906-1986), Paris
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Kapitel 6 · Laparoskopie – Endoskopie
Eyeshield
Light post
Eyepiece lens
Illumination fibre Angle of view prism Dod relays
Outer tube
Optic carrier tube
Field stop and datum Ocular window
Objective lens Negative lens Distal window
⊡ Abb. 6.10. Querschnitt einer Stablinsenoptik (nach: www.ebme.co.uk)
6 Jahren wurden elektronische Mini-Chip Kameras entwickelt, die für die Routine geeignet waren und nur noch ca. 100-200 g wogen und sich sehr schnell verbreiteten. Erst durch sie waren die heutigen großen laparoskopischen Eingriffe möglich. Die Entwicklung dieser Geräte wurde von verschiedenen Firmen, wie Storz, Olympus, Wolff und anderen parallel vorangetrieben. Eine neue Ära der Laparoskopie wurde beschritten, als Harry Reich im Januar 1988 das erste Mal die Uteringefäße laparoskopisch bipolar versiegelte und eine laparoskopische Hysterektomie durchführte (Reich et al. 1989). Hiermit eröffnete er das Tor zu den großen gynäkologischen Operationen. Im Jahre 1990 beschritt wiederum Reich als Erster mit der ersten laparoskopischen pelvinen Lymphonodektomie den Weg in Richtung der radikalen laparoskopischen Hysterektomie (Reich et al. 1990) und schon 1992 führte Camran R. Nezhat die erste paraaortale Lymphonodektomie durch (Nezhat 1992, Zubke et al. 2004, 2006a-c). Bereits 2005 konnten G. Carton und Mitarbeiter ihre Erfahrungen von über 1000 laparoskopischen onkologischen Operationen ihrer Arbeitsgruppen mit Lymphonodektomien berichten. Heute gehören die laparoskopische erweiterte radikale Hysterektomie zur operativen Behandlung des Zervixkarzinoms sowie die Trachelektomie zum Standardprogramm der größeren onkologischen Zentren und seit einigen Jahren wird in vielen Zentren schon die laparoskopische Exenteration favorisiert (Puntambekar et al. 2006). Das Gros der größeren endoskopischen Operationen stellen aber nach wie vor die laparoskopischen Hysterektomien dar. Die Akzeptanz der suprazervikalen Hysterektomie steigt weltweit exponentiell aufgrund der technischen Optimierung (Wallwiener et al. 1995, Zubke et al. 2005). Auch entscheidendes Instrumentarium für diese Operation, wie z. B. ein effektiver Morcellator und eine elektrische Schlinge zum Absetzen der Zervix, wurden in Tübingen entwickelt (Brucker et al. 2007). Ferner wurde auch die LAVH (laparoskopisch assistierte vaginale Hysterektomie) neu bewertet (Wallwiener u. Zubke 2005). Darüber hinaus konnten an der Tübinger Klinik weitere endoskopische Operationen, wie z. B. die laparoskopische Anlage einer Neovagina entwickelt werden (Brucker et al. 2004).
Adnextumoren Die laparoskopische Intervention im Adnexbereich gehört zu den häufigsten Eingriffen in der Gynäkologie. Durch die Verbesserung der präoperativen Diagnostik, insbesondere der Ult-
153 Adnextumoren
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⊡ Abb. 6.11. Ausschälen der Zyste mittels Aquadissektion (mit freundl. Genehmigung des Georg Thieme Verlages)
raschalluntersuchung, werden teilweise Befunde erkannt, die asymptomatisch sind oder als funktionell interpretiert werden können. Hier muss eine sorgfältige Operationsindikation unter Berücksichtigung des Alters und des Menopausenstatus erfolgen, da natürlich jeder Eingriff am Ovar mit einer gewissen Destruktion von funktionellem Ovarialgewebe einhergeht. Ist bei prämenopausalen Frauen aufgrund der Symptome oder der Persistenz rein zystischer Strukturen die Indikation zur Entfernung eines erwartungsgemäß benignen Befundes gestellt, so ist die laparoskopische Zystektomie die Methode der Wahl. Natürlich sollte mit der Patientin stets die Möglichkeit einer Adnexektomie bei größeren Befunden oder intraoperativer Notwendigkeit (unerwartet suspekter Befund, technische Erschwernis, wie z. B. ausgeprägte Adhäsionen oder Endometriose) vor dem Eingriff besprochen sein und die Einwilligung vorliegen. Hinsichtlich der Operationstechnik für die Zystektomie sollte möglichst atraumatisch vorgegangen werden, um das Gewebe des Restovars zu schonen. Nach Bildung des Pneumoperitoneums mit CO2-Gas werden je nach Größe des Befundes 2-3 weitere Einstiche (suprasymphysär und lateral der epigastrischen Gefäße) für das Einführen der 5er-Troicarte gemacht. Mit einer atraumatischen Fasszange wird der Befund so von der Beckenwand distanziert, bzw aus dem Douglas-Raum luxiert, dass mit ausreichendem Abstand von Ureter, Lig. infundibulopelvicum und Darm eine Elektrokoagulation des Ovarialkortex möglichst antimesenterial, durchgeführt wird. Gelingt es, die darunter liegende Zystenwand bei diesem Präparationsschritt nicht zu eröffnen, so erhält man eine Schicht zwischen Ovar und Zystenwand, die meist mit Hilfe der Aquadissektion eine stumpfe und komplette Zystenexstirpation ermöglicht (⊡ Abb. 6.11). Falls es doch zur Eröffnung der Zystenwand kommt, so kann der Rand mit einer traumatischen Zange gefasst und der Balg dann aus dem Ovarialgewebe herausgeschält werden. Die Entfernung des Zystenmaterials aus dem Bauchraum ist nur bei makroskopisch suspektem Bild oder bei ausgeprägten Dermoidzysten mit hohem Anteil von Talg, Haaren oder Knorpel/Knochen im Bergebeutel durchzuführen. In den anderen Fällen kann die Zyste über eine Löffelzange oder mit Hilfe eines Morcellators aus dem Abdomen geborgen werden. Wie oben schon erwähnt, sollte das Zystenbett im Restovar nun möglichst schonend koaguliert werden, um funktionelles Gewebe zu erhalten. Hier empfiehlt sich ein gezieltes
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Kapitel 6 · Laparoskopie – Endoskopie
Koagulieren einzelner Sickerblutungen nach Verwendung des Saug-Spül-Systems. Die Reduktion des intraabdominalen Druckes vor Entfernung des Instrumentariums zur Beurteilung der Hämostase ist ein sinnvolles Hilfsmittel. Auch nach Entfernung großer zystischer Befunde kann auf die Rekonstruktion des Ovars mit endoskopischen Nahttechniken in den allermeisten Fällen verzichtet werden. Bei zystisch-soliden Adnextumoren müssen vor einer potentiell laparoskopischen Intervention Differenzierungskriterien hinsichtlich der Dignität sorgfältig beachtet werden. Hintergrund ist die Tatsache, dass ein FIGO Ia-Tumor durch Anoperieren bzw. Ruptur in ein FIGO IcStadium umgewandelt wird. Auch wenn die Prognoseverschlechterung in der Literatur nicht einheitlich bewertet wird, bestehen doch Hinweise auf eine Absenkung der Prognose. Die wichtigsten Differenzierungskriterien sind das Alter der Patientin, das sonographische Erscheinungsbild und die Größe des Befundes im Ultraschall (u. U. mit gleichzeitigem Vorhandensein von Aszites), sowie der Tumorrmarker CA 12-5. Letzterer kann differenzialdiagnostisch auch bei Tuboovarialabszessen oder Endometriose erhöht sein! Bei primärem Malignitätsverdacht müssen eine Laparotomie bzw. eine nur rein diagnostische Laparoskopie erfolgen. Hieraus ergibt sich, dass dem präoperativen Aufklärungsgespräch eine wesentliche Bedeutung zukommt: Hat man sich mit der Patientin aufgrund größerer Wahrscheinlichkeit eines gutartigen Befundes für eine Laparoskopie entschieden, so ist individuell mit der Patientin zu klären, wie das Procedere bei erst intraoperativ erkannter Auffälligkeit bzw. Malignität ist. Die rein diagnostische Laparoskopie mit Konversion zur Laparotomie ein-/oder zweizeitig ist keine Kontraindikation, zu vermeiden ist jedoch ein endoskopisches Anoperieren bei offenkundiger Malignität oder per Schnellschnitt gesicherter Diagnose wegen des oben erläuterten Sachverhaltes (FIGO Ia zu FIGO Ic). Die endoskopische Technik zur Entfernung zystisch-solider Adnextumoren unterscheidet sich prinzipiell nicht vom Vorgehen bei rein zystischen Befunden, jedoch sollte zur Bergung der Befunde, vor allem, wenn eine Schnellschnittuntersuchung nicht eindeutig Gutartigkeit nachgewiesen hat, kein Morcellement durchgeführt werden und stattdessen eine Entfernung im Bergebeutel erfolgen (⊡ Abb. 6.12).
⊡ Abb. 6.12. Bergebeutel über dem mittleren suprasymphysären Einstich eingebracht (mit freundl. Genehmigung des Georg Thieme Verlages)
155 Tubargravidität
6
Bei postmenopausalen Patientinnen ist die Indikation zur kompletten Adnexektomie bei komplexen Befunden großzügig zu stellen. Wenn der Befund nicht massiv an der Beckenwand adhärent ist oder Adhäsionen den Zugang erschweren, ist die Adnexektomie ein rasches und relativ einfaches Verfahren. Ovar und Tube werden hierbei mit einer Fasszange Richtung Bauchdecke und medial luxiert, dadurch wird das Lig. infundibulopelvicum exponiert und vom Ureter distanziert. Befundnah werden nun mittels bipolarer Elektrokoagulation und Schere das Lig. infundibulopelvicum, Mesovar und -salpinx, sowie das Lig. ovarii proprium abgesetzt. Wie oben ausgeführt, richtet sich die Entfernung aus dem Bauchraum nach der Dignitätswahrscheinlichkeit: Bei höchstwahrscheinlich gutartigem Tumor kann morcelliert werden oder die Löffelzange eingebracht werden, bei Zweifeln sollte unbedingt ein Bergesack eingebracht werden, falls mit der Patientin nicht ohnehin eine onkologisch adäquate Fortführung der Operation einzeitig nach Erhalt des Schnellschnittergebnisses vereinbart ist.
Tubargravidität Kommt es zu einer Implantation des Embryos außerhalb des Cavum uteri spricht man von einer extrauterinen bzw. ektopen Gravidität (EUG). Ca. 98% dieser Implantationen sind im Verlauf der Tube zu finden, wobei der ampulläre Teil derselben um ein Vielfaches häufiger betroffen ist als der isthmische Anteil. Ursächlich scheinen hormonelle Faktoren (Östrogene und Gestagene) zu sein, die Einfluss auf die Motilität des Eileiters und die Geschwindigkeit und den gerichteten Verlauf des sekretorischen und ziliären Transportes des Embryos nehmen. Zudem spielen strukturelle Besonderheiten in der Architektur des Eileiters und darüber hinaus embryogene Faktoren eine Rolle, wobei letztere denkbar sind, jedoch in klinischen Modellen bisher nicht bewiesen werden konnten. Die Angaben bezüglich der Inzidenz der EUG streuen in der Literatur zwischen 1-2%. Entsprechend aktuellen Auswertungen hat die Inzidenz der klinisch nachweisbaren EUG in der Altersgruppe von Frauen zwischen 15 und 44 Jahren in den letzten Jahren statistisch signifikant nicht weiter zugenommen. Sie liegt bei ca. 1 auf 100 Schwangerschaften und ist vom Alter der Patientin bei Schwangerschaftseintritt abhängig (0,3% bei Frauen zwischen 15-19 Jahren und 1% bei Frauen zwischen 35 und 44 Jahren). War die EUG Ende des 19. Jahrhunderts noch eine der häufigsten Todesursachen junger Frauen, haben die Kombination einer problemorientierten Anamnese, einer gynäkologischen, endokrinologischen und vaginalsonographischen Untersuchung sowie die Ausnutzung operativer Möglichkeiten der minimal invasiven Chirurgie, zu einem Rückgang der mütterlichen Mortalität unter 0,01% bezogen auf alle Schwangerschaften geführt. Von einer EUG betroffene Patientinnen werden in der gynäkologischen Praxis häufig in der 6.-9. Schwangerschaftswoche klinisch durch einen seitenabhängigen Schmerz und ggf. eine vaginale Blutung auffällig. Nach erfolgter Ruptur der Tube oder einem Tubarabort kann dieser von der Patientin auch dumpf bzw. diffus beschrieben werden. Bei der bimanuellen Untersuchung tastet sich nur selten eine Resistenz bzw. ein akutes Abdomen, wohl ist aber der peritoneale Reiz durch das ausgetretene Blut bei einer Tubenruptur nachweisbar. Die Möglichkeiten der aktuellen sonographischen Diagnostik erlauben nicht selten schon früh die Verdachtsdiagnose einer EUG, auch in Abwesenheit klinischer Symptome, zu stellen. Diese können bei einer Abdominalgravidität zunächst gänzlich fehlen, wobei die im 1. Trimenon durchgeführte Vaginalsonographie im Idealfall die Diagnose eines kleinen Uterus neben der Gravidität erlaubt. Die Darstellung der Eileiter gelingt in der Praxis mit der Vaginalsonographie nicht immer.
156
6
Kapitel 6 · Laparoskopie – Endoskopie
Gerne zeigt sich eine tubare Gravidität als inhomogene Raumforderung (Blob-Sign) oder als zystische Struktur mit einem echoreichen Ring in Nachbarschaft zum Ovar (Bagel-Sign). Der Nachweis eines Embryos mit positivern Herzaktionen gelingt eher selten. Der sonographischen Untersuchung des Adnexbereiches geht regelhaft eine Darstellung des Cavums voraus, wo ein durch Flüssigkeitsansammlungen entstandener Pseudogestationssack eine intrauterine Schwangerschaft vortäuschen kann. Dieser liegt zentral im Endometriumspalt und weist keinen echogenen Randsaum auf. Zudem ist dieser im Vergleich zur intakten Gravidität entrundet und enthält keine embryonalen Strukturen. Nicht zuletzt sollte das extrem seltene (Häufigkeit 1:10000) gleichzeitige Vorliegen einer extra- und intrauterinen Schwangerschaft (= heterotope Schwangerschaft) bedacht werden. Das wichtigste Verfahren in der Behandlung der EUG ist die minimal invasive Chirurgie, mit dem Vorteil eines deutlich verkürzten Krankenhausaufenthaltes, geringem intraoperativen Blutverlust und einer schnelleren Rekonvaleszenz der Patientin (⊡ Tab. 6.1, ⊡ Abb. 6.13). Operativ werden vor allem zwei Ziele verfolgt: Erstens die Entfernung der ektopen Schwangerschaft und zweitens der Erhalt der Fertilität. Die Indikation zur Operation ist bei einer symptomatischen EUG, dem deutlichen Nachweis freier Flüssigkeit im Abdomen bzw. der sonographischen Darstellung der EUG >4 cm im isthmischen oder ampullären Tubarbe-
a
⊡ Abb. 6.13a,b. Präoperative sonographische (a) und morphologische (b) Darstellung einer kornualen ektopen Schwangerschaft
b
157 Tubargravidität
6
reich und/oder bei Vorliegen von Herzaktion zu stellen. Bei Fehlen eines sonographischen Nachweises und einem hCG <1500 IE/l muss die Indikation zur Operation jedoch sorgfältig abgewogen werden, da unter Umständen eine intrauterine Schwangerschaft noch nicht sicher darstellbar ist. Zudem kann auch bei Vorliegen einer sehr frühen Extrauteringravidität die Identifzierung der Tubargravidität mit dem Laparoskop noch nicht oder nur mit großer Mühe (z. B. mit speziellen Instrumenten wie der Transluminationstechnik) möglich sein. Nicht selten stellt sich der initiale Verdacht einer EUG später als intakte intrauterine Gravidität heraus. Nur in seltenen Fällen, wie z. B. einer fortgeschrittenen Abdominalgravidität, ist eine primäre Laparotomie indiziert. Die modernen Instrumente erlauben auch ein minimal invasives Vorgehen bei ausgeprägtem Hämatoperitoneum, einer kornualen ektopen Schwangerschaft, einer Ovarialgravidität, während die Patientin ggf. durch Infusion und Transfusion stabilisiert wird. Sonderfälle sind die Zervikalgravidität und intramurale Schwangerschaft (z. B. Sectionarbengravidität), die operativ nur schwer zu erreichen sind und bei fehlenden Symptomen primär mit Metothrexat (MTX) behandelt werden sollten. Bei unstillbaren Blutungen ist als Ultima Ratio die Hysterektomie indiziert. In jedem Fall ist die postoperative Beobachtung des hCGVerlaufes im Serum der Patientin wichtig, um eine etwaige Persistenz und Proliferation von Trophoblasten (5%) zu bemerken. Die moderne frühzeitige sonographische Diagnostik erlaubt die Diagnose einer ektopen Schwangerschaft auch bei der asymptomatischen Patientin. Mit der verbesserten Diagnostik hat auch die medikamentöse Therapie der EUG zunehmend Bedeutung gewonnen. Aktuelle Untersuchungen konnten eine Zunahme des MTX-Managements von 11.1% (2002) auf 35.1% (2007) in den USA zeigen. In gleicher Weise hat die Zahl der Laparotomien zu Gunsten der Laparoskopien abgenommen. Die Therapie muss nicht zwingend stationär erfolgen, allerdings sollte eine stationäre Überwachung großzügig indiziert werden. Zur Anwendung kommen vor allem MTX und Prostaglandine (⊡ Tab. 6.2).
⊡ Tab. 6.1. Operationsverfahren an der Tube bei EUG Operationsverfahren
Anmerkungen
Salpingotomie
– – – –
Tubenerhaltendes Vorgehen mit minimalster Traumatisierung des Gewebes Probleme bei der Blutstillung möglich schwierig nach Tubenruptur Trophoblastenreste können verbleiben, die eine weitere Therapie erforderlich machen (sekundäre Salpingektomie, MTX-Therapie)
Ausstreichen der Tube
– – – –
Nur bei im ampullären Anteil der Tube liegender EUG möglich Gefahr der Beschädigung der Mukosa im Fimbrientrichter Probleme bei der Blutstillung möglich Trophoblastenreste können verbleiben, die eine weitere Therapie erforderlich machen (sekundäre Salpingektomie, MTX-Therapie)
Segmentresektion
– Bei dringendem Wunsch nach Erhalt der natürlichen Konzeption, z. B. bei Fehlen der kontralateralen Tube – je nach Ausgangsbefund Refertilisationsoperation in gleicher oder zweiter Sitzung erforderlich
Salpingektomie
– Bei nicht anders zu kontrollierenden Blutungen oder Rezidivsituationen oder wenn ein organerhaltendes Vorgehen nicht sinnvoll erscheint
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Kapitel 6 · Laparoskopie – Endoskopie
⊡ Tab. 6.2. Konservative Behandlung der Extrauteringravidität
6
Medikament
Anmerkungen
Methotrexat
– Zerstörung des Trophopblastengewebes (Verhinderung der Synthese von Thymin und Purin) – Applikation i.m. und i.v. oder lokal (sonographisch gesteuert oder bei Laparoskopie) möglich – Versagerquote ca. 15% – nicht möglich bei sichtbaren fetalen Strukturen, Adnexbefund >4 cm, instabiler Patientin, hCG >6000 IE/l – Kontraindikationen gegen MTX – kein Beweis einer erhöhten Rate von Fehlbildungen und/oder Aborten bei nächster Schwangerschaft (zur Sicherheit sollte nach EUG ein halbes Jahr bis zu einer erneuten Schwangerschaft abgewartet werden)
Prostaglandine
– Abstoßung der EUG durch Vasokonstriktion (Hypoxie) und Kontraktion der Tubenwand – vor allem lokale Applikation (sonographisch gesteuert oder bei Laparoskopie) zu bevorzugen – niedrigeres Nebenwirkungsspektrum als MTX – problematisch bei hCG >2500 IE/l
Hyperosmolare Lösungen
– Schaffung eines osmotischen Druckgradienten zur Zerstörung der Trophoblastenzellen – nur lokale Applikation (sonographisch gesteuert oder bei Laparoskopie) möglich – nur bei hCG <2500 IE/l indiziert
Ein expektatives Vorgehen bei der klinisch stabilen Patientin mit einer ektopen Gravidität <3-4 cm und negativen Herzaktionen, fehlendem Hämatoperitoneum, hCG-Level <10002000 IE/l und Progesteronwerten <10 ng/ml ist nicht grundsätzlich kontraindiziert. Hierbei sind Erfolgsraten bis zu 90% beschrieben. Die Überwachung der Patientin sollte in jedem Fall stationär erfolgen. Zudem sollte nach 48 h ein deutlicher hCG-Abfall dokumentiert werden können.
Hysterektomie Die Fortschritte im Bereich der minimalinvasiven Techniken und v. a. die technischen Innovationen führten in den letzten 20 Jahren dazu, dass das Spektrum des Machbaren sich von der diagnostischen Laparoskopie über einfache operative Interventionen hin entwickelte zu komplexen laparoskopischen Eingriffen wie der Hysterektomie (HE) und sogar hin zur radikalen Wertheim-Operation. Durch die rasante Geschwindigkeit der innovativen medizintechnischen Entwicklungen, wie z. B. dem an der UFK in Tübingen entwickelten elektrischen Morcellator (Rotocut) oder der entwickelten monopolaren Supraloop steht dem Operateur heutzutage ein Instrumentarium zur Verfügung, welches es ermöglicht alle Vorteile des minimalinvasiven Zugangsweges ohne höhere Komplikationsrate auch für komplexe Eingriffe wie der laparoskopischen SalpingoHysterektomie (LASH) oder der totalen laparoskopischen Hysterektomie (TLH) zu nutzen, so dass selbst onkologisch-radikale Operationen laparoskopisch sicher durchführbar sind.
159 Hysterektomie
1. Operationsschritte
3
2. Instrumentarium
6
3. Setting
Uterusgewicht (g)
2
1
⊡ Abb. 6.14. Operationsschritte, Instrumentarium und Herrichtung, Universitäts-Frauenklinik Tübingen
Neben einem zuverlässigen, sicheren und praktisch zu handhabenden Instrumentarium ist eine Standardisierung des Operationsverfahrens unerlässlich, um Komplikationen auch bei schwierigen Siten zu vermeiden und die OP-Zeit so kurz wie möglich zu halten. Ein Training und Teaching ist umso einfacher, je standardisierter ein Verfahren ist und die wissenschaftliche Vergleichbarkeit erst dann möglich. Zur Standardisierung gehört neben der korrekten Indikationsstellung, die Standardisierung der Operationsschritte und des dafür notwendigen Instrumentariums sowie die Standardisierung des Settings, d. h. die Platzierung der Trokare, die Position der Operateure, der Monitore etc. Wir haben dafür in Tübingen in Hinblick auf die laparoskopische Hysterektomie eine klar definierte Verfahrensanweisung entwickelt, welche vom Setting über das Instrumentarium und dessen Einstellungen hin zu den einzelnen OP-Schritten sowohl für die OP-Schwestern, als auch für den Operateur die entsprechende Vorgehensweise festlegt. Für die suprazervikale Hysterektomie haben wir folgende Indikationen herausgearbeitet: ▬ Wunsch der Patientin ▬ gesunde Zervix ▬ keine Beckenbodeninsuffizienz ▬ bevorzugt Nullipara ▬ technisch sinnvoll Die LASH gilt als das minimalinvasive Verfahren, welches zum einen in der Lernkurve den ersten Schritt zur totalen laparoskopischen Hysterektomie darstellt, zum anderen im Vergleich zu dieser die geringste Komlikationsrate und (abhängig vom Uterusgewicht, d. h. von der Morcellator-Zeit, ⊡ Abb. 6.14) die kürzeste OP-Zeit vorweist. Gerade dank der beiden von unserer Arbeitsgruppe neu entwickelten Instrumente (Rotocut und Supraloop) ist es gelungen, die Komplikationsrate, den Gasverlust und die OP-Zeit signifikant zu reduzieren und damit gerade die LASH als minimalinvasives Hysterektomie-Verfahren zu etablieren. Zudem zeigt sich in der neuen Metaanalyse von 27 prospektiv randomisierten
160
Kapitel 6 · Laparoskopie – Endoskopie
OP-Zeit
Tage
Blutverlust
Komplikationsrate
LH (laparoskopisch) vs AH (abdominal) LH (laparoskopisch) vs VH (vaginal)
Kontraindikationen LH/ Descensus J N
VH
6
Multipara
LH Nullipara Endometriose
Descensus
Adipositas
UFK Tübingen
N AH Frozen pelvis anästhesiologische Kontraindikationen
⊡ Abb. 6.15. Vaginale, laparoskopische und abdominale Hysterektomie, Universitäts-Frauenklinik Tübingen 19982009. LH laparoskopische Hysterektomie, AH abdominale Hysterektomie, VH vaginale Hysterektomie
Studien, dass die (totale) LH (laparoskopische Hysterektomie) im Vergleich zur AH (abdominalen Hysterektomie) einen geringen Blutverlust, weniger postoperative Infekte und eine kürzere Rekonvaleszenz zeigt, bei zwar etwas verlängerter OP-Zeit und höherer Ureter- und Blasen-Verletzungsrate: Dies bezog sich aber auf die totale laparoskopische HE. Vergleicht man dahingegen die LASH mit der TLH, so zeigt sich dass die OP-Zeit und v. a. die Komplikationsrate bei der LASH deutlich geringer ist. Zwar ist bei der vaginalen Hysterektomie die OP-Zeit kürzer als bei der TLH, allerdings schneidet aber auch hier der minimalinvasive Zugangsweg im Hinblick auf geringen Blutverlust und eine kürzere Rekonvaleszenz besser ab. Hieraus ergibt sich, dass wenn keine Kontraindikationen für ein laparoskopisches Vorgehen bestehen, dieses, sofern kein Descensus uteri besteht, Methode der 1. Wahl ist (⊡ Abb. 6.15). Typischerweise ist die Patientin, die etwas adipöse (funktionelle) Nullipara mit V. a. Endometriose/Ovartumor nach Vor-Operationen. Ein abdominales Vorgehen wird primär gewählt, wenn anästhesiologische Kontraindikationen zu einem laparoskopischen Vorgehen bestehen, ein Frozen pelvis vorliegt oder die Uterusgröße eine zu lange Op-Zeit und/ oder vorhersehbare Komplikationen erwarten lässt. Diese differenzierte Indikationsstellung im Hinblick auf den Zugangsweg, lässt die Konversionsrate auf unter 5% sinken, so dass sich folgende Frage in der klinischen Praxis besonders bewährt hat: »Welche Patientin mit welcher Fallkonstellation profitiert von welchem Zugang?«.
Endometriose Die Endometriose ist eine der häufigsten benignen gynäkologischen Erkrankungen der geschlechtsreifen Frau. Die Ausprägung kann von kleinen oberflächlichen Herden bis zur Infiltration in das Rektum und bis zum Befall der Ureteren führen. Die häufigste Lokalisation
161 Endometriose
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ist der Befall der Ovarien und des pelvinen Beckenperitoneums (Douglasperitoneum, Fossae ovaricae, Ligg. sacrouterinae). Zur Verifizierung einer Endometriose ist die Laparoskopie zentraler Bestandteil der Diagnostik. Die Laparoskopie ermöglicht auf schonende Weise eine histologische Sicherung, eine Beurteilung des Stadiums bzw. des Befalls benachbarter Organe sowie – einzeitig oder zweizeitig – eine stadienadaptierte chirurgische Therapie. Nachweislich ist die operative Entfernung von Endometrioseherden sowie der durch Endometriose vernarbten Areale die effektivste Form der Behandlung. Bei einer symptomatischen Endometriose sollte eine möglichst vollständige Destruktion oder – besser – Exzision aller darstellbaren Endometrioseherde erfolgen.
Diagnostik Die unspezifischen Beschwerden der Endometriose-Erkrankung haben zur Folge, dass die Diagnose in den meisten Fällen erst nach vielen Jahren gestellt wird. Die Diagnostikkaskade wird im Folgenden vorgestellt:
Anamnese Der erste Schritt zur Diagnostik der Endometriose ist die ausführliche Anamnese mit Evaluierung des Schmerzcharakters, der Schmerzlokalisation, die Abhängigkeit vom Zyklus und den Leidensdruck der Patientin.
Gynäkologische Untersuchung In der vaginalen Spekulumuntersuchung und bimanuellen rektovaginalen Untersuchung lassen sich suspekte Herde in der Scheidenwand darstellen und Endometrioseknoten im Septum rectovaginale ertasten. Mit der vaginalen Untersuchung lässt sich eine genaue Lokalisation der meist druckdolenten Knoten erreichen. Bei der rektalen Untersuchung kann eine Stenosierung oder Mitbeteiligung des Darmlumens vermutet oder nachgewiesen werden. Das genaue Ausmaß der Darmbeteiligung lässt sich jedoch bei dieser Untersuchung nicht ableiten, da die Darmmukosa häufig intakt ist.
Bildgebende und weiterführende Untersuchungen Hier kann die Vaginalsonographie, die Magnetresonanztomographie und die transrektale Sonographie zusätzliche Informationen bringen. Bei Endometrioseknoten im Septum rectovaginale wird eine Rekto-Koloskopie empfohlen, um maligne Darmprozesse auszuschließen. Selten wächst die Endometriose in die Darmmukosa hinein. Die Vaginalsonographie ist im Vergleich zu den anderen bildgebenden diagnostischen Möglichkeiten die zentrale Bildgebung im Rahmen der Endometriosediagnostik. In der Vaginalsonographie lassen sich gut ovarielle Endometriose und anatomische Veränderungen im Bereich von Uterus und Douglas ausschließen. Jedoch hat die Vaginalsonographie ihre Grenzen. Endometrioseknoten im Septum rectovaginale lassen sich nicht immer gut darstellen. Hierbei kann mit Hilfe der transrektalen Sonographie die Infiltration der Darmwand besser beurteilt werden. Einige Autoren empfehlen die transanale zirkuläre Sonographie zur besseren Darstellung der Darmwand mit entsprechenden Sonographie-Sonden.
162
Kapitel 6 · Laparoskopie – Endoskopie
Operative Diagnostik Alle bildgebenden und primär gynäkologischen Untersuchungsmöglichkeiten erbringen die Verdachtsdiagnose der Endometriose. Die definitive Sicherung der Diagnose und die exakte Darstellung der Endometriose-Ausdehnug sind durch die laparoskopische Operation möglich.
Schweregrad-Einteilung
6
Mit Hilfe der Laparoskopie lässt sich die Endometriose stadiengerecht einteilen. Der Schweregrad der Endometriose wird nach der rAFS (American Fertility Society Revised Classification of Endometriosis) von 1985 eingeteilt. Der Befall des Peritoneums, der Ovarien und der Tuben wird nach ihrer Ausdehnung Punkten zugeordnet. Aus der Summe der Punkte erfolgt die Einteilung in 4 Stadien I-IV: Geringe, mäßige, schwere und ausgedehnte Endometriose. Die weit verbreitete rAFS-Klassifikation dokumentiert lediglich die oberflächlich sichtbare, intraperitoneal vorliegende Endometriose. Die Tiefenausdehnug der Endometriose, die durch die gynäkologische Palpation oder in bildgebende Verfahren diagnostiziert werden kann, wird im rAFS-Score unzureichend erfasst. Damit ein ausgeprägter tiefer Endometriosebefund entsprechend dokumentiert und in ein, der Klinik entsprechendes Stadium eingeteilt werden kann, wurde im Jahre 2003 der ENZIAN-Score vorgestellt. Der ENZIAN-Score stellt in Ergänzung zur rAFS-Klassifikation eine Möglichkeit dar, die tief infiltrierende, retroperitoneal gelegene Endometriose genauer zu erfassen und einer entsprechenden stadienadaptierten Therapie zuzuführen.
Operative Therapie der Endometriose Die chirurgische Entfernung der Endometrioseherde gilt als die effektivste Therapie, auch hinsichtlich eines Kinderwunsches bei Patientinnen mit Endometriose. Bei einer symptomatischen Endometriose sollte eine möglichst vollständige Destruktion oder Exzision aller palpatorischen und makroskopisch darstellbaren Endometrioseherde erfolgen. Je nach Flächen- und Tiefenausdehnung kann die peritoneale Endometriose mittels bipolarer Koagulation oder mittels CO2-Laser destruiert oder exzidiert werden. Begleitende Adhäsionen sollten gelöst werden, um eine möglichst weitgehende Wiederherstellung der physiologischen Anatomie zu erreichen. Bei Ovar-Endometriose sollte durch ein Spalten des Ovars antimesenterial und teils stumpfem, teils scharfem Herauslösen des Zystenbalgs die Endometriomektomie erfolgen. Die Therapie der symptomatischen tiefen Endometriose besteht in der Resektion der Endometrioseherde. Durch die zumeist starke Fibrosierung dieser Endometrioseherde, die vielfältige Beteiligung benachbarter Organe sowie die Verschmelzung der ursprünglichen anatomischen Schichten handelt es sich um Eingriffe höchster Komplexität, die mit der Karzinomchirurgie vergleichbar sind. Bei Beteiligung von Rektum, Sigma, Harnblase oder Ureter ist ein interdisziplinäres Vorgehen sinnvoll, da auch hier die vollständige Exzision oder Resektion der Endometrioseherde das primäre Ziel darstellt. Durch den medizinisch-technischen Fortschritt und das zunehmende Ausbildungsniveau der entsprechenden Operateure gewinnt die Laparoskopie, gegenüber dem abdominalen, offenen Zugangsweg in der Endometriosechirurgie immer mehr an Bedeutung.
163 Endometriose
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Vorgehen bei breitbasigem Endometriosebefall des Douglasperitoneums Kleine Endometrioseherde im Douglas, die ausreichend von Darm und Ureteren entfernt und noch gut mobil sind, lassen sich mit einer scharfen Greifzange elevieren und mit der Schere vom angrenzenden Peritoneum herauslösen. Ggf. wird gleichzeitig eine rektale Untersuchung durchgeführt, um den Darm zu distanzieren bzw. dessen exakten Verlauf zu visualisieren. Die Blutstillung der meist oberflächlichen Blutungen ist aufgrund der Darm-Nähe sehr vorsichtig durchzuführen. Es gilt: Bei peritonealen Inzisionen medial der Ligg. sacrouterinae besteht für den Ureter keine Gefahr. Bei ausgedehntem Befall mit Ausbildung von Narbenplatten und unübersichtlichen anatomischen Verhältnissen ist prinzipiell eine Eröffnung des retroperitonealen Raumes bzw. der Beckenwände beidseits erforderlich. Wichtigstes Ziel hierbei ist die Darstellung der Ureterverläufe. Im Gegensatz zu den gynäko-onkologischen Operationen kann die Eröffnung der Beckenwand hier auch von medial, direkt über dem Ureter erfolgen. Die Darstellung des Ureterverlaufes nach kaudal ermöglicht meist eine sichere Distanzierung des zu resezierenden Endometrioseareals nach medial. Selten offenbart sich eine Infiltration des Ureters. Je nach Symptomatik und Alter der Patientin sollte der Ureter dann soweit wie möglich von Endometriose befreit werden. Bei bereits bestehender Nierenstauung ist eine Uretereröffnung bzw. Ureterteilresektion häufig unumgänglich. Hier empfiehlt sich ein interdisziplinäres Vorgehen gemeinsam mit den Kollegen der Urologie. Aus gynäkologischer und viszeralchirurgischer Sicht ist eine präoperative Schienung der Ureteren nicht obligat. Nach ausreichender Distanzierung der Ureteren erfolgt die Eröffnung des Septum rectovaginale und bei gleichzeitiger oder intermittierender rektaler Untersuchung durch den Operateur die scharfe Exzsion des Befundes von lateral nach medial.
Vorgehen bei Befall des hinteren Scheidengewölbes Oft ist aufgrund der Nähe des Endometrioseherdes zur Vaginalwand ein Eröffnen des involvierten hinteren Scheidengewölbes erforderlich. Diese Kolpotomie erfolgt von kranial aus auf dem intravaginalen Finger des Operateurs. Die befallene Scheidenwand wird dann von ihrem kaudalsten Ende beginnend nach kranial exzidiert. Eine Präparation des Septum rectovaginale entlang der Scheidenhinterwand würde diesen Schritt vereinfachen, ist aber bei meist komplett obliterierten Räumen oft nicht möglich. Durch eine rektovaginale Untersuchung wird der Verlauf des Darmes palpiert/visualisiert. Die Eröffnung der Scheide ist obligat. Der Weg dorthin kann variieren. Von einigen Operateuren wird die grundsätzliche Präparation von kaudal nach kranial favorisiert, die zunächst versucht, die Endometioseplatte vom Darm zu distanzieren und dann die Präparation von der Scheide aus zu unternehmen. Gelingt es, die Endometriosenarbe vom Darm weg in kaudaler oder (retrograd) in kranialer Richtung zu resezieren und das vernarbte Gewebsareal komplett abzusetzen, erfolgt der Verschluss der eröffneten Scheide mit in der Sagitalebene gestochenen Einzelknopf- oder Z-Nähten (Faden: resorbierbar, geflochten, 1-0 oder 0-0)
Vorgehen bei leichtem Befall der Rektosigmoid-Vorderwand Wenn der Endometrioseherd der Vorderwand des Rektosigmoid direkt aufliegt und hier keine präparative Schicht zu finden ist, muss zwingend eine Umschneidung der Endometrioseherde im Rektosigmoid mit dem Schere erfolgen.
164
Kapitel 6 · Laparoskopie – Endoskopie
Ziel dabei ist die vollständige Exzision der Endometrioseherde inklusive der jeweils betroffenen Schichten der Rektosigmoid-Vorderwand zu erreichen. Manchmal lässt sich dabei der Mukosaschlauch noch erhalten. Bei kleinem, gut abgrenzbarem Defekt erfolgt ein direkter, 2-reihiger Verschluss der Rektosigmoid-Vorderwand durch Einzelknopfnähte auf Stoß. (Faden: resorbierbar, geflochten oder monofil 3-0).
Vorgehen bei ausgeprägtem Befall des Rektosigmoids
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Ist von vorne herein klar, dass weite Teile der Rektumvorderwand exzidiert werden müssen, empfiehlt sich die Rektumteilresektion. Erster Schritt hierfür ist die Mobilisation des Rektosigmoids, für die wiederum die Darstellung und Lateralisierung der Ureteren notwendig ist. Die Mobilisation des Rektosigmoids erfolgt von lateral nach medial. Nachdem der linke Ureter dargestellt wurde, wird das Kolon nach proximal bis zum Colon descendens mobilisiert. In Fällen mit einem ausgeprägten Endometriosebefall des Rektosigmoids muss gelegentlich das Kolon bis zur linken Flexur oder darüber hinaus mobilisiert werden. Die Mobilisaton des Rektums erfolgt ebenfalls zunächst von lateral und anschließend von medial. Um später eine spannungsfreie Darmanastomose zu erreichen, müssen die sigmoidalen Gefäße manchmal durchtrennt werden. Nachdem das Rektum ventral von der Vagina und lateral als auch dorsal bis unterhalb des Endometrioseherdes mobilisiert wurde, wird das Mesorektum durchtrennt. Mit einem ENDO GIA® wird anschließend das Rektum abgesetzt und der proximale Anteil über eine Mini-Pfannenstielinzision vor das Abdomen luxiert. Nach der Entfernung des mit Endometriose befallenen Rektumanteils kann das Staplerköpfchen eines Zirkularstaplers in den proximal verbleibenden Darm eingenäht und in das Abdomen zurückluxiert werden. Die spannungsfreie End-zu-End Anastomose erfolgt mit Hilfe des transanal eingeführten Staplersystems. Für die Patientinnen bedeutet das laparoskopische Vorgehen, einen kürzeren Krankenhausaufenthalt, eine schnellere Rekonvaleszenz und eine geringere Operationsbelastung.
Myome Myome liegen bis zur Menopause bei fast 40% aller Frauen vor. Therapiert werden müssen Myome aber nur dann, wenn sie durch Blutungsstörungen, Menstruationsbeschwerden oder Druckbeschwerden symptomatisch werden. Ferner können Myome einen negativen Einfluss auf die Fertilität ausüben. Ist die Indikation für eine operative Intervention (⊡ Abb. 6.16) gegeben, steht mit der Laparoskopie eine minimalinvasive Operationstechnik zur Verfügung, die OP-Methode der Wahl bei allen subserösen, intramuralen oder gestielten Myomen sein sollte. Die wichtigsten Morbiditätsfaktoren der Myomektomie, die sich aus der Laparotomie und den postoperativen Adhäsionen ergeben, entfallen bei der Laparoskopie oder sind deutlich reduziert. Bei suffizienter Nahttechnik existieren keine Hinweise, dass nachfolgende Schwangerschaften nach laparoskopischer Myomektomie mit einer höheren Rupturrate belastet sind als nach offener Versorgung. Als Indikationen für die Durchführung einer Myomektomie gelten Blutungsstörungen in Form von Menometrorrhagien oder Dysmenorrhoe sowie chronische Unterbauchbeschwerden und eine rasches Myomwachstum. Ferner besteht eine OP-Indikation bei fehlender Abgrenzbarkeit zu einem Ovarialtumor, bei Miktions- und Defäkationsbeschwerden sowie bei gegebenem fertilitätsreduzierendem Effekt. Eine Myomektomie sollte nicht bei kleinen
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165 Myome
Abdominale und Laparoskopische Myomektomien 180 Abd. Myomektomie LSK Myomektomie
160 140 120 100 80 60 40 20 0 1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
⊡ Abb. 6.16. Myomektomien an der Universitätsfrauenklinik Tübingen
asymptomatischen Myomen, insbesondere in der Postmenopause, sowie bei abgeschlossener Familienplanung und Wunsch nach Hysterektomie durchgeführt werden. Für die laparoskopische Myomektomie gilt wie für das offene, abdominale Verfahren: Der Eingriff ist keine risikoarme Operation, insbesondere im Vergleich zur Hysterektomie. In der Vorstellung der Patientin erscheint die Entfernung einiger Myomknoten oft als der kleinere Eingriff. Tatsächlich sind neben den allgemeinen OP-Risiken insbesondere das deutlich erhöhte Blutungsrisiko zu erwähnen. Des Weiteren muss die Patientin auf eine Rezidivrate von 10-20% über 5 Jahre hingewiesen werden. Die Gefahr der Adhäsionsbildung ist bei laparoskopischem Vorgehen etwas reduziert. Insbesondere bei bestehendem Kinderwunsch muss ausführlich über den möglicherweise kontraproduktiven fertilitätsreduzierenden Effekt des Eingriffs sowie das Risiko einer Uterusruptur im Falle einer nachfolgenden Gravidität hingewiesen werden. Die meisten Autoren empfehlen eine 6-12-monatige Wartezeit vor der nächsten Schwangerschaft nach Enukleation intramuraler Myome mit Nahtversorgung. Insgesamt lässt sich ein deutlicher Wandel bezüglich der favorisierten OP-Methode im letzten Jahrzehnt erkennen. Zunehmende Erfahrung mit der laparoskopischen Technik, ständige Verbesserung des Instrumentariums und die Entwicklung multimodaler interdisziplinärer Therapiekonzepte haben dazu geführt, dass heute die laparoskopische Myomenukleation in den meisten Fällen die Methode der Wahl ist. Die laparoskopische Myomektomie (⊡ Abb. 6.17) sollte immer mit einer diagnostischen Hysteroskopie kombiniert werden zur sicheren Beurteilung des Cavum uteri und zum Aus-
166
6
Kapitel 6 · Laparoskopie – Endoskopie
schluss von submukösen Myomen. Subseröse und intramurale Myome werden in der Regel vor der Enukleation mit verdünnter Vasopressin-Lösung unterspritzt. Es erfolgt eine lineare Inzision über dem Myomscheitel, wobei auf maximale Distanz zu den Tuben zu achten ist. Nachdem das eigentliche Myom sicher identifiziert ist, erfolgt die eigentliche Enukleation überwiegend stumpf. Unter ständigem Zug am Myom können die Schichten meist gut präpariert werden. Prominente Gefäße müssen koaguliert werden, wobei darauf zu achten ist, dass diese Form der Hämostase nicht zu exzessiv eingesetzt wird, da dies langfristig Koagulationsnekrosen begünstigt. Die endgültige Hämostase wird bei der Uterusrekonstruktion mittels Naht erreicht. Abschließend werden die Myome morcelliert. Die häufigste Komplikation ist die intraoperative Blutung. Selten ist aber ein so großer Blutverlust zu erwarten, dass eine Konversionslaparotomie notwendig wird. Längerfristige Komplikationen sind sicherlich Darmadhäsionen zur Uterotomienarbe hin. Des Weiteren muss bei angestrebter Gravidität die Möglichkeit einer Uterusruptur besprochen werden. Hier ist auch eine eindeutige Dokumentation maßgebend. Es sollte eine Empfehlung zum Abwarten bis zur nächsten Gravidität ausgesprochen werden. Der ideale Zeitrahmen hierfür liegt bei intramuralen Myomen zwischen 6-12 Monaten. Die laparoskopische Machbarkeit hängt im Wesentlichen von Erfahrung und Können des Operateurs ab. Von geübter Hand ausgeführt mit vernünftiger Einschätzung des sinnvoll Machbaren ist die laparoskopische Myomektomie ein Eingriff mit einer sehr geringen perioperativen Morbidität mit nicht zuletzt auch deutlichen Vorteilen aus ökonomischer Sicht gegenüber der Laparotomie, u. a. wegen der sehr kurzen Liegezeiten.
⊡ Abb. 6.17. Laparoskopische Myomektomie
167 Laparoskopische Beckenbodenrekonstruktion
6
Laparoskopische Beckenbodenrekonstruktion Der Einsatz der Laparoskopie zur Rekonstruktion des Beckenbodens hat im Laufe der letzten Jahre deutlich zugenommen und eignet sich sowohl zur Behandlung des Genitalprolapses als auch zur Therapie der Belastungsinkontinenz. Die Vorteile der laparoskopischen Beckenbodenrekonstruktion sind: kein großer Bauchschnitt, weniger postoperative Schmerzen, kürzerer stationärer Aufenthalt, schnellere Wiederaufnahme der täglichen Aktivitäten. Die laparoskopische Beckenbodenrekonstruktion ist ein komplexer Eingriff, der sowohl endoskopische als auch rekonstruktive Kenntnisse und Fähigkeiten von Seiten des Operateurs erfordert. Die laparoskopische Sakrokolpopexie eignet sich zur Behandlung des symptomatischen Scheidenstumpfprolapses (ICS-POPQ Stage II-IV). Der Eingriff kann uteruserhaltend oder auch in Kombination mit einer Hysterektomie, total oder suprazervikal, erfolgen. Werden die Netzstreifen tief auf die vordere bzw. hintere Vaginalwand gelegt, so kann eine Zytozele bzw. eine Rektozele korrigiert werden. Eine standardisierte operative Technik zur Durchführung einer Kolposakropexie gibt es nicht. Der Eingriff wird in Vollnarkose durchgeführt. Nach Anlage eines Pneumoperitoneums und Einbringen der Troicare wird ein Manipulator in die Scheide gelegt. Das Peritoneum wird oberhalb des Scheidenstumpfes gespalten (⊡ Abb. 6.18), die Blase nach kaudal abgeschoben und die vordere Vaginalwand dargestellt (⊡ Abb. 6.19). Nach Eröffnen des Septum rectovaginale wird die hintere Vaginalwand dargestellt. Das Peritoneum wird entlang der Beckenwand gespalten und anschließend das Lig. longitudinale anterius dargestellt. Unter Darstellung und Schonung des Plexus hypogastricus superior gelingt die Darstellung des Lig. longitudinale auf Höhe LWK 5 am einfachsten. Der rechte Ureter sollte stets identifiziert werden. Zwei Gynemesh PS Streifen, ca. 15x3 cm werden im Bereich der Scheidenvorder- und im Bereich der Scheidenhinterwand mit mehreren Einzelknopfnähten unter Verwendung von nichtresorbierbarem Nahtmaterial fixiert (⊡ Abb. 6.20). Anschließend werden beide Streifen verschmälert und spannungsfrei am Lig. longitudinale anterius angebracht (⊡ Abb. 6.21). Dabei werden die sakralen Gefäße dargestellt und geschont. Das Implantat wird peritonealisiert, um so einen Kontakt mit dem Darm zu vermeiden. Die laparoskopische Kolposakropexie kann auch mit einer Kolposuspension zur Therapie einer manifesten oder larvierten Belastungsharninkontinenz erfolgen. Des Weiteren kann diese mit einer paravaginalen Kolpopexie zur Therapie eines Lateraldefektes kombiniert werden. Nach Eingehen in das Cavum Retzii am oberen Symphysenrand zwischen dem linken und rechten Lig. umbilicale mediale wird die Scheidenfaszie beidseits des Blasenhalses und der Sulci vaginae beidseits entlang der Beckenwand bis vor die Spinae ischiadicae dargestellt. Es wird mit der Hand in die Scheide eingegangen Die Scheidenfaszie wird entlang der Beckenwand mit mehreren Nähten am Arcus tendineus fixiert. Lateral des Blasenhalses werden die Kolposuspensionsfäden durch die Vaginalfaszie, lateral durch die Fascia obturatoria, medial durch das Coopersche Ligament gestochen und geknotet. Bislang wurden nur kleine Studienzahlen publiziert. In allen wird über hohe Erfolgsraten und niedrige Morbidität berichtet. Literaturangaben zufolge zeigt die laparoskopische paravaginale Kolpopexie Erfolgsraten zwischen 76 und 100%, die sich von dem vaginalen und abdominal offenen Zugang nicht unterscheiden. Die Datenlage zur laparoskopischen Kolposuspension ist noch recht mangelhaft. Aufgrund niedriger Fallzahlen, unterschiedlicher OP-Techniken und kurzer Nachbeobachtungszeiten ist ein Studienvergleich nicht sinnvoll.
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Kapitel 6 · Laparoskopie – Endoskopie
6
⊡ Abb. 6.18. Kolposakropexie: Spalten des Peritoneums oberhalb des Scheidenstumpfes
⊡ Abb. 6.19. Kolposakropexie: Nach Darstellen der vorderen und hinteren Vaginalwand, Inzision des Peritoneums entlang der rechten Beckenwand
169 Laparoskopische Beckenbodenrekonstruktion
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⊡ Abb. 6.20. Kolposakropexie: Anbringen des Implantatstreifen an der hinteren Vaginalwand mit nichtresorbierbarem Faden
⊡ Abb. 6.21. Kolposakropexie: Anbringen beider Implantatstreifen am Lig. longitudinale anterius nach Darstellung und Schonung des Plexus hypogastricus superior und der Vasa sacralia mediana
170
Kapitel 6 · Laparoskopie – Endoskopie
⊡ Tab. 6.3. Erfolgsraten nach laparoskopischer Kolposakropexie
6
Autor
Jahr
Anzahl Pat.
Follow-up (Monate)
Objektive Erfolgsraten
Subiektive Erfolgsraten
Nezhat et al.
1994
15
3-40
100
100
Ross
1997
19
12
100
Wattiez et al.
2001
125
32
93.4
Cosson et al.
2002
83
11
94
Antiphon et al.
2004
108
17
96.3
83.5
Gadonneix et al.
2004
46
24
83
95
Sundaram et al.
2004
10
16
90
Agarwalla et al.
2007
74
24 (9-36)
100
97
Rozet et al.
2005
363
14.6
98.9
96
Higgs et al.
2005
140
66
92
62
100
Bei der Behandlung des Prolaps genitalis und der Harninkontinenz sollten immer die drei Zugangsmöglichkeiten: vaginal, abdominal offen und laparoskopische beachtet werden. Der operative Zugang hängt sehr von der Erfahrung und dem operativen Training des Operateurs ab. Eine Empfehlung für den einen oder anderen operativen Zugang kann nur nach einer sorgfältigen Anamnese und klinischen Untersuchung unter Berücksichtigung des Alters der Patientin, ihrer Komorbiditäten, ihrer Konstitution, ihrer Wünsche und anhand der urogynäkologischen Vorgeschichte der Patientin gestellt werden.
Fertilitätschirurgie Während die laparoskopische Therapie der Tubargravidität als eine der etabliertesten Indikationen zur operativ-laparoskopischen Intervention gilt, musste sich die Indikationsstellung der Fertilitätschirurgie insbesondere zur Rekonstruktion der Tuben einer kritischen Betrachtung und damit einem Wandel unterziehen. Generell beinhaltet der Begriff 1. die ebenfalls etablierte Tubensterilisation nach abgeschlossener Familienplanung, 2. tubenrekonstruktive Eingriffe, d. h. die Wiederherstellung der Tubenpassage bzw. die Optimierung der Tubenfunktion bei nachgewiesener sog. tubarer Sterilität. Die laparoskopische Tubensterilisation erfolgt durch Elektrokoagulation evtl. mit Durchtrennung der Tube. Dabei wird die Tube im mittleren Drittel mit einer Tubenfasszange gefasst, hochgezogen und unter Sicht im freien Raum des Pneumoperitoneums koaguliert. Wichtig ist eine langsame Koagulation mit mäßiger Stromstärke mit dem Ziel, die Tube in ihrer ganzen Wanddicke zu verkochen. Das verkochte Tubenstück sollte eine Länge von 1,5–2 cm aufweisen. In der Regel wird dabei das angrenzende Gewebe der Mesosalpinx mit dem entsprechenden Tubenabschnitt sowie den versorgenden Gefäßästen aus der A. uterina mitkoaguliert, insbesondere unter dem Aspekt, Blutungen, falls eine nachfolgende Durchtrennung geplant ist, zu vermeiden.
171 Laparoskopische Onkologie
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Im Rahmen der rekonstruktiven Tubenchirurgie sind als diagnostischer Eingriff die Chromopertubation zu erwähnen sowie in der Folge tubenrekonstruktive Eingriffe und ihr Stellenwert. Bei der Chromopertubation wird mittels Farbstofflösung (Patentblau) durch einen Portioadapter retrograd die blaue Farblösung injiziert und durch entsprechende Inspektion ein potentieller Austritt aus dem Bereich der Tubenostien in die freie Bauchhöhle überprüft. Während der Injektionsphase kann vereinzelt die blaue Farblösung durch die Tubenwand hindurch schimmern, teilweise dadurch ein Stopp erkannt werden. Weitere Veränderungen können das Sichtbarwerden einer Ballonierung oder auch die kontrastierte Darstellung einer sog. Endosalpingitis nodosa sein. Zunehmend kritisch betrachtet werden rekonstruktive Maßnahmen bei der sog. distalen Tubenpathologie. Während dieser Eingriff lange Zeit als weitverbreitete Indikation zum laparoskopisch-rekonstruktiven Eingriff galt, wird diese Indikation zunehmend kritisch gesehen. Unter Berücksichtigung der strengen Indikationsstellung bleibt insgesamt nur noch eine kleine Gruppe von Patientinnen übrig, für die ein tubenrekonstruktives Vorgehen sinnvoll erscheint. Wesentliche Voraussetzung ist eine komplette Sterilitätsabklärung, wobei bei ansonsten unauffälligen Parametern bzw. leicht zu korrigierenden und therapeutisch beeinflussbaren Parametern ausschließlich der tubare Faktor als korrekturwürdig übrig bleiben muss. Als Indikation gelten aktuell maximal die distale Tubenpathologie bzw. eine Refertilisierung im Sinne einer End-zu-End-Anastomose der Tube nach Sterilisatio per laparoscopiam. Mögliche Verfahren für die Tubenrekonstruktion sind die Fimbriolyse, die Fimbrioplastik oder auch die Salpingostomie. Bei der klassischen Refertilisierung nach Sterilisatio muss erwähnt werden, dass die laparoskopische Technik insgesamt sehr aufwändig erscheint, wobei die bewährte mikrochirurgische Technik häufig Vorzüge aufweist. Auch konnte über die konventionelle mikrochirurgische Refertilisierung, je nach Zentrum, eine höhere Schwangerschaftsrate erzielt werden. Voraussetzung generell ist, dass die Anastomose im isthmischen Anteil zu erfolgen hat ohne präexistente Lumendifferenz. Generell kann nur ein spezialisiertes Zentrum entscheiden unter Berücksichtigung aller zur Sterilität führenden Parameter, inwieweit eine Tubenrekonstruktion im Gesamtkontext sinnvoll erscheint. Insbesondere bei dickwandiger oder gekammerter Saktosalpinx stellt der Versuch einer Tubenrekonstruktion eine unnötige Belastung für die Patientin dar. Unter Berücksichtigung wesentlicher Entwicklungen im Bereich der Reproduktionsmedizin ist eine Indikation zur Tubenrekonstruktion streng und nur unter Berücksichtigung verfügbarer und sinnvoller reproduktionsmedizinischer Maßnahmen zu stellen.
Laparoskopische Onkologie Die erste radikale laparoskopische Hysterektomie wurde schon Anfang der 90er-Jahre, also vor fast 20 Jahren operiert. Die ersten Studien, die die routinemäßige und sichere Durchführbarkeit laparoskopischer Lymphonodektomien sowie radikaler Hysterektomien auch wissenschaftlich untersuchten, wurden Ende der 90er-Jahre veröffentlicht. Inzwischen werden seit über 10 Jahren weltweit Erfahrungen über die laparoskopische Hysterektomie bei Uterusmalignomen gesammelt. Die technische Durchführbarkeit steht inzwischen außer Frage. Die Vorteile der Operation für die Patientin sind erheblich. Bisher gibt es keinen Hinweis, dass sich die onkologische Situation der Patientin durch ein laparoskopisches Vorgehen gegenüber der konventionellen Laparotomie verändert. Keine einzige publizierte Studie deutet auf einen on-
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Kapitel 6 · Laparoskopie – Endoskopie
kologischen Nachteil hin. Obwohl in diesem Zusammenhang oft vom sog. Publication-Bias gesprochen wird, sei der Hinweis gestattet, dass eine Studie, die einen solchen Nachteil der Laparoskopie demonstrieren würde, sicherlich ohne Schwierigkeiten höchstrangig publiziert werden könnte. Letzte prospektive randomisierte Studien, die die onkologische Äquivalenz langfristig bestätigen, stehen allerdings noch aus. Die Indikationen zu den jeweiligen Operationen sowie den begleitenden Staging-Prozeduren unterscheiden sich nicht von den bekannten Indikationen: ▬ Bei Vorliegen eines Zervixkarzinoms sowie eines Endometriumkarzinoms mit Zervixbefall wird die laparoskopische radikale Hysterektomie operiert. ▬ Bei Vorliegen eines Endometriumkarzinoms im Stadium 1 ist eine konventionelle totale Hysterektomie ohne Mitnahme von Parametrien und Scheidenmanschette ausreichend.
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Nicht alles was laparoskopisch machbar wäre, ist auch sinnvoll. OP-Zeiten sollten sich in einem vertretbaren Rahmen halten, auch im Interesse der Patientin. Je größer der Tumor, umso mehr kommen die Defizite laparoskopischen Operierens zum Tragen: Unmöglichkeit der Kompression, Notwendigkeit, auch kleinste Blutungen zu stillen, festgelegter Blickwinkel, fehlende digitale Palpation, rein visuelles Operieren. Ein besonders wichtiger Aspekt der komplexen laparoskopischen Krebschirurgie sind die verschiedenen alternativen Techniken der Elektrochirurgie zum Gefäßverschluss. Die pelvine Lymphonodektomie ist Bestandteil der systematischen Staging-Operationen bei frühen Uterusmalignomen (Zervixkarzinom, Endometriumkarzinom, Uterussarkom) und Ovarialkarzinomen. Bei fortgeschrittenen Uterusmalignomen und Ovarialkarzinomen hat zusätzlich zur Staging-Lymphonodektomie die operative Entfernung insbesondere befallener Lymphknoten einen nachgewiesenen therapeutischen Effekt. Die technische Machbarkeit der laparoskopischen Lymphonodektomie ist ausreichend unter Beweis gestellt worden. Die konkreten Indikationen zur Lymphonodektomie entsprechen den in onkologischen Leitlinien festgelegten Vorgaben. Als eigenständiger Eingriff erspart das laparoskopische Vorgehen der Patientin die Laparotomie und gehört damit zu den nutzbringendsten laparoskopisch-onkologischen Operationen. Über das Ausmaß der aus onkologischer Sicht optimalen Lymphknotendissektion besteht keine Einigkeit. Die meisten Operateure würden allerdings eine Lymphknotenzahl von 15-20 Lymphknoten bei einer beidseitigen pelvinen Lymphonodektomie als ausreichend für ein adäquates Staging und nicht zu exzessiv in Hinblick auf das Lymphödem-Risiko akzeptieren. Dies entspricht auch den Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft für gynäkologische Onkologie AGO. Obwohl gerade adipöse Patientinnen vom endoskopischen Eingriff und dem Vermeiden der Laparotomie profitieren, ist bei Adipositas permagna die Laparoskopie erschwert. Hier können extralange Troikare helfen. Die endoskopische Technik ist insofern schwieriger als die offene Technik, als absolute Hämostase dauerhaft aufrecht erhalten werden muss. Insbesondere für erfahrene offene Operateure ist die Umstellung daher sehr anstrengend. Die laparoskopische paraaortale Lymphonodektomie ist eine Behandlungsoption im Rahmen von Staging und Therapie bei frühen Endometriumkarzinomen, die nicht der Kategorie Ia, G1/2 (Niedrig-Risiko) angehören. Im Rahmen des sich etablierenden laparoskopischchirurgischen Stagings von Zervixkarzinomen kann bei positiven pelvinen Lymphknoten eine paraaortale Lymphonodektomie angeschlossen werden, um die Bestrahlungsergebnisse durch Entfernen klinisch suspekter Lymphknoten zu optimieren oder das Bestrahlungsfeld durch Nachweis negativer paraaortaler Lymphknotenstationen zu fokussieren. Die klinische Wertigkeit dieses neuen onkologischen Ansatzes muss allerdings durch Studien noch belegt
173 Laparoskopische Onkologie
6
werden. Schließlich kann durch die laparoskopische paraaortale Lymphonodektomie das Staging akzidentell anoperierter früher Ovarialkarzinome komplettiert werden: Patientinnen, bei denen im Rahmen von ovariellen Zystektomien oder Adnexektomien unerwartet maligne Befunde im FIGO-Stadium I vorlagen, können laparoskopisch adäquat gruppiert werden. Die Laparotomie als erste operative Maßnahme bei sonst völlig unauffälligem Situs sollte gerade hier überdacht werden. Über das genaue Ausmaß der paraaortalen Lymphonodektomie herrscht keine Einigkeit. Während manche Autoren eine Ausweitung bis zur V. renalis sinistra nach kranial, dem Ursprung der V. ovarica sinistra nach links-lateral sowie ein entsprechendes Freilegen parakaval rechts fordern, beschränken sich die amerikanischen GynäkoOnkologen zumindest beim Endometriumkarzinom auf eine inframesenteriale paraaortale/ parakavale Lymphonodektomie. Die deutsche Expertengruppe fordert hier 10 Lymphknoten als Qualitätskriterium eines adäquaten Stagings. Die laparoskopische paraaortale Lymphonodektomie ist neben der radikalen laparoskopischen Hysterektomie (laparoskopischer Wertheim) der schwierigste laparoskopische Eingriff, der ein hohes Maß an Erfahrung und Geduld erfordert. Blutungen müssen von vorne herein vermieden werden. Diese Eingriffe sollten, wie alle onkologischen Eingriffe, nicht sporadisch durchgeführt werden. Nur bei regelmäßigen Operationen mindestens mehrfach pro Monat stellt sich gerade bei der Laparoskopie die notwendige operative Erfahrung ein, die den Eingriff zu einem qualitativ hochwertigen Routine-Eingriff werden lässt.
Komplikationen Die gynäkologische Endoskopie führte als Katalysator innovativer Operationsverfahren zum Strukturwandel des Fachbereiches. Integraler Bestandteil des Innovationsstrebens ist jedoch die kritische Evaluation im klinischen Alltag. Die Umsetzung minimalinvasiver Operationstechniken sollte sich am technisch Machbaren orientieren und nicht durch den »Druck des Marktes« forciert werden. Oberstes Ziel sollte Qualität und die Minimierung von Komplikationen sein. Im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft für Gynäkologische Endoskopie (AGE) wurde diesbezüglich ein Komplikationsregister entwickelt, welches durch eine standardisierte Datenerfassung einen klinikinternen/-externen Vergleich von endoskopischen Komplikationen ermöglichte. Es wurden in dem Zeitraum von 1996-2000 115.660 endoskopische Operationen erfasst, davon 75.584 Laparoskopien (⊡ Tab. 6.4) und 58.779 Hysteroskopien. Die multizentrische Analyse der Komplikationen ergab eine Gesamtkomplikationsrate von 1,3% bei den Laparoskopien, wobei es sich in über 50% der Fälle um intraoperative Komplikationen handelte (⊡ Tab. 6.5). Mit einer Inzidenz von 0,15% stehen hier die Gefäßverletzungen an erster Stelle, welche überwiegend durch den laparoskopischen Zugang verursacht werden. In der Literatur handelt es sich bei Gefäßverletzungen durch Verres-Nadel bzw. Optiktrokar meist um Verletzungen der Aorta abdominalis, der V. cava oder der großen Beckengefäße. Bei Platzierung von Zusatztrokaren kommt es eher zur Verletzung der A. und V. epigastrica inferior bzw. superficialis. An zweithäufigster Stelle im AGE-Komplikationsregister stehen die Darmperforationen (⊡ Tab. 6.5: 0,12%). Sie nehmen die Hälfte aller intraoperativen Organverletzungen ein. Die Häufigkeit von intraoperativen Darmverletzungen wird in der Literatur mit 0,06-0,8% sehr unterschiedlich angegeben, abhängig von der Indikationsstellung und der Art der vorgenommenen Laparoskopien. So kam es z. B. bei Kolmorgen et al zu einer Zunahme von Darm-
174
Kapitel 6 · Laparoskopie – Endoskopie
⊡ Tab. 6.4. AGE-Komplikationsregister, laparoskopische Eingriffe 1996-2000 Jahr
1996
1997
1998
1999
2000
Therapien (n) insgesamt
6550
7677
9833
14568
17352
55980 N
%
1018
945
1409
2493
2764
8629
15,4
24,5
28,6
36,5
24,4
17,4
24,5 40,6
Doppelnennung möglich Uterus u.a. ( n )
1996–2000 gesamt
davon in % Adhäsiolyse
6
Myomektomie
40,7
39,6
40,5
37,9
43,5
Hysterektomie und LAVH
31,8
27,8
21,6
35,4
36,6
Tuben u.a. ( n )
2396
2591
4290
5688
6796
Adhäsiolyse peritubar/ periovariell
29,1
25
29,7
25,1
22,9
25,8
Entfernung Hydatide/Paratubarzyste
6,8
6,3
6,5
6,5
6,7
6,6
Sterilisation
37,3
44,9
54,5
53,9
58,8
52,6
Salpingotomie (nicht bei EUG)
k.A.
k.A.
k.A.
15,0
9,5
3
32,3 21761
38,9
davon in %
EU-Therapie
k.A.
k.A.
k.A.
14,7
10,3
TOA-Therapie ( n )
k.A.
k.A.
45
137
60
242
5,6 4,3
Adnexen u.a. ( n )
k.A.
k.A.
1477
1939
2130
5546
9,9
Adnexektomie
k.A.
k.A.
55,4
68,1
71,3
Bag-Technik
k.A.
k.A.
47,6
89,8
55,5
Ovarien u.a. ( n )
3292
2846
3967
5523
6725
Biopsie des Ovars
k.A.
k.A.
k.A.
12,8
10,2
6,2
Adhäsiolyse
24,5
26,8
37,3
33,1
27,8
30,2
davon in % 65,9 65,4 22353
39,9
davon in %
Zystenfensterung/-ektomie
47,8
40,6
50,8
51,2
51,3
49,3
Ovariektomie partiell/total
4,8
4
3,4
4,1
4,6
4,2
Bag-Technik
k.A.
k.A.
k.A.
31,5
k.A.
7,8
Endometriosedestruktion
k.A.
k.A.
7,2
9,4
9,6
8,9
Peritoneum u.a. ( n )
1761
2292
3686
4620
4517
16876
30,1
davon in % Biopsie des Peritoneums
k.A.
k.A.
k.A.
16,1
10,3
7,2
Adhäsiolyse am Peritoneums des kleinen Beckens
47,8
38,5
50,7
50,3
43,7
46,7
Endometriosedestruktion
38
30,1
39,9
38,3
45,8
39,6
Zytologie
12,8
12,8
14,4
13,2
10,4
12,6
Retroperitoneum ( n )
99
164
202
191
209
865
1,5
davon in % Burch
53,5
43,3
44,1
28,3
27,3
37,5
Ureterpräparation
10,1
38,4
53,9
54,5
49,7
43,9
Darm ( n )
1347
1137
1786
2161
2149
8580
15,3
davon in % Adhäsiolyse
93,2
90,6
93,9
93,5
92,7
93,2
Appendektomie
6,0
7,1
6,9
7,0
8,3
7,2
6
175 Laparoskopische Onkologie
läsionen bedingt durch Second-look-Laparoskopien bei Ovarialkarzinompatientinnen und Laparoskopien bei voroperierten Patientinnen mit Darm- und Netzadhäsionen. Betrachtet man die Inzidenz der Spätkomplikationen im AGE-Komplikationsregister, so spiegelt sich die hohe Rate an intraoperativen Gefäßverletzungen/Blutungen auch postoperativ wieder. In 0,18% der Fälle kommt es zur verstärkten Nachblutung/Hämatombildung. Damit liegen auch hier die Blutungen an erster Stelle, wobei die postoperativen Komplikationsrate 0,5% beträgt. Gedeckte Darmperforationen mit der Folge von Peritonitis zeigen sich in 0,06%. In weniger als 0,01% kam es zu Blasenentleerungsstörungen aufgrund von Urogenitalverletzungen, die eine postoperative Intervention forderten.
⊡ Tab. 6.5. AGE-Komplikationsregister von 1996-2000: Laparoskopische Komplikationen Jahre
1996
1997
1998
1999
2000
gesamte Laparoskopien
7265
12030
13631
21146
21512
75584
diagnostisch
715
4353
1747
2985
2609
12409
therapeutisch
6550
7677
11884
18161
18903
63175
Anzahl
1996 - 2000
(%)
Komplikationen (n)- Doppelnennungen möglich Gesamtkomplikationen
137
188
138
intraoperative Komplikationen Darmperforation
47
116
100
8
14
14
Gefäßverletzung
7
18
30
Organverletzung (Blase, Ureter, Magen, Leber, Uterus, Tube, Ovar)
9
20
Eröffnung eines Ovarial - Ca
1
Blutung im OP-Gebiet
289
240
1,3
172
148
0,77
30
24
0,12
34
21
0,15
11
27
26
0,12
2
1
2
3
< 0,01
3
8
21
39
38
0,14
postoperative Komplikationen
90
72
38
117
92
0,5
Nahtdehiszenz
1
1
k.A.
6
3
0,01
Bauchdeckenhämatom
9
13
7
12
8
0,06
Bauchdeckeninfektion
4
5
k.A.
8
2
< 0,01
Bauchdeckenhernie
0
0
1
2
3
< 0,01
gedeckte Darmperforation
0
2
2
2
5
0,01
Blasenentleerungsstörung > 10 Tage
0
1
k.A.
k.A.
3
< 0,01
verschlepptes Ovarial-Ca
1
2
k.A.
1
k.A
< 0,01
Fieber > 38°C, > 3 Tage
5
1
5
3
9
0,03
Nachblutung
13
25
9
23
18
0,12
Peritonitis/Abszeß
0
2
6
14
13
0,05
176
Kapitel 6 · Laparoskopie – Endoskopie
Fazit Aufgrund der Zunahme an operativ-laparoskopisch anspruchsvollen Eingriffen verzeichnen die internationalen Komplikationsanalysen der letzten 10 Jahre keinen Rückgang der Komplikationsrate. Dies verdeutlicht die Notwendigkeit der strukturierten klinikinternen/-externen Qualitätssicherung. Klar definierte Indikations- und Operationskriterien, die Konversion als fester operativer Bestandteil ohne forensisch negative Belastung, eine standardisierte Komplikationserfassung, ein festgelegtes Komplikationsmanagement sowie eine kontinuierliche Fort- und Weiterbildung sollten Gradmesser des Innovationsstrebens und damit ein fester Bestandteil des Qualitätsmanagements in der gynäkologischen Endoskopie sein.
6
Aktueller Stand Direkt nach ihrer Einführung in der Routine der meisten deutschen Frauenkliniken in den 90er-Jahren war die Laparoskopie vor allem ein diagnostisches Werkzeug. Als solches etablierte sich der minimalinvasive Zugang vor allem im Management von Ovarialzysten und in der Diagnostik und Therapie der Eileiterschwangerschaft. Erst während der letzten 10 Jahre konnten sich die endoskopischen Techniken als dritter Zugangsweg für prinzipiell alle intraabdominalen Eingriffe durchsetzen). Vorreiterrolle hierbei spielte der häufigste Eingriff der Gynäkologie überhaupt, die Hysterektomie. Inzwischen ist die abdominale Hysterektomie bei benigner Indikation fast schon eine Ausnahme-Operation geworden. Von besonderem Interesse ist hierbei, dass die Techniken der laparoskopischen totalen und laparoskopischen suprazervikalen Hysterektomie besonders bei den Patientinnen auf große Resonanz gestoßen sind. Zur Entwicklung an der Universitäts-Frauenklinik Tübingen, ⊡ Abb. 6.22. Aber auch die laparoskopische Sakrokolpopexie bzw. Sakrozervikopexie hat sich in der klinischen Routine als Standardeingriff der Beckenbodenchirurgie etabliert und macht zunehmend der vaginalen sakrospinalen Fixation
UFK Tübingen - Benigne Hysterektomien 900 800 700 600 500 400 300 200 100 0
LSK tot. HE LSK sz HE Vag.HE Abd.HE
98 99 00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 ⊡ Abb. 6.22. Hysterektomie bei benignen Erkrankungen an der Universitäts-Frauenklinik Tübingen: Anteile abdominaler, vaginaler, laparoskopisch-suprazervikaler (LSK sz) und laparoskopisch-totaler (LSK tot) Hysterektomie, Veränderungen 1998-2009
177 Literatur
6
Konkurrenz. Die grundsätzliche Möglichkeit laparoskopischer onkologischer Operationen wurde bereits in den 90er-Jahren demonstriert. Dass diese Techniken für die pelvine und paraaortale Lymphonodektomie sowie die radikale Hysterektomie erst jetzt Einzug in die Routine verschiedener laparoskoskopisch versierter Zentren halten, verdeutlicht die schwierige Lernkurve sowie die komplexen Lernund Lehr-Zyklen dieses immer noch neuen Zugangswegs. Wenig besprochen wird bisher die besondere körperliche und mentale Belastung laparoskopischen Operierens, die sich zum einen aus der Körperhaltung, zum anderen aus der Notwendigkeit konstanter nahezu perfekter Hämostase ergibt. Die weitere breite Anwendung der minimalinvasiven Techniken wird sich im Spannungsfeld zwischen Möglichem und in der klinischen Routine sinnvoll Machbarem entscheiden. In den letzten Jahren wurde dabei klinisch umgesetzt, was vorher wissenschaftlich erarbeitet werden konnte. Man darf gespannt sein, ob sich die Laparoskopie weiter als wichtige Säule der operativen Gynäkologie durchsetzt.
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Kapitel 6 · Laparoskopie – Endoskopie
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Urogynäkologie Heinz Kölbl
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Kapitel 7 · Urogynäkologie
Einleitung
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Die gynäkologische Urologie versteht sich als verbindendes Arbeits- und Forschungsgebiet zwischen Frauenheilkunde und Urologie. Mit der Erforschung der topographisch-anatomischen Beziehungen zwischen den Harnorganen der Frau und dem Genitalsystem erhielt die Arbeit im gynäkologisch-urologischen Grenzbereich erste entscheidende Impulse. Die Urogynäkologie besteht eigentlich genauso lange wie das Fachgebiet Gynäkologie und Geburtshilfe selbst, auch im deutschsprachigen Raum. Wie auch in anderen Teilgebieten unseres Faches haben, wie im Folgenden dargestellt, zahlreiche deutsche Frauenärzte die Urogynäkologie seit ihrem Bestehen mitgeprägt und weiterentwickelt. Dies betrifft sowohl die mannigfachen medizinischen Fortschritte in der urogynäkologischen Funktionsdiagnostik als auch der konservativen und operativen Urogynäkologie. Bereits 1928 hat W. Latzko in seinem Beitrag Gynäkologische Urologie ein Handbuch der Urologie geschrieben. Infolge dessen hat sich die Überzeugung, dass die Beherrschung urologischer Untersuchungsmethoden für den Gynäkologen unerlässlich ist, dass er ohne sie den wichtigen diagnostischen und therapeutischen Aufgaben nicht gewachsen ist, durchgesetzt. In dem gleichen Beitrag wendet sich Latzko aber auch an den Urologen, indem er schreibt: »Ebenso muss aber auch verlangt werden, dass sich der Urologe bei Erkrankungen der weiblichen Harnorgane, die häufiger direkten, manchmal allerdings erst durch die Tätigkeit des Gynäkologen geschaffenen Beziehungen zu den weiblichen Geschlechtsorganen, vor Augen hält«. Von einer gynäkologischen Urologie als verbindendem Arbeits- und Forschungsgebiet zwischen Frauenheilkunde, Geburtshilfe und der Urologie wird ab dem mittleren Abschnitt des 18. Jahrhunderts gesprochen. Bis dahin deuteten lediglich Einzelbeobachtungen den Zusammenhang zwischen dem Genitalsystem und den Harnorganen an. Blasensteine als Geburtshindernis, Blasensperre bei Krankheiten des Genitales oder Blasenscheidenfisteln galten dabei als typische Beispiele. Es kann und soll sicherlich nicht Aufgabe dieser Übersicht sein, alle Namen zu nennen, die sich um die Urogynäkologie verdient gemacht haben – es sind deren zu viele – alles verdiente Gynäkologen, teilweise auch solche, deren Verdienste mit ganz anderen Teilgebieten unseres Faches in Verbindung gebracht werden. Hierzu dient auch die anhängende Literatur. Es ist mir aber ein persönliches Bedürfnis zwei Persönlichkeiten herauszustreichen, die die Urogynäkologie im deutschsprachigen Raum ganz besonders geprägt haben. Als einer der Begründer der Urogynäkologie muss sicherlich Walter Stoeckel (18711961) gesehen werden (⊡ Abb. 7.1). Mit der Herausgabe seines Buches (⊡ Abb. 7.2) und seiner Zeitschrift Gynäkologische Urologie, hat er der deutschen Urogynäkologie seinerzeit seinen Stempel aufgesetzt. Als ein weiterer Pionier der Urogynäkologie ist Kurt Richter zu sehen, der durch seine umfassenden anatomische Studien und funktionellen Betrachtungen insbesondere in der Inkontinenz- und Prolapschirurgie wegweisend war (⊡ Abb. 7.3). Beide stellen Vertreter der Urogynäkologie auf universitärer, akademischer Ebene dar – ein bis heute bedauerlicherweise seltener und aus verschiedenen Ursachen immer seltener werdender Zustand. Im Folgenden soll die Entwicklung der Urogynäkologie an Hand verschiedener Krankheitsbilder und deren unterschiedlicher Bedeutung im Wandel der letzten 125 Jahre zu
183 Einleitung
⊡ Abb. 7.1. Walter Stoeckel (1871-1961), Berlin, Herausgeber der Zeitschrift Gynäkologische Urologie
⊡ Abb. 7.2. Walter Stoeckel’s Gynäkologische Urologie
⊡ Abb. 7.3. Kurt Richter (1915-1989), München
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Kapitel 7 · Urogynäkologie
Darstellung gebracht werden. Beim Quellenstudium fielen besondere urogynäkologische Aspekte auf: ▬ Die urogynäkologischen Probleme unserer zivilisierten Welt vor 125 Jahren waren ganz andere als die von heute. ▬ Zugleich sind unsere Probleme von früher die Probleme der Dritten Welt von heute. Hier können wir unsere Expertise aus der Historie gut gebrauchen und diesen unterentwickelten Ländern vermitteln, was in einigen Projekten auch der Fall ist. ▬ Die Urogynäkologie ist äußerst komplex und betrifft unser Gesamtfach an allen Stellen. ▬ Die Urogynäkologie ist ein Grenzgebiet zu vielen Disziplinen und braucht die Kooperation mit den »Nachbarn«.
Urogenitale Fisteln
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Zu den ältesten gynäkologisch-urologischen Problemen gehört die Blasen-Scheiden-Fistel. Es war F. R. K. Naegele (1812), der erstmals die angefrischten Fistelränder mit Knopfnähten vereinigte und damit die operative Behandlung der Blasen-Scheiden-Fistel ermöglichte. Bevor man sich jedoch eingehender mit dem operativen Fistelverschluss befassen konnte, wurde bis etwa 1840 die Obliteration des Fistelkanals durch Ätzung oder Verschorfung angestrebt. Die damit erzielten Ergebnisse waren allerdings bescheiden. Das gleiche gilt für den Versuch, Kontinenz mit dem Dauerkatheter zu erreichen. Mit der von Gustav Simon (1824-1876) angegebenen Operation der Blasen-ScheidenFistel wird der narbige Fistelkanal vollkommen exstirpiert und mit durchgreifenden Knopfnähten verschlossen. Heinrich Fritsch (1844-1915), einer der erfahrensten Fisteloperateure seiner Zeit, nahm einen Längsschnitt vor und trennte von diesem aus die Scheiden- von der Blasenwand. Bei sehr großen Fisteln präparierte Alwin Mackenrodt (1859-1925) Harnblasen- und Vaginalwand von einem medianen Schnitt nach beiden Seiten. Der Defekt der Blasenwand wurde verschlossen und das vaginale Ende des Fistelkanals auf die nach unten verlagerte Gebärmutter genäht. Friedrich Trendelenburg (1844-1924) schloss die Fistel nach Sectio alta von der Innenwand der Harnblase. Blasen-Scheiden-Fisteln beschäftigten, wie erwähnt, die Ärzte zu allen Zeiten in besonderem Maße. Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts häuften sich mit Zunahme der gynäkologischen Operationen Fistelverbindungen zwischen Harnblase oder Harnleiter und Gebärmutter oder Vagina. Blasen-Scheiden-Fisteln galten bisher als örtlich umschriebene Veränderung. Stoeckel meinte 1938, dass die Prognose der nicht verschlossenen VesikoVaginal-Fistel quoad vitam zwar gut ist, soweit dies die Fistel selbst betrifft. Für die operative Korrektur einer Blasen-Scheiden-Fistel sind nach 1945 neben den bekannten vaginalen Eingriffen (Füth-Mayo, Latzko, Sims-Simon, G. Döderlein, H. Martius) abdominale Verfahren entwickelt worden. Mit Verbesserung der Schwangerenberatung und intensiverer klinischer Geburtshilfe wurden Blasen-Scheiden-Fisteln seltener. Dazu hat ohne Zweifel auch beigetragen, dass riskante vaginale Operationen, wie die hohe Zange, weitgehend verlassen worden sind. Dagegen wird in den Entwicklungsländern diese postpartale Komplikation immer noch häufig beobachtet, ein eminentes Problem das bis heute besteht. Noch immer aktuell sind nach gynäkologischen Eingriffen Harnleiter- und Harnblasenfisteln, wenn auch ihre Frequenz in den meisten Ländern geringer geworden ist. So gab T. J. Williams nach erweiterter abdominaler Uterusexstirpation noch 11% Harnleiter-Scheiden-
185 Urogynäkologie und oberer Harntrakt
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Fisteln an. Mit spezieller Technik konnte diese postoperative Komplikation später auf 2% gesenkt werden. Mehrere Faktoren haben in der Geschichte der operativen Gynäkologie dazu beigetragen, postoperative Ureterkomplikationen auf ein Minimum zu reduzieren: Anpassung der Radikalität des Eingriffes an die Größe der Geschwulst, Präparation des Harnleiters mit der Technik nach Antoine-Palmrich, präoperative Diagnostik mit Ausscheidungsurographie und Lymphographie, Verzicht auf die Nachbestrahlung bei einem Teil der Patientinnen nach sorgfältiger Aufarbeitung und Untersuchung des Operationspräparates.
Urogynäkologie und oberer Harntrakt Der weitere Aufschwung der anatomischen Forschung und die zahlreicher werdenden Operationsbefunde verbesserten die Kenntnisse in der topographischen Anatomie. Entscheidend hat Josef Hyrtl (1811-1894) dieses Gebiet gefördert. Wichtige Beiträge zur Topographie des Beckens der Frau stammten von M. B. Freund (1864), C. Hasse (1876), W. His (1878), C. Langer (1881) und W. Waldeyer (1886). Rudolf Virchow (1821-1902), Begründer der Zellularpathologie, hat während seiner Tätigkeit an der Universität Würzburg von 1849-1856 als Erster auf den Zusammenhang von Krankheiten des Genitales und der Harnorgane hingewiesen. In einem der noch erhaltenen Protokollbücher (G. Keil) hat er im Jahre 1850 den Befund einer beidseitigen Harnleiterstenose und Hydronephrose durch ein Karzinom der Gebärmutter festgehalten. Walter Stoeckel schrieb im Band X/1 seiner Gynäkologischen Urologie auf Seite 340: »Virchow hat den Zusammenhang der Ureterkompression mit dem Wachstum genitaler Tumoren als erster erkannt«. Die Erforschung der Nierenkrankheiten verbesserte auch die Kenntnisse der renalen Komplikationen in der Schwangerschaft. Bereits 1752 machte William Smellie (1697-1763) den zunehmenden Druck des graviden Uterus auf den Ureter für Lendenschmerzen, schmerzhafte Harnentleerung und Fieber verantwortlich. Er wies darauf hin, dass die Veränderungen im Harnsediment nicht durch Nierengrieß bedingt sind. 1841 erkannte François Rayer den Zusammenhang von fieberhafter Nierenkrankheit und Schwangerschaft. Symptome und Verlauf der geschilderten Komplikation deuten nach dem heutigen Wissensstand darauf hin, dass sich unter dem Bild einer akuten Entzündung der Harnblase sehr wahrscheinlich eine Pyelonephritis gravidarum entwickelt hatte. 1872 hat Rudolf Kaltenbach (1842-1893) die Pyelitis gravidarum, wie sie lange Zeit hieß, eingehender beschrieben. Das häufigere Zusammentreffen von unspezifischen Entzündungen des weiblichen Genitales und Infektionen der Harnwege führte nach 1945 zu eingehenderen Studien der Pathogenese. Auf welchem Wege Zystitis oder/und Pyelonephritis bei bakteriellen Infektionen des Genitales entstehen, ließ sich nicht immer sicher sagen. Dass bei Vulvitis oder Kolpitis Keime vor allem per urethram in die Harnblase gelangen und später in die Niere, ergaben systematische Keimkontrollen im Scheidensekret und im Harn. Scheidensekret und Blasenharn enthielten die gleichen Erreger. In der Schwangerschaft wurden urethrale Keimaszensionen bei Kolpitis besonders häufig gefunden. Ab 1975 hatten Infektionen des Urogenitaltraktes durch Chlamydia trachomatis, Mycoplasma species und Ureaplasma urealyticum an Bedeutung gewonnen. Die Besiedlung mit Chlamydia trachomatis wurde als eine der Ursachen des Urethralsyndroms erkannt.
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Kapitel 7 · Urogynäkologie
Die topische Östrogenisierung bei urogenitaler Atrophie und damit der Prävention des Harnweginfektrezidivs gilt allgemein als die Erkenntnis der letzten 2 Jahrzehnte in der Urogynäkologie.
Urogynäkologische Funktionsdiagnostik Bakteriologische Fragen
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Mit der Entwicklung der Bakteriologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erhält die Erforschung der Ursachen von Krankheiten neue Impulse. Einzelne Infektionskrankheiten waren zwar seit langem bekannt. Erst mit verbesserter mikroskopischer Technik (Ernst Abbe, 1872) war ihre weitere Erforschung möglich. Eine bessere mikroskopische Untersuchungstechnik stand Ignaz Philipp Semmelweis (1818-1865) noch nicht zur Verfügung, als er 1847 auf empirischem Wege die Ursache des Kindbettfiebers erahnte. Seine Lehre machte deutlich, dass diese Krankheit eine Wundinfektion ist. Denn der puerperale Uterus entspricht einer Wunde, von der aus eine Infektion den gesamten Organismus befällt. Dass Bakterien zur puerperalen Sepsis führen, konnte Semmelweis, wie angedeutet, noch nicht wissen. Den Beweis lieferte letztlich Albert Döderlein (1860-1941) mit seinen grundlegenden Untersuchungen des Scheidensekrets. Döderlein stellte 1892 fest, dass Schwangere mit pathologischem Vaginalsekret stärker gefährdet sind als bei normalem Befund. Streptokokken und Staphylokokken wurden als »Puerperalfieberkeime« erkannt. Diese Ergebnisse führten später zu der Erkenntnis, dass urethrale Keimaszension bei pathologischem Scheidensekret besonders häufig ist. Bei Harnwegsinfektionen durch Kolpitis wurden im Urin die gleichen Keime gefunden wie im Vaginalsekret. Dies war das Resultat späterer systematischer Untersuchungen. Intensiver als früher beschäftigte man sich nach 1945 mit der postoperativen Pyelonephritis und Zystitis. Beide wurden als häufigste Komplikation nach gynäkologischen Eingriffen nicht immer beherrscht. Pyelonephritiden mit Übergang zur Schrumpfniere verschlechterten die Prognose, im Besonderen nach Operation des Uteruskarzinoms. H. Kraatz und Mitarbeiter schrieben 1965: »Die Sorge um die Nieren der Radikaloperierten soll deshalb eine ebenso große sein, wie die Sorge um das Rezidiv.« Viele Untersuchungen führten zu dem Ergebnis, dass vor allem vier Faktoren diese postoperative Komplikation begünstigen: die Harnabflussstörung, frühere Harnweginfektionen, intraoperativ entstandene Läsionen an Harnleiter und Harnblase sowie der Dauerkatheter bei einer Liegedauer von mehr als vier Tagen. Der Infektionsprophylaxe nach gynäkologischen Operationen dient, wenn künstliche Harnableitung unerlässlich ist, ein Tropf-, Pump- und Saugsystem. Damit lassen sich infektionsfördernde Manipulationen am Katheterende während der postoperativen Harnableitung weitgehend vermeiden. Neben der medikamentösen Prophylaxe ist auch die suprapubische Blasendrainage vorgeschlagen worden, um die Frequenz postoperativer Harnweginfektionen zu reduzieren.
Zystoskopie Der lange gehegte Wunsch, das Innere von Hohlorganen darzustellen, schien sich 1807 zu erfüllen. In diesem Jahr stellte der Frankfurter Arzt Philipp Bozzini (1773-1809) seinen »Lichtleiter« vor. Bei diesem Gerät handelte es sich um ein gefenstertes Rohr, in dem sich ein
187 Urogynäkologische Funktionsdiagnostik
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Hohlspiegel und eine Kerze befanden. Mit Hilfe eines spekulumartigen Instruments, durch das Licht strahlte, wurde die Inspektion der Harnblase versucht. Infolge unzureichender Lichtstärke und fehlendem optischem System war eine Beurteilung des Inneren der Blase kaum möglich. Dies galt auch für spätere Konstruktionen von P. S. Segalas (1826), A. J. Desormeaux (1852) und J. Grünfeld (1874). Der eigentliche Geburtstag des Blasenspiegels ist der 9. März 1879. An diesem Tag stellte Max Nitze (1848-1906) der Gesellschaft der Ärzte in Wien sein »Kystoskop« vor. Trotz großer technischer Schwierigkeiten war es ihm gelungen, die Lichtquelle in das Innere der Harnblase zu verlegen. Mit Hilfe eines entsprechenden optischen Systems konnte die Blasenwand inspiziert werden. Der Gynäkologe Walter Stoeckel (1871-1961), der die Entwicklung der Zystoskopie entscheidend gefördert hat, beschrieb die Situation sehr treffend: »Natürlich hatte er (NITZE) Vorläufer gehabt, die an der Lösung des Problems mit unvollkommenen Mitteln sich abmühten…Aber das Wesentliche ist die Tat NITZES und wird es für alle Zeiten bleiben«. Auch für die gynäkologische Urologie bedeutete die Zystoskopie eine erhebliche Verbesserung der Diagnostik. In dem Bemühen, die funktionelle Diagnostik von Harnleiter und Niere zu verbessern, wurden Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts Farbstoffe untersucht. So galt es, urethrale und renale Funktionsstörungen durch Krankheiten des weiblichen Genitales ebenfalls frühzeitig zu erkennen und, soweit möglich, zu behandeln. Heute sind Zystoskopie und Chromozystoskopie aus dem urogynäkologischen Armamentarium nicht mehr wegzudenken, weder prae- intra- noch postoperativ.
Harninkontinenz und urodynamische Verfahren Die Harninkontinenz der Frau hat die Ärzte zu allen Zeiten intensiv beschäftigt. Als Ursache der Inkontinenz standen bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts geburtsbedingte BlasenScheiden-Fisteln im Vordergrund des Interesses. Die Erfolge der Behandlung waren noch Mitte des 19. Jahrhunderts sehr bescheiden. Mit spezieller Operationstechnik erzielten nach 1850 Atoine Joseph Jobert de Lamballe (1799-1867), James Marion Sims (1813-1883), Gustav Simon (1824-1876), Heinrich Fritsch (1844-1915), Friedrich Trendelenburg (1844-1924) und Alwin Mackenrodt (1859-1925) beachtliche Ergebnisse. Die Belastungs-(»Stress«-)Inkontinenz der Frau (urethrale Inkontinenz, funktionelle Harninkontinenz) hat zu allen Zeiten besondere Aufmerksamkeit beansprucht. Vor der Einführung endoskopischer röntgenologischer und urodynamischer Untersuchungen waren die diagnostischen Möglichkeiten begrenzt, die Therapie dieses Leidens unbefriedigend. Mit der Urethrozystographie konnten die bei Belastungs-(»Stress«-)Inkontinenz häufigen Lageveränderungen von Harnröhre, Blasenhals und Blasenboden festgestellt werden. Dies bedeutete auch bessere Bedingungen für die Behandlung. Mit Hilfe neuerer Untersuchungsmethoden kamen vor allem W. Langreder (1956), L. Beck (1968/69), E. A. Tanagho (1971) sowie J. A. Hutch (1972) zu dem Ergebnis, dass die gesamte Harnröhre den Blasenverschluss gewährleistet. Alle Gewebsschichten und das die Urethra umgebende Gewebe sind daran beteiligt. Untersuchungen mit der Phasen-Sphinktero-Zystometrie ergaben eine unterschiedliche Funktion von Blasenverschlussapparat und Detrusor vesicae. Die Ergebnisse ließen erkennen, dass sich Inkontinenzerscheinungen in der prämenstruellen Phase verstärken und post menstruationem geringer werden können. Urodynamische und videozystourethographische Untersuchungen haben Diagnostik und Differenzialdiagnose ganz erheblich verbessert. Als besonders wichtige urodynamische Un-
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Kapitel 7 · Urogynäkologie
tersuchung erwies sich die Zystometrie. Neben dem Nachweis von Funktionsstörungen des Detrusor vesicae erleichtert sie auch die Diagnose kombinierter Inkontinenzformen. Die Zystometrie ist seit 1876, als Dubois die erste grundlegende Arbeit über den Druck in der Harnblase veröffentlicht hatte, ständig weiterentwickelt worden von Rehfisch (1897), Frankl-Hochwart und Zuckerkandl (1898), O. Schwarz (1920), v. Garrelts (1957), Hodgkinson und Cobert (1960). Mit der Spinkterometrie wurde der Druck festgestellt, unter dem sich der Harnblasenverschluss öffnet. Druckwerte unter 50 mmHg deuteten auf ungenügenden Verschluss hin. Die Elektromyographie erwies sich als nützlich für die Diagnose möglicher neuromuskulärer Schädigungen des Blasenverschlussapparates. Mit der Harnflussmessung konnte zusammen mit Anamnese und klinischem Befund geklärt werden, wann eingehendere urodynamische Untersuchungen indiziert sind. Sehr wichtige Hinweise auf Insuffizienz des Blasenverschlusssystems gibt die gleichzeitige Druckmessung in Harnröhre und Harnblase. Bewährt haben sich die Mikrotransducermethode nach Asmussen-Ulmsten und das Perfusionsverfahren nach Beck-Heidenreich. Zur Klärung, ob der Blasenverschluss insuffizient ist, trug zusätzlich die Bestimmung des Urethradruckprofils bei. So erhielt der »urodynamische Messplatz«, vor allem im klinischen Bereich, eine ganz besondere Bedeutung. Er ermöglichte neben den urodynamischen Untersuchungen eine Urethrozystographie sowie eine Urethrozystoskopie. Die Urethrozystographie wurde wertvoll für Hinweise auf Lageveränderungen von Harnröhre, Blasenhals und Blasenboden. Mit der Urethrozystoskopie waren entzündliche oder ulzeröse Veränderungen auszuschließen, die mitunter zu unwillkürlichem Harnabgang führen. Urodynamische Untersuchungen, Urethrozystographie sowie Röntgenkinematographie – heute auch die Sonographie – erweisen sich als einander ergänzende, nicht als konkurrierende Verfahren.
Bildgebende Diagnostik Untersuchungen über Funktionsstörungen der Harnorgane durch Krankheiten des weiblichen Genitales konzentrierten sich bis 1945 vor allem auf die Harnblase. Dies ist vielen Publikationen und auch den Darlegungen in den Lehrbüchern der Gynäkologie zu entnehmen. Auf ureterale und renale Funktionseinschränkungen war, bis auf die bekannten Befunde beim Kollumkarzinom, kaum untersucht worden. Nach 1945 ließ sich am Beispiel des Deszensus der vorderen Vaginalwand mit Zystozele zeigen, welch gravierende Veränderungen von Harnleiter und Niere, wie Hydroureter, Harnstauungsniere und Hydronephrose auftreten können. Infusionsurographie und nuklearmedizinische Verfahren und auch die Sonographie haben den Nachweis dieser Veränderungen wesentlich erleichtert. Als Ursache von Hydroureter, Harnstauungsniere und Hydronephrose durch Krankheiten des Genitales sind folgende Faktoren diskutiert worden: Kompression des Harnleiters, Lageveränderungen der vorderen Scheidenwand mit Harnblasenhals und Blasenboden, vesikoureteraler Reflux, Harnweginfektion als Folge eingeschränkter Detrusorleistung bei Zystozele oder subvesikalem Uterusmyom sowie die ureterale Entleerungsstörung, vor allem bei Entzündungen des Genitales. Nach gynäkologischen Operationen wurde das Zustandekommen von Harnstauungsnieren begünstigt durch Infektionen, die sich vom Vaginalstumpf zum
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Retroperitonealraum ausbreiteten. Aus den Ergebnissen neuerer Untersuchungen war zu folgern, dass der präoperative Befund von Niere und Harnleiter bei Krankheiten des weiblichen Genitales bekannt sein muss. Denn zum einen dient er der Prophylaxe des postoperativen Nierenversagens und der Urogenitalfisteln, zum anderen ist er aus forensischen Gründen notwendig. Besondere Verdienste um die Röntgendiagnostik der Harninkontinenz erwarb sich Felix von Mikulicz-Radecki (1892-1966), Universitäts-Frauenklinik Berlin. In seinem Referat auf der 9. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Urologie 1929 zu Klinik und Therapie der Harninkontinenz der Frau berichtete er über erste Ergebnisse seiner röntgenologischen Studien. Dabei beschrieb er als spezielle radiologische Befunde der »urethralen Inkontinenz« die Ausbildung eines Blasenhalses sowie einen weiten Abstand der Harnröhre von der Symphyse, besonders in ihrem mittleren Drittel. Die Ergebnisse der röntgenologischen Untersuchungen waren Anlass, das therapeutische Vorgehen bei Belastungs-(»Stress«-)Inkontinenz zu überprüfen: v. Mikulicz-Radecki betonte, dass die Behandlung dem Befund der einzelnen Patientin anzupassen ist. Wurde eine operative Therapie erwogen, empfahl sich für weniger komplizierte Fälle die direkte Muskelplastik nach Stoeckel. Dies galt für kleinere Risse in der Muskulatur des Blasenverschlussapparates, bei Urethrozele und Deszensus vaginae. Bei schwerem Schaden des Verschlusssystems mit erheblichen Adhäsionen zwischen Harnröhre, Harnblase und Symphyse wurde als Zusatzoperation die Pyramidalisplastik nach Goebell-Stoeckel vorgeschlagen. Als weiteren zusätzlichen Eingriff nannte Felix v. Mikulicz-Radecki die Interpositio vesico-vaginalis uteri nach Wertheim und Schauta. Nach 1970 wurde die prä- und postoperative Diagnostik durch Sonographie, Infusionsurographie und nuklear-medizinische Verfahren erweitert. Die Sonographie diente vor 1945 zunächst nur der Werkstoff-(Material-)Prüfung. Danach begannen Versuche, den Ultraschall auch in der Medizin einzusetzen. Auf gynäkologisch-geburtshilflichem Gebiet hatte Ian Donald, Glasgow, seit 1955 Pionierarbeit geleistet. Er begann seine Untersuchungen bei Myomen und Ovarialtumoren und führte 1957 Sonographien auch bei Schwangeren durch. 1961 wiesen Schlegel und Mitarbeiter intraoperativ Nierensteine nach. Vor bioptischen Untersuchungen lokalisierte Berlyne mit Hilfe der Sonographie die Niere. Die Sonographie ist heute soweit entwickelt, dass sie in der Gravidität ohne Gefährdung von Mutter und Kind mehrmals vorgenommen werden kann (⊡ Abb. 7.4). In der gynäkologischen Urologie und Nephrologie wird sie herangezogen bei Verdacht auf Fehlbildungen der Niere, bei Schwangerschaft nach Nierentransplantation sowie bei Verdacht auf Harnstein in der Gravidität. Kontrastmittelallergie und Verdacht auf Harnstauungsniere durch Krankheiten des Genitales sind weitere Indikationen für eine Ultraschalluntersuchung. Mit der Sonographie prüften 1973/1974 J. W. Wladimiroff und S. Campell erstmals die fetale Harnproduktion und 1980 G. Bernaschek und A. Kratochwil das Wachstum der fetalen Niere in der zweiten Schwangerschaftshälfte. Neben Sonographie und Infusionsurographie haben nuklearmedizinische Verfahren (Isotopennephrographie, Sequenz- und Funktionsszintigraphie) die prä- und postoperative Diagnostik bereichert. Die Isotopennephrographie wurde 1956 von K. Kimbel beschrieben, unabhängig von ihm durch G. V. Taplin experimentell begründet und von C. C. Winter in die Klinik eingeführt. Die Kernspintomographie erfuhr seit der Entdeckung dieses bildgebenden Prinzips (1973) viele Veränderungen. Auch in der Darstellung des Beckenbodens hat dieses Verfahren
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Kapitel 7 · Urogynäkologie
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⊡ Abb. 7.4. Empfehlungen zur sonographischen urogynäkologischen Diagnostik des Beckenbodens und der Nachbarorgane (B=Blase, U=Urethra, BN=Blasenhals, PB=Schambein, V=Vagina, R=Rektum, A=Analregion, EMS=externer analer Sphinkter, TVT=spannungsfreie Vaginalschlinge)
Eingang in die Klinik gefunden, wiewohl sie derzeit unter dem Aspekt der Kosten hauptsächlich für wissenschaftliche Aspekte eingesetzt wird.
Zytodiagnostik Die gynäkologische Zytodiagnostik, die George Nicholas Papanicolaou (1883-1962) begründete, hat auch die Arbeit auf dem gynäkologisch-urologischen Grenzgebiet beeinflusst. Dies gilt sowohl für die funktionelle Diagnostik als auch für die Karzinomzytologie. Die 1951 begonnenen Forschungen ergaben, dass Östrogene und Gestagene auch extragenital wirken. An den Harnorganen wurde ihr Einfluss besonders deutlich am Epithel von Harnröhre und Blasendreieck. Im atrophischen Epithel der Harnröhre, so bei der Urethritis der älteren Frau, bewirkte die Zufuhr von Östrogen eine Proliferation.
Neue Entwicklungen in der urogynäkologischen Funktionsdiagnostik und Ausblick Neu in der Diagnostik der Harninkontinenz ist das Interesse am routinierten Einsatz des Ultraschall, insbesondere der 3D-Sonographie, was nahe liegt, wenn man die diagnostischen Möglichkeiten in der Pränataldiagnostik sieht, einerseits. Andererseits lebt die bisher genutzte
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2D-Sonographie von der dynamischen Beckenboden-/Blasenhalsbeurteilung und von der guten Auflösung und Erfahrung in der Beurteilung der Urethra und des periurethralen Gewebes. Die postoperative Beurteilung des periurethralen Gewebes hat eine neue diagnostische Dimension eröffnet, da postoperative Komplikationen bzw. Therapieversager nicht mehr als schicksalhaft hingenommen werden müssen, sondern oft durch sonomorphologische Pathologien (z. B. urethrale Bandlagen) erklärlich und Korrekturansätze vermittelt werden. Neben der topographischen Zuordnung von Bandmaterialien konnte mittlerweile gezeigt werden, dass im dynamischen Bild (z. B. beim Pressen) sich die in Ruhe unauffällig darstellende Bandtopographie im Verhältnis zur Urethra wesentlich verschieben kann und bestehende Funktionsstörungen erklärt.
Operative Urogynäkologie Mit der Entwicklung der operativen Gynäkologie (W. A. Freund 1833-1917, R. Olshausen 1835-1915, A. Hegar 1830-1914, V. von Czerny 1842-1916, A. Mackenrodt 1859-1925, C. Schröder 1838-1887, E. Wertheim 1864-1910, G. Simon 1824-1876) wurde die Frage der Verletzungen der Nachbarorgane aktuell. Bei der Therapie der Harninkontinenz der Frau haben operative Verfahren ab dem späten 19.Jahrhundert eine immer größere Bedeutung gewonnen. Seitdem häufen sich Veröffentlichungen über die verschiedenartigsten Operationsmethoden sowie Infektionstherapien; diejenigen, die sich als erfolgreich erwiesen, wurden weiterentwickelt und perfektioniert. Der größte Teil der von Stressinkontinenz betroffenen Frauen muss operativ behandelt werden. Mit konservativen Verfahren sind Dauerheilungen nur selten zu erreichen, und auch nur dann möglich, wenn eine geringgradige Insuffizienz des Harnblasenverschlussapparates vorliegt. Erst seit ca. 1878 finden sich Berichte über operative Therapiemöglichkeiten. Vorher konnte man den an Inkontinenz leidenden Frauen kaum helfen. Viele Vorschläge galten dem Schutz von Harnblase und Harnleiter. So empfahl J. von Massari 1878 den Ureter durch stumpfe Präparation freizulegen und mit einer Schlinge zu markieren. K. Pawlik (1890) platzierte einen Harnleiterkatheter, um die Gefahr der Traumatisierung zu verringern. Dieses Verfahren schützte jedoch nicht immer vor partieller oder totaler Läsion des Harnleiters. Zudem schädigte der intraoperativ liegende Ureterkatheter die Schleimhaut des Harnleiters. Lange ist darüber diskutiert worden, ob die Harnblase stumpf oder scharf von der Gebärmutter abgelöst werden soll. Offenbar setzte sich die scharfe Präparation mit Hilfe kleiner Scherenschläge, vor allem bei Adhäsionen, nur langsam durch. Die Gefahr, die Blase zu eröffnen, hat sich mit dieser Methode ohne Zweifel als geringer erwiesen als bei stumpfer Präparation. Bei schwerem Defekt der Harnröhre galt die von Heinrich Màrtius (1885-1965) angegebene Bulbokavernosusfettlappenplastik als aussichtsreich. Für leichtere Formen der urethralen Inkontinenz empfahl E. Picard, Berlin 1929, die von Glingar und Thelen 1924 erstmals erprobte endovesikale Elektrokoagulation. Die Indikation zu diesem Eingriff wurde vor allem vom Ergebnis der Zystoskopie abhängig gemacht. Bei horizontalem sowie bei konvexem Verlauf des unteren Blasenhalsrandes sollten Koagulationen in mehreren Sitzungen vorgenommen werden. Die Ergebnisse mit diesem Eingriff sind bei richtiger Indikation als befriedigend beschrieben worden.
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Die weiteren Forschungen und Studien auf dem gynäkologisch-urologischen Grenzgebiet kamen nach 1945 zunächst nur langsam in Gang. Für einen neuen Anfang war die 3-bändige Gynäkologische Urologie von Walter Stoeckel nach wie vor das führende Werk. Seine hervorragenden Darlegungen aller gynäkologisch-urologischer Fragen, verbunden mit einem ausgezeichneten Bildmaterial und einer umfassenden Literatur, ermöglichten die Fortsetzung der Arbeit auf diesem Gebiet. Stoeckel, seit 1926 Direktor der Universitäts-Frauenklinik Berlin, wurde 1950 als 79-Jähriger entpflichtet. Im deutschsprachigen Raum ist es Karl Burger (1893-1962), von 1946-1958 Direktor der Universitäts-Frauenklinik Würzburg, zu verdanken, dass die gynäkologische Urologie als Arbeits- und Forschungsgebiet 1950 im Sinne Stoeckels weitergeführt und neu gestaltet werden konnte. Nach Burgers Vorstellungen sollte ein Urologe an seiner Klinik eine Abteilung für endoskopische, röntgenologische und klinische Diagnostik einrichten. Burger erwartete, dass dieser Urologe bereit war, auch eine gynäkologischgeburtshilfliche Ausbildung zu absolvieren. Da H. Kremling seine Bedingungen erfüllte, übertrug er ihm diese Funktion am 01.12.1950. Sehr wichtige Arbeiten auf dem gynäkologisch-urologischen Grenzgebiet, im besonderen zur Diagnostik und Therapie der Belastungs-(»Stress«-)Inkontinenz, veröffentlichten zwischen 1950 und 1960 T. N. A. Jeffcoate und H. Roberts, Universität Liverpool, A. IngelmanSundberg, Universität Stockholm, H. Hartl und G. Oehlert, Universität Göttingen, A. H. Palmrich, I. Universitäts-Frauenklinik Wien, E. Gitsch und F. Brandstetter, II. UniversitätsFrauenklinik Wien und G. Döderlein, Universität Jena.
Operationsmethoden bei Belastungs-(»Stress«-)Inkontinenz In der Behandlung der Stressinkontinenz setzte sich individuelles Vorgehen immer mehr durch. Bei geringgradiger Inkontinenz wurde zur Verbesserung des Tonus der Muskulatur eine Übungsbehandlung empfohlen. Arzt und Krankengymnastin hatten vor Beginn der Therapie die Aufgabe, die Patientin genau zu unterweisen. Für die medikamentöse Behandlung standen erstmals Cholinesterasehemmstoffe und Östriol zur Verfügung. Elektrische Stimulation des Blasenverschlusses sowie endourethrale Tefloninjektionen ergänzten die genannten Maßnahmen. Für die operative Therapie wurden neue abdominale und abdomino-vaginale Verfahren entwickelt. Dies ist durch die Erkenntnis gefördert worden, dass mit vaginalen Eingriffen (H. A. Kelly 1913, W. Stoeckel 1921, W. T. Kennedy 1937, K. Richter 1971) der Blasenhals nicht immer in eine »hohe retropubische Position« gebracht werden konnte. Hochgradige Verlagerung von Blasenhals und proximalem Harnröhrenabschnitt unter Belastung war ein wesentlicher Faktor, der ein Inkontinenz-Rezidiv begünstigte. Erneute Inkontinenz konnte bei einem solchen Befund eher durch eine abdominale oder abdomino-vaginale Operation vermieden werden als mit einem vaginalen Eingriff. Die 1942 von A. H. Aldridge und 1944 von W.E. Studdiford angegebenen abdominalen Operationsmethoden wurden später auch im mitteleuropäischen Bereich durchgeführt. A. H. Aldridge präparierte nach suprapubischem Querschnitt einen gestielten Faszienlappen aus der Externusaponeurose. W. E. Studdiford bildete nach unterem Medianschnitt eine Faszienschlinge aus der Rektusaponeurose. Mit dem von V. F. Marshall, A. A. Marchetti und K. E. Krantz 1949 angegebenen Verfahren kann der Blasenhals ebenfalls angehoben und die hintere Harnröhre verengt werden. Diese Operationsmethode ist später wiederholt modifiziert worden. Im Unterschied zur Originalmethode fixierte J. C. Burch (1968) die Scheidenfaszie nicht an der Symphyse, sondern
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an den Cooper’schen Ligg. pectinealia. Dadurch ließ sich die zwar seltene, aber meist länger bestehende Periostitis ossis pubis verhindern. Da die Fascia vaginalis jedoch nicht immer bis an die Cooper’schen Bänder eleviert werden kann, empfahl H. A. Hirsch 1979 ihre Befestigung am mediokranialen Rand der den M. obturatorius internus bedeckenden Faszie und dem darunter liegenden Muskel. Sowohl die Originalmethode dieses operativen Verfahrens als auch seine Modifikationen haben viele Anhänger gefunden. Die urethrovesikale Suspension nach A. J. Pereyra und T. B. Lebherz (1967) sowie ihre Modifikation durch T. A. Stamey, A. J. Schaeffer und M. Condy (1975) ist dagegen weniger verbreitet als die obengenannten Operationsmethoden. Bei besonders schweren Inkontinenzformen sowie bei rezidivierender Belastungs(»Stress«-)Inkontinenz werden seit 1960 vermehrt Schlingenoperationen vorgenommen. Die von R. Goebell (1910) und W. Stoeckel (1917) angegebenen Verfahren mit Muskel-Faszienstreifen und ihre Modifikationen (Aldridge 1942, Studdiford 1944, Narik-Palmrich 1965) werden heute seltener als früher durchgeführt. Durch Anwendung von homöoplastischem Material (lyophilisierte Dura mater) 1972 und 1974 sowie von alloplastischem Material (Mersilene) (Moir 1968, Nylon), (Zoedler 1970) konnte die Technik der Schlingenoperation vereinfacht werden. Bei Schlingenoperationen bleibt im Unterschied zum Verfahren nach Marschall-Marchetti-Krantz und seinen Modifikationen eine gewisse Mobilität von Blasenhals und hinterer Harnröhre erhalten. Selbst bei enger und narbiger Vagina ist eine Schlingenoperation noch möglich. Die Pubokokzygeusplastik nach A. Ingelman-Sundberg (1949) und R. Franz (1954) hat wegen des meist größeren Blutverlusts weniger Anhänger gefunden als die Zystourethropexie und die zuvor beschriebenen Schlingenoperationen. Die retropubische Vesikourethrolyse (A. Iingelman-Sundberg 1949, J. H. Mulvany 1951) war nach den Vorstellungen der genannten Autoren nur bei Inkontinenz durch narbige Veränderungen im Bereich von hinterer Harnröhre und Blasenhals indiziert. Die Kombination von Scheidenplastik und vaginaler Hysterektomie hatte die Ergebnisse nicht verbessert.
Neue Operationsmethoden bei Belastungsinkontinenz und Ausblick Die Einlage von Polypropylenebändern unter die mittlere Harnröhre hat zu einem Paradigmenwechsel in der Inkontinenzchirurgie geführt. Die TVT-Methode (tension-free vaginal tape) ist die z. Z. am häufigsten durchgeführte Operation zur Behandlung der Belastungsinkontinenz im deutschsprachigen Raum (⊡ Abb. 7.5). Nur für das TVT-Verfahren nach Ulmsten liegen Langzeitdaten über 12 Jahre sowie Komplikationsregister, Daten über die Wirksamkeit bei hypotoner Urethra und KostenNutzenanalysen vor. Die Erfolgsraten für die retropubische TVT-Einlage rangieren zwischen 84% und 95%. Im Langzeit-Follow-up werden Heilungsraten von 73-81% nach 5-6 Jahren angegeben. Die Ergebnisse sind für die Mischinkontinenz schlechter als für die reine Belastungsinkontinenz. Der Grund für die Entwicklung der transobturatorischen Verfahren war, dass es bei der retropubischen Implantation zu Blasenverletzungen und zu Nachblutungen kommen kann. Es liegen mittlerweile zahlreiche randomisierte Studien bezüglich TVT/TOT oder TVT-O vor. Die objektiven Erfolgsraten (2-12 Monate) variieren zwischen 84% und 100% für das TVT und zwischen 86% und 98% für TVT-O und TOT. Blasenverletzungen und Blasenent-
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⊡ Abb. 7.5. Darstellung des klassischen TVT-(tension-free vaginal tape) Verfahrens
leerungsstörungen treten nach TVT etwas häufiger auf. Allerdings finden sich nach TOT/ TVT-O häufiger Schmerzen in der Hüfte und Leiste und Mesh-Arrosionen. Neueste Entwicklungen verfolgen den Einsatz von ganz wenig Fremdmaterial (MiniSchlingen) und neue Fixationsverfahren (Verankerung), deren Ergebnisse insbesondere in der Langzeitanalyse noch zu erbringen sind.
Prolapschirurgie Die Korrektur von Defekten des weiblichen Beckenbodens hat genauso eine lange Tradition wie die Inkontinenzchirurgie. Über viele Jahrzehnte wurden »Gesamtkonzepte« beschrieben und empfohlen, welche häufig eher persönliche ästhetische Vorstellungen von der idealen vaginalen Anatomie befriedigten, als die Beschwerden der Patientin berücksichtigten. Ziel der rekonstruktiven Beckenbodenchirurgie war früher die Wiederherstellung der normalen Topographie, heute mehr die Restoration der Funktionalität von Darm, Blase und Sexualität. Heute gilt generell, dass eine Methode so lange als experimentell betrachtet wird, bis ihre Effektivität, Sicherheit, Verträglichkeit und Haltbarkeit nachgewiesen ist. Die klassische Korrektur des zentralen vorderen Defektes wird durch die Kolporrhaphia anterior (s. auch Inkontinenzeingriffe), herkömmlich als vordere Plastik, erzielt. Sie stellt nach wie vor die rekonstruktive Maßnahme einer derartigen Defektlokalisation dar. Zum Un-
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terschied jedoch von früheren Applikationen, wo dieses Verfahren als häufigste Inkontinenzoperation (62,5% 1995) eingesetzt wurde, gilt es heute als erwiesen, dass bei bei zusätzlicher Belastungsinkontinenz ein zusätzliches Inkontinenzverfahren notwendig ist. Betrachtet man Standardverfahren der rekonstruktiven Beckenbodenchirurgie im mittleren Kompartiment, so stehen hier abdominale und vaginale Verfahren zur Verfügung. Die Vaginae fixatiosacrospinalis von Amreich-Richter (auch Amreich-II-Technik) vielfältig beschrieben, geht auf die 40er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts zurück und gilt heute nach wie vor als eines der Standardverfahren der Prolapschirurgie. Daneben existieren Techniken von paravaginaler Kolpopexie bis hin zu den resektiven Verfahren der Kolpektomie oder der okklusiven Verfahren der Kolpokleisis. Abdominal stehen die paravaginale Kolpopexie, die abdominale Sacrokolpopexie, die abdominale sakrospinale Fixation, die Hysterosakropexie und auch endoskopische Techniken zur Verfügung. In den 70er- und 80er-Jahren wurden ausgeklügelte vaginale und abdominale Gesamtkonzepte entwickelt, welche häufig und komplex (z. T. von ihren Erstbeschreibern) modifiziert wurden und sich nie flächendeckend durchsetzen konnten.
Neue Entwicklungen der Prolapschirurgie und Ausblick Beflügelt durch den Siegeszug der spannungsfreien Vaginalschlingen zur Behandlung der Harninkontinenz haben in den letzten Jahren Patches, Meshes und Grafts breiten Einzug in die Deszensuschirurgie gehalten, ohne dass bisher eindeutige Daten zu ihrer Effektivität und möglichen Komplikationen vorliegen würden (⊡ Abb. 7.6). Die Einschätzung des Stellenwertes reicht vom routinemäßigen Einsatz beim Primäreingriff bis zur völligen Ablehnung alloplastischer Netze. Die Verwendung von Fremdmaterialien sollte dem mehrfachen Rezidiv oder dem, bei Risikofaktoren vorhersehbar hohen Rezidivrisiko vorbehalten bleiben und bedarf bei großzügiger Indikationsstellung einer subtilen Aufklärung über die möglichen erheblichen Nebenwirkungen und Komplikationen. Entsprechend der Mesh-Klassifikation nach Amid (1997) wissen wir heute, dass dem Typ 1 makroporösen Netz (Porengröße >75 μ) anderen Netztypen, insbesondere mikroporösen und/oder multifilamentären Materialien, der Vorzug zu geben ist. Neuerdings werden auch biologische Netzmaterialien eingesetzt, deren Wertigkeit sich im klinischen Alltag noch zu beweisen haben. Im Lichte dieser Innovationen, die als experimentell anzusehen sind, weil sie den Anspruch dessen, was eingangs unter Standard beschrieben wurde, noch nicht erfüllen, steht aber auch die Konfrontation mit neuen Komplikationen, die wir bislang mit herkömmlichen Techniken nicht gekannt haben. Akute Infektionen sind sehr selten, aber möglich. Vaginale Netzexpositionen sind in den einzelnen Arbeitsgruppen in bis zu 26% beschrieben worden, gleichsam wie die symptomatische Schrumpfung von alloplastischen Materialien als Sekundäreffekt nach Netzeinlage, die in bis zu 38% zur Dyspareunien und Schmerzen führen können. Eine auf die Symptomatik ausgerichtete chirurgische Strategie ohne prophylaktische Zusatzeingriffe oder z. B. häufig unnötige Hysterektomien scheint sich durchzusetzen, wobei es zusätzlicher Anforderungen an die präoperative Aufklärung bedarf, auf grundsätzlich mögliche Funktionsstörungen hinzuweisen (Crafoord u. Mitarb. 2006). Das Spektrum der operativen Therapie ist extrem weit, beginnend bei den noch immer durchgeführten verschließenden Operationen, extensiven vaginalen Rekonstruktionen mit
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⊡ Abb. 7.6. Einsatz von Netzmaterial zur Beckenbodenrekonstruktion
und ohne alloplastische oder biologische Netze oder Patches, abdominale Kolposakropexien bis zu endoskopischen Strategien.
Zusammenfassung und Ausblick Die Aufgaben der Urogynäkologie haben sich in den weit über 100 Jahren ihres Bestehens – bedingt durch den Wandel der Krankheitsbilder, durch Fortschritte in der Diagnostik und Therapie, vor allem aber durch die ständige Weiterentwicklung ihrer Mutterdisziplinen, der Gynäkologie und Urologie – mehrfach verändert. Ursprünglich standen die geburtshilflichen Harnfisteln im Mittelpunkt, dann machte die operative Gynäkologie Bekanntschaft mit den Harnorganen. Die Pioniere unseres Grenzgebietes waren somit meist Geburtshelfer und Gynäkologen, aber auch als bald Urologen, deren Schulen und Schüler auch heute noch in vielen Ländern wirksam sind. Ihnen verdanken wir fundamentale Teilergebnisse und Gesamtdarstellungen des Fachgebietes. An die Stelle der morphologischen Betrachtungsweise trat in zunehmendem Maße funktionelles Denken. Gerade die deutschsprachige Urogynäkologie hat stets internationale Akzente gesetzt, in der Diagnostik gleichsam wie in der Therapie unterschiedlicher urogynäkologischer Krankheitsbilder. Der historische Rückblick und die Entwicklung lassen erkennen, dass die großen gynäkologischen Operateure dem Gebiet der Urogynäkologie stets viel Augenmerk geschenkt haben. Einige Probleme des gynäkologisch-urologischen Grenzgebietes sind gelöst oder einer Lösung näher gebracht. Geburtsbedingte Uro-Genitalfisteln beobachten wir bei optimaler
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Schwangerenbetreuung und klinischer Entbindung heute kaum noch. Fisteln nach gynäkologischen Eingriffen sind weniger geworden, jedoch nicht vollkommen verschwunden. Mit der Entwicklung der gynäkologischen Zytodiagnostik konnte die Wirkung von Östrogenen und Gestagenen auch an Urethra und Harnblase erforscht werden. Urodynamische und sonographische Untersuchungsverfahren ermöglichen heute die exakte Diagnose der einzelnen Formen der Harninkontinenz und Defekten des Beckenbodens. Gerade hier haben deutschsprachige Urogynäkologen international akzeptierte Standards gesetzt. Mit der Entwicklung minimal-invasiver spannungsfreier Vaginalschlingen konnten in der Inkontinenzchirurgie dauerhaft und dem bislang goldenen Standard – der Kolposuspension – gleich hohe Erfolgsraten erreicht werden. Dies hatte in der Urogynäkologie eine bislang noch nie dagewesene Welle an neuen Produkten mit einem enormen Industrieaufkommen zur Folge. Gleiches gilt für die Beckenbodenchirurgie, wobei hier der Anspruch auf Standardverfahren im Rahmen von Studien noch zu erbringen sein wird. Die Arbeitsgemeinschaft für Urogynäkologie hat unter dem Dach der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Urologie interdisziplinäre Leitlinien zur Diagnostik und Behandlung der weiblichen Belastungsinkontinenz und zum Genitaldeszensus entwickelt. Kritischer als bisher sollte die Wahl des Verfahrens für die einzelne Patientin erfolgen (www.dggg.de). Schadensersatzklagen nach gynäkologischen Operationen haben im Besonderen auf dem Gebiet der gynäkologischen Urologie zugenommen. Dies wird den operativ Tätigen dazu zwingen, sich in Zukunft vermehrt mit forensischen Fragen auseinanderzusetzen. Mit der Breitenentwicklung der Frauenheilkunde und Verselbstständigung der Urologie wurden aber auch eine andere Aufgabenteilung und eine weitere Subspezialisierung erforderlich. Ältere Standardwerke wurden noch als »gynäkologischer Beitrag zur Urologie« oder Teilvertretung eines medizinischen Fachgebietes durch eine andere Disziplin« bezeichnet. Es kann heute nicht mehr von jedem Gynäkologen oder Urologen verlangt werden, dass er das ganze Grenzgebiet zwischen beiden Disziplinen übersieht. Vielmehr müssen neue Erkenntnisse der Gynäkologie und Urologie sowie der funktionellen Anatomie und andere Fachgebiete auf die subspezialisierten Erfordernisse ständig umgesetzt werden. Die Bekämpfung akuter Harnwegsinfektionen und Harnretentionen, Nierenversagen sowie Störungen im Wasser- und Elektrolythaushalt (einschließlich ihrer Diagnostik), die Notversorgung von Harnwegverletzungen und die Beurteilungen von Veränderungen an der Harnröhrenmündung müssen überall gewährleistet sein. Urogenitalfisteln und –missbildungen, Inkontinenzspezialdiagnostik und –therapie, Beckenbodenrekonstruktionen, chronische Restharnblasen, urologische Komplikationen bei gynäkologischen Karzinomen, urologische Besonderheiten bei der Schwangerschaft sowie größere Eingriffe im Urethrabereich werden dagegen in zunehmendem Maße Spezialisten gynäkologischer oder urologischer Provenienz überlassen. Eine Zeit lang wurde bewusst zwischen Deszensus- und Inkontinenzproblemen unterschieden. Heute weiß man durch die Integraltheorie von Petros und Ulmsten (1990), dass sie sich nicht voneinander trennen lassen. Inkontinenzoperationen sind oftmals gleichzeitig Deszensusoperationen und umgekehrt. Rekonstruktionen im kleinen Becken erfordern Spezialkenntnisse nicht nur der Organe, sondern auch der sie umgebenden Faszien- und Beckenbodenstrukturen. In den USA wurde deshalb bereits 1995 die Subspezialisierung Urogynäkologie und rekonstruktive Beckenchirurgie als viertes Standbein der Gynäkologie (neben der gynäkologischen Onkologie, Reproduktionsmedizin und Geburtshilfe) beschlossen. In Australien und einigen Ländern Europas ist dies ebenfalls erfolgt, in Deutschland leider noch nicht.
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Kapitel 7 · Urogynäkologie
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Die Pathophysiologie von Endometriose und Adenomyose. Morphologische, funktionelle und molekularbiologische Grundlagen Gerhard Leyendecker, Ludwig Wildt
204
Kapitel 8 · Die Pathophysiologie von Endometriose und Adenomyose
Einführung
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Ätiologie und Pathogenese der Endometriose sind seit ihrer Erstbeschreibung bis heute Gegenstand intensiver wissenschaftlicher Forschung. Die von John. A. Sampson (1921) entwickelte Theorie der intraperitonealen Dissemination von endometrialem Gewebe durch retrograde Menstruation stellt heute die vorherrschende Sicht der Pathophysiologie der Endometriose dar, wie sie auch von einflussreichen wissenschaftlichen Gesellschaften, wie der Amercain Society of Reproductive Medicine (ASRM) und der European Society of Human Reproduction (ESHRE) vertreten wird. Sampsons Theorie hatte de facto die Trennung von pelviner Endometriose und uteriner Adenomyose in verschiedene Krankheitsbilder ohne gemeinsame Pathophysiologie zur Folge. Ursache war zunächst der Tatbestand, dass das gemeinsame Vorkommen von pelviner Endometriose und uteriner Adenomyose, ein Faktum, das durch unzählige Eingriffe und histologische Aufarbeitung des Operationsmaterials führender Kliniker und Gynäkopathologen als absolut gesichert galt, nicht mit der Sampson’schen Theorie kompatibel war. Er behalf sich mit der Auffassung, dass die uterine Adenomyose, die er als »interne Endometriose« bezeichnete, die Folge von vaskulärer Transmission sei. Obwohl sich seine Terminologie schnell international einbürgerte, konnte sich die Theorie auf Grund schwerwiegender Gegenargumente anfänglich nur schwer durchsetzen. Eine deutliche Akzeptanz erlangte seine Theorie allerdings erst dann, als die Laparoskopie zunächst als diagnostische und sehr schnell auch als operative Behandlungsmethode eingeführt wurde. Dem Operateur präsentierten sich im Wesentlichen nur noch die peritonealen Herde, während sich der Uterus zwangsläufig einer genauen Analyse entzog. Damit war die Möglichkeit einer systematischen klinischen Fehlbeurteilung (clinical bias) gegeben. Während die altvorderen Lehrmeister unseres Faches wahrscheinlich nur schwerwiegende Fälle operierten und sich ihnen oft das Vollbild der Erkrankung bot, präsentierten sich nunmehr, z. B. im Rahmen einer Sterilitätsdiagnostik oder Abklärung von Schmerzzuständen, vermehrt Frühfälle. Hinzu kam eine unvollständige Sicht der Histomorphologie. Gängige Meinung war, dass die pelvine Endometriose im Wesentlichen nur aus endometrialen Drüsen und Stroma bestünde, während die Adenomyose zusätzlich und vorwiegend durch die fibromuskuläre Komponente charakterisiert sei, die, da sie auch bei der tief infiltrierenden Endometriose vorhanden ist, dort zwangsläufig als proliferative Reaktion des umgebenden Gewebes angesehen wurde. Dennoch blieben die Annahme einer getrennten Pathophysiologie von Endometriose und Adenomyose und somit Sampsons Theorie weiterhin umstritten. Sie gilt – früher wie heute – als nicht ausreichend abgesichert. Nichts verdeutlicht dies mehr als der Tatbestand, dass die in PubMed unter den Suchbegriffen Endometriose und Adenomyose aufgelisteten Publikation nahezu identisch sind. Bereits vor mehr als einer Dekade hatten wir in Übereinstimmung mit älteren Autoren die Auffassung vertreten, dass Endometriose und Adenomyose eine nosologische Einheit bilden und die Ursachen des gesamten Krankheitsbildes sehr eng mit den physiologischen Vorgängen der Fortpflanzung verbunden und primär im Uterus zu suchen sind. Die wesentlichen Vorgänge der Krankheitsentwicklung wurden in einer Gewebstraumatisierung mit nachfolgender verstärkter Entzündungsreaktion unter Einschluss spezifischer, jedoch physiologischer Mechanismen auf zellulärer, biochemischer und molekularbiologischer Ebene vermutet. Diese Auffassung konnte durch neue nosologische Erkenntnisse vertieft und ein Modell der Pathophysiologie von Endometriose und Adenomyose entwickelt werden, welches beide Krankheitsbilder wieder vereint. Dies geschah unter der Prämisse, dass sämtliche Phänotypen
205 Archimetra: Struktur und Funktion
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ektoper endometrialer Läsionen im Prinzip eine einheitliche Pathophysiolgie aufweisen und es keine grundsätzlich unterschiedlichen Entwicklungswege gibt. Diese Vorstellung schließt allerdings verschiedene Ätiologien, wie iatrogene, exogene und hereditäre Faktoren, die am Beginn des Krankheitsprozesses stehen können, nicht aus. Molekulargenetisch ist die Identifizierung hereditärer Faktoren entgegen früheren Erwartungen bisher nicht befriedigend gelungen. Möglicherweise sind diese, an deren Vorhandensein auf Grund einer Fülle von Daten nicht zu zweifeln ist, der eigentlichen Krankheitsentwicklung weit vorgelagert, so dass sich ein Zusammenhang nicht ohne weiteres erschließt. Das in diesem Beitrag vorgestellte pathophysiologische Konzept ist in vielerlei Hinsicht dem Umstand zu verdanken, dass der Uterus sich in vivo nicht mehr einer detaillierten Analyse entzieht, sondern durch noninvasive Untersuchungsmethoden, wie die Hysterosalpingoszintigraphie sowie durch bildgebende Verfahren, wie Sonographie und Magnetresonanztomographie, in Funktion und Struktur unter normalen Verhältnissen und bei krankhaften Veränderungen beurteilt werden kann. Die Fortschritte in der Molekularbiologie haben dazu beigetragen, dass Veränderungen auf zellulärer und biochemischer Ebene verstanden werden. Hierbei erwies es sich als außerordentlich hilfreich, nicht nur die molekularbiologischen Befunde bei Endometriose und Adenomyose, sondern auch bei anderen physiopathologischen Vorgängen zu betrachten. Eine Synopse eigener Befunde und der Ergebnisse anderer Autoren liegt dem vorliegenden Konzept zugrunde. Es ist, wie in der Wissenschaft erfreulicherweise üblich, nicht ohne spekulative Elemente.
Rolle des Uterus im Krankheitsprozess Mit seiner Funktion des gerichteten Samentransport ist der nichtschwangere Uterus während der reproduktiven Phase einer Frau mehr oder weniger andauernd kontraktil aktiv und daher, wie andere mechanisch aktiven Organe des Körpers auch, unvermeidbar mechanischen Belastungen ausgesetzt. Forschungen der letzten Jahre konnten die herausragende Bedeutung mechanischer Belastung für Struktur und Funktion unterschiedlicher Gewebe zeigen. Dabei stellte sich heraus, dass die in unterschiedlichen Geweben mit mechanischer Belastung, Gewebsverletzung und Heilung (tissue injury and repair, TIAR) einhergehenden molekularen Prozesse mit der Expression der 450 Aromatase und lokalen Produktion von Östrogenen einem einheitlichen Muster folgen. Allerdings unterscheiden sich die Folgen von TIAR in den jeweils betroffenen Geweben, wie z. B. bei Sehnen und Knorpeln des Bewegungsapparates oder der Intima des Gefäßsystems. Die lokale Produktion von Östrogenen im TIAR-Prozess ist von besonderer Bedeutung, wenn das verletzte Gewebe selbst, wie es beim Uterus der Fall, in hohem Maße östrogenabhängig ist und sich ein Circulus vitiosus entwickelt. Unphysiologische mechanische Dauerbelastung führt zu einer Entzündungsreaktion. Bereits Robert Meyer hatte mit der von ihm benutzten Terminologie auf den entzündlichen Charakter der ektopen endometrialen Läsionen hingewiesen.
Archimetra: Struktur und Funktion Der Uterus besteht aus zwei Organen, der inneren Archimetra und der äußeren Neometra . Phylogenetisch und ontogenetisch stellt die Archimetra oder die endometrial-subendometriale Einheit den ältesten Teil des Uterus dar (daher ihre Bezeichnung) und wird vom endome-
206
Kapitel 8 · Die Pathophysiologie von Endometriose und Adenomyose
trialen Epithel und Stroma sowie dem Stratum subvasculosum des Myometriums (Archimyometrium) mit vorwiegend zirkulären Muskelfasern gebildet(⊡ Abb. 8.1a). Während Endometrium und Archimyometrium ein deutlich zyklisches Muster der Steroidrezeptorexpression aufweisen, bleibt die entsprechende Rezeptorexpression der beiden äußeren Schichten des Myometriums, des Stratum supravasculosum mit vorwiegend longi-
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b
a
c
d
e
⊡ Abb. 8.1a-e. a Eine schematische Darstellung der Archimetra innerhalb des Uterus. Das Konzept der Archimetra beruht auf immunzytochemischen Untersuchungen der Sexualsteroidrezeptorexpression, auf Untersuchungen zur uterinen Peristaltik sowie auf phylogenetischen und ontogenetischen Daten. Die Archimetra besteht aus den epithelialen (grün) und stromalen Anteilen des Endometriums sowie dem Stratum subvasculare des Myometriums (Archimyometrium) (orange). Ontogenetisch leitet sich die Archimetra von den paramesonephrischen Gängen (grün) und dem sie umgebenden Mesenchym (orange) ab. Die Masse des menschlichen Myometriums, die Neometra, ist nicht paramesonephrischen Ursprungs (blau). Sie besteht aus dem Stratum vasculare mit einem dreidimensionalen Netzwerk kurzer Muskelbündel und dem Stratum supravasculare mit hauptsächlich longitudinalen Muskelfasern. Das Stratum vasculare ist phylogenetisch die jüngste Entwicklung und im Gegensatz zur Archimetra entwickeln sich das Stratum vasculare und supravasculare spät während der Ontogenese (Neometra). Die Neometra umgibt den Uteruskörper und erstreckt sich nach kaudal bis zum Isthmus uteri. Zwischen Archimetra und Neometra besteht eine Übergangszone mit einander vermischenden Muskelfasern (orangefarbener Rand des Stratum vasculare). Die Endozervix ist der am weitesten kaudale paramesonephrische Anteil des Uterus. Die darunter liegenden zirkulären Muskelfasern dünnen nach kaudal aus, und das begleitende Bindegewebe formt mit vaginalen Gewebselementen die Portio vaginalis uteri, b ein peritonealer Endometrioseherd (Vergrößerung 400-fach, spezifische Immunhistochemie für Actin) als ektope »Mikroarchimetra«. Der Herd umfasst sämtliche morphologischen Elemente des primordialen Uterus sowie der Archimetra: Glanduläres und stromales Endometrium sowie peristromale Muskelfasern. Die morphologischen Komponenten von Archimetra und Endometrioseherd sind homologe Gewebe, c der primordiale Uterus eines Feten in der 23. SSW (Vergrößerung 50-fach, spezifische Immunhistochemie für Actin). Die Archimetra stellt die adulte Repräsentation des primordialen Uterus dar, d der »Halo« und e die »Junktionalzone« repräsentieren das Archimyometrium in der Vaginalsonographie bzw. in der Magnetresonanztomographie. Es handelt sich um mediale Sagittalschnitte bei einer 29 Jahre alten Frau ohne Endometriose und Adenomyose. Der endometrial-myometriale Übergang ist scharf und glatt. Halo und Junktionalzone sind unverändert: Es besteht Symmetrie bezüglich der Dicke der Uterusvorder- und Hinterwand. Die Textur des Myometriums ist homogen.
207 Archimetra: Struktur und Funktion
8
tudinaler Ausrichtung der Muskelfasern und des Stratum vasculosum, bestehend aus einem dreidimensionalem Netz kurzer Muskelfasern, auf einem mehr oder weniger konstant hohem Niveau. Nur die Archimetra ist paramesonephrischen Ursprungs; die beiden äußeren Muskelschichten leiten sich nicht unmittelbar vom Müller’schen Gangsystem ab, sondern entwickeln sich aus dem Mesenchym der Serosa des primordialen Uterus.
Archimyometrium Diese innerste Muskelschicht erstreckt sich von der Zervix durch das Corpus uteri in die Kornua und geht in die Zirkulärmuskulatur der Tuben über. Sonographisch und in der Magnetresonanztomographie (MRT) präsentiert sie sich als Halo bzw. Junktionalzone mit einer Dicke von 4-8 mm unmittelbar unter dem Endometrium (⊡ Abb. 8.1d,e). Die Anlage des Archimyometriums ist bereits während des 1. Trimesters der Schwangerschaft erkennbar (daher der von Werth und Grusdew geprägte Begriff). Zirkulär angeordnetes Mesenchym umgibt bereits vor der Fusion die paramesonephrischen Gänge und entwickelt sich nach der Fusion im 2. Trimester zu Muskelfasern. Kurze longitudinale Fasern zweigen sich von den zirlulären ab und verleihen der Zirkulärmuskulatur Zusammenhalt in longitudinaler Richtung und somit Festigkeit der gesamten Schicht. Im Zyklus der Frau führen koordinierte Kontraktionen dieser Fasern zu umschriebenen Verdickungen des Archimyometriums, die in cinematographischer MRT als zerviko-fundale Welle symmetrischer Verbreiterungen der Junktionalzone dargestellt werden können. Die ontogenetisch frühe Anlage des Archimyometriums in Form zirkulärer Mesenchymfasern bereits vor der Fusion der Müller’schen Gänge ist von grundlegender Bedeutung für seine spätere Funktion. Sie manifestiert sich in einer »fundo-kornualen Raphe«, die aus der Verschmelzung der beiden paramesonephrischen Gänge resultiert (⊡ Abb. 8.2). Nach der Fusion der Gänge und Entwicklung der Muskelfasern aus dem Mesenchym entsteht der primordiale Uterus (⊡ Abb. 8.1c). Die Zweiteilung des zirkulären subendometrialen Myometriums im oberen Teil des Corpus uteri und die separate Fortsetzung der Zirkulärmuskulatur durch die Uterushörner in die jeweiligen Tuben stellen die morphologische Grundlage für den gerichteten Spermientransport in die zum dominanten Follikel ipsilaterale Tube dar (⊡ Abb. 8.2).
⊡ Abb. 8.2. Modifizierte Originalzeichnung von Werth und Grusdew. Sie zeigt den muskulären Aufbau des Stratum subvasculosum (Archimyometrium) eines menschlichen fetalen Uterus. Die spezifische Orientierung der zirkulären Muskelfasern resultiert aus der Fusion der Müller’schen Gänge, die zur Bildung einer »fundo-kornulalen Raphe« in der Mittellinie führt (eingezeichnetes Rechteck). Die während des Zyklus mit wechselnder Frequenz andauernd aktive peristaltische Pumpe wird durch koordinierte Kontraktionen dieser Fasern angetrieben. Durch differenzielle hormonale Aktivierung der Fasern wird der gerichtete Spermientransport ermöglicht. Die Region der fundo-kornualen Raphe wird als Bereich verstärkter mechanischer Belastung angesehen, da in Höhe der auseinander strebenden Muskelfasern Zerrkräfte unvermeidbar sind (nach Werth und Grusdew, 1898, Archiv für Gynäkologie 55: 325-409)
208
Kapitel 8 · Die Pathophysiologie von Endometriose und Adenomyose
Die Fähigkeit des basalen Mesenchyms bzw. von Fibroblasten zur metaplastischen Bildung von glatter Muskulatur bleibt auch während der Geschlechtsreife erhalten. Am endometrialmyometralen Übergang wandeln sich, gewissermaßen zyklusphasenabhängig oszillierend, Stromazellen in Muskelfasern um und wieder zurück. Auch in Endometrioseherden bilden sich aus dem Stroma der implantierten Endometriumfragmente peristromale Muskelfasern (⊡ Abb. 8.1b). Somit sind diese Fasern und die des Archimyometriums homologe Gewebe. Dieser Tatbestand spielt bei der Entwicklung einer tief infiltrierenden Endometriose eine große Rolle.
Functionalis versus Basalis
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Funktionalis und Basalis sind funktionell und strukturell unterschiedliche Kompartimente des Endometriums. Verbesserte immunhistochemische Färbetechniken konnten die vorhandenen Kenntnisse über das zyklische Muster der Östrogen- und Progesteron-Rezeptor(ER- ,PR-)-Expression in beiden Schichten des Endometriums erheblich vertiefen. Während in der Funktionalis die Rezeptor-Expression beider Steroide während der Sekretionsphase konstant abnimmt und die jeweiligen immunoreaktiven Scores (IRS) prämenstruell praktisch gegen Null tendieren, fallen die jeweiligen IRS in der Basalis postovulatorisch nur kurz ab, um im Verlauf der weiteren Sekretionsphase kontinuierlich anzusteigen. Dieser Unterschied erlaubt die Charakterisierung der Gewebsfragmente, die bei der Menstruation abgeschilfert und möglicherweise durch retrograden Transport in die Bauchhöhle gelangen. Nach zellmorphologischen Kriterien stellen Endometriumfragmente ohne Rezeptoranfärbung (Funktionalis) abgestorbenes und rezeptorpositive Fragmente (Basalis) hochvitales Gewebe dar (⊡ Abb. 8.3, ⊡ Abb. 8.4).
⊡ Abb. 8.3. Repräsentative Schnitte des Endometrium von gesunden Frauen in der späten Proliferations- und späten Sekretionsphase. In der Proliferationsphase des Zyklus zeigt die Immunhistochemie der Östradiolrezeptoren (ER) eine gleichmäßige Verteilung ER-positiver Zellen des Stromas und des glandulären Epithels über alle Schichten des Endometriums. In der späten Sekretionsphase sind Funktionalis und Spongiosa ER-negativ. Eine positive Anfärbung für ER ist in Stroma und Epithel begrenzt auf einen schmalen basalen Saum, der der Basalis des Endometriums entspricht (aus Leyendecker et al, 2002, Human Reproduction 17 2725-2736)
8
209 Uterine Peristaltik
350 300 250
IRS
200 150 100 50 0 FPP
MPP
SPP
FSP
MSP
SSP
MP
⊡ Abb. 8.4. Semiquantitative Darstellung (immunoreactive scores, IRS) der Östradiolrezeptor-(ER)-Expression in Basalis und Funktionalis während des menstruellen Zyklus unter Einschluss der Menstruationsphase (MP) bei Frauen mit Endometriose. In der Sekretionsphase verliert die Funktionalis (grau) die ER-Expression, während sie in der Basalis (schwarz) weitgehend erhalten bleibt und zum Zyklusende hin ansteigt (modifiziert nach Leyendecker et al, 2002, Human Reproduction 17: 2725-2736)
Archimetra und Neometra kommen unterschiedliche reproduktionsbiologische Funktionen zu. Das Stratum supravasculosum und vasculosum entwickelten sich sequentiell während der Evolution, um den Erfordernissen ausreichender Kontraktionskräfte bei der Geburt zu genügen. So dient auch beim Menschen die Neometra hauptsächlich der Austreibung des Konzeptus. Die Funktionen der Archimetra beschränken sich dagegen auf das frühe Fortpflanzungsgeschehen. Drei wesentliche vom Ovar gesteuerte Funktionen lassen sich unterscheiden: ▬ Vorbereitung des Endometriums zur Aufnahme des Konzeptus und Bildung der Dezidua, ▬ uterine Peristaltik für den gerichteten Spermientransport und ▬ Infektionsbekämpfung. Die Bildung der Dezidua wird zwar vom Konzeptus gesteuert, setzt aber, unter physiologischen Bedingungen, ein funktionsfähiges Corpus luteum voraus. Die Immunphänomene des Endometriums werden vorwiegend unter dem Aspekt der Implantation betrachtet. Sie müssen unseres Erachtens im Hinblick auf die in allen Zyklusphasen vorhandene Aspirationstätigkeit des Uterus auch unter dem Aspekt der Infektionsbekämpfung beurteilt werden.
Uterine Peristaltik Das Thema dieses Beitrages berücksichtigend, wird der Schwerpunkt der weiteren Erörterungen auf die uterine Peristaltik gelegt. Die peristaltische Aktivität betrifft ausschließlich das Archimyometrium. Unter ovarieller Kontrolle ändert sie während des Zyklus Richtung,
210
Kapitel 8 · Die Pathophysiologie von Endometriose und Adenomyose
3
Type A - cervico-fundal contractions
2,5
Type B - fundo-cervical contractions
Contr./Min
1,5
Type C - isthmical contractions 1
0,5
0
late menstrual period
8
early follicular
midfollicular late follicular
midluteal
late luteal
Phase of cycle
⊡ Abb. 8.5. Die Frequenz und Verteilung der peristaltischen Wellen des Archimyometriums während des Zyklus bei gesunden Frauen, ermittelt durch videosonographische Untersuchungen der uterinen Peristaltik (VSUP). Typ A-Wellen (rot) sind zerviko-fundal gerichtet mit maximaler Frequenz präovulatorisch und geringster Frequenz in der späten Lutealphase. Typ B-Wellen (schwarz) sind fundo-zervikal gerichtet und finden sich mit abnehmender Frequenz nur in der frühen Phasen des Zyklus. Bei den Typ C-Wellen (grün) handelt es sich um isthmische Kontraktionen, die fundal gerichtet sich nur bis in den mittkorporalen Bereich erstrecken. Aus dem Zusammenwirken der Typ A- und Typ C-Wellen resultiert eine relative Ruhe der kontraktilen Aktivität des Uterus während der Phase der Implantation (modifiziert aus Kunz et al., 2000. In: Filicori, M (ed) Endocrine Basis of Reproductive Function. Monduzzi Editore, Bologna, Italy)
Frequenz und Intensität (⊡ Abb. 8.5). Während und bis kurz nach der Menstruation werden fundo-zervikale Kontraktionswellen mit niedriger und stetig abnehmender Frequenz und Stärke beobachet. Sie dienen der orthograden Menstruation und der Ausstoßung von menstruellem Debris. Dies wird durch Kontraktionen und Steigerungen des Tonus des Stratum vasculosum unterstützt. Während der übrigen Phasen des Zyklus sind die Kontraktionen ausschließlich zerviko-fundal ausgerichtet und weisen die höchste Frequenz und Intensität unmittelbar präovulatorisch auf. Zweifelsohne stellt der schnelle und über eine längere Zeit aus den zervikalen Reservoirs erfolgende Samenstransport die wesentliche Funktion der uterinen Peristaltik dar. Auch die Sicherung einer hoch-fundalen Implantation des Embryos wird als Funktion der Peristaltik während der Lutealphase angesehen. Die retrograde Menstruation ist unter normalen Bedingungen in ihrem Ausmaß gering und stellt möglicherweise nur einen Nebeneffekt des gesteigerten uterinen Tonus dar. Die bereits während der Menstruation beginnende zerviko-fundale Peristaltik entfaltet in dieser Phase noch keine retrograde Transportwirkung (⊡ Abb. 8.5, ⊡ Abb. 8.6). Diese setzt erst mit steigenden Östradiolspiegeln und der Bildung endometrialen Oxytocins in der mittleren Proliferationsphase ein. Sobald sich aus der Kohorte der antralen der dominante Follikel herausgebildet hat, wird der Samen bevorzugt in die ipsilaterale Tube transportiert. Die auseinander strebende Zirkulärmuskulatur des Archimyometriums im fundo-kornualen Bereich sowie die endokrinen Stimuli, die den oberen Teil des Uterus zusätzlich zur peripheren Zirkulation über das utero-ovarielle Gegenstromsystem erreichen, ermöglichen diesen gerichteten Spermientransport. Dies versetzt den Uterus, obwohl er während der Phylo- und Ontogenese ein unpaares Organ wurde, in die Lage, mit dem gerichteten Samentransport die Funktion eines paarigen Organs wahrzunehmen.
211 Endometriosis and Adenomyosis: Dysfunktion und Erkrankung
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a
b
c
⊡ Abb. 8.6a–c. Hysterosalpingoszintigraphie bei einer Frauen ohne (links) und mit Endometriose (rechts) jeweils 32 min nach Applikation Technetium-markierter Albuminmakrosphären in Spermiengröße in der frühen (a), mittleren (b) und späten (c) Proliferationsphase. Bei gesunden Frauen verbleiben die Partikel in der frühen Follikelphase gewöhnlich am äußeren Muttermund. Bei Frauen mit Endometriose und Hyperperistaltik findet in dieser Phase bereits ein massiver Transport in eine der beiden Tuben statt. In der mittleren Follikelphase wird bei gesunden Frauen meist nur ein Transport in das Cavum uteri mit gelegentlicher Andeutung eines Transportes in die dominante Tube beobachtet. Das Beispiel der Frau mit Endometriose zeigt einen dramatischen Transport durch die zum dominanten Follikel kontralaterale Tube in die Peritonealhöhle. Unmittelbar vor der Ovulation werden bei gesunden Frauen die Partikel schnell in die dominante Tube transportiert. Bereits 1 min nach Applikation der Partikel ist der Trend zum gerichteten Transport feststellbar. Bei Frauen mit Endometriose kommt es in dieser Phase des Zyklus nur zu einem Aufstieg der Partikel in das Cavum uteri. Ein gerichteter Transport besteht nicht. Im vorliegenden Beispiel zeigte sich die Andeutung eines Transportes in die kontralaterale Tube (modifiziert aus Kunz et al, 1996, Hum Reprod 11, 627-632 und Leyendecker et al, 1996, Hum Reprod 11, 1542-1551).
Endometriosis and Adenomyosis: Dysfunktion und Erkrankung der Archimetra Struktur, Funktion und Dysfunktionen des Uterus spielen eine entscheidende Rolle in der Pathophysiologie von Endometriose und Adenomyose. 1. Fragmente basalen Endometriums wurden mit höherer Prävalenz im Menstrualblut von Frauen mit Endometriose als bei Kontrollen gefunden. Daraus und aus anderen Befunden wurde der Schluss gezogen, dass die pelvine Endometriose durch transtubare Dislokation von Fragmenten basalen Endometriums entsteht. 2. Bei Frauen mit Endometriose besteht ein signifikant gehäuftes Zusammentreffen von Endometriose und Adenomyose. Auch bei lebenslang infertilen subhumanen Primaten treffen beide Phänotypen gehäuft zusammen auf (⊡ Abb. 8.7).
