Helmut Thome · Christoph Birkel Sozialer Wandel und Gewaltkriminalität
Analysen zu gesellschaftlicher Integration und...
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Helmut Thome · Christoph Birkel Sozialer Wandel und Gewaltkriminalität
Analysen zu gesellschaftlicher Integration und Desintegration Herausgegeben von Wilhelm Heitmeyer
Die Schriftenreihe ist hervorgegangen aus dem in Bielefeld von Wilhelm Heitmeyer geleiteten und von Peter Imbusch koordinierten Forschungsverbund „Gesellschaftliche Desintegrationsprozesse – Stärkung von Integrationspotenzialen moderner Gesellschaften“ und präsentiert dessen zentrale Forschungsergebnisse. Mit der Leitformel „Stärkung von Integrationspotenzialen“ wird signalisiert, dass moderne Gesellschaften einerseits auf Grund ihrer Entwicklung und Ausdifferenzierung über erhebliche Integrationspotenziale verfügen, um Existenz-, Partizipations- und Zugehörigkeitschancen zu bieten; andererseits verweist sie bereits auf eine Reihe von Problemzusammenhängen. Zielsetzung des Forschungsverbundes war es, durch seine Analysen gravierende Problembereiche moderner Gesellschaften differenziert empirisch aufzuarbeiten, so dass Maßnahmen identifiziert werden können, die zur Stärkung ihrer Integrationspotenziale beitragen können. Der Forschungsverbund wurde finanziell vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert.
Helmut Thome · Christoph Birkel
Sozialer Wandel und Gewaltkriminalität Deutschland, England und Schweden im Vergleich, 1950 bis 2000
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage März 2007 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2007 Lektorat: Frank Engelhardt / Katrin Schmitt Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-14714-7
Gewalt ist immer das Extrem eines größeren Phänomens Andrian Kreye
Inhaltsverzeichnis Vorwort der Herausgeber Vorwort der Autoren
19 21
1
Theoretischer Bezugsrahmen und Problemstellung
23
1.1 1.2
Anregungen aus Elias’ Zivilisationstheorie Erklärungskonzepte aus Durkheims Gesellschaftstheorie und Kriminalsoziologie
24
1.2.1 1.2.2
26
1.2.3 1.2.4
Kollektivismus versus Individualismus Moralischer (kooperativer) versus egoistischer (desintegrativer) Individualismus Anomie und regressiver Kollektivismus Provisorisches über "Beschleunigung" und "Entgrenzung"
26 31 36 39
1.3
Zur Vermittlung von Makro- und Mikroebene
43
1.3.1 1.3.2
Gelegenheitsstrukturen, Unterstützung und Kontrolle im sozialen Nahbereich Selbstkontrolle und Handlungskompetenz
44 45
1.4
Zusammenfassung
48
2
Methodologische Probleme
50
2.1
Datenquellen zur Kriminalitätsentwicklung
50
2.1.1
Validität, Reliabilität und Vergleichbarkeit der Kriminalstatistiken
50
2.1.1.1 2.1.1.2 2.1.1.3 2.1.1.4
Die Problemstellung Das absolute Dunkelfeld Das relative Dunkelfeld Polizeiliche Registrierungspraxis und Kontrollverhalten
50 51 51 56
2.1.2
Alternative Datenquellen
63
2.1.2.1 Opferbefragungen 2.1.2.2 Täterbefragungen
63 66
2.2 2.3
Indikatorenauswahl und Kausalanalyse Zusammenfassung
67 71
3
Die Entwicklung der Gewaltkriminalität 1953-1997
75
3.1 3.2
Die für die Untersuchung ausgewählten Delikte Die Entwicklung der Gewaltkriminalität in den drei Ländern
75 78
3.2.1
Tötungsdelikte
78 7
3.2.1.1 Die Entwicklung der Inzidenz 3.2.1.2 Tatverdächtige 3.2.1.3 Opfer: die differentielle Entwicklung des Viktimisierungsrisikos von Frauen und Männern
82
3.2.2
84
Körperverletzungsdelikte
78 79
3.2.2.1 Entwicklung der Inzidenz 3.2.2.2 Tatverdächtige 3.2.2.3 Die Entwicklung des Viktimisierungsrisikos
84 85 88
3.2.3
89
Raubdelikte
3.2.3.1 Die Entwicklung der Inzidenz 3.2.3.2 Tatverdächtige
89 90
3.2.4
91
Vergewaltigungsdelikte
3.2.4.1 Entwicklung der Inzidenz 3.2.4.2 Tatverdächtige
91 92
3.3
Zusammenfassung
94
4
Basisindikatoren der ökonomischen Entwicklung in Deutschland, Großbritannien, Schweden, USA seit 1950
99
4.1 4.2 4.3 4.4
Wachstum und Niveau des Volkseinkommens Produktivitätsentwicklung Arbeitslosigkeit Beschäftigungsstrukturen
100 104 107 112
4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.4.4 4.4.5
Arbeitszeitvolumen und Beschäftigungsquoten Sektorale Entwicklung Öffentlicher und privater Sektor Frauenerwerbsquote Selbstständigenquote
112 114 116 117 120
4.5 4.6 4.7 4.8 4.9 4.10 4.11
Entwicklung der Arbeitskosten Steuer- und Abgabenbelastung, Staatsausgabenquote Bildung Kapitalbildung Internationaler Handel: Exporte und Importe Demographische Indikatoren Fazit
121 123 130 131 132 135 139
5
Erosion des staatlichen Gewaltmonopols?
142
5.1 5.2 5.3
Die Entwicklung der Aufklärungsraten Vertrauen in Parlament und Regierung sowie andere staatliche Institutionen Kriminalitätsfurcht
143 145 150
8
5.4 5.5
Kriminalitätsdiskurse, private Sicherheitsindustrie und Strafbedürfnis Zusammenfassung
152 159
6
Sozialstrukturelle Voraussetzungen des kooperativen versus desintegrativen Individualismus
162
6.1
Wohlfahrtsstaatliche Ordnungen: Funktionen und Dysfunktionen
162
6.1.1
Allgemeine Hypothesen
164
6.1.1.1 Funktionen 6.1.1.2 Dysfunktionen
164 166
6.1.2
Empirische Befunde zu den allgemeinen Hypothesen
169
6.1.2.1 6.1.2.2 6.1.2.3 6.1.2.4
Vorbemerkung Sozialausgaben und ökonomische Leistungsfähigkeit Sozialkapital Armut und Ungleichheit
169 170 172 177
6.1.3
Fazit
181
6.2
Zur Performanz der wohlfahrtsstaatlichen Regime in Deutschland, Großbritannien und Schweden
182
Typologische Differenzierung wohlfahrtsstaatlicher Ordnungen
182
6.2.1
6.2.1.1 Überblick 6.2.1.2 Länderspezifische Ausprägung der typologischen Kriterien
182 188
6.2.2
Entwicklung des Sozialkapitals
193
6.2.2.1 6.2.2.2 6.2.2.3 6.2.2.4 6.2.2.5
Politische Parteien und Wahlbeteiligung Gewerkschaften Kirchen Sonstige Vereinigungen Zwischenmenschliches Vertrauen
195 197 198 201 206
6.2.3
Entwicklung der Einkommens- und Vermögensungleichheit
209
6.2.3.1 Langfristige Entwicklung der personellen Einkommensverteilung 6.2.3.3 Die Entwicklung von Armut
209 234
6.2.4
Zusammenfassung
244
6.3 6.4
Marktliberalismus versus Korporatismus Strukturwandel von Arbeitsmärkten und Erwerbsformen
248 257
6.4.1
Die Relevanz von regulärer und prekärer Beschäftigung sowie Arbeitslosigkeit Erscheinungsformen regulärer und prekärer Beschäftigung
257 260
6.4.2
9
6.4.3 6.4.4 6.4.5
Wieso ist eine Erosion von regulären Erwerbsformen und Vollbeschäftigung zu erwarten? Moderatoren des Flexibilisierungsdrucks Die Entwicklung von Arbeitslosigkeit und unsicherer Beschäftigung
263 265 271
6.4.5.1 Die Entwicklung von Arbeitslosigkeit 6.4.5.2 Die Entwicklung unsicherer Beschäftigung 6.4.5.3 Die Prekarisierung von Beschäftigung: weitere Aspekte
271 273 281
6.4.6
Zusammenfassung
285
6.5
Von der Marktwirtschaft zur Marktgesellschaft?
289
6.5.1 6.5.2
Globalisierungsprozesse und staatliche Regulierungskompetenzen Ökonomisierung der Gesellschaft?
290 302
6.5.2.1 Weitere Indikatoren der Intensivierung des ökonomischen Wettbewerbs 6.5.2.2 Ausdehnung der kommerziellen Werbung und des Marketing 6.5.2.3 Privatisierungstendenzen in der Politik
304 308 317
6.5.3
Soziale Ungleichheit in der Winner-Take-All Society
321
6.5.3.1 6.5.3.2 6.5.3.3 6.5.3.4
Einkommen und Vermögen: Spannweiten der Ungleichheit Von der Ungleichheit zur sozialen Exklusion Gerechtigkeitsdefizite und die Renaturalisierung der Ungleichheit Strukturelle Anomie
325 328 334 340
6.5.4 6.5.5
"Hierarchisches Selbstinteresse": Ein Versuch, Ellbogenmentalität zu messen 344 Zusammenfassung 349
6.6
Strukturwandel der Familie
352
6.6.1 6.6.2 6.6.3 6.6.4 6.6.5 6.6.6
Gewalt in der Familie Weniger Ehen, weniger Kinder Nicht-eheliche Lebensgemeinschaften und Single-Dasein Anstieg der Scheidungsraten Familien mit allein erziehenden Eltern Zusammenfassung
353 356 363 365 372 375
7
Medien und Gewalt: Anomie durch Entgrenzung
379
7.1 7.2
Institutioneller Rahmen Entwicklung des TV-Programmangebots und des Nutzerverhaltens
382 385
7.2.1 7.2.2
Rezeptionssituation innerhalb der Familie Gewaltangebot im Fernsehen
388 388
7.3 7.4
Ausbreitung des Gewaltangebots durch Internet und Video Zusammenfassung
390 393
10
8
Resümee
396
Literaturverzeichnis Index Abkürzungsverzeichnis
411 449 455
11
Abbildungsverzeichnis Abb. 3.1: Entwicklung der Homizidraten in Deutschland, England und Schweden, 1953-1997
78
Abb. 3.2: Entwicklung der Tatverdächtigenbelastungszahlen für Tötungsdelikte (versucht und vollendet) in Deutschland, England und Schweden, 1953-1997
81
Abb. 3.3: Die Entwicklung des Viktimisierungsrisikos von Männern bei Tötungsdelikten in Westdeutschland, England/Wales und Schweden, 1953-1997
83
Abb. 3.4: Die Entwicklung des Viktimisierungsrisikos von Frauen bei Tötungsdelikten in Westdeutschland, England/Wales und Schweden, 1953-1997
83
Abb. 3.5: Entwicklung der Häufigkeitsziffer für Körperverletzungsdelikte in Deutschland, England und Schweden, 1953-1997
85
Abb. 3.6: Entwicklung der Tatverdächtigenbelastungszahlen für Körperverletzungsdelikte in Deutschland, England und Schweden, 1953-1997
86
Abb. 3.7: Entwicklung der Häufigkeitsziffer für Raubdelikte in Deutschland, England und Schweden, 1953-1997
89
Abb. 3.8: Entwicklung der Tatverdächtigenbelastungszahlen für Raubdelikte in Deutschland, England und Schweden, 1953-1997
90
Abb. 3.9: Entwicklung der Häufigkeitsziffer für Vergewaltigungsdelikte in Deutschland, England und Schweden,1953-1997
91
Abb. 3.10: Entwicklung der Tatverdächtigenbelastungszahlen für Vergewaltigungsdelikte in Deutschland, England und Schweden, 1953-1997
92
Abb. 4.1: Durchschnittliche Veränderung des realen GDP pro Kopf in KKP.
100
Abb. 4.2: Durchschnittliche Veränderung des realen GDP pro Kopf in nationalen Währungen.
101
Abb. 4.3: Entwicklung des GDP in KKP in Prozent des US-GDP
102
Abb. 4.4: Arbeitsproduktivität verschiedener Länder, US 1996 = 100
105
Abb. 4.5: Arbeitsproduktivität berechnet nach der EKS-Methode
106
Abb. 4.6: Standardisierte Arbeitslosenquoten
107
Abb. 4.7: Anteil der Langzeitarbeitslosen an allen Arbeitslosen
109
Abb. 4.8: Arbeitslosenquoten für Jugendliche
110
Abb. 4.9: Beschäftigungsquoten
112
Abb. 4.10: Arbeitsstunden pro beschäftigte Person
113
Abb. 4.11: Entwicklung der Beschäftigungsquoten im sekundären Sektor
114
Abb. 4.12: Entwicklung der Beschäftigungsquote im tertiären Sektor
115
12
Abb. 4.13: Beschäftigte im zivilen öffentlichen Dienst (Anteil an der Bevölkerung im Alter zwischen 15 und 64 Jahren)
117
Abb. 4.14: Erwerbsquote der Frauen
118
Abb. 4.15: Selbstständigenquote bezogen auf alle Beschäftigten
120
Abb. 4.16: Unit Labor Cost
123
Abb. 4.17: Gesamte Steuern und Sozialabgaben in Prozent des BIP
125
Abb. 4.18: Sozialabgabenquoten
127
Abb. 4.19: Entwicklung der Sozialausgabenquoten
128
Abb. 4.20: Anteil der Staatsausgaben am BIP
129
Abb. 4.21: Entwicklung der Bildungsausgaben (in % des BIP)
130
Abb. 4.22: Anteil der Exporte am BIP
133
Abb. 4.23: Anteil der Importe am BIP
133
Abb. 4.24: Entwicklung der Geburtenraten in Westdeutschland, Schweden und England /Wales
135
Abb. 4.25: Anteil der ausländischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung
137
Abb. 4.26: Binnenwanderungen pro 1000 Einwohner
138
Abb. 5.1: Aufklärungsraten bei Homiziden
144
Abb. 5.2: Aufklärungsraten bei Körperverletzungsdelikten
145
Abb. 5.3: Aufklärungsraten bei Raubdelikten
145
Abb. 5.4 Umsatz und Beschäftigung im privaten Sicherheitsgewerbe
153
Abb. 5.5: Entwicklung der Gefangenenraten in Westdeutschland, Großbritannien bzw. dem Vereinigten Königreich, und Schweden
157
Abb. 6.1: Dekommodifizierungsindex von Scruggs und Allan, 1971-2002
191
Abb. 6.2: Entwicklung der Einkommensungleichheit in Westdeutschland, Großbritannien und Schweden
210
Abb. 6.3: Entwicklung der Einkommensungleichheit in Westdeutschland, Großbritannien und Schweden nach der Luxembourg Income Study (LIS)
213
Abb. 6.4: Die Entwicklung der Einkommensungleichheit in Deutschland, Großbritannien und Schweden im Vergleich, 1969-2000 (LIS-Daten, Atkinson-Maß, İ=1)
214
Abb. 6.5: Reduktion des Gini-Koeffizienten durch Transfers und Steuern bei Konstanthalten der demographischen Struktur (Basisjahr GB 1969) in Westdeutschland, Großbritannien und Schweden
221
Abb. 6.6: Entwicklung der Umverteilungseffizienz in Westdeutschland, Großbritannien und Schweden, 1969-2000 (basierend auf dem Gini-Index)
223 13
Abb. 6.7: Entwicklung der Umverteilungseffizienz in Westdeutschland, Großbritannien und Schweden, 1969-2000 (basierend auf dem Atkinson-Index)
224
Abb. 6.8: Entwicklung der relativen Armut (verfügbares Einkommen, Grenze: 50 % des Medians) in Westdeutschland, Großbritannien und Schweden
235
Abb. 6.9: Entwicklung der prozentualen Differenz der Armutsquoten des Markteinkommens und des verfügbaren Einkommens in Westdeutschland, Großbritannien und Schweden, 1969-2000
241
Abb. 6.10: Reduktion der Armutsquote je für Sozialausgaben aufgewandtem Prozent des BIP
243
Abb. 6.11: Entwicklung des Neokorporatismus-Index von Hicks/Kenworthy
250
Abb. 6.12: Entwicklung der geschlechtsspezifischen Arbeitslosenquoten
272
Abb. 6.13: Entwicklung des Anteils der befristet Beschäftigten (15-64 Jahre) an allen abhängig Beschäftigten
274
Abb. 6.14: Entwicklung der Teilzeitbeschäftigung nach nat. Definitionen als Anteil an allen Erwerbstätigen 1973-1983 und nach einheitlicher Definition, Deutschland, Vereinigtes Königreich und Schweden, 1983-2000
275
Abb. 6.15: Entwicklung der Teilzeitbeschäftigung nach nat. Definitionen als Anteil an allen Erwerbstätigen 1973-1983 und nach einheitlicher Definition, 1983-2000, nach Geschlecht, Deutschland, Vereinigtes Königreich und Schweden 276 Abb. 6.16: Unfreiwillige Teilzeitbeschäftigung als Anteil an allen abhängig Beschäftigten, nach Geschlecht, Deutschland (ab 1991 gesamt), Vereinigtes Königreich und Schweden, 1983-2000
277
Abb. 6.17: Entwicklung der Leiharbeit (Anteil an den Beschäftigten insgesamt) in Deutschland (ab 1991 gesamt), dem Vereinigten Königreich und Schweden, 1975-2002
278
Abb. 6.18: Entwicklung der Selbständigen ohne Beschäftigte bezogen auf die Erwerbstätigen insgesamt, Westdeutschland, Vereinigtes Königreich und Schweden, 1970-2003
280
Abb. 6.19: Anteil der Personen, die "gewöhnlich" Schichtarbeit leisten, unter allen Erwerbstätigen
281
Abb. 6.20: Unternehmensinsolvenzen bezogen auf das BIP
305
Abb. 6.21: Entwicklung der Insolvenzen/Bankrotte von Unternehmen und Privatpersonen
305
Abb. 6.22: Entwicklung des Anteils der Konsumentenkredite am verfügbaren Jahreseinkommen
308
Abb. 6.23: Fertilitätsraten für West-Deutschland, Vereinigtes Königreich und Schweden
357
Abb. 6.24: Scheidungsraten (Scheidungen pro 100.000 Einwohner) in Westdeutschland, der DDR/Ostdeutschland, England/Wales und Schweden
365
14
Tabellenverzeichnis Tab. 2.1: Anzeigequoten nach der ICVS (in Prozent)
56
Tab. 2.2: Unterschiede bei den Zählregeln für komplexe Sachverhalte
60
Tab. 3.1: Verhältniszahlen für die Entwicklung der Häufigkeitsziffern der Gewaltkriminalität in Westdeutschland, England/Wales und Schweden 1953-1997
95
Tab. 5.1: EVS/WVS-Daten zum Parlamentsvertrauen, 1981-2000
147
Tab. 5.2: Vertrauen in Justiz und Polizei laut European Value Surveys
148
Tab. 5.3 Demokratiezufriedenheit
150
Tab. 6.1: Durchschnittlicher Bevölkerungsanteil mit Leistungsansprüchen für Krankheit, Behinderung, Arbeitslosigkeit und Rente, 1960 und 1980
188
Tab. 6.2 Nettoersatzquoten der Rentensysteme, 1960 und 1980
189
Tab. 6.3 Nettoersatzquoten der Rentensysteme für Männer, 2004
189
Tab. 6.4: Nettoersatzquoten der Leistungen an Arbeitslose während des ersten Jahres der Arbeitslosigkeit, 1997
190
Tab. 6.5: Nettoersatzquoten der Sozialhilfe 2001
191
Tab. 6.6: Globale Merkmale des westdeutschen, schwedischen und britischen Wohlfahrtsstaates
193
Tab. 6.7: Mitgliedschaft in freien Vereinigungen (Prozent der Befragten)
202
Tab. 6.8: Zwischenmenschliches Vertrauen (Prozentanteil der Befragten, die der Ansicht waren "that most people can be trusted")
208
Tab. 6.9: Die prozentuale Veränderung des Gini-Indexes in den Phasen abnehmender und steigender Einkommensungleichheit
211
Tab. 6.10: Die proportionale Veränderung des Gini-Indexes in der Phase steigender Einkommensungleichheit nach der Luxembourg Income Study
212
Tab. 6.11: Durchschnittliche Einkommensungleichheit des äquivalenzgewichteten verfügbaren Haushaltseinkommens nach verschiedenen Maßen, ca. 1970 - ca.1980
215
Tab. 6.12: Durchschnittliche Einkommensungleichheit des äquivalenzgewichteten verfügbaren Haushaltseinkommens nach verschiedenen Maßen, ca. 1980 - ca. 2000
215
Tab. 6.13: Reduktion des Gini-Koeffizienten durch Steuern und Transferzahlungen
217
Tab. 6.14: Reduktion des Gini-Koeffizienten durch Steuern und Transferzahlungen in der aktiven Bevölkerung
218
15
Tab. 6.15: Index für die Konzentration der Transfers in der BRD, Schweden und Großbritannien
226
Tab. 6.16: Entwicklung verschiedener Maße für die Verteilung des Nettovermögens in Westdeutschland, 1953-1998
229
Tab. 6.17: Entwicklung verschiedener Maße für die personelle Vermögensverteilung in England/Wales bzw. Großbritannien bzw. dem Vereinigten Königreich, 1950-2000
231
Tab. 6.18: Entwicklung verschiedener Maße für die Ungleichheit der Verteilung der Nettovermögen in Schweden, 1951-1999
233
Tab. 6.19: Die proportionale Veränderung der Vermögenskonzentration in Westdeutschland, dem Vereinigten Königreich und Schweden
234
Tab. 6.20: Armutsquoten (50 Prozent des Medians) ca. 1970 und ca. 1980
235
Tab. 6.21: Armutsquoten (50 Prozent des Medians) ca. 1980 und ca. 2000
236
Tab. 6.22: Durchschnittliche Armutsquoten (50 Prozent des Medians) ca. 1970 - ca.1980
236
Tab. 6.23: Durchschnittliche Armutsquoten (50 Prozent des Medians) ca. 1980 - ca. 2000
236
Tab. 6.24: Armutsquoten (60 Prozent des Medians) ca. 1980 und ca. 2000 bei einer Zusammensetzung der Bevölkerung wie in Schweden 2000 und ohne einheitliche Bevölkerungsstruktur
236
Tab. 6.25: Reduktion der Armutsquoten (50 Prozent des Medians) durch Steuern und Transfers ca. 1970 und ca. 1980
241
Tab. 6.26: Reduktion der Armutsquoten (50 Prozent des Medians) durch Steuern und Transfers ca. 1980 und ca. 2000
241
Tab. 6.27: Durchschnittliche Reduktion der Armutsquoten (verschiedene Armutsgrenzen, in Prozent) ca. 1970 - ca. 1980
242
Tab. 6.28: Durchschnittliche Reduktion der Armutsquoten (verschiedene Armutsgrenzen, in Prozent) ca. 1980 - ca. 2000
242
Tab. 6.29: Zentralisation und Koordination der Lohnverhandlungen
269
Tab. 6.30: Ausgaben für aktive Arbeitsmarktprogramme in Prozent des Bruttoinlandproduktes
270
Tab. 6.31: Striktheit des Kündigungsschutzes für regulär Beschäftigte in Deutschland, Großbritannien (UK) und Schweden
270
Tab. 6.32: Kombinierter Index für die Striktheit des Kündigungsschutzes und Beschränkungen für befristete Beschäftigung in Deutschland, Großbritannien (UK) und Schweden
270
Tab. 6.33: Kombinierter Index für die Striktheit des Kündigungsschutzes und Beschränkungen für Leiharbeit in Deutschland, Großbritannien (UK) und Schweden
270
16
Tab. 6.34: Anteil der Haushalte mit einem Haushaltsvorstand zwischen 25 und 64 Jahren, in denen kein Mitglied Erwerbseinkommen bezieht, an allen Haushalten (deren Vorstand zwischen 25 und 64 Jahren alt ist)
273
Tab. 6.35: Anteil der Kinder unter 18 Jahren in Haushalten mit einem Haushaltsvorstand zwischen 25 und 64 Jahren, in denen kein Mitglied Erwerbseinkommen bezieht
273
Tab. 6.36: Befristungsquoten nach Altersgruppen
274
Tab. 6.37: Dauer der befristeten Beschäftigungsverhältnisse von 15- bis 64-Jährigen, nach Geschlecht, Durchschnitt jew. 2. Quartal 1995-2004
274
Tab. 6.38: Arbeitsintensität – Prozentsatz der Befragten, der angab, mindestens die Hälfte der Zeit mit sehr hohem Tempo zu arbeiten.
281
Tab. 6.39: Arbeitsintensität – Prozentsatz der Befragten der angab, mindestens die Hälfte der Zeit unter Termindruck zu arbeiten.
282
Tab. 6.40: Entwicklung der durchschnittlichen beobachteten Beschäftigungsdauern, Deutschland (gesamt), Vereinigtes Königreich, Schweden
284
Tab. 6.41: Entwicklung der beobachteten Beschäftigungsdauern in Westdeutschland und dem Vereinigten Königreich
284
Tab 6.42: Prozentsatz, der der Aussage nicht zustimmt, dass "mein Arbeitsplatz sicher ist"
285
Tab. 6.43: Prozentanteil der in Teilzeit, befristet und selbständig Tätigen an allen Erwerbstätigen, 15-64 Jahre
288
Tab. 6.44: Prozentanteil der Arbeitnehmer mit einer unbefristeten Vollzeitbeschäftigung an allen Erwerbstätigen, 15-64 Jahre
289
Tab. 6.45: Zustimmung/Permissivität gegenüber moralisch anfechtbaren Handlungen
348
Tab. 6.46: Familientypen, in denen Kinder unter 18 Jahren leben, Deutschland 1972-2000 (Anteil in Prozent)
372
17
Vorwort der Herausgeber
Die gegenwärtigen sozioökonomischen und politischen Entwicklungen in den westlichen Industriegesellschaften sind von unübersehbaren Ambivalenzen geprägt. Soziale und politische Umbrüche der letzten fünfzehn Jahre und die damit einher gehenden Umstellungszumutungen haben für zahlreiche Menschen neue Chancen eröffnet, gleichzeitig aber auch vielfältige wirtschaftliche und politische Risiken (Zugangsprobleme zum Arbeitsmarkt, mangelnde positionale und emotionale Anerkennung, Teilnahmeprobleme an einzelnen gesellschaftlichen Subsystemen, Sinnlosigkeitserfahrungen im politischen Alltag, abnehmende moralische Anerkennung, exklusiver werdende Leistungs- und Verteilungsstrukturen sowie labile oder fragile Gemeinschaftszugehörigkeiten) herauf beschworen, welche die Integrationsproblematik moderner Gesellschaften verschärfen und Desintegrationsprozesse befördern. Nicht nur in Deutschland ist in den letzten Jahren die soziale Ungleichheit größer geworden; Ideologien der Ungleichwertigkeit, Menschenfeindlichkeit und menschenverachtende Gewalt sind deutlich hervor getreten. Damit gehören Fragen nach der Integrationsfähigkeit moderner Gesellschaften wieder ganz oben auf die gesellschaftspolitische Agenda. Die sich in einer Vielzahl von Aspekten zeigenden Desintegrationstendenzen in den westlichen Gesellschaften haben zum Aufbau eines interdisziplinären Forschungsverbundes zum Thema "Desintegrationsprozesse – Stärkung von Integrationspotenzialen einer modernen Gesellschaft" an der Universität Bielefeld geführt, der über mehrere Jahre vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziell gefördert wurde. Ziel der im Rahmen dieses Programms intendierten Forschung war es, wichtige Erkenntnisse zu Integrationsproblemen moderner Gesellschaften beizusteuern und jenen Entwicklungen auf den Grund zu gehen, deren negative Folgen zentrale normative Kernelemente dieser Gesellschaft gefährden. Die Identifikation problematischer Entwicklungsverläufe und die Beschreibung und Erklärung von Einflussfaktoren für die Stärkung der Integrationspotenziale dieser Gesellschaft wurde auf unterschiedlichen Ebenen und in verschiedenen Projektzusammenhängen thematisiert. Das Projekt von Helmut Thome, das er zusammen mit Christoph Birkel durchgeführt hat, konzentriert sich auf nicht weniger als die zentralen gesellschaftlichen Strukturveränderungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, um die Entwicklung der Gewaltkriminalität zu erklären. Ausgehend von zwei prominenten Erklärungsansätzen setzen sich die beiden Autoren mit dem spezifischen Verlauf der Gewaltraten über einen längeren Zeitraum auseinander. Dabei bildet die ausgiebige Beschäftigung mit Kriminalitätsdaten einerseits, sozialstrukturellen Datenreihen andererseits die Grundlage der eigenen Analyse, die von enormer Bedeutung für die gesellschaftliche Integrationsproblematik ist. Die Autoren mussten dazu im Rahmen ihrer Untersuchung angesichts der aus drei Ländern zu beschaffenden, sehr unterschiedlichen Datenquellen nicht zuletzt erhebliche methodologische Probleme meistern. Ihr Ansatz folgt der Tradition der Durkheim-Schule, indem er Kriminalsoziologie eng mit einer historisch orientierten Gesellschaftsanalyse verknüpft. Daraus entwickeln sie ein 19
Erklärungsschema, das es ermöglicht, ein breites Spektrum von Themen unter einem einheitlichen analytischen Fokus zu versammeln. Zentrale Untersuchungsgegenstände sind dabei der Wandel der wohlfahrtsstaatlichen Arrangements und der staatlichen Regulierungskompetenzen, die Entwicklung von Gleichheits- bzw. Ungleichheits-Strukturen, der Wandel von Arbeits- und Familienverhältnissen sowie das mit einer zunehmenden Ökonomisierung und der Ausbreitung der modernen Kommunikationstechnologien verbundene Anomie-Potential. Ein wichtiger Befund der Untersuchung ist zum Beispiel, dass im Vergleich der Länder die wohlfahrtsstaatlichen Sicherungssysteme einen gewaltdämpfenden Effekt haben. Entsprechend bildeten die sozialstrukturellen Voraussetzungen des kooperativen versus desintegrativen Individualismus einen zentralen Fokus für die weitgefächerten Analysen. Als ein weiteres wichtiges Ergebnis der Studie lässt sich festhalten, dass die wohlfahrtsstaatlichen Leistungen weder das wirtschaftliche Wachstum noch die Entwicklung von Sozialkapital verhindert, sondern eher befördert haben. Insbesondere haben sie zur Pazifizierung und zum Zusammenhalt der Gesellschaften beigetragen. Daraus ziehen die Autoren unter anderem den Schluss: Wer nicht Desintegration verursachen und damit sozialen Frieden gefährden will, muss wieder mehr Umverteilung zulassen als dies heute geschieht. Bielefeld, im Januar 2007 Wilhelm Heitmeyer / Peter Imbusch
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Vorwort der Autoren
Das Projekt, aus dem dieses Buch hervorgegangen ist, war Teil eines größeren Forschungsverbundes, der in dem Vorwort von Wilhelm Heitmeyer und Peter Imbusch kurz skizziert wird. Die mehrjährige Zusammenarbeit mit drei Dutzend Kolleginnen und Kollegen aus unterschiedlichen Disziplinen war ungewöhnlich intensiv und anregend; die sonst üblichen Konkurrenzkämpfe fanden nicht statt, unterschiedliche Ansichten wurden ohne besserwisserischen Gestus artikuliert und diskutiert; jede(r) konnte mit Aufmerksamkeit und Kooperationsbereitschaft rechnen. Wir möchten uns für diese Erfahrung bei allen bedanken, die sie möglich gemacht haben, ganz besonders bei Wilhelm Heitmeyer, der den Forschungsverbund konzipiert, organisiert und mit viel Einfühlungsvermögen geleitet hat, sowie bei Peter Imbusch, der umsichtig und ausdauernd die verschiedenen Projektstränge und Arbeitsetappen koordiniert hat. Zu danken ist auch den Kollegen Manuel Eisner (University of Cambridge) und Hans von Hofer (Universität Stockholm), die uns bei der Recherche und Sammlung von Daten vor Ort großzügig unterstützt haben, sowie den Teilnehmern mehrerer Experten-Seminare, die von Sophie Body-Gendrot (Paris) und Pieter Spierenburg (Rotterdam) im Rahmen des Posthumus Institute und der Groupe Européen des Rechereches (GERN) organisiert wurden und Gelegenheit zu fruchtbarem Gedankenaustausch boten. Die Beschaffung der Kriminalitätsdaten war wesentlich aufwändiger, als wir uns dies vor Beginn unserer Arbeit vorgestellt hatten. Denn die statistikführenden Stellen in England und Schweden konnten uns nur für die jüngste Zeit tatverdächtigenbezogene Daten in elektronischer Form verfügbar machen. Deshalb musste umfangreiches Tabellenmaterial in Papierform erworben und EDV-gerecht aufbereitet werden. In diesem Zusammenhang gilt Leif Petersson und den anderen Mitarbeitern der kriminalstatistischen Abteilung des Brottsförebyggande Rådet (BRÅ) in Stockholm unser besonderer Dank, die uns großzügig und gastfreundlich bei den Datenrecherchen in Schweden unterstützt haben. Für die Bereitstellung von Datenmaterial danken wir auch Uwe Dörmann (ehemals BKA) und den Mitarbeitern des Research and Development Statistics Directorate des Home Office.Für die Überlassung von Daten verschiedener Art gilt unser Dank des Weiteren Uno Davidsson (SCB), Arthur Alderson (Indiana University), John Sutton (University of California, Santa Barbara), Nancy Brune (Yale University), John Hurley (European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions), Roger Tweedy (PricewaterhouseCoopers), dem Bundesverband Deutscher Wach- und Sicherheitsunternehmen (BDWS), SWESEC sowie den Mitarbeitern des Statistischen Bundesamtes, des Office for National Statistics und des schwedischen statistischen Amtes (SCB). Bedanken möchten wir uns zudem bei dem Leiter des Landeskriminalamtes NordrheinWestfalen, Herrn Wolfgang Gatzke, dessen Anregungen und Kommentare für uns insbesondere bei der Arbeit an Kapitel 5 äußerst hilfreich waren. Zu danken ist auch unserem Hallenser Kollegen Reinhold Sackmann, der Teile des Rohmanuskripts durchgesehen und hilfreiche Verbesserungsvorschläge gemacht hat. Unser Dank gilt nicht zuletzt den studentischen Mitarbeitern, die, aus verschiedenen Fachgebieten kommend, mit Interesse und Engagement unsere Arbeit unterstützt haben: Ossip Fürnberg, Benjamin Höhne (beide Politologie), Tobias Jaeck, Steffen Maurer (beide 21
Soziologie), Norman Klammer (Wirtschaftswissenschaften), Ingolf Rosenfeld (Psychologie) und Friederike Seiler (Studentin der Musikwissenschaft und SchwedischÜbersetzerin). Wir beschäftigen uns in dieser Studie mit gesellschaftlichen Strukturveränderungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, soweit sie für die Entwicklung der Gewaltkriminalität gemäß unserem Erklärungsansatz als bedeutsam gelten können. Die im Titel genannten Jahreszahlen, 1950 und 2000, sind als grobe zeitliche Markierungen zu verstehen. Aus Gründen, die in Kapitel 3 erläutert werden, reproduzieren wir polizeiliche Kriminalstatistiken nur bis zum Jahre 1997; andererseits stellen wir die Entwicklung von Strukturindikatoren in einigen Fällen auch über das Jahr 2000 hinaus dar. Außerdem argumentieren wir, dass eine adäquate theoretische Interpretation der Kriminalitätsdaten verlangt, zumindest den groben Trendverlauf der Homizidraten seit Beginn der Neuzeit in den Blick zu nehmen. Die drei Länder, die wir für unsere Untersuchung ausgewählt haben, sind unterschiedlichen Typen wohlfahrtsstaatlicher Arrangements zugeordnet, die in unserem Erklärungsansatz eine zentrale Rolle spielen. Der Ländername "England" ist nicht ganz korrekt, denn die Kriminalitätsdaten werden für England und Wales gemeinsam ausgewiesen, während die Strukturdaten nur für Großbritannien oder das Vereinigte Königreich insgesamt zentral gesammelt sind. Auch die Bezeichnung "Deutschland" ist nicht unproblematisch, da wir den längerfristigen sozialen Wandel und die Kriminalitätsentwicklung nur für die "alte" Bundesrepublik darstellen; andererseits werden aber auch die neuen Bundesländer für die Periode ab 1990 gelegentlich in die Darstellung mit einbezogen, entweder getrennt von den alten Bundesländern oder mit ihnen gemeinsam. Häufig benutzen wir zudem die Begriffe Ost- und Westdeutschland, weil sie das jeweils Gemeinte mit dem geringsten sprachlichen Aufwand noch am eindeutigsten bezeichnen, auch wenn die Regeln politischer correctness dabei möglicherweise verletzt werden. Unsere Studie verwendet große Mengen an Datenmaterialien, die anderswo erhoben und archiviert worden sind, sich in ihrem Aussagegehalt gelegentlich widersprechen und trotz ihres Umfangs durchaus noch Lücken aufweisen. Materialdichte und Details werden dennoch die Lektüre stellenweise etwas mühsam gestalten; doch war es uns wichtig, die theoretischen Argumente und Thesen in einer breiten Basis empirischer Evidenzen zu verankern. Zentrale Konzepte (wie z. B. die der "Ökonomisierung der Gesellschaft" oder der "Ungleichheit") weisen vielerlei Facetten auf, die sowohl in der wissenschaftlichen als auch in der politischen Diskussion unterschiedlich gewichtet werden und zu sich widersprechenden Befunden und Argumentationen führen. Wir haben uns um eine möglichst umfassende Erschließung der empirischen Evidenzen bemüht, um auch divergierende Perspektiven berücksichtigen zu können. Freilich setzen nicht nur persönliche Arbeitskapazitäten und Projektressourcen, sondern auch eigene normative Überzeugungen einem solchen Bemühen Grenzen, die von den Autoren selbst nur in eingeschränktem Maße reflektiert werden können. Die meisten der in diesem Buch präsentierten Zeitreihen werden demnächst in der Datenbank zur Historischen Statistik des Zentrums für Historische Sozialforschung in Köln unter folgender Internet-Adresse verfügbar sein: http.//www.histat.gesis.org. Halle (Saale), Januar 2007 Helmut Thome, Christoph Birkel
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Theoretischer Bezugsrahmen und Problemstellung1
Seit Mitte des vorigen Jahrhunderts ist in fast allen ökonomisch hoch entwickelten, demokratisch verfassten Staaten die Rate der registrierten Gewaltkriminalität ziemlich kontinuierlich angestiegen (s. Gartner 1990; Eisner 2002, 2003). Bei der Suche nach Erklärungen glauben viele Soziologen bei gesellschaftlichen Fundamentalprozessen wie "Individualisierung" und "Rationalisierung" fündig zu werden, von denen man annimmt, sie minderten die soziale Kohäsion und die Intensität normativer Bindungen. Solche Erklärungen sind problematisch, denn gesellschaftliche Individualisierungs- und Rationalisierungsprozesse vollziehen sich schubweise schon seit Hunderten von Jahren; dennoch ist die interpersonale, staatlicherseits nicht initiierte oder geduldete Gewalt seit Beginn der Neuzeit rückläufig – mit Unterbrechungen und Gegenbewegungen, aber insgesamt mit deutlichem Trend nach unten. Der schweizer Soziologe Manuel Eisner, der diese Entwicklung am umfassendsten dokumentiert hat, kalkuliert für die Zeitspanne vom 15. Jahrhundert bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts in den europäischen Kernregionen einen Rückgang der Tötungsdelikte von durchschnittlich 28 auf 0,8 Fälle pro 100.000 Einwohner (Eisner 2002: 63)2. Natürlich ist derzeit nicht zu entscheiden, ob der ansteigende Verlauf der Homizidraten und anderer Gewaltdelikte in den letzten vier oder fünf Dekaden eine längerfristige Trendumkehr eingeleitet hat oder nur als eine mittelfristige Trendabweichung zu lesen ist. Die Überlegungen, die wir hier vorstellen werden, sprechen dafür, dass der Anstieg fortdauern und es für längere Zeit zumindest keine Rückkehr zu dem Niedrigstniveau um 1950/60 geben wird. Somit wird ein theoretischer Ansatz gesucht, der beiden "Ästen" des Uförmigen Trendverlaufs gerecht wird; die säkular abfallende Trendlinie kann nicht mit theoretischen Konzepten erklärt werden, die die beobachtete Trendumkehr ausschließen, und umgekehrt gilt natürlich das gleiche. Wir suchen nach einem "sparsamen" (und deshalb informativen) Erklärungsansatz, der sich auf dieses langfristige Verlaufsmuster konzentriert3 und nicht unbedingt auch die kurzfristigen oder national-spezifischen Trendabweichungen mit erklärt. Wir vermuten, dass ein solcher Ansatz aus einer Kombination bestimmter Elemente aus Elias' Zivilisationstheorie und Durkheims Gesellschaftstheorie
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Wir reproduzieren im Folgenden Teile aus Thome (2004; 2005a). Die weitergehende Auseinandersetzung mit dem empirischen Material und der einschlägigen Literatur hat zu Modifikationen und Erweiterungen des dort entwickelten Erklärungsschemas geführt. Soweit erkennbar, ist Finnland mit seiner wechselvollen Geschichte der Fremdherrschaften und einer verzögerten Industrialisierung das einzige europäische Land, das von diesem Trendmuster abweicht, aber ebenfalls eine Zunahme der Gewaltkriminalität in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfährt (s. Ylikangas 1998; Lehti 2001; Kivivuori 2001). In Japan beginnt ein Trendanstieg der Gewaltkriminalität erst in den 90er Jahren (s. Roberts/LaFree 2004) Zum Sinn einer solchen historischen Perspektive siehe Thome (2001a).
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gewonnen werden kann. Ein solcher Versuch wird im Folgenden skizziert – ohne den Anspruch zu erheben, die originären Intentionen von Elias und Durkheim gültig zu interpretieren. Wir verwenden ihre Theorien (bzw. uns brauchbar erscheinende "Teile" ihrer Theorien) lediglich als Anregungspotential zur Entwicklung eines heuristischen Schemas, das es uns ermöglicht, Fragen und Hypothesen für die empirische Forschung zu formulieren. Außerdem ist zu betonen, dass es hier lediglich um kriminelle, also strafrechtlich definierte Gewalt von Personen gegen Personen geht. Kriege, Bürgerkriege, diktatorische Gewaltanwendungen, Genozide und Pogrome bleiben außer Betracht. (Für sie gilt auch nicht der eben konstatierte Trendverlauf)4. 1.1
Anregungen aus Elias’ Zivilisationstheorie
Nach Elias ist die innergesellschaftliche Pazifizierung seit Beginn der Neuzeit primär durch zwei miteinander verschränkte Prozesse vorangetrieben worden (s. Elias 1980): die allmähliche Herausbildung eines staatlichen Gewalt- und Steuermonopols sowie die Expansion der Märkte und der industriellen Produktion. Eine durchgreifende Pazifizierung konnte aber erst dadurch gelingen, dass das Gewaltmonopol in einer weiteren Stufe des Staatsbildungsprozesses durch seine Bindung an nicht-disponibles Recht "domestiziert" und im Zuge einer politischen Demokratisierung "legitimiert" wurde. Die Bedeutung einer dritten Stufe hat Durkheim wohl klarer gesehen als Elias: die staatlich garantierte Durchsetzung (Institutionalisierung) von Gerechtigkeitsprinzipien, was die Entwicklung sozialstaatlicher Sicherungssysteme als Voraussetzung der gesellschaftlichen Inklusion auch der unteren sozialen Schichten einschloss. Die Staatsbildungsprozesse und die ökonomische Entwicklung führen dazu, dass sich die Handlungsketten der individuellen und kollektiven Akteure zunehmend verlängern und miteinander verflechten. Für die Individuen entsteht ein Zwang zur "Langsicht", zur planvollen Lebensführung. Für die einzelnen Personen ergibt sich aus diesen Prozessen eine erhöhte Notwendigkeit, ihr Verhalten selbst zu kontrollieren, die eigenen Affekte zu beherrschen. Es vollzieht sich eine allmähliche Transformation der Persönlichkeitsstrukturen, die Schritt für Schritt alle sozialen Schichten erfasst; in ihrem Verlauf wird die Fremdkontrolle der Individuen zunehmend durch Selbstkontrolle ergänzt und ersetzt. Auf zusätzliche Einsichten in den historischen Ablauf der Disziplinierungsschübe und die Funktionen unterschiedlicher Disziplinierungsagenturen (wie konfessionalisierte Kirchen, Militär, Gefängnisse, Betriebe, Schulen), die andere Autoren (man denke nur an Weber, Oestreich oder Foucault) vermittelt haben, gehen wir hier nicht ein. Wenn man akzeptiert, dass der von Elias beschriebene Prozess der Zivilisierung insgesamt zu einer weitgehenden innergesellschaftlichen Pazifizierung und damit auch zu einem erheblichen Rückgang der Gewaltkriminalität geführt hat, kann diese Hypothese dann auch zu einer Erklärung des Anstiegs der Gewaltkriminalität in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beitragen? Gelegentlich ist dieser neuerliche Gewaltanstieg ja gerade als
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Zur theoretischen Einordnung dieser „großdimensionalen“, kollektiven Gewalt s. Tilly (2002).
Widerlegung des Eliasschen Erklärungsmodells angesehen worden (so z. B. von Ylikangas 1998). Es gibt aber verschiedene Möglichkeiten, den Sachverhalt anders zu interpretieren. Die für unsere Problemstellung interessanteste Variante besteht darin, die evolutionistische Komponente in Elias Theorie des zivilisatorischen Prozesses anders auszulegen und die Frage zu stellen, ob nicht in den erklärenden Variablen ebenfalls eine Trendumkehr eingetreten ist. Insbesondere stellt sich die Frage: Erodiert langfristig das domestizierte, demokratisch legitimierte Gewaltmonopol des Staates? Wenn es zutrifft, dass es die Gewaltkriminalität über lange Zeit erfolgreich zurückgedrängt hat, kann man annehmen, dass ein Aufbrechen dieses Monopols einen Anstieg der Gewaltkriminalität nach sich zieht, es sei denn, es entwickelten sich funktionale Äquivalente zum legitimierten Gewaltmonopol. Zum Beispiel hat Trutz von Trotha in einem 1995 veröffentlichten Aufsatz die These ausgearbeitet, dass sich das legitime staatliche Gewaltmonopol seit etwa drei (jetzt also seit vier) Jahrzehnten in Auflösung befinde und dass sich diese Auflösung in Form eines Übergangs von der "konstitutionell-wohlfahrtsstaatlichen Ordnung der Gewalt" hin zu einer "oligopolistisch-präventiven Sicherheitsordnung" vollziehe. Ähnliche Argumente findet man bei Garland (1996; 2001). Wir wollen auf diese Überlegungen hier nicht im Detail eingehen (vgl. van Creveld 1999; Haferkamp 1984 sowie die in Eckert 1993: 361 gegebenen Beispiele für die begrenzte Reichweite staatlicher Macht), sie aber in Bezug auf unsere Fragestellung thesenartig zusammenfassen: Der institutionelle Nexus, in dem die Effektivität des staatlichen Gewaltmonopols an seine Legitimität rückgebunden ist, löst sich allmählich auf. Der Staat gerät immer stärker in den Sog von Delegitimierungsprozessen (auch Delegitimierungskampagnen), und sieht sich immer häufiger in dem Dilemma, zwischen Effektivität und Legitimität wählen zu müssen (siehe die jüngeren Diskussionen über verschärfte Sicherheitsgesetze angesichts terroristischer Bedrohungen, zuvor schon über "Lauschangriffe" und "Datenschutz"). Dazu trägt die technologische Aufrüstung und Internationalisierung der organisierten Kriminalität (s. Castells 1997; Hobbs 2002), aber auch die zunehmende Privatisierung der Sicherheitsdienste entscheidend bei. Hinzu kommt die fortschreitende Internationalisierung der Politik, die im Zusammenwirken mit der Globalisierung der ökonomischen Austauschprozesse die Entscheidungskompetenzen nationalstaatlicher Regierungsinstanzen einschränkt, ohne sie von ihrer legitimitätsrelevanten politischen Verantwortlichkeit zu entlasten (s. Scharpf 1998a). Darauf werden wir in Kapitel 5 näher eingehen. Direkte Folge dieses sich selbst verstärkenden Erosionsprozesses ist eine Verbesserung der Gelegenheitsstrukturen für potentielle Gewalttäter. U. a. entstehen sog. "no-go-areas" (s. Zimmermann 2000: 12) – nicht in dem strikten Sinne, dass die Polizei in diesen Gebieten gänzlich abwesend wäre, aber doch in dem Sinne, dass (a) ihr Kontrollpotential erheblich eingeschränkt ist und (b) bestimmte Personengruppen aus eben diesem Grunde das Betreten jener Gebiete nach Möglichkeit vermeiden. Eine "Kultur der gewaltsamen Selbsthilfe" (von Trotha 1995) erhält (wieder) Auftrieb, das Gewalttabu wird zumindest in einigen Gruppen gelockert. Eckert et al. (1989: 310 f.) bemerken, es gebe "Grund zu der Annahme, daß in zahlenmäßig kleinen von ihren Handlungsressourcen her gesehen jedoch strategischen Gruppen eine Erosion dieses Tabus [des Gewalttabus, T./B.] im Gange ist"; dem komme große Bedeutung für das manifeste Auftreten von Gewalthandeln zu. Weitere Aspekte staatlicher bzw. politischer Steuerungskompetenzen werden im Kontext des Durkheimschen Ansatzes (im folgenden Abschnitt) behandelt. Ein zweiter Strang einer von Elias ausgehenden Interpretationslinie kann am Konzept der Affekt- bzw. Selbstkontrolle (als wesentlichem Element individueller Handlungskompetenz) anknüpfen, das insbesondere von Gottfredson und Hirschi (1990) zur zentralen Erklärungsvariable in 25
ihrer "Allgemeinen Theorie der Kriminalität" gemacht worden ist. Da sich auch von Durkheim ausgehend eine Linie zu diesem Konzept ziehen lässt, werden wir diese Überlegungen erst in Abschnitt 1.3 vorstellen. 1.2
Erklärungskonzepte aus Durkheims Gesellschaftstheorie und Kriminalsoziologie
Anders als bei Elias ist "Kriminalität" ein zentraler Gegenstand in Durkheims Werk. Da er dort durchaus in historischer Perspektive betrachtet wird, ist es verwunderlich, dass in der internationalen kriminalgeschichtlichen Diskussion Elias ausgiebig (und mit großer Zustimmung) rezipiert worden ist, Durkheim aber kaum oder, wenn doch, überwiegend kritisch wahrgenommen wird (siehe z. B. den repräsentativen Sammelband von Johnson/ Monkkonen 1996)5. Dabei gibt es durchaus einige Berührungspunkte zwischen diesen beiden Autoren und vor allem zusätzliche Einsichten Durkheims über den Zusammenhang von sozialem Wandel und Kriminalitätsentwicklung. 1.2.1
Kollektivismus versus Individualismus
Durkheim zog schon vor etwa hundert Jahren aus seiner Analyse der einschlägigen Statistiken den Schluss, "daß die Zahl der Morde mit dem Fortgang der Zivilisation abnimmt" (Durkheim 1999: 161). Den Fortgang der Zivilisation stellte er, ähnlich wie Elias, als fortschreitende Individualisierung dar, die er als kulturelle Modernisierung verstand, die infolge zunehmender sozialer Differenzierung unausweichlich sei. Er vermutete, "daß die Anzahl der Morde mit der mehr oder minder hohen Stellung variiert, die das Individuum in der Hierarchie der moralischen Zwecke einnimmt" (ebd.). Das heißt, er konstruierte einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Rückgang des Kollektivismus und dem Rückgang der Mordraten. In kollektivistischen Gesellschaften6 zählt die Gruppe – die Familie, der Clan, die Kaste, die religiöse Gemeinschaft, das Volk – mehr als die Individuen. Das Kollektiv hat die Qualität eines "geheiligten" Wesens, das harte Sanktionen gegen Abweichler verlangt. "Wenn es darum geht, einen Stammvater zu verteidigen oder einen Gott zu rächen, was zählt da schon das Leben eines Menschen? Das Leben des einzelnen hat nur wenig Gewicht, wenn sich auf der anderen Waagschale Dinge befinden, die von so unvergleichlich höherem Wert und Gewicht sind" (ebd., S. 164). Fortschreitende Arbeitsteilung und funktionale Differenzierung mindern die "Dichte" des Geflechts von Normen, Symbolen
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Vielleicht spielt hier Charles Tillys unglückseliges Verdikt vom "Useless Durkheim" eine wichtige Rolle (s. Tilly 1981). Für viele Belange soziologischer Gesellschaftsanalyse ist dieses Konzept, mit dem praktisch alle Gesellschaftsformationen vor der Moderne abgedeckt werden, sicherlich zu umfassend und ungenau (siehe z. B. die Kritik von Fenton 1984); für unsere Zwecke liefert es dennoch wichtige analytische Kriterien.
und Ritualen, die den einzelnen in die Gruppenidentität einbinden. Das Individuum, das nicht mehr (bzw. nicht ausschließlich) in primordiale Solidarstrukturen eingebunden ist, gewinnt Distanz zu den anderen und zu sich selbst; die Ich-Identität ist nicht mehr mit der Wir-Identität verschmolzen; Normverletzungen, die irgendwo in der Gruppe geschehen, betreffen es nicht mehr (oder kaum noch) "persönlich"; seine Ehre wird nicht länger über einen Gruppencode definiert, der zu Sühne- und Rachehandlungen verpflichtet; die körperbezogenen Ausdrucksformen verlieren insgesamt an Gewicht; Gewalt, die verstümmelt und tötet, wird zunehmend tabuisiert; die Leidenschaften werden nicht nur gezügelt, sondern generell gedämpft (vgl. Elias7 ). Zahlreiche historische Studien bestätigen Durkheims Vermutung, dass ein erheblicher Teil der Gewaltanwendungen in "vormodernen" Gesellschaften in Form von Ehrhändeln ausgetragen wurde8. Eisner kommt bei der Auswertung zahlreicher historischer Fallstudien zu dem Schluss: "Declines in homicide rates primarily resulted from some degree of pacification of encounters in public space, a reluctance to engage in physical confrontation over conflicts, and the waning of honor as a cultural code regulating everyday behavior (Eisner 2003: 121). "Ehre" war ein verhaltenssteuerndes Prinzip, das den Wert des individuellen Lebens der Wertschätzung ("Heiligkeit") des Kollektivs unterordnete. Angriffe und Körperverletzungen (bis hin zu Tötungen), die der Wiederherstellung der Ehre dienten, wurden lange Zeit strafrechtlich nicht oder nur in äußerst milder Weise geahndet. Mit der Herausbildung eines effektiveren staatlichen Gewaltmonopols und dem Eindringen aufklärerischer Ideen in die Strafgesetzgebung änderte sich dies allmählich. Aber auch nach dem Zurückdrängen der Selbstjustiz und trotz aller aufklärerischen Kritik am Ehrkonzept und der ungleichen Behandlung der Stände im Strafrecht tat man sich noch lange schwer, Körperverletzungsdelikte unabhängig von der "Semantik der Ehre" zu behandeln. Sibylle Kalupner (2006) zeigt das exemplarisch anhand des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten von 1794 im Vergleich zu dem weitaus fortschrittlicheren, wesentlich von dem Rechtsphilosophen Anselm von Feuerbach gestalteten Bayerischen Strafgesetzbuch von 1813. Das Komplement zum Ehrkonzept war eine rigide soziale Hierarchie, sowohl zwischen als auch innerhalb von Gruppen, insbesondere den Ständen, die jeweils ein eigenes Ehrverständnis herausbildeten. Die Hierarchie bezog sich nicht nur auf Kompetenzen und Funktionen, Reichtum und Armut, sondern wesentlich auf unterschiedliche Lebenswertigkeiten. Unantastbar war der Herr, nicht der Knecht; der Vater, nicht der Sohn; der Mann, nicht die Frau usw. Die unterschiedlichen Grade der Ehrbarkeit waren in der mittelalterlichen Gesellschaft vor allem an die Standeszugehörigkeit gebunden, innerhalb der Stände aber nicht nur von askriptiven Merkmalen, sondern auch von individuellen Leistungen, z. B. der persönlichen Tapferkeit, abhängig. Manche Gruppen jedoch, insgesamt die unter-
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Zu Übereinstimmungen und Divergenzen in Elias‘ und Durkheims Arbeiten s. Dunning (2003). Siehe z. B. die in Eisner (2003: 117, 121, 129) zitierte Literatur; speziell zu Stammesgesellschaften s. Chagnon (1988). Zu Ehrhändeln in der Sonderform der Duelle, die in verschiedenen Ländern zum Teil bis ins 20. Jahrhundert hinein ausgetragen wurden, siehe die Beiträge in Spierenburg (1998a). Die Frage, ob oder inwiefern die Duelle bereits als „Zivilisierung“ von Gewalt zu interpretieren seien, wurde von den damaligen Zeitgenossen und wird auch heute noch unter Wissenschaftlern kontrovers diskutiert (s. Spierenburg 1998b; Frevert 1998).