212
Kapitel 8 · Die Pathophysiologie von Endometriose und Adenomyose
3. Der schnelle und gerichtete Spermientransport in die dominante Tube ist bei Frauen mit Endometriose (und Adenomyose) gestört und charakterisiert durch eine Hyper- und Dysperistaltik. Die retrograde Transportkapizität des Uterus mit einer gegenüber der Norm verdoppelten Kontraktionsfrequenz ist bereits in der frühen und mittleren Proliferationsphase gesteigert. Ein gerichteter Transport in die dominante Tube ist nicht erkennbar und in der späten Proliferationsphase weichen die Kontraktionswellen einem mehr konvulsiven Kontraktionsverhalten mit nahezu aufgehobenem Transport in die Tube (⊡ Abb. 8.6).
a
8
b
⊡ Abb. 8.7a–d. Das pleiomorphe Erscheinungsbild von fokaler und diffuser Adenomyose bei Frauen im Alter von 27-31 Jahren mit moderater bis schwerer Endometriose (a–c). Bei einer 37-jährigen Patientin war bei stark reduzierter Samenqualität des Mannes keine Laparoskopie durchgeführt worden. Im Alter von 22 Jahren war eine Kürettage durchgeführt worden. Die Transvaginalsonographie schien unauffällig zu sein. Eine sorgfältige Analyse ergab jedoch eine unterschiedliche Dicke der Vorder- und Hinterwand des Uterus (Asymmetrie) sowie einen fehlenden »Halo«. Das MRT zeigte eine ausgedehnte Adenomyose der Uterusvorder- und eine beginnende Adenomyose der Uterushinterwand.
c
d
213 Endometriosis and Adenomyosis: Dysfunktion und Erkrankung
8
Die Hyperperistaltik bei Endometriose beruht auf einem archimetralen Hyperöstrogenismus, d. h. auf einer lokalen Östrogenproduktion, während die konvulsive Dysperistaltik mit gestörtem Spermientransport auf eine mehr oder weniger ausgeprägte adenomyotische Zerstörung der archimyometrialen Zirkulärmuskulatur zurückzuführen ist. Es besteht kein Zweifel, dass die Sterilität bei einer Endometriose zumindest z. T. auf einer Beeinträchtigung des gerichteten Spermientransportes beruht. Das Vorliegen eines archimetralen Hyperöstrogenismus bei Endometriose wird durch eine Reihe experimenteller Daten unterstützt: 1. Bei Frauen mit Endometriose und Adenomyose sind die Östradiolspiegel im Menstrualblut im Vergleich zu gesunden Frauen erhöht, während sie im peripheren Blut im Bereich der Norm liegen. 2. In Adenomyoseherden sowie im ektopen und eutopen Endometrium von Frauen mit Endometriose findet sich eine starke Expression der P450-Aromatase. 3. Cyr61 ist als stark östrogenabhängiges Gen im eutopen Endometrium von Frauen mit Endometriose, in ektopen Läsionen und bei experimenteller Endometriose extrem hochreguliert. 4. Erhöhte periphere Östradiolspiegel, wie sie z. B. bei kontrollierter ovarieller Überstimulation mit Gonadotropinen beobachtet werden, führen zu einer uterinen Hyperperistaltik. Die Hyperperistaltik bei Frauen mit Endometriose ähnelt in ihrem Ausmaß derjenigen unter kontrollierter ovarieller Überstimulation, obwohl die peripheren Östradiolspiegel im Normbereich liegen (⊡ Abb. 8.8).
3,5
Kontraktionen pro Minute
3
2,5 VSUP normal 2
VSUP Endometriose VSUP HMG
1,5
VSUP Oxytozin 1 0,5
0 FFP
MFP
SFP
Zyklusphase
⊡ Abb. 8.8. Die Frequenz peristaltischer Kontraktionen des Uterus während der Follikelphase des Zyklus bei unbehandelten gesunden Frauen, unter Therapie mit Menopausegonadotropin (HMG) im Rahmen einer kontrollierten ovariellen Überstimulation, unmittelbar nach Gabe eines intravenösen Bolus von Oxytozin und Frauen mit Endometriose. Erhöhung der Östradiolspiegel durch HMG und Gabe von Oxytozin simuliert die signifikant erhöhte peristaltische Aktivität bei Frauen mit Endometriose, deren Östradiolspiegel im Bereich der Norm sind. Vaginalsonographie uteriner Peristaltik (VSUP) (Mittelwerte + SEM) (aus Leyendecker et al. 1998, Human Reproduction Update 4: 752-762).
214
Kapitel 8 · Die Pathophysiologie von Endometriose und Adenomyose
Archimetralen Hyperöstrogenismus – tissue injury and repair (TIAR)
8
Die lokale Bildung von Östrogenen sowohl auf der Ebene des eutopen Endometriums bei Frauen mit Endometriose als auch in den ektopen Läsionen selbst ist ohne Zweifel von zentraler Bedeutung für das Verständnis der Pathophysiologie des Krankheitsbildes. Ihre Ursache ist bis heute rätselhaft. Neuere Untersuchungen ergaben, dass Östradiol eine ubiquitäre zentrale Rolle im Prozess der Wundheilung spielt. Es handelt sich hierbei vermutlich um eine evolutionär alte Funktion des Hormons, die offenbar im Wesentlichen über den Östrogenrezeptor-beta (ER2) entfaltet wird. Tierexperimente mit chemotoxischer oder mechanischer Verletzung von Astroglia und Harnblasengewebe sowie auch Studien mit isoliertem Bindewebe, wie z. B. Fibroblasten und Knorpel, haben ergeben, dass Gewebsverletzung, Entzündungen und nachfolgende Heilung mit einem spezifischen physiologischen Prozess verbunden sind, der in der lokalen Bildung von Östradiol aus seinen Präkursoren besteht. Eine durch Interleukin-1 induzierte Aktivierung der Cyclooxygenase-2 (COX-2) führt zur Produktion von Prostaglandin-E2 (PGE2), das seinerseits STAR (steroidogenic acute regulatory protein) und die P450-Aromatase aktiviert. Mit der mitochondrialen Anreicherung von Cholesterin kann Testosteron gebildet und in Östradiol aromatisiert werden, das seine angiogentische, proliferative und heilende Wirkung über den ER2 entfaltet. Die ersten Stufen dieser Kaskade werden bereits mit geringer biophysikalischer Belastung aktiviert. Nach Beendigung der unphysiologischen Belastung und Heilung wird der Prozess und somit die lokale Produktion von Östradiol und die Hochregulierung östrogenabhängiger Gene beendet. Diese Kaskade wird durch Verletzung auch in Gewebe aktiviert, das normalerweise die P450-Aromatase nicht exprimiert. Dies unterstreicht die grundlegende Bedeutung von Östradiol in dem Prozess von Gewebsverletzung und Heilung (tissue injury and repair; TIAR). TIAR ist offenbar ein nicht organspezifischer, physiologischer Prozess, der im Bindegewebe bei Wundheilung aktiviert wird. Die Übereinstimmung der Molekularbiologie von TIAR mit den molekularbiologischen Phänomenen bei Endometriose legen die Vermutung nahe, dass TIAR auch in der Pathophysiologie der Endometriose von fundamentaler Bedeutung ist (⊡ Abb. 8.9).
Tissue Injury and Repair (TIAR) Interleukin- 1ß
COX-2
⊡ Abb. 8.9. Die grundlegenden, an mesenchymalem Gewebe ermittelten molekularbiologischen Aspekte von tissue injury and repair (TIAR) (nach Leyendecker et al. 2009, Archives of Gynecology and Obstetrics 280: 529-538).
STAR
PGE2
Cholesterin
P450arom
Testosteron
Estradiol-17ß
ER-beta
215 Pathomechanismus: Uterine Autotraumatisierung
8
Pathomechanismus: Uterine Autotraumatisierung Bereits früher hatten wir in einer uterinen Autotraumatisierung als Folge der uterinen Hyperperistaltik ein zentrales Ereignis im Pathomechanismus von Endometriose und Adenomyose gesehen. Dieses Konzept kann nunmehr durch Verknüpfung der molekularbiologischen Mechanismen von tissue injury and repair (TIAR) mit der Funktion und der spezifischen Struktur des Archimyometriums erweitert und vertieft werden. Es lässt sich somit ein konsistentes Konzept der Pathophysiologie der Endometriose und Adenomyose formulieren. Im Übrigen gelingen mit diesem Konzept die Überwindung der durch Sampson hervorgerufenen Trennung und die Wiederherstellung von Adenomyose und Endometriose als einem Krankheitsbild mit einheitlicher Pathophysiologie. Darüber hinaus bietet TIAR ein Erklärungsmodell für die Entwicklung der tief infiltrierenden Endometriose. Die archimetralen Muskelfasern und die Fibroblasten am endometrial-myometrialen Übergang im Bereich der fundo-kornualen Raphe sind in Zyklusmitte einer verstärkten mechanischen Belastung ausgesetzt. Nicht nur die peripheren Östradiolspiegel sind maximal erhöht, sondern eine zusätzliche Belastung der Zellen resultiert aus der Wirkung der Östrogene, die den Uterus über das utero-ovarielle Gegenstromsystem erreichen und den gerichteten
a
b
c
d
e
f
⊡ Abb. 8.10. Magnetresonanztomographie (MRT) mit jeweils sagittalen und koronaren Schnitten bei 6 Frauen mit uteriner Adenomyose. Bei den Frauen in einem Alter von 30-32 Jahren mit primärer Sterilität (a–e) lagen Endometriosen der Stadien I-IV vor. Bei der 40-jährigen Para (f) war keine Laparoskopie durchgeführt worden. Alle Schnitte, besonders die koronaren, zeigen eine Präponderanz der adenomyotischen Veränderungen (verbreiterte Junktionalzone) in der Nähe der fundo-kornualen Raphe des Archimyometriums. Die diskreten fokalen Verdickungen der Junktionalzone bei den Patientinnen a–c sind charakteristisch für frühe Adenomyosen (aus Leyendecker et al. 2009, Archives of Gynecology and Obstetrics 280:529-538).
216
Kapitel 8 · Die Pathophysiologie von Endometriose und Adenomyose
Spermientransport bewirken. Dieser beginnt in der mittleren Follikelphase mit der Ausbildung des dominanten Follikels. Die fundo-kornuale Raphe als Prädilektionsort gesteigerter mechanischer Belastung wird durch die in ihrer Nähe beginnende Entwicklung der Adenomyose dokumentiert. Selbst in Fällen fortgeschrittener Adenomyosen besteht häufig eine Präponderanz der stärksten Ausdehnung der Junktionalzone in diesem Bereich (⊡ Abb. 8.10).
1. Verletzungsstufe: Mikrotraumatisierung
8
Untersuchungen mit rhythmischen Dehnungen von Fibroblasten in Kultur haben ergeben, dass mechanische Belastung in gewissen Grenzen für diese Zellen physiologisch ist. Geringfügige Steigerungen der mechanischen Belastung führten jedoch zu einer Aktivierung der COX-2 und zur Bildung von PGE2, die die ersten biochemischen Reaktionen auf Gewebsverletzung darstellen. In einem vergleichbaren Experiment mit endometrialen Stromazellen kam es zur Bildung von Interleukin-8. In Bezug auf das subendometriale Myometrium und die unmittelbar darunter liegenden Fibroblasten ist es daher denkbar, dass Abweichungen vom normalen endokrinen Muster im Zyklus mit Erhöhungen oder Verlängerungen der östrogenen Stimulation eine supraphysiologische Belastung der Zellen im Bereich der fundokornualen Raphe hervorrufen. Bisherige Versuche, Zyklusstörungen als prädisponierende Faktoren für die Entstehung einer Endometriose zu identifizieren, waren wenig erfolgreich. Möglicherweise lassen sich die hier in Frage kommenden Irregularitäten nur schwer erfassen, da sie sich der Selbstbeobachtung und damit einer anamnestischen Erhebung entziehen können. Die Vermutung liegt nahe, dass Ereignisse wie verlängerte Follikelphasen, anovulatorische Zyklen oder Phasen von Follikelpersistenz und auch die Präsenz großer antraler Follikel in beiden Ovarien vor der definitiven Selektion des dominanten Follikels infolge gesteigerter oder verlängerter Stimulation durch Östradiol zu einer verstärkten mechanischen Belastung der Muskelfasern und Fibroblasten führen. Diese Auffassung wird durch eine Studie experimentell unterstützt, die die Klärung einer hereditärer Faktoren in der Pathogenese der Endometriose zum Ziel hatte. In einer Kolonie von Rhesusaffen entwickelten nur jene Tiere signifikant gehäuft eine Endometriose, die in ihrer Anamnese mit Östrogenpflastern behandelt worden waren (oder ein Trauma durch Hysterotomie aufwiesen). Die oben diskutierten Irregularitäten des menstruellen Zyklus können durchaus einen hereditären Hintergrund haben. Sie treten gehäuft während der frühen reproduktiven Phase der Frau auf, was mit der ebenfalls häufig sehr frühen Manifestation einer Endometriose übereinstimmt. Aber auch andere Faktoren müssen in Betracht gezogen werden, die eine erhöhte Prädisposition für Gewebsverletzung durch mechanische Belastung bedingen. Gleichwohl lässt sich somit feststellen, dass wiederholte und andauernde Überdehnung und Verletzung der Myozyten und Fibroblasten am endometrial-myometrialen Übergang in der Nähe der fundo-kornualen Raphe zu einer fokalen Aktivierung des TIAR-Systems mit lokaler Bildung von Östradiol führt. Dieser Prozess beginnt auf mikroskopischer Ebene. Eine komplette Ausheilung ist möglich, wenn es sich bei der mechanischen Belastung und der nachfolgenden Verletzung nur um ein singuläres Ereignis gehandelt hat und möglicherweise von einer längeren Phase peristaltischer Funktionsruhe, wie z. B. einer Schwangerschaft und Stillperiode gefolgt wurde. Während eines solchen singulären Ereignisses der 1. Verletzungssstufe, wie z. B. einer juvenilen dysfunktionellen Blutung, die bei persistierendem Follikel mit einer Östradiolinduzierten Hyperperistaltik einhergeht, kann es durchaus zur transtubaren Dislokation von
8
217 2. Verletzungsstufe: Autotraumatisierung
Initialer Fokus der Verletzung in der Nähe der fundo-comualen Raphe Erste Verletzungsstufe Tissue Injury and Repair (TIAR) in stromalen Fibroblasten COX-2
PEG2 STAR P450arom
Estradiol - 17ß ERbeta Verstärkte Verletzung durch Hyperperistalsis Zweite Verletzungsstufe
OT
ERalpha
Proliferation
⊡ Abb. 8.11. Modell von tissue injury and repair (TIAR) am endometrial-myometrialen Übergang in der Nähe der fundo-kornualen Raphe mit Darstellung der 1. und 2. Verletzungsstufe. Andauernde uterine Peristaltik und Hyperperistaltik sind für die fortgesetzte Verletzung mit permanent erhöhter parakriner Östrogenwirkung verantwortlich (aus Leyendecker et al, 2009, Archives of Gynecology and Obstetrics 280: 529-538)
Fragmenten basalen Endometriums kommen. Solche singulären Ereignisse, ebenso wie die eher unwahrscheinliche peritoneale Aussaat von Fragmenten basalen Endometriums am Ende eines normalen Zyklus, können zur Entwicklung einer asymptomatischen Endometriose führen. Im Fall einer zufälligen Implantation an einer ungünstigen Stelle, wie z. B. den Ovarien, ist die Entwicklung einer schweren Endometriose ohne weitere Beteiligung des Uterus möglich, was an einer komplett normalen Junktionalzone im MRT erkennbar ist. Bei weiter bestehender oder wiederholter Hyperperistaltik und fortgesetzter Verletzung kann jedoch eine Heilung an der fundo-kornualen Raphe nicht erfolgen. Eine zunehmende Anzahl von Herden wird in diesen Prozess von chronischer Verletzung, Entzündung und Proliferation einbezogen. Die Expansion oder Akkumulation solcher Herde mit aktiviertem TIAR-System lässt umschriebene Bereiche des basalen Endometriums zu einer Art endokrinen Drüse werden, die Östradiol produziert (⊡ Abb. 8.11).
2. Verletzungsstufe: Autotraumatisierung durch fortgesetzte Hyperperistaltik Die fokale Östrogenproduktion kann einen Gewebsspiegel erreichen, der über endometriales Oxytozin und seinen Rezeptor parakrin auf das Archimoymetrium einwirkt und zusammen mit dem Östradiol ovariellen Ursprungs die uterine Peristaltik erhöht. Hyperperistaltik stellt ein mechanisches Trauma dar. Während der Menstruation kommt es zu einer signifikanten
218
Kapitel 8 · Die Pathophysiologie von Endometriose und Adenomyose
Endometriose direkte Dislokation basalen Endometrium
TIAR
iatrogenes Trauma
tief infiltrierende Endometriose
AutoTraumatisierung 1. Verletzungsstufe
8
TIAR
Adenomyose
TIAR
transtubare Dislokation
Desquamation von Fragmenten basalen Endometriums
Infiltration basalen Endometriums in das Myometrium
Hyperperistaltik 2. Verletzungsstufe E2
Estradiol-17ß
Archimyometrium
⊡ Abb. 8.12. Schematische Darstellung der Pathophysiologie von Endometriose und Adenomyose. Gewebsverletzung in der Tiefe des Endometriums durch Autotraumatisierung oder iatrogenes Trauma mit Aktivierung des TIARSystems stellen das primum movens der Krankheitsentwicklung dar. Das gestrichelte Rechteck zeigt die pelvine Ausbreitung der Erkrankung. Die ASRM und ESHRE beschränken das Krankheitsbild der Endometriose auf diesen Aspekt (aus Leyendecker et al, 2009, Archives of Gynecology and Obstetrics 280: 529-538).
Abschilferung von Fragmenten basalen Endometriums und in Verbindung mit einer gesteigerten retrograden uterinen Transportkapazität (⊡ Abb. 8.6) zu einer vermehrten transtubaren Aussaat dieser vitalen Gewebsfragmente in die Bauchhöhle. Peritoneale Endometrioseherde sind in der Tat die Folge einer transtubaren Transplantation, und somit stellt dieser Teil der Pathophysiologie cum grano salis Sampsons Aspekt der Krankheitsentwicklung dar. Die Entwicklung einer uterinen Adenomyose ist ihrem Wesen nach eine Fortsetzung des Prozesses, der durch die 1. Verletzungstufe in der Tiefe des basalen Endometriums im Bereich der fundo-kornualen Raphe initiiert wurde (⊡ Abb. 8.10). Mit der Ausweitung der Verletzung sowie der Hyperperistaltik als Folge der parakrinen Östradiolwirkung wird dieser inflammatorische TIAR-Prozess unterhalten und verstärkt. Dies führt zu einer Proliferation der endometrialen Stromazellen mit dem ihnen innewohnenden Potential zur Metaplasie in glatte Muskelfasern. Daher entwickelt die Adenomyose im Gegensatz zur oberflächlichen Endometriose einen mehr fibromuskulären Charakter. Während bereits kurzzeitige transtubare Aussaat zu Endometrioseherden führen kann, wie z. B. bei der tierexperimentellen Endometriose mit Inokulation von Endometriumpartikeln in die Peritonealhöhle, ist die Entwicklung einer Adenomyose ein länger dauernder Prozess. Gleichwohl stellen die Verletzung und die Initiierung des TIAR-Mechanismus in der Tiefe des endometrialen Stromas und dessen mög-
219 Iatrogene Verletzung
8
liche Fortdauer die anfänglichen Ereignisse für die Entwicklung der Endometriose und der Adenomyose dar (⊡ Abb. 8.12).
Prämenarcheale Endometriose Endometrioseherde sind bei heranwachsenden Mädchen vor Eintritt der Menarche beschrieben und als zugrunde liegender Pathomechanismus ist die Zölommetaplasie vorgeschlagen worden. Allerdings kommt es bereits vor der Menarche mit fortschreitender Pubertät zu einer zunehmenden Aktivierung der hypothalamo-hypophysär-ovariellen Achse, die mit zunächst nächtlichen Sekretionsschüben von LH und FSH einhergeht. Wie bei der hypothalamischen Amenorrhoe geringen Schweregrades werden auch in den Ovarien von Mädchen vor der Menarche große antrale Follikel beobachtet, die als Folge der nächtlichen Gonadotropinschübe während der Morgenstunden intermittierend Östradiol sezernieren, welches seinerseits die uterine Peristaltik anregt. Eine Abschilferung von basalen Fragmenten des bei diesen Mädchen nicht stimulierten Endometriums und ihr transtubarer Transport in die Peritonealhöhle sollte daher als Ursache der prämenarchealen Endometriose ebenso erwogen werden. Unter diesem Aspekt muss die Bedeutung der Menstruation im Pathomechanismus der Endometriose präziser definiert werden. Offenbar ist nicht die Menstruation als solche ausschlaggebend, sondern vielmehr der Tatbestand, dass nach Ablösung der Funktionalis die Basalis maximal exponiert ist. Dies ermöglicht, unter der Bedingung der Hyperperistaltik sowohl die traumatische Abschilferung von Fragmenten basalen Endometriums als auch deren transtubaren Transport in die Peritonealhöhle.
Iatrogene Verletzung Iatrogene Traumata des Uterus gelten seit langem als Risikofaktoren für die Entwicklung einer Endometriose und Adenomyose. So wiesen Hysterotomien in der Anamnese von in Kolonie lebenden Rhesusaffen eine signifikante Assoziation mit einer sich später entwickelnden Endometriose auf. Der zugrunde liegende Mechanismus der Induzierung einer Endometriose durch iatrogenes Trauma wie Kürettage und andere ablative Maßnahmen dürfte dem bei der Autotraumatisierung beschriebenem Pathomechanismus ähneln. Solche operativen Eingriffe können zu ausgedehnten Verletzungen mit verstärkter TIAR-Reaktion führen. Die während des Heilungsprozesses ansteigenden lokalen Östrogenspiegel interferieren mit der ovariellen Kontrolle der uterinen Peristaltik und führen schnell zur 2. Verletzungsstufe mit fortgesetzter Autotraumatisierung. Im Kontext unseres Modells können daher zur Adenomyose und Endometriose führende iatrogene Traumata als starke Läsionen im Rahmen der 1. Verletzungsstufe betrachtet werden (⊡ Abb. 8.2). Im Tiermodell des Pavians wurde durch intraperitoneale Inokulation von Basalisfragmenten, die bioptisch während der Menstruation der Tiere gewonnen wurden, eine experimentelle Endometriose induziert. In den Endometrioseläsionen kam es schnell zur Hochregulierung von Cyr61, einem sehr stark östrogenabhängigen Gen. Überraschenderweise wurde dieses Gen auch im eutopen Endometrium der primär gesunden Tiere aktiviert. Wahrscheinlich resultierte die Hochregulierung von Cyr61 im eutopen Endometrium aus einer Aktivierung des TIARSystems mit lokaler Bildung von Östradiol als Folge der Verletzung durch die Biopsie und
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Kapitel 8 · Die Pathophysiologie von Endometriose und Adenomyose
nicht, wie von den Autoren vermutet, durch ein »cross-talk« zwischen ektoper Läsion und eutopem Endometrium.
Ektope Herde und das eutope Endometrium Ektope Herde
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Fragmente basalen Endometriums stellen verletztes Gewebe dar. Die Expression akuter und inflammatorischer Zytokine, wie Interleukine-Il-1ß, Il-6 und auch Il-8 fördern die Implantation. Als Autotransplantate sollten die Fragmente ohne inflammatorische Folgeerscheinungen einheilen. Sie sind allerdings denselben endokrinen Stimuli und immunologischen Phänomen ausgesetzt wie das eutope Endometrium, allerdings ohne die Möglichkeit der Desquamation und Externalisierung von zellulärem Debris. Daher wird auf der Ebene des Endometrioseherdes das TIAR-System wiederholt und chronisch aktiviert. Immunhistochemisch wurde auch eine Hochregulierung des Östradiol-Rezeptors-alpha nachgewiesen. Als Abkömmlinge des basalen Endometriums (⊡ Abb. 8.3, ⊡ Abb. 8.4) zeigen Endometrioseherde eine funktionelle Progesteronresistenz und möglicherweise aus demselben Grund einen Mangel an Aktivität der 17ß-Hydroxysteroiddehydrogenase Typ 2 (17-HSD-2). Denkbar ist zusätzlich auch, dass dem TIAR-Prozess unterworfenes Gewebe grundsätzlich diese Defekte aufweist, was im Hinblick auf die physiologische Funktion des Östradiols, im TIARProzess Proliferation und Heilung zu bewirken, biologisch sinnvoll wäre. Oberflächliche Endometrioseherde bieten gewöhnlich den drüsigen Charakter des Ursprunggewebes und werden als Folge des inhärenten metaplastischen Potentials des basalen Mesenchyms von substromalen Muskelfasern umgeben. Sie wurden daher auch als »Mikrouteri« oder »Mikroarchimetras« bezeichnet (⊡ Abb. 8.1b). Das ungünstige heterotope Milieu erlaubt in der Regel jedoch nicht die komplette Simulation der zyklischen Veränderungen des eutopen Gewebes wie Proliferation und sekretorische Umwandlung. Daher zeigen Drüsen und Stroma der ektopen endometrialen Läsionen immunhistochemisch die Charakteristika basalen Endometriums. Der neuerliche Nachweis von Nervenfasern in ektopen Läsionen und auch im eutopen Endometrium von betroffenen Frauen und ihrer Rückbildung unter Gestagentherapie stimmt, unter Hinzuziehung des Vergleichs mit anderen Krankheitsbildern, z. B. einer Tendovaginitis, mit der Vorstellung überein, dass es sich bei der Endometriose um einen chronischen inflammatorischen Prozess handelt. Das Einsprießen von Nervenfasern und deren Rückbildung sind nicht organspezifisch. Sie stellen einen integralen Bestandteil von TIAR-Prozessen dar. In oberflächlichen Läsionen kann dieser inflammatorische Prozess zur Ruhe kommen und Heilung eintreten. Tief infiltrierende Läsionen entwickeln sich an Stellen, die einem andauernden mechanischen Reiz ausgesetzt sind. Es handelt sich hierbei z. B. um Adhäsionen zwischen dem Rectosigmoid und der Becken- oder Uterushinterwand, um entsprechende Adhäsionen der Ovarien, um die Ligg. sacrouterinae, die Blasenumschlagsfalte, das rektovaginale Septum sowie die Bauchwand. Offenbar unterhält das an diesen Stellen unvermeidbar chronische mechanische Trauma den Entzündungsprozess und führt zu einer der Adenomyose ähnlichen Gewebsreaktion. Dies sind in der Tat die von Cullen beschriebenen extrauterinen Prädilektionsorte der Adenomyome. Wie bereits oben ausgeführt, handelt es sich bei dem subglandulären fibromuskulären Gewebe der Endometrioseherde (⊡ Abb. 8.1b) um homologe Strukturen zum entsprechen-
221 Eutopes Endometrium
8
den Gewebe am endometrial-myometrialen Übergang der Archimetra mit daher ähnlicher Anfälligkeit für chronische mechanische Belastungen. Dies führt zur Aktivierung von TIAR und Proliferation vorwiegend fibromuskulären Gewebes. Das Vorherrschen fibromuskulären Gewebes ist ein Charakteristikum sowohl der tief infiltrierenden Endometriose als auch der Adenomyose. Tief infiltrierende Läsionen neigen zur Persistenz, während oberflächliche Herde abheilen können. Aus diesem Grunde präsentieren sich länger bestehende Endometriosen gewöhnlich mit tief infiltrierenden Herden und einer Adenomyose, während das übrige Peritoneum glatt ist.
Eutopes Endometrium Wie bereits oben ausgeführt, beginnt der Krankheitsprozess zunächst als mikroskopischer Fokus in der Tiefe des basalen Endometriums. Es kann daher geschehen, dass Endometriumbiopsien durch den TIAR-Prozess verändertes Gewebe nicht erfassen. Mit fortschreitender Erkrankung weitet sich der Bereich alterierten Gewebes aus. Dies stimmt mit der Beobachtung überein, dass Biopsien die für eine Endometriose typischen zellulären und molekularen Marker konsistenter bei fortgeschrittenen Erkrankungen erfassten. Bei der Interpretation molekularbiologischer Befunde im eutopen Endometrium bei Frauen mit Endometriose muss beachtet werden, dass das Endometrium mit der Funktionalis und Basalis aus morphologisch und funktionell unterschiedlichen Schichten besteht. Dies bleibt häufig bei mehr oder weniger ungezielt gewonnenem bioptischem Material unberücksichtigt. Bei Frauen mit Endometriose ist die Basalschicht doppelt so dick wie bei gesunden Frauen. Bei letzteren ist darüber hinaus die endometrial-myometriale Grenzschicht glatt und regulär, während sie bei Endometriose häufig irregulär und nicht selten polypös ist. Daher können Endometriumbiopsien in einem variablen und schwer definierbaren Ausmaß mit basalem Endometrium »kontaminiert« sein und auch variable Anteile des durch den TIAR-Prozess veränderten Gewebes enthalten. Letzteres ist deswegen durchaus wahrscheinlich, da Endometriumbiopsien aus rein technischen Gründen Gewebe vorwiegend aus der Medianlinie der Vorder- und Hinterwand des Cavum uteri, also aus dem Bereich der fundo-kornualen Raphe erfassen. Unseres Erachtens ist somit der Befund einer »Progesteronresistenz« (Aghajanova 20009, McBean 1996, Bulun 2006) und eines »veränderten Östradiolmetabolismus« im »Endometrium von Frauen mit Endometriose« zwanglos zu erklären (Bulun 2009, Delvoux 2009). Jedenfalls konnten immunhistochemische Untersuchungen in Bezug auf die Expression des Östradiolrezeptors-alpha und Progesteronrezeptors eine Progesteronresistenz in der Funktionalis der späten Sekretionsphase bei Frauen mit Endometriose nicht bestätigen. Wie bei gesunden Frauen fiel mit fortschreitender Proliferationsphase auch in der Funktionalis von Frauen mit Endometriose die ER- und PR-Expression stetig ab, während sie gleichzeitig in der Basalis anstieg. Diese Befunde weisen auf eine funktionelle Progesteronresistenz der Basalis und auch der ektopen Herde hin, da sich letztere aus verschleppten Fragmenten der Basalis entwickeln. Vermutlich, wie bereits oben erwähnt, besteht auch eine Progestronresistenz in den Gewebsstrukturen, die dem TIAR-Prozess unterworfen sind. Im Übrigen wird die Vorstellung einer generellen Progesteronresistenz in der Funktionalis von Frauen mit Endometriose nicht durch die klinischen Resultate der Oozytendonation unterstützt. Im Hinblick auf einen gestörten Östrogenmetabolismus und die Expression der 17ß-Hydroxysteroiddehydrogenase Typ 2 (17ßHSD-2) liegen keine Untersuchungen vor, bei denen zwischen Funktionalis und Basalis sowie auch dem TIAR-Prozess unterworfenem Gewebe unterschieden wurde.
222
Kapitel 8 · Die Pathophysiologie von Endometriose und Adenomyose
Zusammenfassung
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Die peritoneale Endometriose in ihrer oberflächlichen und tief infiltrierenden Form, externe Endometriosen sowie die uterine Adenomyose teilen eine gemeinsame Pathophysiologie. Allen diesen Formen liegen der Pathomechanismus und das über die Endometriose hinaus gültige neue nosologische Konzept von tissue injury and repair (TIAR) zu Grunde. Es handelt sich um einen die lokale Bildung von Östradiol involvierenden Prozess, der in seiner physiologischen Bedeutung als Vorgang der Heilung durch die spezifische Struktur und Funktion der Archimetra und ihrer Östrogenabhängigkeit in einen Circulus vitiosus hinein fehlgesteuert wird. Der Pathomechanismus beginnt mit einer Mikroläsion der Fibroblasten und Myozyten im endometrial-myometralen Übergang im Bereich der fundo-kornualen Raphe als 1. Verletzungsstufe. Bei fortgesetzter Traumatisierung bleibt die Heilung mit dem Resultat einer Ausweitung der Verletzungen aus. Im sich ausbreitenden TIAR-Prozess greift das lokal gebildete Östradiol parakrin in die normale ovarielle Kontrolle der uterinen Peristaltik ein. Die sich entwickelnde Hyperperistaltik stellt ein Dauertrauma dar, so dass mit Erreichen dieser 2. Verletzungsstufe ein Circulus vitiosus etabliert wird. Fragmente basalen Endometriums werden abgeschilfert und transtubar in die Peritonealhöhle gespült, wo sie Endometrioseherde bilden. Gleichzeitig, allerdings protrahiert, führt der chronische TIAR-Prozess in der Tiefe des Endometriums zu einer Invasion basalen Endometriums in das Myometrium mit Betonung einer fibromuskulären Proliferation. Fokale oder diffusen Adenomyosen sind die Folge. In vielen Fällen beginnt der Krankheitsprozess vermutlich durch temporäre ovarielle Dysfunktionen, die gehäuft in der Frühphase der sexuellen Reife auftreten. Bei der prämenopausalen Adenomyose haben offenbar solche Initialeffekte nicht vorgelegen. In Anbetracht ihrer hohen Prävalenz liegt der Gedanke jedoch nahe, dass die über Jahrzehnte bestehende uterine Peristaltik in der Tiefe der Basalis zu gleichartigen Verletzungen mit der Folge drüsiger Invasion und fibromuskulärer Proliferation führt. Es lassen sich somit Endometriose, Endometriose mit assozierter Adenomyose und prämenopausale Adenomyose als ein pathophysiologisches Geschehen beschreiben, dessen Ursache in einer uterinen Autotraumatisierung zu sehen ist. Struktur und Funktion der Archimetra sind hierbei prädisponierende Faktoren.
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Kapitel 8 · Die Pathophysiologie von Endometriose und Adenomyose
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Kapitel 8 · Die Pathophysiologie von Endometriose und Adenomyose
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Blutgerinnung, Blutungen und Thromboembolie Im Spiegel der Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe Hans Ludwig
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Kapitel 9 · Blutgerinnung, Blutungen und Thromboembolie
Sucht man danach, wann das Thema Blutungen, Thrombose, Lungenembolie, Blutgerinnung auf den Zusammenkünften der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) in das Kongressprogramm aufgenommen worden ist, so zeigt sich daran deutlich die Entwicklung des Wissens. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren es die dramatischen Blutungen vor allem während und nach der Geburt der Plazenta, die man zu verstehen und zu beherrschen suchte, später wurde die atonische Nachblutung zum gefürchteten Begriff, schließlich puerperale Phlebitiden und die Thromboembolie, vor allem die unerwartete Lungenembolie nach ungestörter Geburt eines Kindes. Diese Komplikation beanspruchte nach dem Zweiten Weltkrieg nur eine kurze Zeit noch die Aufmerksamkeit, dann hatte man mit den blutgerinnungshemmenden Medikamenten neue Möglichkeiten zur Hand, die Patientinnen vorbeugend zu schützen. Andere Probleme schoben sich mit der genaueren Kenntnis der physiologischen Abläufe der Blutgerinnung in den Vordergrund: Verbrauchskoagulopathie wurde ein viel erörterter Vorgang, der sich offenbar häufiger abspielte als man es für möglich gehalten hätte. Septischer Schock, HELLP-Syndrom, alles hatte mit Blutgerinnung zu tun. Der Wandel des Wissens und die Zunahme an Detailkenntnissen, auch die mehr und mehr interdisziplinär ausgerichtete Forschung, ließ Fragen, die mit Hämostasestörungen in Zusammenhang stehen, schließlich mit dem Wechsel in ein neues Jahrhundert auf gynäkologischen Tagungen in den Hintergrund geraten. Unser pathogenetisches Verständnis für uterine Blutungen in und außerhalb der Schwangerschaft war durch die Einbeziehung gezielter Untersuchungsmethoden, vor allem auch in Verbindung zur Mikromorphologie inzwischen deutlich gewachsen – man kann sagen, es sei sogar ein Abschluss erreicht worden, gesichertes Wissen sozusagen. Dieses heutige Wissen hat die klinische Praxis befruchtet, wie man an der jetzt üblichen Behandlung von Nachgeburtsblutungen oder in der Schockprophylaxe sehen kann. Der Entwicklungsweg zum gegenwärtigen State of the Art dessen, was vom fließbeständigen und gerinnbaren Blut im Kreislauf für Schwangerschaft und für die Bandbreite der gynäkologischen Pathologie als pathophysiologisches Verständnis ebenso wie für die Therapie der verschiedensten Krankheitsbilder wichtig ist, war langwierig, mühevoll, führte zeitweilig auch in Sackgassen, brachte Misserfolge, Übertreibungen und Fehleinschätzungen mit sich, welche aber insgesamt das gesicherte Fundament nicht mehr erschüttert haben. Man möchte fast sagen, auf einem solchen beruht nun ein Teil der Klinik der Frauenheilkunde, denn sie ist sicherer geworden, sicherer vor unstillbaren Blutungen, vor Thrombosen, vor Embolien und sicherer auch in der Vermeidung von septischen Infektionen, wenn auch nichts davon ganz verschwunden ist. Die bisherige Entwicklung soll hier an Hand vorwiegend dessen, was mit den Kongressberichten der Gesellschaft veröffentlicht wurde, nachgezeichnet werden (⊡ Tab. 9.1). Weitere Fortschritte sind am ehesten von einer Verfeinerung der Diagnostik zu erwarten, soweit diese etwa Molekular- und Immunbiologie einbeziehen kann. Widmen sich die forschenden Institutionen der Frauenheilkunde diesem Gebiet nicht mehr, weil es für abgehakt gilt, wird es in klinische Nachbardisziplinen abwandern, z. B. in die Hämatologie, Angiologie oder Intensivmedizin. Denn die Weiterentwicklung wird auch hier fortschreiten, innerhalb oder außerhalb der Gynäkologie. Blutungen nach der Geburt beanspruchten schon kurz am Anfang des 20. Jahrhunderts die Aufmerksamkeit in den Verhandlungen der wissenschaftlichen Gesellschaft. W. Sigwart aus der Charité Berlin berichtete 1909 über Erfahrungen mit der Blutleere mit der Umschnürung nach dem Chirurgen Momburg. Wenig später folgte Engemann, Dortmund, mit einem zweiten Bericht über einen tödlich verlaufenden Fall »Die im Körper noch vorgefundene Blutmenge dürfte wohl nicht mehr genügt haben, das Leben zu erhalten.«. Dennoch heißt es dort
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229 Kapitel 9 · Blutgerinnung, Blutungen und Thromboembolie
⊡ Tab. 9.1. Blutungen und Thromboembolie – Programm-Thema auf Kongressen Jahr / Ort
Kongress
Präsident
Thema
Referent
1909
Strassburg
H Fehling
Blutleere (Momburg)
W Sigwart
1925
Wien
H v. Peham
Nachgeburtsblutungen
W Stoeckel, F Kermauner
1933
Berlin
W Stoeckel
Gynäkologische Blutungen
R Schröder
1941
Wien
H Fuchs
Puerperale Phlebitis
K Uhlenbrook
1951
Bad Pyrmont
H Martius
Thromboembolie
E Held
1956
Heidelberg
H Runge
Blutgerinnung
FK Beller
1964
München
W Bickenbach
Hämostaseologie
R Marx H Ludwig
1968
Travemünde
H Kirchhoff
Antifibrinolytika
H SchmidtMatthiesen
1978
München
J Zander
Intravasale Gerinnung
H Graeff
1980
Hamburg
H SchmidtMatthiesen
VerbrauchsKoagulopathie
FK Beller H Graeff W Kuhn
1988
München
H Ludwig
Blutung, Schock, Sepsis
H Graeff
1998
Nürnberg
D Berg
HELLP-Syndrom
M Kolben u.a.
2002
Düsseldorf
HG Bender
Schwangerschaft bei Blutgerinnungsstörung
E Beinder
2008
Hamburg
W Jonat
Operative Therapie bei postpartaler Blutung
D Surbek, R Zimmermann
abschließend: »Wenn man bei einem grossen geburtshilflichen Material oft Gelegenheit hat, Blutungen schwerer und allerschwerster Art zu sehen, wo alle Hilfsmittel selbst der Klinik der Reihe nach versagen, so kann man nur dankbar sein, jetzt ein Verfahren zu besitzen, dass jede Blutung zum mindesten für eine längere Zeit zum Stillen bringt. Und dieses dürfte wohl mit Sicherheit aus den 24 Fällen der Bumm’schen Klinik und Poliklinik hervorgehen.« Die Chirurgie hatte diese Methode bei Amputationen an den unteren Extremitäten angewendet, sie wurde nun auf die Geburtshilfe übertragen. Bei gynäkologischen Erkrankungen (Hysterektomie, unstillbare Genitalblutungen) hatte sich das Verfahren nicht durchgesetzt, obgleich Freund vaginale Extirpationen unter solchen Maßnahmen der Blutleere ausgeführt hat. Man benutzte einen elastischen Gummischlauch, den man ein- oder mehrmals fest unterhalb des Nabels und oberhalb des getasteten Fundus uteri um die Patientin schlang und fest anzog (⊡ Abb. 9.1). Damit wurde eine Aortenkompression erreicht ohne die Baucheingeweide nachhaltig zu beschädigen. Sigwart stellte die bisher gemachten Erfahrungen an 24 Fällen vor, bei den meisten handelte es sich um unstillbare, auch mit Secale-Injektionen und Uterustamponade nicht beherrschbaren atonischen Nachblutungen nach der Geburt Es wird hervorgehoben, dass sich der Uterus nach Eintritt der Blutleere erneut kontrahiere, wenn auch nicht immer (Engelmann). Der Schlauch blieb bis zum Aufhören der Blutung aus dem
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Kapitel 9 · Blutgerinnung, Blutungen und Thromboembolie
9
⊡ Abb. 9.1. Momburg’sche Blutleere, aus W Sigwart (1909) Arch Gynäk 89: 47
⊡ Abb. 9.2. Prof. Walter Stoeckel, 1925 Leipzig. Aus: Schagen U (2010) Walter Stoeckel (1871-1961) als (un) politischer Lehrer – Kaiser der deutschen Gynäkologen? In: David M, Ebert AD (Hrsg) Geschichte der Berliner Universitäts-Frauenkliniken. W de Gruyter, Berlin, 2010 S. 200, mit freundl. Genehmigung
Genitale, maximal bis zu 2¾ Stunden liegen. Die so behandelten Patientinnen empfanden die feste Umschnürung der Taille als schmerzhaft, so dass auch Morphium dabei eingesetzt werden musste. Andere haben die Prozedur offenbar ohne Analgesie ertragen. Die Methode wurde deshalb als erfolgreich in den meisten Fällen beschrieben. Die tödlich ausgegangenen Fälle (berichtet wird über drei) starben vermutlich an Entblutungsschock (»Collaps«, Tachykardie, ausgeblutete Organe). Kurz vor Erscheinen dieser Berichte, also etwa zu derselben Zeit, in der man verzweifelt versuchte, Nachgeburtsblutungen infolge »Atonie« mit heroischen Methoden der externen Aortenkompression zu beherrschen, wurden erste Erkenntnisse über die kaskadenhafte Abfolge der Blutgerinnung bekannt (Paul Morawitz 1905, ⊡ Tab.9. 2). In der Gynäkologie und Geburtshilfe konnten diese Einsichten aus der Inneren Medizin zunächst noch keine Beachtung finden, nämlich inwieweit ein Entblutungsschock sich durch Thrombozytenverlust und »Verlust«-Koagulopathie perpetuieren kann. Diese Vorstellung zu übertragen, zu sichern und in die klinische Praxis der Geburtshilfe und Gynäkologie umzusetzen, blieb einer späteren Generation von klinischen Forschern vorbehalten. Es war Walter Stoeckel (1871–1961, ⊡ Abb. 9.2), damals noch Leipzig, der 1925 auf dem 19. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie, abgehalten in Wien unter dem Prä-
231 Kapitel 9 · Blutgerinnung, Blutungen und Thromboembolie
9
⊡ Tab. 9.2. Historische Schritte zur Kaskade der Blutgerinnung – Theorien zur Physiologie und Pathophysiologie Jahr
Entdecker
Theorie
1905
Paul Morawitz
Thromboplastin (III) + Ca (IV) > Prothrombin (II) > Thrombin > Fibrinogen (I) > Fibrin Hämophilie A: Faktor VIII Mangel
1936/37 1944
Paul Owren
Faktor V – Cofaktoren für Prothrombin > Thrombin
1952
E A Loeliger
Faktor VII
1952
Anton Pavlovsky
Faktor IX (Christmas) Faktor
1957
Faktor X (Stuart-Prower)
1957
Ratnoff+Copley
Faktor XII (Hagemann)
1960
Francois Duckert
Faktor XIII (Fibrin-stabilisierender Faktor)
1970
Thrombozyten (J Bizzozero 1882) beteiligt
sidium von Heinrich von Peham (1871–1930), die Frage der Nachgeburtsblutungen in einem umfassenden Referat Pathologie und Therapie der »Nachgeburtsblutungen« aufgriff und das bis dahin angesammelte Wissen und seine klinischen Konsequenzen zusammenfasste: »Bei einer so bedeutsamen Zusammenkunft, wie es die Tagung unserer Gesellschaft ist, haben wir auch die Pflicht, die Geschichte unseres Faches zu fördern, wenn sich dazu die Gelegenheit bietet. Das aber ist dieses Mal der Fall. Wir müssen, um bei unserem Thema den Zuwachs unseres Wissens und Könnens zu erkennen, um uns vor gedanklichen Irrtümern und praktischen Misserfolgen zu schützen und um weitere Fortschritte anzubahnen bis auf die Männer zurückgehen, deren Denken und Handeln die wissenschaftliche und praktische Grundlage jedweden Fortschreitens auf diesem Gebiete bleiben wird. Sie haben ein Anrecht darauf, dass ihre wissenschaftlichen Verdienste anerkannt und mit einer Deutlichkeit, die keine weitere Diskussion darüber zulässt, erneut und definitiv festgelegt werden. Wir haben zu der Zeit Credès und auch zu den Arbeiten Ahlfelds jetzt den genügenden Abstand gewonnen, um zu einer abschliessenden Kritik über sie und die durch sie veranlassten Forschungen zu gelangen«. Ergänzt wurde Stoeckels Referat von einem kausal-pathophysiologisch ausgerichteten, ebenfalls umfassenden Beitrag von Fritz Kermauner, Wien. In diesen umfangreichen Texten von Stoeckel und Kermauner (223 Seiten) ist niedergelegt, was sich an Fakten und gedanklichen Vorstellungen in den 20er-Jahren in der Geburtshilfe und Gynäkologie zu dem Thema angesammelt hatte. Auch die Diskussion des Themas ist erhalten. Es beteiligten sich daran nicht wenige der damals führenden Persönlichkeiten der deutschsprachigen Gynäkologie (⊡ Tab. 9.2). Stoeckel geht auf den Lösungsvorgang der Plazenta nach normalen Geburten ein, eine Frage, welche sich darauf zugespitzt hatte, ob die Plazenta schnell (Credè K, 1819-1992, Leibzig) oder langsam (Ahlfeld F, 1843-1929, Giessen, Marburg) heraus zu befördern sei. Während Credé gelehrt hatte, die teilweise oder ganz gelöste Plazenta durch Druck auf den Uterus von außen möglichst zügig herauszubringen, nicht zuletzt um aufsteigenden Infektionen vorzubeugen – man stand unter dem Eindruck der Semmelweis’schen Infektionsgenese durch geburtshilfliche intravaginale Manipulationen –, widersprach Ahlfeld insofern, als er dem natürlichen Ablösungsmechanismus und der für den Lösungsvorgang als physiologisch
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Kapitel 9 · Blutgerinnung, Blutungen und Thromboembolie
angesehenen retroplazentaren Blutung Zeit zu lassen lehrte, bis die Plazenta spontan in die Scheide geboren sei (»Hände weg vom Uterus«). Der Nachteil der aktiven Credè’schen Methode lag in der Häufigkeit der Blutungen, jener der abwartenden Ahlfeld’schen in der Intensität der Blutungen. Es kommt auf die Beachtung der Plazentalösungszeichen an, ob man eingreift oder abwartet. Für den eigentlichen Blutstillungsvorgang im uterinen Wundbett hatte man noch keine klare Erkenntnis. Stoeckel führt, Kworostansky (1890) zitierend, aus: »Somit sind also über die Art und Weise, wie die Blutung zum Stillstand gebracht wird, die Akten noch nicht geschlossen, und es wird weiterer Untersuchungen darüber bedürfen, welche Rolle die Gefässe und die Bindegewebsverteilung bei der normalen und pathologischen Blutstillung spielen. Auch die Blutgerinnung, die im ganzen oder auch nur im Uterus allein vermindert sein kann, ... ist ein in seiner Bedeutung noch nicht zu beurteilender und unbedingt weiter zu prüfender Faktor.« Mit der Bemerkung, »ob im Ganzen oder nur im Uterus allein« hat er offenbar einer Beobachtung Rechnung getragen, dass mit dem Geburtsvorgang gelegentlich Anomalien der Blutstillung generell oder auch nur lokal uterin verbunden sein können. Das Hauptproblem war die atonische Nachblutung, sowohl was man vorbeugend zu deren Verhinderung unternehmen könne (Credè’scher Handgriff, Mutterkornalkaloide bzw. Hypophysenhinterlappenextrakte), als erst recht ihre Behandlung (Uterus- und Scheidentamponade, Auffüllung der retinierten Plazenta von der Nabelschnur her, kombinierte Handgriffe, ⊡ Abb. 9.3, ⊡ Tab. 9.3, Aortenkompression, Uterusextirpation) spiegeln stets eine Verzweiflungssituation wieder, in
9 ⊡ Tab. 9.3. Verblutungstodesfälle post partum (Stoeckel 1925) Geburten (nach einer Umfrage von W Stoeckel 1925)
Verblutungstod post partum, alle (incl. Verletzungen, Pl. praevia.)
Verblutungstod durch »atonische« Nachblutung
828 721
512 (0.061%)
217 (0.028%)
⊡ Abb. 9.3. Bimanuelle Kompression der Gebärmutter, aus Lachmann R, Kamin G, Kamil D et al (2008). Die B-Lynch-Naht. Gynäkologe 41 123-126
233 Kapitel 9 · Blutgerinnung, Blutungen und Thromboembolie
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die auch der heutige Geburtshelfer noch gelangen kann. Bis zur Anwendung von Prostaglandinen, von denen man damals noch nichts ahnen konnte, vergingen weitere 50 Jahre. »Wenn man schliesslich gar nicht mehr aus noch ein weiss, so presst man instinktiv mit aller Kraft das blutende Gewebe irgendwie zusammen. Wird eine Blutung so schliesslich beherrscht, so entwickelt sich aus dem instinktiv Gemachten eine Methode.« so Stoeckel 1925. Stoeckel standen in der Geburtshilfe Hämostaseuntersuchungen noch nicht oder nur mangelhaft zur Verfügung. Bekannt war die Bedeutung von Thrombopenien oder auch hämorrhagische Diathesen, ein Begriff, mit dem man damals die klinischen Symptome von angeborenen wie auch erworbenen Blutgerinnungsdefekten zusammenfasste, weil man es nicht besser konnte. Immerhin aber führte die genaue klinische Beobachtung schon damals zu dem Schluss, dass nicht ganz selten humorale und gewebliche Faktoren (der »Konstitution«) oder aber akut erworbene Hämostasestörungen bei der Entstehung »atonischer« Nachblutungen eine Rolle spielen müssten: »Nicht die Reduktion des Hämoglobingehaltes und die Abnahme der Erythrozyten, sondern die biologischen Veränderungen des Blutes die zu dem Krankheitsbild der ‚hämorrhagischen Diathese’ führen, oder die Gerinnungsunfähigkeit des Blutes trüben die Prognose.« Die abschließenden Handlungsempfehlungen von W. Stoeckel (1925) bei atonischen uterinen Blutungen nach der Geburt des Kindes waren: ▬ Vor der Geburt der Plazenta: Wehenmittel → Massage →Credé’scher Handgriff → manuelle Lösung der Plazenta ▬ Nach der Geburt der Plazenta: Intrauterine Nachtastung → Massage → Aortenkompression → Spülungen → erneutes Nachtasten bei anhaltender Blutung → Tamponade → transvaginales Abklemmen der uterusnahen Parametrien (Henkel) → kombinierte Handgriffe Zur Zeit seines hier zitierten Grundsatzreferates gab es neben der intravenösen Zufuhr kristalloider isotoner Lösungen allenfalls die Möglichkeit der direkten Blutübertragung von einem Spender. Eine Schockbehandlung war so gut wie nicht existent. Man musste sich auf die einfachsten Kreislaufüberwachungsmaßnahmen (Puls, Blutdruck, Atmung, Bewusstsein) beschränken. Fritz Kermauner, Wien, der Ko-Referent 1925 (⊡ Abb. 9.4), versuchte das Konzept Stoeckels, dass nämlich Blutungen post partum in erster Linie durch effektive Kontraktionen während der rhythmischen Nachwehen gestillt würden und es diese vordringlich zu beachten, anzuregen oder zu verstärken gelte, zu erweitern. Kermauner ging auf die Bedingungen für Tonus und Kinetik des Muskels ein, demzufolge die Atonie einer Adynamie entspricht mit Abhängigkeiten vom jeweiligen Zustand und der Funktion des Gesamtorganismus. In der Beschaffenheit der ausgestoßenen Plazenta sah er ein Erkenntnismittel, wobei er, wenn auch eher nebenbei, als wohl erster auf die Besonderheiten der vorzeitigen Plazentalösung mit der Entstehung eines retroplazentaren Hämatoms und den dann folgenden Komplikationsmöglichkeiten durch nicht oder schlecht stillbare Blutung einging. Kermauner formuliert dabei eine makromorphologisch untermauerte These zum Ablösungsvorgang (⊡ Abb. 9.9., ⊡ Abb. 9.10): »Die Kotyledonen sind etwas in der Form ausserordentlich Wechselndes; ich kann sie schon deshalb nicht als etwas im anatomischen Bau ursprünglich Bedingtes ansehen. Sie sind an der geborenen Plazenta nicht mehr veränderlich, nicht mehr reversibel. Das weist auf Einflüsse zweiten Ranges, die dazu treten, auf Gerinnungsvorgänge, welche eine solche Erstarrung bewirken. Diese Gerinnung, Erstarrung des Gebildes ist nun ein wichtiger Umstand, welcher die weitere Ablösung begünstig; eben wieder in dem ... Sinne , dass jede
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Kapitel 9 · Blutgerinnung, Blutungen und Thromboembolie
⊡ Abb. 9.4. Fritz Kermauner (1872–1931), aus Wagner GA (1931) Arch Gynäk 146, 155
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Verschiebung der Muskelfasern die Festigkeit und Dehnbarkeit der zwischengelagerten Dezidua auf die Probe stellt bzw. mehr oder weniger rasch, mehr oder weniger gleichmässig überlastet und damit eine Zerreissung der lockeren Schichten zur Folge haben muss. Abweichungen von der Regel, etwa das übergrosse retroplazentare Hämatom, das gelegentlich sogar zum Verblutungstode geführt haben soll, lassen auf das regelmässige Geschehen keine bestimmten Schlüsse zu.« Und zu den verzweigten uterinen Gefässen, die in »Spiralarterien« zur materno-fetalen Trennfläche aufsteigen, zitiert er A. Labhardt (1910) und J Veit (1894): »Die Muskelbündel bilden einerseits Schleifen um die Gefässe, andererseits ein Maschenwerk. Die Gefässe werden so durch ein Ineinanderscheren der Bündel verschlossen. Arbeitet der Muskel nicht genügend, so muss es bluten. Erst in zweiter Linie steht die Blutgerinnung. Die Thrombenbildung sei abhängig von den Gefässen bzw. den Kontraktionen. Sie wird rasch zustande kommen, wenn die Gefässe eng sind. ... die Kontraktionen [sind] manchmal nicht schlecht und es blutet doch.« In Ansätzen hat Kermauner bereits vorausgeahnt, was heute gesichertes Wissen ist: Die uterine Blutstillung post partum beginnt in den durch die Muskelkontraktion verengerten arteriellen Gefässen, welche durch den Uterusmuskel ziehen und zum Plazentarbett aufsteigen. Sie werden im Zuge wiederholter Kontraktionen durch kleine Thromben verschlossen, ein Vorgang, der sich bereits in der Dezidua angebahnt hat (»Erstarrung der Kotyledonen«). Diese Konsistenzzunahme des plazentaren Gewebes setzt den Ablösungsvorgang der ganzen Plazenta in Gang und fördert ihn. Ist die Gerinnung lokal gestört, kommt es zu heftigeren Blutungen in den retroplazentaren Raum. Bei weiterhin vorhandenen Uteruskontraktionen kann es zur Einschwemmung von »thromboplastischem« Material in den Gesamtkreislauf kommen, der schließlich eine disseminierte intravasale Gerinnung initiiert. Fritz Kermauner hat 1925 von der heute gesicherte Pathophysiologie der Blutgerinnung noch nichts wissen können. Aber er hat die Zusammenhänge bereits skizziert und das wenige von vorher (A. Labhardt, J. Veit) gesichtet, indem er die bis 1925 bekannte Literatur daraufhin abgesucht und Hinweise gefunden hat. Diese hat er noch nicht in den Rang einer formulierten Hypothese bringen können. Aber das Verdienst, die Zusammenhänge richtig vorhergesagt zu haben, ist diesem bescheiden sich zurückhaltenden Mann nicht zu nehmen.
235 Kapitel 9 · Blutgerinnung, Blutungen und Thromboembolie
9
⊡ Tab. 9.4 Referenten und Diskutanden zum Thema Nachgeburtsblutungen 1925, anlässlich des 19. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie in Wien Sprecher: Name/Ort
Zum Thema
Referat Stoeckel, Leipzig
Pathologie, Therapie
Referat Kermauner, Wien
Ursachen der Nachgeburtsblutungen
Weitere Vorträge und/ Diskussionen: Fraenkel, Breslau
Habituelle Atonie und Plazentaadhärenz
Frey, Zürich
Auffüllung des postp.Uterus durch eisgekühlte NaCl Lösg
Füth, Köln
Uterustamponade
Gauss, Würzburg
Aortenkompression, Secale
Heynemann, Hamburg
Leitung der Nachgeburtsperiode
Hoehne, Greifswald
Erfahrung mit Secale (Gynergen)
Latzko, Wien
Operative Vorlagerung und Umschnürung des Uterus
Mayer, Tübingen
Konstitution, Austastung des Uterus, Uterustamponade
Opitz, Freiburg
Uterusextirpation, Retention von Plazentaresten
Reifferscheid, Göttingen
Entleerung der Harnblase vor Credè’schem Handgriff
Seitz, Frankfurt
Vasomotoresystem. Massage des Uterus
Sellheim, Halle
Ausbildung von Studenten in Blutstillungsfragen
Wagner, Prag
Prophylaxe der Plazentaretention
Zangemeister, Marburg
Atonie, Cervixrisse
Die Aussprache zu beiden Referaten (⊡ Tab. 9.4) unterstrich verschiedene Gesichtspunkte und brachte einige neue Facetten in das Gesamtvorstellung von Ätiologie, Pathologie und Therapie der Nachgeburtsblutungen. Vieles, wie die Auffüllung der Plazenta mit eiskalten oder angewärmten Lösungen, die Uterustamponade mit Jodoformgaze, ist inzwischen weitgehend vergessen wie auch die Aortenkompression. Instrumentarien dafür werden noch in alten Sammlungen wie Folterinstrumente gezeigt. Die Abgrenzung der atonischen Nachblutungen von solchen aus Rissen ist nach wie vor aktuell. Hervorgehoben aber werden muss, dass es Wilhelm Latzko, Wien (1863-1945) war, der auf die operative Vorlagerung des blutenden Uterus mittels eines kurzen Schnittes und die Möglichkeit der direkten Umschnürung aufmerksam gemacht hat, ein Verfahren in lebensbedrohlichen Fällen andauernder postpartaler Blutung, das auf A. Labhardt (1909) zurückgeht. Diese Anregung wurde sehr viel später mit der B-Lynch-Naht wieder aufgegriffen, freilich, ohne an Latzko oder Labhardt zu erinnern. W. Latzko (1925) äußerte sich: »...ist für jene seltenen Fälle vorbehalten, in denen die Totalextirpation oder die supravaginale Amputation des atonischen Uterus als äusserstes Hilfsmittel erscheint und besteht in der provisorischen Umschnürung der durch einen kurzen Leibschnitt vorgelagerten Gebärmutter mittels eines Kautschukschlauches oder eines nassen Gazestreifens. Die Vorlagerung der Gebärmutter benötigt nur einen ganz kurzen Schnitt, weil der atonische
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9
Kapitel 9 · Blutgerinnung, Blutungen und Thromboembolie
Uterus wie ein Zystensack mit Zangen vorgezogen werden kann. Labhardt hat diesen Vorschlag im Jahre 1909 ... gemacht. ....Indem ich über die ursprüngliche Idee, dass der Eingriff nur als Vorakt einer folgenden Uterusextirpation in Betracht käme, hinausgehend die Möglichkeit in Erwägung zog, durch direkte Injektion verschiedener Mittel in die Uterusmuskulatur, durch direkte Massage oder durch die Wirkung der Anämisierung oder Kohlensäureüberladung, die wir bei Anwendung des Momburg’schen Schlauches kennen gelernt haben, kräftige Uteruskontraktionen herbeizuführen, wonach gegen die Reposition des provisorisch vorgelagerten Organes bei entsprechender Aufrechterhaltung der Asepsis kein Hindernis vorliegt. In solchen Fällen, in denen die Uterusextirpation als Ultimum refugium vor der Türe steht, ist das geschilderte Verfahren jedenfalls leichter zu ertragen und auch unter schlechten äusseren Verhältnissen leichter durchzuführen als die Extirpation oder Amputation des puerperalen Uterus.« Sehr viel später wurde diese Anregung wieder aufgegriffen mit der B-Lynch-Naht (⊡ Abb. 9.5). Ein besonders geschichtskundiger späterer Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie, Robert Schröder (⊡ Abb. 9.6), hat die Verdienste beider Referenten des Jahres 1925 gesehen, als er sie in seiner Präsidialansprache, ein Rückblick auf 30 Jahre der Gesellschaft, würdigte (1954): »Das wichtige Kapitel der Nachgeburtsblutungen erscheint nur einmal 1925 in ausgezeichneten Referaten von Stoeckel und Kermauner. Die Thesen sind klar und überzeugend. Neues ist kaum hinzugekommen.« Der 23. Kongress der Gesellschaft fand vom 11.-14. Oktober 1933 in Berlin statt. Präsident war Walter Stoeckel. Er hatte Robert Schröder, Kiel, gebeten, ein Referat über Gynäkologische Blutungen, Pathogenese und Diagnose zu halten, ergänzt durch ein Ko-Referat von H. Runge, Heidelberg, über die Therapie gynäkologischer Blutungen. Im Zusammenhang mit dem hier behandelten Thema sind die Ausführungen Schröders besonders bemerkenswert, weil Schröder es war, der mit seinen histologischen Untersuchungen am Endometrium im Verlauf des Zyklus Atlas über den normalen menstruellen Zyklus der Uterusschleimhaut die bis heute geltenden Vorstellungen vom Aufbau, Funktionshöhe, Abbruch der Schleimhaut
B-Lynch-Technik drosale Ansicht der Nahtführung 3 -4 cm
3 -4 cm
B-Lynch-Technik ventrale Ansicht der Nahtführung
3 cm 3 cm
3 cm
B-Lynch-Technik ventrale Ansicht der Applikation des Knotens
3 cm
B-Lynch-Technik ventrale Ansicht der Nahtführung
⊡ Abb. 9.5. B-Lynch Naht. Aus: Lachmann R, Kamin G, Kamil D et al. (2008) Die B-Lynch-Naht. Technik und Vergleich mit der bimanuellen Uteruskompression. Gynäkologe 41: 123-126
⊡ Abb. 9.6. Robert Schröder (1884–1959), aus Ludwig H (1999) Die Reden. Springer, Heidelberg, S 215
237 Kapitel 9 · Blutgerinnung, Blutungen und Thromboembolie
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geprägt hat. Hier soll nur auf die Entstehung der »Desquamationswunde« und der daraus folgenden Blutung eingegangen werden. Schröder führte z. B. Abbruch – Blutung nach Follikelpersistenz seine histologischen Beobachtungen an: » Hört die Follikelsekretion auf oder lässt der Follikulinstrom auch nur nach, so kommt es zu Gewebestörungen in dem abnorm proliferierten Endometrium. Es bilden sich kleine lokale Thrombosen und sekundäre Nekrosen, die zu Gewebszerfall führen und die Blutung bedingen. Die Nekrosen und thrombotischen Bezirke sind oft sehr ausgedehnt und befallen auch einmal allmählich die ganze funktionelle Endometriumsschicht, sie können aber auch verhältnismässig klein sein; trotzdem können sie die Quelle erheblicher Blutungen darstellen, da die Muskulatur die Blutstillung nur schlecht vollführen kann, weil als ein dickes, druckzerteilendes Polster das Endometrium zwischen der eigentlichen Blutungsquelle und dem Myometrium liegt. Im Gegensatz dazu ist die Muskelwirkung bei der wunden Basalis nach Desquamation des prägravid umgestalteten Endometriums eine prompte, weil die blutenden Gefässstümpfe in nächster Nähe der Muskulatur liegen. »Schröder beschreibt 1933 ein Zusammenwirken von Uterusmuskulatur und Thrombusbildung in den Arkadengefäßen des funktionalen Endometriums, die umso schneller wirkt, je weniger dick das lokale Stromapolster ist. Er setzt die Blutstillung dabei in Parallele zum endokrinen Geschehen und illustriert die zeitlichen Abläufe mit den zyklischen Blutungsschemata, die auf Kaltenbach zurückgehen.Der erste ausführlichere Beitrag zu einer besonderen Form der Thrombosebehandlung erschien 1941 von K. Uhlenbroock, Lübeck. Er griff eine von dem Chirurgen Friedrich Trendelenburg, Rostock, Bonn, Leipzig (1844–1924) ausgeführte Operation auf, mit der bei drohender Puerperalsepsis und tastbarer Beckenvenenthrombose verhindert werden soll, dass auf eine infizierte puerperale parauterine Thrombose Lungenembolie oder Sepsis nachfolgen. Er berichtet ausführlich nicht nur über die bis dahin gesammelten Erfahrungen im Fach, sondern über 14 eigene Fälle, von denen 4 Frauen verstarben. Die Ligatur von Beckenvenen ist in der Geburtshilfe zur Vermeidung einer puerperalen Sepsis offenbar nur an wenigen Orten und vereinzelt angewendet worden (1907–1937), aber es wurden Sammelstatistiken mit einer durchschnittlichen Letalität des Verfahrens von ca. 50% veröffentlicht. Das Ziel dieses Eingriffes war nicht die Beseitigung einer Thrombose, meistens lokalisiert in einer »Ovarialvene«, sondern der Versuch der Unterbrechung des Ausbreitungsweges vom infizierten Uterus weiter über den pelvinen Venenplexus. Aus Obduktionsbefunden zitiert Uhlenbroock: »Das Gefässrohr der Vene ist weitgehend
thrombosiert. Der Thrombus lässt sich in vielen Fällen bis in das Wurzelgebiet verfolgen und ist oft schon in eitriger Einschmelzung begriffen. Am häufigsten ist von der Thrombophlebitis die Vena ovarica betroffen, weniger die Vena uterina und die Vena hypogastrica. Das zentrale Ende des Thrombus ist oft noch weich, mitunter kaum fühlbar, während er im peripheren Abschnitt, sofern er nicht eingeschmolzen ist, eine mehr knollige, feste Konsitenz besitzt. Die begleitende Lymphangitis oder perivaskuläre Phlegmone tritt zurück oder ist nur im Bereich [einer] Abszedierung besonders deutlich. Dieser Befund spricht für eine primär im Wurzelgebiet der Vene entstandene Thrombophlebitis. In den ungünstig [?] ausgehenden Fällen sind die grossen Venenstämme oft ohne wesentliche Veränderungen und der thrombophlebitische Prozess ist auf ein kleines Uteruswandgefäss beschränkt.« Eine septische Ovarialvenenthrombose, vorwiegend rechtsseitig auftretend, wird hin und wieder mit Erfolg operiert werden können in Fällen, in denen die heutige AntikoagulantienBehandlung keinen schnellen Erfolg bringt oder die medikamentöse Thrombolyse (Strekptokinase) als zu riskant erscheint. Da man aber heute in der Prophylaxe viel mehr zu leisten fähig ist als in der Zeit vor Antikoaulanzien und Antibiotika, ist die Erwähnung der »Venenligatur« nur aus historischen Gründen gerechtfertigt.
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9
Kapitel 9 · Blutgerinnung, Blutungen und Thromboembolie
Die Thromboembolie und ihre Bedeutung für die Frauenheilkunde war 1951 eines der Kongress-Hauptthemen (Präsident H. Martius, Göttingen). Er gewann für das Hauptreferat E. Held, Zürich, der eine große Erfahrung mit der Prophylaxe und Behandlung thromboembolischer Komplikationen in der operativen Gynäkologie und Geburtshilfe hatte. Die Frauenkliniken in St. Gallen, Zürich und Basel hatten sich dem Problem früher als die deutschen gewidmet. Mit Einführung des Heparins und der Kumarin-Derivate (Dicumarol, Tromexan) verbesserte sich die Situation drastisch gegenüber früher. Vor allem die Autoren aus den skandinavischen Ländern waren führend in der Anwendung blutgerinnungshemmender Medikation, beispielhaft H. Zilliacus, Helsinki. Held ging vor allem auf Statistiken ein, die zu dieser Zeit aus verschiedenen deutschsprachigen Frauenkliniken vorlagen, die am meisten umfangreiche aus Zürich (Die Erhebungen beziehen sich auf den Zeitraum mit konservativer Therapie vor der Einführung von Antikoagulanzien, ⊡ Tab. 9.5). Darin kam zum Ausdruck, dass die tödliche Lungenembolie ein beachtenswertes, vor allem meist plötzlich und unerwartet eintretendes Ereignis ist, dem man nur durch eine sehr gründliche Untersuchung auf beginnende Wadenvenenthrombosen beikommen konnte. Diese konservative Therapie bestand vor allem in physikalischen Massnahmen und in langer Bettruhe (bis 4 Wochen), wobei die Vorstellung leitete, dass die erkannte Beinvenenthrombose stabilisiert werden musste, um eine Lungenembolie zu verhindern. Die klinischen Untersuchungsverfahren zur Erkennung einer beginnenden Beinvenenthrombose wurden akribisch festgelegt. Die Untersuchungsmethoden wurden systematisiert, von etwa 1946 an bei dem geringsten Verdacht orale Antikoagulanzien verabreicht. Damit verkürzten sich auch die langen Liegezeiten bei Verdachtsfällen nach Geburten oder nach gynäkologischen Operationen. Da die orale Antikoagulanzientherapie einer engmaschigen Laborüberwachung bedurfte (unter der Therapie musste die Prothrombin-Zeit auf das 5- 6-Fache der Norm verlängert bleiben), entwickelten sich in den Laboratorien besondere Arbeitsplätze für die Untersuchung der Blutgerinnung, die wenig später auch an einigen Orten zu Zentren der klinischen Forschung geworden sind. Bei Weiterschreiten der Thrombose wurde Heparin eingesetzt, das sich auch als das unschlagbar beste Medikament für die eingetretene Lungenembolie erwies, zumindest solange, bis hochgereinigte Streptokinase zur Thrombolyse eingesetzt werden konnte, aber auch dann nur mit nachfolgendem Heparin. Der Überwachungsbedarf war bei Heparin geringer als bei Anwendung von oralen Antikoagulanzien, dafür aber die Blutungsgefahr größer. Zwar kann Heparin eine Lungenembolie nicht mit Sicherheit verhindern, jedoch sein Einsatz dazu führen, dass diese unter Antikoagulation auftretenden thromboembolischen Komplikationen nicht oder nur noch selten tödlich verliefen. Die Frauenklinken der damaligen Zeit waren bald überall von der generellen postoperativen Thromboseprophylaxe
⊡ Tab 9.5. Thromboemboliemorbidität an der Universitäts-Frauenklinik Zürich 1922/42 Autor / Klinik / Zeitraum
Geburten
Th Koller, Zürich. 1922/1942
35 204
Th Koller, Zürich 1922/1942
Gynäkologische Patientinnen (vorwiegend postoperativ)
21 726
Thromboembolie
davon tödlich
494 (1.4%)
7 (0.02%)
394 (1.8%)
47 (0.22%)
239 Kapitel 9 · Blutgerinnung, Blutungen und Thromboembolie
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überzeugt und führten sie durch, auch generell nach Kaiserschnitten oder bei offenkundig thrombosegefährdeten Wöchnerinnen selbst nach Spontangeburten. In Heidelberg traf man sich zum 31. Kongress unter dem Präsidium von H. Runge (⊡ Abb. 9.7), der sein bekanntes Interesse an Fragen der Blutgerinnung dadurch zum Ausdruck brachte, dass er in zeitlichem Zusammenhang mit der Tagung, aber unabhängig davon, ein Symposium über Physiologie und Pathologie der Blutgerinnung in Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett«, gestalten ließ, an dem F.K. Beller, Giessen, (⊡ Abb. 9.8) massgeblich beteiligt war, der kurz danach sein Buch über Die Gerinnungsverhältnisse bei der Schwangeren und beim Neugeborenen veröffentlichte, die erste monographische Darstellung des Themas aus der Geburtshilfe in Deutschland. Heidelberg wurde so zum Gründungsort der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Blutgerinnungsforschung (DAB, heute Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung, GTH), die ihre erste Tagung dort im gleichen Jahr (1956) abhielt. An der Medizinischen Universitätsklinik Heidelberg war Helmut Hartert tätig, der Erfinder des Thrombelastographen, an der Universitäts-Frauenklinik Irene Hartert, gefördert von Hans Runge. Die treibende Kraft war der Internist Rudolf Marx aus München, gefolgt von H.G. Lasch aus Heidelberg (später Giessen). So fand der interdisziplinäre Charakter der Blutgerinnungsforschung ihren Ausdruck in dem multidisziplinären Panel und das in engem Kontakt mit der Frauenheilkunde. Heute ist diese Arbeitsgemeinschaft als GTH, deutsche Sektion, Bestandteil der International Society of Thrombosis and Hemostasis. Auf dem genannten Heidelberger Symposium wurde über die Anfänge der Blutgerinnungsforschung weltweit vorgetragen: Dass die vorzeitige Plazentalösung mit unstillbaren Blutungen einhergehen könne, war von J. E. de Lee (1901) und ansatzweise von Alexandre Couvelaire (1844-1934) beschrieben worden, wurde aber erst jetzt breiter bekannt. Der hämorrhagisch verfärbte, inerte und partiell thrombosierte Uteruswand wird nach Couvelaire bezeichnet. C. L. Schneider (1951) hatte, die Zusammenhänge mit einer Verbrauchskoagulopathie voraussehend, von der Möglichkeit einer »Defibrinierung« bei vorzeitiger Plazentalö-
⊡ Abb. 9.7. Hans Runge (1892-1964), Greifswald, Heidelberg
⊡ Abb. 9.8. Fritz Karl Beller (1924-2008), Karlsruhe, Giessen, New York, Münster (Aufnahme aus dem Jahr 2000; Gynäkologe (2008) 41: 840)
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Kapitel 9 · Blutgerinnung, Blutungen und Thromboembolie
sung gesprochen. Wenige Jahre danach hatte er es unmissverständlich formuliert; in Deutschland wurde eine Zeitlang der Ausdruck Afibrinogenämie bevorzugt. Zu diesem Zeitpunkt wurde die vorzeitige Plazentalösung zum inzwischen klassisch gewordenen Beispiel einer Verbrauchskoagulopathie, ein pathophysiologisches Konzept, das vielfach bestätigt worden ist, vor allem durch Donald McKay. Die pathogenetischen Vermutungen von Stoeckel und vor allem von Kermauner (1925) waren nach 30 Jahren in eine überzeugende und klinisch brauchbare pathogenetische These verwandelt worden. Das Thema wurde auf dem 35. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie in München 1964 wieder aufgegriffen. W. Bickenbach war Präsident. Hans Runge, der als Ehrengast eingeladen worden war und an der Eröffnungssitzung teilnahm, starb während des Kongresses in München an den Folgen eines Unfalls. Bickenbach selbst ging auf die immer noch hohe mütterliche Mortalität bei geburtshilflichen Blutungen ein (⊡ Tab. 9.6), die zu einem bisher nicht genügend bekannten Anteil an »Blutgerinnungsstörungen« zurückzuführen sei. Zum behandelten Themenkreis gehörten auch Todesfälle an thromboembolischen Komplikationen. An einem Rundtischgespräch mit Vorträgen zu Aktuellen Fragen der Hämostaseologie in der Geburtshilfe und Frauenheilkunde wurden alle bekannten Fakten zusammengetragen. R. Marx machte auf bleibende Schäden einer überstandenen Lungenembolie aufmerksam und führte den Begriff »Cor matrum« ein (akutes und chronisches Cor pulmonale, infolge wiederkehrender Mikroembolien; Kardiomyopathien). Zur gestörten postpartalen Hämostase sprach H. Zilliacus, Helsinki. Puder griff die Zusammenhänge zwischen Plazentalösung und Nachblutung auf, Niesert und J. Schneider sprachen über die Rolle des retroplazentaren Fibrindepots für eine Verlustkoagulopathie, Ludwig erwähnte die Möglichkeit nachfolgender Hyperfibrinolyse. Ambrus wies auf den therapeutischen Wert und auf Gefahren von Antifibrinolytika (ε-Aminocapronsäure, AMCHA, Trasylol) hin. Berichtet wurde auch über Fälle erfolgreicher Thrombolyse mit Streptokinase bei schwerer Bein- und Beckenvenenthrombose im III. Trimenon der Gravidität (W. Pfeifer, Mainz; H. Ludwig, München). Die mögliche Begünstigung von Thrombosen durch die Einnahme von oralen Kontrazeptiva wurde ausführlich diskutiert (Schmidt-Matthiesen, Göttingen; F. K. Beller, Giessen). Der Arbeitskreis traf sich erneut auf dem 37. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie 1968 in Travemünde (Präsident H. Kirchhoff, Göttingen): HämostaseologieProbleme in der geburtshilflich-gynäkologischen Forschung und Klinik. Teilnehmer waren: H. Graeff, Heidelberg, E. Halberstadt, Frankfurt, H. J. Herschlein, Tübingen; H. Hoffbauer,
⊡ Tab. 9.6. Müttersterblichkeit bezogen auf 100.000 Lebendgeborene an Blutungen Länder
1952
1961
Deutschland (BRD)
25.1
19.3*
USA (caucasians)
8.9
Dänemark
1.4
England + Wales
5.9
Japan
36.4
Marx R, Ludwig H (1965) Zbl. Gynäk 87: 418 * Zum Vergleich Letalität an atonischer Nachblutung 1925: 28% [Stoeckel, s. o.] d. h. Rückgang um nur ein Drittel.
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Berlin; W. Kuhn, Heidelberg; H. Ludwig, München; W. Pfeifer, Mainz; K. Schander, Bonn; H. Schmidt-Matthiesen, Göttingen; J. Schneider, Freiburg; D. F. Steichele, Tübingen. Das Arbeitsgespräch informierte über den Stand der klinischen und experimentellen Arbeit aus den einzelnen Gruppen sowie über Empfehlungen für das klinische Handeln, die aus der Pathogenese abzuleiten sind. H. Graeff und W. Kuhn, Heidelberg, berichteten über Verbrauchskoagulopathie bei menschlichen Shwartzman-Sanarelli-Äquivalenten und über Heparin beim septischen Abort, insbesondere stellte W. Kuhn einen einfachen Test zur Bestimmung zirkulierender Fibrinmonomere vor (Äthanol-Test). Herrschlein, Tübingen, empfahl bei jedem hochfieberhaften Abort eine Heparin-Prophylaxe zur Vermeidung einer Verbrauchskoagulopathie einzusetzen. E. Halberstadt, Frankfurt, konnte mit Immunfluoreszenz zeigen, dass in der Plazenta eine Gewebethrombokinase vorkommt, die vermutlich für die Initiierung der Blutstillung im Plazentarbett eine Rolle spielt. J. Schneider, Freiburg, berichtete über transfusionsbedingte Hämostasedefekte einschließlich der feto-maternalen Transfusion, bei der eine Verbrauchskoagulopathie offenbar nicht droht. H.J. Herschlein, Tübingen, und W. Pfeifer, Mainz, berichteten erstmals über Fruchtwasserembolie und dead-fetus-syndrome. H. Schmidt-Matthiesen fasste die Erfahrungen mit Antifibrinolytika zusammen, ergänzt von H. Hoffbauer, Berlin. Die Kombination von Heparin und Trasylol bei der atonischen Nachblutung zusammen mit Oxytocin brachte Erfolg, jedoch lagen dazu noch keine beweiskräftigen Studien vor. Inzwischen gab es Berichte zur thrombolytischen Therapie von Venenthrombosen in der Gravidität an insgesamt 38 Fällen. Die geborenen Kinder waren unauffällig. Aus Göttingen wurde über einen Fall berichtet, bei dem in der 9. SSW eine Thrombolyse mit hochdosierter Streptokinase erfolgreich behandelt worden war (Martin). Man war sich jedoch darin einig, dass die thrombolytische Therapie in der Gravidität sehr streng indiziert und Behandlungszentren vorbehalten werden sollte. Die Empfehlungen wurden wie folgt zusammengefasst 1. Zusätzliche Heparinprophylaxe beim hochfieberhaften Abort. 2. Bei akuten krisenhaften Hämorrhagien in der Nachgeburtsperiode Schockbekämpfung, Fibrinogensubstitution (nach Diagnose einer Verbrauchskoagulopathie), ThrombozytenErsatz, jedoch Zurückhaltung mit Heparin. 3. Bei Ausschluss von Verbrauchskoagulopathie können Fibrinolysehemmer zur Verbesserung der Blutstillung bei post partum Blutungen eingesetzt werden. 4. Hochdosierte Streptokinase zur Thrombolyse bei obliterierenden Venenthrombosen ist in der Schwangerschaft möglich. 5. Die parallele Antikoagulanzienbehandlung bei der Strahlenbehandlung fortgeschrittener Zervixkarzinome ist sinnvoll. J. Zander präsidierte die 42. Versammlung in München (1978). Die Hämostaseologie wurde zwar kein Hauptthema, die Forschung aber war inzwischen fortgeschritten, vor allem im diagnostischen Bereich. H. Graeff und G. Blümel, München, stellten ihre Untersuchungen über die Diagnose einer existenten Verbrauchskoagulopathie vor, indem sie das Verfahren beschrieben, mit dem sich zirkulierendes Fibrin (Fibrinmonomere) im Blut nachweisen lässt. Der methodische Ansatz hat auch heute noch Gültigkeit und verhalf dazu, eine Verbrauchskoagulopathie bzw. DIC (disseminierte intravasale Coagulation) wie man sie, einem Vorschlag D. C. McKays folgend, jetzt bezeichnete, sicher nachzuweisen. Man vermochte dadurch ein Initialstadium, den Verlauf, den Schweregrad und verschiedene ätiologische Voraussetzungen der zuvor als Afibrinogenämie umschriebenen Blutgerinnungsstörung besser einzuschätzen.
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Die methodischen Untersuchungen beruhten auf sorgfältigen Analysen bei Fällen von vorzeitiger Plazentalösung, dead fetus syndrome, Fruchtwasserembolie, septischem Abort und Urosepsis (17 Fälle). Das lösliche, quervernetzte Fibrin wurde aus dem Gelfiltrations-vorgereinigten Plasma durch Immunabsorption nachgewiesen. In allen Fällen wurden hochmolekulare Fibrin-Oligomere bis zu 30 mg/100 ml Plasma gefunden. Ebenso wurden Fibrinabbauprodukte (X, Y, D, E und D-D beobachtet, Molekulargewicht zwischen 45.000 und 1-2 Mio. Dalton). An den methodischen Untersuchungen hatten G. Blümel und seine Mitarbeiter, vom Institut für Experimentelle Chirurgie an der TH München, wesentlichen Anteil. Der Schritt von Blutgerinnungstesten zur biomolekularen Analyse war getan (1976-78). Im Jahr zuvor hatte das Jahres-Symposion der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Blutgerinnungsforschung den aktuellen Stand der interdisziplinären Forschung, unter Einschluss der Geburtshilfe, aufgezeichnet (Blutgerinnung und Gefässwand, Symposion, Essen 1977, veröffentlicht 1981). Fast alle, die damals in der Blutgerinnungsforschung aktiv waren, nahmen an dieser Arbeitstagung teil. Im Berichtsband sind ausführliche Beiträge enthalten, so von F. Hammersen (Anatomie) zur Oberflächenfunktion des Endothels, von H. Schmidt-Schönbein (Physiologie) zum Fließverhalten des Blutes, von D. G. McKay (Physiologie) zur chronischen intravasalen Gerinnung, von H. Graeff (Gynäkologie) zum Verhalten der Blutgerinnung in der Schwangerschaft und von F. K. Beller (Gynäkologie) zu Antithrombin-III-Verhalten bei oraler Kontrazeption. Inzwischen konnte Fibrin im intervillösen Raum der Plazenta etwa nach hypertensiven Schwangerschaftserkrankungen (⊡ Abb. 9.9) bzw. vor allem an der Basalplatte auch nach ungestörtem Ablösungsvorgang der Plazenta (⊡ Abb 9.10) mikromorphologisch eindeutig sichtbar gemacht werden (H. Ludwig, H. Metzger, 1976). Unter den nunmehr erprobten diagnostischen Möglichkeiten, welche die hämostaseologische Forschung in den Jahren 1960-1980 erarbeitet hatte, war es angebracht, den Stand des
⊡ Abb 9.9. Fibrin im intervillösen Raum der Plazenta bei Schwangerschaftshypertonie. Aus: Ludwig H, Metzger H (1976) The Human Female Reproductive Tract. Springer-Verlag, Heidelberg
⊡ Abb. 9.10. Fibrin in der Basalplatte der normalen Plazenta, geboren am Termin nach ungestörter Schwangerschaft. ly: Lymphozyt, c: Fibrin-Clot, pl: Thrombozyten, Erythrozyten. Aus: Ludwig H, Metzger H (1976) The Human Female Reproductive Tract. Springer-Verlag, Heidelberg
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Wissens darzulegen und die bis dahin formulierten Hypothesen in gesicherte Vorstellungen von der Ätiologie, Pathogenese, Diagnose und Therapie innerhalb des Fachgebietes umzusetzen. Dazu bot der 43. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe in Hamburg Gelegenheit (die Namenserweiterung »und Geburtshilfe« war 1974 erfolgt). Wieder traf sich der Arbeitskreis (F.K. Beller, H. Graeff, W. Kuhn, H. Ludwig, K. Schander) und man berichtete zur Verbrauchskoagulopathie (DIC), nämlich Nomenklatur, Hyperkoagulabilität, Rheologie, Toxämie, Abruptio placentae, intrauteriner Fruchttod, Fruchtwasserembolie, Chorioamnionitis, septischer Abort und Differenzialdiagnose der hämorrhagischen Diathesen. Unter anderem wurden die labordiagnostischen Voraussetzungen zur Differenzierung von Hyperkoagulabilität und DIC beschrieben (⊡ Tab. 9.7). Der 47. Kongress in München (Präsident H. Ludwig, Basel) hatte u. a. Blutung, Schock und Sepsis als eines der Hauptthemen. Das zu diesem Thema eröffnende Referat wurde erneut von H. Graeff, München, gehalten (⊡ Abb 9.11). Er fasste die Diagnose der akuten Blutgerinnungsstörung, alle Kriterien nacheinander erfüllt, wie folgt zusammen: 1. Alle Blutungsquellen sind operativ versorgt → 2. Das venöse und uterine Blut gerinnt nicht → 3. Die Gerinnselbeobachtung im Reagenzglas ist verlängert (>10 min) → 4. Fibrinogen <100 mg%, D-Dimere >5 μg/ml → 5. Partielle Thromboplastinzeit (PTT) verlängert, Thrombozyten <80.000/mm3 → 6. Hämolyse mit Rotverfärbung des Plasmas, bräunlicher Urin, Fragmentozyten. Das Schema bezieht sich auf die Diagnose der Blutgerinnungsstörungen. Sie können bei Placenta praevia, bei postpartalen Nachblutungen, bei operativen Blutungen, atonischen Blutungen und septischen Infektionen auftreten. Die Schockbehandlung umfasst die Wiederherstellung des zirkulierenden Blutvolumens, Sauerstoffzufuhr, vasoaktive Medikamente, Abklärung und Intensivüberwachung, Beseitigung der Blutungsursache, wenn möglich (evtl. Uterusextirpation). Die Behandlung der Gerinnungsstörung umfasst Frischplasma, Antithrombin III und Thrombozyten. Heparin war aus den Empfehlungen verschwunden, obgleich es vereinzelt gute Erfahrungen mit z. B. 5.000 IE Heparin zusammen mit Frischplasma gibt, um die Unterhaltung der DIC zu unterbrechen. Bei Verlustkoagulopathie (Thrombozytenwerte <50.000 mm3 ) kann die Infusion von frischen Thrombozytenkonzentraten erforderlich werden, um die Gerinnungsfähigkeit des Blutes wiederherzustellen und vor allem die kleinen Gefäße eines blutenden Plazentarbettes schneller zu verschließen (atonische Nachblutung).
⊡ Abb. 9.11. Henner Graeff. München (geb. 1934)
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⊡ Tab. 9.7. Labordaten zur Differenzialdiagnose von Hyperkoagulabilität und disseminierter intravasaler Gerinnung.Aus Ludwig H, (1981) Verbrauchskoagulopathie (Moderatorenbericht). Arch Gynäk. 232: 672) Retrospektive Analysen
Bed-side Methoden
Hyperkoagulabilität: Anstieg löslicher Fibrin-Monomer-Komplexe
Normaler Clot-Observation Test Äthanol-Test positiv oder normal
Fibrinogen erhöht
Hitzefibrin normal oder hoch
Thrombozytenzahl unverändert
Thrombelastogramm: r kurz, k kurz, me breit
Akute disseminierte intravasale Gerinnung mit Verbrauchskoagulopathie: Lösliche Fibrin-Monomer-Komplexe vorhanden
Gestörter Clot-Observation Test Äthanol-Test positiv
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Fibrin-Oligomere bzw. Fibrin-Defekt-Oligomere positiv
Thrombinzeit und Partialthromboplastinzeitverlängert auch nach Substitution von Fibrinogen/ Frischplasma
Fibrinogen niedrig
Fibrinogen (Clauss) niedrig bzw. nicht messbar
Fibrindegradationsprodukte in Plasma und Serum positiv Thrombozytenzahl erniedrigt
Thrombelastogramm r lang, k lang, me sehr schnell Euglobluinlysezeit verkürzt
Die Pathogenese des septischen Schocks wurde erörtert, wobei die Übergänge von einer Sepsis in den septischen Schock fließend sind. Das klinische Bild wird bestimmt von der Ateminsuffizienz (adultes, respiratorisches Distress-Syndrom, respiratorische Alkalose), der Tachykardie und dem Nierenversagen. Die Urinausscheidung ist drastisch eingeschränkt. Das HELLP-Syndrom (hemolysis, elevated liver enzymes, low platelets und rechtsseitige epigastrische Schmerzen) war von L. Weinstein (1982) als klinische Entität bei Präeklamspien bzw. gestationsbedingtem Hochdruck beschrieben worden. W. Kuhn, Göttingen, fasste zusammen, was aus Literatur und ersten eigenen Erfahrungen bekannt war. Es wurde über 32 Fälle berichtet (Göttingen, München). Die Therapie besteht in der schnellen Entbindung: falls diese vaginal nicht schnell genug möglich erscheint (Mehrzahl der Fälle), dann Sectio. Da die Kinder in der Regel unreif und small for date sind, ist die pernatale Mortalität beachtlich (In der Zusammenstellung von Kuhn 3 aus 33 Geburten). Bei dieser Sonderform der Spätgestose treten nicht selten Lebernekrosen auf, so dass die Mutter längere Zeit hinsichtlich der Leberfunktion überwacht werden muss. Die stets erniedrigte Thrombozytenzahl im peripheren Blut ist ein Hinweis auf die Mitbeteiligung des Hämostasesystems im Sinne einer chronischen DIC (s. o.). L. Heilmann, Essen, berichtete über Mikrozirkulation und Haemorrheologie im Schock und ergänzte das Referat von H. Graeff durch die Erörterung von rheologischen Abläufen im Schock. Dextran 70 empfiehlt sich wegen seiner günstigen rheologischen Eigenschaften als Volumenersatz in Fällen von Volumenmangelschock. Cave vor Überfüllung des Lungenkreislaufs.
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Niemand erwähnte es 1998 beim 52. Kongress ausdrücklich, aber man wird im Nachhinein an Kermauner erinnert, wenn man von neueren Erkenntnissen über die »ausbleibende Trophoblastinvasion uteroplazentarer Arterien« erfährt, denn bereits 1925 vermutete er, dass die Vorgänge der Ablösung der Plazenta von der Beschaffenheit des Trophoblasten und der uteroplazentaren Grenzzone zwischen maternem und fetalem Gewebe abhängig sein müsste. Die uteroplazentare Hypoxie (z. B. IUGR infolge von gestationsbedingtem Hochdruck) ist »durch maximal kapillarisierte, bizarr deformierte, vielfach flachgeschnittene konglomeratbildende Terminalzotten charakterisiert«. Der Ablösungsvorgang der Plazenta kann dadurch gestört verlaufen, verlängert sein, atonische Nachblutungen zur Folge haben. Das war eine unter mehreren anderen Mitteilungen über Aktuelle Aspekte beim Schwangerschaftshochdruck während der Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe1998 in Nürnberg (Präsident D. Berg, Amberg). Der Kreis schien sich zu schließen, alte Gesichtspunkte kehrten zurück, neue Einsichten waren dank vielfach verbesserter Untersuchungstechnik möglich geworden. Behandelt wurde auch die Immunkompetenz der Dezidua. Abermals wurde die Frage, ob man beim HELLPSyndrom sofort entbinden oder abwarten soll, aufgegriffen (M. Kolben). Es folgte die Empfehlung, man solle rasch entbinden, solange der Vorteil einer expektativen Vorgehensweise nicht durch beweiskräftige Studien belegt sei . Der 54. Kongress in Düsseldorf 2002 (Präsident H. G. Bender) hat im Rahmen des Themas über die Betreuung von Risikoschwangerschaften »Blutgerinnungsstörungen« erneut in das Programm aufgenommen (E. Beinder). Im Zusammenhang mit dem vorliegenden Kapitel war bemerkenswert, dass über angeborene Thromboseneigung berichtet wurde und wie man vorzugehen habe. Damit wurde ein neues Kapitel eröffnet, die Humangenetik berührt die Blutgerinnungsforschung: »Etwa 15% aller Frauen in Westeuropa weisen eine angeborene Thrombophilie ... oder eine erworbene vermehrte Gerinnungsneigung auf. Die Arbeitsgruppe »Thrombophiles Risiko in der Schwangerschaft« der Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung (GTH, früher DAB) hat deshalb Empfehlungen zur Thromboseprophylaxe in Abhängigkeit vom vorhandenen Thromboserisiko herausgegeben: Angeborene Thrombophilie: ▬ Mangel an an Antithrombin III, Protein C oder Protein S ▬ Faktor-V-Leiden Mutation ▬ G20210A- Mutation des Prothrombinogens ▬ Homozygote Mutation des Methylentetrahydrofolat-Reduktase (MTHFR) Gens Erworbene Hyperkoagulabilität bzw.Thrombose- und Mikrothromboserisiko: ▬ Antiphospholipoidsyndrom ▬ Künstliche Herzklappen ▬ Zustand nach Endocarditis Vielleicht war es doch nicht ganz zufällig, dass beim 57. Kongress 2008 in Hamburg, (Präsident W. Jonat) die für die Blutgerinnung relevanten Themen von Klinikern abgehandelt wurden, die aus Zürich und Bern kamen (A. Labhardt, Th. Koller, O. Käser, E. Held, H. Ludwig): Die Vorträge über Strukturiertes Vorgehen bei postpartaler Atonie und Nachblutung (R. Zimmermann, Zürich) und Postpartale Atonie und Blutung – neue deutsche Leitlinie (D. Surbek, Bern) belebten Blutgerinnungsfragen neu. Besondere Beachtung, weil innovativ gegenüber früher, verdienen die Vorschriften zur intravenösen Anwendung von Prostanlandinen (Sulprostion, Nalador®) bei einer Tagesmaximaldosis von 1500 μg (1 Amp. 500 μg).
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Die Diskussion zu einer operativen Behandlung bei postpartalen Blutungen darf heute nicht mehr fehlen (D. Surbek) und beansprucht dementsprechend sehr großes Interesse, als hätte man den Stein der Weisen gegen die unstillbare atonische Nachgeburtsblutung gefunden. Man sollte nie vergessen, dass es sich um eine Notmaßnahme handelt, zu der man sich entschließt, wenn die nichtoperativen Verfahren zu versagen drohen. Eile ist für die Entscheidung geboten, Hektik jedoch zu vermeiden. Die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG, 2008) sehen für die schwere postpartale Blutung (atonische Nachblutungen 67-80% aller Blutungen) vor: 1. Risikofaktoren erkennen und entsprechende Vorbereitungen treffen. 2. Diagnose: Höhersteigen des Fundus uteri, schlaffer Uterus, meist intermittierende, schwallartige Blutung Harnblase entleeren Reiben des Uterus, Expression und Halten des Uterus, evtl. bimanuelle Kompression Ausschluss von retinierten Plazentarresten bzw. Placenta accreta (Sonographie) 3. Therapie: Oxytocin (max. 6 IE) intravenös, ggf. intramuskulär Methylergometrin bei Versagen von Oxytocin: Sulproston (Nalador 500) 500 μg in 500 ml Infusion, evtl. intrauterine Anwendung von Prostaglandinen bei Versagen bisheriger medikamentösen Maßnahmen: Uteruskompressionsnähte (BLynch oder andere); evtl. intraabdominale Ligatur der A. uterina bzw. der A. iliaca interna 2,5 cm distal der Bifurkation; arterielle Katheterembolisation; Ultima Ratio: Hysterektomie
Abschließende Bemerkungen Mehr als ein Jahrhundert Gynäkologie und Geburtshilfe in Deutschland hat am Beispiel der Nachgeburtsblutungen gelehrt, dass aus der sorgfältigen klinischen Beobachtung die am meisten wirksamen Behandlungskonzepte erwuchsen. Nicht unentschlossenes Zuwarten auf das, was sich ereignet, sondern kenntnisreiches Beachten der Symptomatik. Mit der Zeit wurden die Hilfsmittel der klinischen Beobachtung besser, vor allem Labormethoden. Die pathogenetischen Vorstellungen entwickelten sich parallel und wurden in Ansätzen schon von den Kundigen vorausgesehen, längst bevor ein Konzept nach gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnis geformt werden konnte. Die vorstehenden Ausführungen werden ihren Zweck nur erfüllen, wenn sie dazu dienen, die Allmählichkeit der Wissensentwicklung wiederzuentdecken. Diese Entwicklung verlief größtenteils linear vorwärts, benötigte Zeit, die Kurve offenbart aber auch Sprünge und Beschleunigungen. Beispiele dafür sind: ▬ Die Entdeckung der Blutgerinnungskaskade 1905, die Konsequenzen daraus für das Verständnis von Geburtsblutungen; ▬ sind die Antikoagulanzien, welche ab 1950 eine wirksame medikamentöse Prophylaxe gegen Thrombosen und Lungenembolien mit sich brachten; ▬ sind die Verbindung, welche die klinische Beobachtung mit der morphologischen Methodik einging, um den normalen Ablösungsmechanismus der Plazenta zu verstehen und demzufolge auch Störungen desselben begreifen zu lernen.
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▬ Ein gutes Beispiel für Aufschwünge in der Wissensentwicklung auf unserem Gebiet ist endlich die Einführung der Prostaglandine neben den bisherigen Anwendungen von Hypophysenhinterlappenhormon und Secale-Alkaloiden. Aber dieses Beispiel zeigt auch, dass manches ephemär bleiben muss: In manches Prostaglandinpräparat wurden große Hoffnungen investiert, inzwischen sind sie vom Markt verschwunden. ▬ Ein anderes Beispiel ist die Aussicht auf eine Thrombolysebehandlung mit Streoptokinase, die versprach, kein postthrombotisches Syndrom zurück zu lassen und auch in der Schwangerschaft anwendbar war. Dieses Gebiet ist inzwischen in die Intensivmedizin abgewandert und dort sind keine Geburtshelfer, die sich zutrauen, eine thrombosekranke schwangere Frau mit allem damit verbundenem Aufwand zu behandeln. Der Zuwachs an Wissen kam zunächst aus der klinischen Beobachtung; Fallberichte standen am Anfang von allem. Danach entwickelten sich Methoden, die Vergleiche zuließen und zuverlässiger waren als die bloße Beobachtung bis hin zur Evidence-Based Medicine. Nicht alles, streng genommen sogar nur Weniges, lässt sich in der Geburtshilfe evidenzbasiert ermitteln. Die Fälle sind entweder zu selten oder die Entscheidungen zu dringend oder zu komplex, um in dieses Schema eingepresst werden zu können. Inzwischen zeichnet sich eine Gefahr ab: Je mehr wir, um Fortschritte zu machen, Methoden benutzen müssen, welche den Grundlagenwissenschaften entlehnt sind (Mikrobiologie, Molekulargenetik, selbst Ultramorphologie), umso weniger wird sich der Kliniker solide damit befassen können. Also wandern erst die Methoden, dann die Konzepte und schließlich vielleicht auch die besten Köpfe aus den klinischen Fächern ab in die »reine« Forschung. Die Brücke, die zwischen der klinischen Beobachtung, dem therapeutischen Bedürfnis und der Neuschöpfung von Wissen, vor allem methodischem Wissen, vermittelt, wird immer schmaler und brüchiger. Früher waren Universitäts-Frauenkliniken Stätten des intellektuellen Austauschs, der angewandten, stellenweise auch der Grundlagenwissenschaften. Heute sind sie überwiegend administrative »Zentren« geworden mit mehreren, auf Unabhängigkeit vom Gegenüber pochenden »clinical units«. Die Bibliotheken sind ebenso ausgelagert wie viele Forschungslaboratorien. Welche Frauenklinik verfügt z. B. heute noch über ein zeitgemäß ausgestattetes Gerinnungslabor, nachdem die Histologie, Exfoliativ-Zytologie, Radiophysik oder Intensivmedizin und anderes mehr längst abgewandert sind? Dabei sind viele wissenschaftliche Fragen offen: Wir wissen nicht, wie der intravasale Gerinnungsprozess während der Plazentaablösung aus dem Uterusbett zustande kommt, wie er »getriggert« wird. Wir wissen nicht, abgesehen von neueren humangenetischen Vorstellungen über angeborenen Genmutationen, weshalb sich eine Wadenvenentrombose so schleichend und unbemerkt entwickeln kann, ungeachtet der feingegliederten Vorschläge zur Abtastung der älteren Gynäkologen oder der jüngeren Angiologen. Das »Imaging« soll es richten, muss es richten! Aber wer wird so aufwendig dopplersonographisch oder angiographisch untersucht, noch dazu bei gegebenem Verdacht auf eine akute Thrombose? Wer von all denen, bei denen eine familiäre Thrombosebelastung erfragt werden kann, muss wirklich aufwendig humangenetisch studiert werden? Wir wissen vor allem noch immer nicht genau, wie der Organismus der Frau zu seiner Immuntoleranz gegenüber der Frucht gelangt, welche mit den paternalen Antigenen völlig fremde beherbergt, die abgestossen würden, wären sie nicht in den privilegierten Ort des Uterus gelangt. Wir können zu dieser Frage Labordaten erheben, Werte messen, neue Marker
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Kapitel 9 · Blutgerinnung, Blutungen und Thromboembolie
finden, haben aber kein verständliches Konzept, wie auf der so kurzen Zeitachse der Postimplantationsphase alles zusammenwirkt. Die Reproduktionsmedizin hat große praktische Fortschritte gemacht und dadurch die künstliche Fertilisierungsrate an die natürliche herangebracht, ja mancherorts sogar überschritten, wo ältere Frauen zu Müttern gemacht werden. Aber neben der Methoden-Virtuosität, haben wir wirklich schon alle physiologischen und pathophysiologischen Imponderabilien begriffen, die beteiligt sind, wenn man die natürliche Spanne der Fortpflanzungsfrist verlängert, nur weil es methodisch gelingt? Wissen wir, wie sich die aus einem Tumor abtropfenden Krebszellverbände in anderen Regionen des Körpers einnisten und weshalb da und nicht dort? Als wir versucht haben, mit Heparin die sogenannte »Stickiness« von Karzinomzellen zu mindern, hatten wir das einfache Konzept O’Mearas vor uns, das vielversprechend schien. Es war wohl eine Sackgasse. Längst ist die Frage der Metastasierung von Plattenepitheltumoren und ihrer Beeinflussungsmöglichkeit über die Blutbahn der Erkrankten zwar im Hinblick auf neue gezielte Chemotherapeutika (targetting therapy) Gegenstand der Forschung, selbst noch in manchen Frauenkliniken, unbeantwortet aber bleiben nach wie vor Fragen des örtlichen Zustandekommens der Metastasierung. Sowohl die primäre Ausschwemmung in die den Tumor umgebende Lymph- und Blutbahn birgt Rätsel, als auch deren Einnistung in einem anderen Organ fern von der originären Geschwulst. Die Blutversorgung des Tumors selbst bleibt ein Enigma der Blutgerinnung, ebenso wie sein Einbruch in Gefäße. Als fremde Oberfläche müsste er auf die Berührung seines schnell wachsenden Gewebes mit dem umgebenden Blut eigentlich reagieren. Tut er es? Wie tut er es? Offene Fragen. Für die Lösung jeder dieser Fragen gibt es viele Ansätze, die in der Flut der Informationen unterzugehen drohen, aber es gibt, soweit ich noch sehen kann, wenig Durchbrüche. Die allmählich in die Routine gelangende Impfung Jugendlicher gegen bestimmte Stämme des HP-Virus, um später von ihnen inaugurierte Dysplasien und Zervixkarzinome durch Immunisierung zu vermeiden, ist ein Beispiel dafür, wie sich die Grundlagenwissenschaft mit der Klinik verbinden lässt und etwas ganz und gar Neues daraus wurde.
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10
Ultraschalldiagnostik in der Frauenheilkunde – Einführung Bernhard-Joachim Hackelöer
252
10
Kapitel 10 · Ultraschalldiagnostik in der Frauenheilkunde – Einführung
Bereits 1948 fand in Erlangen der 1. Kongress für Ultraschall in der Medizin statt, auf dem K.T. Dussik, Neurologe/Psychiater aus Wien und W.D. Keidel Physiologe aus Erlangen über Möglichkeiten der Ultraschalldiagnostik berichteten, während sämtliche anderen Beiträge sich mit der Ultraschalltherapie beschäftigten. 1940 hatten bereits T.H. Gohr und H. Wedekind in Köln postuliert, dass man mit der Ultraschalldiagnostik Tumoren diagnostizieren könnte. Jedoch erst Ian Donald in Glasgow zeigte mit seiner bahnbrechenden Arbeit 1958 Investigation of abdominal masses by pulsed ultrasound, dass man neben Myomen, Aszites auch Schwangerschaften darstellen konnte (⊡ Abb. 10.1). Diese Ergebnisse wurden erzielt mit einem Static-B-Scanner oder Compound-Scanner. Die Technik beschränkte sich zunächst auf die Darstellung größerer Befunde und erst die Einführung der Full-Bladder-Technik durch Sunden 1964 erlaubte die Darstellung der sonst vom Darm bedeckten Befunde im kleinen Becken (⊡ Abb. 10.2). Die Entwicklung verlief weltweit nun parallel der technischen Entwicklung von Ultraschallgeräten – in Schottland, USA, Österreich von Compound-Scannern und in Deutschland des weltweit 1. Real-Time-Scanners durch Krause und Soldner der Fa. Siemens (Vidoson),der bereits 1963 vorgestellt werden konnte (⊡ Abb. 10.3). H.J. Holländer, Münster (⊡ Abb. 10.4, ⊡ Abb. 10.5) berichtete erstmals 1965 vor der Medizinischen Gesellschaft Münster über Neue Möglichkeiten der Ultraschalldiagnostik in Gynäkologie und Geburtshilfe. Nach der ersten klinischen Erprobung erklärte er: »Unser primäres Ziel war die Darstellung gynäkologischer Tumoren, z. B. Myome und Ovarialtumoren. Es wurde auch eine Blasenmole in der 18. SSW dargestellt.« Da einerseits die Compound-Scanner die größere Eindringtiefe besaßen, andererseits mit den Real-Time-Scannern die Bewegungsdarstellung möglich war, erfolgte die Entwicklung in den einzelnen Arbeitsgruppen dementsprechend mehr zur Geburtshilfe oder zur Gynäkologie, je nachdem mit welchem Gerätetyp gearbeitet wurde. Aufgrund der starken Aktivität deutschsprachiger Arbeitsgruppen (Hansmann Bonn, Holländer Münster, Hinselmann Basel, Kratochwil Wien allesamt Gynäkologen!) fand der 1. Weltkongress für Ultraschall in der Medizin 1969 in Wien statt, auf dem bereits der erste Transvaginalscanner von Kratochwil vorgestellt wurde. Zu diesem Zeitpunkt wurden bereits einige Arbeiten aus dem Bereich der Frühschwangerschaft publiziert, aber erst 1972 von Kratochwil die Darstellung der normalen Ovarien berichtet. Die Entwicklung der geburtshilflichen Ultraschalldiagnostik war durch die Real-TimeDarstellung spektakulärer und offensichtlicher, so dass sich sich hier mehr Arbeitsgruppen auch in Deutschland beschäftigten. Hansmann und seine unzähligen Schüler, wie Schlensker in Köln, Haller in Heidelberg, aber auch Loch in Essen mit den frühen Untersuchungen zur Schädigungsmöglichkeit der Sonographie und später in Wiesbaden mit der Mammasonographie oder Hoffbauer in Berlin mit der differenzierten Fetaldiagnostik sind Wegbereiter gewesen. Im Bereich der Gynäkologie waren es dann die Arbeitsgruppen, die beide Gerätetypen besaßen in Freiburg ( Kap. 11, Kap. 12) Schillinger/Prömpeler/Madjar/Geisthövel (Ovarialtumoren/Mamma/Endokrinologie) und Marburg und Glasgow, wo wir (Hackelöer/Robinson/Nitschke-Dabelstein/Bald/Deichert) uns speziell mit den Ovarien, dem Endometrium und der Stimulierungsbehandlung beschäftigten, aber auch bereits ab 1975 mit der Mammasonographie (⊡ Abb. 10.6, ⊡ Abb. 10.7)). Die Arbeiten zu Follikeldiagnostik bereits 1974/1975 waren Grundlage der schnellen und erfolgreichen Ausbreitung der gesamten Ovulationsauslösungtechniken und IVF, verstärkt später durch die breite Einführung der vaginalen Sonographie ab ca.1984 (Popp in Hamburg).
253 Kapitel 10 · Ultraschalldiagnostik in der Frauenheilkunde – Einführung
⊡ Abb. 10.1. Frühe apparative Ausstattung, mit welcher man neben Myomen, Aszites auch Schwangerschaften darstellen konnte. Static BScanner und Compound-Scanner
⊡ Abb. 10.2. M. Hansmann, Bonn, mit Vidoson.
⊡ Abb. 10.3. Mit Vidoson erzielte Aufnahme einer Zwillingsschwangerschaft, M. Hansmann Bonn 1965
⊡ Abb. 10.5. Abbildung eines großen Myoms mit Vidoson, 1965
⊡ Abb. 10.4. H.J. Holländer
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254
Kapitel 10 · Ultraschalldiagnostik in der Frauenheilkunde – Einführung
⊡ Abb. 10.6. Mit Ultraschall überwachte Stimulierungsbehandlung
10
⊡ Abb. 10.7. Korrelation von Östradiol und LH mit dem Follikeldurchmesser (Ultraschallmessung) während eines normalen Zyklus
255 Kapitel 10 · Ultraschalldiagnostik in der Frauenheilkunde – Einführung
10
Da die Gynäkologen häufig die ersten und einzigen Ultraschallgeräte an den Universitäten besaßen, waren sie die Vorreiter dieser Diagnostik. So war es nicht außergewöhnlich, dass ich ab 1972 an der Universität Marburg -anfangs im Kreissaal -auch die Ultraschalluntersuchungen für die Urologen, Chirurgen und Internisten durchführte und dann Assistenten dieser Fachgebiete einarbeitete um diese Untersuchungen anschließend an diese abzugeben! Im angloamerikanischen Raum verlief die Entwicklung mehrheitlich über Radiologen, die sämtliche bildgebende Verfahren für sich beanspruchten, vor allem als sich herausstellte, dass die Sonographie vielen Röntgenuntersuchungen nicht nur gleichwertig war, sondern diese auch ersetzen konnte (orale Galle u. ä) – in der Geburtshilfe sowieso, obwohl noch bis Ende der 70er-Jahre auch in Deutschland Röntgenuntersuchungen zum Mehrlingsnachweis, der Plazentalokalisation oder auch der Fehlbildungsdiagnostik (Rö-Fetographie) üblich waren. Durch Änderung der klinischen Zuständigkeit für die Mamma waren die Gynäkologen auch an der Mammographie, aber auch vor allem an der Einführung und Entwicklung der Mammsonographie beteiligt. Daher entstand zwangsläufig das erste deutsche und weitere Lehrbücher der Mammasonographie an gynäkologischen Abteilungen-häufig in guter kollegialer Zusammenarbeit mit an Frauenkliniken tätigen Radiologen (Marburg/Heidelberg/ Freiburg, Kap. 12). Besonders erwähnenswert ist auch der internationale Stellenwert den sämtliche oben aufgeführten gynäkologischen Repräsentanten hatten und der maßgebliche Anteil deutscher Gynäkologen an der Entwicklung der Methode weltweit ist unbestritten. Die nachfolgen Beiträge über die wichtigsten Inhalte der gynäkologischen Ultraschalldiagnostik sollen von den Vertretern, die wesentlich an der Entwicklung beteiligt waren, dargestellt werden.
11
Ultraschall in der Gynäkologie Heinrich Prömpeler
258
Kapitel 11 · Ultraschall in der Gynäkologie
Vorbemerkung
11
Die Aufgabe, die Entwicklung des Ultraschalls in der Gynäkologie darzustellen, ist ehrenvoll, interessant und anspornend. Zu glauben dies umfassend, erschöpfend und auch »gerecht« bearbeiten zu können wäre anmaßend. Die Darstellung erfolgt aus persönlichem Blickwinkel geprägt durch eigene Erfahrung und Erleben und dies insbesondere wie immer in zu kurz bemessenen Zeit. Daher sind Einschränkungen und Begrenzungen notwendig. Wenn wir auf die Leistungen und Entwicklungen des Gynäkologischen Ultraschalls innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) zurückblicken, so darf nicht vergessen werden, dass wir Deutschen nicht allein, sondern mit anderen schon früh »mit dabei« waren und die Fortschritte zunehmend im internationalen Wettbewerb, Vergleich und Kooperation erzielt wurden. Da ein froher und zufriedener auch stolzer Rückblick auch Impulse für die Gegenwart geben sollte, wäre selbstkritisch fest zustellen und zugleich zu wünschen, dass in verschiedenen Bereichen des Gynäkologischen Ultraschalls die wissenschaftlichen Aktivitäten und der internationale Wettbewerb wieder aufgenommen werden. Der Gynäkologische Ultraschall hat in unserem Fach eine herausragende Bedeutung, die sich in allen Winkeln unseres vielfältigen Faches widerspiegelt. Diese Bedeutung begründet sich jedoch nicht im »Ultraschall an sich« und isoliert. Zusammen mit der Anamnese, den Symptomen, der Patientin, der Klinik, den Nöten und Wünschen ist der Ultraschall von ungeheurem Nutzen, wenn die Ultraschallgeräte-Qualität gut, der Untersucher erfahren und selbstkritisch ist und die Patientin kompetent individuell betreut und als mündig behandelt wird. Der Ultraschall ist von zentraler Bedeutung und segensreich bei jungen Mädchen mit oft nur relativ kurzen Schmerzanamnesen zur Diagnostik von Fehlbildungen des Inneren Genitale. Die einfache Hämatokolpos ist eine klinische Diagnose. Ist diese isoliert oder gibt es andere Besonderheiten? Der akute Unterbauchschmerz mit großem oder mehreren Tumoren bei Mädchen mit bereits normaler Menstruation führt rasch zum Kinderonkologen und nach CT zum Kinderchirurgen mit der Gefahr der destruierenden Therapie. Die vom umsichtigen Kinderchirurgen gewünschte gynäkologische Sonographie ergibt im einfachen transabdominalen Ultraschall ein Uterus duplex mit großer Hämatokolpos und Hämatometra einer Seite. Auch in der Abklärung eines unerfüllten Kinderwunsches ist der Ultraschall von großem Nutzen. Die Feststellungen von Besonderheiten oder Fehlbildungen des Inneren Genitale wie z. B. eine Hydrosalpinx, Endometriosezysten, Endometrioseherde, Endometriumpolypen, Myome, submuköse Myome können mögliche Ursachen einer Infertilität sein und mögliche Therapieansätze bieten. Eine erweiterte sonographische Diagnostik zur Beurteilung der Tubendurchgängigkeit bietet die Hysterosalpingo-Kontrastsonographie (F. Degenhardt et al. 1991, Deichert et al. 1990). Die Beurteilung der Rezeptivität des Endometriums (Deichert 1986) wie auch die sonographische Beurteilung der Follikelreifung (Geisthövel et al. 1983 und 1984) haben für die einzelne Patientin bezüglich der Prognose und der Therapieentscheidung bei Kinderwunsch große Relevanz. Neben der Entwicklung der minimalinvasiven Operationstechnik war die Entwicklung der Ultraschallgerätetechnik, die die Diagnostik von Blutungsstörungen ermöglichte, Voraussetzung, viele nicht notwendige Hysterektomien vermeiden zu können. Die sonographische Erfassung von submukösen Myomen und Endometriumpolypen, verfeinert durch die Kontrasthysterosonographie (Deichert et al. 1988), und ihre Differenzierung erlaubt oft relevante Blutungsstörungen nach Abklärung anderer Ursachen durch zielgerichtete minimalinvasive Chirurgie kausal organerhaltend zu therapieren.
259 Diagnostik und Differenzierung von Adnextumoren
11
Die Entwicklung der Introitus- und Perinealsonographie in den letzten 15 Jahren hat im Bereich der Urogynäkologie die Diagnostik vereinfacht und erweitert, wodurch die klinische Diagnostik sinnvoll ergänzt wird. Diese exemplarischen Beispiele zeigen wieweit die Ultraschalldiagnostik in den klinischen Alltag unseres Faches hineinreicht. Die Darstellung der Entwicklung des Gynäkologischen Ultraschalls wird auf die Diagnostik von Adnextumoren und von Endometriumveränderungen in der Postmenopause zur Differenzierung des Endometriumkarzinoms begrenzt.
Diagnostik und Differenzierung von Adnextumoren Mit dem Greyscale-Compound-Scanner konnten Ende der 1970er-Jahre bereits relativ hochaufgelöste Standbilder erstellt werden und danach wurde mit Einführung und Verbreitung der Realtime-Sonographie mit Grauwerttechnik die Darstellung von Gewebestrukturen entscheidend verbessert. Voraussetzung für die transabdominale sonographische Beurteilung ist die gut gefüllte Harnblase als »Schallfenster«, wodurch die luftgefüllten Darmschlingen nach kranial verlagert werden und Uterus und Adnexe eingesehen werden können.
Tumorscore von Schillinger Schillinger analysierte 500 operativ verifizierte Tumoren. Es konnte ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Malignitätsrate und den sonomorphologischen Kriterien Form und Konsistenz abgeleitet werden (Schillinger et al. 1986). Auf der Basis dieser Analyse wurde ein zum klinischen Gebrauch vereinfachter sonographischer Homogenitäts-Score entwickelt, bei dem die Tumorform entsprechend ihrer abnehmenden Abgrenzbarkeit nach außen in der Reihung ▬ gut begrenzt-solitär-multipel-gekammert-polyzyklisch-unscharf, ▬ die Konsistenz entsprechend der zunehmenden Heterogenität in den Stufen ▬ echofrei-echoarm-echoreich-gering inhomogen-inhomogen-völlig inhomogen berücksichtigt wurde. Danach waren 5 Homogenitätsgrade (HOM) zu unterscheiden (⊡ Abb. 11.1): I. gut begrenzte solitäre Zysten II. andere gut begrenzte homogene Tumore III. unscharf begrenzte oder gering inhomogene Tumore IV. inhomogene Tumore V. völlig inhomogene Tumore Zwischen 1977 und 1987 wurden 1317 operierte Primärtumoren des Beckens mit einem Durchmesser über 40 mm entsprechend dem Sonographie-Befund einem Homogenitätsgrad (I–V) zugeordnet. Von1977-80 wurde die sonographische Diagnostik mit einem Grey-scaleCompound-Scanner (Kretz-Technik) und von 1980-87 überwiegend mit einem RealtimeSector-Scanner (ATL, Siemens) durchgeführt. Die Ergebnisse (⊡ Tab.11.1) zeigen, dass durch die Homogenitätsgrade I und II in ca. 98% gutartige Tumoren erfasst werden und dass die Rate der Malignität von Grad III (1:6) bis Grad V (3:4) signifikant ansteigt. Werden die Scores II, IV und V als maligne und die Grade I und II als benigne beurteilt, ergibt sich eine Sensitivität maligne Tumoren zu erfassen von 94% mit aber einer eher geringen Spezifität von 60% (Schillinger et al. 1989).
260
Kapitel 11 · Ultraschall in der Gynäkologie
⊡ Abb. 11.1. Schematische Darstellung des Tumorscores nach Schillinger et al. 1982
Tab. 11.1 Dignität gynäkologischer Tumore in Abhängigkeit vom sonographischen Homogenitätsgrad
11
Homogenitätsgrad gesamt n=1317
I n=226
II n=422
III n=508
IV n=295
V n=56
benigne
218
406
359
73
14
Borderline Tu
4
0
5
6
0
maligne
2 (0.9%)
8 (1.9%)
72 (16.6%)
108 (57.8%)
42 (75%)
Transvaginalsonographie (TVS) Mit der Einführung und Verbreitung der TVS wurden die diagnostischen Möglichkeiten im kleinen Becken stark erleichtert und verbessert. Die Patientinnen brauchten keine vollen Harnblasen mehr. Durch die invasivere Untersuchungsmethode gelangte man jetzt näher an das Innere Genitale heran und konnte dadurch mit einer höheren Schallfrequenz von 5 Mhz und mehr eine bessere Auflösung erzielen. Den direkten qualitativen Vorteil zeigt das Beispiel einer 54-jährigen Patientin mit retrovertiertem Uterus und einer Zyste im Douglas (⊡ Abb. 11.2a,b). Mit der TVS kann man in der Zyste eine echogen randständige Struktur nachweisen (entsprechend Score III nach Schillinger). Die Verbreitung der TVS wurde durch erste Bücher zur Transvaginalsonographie unterstützt und begleitet (Degenhardt 1988, Merz 1992). Mit der zunehmenden Verbreitung der TVS wurde sie fast bei jeder Vorsorgeuntersuchung eingesetzt, wodurch auch jede normale Veränderung am Ovar (z. B. Follikelwachstum, Corpus-Luteum-Bildung) erfasst wurde. Falsche Beurteilungen solcher Befunde mit gleich-
261 Diagnostik und Differenzierung von Adnextumoren
11
a
b ⊡ Abb. 11.2a,b. 54-jährige Patientin a Transabdominalsonographie: Zyste hinter dem Uterus im Douglas, b Transvaginalsonographie: Zyste hinter dem Uterus im Douglas mit echogener Randstruktur, Score III nach Schillinger
262
Kapitel 11 · Ultraschall in der Gynäkologie
zeitiger Erleichterung von Operationen durch die technischen Fortschritte der minimalinvasiven Chirurgie führten zu einer enormen Steigerung von Operationen. Die publizierten Ergebnisse dieser Entwicklung zeigen, dass bei Kollektiven zwischen 64 und 1016 wegen Ovarialtumoren operierten Patientinnen zwischen 52% und 72% unnötig und zum Nachteil operiert wurden, da bei diesen nur funktionelle Zysten vorlagen (Mursch-Edlmayr et al. 1988, de Wilde et al. 1989, Lehmann-Willenbrock et al. 1991, Hesseling u. de Wilde 1994). Grundsätzlich muss Ziel der sonographischen Diagnostik sein, präoperativ echte gutartige und bösartige Tumoren von normalen physiologischen Veränderungen zu differenzieren. Wesentlich zur Erfassung funktioneller Ovarialzysten sind Verlaufskontrollen. Damit können unnötige Operationen (Osmers et al. 1990) weitgehend vermieden werden.
Sonomorphologie von Adnextumoren
11
Die Analyse der Sonomorphologie von 1072 Tumoren der Prämenopause und 378 Tumoren der Postmenopause zeigte, dass mit soliden Anteilen die Wahrscheinlichkeit für Malignität zunimmt: In der Prämenopause waren zystisch-solide Tumoren in 17% und solide Tumoren in 10% maligne. In der Postmenopause waren entsprechend 66% bzw. 74% maligne (Osmers et al. 1995 und 1996). Mithilfe der Sonographie-Kriterien kann ein Risiko für Malignität erfasst werden. Aber es gibt kein einzelnes sonomorphologisches Kriterium, das die Dignität eines Tumors sicher klären kann. Am Beispiel des Sonographie-Kriteriums »Binnenstruktur des Gesamttumors« ist der Vergleich mit den histologischen Befunden aus einer Untersuchung von 1.568 durch Operation oder Verlaufskontrollen abgeklärten Adnextumoren (893 prämenopausal, 675 postmenopausal) mit einer Prävalenz maligner Tumoren von 11,2% in der Prä- und 43% in der Postmenopause dargestellt (⊡ Tab. 11.2a,b, Prömpeler et al. 2000). Sonographisch als einkammrige, echoleere, glatte, dünnwandige Ovarialzysten klassifizierte Ovarialtumoren haben nahezu kein Risiko für Malignität. Für alle anderen rein zystischen Tumoren jeglicher Zystenarchitektur und jeglicher Echoverteilung des zystischen Inhaltes steigt das Risiko für Malignität gering auf 1% prä- und 5% postmenopausal. Zystisch-solide Tumoren sind insbesondere in der Postmenopause (59%) häufig maligne. Die selteneren rein soliden Tumoren sind zu 2/3 maligne. Die bis zu 12% soliden Retentionszysten in der Prämenopause sind entzündliche Konglomerattumoren. Zur möglichst vollständigen Beschreibung sonographischer Adnexbefunde gibt es eine Vielzahl von Sonomorphologie-Kriterien (⊡ Tab. 11.3, Prömpeler et al. 1997).
Sonomorphologische Tumorscores Wenn mit einem Sonomorphologie-Kriterium eine Tumordifferenzierung nicht möglich ist, kann mit Berücksichtigung mehrerer Kriterien (⊡ Tab. 11.3) eine Verbesserung erreicht werden? Neben vielen internationalen Kollegen haben in Deutschland Merz et al. und Prömpeler et al. Tumorscores entwickelt. Ein Score kann zum einen aus der Erfahrung der Untersucher entwickelt werden: Basierend auf der Empirie werden verschiedenen Ausprägungen der Sonomorphologie-Kriterien Bewertungspunkte zugeordnet. In der Addition dieser wird mit Hilfe eines Cutpoints die Unterscheidung zwischen Gut- und Bösartigkeit, optimiert am Studienkollektiv, ermöglicht. Als Beispiel ist der Mainz-Score dargestellt (⊡ Tab. 11.4, Merz 1998 et al., Weber 1999 et al.). Zum anderen ist die multivariate Analyse mit logistischem Regressionsmodel von verschiedenen Ausprägungen zahlreicher Sonomorphologie-Kriterien im Vergleich zur Histologie eine weitere Möglichkeit Scores zu entwickeln. Mit diesen komplexen statisti-
11
263 Diagnostik und Differenzierung von Adnextumoren
⊡ Tab. 11.2a. Sonomorphologie und Histologie bei Ovarialtumoren in der Prämenopause (Prömpeler et al. 2000) N
Funktionelle Zyste
Retentionszyste
Benigne Neoplasie
Maligne Neoplasie
Einkammrige echoleere Zyste
113
21 (18.6%)
5 (4.4%)
87 (77%)
0
Alle anderen rein zystischen Tumoren
316
52 (16.5%)
140 (44.3%)
120 (38%)
4 (1.3%)
Zystisch-solide Tumoren
430
49 (11.4%)
87 (20.2%)
214 (49.8%)
80 (18.6%)
Solide Tumoren
34
0
4 (11.8%)
8 (23.5%)
22 (64.7%)
Total
893
⊡ Tab. 11.2b. Sonomorphologie und Histologie bei Ovarialtumoren in der Postmenopause (Prömpeler et al. 2000) N
Funktionelle Zyste
Retentionszyste
Benigne Neoplasie
Maligne Neoplasie
Einkammrige echoleere Zyste
89
0
1 (1.1%)
88 (98.9%)
0
Alle anderen rein zystischen Tumoren
139
0
27 (19.4%)
105 (75.5%)
7 (5.0%)
Zystisch-solide Tumoren
374
0
24 (6.4%)
128 (34.2%)
222 (59.4%)
Solide Tumoren
73
0
0
23 (31.5%)
50 (68.5%)
Total
675
⊡ Tab. 11.3 Sonomorphologiekriterien von Ovarialtumoren (Prömpeler et al. 1997) Kriterium Tumorgröße
Mittlerer Durchmesser
Binnenstruktur
Gesamtstruktur des Tumors: rein zystisch, zystisch-solid, solid-zystisch, vollständig solid
Zystenarchitektur
Unilokulär, mehrzystisch, kommunizierende Zysten
Wanddicke
> oder ≤3 mm
Septendicke
> oder ≤3 mm
Innere Zystenoberfläche
Glatt, kleine papilläre Strukturen, solide Randstrukturen
Echoverteilung der flüssigen Phase
Homogen, echoleer-echoarm-echogen, wabig, spinnengewebsartig, Strichmuster, Spiegelbildung
Echoverteilung der soliden Phase
Homogen, inhomogen
Tumoroberfläche
Glatt, nicht glatt
Aszites
Kein Aszites, im kleinen Becken, im Mittel- Oberbauch
264
Kapitel 11 · Ultraschall in der Gynäkologie
schen Verfahren bis zum Einsatz artifizieller neuronaler Netze wird die Bedeutung und Einfluss der verschiedenen Sonographie-Kriterien und ihrer Ausprägungen auf die Dignität eines Tumors abgeschätzt. Das Ergebnis ist eine Formel zur Abschätzung der Wahrscheinlichkeit für Malignität eines Tumors, in die die relevanten, gewichteten Sonomorphologie-Kriterien eingehen (Prömpeler et al. 1997). Die multivariate Analyse von 754 abgeklärten Adnextumoren (400 prämenopausal, 354 postmenopausal) ergab jeweils nur 4 Sonomorphologie-Kriterien mit signifikantem Einfluss auf die Dignität eines Tumors (Prömpeler et al. 1997). Für die Prämenopause mit abnehmender Gewichtung: 1. Aszites 2. inhomogene echogene Struktur 3. mehr als 30% solide Anteile und 4. mittlerer Tumordurchmesser größer 10 cm Für die Postmenopause entsprechend: 1. Aszites 2. inhomogene echogene Struktur 3. mehrzystischer Tumor und 4. nicht glatte Tumoroberfläche. Mit dem Cutpoint einer Wahrscheinlichkeit von 10% für Malignität gelang die Differenzierung maligner und benigner Adnextumoren in der Prämenopause mit einer Sensitivität von 86,5% und einer Spezifität von 92,6% und in der Postmenopause entsprechend mit 93,0% und 82,7%. Hier konnte vor allem die Spezifität gegenüber dem Schillingerscore verbessert werden. Die entsprechenden Kennzahlen des Mainz-Scores lagen mit 96,4% und 80,7% in
11 ⊡ Tab. 11.4 Mainz – Sonomorphologie-Score (Merz et al. 1998, Weber et al. 1999) (Verdacht auf Malignität: in der Prämenopause bei ≥9 Pkt. und in der Postmenopause bei ≥10 Pkt.) Score
0
Gesamtstruktur des Tumors
1
2
einfach
komplex
Begrenzung des Tumors
glatt
leicht irregulär
deutlich irregulär
Wanddicke
<3 mm
>=3, ≤5 mm
>5 mm, oder nicht beurteilbar
Binnenechos im zystischen Anteil
keine
homogen
inhomogen
Septen
keine
≤3 mm
>3 mm
Form des komplexen oder rein soliden Anteils
keine
glatt
höckerig
Echogenität des komplexen oder des soliden Anteils
keine
homogen
inhomogen
Schallschatten
Echoverstärkung
teilweise
vollständig
Aszites
keiner
wenig
mäßig
Lebermetastasen/ Peritonealkarzinose
nicht nachweisbar
nicht schlüssig beurteilbar
darstellbar
Summe
N
265 Diagnostik und Differenzierung von Adnextumoren
11
der Prämenopause und mit 96,8% und 91,2% in der Postmenopause noch höher (Merz et al. 1998, Weber et al. 1999). Tumorscores dienen als diagnostisches Werkzeug zur Objektivierung, Kommunikation und Reproduzierbarkeit der sonographischen Beurteilung auffälliger Adnexbefunde mit deren Hilfe es auch weniger erfahrenen Untersuchern gelingt Tumoren bezüglich ihrer Dignität weitgehend richtig zu beurteilen. Hierbei wird die individuelle Erfahrung des Untersuchers, die wesentlich für eine Tumorbeurteilung ist, nicht berücksichtigt. Die guten Ergebnisse der Tumorscores sind wegen der Optimierung und der angepassten Wahl der Cutpoints in den Studienkollektiven überoptimistisch, d. h. überschätzt. Die Überprüfung der Validität der Diagnose-Formel (Prömpeler et al. 1997) an weiteren 812 Adnextumoren ergab für die Sensitivität und Spezifität ein mindestens um 2-3% schlechteres Ergebnis (Prömpeler et al. 2000). Die hervorragenden Kennzahlen des Mainz-Scores sind bisher noch nicht evaluiert worden.
Farbdopplersonographie Die Neoangiogenese ist eine notwendige Voraussetzung für das Wachstum maligner Tumoren. Eine verstärkte Vaskularisierung ist ein Hinweis für eine verstärkte Aktivität oder Proliferation und damit nur indirekt ein Hinweis für Malignität. Der veränderte Wandaufbau der Tumorgefäße, der Gefäßreichtum und die arteriovenösen Shunts in malignen Tumoren bedingen einen niedrigeren peripheren Flusswiderstand (niedrige Pulsatilität: niedriger Resistenz-Index, RI und Perfusions-Index, PI) und eine größere Flussgeschwindigkeit im Vergleich zu gutartigen Veränderungen. Mit Hilfe der Farbdoppler- und Spektraldopplersonographie will man benigne und maligne Tumoren aufgrund ihrer unterschiedlichen Vaskularisation unterscheiden. Da in der Prämenopause eine regelmäßige starke Neoangiogenese (Corpus luteum) physiologisch ist und Entzündungen mit verstärkter Vaskularisierung häufiger sind, sind die Möglichkeiten der Farbdopplersonographie wegen der geringen Spezifität begrenzt. Die ersten seit 1989 durchgeführten Studien erzielten euphorische Ergebnisse. Sie hatten rückblickend technologiebedingt einfache Unterscheidungsmöglichkeiten: »In malignen Tumoren konnte eine Vaskularisation nicht aber in benignen nachgewiesen werden«. Mit zunehmend verbesserter Technik kann in fast allen Tumoren eine Vaskularisation nachgewiesen werden. Selbst in den 1990er-Jahren konnten in postmenopausalen Tumoren in 90% bis zu 19 Gefäße erfasst und quantitativ ausgewertet werden (Prömpeler et al. 1994). Die akribischen zeitaufwändigen dopplersonographischen Untersuchungen ergaben für sich alleine ohne Berücksichtigung der Sonomorphologie mit den Sonomorphologie-Scores vergleichbare Ergebnisse, wobei die Summe aller arterieller Flussgeschwindigkeiten (Kombination von Gefäßzahl und Flussgeschwindigkeit) gegenüber dem RI oder PI mögliche Vorteile hatten (Prömpeler et al. 1996). Trotz der vielen Arbeiten, die die Probleme der Vergleichbarkeit und der Standardisierung zeigen und trotz des sicherlich sinnvollen Nutzen insbesondere in speziellen Fragestellungen gilt die Einschätzung von Tekay und Jouppila 1996, dass der Stellenwert der Farbdopplersonographie noch nicht geklärt ist.
Diagnostik mit Sonomorphologie und Farbdopplersonographie Hier gab es neben vielen internationalen Aktivitäten auch in Deutschland die Arbeitsgruppe, die um Schelling und Staudach mit der multivariaten Analyse die Sonomorphologie und Farb-
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Kapitel 11 · Ultraschall in der Gynäkologie
dopplersonographie kombiniert auswerteten (Schelling et al. 2000) und die Sonomorhologie durch den Schillingerscore analysierten und sequentiell die Tumoren des Score III-V farbdopplersonographisch zusätzlich beurteilten (Prömpeler et al. 1996). Durch beide Ansätze konnte die Spezifität im Vergleich zur alleinigen sonomorphologischen Beurteilung verbessert werden.
Abschluss und Ausblick
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Wie bereits zu Beginn angedeutet sind z. Zt. die wissenschaftlichen Aktivitäten in der DGGG auf dem Gebiet der sonographischen Adnextumordiagnostik eher begrenzt. Im Jahr 2000 hat sich ohne deutsche Beteiligung eine internationale gut qualifizierte Arbeitsgruppe (International Ovarian Tumor Analysis Group, IOTA) zusammengeschlossen und sinnvolle gut definierte Sonomorphologie-Kriterien definiert (Timmermann et al. 2000). Mit dieser Übereinkunft konnte diese Gruppe hervorragende Studien durchführen und wichtige Frage klären. Eine schon 2004 von Timmermann formulierte und wenig modifizierte Zusammenfassung sagt: »Erfahrung und Training sind fundamental wichtig.« Hier greift die Forderung nach Verbesserung der Ausbildung und Strukturierung der Qualifizierung in eine Basis- und in eine weiterführende Sonographie auch für den gynäkologischen Ultraschall zur Verbesserung der Diagnostik und zum Anreiz sich auch weiter zu entwickeln. Neben anderen Ultraschallbüchern hat hier das Lehrbuch und Atlas Band I Gynäkologie von Eberhard Merz die Ausbildung von Generationen seit den 1990er-Jahren unterstützt und oft erst ermöglicht (Merz 1996). Die Sonomorphologie ist der Eckpfeiler für eine richtige präoperative Diagnose. Der Erfahrene kann mit der Transvaginalsonographie gut benigne und maligne Tumoren unterscheiden. Im prospektiven Test erreicht zur Zeit kein Score (multivarate log. Regression, artfizielles neurales Netzwerk) die Güte eines erfahrenen Untersuchers. Tumorscores helfen aber dem Ungeübten möglichst keinen malignen Tumoren zu übersehen (Timmermann et al. 2004). Die Tatsache, dass klinisch inapparente maligne Tumoren transvaginalsonographisch erfasst werden konnten (Schillinger et al. 1989, Osmers et al. 1990) und diese in einem präklinischen Stadium einer Therapie zugeführt werden konnten, ließ die Hoffnung auf ein Ovarialkarzinom-Screening wachsen. Bis heute konnte auch in umfangreichen prospektiven randomisierten Studien keine Effizienz eines Ovarialkarzinom-Screenings mit Reduktion der Mortalität gezeigt werden. Die Transvaginalsonographie hat unter den bildgebenden Verfahren den höchsten Stellenwert zur Diagnostik des Ovarialkarzinoms (Interdisziplinäre S2k Leitlinie, Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlicher medizinischer Fachgesellschaften, AWMF). Diese ist durch die abdominale Sonographie zu ergänzen. Zur Abklärung eines Adnextumors ist weder eine Computertomographie (CT) noch eine Magnetresonanztomographie (MRI) notwendig (Kommission Qualitätssicherung der Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, 2004).
Sonographische Diagnostik des Endometriums in der Postmenopause Relation zwischen Endometriumshöhe und Endometriumkarzinom: Screening? Mit Einführung der Transvaginalsonographie gelang die Beurteilbarkeit des Endometriums im Vergleich zur Transabdominalsonographie (Adipositas, Retroflexio uteri, geringere Auflösung) deutlich besser. Die Folge war, dass auch viele Arbeitsgruppen aus Deutschland
267 Sonographische Diagnostik des Endometriums in der Postmenopause
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das Endometrium ohne und mit Postmenopausenblutung sonographisch untersuchten. Die Studien ergaben, dass mit Zunahme der sonographisch bestimmten Endometriumdicke die Häufigkeit des Endometriumkarzinoms zunimmt, dies sowohl bei symptomatischen wie auch bei asymptomatischen Patientinnen (Osmers R et al. 1990, Degenhardt F et al. Abu Hmeidan et al. 1992, Schramm et al. 1995, Seelbach-Göbel et al. 1995, Weber et al. 1998, Gerber et al. 1999, Randelzhofer et al. 2002). Mit der Feststellung, dass bei asymptomatischen Patientinnen Endometriumkarzinome bei mehr als 4 mm einfacher Endometriumdicke erfasst werden können (Osmers R et al. 1990) erwuchs die Hoffnung auch durch gleichartige Ergebnisse durch andere Arbeitsgruppen, dass ein Screening auf das Endometriumkarzinom sinnvoll gelingt. Diese Idee wurde durch die Untersuchung von Osmers R et al. 1995 gestützt, die zeigten, dass das Endometriumkarzinom der 23 asymptomatischen Patientinnen im Mittel eine geringere Myometriuminfiltration, ein niedrigeres Stadium und einen günstigeren Differenzierungsgrad hatten als das Endometriumkarzinom der 61 Patientinnen mit Postmenopausenblutung. In den Untersuchungen an den asymptomatischen Patientinnen mit der Zielsetzung eines Screenings fand sich ein Endometriumkarzinom in 0,9-3,2%. Diese Häufigkeit macht deutlich, dass die untersuchten Kollektive stark selektiert waren. Die Häufigkeit des Endometriumkarzinoms beträgt 17,9/100.000 Frauenjahre oder 0.018%, was bedeutet, dass in einem unselektierten Kollektiv auf 1000 Abrasiones 1 Endometriumkarzinom im Screening gefunden wird. Ursache dafür ist die nicht ausreichend hohe Spezifität der Endomteriumhöhe als diagnostisches Kritrerium. Mit dem Wissen, dass das 5-Jahresüberleben des Endometriumkarzinoms gleich gut ist bei Patientinnen ohne und Patientinnen mit Postmenopausenblutung mit einer Dauer bis zu 16 Wochen (Gerber et al. 2001) ist bis heute verständlich, dass das erhoffte Screening auf Endometriumkarzinome nicht effektiv und nicht vertretbar ist.
Sonographische Beurteilung des Endometriums bei Postmenopausenblutung Wie oben ausgeführt nimmt die Häufigkeit des Endometriumkarzinoms mit der Endometriumhöhe zu. Bei einer Endometriumhöhe ≤4 mm findet sich nur selten ein Endometriumkarzinom (E-Ca, etwa 2% der E-Ca, Osmers R et al. 1990, Weber et al. 1998, Gerber et al. 1999, Randelzhofer et al. 2002). Beschränkt man die operative Abklärung einer Postmenopausenblutung auf die Endometriumhöhe von ≥5 mm, kann man 25%-41% der Patientinnen die Abrasio ersparen, wobei 2% der Endometriumkarzinome übersehen werden. Diese Daten werden auch von allen internationalen Arbeitsgruppen bestätigt, nur die Arbeitsgruppe von Schramm finden 13 der 29 Endometriumkarzinome mit einer Endometriumhöhe von ≤4 mm. Da die Endometriumhöhe mit dem Cutoff-Wert ≥5 mm weiterhin eine schlechte Spezifität bei einer hohen Sensitivität aufweist, wurde durch die Beurteilung der Sonomorphologie des Endometriums die Spezifität versucht zu verbessern (Weigel et al. 1990, Weber et al. 1995, Gerber et al. 1999, Randelzhofer et al. 2002). Mit der multivaraten Analyse konnten Randelzhofer et al. 2002 mit den relevanten Kriterien Endometriumhöhe (≤10 mm), homogene Endometriumstruktur und glatter Endometrium-Myometrium-Grenze eine diagnostische Formel entwickeln, durch die im Untersuchungskollektiv bei Postmenopausenblutung in bis zu 45% Abrasiones gespart werden könnten, wobei 2% der Endometriumkarzinome übersehen werden würden. Diese Abweichung von den in Deutschland – im Gegensatz zu anderen nationalen Gynäkologischen Gesellschaften – immer noch geübten Regeln erscheint insbe-
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Kapitel 11 · Ultraschall in der Gynäkologie
sondere bei alten kranken Patientinnen mit hohen Morbiditätsrisiko bei geringem Risiko ein Endometriumkarzinom bei der ersten Postmenopausenblutung »zu übersehen« vertretbar.
Sonographische Beurteilung der Infiltrationstiefe des Endometriumkarzinoms Für die Planung der Operation eines Endometriumkarzinoms ist es von Vorteil die mögliche Myometriuminfiltrationstiefe mit einzubeziehen. Osmers R et al. 1995 bestimmten sonographisch, ohne die Messvorschrift im Detail zu erklären, die Infiltrationstiefe von 76 E-Ca mit einer Treffsicherheit von 75% und einer Überschätzung von 12% und Unterschätzung von 13%. Mit einer von Karlsson et al. vorgeschlagenen, einfachen und gut reproduzierbaren Messvorschrift: eine tiefe myometrane Infiltration (>50%) liegt vor, wenn der Quotient zwischen der doppelten Endometriumhöhe und dem Uterus ap-Durchmesser >0,5 ist und eine oberflächliche Infitration, wenn der Quotient ≤0,5 beträgt, untersuchten Weber et al. 1995, Prömpeler et al. 1994 und Randelzhofer et al. 1999 8o bzw. 214 Endometriumkarzinome mit einer Treffsicherheit von 85% bzw. 84 %. Hierbei wurde die Infiltrationstiefe in 3% unter- und in 13% überschätzt (abhängig vom Anteil der exophytisch wachsenden Tumoren) (Randelzhofer et al. 1999).
Sonographische Endometriumbeurteilung unter Tamoxifen
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Tamoxifen erhöht das Risiko für ein Endometriumkarzinom um das 2-4-Fache. Daher sollen entsprechend dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) Patientinnen mit einem Uterus jährlich auf Endometriumveränderungen untersucht werden. Die Beurteilung des Endometrium unter Tamoxifentherapie ist wegen den vielfältigen Veränderungen wie hochaufgebautes Endometrium, großzystische Veränderungen, inhomogene Endometriumstruktur und nicht glatte Begrenzung zum Myometrium äußerst schwierig und vieldeutig. Aufgrund der Endometriumhöhe gibt es keine Unterscheidungsmöglichkeit zwischen E-Ca und nicht E-Ca sowohl mit oder ohne Postmenopausen Blutung (Randelzhofer et al. 2000). Wendet man die multivarat mit logistischen Regressionsmodell abgeleitete Diagnoseformel, die die Sonomorphologie des Endometriums in der Postmenopause berücksichtigt (Randelzhofer et al.2002) an, so wird das Endometrium unter Tamoxifen mit und ohne Postmenopausenblutung in 75% als pathologisch verdächtig auf ein E-Ca beurteilt und durch die Endometriumhöhe allein in 85% bzw. 91 %. ( Prömpeler et al. 2002). Das heißt, es wird wegen der jährlichen Sonographie der Großteil der Patientinnen unnötig mit einem relevanten Morbidität- und Komplikationsrisiko operativ abgeklärt. Aufgrund der in ihrer Screeninig-Vergleichsstudie hohen Komplikationsrate bei der operativen Abklärung und der geringen Effektivität gegenüber dem auf die Postmenopausenblutung abwartende Vorgehen gibt es für Gerber et al. 2000 keine Evidenz eine Ultraschalldiagnostik unter Tamoxifen durch zu führen.
Abschluss und Ausblick Im Vergleich zur Adnexdiagnostik scheinen die deutschen Arbeitsgruppen in der Endometriumdiagnostik aktiver und länger wissenschaftlich mit gewirkt zu haben. Trotzdem hat es in
269 Literatur
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den letzten Jahren ebenso keine ausreichenden Aktivitäten gegeben. Dagegen hat jüngst sich auch für die Endometriumdiagnostik eine International Endometrial Tumor Analysis Group (IETA) mit der Definition sonomorphologischer Diagnosekriterien zusammengeschlossen, eine Ordnung, bessere Vergleichbarkeit und Fortschritte in der Diagnostik des Endometriums zu erreichen (Leone et al. 2010). Entscheidend für die gynäkologische Diagnostik ist, dass die vormals gute Qualität durch eine breite Ausbildung und durch gesteigertes und neues Interesse an der sonographischen Diagnostik wieder verbessert wird. Ein Anreiz sollte die vorgesehene und auf den Weg gebrachte Möglichkeit sich für eine weiterführende Diagnostik zu qualifizieren sein.
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Kapitel 11 · Ultraschall in der Gynäkologie
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Entwicklung und Bedeutung der Mammasonographie in der Gynäkologie Helmut Madjar
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Kapitel 12 · Entwicklung und Bedeutung der Mammasonographie in der Gynäkologie
Historischer Überblick
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Der Einsatz des diagnostischen Ultraschalls hat mittlerweile eine mehr als 50- jährige Entwicklungszeit hinter sich. In den ersten Jahren standen nur sehr einfache Scanverfahren wie A- Mode und bistabiles B-Bild zur Verfügung, die noch keinen breiten klinischen Einsatz ermöglichten (Wild 1951). Daher wurden die ersten grundlegenden Arbeiten in spezialisierten Forschungsinstituten durchgeführt. Der Kongressband der 3. Internationalen Brust- Ultraschall Tagung gibt einen guten Überblick über die Entstehungsjahre der Mammasonographie (Jellins und Kobayashi 1983). Diese frühen Ultraschallverfahren waren für die Brustdiagnostik noch nicht sehr gut geeignet. Sie reichten jedoch bereits für größere anatomische Strukturen aus, wie sie z. B. bei der fetalen Biometrie vorkommen. Daher ergab es sich nach kurzer Zeit, dass die ersten großen klinischen Anwendungen der Sonographie von gynäkologischgeburtshilflichen Abteilungen ausgingen. In den 70er-Jahren wurde die Grauwerttechnologie entwickelt, die besonders für die Beurteilung von Weichteilunterschieden von verschiedenen Gewebestrukturen erforderlich ist (Kossoff et al. 1976). Hierdurch fand der Ultraschall rasch Anwendung bei gynäkologischen Untersuchungen und zur Brustdiagnostik. Aufgrund der hohen Inzidenz des Mammakarzinoms und wegen der diagnostischen Lücken der Mammographie, die sich bereits in den frühen Screening- Studien der 60er- und 70er-Jahre abzeichneten, war die Suche nach alternativen bzw. ergänzenden Untersuchungsmethoden ein wichtiges klinisches Forschungsgebiet (Sickles et al. 1983, Petronella et al. 1994). Die Indikation des Ultraschalls beschränkte sich damals aber oft auf die alleinige Unterscheidung zwischen Zysten und soliden Tumoren bei Tastbefunden oder mammographischen Verdichtungen. Gleichzeitig lösten insbesondere in Deutschland immer mehr gynäkologische Kliniken seit den 60er-Jahren die Allgemeinchirurgie bei der operativen Therapie des Mammakarzinoms ab. Da die operative Therapie eng mit der bildgebenden Diagnostik verflochten ist, ist es auch eine Besonderheit in Deutschland, dass für viele Gynäkologen die Mammographie und Mammasonographie Bestandteil der fachärztlichen Aus- und Weiterbildung wurde. Anfang der 80er-Jahre hatte die Realtime- Technik aber noch nicht die erforderliche Bildqualität und wurde nur vereinzelt eingesetzt. Experimentiert wurde damals mit manuell geführten Compound-Scannern und modifizierten Realtime-Geräten (Loch et al. 1982, Teubner et al. 1982). Aber auch mit handgeführten Linear-Transducern wurden schon beachtliche Erfolge in der Tumorentdeckung und Differenzierung erzielt (Leucht et al. 1984 und 1985). Die größere Rolle spielten damals noch spezielle Wasserbadscanner mit großen mechanisch bewegten Transducern (⊡ Abb. 12.1, ⊡ Abb. 12.2, ⊡ Abb. 12.3, ⊡ Abb. 12.4). Weltweit wurden diese Geräte installiert und wegweisende Studien durchgeführt. Die bekanntesten Geräte waren das Octoson und das System 1 mit 8 bzw. 4 Schallköpfen für simple- und compoundScans von Ausonics, sowie das SMV 50 und SMV 120 von Technicare. Diese beiden Geräte waren nur mit einem Transducer ausgestattet. Diese Techniken zeigten zwar noch nicht gleich hohe Trefferraten, wie sie heute erreicht werden. Gemessen an der damaligen Bildqualität ist es jedoch erstaunlich, im Rückblick zu sehen, dass die Sensitivität dieser vergleichsweise einfachen Ultraschallmethoden mit 69-79% bereits fast an die der Mammographie heranreichte (Cole-Beuglet et al. 1981). Vor allem wurde bereits in dieser Zeit eines der Hauptprobleme der Mammographie erkannt: Die dichte Brust, für deren Untersuchung der Ultraschall wesentlich besser geeignet ist als die Mammographie (Harper et al. 1981). In Deutschland waren die Aktivitäten an den Universitäts-Frauenkliniken Marburg, Heidelberg und Freiburg besonders hervorzuheben (Lauth et al. 1982, Hackelöer et al. 1986,
275 Historischer Überblick
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⊡ Abb. 12.1. Wasserbad-Scan eines invasiven Mammakarzinoms (Octoson, 1979). Die oberen beiden Bilder zeigen das Compound- Scan Verfahren durch Superposition der Bilder, die simultan von 8 Transducern erzeugt wurden. Die unteren beiden Bilder zeigen jeweils einen Simple- Scan mit jeweils nur einem aktiven Transducer aus unterschiedlichen Schallrichtungen
Schmidt et al. 1981, Madjar et al. 1986). Die Sensitivitäten der Ultraschallstudien waren dabei mit über 80% im Vergleich zur damaligen Mammographie-Technik annähernd gleichwertig. Die Besonderheit in Deutschland bestand darin, dass die Aktivitäten hauptsächlich von gynäkologischen Abteilungen ausgingen. Nur wenige Radiologen erkannten bereits damals die Bedeutung dieser Methode. Daher dauerte es bis in die 90er-Jahre, bis der Ultraschall sich auch in radiologischen Einrichtungen im Rahmen der Routinediagnostik durchsetzte. Als Wegbereiter für die Entwicklung in Deutschland möchte ich an erster Stelle B.-J. Hackelöer nennen. Damals widmete er sich an der Universitäts-Frauenklinik in Marburg neben mehreren gynäkologischen und geburtshilflichen Themen auch der Mammasonographie. Außer durch seine Einzelpublikationen fand er 1989 mit seinem Buch Ultrasound Mammography national und international große Anerkennung (Hackelöer et al. 1989). Der nächste große Wegbereiter war W. Leucht, der sich an der Universitäts- Frauenklinik Heidelberg unter der Leitung von Prof. Kubli und später Prof. Schmidt in den 80er-Jahren akribisch mit dieser damals in Deutschland noch recht neuen Untersuchungsmethode befasste. Für seinen Enthusiasmus habe ich ihn immer sehr bewundert. Als er viel zu früh und unerwartet nach wenigen Jahren verstarb, war es für mich eine besondere Ehre, zusammen mit seiner Gattin D. Leucht, das von ihm begonnene Werk (Leucht 1989) mit einer Neuauflage seines Lehrbuchs fortzuführen (Leucht und Madjar 1995). Ein weiteres Vorbild war damals für mich auch R. Terinde, zunächst an der UniversitätsFrauenklinik Düsseldorf und später bei Prof. Kreienberg an der Universitäts- Frauenklinik
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Kapitel 12 · Entwicklung und Bedeutung der Mammasonographie in der Gynäkologie
⊡ Abb.12.2. Wasserbad-Scan eines zentral sitzenden invasiven Karzinoms (System 1, 1983). Die Untersuchung wurde im CompoundScan-Verfahren mit 4 Transducern vorgenommen
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⊡ Abb. 12.3. Wasserbad-Compound-Scan (System 1 mit 4 Transducern, 1983) einer Brust mit multiplen Zysten
Ulm. Ich hatte als junger Assistent 1983 die Möglichkeit, als Vorbereitung für meinen anschließenden Forschungsaufenthalt in Australien, bei ihm und P. Kozlowski in Düsseldorf zu hospitieren. Beide hatten damals in der Gynäkologie in Düsseldorf mit einem Wasserbad-Scanner (SMV 120) eine Brust- Ultraschall-Sprechstunde etabliert. Auch die frühen Arbeiten aus Düsseldorf und später Ulm, die klinische Arbeit und viele Fortbildungsaktivitäten, haben einen wichtigen Beitrag zur Verbreitung der Untersuchungsmethode bei Frauenärzten geleistet. Mein wichtigster Mentor neben meinen damaligen Lehrern in Sydney war jedoch H. Schillinger, der bereits in den 70er-Jahren den Ultraschall in der Gynäkologie und Geburtshilfe an der Universitäts- Frauenklinik in Freiburg etablierte. Er und mein damaliger Chef, H. G. Hillemanns, erkannten früh die Bedeutung der Mammasonographie und unterstützten meine Pläne für ein DAAD- Forschungsstipendium am Ultrasonics Institute in Sydney. Diese mit namhaften Naturwissenschaftlern und Medizinern besetzte Einrichtung war in den ersten Jahrzehnten weltweit die führende Forschungsinstitution für die Entwicklung neuer wegbereitender Ultraschallmethoden. Hier wurden neben speziellen Brust- Wasserbad- Scannern auch erste Realtime- Geräte und sogar Ansätze zum heutigen modernen Realtime- Compound- Scanning und dopplersonographische Untersuchungsmethoden entwickelt (Kossoff et al. 1976, Jellins et al. 1983). Mit diesem technologischen Background habe ich seit
277 Historischer Überblick
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a
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⊡ Abb. 12.4a,b. Realtime-Darstellung eines 3 cm großen invasiven Mammakarzinoms mit einem 5 MHz Realtime-Transducer aus dem Jahre 1985 a Untersuchung im direkten Hautkontakt. Die Abbildung zeigt die große Bildunschärfe im Nahbereich. b Unter Verwendung einer Wasservorlaufstrecke zur Verbesserung der Focussierung im Nahbereich
1984 selbst meine klinischen Forschungen an der Universitäts- Frauenklinik in Freiburg und seit 1999 an der Deutschen Klinik für Diagnostik in Wiesbaden weiter fortgeführt. Die damaligen Wasserbad- Scanner hatten eine sehr gute Kontrastauflösung (⊡ Abb. 12.1, ⊡ Abb. 12.2, ⊡ Abb. 12.3). Die Compound- Technologie gab die komplexen Strukturdetails des Brustgewebes deutlich wieder. Jedoch erlaubten die großen mechanisch geführten und focussierten Transducer noch keine optimale Lateralauflösung, wie sie für die moderne feingewebliche Diagnostik erforderlich ist. Einige wenige Studien widmeten sich damals schon dem Thema der Früherkennung und Differenzierung von Brusttumoren. Die Mehrzahl von Untersuchern betrachtete den Ultraschall jedoch als Methode, die allenfalls zur Darstellung großer tastbarer Tumoren und zur Unterscheidung zwischen zystischen und soliden Herdbe-
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Kapitel 12 · Entwicklung und Bedeutung der Mammasonographie in der Gynäkologie
funden diente (Sickles 1983). Daher spielte der Ultraschall bis zum Ende der 80er-Jahre keine große klinische Rolle. Es waren aber insbesondere die Gynäkologen in Deutschland, die bereits damals das Potential dieser Untersuchungsmethode erkannten und den klinischen Einsatzbereich erweiterten. In Anbetracht der noch eingeschränkten Bildqualität gebührt den damaligen wissenschaftlichen Untersuchungen als Wegbereitung für die heutige moderne hochauflösende Brust- Ultraschalldiagnostik höchste Anerkennung (Gerlach und Holzgreve 1994, Leucht 1989, Leucht und Madjar 1995, Madjar 1986). Es liegen zahlreiche Publikationen aus dieser Zeit vor, jedoch würde es den Rahmen dieses Kapitels sprengen, diese hier alle aufzulisten. Ich möchte aber ergänzen, dass zusätzlich viele Beiträge in den Kongressbänden der Ultraschalltagungen im Rahmen der Dreiländertreffen, sowie der europäischen und der internationalen Ultraschallkongresse vorliegen. Diese sind leider zum Teil in Vergessenheit geraten. Sie wären es aber wert, ein ganzes Buch über die Entwicklung des Ultraschalls zu schreiben. Denn vom medizin-historischen Interesse abgesehen, wurden manche »neue Forschungsideen« bereits vor 20-30 Jahren erfolgreich bearbeitet. Die Geräteentwicklungen mit moderner, hochauflösender und elektronisch focussierter Realtime- Technik seit Ende der 80er-Jahre führten zu wesentlich besserer räumlicher- und Kontrastauflösung, so dass sich die Einsatzbreite des Brust-Ultraschalls stetig erweitert hat (Duda et al. 1987, Madjar 1993 und 1994, Stavros et al. 1995). In den aktuelleren Studien der 90er-Jahre hat sich der Ultraschall als die wichtigste Methode neben der Mammographie etabliert. Damit fand diese Untersuchungsmethode auch bei Radiologen zunehmende Anerkennung: zunächst nur, um Zysten von soliden Tumoren zu unterscheiden und zur gezielten interventionellen Diagnostik. Seit der Jahrtausendwende jedoch auch zur verbesserten Differenzialdiagnostik und gemäß neuer Studienansätze auch zur verbesserten Früherkennung kleiner Mammakarzinome (Kolb et al. 2002, Madjar 2010). Die hochauflösende Realtime-Technik hat eine axiale und laterale Auflösung von unter 0,5-1 mm. Dies verbessert die Darstellung von Strukturdetails und erlaubt eine wesentlich exaktere Beurteilung verschiedener Diagnosekriterien als die älteren Geräte mit schlechterer Auflösung (⊡ Abb.12. 5, ⊡ Abb. 12.6, ⊡ Abb. 12.7a,b ⊡ Abb. 12.8). Neben der besseren Bildqualität bieten moderne Realtime-Geräte auch weitere Vorteile wie Compound- Scans, 3D- und Panorama-Scans zur übersichtlicheren Darstellung der Brust (Merz et al. 2009).
⊡ Abb.12.5. Hochauflösender Realtime- Scan (12 MHz) von Zysten
279 Historischer Überblick
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⊡ Abb. 12.6. Hochauflösender Realtime- Scan (12 MHz) eines Fibroadenoms
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⊡ Abb. 12.7a,b. Hochauflösender Realtime-Scan (12 MHz) eines invasiven Mammakarzinoms a klassischer Bildausschnitt entsprechend der Bildfeldbreite des Transducers b Darstellung des gesamten Brustquerschnittes im Panorama-ScanVerfahren
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Kapitel 12 · Entwicklung und Bedeutung der Mammasonographie in der Gynäkologie
⊡ Abb. 12.8. Hochauflösender Realtime-Scan (12 MHz) eines multifokalen DCIS. Der Bildausschnitt zeigt mehrere kleine Herde im äußeren Quadranten der Brust in radiärer Ausdehnung
Indikationen für die Mammasonographie Früherkennungsdiagnostik
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Die Mammographie war als Screeningmethode für unsymptomatische Frauen bereits in den 70er- bis 80er-Jahren gut etabliert. In mehreren Ländern wurde durch die regelmäßige Anwendung der Mammographie eine Mortalitätsreduktion in der gescreenten Bevölkerung nachgewiesen. Aber in mehreren Studien zeigte sich bei prämenopausalen Frauen nur ein geringer oder gar fraglicher Effekt anhand der niedrigeren Entdeckungsraten und der höheren Zahl von Intervallkarzinomen im Vergleich zu postmenopausalen Frauen. Daher wird in vielen Ländern das Mammographiescreening erst bei Frauen ab dem 50. Lebensjahr empfohlen und durchgeführt. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass 25-30% der Mammakarzinome bei prämenopausalen Frauen auftreten. Auch ergaben mehrere Studien, dass bei menopausalen Frauen dichtes Brustgewebe in ca. 30% der Fälle vorkommt, und dass bei diesen die Entdeckungsrate der Mammographie gering ist. Zugleich ist bei diesen Frauen aber das Erkrankungsrisiko für das Mammakarzinom deutlich erhöht (Boyd et al. 2007). Da der Ultraschall dichtes und echoreiches Brustgewebe sehr gut penetrieren kann und gegenüber echoarmen Tumoren einen hohen Gewebekontrast zeigt, gab es in den vergangenen 20 Jahren vielfältige Studienansätze, um diese schwerwiegende diagnostische Lücke der Röntgenmammographie zu schließen. Im Rahmen einer Promotionsarbeit an der Universitäts-Frauenklinik Freiburg konnten wir bereits Anfang der 90er-Jahre an einem Kollektiv von über 1000 Frauen belegen, dass Ultraschall-Früherkennung bei unsymptomatischen Frauen ohne Tastbefund und ohne auffällige mammographische Veränderungen möglich ist (Madjar et al. 1994). In einem Dreimonatszeitraum wurden bei unsymptomatischen Frauen 4 Mammakarzinome entdeckt. Eine ähnliche Studie wurde später von P. Gordon durchgeführt (Gordon et al. 1995). Sie untersuchte 12.706 Frauen, die mammographisch und klinisch als unauffällig befundet waren. Bei der zusätzlichen sonographischen Durchuntersuchung beider Mammae fanden sich 1.575 solide Tumoren, darunter 44 Karzinome, die nur sonographisch erkennbar waren.
281 Indikationen für die Mammasonographie
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Bei einer ähnlich großen Population entdeckten Kolb et al. (1998) Karzinome bei 3/1000 Frauen mit unauffälligen mammographischen und klinischen Befunden allein durch die Ultraschalluntersuchung. Die Stadienverteilung lag dabei ebenso günstig wie in dem Kollektiv der primär mammographisch entdeckten Karzinome. Die Überlegenheit des Ultraschalls zeigte sich vor allem bei Frauen mit hoher Brustparenchymdichte (Kolb et al. 2002). Eine Reihe weiterer Folgestudien hat mittlerweile die Ergebnisse an großen Kollektiven bestätigt. Diese zeigen eine zusätzliche Karzinomentdeckungsrate bei mammographisch und klinisch unauffälligen Befunden in der Größenordnung von 3-4 pro 1000 untersuchter Frauen (Madjar 2010). Dies bedeutet eine erhebliche Verbesserung der Entdeckungsrate bis zu 50%. Zwar ist initial die Zahl falsch auffälliger Befunde geringfügig erhöht. Dies führt gegenüber einem mehrjährig durchgeführten Mammographiescreening jedoch nicht zu einer Verschlechterung der Spezifität.
Tumordifferenzierung Ein großer Teil der Ultraschallstudien bezog sich in den letzten 30 Jahren auf die Verbesserung der Differenzierung von Tumoren, da durch die alleinige Mammographie die Zahl unnötiger Operationen wesentlich zu hoch war (Lauth 1982, Leucht 1985, Leucht 1995, Madjar 1986, Fornage 1990, Gerlach 1994, Jackson 1995, Stavros 1995, Blohmer 1997, Skaane 1998, Rhabar 1999, Elmore 2005, Baez 2005, Madjar 2010). Stavros et al. haben 750 Mammatumoren bei Patientinnen ohne klinische oder mammographische Verdachtsmomente sonographisch durchuntersucht. Darunter waren 625 benigne (83%) und 125 maligne (17%). Ultraschall erlaubte eine korrekte Klassifikation mit einer Treffsicherheit von 98.4% bei einem negativen Vorhersagewert von 99.5% (Stavros et al. 1995). Dies war meines Erachtens eine der wichtigsten Arbeiten zur Tumordifferenzierung und sie war auch die Basis für die Erarbeitung des US-BI-RADS-Systems. Aufgrund dieser exzellenten Studienergebnisse gründete das American College of Radiologists (ACR) eine internationale Expertengruppe, in der auch gynäkologische Expertise aus Deutschland gefragt war. Das Ziel dieser Arbeitsgruppe war es, den Stellenwert und die Zukunftspotentiale des Brustultraschalls herauszuarbeiten. Dies führte 2003 zur Einführung des weltweit anerkannten Ultraschall BI-RADS Systems zur standardisierten Interpretation von Ultraschallbefunden (Mendelson et al. 2003). Für den deutschsprachigen Raum wurde es 2006 nach mehreren Arbeitstreffen und einer abschließenden Konsensuskonferenz in Abstimmung mit den Ultraschallgesellschaften in der Schweiz und Österreich von einer Arbeitsgruppe der DEGUM als BI-RADS analoger Beurteilungsstandard eingeführt (Madjar et al. 2006). Derzeit laufen mehrere große Studien mit dem Ziel, die BI-RADS Kriterien zu analysieren und daraus noch bessere Diagnostikregeln zu entwickeln. Daran sind zumindest in Deutschland wiederum überwiegend gynäkologische Einrichtungen beteiligt. Eine spezielle Methode zur ergänzenden Dignitätsbeurteilung von Mammatumoren ist die Farbdopplersonographie. Diese Methode kam Anfang der 90er-Jahre auf und wurde von zahlreichen, überwiegend gynäkologischen Arbeitsgruppen analysiert. Einen Überblick über die Entwicklung, Untersuchungstechnik und Ergebnisse gibt die Monographie von Madjar (1995). Die Dopplersonographie von Mammatumoren fand solch rasche Verbreitung, dass sie auch zum Bestandteil der BI-RADS Kriterien zur Dignitätsbeurteilung wurde (Mendelson 2003, Madjar 2004, 2006).
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Kapitel 12 · Entwicklung und Bedeutung der Mammasonographie in der Gynäkologie
Präoperatives Staging Die genaue Messung der Tumorgröße, Einbeziehung der Mamille, der Haut und Thoraxwand sowie die Erkennung multifokaler Tumorherde ist extrem wichtig zur korrekten Operationsplanung. In einer prospektiven Studie bei 399 Patientinnen, die wegen eines Mammakarzinoms mastektomiert wurden, gingen Holland et al. der Frage nach, wie korrekt die mammographische Bestimmung der Tumorausdehnung ist (Holland 1985). 282 invasive Karzinome wurden in der präoperativen klinischen und mammographischen Befundung als umschriebene Tumoren klassifiziert. Holland fand histopathologisch eine über den auffälligen Primärtumor hinausgehende Tumorausdehnung und weitere Tumorherde bei 63% dieser Frauen. Bei 20% war die Distanz zum Haupttumor unter 2 cm und bei 43% betrug die Distanz über 2 cm. Dies zeigt, dass die Mammographie die Tumorausdehnung stark unterschätzt hatte. In den 80er-Jahren wurden zunehmend brusterhaltende Operationen durchgeführt. Die Indikationen waren noch nicht klar definiert und die Studie von Holland sorgte für große Unsicherheit. Daher gingen wir an der Universitäts-Frauenklinik Freiburg in einer prospektiven Studie der Frage nach, ob das lokoregionäre präoperative Staging durch den Ultraschall verbessert werden kann (Madjar et al. 1993 und 1994). Dazu wurden 100 Karzinome untersucht. Die Korrelation mit der histologischen Tumorgröße ergab für den Ultraschall eine hohe Korrelation von 0.91, für die Mammographie 0.76 und für die Tastuntersuchung 0,74. Die Ultraschalluntersuchung entdeckte 34/39 (87%) der multifokalen Tumoren, nur 13 (33%) waren mammographisch als multifokal klassifiziert worden und nur 4 (10%) durch die Tastuntersuchung. Dies zeigte die Vorteile der Sonographie zur exakten Messung der Tumorgröße und zur Erkennung multifokaler und multizentrischer Herde. Ähnliche Ergebnisse wurden später durch verschiedene andere Untersucher bestätigt. Daher hat sich mittlerweile der Ultraschall auch für diese wichtige Indikation in der Routinediagnostik etabliert.
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Axilladiagnostik Die Erkennung und Differenzierung von axillären Lymphknotenmetastasen durch Ultraschall wurde bereits 1994 von Frau Nitz an der Universitäts-Frauenklinik Düsseldorf systematisch untersucht. Die Sensitivität lag dabei mit 80% deutlich über der klinischen Entdeckbarkeit (Nitz et al. 1994). Eine ähnlich hohe Entdeckungsrate fand sich auch in einer eigenen Studie (Madjar et al. 1994) und bei Gerlach (1993).
Nachsorge Die erste große systematische Studie zu diesem Thema wurde von Gerlach unter der Leitung von W. Holzgreve an der Universitäts-Frauenklinik in Münster durchgeführt (Gerlach et al. 1994). Bei 1287 Frauen nach Operation eines Mammakarzinoms wurden neben der üblichen Nachsorge regelmäßige Ultraschallkontrollen durchgeführt. In einem 6-Jahreszeitraum fanden sich bei den mastektomierten Frauen mit und ohne prothetischen Wiederaufbau 36 Lokalrezidive, 25% ausschließlich sonographisch. Nach brusterhaltender Operation traten insgesamt 61 Lokalrezidive auf, davon wurden 26% ausschließlich durch Ultraschall entdeckt. Die ausschließliche mammographische Entdeckungsrate lag bei 10%. Diese Arbeitsgruppe spielte damit eine wichtige Rolle als Vorreiter zum Einsatz des Brust- Ultraschalls in der Nachsorge.
283 Grenzen der Ultraschallmethode
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Vorteile des Ultraschalls Aus den oben erläuterten Studien ergeben sich eine Reihe von aktuellen Einsatzmöglichkeiten für den Ultraschall (Merritt 1999). Dies gilt insbesondere für Frauen, bei denen die Aussagefähigkeit der Mammographie eingeschränkt ist. Das liegt in erster Linie an den speziellen physikalischen Eigenschaften des Ultraschalls, die eine sehr gute Unterscheidung verschiedener Gewebestrukturen im Vergleich zur Mammographie ermöglichen und besonders für die Tumordifferenzierung Vorteile bieten. Dies verbessert die Sensitivität und Spezifität der Brustdiagnostik und verringert unnötige Verzögerungen in der Karzinomtherapie und hilft gleichzeitig die Zahl unnötiger Biopsien zu reduzieren. Zusätzlich erlaubt der Ultraschall eine genauere präoperative Planung im Vergleich zur alleinigen Mammographie. In allen Fällen mit unklaren Befunden, die sonographisch erkennbar sind, ermöglicht die sonographisch gezielte interventionelle Diagnostik durch Feinnadelaspirationszytologie von symptomatischen Zysten und die Stanzbiopsie oder Vakuumbiopsie bei soliden Tumoren eine zuverlässige und einfach handhabbare Abklärung. Für interessierte Leser, die sich einen umfassenden Überblick über die Thematik verschaffen möchten, sei auf einige Lehrbücher zur Mammasonographie hingewiesen, die zumindest im deutschsprachigen Raum überwiegend von Gynäkologen geschrieben wurden (Degenhardt 2000, Fischer 2007, Hackelöer 1989, Leucht und Madjar 1995, Madjar 1994, 1995, 1999, 2005, Madjar und Mendelson 2008, Ohlinger 2002, Sohn und Blohmer 1996, Stavros 2004).
Aktuelle Einsatzmöglichkeiten der Mammasonographie ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Unterscheidung zwischen Zysten und soliden Tumoren Differenzierung zwischen gut- und bösartigen Tumoren Abklärung von tastbaren Befunden Charakterisierung von mammographischen Verdichtungen Tumorgröße, Multifokalität und Multizentrizität, Haut- und Mamillenabstand zur Planung brusterhaltender Operationen, Mastektomien und Rekonstruktionen mit Implantaten bzw. Eigengewebe Entdeckung von Lymphknotenmetastasen Verbesserte Tumorerkennung bei jungen Frauen, Schwangeren oder Stillenden und bei Frauen mit diffuser oder regionaler mastopathischer Gewebeverdichtung oder generell bei Frauen mit dichtem Brustparenchym Frauen unter Hormonersatztherapie Entzündliche Veränderungen und Abszesse Nach Operationen und Strahlentherapie Silicon- u. a. Implantate Führung von interventionellen Eingriffen: Zystenpunktion, Stanzbiopsie, Vakuumbiopsie, präoperative Tumorlokalisation und Markierung sowie Präparatesonographie Erweiterte Vorsorge bei jungen Hochrisikopatientinnen
Grenzen der Ultraschallmethode Ultraschall wurde in vielen großen, aber nicht randomisierten Screeningstudien eingesetzt. Der Effekt einer Mortalitätsreduktion konnte bei den entsprechenden Studiendesigns nicht
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Kapitel 12 · Entwicklung und Bedeutung der Mammasonographie in der Gynäkologie
untersucht werden, so dass eine Aussage im Vergleich zu den klassischen mammographischen Screeningstudien nicht möglich ist. Dennoch zeigen die vorliegenden Studiendaten, dass eine gute Früherkennung grundsätzlich möglich ist, da die Verteilung der Tumorstadien keinen Unterschied zu den primär mammographisch entdeckten Karzinomen aufweist. Das Hauptproblem der Ultraschallmethode liegt jedoch in der hohen Abhängigkeit von der Sorgfalt und Erfahrung des Untersuchers und der Gerätequalität. Dies macht Richtlinien zur Ausbildung, Standardisierung und Qualitätskontrolle erforderlich. Die bisherigen Richtlinien der KV haben keine ausreichende Gerätequalität und Untersucherausbildung und Erfahrung sichergestellt. Daher haben sich mehrere Fachgesellschaften mit diesem wichtigen Thema befasst. Auch hier darf man als Gynäkologe mit Stolz erwähnen, dass die wesentlichen Impulse hierzu aus unserem Fachgebiet gegeben wurden (Schulz 2003, Madjar et al. 2006).
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Kapitel 12 · Entwicklung und Bedeutung der Mammasonographie in der Gynäkologie
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Entwicklung der 3D/4DSonographie in der pränatalen Diagnostik, Gynäkologie und der Mammadiagnostik Eberhard Merz
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Kapitel 13 · Entwicklung der 3D/4D-Sonographie in der pränatalen Diagnostik
Erste Schritte und Systeme
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Erste Versuche, ein 3-dimensionales Ultraschallbild zu erstellen, reichen in die 80er-Jahre zurück. Anfänglich wurden konventionelle 3D-Sonden in unterschiedliche Haltevorrichtungen (⊡ Abb. 13.1) eingespannt, die über eine Translations-, Schwenk- oder Rotationsbewegung die Aufnahme mehrerer 2-dimensionaler Bilder in definierten Abständen ermöglichten. Durch die Übertragung der einzelnen Bilder in einen Computerspeicher konnten diese dann zu einem 3-dimensionalen Bild zusammengesetzt werden. Allerdings zeigten sich diese Techniken sehr aufwändig und waren für die Routine nicht geeignet. Eines der Hauptprobleme der 3D-Sonographie war der relativ hohe Zeitbedarf für die Berechnung von 3-dimensionalen Bildern. Dieser lag für ein einziges 3D-Bild in der anfänglichen Entwicklungsphase im Stunden- und dann im Minutenbereich. Mit der Einführung schnellerer Computer und handlicherer 3D-Systeme gelang dann der Übergang zu einem Verfahren, das auch in der Klinik routinemäßig einsetzbar war. Hierbei konnten grundsätzlich 2 Systeme unterschieden werden: die sog. externen oder Freihandsysteme und die internen oder integrierten Systeme (⊡ Tab. 13.1). Bei den externen oder Freihandsystemen (z. B. TomTec-System, Echotech, InViVoSystem) (⊡ Abb. 13.2), wurde einem konventionellen Schallkopf ein elektromagnetischer Positionsgeber aufgesetzt. Bei der manuellen Schallkopfführung kam es dann zu einer Magnetfeldveränderung, über die sich Position und Bewegung des Schallkopfes erfassen ließen. Um aus den einzelnen Bildern, die bei der Schallkopfführung erzeugt wurden, einen Volumensatz zu erzeugen, mussten bei den externen Systemen die jeweiligen 2-dimensionalen Schnittebenen mit deren exakten Position in einen externen 3D-Speicher eingeschrieben werden. In praxi erfolgte dies derart, dass die gewonnenen Bilddaten über das Videosignal des Ultraschallgerätes zu einem externen Computer (Workstation), der mit einem Frame grabber ausgerüstet war, übertragen wurden. Nach Digitalisierung der einzelnen Bilder über den Frame grabber konnten die so umgewandelten Bilder mit deren bekannten Position im Speicher des Computers derart abgelegt werden, dass sie zusammengesetzt ein Volumen ergaben. Der Nachteil des externen Systems war, dass die Handhabung insgesamt etwas umständlicher als bei einem integrierten System war und dass die Abstände zwischen den einzelnen 2-dimensionalen Bildebenen aufgrund der manuellen Schallkopfführung meist nicht identisch waren. Je nach Schallkopfführung konnte es dabei auch zu Überschneidungen von
a
b
c
⊡ Abb. 13.1a–c. Anfängliche Vorrichtungen zum Einspannen von Schallköpfen zur Gewinnung von 3D-Bildern: a durch Translationsbewegung, b durch Schwenkbewegung, c durch Rotationsbewegung
289 Erste Schritte und Systeme
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Bildebenen kommen. Obwohl die externen Systeme vom Preis her wesentlich günstiger waren, konnten sie seitens der Bildqualität und den Einsatzmöglichkeiten nie mit den internen Systemen mit automatisierter Volumenerfassung konkurrieren. Letztlich war mit diesen Systemen auch keine 4D-Sonographie realisierbar. Bei dem ersten internen oder integrierten System (Combison 330, Kretztechnik, Österreich), das 1989 in den Handel kam (⊡ Abb. 13.3), benötigte man spezielle 3D-Schallköpfe, die nur an diesem speziellen Ultraschallgerät mit integrierter 3D-Einheit eingesetzt werden konnten (⊡ Abb. 13.4). Anfänglich gab es nur einen Abdominalschallkopf (mecha-
⊡ Tab. 13.1 Unterschiede zwischen einem externen und einem internen 3D-System, nach Merz 2002 Internes (= integriertes System)
Externes System
3D-System im Ultraschallgerät integriert
Ein Sensor wird auf den Schallkopf aufgesetzt
Spezielle 3D-Schallköpfe, die nur an einem 3DUltraschallgerät betrieben werden können
Jeder Schallkopf, unabhängig von der Firma, kann verwendet werden
Automatische Volumenaufnahme durch 3DSchallkopf
Volumenaufnahme durch manuelle Schallkopfführung
Hohe Präzision der Volumenaufnahme, da stets gleicher Abstand zwischen den einzelnen erfassten 2D-Bildebenen
Geringere Präzision, da unterschiedlich großer Abstand zwischen den einzelnen erfassten 2DBildebenen
Sehr kurze Volumenaufnahmedauer
Dauer der Volumenaufnahme von der manuellen Schallkopfführung abhängig
Keine Interpolation zwischen den einzelnen Schnittebenen notwendig
Interpolationsprogramm erforderlich
⊡ Abb. 13.2. Externes System (TomTec): Dem Schallkopf wird ein Positionssensor aufgesetzt. Schallkopfposition und -bewegungen werden über eine Magnetfeldänderung erfasst
290
Kapitel 13 · Entwicklung der 3D/4D-Sonographie in der pränatalen Diagnostik
⊡ Abb. 13.3. Erstes kommerziell erhältliches 3D-Ultraschallgerät (Combison 330, Kretztechnik, Österreich). Erprobung durch E. Merz am 17.9.1989 in Zipf, Österreich
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⊡ Abb. 13.4a–c. a Erster abdominaler 3D-Schallkopf 1989, b erster 3D-Vaginalschallkopf mit rotierender Bildaufnahme bei frontaler Sektorabstrahlung, c erster 3D-Vaginalschallkopf mit Schwenkbewegung der Schallebene bei frontaler Abstrahlung. Kretztechnik Österreich
nischer 3D-Annular-Phased-Volumenschallkopf) mit 5 MHz (⊡ Abb. 13.4a), wobei der Schallkopf mit der Breitseite gehalten werden musste (⊡ Abb. 13.5a), was etwas gewöhnungsbedürftig war. Deshalb wurde bei den späteren Schallkopfmodellen die 3D-Einheit innerhalb des Schallkopfes um 90° gedreht, so dass der Schallkopf wieder in Längsrichtung gehalten werden konnte (⊡ Abb. 13.5b). Die Volumenabtastung erfolgte hierbei über einen Motor, der das Schallelement im Innern des Schallkopfgehäuses auf Knopfdruck automatisch um einen bestimmten Winkel ablenkte. Diese Ablenkung erfolgte bei der Abdominalsonde in Form einer Fächerbewegung (⊡ Abb. 13.5a, ⊡ Abb. 13.5b), wodurch ein pyramidenstumpfähnliches Volumen gewonnen wurde. Bei der transvaginalen Sonographie musste wegen der limitierten Schallkopfgröße die Volumenaufnahme zunächst in Form einer Rotationsbewegung bei frontaler Sektorabstrahlung geschehen (⊡ Abb. 13.5c). Hierdurch ließ sich ein Volumen in Form eines Kegelstumpfes nach frontal hin erfassen. Nachteil dieser Technik war jedoch, dass es bei der Volumenaufnahme zu einer Überla-
291 Erste Schritte und Systeme
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⊡ Abb. 13.5a–d. Schemazeichnungen zur Volumenaufnahme: a erster Abdominalschallkopf mit fächerförmiger Volumenaufnahme durch Schwenk der Schallebene um die Schallkopfquerachse, b Folgemodell mit Volumenaufnahme durch Schwenk um die Schallkopflängsachse, c erster 3D-Vaginalschallkopf mit rotierender Bildaufnahme bei frontaler Sektorabstrahlung, d Folgemodell mit Schwenkbewegung bei frontaler Abstrahlung
gerung der Schnittebenen im Zentrum des Bildes kam, die zu einer dort eingeschränkten Bildqualität führte. Wollte man eine spezielle Struktur darstellen, musste man deshalb darauf achten, dass sich diese nicht im Bildzentrum, sondern lateral davon befand. Aufgrund der eingeschränkten Bildqualität in Bildmitte wurde diese Technik dann wieder verlassen. Stattdessen konnte eine Vaginalsonde entwickelt werden, die wie bei der Abdominalsonographie eine fächerfömige Volumenaufnahme bei frontaler Abstrahlung erlaubte (⊡ Abb. 13.5d). Bei der späteren Entwicklung der 3D-Mammasonde wurde auf das gleiche fächerförmige Volumenaufnahmeverfahren wie beim Abdominalschallkopf zurückgegriffen. Vorteil der speziellen 3D-Schallköpfe ist, dass alle während der Volumenaufnahme erfassten Bildebenen in gleichem Abstand zueinander liegen, die nach Signalverarbeitung und Quantisierung digital und ortsgetreu in einen elektronischen Volumenspeicher eingeschrieben werden und zusammengesetzt dann ein Volumen ergeben.
292
Kapitel 13 · Entwicklung der 3D/4D-Sonographie in der pränatalen Diagnostik
⊡ Tab. 13.2. Einzelschritte bei der 3D-Ultraschalluntersuchung, nach Merz 2002 Einzelschritt Datenakquisition
Orientierung im 2D-Bild Definition der Region of interest (ROI) Volumenaufnahme
3D-Visualisierung
Multiplanare Bilddarstellung Oberflächendarstellung (Oberflächen-/Lichtmodus) Transparenzdarstellung (Maximum-/X-ray-Modus) Gefäßdarstellung (Kombination Oberfläche und Farbdoppler) Bildanimation (Rendering von Bildsequenzen)
Volumen-/Bildbearbeitung
elektronisches Skalpell Filterung Kontrast- u. Helligkeitsregulierung Farbdarstellung
Speichern von Volumina oder gerenderten Bildern/Bildsequenzen
Elementare Schritte bei der 3D-Sonographie Eine 3D-Untersuchung lässt sich grundsätzlich in 4 Hauptschritte untergliedern: ▬ Datenakquisition ▬ 3D-Visualisierung ▬ Volumen-/Bildbearbeitung ▬ Speicherung von Volumina oder gerenderten Bildern/Bildsequenzen (⊡ Tab. 13.2)
Datenakquisition (Volumenaufnahme)
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Bei der 3D-Sonographie wird das zu scannende Objekt zunächst im 2-dimensionalen Bild optimal dargestellt. Zur Erfassung des gewünschten Volumens wird eine variable Volumenbox in das B-Bild eingeblendet. Die Größe der Volumenbox definiert dabei die Größe des abzuspeichernden Volumens. Nach Auswahl der Scangeschwindigkeit und des Scanwinkels wird die 3D-Einheit per Knopfdruck aktiviert, worauf das Schallelement im Innern des Schallkopfgehäuses mittels eines Motors automatisch um einen definierten Winkel abgelenkt wird. Während der Volumenabtastung werden alle Echos als digitale Signale ortsgetreu in einen Volumenspeicher eingeschrieben. Dabei muss darauf geachtet werden, dass sich der Fetus in dieser Zeitspanne möglichst nicht bewegt, da ansonsten Bewegungsartefakte auftreten. Sobald ein Volumen in den Speicher eingeschrieben ist, erscheinen die drei senkrecht aufeinander stehenden Schnittebenen (Sagittal-, Transversal-, Koronarebene) auf dem Monitor (sog. multi- oder triplanare Darstellung).
3D-Visualisierung Während 1989 nur die multiplanare Darstellung zur Verfügung stand (⊡ Abb. 13.6), hat man durch die stetige Entwicklung neuer Techniken und Schallköpfe (⊡ Abb. 13.7) heute eine Vielzahl von weiteren Darstellungsmöglichkeiten (⊡ Tab. 13.3).
293 Elementare Schritte bei der 3D-Sonographie
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⊡ Tab. 13.3. Entwicklung der 3D/4D-Sonographie bei der Firma Kretztechnik/GE Jahr
Entwicklung
1989
Combison 330: Multiplanare Darstellung
1991
Mechanische 3D-Vaginalsonde
1992
Oberflächendarstellung (externer PC)
1993
Combison 530
1994
Oberflächen- und Transparenzdarstellung integriert
1996
Combison 530D: Live 3D. 3D-View
1997
Elektronische 3D-Vaginalsonde, 3D-Brustsonde
2000
Voluson 730: 4D-Modus
2000
MagiCut, VOCAL, 4D-View
2001
3D Color- und Power-Doppler, Glass-Body Rendering
2002
VCI-A, 4D-Biopsie
2003
STIC, VCI-C
2003
Beta-View
2004
STIC-COLOR, TUI
2005
Invert Modus, 3D HD-Flow
2005
Curved Renderstart, 3D-Kontrastmittel
2006
Voluson i: tragbares 3D/4D System
2006
Voluson E8
2007
STIC-Vascular, Sono AVC (Follikel), Curved VCI-C
2007
SonoVCAD fetales Herz
2007
High-Resolution Vaginalsonde 6-12 MHz
2008
OmniView
Durch die enorme Beschleunigung der Bildberechnung, die die 3D-Sonographie infolge der Entwicklung der Computertechnologie erfahren hat, ist die region of interest heute interaktiv, d. h. ohne zeitliche Verzögerung, in den unterschiedlichen Abbildungsmodi einsehbar. Auch ist ein Wechsel zwischen den einzelnen Berechnungsalgorithmen direkt möglich. Dies gibt dem Untersucher die Gelegenheit, denjenigen Darstellungsmodus auszuwählen, der für die Fragestellung am günstigsten ist (⊡ Tab. 13.4). Ebenso ist auch eine Überblendung zwischen zwei Abbildungsmodi möglich, wodurch im Einzelfall eine Glättung und damit optisch schönere Bilder erzielt werden können. Veränderungen der Gammakurve werden ebenso sofort sichtbar gemacht. Dadurch kann der Untersucher direkt am Bildschirm entscheiden, welcher Helligkeitsgrad für die Darstellung des Befundes am besten ist.
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Kapitel 13 · Entwicklung der 3D/4D-Sonographie in der pränatalen Diagnostik
⊡ Abb. 13.6. Erste multiplanare Darstellung der fetalen Wirbelsäule und der Nieren, 27+5 SSW. T: Querschnitt, S: Längsschnitt, C: Koronarschnitt. Aufnahme am 19.9.1989
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⊡ Abb. 13.7a–c. Aktuelle 3D/4D-Schallköpfe (GE-Kretztechnik, Österreich): a Vaginalschallkopf, b Abdominalschallkopf, c Mammaschallkopf
Die Bildqualität konnte, im Vergleich zu den Bildern der 90er-Jahre innerhalb der letzten Jahre erheblich verbessert werden. Dennoch hängt die Bildqualität jedoch stets von der Qualität des aufgenommenen Volumens ab (⊡ Abb. 13.8). Mit der Entwicklung der 4D-Sonographie ließen sich dann auch bewegte Objekte räumlich erfassen. Dabei gibt es heute, wie bei der 3D-Technik, unterschiedliche Darstellungsmöglichkeiten: 4D-Oberflächendarstellung, 4D-Transparenzdarstellung und VCI-Darstellung. Eine zusätzliche Technik stellt die sog. STIC- (spatio-temporal image correlation) bzw. STICColour-Darstellung dar, die zur Beurteilung des schlagenden Herzens verwendet wird.
295 Elementare Schritte bei der 3D-Sonographie
13
⊡ Tab. 13.4. Darstellungsmodi bei der 3D/4D-Sonographie Darstellungsmodus
Bemerkungen
Multiplanare (triplanare) Darstellung
Alle drei senkrecht aufeinander stehenden Schnittebenen werden auf dem Monitor abgebildet. Veränderungen dieser Ebenen erfolgen durch Translations- und Rotations-bewegungen
TUI-Verfahren (Tomographic ultrasound imaging)
Schnittbildverfahren wie CT oder MRI mit Darstellung mehrerer paralleler Schnittebenen
Oberflächenmodus
Photorealistische Darstellung von Oberflächen
Transparenzmodus
Gläserne Darstellung echodichter Strukturen wie das fetale Skelett
Glass-body-Rendering
Kombination aus Transparenzdarstellung und Farb- oder Power-Doppler, dient der Gefäßdarstellung
4D-Sonographie (Real-time-3D)
Gezielte Darstellung von bewegten Objekten, z. B. Fetalbewegungen
STIC (Spatio-Temporal Image Correlation)
4D-Darstellung des schlagenden Herzens ohne externe Triggerung
VCI-Technik
»Dicke Scheibentechnik«: 3D- oder 4D-Darstellung schmaler Volumina
Inversions-Modus
Verfahren, das echoarme Strukturen, wie z. B. Gefäße oder Hirnseitenventrikel in solide echoreiche Strukturen umkehrt, so dass sie als Ausgussmodell erscheinen
OmniView
Verfahren, das erlaubt, jede beliebige Ebene innerhalb eines abgespeicherten Volumens darzustellen
⊡ Abb. 13.8. Erstes Oberflächenbild eines Feten mit rechtsseitiger Lippenspalte, 23. SSW
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Kapitel 13 · Entwicklung der 3D/4D-Sonographie in der pränatalen Diagnostik
Volumenbearbeitung Zur Verbesserung der Bildqualität stehen aktuell verschiedene Hilfsmittel zur Verfügung. Hierzu zählen das elektronische Skalpell, Verfahren des Postprocessings wie Filter, Speckle reduction imaging (SRI), Helligkeits-/Kontrastveränderungen und der Cine-Modus. Mit Hilfe des Cine-Modus werden nach Eingabe des zu definierenden Berechnungswinkels und des Bildabstandes (in Grad) mehrere Volumina nacheinander rekonstruiert, wodurch sich das Objekt in einer Rotationsbewegung um die y- oder x-Achse auf dem Monitor beobachten lässt. Hierdurch erhält man einen noch besseren räumlichen Eindruck als wenn ein Objekt nur im stehenden Volumen gezeigt wird. Der 3D-Cine-Modus kann sowohl in der Oberflächen-, der Transparenz- und der Glass-body-Darstellung angewandt werden.
Langzeitspeicherung von Volumina und gerenderten Bildern Die digitale Speicherung von Volumina ermöglicht eine verlustfreie Langzeitspeicherung der Volumendaten. Ein gespeichertes Volumen kann somit jederzeit wieder geladen und erneut untersucht werden. Dies bringt den Vorteil, dass ein Volumen nochmals ohne Zeitdruck und ohne Anwesenheit der Patientin außerhalb der Sprechstunde detailliert durchmustert werden kann (sog. virtuelle Untersuchung). Unklare Befunde lassen sich somit gezielt abklären, ohne dass die Patientin beunruhigt wird.
Klinischer Einsatz der 3D/4D-Sonographie
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Viele Untersucher, die nur den 2-dimensionalen Ultraschall in der pränatalen Diagnostik gewohnt waren, brachten der 3-dimensionalen Sonographie anfänglich große Skepsis entgegen. Fragen wie »Bringt die 3D-Technik mehr Nutzen in der pränatalen Diagnostik?«, »Verbessert sie die diagnostische Genauigkeit oder ist sie nur gut, um schöne Erinnerungsbilder für die Eltern zu machen?«, »Kann man damit mehr Fehlbildungen erkennen?«, »Ist diese Technik in der Routine anwendbar oder ist sie sehr zeitintensiv?« wurden immer wieder gestellt. Nachdem auf dem 1. Weltkongress für 3D-Sonographie, der vom 5.-6.09.1997 unter E. Merz als Kongresspräsident in Mainz stattfand (⊡ Abb. 13.9), gezeigt werden konnte, dass die 3-dimensionale Sonographie sowohl von der Bildqualität als auch vom Handling in der abdominalen wie auch der transvaginalen Anwendung enorme Fortschritte gemacht hatte, konnte weltweit Interesse für die 3D-Sonographie geweckt werden. Mit der Weiterentwicklung anwenderfreundlicherer und kostengünstigerer 3D/4D-Systeme wurde dann in dem darauffolgenden Jahrzehnt die Basis für eine weltweite Verbreitung der 3D/4D-Sonographie geschaffen. Die meisten anfänglichen Publikationen stammen aus der pränatalen Diagnostik. Dies liegt daran, dass der von Fruchtwasser umgebene Fetus ideale Voraussetzungen zur Berechnung von Oberflächenbildern bietet. Heute steht mit der 3D/4D-Sonographie eine Methode zur Verfügung, die nicht nur in der pränatalen Diagnostik, sondern auch in der gynäkologischen Diagnostik und der Mammadiagnostik, aber auch in vielen anderen Gebieten der Medizin, wie Innere Medizin, Chirurgie, Urologie, Pädiatrie usw. zum Einsatz kommt und viele diagnostische Vorteile bietet.
297 Klinischer Einsatz der 3D/4D-Sonographie
13
⊡ Abb. 13.9. Ankündigung des 1. Weltkongresses für 3D-Ultraschall in Mainz, Deutschland
Pränatale Diagnostik Die triplanare Darstellung (⊡ Abb. 13.10a) erlaubt durch die Kontrolle in den beiden anderen Ebenen das exakte Aufsuchen einer gezielten Schnitt- oder Biometrieebene, wodurch eine exakte Messung gewährleistet wird. Im II. und III. Trimenon findet dieser Abbildungsmodus Anwendung beim Vergleich von symmetrisch angelegten Organen (z. B. Orbitae) oder bei der tomographischen Untersuchung komplexer Organbereiche, wie z. B. dem fetalen Gehirn. Mit dem TUI-Verfahren (Tomographic ultrasound imaging) oder Multislice-Verfahren (⊡ Abb. 13.10b) werden pathologische Befunde computertomographisch exakt in Form parallel ausgerichteter Schnittebenen demonstriert. Die Richtung der Schnitte und der Abstand zwischen den einzelnen Schnittebenen können dabei interaktiv verändert werden, wodurch ein Defekt optimal abgegrenzt werden kann. Bei Anwendung der transvaginalen 3D-Sonographie kann der Embryo mit dem Oberflächenmodus bereits im frühen I. Trimenon deutlich sichtbar gemacht werden. Mit der transabdominalen Sonde gelingt eine gute Oberflächendarstellung des Feten etwa ab 20. SSW (⊡ Abb. 13.10c, ⊡ Abb. 13.11, ⊡ Abb. 13.12), obwohl bei günstigen Fruchtwasserverhältnissen eine zufriedenstellende Darstellung auch schon früher möglich ist. Dabei können nicht nur schöne Oberflächenbilder vom fetalen Gesicht für die Eltern gewonnen, sondern verdächtige
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Kapitel 13 · Entwicklung der 3D/4D-Sonographie in der pränatalen Diagnostik
Befunde gezielt abgeklärt werden. Vor allem kleine Oberflächendefekte (Enzephalozele, LKGSpalte ⊡ Abb. 13.12, Spina bifida, Bauchwand- und Extremitätendefekte), aber auch Gesichtsund Ohrmuscheldysmorphien oder Genitalfehlbildungen können somit sehr gut dargestellt werden. Auch innere Oberflächen oder Schnittflächen lassen sich mit dieser Darstellung demonstrieren, wenn Teile des Feten (z. B. vordere oder seitliche Hälfte) zuvor elektronisch entfernt werden. Mit dem Transparenzmodus (⊡ Abb. 13.10d) können Ossifikationsstörungen im Bereich der fetalen Wirbelsäule oder der Rippen übersichtlich demonstriert werden. Mit dem Inversionsmodus können zystische Anomalien, wie erweiterte Hirnseitenventrikel, erweiterte Darmschlingen, eine dilatiertes Nierenbeckenkelchsystem oder Nierenzysten in Form solider Strukturen demonstriert werden. Das Glass-body-Rendering (⊡ Abb. 13.10e) gestattet die räumliche Demonstration von fetalen Gefäßanomalien, während das STIC-Verfahren (⊡ Abb. 13.13) eine detaillierte echokardiographische Untersuchung am schlagenden Herzen mit Darstellung von Herzfehlern erlaubt. Besondere Bedeutung erhält die 3D-Sonogaphie bei der Syndromdiagnostik, bei der eine gezielte Feindiagnostik unerlässlich ist. Gleiches gilt auch für die gezielte Ausschlussdiagnostik einer Fehlbildung. Mit der 4D-Sonographie lassen sich neben den Fetalstrukturen zusätzlich noch alle Fetalbewegungen kontrollieren.
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⊡ Abb. 13.10a–e. Unterschiedliche 3D-Darstellungsmodi: a Multiplanare Darstellung des fetalen Gesichts, b tomographische Darstellung (TUI) des fetalen Gesichts (Koronarschnitte), c Oberflächendarstellung des fetalen Kopfes in der Seitenansicht, d Transparenzdarstellung des knöchernen Thorax und der Wirbelsäule, e Glass-body-Darstellung des Thorax mit Herz und Aorta
299 Klinischer Einsatz der 3D/4D-Sonographie
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⊡ Abb. 13.11. Deutliche Verbesserung der Bildqualität bei Oberflächenbildern zwischen 1998 und 2009
⊡ Abb. 13.12. Schrägansicht eines fetalen Kopfes mit doppelseitiger Lippen-Kieferspalte, 24. SSW. Oberflächendarstellung
⊡ Abb. 13.13. STIC-Technik. Neben den drei senkrecht aufeinander stehenden Schnittebenen lässt sich das Herz rechts unten im 3D-Aufsichtsbild erkennen
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Kapitel 13 · Entwicklung der 3D/4D-Sonographie in der pränatalen Diagnostik
Gynäkologie Die automatische Abtastung des kleinen Beckens mit Hilfe einer transvaginalen 3D-Sonde und Speicherung eines definierten Volumens eröffnete verschiedene neue Aspekte der Diagnostik im kleinen Becken. Während man mit einer konventionellen Vaginalsonde nur Sagittal- und Frontalschnitte durch das kleine Becken legen kann, werden bei der 3D-Technik nach der Volumenaufnahme stets alle 3 Schnittebenen gleichzeitig auf dem Monitor dargestellt (Multiplanarmodus). Man bekommt somit auch die dritte transversale Schnittebene, die mit der konventionellen transvaginalen Sonographie nicht darstellbar ist, zur Einsicht (⊡ Abb. 13.14). Die Darstellung des Uterus in allen 3 Schnittebenen erlaubt eine klare Abgrenzung des Endometriums vom Myometrium. Der frontale Uteruslängsschnitt bietet insbesondere bei Uterusfehlbildungen eine optimale Beurteilungsmöglichkeit der Endometriumverhältnisse (⊡ Abb. 13.15). Bei der Tumordiagnostik am Uterus setzt die 3D-Darstellung neue Maßstäbe. Innerhalb des Myometriums können Myome konkret lokalisiert und deren Volumen genau erfasst werden. Die gleichzeitige Demonstration des Endometriums in allen 3 Ebenen erlaubt eine optimale Beurteilung pathologischer Endometriumveränderungen. Beim Korpuskarzinom kann damit sowohl die myometrane Infiltration als auch die Ausbreitung in kaudaler Richtung erfasst werden. Gleiches gilt für das Zervixkarzinom. Auch hier erlaubt die Demonstration des Tumors im koronaren Längsschnitt eine gute Beurteilung der Tumorausdehnung. Mit dem Glass-body-Rendering eröffnen sich nicht gekannte Beurteilungsmöglichkeiten der Tumorperfusion. Während man mit der 2D-Sonographie Tumorgefäße meist nur punktförmig oder über eine kurze Strecke darstellen kann, ermöglicht die 3D-Sonographie die Demonstration der gesamten Gefäßarchitektur. Dies bedeutet, dass Gefäße sowohl bezüglich der Richtung als auch der Durchmesser der Gefäße im räumlichen Verlauf beurteilt werden können. Damit können die für die Neovaskularisation typischen Gefäßstenosen und -dilatationen erkannt werden (⊡ Abb. 13.16).
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⊡ Abb. 13.14a–d. Multiplanare Darstellung eines Kupfer-T-IUP: a koronarer Längschnitt, b sagittaler Längsschnitt, c Transversalschnitt, d Darstellung der Referenzebene innerhalb des gespeicherten Volumens
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301 Klinischer Einsatz der 3D/4D-Sonographie
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⊡ Abb. 13.15. Koronarer Längsschnitt eines Uterus septus nach transvaginaler 3D-Aufnahme im Rotationsverfahren. Infolge des Rotationsverfahrens kommt es im Zentrum des Bildes zu einer Überlagerung der Schnittebenen
⊡ Abb. 13.16. Zervixkarzinom: Mit dem Glass-body-Rendering kann die auffällige Neovaskularisation räumlich dargestellt werden. Charakteristisch sind die unterschiedlichen Gefäßlumina mit Stenosen und Aussackungen
Völlig neue Beurteilungsmöglichkeiten eröffnen sich auch bei Ovarialtumoren. Bei zystischen Ovarialtumoren lassen sich im Oberflächenmodus Wandstrukturen gezielt darstellen oder ausschließen (⊡ Abb. 13.17). Bei soliden Ovarialtumoren kann die Oberflächenberechnung von Schnittflächen für die Beurteilung hilfreich sein. Beim fortgeschrittenen Ovarialkarzinom mit Aszites gestattet die 3D-Sonographie auch die Beurteilung der Dünndarmschlingen (⊡ Abb. 13.18). Neue Einsatzmöglichkeiten der 3D-Sonographie geben sich auch in der Therapiekontrolle von gynäkologischen Tumoren.
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Kapitel 13 · Entwicklung der 3D/4D-Sonographie in der pränatalen Diagnostik
In der Fertilitätsdiagnostik wird die 3D-Sonographie heute zur Beurteilung des Endometriums, der Größenbeurteilung der Ovarialfollikel und zur Überprüfung der Tubendurchgängigkeit (Hysterokontrastsonographie) verwendet. Erfolgreich lässt sich die 3D-Sonographie auch im Rahmen der Urogynäkologie einsetzen.
⊡ Abb. 13.17. Oberflächendarstellung einer einfachen Ovarialzyste. Wandständige Proliferationen können gezielt ausgeschlossen werden
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⊡ Abb. 13.18. Oberflächendarstellung des Dünndarms bei einem Ovarialkarzinom mit ausgeprägtem Aszites und Peritonealkarzinose
303 Klinischer Einsatz der 3D/4D-Sonographie
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Brustdiagnostik Mit der 3D-Mammasonographie steht in der triplanaren Darstellung neben der sagittalen und der transversalen Ebene gleichzeitig auch die koronare Schnittebene mit einer ganz neuen Information zur Verfügung (⊡ Abb. 13.19). Damit lässt sich das gesamte Drüsengewebe Schicht für Schicht von der Mamille bis zur Thoraxwand hin tomographisch exakt parallel zur Körperoberfläche darstellen. Insbesondere Mammatumore können in der koronaren Ebene in einer bislang nicht bekannten Deutlichkeit beurteilt werden. Während benigne Läsionen, wie z. B. Fibroadenome, zu einer Verdrängung der Umgebung führen (sog. Kompressionsmuster), erkennt man bei malignen Tumoren ein Stern- oder Retraktionsmuster. Letzteres ist in der Oberflächendarstellung der C-Ebene meist noch deutlicher zu erkennen (⊡ Abb. 13.20). Die Größenmessung eines Tumors wird in allen 3 senkrecht zueinander stehenden orthogonalen Schnittbildern vorgenommen. Da alle 3 Schnittebenen gleichzeitig auf dem Monitor dargestellt werden, ist der Messvorgang nicht nur jederzeit reproduzierbar, sondern auch genauer als bei der konventionellen 2D-Messung, bei der die Messung an 2 getrennten Bildern vorgenommen werden muss. Alle im Volumen enthaltenen Raumforderungen können jederzeit auch retrospektiv gemessen werden. Die 3-dimensionale Gefäßdarstellung im Glass-body-Modus gestattet wie bei der gynäkologischen Tumordiagnostik, die Neovaskularisation von malignen Tumoren räumlich zu beurteilen.
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⊡ Abb. 13.19a–c. 3D-Mammaschall: multiplanare Darstellung einer Brustwarze im multiplanaren Modus a Sagittalschnitt, b Transversalschnitt, c Koronarschnitt
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Kapitel 13 · Entwicklung der 3D/4D-Sonographie in der pränatalen Diagnostik
⊡ Abb. 13.20. Typisches strahlenförmiges Retraktionsmuster bei einem Mammakarzinom in der Oberflächendarstellung
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Mammazysten können mit der 3D-Sonographie sehr gut eingesehen werden. In der 3-dimensionalen Oberflächendarstellung lässt sich die gesamte Innenwand plastisch wie am aufgeschnittenen pathologischen Präparat erkennen. Gleiches gilt auch für die Beurteilung von Implantaten und deren Umgebung. In der Axilla erleichtert die 3D-Sonographie die Dignitätsbeurteilung von vergrößerten Lymphknoten. Diese lassen sich sowohl im multiplanaren Modus als auch im TUI-Verfahren und im Oberflächenbild übersichtlich analysieren. Weitere Vorteile ergeben sich beim routinemäßigen Einsatz der 3D-Technologie im Rahmen von minimalinvasiven Biopsieverfahren. Hierbei kann nicht nur die Lage der Nadel in allen 3 Ebenen gezielt eingesehen, sondern auch die Nadelposition nach Punktion des Tumors im Raum gespeichert werden.
Wertung und Ausblick Alles in allem hat sich die 3D/4D-Technologie innerhalb der beiden letzten Jahrzehnte zu einem wertvollen additiven Verfahren zur konventionellen 2D-Sonographie entwickelt, das insbesondere der erfahrene Untersucher nicht mehr missen möchte. Mit den verschiedenen Darstellungsmöglichkeiten, die die 3-dimensionale Sonographie heute bietet, stellt sie ein zukunftsweisendes Ultraschallverfahren dar, das sowohl auf dem Gebiet der pränatalen Diagnostik als auch auf dem Gebiet der Gynäkologie und der Mammadiagnostik neue Wege aufzeigt. Weitere Entwicklungen werden auf dem Gebiet der vollelektronischen Matrixschallköpfe, in der Bereitstellung von Presets für definierte Untersuchungen und in der Entwicklung von Hilfsprogrammen zur automatischen Darstellung von Anatomieebenen und zur automatisierten Erfassung von Biometriemaßen aus gespeicherten Volumina zu erwarten sein.
305 Literatur
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Kapitel 13 · Entwicklung der 3D/4D-Sonographie in der pränatalen Diagnostik
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Ultraschalldiagnostik in der Frauenheilkunde Bernhard-Joachim Hackelöer
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Kapitel 14 · Ultraschalldiagnostik in der Frauenheilkunde
Zusammenfassung Die Autoren konnten eindrucksvoll zeigen, dass für die Ultraschalldiagnostik im Bereich der Frauenheilkunde (Gynäkologie/Mamma/Endokrinologie) deutsche Frauenärzte maßgeblichen Anteil an der Entwicklung dieser Methode hatten und auch an der Weiterentwicklung haben. Dies betrifft nicht nur die reine Bildgebung sondern auch die Dopplersonografie und die 3D/4D-Diagnostik (⊡ Abb. 14.1). Im pränatal-geburtshilflichen Bereich sind Standards erzielt worden, die Eingang in die Mutterschaftsvorsorge als Basisuntersuchungen gefunden haben. Eine moderne Geburtshilfe ist ohne routinemäßige pränatale Ultraschalldiagnostik nicht denkbar. Obwohl in den 70erJahren auch für den gynäkologischen Bereich ebensolche Anregungen gegeben waren, sind Fortschritte hier nicht ein gleicher Weise erfolgt. Obgleich die gynäkologische Sonographie mit klassischer Palpation sinnvoll ergänzt wird, wird es ein Screening für Unterbauchtumoren aus wissenschaftlicher, technischer und organisatorischer Sicht nicht geben können! Dennoch bemühen sich Mitglieder der Arbeitsgemeinschaften der DGGG (z. B. ARGUS) zur Zeit auch Standards für die gynäkologische Sonographie festzulegen und junge Ärzte zu motivieren in diesem Bereich zu forschen. Ein Mehrstufenkonzept für die Mammasonographie existiert bereits und wird für die gynäkologische Sonografie momentan eingerichtet. So ist die qualifizierte Unterbauchsonographie röntgenologischen Verfahren in der Aussagekraft überlegen-aber nur, wenn sie auch von qualifizierten Gynäkologen durchgeführt wird. Ebenso ist die Mammasonographie in der Hand des geübten Gynäkologen der Mammographie häufig nicht nur gleichwertig, sondern auch überlegen. Leider ist ein Mangel an Ausbildung zu beobachten, der sich gerade auf den Stellenwert der gynäkologischen Sonographie niederschlägt. Weil jeder einen Schallkopf in die Hand nehmen kann und ein Bild erzeugen kann, wird dies leicht mit Können verwechselt. Diese Methoden werden aber nur bei den Gynäkologen bleiben, wenn sie dort ausgebildet, wissenschaftlich betrieben und weiterentwickelt werden. Dies verlangt nach Strukturen im Sinne des Mehrsäulenkonzeptes unseres Faches um die Gesamtheit der vielen Aspekte der Gynäkologie und Geburtshilfe erhalten zu können. Die Mitgliederentwicklung der DGGG zeigt, dass genügend Potenz der jungen Ärzte vorhanden ist, um auch die oben aufgezeigte Tradition in unserem Fach zu erhalten.
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⊡ Abb. 14.1. 3D-Darstellung der Follikel
309 Literatur
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Pränatale Medizin – Entwicklung von der invasiven zur nichtinvasiven Diagnostik und von der Diagnose zur Therapie Wolfgang Holzgreve, Xian Yan Zhong
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Kapitel 15 · Pränatale Medizin – Entwicklung von der invasiven zur nichtinvasiven Diagnostik
Pränatale Medizin statt nur Pränatale Diagnostik war schon 1987 der Titel des von uns herausgegebenen Buches im Springer-Verlag, da sich bereits damals die wachsenden Möglichkeiten der vorgeburtlichen Therapie abzeichneten und auch aus ethischen Gründen eine reine Konzentration auf die Diagnostik oft unkorrigierbarer Anomalien nicht das eigentliche Ziel der Pränatalen Medizin ist. Kaum ein Gebiet der Medizin hat in den letzten Jahren eine raschere Entwickelung erlebt als dieses Gebiet, weil dabei immer zwei große Fortschrittsbereiche zusammenkamen und noch heute kommen: die Genetik mit ihren raschen Entwicklungen im Labor einerseits und die Bildgebung mit ihren daraus resultierenden Möglichkeiten gezielter Eingriffe in utero andererseits. Zunächst sollten die Entwicklungen der einzelnen Methoden invasiver Diagnostik, dann der nichtinvasiven Pränataldiagnostik zusammengefasst und schließlich Ausblicke auf die pränatalen Therapiemöglichkeiten gegeben werden. Auf die detaillierte Darstellung einiger wichtiger aktueller Entwicklungen in der pränatalen Genetik und bei den durch die rasante Verbesserungen der Ultraschalldiagnostik möglichen Eingriffen muss in diesem Beitrag verzichtet werden, einerseits aus Platzgründen und andererseits, weil einige Aspekte in anderen Kapiteln behandelt werden.
Amniozentese im 2. Trimenon
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Der erste klinische Einsatz der Fruchtwasserentnahme wird häufig mit der Arbeit von Douglas Bevis Anfang der 50er-Jahre in Zusammenhang gebracht, der interessanterweise zunächst die Methode zur Überwachung von Schwangerschaften mit Rhesusinkompatibilität einführte. Die Entwicklung der Amniozentese im 2. Trimenon wurde dann durch die Möglichkeit von Chromosomenuntersuchungen aus Fruchtwasserzellen entscheidend gefördert. 1966 erschien der erste Bericht über eine erfolgreiche pränatale Karyotypisierung nach Amniozentese, 1968 über die Diagnose eines Kindes mit Down-Syndrom in utero. Die erste größere Serie von etwa 150 Amniozentesen im 2. Trimenon wurde 1970 in den USA publiziert. Die rasante Entwicklung der pränatalen Diagnostik in den vergangenen 25 Jahren war dann neben der ständigen Verbesserung der Ultraschallgeräte vor allem auf die permanente Erweiterung des Indikationskatalogs für eine Amniozentese zurückzuführen. Der pränatale Ausschluss von Chromosomenstörungen, insbesondere von solchen, die mit dem Alter der Mutter zunehmen, war die weitaus häufigste Indikation für eine Amniozentese und etablierte sich schnell als zuverlässige Routinemethode. Bis zum Beginn der 80er-Jahre wurden dann in den USA ca. 40.000 Fruchtwasser-Punktionen zur vorgeburtlichen Diagnostik genetischer Krankheiten durchgeführt, und die Arbeitsgruppe mit der international größten Erfahrung auf diesem Gebiet hatte bis zum Jahre 1983 an der University of California in San Francisco alleine 10.000 Amniozentesen durchgeführt. In der Bundesrepublik Deutschland wurden nach der Einführung durch K. Knörr, W. Jonatha und H. Knörr-Gärtner in Ulm bis Ende 1980 über 10.000 Fälle dokumentiert. Bei Durchsicht dieser Studien im Hinblick auf die Amniozentese-Technik war zunächst auffällig, dass einige deutsche Arbeitsgruppen die Punktion unter kontinuierlicher Ultraschallkontrolle empfahlen im Gegensatz zu der in den USA üblichen Praxis der sog. free hand needle-Technik (NICHD National Registry for Amniocentesis Study Group, 1976; Consensus Development Conference of the National Institutes of Health 1979). Sicher war und ist bei der Amniozentese das sensible Gefühl des die Nadel führenden Untersuchers für die Membranen und das vorsichtige situationsgerechte und rasche Vorgehen entscheidend für die Sicherheit, trotzdem haben sich die ultraschallgesteuerten Techniken durchgesetzt.
313 Fetoskopie
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Eine kürzliche Metanalyse der Komplikationsraten kam zu folgendem Schluss: »Although the risk of pregnancy loss are relatively low, lack of adequate controls tends to underestimate the true added risk of prenatal invasive procedures« (Mujezinovic 2007).
Fetoskopie Westin und in Deutschland Semm setzten erstmals die Hysteroskopie zur fetalen Visualisierung ein. Wegen der begrenzten optischen Beurteilbarkeit der Frühschwangerschaft und des erheblichen Risikos eines Blasensprungs beim zervikalen Vorgehen wurde diese Methode aber wieder verlassen. Der Begriff Fetoscopy wurde in den frühen 70er-Jahren dann erstmals von Scrimgeour in Schottland eingeführt, der ein Fiberglas-Endoskop mit einem Durchmesser von 2,2 mm zur Visualisierung von Neuralrohrdefekten einsetzte. In Deutschland wurden erste Versuche mit der Fetoskopie von V. Zahn und E. Saling unternommen. Zum erfolgreichen klinischen Einsatz kam die Methode gegen Mitte der 70erJahre an 4 Zentren: Universitäts-Frauenklinik Gießen (Rauskolb), I. Universitäts-Frauenklinik München (Brusis), II. Universitäts-Frauenklinik München (Zahn) und Universitäts-Frauenklinik Ulm (Jonatha). Valenti berichtete 1973 über die erste erfolgreiche fetoskopische Blutaspiration, und Hobbins und Mahoney führten ein Jahr später das sog. Needlescope (Dyonics, Inc. Woburn/Mass., USA) ein, das zur Bildübertragung eine selbstfokussierende, stabförmige »Linse« (sog. selfoc rod lens) bei einem Außendurchmesser von 1,7 bzw. 2,2 mm besaß. In Deutschland wurden hauptsächlich die Fetoskope der Firma Storz mit einem Außendurchmesser von 2,2 bzw. 2.7 mm und einer Trokarhülse von 2,7 bzw. 3,2 mm verwendet. In San Francisco konnten Kan, Golbus und Mitarbeiter Mitte der 70er-Jahre dann einen Durchbruch erreichen, indem sie die ersten pränatalen Diagnosen der β-(19) und α-Thalassämie sowie der Sichelzellanämie unter Nutzung der radioaktiven Globinkettensynthese-Technik durchführten. 1978 fanden Kan und Dozy mittels Restriktionsendonukleasen einen genetischen Polymorphismus, der in 60-70% der schwarzen amerikanischen Bevölkerung mit dem Sichelzell-Gen gekoppelt ist, so dass in diesen Familien bei einem Risiko-Feten erstmals auf die fetoskopische Blutentnahme für die Pränataldiagnostik zugunsten einer DNA-Analyse aus Fruchtwasserzellen verzichtet werden konnte. Die rasante Entwicklung auf dem Gebiet der Molekulargenetik wurde schließlich dadurch weiter markiert, dass Chang und Kan 1982 ein Restriktionsenzym (Mst II) fanden, welches die DNA genau an der Mutationsstelle der Sichelzellanämie schneidet. Damit war die fetoskopische Diagnose dieser im homozygoten Zustand schweren Erkrankung obsolet geworden, da eine Analyse nun ohne Zellkultur aus Fruchtwasserzellen bzw. direkt aus Chorionmaterial durchgeführt werden konnte. Fetale Hautbiopsien wurden in einigen Fetoskopiezentren unternommen zum licht- bzw. elektronenmikroskopischen Nachweis von schweren erblichen Hautleiden. Als erste Hautkrankheiten wurden die Epidermolysis bullosa letalis, die Harlequin Ichthyosis und die epidermolytische Keratose pränatal in entsprechenden Risikoschwangerschaften nachgewiesen. Auch die genetischen Hauterkrankungen können heute in der Regel direkt über die DNAAnalyse pränatal festgestellt werden. In London und San Francisco wurden die ersten pränatalen Leberbiopsien durchgeführt zum Nachweis von Stoffwechselleiden wie der OTC- und der G-6-Phase-Defizienz, welche aus Fruchtwasserzellen nicht erfasst werden können. Während Rodeck und Mitarbeiter einen fetoskopischen Zugang zur fetalen Leber gewählt hatten, konnten Holzgreve und Golbus mit
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Kapitel 15 · Pränatale Medizin – Entwicklung von der invasiven zur nichtinvasiven Diagnostik
ultraschallkontrollierten Punktionen ebenfalls ausreichendes Material ohne Komplikationen gewinnen. In einigen Zentren wird inzwischen die Fetoskopie schwerpunktmäßig bei der intrauterinen Behandlung des Feten mit jetzt gutem Erfolg eingesetzt, z. B. an der Universitäts-Frauenklinik Bonn. Da in dieser Übersicht aber schwerpunktmäßig die historischen Entwicklungen der Techniken dargestellt werden sollen, wird auf eine nähere Darstellung der aktuellen Einsatzmöglichkeiten der Fetoskopie im Rahmen der Pränatalen Therapie an dieser Stelle verzichtet.
Chorionzottenaspirationen im 1. Schwangerschaftstrimenon
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Die Chorionzottenbiopsie erfuhr Anfang der 80er-Jahre dadurch ihren Aufschwung, dass es nun möglich wurde, mit Hilfe von DNA-Analysen aus unkultivierten Chorionzotten die Diagnose von monogenen Erkrankungen, z. B. von Thalassämien, zu stellen. Mit einem von Ward entwickelten Katheter (Portex England) leistete die Arbeitsgruppe von Bruno Brambati in Mailand Anfang der 80er-Jahre (1983) Pionierarbeit bei der Einführung der Chorionbiopsie. International wurden bis zu Beginn des Jahres 1986 etwa 96% aller bis dahin durchgeführten Chorionzottenentnahmen auf transzervikalem Wege mit Kathetern durchgeführt. Wir setzten dafür einen von uns entwickelten Katheter ein, der durch einem Barium-Streifen besonders echogen bei der Ultraschall-Untersuchung ist (⊡ Abb. 15.1) Die transabdominale Technik (⊡ Abb. 15.2) wurde in Dänemark von der Gruppe um Hahnemann erarbeitet und verbreitete sich danach schnell. Vermutlich lassen sich trotz des weltweiten Siegeszuges der transabdominalen gegenüber der transzervikalen Methode eingriffsbedingte Risiken minimieren, wenn die Wahl des Vorgehens (transzervikal vs. transabdominal) im Einzelfall an den anatomischen Voraussetzungen ausgerichtet wird. Nach mehreren inzwischen publizieren Serien mit über 1.000 Fällen aus einzelnen Zentren, über 100.000 im internationalen Register erfassten Eingriffen und mehreren sorgfältig kontrollierten – teils sogar randomisierten – Studien mit Amniozentesevergleichskollektiven lassen sich heute relativ verlässliche Aussagen zu den eingriffsbedingten Risiken machen. Mit Ausnahme der sog. europäischen Kollaborativstudie, die vor allem wegen methodischer Aspekte kritisiert wurde, konnte kein statistisch signifikanter Unterschied im Abortrisiko zwischen CVS- (chorion villus sympling, Zottenbiopsie) und Amniozentesekollektiven festgestellt werden. Für die nach den Erfahrungen in wenigen kleinen Serien aufgeworfene Frage nach einem erhöhten Risiko für Extremitätendefekte fand sich im größeren internationalen Rahmen keine Bestätigung. Da allerdings eine geringe Risikoerhöhung vor allem bei sehr frühen Eingriffen nicht ausgeschlossen werden kann, sollten Chorionbiopsien nicht ohne triftigen Grund vor der 10. SSW durchgeführt werden. Interessant ist die Erfahrung bis heute, dass die Chorionbiopsie trotz des großen Vorteils eines gegenüber der Amniozentese deutlich früheren Untersuchungszeitpunktes international an viel weniger Orten angeboten wird als die Amniozentese. Die Gründe hierfür liegen in der aufwändigeren Entnahmetechnik und in der notwendigen engeren Kooperation zwischen Frauenarzt und Humangenetiker bei der Beurteilung und Reinigung der Chorionzottenprobe (⊡ Abb. 15.3a,b). Auch der größere Aufwand der zytogenetischen Diagnostik durch die zusätzliche Direktpräparation, die gegenwärtig weder in Deutschland noch in der Schweiz berechnungsfähig ist, hat dazu beigetragen. Dabei bietet auch heute noch die direkte Chromosomenpräparation nach Chorionbiopsie die früheste und rascheste Möglichkeit der Chromosomendiagnostik. Komplikationen durch Mosaikbefunde in der fetoplazentaren Einheit (sog. falsch-negative Befunde) sind bei Patientinnen mit Altersrisiko sehr selten (nach
315 Chorionzottenaspirationen im 1. Schwangerschaftstrimenon
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⊡ Abb.15.1. Ultraschallaufnahme während einer transzervikalen Chorionzottenaspiration. Die gute Echogenität des von uns entwickelten Katheters kann im Chorion frandosum erkannt werden
⊡ Abb. 15.2. Ultraschallaufnahme während einer transabdominalen Chorionbiopsie. Die Nadelspitze kann im Chorion frandosum erkannt werden
a
b
⊡ Abb. 15.3a,b. a Chorionzotten unter dem Lichmikroskop. Am Rande kann die Cyto-/Syncytiotrophoblastschicht und im Zotteninnern das mesenchymale Gewebe erkannt werden, b Petrischale mit gereinigter Chorionzotten. Es handelt sich nach einmaliger Aspiration um eine für die genetischen Untersuchungen ausreichende Gewebemenge
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Kapitel 15 · Pränatale Medizin – Entwicklung von der invasiven zur nichtinvasiven Diagnostik
unserer Erfahrung <0,05%). Diese sind jedoch der Grund für die Empfehlung, grundsätzlich bei der Choriondiagnostik auch eine Chromosomenanalyse aus kultivierten Zellen durchzuführen. Die Chorionbiopsie ist unstrittig die Methode der 1. Wahl zum Ausschluss monogen erblicher fetaler Erkrankungen mit biochemischen oder molekulargenetischen Methoden aufgrund des frühen Untersuchungszeitpunktes bei hohem Erkrankungsrisiko sowie der wesentlichen Verkürzung der Untersuchungsdauer durch die Analysierbarkeit frischer Zotten und nach Einsatz der modernen Screening-Methoden, um den Vorteil einer Interventionsmöglichkeit im 1. Trimenon zu erhalten.
Plazentapunktion im 2. und 3. Trimenon Nach Etablierung der Chorionzottenbiopsie im 1. Schwangerschaftstrimenon und ersten Erfahrungen mit Plazentapunktionen im 2. und 3. Trimenon wurde von unserer eigenen Arbeitsgruppe und anderen Zentren gezeigt, dass sowohl zytogenetische als auch molekulargenetische Untersuchungen schnell und zuverlässig aus Plazentagewebe auch später in der Schwangerschaft möglich sind. Gegenüber anderen Methoden der schnellen Karyotypisierung, wie z. B. der Chordozentese bietet die Plazentapunktion vor allem bei Oligo- bzw. Ahydramnie oder auch Polyhydramnie technische Vorteile. Plazentapunktionen sind bei uns vor allem wegen sonographischen Auffälligkeiten des Feten und/oder der Plazenta bzw. bei Anomalien der Fruchtwassermenge durchgeführt worden. Die Aneuploidierate in dieser Gruppe von Schwangerschaften ist mit über 20% extrem hoch. In dringenden Fällen ist durch die direkte Chromosomenpräparation eine zytogenetische Bestätigung von numerischen Chromosomenanomalien und groben Strukturdefekten am Tage des Eingriffs möglich. Eine derart schnelle zytogenetische Diagnostik ist in allen Schwangerschaftsphasen, in Extremfällen sogar kurz vor Termin indiziert, wenn bei kompliziertem Schwangerschaftsverlauf das perinatale Management diskutiert wird. Wie im 1. Trimenon. sprechen die bisherigen Befunde für ein ähnlich niedriges Risiko der Plazentabiopsie im 2. und 3. Schwangerschaftstrimenon wie bei anderen invasiven Techniken, z. B. Amniozentese oder Kordozentese.
Chordozentese
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Die wesentlich von Fernand Daffos beeinflusste Entwicklung einer Technik (⊡ Abb. 15.4a,b) zur direkten, ultraschallgeführten fetalen Blutentnahme mit einer dünnen Nadel (0,7-0,9 mm) erlaubte eine beachtliche Erweiterung der Indikationen zur pränatalen Diagnostik nicht nur genetisch bedingter Erkrankungen, sondern auch der im Verlauf der intrauterinen Entwicklung erworbenen Erkrankungen des Fetus, z. B. von Infektionskrankheiten. Insbesondere bei akuten mütterlichen Infektionen, wie z. B. Röteln in der Schwangerschaft ermöglichte die Chordozentese eine direkte Überprüfung des kindlichen Infektionsstatus durch eine IgMBestimmung und in vielen Fällen glücklicherweise den Ausschluss einer fetalen Infektion. Erfahrene Untersucher können eine Chordozentese ambulant und mit einem der Amniozentese vergleichbaren Risiko durchführen. Sie erfordert keine Prämedikation oder Lokalanästhesie und kann im Verlauf der Schwangerschaft mehrmals wiederholt werden. Im Vergleich zur Fetoskopie gibt es weniger Kontraindikationen, da die Chordozentese jederzeit während der 2 letzten Schwangerschaftsdrittel und unabhängig von der Plazentalage und der Fruchtwassermenge durchgeführt werden kann. Das Eingriffsrisiko bei Chordozentese unter Ultra-
317 Kriterien zur Auswahl des invasiven Untersuchungsverfahrens
a
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b
⊡ Abb. 15.4a,b. a Schematische Darstellung einer transplazentaren Chordozentese unter kontinuierlicher Ultraschallsicht, b Ultraschallaufnahme während einer Chordozentese. Die Nadelspitze kann in der Umbilikalvene (rot) erkannt werden
schallsicht im Hinblick auf die Induktion einer Fehlgeburt kann heute mit etwa 1% angegeben werden, sofern der Eingriff von erfahrenen Spezialisten durchgeführt wird.
Kriterien zur Auswahl des invasiven Untersuchungsverfahrens und Resultate beim sog. Ersttrimester-Screening Wichtigste Kriterien bei der Auswahl eines invasiven Untersuchungsverfahrens sind der (beeinflussbare) Wunsch der Schwangeren sowie die Erfahrung des Frauenarztes bzw. des Labors mit der jeweiligen diagnostischen Methoden (⊡ Abb. 15.5). Darüber hinaus sollte die Regel gelten: So früh wie möglich die jeweiligen Diagnose-Möglichkeiten anbieten. Kein vernünftiger Zweifel besteht an der positiven Korrelation zwischen medizinischen Risiken und psychischer Belastung eines Schwangerschaftsabbruchs auf der einen Seite und dem Schwangerschaftsalter auf der anderen. Auch Amniozentesen können heute in vielen Fällen mehrere Wochen früher, als dies noch vor einigen Jahren üblich war, durchgeführt werden. Während in allen Fällen mit niedrigem Ausgangsrisiko, die ja die ganz überwiegende Mehrzahl aller Untersuchungen ausmachen, dem Untersuchungszeitpunkt keine absolute Bedeutung zukommt, ist die Ersttrimesterdiagnostik nach Chorionbiopsie in Hochrisikosituationen (bei Verdacht auf Chromosomenanomalien ebenso wie bei diagnostizierbaren monogen Störungen) die Methode der 1. Wahl. In diesen eher seltenen Situationen sollte im Zweifelsfall die Überweisung an ein Zentrum oder spezialisierte Frauenärzte erwogen werden. Die anstehende Einführung des kombinierten Ersttrimesterserum- und Ultraschallscreenings hat zu einer deutlichen Reduzierung der Indikation zur invasiven Pränatalen Diagnostik geführt. Die klassische Altersindikation (⊡ Abb. 15.6) als Indikationsstellung für invasive Eingriffe ist heute sicher überholt. Auf die inzwischen enorm robusten Screening-Möglichkeiten unter Berücksichtigung des mütterlichen Alters, zwei biochemischer Parameter und des sog. fetalen Nackenödems (⊡ Abb. 15.7) im 1. Schwangerschaftstrimenon insbesondere zur frühzeitigen Entdeckung einer fetalen Tisomie 21, die zunächst insbesondere auch die Fetal Medicine Foundation, später aber auch z. B. durch eine große Kollaborativstudie im deutschsprachigen Raum gezeigt wurde mit
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Kapitel 15 · Pränatale Medizin – Entwicklung von der invasiven zur nichtinvasiven Diagnostik
⊡ Abb. 15.5a,b. Zeitlicher Rahmen für den Einsatz pränataler Untersuchungsmaßnahmen. Diese können auch in der Spätschwangerschaft sinnvoll sein, um das perinatale Management zu optimieren, wenn beispielsweise sonographisch Hinweise auf schwerste, häufig letale Erkrankungen gefunden werden (a invasiv, b nichtinvasiv) (aus Miny P, Tercanli S, Gänshirt D, Holzgreve W (1995) Pränatale Diagnostik. Therapeutische Umschau, 52, 792-800)
15 ⊡ Abb. 15.6. Abhängigkeit des Risikos einer kindlichen Trisomie 21 vom Alter der Mutter
einer Entdeckungsrate für die häufigsten chromosomalen Aneuploidien zwischen 85 und 90% bei einer akzeptablen Falsch-positiv-Rate von 5% soll hier nicht weiter eingegangen werden, da diese Entwicklung und ihre Konsequenzen schon an vielen Stellen dargestellt worden ist. Bei verstärktem Nackenödem und normalem numerischen Karyotyp ist die Wahrscheinlichkeit deutlich erhöht, dass andere kindliche Anomalien vorliegen, wie der Fall eines Feten mit DiGeorge-Syndrom (⊡ Abb. 15.8) beispielhaft zeigt, bei dem erst die Kombination des Nacken-
319 Kriterien zur Auswahl des invasiven Untersuchungsverfahrens
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⊡ Abb. 15.7. Ultraschall-Längsschnittaufnahme eines Embryos in der 13. SSW. Die ScheitelSteißlänge und die sog. Nackentransparenz kann in dieser Ebene gut gemessen werden als Grundlage für die Berechnung eines individuellen Risikos für Trisomie 21
⊡ Abb. 15.8. Ultraschallaufnahmen eines Embryos zeigen verstärktes Nackenödem, einen Ventrikelseptumdefekt des Herzens und eine Lippen-Kiefer-Gaumenspalte. Da der Karyotyp numerisch normal war, ergab eine genetische Spezialuntersuchung mit spezifischen Sonden die Diagnose Di-George-Syndrom (kritische Region 22q 11.2)
ödems mit zwei weiteren Fehlbildungen den Anlass gab, die Veränderungen in der kritischen Region 22q 11.2 mit speziellen Sonden zu untersuchen. In jedem Land müssen Richtlinien bzw. Empfehlungen für diese Form der individuellen Risikospezifizierung für Chromosomenanomalien in der Frühschwangerschaft erstellt werden, die insbesondere auch die Ausbildung
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Kapitel 15 · Pränatale Medizin – Entwicklung von der invasiven zur nichtinvasiven Diagnostik
und die nicht direktive Beratung regeln, so wie dies in Deutschland jetzt gerade gesetzlich geregelt wurde. Die dänische Gruppe um Ekkeland und Tabor konnte bereits 2008 zeigen, dass sich dieser neue Screening-Ansatz landesweit durchsetzen konnte und insgesamt zu einer deutlichen Reduktion invasiver Eingriffe wie Amniozentese und Chorionbiopsie führte. Wegen der vielen alternativen Möglichkeiten der pränatalen Diagnostik müssen die kommunikativen Fertigkeiten bei der Beratung schwangerer Frauen heute besonders groß sein, und diese sollten in der Medizinerausbildung geschult werden.
Pränatale Therapie über die Nabelschnur
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Erst Jahrzehnte nachdem William Liley 1963 über die erste Behandlung einer kindlichen Anämie bei Rhesus-Inkompatibilität berichtet hat, wurden weitere Behandlungsansätze von Erkrankungen in utero denkbar. Während zu Beginn der Entwicklung Erythrozytenkonzentrate bei Rhesus-Inkompatibilität unter Verwendung von Kontrastmitteln und Röntgenbildwandlerkontrolle intraperitoneal appliziert wurden, ist heute aufgrund der hochauflösenden Ultraschallbildgebung der Zugang über die Nabelvene der etablierte Weg. Therapierbare fetale Anämien sind am häufigsten entweder durch Blutgruppen-Inkompatibilitäten oder durch Parvovirus-B19-Infektionen verursacht. Die Rhesus-Inkompatibilität ist trotz der standardisierten ante- sowie postpartalen Prophylaxe aufgrund von Nonrespondern oder Versagern in Folge einer Makrotransfusion sowie vor allem bei Migrantinnen mit unvollständig erfolgter Prophylaxe in der Praxis immer noch relevant. Für das Management einer solchen Anämie ist insbesondere die Dynamik wichtig. Neben anamnestischen Angaben wie dem Verlauf in einer vorangegangenen Schwangerschaft ist der Anstieg der maternalen Antikörpertiter das wichtigste Überwachungskriterium. Daneben steht seit geraumer Zeit über die Kontrolle der Blutflussgeschwindigkeit in der A. cerebri media ein indirektes Beurteilungskriterium zur Verfügung. Das direkte Ausmaß der fetalen Anämie ist nur durch eine Chordozentese erkennbar. Ein Hydrops fetalis im Rahmen einer Rhesusinkompatibilität sollte unter Einsatz der diagnostischen Parameter bei adäquater Überwachung nicht mehr auftreten. Die Indikation für eine weitere Abklärung besteht z. B. bei einem signifikanten Titeranstieg (>2 Titerstufen) oder frühen sonographischen Hinweisen (z. B. beginnender Perikarderguss) für eine Anämie. Die Transfusionsmenge wird in Abhängigkeit des aktuellen fetalen Hämatokrits und des geschätzten Kindsgewichtes berechnet. Bei der Planung des Zugangsweges sollte bedacht werden, dass die transplazentare Punktion mit einer Boosterung einhergehen kann. In Deutschland hatte in diesem Bereich der intrauterinen Transfusion, wie bei der Ultraschalldiagnostik insgesamt die größte Pionierarbeit und nachhaltigste Erfahrung die Arbeitsgruppe in Bonn von Prof. Manfred Hansmann, die weltweite Anerkennung fand (⊡ Abb. 15.9). Inzwischen kann bei Rhesus-negativen Frauen der Rhesusfaktor des Kindes nichtinvasiv aus dem Blut der Schwangeren bestimmt werden, und diese Methode ist mittlerweile mindestens genau so sicher wie die klassische Blutgruppenbestimmung an Erythrozyten (s. unter nichtinvasiver Pränataldiagnostik). Im Gegensatz dazu sind bei einer Parvovirus-B19-bedingten Anämie meist hydropische Veränderungen (i. A. mit einem Hb <4 g/dl) der Anlass zur Chordozentese. Durch die Untersuchung der Vmax der A. cerebri media aber kann auch hier eine Therapiekontrolle erfolgen und durch die nichtinvasive Überwachung können die Abstände zwischen den Eingriffen vergrößert werden.
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⊡ Abb. 15.9. Prof. Manfred Hansmann von der Universitäts-Frauenklinik in Bonn war nicht nur weltweit einer der Pioniere der Pränatalen Ultraschalldiagnostik, sondern leitete auch einer der weltweit größten Programme zur pränatalen Therapie.
Alloimmunthrombozytopenie Analog zur Zerstörung von Erythrozyten bei der Rhesus-Inkompatibilität ist die Alloimmunthrombozytopenie charakterisiert durch die Zerstörung fetaler Thrombozyten durch mütterliche Alloantikörper, welche sich gegen spezifische Antigene der fetalen Thrombozyten richten. Die Inzidenz liegt bei 1:1000-5000 Lebendgeburten. Der Nachweis eines plättchenspezifischen Antikörpers im mütterlichen Blut führt jedoch nicht immer zur Thrombozytopenie beim Feten. Im Gegensatz zur Rhesus-Inkompatibilität besteht hier keine Korrelation zur Titerhöhe oder dem Isotyp der IgG-Antikörper. Die Erstdiagnose wird üblicherweise erst postpartal aufgrund einer unerwarteten Thrombozytopenie des Neugeborenen gestellt. Das Wiederholungsrisiko liegt dann aber bei mehr als 85%. Das Risiko für eine intrakranielle Hämorrhagie bei Thrombozytenzahlen <20X109/L beträgt 10-20%. Die Gewinnung fetalen Blutes ist z. Z. die einzige Möglichkeit der Diagnosestellung und Risikoabschätzung pränatal. In Anlehnung an die Therapie bei Kindern wurde auch die antepartale Gabe von Immunglobulinen und Kortikoiden untersucht. Ist aufgrund der Anamnese und des Antikörpernachweises bei der Mutter mit einer fetalen Thrombozytopenie in einer folgenden Schwangerschaft zu rechnen, sollte idealerweise präkonzeptionell die mögliche Therapie besprochen werden, da die Chordozentese in diesem Fall durch höhere Komplikationsraten (Blutungsgefahr bei Feten, reaktive Bradykardie) belastet ist.
Intrauterine Behandlung fetaler Arrhythmien Deren Inzidenz liegt bei etwa 2%, wobei ein Großteil davon auf supraventrikuläre und ventrikuläre Extrasystolien entfällt, die einen meist benignen Verlauf zeigen und keiner medikamentösen Intervention bedürfen. Diese Feten sollten trotzdem regelmäßig überwacht werden, da es über einen Re-entry-Mechanismus zu Tachyarrhythmien kommen kann. Zu Beginn der Abklärung sollte immer eine ausführliche Echokardiographie stehen, um strukturelle Auffälligkeiten des fetalen Herzens auszuschließen bzw. nachzuweisen. Bei Tachyarrhythmien
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entsteht der Hydrops fetalis dadurch, dass wegen des Druckanstieges im venösen System einerseits die Rückresorption der interstitiellen Flüssigkeit vermindert wird, andererseits der Lymphrückfluss eingeschränkt ist. Vor allem die Unreife der fetalen Lunge, welche gegen eine vorzeitige Entbindung spricht, sowie die Gefahr eines fetalen Hydrops bestimmen die Indikation zur Pharmakotherapie. Therapiert werden sollte bei hydropischen Veränderungen, bei Tachyarrhythmien vor der 24. SSW und im späteren Gestationsalter bei persistierenden Arrhythmien. Die typische Herzfrequenz bei der Tachyarrhythmie liegt bei ca. 220 Schlägen/min. Da der AV-Knoten in der Regel mitbeteiligt ist, kommen Medikamente wie Herzglykoside, Antiarrhythmika der Klasse IC (z. B. Flecainid) sowie β-Blocker zum Einsatz. Als Medikament der 1. Wahl erwies sich Digoxin. Etwa 50% der Feten, insbesondere diejenigen ohne Hydrops, konvertierten durch eine alleinige Digoxin-Therapie. Bei Feten mit über Tagen persistierender Tachyarrhythmie oder mit einem Hydrops wurde als 2. Schritt Flecainid hinzugefügt. Die Dosierung wurde unter sorgfältigem Monitoring nach oben titriert, um eine Herzfrequenz unter 210 Schlägen/min zu erreichen.
Fetale Therapie durch chirurgische Maßnahmen
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Indikationen für fetalchirurgische Maßnahmen bestehen dann, wenn die Fehlbildung des Feten zu irreversiblen Schäden führt und/oder eine hohe perinatale Mortalität gegenüber einem konservativen Management aufweist. Dazu zählen bestimmte Formen der obstruktiven Uropathien, kongenital zystisch-adenomatoide Lungenmalformationen, angeborene Zwerchfellhernien und hämodynamisch relevante Steißbeinteratome. Insbesondere die interdisziplinäre Arbeitsgruppe von M. Harrison (Kinderchirurg), M.S. Golbus (Geburtshelfer) und R. Filly (Ultraschall-Experte) an der UCSF in Kalifornien konnte hier Pionierarbeit leisten, musste aber auch Enttäuschungen erleben. Die bei offener Chirurgie durch die Traumatisierung des Uterus hervorgerufene hohe kindliche Verlustrate und mütterliche Morbidität macht eine sorgfältige Abwägung rechtlicher und ethischer Güter für jede Indikation unabdingbar. Die vorzeitige Wehentätigkeit stellt dabei die Hauptursache für die mütterliche und fetale Morbidität und Mortalität dar. Dabei darf nicht vergessen werden, dass auch im Falle einer erfolgreichen Operation des Kindes die Mutter sich innerhalb kurzer Zeit einem zweiten Eingriff, nämlich der obligaten Entbindung per Sektio, unterziehen muss. Nicht zuletzt deswegen traten die endoskopischen Operationsverfahren im Vergleich zu den offenen Verfahren immer mehr in den Vordergrund. Die Erfahrung mit den Bemühungen um eine effektive intrauterine Therapie bei zwei ausgewählten fetalen Erkrankungen waren wie folgt.
Obstruktive Uropathien Die obstruktive Uropathie zählt zu den häufigsten Anomalien der Neugeborenen. Nicht selten findet sich ursächlich eine Urethral- oder subpelvine Stenose. Während einseitige Abflussstörungen auch ohne pränatale Therapie eine gute Prognose aufweisen, führen beidseitige Abflussstörungen je nach Grad und Dauer zu irreversiblen Nierenfunktionsstörungen. Die durch die Ahydramnie bedingte Potter-Sequenz ist gekennzeichnet durch typische faziale Dysmorphien, Kontrakturen der Extremitäten und vor allem durch eine sekundäre pulmonale Hypoplasie, welche die infauste fetale Prognose entscheidend mitbestimmt.
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⊡ Abb. 15.10. Schematische Darstellung eines doppelten »Pigtail«-Katheters nach sonographischem Nachweis einer Harnröhrenobstruktion beim Feten mit nachfolgender Potter-Sequenz
Die Dekompression einer Obstruktion ist durch verschiedene Arten möglich. Neben der ultraschallkontrollierten Anlage eines vesikoamnialen Shunts (⊡ Abb. 15.10), der offenen fetalen Chirurgie und der fetoskopischen Laserbehandlung von Urethralklappen ist eine fetoskopische Vesikotomie möglich. Eine genaue Selektion, insbesondere der Ausschluss von chromosomalen Störungen und die präoperative Einschätzung der kindlichen Nierenfunktion wirken sich entscheidend auf die postoperative Mortalität aus. Mittels repetitiver Bestimmung des β2-Mikroglobulins und anderen Zeichen einer tubulären Reabsorptionsstörung im durch Blasenpunktion gewonnenen fetalen Urin, ist eine Funktionsdiagnostik der fetalen Niere möglich. Die Intervention sollte nur bei ausreichender Restnierenfunktion durchgeführt werden. Durch die intensiven Bemühungen um eine fetale Therapie insbesondere durch die Arbeitsgruppe an der University of California in San Francisco zeigte sich aber, wie selten ein intrauteriner Eingriff bei einer beidseitigen obstruktiven Uropathie für den Feten von Nutzen ist, da in den meisten Fällen bereits eine fortgeschrittene Niereninsuffizienz vorliegt oder das Schwangerschaftsalter für eine vorzeitige Entbindung bereits weit genug fortgeschritten war.
Fetale Zwerchfellhernie Neue Wege werden inzwischen auch in der Therapie der fetalen Zwerchfellhernie beschritten, nachdem gezeigt werden konnte, dass die Prognose neben anderen Kriterien z. B. abhängig von der Position der Leber ist. Ist der Defekt so ausgeprägt, dass die Leber intrathorakal verla-
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gert wurde, konnte die offene intrauterine Chirurgie die Prognose nicht verbessern. Lag aber ein Enterothorax ohne Leberbeteiligung vor, zeigt auch die postpartale Versorgung des Defektes ziemlich gute Ergebnisse, so dass ein antepartaler Eingriff nicht gerechtfertigt scheint. Durch tierexperimentelle Studien konnte schließlich gezeigt werden, dass ein Verschluss der Trachea zu einem überschießenden Lungenaufholwachstum führt. Eine temporäre intrauterine Trachealokklusion durch einen fetoskopisch eingelegten Clip regt die fetale Lunge zum Wachstum an und beugt damit der gefürchteten Lungenhypoplasie vor. Bei den Bemühungen um eine endoskopische Therapie der anatomischen fetalen Anomalien schon in utero kommt insbesondere der Eurofetus-Gruppe um Jan Deprest eine große Bedeutung zu.
Stammzelltherapie Die Transplantation von Stammzellen in utero wird heute als vielversprechende Alternative zu einer postpartalen Behandlung vor allem des hämopoietischen (z. B. Thalassämie oder Sichelzellanämie) und des Immunsystemes (z. B. severe combined immunodeficiency syndrome, SCID) sowie bei gewissen metabolischen Erkrankungen (z. B. M. Niemann-Pick) angesehen. Erfolge konnten bis heute jedoch nur bei Immunodefizienzen erzielt werden, bei der sich auch nach der Geburt das Knochenmark des betreffenden Kindes leichter besiedeln lässt. Unsere eigene Arbeitsgruppe hat sich im Tiermodell intensiv mit der intrauterinen Applikation von hämatopoietischen und mesenchymalen Stammzellen beschäftigt, um wegen der potentiellen Risiken (Teratombildungen, Graft vs. Host Reaktionen etc.) zunächst intensive Erfahrungen vor eine Anwendung beim Menschen zu sammeln, aber erste Versuche einer Stammzellapplikation in der Frühschwangerschaft unter Einsatz der Embryoskopie wurden vorgenommen (⊡ Abb. 15.11a,b). Tatsächliche intrauterine Stammzell-Applikationen nach Choriondiagnostik genetischer Erkrankungen sind aber bisher noch nicht erfolgreich durchgeführt worden mit Ausnahme bei Immundefizienzen. Es besteht aber ein ethisches Postulat, bei den rasanten Fortschritten der pränatalen Diagnostik mit unvermindertem Einsatz an den Möglichkeiten einer rechtzeitigen und nachhaltigen Therapie in utero zu arbeiten.
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a
b
⊡ Abb. 15.11a,b. a Die Aufnahme während einer Stammzellapplikation in utero in der 11. SSW zeigt die Nadelführung durch Frau Prof. S. Tercanl unter embryoskopischer Kontrolle, b Embryoskopische Aufnahme in der 11. SSW zeigt die zu diesem Zeitpunkt große embryonale Leber (blutbildendes Organ)
325 Nichtinvasive pränatale Diagnostik (NIPD) aus mütterlichem Blut
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Nichtinvasive pränatale Diagnostik (NIPD) aus mütterlichem Blut Fötale Zellen im mütterlichen Blut Das Vorhandensein fötaler Zellen in der mütterlichen Zirkulation wurde im Jahre 1893 zum ersten Mal vom deutschen Pathologen Christian Georg Schmorl beschrieben. Danach wurden die fötalen Zellen im mütterlichen Blut von mehreren Forschern untersucht bzw. postuliert. Jedoch fand man für diese Zellen lange Zeit keine klinische Nutzung. Anfang der 90er-Jahren wurde gezeigt, dass die fötalen Zellen aus mütterlichem Blut tatsächlich isoliert werden konnten: Bianchi et al. setzten die Durchflusszytometrie (FACS) mittels Antikörper gegen den Transferrinrezeptor (CD71), um fötale Erythroblasten anzureichern und eine fötale Chromosomenstörung nachzuweisen. Wir wendeten gleiche Antikörper an, um aber eine in Deutschland neu entwickelte magnetische Anreicherungsmethode (MACS) zur Separierung der fötalen Zellen aus mütterlichem Blut einzusetzen. Numerische Chromosomenstörungen in den angereicherten fötalen Zellen sollten mittels Fluoreszenzin-situ-Hybridisierung (FISH) analysiert werden (⊡ Abb. 15.12). Diese wissenschaftlichen Ansätze motivierten die US-amerikanische Gesundheitsbehörde NIH (National Institutes of Health), eine groß angelegte sog. NIFTY-Studie (NIFTY: National Institute of Child Health and Human Development Fetal Cell Isolation Study) zu unterstützen, um festzustellen, ob fötale Zellen im mütterlichen Blut für eine neue risikofreie pränatale Diagnostik genutzt werden könnten. Vier Zentren in den USA (Boston, Detroit, Philadelphia, Houston) und unsere Gruppe in Europa nahmen an dieser Studie teil, in der zuerst etwa 3.000 schwangere Frauen rekrutiert wurden. Die fötalen Zellen im mütterlichen Blut wurden mittels FACS and MACS angereichert und anschließend mit FISH-Sonden auf die Chromosomen X, Y, 13, 18 und 21 untersucht. Die Phase II der klinischen Studie bestätigte, dass fötale Zellen im mütterlichen Blut nachgewiesen werden können, aber sehr selten und nicht verlässlich für FISH Analyse und pränatale Diagnostik anwendbar sind. Eine Erklärung dafür könnte sein, dass die Zellen durch das Zellanreicherungsverfahren über mehrere Schritte zerstört werden
⊡ Abb. 15.12. Kindliche Zelle aus mütterlichem Blut zeigt die Färbung für fetales Hämoglobin (grün) und im Zellinnern die beiden Farbmarkierungen für das X- und Y-Chromosom
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Kapitel 15 · Pränatale Medizin – Entwicklung von der invasiven zur nichtinvasiven Diagnostik
oder/und verloren gehen. Um dies zu erklären, haben wir die Anzahl der fötalen Zellen im mütterlichen Blut ohne Anreicherung mittels einer Echt-Zeit PCR direkt quantifiziert. Tatsächlich waren die fötalen Zellen im mütterlichen Blut gering. Durchschnittlich liegen diese in einer Konzentration von weniger als 1 fötaler Zelle/ml mütterlichen Blutes vor. In einem weiteren Versuch konnte unsere Gruppe schließlich zeigen, dass die fötalen Zellen im mütterlichen Blut nicht nur selten, sondern meistens apoptotisch und nicht mehr für die FISH-Analyse geeignet sind. Unabhängig von der NIH-Studie, haben wir und andere Einzel-Zellen-PCR eingesetzt, um fötale DNA-Merkmale aus einzelnen fötalen Zellen, die mittels Mikromanipulation unter dem Mikroskop selektiert worden sind, zu analysieren. Die Technologie ermöglichte auch die genetische Analyse der apoptotischen fötalen Zellen, welche Probleme bei der FISH-Technik hervorgerufen hatten. Zu den Schritten der Anreicherungen und Analysen der fötalen Zellen mittels FISH und Einzel-Zellen-PCR, ⊡ Abb. 15.13. Um eine größere Anzahl fötaler Zellen aus mütterlichem Blut für die NIPD gewinnen zu können, versuchten wir, wie andere nukleierte Erythrocyten (Erythroblasten) zu kultivieren. Eine zusätzliche in-vitro Prozedur konnte die Anwendung jedoch nicht verbessern. Es konnten keine Kolonien in der Zellkultur aus fötalem Ursprung nachgewiesen werden.
Fetale Aneuploidie
Untersuchung der fetalen Aneuploidien mittels FISH
15 Untersuchung der fetalen Merkmalen mittels PCR
Fetale Merkmalen
⊡ Abb. 15.13. MACS Anreicherung und Analyse der fötalen Zellen mittels FISH und Einzel-Zellen-PCR: 1. Blutentnahme; 2. MACS Anreicherung; 3. und 4. FISH Analyse; 5. Eine fötale Zelle (47 XY +18) aus mütterlichem Blut; 6. Mikromanipulation einzelner Zelle unter dem Mikroskop; 7. PCR Amplifikation; 8. Eine Rhesus D und Y-Sequenz positive fötale Zelle aus mütterlichem Blut (G: GAPDH Gene als Kontrolle; Y: Y-Sequenz, R: Rhesus D-Sequenz)
327 Nichtinvasive pränatale Diagnostik (NIPD) aus mütterlichem Blut
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Eine andere klinische Anwendung der fötalen Zellen im mütterlichen Blut ist die als Screening-Marker für schwangerschaftsbedingte Erkrankungen, die durch PlanzentaDysfunktion verursacht werden, z. B. Präeklampsie. Obwohl die Präeklampsie als eigenes Krankheitsbild schon vor 2.000 Jahren beschrieben wurde, ist die Pathophysiologie nach wie vor unklar. Bei der Präklampsie sind die Plazenta-Veränderungen während der Frühentwickelung der Plazenta schon vorhanden, aber die klinischen Manifestationen entstehen jedoch in der Regel erst nach der 24. SW. Aus diesem Grund fokussierten wir uns auf einen sensitiven Bluttest für die Früherkennung und Überwachung. Dabei haben wir zunächst als Zufallsbeobachtung, zum ersten Mal eine erhöhte Menge fötaler Erythroblasten im mütterlichen Blut bei Präeklampsie festgestellt. Die Zellen sind bereits 20 Wochen vor den klinischen Manifestationen erhöht. Ob diese Beobachtung hilfreich ist für die frühe Erkennung der Präeklampsie vor dem Eintreten der Manifestationen wird gerade erforscht. Die Früherkennung vor den Manifestationen ist wichtig, damit betroffene Frauen z. B. rechtzeitig an entsprechende Zentren überwiesen werden können und um neue Präventionsstrategien zu erproben. Jedoch muss noch in laufenden, u. a. von der WHO geförderten großen Untersuchungsserien abgeklärt werden, ob die Erhöhung der zellfreien fötalen DNA im mütterlichen Kreislauf der Schwangeren in einem Algorithmus zusammen mit den Antiangiogenese-Markern ähnlich gute prädikative Werte erreicht wie z. B. das Ersttrimester-Screening auf Trisomie 21. Der eigentliche Siegeszug der NIPD kam durch die Entdeckung der sog. zellfreien (cf) DNA in der Zirkulation wie ursprünglich durch Mandel und Metais vor 50 Jahren beschrieben. Man fand jedoch während den letzten 30 Jahren keinen klinischen Nutzen für diese Entdeckung. Im Jahr 1966 wurde erhöhte cf-DNA im Serum von Patienten mit systemischem Lupus identifiziert. Später fanden Anker und Stroun cf-Tumor-DNA im Plasma von Patienten mit Krebs. Im Jahr 1998 zeigten Lo et al., welche die Arbeiten von Anker und Stround aus Genf kannten, das Vorhandensein der zellfreien fötalen (cff) DNA im mütterlichen Kreislauf. Die Entdeckung der cff-DNA im mütterlichen Plasma/Serum ermöglichte die klinische Anwendung der NIPD für Einzelgenerkrankungen. So können inzwischen väterlich vererbte genetische Merkmale im fötalen Genom, die nicht im mütterlichen Genom vorhanden sind, im mütterlichen Blut während der Schwangerschaft nachgewiesen werden. In Basel haben wir eine Multiplexanalyse für den Nachweis der fötalen Rhesus D und Y Sequenz über cff-DNA im mütterlichen Blut mit einer Sensitivität und einer Spezifität von mehr als 95% entwickelt. Diese Technologie ermöglicht eine Bestimmung des fötalen Rhesusfaktors für das Management der rhesus-negativen Frauen und den Ausschluss einer kindlichen Erkrankung bei X-gekoppelten Krankheiten wie Duchenne’scher Muskeldystrophie oder Hämophilie durch Identifizierung des fötalen Geschlechts. Ein weiblicher Fetus schließt X-gekoppelte Krankheiten aus und damit kann die Angst der Schwangeren früh im Schwangerschaftsverlauf abgebaut werden. Die Technologie wurde erfolgreich von der Forschung auf die klinische Anwendung übertragen, als erstes Beispiel einer sicheren invasiven Diagnostik. Dies ist die Belohnung für 20-jährige Forschung auf diesem Gebiet mit lange unsicherem Ausgang. Mehreren Laboratorien wie die Gruppe von Jean-Marc Costa in Paris, die Gruppe von Martin Peter in Bristol, Sanquin in Amsterdam und Sequenom in San Diego bieten inzwischen die routinemäßige NIPD der fötalen Rhesus D und Y Sequenz an und bis jetzt wurden mehr als 10.000 rhesus-negative Schwangere untersucht und ca. 4.000 schwangere Trägerinnen von X-gekoppelten Mutationen durch NIPD untersucht. Das Kell (KEL1) Blutgruppenantigen ist die zweitwichtigste Ursache von hämolytischen Erkrankung des Fötus und Neugeborenen. In unserer Gruppe entwickelten wir eine MALDI-TOF-MS-
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Kapitel 15 · Pränatale Medizin – Entwicklung von der invasiven zur nichtinvasiven Diagnostik
basierte single-allel-based-Extension-Reaktion für den Nachweis der fötale KEL1 Gene im KEL1-negativen mütterlichen Blut mit einer Sensitivität und Spezifität von 94% (80). Die von oben erwähnte Strategie ermöglicht auch die Bestimmung im mütterlichen Blut bei autosomal-dominanten väterlich vererbten Mutationen, die im mütterlichen Genom fehlen. So war es z. B. möglich, die risikofreie NIPD bei Achondroplasie durch die Untersuchung der cff-DNA im mütterlichen Kreislauf anzuwenden, wie publiziert durch Amicucci et al. und unsere Gruppe. Die Strategie kann inzwischen sogar für die Untersuchung der autosomal-rezessiv vererbten fötalen compound-heterozygot-bedingten Krankheit mit einer Mutation von Mutter und einer anderen vom Vater angewendet werden. Der fehlende Nachweis der väterlichen Mutation im mütterlichen Blut kann die Erkrankung des Feten ausschließen, wie wir am Beispiel der β-Thalessemie zeigen konnten. Diese Krankheit ist auch eines der SchwerpunktInteressensgebiete der WHO. Wir haben erstmals in einer Feasibility Study eine einfache Echt-Zeit-PCR für NIPD der Compound heterozygoten Thalessämie eingesetzt. Unsere Technologie zeigte eine Sensitivität von 100% und eine Spezifität von 93.8%. Das Konzept ermöglichte unserer Gruppe mittels MALDI-TOF MS Technologie auch die nichtinvasive Untersuchung weiterer autosomal-rezessiv vererbter Erkrankungen, wie Alpers-Syndrom, Tay-Sachs-Syndrom, Gaucher-Syndrom, insgesamt ca. 26 Krankheiten, die selten sind, aber in den betroffenen Familien ein 25%-iges Wiederholungsrisiko haben. Das Spektrum durch NIPD pränatal diagnostizierbarer Erkrankungen nähert sich mehr und mehr dem der Präimplantationsgenetik an. Seit kurzem ist der Nachweis der fötalen Mutation, die im mütterlichen Blut vorhanden ist, auch möglich mittels digitaler PCR (dPCR). Die dPCR ist eine Methode zur direkten quantitativen und qualitativen Messung von Nukleinsäuren (DNA, cDNA, RNA) auf der Basis von Einzelmolekülen. Das Prinzip der dPCR beruht auf der Umwandlung des bei der konventionellen PCR erhaltenen exponentiellen, analogen in ein lineares, digitales Signal. Lo et al. entwickelte eine Methode, sog. digitale relative Mutations-Dosierungen (RMD) über die Dosierungen der fötalen homozygoten Mutanten (eine vom Vater und eine von der Mutter) oder fötaler heterozygoter Mutanten und Wildtyp-Allelen eines krankmachenden Gens im mütterlichen Plasma zu bestimmen. Die Dosierung der cff mutierten DNA im mütterlichen Kreislauf aus einem homozygoten Betroffenen ist höher, als diejenige eines Heterozygoten. Momentan rückt sogar die NIPD fötaler Aneuploidien insbesondere der Trisomie 21 durch die Entwicklung innovativer molekularbiologischer Techniken erstmals in greifbare Nähe unter Verwendung cff-DNA im mütterlichen Plasma. Wissenschaftler aus Hong Kong haben nun erstmals die Eignung von aus mütterlichem Plasma isolierter, zellfreier, fötaler DNA für die NIPD von Trisomie 21 getestet. Ziel der Studie war es, eine Überrepräsentation des fötalen Chromosoms 21 im Plasma von Müttern nachzuweisen, die mit einem an Trisomie 21 erkrankten Kind schwanger sind. Im Rahmen dieser Studie wurden jedoch lediglich 4 Falle von Trisomie 21 und 9 Kontrollen mittels dPCR erfolgreich unterschieden. Die verhältnismäßige Zunahme der fötalen Sequenzen des Chromosoms 21 im mütterlichen Plasma im Falle einer Trisomie 21-Erkrankung des Fötus ist jedoch äußerst gering. Aufgrund dessen besteht die Möglichkeit, dass bereits geringe Veränderungen des DNA bzw. der Reaktionsbedingungen zu abweichenden Ergebnissen führen können. Eine alternative Methode, um einzelne DNA-Sequenzen digital zu analysieren und präzise zu quantifizieren, ist die neue DNA-Sequenziertechnologie von Illumina/Solexa. Das System kombiniert die Amplifikation von DNA-Fragmenten mit einer anschließenden Sequencingby-synthesis-Technologie. Dieses System ermöglicht somit die vollständige Detektion und
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Charakterisierung sehr seltener klonaler Veränderungen des Genoms. Die Charakterisierung einer chromosomalen Veränderung kann dann über verschiedene Methoden erfolgen. Die Überrepräsentation von fötalen trisomen Chromosomen kann über eine quantitative Bestimmung der Chromosomenfragmente festgestellt werden. Wissenschaftlern an der Stanford University und der Chinese University in Hong Kong gelang es 14 Föten mit Trisomie 21 und 14 euploide Föten mit Hilfe der massiv-parallelen Sequenzierung (⊡ Abb. 15.14) korrekt zu identifizieren. Die erfolgreiche Diagnose von Trisomie 13 (1 Fall), Trisomie 18 (2 Fälle) und Trisomie 21 (9 Fälle) unter Einsatz dieser Methode scheint sich in größeren Serien zu bestätigen (J. Lo, persönliche Mitteilung). Neben dem oben erwähnten Verfahren kann eine fötale chromosomale Aneuploidie auch durch DNA/RNA SNP-Analysen diagnostiziert werden. Das Prinzip von SNP-Analysen beruht auf die Bestimmung von Allelverhältnissen. Föten mit diploidem Chromosomensatz besitzen jeweils ein maternales und ein paternales Chromosom. Bei einer Trisomie ist dieses Verhältnis jedoch verändert (2:1). Das Allelverhältnis maternaler und paternaler SNPs kann somit Auskunft über den Status der Chromosomen 21 des Fötus geben. Eine Diagnose von Trisomie 21 kann zudem über eine Bestimmung des Allelverhältnisses der plazental exprimierten PLAC4 mRNA erfolgen. Trisomie 18 kann hingegen bereits über die Analyse des Allelverhältnisses der Plazenta-spezifischen DNA-Methylierungs-Signatur diagnostiziert werden. Derartige SNP-Analysen haben jedoch ihre Limitierung, da sie nur bei heterozygoten Föten angewandt werden können. Die oben erwähnten Technologien für NIPD der fötalen Chromosomen-Störungen über cff-DNA im mütterlichen Blut befinden sich momentan noch in der experimentellen Erprobungsphase und werden aus diesem Grund noch nicht für die routinemäßige Anwendung eingesetzt, was sich aber bald ändern kann. Wie fötale Zellen im mütterlichen Blut wurden hohe cff-DNA in Plasma- und Serumproben inzwischen in einer Vielzahl von klinischen pathologischen Schwangerschaften beobachtet. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass cff-DNA helfen wird, die wahre biologische Natur dieser oft pathophysiologisch unklaren Krankheiten besser zu verstehen, was insbesondere für die Präeklampsie gilt. In unserer Gruppe haben wir neben der Erhöhung fötalen Zellen auch die erhöhte cff-DNA im mütterlichen Blut bei Präeklampsie vor den klinischen Manifestationen als Screening-Marker für die frühe Erkennung der Präeklampsie identifiziert. Außerdem fanden wir, dass die Konzentration des cff fötalen als auch cff mütterlichen DNA’s signifikant höher ist bei einer schweren als bei einer leichten Präeklampsie. Die Beobachtung kann hilfreich sein für die Früherkennung der schweren Präeklampsie, insbesondere im Zusammenhang mit der Verwendung der Anti-Angiogenese-Marker. Nach beinahe 20-jähriger intensiver Forschung in der nichtinvasiven Pränataldiagnostik, in der auch unsere Gruppe Frustrationen, aber jetzt große Erfolge erlebte, können also folgende Schlussfolgerungen gezogen werden: 1. Für die Erfassung embryonaler/fötaler Chromosomenstörungen gibt es hoffnungsvolle Ansätze, aber die Methoden müssen noch rigoros geprüft werden. 2. Die nichtinvasive Pränatale Diagnostik aus mütterlichem Blut ist aber verfügbar für Merkmale wie den Rhesus- und den Kell-Faktor, bei X-gekoppelten Anomalien und einigen Einzelgenerkrankungen, wie z. B. paternal vererbten autosomal-dominanten Erkrankungen oder compound heterozygot vererbten autosomal-rezessiven Erkrankungen. 3. Die Beschäftigung mit der NIPD aus mütterlichem Blut hat sehr interessante neue Erkenntnisse gebracht zum Verständnis der frühen Entstehung von Schwangerschaftserkrankungen, insbesondere der Präeklampsie.
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Kapitel 15 · Pränatale Medizin – Entwicklung von der invasiven zur nichtinvasiven Diagnostik
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⊡ Abb. 15.14. Massiv-Parallele Sequenzierung für die nichtinvasive pränatale Diagnose chromosomaler Aneuploidien unter Verwendung zellfreier fötaler DNA der mütterlichen Zirkulation. Fragmentierte DNA-Sequenzen werden zuerst aus maternalem Plasma isoliert (A) und mit Hilfe von Adaptern an die Oberfläche einer Durchflussmesszelle gebunden (B). Während der sog. »Bridge-amplification« formen die gebundenen DNA-Fragmente zuerst eine Brücke mit ebenfalls an die Durchflussmesszelle gebundenen Tags, danach erfolgt die Amplifikation (B). In jedem Kanal der Durchflussmesszelle entstehen hierbei Millionen dichter DNA-Cluster. Die Sequenzierung erfolgt direkt im Anschluss, unter Zugabe der Sequenzierprimeren, fluoreszenzmarkierter Nukleotiden und Polymerasen (C). Abschließend können die Ergebnisse mittels bioinformatischem Alignment analysiert werden (D).
331 Literatur
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15
Kapitel 15 · Pränatale Medizin – Entwicklung von der invasiven zur nichtinvasiven Diagnostik
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16
Die Zukunft der Geburtshilfe Peter Husslein, Wibke Blaicher
336
Kapitel 16 · Die Zukunft der Geburtshilfe
»Schwangerschaft und Geburt – das Natürlichste der Welt«. Dieser Satz impliziert (zumindest für Viele), dass Reproduktion ein Kinderspiel ist. Gehörten früher tote oder aber auch behinderte Kinder einfach dazu, so ist dies heutzutage kaum mehr vorstellbar. Das Bewusstsein für die Komplexität und das Risiko von Schwangerschaft und Geburt ist durch die moderne Medizin kaum mehr vorhanden. »Glatte Verläufe« werden für selbstverständlich gehalten. Die Akzeptanz schicksalhafter Verläufe sinkt, der Trend geht zu exakter Lebensplanung in der Zufälligkeiten kaum vorgesehen sind. Wir Geburtshelfer wissen, dass die Natur großartig ist. Wir wissen aber auch, dass es gelegentlich zu kleineren oder größeren Katastrophen kommt. Wir sehen es daher als unsere Aufgabe, einerseits die Katastrophen zu verhindern und andererseits »das Natürlichste der Welt« für das Paar zu einem einzigartigen Erlebnis werden zu lassen. Die Zukunft der Geburtshilfe wird daher geprägt sein von dem Wunsch nach größtmöglicher Sicherheit gepaart mit dem Wunsch nach größtmöglichem Wohlfühlfaktor. Kinder sind wichtig für die Zukunft eines Landes, daher sollte in die Gesundheit von Müttern und Kindern investiert werden. Um dies umzusetzen wird sich die Geburtshilfe zunehmend zur Schwangerenhilfe umorientieren: die Arzt-PatientInnen-Beziehung und die medizinischen Angebote werden optimiert – Revolutionen sind im Bereich der Genetik und der Reproduktionsmedizin zu erwarten. Daraus ergeben sich weitreichende ethische Implikationen. Viele Fragen bleiben offen und genau deshalb bleibt unser Beruf auch in Zukunft weiterhin spannend.
Wozu noch Kinder? »Ohne Kinder keine Innovation, keine Herausforderungen des Althergebrachten, kein Umdenken….« »Eine nachfolgende Generation ist ein lebendiges Gedächtnis, ohne sie werden Kultur und Geschichte zu lebloser Information in Archiven.« »Es lohnt sich wirklich über ein kinderloses Land nachzudenken, bevor es Wirklichkeit geworden ist.« (G. Simbruner) Wir müssen Anstrengungen unternehmen, um die Gesellschaft davon zu überzeugen, dass Kinder wichtig für die Zukunft eines Landes sind und Investitionen in die Gesundheit von Müttern und Kindern eine der besten Investitionen in die Forschung und in die Gesundheitsversorgung darstellen.
Arzt-PatientInnen-Beziehung
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»Der Wunsch nach Mitgestaltung wächst. ‘Shared decision making’ löst daher das Modell Salus Aegroti Suprema Lex, des Arztes als Führer ab. Der Arzt ist kompetent für die Diagnose und Behandlung (mit allen Unsicherheiten). Die Patientin ist kompetent für ihr Wertesystem und verantwortlich für ihre Lebensgestaltung. Erst im Dialog dieser beiden Komponenten kann ein integratives, alle relevanten Gesichtspunkte berücksichtigendes ethisches Urteil gefunden werden.« (G. Virth)
Vorhersage I: Die Autonomie der Patientinnen nimmt zu! Das mütterliche Alter bei der Geburt steigt kontinuierlich an (⊡ Abb. 16.1). Die Antibabypille hat entscheidend dazu beigetragen, dass Frauen über ihr Leben und ihre Karriere selbst entscheiden können. Sie werden (wenn überhaupt) später schwanger, heiraten (wenn überhaupt) später, lassen sich länger und besser ausbilden, weil ihnen die Geburt des ersten Kindes nicht
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337 Arzt-PatientInnen-Beziehung
30
Gebäralter
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28
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05
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93 19
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25
1. Kind Insgesamt ⊡ Abb. 16.1. Durchschnittliches Gebäralter der Mutter in Österreich seit 1991. Je älter die Mutter bei der ersten Geburt ist, umso weniger Zeit bleibt für weitere Kinder. Daher sinkt damit auch die Kinderzahl/Frau
3,0 2,8 2,6 2,4 2,2 2,0 1,8 1,6 1,4 1,2 1,0 1951
1956
1961
1966
1971
1976
1981
1986
1991
1996
2001
2006
⊡ Abb. 16.2. Durchschnittliche Anzahl Kindern pro Frau seit 1951 in Österreich
mehr dazwischen kommt. Je älter die Frauen bei der ersten Geburt aber sind, umso weniger Zeit bleibt für weitere Kinder. Daher sinkt auch die Kinderzahl pro Frau. Das durchschnittliche österreichische – und deutsche Paar – bekommt nur noch 1,4 Kinder (⊡ Abb. 16.2). Damit wird das Ereignis »Geburt« für die betroffenen Mütter, aber auch für die gesamte Familie immer wichtiger. Unsere Aufgabe ist daher die umfassende Information über medizinische Angebote: präkonzeptionell, während der Schwangerschaft und rund um die Geburt. Es wird jedoch auch gravierende Gegenbewegungen geben. Die Erfahrung zeigt, dass das komplexe Angebot gelegentlich zu Verunsicherungen führen kann und einige Patien-
338
Kapitel 16 · Die Zukunft der Geburtshilfe
tinnen daher ihr »Recht auf Nichtwissen« nutzen möchten und einfach der Natur vertrauen bzw. auch bereit sind, ihr Schicksal zu akzeptieren. Wir »Schwangerenhelfer« sollten diese Entscheidung akzeptieren – und gut dokumentieren. Idealerweise sind auch in Zukunft die meisten Frauen »einfach guter Hoffnung«. Einige werden diesen Zustand durch umfassende Information und Abklärung erreichen, einige indem sie ihr »Recht auf Nichtwissen« nutzen und einige erreichen ihn – begründeterweise oder auch nicht – gar nicht.
Medizinische Angebote »Ich prüfe jedes Angebot. Es könnte das Angebot meines Lebens sein.« (H. Ford)
Vorhersage II: Komplizierte Schwangerschaftsverläufe werden häufiger! Durch die zunehmenden Fortschritte der Medizin bekommen Frauen (unter anderem auch mit Hilfe von assistierter Reproduktion) Kinder, die bis vor wenigen Jahren aufgrund ihrer schweren Grunderkrankung entweder primär gar nicht schwanger wurden oder denen bei eingetretener Schwangerschaft zur Abruptio geraten werden musste. Generell ist durch die Zunahme des Gebäralters mit einer Erhöhung der mütterlichen Morbidität zu rechnen. Auch belastete geburtshilfliche Anamnesen, wie z. B. Status post Präeklampsie oder Gestationsdiabetes spielen eine wichtige Rolle. Im Rahmen der Betreuung ist daher die Risikoklassifizierung essentiell: ▬ »Low-risk-Schwangere« werden eine gewisse Basisversorgung erhalten und in einem Hotel mit medizinischem Sicherheitsnetz entbinden. Der Wohlfühlfaktor rund um Schwangerschaft und Geburt steht im Vordergrund, der insbesondere die Förderung der Familienbeziehung (z. B. Geburtsvorbereitung, Stillen, Rooming-in, Anwesenheit des Partners und evtl. weiterer Familienmitglieder) einschließt. ▬ »High-risk-Schwangere« werden präkonzeptionell, während der Schwangerschaft und rund um die Geburt engmaschig an einem Zentrum mit der Möglichkeit der interdisziplinären Zusammenarbeit für die jeweilige Fragestellung betreut. Auch hier spielt der Wohlfühlfaktor – im Rahmen der Möglichkeiten – eine wichtige Rolle.
Vorhersage III: »Prepare for Pregnancy« wird Standard!
16
Entsprechend der »Barker Hypothese« wird es zunehmend neue Erkenntnisse geben: Intrauterine Ernährungsstörungen bedeuten Risiken im Erwachsenenalter (z. B. Bluthochdruck, Diabetes, Schlaganfall, Störung des Lipidstoffwechsels). Die Modulation des intrauterinen Milieus wäre daher die beste Prävention von Erkrankungen. Die Optimierung der Ausgangssituation bereits VOR der Schwangerschaft wird daher zunehmend an Bedeutung gewinnen. Dazu gehört z. B. ▬ Anamneseerhebung Grunderkrankungen: Diabetes, Hypertonie, Epilepsie, SLE etc. Medikationen: Retinsäure-Derivate, Antiandrogene etc. Mangelzustände: Vegetarier, Lactoseintoleranz, Hypermenorrhoe etc. Schwangerschaften: Gestationsdiabetes, Präeklampsie, Frühgeburt etc.
339 Medizinische Angebote
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▬ Optimierung des intrauterinen Milieus Infektionsscreening TSH-Screening Gabe von Nahrungsergänzungsmitteln: Folsäure, Jodid, Eisen etc. Gegebenenfalls interdisziplinäre Optimierung der Behandlung von Grunderkrankungen – auch durch Umstellung auf Medikamente mit ausreichender reproduktionstoxikologischer Erfahrung während Schwangerschaft und Stillzeit ▬ Aktualisierung des Impfstatus
Vorhersage IV: Es gibt keine medikamentöse Weiterentwicklung in der Geburtshilfe! Mit großer Wahrscheinlichkeit sind in naher Zukunft im Bereich der medizinischen Angebote – bis auf die Genetik und die assistierte Reproduktion – keine Revolutionen zu erwarten. Man kann »an Schräubchen drehen«, um bisher ungelöste Probleme in der Geburtshilfe weiterhin zu verbessern. Voraussetzung ist dafür in erster Linie die Definition eines Risikokollektives, aber auch das Screening von »Low risk-Schwangeren«. ▬ Vorzeitige Wehen/vorzeitiger Blasensprung/Zervixinsuffizienz Senkung der Frühgeburtenrate z. B. durch Infektionsscreening und engmaschige Kontrollen der Zervixlänge an einem Zentrum mit Expertise zu prophylaktischer Cerclage, Lungenreifung, Tokolyse etc. sowie Optimierung der neonatologischen Versorgung. ▬ Plazentainsuffizienz/Präeklampsie Optimierung der Ausgangsbedingungen. Zeitgerechtes Erkennen z. B. durch Screening mittels Dopplerströmungsmessungen der Aa. uterinae und Präeklampsieaufklärung – ggf. suffiziente Blutdruckeinstellung. Expertise bei Dopplerströmungsmessungen und evtl. im Bereich der fetalen Magnetresonanztomographie um Begleitmorbiditäten diagnostizieren zu können, insbesondere um den idealen Entbindungszeitpunkt zu definieren. ▬ Intrauteriner Fruchttod Herausfiltern von Risikofaktoren, wie z. B. pathologischem Blutzucker-Belastungstest oder Plazentainsuffizienz. Engmaschige Überwachung inklusive Biometrie und Dopplerströmungsmessung, insbesondere um den idealen Entbindungszeitpunkt zu definieren. ▬ Gestationsdiabetes Frühzeitiges Erkennen durch Screening mittels Blutzuckerbelastungstest, »scharfe Blutzucker-Einstellung« mit engmaschiger Überwachung inklusive Biometrie und Dopplerströmungsmessungen, insbesondere um den idealen Entbindungszeitpunkt zu definieren. ▬ Status post Sectio Minimierung der Komplikationen z. B. durch Sonographie zum Screening nach Plazentainsertionsstörungen im Bereich der Uterotomie um ggf. gut vorbereitet zu sein oder im Sinne eines besonderen Bewusstseins bei der Leitung von Geburten im Hinblick auf das erhöhte Uterusrupturrisiko. ▬ Fehlbildungen Verbesserung der bildgebenden Diagnostik (2D-Sonographie, 3D/4D-Sonographie, fetale Magnetresonanztomographie) durch neue Technologien. Frühestmögliche Diagnostik, um je nach Fehlbildung ggf. früh einen Schwangerschaftsabbruch anbieten zu können bzw. zur bestmöglichen Therapieplanung. Die Expertise im Bereich pränataler Interventionen/fetaler Chirurgie wird zunehmen.
340
Kapitel 16 · Die Zukunft der Geburtshilfe
Vorhersage V: Die Sektiofrequenz wird weiterhin steigen! Wir Ärzte müssen akzeptieren, dass es nicht nur einen indizierten Kaiserschnitt geben kann, sondern ein so wichtiger Vorgang wie die Geburt in Zukunft in jedem Fall zwischen Arzt und Schwangeren besprochen werden muss. Die Ursachen für die weitere Zunahme der Sektiofrequenz (⊡ Abb. 16.3) sind vielfältig: ▬ Sektio entspricht dem Wunsch nach kontrolliertem Prozess ▬ Immer mehr Frauen wollen nur 1-2 Kinder ▬ Schwangere werden älter (⊡ Abb. 16.1) ▬ Kinder werden größer ▬ Juristische Auseinandersetzungen werden härter Generell sollte der Anteil einfacher vaginaler Geburten und geplanter Kaiserschnitte möglichst hoch sein. Langwierige Geburtsverläufe, schwierige operative Geburtsbeendigungen und sekundäre Kaiserschnitte sollten vermieden werden.
Revolutionen »Die Zukunft ist sicher – heißt es in einer alten Hymne der paläölithischen Band Talking Heads. Das waren noch Zeiten, als die Zukunft sicher schien. Heute weiß man nicht einmal mehr, was in der Gegenwart vor sich geht. Kaum dreht man sich um, ist alles schon Vergangenheit.« (C. Zillner)
Vorhersage VI: Im Bereich der Genetik und der Reproduktionsmedizin sind Revolutionen zu erwarten! Lassen Sie uns zu Beginn etwas provozierend in die Zukunft blicken: Der Tag wird kommen, an dem man im frühen Erwachsenenalter Ei- und Samenzellen (in welcher Form auch immer) kryokonserviert, sich für einige Jahre der Karriere, den Reisen, dem Feiern, dem Sport etc. widmet, um dann nach genetischer Testung und ggf. Auswahl der besten Ei- und Samenzellen (mit welcher Methode auch immer) im heutigen frühen Pensionsalter Kinder zu bekommen.
Genetik
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Die Entwicklung verfeinerter genetischer (und epigenetischer) Untersuchungstechniken wird unser Verständnis von Erkrankungen dramatisch erweitern. Im Moment sind wir NOCH nicht ganz so weit, wie die Allgemeinbevölkerung glaubt. In populärwissenschaftlichen Büchern und Fernsehsendungen wird der Eindruck vermittelt, dass der modernen genetischen Diagnostik keine Grenzen mehr gesetzt sind. Dennoch: heutzutage ist vieles technisch möglich, von dem sich vor einigen Jahren nur träumen ließ. Neue Verfahren wie CGH-Array oder Whole Genome Sequencing oder die Einführung neuartiger Hochdurchsatz-Sequenzierungstechnologien schaffen bereits jetzt ungeahnte Möglichkeiten in der Diagnostik. ▬ CGH (Comparative Genomic Hybridisation) Array sucht nach genomweiten Veränderungen der DNS-Kopienzahl, entstanden durch den Zugewinn oder Verlust bestimmter Chromosomenregionen. Die erreichbare Auflösung ist dabei verglichen mit der herkömmlichen
16
341 Revolutionen
Lebendgeborene von 1995 – 2008 in Österreich 30
90000 85000
20 80000 15 75000 10
Insgesamt in Absolutzahlen
Kaiserschnitt, Saugglocke Zangengeburt, Manualhilfe in %
25
70000
5
Saugglocke Gesamtgeburten
07
08 20
20
05
06 20
20
04
02
01
00
99
03
20
20
20
20
20
98
Kaiserschnitt
19
19
97 19
19
19
96
65000
95
0
Zangengeburt
⊡ Abb. 16.3. Weiterer Anstieg der Sektiofrequenz
Chromosomenanalyse mehr als 200-fach erhöht. Neu auftretende submikroskopische Deletionen und Duplikationen konnten damit als eine wichtige, bisher unbekannte Ursache für geistige Behinderung und andere komplexe Krankheiten identifiziert werden. ▬ Whole Genome Sequencing bietet sich bei Assoziationsstudien an. Dabei werden bis zu einer Millionen »single nucleotide polymorphisms« (SNPs) gleichzeitig bestimmt. Es geht darum SNPs als genetische Marker zu identifizieren. In »auffälligen« Regionen findet anschließend ein Finemapping statt. ▬ Hochdurchsatz-Sequenzierungstechnologien sequenzieren mittels hochdichten DNS-Rastern in einem Diagnostik-Panel zusammengefasste Gene gleichzeitig durch. Das eröffnet Screeninguntersuchungen viele Türen. In naher Zukunft werden diese und viele andere, sich permanent weiterentwickelnde, Methoden noch viel einfacher und billiger werden mit weitreichenden Konsequenzen für die Diagnostik und Prävention genetisch bedingter Störungen, aber auch für die Krankenversorgung allgemein. Damit steht einem generellen präkonzeptionellen Screening nach genetischen Erkrankungen bzw. dem Überträgerstatus für viele genetische Erkrankungen von technischer Seite nichts mehr im Wege. Ergänzend dazu könnten die Untersuchungen, je nach Vererbungsmodus, auch nach Präimplantationsdiagnostik bzw. nach invasiver pränataler Diagnostik angewandt werden. Idealerweise werden diese Untersuchungen sogar aus fetaler DNA aus mütterlichem Blut möglich. Damit entfällt das Eingriffsrisiko der invasiven pränatalen Diagnostik. Die Untersuchungen könnten flächendeckend, bei allen Schwangeren durchgeführt werden. Es wird jedoch auch weiterhin Unbekanntes geben, da viele der bisher gefundenen genetischen Risikofaktoren nur für einen kleinen Teil des gesamten genetischen Risikos verantwortlich sind und ihr diagnostischer Wert damit unklar ist. Es gibt Grund zu der Annahme, dass die Komplexität vieler multifaktorieller Krankheiten primär auf genetische Heterogenität zurückgeht, also auf Defekte in verschiedenen Genen, welche dieselbe Krankheit verursachen.
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Kapitel 16 · Die Zukunft der Geburtshilfe
Das Wissen über Epigenetik, also die Vererbung, die nicht in den Genen festgeschrieben ist, sondern durch Lebensumstände, Ernährung, Umwelteinflüsse und Populationsdichte beeinflusst wird, wird ebenfalls weiterhin zunehmen.
Reproduktionsmedizin Die assistierte Reproduktion wird bedeutender, vor allem weil das Alter der Frauen bei Kinderwunsch steigt. Ovarian tissue banking wird bereits jetzt bei entsprechender Indikation (z. B. geplante Chemotherapie) angeboten. Kryokonservierung von Embryonen (und evtl. auch von Ei- bzw. Samenzellen) stellt eine weitere Möglichkeit dar, die die gesamte Lebensplanung revolutionieren könnte. Zudem gibt es neue Techniken, wie z. B. verbesserte Medien oder IMSI (Intrazytoplasmisch Morphologisch Selektierte Spermieninjektion), die die Erfolgsrate der IVF deutlich verbessern. Auch im Bereich der Abortus-habitualisTherapie wird es neue Erkenntnisse geben, allerdings eher im Sinne von »an Schräubchen drehen«. Die Präimplantationsdiagnostik sollte und wird erlaubt werden, da (wenn man bedenkt, dass genetische Untersuchungen an Ungeborenen umso eher vertretbar sind, je weniger weit die Entwicklung des Ungeborenen fortgeschritten ist) zwischen der grundsätzlich unbeschränkten Zulässigkeit der pränatalen genetischen Diagnostik und der derzeit gültigen gesetzlichen Einschränkung der Präimplantationsdiagnostik ein sachlich nicht gerechtfertigter Wertungswiderspruch besteht.
Ethische Implikationen »Fortschritt – das bedeutet, dass wir unsere alten Sorgen gegen neue eintauschen«. (B. Russell)
Vorhersage VII: Die Revolutionen in der Genetik und Reproduktionsmedizin haben gravierende Auswirkungen auf ethische Fragestellungen! Pränatale Diagnostik
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Durch die zunehmenden technischen Möglichkeiten werden die Fragestellungen auch von ethischer Seite immer komplexer. Generell ist die Bandbreite an »Wünschen an die Genetik« enorm. Sie reicht von »Ich akzeptiere mein Schicksaal« bis zu »Auf jeden Fall ein gesundes Kind«. Die Ziele und Konsequenzen von genetischen Analysen und Pränataldiagnostik werden auch in Zukunft äußerst kontrovers diskutiert werden: Die Meinungspalette wird sowohl in der Boulevardpresse als auch bei Experten, von »Töten als Anmaßung« bis »Lebenlassen als Zumutung« reichen. Die Frage nach »lebenswertem Leben« und »Zumutbarkeit« ist natürlich stark von familiären, kulturellen, religiösen Wertvorstellungen geprägt. Den »Beratern« steht letztendlich wohl auch in Zukunft kein Urteil zu, jedoch müssen sie als Ärzte ihr Tun mit ihrem Gewissen vereinbaren können. Insgesamt stellt sich für die Pränataldiagnostik jedoch zunehmend die Frage, ob alles technisch machbare auch ethisch vertretbar ist. Angeheizt von Meldungen über neue Möglichkeiten genetischer Analysen wird z. B. auch der Wunsch nach prädiktiver pränataler Diagnostik immer häufiger. Sollen wir zum Beispiel bei BRCA-positiven Schwangeren eine invasive pränatale Diagnostik mit der Konsequenz eines Schwangerschaftsabbruches bei ei-
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343 Ethische Implikationen
nem betroffenen Kind – im Rahmen der Fristenlösung – anbieten? Der Tag wird kommen, an dem das von uns »gefordert« wird.
Patientenautonomie und Schutzverpflichtung gegenüber dem Ungeborenen Die Interpretation der Befunde und das Ableiten entsprechender therapeutischer Maßnahmen werden immer schwieriger. Bedauerlicherweise gibt es für die meisten der pränatal erkennbaren genetischen Erkrankungen derzeit keine therapeutischen Optionen. Der einzige Weg, die Krankheit zu verhindern, besteht darin, durch einen Schwangerschaftsabbruch die Geburt eines kranken Kindes zu verhindern. Die Frage, ob dies rechtlich möglich und ethisch vertretbar ist und umgekehrt Überlegungen zum Schutz des Ungeborenen, werden somit zentrale Fragen im Zusammenhang mit der Durchführung einer pränatalen genetischen Abklärung. Gemäß dem Konsensus Statement Bedingungen spezieller pränataler genetischer Diagnostik sind solche Konsequenzen und somit auch die pränataldiagnostische genetische Abklärung umso eher vertretbar, je weniger weit die Entwicklung des Ungeborenen fortgeschritten ist, je früher die Erkrankung einzutreten droht, je gravierender sie ist, je höher ihre Penetranz ist und je geringer die Chancen ihrer Therapie sind (⊡ Abb. 16.4). So zutreffend und nachvollziehbar diese Überlegungen sind, so sehr ist ihre Interpretation im Einzelfall aber schwierig und macht den Verantwortlichen die Abwägung zwischen dem Wunsch der Schwangeren nach invasiver Abklärung und ggf. Beendigung der Schwangerschaft und der Schutzverpflichtung gegenüber dem Ungeborenen nicht leicht.
Schwangerschaftsabbruch Man kann sich beim Thema Schwangerschaftsabbruch durchaus sinnvollerweise an verschiedenen »Zeitgrenzen« orientieren: Die wichtigste davon ist sicherlich das Ende der Frist, innerhalb der die Schwangere ohne Angabe von Gründen die Schwangerschaft straffrei abbrechen kann. Im neuen Deutschen Gendiagnosegesetz steht derzeit zwar erstaunlich explizit: »Die Durchführung von genetischen Untersuchungen im Rahmen der Pränataldiagnostik, die
Schutzverpflichtung gegenüber dem Ungeborenen
Wunsch der Schwangeren
0
12
Potentielle 24 Lebensfähigkeit
Geburt
⊡ Abb. 16.4. Abwägung zwischen Wunsch der Schwangeren nach intensiver Abklärung und der Schutzverpflichtung gegenüber dem Ungeborenen
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Kapitel 16 · Die Zukunft der Geburtshilfe
spätmanifestierende Krankheiten betreffen, werden untersagt, wenn die Krankheiten nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Wissenschaft und Technik erst nach Vollendung des 18. Lebensjahres ausbrechen« (18). Nimmt man Patientenautonomie ernst, so wird es allerdings in Zukunft keine Rechtfertigung dafür geben, einer Schwangeren, die mit einer genetisch-pränataldiagnostischen Fragestellung kommt, die Information zu verweigern, jedenfalls keine ethische. Puristen könnten die Frage aufwerfen, ob eine solche Abklärung und ggf. auch der Abbruch zu Lasten der Sozialversicherung erfolgen soll oder nicht. Nach Ablauf dieser Frist ist es nahe liegend, nur noch solche Informationen zur Verfügung zu stellen, die eine medizinische Indikation für einen Schwangerschaftsabbruch darstellen könnten.
Gesellschaftliche Implikationen
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Vor allem Behindertenverbände haben in der Vergangenheit immer wieder kritisch darauf hingewiesen, dass die Tötung Ungeborener nach der Diagnose ihrer (genetischen) Erkrankung eine gefährliche symbolische Botschaft auf den Horizont der gesellschaftlichen Wahrnehmung projizieren könnte: Das Leben mit einer solchen Erkrankung, so könne das verstanden werden, sei »nicht lebenswert«. Eine solche Botschaft müssten geborene Menschen, die mit einer entsprechenden Krankheit oder Behinderung ihr Leben meistern, als Diskriminierung und schwere seelische Verletzung erfahren. Zudem könne die Ausweitung der pränatalen Diagnostik als eines regelmäßigen Bestandteils der pränatalen medizinischen Versorgung zur Etablierung einer schleichenden gesellschaftlichen Praxis der eugenischen Selektion führen und Frauen, die sich trotz pränatal pathologischen Befundes für das Fortsetzen der Schwangerschaft entscheiden, in Rechtfertigungszwang bringen. Diese Bedenken und Einwände sind verständlich und müssen nachdrücklich ernst genommen werden. Aber: die Entscheidung einer Schwangeren gegen die Austragung eines (genetisch) geschädigten Ungeborenen besagt etwas über die Grenzen ihres persönlichen Vermögens, mit der schweren Behinderung eines Kindes in ihrem innersten Lebenskreis fertig zu werden. Das schließt gewiss eine negative Bewertung der jeweiligen genetischen Krankheit im Vergleich zum Zustand des Gesundseins ein. Nicht im Mindesten aber enthält es ein abwertendes Urteil über Menschen, die mit einer solchen Erkrankung leben. Selbstverständlich wird ggf. auch in Zukunft die Entscheidung der Eltern, ein behindertes Kind auszutragen, ebenfalls vollinhaltlich unterstützt. Darüber hinaus dürfen die Bedenken behinderter Menschen nicht ignoriert werden. Diesen muss jedoch anders begegnet werden als mit einem prinzipiellen Verdikt über die pränatale Diagnostik – nämlich: mit einer behutsamen wechselseitigen Information und mit dem gemeinsamen Kampf gegen jede Form der sozialen Benachteiligung behinderter Menschen. Das ist ein wichtiges, aber ein anderes Thema. Das Thema »Ethische Implikationen« wird noch viel Stoff für Diskussionen und Gesetzestextänderungen geben.
Offene Fragen »Es gibt Menschen, die an Unklarheiten ihren Gefallen haben und es als lästig empfinden, wenn sie sich auf eine Begriffserklärung festlegen sollen.« (F. Bacon)] Viele Fragen sind dennoch offen: Muss ich alle Patientinnen über alles technisch Machbare informieren oder nur bei gezieltem Nachfragen kompetente Antwort geben? Wer kommt für die Kosten auf? Wie gehe ich mit Ratsuchenden um, die eigentlich gar keinen Rat suchen,
345 Literatur
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sondern von Dritten zu uns geschickt wurden? Wie gehe ich mit »abhängigen« (Minderjährigen, schwer Behinderten, die auf die Hilfe anderer angewiesen sind) Ratsuchenden um, die gemeinsam mit ihren »Betreuern« in die Beratung kommen? Was ist, wenn ich Zweifel an der Entscheidung der Ratsuchenden habe? Wenn unklar ist, ob eine invasive pränatale Diagnostik nur aus »Angst vor der Nadel« abgelehnt wird, ohne das Ausmaß der Erkrankung zu begreifen? Wie »hart« muss man beraten, wo es doch ein »Recht auf Nichtwissen« gibt. Wie gehen wir mit (genetischen) Informationen um, die wir nicht interpretieren können oder, vielleicht noch schlimmer, die wir zwar interpretieren können, aber nicht wissen wollen. Oder die manche Patientinnen nicht wissen wollen. Wie soll man vor der Diagnostik aufklären? Genau diese offenen Fragen werden unseren Beruf weiterhin spannend machen. Die Kombination von präkonzeptioneller Optimierung der Ausgangssituation, der Verbesserung des intrauterinen Milieus und der Anwendung moderner genetischer Untersuchungstechniken (im Rahmen der Präimplantationsdiagnostik) wird uns Frauenärzten langfristig die Chance bieten, eine Verbesserung des Gesundheitszustandes der Bevölkerung (im höheren Lebensalter) herbeizuführen. Lassen Sie uns das Ganze nun mit einem Zitat von Karl Valentin beenden: »Vorhersagen sind schwierig, insbesondere wenn sie die Zukunft betreffen!«
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Entwicklungen in der Geburtshilfe – Die Überwachung des Kindes unter der Geburt Wolfgang Künzel, Volker Lehmann
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Kapitel 17 · Entwicklungen in der Geburtshilfe – Die Überwachung des Kindes unter der Geburt
Frühe Anfänge in der Überwachung der Geburt
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Bis zum 16. und 17. Jahrhundert war die Geburtshilfe vornehmlich eine empirische Medizin, die von »weisen« Frauen ausgeführt wurde und deren »Ausbildung« wiederum durch Weitergabe von geburtshilflichen Erfahrungen, im Regelfall wieder an Frauen, beruhte. Diese »traditionellen Geburtshelferinnen« fanden sich bereit, die Aufgabe des geburtshilflichen Beistands bei anderen Frauen zu übernehmen. Die Kenntnisse der Physiologie des Geburtsvorgangs, insbesondere aber über den Zustand des Kindes während der Geburt waren empirisch ermittelt und demzufolge spärlich. Verfahren zur Überwachung des Kindes waren nicht bekannt, einziges Signal für fetales Leben waren die von der Mutter gespürten Kindsbewegungen. Rößlins Rosengarten aus dem Jahre 1513 ist ein Beleg für die noch sehr unvollständigen geburtshilflichen Kenntnisse der damaligen Zeit. Als ein Meilenstein in der weiteren Entwicklung der Geburtshilfe kann das Lehrbuch des Begründers der neuzeitlichen Geburtshilfe, des französischen Arztes François Mauriceau (1637-1709) Des maladies des femmes grosses et accouchées (Die Krankheiten der Schwangeren und Gebärenden) aus dem Jahre 1668 gelten, weil es die Grundlagen für ein besseres Verständnis der Geburtsvorgänge legte und später auch die Basis für den Nachweis kindlichen Lebens in utero war. Bis dahin war kein Verfahren bekannt, fetales Leben während der Schwangerschaft und Geburt nachzuweisen. Die Kenntnisse der Brandenburgischen Hofwehemutter Justinen Siegemundin in Physiologie und Pathologie der Geburt stehen den Beobachtungen des französischen Geburtshelfers Mauriceau in keiner Weise nach, jedoch fehlten auch ihr Kenntnisse in der Überwachung des Kindes. Das Pulsieren der vorgefallenen Nabelschnur oder deren Sistieren, so in ihrem 1723 erschienenen ersten deutschen Lehrbuch für Hebammen, waren der einzige Hinweis auf das Leben oder den Tod des Kindes. Das Leben der Mutter stand im Mittelpunkt des Interesses, das Leben des Kindes war von untergeordneter Bedeutung. Von den ersten Beschreibungen pathologischer Geburtsverläufe bis zu den ersten Beobachtungen fetalen Lebens in utero und den systematischen Analysen der fetalen Todesursachen und den sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen für die fetale Überwachung war es jedoch ein langer Weg. Nachfolgend sollen die Entwicklungen von Überwachungsverfahren, aber auch deren Irrwege bis in die heutige Zeit aufgezeigt werden. Sie alle hatten das Ziel, die Kontrolle des Kindes so sicher wie möglich zu gestalten, d. h. Zeichen des O2-Mangels beim Feten zu einem möglichst frühen Zeitpunkt festzustellen und der Ausbildung einer Azidose sowie eines fetalen Schockzustands, Hirnblutungen oder dem intrauterinen Fruchttod durch rechtzeitige geburtshilfliche Maßnahmen vorzubeugen. Die verschiedenen Überwachungsmethoden, sowie die Interpretation der Ergebnisse sind über viele Jahrzehnte entwickelt und evaluiert worden. Die Anfänge der Registrierung der fetalen Herzfrequenz reichen beispielsweise bis zu Beginn des 19. Jahrhundert zurück. Ihre Weiterentwicklung war von der Entwicklung elektronischer Geräte und Speichermedien der vergangenen zwei Jahrzehnte abhängig. Das gilt auch für die diskontinuierliche Bestimmung des pH-Wertes aus dem vorangehenden Teil des Feten. Diese beiden Methoden sind derzeit die am häufigsten verwendeten Methoden der fetalen Überwachung. Daneben gibt es eine Reihe von Überwachungsverfahren, die wohl interessante Ergebnisse liefern, aber bisher noch nicht die Reife der routinemäßigen Anwendung erreicht haben. Mit diesem Beitrag soll einerseits die geschichtliche Entwicklung der verschiedenen Überwachungsverfahren aufgezeigt werden, andererseits aber auch Wege dargestellt werden, die wegen bisher unüberwindlicher methodischer Schwierigkeiten nicht die Anwendung in der klinischen Routine fanden.