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ständischen Schichten, konnten "Ehre" überhaupt nicht erlangen9. "Ultimately, honor is exclusive by nature; it presupposes infamy or, at least, lesser honor. If all were honorable, no one would be really honorable. Democratization, then, may explain the lesser importance of honor codes in the twentieth century" (Spierenburg 1998b: 11). Diese Form der Hierarchie zeigte sich nicht zuletzt in der Ungleichheit vor dem Gesetz. In dem schon erwähnten Preußischen Landrecht von 1794, das ja durchaus schon von aufklärerischen Ideen inspiriert war, blieb dennoch der Rechtsanspruch auf körperliche Unversehrtheit abhängig von der jeweiligen Standeszugehörigkeit. Grundsätzlich wurden Beleidigungen unter Adligen härter bestraft als jene unter Bauern oder Bürgern. Wenn ein "Unterer" von einem "Oberen" beleidigt wurde, fiel die Strafe milder aus als im umgekehrten Falle. In den meisten Herrschaftsbeziehungen (nicht nur in den Familien10) war körperliche Gewalt in Form von Prügelstrafen sowieso legitimiert (Züchtigungsrecht), sodass Beleidigungen von oben nach unten nur in den seltensten Fällen überhaupt identifiziert werden konnten. Nur für schwere "Realinjurien" mit lebensgefährlichen Verletzungen oder Verstümmelungen war das Strafmaß unabhängig von Standesunterschieden festgelegt (s. Kalupner 2006). Zwar gibt es auch in individualistisch ausgerichteten Gesellschaften ein (rudimentäres) "Kollektivbewusstsein". Sein wesentlicher "Inhalt" ist nun aber die vorrangige Wertschätzung des Individuums, und die ist nur mit einem geringeren Niveau der Leidenschaften, mit einer stärkeren Kontrolle der Gefühle praktizierbar. Das gilt auch für die Form und die Intensität der Bestrafung, denn der Adressat der Strafe ist ja gleichzeitig eine "Inkarnation" des "vergötterten" Individuums (s. Durkheim 1978). Obwohl Durkheims Moraltheorie ebenfalls den "Geist der Disziplin" betont, eröffnet sie einen anderen Blickwinkel. Denn Durkheim bindet den Rückgang der Gewalthandlungen nicht so sehr an spezialisierte Disziplinierungsinstanzen und die Unterdrückung von Affekten, sondern kehrt die Perspektive zunächst einmal um: Die gesellschaftliche Pazifizierung folgt aus der Befreiung des Individuums aus den Banden des Kollektivs. Auf die Risiken, die dieser Prozess auch in Durkheims Sicht birgt, ist noch einzugehen. Da die Herausbildung des staatlichen Gewaltmonopols und die Erosion des Kollektivismus geschichtliche Prozesse sind, die weitgehend parallel verlaufen, ist es kaum möglich, deren jeweilige Effekte in Längsschnittanalysen voneinander zu trennen. Es gibt jedoch einige Querschnittvergleiche, die Durkheims Kollektivismusthese stützen. Man kann z. B. annehmen, dass in hoch urbanisierten Regionen des 19. Jahrhunderts die Erosion des Kollektivismus weiter vorangeschritten ist als in ländlichen Gebieten. Auf Basis der Verurteiltenstatistik des Deutschen Reiches lässt sich feststellen, dass in den beiden letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts (also in einer Phase, in der in Deutschland Industrialisierung und Urbanisierung rasch voranschritten) die Gewaltkriminalität in den Stadtkreisen (bei statistischer Kontrolle regionaler Effekte) ziemlich stabil um etwa 20 % unter dem Niveau der Gewaltkriminalität in den Landkreisen liegt – obwohl in beiden
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In der Zeit der Reformation und der Bauernkriege gewann allerdings die Idee an Boden, im Prinzip müsse jeder Mensch durch ein tugendhaft geführtes Leben Ehre erlangen können (Kalupner 2006). Erst mit der Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches wurde das Züchtigungsrecht des Mannes gegenüber seiner Ehefrau abgeschafft, das Züchtigungsrecht der Eltern gegenüber ihren Kindern blieb aber (mit Ausnahme von Misshandlungen) noch länger bestehen (Nave-Herz 1994: 77).
Fällen ein ansteigender Trend zu beobachten ist (s. Thome 2002a). Auch Eisner (1997: 54 ff.) identifiziert für die schweizer Kantone eine negative Korrelation zwischen dem Grad der Urbanisierung und der Höhe der Homizidraten in der Periode zwischen 1901 und 1910. Lehti (2001:67) präsentiert für Estland die Rate der Tötungsdelikte (Opferzahlen) zwischen 1923 und 1937, und auch hier sind – mit Ausnahme eines Jahres – die städtischen Deliktraten niedriger als die ländlichen, anfangs (bis 1931) stärker ausgeprägt als später. Thome (2001b; 2002) interpretiert die regional stark variierende Geburtenrate als allgemeinen Indikator für den in den jeweiligen Stadt- und Landkreisen erreichten Grad an Individualisierung: Je niedriger die Geburtenrate, umso weiter fortgeschritten die Erosion des Kollektivismus (bei statistischer Kontrolle verschiedener anderer Faktoren). In einem multivariaten Modell (unter Einschluss von Indikatoren für den erreichten ökonomischen Wohlstand, das Gewicht unterschiedlicher Wirtschaftssektoren, die konfessionelle und ethnische Zusammensetzung sowie der Urbanisierung) für die über fünfhundert Stadt- und Landkreise Preußens erweist sich die Geburtenrate (Mittelwerte der Jahre 1899 bis 1901) als der mit Abstand stärkste Prädiktor: Je niedriger die Geburtenrate, umso geringer die Rate der Körperverletzungen. Dieser Zusammenhang hat auch dann Bestand, wenn die Alterszusammensetzung (Anteil der 25- bis 34-Jährigen) und der Anteil an Frauen in dieser Altersgruppe statistisch kontrolliert werden (Daten, die allerdings nur für die größeren Städte vorliegen). Nun entsteht freilich ein weiteres Problem: Wenn man annimmt, dass die Individualisierung bis auf den heutigen Tag mehr oder weniger (dis-)kontinuierlich vorangeschritten ist, erscheint die Zunahme der Gewaltkriminalität in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts – und zwar vor allem in den größeren Städten – zunächst als nicht vereinbar mit Durkheims These. Durkheim bleibt jedoch nicht auf dem Pfad einer eindimensionalen Analyse. Zwar hat er den Rückgang des Kollektivismus durchaus als zivilisatorischen Fortschritt betrachtet. Er hat aber auch von schwerwiegenden Krisen gesprochen, die die modernen Gesellschaften, insbesondere die Gesellschaft, in der er lebte, heimsuchten. Die von ihm diagnostizierten Krisenerscheinungen tragen vor allem zwei Namen: Anomie und exzessiver (egoistischer) Individualismus. Diese Kategorien gewinnt er aus der Unterscheidung zweier analytischer Dimensionen (s. Hynes 1975; Besnard 1993; konträr hierzu Johnson 1965; Travis 1990): Die erste ist evolutionistisch konzipiert und bezieht sich auf die Entwicklung der Bevölkerungsdichte sowie den Grad und Typus der "Arbeitsteilung", aus denen sich unterschiedliche Modi gesellschaftlicher Integration ergeben11. Er kennzeichnet diese evolutionäre gesellschaftliche Strukturentwicklung als Zurückdrängen der mechanischen zugunsten einer organischen Solidarität12 oder – mit
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Die evolutionistische Perspektive wird im Arbeitsteilungsbuch explizit formuliert: „Das heißt nicht, dass die Zivilisation zu nichts nütze wäre; aber sie schreitet nicht wegen der Dienste fort, die sie leistet. Sie entwickelt sich, weil sie nicht anders kann, als sich zu entwickeln. Nachdem diese Entwicklung verwirklicht ist, ist sie im allgemeinen auch nützlich, oder zum mindesten wird sie genützt“ (Durkheim 1992a: 402). Zur Unterscheidung von „Arbeitsteilung“ und „funktionaler Differenzierung“ siehe Schimank (1999: 50 f.). Zu Durkheims allzu optimistischer Interpretation der quasi natürlichen Integrationskraft der entwickelten (organischen) Arbeitsteilung siehe Müller/Schmid (1992), Joas (1992). Für unsere Zwecke wichtig ist aber vor allem Durkheims Einsicht, dass mit der Erosion des Kollektivismus Solidarität nicht
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besonderer Betonung der Ebene kultureller Deutungsmuster – als Entwicklung vom (dominanten) Kollektivismus zum (dominanten) Individualismus. Die zweite analytische Schiene, die der "Regulation", bringt eine akteurstheoretische Perspektive zur Geltung. Es geht um gestaltbare Regeln des Zusammenlebens, also umsoziale Normen und um Rechtsetzung, aber auch um die Koordination der arbeitsteilig gegliederten gesellschaftlichen Bereiche (z. B. das angemessene Zusammenwirken von "Kapital" und "Arbeit") durch politische Steuerung. Die wichtigste Rolle kommt hierbei dem Staat zu. Der Staat ist für Durkheim das "Organ der moralischen Disziplin" (Durkheim 1999: 105 f.). Aber der Staat ist auch so etwas wie der Champion des Individualismus. Ohne den Staat hätte sich das Individuum nicht von den Zwängen ursprünglicher Gemeinschaften lösen können. Die Geschichte lehrt, sagt Durkheim (ebd., S. 85), dass außer in einigen unnormalen Fällen das Individuum umso eher respektiert wird, je stärker der Staat ist. (Dass man sich dies nicht als lineare Beziehung vorstellen darf, ist inzwischen zur Genüge bekannt.) Durkheim weist aber ausdrücklich drei Staatstheorien zurück, nämlich die Hegelsche, die sozialistische und die utilitaristische. Was ihm vorschwebte, war ein demokratischer Staat (im Sinne der repräsentativen Demokratie), dessen Macht durch starke sekundäre Gruppen begrenzt sein sollte, die als Vermittler zwischen Staat und Individuum fungieren13. Der Staat solle aber auf jeden Fall stark genug sein, um – in Kooperation mit diesen Gruppen – den moralischen Individualismus gegen die moralische Anarchie zu verteidigen, die vom ökonomischen System ausgehe und sich auf die gesamte Gesellschaft auszudehnen drohe (s. unten das Konzept der "chronischen Anomie"). Art und Intensität der Regulation, ihre angemessene oder fehlerhafte Ausprägung sind abhängig von dem evolutionär erreichten Grad sozialer Differenzierung. Im günstigen Falle sind in individualistisch ausgerichteten Gesellschaften die Strukturen der Arbeitsteilung und der Regulation so aufeinander abgestimmt, dass sie den Typus des moralischen oder kooperativen Individualismus empirisch ermöglichen. In seinen optimistisch angelegten Arbeiten porträtierte Durkheim den kooperativen Individualismus nicht nur als Ideal-, sondern als evolutionär erreichten oder erreichbaren Normaltypus gesellschaftlicher Entwicklung. Er sah aber auch die Risiken "pathologischer" Abweichungen. Der Individualismus kann "exzessive" Formen annehmen, die Regulation kann in zwei Richtungen fehlgehen. Im ersten Fall ist die Regelungsdichte zu hoch; die Regeln wirken repressiv und schützen nicht die Autonomie der Individuen (soweit sie im evolutionär erreichten Integrationsmodus beansprucht wird). Im zweiten Fall entsteht ein Regelungsdefizit, die funktionale Kooperation ist gestört, den Individuen fehlt es an Orientierung und Augenmaß. Die erste Variante bezeichnet Durkheim als "Fatalismus", die zweite als "Anomie". Diese Konzepte sind für unser Erklärungsschema von zentraler Bedeutung und sollen deshalb im Folgenden etwas näher erläutert werden.
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verschwindet, sondern lediglich eine andere Form annimmt. Luhmann sieht bei Durkheim sogar den Gedanken einer wechselseitigen Steigerungsfähigkeit von Prozessen der Individualisierung und Solidaritätsbildung angelegt, führt aber auch kritisch ins Feld, Durkheim habe die Folgen des Geldmechanismus übersehen (s. Luhmann 1992: 28 ff.). Diese Kritik erscheint uns aber durch Durkheims Konzept der „chronischen Anomie“ (s. unten) relativierbar. Er verfolgte auch schon die Idee einer „Menschheitsgesellschaft“, in der Patriotismus und Kosmopolitismus sich versöhnen könnten (s. insbesondere die 6. Vorlesung in Durkheim 1999).
1.2.2
Moralischer (kooperativer) versus egoistischer (desintegrativer) Individualismus
In gewisser Hinsicht kann Durkheims moralischer Individualismus als Ausdruck einer kommunitaristischen Philosophie verstanden werden (so Cladis 1992), die zunächst einmal zur Kenntnis nimmt, (erstens) dass sich jede Individuierung innerhalb eines Prozesses der Sozialisierung vollzieht, (zweitens) dass auch die Wertschätzung für das Individuum selbst ein Produkt sozialer Prozesse ist – wie jede Moral und Religion. Drittens wird postuliert, dass es für die gesellschaftliche Integration erforderlich sei, "daß ihre Mitglieder ihre Augen auf dasselbe Ziel richten, dass sie sich in demselben Glauben treffen" (Durkheim 1986: 60). Dieser gemeinsame Glaube, der einzige, in dem sich die Mitglieder hochdifferenzierter Gesellschaften noch treffen, ist der "Kult des Individuums" – ein inhaltlich schmaler, sozial aber breit angelegter Wertekonsens14. Von der heutigen amerikanischen Variante des Kommunitarismus (Bellah, Etzioni) unterscheidet sich Durkheim aber erheblich in seiner Auffassung von der Rolle des Staates. Als soziale Praxis gründet sich der moralische Individualismus auf wechselseitige Sympathie und Respekt für den jeweils anderen. Er ist keine partikularistische Orientierung. "Der so verstandene Individualismus ist definitiv die Glorifizierung nicht des Ichs, sondern des Individuums im allgemeinen. Seine Triebfeder ist nicht der Egoismus, sondern die Sympathie für alles, was Mensch ist, ein größeres Mitleid für alle Schmerzen, für alle menschlichen Tragödien, ein heftigeres Verlangen, sie zu bekämpfen und sie zu mildern, ein größerer Durst nach Gerechtigkeit" (Durkheim 1986: 63). Auf der sozio-strukturellen Ebene geht es vor allem um die institutionelle Absicherung der Gerechtigkeit15 durch die Verbindung von Wohlfahrtsstaat und repräsentativer Demokratie16. Voraussetzung hierfür ist, wie schon erwähnt, dass der Staat das funktionale Primat (Regulierungskompetenzen) gegenüber der Ökonomie behält. Der egoistische Individualismus kann im wesentlichen als Negation der Merkmale des moralischen Individualismus charakterisiert werden: Partikularismus statt Universalismus; Auflösung der Spannung zwischen Gemeinsinn und Selbstbestimmung zugunsten einer hedonistisch geprägten Selbstentfaltung. Philosophisch sieht Durkheim den exzessiven Individualismus im englischen Utilitarismus, insbesondere im Werk Spencers vertreten, der "die Gesellschaft auf nichts als einen riesigen Handels- und Tauschapparat reduziert" (Durkheim 1986: 55). Als soziale Praxis stellt sich der exzessive Individualismus als rigorose Verfolgung der eigenen, persönlichen Interessen dar, wobei die Anderen als bloße Mittel zum eigenen Zweck betrachtet werden. Für Durkheim ist das die illusorische Leugnung der sozialen Natur des Menschen. Der Egoismus indiziert nicht einen Mangel an
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„Diese Idee der menschlichen Person [...] ist also die einzige, die in der wechselnden Flut der einzelnen Meinungen unabänderlich und unpersönlich erhalten bleibt; und die Gefühle, die sie erweckt, sind die einzigen, die sich annähernd in allen Herzen wiederfinden“ (Durkheim 1986: 63). Durkheim interpretierte sie vornehmlich im Sinne einer Chancengleichheit (s. seine Kritik an der „erzwungenen Arbeitsteilung“ in Durkheim 1992a). Zur Ableitung politischer Handlungsmaximen aus Prinzipien sozialer Gerechtigkeit und zum relativen Erfolg unterschiedlicher wohlfahrtsstaatlicher Modelle siehe Merkel (2001). Zur theoretischen Analyse der sozialintegrativen Funktion des Staates, die auch in hochdifferenzierten Gesellschaften unverzichtbar bleibt, siehe Schwinn (2001).
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Orientierung, er ist objektiv eine Selbst-Täuschung, eine Fehlorientierung. In Habermasscher Diktion kann man sagen: Wo exzessiver Individualismus die sozialen Beziehungen beherrscht, dominiert das "strategische" das "verständigungsorientierte" kommunikative Handeln. Von daher ergeben sich Anschlüsse an die Instrumentalismus-Kritik der Frankfurter Schule. Auf der strukturellen Ebene zeigt sich ein stärker werdendes Gewicht des egoistischen (desintegrativen17) Individualismus in einem Wechsel (bzw. einer Gewichtsverschiebung) des funktionalen Primats vom Staat zur Wirtschaft; im Abbau institutioneller (wohlfahrtsstaatlicher) Grundsicherungen im Sinne einer Rekommodifizierung sozialer Beziehungen; in einer Verstärkung sozialer Marginalisierungs- und Exklusionsprozesse. In der neueren Literatur sind diese Strukturdynamiken unter Stichworten wie Markt- oder Wettbewerbsgesellschaft oder der "winner-take-all society" abgehandelt worden (s. unten, Kap. 6). Die Intentionen, die Durkheim mit der analytischen Differenzierung von moralischem und egoistischem Individualismus verfolgte, lassen sich auch mit solidaritätstheoretischen Begriffen erläutern, wie sie in der heutigen Soziologie gebräuchlich sind. Ein Beispiel hierfür liefert Michael Baurmann (1998), auch wenn er sich in diesem Aufsatz nicht direkt auf Durkheim bezieht18. Er definiert zunächst eine solidarische Handlung als "einen freiwilligen Transfer von Gütern oder Leistungen an ein anderes Individuum oder eine Gruppe von Individuen, [wobei] dieser Transfer nicht Gegenstand eines ausdrücklich vereinbarten und institutionell durchsetzbaren Vertrages ist" (ebd., S. 345). Wenn die solidarische Handlung gegenüber einem anderen Individuum erfolgt, bedeutet dies, dass freiwillig und bedingungslos (ohne erzwingbaren Anspruch auf Gegenleistung) eine "individuelles Gut" erzeugt wird. Wenn sich die solidarische Handlung an eine Gruppe von Individuen richtet, spricht man von der Erzeugung eines "öffentlichen Guts". Baurmann unterscheidet nun verschiedene Konstellationen, in denen individuelle und kollektive Interessen aufeinander treffen. In der ersten besteht eine Übereinstimmung zwischen beiden Interessenlagen, das heißt, "der Ertrag, der einer Person aus ihrem Beitrag zu einem öffentlichen Gut erwächst, (übersteigt) die Kosten dieses Beitrags" (ebd., S. 346). Auch das eigennützig orientierte Individuum ist in dieser Situation hinreichend motiviert, solidarisch zu handeln. In der zweiten Konstellation dominieren die individuellen die kollektiven Interessen. Zwar übersteigt der Nutzen, der den Individuen aus dem öffentlichen Gut erwächst (bzw. erwachsen würde) weiterhin die jeweiligen Kosten der individuellen Beiträge, die zur Herstellung dieses Gutes benötigt werden. Andererseits aber ist die Wertsteigerung, die der einzelne Beitrag dem öffentlichen Gut hinzufügt, für dessen Herstellung unerheblich und in jedem Falle geringer als die Kosten, die das Individuum
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Um allzu enge normative Konnotationen zu vermeiden und die bei Durkheim wohl überzogene Vorstellung sozialer Integration durch Moral nicht auch noch sprachlich zu akzentuieren, werden wir für unser Erklärungsschema die Begriffe „kooperativer“ (statt „moralischer“) und „desintegrativer“ (statt „egoistischer“) Individualismus adaptieren. Eine anregende Durkheim-Interpretation bietet der Autor in einer anderen Abhandlung (s. Baurmann 1999). Interessant ist hier vor allem die Rekonstruktion der im Arbeitsteilungsbuch von Durkheim (zunächst) vertretenen „optimistischen“ Thesen zur Herausbildung einer Kooperationsmoral, die sich auf emotionale Bindungen stützen kann, die spontan aus den reziproken Tauschbeziehungen voneinander abhängiger Individuen erwachsen.
damit auf sich nimmt (bzw. nähme). Es entsteht also ein großer Anreiz zum "Trittbrettfahren", also darauf zu warten, dass die anderen das öffentliche Gut bereitstellen, um es dann selbst nutzen zu können. Wenn jeder nur eigennützig orientiert ist, wird das erwünschte öffentliche Gut nicht erzeugt werden. "Ein solidarisches Handeln kann in dieser Konstellation nur dann zustande kommen, wenn eine Person nicht gemäß dem Prinzip rationaler Nutzenmaximierung handelt, sondern gemäß einem Verallgemeinerungsprinzip: Wenn sie also ... nur so handelt, wie sie wollen kann, dass auch alle anderen handeln" (ebd., S. 349). Ein solidarisches Handeln nach diesem Prinzip bezeichnet man auch als "solidarisches Handeln aus Fairness". In der dritten Konstellation schließlich dominieren die kollektiven die individuellen Interessen. Der Ertrag, den eine Person für sich aus der Bereitstellung des öffentlichen Gutes erwarten kann, liegt auf jeden Fall unter dem Niveau der Kosten, die ihr durch einen eigenen Beitrag entstehen würden (auch wenn alle anderen ihren Beitrag leisten). Das heißt, die solidarische Leistung ist für die Person, die sie erbringt, auf jeden Fall (materiell) von Nachteil. Handelt sie in einer solchen Situation dennoch solidarisch, ist dies eine "Solidarität aus Opferbereitschaft" (S. 351). Eine solche Opferbereitschaft könnte durch eine starke Wertbindung motiviert sein. Festzuhalten ist, dass der Begriff des kooperativen Individualismus (als gesellschaftlicher Strukturtypus) nicht auf Solidarität aus Fairness oder Opferbereitschaft beschränkt ist, sondern auch die Variante einschließt, dass faktisch kooperatives Verhalten eigennützig motiviert ist. Dies ist sicherlich keine erschöpfende Typologie sozialer Handlungsorientierungen, will es auch gar nicht sein. Auf der einen Seite bleiben explizit die nicht-solidarischen Handlungen (z. B. solche, die aus Rechtspflichten resultieren) unberücksichtigt; auf der anderen Seite kommt der Aspekt der Expressivität des Handelns (s. Joas 1999) in ihr gar nicht vor. Beides wäre (auch laut Durkheim) in einer Theorie sozialer Integration zu berücksichtigen. Dennoch eignet sich der Solidaritätstypus in besonderer Weise für die analytische Abgrenzung der drei Gesellschaftsformationen, auch wenn Durkheim selbst (im Arbeitsteilungsbuch) lediglich die "binäre" Unterscheidung von "mechanischer" und "organischer" Solidarität (Solidarität aufgrund von "Ähnlichkeit" versus Solidarität basierend auf "Verschiedenheit") zur Kennzeichnung von traditional-kollektivistischen (segmentär differenzierten) versus hoch arbeitsteilig operierenden Gesellschaften eingeführt hat. Die Differenzierung von moralischem und egoistischem Individualismus erfolgte später, vor allem im Selbstmordbuch. Zunächst ist davon auszugehen, dass alle drei Varianten solidarischen Handelns in jeder Gesellschaft aufzufinden sind. Anzunehmen ist wohl auch, dass die Variante "Eigennutz" in allen Gesellschaften empirisch häufiger in Aktion tritt als die beiden anderen. Dennoch lässt sich die relative Gewichtung der drei Solidaritätstypen zur differentiellen Charakterisierung der drei von Durkheim unterschiedenen gesellschaftlichen Formationen heranziehen. Denn in jeder von ihnen kommt ein spezifischer Solidaritätstyp im Vergleich zu den anderen Solidaritätstypen relativ häufiger vor als in den beiden anderen Gesellschaftsformationen. In der kollektivistisch ausgerichteteten Gesellschaft ist das die Solidarität aus Opferbereitschaft, im moralischen Individualismus die Solidarität aus Fairness, im exzessiven Individualismus die Solidarität aus Eigennutz.
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Für die Mehrheit der Soziologen dürfte unstrittig sein, dass auch moderne, individualistisch ausgerichtete Gesellschaften der Solidarität aus Fairness, vermutlich auch eines gewissen Quantums an Opferbereitschaft bedürfen, um öffentliche Güter in ausreichendem Maße herstellen zu können und bestandsfähig zu bleiben19 (wobei in der Analyse auch zu berücksichtigen wäre, dass Kosten und Nutzen häufig keine objektivierbare Größen darstellen und zudem langfristig und kurzfristig angelegte Ertragsbilanzen sehr unterschiedlich ausfallen können). Strittig ist dagegen die Frage, wie hoch dieser Bedarf ist und wodurch bzw. in welcher Weise er gedeckt werden kann20. Grundlagentheoretisch lässt sich das Potential an uneigennütziger Solidarität im Sinne einer Anerkennung des solidarischen Verallgemeinerungsprinzips aus der sozialen Natur des Menschen und der Struktur des Zusammenhandelns selbst herleiten (siehe bspw. die kommunikationstheoretische Begründung in Habermas 1981 oder die werttheoretische in Joas 1999; 2001a)21. Empirisch gestützt werden diese Herleitungen nicht zuletzt durch die von Piaget initiierten Forschungen zur Entwicklung des moralischen Bewussteins (in Deutschland siehe vor allem die Arbeiten von Gertrud Nunner-Winkler, zuletzt Nunner-Winkler 2005 sowie Nunner-Winkler et al. 2006). Allerdings bleibt damit noch offen, in welchem Maße dieses Potential unter wechselnden gesellschaftlichen Bedingungen empirisch realisiert wird. Wie schon erwähnt, wies Durkheim hierbei dem Staat in seiner inneren (demokratischen) Verfasstheit und seinem funktionalen Gewicht gegenüber der Ökonomie eine besonders wichtige Rolle zu. Mit Blick auf gegenwärtige Diskussionen lässt sich die Hypothese formulieren: Die Chancen für eine breite Anerkennung des Verallgemeinerungsprinzips schwinden in dem Maße, wie die Geltungsbereiche des öffentlichen Rechts und der politischen Regulierungen, die aus öffentlichen Diskursen hervorgehen und von demokratisch legitimierten Entscheidungsträgern getroffen werden, schrumpfen oder dominiert werden von den sich ausbreitenden Zonen privatrechtlicher Regelungen, die sich infolge einer zunehmenden Ökonomisierung der Gesellschaft aufbauen. Dies gilt vor allem dann, wenn sich die Marktbeziehungen selbst in Richtung einer zunehmend antagonistischen Konkurrenz entwickeln. Wir werden diesen Ansatz in Kapitel 6 aufnehmen. Wie oben erläutert, sah Durkheim in der Erosion des Kollektivismus die entscheidende Ursache für den langfristigen Rückgang der innergesellschaftlichen Gewalt. Wir gehen
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Diese Annahme wird auch von Vertretern des „Rational-Choice“-Ansatzes geteilt; siehe neben dem hier zitierten Aufsatz von Baurmann (1998) z. B. die Arbeit von Zintl (1999). Annahmen über das in modernen Gesellschaften noch aktivierbare Potential an uneigennütziger Solidarität können weitreichende Folgen haben. So z. B. schätzt Streeck (2001) dieses Potential als bedauerlicherweise so gering ein, dass er dazu rät, in Zukunft wohlfahrtsstaatliche Regelungen nicht mehr an Gerechtigkeitsnormen, sondern an wirtschaftlichen Effizienzkriterien auszurichten; nicht mehr Dekommodifizierung, sondern Rekommodifizierung der Arbeitskraft sei angesagt. Siehe auch die in Baurmann (1999: 106) angegebene Literatur, die die Möglichkeit eines „reziproken Altruismus“ aus einer tauschtheoretischen Perspektive begründet, wie sie im „Rational-Choice“-Ansatz vertreten wird. Die von Baurmann (1998) angesprochene Problematik eines unendlichen Begründungsregresses bei der Diskussion über die Herstellbarkeit solidaritätssichernder Institutionen (die ja wiederum öffentliche Güter darstellen) wird zudem auch dadurch abgeschwächt, dass Institutionen dieser Art ja immer schon existieren – und aus der Einsicht, dass Institutionen, die die Anerkennung des Verallgemeinerungsprinzips sichern, durchaus auch aus Eigennutz, bspw. von politischen und moralischen „Unternehmern“, geschaffen werden können.
davon aus, dass dieser Pazifizierungseffekt in dem Maße abgeschwächt oder sogar aufgehoben und umgelenkt wird, wie sich in den individualisierten Gesellschaften die Gewichte vom kooperativen hin zum egoistischen Individualismus verschieben. Mit dieser These weichen wir von Durkheims eigener Interpretation ab, die wir in diesem Punkt für inkonsistent halten. Er hat den Egoismus zwar als "pathologische" Variante des Individualismus konzipiert, sie jedoch ausdrücklich nicht als Ursache von Gewaltverbrechen angesehen (Durkheim 1990: 422). Er verbindet mit diesem Typus auf der individuellen Ebene vor allem die Erfahrung von Sinnlosigkeit, von Depression und Apathie, die aus mangelnder sozialer Einbindung erwächst. Sie begünstigt die Neigung zum Selbstmord, aber eben nicht zum Mord. Durkheim scheint zu dieser Interpretation gekommen zu sein, weil die ihm zugänglichen Daten vor allem den langfristigen Rückgang der Homizidraten belegten. Da er diesen Rückgang mit der Erosion des Kollektivismus erklärte, hatte er vor allem den Mord "aus Leidenschaft" im Blick (s. Durkheim 1999: 168 f.; vgl. Dicristina 2004); Leidenschaft war aber nicht das, was er mit dem egoistischen Individualismus assoziierte. Wenn man dagegen das instrumentalistische Denken als zentrale Komponente des egoistischen (desintegrativen) Individualismus ansieht, rücken diejenigen Gewaltverbrechen ins Blickfeld, die nicht im Affekt begangen werden. Wenn der Egoist seine Mitmenschen primär als Mittel zu eigenen Zwecken betrachtet, warumsollte er dann nicht auch motiviert sein können, sie gezielt zu schädigen, im Extremfall sogar zu töten, wenn er dazu die Möglichkeit hat und ein anderer ihm im Wege steht? Freilich wird das eine extreme Ausnahmesituation bleiben. In dieses Muster passt aber immerhin die Beobachtung, dass der Raubüberfall unter den Gewaltverbrechen die Deliktart mit den höchsten Zuwachsraten seit 1950/60 ist (s. unten, Kap. 3)22. Im übrigen gehen wir davon aus, dass sich die Fähigkeit zur Selbstkontrolle innerhalb der Strukturen des desintegrativen Individualismus weniger gut entwickeln als innerhalb der Strukturen des kooperativen Individualismus (s. unten, Abschn. 1.3). Außerdem vermuten wir, dass bestimmte gewaltaffine Formelemente des Kollektivismus in diesem Kontext in veränderter Gestalt wiederbelebt werden. Die Zunahme von Ungleichheit und sozialer Marginalisierung begünstigt das Entstehen sozialer Hierarchien, die mit Ideologien der Ungleichwertigkeit verbunden sind (s. unten, Kap. 6.5.3). Die hierbei erfahrenen Degradierungen und Anerkennungsverluste machen Gewaltanwendungen wahrscheinlicher, mit denen verloren gegangener Respekt und verletzte Ehre wieder hergestellt werden sollen. Insofern lässt sich Durkheims kategoriale Unterscheidung gut mit dem "Bielefelder Desintegrationsansatz" verbinden, der in einer Vielzahl von Studien das kriminogene Potential instrumentalistischer Orientierungen empirisch belegt hat (siehe z. B. Heitmeyer et al. 1992: 470 ff., 590 ff.; Heitmeyer et al. 1995: 138 ff.).
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Einer US-amerikanischen Untersuchung ist zu entnehmen, dass sich in den Vereinigten Staaten die Rate der „instrumental killings“ seit 1960 erheblich erhöht hat: 1960 fielen nur 7 % aller Morde in diese Kategorie, 1990 schon 20 % (LaFree 1998: 40 f.). Daten der englischen Kriminalstatistik zum Bereicherungsmotiv („in furtherance of theft or gain“) bei Tötungsdelikten zeigen dagegen einen relativ stationären Verlauf zwischen 1969 und 1987, danach sogar einen leicht abfallenden Trend. Für andere Länder liegen uns derartige Erhebungen nicht vor – Widersprüchlichkeiten und Lücken im Datenmaterial, denen wir noch häufiger begegnen werden.
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1.2.3
Anomie und regressiver Kollektivismus
"Anomie" ist eines der dominanten Erklärungskonzepte in soziologischen Forschungen über abweichendes bzw. kriminelles Verhalten. In der einschlägigen Literatur taucht es in sehr unterschiedlichen Fassungen auf, meistens aber mit (mehr oder weniger vager) Bezugnahme auf Durkheim, der diesen Begriff in die Soziologie einführte. Nun hat Durkheim aber selbst verschiedene Varianten eines Anomie-Konzepts vorgelegt, die er nie systematisch ausarbeitete und die wir hier nur sehr knapp skizzieren können (ausführlicher hierzu: Thome 2003). Zunächst lassen sich eine strukturell und eine prozessual induzierte Anomie unterscheiden. Im Arbeitsteilungsbuch wird die strukturelle Anomie in zwei Varianten eingeführt: (a) als mangelhafte Koordination der arbeitsteilig operierenden "Organe", z. B. in Form eines Konflikts zwischen "Kapital" und "Arbeit"; (b) als "erzwungene Arbeitsteilung", die es den Menschen nicht erlaubt, in der Arbeit ihre natürlichen Talente zu entwickeln und ihre Fähigkeiten auszuschöpfen – eine Form von Entfremdung und mangelnder Chancengleichheit. Zu dieser Zeit geht Durkheim noch davon aus, dass derartige Defizite nicht dem System fortgeschrittener Arbeitsteilung (funktionaler Differenzierung) inhärent sind, sondern sich grundsätzlich per (politischer) Regulierung jeweils beheben, wenn auch nicht dauerhaft beseitigen lassen. Für die soziologische Diskussion folgenreicher wurden seine Vorstellungen zu einer prozessualen Anomie, die er im Selbstmord-Buch entwickelte (Durkheim 1990: 273 ff.). Hierbei geht es um Regelungsdefizite, die durch beschleunigten sozialen Wandel, insbesondere in Phasen starken wirtschaftlichen Wachstums oder Niedergangs hervorgerufen werden. In beiden Fällen geraten die Bedürfnisse (die Aspirationen) der Menschen und die verfügbaren Mittel ihrer Befriedigung aus dem Gleichgewicht. Entweder werden die Mittel für die bisher legitimerweise angestrebten Ziele zu knapp, oder die Bedürfnisse werden "entgrenzt", die Menschen verlieren das Maß für das, was ihnen realistischer- und legitimerweise zusteht. Sie werden Opfer ihrer überzogenen Aspirationen; es fehlt ihnen an der nötigen Disziplin; sie schätzen sich und ihre Fähigkeiten nicht mehr richtig ein; sie wissen nicht, was ihnen längerfristig gut tut, was sie vernünftigerweise anstreben oder lassen sollen. In diesem Sinne erleiden sie einen Identitätsverlust per Entgrenzung; es fehlt an normativer und kognitiver Orientierung: ein Mangel, der die "Leidenschaften" (wieder) ansteigen lässt und die Neigung sowohl zur Selbsttötung als auch zur Anwendung von Gewalt gegen andere erhöht. Bis zu diesem Punkt sind die Regulierungsdefizite als vorübergehende Erscheinungen konzipiert worden; sie treten zwar immer wieder auf, lassen sich aber jeweils beheben oder verflüchtigen sich im Fortgang gesellschaftlicher Entwicklung. Nun entdeckt Durkheim jedoch Folgendes: "Es gibt eine Sphäre gesellschaftlichen Lebens, wo er [der Zustand der Anomie, T./B.] tatsächlich eine Art Dauerzustand ist, nämlich in der Welt des Handels und der Industrie" (ebd., S. 290). Durkheim, dem der erste große Globalisierungsschub von Handel und Industrie ja schon gegenwärtig war, sah auch, dass die "chronische" Anomie dabei war, sich in andere gesellschaftliche Bereiche auszudehnen. "Die Entfesselung der Begierden (ist) infolge der Entwicklung der Industrie selbst und die fast unendliche Ausdehnung des Absatzmarktes noch verschärft worden ... Jetzt, wo er [der Warenproduzent, T./B.] fast erwarten darf, die ganze Welt zum Kunden zu haben, wie sollten vor diesen grenzenlosen Perspektiven seine Begierden sich wie früher zügeln lassen? Daher die fieberhafte Betriebsamkeit in diesem Sektor der Gesellschaft, die sich auf alle übrigen ausgedehnt hat. Daher ist Krise und Anomie zum Dauerzustand und sozusagen normal
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geworden" (ebd., S. 292). In diesem Prozess "(ist) die Regierung von einer Regelinstanz des wirtschaftlichen Lebens zu dessen Instrument und Diener geworden" (ebd., S. 291). Mit dem Konzept der "chronischen Anomie" untergräbt Durkheim die zunächst entwickelte Vorstellung, in hoch arbeitsteiligen Gesellschaften werde sich auf der Basis wechselseitiger Abhängigkeiten eine Kooperationsmoral als "Normalfall" herausbilden und regulativ stabilisieren lassen. Außerdem wird deutlich, dass die strukturellen Voraussetzungen des egoistischen Individualismus und der chronischen Anomie weitgehend die gleichen sind. Auf der Ebene der Individuen mag es dennoch sinnvoll sein, zwischen der Erfahrung von Sinnleere (als Folge mangelnder sozialer Einbindung) und der Entgrenzung von Bedürfnissen (als Folge von Regulierungsdefiziten) zu unterscheiden. In der neueren Forschungsliteratur werden mit den Begriffen der (sozialen) "Anomie" oder der (individuellen bzw. psychischen) "Anomia" vor allem verschiedene Aspekte normativer und/oder kognitiver Desorientierung erfasst (siehe z. B. Hüpping 2006), gelegentlich auch das Gefühl der eigenen Machtlosigkeit (s. Kühnel/Schmidt 2002)23. Welche dieser Komponenten auch immer in den verschiedenen Anomie-Skalen enthalten sein mögen, Anomie (Anomia) wird stets als bedingende Variable erfasst, die vielfältige Formen abweichenden (normverletzenden) Verhaltens sowie feindselige Haltungen gegenüber Minderheiten und Außenseitergruppen erklären soll. Wir werden uns in dieser Arbeit nicht um eine weitergehende analytische und terminologische Differenzierung des Anomie-Begriffs bemühen, jedenfalls nicht, soweit er sich auf Individualmerkmale bezieht. Wir gehen davon aus, dass sich auf dieser Ebene ein erheblicher Teil seines Bedeutungsumfangs in ein Konzept der "Handlungsfähigkeit" (bzw. ihrer Defizite) einbauen lässt, wie wir es unten in Abschnitt 1.3 skizzieren. Durkheims Idee einer chronischen Anomie und das darauf aufbauende strukturelle Anomie-Konzept von Merton werden in unsere Analysen zur Erosion des kooperativen Individualismus in Kap. 6 einfließen. Auch Durkheims Annahme, dass dem sozialen Wandel per se (weitgehend unabhängig von seiner Verlaufsrichtung) ein kriminogenes Potential innewohne, spielt in unserem Erklärungsschema eine wichtige Rolle. In Kap. 4 präsentieren wir eine Reihe empirischer Indikatoren, die zeigen, dass sich in den 50er/60er Jahren des vorigen Jahrhunderts in unseren drei Vergleichsländern (aber sicherlich nicht
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Das vielleicht umfassendste Konzept von Anomie im Sinne eines „Geisteszustands“ formuliert MacIver (1950); wir zitieren es hier in der Übersetzung von R. Dahrendorf (1979: 120 f.) mit dessen Hervorhebungen: „Anomie bedeutet den Geisteszustand von jemandem, der seinen moralischen Wurzeln entrissen ist, der keine Standards mehr hat, sondern nur mehr unzusammenhängende Antriebe, der keinen Sinn für Kontinuität, für gewachsene Gruppen (folk), für Obligationen mehr hat. Der anomische Mensch ist geistig steril geworden, nur auf sich selbst bezogen, niemandem verantwortlich. Er mokiert sich über die Werte anderer Menschen. Sein einziger Glaube ist die Philosophie des Neinsagens. Er lebt auf der schmalen Linie des Empfindens zwischen der fehlenden Zukunft und der fehlenden Vergangenheit ... Anomie ist ein Geisteszustand, in dem der Sinn des Individuums für sozialen Zusammenhalt – die Hauptquelle seines moralischen Halts – gebrochen oder tödlich geschwächt ist.“ Dahrendorf glaubt, MacIvers Begrifflichkeit „mühelos entpsychologisieren“ und mit seiner Idee des Verlusts von „Ligaturen“ in modernen Gesellschaften verbinden zu können. Dahrendorfs Werk ist aber von einer kaum thematisierten Bruchlinie durchzogen, die seine vielfach vorgetragenen Klagen über den Verlust von Bindungen abtrennt von seinem ebenfalls oft und emphatisch vorgetragen Bekenntnis zum entschiedenen Individualismus.
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nur dort) ein besonders tief greifender sozialer Wandel vollzogen hat, der aber nach unserer Einschätzung in dieser Zeit noch keine Gewichtsverschiebung zugunsten eines desintegrativen Individualismus bewirkte. Im Kontext dieser Argumentation nutzen wir Durkheims Einsicht, wonach Wandlungseffekte und Struktureffekte zeitweilig gegenläufige Richtungen einschlagen können. Diese Annahme wird durch eine Analyse der Kriminalitätsdaten des Deutschen Reiches gestützt (s. Thome 2002a). Auch Ende des 19. Jahrhunderts nahm in einer Periode rapiden sozialen Wandels (Industrialisierung, Urbanisierung) die Gewaltkriminalität zu. Der Wandel beförderte seinerzeit die Erosion kollektivistischer Strukturen und führte, wie oben bereits erwähnt, zu einer weniger gewaltaffinen Sozialstruktur. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verläuft der Wandel jedoch in eine andere Richtung. Zwar wird er zunächst durch einen Ausbau von Institutionen begleitet, die den kooperativen Individualismus stützen (insbesondere durch den Ausbau des Sozialstaats); der weitere Verlauf der Entwicklung verschiebt jedoch ab Mitte der 70er Jahre die Gewichte zunehmend in Richtung eines desintegrativen (egoistischen) Individualismus, eine Tendenz, die sich ihrerseits in den 90er Jahren im Zuge der Globalisierung der Wirtschaft und infolge von Innovationen in der Kommunikationstechnologie rasant beschleunigt. Ursprünglich war beabsichtigt, die anomischen Konsequenzen dieser jüngeren Phase von Beschleunigungs- und Entgrenzungsprozessen, die wesentlich durch die neuen Kommunikationsmedien forciert und geformt werden, in einem längeren Kapitel ausführlich zu behandeln. Es zeigte sich jedoch, dass dieses Vorhaben im Rahmen unseres Projekts nicht mehr zu realisieren war (auch hätte dieses Buch den vorgegebenen Umfang weit überschritten). So werden wir hier (in Abschn. 1.2.4) nur einige provisorische Überlegungen zu diesem Themenkomplex vorstellen und in Kap. 7 lediglich einen spezifischen Aspekt daraus, die Gewalt stimulierenden Effekte der Massenmedien, etwas ausführlicher behandeln. Zuvor soll jedoch noch kurz auf Durkheims Vorstellungen zu einer anderen Form der Fehlsteuerung, nämlich einem "Übermaß an Regulierung" eingegangen werden. Diese Variante, etikettiert als "Fatalismus", behandelt er im Selbstmord-Buch explizit nur in einer Fußnote (Durkheim 1990: 318); an anderen Stellen dieses Textes finden sich aber gelegentlich indirekte Bezugnahmen darauf. Durkheim bezeichnet als "fatalistisch" jenen Selbstmord, "welcher aus einem Übermaß von Reglementierung erwächst; der Selbstmord derjenigen, denen die Zukunft mitleidlos vermauert wird, deren Triebleben durch eine bedrückende Disziplin gewaltsam erstickt wird" (Durkheim 1990: 318). Es geht also um Zustände und Regelungen, die einzelnen Individuen bzw. den Angehörigen bestimmter Gruppen Beschränkungen individueller Autonomie und Selbstentfaltung auferlegen, die hinter das entwicklungsgeschichtlich erreichte Niveau sozialer Differenzierung und Produktivkraftentwicklung zurückgehen. An der Wende zum 20. Jahrhundert glaubte Durkheim, dieser Typus sei nur noch von historischem Interesse; die Diktaturen des 20. Jahrhunderts und die diversen Schübe einer "Entsakralisierung" des Individuums hat er nicht vorausgesehen24.
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Vielleicht lässt sich in Durkheims „Fatalismus“-Konzept ein Ansatzpunkt finden, den evolutionistischen Duktus seiner Theorie abzuschwächen. – Eine anregende Betrachtung über widersprüchliche historische
Eine Tendenz in Richtung repressiver Überregulation kann in modernen Gesellschaften in Form von Fluchtbewegungen entstehen, zu denen Erfahrungen von Anomie und exzessivem Individualismus drängen mögen – eine Sehnsucht nach Rückkehr zu kollektivistischen Gemeinschaftsformen und einer stärkeren Rolle der "Solidarität aus Ähnlichkeit". Zwar ist nicht damit zu rechnen, dass sich diese Strebungen erneut als Mehrheitsideologie etablieren werden; aber von verschiedenen Gruppen können sie mit krimineller Energie vertreten und partiell durchgesetzt werden – siehe das Beispiel des Rechtsextremismus und bestimmter Varianten eines religiösen Fundamentalismus. Zu den Äußerungsformen des regressiven Kollektivismus gehören Fremdenfeindlichkeit, das Festhalten am Führerprinzip, Intoleranz gegenüber Andersdenkenden, eine Ideologie natürlicher Ungleichwertigkeit der Menschen bzw. bestimmter Gruppen, häufig auch Verachtung und Missachtung demokratischer Verfahrensregeln und individueller Freiheitsrechte. Die damit verbundene Gewaltbereitschaft richtet sich vor allem gegen Minderheiten und gesellschaftliche Außenseiter sowie gegen Personen und Institutionen, die deren Rechte unterstützen. Wir werden diesen Gedankengang hier nicht weiter verfolgen, sondern verweisen auf den Überblickaufsatz von Heitmeyer (2002a) sowie auf verschiedene andere Beiträge aus unserem Forschungsverbund, die dieser Thematik gewidmet sind (s. Helsper et al. 2006; Erb/Minkenberg 2007; Willems/Steigleder i.E.; Möller/Schuhmacher i.E; Kühnel/Hieber/Tölke i.E.; Böttger et al. i.E.; Rippl et al. i.V.). Zu einer repressiven Überregulation kann im übrigen auch der demokratisch verfasste Staat neigen, insbesondere dann, wenn Sicherheitsinteressen und individuelle Freiheitsrechte miteinander zu kollidieren scheinen (s. hierzu Kap. 5). 1.2.4
Provisorisches über "Beschleunigung" und "Entgrenzung"
Wie im vorigen Abschnitt dargelegt, dürfte die folgenreichste Variante Durkheimscher Anomie-Konzepte jene sein, in der "Normlosigkeit" als Folge entgrenzter Bedürfnisse und Orientierungsverluste auftritt, die durch einen beschleunigten sozialen Wandel hervorgerufen werden. Wir schlagen vor, diese Begrifflichkeit zu erweitern, insbesondere die "Entgrenzung" nicht nur auf entfesselte Bedürfnisse und die Zeitproblematik nicht nur auf Temposteigerungen im Strukturwandel zu beziehen, sondern "hohes Tempo" als generelles Strukturproblem (spät-)moderner Gesellschaften anzusehen. Auf diese Weise lässt sich ein breiteres Spektrum eng aufeinander bezogener Phänomene ins Blickfeld rücken, die insgesamt Aufbau und Erhalt normativer Bindungen und individueller Handlungskompetenzen erschweren. Nicht nur hat der ökonomische und politische Strukturwandel innerhalb unseres Untersuchungszeitraumes in den 50er und 60er Jahren (mit historisch einmalig hohen volkwirtschaftlichen Wachstumsraten, der Auflösung traditionaler Sozialmilieus und einem kräftig einsetzenden Wertewandel, s. Kap. 4) sowie in den 90er Jahren (mit der Globalisierung und den Innovationen der Informations- und Kommunikationstechnologie, s. Kap. 6 u. 7) seine eigenen Beschleunigungsphasen durchlaufen; er hat auch die Arbeits-
Tendenzen zur Sakralisierung und Entsakralisierung der Person sowie deren Spiegelung in der Strafgesetzgebung bietet Joas (2006).