349 Überwachung des Herzkreislauf-Systems des Feten während der Geburt
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Überwachung des Herzkreislauf-Systems des Feten während der Geburt Die fetale Herzfrequenz Historische Entwicklung In der Geschichte der Geburtshilfe waren die fetalen Herztöne über eine lange Zeit nicht zur Kenntnis genommen worden. Die Auskultation als diagnostische Methode war in der Medizin unbekannt. Rene Théophile Hyacinthe Laennec hat sie zum ersten Mal nachgewiesen und in seinem berühmten Werk Die Auskultation der Lunge und des Herzens, Paris 1819 beschrieben. 1821 hat der Arzt Jean Alexandre Lejumeau de Kergaradec der Kommission der Academie Royale de Medicine mit der Schrift Über die Auskultation in Beziehung auf die Schwangerschaft, oder Untersuchungen über zwei neue Zeichen, mittels deren man mehrere Umstände des Schwangerschaftszustandes erkennen kann über die Entdeckung der fetalen Herztöne berichtet. Vor ihm war es Heinrich August Wrisberg, der bereits 1766 als Nachfolger von Roederer in Göttingen versuchte durch das Hören der Herztöne eine bestehende Schwangerschaft nachzuweisen. Der Beitrag des Chirurgen Francois-Isaac Mayor zur Auskultation besteht nur in einer kurzen Notiz. In den Sitzungsberichten der Akademie der Wissenschaften zu Paris von 1818 ist der Vortrag eines M. Percy festgehalten. Nach dessen Ausführungen über die Untersuchungen der Brustorgane hätte ein Moussier Mayor sich zu Wort gemeldet und die sehr interessante Beobachtung von dem Auskultieren kindlicher Herztöne bei Schwangeren am Termin vorgetragen. Wrisberg, Mayor und Lejumeneau de Kergaradec sind mit nur je einer Publikation über ihre Versuche und Entdeckungen bekannt geworden. Wrisberg war Geburtshelfer, Mayor Militärchirurg und Lejumeneau de Kergaradec war hauptsächlich als medizinischer Literat und später als Verwalter seiner Ländereien in der Bretagne tätig. Die Entdeckungen blieben lange Zeit völlig unbeachtet. Bei von Siebold findet die Auskultation in seinem 1845 erschienenen Lehrbuch keine Erwähnung. Die Vorurteile waren groß und der Nutzen für den Feten aufgrund der Zurückhaltung, einen Kaiserschnitt als notwendige Konsequenz durchzuführen, zur damaligen Zeit wegen der hohen mütterlichen Sterblichkeit gering. »Möchten doch die Geburtshelfer über das Hören wollen nicht die Vervollkommnung ihres Tastsinnes vergessen, der mit mehr Umsicht, Übung und Fleiß angewendet, in der Tat mehr leistet, als die so leicht täuschende und das Decorum beleidigende Auskultation.« Aber es gab auch andere Stimmen. Die Würzburger Klinik, damals unter der Leitung von d’Outrepont, überzeugte sich von der Richtigkeit und Aussagefähigkeit der Methode und wies die Kritik von Siebold energisch zurück. Hermann Schwartz aus Kiel berichtet 1858 in seinem Buch Die vorzeitigen Athembewegungen – Einwirkungen des Geburtsactes auf die Frucht im Kapitel Geschwächte Herztätigkeit über den Einfluss der Wehentätigkeit auf die Herzfrequenz. Es ist jedoch verwunderlich, dass Jahrzehnte vergingen, ehe die Auskultation Gemeingut der Geburtshelfer wurde. Moralvorstellungen des 19. Jahrhunderts haben den Geburtshelfern große Schwierigkeiten bereitet, schnellere Fortschritte sowohl in der Wissenschaft, als auch in der praktischen Ausübung zu machen. Ahlfeld schreibt noch im Jahre 1918 über die Schwierigkeiten des Auskultierens auf niedrigem Lager, d. h. auf gewöhnlichem Bett. Der Auskultierende musste eine Stellung mit gebeugtem Oberkörper und gesenktem Kopfe einnehmen, »wodurch Blutandrang nach dem Kopfe, Ohrensausen und Schwindelgefühl herbeigeführt wurden, die die Hörfähigkeit erheblich erschwerten.« 1868 wurden dann in der Credé’schen Klinik in Leipzig die Schwangeren entkleidet, auf eine erhöhte Untersuchungsliege gelagert und die Auskultation
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Kapitel 17 · Entwicklungen in der Geburtshilfe – Die Überwachung des Kindes unter der Geburt
unmittelbar, also ohne Hörrohr, vorgenommen. Die Diskussion über die Auskultation, ob mit oder ohne Hörrohr, nahm zunächst einen breiten Raum ein. Laennec hatte ja schon in seinen ersten Veröffentlichungen über die Auskultation der Brustorgane verschiedene Modelle eines Stethoskops angegeben. Das erste und einfachste war eine Röhre aus Papier. Aus der Rolle hat sich dann das Stethoskop mit schlankem Mittelteil und breiten Aufsatz entwickelt. Es hat fast 20 Jahre seit der Entdeckung der fetalen Herztöne gedauert, bevor die ersten systematischen und umfangreichen Studien veröffentlicht werden konnten. Es erfolgten genauere Angaben über die mittlere Herzfrequenz des Feten und ihrer Veränderungen. Kaminski hatte 1866 bei der großen Typhusepidemie in Russland beobachtet, dass es eine Beziehung zwischen mütterlichem Fieber, mütterlicher Pulsfrequenz und fetaler Herzfrequenz gab. Runge hat dann mehr als 10 Jahre später 1877 diese Beobachtungen im Tierversuch bestätigt. An schwangeren Kaninchen, die unterschiedlicher Temperatur ausgesetzt wurden, ist das fetale Verhalten registriert worden. In gleicher Zeit beschreibt Engelhorn Korrelationen zwischen Schwangerschaftsalter, Gewicht, Länge des Feten und seiner Herzfrequenz. Frankenhäuser definiert vor der Gesellschaft für Geburtshülfe zu Berlin 1859 die Indikationen der Auskultation der fetalen Herztöne. B.S. Schultze beschreibt in seinem Buch Der Scheintod Neugeborener 1871 eingehend die Veränderungen der Herzfrequenz in der Eröffnungsperiode und der Austreibungsperiode. 1889 wies von Winkel darauf hin, dass die fetale Herzfrequenz, die über 160 oder unter 100 Schläge/min gemessen wird, Zeichen einer intrauterinen Asphyxie sei. Seit dieser Zeit war diese Feststellung bis in heutige Tage ein Indikator für die fetale Notsituation während der Geburt (zitiert bei Wulf 1985).
Wissenschaftliche Grundlagen und neue Methoden
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Die ersten grundlegenden Erkenntnisse in der Geburtsphysiologie wurden von Barcroft 1947, Barron 1952 und Apgar 1953 (zitiert bei Künzel 2003) sowohl in tierexperimentellen Untersuchungen als auch durch Beobachtungen am Menschen gewonnen. Der Zusammenhang zwischen der fetalen Stresssituation und der fetalen Herzfrequenz wurde jedoch erst verständlich, als Geräte entwickelt wurden, die es möglich machten, die Herzfrequenz kontinuierlich von Schlag zu Schlag zu messen. Mitte der 60er-Jahre bis Anfang der 70er-Jahre wurden physiologische und pathophysiologische Prinzipien der fetalen Respiration beschrieben. Die Arbeitsgruppen um Saling, Hammacher , Hon und Caldeyro-Barcia entwickelten Techniken, die es dem Kliniker erlaubten, den fetalen Zustand während der Geburt besser zu kontrollieren. Der Einsatz dieser Methoden in den letzten 40 Jahren hat zu einer beträchtlichen Reduktion der kindlichen Sterblichkeit vor, während und nach der Geburt geführt. Aufgrund der konsequenten Anwendung dieser Überwachungsmethoden sterben heute nur noch 0,6% der Kinder. Die perinatalen Todesfälle (=100%) erfolgen gegenwärtig zu 60% vor der Geburt und zu 30% während der Neonatalperiode, nur noch wenige Kinder, 7,5%, sterben während der Geburt. Die kontinuierliche Registrierung der fetalen Herzfrequenz vor und während der Geburt bzw. die Intervallüberwachung hat sich in der Bundesrepublik Deutschland trotz nicht enden wollender kritischer Stimmen aus den USA, Irland und Deutschland durchgesetzt. Die Auskultation der kindlichen Herztöne mit dem Stethoskop kann den Anforderungen der modernen, auf Sicherheit bedachten Geburtshilfe nicht mehr gerecht werden.
351 Überwachung des Herzkreislauf-Systems des Feten während der Geburt
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Registriermethoden Mit jedem Schlag des fetalen Herzens wird eine Kalkulation der fetalen Herzfrequenz auf der Basis des Herzfrequenzintervalls durchgeführt. Die Messungen werden mit der UltraschallDoppler-Sonographie und mit der fetalen Elektrokardiographie vorgenommen. Bei der Ultraschallkardiographie wird ein Ultraschall-Doppler-Signal mit einem Breitstrahl-Aufnehmer über dem fetalen Herzen registriert. Durch Anwendung der elektronischen Autokorrelation wird das Ultraschall-Doppler-Signal als Informationsquelle wesentlich verbessert. Das fetale Elektrokardiogramm als Signal für die Bestimmung der fetalen Herzfrequenz wird vom maternalen Abdomen mit drei Elektroden oder durch eine Elektrode, die am kindlichen Kopf angebracht wird, abgeleitet. Gewöhnlich wird die kontinuierlich registrierte fetale Herzfrequenz und uterine Aktivität graphisch bei einer konstanten Geschwindigkeit aufgezeichnet. Durch die moderne Entwicklung der Computer- und Speichertechnik ist die elektronische Speicherung der Aufzeichnungen inzwischen möglich geworden.
Fetale Herzfrequenzreaktionen während der Geburt Eine Überwachung des Kindes bis zur Geburt erfolgt gegenwärtig in deutschen Kliniken in 92,7%, und in 35,2% wird eine Intervallüberwachung durchgeführt. In Leitlinien wird ausführlich dargestellt, welche Parameter der fetalen Herzfrequenz – basale fetale Herzfrequenz, Oszillationen, Langzeit- und Kurzzeitschwankungen und die unterschiedlichen Formen der Dezelerationen – welche Bedeutung haben (Übersicht bei Künzel 2003). Um die Unsicherheiten der individuellen Herzfrequenzinterpretation zu umgehen, sind in den letzten Jahren vermehrt Anstrengungen unternommen worden, die fetale Herzfrequenz unter Benutzung eines Computers zu analysieren und zu quantifizieren. Aber auch das setzt Kenntnisse der Pathophysiologie voraus. Durch die Erweiterung der Speichersysteme und durch die Anwendung von Mikroprozessoren ist es jedoch möglich geworden, die Interpretation der verschiedenen Muster zu standardisieren. Erste Erfahrungen sind vielversprechend, die Methoden jedoch für die breite Anwendung während der Geburt noch nicht ausgereift, da noch Mängel in der Erkennung der basalen Herzfrequenz und der Dezelerationen bestehen. Bis diese Fehlerquellen der Computeranalyse behoben sind, wird die visuelle semiquantitative Analyse der Herzfrequenz notwendig sein.
Diagnostik der Zentralisation des fetalen Kreislaufs Hautdurchblutung und Heizstrom Die Registrierung der Durchblutung der fetalen Kopfhaut über den Heizstrom liefert eine zusätzliche Information im Rahmen der Messung des tc-p02. Bei Hypoxie des Feten erfolgt durch die Freisetzung von Adrenalin und Noradrenalin eine Vasokonstriktion des Kapillarbetts der Haut. Damit nimmt die transkutan-arterielle pO2-Differenz zu. Die relative lokale Perfusion der Haut kann durch Applikation von Wärme unter Kenntnis der aufzubringenden Heizleistung bestimmt werden. Schlecht perfundiertes Gewebe transportiert weniger Wärme als die gut durchblutete Haut. So fällt denn auch bei Ausbildung eines fetalen Schocksyndroms die relative lokale Perfusion der Haut ab. Die Schwierigkeit dieser Methode besteht derzeit noch im Mangel einen »normalen« Wert für die Heizleistung zu bestimmen, so dass
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Kapitel 17 · Entwicklungen in der Geburtshilfe – Die Überwachung des Kindes unter der Geburt
z. Z. nur relative Änderungen der Durchblutung ermittelt werden können. Es wäre zu wünschen, wenn der Entwicklung dieser Methode zukünftig mehr Aufmerksamkeit geschenkt würde, weil damit die Zentralisation des fetalen Kreislaufs während der Geburt sehr früh ermittelt werden könnte.
Hautdurchblutung und Wärmeabgabe Die Bestimmung der Wärmeabgabe scheint wesentlich geeigneter, den Zustand des Feten während der Geburt zu beschreiben. Der Messfühler besteht aus einem Thermoelement, dessen Stromfluss proportional dem Wärmefluss pro Flächeneinheit und Zeit ist. Bei Entwicklung einer Azidose nimmt der Wärmefluss linear in engen Grenzen ab. Ob jedoch die Abnahme des Wärmeflusses Ausdruck einer reduzierten Wärmeproduktion des Feten oder Zeichen einer Vasokonstriktion der fetalen Haut oder von beidem ist, ist bisher nicht beantwortet. Neuere Ergebnisse zeigen, dass offenbar während der Geburt eine gute Diskriminierung zwischen azidotischem Feten zu einer Kontrollgruppe in oben beschriebenem Sinne besteht. Es wird aber auch deutlich, dass die Messmethode aufgrund der großen Streuung der Einzelwerte einen Einsatz in der Routine noch nicht finden konnte.
Laser-Doppler-Flussmessung (LDF) Für die Laser-Doppler-Flussmessung findet ein Helium-Neon-Laser Anwendung. Das durch die Doppler-Verschiebung veränderte reflektierte Licht wird über eine Photodiode gemessen und analysiert. In tierexperimentellen Untersuchungen konnte der Einfluss der Hypoxämie auf den Blutfluss der Haut nachgewiesen werden. Die Anwendung während der Geburt wurde ebenfalls simultan mit dem tc-p02 vorgenommen. Dabei zeigte sich, dass mit dem Abfall des Laser-Doppler-Flusses auch der tc-p02 abfiel. Zurzeit ist nicht erkennbar, dass die LDF eine breite Anwendung zur Überwachung des Feten haben wird.
Dopplerfluss in fetalen arteriellen Gefäßen
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Die Unsicherheiten in der Interpretation von Veränderungen des Kardiotokogramms und auch das Wissen um die begrenzte Aussagekraft der Herzfrequenz während der Geburt haben nach Methoden suchen lassen, die es ermöglichen, neben der Kontrolle metabolischer Parameter auch eine Information über die Zentralisation des fetalen Kreislaufs zu erhalten. Während der Schwangerschaft hat die Dopplersonographie eine breite Anwendung, ihr Einsatz während der Geburt ist zurzeit noch begrenzt. Die Anwendung der Dopplersonographie während der Geburt hat zum Ziel, die Zentralisation des fetalen Kreislaufs durch die Hypoxämie nachzuweisen bzw. ihre graduelle Änderung im Verlauf der Geburt zu messen. Obgleich nachgewiesen werden konnte, dass während variabler Dezelerationen der Resistance-Index ansteigt, sind die bisher vorgelegten Ergebnisse nicht überzeugend. Es besteht weder eine Korrelation des Resistance-Index der Nabelarterie zum pH-Wert im Skalpblut noch zum pHWert in der Nabelarterie. Es wäre sinnvoll, zukünftig in Verlaufsstudien die Veränderungen der maximalen und der enddiastolischen Blutflussgeschwindigkeit in verschiedenen Gefäßen des Feten zu messen und zur Änderung der Lactatkonzentration im Skalpblut und zum CTGScore-Gießen in Beziehung zu setzen.
353 Überwachung respiratorischer Parameter
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Fetales EKG zur Diagnose der Myokardperfusion (STAN-System) Bei der Registrierung der fetalen Herzfrequenz liefert die R-Zacke des fetalen EKG den Triggerimpuls. Der Verlauf des QRS-Komplexes fand bis Mitte der 80er-Jahre jedoch keine Beachtung. Erste Untersuchungen wurden 1985 mit der Frage durchgeführt, ob eine zusätzliche Information aus den Veränderungen des QRS-Komplexes in Relation zur T-Welle für die Ausbildung einer fetalen Hypoxämie während der Geburt zu erhalten ist. Es bestand eine lineare Korrelation zwischen dem T/QRS-Quotienten und der Laktat-Konzentration im Nabelschnurblut. Damit steht eine Methode zur Verfügung, die zusätzlich zum CTG den myokardialen Erregungsablauf des Feten unter dem Einfluss der Hypoxämie reflektiert. In einer umfangreichen Analyse haben Rosen und Luzietti 1994 das STAN-System (STAnalysis) einer kritischen Wertung unterzogen. Sie empfehlen die Anwendung nur in Verbindung mit dem Kardiotokogramm. In einer randomisierten kontrollierten Studie an 2164 Frauen mit CTG-Registrierung (CTG-Gruppe) und 2228 Frauen mit gleichzeitiger ST-Analyse (CTG- + ST-Gruppe) konnte gezeigt werden, dass der Nachweis einer fetalen Hypoxämie besser gelingt, als mit dem CTG allein. Offenbar wird diese Beobachtung auch von anderen Autoren gemacht. Eine europäische Studie an 618 Patienten hat jedoch zeigen können, dass die Methode noch nicht die Zuverlässigkeit im routinemäßigen klinischen Einsatz aufweist. Es wird die Aufgabe weiterer Studien sein, diese interessante Methode von ihren Anwendungsund Interpretationsfehlern zu befreien, um den Nachweis einer fetalen Hypoxämie während der Geburt als Entscheidungshilfe für operative Entbindungen zu erleichtern.
Überwachung respiratorischer Parameter Fetale Blutgasanalyse Die Einführung der Amnioskopie und der Mikroblutuntersuchung (MBU) 1968 durch Saling war ein Meilenstein in der Überwachung der Geburt. Die Einführung dieser Methode stieß zunächst auf den Widerstand etablierter Geburtshelfer, da es ein Sakrileg war, den unteren Eipol zu berühren. Die Furcht vor der Infektion des Uterus bei vaginalen Manipulationen beherrschte immer noch das Denken der alten geburtshilflichen Schulen. Vorbedingung für die Mikroblutanalyse war aber auch die Entwicklung geeigneter Mikromethoden zur Bestimmung des pH-Wertes, PO2 und PCO2 im Kopfschwartenblut des noch ungeborenen Kindes und die Entwicklung eines einfachen Instruments, des Amnioskopes für die Blutentnahme. Mit der Amnioskopie war es zunächst möglich, erstmals den unteren Eipol zu betrachten und die Menge und Farbe des Fruchtwassers abzuschätzen. Damit war sie eine Methode, mit der der Zustand des Fetus beurteilt werden konnte. Ihren Einsatz fand die Amnioskopie anfangs vorwiegend bei der Übertragung der Schwangerschaft, um beim Nachweis von grünem Fruchtwasser eine Information über die Gefährdung des Feten zu erhalten. Inzwischen hat diese Methode ihre Bedeutung für die Zustandsdiagnostik des Feten verloren. Das Amnioskop ist das Instrument für die Mikroblutanalyse. Wegbereiter der Mikroblutanalyse waren die Messungen des pH-Wertes und der Gaspartialdrucke in den Nabelschnurgefäßen nach physiologischen und pathologischen Geburten. Man verstand zunächst nicht den Einfluss des Geburtsgeschehens auf den Säure-Base-Status im Blut der Nabelschnur. Die als »normal« angesehene kombinierte metabolische und respiratorische Azidose konnte in ihrer Entstehung unter der Geburt erst durch die Mikroblutanalyse aus dem Kopfschwartenblut geklärt werden. Der zu Beginn der Geburt ausgeglichene
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Kapitel 17 · Entwicklungen in der Geburtshilfe – Die Überwachung des Kindes unter der Geburt
Säure-Base-Status verändert sich im Laufe der Austreibungsphase im Sinne einer Azidose, die durch eine anaerobe Glykolyse infolge verstärkter Kontraktionen des Uterus und der damit einhergehenden Reduktion der uterinen Durchblutung zu erklären ist. Damit finden auch die Beobachtungen der verstärkten Herztonveränderungen in der Austreibungsphase von B.S. Schultze, die er in seinem Werk:Der Scheintod Neugeborener 1871) dargestellt hat, eine Erklärung. Die zunächst heiß diskutierte »Mt. Everest-Situation« des Feten in utero ist kompensiert durch das fetale Herzminutenvolumen, die hohe Hämoglobin-Konzentration und durch die Linksverschiebung der O2-Bindungskurve.
Messverfahren zur kontinuierlichen Bestimmung der fetalen Oxygenation Unsicherheiten in der Interpretation der fetalen Herzfrequenz während der Geburt haben zu Überlegungen geführt, der Methode der CTG Registrierung ein Messverfahren zur Seite zu stellen, das entweder die Sauerstoffversorgung des Feten direkt messen kann oder den Mangel über Veränderungen des Säure-Base-Status oder der Hautdurchblutung signalisiert. Messverfahren zur kontinuierlichen Bestimmung des O2-Partialdrucks, des CO2-Partialdrucks und des pH-Werts hätten den Vorteil, dass der Zustand des Feten während der Geburt besser beurteilt werden kann als durch punktuelle Messungen. Die kontinuierliche transkutane Registrierung des pO2 ist eine Methode, mit der der fetale Zustand sub partu beurteilt werden kann. Der routinemäßige Einsatz der Elektrode ist bisher während der Geburt aufgrund verschiedener methodischer Schwierigkeiten jedoch noch nicht erfolgt.
Transkutaner PO2 Bei ausreichend dilatiertem Muttermund kann die pO2-Elektrode auf die Kopfhaut des Feten geklebt werden. Die Korrelation des tc-pO2 und des pO2 in der fetalen Kopfschwarte bzw. in der A. umbilicalis zeigt jedoch nur eine geringe Übereinstimmung zwischen beiden Parametern. Nur in etwa 20% der Beobachtungen entspricht der tc-p02 dem pO2 im arteriellen Blut des Feten. Dieser interessante Befund ist bisher unbeachtet geblieben. Die Reduktion der Durchblutung der Haut als Folge des sich wiederholenden O2-Mangels während der Geburt führt zu einem stärkeren Abfall des tc-pO2 als des arteriellen pO2. Die Vergrößerung der Differenz zwischen dem tc-pO2 und dem pO2 im arteriellen Blut ist offenbar ein sehr frühes Zeichen für die Ausbildung eines fetalen Schocksyndroms. Bislang ist es jedoch noch nicht gelungen, diese Methode unter diesem speziellen Gesichtspunkt zur Serienreife für den klinischen Einsatz zu entwickeln.
Pulsoxymetrie
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Die Pulsoxymetrie macht sich die unterschiedlichen Absorptionen des oxygenierten und reduzierten Hämoglobins bei zwei Wellenlängen des Lichtes (660 und 940 nm) im roten und infraroten Spektrum zunutze, um die O2-Sättigung zu messen. Dabei wird das Verhältnis der pulsatilen und der nichtpulsatilen Komponenten des Signals, das von einer Photodiode gemessen wird, berechnet. Das Ziel ist, die Absorption der Haut und des Bindegewebes des Feten auszuschließen und die Pulsationskurven mit dem EKG zu synchronisieren, um die maximalen Effekte der sO2-Messung zu erreichen. Die Methode ist jedoch noch nicht ausreichend validiert, Messprobleme existieren beim Anlegen des Sensors nach wie vor und die Wertigkeit für die Vorhersage eines azidotischen
355 Überwachung des Säure-Basen-Haushalts
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Kindes bei Geburt sei begrenzt. Diese Zweifel konnten durch weitere Untersuchungen bestätigt werden. Interessant ist jedoch die Beobachtung, dass eine Sauerstoffsättigung von ca. 30% eine Grenze markiert, bei der der Fetus Zeichen der Dekompensation aufweist.
Nahinfrarot-Spektroskopie (NIRS) Mit der Nahinfrarot-Spektroskopie wird versucht, die Oxygenation und Hämodynamik des fetalen Gehirns zu messen. Die Messung hängt von zwei wesentlichen physikalischen Eigenschaften ab: ▬ der relativen Transparenz biologischen Gewebes für Licht im Bereich der infraroten Region des Spektrums ▬ der Existenz von farbtragenden Teilen innerhalb des Gewebes (Chromatophoren), die in unterschiedlicher Konzentration im Gewebe vorliegen und deren lichtabsorbierende Eigenschaften sich mit der Oxygenation ändern. Diese Chromatophoren im Gehirn sind Oxyhämoglobin, Desoxyhämoglobin und die oxidierte Cytochromoxidase, das terminale Glied der mitochondrialen Atmungskette. Änderungen der Konzentration im Hirngewebe werden durch die Absorption von Photonen, die durch das Gehirn dringen, reflektiert. Eine eingehende Darstellung des Messgeräts und der physikalischen Prinzipien erfolgte von Wyatt und Peebles und von Rolfe et al.. Erste Ergebnisse von Messungen während der Geburt zeigen, dass in Fällen ohne Dezelerationen der fetalen Herzfrequenz während einer Kontraktion das Oxyhämoglobin und das Desoxyhämoglobin sowie das gesamte Hämoglobin abnehmen. Es ist denkbar, dass das Blutvolumen in den venösen Speichern durch die Kompression des Kopfes reduziert wird und dadurch dieser Effekt auftritt. Die NIRS lässt hoffnungsvolle, richtungweisende Aspekte der fetalen Oxygenation, hier insbesondere des Gehirns, während der Geburt erkennen. Es werden jedoch noch umfangreiche klinische Untersuchungen notwendig sein, um diese Methode für die allgemeine Anwendung verfügbar zu machen. Die Methode ist in den letzten Jahren nicht mehr während der Geburt zur Anwendung gelangt.
Überwachung des Säure-Basen-Haushalts Kontinuierliche Messung des pH-Werts während der Geburt Die kontinuierliche Kontrolle des fetalen pH-Werts während der Geburt könnte neben der laufenden Registrierung der fetalen Herzfrequenz die Antwort auf die Frage entscheidend erleichtern, wann in einem gegebenen Fall operativ zu entbinden ist oder ob die Spontangeburt abgewartet werden kann. Durch die Entwicklung einer kleinen pH-Elektrode war es möglich geworden, den pH-Wert im fetalen Gewebe an der Kopfschwarte kontinuierlich zu messen. Die wichtigsten Größen, die den subkutanen Gewebe-pH-Wert verändern können, sind die lokale Blutzirkulation, die unterschiedlichen Puffersysteme im Interstitialraum, die Hautdicke und die Temperatur am Messort. Unter normalen Bedingungen scheint eine gute Übereinstimmung zwischen subkutanem Gewebe-pH und Blut-pH vorzuliegen. Über tierexperimentelle und klinische Ergebnisse mit der subkutanen Gewebe-pH-Messung mit einer sog. tpH-Elektrode wurde erstmals 1978 berichtet. Darauf folgten mehrere Arbeiten über die ersten klinischen Erfahrungen und Ergebnisse der Gewebe-pH-Messung am Neugeborenen und am Feten.
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Kapitel 17 · Entwicklungen in der Geburtshilfe – Die Überwachung des Kindes unter der Geburt
Aufgrund der invasiven Technik der Methode hat sich dieses Verfahren in der Überwachung des Feten bisher nicht durchsetzen können. Es bleibt abzuwarten, ob diese Messtechnik zukünftig weiter entwickelt wird.
Transkutane Messung des Kohlensäurepartialdrucks Der O2-Mangel führt beim Feten zu einer kombinierten respiratorischen und metabolischen Azidose, der pH sinkt durch die Bildung von Milchsäure und der pCO2 steigt an. Während die Veränderung des pH-Werts beim Feten aufgrund methodischer Schwierigkeiten schwer zu messen ist, kann mit Bestimmung des pCO2 eine Information über Teilaspekte der Störungen im Säure-Basen-Haushalt, d. h. dem Anstieg des pCO2, im Verlauf einer Geburt erlangt werden. Das Prinzip der Messung besteht in der Bestimmung des pH-Werts in Bikarbonatlösung mit einer pH-sensitiven Elektrode nach Gertz und Loeschke (zitiert bei Huch 1982). Es wäre denkbar, dass die simultane Messung von Herzfrequenz, tc-pCO2 und tc-pO2 bei kritischen Geburtsverläufen in Zukunft eine bessere Information über den Zustand des Feten liefert, da der tc-pCO2 weniger dem Einfluss der Vasokonstriktion der Haut unterliegt als der tc-pO2. Bisher befinden sich diese Methoden nicht im routinemäßigen klinischen Einsatz.
Laktat-Bestimmung Laktat ist ein wichtiges metabolisches Substrat, das im mütterlichen Organismus und im Feten während der Geburt ansteigt. Im mütterlichen Blut ist der Anstieg des Laktats Ausdruck einer vermehrten Arbeitsleistung, insbesondere während der Austreibungsperiode. Im fetalen Blut hat der Anstieg des Laktats seine Ursache in der durch Hypoxämie ausgelösten anaeroben Glykolyse. Die Bestimmung der Laktat-Konzentration während der Geburt aus dem Blut der Kopfhaut des Feten ist durch die Entwicklung eines Mikroverfahrens möglich geworden. Für die Messung steht eine elektrochemische Methode zur Verfügung. Nach diesen Untersuchungen beträgt die Laktat-Konzentration in der A. umbilicalis bei unauffälligen spontanen Entbindungen 1,87 (SD 0,94) mmol/l und bei operativen Entbindungen 2,44 (SD 1,70) mmol/l. Analysen konnten ferner zeigen, dass die Bestimmung des Laktats ein empfindlicheres Instrument darstellt als die pH-Analyse, um einen reduzierten Apgar-Score und eine geringe bis schwere hypoxisch-ischämische Enzephalopathie vorherzusagen. Auf Grund der schnellen Verfügbarkeit der Messung und der geringeren Störanfälligkeit wird diese Methode zukünftig möglicherweise die Bestimmung des pH-Wertes aus dem Skalpblut und dem Nabelarterienblut ersetzen.
17 Stimulationsteste Kopfhautreizung Die Beobachtung, dass der Fetus bei der Stichinzision der Kopfhaut zur Blutgewinnung (MBU) in einigen Fällen mit einem Anstieg der fetalen Herzfrequenz reagiert, hat zur Verwendung als diagnostischer Test geführt. Eine digitale Stimulation führte in 51 von 108 Fällen (47,2%) zu einer positiven Reaktion: Die Herzfrequenz stieg um mehr als 15 Schläge an und
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dauerte mehr als 15 sec. In 50 Fällen war die gleiche Reaktion auch bei Stimulation des Feten durch die MBU zu erhalten. In allen Fällen betrug der pH-Wert ≥7,20. Damit ist es möglich, eine schwere Azidose weitgehend auszuschließen. Zu ähnlichen Ergebnissen gelangten auch Skupski et al.
Vibroakustische Stimulation Es besteht wohl generelle Übereinstimmung, dass ein Fetus, der fetale Bewegungen in Verbindung mit Akzelerationen der fetalen Herzfrequenz zeigt, eine ausreichende Sauerstoffversorgung hat. Feten mit unzureichender Oxygenation schränken ihre Bewegungen sehr früh ein, um dem 02-Defizit durch eine Reduktion des O2-Verbrauchs zu begegnen. Der Zusammenhang, der zwischen fetalen Bewegungen, fetaler Herzfrequenz und akustischer Stimulation besteht, kann zur Diagnose einer gestörten fetalen Oxygenation während der Geburt genutzt werden. Darauf haben bereits Ohel et al. hingewiesen. Polzin et al. haben bei 100 Frauen während der Geburt die Herzfrequenzreaktion des Feten auf eine akustische Stimulation untersucht und mit dem pH-Wert im Skalpblut verglichen. Die Stimulation erfolgte für 5 sec am Bauch der Mutter. Die Reaktion der fetalen Herzfrequenz wurde als positiv eingestuft, wenn die Herzfrequenz um 15 Schläge oder mehr anstieg und mehr als 15 sec dauerte. Sie wurde als negative beurteilt, wenn keine Reaktion erfolgte.
Ausblick In den vergangenen Jahrzehnten wurden Überwachungsmethoden für Mutter und Kind entwickelt, die ein bisher nicht vorstellbares Ausmaß an Sicherheit für beide erbracht haben. Die mütterliche und kindliche Mortalität ist so niedrig wie nie zuvor. Nicht alle in diesem Beitrag skizzierten Überwachungsverfahren haben sich jedoch aufgrund technischer Unzulänglichkeiten durchsetzen können, und manche sind in ihrer Bedeutung für die fetale Zustandsdiagnostik während der Geburt bisher nicht erkannt worden. Unsicherheiten in der Interpretation der erhaltenen Befunde haben aber auch häufig zu Fehlhandlungen geburtshilflicher Entscheidungen geführt. So ist die Kaiserschnittrate als Indikator für geburtshilflich operative Entscheidungen kontinuierlich ohne nachweisbare Gründe und ohne Verbesserung der perinatalen Mortalität kontinuierlich gestiegen. Unterschiedliche Einschätzungen und variierende Kenntnisse in der Diagnostik des fetalen Zustandes ist belegt durch die große Varianz der Kaiserschnittrate in geburtshilflichen Kliniken in einem Normalkollektiv von Schädellagen am Termin in Hessen. Die Varianz in diesem speziellen Kollektiv beträgt 5% bis 35%. Es ist zu hoffen, dass in Zukunft mit der Verbesserung einiger Mess- und Interpretationstechniken sich zumindest die breite Varianz der Kaiserschnittrate in einem Normalkollektiv zugunsten einer niedrigen Sektiorate ändert.
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Kapitel 17 · Entwicklungen in der Geburtshilfe – Die Überwachung des Kindes unter der Geburt
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50 Jahre Perinatalmedizin Klaus Vetter
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Kapitel 18 · 50 Jahre Perinatalmedizin
»Guter Hoffnung sein« war die Devise in der Gründungszeit unserer wissenschaftlichen Fachgesellschaft. Vielmehr war kaum möglich zu dieser Zeit; und damit sich der Kreis kurz schließen kann: Der Schlachtruf wird ohne diese historischen Aspekte der Hilflosigkeit wieder verwendet, um aktuell dem der Pathologie entgegenstehenden medizinischen Fortschritt salutogenetisch zu widerstehen. Dazwischen liegen Entwicklungen medizinischer, technischer und sozialer Art, die wohl kaum jemand hätte prognostizieren können und trotz allem bleiben Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett nicht ohne Risiken einerseits, aber auch voller Emotionalität, Hoffnungen und Geheimnissen.
Der Beginn: Geburtshilfe als Hilfe für die Mutter Gestartet ist die Geburtshilfe als Hilfe für die Mutter. Sie sollte gerettet werden. Ein gesundes Kind wurde als Geschenk wahrgenommen. Es galt die Letalität der Mütter zu senken bzw. durch entsprechendes Handeln nicht zu erhöhen, wie uns dies Ignaz Semmelweis in den 40erund Folgejahren mit stringenter Analyse und kontrollierten Interventionen gegen Widerstand seines Teams gezeigt hat. Außerdem waren damals zerstückelnde Operationen ein Fortschritt im Hinblick auf das Überleben der Mutter.
Geburtshilfe als Hilfe für das Kind
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Auch wenn Depaul schon 1847 sagte: »The life of the child is worth exposing its mother to some risks.« war es noch ein weiter Weg zur Geburtshilfe für das Kind. Symbolisiert wurde der definitive Wechsel des Blickwinkels 1967 mit Erich Salings Buch Das Kind im Bereich der Geburtshilfe. Dem waren diverse Entwicklungsschritte vorausgegangen. Die Sicherheit für die Mutter wurde durch die Etablierung eines Transfusionswesens, funktionierende Methoden der Asepsis und vereinfachte Operationsmethoden, neue Narkoseverfahren und nicht zuletzt durch Antibiotika erheblich erhöht. Das Wissen um das ungeborene Kind nahm sowohl in der Schwangerschaft als auch unter der Geburt zu mit der systematischen Einführung der präpartalen Amnioskopie und der Fetalblutgasanalyse sub partu vom vorangehenden Teil (FBA oder MBU) einerseits sowie dem Kardiotokogramm (CTG) und dem bildgebenden Ultraschall andererseits. Beides kombiniert ergab einen fulminanten Umschwung in der Geburtshilfe ab den 1960er-Jahren. Hinzu kamen gleichzeitig auch Entwicklungen zur spezialisierten Behandlung von Neugeborenen mit Sauerstoffgabe bzw. kontrollierter Beatmung nach Intubation insbesondere bei Frühgeborenen mit unreifen Lungen. Es war nun möglich geworden, der Mutter sozusagen einen Kaiserschnitt zuzumuten, wenn man Hinweise dafür hatte, dass das Kind von einer schnellen Geburt profitieren würde. Somit verschob sich der medizinische Aspekt der Nothilfe von der Mutter zum Kind, auch wenn man der Mutter nach damaligen Erkenntnissen ein 10-faches Letalitätsrisiko gegenüber der vaginalen Geburt zumutete. Entsprechend gab es Versuche, die vaginale Geburt doch noch durchführen zu können. Akrobatische Forzepsmanöver wurden zugunsten von Vakuumextraktionen oder Entwicklungen mit geburtshilflichen Löffeln verlassen. Der vermehrte Einsatz von Wehenmitteln, aber auch von Presshilfen, wie Expressionsgürteln zeugten von der Entwicklung eines »Sectiosparprogramms«, zu dem auch die kontinuierliche kombinierte Überwachung sub partu mittels CTG und MBU gehörte.
363 Intrauterine Diagnostik und Therapie
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Innerhalb des Gebiets Kinderheilkunde entwickelte sich die Subspezialität Neonatologie, die dort in den letzten Jahren die meisten Innovationen, das größte Wachstum, die meisten Investitionen apparativer und medikamentöser sowie personeller Art aufwies und maßgeblich dazu beigetragen hat, dass die Grenze der Lebensfähigkeit deutlich abgesenkt wurde – allerdings unter Inkaufnahme individuell nicht kalkulierbarer Morbidität und nicht vorhersehbarer Spätschäden.
Gesundheit von Mutter und Kind Die statistischen Erfolge bezüglich des Überlebens von Mutter und Kind wurden dadurch gedämpft, dass negative Folgen in hochentwickelten Gesellschaften mit Kleinfamilien nicht (mehr) toleriert werden. Das Ziel geburtshilflicher Tätigkeit wurden gesunde Mütter und Kinder. Grundlage dafür war die Entwicklung einer Medizin der Schwangerschaft, in der Krankheiten der Mutter entweder früh behandelt werden oder negative Gesundheitsfolgen für die Mutter durch prospektives Handeln – wie bei der Präeklampsie oder dem Diabetes – verhindert werden sollen. Für die Kinder hat sich zusätzlich zur Überwachung sub partu eine Fetalmedizin etabliert, die bisher überwiegend auf sonographischen Erkenntnissen basiert.
Intrauterine Diagnostik und Therapie Die Analyse fetaler Zellen – initial durch Amniozentese aus dem Fruchtwasser – ermöglichte zunächst einfache, später zunehmend komplexe Untersuchungen am Genom des Ungeborenen. Später wurden zusätzlich auch Zellen aus Chorionzotten sowie solche aus fetalem Blut für die Analyse verwendet. Doch schon vor der Ultraschallära wurden Kinder intrauterin behandelt – so wurden z. B. bei Rhesusunverträglichkeit unter Röntgenbildwandler und unter Verwendung von Kontrastmitteln Erythrozyten in das Abdomen des anämischen Feten gegeben, nachdem aus dem Bilirubingehalt des Fruchtwassers anhand des Liley-Schemas eine Hämolyse als sehr wahrscheinlich anzunehmen war. Feten konnten somit intrauterin ohne Spätfolgen geheilt werden. Insbesondere Manfred Hansmann forcierte die intrauterine Therapie unter Ultraschallsicht. Die direkte Diagnose einer Anämie des Fetus aus seinem Blut genauso wie die intravasale Transfusion machte noch einen kurzen Umweg über die Fetoskopie, die das »needling« unter Sicht ermöglichte. Mittlerweile wurde das Risiko von Blasensprung und Infektionen durch Verwendung dünner Nadeln unter Sicht mittels hoch auflösendem Ultraschall erheblich gesenkt. Viele Jahre wurde auf Basis der mütterlichen Blutgruppe prophylaktisch in der 28. SSW anti-D-Globulin verabreicht, um eine Sensibilisierung der Mutter während der Schwangerschaft zu vermeiden. Mittlerweile kann z. B. die Diagnose der kindlichen Blutgruppe aus freier fetaler DNA (ffDNA) im mütterlichem Blut mit ausreichender Sicherheit gestellt werden, so dass Dänemark keine »blinde« Applikation von anti-D mehr vornimmt, sondern nur noch bei Feten mit nachgewiesenem Rhesusfaktor. Auch wenn für die Schwangere der Ausschluss von Besonderheiten, wie Fehlbildungen, eine zentrale Rolle spielt, wenn sie sich einer Ultraschalluntersuchung der Schwangerschaft unterzieht, stehen quantitativ und für die Vorsorge ganz andere Ziele im Vordergrund: der lebende Embryo und seine Größe zur Bestätigung bzw. Bestimmung des Gestationsalters, der Sitz der Frühschwangerschaft zum Ausschluss einer extrauterin implantierten Schwanger-
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Kapitel 18 · 50 Jahre Perinatalmedizin
schaft, später der Sitz der Plazenta, insbesondere zum Ausschluss einer Plazenta praevia, die nun nicht mehr mittels annoncierender Blutungen und hoch stehendem Kopf und finalem »Double Set-up« im OP zu diagnostizieren ist.
Lebensrettender Ultraschall Dies war nur ein Beispiel für eine im weitesten Sinn lebensrettenden Ultraschalluntersuchung für die Mutter mit Bestimmung der Plazentainsertionsstelle zum Ausschluss einer Plazenta praevia, aber auch einer extrauterinen Schwangerschaft oder einer Zervixschwangerschaft. Bei Zustand nach einer transmuralen Operation am Uterus, wie einem Kaiserschnitt, spielt nicht nur die Narbe als solche, sondern insbesondere eine mögliche Plazentainsertion im Narbenbereich eine große Rolle, und hier speziell die Insertionstiefe zur Diagnose einer Placenta accreta oder gar percreta. Für den Fetus kann das Ergebnis einer gezielten Ultraschalluntersuchung ebenfalls einen deletären Ausgang vermeiden helfen. Dazu gehören die Feststellungen von: Vasa praevia oder einer ungünstig liegenden Insertio velamentosa, aber auch duktusabhängige Herzfehler, eine Zwerchfellhernie (CDH) und nicht zuletzt eine hoch pathologische uteroplazentare Blutströmung.
Funktionsultraschall – Dopplersonographie Durch die Einführung der Dopplertechnik in die Geburtshilfe nachdem Satomura 1955 Bewegungen im Körper hörbar dargestellt hatte, war es initial möglich geworden, die bis dahin nur dem feinen Gehör mittels Pinard-Rohr zugänglichen Herztöne nun auch der werdenden Mutter zu demonstrieren, brachte eine Revolution für die Schwangere mit sich, auch wenn es sich um Dopplershiftfrequenzen im hörbaren Bereich und nicht um Töne des Herzens ihres Feten handelte. Das CTG in seiner heutigen Form basiert auf der Fortentwicklung der Analyse von Signalen des kontinuierlichen (CW) Dopplers, während die Funktionsdiagnostik an Gefäßen von Mutter und Fetus überwiegend auf dem gepulsten (PW) Doppler beruht. Mittlerweile lassen sich durch zusätzliche technische Entwicklungen, wie M-Mode oder Farb-Doppler in mehrdimensionalen Darstellungen sowohl Herzfunktionsdiagnostik (Echokardiographie) als auch Blutversorgungsanalysen nahezu beliebig durchführen. Die Dopplersonographie gehört mittlerweile zu den Standarduntersuchungen der weiterführenden Diagnostik bei Risikoschwangerschaften genauso wie zur Abklärung individueller Risiken, z. B. durch eine Trophoblastinvasionsstörung mit konsekutiver intrauteriner Mangelentwicklung, Präeklampsie, vorzeitiger Lösung etc.
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Fetalmedizin Obwohl vielfach noch experimentell, so doch in einigen Teilen evidenzbasiert, gibt es für einige seltene Probleme der Schwangerschaft Lösungen, die auf hochspezialisierten kontrollierten invasiven intrauterinen operativen Therapien beruhen. Dazu gehören insbesondere die Behandlungen monochorialer Mehrlings-Schwangerschaften mit fetofetalem Transfusi-
365 Schwangerschaftsabbruch
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onssyndrom (FFTS) mittels Laser-Verödung kommunizierender Gefäße. Die Ergebnisse sind mittlerweile auch dank des Eurofoetus Trials nachweislich besser als diejenigen nach seriellen Entlastungspunktionen. Auch für weitere Erkrankungen, wie Zwerchfellhernien, zystischadenomatoide Veränderungen der Lungen (CCAM) oder obstruktive Veränderungen der ableitenden Harnwege sind vielversprechende Therapien im Kommen.
Ersttrimesterdiagnostik Durch gezielte Untersuchungen im 1. Trimenon lassen sich nicht nur einige anatomische Besonderheiten früh erkennen; sie eignen sich auch zur nichtinvasiven Risikoabschätzung für Erkrankungen des Fetus sowie genetische Variationen, wie die Trisomien 13, 18, 21 oder das Turner-Syndrom. Begonnen haben diese Untersuchungen mit Serumuntersuchungen, dem Triple-Test bei ca. 16 SSW. Mittlerweile steht die Messung der Nackentransparenz (NT=nuchal translucency) des Fetus bei 12-14 Wochen im Zentrum von Untersuchungen mittels bildgebendem wie auch Dopplerultraschall, anamnestischen Faktoren und Ergebnissen aus dem Serum der Mutter. Die sog. Altersindikation für eine invasive genetische Diagnostik ist damit nahezu flächendeckend einer individuellen Risikoabschätzung – keiner Diagnose – gewichen.
Genetik Die Aufklärung im Vorfeld derartiger Untersuchungen betrifft zentral genetische Fragen in Bezug auf das Neugeborene. Insgesamt befindet sich die Humangenetik in der gesamten Medizin in einer explosiven Wachstumsphase, die dank der Entschlüsselung des menschlichen Genoms manche an die Büchse der Pandora denken lässt. Die Bewegung von der Diagnose zu Entwicklungsmöglichkeiten einerseits und unkontrollierbare Zugriffe auf genetisches Material – im Prinzip jede Zelle – hat dazu geführt, dass sich die Gesellschaft Grenzen setzt, wie kürzlich durch den Erlass eines Gendiagnostikgesetztes (GenDG), das die informationelle Selbstbestimmung in das Zentrum stellt und absichern möchte. Dadurch sind bei jeder Untersuchung mit dem Ziel, genetische Informationen zu erhalten, dezidierte Aufklärung und Beratung obligatorisch.
Schwangerschaftsabbruch Die letzten 125 Jahre sind bezüglich des Umgangs mit nicht erwünschten Schwangerschaften mehr als ein Buch wert. Hier kann nur auf die letzten Entwicklungen eingegangen werden: Der Abbruch einer unerwünschten Schwangerschaft ist während der ersten 12 Wochen p.c. zwar verboten (§218 StGB), aber nach formalisierter psychosozialer Beratung straffrei. Ergänzt wurde das Gesetz im Hinblick auf den Schwangerschaftsabbruch aus medizinischer Indikation durch ein ergänztes Schwangerschaftskonfliktgesetz (SchKG), das neue Regelungen für diejenigen Fälle beinhaltet, bei denen die Mutter nicht akut gefährdet ist. Damit ist für Schwangerschaftsprobleme, z. B. nach Pränataldiagnostik, bei denen der Schwangeren eine Fortsetzung der Schwangerschaft nicht zugemutet werden kann, eine medizinische Beratung genauso obligat wie eine 3-tägige Bedenkzeit. Desgleichen muss auf die Möglichkeit psychosozialer Beratung hingewiesen werden.
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Den größten Einfluss auf das Schwangerschaftsabbruchsrecht hatten die Frauen, die in den 1970er-Jahren ihre Selbstbestimmung einforderten. Pille und Schwangerschaftsabbruch waren zwei der Symbole der Frauenbewegung, zu der nicht zuletzt auch die Frauengesundheitsbewegung mit Selbsthilfe mittels gynäkologischer Selbstuntersuchungen gehörten; aber auch die massenhafte Flucht aus sterilen Kreißsälen hin zu selbst gestalteten Alternativen.
Gestaltung von Geburten
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An der Gestaltung der Geburt kann am ehesten ermessen werden, welcher Respekt der werdenden Mutter bzw. den Eltern in spe einerseits und dieser risikoreichen Situation andererseits gezollt wird. Verkürzt und karikiert haben wir es bei der Wahrnehmung mit einem großen Sprung von der Hilfe in der Not zum gestalteten Event zu tun. Die Frage ist, wer das Heft des Handelns in Händen hält. Während initial die Hebamme der Gebärenden beistand und ihr half, die schweren Stunden einer Geburt zu überwinden, kam durch Narkoseverfahren unter der Geburt, wie die Applikation von Lachgas oder die Gabe von Schmerzmitteln, inklusive Opiaten oder lytischen Cocktails eine Änderung im Rahmen ärztlich geleiteter Geburten in Gang, die den Horror vor den Schmerzen beseitigen sollte. Als regionale Analgesieverfahren kamen die Parazervikalblockade und die Pudendusanästhesie in der Schlussphase zum Einsatz. Während des Durch- und Austritts des Kopfes wurde zeitweilig routinemäßig eine Durchtrittsnarkose (narcose à la reine) durchgeführt. Entsprechend fand die Geburt in Rückenlage mit Beinen auf Beinhaltern und obligater Wehenmittelgabe sowie Episiotomie statt. Die Befunderhebung wurde rektal durchgeführt, da der vaginalen Untersuchung ein erhöhtes Infektionsrisiko nachgesagt wurde. Begleitpersonen waren unerwünscht bzw. ausgeschlossen. Wegen der Risiken der Narkose musste die Gebärende nüchtern sein. Zur Verbesserung der Lebensumstände durch Medikalisierung des Alltags – auch außerhalb der Geburtshilfe – gehörte hier die Programmierte Geburt: Einleitung mit Wehenmitteln und konsekutiver Amniotomie, was gleichzeitig die neue Überwachung sub partu durch CTG mittels Kopfschwartenelektrode ermöglichte. Die Frauen waren durch diese Techniken, die zum Teil auch noch intrauterine Druckmessungen und intermittierende Fetalblutanalysen beinhalteten, an das Gebärbett quasi gefesselt. Im Wochenbett wurden die Neugeborenen von den Müttern getrennt in Kinderzimmern bewahrt und vor Gästen geschützt. Den Müttern wurden sie ausschließlich zum Stillen gebracht. Besucher, Geschwister, Väter bekamen sie möglichst durch eine Glasscheibe getrennt zu festen Zeiten zu sehen. Die Besuchsregelungen waren äußerst strikt, es konnte sein, dass einzelne Tage in der Woche gar kein Besuch vorgelassen wurde, um die Wöchnerin zu schützen – so das vorgetragene Argument. Die meisten Mütter wurden mit hochdosierten Östrogenen quasi automatisch abgestillt. Diese heute befremdlich anmutende technisierte, medikalisierte, autoritäre Geburtshilfe (Gebärmaschinenideologie) verschwand Mitte der 1970er-Jahre wie von Geisterhand gesteuert. Die Frauen waren selbständig genug, um mit den Füßen abzustimmen, nachdem sie sich zunächst über Reads Methode basierend auf dem Dreieck von Angst – Spannung – Schmerz häufig wenig erfolgreich selbst gegen die Geburtsschmerzen gewappnet hatten, kamen andere Vorstellungen, wie diejenigen von Lamaze und insbesondere Leboyer zum Tragen. Sie förderten die Selbstwahrnehmung der Gebärenden. Neben dem Verlassen der vollkommen medikalisierten Geburt kamen die Veränderungen äußerlich dadurch zum
367 Qualitätssicherung
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Vorschein, dass grelle Lampen ausgeschaltet und sicher die Hälfte der vorher so wichtigen Sofitten abgestellt wurden. Es folgte eine Zeit der Umgestaltung, aber auch der Werbung um die Gebärende. Begleitpersonen – zumeist die frisch geschulten Kindsväter – waren die obligaten neuen Gäste in den Kreißsälen bzw. Geburtsräumen, die nun zunehmend umgestaltet wurden, um dies überhaupt zu ermöglichen. Das Ambiente spielte eine neue Rolle. Kacheln wurden überklebt, Wände gestaltet, Geräte wurden hinter Holz gepackt, etc. Die vertikale Haltung während Eröffnungs- und/oder Austreibungsphase wurde zumindest ermöglicht. Entsprechende Gebärstühle wurden kritiklos gestaltet und zumindest für Elternabende demonstriert bis sich herausstellte, dass langes Sitzen auf derartigen Gerätschaften mit einer ringförmigen Aussparung zu Ödembildungen beiträgt mit der Konsequenz ausgedehnter Geburtsverletzungen. Gebärhocker und Geburtsrad bildeten den Ausklang dieser Entwicklung. Die Wassergeburt war der Auslöser langer Diskussionen um die Sinnhaftigkeit dieser Geburtsform einerseits und die Inkaufnahme einer nicht begründbaren Risikosteigerung andererseits. Das Entspannungsbad war schon vorher in die Routine eingeführt worden. Zur Schmerzausschaltung kam die Periduralanästhesie (PDA) auf, die erst in den 1990erJahren durch selektive Schmerzmittelapplikation die freie Beweglichkeit der Mutter ermöglichte (»Walking PDA«) und damit zu einer Option für viele Gebärende wurde. Man kann sagen, dass im Prinzip alles, was jahrelang als Regel galt, seit den 1970er-Jahren in Frage gestellt oder gleich aufgegeben wurde. Die Frauen wollten die Geburtssituation so weit möglich selbst bestimmen und sind dafür z. T. aus manchen Kliniken quasi geflüchtet. In dieser Zeit war Deutschland absolut in Ost und West geteilt. Der Nachholbedarf nach der »Wende« hin zur Selbstbestimmung war erheblich und führte im Einzelfall auch zu riskanten Situationen. Die auf den Notfall getrimmte Geburtshilfe befreite sich zunehmend von der Übertechnisierung; so von Notrufsirenen, Stroboskop-Warnlampen, Anzeigentafeln wie im Flughafen, von Notfalltröpfen, von der obligaten Episiotomie, vom automatischen Abstillen etc. hin zu einer verständlichen individualisierten Geburts- und Wochenbettsituation. Durch die zunehmend sicherer durchführbare Sectio caesarea kam es zu einer Zunahme von Frauen mit einer Schwangerschaft nach Kaiserschnitt und der Frage nach einer vaginalen Geburt. (VBAC=vaginal birth after C-section). Während in den 1980er-Jahren die Rate vaginaler Geburten nach Kaiserschnitt noch einen Wert an sich darstellte, ist dies heute nicht mehr der Fall, genauso wie eine niedrige Sektiorate nicht mehr als Qualitätskriterium verwendet wird.
Qualitätssicherung Die ursprünglich als freiwillige interne Qualitätssicherung angedachte und realisierte Perinatalerhebung, die bis Mitte der 1980er-Jahre das gesamte Land umfasste und zu einer großen Zahl Verbesserungen geführt hatte, wurde Ende der 1990er-Jahre beginnend in eine obligate externe Qualitätssicherungsmaßnahme überführt, deren Ziel auch die Information der Bevölkerung ist. Öffentliche Darstellungen und Kommentierungen regionaler Daten durch die Presse setzten Veränderungsvorgänge in Bewegung; Rückfragen im Peerbereich und strukturierte Dialoge bei unerklärten Abweichungen von regional und national gesetzten Richtzahlen werden auch von den Kostenträgern observiert.
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Kapitel 18 · 50 Jahre Perinatalmedizin
Perinatalzentren Angesichts der zunehmenden Beschäftigung mit Neugeborenen am Rand der Lebensfähigkeit, der Absenkung der Altersgrenzen bis auf weniger als 24 Wochen p.m. war bis Ende des letzten Jahrtausends eine Spezialisierung erfolgt. Diese intensivmedizinisch aufwändigen und teuren Fälle wurden in entsprechenden Zentren behandelt, die sich das z. T. durch Querfinanzierung leisten konnten. Im Zentrum stand der Team-Ansatz zwischen verschiedenen Gebieten, insbesondere aber zwischen den Subspezialitäten Spezielle Geburtshilfe und Perinatalmedizin sowie Neonatologie neben Kinderchirurgie, Anästhesie etc. und natürlich auch spezialisierten Hebammen, Kinder-Intensivschwestern und Wochenbettschwestern. Durch Einführung hochpreisiger DRG für die Hochrisiko-Neugeborenen kam es mangels konsistenter Regeln zu einer Dissipation von Leistungen im Hochrisikobereich, die als zu vermeidende »Gelegenheitsversorgung« apostrophiert wurde. Lange Diskussionen über Struktur- und Leistungsfragen wurden daraufhin durch die Einführung von Mindestmengen zumindest teilweise im Sinn einer qualifizierten Versorgung dieser Hoch-Risiko-Schwangerschaften und –Neugeborenen eingedämmt.
Bevölkerungsentwicklung – demographische Entwicklung In den letzten 100 Jahren, insbesondere aber in den letzten 20 Jahren ist das Alter der Schwangeren kontinuierlich angestiegen, so dass die vormalige 1%-Marke von 35 Altersjahren in manchen Regionen mittlerweile von 25% der Schwangeren überschritten wird. Das ist nicht ohne Konsequenzen auf die Schwangerschaften geblieben. Eine Zunahme spontaner Mehrlingsschwangerschaften sowie solcher nach ART (reproduktionsmedizinischen Maßnahmen), ein erhöhter Anteil an Adipositas sowie an schon etablierten Erkrankungen, wie Diabetes aber auch Fehlbildungen und Aneuploidien sind unübersehbare Risikofaktoren, die vermehrt zu berücksichtigen sind. Daneben ist unübersehbar, dass die Einstellung zu Kindern sich insbesondere durch diese Altersgruppe gewandelt hat. Dabei geht es um einen häufig viel bewussteren und ausgedehnt diskutierten Zugang zu geburtshilflichen Themen, aber nicht zuletzt auch zur Geburt. Hier sind ausgeprägtere Überzeugungen zu »natürlicher« vaginaler Geburt einerseits und Kaiserschnitt aus Sicherheitsgründen oder Befürchtungen andererseits festzustellen.
Hebammen
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Die Zuständigkeit für die Schwangere hat in den 125 Jahren immer wieder gewechselt, je nach Aufgaben, Fähigkeiten und politischem Willen. International einmalig und nachhaltig wirksam war das deutsche Hebammengesetz von 1938, das der Hebamme das Primat der Geburtsbegleitung zuspricht. Die damals geplante durch Hebammen verantwortete Geburtshilfe ist in den Nachkriegsjahren einer in beiden deutschen Staaten ärztlich begleiteten Geburtshilfe am Krankenhaus gewichen. Der Anteil außerklinischer reiner Hebammengeburten liegt aktuell zwischen 1% und 2%. Hier gab es in den letzten Jahren einen Trend von der Hausgeburtshilfe einzelner Hebammen hin zu Geburten im organisierten Geburtshaus. Parallel dazu haben Krankenhäuser eine individuelle Geburtshilfe mit der Einführung von Beleghebammen angeboten. Möglicherweise werden Einkommen und Versicherungssummen für einschneidende
369 Ausblick
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Veränderungen sorgen. Klagen werden durch die persönlichen Kontakte nicht mehr verhindert. Die Folgen von Rechtsschutzversicherungen sind nicht nur in den Krankenhäusern und bei den Ärzten zu spüren.
Juristisch orientierte Defensivmedizin Obwohl wir keine angelsächsische Rechtssprechung haben, erleben wir in Deutschland in den letzten Jahren eine Entwicklung, die in den USA, insbesondere aber in Irland zu einer Flucht aus der nicht mehr versicherbaren Geburtshilfe geführt hat: Die Patientenklagen nehmen zu und konsekutiv oder prophylaktisch auch die Versicherungssummen. Medizinisch wird dies deutlich durch eine Vermehrung auch komplizierter Aufklärungsbögen und geburtshilflich durch eine Zunahme der Sektiorate. Der nicht rechtzeitig oder schnell genug durchgeführte Kaiserschnitt wird mancherorts als indikationsfördernde Bedrohung empfunden und die zunehmende Rate großer Kinder geht mit einem erhöhten Risiko für Schulterdystokie mit Folgeschäden einher, dem man durch präventive Sektio begegnen zu können glaubt. Insgesamt hat das Patientinnen-Arzt-Verhältnis durch diese Entwicklung gelitten, weil das Grundvertrauen einem – wenn auch versteckten – untergründigen Misstrauen gewichen ist.
Soziale Errungenschaften Andere Entwicklungen haben dagegen überwiegend positive Spuren hinterlassen. Dies sind insbesondere die sozialen Errungenschaften, die werdenden Müttern bzw. Familien in Gründung eine große Hilfe sein können. Dazu gehören neben den gesetzlichen Bestimmungen zum Mutterschutz insbesondere während der Schwangerschaft die Mutterschafts-Richtlinien und der Mutterpass aber auch die Freistellung von der Arbeit 6 Wochen vor und 8 Wochen nach einer normalen Schwangerschaft und Geburt, Elternzeit für je ein Elternteil, Erziehungsgeld usw. Dass diese gut gemeinten auf keinerlei Evidenz bezüglich ihrer Sinnhaftigkeit beruhenden Bestimmungen auch in ihr Gegenteil umschlagen, indem Schwangere an Tätigkeiten gehindert werden, die sie problem- und gefahrlos für ihr berufliches Fortkommen ausüben könnten, aber nicht dürfen, wird auch aus ärztlicher Sicht des Deutschen Ärztinnenbundes kritisiert in der Hoffnung auf Schaffung individuell angemessener Bestimmungen. Auch wenn viele der Entwicklungen gut gemeint waren und sind, wurden sie eingeführt ohne die Betroffenen zu fragen oder gar ihre Wirksamkeit zu überprüfen.
Ausblick Medizinisch sind wir auf dem besten Weg, die Risiken einer Schwangerschaft in den ersten Wochen zu erkennen und eine entsprechende Triage vorzunehmen. Geburtshilfe wird zunehmend konzentriert werden, da sich kleine Abteilungen weder finanziell tragen noch versicherbar sein werden. Hochrisikogeburtshilfe wird an wenigen Perinatalzentren stattfinden. Gentechnische Untersuchungen werden – sozusagen im zweiten Anlauf – Einzug in die Schwangerschaftsdiagnostik halten und dies auch zu rein diagnostischen und nicht ausschließlich genetischen Zwecken. Geburten werden durch präpartale, aber auch subpartale nichtinvasive Diagnostik zwischen spontanen vaginalen und abdominalen triagiert werden.
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Kapitel 18 · 50 Jahre Perinatalmedizin
Die Wochenbettbetreuung wird zunehmend zu Hause stattfinden und die Unterstützung zum Stillen wird forciert werden, genauso wie Aufklärung und Beratung vor, während und nach der Schwangerschaft – dies alles im Sinne zufriedener Familien. Nicht zuletzt sollten Möglichkeiten gefunden werden, Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett so zu gestalten, dass das Elternpaar schließlich den eigenen Weg zur Elternschaft mit professioneller distanzierter Hilfe selbstbestimmt begehen kann.
Literatur Depaul JAH (1847) Traité théorique et pratique d’auscultation obstétricale. Paris: Labé. In: Sureau C (1996) Historical perspectives: forgotten past, unpredicatble future. Baill Clin Obstet Gynaecol 10 (2): 167-84 Hammacher K (1984) FBA and/or CTG: fetal blood analysis and/or cardiotocography. Geburtshilfe Frauenheilkd 44: 608-10 Hansmann M, Lang N (1972) Intrauterine Transfusion unter Ultraschallkontrolle. Klin Wschr 50: 930-2 Liley AW (1961) Liquor amnii analysis in the management of the pregnancy complicated by rhesus sensitization. Am J Obstet Gynecol 82: 1359-70 Saling E (1966) Das Kind im Bereich der Geburtshilfe. Thieme, Stuttgart Satomura S, Matsubara S, Yoshioka M (1955) A new method of the mechanical vibration measurement and its application. Memoirs Inst Sci Industr Res Osaka Univ 13: 125-33
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371 Literatur
Gynäkologische Onkologie – Dysplasien und Karzinom der Zervix Erkenntnisse in Diagnostik und Behandlung von gestern als Grundlage für heute und morgen Jörg Baltzer
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Kapitel 19 · Gynäkologische Onkologie – Dysplasien und Karzinom der Zervix
Das Zervixkarzinom zählt weltweit nach dem Mammakarzinom zu den häufigsten Malignomen bei der Frau mit jährlich etwa 500.000 Neuerkrankungen, in Deutschland erkranken jährlich etwa 7.000 Frauen. Die Inzidenz ist, gemessen an den Zahlen des Saarlands, zurückgegangen, gleiches gilt für die Mortalität. Im Vergleich zum invasiven Karzinom liegt die Inzidenz der zervikalen Präkanzerosen um das 100-Fache höher (Bender 1990, AGO 2008). Schon 1878 widmeten sich Ruge und Veit wissenschaftlich dem Thema der Portioerosion sowie des beginnenden Krebses (Ruge u. Veit 1878) und entwickelten hieraus das diagnostisch-therapeutische Konzept der Konisation (Bender et al. 1988). In ⊡ Abb. 19.1 wird dieses Konzept akribisch zeichnerisch dargestellt. Die weitere Entwicklung der gynäkologischen Histopathologie ist mit den Namen Carl Ruge (1846-1926) und Robert Meyer (1864-1947) eng verknüpft. Das Berliner Institut von Meyer, in dem die gesamte Breite der gynäkologischen Histopathologie bearbeitet wurde, war ein Mekka für Wissenschaftler und Studierende aus aller Welt. Zu seinen Schülern zählte auch Prof. Carl Kaufmann (1900-1980). Gemeinsam mit Prof. K.G. Ober und dem Pathologen Prof. H. Hamperl wurde im sog. Köln-Bonner-Arbeitskreis die Basis für die Histopathologie der Ausbreitung des Zervixkarzinoms erarbeitet. Schon die genannten Untersuchungen hatten gezeigt, dass das Karzinom frühzeitig nicht nur in das Beckenbindegewebe eindringt, sondern auch zu einer metastatischen Absiedlung in die pelvinen Lymphknoten führt. Unter dem Aspekt dieses Ausbreitungsmodus wurde am 16. November 1898 von E. Wertheim die erste erweiterte Uterusexstirpation durchgeführt. Von besonderer Bedeutung für die weitere Kenntnis der Ausbreitungsmodalität des Zervixkarzinoms war, dass alle Operationspräparate sehr sorgfältig histologisch untersucht und zeichnerisch dokumentiert wurden (⊡ Abb. 19.2, Ausbreitungsmodus des Karzinoms bei einer 42-jährigen Patientin, die an der Münchener Universitätsfrauenklinik operiert wurde). Mit bewundernswerter Sorgfalt und Mühe hat Wertheim das Schicksal der operierten Frauen weiter verfolgt, nur zwei der ersten 100 operierten Patientinnen sind seiner Beobachtung entgangen (Wertheim 1902). Dieses Vorgehen darf als klassisches Beispiel einer »Qualitätskontrolle« gewertet werden, die auch heute noch von Bedeutung ist. Leider handelte es sich bei diesen operierten Frauen um Patientinnen mit fortgeschrittenem Zervixkarzinom, deshalb suchte man nach verbesserten Wegen frühdiagnostischer Maßnahmen. 1925 publizierte Prof. H. Hinselmann zum Thema Verbesserung der Inspektionsmöglichkeiten von Vulva, Vagina und Portio. In diesem Beitrag stellte er ein aus der binokularen Präparierlupe entwickeltes, mit Beleuchtung versehenes Gerät vor, mit dem bei großem Objektabstand und fokussierter Beleuchtung Scheide und Portio genauestens inspiziert werden konnten (⊡ Abb. 19.3). Er wählte für diese Konstruktion den Begriff Kolposkop. Die zusammenfassende Darstellung zu Kolposkop und Befund findet sich in dem 1925 erschienen Buch zur Kolposkopie (Hinselmann 1954). Frühdiagnostische histologische, klinische und kolposkopische Befunde wurden von P. Treite (1944) übersichtlich zusammengestellt. Der Atlas der Kolposkopie (Mestwerdt 1953) enthält eine didaktisch kluge Zusammenstellung von kolposkopischen, zytologischen und histologischen Befunden Mestwerdt (1953), Wespi, (1946), Burghardt et al. (2001) haben die noch heute gültigen Grundlagen klinischer Kolposkopie bzw. kolposkopischer Befunde zusammengestellt. Besondere Bedeutung kommt nach wie vor der 3%-igen Essigsäureprobe zu, bei der der die Portio benetzende Schleim ausgefällt wird und sich das kolposkopische Bild aufhellen lässt. Darüber hinaus wird ein atypisches Plattenepithel durch Essigsäure zur Quellung gebracht, das Epithel zeigt damit einen Farbumschlag von rot zu weißlich. Dieses essigweiße Epithel kennzeichnet die atypische Transformationszone; zusätz-
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⊡ Abb. 19.1. Zeichnung einer Konisation und eines Konus, nach Ruge und Veit 1878
⊡ Abb. 19.2. Zeichnerische Dokumentation von Primärtumor und Ausbreitung des Zervixkarzinoms bei einer 42-jährigen Patientin, die an der Münchener Universitäts-Frauenklinik operiert wurde, nach E. Wertheim 1902
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Kapitel 19 · Gynäkologische Onkologie – Dysplasien und Karzinom der Zervix
⊡ Abb. 19.3. Kolposkop nach Hinselmann, 1925
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liche Befunde wie Mosaik oder Punktierung werden sichtbar. Die im Rahmen der erweiterten Kolposkopie durchgeführte Schiller’sche Jodprobe (Kern et al. 1962) beruht darauf, dass das in den Intermediärzellen des reifen Plattenepithels gespeicherte Glykogen sich mit einer 1%igen wässrigen Jod-Kali-Lösung in typischer Weise braun anfärbt. Epithelien, die wenig oder kein Glykogen enthalten, bleiben ungefärbt und lassen einen sog. jodnegativen hellbraunen oder ockerfarbenen Bezirk zurück. Jodnegative Areale sind nicht spezifisch, aber pathognomonisch für atypische Plattenepithelveränderungen. Als Folge des erhöhten Zellumsatzes wird das gespeicherte Glykogen verbraucht und steht für die Farbstoffreaktion nicht mehr zur Verfügung. Die von Hinselmann eingeführte Nomenklatur von normalen bzw. pathologischen Befunde wurde anlässlich des Weltkongresses für Kolposkopie und Zervixpathologie in Rom 1990 erweitert. Als abnorme Befunde gelten (Burghardt et al. 2001): ▬ unverdächtig: essigstumm bzw. jodgelb ▬ zweifelhaft: essigweiß, jodgelb ▬ verdächtig: ausgeprägt essigweiß, jodgelb bis ocker Diese Nomenklatur wurde anlässlich der internationalen Tagung 2002 in Barcelona modifiziert, es werden die 5 Diagnosegruppen:
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1. 2. 3. 4. 5.
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normale kolposkopische Befunde abnormale kolposkopische Befunde Karzinomverdacht unzureichende Kolposkopie verschiedene Befunde
unterschieden. Entscheidend für eine gute kolposkopische Differenzialdiagnose ist die Gruppe 2 abnormaler kolposkopischer Befunde (Huh et al. 2004, Lellé u. Küppers 2008). Die Bewertung einer automatisierten kolposkopischen Befundung (Park et al. 2008) ist derzeit nicht abschließend möglich. Bei der Kolposkopie lässt sich nur der Teil der Cervix uteri beurteilen, der in die Vagina hineinragt und allgemein als Portio bezeichnet wird. Bedingt durch den Gestaltwandel der Zervix zu verschiedenen Lebensaltern findet sich die Lage der Plattenepithel-/Zylinderepithelgrenze altersabhängig entweder endozervikal oder an der Portiooberfläche mit der typischen plattenepithelialen Metaplasie. Diese sog. Transformationszone mit ihrer gesteigerten Proliferationsaktivität ist die typische Lokalisation der Erstmanifestation dysplastischer Veränderungen. Gemeinsam mit Prof. K.G. Ober und dem Pathologen Prof. H. Hamperl wurde von Schneppenheim die typische altersabhängige Formveränderung des zervikalen Drüsenfeldes vorgestellt (Schneppenheim et al. 1958). Die Ergebnisse systematischer histologischer Untersuchungen haben noch heute ihre Gültigkeit (⊡ Abb. 19.4, Hamperl u. Schneppenheim, 1958). 1. Die Plattenepithel-/Zylinderepithelgrenze macht im Leben einer Frau charakteristische Verschiebungen durch. 2. Der Teil der Zervix, welcher mit Zylinderepithel ausgekleidet ist, bleibt trotz der Verschiebung seiner Grenzen immer gleich lang. 3. Plattenepithel versucht immer, Zylinderepithel zu überwachsen. Auf dem gleichen Kongress in London 1959 trug H. Hamperl seine Ergebnisse zur Beschreibung und Definition der unterschiedlichen Formen des Carcinoma in situ der Portio vor (Hamperl 1959, ⊡ Abb. 19.5). Bei der einfachsten Form des Carcinoma in situ – einfacher Ersatz – entsteht der Eindruck, dass das erkrankte Epithel das normale Plattenepithel ersetzt, ohne dessen Form zu ändern. In »grob-plumpes Vorwuchern« ist eine Veränderung der Stromabegrenzung eingetreten, indem das erkrankte Epithel in plumpen Zapfen gegen das Stroma vorwächst. Das Carcinoma in situ ist mit den Gruppen »einfacher Ersatz« und »plumpes Vorwuchern« charakterisiert. Es ist in der Begrenzung zum infiltrierenden Karzinom klar definierbar und leicht abgrenzbar (Kern 1964). Bei der frühen Stromainvasion ist eine Änderung insofern eingetreten, als sich einzelne Zellen in meist spitzen Ausläufern gegen das Stroma vorschieben. Hier zeigt das Epithel die Fähigkeit zum infiltrierenden Wachstum. Die genannten Veränderungen werden als Frühstadien des Zervixkarzinoms zusammengefasst. Aufgabe der Frühdiagnostik ist es, diese Frühstadien zu entdecken, zumal umfangreiche Untersuchungen gezeigt haben, dass eine kontinuierliche Entwicklung dieser Veränderungen bis hin zum Zervixkarzinom besteht. Hinweise für diese kontinuierliche Entwicklung liefert neben dem morphologischen Bild das Alter der Patientin, d. h. die Frühfälle finden sich in einem jüngeren Durchschnittsalter der Patientin als das Karzinom (Hillemanns 1964, Burghardt 1964). Ein weiterer Hinweis für den Zusammenhang von Carcinoma in situ und Zervixkarzinom ist der Nachweis vom Randbelag bei klinischem Karzinom mit dem
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Kapitel 19 · Gynäkologische Onkologie – Dysplasien und Karzinom der Zervix
a
b
c
⊡ Abb. 19.4a–c. Gestaltwandel der Zervix in verschiedenen Lebensaltern (nach Schneppenheim et al. 1958), a junges Mädchen: Plattenepithel-Zylinderepithelgrenze endozervikal, b geschlechtsreife Frau: PlattenepithelZylinderepithelgrenze an der Portiooberfläche, c Senium: Plattenepithel-Zylinderepithelgrenze endozervikal
Häufigkeit von LK-Metastasen
19 ⊡ Abb. 19.5. Schematische Einteilung Carcinoma in situ, nach Hamperl 1959
Stadium
pelvin (%)
paraaortal (%)
IA1 SGO Micro IA2 IB IIA IIB IIIA, B IVA
0 3 (0-13) 18 (9-31) 25 (20-50) 31 (20-50) 45 (36-50) 60 (55-67)
0 <1 7 (0-29) 11 (0-23) 19 (7-33) 30 (17-43) 40 (33-67)
nach Höckel u. Knapstein 1996
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⊡ Tab. 19.1. Terminologie WHO/Bethesda-Klassifikation WHO-Klassifikation
Bethesda-Klassifikation
CIN 1
geringe Dysplasie
low grade squamous intraepithelial lesion (L-SIL)
CIN 2
mäßige Dysplasie
high grade squamous intraepithelial lesion (H-SIL)
CIN 3
schwere Dysplasie, Carcinoma in situ
typischen histomorphologischen Bild des Carcinoma in situ. Noch heute hat die WHO-Klassifikation CIN I bis CIN III Gültigkeit, in USA wird die Bethesda-Klassifikation bevorzugt (⊡ Tab. 19.1). Von Bedeutung bei dieser Klassifikation ist, dass unter den H-SIL die CIN IIund CIN III-Veränderungen zusammengefasst sind. Die Beschreibung und Dokumentation zytologischer Kriterien dieser genannten Veränderungen ist Papanicolaou zu verdanken, der 1928 den ersten Hinweis auf den Wert von Zellabstrichuntersuchungen für die Entdeckung von Uteruskarzinomen gab und zwar unter dem Titel New cancer diagnosis (Papanicolaou 1928). Gemeinsam mit H.F. Traut veröffentlichte Papanicolaou 1943 die Monographie Diagnosis of uterine cancer by the vaginal smears (Papanicolaou u. Traut 1943). In Europa war eine zunehmende Aktivität auf dem Gebiet der Zytologie in den 1960er-Jahren durch die Gründung nationaler wissenschaftlicher Gesellschaften zu beobachten. 1960 entstand die Deutsche Gesellschaft für Zytologie, nachdem 1957 bei der Gründungsversammlung der Internationalen Akademie für Zytologie in Brüssel ein Deutscher zum 1. Präsidenten der neuen Gesellschaft gewählt wurde, Prof. H.K. Zinser, der die Bedeutung zytologischer Abstrichbefunde schon frühzeitig erkannte (Zinser 1957). Die noch gebräuchliche Nomenklatur zytologischer Befunde (PAP-Abstrich) geht auf die ursprüngliche Einteilung von Papanicolaou zurück. Die modifizierte Nomenklatur München II (Soost u. Baur 1980) ist in modifizierter Form heute noch gültig (Nauth 2002). Dieser PAP-Test wurde 1971 als Früherkennungsuntersuchung in Deutschland eingeführt und als unentgeltliche Kassenleistung im Rahmen der Vorsorgeuntersuchung Frauen zur Verfügung gestellt. Die Zervixzytologie zeichnet sich durch eine sehr hohe Spezifität aus, leider hat sie bezogen auf den einzelnen Abstrich keine sehr hohe Sensitivität, d. h., ein Abstrich kann trotz der Existenz atypischer Veränderungen negativ ausfallen, die Angaben reichen von 5-10%, wahrscheinlich liegt die Häufigkeit bei etwa 20% (Hilgarth u. Schultz 1981). Ob die Dünnschichtzytologie die Aussagekraft der zytologischen Abstriche verbessern kann, ist bisher nicht eindeutig erwiesen, in einer Stellungnahme des gemeinsamen Bundesausschusses 2006 wurde beschlossen, dieses Verfahren nicht in die Früherkennungsuntersuchung zum Zervixkarzinom einzubeziehen (Hornemann et al. 2009). Aufgrund molekularbiologischer Untersuchungen steht inzwischen fest, dass die große Mehrheit der Zervixdysplasien und Karzinome mit HPV assoziiert ist und dass die Persistenz spezieller HPV-Typen mit einem signifikant erhöhten Risiko einer Zervixdysplasie bzw. eines Zervixkarzinoms verbunden ist (Löning 2001, Zur Hausen 1977, Stegner 1990). Andererseits muss berücksichtigt werden, dass bei einer großen Anzahl von low-grade-Dysplasien mit einer Abheilung nach relativ kurzer Zeit zu rechnen ist, d. h., dass bei leichter Dysplasie ein abwartendes Verhalten gerechtfertigt ist. Mit einer Progredienz bis hin zum invasiven Karzinom ist lediglich in 1% der Fälle zu rechnen (⊡ Tab. 19.2).
378
Kapitel 19 · Gynäkologische Onkologie – Dysplasien und Karzinom der Zervix
In diesem Zusammenhang ist eine neuere Untersuchung von Bedeutung, in der die Übergangswahrscheinlichkeit von höhergradiger Dysplasie zum Karzinom mit 0,74 bzw. die Regression der höhergradigen Dysplasie zu leichter Dysplasie mit 5,64 berechnet wurde (⊡ Tab. 19.3). Auch diese neueren Ergebnisse lassen erkennen, dass der alleinige Nachweis der Dysplasie keine invasivere Diagnostik bzw. Behandlung erforderlich macht. Andererseits ist zu berücksichtigen, dass in nahezu 100% der Zervixkarzinome eine Infektion mit einem Highrisk-HPV-Virus ursächlich in Zusammenhang gebracht werden muss (Zur Hausen 1976, Zur Hausen 2002). Bei bestehender HPV-Infektion ist zumeist davon auszugehen, dass es eine transiente sexuell übertragbare asymptomatische Erkrankung des Genitaltraktes mit durchschnittlicher Infektionsdauer von etwa 6-9 Monaten darstellt. Bei der Minderheit der Frauen resultiert eine persistierende Infektion, die insbesondere bei HPV-16/18 zur Entwicklung von Präneoplasien der Zervix führen kann (Schneider et al. 1999). Von Bedeutung für die Krebsentstehung sind als zusätzliche Risikofaktoren die kontinuierliche Expression der viralen Onkogene E6 und E7 für die Transformation des HPV-infizierten Epithels entscheidend (Dürst et al. 2003). Der Nachweis von HPV-DNS im Abstrich der Zervix mit PCR- oder HCR-Nachweismethoden ermöglicht mit hoher Sensitivität hochgradige Neoplasien zu erfassen und nach kolposkopischer Evaluierung eine Einschätzung des individuellen Risikos für die Entwicklung eines Zervixkarzinoms zu ermöglichen. Sind beide Screeningtests positiv, ist eine histologische Klärung erforderlich (Petry 2003). Die Krebsfrüherkennungsuntersuchung ist trotz wesentlicher Reduktion der Inzidenz und Mortalität verbesserungswürdig, das zytologische Screening kann durch den molekularbiologischen HPV-DNA-Nachweis in seiner Wirksamkeit verbessert werden, was durch die Dünnschichtzytologie nicht gelingt. Für die Abklärung von Frauen mit abnormalem zytologischem Ergebnis oder positivem Nachweis
⊡ Tab. 19.2. »Natürlicher« Verlauf der Zervixdysplasie. Risikokalkulation auf der Basis »historischer« Verlaufsuntersuchungen (nach Löning 2001) Low-grade-Dysplasie
High-grade-Dysplasie (mäßige Dysplasie)
High-grade-Dysplasie (schwere Dysplasie, Cis)
Abheilung
50-70% (57%)
20-60% (43%)
10-70% (32%)
Persistenz
20-40% (32%)
30-60% (35%)
20-70%
Progression
10-30% (zu Cis) (11%) (zum invasiven Ca 1 %)
15-60% (zu Cis) (22%) (zum invasiven Ca 5 %)
<5-40% (zum invasiven Ca) (>12%)
⊡ Tab. 19.3. Metaanalyse der Progression bzw. Regression von Dysplasien, nach Cantor et al. 2005
19
Schweregrad
Mittlere jährliche Übergangswahrscheinlichkeit
Höhergradige Dysplasie zu Karzinom
0,74
Leichte Dysplasie zu höhergradiger Dysplasie
7,20
Höhergradige Dysplasie zu leichter Dysplasie
5,64
Leichte Dysplasie zu Normalbefund
14,80
379 Kapitel 19 · Gynäkologische Onkologie – Dysplasien und Karzinom
19
von high-risk-HPV ist die Kolposkopie die Methode der Wahl. Wird durch kolposkopisch gezielte Knipsbiopsie eine schwergradige Präkanzerose diagnostiziert, muss diese möglichst schonend behandelt werden. Bezüglich der Einschätzung des Progressionspotentials von HPV-Infektionen oder zervikalen Präkanzerosen stehen eine Reihe von HPV-assoziierten und HPV-unabhängigen Biomarkern zur Verfügung, deren Wertigkeit für die klinische Praxis noch gezeigt werden muss (Schneider et al. 2008, Malinowski 2007). Eine routinemäßige HPV-Testung ist nicht sinnvoll, da eine Infektion meist ohne Dysplasie einhergeht und andererseits bei einer Dysplasie fast immer von einer Infektion ausgegangen werden kann (Hornemann et al. 2009). In Fällen von Pap III kann der HPV-Test zusätzliche Informationen bezüglich einer möglichen Dysplasie geben, gleiches gilt für Dysplasien in der Schwangerschaft bzw. nach vorausgegangener Konisation, hier kann der HPV-Status das Vorliegen einer Dysplasie ausschließen (Dannecker et al. 2003). In Zusammenhang mit der Erkenntnis der viralen Genese des Karzinoms liegt der Gedanke an eine Vakzinierung nahe, im Rahmen größerer Studien konnte überzeugend die Wirksamkeit eines Impfstoffes gegen HPV-16-Infektionen gezeigt werden, die Impfeffizienz der prophylaktischen Vakzine gegen HPV-16-Infektion lag bei 100% (Grubert u. Friese 2003, Hillemanns et al. 2007, Löning et al. 2007). In der Zwischenzeit stehen in Deutschland mit Gardasil und Cervarix zwei Impfstoffe zur Verfügung, die Schutz gegen die beiden häufigsten bei Zervixkarzinom nachweisbaren Virustypen HPV-16 und HPV-18 gewährleisten, wobei Gardasil zusätzlichen Schutz gegenüber Virusinfektionen durch HPV-6/11 bietet. Die ständige Impfkommission am Robert-Koch-Institut (STIKO) empfiehlt die Impfung gegen HPV für alle Mädchen zwischen 12 und 17 Jahren, wobei die europäische Zulassung die Immunisierung von Jungen und Mädchen im Alter von 9-15 Jahren sowie von Frauen ab 16 Jahren ohne Altersbegrenzung vorsieht (Hillemanns 2009). Von Bedeutung ist die Überwachung und Erfassung potentieller Nebenwirkungen, wobei zu berücksichtigen ist, dass die HPV-Impfstoffe keine DNA enthalten, sondern lediglich aus leeren Virushüllen bestehen, den Virus-like-Particles, d. h., dass eine Virusreplikation nicht möglich ist (Hillemanns 2009). Alle kürzlich publizierten Studien weisen auf die hohe Effektivität der bivalenten (HPV16 und -18) und tetravalenten (HPV-16, 18 und 6-11) Impfstoffe in der Prävention von zervikalen intraepithelialen Neoplasien hin. Der in den bisherigen Studien dokumentierte Impfschutz liegt bei mindestens 5 Jahren (Löning et al. 2007). Allerdings wird darauf aufmerksam gemacht, dass bei etwa 30% der Zervixkarzinome andere, seltenere HPV-Typen an der Krebsentstehung beteiligt sind (Hillemanns 2009), so dass aus diesem Grund weiterhin an der frauenärztlichen Früherkennungsuntersuchung festgehalten werden sollte (Hillemanns 2009), wobei die Kolposkopie sich bei auffälligem zytologischem Abstrichbefund Pap IIId oder mehr, zur Verlaufskontrolle bei CIN sowie zur präoperativen Therapieplanung bei CIN bewährt (Hillemanns et al. 1998). Auch im Statement zur Prävention und Früherkennung (Leitlinien zum Zervixkarzinom, AGO 2008) findet sich der Hinweis, dass eine sekundäre Prävention durch eine regelmäßige jährliche Krebsfrüherkennung mit zytologischem Abstrich der Portio möglichst unter kolposkopischer Kontrolle erfolgen sollte. Hat die Zytologie einen auffälligen Befund ergeben (Pap IIId, IVa) ist bei erstmaligem Pap IIId die alleinige zytologische Kontrolle mit kolposkopischer Überprüfung ausreichend. Bei Persistenz dieses Befundes länger als 12 Monate ist von einer rein zytologischen Verlaufskontrolle abzuraten. Unter erweiterter kolposkopischer Kontrolle werden Knipsbiopsien entnommen bzw. ist die endozervikale Kürettage bei Verdacht auf endozervikale Lokalisation bei bestehender Diskrepanz zwischen Zytologie und Kolposkopie indiziert. Zur diagnostischen Gewebeentnahme stehen die unterschiedlichen Methoden zur Verfügung (⊡ Abb. 19.6).
380
Kapitel 19 · Gynäkologische Onkologie – Dysplasien und Karzinom der Zervix
a
b
⊡ Abb. 19.6a–e. Diagnostische Gewebeentnahme von der Cervix uteri: a Bröckelentnahme mit der Bröckelzange oder dem scharfen Löffel, b Schiller-Abschabung und Zervixkürettage mit dem Skalpell und der scharfen Kürette, c Knipsbiopsie mit der Spezialzange, d Probeexzision mit einem normalen Skalpell, e Konisation mit einem schmalen Skalpell. (In der 3. Spalte dieser Abb. sind entnommene Gewebepartikel in gleicher Vergrößerung zusammengestellt, nach Baltzer, Mickan 1994)
19
c
d
e
Bei histologisch nachgewiesenem CIN I sollte eine regelmäßige Verlaufskontrolle erfolgen. Bei histologisch durch PE gesichertem CIN II- und CIN III-Befund, der über 12 Monate persistiert, ist eine operative Behandlung (Konisation, sei es Schlinge, Laser oder Messer) indiziert (AWMF-Leitlinie 2008, Leitlinien AGO zum Zervixkarzinom 2008). Entsprechend der Schiller’schen Jodprobe und dem Lebensalter der Patientin angepasst, wird in der Geschlechtsreife ein breitbasiger Konus geschnitten, während in Klimakterium und Menopause aufgrund der zu erwartenden Lokalisation der Veränderung der spitz in die Zervix hinauf reichende Konus indiziert ist (Ober u. Bötzelen 1959). Die Systematik der histologischen Untersuchung des bei 12.00 Uhr markierten Konus beruht auf den grundlegenden Untersuchungen zur Technik der Aufarbeitung von Konisationen, ganzen Uteri und Uteri mit anhängenden Parametrien (Matuschka 1962, Lohe et al. 1976): Eine Untersuchungstechnik, die auch in weiteren histologischen Laboratorien von Universitäts-Frauenkliniken zur Anwendung kam (u.a. Köln, Erlangen, Heidelberg, München). Eine etwas abgewandelte Aufarbeitung erfolgte unter anderem in der Universitäts-Frauenklinik Graz (Burghardt u. Holzer 1977).
381 Kapitel 19 · Gynäkologische Onkologie – Dysplasien und Karzinom
19
⊡ Abb. 19.7. Histologische Stufenserienschnitte eines Konus (nach Burghardt u. Holzer 1977)
⊡ Abbildung 19.7 zeigt die sehr umfangreiche histologische Aufarbeitung eines Konus, durch
die es einerseits möglich war, die Verdachtsdiagnose zu sichern und andererseits sicherzustellen, dass die Veränderung lokal im Gesunden entfernt wurde bzw. falls nicht, zu erkennen wo sie an der Portiooberfläche oder endozervikal nicht in sano reseziert wurde. Entsprechend diesen Angaben konnte die zielgerichtete Nachsorge erfolgen (Baltzer 1999). Anforderungen zur Aufarbeitung des Gewebes finden sich auch in der Leitlinie zum Zervixkarzinom (AGO 2008). Bedingt durch Früherkennungsmaßnahmen war es möglich, sowohl Präkanzerosen als auch kleinste Karzinome zu diagnostizieren. Mestwerdt (1947) führte den Begriff des Mikrokarzinoms ein, der eine Einschränkung des operativen Vorgehens möglich machte. Bei der Diagnose und Therapie des mikroinvasiven Karzinoms ist es von Bedeutung, zwischen der frühen Stromainvasion und dem Mikrokarzinom zu unterscheiden (Hillemanns 1990). Voraussetzung für die Diagnose einer frühen Stromainvasion bzw. eines Mikrokarzinoms ist eine sehr sorgfältige histologische Untersuchung der Konisationspräparate (Burghardt u. Holzer 1977, Burghardt et al. 1998). Zur Definition des sog. Mikrokarzinoms wurden unterschiedliche Parameter herangezogen, die obere Grenze des Volumens wurde mit 500 mm3 definiert, wobei die meisten Autoren sich auf die Invasionstiefe, welche nicht größer als 5 mm sein sollte, beziehen. Im Rahmen systematischer Untersuchungen einer kooperativen Studie (Lohe et al. 1976, Lohe et al. 1978) wurde deutlich, dass auch bei früher Stromainvasion bzw. Mikrokarzinom mit einer metastatischen Absiedlung in Lymphknoten, wenn auch selten, gerechnet werden muss (⊡ Tab. 19.4), aus der ablesbar ist, dass mit Zunahme der Invasionstiefe mit einer höheren Anzahl von Lymphknotenmetastasen zu rechnen ist (Burghardt et al., 1998).
382
Kapitel 19 · Gynäkologische Onkologie – Dysplasien und Karzinom der Zervix
⊡ Tab. 19.4. Frequenz des Lymphknotenbefalls im Stadium 1a (gepoolte Metaanalyse nach Burghardt et al. 1998) Stadium
Invasionstiefe
Fallzahl (n)
Positive Lymphknoten (n)
(%)
I a1 (FSI*)
0-1 mm
292
1
0,3
I a1
1-3 mm
414
8
1,9
I a2
3-5 mm
219
17
7,8
* FSI = frühe Stromainvasion
⊡ Tab. 19.5. Therapieempfehlungen für frühinvasive Stadien des Zervixkarzinoms (nach Winter et al. 2001) FIGO-Stadium
Invasionstiefe
Therapie
I a1
0-1 mm (FSI*)
Konisation
I a1
1-3 mm (ohne GI**)
Konisation Hysterektomie
I a1
1-3 mm (mit GI**)
Konisation, Hysterektomie (evtl. pelvine Lymphadenektomie)
I a2
3-5 mm (mit/ohne GI**)
Hysterektomie und pelvine Lymphadenektomie
bei Wunsch zur Fertilitätserhaltung
Konisation und pelvine Lymphadenektomie
* FSI = frühe Stromainvasion; ** GI = Gefäßinvasion
19
Die notwendigen Voraussetzungen für eine funktionserhaltende Operation bei Vorliegen von intraepithelialer Neoplasie und Mikrokarzinom der Zervix sind von Kindermann (1988), Hillemanns et al. (1990) zusammengestellt worden. Zu den weiter entwickelten Therapieempfehlungen für das frühinvasive Zervixkarzinom, ⊡ Tab. 19.5. Diese individualisierte, tumorangepasste Behandlung des frühen Zervixkarzinoms stellt eine besondere Leistung gynäkologischer Onkologie dar. Die gesicherten Erfahrungen sind auch heute noch Basis für eine differenzierte Behandlung. Zur Leitlinie für die Therapie der Vorstufen des Zervixkarzinoms bzw. des Stadiums FIGO Ia, ⊡ Abb. 19.8. Auch für das invasive Zervixkarzinom liegen umfangreiche Untersuchungen zu Ausbreitung, Lymphknotenmetastasierung und histomorphologischen Prognosekriterien vor. Ziel dieser Untersuchungen ist es, eine tumorangepasste individualisierte operative Behandlung unter Berücksichtigung definierter Prognosekriterien zu ermöglichen (Kindermann u. Maassen 1988, Baltzer 1990, Pickel et al. 1990, Burghardt 1993, Winter et al. 2001). Wie bei allen Karzinomen ist auch beim Zervixkarzinom das lokale Wachstumsverhalten und seine metastatische Ausbreitung von prognostischer Bedeutung. Berücksichtigt man Wachstumsform und Lokalisation, so zeigt sich bei den exophytär wachsenden , an der Portiooberfläche lokalisierten Karzinomen eine weniger häufige Tumorinfiltration des parametranen Gewebes im Vergleich zu den endozervikal endophytär wachsenden Karzinomen (⊡ Abb. 19.9a,b).
383 Kapitel 19 · Gynäkologische Onkologie – Dysplasien und Karzinom
CIN I Zytologie: Rez. Pap IIID Pap IVa
Kontrolle
Kolposkopie Biopsie Schwanger CIN II CIN III Nicht Schwanger
Operative Entfernung: LOOP, Konisation bei ektozervikaler Läsion; ggf. Laserevaporisation Endozervikale Kürettage (ECC)
CIN II CIN III Zytologie: Pap IVb
Kolposkopie Biopsie Invasives Karzinom
Kinderwunsch Konisation im Gesunden, keine RF kein Kinderwunsch FIGO Ia1 Kinderwunsch Konisation nicht im Gesunden, oder RF kein Kinderwunsch RF: Risikofaktoren (Lymphovaskulärer Befall, G3) LN: Lymphonodektomie
kein Kinderwunsch
FIGO Ia2
siehe Algorithmus II ff.
Kontrollen
Einfache Hysterektomie
Radikale Trachelektomie Pelvine + parametrane LN
Hysterektomie Typ Piver I Pelvine + parametrane LN
Hysterektomie Typ Piver I/II Pelvine + parametrane LN
Kinderwunsch ? Kinderwunsch
Radikale Trachelektomie Pelvine + parametrane LN
Konisation Pelvine LN Nachsorge
⊡ Abb. 19.8. Therapie der Vorstufen des Zervixkarzinoms (S2-Leitlinie, nach Beckmann 2004)
19
384
Kapitel 19 · Gynäkologische Onkologie – Dysplasien und Karzinom der Zervix
a
b
⊡ Abb. 19.9a,b. a Exophytär wachsendes Karzinom, b endophysär wachsendes Karzinom
19 ⊡ Abb. 19.10. Lymphknotenmetastase parametran
385 Kapitel 19 · Gynäkologische Onkologie – Dysplasien und Karzinom
19
⊡ Abb. 19.11. Häufigkeit einer Metastasierung in die unterschiedlichen Lymphknotenstationen bei Patientinnen mit Zervixkarzinom (nach Plentl u. Friedmann 1971)
So lag bei 718 operierten Patientinnen bei exophytärem Tumor ein kontinuierlicher Parametriumbefall in 1,1% vor, hingegen bei endophytären Karzinomen in 15,6% (Baltzer 1990). Jede operative Behandlung hat den metastatischen Befall des parametranen Gewebes zu berücksichtigen (⊡ Abb. 19.10). Die genannten histomorphologischen und morphometrischen Untersuchungen haben erkennen lassen, dass die Lymphknotenmetastasierung unter anderem abhängig ist von Tumorlokalisation, Grading, Ausprägung des dissoziierenden Tumorwachstums, Lymphangiose, Tumorvolumen: Aspekte, die auch im histopathologischen Befund vermerkt und bei der Risikobewertung für die Patientin Berücksichtigung finden sollten (Baltzer et al. 2005). Die Häufigkeit einer metastatischen Absiedlung in die unterschiedlichen Lymphknotenstationen wurde von Plentl u. Friedmann (1971) zusammengestellt, die Lymphknoten im Bereich der A. iliaca externa sowie der Fossa obturatoria sind mit 19 bzw. 22,9% bevorzugt befallen, hingegen ist ein präsakraler Lymphknotenbefall selten (⊡ Abb. 19.11). Bei der Berechnung von Tumorvolumen bzw. Tumorfläche wurde deutlich, dass mit Zunahme von Tumorvolumen bzw. Tumorfläche die Häufigkeit von Lymphknotenmetastasen
386
Kapitel 19 · Gynäkologische Onkologie – Dysplasien und Karzinom der Zervix
⊡ Tab. 19.6. Beziehung zwischen Tumorausdehnung und Lymphknotenbefall (nach Kindermann u. Maassen 1988) Tumorvolumen (nach Baltzer)
500-1500 mm³
1500-3500 mm³
6500-10000 mm³
Lymphknotenmetastasen
12%
22%
41%
Tumorfläche (nach Burghardt)
1-99 mm²
100-299 mm²
900-1199 mm²
Lymphknotenmetastasen
0%
20%
50%
⊡ Tab. 19.7. Häufigkeit von Lymphknotenmetasen in Abhängigkeit von der Tumorausdehnung bei 1.124 operierten Frauen mit Zervixkarzinom 1958-1985, nach Kindermann u. Maassen 1988) Kontinuierliche Tumorausdehnung
Patientinnen
Lymphknotenbefall
Auf Zervix beschränkt Zervix u. Vagina Zervix u. seitliche Grenzzone Zervix, Grenzzone u. Vagina Zervix, Grenzzone und Paragewebe
553 80 265 79 147
(49,2%) (7,1%) (23,6%) (7,0%) (13,1%)
79 35 82 33 86
(14,3%) (43,7%) (30,9%) (41,8%) (58,0%)
1124
(100%)
315
(28,0%)
⊡ Tab. 19.8. Häufigkeit von Lymphknotenmetastasen
19
Stadium
pelvin (%)
paraaortal (%)
IA1 SGO Micro IA2 IB IIA IIB IIIA, B IVA
0 3 (0-13) 18 (9-31) 25 (20-50) 31 (20-50) 45 (36-50) 60 (55-67)
0 <1 7 (0-29) 11 (0-23) 19 (7-33) 30 (17-43) 40 (33-67)
zunimmt (⊡ Tab. 19.6). Von Bedeutung ist auch, dass der Befall pelviner Lymphknoten von der Ausdehnung des Karzinoms abhängig ist. Bei Karzinomen, die auf die Zervix beschränkt geblieben sind, lag ein metastatischer Befall pelviner Lymphknoten in 14,3% vor und stieg bei Befall von Grenzzone und parametranem Gewebe auf 58,0% an (⊡ Tab. 19.7) Therapieentscheidend sind die Untersuchungen zur Frage des Befalls von pelvinen bzw. paraaortalen Lymphknoten. Stadienabhängig wurde im Stadium Ib eine pelvine Lymphknotenmetastasierung von 18% und eine paraaortale Metastasierung von 7% festgestellt. Im Stadium IIb lag die pelvine Lymphknotenmetastasierung bei 31% und die paraaortale Metastasierung bei 19% (Höckel u. Knapstein 1996, ⊡ Tab. 19.8). Anhand dieser qualitativen und quantitativen Tumorparameter wird deutlich, dass es Tumoren mit unterschiedlichem prognostischem Risiko gibt. Besonders günstig sind reife exophytär wachsende, an der Portio lokalisierte Karzinome ohne Lymphangiosis carcinomatosa bzw. metastatische Absiedlung in die Lymphknoten. Prognostisch günstig ist
387 Zusammenfassung
19
zusätzlich eine kräftige lymphoplasmazelluläre Stromareaktion in der Tumorumgebung. Im Gegensatz hierzu gelten als prognostisch ungünstig unreife endophytär wachsende und endozervikal lokalisierte Tumoren mit Lymphangiosis carcinomatosa und metastatischem Befall der Lymphknoten sowie fehlender reaktiver lymphoplasmazellulärer Infiltration von umgebendem Stroma. Als prognostisch besonders ungünstig gilt der Tumoreinbruch in Blutgefäße (Höckel u. Knapstein 1996). Bei Karzinomen mit niedrigem prognostischem Risiko ist der Verzicht auf eine postoperative Bestrahlung gerechtfertigt. Es bleibt fraglich, ob bei Tumoren mit hohem prognostischem Risiko die postoperative Bestrahlungsbehandlung zu einer Verbesserung der Behandlungsergebnisse führen kann (Zander et al. 1981). So ist die Datenlage z. B. zur Lymphangiosis carcinomatosa bei frühen Zervixkarzinomen als Indikation für eine adjuvante Therapie widersprüchlich, es fehlen prospektive Studien zur Bedeutung von Sentinel Lymphknoten beim frühen Zervixkarzinom (Herr et al. 2009). Unter Berücksichtigung spezieller Prognosefaktoren lässt sich unter dem Aspekt »so radikal wie notwendig, so schonend wie möglich« der operative Eingriff individuell dem Tumor bzw. der Tumorausbreitung anpassen. Ein Aspekt, den die Leitlinie zur Behandlung des Zervixkarzinoms (Kimmig 1998, AGO, Leitlinien Zervixkarzinom, 2008) berücksichtigt, wobei die Ausdehnung der Resektion des parametranen Gewebes nach Piver et al. (1974) festgelegt wird. Im Hinblick auf die extrem seltene metastatische Absiedlung eines Plattenepithelkarzinoms der Zervix in die Ovarien ist die Adnektomie bei jungen Frauen nicht gerechtfertigt, es sei denn, das Karzinom hat das Corpus uteri befallen, d. h. dass bei dieser Ausdehnung, ähnlich wie beim Endometriumkarzinom mit einer metastatischen Absiedlung in die Ovarien gerechnet werden muss (Baltzer et al. 1982, Leitlinien AGO, 2008).
Zusammenfassung In den letzten Jahrzehnten wurden bemerkenswerte Fortschritte in der Prävention der Frühund Vorstadien des Zervixkarzinoms erzielt. Bedingt durch die klare Erkenntnis, dass eine HPV-Infektion mit high-risk-Virustypen Voraussetzung für die Entstehung von Krebsrisikoveränderungen bzw. Zervixkarzinomen darstellt, war es durch grundlegende Forschung möglich, einen HPV-Impfstoff aus Virus-like-Particles herzustellen, um im Rahmen der Primärprävention des Zervixkarzinoms durch Impfung dem langfristigen Ziel einer Eliminierung des Zervixkarzinoms bzw. seiner Vorstufen näher zu kommen (Bornemann et al. 2009). In der Sekundärprävention, d. h. Früherkennung durch Screeningzytologie, sind in gleicher Weise Fortschritte erreicht worden. Die Erkenntnis der altersspezifischen Veränderungen des zervikalen Drüsenfeldes bzw. der Umwandlungszone hat Einblicke in die typische Lokalisation der Entstehung von Krebsrisikoveränderungen ermöglicht. Durch einen kombinierten Einsatz von Zytologie und Kolposkopie ist es möglich geworden, die Treffsicherheit einer Frühdiagnostik beim Zervixkarzinom zu erhöhen, so dass eine sicherere prätherapeutische Diagnose bei über 95% der kolposkopisch einsehbaren Veränderungen gestellt werden kann. Bestrebungen einer automatisierten Analyse von Kolpophotogrammen lassen sich derzeit noch nicht abschließend bewerten (Huh et al. 2004,Park et al. 2008). Im Rahmen der Tertiärprävention haben umfangreiche histomorphologische Untersuchungen zu den typischen Krebsrisikoveränderungen, zum beginnend invasiven Karzinom bzw. Mikrokarzinom entscheidend dazu beigetragen, dass eine abgesicherte organerhaltende
388
Kapitel 19 · Gynäkologische Onkologie – Dysplasien und Karzinom der Zervix
Operation bei bestehendem Kinderwunsch bzw. eine schonende weniger ausgedehnte operative Behandlung vorgenommen werden kann. Voraussetzung ist für dieses Vorgehen eine intensive Zusammenarbeit zwischen Kliniker und Pathologen, um sicherzustellen, dass bei der Patientin keine Über- bzw. Untertherapie erfolgt. Die zusammengefassten Aspekte, die das Karzinom bzw. seine Ausbreitung charakterisieren, gehen weit über die Aussage einer klinischen Stadieneinteilung hinaus. Diese ist mit einer so hohen Fehlerquote behaftet, dass es heute nicht mehr vertretbar ist, ohne zusätzliche Aussagen an ihr das Ausmaß der vorgesehenen Behandlung zu orientieren (Friedberg u. Herzog 1988). Darüber hinaus geben Behandlungsresultate, die derartig genau definierten Tumorkollektiven zugeordnet werden können wie beim Zervixkarzinom, verlässliche Auskunft darüber, was mit speziellen Behandlungstechniken erreicht werden kann (Burghardt 1986). Diese systematische Beschreibung des Tumors entspricht der oben zitierten Dokumentation von Karzinomlokalisation und Ausbreitung, wie sie Wertheim bei den ersten 100 Patientinnen, die er operiert hatte, dokumentiert hat. Die Bestimmung tumorbiologischer bzw. molekularpathologischer Faktoren wie Tumorneoangiogenese, Art der peritumoralen Entzündung, immunhistochemischer Nachweis von Tumorsuppressorgenen, Onkogenen, zellzyklusregulierenden Faktoren u.a. zur Installierung einer targeted Therapie sind derzeit noch ohne prognostisch relevante Bedeutung (AGO-Leitlinien, 2008). In der Therapie des Zervixkarzinoms hat sich in den letzten Jahrzehnten ein deutlicher Wandel vollzogen, im Vordergrund steht neben den üblichen Behandlungszielen wie krankheitsfreies Überleben und Gesamtüberleben, insbesondere der Erhalt der Funktion. Die Entwicklung hin zur individualisierten und stadienabhängigen Therapiewahl orientiert sich insbesondere auch an der Lebensqualität der Patientin (Beckmann et al. 2003).
Literatur
19
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Kapitel 19 · Gynäkologische Onkologie – Dysplasien und Karzinom der Zervix
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Gynäkologische Onkologie – Radikaloperationen bei Zervixkarzinom Markus C. Fleisch, Hans Georg Bender
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Kapitel 20 · Gynäkologische Onkologie – Radikaloperationen bei Zervixkarzinom
Einleitung Eine der herausragenden wissenschaftlichen Leistungen in der Frauenheilkunde stellt die Erarbeitung des Konzeptes von der Entstehung, der Entwicklung und Ausbreitung des Zervixkarzinoms und die Anpassung der differenzierten Therapiestrategie an die Tumorausbreitung dar. Die Therapie des Zervixkarzinoms ist heutzutage multimodal und hat stadienabhängig drei Säulen: Die Operation, die Strahlen- und die Chemotherapie. Die operative Therapie existiert seit mehr als 100 Jahren und trotz einer Vielzahl von Modifikationen und konzeptionellen Erweiterungen des Verständnisses der Erkrankung sind viele Aspekte über den Zeitraum konstant geblieben. In der historischen Entwicklung der Diagnostik und Therapie des Zervixkarzinoms können mehrere positive Aspekte abgegrenzt werden: 1. Die wissenschaftlichen Ergebnisse der Untersuchungen zur schrittweisen Entstehung der Neoplasien am äußeren Muttermund hatten Vorbild-Charakter für die anderen Organtumoren und stellen einen wichtigen Bestandteil des Kenntnisstandes der allgemeinen Onkologie dar. Unter Einsatz molekularbiologischer und virologischer Untersuchungsmethoden konnte die HPV-assoziierte Genese der Erkrankung gesichert werden, womit sich erstmals die Vision einer Impfstrategie zu deren Verhütung ableiten ließ. 2. Bezogen auf die gut zugängliche und einsehbare Lokalisation sind mit der Abstrichzytologie und Kolposkopie (Hinselmann) effektive Methoden der onkologischen Früh-Diagnostik entwickelt worden, die wesentliche Komponenten für die Erzielung eines optimalen Verhältnisses aus therapeutischer Sicherheit und therapiebedingten Nebenwirkungen und Belastungen sind. 3. Mit der systematischen histologischen Analyse der Op-Präparate aller Resektionsverfahren wurde eine präzise Vorstellung von den Infiltrationsabläufen und der Ausbreitung der Erkrankung entwickelt, auf die wiederum die Auswahl des adaptierten Resektionsverfahrens aufsetzen kann. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse haben zu einer ersten weltweit gültigen FIGO-Stadien-Einteilung auf der Basis überall leicht zu erhebender Befunde geführt, mit der annäherungsweise die Behandlungsergebnisse verschiedener Therapieformen – z. B. Operation versus Bestrahlung – miteinander verglichen werden können. 4. Mit der Einführung endoskopischer und nervenschonender Operationsverfahren hat sich für den überwiegenden Teil der Krankheitsstadien die Perspektive einer funktionserhaltenden und schonenden Behandlung bei radikaler Tumorresektion ergeben. Ein großer Teil der angesprochenen wissenschaftlichen Erkenntnisse wurde von zahlreichen Forschern im deutschsprachigen Raum erarbeitet. Im Folgenden soll die Chronologie der Entwicklungen dargestellt und – soweit möglich – der Beitrag der wesentlichen Autoren auf ihren konkreten Innovationsschritt hin konkretisiert werden (⊡ Tab. 20.1).
Historische Entwicklung der Technik der radikalen Hysterektomie Die Anfänge: von Sauter bis Latzko
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Die geschichtliche Entwicklung der Behandlungsmethoden des Zervixkarzinoms ist ausgehend vom späten 19. Jahrhundert bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts geprägt vom steten Wechsel in der Einführung von Operationsverfahren mit vaginalem oder abdominalem
395 Historische Entwicklung der Technik der radikalen Hysterektomie
20
⊡ Tab. 20.1. Einführungen von neuen Techniken bzw. konzeptionellen Erweiterungen der operativen Therapie des Zervixkarzinoms Jahr
Name
Ort
Beitrag
1822
Jakob Nepomuk Sauter
Konstanz
Erste vaginale Entfernung eines Uterustumors
1878
Wilhelm Alexander Freund
Breslau
Freund’sche Operation, erste erfolgreiche abdominale Uterusextirpation bei Zervixkarzinom
1878
Vincenz Czerny
Heidelberg
Vaginale Hysterektomie
1893
Carl August Schuchardt
Stettin
Hysterectomia perineo-vaginale
1895
Emil Ries
Chicago
Konzept der Lymphonodektomie und Parametrektomie beim Zervixkarzinom
1895
John G. Clark
Baltimore
Radikale abdominale Hysterektomie (RAH)
1895
Heinrich Theodor Maria Rumpf
Hamburg
RAH
1895
Wilhelm Latzko
Wien
RAH, Lymphondektomie, Parametrektomie und LKDissektion
1898
Ernst Wertheim
Wien
Systematische Beschreibung der RAH, Ergebnisse bei über 10 Patientinnen, Senkung der Mortalität
1901
Friedrich Schauta
Wien
Protagonist der radikalen vaginalen Hysterektomie, Systematisierung und bebilderte Darstellung
1904
Alwin Mackenrodt
Berlin
Pathologische Studien zur Ausbreitung des Zervixkarzinoms
1921
Hidekazu Okabayashi
Kyoto
Radikalere Form der Wertheim-OP, Begründung der Standard-Form der RAH in Japan
1944
Joe Meigs
Massachusetts
Re-Popularisierung der RAH in den USA
1948
Alexander Brunschwig
New York
Pelvine Exenteration
1974
Piver, Rutledge und Smith
1987
Daniel Dargent
Lyon
Laparoskopisch assistierte radikale vaginale Hysterektomie
1994
Daniel Dargent
Lyon
Radikale vaginale Trachelektomie
2005
Michael Höckel
Leipzig
Konzept der totalen mesometrialen Resektion, LEER Operation(laparoskopisch erweiterte endopelvine Resektion)
2008
John Boggess
Chapel Hill
Roboterassistierte radikale vaginale Hysterektomie
Erste allgemein gebräuchliche Klassifikation der radikalen Hysterektomie
Zugangsweg. Dies ist z. T. durch das schrittweise zunehmende Verständnis der Erkrankungsausdehnung und ihrer Biologie begründet, spiegelt aber auch die epochalen Fortschritte der allgemeinen Operationstechniken und des perioperativen Managements wider. In der folgenden Übersicht, die keinesfalls vollständig ist, sollen die wesentlichen konzeptionellen Erkenntnisse und die daraus abgeleiteten technischen Veränderungen in der Chronologie mit den jeweiligen Operateuren nachvollzogen werden.
396
20
Kapitel 20 · Gynäkologische Onkologie – Radikaloperationen bei Zervixkarzinom
Bereits Anfang des 19. Jahrhunderts gab es mehrere Versuche, die karzinomatös veränderte Gebärmutter operativ zu entfernen, wobei jedoch über keine vollständige Hysterektomie für diese Indikation berichtet wurde. Erst der Chirurg Jakob Nepomuk Sauter (Konstanz) führte 1822 auf Drängen einer Patientin die komplette vaginale Entfernung eines prolabierten karzinomatösen Uterus durch. Die Patientin überlebte diesen Eingriff für 4 Monate mit einer Blasen-Scheidenfistel und starb schließlich an einem Lungenödem. Ähnliche Versuche der Hysterektomie wurden in der Folge von mehreren Operateuren jedoch meist mit ungünstigem Ausgang durchgeführt, so dass diese Versuche schließlich unterlassen wurden und meist die seit längerem bereits durchgeführte Amputation von Portio oder Zervix durchgeführt wurde. Als nächsten Meilenstein führte Wilhelm Alexander Freund (Breslau) 1878 erstmals eine abdominale totale Entfernung eines karzinomatösen Uterus durch. Die parametrane Absetzung war hierbei uterusnah und Lymphknoten wurden nicht entfernt. Die Frau überlebte den Eingriff und bereits ein halbes Jahr später kamen 5 weitere Fälle hinzu, wobei 3 quo ad vitam erfolgreich waren. Die Freund’sche-OP wurde zunächst mit Begeisterung aufgenommen und von verschiedenen Operateuren angewandt, wobei jedoch die publizierten Mortalitätsraten bei über 70% lagen und damit inakzeptabel hoch waren. So berichtete Massari 1879 in Wien über eine Patientin, die nach der Freund’schen Operation an einer Peritonitis verstarb. Die Obduktion zeigte, dass offensichtlich ein durchgeschnittener Ureter und das dadurch entstandene Urinom hierfür ursächlich waren. Damit trat erstmals das Ureterproblem in das Sichtfeld der Operateure. Als Konsequenz entwickelte Massari maßgeblich den Vorläufer des heutigen Zystoskops, mit dem er präoperativ Katheter in beide Ureteren einbringen konnte. In Anbetracht der schlechten initialen Ergebnisse wurden weitere Versuche einer abdominalen Operation des Zervixkarzinoms zunächst verlassen und man wandte sich der ebenfalls 1878 durch den Chirurg Vinzenz Czerny in Heidelberg eingeführten vaginalen Hysterektomie zu. Czerny bevorzugte das vaginale Verfahren, da es eine bessere Einschätzung der vaginalen Ausdehnung der Erkrankung ermöglichte und er positive Erfahrungen mit diesem Zugangsweg bei der Behandlung des Rektumkarzinoms gemacht hatte. Aber auch dieses Verfahren schien für die Behandlung des Zervixkarzinoms unzureichend, da die Rezidivraten über 90% lagen. Im Jahre 1893 demonstrierte Schuchardt (Stettin) ein Verfahren, dass er als Hysterectomia perineo-vaginale bezeichnete. Schuchardt war sich der onkologischen Bedeutung der Entfernung der Parametrien bei der Hysterektomie für das Zervixkarzinoms bewusst und verschaffte sich mit einem einseitigen großen Paravaginalschnitt (Schuchard-Schnitt) einen vaginalen Zugang zu dieser Region. Ein weiterer Vorteil bestand darin, dass der Ureter durch den angelegten Hilfsschnitt visualisiert werden konnte, und daher akzidentelle Ureterverletzungen unwahrscheinlich wurden. In seiner ersten Fallserie (1894-1896) konnten 61% der Patientinnen auf diese Weise operiert werden, wobei in der zeitgenössischen Begrifflichkeit die »Heilbarkeit« mit 25% angegeben wurde. Trotz der ungünstigen Ergebnisse und hohen Mortalität der Freund’schen Operation wandten sich mehrere Operateure um das Jahr 1895 wieder dem abdominalen Zugangsweg zu und publizierten ihre Techniken. 1894 publizierte William Stewart Halsted The results of operations for the cure of cancer of the breast performed at the Johns Hopkins Hospital from June, 1899, to January, 1894 und demonstrierte hier die Bedeutung der regionalen Lymphknotenentfernung für die Behandlung des Mammakarzinoms. Inspiriert von diesen Erkenntnissen veröffentlichte Emil Ries (Chicago) 1895 in der Zeitschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie die Arbeit Eine neue Operationsmethode des Uteruscarcinoms. Ries zeigte hier die Technik einer abdominalen Operationsmethode für die Behandlung von Zervix- und Korpuskarzinomen, die die Entfernung
397 Historische Entwicklung der Technik der radikalen Hysterektomie
20
zumindest der iliakalen Lymphknoten als essentiellen Teil der Operation forderte. Auch die Entfernung der Parametrien wurde hier, basierend auf den von ihm zitierten Ergebnissen von Mackenrodt, der mikroskopische Karzinomherde auch im Lig. latum gefunden hatte, berücksichtigt. Ries hatte zum Zeitpunkt des Erscheinens der Arbeit selbst lediglich seine Methode an Leichen angewandt, zeigte die Machbarkeit jedoch an zwei in Chicago 1897 erfolgreich durchgeführten radikalen Hysterektomien mit iliakalen Lymphonodektomien. Basierend auf seinen Erfahrungen spekulierte er zu diesem Zeitpunkt bereits, dass bei befallenen Beckenlymphknoten auch die Entfernung höherer Lymphknotenstationen sinnvoll wäre. J.G. Clark ein Assistenzarzt am Johns-Hopkins-Hospital in Baltimore entwickelte zeitgleich mit Ries 1895 seine Technik der radikalen abdominalen Hysterektomie. Clark legte zunächst die Ansicht seines Mentors Kelly dar, wonach wenn möglich in jedem Falle die Hysterektomie beim Zervixkarzinom vorgenommen werden sollte. Seine Technik umfasste neben der Mitnahme der oberen Anteile der Ligg. lata und rotunda sowie des abgangsnahen Absetzens der A. uterina auch die großzügige Entfernung einer Scheidenmanschette. Die erfolgreiche Operation zweier Patientinnen, nach heutiger Einteilung wohl im Stadium FIGO IIb, wurde beschrieben und die Technik durch eine genaue Beschreibung und präzise anschauliche Zeichnungen illustriert. In Folge führte auch Kelly die Entfernung der iliakalen Lymphknoten bei dieser Operation durch. Ebenfalls 1895 berichtete, unabhängig von Ries, Rumpf in Berlin ebenfalls über die erfolgreiche Durchführung einer radikalen abdominalen Hysterektomie. Zeitgleich stellte Latzko in Wien auf einer Sitzung der kaiserlich-königlichen Gesellschaft der Ärzte eine Patientin samt Operationspräparat vor, bei der er 4 Monate zuvor eine abdominale radikale Hysterektomie durchgeführt hatte. Interessanterweise war auch der 31-jährige Ernst Wertheim im Auditorium. Neben der Präparation des Ureters und der Absicht pathologisch vergrößerte pelvine Lymphknoten zu entfernen (die im geschilderten Fall nicht vorhanden waren) beschrieb Latzko bereits eine großzügige Resektion des Parametriums und –kolpiums.
Wertheims radikale abdominale Hysterektomie Ernst Wertheim wurde 1864 als Sohn eines Chemieprofessors in Graz/Österreich geboren (⊡ Abb. 20.1). Nach Absolvieren seines Medizinstudiums an der Universität Graz und einer Zeit als Assistent für allgemeine und experimentelle Pathologie bei Professor R. Klemensiewicz kam er 1898 nach Wien, wo er unter Kahler und Billroth arbeitete. 1890 erlernte er an der Frauenklinik in Wien unter R. Chrobak Gynäkologie und Geburtshilfe, wechselte dann als Assistent nach Prag, wo er mit Friedrich Schauta zusammenarbeitete, der in der Folge nach Wien berufen wurde. Wertheim folgte Schauta und spezialisierte sich vollständig auf die Gynäkologie. Wissenschaftlich beschäftigte sich Wertheim zunächst mit der Gonokokkeninfektion des weiblichen Genitaltraktes, bevor er sich der operativen Behandlung des Zervixkarzinoms zuwandte. 1897 wurde er als leitender Gynäkologe des Bettina Pavillon des Elisabeth Hospitals benannt und erhielt damit erstmals eigene OP-Räumlichkeiten. Durch seine klinischen Erfahrungen hatte Wertheim festgestellt, dass die damals übliche Methode der vaginalen Gebärmutter-Entfernung beim Zervixkarzinom aufgrund ihrer postoperativen Komplikationen und der Rezidivrate nur eine insuffiziente Therapieoption darstellte. Die abdominelle Methode, auf der anderen Seite, war, nach den Erfahrungen mit der Freund’schen Operation, aufgrund der seinerzeit hohen Mortalität von 72% kaum anzuwenden. Basierend auf den genannten Vorarbeiten von Emil Ries in Chicago, John G. Clark
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Kapitel 20 · Gynäkologische Onkologie – Radikaloperationen bei Zervixkarzinom
⊡ Abb. 20.1. Ernst Wertheim (1864-1920, mit freundlicher Genehmigung Prof. Schaller, Wien)
⊡ Abb. 20.2. Darstellung aus Wertheims Monographie 1911: Absetzung des Lig. sacrouterinum.
in Baltimore und Heinrich Theodor Maria Rumpf (1851-1934) in Hamburg, entwickelte Wertheim eine neue Operationstechnik für das Zervixkarzinom unter Berücksichtigung der damals modernen chirurgischen Techniken. Da das Lokal- und das Lymphknotenrezidiv nach einfacher Uterusextirpation ein häufiges Ereignis war, war es Wertheims Ziel, neben dem erkrankten Organ das umliegende Gewebe, das Perimetrium und die angrenzenden Lymphbahnen und –knoten radikal mit zu entfernen. Wertheim berücksichtigte bei seiner Technik die Schonung der Ureteren, die aufgrund ihrer Lage einem erhöhten intraoperativen Verletzungsrisiko ausgesetzt waren. Am 16. November 1898 führte Wertheim die erste radikale abdominale Hysterektomie nach diesen Prinzipien durch, die Operation, die in der Folge nach ihm benannte wurde (⊡ Abb. 20.2). Für die ersten 29 Operationen berichtete er über eine Mortalität von 38%, die nach weiterer Verbesserung der Technik schließlich nach 1300 Operationen9 auf 10% sank. Dies führte zu einer allgemeinen Akzeptanz dieses Verfahrens. Eine umfassende Darstellung der Ergebnisse seiner radikalen Hysterektomie an 500 Patientinnen erfolgte in seiner 1911 veröffentlichten Schrift Die erweiterte abdominale Operation bei Carcinoma colli uteri (auf Grund von 500 Fällen. Wertheims Verdienst ist nicht nur die Entwicklung der Technik, die, wie er selber häufig betonte, auf den Vorarbeiten von A.W. Freund (1878), Ries (1895), Clark (1896) und Rumpf basierte, sondern vor allem die Systematisierung und klare Beschreibung der Technik, die Grundlage für ihre Reproduzierbarkeit darstellte.
20
9
Archiv für Gynäkologie, 1900, 61: 627-668
399 Historische Entwicklung der Technik der radikalen Hysterektomie
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Schauta’sche Operation Friedrich Schauta wurde 1849 in Wien geboren. Nach Zwischenstationen in Innsbruck und Würzburg folgte er 1887 zunächst einem Ruf nach Prag als Nachfolger von August Breisky, bevor er 1891 den Lehrstuhl für Gynäkologie und Geburtshilfe in seiner Heimatstadt Wien übernahm (⊡ Abb. 20.3). Auf der Versammlung der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie im Mai 1901 hatte Schauta den Vortrag Schuchardts’ gehört. Bereits im Juni desselben Jahres führte er die erste radikale vaginale Hysterektomie basierend auf Schuchardts’ Technik durch. Der Impuls Schautas, die vaginale Totalextirpation des Uterus zu erweitern, war nicht zuletzt bedingt durch die Erfolge seines Schülers Wertheim mit der abdominalen Technik. Schauta betonte die Priorität Schuchardts bezüglich der Entwicklung der Erweiterung der vaginalen Totalextirpation des inneren Genitales durch die paravaginale Schnittführung. Hierdurch war erstmals gegenüber der von Czerny durchgeführten einfachen Hysterektomie die Darstellung und Resektion von parametranem Gewebe möglich. Schauta modifizierte den Eingriff, indem er regelhaft eine großzügige Scheidenmanschette resezierte und systematisch den Ureter isolierte, was die Grundlage für eine ausgedehnte Resektion des Parametriums war. Bis 1907 konnte er über 257 so behandelte Patientinnen berichten und wurde zum Vorreiter der vaginalen Radikaloperation. In seiner 1908 erschienenen Monographie Die erweiterte vaginale Totalextirpation des Uterus bei Collumkarzinom lieferte er erstmals eine bebilderte Darstellung des Operationsverfahrens. Zwischen Wertheim und Schauta bestand eine Kontroverse hinsichtlich der Priorität des vaginalen oder des abdominalen Zuganges, der im Wesentlichen durch die unterschiedliche Wertung der Lymphknotenentfernung bedingt war
⊡ Abb. 20.3. Friedrich Schauta (1849-1919, mit freundlicher Genehmigung Prof. Schaller, Wien)
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(Drüsenstreit). Während Wertheim deren Notwendigkeit betonte, war Schauta ein Gegner der regionären Lymphonodektomie. Nach der Pensionierung Schautas im Jahre 1914 fand sich bis zur Wiederaufnahme und Weiterentwicklung der Methode 1924 durch einen weiteren Schüler Isidor Amreich (SchautaAmreich-OP) und Walter Stoeckel (Schauta-Stoeckel-OP) in Berlin kein Protagonist dieser Technik im deutschsprachigen Raum.
Radikale Hysterektomie in Japan: Okabayashi-Hysterektomie und die Entwicklung nervenschonender Verfahren Die japanische Standardoperation für die radikale Hysterektomie ist die Okabayashi-Operation, die benannt nach ihrem Entwickler Hidekazu Okabayashi, 1921 von der Kyoto Universität berichtet wurde. Im Vergleich zur Wertheim’schen Abdominaloperation wird hier eine noch radikalere Resektion des Parametriums vorgenommen und das hintere Blatt des vesikouterinen Ligaments separiert. Diese Technik erlaubt es, Blase und Ureter komplett von Zervix und Scheide zu lateralisieren, so dass, je nach Tumorausdehnung, die Resektion einer beliebig großen Scheidenmanschette ermöglicht wird. Hierdurch konnte die Radikalität des Eingriffs gesteigert werden. Häufige Komplikationen dieses Eingriffs waren jedoch Blasen- und Darmentleerungsstörungen, so dass Okabayashi selber erkannte, dass eine Schonung der Nervenfunktion eine zukünftige Herausforderung der Optimierung der radikalen Hysterektomie sein würde.
Uterus
Rectum Hypogastric Nerve
Pelvic splanchnic nerve
Vagina Bladder
Bladder branch from the inferior hypogastric plexus
Iliac artery and vein
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⊡ Abb. 20.4. Autonome Innervation der weiblichen Beckenorgane. Während der radikalen Hysterektomie wird beim Absetzen des Sakrouterin-Ligamentes häufig der N. hypogastricus verletzt oder durchtrennt (1), ebenso die Nn. splanchnici pelvici beim Absetzen der tiefen uterinen Vene im Lig. cardinale (2), und der Blasenast des inferioren hypogastrischen Plexus beim Absetzen des Parakolpiums (3). Nach Fujii et al. Gynecol Oncol 2007, Abdruck mit freundl. Genehmigung durch Elsevier.
401 Historische Entwicklung der Technik der radikalen Hysterektomie
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In Folge haben eine Reihe japanischer, aber auch europäische Chirurgen anatomische Studien betrieben und Konzepte entwickelt, um die postoperative sym- und parasympathische Nervendysfunktion im kleinen Becken zu vermeiden. Die Überlegungen basierten auf der Beobachtungen, dass der N. hypogastricus bei der radikalen Hysterektomie häufig beim Absetzen des sakrouterin- bzw. rektovaginalen Ligamentes durchtrennt wird. Ebenso sind die Nn. splanchnici pelvici beim Absetzen des lateralen Parametriums und der Blasenast des inferioren hypogastrischen Plexus beim Absetzen des Parakolpiums gefährdet (⊡ Abb. 20.4). Insbesondere durch die neueren Arbeiten von Shingo Fujii konnte durch aufwendige Präparationstechniken und Systematisierung der Anatomie eine nervenerhaltende Variante der Okabayashi-Operation entwickelt werden, die die Radikalität des Eingriffs mit einem besseren funktionellen postoperativen Ergebnis verbinden konnte.
Radikale Hysterektomie in den USA: Joe Meigs und die Wertheim-MeigsOperation Trotz der Fortschritte in der operativen Therapie blieb die perioperative Mortalität, die von Wertheim 1905 mit 20% angegeben wurde, weiterhin beachtlich hoch. Mit der Entdeckung des Radium 1898 und seinem Einsatz für die therapeutische Bestrahlung des Zervixkarzinoms existierte eine relativ risikoarme therapeutische Alternative, die für die folgenden 30 Jahre in den USA die Therapie dominierte. Auch Wertheim selbst war durch die 1913 in Halle veröffentlichen Erfolge der Radiumtherapie verblüfft und wurde zurückhaltender in der Propagation seiner operativen Erfolge. Die Bestrahlung offerierte aber auch einige Nachteile. Das Problem der Strahlenresistenz und des Rezidivs bei vorbestrahlten Patienten führte 1930 den amerikanischen Gynäkologen und Chirurgen Joe Meigs (1892-1963) dazu, das Konzept der operativen Behandlung in den USA neu zu beleuchten. Meigs reiste nach Europa um renommierte Operateure wie Bonney in London, Wanekros in Dresden, Philipp in Berlin und Adler in Wien zu besuchen. Im Vertrauen, dass Fortschritte in der operativen Technik, der Bluttransfusion und in der perioperativen Krankenversorgung, mittlerweile zu einer Senkung der Mortalität geführt haben könnten, begann Meigs seine Operations-Serie am Norfolk Hospital in Massachusetts. Wie u. a. von Taussig in St. Louis gefordert, kombinierte er die bilaterale pelvine Lymphonodektomie mit der klassischen Wertheim-Operation und stellte 1944 in einer Veröffentlichung seine Ergebnisse vor, die den Anspruch der operativen Therapie für Patientinnen mit frühen Tumorstadien (I und II) untermauerte. Meigs berichtete über 100 Patientinnen, von denen keine operationsbedingt verstarb, und bei denen die 5-JahresÜberlebensraten zwischen 81,1% (Stadium I) und 61,8% (Stadium II) lagen. Auch Meigs führte im Verlauf mehrere technische Modifikationen der Wertheim-OP in Anlehnung an die Latzko’sche Konzeption durch. Meigs stellte u. a. die pelvine Lymphonodektomie an den Beginn seiner Operation und entwickelte zunächst die paravesikale und pararektale Grube, was zu einer isolierten Darstellung des lateralen Parametriums führte. Durch seine Arbeit konnte Meigs die operative Behandlung des Zervixkarzinoms in den USA popularisieren.
Pelvine Exenteration Das Konzept der pelvinen Exenteration reicht zurück bis in die 40er-Jahre des letzten Jahrhunderts, als einige amerikanische Chirurgen eine Technik entwickelt hatten, um lokal fort-
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geschrittene oder rezidivierte pelvine Tumoren operativ behandeln zu können. Dem Konzept lag die Beobachtung zugrunde, dass Tumoren im kleinen Becken, insbesondere Zervix- und Rektumkarzinome, gemeinsame biologische Eigenschaften aufweisen: Sie zeigen eine lokoregionale Invasivität und Metastasierung, Fernmetastasen treten jedoch nur bei weit fortgeschrittenen Erkrankungsstadien auf, da die Karzinome nur eine geringe hämatogene Metastasierungstendenz aufweisen. Die Tumor-Persistenz oder das Rezidiv innerhalb des Beckens ist die Haupttodesursache von Patientinnen, die an einem Zervixkarzinom erkrankt sind. Patienten mit fortgeschrittener oder rezidivierter pelviner Erkrankung entwickeln häufig eine Infiltration des Tumors in benachbarte Organe wie die Harnblase, den Ureter oder Darm mit entsprechenden Komplikationen. Daher lag die Schlussfolgerung nahe, dass eine ultraradikale lokale Therapie von diesen Malignomen nicht nur die damit verbundenen Symptome lindern und Komplikationen verhindern könne, sondern auch einen signifikanten Einfluss auf die Prognose des Patienten hätte. Die konzeptionelle Entwicklung der pelvinen Exenteration wird traditionell dem Chirurgen Alexander Brunschwig (1901-1969) zugeschrieben, der seinen ersten Bericht über diese Technik 1948 publizierte. Er beschrieb die originale Technik als eine En-bloc Resektion der gesamten pelvinen Eingeweide inklusive Rektum und Anus, der Harnblase und Teilen des Dammes, in Einzelfällen auch von knöchernen Beckenanteilen, zur Behandlung des rezidivierten Zervixkarzinoms. Stuhl- und Harnableitung erfolgten über eine »nasse« Kolostomie. Die chirurgische Mortalität war mit 23% hoch und das Überleben zu dieser Zeit nach dem Eingriff kurz. Über die letzten 60 Jahre wurden zahlreiche Modifikationen dieser Technik eingeführt, hinsichtlich der Selektion geeigneter Patientin, dem perioperativen Management, der chirurgischen Technik und der Methoden zur kontinenten Stuhl- und Harnableitung. Die initiale »totale« pelvine Exenteration wurde je nach Fall ggf. modifiziert in eine vordere Exenteration mit Erhalt des Rektums oder hintere Exenteration unter Erhalt der Harnblase. Potentielle Indikation für eine primäre Exenteration ist klassischerweise das FIGOStadium IVa, Zervixkarzinom mit Infiltration von Blasen- oder Rektummukosa und große Karzinome, bei denen unter einer Radio-Chemotherapie die Gefahr einer Fistelbildung besteht. Entsprechend der Daten des jährlichen FIGO-Reports liegt das 5-Jahres-Überleben bei Zervixkarzinomen FIGO-Stadium IVa bei ca. 22%. Dennoch existieren bis heute keine randomisierten klinischen Studien, die direkt das Ergebnis nach primärer Exenteration mit dem Ergebnis nach einer primären Radiochemotherapie vergleichen. Exenterationen werden als sekundär bezeichnet, wenn die Indikation ein rezidiviertes oder nach Radio-/ Chemotherapie persistierendes Karzinom ist. Patienten mit Zervixkarzinomen, FIGOStadium Ib-IIa, die eine radikale Hysterektomie erhalten haben, zeigen eine Rezidivrate von ca. 10-15%, wobei etwa 60% der Rezidive im kleinen Becken lokalisiert sind. Patientinnen im FIGO-Stadium II-III, die durch eine Radio-/Chemotherapie behandelt wurden, haben eine Rezidivwahrscheinlichkeit zwischen 20 und 50%. Etwa 70% der Patientinnen mit lokal fortgeschrittener Erkrankung rezidivieren und die meisten sterben am Lokalrezidiv. Es ist allgemein akzeptiert, dass die Exenteration eine adäquate Behandlungsoption für Patientinnen mit einem zentralen Beckenrezidiv oder Tumorpersistenz nach primärer Radio-/ Chemotherapie darstellt. Dabei liegen die Überlebenswahrscheinlichkeiten, je nach Untersuchung, zwischen 16 und 60%. Die Indikation zur pelvinen Exenteration mit palliativer Intention sollte nach Meinung der meisten Autoren heutzutage eher zurückhaltend gestellt werden. Klassische Kontraindikationen sind das Vorliegen von Fernmetastasen, einer Peritonealkarzinose, oder die präoperativ vermutete Irresektabilität. Auch das Vorliegen von tumorpo-
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sitiven pelvinen Lymphknoten ist in Studien mit einem schlechten postoperativen Survival verbunden, so dass einige Autoren die Durchführung einer pelvinen Exenteration ablehnen. Insbesondere das Vorliegen einer Beckenwandinfiltration, was allgemein als Zeichen der Irresektabilität angesehen wird, kann unter Umständen präoperativ schwierig zu beurteilen sein. Definitiven Aufschluss kann hierüber unter Umständen erst bei fortgeschrittener OP gegeben werden. Mögliche indirekte Zeichen der Beteiligung der Beckenwand sind die Hydronephrose und Plexusschmerzen. Somit ist die definitive Beurteilung der Operabilität weiterhin ein ungelöstes Problem, da auch die präoperative Bildgebung nur eingeschränkte Informationen liefert. Hier stellt ggf. das Konzept der Staging-Laparoskopie mit laparoskopischer Lymphonodektomie und intraoperativem Schnellschnitt, sowie präparativer Darstellung der paravesikalen und pararektalen Grube eine mögliche Methode dar, geeignete Patientinnen zu identifizieren. Der Wert der Staging-Laparoskopie wird gegenwärtig in einer gemeinsamen Studie der Arbeitsgemeinschaft Gynäkologische Onkologie (AGO) und der Arbeitsgemeinschaft Radiologische Onkologie (ARO) in einer prospektiv randomisierten Studie überprüft (www.ago-online.de). Höckel hat eine Technik entwickelt, die eine lateral erweiterte endopelvine Resektion (LEER) erlaubt. Diese Technik wurde insbesondere für Patientinnen mit Beckenwandrezidiv eines Zervixkarzinoms und vorausgegangener Beckenbestrahlung entwickelt. In der publizierten Machbarkeitsstudie zeigte er, dass die Ausdehnung der lateralen Resektionsebene der Exenteration auf den medialen Anteil des lumbosakralen Plexus, dem Lig. sacrospinale, dem Azetabulum und der Membrana obturatoria eine komplette (R0-) Resektion von lokal fortgeschrittenen oder rezidivierten Tumoren, die an der Beckenwand fixiert sind, erlaubt. In der Fallserie mit 36 Patientinnen, darunter 7 Fällen mit lokal fortgeschrittenen primären Karzinomen, fand er eine bemerkenswerte 5-Jahres-Überlebensrate von 49%.
Technische Modifikationen In den 60 Jahren nach der Erstbeschreibung durch Brunschwig wurden zahlreiche Modifikationen der originalen Technik mit dem Ziel eingeführt, bei gleicher Radikalität, die anfänglich schwere Einschränkung der Lebensqualität zu vermindern. Neben der bereits zuvor erwähnten Konfektionierung der Exenterations-Ausdehnung in Abhängigkeit von Tumorlokalisation und -größe in vordere, hintere und totale Exenteration sind insbesondere Techniken zur kontinenten Harn- und Stuhlableitung sowie zur vaginalen Rekonstruktion eingeführt worden. Traditionell waren die totale und die hintere Exenteration zwangsläufig mit der Anlage einer permanenten Kolostomie verbunden, was in einer eingeschränkten Akzeptanz dieses Eingriffs gerade bei jüngeren Patientinnen resultierte. Die Einführung von supralevatorischen Rektumresektionen mit tiefer kolorektaler Anastomose mit oder ohne vorgeschaltetes protektives Stoma konnte die Anlage einer permanenten Kolostomie bei kurativ, aber auch nicht kurativ resezierten Patienten vermeiden. In gleicher Weise wurden die Möglichkeiten der Harnableitung erweitert. Brunschwigs’ Technik beinhaltete die Implantation beider Ureteren in die Sigmoideostomie. Daher litten diese Patientinnen postoperativ häufig an Pyelonephritis-Episoden und einer hypochlorämischen Azidose, so dass technische Alternativen gefunden werden mussten. Der erste Meilenstein in der Rekonstruktion der Harnableitung war die Einführung des Ileum-Conduits 1950 durch Bricker, welches zu einer Trennung von Stuhl- und Harnableitung führte. Beide Ureteren wurden in einen Pouch, der aus einem Segment des terminalen Ileum gebildet
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und perkutan ausgeleitet wird, implantiert. Dennoch mussten die Patientinnen weiter einen Urostomiebeutel tragen. Daher wurde die Brickerblase zu verschiedenen kontinenten PouchFormen weiterentwickelt, wie den Indiana-, Kock-, Florida- und den Miami-Pouch. PouchRekonstruktionen wurden für verschiedene Darmanteile beschrieben. Heutzutage kann vielen Patientinnen eine kontinente orthotope Blasenrekonstruktion durch die Formung einer orthotopen Neoblase angeboten werden. Auch für die Rekonstruktion der Scheide zwecks Erhalt der Sexualfunktion existieren mittlerweile eine Vielzahl platisch-rekonstruktiver Verfahren.
Ergebnisse Unter Berücksichtigung der aktuellen Studien, die zwischen 1989 and 2007 publiziert wurden, liegt die perioperative Mortalität zwischen 1 und 9% bei einer Morbidität je nach Untersuchung von 32-84% (zur Übersicht: Fleisch et al. 2010). 1965 veröffentlichte Brunschwig die bisher größte Fallserie mit 430 Patientinnen, die sich einer pelvinen Exenteration unterzogen hatten. Das 5-Jahres Überleben in dieser Gruppe mit unterschiedlichen Grunderkrankungen war 21%. In der Literatur finden sich einige über die Studien hinweg identifizierte negative prädiktive Faktoren für den Erfolg der Exenteration, wie positive pelvine Lymphknoten, die Infiltration der Beckenwand und R1-Resektionen, die jeweils in einem kürzeren postoperativen Überleben resultieren. Die Anwendung einer intraoperativen Strahlentherapie (IORT) ist unter Umständen von Vorteil bei Patientinnen mit mikroskopischem Tumorrest. Zusammenfassend zeigen 60 Jahre nach der konzeptionellen Einführung die bisher publizierten Studien, dass die pelvine Exenteration für ca. die Hälfte der Patientinnen mit lokal fortgeschrittenem oder rezidiviertem Zervixkarzinom zur Heilung führen kann. Die behandlungsbedingte Morbidität ist weiterhin hoch, die Mortalität ist mittlerweile jedoch deutlich unter 5%.
Entwicklung klinischer Stadieneinteilungen parallel zu den operativen Innovationen
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Im Laufe der operativen Weiterentwicklungen wurde die Interdependenz der Faktoren Tumorausbreitung, Ausdehnung der Resektion und Heilungsraten zunehmend deutlicher. Zudem kam mit dem Einsatz der Strahlentherapie für die Behandlung des Zervixkarzinoms Ende der 1920er-Jahre der Wunsch nach einem sinnvollen Vergleich und dem differenzierten Einsatz der beiden Verfahren aufgrund der Heilungsergebnisse auf. Diese Aspekte führten zu Aktivitäten mit dem Ziel der Entwicklung eines Stadiensystems: 1929 wurde von einer Expertenkommission der Health Organization of the League of Nations eine erste Stadieneinteilung, die League of Nations Classification for Cervical Cancer vorgeschlagen. 1934 erfolgte eine Überarbeitung und 1938 die Publikation eines ersten Staging-Atlas mit präziser Terminologie und Definitionen der einzelnen Stadien. Abgelöst wurde diese Ausarbeitung 1950 durch eine neue International Classification of the Stages of Carcinoma of the Uterine Cervix. Mit Gründung der FIGO 1954 wurde dieses System übernommen und später vom FIGO Oncology Committee anhand des von ihm betreuten Annual Report und der aktuellen wissenschaftlichen Publikationen weiterentwickelt. Um eine weltweite
405 Klassifikationen der radikalen Hysterektomie
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Anwendbarkeit ohne Rücksicht auf jeweilige technische Ausstattung und unter diesen Voraussetzungen auch Therapiedaten an den Annual Report zu ermöglichen, ist das Zervixkarzinom-Stadiensystem im Gegensatz zu dem der anderen Genital-Tumoren nicht operativ begründet, sondert basiert auf den Informationen aus Inspektion, Palpation, Kolposkopie, endozervikale Kürretage, Hystero-, Zysto- und Rektoskopie, der i.v.-Urographie und der Röntgenuntersuchungen von Lunge und Skelett. Konisation oder Zervixamputation wird auch als klinische Untersuchung betrachtet. Dabei ist man sich der Tatsache bewusst, dass zwischen der klinischen und der histologischen Beurteilung der Stadien eine Diskrepanz in ca. 30-40% der Fälle besteht. Für moderne Therapiestudien und individuelle Entscheidungen wie z. B. adjuvante Maßnahmen, wird man daher die histologische Tumorausbreitung benutzen. Interessanterweise bestehen bei gleicher Stadienlage auch noch internationale Unterschiede in grundsätzlichen Fragen. Während in Deutschland und Japan traditionell die FIGOStadien Ia-IIb und in machen Zentren auch das Stadium IVa bevorzugt operativ behandelt werden, wird in den USA das Stadium IIb vorwiegend als Indikation für eine Radio-Chemotherapie gesehen.
Klassifikationen der radikalen Hysterektomie Die stadienabhängige Ausdehnung der Resektionsgrenzen hat einerseits zu ultraradikalen Techniken auf der anderen Seite zu eher modifiziert radikalen schonenderen Operationen geführt. Durch die Vielzahl der Techniken und Beschreibungen umfasst der Begriff der Radikalität eine relative Spannbreite und ist begrifflich auch nicht immer eindeutig definiert. Alleine die Terminologie der anatomischen Strukturen ist je nach Beschreiber unterschiedlich, was die Vergleichbarkeit unterschiedlicher Prozeduren einschränkt. Vor diesem Hintergrund wurde erstmals 1974 der Versuch einer allgemeingültigen Klassifikation der stadienabhängigen Radikalität bei der operativen Therapie des Zervixkarzinoms unternommen. Piver, Rutledge und Smith schlugen eine Einteilung in fünf Typen der radikalen Hysterektomie für Patientinnen mit Zervixkarzinom vor, die seitdem Bestand hat und von vielen Operateuren verwendet wird. Eine Reihe von Kritikpunkten sind hinsichtlich der PiverKlassifikation geäußert worden, einige Modifikationen durchgeführt worden, die schließlich dazu geführt haben, dass die Piver-Klassifikation mittlerweile uneinheitlich gebraucht bzw. missbraucht wird und dadurch die Vergleichbarkeit (Überleben, Morbidität, etc.) und präzise Abgrenzung unterschiedlicher Formen der radikalen Hysterektomie zwischen verschiedenen Operateuren nicht mehr gegeben ist. Auch neuere ultraradikale oder auch fertilitätserhaltende Techniken sind in der originalen Piver-Klassifikation nicht mehr abgebildet. Als Konsequenz gibt es Vorschläge zu einer neuen Klassifikation der Formen der radikalen Hysterektomie: Das Surgery Committee der Gynecological Cancer Group (GCG) der Europäischen Organisation zur Erforschung und Behandlung von Krebsleiden (EORTC) hatte 2008 ihren Vorschlag einer Klassifikation publiziert, die basierend auf der Piver-Klassifikation einige chirurgische Details weiter spezifizierte. Ziel war es, hiermit eine praktische, klinisch relevante und standardisierte Klassifikation zu schaffen (⊡ Tab. 20.2). Auch Querleu und Morrow haben 2009 eine neue Klassifikation (Typ A-D) vorgeschlagen, die lediglich auf dem Ausmaß der lateralen Resektion (parametran) basiert. Die einfache Hysterektomie wird nicht mehr aufgeführt. Die Resektion der Scheide erfolgt lediglich tumoradaptiert.
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Kapitel 20 · Gynäkologische Onkologie – Radikaloperationen bei Zervixkarzinom
⊡ Tab. 20.2 Neue Klassifikation der radikalen Hysterektomie nach EORTC 2008 (basierend auf der Klassifikation von Piver und Rutledge 1974 Typ 1
Typ 2
Typ 3
Typ 4
Typ 5
einfache HE
Modifiziert-radikale HE: Uterus, Parametrium und obere Vagina (1-2 cm) werden nach Dissektion der Ureteren bis zum Eintritt in die Blase reseziert. Ligatur der A. uterina, Resektion der mittleren Hälfte der Parametrien und proximal der Sakrouterin-Ligamente
Radikale HE: En-bloc-Entfernung des Uterus mit oberem Scheidendrittel zusammen mit dem Parametrium und –kolpium. Absetzen der Uterina abgangsnah, komplette parametrane Resektion. Entfernung der SakrouterinLigamente soweit wie möglich
Erweitert-radikale HE: Zusätzlich zu Typ 3 Entfernung von ¾ der Scheide und zugehörigem Parakolpium
Partielle Exenteration: Terminaler Ureter, ein Segment der Blase oder Rektum (supralevatorisch) werden zusammen mit dem Uterus und den Parametrien entfernt
A) Typ II–V Hysterektomien (HE) zusätzlich mit systematischer bilateraler pelviner Lymphonodektomie B) Die Adnexentfernung ist kein Bestandteil der radikalen Hysterektomie per se.
⊡ Tab. 20.3 Klassifikation der radikalen Hysterektomie, nach Querleu und Morrow 2009 Typ A
Typ B 1+2
Typ C 1+2
extrafaszial Ureter
Identifikation keine Dissektion
Vesikouterines Ligament
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lateral erweitert Lyse aus dem Ureterdach
komplette Ureterolyse
Partielle Resektion
blasennah
Parametrane Resektion
Medial des Ureters
Auf Höhe des Ureterdurchtritts
am Übergang zu den Vasa iliaca interna
SakrouterinLigamente
Uterusnah
Partielle Resektion
rektumnah
Vagina
Minimal ohne Parakolpium
≥1 cm
1,5-2 cm plus Parakolpium
B2: plus laterale parazervikale (parametrane) Lymphknotendissektion
C1: mit Nervenerhalt C2: ohne Nervenerhalt
Zusätzlich
Typ D 1+2
Beckenwand
Interne Iliakalgefäße D2: Zusätzlich Faszien- oder Muskelstrukturen (z. B. LEER-Operation)
407 Innovative Strategien zur operativen Behandlung des Zervixkarzinoms
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Innovative Strategien zur operativen Behandlung des Zervixkarzinoms Totale mesometriale Resektion (TMMR) Zwei fundamentale Probleme der klassischen radikalen Hysterektomie nach Wertheim sind die potentielle Gefährdung der Blasen- und Mastdarmfunktion durch Durchtrennung der autonomen Nervenfasern im Rahmen der Operation und die, in Abhängigkeit von Tumorgröße und Ausbreitungsmuster bestehende Notwendigkeit einer adjuvanten Strahlentherapie, aufgrund des erhöhten Rezidivrisikos beim Vorliegen bestimmter Risikofaktoren. Dabei birgt bekanntermaßen die Kombination von Radikaloperation und anschließender Radiochemotherapie verglichen mit der alleinigen Operation oder der primären Radio-(Chemo-)Therapie die höchste Morbidität für die Patientin. In Zusammenarbeit mit einer Anatomin entwickelte Höckel 2005 (Mainz, später Leipzig) das auf der Müller’schen Anlage beruhende Konzept eines durch subperitoneal gelegenes Mesogewebe umscheideten Kompartiments (⊡ Abb. 20.5). Danach hat das parametrane und paravaginale Gewebe einen anderen embryologischen Ursprung. Basierend auf der Überzeugung, dass die Tumorausbreitung sich an den Verlauf der mesometrialen Strukturen hält, führt Höckel eine Resektion des gesamten Müller’schen Kompartiments außer seines distalen Anteils für die FIGO-Stadien Ib-IIb durch. Dazu zählt er auch das aus der embryonalen Entwicklung zugehörige Lymphknoten und -bahnen-System, das konsequenterweise zu resezieren ist, während das nichtlymphatische Gewebe, wie z. B. autonome Nervenstrukturen oder die Vaskularisation der Harnblase, auch bei räumlicher Nähe der Tumorkontur, mit günstigen funktionellen Auswirkungen erhalten werden können. Daraus leitet sich nach Höckel ab (Höckel 2005, 2009): 1. Die an den mesometrialen Strukturen orientierte Resektion des Müller’schen Kompartiments und die komplette Lymphonodektomie in den pelvinen viszeroparietalen Kompartimenten führt zu hoher lokaler Tumorkontrolle bei reduzierter postoperativer Morbidität. 2. Bei erhaltenen und intraoperativ glatten Kompartiment-Konturen sind auch knappe Resektionsgrenzen nicht mit einer Erhöhung der Lokalrezidiv-Rate verbunden. 3. Pelvine Rezidive treten an den Stellen auf, an denen nach der konventionellen Technik bei der Resektion das Müller’sche Kompartiment unvollständig entfernt wurde. Bei Anwendung seines operativen Konzeptes ohne zusätzliche Bestrahlung an 212 konsekutiven Patientinnen, führte Höckels Auswertung zu einer Heilungsrate von 94% und einem Gesamtüberleben von 96%. 63% wiesen histologische Risikomerkmale auf. Eine Grad-2Morbidität wiesen 9% der Patientinnen auf. Die Ergebnisse müssen auf ihre Reproduzierbarkeit hin überprüft werden, wobei Antworten auf folgende Fragen interessieren: ▬ Warum haben selbst sorgfältige und detaillierte histologische Studien, z. T. an in dieser Beziehung informativen histologischen Großflächen-Präparaten keinen Hinweis auf andere Ausbreitungs-Präferenzen des Tumors als die vorwiegend am Parametrium orientierte ergeben, wie dies auch die zugegebener weniger sensitiven vaginorektalen Untersuchungen und bildgebenden Verfahren nahelegen? ▬ Wie passt die allgemein wahrgenommene Verteilung der Rezidiv-Lokalisation nahtlos zu dem Konzept? Nicht zuletzt hat sich Höckel selber zuvor mit der Beckenwandrezidiven beschäftigt, die Ausdruck einer nicht erreichten oder nicht erreichbaren Parametrienresektion sind.
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Kapitel 20 · Gynäkologische Onkologie – Radikaloperationen bei Zervixkarzinom
⊡ Abb. 20.5. Schematische Darstellung des Müller’schen Kompartimentes (grün) und der entsprechenden Lymphknotenbassains (orange) (pv=paravesikal, ei=iliaca externa, ci=iliaca communis, ps=präsakral, mm=mesometrial). Abdruck aus The Lancet Oncology (32) mit freundlicher Genehmigung durch Elsevier
Die in Aussicht stehenden Verbesserungen in der Relation zwischen Therapie-Erfolgen und therapieassoziierter Morbidität lässt eine multizentrische Studie wünschenswert erscheinen.
Minimalinvasive Operationen – Laparoskopisches Staging
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Spätestens seit den Ergebnissen von Huhn aus dem Jahre 1969, der lymphographisch und durch Studien an Operationspräparaten die teils kontinuierliche, teils diskontinuierliche Ausbreitung des Zervixkarzinoms nachvollzog, konnte die alleinige vaginale Radikaloperation ohne Lymphonodektomie ihren Stellenwert nicht behalten. Eine 1984 publizierte großangelegte Studie an 4 Universitätskliniken, die bei 1092 Patientinnen standardisiert das vaginale mit dem abdominalen Operationsverfahren verglich (Baltzer 1984), hatte zwei wesentliche Ergebnisse: Weder für die postoperative adjuvante Strahlentherapie noch für die vaginale Radikaloperation blieben –gemessen an den Heilungsergebnissen – Indikationen übrig. Erst die Ära der minimalinvasiven Chirurgie belebte wieder den vaginalen Zugangsweg. Grundlage hierfür war die erfolgreiche Einführung der laparoskopischen Lymphonodektomie durch Dargent und Salvat 1989 in Frankreich bei Frauen mit Zervixkarzinom. Wegen des eingeschränkten Zuganges zu den pelvinen Lymphknoten und der fehlenden Möglichkeit, paraaortale und Iliaca-communis-Lymphknoten zu beurteilen, wurde diese Technik anfänglich nicht generell akzeptiert. Erst die Einführung der laparoskopischen paraaortalen Lymphono-
409 Innovative Strategien zur operativen Behandlung des Zervixkarzinoms
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dektomie durch Childers verhalf der Technik zur allgemeinen Akzeptanz für das operative Staging aller gynäkologischen Tumoren. Childers berichtete über eine kombinierte pelvine und paraaortale Lymphonodektomie bei 16 von 18 Patientinnen mit Zervixkarzinom. Dargent schlug als erster vor, dass die laparoskopische Lymphonodektomie mit der historisch verlassen radikalen vaginalen Hysterektomie (RVH) nach Schauta im Sinne einer laparoskopisch assistierten radikalen vaginalen Hysterektomie (LARVH) kombiniert werden könne. Er publizierte die einzigen bisher verfügbaren Langzeitergebnisse dieser Operation, wobei die 3-Jahres-Überlebensrate bei 51 Patientinnen mit negativen pelvinen Lymphknoten bei 95,5% lag. Hatch et al. berichteten über 37 Patienten, die mit einer laparoskopischen pelvinen und paraaortalen Lymphonodektomie mit anschließender RVH behandelt wurden. Aus der Universitäts-Frauenklinik in Jena berichteten Schneider und Mitarbeiter 1996 über 33 Patienten, bei denen die Hysterektomie in Schauta-Stoeckel Technik durchgeführt wurde. Es traten insgesamt 5 (15%) intraoperative Komplikationen auf, die im gleichen Eingriff noch behoben wurden und ohne weitere Folgen ausheilten. Roy et al. veröffentlichten eine Serie von 52 Patientinnen, bei denen die laparoskopische pelvine Lymphonodektomie in Kombination mit einer radikalen vaginalen Hysterektomie in 25 Fällen oder mit einer radikalen abdominellen Hysterektomie in 27 Fällen durchgeführt wurde. Die beiden Gruppen zeigten vergleichbare Ergebnisse hinsichtlich Blutverlust (400 vs. 450 ml), OP-Dauer (270 vs. 280 min), Häufigkeit von Bluttransfusionen (4 vs. 5 Patienten) und stationärer Aufenthaltsdauer (7 Tage für beide Gruppen). Vergleichsweise häufiger in der Wertheim-Gruppe fanden sich postoperatives Fieber, Wundinfektionen und Ileus. Bei einem mittleren Follow-Up von 27 Monaten trat nur ein Rezidiv auf. Aktuelle Studien haben gezeigt, dass mit steigender Erfahrung des Operateurs die Komplikationsrate dieses Eingriffes sinkt. Daten zum Langzeitüberleben sind von Hertel 2003 bei 200 Patientinnen mit einem mittleren Follow-up von 40 Monaten berichtet worden. Das projizierte 5-Jahres Überleben war 83%. Für die 100 lowrisk-Patientinnen mit der Konstellation Stadium I, keine Lymphgefäßinvasion und keine Lymphknotenbeteiligung, lag das Überleben bei 98%. Trotz der sinkenden Komplikationsrate mit zunehmender Erfahrung des Operateurs bleibt gerade die Rate an intraoperativen Komplikationen durch Läsionen des Ureters und der Harnblase bei der LARVH hoch, so dass auch diese Technik im Verlauf von einigen Operateuren modifiziert wurde. Hier sind vor allem die totale laparoskopische radikale Hysterektomie (TLRH, laparoskopischer Wertheim), und die vor kurzem vorgestellte robotische radikale Hysterektomie (RRH, Boggess et al. 2008) und vaginale Roboter-assistierte radikale Hysterektomie (VRARH, Oleszczuk et al. 2009) zu nennen. Neben den Beiträgen der erwähnten deutschen operativen Gynäkologen ist für die endoskopischen Operations-Techniken hervorzuheben, dass wesentliche technische Beiträge aus Deutschland Voraussetzung für die gesamte Entwicklung waren. Semm aber auch Frangenheim hat sowohl bezüglich der technischen Instrumenten-Innovationen, wie auch der gedanklichen Akzeptanz endoskopischer Operationen gegen teilweise heftigen Widerstand im In- und Ausland Pionierarbeit geleistet. Deutsche Firmen, wie z. B. Storz, Wisap und Wolf haben sich weltweit höchste Anerkennung und Akzeptanz durch beeindruckende technische Spitzenprodukte erworben. Damit wird aber auch erkennbar, dass seit einiger Zeit eine neue Phase, nicht nur in der operativen Gynäkologie, begonnen hat: Die Prägung der weiteren Entwicklung der operativen Fächer durch die Interaktion zwischen innovativer technischer und apparativer Entwicklung einerseits und der wissenschaftlich begründeten konzeptionellen Umsetzung durch kompetente Operateure andererseits.
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Kapitel 20 · Gynäkologische Onkologie – Radikaloperationen bei Zervixkarzinom
Fertilitätserhalt beim frühen Zervixkarzinom: radikale vaginale Trachelektomie (Dargent’s Operation) Die traditionellen Formen der radikalen Behandlung des Zervixkarzinoms waren zwangsläufig mit einem Verlust der Fertilität verbunden. Der erste erfolgreiche konservativ-chirurgische Ansatz für das invasive Zervixkarzinom wurde durch Daniel Dargent 1994 beschrieben. Diese Operation wird als radikale vaginale Trachelektomie bezeichnet und verbindet die laparoskopische pelvine Lymphonodektomie mit der radikalen Entfernung der uterinen Zervix und dem umgebenden Parametrium. Der uterine Korpus wird durch eine zervikoisthmische Cerclage verschlossen und die Scheide an die Neozervix fixiert. Hierdurch war und ist für junge (<40 Jahre) Frauen mit Kinderwunsch der Erhalt der Reproduktionsorgane bei Frühstadien des Zervixkarzinoms (FIGO Ia1 mit LVSI, Ia2, Ib1) ohne vermutete Lymphknotenbeteiligung ermöglicht worden. Shepherd und in der Folge auch Roy und Plante modifizierten den Eingriff und berichteten über erfolgreich ausgetragene Schwangerschaften nach dieser Operation. Mittlerweile haben weltweit mehr als sieben Zentren ihre onkologischen und reproduktiven Ergebnisse publiziert. Bei korrekter Indikationsstellung sind die onkologischen Ergebnisse mit denen nach radikaler abdominaler Hysterektomie vergleichbar.
Zusammenfassung Die historische Entwicklung der radikalen Hysterektomie für die operative Behandlung des Zervixkarzinoms ist beispielhaft für die generellen Fortschritte in der Therapie gynäkologischer Malignome. Waren in der historischen Zusammenschau anfänglich die Bemühungen zur Steigerung der Radikalität und Senkung der perioperativen Mortalität führend, kam es in Folge durch ein verbessertes Verständnis der Biologie und der Ausbreitungswege des Tumors zu einer stadienabhängigen Anpassung und Modifikation der Therapiekonzepte. Aktuelle Innovationen sollen die behandlungsbedingte Morbidität bei gleichem onkologischem Anspruch weiter senken. Die operative Therapie aber auch das ätiologische Verständnis des Zervixkarzinoms ist wesentlich durch Ärzte und Wissenschaftler aus dem deutschsprachigen Raum geprägt worden.
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Kapitel 20 · Gynäkologische Onkologie – Radikaloperationen bei Zervixkarzinom
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Gynäkologische Onkologie – Endometriumkarzinom Günter Emons
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Kapitel 21 · Gynäkologische Onkologie – Endometriumkarzinom
Ende des 19. Jahrhunderts Das Endometriumkarzinom (EC) ist heute in den westlichen Industrieländern das vierthäufigste Karzinom der Frau und – abgesehen vom Mammakarzinom – das häufigste Karzinom der weiblichen Genitalorgane. Vor 120 Jahren galt: »Sicher ist, dass das Carcinom des Körpers im Vergleich zu dem des Cervix von grosser Seltenheit ist«. »Unter 420 auf der Wiener Frauenabtheilung behandelten Fällen von Uteruscarcinom hat sich nur einmal Carcinom am Körper befunden. Unter den von uns beobachteten 812 Fällen von Uteruskrebs fanden sich 28 dem Körper angehörig = 3,4%« (Hofmeier 1890). In Sektionsstatistiken fanden sich von 686 Uteruskarzinomen 13, also nicht ganz 2% im Korpus. Die Kollegen Ende des 19. Jahrhunderts hatten für das EC klar herausgearbeitet, dass der Altersgipfel nach der Menopause (50- 60 Jahre) lag. Auch zur Ätiologie existierten schon wichtige Erkenntnisse: »Ein wichtiger ätiologischer Unterschied gegen das Carcinom des Cervix besteht ferner darin, dass die bösartige Erkrankung des Körpers durchaus nicht in so auffälliger Weise die Nulliparen verschont, wie das das Cervixcarzinom thut. Nach Hofmeier hatten unter 28 Kranken 6 = 21% nie geboren« (2). Schauta beschrieb 1897: »Myom und Carcinom des Uterus, besonders des Körpers kommen nicht selten in Kombination vor. Bei Carcinom des Körpers befindet sich das Endometrium, soweit es nicht karzinomatös erkrankt ist, im Zustande hochgradiger Hypertrophie, und zwar finden wir meist die glanduläre und die interstitielle Form der Hypertrophie des Endometriums«. Als typische Symptome galten schon damals atypische Blutungen: »Die Blutungen sind anfangs typisch, d. h. sie treten als Verstärkung der normalen Menstruation ein; bald werden sie jedoch atypisch, in dem sie sich unter äusseren Veranlassungen, z. B. Coitus, stärkeren Gemüthsbewegungen oder bei stärkeren Anstrengungen auch außerhalb der menstrualen Zeit einstellen. In den späteren Stadien bestehen diese atypischen Blutungen auch ohne jegliche äussere Veranlassung, selbst bei vollkommener Ruhe. Besonders charakteristisch sind Blutungen für Carcinom, wenn sie nach vollkommener Cessatio mensium als ernste Blutungen wiederkehren«. Als pathognomonisch für das Korpuskarzinom galten paroxysmale, kolikartige Schmerzen, hervorgerufen durch Uteruskontraktionen infolge der Aufdehnung des Kavums durch den Tumor. »Sie treten besonders quälend auf, wenn sich der Uterus bemüht, die Massen auszustossen. Am ausgesprochensten kann man sie dann beobachten, wenn bei Nulliparen hinter dem engen und unnachgiebigem Cervix sich größere Massen ansammeln und den Uterus stark ausdehnen können«. Als weiteres typisches Symptom galt die gleichmäßige, später dann buckelartige Vergrößerung des Uterus bei zunächst unauffälliger Zervix. Es galt als gesichert, dass das Korpuskarzinom ausnahmslos von der Schleimhaut ausgeht (⊡ Abb. 21.1, ⊡ Abb. 21.2, Hofmeier 1890, Schauta 1897). Die Entstehung von squamösen Anteilen, hervorgehend aus Metaplasien, war bekannt. »Die Wucherung verbreitet sich über die Schleimhaut des Körpers und geht, wenn auch nicht mit großer Vorliebe, auch allmählich auf die des Cervix über«. »In der Mehrzahl der Fälle aber handelt es sich beim Carcinom des Körpers weniger um massenhafte Neubildung, als um schnellen Zerfall der neugebildeten Massen, so dass sich die Uterushöhle in eine carcinomatöse Geschwürsfläche umwandelt. Allmählich dringt dieselbe bis ans Bauchfell vor oder sekundäre Knoten zerstören dasselbe, aber nicht ohne dass Verlöthungen mit angrenzenden Organen oder Abkapselungen durch Pseudomembranen vorausgegangen wären«. Aus heutiger Sicht hoch modern war die Erkenntnis: »Das Corpuscarcinom schreitet, so lange es auf die Schleimhaut sowie auf die innere und mittlere Muskelschicht beschränkt ist, langsam vorwärts. Erst wenn es in Lymphbahnen grösserer Strombreite an der Grenze zwischen mittlerer und äusserer sowie in der äusseren Muskelschicht einbricht, beginnt ein rascheres Vorschreiten und werden die dem Corpus zugehörigen Lymphbahnen in die Erkrankung einbezogen.«.
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⊡ Abb. 21.1. Karzinom der Uterusschleimhaut, nach Hofmeier 1890
⊡ Abb. 21.2. Zugehöriger mikroskopischer Schnitt. Übergang vom Adenom zum Karzinom, nach Hofmeier 1890
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Kapitel 21 · Gynäkologische Onkologie – Endometriumkarzinom
Ernste und wiederholte Postmenopausenblutungen galten als pathognomonisch, wenn durch Spiegeleinstellung bewiesen war, dass sie e cervice kamen. In Zweifelsfällen wurde die Diagnose erhärtet durch Austastung des Kavums mit einer Sonde oder durch die Gewebegewinnung mit dem scharfen Löffel bzw. der »Probeauskratzung« nach Dilatation der Zervix. Als Therapie der Wahl galt die vaginale totale Exstirpation des Uterus sowie die Entfernung der Adnexe, sofern keine Einbeziehung der Nachbarorgane vorlag. Eventuelle Probleme durch die Vergrößerung des Uteruskörpers und die oft vorhandene senile Veränderung der Gewebe, insbesondere bei Nulliparen waren bekannt. »Bei der fortgeschrittenen Technik der vaginalen Totalexstirpation werden aber wohl nicht viele Fälle übrig bleiben, die nicht in dieser Weise zu operieren wären«. In diesen Ausnahmefällen wurde die abdominale Totalexstirpation des Uterus empfohlen. Es wurde aber darauf hingewiesen, dass durch Kontamination der Bauchhöhle mit Tumormaterial die perioperative infektiöse Morbidität und langfristig die Rezidivrate bei der abdominalen Operation deutlich erhöht waren. Schauta empfiehlt deshalb, in diesen Fällen nach abdominaler Lösung von Verwachsungen und Absetzung der Adnexe die Uterusexstirpation per vaginam durchzuführen. Bei inoperablen Patientinnen wurde zur Behandlung der schmerzhaften Kontraktionen die repetitive Entleerung des Kavums mit scharfem Löffel bzw. der Kürette oder ggf. in Kombination mit nachträglicher Verschorfung mit dem Glüheisen oder dem Thermokauter empfohlen. Schauta empfahl bei ausgedehntem Parametrienbefall, aber ansonsten auf den Uterus begrenztem Karzinom dessen Entfernung mit dem Thermokauter. Er hielt dies gegenüber o. g. Vorgehen für die bessere Strategie, da bei wiederholten Auskratzungen häufig Perforationen und Blutungen auftraten. Die Prognose des Endomertriumkarzinoms galt bei rechtzeitiger Operation als günstig und zahlreiche Dauerheilungen waren dokumentiert. Aber auch Schauta beklagte, dass viele Patientinnen mit atypischen Blutungen zu spät einen Arzt konsultierten. »Andererseits aber darf nicht verschwiegen werden, dass vielfach auch von den Ärzten grobe Fehler in der Richtung gemacht werden, dass sie Patientinnen mit derartigen Symptomen mit Verordnungen eines Medicamentes oder mit Verordnung von Ausspritzungen abfertigen, ohne sie einer gründlichen Untersuchung unterzogen zu haben. Ich betrachte eine Ordination bei einer an Ausfluss oder Blutung leidenden Kranken ohne gründliche Untersuchung geradezu als einen Kunstfehler.«
1920–1937 Zu Beginn des letzten Jahrhunderts waren die Techniken der erweiterten radikalen Hysterektomie zur Therapie des Zervixkarzinoms von zahlreichen Autoren erarbeitet worden (zur Übersicht Doederlein 1921). Parallel wurde die intrakavitäre und perkutane Strahlentherapie entwickelt, die als Ersatz oder als Ergänzung der operativen Therapie der Uterusmalignome angesehen wurde. Beeindruckend war die in den 1920er-Jahren vorhandene Kenntnis über den Lymphabfluss der weiblichen Genitalorgane (⊡ Abb. 21.3). Doederlein beschreibt 3 Hauptabflüsse der Lymphe: 1. Den Weg von der Vulva und dem unteren Scheidendrittel in die inguinofemoralen Lymphknoten, 2. den von dem oberen Scheidendrittel und der Zervix über die Parametrien zu den großen Gefäßstämmen an der Beckenwand.
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3. »Der dritte Hauptstamm entstammt dem Corpus uteri. Vier bis fünf Stämme verlassen unter der Tubeneinmündung die Muskulatur, ziehen unter der Tube im Ligamentum latum am Ovarium vorbei, mit dessen Lymphgefäßen reichliche Anastomosen austauschend, um dann die Spermaticalgefäße umspinnend nach den großen Abdominalgefäßen, Aorta und Vena cava zuzustreben«. Es ist schon faszinierend, dass diese Lehrbuchweisheiten aus den 1920er-Jahren völlig verdrängt wurden und diese Tatsachen erst in den letzten Jahren von US-amerikanischen und japanischen Autoren »entdeckt« wurden (zur Übersicht S2k-Leitlinie 2008, Emons 2009). Stoeckel schreibt in seinem berühmten Lehrbuch unter Bezug auf Doederlein im Jahre 1924: »Für das Korpuskarzinom sind die »regionäre« Drüsengruppe die Aortendrüsen, wohin die Lymphbahnen im Ligamentum infundibulopelvicum direkt, ohne die Glandulae hypogastricae und Lumbales zu passieren, hinführen«. Er erläutert, dass bei Befall der Zervix durch EC die operativ zugänglichen pelvinen Drüsengruppen erste Station der lymphatischen Metastasierung sind. »Die Korpuswand dagegen wird sehr viel langsamer durchwachsen, die Metastasen gelangen aber gleich in eine dem Messer nicht mehr zugängliche Drüsengruppe«. Wie schon von Stoeckel angedeutet, hatten die damaligen Operateure, insbesondere auch in Ermangelung entsprechender gefäßchirurgischer Möglichkeiten, Grenzen bei der Lymphonodektomie an den großen Gefäßen. »Die von den eifrigsten Anhängern dieser Lymphgefäßoperation aufgestellte Forderung, nicht bloß einzelne vergrößerte Drüsen zu entfernen,
⊡ Abb. 21.3. Lymphapparat der weiblichen Genitalien (aus Doederlein 1921)
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Kapitel 21 · Gynäkologische Onkologie – Endometriumkarzinom
sondern vielmehr alle und zugleich auch die zugehörigen Lymphgefäße, muss als vollkommen unausführbar bezeichnet werden. Unsere Operationstechnik wird in dieser Beziehung stets hinter derjenigen der Chirurgen bei der Ausräumung der Achselhöhle beim Mammakarzinom zurückbleiben müssen« . Auch die Morphologie hatte große Fortschritte gemacht, der fließende Übergang von der einfachen Hyperplasie zum invasiven Karzinom war bekannt. Die Früherkennung des EC basierte auch Anfang des letzten Jahrhunderts auf der Erkennung atypischer Blutungen und von Ausfluss. Als weiterführende Diagnostik wurde die Dilatation und Abrasio empfohlen (Doerderlein 1921, von Jaschke 1921, Stoeckel 1924, Kahr 1937). Als Therapie der Wahl galt beim Korpuskarzinom nach wie vor die vaginale Totalexstirpation unter Mitentfernung der Adnexe. Stoeckel führt aus: »Radikalismus im Sinne der Radikaloperation des Kollumkarzinoms ist beim Corpuskarzinom undurchführbar, weil die zugehörige Drüsengruppe an der Aorta liegt, dem Messer also unerreichbar, die Ausräumung des Beckenbindegewebes aber sinnlos ist, weil es bei der Metastasierung gar keine Rolle spielt«. Eine Nachbestrahlung zur »Verhütung von Impfrezidiven in der Scheidennarbe« wird empfohlen. Die primäre Strahlenbehandlung des EC bei prinzipiell operablen Befunden galt der operativen Therapie als unterlegen. Bei nicht mehr operablen Stadien wird eine präoperative kombinierte Strahlentherapie erwogen. Stoeckel diskutiert, ob bei eindeutiger Postmenopausenblutung nicht gleich die Hysterektomie durchgeführt und auf die diagnostische Abrasio verzichtet werden sollte. Nachdem er ausdrücklich die präventive Hysterektomie bei prämenopausalen Frauen verurteilt hat, argumentiert er: »Anders liegt für mich die Sache bei den alten Frauen. Ist das Klimakterium gekommen, so hat der Uterus ausgedient. Er kann dann in Ruhe gelassen werden, wenn er selbst Ruhe hält. Tut er das nicht, macht er sich irgendwie mausig, so ist es nach meiner Erfahrung besser, gleich sehr energisch vorzugehen, als sich von der Stärke der Symptome den Grad der Energie vorschreiben zu lassen«. Beachtlich ist die in den 1930er-Jahren popagierte Schmerztherapie bei weit fortgeschrittenen Stadien, die voll dem modernen Dreistufenkonzept entsprach: »Wir beginnen grundsätzlich mit der großen Serie der bekannten Antineuralgica und Nervina, angefangen von einfachen Pulvern: Pyramidon, Antipyrin, Migränin, Aspirin, Codein…… übergehend zu den Mischpulvern…..Phenacodein, Codein Aminopyrin, Cibalgin, Treupelsche Tabletten, Gelonida….. bis wir zu Dicodid, Dilaudid, Pantopon und Morphin gelangen« (Kahr 1937). Auch das Nachsorgekonzept war absolut modern. Für die Betreuung war zwar nicht der niedergelassene Gynäkologe, den es wahrscheinlich in heutiger Häufigkeit noch gar nicht gab, sondern der praktische Arzt zuständig, der »zusammen mit der Anstalt die Patientin in ständiger Beobachtung hält und dafür sorgt, dass sie die Kontrolluntersuchungen nicht versäume. Diese finden am besten in den beiden ersten Jahren jedes Vierteljahr, im dritten alle vier Monate und im vierten und fünften Jahr jedes halbe Jahr statt, entsprechend der Erfahrung, dass je weiter zurück die Operation liegt, desto geringer die Rezidivgefahr wird«. Doederlein beklagt, dass nach Untersuchungen Winters im Jahre 1900 in Ostpreußen nur 17% der an Uteruskarzinom erkrankten Frauen operiert wurden. »Weit aus die größte Mehrzahl ging also unoperiert zugrunde« (4). Zu ähnlichen Zahlen kam Hegar für Freiburg und Heidelberg. Nach Doederlein vermutete Winter, dass von den geschätzten 25.000 Frauen mit Gebärmutterkrebs (im wesentlichen Zervixkarzinom) im Jahre 1900 in Deutschland unter Zugrundelegung der allgemeinen Operabilität und Heilungsraten ca. 1.300 durch Operation geheilt wurden. Doederlein schließt, »dass eine eklatante Besserung dieser Zustände nicht durch die Erweiterung der operativen Maßnahmen erreicht werden kann, sondern dadurch, dass mehr Kranke veranlasst werden, die operative Hilfe aufzusuchen und vor allem auch, dass diese
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Kranken frühzeitig zur Operation kommen.« »Als Ursache für die Verschleppung der Uteruskarzinome,« erkennt Winter aufgrund besonderer Studien an: 1. »Mangelnde Sachkenntnis und Sorglosigkeit der Hausärzte, 2. Gewissenlosigkeit der Hebammen und 3. Verhalten der Frauen selbst«. Die gynäkologischen Fachgesellschaften wie z. B. die fränkische Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe versendeten Aufklärungsschriften an niedergelassene Ärzte und Hebammen, um für eine bessere Beachtung der Frühsymptome des Zervix- und Korpuskarzinoms und eine umgehende diagnostische Abklärung zu sorgen. Es fanden sogar Aufklärungskampagnen der weiblichen Bevölkerung über die Tageszeitungen statt. Stoeckel formuliert 1924 in seinem Lehrbuch: »Sorgfältige Anamneseerhebung und innerliches Aufhorchen bei nur leicht verdächtigen Angaben sind besonders wichtig. Der moderne Krankenkassenbetrieb mit seiner schablonisierenden Schnelltherapie wirkt dem direkt entgegen. Es kommt leider immer noch täglich in Hunderten von Fällen vor, dass das für »Blutungen« bereitliegende, fertig gedruckte Stryptizinrezept ohne jede Untersuchung verabfolgt wird. Das ist einer Karzinomatösen gegenüber ein Verbrechen!«. »Man muss es sich nur zum Prinzip machen, bei jeder Angabe über Metrorrhagien älterer Frauen an Karzinom zu denken. Das nicht rechtzeitige »daran Denken« ist die Ursache schlimmster Fehldiagnosen«.
Die 1950er-Jahre Die pathologische Anatomie hatte die Entwicklung des »gewöhnlichen« Adenokarzinoms des Endometriums aus den Hyperplasien mit zunehmender Atypie erkannt. Auch wurden drei Stufen der »Reife« der EC beschrieben. Auch das gehäufte Auftreten von Korpuskarzinomen nach prolongierter Anwendung des neu entdeckten Follikelhormons (Östrogen) sowie ein deutlich erhöhtes Auftreten von Korpuskarzinomen beim Vorliegen follikelhormonproduzierender Ovarialtumoren waren Mitte der 1950er-Jahre bekannt (Chiari 1955). Neben dem Karzinom, dass wir heute als östrogenassoziierten Typ 1 des EC bezeichnen, wurden auch solche beschrieben, die von atrophischem Endometrium umgeben waren und z. T. »helle« Zellen aufweisen. Als besondere, seltene Formen wurden die papillären Karzinome bezeichnet. Amreich diskutiert den Verdacht, dass das Follikelhormon (Östrogen) ein karzinogener Stoff für das EC sei. Nach einem hoch aktuell anmutenden Disput kommt er zu dem Ergebnis: »Nach all dem scheint das Follikelhormon kein kanzerogener Stoff zu sein, also nicht die tatsächliche Ursache der Entstehung eines Krebses abzugeben. Es bereitet entweder nur den Boden für die Einflussnahme der wirklichen kanzerogenen Noxe vor….. d. h. es schafft durch seinen Proliferationsreiz die vom kanzerogenen Stoff leicht zu kanzerisierenden Teilungsstadien der Zellen oder es bringt eine bereits vorhandene, nicht erkennbare Krebskeimanlage durch seinen Proliferationsreiz zum Vollausreifen«. Heute würden wir von einer Tumorpromotion sprechen. Auch der Zusammenhang zwischen früheren Bestrahlungen des Endometriums wegen einer gutartigen Erkrankung der Genitalorgane und dem Korpuskarzinom wurde schon vor 55 Jahren diskutiert. Das simultane Auftreten von primären Karzinomen des Endometriums und der Ovarien (keine Metastasen!) war bekannt. Die atypische Blutung wurde als Symptom beschrieben, das bei 88% der EC-Patientinnen auftrat. Als Therapie wurde die einfache vaginale oder abdominale Totalexstirpation mit
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Kapitel 21 · Gynäkologische Onkologie – Endometriumkarzinom
Entfernung der Adnexe empfohlen. Als Vorteil des abdominalen Vorgehens wurde die Möglichkeit der Entfernung vergrößerter Lymphknoten beschrieben, die in ca. 11% beobachtet wurden. Neben der lokalen Operabilität, die zwischen 79 und 95% angegeben wurde, war die allgemeine Operabilität, definiert durch Komorbiditäten, zu beachten. Nach Amreich »operierten die übertrieben Konservativen nur 12,64%, die Extremisten der Gegenseite 86% der zugegangenen Korpuskarzinome«. Nach internationalen Statistiken großer Frauenkliniken wurden 77,72% der EC-Fälle operiert. Amreich errechnet eine Heilungsrate des EC von 62%, im Stadium I von 77%. Dyroff und Siegert konzedieren zwar, dass beim Korpuskarzinom unter bestimmten Umständen die alleinige Operation ausreichen kann. »In vielen Fällen sichert aber erst eine prophylaktische Vor- oder Nachbestrahlung den operativen Heilerfolg«. Nach ihrer Ansicht waren 50% der EC-Patientinnen nicht mehr operabel und sollten der alleinigen Strahlentherapie zugeführt werden. Dies wurde idealerweise mit der Ausstopfung des Cavum uteri mit Radiumeiern, der Einlage eines Zervixstifts und der Vorlage einer Portioplatte durchgeführt. Zusätzlich wurde eine perkutane Röntgenbestrahlung empfohlen. Dyroff und Siegert beklagen, dass eine nicht geringe Anzahl von Gynäkologen für die operative Behandlung des Korpuskarzinoms sei; bestenfalls ließen sie noch eine Kombination beider Methoden gelten. Dyroff und Siegert sind der Ansicht, dass bis auf wenige Fälle (gleichzeitige Ovarialtumoren, große weiche Uteri mit Perforationsgefahr) alle EC primär zu bestrahlen seien. Eine Indikation für die Operation des EC sehen sie außer bei o. g. Ausnahmen nur bei strahlentherapeutischen Versagern, die nachträglich noch operiert werden, soweit sie überhaupt noch operabel sind. Nachdem synthetische Sexualsteroidhormone zur Verfügung standen, wurden diese auch zur Therapie des fortgeschrittenen EC eingesetzt. Zur Anwendung kam die kontrasexuelle Hormontherapie mit Androgenen, die neben antitumorösen Eigenschaften auch roborierende und euphorisierende Wirkungen, allerdings auch deutliche verilisierende Effekte (Bartwuchs, Ausfall der Kopfhaare, Erhöhung der Libido) hatten. Auch mit hochdosierten Östrogenen, meist Diäthylstilböstrol, Äthinylöstradiol, Östradioldipropionat wurden Remissionen von Knochen- und Weichteilmetastasen beobachtet. Durch die palliative endokrine Therapie wurde eine mittlere Lebensverlängerung von 12 Monaten erreicht.
Die 1980er-Jahre Jetzt sind die Epidemiologie, die Ätiologie und die histologische Einteilung fast auf heutigem Stand. Die Inzidenz des Zervixkarzinoms hat seit den 1950er-Jahren dramatisch abgenommen, die des Korpuskarzinoms ist leicht angestiegen und hat Anfang der 1970er-Jahre die des Zervixkarzinoms übertroffen. Der Zusammenhang zwischen Östrogenexposition und der Entstehung von EC wird nicht mehr bezweifelt. Die kombinierte Anwendung von Östrogenen und Gestagenen zur Hormontherapie in der Peri- und Postmenopause wird empfohlen (Baltzer 1986). In der pathologischen Anatomie sind die Präkanzerosen klar beschrieben, die Typ 2-Karzinome sind als klarzellige und papilläre Karzinome bekannt. Die Lymphonodektomie gehört noch nicht zu den Stagingmaßnahmen, obwohl die lymphatische Metastasierung in Abhängigkeit vom Grading bekannt war. Neu war die Bestimmung der Steroidhormonrezeptoren. Die empfohlene Therapie war die abdominale Hysterektomie mit beidseitiger Adnexexstirpation sowie die Entfernung vergrößerter (pelviner) Lymphknoten. Die pelvine Lymphondektomie (LNE) wurde bei fortgeschrittenen und Grad 3-Tumoren empfohlen.
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Der Wert einer paraaortalen LNE galt als nicht bewiesen. Im histologisch nachgewiesenen Stadium II wurde eine OP analog zu der des Zervixkarzinoms empfohlen. In der Regel erfolgte fast immer eine adjuvante Brachytherapie des oberen Scheidendrittels. Die präoperative Bestrahlung war verlassen worden. Die adjuvante postoperative perkutane Bestrahlung im Stadium I wurde bei G1- und G2-Karzinomen schon als unwirksam angesehen. Bei G3-Tumoren wurde ein Effekt vermutet. Die in den 50er-Jahren vehement propagierte primäre Strahlentherapie als generelle Methode der Wahl beim Endometriumkarzinom hatte sich nicht durchsetzen können. Sie wurde nur noch bei durch Komorbiditäten inoperablen Patientinnen empfohlen. Die 1980er-Jahre waren die große Zeit der palliativen Behandlungen mit hochdosierten Gestagenen, z. T. in Kombination mit Tamoxifen. Auch entsprechende adjuvante Studien wurden im großen Stil durchgeführt. Die palliative Chemotherapie war noch in den Anfängen und mit schweren, insbesondere kardialen Nebenwirkungen belastet.
2010 Das EC ist in Deutschland mit 11.140 Neuerkrankungen nach den Karzinomen der Mamma, des Darmes und der Lunge das 4.-häufigste Malignom der Frau, aber nur die 11.-häufigste Krebstodesursache. Das 5-Jahresüberleben (alle Stadien) liegt bei 82%. Das mittlere Erkrankungsalter beträgt 69 Jahre. Die höchsten Erkrankungsraten liegen inzwischen in der Altersgruppe der 75- bis 79-Jährigen vor. Absolut nimmt die Inzidenz des EC wegen des demographischen Wandels in unserer Gesellschaft zu. Die altersentsprechenden Neuerkrankungsraten sind seit den 1980er-Jahren leicht rückläufig. Nur in den hohen Altersgruppen (70-84 Jahre) nehmen die Neuerkrankungsraten zu. Die altersstandardisierte Sterberate an EC in Deutschland ist seit 1980 um 50% gesunken und gehört zu den niedrigsten in Europa. Die Unterscheidung in östrogenabhängige Typ 1-EC und nicht östrogenassoziierte Typ 2-EC ist etabliert und wird bei der Therapieplanung berücksichtigt (S2k-Leitlinie 2008, Emons 2009). Therapie der Wahl ist die totale Hysterektomie mit Adnexexstirpation beidseits, die abdominal oder vaginal mit laparoskopischer Assistenz durchgeführt werden sollte. In den letzten Jahren wurde vorübergehend eine generelle Lymphonodektomie, auch bei den Lowrisk-Stadien empfohlen. Neuere Untersuchungen zeigen, dass bei Typ 1-EC der Stadien pT1a, pT1b mit Grading 1 oder 2 durch die alleinige Hysterektomie und Adnexexstirpation Heilungsraten von über 90% erzielt werden. Hier ist der Nutzen einer zusätzlichen LNE bestenfalls marginal und statistisch nicht mehr zu beweisen. Bei den G3- und Typ 2-Karzinomen treten relevante Rezidivraten auf. Hier fehlen aussagekräftige Studien, die geprüft haben, ob eine systematische LNE unter Berücksichtigung des seit 90 Jahren bekannten Lymphabflusses in die Paraaortalregion das Überleben verlängert. Bei den o. g. Low-risk-EC ist heute keine adjuvante Brachytherapie der Scheide mehr indiziert. Auch die adjuvante perkutane Strahlentherapie wird im Stadium I und II des EC hinsichtlich des Überlebens als unwirksam angesehen. Bei pT1c, pT2 bzw. G3-Tumoren wird allerdings zur Verbesserung der lokalen Kontrolle eine vaginale Brachytherapie empfohlen. Unklar ist der Wert einer adjuvanten Strahlentherapie oder einer adjuvanten Chemotherapie bzw. einer Kombination beider Modalitäten bei G3-Tumoren, Typ 2-EC und bei fortgeschrittenen Stadien. Entsprechende Studien sind in Planung.
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Kapitel 21 · Gynäkologische Onkologie – Endometriumkarzinom
In der palliativen Situation hat die endokrine Therapie (Gestagene, Antiöstrogene) weiterhin ihre Berechtigung. Chemotherapien sind wirksam, aber toxisch. Eine relevante Lebensverlängerung durch eine Polychemotherapie konnte bisher nicht bewiesen werden. Große Hoffnungen werden auf die neuen Therapien mit Hemmern der zellulären Signaltransduktion gesetzt.
Fazit und Ausblick Das Endometriumkarzinom ist in Deutschland in den letzten 125 Jahren von einer Rarität zum 4.-häufigsten Karzinom der Frau geworden. Verantwortlich hierfür sind neben dem massiven Rückgang der Zervixkarzinome die zunehmende Lebenserwartung. Mit einer weiteren Zunahme der absoluten Inzidenz ist bei den anstehenden demographischen Veränderungen zu rechnen. Da EC in der Mehrzahl der Fälle in gut operablen Stadien diagnostiziert wurden und werden, waren die Therapieergebnisse durch Hysterektomie auch vor 125 Jahren günstig und liegen heute bei den Low-risk-Fällen bei 5-Jahresheilungsraten von deutlich über 90%. Bei den Fällen mit niedrigem Risiko ist der Wert einer zusätzlichen Radiatio – nach einem großzügigen Einsatz dieser Modalität im 20. Jahrhundert – in den letzten Jahren deutlich relativiert worden. Gleiches gilt für ausgedehntere Operationen wie Parametrienresektion oder LNE. Hier bleibt zu klären, ob sie bei EC mit hohem Risiko eine relevante Verbesserung des Überlebens bei vertretbarer zusätzlicher Morbidität bringen. Möglicherweise werden unsere seit 125 Jahren anhaltenden Bemühungen um die Optimierung der operativen Therapie des EC sowie die seit 100 Jahren betriebenen Anstrengungen in der Strahlentherapie doch in den nächsten Jahren durch bahnbrechende Fortschritte in der Systemtherapie überholt werden.
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Ovarialkarzinom: alte Probleme und neue Lösungsansätze Hans-Gerd Meerpohl
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Kapitel 22 · Ovarialkarzinom: alte Probleme und neue Lösungsansätze
Einleitung
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Bösartige Tumoren des Eierstocks sind in Deutschland die 5.-häufigste maligne Tumorerkrankung der Frau. Charakteristisch für maligne Ovarialtumoren ist deren große biologische und morphologische Heterogenität. Die drei Hauptgruppen ovarieller Neoplasien werden in Analogie zu den morphologischen Strukturen nach den jeweiligen Ursprungszellen benannt. Aus dem Zellverband des Oberflächenepithels (Zölomepithel) entwickeln sich die epithelialen Ovarialkarzinome. Mit knapp 90% bilden diese die weitaus größte Gruppe der primären Ovarialmalignome. Sehr viel seltener sind die non-epithelialen Ovarialmalignome: die malignen Keimzelltumoren mit einer Häufigkeit von 3-5% und die malignen Keimstrang-Stromazell-Tumoren mit einer Häufigkeit von 2-3%. Für die differenzialdiagnostische Abgrenzung bedeutsam sind die metastatischen Tumoren des Ovars, die auch als sekundäre Malignome bezeichnet werden. Im Zentrum dieser Übersichtsarbeit stehen die epithelialen Ovarialkarzinome (EOC). Mehr als 200.000 Frauen erkranken jährlich weltweit neu an einem Ovarialkarzinom und mehr als 125.000 Frauen versterben pro Jahr an den unmittelbaren Folgen dieser bedrohlichsten aller gynäkologischen Tumorerkrankung. Gewichtige Gründe für die ungünstige Prognose der epithelialen Ovarialkarzinome sind seit langem bekannt und haben in ihrer Konsequenz bis heute Bestand: das weitgehende Fehlen sensitiver Tests zur Früherkennung sowie die begrenzten Möglichkeiten einer kurativen Therapie bei Patientinnen mit primär fortgeschrittener Tumorerkrankung. Wiederholt habe ich mir bei der Abfassung diese Artikels die Frage gestellt: Gibt es in der Rückschau auf die vergangenen 30 Jahre klinisch wissenschaftlicher Tätigkeit überzeugende Anzeichen für nachhaltig positive Entwicklungen beim EOC? Meine Antwort ist: Ja, die gibt es. Nachfolgend will ich will versuchen, einige davon aufzuzeigen. Eine Frau mit einem epithelialen Ovarialkarzinom hat im Herbst 2010 in vielen Ländern Europas, den USA und anderswo bessere Chancen, längerfristig mit ihrer Erkrankung zu überleben als noch vor 20 oder 30 Jahren. In einer aktuellen SEER-Analyse wurde für EOC- Patientinnen mit einem FIGO-Stadium III für den Behandlungszeitraum 1988-2006 eine Verlängerung der mittleren karzinomassoziierten Überlebenszeit von knapp 10 Monaten errechnet. Berücksichtigt man die Angaben zur Langzeitprognose aus verschiedenen Tumorregistern, dann erscheint die Annahme begründet, dass, bezogen auf alle Tumorstadien, ab Mitte der 80er-Jahre eine Verbesserung bei den relativen 5-Jahres-Überlebensraten von 10-13% auf heute ±45% und beim relativen 10-Jahresüberleben eine Steigerung um 3-5% auf heute ±35% erreicht wurden. Positive Trends bei den Überlebensraten sind seit Anfang der 1990er Jahre erkennbar. Mit der Entwicklung und Optimierung Platin-basierter Chemotherapie-Regime seit den frühen 1980erJahren auf der einen Seite verbunden mit der seit Anfang der 1990-Jahre deutlich gewachsenen Kompetenz gynäkologisch onkologischer Zentren bei der Anwendung multiviszeraler Operationstechniken, sind zwei wichtige Voraussetzungen für verlängerte Gesamtüberlebenszeiten beim EOC benannt. Darüber hinaus steht heute für die Rezidivsituation ein Spektrum aktiver Substanzen unterschiedlicher Substanzklassen zur Verfügung. Deren Einsatz bei Platin-sensiblen und mit Einschränkung auch bei Platin-resistenten Ovarialkarzinomen kann zu einer Verlängerung der Überlebenszeit bei in der Regel akzeptabler Lebensqualität beitragen. Für die Zukunft sind relevante Therapieverbesserungen wahrscheinlich nur noch in begrenztem Umfang durch Innovation oder Optimierung etablierter Therapiestandards wie Operation und Chemotherapie zu erreichen. Die Vorstellung, alle EOC-Patientinnen mit ein und demselben Therapieansatz erfolgreich oder gar kurativ behandeln zu können, wird immer mehr zu einer Fiktion. Wahrscheinlicher ist, dass es zukünftig unterschiedliche Ansatz-
427 Risiko und Risikoreduktion- qualifizierte Beratung erforderlich
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punkte für eine erfolgreiche Therapie geben wird. In präklinischen und klinischen Studien werden zielgerichtete Therapieansätze derzeit intensiv u. a. zur Hemmung und Modulation der selektiven Rezeptorblockade, der intrazellulären Signaltransduktion, der Neoangiogenese sowie der Zellproliferation und Apoptose getestet. Der eine oder andere dieser Ansätze könnte möglicherweise schon bald dazu beitragen, das therapeutische Armentarium sinnvoll zu erweitern. Parallel dazu wird die histomorphologisch orientierte Klassifizierung der Ovarialneoplasien in naher Zukunft durch eine von molekular-genetischem Verständnis geprägten Systematik erweitert und möglicherweise auch abgelöst werden. Offene Fragen zu Ätiologie und Kanzerogenese maligner Ovarialtumoren stehen vor der Beantwortung. Die Identifikation molekularer Risikofaktoren sowie die Aussicht auf die Detektion diagnostischer ProteomMuster im Serum lassen auf eine Steigerung der Früherkennungsraten hoffen, womit sich die Chancen auf höhere Heilungsraten beim EOC hoffentlich weiter verbessern werden. Bis dorthin muss der klinische Alltag von dem Bemühen bestimmt sein, durch optimalen Einsatz diagnostischer und therapeutischer Standards hohe Kurationsraten bei den Frühstadien und für Patientinnen mit primär fortgeschrittenem EOC eine relevante Verlängerung des krankheitsfreien Überlebens bei gleichzeitig verbesserter Lebensqualität zu erreichen.
Inzidenz und Mortalität – erfreuliche Trends Nach Angaben der WHO bestehen bei den alterstandardisierten Inzidenzraten (ASR) maligner Ovarialtumoren weltweit große Unterschiede. Vereinfachend kann man feststellen, dass in den hoch entwickelten Ländern Europas und Nordamerikas die ASR bezogen auf 100.000 Personen mit 10.2 doppelt so hoch sind wie in weniger entwickelten Ländern Afrikas und Ostasiens (ASR 5.0). Bislang gibt es für diese Unterschiede keine schlüssigen Erklärungen. Migrationsstudien haben gezeigt, dass die relativ niedrigen Inzidenzraten z. B. bei Asiatinnen in ihren Heimatländern sich bei Migrantinnen in der neuen Umgebung (z. B. USA) bereits innerhalb einer Generation tendenziell angleichen. Für Deutschland geht man von einer geschätzten Inzidenzrate von etwa 14/100.000 Frauen aus. Das entspricht einem durchschnittlichen Lebenszeitrisiko von 1 zu 70 Personen. Bei ca. 9.500 Neuerkrankungen für alle malignen Ovarialtumoren pro Jahr und einem mittleren Erkrankungsalter von ca. 60 Jahren ergibt sich ein Anteil an allen weiblichen Krebserkrankungen von 4,7%. In einigen Ländern Europas und den USA sind die Neuerkrankungsraten im Verlauf der letzten 20 Jahre leicht abgesunken. In Deutschland zeigt die Neuerkrankungsrate seit 1980, wohl bedingt durch die demographischen Veränderungen, eine leicht ansteigende Tendenz. Ein Anstieg der Erkrankungsraten ist vor allem bei dem Personenkreis der über 65Jährigen zu verzeichnen. Der leichte Rückgang der altersstandardisierten Mortalitätsraten auf 8-10/100.000 Frauen (ca. 5.500 Sterbefälle pro Jahr in Deutschland) ist überwiegend auf eine Abnahme der Todesfälle in der Altersgruppe der unter 70-jährigen Frauen zurückzuführen. Der Anteil maligner Ovarialtumoren an den krebsbedingten Sterbefällen betrug im Jahre 2005 in Deutschland 5,6%. (Statistisches Bundesamt Datenreport 2006)
Risiko und Risikoreduktion- qualifizierte Beratung erforderlich Der Kenntnisstand über relevante Risikofaktoren, über deren Gewichtung sowie über den Einsatz risikoreduzierender, prophylaktischer Maßnahmen hat sich seit Anfang der 1990er-
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Kapitel 22 · Ovarialkarzinom: alte Probleme und neue Lösungsansätze
Jahre verbessert. Neben einer hereditären Prädisposition sind es das Lebensalter und Faktoren, die mit der ovariellen Steroidsynthese, der Ovulation bzw. der Reproduktion in Zusammenhang stehen, die für das Erkrankungsrisiko von Bedeutung sind. Mögliche Unterschiede im Risikoprofil für die verschiedenen histologischen Subtypen des EOC (serös vs. muzinös vs. endometrioid) gelten als zunehmend wahrscheinlich.
Familiäre (hereditäre) Prädisposition Bei 7-10% aller Patientinnen mit einem EOC sind Mutationen des BRCA1- oder BRCA2Gens oder anderer Gene, die u. a. innerhalb des Lynch II-Syndroms mit einem EOC assoziiert sind (HNPCC), ätiologisch wahrscheinlich. Die maligne Entartung wird dabei u. a. durch den Ausfall von DNA-Reparaturmechanismen begünstigt. Das Risiko einer genetischen Anomalität steigt mit der Anzahl familiärer Erkrankungsfälle an Mamma und/ oder Ovarialkarzinom. Mit Nachdruck ist an jeden klinisch tätigen Gynäkologen heute die Forderung zu stellen, sorgfältig die Familienanamnese zu erheben und Hinweise auf eine Risikokonstellation entsprechend zu kommunizieren. Nur so können Risikofamilien frühzeitig identifiziert und ein breiteres Bewusstsein für qualifizierte Beratung geschaffen werden. Während in einer Normalpopulation bei 1 von 4.000 Personen eine BRCA1-Mutation wahrscheinlich ist, ist in abgegrenzten Populationen, wie z. B. bei den Ashkenazi-Juden, die Rate gesicherter BRCA1- und BRCA2-Mutationen deutlich höher. Vergleichbar hoch ist das Mutationsrisiko in Familien mit zwei prämenopausal an einem EOC erkrankten Verwandten ersten Grades (Mutter, Schwester, Tochter). Die Rate nachgewiesener BRCA1-/ BRCA2-Mutationen in diesen Familien liegt bei bis zu 40%. Möglicherweise ist das Mutationsrisiko geringer, wenn die malignen Erkrankungen in den Familien ausschließlich in der Postmenopause aufgetreten sind. Frauen, die als Träger einer BRCA1-Mutation identifiziert werden, haben ein Lebenszeitrisiko für das Auftreten eines Mammakarzinoms von 50-85% und eine kumulatives Risiko für die Entwicklung eines EOC von 35-45%. Bei gesicherter BRCA2-Mutation ist das individuelle Lebenszeitrisiko für ein Mammakarzinom 50-85% und 10-20% für die Entwicklung eines EOC. Bei Familien mit nachgewiesener BRCA2Mutation ist darüber hinaus das Risiko für das Auftreten von Prostata-, Larynx-, Pankreasund für männliche Mammakarzinome erhöht. Seit längerem wird die Vermutung geäußert, dass das erhöhte Erkrankungsrisiko für EOC bei hereditärer Prädisposition nicht allein durch Mutationen in den bisher bekannten Genen (u. a. BRCA1/BRCA2) erklärt werden kann, sondern dass die Beteiligung weiterer empfänglicher Gene mit niedrigerer Penetranz wahrscheinlich ist. Die Annahme, dass Krankheitsverlauf und Prognose des EOC bei Mutationsträgerinnen günstiger seien als bei Patientinnen ohne Mutation, ist bisher (noch) nicht überzeugend belegt. Mitte der 1990er-Jahre wurde in Deutschland ein von der Deutschen Krebshilfe gefördertes Verbundprojekt »Familiärer Brust-und Eierstockskrebs« gestartet und über die Jahre weiter entwickelt. Aufgrund der insgesamt positiven Ergebnisse haben die Krankenkassen im Jahr 2005 das interdisziplinäre »Gesamtpaket« in die Regelfinanzierung aufgenommen. Betroffene und Angehörige aus Risikofamilien haben seither bundesweit die Möglichkeit, vor eventuellen Gen-Analysen und für die Planung sinnvoller Früherkennungsmaßnahmen die interdisziplinären Beratungsangebote dieser ausgewiesenen Zentren zu nutzen (www.krebshilfe.de/brustkrebszentren).
429 Risiko und Risikoreduktion- qualifizierte Beratung erforderlich
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Nichthereditäre Risikofaktoren Das Risiko, an einen EOC zu erkranken steigt mit zunehmendem Lebensalter an. Während in der Altersgruppe von 30-34 Jahren die Neuerkrankungsrate bei 2-3 Fällen pro 100.000 Frauen liegt, steigt diese in der Alterskohorte von 50-54 Jahren auf 15 Fälle und in der Altersgruppe 70-74 Jahre auf 35 Fälle pro 100.000 Frauen an. Das mittlere Erkrankungsalter bei der Diagnosestellung liegt bei 60 und mehr Jahren. Weiterhin erhöhen Nulliparität, frühe Menarche und späte Menopause das Erkrankungsrisiko, während Multiparität, Laktation und die Einnahme oraler Kontrazeptiva das Risiko senken. Für diätetische Faktoren (hoher Konsum tierischer Fette, hohe Nahrungsenergiezufuhr, hoher BMI in der Adoleszenz, Ballaststoffe, hohe Zufuhr von Vitamin A und C u. a ist die Datenlage unverändert inkonsistent. Gleiches gilt für die Risikobewertung von Umweltfaktoren (Asbest, Talkum, diagnostische und therapeutische Bestrahlung), für pelvine Infektionen, das Vorliegen einer Endometriose, die Hormonsubstitutionstherapie in der Peri- und Postmenopause sowie Stimulations-Behandlungen bei Infertilität.
Risikoreduktion Nützlich für die Beratung von Risiko-Patientinnen ist die Erstellung eines Maßnahmenkatalogs zur primären Prävention, wie dieser kürzlich u. a. von Baumann und Wagner auf der Basis aktueller Daten für die AGO (Arbeitsgemeinschaft gynäkologische Onkologie) erarbeitet wurde. Folgende Optionen stehen zur Verfügung: 1. Orale Kontrazeptiva (OC) führen, möglicherweise als Folge supprimierter Ovulationen, bei einer Normalpopulation und in gleicher Weise bei Frauen aus Risikofamilien mit und ohne nachgewiesene BRCA1/BRCA2-Mutation, nach mindestens 3- 5-jähriger Einnahme, zu einer 40- 50%igen Risikoreduktion (BRCA1 HR: 0.55; BRCA2 HR: 0.39). Weitere prophylaktische Effekte der OC sind denkbar und sollten in Zukunft geprüft werden (z. B. Einfluss auf die Apoptose). Ein schwächerer, aber tendenziell ähnlicher Effekt ist durch Schwangerschaft und Laktation gegeben. 2. Eine Tubenligatur/Hysterektomie ist bei einer Normalpopulation mit einer Risikoreduktion von ca. 30% (HR 0.70) verbunden, möglicherweise auf der Basis einer postoperativ verminderten Durchblutung des Ovars. Bei Risikopatientinnen ist ein protektiver Effekt in gleichem Umfang denkbar, aber bisher nicht hinreichend mit Daten abgesichert. 3. Die prophylaktische bilaterale Salpingo-Oophorektomie (PBSO) ist, bei gut abgesicherter Datenlage für Hochrisikopatientinnen mit gesicherter BRCA1-Mutation (ab 35-40 Jahren) und für Trägerinnen einer BRCA 2-Mutation (perimenopausal) heute die Option der Wahl mit der derzeit höchsten Risikominderung von >90%. Außerdem wird mit dieser Maßnahme auch das Risiko für das Auftreten eines Mamakarzinoms vermindert (HR 0.49). Hinzuweisen ist auf das verbleibende Restrisiko einer späteren Peritonealkarzinose (4%) nach PBSO sowie auf die endokrinen und kardiologischen Folgen des Eingriffs. In der Praxis werden die Grenzen der derzeit verfügbaren Optionen zur primären Prävention deutlich, wenn diese Angebote in der Beratungssituation auf zum Teil berechtigte Widerstände bei den betroffenen Frauen stoßen. Jede Form der chirurgischen Intervention hat Risiken, die potentiellen Risiken von Ovulationshemmern können nicht bestritten werden und darüber hinaus stehen alle Maßnahmen häufig im Widerstreit mit berechtigten Wünschen der be-
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Kapitel 22 · Ovarialkarzinom: alte Probleme und neue Lösungsansätze
troffenen Frauen nach Erhaltung der Fertilität und/oder der endokrinen Funktion der Ovarien. Es erscheint unverständlich, warum Ansätze zur primären Chemo-Prävention in der Vergangenheit so wenig verfolgt und entwickelt wurden. Die klinische Prüfung non-steroidaler, antiinflammatorischer Substanzen wie Aspirin oder Ibuprofen führte zu widersprüchlichen Ergebnissen. Aktuell sind gewisse Erwartungen mit den Substanzen Fenretinide und COX-2 Inhibitoren verbunden. Die mir bekannte aktuelle Datenlage lässt für diese Substanzen aber noch keine Bewertung zu. Nach meiner Einschätzung besteht in Deutschland konkreter Verbesserungsbedarf bei der Erfassung von Risikopatientinnen im Rahmen der gynäkologischen Vorsorge, bei der qualifizierten Erfassung/Berechnung des individuellen Risikoprofils sowie bei der flächendeckenden Beratung von Risikofamilien in Spezialsprechstunden. Eine prophylaktische chirurgische Intervention ohne vorangehende qualifizierte Beratung sollte es nicht länger geben. Bei der Planung neuer Präventions-Studien sollte der aktuelle Wissenstand breit erfasst und interdisziplinär diskutiert werden. Intelligente Studienprotokolle können dann in leistungsstarken Zentren mit Aussicht auf Erfolg geprüft werden.
Ätiologie/Pathogenese: neue Modelle der Kanzerogenese Seit Anfang der 1970er-Jahre haben sich auf der Basis epidemiologischer Charakteristika einige Leithypothesen zur Ätiologie epithelialer Ovarialkarzinome herausgebildet, die unter teilweise veränderten Prämissen auch in der aktuellen Diskussion noch Bestand haben: 1. Ovulations-Hypothese: Ovulationen mit regelmäßig sich wiederholendem Trauma und Reparaturvorgängen an der epithelialen Oberfläche des Ovars schaffen die Voraussetzungen für das schrittweise Auftreten genetischer Anomalitäten und die nachfolgende Ausbildung von Neoplasien. Diese These wird durch den protektiven Effekt von Multiparität und der Einnahme oraler Kontrazeptiva gestützt. Ovulationen begünstigten EpithelInvaginationen mit Ausbildung von Einschlusszysten im Ovar. Das wiederum erhöht das kanzerogene Risiko. Verantwortlich dafür ist ein Umgebungsmilieu, in dem die Epithelzellen intensiv einer autokrinen oder parakrinen Stimulation u. a. durch Hormone und Wachstumsfaktoren ausgesetzt sind. 2. Gonadotropin-Hypothese: Eine gesteigerte Gonadotropinausschüttung führt möglicherweise zu einer Stimulation des ovariellen Stroma und in der weiteren Folge indirekt u. a. auch zu einer erhöhten Östrogensekretion der Granulosazellen. Östrogene wiederum induzieren potentiell höhere Proliferationsraten bei sensiblen Zielzellen und begünstigen so eine maligne Transformation. Eine artifizielle Steigerung der Gonadotropinausschüttung ist auch durch eine gesteigerte Degradation von Östrogenen mit konsekutivem Feedbackmechanismus sowie durch direkte Stimulation der Hypophyse denkbar. Auch Bestrahlung, Entzündung u. a. können möglicherweise über erhöhte Gonadotropinspiegel eine Transformation induziert. Weitere Hypothesen diskutieren den Einfluss einer gesteigerten Östrogensekretion in Kombination mit ovarieller Androgensekretion sowie verminderten Progesteronspiegeln auf die Tumorentstehung. Wenig abgesichert erscheint mir bisher der Einfluss des Insulin-like-growth-Faktors I auf die Pathogenese des Ovarialkarzinoms. 3. Kontaminations-Hypothese: In diesem Zusammenhang wird die ätiologische Rolle pelviner inflammatorischer Prozesse und die aszendierende Kontamination des kleinen Beckens durch exogene chemische Stoffe, wie z. B. Umweltnoxen diskutiert.
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Der Initiierung und Promotion der Kanzerogenese auf der Basis molekularer Aberrationen und transskriptionaler Signaturen ist Gegenstand intensiver Forschungsarbeit. Unterschiedliche Abläufe bei hereditären und non-hereditäreren EOC werden diskutiert. In diesem Zusammenhang mehren sich Hinweise darauf, dass neben dem Oberflächenepithel des Ovars (Zölomepithel) auch Zellverbände der distalen Tube als Entstehungsort überwiegend schlecht differenzierter seröser EOC (Typ II EOC) in Betracht zu ziehen ist. Untersuchungen an prophylaktisch entnommenen Ovarien bei Frauen mit hohem Erkrankungsrisiko haben zur Charakterisierung okkulter Frühstadien des EOC geführt. Bereits jetzt scheint klar zu sein, dass der Zeitraum von der Initiierung bis zur klinischen Manifestation seröser Ovarialkarzinome wahrscheinlich mehrere Jahre beträgt. Die schrittweise Entschlüsselung der klinisch inapparenten Phase des EOC bietet neue Chancen für Screening und Früherkennung.
Pathologie: Zweitbeurteilung vor weitreichender Therapieentscheidung Die Typisierung der malignen Ovarialtumoren folgt der Klassifikation der WHO, die seit den 1970er-Jahren wiederholt, zuletzt 2003, modifiziert wurde. Epitheliale Ovarialkarzinome werden nach definierten Kriterien unter Einschluss einer Grading-Klassifikation in verschiedene Untergruppen eingeteilt: serös (ca. 50%), muzinös (5-10%), endometrioid (10-25%), klarzellig (4-5%), transitional-zellige Tumoren, plattenepitheliale Tumoren sowie Mischtypen und undifferenzierte Subtypen. Wegen gemeinsamer embryonaler Vorläuferzellen (Zölomepithel) werden Tubenkarzinome und primäre Peritonealkarzinome heute der Gruppe der EOC zugerechnet. Prognostische Unterschiede bei den histologischen Subtypen werden seit langem diskutiert: Seröse und endometrioide EOC haben möglicherweise eine bessere Prognose als die muzinösen, die klarzelligen und vor allem die undifferenzierte EOC. Insgesamt hat der histologische Subtyp als Prognosefaktor an Bedeutung eingebüßt. Etwa 15% der epithelialen Neoplasien werden als Borderline-Tumoren (BOT) klassifiziert. Borderline-Tumoren weisen eine verstärkte atypische Epithelproliferation, aber kein destruierendes invasives Wachstum auf. Synonym wird häufig noch der Begriff Tumor mit niedrigem malignen Potential (LMP Tumoren) verwendet. Ob Borderline-Tumoren Vorläufer des invasiven EOC oder eigenständige Läsionen sind, wird kontrovers diskutiert. Erstmals stellten Singer und Kurman in einer Publikation 2002 zwei Subtypen seröser Ovarialkarzinome mit unterschiedlicher Pathogenese, unterschiedlichem klinischem Verlauf und unterschiedlicher Prognose vor. Die Unterscheidung in seröse Low-grade- und High-grade-EOC hat sich bis heute aber noch nicht durchgesetzt. Nach möglichen histopathologischen Unterschieden zwischen sporadischen und BRCAassoziierten EOC wurde bislang vergleichsweise weniger intensiv geforscht als beim Mammakarzinom. Erste Hinweise zeigen, dass BRCA-assoziierte Ovarialkarzinome eine höheres Grading und einen höheren Anteil solider Tumorformationen aufweisen als sporadische Tumoren. Mehrere Untersucher berichten über einen höheren Anteil an serösen Adenokarzinomen (>85%) im Vergleich zu sporadischen EOC. Auch über unterschiedliche Proteinexpressionsmuster beim hereditären BRCA1-assoziierten EOC wird berichtet. Die morphologische Heterogenität vieler Ovarialtumoren macht die sorgfältige feingewebliche Begutachtung des gesamten Resektates erforderlich. In eindeutigen Fällen kann die Schnellschnittuntersuchung eine intraoperative Diagnosesicherung und damit ein einzeitiges Vorgehen ermöglichen. Bei unklarer Befundlage und/oder angestrebter Fertilitäts-
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Kapitel 22 · Ovarialkarzinom: alte Probleme und neue Lösungsansätze
erhaltung ist eine differenzierte Aufarbeitung des Operationsmaterials, ggf. mit der Konsequenz eines zweizeitigen Eingriffs vorzuziehen. Voraussetzung für die Einleitung einer adäquaten Therapie ist eine enge und vertrauensvolle Kooperation des gynäkologischen Onkologen mit dem Pathologen. In schwierigen Fällen sollte vor einer weitreichenden Therapieentscheidung auf die Zweitbeurteilung in einem spezialisierten Zentrum gedrängt werden.
Screening/Früherkennung: Was kommt nach dem Tumormarker CA 125? Einem erfolgreichen Screening beim Ovarialkarzinom stehen zwei wichtige Punkte entgegen: die niedrige Prävalenz maligner Ovarialtumoren und die Tatsache, dass frühe oder prämaligne Läsionen des EOC bisher nicht bekannt sind. Die zentrale Forderung an eine effektive Screeningstrategie, nämlich zur Senkung der Mortalitätsrate beizutragen, kann für das EOC bis heute nicht erfüllt werden. Verschiedene Forschergruppen haben in den vergangenen 10-15 Jahren intensive Anstrengungen unternommen mit Sonographie und Tumormarker-Bestimmung (CA 125) Patientinnen mit potentiell kurablen Frühstadien epithelialer Ovarialkarzinome zu identifizieren. CA 125 ist ein Glykoprotein-Antigen, dass durch einen murinen monoklonalen Antikörper (OC 125) detektiert wird. CA 125 ist nicht spezifisch für ein EOC, sondern kann bei einer Vielzahl benigner und maligner Konstellationen erhöht sein. Ein weiterer Nachteil ist, dass CA 125 zwar bei etwa 80% der serösen EOC im Serum erhöht ist, aber bei nur etwa 50% der Patientinnen mit einem Frühstadium (Stadium I FIGO) oberhalb des Cut-off von 35 U/ml liegt. Die weite Verbreitung der transvaginalen Sonographie, bei gleichzeitiger Verbesserung der Geräte und der Untersuchungstechnik (Hinzunahme des Dopplers), hat dazu geführt, dass Besonderheiten in Größe und Morphologie des Ovars sowie der Blutfluss in einem Adnextumor heute reproduzierbar dargestellt werden können. Im Alltag begegnet man nicht so selten Kolleginnen und Kollegen, die über vermeintlich positive Erfahrungen mit dem »grauen Screening« auf maligne Ovarialtumoren berichten. Unstrittig ist es möglich, im Einzelfall, auch bei einer asymptomatischen Patientin einen suspekten Adnextumor sonographisch mit/ohne Marker zu entdecken, der sich abschließend als ein Ovarialkarzinom herausstellt. Die Erfahrungen aus einer Vielzahl prospektiver Studien zeigen aber ein anderes Bild: a) Frühe Karzinome werden bei einem Routine-Screening zu selten entdeckt. b) Der Anteil an Intervallkarzinomen ist relativ hoch. c) Die Relation Operation/Karzinom ist ungünstig. Der schmerzhafte Preis aktueller Screening-Bemühungen ist der zu hohe Anteil falsch positiver Befunde. Konsequenterweise können unklare Befunde nur durch eine weitergehende invasive Diagnostik (Laparoskopie oder Laparotomie) abgeklärt werden. International besteht weitgehend Übereinstimmung, dass eine zentrale Voraussetzung für ein effektives Screening das Erreichen einer hohen Sensitivität (>75%), einer sehr hohen Spezifität (>99.6%) und eines positiven Vorhersagewertes (PPV) von mindestens 10% ist (d. h.: nicht mehr als 9 falschpositive Befunde auf einen richtig-positiven EOC-Befund). Da Hinweise für eine Reduktion der Mortalität durch Screening-Untersuchungen beim EOC bis heute fehlen, gibt es keine Fachgesellschaft, die zurzeit routinemäßig Screening-Untersuchungen empfiehlt (DKG und DGGG Leitlinie Ovarialkarzinom 2007) Die weitere Diskussion dieser Thematik wird durch die abschließenden Ergebnisse zweier großer Screening-Studien (UKCTOCS- und PLCOStudie) bestimmt sein.
433 Diagnostik: Das Auffällige im Unauffälligen erkennen
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Unerwartet und enttäuschend waren Berichte darüber, dass beim Screening von Risikopopulationen fast ausschließlich fortgeschrittene EOC (Stadium III) diagnostiziert werden konnten. Von der DKG und anderer Organisationen wurden Empfehlungen für Hochrisikogruppen erarbeitet, die ein individualisiertes Screening in 6-monatigen Intervallen mit gynäkologischer Untersuchung, der Bestimmung des CA 125 sowie transvaginaler Sonographie vorsehen. Berechtigte Zweifel an der Effektivität dieser sekundären Präventions-Strategien führen hier in jüngster Zeit zu einem Umdenken ohne allerdings bisher verbesserte Angebote vorlegen zu können. Zum Abbau unberechtigter Ängste auf allen Seiten kann gelegentlich eine erste Risikoabschätzung mit Programmen wie z. B. BRCAPRO beitragen. Trotz vieler Enttäuschungen und Rückschlägen lassen u. a. technologische Fortschritte bei der Proteindiagnostik hoffen. (OVA 1, OvaSure®, OvaCheck®). Mit Hilfe neuer Biomarker oder Proteommuster könnte es in Zukunft gelingen, maligne Adnextumoren sicher von benignen zu diskriminieren und darüber hinaus Frühstadien oder klinisch inapparente Vorstufen des EOC mit hoher Sensitivität und Spezifität zu erfassen. Hinweise darauf, dass der Zeitraum von der Initiierung der Kanzerogenese bis zur klinischen Manifestation eines EOC mehrere Jahre dauern könnte, erhöhen die Chancen einer präklinischen Detektion durch Biomarker.
Diagnostik: Das Auffällige im Unauffälligen erkennen Anamnese und klinische Symptome Das Dilemma ist bekannt: Nur bei den zumeist symptomarmen Frühstadien des EOC besteht regelhaft die Chance, eine kurative Behandlung einzuleiten (Stadium IA FIGO, >95% 5-JahreÜberleben). Für den Kliniker gilt es bei der Anamneseerhebung und Bewertung von Symptomen das Auffällige im Unauffälligen zu erkennen. Gastrointestinale Beschwerden mit saurem Aufstoßen, Flatulenz, abdominalem Spannungs- oder Druckgefühl sowie Stuhlunregelmäßigkeiten sind in der Peri- und Postmenopause weit verbreitete unspezifische Symptome. Wenn diese Symptome aber nach vielen Jahren der Symptomlosigkeit plötzlich neu auftreten und über einem Zeitraum von 2-6 Monaten eine gewisse Regelhaftigkeit zeigen und/oder eine zunehmende Tendenz aufweisen, dann ist das verdächtig und erfordert eine sorgfältige fachgynäkologische Abklärung.
Klinische Untersuchung Nur eine kleine Minderheit aller EOC-Patientinnen zeigt bei der klinischen Untersuchung keinerlei Auffälligkeiten (weniger als 5%). Die Untersuchung beginnt mit der Inspektion und Palpation. Aszites, ein abdominaler Tumor, ein »omental cake«, eine Nabelmetastase, vergrößerte inguinale LK oder ein Pleuraerguss als Indikatoren einer fortgeschrittenen Tumorausbreitung entgehen der klinischen Erfassung nur selten. Die Stärke des erfahrenen Untersuchers ist die rekto-vaginalen Palpation des kleinen Beckens. Findet sich hier ein tastbarer, solider, häufig irregulärer und/oder fixierter Tumor, dann besteht ein dringender Verdacht auf ein Ovarialkarzinom. Die Stärke der Palpationsuntersuchung ist die digitale Erfassung der peritonealen Karzinose im kleinen Becken. Der Erfahrene weiß aber auch um die Grenzen der Palpationsuntersuchung.
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Bildgebende Verfahren
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Das wichtigste bildgebende Verfahren bei der Abklärung symptomatischer und asymptomatischer Adnextumoren ist die transvaginale (entweder mit oder ohne zusätzliche transabdominale) Sonographie. Seit den Anfängen der Sonographie in den späten 1970er-Jahren hat sich die Qualität und Aussagekraft bei der Abklärung unklarer Befunde im kleinen Becken/ Abdomen enorm verbessert. Die Entwicklung verschiedener Tumor-Indizes, mit denen u. a. Zystengröße, Wanddicke, das Vorhandensein von Septen und von soliden Anteilen dokumentiert werden, hat an dieser Entwicklung einen nicht unwesentlichen Anteil. Bei heute flächendeckend hoher technischer Qualität der US-Geräte in Deutschland sind Training und individuelle Erfahrung des Untersuchers die entscheidenden Kriterien bei der Beurteilung des inneren Genitale. Ohne Kenntnis des klinischen Untersuchungsbefundes ist ein qualifizierter sonographischer Befundbericht kaum möglich. Der zusätzliche Informationsgewinn der Farbdopplersonographie ist für den Kliniker nachvollziehbar. Der Nutzen der 3D-Sonographie sowie der Einsatz von Ultraschallkontrastmitteln sind dagegen nicht belegt. Die vor allem in nicht spezialisierten Abteilungen noch immer geübte sonographische oder mit anderen Methoden geführte präoperative Feinnadelpunktion oder Biopsie zystischer Ovarialtumoren sollte unterbleiben, da ein relevanter diagnostischer Zugewinn nicht besteht. Die sichere Diagnose und der Behandlungsbeginn werden verzögert und das Risiko eines Tumorzell-Spilling kann die Prognose verschlechtern. Der zusätzliche Informationsgewinn durch CT, MRT, PET und PET-CT in der präoperativen Diagnostik epithelialer Ovarialkarzinome ist begrenzt. Diese bildgebenden Methoden sollten speziellen Fragestellungen vorbehalten bleiben und sind in jedem Fall kritisch zu indizieren. Bis heute kann keine apparative diagnostische Maßnahme das operative Staging beim Ovarialkarzinom ersetzen und die Operabilität präoperativ verlässlich einschätzen.
Labor Seit der Erstbeschreibung in den frühen 1980er-Jahren durch Bast et al. wird die Bestimmung des CA 125-Serumspiegels im klinischen Alltag breit genutzt: Zur differenzialdiagnostischen Abgrenzung präoperativ, als Prognoseparameter im Therapieverlauf und in der Nachsorge. Gut abgesichert ist nur der Einsatz zur Verlaufsbeurteilung im Rahmen der Primär- oder Rezidivtherapie. Zur präoperativen Diskriminierung benigner von malignen Ovarialtumoren, vor allem in der Prämenopause, ist die Bestimmung des CA 125 allenfalls mäßig gut geeignet. Hinzuweisen ist auch darauf, dass bei gesicherten Frühstadien eines EOC der Marker CA 125 in ca. 50% der Fälle im Serum nicht erhöht ist. Weitere (molekulare) Marker zur Vorhersage des Therapieansprechens und für das Follow-Up stehen für die präoperative Routine-Diagnostik derzeit nicht zur Verfügung. Bei Verdacht auf einen begrenzten Adnextumor können andere präoperative Labortests auf das klinikübliche Minimum begrenzt werden. Bei Verdacht auf ein EOC steht die diagnostische Laparotomie mit histologischer Sicherung im Vordergrund.
Prognosefaktoren: Die Dominanz klinisch pathologischer Parameter Die sorgfältige Erfassung klinischer und pathologischer Prognosefaktoren (postoperativer Tumorrest, FIGO-Stadium, Histologie, Grading, Alter, Aszites) ist wichtiger Bestandteil der prospektiven Abschätzung des Krankheitsverlaufs.
435 Prognosefaktoren: Die Dominanz klinisch pathologischer Parameter
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Der stärkste unabhängige Prognosefaktor für das Gesamtüberleben ist der postoperative Tumorrest. Die überragende Bedeutung der kompletten Tumorresektion für das Gesamtüberleben wurde u. a. durch eine Meta-Analyse vorhandener Studiendaten von Bristow eindrucksvoll abgesichert. Wird das Ausmaß der Zytoreduktion um 10% gesteigert, ist das mit einer Verlängerung der Gesamtüberlebenszeit von jeweils 5% assoziiert. Prognostisch bedeutsam ist auch die Tumorausbreitung bei Diagnosestellung (FIGO-Stadium), wie sie sich aus dem Operationsbericht und dem histopathologischen Abschlussbericht ergibt: FIGO I Stadium zeigt eine 5-JÜR von 86,4%, FIGO II von 69%, FIGO III von 40,2% und FIGO IV von 18,6%. In vielen Analysen korreliert auch der Differenzierungsgrad (Grading) eng mit der Prognose. Die Einteilung erfolgt üblicherweise in drei Stufen: Hochdifferenzierte G1-Tumore zeigen eine 5-JÜR von 73,8%, G2 von 55,4% und bei schlecht differenzierten G3-Tumoren liegt die 5-JUR bei 51,8%. Das Problem dieses Parameters ist, dass bis heute kein einheitliches, sicher reproduzierbares Grading-System entwickelt werden konnte. Die Brisanz dieser Feststellung wird deutlich, wenn man bedenkt, dass im FIGO-Stadium I der Differenzierungsgrad häufig über die Empfehlung zu einer adjuvanten Therapie entscheidet. Für den histologischen Subtyp als Prognosefaktor ist die Datenlage ebenfalls nicht einheitlich. Aus dem Annual Report von 2006 ergeben sich die folgenden Angaben: Für seröse EOC beträgt die 5-JÜR in den Stadien FIGO I/II 83,9% und für FIGO III/IV 31,9%, für muzinöse EOC 90% und 31%, für endometroide 86,5% und 37% und für klarzellige EOC in den Stadien FIGO I/II 81% sowie für FIGO III/IV 23,9%. Maligner Aszites ist beim Ovarialkarzinom fast immer mit einer großflächigen Peritonealkarzinose assoziiert. Es ist nachvollziehbar, dass der Nachweis von Aszites von prognostischer Bedeutung zu sein scheint (Qualitätssicherungsprogramm der Organkommission Ovar 2001). Ein weiterer unabhängiger Prognosefaktor ist das Lebensalter. Ältere Patientinnen mit Ovarialkarzinom haben im Vergleich zu jüngeren eine deutlich ungünstigere Prognose: Bei Frauen zwischen 40-49 Jahren liegt die 5-JÜR bei 62,1%, zwischen 50-59 Jahren bei 53,2%, zwischen 60-69 Jahren bei 44%, bei Frauen zwischen 70-79 Jahren bei 33,3% und bei den über 80-jährigen Frauen bei 23%.
Neue Prognosefaktoren Die Liste potentieller Kandidaten ist kaum überschaubar. Aktuell werden u. a. TumorSuppressorgene (p53, p16 pRB), Onkogene (ERBB2, p21), drug sensitivity Marker (Pgp, GST, LRP, MRP, BAX), Proliferationsfaktoren (Ki-67, TOP2A), Angiogenesemarker (VEGF), Apoptosefaktoren (MMP, PAI-1) und Zytokine (IL-6, IL-10, Il-12) als potentielle Targets untersucht. Die Genom-Beurteilung spielt bei der Prognoseabschätzung noch keine Rolle. Bei anhaltend inkonsistenter Datenlage ist ein Ergänzung/Ablösung der klinischen Prognoseparameter zurzeit nicht erkennbar. Die Mehrzahl der Prognosefaktoren ist durch ärztliches Handeln nicht beeinflussbar. Das gilt nicht für den postoperativen Tumorrest. Die in diesem Zusammenhang unausweichliche Diskussion um die Ausbildung und Qualifizierung gynäkologischer Onkologen, um chirurgische Trainingsmöglichkeiten sowie um eine notwendige und sinnvolle Zentrumsbildung in Deutschland sollte durch klare Absprachen und Regelungen innerhalb der Fachgesellschaft und zwischen den Fachgesellschaften möglichst bald einer adäquaten Lösung zugeführt werden.
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Kapitel 22 · Ovarialkarzinom: alte Probleme und neue Lösungsansätze
Primärbehandlung: Der multimodale Therapieansatz hat sich durchgesetzt
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Leitlinien und Empfehlungen für die Behandlung epithelialer Ovarialkarzinome sind heute weltweit ähnlich abgefasst (in Deutschland DKG und DGGG Leitlinie 2007). Die erfolgreiche Umsetzung der aktuellen Standards im klinischen Alltag der Kliniken benötigt erfahrungsgemäß viele Jahre und gelingt, je nach Struktur des Gesundheitssystems, unterschiedlich gut. Das Aktionsprogramm der AGO-Organkommission OVAR zusammen mit den kooperativen Studiengruppen (QS-OVAR) war für Deutschland in den vergangenen 10 Jahren eine wichtige Initiative zur Erfassung der Versorgungsstruktur und zur Abbildung der Therapierealität beim Ovarialkarzinom. Bei weiterhin bestehenden Defiziten in der Behandlungsrealität zeigt die Analyse in europäischen Vergleich, dass Deutschland sich, gemessen an den altersadjustierten 5-JUR in den letzten Jahren erfreulicherweise auf den 6. Rang unter 22 Ländern verbessern konnte (EUROCARE-3).
Tumorausbreitung Epitheliale Ovarialkarzinome können sich in vielfältiger Weise ausbreiten: durch lokale Extension per continuitatem, durch intraperitoneale Implantation, durch lymphogene und häematogene Dissemination sowie durch eine diaphragmale Passage. Lange Zeit war man der Ansicht, dass für das EOC vorrangig die intraperitoneale Dissemination typisch sei. Die exakte Kenntnis aller Ausbreitungswege ist Voraussetzung für ein optimales Staging.
Staging Besteht klinisch Verdacht auf eine EOC, dann ist die Laparotomie vom Längsschnitt Grundlage jeder weiteren individuellen Behandlungsplanung. Ziele der sog. Staging-Operation sind die abschließende Sicherung der Diagnose, die exakten Erfassung der Tumorausbreitung intra- und extraperitoneal sowie die Beurteilung der Operabilität. Neben der intraperitonealen Ausbreitung entsprechend der Zirkulation der peritonealen Flüssigkeit findet sich bei Frühstadien des EOC eine pelvine und paraaortale Lymphknotenmetastasierung in bis zu 20% der Fälle (Stadium I FIGO). Eine hämatogene Metastasierung in Leber oder Lunge ist selten und zeigt sich zumeist erst in der Rezidivsituation. Der genaue Ablauf der StagingUntersuchungen ist in den Leitlinien und vielen Textbüchern detailliert aufgeführt und sollte als Algorithmus in jedem Operationssaal für das OP-Team verfügbar sein.
Operative Behandlung Frühstadien Bei etwa 25-30% der Patientinnen ist zum Zeitpunkt der Diagnosestellung die Erkrankung auf das kleine Becken begrenzt (Stadium FIGO I oder II). In diesen Frühstadien bestehen gute Chancen auf eine dauerhafte Heilung (stadienabhängige 5-JÜR 65-90%). Seit Anfang der 1990er-Jahre umfasst das adäquate operative Vorgehen die abdominale Lavage, die Inspektion der peritonealen Oberflächen mit entsprechenden Biopsien, die totale Hysterektomie, die bilaterale Salpingo-Oophorektomie, die infrakolische Omentektomie sowie in den letzten
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Jahren auch die pelvine und paraaortale Lymphonodektomie. Unabhängige Prognosefaktoren sind neben dem Stadium (FIGO IA, B, C, IIA, B, C), das Grading, die Tumorruptur und die Therapiequalität.
Fertilitätserhaltende Operation Unter definierten Bedingungen ist ein konservatives chirurgisches Vorgehen mit kalkulierbarem Risiko möglich. Bei einem Borderline-Tumor in der Prämenopause und/oder bei bestehendem Kinderwunsch kann eine fertilitätserhaltende Operation erwogen werden. Im Einzelfall ist auch eine Zystektomie unter Erhaltung eines Restovars denkbar, erhöht aber das Rezidivrisiko. Bei jungen Patientinnen mit einem invasiven Ovarialkarzinom kann im Stadium I auf Wunsch ein konservatives operatives Vorgehen erwogen werden (z. B. Stadium FIGO IA/IC mit Grading 1 nach adäquatem chirurgischen Staging). Beim Vorliegen höherer Stadien (≥FIGO IC) und/oder Grading G2 oder G3 ist das organerhaltende Vorgehen mit einem erhöhten Rezidivrisiko assoziiert.
Laparoskopisches Operieren Zur diagnostischen Abklärung unklarer Adnextumoren in der Prä- und Postmenopause ist die Laparoskopie heute etabliert. Die Älteren werden sich an streitige Diskussionen zu diesem Thema in Deutschland in den 1990er-Jahren erinnern. Heute stecken die Leitlinien die Grenzen und Möglichkeiten der Laparoskopie in Diagnostik und Therapie klar ab (AWMF und ACOG Leitlinien). Zu beachten ist, dass die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen eines EOC im klinischen Alltag nicht nur durch die klinische Untersuchung und Sonographie sondern auch durch die Anamnese (familiäres Risiko ja/nein?) bestimmt wird. Wird ein präoperativ suspekter Ovarialtumor per laparoscopiam entfernt, ist die operative Vorgabe eine komplette Resektion möglichst unter Vermeidung einer Ruptur. Es gelten alle Kriterien des onkologischen Operierens. Bei endoskopisch anoperiertem Ovarialkarzinom ist eine Längsschnittlaparotomie bald möglichst anzuschließen, da ein ausschließlich laparoskopisches Staging weniger akkurat ist. Inadäquates chirurgisches Staging kann ein »Understaging« zur Folge haben mit der Konsequenz einer nachfolgend inadäquaten systemischen Therapie und Verschlechterung der Prognose.
Fortgeschrittene Erkrankung Die maximal mögliche chirurgische Tumorresektion (Tumordebulking) ist einer der zwei Eckpfeiler in der Primärbehandlung von Patientinnen mit einem fortgeschrittenen EOC. Über die Bedeutung einer chirurgischen Intervention beim EOC wird seit den 1930er-Jahren diskutiert. Die von CT. Griffiths 1975 publizierte Untersuchung zum primären Tumordebulking, in der er erstmals auf eine inverse Korrelation zwischen dem Durchmesser des größten residuellen Tumors und dem Überleben der Patientin hingewiesen hat, stieß nicht nur in den USA sondern auch in vielen Zentren in Europa auf Interesse und verhalf dem Konzept schrittweise zum Durchbruch. Über die Jahre folgten mehr als 20 einzelne Studien, eine bevölkerungsbezogene Langzeitbeobachtung sowie eine Meta-Analyse mit Daten aus insgesamt 53 Studien von 6885 Patientinnen, die alle eindrücklich bestätigen, dass der postoperative Tumorrest nach dem Stadium der stärkste unabhängige Prognosefaktor ist. Heute lautet eine griffige Formel: Eine Tumorreduktion um 10% ist mit einer Verlängerung der
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medianen Überlebenszeit von 5% assoziiert. Hinsichtlich des optimalen Tumorrestes zeigt u. a. die umfangreiche Auswertung der AGO-OVAR Studien, dass Patientinnen mit einem Resttumor <1 cm einen signifikanten Überlebensvorteil gegenüber Patientinnen mit Tumorrest > 1cm haben. Den größten Vorteil weist aber die Gruppe der makroskopisch tumorfrei operierten Patientinnen auf. Die makroskopisch vollständige Tumorentfernung und nicht die optimale Tumorresektion mit einem Tumorrest von <1 cm (früher <2 cm) ist daher heute das angestrebte Ziel bei der Primäroperation. Dazu sind Darmeingriffe bei mehr als 30% der Patientinnen erforderlich. Oberbaucheingriffe sollten trotz erhöhter Morbidität durchgeführt werden, wenn hierdurch Tumorfreiheit erzielt werden kann. Befallenes Zwerchfellperitoneum sollte reseziert werden, wenn hierdurch die gesamte Tumorlast reduziert werden kann. Grenzen der Radikalität sind bei ausgedehntem Befall der Dünndarmwand oder ausgeprägtem Befall des Mesenteriums mit Infiltration und Retraktion der Mesenterialwurzel gegeben. Eine lymphogene Metastasierung findet sich bei mehr als 50% aller Patientinnen mit fortgeschrittenen EOC. Obwohl die Diskussion um den therapeutischen Nutzen einer selektiven oder systematischen pelvinen und paraaortalen Lymphonodektomie bereits seit mehr als 25 Jahren geführt wird, erscheint sie mir keinesfalls abgeschlossen zu sein (Burghardt 1991). Die bisher einzige prospektive Studie zu diesem Thema wurde 1991 auf einer internationalen State of the Art-Konferenz in Freiburg initiiert. Die leider wenig richtungsweisenden Ergebnisse wurden nach langer Laufzeit im Jahre 2005 publiziert. (Benedetti-Panici 2005). Weitere retrospektive Analysen zu diesem Thema u. a. von duBois und Harter zeigen, dass bei fortgeschrittener Erkrankung möglicherweise nur Patientinnen mit kompletter intraabdominaler Tumorresektion von einer systematischen pelvinen und paraaortalen Lymphonodektomie profitieren. Die Aktivierung der LION Studie (lymphadenectomy in ovarian neoplasms, LION)im Jahre 2008 durch die AGO-Studiengruppe ist ein konsequenter Schritt, um in Zukunft bei dieser Fragestellung hoffentlich zu belastbaren Ergebnissen zu kommen Über das hohe Maß an abdominal-chirurgischer und anästhesiologischer Expertise ebenso wie über die notwendige intensivmedizinische und pflegerische Kompetenz im Zentrum habe ich bereits an anderer Stelle gesprochen. Von erfahrenen Kolleginnen und Kollegen in gynäko-onkologischen Zentren wird über eine Tumorresektionrate auf makroskopisch 0 von 20-30% und eine optimale Tumorresektionsrate auf <1 cm von 50-85% bei Patientinnen mit fortgeschrittenem EOC berichtet. Chirurgische Radikalität und der Einsatz moderner Medizintechnik dürfen aber kein Selbstzweck sein. Im Sinne der betroffenen Patientinnen ist für die Zukunft ein differenziertes, an der individuellen Situation der betroffenen Patientin orientiertes, Vorgehen zu fordern. Höhere Belastung und ein höheres Morbiditätsrisiko durch ein primär radikal chirurgisches Vorgehen müssen durch substantielle Verbesserungen bei den Behandlungsergebnissen gerechtfertigt und abgesichert werden.
Wann ist der optimale Zeitpunkt für die Operation? Gelegentlich konnte man bei Diskussionen der vergangenen Jahre den Eindruck gewinnen, bei der Intervalloperation handele es sich um ein alternatives Konzept zur radikalen Primäroperation sequentiell gefolgt von einer Chemotherapie. Ich glaube das nicht. Bei der Intervalloperation wird der invasive Eingriff nach einer auf 2-3 Kurse limitierten Induktionschemotherapie mit der gleichen Intention wie bei einer Primäroperation durchgeführt. Die konzeptionellen Ziele sind identisch: Erreichen einer möglichst vollständigen Tumorresektion und Erreichen einer Komplettremission mit Hilfe der in diesem Fall gesplitteten Sandwich-
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Chemotherapie. Im Lichte der Ergebnisse zweier großer Studien der EORTC (European organisation of registered tumor centers) und der GOG mit heterogenen Patientenpopulationen erscheint die Intervalloperation möglicherweise für eine kleine Zielgruppe von Patientinnen geeignet, die im Rahmen der Primäroperation (am falschen Platz?) nicht optimal operiert wurden, eine zeitnahe Zweit-OP in einem Zentrum ablehnen oder bei denen ein hohes medizinisches Risiko für einen sofortigen ausgedehnten Zweiteingriff besteht. Im Zusammenhang mit der Diskussion um die Intervalloperation hat es in weitergehende Überlegungen gegeben, nach histologischer Sicherung des EOC, z. B durch Laparoskopie, den Operationszeitpunkt nach hinten zu verschieben und als ersten Therapieschritt eine neoadjuvante oder primäre Chemotherapie mit 4-6 Kursen durchzuführen. Dieses Konzept wurde in einer prospektiven Phase-III-Studie der EORTC mit knapp 800 Patientinnen umgesetzt (EORTC 55971). Beim Datenvergleich der beiden Strategien sind, bei einer höheren Tumorresektionsrate <1 cm nach neoadjuvanter Therapie (82% vs. 46%), bisher keine Unterschiede bei den Studienendpunkte PFS und Gesamtüberleben erkennbar. Langzeitergebnisse stehen aus (Vergote IGCS Bangkok 2008). Weder die Rationale noch die Resultate, die für ein neoadjuvantes Vorgehen vorgetragen wurden, haben mich bis heute überzeugen können. Solange keine prospektiv evaluierten Auswahlkriterien definiert sind, die eine Vorhersage darüber ermöglichen, welche Patientinnen von einer neoadjuvanten Therapie im Vergleich zur Standardvorgehen profitieren, liegen für mich die stärkeren onkologischen Argumente beim Standardvorgehen, d. h. in einer Sequenz von maximaler Tumorresektion primär gefolgt von einer effektiven Chemotherapie als zweitem Behandlungsschritt.
Kann man die (optimale) chirurgische Resektabilität beim EOC vorhersagen? Fasst man die Ergebnisse zahlreicher Untersuchungen zu dieser Frage zusammen, so ergeben sich für Patientinnen mit fortgeschrittenem EOC Prädiktionsraten von 67-94%. Die hohe Streubreite zeigt die methodenunabhängige Unschärfe bei der Vorhersage einer krankheitsund patientenbezogenen Operabilität.
Second Look Operation (SLO) Dieser mit (ausschließlich?) diagnostischer Intention nach Abschluss der Primärtherapie durchgeführte Eingriff per laparotomiam oder per laparoscopiam wurde in der 1980er-Jahren propagiert. Dabei wurden zwei Hauptziele verfolgt: Eine Bewertung der primären Chemotherapie auf der Basis einer möglichst gut abgesicherten Remissionsbeurteilung bei bekannten Schwächen der Bildgebung, der Marker (CA 125) und der klinischen Untersuchung und die sinnvolle Nutzung der prognoserelevanten Informationen (pCR, pPR, ect) für die Entwicklung und Prüfung weitergehender Behandlungskonzepte im Sinne einer Konsolidierungs- oder Erhaltungstherapie. Keines der Ziele konnte erreicht werden, so dass aus guten Gründen die SLO zu keiner Zeit den Status eines Behandlungsstandard erreichen konnte.
Sekundäres Tumordebulking Verbesserte systemische Behandlungsmöglichkeiten in der Rezidivsituation haben in den letzten Jahren die Diskussion um das sekundäre Tumordebulking befördert. Erste Untersu-
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chungen gehen auf die 1980er- und frühen 1990er- Jahre zurück. In bisher ausschließlich retrospektiven Analysen wurden in neuerer Zeit vor allen aus der Wiesbadener Klink von Harter et al. (2005) Faktoren herausgearbeitet, die für die klinische Entscheidungsfindung vor einer erneuten Operation herangezogen werden können: krankheitsfreies Intervall >12 Monate, möglichst solitäre Tumoren, Tumordurchmesser <6 cm und keine Lebermetastasen. Kontraindikationen gegen eine radikale Zweit-OP sind hohes Lebensalter, schlechter AZ und ein schlechtes Ansprechen auf die primäre Chemotherapie. Gelingt eine erfolgreiche sekundäre Tumorresektion, profitieren die Patientinnen mit einem signifikanten Überlebensvorteil.
Medikamentöse Therapie: Fortschritte in kleinen Schritten Seit Anfang der 1960er-Jahre gibt es Hinweise auf eine Zytostatika- bzw. Chemosensitivität des Ovarialkarzinoms. Über erste positive Erfahrungen mit Alkylantien berichtete in Deutschland die Tübinger Frauenklinik ab Mitte der 1960er-Jahre. (Spechter 1965, Pfleiderer 1967) Ab Mitte der 1970er-Jahre wurde die herausgehobene Rolle von Platin für das EOC erkennbar. Die weitere Entwicklung der systemischen Therapie beim EOC bis Mitte der 1980er-Jahre verlief aus der Rückschau dann eher vordergründig interessenorientiert und ohne nachhaltigen Erkenntnisgewinn. Es waren einige engagierte Kolleginnen und Kollegen unter der Führung von H. Schmidt-Matthiesen (Frankfurt), die 1986, orientiert an skandinavischen und anglo-amerikanischen Vorbildern, die Gründung der Arbeitsgemeinschaft für Gynäkologische Onkologie (AGO) durchsetzten und die Etablierung der ersten nationalen organbezogenen Ovar-Studiengruppe, der German Ovarian Cancer Group (GOCA) förderten. Ab Anfang der 1990er haben dann die Standardisierung klinischer Studien verbunden mit einem prospektiven Studienansatz sowie die Definition und Umsetzung statistischer Zielvorgaben dazu geführt, die Ergebnisqualität klinischer Studien schrittweise zu verbessern. Mehr und mehr avancierten klinische Studien zum wesentlichen Bestandteil patientenorientierter Forschung. Mit dem Konzept der evidenzbasierten Medizin wurde die Diskussion ab Mitte der 1990er-Jahre noch erweitert: individuelle Expertise mit der besten, verfügbaren Evidenz auf der Basis klinischer Studien zu verbinden, wurde für viele zu einem neuen, programmatischen Ziel. Vor diesem Hintergrund konnte es in den folgenden Jahren gelingen, eine weithin akzeptierte systemische Standardtherapie zu entwickeln und diese bis heute schrittweise zu optimieren. An dieser Entwicklung haben die 1993 gegründete AGO-Studiengruppe und die in den letzten Jahren zunehmend intensivere Kooperation internationaler Studiengruppen (GCIG) einen wichtigen Anteil.
Frühstadien Die Diskussion um eine wirksame adjuvante Therapie bei den Frühstadien des EOC (Stadium I und II, FIGO) beschäftigt uns seit den frühen 1980er-Jahren. Der Einsatz von RadioIsotopen und die Möglichkeiten einer externen Bestrahlung (Becken oder Ganzabdomen) wurden (bei nachgewiesener Wirksamkeit) aus unterschiedlichen Gründen ab Ende der 1980 nicht mehr intensiv weiter verfolgt. Die adjuvante Chemotherapie stand im Fokus. Die Mehrzahl der klinischen Studien mit dieser Behandlungsmodalität zeigt aber bis heute z. T. erhebliche Mängel. Wichtige Kritikpunkte wie z. B. die langen Zeiträume bei der Patientenrekrutierung, das inadäquate chirurgisches Staging, das Fehlen eines Kontrollarms ohne adjuvante Therapie, das unzureichende Follow-up sowie die niedrigen Patienten-Einschlusszahlen mit
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entsprechend niedriger »statistischer power« sind bekannt. Ein wichtiges Ergebnis der frühen Studien war aber die weitgehend übereinstimmende Beobachtung, dass Patientinnen mit einer klinisch und pathohistologisch definierten Low-risk-Erkrankung (Stadium IA,IB G1) ohne adjuvante Therapie eine sehr gute Prognose aufweisen. Andererseits wurde klar, dass fehlende Differenzierung (G3), eine prä- oder intraoperative Kapselruptur, eine positive Peritonealzytologie, Adhäsionen und einige weitere Faktoren prognostisch ungünstig sind (Highrisk-Erkrankung) und mit einem beträchtlichen Rezidivrisiko von bis zu 30% assoziiert sind. Anfang der 1990er-Jahre gelang es dann zwei europäischen Studiengruppen mit dem ACTION/ICON Trial, über einen Zeitraum von etwa 10 Jahren, knapp 1.000 Patientinnen zu rekrutieren. Bis heute bedauere ich den Umstand, dass es in Deutschland damals nicht gelang, Kliniken für die Teilnahme an diesem internationalen Projekt zu gewinnen. Beiden Studien gemeinsam ist das Grundkonzept einer ausschließlich chirurgischen Primärtherapie in Arm A und einer kombinierten Therapie bestehend aus Operation und einer Platin-basierten adjuvanten Chemotherapie in Arm B. Primärer Endpunkt für beide Studien ist das Überleben. Die Ergebnisse sind weithin bekannt und zeigen einen signifikanten Überlebensvorteil von 8% (OS 82% vs. 74% nach 5 Jahren p=0,08) für Patientinnen unter einer adjuvanten Therapie. Subgruppenanalysen auf der Basis von Stratifikationsfaktoren zeigten keine erkennbaren Unterschiede. (ICON 1-EORTC ACTION Trial 2006). Aus einer aktuellen Cochrane Meta-Analyse von 2009 mit über 1.100 Patientinnen aus vier Studien ergeben sich hierzu keine neuen Aspekte. (Winter-Roach 2009) Eine Subanalyse aus dem ACTION-Trial hat aber zu anhaltender Diskussion geführt. Sie erbrachte Hinweise darauf, dass Stringenz und Sorgfalt beim chirurgischen Staging für Patientinnen mit einem Früh-Stadium eines EOC prognostisch bedeutsam sind: Bei Patientinnen mit inkomplettem Staging ist mit einer adjuvanten Platin-basierten Chemotherapie eine Verbesserung des PFS und des OS zu beobachten, während das für eine Gruppe von Patientinnen mit korrektem und vollständigem chirurgischen Staging nicht nachweisbar ist. Bis heute wird über die Relevanz dieser Beobachtung heftig diskutiert. Weiterhin unbeantwortet ist auch die Frage, ob mit einer Kombination (Carboplatin/Paclitaxel) oder mit einer Monotherapie (Carboplatin) behandelt werden soll. Zur Frage der Therapiedauer ergeben sich aus einer Studie der GOG (GOG #157) geringfügige Vorteile für eine verlängerte Behandlung mit 6 Kurse Carboplatin/ Paclitaxel im Vergleich zu 3 Kursen (83% vs. 81% 5-JÜL). In einer weiteren abgeschlossenen, aber noch nicht publizierten Studie vergleicht die GOG-Studiengruppe drei Kurse Carboplatin/ Paclitaxel ohne weitere Behandlung gegen eine weiterführende 6 Monate andauernde Therapie mit wöchentlicher i.v.-Gabe von Paclitaxel. (GOG # 175). Die Ergebnisse stehen aus. Die aktuellen Leitlinien der AGO u. a. verweisen auf die unsichere Datenlage und empfehlen allen Patientinnen mit einem High-risk-EOC derzeit eine adjuvante Chemotherapie. Prospektiv randomisierte Studien zur Therapieoptimierung werden wahrscheinlich auch in Zukunft schwer durchführbar sein. Vorrangiges Ziel muss es sein, mit besser diskriminierenden Prognosefaktoren, als es z. B. der Differenzierungsgrad ist, die Patientinnen zu detektiert, die von einer adjuvanten systemischen Therapie langfristig profitieren.
Fortgeschrittene Erkrankung Die Entwicklung einer Zytostatika-Therapie als zweitem Eckpfeiler der Primärbehandlung von Patientinnen mit fortgeschrittenem EOC beginnt in den frühen 1960-Jahren. Der Weg von einer Monotherapie mit Alkylantien bis hin zur Etablierung einer optimierten Kombinations-
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chemotherapie mit Platin und Taxanen Mitte der 2000er-Jahre war nicht immer gradlinig. Neben dem intravenösen Zugang als dem Königsweg hat die intraperitoneale Applikation aktiver Zytostatika in den letzten Jahren an Interesse und Bedeutung gewonnen. Der Nachweis einer sinnvollen Erweiterung des therapeutischen Spektrums mit biologischen Substanzen sowie mit immuntherapeutischen Ansätzen steht bis heute aus. Trotz intensiver Anstrengungen hat auch im Jahre 2010 die Feststellung Bestand, dass für Patientinnen mit fortgeschrittener Erkrankung die Rezidivraten hoch und die Kurationsraten enttäuschend niedrig sind. Ab Mitte der 1960er-Jahren konnten mit Alkylantien (Melphalan, Chlorambucil) oder dem in Deutschland gern eingesetzten Cyclophosphamid Remissionsraten zwischen 35-65% und mediane Überlebenszeiten von 10-14 Monaten erreicht werden. Einige Jahre später waren mit Non-Platin-Kombinations-Regimen, vor allem bei Patientinnen mit vorangehender erfolgreicher Tumorreduktion, höhere Remissionsraten zu beobachten. Robert Young et al. berichtete 1978 über den Vergleich von HexaCAF (Hexamethylmelamin, Cyclophosphamid, Methotrexat, Fluorouracil) vs. Melphalan mit Vorteilen für die Kombination (RR 75% vs. 54%) und OS median 29 vs. 17 Monate p< 0.02). Die überragende Bedeutung von Cisplatin als Baustein einer effektiven Systemtherapie wurde erstmals durch die Ergebnisse einer Studie von Decker et al. 1982 deutlich: für die Kombination Cisplatin/Cyclophosphamid wurde eine 2-JÜL von 52% vs. 19% für die Monotherapie mit Cyclophosphamid berichtet. Weitere Phase III-Studien in den USA (Omura 1986) und aus Europa (Neijt1984) trugen dazu bei, dass sich Cisplatin-haltige Kombinationsregime, trotz erheblicher Begleittoxizität, routinemäßig in der Klinik durchgesetzten. Mit den Ergebnissen einer Meta-Analyse von 1991 war Cisplatin dann als zentraler Baustein der systemischen Kombinationstherapie etabliert. (Advanced Ovarian Cancer Trial Group 1991). Frühzeitig wurde ab Mitte der 1980er-Jahre in Deutschland und in Kanada den starken Nebenwirkungen Cisplatin-haltiger Therapieregime Beachtung geschenkt und in diesem Zusammenhang die Vorteile von Carboplatin erkannt und die Substanz für das Ovarialkarzinom weiter entwickelt. Mit der ersten in Deutschland erfolgreich abgeschlossen Phase III-Studie beim Ovarialkarzinom konnte die GOCA-Studiengruppe zeigen, dass Carboplatin/Cyclophosphamid bei gegebener Äquieffektivität ein wesentlich günstigeres Nebenwirkungsprofil aufweist als Cisplatin/Cyclophosphamid. Erste Berichte über Paclitaxel als einer weiteren potentiell aktiven Substanz beim EOC gab es ab 1989 (McGuire 1989). Den Durchbruch für die neue Kombination Cisplatin/Paclitaxel erbrachten die damals eher unerwarteten Ergebnisse der GOG-111-Studie 1996: Die Kombination Cisplatin/Paclitaxel war dem Standardarm mit Cisplatin/Cyclophosphamid bei den Ansprechraten (RR 73 vs. 60%), bei der progressionsfreien Überlebenszeit (18 vs. 13 Monate) und beim Gesamtüberleben (38 vs. 24 Monate) überlegen (McGuire 1996). Diese Daten wurden später durch eine Europäisch-Kanadische Studie (OV-10) bestätigt. Um Cisplatin erneut als Kombinationspartner ablösen zu können wurden weitere Studien initiiert und erfolgreich abgeschlossen (u. a. OVAR-3-Studie der AGO und die GOG-#158-Studie), bis im Jahr 2004 auf der GCIG-Consensus-Konferenz die Kombination Carboplatin (AUC 6-7,5) plus Paclitaxel (175 mg/m2/3hr) bei gegebener Äquieffektivität aber günstigerem Toxizitätsprofil, zum bis heute gültigen Standard in der Primärbehandlung fortgeschrittener EOC erklärt wurde.
Therapieoptimierung durch eine 3. Substanz Erklärte Ziel fast aller aktiven Studiengruppen in den vergangenen 10-12 Jahren war es den erreichten Therapiestandard beim fortgeschrittenen EOC zu verbessern. Bei bekannter
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Chemosensitivität ist es nicht verwunderlich, dass die Implementierung weiterer aktiver Zytostatika als ein favorisiertes Konzept im Vordergrund des Interesses stand. Hinweise aus Meta-Analysen älterer Studien, vor allem mit Anthrazyklinen, beförderten diese Diskussion. In einer Anzahl großer Phase-III-Studien wurde dann die Addition einer 3. Substanz sequentiell und in Kombination mit Platin-basierten Kombinationen intensiv geprüft (Epirubicin, Topotecan, Gemcitabine, liposomales Doxorubicin u. a.). Bedauerlicherweise konnte in keiner der bis heute vorliegenden Analysen für eine der geprüften Substanzen oder Substanzkombinationen ein relevanter Vorteil gegenüber der Standardkombination aus Carboplatin/ Paclitaxel nachgewiesen werde. Mit den im Jahr 2008 vorgestellten negativen Ergebnissen einer großen fünfarmigen Studie der GOG (GOG#182) mit insgesamt mehr als 4.000 Patientinnen ist dieses Konzept der Implementierung einer 3. Substanz an einem vorläufigen Endpunkt angelangt.
Intraperitoneale Therapie Seit Mitte der 1990er-Jahre wird über die intraperitoneale Applikation von Zytostatika als alternative Strategie in der Primärbehandlung des EOC diskutiert. Befürworter argumentieren, dass über diesen Applikationsweg prinzipiell höhere Zytostatikadosen als bei intravenösem Zugang appliziert werden könnten. Kritiker entgegnen, dass durch hohe intraperitoneale Zytostatikaspiegel bei direktem Kontakt allenfalls die oberflächlichen Zell-Layer der Tumorläsionen nachhaltig geschädigt werden und darüber hinaus ein verzögerter systemischer Abfluss der Substanzen erfolgt. Bis heute liegen 3 randomisierte Studien vor, die alle auf einen signifikanten Überlebensvorteil hindeuten, wenn die primäre Chemotherapie teilweise i.p. appliziert wird. Die Ergebnisse haben eine kontroverse Diskussion ausgelöst, die bis heute nicht beendet ist. Nicht zuletzt wegen der erheblichen Nebenwirkungen, die in der Regel während der Behandlungszeit zu einer deutlichen Verschlechterung der Lebensqualität unter der i.p.-Therapie im Vergleich zur Standardtherapie führen, ist die Akzeptanz des i.p.-Regime in Europa und speziell in den deutschen Kliniken bisher nicht sehr hoch. In einer ausführlichen Stellungnahme der AGO werden das Pro und Contra im Detail diskutiert (www.agoonline.org).
Konsolidierungs- oder Erhaltungstherapie Obwohl bei der Mehrzahl der Patientinnen mit einem fortgeschrittenen EOC nach Abschluss der Primärtherapie eine klinische Komplettremission resultiert (60-80%), ist die Rezidivrate unverhältnismäßig hoch. Überlegungen, die Behandlung mit chemotherapeutischen, immuntherapeutischen oder lokoregionären Maßnahmen mit dem Ziel fortzusetzen, die Überlebenszeit der Patientinnen zu verlängern sind nicht neu. Erste Erfahrungen mit Etoposid als Erhaltungstherapie in den späten 1980er-Jahren in Göttingen und Freiburg waren wenig überzeugend. In der Folge findet sich unter einer Vielzahl von Studien mit negativen Ergebnissen bis heute nur eine Studie, die über teilweise positive Resultate berichtet hat. In einer Phase-III-Studie der GOG und der SWOG (GOG#178) wurden Patientinnen mit einer Komplettremission nach Primärtherapie randomisiert mit 12 vs. 3 Kursen einer Erhaltungstherapie mit Paclitaxel (175 mg/m2) behandelt (Markman 2003). Diese Studie wurde vorzeitig gestoppt, nachdem eine geplante Interimanalyse für den langen Therapiearm (12× Paclitaxel) einen signifikanten Vorteil beim progressionsfreien Überleben (PFS) von 7 Monaten erbrachte (Hazard Ratio 2.31; p0 0.0023). Da anschließend eine große Anzahl der Patientinnen aus
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dem kurzen Therapiearm (3× Paclitaxel) einem »cross over« zustimmte, konnte beim Gesamtüberleben kein Unterschied gezeigt werden. Aktuelle Studienansätze konzentrieren sich auf den Einsatz von »Biologicals«, wie z. B. Bevacizumab und anderer Substanzen (GOG 212 und AGO OVAR 11/ICON 7). Fasst man die Entwicklung der letzten 40 Jahre in der Primärbehandlung fortgeschrittener EOC auf der Basis von Studienergebnissen zusammen, dann ist für Patientinnen mit einem primär fortgeschrittenen EOC heute ein medianes progressionsfreies Überleben von 15-20 Monaten und eine medianes Gesamtüberleben von 45-55 Monaten erreichbar. In Subgruppen sind nach vollständiger Tumorresektion und systemischer Standardtherapie auch mediane Überlebenszeiten von 60 und mehr Monaten möglich. In der Gesamtbewertung ist zurzeit kein Therapiekonzept der Kombination Carboplatin/Paclitaxel überlegen. Ob durch dosisdichte und/ oder dosisintensivierte Modifikationen dieser Kombination sowie über den intraperitonealen Zugangsweg Verbesserungen möglich sind, bleibt abzuwarten. Erste Erfahrungen mit einer antiangiogenen Therapie (Bevacizumab) weisen den Weg in eine neue Richtung.
Follow-up Das Nachsorgekonzept beim EOC ist symptomorientiert und basiert im Wesentlichen auf der Anamneseerhebung mit Erfassung persistierender oder neu aufgetretener Nebenwirkungen, der gynäkologischen Palpationsuntersuchung und der transvaginalen Sonographie. In vielen Fällen erfolgt auf Wunsch der Patientin und/oder des betreuenden Arztes die Bestimmung des Tumormarkers CA 125, sofern dieser im Rahmen der Erstdiagnose erhöht gewesen ist. Findet sich bei einer asymptomatischen Patientin nach Abschluss der Primärtherapie im Verlauf ein Anstieg des CA 125, ist nach weiteren 2-6 Monaten in der Regel ein Rezidiv auch klinisch nachweisbar. Die häufig geäußerte Überlegung, dass ein möglichst frühzeitiges Erkennen eines Rezidivs die Chancen auf eine lebensverlängernde Behandlung verbessert, trifft für das EOC bis heute so nicht zu. Ergebnisse einer kürzlich veröffentlichen Studie zeigen keinen Überlebensvorteil für die Patientinnen, die in einer asymptomatischen Phase ihrer Erkrankung ausschließlich auf Basis eines ansteigenden CA 125 systemisch behandelt wurden (Rustin 2009). Bei fehlendem Behandlungsvorteil ist bei der Bestimmung des CA 125 im Rahmen des Follow-ups bis auf weiteres Zurückhaltung geboten.
Rezidivtherapie Patientinnen mit einem primär fortgeschrittenen EOC erleiden in der Mehrzahl ein Rezidiv und versterben im weiteren Krankheitsverlauf an den Folgen der Erkrankung. Nach klinischer Sicherung des Rezidivs beträgt die mediane Überlebenszeit heute etwa 24 Monate mit ansteigender Tendenz. Die Möglichkeiten, mit Operation, Chemo- oder Radiotherapie Einfluss auf den weiteren Krankheitsverlauf zu nehmen, haben sich in den vergangenen 10-15 Jahren verbessert. Kurative Behandlungsoptionen stehen weiterhin aber nicht zur Verfügung. Vorrangige Behandlungsziele sind das Management krankheitsbedingter Symptome und das Bemühen um eine Verlängerung der Überlebenszeit. Bei Patientinnen mit einem asymptomatischen Rezidiv kann nach Aufklärung und Beratung auf den unmittelbaren Beginn einer Therapie verzichtet werden. Ein therapeutischer Vorteil bei frühzeitig begonnener Rezidivtherapie ist nicht nachgewiesen. Diese Empfehlung war in den letzten Jahren im Alltag
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häufig schwer umsetzbar, da viele Patientinnen, in einer noch asymptomatischen Phase ihrer Erkrankung, aber in Kenntnis des steigenden CA 125-Tumormarkers, einen frühzeitigen Therapiebeginn wünschen. Eine differenzierte Therapieplanung in der Rezidivsituation ist ohne Kenntnis relevanter Prognosefaktoren nicht möglich. Es ist das Verdienst der amerikanischen Arbeitsgruppe GOG und von M. Markman, bereits Anfang der 1990er-Jahre auf den prognostisch bedeutsamen Unterschied zwischen Platin-resistenten und Platin-sensiblen Rezidivtumoren hingewiesen zu haben. Das therapiefreie Intervall nach Abschluss einer Platin-basierten Primärtherapie ( <6 Mon. vs. >6 Mon.) wurde zu einem wichtigen, leicht erfassbaren, klinischen Prädiktor für das Ansprechen auf eine erneute (zweite) Chemotherapie. Bei Patientinnen mit einem behandlungsfreien Intervall von <6 Mon. sind Ansprechraten von <20% und bei einem Intervall von >24 Mon. Ansprechraten bis zu 60% wahrscheinlich. Zu bedenken ist, dass eine scharfe Diskriminierung auf der Zeitachse in resistent und sensibel der Biologie eines Tumors und der Individualität der Tumorträgerin allenfalls tendenziell gerecht wird. Dies sollte in der Praxis immer bedacht werden.
Operative Therapie in der Rezidivsituation Operative Behandlungsmaßnahmen in der Rezidivsituation waren über lange Zeit Einzelfällen vorbehalten. Geeignet erschienen nur Patientinnen mit einem solitären, möglichst gut abgegrenzten Tumor intraabdominal oder einer Metastase im Retroperitoneum. Gelegentlich konnten prolongierte Krankheitsverläufe nach Operation und Bestrahlung beobachtet werden. Ab Mitte der 1980er-Jahre wurden die Indikationen zu chirurgischen Zweiteingriffen ausgeweitet. Begriffe wie Intervall-Operation, Second-Look-Operation, sekundäre DebulkingOp, Rezidiv-Operation und Palliativ-OP wurden in die Diskussion eingeführt. Auch von sog. Experten wurden diese Begriffe nicht klar getrennt und in Publikationen und Berichten häufig Art, Qualität und Ergebnis der Vorbehandlung nur unzureichend berücksichtigt. Mit dem Projekt der DESKTOP-Studien (descriptive evaluation of pre-operative selection criteria for operability in recurrent ovarian cancer), das in Deutschland vor allem von Mitgliedern der Organgruppe Ovar getragen wird, ist es in den letzten Jahren gelungen, an dieser Stelle für mehr Klarheit zu sorgen (Harter 2006). In der DESKTOP-I-Studie wurden Daten von über 250 Patientinnen in einer retrospektiven Analyse evaluiert. Es gelang, drei wichtige Parameter für eine erfolgsversprechende (komplette) Rezdivoperation zu identifizieren: Bezogen auf das progressionsfreie Intervall und die Gesamtüberlebenszeit profitieren die Patientinnen am meisten, bei denen makroskopisch erneut eine Tumorfreiheit erreicht werden kann. Weitere unabhängige Variable in einer multivariaten Analyse waren der Aszites (<500 ml vs. >500 ml) und der Tumorrest bei der Primäroperation. Mit der seit 2006 laufenden DESKTOP-II-Studie wird nun versucht, einen prädiktiven Score (Allgemeinzustand, Aszitesvolumen und postoperativer Tumorrest nach Erstoperation) prospektiv zu validieren. Die Ergebnisse stehen aus.
Chemotherapie in der Rezidivsituation EOC-Patientinnen mit einem Rezidiv wurden über lange Zeit als homogene Patientenpopulation mit einheitlich schlechter Prognose wahrgenommen. Das änderte sich Anfang der 1990er-Jahre mit der von der GOG vorgeschlagenen Unterscheidung in platinresistente Tu-
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moren (Rezidiv <6 Mon. nach Beendigung Primärtherapie) und in platinsensible Tumoren (Rezidiv >6 Mon.). Ob diese, für Platin-vorbehandelte Patientinnen definierten Kriterien, in gleicher Weise auch für Patientinnen nach Paclitaxel-Vorbehandlung gelten, ist wahrscheinlich aber nicht mit Daten abgesichert. In Deutschland hat sich die Nordostdeutsche Gesellschaft für Gynäkologische Onkologie (NOGGO) mit ihrer Arbeitsgruppe Ovar in den vergangenen Jahren mit der Entwicklung und Prüfung rationaler Therapiekonzepte in der Rezidivsituation große Verdienste erworben. Für Patientinnen mit platinresistenter Erkrankung hat sich das Spektrum potentiell aktiver Substanzen über die Zeit etwas verändert. Platin-Analoga spielen nach vorangehender platinhaltiger Firstline-Therapie erwartungsgemäß keine Rolle. Zu aktuell als wirksam eingeschätzten Substanzen zählen u. a. Gemcitabine, liposomales Doxorubicin, Etoposid, Topotecan, Taxane, Altretamine und Ifosfamid. Weitgehend einheitliche Ansprechraten in Phase-IIStudien von 10 und 25%, ein median progressionsfreies Intervall von 4-5 Mon. und mediane Überlebenszeiten von 8-12 Mon. sind realistische Annahmen. Mit Kombinationen sind keine besseren Ergebnisse zu erreichen als mit einer Monotherapie. Für die individuelle Therapieplanung sind neben nachgewiesener Wirksamkeit geringe Toxizität, einfacher Applikationsmodus und eine angemessene Kosten-Nutzenrelation wichtige Entscheidungskriterien.
Platin-sensible Erkrankung Bei etwa 50% aller Patientinnen mit einem fortgeschrittenen EOC tritt ein Rezidiv nach einem Intervall von >6 Mon. nach Abschluss der Primärtherapie auf. In der Monotherapie zeigen Platin-Analoga und Taxane die größte Wirksamkeit mit Remissionsraten von 30-33%. Weitere Substanzen mit hervorgehobener Wirksamkeit sind die Topoisomerasehemmer Etoposid und Topotecan sowie das liposomale Doxorubicin. Mit Platin- oder Taxan-haltigen Kombinationen werden durchweg bessere Behandlungsergebnisse als mit einer Monotherapie oder Platin- und Taxan-freien Kombinationen erzielt. (RR 48-54%) Mediane Überlebenszeiten zwischen 14-24 Monaten sind erreichbar. Ein erster international akzeptierter Standard für Patientinnen mit einem Platin-sensiblen Modell wurde 2003 mit derr ICON4/AGO-2.2 Studie definiert. In dieser Studie wurde die Kombination Platin/Paclitaxel mit einer Taxanfreien Platin-Therapie verglichen. Bei den Zielpunkten progressionsfreies Intervall (12. vs. 9 Mon.) und bei der Gesamtüberlebenszeit (29 vs. 24 Monate) zeigten sich Vorteile für die Kombination. (ICON und AGO Collaborators 2003). Zwei weiteren, gleichwertige Kombinationen (Platin/Gemcitabine und Platin/pegyliertes Doxorubicin), die beide in Phase III erfolgreich evaluierten wurden, stehen heute für die Behandlung Platin-sensibler EOC zur Verfügung.
Zusammenfassung und Ausblick Das epitheliale Ovarialkarzinom ist das Problemkarzinom in der gynäkologischen Onkologie. Defizite bei der Früherkennung sind evident. Bei der operativen Radikalität sowie der Effektivität der medikamentösen Primär- und Rezidivtherapie mit Zytostatika scheint ein Plateau erreicht. Die Folge ist eine anhaltend ungünstige Relation zwischen Inzidenz- und Mortalitätsraten. Mit einem tieferen Verständnis ätiologischer Zusammenhänge, der molekularen Genetik, der Tumorbiologie und der Pathogenese liegen wichtige Bausteine für die
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Entwicklung verbesserter Präventionskonzepte bereit. Die sich abzeichnende Dekonstruktion der bislang monolithisch begriffenen Tumorerkrankung in neue, durch unterschiedliche DNA-Alterationen definierte Entitäten, eröffnet Chancen für ein neu konzipiertes Therapiemanagement. Dabei gehört auch das System der klinischen Studien, einschließlich der Auswertungsmodalitäten auf den Prüfstand. Für die Zukunft gilt es, Verzerrungen, die sich bei der Priorisierung von Ergebnissen aus prospektiv randomisierten Studien zugunsten gesundheitsfremder Interessen ergeben können, möglichst zu vermeiden.
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Vulva- und Vaginalkarzinom Hans-Georg Schnürch
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Kapitel 23 · Vulva- und Vaginalkarzinom
Einleitung
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Der medizinische Fortschritt steht in dem Ruf besonders rasch abzulaufen: Die Wissensverdoppelungszeit soll zwischen 10 und 5 Jahren betragen. Wenn man unter diesen Rahmenbedingungen einen Zeitraum von 125 Jahren überblicken möchte, dann kann man eine große Spannbreite von Wandlungen, von revolutionären Umbrüchen und Paradigmenwechsel erwarten. Dabei beziehen sich diese Erwartungen schwerpunktmäßig auf die medizinischen Erkenntnisse im Hinblick auf Krankheitsursachen, optimierte Diagnostik und Behandlungsmöglichkeiten, weniger auf Veränderungen der Krankheiten selber. Zur Historie der Tumorerkrankungen liefert K. H. Bauer (1963) eine Momentaufnahme in der Mitte des letzten Jahrhunderts: »Krebs hat es immer schon gegeben. Es war der »Spontankrebs« früherer Zeiten, der Krebs gewissermaßen aus den »natürlichen« inneren Ursachen der Abnutzung und des Alterns und aus den gegebenen Ursachen der äußeren Umwelt. Was heute als alarmierend empfunden wird, ist der offenkundig ganz »unnatürliche« Zuwachs an Krebserkrankungen. Das Plus an Krebs liefert erst und nur der »induzierte« Krebs, d. h. der durch neuzeitliche exogene Schädigungen mannigfacher Art ausgelöste Krebs.« Diese Wahrnehmung und Wertung der Epidemiologie kann auch heute noch als aktuell bezeichnet werden. Dazu passt die neu identifizierte (exogene) Schädigung in Form einer Virusinfektion, die zu einem »induzierten« Krebs führt. Die in wesentlichen Teilen auf Arbeiten des deutschen Nobelpreisträgers Harald zur Hausen (Medizin-Nobelpreis 2008) beruht. Die Beweisführung lässt erkennen, dass humane Papillomaviren für die typischen Plattenepithelkarzinome des unteren Genitaltraktes in sehr vielen Fällen eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für die Entstehung sind. Die Karzinome der Cervix uteri sind in nahezu 100% auf dem Boden einer humanen Papillomavirusinfektion entstanden, die menschlichen Vulvakarzinome in 50-70%. Die Beweisführung von Harald zur Hausen (1976, 2002) hat zur Entwicklung von Impfstoffen geführt und damit zumindest einen von vielen Träumen der Onkologen wahr gemacht: eine Impfung gegen den Krebs – zumindest gegen eine Sorte von Krebs. Die in diesem Aufsatz aufgeführten historischen Vorgänge um Diagnostik und Therapie der Karzinome von Vulva und Vagina werden aus natürlichen Gründen überwiegend die Karzinome der Vulva reflektieren. Die primären Vaginalkarzinome sind noch einmal um den Faktor 10 seltener als die Vulvakarzinome, die ihrerseits schon die kleinste Gruppe unter den klassischen gynäkologischen Malignomen darstellten Nach heutigen Statistiken ist damit zu rechnen, dass auf 1 Vulvakarzinom 3 Zervixkarzinome, 5 Endometriumkarzinome, 7 Ovarialkarzinome und ca. 30 Mammakarzinome kommen.
Historische Darstellungen Deutschsprachige Darstellungen zu Erkrankungen der Vulva liegen etwa so lange vor wie die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) besteht. In dem 1. Handbuch der Frauenkrankheiten, das 1877 im Enke-Verlag erschien, ist der 8. Abschnitt mit Die Krankheiten der äußeren weiblichen Genitalien überschrieben. Die von Hildebrandt gewählte Einteilung der Erkrankungen wird auch in der 2. Auflage des Handbuches der Frauenkrankheiten vom neuen Autor dieses Kapitels, dem Erlanger Ordinarius für Geburtshilfe und Gynäkologie Paul Zweifel, übernommen (1886). 1910 erscheint der 4. Band des Handbuches der Gynäkologie (Herausgeber: J. Veith), der einen etwa 200 Seiten umfassenden Beitrag zu den Erkrankungen der Vulva enthält. Die Ein-
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teilung der Erkrankungen wird wie in dem Beitrag von Hildebrandt 1877 und Zweifel 1886 im Wesentlichen beibehalten. 1915 gibt der Pathologie U. Frankl aus Wien eine Übersicht über die Pathologie des Vulvakarzinoms. Direkt einleitend beklagt er: »Während das Karzinom des Uterus und der Ovarien in zusammenfassenden Arbeiten sowohl nach der klinischen als auch der pathologischanatomischen Seite erschöpfende Schilderung erfahren habe, müssen wir für das Karzinom der Vulva eine derartige, insbesondere die Pathologie auf breiterer Basis enthaltende Darstellung bislang als ausstehend bezeichnen.« Es weist darauf hin, dass es eine sehr große Zahl von Publikationen über einzelne Fälle gibt, aber keine zusammenfassende pathologisch-anatomische grundlegende Arbeit. Diese Situation hat sich gebessert, allerdings erst im späten 20. Jahrhundert. Trotzdem ist bei allen medizinischen Fortschritten bis heute eine zeitliche und inhaltliche Unterordnung der wissenschaftlichen Diskussion über die Tumoren der Vulva und Vagina gegenüber den häufigeren Tumoren des Uterus und der Ovarien zu erkennen. In einer Sitzung des Ärztlichen Vereins zu Marburg (1910) berichtet W. Stoeckel über Radikalheilung des Vulvakarzinoms. Er berichtet über 4 Fälle, die mit Lymphknotenentfernung operiert wurden und einen sehr schlechten Verlauf aufwiesen. Diese Fälle hatten sämtlich eine fortgeschrittene Tumorausbreitung und wurden radikal operiert. Dennoch kommentiert Stoeckel: »Ich bin aber überzeugt, dass man in geeigneten Fällen den Versuch wird machen müssen, noch radikaler vorzugehen. Zweifellos werden die Leistendrüsen sehr früh befallen und sehr rasch überschritten, so dass man bei nicht ganz frischen Fällen immer schon mit einer Metastasierung in den Beckendrüsen rechnen muss.« Stoeckel folgert daraus, dass die Beckenlymphknoten mit in die Entfernung einzubeziehen seien und dies schon bei der ursprünglichen Schnittführung zu berücksichtigen sei. Er gibt allerdings zu bedenken, dass die dadurch entstehende Verwundung noch erheblich größer werde als die, die jetzt schon durchgeführt wird. Er schlussfolgert zu dem noch weiter vergrößerten Operationsschnitt: »Es erscheint mir daher fraglich, ob er sich im Prinzip wird durchführen lassen. Aber bei nicht zu alten und nicht zu sehr geschwächten, vor allem auch nicht zu fettleibigen Frauen, würde ich doch wohl einen Versuch machen, denn ich sehe keinen anderen Weg um zu einer Besserung der Dauerresultate zu gelangen.« Später berichtet E. Kehrer (1929) in seinem Handbuchbeitrag Die Vulva und ihre Erkrankungen – Lage und Bewegeanomalien des weiblichen Genitalapparates«, dass Stoeckel dieses ausgedehnte Operationsverfahren nicht ausgeführt habe. Er habe dagegen von einem abdominalen Längsschnitt aus die Beckenlymphknoten entfernt und dann die Leisten durch einen Bogenschnitt von einer Spina iliaca zu anderen entfernt. Kehrer setzt seinen Artikel fort mit der Beschreibung von schon früher ausgeführten Verfahren zur Entfernung der Beckenlymphknoten bis zur Bifurkation der Aorta. Literatur dazu besteht von Lenander (1899), Mauclaire (1903) und von Basset, der ein ähnliches Verfahren an der Leiche ausprobiert hat, das später von Ruberger (1912) und auch von Fred Taussig (1922) ausgeführt wurde (zit. n. Kehrer 1929) Kehrer stellt den zeitgenössischen Kenntnisstand zusammenfassend dar. Er betont, dass das Vulvakarzinom im Allgemeinen viel länger operabel sei als der Gebärmutterkrebs. Es sei nicht mehr statthaft, den Eingriff auf die bloße Exstirpation des primären Tumors zu beschränken, da bereits kleine Lymphknoten befallen sein könnten. Ist das Vulvakarzinom noch in einem frühen Stadium, so empfiehlt er die Radikaloperation mit einseitiger Exstirpation der Vulva und der bilateralen oberflächlichen und tiefen Leisten- und Schenkeldrüsen. Sind die Inguinaldrüsen bereits geschwollen, dann soll eine erweiterte extraperitoneale Radikaloperation des Vulvakarzionoms in einer Sitzung ausgeführt werden. Er betont, dass
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Kapitel 23 · Vulva- und Vaginalkarzinom
»keine andere Methode als diese allein die Möglichkeit gibt, alle beim Vulvakarzinom erkrankten Drüsenetappen in völliger Kontinuität mit der Vulva zu entfernen.« Auch die Mitnahme der äußeren Anteile der Urethra wird bei Tumornähe empfohlen (⊡ Abb. 23.1). Die Bestrahlung wird von Kehrer in ihren verschiedenen Facetten geschildert. Dazu gehören Radiumnadelspickungen, Radiumauflagen mit Moulagen und Radiumröhrchen, die in die Hohlräume eingeführt werden, unter anderem auch in die Urethra. Die Nebenwirkungen dieser Verfahren sind massiv, Rezidive häufig und die Behandlung der Leisten mit Radium scheint wenig sinnvoll. Die primäre Röntgenbestrahlung wird ebenfalls mit gemischten Ergebnissen zitiert. In der Zusammenfassung führt Kehrer die Therapieoptionen zusammen: Die möglichst radikale Operation und eine nachfolgende Röntgenbestrahlung sei das Optimum. Die primäre Röntgenbestrahlung ist nur für die wenigen Patientinnen einzusetzen, die absolut inoperabel sind und von Anfang an wenig Hoffnung bieten. Dazu sind auch die Patientinnen mit großen Leistenmetastasen zu zählen. Er berichtet auch von ersten Anwendungen der Diathermiekaustik durch Matthaei (1921), Heynemann (1921) und Hemmsen (1923) (zit. n. Kehrer 1929). Die Prognose der Vulvakarzinompatientinnen ist bei den Fallsammlungen aus dem deutschen Sprachraum nicht an großen Gruppen analysiert worden. Es werden kleine Kohorten beschrieben – und die Angaben sind nicht sehr systematisch. Es ist wohl erkennbar, dass die Patientinnen mit der operativen Behandlung der Leistenlymphknoten eine geringere Rezidivrate nach 3 Jahren haben als die nur lokal operierten Frauen. Es werden dann Heilungszeiten aufgelistet, wobei das Ausgangskollektiv nicht erkennbar ist. Von Rupprecht (1912) werden Heilungen über 7-27 Jahren in der Größenordnung von 41% (17 Fälle Ausgangsmaterial) berichtet, sowie in 5 von 16 Fällen (31,28% nach einer Beobachtungszeit von 5-20 Jahren). Diese Beschreibungen deuten an, warum Untersucher mit größeren Kollektiven wie Taussig und Way die Urheberschaft für die radikaloperative Therapie zugeschrieben bekommen haben. Sie publizierten zwar 30-40 Jahre später, haben aber ihre Patientinnen und Daten länger gesammelt und systematisch aufgearbeitet.
⊡ Abb. 23.1. Originalabbildung eines Vulvektomie-Präparates nach Kehrer (1929): Vulvakarzinom. Präparat nach Radikaloperation unter Mitnahme der oberflächlichen und tiefen Lymphknoten
457 Historische Darstellungen
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Immerhin folgert Kehrer aus diesen von ihm aufgeführten Zahlen, dass sie »eine deutliche Sprache sprechen, weitaus die besten der bisher veröffentlichen, im Sinne der grundsätzlichen Forderung der erweiterten extraperitonealen Radikalmethode als Methode der Wahl in allen vorgeschrittenen Fällen«. 1929 erscheint auch der 3 Band des von Halban und Seitz herausgegebenen Handbuches Biologie und Pathologie des Weibes. In diesem Band schreibt der Baseler Gynäkologe A. Labhardt einen Beitrag auf 60 Seiten über die Erkrankungen der Vulva. Dabei unterteilt er die Erkrankungen der äußeren Genitalien in Zirkulationsstörungen, Entzündungen, Hyperkeratosen, trophisch nervöse Erkrankungen, narbige Veränderungen und Geschwülste. Unter den Geschwülsten werden neben den gutartigen die bösartigen desmoiden Geschwülste (Sarkome und Melanosarkome) sowie die epithelialen Geschwülste, das Karzinom abgehandelt. Die epidemiologische Auswertung zeigt einen prozentualen Anteil von 6% Vulva- und Vaginalkarzinomen bei insgesamt 620 Genitalkarzinomen der Baseler Frauenklinik. Dieser Prozentsatz liegt unter dem Prozentsatz aktueller Schätzungen, die in Deutschland von 9% ausgehen. Die ausführlichen spekulativen Schilderungen der fraglichen Zusammenhänge zwischen Leukoplakie, Kraurosis, Pruritus und der Tumorentwicklung sind bemerkenswert nahe an der heutigen Betrachtungsweise. Die Ausführungen über die makroskopische und histologische Gestaltung der Vulvakarzinome ähneln unserer aktuellen Einteilung. Im Hinblick auf die Lymphausbreitung erklärt Labhardt schon 1929: »Zur Ausbreitung auf dem Lymphwege ist noch zu bemerken, dass bei einseitiger Erkrankung zunächst die gleichseitigen Drüsen erkranken; bei dem großen Reichtum der Gegend an Lymphgefäßen werden jedoch meist bald auch die andersseitigen Drüsen befallen, evtl. schon zu einer Zeit, wo der Primärkrebs noch einseitig lokalisiert ist. Bei medianem Sitz des Krebses der Vulva erkranken die beidseitigen Lymphdrüsengruppen meist gleichzeitig.« Eine Verfeinerung und genaue Analyse dieser Situation hat später zu einer Rücknahme der Operationsausdehnung geführt. Zur Therapie des Vulvakarzinoms werden die Verfahren Operation und Bestrahlung alternativ angegeben, wobei Labhardt formuliert: »Die meisten Gynäkologen scheinen zurzeit noch der Operation den Vorzug zu geben.« Bei der Operation wird eine komplette Resektion der Vulva en bloc mit den Inguinaldrüsen, dem Leistenfett und dem Fett der Labiokruralfalten empfohlen. Er zitiert Stoeckel mit der Empfehlung, auch die iliakalen und hypogastrischen Drüsen im gleichen Eingriff mit zu entfernen. Die großen Wundflächen werden » ... durch Heranziehen der Scheidenhaut von innen, der Haut von außen (wenn nötig Entspannungsschnitte) durch Knopfnähte ganz verschlossen oder doch möglichst verkleinert. Bestimmte Regeln lassen sich dafür nicht geben. Man wird im einzelnen Falle nach Bedürfnis handeln; meist steht Haut von allen Seiten hier in genügender Menge zur Verfügung.« Im Hinblick auf die Strahlentherapie berichtet der Autor recht zurückhaltend. Die Erfolge seien noch nicht bewertbar, es werden die Methoden der Röntgenbestrahlung, der Radiumbehandlung und auch der Operation mit prophylaktischer Nachbestrahlung geschildert. Einzelne Fälle von Heilung mittels Bestrahlung werden geschildert. Auch wird eine Diathermiekaustik zurückhaltend erwähnt (Matthaei). 18 Jahre später führt Heinrich Martius (1947) in der 5. Auflage des Werkes Die gynäkologischen Operationen zur optimalen Therapie des Vulvakarzinoms aus, dass die Frage Operation oder Bestrahlung noch immer nicht entschieden sei. Die Ergebnisse der Operationen seien schlecht gewesen, deswegen sei die Exstirpation immer radikaler ausgestaltet worden.
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Kapitel 23 · Vulva- und Vaginalkarzinom
Die ausgedehnte Lymphknotenresektion erfolgt von einem T-förmigen Schnitt über jedem Schenkel, der sich in der Mitte vereinigt und von der Symphyse abwärts zur äußeren und inneren Umschneidung der Vulva führt. Dabei umfasst die innere Umschneidung die Harnröhrenöffnung und die Scheide und die äußeren Umschneidung die gesamte Vulva, in der Tiefe präpariert bis auf das Diaphragma urogenitale präpariert. Martius zitiert Stoeckel und Kehrer, die die Drüsenausräumung noch um die Entfernung der iliakalen Drüsen erweitert haben. Diese ausgedehnten operativen Eingriffe, insbesondere mit den schlechten Ergebnissen bei älteren und hinfälligen Patientinnen, veranlasse ihn, die Möglichkeiten der Strahlentherapie ausloten. In gesperrtem Druck gibt er seine Grundsatzeinstellung wieder: »Nachdem die radikalen Operationsmethoden ebenso wie die alleinige Strahlentherapie keine Verbesserungen der Dauerresultate ergeben haben, empfehle ich jetzt, so vorzugehen, dass der Primärtumor mit dem elektrischen Messer umschnitten und entfernt wird. Es folgt dann die fraktionierte Nachbestrahlung des Tumorbettes und der Inguinaldrüsen mit Röntgenstrahlen und kleinem, dem Tumorgebiet durch Ausblendung angepassten Feld.« Der Therapie des primären Scheidenkarzinoms widmet Heinrich Martius 11 Zeilen. Er bewertet die operative Behandlung des primären Scheidenkarzinoms als radikale Entfernung mit der gesamten Scheide, Uterus und Adnexen einschließlich des paravaginalen und parametranen Bindegewebes und bewertet die Ergebnisse als ausgesprochen unbefriedigend. Dagegen hält er die Heilungsaussichten durch kombinierte Röntgen- und Radiumtherapie als relativ günstig an und zieht bei jedem primären Scheidenkarzinom diese einer operativen Therapie vor. Für die angloamerikanischen Mediziner ist die Grundlage der radikal operativen Therapie beim Vulvakarzinom durch Fred Taussig und Stanley Way gelegt worden. Taussig publiziert 1940 eine Analyse von 155 Fällen, die er zwischen 1911 und 1940 behandelt hat. In seiner Diskussion führt er als eine wesentliche Begründung für seine radikale Operation mit Lymphknotenentfernung die Autoren Gröger, Reiprich, Ruppert, Stoeckel und Kehrer an, die erheblich bessere 5-Jahres-Heilungsraten berichtet haben durch die Kombination radikaler Lymphknotenexzisionen mit der Vulvektomie. 1948 beschreibt Stanley Way im Royal College of Surgeons of England seine Erfahrung mit der radikalen Chirurgie der Vulvakarzinome. Er berichtet von 41 Operationen, die er zwischen 1942 und 1948 durchgeführt hat. Bemerkenswert ist die damals noch sehr hohe Operationsmortalität von 16% (7 Todesfälle perioperativ). 4 Patientinnen erlitten ein Herzversagen innerhalb der ersten 36 Stunden, 2 Patientinnen starben an einer Wundinfektion und Sepsis, die 7. Patientin wurde aus unklarem Grund nach zweizeitiger Operation immer schwächer und starb an einer hypostatischen Pneumonie 3 Wochen nach der Operation. Die beiden englischsprachigen Autoren Taussig und Way sind dadurch hervor getreten, dass sie ihre Erfahrungen in einer sorgfältigen Analyse publiziert haben. Im deutschsprachigen Raum haben radikaloperative Therapieverfahren schon deutlich früher begonnen, sind aber nicht mit so großen Fallzahlen in das allgemeine und insbesondere angloamerikanische Schrifttum gelangt. Im deutschsprachigen Raum wurden zudem zwei Sonderwege in der Behandlung begangen: ▬ Zum einen die Elektroresektion nach Ellis Berven, die von dem Wiener Karl Weghaupt im deutschsprachigen Raum vorangetrieben und publiziert wurde. ▬ Der andere Sonderweg ist die ausschließliche primäre Bestrahlung, die durch Lochmüller und Frischbier durchgeführt und publiziert wurde.
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Beide Sonderwege, die vorrangig an weit fortgeschrittenen Karzinomen und auch unter dem Eindruck einer erschwerten Operabilität durch Alter und Komorbidität der Patientinnen durchgeführt wurden, haben sich letztlich nicht durchgesetzt. Eine wesentliche Rolle dabei dürfte der Nebenwirkungsreichtum gespielt haben und die Tatsache, dass sich durch verbesserte Anästhesieverfahren und intensivmedizinische Versorgung die allgemeine Operabilität erheblich ausgeweitet hat. Das Handbuch der Frauenheilkunde und Geburtshilfe unter dem Namen Biologie und Pathologie eines Weibes erscheint 1955 in einer 2. , völlig neu bearbeiteten Auflage beim Verlag Urban & Schwarzenberg in Berlin. Unter der Herausgabe von Ludwig Seitz und Alfred Amreich wird das Kapitel zu den Vulva- und Vaginalerkrankungen wiederum von A. Labhardt aus Basel verfasst – wie schon 26 Jahre zuvor. Es trägt den Titel Die Erkrankungen der äußeren Geschlechtsorgane einschließlich der parasitären Erkrankungen. Das Kapitel Die Entzündungen der äußeren Geschlechtsorgane ist wesentlich ausgedehnt worden, während die Abhandlung der Geschwülste mit dem von 1929 vergleichbar ist. Die Darstellung ist insgesamt komprimierter. Im Hinblick auf die Diagnostik wird die histologische Untersuchung betont und auch ein kleines Kapitel über die Prophylaxe des Vulvakarzinoms eingefügt. Dabei wird auf die »präkanzerösen Veränderungen (Leukoplakie, Kraurosis, Warzen, Papillome)« hingewiesen. Die Behandlung des Vulvakarzinoms sieht Labhardt in der Literatur auseinanderdriften. Die Divergenz in den Ansichten führt er auf die Unterschiedlichkeit der Tumoren in den Kollektiven bei insgesamt nur relativ begrenzter Fallzahl zurück. Bei den operablen Fällen sollen neben der Vulva die Inguinaldrüsen mit entfernt werden sowie das Fett der Labiokruralfalten wegen des Reichtums an Lymphgefäßen. Die von anderen Autoren wie Rupprecht, Stoeckel, Kehrer, Martius, Amreich und Basset empfohlene Entfernung der iliakalen und hypogastrischen Lymphknoten sollte nur bei jungen Frauen in gutem Allgemeinzustand vorgenommen werden. Die Resultate dieser eingreifenden Verfahren seien wenig ermutigend. Er berichtet auch, dass nach operativem Eingriff die meisten Autoren eine intensive Röntgennachbestrahlung der Vulva und der Leisten und Unterbauchgegend nach 3-4 Wochen folgen lassen. Er votiert bei diesen Fällen gegen eine primäre Radiumoder Röntgenbestrahlung. Für die inoperablen Fälle stellt er die Radiumapplikation und die Röntgenbestrahlung dar. Im Hinblick auf die Resultate der Bestrahlung bei fortgeschrittenen Tumoren berichtet er skeptisch: »immerhin wird es einzelnen Fällen gelingen, das Wachstum der Geschwulst wenigstens anzuhalten«. Die schlechten Ergebnisse der anfänglichen Operationen wurden erst nach den Publikationen von Taussig und Way belegbar besser. Sie haben die weite, tiefe Resektion der gesamten Vulva und eine aggressive Entfernung der regionalen Lymphknoten als Standardbehandlung für operabel invasive Vulvakarzinome ausgebaut und beschrieben. Stanley Way publizierte die von ihm behandelten Vulvakarzinomfälle 1960 in einer Zusammenfassung mit längerer Nachbeobachtungszeit. Es handelt sich um insgesamt 87 Patientinnen, davon 13 mit Vulvektomie und unilateraler Lymphknotendissektion, 23 mit Vulvektomie und oberflächlicher bilateraler Lymphknotenentfernung. Die Arbeit stellt eine sorgfältige Analyse der Rezidivhäufigkeit und der Rezidivorte, des krankheitsfreien Überlebens und des Gesamtüberlebens dar. In einer Betrachtung von 143 unausgewählten Patientinnen mit Vulvakarzinom, die in einer Institution behandelt wurden, kann er bei den Lymphknoten-negativen Patientinnen eine 5-Jahres-Rezidivfreiheit von 77% feststellen, bei den Lymphknoten-positiven Patientinnen von 42%. Way berichtet von den Problemen mit
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Kapitel 23 · Vulva- und Vaginalkarzinom
den sehr großen Wunden, die bei seiner Schnitttechnik entstehen. Die Patientinnen wurden zur Unterstützung des Wundverschlusses in der Hüfte flektiert und die Beine wurden zusammen gelagert, damit die Wunden primär heilen konnten. Er fasst seine Erfahrungen dahingehend zusammen, dass große Teile der Urethra mit entfernt werden können ohne dass eine dauerhafte Inkontinenz resultiert. Bei Mitentfernung des Anus oder Teilen des Anus sollte eine Transversum-Kolostomie angelegt werden, um Kontaminationen der großen Leistenwunden zu vermeiden. In seinem Kommentar weist er darauf hin, dass er einige Patientinnen mit hyperkeratotischen Flächen gesehen hat, häufig im Dammbereich. Er hält diese hyperkeratotischen Areale mit einer »leukoplakischen Erscheinung« für den Startpunkt eines Vulvakarzinoms. Er berichtet zeitgenössisch, dass das Intraepitheliale Karzinom der Vulva sehr selten sei im Gegensatz zu denen der Zervix. Er weist aber bereits 1960 darauf hin, dass man die Fälle mit Hyperkeratosen und anderen Auffälligkeiten gut beobachten solle, um ggf. präventiv Vorstufen bzw. frühe invasive Stadien operativ entfernen zu können und dadurch der Erfordernis nach ausgedehnten, z. T. verstümmelnden und langsam heilenden Operationen zuvorzukommen. Aus der Göttinger Universitätsfrauenklinik berichtet der Strahlentherapeut R. Frischkorn 1968 über den aktuellen Stand der Strahlenbehandlung des Vulvakarzinoms. Dabei wird von ihm detailliert die Dosisverteilung bei der Verwendung von schnellen Elektronen berichtet, die eine gute Eindringtiefe an der Oberfläche haben, aber einen steilen Dosisabfall nach etwa 5 cm. In der Gesamtbetrachtung berichtet er von einer 5-Jahres-Überlebenszeit als Maß für die Qualität der Behandlung in der Größenordnung von 35%, etwas später 38%. Frischkorn führt aber auch aus, dass diese Strahlentherapie in einem ganz erheblichen Ausmaß zu Nebenwirkungen führen würde: In etwa 30% leiden die Patientinnen an Folgezuständen wie Nekrosen, Ulzerationen, Indurationen, Schrumpfung und Atrophie. Er berichtet, dass diese Spätfolgen nicht selten belastender sein könnten als der Primärbefund vor der Strahlentherapie. Aufgrund der eingeschränkten Heilungsaussichten und der erheblichen Nebenwirkungen führt Frischbier das zu diesem Zeitpunkt noch wenig geübte Verfahren der Elektrokoagulation an. Dieses Verfahren wird von K. Weghaupt aus der Wiener Frauenklinik publiziert, der das 1922 von Berven neu eingeführte Verfahren übernommen hat. Die 5-Jahres-Überlebensrate in diesen Kollektiven wird mit 52% angegeben (Berven 1949). Insgesamt vermutete Frischkorn, dass auch die Auswahl der Patientinnen eine Rolle spiele. Die Patientinnen mit etwas besser entfernbaren Tumoren würden wahrscheinlich eher in die Gruppe mit Elektrokoagulation hinein genommen, während die absolut desolaten Fällen und die weiter fortgeschrittenen Tumoren in die Gruppe mit der Strahlentherapie aufgenommen würden. Er ist deshalb sehr zurückhaltend mit der Verallgemeinerung einer Empfehlung der Therapie mit schnellen Elektronen. Er beklagt den Mangel an wirklich vergleichbaren Patientenkollektiven und empfiehlt dringend die Übernahme des TNM-Systems für ein Staging der Ausgangssituation, damit die Kollektive korrekt verglichen werden können. Auf der 138. Tagung der Mittelrheinischen Gesellschaft für Geburtshilfe und Gynäkologie 1969 in Marburg berichtet Otto Käser (damals Frankfurt a. Main) zur operativen Therapie des Vulvakarzinoms. Er fasst zusammen, dass 3 Behandlungsmethoden Verwendung finden: Die Radikaloperation, die Bestrahlung und die Elektrokoagulation. Jede Methode habe Vor- und Nachteile, die bislang aufgrund der relativen Seltenheit des Vulvakarzinoms nicht durch vergleichende Statistiken oder prospektive Beobachtungen ausreichend gegeneinander abgegrenzt werden konnten. Vor der Indikationsstellung zu einer ausgedehnten Operation
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empfiehlt er die Berücksichtigung der Tumorausdehnung und des Alters der Patientin. Zur Durchführung empfiehlt er die En-bloc-Resektion. Er gibt zwar an, dass diese Technik auch in seinen Händen erhebliche Morbiditäten mit sich bringe, immerhin aber eine 5-JahreRezidivfreiheit von etwa 50-70% je nach Ausgangskollektiv erbringen könne. Dabei gibt er zu Bedenken, dass die Ergebnisse bei weiter fortgeschrittenen Fällen und bei unvollständiger Operation wesentlich schlechter zu erwarten sind. Eine bedeutende und wegweisende Arbeit für die Behandlung lokal weit fortgeschrittener vulvovaginaler Karzinome wird 1973 von C. Boronow publiziert. Er gibt einen Überblick über die bisherige Literatur zur Behandlung fortgeschrittener Vulvakarzinome und berichtet dann über seine Ergebnisse einer neuen kombinierten Behandlungsmethode. Da die lokal fortgeschrittenen Karzinome bei der operativen Behandlung nicht selten nur durch exenterative Eingriffe heilbar sind und eine primäre Bestrahlung dieser Tumormassen zu diesem Zeitpunkt nicht »Herr wird«, empfiehlt er die Kombination durch eine präoperative Bestrahlung mit zügig angeschlossener Radikaloperation. Er berichtet von 9 Patientinnen, die er in dieser Form behandelt hat. Von diesen Patientinnen sind zwei an ihrer Erkrankung nach 5 bzw. 8 Monaten gestorben, 5 Patientinnen seien krankheitsfrei mit Beobachtungszeiten zwischen 11 Monaten und 4,5 Jahren. Dabei sind bei den Patientinnen die exenterativen Anteile der Harnblasenentfernung und auch der Darmresektion mit Anus-praeter-Anlage vermieden worden. Die Patientinnen haben eine deutlich geringere operative Mortalität und postoperative Morbidität erleben können. Er empfiehlt die weitere Überprüfung dieser therapeutischen Alternative. In einem Übersichtsartikel in der Zeitschrift Der Gynäkologe von 1981 fasst der gynäkologische Onkologe W. E. Lucas die Behandlung des invasiven Plattenepithelkarzinoms wie folgt zusammen: »Allgemein spielt die Strahlentherapie in der Primärbehandlung des Vulvakarzinoms eine nachgeordnete Rolle. Es liegt nicht nur die erzielte Heilungsrate deutlich niedriger als bei der primären operativen Behandlung, die mit cancerociden Strahlendosen verbundene Morbidität ist beträchtlich.« Es folgt eine Diskussion über evtl. Abweichungsmöglichkeiten von der Standardtherapie bei ganz frühen Tumoren, die jedoch sehr vorsichtig ausgeführt wird. Dies gelte für »gut differenzierte, nicht konfluierende invasive Karzinome mit einer Invasionstiefe unter 5 mm ohne Befall der Lymphgefäße«. In diesen Fällen wird eine tiefe und weite Exzision bei lateralem Tumor und eine beidseitige oberflächliche femorale Lymphonodektomie empfohlen, bei ventralen Tumoren allerdings eine radikale Vulvektomie. Nur bei weit dorsalen Tumoren wird überlegt, den Mons pubis und die Klitoris bestehen zu lassen. In einem ergänzenden Beitrag von H.G. Bender zu dieser Ausführung im Gynäkologen (1981) wird noch einmal herausgestellt, dass die radikale Vulvektomie mit der Lymphonodektomie beidseits das Standardverfahren der operativen Vulvakarzinomtherapie darstellt. Bender schlägt einen historischen Bogen: Nach den Angaben von Kehrer (1929) habe bereits Rupprecht im Jahren 1882 die oberflächlichen und tiefen Leistenlymphknoten auf der Seite des lateralen Vulvakarzinoms entfernt, bei medial gelegenen Karzinomen beide Seite. Die routinemäßige bilaterale Lymphonodektomie wurde beim Vulvakarzinom dann von verschiedenen namhaften Gynäkologen (Kahan 1891, Pfannenstiel 1904, Stoeckel 1911 und Döderlein 1912) verlangt. Stoeckel forderte bereits 1919 dazu auf, »...die Vulvakarzinomoperation in jedem Fall, der überhaupt Aussicht auf Heilung hätte, an die äußersten, operativ zugänglichen Drüsengruppen im Abdomen auszudehnen«. Kehrer hat in dieser Weise zwischen 1912 und 1929 7 Patientinnen operiert und berichtet einen »besten Erfolg bei einem operationsbedingten und einem karzinombedingten Todesfall«.