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abläufe und das Tempo alltäglicher Lebensgestaltung und Entscheidungsfindung enorm beschleunigt (s. Brose et al. 1993; Garhammer 1999; Rosa 2005). Dabei haben sich überkommene Zeitstrukturen – die Koordination von sozialer Zeit und persönlich gestalteter Zeit, von Lebens- und Tagesablauf, Arbeit und Freizeit usw. – nicht nur verändert, sondern auch soweit verflüssigt (Stichwort: Flexibilisierung) und ausdifferenziert, dass ihre ordnungsstiftende und Erwartungssicherheit gewährende Funktion eingeschränkt worden ist. Spezifische Formen des Erlebens und Handelns sind immer seltener an bestimmte Zeiten (Jahre, Tage, Stunden usw.) und Gelegenheiten gebunden; es wird schwieriger, die eigenen Zeitpläne mit denen potentieller Interaktionspartner abzustimmen; pro Zeiteinheit nimmt die Menge der Optionen zu, die für eigenes Erleben und Handeln offenstehen. Subjektiv wird die Erosion zeitlicher Ordnungen vor allem als "Zeitdruck" und als Kontrollverlust erlebt. Das Erleben temporaler Desintegration kann als Subdimension eines umfassenderen Anomie-Konzepts oder als eigenständige Quelle sozialer Desorganisation und mangelnder Normbindung angesehen werden. Morgenroth/Boehnke (2003) z. B. zeigen in einer Studie mit Schülern der Klassen 8 und 9, dass das Erleben temporaler Desintegration unabhängig vom Grad der Normbindung die Intensität der Kommunikation mit den eigenen Eltern sinken lässt (zumindest, wenn es umsoziale und politische Themen geht); bei Schülern außerhalb des Gymnasiums wird, kompensatorisch hierzu, die Kommunikation mit den "Peers" verstärkt. Innerhalb des umfassenden Problemkomplexes, der mit Begriffen wie Temposteigerung, zeitlicher Verdichtung, Erosion zeitlicher Ordnungen markiert wird, erscheinen uns im Blick auf unser Thema die folgenden Punkte besonders erwägenswert: a) Es entstehen vermehrt Situationen und Entscheidungszwänge, für die bisher gültige Normen und Wissensbestände keine ausreichenden Entscheidungskriterien anbieten25. Für prinzipiell alle Akteure wachsen die Optionen, unter denen zu wählen ist (s. Gross 1994). Dabei verändern sich die materiellen, symbolischen und sozialen Umwelten in einem Tempo, dem der moralische Diskurs und die (Re-)Konstruktion von Identitäten möglicherweise nicht mehr folgen können. Ein Lehrbeispiel liefern die gegenwärtigen Diskussionen über die Zulässigkeit von Präimplantationsdiagnostik und verbrauchender Embryonenforschung. Wissenschaftliche Erkenntnisse haben den Beginn menschlichen Lebens in einen extern manipulierbaren Zellhaufen verlegt, sodass eine nicht-willkürlich erscheinende Grenze, an die das moralische Konzept der Menschenrechtssubjekte zu heften wäre, gar nicht mehr gezogen werden kann. Der Einigungszwang des moralischen Diskurses droht mangels klarer Kriterien und angesichts knapper Zeit ins Leere zu laufen; damit wächst der Druck, das Konsens-(Diskurs-)Modell durch das interessen- und machtbasierte Kompromiss-Modell abzulösen, identitätsbildende moralische Reflexion durch instrumentelles Denken zu ersetzen, moralische Fragen in technologische und ökonomische Fragen zu überführen.
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Rosa (2005: 133) definiert die „Beschleunigung des sozialen Wandels“ als „Steigerung der Verfallsraten von handlungsorientierenden Erfahrungen und Erwartungen und als Verkürzung der für die jeweiligen Funktions-, Wert- und Handlungssphären als Gegenwart zu bestimmenden Zeiträume“.
b) Die Geschwindigkeit, mit der nicht nur "alte" Normen, sondern auch alte Wissensbestände und Technologien obsolet werden, nimmt zu. An der Produktion und Rezeption neuen Wissens sowie dem (kompetenten) Gebrauch neuer Technologien im Alltag sind nicht nur die sozialen Schichten, sondern auch die Generationen in jeweils unterschiedlichem Maße beteiligt. Die damit einhergehende Einebnung oder Umkehrung von Kompetenzunterschieden stellt die in der Primärsozialisation benötigte Autoritätsdifferenz zwischen Eltern und Kindern, Lehrern und Schülern in Frage. Die Chancen für erfolgreiche Sozialisationsprozesse (in denen Normen gelernt und internalisiert, aber auch schrittweise reflexiv verfügbar werden) sind an die ausgewogene Kombination zweier Modelle der Normenvermittlung gebunden: das Autoritätsmodell und das Dialogmodell – Lernen einerseits durch Instruktion und Identifikation (verbunden mit emotionaler Zuwendung), andererseits durch Diskussion und Kooperation unter Gleichrangigen. Das erste Modell ist primär an die Eltern- (oder Lehrer-)Rolle, das zweite an die Rolle des Peers (unter Gleichaltrigen) gebunden. Der Gewichtsverlust der Elternrolle, der mit beschleunigtem Wandel einhergeht, wird durch den spezifischen Einfluss der elektronischen Kommunikationsmedien (Fernsehen, Internet) zusätzlich befördert (s. unten Kap. 7). Nicht wenige Beobachter konstatieren eine zunehmende symbolische Entdifferenzierung im Ausdrucksverhalten (z. B. Sprachgestus, Kleidung, Freizeitgestaltung, Konsumstil) von Jugendlichen und Erwachsenen. Münchmeyer (1998) spricht von einer "Entstrukturierung der Jugendphase", die in den 1960er Jahren begonnen und tendenziell – mit erheblichen psychosozialen Kosten – die "Trennung der Wirklichkeitsbereiche" von Jugendlichen und Erwachsenen aufgehoben habe (s. auch Hurrelmann 2003). c) Die Verknappung der Zeitressourcen, die Erhöhung des Lebenstempos, die Parallelisierung unterschiedlicher Ereignisse und Tätigkeiten, die zunehmende Kurzfristigkeit von Engagements, die geringere Verweildauer in Positionen und Organisationen26 – all dies erhöht nicht nur den psychischen Stress27 und die Anforderungen an Selbstkontrolle (siehe die Zunahme von Suchtkrankheiten), sondern mindert auch die Intensität und Verlässlichkeit sozialer Bindungen. Dazu passt eine Beobachtung von Garhammer, der in einer Längsschnittstudie über länderspezifische Muster der Zeitverwendung einen generellen Trend feststellt, Aktivitäten mit hoher Zeitbindung durch solche mit niedriger Bindung zu ersetzen (Garhammer 1999: 412 f.) – sicherlich nicht ohne entsprechende Folgen für das Maß an Sozialbindung28. Allerdings ist die empirische Befundlage hierzu noch äußerst dürftig (s. unten Kapitelabschn. 6.2.2). Dennoch ist kaum strittig, dass die wechselseitige Anerkennung des Verallgemeinerungsprinzips und die Befolgung von Reziprozitätsnormen eine gewisse Dauer kooperativer Beziehungen voraussetzen, weil nur so erwartet werden
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Rosa (2005: 199 ff.) präsentiert hierzu einige empirische Indikatoren (s. auch Borscheid 2001, 2004; Garhammer 1999), weist aber auch auf erhebliche Forschungslücken hin. Zu den weit reichenden Folgen dramatisch angestiegener Innovationsraten in der Wirtschaft s. Backhaus (1999). In einer Erhebung zum „Umgang mit der Zeit“ stellt Hewener (2004: 28 f.) fest, dass ein Drittel der Befragten Stress durch Zeitdruck aggressiv bearbeitet. Siehe den Artikel von Alex William in der New York Times: „...many are admitting that one of modern life‘s most underappreciated joys is to be dropped by others ... When work-related drinks or dinners cannot be broken, something has to give, and that something is usually time with friends“ (SZ-Beilage, 10. 7. 2006, S. 1; s. auch Hafner 2006).
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kann, dass eigene Vorleistungen irgendwann und durch irgendwen (nicht unbedingt durch den Begünstigten selbst) positiv erwidert werden (zur Logik der Reziprozitätsnorm immer noch lesenswert: Gouldner 1960). d) Unter Bedingungen von Beschleunigung und Kontingenzsteigerung erhöhen sich die Anreize für kurzfristig-eigennütziges Denken. Da die Zukunft unsicherer wird, wird sie tendenziell diskontiert; Befriedigungsaufschübe werden unplausibel29. Die "Langsicht", laut Elias (und Gottfredson/Hirschi 1990) eine wichtige Grundlage für Selbstkontrolle, schwindet. Seiner "Identität" kann man sich nur auf der Basis von Kontinuitätserfahrungen vergewissern. Die Frage, wer man ist, lässt sich nicht von der Frage abtrennen, woher man kommt und wohin man geht. Das "präsentistische" Denken verliert diese Fragen aus dem Blick; wer sie dennoch stellt, hat Mühe, eine erzählbare Lebensgeschichte zu konstruieren, die sich in die Zukunft hinein projizieren ließe. Das gilt sowohl für einzelne Personen als auch für Kollektive, freilich in Abhängigkeit von Persönlichkeitsmerkmalen und kulturellen Traditionen, die unterschiedliche Kompetenzen und Konzepte für den Umgang mit "Zeit" bereitstellen. e) "Entgrenzung" bedeutet nicht das Überschreiten oder Verschieben von Grenzen, sondern deren Verlust, das (allmähliche) Verschwinden oder Undeutlichwerden einer Markierung. Zu denken ist hier bspw. an die prekärer werdende Trennung von privatem und öffentlichem Bereich, der entscheidende Bedeutung zukommt sowohl für die funktionale Integration der Gesellschaft (die über Rollen und Programme und nicht über Personen zu bewerkstelligen ist) als auch für die persönliche Integrität. Da sind zum einen die modernen Kommunikationsmedien (Fernsehen, Boulevardpresse, Internet), die im Kontext einer Aufmerksamkeitsökonomie zum Exhibitionismus einladen oder auffordern und das Publikum dafür bereitstellen. Was in privaten Rückzugsräumen schadlos bliebe, wird allzuoft der Öffentlichkeit preisgegeben und damit schädlich. Ein unmittelbar kriminogener Effekt, der aus diesen Entgrenzungen erwächst, ist die verminderte "Präventivwirkung des Nicht-Wissens" (Popitz): Es wird leichter, Normen zu verletzen, wenn man sieht, dass andere das auch tun (s. unten, Kap. 7). Im übrigen stehen moderne Durchleuchtungs- und Überwachungstechnologien nicht nur staatlichen Kontrollorganen, sondern auch Firmen und anderen Nutzergruppen zur Verfügung (inzwischen vermutlich in noch größerem Umfang). Kunden geben z. B. im Internet routinemäßig (freiwillig, häufig auch unbewusst) mehr von sich preis als in persönlichen Gesprächen am Ladentisch. Elektronische Programme erstellen Kundenprofile über individuelle Kaufgewohnheiten, die nicht nur von der Werbewirtschaft, sondern auch bei Stellenbewerbungen, Vermietungen und Kreditvergaben genutzt werden. Darüber hinaus senkt die medial vermittelte Kommunikation Hemmschwellen, die in der direkten Kommunikation von Angesicht zu Angesicht (in der körperlichen Kopräsenz der Interaktionspartner) bisher wirksam waren30. Das Handy, in vielen Situationen gewiss sehr
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Hierzu und zu weiteren Entgrenzungsprozessen, die sich aus Besonderheiten der Konsumsozialisation ergeben, siehe Lüdtke (1997: 379 ff.). Zum kriminogenen Potential einer „Diskontierung“ der Zukunft s. Daly/Wilson (2002: 719 ff.). Zur Bedeutung der „Kopräsenz“ als soziologischer Kategorie s. Collins (1988: 187 ff.).
nützlich, entwickelt sich nebenbei zu einem jedermann zugänglichen Kontroll- und Belästigungsinstrument, mit dem jeder Moment des privaten Rückzugs und der vertrautpersönlichen Begegnung gestört oder rechenschaftspflichtig gemacht werden kann. Eine zweite Schiene der Grenzaufhebungen (die ebenfalls von den Massenmedien und der modernen Kommunikationstechnologie – oft im Verein mit der Werbeindustrie – vorangetrieben wird) lässt sich als breit angelegter Prozess der Entdifferenzierung symbolisch konstituierter Sinnwelten beschreiben, die damit viel von ihren Orientierungsfunktionen verlieren – bspw. die Vermengung von Heiligem und Profanem, von Alltäglichem und Außeralltäglichem, von Rechtem und Unrechtem, von Realität und Virtualität. Schließlich (drittens) heben die moderne Biotechnologie und Neurophysiologie die Grenzen des Zugangs zur inneren Natur des Menschen auf; der Kern an Unantastbarkeit, der im Begriff der Würde (und moralischen Verantwortlichkeit) vorausgesetzt wird, ist dadurch gefährdet. Moral aber setzt nicht nur selber Grenzen, sondern beruht auch auf allgemein anerkannten Grenzen, insbesondere auf der Unterscheidung zwischen dem, was durch Natur oder göttliche Fügung (Schicksal, Zufall) gegeben ist, und dem, was der Mensch aus freien Stücken wählen kann und zu verantworten hat31. Die gentechnischen Möglichkeiten und neurophysiologischen Erkenntnisse lassen die Grenze zwischen Schicksal und Verantwortung, physiologischer Zwangshandlung und freier Willensentscheidung verschwimmen. Das instrumentalistische Denken erhält einen kräftigen Schub schon bevor die entsprechenden Technologien in breitem Umfang anwendbar sind (vgl. oben, Ziff. 1). 1.3
Zur Vermittlung von Makro- und Mikroebene
Kriminalitätsraten sind Kollektivmerkmale; sie kennzeichnen bestimmte Gruppen oder Bevölkerungen, nicht einzelne Personen. Wenn Kollektivmerkmale über verschiedene Gruppen bzw. Länder ("im Querschnitt") oder im Zeitverlauf ("im Längsschnitt") variieren, kann diese Variation nur mit Hilfe anderer Kollektivmerkmale erklärt werden, die ebenfalls im Querschnitt oder/und über Zeit variieren (mit den Kriminalitätsraten kovariieren). Wir haben in den vorangegangenen Abschnitten gesellschaftliche Strukturmerkmale genannt, von denen wir annehmen, dass sie zu einer solchen Erklärung beitragen. Gemäß einer gebräuchlichen Terminologie sind diese Variablen der gesellschaftlichen "Makro-Ebene" zugeordnet. Nun sind Raten oder Anteilswerte aber nichts anderes als das Aggregat individueller Handlungen, in unserem Falle die (gewichtete) Summe einzelner Gewaltakte, die von Personen begangen wurden und somit auf der "Mikro-Ebene" zu verorten sind. Eine vollständige Erklärung müsste also auch angeben, wie die Strukturvariablen der Makro-Ebene das durchschnittliche (also das modale, nicht das idiosynkratische) Verhalten auf der Mikro-Ebene beeinflussen; sie müsste diesen mehrstufigen (üblicherweise der "Meso-Ebene" zugeordneten) Vermittlungsprozess in seinen typischen Ablaufmustern
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Siehe Charles Taylors These, „starke Wertungen“ vornehmen zu können, setze die Annahme voraus, etwas sei unserem menschlichen Zugriff entzogen (Taylor 1989; vgl. Joas 1999: 165 ff.).
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aufdecken. Die verschiedenen, mit zahlreichen Etiketten belegten "Ansätze" der Kriminalsoziologie (s. Lamnek 1993; 1994 oder den kurzgefassten Überblick in Albrecht 2002) haben eine Vielzahl solcher Einflussgrößen spezifiziert, die im Zusammenspiel von "Situation" und "Disposition" wirksam werden. 1.3.1
Gelegenheitsstrukturen, Unterstützung und Kontrolle im sozialen Nahbereich
Viele dieser intermediären Einflussfaktoren lassen sich grob in zwei Gruppen einteilen. Sie charakterisieren (a) materielle Gelegenheits- und Anreizstrukturen oder (b) die Einbettung (Integration/Desintegration) der Individuen, in die vielfach gegliederten und geschichteten Kontexte ihres sozialen Nahbereichs: Familien, Schulen, Arbeitsstätten, Nachbarschaften, Vereine oder andere Formen zivilgesellschaftlicher Assoziationen und sozialer Netzwerke. Die Gelegenheitsstrukturen werden im "Routine-Activity-Approach" als Wahrscheinlichkeit interpretiert, mit der potentielle (motivierte) Täter und "passende" Ziele (Objekte und Personen, potentielle Opfer) in Abwesenheit potenter "Wächter" zusammentreffen (Cohen/Felson 1979; Felson 1994). Diese Wahrscheinlichkeiten verändern sich z. B. mit dem Wandel städtischer Siedlungsformen, der Trennung von Haushalt und Erwerbsarbeit, der Präsenzdichte polizeilicher oder anderer Kontrollinstanzen, in jüngerer Zeit auch durch technologische Fortschritte (vor allem in der elektronischen Kommunikation und Waffentechnik), die das "Zusammentreffen" von potentiellen Tätern und Opfern über wachsende zeitliche und räumliche Distanzen hinweg ermöglichen. Anreizstrukturen, die relativen Kosten und Erträge kriminellen Handelns, werden vor allem von der ökonomischen Kriminaltheorie betont (s. Becker 1968; Fajnzylber et al. 2000). Die Kosten verändern sich z. B. mit der Effektivität (oder Erosion) des staatlichen Gewaltmonopols (Erfassungswahrscheinlichkeit und Strafmaß); aber auch mit der sozio-ökonomischen Lage: je geringer die verfügbaren ökonomischen Ressourcen, umso geringer die Opportunitätskosten (einschließlich der moralischen Kosten) für kriminelle Handlungen. Die Bedeutung sozialer Unterstützung und persönlicher Anerkennung einerseits sowie der informellen sozialen Kontrolle andererseits betonen z. B. der "Bielefelder Desintegrationsansatz" (s. Anhut/Heitmeyer 2005) und – in einer weit zurückreichenden soziologischen Tradition – die Theorie sozialer Desorganisation (s. Sampson/Groves 1989; Osgood/Anderson 2004). Interessante Weiterentwicklungen dieser Theorie bieten die Konzepte des "legal cynicism" (Sampson/Bartusch 1997) und der "social efficacy" (Sampson et al. 1999). Der erste Begriff bezieht sich auf Prozesse der Delegitimierung gesetzlicher Regelungen, die aus der Erfahrung sozialer (rassistischer) Diskriminierung erwachsen. Das zweite Konstrukt bietet eine kriminalsoziologische Interpretation bzw. Ergänzung des "Sozialkapital"-Begriffs (s. Coleman 1988; 1990), indem es den sozialen Zusammenhalt im nachbarschaftlichen Kontext als Basis eines gemeinschaftlichfürsorglichen Kontrollengagements (insbesondere gegenüber Jugendlichen) konzipiert. Sowohl Integrations-/Desintegrationspotentiale als auch soziales Engagement und Kontrolle werden in Abhängigkeit von ökonomischen Deprivationslagen, sozialer Ungleichheit, ethnischer Diskriminierung und räumlicher Segregation gesehen (eine methodologisch anspruchsvolle deutsche Studie, die diesem Problemkomplex gewidmet ist, bietet Oberwittler 2004). Die Verbindungen zum Konzept des kooperativen versus desintegrativen Individualismus sind offensichtlich und werden in Kap. 6 weiter verdeutlicht.
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1.3.2
Selbstkontrolle und Handlungskompetenz
Die beiden bisher angesprochenen Variablengruppen beinhalten Merkmale, mit denen sich soziale Kontexte und in sie eingebettete (typische) Handlungssituationen charakterisieren lassen. Sie liefern Ressourcen und Restriktionen für sozialisatorische Prozesse der Persönlichkeits- und Identitätsbildung sowie Optionen und Einschränkungen für individuelles und kollektives Erleben und Handeln. Solche Konstellationen sind den Akteuren, die sich in ihnen bewegen, zunächst einmal vorgegeben, müssen andererseits aber auch (interaktiv) interpretiert und auf eigene Bedürfnisse, Kompetenzen und kurz- oder langfristige Zielvorgaben bezogen werden. In der kriminalsoziologischen und noch mehr in der kriminalpsychologischen Literatur (siehe z. B. Lösel/Bliesener 2003) findet man vielfältige Versuche, Persönlichkeitsmerkmale, Orientierungsmuster und Handlungsdispositionen zu identifizieren, die unabhängig von oder in Wechselwirkung mit situativen und strukturellen Faktoren die Wahrscheinlichkeit für abweichendes Verhalten bis hin zu kriminellen Karrieren erklären sollen. Es wäre aussichtslos, hierzu auch nur einen groben Überblick liefern zu wollen. Wir heben nur das Konzept der Selbstkontrolle oder Selbststeuerung hervor, weil es sich gut mit dem von uns gewählten strukturtheoretischen Ansatz verbinden lässt. Durkheim und Elias gingen, wie wir sahen, beide von der Hypothese aus, dass sich modale Persönlichkeitsstrukturen in enger Korrespondenz mit gesellschaftlichen Makrostrukturen wandeln. Durkheim sprach von der Dämpfung und Disziplinierung der Leidenschaften, die mit der Erosion des Kollektivismus einhergehe und von der Empathiefähigkeit, die sich im kooperativen Individualismus entfalte. Elias rekonstruierte die verschiedenen Stadien eines historischen Prozesses, in dem Fremdkontrolle zunehmend durch Selbstkontrolle (von ihm weitgehend als internalisierter Fremdzwang gedacht32) ersetzt bzw. ergänzt werde. In der Kriminalsoziologie ist die zentrale Bedeutung der Selbstkontrolle vor allem von Gottfredson/Hirschi (1990) im Rahmen einer "Allgemeinen Theorie der Kriminalität" herausgearbeitet worden. Sie konzipieren mangelnde Selbstkontrolle als Rationalitätsdefizit, als in der Persönlichkeitsstruktur verankerte generelle Unfähigkeit (oder nicht ausreichende Fähigkeit), Handlungen zu unterlassen, deren langfristige Kosten und Nachteile die kurzfristigen Befriedigungen und Erträge übersteigen – wie das typischerweise bei kriminellen Handlungen aller Art der Fall sei33. Diese Unfähigkeit wiederum interpretieren sie vor allem als Folge defizitärer Prozesse der frühkindlichen Sozialisation innerhalb der Familie. In vielen kriminalsoziologischen Studien ist die Bedeutung der Selbstkontrolle gemäß der Konzeption von Gottfredson und
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Dies schränkt die Brauchbarkeit des Konzepts zur Erklärung verminderter Gewaltneigung erheblich ein; s. hierzu Thome (2001a: 186 ff.; 2004: 322 ff.). Eine sorgfältig ausgearbeitete Begriffsexplikation und Hinweise auf neuere Messinstrumente bietet Marcus (2004). Der Ansatz von Gottfredson/Hirschi (1990) steht offenkundig in Konflikt zu den bereits erwähnten ökonomischen Ansätzen in der Kriminalsoziologie, die davon ausgehen, dass kriminelle Handlungen durchaus Erträge abwerfen können, die die Handlung selbst als „rational“ klassifizierbar machen. Zu dieser Problematik s. auch Freeman (1995). Einen Versuch, „rational-choice“ und „Selbstkontrolle“ als konkurrierende und gelegenheitsspezifisch wirksame Einflussfaktoren für abweichendes Verhalten nachzuweisen, unternehmen Seipel/Eifler (2004).
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Hirschi bei der Erklärung verschiedener Formen kriminellen Verhaltens bestätigt worden; diverse Einzelstudien und Meta-Analysen zeigen aber auch, dass weitere, von diesen Autoren ausgeblendete Aspekte und Einflussgrößen aus dem Bereich der Persönlichkeitsmerkmale und sozialer Lernprozesse heranzuziehen sind (siehe z. B. Pratt/Cullen 2000; weitere Literaturhinweise in Marcus 2004, Seipel/Eifler 2004). Komplexere Konzepte der Selbstkontrolle sind innerhalb der (Sozial-)Psychologie in verschiedenen Varianten ausgearbeitet und als zentrale Erklärungsvariable für vielerlei Verhaltensweisen herangezogen worden (siehe z. B. das Handbuch von Baumeister/Vohs 2004). Anregungen aus dieser Literatur sowie aus der soziologischen Handlungstheorie lassen es als sinnvoll erscheinen, das Konzept der Selbstkontrolle zu dem einer identitätssichernden Handlungskompetenz zu erweitern, in der Selbststeuerung sowie nach außen gerichtete Kontroll- und Einflussmöglichkeiten miteinander verzahnt sind. Auf diese Weise lässt sich auch die Engführung in Elias‘ Konzept der Affektkontrolle vermeiden, das einseitig auf autoritäre Disziplinierungsstrategien und heteronome Gewissensstrukturen abgestellt ist34. Überlegungen von Eisner (1997: 76 f.) aufgreifend (und leicht modifizierend), unterscheiden wir im Bereich der Selbststeuerung drei Kompetenzdimensionen: (1) eine expressive Kompetenz beinhaltet die Fähigkeit, Affekte bzw. Gefühle situationsadäquat zu kontrollieren; sie nicht prinzipiell zu unterdrücken, sondern in Übereinstimmung mit den strategischen Möglichkeiten und normativen Vorgaben, die eine Situation bietet, auszudrücken; (2) eine instrumentell-strategische Kompetenz: die Fähigkeit, eigene Handlungsziele zu definieren und sie sachlich und zeitlich sowie mit den erreichbaren Mitteln so zu koordinieren, dass sie sich nicht wechselseitig blockieren; (3) eine normativ-kommunikative Kompetenz, nämlich die Fähigkeit und die Bereitschaft, (a) das Handeln an sozialen Normen unter Berücksichtigung der Interessen anderer Personen auszurichten, auch wenn externe Anreize und eigene Affekte oder Interessen dem entgegenstehen, (b) die vorgefundenen Normen im Lichte einer universalistischen Moral bewerten zu können ("autonomes Gewissen")35. Eisner (ebd.) nennt etliche Studien, die belegen, dass alle drei Aspekte der Selbststeuerung mit dem Maß an Delinquenz und Gewalt verknüpft sind. Eine Reihe spezifischer Kompetenzen, wie Empathie-Fähigkeit und Ambiguitätstoleranz, die häufig in kriminalpsychologischen Erklärungsmodellen auftauchen, können als Korrelate oder Aspekte der Selbststeuerung interpretiert werden. Eine hohe, in den verschiedenen Subdimensionen ausbalancierte Steuerungskompetenz kann nur dann erworben und langfristig gesichert werden, wenn sie mit einem gewissen Grad an Kontroll- und Einflussmöglichkeiten gegenüber der sozialen und natürlichen Umwelt verbunden ist. Macht- und Ohnmachtserfahrungen speisen sich aus internalen und externalen Kontrollkapazitäten, die wechselseitig aufeinander bezogen sind. Ohnmachtsgefühle (insbesondere die Erfahrung von Missachtung und Demütigung) sind häufig der
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Piaget (1979 [1932]) hätte seine schon 1932 vorgetragene Kritik an Durkheims hierarchischem Modell der Moralgenese in noch schärferem Maße auf Elias richten können, wenn dessen Arbeit nicht erst Ende der 30er Jahre erschienen wäre. Zur Vereinbarkeit von universalistischer Moral und partiell-partikularen Wertsystemen siehe Joas (1999: 265 ff.; 2001a).
Ausgangspunkt für aggressives Verhalten und den Einsatz von Gewalt, die Ohnmacht in Macht verwandeln soll (s. Sutterlüty 2002; Wilkinson et al. 1998). Handlungskompetenzen und ein damit verbundenes positives Selbstwertgefühl36 werden zum einen in langfristigen Selbstbildungsprozessen als individuelles Vermögen gewonnen (mit besonderer Bedeutung der frühkindlichen Sozialisation), bedürfen andererseits aber auch der stetigen Zufuhr bzw. Zugänglichkeit verschiedener Ressourcen aus der sozialen Umwelt in Form von ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital sowie der unmittelbaren persönlichen Unterstützung und Anerkennung (s. das Konzept der Anerkennungsbilanzen in Anhut/Heitmeyer 2005). Hier stellt sich unmittelbar die Frage nach der sozialen Integration sowie der institutionellen Absicherung von Gerechtigkeitsprinzipien. Wir gehen davon aus, dass die makrostrukturellen Entwicklungstendenzen, die vom Idealtypus des kooperativen Individualismus wegführen und chronische Anomie begünstigen, die Fähigkeit zur Selbststeuerung und zur externalen Handlungskontrolle in breiten Bevölkerungsschichten mindern. In noch sehr grober (und spekulativer) Verallgemeinerung lässt sich vermuten: a)
Instrumentalismus und Kommerzialisierung schwächen die normativen Bindungen (die moralische Motivation) und die Bereitschaft (Fähigkeit) zu verständigungsorientiertem Handeln (Minderung der normativ-kommunikativen Kompetenz). b) Die auf breiter Front erfolgenden Grenzauflösungen führen zu emotionaler Verarmung sowie zur Reduktion von Einfühlungsvermögen, ästhetischer Empfindsamkeit und sprachlichem Differenzierungsvermögen, insgesamt also zu einer Reduktion expressiver Rationalität. c) Die Beschleunigungsprozesse begünstigen die Diskontierung einer Zukunft, die ungewisser und weniger planbar wird. Es bestehen zwar weiterhin die von Elias hervorgehobenen ausgedehnten Interdependenzketten, aber sie lassen sich von den Akteuren weniger durchschauen und kontrollieren; die strategisch-planerische Rationalität schwindet (s. Lüdtke 1997).
Es ist davon auszugehen, dass der Produktionsmodus der Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft einerseits wachsende Anforderungen an die Handlungskompetenz der Individuen stellt, andererseits aber die strukturellen Voraussetzungen für den Erwerb eben dieser Kompetenz einschränkt bzw. die dafür benötigten Ressourcen zunehmend ungleich verteilt (s. Eisner 1997: 78 f., 272 ff.; Keupp 2005)37. Wenn diese Hypothese zutrifft (wofür wir in Kap. 6 und 7 einige Indizien zusammentragen), lassen die bereits vorliegenden For-
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Den komplexen (nicht-linearen) Zusammenhang zwischen Handlungskompetenz und Selbstwertgefühl einerseits sowie zwischen Selbstwertgefühl und Delinquenz andererseits können wir hier nicht erörtern (s. Baumeister et al. 1996; Jang/Thornberry 1998). Siehe schon die klassische Untersuchung von Daniel Bell (1976) über die "kulturellen Widersprüche des Kapitalismus", insbesondere den Widerspruch zwischen der disziplinierenden Rolle des Produzenten und der enthemmenden Rolle des Konsumenten.
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schungsbefunde zum Zusammenhang von Selbstkontrolle und Delinquenz erwarten, dass die Kriminalitätsbelastung spätmoderner Gesellschaften weiterhin ansteigen wird. 1.4
Zusammenfassung
Seit Beginn der Neuzeit vor etwa 500 Jahren bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts sind in europäischen Kernregionen die Homizidraten in einer vielfach unterbrochenen, letztlich aber immer wieder aufgenommenen Trendbewegung von durchschnittlich 28 auf 0,8 Tötungen jährlich pro 100.000 Einwohner zurückgegangen (s. Eisner 2002). Seitdem ist die Gewaltkriminalität (und nur von ihr, nicht von anderen Erscheinungsformen der Gewalt ist hier die Rede) in fast allen "westlichen" Ländern relativ kontinuierlich angestiegen. (Für Deutschland, England/Wales und Schweden wird das in Kap. 3 ausführlich dokumentiert.) Wer den Anstieg krimineller Gewalt in den letzten fünf Jahrzehnten erklären will, sollte den über Jahrhunderte hinweg rückläufigen Trend der Homizidraten im Blick behalten; das Erklärungsmodell muss die U-förmige Verlaufsform insgesamt erfassen. Säkulare Trendverläufe, die trotz aller regional bzw. national spezifischen Variationen und temporären Fluktuationen das gleiche Grundmuster aufweisen, lenken den Erklärungsversuch auf fundamentale gesellschaftliche Strukturveränderungen, die sich in dieser Zeit in den betreffenden Ländern vollzogen haben. Seit den Anfängen der Soziologie sind zahlreiche Versuche vorgelegt worden, diese Wandlungsprozesse zu rekonstruieren und theoretisch zu deuten. Elias‘ Zivilisationstheorie und Durkheims Sozialtheorie scheinen uns besonders günstige Ansatzpunkte für den Entwurf eines Erklärungsmodells zu liefern, weil einige ihrer Schlüsselkonzepte explizit auf die Gewaltproblematik ausgerichtet und zumindest teilweise von der späteren kriminalsoziologischen Forschung aufgenommen worden sind. Das Erklärungsschema, das wir in diesem Kapitel skizziert haben, beruht im wesentlichen auf folgenden (mehrdimensional angelegten) Konzepten: Effektivität und Legitimität des staatlichen Gewaltmonopols; Übergang von "kollektivistischen" (segmentär differenzierten) zu "individualistischen" (hoch arbeitsteiligen bzw. funktional differenzierten) Gesellschaften; Gegenüberstellung von (a) traditionalem und regressivem Kollektivismus, (b) von kooperativem versus desintegrativem Individualismus; strukturale und prozessuale Anomie; Selbstkontrolle und Handlungskompetenz. Mit Hilfe dieser Konzepte lassen sich die folgenden Leithypothesen formulieren: 1.) Der transsäkulare Rückgang interpersonaler Gewalt beruht (a) auf der Herausbildung eines staatlichen Gewaltmonopols, das im Laufe der Zeit durch gesetztes Recht domestiziert, durch demokratische Verfahren legitimiert und durch den Ausbau sozialstaatlicher Sicherungssysteme in eine Struktur institutionalisierter Gerechtigkeit eingebettet wurde, (b) auf einer Erosion kollektivistischer Gesellschaftsstrukturen, in denen die Gemeinschaft (das "Kollektiv") eine höhere Wertschätzung genoss als die Individuen. Auf der Basis dieses Strukturwandels vollzog sich (c) ein Umbau der modalen Persönlichkeitsstrukturen, in dem die Fremdkontrolle zunehmend durch Selbstkontrolle und individuelle Autonomie ersetzt wurde. 2.) Die Erosion des Kollektivismus wirkt dauerhaft pazifizierend nur in dem Maße, wie der erstarkende Individualismus dem Idealtypus des kooperativen Individualismus entspricht. 3.) Seit Mitte des vorigen Jahrhunderts werden Restbestände kollektivistischer Orientierungsmuster und Strukturen zwar weiterhin zurückgedrängt, gegenüber dem 48
kooperativen gewinnt jedoch der desintegrative Individualismus zunehmend an Gewicht. Damit verbunden ist die Generalisierung eines eigennützig-instrumentalistischen Denkens, das tendenziell die Bereitschaft zur Solidarität aus Fairness und die Motivation zu prinzipiengeleitetem moralischem Handeln untergräbt. 4.) In diesem Prozess, der durch die sich beschleunigende Internationalisierung der Politik und der Wirtschaft, insbesondere durch die damit einhergehende Wettbewerbsverschärfung Auftrieb erhält, werden die Regulierungskompetenzen und die Legitimitätsgrundlagen nationalstaatlicher Politik geschwächt. Der kausale Nexus von Effektivität und Legitimität des Gewaltmonopols beginnt zu bröckeln. 5.) Die Ökonomisierung der Gesellschaft, die damit verbundene Wettbewerbsverschärfung und die durch die elektronischen Kommunikationsmedien zusätzlich geförderten Beschleunigungs- und Entgrenzungsprozesse führen außerdem zu einer "chronischen" Anomie, die ihrerseits gewaltaffine Formen eines regressiven Kollektivismus begünstigt. Regressiver Kollektivismus und desintegrativer Individualismus treffen sich in dem prinzipiellen Vorrang, den sie partikularen Interessen gegenüber der Geltung universalistischer Prinzipien einräumen. 6.) Das strukturell ermöglichte (durchschnittliche) Niveau an Selbstkontrolle scheint zunehmend hinter dem funktional erforderlichen Niveau an Selbstkontrolle und Handlungskompetenz zurückzubleiben. Es ist offenkundig, dass diese Hypothesen nicht allesamt im direkten Zugriff "operationalisiert" und empirisch überprüft werden können. Sie liefern aber ein heuristisches Schema, mit dem sich ein breites Spektrum von Fragestellungen und empirischen Materialien so organisieren lässt, dass im Wechselspiel von Datenanalyse und theoretischer Reflexion ein kumulativer Forschungsprozess entsteht, in dem die Hypothesen schrittweise spezifiziert und überprüft werden können. Dazu unternehmen wir in diesem Buch erste Anläufe – in der Absicht, kriminalsoziologische Forschung (wieder) stärker in einer historisch orientierten Gesellschaftstheorie zu verankern. Einige der methodologischen Probleme, die dabei zu beachten sind, werden in Kapitel 2 erörtert.
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2
Methodologische Probleme
2.1
Datenquellen zur Kriminalitätsentwicklung
2.1.1
Validität, Reliabilität und Vergleichbarkeit der Kriminalstatistiken
2.1.1.1 Die Problemstellung Darstellung und Vergleich der Gewaltkriminalität in den drei untersuchten Ländern im vorliegenden Text stützen sich aus Gründen der Verfügbarkeit überwiegend auf offizielle polizeiliche Kriminalstatistiken (PKS). Dabei beziehen wir uns nahezu ausschließlich auf Entwicklungen im Zeitverlauf, da querschnittliche Differenzen aus verschiedenen Gründen nur sehr eingeschränkt inhaltlich zu interpretieren sind. Sie sind nicht nur durch Unterschiede in der juristischen Definition von Straftatbeständen und ihrer Zusammenfassung in statistischen Kategorien gegeben (hierauf gehen wir in Kap. 3 ein), sondern auch durch Differenzen im Messverfahren und seiner Fehlerstruktur. Die wesentlichen Quellen von Messfehlern in Kriminalstatistiken (neben Änderungen in der Deliktdefinition und den statistischen Kategorien) sind: a)
Das absolute Dunkelfeld, also der Umfang, in dem Straftaten von niemandem als solche erkannt werden. b) Das relative Dunkelfeld, also der Umstand, dass nicht alle erkannten Straftaten angezeigt werden. c) Die Vorschriften, welche der Registrierung und Zählung der angezeigten Straftaten zugrunde liegen, sowie die konkrete Registrierpraxis und das Kontrollverhalten der Polizei. Variationen einer oder mehrerer dieser Größen zwischen den Beobachtungseinheiten können zu rein artifiziellen Unterschieden in der registrierten Kriminalität führen. Im Folgenden gehen wir kurz auf die drei Problemkomplexe ein, und zwar sowohl im Hinblick auf ihre Implikationen für die Zuverlässigkeit der Kriminalstatistiken als auch bezüglich ihrer unterschiedlichen Ausprägung in den drei untersuchten Ländern38.
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50
Wir beschränken uns dabei überwiegend auf eine Diskussion der Konsequenzen für deskriptive Darstellungen. Für multivariate Analysen von Kriminalitätsraten ist es weniger entscheidend, ob Messfehler vorliegen (das ist bei den meisten Daten der Fall, die in den Sozialwissenschaften verwendet werden), sondern vielmehr, ob sie systematischer Natur sind, also mit interessierenden Einflussgrößen korrelieren. Da wir hier keine derartigen Analysen vorlegen, sehen wir von einer Erörterung dieses Aspektes ab; vgl. dazu aber Birkel (2003).
2.1.1.2 Das absolute Dunkelfeld Es liegt in der Natur der Sache, dass über das absolute Dunkelfeld wenig bekannt ist. Im Falle von Tötungsdelikten liegen jedoch Informationen zu einigen Faktoren vor, welche die Entdeckungswahrscheinlichkeit beeinflussen39. Hierzu gehören insbesondere die Häufigkeit, mit der Obduktionen (durch die Fehler bei der Leichenschau korrigiert werden können) durchgeführt werden, und der Prozentsatz der Todesfälle, in dem weitere Ermittlungen stattfinden. In allen drei Ländern findet eine äußere Leichenschau durch einen Arzt statt, der eine Todesbescheinigung ausstellt, die Angaben zur Todesursache enthält (Birkel 2003; Knight 1992; Socialstyrelsen 2002). Der Anteil der Fälle, in denen dann wegen unklarer Todesursache weitere Ermittlungen stattfinden, unterscheidet sich aber erheblich zwischen Deutschland und England (für Schweden liegen uns keine entsprechenden Informationen vor): in Deutschland sind es etwa 10 Prozent, in England 22 Prozent (Brinkmann et al. 1997: 2f.; Office for National Statistics 2001: xx). Erhebliche Unterschiede gibt es auch im Anteil der Todesfälle, bei denen im Rahmen dieser Untersuchungen oder aus anderen (z. B. wissenschaftlichen) Gründen eine Obduktion stattfindet und eine bislang unbemerkte Straftat mit hoher Wahrscheinlichkeit entdeckt wird: in den 80er Jahren waren es nach einer Erhebung der WHO in Deutschland 8 Prozent aller Todesfälle, in England und Wales 26 Prozent, in Schweden 37 Prozent (World Health Organization 1995: xv). Diese Informationen legen nahe, dass das absolute Dunkelfeld bei Tötungsdelikten in Deutschland größer ist als in den beiden anderen Ländern. 2.1.1.3 Das relative Dunkelfeld In offizielle Kriminalstatistiken gehen nur Delikte ein, die auch angezeigt wurden. Aufschluss über das Verhältnis von angezeigten und nichtangezeigten Delikten sowie das Anzeigeverhalten geben Opferbefragungen; sie lassen Folgendes erkennen (für Überblicke s. Heinz 1993; Köllisch 2004: 7-53): Etwa 40-50 Prozent aller Delikte werden angezeigt. Das Verhältnis angezeigter zu nicht-angezeigten vorsätzlichen Körperverletzungen beträgt in Deutschland allerdings etwa 1:5; Körperverletzungsdelikte werden also seltener angezeigt als Eigentumsdelikte (Schwind 2001: 380f.), einschließlich solcher mit Gewaltanwendung, d.h. Raub (international gibt es hier aber Variationen, vgl. Tabelle 1). Bei Sexualdelikten variieren die ermittelten Anzeigequoten erheblich – zwischen 15 Prozent und 60 Prozent (Bundesministerium des Innern und Bundesministerium der Justiz 2001: 71f. und Tabelle 1). Unter den Korrelaten der Anzeigebereitschaft sind zunächst Merkmale der Tat und ihrer Umstände zu nennen: Die Bereitschaft zur Anzeige wird vor allem von der subjektiv wahrgenommenen und der objektiven Schwere der Viktimisierung bestimmt (Schwind
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Tötungsdelikte bleiben in nicht unerheblichem Maße unentdeckt: nach Hochrechnungen auf Basis von Statistiken zu zunächst übersehenen und dann zufällig doch noch als solche identifizierten Tötungsdelikten kann davon ausgegangen werden, dass z. B. in Deutschland ca. die Hälfte der Gewaltdelikte mit tödlichem Ausgang unentdeckt bleibt (Brinkmann et al.1997).
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2001: 379f.; Schwind et al. 2001: 189; Skogan 1984: 121). Dabei spielt es eine Rolle, ob eine Anzeige die Aussicht auf Kompensation, insbesondere die Erlangung einer Versicherungssumme, die Wiederbeschaffung gestohlenen Guts oder eine andere Form des Schadensersatzes eröffnet. Des weiteren ist der Ort der Tat von Bedeutung: die Anzeigebereitschaft ist höher, wenn eine Viktimisierung in der eigenen Wohnung erlitten wurde (Köllisch 2004: 13). Außerdem scheinen Gewaltdelikte, die sich in Gebäuden von Behörden oder Unternehmen ereignen, überwiegend informell geregelt zu werden, da die Vertreter dieser Institutionen eine geringe Neigung zur Anzeige haben (im Falle der Schulen könnte sich das aber geändert haben, s.u.) (Köllisch 2004: 8). Die Anzeigebereitschaft variiert mit soziodemographischen Merkmalen der Opfer: Jugendliche und ältere Personen zeigen seltener an als Personen mittleren Alters; im Falle der Jugendlichen liegt das – zumindest bei Vermögensdelikten – im wesentlichen daran, dass sie in geringerem Maße gegen Diebstahl versichert sind, eine höhere Neigung zu informeller Regelung besitzen und es im Vergleich zu anderen Altersgruppen als schwerer einschätzen, eine Anzeige zu erstatten (Schwind et al. 2001: 196f.). Die Anzeigebereitschaft steigt zudem möglicherweise geringfügig mit der Schichtzugehörigkeit, um dann wieder abzufallen. Frauen zeigen Gewaltdelikte häufiger an als Männer (Skogan 1984: 124). Personen, die berichten, selbst delinquent zu sein, zeigen seltener an, sind aber häufiger Opfer von z. B. Gewaltdelikten (ebd., S. 123f.). Insgesamt ist der Einfluss soziodemographischer Merkmale auf das Anzeigeverhalten im Vergleich zu dem der Deliktschwere aber gering. Auch die Beziehung zwischen Täter und Opfer wirkt sich auf das Anzeigeverhalten aus: Die Befunde sind hier nicht ganz eindeutig40, zeigen aber überwiegend, dass die Anzeigebereitschaft mit zunehmendem Bekanntheitsgrad zwischen Täter und Opfer abnimmt (Köllisch 2004: 30f., 187). Zudem scheint die Anzeigebereitschaft in gegengeschlechtlichen Opfer-Täter-Konstellationen (insbesondere bei männlichem Täter und weiblichem Opfer) höher als in gleichgeschlechtlichen Konstellationen zu sein (ebd., S. 33). Merkmale des Täters haben allenfalls einen geringen Einfluss auf das Anzeigeverhalten: Ob eher jüngere Personen und solche von geringerem sozialen Status sowie eher Männer angezeigt werden, wie Hanak vermutet, ist unklar (Hanak/Stehr/Steinert 1989: 188; Rosellen 1980: 94; Schwind et al. 2001: 199). Seltener als Personen mittleren Alters werden offenbar Kinder und ältere Menschen angezeigt (Schwind et al. 2001: 163). Ob die Anzeigebereitschaft gegenüber fremdethnischen Tätern größer ist als gegenüber Tätern mit dem gleichen ethnischen Hintergrund, ist strittig (Mansel /Suchanek/Albrecht 2001; Killias 1988; Schwind et al. 2001: 163, 200f.); allerdings ist bei Gewaltdelikten zumindest in Deutschland bei Jugendlichen die Anzeigebereitschaft höher, wenn Täter und Opfer unter-
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52
Felson et al. (2002) berichten, dass die Anzeigebereitschaft gegenüber dem Partner oder anderen Familienmitgliedern bei Tätlichkeiten laut National Crime Victim Survey derjenigen gegenüber fremden Tätern entspricht, während andere bekannte Täter seltener angezeigt werden. Schwind et al. (2001: 166) verweisen dagegen auf eine Studie, in der die Anzeigebereitschaft bei flüchtig bekannten Tätern am höchsten war, gefolgt von unbekannten und persönlich bekannten Angreifern, finden in ihrer eigenen Untersuchung aber keinen Einfluss des Bekanntheitsgrades zwischen Täter und Opfer (ebd., S. 195).
schiedlichen ethnischen Gruppen angehören (Pfeiffer/Wetzels 1999: 4f.; Bundesministerium des Innern und Bundesministerium der Justiz 2001: 71f.; Köllisch 2004: 200). Möglicherweise sind auch sozialökologische Faktoren von Bedeutung. Baumer findet für die USA beispielsweise bei leichten Körperverletzungsdelikten eine kurvenförmige Beziehung zwischen der sozioökonomischen Situation in Stadtteilen und der Anzeigebereitschaft ihrer Bewohner in dem Sinne, dass Bewohner privilegierter und besonders benachteiligter Viertel eine deutlich niedrigere Anzeigebereitschaft haben als Personen, die in Vierteln leben, die eine mittlere Position bei der sozioökonomischen Lage einnehmen (Baumer 2002), bei schwerer Körperverletzung und Raub findet sich dieser Effekt jedoch nicht. Des Weiteren haben möglicherweise die ethnische Heterogenität von und der Sozialkapitalstock in Stadtvierteln einen jeweils positiven Einfluss auf die Anzeigebereitschaft. Die Kriminalitätsbelastung von Stadtteilen und eine hohe Bereitschaft ihrer Bewohner, bei Delikten selbst einzuschreiten (die wiederum hoch mit dem Sozialkapital korreliert), mindern dagegen die Anzeigeneigung (Köllisch 2004: 36-40, 301-305; Karstedt/Hope/Farrall 2004). Die Polizeistärke wirkt sich nach Befunden aus den USA auf das Anzeigeverhalten aus: je besser die personelle Ausstattung der Polizei, desto höher der Anteil der Delikte, die angezeigt werden (Levitt 1998). Dies könnte daran liegen, dass eine größere Polizeidichte die wahrgenommenen Aufklärungschancen erhöht oder ein einfacherer Zugang zur Polizei die Anzeigenerstattung erleichtert. Nur wenig ist über den Einfluss dritter Personen auf das Anzeigeverhalten von Opfern bekannt; er ist aber, wie vereinzelte empirische Hinweise vermuten lassen, unter Umständen bedeutsam. Gleiches gilt für das Anzeigeverhalten von Personen, die Zeuge einer Straftat werden (Greenberg/Ruback 1992: 37-64; Hanak 1984: 177; Baumer 2002: 598602; Wikström 1985: 37, 45f.). Schließlich wurden noch einige Anzeigemotive ermittelt, die sich den genannten Kategorien nicht zuordnen lassen: Zu nennen ist hier zunächst die subjektive Einschätzung der Erfolgsaussichten polizeilicher Ermittlungen. Vor allem bei Gewaltdelikten spielt häufig ein Bedürfnis nach Bestrafung der Täter eine Rolle; auch präventive Überlegungen sind von Bedeutung. Ein weiterer Faktor scheint zu sein, ob die Anzeige als "Bürgerpflicht" betrachtet wird (Skogan 1984: 121; Kürzinger 1978: 152). Schließlich ist das Maß der Präferenz für informelle Regelungen bedeutsam, vor allem bei Gewaltdelikten; hier wird häufig, insbesondere bei Taten im sozialen Nahraum, angegeben, es handele sich um eine Privatsache; daneben spielt in solchen Fällen aber auch Angst vor Rache des Täters eine Rolle. Einstellungen und Verhältnis zur Polizei sind dagegen beim Anzeigeverhalten anscheinend ohne Bedeutung (Skogan 1984: 122f.). Es ist also davon auszugehen, dass ein erheblicher Teil der wahrgenommenen Verbrechen nicht angezeigt wird, und zwar auch im Bereich der Gewaltkriminalität. Außerdem stellen die angezeigten Delikte eine verzerrte Teilgruppe aller Straftaten dar, insofern es sich eher um schwere Delikte handelt und umsolche, die in spezifischen sozialen Kontexten (flüchtige Beziehungen) und von bestimmten Tätern (junge Männer von niedrigem sozialen Status) gegenüber bestimmten Opfern (Frauen mittleren Alters) verübt wurden. Veränderungen alleine in den Beziehungsmustern oder der strukturellen Zusammensetzung der Bevölkerung oder der Straftaten sowie der personellen Ausstattung der Polizei können theoretisch bei gleich bleibender tatsächlicher Inzidenz von Straftaten zu Veränderungen bei der angezeigten und registrierten Kriminalität führen. Bei all dem gilt aber, dass es keineswegs sicher ist, ob Opferbefragungen ein korrektes Bild des Anzeigeverhaltens und
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insbesondere seiner Veränderungen zeichnen (zu den Problemen vgl. Birkel 2003: 32-36; zu Opferbefragungen allgemein s. auch unten). Dennoch wird des öfteren vermutet, dass die Anzeigebereitschaft bei Gewaltdelikten aufgrund größerer Sensibilität im Steigen begriffen ist (Heinz 1993: 32; Mansel/ Hurrelmann 1998: 82) – diese Annahme bleibt jedoch in Bezug auf Deutschland spekulativ, da es schon an Studien auf Bundesebene fehlt, die eine Untersuchung des Anzeigeverhaltens erlauben würden, und erst recht an längsschnittlichen nationalen Befragungen, sodass unklar ist, wie sich das Anzeigeverhalten empirisch entwickelt hat (Bundesministerium des Innern und Bundesministerium der Justiz 2001: 69f., 73). Freilich gibt es einige Indizien, welche die genannte Hypothese unterstützen: Das Verhältnis angezeigter zu nichtangezeigten Delikten (die Dunkelzifferrelation) nahm bei Körperverletzungen in Bochum im Zeitverlauf zu (in der ersten Bochumer Befragung 1975 1:7, in der dritten Befragung 1998 1:3, vgl. Schwind et al. 2001: 140; Schwind 2001: 39). Dieser Befund kann aber schon aufgrund der regionalen Unterschiede im Anzeigeverhalten im Sinne eines Nord-Süd- und West-Ost-Gefälles (Bundesministerium des Innern und Bundesministerium der Justiz 2001: 72) kaum verallgemeinert werden. Stärkere Hinweise gibt es darauf, dass die Anzeigebereitschaft gegenüber Jugendlichen in jüngerer Zeit zugenommen hat: so wurden in den 90er Jahren offenbar verstärkt geringfügige Gewaltdelikte (v.a. ausländischer) Jugendlicher angezeigt, während sich bei den schweren Delikten kaum Veränderungen zeigten (Elsner/Molnar 2001: 152-155, 172-180; Pfeiffer et al. 1999: 94-113), was auf eine gestiegene Sensibilität hinweisen würde. Zudem wird auf abnehmende Opferraten bei Gewaltdelikten in Viktimisierungsbefragungen (bei steigender registrierter Gewaltkriminalität) und eine zunehmende Anzeigewahrscheinlichkeit bei Gewalt unter Jugendlichen aufgrund einer vermuteten Zunahme interethnischer Täter-Opfer-Konstellationen verwiesen (Bundesministerium des Innern und Bundesministerium der Justiz 2001: 74). Schließlich zeigte sich in einer Wiederholungsbefragung 1973 und 1999 auf kommunaler Ebene eine Zunahme von Polizeikontakten sowie eine gestiegene Anzeigebereitschaft bei konstanter Involvierung Jugendlicher in Gewalthandlungen (sowohl auf Täter- wie auf Opferseite)41, wobei die Verallgemeinerbarkeit dieses lokalen Befundes freilich dahingestellt bleibt. Aussagekräftiger sind die Befunde der Schülerbefragungen des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen in verschiedenen Großstädten 1997-2004, welche ebenfalls auf eine steigende Anzeigebereitschaft innerhalb dieses Zeitraums hinweisen (Pfeiffer 2005a), aber keine Aussagen über längerfristige Trends in der uns interessierenden vorangehenden Periode erlauben. Selbst wenn es einen Anstieg der Anzeigebereitschaft gegeben haben sollte, ist es unwahrscheinlich, dass die im Hellfeld zu beobachtenden Anstiege ausschließlich hierauf zurückzuführen sind, da sie z. B. bei den Jugendlichen (denen ein erheblicher Teil des gesamten Anstiegs zuzurechnen ist) derart stark und zudem bei den Geschlechtern so unterschiedlich sind, dass entsprechend starke und divergierende Veränderungen im Anzeigeverhalten nicht mehr plausibel sind (Pfeiffer/Wetzels 1999: 5f.). Gegen eine steigende Anzeigequote spricht auch der Befund, dass seit 1992 die Krimi-
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Vgl. Köllisch/Oberwittler (2004a). Über einen längeren Zeitraum zeigen jedoch einige andere lokale Dunkelfeldstudien zunehmende Täterraten für Jugendliche bei Gewaltdelikten (Köllisch/Oberwittler 2004a: 55 m.w.N.).
nalitätsbelastung bei den jugendlichen Ausländern stark anstieg, bei den Erwachsenen dagegen zurückging, während sie bei den deutschen Erwachsenen stieg: es erscheint unplausibel, dass erwachsene Ausländer seltener, jugendliche Ausländer und erwachsene Deutsche dagegen häufiger angezeigt wurden (Pfeiffer 1997: 20). In Bezug auf Großbritannien und Schweden sind wir bezüglich der allgemeinen Anzeigebereitschaft weniger auf Spekulationen angewiesen: Ergebnisse der mit einem einheitlichen Design und gleichem Erhebungsinstrument erhobenen International Crime Victims Survey (ICVS), an der Deutschland nur im Jahr 1989 teilgenommen hat, lassen erkennen, dass es teilweise erhebliche Unterschiede zwischen den Ländern in der Anzeigebereitschaft gibt. Zudem zeigt sich, dass diese auch nicht in der Zeit stabil ist, allerdings ohne eine klare Entwicklungstendenz aufzuweisen (vgl. Tabelle 2.1)42. Ähnliches ergibt der seit 1981 durchgeführte British Crime Survey (BCS): Betrachtet man nicht nur einzelne Zeitpunkte, sondern die Entwicklung über sämtliche Erhebungen des BCS, so werden für England starke Fluktuation der Anzeigequote um ein kaum verändertes Niveau erkennbar (Kershaw et al. 2001: 48). Insofern besteht kein Grund zur Annahme, dass Veränderungen in der Anzeigebereitschaft das Bild der langfristigen Entwicklung der Gewaltkriminalität systematisch verzerren. Eine Ausnahme stellt hier erneut die Gewalt unter Jugendlichen dar, die in Schweden seit Ende der 80erJahre öffentlich stark thematisiert wurde, was offenbar einen Anstieg der Anzeigebereitschaft zur Folge hatte43.
42
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Auf die Probleme, mit denen derartige Surveys behaftet sind, gehen wir unten ein; die Ergebnisse der ICVS für Deutschland 1989 und England und Wales 1992 sind zusätzlich mit einer besonders niedrigen Stichprobenausschöpfung von 30 bzw. 38 Prozent belastet (van Kesteren/Mayhew/Nieuwbeerta 2000: 116). Eine gewisse Unsicherheit bringen auch die für Opferbefragungen geringen Stichprobengrößen mit sich. Vgl. Estrada (2001). Er berichtet z. B., dass es in den 90er Jahren an den Schulen gängige Praxis geworden ist, bei Tätlichkeiten zwischen Schülern (die auf eine Anzeige oft mit Gegenanzeige reagieren) Anzeigen – für die Vordrucke bereitliegen – an die Polizei zu faxen und auf diesem Wege bei geringstem Aufwand die Aufgabe der Streitschlichtung auf diese abzuwälzen (oft wird Anzeige gegen alle Beteiligten erstattet und es der Polizei überlassen herauszufinden, wer Täter und wer Opfer war – solche Fälle tauchen dann auch zweimal in der Statistik auf).
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Tab. 2.1: Anzeigequoten nach der ICVS (in Prozent) Delikt
Jahr
D
E&W
1989
48
59
S
Alle Delikte
Raub ("Robbery")
Tätlichkeiten und Bedrohung ("Assaults &Threats")
Sexuelle Übergriffe ("Sexual Incidents")
1992
59
59
1996
54
54
2000
53
57
1989
50
68
1992
50
81
1996
55
81
2000
59
71
1989
21
43
1992
41
29
1996
38
28
2000
41
36
1989
11
11
1992
16
20
1996
20
12
2000
14
12
Quelle: van Kesteren/Mayhew/Nieuwbeerta 2000: 194f.
2.1.1.4 Polizeiliche Registrierungspraxis und Kontrollverhalten In polizeiliche Kriminalstatistiken gehen nur diejenigen Fälle ein, bei denen die Polizei förmliche Ermittlungen durchgeführt hat, was eine Anzeige durch die Polizei oder Privatpersonen voraussetzt, wobei letzteres die Regel ist (in Deutschland 85 Prozent bis 95 Prozent der Fälle, vgl. Kunz 2001: 245). Ob der Anzeigeerstattung auch Ermittlungen folgen, hängt von den rechtlichen Grundlagen polizeilichen Handelns ab, die sich freilich unterscheiden: in Deutschland und Schweden sind die Polizeibehörden (mit wenigen Ausnahmen bei Antrags- und Privatklagedelikten) verpflichtet, jedem Hinweis auf das Vorliegen einer Straftat nachzugehen. In England und Wales hingegen gilt das Opportunitätsprinzip, d.h. die Polizei wird nach eigenem Ermessen tätig (von Hofer 2000: 81; Kühne 1999: 126f.; Reiner 1997: 1054). Dies könnte sich durchaus auf das Registrierverhalten auswirken: die Wahrscheinlichkeit, mit der eine Straftat erfasst wird, dürfte höher sein, wenn das Legalitätsprinzip gilt. Auch bei Vorliegen des Legalitätsprinzips ist die Anzeigenannahme allerdings keineswegs die Regel. Empirische Studien weisen z. B. darauf hin, dass in Deutschland die 56
Polizei generell eine niedrige (nach Kürzinger 1978: 158-160 in 30 Prozent der Fälle) Neigung besitzt, bei Delikten gegen die Person Anzeigen aufzunehmen, insbesondere bei Partnerschaftskonflikten und geringer "Respektabilität" des Anzeigeerstatters (die v.a. durch den sozialen Status bestimmt wird) (Kürzinger 1978: 158-164; Hanak/Stehr/Steinert 1989: 144ff., 155f.; Dölling 1999: 43ff.). Die Bereitschaft, eine Anzeige anzunehmen, steigt mit der Schwere des Delikts und ist höher, wenn ein finanzieller Schaden entstanden ist. Von Bedeutung ist des Weiteren, ob die Institute der Antrags- und Privatklagedelikte (zu denen in Deutschland auch die einfache Körperverletzung gehört) gegeben sind, also eine rechtliche Grundlage für die Verweigerung der Anzeigenannahme existiert. Bei Antragsdelikten findet eine Strafverfolgung nur auf Antrag des Verletzten statt. Bei Privatklagedelikten kann in Deutschland der Geschädigte bei fehlendem öffentlichem Interesse von der Staatsanwaltschaft auf den Privatklageweg verwiesen werden; tatsächlich ist diese Kompetenz faktisch an die Polizei delegiert worden (Feest/Blankenburg 1972: 111f.). Diese nutzt ihre Ermessensspielräume bei der Bewertung von Sachverhalten häufig sozial selektiv – je nach sozialem Status (also v.a. wenn der Geschädigte Unterschichtangehöriger oder Jugendlicher ist) – für eine Herabdefinition, etwa der gefährlichen zur einfachen Körperverletzung, und damit vom Offizial- zum Privatklagedelikt (Feest/Blankenburg 1972: 111f.). Dadurch können sich die Beamten die mit der Aufnahme bzw. eigenen Erstattung einer Anzeige verbundene Arbeit ersparen und sich mit der Feststellung der Personalien und dem Verweis auf den Privatklageweg begnügen. Derartige Fälle gehen natürlich auch nicht in die Kriminalstatistik ein. Antragsdelikte sind in Deutschland dagegen in jedem Fall zu registrieren, unabhängig davon, ob ein Antrag auf Strafverfolgung gestellt wird, wie auch davon, ob dieser später zurückgezogen wird (Bundeskriminalamt 1997: 3). Auf die Bereitschaft zur Anzeigenannahme scheint sich außerdem die Personalausstattung auszuwirken: So stieg z. B. im Jahr 1980 im Landkreis Lüchow-Dannenberg die registrierte Kriminalität um 40%, als die Zahl der Polizisten um drei Viertel erhöht wurde, und zwar überwiegend im Bereich von Straftaten, denen sonst eine geringe Priorität eingeräumt wird, wie z. B. durch Kinder verübte Straftaten, Diebstahlsdelikte und Antragsdelikte (Pfeiffer 1987: 33-38). Dieser Anstieg kann nicht nur auf verstärkte proaktive Tätigkeiten und eine erhöhte Anzeigebereitschaft zurückzuführen gewesen sein, sondern verdankte sich auch einer höheren Neigung, bei marginalen Delikten eine Anzeige aufzunehmen. Bei schweren Delikten (Tötungsdelikte, Raub, schwere Körperverletzung, Vergewaltigung, schwerer Diebstahl) ergaben sich keine derartigen Anstiege, bei ihnen scheinen sich Veränderungen der Kontrolldichte (glücklicherweise) nicht oder nur in geringem Maße auszuwirken. Bei der Neigung zur Anzeigenannahme ist mit Schwankungen im Zeitverlauf (z. B. mit der allgemeinen Auslastungslage der Polizei) zu rechnen: Diese können durch Änderungen in der Polizeiorganisation, die Änderungen bei den Kontrollstrategien nach sich ziehen, bewirkt werden44. Auch veränderte Zuständigkeitsverteilungen zwischen Schutz- und Krimi-
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So weisen z. B. Busch und Werllentin darauf hin, dass die Zentralisierung der West-Berliner Polizei 1972 einen Wechsel von informellen zu formellen Kontrollstrategien (d.h.: Anzeigenaufnahme statt informeller Schlichtung von Konflikten) und damit einen Anstieg der aufgenommenen Anzeigen zur Folge hatte (Busch/Werkentin 1992: 75f.). Die Autoren vermuten, dass dies nicht auf die PKS durchgeschlagen
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nalpolizei können sich auswirken (Pfeiffer/Wetzels 1994: 38). Systematische Erkenntnisse über organisatorische Veränderungen, die für die Registrierungsquote relevant waren, liegen allerdings nicht vor. Wird eine Anzeige angenommen und ein Delikt registriert, hängt das Resultat für die Kriminalstatistik zunächst von den Vorschriften ab, nach denen sie geführt wird. Diese beeinflussen die Vergleichbarkeit von Kriminalstatistiken. Von erheblicher Bedeutung ist hier der vorgesehene Zeitpunkt der Registrierung. In Deutschland wird die polizeiliche Kriminalstatistik seit 1971 als Ausgangsstatistik geführt, die Registrierung erfolgt also bei Abschluss der Ermittlungen. In Schweden erfolgt die Erfassung dagegen zu Beginn der Ermittlungen (Eingangsstatistik), und auch in England erfolgt nach den seit 1998 geltenden Vorschriften die Registrierung unmittelbar, sofern das Opfer bestätigt, dass eine Straftat begangen wurde. Weitere Ermittlungen sind nur vorgesehen, sofern das Opfer nicht ermittelt werden kann oder es das Verbrechen nicht bestätigt (von Hofer 2000: 78; Birkel 2003: 5; Home Office 2002: 1-5). Die früher in England geltenden Regeln waren weniger detailliert, sahen aber vor, die Hinweise auf das Vorliegen einer Straftat zunächst zu prüfen und erst danach, je nach Prüfergebnis, den Fall zu registrieren. Der Umfang der Vorermittlungen variierte regional (Bottomley/Coleman 1995: 46). Eine Ausnahme stellen die Tötungsdelikte dar, bei denen die Einstufung auf dem Stand der Ermittlungen zum Zeitpunkt der Veröffentlichung beruht ("offences currently recorded as homicide"), sodass mit laufenden Korrekturen zu rechnen ist. Auf den Umstand, dass die schwedische Kriminalstatistik eine Eingangsstatistik ist, dürfte z. B. die relativ hohe Mordrate Schwedens teilweise zurückzuführen sein, da hier zahlreiche Delikte registriert werden, bei denen sich im weiteren Verlauf der Ermittlungen herausstellt, dass keine Straftat vorlag45, und die daher in Deutschland nie registriert worden wären. Bedeutsam sind schließlich Unterschiede bei den Zählregeln (vgl. Tabelle 2.2). Die wesentlichen Unterschiede betreffen die Behandlung von Serienstraftaten, von Verbrechen, durch die mehrere Personen geschädigt werden, und von Handlungen, die mehrere Gesetze verletzen. Dies alles kann sich potentiell erheblich auswirken46. Die in Schweden geltenden Regeln führen insgesamt dazu, dass hier oft mehrere Delikte gezählt werden, wenn in den anderen Ländern nur eines registriert worden wäre, was mit zu dem vergleichsweise hohen Niveau der registrierten Kriminalität in Schweden beiträgt. Beim Vergleich personenbezogener Statistiken (über Tatverdächtige oder Verurteilte) sind neben den vorgenannten weitere Gesichtspunkte zu berücksichtigen (Birkel/Thome 2004 m.w.N.). Insbesondere ist hier darauf zu achten, wie Täter bzw. Tatverdächtige gezählt werden: In Schweden werden seit 1975 und in Deutschland seit 1984 Tatverdächtige jeweils nur einmal gezählt, wenn sie
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haben dürfte, da es sich hier v.a. um Fälle handele, bei denen das Vorliegen einer Straftat verneint werde und die deshalb nicht in die PKS gelangten. 1979 war dies z. B. das Ermittlungsergebnis bei 8 von 100 aufgeklärten Fällen von vollendetem Mord, Totschlag und Körperverletzung mit Todesfolge (SCB 1980: 95). So führt nach von Hofer (2000) die schwedische Zählweise bei Serienstraftaten in Verbindung mit dem Umstand, dass – wie in den anderen Ländern auch – die Registrierung jeweils für das Jahr erfolgt, in dem die Anzeige erstattet wurde, dazu, dass z. B. die Statistik der Vergewaltigungen mehrere auffällige Spitzen in den Jahren aufweist, in denen einzelne Seriendelikte angezeigt wurden.
im Laufe eines Jahres mehrfach für Straftaten der gleichen Kategorie verdächtigt wurden ("echte Tatverdächtigenzählung"). Erst ab diesen Zeitpunkten geben die Statistiken zuverlässig Auskunft über die Zahl der als Tatverdächtige in Erscheinung getretenen Personen. Vorher wurde für jede Gelegenheit, bei der sie als Verdächtige ermittelt wurden, eine Person gezählt. Diese Zählweise kommt bei der englischen Statistik der Verurteilten und Verwarnten (die wir mangels einer entsprechenden Statistik als Äquivalent zu den Tatverdächtigenstatistiken in Deutschland und Schweden heranziehen) zur Anwendung, und zwar über die gesamte Beobachtungsperiode. In der englischen Statistik erfolgt außerdem jeweils nur eine Registrierung für das der verhängten oder (wenn für mehrere Delikte die gleiche Strafe verhängt wurde) der angedrohten Strafe nach schwerste Delikt, sofern die Verurteilung oder Verwarnung wegen mehrerer unterschiedlicher Straftaten ausgesprochen wurden. Insofern neigt diese Statistik vor allem bei leichteren Delikten zur Unterschätzung der Zahl der Tatverdächtigen47. Die Vergleichbarkeit der englischen Tatverdächtigenstatistik mit derjenigen der anderen Länder wird weiter dadurch begrenzt, dass sie überwiegend ) in einem anderen Stadium des Strafverfolgungsprozesses erhoben werden (die Statistiken werden von den Verurteiltenzahlen dominiert), was die niedrigeren Raten in England und Wales weitgehend erklären dürfte48. Ein weiterer relevanter Gesichtspunkt ist, ab welchem Alter Tatverdächtige bzw. Verwarnte oder Verurteilte erfasst werden: die deutsche Statistik erfasst Tatverdächtige jeden Alters, die schwedische und die englische Statistik nur strafmündige Personen ab 15 bzw. 10 Jahren49. Dies kann im Falle Schwedens durchaus ins Gewicht fallen, da bereits Jugendliche im Alter von 14 Jahren in bedeutsamen Maße in Kriminalität (wenn auch nur in geringem Umfang bei Tötungsdelinquenz) involviert sind. Daher wird auch die Entwicklung der Tatverdächtigenpopulation für Schweden möglicherweise unterschätzt, sofern sich die Involvierung nicht-strafmündiger Personen stärker verändert hat als die der restlichen Bevölkerung.
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Allerdings gibt es in bestimmten Fällen Ausnahmen, die in entgegengesetzte Richtung wirken: bis 1978 (bzw. 1981) wurde die betreffende Person zweimal gezählt, wenn sie sowohl wegen schwerer, nur vor dem Crown Court zu verhandelnder Delikte (so genannter „indictable offences“) und leichterer „summary offences“ verwarnt/verurteilt wurde: jeweils einmal für das schwerste „indictable“ und „summary offence“. Zu Mehrfachzählungen in der englischen Statistik kommt es schließlich, wenn ein Angeklagter bei der gleichen Gelegenheit nach vorheriger summarischer Verurteilung an einem „Magistrates Court“ zu Verhandlung und Verurteilung vor dem „Crown Court“ erscheint. Hier sind nämlich Personen nicht enthalten, die wegen Beweisschwierigkeiten nicht verurteilt wurden oder bei denen auf eine Anklageerhebung verzichtet wurde; die verstorben sind oder Selbstmord begangen haben; oder bei denen eine Verurteilung wegen eines anderen Deliktes als dem, für das ursprünglich Anklage erhoben wurde, erfolgte; und bereits dieses weicht häufig erheblich von der ursprünglichen Definition durch die Polizei ab. Bis 1970 wurden in Schweden auch Tatverdächtige ab 7 Jahre, 1971 bis 1974 Tatverdächtige ab 11 J. erfasst, allerdings waren die Angaben nicht zuverlässig (d.h.: unvollständig, vgl. SCB 1977: 32). Aufgrund dieser Untererfassung wurden von uns durchgehend die Tatverdächtigenbelastungszahlen für Personen ab 15 J. berechnet, um artifizielle Sprünge in der Statistik durch wechselnde Bezugsgrößen zu vermeiden.
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Tab. 2.2: Unterschiede bei den Zählregeln für komplexe Sachverhalte Tatumstände Serienstraftaten (gleicher Täter begeht wiederholt gleichartige Straftaten)
durch eine Handlung werden mehrere Personen geschädigt
Deutschland
England und Wales
"Continuous offence": ein Fall, wenn jeweils dasselbe Opfer50 und alle Vorfälle zusammen angezeigt werden. Bei Gewaltdelikten allerdings: "One offence for each occasion"51 . pro Straftat wird ein Fall bei Gewaltdelikten und registriert, unabhängig von Sexualverbrechen: ein Fall der Zahl der Opfer pro Opfer, sofern es bestimmte intendierte Opfer gibt; Ausnahme: Raub52 Regeln zum "Fortsetzungszusammenhang" (ein Fall, wenn immer das gleiche oder kein Opfer)
"Principal Offence Rule" (ein Fall bei dem Delikt mit der schwersten Strafandrohung)
durch eine Handlung werden mehrere Gesetze verletzt
Tateinheits-Regel (ein Fall bei dem Delikt mit der schwersten Strafandrohung)
mehrere Personen sind an einer Straftat beteiligt
pro Straftat wird ein Fall pro Straftat wird ein Fall registriert, unabhängig von registriert, unabhängig von der Zahl der Tatbeteiligten der Zahl der Tatbeteiligten (Ausnahmen bei einigen Sexualdelikten)
Schweden für jede Gelegenheit wird ein Fall gezählt
ein Fall pro Opfer (außer bei Raub53)
ein Fall für jedes Gesetz, gegen das verstoßen wird
pro Straftat wird ein Fall registriert, unabhängig von der Zahl der Tatbeteiligten (Ausnahme: Vergewaltigung)
Quelle: Bundeskriminalamt 1997; Home Office o.J.; SCB 1977.
Diese teilweise grundlegenden, im Zeitverlauf aber einigermaßen konstanten Unterschiede zwischen den täterbezogenen Statistiken legen die Beschränkung auf eine längsschnittliche Betrachtung nahe. Neben den formalen Regeln für die Registrierung von Straftaten hängt es natürlich von der konkreten Handhabung dieser Regeln ab, ob und unter welcher Deliktkategorie eine
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Genauer: „There is some special relationship, knowledge or position which exists between the offender and the person or property offended against which enables the offender to repeat the offence“ (Home Office o.J.: 7). Ebd. Eine „occasion“ erstreckt sich auf eine 24-Stunden-Periode, je nach Umständen auch einen längeren Zeitraum. Hier ist wie folgt zu zählen: ein Fall, wenn niemand verletzt wurde; sonst ein Raub und je verletzte weitere Person ein Körperverletzungsdelikt. Hier gilt: ein Fall für jeden Vorfall, unabhängig von der Zahl der Opfer oder Täter.
Straftat registriert wird. Hier kommen verschiedene Faktoren ins Spiel, über die kaum systematische Erkenntnisse vorliegen, die aber einen verzerrenden Einfluss haben könnten: a)
Eine Tendenz zur Überschätzung der Deliktschwere: Hat sich die Polizei auf eine Definition als Offizialdelikt eingelassen, neigt sie dazu, – insbesondere bei Gewalttaten wie Tötungsdelikten, Vergewaltigung und Raub – die Schwere von Delikten überzubewerten. Dies zeigt sich darin, dass Staatsanwaltschaft und Gerichte im weiteren Verlauf von Ermittlung und Verfahren die behandelten Straftatbestände häufig herabstufen und es schließlich nur in einer vergleichsweise kleinen Zahl von Fällen zu Verurteilungen wegen des von der Polizei ursprünglich angenommenen Deliktes kommt (Kunz 2001: 248f.; Kreuzer 1982: 430, 491). Ausnahmen gibt es bei Tötungen von Prostituierten oder bei Beziehungstaten im sozialen Nahraum. Diese Überbewertungstendenz ist freilich nicht in der Zeit konstant: Sessar fand z. B. in seiner Untersuchung von Ermittlungsakten aus Baden-Württemberg, dass die Tendenz, Straftatbestände als versuchte Tötungsdelikte zu klassifizieren in Perioden niedriger Arbeitsbelastung höher war als in solchen mit hoher Arbeitsbelastung (Sessar 1979). Auf langfristige Variabilität weist die Beobachtung hin, dass in Deutschland über längere Zeit eine Umschichtung von den Kategorien "Körperverletzung mit Todesfolge" und "fahrlässige Tötung" (Absinken der Fallzahl) zu Mord- und Totschlag (Anstieg) stattgefunden hat – mit einer vorübergehenden Umkehr bei Körperverletzung mit Todesfolge in den 90er Jahren – , und dass die Zahl der Versuche bei den Tötungsdelikten besonders stark angestiegen ist (Kreuzer 1982: 430; Kerner 1986: 879-882): Beides deutet darauf hin, dass die Tendenz, ein Tötungsdelikt anzunehmen, im Zeitverlauf zugenommen hat. Zudem folgert Heinz aus der Auseinanderentwicklung von Tatverdächtigen- und Verurteiltenbelastungszahlen bei schweren Delikten, dass die Annahme naheliege "... dass sich Änderungen sowohl der Verdachtschöpfung als auch der Bewertung ergeben haben, die im weiteren Verfahrensgang durch Staatsanwaltschaft und Gericht korrigiert werden" (Heinz 1997: 291). Veränderungen bei der Einstufung von Straftaten bei der Betrachtung der langfristigen Entwicklung müssten also berücksichtigt werden, insbesondere weil hier eben auch mit systematischen Veränderungen in Zusammenhang mit der tatsächlichen Kriminalitätsentwicklung oder diese beeinflussende Variablen (wie dem Urbanisierungsgrad) zu rechnen ist. Allerdings fehlt es an den für eine Quantifizierung notwendigen Informationen hierüber. Die einfachste Möglichkeit zur Berücksichtigung von Veränderungen bei der Tatbewertung ist die Zusammenfassung von Kategorien, zwischen denen Verschiebungen anzunehmen sind (z. B. von Mord, Totschlag, Körperverletzung mit Todesfolge und fahrlässiger Tötung). b) Erfassungsfehler: Schließlich kann auch die Erfassungsprozedur selbst zu Verzerrungen in den Kriminalstatistiken führen (z. B. wenn sie systematische Fehlerquellen enthält). Ein Bündel von Faktoren, das man unter der Überschrift "Professionalisierung" zusammenfassen kann (Verbesserung der technischen Ausstattung, Einführung zentraler Einsatzleitsysteme und Datenverwaltungssysteme, klarere Richtlinien und bessere Schulung für die Datenerfassung etc.) dürfte den Anteil nicht registrierter Anzeigen und Fehlerquoten senken (Gove/Hughes/ Geerken 1985: 474). Prinzipiell können alle Veränderungen in der Organisation von Ermittlungsverfahren und Deliktregistrierung die Kriminalstatistik beeinflussen. Die empirischen Erkenntnisse beschränken sich jedoch auf allgemeine 61
c)
Hinweise zu Fehlerquellen und vereinzelte regionale Studien zu Erfassungsfehlern (vgl. Birkel/Thome 2004: 44-46 für einen Überblick über deutsche Befunde). Über deren Entwicklung im Zeitverlauf ist ebenso wenig wie über den Einfluss von Professionalisierungsprozessen bekannt. Strategisches Registrierverhalten: Nicht zuletzt ist nicht nur mit fehlerhaften, sondern auch mit strategischem Registrierverhalten zu rechnen, nachdem sich z. B. in Deutschland die Personalzuweisungen an die einzelnen Polizeidienststellen an der registrierten Kriminalität orientieren: dadurch ist ein Anreiz gegeben, Unklarheiten und Auslegungsspielräume bei den Fallerfassungsregeln in einer Weise zu nutzen, welche die Zahlen in die Höhe treibt (Rüther 2001). Allerdings ist davon auszugehen, dass derartige Tendenzen in der Registrierungspraxis nicht unbedingt konstant sind, da sich auch sinkende Zahlen auszahlen, insofern sie der öffentlichen Anerkennung und dem Prestige einer Polizeibehörde zuträglich sind.
Bei Aufklärungs- und Tatverdächtigenstatistiken kommen zu den genannten noch weitere potentielle Verzerrungsfaktoren hinzu, die Aufklärungsquoten und Zusammensetzung der ermittelten Tatverdächtigen beeinflussen (Birkel 2003: 49f. m.w.N.): Generell gilt, dass die Ermittlungsintensität nur eine geringe Auswirkung auf die Aufklärungsquote hat (nur etwa 10 Prozent aller aufgeklärten Fälle werden aufgrund polizeilicher Ermittlungen aufgeklärt). Der Aufklärungserfolg der Polizei bei den einzelnen Delikten wird zudem dadurch beeinflusst, dass sie nicht gleichmäßig, sondern selektiv in bestimmten Fällen aktiv ermittelt, wenn diese zu bestimmten Deliktgruppen gehören. Die Auswahl wird insbesondere von Gesichtspunkten der Ermittlungsökonomie und der Deliktschwere geleitet, d.h. es wird bei schweren Delikten und wenn die Aufklärungswahrscheinlichkeit als hoch eingestuft wird ermittelt. Die Aufklärungswahrscheinlichkeit wird wiederum insbesondere dann als hoch eingestuft, wenn bereits zu Beginn der Ermittlungen ein hoher Informationsstand vorhanden ist, vor allem in Form eines vom Opfer oder Zeugen namentlich benannten Tatverdächtigen. Schließlich beeinflusst die Geständnisbereitschaft der Tatverdächtigen, die bei Jugendlichen und Unterschichtangehörigen besonders hoch ist, die Aufklärungswahrscheinlichkeit. Die Bereitschaft zu Ermittlungen wie auch ihr Erfolg hängen somit also wesentlich von Merkmalen der Tat und den Informationen ab, die das Opfer oder die Zeugen beibringen können (und weniger von Sachindizien). Die Verdachtschöpfung der Polizei richtet sich zudem selektiv auf bestimmte Personengruppen, die bei gleichen Tatmerkmalen überdurchschnittlich häufig am Ende der Ermittlungen als Tatverdächtige angesehen werden: in erster Linie Jugendliche (möglicherweise vor allem aus unvollständigen Familien54), in geringem Maße
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Köllisch (2004: 255, 284) ermittelt für delinquente Jugendliche aus unvollständigen Familien unter Kontrolle relevanter Drittvariablen bei Gewaltdelikten ein deutlich erhöhtes Risiko, bei der Polizei als Täter registriert zu werden (gegenüber delinquenten Jugendlichen aus vollständigen Familien). Seine Daten erlauben allerdings nicht festzustellen, ob dies an selektivem Ermittlungsverhalten der Polizei, einer höheren Anzeigebereitschaft gegenüber Tätern aus unvollständigen Familien (z. B. weil eine informelle Regelung seltener möglich ist) oder unbeobachteten Merkmalen derartiger Jugendlicher liegt, die zu einem höheren Entdeckungsrisiko führen (etwa größere Ungeschicklichkeit bei der Tatbegehung). Unabhängig davon impliziert der Befund aber eine systematische Verzerrung des Hellfeldes ermittelter
Unterschichtangehörige. Zudem konzentriert sie ihre Aufmerksamkeit offenbar auf die Bewohner von Stadtteilen mit hohem Sozialhilfeempfängeranteil55. Der Einfluss dieser Selektivität ist aber im Vergleich zu dem des Anzeigeverhaltens, der Tatmerkmale und der Geständnisbereitschaft gering. Aufklärungsquoten sagen also wenig über die differentielle Effektivität polizeilicher Arbeit aus – was sie aber nicht als Indikator für die langfristige Effektivität des staatlichen Gewaltmonopols entwertet, da es hierfür nur darauf ankommt, dass ein nennenswerter Teil der registrierten Delikte auch aufgeklärt wird, und nicht darauf, dass dies auch den Strafverfolgungsbehörden zugerechnet werden kann. Sofern die Zusammensetzung der Täterpopulationen für die einzelnen Delikte unterschiedlich ist, sagen über alle Kategorien aggregierte tatverdächtigenbezogene Daten zudem wenig über die wahre Tatverdächtigenpopulation aus, insofern sie überproportional von den Merkmalen der Täter der leicht aufklärbaren Verbrechen bestimmt werden. Und auch für einzelne Delikte ist es fraglich, ob die ermittelten Tatverdächtigen eine repräsentative Stichprobe der Täterpopulation darstellen, da sie sich in relevanter Hinsicht (Alter, soziale Herkunft) systematisch von den nicht ermittelten Tätern unterscheiden, glücklicherweise aber nicht stark (vgl. unten). Ob die Selektivität des Ermittlungsverhaltens im Zeitverlauf konstant ist, zufällig oder systematisch mit anderen relevanten Variablen variiert, kann nicht beurteilt werden. Offizielle Kriminalstatistiken unterliegen insgesamt durchaus nennenswerten Messfehlern – es stellt sich die Frage, ob alternative Datenquellen existieren, die zuverlässiger sind. Wie wir im Folgenden kurz darlegen, ist dies nicht der Fall. 2.1.2
Alternative Datenquellen
2.1.2.1 Opferbefragungen Des Öfteren wird versucht, aufgrund von Befragungen repräsentativer Bevölkerungsstichproben über deren Erfahrungen als Opfer von Straftaten innerhalb eines bestimmten Referenzzeitraumes das "wahre" Kriminalitätsaufkommen durch Hochrechnungen zu rekonstruieren. Der Vorzug von Opferbefragungen liegt darin, dass alle Messfehler der offiziellen Kriminalstatistiken bis auf das Problem des absoluten Dunkelfelds entfallen; theoretisch sollte es daher möglich sein, den Gesamtumfang der wahrgenommenen Kriminalität und deren Entwicklung zu ermitteln. Opferbefragungen scheiden jedoch für die vorliegende Untersuchung als Datengrundlage aus, da mit ihnen nicht der Untersuchungszeitraum abgedeckt werden kann: Vor 1989 gab
55
Tatverdächtiger und möglicherweise auch Scheinzusammenhänge zwischen Alleinerziehendenquoten und Kriminalitätsraten auf Aggregatebene. Köllisch (2004: 302) findet unter Kontrolle relevanter Drittvariablen einen mit dem Anteil der Sozialhilfeempfänger steigenden Hellfeldanteil unter delinquenten Jugendlichen (d.h. je mehr Sozialhilfeempfänger, desto höher der Anteil der auch bei der Polizei als solche registrierten Täter). Allerdings könnte dies auch an einer höheren Anzeigebereitschaft der Bewohner solcher Viertel liegen. In diesem Fall wäre auch mit einer Verzerrung von Korrelationen zwischen Sozialhilfebezugsraten und Raten der polizeilich registrierten Kriminalität zu rechnen.
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es in Deutschland keine nationale Befragung, sondern nur einzelne regionale Studien, die wegen ihres unterschiedlichen Designs kaum zu vergleichen sind (Schwind 2001: 43f.) und die schon aufgrund der regionalen Unterschiede in Inzidenz und Struktur der Kriminalität sowie zu geringer Stichprobengrößen – die auch zu kleinen Fallzahlen bei den hier interessierenden schweren Delikten führen – keine Hochrechnungen auf Bundesebene erlauben bzw. sinnvoll erscheinen lassen. Auch bei der einzigen einen längeren Zeitraum (Ende der 70er bis Ende der 90er Jahre) umfassenden Studie (Schwind et al. 2001) handelt es sich um eine solche regionale Untersuchung. Die seither durchgeführten Surveys auf nationaler Ebene wurden meist nicht wiederholt, sodass aus ihnen auch keine Informationen bezüglich von Trends in den 90er Jahren zu gewinnen sind. Lediglich drei Wiederholungsuntersuchungen liegen vor (mit Erhebungen in den Jahren 1993 und 1995, 1995 und 1996, sowie 1995 und 1997, vgl. Birkel 2003: 63). Aus derart nahe beieinander liegenden Momentaufnahmen können keine Rückschlüsse über längerfristige Trends gezogen werden. Zwar werden in den anderen Ländern regelmäßig nationale Viktimisierungsbefragungen durchgeführt (in Schweden seit Ende der 70er Jahre, in Großbritannien seit 1981); diese decken aber nur einen Teil der hier untersuchten Periode ab. Insofern stellen sie keine echte Alternative dar. Bezüglich von Opferbefragungen sind außerdem einige Probleme der Gültigkeit, insbesondere der Inhaltsvalidität und differentiellen Validität zu beachten (Birkel 2003: 63ff. m.w.N.). Zunächst unterliegt die Inhaltsvalidität, d.h. das Maß, in dem das interessierende Verhalten auch tatsächlich erfasst wird, Einschränkungen: a)
Es verbleiben solche Fälle im Dunkelfeld, die von den Befragten überhaupt nicht als Normverletzungen wahrgenommen und bei Fragen nach Erfahrungen mit "Kriminalität" daher nicht erinnert werden; viel hängt hier vom Wortlaut der Items ab (je stärker er sich an rechtlichen Kategorien orientiert, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Ereignisse dieser Art erinnert werden). Untersuchungen in den USA zeigen, dass unterschiedliche Frageformulierungen, Filterfragen und Frageerläuterungen ("cues") insbesondere bei Vergehen, die schlecht erfasst werden (z. B. Sexualdelikte, Körperverletzung, Delikte im sozialen Nahraum) zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führen. Gewalt im sozialen Nahraum wird von Opferbefragungen meist schlechter erfasst als durch konventionelle Kriminalstatistiken, weil das Befragungsdesign nicht an diese sensible Thematik angepasst ist. b) Andererseits ist nicht auszuschließen, dass die Befragten Ereignisse nennen, die von den Strafverfolgungsbehörden nicht als Straftaten eingestuft worden sind (oder worden wären), z. B. wenn die Hinweise auf das Vorliegen einer Straftat vage waren oder wenn der Anzeigeerstatter nicht mehr an einer Strafverfolgung interessiert war.
Opferbefragungen unterliegen aber auch Problemen der differentiellen Validität: a)
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Fehlleistungen beim Erinnern von Delikten stellen in Abhängigkeit vom gewählten Referenzzeitraum ein Problem bei Viktimisierungsbefragungen dar. Prinzipiell werden Ereignisse aus der nahen Vergangenheit besser erinnert als weiter zurückliegende – insofern erhält man, aufs Jahr hochgerechnet, umso höhere Inzidenzraten, je kürzer die Referenzperiode ist. Andererseits werden schwerwiegendere Viktimisierungen länger erinnert als leichtere, sodass mit
zunehmender Länge des Referenzzeitraumes der Anteil berichteter schwerer Delikte zunimmt – insofern wird die Struktur der Viktimisierungserfahrungen mit zunehmender Länge der Referenzperiode zu schweren Delikten hin verzerrt. Schließlich neigen Befragte dazu, Ereignisse, die bereits vor dem Referenzzeitraum stattfanden, falsch zu datieren und in ihn hineinzuverlegen, in geringerem Maße auch dazu, sie umgekehrt auf einen weiter zurückliegenden Zeitpunkt zu verlegen ("Telescoping"), was insgesamt zu einer Überschätzung von Inzidenzraten führt. Das Ausmaß des Telescopings variiert mit der Art des Deliktes, aber nicht mit anderen Attributen der Straftat oder des Befragten. Körperverletzungen gehören zu den Delikten, bei denen die Datierung noch am genauesten ist. Die Wahl des Referenzzeitraums wirkt sich nicht nur vermittelt über die genannten Prozesse auf Umfang und Struktur des ermittelten Kriminalitätsaufkommens aus, sondern darüber hinaus auch auf die Schätzung von Zusammenhängen mit (z. B. soziodemographischen) Kovariaten. Schließlich ist es denkbar, dass vielfach viktimisierte Personen sich nicht nur deshalb selten in den Stichproben finden, weil sie schwer zu erreichen sind oder das Interview verweigern (s.u.), sondern auch weil die Effizienz des Erinnerns mit zunehmender Zahl der zu erinnernden Ereignisse nachlässt (d.h.: multiple Viktimisierungen, oder zumindest die Zahl der Viktimisierungen, werden nicht erinnert). b) Das Bildungsniveau beeinflusst das Antwortverhalten: Opferbefragungen führen zu dem unplausiblen Ergebnis, dass Personen mit höherer Bildung öfter das Opfer von Körperverletzungsdelikten werden. Einleuchtender ist, dass Personen mit höherer Bildung entsprechende Viktimisierungen besser erinnern oder eher geneigt sind, sie in Umfragen zu nennen; Hinweise hierauf fanden Sparks und Mitarbeiter (Sparks/Genn/Dodd 1977: 58f.). Zudem liegt möglicherweise die Schwelle, ab der gewalttätiges Verhalten als kriminell aufgefasst wird, bei Personen mit höherer Bildung niedriger. c) Es werden jene Delikte unzureichend erfasst, an denen das Opfer selbst irgendwie beteiligt ist. d) Bestimmte Gruppen wie z. B. Obdachlose und Drogensüchtige, die wahrscheinlich in überdurchschnittlichem Maße viktimisiert werden, sind in Opferbefragungen unterrepräsentiert, insofern dürften Hochrechnungen auf Basis der Befragungen das Niveau der Kriminalität etwas unterschätzen, insbesondere bezüglich Gewaltkriminalität. Denn Untersuchungen aus den USA weisen darauf hin, dass Opfer von Körperverletzungsdelikten eine der unterrepräsentierten Gruppen sind und dass tatsächlich erfahrene (und polizeilich registrierte) Körperverletzungen in Umfragen im Vergleich zu anderen Delikten besonders selten berichtet werden. Es gibt auch Hinweise darauf, dass hoch viktimisierte Personen im allgemeinen schwerer erreichbar sind und häufiger das Interview verweigern, also ebenfalls unterrepräsentiert sind. Immerhin scheinen die Konstrukt- und die Übereinstimmungsvalidität von Opferbefragungen befriedigend zu sein: Es werden bei Verwendung von Opferbefragungsdaten und polizeilichen Kriminalstatistiken praktisch die gleichen, auch theoretisch zu erwartenden, Korrelate von Kriminalität ermittelt. Wenn dies der Fall ist, ist aber nicht zu sehen, wieso Befragungsdaten vorzuziehen sind – bei Gewaltdelikten ist wegen der erwähnten Schwächen von Befragungen in diesem Deliktbereich sogar eher die PKS zu präferieren (Birkel 2003: 67). 65
2.1.2.2 Täterbefragungen Alternativ zu Opferbefragungen können Bevölkerungsumfragen durchgeführt werden, bei denen die Befragten um Auskünfte über Straftaten gebeten werden, die sie selbst begangen haben. Solche Befragungen versprechen zusätzliche Informationen über Umfang und Struktur der Delinquenz und vor allem über Merkmale der Täter. Für die vorliegende Untersuchung sind derartige Umfragen jedoch nicht als Datenquelle relevant, da bisher überwiegend nur sehr spezifische Populationen (Jugendliche, Schüler, Studenten, Rekruten, junge Strafgefangene) befragt wurden; insofern sind auf ihrer Grundlage keine Aussagen über die Entwicklung der Gewaltkriminalität insgesamt möglich. Neben der eingeschränkten Verfügbarkeit sprechen noch einige methodische Probleme gegen die Heranziehung von Täterbefragungen (Birkel 2003: 67-69 m.w.N.): Zunächst gibt es erneut Einschränkungen der Inhaltsvalidität: Wie bei Opferbefragungen stellt sich das Problem der Entsprechung von strafrechtlichen Kategorien und abgefragtem Verhalten, verschärft noch dadurch, dass oft nicht nur kriminelle Handlungen abgefragt werden. Diese in Alltagssprache umformulierten rechtlichen Definitionen müssen zudem von den Befragten selbst richtig auf ihr Verhalten angewendet werden. Dieses Problem ist offenbar nicht schwerwiegend, insofern Befragte Sachverhalte richtig einzuordnen vermögen und überwiegend eindeutig strafbare und wenige bagatellhafte Handlungen berichten – allerdings in mit Alter, Bildung und Delinquenzbelastung variierendem Maße: höher gebildete und wenig belastete Befragte berichten mehr Bagatelldelikte als geringer gebildete mit mehr Tätererfahrung. Dies verweist auch auf Probleme der differentiellen Gültigkeit von Täterbefragungen, die sich in vielerlei Hinsicht stellen: a)
Angehörige bestimmter Gruppen werden von Täterbefragungen unzureichend erfasst (Personen niedriger sozialer Herkunft, Sonderschüler, aber auch Schüler an Privatschulen, sowie Personen in leitenden Funktionen), wobei dies bei Schülerbefragungen offenbar ein geringeres Problem ist (sieht man von Schulschwänzern ab) als bei Haushaltsbefragungen (s. auch Köllisch/Oberwittler 2004b: 726). b) Schwere Gewaltdelikte werden schon wegen ihrer Seltenheit auch in Täterbefragungen unzureichend erfasst (vgl. dagegen Köllisch/Oberwittler 2004b: 720). c) Die Gültigkeit der Antworten variiert mit Deliktschwere und soziodemographischen Merkmalen der befragten Personen: Zwar ist das Problem der Wahrhaftigkeit von Aussagen über eigene Delinquenz allgemein nicht so groß, wie man dies wohl erwarten könnte, es ist aber vermutlich insbesondere bei (den hier interessierenden) schweren Delikten und mit zunehmendem Alter der Befragten von Bedeutung. Mit steigender Kriminalitätsbelastung sinkt zudem die Zuverlässigkeit der Angaben. Insofern erfassen Täterbefragungen also "nur das leichtere Kriminalitätsspektrum der Durchschnittsbürger" (Walter 2001: 183, kursiv im
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Original); sie geben eher Auskunft über die Prävalenz56, nicht aber unbedingt über die Inzidenz von Delinquenz – aber offenbar wird auch die Prävalenz in Täterbefragungen systematisch unterschätzt. d) Es stellt sich das Problem, dass die Ergebnisse – und zwar auch bei Schätzungen von Zusammenhängen mit relevanten Variablen – stark von der Erhebungsmethode, der Fragenformulierung, von den Einzelheiten der Feldarbeit und dem Referenzzeitraum abhängig sind und insofern ebenso wenig wie andere Datenquellen exakte Kriminalitätsmessungen erlauben. Für die Abschätzung von Veränderungen und Trends dürften die Probleme wenig schwerwiegend sein – vorausgesetzt, die Entwicklung in den von Täterbefragungen nicht erfassten Teilpopulationen verläuft ähnlich. Schließlich scheint auch die Kriteriumsvalidität von Untersuchungen zur selbstberichteten Delinquenz keineswegs optimal zu sein: Studien, bei denen selbstberichtete und amtlich registrierte Delinquenz für die Probanden abgeglichen werden, zeigen, dass etwa 20 bis 30 Prozent der registrierten Delikte nicht berichtet werden. Die Validität der Angaben variiert dabei mit relevanten Variablen wie Ethnizität, Einstellung zu abweichendem Verhalten, Wertorientierungen, Schichtzugehörigkeit, Geschlecht und Bildung (vgl. Köllisch/ Oberwittler 2004b: 720-722, 727f.; Köllisch 2004: 134f., 139; Junger 1989). Die Konstruktvalidität im Sinne der Ermittlung von deutlichen Zusammenhängen mit theoretisch relevanten Kovariaten in der erwarteten Richtung ist allerdings hoch; die ermittelten Zusammenhänge entsprechen ungefähr denen, die mit polizeilichen Kriminalstatistiken errechnet werden (was auf eine hohe Übereinstimmungsvalidität beider Quellen hinweist) – dies spricht dafür, dass die Untererfassung von Delikten aufgrund Vergessens nicht systematischer Natur ist. 2.2
Indikatorenauswahl und Kausalanalyse
Nachdem wir uns im vorigen Abschnitt mit den Datengrundlagen für die "abhängige" Variable beschäftigt haben, wenden wir uns nun den bedingenden Variablen, also den gesellschaftlichen Strukturmerkmalen zu, die gemäß unserem heuristischen Modell die langfristige Entwicklung der Gewaltkriminalität erklären sollen. Die Suche nach geeigneten Indikatoren und Daten gestaltet sich in diesem Falle noch schwieriger. Wir werden diese Schwierigkeiten in den nachfolgenden Kapiteln in themenspezifischen Kontexten immer wieder zu erörtern haben, wollen aber in diesem Abschnitt schon ein paar allgemeine Hinweise vorweg geben. Beginnen wir mit einem Beispiel zur Validitätsproblematik: Die Rate der Ehescheidungen wird in vielen kriminalsoziologischen Studien als Indikator für "soziale Desorganisation" herangezogen (s. z.B. Ohlemacher 1995). Es liegt nahe, sie auch in unserer Studie als Indikator für "desintegrativen Individualismus" zu interpretieren,
56
Als „Prävalenz“ wird bei Erhebungen selbstberichteter Delinquenz der Anteil der Befragten bezeichnet, die für die Referenzperiode angeben, strafbare Handlungen begangen zu haben. Als „Inzidenz“ wird die absolute oder relative Häufigkeit der berichteten strafbaren Akte bezeichnet.