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Kapitel 23 · Vulva- und Vaginalkarzinom
Bender fügt der Arbeit von Lucas die aktuellen Modifikationsansätze bei. Dazu gehört insbesondere die Dreifach-Inzision unter Belassung einer Hautbrücke zwischen dem Vulvaresektat und den Leistenresektionen. Die ersten Düsseldorfer Erfahrungen damit werden auch durch eine Publikation von N. Hacker (1981) unterstützt. Eine weitere Rücknahme der operativen Radikalität wird beschrieben für die sog. frühen Tumoren, die durch eine tiefe Exzision mit einer 3 cm breiten gesunden Gewebsmanschette entfernt werden und bei denen die oberflächlichen Leistenlymphknoten negativ sein müssen. Bei Lymphknotenmetastasen wird eine radikale Vulvektomie mit Ausräumung der Beckenlymphknoten auf der befallenen Seite angeschlossen. Als weiteres Problemfeld wird die Definition des sog. frühen Stadiums oder mikroinvasiven Stadiums aufgerollt, das eine Verringerung der Therapiebelastung rechtfertigen könnte. Bei sehr ausgedehnten Vulvakarzinomen werden die Resektionen mit anschließender ausgedehnter lappenplastischer Versorgung in den Vordergrund gestellt. Die Behandlung durch Bestrahlung mit schnellen Elektronen wird überwiegend mit Nachteilen und Spätfolgen geschildert, insbesondere auch dem statistischen Problem, dass bei den bestrahlten Patientinnen letztlich das wahre Tumorstadium nicht offenkundig war und damit die exakte Prognosegrundlage nicht gegeben ist. In einer zusammenfassenden Arbeit über das Vulvakarzinom in der Zeitschrift Der Gynäkologe von Sevin und Homesley (1986) wird aus dem Blickwinkel der gynäkologischen Onkologie in den Vereinigten Staaten der State of the Art definiert. Die Ausführung beginnt mit der Aussage, dass mehr als 80% aller Frauen mit einem Vulvakarzinom in den USA mit einer radikalen Vulvektomie und bilateralen inguinalen Lymphonodektomie behandelt werden. Auch eine pelvine Lymphonodektomie wird durchgeführt, wenn im Schnellschnitt Leistenlymphknoten befallen sind oder der Primärtumor die Klitoris oder die hintere Kommissur befallen hat. Die aus Europa bekannte Strahlentherapie wird als deutlich unterlegen im Hinblick auf die 5-Jahres-Überlebensraten dargestellt. Auch dieser Artikel beschreibt die intensive Suche nach den Kriterien für ein frühes Vulvakarzinom, welches nicht ausgedehnt und vor allen Dingen nicht mit einer Lymphknotenentfernung behandelt werden muss. Im Hinblick auf die Entstehung von Lymphknotenmetastasen wird auf die Bedeutung des embolischen Entstehens hingewiesen, das die Resektion eines Vulvakarzinoms auch unter Belassung von Hautbrücken mit einer Dreifach-Inzision zulassen könnte. Im Kollektiv der GOG-Studie 36 mit insgesamt 558 Patientinnen wird bereits die Bedeutung der Invasionstiefe herausgestellt, die eine erhebliche Trennschärfe mit sich bringt: Im Kollektiv finden sich 31 Patientinnen mit einer Invasionstiefe von 1 mm oder weniger, von diesen 31 Patientinnen hat 1 Patientin Metastasen in den Lymphknoten. Zwischen 1 und 2 mm fanden sich 9% Metastasen, zwischen 2 und 3 mm fanden sich in 9% Metastasen, bei den Patientinnen bis 3 mm Invasionstiefen in 19% und bis 5 mm Invasionstiefe in 32%. Die Schlussfolgerung von Sevin damals lautete, dass die zulässige Invasionstiefe auf 2 mm begrenzt werden müsse. Weder die Tumorgröße im Durchmesser noch das Stadium noch der Tastbefund der Leiste noch das FIGO-Stadium zeigt eine befriedigende Trennschärfe für die Identifikation Lymphknoten- negativer Patientinnen. Im Hinblick auf die Patientengruppe mit positiven Leistenlymphknoten wird der erhebliche Wert der postoperativen perkutanen Radiotherapie betont. Eine herausragende deutschsprachige Monographie über die Erkrankungen der Vulva wurde von Zander und Baltzer 1986 im Urban & Schwarzenberg Verlag München-WienBaltimore herausgegeben. In diesem Buch werden alle Aspekte der Vulvaveränderungen und
463 Historische Darstellungen
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–erkrankungen beleuchtet. Es kommen die internationalen Kapazitäten zu Wort, schwerpunktmäßig aus den USA sowie die deutschen Akteure der wissenschaftlichen und didaktischen Bearbeitung der Vulvakarzinombehandlung. Aus diesem Werk sollen 3 Sondermethoden vorgestellt werden, die sozusagen Nischentherapien darstellen: ▬ Dazu gehören die Elektroresektion und die Elektrokoagulation der Vulva nach Weghaupt (Wiener Methode), ▬ die primäre Strahlentherapie des Vulvakarzinoms nach der sog. Hamburger Methode (von Frischbier dargestellt) und ▬ die radiologische Behandlung des Vulvakarzinoms nach der Münchener Methode (von Lochmüller berichtet). Behandlungsmethode nach Weghaupt (Wiener Methode): Weghaupt berichtet über die
Behandlung in Wien zwischen 1937 und 1977. Eine Untergruppe von 487 Patientinnen aus der Universitäts-Frauenklinik Wien zwischen 1952 und 1977 wird prognostisch detailliert dargestellt. Die über lange Zeit durchgeführte Behandlungsmethode besteht im Wesentlichen aus der elektrochirurgischen Resektion des Tumors im Gesunden, dabei reichen Weghaupt 1-2 cm gesunder Gewebsrand und die anschließende Koagulation des Wundgrundes ohne Vernähung. Dabei werden auch evtl. benachbarte bzw. betroffene Anteile der äußeren Urethra mit reseziert. Im Anschluss an dieses Verfahren werden die Leisten bestrahlt, wenn keine tastbar vergrößerten Lymphknoten vorliegen. Bei tastbar vergrößerten Lymphknoten erfolgt eine operative Ausräumung und die anschließende Telekobaltbestrahlung der Leisten. Er berichtete, dass die Methode sehr gut auch von alten Patientinnen vertragen würde. Die primäre Mortalität ist in dem großen Material bei doch erheblich hohem Altersdurchschnitt nur bei 1% gelegen. Die Wundheilung selbst sei langwierig und man müsse wegen der Verbrennungswunden auch eine langzeitige Infusionstherapie durchführen, die Ergebnisse seien aber lokal sehr gut. Im Vergleich mit den Zahlen des Annual Report von 1979 sind seine Zahlen deutlich besser. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Kollektive im Annual Report nur einer klinischen Stadieneinteilung gehorchen und dass Weghaupts Stadieneinteilung teilweise ohne operative Verifizierung der Leisten erfolgte. Die Weghaupt’sche Methode hat sich insgesamt nicht durchgesetzt, weil die operative Versorgung großer Wunden nach Resektion später durch ausgedehnte Hautlappen- und Muskelhautlappen-Plastiken Verbreitung fand und die offene Wundheilung abgelöst hat. Strahlentherapie des Vulvakarzinoms (Hamburger Methode): Als gynäkologischer Radiotherapeut berichtet Frischbier in der o. g. Monographie über die Rolle der Strahlentherapie und leitet seinen Artikel ein mit dem Satz »Die Strahlentherapie des Vulvakarzinoms wird vor allem im gynäkologischen Schrifttum vielfach als wertlos angesehen.« Aus der Literatur weiß er aber zu berichtet, dass eine präoperative Bestrahlung des fortgeschrittenen Vulvakarzinoms zu einer Vermeidung einer Exenteration beitragen kann, wie von Boronow und Hacker berichtet. Die postoperative Bestrahlung richtet sich nach den Risikofaktoren an der jeweiligen Lokalisation. Bei erhöhter Wahrscheinlichkeit von Beckenlymphknotenmetastasen und nicht vorhandener Operabilität sollte eine entsprechende Ausweitung des Bestrahlungsfeldes auch auf die iliakalen Regionen durchgeführt werden. Detailliert berichtet er über die ausschließlich strahlenbehandelten Patientinnen aus der Universitäts-Frauenklinik Göttingen und Hamburg. Dabei wird die Vulva mit einer Elektronenbestrahlung und die Leisten mit einer Telekobaltgamma-Bestrahlung behandelt. Die Ergebnisse seien zwar wie immer nur schwer mit Operationsstatistiken zu vergleichen, sie
464
23
Kapitel 23 · Vulva- und Vaginalkarzinom
seien jedoch in der Nähe der Ergebnisse der Elektrokoagulation. Schwere Komplikationen insbesondere in der Langzeitbeobachtung treten in etwa 7,5% auf. In der zusammenfassenden Bewertung ist Frischbier der Auffassung, dass die etwa 20% besseren 5-Jahres-Überlebensraten in den Stadien 3 und 4 gegenüber der operativen Behandlung die schweren Komplikationen in der genannten Häufigkeit aufwiegen. In den früheren und operablen Stadien wird allerdings durchaus der operativen Therapie oder der Elektrokoagulation der Vorzug gegeben. Radiologische Behandlungsmethode des Vulvakarzinoms (Münchener Methode): Lochmüller beschreibt das Münchener Verfahren, das dem Wiener Verfahren ähnelt und wie folgt abläuft: Nach histologischer Sicherung wird eine großzügige Vulvektomie mit Elektroresektion vorgenommen, das Wundgebiet bleibt offen. Angeschlossen wird eine Radiotherapie auf das offene Resektionsareal und die inguinalen Lymphknoten. Nach 6 Wochen folgt evtl. eine zweite Bestrahlungsserie inguinal. Die Ergebnisse sind vergleichbar mit den Ergebnissen der Wiener Daten. Die Ergebnisse im Frühstadium sind dagegen relativ schlecht. In der Zusammenfassung führt Lochmüller aus, dass die alleinige Strahlentherapie als primäre Maßnahme zur Behandlung des Vulvakarzinoms ohne Tumorentfernung den anderen Verfahren unterlegen ist. Er vermutet, dass eine abgestufte, kombinierte operativ-radiotherapeutische Therapie den radikalen und sogar ultraradikalen Operationen als mindestens onkologisch gleichwertig bei geringerer Mutilation anzusehen sei. Ein Beweis dafür steht jedoch aus.
Zeitgenössische Betrachtung Überschaut man die historische Literatur, so finden sich kaum statistisch belastbare prospektiv analysierende Studien. Aus diesem Grunde sind Rückschlüsse auf die Vorteile des einen oder anderen Therapieverfahrens nur mit großer Vorsicht durchführbar. Das zwischenzeitlich in Wien und Göttingen intensiver durchgeführte Verfahren der Elektrokoagulation nach Berven und Weghaupt hat sich nicht weiter verbreiten können. Dabei hält sich das Erschrecken über die angegebenen langen Verweildauern von durchschnittlich 60 Tagen durchaus in Grenzen, denn bei fortgeschrittenen Primärtumoren sind auch nach ausgedehnten operativen Eingriffen mit Wundkomplikationen und auch bei den primären Bestrahlungen solche langen Verweildauern im Krankenhaus nicht selten. Insgesamt zieht sich durch die gesamte Literatur der Trend, bei lokal komplett entfernbaren Karzinomleiden die Operation vorzuziehen und bei fortgeschritteneren Tumoren die Operation um die Bestrahlung oder die simlutane Radio-Chemotherapie zu ergänzen. Die Anordnung der Bestrahlung ist dabei durchaus variabel: Sie kann als primäre Bestrahlung die Operabilität steigern, es kann aber auch nach einem Debulking von z. B. großen Leistenlymphknoten eine postoperative Bestrahlung durchgeführt werden. Als eine neue Therapiemodalität bei der Behandlung der Vulvakarzinompatientinnen, insbesondere mit fortgeschrittenen Tumoren kann heute die Chemotherapie angesehen werden. Die Wirksamkeit der Chemotherapie ist bei Plattenepithelkarzinomen der Zervix mit großem Erfolg beobachtet worden, dabei kommen Substanzen wie Cisplatin und 5-Fluorouracil sowie Mitomycin C zur Anwendung. So können heute Patientinnen mit fortgeschrittenen Vulvakarzinomen durch die Einwirkung von 3 Therapiemodalitäten in höherem Maße ohne die Erfordernis einer Exenteration behandelt werden. Die primäre Radio-Chemotherapie zeigt pathologische Kom-
465 Präsenz des Themas Vulvakarzinom/Vaginalkarzinom
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plettremissionen in der Größenordnung von 30%. Diese Patientinnen werden nach der Radiochemotherapie bioptischen Überprüfungen respektive einer Tumorbettresektion unterzogen. In neuerer Zeit ist auch der adjuvante Einsatz der Chemotherapie geprüft worden. Dabei konnte ein Kollektiv mit weit fortgeschrittenen Vulvakarzinomen, die in sano operiert und einer Chemotherapie mit Platin-Derivaten unterzogen wurden, eine sehr gute 3-JahresÜberlebensrate beobachtet werden. Während die Behandlung der lokal begrenzten Vulvakarzinome eine Domäne der Operation geblieben ist, profitieren Patientinnen mit weit fortgeschrittenen Tumoren von der ineinander greifenden Anwendung aller Therapiemodalitäten Operation, Bestrahlung, Chemotherapie, wie oben beschrieben. Seit den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts sind mehrere Schritte zur Rücknahme der Operationsausdehnung realisiert worden: Bei den lokal begrenzten Primärtumoren ist das Frühkarzinom gut definiert durch die Infiltrationstiefe bis 1 mm. Diese Tumoren streuen noch nicht lymphogen, so dass eine Lymphonodektomie nicht indiziert ist. Eine weitere erhebliche Rücknahme der Radikalität ist bei den unilokulären Tumoren zu verzeichnen: Die langwährende Standardoperation Vulvektomie ist durch die weite lokale Resektion ersetzt worden. Ist eine Vulvektomie dennoch indiziert, dann hilft die Dreifach-Inzision (Vulva + 2 Leisten) erheblich bei der Reduktion der postoperativen Morbidität im Vergleich zu der Enbloc-Schnittführung (Schnürch 2006).
Präsenz des Themas Vulvakarzinom/Vaginalkarzinom auf den Tagungen der DGGG Eine Übersicht über die Themen auf den Tagungen und Kongressen der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe seit ihrer Gründung im Jahre 1885 bietet die Synopsis von W. Künzel und F. Oehmke, die 1996 herausgegeben wurde. Die überschriftenartig hervorgehobenen Hauptvorträge sowie die weiteren Kongressvorträge, die als Auswahl hier zusammengetragen sind, lassen in den ersten Jahrzehnten eine nur ganz geringe Präsenz der Themen Vulvakarzinom und Vaginalkarzinom erkennen. Die Geschäftsstelle der DGGGG, die seit dem Jahre 2000 zunächst in München, dann in Berlin als Koordinationszentrale und Archiv fungiert, hat nur ausgewählte originale Unterlagen zu den Tagungen (seit 1988 als Kongress bezeichnet). Es liegen die Programme der Tagungen und Kongresse zwischen 1952 und 2002 mit Lücken vor. Die begrenzte Beschäftigung mit den Themen Vulva-/Vaginalkarzinom geht aus ⊡ Tab. 23.1 hervor, in der alle 57 bisherigen Kongresse der DGGG aufgeführt sind und die jeweiligen Darlegungen zum Thema aus den Tagungsprogrammen ausgelesen wurden, soweit aus den Unterlagen ersichtlich. Dass das Vulvakarzinom sich noch sehr lange mit einer eher nachgeordneten Wahrnehmung in der Gynäkologischen Onkologie begnügen musste, wird u. a. aus der Programmgestaltung sowohl 1986 als auch 1990 sehr deutlich. Unter dem Hauptthema Operative Gynäkologie im onkologischen Gesamtkonzept fehlt die Darstellung des Vulvakarzinoms. Ähnlich geschieht es 1990 unter dem Motto Gynäkologische Onkologie – Ergebnisse des 15. Internationalen Krebskongresses. Auch hier werden kategorisch das Endometriumkarzinom, das Ovarialkarzinom, das Kollumkarzinom und das Mammakarzinom abgehandelt, das Vulva- und Vaginalkarzinom wird nicht erwähnt.
466
Kapitel 23 · Vulva- und Vaginalkarzinom
⊡ Tab. 23.1 Das Thema Vulva-/Vaginalkarzinom auf den Tagungen/Kongressen der DGGG
23
Nr.
Jahr
Ort
Präsident
Beiträge zu Vulva-/Vaginaltumoren
1
1886
München
Franz von Winckel
nach den vorliegenden Aufzeichnungen keine Beiträge zu Vulva/Vagina
2
1888
Halle
Rudolf Kaltenbach
-
3
1889
Freiburg
Alfred Hegar
-
4
1891
Bonn
Gustav von Veit
-
5
1893
Breslau
Heinrich Fritsch
-
6
1895
Wien
Rudolf Chroback
-
7
1897
Leipzig
Paul Zweifel
-
8
1899
Berlin
Robert von Ohlshausen
-
9
1901
Gießen
Hermann Löhlein
-
10
1903
Würzburg
Max Hofmeier
-
11
1905
Kiel
Richard Werth
-
12
1907
Dresden
Gerhard Leopold
-
13
1909
Straßburg
Karl Fehling
-
14
1911
München
Gustav Döderlein
-
15
1913
Halle
Johann Veit
-
16
1920
Berlin
Ernst Bumm
-
17
1922
Innsbruck
Paul Mathes
-
18
1923
Heidelberg
Carl Menge
-
19
1925
Wien
Heinrich von Peham
Behandlung der Karzinome des weiblichen Genitale (Theilhaber)
20
1927
Bonn
Otto von Franqué
Die biologische Behandlung der Karzinome (Theilhaber)
21
1929
Leipzig
Hugo Sellheim
Die Radikaloperation des Carcinoma vaginae und vulvae (Stoeckel)
22
1931
Frankfurt
Ludwig Seitz
-
23
1933
Berlin
Walter Stoeckel
-
24
1935
München
August Mayer
Karzinomähnliche Geschwüre der Vulva bei der Leukämie (Vogt)
25
1937
Berlin
August Wagner
-
26
1941
Wien
Hans Fuchs
-
▼
467 Präsenz des Themas Vulvakarzinom/Vaginalkarzinom
23
⊡ Tab. 23.1 Fortsetzung Nr.
Jahr
Ort
Präsident
Beiträge zu Vulva-/Vaginaltumoren
27
1949
Karlsruhe
Theodor von Jaschke
-
28
1951
Bad Pyrmont
Heinrich Martius
-
29
1952
München
Heinrich Chr. Eymer
Reserveliste: Das Vulvakarzinom (Weghaupt)
30
1954
München
Robert Schröder
-
31
1956
Heidelberg
Hans Runge
-
32
1958
Frankfurt
Hans Naujoks
-
33
1960
München
Gustav Döderlein
-
34
1962
Hamburg
Ernst Philipp
-
35
1964
München
Werner Bickenbach
Supervolttherapie in der Gynäkologie – Dosimetrie (Frischkorn) Hamburger Methoden der Supervolttherapie gynäkologische Malignome (Oberheuser)
36
1966
Hannover
Egon Fauvet
-
37
1968
Lübeck
Heinz Kirchhoff
-
38
1970
Hamburg
Hanns Dietel
-
39
1972
Wiesbaden
Kurt Kepp
-
40
1974
Wiesbaden
Volker Friedberg
Wiss. Film: Die Peritonealscheide nach Davydov (Friedberg, Hepp)
41
1976
Hamburg
Klaus Thomsen
Freier Vortrag: Histologie und Kolposkopie des Vestibulum vaginae (Wespi)
42
1978
München
Josef Zander
Fortschritte in der operativen Ganäkologie: Plastisch-Chirurgische Gesichtspunkte bei Eingriffen an der Vulva (Dapunt) Poster: Zur Vermeidung von Wundheilungsstörungen bei der Vulvektomie (Bender) Kurzvortrag: – Zur Epidemiologie der Vulvamalignome (Schrage) – Verlaufsbeobachtungen nach Therapie von Vulvakarzinomen unter besonderer Berücksichtigung der Elektroresektion nach Berven-Weghaupt
43
1980
Hamburg
Heinrich SchmidtMatthiesen
Gynäkopathologie: – Präneoplasien der Vulva (Böcker) – Granulomatöse und aphthöse Erkrankungen im Vulvabereich (Burckhardt) Onkologie – Klinik: – Über die operative Behandlung des Vulvakarzinoms an der UFK Mainz (Janisch) – Induktion von Vaginalepithelneoplasien bei Mäusen mittels zellfreier Extrakte von humanen Zervixdysplasien und Carcinomata in situ (Slenska)
▼
468
Kapitel 23 · Vulva- und Vaginalkarzinom
⊡ Tab. 23.1 Fortsetzung Nr.
Jahr
Ort
Präsident
Beiträge zu Vulva-/Vaginaltumoren
44
1982
München
Karl Heinrich Wulf
Onkologie – Varia – Konsequenzen morphologischer Differenzierung der Oberfläche und der abgeschilferten Hornzellen beim Vulvakarzinom (Nauth) – Behandlungsergebnisse von Malignomen der Vulva (Wagner)
45
1984
Frankfurt/M.
Günter Oehlert
Plastische Operationen in der Gynäkologie: – Kleinere plastische Operationen an der Vulva und Vagina (Friedberg) – Plastische Deckung größerer Wunddefekte bei operierten Vulvakarzinomen (Knapstein) Gynäkologische Carcinome: – Morphometrische Untersuchungen zur Invasionstiefe beim Vulvakarzinom (Kürzl) – Verlauf beim Vaginalkarzinom (Callies)
46
1986
Düsseldorf
Lutwin Beck
Unter dem Thema: »Operative Gynäkologie im onkologischen Gesamt-Therapiekonzept vier Vorträge, keiner über Vulva/Vagina
47
1988
München
Hans Ludwig
AGR: Indikationen und Durchführung der Strahlentherapie bei Vulvamalignomen – Ergebnisse, Komplikationen und Morbidität nach Radikaloperationen der Vulva (Knapstein) – Indikationen zur Strahlentherapie nach radikaler Operationstechnik (v. Fournier) – Indikation und Durchführung der Strahlentherapie nach Elektroresektion (Lochmüller) – Die alleinige Strahlentherapie bei operablem Tumor (Schreer)
23
▼
Freie Vorträge Vulvatumoren: – Tumoröse Veränderungen an der Vulva bei Kindern und Jugendlichen (Walz) – Erfahrungen mit der Behandlung der bowenoiden Papulose und der intrapithelialen Neoplasie der Vulva (Degen) – Zur Problematik des Mikrokarzinoms an der Vulva (Pickel) – Lymphknotenmetastasierung beim Vulvakarzinom und Tumorstadium (Adrion) – Das Vulvakarzinom operative Behandlung und klinische Ergebnisse (Bartzke) – Ergebnisse der Behandlung des VulvaKarzinoms an der UFK Heidelberg 1970-1980 (Schmid) – Positive Entwicklungen bei der Behandlung des Vulvakarzinoms (Scheit)
469 Präsenz des Themas Vulvakarzinom/Vaginalkarzinom
⊡ Tab. 23.1 Fortsetzung Nr.
Jahr
Ort
Präsident
Beiträge zu Vulva-/Vaginaltumoren
48
1990
Hamburg
Ernst-Joachim Hickl
Gynäkologische Onkologie – Ergebnisse des 15. internationalen Krebskongresses: 5 Vorträge – keiner zum Vulva-/Vaginalkarzinom Videositzung: Deckung eines großen Vulvadefektes mittels beidseitigem M-tensor-fasciae-latae- und beidseitigem M.-glutaeus-maximus-Lappenplastik (Hohlweg-Majert) Kurzvorträge Onkologie: – Steroid-Rezeptoren (ER, PR) an normalen und neoplastischen Plattenepithelien von Vulva und Vagina (Mosny) – Die chirurgische Therapie fortgeschrittener Vulvakarzinome (Haberthür) – Ergebnisse unterschiedlicher Therapiearten beim Vulvakarzinom (Kaya) – Das Differenzierungsmosaik des Vaginalepithels (Schaller) – HPV-Nachweis in der Kolposkopie-dirigierten PE bei der zervikalen und vulvären intraepithelialen Neoplasie (Kühn)
49
1992
Berlin
Dieter Krebs
AG Zervixpathologie: – Konservative ambulante Therapie an der Vulva (Heinzl) AG Onkologie: – Histopathologische Dokumentation beim Vulvakarzinom (Baltzer) – VIN 3 – Therapie und Verlauf (Genolet) – Immunhistochemische Untersuchungen zur lymphozytären Infiltration bei der VIN (Küppers)
50
1994
München
Hermann Hepp
-
51
1996
Dresden
Wolfgang Künzel
-
52
1998
Nürnberg
Dietrich Berg
-
53
2000
München
Günther Kindermann
– Minimalisierung in der operativen Krebstherapie beim Vulvakarzinom (Kürzl) – Das fortgeschrittene Karzinom – Möglichkeiten und Grenzen der operativen Therapie beim Vulvakarzinom (Knapstein)
▼
23
470
Kapitel 23 · Vulva- und Vaginalkarzinom
⊡ Tab. 23.1 Fortsetzung Nr.
Jahr
Ort
Präsident
Beiträge zu Vulva-/Vaginaltumoren
54
2002
Düsseldorf
Hans-Georg Bender
Gynäkologisch-onkologische Therapie kompakt: Vulvakarzinom (Schnürch) Freie Vorträge / Poster: – Das Sentinel-Lymphknotenkonzept beim Vulvakarzinom (Bader) – Die Identifikation des Wächterlymphknotens bei Patientinnen mit Vulvakarzinom (Lantzsch) – Vulväre intraepitheliale Neoplasie high grade unter Einahme von Imatibib / STI 571 (Glivec) bei CML (Buhrmann) – Therapie der vulvären intraepithelialen Neoplasie (Stähle) – Carcinoma in situ der Vulva (vin3/M.Bowen): Multifokale Progression und Integration von HPV16-Onkogenen (Melsheimer)
55
2004
Hamburg
Klaus Dietrich
Poster: – Sentinel-Lymphknoten (SLN) und inguinale Lymphonodektomie (LNE) beim Vulvakarzinom (Beutel) – NOS3 Polymporphismen als Prognosefaktoren des Vulvakarzinoms (Riener) – Fasczokutane Lappen als optimale Defektdeckung nach ausgedehnten Resektionen im Vulvabereich (Xafis) – HPV Onkogen-Integration bei vulvärer intraepithelialer Neoplasie (Hillemanns) – Operative Strategie zur Behandlung eines primären Vaginalmelanoms (Heim)
56
2006
Klaus Vetter
# Programm lag nicht vor #
57
2008
Hamburg
Walter Jonat
Poster: – Vergleich des Expressionsmusters von vulvären Neoplasien (Kohrenhagen) – Onkoplastische Deckung bei Vulvatumoren unterschiedlicher Genese und Lokalisation (Lieber) – Malignes Melanom der Klitoris – Kasuistik und Literaturübersicht (Horn) – HPV-negatives Vulvakarzinom bei jungen Frauen mit ungewöhnlicher Nähe zur Klitoris (Gehrmann) – Sentinel lymph node detectionen in patients with vulvar carcinoma – Feasibility of intraoperative mapping with technetium-99mlabeled naocolloid (Stumpf )
58
2010
München
Rolf Kreienberg
# Programm noch nicht verabschiedet #
23
471 Verbreitung der Standardtherapie
23
(Organ-)Kommission Vulvatumoren Die Neustrukturierung der Arbeitsgemeinschaft »Gynäkologische Onkologie« im Jahre 1998 hat für die Bearbeitung und Präsenz der Vulva- und Vaginaltumoren einen erheblichen Schub mit sich gebracht. Die entsprechende Kommission ist grundsätzlich gleichberechtigt neben den Kommissionen für die Organe Uterus, Ovar und Mamma. Später wurde die Kommission »Translationale Forschung« gleichberechtigt gegründet. In der Namensgebung entfiel dadurch der Vorsatz »Organ-«. Auf den Tagungen der Kommissionen als State of the Art– Meetings hat sich noch über mehrere Jahre eine deutliche Subordination der Vulvatumoren und Vaginaltumoren gezeigt: Es wurden gemeinsame Tagungen mit der Kommission Uterustumoren durchgeführt, bei denen die Vulvatumoren im Vorprogramm untergebracht wurden. Heute ist aber diese Abstufung, die ursprünglich aus der Häufigkeit der Tumorerkrankungen herrührte, nicht mehr zu spüren. Die Kommission Vulva- und Vaginaltumoren hat im Jahre 2009 die S2K-Leitlinien publiziert (federführend Peer Hantschmann) und steht damit in einer Reihe mit den Kommissionen Uterus und Ovar. Die Kommission für Mammatumoren hat bereits im Jahre 2005 eine S3-Leitlinie herausgegeben.
Verbreitung der Standardtherapie Die Deutsche Krebsgesellschaft hat ihren fachbezogenen Gruppierungen aus den verschiedenen Disziplinen die Erstellung von Behandlungsleitlinien zur Auflage gemacht. Die Arbeitsgemeinschaft Gynäkologische Onkologie hat diese Aufforderung erfolgreich umsetzen können. Die schon erwähnte Durchstrukturierung der Arbeitsgemeinschaft im Jahre 1998 hat zur Entstehung von schlagkräftigen vitalen Gruppierungen geführt, die die Erstellung von Leitlinien als eine ihrer zentralen Aufgaben erfolgreich vorangetrieben und durchgeführt haben. Die Standardisierung, Normierung und Zentralisierung der medizinischen Therapie erreicht auch die Bewusstseinslage der Patientinnen, die sich nicht selten über das weltweite Netz informieren. In den Kliniken wird nachhaltig daran gearbeitet, leitliniengerecht zu behandeln. Dies wird durch die Verbreitung der Leitlinien über das Internet bzw. über einschlägige Publikationen sowie State of the Art-Meetings erheblich unterstützt. Während von administrativer Seite eine Zentrenbildung für die gynäkologische Onkologie gefordert und gefördert wird, ergeben sich mittlerweile schon nicht unerhebliche Konzentrierungen durch die Abstimmung mit den Füßen. Die Patientinnen entscheiden sich im Hinblick auf die Wahl des Krankenhauses gerne nach den Angaben, die aus den qualitätssichernden Publikationen der Krankenhäuser für die Allgemeinheit verfügbar gemacht werden. Insgesamt besteht also eine tiefreichende Transparenz für die Patientinnen, denen eine rasche Einschätzung der Behandlungseinrichtungen gelingt. So bestehen heute sowohl von Seiten der Behandler als auch von Seiten der Patientinnen förderliche Faktoren für die Anwendung einer Leitlinien-gerechten Behandlung. Im Hinblick auf die Behandlung des Vulva- und Vaginalkarzinoms ist diese Situation besonders positiv verändert zu früheren Jahren, weil die relative Seltenheit dieser Tumoren ein Hindernis für die Erkenntnisgewinnung aus Studien darstellte. Darüber hinaus wurde früher wenig Raum und Zeit für Fortbildungsveranstaltungen mit dem Thema Vulva- und Vaginalmalignome gewährt. Auch diese Situation hat sich grundlegend geändert. Die Vulvaund Vaginaltumoren stellen zwar die zahlenmäßig kleinste Patientinnengruppe dar, werden
472
23
Kapitel 23 · Vulva- und Vaginalkarzinom
aber inhaltlich voll gleichberechtigt in der heutigen Arbeitsgemeinschaft Gynäkologischen Onkologie behandelt. Die interdisziplinäre Gruppierung International Society for the Study of Vulvo-vaginal Diseases (ISSVD) und das European College for the Study of Vulvar Diseaes (ECSVD) haben eine ausgewogene deutsche Beteiligung. Der anstehende Kongress der ECSVD findet im September 2010 in München unter der Leitung von Rainer Kürzl statt, der seit vielen Jahren das deutsche Schwergewicht unter den Vulva-Experten für die internationalen Kontakte darstellt.
Ausblick Die Reduktion des Operationsumfanges hat in den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts begonnen und setzt sich noch weiter fort. Der letzte große Schritt war die Einführung der Sentinel-Biopsie, die zum jetzigen Zeitpunkt als ein junges Standardverfahren unter strengen Bedingungen allgemein angewendet werden kann (Kommission 2009). Dieser Trend könnte sich noch weiter fortsetzen durch einen Verzicht auf Leistenoperationen bei Patientinnen mit nur immunhistochemisch nachweisbarer Metastasierung in die Wächterlymphknoten. Bei Tumornachweis im Wächterlymphknoten wird neu untersucht, ob eine Bestrahlung der Leisten die Operation ersetzen kann. Eine Modifikation der Rahmenbedingungen für das operative Vorgehen könnte eintreten, wenn sich die Kompartiment-Resektion als klinisch vorteilhaft herausstellen sollte. Diese Form der operativen Vorgehensweise in Anlehnung an die entwicklungsgeschichtlichen Körper-Kompartimente hat Michael Höckel erarbeitet und vorgeschlagen. Während Patientinnen mit einem hohen Risiko für ein lokales oder regionäres Rezidiv aufgrund der pathohistologischen Aufarbeitung des Operationspräparates heute überwiegend nachbestrahlt werden, ggf. auch eine Radiochemotherapie erhalten, könnte eine weitere Variante der adjuvanten Therapie der Einsatz einer Chemotherapie sein. Wenige Publikationen weisen darauf hin, dass eine Platin-haltige adjuvante Chemotherapie bei Patientinnen mit hohem Rezidivrisiko, die R0 reseziert werden konnten, von einer solchen Therapie profitieren. Bei der medikamentösen Therapie stagniert die Entwicklung zurzeit. Es befinden sich einige Substanzen in der forcierten Entwicklung und auch Anwendung, zu denen auch monoklonale Antikörper gegen EGF-Rezeptoren gehören. Die Anwendung solcher monoklonaler Antikörper, ggf. in Kombination mit einer Chemotherapie könnte wie auch bei anderen Entitäten eine erhebliche Wirksamkeitssteigerung zur Folge haben. In palliativen Situationen mit geringer Belastbarkeit wäre auch eine Monotherapie mit diesen Antikörpern denkbar. Studien zu solchen Therapieformen fehlen beim Vulva- und Vaginalkarzinom, da diese Entitäten trotz steigender Inzidenz noch zu selten auftreten. Dies stellt noch immer ein K.o.-Kriterium für Medikamentenstudien dar, die durch pharmazeutische Firmen mit Gewinnverpflichtung angetrieben werden. Als eine herausragende Errungenschaft sei an dieser Stelle die Impfung gegen onkogene humane Papillomaviren erwähnt. Aufgrund der prophylaktischen Impfung eines nicht unbeträchtlichen Anteils der weiblichen Jugendlichen von derzeit zwischen 25 und 50% je nach Bundesland dürfte ein nicht unbeträchtliches Absinken auch der Tumorinzidenz des Vulva- und Vaginalkarzinoms folgen. Die Schätzungen über die Absenkung sind weit gestreut und liegen zwischen 14 und 70%. Die Realisierung dieses Absinkens wird aber erst in ca. 3050 Jahren mit veritablen klinischen Zahlen zu belegen sein.
473 Literatur
23
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474
23
Kapitel 23 · Vulva- und Vaginalkarzinom
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24
Brusttumoren Walter Jonat, Corinna Crohns
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Kapitel 24 · Brusttumoren
Einführung
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Die Krebserkrankung gibt es seit Bestehen der Menschheit, nur sein Stellenwert hat sich im Laufe der Jahrhunderte verändert. Während Infektionserkrankungen in den vergangenen Jahrhunderten den Fokus der Ärzteschaft und die Sterblichkeit in der Bevölkerung deutlich geprägt haben, rücken im 20. Jahrhundert die Malignome in den Vordergrund. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes starben im Jahr 2005 in Deutschland knapp 17.455 Frauen an Brustkrebs. Bei Frauen im Alter zwischen 35 und 60 Jahren ist jeder 2. Todesfall krebsbedingt. Das Mammakarzinom ist für 27% aller Krebstodesfälle bei Frauen in dieser Altersgruppe verantwortlich. Bis zum Ende der 80er-Jahre stieg die Brustkrebs-Inzidenz in Deutschland an und geht erst in den letzten Jahren deutlich zurück. Seit 1990 ist auch die Sterblichkeitsrate rückläufig, was mit konsequenter Früherkennung und der adjuvanten systemischen Therapie in Zusammenhang gebracht wird. Die Chance auf Früherkennung, und damit Sekundärprävention, ist neben der weiteren Verbesserung der Therapie die aussichtsreichste Möglichkeit, Diagnose und Behandlung von Brustkrebserkrankungen zu optimieren. Das Ziel dabei ist, die Entdeckung von Mammakarzinomen als präinvasive Form oder als frühes invasives Stadium, in dem die 5-Jahres-Überlebensrate bei adäquater Therapie über 90% liegt (Engel J et al. 2002, Michaelson JS et al. 2002, Verschraegen C et al. 2005). In Deutschland ist das Mammographie-Screening für Frauen ab dem Alter von 50 Jahren bis zum Ende des 70. Lebensjahres Bestandteil der Richtlinie zur Früherkennung von Krebserkrankungen. Unter Betrachtung der vorliegenden Studiendaten in der 2006 erfolgten Cochrane-Analyse konnte durch das Mammographie-Screening eine relative Risikoreduktion der Brustkrebssterblichkeit von ca. 15% erhoben werden (Götzsche PC et al. 2006). Medizinische Diagnostik und Therapie haben sich in den letzten Jahrzehnten einem rasanten Wandel unterzogen. Einblicke in die Karzinogenese machen es möglich, mit immer spezifischerer Therapie zu reagieren. Während die Krebserkrankung zunächst als Körperkrankheit wahrgenommen wurde, konnte später das Gewebe und die Zelle identifiziert und in den letzten 25 Jahren sogar die Ursache in der DNA des Zellkerns ermittelt werden. Man erkannte den Einfluss chemischer Belastung, Radioaktivität oder Lifestyle-Faktoren. Man verstand den Einfluss von Hormonen, man registrierte die erbliche Disposition zur fehlerhaften Replikation und damit den Beitrag zur Karzinogenese. Inzwischen ermöglicht die Chiptechnologie eine simultane Bestimmung von mehreren 1000 Genen. Damit trägt sie nicht nur dazu bei, die Tumorbiologie sowie die Entstehung und Progression von Malignomen besser zu verstehen, sondern sie spielt auch eine wesentliche Rolle bei der Entschlüsselung von Zielgenen für neue Behandlungsansätze. Durch klinisches Staging und histopathologischer Aufarbeitung können Malignome inzwischen klassifiziert werden. Trotzdem sind Aussagen zur Rezidivwahrscheinlichkeit, der Wahrscheinlichkeit von Metastasenbildung oder der Gesamtprognose immer noch ungenau zu treffen. In Folge werden Patienten übertherapiert, während auf der anderen Seite eine Reihe von Patientinnen vor allem mit niedrigem Tumorstadium möglicherweise von einer zusätzlichen Therapie profitieren würden. Ob Genchips Aussagen zur Prognose und individuellem Ansprechen auf Tumortherapien erlauben, ist bislang nicht eindeutig belegt und wird im Rahmen von Studien überprüft.
477 Operative Therapie
24
Operative Therapie Die von Rudolph Virchow geprägte Vorstellung, dass sich die Brustkrebserkrankung langsam und per continuitatem, metastatisch unter der Haut ausbreitet, an Faszienspalten und Lymphgefäßen entlang, machte es im späten 19. Jahrhundert William Stewart Halsted möglich die radikale Mastektomie einzuführen. Eine hämatogene Ausbreitung hielt man nicht für denkbar. Man ging davon aus, dass die Brustkrebserkrankung zunächst ausschließlich lokal begrenzt sei und die regionalen Lymphknoten als mechanische Barriere zur distanten Metastasierung dienen. Die radikale Mastektomie, eine En-bloc-Resektion der Brust, der darüber liegenden Haut, des M. pectoralis und des gesamte axillären lymphatischen Gewebes, sollte die Heilungsrate der Erkrankung steigern. Publikationen von W. Halsted selbst dokumentierten eine Überlebensrate von nur 12% über einen Zeitraum länger als 10 Jahre (Halsted W. 1894, Halsted W. 1907). Zunächst wurde vermutet, dass die Ursache darin lag, dass man die ableitenden Lymphgefäße nicht umsichtig genug entfernte. Mitte der 50er-Jahre erkannte man nämlich, dass ein Viertel des Lymphabflusses durch die Lymphknoten entlang der ipsilateralen Mammariainterna-Gefäße zuzuordnen ist (Turner-Warwick R. et al. 1959). Aber auch die, um die Mammaria-interna-Gefäße erweiterte radikale Mastektomie steigerte nicht die Überlebenswahrscheinlichkeit. Spätere Untersuchungen zeigten zwar insgesamt bessere Ergebnisse mit immerhin 50% Krankheitsfreiheit nach 10 Jahren, trotzdem musste registriert werden, dass 30% der nodal-negativen Patientinnen und 75% der nodal-positiven Patientinnen letztendlich einen Progress erleiden und an ihrer Krankheit versterben, wenn ausschließlich eine operative Therapie durchgeführt wird (Fisher B. et al. 1978). Die modifizierte radikale Mastektomie beschreibt die Entfernung der Mamma inklusive der Faszie und der zugehörigen Lymphabflussgebiete unter Belassung des M. pectoralis. Die Abkehr von der radikalen Chirurgie konnte erfolgen als erkannt wurde, dass die Methode versagt, weil man von einer systemischen Disseminierung der Erkrankung bereits vor einer operativen Therapie ausgehen musste. Parallel zum Verständnis der Erkrankung veränderte und individualisierte sich auch der Behandlungsansatz. Die radikale Mastektomie, 1890 durch William Stewart Halsted eingeführt, hatte über nahezu 100 Jahren als Standardtherapie Gültigkeit. Hinzu kam, dass nach 1970 weniger häufig Patientinnen mit sehr großen Tumoren mit Fixierung auf der pektoralen Muskulatur gesehen wurden, so dass die modifizierte radikale Mastektomie eine Alternative darstellte. Mit der Einführung der Strahlentherapie ab den 50er-Jahren gab es ein zusätzliches Argument in der Diskussion gegen die doch sehr verstümmelnde Operation. Zunächst konnte jedoch in der Manchester Studie an 534 Patientinnen im klinischen Stadium I und II gezeigt werden, dass die Überlebensrate, Rezidivwahrscheinlichkeit und die Metastasenfreiheit unabhängig waren von der gewählten operativen Methode. Hier war zwischen radikaler Mastektomie und modifizierter radikaler Mastektomie randomisiert worden (Turner L. et al. 1981). In der NSABP–B-04 Studie wurden 1.700 Frauen entweder der konventionellen radikalen Mastektomie nach Halsted oder der Ablatio simplex mit oder ohne lokale Bestrahlung zugeführt. In der Auswertung des Therapiearms mit radikaler Mastektomie zeigte sich in der Subgruppenanalyse der Patientinnen, die klinisch als nodal-negativ bewertet worden waren, dass trotzdem in bis zu 40% histologisch positive Lymphknoten gefunden wurden. Folglich musste man davon ausgehen, dass auch in den anderen Therapiearmen von einem ähnlich hohen klinisch okkulten Lymphknotenbefall ausgegangen werden kann. Trotz der unterschiedlichen Therapien konnte nach 10 Jahren Nachbeobachtungszeit in Bezug auf Fernmetastasierung und Überlebenszeit kein signifikanter Unterschied zwischen den
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24
Kapitel 24 · Brusttumoren
3 Randomisationsarmen festgestellt werden. Diese Ergebnisse stützten die Hypothese, dass tumorbefalle Lymphknoten Indikatoren und nicht Initiatoren der Metastasierung sind. Die NSABP-B-04 Studie trug in Folge also nicht nur zur Erkenntnis bei, dass die Operation nur in Kombination mit einer systemischen Behandlung mehr Patientinnen heilt, sondern sie befreite Wissenschaftler, Ärzte und die Öffentlichkeit auch von den Zwängen des Halsted’schen Paradigmas. Es wurden folglich die letzten Bedenken ausgeräumt, die möglicherweise gegen die Durchführung brusterhaltender Operationen sprachen. Die bisherige Rechtfertigung der Brusterhaltung hatte auf Argumenten beruht, die aus anekdotischen Erfahrungen stammten. In die Folgestudie NSABP-B-06 wurden fast 2.000 Patientinnen in 3 Studienarmen, die erweiterte Mastektomie vs. die alleinige Segmentresektion vs. Segmentresektion in Kombination mit Radiatio randomisiert. Nach 12-jähriger Nachbeobachtung zeigten die Ergebnisse bezüglich metastasenfreier Überlebenszeit und Gesamtüberleben keinen statistisch signifikanten Unterschied (Fisher B et al. 1985, Fisher B et al. 1995). Ähnliche Ergebnisse ermittelte auch die Milan I Studie. Im Vergleich der radikalen Mastektomie mit der Quadrantektomie in Kombination mit einer Radiatio konnte kein Unterschied im Gesamtüberleben nachgewiesen werden (Veronesi U et al. 2002). Die S-3-Leitlinien spiegeln den Status quo der operativen Therapie heutzutage wieder. Das Ziel der operativen Therapie ist die komplette Tumorentfernung. Dabei ist eine brusterhaltende Therapie mit konsekutiver Radiatio bezüglich des Gesamtüberlebens der alleinigen modifiziert radikalen Mastektomie gleichwertig (EBCTCG 1995). Es fehlen bislang eindeutige Daten, welcher Sicherheitsabstand beim invasiven und intraduktalen Karzinom notwendig ist, um eine vollständige Entfernung sicherzustellen. Bis zum Vorliegen zuverlässiger Daten wird als Qualitätssicherung ein Sicherheitsabstand von 1 mm für das invasive Karzinom, sowie von 2 mm für das DCIS als Richtwert empfohlen. Die modifiziert radikale Mastektomie wird immer dann durchgeführt, wenn ein brusterhaltendes Vorgehen nicht möglich ist. Es werden dabei das gesamte Brustdrüsengewebe, die Haut und der Nippel-Areola-Komplex, sowie die Pektoralisfaszie entfernt. Die Pektoralismuskulatur bleibt erhalten. Die Bestimmung des histopathologischen Nodalstatus ist weiterhin wichtiger Bestandteil der operativen Therapie des invasiven Mammakarzinoms. Inzwischen wurde die Evaluation der Axilla auf die Entfernung der Sentinel-Lymphknoten reduziert (Kuehn T et al. 2005, Lyman, GH et al. 2005, Veronesi U et al. 2003). Die Sentinel-Lymphknotenbiopsie ist hinsichtlich der lokalen Kontrolle der axillären Lymphonodektomie gleichwertig mit einer Rate an axillären Rezidiven <1%, bei deutlich reduzierter Morbidität. Nur Patientinnen, die keine Sentinel-Lymphknotenbiopsie erhalten können, oder die einen positiven Sentinel-Lymphknoten aufweisen, müssen eine axilläre Lymphonodektomie mit Entfernung von mindestens 10 Lymphknoten aus den Levels I und II erhalten. Bei Patientinnen mit klinisch positivem Nodalstatus ist die operative Ausräumung der axillären Lymphknoten weiterhin indiziert. Derzeit ist der quantitativen Nodalstatus für die systemische Therapieentscheidung noch von Bedeutung, außerdem geht man von einer besseren lokalen Kontrolle aus. Ein Verzicht auf jegliche axilläre Intervention kann in Ausnahmesituationen, wie z. B. Mikroinvasion und hohes Alter erwogen werden. Eine retropsektive Auswertung schwedischer Daten von insgesamt 1.358 Patientinnen, bei denen aus unterschiedlichen Gründen auf das axilläre Staging verzichtet wurde, zeigte nach fast 9 Jahren Follow-up in nur 23 Fällen (1,5%) ein axilläres Rezidiv. In 9 Fällen trat es in Kombination mit einem Lokalrezidiv der Brust auf (Sveinsdottir H et al. SABCS 2009). Auch die Indikation für eine subkutane, hautsparende oder sogar unter Bewahrung des Nippel-Areola-Komplexes durchgeführte Mastektomie wird derzeit in Studien überprüft.
479 Systemische Therapie
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Eine führende Arbeit einer deutschen Studiengruppe wurde 2009 veröffentlicht und demonstriert Praktikabilität bezüglich kosmetischer Ergebnisse und gute lokale Kontrolle hinsichtlich der Lokalrezidivrate (Paepke et al. 2009). Die Langzeitergebnisse einer koreanischen Studiengruppe bestätigen, dass die subkutane Mastektomie unter Erhalt des Nippel-Areola-Komplexes ein onkologisch sicheres Vorgehen ist (Su-Hwan Kang et al. SABCS 2009).
Systemische Therapie Auch die systemische Therapie hat sich einem deutlichen Wandel unterzogen. Während bereits Anfang des 20. Jahrhunderts der Einfluss von Hormonen auf das Mammakarzinom festgestellt werden konnte und durch serielle Operationen mit Entfernung der Ovarien auch ein gewisser Erfolg zu verzeichnen war, wurde erst Mitte der 80er-Jahre mit den Ergebnissen aus der NATO Studie (North American Treaty Organization) und dem Scottisch Trial die systemische endokrine Therapie mit Tamoxifen etabliert und später auch mit den Ergebnissen der NSABP-B-9 und B-14 Studie und dem obligaten Nachweis von Hormonrezeptoren im Tumorgewebe in die adjuvante Therapie übernommen (NATO Steering Committee 1988, Scottish Cancer Trials Office 1987, Fisher B et al. 1987, Fisher B et al. 1989). Die adjuvante Therapie mit Tamoxifen erreicht nach Daten des Metaanalyse der EBCTCG eine relative Risikoreduktion eines Rezidivs um 40% und der Mortalität um 31% (EBCTCG 2005). Der Nutzen der adjuvanten Tamoxifentherapie ist beschränkt auf Patientinnen mit einem hormonrezeptorpositiven Mammakarzinom, sonst aber unabhängig vom Alter, vom Nodalstatus, des Menopausenstatus oder des Einsatzes einer adjuvanten Chemotherapie. Im Rahmen der NSABP-P1 Studie wurde auch die Effektivität in der primären Prävention bewiesen. Zwischenzeitlich ist in der adjuvanten Behandlung der postmenopausalen Patientin Tamoxifen durch Aromatasehemmer der 3. Generation abgelöst worden, wobei es weiterhin im Rahmen von Sequenztherapien oder Behandlung des prämenopausalen, hormonrezeptorpositiven Mammakarzinoms seinen Stellenwert behalten hat. Der überlegene Einsatz der Aromatasehemmer in der adjuvanten Therapie des hormonrezeptorpositiven, postmenopausalen Mammakarzinoms wird durch die Daten verschiedener Studien belegt, die den Einsatz der Aromatasehemmer entweder im direkten 5-jährigen Vergleich zu Tamoxifen (upfront) oder nach einer 2-3-jährigen Tamoxifen-Vorbehandlung (switch oder Sequenz) oder aber auch nach Abschluss einer 5-jährigen Tamoxifen-Therapie überprüft haben (extended use). In der vierarmigen BIG 1-98-Studie (5 Jahre Letrozol vs. 5 Jahre Tamoxifen vs. Letrozol 2-3 Jahre gefolgt von Tamoxifen, vs. Tamoxifen 2-3 Jahre gefolgt von Letrozol) zeigt sich für den Einsatz des Aromatasehemmers nach einer medianen Nachbeobachtung von 26 Monaten, eine deutliche Abnahme der Rezidivwahrscheinlichkeit und des Auftreten von Fernmetastasen im Vergleich zu Tamoxifen (Thurlimann B et al. 2005). Ähnliches wurde in der ATAC-Studie bestätigt (5 Jahre Anastrozol vs. 5 Jahre Tamoxifen vs. 5 Jahre Anastrozol + Tamoxifen ). Nach einem Follow-up von 68 Monaten zeigte sich für die Anastrozol-Monotherapie ein signifikant verbessertes rezidivfreies Überleben (Howell A et al. 2005). Die Intergroup Exemestan Study (IES) vergleicht den switch zu Exemestan nach 2-3-jähriger Tamoxifen-Therapie mit einer 5-jährigen Tamoxifentherapie. Nach 60 Monaten Nachbeobachtungszeit konnte ein absoluter Vorteil von 3,3% bewiesen werden. Insgesamt wurden 222 Todesfälle in der ExemestanGruppe und 261 Todesfälle in der Tamoxifen-Gruppe beobachtet. (Coombes RC et al. 2007). Die italienische ITA-Studie findet nach einer medianen Nachbeobachtung von 64 Monaten einen Vorteil für den switch zu Anastrozol bezogen auf das rezidivfreie Überleben und das
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Gesamtüberleben (Boccardo F et al. 2006). Die Studien Arimidex-Nolvadex 95 (ARNO 95) und Austrian Breast Cancer Study Group 8 (ABCSG-8) vergleichen 2 Jahre Tamoxifen gefolgt von der Randomisation entweder zu 3 weiteren Jahren Tamoxifen oder zu 3 Jahren Anastrozol. Mit einer Nachbeobachtung von 28 Monaten zeigte sich bei 3.224 Patientinnen eine 40%-ige Risikoreduktion für den Wechsel zu Anastrozol (Jakesz R et al. 2005). In der ARNOStudie ergab sich ebenfalls ein Überlebensvorteil für den Aromatasehemmer (Kaufmann M et al. 2007). Die erweiterte adjuvante endokrine Therapie mit einem Aromatasehemmer nach 5-jähriger Tamoxifen-Therapie bei bislang krankheitsfreier Patientin kann das ipsi- und kontralaterale Rezidivrisiko sowie das Metastasierungsrisiko ebenfalls signifikant senken. Eine Verbesserung des Gesamtüberlebens ist bislang nur für Patientinnen mit Befall der axillären Lymphknoten nachgewiesen (Goss PE et al. 2005). Die Aromatasehemmer bleiben allerdings bislang der eindeutig postmenopausalen Patientin vorbehalten. Trotzdem profitiert die prämenopausale Patientin durch eine endokrin systemische Therapie. Die Ausschaltung der Ovarialfunktion stellt eine wirksame adjuvante Behandlung bei prämenopausalen Patientinnen mit hormonrezeptorpositiven Mammakarzinomen dar. In einer Metaanalyse wurden Daten von annähernd 12.000 Patientinnen aus 16 Studien zur medikamentösen Ausschaltung der Ovarialfunktion mit LHRH-Agonisten ausgewertet. Die Hinzunahme von LHRH-Agonisten zur adjuvanten systemischen Therapie kann das Rezidivrisiko um 12,7% und das Mortalitätsrisiko signifikant um 15,1% reduzieren. Dieser Effekt beschränkt sich jedoch auf Patientinnen, die nicht gleichzeitig Tamoxifen erhalten. Bei nur 365 Patientinnen wurden LHRH-Agonisten zusätzlich zu einer Chemotherapie und Tamoxifen gegeben. Hier zeigte sich nur ein nicht signifikanter Trend zur Risikoreduktion (Cuzick J et al. 2007). Bislang fehlen Studien, in denen Chemotherapie in Kombination mit Tamoxifen und LHRH versus Chemotherapie in Kombination mit Tamoxifen alleine verglichen werden. Die ersten Studien mit dem größten Einfluss auf die Entwicklung der adjuvant systemischen zytostatischen Therapie waren von der NSABP und vom Institutio Nazionale Tumori aus Mailand iniziiert. Die Einzelsubstanz Melphalan wurde in der Wirkung mit einem Plazebo verglichen und die Substanzkombination Cyclophosphamid/Methotrexat/5-Fluoruracil (CMF) im Vergleich zur operativen Therapie alleine. Beide Studien demonstrierten einen Trend zum verbesserten Gesamtüberleben nach zytostatischer adjuvanter Therapie ohne allerdings statistische Signifikanz zu erreichen. Subgruppenanalysen zeigten vor allem einen Vorteil für die prämenopausale Patientin, oder die Patientinnengruppe jünger als 50 Jahre. Obwohl die Ergebnisse vergleichbar waren, setzte sich in Folge die Kombinationtherapie mit CMF durch, insbesondere wegen des leukämischen Potentials des Melphalans. Die Sustanzkombination CMF wurde bald zum Standard (Bonadonna G 1992, Fisher B et al. 1975). Neben der Frage ob der Einsatz von Substanzkombinationen den der Einzelsubstanzen überlegen ist, mussten Studien auch die Frage der optimalen Dauer einer Therapie klären. Während es sich in der zytostatischen Therapie nach Einführung und Etablierung der Antrazykline und Taxane in die adjuvante Therapie in der Substanzauswahl nichts wesentliches verändert hat, drehten sich die Diskussionen in den letzten 10 Jahren um Substanzkombinationen, um Dosisdichte und Dosisintensität. Ende der 80er-Jahre ging man davon aus, dass zu niedrige Zytostatikadosen für das Ausbleiben einer stärkeren therapeutischen Wirkung einer systemischen Therapie verantwortlich sind. Es stellte sich die Frage, ob eine höhere Dosisintensität, d. h. die Menge des verabreichten Medikaments pro Zeiteinheit, nicht zu einem besseren Therapieergebnis führen würde. Über dieses Konzept herrschte zwar Uneinigkeit, aber man stimmte darin überein, dass der Nutzen einer Hochdosistherapie, Dosisintensivierung
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und Erhöhung der kumulativen Dosis in randomisierten Studien untersucht werden sollte. Letztendlich zeigten die Ergebnisse aus den NSABP-Studien B-22 und B-25, dass die Dosisintensivierung von Cyclophosphamid von 600 mg/m2/KOF auf 2.400 mg/m2/KOF gesteigert, jeweils in Kombination mit 60 mg/m2/KOF Adriamycin, ohne lineare Dosis-Wirkungsbeziehung in der adjuvanten Therapie des Mammakarzinoms bleibt und keine Verbesserung des rezidivfreien Überlebens erreicht (Fisher B et al. 1999). Auch die Ergebnisse der French Adjuvant Study Group, die eine Dosisintensivierung des Epirubicins von 50 auch 100 mg/ m2/KOF in der Kombination mit 5-FU und Cyclophosphamid überprüften, führt zu keiner Verbesserung der Effektivität (Fumoleau P et al. 2003). Die CALGB-Studie 9344 kombinierte Adriamycin (A) in 3 Dosierungen (60, 75 und 90 mg/m2) mit Cyclophosphamid (C) mit und ohne Paclitaxel. Hier zeigte sich ein Vorteil für das sequentielle Schema AC-Paclitaxel, aber nicht für die Dosissteigerung des Anthrazyklins (Henderson IC et al. 2003). Zusammenfassend sollte die Chemotherapie in den empfohlenen Dosierungen verabreicht werden, da bei Unterdosierung oder Reduktion der vorgesehenen Gesamtzyklenanzahl ein Effektivitätsverlust droht. Inzwischen weiß man, dass die Zytostatika zeitlich simultan oder sequenziell verabreicht werden können. Die adjuvante zytostatische Therapie sollte als Kombinations-Chemotherapie erfolgen und ein Anthrazyklin enthalten, was vom Nodalstatus und Rezeptorstatus unabhängig ist. In einer Übersichtsarbeit der EBCTCG konnte die Überlegenheit Anthrazyklin-haltiger Schemata gegenüber CMF nur in Dreierkombinationen, wie z. B. FAC oder FEC in adäquater Dosierung (Epirubicin sollte mindestens mit einer Dosierung von 30 mg/m2 pro Woche und Doxorubicin mit mindestens 20 mg/m2 pro Woche gegeben werden) und Zykluszahl (6 Zyklen) nachgewiesen werden (EBCTCG 2005). Demgegenüber zeigte die Gabe von 4 oder 8 Zyklen der Zweierkombination EC oder AC im Vergleich zu CMF keine erhöhte Wirksamkeit (Fisher B et al. 1990, Piccart MJ et al. 2001). Bei histologisch gesichertem axillären Lymphknotenbefall sollte in der Dreierkombination darüber hinaus ein Taxan enthalten sein. Die Auswahl der Schemata ist nicht endgültig geklärt. Nach derzeitigem Stand der Publikationen scheinen die 3 Zyklen FEC gefolgt von 3 Zyklen Docetaxel (PACS-01) und DocAC (»TAC«, BCIRG 006) die effektivsten Therapieschemata zu sein (Roche H et al. 2006). Die Sequenz 4 Zyklen AC/EC gefolgt von Taxanen (Hendersonlike) scheint nach den kürzlich vorgestellten Daten der kanadischen MA-21 Studie nicht optimal wirksam (Burnell M et al. 2006). In neueren Studien konnte die höhere Wirksamkeit dosisintensivierter Chemotherapieprotokolle beim nodal-positiven Mammakarzinom gezeigt werden. Myeloablative Hochdosis-Chemotherapien sollten dagegen weiterhin nur in klinischen Studien zur Anwendung kommen (Möbus VJ et al. 2004, Wilking N et al. 2007). Trotzdem bleibt die zytostatische Therapie unspezifisch und hinkt den molekularbiologischen Entwicklungen hinterher. Interessant wird die Kombination mit zielgerichteter Therapie, der sog. targetet therapy. Auf Zellebene werden tumorindividuelle Marker oder Rezeptoren evaluiert. 2007 erfolgte die Einführung einer Antikörpertherapie mit Trastuzumab in die Standardtherapie der adjuvanten Behandlung des Mammakarzinoms. Voraussetzung ist der Nachweis einer HER2-neu-Überexpression. 5 Studien haben unabhängig voneinander gezeigt, dass durch die adjuvante Behandlung mit Trastuzumab in Sequenz oder Kombination mit einer Standard-Chemotherapie die Rezidivrate bei HER-2-überexprimierenden Tumoren konsistent um 45-50% und die Mortalität um ca. 30% gesenkt werden (relative Reduktion des Rezidivrisikos, Joensuu H et al. 2006, Piccart-Gebhart MJ et al. 2005, Romond EH et al. 2005, Slamon DJ et al. 2006). Hiermit wurde ein weiterer wichtiger Schritt zu Individualisierung der Therapie des Mammakarzinoms vollzogen. In Folge sind nun eine Flut von Substanzen im Rahmen der
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targeted therapy in Rahmen von Studien in der klinischen Erprobung und mit Einführung der »small-molecules« eine weitere Substanzgruppe auf den Markt der klinischen Forschung. Parallel gibt es Anstrengungen, durch Genvaccinierung direkten Einfluss auf Zellkernebene zu erreichen.
Strahlentherapie
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Die Geschichte der Strahlentherapie beginnt etwa zeitgleich mit der modernen Brustchirurgie. 1895 entdeckte Wilhelm Roentgen eine neue Form von Strahlen, die in der Lage war unterschiedliches Gewebe zu penetrieren und Fotographieplatten zu schwärzen. Im folgenden Jahr zeigte Henri Bequerel, dass ein natürlich vorkommendes Material im Uran ebenfalls Strahlung emittiert, der Röntgenstrahlung sehr ähnlich. Drei Jahre später veröffentlichten Marie und Pierre Curie die Entdeckung einer neuen radioaktiven Substanz und nannten es Radium. Damit waren die Basisvoraussetzungen für die Strahlentherapie geschaffen: Röntgenstrahlen hergestellt durch Beschleunigung von Elektronen auf einen Zielkörper und Gamma-Strahlung durch Radium oder anderen radioaktiven Materialien emittiert. Bereits ein Jahr nach Roentgens Entdeckung wurden Patienten mit Krebserkrankung durch Bestrahlung behandelt. Diese frühen Therapieversuche zeigten, dass das Tumorgewebe schrumpft und in manchen Fällen ganz verschwindet. Die älteren Bestrahlungsgeräte erreichten ihre Maximaldosis auf Hautniveau mit einem starken Abfall der Dosis in tiefer gelegenen Hautschichten. Mit der Erfahrung in der Anwendung ergab sich auch eine Weiterentwicklung der Geräte. Man erkannte bald, dass die optimale Anwendung der Strahlentherapie über eine Fraktionierung der Strahlendosis erreicht wird. Inzwischen ist die fraktionierte Dosis von 1,82 Gy international etabliert. Das Konzept brusterhaltende operative Chirurgie mit Strahlentherapie zu verbinden, als Ersatz für die Mastektomie war nicht neu. Nicht zuletzt haben die Ergebnisse der NSABPB06 Studie nachgewiesen, dass die postoperative perkutane Radiotherapie zur Verbesserung der lokalen Tumorkontrolle führt. Metaanalysen haben gezeigt, dass darüber hinaus auch die Mortalität relevant gesenkt wird. Dies trifft insbesondere für Patientinnen zu, bei denen durch die adjuvante Strahlentherapie eine Verminderung des Rückfallrisikos um >10% erreicht wird. So kann, statistisch gesehen, durch 4 verhinderte Lokalrezidive ein krebsbedingter Todesfall im Verlauf von 15 Jahren vermieden werden (Clarke M et al. 2005, Peto R 2006, Whelan T et al. 2007). Die Optimierung der Bestrahlung wird über verschiedene Konzepte derzeit noch in Studien überprüft. Zielvolumenkonzepte ermitteln den Vorteil von Teilbrustbestrahlung und IORT im Vergleich zur Ganzbrust-Bestrahlung als externe Bestrahlung (EBRT) beziehungsweise Ganzbrust-Bestrahlung + Teilbrustbestrahlung (Boost). Dosierungskonzepte vergleichen die konventionelle Fraktionierung (EBRT 50 + 10 Gy in 6-7 Wochen) mit der Hypofraktionierung (EBRT 42-50 Gy in 3-4 Wochen), der akzelerierte Teilbrustbestrahlung (8×4 Gy in 4 Tagen) und der Einzeitbestrahlung (1×20 Gy). Darüber hinaus befanden sich technische Verfahren auf dem Prüfstand Photonen-EBRT, Elektronen-EBRT, Brachytherapie (Multikatheter-Technik, MammoSite) und Röntgentherapie. Die Studienergebnisse zur Teilbrustbestrahlung haben bisher gezeigt, dass die Teilbrustbestrahlung, als Boost, z. B. als intraoperatives Verfahren durchaus sinnvoll ist, die alleinige Teilbrustbestrahlung aber allenfalls für selektierte Subkollektive effektiv ist und Langzeitergebnisse noch abgewartet werden müssen. Eine vergleichende Bewertung un-
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terschiedlicher technischer Verfahren war bisher noch nicht möglich. Man rechnet nicht mit einem onkologischen Vorteil, aber die Studienhypothese setzt Äquivalenz, also NichtUnterlegenheit voraus. Ein kosmetischer Vorteil scheint unwahrscheinlich. Der Vorteil der kurzen Behandlungszeit wird zukünftig schrumpfen, wenn Hypofraktionierungskonzepte für die EBRT etabliert werden (Antonini N et al. 2007, Bartelink H et al. 2007, Sauer R et al. 2007). Weitere Themen der strahlentherapeutischen klinischen Forschung sind die Frage nach der Relevanz einer Nachresektion, bei ohnehin geplanter Nachbestrahlung und die Frage nach der Effektivität von präoperativer Radiochemotherapie.
Zusammenfassung Die operative Therapie, zunächst die primäre Therapiesäule in der Behandlung des Mammakarzinoms hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich gewandelt. Die radikale Mastektomie, 1890 durch William Stewart Halsted eingeführt, hatte über nahezu 100 Jahren als Standardtherapie Gültigkeit. Die NSABP hat dann mit Bernard Fischer Mitte der 80er-Jahre durch die 10- und die 5-Jahres-Daten der NSABP-04 und 06 Studie die radikale Mastektomie auf die Segmententfernung reduziert und konnte in Kombination mit Strahlentherapie vergleichbare Überlebensdaten bei Tumoren <4 cm finden. Ähnliche Ergebnisse kamen von der Arbeitsgruppe um Veronesi et al. aus Mailand. Auch der Stellenwert der axillären Lymphknotenausräumung hat sich durch die Einführung der Sentinel Lymphknoten-Biopsie verändert. Mit deutlich reduzierter Morbidität hat sie sich bei entsprechender Indikation als Standardverfahren durchgesetzt. Aber auch die systemische Therapie hat sich einem deutlichen Wandel unterzogen. Während bereits Anfang des 20. Jahrhunderts der Einfluss von Hormonen auf das Mammakarzinom festgestellt werden konnte, wurde erst Mitte der 80er-Jahre mit der NATO Studie die systemische endokrine Therapie mit Tamoxifen etabliert und später auch mit den Ergebnissen der NSABP-09 Studie und dem obligaten Nachweis von Hormonrezeptoren im Tumorgewebe in die adjuvante Therapie übernommen. Tamoxifen ist inzwischen durch Aromatasehemmer in der adjuvanten Behandlung abgelöst, wobei es weiterhin im Rahmen von Sequenztherapien oder Behandlung des prämenopausalen hormonrezeptorpositiven Mammakarzinoms seinen Stellenwert behält. Während es sich in der zytostatischen Therapie nach Einführung und Etablierung der Taxane in die adjuvante Therapie in der Substanzauswahl nichts wesentliches verändert hat, drehten sich die Diskussionen in den letzten 10 Jahren um Substanzkombinationen, um Dosisdichte und Dosisintensität. Trotzdem bleibt die zytostatische Therapie unspezifisch und hinkt den molekularbiologischen Entwicklungen hinterher. Interessant wird die Kombination mit zielgerichteter Therapie, der sog. targetet therapy. Auf Zellebene werden tumorindividuelle Marker oder Rezeptoren evaluiert. 2007 erfolgte die Einführung einer Antikörpertherapie mit Trastuzumab in die Standardtherapie der adjuvanten Behandlung des Mammakarzinoms. Voraussetzung ist der Nachweis einer HER2-neu-Überexpression. Hiermit wurde ein weiterer wichtiger Schritt zu Individualisierung der Therapie des Mammakarzinoms vollzogen. In Folge sind nun eine Flut von Substanzen im Rahmen der targeted therapy in Rahmen von Studien in der klinischen Erprobung und mit Einführung der »small-molecules« eine weitere Substanzgruppe auf den Markt der klinischen Forschung. Parallel gibt es Anstrengungen, durch Genvaccinierung direkten Einfluss auf Zellkernebene zu erreichen.
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Hereditäres Mamma- und Ovarialkarzinom: BRCA1, BRCA2 und BRCA3 Marion Kiechle
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Kapitel 25 · Hereditäres Mamma- und Ovarialkarzinom: BRCA1, BRCA2 und BRCA3
Epidemiologie und genetische Grundlagen
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Das Mammakarzinom ist die häufigste Krebserkrankung der Frau in Deutschland. Jährlich erkranken ca. 57.000 Frauen. Das Risiko an Brustkrebs zu erkranken beträgt bis zum 70. Lebensjahr bei unbelasteter Familienanamnese ca. 10%. Es sind zahlreiche Risikofaktoren für das Mammakarzinom bekannt geworden, wobei die eigentlichen Ursachen weitgehend unklar sind. In etwa 5% aller Brustkrebsfälle handelt es sich allerdings um eine genetische vererbbare Form, bei der eine Veränderung im Genom der Patientin die Ursache der Erkrankung ist. Bei der Mehrzahl der genetischen Form des Brustkrebses besteht eine Mutation in den Genen BRCA1 oder BRCA2. Etwa 8.000 Frauen erkranken jährlich in Deutschland an einem Ovarialkarzinom. Damit ist es der 2.-häufigste maligne Genitaltumor der Frau, aber sehr viel seltener als das Mammakarzinom. Jedoch steht es in der Todesursachenstatistik an 7. Stelle und nimmt damit die Führung unter den gynäkologischen Tumoren ein. Das Lebenszeitrisiko an einem Ovarialkarzinom zu erkranken liegt bei unbelasteter Familienanamnese bei 1,6% und ist damit viel geringer als beim sporadischen Mammakarzinom. 95% der Ovarialkarzinome treten sporadisch auf, auch hier kennt man Risikofaktoren, ohne dass die eigentlichen Ursachen der Erkrankung geklärt sind. Bei etwa 5% der Ovarialkarzinome kennt man die Ursache und sie liegt ebenso wie beim Mammakarzinom in einer Mutation des Erbgutes begründet. In ca. 50% aller hereditären Mammakarzinome lassen sich heterozygote Mutationen in den autosomal-dominant vererbten Genen BRCA1 (breast cancer gene) oder BRCA2 nachweisen. Ungefähr 5% stehen im Zusammenhang mit Mammakarzinom-assoziierten Syndromen. Für die restlichen 45% ist der genaue genetische Hintergrund bisher unbekannt, es werden u. a. kombiniert polygene Varianten verantwortlich gemacht oder es lassen sich seltene Mutationen in niedrig penetranten Genen wie ATM, CHEK2, BRIP1 und PALB2 nachweisen. Bei den erblichen Ovarialkarzinomen stehen die BRCA1-Mutationen im Vordergrund. Diese werden bei ca. 75% der hereditären Ovarialkarzinome nachgewiesen. BRCA2-Mutationen stehen an 2. Stelle, sind aber mit ca. 10% sehr viel seltener. Noch seltener werden Mutationen im ATM-Gen, P53 oder den sog. Mismatch-Repair-Genen (MSH2, MLH1, PMS1,PMS2) nachgewiesen. Im April diesen Jahres haben deutsche Wissenschaftler jedoch entscheidend für die weitere Aufklärung der genetischen Ursachen des hereditären Mammaund Ovarialkarzinoms durch die Entdeckung eines weiteren hoch penetranten Gens beigetragen: RAD51C oder BRCA3. Pathogene Mutationen wurden in 480 BRCA1 und 2 negativen Individuen aus Familien mit erblichen Mamma- und Ovarialkarzinomen nachgewiesen. Dies entspricht einer Inzidenz von ca. 2%. Bei reinen, hereditären BRCA1-Familien und 2 negativen Mammakarzinomfamilien wurden BRCA3-Mutationen sehr viel seltener, lediglich in 0,3% nachgewiesen. Interessanterweise spielen alle bislang entdeckten Brustkrebsgene, sowohl die Gene BRCA1, BRCA2 und BRCA3 mit hoher Penetranz als auch die Gene ATM, CHK2, BRIP1 und PALB2 mit intermediärer Penetranz eine essentielle Rolle in der genomischen Stabilität von Zellen und sind an DNA-Reparaturvorgängen beteiligt. Wenn diese Mutationen zu einem erhöhten Mamma- und Ovarialkarzinomrisiko führen, liegen diese stets als monoallelische Mutation vor. Es gibt aber auch humane biallelische Mutationen der Gene BRCA2, PALB2 und BRIP1. Diese sind nicht letal und verursachen beim Menschen eine Fanconi-Anämie, welche neben einer Entwicklungsstörung und einer Knochenmarksinsuffizienz auch zu ei-
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ner Prädisposition zu Leukämien und anderen Krebserkrankungen führt. Vaz und Kollegen entdeckten 2009 in einer Fanconi-Anämie-Familie eine neue Genmutation, wobei es sich um eine biallelische Mutation des RAD51C-Gens handelte. Dies legte die Vermutung nahe, dass monoallische Mutationen in RAD51C zu einem erhöhten Mamma- und Ovarialkarzinomrisiko führen könnte, was sich bei der Untersuchung von 480 Frauen aus Familien mit erblicher Mamma- und Ovarialkarzinombelastung, die keine BRCA1- oder BRCA2-Mutation aufwiesen, bestätigt hat. Der Fanconi-Anämie-Komplex (FA-Komplex) stellt zusammen mit RDA51C und BRCA1 und BRCA2 einen wichtigen Bestandteil der DNA-Reparatur durch homologe Rekombination (HR) dar (⊡ Abb 25.1). Frauen mit einer Mutation auf dem BRCA1-Gen haben ein bis zu 80%iges Risiko im Laufe ihres Lebens an Brustkrebs zu erkranken. Die Wahrscheinlichkeit an Eierstockkrebs zu erkranken liegt bei ca. 45-65%. Bei einer BRCA2-Mutation liegt die Erkrankungswahrscheinlichkeit bei ca.70% für das Mammakarzinom und ca.20-30% für das Ovarialkarzinom. Keimbahnmutationen im BRCA2-Gen gehen ebenfalls mit einem erhöhten Risiko für eine Brustkrebserkrankung auch beim Mann einher. Das Risiko für Kolon- und Prostatakarzinom ist gleichfalls erhöht. Eine moderate Risikoerhöhung wurde auch für Pankreas-, Zervix-, und Larynxkarzinome beobachtet. Auch beim neu entdeckten BRCA3-Gen sind die Krebserkrankungsrisiken bei Mutationsträgerinnen ähnlich hoch. Das lebenslange Risiko liegt für das Mammakarzinom bei 60-80% und für das Ovarialkarzinom bei 20-40% (⊡ Tab. 25.1). Im Vergleich zur Normalbevölkerung ist das lebenslange Risiko für Brustkrebs rund 10-fach, für Eierstockkrebs zwischen 15- oder 40-fach erhöht.
⊡ Abb. 25.1. DNA-Reparatur durch homologe Rekombination (HR Pathway)
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Kapitel 25 · Hereditäres Mamma- und Ovarialkarzinom: BRCA1, BRCA2 und BRCA3
⊡ Tab. 25.1 Krebserkrankungsrisiken von BRCA-Mutationsträgerinnen
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Krebsart
BRCA1
BRCA2
BRCA3
Mammakarzinom Frauen Männer
80% -
70% 6%
60-80% -
Ovarialkarzinom
45-65%
20-30%
20-40%
Prostata
15%
20%
?
Andere Karzinome
erhöht
erhöht
?
Gentest Die zur molekulargenetischen Untersuchung notwendige DNA wird in der Regel aus peripheren Blutlymphozyten isoliert. Es werden dazu ca. 10 ml EDTA-Blut benötigt. Im Rahmen dieser molekulargenetischen Diagnostik werden bei einem erkrankten Familienmitglied, der Indexpatientin, auf das Vorliegen einer pathogenen Mutation untersucht. Dies erfolgt mittels einer PCR-Reaktion (polymerase chain reaction) zur Vervielfältigung der zu untersuchenden DNA-Abschnitte und Mutationssuchverfahren DHPLC (denaturing high pressure liquid chromatography) oder kompletter Sequenzierung. Die DHPLC hat sich hierbei als das sensitivste Suchverfahren etabliert, welches außerdem Dauer und Kosten der Analyse reduziert. Als Bestätigungstest sowie zur genauen Lokalisierung einer Mutation wird jeweils eine direkte DNA-Sequenzierung des auffälligen Abschnitts durchgeführt. Problematisch ist die Durchführung eines Gentests bei einer nicht erkrankten Frau aus einer Familie, in der alle erkrankten Personen bereits verstorben sind. Hier ist von vornherein die Wahrscheinlichkeit eines positiven Mutationsnachweises statistisch nur 25% (0,5% Vererbungswahrscheinlichkeit × 0,5% Mutationsfrequenz in den bekannten BRCA-Genen) und ein negatives Testergebnis nicht aussagekräftig. In solchen Fällen gibt es evtl. die Möglichkeit an fixiertem Tumorgewebe Mutationsanalysen durchzuführen. Wird bei einer Indexpatientin eine krankheitsverursachende Veränderung gefunden, können weitere Familienangehörige prädiktiv getestet werden. Es ist dann eine klare Risikoabschätzung für die einzelnen Personen möglich. Schwierig ist die Bewertung einer seltenen und noch nicht eindeutig zu bewertenden genetischen Veränderung (UV, unclassified variants), da zunächst nicht zwischen einer krankheitsauslösenden Mutation und einer klinisch unbedeutenden Variante unterschieden werden kann. Die Gendiagnostik sollte aus diesem Grund spezialisierten Abteilungen vorbehalten bleiben. Von 1996 bis 2004 förderte die Deutsche Krebshilfe im Rahmen des Verbundprojektes »Familiärer Brust- und Eierstockkrebs« 12 universitäre Zentren. Ziel war die Etablierung einer standardisierten interdisziplinären Beratung vor einer prädiktiven Gendiagnostik, die Durchführung einer qualitätsgesicherten molekulargenetischen Analyse, sowie nicht zuletzt die Umsetzung eines strukturierten Früherkennungsprogramms für Frauen mit familiärem Brust- und Eierstockkrebs. Seit Januar 2005 ist dieses Programm in die Regelversorgung der Krankenkassen übernommen worden. Die entstehenden Kosten werden von den Kassen getragen, wenn eine Indikation für einen Gentest gegeben ist und die radiologische Diagnostik (Mammographie, MRT, Mammasonographie) in einem der etablierten Zentren des von der
491 Risikoeinschätzung, genetische Beratung und Indikationen für einen Gentest
25
Deutschen Krebshilfe geförderten Verbundprojektes durchgeführt wird. (Adressen der Zentren: www.deutsche-krebshilfe.de). Diese Auflagen sind als unabdingbar zu bezeichnen, da bislang der Nachweis einer Mortalitätsreduktion durch das strukturierte Früherkennungsprogramm noch zu erbringen ist, was Gegenstand des Versorgungsforschungsprogramms ist.
Risikoeinschätzung, genetische Beratung und Indikationen für einen Gentest Die Erhebung der Familienanamnese ist essentiell, um eine Risikobeurteilung einer einzelnen Patientin durchführen zu können. Zur Übersicht über familiäre Konstellationen, bei denen BRCA1/2/3-Mutationen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit nachweisbar sein können, ⊡ Tab. 25.2. Patientinnen mit vergleichbarer Familienanamnese sollte die Vorstellung in einer Sprechstunde für erblichen Brust-und Eierstockkrebs dringend empfohlen werden (Adressenliste: www.deutsche-krebshilfe.de ). Nach den Richtlinien der Bundesärztekammer ist eine angemessene Beratung und Betreuung von Patienten und Personen aus Familien mit genetischer Disposition für Krebserkrankungen nur durch interdisziplinäres Vorgehen gewährleistet. Die Erläuterung eines erhöhten Krebsrisikos und aller damit aufgeworfenen Fragen, einschließlich einer evtl. prädiktiven Diagnostik und der daraus entstehenden Konsequenzen sollten in einem interdisziplinären Beraterteam erfolgen. Dazu gehören im Falle des familiären Brust- und Eierstockkrebses ein(e) Gynäkologe/ in und ein(e) (Human)genetiker(in) sowie in bestimmten Fällen eine psychoonkologische Beratung. Ziel dieser Beratung ist, die Ratsuchende so umfangreich und verständlich zu informieren, dass eine eigenständige Entscheidung über den Umgang mit ihrem persönlichen genetischen Risiko möglich wird. Die Gesprächsinhalte dieser Beratungen wurden im Rahmen des Verbundprojektes »Familiärer Brust- und Eierstockkrebs« der Deutschen Krebshilfe erarbeitet. Am Beginn einer Beratung steht die qualifizierte Stammbaumanalyse. Daraus lässt sich zunächst ermitteln, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass tatsächlich ein familiärer Brustoder Eierstockkrebs vorliegt. Damit können die sehr aufwändigen und teuren molekulargenetischen Untersuchungen auf Familien mit einem deutlich erhöhten Risiko beschränkt werden. Andererseits können Familien ohne ein erhöhtes Risiko für erblichen Brust- oder Eierstockkrebs durch eine fundierte genetische Beratung entlastet werden. Die Bestimmung des individuellen genetischen Risikos erfolgt über eine ausführliche Stammbaumanalyse mithilfe geeigneter Risikokalkulationsprogramme (Cyrillic). Es müssen vorher folgende Fakten ermittelt werden: ▬ Diagnosen aller bösartigen Tumoren in der Familie sowie Alter der Betroffenen bei Erstdiagnose ▬ Alter und Geschlecht aller Familienangehörigen über mindestens 3 Generationen. Mitunter wird bereits hier deutlich, dass kein familiär erhöhtes Risiko für eine Krebserkrankung besteht und die Familie kann beruhigt werden. Es besteht aber auch die Möglichkeit, dass sich ein erhöhtes Risiko für eine andere familiäre Krebserkrankung ergibt und entsprechend andere Früherkennungsmaßnahmen sinnvoll wären. Brustkrebs gehört, wie bereits erwähnt, ebenfalls zum Spektrum der Ataxia telangiectasia, des Li-Fraumeni-Syndroms und des Cowden-Syndroms. Gebärmutterkrebs (Endometriumkarzinom), oft als »Unterleibskrebs« bezeichnet, (mitunter dann als Ovarialkarzinom gedeutet) ist eine typische Erkrankung im Rahmen des HNPCC-Syndroms. Da hier vor allem auch Darmtumoren eine Rolle spielen, wäre eine andere Früherkennung als beim Brust- bzw. Eierstockkrebs zu empfehlen.
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Kapitel 25 · Hereditäres Mamma- und Ovarialkarzinom: BRCA1, BRCA2 und BRCA3
⊡ Tab. 25.2 Familiäre Konstellationen, die eine Vorstellung in einer Tumorrisikosprechstunde erfordern.
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Wahrscheinlichkeit für BRCA1/2-Mutationen
Familiäre Konstellationen
Hoch
– – – –
Mehrere Erkrankungsfälle von Brust- und Eierstockkrebs in einer Familie Brust- und Eierstockkrebs bei einer Frau 2 oder mehr Eierstockkrebsfälle in einer Familie 2 oder mehr Brustkrebsfälle in einer Familie, davon 2 Fälle vor dem 50. Lebensjahr
Mittel
– – – – – –
1 Brustkrebsfall vor dem 35. Lebensjahr in einer Familie Beidseitiger Brustkrebs bei einer Frau 2 Brustkrebsfälle in einer Familie, davon 1 Fall vor dem 50. Lebensjahr 3 oder mehr Brustkrebsfälle in einer Familie nach dem 50. Lebensjahr 1 männliches Mammakarzinom in einer Familie (nur BRCA2) 1 Ovarialkarzinom vor dem 40. Lebensjahr in einer Familie
Im Weiteren sollte eine Aufklärung über den »Gentest« Möglichkeiten und vor allem Grenzen seiner Aussagekraft sowie ggf. daraus entstehende Konsequenzen aufzeigen. Im Rahmen der Regelversorgung durch die Krankenkassen wird nur Patientinnen bzw. Ratsuchenden mit einem erhöhten Risiko eine molekular-genetische Diagnostik angeboten. Bei Erfüllung der Kriterien für eine Testung der BRCA1/2/3-Gene muss der Ratsuchenden klar verdeutlicht werden, was der Nachweis einer Mutation bedeuten kann: 1. Einschlusskriterien für eine molekular-genetische Untersuchung der BRCA-Gene im Rahmen der Krankenkassen Regelversorgung: – mindestens 2 Brustkrebserkrankungen in einer Familie vor dem 50. Lebensjahr – Erkrankungen an Brust- und Eierstockkrebs – Erkrankung an einseitigem Brustkrebs im Alter von 31 Jahren oder früher – Erkrankung an beidseitigem Brustkrebs im Alter von 40 Jahren oder früher – Erkrankung eines Mannes an Brustkrebs (nur BRCA2) – Erkrankung einer Frau an Eierstockkrebs vor dem 40. Lebensjahr (nur BRCA1) – Nichterkrankte mit einem Heterozygotenrisiko nach Cyrillic <20% oder einem Lebenszeiterkrankungsrisiko >30% (ermittelt aus der Stammbaumanalyse) 2. Bedeutung des Mutationsnachweises: – 70-80%iges Erkrankungsrisiko für Brustkrebs – 12-65%iges Erkrankungsrisiko für Eierstockkrebs – Zusätzlich leicht erhöhte Risiken für Gebärmutterkrebs, Darmkrebs und Leukämien – Für Männer mit nachgewiesener Mutation erhöhen sich leicht die Erkrankungsrisiken für Prostatakrebs, Darmkrebs, Brustkrebs, Bauchspeicheldrüsenkrebs und Leukämien – Für Kinder besteht ein Risiko von 50% die veränderte Anlage von dem Mutationstragenden Elternteil geerbt zu haben. – Für erstgradig Verwandte eines Mutationsträgers (Schwestern, Brüder) gilt gleichfalls die Wahrscheinlichkeit von 50% die Mutation zu tragen. Voraussetzung für eine sich der Beratung anschließende Gentestung ist neben der Volljährigkeit mindestens eines der dargestellten Kriterien. Nicht immer treffen diese Konstellationen auf Risikofamilien zu, deshalb wurden zusätzlich statistische Risikoberechnungen
493 Klinische Beratung und Möglichkeiten der Prävention
25
(Cyrillic) aus den Stammbaumdaten ermittelt. Ein statistisches Lifetime-Risiko von ≥30% an einem Mammakarzinom zu erkranken bzw. ein Heterozygotenrisiko ≥20% gelten ebenfalls als Kriterium für eine Gentestung bzw. ermöglichen die Empfehlung eines intensivierten Früherkennungsprogramms. Die genetische Untersuchung kann Auswirkungen auf die gesamte Familie der Ratsuchenden haben. Im Beratungsgespräch wird explizit darauf hingewiesen, Verwandte auf das bestehende Risiko aufmerksam zu machen und die Möglichkeiten von Beratung, Diagnostik und Früherkennung anzusprechen. Ist in der Familie eine Mutation gefunden worden und trägt die Ratsuchende diese Veränderung nicht, kann für sie ein erhöhtes Risiko für Brust- oder Eierstockkrebs mit hoher Sicherheit ausgeschlossen werden. Es gilt dann das allgemeine Erkrankungsrisiko für Brustkrebs von ca. 8-10%. Diese individuelle Risikoeingrenzung gelingt nur durch molekulargenetische Diagnostik.
Klinische Beratung und Möglichkeiten der Prävention Der Ratsuchenden mit einem hohen Risiko für erblichen Brust- oder Eierstockkrebs bzw. nachgewiesener Mutation muss ein entsprechendes intensives Früherkennungsprogramm angeboten und erklärt werden. Auch präventive Maßnahmen, wie z. B. prophylaktische Operationen, müssen zur Sprache kommen. Die allgemein zur Verfügung stehenden Früherkennungs- und Präventionsmaßnahmen sind für Frauen mit erblicher Belastung für Brust- und Eierstockkrebs nicht ausreichend. Das Konsortium familiärer Brust- und Eierstockkrebs hat auf der Grundlage der besten Evidenz dazu ein strukturiertes Früherkennungsprogramm erarbeitet. Strukturiertes/intensiviertes Früherkennungsprogramm, Beginn ab dem 25. Lebensjahr bzw. 5 Jahre vor dem frühesten Auftreten eines Mammakarzinoms in der Familie, in der Regel jedoch nicht vor dem 18. Lebensjahr: ▬ regelmäßige Selbstuntersuchung der Brust nach ärztlicher Unterweisung/Mamma-Care Programm ▬ Tastuntersuchung Brust und Eierstöcke durch Frauenarzt alle 6 Monate (ab dem 25. Lebensjahr oder 5 Jahre vor dem frühesten Erkrankungsalter in der Familie lebenslang) ▬ Ultraschalluntersuchung der Brust (min. 7,5 MHz) alle 6 Monate (ab dem 25. Lebensjahr oder 5 Jahre vor dem frühesten Erkrankungsalter in der Familie lebenslang) ▬ vaginale Ultraschalluntersuchung der Eierstöcke alle 6 Monate ▬ Mammographie der Brust ab dem 30. Lebensjahr, bei guter Beurteilbarkeit alle 12 Monate ▬ Kernspintomographie der Brust alle 12 Monate (ca. bis 55. Lebensjahr bzw. bis zur Involution des Drüsenkörpers) Die klinische Relevanz einer jährlichen Tumormarkerbestimmung von CA 125 wird derzeitig in Studien untersucht. Wichtig ist die Aufklärung der Ratsuchenden darüber, dass eine maximale Reduktion der Risiken nur durch prophylaktische Operationen möglich ist. Als prophylaktische Operationen sollten die Eierstockentfernung sowie die Entfernung des Brustdrüsenkörpers angesprochen werden. Aktuelle prospektive und retrospektive Untersuchungen zeigen, dass die prophylaktische Adnektomie bei Frauen mit familiärer Belastung und nachgewiesener BRCA-Mutation das Risiko für Eierstockkrebs um ca. 95% reduziert. Auch das Risiko an Brustkrebs zu erkranken lässt sich durch eine Adnektomie um ca. 50% reduzieren. Bei Mutationsträgerinnen konnte in mehreren Studien auch eine Reduktion der
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Kapitel 25 · Hereditäres Mamma- und Ovarialkarzinom: BRCA1, BRCA2 und BRCA3
karzinomspezifischen Mortalität durch die prophylaktische Adnektomie nachgewiesen werden. Idealerweise erfolgt die prophylaktische, laparoskopische Resektion der Adnexe nach abgeschlossener Familienplanung um das 40. Lebensjahr, da der Benefit dann am höchsten ist. Für die beidseitige prophylaktische Mastektomie ließ sich in Studien ebenfalls eine deutliche Risikoreduktion (ca. 90%) für die Brustkrebserkrankung bei familiärer Belastung und nachgewiesener Mutation belegen. Nach den bisherigen Erfahrungen entschließen sich aber nur wenige Frauen zu prophylaktische Operationen (ca.25%). Eine große Akzeptanz findet jedoch das intensivierte Früherkennungsprogramm (ca.80%). Die konservative, medikamentöse Prävention ist derzeit Gegenstand klinischer Studien. Als Beispiel sei hier die NSABP-P1-Sudie erwähnt, die eine Risikoreduktion für Mammakarzinome von bis zu 45% nachwies. Diese Daten scheinen allerdings nur für BRCA1–Mutationsträgerinnen zu gelten. In derzeitigen Untersuchungen werden auch Aromatasehemmer bei Mutationsträgern präventiv eingesetzt, wobei endgültige Ergebnisse noch aus stehen. Außerhalb von Studien gibt es noch keine empfehlenswerte medikamentöse Therapieoption. Im Hinblick auf die sekundäre Prävention, also intensivierte Früherkennungsprogramme liegen mittlerweile aktuelle Daten vor. Die Kernspintomographie zeigt sich dabei als sensitivste Methode zur Diagnostik von malignen und prämalignen Veränderungen in der Brust. Dabei liegt die Sensitivität der MRT bei ca. 75-95%, die Mammographie erreicht lediglich Werte von 30-70%. Ein Erklärungsansatz ist die hohe Parenchymdichte der zumeist prämenopausalen Frauen. Die Kombination aller vier Untersuchungsmodalitäten (klinische Brustuntersuchung, MRT, Ultraschall, Mammographie) erreichte in einer kanadischen Studie eine Sensitivität von 95%, für die alleinige Anwendung von Mammographie und klinischer Untersuchung nur 45%. Trotz allem ist die Mammographie derzeit weiterhin eine wichtige diagnostische Maßnahme, da sie gerade im Hinblick auf den Nachweis von Mikrokalk bisher nicht ersetzbar ist. Es ist daher nicht verwunderlich, dass in der Arbeit von Kriege et al. 2004 bei ca. 1.900 Frauen mit belasteter Familienanamnese und Genmutationen 20% der Karzinome ausschließlich in der Mammographie entdeckt wurden. Hier konnte auch erstmals gezeigt werden, dass die im Screening entdeckten Karzinome signifikant in kleineren TN-Stadien gefunden wurden verglichen mit nicht im Screening entdeckten Tumoren.
Therapie des Mammakarzinoms bei Mutationsträgerinnen Das operative Vorgehen beim Mammakarzinom von Mutationsträgerinnen weicht derzeit nicht generell von den Standards für das sporadische Mammakarzinom ab. Obwohl beim BRCA1-assoziierten Brustkrebs häufiger ungünstige histologische Kriterien wie Grading 3, Rezeptornegativität oder Aneuploidie gefunden werden, unterscheiden sich das rezidivfreie Überleben wie das Gesamtüberleben oder die Lokalrezidivrate nach brusterhaltender Therapie nicht signifikant von denen sporadischer Mammakarzinome. Allerdings sind die Studienergebnisse hierzu uneinheitlich und es zeigt sich bei einigen Untersuchungen ein Trend zu einem schlechteren rezidivfreien Überleben und Gesamtüberleben von nachgewiesenen BRCA1- und BRCA2-Mutationsträgerinnen im Vergleich zu Nicht-Mutationsträgerinnen mit Mammakarzinomen. Da das synchrone oder metachrone Auftreten von kontralateralen Mammakarzinomen bei Mutationsträgerinnen mit etwa 25-65% vs. 6% bei sporadischen Karzinomen deutlich höher angegeben wird, sollte bei der Besprechung des kurativen operativen Vorgehens die Möglichkeit der beidseitigen (kontralateral prophylaktischen) Mastektomie
495 Therapie des Mammakarzinoms bei Mutationsträgerinnen
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erwähnt werden. Berücksichtigung in der Beratung und Wahl des operativen Verfahrens sollte dabei unbedingt das Erkrankungsalter und der Mutationsstatus finden, da die Zweiterkrankungsrisiken in erster Linie von diesen Parametern abhängen. Beispielsweise hat eine vor dem 40. Lebensjahr erkrankte Frau mit einer BRCA1-Mutation ein 51%iges Risiko innerhalb der nächsten 15 Jahre erneut an einem Mammakarzinom zu erkranken. Hingegen hat eine Frau mit einer BRCA2-Mutation, die bei der Erkrankung älter als 50 Jahre war ein nur 10%iges Risiko innerhalb des gleichen Zeitraumes ein Zweitkarzinom zu erleiden. Die Entscheidung bezüglich einer notwendigen adjuvanten Therapie wird nach den Standards der vorliegenden anerkannten Prognosefaktoren in gleicher Weise wie für das sporadische Mammakarzinom getroffen. Neuere Therapiestudien lassen vermuten, dass BRCA1/2-induzierte Karzinome besonders Platin-senibel zu sein scheinen. In einer prospektiv randomisierten Studie bei Patientinnen mit fortgeschrittener Krebserkrankung wird die Wirkung von Carboplatin mit Docetaxel derzeit verglichen. Es scheint aber auch Unterschiede in der Chemosensibilität innerhalb der Mutationsträger zu geben. In einer kürzlichen Arbeit von Kriege et al. 2009 konnte gezeigt werden, dass BRCA2-induzierte Mammakarzinome mit einem signifikant besseren Gesamtüberleben nach AC/EC oder CMF Chemotherapie abschneiden als BRCA1-positive oder sporadische Mammakarzinompatientinnen (⊡ Abb. 25.2). Derzeit ist eine neue Substanzgruppe, die sog. PARP Inhibitoren verfügbar, welche selektiv Zellen ausschalten, deren DNA-Reparatur gestört ist. Zum Wirkmechanismus, ⊡ Abb. 25.3a-d. Somit stehen oral verfügbare Substanzen zur Verfügung, die sich die Kenntnis um den Funktionsverlust der DNA-Reparatur, mit dem BRCA-mutierte Zellen behaftet sind, gezielt zu Nutze macht. Prospektive randomisierte Studien bei Patientinnen mit fortgeschrittenen BRCA1/2-Karzinomen werden derzeit durchgeführt und haben in der fortgeschrittenen Situation bereits zu erfolgversprechenden Ergebnissen geführt.
⊡ Abb. 25.2. Gesamtüberleben bei sporadisch aufgetretenen Brustkarzinomen (grün) zu solchen mit BRCA 1 (rot) und BRCA 2 (violett).
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Kapitel 25 · Hereditäres Mamma- und Ovarialkarzinom: BRCA1, BRCA2 und BRCA3
a
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b
d
c
⊡ Abb. 25.3a–d. Wirkmechanismus der PARP1-Inhibitoren (aus: Helleday T, Bryant HE, Schultz N Cell Cycle 2005) a Poly(ADP-ribose)polymerase (PARP1) ist ein Schlüsselenzym in der Einzelstrang-Bindungsreparatur (SSB-repair). b PARP-Inhibition verursacht DNA-Doppelstrangbrüche an den Replikationsgabeln. c Normalerweise werden solche Brüche durch homologe Rekombination mit Hilfe des BRCA-Komplexes wieder repariert. d Das Fehlen intakter BRCA Proteine bei entsprechenden Mutationen verursacht eine Akkumulation von chromosomalen Rearrangement und eine Apoptose.
497 Zusammenfassung und Zukunftsperspektiven
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Psychologische Betreuung Bei einigen Ratsuchenden kann eine psychoonkologische Beratung notwendig sein. Besonders bei Nachweis einer Mutation und damit verbundenem hohen Risiko für Brust oder Eierstockkrebs kann für die Ratsuchende eine große Belastung entstehen, der sie nicht gewachsen ist. Insbesondere bei fehlender sozialer Unterstützung oder zusätzlichen psychischen Problemen ist eine psychologische Beratung und ggf. Behandlung notwendig. Es wird im Beratungsgespräch erfragt, ob die betreffende Ratsuchende in der Lage ist, eine evtl. ungünstige Ergebnismitteilung zu verkraften. Gleichzeitig wird der soziale Hintergrund geprüft und ggf. auch Familienangehörige mit einbezogen. Auf Wunsch der Ratsuchenden kann eine weiterführende psychologische Behandlung eingeleitet werden. Insbesondere Frauen, die sich gegen eine molekulargenetische Diagnostik trotz hohen Risikos ausgesprochen haben und sich in einer offensichtlich konfliktträchtigen Situation befinden, sollte eine engmaschige psychologische Begleitung angeboten werden. Die umfangreichen Erfahrungen des Konsortiums »Familiärer Brust- und Eierstockkrebs« der Deutschen Krebshilfe belegen, dass das oben erläuterte Beratungs- und Betreuungsangebot für die betroffenen Frauen von großem Nutzen ist. Die nichtdirektive, interdisziplinäre Beratung beruhigt die ratsuchenden Personen, in standardisierten Fragebögen konnten die Psychoonkologen bei ca. 70% der beratenen Frauen eine deutliche Entlastung feststellen. Durch prädiktive Gendiagnostik in mutationspositiven Familien ist in ca. 50% eine Entlastung durch Mutationsausschluss möglich. Selbst bei Mitteilung eines Mutationsnachweises tritt durch die Klärung des Risikos eine Entlastung ein. Die Frauen können mit der Gewissheit besser umgehen, als mit ungewiss erhöhtem Risiko. Das intensivierte Früherkennungsprogramm, an ein universitäres Mammazentrum gebunden, führt zur Erkennung von frühen Tumorstadien. Der Zugang zu diesen Früherkennungsuntersuchungen ist für viele Frauen schon eine erhebliche Beruhigung. Prophylaktische Operationen an Brust oder Eierstock sind bisher von einigen Frauen wahrgenommen wurden. Da jedoch durch die Entfernung des Brust- bzw. Eierstockgewebes das Erkrankungsrisiko maßgeblich gesenkt werden kann, sollten diese Optionen auch bei sehr jungen ratsuchenden Frauen im Beratungsgespräch ihren Platz haben. Die Indikation ist genau zu planen und sollte nur in einem interdisziplinären Rahmen gestellt werden.
Zusammenfassung und Zukunftsperspektiven Mutationsträgerinnen sind mit einem lebenslangen, sehr hohen Krebserkrankungsrisiko behaftet. Es sind vor allem junge Frauen von diesen Karzinomen betroffen und es findet sich eine höhere Prävalenz von bilateralen Manifestationen beim Mammakarzinom und eine größere Anzahl von assoziierten weiteren Tumorerkrankungen in den betroffenen Familien. Diese für betroffene Frauen dramatische Konstellation macht eine interdisziplinäre Beratung hinsichtlich intensiver Früherkennungsmaßnahmen, genetischer Testung, Familienplanung sowie verschiedener Präventionsstrategien erforderlich. Ziel ist es eine individuelle Risikofeststellung zu erarbeiten und daraus Maßnahmen zur Risikoreduktion abzuleiten. Herausforderungen für die Zukunft werden u. a. sein, die genetischen Grundlagen der hereditären Mammakarzinomerkrankung weiter aufzuklären, den Nutzen des strukturierten Früherkennungsprogramms hinsichtlich einer Mortalitätsreduktion aufzuzeigen und aufgrund der genauen Kenntnis der molekularen Entstehungsursachen gezielte Behandlungsstrategien
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Kapitel 25 · Hereditäres Mamma- und Ovarialkarzinom: BRCA1, BRCA2 und BRCA3
abzuleiten. Da es sich um eine seltene Erkrankung handelt, sollten derartige Familien ausschließlich in spezialisierten Zentren beraten, getestet und behandelt werden, damit zum einen eine hoch qualifizierte Versorgung gewährleistet werden kann und die Zukunftsperspektiven erreicht werden können.
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Entwicklung der Chemotherapie in der Gynäkologie Rolf Kreienberg, Stephanie Gossmann
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Kapitel 26 · Entwicklung der Chemotherapie in der Gynäkologie
Erfahrungen mit Krebsheilmitteln existieren seit mehr als 3.000 Jahren und reichen in die Anfänge der Medizin zurück. Die Mehrheit der in den vergangenen Jahrhunderten verwendeten Mixturen enthielten Metalle wie Arsen, Silber, Zink, Blei, Quecksilber und Wismut. Tumorwirkungen konnten damals nur bei lokaler, nicht aber bei systemischer Anwendung beobachtet werden. Untersuchungen an Kriegsteilnehmern des Ersten Weltkrieges, die nach Kontakt mit dem Giftgas Gelbkreuz Knochenmarksaplasien entwickelten und pharmakologische Studien während des Zweiten Weltkrieges mit Senfgas, dem sog. Stickstoff-Lost, führten zu den ersten Veröffentlichungen über therapeutische Effekte dieser Substanzgruppe bei der Lymphogranulomatose. In der Folge wurde eine Reihe von äußerst wirksamen und noch heute gebräuchlichen Abkömmlingen dieser alkylierenden Substanz synthetisiert und damit die rationale Basis für eine medikamentöse Krebsbehandlung geschaffen. 1948 wurden erstmalig Folsäureantagonisten zur Behandlung von akuten Leukämien bei Kindern eingesetzt. Seither wurde eine große Zahl neuer zytostatisch wirkender Substanzen verschiedener Stoffklassen entdeckt und auf ihre Tauglichkeit hin überprüft. Die Entwicklung moderner chemotherapeutischer Maßnahmen zur Behandlung maligner Neoplasien erfolgte in 4 Phasen: In der 1. Phase (1945-1960) standen die Synthetisierung von Derivaten aus bereits bekannten Chemotherapeutika, die Erprobung neuer Substanzgruppen und der überwiegend auf Empirie basierende klinische Einsatz der Monotherapie im Vordergrund wissenschaftlicher Bemühungen. Erste positive Resultate konnten in der Behandlung der Leukämien und bei malignen Lymphomen erzielt werden. In der 2. Phase (1960-1970) wurden biochemische Mechanismen, Physiologie und Kinetik der Tumorzelle mit dem Ziel untersucht, den Angriffspunkt und den Wirkungsmechanismus zytotoxischer Substanzen an verschiedenen Zellbestandteilen aufzuklären. Weitere Forschungsziele waren die Interaktionen der Zytostatika mit dem körpereigenen Abwehrsystem, die Entwicklung verfeinerter Dosierungsschemata, die Einführung der Polychemotherapie und der kombinierte Einsatz der Chemotherapie mit strahlentherapeutischen und chirurgischen Maßnahmen. Es wurden prospektive, kontrollierte randomisierte Therapiestudien begonnen. Die positiven Ergebnisse der Hämoblastosen ließen sich bestätigen und bereits z. T. auf solide Tumoren übertragen. In der 3. Phase (1970-2000) setzte sich das Konzept der interdisziplinären Krebsbehandlung durch. Der Einsatz der Chemotherapie adjuvant im Anschluss an die Operation bzw. Strahlentherapie wurde erprobt. Die 4. Phase (2000 bis heute) ist gekennzeichnet durch den Begriff »maßgeschneiderte Therapie«. Patienten und ihre Tumoren werden zunehmend differenziert analysiert, um Notwendigkeit und Art einer Therapie zu definieren. Immer genauere Kenntnisse über die Signalkaskaden und Besonderheiten der Tumorzelle tragen einerseits zur individualisierten Behandlungsindikation, andererseits zur Entwicklung neuer Substanzen bei, mit deren Hilfe es gelingt, Tumorzellen noch effektiver und gezielter zu treffen und dabei Nebenwirkungen noch besser zu vermeiden.
Mammakarzinom Seit den Publikationen von Greenspan 1963 und Cooper 1969 ist bekannt, dass das Mammakarzinom zu den chemotherapiesensiblen Neoplasien gehört. Insbesondere die Arbeit von Cooper, der mit einer systemischen Kombinationschemotherapie aus Cyclophosphamid,
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Methotrexat, Fluorouracil, Vincristin und Prednison (CMFVP) bei 60 Patientinnen mit metastasiertem Mammakarzinom eine Remissionsrate von 90% beschrieb, löste eine Flut von Folgeuntersuchungen mit den in der ursprünglichen Fünferkombination verwendeten Medikamenten in allen denkbaren Variationen in unterschiedlicher Dosierung, Sequenz und Applikation aus. Die Ergebnisse dieser Studien führten zu der Erkenntnis, dass eine systemische Chemotherapie das metastasierte Mammakarzinom zwar nur in wenigen Ausnahmefällen heilen, aber dennoch lebensverlängernd wirken kann. Es zeigte sich darüber hinaus, dass Cyclophosphamid, Methotrexat und 5-Fluorouracil (CMF) die wirksamsten Medikamente der ursprünglichen Fünferkombination von Cooper waren. Die Tatsache, dass selbst durch aggressive chemotherapeutische Maßnahmen das metastasierte Mammakarzinom nicht heilbar ist und dass das Schicksal der Patientinnen durch die bereits bei der Operation vorhandene okkulte Mikrometastasierung bestimmt wird, führte dazu, die beim metastasierten Mammakarzinom als wirksam nachgewiesenen Chemotherapiekombinationen adjuvant einzusetzen. Erste Untersuchungen in diesem Sinne wurden von Noer RJ (1962) mit Thiotepa durchgeführt. 1957 wurde das National Cancer Chemotherapy Service Center gegründet mit dem Ziel, klinische Studien durchzuführen, die den Nutzen einer adjuvanten Chemotherapie in der Behandlung des Mamma-, Magen- und Bronchialsowie des kolorektalen Karzinoms untersuchen sollten. Als Kooperationsgruppe wurde The National Surgical Adjuvant Breast Project (NSABP) gegründet, die 1958 die erste klinische Studie zur Bewertung der adjuvanten Therapie des Mammakarzinoms initiierte (Thiotepa vs. Plazebo). Neben einer Verringerung der Lokalrezidivrate zeigte sich eine Verlängerung des Gesamtüberlebens prämenopausaler nodal-positiver Frauen, womit eine erste Evidenz dafür bestand, dass der natürliche Verlauf des Mammakarzinoms durch eine adjuvante Chemotherapie beeinflusst werden kann (Übersicht bei Fisher B et al. 1968). Aus mehreren Gründen (Mangel an neuen bewertbaren Medikamenten, Therapie der fortgeschrittenen Erkrankung im Mittelpunkt, fehlendes Engagement der Chirurgen, fehlende biologische Hypothese) dauerte es fast 10 Jahre bis das NSABP die Weichen für eine neue Studie stellte. 1971 initiierte das NSABP eine Studie (B-05), in der Patientinnen mit positivem Nodalstatus nach radikaler Mastektomie Melphalan (L-PAM) erhielten (⊡ Abb. 26.1). Die 1975 veröf-
⊡ Abb. 26.1. NSABP B05 L-PAM vs. Plazebo: rezidivfreies Überleben und Gesamtüberleben
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Kapitel 26 · Entwicklung der Chemotherapie in der Gynäkologie
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⊡ Abb. 26.2. Bernard Fisher
⊡ Abb. 26.3. Gianni Bonadonna
fentlichten Ergebnisse zeigten wie die erste Studie von 1958, dass eine adjuvante Therapie den natürlichen Verlauf des Mammakarzinoms verändern kann (Fisher B et al. 1975, ⊡ Abb. 26.2).
CMF 1977 veröffentlichten Bonadonna et al. (⊡ Abb. 26.3) erste Ergebnisse einer Polychemotherapie mit Cyclophosphamid, Methotrexat und 5-Fluoruracil (Milan I-CMF) (Bonadonna G et al. 1977). Für das Kollektiv der prämenopausalen Frauen zeigte sich ein deutlicher Effekt sowohl für das rezidivfreie als auch das Gesamtüberleben wie die Langzeitanalyse 1995 bestätigte (Bonadonna G et al. 1995). Diese sog. Bonadonna-Studie war auch die Basis der ersten Studien der 1981 gegründeten German Adjuvant Breast Cancer Group (GABG). Von nun an bestimmten zwei voneinander unabhängige Paradigmen die Therapie des Mammakarzinoms: zum einen die lokoregionäre Tumorkontrolle durch Operation und Radiotherapie, zum anderen die systemische Therapie der Mikrometastasierung.
Anthrazykline Erst 1990 gelang es durch den Einsatz der Anthrazykline, die Effektivität der adjuvanten Chemotherapie weiter zu steigern. Im Rahmen der NSABP-B-15/23-Studien wurde die Gleichwertigkeit einer anthrazyklinhaltigen Chemotherapie (4 Zyklen AC) gegenüber der Standardchemotherapie 6 Zyklen CMF nachgewiesen (Fisher B et al. 1990). Im weiteren Verlauf wurde die Überlegenheit anthrazyklinhaltiger Therapieregime gegenüber einer CMF-Therapie (allerdings nur für die Dreierkombination FAC/FEC und nicht für die Zweierkombination AC/EC) nachgewiesen. In den letzten Jahren wurde anhand weiterer Vergleichsstudien die Überlegenheit anthrazyklinhaltiger Therapieschemata wissenschaftlich bestätigt. In der 2007
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⊡ Abb. 26.4. Craig Henderson
vorgestellten Metaanalyse von Peto et al. wurden insgesamt 15 Studien, die eine anthrazyklinhaltige Chemotherapie mit einer CMF-Therapie verglichen, ausgewertet. Es zeigte sich eine um ca. 6% (bei ER-armen Tumoren) bzw. 4% (bei ER-positiven Tumoren) verringerte Brustkrebsmortalität bei Einsatz einer anthrazyklinhaltigen Therapie gegenüber einer CMF-Therapie ohne einen signifikanten Anstieg der Nicht-Brustkrebsmortalität (Peto R et al. 2007).
Taxane Die Taxane mit den zwei Vertretern, dem Pacliaxel (Taxol) und dem Docetaxel (Taxotere) zählen zu den derzeit wirksamsten Substanzen in der chemotherapeutischen Behandlung des Mammakarzinoms. Anfang der 90er-Jahre wurde die Wirksamkeit der beiden Substanzen als Mono- sowie Kombinationschemotherapie anhand einer Vielzahl randomisierter Studien beim metastasierten Mammakarzinom bewiesen, woraufhin sie auch in der adjuvanten Therapie eingesetzt wurden. Seit Publikation der 1. Studie zum Vergleich einer anthrazyklin- und taxanhaltigen Chemotherapie gegenüber einer taxanfreien, der CALGB 9344 (Henderson et al. 2003), ⊡ Abb. 26.4), sind zwischenzeitlich insgesamt 14 Studien mit einer vergleichbaren Fragestellung publiziert worden (Bria E et al. 2006). Die verschiedenen Metaanalysen dieser Studien kommen übereinstimmend zu einer hochsignifikanten Verbesserung von DFS und Gesamtüberleben mit einer relativen Risikoreduktion von ca. 13-19% (De Laurentiis M et al. 2008, Ferguson T et al. 2007).
Dosisdichte und dosisintensivierte Chemotherapie Bei Hochrisikopatientinnen gilt die dosisdichte Chemotherapie schon seit einiger Zeit als eine hoffnungsvolle Therapieoption, die in ihrer Bedeutung für den Therapieerfolg bereits
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seit mehr als 20 Jahren diskutiert wird. Nach der Norton-Simon-Hypothese ist es für die Wirksamkeit einer Chemotherapie günstiger, die einzelnen Therapiezyklen in kürzeren Abständen zu geben, um das Regenerationsintervall für die malignen Zellen so gering wie möglich zu halten. Möglich wurde diese Therapiestrategie erst durch die Einführung der granulozytenstimulierenden Wachstumsfaktoren, durch die der Leukozytennadir deutlich verkürzt werden kann mit adäquater Erholung des Blutbildes nach 2 Wochen. Die bisher validesten Daten einer rein dosisdichten adjuvanten Chemotherapie wurden mit der CALGB9741-Studie 2003 vorgelegt (Citron ML et al. 2003). In dieser Studie wurden Patientinnen mit einem nodal-positiven Mammakarzinom entweder mit einer Kombinationschemotherapie oder einer sequenziellen Chemotherapie, entweder 3-wöchentlich oder dosisdicht 14-tägig therapiert (2×2-faktorielles Design). Bei einer medianen Nachbeobachtung von 36 Monaten fand sich eine signifikante Risikoreduktion des rezidivfreien Überlebens und des Gesamtüberlebens zugunsten der dosisdichten Therapie, was sich auch nach einer Nachbeobachtung von 5 Jahren bestätigte (Hudis C et al. 2005). Die hohe Wertigkeit dieser Studie liegt vor allem darin, dass die verwendeten Zytostatika jeweils in gleicher Dosierung verwendet wurden und so eine präzise Interpretation des mathematischen Modells der Norton-Simon-Hypothese erlaubt. Eine weitere Studie, die ein konventionelles 3-wöchentliches Schema mit einer dosisdichten (und dosisintensivierten) sequentiellen Therapie bei Patientinnen mit 4 oder mehr befallenen Lymphknoten verglich, war die in Ulm konzipierte sog. ETC-Studie (Moebus VJ et al. 2006). Nach 5 Jahren zeigte sich ein signifikanter Unterschied von 8% im rezidivfreien Überleben und von 5% im Gesamtüberleben. Dies sind die besten bisher publizierten Überlebensergebnisse in dieser Hochrisikosituation.
Hochdosis-Chemotherapie (HDCT) Kaum eine andere onkologische Fragestellung wurde in den letzten Jahren in Fachkreisen, aber auch in der breiten Öffentlichkeit so kontrovers diskutiert wie das Konzept der Hochdosis-Chemotherapie mit autologer Stammzelltransplantation bei soliden Tumoren und insbesondere beim Mammakarzinom. Dies ist z. T. auf die extrem hohen Erwartungen, die mit der Hochdosis-Chemotherapie verbunden wurden, zurückzuführen. So hofften die Verfechter des Konzepts anfangs, dass selbst im metastasierten Stadium durch eine einmalige Hochdosis-Chemotherapie eine langfristige Krankheitskontrolle oder sogar eine Kuration ermöglicht werden könnte. Kritiker beanstandeten hingegen, dass die HDCT eine hochmorbidisierende Therapiemodalität ohne signifikanten Überlebensvorteil für die Patientinnen darstelle. Nichtsdestotrotz erhielten in den 90ern Tausende von Patientinnen weltweit eine HDCT, die Mehrzahl davon außerhalb klinischer Studien. Das Mammakarzinom wurde dadurch zur häufigsten Indikation für eine Transplantation, ohne dass ausreichende Daten vorlagen, die den Nachweis eines Überlebensvorteils erbrachten. Nach Jahren, in denen von manchen die HDCT als Standard für Hochrisikopatientinnen mit primärem oder metastasiertem Mammakarzinom angesehen wurde, hat sich seit Ende der 90er zunehmend ein Stimmungswandel durchgesetzt, nicht zuletzt durch die Unregelmäßigkeiten und Manipulationsvorwürfe gegen den südafrikanischen Onkologen Bezwoda. Tatsache ist, dass die HDCT weder in der adjuvanten noch in der palliativen Situation die hohen Erwartungen erfüllen konnte. In bisher 11 publizierten randomisierten Studien zur Effektivität der HDCT mit mehr als 100 rekrutierten Patientinnen konnte bisher nur in einer
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Studie ein signifikanter Überlebensvorteil erzielt werden (Nitz UA et al. 2005), so dass die HDCT derzeit keine sinnvolle Therapieoption darstellt.
Neoadjuvante Chemotherapie Die Idee, eine Chemotherapie vor einem operativen Eingriff durchzuführen ist nicht neu. Sehr schnell nach der Einführung wirksamer Chemotherapeutika beim Mammakarzinom wurde diese Methode eingesetzt, um inoperable, lokal fortgeschrittene und inflammatorische Karzinome in einen operablen Zustand zu bringen (Hortobagyi GM et al. 1988). Trotz der Erfolge beim inflammatorischen Mammakarzinom war lange Zeit die präoperative Chemotherapie beim operablen Mammakarzinom sehr umstritten. Kritiker argumentierten, dass durch die vermehrte Tumorlast am Anfang der Therapie die systemische Wirkung verringert sein könnte. Außerdem würde die Entfernung des Primarius verzögert. Die Befürworter führten dagegen ins Feld, dass durch den primären Einsatz der Chemotherapie die systemische Erkrankungskomponente gleichzeitig mit dem Primärtumor und damit eher behandelt wird. Die erste größere, randomisierte und damit richtungsweisende Studie zur präoperativen Chemotherapie bei Patientinnen mit nichtinflammatorischem Mammakarzinom war die NSABP-B-18-Studie (Fisher B et al. 1990). Nach Randomisierung erhielten die Patientinnen je nach Studienarm die gleiche Therapie prä- oder postoperativ (4 Zyklen AC). Das wesentliche Ergebnis war, dass die Überlebensraten (Rezidivfreiheit, Metastasenfreiheit und Gesamtüberleben) in beiden Therapiearmen identisch waren und dennoch die Rate an brusterhaltenden Operationen unter primär systemischer Therapie erhöht werden konnte. Es wurde außerdem gezeigt, dass Patientinnen mit guter Remission (insbesondere mit pathologischer Komplettremission) deutlich bessere Überlebensraten haben als Patientinnen mit schlechter Remission oder Progression unter Therapie. Dies führte zu der Überlegung, dass eine Erhöhung der kompletten Remissionsrate mit einer Verbesserung des Überlebens verbunden sein könnte, weshalb alle weiteren Studien das Ziel verfolgten, die Rate kompletter Remissionen weiter zu steigern. Zu erwähnen sind hier die Studien der German Breast Group (GBG) und der Arbeitsgemeinschaft Gynäkologische Onkologie (AGO) in der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) und der Deutschen Krebsgesellschaft, in denen die Rolle der neoadjuvanten Chemotherapie bei Frauen mit primärem Mammakarzinom umfassend untersucht wurden. Aus den vorliegenden Daten ergeben sich derzeit die höchsten Ansprechraten für eine sequenzielle anthrazyklinhaltige Chemotherapie gefolgt von einem Taxan oder die Kombination aller drei Substanzen. Buzdar et al. zeigten 2004 in einer Phase-II-Studie als erste, dass sich durch die Hinzunahme von Trastuzumab die pCR deutlich steigern lässt. Weitere neue Substanzen wie z. B. Lapatinib, Bevacizumab und andere werden im Moment untersucht und lassen hoffen, die pCR und damit das Gesamtüberleben weiter zu steigern.
Trastuzumab 1982 entdeckte die Gruppe um Weinberg et al. in Boston bei Transfektionsexperimenten mit Glioblastomen das Her-2/neu-Gen. 1984 klonierten Ullrich et al. in Kalifornien das Gen. Unmittelbar danach führten Slamon et al. 1987 die ersten epidemiologischen Untersuchungen an Mammakarzinomen durch. Ein weiterer Meilenstein war dann die Entwicklung
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eines humanisierten Antikörpers durch Carter et al. 1992 bei der Firma Genentech in San Francisco. Erste klinische Studien mit dem Antikörper zeigten für metastasierte Patientinnen mit nachgewiesener Her-2-Überexpression einen deutlichen Überlebensvorteil, so dass im August 2000 der erste humanisierte Antikörper Trastuzumab mit dem Handelsnamen Herceptin als Monotherapie und in Kombination mit einer Chemotherapie für die Behandlung von Patientinnen mit einem metastasierten Mammakarzinom in Europa zugelassen wurde. In der Folge wurden 2 große internationale (HERA, BCIRG 006) und 2 US-amerikanische Zulassungsstudien (NSABP B-31, NCCTG N9831) neben kleineren Studien initiiert, die den Stellenwert einer Trastuzumab-Therapie in der adjuvanten Therapie untersuchten. Basierend auf deren überwältigenden Ergebnisse (bis zu 52%ige Risikoreduktion für das Auftreten eines Rezidivs!) ist die adjuvante Trastuzumab-Therapie seit Mai 2006 zugelassen und besitzt mittlerweile einen immensen Stellenwert in der Therapie des Her-2/neu-positiven Mammakarzinoms.
Andere zielgerichtete Therapien Spätestens seit dem Durchbruch der Trastuzumab-Therapie in der adjuvanten Situation hofft man auf weitere Quantensprünge des klinischen Fortschritts durch die Implementierung spezifischer zielgerichteter molekularer Therapien. Lapatinib ist ein niedermolekularer Hemmstoff, ein sog. small molecule inhibitor, der selektiv die intrazelluläre Tyrosinkinase-Komponente des epidermalen Wachstumfaktorrezeptors HER-2 sowie des EGFR hemmt. Entsprechend der Studienlage ist Lapatinib (Tykerb ) seit März 2007 in Kombination mit Capecitabine für Patientinnen mit Her-2/ neu-positivem metastasiertem Mammakarzinom nach Trastuzumab-Versagen zugelassen (Geyer CE et al. 2006). Mit dem 2007 zugelassenen Angiogenese-Hemmer Bevacizumab steht erstmals auch für metastasierte Patientinnen mit HER2-negativem Mammakarzinom eine zielgerichtete Substanz zur Verfügung. Zahlreiche weitere monoklonale Antikörper und multifunktionale Tyrosinkinaseinhibitoren befinden sich derzeit in der klinischen Entwicklung. (Miller K et al. 2007).
Ovarialkarzinom Ende der 50er-Jahre wurde für Alkylanzien eine Effektivität beim Ovarialkarzinom nachgewiesen, die bis Mitte der 70er-Jahre als Standardsubstanzen galten. Erste geringe Verbesserungen der Therapieergebnisse wurden durch den Einsatz von Kombinationstherapien unter Einschluss von Anthrazyklinen erreicht. Tatsächlich hat aber erst die Einführung von Platin in die Chemotherapie des Ovarialkarzinoms zu einer erheblichen Verbesserung der Behandlungsergebnisse geführt. Erster Vertreter dieser neuen Zytostatikaklasse war Cisplatin. Im Rahmen von Metaanalysen randomisierter Studien wurde nachgewiesen, dass cisplatinhaltige Kombinationen dem damaligen Standard (Alkylanz-Anthrazyklin-Kombinationen) deutlich überlegen waren. Damit bestand seit Mitte der 80er-Jahre der neue Standard in der Behandlung des fortgeschrittenen Ovarialkarzinoms aus cisplatinhaltigen Kombinationen. Eine verbesserte Verträglichkeit Platin-haltiger Kombinationen wurde durch die Einführung von Carboplatin erreicht, das verglichen mit Cisplatin ein geringeres
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⊡ Abb. 26.5. Andreas Du Bois
emetogenes Potenzial sowie weniger Nephro-, Oto- und Neurotoxizitäten, dafür aber mehr Myelotoxizität aufweist. In verschiedenen prospektiv randomisierten Studie wurde gezeigt, dass die Kombination Carboplatin-Cyclophosphamid äquieffektiv zu der damaligen Standardtherapie Cisplatin-Cyclophosphamid ist, so dass die Kombination CarboplatinCyclophosphamid als alternativer Standard für die Primärtherapie des fortgeschrittenen Ovarialkarzinoms etabliert wurde (z. B. Guerny et al. 1990, Meerpohl et al. 1997). Anfang der 90er-Jahre wurden die Taxane mit Paclitaxel (Taxol) als ihrem ersten Vertreter in die Therapie des Ovarialkarzinoms integriert. Erste Studien bei Platin-vorbehandelten Ovarialkarzinomen hatten erstaunlich gute Ergebnisse gezeigt, weshalb Paclitaxel auch in der Primärtherapie in Kombination mit Cisplatin untersucht wurde. In der GOG-111-Studie wurde die Standardkombination Cisplatin-Cyclophosphamid mit einer neuen Kombination aus Cisplatin 75 mg/m2 und Paclitaxel 135 mg/m2 als 24h-Infusion verglichen. Die taxanhaltige Platinkombination war dem alten Standard sowohl bezüglich der Remissionsrate als auch bezüglich des progressionsfreien Intervalls und des medianen Gesamtüberlebens signifikant überlegen. Der Zugewinn des medianen Gesamtüberlebens betrug mehr als 1 Jahr (38 Monate vs. 24 Monate). Auch nach 5 Jahren zeigte sich ein signifikanter Überlebensvorteil zugunsten des experimentellen Arms (27% vs. 16%, McGuire et al. 1996). In dem GOG-Folgeprotokoll wurde die Kombination Cisplatin 75 mg/m2–Paclitaxel 175 mg/m2 als 3h-Protokoll geprüft, und auch hier zeigte sich ein signifikanter Vorteil für die PlatinPlaclitaxel-Kombination (Piccart et al. 2000). Die höhere Paclitaxel-Dosis war jedoch mit einer deutlichen Steigerung der peripheren Neurotoxizität assoziiert, weshalb es notwendig wurde, besser verträgliche Platin–Taxan– Kombinationen zu entwickeln. Als mögliche Therapiealternative bot sich die Möglichkeit an, Cisplatin durch das weniger toxische Carboplatin zu ersetzen. Gemessen an den Remissionsraten und dem progressionsfreien und Gesamtüberleben fanden sich in allen hierzu durchgeführten Studien keine Unterschiede zwischen den beiden Therapiearmen, wobei Carboplatin–Paclitaxel ein signifikant geringeres neurotoxisches Potenzial als Cisplatin–Paclitaxel aufweist. Als Standardregime gilt daher seitdem die Kombination Carboplatin AUC 5 plus Paclitaxel 175 mg/m2 über 3 h für insgesamt 6 Zyklen. Die meisten der derzeit weltweit durchgeführten Studien prüfen, ob durch Hinzunahme weiterer, möglichst nicht kreuzresistenter Zytostatika in die Primärtherapie bessere Ergebnisse erzielt werden können. Solche
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Substanzen können entweder im Rahmen einer Dreierkombination zu Carboplatin–Paclitaxel addiert werden oder in Form einer Sequenztherapie eingesetzt werden. Bisherige Ergebnisse zeigten allerdings weder für Anthrazykline (Ovar-5-Sudie) noch für Topotecan (Ovar-7-Studie) noch für Gemcitabine (Ovar-9-Studie) einen Vorteil hinsichtlich progressionsfreier Zeit und Gesamtüberleben. Derzeit erhofft man sich durch Implementierung tumorbiologischer Therapieansätze, wie z. B. dem VEGF-Antikörper Bevacizumab (Ovar-11-Studie), Substanzen, die mit dem EGF-Rezeptor-Signalweg interferieren oder der Vakzinierung mit antiidiotypischen Antikörpern eine Steigerung der initialen Ansprechraten in der Primärtherapie, aber auch Fortschritte in der Therapie Platin-resistenter Karzinome (Kreienberg, du Bois et al. 2009 , ⊡ Abb. 26.5).
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Zervixkarzinom Bis Mitte der 70er-Jahre spielte die Chemotherapie des Zervixkarzinoms im gesamten therapeutischen Konzept nur eine Rolle am Rande. Noch bis in die 90er-Jahre beschränkten sich die chemotherapeutischen Bemühungen auf operativ bzw. radiologisch ausbehandelte Patientinnen mit rezidiviertem oder metastasiertem Zervixkarzinom. Die höchsten Ansprechraten (35-45%) wurden durch den Einsatz cisplatin- oder bleomycinhaltiger Kombinationschemotherapieschemata erreicht. Am 22.02.1999 veröffentlichte das National Cancer Institute der USA ein Clinical Announcement mit dem folgenden Wortlaut: »Strong consideration should be given to the incorporation of concurrent platin based chemotherapy in women who require radiation-therapy for treatment of cervical cancer«. Dieses Clinical Announcement stützte sich auf 5 große, gut durchgeführte randomisierte Studien, die eine kombinierte Radiochemotherapie als primäre Behandlungsmodalität bei Patientinnen mit Stadium FIGO IB2-IVA und als adjuvante Behandlungsmodalität nach radikaler Operation im Stadium IB2-IIA untersucht hatten (Keys et al. 1999, Rose et al. 1999, Morris et al. 1999, Withney et al. 1999, Peters et al. 2000). In allen 5 Studien, die zusätzlich zur Radiatio eine Platin-basierte Kombinations- oder Monotherapie appliziert hatten, konnte das Risiko, an dem Zervixkarzinom zu versterben, um 30-50% im Vergleich zur Kontrollgruppe gesenkt werden. Auf der Basis dieser Studien ist die simultane Applikation von Cisplatin zur Radiotherapie für alle Patientinnen mit kurativ intendierter Bestrahlung zur Standardtherapie geworden. 2005 wurde in der GOG-179-Studie für die Kombination Cisplatin-Topotecan (vs. Cisplatin-Monotherapie) an Patientinnen mit fortgeschrittenem oder rezidiviertem Zervixkarzinom erstmals ein signifikanter Überlebensvorteil (bei guter Lebensqualität) für eine Polychemotherapie nachgewiesen (Long HJ et al. 2005).
Entwicklung der Studiengruppen in Deutschland Auf dem 15. Deutschen Krebskongress 1981 in München wurde die GABG gegründet. GABG stand damals noch für Gynecological Adjuvant Breast Cancer Group, ab Ende der 80er-Jahre dann für German Adjuvant Breast Cancer Group. Gründungsväter waren die Gynäkologen Maas und Jonat, Hamburg sowie Kubli und Kaufmann, Heidelberg. Die Gruppe wurde kurz darauf durch Eiermann, München, Hilfrich, Hannover, Kreienberg, Mainz und Schumacher, Freiburg, erweitert (⊡ Abb.26. 6).
509 Zervixkarzinom
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Im April 2003 hat sich die GABG neu strukturiert und nennt sich seither GBG (German Breast Group). Von G. v. Minckwitz wurde die GBG Forschungs GmbH als professionelles Forschungsinstitut gegründet, um der GBG eine Plattform für die Durchführung akademisch orientierter klinischer Studien zur Verfügung zu stellen. Die GABG führte die erste randomisierte Mammakarzinomstudie zu Beginn der 80erJahre unter dem Namen GABG I durch (6× CMF bzw. 8× AC vs. Tam). Es folgten die GABG-II- (nihil vs. Tam im Low-risk-Kollektiv) und GABG-III- (3×CMF vs. 6×CMF) Studien. Ziel der GABG-IV-Studien Anfang der 90er war es, mit neuen Konzepten zur weiteren Verbesserung bisheriger Therapiekonzepte beim primären Mammakarzinom und zur Reduktion der operativen, systemischen und radiologischen Radikalität sowie zur Verbesserung der Lebensqualität beizutragen. Mit den ab 1998 initiierten Studien der GABG/GBG hat ein Paradigmenwechsel zu den primär systemischen Therapiestudien stattgefunden. Die präoperative oder auch neoadjuvant genannte Chemotherapie der GEPARDO/GEPARDUO/GEPARTRIO/GEPARQUATTRO/ GEPARQUINTO-Studien hat eine neue Dimension der Behandlung eingeführt und fest im Konzept der Behandlung des Mammakarzinoms etabliert. Durch die Professionalisierung der Struktur der GABG/GBG wurden mittlerweile mehr als 25.000 Brustkrebspatientinnen aus Deutschland in über 40 Studien behandelt. Die GBG Forschungs GmbH zählt derzeit zu den größten kooperativen Studiengruppen zum Mammakarzinom. Es bestehen Kooperationen mit einer Vielzahl anderer nationaler (AGO, NOGGO, WSG) als auch internationaler (ABCSG, BCIRG, BIG, GEICAM, IBCSG) Studiengruppen. 1993 wurde von du Bois, Freiburg/Wiesbaden die AGO Studiengruppe Ovarialkarzinom (AGO-OVAR) gegründet. Zuvor war es in Deutschland nicht gelungen, eine vergleichbare international akzeptierte große und erfolgreiche Studiengruppe im Bereich der gynäkologischen Onkologie zu etablieren. Diese Studiengruppe hat es durch den unermüdlichen Einsatz von du Bois und der gesamten Studiengruppe geschafft, bis heute 324 Zentren zu vereinigen, die an zumindest einem Projekt mitgearbeitet haben. Mit über 600 rekrutierten Patientinnen pro Jahr hat die AGO-OVAR eine Rekrutierungsgeschwindigkeit erreicht, die es erlaubt, Fragestellungen schnell und mit adäquater statistischer Power zu bearbeiten.
⊡ Abb. 26.6. Der Vorstand v.l.n.r: M. Schumacher, A.C. Diehl, M. Kaufmann, M. Kreienberg, H. Maas, W. Jonat, R. Eiermann, J. Hilfrich
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Kapitel 26 · Entwicklung der Chemotherapie in der Gynäkologie
Dies und die Qualität der Studiendurchführung hat dazu geführt, dass die AGO-OVAR in den internationalen Netzwerken in der gynäkologische Onkologie ein akzeptierter und geschätzter Kooperationspartner ist. Die Ergebnisse der Studien der AGO-OVAR haben den weltweit akzeptierten Standard in der Therapie des Ovarialkarzinoms mit definiert: Die AGO-OVAR hat als erste Studiengruppe die Primärtherapie Carboplatin-Paclitaxel etabliert (OVAR 3-Studie), hat die Eintages-Prämedikation für Paclitaxel entwickelt, hat die Dosisberechnung nach AUC in Deutschland flächendeckend eingeführt, sowie 2003 den Standard der Therapie des rezidivierenden Ovarialkarzinoms neu definiert. Diese Ergebnisse haben die Verträglichkeit und Effektivität der Therapie von Patientinnen mit Ovarialkarzinom nachhaltig verbessert. An dieser Stelle sei noch einmal besonders vermerkt, dass die gynäkologischen Onkologen bereits in den 70er-Jahren sowohl beim Mamma- als auch beim Ovarialkarzinom erkannt haben, dass die Teilnahme an prospektiven multizentrischen Therapiestudien unerlässlich ist. Zu Beginn nahmen sie an internationalen Studien teil (SAKK u. a. m.), dann entwickelten sich zunehmend eigene Studienaktivitäten mit eigenen Konzepten auf internationalem Niveau. Durch die Professionalisierung der Studiengruppe GABG/GBG und der Studiengruppe Ovar der AGO waren die gynäkologischen Onkologen insbesondere durch die drastische Erhöhung der Fallzahlen in der Lage, auch mit großen internationalen Studiengruppen zu konkurrieren. Dies hat zu einer erstaunlichen Akzeptanz deutscher Studien im Ausland geführt und sich in eingeladenen Vorträgen auf dem ASCO und in San Antonio niedergeschlagen, was vorher undenkbar war. Selbstverständlich haben diese Studien und deren Ergebnisse auch das Interesse der forschenden Pharmaindustrie an diesen Studiengruppen geweckt, zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit geführt und der gynäkologischen Onkologie auch bei den Nachbardisziplinen hohe Anerkennung eingebracht.
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Kapitel 26 · Entwicklung der Chemotherapie in der Gynäkologie
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Gynäkologische Strahlentherapie: geschichtliche Entwicklung und wissenschaftliche Ergebnisse Jens Bahnsen, Hans-Joachim Frischbier
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Kapitel 27 · Gynäkologische Strahlentherapie: geschichtliche Entwicklung
Einleitung
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Schon bald nach dem ersten Bericht über eine erfolgreiche Radiumtherapie 1903 und eine perkutane Röntgenbestrahlung 1905 bei Patientinnen mit Zervixkarzinom wurden diese neuen Therapieverfahren an mehreren Kliniken eingesetzt und ihre günstigen Ergebnisse bestätigt. Diese Erfahrungen führten A. Döderlein 1912 zur Gründung der ersten gynäkologischen Strahlenabteilung an der I. Frauenklinik München. Seine klinischen Ergebnisse mit einer ausschließlichen Radiumtherapie bei »operablen« Fällen mit Kollumkarzinom veranlassten ihn zu seinem sensationellen Beitrag auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie in Halle im Jahre 1913, in dem er dieser Therapieform gegenüber der Operation nach Wertheim den Vorzug gab. Dieses Datum kann man als die Geburtsstunde der Gynäkologischen Strahlentherapie ansehen. Bedeutungsvoll ist dieses Datum darüber hinaus für die gesamte klinische und wissenschaftliche Radiotherapie der verschiedenen anderen Tumorentitäten, weil durch die enge klinische Verknüpfung von Gynäkologie und Strahlentherapie bei der Behandlung der weiblichen Genitalkarzinome die Entwicklung zu weiteren radiologischen Therapieformen vorangetrieben wurde. In dieser Phase waren es einzelne Forscherpersönlichkeiten, die grundlegende Techniken und Prinzipien zur Strahlentherapie entwickelten, und gynäkologische Ordinarien, die ihren Forschungsschwerpunkt in der Strahlentherapie sahen. Durch ihren Einsatz wurde die Voraussetzung dazu geschaffen, dass eine kombinierte Radium-Röntgentherapie bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts als Standardverfahren bei der Behandlung verschiedener gynäkologischer Karzinome galt. In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts wurde durch die apparative Entwicklung von Bestrahlungsgeräten zur Megavolttherapie in Form der Telekobalttherapie und ultraharten Röntgenstrahlen und schnellen Elektronen die Möglichkeit geschaffen, durch höhere und trotzdem verträgliche Strahlendosen die Indikation gegenüber den operativen Verfahren zu erweitern. In dieser Zeit wurden an mehreren Universitäts-Frauenkliniken spezielle Abteilungen für Radiologie geschaffen, deren verantwortlichen Ärzte aber über eine gründliche radiologische Fachausbildung verfügen mussten. Dabei hatte ein Teil der wissenschaftlichen Assistenten der Frauenkliniken die Gelegenheit, die Strahlentherapie gynäkologischer Karzinome zu erlernen und sich wissenschaftlich durch klinische oder experimentelle Strahlenforschung zu profilieren. In diese Zeit fällt auch die Entwicklung der Afterloadingtherapie, die zum Ersatz der intrakavitären Radiumtherapie führte. In den beiden letzten Jahrzehnten zeigte sich aber, dass sich der Einsatz der Megavolttherapie nicht als Wunderwaffe im Kampf gegen das Genitalkarzinom erwies. Hingegen konnte aus verschiedenen Gründen die Radikalität der operativen Behandlungsverfahren immer weiter erhöht werden, wodurch die Indikationsbreite zur Strahlentherapie eingeschränkt wurde. Der heute zusätzlich mögliche Einsatz der Chemo- und Hormontherapie führt zu einer multimodalen Therapie der Patientinnen mit Genitalkarzinom, wenn man ebenfalls das Mammakarzinom mit einschließt. In diesem Beitrag soll aufgezeigt werden, welche unterschiedlichen Bestrahlungsmethoden in den verschiedenen Entwicklungsphasen der gynäkologischen Strahlentherapie erprobt und welche wissenschaftlichen Erkenntnisse für die gesamte Radiotherapie dadurch erzielt wurden.
515 Konventionelle Radium-Röntgentherapie
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Konventionelle Radium-Röntgentherapie In der Strahlenabteilung der I. Frauenklinik in München lag zu Beginn der Entwicklung zur späteren Münchener Methode der Schwerpunkt bei Patientinnen mit Kollumkarzinom auf der lokalen Applikation von Radium und Mesothorium. Bei Patientinnen mit »operablen« Stadien wurden Heilungsergebnisse von 40-70% (1931-1933) erzielt. Sehr schnell erkannte man aber, dass in Fällen mit parametranem Tumorbefall eine lokale Radiumtherapie trotz hoher Dosierung nicht ausreichte. So bestand in einer zweiten Entwicklungsphase die Therapie des Kollumkarzinoms grundsätzlich in einer kombinierten Anwendung einer perkutanen Röntgenbestrahlung mit einer einmaligen Radiumeinlage. Mit der Klinikübernahme durch H. Eymer wurde in München nach der Heidelberger Methode bestrahlt, die in einmaliger Radiumapplikation in Form von länglichen Uterusapplikatoren und rundlichen Portioplatten bestand. Die Perkutanbestrahlung erfolgte fraktioniert über 20 Sitzungen über ein abdominelles und ein dorsales Großfeld, wobei die Beckenmitte durch eine Blende ausgespart wurde. Durch enge klinische Überwachung und intensive Kontrolluntersuchungen der bestrahlten Patientinnen wurde schon bald erkannt, dass durch beträchtliche Distanzunterschiede zwischen den Radiumapplikatoren und der Blase und dem Rektum trotz Tamponierung an diesen Organen ernsthafte Komplikationen auftraten, durch die die Therapieergebnisse erheblich beeinträchtigt wurden. So machte man die Erfahrung, dass durch eine Fraktionierung der Radiumtherapie auf 3 Applikationen schwere Nebenwirkungen an Blase und Rektum reduziert werden konnten. Es ist das Verdienst von Neeff (1941), der nach dem Tod von F. Voltz 1938 die Leitung des Strahleninstituts an der I. Frauenklink in München übernahm, die Toleranzdosen für Blase und Rektum mit 6.ooo r ermittelt zu haben. Aber erst durch die Entwicklung einer direkten Radiumdosimetrie durch ein Momentan-Dosimeter konnte Ries unter Berücksichtigung der Toleranzdosen Fistelbildungen vermeiden. So wurden in München ab 1940 durch Übergang zur Radiumfraktionierung und Erhöhung der Dosis der Perkutanbestrahlung höhere Heilungsziffern auch in den Stadien III und IV beim Kollumkarzinom erzielt. Die relativen Heilungsziffern der zwischen 1940 und 1952 behandelten Patientinnen betrugen im Stadium I 73,8%, im Stadium II 59,6%, im Stadium III 36,6% und im Stadium IV 5,5%. Die absolute Heilungsziffer lag bei 48,6% (Ries und Breitner, 1959). An der Göttinger Universitäts-Frauenklinik wurde unter H. Martius und R. K. Kepp (1952) bei der Strahlentherapie des Kollumkarzinoms neben der üblichen Radiumtherapie und einer »gering dosierten perkutanen Großraum-Bestrahlung« eine intravaginale Hohlanodenrohrbestrahlung vorgenommen. Mit speziell hierfür entwickelten Röntgenapparaturen mit Hohlanodenröhren und unterschiedlich geformten Gerad- oder Schrägfiltern wurde diese Bestrahlungsform sowohl für den Primärtumor als besonders auch für den parametranen oder Beckenwandbefund eingesetzt. Kepp gibt an, dass bei »sorgfältiger Handhabung« der intravaginalen Bestrahlung der Parametrien die Fistelfrequenz nicht gesteigert ist. Eine spezielle Bestrahlungsmethode für weit fortgeschrittene Fälle von Kollumkarzinom wurde an der Universitäts-Frauenklinik Leipzig unter R. Schröder und H. Kirchhoff (1947) durchgeführt. Es ist eine hochdosierte, fraktionierte Röntgen-Großfelderbestrahlung, bei der auf eine lokale Radiumapplikation verzichtet wird. Es werden »beachtenswerte Heilungsergebnisse« angegeben. Über die Ergebnisse einer elektiven Therapie durch Operation und Bestrahlung an der Universitäts-Frauenklinik Heidelberg berichteten H. Runge und H. Wimhöfer 1949. In den
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Kapitel 27 · Gynäkologische Strahlentherapie: geschichtliche Entwicklung
Jahren 1936-1941 erzielten sie bei 396 Patientinnen mit Kollumkarzinom eine absolute Heilungsziffer von 44,4%. In Bezug auf Technik und Dosierung der Radiumtherapie blieb bei der Primärtherapie des Kollumkarzinoms das Verfahren über mehrere Jahrzehnte weitgehend standardisiert: Die Applikatoren bestanden meist aus einer Kombination von Zervixstift und Portioplatte oder Kraterfiltern; die Dosisangaben erfolgten in Milligramm-Element-Stunden (mgEh). Obwohl seit Ende der 40er-Jahre des vorigen Jahrhunderts technische Möglichkeiten zur direkten Dosisbestimmung bei der Radiumapplikation durch ein Radium-MomentanDosimeter bestanden (Ries und Breitner 1959), blieben diese groben Dosisangaben bis weit in die 60er-Jahre üblich. Erst der von Frischkorn 1964 erstellte Göttinger Radium-Isodosenatlas bewirkte eine exaktere Angabe über die räumliche effektive Dosisverteilung. Für viele Trägerkombinationen hat Frischkorn die Isodosen, die den Wert »R pro Stunde« angeben, ausgemessen (⊡ Abb. 27.1). Er forderte vor Festlegung der Bestrahlungsdauer eine obligate Strahlenmessung in Blase und Darm. Eine weitere Verbesserung der Ermittlung der Dosisverteilung und damit Vermeidung von Komplikationen an den beiden Nachbarorganen konnte durch die von Spechter (1962) geforderte regelmäßige Lagekontrolle des Radiumträgers durch Röntgenaufnahmen erreicht werden. Wesentlich vielfältiger entwickelte sich die zusätzliche Perkutanbestrahlung, die durch den steilen Dosisabfall im Körpergewebe bei der Strahlung von 200 kV keineswegs ideal war und zu lokalen Reaktionen an der Haut oder im Körperinnern an Blase und Darm führte. Einen Ausweg fand man in der Erprobung einer Bewegungsbestrahlung, in der auch von gynäkologischer Seite wichtige Anstöße und Anregungen zur Weiterentwicklung gegeben wurden. So wurde von Kepp und Baeumer (1953) erstmals eine technische Methode zu einer Rotationsbestrahlung in der Gynäkologie erprobt. Eine neuentwickelte Pendel- oder Pendelkonvergenz-Bestrahlung fand in der Perkutanbestrahlung gynäkologischer Karzinome schnell Verbreitung (Dibbelt 1954, Schmermund und Franke 1956, Breit und Keller 1959). Umfangreiche Messungen wurden von Spechter (1957) mit einer Pendelkonvergenzbestrahlung (⊡ Abb. 27.2) durchgeführt, wodurch die übliche Vierfelder-Stehfeld-Bestrahlung weitgehend abgelöst und in der gynäkologischen Strahlentherapie routinemäßig eingesetzt wurde.