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zumal die entsprechenden Daten in Form von Zeitreihen über die gesamte Untersuchungsperiode für alle drei Länder vorliegen. Der Trendverlauf der Scheidungsraten ist jedoch von mehreren Faktoren abhängig, die nicht unbedingt desintegrativ wirken; dazu gehören sich verändernde rechtliche Bedingungen, ökonomische Voraussetzungen und das kulturell definierte Geschlechterverhältnis. Juristisch und materiell sind die Ehepartner unabhängiger voneinander geworden, ihre Beziehung ist heute stärker partnerschaftlich, weniger hierarchisch angelegt als in früheren Zeiten. Darin könnte durchaus ein Potential für kooperativen Individualismus liegen, der gegenüber den traditionell-kollektivistischen Eheund Familienstrukturen (mit der starken Dominanz des Mannes) an Gewicht gewinnt. Tatsächlich weisen einige empirische Befunde darauf hin, dass z. B. die Gewalt in der Familie innerhalb unseres Untersuchungszeitraumes zurückgegangen ist (s. Kap. 6.6). Allerdings könnte parallel zu dieser Entwicklung auch der desintegrative Individualismus gestärkt worden sein. Wenn die wechselseitigen Ansprüche an emotionaler Zuwendung steigen, steigt auch das Enttäuschungsrisiko und mit ihm die Neigung, selbstbezügliche Rechnungen aufzumachen; wenn gleichzeitig alternative Partner leichter verfügbar werden und die ökonomischen Kosten einer Trennung sinken (bzw. eher tragbar werden), wird die Trennungsbereitschaft größer. Dieses Risiko ist zunehmend schon bei Abschluss des Ehevertrages bewusst, was die prinzipielle zugunsten einer instrumentellen Bindungsbereitschaft mindern könnte. Außerdem ist zu bedenken, dass ein Anstieg der Scheidungsraten auch bei gleichzeitig sinkenden Geburtenraten den Anteil an Kindern wachsen lässt, die von der Trennung ihrer Eltern betroffen sind. Dieses Erleben muss nicht zu langfristigen Schäden in der psycho-sozialen Entwicklung dieser Kinder führen, macht sie aber insgesamt wahrscheinlicher. Dies scheint (durchschnittlich) selbst dann noch zu gelten, wenn in Rechnung gestellt wird, dass konfliktreiche, aber nicht aufgelöste Ehen ebenfalls die kindliche Entwicklung erheblich belasten können. In Kap. 6.6 werden wir diese Thematik vertiefen. Hier kam es uns nur darauf an, die Problematik der Auswahl und Interpretation von Indikatoren zu illustrieren. Die Zuordnung der empirischen (beobachtbaren) Indikatoren zu den jeweiligen theoretischen (nicht beobachtbaren) Konstrukten ist in jedem Falle ein riskanter Akt der Interpretation. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich querschnittliche und längsschnittliche Variationen in den verschiedenen Indikatoren nicht unbedingt aus den gleichen Quellen speisen. Wenn z. B. Scheidungsraten verschiedener Stadtbezirke oder anderer regionaler Einheiten des gleichen Landes zu einem bestimmten Zeitpunkt miteinander verglichen werden, sind die rechtlichen Rahmenbedingungen für alle Untersuchungseinheiten in etwa gleich und die kulturellen Traditionen lassen sich möglicherweise über andere Indikatoren getrennt erfassen und in ihren Auswirkungen "statistisch" kontrollieren. So ist es durchaus denkbar, dass in Querschnittanalysen die Scheidungsrate ein brauchbarer Indikator für soziale Desorganisation ist. Wenn viele Untersuchungseinheiten zur Verfügung stehen (bspw. im Rahmen von Bevölkerungsumfragen), kann man außerdem versuchen, die Risiken der Indikatorenauswahl zu mindern, indem man im Rahmen eines formalen "Messmodells" mehrere Indikatoren zu einer "Skala" oder einem "Faktor" zusammenfasst, der das theoretische Konstrukt mit angebbarer Zuverlässigkeit messbar macht. Wir werden natürlich in unserer Untersuchung ebenfalls möglichst viele Indikatoren für die hypothetisch vorgesehenen Erklärungsfaktoren heranziehen; sie in einem Messmodell zusammenzufassen, stößt aber einstweilen auf nicht überwindbare Schwierigkeiten, die u. a. damit zusammenhängen, dass für die querschnittliche Betrachtung nur drei Fälle (Länder) zur Verfügung stehen. Andererseits ist damit zu rechnen, dass die Menge der gemeinsam verfügbaren Indikatoren geringer wird, je größer die Zahl der berücksichtigten 68
Länder ist. Auf jeden Fall dürfte es sinnvoll sein, ein neu entwickeltes Erklärungsschema (wie wir es vorgelegt haben) zunächst anhand weniger Vergleichsfälle zu erproben und dabei ein möglichst breites Spektrum an Daten und Informationen zu sichten. Trotz der geringen Zahl an Ländern, mit denen wir uns beschäftigen, stoßen wir jedoch in verschiedenen Bereichen immer wieder auf Datenlücken und gelegentlich auf widersprüchliche Informationen. Insbesondere für die ersten Jahrzehnte unserer Untersuchungsperiode liegen Zeitreihendaten nicht in der Dichte und Qualität vor, die wir uns wünschen würden. Allerdings lässt sich zumindest die grobe Trendentwicklung in vielen Fällen auch dann noch erkennen, wenn nur wenige Messzeitpunkte vorliegen. Weitere Probleme sind mit dem hohen Aggregationsniveau unserer Daten verbunden. Für die Gesamtbevölkerung berechnete Durchschnitts- oder Anteilswerte können gegenläufige Tendenzen in unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen verdecken. So z. B. vermutet Haferkamp (1987), dass Arbeitslose zwar eher als Beschäftigte zu abweichendem Verhalten neigen, dass andererseits aber hohe Arbeitslosigkeit (als Kontextmerkmal) den Konformitätsdruck auf die (Noch-)Beschäftigten erhöht, sodass der Aggregateffekt schließlich gegen Null tendieren könnte. Gegenläufige Effekte der gleichen Variable können auch auftreten, ohne dass sie über unterschiedliche Bevölkerungsgruppen vermittelt sind. So z. B. vermuten Miethe et al. (1991), dass Arbeitslosigkeit vor allem über die Erfahrung relativer Deprivation normative Bindungen erodieren und dadurch die Neigung zu abweichendem Verhalten ansteigen lässt. Gleichzeitig gehen sie davon aus, dass Arbeitslosigkeit die Gelegenheitsstrukturen in der entgegengesetzten Richtung verändert: Außerhäusliche Aktivitäten gehen zurück, "guardianship" und soziale Kontrolldichte nehmen zu, sodass der Nettoeffekt nicht prognostiziert werden kann. Im Prinzip lassen sich die Netto-Effekte in multivariaten Analysemodellen mit Aggregatdaten schätzen. Allerdings stehen, wie schon angemerkt, kontinuierlich erhobene Zeitreihendaten nur für eine begrenzte Zahl von Indikatoren zur Verfügung. Außerdem führen trendbehaftete Zeitreihendaten bei der statistischen Analyse zu spezifischen Problemen. Offensichtlich können nur solche Strukturvariablen ansteigende Kriminalitätsraten erklären, die selbst eine ähnliche oder inverse Trendentwicklung aufweisen. Jedoch korrelieren trendbehaftete Zeitreihen auch dann miteinander, wenn zwischen ihnen keinerlei kausale Abhängigkeit besteht. Eine "Trendbereinigung" und nachfolgende Korrelationsanalysen mit den Restgrößen wären unsinnig, da es ja häufig gerade um strukturelle Zusammenhänge in den Niveaus der Zeitreihen geht. Eine Testmöglichkeit eröffnet sich erst dann, wenn die Trends nicht-deterministisch verlaufen, sondern stochastischer Natur sind. Es lässt sich dann in sog. "Kointegrationsmodellen" (s. Hamilton 1994; zur Einführung s. Thome 2005b: 272 ff.) prüfen, ob die stochastisch variierenden Trendverläufe verschiedener Variablen miteinander korrespondieren, sodass ein verändertes Input-Niveau über kurz oder lang ein bestimmtes Output-Niveau hervorrufen wird (im Sinne beweglicher Gleichgewichtsbeziehungen). Allerdings benötigt der effektive Einsatz solcher Modelle höhere Fallzahlen, als sie uns derzeit zur Verfügung stehen. Dabei wäre nicht unbedingt eine größere Zahl von Messzeitpunkten (längere Zeitreihen), sondern
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vor allem eine höhere Zahl von Untersuchungseinheiten (Ländern) wünschenswert. Dieses Vorhaben müssen wir einem Nachfolgeprojekt überlassen. Bei der Interpretation kausaler Zusammenhänge stützen wir uns derzeit vor allem auf bereits vorliegende Forschungsbefunde. Dabei berücksichtigen wir sowohl Studien, die mit Aggregatdaten arbeiten, als auch solche, die die entsprechenden Variablen als Individualmerkmale erhoben haben. Zwar ist bei "Cross-level"-Inferenzen Vorsicht geboten; in vielen Anwendungssituationen sind sie jedoch durchaus legitim.57 Wenn sich z. B. ein positiver Zusammenhang zwischen dem Konsum von gewalthaltigen Fernsehsendungen oder Videospielen und der persönlichen Gewaltneigung der Konsumenten nachweisen lässt (insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, s. Kap. 7), kann mit einem Ansteigen der Gewaltkriminalität gerechnet werden, wenn über eine bestimmte Zeitperiode Angebot und Konsum derartiger Produkte zugenommen haben. Allerdings stößt diese Strategie rasch auf das Problem, dass für viele Sachgebiete – nicht nur im Bereich der Medienwirkungsforschung – widerstreitende Forschungsergebnisse vorliegen. Auf der anderen Seite ist zu bedenken, dass schwache kausale Effekte auf der Ebene der Individuen zu erheblichen Konsequenzen bei den entsprechenden (analytischen) Kollektivmerkmalen führen können. Gehen wir z. B. davon aus, dass von je 10.000 Intensivkonsumenten medialer Gewaltangebote einer im Laufe eines Jahres ein Tötungsdelikt begeht, die Deliktwahrscheinlichkeit in dieser Gruppe also p = 0,0001 beträgt. Wenn in der übrigen Bevölkerung die Homizidrate konstant bei 2 pro 100.000 Einwohnern liegt, bedeutet dies u. a. Folgendes: Wenn innerhalb einer bestimmten Periode der Anteil der Intensivkonsumenten von null auf 25 % der Bevölkerung ansteigen sollte, wäre allein aus diesem Grunde mit einer Verdoppelung der Homizidrate in der Gesamtbevölkerung zu rechnen. Deutliche Aggregateffekte sind u. U. auch aus anderen Gründen mit schwachen oder fehlenden Korrelationen bei Individualdaten vereinbar. Wenn sich z. B. Arbeitslose und Beschäftigte hinsichtlich ihrer Gewaltneigung nicht unterscheiden, kann dennoch der mit der zunehmenden Arbeitslosigkeit indizierte (veränderte) gesellschaftliche Kontext Wirkungen entfalten, die konträr zu der oben zitierten Annahme in beiden Personengruppen kriminelle Gewalthandlungen wahrscheinlicher machen. Auch die Umkehrung dieses Verhältnisses ist möglich: starke Zusammenhänge bei den Individualdaten, schwache bei den Aggregatdaten. Rahn/Transue (1998) ermitteln z. B. eine hohe Korrelation der Variablen "persönlicher Optimismus" und "soziales Vertrauen" (Vertrauen in andere Menschen); im Trendverlauf der beiden aggregierten Variablen zeigt sich jedoch keinerlei
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Besonders berühmt (oder berüchtigt) ist der sog. „ökologische Fehlschluss“, bei dem Korrelationen auf der Ebene von Aggregatdaten (z. B. die Korrelation zwischen dem Anteil der Schwarzen in den Stadtbezirken und der Rate der Gewaltkriminalität) unberechtigterweise auf die Ebene der Individualmerkmale übertragen wird („Schwarze werden eher kriminell als Weiße“ – aber es könnte ja sein, dass vor allem Weiße krimineller werden, wenn der Anteil der Schwarzen zunimmt). Es wäre jedoch völlig verfehlt, davon auszugehen, dass solche Schlüsse generell unangebracht sind (s. hierzu Erbring 1989; zusammenfassende Hinweise in Thome 2005a: 226 ff.). Da unsere Hypothesen sich primär auf makrostrukturelle Zusammenhänge und Kollektivmerkmale beziehen, ist die spiegelbildliche Problematik eher relevant: Korrelationen auf der Ebene von Individualdaten müssen sich nicht unbedingt auf der Aggregatebene bestätigen.
Zusammenhang. Die Erklärung hierfür könnte darin liegen, dass nicht kontrollierte Drittvariablen unabhängig voneinander die Anteile der Optimisten und der Vertrauenden über Zeit variieren lassen. Außerdem ist zu bedenken, dass die aus individuellen Merkmalen gewonnenen Aggregatgrößen als Kontexteffekte auf das individuelle Verhalten zurückwirken oder neue Einflussgrößen ins Spiel bringen können. Denkbar (wenn auch nicht sehr wahrscheinlich) wäre z. B., dass steigende Gewaltkriminalität medienpädagogische Maßnahmen veranlasst, die – mit einem gewissen zeitlichen Abstand – den Zusammenhang zwischen Medienkonsum und Gewaltneigung mindern. 2.3
Zusammenfassung
Wir beschränken uns in dieser Zusammenfassung inhaltlich auf den ersten, wesentlich längeren Abschnitt (2.1) des vorliegenden Kapitels. Hierbei ergibt sich zunächst der unangenehme Befund, dass das Anzeigeverhalten der Bürger und die Registrierungspraxis der Polizei systematische Fehler in polizeilichen Kriminalstatistiken verursachen und sich gerade diese Faktoren mangels Daten nicht kontrollieren lassen. Eine Ausnahme sind Verschiebungen bei der Zuordnung von Straftaten zu Deliktkategorien, die sich einfach durch Zusammenfassung der Kategorien, zwischen denen Verlagerungen stattgefunden haben, berücksichtigen lassen. Bezüglich aller drei Faktoren (absolutes und relatives Dunkelfeld, Registrierverhalten) existieren zudem Differenzen zwischen den hier untersuchten Ländern. Die vorliegenden Informationen erlauben aber keine Korrektur artifizieller Niveauunterschiede z. B. durch eine Gewichtung o. ä., sodass es nicht möglich ist, zwischen tatsächlichen und messfehlerbedingten Unterschieden zwischen den Ländern zu unterscheiden; insofern sollte von einer Interpretation von Niveauunterschieden abgesehen werden. Entwicklungsverläufe lassen sich dagegen besser vergleichen, soweit die Messfehler entweder konstant sind – die Verläufe also nicht beeinflussen – oder sich in Form von Brüchen bemerkbar machen. Wenn in einem solchen Falle keine Anhaltspunkte für eine sprunghafte Realentwicklung58 gegeben sind, können die Ausreißerwerte oder Brüche ausschließlich Veränderungen einer Messfehlerkomponente zugeschrieben werden. Hier ist also eine Unterscheidung von realen und messfehlerbedingten Veränderungen möglich. Bei einigen wichtigen variablen Größen – dem absoluten Dunkelfeld (a), der Anzeigebereitschaft (b) und dem Registrierverhalten der Polizei (c) – ist jedoch neben sprunghaften Veränderungen in Folge bestimmter Ereignisse auch mit kontinuierlichen Veränderungen zu rechnen, deren Einfluss auf die Entwicklungsverläufe sich nicht durch Inspektion der Zeitreihen ermitteln lässt. Da hier die vorliegenden Informationen (wie erwähnt) zu lückenhaft sind, um Korrekturen durchzuführen, kann man auf ihrer Grundlage nur Vermutungen über mögliche artifizielle Veränderungen anstellen, was zu einer zurückhaltenden Interpretation nötigt. Auf der Grundlage ausführlicher Hintergrundrecherchen werden wir im Folgenden sprunghafte und soweit wie möglich auch kontinuierliche Veränderungen der Messfehlerkomponenten berücksichtigen (s. Kap. 3).
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Etwa eine Serienstraftat, die bei Zählung eines Deliktes für jedes Opfer bei relativ seltenen Straftaten wie Mord leicht einen Ausreißer verursachen kann.
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Die einzelnen Delikte sind zudem in unterschiedlichem Maße von den Messfehlern betroffen. Generell ist anzunehmen, dass die Verzerrungen bei vollendeten und schweren Delikten am geringsten sind, da Anzeigeverhalten und Registrierungsverhalten der Polizei vor allem von der Schwere der Tatfolgen bestimmt werden. Daher können die Zahlen für vollendete Tötungsdelikte als die zuverlässigsten gelten, da erkannte Delikte praktisch immer zur Anzeige kommen und auch registriert werden; aber auch hier verbleibt das Problem der unerkannten Straftaten. Zudem ist damit zu rechnen, dass sich aufgrund von medizinischen Fortschritten die Wahrscheinlichkeit eines tödlichen Ausgangs bei Gewaltdelikten verringert hat, sodass bei Heranziehung von Homizidraten die Zunahme schwerer Gewalt unterschätzt werden könnte (Harris et al. 2002). Weniger Vertrauen kann man dagegen in die Zahlen zu leichten Delikten (wie einfacher Körperverletzung) und solchen, die sich primär im sozialen Nahbereich ereignen (wie Sexualdelikte und Körperverletzungsdelikte) haben. Es empfiehlt sich also, sich – und das werden wir im Folgenden tun – auf die schweren Delikte zu konzentrieren, da hier die Tatschwere die Anzeigebereitschaft erhöht und zeitlich wohl auch weniger variieren lässt. Die Daten zu Raubdelikten dürften in ihrer Zuverlässigkeit zwischen den Zahlen zu Tötungsdelikten und anderen Gewaltdelikten liegen, nachdem hier das Opfer den Täter in der Regel nicht kennt und ihm ein materieller Schaden entsteht, der meist Anlass zur Anzeigenerstattung ist. Die Messfehlerproblematik hat bei offiziellen Kriminalstatistiken also eine hohe Bedeutung. Die anderen Datenquellen unterliegen ebenfalls Zuverlässigkeits- und Gültigkeitsproblemen, die freilich anders gelagert sind; unterstellt man dennoch, dass sie zuverlässiger sind, sollten Vergleiche mit ihnen Aufschluss über die Folgen der Messprobleme in polizeilichen Kriminalstatistiken geben: Opferbefragungen können nicht nur als Informationsquelle für die Inzidenz von Kriminalität und ihre Entwicklung herangezogen werden, sondern auch für Opfer- und Tätermerkmale. Abweichungen von der PKS können als Hinweis darauf betrachtet werden, dass eine von beiden Datenquellen hier unzuverlässiger ist, sofern es Informationen über die tatsächliche Merkmalsverteilung in der Bevölkerung gibt. Andererseits können übereinstimmende Informationen, die aus verschiedenen Quellen stammen, die Vermutung ihrer Zuverlässigkeit stützen. Bezüglich des Alters der Opfer scheinen bei Körperverletzungen, nicht aber bei Raub und sexueller Gewalt die Daten aus beiden Quellen übereinzustimmen, außerdem beim Geschlecht der Opfer. Opfer aus unteren sozialen Schichten – bei denen man eine häufigere Viktimisierung annimmt – sind in Opferbefragungen jedoch deutlich seltener als unter den von der Polizei bearbeiteten Fällen59 vertreten (Birkel 2003: 67 m.w.N.). Die demographischen Informationen über Täter, die aus Opferbefragungen gewonnen werden, gleichen denen, die aus den offiziellen Quellen bekannt sind (ebd.) – insofern sind sie diesen auch nicht überlegen. Insgesamt betrachtet erweisen sich Opferbefragungen polizeilichen Kriminalstatistiken keineswegs als generell überlegen.
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In den polizeilichen Kriminalstatistiken werden keine sozialstatistischen Merkmale der Opfer (außer Alter, Geschlecht, z.T. Beziehung zum Täter) erfasst. Kenntnisse über die Merkmalsverteilungen unter den Opfern bei angezeigten Delikten können durch Auswertung von Ermittlungsakten gewonnen werden.
Ähnliches gilt für Täterbefragungen: Es ergeben sich auch hier keine eklatanten Diskrepanzen bezüglich der Zusammensetzung der Täterpopulation, insofern sich z. B. die Unterschiede zwischen den Geschlechtern – allerdings bei leichten Delikten in geringerem Ausmaß – in den Befragungsdaten wieder finden und sich selbstberichtete leichte Kriminalität zwar vor allem bei Jugendlichen auf alle sozialen Schichten verteilt, schwerere Delikte aber mit zunehmendem Alter eher von Unterschichtangehörigen genannt werden, die auch die kleine Gruppe stark belasteter junger Männer stellt. Sowohl im Hell- wie im Dunkelfeld besteht demnach ein schwacher Zusammenhang von Schichtzugehörigkeit und Delinquenz, der von Täterbefragungen möglicherweise unterschätzt wird, insofern ja die vermutlich stark belastete unterste Schicht von ihnen kaum erreicht wird und ihre Validität bei dieser Gruppe am geringsten ist (Walter 2001: 183f.). Die Befunde, die sich aus offiziellen Kriminalstatistiken sowie den Opfer- und Täterbefragungen über die Merkmale der Opfer und Täter ergeben, divergieren also nicht substantiell – insofern erweisen sich Daten aus Dunkelfeldbefragungen auch nicht denen der PKS überlegen. Der Befund hoher Übereinstimmungs- und Konstruktvalidität von Befragungsdaten, der sich daraus ergibt, dass Schätzungen der Zusammenhänge mit anderen Variablen auf Basis dieser und offizieller Kriminalitätsdaten ähnliche und theoretisch erwartbare Ergebnisse produzieren, kann im gleichen Sinne zugunsten der PKS interpretiert werden. Instruktiv im Bezug auf die Validität der Messung der Kriminalitätsraten (im Gegensatz zu Opfer- und Tätermerkmalen) ist ein Vergleich, den Gove und Mitarbeiter vorgenommen haben: Ihm liegt die Annahme zugrunde, dass eine hohe Korrelation von polizeilichen Kriminalstatistiken mit Befragungsdaten auf eine hohe Validität hinweist, sofern Befragungsdaten einen unabhängigen Indikator für die gleiche Variable darstellen (Gove/Hughes/Geerken 1985: 475ff.). Unterstellt man eine bestimmte Korrelationsstärke zwischen "wahrer" schwerer Gewaltkriminalität und Befragungsdaten, kann für diesen Fall aus der gemessenen Korrelation zwischen beiden Datenreihen auf die Korrelation zwischen Kriminalstatistik und "wahrer" Kriminalität geschlossen werden. Für Raubdelikte ergeben sich dann bei einer Querschnittsanalyse von Daten für 23 amerikanische Städte hohe Korrelationen mit dem "wahren" Wert (zwischen r = 0,73 bei einer unterstellten Korrelation von r = 0,85 zwischen Befragungsdaten und "wahrer" Kriminalität und Korrelationen jenseits des theoretisch möglichen Wertes 1 bei einer angenommenen Korrelation von r = 0,75 zwischen "wahren" Raubraten und Befragungsdaten). Führt man allerdings eine ähnliche Berechnung mit den von O`Brien berichteten Korrelationen der trendbereinigten Zeitreihen von Kriminalstatistiken und Befragungsdaten aus den National Crime Surveys für die Jahre 1973-1992 durch, ist das Ergebnis weniger ermutigend: die Korrelation beträgt dann zwischen r = 0,52 und r = 0,59 bei allen Raubdelikten und zwischen r = 0,62 und r = 0,71, wenn aus den Befragungsdaten nur die als angezeigt berichteten Raubdelikte verwendet werden60. Allerdings ist es möglich, dass aufgrund der Verwendung trendbereinigter Zeitreihen die Korrelationen zwischen den beiden Reihen unterschätzt werden61. Die Trendbereinigung hat hier eine offenbar ansteigende Registrierungsquote aus
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Eigene Berechnungen auf Basis der von O`Brien (1996: 193) berichteten Korrelationen. Dies kann verschiedene Gründe haben, auf die wir hier nicht weiter eingehen können; vgl. dazu Thome (1988). Gegen die Annahme, dass die Korrelation tatsächlich größer ist, spricht, dass die Messfehler der
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der Kriminalstatistik für Gewaltdelikte entfernt, die O`Brien identifiziert hat62 – ein Hinweis darauf, dass regional zufällig variierende Messfehler dies nicht unbedingt auch im Zeitverlauf (oder in Form eines stochastischen Trends) tun. Insgesamt sprechen die Befunde dafür, dass die Auswirkungen der Messfehler begrenzt sind und polizeiliche Kriminalstatistiken zumindest bei dem langfristigen Verlauf von Gewaltdelikten eine befriedigende Validität aufweisen63. Insofern halten wir es für legitim, sie unserer Darstellung der Entwicklung der Gewaltkriminalität zu Grunde zu legen. Analysen zum langfristigen sozialen Wandel – unter welchem thematischen Fokus auch immer konzipiert – werden stets von methodologischen Problemen begleitet sein, wie wir sie in diesem Kapitel skizziert haben. Datenlage und statistische Analysemöglichkeiten verbessern sich allmählich; gravierende Lücken werden bleiben. Der gesellschaftliche Wandel eilt seiner empirischen Beschreibung und analytischen Durchdringung stets voraus. Dennoch lassen sich in begrenztem Rahmen besser begründete von schlechter begründeten Aussagen unterscheiden, auch wenn spekulative Überlegungen im Spiel bleiben. Im Vorwort seines schönen Buches "Constructing Social Theories" zitiert Arthur Stinchcombe (1968) seinen Lehrer Ralph Bendix mit dem Satz "You know, a little bit of theory goes a long way". Der Satz mahnt zur Geduld, ermutigt aber auch dazu, trotz der weitgespannten methodologischen Fallstricke Wege zu erkunden, auf denen sich empirische Evidenzen und theoretische Reflexionen schrittweise zusammenführen lassen.
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beiden Reihen nicht völlig unabhängig voneinander sind (insofern beide durch das Verhalten der Verbrechensopfer beeinflusst werden), was gemessene Korrelationen in die Höhe treibt und Faktoren entgegenwirkt, die sie unterdrücken. Ein starker Hinweis darauf, dass die Trendbereinigung nicht einfach eine langfristige Aufwärtstendenz der „wahren“ Gewaltkriminalität entfernt, ist die hohe Korrelation von r = 0,95 die O`Brien (1996: 200f.) zwischen den differenzierten Mordraten und den Raten für andere Gewaltdelikte berechnet: sie legt nahe, dass beide Delikte von den gleichen Faktoren beeinflusst werden. Auch Bannenberg/Rössner (2005: 29) halten die PKS für eine zuverlässige Datenquelle bei schweren Delikten.
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Die Entwicklung der Gewaltkriminalität 1953-1997
Nachdem wir in Kapitel 1 unseren theoretischen Bezugsrahmen vorgestellt und in Kapitel 2 methodologische Probleme erörtert haben, wenden wir uns nun ausführlicher unserem Explanandum, der Entwicklung der Gewaltkriminalität zu64. Unter den Begriff "Gewaltkriminalität" subsumieren wir hier physische Zwangshandlungen sowie Handlungen, bei denen Zwang durch die Drohung mit Gewalt ausgeübt wird, die sich als Verstoß gegen Rechtsnormen beschreiben lassen65. Im Folgenden werden wir zunächst kurz auf die Operationalisierung dieses Konstrukts und die Datenquellen eingehen, anschließend nacheinander die Entwicklung von Fallzahlen, Tatverdächtigenaufkommen und Opferrisiko für verschiedene Deliktkategorien darstellen und abschließend versuchen, sie zu einem Gesamtbild der Entwicklung in den drei untersuchten Ländern zu verdichten. 3.1
Die für die Untersuchung ausgewählten Delikte
Wir betrachten im Folgenden nicht alle Handlungen, die sich der oben genannten Definition zuordnen lassen, sondern analysieren aus praktischen Gründen nur einige ausgewählte Delikte, die den Kern dessen darstellen, was üblicherweise im Begriff der Gewaltkrimi-nalität zusammengefasst wird. Im Einzelnen handelt es sich um folgende Kategorien66:
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Das Kapitel beruht in großen Teilen auf Birkel/Thome (2004). Dort finden sich zusätzliche Details und Abbildungen. Für eine ausführlichere Diskussion des Begriffs s. Birkel/Thome (2004). Kriterien der Auswahl waren: 1. die Verfügbarkeit von Zeitreihen möglichst über den gesamten Untersuchungszeitraum; 2. die Reliabilität der Daten: ausgewählt wurden Deliktkategorien, bei denen von einer hohen Anzeigebereitschaft und damit geringen Verzerrungen durch Verschiebungen zwischen Hell- und Dunkelfeld ausgegangen werden kann. Die Anzeigebereitschaft ist insbesondere bei schweren Delikten hoch (s.o.); 3. die Prominenz in vorhandenen Untersuchungen: die untersuchten Kategorien wurden bisher häufig bei Analysen zur Gewaltkriminalität herangezogen, womit Vergleichsmöglichkeiten gegeben sind. Andere, im Prinzip ebenfalls als Gewaltdelikte aufzufassende Straftaten, wie z.B. Nötigung, Freiheitsberaubung und erpresserischer Menschenraub, sind dagegen kaum untersucht. Die gleichen Delikte werden z.B. von McClintock/Wikström (1990), Gurr (1989) und Eisner (1997) herangezogen. Alle oder einige der genannten Straftaten, aber höchst selten weitere Gewaltdelikte, finden i.d.R. in Studien Berücksichtigung, die sich mit der allgemeinen Kriminalitätsentwicklung befassen. 4. eine hinreichende Häufigkeit. Bei seltenen Delikten (z.B. erpresserischer Menschenraub, Geiselnahme) treten kritische analysetechnische Probleme auf (stark linksschiefe Verteilung, ungünstiges Verhältnis von zufälliger und systematischer Varianz). 5. Vergleichbarkeit der juristischen Definitionen (vgl. hierzu Birkel/Thome 2004: 14-33) und statistischen Kategorien.
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a)
Tötungsdelikte. Hierunter fallen Mord, Totschlag und Körperverletzung mit Todesfolge. Auch Kindestötung wurde trotz sehr geringer Fallzahlen mit einbezogen, da in England und Wales seit 1973 in der polizeilichen Kriminalstatistik Mord, Totschlag und Kindestötung nur zusammen ausgewiesen werden. Abtreibung wurde schon wegen des anzunehmenden großen Dunkelfeldes, der Unterschiedlichkeit der rechtlichen Regelungen (seit 1974 in Schweden keine Straftat) und der geringen Prominenz in der kriminologischen Forschung (Abtreibung wird üblicherweise nicht dem Begriff Gewaltkriminalität subsumiert) nicht berücksichtigt. Die Delikte werden als Homizide zusammengefasst analysiert, da so Verschiebungen zwischen den Kategorien infolge veränderter juristischer Bewertung gleichartiger Handlungen neutralisiert werden können. Zudem wird dadurch dem Umstand Rechnung getragen, dass die juristische Abgrenzung dieser Delikte voneinander in den Ländern unterschiedlich ist. Für Westdeutschland müssen die Körperverletzungen mit Todesfolge ab 1963 gesondert dargestellt werden, da sie zuvor nicht von entsprechenden Delikten im Straßenverkehr statistisch getrennt wurden (Birkel 2003: 26; danach wurden Körperverletzungen mit Todesfolge im Straßenverkehr überhaupt nicht mehr erfasst). In England fallen derartige Delikte unter eine eigene Kategorie "causing death by reckless driving"; in Schweden werden sie dagegen zusammen mit anderen Körperverletzungen mit Todesfolge ausgewiesen. Versuchte Tötungsdelikte (in allen drei Ländern separat ausgewiesen) werden hier nicht berücksichtigt, da hier die Abgrenzung zu anderen Tatbeständen besonders unsicher ist und mit erheblichen Schwankungen in der polizeilichen Bewertung identischer Sachverhalte zu rechnen ist (Sessar 1979; Kreuzer 1982). b) Körperverletzungsdelikte. Da für Schweden Fallzahlen nur ohne Differenzierung zwischen einfacher und schwerer Körperverletzung verfügbar sind, werden für alle Länder entsprechend zusammengefasste Datenreihen dargestellt, um Vergleiche zu ermöglichen67. Für Deutschland wurden zu diesem Zweck die Kategorien "schwere und gefährliche" sowie "leichte" Körperverletzung zusammengefasst, die Deliktgruppen "Wounding and other acts endangering life" sowie "other wounding" im Falle Englands68. Bei den Tatverdächtigenbelastungszahlen ist für die deutschen Daten eine derartige Zusammenfassung aus weiter unten erläuterten Gründen nicht sinnvoll, weshalb nur die Reihe für "schwere und gefährliche" Körperverletzung graphisch dargestellt wird. Im Text gehen wir auch auf nach Deliktschwere differenzierte Tatverdächtigenstatistiken für Schweden ein, welche bis 1986 vorliegen. c) Raubdelikte. Hier ist eine hohe Vergleichbarkeit der rechtlichen Definitionen und eine hohe Anzeigebereitschaft gegeben.
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Prinzipiell wäre eine Betrachtung nur der (im Hinblick auf die Tatfolgen) schweren Körperverletzungsdelikte wünschenswert, da hier die Anzeigebereitschaft größer und weniger volatil als bei leichten Körperverletzungsdelikten sein dürfte, was die Zuverlässigkeit der Daten erhöht. Die Kategorie „assault“ wurde wegen ihrer geringen zahlenmäßigen Bedeutung und weil ihre Erfassung 1988 endete nicht berücksichtigt.
d) Vergewaltigungsdelikte. Da hier von einer sehr niedrigen Anzeigebereitschaft auszugehen ist, sind die Ergebnisse für dieses Delikt zurückhaltend zu interpretieren. Es wurde primär einbezogen, um den Bereich der sexuellen Gewalt nicht unberücksichtigt zu lassen. Wir gehen davon aus, dass Modernisierungsprozesse einen Anstieg derartiger Delikte nicht begünstigen, sondern eher hemmen. Politisch motivierte Gewaltkriminalität werden wir nicht gesondert betrachten. Hierzu haben wir uns entschieden, weil in den veröffentlichten polizeilichen Kriminalstatistiken politisch motivierte Gewaltkriminalität nicht (Deutschland, Schweden) oder nur für wenige Subkategorien seit einigen Jahren (England und Wales69) separat ausgewiesen wird. In Deutschland (zur Datenlage vgl. Bundesministerium des Innern und Bundesministerium der Justiz 2001: 265-276) werden sie zwar in der separaten "Polizeilichen Kriminalstatistik Staatsschutz" (PKS-S) erfasst, die aber nicht veröffentlicht wird70. Freilich stützen sich die Jahresberichte des Bundesamtes für Verfassungsschutz, die Daten zu derartigen Delikten enthalten, auf die Staatsschutzstatistiken der Länder; allerdings wurden im Zeitverlauf mehrfach die Kategorien verändert. Seit den 90er Jahren werden politische Straftaten auch im "Kriminalpolizeilichen Meldedienst in Sachen Staatsschutz" (KPMD-S) erhoben, bis 2000 aber nur soweit sie erkennbar auf einen politischen Systemwechsel abzielten (nicht etwa: Übergriffe Rechtsextremer auf Migranten oder Obdachlose). Auf Basis der Jahresberichte des Verfassungsschutzes ließen sich also durchaus Aussagen über die längerfristige Entwicklung in Deutschland machen71, aber es fehlt an vergleichbaren Daten für die anderen Länder. Zwar werden in Schweden seit 1996 separate Statistiken zu politisch motivierten Straftaten geführt; sie beschränken sich aber auf einige spezifische Kategorien ("Hassverbrechen", anti-faschistisch und linksextremistisch motivierte Straftaten) (Swedish Security Service o.J.). Dabei variiert die Kategorisierung einzelner Arten politischer Gewalt international erheblich (für den Bereich rechtsextremer Gewalt vgl. Heitmeyer 2002a: 527531). Ein weiterer Gesichtspunkt, der uns dazu veranlasst, von separaten Analysen der politisch motivierten Gewaltdelinquenz abzusehen, ist der Umstand, dass offizielle Statistiken in diesem Deliktbereich hohen Validitätsrisiken ausgesetzt sind, da von einer besonderen und systematischen Volatilität der Anzeigebereitschaft und des polizeilichen Kontroll- und Registrierungsverhaltens auszugehen ist. Außerdem gibt es für das Merkmal "politisch" keine klare juristische Definition, sodass die Spielräume für die Klassifikation einer Straftat (als "politisch motiviert") größer als bei anderen Kategorien sind. Für den
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70 71
Seit 1999 werden einfache („other wounding“) und leichte („common assault“) Körperverletzungsdelikte mit einer rassistischen, seit 2001 auch solche mit einer gegen Angehörige bestimmter religiöser Gruppen gerichteten Motivation („racially“, später „racially or religiously aggravated“) in eigenen Kategorien erfasst. In einzelnen Jahresbänden der Polizeilichen Kriminalstatistik finden sich Abschnitte zu den Staatsschutzdelikten. Für eine Darstellung der Entwicklung der politisch motivierten Straftaten von 1980 bis 2000 (soweit sie sich einer „steuernden Organisation“ oder anderweitig einer ideologischen Ausrichtung zuordnen ließen, was bei 50-70% der Delikte nicht der Fall ist) vgl. Bundesministerium des Innern und Bundesministerium der Justiz (2001: 263ff.).
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Bereich der fremdenfeindlichen Straftaten ist dies eindrücklich in der Studie von Kubink (1997) belegt. Zudem handelt es sich bei einer "politischen Motivation" um ein subjektives Tatbestandsmerkmal, das nur schwer und mit großen Unsicherheiten nachzuweisen ist (Bundesministerium des Innern und Bundesministerium der Justiz 2001: 268-270). Noch eine Bemerkung zur gewählten Untersuchungsperiode: da für Westdeutschland Daten aus der Polizeilichen Kriminalstatistik erst seit 1953 vorliegen, beginnt unsere Darstellung mit diesem Jahr. Den Untersuchungszeitraum lassen wir 1997 enden, da das Sechste Strafrechtsreformgesetz 1998 in Deutschland zu erheblichen Änderungen bei den juristischen Definitionen einiger Delikte führte und außerdem die englische Kriminalstatistik seit diesem Jahr nicht mehr für Kalender- sondern für Haushaltsjahre erstellt wird. Beide Veränderungen führen zu einer erheblichen Einschränkung der Vergleichbarkeit der Kriminalitätsdaten für die Zeit seit 1998 mit denjenigen für die vorangegangenen Jahre. 3.2
Die Entwicklung der Gewaltkriminalität in den drei Ländern
3.2.1
Tötungsdelikte
3.2.1.1 Die Entwicklung der Inzidenz Abb. 3.1 zeigt die Entwicklung der Häufigkeitszahlen für die vollendeten Tötungsdelikte. Dargestellt ist neben den Originalwerten auch die Trendkomponente, die man erhält, indem man die Reihen mit dem Hodrick-Prescott-Filter (HP-Filter, vgl. Hodrick/Prescott 1997) glättet. Wir haben hier den Wert 400 für den Gewichtungsfaktor Ȝ gewählt, sodass Frequenzen unter 50 Jahren ausgefiltert und die Reihen damit von kurzfristigen Fluktuationen bereinigt werden. 2.4
Fälle / 100.000 Einwohner
2.0 1.6 1.2 0.8 0.4 0.0 1955
1960
1965
1970
1975 Jahr
1980
Deutschland (West) Deutschland (West), Trendkomponente Deutschland (West, einschl. KV m. Todesfolge), Trend England & Wales
1985
1990
1995
England & Wales, Trendkomponente Schweden Schweden, Trendkomponente
Abb. 3.1: Entwicklung der Homizidraten in Deutschland, England und Schweden, 1953-1997 Quelle: eigene Berechnung aufgrund von Kriminalitätsdaten (Bundeskriminalamt, Home Office, BRÅ) und Bevölkerungszahlen (Statistisches Bundesamt, Office for National Statistics (ONS), SCB). 78
Bei den Tötungsdelikten erfolgte in allen drei Ländern nach einem Rückgang bis Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre ein deutlicher Anstieg. Bis Mitte der 70er Jahre waren die Steigerungsraten für Deutschland (sofern die Tötungsdelikte ohne Körperverletzung mit Todesfolge betrachtet werden) und England etwa gleich, in Schweden etwas geringer. Betrachtet man für Westdeutschland die Homizide einschließlich der Körperverletzungen mit Todesfolge (die wegen der Herausnahme der Verkehrsdelikte erst ab 1963 in ihrem Trendverlauf dargestellt sind), ergibt sich hier die geringste Zunahme, bis in die 80er Jahre hinein allerdings bei höherem Niveau als dem der anderen Länder. Seit 1980 fluktuieren die Häufigkeitszahlen in Deutschland und Schweden auf ungefähr gleich bleibenden Niveau72, während sich in England/Wales die Aufwärtstendenz abgeschwächt fortsetzte. In Westdeutschland kam es allerdings in den 90er Jahren nochmals zu einem vorübergehenden Anstieg der Körperverletzungen mit tödlichem Ausgang. In Schweden hatte es keine so hohe Nachkriegskriminalität wie in den anderen beiden Ländern gegeben, weshalb auch der anschließende Rückgang weniger deutlich ausfiel. Im Falle Englands bestehen ohnedies Gründe zur Annahme, dass der Rückgang vor Ende der 50er Jahre teilweise artifiziell war (nämlich auf Gesetzesänderungen zurückzuführen ist, vgl. Birkel/Thome 2004: 42). Eine denkbare Erklärung für den in allen Ländern zu beobachtenden Anstieg der Tötungsdelinquenz sind Veränderungen in der Altersstrukutur der Bevölkerung. Wie die Betrachtung alters- und geschlechtsstandardisierter Homizidraten an anderer Stelle (Birkel/ Thome 2004: 45-47) zeigt, sind Veränderungen im Altersaufbau jedoch von geringer Bedeutung. Potentiell relevanter sind Verbesserungen der medizinischen Versorgung, die dazu führen können, dass körperliche Angriffe seltener tödlich enden und in die Kriminalstatistik als vollendete Tötungsdelikte eingehen, wie Berechnungen zur Abschätzung dieses Effekts zeigen (Birkel/Thome 2004: 48-50)73. Es ist daher nicht auszuschließen, dass die Statistik vollendeter Tötungsdelikte das Aufkommen lebensgefährlicher Angriffe in zunehmendem Maße unterschätzt. Analysen auf ihrer Basis sind daher (im üblichen Sprachgebrauch) konservativ und unterschätzen Zusammenhänge mit anderen langfristigen Entwicklungen eher, als dass sie Scheinzusammenhänge ermitteln. 3.2.1.2 Tatverdächtige In der polizeilichen Kriminalstatistik für Deutschland sind die Tatverdächtigen für vollendete und versuchte Delikte nur gemeinsam ausgewiesen, weshalb auch für die beiden anderen Länder nur zusammengefasste Tatverdächtigenbelastungszahlen (TVBZ: Tatverdächtige pro 100.000 Einwohner) betrachtet werden. Aufgrund der seit 1983 in Deutschland geltenden "echten" Tatverdächtigenzählung können nicht wie bei den Häufigkeits-
72 73
Der erneute Anstieg in Schweden Anfang der 90er Jahre dürfte ein Artefakt, bedingt durch eine Umstellung in der Registrierungsprozedur sein (vgl. Birkel/Thome 2004: 43f.). Harris et al. (2002) schätzen, dass es in den USA in den 90er Jahren mindestens dreimal mehr vollendete Tötungsdelikte gegeben hätte, wäre die medizinische Versorgung noch auf dem Stand von 1960 gewesen.
79
ziffern mehrere Deliktarten zusammengefasst werden74, daher wird für Deutschland nur die Tatverdächtigenbelastungszahl für Mord und Totschlag dargestellt (die Reihen für die anderen Länder enthalten auch die anderen o.g. Tötungsdelikte). Für England und Wales stehen erst ab 1964 Daten zur Verfügung, für Schweden ab 1968. Abb. 3.2 stellt die Entwicklung der Tatverdächtigenbelastungszahlen für versuchte und vollendete Delikte in den drei Ländern gegenüber. Dass die Tatverdächtigenbelastungszahl für Deutschland (wie auch bei den unten dargestellten TVBZ für die anderen Gewaltdelikte) höher als in den anderen beiden Ländern ist, obwohl dies nicht für die Häufigkeitsziffer gilt, hat folgende Gründe: a) bei den Daten für England/Wales handelt es sich um keine Daten über Tatverdächtige, sondern über Verurteilte und Verwarnte, die in einem anderen Stadium des Strafverfolgungsprozesses erhoben werden (vgl. Kap.2); b) in Schweden sind die Aufklärungsquoten deutlich niedriger als in Deutschland, d.h. es werden (im Verhältnis zum Fallaufkommen) wesentlich weniger Tatverdächtige ermittelt. Die langfristigen Verläufe der Belastungszahlen ähneln weitgehend denen der Häufigkeitszahlen. Auch hier fällt eine größere Stabilität der Zahlen ab Mitte der 70er Jahre in Deutschland im Vergleich zu den anderen Ländern auf75. Die Entwicklung der Rate der vollendeten Tötungsdelikte in England und Schweden weist allerdings eine größere Ähnlichkeit mit der Entwicklung in Deutschland auf als die Entwicklung der Tatverdächtigenbelastungszahlen für vollendete und versuchte Delikte, was vermuten lässt, dass in den anderen beiden Ländern die Neigung, Delikte als versuchte Tötungsdelikte einzustufen (und die Tatverdächtigen entsprechend zu erfassen) stärker zugenommen hat. Insgesamt legen die Daten nahe, dass sich der an Tötungsdelikten beteiligte Personenkreis quantitativ ähnlich wie das Aufkommen an derartigen Straftaten entwickelte (mit der möglichen Ausnahme Schwedens gegen Ende des Beobachtungszeitraums, da hier die Tatverdächtigenbelastung für vollendete Delikte seit den 80er Jahren stabil war). Diese Vermutung hat insbesondere für Deutschland nach 1984 und für Schweden ab 1975 Plausibilität, da ab diesen Jahren für beide Länder "echte" Tatverdächtigenzahlen (s. Abschnitt 2.1.1.4) vorliegen. Der Anstieg der Tötungsdelikte ist übrigens nicht ausschließlich oder überwiegend Einwanderern anzulasten: wie nach Nationalität differenzierte Statistiken zeigen, entwickelte sich die Tatverdächtigenbelastung der Bevölkerung mit deutscher bzw. schwedischer Staatsbürgerschaft parallel zu derjenigen der Gesamtbevölkerung des jeweiligen Landes76.
74
75 76
80
Eine Zusammenfassung „echter“ Tatverdächtigenzahlen würde dazu führen, dass Personen, die innerhalb eines Jahres mehrfach des gleichen Deliktes (z.B. zweier Morde) verdächtigt wurden, dann nur einmal gezählt würden, Personen, die mehrfach wegen verschiedener Delikte in Erscheinung traten (z.B. ein Mord, eine Körperverletzung mit Todesfolge) aber mehrfach – eine Inkonsistenz der Zählweise, die nicht akzeptabel wäre. TVBZ für Kindestötung waren erst ab 1971 verfügbar und wurden nicht geplottet, da sie zahlenmäßig unbedeutend waren. Allerdings stieg die hier nicht dargestellte Tatverdächtigenbelastungszahl (ähnlich wie die entsprechende Häufigkeitsziffer) für Körperverletzungen mit Todesfolge in den 90er Jahren nochmals vorübergehend an (Birkel/Thome 2004: 99). Nach Staatsbürgerschaft aufgeschlüsselte Statistiken der Verurteilten und Verwarnten werden in England nicht geführt. Für Schweden waren nur Daten von 1975 bis 1994 mit einigen Lücken verfügbar. Die Berechnung von Tatverdächtigenbelastungszahlen für die ausländische Bevölkerung ist nicht sinnvoll, da diese zum einen durch unzuverlässige Meldestatistiken, zum anderen durch Durchreisende und andere nicht zur Wohnbevölkerung gehörige Tatverdächtige verzerrt würden.
Tatverdächtige / 100.000 Einwohner
6 5 4 3 2 1 0 1955
1960
1965
1970
1975
Deutschland (West): Mord, Totschlag Deutschland (West), Trendkomponente England & Wales: Homizide
1980
1985
1990
1995
England & Wales, Trendkomponente Schweden: Homizide Schweden, Trendkomponente
Abb. 3.2: Entwicklung der Tatverdächtigenbelastungszahlen für Tötungsdelikte (versucht und vollendet) in Deutschland, England und Schweden, 1953-1997 Quelle: eigene Berechnung aufgrund von Kriminalitätsdaten (Bundeskriminalamt, Home Office, BRÅ) und Bevölkerungszahlen (Statistisches Bundesamt, WHO). Hinweis: Für 1983 liegen wegen der Umstellung auf die "echte Tatverdächtigenzählung" für Deutschland keine Tatverdächtigenzahlen vor; die fehlende Beobachtung wurde durch den Mittelwert der benachbarten Jahre ersetzt, um die Berechnung des Hodrick-Prescott-Filters zu ermöglichen. Die Bezugsgrößen sind: für Deutschland die gesamte Bevölkerung; für England und Wales: die Bevölkerung ab 10 J. ; für Schweden: die Bevölkerung ab 15 J. Zu den Niveauunterschieden siehe die Erläuterungen im Text.
Markant sind dagegen geschlechtsspezifische Differenzen bei der Beteiligung an Tötungsdelikten: die Auswertung differenzierter Statistiken zeigt, dass sich die Zunahme der Tötungsdelinquenz offensichtlich überwiegend den Männern zurechnen lässt, deren Belastung sich in Deutschland und England (für Schweden liegen Daten erst seit den 80er Jahren vor) mit einem Spitzenwert von 9,6 bzw. 2,5 pro 100.000 Einwohner langfristig ungefähr verdreifacht hat. Die Tatverdächtigenbelastungszahlen der Frauen sind dagegen weniger stark angestiegen (der höchste Wert war mit 1,1(D) bzw. 0,31(E/W) pro 100.000 Einwohner etwa doppelt so hoch wie der niedrigste), wobei sie in England seit Mitte der 70er Jahre etwas zurückgegangen sind und wieder das Ausgangsniveau erreicht haben. In Deutschland war dagegen nach einer vorher weitgehend parallelen Entwicklung bei beiden Geschlechtern in den 90er Jahren ein deutlicher Anstieg der Tatverdächtigenbelastungszahlen bei Körperverletzungen mit Todesfolge zu verzeichnen, der bei den Frauen stärker
81
ausgeprägt war als bei den Männern. Das frauenspezifische Delikt der Kindestötung verlor dagegen weiter an Bedeutung77. Deutlich ausgeprägt sind auch Unterschiede zwischen den Altersgruppen78: In Deutschland und England wies die Gruppe der Heranwachsenden (17/18-20 Jahre), in Schweden die der jungen Erwachsenen (21-24 Jahre) die stärkste Verstrickung in tödliche Gewalt auf; ihre Belastung bei Mord- und Totschlag hat zudem am stärksten zugenommen. Die Gruppe der Heranwachsenden wies in Schweden ebenfalls einen starken Anstieg der Belastung auf79. Die Belastung der Jugendlichen (15-17 Jahre) lag zwar lange unter derjenigen der Erwachsenen ab 21 (bzw. 25) Jahren, hat aber in Deutschland und Schweden stark zugenommen, vor allem in den 90er Jahren, sodass sie nun über derjenigen der Erwachsenen liegt. Auffällig ist zudem, dass in Deutschland die Tatverdächtigenbelastungszahlen von Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden bei Körperverletzungen mit Todesfolge in den 90er Jahren sehr stark angestiegen sind. Offenbar hat in jüngster Zeit die Beteiligung junger Menschen an tödlichen Gewalttaten zugenommen. Allerdings ist auch die Tötungsdelinquenz der Erwachsenen langfristig deutlich gestiegen. 3.2.1.3 Opfer: die differentielle Entwicklung des Viktimisierungsrisikos von Frauen und Männern Abschließend wurde geprüft, ob sich ähnliche geschlechtsspezifische Differenzen wie bei der Involvierung in Tötungsdelinquenz auch bei der Viktimisierung finden. Hierzu haben wir auf Basis der Todesursachenstatistik geschlechtsspezifische Viktimisierungsraten und prozentuale Anteile an allen Opfern berechnet. Die Abbildungen 3.3 und 3.4 zeigen die Entwicklung der geschlechtsspezifischen Opferrisiken in den drei Ländern80. In der Tat zeigen sich einige interessante Differenzen, und zwar nicht nur zwischen den Geschlechtern, sondern auch bei den untersuchten Ländern: In Deutschland näherte sich das – beim männlichen Bevölkerungsteil zunächst mit 1,0 pro 100.000 Männer gegenüber 0,6 pro 100.000 Frauen höhere – Viktimisierungsrisiko von Frauen und Männern im Zeitverlauf zunächst bis in die zweite Hälfte der 80er Jahre an (auf Raten von 1,1 pro 100.000), um dann wieder auseinander zu driften. Dabei beruhte die temporäre Annäherung auf einem Absinken des Viktimisierungsrisikos der Männer nach einem vorherigem Anstieg auf 1,7 bei weiter zunehmendem Opferrisiko der Frauen, während die anschließende Auseinanderentwicklung dadurch zustande kam, dass das weibliche Viktimisierungsrisiko auf das Ausgangsniveau zurückging, während dasjenige der Männer wieder anstieg.
77 78 79 80
82
Die zahlenmäßige Bedeutung war derartig gering, dass davon abgesehen wurde, die entsprechenden Tatverdächtigenbelastungszahlen zu plotten. Da für Schweden nur für Personen ab 15 Jahren durchgehend Tatverdächtigenzahlen vorliegen, mussten dementsprechend andere Altersgruppen als für Deutschland gebildet werden. Möglicherweise wäre die Tatverdächtigenbelastung für diese Gruppe am höchsten, wenn die Altersklassen ab 21 Jahre wie in den anderen Ländern in einer Kategorie zusammengefasst wären. Für Deutschland beginnen die Zeitreihen erst 1955, da erst ab diesem Jahr geeignete Bevölkerungszahlen zur Verfügung standen.
Opfer / 100.000 Männer
2.5
2.0
1.5
1.0
0.5 0.0 1955
1960
1965
1970
1975 Jahr
Deutschland (W est) Deutschland (W est), T rendkomponente England & W ales
1980
1985
1990
1995
England & W ales, T rendkomponente Schweden Schweden, T rendkomponente
Abb. 3.3: Die Entwicklung des Viktimisierungsrisikos von Männern bei Tötungsdelikten in Westdeutschland, England/Wales und Schweden, 1953-1997 Quelle: eigene Berechnung auf Basis von Daten aus den Todesursachenstatistiken (Statistisches Bundesamt, ONS, Socialstyrelsen ) und Bevölkerungszahlen (Statistisches Bundesamt, WHO, Socialstyrelsen).
Opfer / 100.000 Frauen
2.5
2.0
1.5 1.0
0.5 0.0
1955
1960
1965
1970
1975 Jahr
Deutschland (W est) Deutschland (W est), T rendkomponente England & W ales
1980
1985
1990
1995
England & W ales, T rendkomponente Schweden Schweden, T rendkomponente
Abb. 3.4: Die Entwicklung des Viktimisierungsrisikos von Frauen bei Tötungsdelikten in Westdeutschland, England/Wales und Schweden, 1953-1997 Quelle: eigene Berechnung auf Basis von Daten aus den Todesursachenstatistiken (Statistisches Bundesamt, ONS, Socialstyrelsen) und Bevölkerungszahlen (Statistisches Bundesamt, WHO, Socialstyrelsen).
Völlig anders verlief dagegen die Entwicklung in England und Schweden, wo zu Anfang der Beobachtungsperiode das Viktimisierungsrisiko von Frauen und Männern ungefähr gleich hoch war (mit 0,3 bzw. 0,6 pro 100.000). In England stiegen die Viktimisierungsrisiken von Männern und Frauen parallel bis Anfang der 80er Jahre, für die Frauen allerdings etwas schwächer (auf etwa 1,6 bei den Männern bzw. 1,0 bei den Frauen). Anschließend sank das Viktimisierungsrisiko der Frauen wieder (auf ca. 0,8), während das der 83
Männer weiter leicht zunahm und sich ab der zweiten Hälfte der 80er Jahre bei 1,7 stabilisierte. Wiederum anders war die Entwicklung in Schweden, wo die Opferrate der Männer bis in die 80er Jahre deutlich anstieg (auf 1,7), während sich bei den Frauen allenfalls ein geringer Anstieg (auf 0,9) in den 70er Jahren vollzog, gefolgt von einem leichten Rückgang in den 90er Jahren auf 0,8 (der sich auch bei den Männern andeutete). Dementsprechend entwickelten sich in England und Schweden die Opferanteile von Männern und Frauen deutlich auseinander (von 50:50 zu 65:35), während sie sich in Deutschland annäherten, um gegen Ende der Untersuchungsperiode wieder zu divergieren (zu 60:40), wobei in den beiden erstgenannten Ländern Tötungsdelikte in noch höherem Maße von Männern an Männern verübt werden. In allen drei Ländern war – ähnlich wie in anderen Gegenwartsgesellschaften – das Viktimisierungsrisiko der Frauen also deutlich höher als in früheren Epochen, in denen der Anteil der weiblichen Opfer lange Zeit unterhalb von 10 % blieb (Eisner 2002: 68f.). Die Entwicklung dieses Risikos stellt einen der auffälligsten Unterschiede zwischen den untersuchten Ländern dar. 3.2.2
Körperverletzungsdelikte
3.2.2.1 Entwicklung der Inzidenz Abbildung 3.5 zeigt die Entwicklung der Körperverletzungsdelikte in Deutschland, England und Schweden81. Bei der Entwicklung der Körperverletzungsdelikte fällt auf, dass sich die Periodisierung der Verläufe in Deutschland und Schweden stark ähnelt. Im Unterschied zu den Tötungsdelikten setzte erst in der zweiten Hälfte der 60er Jahre ein seitdem anhaltender Anstieg ein – mit in Schweden deutlich größerem Umfang als in Deutschland – , der am stärksten in der Periode von Ende der 60er bis Anfang der 80er Jahre erfolgte. Von Bedeutung dürften im Falle Schwedens aber auch Veränderungen in der Registrierungsprozedur (1965 und 1968) sowie die Einführung des neuen Strafgesetzbuches 1965 sein, insofern sie mit deutlichen Sprüngen nach oben verbunden waren, sodass der Anstieg hier ohne diese Veränderungen vermutlich geringer gewesen wäre. In England und Wales stiegen die Häufigkeitszahlen über den gesamten Beobachtungszeitraum an, und zwar erheblich stärker als in den beiden anderen Ländern. Dies gilt – wie sich zeigt, wenn man die Entwicklung in den einzelnen, bisher zusammengefasst dargestellten Kategorien betrachtet – vor allem für die weniger schweren Körperverletzungsdelikte ("other wounding"), deren Aufkommen sich vervierzigfacht hat, während die schwereren Delikte ("wounding and other acts endangering life") "nur" um das Fünffache zunahmen.
81
84
Für Deutschland beginnt die Reihe erst 1957, da erst ab diesem Jahr die leichten Körperverletzungsdelikte erfasst wurden, die wir aus Gründen der Vergleichbarkeit (s.o.) mit den schweren und gefährlichen Körperverletzungen zusammenfassen müssen.
700
Fälle / 100.000 Einwohner
600
500
400
300
200
100 0 1955
1960
1965
1970
1975
1980
1985
1990
1995
Jahr
D eutschland (W est) D eutschland (W est), T rendkomponente England & W ales
England & W ales, T rendkomponente Schweden Schweden, T rendkomponente
Abb. 3.5: Entwicklung der Häufigkeitsziffer für Körperverletzungsdelikte in Deutschland, England und Schweden, 1953-1997 Quelle: eigene Berechnung aufgrund von Kriminalitätsdaten (Bundeskriminalamt, Home Office, BRÅ) und Bevölkerungszahlen (Statistisches Bundesamt, ONS, SCB).
Erneut wurden indirekt geschlechts- und altersstandardisierte Häufigkeitszahlen berechnet (Birkel/Thome 2004: 58). Kompositionseffekte zeigten sich in erster Linie in Deutschland, und zwar bei den schweren Körperverletzungen: hier wäre (im Unterschied zu den Tötungsdelikten) bei einer Zusammensetzung der Bevölkerung wie 1993-1997 das Ausgangsniveau niedriger und der Anstieg bis Anfang der 80er Jahre weniger ausgeprägt, der zweite Anstieg bis in die frühen 90er Jahre dafür deutlicher gewesen. Für die anderen beiden Länder ergeben sich nur sehr geringe Auswirkungen demographischer Veränderungen, wobei auch hier das bereinigte Aufkommen in den 70er und 80er Jahren etwas niedriger gewesen wäre, dafür der folgende Anstieg etwas steiler. Am Gesamtbild der Entwicklung ändert sich jedoch nichts. 3.2.2.2 Tatverdächtige Die Entwicklung der Tatverdächtigenbelastungszahlen korrelierte in Deutschland nahezu perfekt mit derjenigen der Häufigkeitszahlen (vgl. Abb. 3.682), sodass anzunehmen ist, dass sich die in Delikte dieser Art involvierte Population analog ausgeweitet hat und die Zunahme nicht einem konstanten Bevölkerungssegment mit intensivierter Delinquenz
82
Aus Gründen der Übersichtlichkeit haben wir auf eine Darstellung der deutschen Tatverdächtigenbelastungszahlen für leichte Körperverletzungedelikte verzichtet und für Schweden nur die ab 1979 verfügbare zusammengefasste Tatverdächtigenbelastungszahl für leichte und schwere Delikte wiedergegeben.
85
zuzuschreiben ist (dies gilt auch für die hier nicht dargestellte Tatverdächtigenbelastungszahl für leichte Körperverletzungen).
Tatverdächtige / 100.000 Einwohner
180 160 140 120 100 80 60 40 20 0 1955
1960
1965
1970
1975
1980
1985
1990
1995
Jahr
Deutschland (West) Deutschland (West), Trendkomponente England & Wales
England & Wales, Trendkomponente Schweden Schweden, Trendkomponente
Abb. 3.6: Entwicklung der Tatverdächtigenbelastungszahlen für Körperverletzungsdelikte in Deutschland, England und Schweden, logarithmisch skaliert, 1953-1997 Quelle: eigene Berechnung aufgrund von Kriminalitätsdaten (Bundeskriminalamt, Home Office, BRÅ) und Bevölkerungszahlen (Statistisches Bundesamt, WHO). Hinweis: Für 1983 liegen wegen der Umstellung auf die "echte Tatverdächtigenzählung" für Deutschland keine Tatverdächtigenzahlen vor; die fehlende Beobachtung wurde durch den Mittelwert der benachbarten Werte ersetzt, um die Berechnung des Hodrick-Prescott-Filters zu ermöglichen. Die Bezugsgrößen sind: für Deutschland die gesamte Bevölkerung; für England und Wales: die Bevölkerung ab 10 J.; für Schweden: die Bevölkerung ab 15 J. Die Linien ohne Markierung stellen die Trendkomponente des Hodrick-Prescott-Filters dar.
Die Rate der Verurteilten und Verwarnten ist in England zwar bis Ende der 80er Jahre parallel zu der Häufigkeitszahl gestiegen, hat aber danach im Gegensatz zu ihr stagniert oder war rückläufig. Im Umfang des Anstiegs hat sie zudem nicht mit der Häufigkeitsziffer Schritt gehalten: während die Häufigkeitszahl von "wounding and other acts endangering life" und "other wounding" auf das Zweiunddreißigfache gestiegen ist, hat die Rate der sanktionierten Täter sich lediglich vervierfacht83. Die Hintergründe für diese Entwicklung dürften vielfältig sein und von einer geringeren Aufklärungsquote über eine Zunahme relativ leichter Fälle (bei denen auf eine Anklageerhebung verzichtet wurde) bis hin zu einer veränderten Zusammensetzung der Delikte reichen (mit der Folge eines erhöhten
83
86
Trennt man zwischen den beiden zusammengefassten Delikttypen, zeigt sich dass diese Diskrepanz v.a. für die leichteren Delikte („other wounding“) gilt, aber auch bei „wounding“ gegeben ist (Verfünffachung des Fallaufkommens, Verdoppellung der Verurteilten und Verwarnten, bezogen jeweils auf die Bevölkerungsgröße).
Anteils von Fällen, in denen die Beweise für eine Verurteilung nicht ausreichen oder das Opfer den Strafverfolgungsantrag zurückzieht84). Von daher erscheinen Rückschlüsse auf die Entwicklung der Täterpopulation kaum möglich. Für Schweden ergibt sich ebenfalls eine Diskrepanz der Entwicklung von Häufigkeitszahl und Tatverdächtigenbelastungszahl85: bei den leichten Körperverletzungen sank sie zunächst nach einem deutlichen Anstieg Ende der 60er Jahre, während das Fallaufkommen nach bestenfalls temporärer Stabilisierung weiter stieg. Auch die Belastungszahl für die schweren Körperverletzungsdelikte zeigte nur in 1975 einen nennenswerten Anstieg, der vermutlich mit Änderungen beim Erfassungsverfahren zusammenhängt86. Erst Ende der 70er Jahre setzte ein neuerlicher Anstieg für alle Körperverletzungsdelikte ein, der Mitte der 80er Jahre aber erneut abgebremst wurde, um sich Ende der 80er Jahre und in der ersten Hälfte der 90er Jahre fortzusetzen. Auch in seinem absolutem Umfang hielt der Anstieg der Tatverdächtigenbelastungszahl nicht mit der Häufigkeitszahl Schritt: diese verdoppelte sich noch nicht einmal, während jene 1968 bis 1997 auf das Sechsfache stieg. Ein denkbarer Hintergrund dieser divergenten Entwicklung ist, dass die Zunahme des Aufkommens an Körperverletzungsdelikten mit einer erhöhten Verwicklung Minderjähriger unter 15 Jahren in derartige Delinquenz bzw. mit einer steigenden gegenüber Minderjährigen einherging, die in der Anzeigebereitschaft87 Tatverdächtigenstatistik nicht erfasst werden. Es ist somit festzuhalten, dass nur in Deutschland die Entwicklung der Tatverdächtigenbelastungszahl der Fallentwicklung folgt, während sich bei den anderen Ländern aus vermutlich unterschiedlichen Gründen Diskrepanzen ergeben. Dennoch zeigt sich im Vergleich dasselbe Grundmuster wie bei der Fallentwicklung: eine Ähnlichkeit der Entwicklung in Deutschland und Schweden, von der sich England mit deutlich stärkeren Anstiegen markant abhebt. Ansonsten ist interessant zu beobachten, dass seit Anfang der 90er Jahre die Belastungszahlen anders als die Häufigkeitszahlen, in England und Schweden tendenziell sanken, während sie in Deutschland weiter zunahmen. Wie bei den Tötungsdelikten zeigen hier nicht präsentierte Auswertungen, dass der Anstieg der Belastung mit Körperverletzungen nicht auf Einwohner ohne Staatsbürgerschaft des Landes begrenzt ist, sondern zumindest im Falle Deutschlands und Schwedens die dortigen Staatsbürger ihre Delinquenz in fast gleichem Maß wie die ausländische Wohnbevölkerung ausgeweitet haben. Die Geschlechtsspezifik der Entwicklung ist bei dieser Deliktgruppe jedoch anders geartet als bei den Tötungsdelikten: Es zeigt sich zwar bei beiden Geschlechtern eine Entwicklung ähnlich der Gesamtbelastungszahlen, doch ist sie bei den Frauen – insbesondere bei den leichten Delikten – ausgeprägter. Die Involvierung von Frauen in Körperverletzungsdelikte scheint also stärker zugenommen zu haben
84 85 86 87
Dies ist z.B. häufig bei innerfamiliären Gewaltdelikten der Fall, die zunehmend angezeigt werden. Bis 1979 wurden nur nach einfacher und schwerer Körperverletzung differenzierte Tatverdächtigenzahlen veröffentlicht, die aber ab 1987 nicht mehr getrennt aufgeführt wurden. Die Umstellung auf „echte“ Tatverdächtigenzahlen dürfte hier keine Rolle spielen, da sie eher zu einem Abfall der Tatverdächtigenzahl geführt haben sollte. Dies ist v.a. für die Zeit ab Mitte der 80er Jahre zu vermuten, vgl. Estrada (2001: 647ff.). Estrada hat auch eine Reihe von Indizien dafür zusammengetragen, dass die tatsächliche Involvierung Jugendlicher in Gewaltdelinquenz in Schweden nicht zugenommen hat.
87
als die der Männer. Eine nach Altersgruppen differenzierte Betrachtung zeigt zudem, dass am stärksten die Belastung der ohnehin stark betroffenen jüngeren Altersgruppen zugenommen hat, in Deutschland und Schweden besonders in den 80er und 90er Jahren, in England vorübergehend bereits Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre. Es gibt allerdings etliche Hinweise darauf, dass hinter dieser Entwicklung auch veränderte Kontrollstrategien und eine zunehmende Anzeigebereitschaft gegenüber jüngeren Personen stehen, sie also nicht unbedingt eine tatsächliche Zunahme der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an Körperverletzungsdelikten indiziert (vgl. oben und Birkel/Thome 2004: 60-62 m.w.N.). 3.2.2.3 Die Entwicklung des Viktimisierungsrisikos Daten zu den Opfern von Körperverletzungsdelikten liegen nur für Deutschland und Schweden vor, und zwar in Form der Opferstatistik bzw. nach Alter und Geschlecht des Opfers differenzierten Fallstatistiken88. In Deutschland hat bei den schweren und gefährlichen Körperverletzungen insbesondere das Viktimisierungsrisiko von Kindern (von ca. 14 pro 100.000 Kinder von 0-13 Jahren auf über 60 pro 100.000), und hier (vor allem in den 70er Jahren) das der Mädchen (von 6 pro 100.000 auf 40) zugenommen, wobei die Anstiege zeitlich parallel zu denen des Risikos für Erwachsene stattfanden. Bei den Personen ab 14 Jahren waren es wiederum die Frauen, die einem etwas stärkeren Anstieg des Viktimisierungsrisikos ausgesetzt waren (von 24 pro 100.000 auf 66, gegenüber 134 und 226 bei den Männern), vielleicht aber auch lediglich eine verstärkte Neigung zeigten, im sozialen Nahraum erfahrene Gewalt anzuzeigen. In Schweden89 zeigt sich dagegen (bei allen Körperverletzungsdelikten) eine ziemlich parallele Entwicklung des Opferrisikos von Männern und Frauen (Anstieg von 440 bzw. 240 auf 870 bzw. 490 pro 100.000), während der Anstieg bei den Kindern ab der zweiten Hälfte der 80er Jahre noch deutlicher ausfiel (insgesamt von 130 auf 380 pro 100.000), was mit einer gestiegenen Neigung, etwa Auseinandersetzungen auf dem Schulhof zur Anzeige zu bringen, zusammenhängen dürfte (vgl. oben). Möglicherweise sind auch bei den Körperverletzungsdelikten die schwedischen Frauen in geringerem Maße als ihre Geschlechtsgenossinnen in Deutschland von steigenden Viktimisierungsrisiken betroffen. Allerdings ist die Vergleichbarkeit der Befunde für Deutschland und Schweden dadurch eingeschränkt, dass sich die Daten hier nur auf gefährliche und schwere Körperverletzungen, dort aber auf alle (auch auf die wesentlich häufigeren einfachen) Körperverletzungen beziehen.
88 89
88
Was einer Opferstatistik entspricht, da in Schweden pro Opfer ein Fall gezählt wird. Die Interpretation konzentriert sich auf die Entwicklung seit 1987, da erst ab diesem Jahr für alle Opfer Alter und Geschlecht erfasst worden waren; Anstiege davor sind auf eine Zunahme des Anteils der Fälle, für die Angaben vorlagen, zurückzuführen.
3.2.3
Raubdelikte
3.2.3.1 Die Entwicklung der Inzidenz Eine stetige Zunahme seit Mitte der 50er Jahre kennzeichnet den Verlauf bei den Raubdelikten; ihrem Umfang nach ist sie in Deutschland am geringsten und in England am größten (Abb. 3.7). Auffällig ist, dass in allen drei Ländern der stärkste Anstieg Anfang der 90er Jahre erfolgte, anders als z.B. bei den Körperverletzungsdelikten (die allerdings ebenfalls Anfang der 90er Jahre stark zunahmen, vgl. oben). Für Schweden sind jedoch die Daten ab 1992 zum einen wegen der bereits erwähnten Umstellung der Erfassungsweise, zum anderen aufgrund von Hinweisen auf eine steigende Anzeigebereitschaft gegenüber Minderjährigen (vgl. dazu Birkel/Thome 2004: 60, 63 m.w.N.) mit Vorsicht zu behandeln. In allen drei Ländern war die Zunahme der Raubdelikte deutlich stärker als die Steigerungsquote bei Mord und Körperverletzungsdelikten. Bei den Raubdelikten zeigten sich im übrigen die stärksten Kompositionseffekte: bei einer Zusammensetzung der Bevölkerung nach Alter und Geschlecht wie in Deutschland 1993 bis 1997 wären die Häufigkeitszahlen zwischen Mitte der 70er und Mitte/Ende der 80er Jahre dort spürbar niedriger gewesen, der anschließende Anstieg dafür stärker (und in Schweden auch der kurzfristige Rückgang Anfang der 90er Jahre schwächer). In England wäre der langfristige Anstieg zudem geringfügig niedriger ausgefallen.
Fälle / 100.000 Einwohner
140
120 100
80
60 40
20
0 1955
1960
1965
1970
1975 Jahr
Deutschland (West) Deutschland (West), Trendkomponente England & Wales
1980
1985
1990
1995
England & Wales, Trendkomponente Schweden Schweden, Trendkomponente
Abb. 3.7: Entwicklung der Häufigkeitsziffer für Raubdelikte in Deutschland, England und Schweden, 19531997 Quelle: eigene Berechnung aufgrund von Kriminalitätsdaten (Bundeskriminalamt, Home Office, BRÅ) und Bevölkerungszahlen (Statistisches Bundesamt, ONS, SCB).
89
3.2.3.2 Tatverdächtige Nur in Deutschland ist vor allem in den 90er Jahren die Entwicklung der Tatverdächtigenbelastungszahlen derjenigen der Häufigkeitszahlen gefolgt, wobei auch hier der Anstieg der Tatverdächtigenbelastungszahl nicht ganz so stark war wie derjenige der Häufigkeitszahl: einer Verelffachung des Aufkommens stand eine Zunahme der Tatverdächtigenbelastung um das Neunfache gegenüber (Abb. 3.8). Dies lässt vermuten, dass der Anstieg der Raubdelikte teilweise darauf zurückzuführen ist, dass einzelne Personen ihre Delinquenz in diesem Bereich intensiviert haben. In England und Schweden sind allerdings auch andere Faktoren für die Divergenz von Häufigkeitszahl und Tatverdächtigenbelastungszahl verantwortlich, nämlich sinkende Aufklärungsquoten, Änderungen der Erfassungsprozedur und in der Organisation der Gerichte.
Tatverdächtige / 100.000 Einwohner
60
40
20
14
10 8
6
4
2 1955
1960
1965
1970
1975 Jahr
D eutschland (W est) D eutschland (W est), T rendkomponente England & W ales
1980
1985
1990
1995
England & W ales, T rendkomponente Schweden Schweden, T rendkomponente
Abb. 3.8: Entwicklung der Tatverdächtigenbelastungszahlen für Raubdelikte in Deutschland, England und Schweden, 1953-1997 Quelle: eigene Berechnung aufgrund von Kriminalitätsdaten (Bundeskriminalamt, Home Office, BRÅ) und Bevölkerungszahlen (Statistisches Bundesamt, WHO). Hinweis: Für 1983 liegen wegen der Umstellung auf die "echte Tatverdächtigenzählung" für Deutschland keine Tatverdächtigenzahlen vor; die fehlende Beobachtung wurde durch den Mittelwert der benachbarten Werte ersetzt, um die Berechnung des Hodrick-Prescott-Filters zu ermöglichen. Die Bezugsgrößen sind: für Deutschland die gesamte Bevölkerung; für England und Wales: die Bevölkerung ab 10 J. ; für Schweden: die Bevölkerung ab 15 J. Zur Erläuterung der starken Niveauunterschiede siehe oben Kap.2 und S. 74.
Wie separate Analysen zeigen, entwickelte sich die Tatverdächtigenbelastung der Einwohner mit deutscher bzw. schwedischer Staatsbürgerschaft parallel zur Tatverdächtigenbelastung der jeweiligen Gesamtbevölkerung, die Gesamtentwicklung wird also nicht durch spezifische Tendenzen bei der ausländischen Einwohnerschaft verzerrt. Die Geschlechtsspezifik der Entwicklung ist ähnlich wie bei den Körperverletzungsdelikten: In Deutschland und England ist die Tatverdächtigenbelastungszahl der Frauen – von einem wesentlich niedrigeren Ausgangsniveau aus – erheblich stärker gestiegen als die der Männer; in Deutschland steht einer ungefähren Verzwanzigfachung der Belastung der Frauen eine Verachtfachung der Kriminalitätsbelastung der Männer gegenüber, in England und Wales einer Verzehnfachung bei den Frauen eine Vervierfachung bei den Männern. 90
Das proportionale Verhältnis der Zuwächse bei Frauen und Männern ist also in beiden Ländern bei unterschiedlichem Umfang fast identisch. In Schweden zeigt sich dagegen in dem kurzen Zeitraum, für den nach Geschlecht differenzierte Daten zur Verfügung stehen, keine Zunahme der Tatverdächtigenbelastung der Frauen; das Bild sähe hier aber möglicherweise anders aus, wenn auch hier Tatverdächtige unter 15 Jahren erfasst würden. Auch die altersgruppenspezifische Entwicklung verläuft ähnlich wie bei den Körperverletzungsdelikten, d.h. das Ausmaß der Veränderung war bei den jüngeren Altersgruppen am höchsten. In England war der Anstieg der Belastung in den jüngeren Altersgruppen Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre anders als bei den Körperverletzungsdelikten nicht dauerhaft, sondern es folgte ihm ein starker Rückgang insbesondere bei den jüngsten Tatverdächtigen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass dies auch mit Fluktuationen im Kontrollverhalten zusammenhängt. 3.2.4
Vergewaltigungsdelikte
3.2.4.1 Entwicklung der Inzidenz Die deutlichsten Unterschiede zwischen den untersuchten Ländern bei der Entwicklung der Inzidenz zeigen sich bei den Vergewaltigungsdelikten, insofern hier einer stabilen, eher rückläufigen Entwicklung in Deutschland ein deutlicher und gegen Ende der Untersuchungsperiode besonders in England beschleunigter Anstieg der Häufigkeitszahlen in den anderen Ländern gegenübersteht (Abb. 3.9).
Fälle / 100.000 Einwohner
24
20
16 12
8
4
0 1955
1960
1965
1970
1975 Jahr
Deutschland (W est) Deutschland (W est), T rendkomponente England & W ales
1980
1985
1990
1995
England & W ales, T rendkomponente Schweden Schweden, T rendkomponente
Abb. 3.9: Entwicklung der Häufigkeitsziffer für Vergewaltigungsdelikte in Deutschland, England und Schweden, 1953-1997 Quelle: eigene Berechnung aufgrund von Kriminalitätsdaten (Bundeskriminalamt, Home Office, BRÅ) und Bevölkerungszahlen (Statistisches Bundesamt, ONS, SCB).
Allerdings ist diese Beobachtung zurückhaltend zu bewerten, da die Anzeigebereitschaft bei Sexualdelikten sehr gering ist (Bundesministerium des Innern und Bundesministerium der Justiz 2001: 71f.) und Veränderungen in der Neigung zur Anzeigeerstattung potentiell einen erheblichen Einfluss haben. Die einschlägige Literatur und verschiedene Indizien 91
legen nahe, dass insbesondere der deutliche Anstieg in England und Wales seit den 80er Jahren, aber auch derjenige in Schweden mindestens teilweise auf eine gestiegene Anzeigebereitschaft zurückzuführen ist (Birkel/Thome 2004: 70-72). In Deutschland scheint die Anzeigebereitschaft nicht in vergleichbarem Umfang gestiegen zu sein, obwohl es dort ebenfalls Indizien für Veränderungen gibt (Birkel/Thome 2004: 68f.), die hier aber eher einen weiteren Abfall der Rate maskieren. Insgesamt ist davon auszugehen, dass die realen Unterschiede in der Entwicklung zwischen den drei Ländern vor allem seit Mitte der 80er Jahre wesentlich geringer sind, als die Kriminalstatistiken signalisieren. Wie die Berechnung altersstandardisierter Raten zeigte, sind bei Vergewaltigungsdelikten Kompositionseffekte von geringer Bedeutung. Lediglich in Deutschland wäre bei einer gleich bleibenden demographischen Struktur wie 1993-1997 der Anstieg und anschließende Abfall der angezeigten Vergewaltigungen Ende der 50er Jahre, und insbesondere die leichte Abnahme zwischen den 70er und späten 80er Jahren etwas deutlicher ausgefallen. 3.2.4.2 Tatverdächtige In Deutschland folgte die Entwicklung der Tatverdächtigenbelastungszahlen ähnlich wie bei den anderen Delikten derjenigen der Häufigkeitszahlen (Abb. 3.10). Lediglich Ende der 50er Jahre war der Anstieg etwas stärker als in der Fallstatistik, in den 80er Jahren aufgrund der Umstellung auf echte Tatverdächtigenzählung der Abfall etwas ausgeprägter. Tatverdächtige / 100.000 Einwohner
10 9 8 7
6 5 4 3 2 1 0 1955
1960
1965
1970
1975 Jah r
Deutschland (W est) Deutschland (W est), T rendkomponente England & W ales
1980
1985
1990
1995
England & W ales, T rendkomponente Schweden Schweden, T rendkomponente
Abb. 3.10: Entwicklung der Tatverdächtigenbelastungszahlen für Vergewaltigungsdelikte in Deutschland, England und Schweden, 1953-1997 Quelle: eigene Berechnung aufgrund von Kriminalitätsdaten (Bundeskriminalamt, Home Office, BRÅ) und Bevölkerungszahlen (Statistisches Bundesamt, WHO). Hinweis: Für 1983 liegen wegen der Umstellung auf die "echte Tatverdächtigenzählung" für Deutschland keine Tatverdächtigenzahlen vor; die fehlende Beobachtung wurde durch den Mittelwert der benachbarten Werte ersetzt, um die Berechnung des Hodrick-Prescott-Filters zu ermöglichen. Die Bezugsgrößen sind: für Deutschland die gesamte Bevölkerung; für England und Wales: die Bevölkerung ab 10 J. ; für Schweden: die Bevölkerung ab 15 J. Zu den Niveauunterschieden siehe wiederum die Erläuterungen auf 73.
92
In England und Wales dagegen folgte bei den Vergewaltigungsdelikten die Rate der Verurteilten und Verwarnten nicht der Häufigkeitsziffer: nach anfänglichem Anstieg stabilisierten sie sich ab Mitte der siebziger Jahre, während die Häufigkeitsziffer weiter leicht stieg, um zunächst parallel zu dieser in der zweiten Hälfte der 80er Jahre deutlich zuzunehmen, aber dann wieder erheblich zu fallen, obwohl der starke Anstieg des Fallaufkommens weiterging. Bei der Interpretation sind auch hier wieder die Eigenheiten dieser Statistik, die in erster Linie eine Verurteiltenstatistik ist, in Rechnung zu stellen: denn gerade bei Vergewaltigungsdelikten kommt es häufig nicht zu einer Anklageerhebung, da das Opfer den Antrag auf Strafverfolgung zurückzieht oder nicht an dieser interessiert ist (weshalb der Fall dann auch von der Polizei oder dem Crown Prosecution Service nicht mehr weiter verfolgt wird). Zudem haben insbesondere die Anzeigen wegen Delikten im sozialen Nahraum zugenommen. Bei solchen Delikten wünschen die Opfer besonders häufig keine weitere Strafverfolgung. Zu dem ist ihre Aufklärung (im Sinne der Ermittlung eines Tatverdächtigen) zwar einfach, die Beweisschwierigkeiten sind aber hoch, weshalb es häufig zu keiner Anklageerhebung oder zu Freisprüchen kommt; schließlich ist hier "plea bargaining" häufig, d.h. der Angeklagte bekennt sich eines weniger schweren Deliktes schuldig und erspart dadurch dem Opfer eine Aussage vor Gericht – bei immerhin ca. 25 Prozent der Delikte, für die Anklage erhoben wird, erfolgt eine Verurteilung wegen eines anderen Vergehens (Harris/Grace 1999: xi, 13f., 27, 29ff., 44). Die Tatverdächtigenstatistik zeigt in Schweden im Gegensatz zur Fallentwicklung ein hohes Maß an Kontinuität im Niveau, allerdings auch einige auffällige Spitzen, wie z.B. die Häufigkeitsziffer des Jahres 1993, auf die allerdings ein rascher Abfall folgte. Möglicherweise hängt die Diskrepanz damit zusammen, dass verstärkt ein und derselbe Tatverdächtige wegen mehrerer Vergehen am gleichen Opfer angezeigt wurde, was zur Registrierung mehrerer Fälle, aber nur eines Tatverdächtigen führte. Außerdem hat die Aufklärungsquote langfristig abgenommen (von ca. 50 Prozent Ende der 60er Jahre auf unter 40 Prozent Mitte der 90er Jahre). Wie differenzierte Analysen zeigen, haben sich die Tatverdächtigenbelastungszahlen der jüngeren Altersgruppen bei dieser Deliktart in Deutschland nicht so dramatisch verändert wie diejenigen bei Körperverletzungs- und Raubdelikten, auch wenn hier die Dynamik größer als bei den Erwachsenen ab 21 Jahren war. Einem Anstieg der Belastung bei Jugendlichen und Heranwachsenden bis Anfang der 70er Jahre folgte demnach ein Rückgang bis zu einer Trendumkehr und einem erneuten spürbaren, aber im Vergleich zu den anderen Delikten geringeren Anstieg seit Ende der 80er Jahre. Es ist durchaus zu vermuten, dass hier Realentwicklungen vorliegen, da sich Veränderungen der allgemeinen Anzeigebereitschaft bei Sexualdelikten nicht differentiell auf die verschiedenen Altersgruppen auswirken dürften90.
90
Es scheint nicht plausibel anzunehmen, dass bei einem so ernsten Delikt wie Vergewaltigung gegenüber Jugendlichen früher eher auf eine Anzeige verzichtet wurde als gegenüber Erwachsenen, und noch weniger plausibel, einen Jugendlichen eher als einen Erwachsenen anzuzeigen. Auswirkungen könnte es allerdings durchaus haben, wenn die Neigung jüngerer Frauen zugenommen hätte, Vergewaltigungen im
93
Ein etwas anderes Bild zeigt die Entwicklung in England und Wales: hier ergibt sich ein zu den anderen Gewaltdelikten umgekehrtes Muster, insofern die Belastung der Jugendlichen und Jungerwachsenen nach einem anfänglichen Anstieg seit der ersten Hälfte der 70er Jahre rückläufig war (mit Ausnahme eines zwischenzeitlichen Anstiegs bei den 14- bis 16Jährigen Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre), während die der Erwachsenen bis Ende der 80er Jahre kontinuierlich zunahm. Noch klarer zeigte sich eine ähnliche Entwicklung in Schweden: hier sank die Belastung der Jugendlichen bis Ende der 80er Jahre deutlich, um anschließend über einige Jahre spürbar zu steigen, ohne jedoch das Ausgangsniveau zu erreichen. Auch bei den Heranwachsenden zeigt sich eine langfristig abnehmende Tendenz, von der die Periode Mitte der 80er bis Anfang der 90er Jahre eine Abweichung nach unten darstellte (insofern stellt sich der Anstieg in den frühen 90er Jahren als Rückkehrbewegung zum langfristigen Trend dar). Die Tatverdächtigenbelastungszahl der Jungerwachsenen weist einen kontinuierlicheren, langfristig ebenfalls abnehmenden Trend auf. Bei den Erwachsenen ab 25 Jahren stieg dagegen die Belastung zunächst, um ab Mitte der 90er Jahre einen leichten Rückgang zu zeigen. Auch in Schweden war also kein so deutlicher Anstieg der Belastung der Jugendlichen wie bei anderen Delikten festzustellen, sondern langfristig sogar eine Abnahme. 3.3
Zusammenfassung
Die Beobachtungen zur Entwicklung der Gewaltkriminalität in den drei von uns untersuchten Ländern lassen sich mit Blick auf unser Erklärungsschema (s. Kap. 1) in folgenden Punkten zusammenfassen: Entwicklung der Inzidenz: Tab. 3.1 zeigt verschiedene Multiplikatoren, mit denen sich der Anstieg der Delikthäufigkeiten, für die die polizeilichen Kriminalstatistiken einigermaßen zuverlässige Daten liefern, charakterisieren lässt: (a) das Verhältnis des letzten (jeweils 1997) zum ersten (1953, bei Körperverletzungsdelikten für Westdeutschland: 1957) beobachteten Wert, (b) des höchsten zum niedrigsten Wert, (c) des ersten und letzten Wertes der Trendkomponente des Hodrick-Prescott-Filters, (d) die absolute Differenz von höchstem und niedrigstem Wert des Hodrick-Prescott-Filters. Außerdem ist der geometrische Mittelwert den deliktspezifischen Multiplikatoren für jedes Land wiedergegeben, der für die einzelnen Länder den Gesamtverlauf der Gewaltkriminalität zusammenfasst. Es zeigt sich zum einen, über den gesamten Untersuchungszeitraum betrachtet, ein langfristiger Anstieg, dessen Ausmaß bei ähnlichem Muster in allen drei Ländern je nach Deliktart unterschiedlich stark ausfällt: am stärksten bei den Raubdelikten, am schwächsten bei den Tötungsdelikten. Dies stützt zunächst einmal unsere (von Durkheim inspirierte) Basisannahme, dass die gesellschaftlichen Strukturveränderungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer Anhebung des Normalniveaus der Gewaltkriminalität geführt haben. Auch der Tatbestand, dass die Raubdelikte besonders stark angestiegen sind, ist gut mit unserem Erklärungsschema vereinbar, das davon ausgeht,
sozialen Nahraum anzuzeigen, da diese oft vom Partner oder Bekannten aus der gleichen Altersgruppe verübt werden.
94
dass sich im Übergang vom kooperativen zum desintegrativen Individualismus das instrumentalistische Denken weiter ausbreitet. Tötungs- und Körperverletzungsdelikte weisen vermutlich einen höheren Anteil an expressiven und affektuellen Handlungskomponenten auf als die Raubdelikte. Außerdem dürften sich die Gelegenheitsstrukturen (die wir innerhalb unseres Ansatzes bisher nicht näher spezifiziert haben, auf die wir in nachfolgenden Kapiteln aber noch eingehen) für die einzelnen Deliktkategorien unterschiedlich entwickelt haben. Zum anderen ergibt sich auch eine deutliche Rangfolge der Länder: Der Anstieg der Häufigkeitsziffern war über alle Kategorien und Maßzahlen hinweg in Westdeutschland am niedrigsten und in England/Wales am höchsten (Dies gilt auch wenn man die Tötungsdelikte erst ab 1963 und einschließlich der Körperverletzungen mit Todesfolge in Deutschland betrachtet). Die Hypothese, dass die wohlfahrtsstaatlichen Sicherungssysteme (die in Schweden und Deutschland stärker ausgebaut wurden als in England, s. Kap. 6) den gewaltdämpfenden kooperativen Individualismus gegenüber dem (Gewalt begünstigenden) desintegrativen Individualismus stärken, wird durch diesen Befund gestützt. Tab. 3.1: Verhältniszahlen für die Entwicklung der Häufigkeitsziffern der Gewaltkriminalität in Westdeutschland, England/Wales und Schweden 1953-1997 Kategorie
Verhältnis
D
E&W
S
Tötungsdelikte (Westdeutschland: nur Mord, Totschlag, Kindestötung, nicht Körperverletzung mit Todesfolge)
höchster/niedrigster Wert, Rohdaten
2,05
2,53
2,45
letzter/erster Wert, Rohdaten
1,25
1,92
1,39
letzter/erster Wert, Hodrick-Prescott-Filter, Ȝ=400
1,60
2,18
1,66
Differenz höchster/ niedrigster Wert H-P-Filter, Ȝ=400
,54
,76
,80
höchster/niedrigster Wert, Rohdaten
2,95
33,22
5,88
letzter/erster Wert, Rohdaten
2,89
33,22
5,88
letzter/erster Wert, Hodrick-Prescott-Filter, Ȝ =400
2,86
34,44
6,47
Differenz höchster/ niedrigster Wert H-P-Filter, Ȝ=400
241,60
453,18
552,69
höchster/niedrigster Wert, Rohdaten
12,38
79,06
20,86
letzter/erster Wert, Rohdaten
11,26
54,91
20,86
letzter/erster Wert, Hodrick-Prescott-Filter, Ȝ =1000
12,55
80,66
20,45
Differenz höchster/ niedrigster Wert H-P-Filter, Ȝ=400
76,49
142,39
70,79
höchster/niedrigster Wert, Rohdaten
4,21
18,79
6,70
letzter/erster Wert, Rohdaten
3,44
15,18
5,54
letzter/erster Wert, Hodrick-Prescott-Filter, Ȝ =1000
3,86
18,23
6,03
Körperverletzungsdelikte
Raubdelikte
geometrischer Mittelwert
Quelle: eigene Berechnungen.
95
Allerdings ist der im Vergleich zur Bundesrepublik stärkere Anstieg der Gewaltkriminalität in Schweden aus dieser Perspektive nicht unmittelbar zu erklären. Ein Ansatzpunkt zur Erklärung könnte sich aber daraus ergeben, dass seit Ende der 70er Jahre die Ungleichheit in Schweden stärker zugenommen hat als in der BRD. Außerdem sind in Schweden seit Mitte der 80er Jahre die korporatistischen Strukturen stärker abgebaut und in den 90er Jahren die sozialen Sicherungssysteme einschneidender reformiert worden als in Deutschland (darauf werden wir in Kap. 6 ausführlich eingehen). Zudem könnte die in Schweden besonders stark gesunkene Effektivität der Polizei eine Rolle gespielt haben (s. unten, Kap. 5.1); außerdem ging, anders als in der Bundesrepublik, schon in den 60er und 70er Jahren das Vertrauen in Parlament und Regierung zurück (s. unten, Kap. 5.2). Schließlich ist nicht auszuschließen, dass sich die höheren Wachstumsraten in Schweden zumindest teilweise aus den oben erwähnten Umstellungen in der Registrier- und Strafverfolgungspraxis ergeben. Die im Vergleich zu den anderen Deliktgruppen erheblich diskrepante Entwicklung der Vergewaltigungsdelikte lässt sich angesichts des großen Dunkelfeldes kaum inhaltlich interpretieren. Eine spekulative Überlegung wollen wir dennoch anstellen. Wir haben sowohl für England/Wales wie auch für Schweden Hinweise darauf gefunden (s. oben), dass der dort registrierte Trendanstieg bei den Vergewaltigungsfällen vor allem auf Veränderungen der Anzeigebereitschaft und der Kontroll- und Registrierpraktiken zurückzuführen ist. Außerdem zeigt sich für Deutschland klar ein Rückgang dieser Delikte im Beobachtungszeitraum. Man kann also davon ausgehen, dass es real in dieser Kategorie zu keinem oder einem wesentlich geringeren Anstieg als bei den Raub- und Körperverletzungsdelikten gekommen ist. Wenn man außerdem annimmt, dass Vergewaltigungen eher zu archaischen Mustern des Geschlechterverhältnisses "passen" als dass sie durch Individualisierungs- und sonstige Modernisierungsprozesse begünstigt werden, kann man in diesem Ergebnis eine partielle Bestätigung der Durkheimschen Kollektivismus-These (als Komponente unseres Erklärungsschemas) sehen. Tätergruppen: Bei den Tötungsdelikten hat der beteiligte Personenkreis in ähnlichem Umfang zugenommen wie das Aufkommen an derartigen Delikten. In Deutschland scheint dies auch bei den anderen Gewaltdelikten der Fall zu sein (mit Ausnahme der Raubdelikte in den 90er Jahren), nicht aber in den anderen beiden Ländern, wo die Zahlen der Verdächtigen (bzw. Verwarnten oder Verurteilten) längst nicht so stark zugenommen haben wie die Fallzahlen. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass dort weniger die Zahl der Täter als die Intensität ihrer Delinquenz zugenommen hat, sofern nicht Unterschiede in der statistischen Erfassungsweise für die Diskrepanz verantwortlich zu machen sind. Sollte sie tatsächlich bestehen, wäre sie im Rahmen unseres Ansatzes nicht erklärbar. Möglicherweise spielen hier räumliche Segregationsprozesse und damit in Zusammenhang stehende Verfestigungen delinquenter Subkulturen eine Rolle, die außerhalb der Reichweite unseres Untersuchungsdesigns liegen. Vor allem bei den Körperverletzungs- und den Raubdelikten hat insbesondere die Beteiligung der jüngeren Altersgruppen zugenommen, wobei die Entwicklung in den Kriminalstatistiken in diesem Falle durch ein schrumpfendes Dunkelfeld überzeichnet sein
96
dürfte. Es ist allerdings auch nicht anzunehmen, dass es sich hier um ein reines Artefakt handelt. Ein stärkerer Anstieg bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen verwundert nicht, da diese Altersgruppen von bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungen (wie einer verschlechterten Arbeitsmarktlage, aber auch Kommerzialisierungsprozessen in verschiedenen Bereichen, s. Kap. 6) am unmittelbarsten betroffen sind und am empfindlichsten auf sie reagieren91. Gründe hierfür sind z. B. die relativ schwache informelle Sozialkontrolle – soweit sie nicht durch Peers ausgeübt wird – in dieser Lebensphase, die relativ geringen materiellen Ressourcen, aus Sicht der ökonomischen Kriminalitätstheorie aber auch die geringeren Opportunitätskosten illegaler Handlungen. Außerdem kommt vermutlich die stärker werdende Konkurrenz der Sozialisationsinstanzen (Massenmedien, Familie, Schule) in diesen Altersgruppen besonders zum Tragen. Es fällt auf, dass gerade in der "Beruhigungsphase" des sozialstrukturellen Wandels in den 80er Jahren der Anstieg der jugendlichen Gewaltkriminalität sich im Vergleich zu derjenigen der Erwachsenen besonders stark zu entwickeln beginnt. Hierzu könnte die Verbreitung der Massenmedien (insbesondere der Ausbau des kommerzialisierten Fernsehens sowie der zunehmende Konsum von gewalthaltigen Video-Produkten, vgl. Kap. 7) und die von Jugendforschern so bezeichnete "Entstrukturierung der Jugendphase" beigetragen haben (Münchmeier 1998). Schließlich zeigen sich Veränderungen bei der Geschlechtsspezifik der Delinquenz: Zwar ist bei Körperverletzungs- und Raubdelikten die Beteiligung von Frauen in allen drei Ländern nach wie vor gering, sie hat aber wesentlich stärker zugenommen als diejenige der Männer (außer bei Tötungsdelikten). Opfergruppen: Auch im Hinblick auf das Viktimisierungsrisiko zeigen sich Verschiebungen in der Geschlechtsspezifik. In den von uns untersuchten Ländern hat das Risiko von Frauen, Opfer von tödlicher Gewalt zu werden, weniger stark als dasjenige der Männer zugenommen, insbesondere in Schweden. Nach den spärlichen Informationen, die vorliegen, hat dagegen bei Körperverletzungen das Viktimisierungsrisiko der Frauen in Westdeutschland etwas stärker, in Schweden in vergleichbarem Umfang wie dasjenige der Männer zugenommen. Die unterschiedliche Entwicklung der weiblichen Betroffenheit auf Opfer- und Täterseite ließe sich im Rahmen des vorgelegten Ansatzes möglicherweise dahingehend interpretieren, dass der – im Aggregat vergleichbare – Effekt ähnlicher globaler Wandlungsprozesse auf Viktimisierungsrisiko und Täterschaft in divergierender Weise durch unterschiedlich strukturierte – d.h. verschieden stark "modernisierte" – Geschlechterverhältnisse vermittelt wird, wobei die nachholende Individualisierung weiblicher Lebensverläufe eine ambivalente Rolle spielt: Zum einen ist sie – besonders in Schweden – mit einer größeren materiellen Unabhängigkeit der Frauen verbunden, die es möglicherweise erlaubt, Beziehungen mit gewalttätigen Männern früher zu beenden und die mit ihnen verbundene Gefahr eines tödlich endenden Konfliktes zu reduzieren92. Andererseits könnte die
91 92
Auch Ende des 19. Jahrhunderts nahm in Deutschland die Gewaltkriminalität der Jugendlichen stärker als die der Erwachsenen zu (vgl. Thome 2002). Vgl. Kalmuss/Straus (1982: 277f.). Allerdings finden sich in der einschlägigen Literatur auch Überlegungen, welche die Gewalt von Männern gerade als Reaktion auf eine größere Unabhängigkeit
97
nachholende und insofern beschleunigte Individualisierung sowohl anomische Orientierungsdefizite als auch, evtl. reaktiv und kompensatorisch hierzu, instrumentalistische Orientierungen fördern (s. unten Kap. 6.6).
ihrer Frauen betrachten, nämlich als Folge von durch Statusinkonsistenzen ausgelösten Stress oder auch als Versuch, die Dominanz in der Beziehung wiederherzustellen (Macmillan/Gartner 1999).
98
4
Basisindikatoren der ökonomischen Entwicklung in Deutschland, Großbritannien, Schweden, USA seit 1950
Wohlstandsniveaus, Einkommensungleichheit, Arbeitslosigkeit und andere Komponenten oder Korrelate ökonomischer Entwicklung sind in der kriminalsoziologischen Forschung in vielfältiger Weise zur Erklärung von Kriminalitätsraten herangezogen worden. Sie prägen Gelegenheitsstrukturen und Motivkonstellationen für abweichendes Verhalten, Lebensstile und soziale Konflikte, formelle und informelle Kontrollstrukturen. Ökonomische Entwicklungen und technologische Innovationen (vor allem im Verkehrs- und Kommunikationsbereich) verändern auch den Systemcharakter von Gesellschaften, insbesondere das Verhältnis von Politik und Wirtschaft, die Regulierungskompetenzen des Staates und die Einflussnahme der Öffentlichkeit. In jüngerer Zeit ist der "regulative Wohlfahrtsstaat" zunehmend attackiert worden mit dem Argument, er behindere das wirtschaftliche Wachstum oder, schlimmer noch, gefährde langfristig das bisher erreichte Wohlstandsniveau. Neben der Kostenbelastung und den Finanzierungsdefiziten bemängelt man vor allem, die Märkte seien durch staatliche oder tarifrechtliche Vorschriften überreguliert, dies setze falsche Anreize und verzerre den Wettbewerb. Wir werden auf diese Debatte in diesem Kapitel nicht näher eingehen; die in ihr angesprochenen Strukturentwicklungen spielen jedoch eine wichtige Rolle in unserem Erklärungsansatz und sollen deshalb in ihren Grundzügen vorweg dargestellt werden. Weiterführende Überlegungen hierzu werden in Kap. 6 angestellt. Da in den öffentlichen Diskussionen die Leistungskraft europäischer Länder vor allem an derjenigen der USA gemessen wird, beziehen wir bei den meisten Indikatoren die USA in unseren Vergleich ein. Die allgemein zugänglichen statistischen Quellen liefern in der Regel keine spezifischen Daten für England und Wales, sodass wir hier Angaben für "Großbritannien" (GB) bzw. das "Vereinigte Königreich" (UK) zitieren.93 Für Schweden benutzen wir die Abkürzung SW oder S, für Deutschland entweder BRD oder D. Die verschiedenen Quellen liefern nicht immer übereinstimmende Daten; wir werden gelegentlich darauf hinweisen und uns im übrigen primär an den Daten der Organization for Economic Cooperation and Development (OECD) orientieren. Das Tableau ökonomischer Kenngrößen ergänzen wir durch einige Indikatoren der Bevölkerungsentwicklung: Geburtenrate, Alterszusammensetzung und Ausländeranteile. Die länderspezifischen Besonderheiten sozialstaatlicher Leistungssysteme, der Entwicklung ökonomischer und
93
Die meisten statistischen Angaben beziehen sich auf das „Vereinigte Königreich“ (Großbritannien und Nord-Irland). Wir vernachlässigen in diesem Kapitel die Differenz, die sich aus dem Ein- oder Ausschluss von Nord-Irland ergibt, und verwenden im Folgenden mehr oder weniger durchgängig die Bezeichnung „Großbritannien“ für beide Varianten.
99
sozialer Ungleichheit sowie einiger weiterer Aspekte der strukturellen Kopplung zwischen ökonomischem und politischem System werden, wie schon angedeutet, in Kapitel 6 dargestellt. 4.1
Wachstum und Niveau des Volkseinkommens
Allgemein gilt das Bruttoinlandsprodukt (BIP)94 pro Kopf der Bevölkerung als wesentlicher Leistungsindikator im Vergleich verschiedener Volkswirtschaften. Wegen der Instabilität der Wechselkurse ist es sinnvoll, die Niveau-Vergleiche zwischen den Ländern auf der Basis von Kaufkraftparitäten (KKP) durchzuführen. 7,00 6,00 5,00
%
4,00 3,00 2,00 1,00
19 56 19 58 19 60 19 62 19 64 19 66 19 68 19 70 19 72 19 74 19 76 19 78 19 80 19 82 19 84 19 86
0,00
D (West)
Jahr
USA
S
UK
Abb. 4.1: Durchschnittliche Veränderung des realen GDP pro Kopf in KKP (zentrierte gleitende Mittelwerte, Stützbereich 10 Jahre, in Preisen von 1985) Quelle: Penn World Tables 5.6 (vgl. Summers/Heston 1991).
Die Entwicklung der Wachstumsraten kann aber auch für jede Volkswirtschaft getrennt im Sinne der Veränderung des "realen" (inflationsbereinigten) BIP, gemessen in der jeweiligen Währung, dargestellt werden. Dennoch greifen wir in Abb. 4.1 auf das in Kaufkraftparitäten konvertierte BIP zurück, da hierfür länger zurückreichende Zeitreihen als für das reale
94
100
Englisch: Gross Domestic Product (GDP). Das BIP oder GDP enthält auch die (Gewinn-)Einkommen, die an ausländische Beschäftigte und Firmen fließen; nicht zuletzt aus diesem Grunde steht Luxemburg bei Ländervergleichen glänzend dar. Dagegen ist das „Bruttosozialprodukt“ (BSP) als Brutto-InländerProdukt definiert, in das die „fremdproduzierten“ Anteile nicht einbezogen sind: vom BIP werden die Primäreinkommen abgezogen, die an die übrige Welt geflossen sind und umgekehrt die Primäreinkommen hinzugefügt, die von inländischen Wirtschaftseinheiten aus der übrigen Welt bezogen worden sind. Das BSP wird auch als „Bruttonationaleinkommen“ (BNE) bezeichnet (Gabler Wirtschaftslexikon: 553).
Wachstum in den jeweiligen Landeswährungen vorliegen (die allerdings 1988 enden95). In den 1950er Jahren weist die Bundesrepublik besonders starke Wachstumsraten (pro Kopf der Bevölkerung) auf (s. Abb. 4.1), was als Aufholeffekt nach den Zerstörungen des zweiten Weltkriegs interpretiert werden kann. (In der ersten Hälfte der 50er Jahre liegen die Wachstumsraten in der BRD noch über denen, die sich aus der Abb. 4.1 ergeben.) Im Trendverlauf bleibt die Bundesrepublik bis 1979 vorne, nicht nur vor SW und GB, sondern auch vor den USA. Abb. 4.1 zeigt die Entwicklung in Form zentrierter gleitender Mittelwerte bei einem Stützbereich von zehn Jahren. 4,00 3,50 3,00
%
2,50 2,00 1,50 1,00 0,50
19 55 19 57 19 59 19 61 19 63 19 65 19 67 19 69 19 71 19 73 19 75 19 77 19 79 19 81 19 83 19 85 19 87 19 89 19 91 19 93 19 95 19 97
0,00
Jahr
S
UK
USA
D (West, ab 1991 geschätzt)
Abb. 4.2: Durchschnittliche Veränderung des realen GDP pro Kopf in nationalen Währungen (gleitende Mittelwerte, Stützbereich 10 Jahre, in Preisen von 2000). Quelle: IMF, International Financial Statistics, in: Data Service Information (2004).