⊡ Abb. 27.1. Radium-Stift-Platte-Kombination zur Behandlung von Zervixkarzinomen. Darstellung der Isodosen eines Röhrenfilters mit 90 mg Radium und eines Rundfilters mit 70 mg Radium (Frischkorn, 1964)
517 Konventionelle Radium-Röntgentherapie
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Bis zum Übergang auf die Megavolttherapie blieben die Techniken der Bewegungsbestrahlung im Einsatz, weil auf diese Weise erstmalig ausreichend hohe Herddosen an der Beckenwand möglich wurden (Ries und Breitner 1959). Ein weiterer Versuch zur Erhöhung der Herddosis ohne Zunahme von Komplikationen war ein Einsatz einer von Frischkorn (1960) angegebenen Siebtherapie. Einen entscheidenden Beitrag zur Verbesserung der Behandlungsergebnisse beim Kollumkarzinom in den einzelnen Therapiezentren leistete die von J. Heyman et al. inaugurierte Zusammenstellung und Publikation der Behandlungsergebnisse im Annual report on the results of treatment in gynecological cancer. Unter der Voraussetzung einer einheitlichen internationalen Stadieneinteilung konnten alle Behandlungszentren ihre Therapieergebnisse miteinander vergleichen. Der erste Band des Annual Reports erschien 1937 und enthielt die Behandlungsdaten seit 1913 von 6 international renommierten Zentren. Seit 1973 erscheinen die Zusammenstellungen in 3-jährigem Abstand zum Zeitpunkt der FIGO-Weltkongresse. Durch diese jährliche Zusammenstellung der Behandlungsergebnisse beim Uteruskarzinom wurde erstmalig eine Qualitätssicherung entwickelt, weil jedes Behandlungszentrum durch notwendige, regelmäßige Kontrolluntersuchungen bei Therapieänderungen Abweichungen von bisher erzielten Heilungsraten registrieren konnte. Bedeutungsvoll für die Entwicklung der verschiedenen Behandlungsmethoden waren auch die Angaben im Annual Report zur Differenzierung von Operation gegenüber Strahlentherapie. So wurden im 10. Band des Annual Report (1955) die Ergebnisse der Institutionen, die im Stadium I operieren, denen, die nur bestrahlen, gegenübergestellt. Nach Operation wird im Stadium I bei 1.179 Patientinnen eine relative Heilungsziffer von 62,9% und im Stadium II bei 2.047 Patientinnen von 42,9% erreicht. Nach ausschließlicher Strahlentherapie betragen die Ergebnisse bei 1.979 Patientinnen im Stadium I 65,9% und bei 4.208 Patientinnen im Stadium II 47,4%. Die primäre Strahlentherapie erwies sich damals sogar in frühen Tumorstadien gegenüber der Operation als überlegen. Um die Ergebnisse der primären Radikaloperation weiter zu verbessern, wurde in vielen Zentren eine postoperative Bestrahlung durchgeführt, deren Wert von anderen angezweifelt wurde. Hierzu führte Baltzer (1978) eine nicht randomisierte, retrospektive, multivariable Analyse der Ergebnisse im deutschsprachigen Raum durch. Er verglich die 5-Jahres-Überle-
⊡ Abb. 27.2. Bestrahlung der Beckenwand unter Aussparung der Beckenmitte. Isodosen einer biaxialen 200-kV-Pendelkonvergenzbestrahlung. Achsabstand 8 cm, Feldgröße 3,5×7 cm (Spechter 1957)
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Kapitel 27 · Gynäkologische Strahlentherapie: geschichtliche Entwicklung
bensraten von über 500 Fällen mit radikal operierten Zervixkarzinomen der Stadien I und II mit und ohne postoperative Strahlentherapie. Der Unterschied war statistisch nicht signifikant, wenn auch, eine 2-5%ige Verbesserung durch eine zusätzliche Nachbestrahlung erzielt werden konnte (⊡ Abb. 27.3). Friedberg und Herzog (1988) heben mit Recht hervor, dass sich ihre Interpretation insofern »problematisch« gestaltet, »...,da die Indikation zur Nachbestrahlung durch die histopathologische Diagnose gestellt wird«. Sie verweisen auch auf einen »schwer einschätzbaren Faktor« der unterschiedlichen Radikalität. Auch die damalige Strahlentherapie muss kritisch bewertet werden. Es kamen noch konventionelle Röntgenbestrahlungen zur Anwendung. Die Strahlendosen waren z. T. zu niedrig, Zielvolumendefinition und Bestrahlungstechnik unvollkommen. Auch bei der Strahlenbehandlung des Korpuskarzinoms blieb in der konventionellen Ära die Frage unbeantwortet, ob eine postoperative Bestrahlung von Nutzen für die Patientin ist. Da das Korpuskarzinom die Grenzen des Uterus erst relativ spät überschreitet und weiterhin das Adenokarzinom relativ strahlenresistent ist, wurde die Indikation zur Nachbestrahlung wesentlich restriktiver gestellt. Großzügiger erfolgte hingegen eine postoperative Radiumeinlage ans Scheidenende zur Verhinderung von Scheidenstumpf-Rezidiven. Bei der primären Radiotherapie des Korpuskarzinoms wurden zur Erfassung des gesamten Uteruskavums verschiedenförmige Einzelträger verwandt. In Deutschland waren 2 Verfahren üblich: ▬ Bei der von Ries (Ries und Breitner, 1959) entwickelten »Münchner Packmethode« fanden Aluminiumeier Verwendung. Es erfolgten 3 Einlagen, bei denen der Zervikalkanal bis auf Hegar 14 dilatiert werden musste. ▬ Bei der »Göttinger Packmethode« wurden kürzere längliche Einzelträger benutzt, von denen 10-15 Träger benötigt wurden, um das Uteruskavum auszufüllen (Kepp H. 1952). Auch bei dieser Methode erfolgte die Therapie über 3 Applikationen.
⊡ Abb. 27.3. 5-JahresÜberlebensraten beim radikal operierten Zervixkarzinom mit und ohne postoperative Strahlentherapie (Baltzer 1978)
519 Megavolttherapie
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Lediglich bei der Bestrahlung des Vulvakarzinoms wurden 60 kV- oder 100 kV-Röntgenstrahlen zur Bestrahlung eines inoperablen Primärtumors oder generell der Leistenregion unter Stehfeldbedingungen durchgeführt. Da hingegen beim Ovarialkarzinom zur Erfassung der gesamten Peritonealhöhle einschließlich des aortalen Lymphabflusses großvolumig bestrahlt werden musste, wurden hierzu große Bauch- und Rücken- und gegebenenfalls auch zusätzliche Seitenfelder verwandt, bei denen nach heutiger Kenntnis keine ausreichend hohen Herddosen möglich waren. Deshalb waren die Behandlungsergebnisse der Radiotherapie auch enttäuschend.
Megavolttherapie Auf gynäkologischem Sektor wurden in Deutschland die ersten Erfahrungen mit der Megavolttherapie in Göttingen von Martius und Schubert gemacht. An der Universitäts-Frauenklinik konnten mit einem 6 MeV-Betatron in Zusammenarbeit mit dem II. Physikalischen Institut der Universität Göttingen schnelle Elektronen bei der Bestrahlung von Vulvakarzinomen und inguinalem Lymphabflussgebiet eingesetzt werden (Kepp, Paul, Schmermund und Schubert, 1951). Diese Therapie wurde an der Universitäts-Frauenklinik Hamburg unter G. Schubert und später unter K. Thomsen beim Vulvakarzinom zum Standardverfahren entwickelt. Von 1956 bis 1983 wurden an dieser Klinik insgesamt 530 Patientinnen mit einem Vulvaneoplasma mit 9-18 MeV-Elektronen eines Betatrons lokal und mit einer Kombination von 18 MeVElektronen und Telekobalt im Lymphabflussgebiet bestrahlt. Eine radikale Vulvektomie war bei keiner Patientin vorausgegangen, lediglich bei 24 Patientinnen war vor der Strahlentherapie eine partielle oder einfache Vulvektomie erfolgt. Im Stadium T1 betrug die 5-JahresÜberlebensrate 60% und 40% im Stadium T2. Im Stadium T3 betrug sie 37,5% (Schreer et al. 1991). Auch Frischkorn (1969) konnte in Göttingen mit der Elektronentherapie beim Vulvakarzinom eine 5-Jahres-Überlebensrate von 36,9% erzielen. Obwohl die Ergebnisse mit der Elektronentherapie des Vulvakarzinoms als günstig angesehen werden können, hat sich diese Therapie auch wegen lokaler Spätfolgen nicht als Standardverfahren durchgesetzt, sondern wurde nur in absolut inoperablen Fällen (Hillemanns 1981), bei Rezidiven oder als palliative Therapie (Knapstein et al. 1991) eingesetzt. Ganz anders verlief die Entwicklung der Megavolttherapie in Form der ultraharten Röntgenstrahlen eines Betatrons oder Linearbeschleunigers und der Telekobalttherapie bei der Behandlung des Kollum- und Korpuskarzinoms. So wurde an der Universitäts-Frauenklinik Hamburg bereits 1956 die gesamte perkutane Strahlentherapie von der Orthovolttherapie auf ultraharte Röntgenstrahlen eines 15-MeV-Betatrons umgestellt. Es ist das Verdienst von G. Schubert, nach seinen wissenschaftlichen Erfahrungen in Göttingen an der Frauenklinik in Hamburg ein kompetentes Team aufgebaut zu haben, das sich intensiv der Grundlagenforschung in Strahlenbiologie und klinischer Anwendung der Megavolttherapie widmete. Dieses bestand aus H.A. Künkel, W. Dittrich, H.J. Schmermund, G. Höhne, F. Oberheuser, H. Maass und H. Henke. Von Anbeginn bestand eine enge fachliche Zusammenarbeit mit der renommierten Strahlenklinik der Universitäts-Klinik Heidelberg unter J. Becker. Die wissenschaftlichen Ergebnisse und ersten klinischen Erfahrungen von beiden Kliniken wurden 1961 von J. Becker und G. Schubert in der Monographie Die Supervolttherapie zusammengestellt.
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Kapitel 27 · Gynäkologische Strahlentherapie: geschichtliche Entwicklung
In den Folgejahren wurden an allen Universitäts-Frauenkliniken die Verfahren zur Perkutanbestrahlung bei gynäkologischen Neoplasien von konventionellen Röntgenstrahlen auf Megavoltenergien umgestellt, da die Vorteile evident waren: Günstigere Dosisverteilung, bessere Verträglichkeit, durch höhere Tumordosen auch bessere Behandlungsergebnisse. An der Frauenklinik in Hamburg wurden zwischen 1951 und 1956 insgesamt 735 Patientinnen mit einem Kollumkarzinom der Stadien I–IV mit Radium und einer 200-kV-Röntgenstrahlung behandelt. Von 1957-1963 wurden 754 Patientinnen mit Radium, aber perkutan mit Megavoltenergien bestrahlt. In den Stadien II und III hatten 48,8% mit 200-kV-Röntgenbestrahlung, dagegen 58,5% mit Megavoltbestrahlung 5 Jahre rezidivfrei überlebt (⊡ Abb. 27.4). Bei der Umstellung der Perkutanbestrahlung auf Megavoltenergien bei weiblichen Genitalkarzinomen wurden von den gynäkologischen Strahlentherapeuten umfangreiche Untersuchungen durchgeführt, die den Einsatz in Kombination mit der fraktionierten Radiumtherapie ermöglichen sollten. So versuchte Kapp-Schwoerer (1964) an der UniversitätsFrauenklinik in Freiburg, die Dosisverteilung durch den Einsatz eines Kompressionsrahmens zu verbessern. Rosenow und Frischkorn (1965) empfahlen Ausgleichsfilter zur Angleichung an die Radiumisodosen. Von Würthner und Harde (1971) wurde ein ovaler Bleiabsorber für die Telekobalttherapie entwickelt und konstruiert, der sich optimal dem Dosisabfall der lokalen Radiumeinlage nicht nur in parametraner Richtung, sondern auch nach kranial und kaudal hin anpasst (⊡ Abb. 27.5). Dibbelt, Rahm und Renner (1960) benutzten ein großes U-förmiges Feld zur Ausblendung der vom Radium erfassten Beckenmitte. Weishaar et al. (1965) beschrieben die Dosisverteilung bei Anwendung von Satellitenblenden aus Blei bei der Telekobalttherapie. Eine weitere Therapiemodalität ergibt sich unter Megavoltbedingungen bei der Strahlentherapie weit fortgeschrittener Fälle von Kollumkarzinomen. Wie schon erwähnt, hatten bereits Schröder und Kirchhoff 1947 in Leipzig eine großvolumige Röntgenbestrahlung in
⊡ Abb. 27.4. 5-Jahres-Überlebensraten beim Zervixkarzinom nach Übergang der Perkutanbestrahlung von Orthovolt-(200-kV-Röntgen) auf Megavoltstrahlen (Frischbier 1971)
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solchen Fällen vorgenommen. Seit Einführung der Megavolttherapie wurde eine ausschließliche Perkutanbestrahlung, allerdings unter Bedingungen einer Bewegungsbestrahlung, erneut in die Behandlungsstrategie des Kollumkarzinoms an vielen Frauenkliniken wieder aufgenommen, wie z. B. in Heidelberg (Buttenberg 1962), Göttingen (Frischkorn 1963), Hamburg (Frischbier 1971), Freiburg (Hillemanns und Ladner, 1981) und Gießen (Vahrson 1997). Von allen Autoren wird eine solche ausschließliche Perkutanbestrahlung bei Patientinnen mit Kollumkarzinom nur in den Fällen eingesetzt, in denen der Primärtumor die Reichweite einer lokalen Radiumapplikation weit überschritten hat: Große Portio-Tumoren im Stadium IIIb mit Übergang auf die Vagina oder Fälle des Stadium IV mit Blasen- und/oder Rektumbefall. Bei solchen Patientinnen wurden an der Universitäts-Frauenklinik in Hamburg von 19651993 insgesamt 377 Patientinnen mit einer ausschließlichen Perkutanbestrahlung über eine biaxiale Telekobalt-Pendelbestrahlung (⊡ Abb. 27.6) behandelt. Von 309 Patientinnen mit Zervixkarzinom im Stadium FIGO III lebten nach 5 Jahren (Kaplan-Meier) 28,5% und nach
⊡ Abb. 27.5. Intensitätsmodulation von Telekobalt–Stehfeldern durch einen glockenförmigen Absorber. Der Absorber verminderte im zentralen Becken dort die Dosis, wo durch Radiumbehandlung bereits eine hohe Vorbelastung bestand (Würthner u. Harde 1971)
⊡ Abb. 27.6. Biaxiale Rotationsbestrahlung zur primären Telekobaltbestrahlung des Zervixkarzinoms. Rotationswinkel: rechts 350°-190°, links 10°-170°, Isozentrumsabstand 4 cm, Feldbreite 8 cm (Bahnsen et al. 1997)
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Kapitel 27 · Gynäkologische Strahlentherapie: geschichtliche Entwicklung
10 Jahren 22,6%. Bei 33 Patientinnen im Stadium FIGO IV betrug die 5-Jahres-Rate 26,7% und die 10-Jahres-Rate 11,9%. Eine genaue Beschreibung der Bestrahlungstechnik, der Dosierung und der Nebenwirkungen findet sich bei Bahnsen et al. (1997). Im 21. Band des Annual Report (1990) werden die Ergebnisse der Behandlung des Zervixkarzinoms aus den Jahren 1982 bis 1986 zusammengestellt. Aus Deutschland wurden die Ergebnisse von 19 Frauenkliniken aufgeführt, von denen 16 aus Universitäts-Frauenkliniken stammten: Essen, Freiburg, Gießen, Greifswald, Göttingen, Hamburg, Hannover, Heidelberg, Jena, Kiel, Köln, Leipzig, München I, München-Großhadern, Rostock und Würzburg. In den deutschen Kliniken wurden von 1982-1986 insgesamt 4.523 Patientinnen mit Kollumkarzinom in den Stadien I bis IV behandelt und bei ihnen eine »Actuarial 5 year survival« von 57% erzielt. Im Stadium III wurde bei 1.017 Patientinnen eine Rate von 25,2% erreicht. Bei 2.342 Patientinnen, die nur eine Strahlentherapie erhalten hatten, betrug in den Stadien I-IV die 5-Jahres-Rate 39,1%. Die weitere Entwicklung zeichnete sich durch eine Differenzierung der Primäroperation aus. Neben ultraradikalen Operationen wie der Exenteration, wurden auch uteruserhaltende Verfahren für Frühstadien bei Frauen mit Kinderwunsch durchgeführt. Auch Zervixkarzinome des Stadiums II wurden überwiegend primär operiert. Alter und Begleiterkrankungen waren seltener eine Kontraindikation. In der Strahlentherapie wurden die Betatrons und Kobaltgeräte durch moderne Linearbeschleuniger ersetzt. Das Zielvolumen konnte nach CT-gestützter 3D-Planung zuverlässig bestrahlt werden. Es blieb jedoch die Dosislimitierung aufgrund der Nebenwirkungen an Darm und Harnwegen. Eine Verbesserung brachte die Kombination der Strahlentherapie mit einer simultanen Chemotherapie. Die Cervical Cancer Meta-Analysis Collaboration analysierte 2008 insgesamt 13 randomisierte Studien, in denen eine primäre Strahlentherapie mit einer primären Radiochemotherapie verglichen wurde. Es ergab sich 6% höheres Überleben nach 5 Jahren, wenn eine Radiochemotherapie angewendet wurde. Cisplatinhaltige Schemata waren signifikant überlegen. Auch in der postoperativen Situation konnten Keys et al. 1999 zeigen, dass eine postoperative Radiochemotherapie mit Cisplatin einer alleinigen Strahlentherapie überlegen war. Die zusätzliche Chemotherapie reduzierte die Rate von Lokalrezidiven von 21% auf 9% und die Fernmetastasen von 13% auf 10%. Im deutschsprachigen Raum verhalfen die Blohmer– Studien der postoperativen Strahlentherapie zu allgemeiner Verbreitung und zur genaueren Indikationsstellung (Kümmel et al. 2006). Während man im Annual Report beim Kollumkarzinom eine stadiengerechte Aussage über die Überlebensraten bei verschiedenen Therapiearten machen kann, ist eine solche beim Korpuskarzinom nicht möglich. Obwohl im 21. Band über die Ergebnisse bei 3.575 Patientinnen mit Korpuskarzinom berichtet wird, werden die Stadien weiter nach Untergruppen und vor allem nach histologischem Differenzierungsgrad unterteilt. Bedeutungsvoll erscheint die Angabe, dass nur in 13,9% der Fälle eine ausschließliche Operation und in weiteren 23,5% nur eine Strahlentherapie erfolgt war. In 59,4% der Patientinnen war nach der Operation eine Strahlentherapie angeschlossen. Diese Zahlen spiegeln die damals üblichen Therapiemodalitäten bei Patientinnen mit Korpuskarzinom wider: Die Uterusexstirpation unter Mitnahme der Ovarien galt bei etwa 75% der Patientinnen als Methode der Wahl. Eine ausschließliche Strahlentherapie ist lokal oder allgemein inoperablen Fällen vorbehalten, die vorwiegend in Form einer Kontakttherapie mit Radium in Kombination mit einer Perkutanbestrahlung besteht. Hierbei reichen die angewandten Strategien von einer lokalen Packmethode zur Erfassung des Endometriums und
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der angrenzenden Muskelschichten mit Strahlendosen von 100-120 Gy (Frischkorn 1983) und einer zusätzlich notwendigen Perkutanbestrahlung, bei der der Mittelbereich durch eine Vierfeldertechnik oder einen Block ausgespart wird, bis zu einer Homogenbestrahlung des Beckens mit 40 Gy und einer einmaligen Radiumeinlage mit 2.500-3000 mgEh. Zur Klärung der Frage, welche Bedeutung der postoperativen Nachbestrahlung zukommt, wurde auf der 43. Versammlung der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) im Jahre 1981 eine Arbeitsgruppe zur Ausarbeitung einer Empfehlung für die Nachbestrahlung des Uteruskarzinoms eingesetzt. Die Arbeitsgruppe empfahl »dass bei typischer Operation (einfache TE mit Scheidenmanschette unter Mitnahme der Anhänge) bei einer Eindringtiefe von weniger als einem Drittel der Uteruswand oder weniger als 3 mm, keine perkutane Nachbestrahlung durchzuführen sei. In den anderen Fällen, in denen keine typische Operation durchgeführt wurde, bzw. der Uterus unter der Operation verletzt oder die Ovarien belassen wurden oder aber eine Infiltration von mehr als 3 mm oder mehr als einem Drittel der Uteruswand gefunden wurde, wurde die Nachbestrahlung empfohlen«. An der Universitäts-Frauenklinik Freiburg konnte Ladner (1983) nachweisen, dass bei der Bestrahlung von Patientinnen mit Korpuskarzinom durch den Übergang von Röntgen- auf die Hochvoltbestrahlung und unveränderter Radiumtherapie eine Verbesserung der 5-JahresÜberlebensrate von über 10% erreicht werden konnte. Im Stadium I konnte durch eine Erhöhung der Herddosis im Parametrium von 30 auf 40 Gy die Überlebensrate um weitere 9% erhöht werden. Nach seinen Erfahrungen erfordern insbesondere Tumoren der GradingStufen 2 und 3 eine Dosiserhöhung von 40 auf 46 Gy. In der Portec–Studie (Creutzberg 2001) ergab sich, dass die Bestrahlung des pelvinen Lymphabflusses zwar das Risiko eines Lokalrezidivs minderte, das Gesamtüberleben aber nicht verbesserte. Die Rezidivbestrahlung der primär unbestrahlten Patienten erwies sich als sehr erfolgreich. Daraus wurde gefolgert, dass eine postoperative Bestrahlung des Beckens nur indiziert sei, wenn ein hohes Risiko (>15%) für ein Lokalrezidiv besteht. Die Auswertung von über 209 Rezidiven nach Endometriumkarzinomen der Universität Freiburg durch Ladner et al. 1998 (⊡ Abb. 27.7) zeigte, dass Vaginalrezidive zwar eine
⊡ Abb. 27.7. Überlebensrate nach Rezidiv eines Endometriumkarzinoms. Analyse von 209 Rezidiven der Freiburger Universität (Ladner et al. 1998)
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Kapitel 27 · Gynäkologische Strahlentherapie: geschichtliche Entwicklung
wesentlich günstigere Prognose hatten, als Beckenwandrezidive oder Fernmetastasen. Letztlich waren nach 5 Jahren über die Hälfte der Frauen mit Vaginalrezidiv gestorben. Das Risiko eines Vaginalrezidivs lässt sich bereits mit moderaten Brachytherapie–Dosen (z. B. 20 Gy in 5 mm Gewebetiefe) bei minimalem Risiko von Nebenwirkungen wirksam vermindern. Daher wird die Indikation zur Brachytherapie der Scheide bis heute großzügig gestellt. Bei der Behandlung von Patientinnen mit Ovarialkarzinomen brachte der Übergang auf Megavoltbedingungen keine signifikant besseren Ergebnisse. Auch die Einführung einer speziellen Moving–Strip-Technik (Dembo 1979) mit günstigerer Dosisverteilung und besserer Verträglichkeit erwies sich beim primär radikal operierten Ovarialkarzinom nicht von Vorteil. Lediglich eine postoperativ intraperitoneal verabfolgte Radiogoldapplikation zur Vernichtung von Mikrometastasen wurde in einigen Zentren mit Erfolg eingesetzt. So konnten Frischkorn et al. (1973) am Göttinger Patientengut bei 131 Patientinnen nach Radiogoldtherapie eine 5-Jahresheilung von 38,9% gegenüber bei 288 Patientinnen ohne Au-198-Behandlung von nur 21,5% registrieren. Auch die Höhe der Goldapplikation von über 200 mCi bzw. darunter beeinflusste die Ergebnisse. Auch Vahrson (1982) konnte ähnlich gute Ergebnisse mit einer intraperitonealen Radiogoldinstillation am Krankengut der Universitäts-Frauenklinik Gießen sehen: Beim Vergleich von Ergebnissen an 125 Patientinnen mit einem Stadium IIa oder IIb erhöhte sich die Überlebensrate von 56%, wenn nur 50 Gy perkutan gegeben wurde, auf 78%, wenn nach 30 Gy ins Becken zusätzlich 100 mCi Au-198 appliziert wurden. Ein Problem der Radionuklidinstillation war die gleichmäßige Verteilung im Peritonealraum. Bei Verklebungen und in Resttumoren über 5 mm konnte die Strahlung nicht wirksam werden. Auch bilden sich nach Radionuklidinstillation generalisierte Verwachsungen des Peritonealraums, die eine Reoperation fast unmöglich machen. Lange Zeit war die Radionuklidinstillation die einzige Therapieoption beim Pseudomyxoma peritonei. Gegenwärtig ist die Beschaffung der notwendigen Radionuklid-Kolloide kaum noch möglich. Bis heute liegen keine ausreichend gesicherten Studien vor, die den Wert der zusätzlichen perkutanen Strahlentherapie beim primär radikal operierten Ovarialkarzinom in Kombination mit einer Chemotherapie belegten. Bis weit über die Mitte des vorigen Jahrhunderts hinaus lag die operative Therapie des Mammakarzinoms in den Händen der Chirurgen. Zu ihnen wurden die Patientinnen von ihren Hausärzten überwiesen, wenn sie einen verdächtigen Knoten bemerkt hatten. Der Chirurg entschied dann auch, ob die Patientin in ein Strahleninstitut zu einer Nachbestrahlung überwiesen werden sollte. Nachdem sich in Deutschland seit 1971 alle versicherten Frauen ab dem 30. Lebensjahr kostenlos einer Krebsvorsorgeuntersuchung unterziehen können und in diese Untersuchung auch die Inspektion und Palpation beider Mammae mit eingeschlossen ist, wurde auch der niedergelassene Gynäkologe mehr und mehr in die Diagnostik und Therapie bei Patientinnen mit Brusterkrankungen einbezogen. Natürlich gab es schon damals Universitäts-Frauenkliniken, die sich vermehrt dem Problem Mammakarzinom in Diagnostik und Therapie widmeten. So wurde beispielsweise von Buttenberg und Werner von der Universitäts-Frauenklinik Heidelberg 1962 die erste Monographie im deutschsprachigen Raum über Erfahrungen mit der Mammographie in der Diagnostik des Mammakarzinoms herausgegeben. Aus der Frauenklinik in Hamburg berichteten schon 1959 Schubert und Oberheuser über eigene Erfahrungen mit der Bestrahlung des Mammakarzinoms mit einem 15-MeV-Betatron. Einen Durchbruch in der Chirurgie und Strahlentherapie des Mammakarzinoms für das gynäkologische Fachgebiet gab es im Juni 1972, als der elsässische Radiologe Ch. Gros
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ein Internationales Symposium in Straßburg mit dem Thema veranstaltete: Thérapeutiques Non Mutilantes des Cancereuses du Sein. Auf diesem Symposium berichteten international renommierte Chirurgen und Strahlentherapeuten über ihre Ergebnisse mit einer brusterhaltenden Operation und Nachbestrahlung. Die Ergebnisse waren so überzeugend, dass wir in Hamburg noch im selben Jahr mit einer brusterhaltenden Tumorektomie bei Patientinnen im Stadium T1 und anschließender Telekobalt-Nachbestrahlung im Rahmen einer streng kontrollierten Studie begannen. Auf dem 1. Kongress der Senologic International Society in Hamburg 1980 konnten die Ergebnisse aus unserer Klinik bei 115 brusterhaltend operierten Patientinnen mit Mammakarzinom T1N0 mitgeteilt werden (Schreer et al. 1982). In der nächsten Phase ging es darum nachzuweisen, dass Frauen nach brusterhaltender Behandlung keine schlechteren Heilungsergebnisse hatten als nach Ablatio mammae. Von 5 frühen randomisierten Studien (⊡ Tab. 27.1) mit insgesamt 4.010 Brustkrebsfällen zeigten4 Studien ein gleich gutes Überleben nach brusterhaltender Behandlung mit postoperativer Strahlentherapie wie nach Mastektomie. Die Studie des Guy’s Hospitals (Hayward 1983) hatte schlechtere Ergebnisse nach Brusterhaltung, verwendete aber offensichtlich eine zu geringe Strahlendosis. Damit war der Weg frei zu einer breiteren Anwendung der brusterhaltenden Behandlung. Unterstützt durch die von Sauer (Erlangen) und Rauschecker (Göttingen) inaugurierte BMFT-Studie Kleines Mammakarzinom breitete sich diese Behandlungsmethode innerhalb eines Jahrzehnts in Deutschland aus. Besonders große Erfahrungen sammelte neben der Hamburger Universitäts-Frauenklinik die Heidelberger Gruppe (von Fournier et. al. 1989). Der nächste Schritt war die Erforschung der Grenzen der Brusterhaltung. In der RBMStudie wurden keine Vorgaben bezüglich des Tumorstadiums gemacht. Insgesamt wurden über 10.000 Frauen aus über 40 deutschen Zentren brusterhaltend operiert und bestrahlt. Es zeigte sich, dass bis 4 cm große Tumoren ohne wesentlich größeres Risiko brusterhaltend operiert werden konnten, wenn die Relation Tumorgröße zur Brustgröße beachtet wurde. Auch der Lymphknotenstatus spielte für das intramammäre Rezidiv keine große Rolle. Ein hochsignifikanter Zusammenhang fand sich aber zwischen Alter und Rezidivrisiko. Frauen bis 40 Jahre tragen ein hohes Rezidivrisiko, während bei über 60-Jährigen Rezidive kaum noch vorkommen (Bahnsen 1996, ⊡ Abb. 27.8).
⊡ Tab. 27.1 Vergleich von brusterhaltender Operation mit postoperativer Strahlentherapie mit Ablatio mammae ohne Nachbestrahlung (Guys Hospital: Hayward 1983, Mailand I: Veronesi 2002, Villejuif: Arrigada 2003, NSABP B-06: Fisher et al. 2002, EORTC 1081: van Dongen et al. 1992) Studie
Fallzahl
Rezidive bei Brusterhalt
Überlebensrate bei Brusterhalt
Bemerkungen
Guys Hospital
376
mehr
niedriger
Dosis 25 Gy
Mailand I
701
gleich
gleich
Quadrantresektion
Villejuif
179
gleich
gleich
NSABP B-06
1851
mehr
gleich
EORTC 10801
903
gleich
gleich
Summe
4010
526
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Kapitel 27 · Gynäkologische Strahlentherapie: geschichtliche Entwicklung
⊡ Abb. 27.8. Brusterhaltende Therapie: Hohes Risiko eines intramammären Rezidivs bei geringem Alter. Auswertung von 3.228 Hamburger Behandlungsfällen der RBM-Studie (Bahnsen 1996)
Heute ist die Strahlentherapie nach brusterhaltender Operation obligat. Die Radiotherapie senkt signifikant das Risiko eines intramammären Rezidivs und verbessert die Überlebensrate (Clarke 2005). In einer Metaanalyse reduzierte die Bestrahlung die Lokalrezidivrate von 26% auf 7% innerhalb von 5 Jahren. Die 15-Jahres-Überlebensrate betrug 35,9% ohne Bestrahlung und 30,5% mit Radiotherapie.
Brachytherapie mit dem Afterloadingverfahren In den frühen Jahren der gynäkologischen Strahlentherapie lag das größte Gewicht bei der Kontakttherapie mit Radium. Da die Anwendung ein hohes Maß an gynäkologischen Fähigkeiten erforderte, sicherte die Brachytherapie den Verbleib der gynäkologischen Strahlentherapie unter dem Dach der Gynäkologie. Mit den Verbesserungen der Teletherapie wurde die Brachytherapie zunächst etwas in den Hintergrund gedrängt. Die Bestrahlung von außen war besser berechenbar, erforderte wenig manuelles Geschick und war weniger belastend für Patientin und Personal. Mit der Einführung des Afterloading (Henschke 1960) bekam die Brachytherapie wieder mehr Gewicht. Primäres Ziel des Afterloading war, die Strahlenbelastung des Personals zu minimieren. Man ersetze den Radium-Filter durch eine leere Hülse und befüllte diese nachträglich mit einer Strahlenquelle. Dieses Nachladen (engl. Afterloading) prägte den Namen der Methode. Das Nachladen erfolgte zunächst manuell. Dabei wurde der nachladende Techniker weiter mit Strahlen belastet. Später übernahm eine ausgeklügelte Mechanik den Transport in den Applikator und die Bewegung der Quelle im Zielbereich. Heute steuern Computer über Schrittmotoren millimetergenau jede Bewegung. Mit der Afterloadingtechnik boten sich neue Möglichkeiten. Die Strahlenquelle konnte nicht nur starr positioniert, sondern konnte auch bewegt werden. Von Nukletron wurde eine Methode entwickelt, den gesamten Applikator mit Kügelchen zu beladen, von denen einige strahlten, andere jedoch nicht. Durch die Verteilung der strahlenden Kügelchen konnte die
527 Brachytherapie mit dem Afterloadingverfahren
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Form der Isodosen verändert werden. Die praktische Anwendung machte die Entwicklung von speziellen Bestrahlungsplanungssystemen für die Brachytherapie erforderlich. Das war auch deshalb nötig, weil bei kurzlebigen Isotopen die Aktivität der Quellen tagesaktuell neu berechnet werden mussten. Daneben entwickelten Bucheler (Rotte 1973) und Sauerwein (Mundinger 1966) Geräte mit einer Quelle, die dafür in mehreren Kanälen zeitgesteuert bewegt wurde. Diese Geräte sind heute ganz überwiegend im Einsatz. Zunächst bemühte man sich, die Radium-Applikation möglichst genau nachzubilden. Der Radium-Stift konnte sehr einfach durch einen Afterloadingkanal ersetzt werden. Als Ersatz für die Radium-Platte wurde von Vahrson (persönliche Mitteilung) eine abgeschrägte Platte mit 4 AL-Kanälen entwickelt. Andere Kliniken bildeten mit einem Ringapplikator die Radiumplatte nach. Schwieriger war dagegen die Afterloadingbehandlung des Endometriums. Zunächst verwendete man einen zentralen Kanal. Die Ergebnisse waren aber unbefriedigend, weil die Dosis in der Mitte des Fundus sehr hoch war, in den Tubenecken aber ungenügend. Daraufhin entwickelte Rotte einen 2-Kanal-Applikator, der durch seine auseinanderstrebende Krümmung beide Tubenecken erfasste (Coon 2008). An der Freiburger Universitätsklinik entwickelte Bauer einen Mehrkanalapplikator, der sich im Cavum regenschirmartig aufspannt (Bauer 1991). Simon (1971) verwendete mehrere einzelne Kanäle, die große Ähnlichkeit mit den Einzelfiltern der Heymanschen Packtechnik haben. Im Würzburg entwickelte Rotte (1992) ein ähnliches Verfahren. Allen Verfahren ist gemeinsam, dass die Zervix sehr stark dilatiert werden muss. Die Position der zahlreichen Kanäle muss 3-dimensional erfasst werden und einem schnellen Planungssystem zugeführt werden, da die schmerzhafte Prozedur bis zur Entfernung der Applikatoren eine Anästhesie erfordert. Vor Einführung von Schnittbildtechniken in die Planung, war es schwierig, Tumor und Cavum uteri richtig einzuschätzen. Vahrson (1989) entwickelte eine Technik, das Kavum bei liegendem Applikator durch Kontrastmittelinjektion (Hysterographie) darzustellen. Ein weiterer Vorteil der Afterloadingmethode gegenüber der Radiumapplikation war die Möglichkeit, intensivere Strahler zu verwenden. Schließlich musste man keine Rücksicht auf die Strahlenbelastung des Personals nehmen. Die HDR-Afterloadingtherapie (high dose rate) mit 192Ir-Strahlern war anfänglich umstritten. Aus strahlenbiologischen Modellen folgerte man, dass die hohe Dosisrate zu einer stärkeren Tumor- und Normalgewebsreaktion führt, und verminderte die Brachytherapiedosis (Baier 1992). Rotte (1991) verglich die konventionelle Radiumtherapie mit der HDR-Afterloadingtherapie bei Zervixkarzinomen. Im Stadium FIGO I und II lieferten Radium- und HDR-Brachytherapie gleichgute Ergebnisse. Im Stadium FIGO III waren die Radiumergebnisse besser als eine 3-malige AL-Behandlung. Bei Anwendung von 5-6 AL-Fraktionen war im Stadium FIGO III kein Unterschied mehr nachweisbar. Man folgerte, dass die strahlenbiologischen Modelle die Wirkung hoher Einzeldosen am Tumor überschätzt hatten. Technisch war es genauso möglich, mit mittlerer Dosisleistung (medium dose rate, MDR, meistens Caesium) oder geringer Dosisleistung (low dose rate, LDR) zu therapieren (Bauer 1989). Um die Zahl der vorgehaltenen Geräte zu vermindern, wurden Verfahren entwickelt, um mit einer Strahlenquelle hoher Intensität eine protrahierte Bestrahlung durchzuführen (Swift 1997). Bei diesem Pulse-Dose-Rate-Verfahren (PDR) wird die Quelle in regelmäßigen Abständen für kurze Zeit eingefahren, so dass insgesamt eine lange Behandlungszeit entsteht. Wegen organisatorischer Vorteile des HDR-Afterloadings (kein langer Aufenthalt der Patientin im »Radiumbunker«, kein Risiko der Applikatordislokalisation, größere Zahl von Behandlungen) hat sich das HDR-Verfahren weltweit durchgesetzt. LDR-, MDR- und PDAfterloading werden nur noch an wenigen Zentren betrieben.
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Kapitel 27 · Gynäkologische Strahlentherapie: geschichtliche Entwicklung
Ein weiterer Vorteil des Ersatzes von Radium durch 192Ir ist die Miniaturisierung. Während ein Radiumstift einen Durchmesser von 8 mm hatte, sind heutige Applikatoren nur 3-4 mm dick. In den meisten Fällen kann bei der Applikation auf eine Narkose verzichtet werden. Für die interstitielle Therapie stehen Nadelapplikatoren mit 2 mm Dicke zur Verfügung. Die Arbeit mit beweglichen Quellen abnehmender Aktivität ist nur mit einem leistungsfähigen Planungssystem möglich. Diese Planungssysteme sind immer weiter verbessert worden. Ein großer Fortschritt ist die Fusion von Schnittbilddiagnostik mit Isodosenplänen. Das erlaubte erstmals modernere Dosierungsprinzipien. Ohne Schnittbildtechnik wurde die applizierte Dosis auf relativ willkürliche geometrische Punkte bezogen. So wurde die Dosis im Punkt A auf eine Position 2 cm endozervikal und 2 cm lateral berechnet. Dies entsprach in etwa der Kreuzungsstelle von Ureter und A. uterina. Ob dies im konkreten Fall zutraf, blieb hypothetisch. Durch die Überlagerung von CT-Bildern konnte erstmalig berechnet werden, welche Dosis die Risikoorgane Rektum und Harnblase erhielten. In vielen Kliniken ist die CT-gestützte Afterloadingplanung gynäkologischer Tumoren bereits Routine. Das CT mit liegendem Applikator deckt auch manche Fehlpositionierung oder Perforation rechtzeitig vor der Bestrahlung auf. Neben der CT bekommt die Fusion von MRT-Bildern eine immer größere Bedeutung. Die Abgrenzung des Tumors und die Darstellung der Risikoorgane ist im MRT oft besser (Kirisits 2005, Haie-Meder 2005). Auch die Anpassung von Perkutantherapie und Brachytherapie ist mit CT-gestützter Planung individuell möglich. Allerdings geht es trotz aller Technik nicht ohne das Geschick, das räumliche Vorstellungsvermögen und die Einfühlsamkeit des applizierenden Gynäkologen.
Die Situation der gynäkologischen Strahlentherapie in der Gegenwart Während noch vor wenigen Jahren die Meinung vertreten wurde, dass die Strahlentherapie in der Gynäkologie vollständig durch andere Therapieverfahren abgelöst werden würde, erleben wir gegenwärtig eine zunehmende Indikation zur Anwendung der Radiotherapie. Der Schwerpunkt der Therapie hat sich jedoch verlagert. So hat die Bedeutung der Strahlentherapie bei der Primärtherapie gynäkologischer Tumoren entschieden nachgelassen. Bei fast allen Tumor dominieren heute multimodale Therapieverfahren mit Operation, Strahlentherapie, Chemotherapie, Targettherapie oder endokriner Behandlung. Bei der Mama gilt die brusterhaltende Operation in Kombination mit einer Bestrahlung der Brust weltweit als Standard (Kreienberg 2008). Ja, die Qualität eines Brustzentrums wird daran gemessen, wie hoch ihr Anteil an brusterhaltend operiert und nachbestrahlten Mammakarzinomfällen ist. Operation und Bestrahlung werden häufig mit Chemotherapie, Targettherapie und endokriner Behandlungen kombiniert. Die Bestrahlung des axillären und supraklavikulären Lymphabflussgebietes erfolgt nicht mehr standardmäßig, sondern wird individuell nach Risikokonstellation indiziert. Durch die Modifikation der Operationstechnik und die selektive Bestrahlung hochnodal positiver Risikofälle konnte das Risiko von Lymphödemen des Arms entscheidend gesenkt werden. Die adjuvante Bestrahlung der parasternalen Lymphknoten wurde eingeschränkt, da sich ein Benefit nicht eindeutig nachweisen ließ. Die Bestrahlung der Thoraxwand nach Ablatio ist gut abgesichert, nachdem 2 Studien einen Überlebensvorteil ermittelt hatten. In der palliativen Therapie ist die schmerzlindernde Wirkung der Strahlentherapie bei Knochenmetastasen unbestritten. Die Bestrahlung des Neurokraniums bei Hirnmetastasen ergibt einen kleinen, aber deutlichen Überlebensvorteil.
529 Die Situation der gynäkologischen Strahlentherapie in der Gegenwart
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Beim Zervixkarzinom ist die Grenze der Operabilität stark angehoben worden. Fälle, die früher als internistisch inoperabel eingestuft wurden, weil sie aufgrund des Alters oder von Begleiterkrankungen als zu risikoreich eingeschätzt wurden, werden heute problemlos radikal operiert. In Risikofällen kann die postoperative Radiochemotherapie eine Verbesserung der Therapieergebnisse erreichen. Lokal weit fortgeschrittene Zervixkarzinome sind weiter inoperabel und werden der Strahlentherapie zugeführt. In diesen Fällen ist jedoch eine Brachytherapie, die früher die Hauptstütze der Strahlentherapie von Zervixkarzinomen darstellte, äußerst problematisch. Hinzu kommt, dass durch die geringere Zahl von Afterloadingfällen viel Knowhow der früheren Jahre verloren gegangen ist. Durch moderne 3D-Bestrahlungstechniken und die Einführung von IMRT ist die Dosisanpassung an das Zielvolumen verbessert worden. Durch die Schonung von Harnwegen und Darm konnte das Risiko von Nebenwirkungen gesenkt werden, so dass auch ohne Brachytherapie akzeptable Ergebnisse erzielt werden können. Die primäre Radiochemotherapie stellt heute den Standard für lokal fortgeschrittene und internistisch inoperable Zervixkarzinome dar und ist der alleinigen Radiotherapie überlegen. Das Endometriumkarzinom hat zahlenmäßig das Zervixkarzinom weit überholt. Durch ein erfolgreiches vaginalzytologisches Screening werden die Malignome als Carcinoma in situ erkannt und beseitigt. Dadurch hat sich die Zahl der invasiven Zervixkarzinome fast um den Faktor 10 vermindert. Für das Endometriumkarzinom gibt es noch keine flächendeckende Früherkennung. Die meisten Fälle fallen weiterhin erst durch atypische Blutungen im Stadium FIGO I auf und werden radikal operiert. Die primäre Strahlentherapie bleibt den wenigen weiter fortgeschrittenen oder internistisch inoperablen Fällen vorbehalten. Bei fortgeschrittenen Fällen droht nicht nur das pelvine Rezidiv. Ein erheblicher Anteil der Patientinnen hat zusätzlich okkulte paraaortale Metastasen. Die Bestrahlung der paraaortalen Lymphknotenregion galt früher als risikoreich und wurde daher gemieden. Durch moderne 3D-Techniken der Bestrahlungsplanung kann bei moderaten Nebenwirkungen das Zielvolumen auf die paraaortale Region ausgedehnt werden. Endometriumkarzinome, die lokal weit fortgeschritten sind und nicht mehr operiert werden können, stellen für die Brachytherapie eine Herausforderung dar. Die früher üblichen Packtechniken mit Radium-Einzelfiltern lassen sich nur schwer mit Afterloadingtechniken nachbilden. Afterloading-Mehrkanaltechniken erfordern eine weite Dilatation des Zervikalkanals und eine aufwändige 3D-Planung. Weit fortgeschrittene Endometriumkarzinome haben häufig die Wand des Uterus völlig durchsetzt. In diesen Fällen besteht bei der Positionierung der Afterloadingapplikatoren ein erhebliches Perforationsrisiko. Die zweite Gruppe der internistisch inoperablen Endometriumkarzinome ist meistens nicht narkosefähig. Die hinreichende Dilatation der Zervix ist dann problematisch. Häufig werden Ein-KanalBrachytherapien angewendet. Dabei ist die Dosisverteilung insbesondere in den Tubenecken deutlich schlechter als bei der Heymanschen Packtechnik in der Radium-Ära. Ein-KanalTechniken sind lediglich als Dosisspitze im Rahmen einer perkutanen 3D-geplanten Strahlentherapie sinnvoll. Beim Vulvakarzinom dominiert heute die primäre Operation. Der primären Strahlentherapie sind weit fortgeschrittene, inoperable Fällen vorbehalten. Im Fall von R1-Resektionen wird eine postoperative Bestrahlung durchgeführt. Die Bestrahlung der Vulva ist mit einer ausgeprägten Mukositis verbunden. Die Beherrschung der Mukositis entscheidet oft über den Erfolg einer Strahlentherapie. Im Bereich der regionalen Lymphknoten ist trotz Operation oft keine hinreichende Sanierung gegeben. Hier ist die Strahlentherapie erforderlich, um ein Fortschreiten des Vulvakarzinoms im Lymphabfluss zu verhindern. Auch ist bekannt, dass bei nachgewiesenem Befall der inguinalen Lymphknoten in 50% auch okkulte Metastasen im
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Kapitel 27 · Gynäkologische Strahlentherapie: geschichtliche Entwicklung
Iliaca-externa-Bereich bestehen (Homesley 1986). Diese Lymphknoten sind operativ schwierig zu sanieren und können aber problemlos bestrahlt werden. Vaginalkarzinome werden lokal exzidiert. Wegen der dünnen Scheidenwand haben auch kleine Vaginalkarzinome ein großes Risiko der Metastasierung ins Parakolpium. Zur Sanierung ist deshalb meistens eine kombinierte Strahlentherapie erforderlich. Die Ergebnisse der kombinierten Therapie des Vaginalkarzinoms sind besser als die der alleinigen Operation. Beim Ovarialkarzinom hat die Strahlentherapie derzeit keine Bedeutung. Die früher üblichen Ganzabdomenbestrahlungen sind eingestellt worden, da die Ergebnisse schlechter als die einer Chemotherapie waren und erhebliche Nebenwirkungen auftraten. Auch die Behandlung des Peritonealraums mit Radionukliden wird weltweit nur noch an wenigen Zentren durchgeführt. Es verbleiben wenige individuell indizierte Fälle, in denen inoperable Chemotherapie-resistente Tumorreste im kleinen Becken bestrahlt werden.
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Ausblick für die Zukunft Die angekündigte Ablösung der Strahlentherapie durch medikamentöse Therapieverfahren ist auch in den nächsten Jahrzehnten nicht in Sicht. Im Gegenteil, die Alterung der Gesellschaft führt zu einer höheren Zahl von Patientinnen, die nicht mehr radikal operiert werden können und die auch Chemotherapien nicht in erforderlicher Intensität vertragen. Die Strahlentherapie ist durch das Lebensalter nicht eingeschränkt. Zwar sind ältere Frauen strahlenbiologisch im Nachteil, das subjektive Empfinden von Nebenwirkungen ist jedoch bei jüngeren Frauen stärker. Auch ist das Risiko von Spätfolgen bei älteren Frauen wegen der begrenzten Lebenserwartung geringer. Ein weiterer Grund für den Fortbestand der Strahlentherapie gynäkologischer Malignome ist der Wunsch nach Organerhalt (z. B. Mammakarzinom). Aus der weniger radikalen Operationstechnik folgt die Notwendigkeit einer adjuvanten Therapie. Durch die flächendeckende Umsetzung technischer Innovationen, wie ▬ Multileafkollimatoren ▬ bildgestützte Strahlentherapie (IGRT) ▬ Atemgating oder ▬ 4D-Bestrahlung werden die Nebenwirkungsraten vermindert und damit die Akzeptanz der Bestrahlung verbessert. Die Verwendung von Protonen und anderer heavy particles verspricht eine weitere Reduzierung der Nebenwirkungen. Die künftige Rolle der Bestrahlung mit schweren Teilchen, z. B. Protonen wird davon abhängen, ob es gelingt den technischen Aufwand und damit die Behandlungskosten zu reduzieren. Neben den Verbesserungen des Bestrahlungsgerätes werden innovative Planungstechniken die Ergebnisse verbessern. Die CT-gestützte 3D-Planung ist inzwischen fast flächendeckend eingeführt. Die IMRT (intensitätsmodulierte Radiotherapie) findet z. Z. ihren Weg von den Zentren in die peripheren Einrichtungen. Zunehmend werden zur besseren Definition des Zielvolumens MRT- und PET-CT-Bilder mit dem Planungs-CT fusioniert. Insgesamt wird die Strahlentherapie weitere technische Innovationszyklen durchmachen, die erhebliche Investitionen erfordern. Das wird nicht ohne Konzentration der Therapieeinrichtungen möglich sein. Die klassische Afterloadingtherapie ist in ihrem Volumen immer weiter zurückgegangen. Neben der technischen Realisierung ist ein hohes Maß an gynäkologischen Fähigkeiten not-
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wendig, um ein gutes Ergebnis zu erzielen. Die Zukunft der Afterloadingtherapie gynäkologischer Malignome hängt davon ab, ob sich gynäkologische Onkologen wieder vermehrt in der Brachytherapie engagieren. Multimodale Therapiekonzepte werden künftig weiter verfeinert und für fast alle Tumorentitäten angewendet. Die Optimierung insbesondere der Kombination mit neueren Targettherapien erfordert noch viel Forschungsarbeit. Beim Mammakarzinom wird auch künftig die brusterhaltende Behandlung im Vordergrund stehen. Sequenz und Dosierung kombinierter Behandlungen mit Radiotherapie, Chemotherapie, Targettherapie und endokriner Behandlung werden optimiert. Indikation und Anwendung intraoperativer Bestrahlungen werden durch Studien abgesichert. Fälle, in denen nur ein Teil der Brust bestrahlt werden muss oder die Bestrahlung ganz unterbleiben kann, werden besser definiert werden. Die Indikation zur postoperativen Bestrahlung des DCIS wird genauer gestellt werden. Durch innovative Bildgebung, z. B. PET-CT, wird das Zielvolumen fortgeschrittener Mammakarzinome besser bestimmt werden können. Auch pelvine gynäkologische Tumoren werden von besserer Bildgebung profitieren. Die Zahl invasiver Zervixkarzinome wird durch die HPV-Impfung weiter zurückgehen. Die verbleibenden Patientinnen werden überwiegend sehr alt sein oder weit fortgeschrittene Tumoren haben. Die Ergebnisse der Operation fortgeschrittener Zervixkarzinome wird durch verfeinerte Anwendung intraoperativer Bestrahlung oder perioperativem Afterloading weiter verbessert werden. Beim Endometriumkarzinom wird das Behandlungsvolumen weiter ansteigen. Hauptgrund ist die Alterung unserer Gesellschaft. Auch die Abkehr von der Hysterektomie bei Myomen oder perimenopausalen Metrorrhagien erhöht die Wahrscheinlichkeit von Endometriumkarzinomen. Die intrakavitäre Therapie wird nach unserer Einschätzung weiter abnehmen. Multimodale Behandlungen stehen beim Endometriumkarzinom noch ganz am Anfang der Entwicklung. Bei der kurativen Behandlung von Vaginalkarzinomen wird die postoperative Strahlentherapie ihren festen Platz behalten. Radikale Operationsverfahren sind bei diesen oft sehr alten Frauen nur bedingt möglich. Weniger radikale Verfahren müssen durch eine Strahlentherapie ergänzt werden. Möglichweise wird die intraoperative Strahlentherapie helfen, die Dosis der Nachbestrahlung zu senken. Ein weiterer Trend ist die Bildung von Organzentren. Für das Mammakarzinom gibt es bereits jetzt zahlreiche Brustzentren, in die alle beteiligten Fachgebiete ihren Beitrag einbringen und die gemeinsam Entscheidungen treffen. Es ist vorstellbar, dass sich weitere Zentren z. B. für pelvine gynäkologische Malignome bilden.
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Kapitel 27 · Gynäkologische Strahlentherapie: geschichtliche Entwicklung
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Neuroendokrine Regulation der Ovarialfunktion Ludwig Wildt, Gerhard Leyendecker
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Kapitel 28 · Neuroendokrine Regulation der Ovarialfunktion
Einleitung Es ist seit langem bekannt, dass die reproduktiven Vorgänge der Frau in zyklischer Form ablaufen, deren äußeres Kennzeichen regelmäßig wiederkehrende Menstruationsblutungen sind. Die naturwissenschaftliche Aufklärung der an diesen Vorgängen beteiligten Hormone und Regulationsmechanismen begann jedoch erst vor etwas mehr als 100 Jahren und hat gezeigt, dass sich der reproduktive Zyklus der Frau funktionell aus 3 Komponenten zusammensetzt: ▬ der Reifung des ovariellen Follikels, ▬ der in Zyklusmitte erfolgenden Ovulation und ▬ der Umwandlung des Follikels in ein Corpus luteum, dessen Sekretionsprodukte in einer sekretorisch transformierten, implantationsbereiten uterinen Schleimhaut resultieren.
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Diese zyklischen Abläufe werden durch ein komplexes Regulationssystem unter Beteiligung der Ovarien und höherer Zentren (Hypophyse und Hypothalamus) gesteuert. An der deskriptiven, funktionellen und experimentellen Aufklärung dieser Abläufe und an der Umsetzung in diagnostische und therapeutische Konzepte waren Gynäkologen des deutschen Sprachraumes in maßgebender Weise beteiligt. Sowohl die Entwicklung der hormonellen Kontrazeption als auch die verschiedenen Methoden der assistierten Reproduktion und neuer Methoden der Diagnostik und Therapie von Ovarialfunktionsstörungen sind die unmittelbare Folge der von diesen klinischen und experimentell tätigen Forschern erarbeiteten Erkenntnisse. Die Biographien der handelnden Personen sind von Gerhard Bettendorf, Hamburg, einem der Altmeister der deutschen gynäkologischen Endokrinologie, detailreich und umfassend dargestellt worden. Dabei ist immer wieder überraschend, wie sehr sich einerseits die grundlegende Sichtweise unsere klinischen und wissenschaftlichen Vorväter bestätigt hat und in welch großem Umfang andererseits sich unsere Detailkenntnisse vertieft und erweitert haben. Im folgenden Beitrag sollen aus unserer Sicht wesentliche Aspekte dieser Erkenntnisse dargestellt werden.
Menstruelle Zyklus Der ovarielle Zyklus des Menschen und der höheren Primaten ist durch eine von saisonalen Einflüssen weitgehend unabhängige Follikelreifung und die spontane, unabhängig vom Koitus erfolgende Ovulation mit nachfolgender Bildung des Corpus luteum sowie durch die Abstoßung des Endometriums in Form der menstruellen Blutung am Ende eines nicht fertilen Zyklus gekennzeichnet. Die Gesamtdauer dieser Vorgänge beträgt im Mittel 28 Tage. Zum typischen, auf den Tag des LH-Gipfels als Tag 0 bezogenen Verlauf der Gonadotropine und Sexualsteroide während des Zyklus, ⊡ Abb. 28.1. Die frühe Follikelphase des Zyklus ist charakterisiert durch einen vorübergehenden Anstieg von FSH, durch den die Follikelreifung stimuliert und die Selektion des zur Ovulation bestimmten Follikels eingeleitet wird. Der dominante Follikel ist ultrasonographisch in der mittleren Follikelphase zu identifizieren; sein Durchmesser nimmt im Mittel 2 mm/die zu, präovulatorisch erreicht er einen Durchmesser von 20-24 mm. Als Ausdruck der Ausreifung des Follikels erfolgt ein rapider Anstieg der Östradiolkonzentrationen im Plasma, der parallel zur Zunahme des Follikeldurchmessers verläuft und unmittelbar präovulatorisch sein Maximum erreicht. Die FSH-Konzentrationen fallen während dieser Phase der Follikelreifung
537 Menstruelle Zyklus
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⊡ Abb. 28.1. Verlauf der Serumkonzentrationen von LH, FSH, Östradiol und Progesteron und die Zunahme des Durchmessers des dominanten Follikels während des menstruellen Zyklus der Frau. Die Werte sind auf den Tag des LH-Gipfels als Tag Null normalisiert. Der dominante Follikel wird in der mittleren Follikelphase aus dem Pool der antralen Follikel selektiert und kann ultrasonographisch etwa 5-6 Tage vor der Ovulation identifiziert werden. Angegeben sind Mittelwert +- SEM der Resultate von 15 Probandinnen (mod. nach Leyendecker 1975, Wildt 1981, 1995)
deutlich ab, während die LH-Spiegel auf dem Niveau der mittleren Follikelphase verbleiben, bis der abrupte Anstieg zum präovulatorischen Mittzyklusgipfel einsetzt. Die etwa 48 h anhaltende, massiv gesteigerte Freisetzung von LH in der Zyklusmitte wurde von dem deutschen Gynäkologen Buchholz et al. als einem der ersten beschrieben und von vielen anderen, vor allem nach der Entwicklung hochsensitiver Methoden zum Nachweis von Hormonen im Blut bestätigt. Der Mittzyklusgipfel von LH induziert die endgültige Ausreifung der Eizelle, löst die Ovulation aus und induziert die Bildung des Corpus luteum, was im Anstieg von Progesteron zum Ausdruck kommt. Die Progesteronproduktion des Corpus luteum wird für 14 Tage aufrechterhalten. Im fertilen Zyklus stimuliert zu diesem Zeitpunkt bereits das vom Trophoblasten gebildete HCG das Corpus luteum und verhindert damit den Progesteronabfall am Ende der Lutealphase. Wenn keine Schwangerschaft eingetreten ist, kommt es durch den Abfall der Progesteronspiegel zur Menstruation und zum Beginn eines neuen Zyklus. Dieser charakteristische Verlauf der Hormonkonzentrationen während des menstruellen Zyklus ist Ausdruck der Aktivität eines Kontrollsystems, welches als Hauptkomponenten das Ovar, den Hypophysenvorderlappen und das Zentralnervensystem umfasst. Die Regel- und Kontrollmechanismen, die innerhalb dieses Systems wirksam sind, werden im Folgenden dargestellt.
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Kapitel 28 · Neuroendokrine Regulation der Ovarialfunktion
Zentralnervensystem, Hypophyse und ovarieller Zyklus Konzept der hypothalamo-hypophysären Einheit
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Die Vorstellung, dass das zentrale Nervensystem an der Regulation der Ovarialfunktion beteiligt ist, geht auf die seit langem bekannte Beobachtung zurück, dass der menstruelle Zyklus durch Stress, den Ernährungszustand, seelische Belastung und andere interne oder externe Faktoren beeinflusst werden kann. Experimentell nachgewiesen wurde der Einfluss des ZNS auf die Funktion der Gonaden jedoch erst zu Beginn des vorigen Jahrhunderts durch den Wiener Gynäkologen Bernhard Aschner, der tierexperimentell beim Hund zeigen konnte, dass nach der Entfernung der Hypophyse oder nach experimentellen Läsionen im Hypothalamus eine Atrophie der Gonaden eintrat. Hohlweg und Junkmann kamen 20 Jahre später auf Grund experimenteller Untersuchungen an der Ratte zu der Schlussfolgerung, dass die gonadotrope Partialfunktion des Hypophysenvorderlappens von einem Sexualzentrum im Dienzephalon abhängig ist, das in einer engen topographisch-anatomischen Beziehung zur Hypophyse stehen muss und dass die Gonaden selbst die Funktion der Hypophyse sowohl hemmen als auch stimulieren können. Das von Hohlweg und Junkmann formulierte klassische Konzept der dualen Kontrolle der Gonadotropinsekretion durch ein Sexualzentrum im Hypothalamus einerseits und das Ovar andererseits sowie ihre Vorstellung einer ovariellen Autoregulation haben sich als grund-
⊡ Abb. 28.2. Sagittalschnitt durch Hypothalamus und Hypophyse des Menschen mit halbschematischer Darstellung des Verlaufs der Portalgefäße.HVL=Hypophysenvorderlappen; HHL=Hypophysenhinterlappen; OC=Chiasma opticum; MM=Mamillarkörper; NA=Nucleus arcuatus; SO=Nucleus supraopticus; PV=Nucleus paraventricularis; SCH=Nucleus suprachiasmaticus; TH=Thalamus; PO=Area praeoptica. Die Pfeile geben die Richtung des Blutflusses an (mod. nach Bergland 1979, Wildt 1995)
539 Gonadotropin-Releasinghormon (GnRH)
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sätzlich richtig erwiesen. Die ursprünglich vertretene Auffassung einer direkten neuralen Kontrolle des HVL durch das hypothalamische Sexualzentrum musste jedoch aufgegeben werden, da die dazu notwendigen nervösen Verbindungen zwischen ZNS und Hypophyse nicht nachgewiesen werden konnten. Der Weg zur Identifizierung der Kontrollmechanismen zwischen ZNS und HVL wurde von Geoffry Harris gewiesen, indem er die Bedeutung des Portalgefäßsystems der Eminentia mediana mit dem vom Hypothalamus zur Hypophyse gerichteten Blutfluss erkannte. Er kam zu der Schlussfolgerung, dass die hypothalamische Kontrolle der Funktion des HVL auf neurohumoralem Wege erfolgt und durch Neuroinkrete vermittelt wird, die von Nervenendigungen in der Eminentia mediana in das Portalgefäßsystem abgegeben werden. Hypothalamus und Hypophyse bilden demnach eine funktionelle Einheit, innerhalb derer die Portalgefäße der Eminentia mediana die Schnittstelle zwischen ZNS und Peripherie darstellen (⊡ Abb. 28.2). Die Isolierung, Strukturaufklärung und Synthese der von Harris postulierten Releasingfaktoren ist den Laboratorien von Schally und Guillemin in mehr als 20 Jahren intensiver Arbeit gelungen, was mit der Verleihung des Nobelpreises 1977 an beide Forscher zusammen mit Rosalyn Yalow seine äußere Anerkennung fand.
Gonadotropin-Releasinghormon (GnRH) Lokalisation und Biosynthese Die hypothalamische Kontrolle der Gonadotropinsekretion wird durch Gonadotropin-Releasinghormon (GnRH) vermittelt. Es besteht aus 10 Aminosäuren. GnRH ließ sich bei allen bisher untersuchten Spezies in hohen Konzentrationen im Hypothalamus sowie in den Nervenendigungen der Eminentia mediana nachweisen, die cDNA, die für GnRH codiert wurde sequenziert. Beim Menschen sowie beim Rhesusaffen sind die Nervenzellen, welche GnRH produzieren vor allem im Bereich des Nucleus arcuatus sowie des Organum vasculosum der Lamina terminalis lokalisiert. Bei allen Spezies werden darüber hinaus diffus im ZNS verteilte GnRH-positive Perikaryen im Hypothalamus, der Amygdala, im limbischen System, Bulbus olfactorius und anderen extrahypothalamischen Strukturen beobachtet. Außerhalb des ZNS wurde GnRH unter anderem in den Zytotrophoblastzellen der Plazenta, den sympathischen Ganglien und in der Muttermilch gefunden. Welche Rolle GnRH in diesen Organen spielt ist nicht geklärt: Das plazentare GnRH könnte an der Regulation der HCG-Produktion beteiligt sein, da in vitro gezeigt werden konnte, dass GnRH die Biosynthese und Freisetzung von HCG aus plazentarem Gewebe stimuliert.
Stoffwechsel und Wirkungsmechanismus von GnRH Das von hypothalamischen Neuronen produzierte GnRH wird von den Nervenendigungen in der äußeren Zone der Eminentia mediana in das hypopyhsäre Portalgefäßsystem abgegeben. Dort kann es mit biologischen und radioimmunologischen Methoden in hohen Konzentrationen nachgewiesen werden. Über die Portalgefäße wird GnRH zu seinem Zielorgan, den gonadotropinproduzierenden Zellen des HVL transportiert. Die Elimination aus der Zirkulation und der Abbau von GnRH erfolgen innerhalb weniger Minuten. Eine biologisch
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Kapitel 28 · Neuroendokrine Regulation der Ovarialfunktion
signifikante Rezirkulation des in das Portalgefäßsystem sezernierten Hormons findet wegen der schnellen Degradation und wegen der enormen Verdünnung nicht statt. Die stimulierende Wirkung von GnRH auf die hypophysäre Gonadotropinsekretion erfolgt in 3 Schritten: Innerhalb weniger Sekunden nach der Bindung des Peptids an den Rezeptor erfolgt ein massiver Einstrom von Kalzium in die Zelle, der innerhalb weniger Minuten zur Freisetzung von gespeichertem LH und FSH führt. Der 2. Schritt der GnRH-Wirkung besteht in der Stimulierung der Neusynthese von LH und FSH, während die Aufrechterhaltung der funktionellen Integrität der gonadotropinproduzierenden Hypophysenzellen einen 3. Aspekt der Wirkung des Dekapeptids darstellt.
Hypothalamische Pulsgenerator
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Die Sekretion der hypophysären Gonadotropine erfolgt in intermittierender, pulsatiler Form. Wegen der charakteristischen Frequenz dieser Pulse von einem Puls pro Stunde wurde dieses Sekretionsmuster als circhoral bezeichnet und als Ausdruck einer intermittierenden, pulsatilen Freisetzung von GnRH aus dem Hypothalamus angesehen. Bei der pulsatilen Freisetzung von GnRH handelt es sich um eine synchronisierte Entladung GnRH-enthaltender Neurone, die durch einen neuralen Pulsgenerator oder Oszillator gesteuert wird. Elektrophysiologische Untersuchungen bei Rhesusaffen konnten diesen Pulsgenerator im Nucleus arcuatus des medio-basalen Hypothalamus lokalisieren (⊡ Abb. 28.3). Seine selektive Zerstörung führt zu einem sofortigen Abfall der LH- und FSH-Konzentrationen auf nicht mehr nachweisbare Werte. An diesem Modell konnte gezeigt werden, dass die gonadotropen Zellen des HVL einer intermittierenden Stimulation durch GnRH bedürfen. Eine kontinuierliche Zufuhr von GnRH (⊡ Abb. 28.4) ist nicht in der Lage, die Gonadotropinsekretion aufrechtzuerhalten. Sie führt zum vollständigen Sistieren der LH- und FSH-Freisetzung. Dieses Phänomen, dem eine drastische Verminderung der membranständigen GnRH-Rezeptoren zu Grunde liegt, wird als Downregulation bezeichnet.
⊡ Abb. 28.3. Multiunitaktivität im N. arcuatus des mediobasalen Hypothalamus und pulsatile LHSekretion beim ovariektomierten Rhesusaffen. Es besteht eine enge zeitliche Kopplung zwischen dem Anstieg der elektrischen Aktivität des Pulsgenerators und dem Anstieg der LH-Konzentrationen. Die Position der ableitenden Elektrode ist links oben durch den roten Punkt markiert (mod. nach Knobil 1989)
541 Regulation der Gonadotropinsekretion
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⊡ Abb. 28.4. Angriffspunkt von Östradiol bei der Kontrolle der Gonadotropinsekretion beim Rhesusaffen. Nach Ausschaltung der endogenen GnRH-Sekretion durch eine Läsion mit hochfrequentem Wechselstrom wurde die Gonadotropinsekretion durch die pulsatile Infusion von GnRH wiederhergestellt. Durch Implantation von SilastikKapseln wurde ein Anstieg der Östradiolkonzentrationen im Serum induziert, der zunächst zu einer Hemmung der Gonadotropinsekretion führte (negativer Feedback). Nach 36-48 h erfolgt ein rapider Anstieg der Konzentrationen von LH und FSH (positiver Feedback). Die hemmende und stimulierende Wirkung von Östradiol auf die Gonadotropinsekretion vollzog sich ohne jede Änderung in Frequenz und Amplitude der pulsatilen GnRH-Infusion. Die Ergebnisse dieses Experimentes zeigen, dass der negative und positive Feedback-Effekt von Östradiol auf der Ebene der Hypophyse ausgeübt werden (mod. nach Nakai 1978)
Regulation der Gonadotropinsekretion während des menstruellen Zyklus – das Ovar als Zeitgeber Kontrolle durch GnRH und Ovarialhormone Der charakteristische Verlauf der Gonadotropinkonzentrationen im Serum während des menstruellen Zyklus ist Folge der Aktivierung von negativen und positiven Rückkopplungsschleifen zwischen dem Ovar und der funktionellen Einheit von Hypophyse und Hypothalamus, an der neben ovariellen Steroiden auch vom Ovar gebildete und in die Zirkulation abgegebene Peptide und Proteine wie Activin, AMH und Inhibin beteiligt sind. Östradiol stellt die primäre ovarielle Komponente dieser Rückkopplungsschleifen dar. Die niedrigen Konzentrationen von LH und FSH während der Follikel- und Lutealphase des Zyklus sind die Folge der hemmenden Wirkung von Östradiol (negative Rückkopplung)
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Kapitel 28 · Neuroendokrine Regulation der Ovarialfunktion
auf die Gonadotropinsekretion. Die Aufhebung der negativen Rückkopplung zwischen Ovar und Hypophyse durch Ovariektomie oder Antiöstrogenbehandlung führt zu einem raschen, 10-20-fachen Anstieg der Konzentrationen von LH und FSH. Die Wiederherstellung normaler, für die Follikelphase charakteristischer Östradiolkonzentrationen führt als Ausdruck der hemmenden Wirkung von Östradiol auf die Gonadotropinsekretion zu einer Erniedrigung der Pulsamplitude von LH und FSH und damit zu einem erneuten Absinken der Gonadotropinspiegel. Der Mittzyklusgipfel ist Folge der Aktivierung der positiven Rückkopplungsschleife. Der präovulatorisch erfolgende Anstieg von Östradiol stellt den primären effektiven Stimulus dar, der die massive Freisetzung von LH und FSH durch die Hypophyse auslöst. Östradiol ist somit das primäre ovarielle Signal, mit dem der präovulatorische Follikel seine vollständige Ausreifung signalisiert. Es gibt jedoch keinen Zweifel daran, dass unter physiologischen Bedingungen auch andere Steroide und wahrscheinlich auch nichtsteroidale ovarielle Sekretionsprodukte an der Auslösung und Modulation des Mittzyklusgipfels beteiligt sind. Bei der Frau und dem Rhesusaffen wurde gezeigt, dass Progesteron in einem Konzentrationsbereich, wie er unmittelbar prä- und postovulatorisch im Plasma beobachtet wird, in der Lage ist, die Latenzzeit der primär durch Östradiol induzierten Freisetzung von LH und FSH zu verkürzen und die Gonadotropinausschüttung zu verstärken. Hohe Konzentrationen von Progesteron blockieren dagegen den LH-Peak über eine Wirkung dieses Steroids am Hypothalamus. Die LH- und FSH-Sekretion unter dem LH-Peak ist durch Pulse mit hoher Amplitude gekennzeichnet. Der Beginn des Peaks ist abrupt, er erfolgt in der Regel in den frühen Morgenstunden und ist möglicherweise die Folge eines geringen Anstieges von adrenalem Progesteron. Die Resultate dieser Untersuchungen haben gezeigt, dass das Ovar, und nicht das zentrale Nervensystem den Zeitgeber des menstruellen Zyklus der Frau und der höheren Primaten darstellt. Der zeitliche Ablauf des menstruellen Zyklus wird von den zyklischen Strukturen des Ovars – dem reifenden Follikel und dem sich daraus bildenden Corpus luteum und dessen inärenter Lebensdauer gesteuert wird. Geklärt war jedoch noch nicht, ob die regulatorische Funktion des Ovars auf der Ebene der Hypophyse, des Hypothalamus oder auf beiden Ebenen erfolgt.
Permissive Wirkung von GnRH Die Untersuchungen von Knobil und Mitarbeitern am Rhesusaffen und Untersuchungen bei der Frau gingen dieser Frage nach und haben gezeigt, dass die negativen und positiven Feedbackreaktionen auf der Ebene der Hypophyse und nicht auf der Ebene des ZNS stattfinden. Die Gabe von Östradiol bei Rhesusaffen mit fehlender endogener GnRH-Produktion bei pulsatiler Zufuhr von GnRH hatte zunächst einen hemmenden, danach aber stimulierenden Effekt auf die Gonadotropinsekretion (⊡ Abb. 28.5). Die weiteren Beobachtungen, dass sowohl in präpuberalen weiblichen Rhesusaffen mit funktionell inaktivierter hypothalamischer GnRH-Sekretion, in adulten Rhesusaffen mit zerstörtem Nucleus arcuatus aber intakten Ovarien und bei Frauen mit schwerer hypothalamischer Amenorrhoe (⊡ Abb. 28.6) durch eine unveränderte, pulsatile Infusion mit GnRH normale ovulatorische Zyklen induziert werden konnten, haben gezeigt, dass der Hypothalamus bei der Regulation des menstruellen Zyklus des Primaten eine zwar obligatorische, aber nur permissive Rolle spielt.
543 Regulation der Gonadotropinsekretion
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⊡ Abb. 28.5. Induktion eines normalen, ovulatorischen menstruellen Zyklus bei einer Patientin mit hypothalamischer Amenorrhoe Grad 3c durch die pulsatile Gabe von GnRH. Die hypothalamische Amenorrhoe war die Folge eines neurochirurgischen Eingriffs zur Entfernung eines Kraniopharyngeoms, bei dem neben dem Tumor auch der Hypophysenstiel und Teile des mediobasalen Hypothalamus entfernt wurden. Follikelreifung, Ovulation und eine Lutealphase mit normaler Dauer werden durch die gleichbleibend pulsatile GnRH-Infusion von 20 μg GnRH im Abstand von 90 min induziert (mod. nach Wildt 1995)
⊡ Abb. 28.6. Einfluss der Frequenz der pulsatilen Stimulation mit GnRH auf die LH- und FSH-Sekretion beim ovariektomierten Rhesusaffen mit hypothalamischer Läsion. Die Gonadotropinsekretion wurde durch die pulsatile Infusion von GnRH (1 Puls/h) wiederhergestellt. Der Wechsel zur kontinuierlichen Infusion führt als Folge der Downregulation zum sofortigen Abfall der zirkulierenden LH- und FSH-Spiegel auf nicht mehr nachweisbare Werte. Die pulsatile Infusion mit der Frequenz von 5 Pulsen/h hatte den gleichen Effekt wie die kontinuierliche Infusion. Die Verlangsamung der Pulsfrequenz auf einen Puls in Abstand von 3 h führt zu einem deutlichen Anstieg von FSH und zum Abfall der LH-Konzentration (mod. nach Belchetz 1978, Wildt 1981)
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Kapitel 28 · Neuroendokrine Regulation der Ovarialfunktion
Pulsatile Gonadotropinsekretion während des Zyklus
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Im spontanen Zyklus werden charakteristische Veränderungen von Frequenz und Amplitude der pulsatilen Gonadotropinsekretion beobachtet. Dieses Muster ist durch einen Anstieg der LH–Pulsfrequenz in den ersten Tagen der Follikelphase auf das charakteristische circhorale Niveau gekennzeichnet, das über den Mittzyklusgipfel hinweg konstant bleibt. In der Lutealphase fällt die Pulsationsfrequenz kontinuierlich bis zum Einsetzen der Menstruation ab. Die Pulsamplitude ist in der Follikelphase niedrig und steigt abrupt mit dem Einsetzen des Mittzyklusgipfels an. Während der Lutealphase ist die Pulsamplitude gegenüber dem Mittzyklusgipfel wieder erniedrigt, jedoch höher als in der Follikelphase (⊡ Abb. 28.7). Die in der Lutealphase zu beobachtende Frequenzverlangsamung erfolgt unter dem Einfluss von Progesteron (⊡ Abb. 28.8) und ist Ausdruck einer Modulation der Aktivität des hypothalamischen Pulsgenerators, die unter anderem durch endogene Opiate vermittelt wird. Endogene Opiate sind Neuromodulatoren, die eine überwiegend inhibitorische Wirkung im ZNS ausüben. Sie hemmen die elektrische Aktivität des hypothalamischen Pulsgenerators und damit die pulsatile GnRH-Sekretion, was zu einem Abfall der zirkulierenden Konzentrationen von LH und FSH führt. Durch die Gabe von Opiatantagonisten können bei Frauen mit hypothalamischer Ovarialinsuffizienz diese Hemmung aufgehoben und normale ovulatorische Zyklen induziert werden (⊡ Abb. 28.9). Auch die während des Schlafs in der Follikelphase zu beobachtende Frequenzverlangsamung ist wahrscheinlich auf eine temporäre Erhöhung des endogenen Opiattonus zurück zuführen. Diese und andere Beobachtungen haben zu der Auffassung geführt, dass durch die endogenen Opiate über den gesamten Zyklus hinweg modulierende Einflüsse auf die pulsatile GnRH-Sekretion ausgeübt werden und dass über die Veränderungen in der Aktivität des endogenen Opiatsystems interne und externe Signale auf den hypothalamischen Pulsgenerator vermittelt werden.
⊡ Abb. 28.7. Veränderungen von Frequenz und Amplitude der pulsatilen Gonadotropinsekretion während des menstruellen Zyklus der Frau. Die Daten von insgesamt 98 Profilen sind im linken Panel auf den Tag der Menstruation, im rechten Panel auf den Tag des LH-Peaks als Tag 0 normalisiert. Die Pulsfrequenz fällt über die gesamte Lutealphase hin ab und steigt mit Einsetzen der Menstruation abrupt an. Während der späten Follikelphase und des LH-Gipfels bleibt die Pulsfrequenz unverändert und fällt mit dem Übergang in die Lutealphase kontinuierlich ab. Die Puls-Amplitude zeigt in Zyklusmitte den typischen Anstieg unter dem LH-Peak. Die Daten stellen Mittelwerte +/- SEM dar (mod. nach Brensing 1993, Wildt 1995)
545 Regulation der Gonadotropinsekretion
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⊡ Abb. 28.8. Durch vaginale Verabreichung von Progesteron (300 mg/Tag) in der Follikelphase des Zyklus induzierte Verlangsamung der Pulsfrequenz der LH-Sekretion. Mit zunehmender Dauer der Progesteronzufuhr kommt es, wie in der Lutealphase des Zyklus, zu einer progressiven Verlangsamung der Pulsfrequenz und einer Erhöhung der Pulsamplitude von LH. Die durch Gabe der Vaginalsuppositorien erzielten Serumspiegel von Progesteron lagen zwischen 8 und 15 ng/ml (mod. nach Wildt 1995)
⊡ Abb. 28.9. Induktion eines normalen ovulatorischen Zyklus durch die Gabe von 50 mg Naltrexon bei einer Patientin mit sekundärer Gestagen-negativer hypothalamischer Amenorrhoe. Die während der Kontrollphase niedrigen Spiegel von LH und FSH stiegen innerhalb weniger Tage nach Beginn der Behandlung mit Naltrexon an. Dies führte zur Induktion der Follikelreifung und dem Anstieg von Östradiol. Bei einem Follikeldurchmesser von 20 mm kam es zum LH-Peak und zur Bildung eines normalen Corpus luteum mit normaler lutealer Progesteronsekretion
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Kapitel 28 · Neuroendokrine Regulation der Ovarialfunktion
Bedeutung für das Verständnis der Pathophysiologie von Zyklusstörungen und deren Therapie
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Die oben beschriebenen Erkenntnisse und die darauf basierende Formulierung des Konzepts einer ausschließlich permissiven, wenn auch obligatorischen Rolle von GnRH bei der Regulation des ovariellen Zyklus im Primaten sowie der fundamentalen Bedeutung des pulsatilen Musters der GnRH-Stimulation der Hypophyse für die Regulation der Gonadotropinsekretion waren von herausragender klinischer Bedeutung. Sie erlaubten die klare Abtrennung der hypothalamischen Ovarialinsuffizienz von anderen Ursachen der ovariellen Dysfunktion, nämlich der hyperandrogenämischen, der hyperprolaktinämischen und der primären Ovarialinsuffizienz. Die in diesem Zusammenhang seit Anfang der 70er-Jahre an der Bonner Klinik von unserer Arbeitsgruppe durchgeführten systematischen Untersuchungen zeigten, dass die hypothalamische Ovarialinsuffizienz ein pathophysiologisches Kontinuum darstellt, welches sich von der Corpus luteum Insuffizienz bis zur schweren primären Gestagen-negativen Amenorrhoe erstreckt, dass sie eine endokrine Dysfunktion darstellt, deren Ätiologie auf einer reduzierten oder vollständig abwesenden Sekretion von GnRH aus dem Hypothalamus in das hypothalamisch-hypophysäre Portalgefäßsystem beruht und damit dem funktionellen Zustand des Rhesusaffen mit hypothalamischer Läsion entspricht. Dieses Krankheitsbild konnte somit als Modell angesehen werden, in dem bei der Frau untersucht werden konnte: ▬ ob der ovarielle Zyklus durch die pulsatile Behandlung mit GnRH normalisiert werden konnte ▬ ob auch bei der Frau die hypothalamische GnRH-Sekretion permissiv ist und die Rückkoppelungsmechnismen der ovariellen Steroide auf der Ebene der Hypophyse ablaufen, ▬ ob die pulsatile Gabe von GnRH als Therapeutikum bei hypothalamischer Amenorrhoe eingesetzt werden kann. Sollte dies zutreffen, wäre eine Methode vorhanden, mit der durch Intaktheit der Rückkopplungsmechanismen zwischen Ovar und Hypophyse ein monoovulatorischer Zyklus induziert werden könnte und damit das Risiko von Mehrlingsgraviditäten reduziert werden könnte. Diese Fragen wurden seit 1977 intensiv klinisch und experimentell an der Universitätsfrauenklinik Bonn untersucht. Dabei zeigte sich sehr schnell, dass die oben genannten Voraussetzungen vollständig zutrafen und damit die Grundlage für die Umsetzung dieser Erkenntnisse in eine neue Therapie gegeben war. Die Konstruktion einer Miniaturpumpe zur pulsatilen Applikation von GnRH stellte eine der ersten Mikropumpen-assistierten Therapien in der Endokrinologie dar und wurde erfolgreich zur Ovulationsinduktion bei Frauen mit hypothalamischer Amenorrhoe eingesetzt. Einer der ersten beiden mit pulsatiler GnRH-Therapie induzierten Zyklen, die zu einer Schwangerschaft führten ist in der ⊡ Abb. 28.10 dargestellt. Die Resultate dieser Therapien haben gezeigt, dass in allen Fällen von hypothalamischer Amenorrhoe Monoovulationen induziert werden konnten und dass die Schwangerschaftsrate dieser Therapie – in Abwesenheit tubarer oder andrologischer Faktoren – der eines Normalkollektivs gesunder Frauen entsprach, was das zu Grunde liegende physiologische Konzept untermauert (⊡ Abb. 28.11). Die pumpenassistierte pulsatile GnRH-Therapie hat nicht nur international ihren Platz in der Sterilitätsbehandlung bei hypothalamischer Amenorrhoe gefunden, sie wurde darüber hinaus zur Abklärung anderer endokriner Funktionsstörungen eingesetzt. Dazu gehören unter anderem die diagnostische Überprüfung der Intaktheit gonadotropen Partialfunktion der
547 Bedeutung für das Verständnis der Pathophysiologie
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⊡ Abb. 28.10. Induktion eines ovulatorischen Zyklus mit Schwangerschaft durch die pulsatile Gabe von 15 μg GnRH i.v. mittels Zyklomatpumpe bei einer Patientin mit primärer Gestagen-negativer hypothalamischer Amenorrhoe. Unter pulsatiler GnRH-Therapie kam es zur normalen Follikelreifung im rechten Ovar mit Anstieg von Östradiol. Nach dem LH-Peak und erfolgter Ovulation unter der pulsatilen GnRH-Therapie wurde die Pumpe in der Lutealphase durch die dreimalige Injektion von hCG unterstützt. An Tag 18 nach Beginn der Therapie war endogenes hCG im Serum nachweisbar (gestrichelte Linie). Die Schwangerschaft führte zu der Geburt eines gesunden Kindes (aus Leyendecker 1980)
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⊡ Abb. 28.11. Kumulative Schwangerschaftsrate bei normalen Frauen (rote Linie) und Paaren, bei denen die hypothalamische Amenorrhoe der Frau die einzige Sterilitätsursache darstellte. Die Kurven geben die kumulative Rate für die pulsatile GnRH-Therapie, die Behandlung mit Naltrexon und zum Vergleich, mit Clomiphen an und zeigen, dass die Zyklen unter pulsatiler GnRH-Behandlung und unter Naltrexon-Therapie normale ovulatorische Zyklen darstellten.
Hypophyse nach neurochirurgischen Eingriffen und die Differenzialdiagnose beim SheehanSyndrom. Darüber hinaus hat sie dazu beigetragen, Einsichten in die Regulation der Follikelreifung, der Ovulation, der Funktion des Corpus luteum sowie, zusammen mit dem Einsatz von Opiatantagonisten, der Rolle des Ovars bei der Entstehung des PCO-Syndroms zu gewinnen. Weiterhin hat die Verwendung dieser Therapie durch andrologisch tätige Endokrinologen neue Möglichkeiten der Behandlung beim männlichen Kallmann-Syndrom eröffnet. Die Aufklärung der fundamentalen Bedeutung des endogenen Opiatsystems in der Kontrolle der GnRH-Sekretion sowie die Erkenntnis, dass Leptin ein Signal darstellt, durch welches das Vorliegen der metabolischen Voraussetzungen für das Eintreten einer Schwangerschaft an den hypothalamischen Pulsgenerator vermittelt wird, hat ebenfalls zu therapeutisch nutzbaren Verfahren unter Verwendung von oral applizierbaren Opiatantagonisten bzw. biosynthetisch hergestelltem Leptin geführt und damit das therapeutische Spektrum der Behandlung der hypothalamischen Ovarialinsuffizienz grundsätzlich erweitert. Bereits in den ersten klinischen Studien mit synthetisch hergestelltem GnRH hatte sich die kurze Halbwertzeit von GnRH im Plasma und damit die kurze Wirkungsdauer dieses Dekapeptids herausgestellt. Die daraufhin erfolgende Entwicklung von lang wirkenden Analoga von GnRH war daher ursprünglich mit dem Ziel erfolgt, diese Präparate therapeutisch zur Ovulationsinduktion einzusetzen. Die Resultate dieser Bemühungen waren jedoch durchweg enttäuschend. Der durch die Arbeitsgruppe von Knobil erbrachte Nachweis der Downregulation der hypopyhsären LH- und FSH-Sekretion durch kontinuierliche, vom physiologischen Muster abweichende GnRH-Stimulation lieferte die rationale Erklärung für diese initialen therapeutischen Misserfolge. Gleichzeitig eröffneten sie jedoch die Möglichkeit, den Effekt der Downregulation der Hypophyse in bestimmten Situationen therapeutisch durch die Induktion einer temporären Ausschaltung der Ovarialfunktion zu nutzen. Dies erwies sich vor
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allem im Bereich der kontrollierten ovariellen Stimulation für die In-vitro-Fertilisation von grundlegender Bedeutung, da durch die Downregulation der LH- und FSH-Sekretion das Auftreten eines vorzeitigen LH- Peaks mit konsekutiver Luteinisierung von unreifen Follikeln mit der Folge des Therapieabbruches effektiv verhindert werden konnte. Dieses Verfahren hat sich seit seiner ersten Beschreibung als Standardverfahren in der ovariellen Stimulation international durchgesetzt und die Behandlungsergebnisse beträchtlich verbessert. Auf die Bedeutung der GnRH-Analoga im Bereich benigner und maligner Erkrankungen in der Gynäkologie wird an anderer Stelle in diesem Band eingegangen.
Zusammenfassung Die Regulation des menstruellen Zyklus der Frau erfolgt durch ein Kontrollsystem, welches aus 3 Hauptkomponenten besteht: dem Ovar, dem Hypophysenvorderlappen und dem Hypothalamus. Die hypothalamische Kontrolle des HVL wird durch GnRH vermittelt, welches pulsatil in die Portalgefäße der Eminentia mediana abgegeben wird. Die Vermittlung der hypophysären Kontrolle der Ovarialfunktion erfolgt durch die gonadotropen Hormone LH und FSH, deren Freisetzung durch ovarielles Östradiol über negative und positive Rückkopplungsschleifen gesteuert wird. Die hypothalamische GnRH-Sekretion spielt innerhalb dieses Kontrollsystems eine zwar obligatorische, jedoch nur permissive Rolle, die darin besteht, den HVL durch die pulsatile Stimulation mit GnRH in die Lage zu versetzen, auf die steigenden und fallenden Spiegel der ovariellen Steroide adäquat mit einer Steigerung oder Bremsung der Gonadotropinsekretion zu reagieren. Das Ovar selbst, und nicht das Zentrale Nervensystem, stellt den Zeitgeber dar, der den Ablauf des menstruellen Zyklus bestimmt. Der zeitliche Ablauf des Zyklus ist die Folge der inhärenten Reaktion der zyklischen Strukturen des Ovars, des Follikels und des Corpus luteum auf die Stimulation mit Gonadotropinen. Das Zentralnervensystem vermittelt die von außen oder aus dem inneren Milieu auf den Ablauf des ovariellen Zyklus einwirkenden Impulse über die pulsatile Freisetzung von GnRH, wobei endogene Opiate als inhibitorische Modulatoren eine kritische Rolle spielen. Die Eminentia mediane bildet die Schnittstelle zwischen zentralem Nervensystem und Peripherie, welche die frequenzmodulierte Sprache des ZNS in die, über die Blutspiegel von Hormonen vermittelte, amplitudenmodulierte Sprache des peripheren endokrinen Systems übersetzt. Die Aktivität dieses basalen Kontrollsystems kann durch zahlreiche interne und externe Faktoren, die auf seine Einzelkomponenten einwirken, beeinflusst werden. Vor der Pubertät und während Laktation und Schwangerschaft steht die pulsatile GnRH-Sekretion unter strikter inhibitorischer Kontrolle durch das ZNS. Die hypothalamische Amenorrhoe stellt die nicht zeit- und situationsadäquate Aktivierung inhibitorischer Mechanismen während der reproduktiven Lebensphase der Frau dar. Erhöhte Spiegel von Androgenen verhindern die vollständige Ausreifung der Follikel, während bestimmte Chemotherapeutika den Eintritt von Follikeln in die Wachstumsphase beschleunigen und somit zur vorzeitigen primären Ovarialinsuffizienz führen können. Voraussetzung für die erfolgreiche rationale Therapie von Ovarialfunktionsstörungen ist das Verständnis der Physiologie und Pathophysiologie des ovariellen Zyklus. Voraussetzung für die Fortschritte, die in diesem Zusammenhang erzielt werden konnten, war die Formulierung von experimentell testbaren Hypothesen und deren konsequente Überprüfung im Rahmen der klinischen Forschung. In der Vergangenheit waren deutschsprachige Gynäkologen an diesem Prozess maßgebend beteiligt. Zu den zentralen, bisher nicht befriedigend beant-
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worteten Fragen, gehören die Fragen nach der Struktur und Funktionsweise des hypothalamischen Oszillators, dem Wirkungsmechanismus von Östradiol bei der Hemmung und Stimulierung der LH- und FSH-Sekretion, den Faktoren, die das Einsetzen der Follikelreifung und die Monoovulation bestimmen sowie die Frage nach den Mechanismen, die die Lebensdauer des Corpus luteum determinieren. Das hier dargestellte Modell der neuroendokrinen Regulation der Ovarialfunktion ist sehr einfach. Es hat sich jedoch sowohl für das Verständnis der Physiologie und Pathologie der menschlichen Fortpflanzung als auch für die Entwicklung neuer Therapien als ausgesprochen erfolgreich erwiesen.
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Kapitel 28 · Neuroendokrine Regulation der Ovarialfunktion
Leyendecker G, Wildt L, Hansmann M (1980) Pregnancies following chronic intermittent (pulsatile) administration if Gn-RH by means of a portable pump (»Zyklomat«) – a new approach to the treatment of infertility in hypothalamic amenorrhea. J Clin Endocrinol Metab 51: 1214-16 Leyendecker G, Wildt L, Plotz EJ (1981) Die hypothalamische Ovarialinsuffizienz. Gynäkologe 14: 84-103 Leyendecker G, Wildt L (1983) Induction of ovulation with chronic intermittent (pulsatile) administration of Gn-RH in women with hypothalamic amenorrhoea. J Reprod Fertil 69: 397-409 Leyendecker G, Waibel-Treber S, Wildt L (1990) The central control of follicular maturation and ovulation in the human. Oxf Rev Reprod Biol 12: 93-46 Leyendecker G, Wildt L (1996) From physiology to clinics – 20 years of experience with pulsatile GnRH. Eur J Obstet Gynecol Reprod Biol 65 Suppl. 1: 3-12 Mart¡nez de la Escalera G, Choi ALH, Weiner RI (1992) Generation and synchronization of gonadotropin-releasing hormone (GnRH) pulses: Intrinsic properties of the GT1-1 GnRH neuronal cell line. Proc Natl Acad Sci USA 89: 1852-5 Mattle V, Bilgyicildirim A, Hadziomerovic D et al. (2008) Polycystic ovarian disease unmasked by pulsatile GnRH therapy in a subgroup of women with hypothalamic amenorrhea. Fertil Steril 90: 404-9 Merz WE, Erlewein C, Licht P et al. (1991) The secretion of human chorionic gonadotropin as well as the à- and ámessenger ribonucleic acid levels are stimulated by exogenous gonadoliberin pulses applied to first trimester placenta in a superfusion tissue culture system. J Clin Endocrinol Metab 73: 84-92 Nakai Y, Plant TM, Hess DL et al. (1978) On the sites of the negative and positive feedback actions of oestradiol in the control of gonadotrophin secretion in the rhesus monkey. Endocrinology 102: 1008-14 Nocke W, Leyendecker G (1972) Neue Erkenntnisse über die endokrine Regulation des menstruellen Cyclus. Gynäkologe 5 39-65 O’Byrne KT, Knobil E (1993) Electrophysiological approaches to gonadotrophin releasing hormone pulse generator activity in the rhesus monkey. Hum Reprod 8 Suppl 2: 37-40 Plant TM, Krey LC, Moossy J et al. (1978) The arcuate nucleus and the control of gonadotropin and prolactin secretion in the female rhesus monkey (Macaca mulatta). Endocrinology 102: 52-62 Plotz EJ (1981) Differentialdiagnose und Therapie ovarieller Funktionsstörungen. Gynäkologe 14, 145-48 Quigley ME, Yen SSC (1980) The role of endogenous opiates on LH secretion during the menstrual cycle. J Clin Endocrinol Metab 51: 179-81 Ropert JF, Quigley ME, Yen SSC (1981) Endogenous opiates modulate pulsatile luteinizing hormone release in humans. J Clin Endocrinol Metab 52: 583-5 Ross GT, Cargille CM, Lipsett MB et al. (1970) Pituitary and gonadal hormones in women during spontaneous and induced ovulatory cycles. Recent Prog Horm Res 26: 1-62 Rossmanith WG, Liu CH, Laughlin GA et al. (1990) Relative changes in LH pulsatility during the menstrual cycle: using data from hypogonadal women as a reference point. Clin Endocrinol Oxf 32: 647-60 Rossmanith WG, Yen SSC (1987) Sleep-associated decrease in luteinizing hormone pulse frequency during the early follicular phase of the menstrual cycle: evidence for an opioidergic mechanism. J Clin Endocrinol Metab 65: 715-8 Ryan RJ, Keutmann HT, Charlesworth MC et al. (1987) Structure-Function relationships of gonadotropins. Recent Prog Horm Res 43: 383-429 Seeburg PH, Mason AJ, Stewart TA et al. (1987) The mammalian GnRH gene and its pivotal role in reproduction. Recent Prog Horm Res 43: 69-98 Silverman AJ, Antunes JL, Abrams GL et al. (1982) The luteinizing hormone-releasing hormone pathways in the rhesus (macaca mulatta) and pigtailed (macaca nemestrina) monkeys: new observations on thick, unembedded sections. J Comp Neurol 211: 309-17 van Vugt DA, Lam NY, Ferin M (1984) Reduced frequency of pulsatile luteinizing hormone secretion in the luteal phase of the rhesus monkey: involvement of endogenous opiates. Endocrinology 115: 1095-101 Wetsel WC, Valenca MM, Merchenthaler I et al. (1992) Intrinsic pulsatile secretory activity of immortalized luteinizing hormone-releasing hormone-secreting neurons. Proc Natl Acad SciUSA 89: 4149-53 Wildt L, Marshall G, Knobil E (1980) Experimental induction of puberty in the infantile female rhesus monkey. Science 207: 1373-5 Wildt L, Häusler A, Marshall G et al. (1981) Frequency and amplitude of gonadotropin-releasing hormone stimulation and gonadotropin secretion in the rhesus monkey. Endocrinology 109: 376-85 Wildt L, Hutchison JS, Marshall G et al. (1981) On the site of action of progesterone in the blockade of the oestradiol-induced gonadotropin discharge in the rhesus monkey. Endocrinology 109: 1293-4 Wildt L, Leyendecker G (1981) Die endokrine Kontrolle des menstruellen Zyklus. Gynäkologe 14: 64-83
553 Literatur
28
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29
Familienplanung und Empfängnisverhütung bei der Frau in Deutschland Thomas Rabe
556
29
Kapitel 29 · Familienplanung und Empfängnisverhütung bei der Frau in Deutschland
Frauen im reproduktiven Alter erwarten heute von einer kontrazeptiven Methode neben der reinen kontrazeptiven Wirkung auch sog. non-contraceptive benefits. Dazu zählen eine gute Zykluskontrolle, keine Dysmenorrhoe, Abnahme von Akne und Seborrhoe, keine Gewichtszunahme, manche Frauen wünschen sich keine Blutung mehr. Die Methode soll keine zusätzlichen Risiken in sich bergen, wie Brustkrebs und kardiovaskuläre Risiken (z. B. venöse Thromboembolien). Als weiterer Vorteil der Pille ist z. B. die Abnahme von Ovarial- und Endometriumkarzinomen um 50% mit einer Persistenz der Schutzwirkung auch nach Absetzen der Präparate zu sehen. Da diese Erkrankungen jedoch selten sind, hat die Schutzwirkung durch die Pille für die Patientin nur eine untergeordnete Bedeutung. Dennoch stellt die kontrazeptive Sicherheit einen wesentlichen Bestandteil bei der kontrazeptiven Beratung dar (⊡ Tab. 29.1). Entscheidend zur Verbesserung der Qualität von Familienplanungsprogrammen sind die Entwicklung neuer und verbesserter Methoden zur Kontrazeption bei Frauen und Männern, die Berücksichtigung der individuellen Risiken der Patientin sowie deren Beratung über die verschiedenen Optionen der Kontrazeption mit ihren jeweiligen Wirkungen und Nebenwirkungen im Sinne eines common descision making. Den Nutzern der Familienplanungsprogramme stehen allerdings nicht alle der erhältlichen kontrazeptiven Mittel zur Verfügung oder sie schrecken aufgrund der beschriebenen Nebenwirkungen vor der Anwendung wirksamer kontrazeptiver Methoden zurück. Für die Zukunft wird es wichtig sein, die Anwenderzahl wirkungsvoller Familienplanungsmethoden zu erhöhen und gleichzeitig bestehende Präparate durch geringfügige Veränderungen in ihrer Zusammensetzung oder im Freisetzungssystem sicherer, wirkungsvoller und akzeptabler zu machen. Anforderungen an neue Kontrazeptiva beinhalten: ▬ Gute kontrazeptive Wirksamkeit (Frau [f]/Mann [m]) ▬ gute Kontrolle des menstruellen Zyklus (f) ▬ keine Nebenwirkungen (f/m) ▬ gute Reversibilität (f/m) ▬ keine negative Wirkung auf die Libido (f/m) ▬ einfache Anwendung (f/m) ▬ keine hohen Kosten (f/m) ▬ weltweit verfügbar (f/m) ▬ weltweit akzeptiert, im Hinblick auf religiöse, politische und ethische Überzeugungen (f/m) ▬ zusätzliche, nichtkontrazeptive Vorteile für den Anwender: ▬ z. B. keine Beeinflussung des Körpergewichts (f/m) ▬ kein Brustkrebs- (f) oder Prostatakrebs-Risiko (m) ▬ positive Wirkung auf Haut und Haare (f/m) ▬ keine menstruellen Blutungen (f) ▬ Minderung der Beschwerden beim prämenstruellen Syndrom (f) ▬ Abnahme von Dysmenorrhoen (f) Die verschiedenen Kontrazeptiva können nach ihrem Angriffspunkt (bei der Frau: Ovulationshemmung, Hemmung der Fertilisierung oder Implantation), dem Wirkungsprinzip, der Wirkdauer (reversibel oder dauerhaft) und nach der Dauer ihrer Anwendung klassifiziert werden. Vor dem Kostenhintergrund muss zusätzlich zwischen den Originalpräparaten und z. T. zahlreichen weit billigeren Generika unterschieden werden. Zur Häufigkeit, mit der derzeit in Deutschland verschiedene Kontrazeptiva eingesetzt werden, ⊡ Tab. 29.2, ⊡ Abb. 29.1a,b. Neben der kontrazeptiven Beratung darf nie die Beratung hinsichtlich Safer Sex vernachläs-
29
557 Kapitel 29 · Familienplanung und Empfängnisverhütung bei der Frau
sigt werden. Aktuelle Fachinformationen, z. B. der hormonellen Kontrazeptiva weisen den Verbraucher darauf hin, dass die Methoden nicht vor HIV-Infektionen (AIDS) oder anderen sexuell übertragbaren Erkrankungen schützen. Bei amerikanischen Fachinformationen steht dies gleich am Anfang der Fachinformation. Im Folgenden sollen die derzeitigen Methoden zur Kontrazeption bei der Frau unter besonderer Berücksichtigung von Neuentwicklungen dargestellt werden.
⊡ Tab. 29.1 Kontrazeptive Sicherheit verschiedener Kontrazeptiva* (mod. nach Trussel 2007, http://www.arhp.org/uploadDocs/YD_Summary_Efficacy.pdf )
Typische Anwendung (Methoden- und Patientenfehler)
Perfekte Anwendung (Methodenfehler)
Fortsetzungsrate (% Frauen, die die Methode nach einem Jahr noch anwenden)
Keine Methode
85*
85*
-
Spermizide
29*
18*
42*
Koitus interruptus
27*
4*
43*
Fertilitäts-Beobachtung
25*
-
51*
Standard-Tag-Methode
-
5*
-
Zwei-Tages-Methode
-
4*
-
Ovulationsmethode
-
3*
-
Scheidenschwamm
-
-
Para
32*
20*
46*
Nullipara
16*
9*
57*
Diaphragma
16*
6*
57*
Frauenkondom (Femidom)
21*
5*
49*
Kondom bei Männern
15*
2*
53*
0,4 (0,09-1,2) (Fachinfo)
0,14
k.A.
Methode
Frauen mit ungewollter Schwangerschaft im ersten Anwendungsjahr (%) (Pearl-Index)
Kondom
Orale hormonale Kontrazeptiva Kombinationspille (OC) Estrogenfreier Ovulationshemmer Cerazette ▼
558
Kapitel 29 · Familienplanung und Empfängnisverhütung bei der Frau in Deutschland
⊡ Tab. 29.1 Fortsetzung Methode
Frauen mit ungewollter Schwangerschaft im ersten Anwendungsjahr (%) (Pearl-Index)
Fortsetzungsrate (% Frauen, die die Methode nach einem Jahr noch anwenden)
Typische Anwendung (Methoden- und Patientenfehler)
Perfekte Anwendung (Methodenfehler)
18-50 Jahre: 0,42 (max 95% KI 0,77) (Fachinfo)
18-50 Jahre: 0,79 (max 95% KI 1,23) (Fachinfo)
k.A.
18-35 Jahre: 0,51 (max 95% KI 0,97) (Fachinfo)
18-35 Jahre: 1,01 (max 95% KI 1,59) (Fachinfo)
k.A.
0,90 (0,44-1.35) (Fachinfo)
0,72 (0,31-1,13) (Fachinfo)
68*
0,96 (0,64-1,39) (Fachinfo)
0,64 (0,35-1.07) (Fachinfo)
68*
OC mit Estradiolderivaten Estradiolvalerat: Qlaira
Hormonpflaster Evra
29
Vaginalring Nuvaring
Minipille Gestagene Levonorgestrel (30 μg/Tab) Microlut
4,14 (Fachinfo)
k.A.
Depotgestagene Medroxyprogesteronacetat (DMPA) Depoclinovir
56*
0, 3 (Fachinfo)
DMPA (niedrig dosiert) Sayana
0 (Fachinfo)
Noretisteronenantat Noristerat 200 mg Injektionslösung
0 – 2,3 (Fachinfo)
Pille danach Levonorgestrel (Unofem)
▼
k.A. (Fachinfo) Tag1: 2,5 % pro Zyklus Tag 1-3: 1,7 % pro Zyklus Tag 4-5: 2,8% pro Zyklus
entfällt
29
559 Kapitel 29 · Familienplanung und Empfängnisverhütung bei der Frau
⊡ Tab. 29.1 Fortsetzung Methode
Frauen mit ungewollter Schwangerschaft im ersten Anwendungsjahr (%) (Pearl-Index) Typische Anwendung (Methoden- und Patientenfehler)
Ulipristal (EllaOne)
Perfekte Anwendung (Methodenfehler)
k.A. (Fachinfo) Tag 1: 0,9% pro Zyklus Tag 1-3: 0,9% pro Zyklus Tag 4-5: 0 % pro Zyklus
Fortsetzungsrate (% Frauen, die die Methode nach einem Jahr noch anwenden) entfällt
Intrauterinpessare Nova T 380
0,6 (Fachinfo)
ParaGard (***)
0,8*
0,6*
78*
0,2*
0,2*
80*
0,05
84*
Intrauterinsysteme Mirena
1. Jahr 0,2 %; 5. Jahr 0,7 % (Fachinfo) Hormonimplantate Ketodesogestrel Implanon
0,05
Norgestrel Jadelle (früher: Norplant 2)(***)
0,08-0,17 (Rx_List, USA)
Sterilisation Frau**)
0,5*
0,5*
100*
Sterilisation Mann
0,15*
0,1*
100*
**) abhängig von Methode, Operateur, Alter, Zeitdauer nach Operation ***) nicht in Deutschland auf dem Markt
560
Kapitel 29 · Familienplanung und Empfängnisverhütung bei der Frau in Deutschland
a
29 b
⊡ Abb. 29.1a,b. a Derzeitige Anwendungshäufigkeit verschiedener Kontrazeptiva in Deutschland nach Geschlecht (Angaben in %, BZgA 2007), b Anwendungshäufigkeit mehrerer Kontrazeptiva (Pille, Kondom, Spirale) in Deutschland nach Geschlecht (Angaben in %, BZgA 2007)
561 Kapitel 29 · Familienplanung und Empfängnisverhütung bei der Frau
29
⊡ Tab. 29.2 Demographische Daten und Anwendungshäufigkeit verschiedener Kontrazeptiva in Deutschland 2009 Millionen
%
Bezugssystem
Frauen im reproduktionsfähigen Alter (14 – 44 Jahre)
16,6
38%
aller Frauen
Frauen 14 – 20 Jahre
3,1
20%
aller Frauen im reprod. Alter
OC-Anwenderinnen, gesamt
6,0
38 %
aller Frauen im reprod. Alter
Frauen < 20 Jahre (14 bis 19 Jahre), mit OC-Einnahme
1,5
55%
aller Frauen im Alter von 14 bis 19 Jahren (2,8 Mio.)
OC < 50 μg EE
5,9
36%
aller Frauen im reprod. Alter
Kontrazeption
OC 30-35 μg EE
aller Frauen im reprod. Alter
OC 20 μg EE
aller Frauen im reprod. Alter
Vaginalring
0,3
2%
aller Frauen im reprod. Alter
Hormonpflaster
0,03
2%
aller Frauen im reprod. Alter
Östrogenfreier Ovulationshemmer
0,3
1,1 %
aller Frauen im reprod. Alter
Kupferspirale
0,5
3%
aller Frauen im reprod. Alter
Intrauterinsystem
ca. 1
6%
aller Frauen im reprod. Alter
Minipille
ca. 0,01
0,06 %
aller Frauen im reprod. Alter
Dreimonatsspritze
ca. 0,2
1%
aller Frauen im reprod. Alter
Hormonimplantat
ca. 0,15
ca. 0,9%
aller Frauen im reprod. Alter
Postkoitale Kontrazeption – Pille danach
0,4
2,5%
aller Frauen im reprod. Alter 1 x im Jahr
Kondome
4,8
28%
aller Frauen im reprod. Alter
Spermizide
k.A.
Natürliche Familienplanung
1,4
8%
aller Frauen im reprod. Alter
Sterilisation – Frau – Mann
1,4 0,45
8% 2%
aller Frauen im reprod. Alter aller Männer
aller Frauen im reprod. Alter
Frau Frauen mit Kontrazeption
9,68
Frauen, die derzeit keine oder natürliche Verhütungsmethode anwenden ▼
4
Summe (ohne alleinige Kondomanwendung ) 24%
aller Frauen im reprod. Alter
562
Kapitel 29 · Familienplanung und Empfängnisverhütung bei der Frau in Deutschland
⊡ Tab. 29.2 Fortsetzung Millionen Frauen mit Schwangerschaft (pro Jahr)
%
0,8
Bezugssystem Lebendgeburten (2008): 675 000, Schwangerschaftsabbrüche (2009): 110 700 (Stat. Bundesamt, 2010)
Frauen ohne Notwendigkeit einer Kontrazeption steril (Frau/Mann)
k.A.
kein Geschlechtsverkehr
2
12%
aller Frauen im reprod. Alter
Mann
29
Männer mit Kontrazeption
1,45
Kondom (einzige Methode)
1
Sterilisation Mann
0,45
Dunkelziffer
2,706
Gesamtzahl
15,394
geschätzt ca. 2 %
aller Männer (bis 50 Jahre) geschätzt
Hemmung der Ovulation Die Freisetzung einer befruchtungsfähigen Eizelle aus dem Ovar ist das Schlüsselereignis in der Reproduktion von Säugetieren. Die Ovulation ist ein komplexer Prozess, der durch den LH-Peak eingeleitet und durch die vorübergehende Expression spezifischer Gene kontrolliert wird. Eine Ovulationshemmung kann durch ▬ orale hormonale Kontrazeptiva (derzeit 100 Mio. Anwenderinnen weltweit), ▬ Hormonpflaster (1 Mio. Anwenderinnen weltweit), ▬ Vaginalringe (3 Mio. Anwenderinnen weltweit), ▬ östrogenfreie Ovulationshemmer (2 Mio. Anwenderinnen weltweit), ▬ Einmonatsspritzen (2 Mio. Anwenderinnen in Mittel- und Südamerika) oder ▬ durch Verlängerung der Stillperiode (100 Mio. Frauen weltweit) erreicht werden (pers. Information seitens Bayer Vital GmbH und Organon 2007).
Orale hormonale Kontrazeptiva Orale hormonale Kontrazeptiva (OC, zur kombinierten oder zyklischen Anwendung von Östrogenen/Gestagenen) sind seit 1959 verfügbar (Enovid/Synthex/USA) – bzw. in Europa als Anovlar seit 1961 (Schering/Deutschland). Derzeit nehmen 8,8 Mio. Frauen in Deutschland orale hormonale Kontrazeptiva.
563 Hemmung der Ovulation
29
Zusammensetzung Die OC enthalten als Gestagene entweder Derivate des 19-Nortestosterons in Form von Substanzen ▬ der sog. 1. Generation (Norethisteron, Norethisteronazetat, Lynestrenol, Ethinodioldiazetat), ▬ der sog. 2. Generation (Levonorgestrel) bzw. ▬ der sog. 3. Generation (Desogestrel, Gestoden, Norgestimat, Dienogest) oder Antiandrogene, d.h. Derivate des 17α-Hydroxyprogesterons (Chlormadinonazetat, Cyproteronazetat) bzw. Spirolaktonderivate (Drospirenon) in Kombination mit 15-35 μg Ethinylestradiol pro Tablette/Dragee). Antiandrogen wirksam sind: Chlormadinonazetat, Cyproteronazetat, Dienogest und Drospirenon. Die anderen OC besitzen eine leichte antiandrogene Wirkung über die durch Ethinylestradiol bedingte SHBG-Erhöhung in der Leber mit einem Abfall des freien Testosterons.
Indikationen Primäre Indikation: Kontrazeption, aber auch aus medizinischen Gründen (off label) unter zahlreichen anderen Indikationen eingesetzt (z. B. bei Dysmenorrhoe, Zyklusstörungen, PMS, Akne vulgaris etc.). Manche Präparate sind primär nur für die Indikation Akne zugelassen, wirken aber zusätzlich als Kontrazeptivum. Bei der OC-Verordnung spielen antiandrogenhaltige Präparate bei Frauen mit Hautunreinheiten, Akne und Seborrhoe mit einem Marktanteil von mehr als 60% aller OC eine große Rolle.
Kontraindikationen Siehe Fachinformation.
Nebenwirkungen Siehe Fachinformation und Fachliteratur insbesondere zu kardiovaskulären Risiken (u. a. Risiko venöser Thromboembolien. In diesem Zusammenhang sei auf die Bedeutung der Familienanamnese hinsichtlich kardiovaskulärer Erkrankungen der Eltern unter 45 Jahren und je nach Situation die Möglichkeit von Laboruntersuchungen zur Thrombophilie und die hieraus notwenige Beratung der Patientin hingewiesen. Rabe et al. 2009, M. Ludwig 2010) und möglichen onkologischen Nebenwirkungen (⊡ Tab. 29.3).
Onkologische Erkrankungen (ausführliche Bewertung Rabe 2007) ▬ Zervixkarzinom: Einige epidemiologische Studien weisen darauf hin, dass die LangzeitAnwendung von oralen Kontrazeptiva bei Frauen, die mit humanem Papillomavirus (HPV) infiziert sind, einen Risikofaktor für die Entwicklung eines Zervixkarzinoms darstellt. Es besteht allerdings Uneinigkeit darüber, in welchem Ausmaß dieses Ergebnis durch andere Faktoren (z. B. Unterschiede in der Anzahl an Sexualpartnern oder in der Anwendung von mechanischen Verhütungsmethoden) beeinflusst wird (s. auch Medizinische Untersuchung).
564
Kapitel 29 · Familienplanung und Empfängnisverhütung bei der Frau in Deutschland
⊡ Tab. 29.3 Einteilung der Kontrazeptiva nach Thrombose/VTE-Risiko bei gesunden Frauen im reproduktiven Alter ohne zusätzliche Risikofaktoren (z. B. Zigarettenrauchen, Übergewicht, Immobilisierung, positive Familienanamnese für kardiovaskuläre Erkrankungen etc., Rabe u. Dinger, pers. Mitteilung 2010)
29
Risiko
Alter [Jahre]
Inzidenz1 [VTE/10.000 Frauenjahre]
Verhütungsmethode/Bevölkerungsgruppe
Unverändert
≤19 20-29 30-39 40-49 15-49
1-2 2-3 3-4 5-7 3-4
Gesunde, nicht schwangere Frauen ohne Kontrazeption Verwendung nichthormonaler kontrazeptiver Methoden (Tubensterilisation, Kondom, Spermizide, Verhaltensmethoden, Kupfer-IUDs)
Unverändert oder geringfügig erhöht
15-49
3-4
Gestagen-haltige Verhütungsmittel (geringfügige Risikoerhöhung gegenüber nichthormonalen Methoden nicht auszuschließen; deshalb bei gesicherter Thrombophilie nichthormonale Methoden bevorzugt einsetzen) Levonorgestrel-IUS Minipille Östrogen-freier Ovulationshemmer Gestagen-Depotspritze
Mäßig erhöht Stufe 1
≤9 20-29 30-39 40-49 15-49
3-4 5-8 8-10 15-22 6-10
Kombinationspillen mit <50 μg Ethinylestradiol und Levonorgestrel, Norethisteron, Norethisteronazetat, Norgestimat Chlormadinonazetat, Dienogest, Drospirenon (vermutlich kein höheres Risiko als mit Levonorgestrelhaltigen Kombinationspillen, ein geringfügig höheres Risiko ist jedoch nicht auszuschließen) Kombinationspillen mit Estradiol und Dienogest (geringere Hämostasebeeinflussung als durch Ethinylestradiol/ Dienogest; Risikoeinstufung sollte sich bis zum Vorliegen robuster VTE-Inzidenzen an Ethinylestradiol/ Dienogest orientieren) Nuvaring
Stufe 2
15-49
6-14
Kombinationspillen mit <50 μg Ethinylestradiol und Desogestrel, Gestoden oder Cyproteronacetat (VTE-Risiko im Vergleich zu Levonorgestrel-haltigen Präparaten wissenschaftlich umstritten, ein gering- bis mäßiggradig höheres Risiko ist jedoch nicht auszuschließen) Kontrazeptionspflaster Evra
Stark erhöht
15-49
20-30
Schwangerschaft und die ersten 3 Monate nach Entbindung; Risiko nach Kaiserschnitt deutlich höher als nach Spontangeburt
▬ Brustkrebs: Eine Metaanalyse von 54 epidemiologischen Studien zeigt, dass es unter Einnahme oraler Kontrazeptiva zu einer geringfügigen Erhöhung der Diagnosewahrscheinlichkeit für Brustkrebs kommt (RR=1,24). Das erhöhte Risiko ist vorübergehend und geht allmählich innerhalb von 10 Jahren nach Beendigung der Einnahme zurück. Diese Studien geben keinen Aufschluss über die Ursachen. Das beobachtete
565 Hemmung der Ovulation
29
höhere Risiko ist möglicherweise auf eine frühzeitige Diagnose von Brustkrebs bei OCNehmerinnen, die biologischen Wirkungen von KOK oder auf eine Kombination von beidem zurückzuführen. ▬ Ovarialkarzinome und Endometriumkarzinome: Diese sind unter der Anwendung von kombinierten OC seltener. Bei 5-jähriger Einnahme hält die Risikoreduktion von bis zu 50% auch nach Absetzen 10-15 Jahre an. ▬ Lebertumoren: In seltenen Fällen wurden unter der Einnahme oraler Kontrazeptiva gutartige und in noch selteneren Fällen bösartige Lebertumoren gemeldet. In Einzelfällen führten diese Tumoren zu lebensbedrohlichen intraabdominellen Blutungen. Bei Auftreten starker, nicht spontan reversibler Schmerzen im Oberbauch, Lebervergrößerung oder Zeichen intraabdomineller Blutungen muss daher ein Lebertumor in Betracht gezogen und die Pille abgesetzt werden.
Wichtige Risikohinweise Siehe Fachinformation. Die Risiken, die mit der Anwendung eines OC – individuell unterschiedlich – verbunden sein können, ebenso aber nicht selten auch die Rate an Nebenwirkungen, können womöglich mit Herabsetzung der applizierten Hormondosen und/oder Änderung des Applikationsmodus reduziert werden:
Reduktion von Ethinylestradiol (EE) Bei Reduktion der EE-Dosis von 50 μg auf 30-35 μg pro Tablette/Dragée kommt es auch zu einer Senkung der Rate an kardiovaskulären Nebenwirkungen, d. h. der Rate an Herzinfarkten, Schlaganfällen und tiefen Beinvenenthrombosen. Hingegen nimmt bei Reduktion der EE-Dosis pro Tablette von 30-35 μg auf 20 μg EE nur noch die Inzidenz der tiefen Beinvenenthrombosen weiter ab. Im Vergleich zwischen OC mit 20 μg EE versus OC mit >20 μg EE ergab eine Cochrane-Analyse von Gallo et al. (2005) häufigere Studienabbrüche aufgrund von Blutungsstörungen unter Anwendung von 20 μg EE-Pillen. Es wurde jedoch kein Unterschied in der kontrazeptiven Sicherheit zwischen 20 μg und >20 μg EE-haltigen Pillen gefunden.
Östrogenfreie Kontrazeptiva Neben einer effektiven lokalen Barriere-Wirkung über den Zervikalfaktor haben östrogenfreie Kontrazeptiva auch eine wirkungsvolle ovulationshemmende Wirkung. Der PearlIndex lag unter Anwendung einer »Minipille« mit täglich 75 μg Desogestrel (Cerazette®) (Essex) bei 0,41 und unterschied sich nicht signifikant vom Pearl-Index unter Anwendung einer reinen Levonorgestrel-Pille. Jedoch war die Vergleichsstudie zu klein, um klinisch wichtige Unterschiede festzustellen. Auch wurden die kontrazeptive Sicherheit unter einer reinen Desogestrel-Minipille und die Sicherheit unter einem kombinierten oralen hormonalen Kontrazeptivum nicht direkt miteinander verglichen. Blutungsunregelmäßigkeiten waren unter der reinen Levonorgestrel-Minipille häufiger. Nach 11-13 Monaten der Einnahme hatten jedoch 50% der Frauen, die die Desogestrel-haltige Pille anwandten, unregelmäßige Blutungen oder eine Amenorrhoe. Im Vergleich dazu war dies nur zu 10% in der Gruppe der Fall, die das Levonorgestrel-haltige Präparat einnahmen (New Product Review 2003). Genauso wie die reine Gestagen-haltige Minipille, wird Cerazette® ohne Einnahmepause
566
Kapitel 29 · Familienplanung und Empfängnisverhütung bei der Frau in Deutschland
eingenommen, das Zeitfenster für die Einnahme beträgt jedoch nicht 3, sondern maximal 12 h. Die Behandlung mit Cerazette® führt zu einem erniedrigten Östradiolspiegel, welcher jenem der frühen Follikelphase entspricht. Klinisch relevante Einflüsse auf den Kohlenhydratstoffwechsel, den Lipidstoffwechsel und die Hämostase und auf die Knochendichte wurden nicht beobachtet. Wie andere reine Gestagen-Pillen ist Cerazette® gut geeignet für eine Anwendung während der Stillzeit und für Frauen, die keine Östrogene einnehmen wollen oder dürfen (siehe Fachinfo).
Kontrazeptiva mit Östradiolvalerat
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Seit 05/2009 ist in Deutschland eine Kombination mit Dienogest und Estradiolvalerat unter dem Namen Qlaira® von Bayer auf dem Markt. Zusammen mit dem Gestagen Dienogest wird Estradiolvalerat in einem sog. 4-Phasen-Schema mit abnehmender Östrogen- und ansteigender Gestagendosis eingesetzt und bietet eine gute Zykluskontrolle. Die kontrazeptive Sicherheit betrug in klinischen Studien in der EU sowie in den USA/Kanada in der Altersgruppe von 18-50 Jahren 0,42 (korrigierter Pearl-Index) bzw. 0,79 (unkorrigierter Pearl-Index). In einer multizentrischen, randomisierten, doppelblinden Vergleichsstudie mit Qlaira® und 20 μg EE/100μg LNG bei insgesamt 798 Frauen zwischen 18 und 55 Jahren über einen Zeitraum von 7 Zyklen fand man unter Qlaira® kürzere und leichtere Entzugsblutungen. Die häufigsten unerwünschten Nebenwirkungen waren Brustbeschwerden (4,9%), Zwischenblutungen (4,9%) und Kopfschmerzen (3,1%). Das Profil unterscheidet sich nicht von den üblichen Beobachtungen unter anderen oralen Kontrazeptiva. In einer groß angelegten aktiven Surveillance-Studie wird nach Markteinführung die Wirkung von Qlaira® auf venöse (VTE) und arterielle Thromboembolien (ATE) untersucht werden. Qlaira® eignet sich nicht für den Langzyklus. (Weitere Informationen s. Fachinfo bzw. Gynäkologie aktuell – ein Supplement zum Frauenarzt 50. Jahrgang, April 2009. Qlaira-Filmtabletten: Innovatives orales Kontrazeptivum.) Eine Kombinationspille mit Östradiol und Nomegestrolacetat wird von der Firma Merck (früher Essex bzw. Organon) 2011 auf den Markt kommen.
Behandlungsschemata In einer Cochrane-Analyse fanden van Vliet et al. (2006), dass die Studienlage nicht ausreicht, um zu entscheiden, ob monophasische OC besser sind als biphasische OC, wenn man auf die kontrazeptive Wirkung, das Blutungsmuster und die Abbruchrate abhebt. Es lag überhaupt nur eine Studie vor, die zudem methodisch unzulänglich war (es fehlen z. B. Angaben über eingetretene Schwangerschaften). Die Cochrane-Analyse von van Vliet et al. (2006) ergab, dass die zur Verfügung stehenden Studien keine Entscheidung darüber zulassen, ob Dreiphasen-Präparate besser sind als Zweiphasen-Präparate, wenn man die kontrazeptive Wirkung, das Blutungsmuster und die Abbruchrate analysiert (Anmerkung: Diese Cochrane-Analyse ist jedoch wenig aussagekräftig!).
Kontinuierliche OC-Einnahme über 3 Monate (»Dreimonatspille«) In den USA sind derzeit 2 sog. Dreimonatspillen verfügbar: Seasonale® (84 Tage 30 μg Ethinylestradiol + 150 μg Levonorgestrel/7 Tage Pillenpause) und Seasonique® (84 Tage 30 μg Ethinylestradiol + 150 μg Levonorgestrel/7 Tage 10 μg Ethinylestradiol).
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Kontinuierliche tägliche OC-Einnahme Im Jahre 2007 hat die FDA (USA) das Präparat Lybrel® von Wyeth (jetzt Pfizer) mit 20 μg EE und 90 μg Levonorgestrel pro Tablette als niedrig dosiertes, kontinuierlich anzuwendendes, d. h. nichtzyklisches Kontrazeptivum, zugelassen. In einer klinischen Studie im Rahmen des Contraceptive Research and Development Program betrug der Pearl-Index 1,26. Bei 79% der Frauen trat eine Amenorrhoe ein (Archer et al. 2006). Aufgrund der vermehrten Blutungsstörungen erfolgte bisher keine europäische Zulassung. Auch soll der Pearl-Index letztlich bei 2 liegen.
Anwendung von OC im Langzyklus (extended cycle) Eine zunehmende Zahl von Frauen entscheidet sich derzeit für den sog. Langzyklus, d. h. für die kontinuierliche Einnahme der Tabletten aus z. B. 3, 6 oder mehr Blistern eines Kombinationspräparates, ohne ein pillenfreies Intervall einzulegen. Die Vorteile bei dieser Form der OC-Anwendung werden in der Abnahme von Beschwerden gesehen, die mit den Menstruationsblutungen in Zusammenhang stehen (Dysmenorrhoe, prämenstruelles Syndrom, Migräne in der Pillenpause etc.). In einer Cochrane-Analyse fanden Edelman et al. (2005) bei der Auswertung von 6 randomisierten, kontrollierten Studien, dass die kontinuierliche Einnahme einer Pille über einen längeren Zeitraum als 28 Tage günstiger ist als die traditionelle zyklische Anwendung von oralen Kontrazeptiva. Die Studienergebnisse unter Anwendung von OC über jeweils 21 Tage (+ 7 Tage Pause) bzw. im Langzyklus unterscheiden sich im Hinblick auf die kontrazeptive Sicherheit und die Arzneimittelsicherheit nicht. Auch wurden keine Compliance-Unterschiede gefunden, d. h. die Zufriedenheit der Patientinnen war in beiden Gruppen gleich hoch (allerdings wurde dieser Parameter nicht in allen Studien untersucht). Die Abbruchraten wegen Blutungsstörungen waren ebenfalls vergleichbar. Zudem bestätigte sich in einigen Studien, dass Nebenwirkungen, die im Zusammenhang mit Menstruationsblutungen gesehen werden, wie Kopfschmerzen, genitale Irritationen, Ermüdung, aufgetriebenes Abdomen und Schmerzen bei der Menstruation unter der pausenfreien OC-Anwendung im Langzyklus geringer waren. Fünf von sechs Studien zeigten, dass das Blutungsmuster zwischen beiden Gruppen entweder vergleichbar oder in der Langzyklus-Gruppe günstiger ausfiel. Die Endometriumdicke, die jeweils in kleinen Stichproben untersucht worden war, lag bei allen Messungen unter 5 mm. In Deutschland ist die OC-Anwendung im Langzyklus weit verbreitet und von Patientinnen wie Ärzten in hohem Maße akzeptiert. Die Behandlung erfolgt jedoch off-label, da zurzeit keine klinischen Studien zur Langzyklus-Anwendung von OC vorliegen und es folglich auch keine offizielle Zulassung gibt. Nach einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA 2007) ziehen in Deutschland von 751 Frauen, die in den letzten 12 Monaten Geschlechtsverkehr hatten, 42% der befragten Frauen grundsätzlich eine monatliche Regelblutung vor. 31%, vor allem die jüngeren Frauen zwischen 20 und 29 Jahren, fanden es manchmal gut, die Regelblutung zu bestimmten Anlässen, wie z. B. im Urlaub, einmalig zu unterdrücken. 26% fänden es generell gut, die Regelblutung für mehrere Zyklen zu unterdrücken. Von dieser Möglichkeit würden überdurchschnittlich häufig die Frauen in den neuen Bundesländern Gebrauch machen. Auch Frauen, die insgesamt nur wenig oder überhaupt nicht auf ihre Gesundheit achten, stehen der Verhütung im Langzyklus positiv gegenüber. 24% der Befragten haben bereits Erfahrung mit dem Langzyklus gemacht. Auch bei Hochleistungs-Sportlerinnen ist der Langzyklus möglich (Nationale Anti-Doping Agentur, NADA, persönliche Mitteilung 2009).
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Hormonpflaster Das Hormonpflaster Evra® von Ortho-McNeil setzt täglich 150 μg des Gestagens Norelgestromin und 20 μg Ethinylestradiol frei. Das Pflaster wird wöchentlich gewechselt und über 3 Wochen in Folge angewandt. Danach folgt eine Woche ohne Pflaster. Die kontrazeptive Sicherheit entspricht der Pille: Pearl-Index: Methoden- und Patientenfehler 0,90 (0,44-1,35), Methodenfehler 0,72 (0,31-1,13) (Fachinfo). Erstzulassung im Jahr 2001 durch die FDA in den USA, in Deutschland seit 2003 im Handel. Die Akzeptanz in den verschiedenen Ländern ist nicht sehr hoch, z. T. beruht dies auf der Größe des Pflasters sowie Bedenken in Bezug auf das Thromboserisiko: ▬ 2005 wurde der Beipackzettel zu Evra® auf Veranlassung der FDA geändert (10. Nov. 2005): Die Anwenderinnen werden darüber informiert, dass unter Anwendung des Hormonpflasters höhere EE-Spiegel auftreten, als es unter Anwendung der meisten oralen hormonalen Kontrazeptiva der Fall ist. Die FDA gab an, dass unter Anwendung von Evra® 60% mehr Östrogene im Blut gefunden wurden als unter Anwendung einer 35 μg Ethinylestradiol enthaltenden Pille (www.fda.gov/bbs/topics/news/2005/NEW01262.htm). ▬ Das Thromboembolierisiko soll im Vergleich zu oralen hormonalen Kontrazeptiva bis doppelt so hoch sein.
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Cochrane-Analyse (Gallo et al. 2003) Siehe bei Vaginalring
Trends Ein kleineres Pflaster, das Ethinylestradiol und Gestoden freisetzt (Handelsname Fidencia®, Hersteller: Bayer-Schering-Pharma) wird in den nächsten Jahren verfügbar sein.
Vaginalringe Die vaginale Anwendung kontrazeptiv wirksamer Steroide erlaubt eine gute Zykluskontrolle bei einer insgesamt deutlich niedrigeren Steroidexposition. Einer der ersten Vaginalringe zur Kontrazeption war der Levonorgestrel-Ring der WHO.
NuvaRing Derzeit ist jedoch nur der NuvaRing® (Essex), der 120 μg Etonogestrel und 15 μg Ethinylestradiol täglich über 21 Tage freisetzt, in den meisten Ländern der Welt verfügbar. Die kontrazeptive Sicherheit entspricht der der Pille: Pearl-Index: Methoden- und Patientenfehler: 0,96 (0,64-1,39), Methodenfehler 0,64 (0,35-1.07) (Fachinfo). Es treten weniger Zwischenblutungen auf, wie unter der Pille, da die Steroidspiegel über den Zyklus stabil sind. Die Akzeptanz weltweit nimmt zu, vorausgesetzt die Anwenderin akzeptiert die hierzu notwendige vaginale Manipulation bei der Einlage und der Entfernung des Vaginalrings. Eine neue Studie zeigte, dass insbesondere die Frauen, die keine Probleme mit Tampons haben, dies auch nicht mit dem NuvaRing haben (Tepe et al. 2010). Die Steroidexposition der Männer beim Verkehr ist vernachlässigbar gering. Er kann jedoch bei Bedarf
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bis 3 h aus der Scheide entfernt werden, ohne dass die kontrazeptive Sicherheit beeinträchtigt wird.
Cochrane-Analyse (Gallo et al. 2003) Beim Vergleich von Hormonpflaster, Vaginalring mit kombinierten oralen hormonalen Kontrazeptiva hinsichtlich Wirkungen und Nebenwirkungen zeigten 3 kontrollierte Studien keine Unterschiede in der kontrazeptiven Sicherheit von Hormonpflaster und Vaginalring. In einer Studie haben mehr Frauen in der Hormonpflaster-Gruppe die Studie frühzeitig abgebrochen als Patientinnen unter Anwendung oraler hormonaler Kontrazeptiva, eine andere Studie konnte dies nicht bestätigen. Unter dem Pflaster traten häufiger Brustbeschwerden auf als bei den OC-Anwenderinnen. Die beobachteten Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen, Übelkeit, Dysmenorrhoe und Bauchschmerzen unterschieden sich in beiden Gruppen nicht.
Trends ▬ Progesteron: Der vom Populaton Council in New York/USA entwickelte Progesteronhaltige Vaginalring mit einer Wirkdauer von 3 Monaten soll im Wochenbett bei stillenden Frauen einsetzbar sein. ▬ Nomegestrol: Neue Vaginalringe mit dem Gestagen Nomegestrol befinden sich in der Phase der klinischen Prüfung. ▬ Nestoron: Nestoron ist ein starkes, nicht androgen wirksames 19-Norprogesteronderivat, das bei oraler Gabe nicht wirksam ist, aber bei nicht oraler Anwendung (als Implantat, transdermale Gabe) eine hohe Wirksamkeit entwickelt. Aufgrund seiner hohen Potenz ist das Gestagen Nestoron ein hervorragender Kandidat für kontrazeptive Freisetzungssysteme, die über längere Perioden wirksam sein sollen. Derzeit werden zudem klinische Studien mit einem Vaginalring durchgeführt, der täglich 150 μg Nestoron (NES) und 50 μg Ethinylestradiol (EE) über einen Zeitraum von einem Jahr freisetzt. Federführend sind das Population Council (New York, USA) und das Department Reproductive Health and Research der WHO (HRP-Programm). ▬ Steroide und Mikrobizide: Andere Vaginalringe, die in vorklinischen oder klinischen Studien getestet werden, setzen kontrazeptive Steroide und/oder Mikrobiozide frei. Von Mikrobioziden verspricht man sich einen zusätzlichen Schutz vor der Übertragung von Geschlechtskrankheiten. ▬ Neue Substanzgruppen: Ganz allgemein muss in vorklinischen Studien gezeigt werden, ob sich Progesteron, Anti-Gestagene, Progesteron-Rezeptor-Modulatoren, Östrogene, AntiÖstrogene und Östrogen-Rezeptor-Modulatoren (SERMS) zur vaginalen Kontrazeption eignen.
Einmonatsspritzen Zurzeit sind in Mittel- und Südamerika unterschiedliche Einmonatsspritzen mit Östrogen/ Gestagen-Kombinationen auf dem Markt (u. a. auch das Mesigyna® von Bayer-Health-Care) (50 mg Norethisteronenanthat und 5 mg Estradiolvalerat) oder das Cyclofem (25 mg DMPA und 5 mg Estradiolcypionat). 2000 wurde von der FDA das Präparat Lunelle® (25 mg Medroxyprogesteronazetat und 5 mg Estradiolcypionat), das alle 28-33 Tage gespritzt wird, zuge-
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Kapitel 29 · Familienplanung und Empfängnisverhütung bei der Frau in Deutschland
lassen – kurz danach wurde die Produktion in den USA aber aufgrund von Problemen beim Herstellungsprozess wieder eingestellt.
Cochrane-Analyse (Gallo et al. 2005) Kombinierte Estrogen/Gestagen-Depotspritzen führen zu weniger Blutungsstörungen, häufiger regelmäßige (zyklische) Blutungen. Es brechen weniger Frauen die Methode aufgrund von Blutungsproblemen ab, als unter Anwendung eines reinen Gestagen-Depotpräparats. Gute kontrazeptive Sicherheit.
Trends Kleine, durch die Anwenderinnen selbst applizierbare Einmalspritzen (z. B. Uniject® von der Firma Path) befinden sich derzeit in Entwicklung.
Pille danach
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Bei der postkoitalen Kontrazeption wird eine Schwangerschaft verhindert durch Hemmung der Follikelreifung, Verschiebung bzw. Unterdrückung des Eisprungs oder Beeinflussung der Implantation, wobei sich abzuzeichnen scheint, dass eine klinische Relevanz nur den ersten beiden Mechanismen zukommt. Im Hinblick auf die Senkung der Schwangerschaftsabbruchrate hat man sich auf eine vermehrte Verbreitung konzentriert. Der Rat an die Patientin, diese für den Notfall bereits zu Hause zu haben, hat die Anwendung erhöht, aber die Schwangerschaftsrate nicht gesenkt. Letzteres kann jedoch nur für die levonorgestrelhaltigen Notfallkontrazeptiva gesagt werden, da für Ulipristal diesbezüglich noch keine Erfahrungen vorliegen. Seit den 70er-Jahren wurde zunächst die Haspelmethode (5 mg EE über 5 Tage), dann die Yupze-Methode (Kombination von 1 mg Levonorgestrel mit 100 μg Ethinylestradiol in 2 Einzelgaben im Abstand von 12-72 h postkoital) entwickelt. In der jüngeren Vergangenheit hat man dann 1,5 mg Levonorgestrel innerhalb von 72 h nach ungeschütztem Geschlechtsverkehr zur postkoitalen Kontrazeption eingesetzt. Seit 2009 steht der Progesteronrezeptormodulator Ulipristal (HRA Pharma) zur postkoitalen Verfügung bis 5 Tage danach zur Verfügung. Auch dieses Präparat verhindert schwerpunktmäßig die Follikelreifung und Ovulation. Die wichtigsten Anwendungshinweise bzw. Unterschiede von Levonorgestrel und Ulipristal: ▬ Beide Methoden dürfen erst nach Ausschluss einer Schwangerschaft angewandt werden. ▬ Die wichtigsten Kontraindikationen sind schwere Magen-Darmerkrankungen, sowie renale bzw. hepatische Störungen. Bei LNG kommt noch das kardiovaskuläre Risiko hinzu, das mit berücksichtigt werden müsste. Bei Ulipristal fehlen hierzu Anwendungshinweise (s.u.). ▬ Anwendungshinweise – Anwendung im Zyklus: Beide Methoden können zu einem beliebigen Zeitpunkt während des Menstruationszyklus eingenommen werden. – Vorherige Medikamenteneinnahme: Aufgrund der langen Latenz der Wirkung von Enzyminduktoren oder -inhibitoren (bis zu 2-3 Wochen nach Absetzen) muss dies vor der Anwendung erfragt und besprochen werden.
571 Pille danach
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– Medikamenteninteraktion: siehe unbedingt Fachinformation – Gleichzeitige Anwendung von oralen hormonalen Kontrazeptiva: bei LNG möglich, bei Ulipristal sollte dies vermieden werden. – Verhalten bei Erbrechen: Tritt innerhalb von 3 h nach Einnahme der Tablette Erbrechen auf, sollte unverzüglich eine weitere Tablette eingenommen werden. – Mehrfacheinnahme pro Zyklus: – LNG: Eine wiederholte Anwendung innerhalb eines Menstruationszyklus sollte wegen der unerwünscht hohen Hormonbelastung für die Patientin und der Möglichkeit schwerer Zyklusstörungen unterbleiben. – Ulipristal: Eine wiederholte Anwendung innerhalb eines Menstruationszyklus ist nicht zu empfehlen, da die Sicherheit und die Wirksamkeit von Ulipristal unter diesen Umständen nicht in Studien untersucht wurden. – Wochenbett/Stillen: Im Wochenbett sollte nach LNG 8 h und nach Ulipristal 36 h nicht gestillt werden. ▬ Nebenwirkungen: Die Nebenwirkungsrate nach Ulipristal ist vergleichbar mit der Levonorgestrel-Methode. ▬ Kardiovaskuläres Risiko: Auch wenn das Risiko für venöse Thromboembolien (VTE) bei der LNG-Methode als gering angesehen wird (vgl. Diskussion Arztvorbehalt der Verordnung) sollte bei bekannten Risikofaktoren an eine kurzzeitige Heparinbehandlung und Patientenberatung hinsichtlich Frühsymptomen einer VTE etc. gedacht werden. Zu Ulipristal liegen keine Daten vor – daher ist dies eine Einzelfallentscheidung, da »kein VTE-Risiko« nicht mit letzter Sicherheit angenommen werden kann. Zulassungsstudien von Ulipristal haben kein erhöhtes venöses Thromboembolie-Risiko gezeigt. Venöse Thromboembolien unter LNG wurden bei den internationalen Studien nicht beobachtet (siehe Übersicht Trussel u. Raynold 2009). ▬ Kontrazeptive Sicherheit: – Keine der hormonellen Methoden bietet eine 100%ige Sicherheit, nicht schwanger zu werden. Die Sicherheit der »Spirale danach« bis 5 Tage nach ungeschütztem Verkehr ist höher (99%), ebenso die hiermit verbundenen Nebenwirkungen und Risiken. – Innerhalb von 24 h nach ungeschütztem Geschlechtsverkehr ist die kontrazeptive Sicherheit von Ulipristal 2-3-mal so hoch im Vergleich zu 1,5 mg Levonorgestrel (in absoluten Zahlen pro Zyklus: Ulipristal: 5 (0,9%), Levonorgestrel: 15 (2,5%) Frauen, die in diesem Zyklus schwanger würden). – Im Gegensatz zu Levonorgestrel nimmt die kontrazeptive Sicherheit bei Anwendung von Ulpristal nicht mit der Zeit nach ungeschütztem GV ab. – Ulipristal ist das einzige Präparat, das zur Anwendung im Zeitraum von 1-5 Tagen europaweit zugelassen ist. Dieser Produktvorteil kommt insbesondere dann zum Tragen, wenn der ungeschützte Geschlechtsverkehr z. B. kurz vor einem Wochenende erfolgte und ein Arztbesuch erst Anfang der nächsten Woche möglich ist. ▬ Schwangerschaft nach Versagen der Methode: – LNG: Kein Abbruch einer bereits bestehenden Schwangerschaft möglich. Epidemiologische Studien haben gezeigt, dass Gestagene keine Missbildungen bei einem Fetus verursachen, wenn im Fall eines Versagens dieses Kontrazeptivums eine Schwangerschaft weiter besteht. Bei Einnahme von Dosen über 1,5 mg Levonorgestrel liegen keine Erkenntnisse über die Folgen für das Kind vor. Falls eine Schwangerschaft nach Behandlung mit unofem® 1,5 mg eintritt, sollte die Möglichkeit einer ektopen Schwangerschaft in Betracht gezogen werden.
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Kapitel 29 · Familienplanung und Empfängnisverhütung bei der Frau in Deutschland
– Fehlbildungen nach Kontrazeptionsversagern: Zu beiden Präparaten liegen von den Herstellerfirmen keine größeren Daten vor. Kontrazeptionsversager unter Ulipristal siehe Bericht für die EMEA (European Medicines Agency, http://www.ema.europa. eu/humandocs/PDFs/EPAR/ellaone/H-1027-en6.pdf). Eine Nachfolgebeobachtung der Herstellerfirma zu Ulipristal läuft. Wenn trotz Einnahme von Ulipristal eine Schwangerschaft entsteht oder bereits kurz vor Einnahme entstanden ist (bei noch negativem Schwangerschaftstest), besteht kein Grund für einen Schwangerschaftsabbruch. Auch wenn die diesbezügliche Datenlage zu Ulipristal noch unzureichend ist, sind embryotoxische Effekte nicht anzunehmen, weil aufgrund des Alles-oder-Nichts-Gesetzes die Medikamenteneinnahme während der ersten 14 Tage nach Befruchtung gegen ein erhöhtes Schädigungsrisiko bei ausgetragenen Schwangerschaften spricht (Schaefer, Berlin, pers. Mitteilung 2010). Gegebenenfalls. sollte mit dem Zentrum für Embryotoxikologie (www.embryotox.de) Kontakt aufgenommen werden.
Hemmung der Fertilisierung
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Eine Hemmung der Fertilisierung, d. h. der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle kann mit Hilfe von Intrauterinpessaren (inerte oder mit Kupfer oder Gestagenen beladene IUP), Depot-Gestagenen, Hormonimplantaten, mechanischen Methoden (z. B. Diaphragma, Portiokappen), Spermiziden, Verhaltensmethoden und chirurgischen Methoden (Tubenligatur) erreicht werden. Die Immunokontrazeption konzentriert sich auf die Proteine (Antigene) der Eizelloberfläche und auf Sperma-Antigene. Die Untersuchungen hierzu befinden sich aber noch im vorklinischen Stadium. Mit einem klinischen Einsatz ist in den nächsten Jahren nicht zu rechnen.
Kontrazeption mit Intrauterinpessaren Die 1. Generation der Intrauterinpessare (IUP) bestand aus inertem Plastikmaterial (z. B. Lippes-Loop, Dalkon-Shield), die 2. Generation aus mit Medikamenten beladenen Pessaren. Dies können Kupfer oder auch Gestagene sein. Die am häufigsten eingesetzten kupferbeladenen Intrauterinpessare bestehen aus einem T-förmigen oder hufeisenförmigen Rahmen, der im zentralen, senkrechten Anteil oder auch im Bereich der Seitenarme mit einer dünnen Kupferwicklung versehen ist. Die Kupferoberfläche bestimmt die Kupferdosis, die von dem IUP abgegeben wird. Heutzutage sind kupferhaltige IUP weltweit akzeptiert (z. B. Kupfer-7, Nova-T, Multiload 375). Der primäre Wirkmechanismus dieser Kupfer-IUP besteht in einer Hemmung der Fertilisierung durch Blockierung der Spermapassage durch die Cervix uteri. Es gibt zudem Daten dafür, dass auch eine Implantationshemmung bewirkt wird. Die Dauer der kontrazeptiven Wirkung von Kupfer-IUP beträgt bis zu 10 Jahre. Die in Deutschland zugelassenen IUPs sind jedoch nur für 5 Jahre zugelassen. In einer Cochrane-Analyse zeigten Kulier et al. (2006), dass IUP, die in einer höheren Konzentration Kupfer abgeben, hinsichtlich der kontrazeptiven Langzeitwirkung (bis zu 12 Jahre) wirkungsvoller sind, aber innerhalb der ersten 2 Jahre der Anwendung häufiger zu Blutungsstörungen führen. Im weiteren Verlauf werden aber keine Unterschiede zwischen den Gruppen verschiedener IUP gefunden. Vom BfArM werden IUDs unter Medizinprodukte klassifiziert.
573 Hemmung der Fertilisierung
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Gestagen-beladene IUP Das Mirena®-Intrauterinsystem (IUS) gehört mit zur Gruppe der mit Medikamenten beladenen IUP. Es wurde ursprünglich 1990 von Leiras in Finnland entwickelt und später von Schering, dann Bayer-Schering-Pharma übernommen. Weltweit wenden diese Methode gegenwärtig ca. 10 Mio. Frauen an (Ever-user: 18 Mio.). Das IUS setzt intrauterin über einen Zeitraum von 5 Jahren Levonorgestrel frei. Zusätzliche nichtkontrazeptive Wirkungen von Mirena® bestehen in einer Abnahme des Risikos für PIDs (Pelvic Inflammatory Diseases), in einer Abnahme von Dysmenorrhoen, in einer geringeren Blutungsstärke während der Menstruationen, in einer kürzeren Dauer der Menstruationen und in einer Abnahme von Blutungsepisoden bei Patientinnen mit Menorrhagien. 20% aller Frauen, die erstmalig ein Mirena®-IUS anwenden, erleben in den ersten 5 Jahren eine Amenorrhoe. Bei Anwendung eines zweiten Mirena®-IUS über weitere 5 Jahre sind es sogar 60% der Frauen, die keine uterinen Blutungen mehr haben.
Rahmenlose IUP (Cochrane-Analyse, O’Brian u. Marfleet 2005) Bei traditionellen IUP mit einem Plastikrahmen treten vermehrt starke Blutungen und Schmerzen auf, die auf den Rahmen zurückgeführt werden. Das rahmenlose IUP wirkt ähnlich wie die traditionellen IUP, führt aber wider Erwarten nicht zu einer Abnahme von Blutungen und Schmerzen, auch zeigt es keine höhere kontrazeptive Sicherheit. Es wären jedoch noch weitere Studien sinnvoll, um mögliche Vorteile eines rahmenlosen IUP bei Nullipara zu bewerten. Das rahmenlose Kupfer-freisetzende GyneFix® ist immer noch nicht weit verbreitet.
Trends Verschiedene neue Kupfer-IUP in veränderter Form befinden sich gegenwärtig in unterschiedlichen Phasen klinischer Studien, u. a. Swing®, ein Kupfer-freisetzendes IUP, weiterhin ein IUS, das einen Progesteron-Rezeptor-Modulator freisetzt (CDB2914) sowie Kupfer-IUP, die zudem Indomethazin oder andere Prostaglandin-Synthetase-Blocker oder -Inhibitoren freisetzen (d’Arcangues 2006). Die Entwicklung eines kleineren Mirena®, das Levonorgestrel über 3 Jahre abgibt, wird seit Jahren von Bayer-Schering-Pharma verfolgt. Auch werden neue rahmenlose Progesteronfreisetzende IUS getestet. Die Bedeutung von Anti-Gestagenen oder Progesteronrezeptormodulatoren in der intrauterinen Kontrazeption kann hingegen derzeit noch nicht bewertet werden.
Kontrazeption mit Barrieremethoden Diaphragma Ein Diaphragma ist eine aus Gummi (Latex) oder Non-Latex bestehende schalenförmige Einlage, die die Frauen in die Scheide einsetzen können und die die Zervix bedeckt. Diese Einlage blockiert die Spermaaszension und wirkt dadurch kontrazeptiv. Im Allgemeinen wird das Diaphragma in Kombination mit Spermiziden eingesetzt. Es gibt nicht genügend Daten über die Wirkung eines Diaphragmas ohne Spermizide. Die Anzahl ungewollter Schwangerschaften ist wahrscheinlich höher, wenn ein Diaphragma ohne Spermizide angewandt wird
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Kapitel 29 · Familienplanung und Empfängnisverhütung bei der Frau in Deutschland
(Cochrane-Analyse, Cook et al. 2003). Das Diaphragma wird bis zu 2 h vor dem Geschlechtsverkehr eingesetzt und bleibt nach dem GV noch 6-8 h in situ. Die kontrazeptive Sicherheit beträgt 86-94%. Bei der Erstverordnung muss das Diaphragma individuell angepasst werden. Hierzu sind unterschiedliche Musterdiaphragmen unterschiedlicher Größe notwendig. Auf dem Markt stehen unterschiedliche Diaphragmen aus Latex oder Non-Latex-Material in Größen von 55-95 mm Durchmesser (in 5 mm Schritten) zur Verfügung.
Portiokappen
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Bei dieser mechanischen Barrieremethode wird eine Kappe mit Spermizid in der Scheide über die Portio uteri gestülpt. Die Portiokappe hat bei üblicher Art und Weise der Anwendung bei Nulliparen eine Wirksamkeit von 82% und bei multiparen Frauen von 64%, wohingegen die auf die Methode selbst bezogene Wirksamkeit (bei sorgfältigster Anwendung) bei Nulliparen bei 91% und bei multiparen Frauen bei 82% liegt. Die modernen Portiokappen bestehen entweder aus Latex oder wie das FemCap® aus Non-Latex-Material. Lea’s Shield’ (kanadischer Handelsname; in den USA: Lea® Contraceptive, in Europa: Lea® Kontrazeptivum) steht für eine örtliche Barrieremethode, die leicht anwendbar ist. Die Kappe wird aus medizinischem Silikon hergestellt und via Scheide über die Zervix gestülpt, um eine Spermaaszension zu verhindern. Sie wird in Kombination mit einem Spermizid eingesetzt. Im Gegensatz zu Diaphragmen und anderen Portiokappen, gibt es nur eine Größe von Lea’s Shield, d. h. die Kappe muss nicht speziell für jede Frau angepasst werden. Nach Einführung in die Scheide und vor die Portio uteri bleibt sie dort aufgrund einer Saugwirkung liegen. Sie besitzt außerdem ein Ventil, über das uterine Flüssigkeiten abfließen können. SILCS® ist ebenfalls eine Silikonkappe, die transvaginal eingeführt wird und die Zervix bedeckt. Die Preventive Cervical Cap® war eine populäre Portiokappe in den USA, die jedoch dort nicht mehr auf dem Markt ist. In anderen Ländern ist sie hingegen noch verfügbar. Die Oves® Cervical Cap ist eine EinwegZervixkappe, die aus hypoallergenem Silikon hergestellt wird und bis zu 72 h getragen werden kann. FemCap® wird aus nichtallergenem Silikon hergestellt und ist in 3 Größen auf dem Markt. Vor Anwendung wird sie mit einem kontrazeptiven Gel oder einer Creme gefüllt. Bei einer Cochrane-Analyse (Gallo et al. 2002) war die kontrazeptive Sicherheit der Prentif® Portiokappe besser, die der FemCap® jedoch schlechter als die des Diaphragmas. Die neuen Portiokappen, die auf den Markt gekommen sind, lassen sich einfacher entfernen als die älteren Modelle. Latexfreie Portiokappen bieten zudem Vorteile bei Allergikerinnen.