Ein etwas anderes Bild ergibt sich, wenn wir das reale Wachstum des BIP pro Kopf in nationalen Währungen (statt der Kaufkraftparitäten, also unbeeinflusst von Verschiebungen der relativen Preisniveaus) betrachten (Abb. 4.2)96: es weist nun in der ersten Hälfte der 60er Jahre Schweden die höchsten Wachstumsraten auf. Ab Mitte der 60er Jahre überholt das Wachstum der westdeutschen Wirtschaft dasjenige der anderen europäischen Volkswirtschaften, ab Ende des Jahrzehnts auch dasjenige der US-Ökonomie (bei
95
96
Aktuellere Versionen der Penn World Tables weisen (auch vor 1990!) keine separaten Zahlen für Westdeutschland mehr aus. Das westdeutsche BIP/Kopf ab 1991 haben wir ermittelt, indem wir das gesamtdeutsche BIP/Kopf nach IMF-Definition mit dem Verhältnis des BIP/Kopf der westlichen Bundesländer (einschließlich Ostberlin) zum gesamtdeutschen BIP (jeweils nach Definition des Arbeitskreises Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der Länder) multipliziert haben. Für Großbritannien sind Daten für das reale BIP erst ab 1956 verfügbar; deswegen beginnt die Reihe der gleitenden Mittelwerte für dieses Land erst 1963. Da für die Bundesrepublik erst ab 1960 ein Deflator für das BIP verfügbar ist, beginnt diese Reihe erst 1965. In dieser Darstellung wird also nicht der Aufholprozess der deutschen Wirtschaft nach dem zweiten Weltkrieg sichtbar.
101
Betrachtung der gleitenden Mittelwerte stellt sich die Abfolge umgekehrt dar, d.h. erst werden die USA, dann die europäischen Länder überholt). Diese Spitzenposition behält Westdeutschland bis 1980 bei. Zu Beginn der 80er Jahre geraten alle vier Länder mit leichten zeitlichen Verschiebungen und mehr oder weniger stark ausgeprägt in eine kurzfristig rezessive Phase (was in den gleitenden Mittelwerten allerdings nicht sichtbar wird). In der anschließenden Periode bleibt Deutschland bis auf einzelne Jahre unter dem Wachstumsniveau der anderen Länder. Das schwedische Wachstum bleibt durchgängig hinter dem US-amerikanischen zurück, während dieses vom britischen seit Mitte der 80er Jahre überwiegend übertroffen wird. Die britische Entwicklung ist keineswegs atypisch – auch im Durchschnitt der EU-Länder insgesamt zeigt sich, dass die amerikanische Wirtschaft nicht dynamischer ist als die europäische: das Wachstum des BIP pro Kopf war in der EU im Durchschnitt der Jahre 1995 bis 2002 mit 2,15 % sogar etwas höher als in den USA (2,04 %) (Bornschier 2005: 366). Die Wachstumsraten sagen noch nichts über die Höhe der Volkseinkommen aus. Wie schon erwähnt, bieten sich zum Vergleich zwischen mehreren Ländern die sog. Kaufkraftparitäten (KKP) an, die von den verschiedenen Institutionen in unterschiedlichen Versionenvorgelegt werden. Unter anderem sind deflationierte KKPs von KKPs zu aktuellen Preisen (current prices) zu unterscheiden (siehe Schreyer/Koechlin 2002). Bei den deflationierten KKPs fallen die Vergleiche unterschiedlich aus, je nachdem, welches Jahr als Basis gewählt wird. Ein Nachteil dieser Methode ist außerdem, dass sie die Veränderungen in der Zusammensetzung der Produktkörbe und in den relativen Preisen nicht berücksichtigt. Uns scheint es deshalb sinnvoller zu sein, für den Niveauvergleich zwischen den Ländern die KKPs pro Kopf der Bevölkerung zu den jeweils aktuellen Preisen heranzuziehen. Abb. 4.3 präsentiert die Entwicklung seit 1950, wobei das USA-Niveau jeweils auf den Wert 100 fixiert ist und die KKPs der anderen drei Länder als Prozentanteil des USAWertes angegeben sind. Es zeigt sich, dass die BRD nach der Wiederaufbauphase Anfang der 60er Jahre GB ein- und ab 1968 überholte. 100 90 80 70
%
60 50 40 30 20 10
Abb. 4.3: Entwicklung des GDP in KKP in Prozent des US-GDP Quelle: Penn World Tables 5.6. 102
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Vereinigtes K önigreich
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54 19
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0
SW bleibt bis zu seiner Krisenphase Anfang der 90er Jahre vor Deutschland. Die USA behalten trotz insgesamt niedrigerer Wachstumsraten ihren deutlichen Vorsprung, Deutschland kommt aber im Jahre 1991 nahe an die 90-Prozent-Marke heran, verbessert also seine Position nicht nur in der Wiederaufbauphase, sondern auch noch zwischen 1970 und 1990 erheblich. Nach den OECD-Daten (hier nicht gezeigt) überschreitet West-Deutschland 1990 gegenüber den USA sogar die 90-Prozent-Marke (knapp 93 %), während Gesamtdeutschland mit 81 % gleichauf mit Schweden liegt. Während GB seine Position gegenüber den USA einigermaßen stabil hält (1991 wie 2002 auf ca. 78 %), verliert Schweden gut fünf Prozentpunkte und erreicht im Jahre 2002 mit 75,6 % in etwa das Niveau, das wir für Westdeutschland mit 76,8 % schätzen.97 (Gesamtdeutschland liegt bei 72 % und damit in etwa auf dem Niveau, das die Bundesrepublik Anfang der 70er Jahre gegenüber den USA erreicht hatte.) Seit Mitte der 90er Jahre (aber erst dann) fällt Deutschland also im Vergleich nicht nur zu den USA, sondern auch zu GB und SW beim Wachstum deutlich zurück.98 Der Vergleich zwischen den USA und den europäischen Ländern spielt in der politischen Debatte eine erhebliche Rolle. Immer wieder wird das amerikanische System des Marktliberalismus als das ökonomisch stärkere im Vergleich zu den "korporatistischen" europäischen Systemen ausgegeben. Daraus leitet sich die Forderung ab, auch in Europa den "Staat" zugunsten des "Marktes" in seinem Einfluss zu beschneiden und korporatistische Kontrollstrukturen zurückzuschneiden. Gemäß unserem Erklärungsschema ließe dies eine Gewichtsverschiebung zu Ungunsten des kooperativen Individualismus erwarten; deshalb ist auf diese Bewertung schon an dieser Stelle kurz einzugehen (mehr dazu in Kap. 6.3). Wir haben soeben gesehen, dass die drei europäischen Länder in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in ihrem ökonomischen Wachstum bis zur Jahrtausendwende im Vergleich zu den USA nicht zurückgefallen sind, sondern bis 1990 erheblich Boden gutge-
97
98
Das westdeutsche BIP/Kopf haben wir ermittelt, indem wir das gesamtdeutsche BIP/Kopf nach OECDDefinition mit dem Verhältnis des BIP/Kopf der westlichen Bundesländer (einschließlich Ostberlin) zum Gesamtdeutschen BIP (jew. nach Definition des Arbeitskreises Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der Länder) multipliziert haben. (Nach Sinn 2004: 33 ist der Abstand Ost- vs. Westdtl. erheblich größer.) An dieser Stelle ist eine Anmerkung zur Methodik des Wirtschaftswissenschaftlers und Bestseller-Autors Hans-Werner Sinn angebracht. Er vergleicht in einem viel gelesenen Buch die Wachstumsentwicklung in GB und D, ohne die Wechselkursschwankungen zu berücksichtigen. Dabei kommt er zu folgendem Fazit: „Damals (im Jahre 1977, T./B.) war das britische Sozialprodukt pro Kopf nur halb so groß wie das deutsche. Das war die Konstellation, die Margret Thatcher an die Macht brachte. Mit ihrer Amtsübernahme hat sich das Blatt aber total gewendet. Es gab in Großbritannien einen gewaltigen Wachstumsschub, der bereits in den achtziger Jahren einsetzte, sich dann in den neunziger Jahren abermals beschleunigte und schließlich bewirkte, dass Großbritannien Deutschland im Jahr 2000 überholte“ (Sinn 2004: 34). Wenn man die Effekte der Wechselkurse ausschaltet und mit Kaufkraftparitäten rechnet, ergibt sich jedoch ein völlig anderes Bild. 1977 erreichte die BRD laut den Penn World Tables (s. Abb. 4.3) 75,81 % des US-amerikanischen GDP in KKP, Großbritannien 63,95 %. Im Jahre 1992 lagen die Quoten für West-Deutschland bei 87 %, für Großbritannien bei 70,21 %, Deutschland hatte seinen Vorsprung also in den 80er Jahren noch etwas vergrößert. Erst wenn man den vorübergehenden Vereinigungsboom auslässt und das Jahr 1989 zum Vergleich heranzieht (BRD 79,9 %, GB 71,9 % des US-Niveaus) hat GB beim Zuwachs seit 1977 einen leichten Vorteil, der von einem „gewaltigen“ Wachstumsschub ein gutes Stück entfernt ist.
103
macht haben. Ihren ökonomischen Vorsprung gegenüber "Europa" haben die USA in der Zeit der ersten Globalisierungsphase im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts sowie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erreicht, als weite Teile Europas durch zwei Weltkriege zerstört wurden – insgesamt also in einer Zeit, in der sich in Europa Demokratie und Sozialstaatlichkeit erst rudimentär entwickelt hatten. 1870 bis 1913 erzielten die USA ein durchschnittliches jährliches Wachstum von 1,8 Prozent, in 12 europäischen Staaten betrug es 1,3 Prozent (in Deutschland 1,6 %, Schweden 1,5 % , UK 1,3 %). In der Periode zwischen 1913 und 1950 stehen Durchschnittsraten von 1,6 % für die USA und 0,8 % für die europäischen Länder zu Buche (Deutschland 0,2 %, Schweden 2,1 %, UK 0,9 %).99 In einer früheren Fassung seines in Fn. 99 zitierten Artikels gibt R. Metz für die USA in der Periode zwischen 1870 und 1989 ein durchschnittliches Wachstum von jährlich 1,8 %, für Deutschland eine Rate von 2,0 Prozent an (für Schweden 2,1 %, für GB 1,4 %). Dies zeigt, wie stark gerade Deutschland in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts bis zur Wiedervereinigung seine Position verbessert hat. Seit ca. 1995 weisen die USA aber wieder ein höheres Wachstum als Deutschland (und einige andere europäische Länder) auf. Ob im Falle Deutschlands die besonderen ökonomischen Lasten der Wiedervereinigung dafür verantwortlich zu machen sind100 oder ob bestimmte Systemmängel in einer sich beschleunigenden Phase der Globalisierung besonders stark zu Buche schlagen, muss hier offenbleiben. Denkbar ist, dass bestimmte Systeme zu Beginn eines Innovationszyklus, andere Systeme in den nachfolgenden Phasen relativ im Vorteil sind oder dass sie sich unterschiedlich gut an veränderte Weltmarktbedingungen (Stichwort "Globalisierung") anpassen können. So z. B. stellt Wasmer in einer vergleichenden Analyse europäischer und US-amerikanischer Arbeitsmärkte fest: "no model dominates the other one [wenn man die verschiedenen Vor- und Nachteile hinsichtlich der Schaffung von Wohlstand abwägt, T./B.], and each one has its own coherence, although the European one is more fragile when macroeconomic conditions change" (Wasmer 2003, abstract). Alle Aussagen über Vor- und Nachteile von Wirtschaftssystemen, die sich nicht auf langfristige, über die Konjunkturzyklen hinausgehende Trendverläufe ("lange Wellen") stützen, sind fragwürdig. 4.2
Produktivitätsentwicklung
Das Pro-Kopf-Einkommen der Bevölkerung spiegelt die ökonomische Leistungsfähigkeit eines Systems nur sehr unvollkommen, denn es wird in den verschiedenen Ländern mit einer unterschiedlichen Erwerbsquote und mit unterschiedlich langen Arbeitszeiten erwirtschaftet. Bei der Wahl zwischen höherem Einkommen oder niedrigerem Arbeitsvolumen (bzw. niedrigerer Wochen- und Lebensarbeitszeit) können die Gesellschaften unterschiedlich optieren.101
99 100 101
104
Diese Angaben finden sich in Metz (2004); die Berechnungen erfolgten auf der Basis der Daten in Maddison (2001). Bekanntlich beträgt der jährliche Netto-Transfer von West- nach Ostdeutschland im langfristigen Durchschnitt seit der Wiedervereinigung etwa 4 Prozent des BIP. Zum Vergleich USA vs. Europa siehe Niall Ferguson (2004) oder Paul Krugman (2005).
120,00
Arbeitsproduktivität
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Jahr
USA
UK
Frankreich
D (gesamt)
D (West)
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Abb. 4.4: Arbeitsproduktivität verschiedener Länder, US 1996 = 100 Quelle: persönliche Mitteilung von Mary O’Mahoney (19.06.2006); vgl. O’Mahony/de Boer (2002:9).
Unter dieser Perspektive ist die pro Arbeitsstunde erzielte Gütermenge, also die Produktivität, der bessere Indikator für das generelle Leistungsvermögen eines Wirtschaftssystems – allerdings nicht ohne Einschränkungen (s. unten "Arbeitslosigkeit"). Abb. 4.4 zeigt die Produktivitätsentwicklung im Sinne des BIP, das pro Arbeitsstunde in Deutschland (Westund Gesamt-D.), GB, den USA, Frankreich und Japan in der Zeit von 1950 bis 1998 erzielt wurde. Die Reihen sind indiziert bezogen auf den US-Wert von 1996. Die Graphik lässt erkennen, dass die USA bis Ende der 1960er Jahre einen großen Produktivitätsvorsprung gegenüber den europäischen Ländern und Japan entwickelt haben. Allerdings können Frankreich bis 1990 und Westdeutschland bis 1995 die Lücke zu den USA schließen. Gesamtdeutschland liegt unterhalb dieses Niveaus, aber immer noch deutlich oberhalb des britischen (und erst recht des japanischen). Selbst GB kann seine relative Position gegenüber den USA zwischen 1965 und 1995 stark verbessern (Kitson 2004: 35). Wird das Produktivitätsniveau Großbritanniens für das Jahr 1999 auf 100 fixiert, ergeben sich laut O'Mahony/de Boer (2002: 7) für die anderen Länder in Relation dazu folgende Werte: USA 126, Frankreich 124, Deutschland (Ost und West) 111, Japan 94. Die OECD hat Zeitreihen vorgelegt, die eine Berechnung der Produktivität (BIP pro Arbeitsstunde) nach der EKS-Methode (entwickelt von den Ökonomen Elteto, Koves und Szulc, ILO 2004: 498-500) erlauben (s. Abb. 4.5). Die Daten bestätigen, dass sowohl die BRD als auch SW und GB ihre relative Position gegenüber den USA seit den 60er Jahren verbessert haben, insbesondere aber Deutschland. Westdeutschland zieht Ende der 80er Jahre klar an den USA vorbei, und selbst Gesamtdeutschland überholt Mitte der 90er Jahre die USA. Im Jahre 2003 liegt Deutschland in der Produktivität mit 40,65 EKS-$ leicht vor den USA (mit 39,23 EKS-$); Schweden (mit 34,98 EKS-$) und GB (mit 33,77 EKS-$) liegen klar unter diesen Werten. 1997 hatte Westdeutschland mit Ausnahme Luxemburgs (das wegen seiner ausländischen Tagespendler für Vergleiche nicht taugt) und nur ganz knapp hinter Norwegen (41,92 EKS-$) mit 41,84 den höchsten Produktivitätswert aller OECD-Staaten (der US-Wert lag zu dieser Zeit bei 35,06 EKS-$). 105
45 40 35
US-$
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0 Jahr
Deutschland West
Deutschland gesamt
Schweden
UK
USA
Abb. 4.5: Arbeitsproduktivität (GDP pro Arbeitsstunde) berechnet nach der EKS-Methode Quelle: Groningen Growth and Development Centre and The Confernce Board, Total Economy Database (August 2004, www.ggdc.net).
Die Berechnungsmethoden der verschiedenen Institute und Organisationen variieren erheblich, sodass auch die Ergebnisse für die einzelnen Länder recht unterschiedlich ausfallen. Das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln z. B. veröffentlicht regelmäßig Analysen zur Entwicklung der Produktivität, definiert als Bruttowertschöpfung je Stunde im verarbeitenden Gewerbe (also nicht bezogen auf die gesamtwirtschaftliche Wertschöpfung). Wird die Berechnung auf der Basis von Kaufkraftparitäten vorgenommen (die allerdings nur auf gesamtwirtschaftlicher Basis ermittelt werden), liegt Deutschland im Vergleich zu 10 europäischen OECD-Ländern sowie Japan, Kanada und den USA im Jahre 2003 knapp (1 %) über dem durchschnittlichen Produktivitätsniveau (Schröder 2003: 5 f.), etwa gleichauf mit Schweden (2 % unter dem deutschen Niveau), aber deutlich vor GB (13 % minus). Noch niedriger platziert ist Japan mit 78 % des deutschen Niveaus. An der Spitze liegen Belgien (120 %), Frankreich (117 %) und die USA (111 %) (ebd., 5 ff.). Allerdings weisen die USA (wie auch Japan) die Wertschöpfung nach wie vor zu Marktpreisen aus und nicht auf der Basis der Herstellungskosten. (Bei der zweitgenannten Methode entfällt der Saldo aus Gütersteuern und Gütersubventionen, was im Falle Deutschlands ein um 5 % niedrigeres Produktivitätsniveau ergibt.) Betrachtet man die längerfristige Entwicklung zwischen 1980 und 2002, so liegt Deutschland beim Produktivitätszuwachs allerdings unter dem OECD-Durchschnitt, während Schweden, Frankreich und GB (in dieser Reihenfolge) an der Spitze liegen (ebd., S. 9). Das höhere Pro-Kopf-Einkommen der US-Bevölkerung im Vergleich zu den europäischen Ländern ergibt sich also nicht aus einem generellen Produktivitätsvorsprung, sondern vor allem aus demographischen Faktoren und der höheren Nutzung des Arbeitskräftepotentials. Kevin Daly (2004: 7) kalkuliert, dass die "Labour Utilisation" (im Sinne der jährlich geleisteten Arbeitsstunden pro Kopf der Bevölkerung) im Jahre 2003 in den Euro-Ländern 28 Prozent unter derjenigen der USA lag (1993 waren es 26 Prozent). Im Schnitt arbeiteten die europäischen Beschäftigten 15 % weniger Stunden als die USamerikanischen. Außerdem lag die Beschäftigungsrate in Europa fast 20 % unterhalb der amerikanischen, was nur zu etwa 4 % der höheren strukturellen Arbeitslosigkeit in Europa 106
geschuldet war (zu Erwerbsquoten und Arbeitslosigkeit s. unten). Das US-amerikanische Produktivitätswachstum, das Jahrzehnte lang unter dem europäischen gelegen hatte, erreichte 1999 das durchschnittliche europäische Produktivitätswachstum und überholte es in den folgenden Jahren. Laut der Goldman & Sachs Prognose werden die Wachstumsraten bis zum Ende dieses Jahrzehnts wieder konvergieren (ebd., S. 10). 4.3
Arbeitslosigkeit
Ein nahe liegender Einwand lautet, dass ein hohes Produktivitätsniveau (verbunden mit mehr Freizeit und einem geringeren Pro-Kopf-Einkommen) nicht als überzeugender Wohlstandsindikator gelten kann, wenn es mit hoher Arbeitslosigkeit ("erzwungener Freizeit") erkauft worden ist. Ein Vergleich der Arbeitslosenraten ist allerdings besonders problematisch, weil die einzelnen Länder Arbeitslosigkeit in sehr unterschiedlicher Weise definieren und erfassen. Wir präsentieren hier die standardisierten Daten ab 1960 aus zwei OECDQuellen: Die Daten für die USA sind für den gesamten Zeitraum OECD (2004a) entnommen. Aus der gleichen Quelle stammen auch die Angaben für unsere drei europäischen Länder ab dem Jahr 1982. Für die vorangegangenen Jahre wurden die Daten OECD (1993a) entnommen (s. Abb. 4.6; weitere Ausführungen zum Thema finden sich in Kap. 6.4). 12
% der Erwerbstätigen
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0 60 962 964 966 968 970 972 974 976 978 980 982 984 986 988 990 992 994 996 998 000 002 1 1 1 19 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 2 1 2 Jahr
Deutschland (West, ab 1991 gesamt)
Schweden
United Kingdom
USA
Abb. 4.6: Standardisierte Arbeitslosenquoten Quelle: ab 1982: OECD, Main Economic Indicators, in: OECD (2004a), vor 1982: OECD (1993a).
In den 1950er Jahren hatte Westdeutschland zunächst mit sehr hohen Arbeitslosenraten (11 % im Jahre 1950) zu kämpfen, die bis Anfang der 60er Jahre auf eine Rate unter 1 Prozent zurückgeführt werden konnten. Ab 1960 bis 1973 haben die BRD und SW die niedrigsten Arbeitslosenquoten, auch GB hat nach heutiger Sprachregelung in dieser Periode nahezu Vollbeschäftigung. Für SW gilt dies bis zur Rezessionsphase Anfang der 90er Jahre. Die US-amerikanische Quote liegt bis Ende der 70er Jahre deutlich über derjenigen der europäischen Länder und wird Anfang der 80er Jahre von der britischen Rate überholt. In der Bundesrepublik steigt die Arbeitslosigkeit zwischen 1973 und 1983 (mit einer kurzen 107
Erholungsphase in der zweiten Hälfte der 70er Jahre) stark an, bevor sie bis zur Wiedervereinigung in einen leichten Abwärtstrend einschwenkt. Ab 1991 (jetzt unter Einbeziehung Ostdeutschlands) beginnt die Rate dramatisch zu steigen und geht erst in dieser Phase über die US-Quote hinaus; 1998 und im Jahre 2004 nähert sie sich der 10-ProzentMarke (nach anderen Berechnungen der 12-Prozent-Marke). In GB ist der Anstieg nach der ersten großen Ölkrise noch dramatischer; die Quote erreicht 1986 mit nahezu 12 Prozent ihren Höhepunkt, fällt dann steil ab, steigt bis Anfang der 90er Jahre nochmals rapide an und fällt bis zur Jahrtausendwende kontinuierlich ab, bis sie ein Niveau von etwa 5 % erreicht. Die USA steuern ihren Gipfel der Arbeitslosigkeit 1981 mit knapp 10 % an, die Quote befindet sich seitdem – mit einer Unterbrechung Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre – in einem Abwärtstrend, der zu einer Marke von etwa 6 % führt. Schweden weist eine Quote auf, die zwischen den Werten der USA und Großbritanniens liegt. Die deutsche Rate liegt also inzwischen etwa doppelt so hoch wie die der Vergleichsländer. Das Bundesamt für Statistik weist für das Jahr 2002 eine Quote von 8,5 % für Westdeutschland und 19,2 % für Ostdeutschland aus, zusammengefasst 10,8 % (Statistisches Bundesamt 2004: 109, 114). Bei der soziologischen Bewertung der Arbeitslosenraten der USA müssen neben der dort besonders hohen (und seit einiger Zeit rapide steigenden) Einkommens- und Vermögensungleichheit sowie der hohen Armutsquote noch einige weitere Besonderheiten bedacht werden. Dazu gehört auch die Zahl der Gefängnisinsassen. Western/Beckett (1999: 1041) legen Zahlen vor, wonach die Arbeitslosenrate der USA im Jahre 1995 von 5,6 % auf 7,5 % ansteigt, wenn man die Anzahl der Gefängnisinsassen der Zahl der Arbeitslosen hinzufügt. Laut einem Artikel von Tobias Kaiser in der Zeit vom 5. 2. 2004 (S. 23) würde sich die deutsche Arbeitslosenrate bei Hinzurechnen der Gefängnisinsassen nur um 0,3 Prozentpunkte erhöhen. Da die Gefängnispopulation seit Mitte der 90er Jahre in den USA weiterhin erheblich stärker angestiegen ist als in Deutschland, würde der Korrektureffekt heute noch stärker ins Gewicht fallen102. Auch bezüglich des britischen "Jobwunders" ist ein relativierender Hinweis angebracht: "Coincident with this decline in unemployment has been a rise in inactivity or nonemployment rates among adult males. The inactive population are those who are not currently seeking employment but who are potentially available to work if circumstances change. (...) inactivity has risen dramatically in the UK in the 1990s among non-student men, most of whose status has changed from being unemployment benefit recipients to being classified as disabled or long-term ill" (O‘Mahony 2004: 117). Allerdings gibt es in jüngerer Zeit unter Großbritanniens Rentnern einen verstärkten Zustrom zum Arbeitsmarkt. Andererseits ist die Arbeitslosenrate in GB auch deshalb so stark gesunken, weil die Beschäftigung im öffentlichen Dienst in den letzten Jahren erheblich zugenommen hat, während sie in Deutschland zurückging (s. unten).
102
108
Es kommen weitere Spezifika hinzu. So z. B. zitiert Paul Krugman in einem Beitrag für die New York Times das Economic Policy Institute mit der Schätzung, dass der Anstieg der Militärausgaben in den USA während der letzten vier Jahre 1,3 Mill. Arbeitsplätze im zivilen Bereich geschaffen habe (New York Times: Beilage zur Süddeutschen Zeitung v. 22. 8. 05).
Weder impliziert abnehmende Arbeitslosigkeit, dass die Zahl der Arbeitsplätze zugenommen hat, noch bedeutet zunehmende Arbeitslosigkeit, dass die Menge der Arbeitsplätze reduziert wurde; sie kann auch Folge eines erhöhten Angebots an Arbeitskräften sein. Tatsächlich hat sich die Zahl der Erwerbstätigen in Westdeutschland zwischen 1960 und 2002 von 26,2 Mill. auf 30,1 Mill. erhöht (Statistisches Bundesamt 2004: 96 f.). Dieser Zuwachs geht fast ausschließlich auf das Konto einer gestiegenen Erwerbsbeteiligung der Frauen (Näheres zu den Erwerbs- und Beschäftigungsquoten: s. unten). Die wesentlich höhere Arbeitslosenrate in Ostdeutschland (im Vergleich zu der in Westdeutschland) erklärt sich zum Teil daraus, dass dort mehr Frauen als in Westdeutschland Arbeit suchen. Während die Erwerbsquoten103 für 15- bis 64-jährige Frauen ohne Kinder in beiden Regionen im Jahre 2000 etwa gleich hoch waren (60,0 % im Westen, 59,3 % im Osten) waren die Quoten für Frauen mit Kindern deutlich unterschieden: 65,1 % im Westen und 88,9 % im Osten. Geringer war dagegen die Differenz der Erwerbstätigenquoten in dieser Gruppe: 60,8 % im Westen, 71,3 % im Osten. Die Arbeitslosenquote lag im Osten also wesentlich höher, obwohl dort anteilsmäßig mehr Frauen mit Kindern beschäftigt waren als im Westen (Engstler/Menning 2003: 107). 60
50
%
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Deutschland (einschließlich ex-DDR seit 1991)
Schweden
Vereinigtes Königreich
Abb. 4.7: Anteil der Langzeitarbeitslosen an allen Arbeitslosen Quelle: Eurostat (2005a).
103
Die Erwerbsquote gibt den Anteil der Erwerbspersonen innerhalb einer bestimmten Bevölkerung oder Gruppe an. Unter der Kategorie der „Erwerbspersonen“ werden die „Erwerbstätigen“ und die „Erwerbslosen“ zusammengefasst. Erwerbstätig („berufstätig“) sind alle Personen, die abhängig oder selbständig (einschließlich der mithelfenden Familienangehörigen) voll- oder teilzeitig beschäftigt sind. Als „erwerbslos“ werden alle Nichtbeschäftigten bezeichnet, die sich um eine Arbeitsstelle bemühen, unabhängig davon, ob sie beim Arbeitsamt (bzw. der „Agentur für Arbeit“) registriert sind. Als „arbeitslos“ gelten nur diejenigen Personen, die beim Arbeitsamt als solche gemeldet sind (Statistisches Bundesamt 2004: 98).
109
Als besonders relevanter Indikator für soziale Exklusionsprozesse kann die Quote der Langzeitarbeitslosen (mit einer kontinuierlichen Arbeitslosigkeit von mehr als 12 Monaten) gelten. Auch hier ist der Niveauvergleich zwischen den verschiedenen Ländern durch unterschiedliche Definitionen und Erhebungsmethoden erschwert. Wenn man die EUROSTAT-Daten, die auf Bevölkerungsumfragen beruhen, zur Grundlage nimmt, erhält man für die Zeit ab 1992 das in Abbildung 4.7 dargestellte Bild. In dem Bereich Arbeitsmarkt und Beschäftigungspolitik (in Verbindung mit einer einseitig den Faktor Arbeit belastenden Sozialversicherung) hat Deutschland möglicherweise sein größtes Strukturproblem. Die Langzeitarbeitslosigkeit (bezogen auf die Gesamtheit der Arbeitslosen) ist in den 90er Jahren auf rund 50 % angestiegen und hat sich einstweilen auf diesem Niveau stabilisiert, während sowohl in Schweden als auch in GB der Anteil der Langzeitarbeitslosen auf knapp 20 % gefallen ist. Die nationalen Statistiken (Bundesagentur für Arbeit, Office for National Statistics (ONS), Statistiska Centralbyrån (SCB)) bieten ein teilweises anderes Bild (auf eine graphische Darstellung verzichten wir). Für D und SW werden nun Raten ausgewiesen, die etwa 10 Prozent unter denen von EUROSTAT liegen (was vor allem daran liegt, dass in den nationalen Statistiken auch sehr kurzfristige Unterbrechungen der Arbeitslosigkeit dazu führen, die entsprechende Person nicht mehr als langzeitig arbeitslos zu registrieren). Auch im Trendverlauf ergeben sich einige Abweichungen. Deutschlands Position ist erst seit Ende der 90er Jahre schlechter als die britische, und die Schere öffnet sich danach weniger weit als in den EUROSTAT-Daten. Schweden hatte vor der Krise Anfang der 90er Jahre eine deutlich geringere Quote als die beiden anderen Länder; sie pendelte um 5 Prozent (stieg allerdings Mitte der 80er Jahre kurzfristig auf über 10 % an).
Arbeitslosenquote in %
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10,00
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19
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19
74
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20
00
20
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20
04
S Arbeitslosenquote Jugendlich unter 25 Jahren D (West): Arbeitslosenquote Jugendliche u. 20 J. D (West): Arbeitslosenquote unter 25 Jahre UK: Arbeitslosenquote 16/17-Jährige (jew. Duchschnitt der Monate März-Mai) UK: Arbeitslosenquote 18-24 Jahre (jew. Durchschnitt der Monate März-Mai) UK: Arbeitslosenquote 16-24 J. (OECD)
Abb. 4.8: Arbeitslosenquoten für Jugendliche Quelle: Statistisches Bundesamt, Bundesagentur für Arbeit, Office for National Statistics, OECD (1984, 1992, 2004a). Hinweis: die OECD-Reihe für UK weist 1972 und 1982 Brüche auf.
110
Gegen Ende der 90er Jahre wurden die Werte Großbritanniens fast erreicht; die Quote fiel dann aber (anders als bei EUROSTAT) wieder weit unter die britische, die um die Jahrtausendwende etwa doppelt so hoch war (die deutsche Rate betrug fast das Dreifache der schwedischen). Ein besonders folgenreiches Exklusionspotential wird aufgebaut, wenn ein hoher Anteil von Jugendlichen keinen oder nur einen verzögerten Einstieg ins Berufsleben findet. In diesem Bereich allerdings steht Deutschland vergleichsweise gut da. Die nationalen statistischen Ämter liefern Daten für unterschiedliche Jahrgangsgruppen (Abb. 4.8). Die Arbeitslosenrate der Jugendlichen in Schweden verläuft ziemlich parallel zur Rate der Gesamtarbeitslosigkeit, allerdings auf einem höheren Niveau (vgl. Abb. 4.6). Nach der Krise Anfang der 90er Jahre (mit einem Spitzenwert von über 18 %) scheint sich die Quote in den 90er Jahren auf einem Niveau von 8 bis 9 % stabilisiert zu haben; nach Daten von EUROSTAT (hier nicht abgebildet) ist aber seit der Jahrtausendwende ein erneuter Anstieg zu verzeichnen, besonders dramatisch in den Jahren 2004 und 2005. Auch in Deutschland, wo Daten für Jugendliche unter 20 Jahren ab 1977 vorliegen, folgt bei niedrigem Niveau der Trend in etwa der Rate der Gesamtarbeitslosigkeit. Die für die 90er Jahre verfügbare Arbeitslosenquote für Jugendliche unter 25 Jahren deutet darauf hin, dass das Niveau für die Altersgruppe zwischen 20 und 25 Jahren in etwa auf dem Niveau der gesamten Arbeitslosigkeit liegt und damit deutlich höher ist als das für die unter 20-Jährigen. Für GB liegen getrennte Statistiken für die 16- bis 17-Jährigen und die 18- bis 24-Jährigen vor, allerdings erst ab 1984. Für die Periode davor stützen wir uns auf eine Reihe der OECD (nach nationaler Definition; vgl. Abb. 4.8) für die Arbeitslosenquote der 16- bis 24Jährigen. Diese stieg, ausgehend von einem mit der Gesamtarbeitslosigkeit vergleichbaren Niveau, in den 70er Jahren deutlich schneller als die Arbeitslosigkeit insgesamt. Bis 1993 entwickelten sich die Trends der beiden erwähnten Altersgruppen dann in etwa parallel, gingen dann aber deutlich auseinander. Die Gruppe der 16- bis 17-Jährigen verharrt bis 2004 auf einem sehr hohen Niveau zwischen 15 und 20 Prozent. Bis zur Jahrtausendwende ist die Arbeitslosenrate der 18-bis 24-Jährigen rückläufig und scheint sich seitdem auf einem Niveau von knapp 10 Prozent zu stabilisieren (dies zeigen auch die Daten von EUROSTAT für die 15-24 Jährigen), einer Rate, die fast doppelt so hoch ist wie die Gesamtrate in GB, aber in den letzten Jahren erstmals niedriger als die entsprechenden Arbeitslosigkeitsquoten dieser Altersgruppe in Deutschland (gesamt) und Schweden. Die OECD (1999) präsentiert für 17 Länder (leider nicht für Schweden) Daten über den Anteil der 20- bis 24-Jährigen, die ohne Arbeit sind und auch nicht zur Schule bzw. Hochschule gehen. Für Deutschland liegt dieser Wert 1984 bei ca. 15 Prozent, 1994 bei etwa 13 Prozent; für GB werden doppelt so hohe Quoten genannt, knapp 28 % (1984) und 26 % (1994). Noch stärker sind (bei niedrigerem Niveau) die Unterschiede bei den 15- bis 19-Jährigen. In D geht der Anteil von knapp 4 % (1984) auf ca. 2,5 % (1994) zurück, in GB liegt er in beiden Jahren bei über 15 Prozent (ebd., S. 86). Eine neuere Veröffentlichung der OECD (2005a) nennt für 2002 folgende Daten: in Deutschland stieg die Arbeitslosenquote bei den 20- bis 24-Jährigen etwa auf 16 %, in Großbritannien sank sie auf 15 %, während sie in Schweden 11 % betrug. In der Altersgruppe von 15-19 Jahren stieg in D der Anteil auf knapp 5 %, in Schweden lag er ebenfalls bei knapp 5 %, während er in Großbritannien auf 9 % sank. Eichhorst et al. (2001: 78) präsentieren die Arbeitslosenquoten von Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren im Durchschnitt der Jahre 1996-2000: 17,6 % für Schweden, 12,9 % für Großbritannien, 10,6 % für die USA, 8,7 % für Deutschland. Die Arbeitslosigkeit ist in Deutschland im gleichen Zeitraum dagegen wesentlich höher bei den Älteren (55-64 Jahre) mit 14,1 % (SW 7,1 %; GB 5,6 %; USA 2,8 %) 111
sowie bei den Geringqualifizierten mit 15,0 % (GB 10,9 %; SW 10,1 %; USA 9,3 %) (ebd., S. 78 f.). 4.4
Beschäftigungsstrukturen
4.4.1
Arbeitszeitvolumen und Beschäftigungsquoten
Wie oben schon erläutert, liegt das Arbeitsvolumen aller Beschäftigten in den europäischen Ländern deutlich unter dem der USA. Seit den 60er Jahren hat sich nach Daten der OECD die Schere zwischen den USA einerseits und D, GB und SW andererseits immer weiter geöffnet. Die europäischen Länder zeigen einen rückläufigen Trend bis Mitte der 80er Jahre. In GB nimmt das Arbeitszeitvolumen seitdem wieder zu, wenn auch nicht so stark wie in den USA. Die für Deutschland registrierte Niveauverschiebung Anfang der 90er Jahre ist lediglich ein Effekt der Wiedervereinigung. Auch in Schweden ist der Anstieg in den letzten zwei Jahrzehnten bestenfalls geringfügig. In das Arbeitsvolumen gehen vor allem zwei Komponenten ein: die Beschäftigtenquote und die durchschnittliche Arbeitszeit der Beschäftigten. Abb. 4.9 gibt die Beschäftigungsquote als Anteil der Erwerbstätigen an der Gesamtbevölkerung wieder, Abb. 4.10 die jährlichen Arbeitszeitstunden, die eine beschäftigte Person im Durchschnitt gearbeitet hat. 60
Beschäftigtenquote in %
50
40
30
20
10
19 60 19 62 19 64 19 66 19 68 19 70 19 72 19 74 19 76 19 78 19 80 19 82 19 84 19 86 19 88 19 90 19 92 19 94 19 96 19 98 20 00
0
Jahr
D
S
UK
USA
Abb. 4.9: Beschäftigungsquoten Quelle: OECD (2005b).
Schweden hatte bis Anfang der 90er Jahre den höchsten Anteil an Beschäftigten (etwas über 50 %); erst danach sind die USA in Führung gegangen, die einen relativ kontinuierlichen Aufwärtstrend seit Anfang der 60er Jahre aufweisen. Zur Jahrtausendwende liegt Deutschland nur knapp unter den Marken von SW und GB. In diesen drei Ländern unterscheidet sich die Beschäftigungsquote im Jahre 2000 nur geringfügig von derjenigen der 60er Jahre. Wenn man den Anteil der Beschäftigten an der erwerbsfähigen Bevölkerung betrachtet, ergeben sich leichte Verschiebungen. Die USA gehen Anfang/Mitte der 90er Jahre in Führung, SW und GB fallen nur leicht zurück, die Quoten liegen zwischen ca. 75 112
und 70 Prozent. Deutschland liegt etwas darunter mit einer Quote von ca. 68 %, gegenüber knapp 70 % im Jahre 1960 und 61 % Mitte der 80er Jahre (Westdeutschland). In allen vier Ländern werden heute weniger Stunden gearbeitet als vor fünfzig Jahren. In den drei europäischen Ländern ist dieser Rückgang wesentlich stärker ausgeprägt als in den USA; am weitaus stärksten ist er in Deutschland, das 1950 die höchste und 2003 die niedrigste unter den vier Ländern verzeichnete.
Arbeitsstunden je Beschäftigten
2.500
2.000
1.500
1.000
500
D (gesamt)
D (West)
Schweden
U.K.
2004
2002
2000
1998
1996
1994
1992
1990
1988
1986
1984
1982
Jahr
1980
1978
1976
1974
1972
1970
1968
1966
1964
1962
1960
1958
1956
1954
1952
1950
0
USA
Abb. 4.10: Arbeitsstunden pro beschäftigte Person Quelle: Groningen Growth and Development Centre and The Conference Board, Total Economy Database, Januar 2005, www.ggdc.net.
Im Jahr 2003 ist die Reihenfolge: USA (1864 Stnd.), GB (1619), SW (1562), D (1446).104 Während in Deutschland ein ziemlich kontinuierlicher Abwärtstrend auszumachen ist, ist für Schweden eine Trendumkehr Mitte der 80er Jahre zu beobachten. Allerdings ist auch in Schweden der Anteil der beschäftigten älteren Männer in den letzten Dekaden deutlich zurückgegangen, auch wenn er weiterhin über den entsprechenden Beschäftigungsquoten anderer Länder liegt. Während 1970 noch über 75 % der 60- bis 64-Jährigen beschäftigt waren, wurde Mitte der 90er Jahre nur noch eine Quote von knapp über 50 % registriert, die bis zum Jahre 2000 relativ stabil blieb (OECD 2005b). Die britische Quote liegt zu diesem Zeitpunkt leicht darunter und lag auch 1985 (frühere Daten liegen uns nicht vor) nur wenig über 50 Prozent. In Westdeutschland gibt es eine rapide Abwärtsentwicklung von 70 % Anfang der 70er Jahre bis ca. 30 % Mitte der 80er Jahre, ein Niveau, das in dem folgenden Jahrzehnt beibehalten wird.
104
Die Differenz zwischen tarifvertraglich vereinbarten und tatsächlich geleisteten Wochenarbeitsstunden ist besonders groß in GB. Die tariflich festgelegte Arbeitszeit betrug dort im Jahre 2002 wöchentlich 37,2 Stunden (in D 37,0), die tatsächliche 43,3 (in D 39,9, was dem EU-Durchschnitt entspricht) (Lehndorff 2003 auf der Basis der Europäischen Arbeitskräftestichprobe).
113
Für das wohlfahrtsstaatliche System in Deutschland besonders wichtig ist auch die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Deren Anteil an der Gesamtzahl der Beschäftigten verläuft bis 1992 ziemlich konstant um 77 bis 78 Prozent. Ab 1992 zeichnet sich (vor allem in Ostdeutschland) ein Abwärtstrend ab, der aber zyklisch verläuft. Für die BRD werden im September 1995 insgesamt 28,4 Mill. Sozialversicherungspflichtige gezählt, im September 2003 (vorläufiges Ergebnis) noch 27,2 Mill. (nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit, Datenzentrum). Zur Teilzeitbeschäftigung siehe den Schluss von Abschn. 4.4.4 und Kap. 6.4. 4.4.2
Sektorale Entwicklung
Mehr noch als die Beschäftigungsniveaus sind die Veränderungen in den Beschäftigungssektoren eine zentrale Komponente des sozialen Wandels, mit der einschneidende Veränderungen in den alltäglichen Lebensverhältnissen einhergehen. 1950 lag der Anteil der im Agrarsektor beschäftigten westdeutschen Erwerbstätigen noch bei rund 25 % (Statistisches Bundesamt, verschiedene Jahre). Diese Quote sank innerhalb von 10 Jahren auf etwa 14 % und entsprach damit der schwedischen Quote. Auch der weitere Rückgang vollzog sich in beiden Ländern kontinuierlich und weitgehend parallel; im Jahr 2000 wurden Quoten um 2,5 Prozent erreicht. In GB lag sie schon 1960 unter der 5-ProzentMarke; bis zum Jahre 2000 wurde sie nochmals halbiert. Bei der Interpretation der Beschäftigungsanteile im sekundären und im tertiären Sektor ist darauf zu achten, ob die Zuordnung "institutionell" (über das Unternehmen bzw. den Betrieb) oder "funktional" (auf der Basis der jeweiligen beruflichen Tätigkeit) erfolgt; denn auch im institutionellsekundären Sektor fallen zunehmend Dienstleistungen an. Internationale Vergleiche stützen sich aber in der Regel auf institutionelle Kriterien (s. Abb. 4.11 und 4.12), da für die funktionale Betrachtung eine einheitliche Datenbasis fehlt. 60
50
%
40
30
20
10
0 1950
1955
1960
1965
1970
1975 Jahr
1980
1985
1990
1995
2000
Prozent Erwerbstätige im sek. Sektor D-West Erwerbstätige im sek. Sektor U.K. Erwerbstätige im sek. Sektor Schweden
Abb. 4.11: Entwicklung der Beschäftigungsquoten im sekundären Sektor Quelle: Statistisches Bundesamt (versch. Jahre); OECD; Comparative Welfare States Data Set (Huber et al. 2004; Primärquelle: OECD).
114
80 70 60
%
50 40 30 20 10 0
1950
1955
1960
1965
1970
1975 Jahr
1980
1985
1990
1995
2000
Prozent Erwerbstätige im tert. Sektor D-West Erwerbstätige im tert. Sektor U.K. Erwerbstätige im tert. Sektor Schweden
Abb. 4.12: Entwicklung der Beschäftigungsquote im tertiären Sektor Quelle: Statistisches Bundesamt (versch. Jahre); OECD; Comparative Welfare States Data Set (Primärquelle: OECD).
Die Beschäftigtenanteile für die einzelnen Sektoren vermitteln auch insofern lediglich eine grobe Orientierung, als hier Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigte gleichermaßen in die Rechnung mit eingehen. Generell gilt, dass zum Ende des 20. Jahrhunderts in den ökonomisch hoch entwickelten Ländern Industrie und Handwerk so stark an der Erwerbstätigkeit beteiligt sind wie zu dessen Beginn, nämlich zu etwa einem Drittel (s. Ambrosius 2001: 60); das ist auch die Marke, die Deutschland erreicht hat, während die Quote in Schweden und Großbritannien auf etwa ein Viertel zurückgegangen ist. Im tertiären Sektor steigt auch in Deutschland die Beschäftigtenquote auf über 60 % in den 90er Jahren an; die entsprechenden Quoten in GB und SW liegen ca. 10 bzw. 15 Prozent darüber. Abweichend von dem, was der Begriff der "Industriegesellschaft" nahe legt, ist Folgendes zu beobachten: "Nicht wenige europäische, vor allem aber die entwickelten außereuropäischen Länder erlebten keine Phase, in der die meisten Menschen in der Industrie beschäftigt waren und der größte Teil der Wertschöpfung in der Industrie entstand. In ihnen wurde die Landwirtschaft unmittelbar vom Dienstleistungssektor als bedeutendster Wirtschaftsbereich abgelöst" (ebd., S. 61). Westdeutschland erreichte die 50Prozentmarke bei der Beschäftigung im sekundären Sektor Mitte der 60er Jahre; seit Mitte der 70er Jahre ist diese Quote relativ stetig auf inzwischen etwas über 30 % zurück gegangen. Bei einer funktionell-beruflichen Betrachtung nach Fertigungstätigkeiten einerseits und Dienstleistungen andererseits, verschwindet die vermeintliche ÜberIndustrialisierung in Deutschland noch weiter: Laut Ambrosius (2001: 59 f.) sind im Jahre 2000 80 % der deutschen Beschäftigten im Dienstleistungsbereich tätig. Wenn man statt der Erwerbstätigen- die Wertschöpfungsanteile heranzieht, ändert sich das Bild noch stärker: "Während in fast allen Industrieländern seit den 1970/80er Jahren der Industrieanteil an der nominalen Wertschöpfung weiter sank, der an der realen dagegen konstant bliebt, ging hier [in Deutschland, T./B.] auch letzterer zurück. Deutschland war das einzige OECD-Land, in dem die Produktivität im unternehmerischen nicht im staatlichen – Dienstleistungssektor seit den 1980er Jahren schneller wuchs als im verarbeitenden Gewerbe" (ebd., S. 60). Fertigungs- und Dienstleistungstätigkeit werden aber, 115
wie schon erwähnt, fortlaufend enger miteinander verknüpft; auch im Waren produzierenden Gewerbe liegt der Anteil der Dienstleistungstätigkeiten mittlerweile bei über 50 % (ebd., S. 63); andererseits ist auch die Dienstleistungsproduktion in erheblichem Maße "sekundarisiert", liefert die Industrie für sie Vorleistungen. "Generell wird man feststellen können, dass am Ende des 20. Jahrhunderts angesichts veränderter Produkte, Fertigungsprozesse und Unternehmensorganisationen institutionelle und selbst funktionelle Zuordnungen von Gütern und Tätigkeiten nach Sektoren und Branchen nur noch bedingt Sinn machen" (ebd., S. 64). Ambrosius hält es für fruchtbarer, zwischen einem 'modernen' und einem 'traditionellen' Sektor zu unterscheiden, wobei letzterer landwirtschaftliche Familienbetriebe, kleingewerbliches Handwerk, Kleinbetriebe in Handel, Verkehr und Dienstleistungen sowie die Hauswirtschaft umfassen soll. Sein vorherrschendes Ziel war die Bedarfsdeckung, die Bedeutung der Lohnarbeit war relativ gering, Lebens- und Arbeitswelt waren eng miteinander verknüpft. "In den 1920er Jahren war noch die Hälfte aller Erwerbstätigen hier beschäftigt. Am Anfang der Bundesrepublik waren es immer noch 40 Prozent, und erst im Zuge des dramatischen Strukturwandels in den 1950/60er Jahren ging der Anteil auf unter 20 Prozent zurück" (ebd., S. 63; vgl. Lutz 1984). Diese Beobachtung ist für unser Thema besonders wichtig, da sie die Vermutung stützt, dass ein tief greifender (anomieträchtiger) sozialer Wandel den in den 50er/60er Jahren einsetzenden Anstieg der Gewaltkriminalität ausgelöst haben könnte. Die Verlagerung der Beschäftigung in den Dienstleistungssektor ist aus zwei Gründen besonders bedeutsam. Erstens ist die Beschäftigung in diesem Bereich stärker individualisiert als im ersten und zweiten Sektor. Zweitens lassen sich bestimmte Arten von Dienstleistungen im Vergleich zur Güterproduktion im primären und sekundären Sektor nur begrenzt rationalisieren; das gilt vor allem für die personenbezogenen Dienstleistungen im Sozialbereich. Sie werden relativ umso teurer, je größer die Rationalisierungsfortschritte in den beiden ersten Sektoren sind. "Von daher resultiert eine zwangsläufige Tendenz zur Kostenexpansion im Bereich des Bildungs-, Gesundheits- und Sozialwesens, sofern man nicht erhebliche Qualitätsverschlechterungen in Kauf nehmen will ... (O)hne eine öffentlich geregelte Finanzierung ... wären große Bevölkerungsteile aus Kostengründen von diesen Leistungen ausgeschlossen" (Kaufmann 1997: 55 f.) – daran muss man Sozialstaatskritiker gelegentlich erinnern. Aber auch die Dienstleistungen in manchen anderen Bereichen werden zunehmend schlechter, weil Personal auch dort eingespart wird, wo Automaten und Computer dessen Funktion nicht vollwertig übernehmen können (man denke nur an die Sprachcomputer, denen einige Unternehmen ihren telefonischen Kundendienst überlassen). 4.4.3
Öffentlicher und privater Sektor
Die Rede über den "aufgeblähten Staatsapparat" in Deutschland stützt sich unter anderem auf Zahlen über den Anteil der Arbeitnehmer, die im öffentlichen Dienst beschäftigt sind.
116
Es mag deshalb überraschen, dass dieser Anteil in Deutschland besonders niedrig ist (s. Abb. 4.13).105 30
25
20
%
15
10
5
0 60 19
62 19
64 19
66 19
68 19
70 19
72 19
74 19
76 19
D
78 19
80 982 19 1 Jahr
S
84 19
86 19
88 19
UK
90 19
92 19
94 19
96 19
98 19
USA
Abb. 4.13: Beschäftigte im zivilen öffentlichen Dienst (Anteil an der Bevölkerung im Alter zwischen 15 und 64 Jahren) Quelle: Comparative Welfare States Data Set (Primärquelle: Cusack 2004).
Zwar nimmt er zwischen 1960 und Mitte der 1980er Jahre von knapp fünf auf neun Prozent zu, ist aber seitdem rückläufig, anders als bspw. in den USA, deren Quote seit Beginn unseres Beobachtungszeitraums über der deutschen liegt. In GB lag der Anteil der öffentlichen Bediensteten bis Anfang der 1990er Jahre deutlich höher als in den USA und in der BRD; er ist dann zwar rapide abgebaut worden, liegt aber weiterhin über dem Anteil in Deutschland und ist nach 1998 wieder angestiegen; bis zum Jahre 2004 sind hier fast 600.000 Arbeitsplätze neu entstanden (Office for National Statistics 2005). Schweden nimmt in diesem Bild eine Sonderstellung ein. Sein Anteil lag bis Ende der 60er Jahre unterhalb des britischen Niveaus, kletterte dann aber (mit dem Ausbau des Wohlfahrtsstaates) steil nach oben und erreichte Mitte der 80er Jahre die 25-ProzentMarke. In der Krisenphase Anfang der 90er Jahre wurde diese Entwicklung korrigiert; der Anteil liegt aber weiterhin über 20 Prozent. 4.4.4
Frauenerwerbsquote
Die stärkere Einbeziehung der Frauen in den Arbeitsmarkt gilt allgemein als einer der wichtigsten Aspekte des sozialen Wandels in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die
105
Zur Definition des „civil government employment“ s. OECD (1997a: 6).