Kontrazeption per Frauenkondom Das Frauenkondom besteht aus dünnem, transparentem weichem Plastikmaterial (Polyurethan) und wird von der Frau vor dem Verkehr selbst in die Scheide eingeführt. Es ist mit zwei Ringen bestückt, einem flexiblen entfernbaren Ring am oberen Ende des Kondoms, der als Insertionshilfe dient, und einem größeren, flexiblen Ring, der außerhalb der Scheide am offenen Ende des Kondoms verbleibt und hilft, die äußeren Genitalorgane zu schützen. Seit seiner Einführung in den frühen 90er-Jahren hat sich das Frauenkondom als eine zusätzliche Option für Frauen entwickelt, die sich und ihre Partner vor ungewollten Schwangerschaften und sexuell übertragbaren Erkrankungen schützen wollen. Obwohl das Kondom nur als Einmalkondom zugelassen ist, wurde eine Wiederverwendung des Frauenkondoms in zahlreichen Ländern beschrieben, insbesondere dann, wenn die Frauen keinen Zugang zu neuen Kondomen hatten. Das Frauenkondom ist viermal so teuer wie Kondome für den Mann.
575 Weitere Methoden
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Neue Frauenkondome aus Polyurethan der Firma Path), aus natürlichem Latex (Reddy) oder aus Plastikmaterial befinden sich in Entwicklung. Handelsnamen: Femidom® aus Polyurethan (in Europa seit 1992; FDA-Zulassung 1993), FC2® (aus Nitrilgummi; billiger zu produzieren!) und aus Naturlatex: z.B. V-Amour®, Reddy, VA WOW Condom Feminine.
Sterilisation bei der Frau Die Sterilisation von Frau oder Mann ist weltweit eine sehr weit verbreitete Methode zur Fertilitätskontrolle. Die Tubensterilisation wird gewöhnlich laparoskopisch und nur in seltenen Fällen nach Minilaparatomie oder durch Culdoskopie durchgeführt (Nardin et al. 2002). Schätzungen gehen davon aus, dass in jüngerer Zeit 187 Mio. Frauen und 42 Mio. Männer weltweit sterilisiert wurden (WHO-Research and Reproductive Health 20002001). Es gibt eine sehr hohe Prävalenz der weiblichen Sterilisation in Puerto Rico (49% der Frauen im reproduktiven Alter wurden sterilisiert). Auch für viele Frauen in anderen Entwicklungsländern ist die Sterilisation die Methode 1. Wahl zur Kontrazeption. Zur kontrazeptiven Sicherheit, zum möglichen Versagen und zu Nebenwirkungen, wie der vorzeitigen Menopause, siehe Spezialliteratur, Bewertung siehe Übersicht: Rabe (2007). Durch die Einführung des IUS Mirena® hat die Anzahl der Tubensterilisationen in Deutschland um 90% abgenommen.
Weitere Methoden ▬ Essure: Hysteroskopische Sterilisation durch Einführen einer Titanium-Spirale in den proximalen Teil der Tube. Diese Methode ist Einzelfällen vorbehalten. ▬ Adiana: Erhitzung des inneren Epithels der Tube per Mikrowellentechnik und Insertion einer weichen inerten Polymer-Matrix mittels eines entsprechenden Katheters. ▬ Ovabloc: Sterilisationsmethode, bei der ein Gummistopfen in beide Eileiter eingesetzt wird. ▬ Quinacrin: Verschluss der Tube durch Einführung der polymerisierenden Substanz Quinacrin. Diese Methode ist schon mehr als 30 Jahre in Entwicklung.
Trends Aufgrund der hohen Akzeptanz des Levonorgestrel-IUS (Mirena®), das zusätzlich zahlreiche nichtkontrazeptive Vorteile bietet und gleichzeitig eine hohe kontrazeptive Sicherheit gewährleistet, wird die Zahl an chirurgischen Sterilisationen weltweit abnehmen. Speziell für die Entwicklungsländer ist die Kostenfrage der limitierende Faktor für einen breiten Einsatz.
Trends Es besteht ein großes Interesse an neuen sog. retrograden Kontrazeptiva (Notfallkontrazeption), die nach ungeschütztem Verkehr angewandt werden können (z. B. Gestagene, Antigestagene, Gestagenrezeptormodulatoren, Intrauterinpessare). Die WHO sucht weiterhin nach dualen Methoden, die kontrazeptiv und protektiv hinsichtlich STD sind.
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Kapitel 29 · Familienplanung und Empfängnisverhütung bei der Frau in Deutschland
Hormonimplantate
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Ein Implantat besteht aus einem oder mehreren kleinen, flexiblen Stäbchen oder aus einer Kapsel, die unter die Haut des Oberarmes eingesetzt werden. Das Population Council in New York, begann mit der Erforschung der kontrazeptiven Möglichkeiten mit Hilfe von subdermalen Implantaten bereits im Jahre 1966. 1990 ließ die FDA die ersten subdermalen kontrazeptiven Implantate (Norplant®) zu. Das Norplant® besteht aus sechs Stäbchen, das Norplant II (Jadelle®) aus zwei Stäbchen. Beide Implantate setzen subdermal Levonorgestrel frei und unterscheiden sich in der Medikamentenfreisetzung, in der Schwangerschaftsrate und in den Nebenwirkungen bei 5-jähriger Anwendung nicht wesentlich. Norplant® wurde 2002 in den USA vom Markt genommen. Nachfolgeprodukte Jadelle® und Sino-implant (II) siehe unten. Andere Hormonimplantate enthalten Megestrolazetat, Norethindron, Norgestrinon oder Etonogestrel. Implanon® enthält 68 mg Etonogestrel, das bis zu 3 Jahren liegen bleiben kann. Implanon® (Merck; früher Essex bzw. Organon) ist in vielen Ländern der Welt verfügbar. ▬ Kontrazeptive Sicherheit: sehr gut (Pearl-Index: 0,05), ▬ Nebenwirkungen: Störend sind manchmal die Blutungsstörungen. ▬ Beratung vor Einlage: In Deutschland gibt es eine spezielle Empfehlung hinsichtlich der Anwendung von Implanon®, was die intensive Beratung der Patientinnen vor der Einlage betrifft. Es soll auf mögliche Probleme bei der Implanon®Entfernung und das Blutungsverhalten eingegangen werden (Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft 2006). Wer Erfahrung bei der Implanon®Einlage hat und das Implantat streng subdermal einlegt, hat keine oder nur geringe Probleme, das Implantat wieder zu entfernen. ▬ Neuentwicklung: Ein Nachfolgepräparat, »radiopaque« (d. h. Lagelokalisation durch Röntgen möglich) ist, erhält in Deutschland voraussichtlich Ende April seine Zulassung. Die Markteinführung wird voraussichtlich Anfang der 2. Jahreshälfte 2010 erfolgen. Jadelle® (Nachfolgeprodukt von Norplant): Das Implantat besteht aus 2 flexiblen, auf Silikonbasis hergestellten polymeren Stäbchen (43 mm × 2,5 mm), das 75 mg Levonorgestrel enthält und während der Anwendungszeit von 5 Jahren freisetzt (FDA-Zulassung, Jacobstein 2007).
Cochrane-Analyse (Power et al. 2007) Vergleich unterschiedlicher kontrazeptiver Implantate: In keiner Studie erfolgte der Vergleich eines Implantats mit anderen Kontrazeptiva. Alle Implantate zeigten bei ausgewählten Frauen eine gute kontrazeptive Sicherheit. Die Mehrzahl der Frauen, die sich für ein Implantat entschied, wollte diese Art der Kontrazeption über einen längeren Zeitraum anwenden; bei mehr als 80% der Frauen lag das Implantat länger als 2 Jahre. Die Fortsetzungsrate war bei Frauen in Industrieländern niedriger als bei Frauen in Entwicklungsländern. Die am häufigsten berichteten Nebenwirkungen waren unregelmäßige uterine Blutungen. Unter allen Implantaten nahm die Häufigkeit von Menstruationsblutungen mit zunehmender Anwendungsdauer ab. Insertionsprobleme waren bei allen Implantaten selten. Der benötigte Zeitaufwand für eine Entfernung von Implanon® und Jadelle® war im Vergleich zu dem früher eingesetzten Norplant® wesentlich kürzer und die Entfernung einfacher. (Anmerkung: Diese CochraneAnalyse müsste aktualisiert werden).
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Trends In China wird derzeit ein Levonorgestrel-freisetzendes Implantat Sino-implant (II) (vergleichbar mit Jadelle) (Inhalt: 150 mg Levonorgestrel, Wirkdauer 4 Jahre im Vergleich zu Jadelle 5 Jahre) klinisch geprüft (Steiner et al. 2010). Neue Hormonimplantate zur Kontrazeption wie Uniplant® oder Surplant® (ein Stäbchen, Wirkdauer 1 Jahr), das Nomegestrolazetat freisetzt, sowie ein weiteres Implantat mit dem Elcometrin (1 Kapsel, Wirkdauer 6 Monate, bzw. 1 Stäbchen 2 Jahre) befinden sich in Entwicklung, bzw. sind in einigen Ländern der Welt bereits auf dem Markt. Neue biologisch abbaubare Implantate (Kapseln oder Stäbchen) sowie Implantate mit neuen Steroiden werden schon seit mehreren Jahren getestet.
Depot-Spritzen Zwei- bzw. Dreimonatsspritzen Im Jahre 1992 ließ die US-amerikanische Food and Drug Administration (FDA) Depot-Medroxyprogesteronazetat (DMPA) als langwirksames, injizierbares Kontrazeptivum zu. Depot-Provera® in vielen Ländern der Welt bzw. Depoclinovir® in Deutschland enthält 150 mg DMPA in wässriger Lösung, das alle 2-3 Monate (alle 3 Monate) i.m. gespritzt wird. Ein anderes Präparat ist das Noristerat® (Bayer Vital GmbH), das 200 mg Norethisteronenanthat (NET-EN) in 1 ml einer öligen Lösung enthält und anfangs alle 2 Monate, später alle 3 Monate gespritzt werden muss.
Amenorrhoerate Bei Anwendung von Depo-Clinovir® tritt in 61% nach 1 Jahr und in 80% nach 2 Jahren eine Amenorrhoe ein. Bei Noristerat sind dies 25% nach 1 Jahr und in unbekannter Höhe nach 2 Jahre. Für Sayana® liegt die Amenorrhoerate bei 64,1% nach 1 Jahr und bei 71,0% nach 2 Jahren (Kaunitz et al. 2009).
Nebenwirkungen Kopfschmerzen sind relativ häufige Nebenwirkungen. ▬ Knochen: Noristerat hat wahrscheinlich keine negative Wirkung auf den Knochen. DMPA: Abnahme der Knochendichte bei gebärfähigen Frauen jeden Alters. Kein Hinweis für eine signifikante Zunahme der Frakturrate (Westhoff 2003). Bei jungen (Scholes et al. 2005) und erwachsenen Frauen (Scholes et al. 2002) kann sich der Knochen wieder erholen, wenn DMPA abgesetzt wird (Pettiti et al. 2000, Orr-Walker et al. 1998). Große Querschnittsstudien (Pettiti et al. 2000, Orr-Walker et al. 1998) konnten zeigen, dass sich die Knochendichte bei früherer Anwendung von DMPA vollständig normalisiert und dass die DMPA-Anwendung nicht mit einem späteren Auftreten von Osteoporose oder Frakturen in Zusammenhang steht (Westhoff 2003). ▬ Die amerikanische Society for Adolescent Medicine empfiehlt in einem Positionspaper die Verschreibung von DMPA auch bei den meisten Jugendlichen (Cromer et al. 2006). Auch das American College of Obstetricians and Gynecologists (ACOG) nimmt wie folgt Stellung «...the advantages of DMPA likely outweigh the theoretical safety concerns regarding bone mineral density and fractures in teens (American College of Obstetricians and Gynecologists 2006). Ebenso die World Health Organization’s guidance-Leitlinie in
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Bezug auf die DMPA Anwendung bei Jugendlichen (World Health Organization 2005) entspricht der ACOG-Empfehlung (Kaunitz 2007). ▬ Weder die World Health Organization, noch das American College of Obstetricians and Gynecologists, the Society of Obstetricians and Gynaecologists of Canada, the Society of Adolescent Medicine, das Royal College of Obstetricians and Gynaecologists, haben keine Anwendungseinschränkungen hinsichtlich Behandlungsbeginn oder Behandlungsdauer im Hinblick auf die Knochengesundheit, ebenso keine Empfehlung zur routinemäßigen Knochendichtemessung unter DMPA-Anwendung (Kaunitz et al. 2009). ▬ Dennoch steht in der deutschen Fachinformation Depo-Clinovir® (August 2008), dass das Präparat zur Empfängnisverhütung über einen längeren Zeitraum (z. B. länger als 2 Jahre) nur dann angewendet werden soll, wenn andere Verhütungsmethoden nicht angezeigt sind. Bei langfristiger Anwendung von DMPA sollte in regelmäßigen Abständen die Knochendichte überprüft werden. Bei heranwachsenden Frauen sollte bei der Auswertung der Knochendichte das Alter und der Reifegrad des Skeletts mit berücksichtigt werden. Bei Frauen mit erhöhtem Osteoporoserisiko sollten bei der Nutzen-Risiko-Bewertung einer DMPA-Behandlung andere Verhütungsmethoden in Betracht gezogen werden. Bei Patienten mit Osteoporoserisiko (metabolische Knochenerkrankung, chronischer Alkohol- und/oder Nikotinkonsum, Anorexia nervosa, Osteoporose in der Familienanamnese, Langzeitanwendung von Arzneimitteln, die die Knochenmasse reduzieren können, wie Antikonvulsiva und Kortikosteroide) kann die DMPA-Behandlung ein zusätzliches Risiko darstellen. Eine ausreichende Kalzium- und Vitamin-D-Zufuhr wird empfohlen. Es ist nicht bekannt, ob sich bei heranwachsenden Frauen (12-18 Jahren) durch die Anwendung von DMPA die maximale Knochenmasse verringert und das Risiko für osteoporotische Frakturen im späteren Lebensalter erhöht ist. ▬ Brustkrebsrisiko: Nach Mitteilung des BfArMs vom 2.02.2008 besteht seit 2007 ein Stufenplanverfahren II mit Auflage zur Änderung des Beipackzettels (auch für Generika), zum Brustkrebsrisiko von Noristerat (http://www.bfarm.de/cln_012/nn_917236/ DE/Pharmakovigilanz/RoutinesitzungPar63AMG/Protokolle/61Sitzung/pkt__3-2.html): Während injizierbare Depotgestagene kein erhöhtes Gesamtrisiko zeigen, findet man aber ein erhöhtes Risiko in Subgruppen (1-4): aktuelle oder nur kurze Zeit zurückliegende Anwendung; RR 2; (95% CI 1,5-2,8 (Collaborative Group on Hormonal Factors in Breast Cancer 1996, Skegg et al. 1995, Shapiro et al. 2000, Strom et al. 2004).
Cochrane-Analyse (Draper et al. 2006) Beim Vergleich von DMPA mit NET-EN hinsichtlich der Langzeitkontrazeption bestehen nur geringe Unterschiede in der Wirkung der beiden Methoden – mit der Ausnahme, dass bei Anwendung von DMPA die Amenorrhoerate mit zunehmender Anwendungsdauer ansteigt. In Anbetracht der Tatsache, dass Depot-Spritzen in zahlreichen Ländern angewandt werden, sind weitere Studien notwendig.
Niedrig-dosierte Dreimonats-Spritze Sayana® (Pfizer) ist ein weiteres im Vergleich zum Depo-Clinovir um 31% niedriger dosiertes Depotgestagenpräparat (104 mg Depotmedroxyprogesteronacetat, DMPA) zur Langzeitkontrazeption.
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Wirkdauer Die jetzt subkutane Injektion führt zu einer raschen und anhaltenden Hemmung der Ovulation über 13 +/- 1 Wochen.
Kontrazeptive Sicherheit Sehr gut; Pearl-Index: 0,0 (keine Schwangerschaft nach 1 Jahr in 2 Phase-III-Studien mit insgesamt 2.045 Teilnehmerinnen (18-49 Jahre, mind. 20.000 Zyklen). Eine Dosisanpassung im Hinblick auf das Körpergewicht ist nicht mehr erforderlich (klinische Studien mit Anwenderinnen, deren Body-Mass-Index zwischen 18,2 und 40,0 kg/m2 lag).
Blutungsmuster Bereits nach 3 Monaten beträgt die Amenorrhoerate 25%, nach einen Jahr 60%. Unabhängig von der Anwendungsdauer (bis 12 Monate) treten in 20% Schmierblutungen auf. Gewichtsveränderungen sind häufig, aber nicht vorhersehbar.
Nebenwirkungen In den Phase III-Studien über 12 Monate blieb das Körpergewicht bei 50% der Frauen innerhalb von 2,2 kg ihres Anfangskörpergewichts, 12% der Frauen nahmen mehr als 2,2 kg ab und 38% der Frauen nahmen mehr als 2,3 kg zu. Aufgrund der bisherigen Datenlage besteht kein erhöhtes allgemeines Krebsrisiko oder kardiovaskuläres Risiko für DMPA, das weltweit seit 30 Jahren von über 90 Mio. Frauen angewendet wird. Durch die Anwendung des Gestagens kommt es zu einem erniedrigten Östrogenspiegel im Blut, der eine Auswirkung auf die Knochendichte hat. Es ist nicht bekannt, ob die Anwendung bei jugendlichen Frauen zu einer Verringerung der maximalen Knochendichte und zu einem Risikoanstieg für osteoporotische Frakturen im späteren Leben führt (s. Fachinfo).
Thromboserisiko Es sind keine Informationen verfügbar, welche die Unbedenklichkeit der Anwendung von Sayana® bei Patientinnen mit einem erhöhten Thromboserisiko belegen.
Wochenbett Negative Beobachtungen beim Einsatz von Sayana® bei stillenden Frauen liegen nicht vor – der Einsatz ist jedoch eine Einzelfallentscheidung. Wechselwirkungsstudien wurden nicht durchgeführt.
Trends (vgl. auch Einmonatsspritzen) Es befinden sich verschiedene Depot-Spritzen mit reinen Gestagenen in mehreren Ländern in Entwicklung. Spritzen mit Mikrosphären oder Mikrokapseln, die ein oder mehrere Hormone enthalten, werden ebenfalls geprüft: Aus den Kügelchen werden die Hormone (Gestagene) – nach ihrer Suspendierung in einem flüssigen Medium – zeitabhängig freigesetzt. Die Mikrokugeln bestehen aus einem Polymer, meist einem biologisch abbaubaren Material wie
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z. B. Glykolsäure. Abhängig von den jeweiligen Hormonen (Gestagenen) beträgt die kontrazeptive Wirkungsdauer der injizierbaren Mikrosphären 1, 3 oder 6 Monate. Hauptsächliche Nebenwirkungen sind Blutungsstörungen. Weitere neue Entwicklungen auf diesem Gebiet, die von der WHO beschrieben werden (nach d’Arcangues 2006): ▬ Depot-Spritzen mit besserem pharmakokinetischen Profil: Biologisch abbaubare Mikrosphären mit Norethisteron, Norgestimat oder Progesteron; »Controlled particle sized distribution« von Depot-Medroxyprogesteronacetat (DMPA), Levonorgestrelderivate ▬ Depot-Spritzen mit weniger Nebenwirkungen: monolithische Makrokristalle aus Progesteron, 17ß-Estradiol und Testosteron, die in einer Einmonatsspritze kombiniert sind; ▬ Entwicklung sicherer Freisetzungssysteme: Entwicklung von Zyklofem in nicht wieder verwendbaren Spritzensystemen (Uniject®, Soloshot®) (vgl. Einmonatsspritzen).
Natürliche Familienplanung
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Das Interesse an Methoden zur sog. natürlichen Familienplanung hat in der letzten Zeit zugenommen. Bei den modernen Techniken wird sowohl die Konsistenz des Zervikalschleims als auch die Aufwachtemperatur berücksichtigt, um die fertile Zeitspanne während des menstruellen Zyklus zu bestimmen. Mit den sog. »Fertility-awareness«-basierten Methoden der Familienplanung wird versucht, die fertilen Tage der Frau während des menstruellen Zyklus zu erkennen mit dem Ziel, an diesen Tagen den Sexualverkehr zu vermeiden oder Barrieremethoden wie das Kondom einzusetzen. Manche Paare sehen Vorteile darin, dass Nebenwirkungen unbekannt sind; auch soll bei exakter Anwendung eine größere kontrazeptive Sicherheit als bei Anwendung von oralen hormonalen Kontrazeptiva oder Intrauterinpessaren erreicht werden können. Die Kosten sind vernachlässigbar gering. Andererseits wird von den Paaren als Nachteil empfunden, dass man die Methode erst erlernen muss, die Anwendung schwierig ist und dass der ungeschützte Verkehr nur zu bestimmten Zeiten möglich ist (Grimes et al. 2004). In die Cochrane-Analyse von Grimes et al. (2004), der sog. »Fertility-awareness«basierten Methoden zur Kontrazeption, wurden alle randomisierten kontrollierten Studien einbezogen, in denen eine oder mehrere Methoden der natürlichen Familienplanung angewandt wurden. Die Datenlage ist insgesamt sehr dünn. Man fand nur 3 Studien: Eine aus Kolumbien und zwei aus Los Angeles/California. In den Studien wurde eingeräumt, dass die Rekrutierung der Paare schwierig war und es eine hohe Dropout-Rate gab. Auf Grund dieser Probleme ließen sich die verschiedenen Methoden der natürlichen Familienplanung nicht vergleichen und bewerten.
Trends Es wurden/werden zahlreiche elektronische Hilfen zur Erkennung der Ovulation entwickelt. Die zu erzielende kontrazeptive Sicherheit ist jedoch relativ schlecht. Einige dieser Methoden werden mittlerweile aber zur Zyklusbeobachtung bei Kinderwunschpatientinnen eingesetzt (z. B. Persona®).
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Spermizide Spermizide sind chemische Substanzen, die vor dem Verkehr in die Scheide der Frau eingeführt werden und die Spermien inaktivieren oder abtöten. Solche Substanzen sind seit mehr als 40 Jahren verfügbar und wurden von der FDA zu einer Zeit zugelassen, als die heutzutage erforderlichen, intensiven Studien bei Neuzulassung von Kontrazeptiva noch nicht erforderlich waren. Die wichtigsten Spermizide sind das Nonoxynol9®, das Oktoxynol9®, das Menfegon® und das Benzalkoniumchlorid. Als am wirkungsvollsten gilt das Nonoxynol. Studien zur Wirksamkeit von Spermiziden, insbesondere von Nonoxynol9® im Hinblick auf die Reduktion von sexuell übertragbaren Infektionen, ergaben widersprüchliche Ergebnisse. In einer Stellungnahme des Medical Advisory Panel der International Planned Parenthood Foundation (IPPF) wird daher empfohlen, Nonoxynol9® nur in Kombination mit einer mechanischen Barrieremethode einzusetzen. Kondome, die mit Nonoxynol9® beschichtet sind, sollen keinen zusätzlichen kontrazeptiven Vorteil haben und werden deshalb nicht länger empfohlen. Auch sollten mit Nonoxynol9® beschichtete Kondome nicht zur Anwendung kommen, wenn ein erhöhtes Risiko für eine HIV-Infektion/AIDS besteht. Die Spermizide können ohne Rezept in Apotheken oder Drogerien gekauft werden. Sie sind in Form von Cremes oder Gelen verfügbar. Die aktiven Substanzen sind überwiegend das Nonoxynol9® und das Oktoxynol9®.
Trends Derzeit sind Spermizide mit antimikrobiotischer Aktivität in Entwicklung, um einen zusätzlichen Schutz vor der Übertragung des HIV oder anderer sexuell übertragbarer Krankheitserreger zu bieten. Mikrobizide mit kontrazeptiver Wirkung sind nach d’Arcangues (2006): ▬ Produkte, die eine schützende physikalische Barriere in der Vagina bilden, so z. B. sulfatierte oder sulfonierte Polymere wie Zellulose-Sulfat und Polysteren-Sulfat. ▬ Produkte, die die vaginalen Abwehrmechanismen erhöhen und zwar durch Aufrechterhaltung des natürlichen Säuregehaltes, so dass Spermien immobilisiert werden, z. B. Buffer®Gel und Acidform®. ▬ Produkte, die die Oberflächenspannung in der Vagina beeinflussen, z. B. AcylcarnitinAnaloga, C31 G. ▬ Produkte, die die Bindung von HIV an Zielzellen beeinflussen sowie auch die SpermaZona-pellucida-Bindung und -Penetration, z. B. Naphthyl-Harnstoff-Derivate.
Vaginalschwämme Natürliche Seeschwämme, die mit einem Spermizid beschichtet werden und vor dem Verkehr in die Scheide eingeführt werden, werden seit Jahrhunderten zur Kontrazeption eingesetzt. Ein Vaginalschwamm fungiert als eine physikalische Barriere zwischen dem Sperma und der Cervix uteri und nimmt das Sperma auf. Er wirkt weiterhin durch Freisetzung eines Spermizids als chemische Barriere. Zur Zeit sind in mehreren Ländern 3 kontrazeptive Schwämme verfügbar. Die Schwämme gewährleisten je nach Modell einen kontrazeptiven Schutz für 12-24 h:
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▬ Der Protectaid® Contraceptive Sponge wurde 1996 in Kanada und im Jahre 2000 in Europa eingeführt. Er ist nicht durch die FDA zugelassen, enthält die 3 Spermizide Nonoxynol9® (6,25 mg), Benzalkoniumchlorid (6,25 mg) und Sodiumcholat (25 mg) und kann bis zu 24 h nach Einsetzen in der Scheide verbleiben. Das Einsetzen und Entfernen des Schwammes gestaltet sich einfach. ▬ Der Today Sponge® ist ein kleiner, aus Polyurethanschaum hergestellter Schwamm, der 1 g Nonoxynol9 (N9) als Spermizid enthält. Er wird ohne Rezept in einer Größe ausgeliefert. Dieser Schwamm wurde bereits 1983 durch die FDA (USA) zugelassen. Im Jahre 1994 wurde die Produktion des Schwammes für kurze Zeit wegen Produktionsproblemen eingestellt. Die Produktlinie wurde jedoch 1995 von der Firma Allendale Pharmaceuticals übernommen, die eine Wiedereinführung auf dem USMarkt versuchte. Dies gelang allerdings erst im Juni 2005. Seitdem ist der Schwamm in den USA und in Kanada verfügbar. ▬ Der Pharmatex®-Schwamm enthält 60 mg Benzalkoniumchlorid als Spermizid. Er wurde 1984 in Europa eingeführt und ist immer noch nicht von der FDA zugelassen. Dieser Schwamm kann bis zu 24 h nach Einsetzen in der Scheide verbleiben.
Immunokontrazeption
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Die Immunokontrazeption ist eine nichthormonale, nichtsteroidale Methode zur Kontrazeption. In der Vergangenheit wurden verschiedene Möglichkeiten ins Auge gefasst, so eine Immunisierung gegen Eizell-Antigene bzw. Antigene auf der Spermatozoen-Oberfläche, ferner die Immunisierung gegen bestimmte Hormone wie GnRH etc. Siehe weitere Spezialliteratur bzw. Übersichten (Rabe 2007).
Zukunftsperspektiven Heutzutage steht eine Vielzahl kontrazeptiver Methoden zur Verfügung. Die Ärzte sollten die verschiedenen Methoden kennen, denn nur dann ist eine individuelle Beratung der Patientinnen und deren Partner vor dem Hintergrund medizinischer, sozialer, religiöser und kultureller Erfordernisse gewährleistet. Eine Reihe von Methoden ist jedoch noch nicht perfekt bzw. deren Anwendung durch Nebenwirkungen und Schwierigkeiten belastet. Selbst in den Industrieländern, in denen Kontrazeptiva frei verfügbar sind, treten ungeplante Schwangerschaften in großer Zahl ein. Es besteht daher ein Bedarf, die verfügbaren Methoden zu verbessern bzw. neue Methoden zu entwickeln, die wirkungsvoller sowie einfacher anwendbar und sicherer als die bereits existierenden Methoden sind. Für Entwicklungen, die in der Zukunft eine Rolle spielen können sei auf folgende Übersichten verwiesen (Baird 2000, d’Arcangues 2006, Rabe 2007).
Auswahl der geeigneten Methode zur Kontrazeption bei der Frau ▬ Berücksichtigung der Anamnese und Risikofaktoren, u. a. Alter, Zyklus, Schwangerschaften, Geburten, weitere Vorstellung über Familiengröße, derzeitige Kontrazeption, Wünsche der Patientin zu Kontrazeptionsmethoden, Familienanamnese (inkl. kardiovaskulärer Erkrankungen bei den Eltern unter 45 Jahren und Karzinome z. B. Mammakarzi-
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nom, Ovarialkarzinom, Stoffwechselerkrankungen etc.), Eigenanamnese, Risikofaktoren, Symptome, die durch hormonelle Kontrazeptiva behandelbar sind, wie Zyklusstörungen, Dysmenorrhoe, Akne vulgaris, praementruelles Syndrom), GV (bisher noch nie, unregelmäßig, regelmäßig), Risiko für sexuell übertragbare Erkrankungen. Vorsorgeuntersuchung: je nach STD-Risiko evtl. Zusatzdiagnostik, je nach kardiovaskulärem Risiko evtl. Zusatzdiagnostik, z. B. Thrombophilie. Dies sind Einzelfallentscheidungen evtl. Igel-Leistungen, wenn Screening-Charakter. Je nach Alter evtl. Beratung HPVImpfung. Beachtung von körperlicher Entwicklung, BMI, Androgenisierung, Hymenalstatus, Ultraschall Ovarien. Kontrazeptive Beratung (common decision making): Unter Berücksichtigung der Wunschvorstellungen, der Kostenfrage, der Eigen- und Familienanamnese sowie Risikofaktoren, dem Risiko sexuell übertragbarer Erkrankungen und der Frage Kurzzeit- oder Langzeitkontrazeption, Vor- und Nachteile der Methode im Vergleich zu anderen, Notwendigkeit einer hormonellen Behandlung o. g. Krankheitsbilder z. B. Akne, Dysmenorrhoe etc. Aufklärung über Anwendung, Wirkung und Nebenwirkungen der ausgewählten Methode: Wirkungsweise, Anwendung, Vorgehen bei möglichen Nebenwirkungen, u. a. Anwendungsfehler, Übelkeit, Erbrechen mit entsprechendem Management, Blutungsstörungen einschließlich des möglichen Eintritts einer ungewollten Schwangerschaft. Frühsymptome kardiovaskulärer Erkrankungen und deren Häufigkeit und Vorgehen bei Auftreten. Hinweis zum sorgfältigem Lesen des Beipackzettels. Bei möglichem Risiko einer sexuell übertragbaren Erkrankung, Empfehlung zur zusätzlichen Anwendung von Kondomen und Safer-Sex-Techiken. Vereinbarung eines Wiedervorstellungstermins
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Kapitel 29 · Familienplanung und Empfängnisverhütung bei der Frau in Deutschland
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Erinnerung an Siegfried Trotnow (1941-2004) und das erste »In-vitro-Baby« in Deutschland Hans Ludwig
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Kapitel 30 · Erinnerung an Siegfried Trotnow (1941-2004)
Der vorliegende Band wäre lückenhaft geblieben, würde nicht ausdrücklich an den Frauenarzt erinnert, der als Erster in Deutschland eine ärztlich assistierte Befruchtung erfolgreich auf den Weg gebracht hätte, die am 16.04.1982 in der Universitäts-Frauenklinik Erlangen zu der Geburt eines Knaben (4150 g, 53 cm, Sectio) führte. Siegfried Trotnow wurde 1941 in Oberschlesien geboren, bestand in Bad Segeberg das Abitur und studierte danach Medizin in Kiel, Marburg und Erlangen. Als Assistent trat er 1970 in die Universitäts-Frauenklinik Erlangen ein, die damals unter der Leitung von KarlGünther Ober (1915-1999) stand. Trotnow habilitierte sich 1977 und arbeitete in einem Team eng zusammen mit der Biologin Tatjana Kniewald und dem Veterinär Safaa Al-Hasani. Das Ziel war eine In-vitro-Fertilisierung kinderloser Frauen zu ermöglichen, die mit der Geburt gesunder Kinder abschließen würde. Es waren Erfahrungen aus der Veterinärmedizin, welche damals in verschiedenen Ländern auf den Menschen übertragbar zu machen versucht wurden. In Großbritannien und in Australien gelangen die ersten Erfolge. 1978 wurde in England ein erstes Kind (Louise Brown) nach künstlicher Befruchtung geboren. Nach mehreren gescheiterten Versuchen gelang Trotnow und seinem Team der Erfolg auch in Deutschland. Bis März 1984 wurden allein in Erlangen 27 weitere Geburten nach einer solchen Kinderwunschbehandlung ermöglicht. Ober förderte die klinische Forschung der entstehenden Reproduktionsmedizin in Erlangen, wo er konnte und stellte sich in der schnell beginnenden medizinethischen Diskussion hinter seine Mitarbeiter. Im Jahre 1985 übernahm Trotnow die Frauenklinik im Nordwest-Krankenhaus Frankfurt und war dort ein angesehener, im gesamten Fachgebiet tätiger Klinikchef. In der Mitte des Jahres 2000 wurde er pensioniert und kehrte nach Erlangen zurück, wo er am 05.04.2004 im Alter von nur 63 Jahren verstarb.
⊡ Abb. 30.1. Prof. Dr. Siegfried Trotnow, mit freundl. Genehmigung der Universitäts-Frauenklinik Erlangen
Literatur Feichtinger W, Kemeter P (1987) Future Aspects in Human in vitro Fertilization. Springer-Verlag, Heidelberg Berlin Ludwig H, Tauber PF (1976) Human Fertilization. Thieme, Stuttgart Ludwig H (1996) The History of Infertility Treatment. In: Broer KH, Turanli I (Hrsg) New Trends in Reproductive Medicine. Springer-Verlag, Heidelberg Berlin Lopata A, Brown JB, Leeton JF et al. (1978) In vitro fertilization of preovulatory oocytes and embryo transfer in infertile patients treated with clomiphen and human chorionic gonadotrophin. Fertil Steril 30: 27 Steptoe PC, Edwards RG (1978) Birth after the reimplantation of a human embryo. Lancet II, 366 Trotnow S, Kniewald T, Al-Hasani S et al. (1981) Follikelpunktion, In-vitro-Fertilisierung, Embryotransfer und eingetretene Schwangerschaften in Dyneric-HCG-stimulierten Zyklen. Geburtsh Frauenheilk. 41, 835-836 Trotnow S (1987) In-vitro-Fertilisierung und Embryotransfer. In: Runnebaum B, Rabe T (Hrsg) Gynäkologische Endokrinologie. Springer-Verlag, Heidelberg Berlin
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Reproduktionsmedizin: Kontroversen und Sachstand Georg Griesinger, Klaus Diedrich
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Kapitel 31 · Reproduktionsmedizin: Kontroversen und Sachstand
Die Aussicht für ein Paar mit Kinderwunsch, dass ein Kind geboren wird, unterliegt von Natur aus einer Reihe von Einschränkungen. Auf dem Weg von Ovulation, Konzeption, Einnistung, Plazentation bis zur Geburt gibt es eine Vielzahl von Ereignissen, in deren Folge eine Schwangerschaft entweder nicht entsteht oder eine Schwangerschaft sich nicht weiter entwickelt. Die Wahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft pro menstruellem Zyklus (mit Geschlechtsverkehr im fruchtbaren Zeitraum) wird bei jungen Frauen (20-34 Jahren) mit lediglich rund 30% geschätzt.
Normofertilität – Infertilität
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Die menschliche Fortpflanzung zeichnet sich also durch eine große biologische Ineffektivität aus, welche durch »Quantität« (fortwährend wiederholte Ovulationen über den Zeitraum der Geschlechtsreife der Frau und regelmäßigen Geschlechtsverkehr) kompensiert werden kann. Dementsprechend wird auch eine Zeitdauer von bis zu 12 Monaten (bei regelmäßig stattfindendem, ungeschütztem Geschlechtsverkehr) bis zum erwünschten Schwangerschaftseintritt als physiologisch betrachtet und es besteht darüber hinausgehend ein Kontinuum von Normofertilität, leichter Subfertilität, schwerer Subfertilität bis hin zur Infertilität. In Analogie zur natürlichen Situation ist auch die IVF-Behandlung pro Behandlungszyklus, trotz wesentlicher wissenschaftlicher und klinischer Bemühungen der vergangenen 3 Jahrzehnte, bisher nur relativ wenig erfolgreich geblieben. Nach Daten des deutschen IVF-Registers (2008) liegt die Schwangerschaftsrate (pro Embryotransfer) nach Transfer von rund 2 Embryonen bei 28,67%. Dabei liegt Deutschland im europäischen Vergleich trotz der Einschränkungen des Embryonenschutzgesetzes durchaus nicht schlecht. Im Vereinigten Königreich lag die Schwangerschaftsrate im Jahr 2005 bei 30,3%, in Frankreich bei 27,3%, und in Dänemark bei 30,1%.
Effiziensteigerung des IVF-Verfahrens Es gilt deshalb die Effizienz der reproduktionsmedizinischen Behandlungsmodalitäten zu steigern, zumal in einem wirtschaftlich kompetitiven Umfeld die Schwangerschaftsrate als wichtiger Erfolgsparameter eines IVF-Programms gehandelt wird (ob zu Recht oder Unrecht, sei an dieser Stelle dahingestellt). Die Implementierung von neuen Methoden kann jedoch auch einen geringeren Behandlungsaufwand, geringere Risiken oder geringere finanzielle Kosten zum Ziel haben. Von Hoffnung auf Erfolg getragen, wurden dementsprechend gerade in der Reproduktionsmedizin viele neuartige Verfahren rasch in die klinische Anwendung übernommen, häufig ohne zuvor erbrachten Nachweis eines tatsächlichen Nutzens. Der vorliegende Artikel befasst sich mit 4 wichtigen Themenfeldern in der Reproduktionsmedizin: ▬ dem Einsatz von Metformin bei PCOS, ▬ dem Assisted Hatching, ▬ dem Aneuplodie-Screening und ▬ der adjuvanten Akupunktur bei IVF. Sachstand und aktueller Stand der Diskussion werden diskutiert.
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Einsatz von Metformin bei PCOS Das PCOS ist charakterisiert durch Oligomenorrhoe/Amenorrhoe, Hyperandrogenämie und dem sonomorphologischen Erscheinungsbild der polyzystischen Ovarien. Da bei einem Teil der Patientinnen eine Insulinresistenz nachgewiesen werden kann, wurde die Gabe von Metformin (einem oralen Anti-Diabetikum) als effektive Behandlung von PCOS-Symptomen vorgeschlagen. Zwei aktuelle Cochrane-Analysen werteten die verfügbaren Studien zur Verwendung von Metformin bei PCOS aus. Es konnten 27 Studien mit 2.150 Patientinnen zur Fragestellung der Effektivität der Metformingabe zur Behandlung verschiedener Symptome des PCOS in die systematische Auswertung eingeschlossen werden. Ein Nachweis, dass eine alleinige Metforminverabreichung den menstruellen Zyklus soweit reguliert, dass die Lebendgeburtswahrscheinlichkeit bei Patientinnen mit Kinderwunsch gesteigert wird, fehlt gänzlich (OR 1,00, 95% KI 0,166,39). Allerdings wird dieser Ergebnisparameter in nur 2 Studien berichtet. In Kombination mit Clomifen (OR 1,48, 95% KI 1,12-1,95) vs. nihil oder Plazebo kann ein Trend zur Steigerung der Lebendgeburtrate beobachtet werden, statistische Signifikanz wird jedoch nicht erreicht. Der Vergleich von Clomifen vs. Metformin plus Clomifen zeigt keine Steigerung der Lebendgeburtswahrscheinlichkeit (4 Studien, OR 1,05, 95% KI 0,75-1,47). Lediglich bei dem Ergebnisparameter der klinischen Schwangerschaftsrate, der in 8 Studien berichtet wird, zeigt sich ein Nutzen von zusätzlicher Metformingabe bei Ovulationsinduktion mit Clomifen (8 Studien, OR 1,48, 95% KI 1,12–1,95).
Keine BMI-Senkung durch Metformin Ein Nachweis einer BMI-Abnahme durch Metformingabe steht aus. Das Serumtestosteron kann jedoch durch Metformingabe im Vergleich zu nihil oder Plazebo signifikant gesenkt werden. Ebenso kann eine Zyklusregulierung durch Metformin erzielt werden. Der Stellenwert von Metformin bei der Behandlung der Infertilität bei PCOS bleibt somit umstritten. Eine Konsensus-Konferenz von ESHRE (European Society for Human Reproduction) und ASRM kam jüngst zu folgender Empfehlung: »Metformin sollte nur bei PCOSPatientinnen mit nachgewiesener Insulinresistenz zu Anwendung kommen. Die routinehafte Anwendung von Metformin zur Ovulationsinduktion wird nicht empfohlen.«
Metformin als Adjunvans bei IVF-Behandlung Eine 2. Cochrane-Analyse widmete sich der Fragestellung, ob die IVF-Behandlung von PCOS-Patientinnen durch Metforminbehandlung gesteigert werden kann. Weder die Lebendgeburtsrate (3 Studien, OR 0,77, 95% KI 0,27–2,18), noch die klinische Schwangerschaftsrate (5 Studien, OR 0,71, 95% KI 0,39–1,28) konnte durch Metforminbehandlung verbessert werden. Das OHSS-Risiko (Ovarian-Hyperstimulation-Syndrome-Risiko) war jedoch unter Metformin geringer (OR 0,27, 95% KI 0,16-0,47). Die zum gegenwärtigen Zeitpunkt vorliegenden Daten rechtfertigen somit keinen Einsatz von Metformin zur Steigerung der Effektivität der IVF-Behandlung von PCOS-Patientinnen.
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Kapitel 31 · Reproduktionsmedizin: Kontroversen und Sachstand
Assisted hatching Das Assisted Hatching (=Schlüpfhilfe, AH) soll dem heranwachsenden Embryo das Verlassen der Zona pellucida erleichtern. Das AH kann mit Hilfe verschiedener Techniken erfolgen: 1. Mit einem Laser: Diese Technik ist die sicherste, da der Defekt, der in der Glashaut erzeugt wird, sehr gezielt gesetzt werden kann. Verletzungen des Embryos sind damit weitgehend ausgeschlossen. 2. Mit einer Glasnadel: Bei der partiellen Zonadissektion wird die Hülle mit einer Nadel angeritzt. Die Ergebnisse sind sehr von der Geschicklichkeit des Embryologen abhängig und die Verletzungsgefahr des Embryos höher als mit einem Laser. Auch sind Tiefe und Größe des Defekts nicht gut reproduzierbar. 3. Mit Hilfe einer enzymatischen Ausdünnung der Embryonenhülle: Hierbei wird Tyrode-Lösung mit Hilfe einer feinen Pipette auf die Hülle gesprüht. Dieses Enzym löst dann die Zona pellucida an dieser Stelle auf. Auch hier besteht der Nachteil, dass der Vorgang nicht exakt steuerbar ist und das Enzym Kontakt mit dem Embryo erhalten kann. Inwieweit dies Risiken birgt, ist ungeklärt. Die Wirksamkeit des AH ist heftig umstritten. Studien, welche eine Verbesserung der Einnistungswahrscheinlichkeit nachweisen, gibt es ebenso wie solche, die eine Verbesserung der Schwangerschaftsraten nicht nachweisen können. Es mag jedoch auch an den unterschiedlichen Studienanordnungen liegen und insbesondere an den unterschiedlichen Techniken, die zur Anwendung kamen.
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Indikationen für das Assisted Hatching Folgende Indikationen für das AH finden sich in der Literatur: 1. mikroskopischer Nachweis einer überdurchschnittlich dicken Zona pellucida 2. eingefrorene und wieder aufgetaute Embryonen (Kryotransfer) 3. ältere Frauen (>36 bis >38 Jahren) 4. nach wiederholt erfolglosem Embryotransfer (Implantationsversagen)
Ergebnisse des Assisted Hatching Eine standardisierte Auswertung der bisher erschienenen Literatur zum Thema AH wurde 2005 in der Cochrane-Datenbank veröffentlicht. Die Ergebnisse von 23 Studien wurden in die Analyse aufgenommen. Diese enthielt die Daten von 2.668 Patientinnen und 849 Schwangerschaften. Die verwendete Technik des Hatchings (Laser, enzymatisch oder mechanisch) wurde in der Auswertung nicht berücksichtigt. In der Gruppe der Frauen mit AH war die klinische Schwangerschaftsrate höher als in der Kontrollgruppe (23 RCTs; OR 1,33; 95% KI 1,12-1,57). Es gab jedoch keinen statistisch signifikanten Unterschied in der Lebendgeburtrate der AH- und der Kontrollgruppe (6 RCTs; OR 1,19; 95% KI 0,81– 1,73). Die Abortraten waren in beiden untersuchten Gruppen ähnlich (12 RCTs; OR= 1,23; 95%-KI 0,73–2,05). Mehrlingsschwangerschaften waren nach AH deutlich häufiger (9 RCTs; OR= 1,83; 95%-KI 1,19–2,83). Die Cochrane-Analyse ergab somit keinen wesentlichen Vorteil für die Schlüpfhilfe. Die Schwangerschaftsraten waren zwar nach AH marginal höher als ohne AH, eine Steigerung der Lebendgeburtrate konnte zum damaligen Zeitpunkt nicht dokumentiert werden.
593 Effiziensteigerung des IVF-Verfahrens
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Cochrane-Analyse 2009 zum Assisted Hatching Im Jahr 2009 wurde nun eine Aktualisierung der o. g. Cochrane-Analyse veröffentlicht. Die Zahl der verfügbaren Studien war auf 28 angewachsen und enthielt nun Daten von 3.646 Frauen und 1.228 Schwangerschaften. Es fand sich kein Unterschied bei der Zahl der Lebendgeburten zwischen den Frauen, bei denen AH angewendet wurden und der Kontrollgruppe ohne AH (7 RCTs; OR 1,13; 95%KI 0,83–1,55; 255 Geburten von 719 Frauen). Berücksichtigte man nur die methodisch und statistisch besonders belastbaren Studien, dann erreichte der Unterschied in der Schwangerschaftsrate gerade eben statistische Signifikanz (16 RCTs; OR 1,20; 95%-KI 1,00–1,45; p=0,05). Wurden alle 28 Studien einbezogen, war die klinische Schwangerschaftsrate nach AH höher (OR= 1,29; 95%-KI 1,12–1,49). Ein Unterschied im Ergebnis bei Verwendung eines Lasers oder bei Verwendung von Tyrode-Lösung zum Hatching konnte nicht gezeigt werden. Es lagen zwar mehr Fehlgeburten in der Gruppe mit AH vor, aber auch hier war der Unterschied zur Kontrollgruppe nicht signifikant (14 RCTs; OR= 1,13; 95%-KI 0,74–1,73). Eindeutig erhöht war der Anteil an Mehrlingsschwangerschaften, über die in 12 Studien berichtet wurde (12 RCTs; OR= 1,67; 95%-KI 1,24–2,26). Zusammenfassend zeigen sich also möglicherweise geringe Vorteile für eine Behandlung mit dem AH. Die beschriebenen mittleren Effektgrößen sind jedoch in den methodisch hochwertigen Studien klein und das Konfidenzintervall inkludiert einen Nulleffekt bei Betrachtung der klinischen Schwangerschaftsrate. Trotz Vorliegen einer Vielzahl von randomisierten Vergleichsstudien ist somit ein überzeugender Nachweis zum Nutzen des AH (im Sinne der Steigerung der Lebendgeburtswahrscheinlichkeit) bisher nicht erbracht worden. Dies liegt einerseits daran, dass die Ergebnisse einzelner Studien stark heterogen sind und andererseits daran, dass die Fallzahlen nach wie vor zu gering sind, um eine Steigerung der Lebendgeburtswahrscheinlichkeit mit statistischer Signifikanz nachweisen zu können. In der Cochrane-Analyse bleibt offen, ob es Subgruppen an Patienten gibt, die möglicherweise besonders vom AH profitieren könnten.
Assisted Hatching bei dicker Zona pellucida Eine jüngste randomisierte Vergleichsstudie von Hagemann et al. zeigte nun, dass Frauen unter 38 Jahren mit Embryonen mit besonders dicker Zona nicht vom AH profitieren. Die Arbeitsgruppe führte eine prospektive, randomisierte, doppel-blinde Studie an 121 Frauen durch, die jünger als 38 Jahre alt waren und die sich einer IVF-Behandlung unterzogen. Frauen, deren Embryonen eine Zona pellucida-Dicke von ≥13 μm aufwiesen, wurden in 2 Gruppen randomisiert. Bei einer dieser Gruppen wurde ein AH mit Hilfe einer enzymatischen Ausdünnung der Embryonenhülle durchgeführt. Die andere Gruppe erhielt keine Schlüpfhilfe. Dabei zeigte sich, dass weder die Implantationsrate noch die Schwangerschaftsrate (47% in der Gruppe mit AH vs. 50% in der Gruppe ohne AH) positiv beeinflusst werden konnte. Auch die Lebendgeburtrate konnte durch das AH nicht gesteigert werden (46% vs. 45%). Die Raten ektoper Schwangerschaften, spontaner Aborte, Zwillingsschwangerschaften und chromosomaler Störungen unterschieden sich ebenfalls nicht in den beiden Studienarmen. Zweifelsohne ist die Fallzahl dieser Studie zu gering, um einen klinischen relevanten Effekt des AH mit Sicherheit ausschließen zu können. Die vorliegende Studie, die in der aktuellen Cochrane-Analyse noch nicht berücksichtigt ist, zeigt jedoch, dass auch in der Subgruppe von Patientinnen mit verdickter Zona pellucida ein deutlich positiver Trend zugunsten des AH nicht zu erwarten ist.
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Kapitel 31 · Reproduktionsmedizin: Kontroversen und Sachstand
Aneuploidiescreening an Eizellen und Embryonen Jenseits des 35. Lebensjahres der Frau nimmt die Wahrscheinlichkeit einer Konzeption rapide ab. Die Hoffnung vieler Paare mit Kinderwunsch ruht dann häufig auf der Reproduktionsmedizin. Das höhere Alter der Frau hat eine erhöhte Rate numerischer Chromosomenaberrationen in den Oozyten zur Folge. Bei einer 40-45-jährigen Frau sind 50-70% der reifen Eizellen von einer Aneuploidie betroffen. Eine Möglichkeit Aneuploidien in den Eizellen, die für IVF/ICSI verwendet werden, zu identifizieren, besteht in der Chromosomenuntersuchung des Polkörpers (PKD). Die Methodik der Polkörperdiagnostik (PKD) ist in Deutschland besonders vorangetrieben worden, da das Embryonenschutzgesetz (ESchG) die genetische Untersuchung früher Embryonalstadien selbst zwar nicht verbietet, aber eine auf das Ergebnis der genetischen Untersuchung basierende Embryonenauswahl nicht zulässig ist. Im Ausland wird das Aneuploidiescreening überwiegend an Embryonen durchgeführt.
Techniken des Aneuploidiescreenings
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Polkörper sind gewissermaßen Abfallprodukte der Oogenese. Durch die 1. Reifeteilung gelangt je ein Chromosomensatz in die Eizelle und den 1. Polkörper. Wenn im Polkörper ein bestimmtes Chromosom fehlt, muss es zusätzlich in der Eizelle vorhanden sein. Man kann daher durch Untersuchung des Polkörpers im Differenzverfahren auf eine Fehlverteilung von Chromosomen in der Eizelle schließen. Da die Kryokonservierung von Eizellen ein Neulandverfahren darstellt, muss die PKD unter großem Zeitdruck zwischen ICSI und Embryotransfer durchgeführt werden. Mit herkömmlichen Methoden der PKD (sog. FISH-Diagnostik) können maximal 9-12 der 23 Chromosomen untersucht werden. Die Darstellung von Chromosomen ist allerdings fehleranfällig. In 2-3% gelingt der Nachweis einzelner Chromosomen nicht. Darüber hinaus können Polkörperbiopsie und Blastomerenbiopsie die Eizelle bzw. den Embryo schädigen.
Aneuploidiescreening des Embryos: Ergebnisse Eine Reihe von größtenteils unkontrollierten Studien bzw. Studien mit historischen Kontrollen zeigten einen Vorteil für das Aneuploidiescreening. Die Ergebnisse von van der Ven et al. beispielsweise zeigten, dass bei Frauen, die aufgrund ihres vorgerückten Alters ein erhöhtes Aneuploidie-Risiko haben, die Abortrate nach PKD niedriger und die Implantationsrate höher ist. Auch fand man eine Tendenz zu einer verbesserten Geburtenrate. Eine Cochrane-Analyse aus 2006 von Twisk et al. fasste erstmalig die Ergebnisse bisheriger Studien zum Aneuploidiescreening am Embryo zusammen. Untersucht wurde die Effektivität des Präimplantationsscreenings (PGS) an Embryonen bezogen auf die Lebendgeburtenrate bei Frauen mit IVF- oder ICSI-Behandlung. Nur 2 randomisierte kontrollierte Studien erfüllten die Einschlusskriterien. In beiden Studien wurde das PGS wegen fortgeschrittenen mütterlichen Alters durchgeführt. Die Lebendgeburtenrate in der Gruppe mit Präimplantationsdiagnostik betrug 11% (21 von 199) vs. 15% (29 von 190) in der Kontrollgruppe (OR= 0,65; 95%-KI 0,36–1,19) und unterscheiden sich somit nicht statistisch signifikant. Durch eine Präimplantationsdiagnostik am Embryo konnte somit keine Steigerung der Lebendgeburtenrate bei IVF/ICSI erreicht werden. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass nur 2 randomisierte Studien in die Analyse eingeschlossen werden konnten, von denen eine Daten von nur 39 Patienten beinhaltete. Die Autoren empfahlen keine routinemäßige Durchführung
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eines PGS. Die Conclusio der Cochrane-Arbeit wurde dementsprechend kritisiert, da zahlreich vorliegende Daten eines niedrigeren Evidenzniveaus (Fall-Kontroll-Studien, retrospektive Auswertungen etc.) keinen Eingang in die Beurteilung des Verfahrens gefunden hatten. Bis zum Jahr 2008 sind dann jedoch 3 weitere randomisierte Vergleichsstudien zum PGS erschienen. Somit konnte die Datenlücke an RCTs zur Effizienz des PGS weitgehend geschlossen werden. Allerdings entbrannte gleichzeitig eine Diskussion über mögliche methodische Unzulänglichkeiten der einzelnen RCTs. Während verschiedene Autoren die Durchführung weiterer randomisierter kontrollierter Studien zur Beurteilung des Nutzens eines PGS empfahlen, äußerten Mastenbroek et al. im Jahre 2008 die Ansicht, dass es ethisch nicht vertretbar wäre, angesichts der bereits bestehenden Datenlage zusätzliche randomisierte Studien durchzuführen. Die Arbeitsgruppe um Mastenbroeks führte eine Metaanalyse randomisierter Daten zum Präimplantationsscreening bei der Indikation »fortgeschrittenes mütterliches Alter« durch. In die Arbeit konnten die Behandlungsdaten von 1.334 Patientinnen aus 5 randomisierten Studien eingeschlossen werden (⊡ Abb. 31.1). Diese Metaanalyse zeigte eine statistisch signifikante, dramatische Verringerung der Schwangerschaftsrate nach PGS (OR= 0,56; 95%-KI 0,46-0,76). Es sei somit ethisch nicht zu rechtfertigen, dass Teilnehmer randomisierter kontrollierter Studien einer inzwischen nachgewiesen ineffektiven oder gar nachteiligen Behandlung ausgesetzt wären. Darüber hinaus existierten intrinsische Beschränkungen der gegenwärtigen PGS-Techniken, die ein Ansteigen der fortlaufenden Schwangerschaftsraten in zukünftigen Studien unwahrscheinlich machten. Biopsie, Fixation und FISH-Analyse, 3 wichtige Schritte der PGS, könnten fehlerhaft durchgeführt werden und die FISH-Analyse könnte fehlerhafte Diagnosen nach sich ziehen. Außerdem sei die Zelle, die im Rahmen der Biopsie gewonnen werde, häufig nicht repräsentativ für den Genotyp des Embryos. Da alle wichtigen Studien zum PGS bei fortgeschrittenem mütterlichen Alter die gleiche Effektrichtung aufzeigten, sei es nach Meinung der Autoren gerechtfertigt, das Outcome dieser Studien zu generalisieren und zu folgern, dass hinsichtlich der fortlaufenden Schwangerschaftsrate kein vorteilhafter Effekt durch das PGS erzielt werden könne. Auch die Amerikanische Gesellschaft für Reproduktionsmedizin (ASRM) rät in einer Stellungnahme aus dem
⊡ Abb. 31.1. Forest plot der odds ratio für eine fortwährende Schwangerschaft (>10 SSW) bei Vergleich von PGS (treatment) vs. kein PGS (control) (nach Mastenbroeks et al. 2008)
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Kapitel 31 · Reproduktionsmedizin: Kontroversen und Sachstand
Jahr 2008 inzwischen von der PGS ab. Die Debatte um das PGS am Präimplantationsembryo geht jedoch weiter. Protagonisten der Methode machen geltend, dass nur bei hoher technischer Expertise ein positiver Effekt erwartet werden kann. Die Europäische Gesellschaft für Reproduktionsmedizin hat deshalb eine Studiengruppe eingerichtet, um das PGS weiter zu untersuchen – allerdings nicht am Embryo, sondern an der Eizelle durch Polkörperdiagnostik, und nicht durch die FISH Technik, sondern mittels comparative genomic hybridization.
Aneuploidiescreening an Eizellen: Ergebnisse
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Zum Polkörper-Aneuploidiescreening liegen bisher keine randomisierten kontrollierten Studien vor. In einer nicht randomisierten, retrospektiven Studie verglichen Haaf et al. das Outcome der intrazytoplasmatischen Spermieninjektion mit und ohne Polkörperdiagnostik (PKD) der Oozyten. Die Studiengruppe bestand dabei aus 607 Frauen, welche sich einer ICSI mit Polkörperdiagnostik in Deutschland unterzogen. Die Kontrollgruppe bestand aus 591 Frauen. Bei letzteren wurde eine ICSI-Behandlung ohne PKD durchgeführt. Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Frauen in der Gruppe mit PKD durchschnittlich 4 Jahre älter waren als in der Kontrollgruppe (38 vs. 34 Jahre), so dass eine Altersadjustierung zur Auswertung der Daten durchgeführt werden musste. In der Gruppe der Frauen mit PKD waren sowohl die altersadjustierte Schwangerschaftsrate (18,4% vs. 51,6%) als auch die Lebendgeburtenrate (12,5% vs. 43,8%) niedriger als in der Gruppe ohne PKD. Die Anzahl der zurückgesetzten Embryonen war in der Gruppe mit PKD geringfügig geringer (2,02±0,74) als in der Kontrollgruppe (2,20±0,57). Dieser negative Effekt der PKD auf das Behandlungsergebnis war in allen analysierten Untergruppen nachweisbar: Frauen verschiedener Altersgruppen, Frauen in einem ersten ICSI-Behandlungszyklus, Frauen mit Transfer eines qualitativ hochwertigen Embryos und auch Frauen, die sich ausschließlich aufgrund einer Zeugungsunfähigkeit ihres Partners einer ICSI-Behandlung unterzogen. Auch eine multivariate logistische Regressionsanalyse bestätige den negativen Effekt der PKD. Da sich die Anzahl transferierter Embryonen in den beiden Gruppen nur geringfügig unterschied, ist es unwahrscheinlich, dass die signifikant niedrigere Schwangerschafts- und Lebendgeburtenrate nach PKD hauptsächlich auf Fehler bei der FISH-Diagnostik und den fehlerhaften Ausschluss einer großen Zahl euploider Embryonen zurückzuführen war. Möglicherweise verringerten Mikromanipulation und Biopsie der Oozyte das Entwicklungspotential des resultierenden Embryos. Signifikant weniger Frauen aus der Gruppe mit Polkörperdiagnostik wurde ein qualitativ hochwertiger Embryo zurückgesetzt als in der Kontrollgruppe. Die vorliegende Studie von Haaf et al. ist keine randomisierte Vergleichsstudie und kann nicht für eine abschließende Beurteilung der PKD dienen. Darüber hinaus ist die enorm hohe Schwangerschaftsrate in der Kontrollgruppe unplausibel. Eine weitere Durchführung der PKD sollte aber nur unter Studienbedingungen stattfinden und die Patientinnen müssen über Risiken (Verletzung von Eizelle bei Biopsie) und die bisher dokumentierten Nachteile (niedrigere Schwangerschaftswahrscheinlichkeit) offen aufgeklärt werden.
Blastozystenkultur Eine umstrittene Variante der Embryonenauswahl stellt die Kultivierung des Embryos bis zum Blastozystenstadium am Tag 5/6 der Präimplantationsentwicklung dar. Möglich wurde die Kultivierung menschlicher Embryonen bis zum Stadium der Blastozyste erst durch Entwicklung
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der spezieller Medien Ende der 90er-Jahre, die den unterschiedlichen metabolischen Bedürfnissen des Embryos in der frühen und der späten Präimplantationsperiode Rechnung tragen. Die Theorie des Blastozystentransfer stützt sich auf die Beobachtung, dass sich Präimplantationsembryonen ohne jede transkriptionelle Aktivität bis zum 8-Zell-Stadium entwickeln können. Bis zu diesem Zeitpunkt ist die Embryonalentwicklung abhängig von Proteinen, verschiedenen zytoplasmatischen Faktoren und der Translation von mRNS, die mütterlichen Ursprungs ist, also aus der Eizelle stammt. Erst ab dem 8-Zell-Stadium erfolgt die Aktivierung des embryonalen Genoms, eine Voraussetzung für die weitere regelrechte Entwicklung und Implantation. Unterbleibt diese Aktivierung, kommt es zum embryonic arrest am Tag 2-3 der Kultur und bei Transfer dieser Embryonen in weiterer Folge zum Implantationsversagen. Um den Erfolg der IVF-Behandlung zu steigern, versucht man jene Embryonen durch Kultivierung bis in das Stadium der Blastozyste zu identifizieren, die sich über das 8-Zell-Stadium hinaus entwickeln können und damit das beste Implantationspotential besitzen.
Cochrane-Analyse aus 2007 zum Blastozystentransfer Eine systematische Auswertung von 18 Studien, in denen die Patientinnen entweder zu einem Embryotransfer an Tag 2/3 oder an Tag 5/6 randomisiert wurden, zeigte, dass die Lebendgeburtrate nach Blastozystentransfer statistisch signifikant höher war (9 Studien für diesen Ergebnisparameter verfügbar; OR 1,35, 95% KI 1,05–1,74). Allerdings wurden mehrheitlich Patientinnen mit guter Prognose in die Studien eingeschlossen, so dass die Ergebnisse nicht ohne Einschränkung auf die Versorgungswirklichkeit generalisierbar sind. Ein ähnliches Ergebnis zeigte eine systematische Übersichtsarbeit, in die nur Studien eingeschlossen wurden, bei denen die Anzahl der übertragenen Embryonen in Studien- und Kontrollgruppe gleich groß war (⊡ Abb. 31.2). Ein wesentlicher Nachteil der Blastozystenkultur liegt aber vor allem darin, dass weniger Embryonen für eine Kryokonservierung zur Verfügung stehen. Die Zahl der Frauen, die zumindest einen Embryo für eine Kryokonservierung zur Verfügung haben, ist bei Blastozystenkultur um mehr als 50% geringer. Bei Zusammenfassung jener Studien, in denen die Schwangerschaften nach Kryokonservierung berücksichtigt wurden, zeigt sich dementsprechend nicht nur nicht kein Vorteil der Blastozystenkultur hinsichtlich einer Steigerung der
⊡ Abb. 31.2. Forest plot der odds ratio für eine Lebendgeburt bei Vergleich von Blastozystentransfer vs. Transfer am Tag 2 oder 3 der Präimplantationsentwicklung (nach Papanikolaou et al. 2008)
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Kapitel 31 · Reproduktionsmedizin: Kontroversen und Sachstand
Lebendgeburtrate, sondern die Blastozystenkultur ist dem herkömmlichen Vorgehen sogar unterlegen. Wie effektiv die Blastozystenkultur ist, wird letztlich auch davon abhängen, wie groß der Verlust von Embryonen durch Kryokonservierung ist. Da durch die Methode des ultraschnellen Gefrierens (sog. Vitrifikation) sehr hohe Überlebensraten von Blastozysten erzielbar sind, wird sich hier die Datenlage möglicherweise zugunsten des Blastozystentransfers in Zukunft verändern. Bis dahin gilt, dass die Blastozystenkultur nicht unkritisch zur Anwendung kommen sollte, da ein Nutzennachweis – im Sinne einer Steigerung der Lebendgeburtswahrscheinlichkeit pro IVF-Behandlung – bisher nicht erbracht wurde.
Akupunktur und IVF Die Akupunktur ist eine mittlerweile auch in der westlichen Medizin etablierte Methode, welche bei der Behandlung einer Vielzahl von Erkrankungen einen festen Platz einnimmt, so auch zunehmend bei der Therapie ungewollter Kinderlosigkeit. Sie soll körpereigene Beta-Endorphine freisetzen, welche möglicherweise durch Ausschüttung von GnRH den Menstruationszyklus der Frau positiv beeinflussen können. Ein weiterer, potentiell vielversprechender Wirkmechanismus besteht in der Verbesserung der Uterusdurchblutung durch Beeinflussung des autonomen Nervensystems. Die Effizienz der Akupunktur im Rahmen der Kinderwunschbehandlung wird seit vielen Jahren kontrovers diskutiert.
Metaanalysen zur Akupunktur
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In den Jahren 2008 und 2009 erschienen insgesamt 4 Metaanalysen zur Fragestellung der Wertigkeit der Akupunktur bei IVF, die jedoch im Ergebnis keine Übereinstimmung zeigten. Drei Metaanalysen konnten keine Steigerung der Schwangerschaftswahrscheinlichkeit zeigen. Eine weitere Metaanalyse fand eine statistisch signifikante Steigerung der klinischen und fortlaufenden Schwangerschaftsrate nach Akupunktur. Zwei jüngste randomisierte Vergleichsstudien von So et al. und Domar et al. scheinen nun zu bestätigen, dass von der Akupunkturbehandlung keine unmittelbare Erhöhung der Schwangerschaftsrate erwartet werden darf. So et al. untersuchten im Rahmen einer randomisierten Doppelblindstudie den Effekt einer realen Akupunktur verglichen mit einer Plazebo-Akupunktur bei Patientinnen mit IVFBehandlung. Am Tag des Embryotransfers wurden 370 Patientinnen in 2 Gruppen randomisiert. Eine Gruppe wurde akupunktiert, die Patientinnen der anderen Gruppe erhielten eine Plazebo-Akupunktur. Jeweils 25 min vor und nach Embryotransfer erfolgte die Akupunktur. Vor und nach dieser Behandlung wurden endometriale und subendometriale Durchblutung, Serumkortisolkonzentration und das Ausmaß der Aufregung bestimmt. Letzterer Parameter wurde mit Hilfe des Trait-State Anxiety Questionnaire beurteilt. Die Gesamtschwangerschaftsrate war in der Gruppe der Patientinnen mit PlazeboAkupunktur signifikant höher als in der Gruppe mit Akupunktur (55,1% vs. 43,8%; p=0,038; OR 1,578; 95%-KI 1,047–2,378). Bezüglich der Rate fortlaufender Schwangerschaften und der Lebendgeburtrate unterschieden sich die Gruppen nicht signifikant. In beiden Gruppen verringerten sich endometriale und subendometriale Durchblutung, Serumkortisolkonzentrationen und Angstlevel nach Akupunktur, diese Veränderungen waren aber zwischen den Gruppen nicht statistisch signifikant. Domar et al. führten eine prospektive, randomisierte Einfachblindstudie durch, um den Effekt von Akupunktur auf das Ergebnis einer IVF-Behandlung zu überprüfen. Dazu wurden
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150 Patientinnen in eine Behandlungs- und eine Kontrollgruppe randomisiert. Die Kontrollgruppe erhielt keine Behandlung vor und nach Embryotransfer, in der anderen Gruppe wurde jeweils 25 min vor und nach Embryotransfer eine Akupunkturbehandlung durchgeführt. Alle Patientinnen füllten schließlich einen Fragebogen zu den Themen »Aufregung« und »Optimismus« aus. Die Schwangerschaftsraten beider Gruppen unterschieden sich nicht signifikant, aber akupunktierte Patientinnen berichteten nach dem Embryotransfer über signifikant weniger Aufregung. Zudem blickten sie optimistischer in die Zukunft als die Patientinnen der Kontrollgruppe. Auch wenn die Akupunktur keinen unmittelbaren Einfluss auf die Schwangerschaftswahrscheinlichkeit bei IVF hat, liegt Ihr Stellenwert möglicherweise eher in einer psychischen Stütze für die Patientin, welche sich in einer stärken Behandlungsadhärenz (und damit einer höheren kumulativen Geburtenrate) niederschlagen könnte. Ein Nachweis eines solchen Nutzens steht jedoch aus.
Zusammenfassung Wie in allen Fachbereichen gilt, dass neuartige Verfahren erst auf dem Prüfstein klinischer Studien gestellt werden sollten, bevor eine routinehafte Anwendung des Verfahrens am Patienten durchgeführt wird. Auch wenn Paare mit Kinderwunsch mit zunehmender Verzweiflung auch in zunehmendem Maße bereit sind, experimentelle Verfahren in Erwägung zu ziehen – und auch dafür zu bezahlen – so bleibt als ethische Pflicht eine nüchterne Aufklärung über Potentiale und Risiken neuartiger Verfahren, genauso wie das Bekenntnis zu Wissenslücken und das Streben nach Erkenntnisgewinn durch Beteiligung an Forschung und Entwicklung.
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Kapitel 31 · Reproduktionsmedizin: Kontroversen und Sachstand
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Geschichte der deutschen gynäkologischen Endokrinologie und Fortpflanzungsmedizin Thomas Strowitzki
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Kapitel 32 · Geschichte der deutschen gynäkologischen Endokrinologie
Einleitung Gynäkologische Endokrinologie und seit den 50er-Jahren die Fortpflanzungsmedizin ziehen sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der deutschen Gynäkologie. So kommt es nicht von ungefähr, dass die wichtigste Auszeichnung, die die DGGG zu vergeben hat, die CarlKaufmann-Medaille, nach einem Endokrinologen benannt ist. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts bis in die 70er-Jahre hinein wurde die Endokrinologie auch weltweit von Deutschland aus geprägt, auch heute noch gehen zahlreiche Innovationen in der Hormontherapie und in der Kontrazeption von Deutschland aus.
Geschichte der gynäkologischen Endokrinologie in Deutschland Forschung in Deutschland Das Jahr 1849 wird gemeinhin als Geburtsstunde der Endokrinologie bezeichnet. In Göttingen transplantierte Arnold Adolph Berthold Hoden in kastrierte Hähne und schloss daraus, dass es Botenstoffe geben müsse, die die Entwicklung in den Hähnen von den Hoden ausgehend steuern müssten. 1905 kreierte Ernst Henry Starling (1866-1927) den Begriff Hormon nach einem Vorschlag von WB Hardy für Substanzen, die durch besondere endokrine Drüsen in das Blut gelangten, um ein anderes Organ oder andere Organe zur Aktivität anzuregen.
Hormonsynthese
32
Deutsche Wissenschaftler haben die Entwicklung der Endokrinologie und der gynäkologischen Endokrinologie in besonderem Maße geprägt (⊡ Tab. 32.1). 1928 gelang Ascheim und Zondek die Isolierung der Gonadotropine LH und FSH. Sie nannten diese uns heute so ge-
⊡ Tab. 32.1 Erfolge der Forschung der deutschen Endokrinologie 1928
Ascheim und Zondek
Isolierung von LH und FSH (Prolan A und B)
1929
Ascheim und Zondek
Schwangerschaftshormon
Ab 1929
Butenandt
Sexualhormone, Reindarstellung des Östradiols
1932
Butenandt
Synthese des Progesterons in vitro aus Stigmasterol und Pregnandiol
1932
Hohlweg
Negative Rückkopplung Hypophyse – Ovar
1933/34
Slotta, Butenandt, Allen, Hartmann
Isolierung des reinen Progesterons aus Ovargewebe
1934
Hohlweg
Prinzip der positiven Rückkopplung zur Ovulationsauslösung
1938
Inhoffen und Hohlweg
Synthetisierung von Äthinylöstradiol
1959
Zander
Reindarstellung des 17ß-Östradiol
1963
Fa. Schering
Entwicklung von Cyproteronacetat als erstes Antiandrogen
603 Geschichte der gynäkologischen Endokrinologie in Deutschland
32
läufigen Gonadotropine Prolan A und Prolan B (Zondek 1929). Ab 1929 forschte Butenandt über die Sexualhormone und konnte die Struktur des Östradiols darstellen. In diesem Jahr gelang die Östronisolierung zunächst Doisy und Mitarbeitern in St. Louis und 2 Monate später Butenandt in Göttingen. 1934 isolierten Slotta, Ruschig und Fels in Breslau, Butenandt und Westphal in Danzig, Hartmann und Wettstein in Basel und Allen und Wintersteiner an der Columbia University in New York etwa zeitgleich das Progesteron aus Corpora lutea. Die Synthese des Progesterons in vitro war bereits 1932 Butenandt aus Stigmasterol und Pregnandiol gelungen. Für seine Arbeiten zum Progesteron erhielt Butenandt 1939 den Nobelpreis. Hohlweg, der in Berlin bei Schering arbeitete, beschrieb 1932 das Prinzip der negativen Rückkopplung zwischen Sexualsteroidhormonen und den gonadotropen Zellen der Hypophyse. 1934 konnte er zeigen, dass durch kurzfristige Gaben hoher Östrogendosen LH erhöht wird. Damit war das Prinzip der positiven Rückkopplung und des ovulationsauslösenden mittzyklischen LH-Peaks erkannt. 1959 stellte dann Zander in Köln 17ß-Östradiol rein dar.
Erste hormonelle Therapien Auch in der frühen Entwicklung von Therapien mit Sexualsteroiden nahmen deutsche Forscher weltweit eine herausragende Stellung ein. Lauritzen hat diese Entwicklungen 1986 in einer umfangreichen Arbeit zum Stellenwert der deutschen gynäkologischen Endokrinologie zusammengefasst (Lauritzen 1986). 1938 gelang die Synthetisierung von Äthinylöstradiol durch Inhoffen und Hohlweg in Berlin. In den 50er-Jahren erfolgte die Synthetisierung von Östradiolvalerat. In den 50erJahren wurden dann in rascher Folge Gestagenpräparate entwickelt, so das 17alpha-Hydroxyprogesteroncapronat durch Junkmann (Schering) und im Anschluss vor allem weitere Derivate der Gestagene in den USA (Lauritzen 1986). Die größte Bedeutung haben die Gestagene in der Erarbeitung der hormonalen Kontrazeption gefunden. 1961 wurde in Deutschland mit Anovlar der erste kombinierte Ovulationshemmer eingeführt, 1991 die Minipille. Auch die Entwicklung des ersten Antiandrogens Cyproteronacetat 1963 erfolgte bei Schering in Deutschland. Erste Prolaktinhemmer wurden 1972 bei Sandoz in der Schweiz (Bromocriptin) und 1976 bei Schering in Berlin entwickelt (Lisurid). Einen großen Schub erlebte die gesamte Endokrinologie letztlich durch die Entwicklung praktikabler und zunehmend einfacherer und reproduzierbarer Analyseverfahren, wie die Entwicklung immunologischer Tests (Wide 1962) und des Radioimmunoassays durch Yalow und Berson (Yalow et al. 1964). Die leichtere Messung von Hormonspiegeln war nicht zuletzt entscheidend wegbereitend für die moderne Sterilitätstherapie. Meilensteine in der gynäkologischen Endokrinologie waren die Entwicklungen einer hormonalen Kontrazeption durch den Einsatz von Steroidhormonen. Schon 1921 hatte Haberlandt in Graz durch erste Versuche mit Corpus luteum-Implantaten die Grundzüge der hormonellen Ovulationshemmung aufgezeigt. Letztlich stellten Pincus, Djerassi und Rock basierend auf Progesteron die erste hormonale Verhütung vor. Hier findet sich wieder eine von Deutschland ausgehende Innovation. Schering brachte 1962 mit Anovlar ein Jahr nach der Einführung von Enovid in den USA eine Antibabypille auf den Markt. In den folgenden Jahrzehnten war die gynäkologische Endokrinologie pharmakologisch im Wesentlichen von konstanten Weiterentwicklungen auf dem Gebiet der hormonalen Kontrazeption und der Hormontherapie in den Wechseljahren geprägt. Die Entwicklung der hormonellen Behandlung mit hypophysären Hormonen beginnt ebenfalls in der 30er-Jahren. IG-Farben-Industrie in Leverkusen produzierte einen Extrakt
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Kapitel 32 · Geschichte der deutschen gynäkologischen Endokrinologie
aus Schweinehypophysen, der wohl auch therapeutisch eingesetzt wurde (Lunenfeld und Bühler 2007). In den folgenden Jahrzehnten erfolgte die Gonadotropinforschung überwiegend in den USA und im europäischen Ausland. Zunächst wurde mit tierischen Präparationen aus Hunde- und Schafshypophysen therapiert. Ein Durchbruch war schließlich durch die Extraktion urinärer Gonadotropine erreicht. Das erste zum klinischen Einsatz vorgesehene HMG-Präparat wurde 1950 in Italien zugelassen. Erste erfolgreiche Stimulationen beim Menschen erzielte Lunenfeld mit Mitarbeitern (Lunenfeld et al. 1962).
Endokrinologie in der Geschichte der DGGG Hans H. Simmer hat in einer herausragenden Zusammenstellung 1986 den Stellenwert, den die gynäkologische Endokrinologie auf den Kongressen der DGGG genossen hat und nach wie vor genießt zusammengestellt und kritisch in den Kontext der wissenschaftlichen und zeitgeschichtlichen Entwicklung gestellt (Simmer 1986). Die Arbeit zeigt genau, wie extrem sich die Zeit des Nationalsozialismus auf die deutsche Gynäkologie und die Endokrinologie in besonderem Maße ausgewirkt hat. So waren ab 1933 führende jüdische deutsche Köpfe der Endokrinologie wie Ascheim, Zondek, Fels und Fraenkel von ihrem beruflichen Handeln abgeschnitten. Diesen Verlust an Expertise hat die gynäkologische Endokrinologie lange nicht überwunden.
Geschichte der Fortpflanzungsmedizin auf dem Wege zur modernen Reproduktionsmedizin Sterilitätstherapie vor der Ära der Reproduktionsmedizin
32
Die Sterilitätstherapie in Deutschland bis in die 20er-Jahre wurde umfassend von Nürnberger im Kapitel Sterilität des von Halban und Seitz herausgegebenen Handbuches Biologie und Pathologie des Weibes beschrieben (Nürnberger 1924). Bereits damals wurde ein gleichwertiges Verteilungsmuster von Sterilitätsursachen zwischen Mann und Frau postuliert. Erst 1958 findet sich dieses Postulat im Schema von Fikentscher zur Behandlung der sterilen Ehe wieder (Semm 1986). Von besonderer Bedeutung für eine Sterilitätstherapie waren grundlegende Arbeiten zur Bestimmung der fruchtbaren Phase der Frau durch den Grazer Gynäkologen Herbert Hubert Knaus im Jahre 1929 (Knaus 1929). Dessen Erkenntnisse über die fruchtbaren Tage im Zyklus der Frau wurden noch auf dem Kongress der DGGG 1931 von namhaften Forschern wie Fraenkel vehement bestritten. In einer Monographie aus dem Jahre 1953 mit dem Titel Die Physiologie der Zeugung des Menschen hat dann Knaus spät das gesamte damalige Wissen über den Zyklus und die Befruchtungsfähigkeit der Eizelle zusammengestellt und daraus seine Lehren zur Empfängnisverhütung entwickelt (Knaus 1953). Die aufkommende Bedeutung der Sterilitätsdiagnostik und –therapie in Deutschland wurde dann durch die Gründung der Deutschen Gesellschaft zum Studium der Fertilität und Sterilität 1958 unterstrichen. Am Beginn der modernen Sterilitätsbehandlung stand neben Techniken zur Beurteilung der Tubendurchgängigkeit mit Pertubation wie dem Pertubator nach Semm die Erarbeitung und Erforschung der hormonellen Stimulation. 1961 wurde das Clomifen entwickelt. Ebenso wie die Gonadotropinstimulation ging diese Entwicklung nicht mehr von Deutschland aus. Clomifen ist seit 1967 in der Bundesrepublik
605 Geschichte der Fortpflanzungsmedizin
32
im Handel mit in vielen Studien belegter Wirkung (Weise et al. 1982). Der weite Einsatz der Gonadotropinbehandlung führte letztlich zum Konzept der Low-dose-Stimulation, in Deutschland eingeführt von Strowitzki et al. (1994), mit der bei erforderlicher Gonadotropinstimulation in hohem Prozentsatz ein mono- oder bifollikuläres Wachstum erzielt werden konnte. Diese Technik hat insbesondere die Ovulationsinduktion bei PCOS geprägt. Die letzte grundlegende Neuerung der Stimulationstherapie stellt die Einführung der pulsatilen GnRH-Therapie ein. Unter der Leitung von Ernest Knobil war es ein junger deutscher Endokrinologie, Ludwig Wildt (Knobil et al. 1980), der die entscheidenden Grundlagen für diese Behandlung erarbeitete, bevor sie von Leyendecker et al. in die klinische Erprobungsphase übernommen wurde (Leyendecker et al. 1980).
Entwicklung der Reproduktionsmedizin Nach der Geburt des ersten sog. Retortenbabys in Oldham in England fand die extrakorporale Befruchtung rasche Verbreitung (Steptoe und Edwards 1978). Zum Weg zur ersten erfolgreichen IVF, ⊡ Tab. 32.2. Nach diesem bahnbrechenden Erfolg hat sich die Behandlung der Sterilität des Paares zu einem neuen Schwerpunkt in der gynäkologischen Endokrinologie, der Reproduktionsmedizin, entwickelt. Die Entwicklung der Reproduktionsmedizin war danach in den folgenden Jahrzehnten von sich aus der IVF ableitenden Techniken geprägt. Dazu zählen insbesondere die Technik der intracytoplasmatischen Spermieninjektion ICSI, Kryotechniken zur Konservierung von fertilisierten Eizellen, Embryonen und Eizellen, genetische Analysen wie die PGD und letztlich Modifikationen der hormonellen Stimulationsverfahren. Die erste erfolgreiche verlaufene Schwangerschaft nach IVF in Deutschland gelang der Gruppe von Trotnow in Erlangen 1981 (Trotnow et al. 1981, ⊡ Tab. 32.3). Zu dieser Zeit waren neben der IVF auch intrakorporale Reproduktionsmethoden propagiert, wie der 1984 von Asch vorgestellte intratubare Gametentransfer (Asch et al. 1984). Diese Technik erlebte in Deutschland Ende der 80er-Jahre vor allem durch die Großhaderner Arbeitsgruppe um Hepp, Noss und Wiedemann ihren Höhepunkt (Noss et al. 1985), wurde aber in den 90erJahren zugunsten der extrakorporalen Techniken mehr und mehr verlassen, nicht zuletzt auch wegen der Mitte der 80er-Jahre beginnenden transvaginalen, ultraschallgestützten Follikelpunktionstechniken. Die Einführung der ICSI 1992 wurde schon nicht mehr von deutschen Forschern mit beeinflusst (Palermo et al. 1992), vielmehr ab 1994 in großem Umfang in Deutschland übernommen. Die IVF hat sich in Deutschland als klinische Methode rasant entwickelt. Ein besonderes Verdienst der deutschen Forschung ist die bereits frühzeitige Begleitung der deutschen assistierten Reproduktion durch ein umfassendes Register, das DIR (Deutsches IVF-Register). Auf diesem Gebiet hat Deutschland eine Vorreiterrolle weltweit und ein Register, das die Grundlage für viele Datenerfassungen in anderen Staaten bildete. So kann die Entwicklung in Deutschland exakt aus den Registerdaten abgelesen werden. Sind für das Jahr 1982 742 Behandlungen erfasst, so stiegen sie 1999 auf 41.000 und erreichten vor der Gesundheitsreform im Jahre 2003 mit 79.088 Follikelpunktionen für IVF und ICSI ihren vorläufigen Höhepunkt. Nennenswerte Innovationen gingen dann von Deutschland nur noch in geringem Maße aus. Ausnahmen stellen Errungenschaften in der hormonellen Stimulation wie das sog. Lübecker Protokoll, d. h. die Einführung des GnRH-Antagonisten-Protokolls und Arbeiten zur Förderung der Implantation dar (Felberbaum et al. 1995, von Wolff et al. 2008). In der
606
Kapitel 32 · Geschichte der deutschen gynäkologischen Endokrinologie
⊡ Tab. 32.2 Entwicklung der assistierten Reproduktion
32
1959
Chang
Erste Geburt nach IVF beim Kaninchen
1961
Palmer
Erste Oozytenaspiration durch Laparoskopie
1965
Edwards, Jones, Jones
Erster Versuch der In-vitro-Fertilisation humaner Oozyten
1973
Wood, Leeton
Erste IVF-Schwangerschaft, Frühabort
1976
Steptoe, Edwards
IVF-Schwangerschaft, EUG
1978
Steptoe, Edwards
Geburt des ersten IVF-Babys weltweit
1981
Trounson
Einführung der hormonellen Stimulation mit CC/HMG
1983
Buston
Erste Geburt nach Eizellspende
1984
Asch
Erste Schwangerschaft nach GIFT
1984
Porter
Einführung der GnRH-Agonisten in die hormonelle Stimulation
1986
Feichtinger, Kemeter
Einführung der transvaginalen Follikelaspiration mit Ultraschallführung
1988
Patrizio
Erste Geburten nach MESA
1989
Handyside
Erste preimplantation genetic diagnosis, PGD
1990
Cohen
Assisted hatching
1990
Verlinsky
Polkörperdiagnostik, PKD
1991
Cha
IVM
1992
Germond, Devroey
Erfolgreiche IVF/ET nach Stimulation mit rekombinantem FSH
1992
Palermo
Erste Schwangerschaft nach ICSI
1994
Silber
ICSI und TESE
1995
Diedrich et al.
Einführung des Lübecker GnRH-Antagonisten-Protokolls
1998
Gardner
Blastozystentransfer
1999
Kuleshova
Geburt nach Vitrifikation humaner Oozyten
2002
De Boer
Erste Geburt nach Blastozystenbiopsie und PGD
2004
Donnez
Erste Geburt nach orthotoper Transplantation von kryokonserviertem Ovargewebe
2009
Von Wolff
Lutealphasenstimulationsprotokolle
Grundlagenforschung ist die genetische Beschreibung des AZF-Locus auf dem Y-Chromosom bei andrologischer Subfertilität durch Vogt et al. international bedeutsam (Vogt et al. 1996). Die Techniken der genetischen Präimplantationsdiagnostik von Polkörperdiagnostik einerseits und Präimplantationsdiagnostik andererseits wurden im Ausland inauguriert (Verlinsky et al. 1990, Handyside et al. 1990).
607 Aktueller Stand der Gynäkologischen Endokrinologie
32
⊡ Tab. 32.3 Entwicklung der deutschen Reproduktionsmedizin 1981
Trotnow et al.
Erstes deutsches IVF-Baby in Erlangen
Seit 1982
Lehmann, Rjosk, Felberbaum, Bühler
Einführung und Ausbau des DIR (Deutsches IVF-Register)
1985
Hepp, Noss, Wiedemann
Einführung von GIFT in Deuschland
1990
Diedrich
GnRH-Antagonistenprotokoll
2006
Von Wolff, von Otte, Diedrich, Strowitzki
IVM
1998
Montag, van der Veen
PKD in Deutschland
2009
Von Wolff
Lutealphasenprotokolle
Aktueller Stand der Gynäkologischen Endokrinologie und Reproduktionsmedizin Aktueller Stand der gynäkologischen Endokrinologie Die gynäkologische Endokrinologie deckt wesentliche Gebiete der Frauenheilkunde ab. Umfassende Kenntnisse auf diesem Gebiet haben höchste Relevanz insbesondere auch für die Routinepatientenversorgung durch den niedergelassenen Frauenarzt. Dazu zählen: ▬ Endokrinologie in Entwicklung und Pubertät ▬ Störungen der Ovarfunktion ▬ Störungen des Androgen- und Prolaktinhaushalts ▬ hormonelle und nicht hormonelle Kontrazeption ▬ prämenstruelles Syndrom ▬ Endometriose und ihre Zusammenhänge zum Endokrinium ▬ Endokrinium und reproduktive Funktionen ▬ praktische Aspekte der Peri- und Postmenopause ▬ Aspekte der Knochengesundheit ▬ Grundwissen der Laboranalytik In den letzten Jahren wurde die gynäkologische Endokrinologie überwiegend auf die Diskussion um Vor- und Nachteile der Hormontherapie im Klimakterium reduziert. Dies sollte mit Verabschiedung der S3-Leitlinie Hormontherapie in der Peri- und Postmenopause zum Abschluss gebracht werden (Hormontherapie 2009).
Aktueller Stand der Reproduktionsmedizin Auch vor dem Hintergrund des Embryonenschutzgesetzes ESchG sind in Deutschland die meisten Techniken der Reproduktionsmedizin im Sinne der assistierten Reproduktion etabliert. Dazu zählen: ▬ intrauterine Insemination ▬ In-vitro-Fertilisation, IVF ▬ intracytoplasmatische Spermieninjektion, ICSI
608
▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Kapitel 32 · Geschichte der deutschen gynäkologischen Endokrinologie
Kryokonservierung von fertilisierten Eizellen und Gameten Assisted hatching ICSI mit TESE Polkörperdiagnostik, PKD, bei wenigen Fragestellungen verlängerte Embryokultur je nach Auslegung des ESchG
Daneben sind selbstverständlich alle Formen der hormonellen Stimulation und der Fertilitätschirurgie festes Repertoire der Kinderwunschbehandlung in Deutschland. Nach Angaben des Deutschen IVF-Registers DIR wurden im Jahr 2008 11.048 Zyklen IVF und 33.591 Zyklen ICSI durchgeführt mit einer Schwangerschaftsrate von 29,97% pro Embryotransfer bei IVF und 28,35% pro Embryotransfer bei ICSI. Im Jahre 2008 waren in Deutschland 120 IVFZentren im DIR registriert, darunter 27 an Universitäten.
Berufspolitische Entwicklung für den Schwerpunkt gynäkologische Endokrinologie und Fortpflanzungsmedizin Ist-Stand an Universitäten und Praxen
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International entwickelt sich die gynäkologische Endokrinologie und Fortpflanzungsmedizin auch unter wissenschaftlichen Aspekten rasant. Dies lässt sich u. a. an der Zahl der mit dem Schwerpunkt befassten internationalen wissenschaftlichen Zeitschriften belegen (⊡ Tab. 32.4). In Deutschland fällt dagegen die Bilanz, gemessen an der Zahl eigenständiger universitärer Abteilungen im Vergleich zum deutschsprachigen Ausland und auch den USA, ernüchternd aus (⊡ Tab. 32.5). Nur an einer verschwindenden Minderzahl der deutschen Universitäten gibt es eigenständige Abteilungen bzw. Forschungsschwerpunkte für gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin oder Reproduktionsmedizin und Andrologie. Einige Universitäten haben Arbeitsgruppen. Ein Teil der Universitäten sieht die Behandlung für Patientenpaare im Bereich der Reproduktionsmedizin überhaupt nicht mehr vor. 1980 lag die Zahl eigenständiger Abteilungen noch bei 10 Abteilungen. Noch schwieriger als um die Reproduktionsmedizin ist es um das Teilgebiet der gynäkologischen Endokrinologie bestellt. Die gynäkologische Endokrinologie ist zwar an praktisch allen
⊡ Tab. 32.4 Entwicklung internationaler Fachzeitschriften Endokrinologie/Gynäkologische Endokrinologie
Reproduktionsmedizin
1980
Ca. 10-15
Ca. 160
2009
Ca. 100
Ca. 115
⊡ Tab. 32.5 Abteilungen für gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin im internationalen Vergleich
USA
Medizinische Fakultäten
Gynäkologische Endokrinologie/Reproduktionsmedizinische Abteilungen
145
>140
609 Aktueller Stand der Gynäkologischen Endokrinologie
32
Universitäten im Rahmen des Gesamtfaches oder im Rahmen der jeweiligen Schwerpunktabteilungen oder Sektionen vertreten, aber als rein ambulant geprägtes Fach weniger sichtbar. Etwas mehr in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses ist sie wieder in erster Linie durch die seit den 90er-Jahren anhaltende Diskussion zu Risiken der Hormontherapie gerückt.
Berufspolitik – Dreisäulenmodell Diese Realität steht im deutlichen Widerspruch zu dem Dreisäulenprogramm der deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG), wie es auch in der Weiterbildungsordnung WBO verankert ist. Es ist das Verdienst von Günter Kindermann, der in seiner Präsidentschaft in den Jahren 1999-2000 diese für das Fach und die Weiterbildung wesentliche Umstrukturierung in die Wege geleitet hat, um so das Fach als Ganzes mit all seinen Facetten zusammenzuhalten. Dieses Dreisäulenprogramm sieht eine selbständige Repräsentanz an den Universitäten für Gynäkologie und Geburtsmedizin, sowie gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin vor. Offensichtlich wird dieses Dreisäulenprogramm in der DGGG und in den meisten Universitäts-Frauenkliniken aus den unterschiedlichsten Gründen nicht durchgehalten. Woran liegt es, dass Forschung in gynäkologischer Endokrinologie und Reproduktionsmedizin zwar in Deutschland von einigen hoch spezialisierten Abteilungen und Arbeitsgruppen betrieben wird, aber die wesentlichen Fortschritte doch im Ausland erzielt werden? Und hier spielen europäische Staaten eine bedeutende Führungsrolle und im Gegensatz zu den meisten medizinischen Themen nicht amerikanische Forscher. Fakultäten und Frauenkliniken haben einen mangelnden Willen erkennen lassen, dieses Gebiet zu priorisieren. Die Liquidationsstruktur hat darüber hinaus hoch spezialisierten Fachleuten eine angemessene finanzielle Aussicht in der Universität verbaut. Dies führte zu einem »brain drain« des akademischen Mittelbaus in die niedergelassenen Strukturen kommerzieller IVF-Zentren oder weniger auch endokrinologischer Schwerpunktpraxen. In den doch überwiegend reproduktionsmedizinisch ausgerichteten Zentren findet dann erschwerend eine weitgehende Konzentration auf die ertragsreiche assistierte Reproduktion statt, so dass auch hier keine umfassende gynäkologische Endokrinologie, selbst mit ihren Einflüssen in die Fortpflanzungsmedizin hinein, betrieben wird, geschweige denn bis auf wenige Ausnahmen der Forschung ein höherer Stellenwert beigemessen wird. Gemäß dem Versorgungsauftrag, den in der Niederlassung tätige Ärzte erbringen, beschränkt sich in diesem Rahmen die Reproduktionsmedizin auf die Anwendung und nicht die forschende Innovation. So sind heute gynäkologische Endokrinologie und Fortpflanzungsmedizin überwiegend eine Domäne der Versorgungsleistung geworden, was dazu führt, dass auch die Weiterbildung an Universitätskliniken erschwert worden ist. Diese Entwicklung hat auch das Dreisäulenmodell nicht gezielt aufgehalten, da sich das Modell in den meisten universitären Weiterbildungsstätten nicht in der Klinikstruktur abbildet. Das Heidelberger Modell mit einer eigenständigen Abteilung für gynäkologische Endokrinologie und Fertilitätsstörungen stellt seit fast 30 Jahren unter Beweis, dass diese Struktur für eine Universität nicht nur gewinnbringend ist, sondern auch in Forschung und Lehre wesentlich effektiver ist als das Abdecken des Schwerpunktes durch untergeordnete Positionen. So hat sich die Heidelberger Abteilung als einzige selbständige Abteilung in Deutschland entwickelt, die in gleichem Maße und in vollem Umfang gynäkologische Endokrinologie, Reproduktionsmedizin und Fertilitätschirurgie abdeckt. Im Unterschied zu Deutschland existieren z. B. in der Schweiz aufgrund der
610
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Kapitel 32 · Geschichte der deutschen gynäkologischen Endokrinologie
Departmentstruktur an allen Universitäten eigenständige Abteilungen für gynäkologische Endokrinologie und Fortpflanzungsmedizin. Was hat neben diesen hausgemachten berufspolitischen Problemen weiter dazu beigetragen, dass die wissenschaftliche Entwicklung insbesondere in der Reproduktionsmedizin nicht mehr von Deutschland aus federführend mitbestimmt wird? Schon früh nach den Anfängen der extrakorporalen Befruchtung konzentrierte sich die Diskussion in Deutschland auf Fragen der Ethik und auf die Sorge um das mit den neuen Techniken auch über das eigentliche Ziel, nämlich einem kinderlosen Paar zu einem eigenen Kind zu verhelfen, hinaus Machbare. So stellte bereits auf dem wenige Tage nach Geburt des ersten deutschen Retortenbabys einberufenen Podiumsgespräch Wuermeling 1982 die Frage »Ist denkbar und zu erwarten, dass die erstmals in der BRD Trotnow et al. gelungene IVF mit ET und der Geburt eines gesunden Kindes nicht nur therapeutisch, sondern auch diagnostisch und zur Forschung an und mit Embryonen eingesetzt werden könnte?« (Hepp und Diedrich 2008). Grundsätzlich wurde hier erstmals in der Geschichte eine Neuentwicklung der Medizin von ihren Anfängen an ethisch, gesellschaftspolitisch und juristisch begleitet. Nach der Einführung der assistierten Reproduktion in Deutschland wurde 1983 auf Beschluss des Vorstandes der Bundesärztekammer durch den wissenschaftlichen Beirat eine interdisziplinäre Gruppe etabliert. Im gleichen Jahr erfolgte kurze Zeit später die Einsetzung der Kommission »In-vitro-Fertilisation, Genomanalyse und Gentherapie« unter der Leitung des früheren Bundesverfassungsgerichtspräsidenten und Bundesinnenministers Ernst Benda. 1985 veröffentlichte die BÄK-Kommission unter der Leitung von Hermann Hepp im Deutschen Ärzteblatt das Ergebnis der Kommissionsarbeit unter dem Titel »Richtlinien zur Durchführung von In-vitro-Fertilisation (IVF) und Embryotransfer (ET) als Behandlungsmethode der menschlichen Sterilität« (Hepp und Diedrich 2009). Diese Richtlinie hat sich bereits nicht nur mit den medizinischen Aspekten, sondern auch mit der ethischen Vertretbarkeit und mit Zulassungsbedingungen befasst. Interessanterweise wurde bereits damals selbst eine Embryoadoption befürwortet: »Es sollte möglich sein, einen Embryo, der im Rahmen der Fertilitätsbehandlung anderer Partner nicht implantiert werden kann, zur Erhaltung seines Lebens von einer anderen Frau austragen und dadurch als ihr und ihres Ehemannes gemeinsames Kind zur Welt bringen zu lassen«. Die damaligen Forschungsrichtlinien schienen vor dem Hintergrund des dann 6 Jahre später in Kraft getretenen ESchG geradezu progressiv, auch was die Forschung an Embryonen betrifft. Hier hätte sich eine geeignete Plattform gefunden, um Deutschland in der Forschung der Reproduktionsmedizin im Vorderfeld weiter zu platzieren. Mit dem Inkrafttreten des ESchG wurden diese Richtlinien novelliert, z. B. durch die Berücksichtigung der Dreierregel und die Beschränkung der Kryokonservierung auf die Vorkernstadien bis auf wenige Ausnahmen und durch eine eindeutige Stellungnahme gegen das Auseinanderfallen von sozialer und genetischer Elternschaft. 1998 war eine weitere Novellierung der Richtlinien durch die Einführung der ICSI, des DIR und durch das Kindschaftsreformgesetz erforderlich geworden. Auch wurde in dieser Richtlinie erstmals geraten, bei Patientinnen unter 35 Jahren nur 2 Eizellen zu befruchten und 2 Embryonen zu transferieren. Die Dynamik der wissenschaftlichen Entwicklung in der Reproduktionsmedizin hat dann 2006 dazu geführt, die Richtlinien als Musterrichtlinie fortzuschreiben, wobei insbesondere die PKD, die Prävention höhergradiger Mehrlinge, die heterologe IVF/ICSI , das Statusrecht und die Beratung adressiert wurden. Neu wurde erstmals der Begriff des single embryo transfers explizit aufgenommen. Mittlerweile stehen im Mittelpunkt der Diskussion Fragen zur Auslegung des Embryonenschutzgesetzes. Die Dreierregel wird umgangen, indem auf den Begriff der Entwicklungsfähigkeit abgestellt wird. Hierbei darf der Arzt entscheiden, »wie viel imprägnierte Eizellen er
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über das Vorkernstadium hinaus kultivieren muss, um die zuvor festgelegte Zahl von entwicklungsfähigen, für den Transfer ins Auge gefassten Embryonen zu erhalten« (Taupitz 2009). Die Schwierigkeit dieses prospektiven Konstrukts ist evident. Ob das ESchG aber als alleiniges Argument dafür benutzt werden darf, dass die reproduktionsmedizinische Forschung in Deutschland weltweit zurückbleibt, ist bei der Fülle der für die Reproduktionsmedizin noch nicht befriedigend beantworteten Fragen mehr als fraglich. Dazu zählt z. B. die Forschung zum Verständnis der Genetik der Sterilität und Infertilität, zur Implantation, zur Kryokonservierung unbefruchteter Gameten, zum Fertilitätserhalt oder zur Optimierung der hormonellen Stimulation.
Zukunft der gynäkologischen Endokrinologie und Reproduktionsmedizin Zukunft der gynäkologischen Endokrinologie – fachliche Aspekte Nach der Neudefinition des Stellenwertes der Hormontherapie in Peri- und Postmenopause stellen sich für die gynäkologische Endokrinologie zukünftig überwiegend Fragen zur Prävention, wie Zusammenhänge zwischen Stoffwechsel und Endokrinium, die Auswirkungen des Endokrinium auf z. B. kardiovaskuläre Erkrankungen und den Fettstoffwechsel und vice versa. Auch wird sich die Endokrinologie zunehmend mit der bereits pränatalen Prägung zu Stoffwechselerkrankungen und hormonellen Störungen befassen. Auf dem Gebiet der hormonellen Kontrazeption stehen in naher Zukunft neue Östrogene neben dem seit Pilleneinführung gebräuchlichen Äthinylöstradiol zur Verfügung. Weiterhin werden molekulargenetische Grundlagen zum Verständnis der Hormonwirkungen untersucht werden, um hier zu individuellen Risikobewertungen zu gelangen. Gynäkologisch-endokrine Therapieformen werden auch für eine große Vielfalt von gynäkologischen Erkrankungen optimiert werden, wie onkologische Erkrankungen und Endometriose.
Zukunft der Fortpflanzungsmedizin – fachliche Aspekte Die Zukunft der Fortpflanzungsmedizin wird in erster Linie von 2 Fragestellungen beherrscht sein: ein besseres Verstehen der embryonalen Entwicklung und eine Annäherung an den erfolgreichen Einzelembryotransfer mit gleichzeitiger Verbesserung der Implantationsbedingungen und einer Risikominimierung für die Frau. Hier müssen Techniken entwickelt werden, die es ermöglichen, mit einer hohen, den Chancen der natürlichen Konzeption entsprechenden Wahrscheinlichkeit den Transfer nur eines Embryos zu erlauben. Auch Ansätze zur Fertilitätsprävention im Sinne einer Fertility Awareness werden eine zunehmende Bedeutung erlangen. Darüber hinaus werden reproduktionsmedizinische Methoden zunehmend zum Fertilitätserhalt vor ovartoxischen Therapien, z. B. in der Onkologie, Anwendung finden. Fortschritte im Schwerpunkt werden im Wesentlichen und in der öffentlichen Wahrnehmung in der Reproduktionsmedizin erzielt bzw. umgesetzt.
Stimulationsprotokolle Ziel wird in der Kinderwunschbehandlung eine Risikominimierung für die Frau und der Weg hin zur Erzielung von fast ausschließlich Einlingsschwangerschaften sein. Der erste Schritt
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zur Risikominimierung und zur Erzielung einer ggf. besseren Keimzellqualität ist eine Modifikation der bisherigen Stimulationsansätze. Die Stimulation der Zukunft wird mehr und mehr eine milde Stimulation sein. Gründe dafür sind neben dem geringeren Risiko für die Patientin eine schlechte endometriale Rezeptivität (Devroey et al. 2004), eine eingeschränkte Gelbkörperfunktion (Beckers et al. 2006) sowie ein negativer Einfluss auf Eizell- und Embryoqualität in den hochdosierten Protokollen (Valbuena et al. 2001, Baart et al. 2007). Zur milden Stimulation werden niedrig dosierte Antagonistenprotokolle weiterentwickelt. In einer Metaanalyse aus 27 IVF-Studien konnte klar gezeigt werden, dass in Antagonistenprotokollen die Gonadotropinmenge signifikant niedriger liegt, die Stimulationsdauer kürzer ist und weniger schwere Überstimulationssyndrome auftreten (Al-Inany et al. 2006). Auch scheint nach neueren Daten die Lebendgeburtenrate nicht mehr unterschiedlich zu den klassischen langen Protokollen zu sein (OR 0,86, Kolibianakis et al. 2006). In einer großen Studie wurde dieses milde Stimulationsprotokoll mit einem Single Embryo Transfer (SET) kombiniert und in fast 800 IVF-Zyklen der konventionellen Methode gegenübergestellt (Heijnen et al. 2007). Nach einem Behandlungsjahr waren die kumulativen Lebendgeburtenraten vergleichbar – bei niedrigeren Kosten und einer geringeren Mehrlingsrate in der Gruppe mit milder Stimulation. Auch scheint es so zu sein, dass die Embryoqualität in milden Stimulationprotokollen besser ist (Baart et al. 2007). Eventuell repräsentieren weniger Oozyten in einem milden Stimulationsprotokoll eine eher homogene Follikelkohorte, was sich auch in einer Metaanalyse in einem verbesserten Implantationspotential der resultierenden Embryonen niederschlug (Verberg et al. 2009).
Selektion und Beurteilung von Gameten und Embryonen
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Als weiterer Schritt werden Methoden etabliert werden, die die richtige Auswahl der Keimzellen und in späterem Entwicklungsstadium selbst der Embryonen ermöglichen sollen. Dazu können zählen: ▬ IMSI, intrazytoplasmatische morphologische selektierte Spermieninjektion ▬ oocyte profiling – Polkörperdiagnostik, PKD ▬ nichtinvasives Embryoscreening Die morphologische Entwicklungsbeobachtung von Embryonen und ihre Rückschlüsse sind selbst bei der Langzeitbeobachtung in der Blastozystenkultur limitiert und basieren seit fast 30 Jahren auf 2 grundlegenden Beobachtungen: zeitgerechte Zellteilung und Grad der Fragmentation. Blastozystenkulturen zur Langzeitbeobachtung in Kultur erlauben keinen Vorteil (Blake et al. 2005). Bei Einschluss neuerer Daten zeigt sich aber doch eine geringgradig höhere Lebendgeburtenrate nach Blastozystentransfer in der Gruppe von Patientinnen mit guter Prognose unter 33 Jahren von 36% vs. 29% (Blake et al. 2005, Papanikolaou et al. 2006). Insgesamt ist es nicht gesichert, dass die Blastozystenkultur eine bessere Selektion der Embryonen erlaubt, so dass andere Parameter Ziel der Forschung sind.
Nichtinvasives Embryoscreening Um im Vergleich zu den letztlich enttäuschenden Aussagen von Blastozystenkultur und Präimplantationsgenetik bessere Parameter zur Beurteilung des Implantationspotentials von Embryonen zu erhalten, arbeiten zahlreiche Gruppen an nichtinvasiven Tests. Dazu werden keine genetischen Untersuchungen (genomics), sondern Untersuchungen zum Stoffwechsel
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des Embryos in Kultur (metabolomics) über die Analyse der vom Embryo in das Kulturmedium sezernierten Substanzen (secretomics) durchgeführt. Unter dem Metabolom wird das komplette Inventar kleiner Moleküle zusammengefasst, wozu metabolische Zwischenprodukte, Fettsäuren, ATP, Glukose, Cholesterol, Hormone und andere Signalmoleküle sowie sekundäre Metabolite gerechnet werden (Nagy et al. 2008). Proteine werden dagegen unter dem Begriff Proteomics zusammengefasst. Insbesondere der Nachweis von Biomarkern des oxidativen Stresses im Kulturüberstand von Embryonen nach 3 Tagen Kultur korrelierte mit einem reduzierten bis aufgehobenen Implantationspotential.
Weiterentwicklung von Techniken der Kryokonservierung Die Kryokonservierung unfertilisierter Eizellen hat wesentliche Fortschritte gemacht, nicht zuletzt durch die Einführung der Vitrifikation. Wurde die Kryokonservierung unfertilisierter Eizellen bis dato überwiegend zum Fertilitätserhalt bei jungen Frauen ohne feste Partnerschaft vor zytotoxischer Therapie genutzt bzw. in Ländern wie Italien, in denen die Gesetzgebung die Kryokonservierung fertilisierter Eizellen oder Embryonen unmöglich macht, so wird diese Technik sicher bald zum Standard der Kinderwunschbehandlung an sich gehören. Natürlich eröffnen sich dadurch auch wichtige ethische Diskussionen. So könnte die Methodik auch dazu eingesetzt werden, das fertile Fenster von Frauen über die Menopause hinaus ausschließlich aus sozialen oder beruflichen Erwägungen zu öffnen.
In-vitro Entwicklung von Follikeln und Gameten Die in-vitro Maturation stellt einen ersten Schritt zur Verwendung auch unreifer Eizellen hin zum Einsatz unreifer Follikelstadien dar (von Wolff et al. 2008). Auf diese Weise kann eine aufwändige hormonelle Stimulation vermieden werden und die assistierte Reproduktion wird nicht mehr ausschließlich von der Stimulation reifer Oozyten abhängig sein. Letztlich eröffnen solche Techniken neue Wege in der Fertilitätsprotektion und können erster Ansatz zum Ausbau der in-vitro Entwicklung von Follikeln und Eizellen sein. Die wissenschaftliche Evaluierung der Methode ist derzeit auch Gegenstand der Forschung in einem Projekt der DFG-geförderten Forschergruppe »Germ Cell Potential«. Die vollständige Follikelreifung in vitro ist dagegen noch Zukunft. Während im Tierversuch in wenigen Fällen Lebendgeburten nach vollständiger Follikelentwicklung in vitro berichtet werden konnten (Eppig et al. 1996), ist dies beim Menschen mit der wesentlich längeren Follikelreifung nicht gelungen. Telfer et al. haben jetzt einen ersten Schritt zur In-vitroFollikulogenese beim Menschen bis zum Erreichen antraler Follikel getan (Telfer et al. 2008).
SET Zur Vermeidung von Mehrlingsschwangerschaften ist der Transfer eines einzelnen Embryos anzustreben (Griesinger 2009). Dies wird vor allem in den nordeuropäischen Staaten seit Jahren erfolgreich praktiziert. Werden Patientinnen mit einem hohen Risiko für eine Mehrlingsschwangerschaft nach klinischen Kriterien wie einem Alter unter 36 Jahren ausgewählt, so kann in dieser Gruppe auch mit Transfer eines einzelnen Embryos eine akzeptabel hohe Schwangerschaftsrate wie mit einem Transfer von 2 Embryonen erzielt werden unter gleichzeitiger Vermeidung von Mehrlingsschwangerschaften.
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Zukunft der gynäkologischen Endokrinologie und Reproduktionsmedizin in Deutschland Berufspolitisch muss man sich die Frage stellen, welcher Stellenwert künftig der gynäkologischen Endokrinologie und Fortpflanzungsmedizin zugemessen werden soll. Eine bessere Förderung der gynäkologischen Endokrinologie und Fortpflanzungsmedizin ist aus vielerlei Hinsicht wesentlich: ▬ Prävention von Erkrankungen bei hormonellen Dysfunktionen ▬ Begegnung der demographischen Entwicklung mit einer Verschiebung des Alters bei Familienplanung und dadurch abnehmende Geburtenzahlen ▬ Nutzung der Techniken der assistierten Reproduktion für den Fertilitätserhalt bei zytotoxischen Therapien
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Betrachten wir den Stellenwert des Faches an Universitäten, den es im Ausland genießt, so ist evident, dass intensive Förderung und Ausbau dieses Schwerpunktes an Universitäten eine gewinnbringende Investition sind, sowohl wirtschaftlich als auch bezüglich Forschung, Lehre, Patientenversorgung und Weiterbildung. Insofern ist Deutschland derzeit weiterhin auf dem besten Wege, einmal mehr diese Entwicklung zu verschlafen. Gynäkologische Endokrinologie und Fortpflanzungsmedizin müssen als Einheit in der Frauenheilkunde verankert bleiben, allerdings in Strukturen, die ihre Entfaltung nicht behindern. Ein Auseinanderdriften birgt die Gefahr, dass Reproduktionsmedizin abgekoppelt von der Frauenheilkunde und der gynäkologischen Endokrinologie in ein eigenständiges Fach abgleitet. Dies würde sich u. a. negativ auf die Entwicklung eines verantwortungsvollen Präventions- und Problembewusstseins z. B. bei Mehrlingsschwangerschaften und eines sicheren Risikomanagements auswirken. Die gynäkologische Endokrinologie liefe Gefahr, in die allgemeine, internistisch geprägte Endokrinologie verlagert zu werden. Auch hier fehlt es an sicherer Erfahrung und dem Wissen, wie und bei welchen Problemen die Frau von der Jugend bis ins Senium gynäkologisch endokrin zu begleiten ist.
Fazit Den gegenwärtigen Stand der deutschen gynäkologischen Endokrinologie und insbesondere der Fortpflanzungsmedizin allein mit den strikten Regularien des ESchG zu entschuldigen und darüber zu lamentieren, wäre zu einfach. Dies zeigt sich auch in juristischen Interpretationen, Taupitz hat die Möglichkeiten zusammengefasst, die das ESchG auch heute bereits bieten kann (Taupitz 2009). Hier geht es vielmehr um ein grundsätzliches Erkennen der Wertigkeit der Hormon- und Fortpflanzungsforschung für die Gesellschaft, gerade vor dem Hintergrund sich wandelnder soziokultureller Faktoren. Und dazu braucht es keine Reduktion des Faches auf die Diskussion über die Forschung an humanen Embryonen oder auf die denkbaren Nebenwirkungen von Hormontherapien. An Universitäten müssen im Fach der Frauenheilkunde Strukturen geschaffen werden, die die gynäkologische Endokrinologie und Fortpflanzungsmedizin sich frei entfalten lassen. Dazu zählen Eigenständigkeit in Patientenversorgung mit Weisungsbefugnis, Freiheit in der Forschung, aber auch die Möglichkeit auf ein dem der freien Wirtschaft vergleichbares Einkommen. Da steht die gegenwärtige Liquidationsstruktur meist dagegen. Nur so können junge Forscher dafür gewonnen werden, sich ganz diesem Fach zu widmen. Bei Ausrichtung hin zu Onkologie und operativer Gynäkologie
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bleibt nämlich immer noch die Möglichkeit, sich auch für außeruniversitäre Kliniken in Führungspositionen zu bewerben. Diese Möglichkeit ist hochspezialisierten Endokrinologen und Reproduktionsmedizinern verwehrt und der Weg in die Praxis ist vorprogrammiert. Packen wir die Zukunft an und bedauern nicht den Ist-Zustand. Dafür hat dieses Fachgebiet aus der Frauenheilkunde heraus viel zu viel Entwicklungspotential und wird gerade in der Fortpflanzungsmedizin und den sich daraus ableitenden Erkenntnissen vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels eines der wichtigsten Entwicklungsfelder der Medizin sein. Man muss es nur erkennen als die innovative Investition in die Zukunft.
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Kapitel 32 · Geschichte der deutschen gynäkologischen Endokrinologie
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Stichwortverzeichnis
A AIDS 88 Abort, septischer 244 Adenomyose 203f Adjuvante Chemotherapie 500 Adnextumoren – Laparoskopie 152 – Sonomorphologie 262 – Ultraschall 259 Afterloading, Brachytherapie 526 Akupunktur, IVF 598 Alkylanzien 506 Alloimmunthrombozytopenie, pränatale Therapie 321 Amniocentese 2. Trimenon 312 Anästhesie 103 Aneuploidiescreening an Eizellen und Embryonen IVF 594 Annual Report 517, 522 Anthrazykline 506 Antike, operative Gynäkologie 97 Antikoagulanzien 238 Antisepsis 101 Arbeitswelt und Medizin 5 Archimetra, Endometriose 205 Archimyometrium, Endometriose 207 Arrhythmie des fetalen Herzens, Therapie 321 Assisted Hatching IVF 592, 593 Atonie, postpartale, uterine 245
Ausbildung 45f Autonomie der Patientinnen 326 Autotraumatisierung, uterine, Endometriose 214 Axilladiagnostik, Mammakarzinom, Ultraaschall 282
B Barrieremethoden zur Kontrazeption 573 Basalplatte, Fibrin 234 Beckenbodenrekonstruktion, Laparoskopie 167 Belastungsinkontinenz 192 Beleomycinhaltige Kombination 508 Berufspolitik Fortpflanzungsmedizin 608 Berufspolitik, Dreisäulenmodell DGGG 609 Betatron 519 Bevacizumab 506 Bildgebende Diagnostik, Urogynäkologie 188 Bildqualität, 3D Ultraschall 299 Blastozystenkultur IVF 596 Blastozystentransfer IVF 597 Blut, mütterliches, fetale Zellen 325f Blutgasanalyse, fetale 353 Blutgerinnung 227f Blutleere (Momburg) 230 Blutung, uterine, Ultraschall 267
618
Stichwortverzeichnis
Blutungen, insb. Nachgeburtsblutungen 227f B-Lynch-Naht 236 Brachytherapie Afterloading 526 BRCA1, BRCA2, BRCA3 487 Brust, siehe Mamma Brustdiagnostik, Ultraschall 273f Brustdrüse, Ultraschall 273f Brusterhaltende Therapie, Mammakarzinom 525 Brusttumoren, siehe Mammatumoren 475
C Capecitabine 506 Carboplatin 506 Chemotherapie 499f – Mamma-, Ovarial, Zervixkarzinom 499f – Hochdosis- 504 – Kombinations- 504 – neoadjuvante 505 – sequemntielle 504 Chordozentese 316 Chorionamnionitis 243 Chorionzottenaspiration 1. Trimenon 314 Cisplatin 522 Compound-Scanner 253 Cor matrum 240 Corpus luteum 536 Couvelaire-Uterus 239 CTG, Kardiotokographie 351 Cyclophosphamid 500 Cystoskopie (siehe Zystoskopie) 186
D Defensivmedizin, Geburtshilfe 369 Demographie 2, 4, 366 Depot-Spritze, zur Kontrazeption 577 Desquamationswunde, uterine 237 Diaphragma 573 Disseminated intravascular coagulation, DIC 241, 243 Docetaxel 503
Dopplerfluss in fetalen Gefässen 352 Dopplersonographie 364 Dysplasie Zervix 371f
E EGONE 54f EGONE, Struktur 60 Einmonatsspritze 569 EKG, fetales 352 E-Learning 45f, 50 Embryonen und Gameten, in vitro Entwicklung 615 Embryonen, Selektion IVF 612 Embryoscreening, nicht invasiv 612 Empfängnisverhütung 555f Endokrinologie, gynäkologische 601 Endometriose 203f – Dysfunktion der Archimetra 211 – ektope Herde 220 – iatrogene Verletzung 216 – Laparoskopie 160f – peritonealer Befall 163 – prämenarchale 219 – Schweregrad, laparoskopisch 162 – Tissue Injury and Repair 214 – uterine Autotraumatisierung 214 Endometrium – ektopes 221 – Functionalis vs. Basalis 208 – Postmenopause, Ultraschall 266 – Tamoxifen, Ultraschall 268 Endometriumdicke, Ultraschall 266 Endometriumkarzinom – 1920-1937 416 – 1950-1970 419 – 1980-1990 420 – 2010 421 – Ende 19. Jhd. 414 – Entwicklung der Therapie 413f – Infiltrationstiefe, Ultraschall 268 – Radiotherapie 518 – Strahlentherapie 529 Endoskopie 141f Ersttrimester-Screening 317
619 Stichwortverzeichnis
Estradiol 537 Ethinylöstradiol, Reduktion, Pille 565 Exenteration – Modifikationen 403 – pelvine 401
F Fallpauschalen, Kritik 6 Familienplanung 555f – natürliche 580 Farbdopplersonographie 265 Fertilitätschirurgie, endoskopische 170 Fetale Gefässe, Dopplerfluss 352 Fetale Zellen im mütterlichen Blut 325 Fetales EKG 353 Fetalmedizin 364 Fetalüberwachung 347f – Anfänge 348 Fetoskopie 313 Fibrinmonomere 241 Fischgeruch 87 Fisteln, urogeniitale 184 Fluorouracil 501 Follikel 536 Follikeldurchmesser 537 Folsäureantagonisten 500 Frauenheilkunde, psychosomatische 60 Frauenkondom 574 Frauenkunde 68 Fruchtwasserembolie 243 Früherkennungsdiagnostik, Mamma, Ultraschall 280 Frühgeburt, Grenzen der Lebensfähigkeit 9 Funktionsdiagnostik, Urogynäkologie 186, 190 Funktionsultraschall 364
G Gameten, Selektion IVF 612 Gardnerella 87 Geburten, Gestaltung 365
B–H
Geburtshilfe – keine medikamentöse Weiterentwicklung 329 – offene Fragen 344 – Visionen 335f – Zukunft 325f Geburtsmedizin 9 Gemcitabine 508 Genetik, Fetaldiagnostik 365 Geschichte der Hysterektomie 107f Gesetze und Verordnungen, Qualitätssicherung 39 Gesetze, Richtlinien, Leitlinien Psychosomatik 77 Gestaltung von Geburten 366 GnRH, permissive Wirkung im Zyklus 542 Gonadotropin Releasing Hormon GnRH 539 Gonadotropinsekretion – im Zyklus 541 – pulsatile, im Zyklus 544 Gonorrhoe 84 Gynäkologische Urologie (Stoeckel) 183 Gynecological Adjuvant Breast Cancer Group 508, 509
H Hämostaseologie 241 Handbuch 50 Harninkontinenz, Urodynamik 187 Harntrakt, oberer, Urogynäkologie 185 Hautdurchblutung – fetale, Heizstrom 351 – fetale, Wärmeabgabe 352 Hebammen 366 HELLP-Syndrom 244 Heparin 238, 243 Herceptin 506 Hereditäres Mamma- und Ovarialkarzinom, Genetik 488 Herpes 81 Herzfrequenz, fetale 349 HIV-Infektionen 88 Hormonale Kontrazeptiva, Tumorerkrankungen 563 Hormonelle Therapie, Anfang 603
620
Stichwortverzeichnis
Hormonimplantate, zur Kontrazeption 576 Hormonpflaster 568 Hormonsynthese, Geschichte 602 HPV-Infektionen 88 Humangenetik, Geburtshilfe 340 Humoralpathologie 98 Hyperkoagulabilität, erworbene 245 Hypothalamisch-hypophysäre Einheit 538 Hysterektomie – abdominale 120 – anekdotische 109 – Geschichte 93f – Laparoskopie 133, 158 – laparoskopisch assistierte 137 – minimal invasive 133 – nach Freund 123 – radikale 394 – radikale, Klassifikation 405 – suprazervikale 136 – totale 136 – totale mesometriale TMMR 120, 407 Hysterielehre 95
I Imaginationslehre 95 Immunkontrazeption 582 Impfungen gegen HPV-Infektionen 88 Infektiologie in der Gynäkologie 89 Infektionserkrankungen, Gynäkologie 81f Intrauterine Diagnostik und Therapie 363 Intrauterinepessare, gestagen-beladen 573 Intrauterinpessare 572 – rahmenlose 573 In-vitro-Fertilisierung – Effizienz 590 – erstes Kind in Deutschland 587f Isodosen-Kurve 516
K Kindbettfieber 85 Kolposkopie 374
Komplikationen der Laparoskopie 173 Kompression, bimanuelle des Uterus post partum 232 Kontrazeption 555f – Auswahl der Methode 582 Kontrazeptiva – kontinuierlich 567 – Langzyklus 567 – orale, Thromboembolierisiko 242 – östrogenfreie 565 Kontrazeptive Sicherheit, Pearl-Index 557 Kontrazeptive – Anwendungshäufigkeit Deutschland 561 – hormonale, orale 561, 562 Konus Zervix 381 Kryokonservierung IVF 613 Küssen, Herpes 82
L Laktat-Bestimmung, Fetus 356 Laparoskopie 134, 141f – Geschichte 144f – Komplikationen 173 Laparoskopisches Operieren, aktueller Stand 178 Lapatinib 506 Laser-Doppler-Flussmessung (LDF) 352 Lehrbuch 47 Linearbeschleuniger 519, 522 Listeriose 86 Lutealphase 537 Luteinisierendes Hormon, LH 537 Lymphknotenmetastasen Zervixkarzinom 376, 382, 386 Lymphwege weibliches Genitale 417
M Mamma, Ultraschall, Historische Entwicklung 274 Mammakarzinom – brusterhaltende Therapie 487f, 525 – Halsted 477
621 Stichwortverzeichnis
– hereditäres 487f – hereditäres, Gentest 490 – hereditäres, Prävention 493 – hereditäres, Psychosomatik 497 – hereditäres, Risikoeinschätzung 491 – inflammatorisches 505 – Kombinations-Chemotherapie 481, 500 – komplette Tumorentfernung 479 – Mastektomie 477 – Mutationsträgerinnen 493 – operative Therapie 477 – Strahlentherapie 482, 528 – systemische Therapie 479 – zytostatische Therapie 480 Mammasonographie 273f Mammatumoren 475f Mausklick, Studieren 51 Megavolttherapie 514, 519 Mehrlingsschwangerschaft, höhergradige 12 Melphalan 501 Menstruation, Geschichte des Begriffes 100 Metformin, Adiuvans IVF 591 Methotrexat 501 Mikrotraumatisierung, uterine 216 Mittelalter, Hysterektomie 98 Myelotoxizität 507
N Nabelschnur, pränatale Therapie 320 Nachgeburtsblutungen 231 Nachsorge, Mammakarzinom, Ultraschall 282 National Surgical Adjuvant Breast Project NSABP 501 Nephrotoxizität 507 Neurotoxizität 507 Normofertilität - Infertilität 590 Nuva-Ring 568
O Okabayashi Operation, Zervixkarzinom 400 Onkologie, Laparoskopie 171f
H–O
Operative Urogynäkologie 191 Östradiolvalerianat, Kontrazeptivum 566 Östrogenfreie Kontrazeptiva 565 Ototoxizität 507 Ovarialfunktion, neuroendokrine Regulation 535f Ovarialkarzinom 425f – Anamnese 433 – bildgebende Verfahren 433 – CA 125 432 – Chemotherapie 506 – Fertilitätserhaltung 437 – Follow-up 444 – fortgeschrittene Stadien 437, 441 – Früherkennung 432 – Frühstadien 436 – hereditäre Prädisposition 428 – hereditäres 487f – hereditäres, Gentest 490 – hereditäres, Psychosomatik 497 – hereditäres, Risikoeinschätzung 491 – intraperitoneale Therapie 443 – Inzidenz 427 – Kanzerogenese 430 – Klinische Untersuchung 433 – Konsolidierungstherapie 443 – Labor 434 – laparoskopisches Operieren 437 – medikamentöse Therapie 440 – multimodales Therapiekonzept 436 – neue Prognosefaktoren 435 – nicht-hereditäre Faktoren 429 – optimaler Operationszeitpunkt 438 – Pathologie, Beurteilung 431 – Platinsensibilität 446 – Prognosefaktoren 434 – Radionuklid-Instillation 524 – Resektabilität 439 – Rezidivtherapie 444, 445 – Risiko, Risikoreduktion 427, 429 – second look Operation 439 – sekundäres Debulking 439 – Staging 436 – Strahlentherapie 530 – Symptome 433 Ovarialvenenthrombose 237 Ovulation 536
622
Stichwortverzeichnis
Ovulationshemmung 562 Oxygenisation, fetale 354
P Packmethode, Radium, Endometriumkarzinom 522 Paclitaxel 503 Pearl-Inex, kontrazeptive methoden 557 Pelviskopie 134 Pendelkonvergenz-Bestrahlung 516 Perinatalerhebung 35 Perinatalmedizin, 50 Jahre 361f Perinatal-Nachrichten 36 Perinatalzentren 366 Perioperative Medizin 100 Peristaltik, uterine 209 pH-Wert unter der Geburt, kontinuierlich 355 Pille danach 570 Platin-Paclitaxel-Kombination 507 Plazentalösung – normale 234 – vorzeitige 239 Plazentapunktion, pränatale Diagnostik 316 PO2-Partialdruck, transkutan 356 Polycystisches Ovar Syndrom 591 – Metformin 591 Portiokappe 574 Postmenopausenblutung, Ultraschall 266, 267 Präimplantantionsdiagnostik 24f Pränataldiagnostik 20f – Ethik 11, 341 Pränatale Diagnostik – 1. Trimenon 365 – 3D Ultraschall 297 – Zukunft 342 Pränatale Medizin 311f Pränatale Therapie über Nabelschnur 320, 322 Präoperatives Staging, Mammakarzinom, Ultraschall 282 Prednisolon 501 Prepare for Pregnancy 328 Primärtumor Zervixkarzinom 374 Progesteronspiegel, im Zyklus 537 Prolapschirurgie, urogynäkologische 194
Psychoanalyse 66 Psychosomatische Frauenheilkunde 65f – Gesellschaften 71 Psychosoziale Faktoren 70 Pulsgenerator, hypothalamischer 540 Pulsoxymetrie 354
Q Qualitätssicherung 31f – frühere DDR 37 – operative Gynäkologie 38 – Geburtshilfe 367
R Radiogoldapplikation 524 Radionuklid-Instillation, Ovarialkarzinom 524 Radiumapplikation, lokal 515 Radiumdosimetrie 515 Radiumtherapie 1903 514 Realtime-Scan, Mamma 277, 279 Registriermethoden, fetale Herzfrequenz 351 Reproduktionsmedizin – aktueller Stand 607 – Entwicklung 605, 606 – Ethik 11, 342 – Kontroversen, Sachstand 589f – Revolutionen 340 – Zukunft 611 Rezidivbestrahlung, Endometriumkarzinom 523 Rezidive, Mammakarzinom, intramammär 525
S Salat, Listeriose 86 Säure-Basen-Haushalt, Fetus 355 Schaute Operation 398 Schutzverpflichtung gegenüber Ungeborenen 343
623 Stichwortverzeichnis
Schwangerschaftsabbruch 342, 365 – Pflichtberatung 7 Schwangerschaftsverlauf, komplizierter 328 Screening, 1.Trimester Schwangerschaft 317 Sectio auf Verlangen, auf Wunsch 11, 341 Sonographie 3D/4D, siehe Ultraschall 3D/4D 287f Sonographie, siehe Ultraschall 257f Spektroskopie, Nahinfrarot (NIRS) 355 Stammzellen, humane, embryonale 16f Stammzellentransplantation bei HDCT 504 Stammzelltherapie 323 Static-B-Scanner 253 Sterilisation, zur Kontrazeption 573 Sterilitätstherapie vor Ära Reproduktionsmedizin 604 Stickstoff-Lost 500 Stimulationsprotokolle, Reproduktionsmedizin 611 Stimulationsteste, Fetus 356f Strafrecht und Gynäkologie 14 Strahlentherapie, gynäkologische 513f Stress-Inkontinenz 192 Studiengruppen in Deutschland, Chemotherapie 508 Studieren per Mausklick 51 Supervolttherapie 519 Syphilis 82
T Tamoxifen, Endometrium, Ultraschall 268 Taxane 503 Telekobalttherapie 514, 519 Thiotepa 501 Thromboembolie 227f Thromboemboliemorbidität 238 Thrombolyse 241 Thrombophilie, angeborene 245 TIAR: Tissue Injury and Reoair (Leyendecker) 214 TomTec, 3D Ultraschall 289 Topotecan 508 Toxic Shock Syndrom 244 Toxizität Chemotherapie 507
O–V
Transkutanes PO2 354 Transvaginal-Ultraschall 260 Trastuzumab 505 Tubargravidität, Laparoskopie 155 Tumordifferenzierung, Mamma, Ultraschall 281 Tumorscore Schillinger, Ultraschall 259 Tumorscore, Ultraschall 262
U Überwachung des Kindes unter der Geburt 347 Ulltraschall – 3D, Gynäkologie 300 – 3D, Mamma 292, 303 – 3D/4D, pränatale Diagnostik 296 – 3D Visualisierung 292 – 3D/4D 287f – Diagnostik, Frauenheilkunde 307 – Doppler 364 – Mamma 273 – Mamma, Grenzen 283 – Mamma, Vorteile 283 – Zyklusdiagnostik 254 Ultraschalldiagnostik 251f Urogynäkologie 181f – Funktionsdiagnostik 186 – operative 191 Uropathien, fetale, obstruktive 322 Uterine Autotramatisierung, Hyperperistaltik 216 Uterine Peristaltik, Endometriose 209 Uterus 94 – Endometriose 205
V Vaginalchirurgie, Beginn 111 Vaginalkarzinom 465 – Strahlentherapie 530 Vaginalrezidive, Endometriumkarzinom 523 Vaginalringe, Kontrazeption 568 Vaginalschwamm, zur Kontrazeption 581
624
Stichwortverzeichnis
Verbrauchskoagulopathie 241 Verlustkoagulopathie 243 Verrechtlichung der Medizin 5 Vincristin 501 Volume Scan, 3D Ultraschall 291 Vulvakarzinom – Geschichte 454f – Kongresse DGGG 465f – primäre Strahlentherapie 463 – radikal operative Therapie 458 – Standardtherapie 2010 471 – Strahlentherapie 460, 529 – Strahlentherapie Münchner Methode 463 – Strahlentherapie Weghaupt 463 Vulvektomie, radikale 458, 459
W Weiterbildung 45f Weiterbildungsordnung, Psychosomatik 76 Werte und Wissen im Konflikt 7 Wertheim‘sche Radikaloperation, Geschichte 125f
Z Zerixkarzinom, Operation nach Okabayashi Zervikale Dysplasie, Bethesda Klassifikation 377 Zervix, Gewebeentnahme 380 Zervixdysplasie, Regression 378 Zervixkarzinom – Chemotherapie 508 – Fertilitätserhaltung 410 – lymphogene Metastasierung 376, 382, 385 386 – minimal invasive Operation 408 – Operationen, Geschichte 122, 371 – radikale Hysterektomie 394 – Radikaloperation, Entwicklung 393f, 397, 401 – Stadieneinteilung 404 – Strahlentherapie 529
– Vorstufen 383 Zwerchfellhernie, fetale, Therapie 323 Zyklus, menstrueller 536 Zyklusstörungen, Pathophysiologie 546 Zystoskopie 186 Zytodiagnostik, Urogynäkologie 190
Personenverzeichnis
A Abele, H 141 Abulkasim 145 Aghajanova, I 221 Ahlfeld, F 231 Aldridge, AH 192, 193 Al-Hasani, S 588 Al-Inany, HG 612 Amid 195 Amreich, I 400, 419 Andrews, EW 104 Antonin, J 146 Antonini, N 483 Aranzi, GC 145 Archer, DF 567 Argand, A 145 Aristoteles 95 Arnaud, G 145 Asch, RH 605 Aschheim, S 602 Aschner, B 538 Astruc, J 82
B Baart, EB 612 Bacon, F 344
Baemer, J 516 Bahnsen, J 513ff Baird, DT 582 Baltzer, J 50, 371ff, 408, 463, 517 Barker, DJP 338, 344 Barnes, AC 150 Bartelink, H 483 Basset, A 459 Bast, RC 434 Bauer, H 454 Bauer, M 527 Baumann, K 429 Baur, S 377 Beck, L 187 Becker, J 519 Becker, S 141 ff Beckers, NG 612 Beckmann, MW 383, 388 Beigel, H 111 Beller, FK 50, 239, 242 Bender, HG 245, 393ff Benedetti-Panici, P 438 Bequerel, H 482 Berengario da Capi, G 110 Berg, D 31ff, 36, 245 Berthold, AA 602 Berven, E 458 Bettendorf, G 536 Bevis, D 312 Bezwoda, W 504 Bianchi, DW 331
626
Personenverzeichnis
Bickenbach, W 240 Billroth, Th 32, 397 Blaicher, W 335ff Blake, D 612 Blondel, A 95 Blümel, G 241 Boccardo, F 480 Boerhave, H 84 Boesch, PF 150 Boggess, J 305, 409 Bonadonna, G 480, 502 Bornemann, A 387 Boronow, C 461 Bozzini, P 145, 186 Brambati, B 314 Breisky, A 399 Breit, A 516 Breitner, J 515 Bria, E 503 Bricker, EM 403 Bruck, J 146 Brucker, S 141 Bruneaux, Y 151 Brunschwig, A 395, 402 Brusis, E 313 Buchholz, R 537 Bulun, SE 221 Bumm, E 48, 84, 107 Burch, JC 192 Burger, K 192 Burghardt, E 372, 375, 381, 438 Butenandt, A 602 Buttenberg, D 521, 524
C Caldeyro-Barcia, R 350 Campell, S 189 Cardan, J 145 Charcot, JM 66 Childers, JM 409 Chrobak, R 46, 397 Citron, ML 504 Clark, JG 125, 395, 397 Clarke, M 526
Conrad, F 32 Cook, L 574 Cooper, RG 500 Costas, S 50 Couvelaire, A 239 Credé, K 85, 231, 349 Creutzberg, CL 523 Crohns, C 475ff Cromer, BA 577 Curie, M 482 Curie, P 482 Czerny, V 108, 114, 395
D Daffos, F 316 d‘Arcangues, D 573, 581, 582 Dargent, D 395, 408, 410 David, M 65ff Davy, H 103 De Laurentiis, M 503 Decker, A 150 Decker, DG 442 Degenhardt, F 258, 260 Deichert, U 258, 309, 258 Delvoux, B 221 Dembo, AJ 524 Demokrit 95 Depaul, JAH 362 Desormeaux, AJ 187 Devroey, P 612 Dibbelt, L 516 Diday, P 84 Diedrich, K 589ff Diepgen, P 68 Dietrich, C 72 Djerassi, K 603 Döderlein, A 107, 229, 142, 414, 514 Döderlein, G 50 Domar, AD 596 Donald, I 189 Donnez, J 135 d‘Outrepont, JS 349 Du Bois, A 436, 507, 509 Dubois, P 188
627 Personenverzeichnis
Duchesne, E 103 Dussik, KT 252
E Edelman, AB 567 Edwards, RG 588, 605 Eiermann, R 508, 509 Elser, H 36 Emons, G 413ff Engel, J 476 Eppig, JJ 613 Esser, R 26 Ewald, G 97 Eymer, H 515
F Fathalle, MF 430 Fehm, T 141 Feichtinger, W 588 Felberbaum, R 605 Fels, E 604 Ferguson, T 503 Fervers-Schorre, B 73 Fischer, B 477f, 480 Fischer-Homberger, E 94 Fisher, B 501 Fleisch, MC 393ff Fleming, A 103 Ford, H 338 Fournier, A 84 Fournier, D v 525 Fraenkel, L 604 Frangenheim H 150, 409 Franke, H 516 Franke, P 72 Frankl, U 455 Franz, K 107 Franz, R 193 Freud, S 66, 70, 96 Freund, WA 107, 110, 122, 123, 229, 395 Frick-Bruder, V 71
Friedberg, V 50, 388, 518 Friese, K 50, 81, 379 Frischbier, H-J 458, 460, 463, 513ff, 524 Frischkorn, R 460, 516, 519, 521, 523, 524 Fritsch, H 117, 184
G Gallo, MF 565f Gardanis, K 141 Gardner, HL 87 Gauss, CJ 129 Geisthövel, F 258 Gerber, R 267 Geyter, CE 506 Goebel, R 193 Gohr, TH 252 Golbus, MS 322 Gordon, B v 145 Gossmann, S 499ff Götzsche, PC 476 Graeff, H 240, 243 Graft, M 50 Greenspan, EM 500 Gregg, N 86 Griesinger, G 589f, 613 Griffith, CT 437 Grimes, DA 580 Grischke, EM 141 Gros, Ch 524 Gruber, I 141 Grubert, TA 379 Grünfeld, E 187 Grusdew, W 207 Guerny, B 507 Guillemin, R 539 Gürtler, W 83
H Haaf, T 596 Haberlandt, L 603 Hackelöer, B-J 251ff, 274, 307ff
B–H
628
Personenverzeichnis
Hacker, N 462 Hagemann, AR 593 Haie-Meder, C 528 Halban, J 50 Halberstadt, E 240 Haller, U 45ff, 252 Halsted, WS 396, 477 Hammacher, K 350 Hamperl, H 372 Handyside, AH 606 Hansmann, M 252, 320, 321, 363 Harris, G 539 Harter, P 438, 445 Hartert, H 239 Hegar, A 104, 107, 113 Hegar, A 418 Heijnen, EM 612 Heilmann, L 244 Heinrich VIII 83 Held, E 94, 245 Henderson, IC 503 Henle, J 101 Hennig, K 105, 120 Henschke, UK 526 Hepp, H. 1ff 607, 610 Herschlein, HJ 240 Herzog, RE 518 Heurlin, M af 90 Heyman, E 517 Hildebrandt, H 454 Hildegard von Bingen 94, 98 Hilfrich, J 508, 509 Hillemanns, HG 276, 372, 375, 519 Hillemanns, P 379 Hinselmann, M 272, 274 Hippokrates 95 Hirsch, HA 193 Hirsch, M 69 Hirschowitz, B 151 Höck, K 72 Höckel, M 130, 286, 395, 403, 472 Hoffbauer, H 240 Hofmeier, M 414 Hohlweg, W 538 Hohlweg, W 602 Holländer, HJ 252 Holzgreve, W 311ff
Homesley, HD 462, 530 Hon, E 350 Hoopmann, M 141 Hoppe, J.-D 6 Höring, P 82 Hudis, C 504 Hunter, J 84 Husslein, P 50, 335ff Hutch, JA 187 Hutchinson, J 84
I Iklé, FA 51 Ingelmann-Sundberg, A 193
J Jacobaeus HC 134, 148 Jaschke, Th Edler v. 418 Jirovec, O 90 Jonat, W 475ff, 508, 509 Jonatha, W 313 Jordens, E 96 Junkmann, K 538
K Kagan, O 141 Kahr, H 418 Kaltenbach, R 107 Kang, S H 479 Kapp-Schwörer, H 520 Käser, O 48, 50, 245, 460 Kaufmann, C 372 Kaufmann, M 50, 508, 509 Kaunitz, AM 578 Kehrer, E 455, 461 Keidel, WD 252 Keil, G 185 Keller, HL 516
629 Personenverzeichnis
Kelling, G 134, 147 Kelly, HA 192, 307 Kennedy, WT 192 Kentenich, H 65ff, 73 Kepp, RK 515, 516, 518 Kergarade L de 349 Kermauner, F 233 Kern, G 375 Keys, HM 508, 522 Kiechle, M 487ff Kimbel, K 189 Kimmig, R 93ff, 387 Kindermann, G 382, 609 Kirchhoff, H 240, 515 Kirsitis, C 528 Knapstein, P 386, 519 Knaus, HH 604 Kniewald, T 588 Knobil, E 540, 605 Knörr, K 50 Knörr-Gärtner, H 50 Koch, R 101 Koester, H 38 Kolben, M 245 Kölbl, H 181ff Kolibianski, EM 612 Koller, Th 50, 238 Köninger, A 93ff Koschade, E 32 Kraepelin 96 Krämer, B 141 Krantz, KE 192 Kratochwil, A 252, 289, 309 Kraussold, E 119 Kreienberg, R 275, 499ff, 508, 509, 528 Kremling, H 192 Kriege, M 494 Krönig, B 107, 129 Kubli, F 275, 508 Kuehn, T 478 Kuhn, W 241 Kulier, R 572 Kunz, G 210 Künzel, W 34, 347ff Kurman, RJ 431 Kürzl, R 472
L Labhardt, A 234, 457, 459 Ladner, HA 521, 523 Laennec, RTH 349 Lamaze, F 366 Lamballe de, AJJ 187 Lancisi, G 84 Lang, W 82 Langreder, W 187 Lasch, HG 239 Latzko, W 182, 235, 395, 182 Lauritzen, Ch 50, 603 Lauth G 274 Lebherz, ET 193 Léboyer, F 366 Lee de, JE 239 Leeuwenhook, W 82 Lehmann, V 347ff 607 Leucht, W 274 Leyendecker, G 203ff, 535ff, 605 Liepmann, W 67 Liley, W 320 Lister, J 85, 101 Loch, EG 252, 274 Lochmüller, H 458, 464 Lohe, KJ 380 Long, H 508 Löning, T 377 Lucas, WE 461 Ludwig XIV 84 Ludwig XV 84 Ludwig, H 4, 227ff, 587f Ludwig, M 563 Lyman, GH 478
M Maas, H 508, 509 Mackenroth, A 107, 129, 395 Madjar, H 273ff Maio, G 20 Malinowski, DP 379 Marchetti, A 192
H–M
630
Personenverzeichnis
Marfleet, C 573 Markmann, M 443, 445 Marshall, VE 192 Martius, H 50, 191, 457, 515, 519 Marx, R 239 Massari, J v 191, 396 Mastenbroek, S 595 Mauriceau, F 348 Mayer, A 67, 68 Mayor, F-I 349 McBean, JH 221 McGuire, WP 442, 507 McKay, DG 242 Meerpohl, H-G 425ff, 507 Meigs, JV 395, 401 Merritt CRB 283 Merz, E 262, 287ff Mestwerdt, G 372, 381 Mettler, L 151 Metzger, H 242 Meyer, R 372 Michaelson, JS 476 Mikulicz-Radecki, F 189 Miller, K 506 Minkwitz, G v 509 Möbus, VJ 481, 504 Molinski, H 72 Montagnier, L 88 Morawitz, P 230 Morris, M 508 Mottow, CP 405, 406 Mulvany, JH 193 Murray, EGD 87 Mylonas, I 81
N Naegele, FRK 184 Nagy, ZP 613 Nakai, J 541 Nardin, JM 573 Navratil, E 109 Neef, ThC 515 Neijt, JP 442 Neises, M 73
Neisser, A 84 Newman, D 146 Nezhat, CR 152 Niemann, A 104 Nitze, M 146 Noss, U 605 Novak, F 109 Nürnberger, L 90, 604
O O’Meara, RAQ 248 Ober, KG 50, 372, 588 O‘Brian, PA 573 Ohlshausen R v. 104, 107 Okabayashi, H 395, 400f Omura, GA 442 Orndorff, BH 148 Orr-Walker, BJ 577 Osiander, JFB 107 Osmers, R 262 Ott, DO 148
P Paepke, S 479 Palermo, G 605 Palmer, R 150 Palmrich, A 193 Papanicolaou, EG 597, 612 Papanicolaou, GN 190, 377 Peham, H v 231 Pereyra, AJ 193 Peters, WA 508 Peto, R 503 Petry, KU 378 Pettenkofer, M v. 101 Pettiti, DB 577 Pfannenstiel, HJ 108 Pfeifer, W 241 Pfleiderer, A 440 Picard, E 191 Piccart, MI 481, 507
631 Personenverzeichnis
Pickel, H 382 Pincus 603 Piver, MS 387, 305, 405 Plentl, AE 385 Poettgen, H 72 Popp, LW 252 Power, FH 150 Power, J 576 Prill, HJ 71 Prömpeler, H 257ff
Q Querleu, D 405, 406
R Rabe, T 555ff Randelzhofer, B 267 Rauchfuss, M 73 Rauschecker, H 525 Rauskolb, R 312 Rayer, F 185 Read, D 366 Reich, H 109, 152 Reifferscheid, K 121 Reisenauer, C 141 Richter, D 73 Richter, HE 71 Richter, K 182, 192 Ricord, P 84 Riegel, K 33 Ries, E 396 Ries, J 515, 518 Roemer, H 71 Roentgen, W 482 Rosé, PG 508 Rosthorn, A.v. 129 Rothmund, R 141 Rotte, K 527 Rousseau, JJ 100 Ruge, C 372 Rumpf, ThM 398
M–S
Runge, H 239, 515 Runge, M 97 Russell, B 342 Rustin, GJ 444 Rutledge, F 395
S Saling, E 313, 350 Sampson, JA 204 Satomura, S 364 Sauer, B 483 Sauter, J 110, 395 Säxinger, J v 142 Schaarschmidt, S 100 Schally, A 539 Schander, K 241 Scharl, A 50 Schauta, F 114, 129, 395, 397, 399f, 414 Schillinger, H 259, 296 Schlenske, KH 252 Schmermund, HJ 516 Schmidt, W 275 Schmidt-Matthiesen, H 50, 240, 241, 440 Schmorl, ChG 325 Schneider, A 378, 409 Schneider, CL 239 Schneider, H 50 Schneider, J 34 Schneider, KTM 50 Schneppenheim, P 375 Schnürch, H-G 453ff Scholes, D 577 Schreer, I 525 Schröder, C 107 Schröder, R 90, 236, 237, 515 Schubert, G 519, 524 Schuchardt, KA 108, 395 Schumacher, M 508, 509 Schwalm, H 50 Segalas, PS 187 Seitz, L 50, 70 Selbmann, K 33 Sellheim, H 70 Semm, K 94, 108, 109, 134, 135, 151, 409, 604
632
Personenverzeichnis
Semmelweis, IP 85, 101, 186, 231 Sevin, BL 462 Sewering, H-J 33 Shapiro, S 578 Siedentopf, F 65ff Siegemundin Justine 348 Sigwart, W 228 Simbrunner, G 336 Simmer, HH 604 Simon, G 107, 114, 184 Simpson, JY 103 Sims, JM 101, 107 Singer, K 431 Skegg, DCG 578 So, EW 598 Soost, HJ 377 Soranus v.Ephesus 97, 110 Spechter, H 440, 516 Stark, G 38 Starling, EH 602 Stauber, M 73 Staude, K 108, 230, 236, 400 Stavros, T 281 Stegner, HE 377 Steiner, MJ 577 Steptoe, PC 588, 605 Stoeckel, W 50, 102, 107, 108, 182, 187, 192, 414, 456, 461 Strom, BL 578 Strowitzki, T 601ff Studdiford, WE 192, 193 Swift, PS 527 Sydenham, T 96
T Tanagho, EA 187 Tapfer, S 131 Taupitz, J 16, 611, 614 Taussig, FJ 401, 455, 458 Telfer, EE 613 Tepe, M 568 Terinde, R 275 Thomsen, K 50, 519 Timmermann, D 266
Traut, HF 377 Trendelenburg, F 184, 237 Trotnow, S 588, 605 Trussel, J 557, 575 Turner, L 477 Turner-Warwick, R 477 Twisk, M 594
U Uhlenbroock, K 237 Ulmsten, U 193, 197
V Vahrson, H 521, 524 Valbuena, D 612 Valentin, K van der Ven, K 594 van Vliet, HAAM 566 Vaz, F 489 Veit, F 234 Veit, J 372 Verberg, M F G 612 Veress, J 150 Verlinsky, Y 606 Veronesi, U 478 Verschraegen, C 476 Vetter, K 361ff Virchow, R 185, 477 Virth, G 336 Vogt, PH 606 Voltz, E 515 von Uexküll, Th 67
W Wagner, GA 109 Wagner, U 429 Wallwiener, D 141ff, 152 Walthard, M 68
633 Personenverzeichnis
Way, St 456, 458, 459 Weber, G 262 Wedekind, H 252 Weghaupt, K 458, 460, 463 Weiner, H 70 Weinstein, L 244 Weise, W 605 Weishaar, J 520 Weitzel, H 34 Wells, H 103 Wells, S 102, 104, 121, 102, 121 Werth, R 207 Wertheim, E 107, 125, 143, 372, 395, 397f Wespi, HJ 372 Westhoff, CL 577 Wide, L 603 Wild, J 274 Wildt, L 203ff, 535ff, 605 Wilking, N 481 Wilson, RA 86 Wimhöfer, H 515 Winckel, F.v. 113, 350 Winter, CC 189 Winter, R 382 Winter-Roach,. BA 441 Withney, CW 508 Wladimiroff, W 189 Wolf, H 34 Wolff, F 50 Wolff, M v 605, 613 Woopen, C 25 Wrisberg, HA 349 Wuermeling, FJ 610 Wulf, HK 50
Y Yalow, R 539 Yalow, RS 603 Young, RC 442
Z Zahn, V 313 Zander, J 12, 36, 50, 241, 463, 602 Zhong, XY 311ff Zilliacus, H 240 Zillner, G 340 Zinser, HK 377 Zondek, B 602 Zubke, W 141 ff, 152 zur Hausen, H 88, 377, 454 Zweifel, P 47, 147, 454
S–Z