117
französische Soziologin Margaret Maruani wertet die "Feminisierung der Arbeitswelt" als "eine der größten sozialen Veränderungen am Ende des Zwanzigsten Jahrhunderts" (zitiert nach Geißler 2002: 372). Diese Bemerkung bezieht sich allerdings nicht so sehr auf den schieren Umfang der weiblichen Erwerbsbeteiligung, sondern eher auf deren Struktur. Im Jahre 1925 betrug in Deutschland die Erwerbsquote der Frauen im erwerbsfähigen Alter (16 bis unter 60 Jahren) 48,9 Prozent; dies war exakt die gleiche Quote wie 1960 in der BRD, die bis 1980 auch lediglich auf 52,9 % anstieg (Willms 1983: 35). Im Jahr 2000 lag sie bei den 15-64jährigen Frauen knapp unter 60%, bei den 25- bis 44-Jährigen bei knapp 90% (Engstler/Menning 2003: 107). Wichtig ist, dass die Erwerbsbeteiligung heute über breitere soziale Schichten gestreut ist und vor allem, dass verheiratete Frauen stärker einbezogen sind. Die Erwerbsquote der verheirateten Frauen betrug 1925 nur 29,1 % und erreichte 1980 48,3 %; bei den "marktbezogen" erwerbstätigen Frauen (außerhalb der Hauswirtschaft) betrug ihr Anteil 1925 nur 15,6 % und stieg bis 1980 auf 57 Prozent (Willms 1983: 35). Zugenommen hat vor allem die Erwerbstätigkeit von Frauen mit Kindern; sie lag im Jahr 2000 bei fast 70% (Engstler/Menning 2003: 107)(s. Abb. 4.14). 90
Frauenerwerbsquote in %
80 70 60 50 40 30 20 10
19 60 19 62 19 64 19 66 19 68 19 70 19 72 19 74 19 76 19 78 19 80 19 82 19 84 19 86 19 88 19 90 19 92 19 94 19 96 19 98 20 00
0
Jahr
D
S
UK
USA
Abb. 4.14: Erwerbsquote der Frauen Quelle: Comparative Welfare States Data Set (Primärquelle: OECD).
Im internationalen Vergleich bleibt die Bundesrepublik bei der Entwicklung der Frauenerwerbsquote seit Mitte der 70er Jahre aber hinter den anderen der hier betrachteten Länder zurück106 (s. Abb. 4.14). Zwar überschreitet die Quote auch in Deutschland Ende
106
118
Dargestellt ist der Anteil der Erwerbspersonen an der weiblichen Bevölkerung von 15-64 Jahren (vgl. oben Fn. 103). Im Vergleich mit den EU-Ländern insgesamt ist die Beschäftigungsquote der Frauen in Deutschland im Jahre 2002 allerdings leicht überdurchschnittlich (Zahlenangaben in Hradil 2004: 105, 177).
der 90er Jahre die 60-Prozent-Marke, liegt damit aber weiterhin um ca. 10 % hinter derjenigen der anderen Länder zurück. In Schweden stieg die Quote Ende der 80er Jahre sogar auf 80 % an, fiel dann aber in den 90er Jahren auf unter 75 %. Die Entwicklung der Frauenerwerbsquote verläuft hier weitgehend parallel zur Entwicklung der Beschäftigungsquote im öffentlichen Dienst (s. oben), auch bei der deutlichen Trendkorrektur Anfang der 90er Jahre. Vor allem die Quote der vollzeitbeschäftigten Frauen (mit mindestens 30 Stunden wöchentlicher Arbeitszeit) ist in Schweden deutlich höher als in GB und D; in SW lag sie 1990 bei 45 %, fiel dann auf knapp 40 % zurück, stieg aber bis zum Jahre 2000 wieder auf über 42 % an. In Deutschland wie in Großbritannien lag diese Quote zur Jahrtausendwende bei ca. 29 %. Eine völlig andere Situation als in der früheren BRD war in der DDR gegeben; 1990 gingen 92 % der 25- bis 60-Jährigen Frauen (ohne Studentinnen) einer Erwerbstätigkeit nach; die Frauen trugen zu etwa 40 % zum Haushaltseinkommen von Paaren bei (Geißler 2002: 372). Wie schon erwähnt, vollzieht sich der Anstieg der Frauen-Erwerbsquote vor allem dadurch, dass Mütter häufiger als früher einer bezahlten Arbeit nachgehen, wobei das Alter der Kinder eine erhebliche Rolle spielt: "2000 waren von den westdeutschen Müttern mit Kleinkindern (unter 4 Jahren) 15 % erwerbstätig, mit 4- bis 11-jährigen 50 % und mit älteren Kindern 12 bis 16 Jahre 72 %" (Geißler 2002: 373, eine Arbeit von Holst/Schupp zitierend). Die steigende Erwerbsquote der Frauen sollte nicht über einige markante Unterschiede in der Qualität der Beschäftigung hinwegtäuschen. "Zum einen existieren geschlechtsspezifisch geteilte Arbeitsmärkte, die für Frauen im Durchschnitt schlechtere Arbeitsbedingungen, niedrigere Einkommen, ein niedrigeres Sozialprestige, höhere Armuts- und Arbeitsplatzrisiken und manchmal auch unfreiwillige Teilzeitarbeit mit sich bringen. Zum anderen stoßen Frauen auf erhebliche Hindernisse beim Aufstieg in die höheren Etagen der Berufshierarchie" (Geißler 2002: 373). Erwerbstätige Frauen mit Kindern gehen – zumindest in Deutschland – eher einer Teilzeit- als einer Vollzeitbeschäftigung nach, auch wenn die Kinder über 15 Jahre alt sind. Während zwischen 1972 und 2000 der Anteil der vollzeitbeschäftigten Mütter zurückgegangen ist (vor allem bei Kindern unter 6 Jahren), hat der Anteil der teilzeitbeschäftigten Mütter mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von bis zu 20 Stunden erheblich zugenommen: um 15 % bei Kindern unter 6 Jahren, um mehr als 24 % bei Kindern zwischen 6 und 14 Jahren (Engstler/Menning 2003: 111f.). Insgesamt waren im Jahre 2000 in den alten Bundesländern die Frauen zu 38 % teilzeitbeschäftigt, in den neuen Bundesländern lediglich zu 23 % (Geißler 2002: 373). Dagegen liegt der Anteil der teilzeitbeschäftigten Männer (Ost und West) in dieser Zeit nur bei 4,8 %, während es im OECD-Durchschnitt 8,4 % sind (Eichhorst et al. 2001: 286). Die Teilzeitquote lag im Jahre 2000 in GB bei 23,0 % (Frauen 40,8; Männer 8,4), in D bei 17,6 %; in SW bei 14,0 % (Frauen 21,4; Männer 7,3), in den USA bei 12,8 % (Frauen 18,2; Männer 7,9) (ebd., S. 293). "Die effektive Arbeitszeit von Teilzeitkräften lag 1999 in Deutschland mit rund 18 Wochenstunden deutlich unterhalb des europäischen Durchschnitts mit fast 21 Stunden" (ebd., S. 39, vgl. S. 295). Obwohl in Schweden relativ wenige Arbeitnehmer teilzeitbeschäftigt sind, ist dort der Anteil der unfreiwillig teilzeitbeschäftigten mit 32,0 % deutlich höher als in Deutschland (13,3 %) und Großbritannien (12,2 %) (ebd., S. 296; Angaben für das Jahr 1997).
119
4.4.5
Selbstständigenquote
Auch bei der Selbstständigenquote (einschließlich Selbstständige ohne Beschäftigte) sind deutliche Differenzen zwischen den einzelnen Ländern erkennbar, sowohl im Niveau als auch in den Entwicklungstendenz (s. Abb. 4.15). 25
20
%
15
10
5
0 60 962 964 966 968 970 972 974 976 978 980 982 984 986 988 990 992 994 996 998 000 2 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 19 Jahr
D
S
UK
USA
Abb. 4.15: Selbstständigenquote bezogen auf alle Beschäftigten Quelle: OECD (2005b).
GB beginnt 1960 mit der niedrigsten Quote; sie ist mit etwa 7,5 % nur halb so hoch wie die Quote in den USA und Schweden; die Quote in Deutschland (mit einem zunächst noch sehr hohen Anteil des Agrarsektors) liegt zu dieser Zeit bei 23 %. Diese drei Länder folgen sodann einem Abwärtstrend, die USA anfangs stark, später abgeschwächt, aber einigermaßen durchgängig bis zum Jahre 2000. Schweden und Deutschland stoppen diesen Abwärtstrend Anfang der 90er Jahre. Zur Jahrtausendwende haben die USA mit etwa 7,5 % die niedrigste Selbstständigenquote, Schweden liegt leicht darüber, Deutschland und Großbritannien liegen über der 10-Prozent-Marke. Dabei hat GB (mit einem niedrigen Ausgangsniveau beginnend) einen rasanten Aufwärtstrend seit Ende der 60er Jahre vollzogen, der aber in den 90er Jahren zum Erliegen kommt und in eine leichte Abwärtstendenz übergeht.107 Da die dargestellten Reihen auch Selbstständige ohne eigene Beschäftigte enthalten, dürfte der Anstieg der Selbständigenquoten in den 80er Jahren (GB) bzw. den 90er Jahren (D, SW) auch eine Zunahme der Zahl so genannter "Scheinselbstständiger" reflektieren (also von Erwerbstätigen, die zwar rechtlich als Selbstständige auftreten, faktisch dies aber nicht sind, da von einem einzigen Auftraggeber in arbeitnehmerähnlicher
107
120
Die hier vorgestellten OECD-Daten stimmen in einigen Punkten nicht mit denen überein, die von Meager/Bates (2002: 301) auf EUROSTAT-Basis präsentiert werden.
Weise abhängig). Genaue Informationen über die Entwicklung der Scheinselbstständigkeit liegen aber nicht vor108. 4.5
Entwicklung der Arbeitskosten
Für hohe Arbeitslosigkeit und Wachstumsschwäche in Deutschland werden immer wieder die, wie es heißt, besonders hohen Arbeitskosten verantwortlich gemacht. H.-W. Sinn (2004: 108) klagt z. B.: "Deutschlands Industrie hat mit Ausnahme Norwegens und der Schweiz die höchsten Arbeitskosten der Welt." Allerdings gibt es in der gegenwärtigen Reformdebatte kaum einen anderen Themenbereich (abgesehen von der Steuer- und Abgabenbelastung, s. unten), in dem die eingesetzten Berechnungsmethoden und Aussagen ebenso verwirrend vielfältig, ja widersprüchlich wären wie hier. Selbst in der einschlägigen Fachliteratur gibt es keine eindeutige und einvernehmliche Definition des Begriffs "Arbeitskosten" (DIW Wochenbericht Nr. 14/2004). Sinn (2004) präferiert z. B. die "absoluten" Lohnkosten und bezieht sich vorwiegend auf das verarbeitende Gewerbe; das Deutsche Institut für Wirtschaft (DIW) präferiert dagegen gesamtwirtschaftliche Lohnstückkosten,109 fragt also nicht nur nach dem Betrag, den eine Arbeitsstunde durchschnittlich kostet, sondern relativiert ihn an der Produktivität der eingesetzten Arbeitskraft. Nach fast allen Quellen steht Deutschland bei den Gesamtkosten pro Arbeitsstunde unter den EU-Ländern mit an der Spitze; die positiven oder negativen Abstände zu Dänemark, Schweden und einigen anderen Ländern variieren; die für GB ausgewiesenen Kosten liegen stets unter diesem Niveau.110 Werden jedoch die monatlichen Bruttoarbeitskosten angegeben, liegt GB in einigen Veröffentlichungen vor D, ohne dass diese Differenz durch
108
109
110
In den üblichen Erwerbstätigenstatistiken gibt es keine Informationen, die es erlauben würden, eine Kategorie „Scheinselbständige“ zu bilden. Einigermaßen zuverlässige Angaben sind nur für Deutschland aus einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) für 1995 verfügbar (Dietrich 1998). Nach deren Ergebnissen waren 1995 in Westdeutschland 3,2% (BRD gesamt: 2,9%) der Erwerbstätigen (Haupterwerbstätigkeit) der Grauzone zwischen Abhängigkeit und Selbständigkeit zuzuordnen; dabei waren unter Zugrundelegung alternativer Abgrenzungen der Scheinselbständigkeit 0,6 oder 1,4 Prozent der Erwerbstätigen (BRD gesamt: 0,6 oder 1,3 Prozent) bei formaler Selbständigkeit rechtlich eigentlich abhängige Arbeitnehmer. Zur Entwicklung der Selbständigen ohne Beschäftigte s. auch Kap. 6.4. Sowohl die Lohnstückkosten als auch die absoluten Lohnkosten haben im verarbeitenden Gewerbe in Westdeutschland seit 1980 stärker zugenommen als in der Gesamtwirtschaft. Das nominale Arbeitsentgelt je Stunde lag 2002 im produzierenden Gewerbe (ohne Bauwirtschaft) bei knapp 30 €, in der Gesamtwirtschaft bei ca. 24 € (DIW Wochenbericht Nr. 14/2004, S. 164). DER SPIEGEL (17/2005, S. 90) zitiert unter Berufung auf Daten des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW) für das verarbeitende Gewerbe im Jahre 2003 z. B. folgende Zahlen: 27,1 € in Westdeutschland, 16,9 € in Ostdeutschland, 18,7 € in GB. Der Abstand zwischen D und GB erscheint in ganz anderem Licht, wenn man die von EUROSTAT präsentierten Zahlen für das gleiche Jahr heranzieht (Internet Abruf v. 9.8.05) : 27,93 € für D; 23,56 € (nach 25,24 € im Jahre 2002) für GB. Der drastisch geringere Abstand zu GB lässt sich auch nicht dadurch erklären, dass sich die EUROSTAT-Daten auf die Gesamtwirtschaft (und nicht nur auf das verarbeitende Gewerbe beziehen). Im übrigen weist GB die stärksten Kostensteigerungen seit 1996 auf, denn für dieses Jahr gibt EUROSTAT die stündlichen Arbeitskosten mit 14,22 € für GB und mit 24,26 € für D an (allerdings müssten hier noch die Wechselkursschwankungen zwischen Pfund und Euro berücksichtigt werden).
121
die unterschiedlichen Arbeitsstunden pro Monat zu erklären wäre.111 Wie auch immer, uns scheint die langfristige Entwicklung der Lohnkosten relativ zur Menge der erzeugten Güter der aussagekräftigere Indikator für die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes zu sein. Wir wählen hierzu einige Befunde aus, die das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) sowie das Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) vorgelegt haben. Das DIW präsentiert den Entwicklungsverlauf der nominalen Lohnstückkosten bereinigt um Veränderungen des Selbständigenanteils sowohl für die Gesamtwirtschaft als auch für das produzierende Gewerbe allein. Im ersten Falle nehmen die Lohnstückkosten zwischen 1980 und 2002 in Deutschland deutlich weniger zu (um ca. 50 %) als in GB (über 150 %) oder den USA (ca. 75 %); über Schweden werden in dieser Studie keine Angaben gemacht. Im zweiten Falle ist der Anstieg in Deutschland mit knapp 60 % höher als zuvor, während er in GB zwar niedriger ist als für die Gesamtwirtschaft, aber immer noch bei nahezu 100 % liegt. In den USA beträgt der Anstieg in diesem Zeitraum nur 20 % (DIW Wochenbericht Nr. 14/2004: 167). Das IW beschränkt sich in seinen "IW-trends" Berichten auf das verarbeitende Gewerbe und ermittelt für den gleichen Zeitraum folgende jahresdurchschnittliche Zuwachsraten: für D 2,2 %, für GB 3,3 %, für SW 1,7 % und für die USA 0,7 %. Betrachtet man nur den Zeitraum seit 1990, so werden für D 1,7 %, für GB 2,1 %, für SW -1,8 % und für die USA -0,1 % ausgewiesen (Schröder 2003: 9). Allerdings betrug die jährliche Zuwachsrate für (Gesamt-)Deutschland zwischen 1996 und 2002 nur noch 0,4 % (gegenüber 3,1 % in der ersten Halbdekade nach der Wiedervereinigung; ebd., S. 11).112 Ein häufig zitierter Indikator sind die sog. Unit Labor Cost, bei denen die Löhne der abhängig Beschäftigten ins Verhältnis zum BIP gesetzt werden. Abb. 4.16 zeigt die Entwicklung auf der Basis der jeweiligen Marktpreise für die einzelnen Länder. Die Reihen bestätigen, dass Deutschland in der Zeit zwischen 1970 und 1990 zwar den geringsten Anstieg der Lohnstückkosten aufweist, dass sie in dieser Zeit aber durchgängig über denen der drei anderen Länder liegen. Ab Mitte der 90er Jahre ist der Kostenanstieg in Deutschland aber so gering, dass die deutschen Lohnstückkosten im Jahre 2002 die niedrigsten unter den drei Ländern sind. Dies ist nicht nur einer divergenten Produktivitätsentwicklung, sondern auch einer im internationalen Vergleich seit 1992 unterdurchschnittlichen Lohnentwicklung geschuldet. Bei den realen Nettolöhnen mussten alleinstehende männliche Arbeitnehmer in Deutschland zwischen 1992 und 1999 sogar einen Rückgang um jährlich 0,2 % hinnehmen (Eichhorst et al. 2001: 23).
111
112
122
So z. B. präsentiert die Frankfurter Allgemeine Zeitung in ihrer Ausgabe vom 13. 4. 05 (S. 15) unter Bezugnahme auf Daten u. a. des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) folgende monatlichen Bruttolöhne für Industrie- und Dienstleistungssektor im Jahr 2002: 2766 € für D, 3191 € für GB. (Die Zeit v. 31.3.05 registriert auf höherem Niveau in etwa den gleichen Abstand für den Bereich der Dienstleistungen). Diese Beträge weichen allerdings erheblich von denen ab, die EUROSTAT (s. vorige Fn.) nennt: 3620 € (für D), 3891 € (für GB). Legt man die Zahlen von EUROSTAT zugrunde, ergibt sich zwischen 1991 und 2002 auch für Deutschland bei gesamtwirtschaftlicher Betrachtung ein leichter Rückgang der Lohnstückkosten ähnlich dem der USA, aber etwas geringer als im Durchschnitt der 15 EU-Länder (KfW-Research, Nr. 15, Nov. 2004: 6). Die Zeit vom 25. 8. 05 (S.20) präsentiert unter Berufung auf das DIW Daten, aus denen hervorgeht, dass zwischen 1995 und 2004 die Lohnstückkosten in D nur um weniger als 3 Prozent gestiegen sind, in GB dagegen um etwa 30 % und auch in den USA um etwa 15 %.
Vergütung der Beschäftigten / GDP zu Marktpreisen
0,7
0,6
0,5
0,4
0,3
0,2
0,1
19 60 19 62 19 64 19 66 19 68 19 70 19 72 19 74 19 76 19 78 19 80 19 82 19 84 19 86 19 88 19 90 19 92 19 94 19 96 19 98 20 00 20 02
0
Jahr
Deutschland
Schweden
UK
USA
Abb. 4.16: Unit Labor Cost Quelle: OECD (2005b).
4.6
Steuer- und Abgabenbelastung, Staatsausgabenquote
In der öffentlichen Diskussion haben derzeit diejenigen die Oberhand, die die These vertreten, je niedriger die Staatsquote, je geringer die Steuern und Abgaben, die dem Staat zufließen oder die er umverteilt, desto besser floriert die Wirtschaft, desto höher das ökonomische Wachstum und desto niedriger die Arbeitslosenrate. In vielen Fällen wird diese These aus abstrakten theoretischen Modellen abgleitet oder aus ideologischen Überzeugungen gespeist, ohne dass Prämissen und Schlussfolgerungen ernsthaft empirisch überprüft werden. In einem jüngeren Beitrag zur "politischen Ökonomie des Wirtschaftswachstums" kommt der Wirtschaftswissenschaftler Herbert Obinger nach Durchsicht der einschlägigen Forschungsliteratur zu folgendem Resümee: "Insgesamt sind aus theoretischer Perspektive keine klaren Effekte von aggregierten Größen wie der Staats- oder der Sozialleistungsquote auf das Wirtschaftswachstum zu erwarten. Es gibt überzeugende Argumente von Befürwortern und Gegnern, die dem Umfang des öffentlichen Sektors positive und negative Wirkungen auf die Wachstumsdynamik beimessen. Es ist daher plausibel anzunehmen, dass sich der Nettoeffekt nicht signifikant von Null unterscheidet" (Obinger 2003: 125). Weitgehende Einigkeit scheint lediglich bezüglich der Einschätzung negativer Effekte aus sog. Verteilungskoalitionen zu bestehen (ebd., S. 128 ff.). Sowohl für die Staatsquote insgesamt als auch für die Sozialleistungen speziell gilt, dass sich allenfalls schwache und instabile Effekte auf wirtschaftliches Wachstum und Arbeitslosigkeit
123
belegen lassen113; viel bedeutsamer als derartige Aggregateffekte sind die sog. "Designeffekte", die Frage also, in welcher Weise und von wem der Staat Steuern und Abgaben erhebt und wofür er sie im einzelnen ausgibt. Den Sozialstaat pauschal als "mächtigsten Konkurrenten der Wirtschaft" zu bezeichnen (Sinn 2004: 187), sollte sich jedenfalls nach einer nüchternen Betrachtung der empirischen Forschungsergebnisse verbieten. Ein Blick auf die langfristige Entwicklung einiger der Aggregatindikatoren (in Zusammenhang mit denen, die schon in vorangegangenen Abschnitten präsentiert wurden) mag dazu dienen, die Diskussion zu versachlichen, weil sie einige der populären Kampfparolen als solche erkennbar machen. Werfen wir zunächst einen Blick auf die Steuern und Abgaben in ihrer Gesamtheit. Ihr Anteil am Bruttoinlandsprodukt ist in Abb. 4.17 dargestellt. Die Quote der USA liegt deutlich unter denen der anderen Länder; sie verläuft auch stabiler mit nur einem leichten Anstieg (um 6 %) zwischen 1965 und 2000. D und GB tauschen des Öfteren ihren Rangplatz und weisen zur Jahrtausendwende in etwa das gleiche Belastungsniveau auf. Ihre Quoten steigen bis dahin in etwa gleichem Maße wie die der USA. Schweden hat eine deutlich höhere Belastungsquote, die seit Ende der 80er Jahre um 50 Prozent schwankt, was einen Anstieg (gegenüber 1965) um mehr als 15 % bedeutet.114 Erweitert man den Vergleich auf die OECD-Länder zum Jahre 1997, zeigt sich, dass Deutschlands Quote von 37,2 % knapp unter dem Durchschnitt von 38,8 % liegt (s. Wagschal 2003: 262). Nicht nur die skandinavischen Länder, sondern auch Belgien, Frankreich, Österreich und die Niederlande haben zu diesem Zeitpunkt deutlich höhere Abgabenbelastungen. Eine noch niedrigere Quote als die USA hat Japan (28,8 %). Trotz des Abgabenanstiegs in Folge der Wiedervereinigung beträgt der Zuwachs der Gesamtabgabenlast in Deutschland zwischen 1965 und 1997 weniger als die Hälfte des OECD-Durchschnittswertes, er ist der drittniedrigste in dieser Ländergruppe (ebd., S. 261). Beim Ländervergleich ist außerdem folgende Problematik zu berücksichtigen: "Zählt man staatlich veranlasste, eigentlich aber privatwirtschaftlich organisierte Sozialversicherungsprogramme zu den jeweiligen Ausgaben und Einnahmen hinzu, dann vergrößert sich – gerade in liberalen Wohlfahrtsstaaten wie etwa den USA oder der Schweiz – der Umfang der Staatstätigkeit bedeutend" (ebd.). Berücksichtigt werden müssten auch die umgekehrten Effekte, die entstehen, wenn – wie z. B. in Schweden – Sozialtransfers versteuert werden. Die aggregierten Abgabenquoten sind also nur beschränkt aussagekräftig; sie lassen offen, wer belastet wird und mit welchen Anreizmechanismen die verschiedenen Belastungen auf den Arbeitsmärkten und bei unternehmerischen Entscheidungen wirksam werden. Deutschland hatte zwar 1997 mit
113
114
124
Einschränkend ist allerdings darauf hinzuweisen, dass alle (positiven wie negativen) Kausalaussagen, die sich auf empirisch ermittelte Korrelationen stützen, hinfällig werden könnten, wenn sich die bisherigen Spannweiten beobachteter Variablenwerte oder einige der nie vollständig in den Kausalmodellen explizierbaren Randbedingungen änderten, etwa infolge fortschreitender Globalisierungsprozesse. Außerdem können die Kausalkonstellationen einzelner Länder von dem Muster abweichen, das für die Gesamtheit der Länder ermittelt wird. Etwas andere Zahlen für die „Gesamtabgabenbelastung“ (einschl. Importabgaben und sonstige Produktionsabgaben) liefert das Bundesministerium für Gesundheit und Soziales (in einer direkten Mitteilung an uns v. 30. 12. 2004). Für das Jahr 2002 werden folgende Zahlen gegeben: D 41,4 %; GB 37,1 %; SW 50,6 %; USA 27,7 %.
Ausnahme der Schweiz die niedrigste effektive Steuerquote (21,7 %) aller OECD-Länder, aber mit 53,0 % bei der Einkommensteuer einen der höchsten und mit 45,0 Prozent bei der Unternehmensbesteuerung sogar den höchsten Spitzensteuersatz. Mit der Differenz von effektiver Steuerquote und Spitzen-Steuersatz jonglieren die Propagandisten der öffentlichen Debatte.115 60
50
% des BIP
40
30
20
10
D
UK
Schweden
20 01
19 99
19 97
19 95
19 93
19 91
19 89
Jahr
19 87
19 85
19 83
19 81
19 79
19 77
19 75
19 73
19 71
19 69
19 67
19 65
0
USA
Abb. 4.17: Gesamte Steuern und Sozialabgaben in Prozent des BIP Quelle: OECD, Revenue Statistics, in: OECD (2005b).
Die Länder unterscheiden sich auch erheblich in dem Maße, wie stark speziell der Faktor Arbeit mit Steuern und Abgaben belastet wird ("labour tax wedge"). Die OECD ("A caring world", 1999: 40) gibt dazu folgende Zahlen: In GB nahm die Belastung zwischen 1979 und 1995 leicht ab auf ca. 33 %; in SW lag sie zunächst leicht über, dann leicht unter der 50-Prozent-Marke; in D nahm die Belastung in diesem Zeitraum deutlich zu von knapp über 40 auf 50 Prozent. (Zur Entwicklung der Sozialabgaben s. unten). Nur in Deutschland ist der Faktor Arbeit deutlich höher belastet als die anderen Faktoren.116
115
116
Wenn man die von Unternehmen tatsächlich gezahlten Steuern auf Einkommen und Gewinne in Prozent des BIP ermittelt, zeigt sich, dass D unter den vier hier primär betrachteten Vergleichsländern seit Ende der 80er Jahre die niedrigste Belastungsquote aufweist, GB die höchste. Bei der Belastung der Einzelpersonen (wiederum relativ zum BIP) liegen D, GB und die USA seit den frühen 80er Jahren ziemlich eng zusammen (deutlich unterhalb von SW), seit 1998 weist D auch hier die niedrigste Belastungsquote auf (OECD, Revenue Statistics, Angaben bis zum Jahre 2002). Die in der gegenwärtigen Debatte häufig zu hörende Behauptung, Deutschland sei ein „Hochsteuerland“ ist, zumindest in dieser Pauschalität, plumpe Propaganda. Auf den ersten Blick scheint es bezüglich der Wettbewerbsfähigkeit gleichgültig zu sein, ob Unternehmen mit Steuern oder sonstigen Abgaben belastet werden. Für die Schaffung von Arbeitsplätzen ist aber relevant, dass Sozialabgaben für den Arbeitnehmer ergebnisunabhängig sofort anfallen, Steuern dagegen ergebnisabhängig erst später.
125
Viel diskutiert wird derzeit, ob der mit der Globalisierung erhöhte internationale Wettbewerbsdruck die Politik zu einer Absenkung der Belastungsquoten zwingt. Eine solche Tendenz scheint sich abzuzeichnen, wenn man allein auf die Steuersätze schaut. "Fast alle OECD-Länder haben seit 1980 ihre Steuersätze auf das private Einkommen sowie für Unternehmen gesenkt" (Wagschal 2003: 278). Schweden z. B. habe seinen Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer von 58 auf 25 Prozent und bei der Unternehmensbesteuerung von 40,0 auf 28,0 % (Angaben für das Jahr 1997) gesenkt. Bei der Einkommensteuer berücksichtigt Wagschal allerdings nicht, dass in SW nicht nur der Zentralstaat, sondern auch die Gemeinden Einkommenssteuern erheben; im Jahre 2004 waren das zusätzliche 31,5 %, sodass die Einkommenssteuerquote insgesamt bei 56,5 % lag (Bundesministerium der Finanzen 2005).117 Ergänzt man Wagschals Angaben mit dem eben genannten Monatsbericht des Bundesfinanzministeriums, so ergibt sich für den Zeitraum von 1980 bis 2004 Folgendes: In GB fielen die Spitzensteuersätze von 60 auf 40 (Einkommensteuer) und von 52 auf 30 Prozent (Unternehmenssteuern). In Deutschland blieben die Spitzensteuersätze höher, fielen in diesem Zeitraum aber immerhin von 56 auf 47,5 Prozent (Einkommensteuer, einschl. Solidaritätszuschlag) und von 56 auf 38,7 Prozent (Unternehmenssteuern, niedriger als im Staate New York).118 Die Reduktion der Steuersätze ist durch die Verbreiterung der Bemessungsgrundlagen mehr als ausgeglichen worden, sodass das Steueraufkommen der OECD-Länder sich – zumindest bis 1998 – nicht verringert, sondern sogar noch erhöht hat (Wagschal 2003: 278). Zu bedenken ist allerdings, dass differentielle Steuersätze im Prinzip ein Instrument politischer Steuerung sind; ihre Vereinheitlichung (mit einer Absenkung der Spitzensätze) also die Regulierungskompetenz des Staates einschränkt (gleichgültig, wie man das bewerten möchte, mehr hierzu in Kap. 6.5.1). Aus dem bisher Gesagten ist schon deutlich geworden, dass eine Besonderheit des deutschen Steuersystems in der Kombination von relativ hohen Spitzensteuersätzen und geringer effektiver Steuerquote (d. h. geringem Steueraufkommen) besteht. Während sich bei der Besteuerung von Einzelpersonen die Aufkommen (gemessen als Anteil am BIP) in Deutschland, GB und den USA seit den 80er Jahren, abgesehen von konjunkturellen Schwankungen, nur geringfügig unterscheiden, ist das Aufkommen aus den Unternehmenssteuern seit 1980 in D durchgängig erheblich niedriger als in GB und seit 1987 auch niedriger als in den USA (die hierzu herangezogenen Daten der OECD Revenue Statistics reichen bis 2001). Allerdings ist die Berechnung der "effektiven Steuerbelastung" der Unternehmen unter Fachleuten stark umstritten. Deutschland schneidet sehr günstig (mit niedriger Steuerquote) ab, wenn die Berechnung auf der Grundlage makroökonomischer Daten mit Hilfe der
117 118
126
Da Gebietssteuern oder auch Sondersteuern (wie der Solidaritätszuschlag) häufig als prozentualer Zuschlag zur zentralstaatlichen Basissteuer erhoben werden, kommen bei den Gesamtsteuersätzen Zahlen mit Nachkommastellen zustande. Ein Ländervergleich müsste zudem weitere das Kapital und Vermögen belastende Steuern berücksichtigen. Unter Berufung auf Daten des Bundesfinanzministeriums und der OECD gibt „Der Spiegel“ (33/2005, S. 60) für die Summe aus Grund-, Erbschaft/Schenkungs-, Vermögens- und Vermögensverkehrssteuer folgende Prozentwerte (Anteile am jeweiligen Steueraufkommen des Landes) an: Für GB 11,9 %, für D aber nur 2,2 % (USA: 10,1 %).
volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung vorgenommen wird. Gelegentlich wird suggeriert, dass bei dieser Berechnung stets nur die Kapitalgesellschaften, nicht aber das Kapital der Personengesellschaften berücksichtigt werde. Dies trifft nicht zu. Wie u. a. Hettich/Schmidt (2000) gezeigt haben, liegen die effektiven durchschnittlichen Kapitalsteuersätze, berechnet für Kapital- und Personengesellschaften, seit den 80er Jahren (Beginn des Untersuchungszeitraums) erheblich unter denen für SW, GB und USA. Für 1996 z. B. betragen die Sätze 26,33 % (D), 48,82 % (GB), 56,12 % (SW) und 40,97 % (USA) (ebd., S. 15). Andere Berechnungsmethoden stützen sich auf mikroökonomische Daten und ermitteln die effektive Steuerbelastung von fiktiven Modellunternehmen bzw. Modellinvestitionen oder auch die durchschnittliche Belastung einer Reihe von tatsächlich existierenden Unternehmen (einen kurzen Überblick über verschieden Berechnungsvarianten geben Eichhorst et al. 2001: 330 f.). Diese Methodik führt regelmäßig zu dem Ergebnis, dass Deutschland zumindest im europäischen Maßstab als "Hochsteuerland" zu gelten hat. Eichhorst et al. (2001: 333) zitieren z. B. eine Modellrechnung von Baker/McKenzie (2001) mit folgenden effektiven Steuersätzen: 25,20 % (D), 20,83 % (GB), 15,73 % (SW). Das Zentrum für europäische Wirtschaftsforschung Mannheim (ZEW) präsentiert im Internet (ftp://ftp. zew.de/pub/zew-docs/div/Effektive_Steuerbelastung.Europa.pdf, Abruf am 4. 3. 2005) folgende Zahlen: 36,1 % (D), 28,9 % (England), 23,4 % (SW). Im Wirtschaftsteil der großen Zeitungen findet man überwiegend die für Deutschland ungünstigen Berechnungsergebnisse. Ein anderes Bild ergibt sich auch, wenn man den Anteil der Unternehmenssteuern am BIP ermittelt. Eichhorst et al. (2001: 336) präsentieren hierzu die Mittelwerte der Jahre 1994-1998. Demnach liegt der Anteil für GB bei 3,66; für SW bei 2,92; für die USA bei 2,70 und für D (Schlusslicht in dieser OECD-Statistik) bei 1,34. 18
Sozialabgaben in % des BIP
16 14 12 10 8 6 4 2
Deutschland
Schweden
20 01
19 99
19 97
19 95
19 93
19 91
19 89
Jahr
UK
19 87
19 85
19 83
19 81
19 79
19 77
19 75
19 73
19 71
19 69
19 67
19 65
0
USA
Abb. 4.18: Sozialabgabenquoten Quelle: OECD, Revenue Statistics, in: OECD (2004a).
Ähnliche Relationen ergeben sich, wenn man für den gleichen Zeitraum die Unternehmenssteuern als Anteil am gesamten Steueraufkommen eines Landes angibt (ebd., S. 337). Die entsprechenden Zahlen sind 10,3 (GB); 9,4 (USA); 5,8 (SW) und 3,6 (D).
127
Besonders heftig werden derzeit die sozialstaatlichen Leistungssysteme diskutiert. Abb. 4.18 zeigt die Entwicklung der Sozialabgabenquoten (bezogen auf das BIP für unsere Vergleichsländer). Die BRD hatte bis Mitte der 70er Jahre die höchste Quote und wurde erst dann von Schweden überholt. Schon zu dieser Zeit (mit Ausnahme der USA früher als anderswo) setzte in Deutschland die Konsolidierungsphase ein. Bis zur Wiedervereinigung stieg die Quote nur noch leicht (während die Sozialausgaben bereits seit Mitte der 70er Jahre stabil waren, vgl. Abb. 4.19) und war Ende der 80er Jahre sogar leicht rückläufig. Laut Streeck/ Trampusch (2005: 4) läßt sich der Anstieg zwischen 1990 und 1998 aber nur zur Hälfte auf die Folgen der Wiedervereinigung zurückführen.119
Sozialausgaben in % des BIP
25
20
15
10
5
0 1960
1963
1966
1969
1972
1975
1978
D (West, ab 1991 gesamt)
1981 Jahr
1984
UK
1987
1990
Schweden
1993
1996
1999
USA
Abb. 4.19: Entwicklung der Sozialausgabenquoten Quelle: Comparative Welfare States Data Set (Primärquelle: OECD).
Bemerkenswert ist des Weiteren, dass die Sozialausgabenquoten in Großbritannien in den 80er und 90er Jahren weiter wuchsen (Abb. 4.19), während die Sozialabgabenquote seit Mitte der 70er Jahre stabil war. Die Unterschiede bei den Sozialausgaben zwischen den Ländern schrumpfen beträchtlich, wenn man von den oben schon erwähnten NettoLeistungsquoten ausgeht, also steuerliche Vergünstigungen und Belastungen, die mit den Transferleistungen verbunden sind, sowie staatlich subventionierte Sozialleistungen, die von privaten Organisationen ausgezahlt werden (wie z. B. betriebliche Renten), mit berücksichtigt. Für 1995 sind z. B. folgende Nettosozialausgabenquoten (in Unterschied zu
119
128
Im Vollzug der Wiedervereinigung haben sich die sog. versicherungsfremden Leistungen stark erhöht. Nach einer Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung könnten die Sozialbeiträge hierzulande um vier bis neun Prozentpunkte sinken, wenn alle versicherungsfremden Leistungen durch indirekte Steuern statt durch Beiträge finanziert würden (vgl. Meinhardt/Zwiener 2005).
den in Abb. 4.19 dargestellten Sozialausgabenquoten bezogen auf das BIP in Faktor-, nicht Marktpreisen; einschließlich steuerlich begünstigter freiwilliger privater Sozialleistungen) ermittelt worden: Für Deutschland 27,7 %, für GB 26,0 %, für Schweden 27,0 % und für die USA immerhin 24,5 % (s. Alber 2002: 19).120 Esping-Andersen (2006) offeriert neuere Daten über Netto- vs. Brutto-Sozialquoten. Sehr unterschiedlich ist, wie bereits erwähnt, in den verschiedenen Ländern die Finanzierungsstruktur der Sozialleistungen. In Deutschland lag 1998 der Beitrag der Lohnabgaben/Sozialbeiträge für Arbeitgeber und Arbeitnehmer bei 66,1 %; nur 30,9 % der Sozialleistungen wurden über allgemeine Steuern finanziert. In GB lag die Abgabenquote bei 51,4 %, in Schweden bei 48,4 % (s. Alber 2002: S. 21). Da die "Staatsquote" in den öffentlichen Diskussionen eine besondere Rolle spielt, sei die Entwicklung der Staatsausgaben (als Anteil am BIP) hier in ihrem längerfristigen Verlauf dargestellt (Abb. 4.20).121 80 70
% des BIP
60 50 40 30 20 10
19 60 19 62 19 64 19 66 19 68 19 70 19 72 19 74 19 76 19 78 19 80 19 82 19 84 19 86 19 88 19 90 19 92 19 94 19 96 19 98 20 00 20 02
0
Jahr
D (West, ab 1991 gesamt)
UK
S
USA
Abb. 4.20: Anteil der Staatsausgaben am BIP Quelle: Economic Outlook Data Base, in: OECD (2005b).
Mitte der 70er Jahre liegt die deutsche wie auch die britische Staatsquote bei etwa 50 %. Bis 1990 wird sie in der BRD auf etwas unter 45 %, in GB auf ca. 40 % zurückgeführt. Nach der Wiedervereinigung steigt die deutsche Quote bis 1995 wieder auf 50 % an, während die britische sich nach einigen Schwankungen auch um die Jahrtausendwende bei
120 121
Der Tendenz nach ähnliche, aber etwas weniger nivellierte Niveaus registriert die OECD („A caring world“, 1999: 53). Die Staatsausgaben umfassen sowohl den Konsum als auch den Bereich der Kapitalbildung und Investitionen. Für einen Mehrländervergleich für den Zeitraum zwischen 1970 und 1995 s. Cusack/Fuchs in Obinger et al. (2003: 323)
129
etwa 40 % bewegt. Die schwedische Quote liegt zu diesem Zeitpunkt nahe unter der 60Prozent-Marke, die US-amerikanische bei ca. 35 %. 4.7
Bildung
Wie schon erwähnt: wichtiger als die Höhe der Staatsquote ist die Frage, wofür die staatlich verwalteten Gelder eingesetzt werden. Dies können wir hier natürlich nicht im Detail erörtern. Nachdem wir oben schon den Umfang der Sozialausgaben dargestellt haben, beschränken wir uns in diesem Abschnitt auf die Entwicklung der Bildungsausgaben in ihrem Anteil am BIP (Abb. 4.21). 10
Bildungsausgaben in % des BIP
9 8 7 6 5 4 3 2 1 0
50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 00 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 20 Jahr
Deutschland
UK
Schweden
Abb. 4.21: Entwicklung der Bildungsausgaben (in % des BIP) Quelle: Statistisches Bundesamt, Office for National Statistics, SCB, Eurostat.
Die langfristigen Trendverläufe in D, GB und SW sind zwar ähnlich: bis Mitte bzw. Ende der 70er Jahre steigen die Bildungsausgaben kräftig an; seitdem ist ihr Anteil in allen drei Ländern bei unstetem Verlauf bis zur Jahrtausendwende um ein bis zwei Prozentpunkte zurückgegangen. Aber die deutschen Anteile liegen kontinuierlich unter denjenigen der beiden anderen Länder; SW hat durchgängig eine wesentlich höhere Quote als D und GB. Die jährlichen Ausgaben für Bildungseinrichtungen pro Schüler und Studierendem vom Primär- bis zum Tertiärbereich sind in Schweden wesentlich höher als in Großbritannien und Deutschland. 2002 lagen sie in Schweden bei etwa 8.500 US-$ (kaufkraftbereinigt), in Deutschland bei ca. 7.200 und in Großbritannien bei ca. 6.800 US-$ (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006: 24). In allen Ländern ist das durchschnittliche Niveau der Schulbildung enorm angestiegen. In der BRD z. B. besuchten 1952 in der Altersstufe der 7. Klasse 79 % aller Schüler eine Volksschule (später: Hauptschule) und nur 13 % ein Gymnasium, 1999 dagegen gingen nur noch 22 % zur Hauptschule und 31 % ins Gymnasium, mit entsprechenden Anstiegen bei den Realschulen und den integrierten Schulformen (Geißler 2002: 335). Während 1960 in Westdeutschland nur 6 % eines Jahrgangs ein Studium an der Universität und 2 % eines an der Fachhochschule begannen, 130
waren es im Jahre 2000 24 % und 12 % (ebd., S. 336). Dennoch bleibt D bei der Hochschulbildung hinter den meisten anderen "reichen" Ländern zurück. So z. B. werden in D im Jahre 2001 nur rund 32 % der entsprechenden Jahrgänge als Studienanfänger registriert, während es in GB 45 und in SW sogar über 69 Prozent sind (Hradil 2004: 145). Außerdem ist in Deutschland die Zahl der Studienabbrecher besonders hoch. Trotz der steigenden Zahl der Abiturienten und Studienanfänger stagnierten die Abschlussquoten an den Universitäten zwischen 1975 und 1994 bei 8 bis 9 %. Folglich ist 1999 der Akademikeranteil (Personen mit Universitätsabschluss) unter den 30- bis 35-Jährigen mit 11 % nicht höher als unter den 50- bis 55-Jährigen (Geißler 2002: 337). Betrachtet man nicht nur die Studienanfänger, sondern den Anteil der Studierenden an der entsprechenden Altersgruppe, so ist Deutschland neben Litauen und der Russischen Föderation das einzige Land Europas, in dem im Laufe der 90er Jahre dieser Anteil zurückging (Hradil 2004: 147). Nur bis zur Sekundarschulbildung und bei der beruflichen Schulbildung schneidet D im internationalen Vergleich relativ gut ab. 1998/99 befanden sich 85 % aller 18-Jährigen in irgendeiner Art von schulischer Ausbildung, in SW waren es 96 %, in GB aber nur 53 %. Bei der Bildungsbeteiligungsquote der 15- bis unter 20-Jährigen liegt Deutschland an der Spitze (vor allem wegen seines Berufbildungssystems), leicht vor Schweden und erheblich vor GB (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006: 27f.). Unter den 18- bis 24-Jährigen besuchten in D (noch) 25 % eine Sekundarschule (in GB 16 %, in SW 27 %), aber nur 15 % (nach Island der schlechteste Wert in der EU) eine Hochschule, in GB waren es 22 %, in SW 20 % (Hradil 2004: 147). Wird die Bildungspartizipation der Altersgruppe von 20 bis 24 Jahren insgesamt betrachtet, liegt SW leicht vor D und GB. Die relativ hohe Quote in D ist auch eine Folge des relativ späten Beginns einer beruflichen Ausbildung oder eines Studiums sowie der überdurchschnittlich langen Studiendauer (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006: 27 f.). Kitschelt/Streeck (2004: 21) beklagen die mangelnde "Humankapitalbildung", insbesondere die durch Unterfinanzierung (fallende Ausgaben pro Student oder Studentin) ausgelöste Verschlechterung der akademischen Ausbildung während des letzten Viertels des 20. Jahrhunderts, als eines der gravierendsten Strukturprobleme Deutschlands. Aber auch in GB gilt das Bildungssystem (neben dem Gesundheits- und dem Verkehrssystem) als eine Schwachstelle. In der Süddeutschen Zeitung vom 9. 5. 05 (S. 21) wird der Chefökonom des National Institute of Economic and Social Research, Martin Weale, mit der These zitiert, das Bildungssystem sei die wesentliche Ursache für den britischen Rückstand bei der Produktivität gegenüber Deutschland oder den USA. Selbst in Schweden hat es in jüngerer Zeit problematische Entwicklungen im Bildungswesen gegeben, insbesondere im Bereich der Elementarschule und der unteren Stufen der Sekundarschule. Hier ist die Zahl der Schüler pro Lehrkraft seit Anfang der 90er Jahre erheblich angestiegen; außerdem soll das durchschnittliche Qualifikationsniveau der Lehrkräfte gesunken sein (Palme et al. 2003: 73). 4.8
Kapitalbildung
Neben der sog. Humankapitalbildung werden Anlage-Investitionen ("Gross Fixed Capital Formation") als besonders bedeutsam für die Sicherung ökonomischen Wachstums angesehen. Bei langfristiger Betrachtung zeigt sich, dass die entsprechenden Ausgaben, gemessen als Anteil am BIP, in D zwischen 1970 und 2000 höher liegen als in GB, SW und USA. Selbst nach einem Rückgang der Quote zwischen 1992 und 1997 liegt dieser Anteil im Jahre 2000 in D noch über den Werten der drei anderen Länder (laut Angaben der 131
OECD sowie Kitschelt/Streeck 2004: 20)122. Kitschelt/Streeck (2004: 21) geben allerdings zu bedenken, entscheidend sei, in welchem Maße zusätzliche Investitionen in neue und besonders produktive Technologien gelenkt würden; dies erfolge in D nicht in ausreichendem Maße. Folgt man einem neuesten "Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands", den das Bundesforschungsministerium für das Jahr 2004 vorgelegt hat (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2004), scheint es hier aber zwischenzeitlich deutliche Fortschritte gegeben zu haben.123 Laut Angaben von EUROSTAT hat das US-Patentamt im Jahre 2002 mehr als doppelt so viele Patente (pro Mio. Erwerbspersonen) an Deutschland als an GB vergeben, der Abstand hat sich seit 1997 vergrößert (SW liegt allerdings noch über dem deutschen Niveau). Bei den Patenten, die vom europäischen Patentamt im Hochtechnologiebereich vergeben werden, liegen GB und D seit Anfang der 90er Jahre mehr oder weniger gleichauf, allerdings deutlich hinter SW mit (seit Mitte der 90er Jahre) mehr als doppelt so vielen Patenten und noch deutlicher hinter den USA mit fast der fünffachen Quote im Jahre 2001. Ein häufig zitierter Indikator sind die Ausgaben für "Forschung und Entwicklung" (FuE), bei denen Deutschland ebenfalls über dem Durchschnitt der OECD-Länder liegt – vor Großbritannien, aber hinter den USA und Schweden, das mit großem Abstand die Rangliste anführt (Eichhorst et al. 2001: 377 ff.). Im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie liegt Deutschland (gemessen am Produktionswert in % des BIP) deutlich hinter diesen drei Ländern (und etlichen anderen) zurück (ebd., S. 390)124. 4.9
Internationaler Handel: Exporte und Importe
Wir präsentieren zunächst die Zeitreihen über die jeweiligen Prozentanteile der Exporte und der Importe am BIP (Abb. 4.22 u. 4.23).
122 123
124
132
Die Vermögenseinkommen betragen in Deutschland laut Jaeger (2006) etwa 500 Mrd. Euro. Die unternehmerischen Netto-Investitionen, die ganz überwiegend aus den Vermögenseinkommen finanziert werden, liegen unter 100 Mrd. Euro. Es muss auch verwirren, dass Kitschelt/Streeck (2004: 16) das „Bild einer erodierenden deutschen Wettbewerbsfähigkeit“ in wesentlichen Punkten bestätigt finden; dass aber einer der beiden Autoren nur ein Jahr später feststellt, „the German economy does not suffer from a lack of international competitiveness“ (Streeck/Trampusch 2005: 1). Schmid (2003) zitiert aus dem Europäischen Innovationsanzeiger einen Innovationsindex (beruhend auf verschiedenen Indikatoren zu Humanressourcen, Schaffung und Transfer neuen Wissens, sowie Innovationsfinanzierung), für den Deutschland mit 0,6 einen deutlich niedrigeren Wert aufweist als Großbritannien (4,4) und Schweden (das mit 6,5 Punkten den Spitenplatz belegt). Des Weiteren verweist er auf das Bertelsmann Beschäftigungsranking, das eine niedrige Innovationstätigkeit als Problem für den deutschen Arbeitsmarkt identifiziert. Allerdings sollte man solche Rankings nicht überbewerten. Ausgerechnet das If0-Institut in München hat kürzlich eine Studie vorgelegt, die zeigt, dass derartige Rankings häufig fehlgehen (Bericht der Süddeutschen Zeitung v. 25.8.2006, S.19).
50 45 40
Anteil am BIP in %
35 30 25 20 15 10 5
19 49 19 51 19 53 19 55 19 57 19 59 19 61 19 63 19 65 19 67 19 69 19 71 19 73 19 75 19 77 19 79 19 81 19 83 19 85 19 87 19 89 19 91 19 93 19 95 19 97 19 99 20 01 20 03
0
Jahr
USA
UK
Schweden
Deutschland
Abb. 4.22: Anteil der Exporte am BIP Quelle: IMF, International Financial Statistics, in: Data Service & Information (2004). 45 40
Anteil am BIP in %
35 30 25 20 15 10 5 0 49 51 53 55 57 59 61 63 65 67 69 71 73 75 77 79 81 83 85 87 89 91 93 95 97 99 01 03 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 20 20 Jahr
USA
UK
Schweden
Deutschland
Abb. 4.23: Anteil der Importe am BIP Quelle: IMF, International Financial Statistics.
Die Außenhandelsverflechtung nimmt in allen Ländern spätestens seit Ende der 60er Jahre langfristig zu, allerdings mit erheblichen Schwankungen; der Anstieg beschleunigt sich in den 90er Jahren (ein Teilaspekt der "Globalisierung"). Generell haben kleinere Länder höhere Export-/Importquoten als größere Länder, insofern überrascht die Position Schwedens nicht. Die Exportquote der USA ist dagegen außerordentlich niedrig, seit den 70er Jahren bleibt sie auch deutlich hinter dem Anstieg der Importquote zurück, wobei sich die Schere seit Ende der 90er Jahre besonders stark geöffnet hat. Der Anteil der USamerikanischen Exportleistungen am Welthandel ist zwischen 1960 und 1987 ziemlich stetig von 16 auf 10 % gefallen; nach einem vorübergehenden Wideranstieg auf über 12 % 133
ist er bis zum Jahre 2002 erneut auf unter 10 % gesunken. Der deutsche Exportanteil bewegt sich dagegen ziemlich stabil seit etwa 40 Jahren zwischen der 9- und der 12Prozent-Marke und übertraf in einzelnen Jahren sogar den US-Anteil. Das ist insofern erstaunlich, als in dieser Zeit zahlreiche Schwellenländer, allen voran China, ihre Exportleistungen erhöht haben, sodass der Marktanteil der übrigen Länder insgesamt zwangsläufig sinken musste. Als weiterer Indikator wird häufig der sog. Außenbeitrag, also die Differenz zwischen Exporten und Importen, herangezogen. Diese Kennziffer steigt an, wenn die Exporte schneller als die Importe wachsen. Im langfristigen Trendvergleich (seit 1960) trifft dies für den deutschen Außenbeitrag zu, allerdings bei erheblichen Schwankungen (Mitchell 2003; KfW-Research 2004: 4). Der schwedische Außenhandelsbeitrag oszilliert bis Anfang der 80er Jahre um die Null-Linie, befindet sich aber seitdem im Plus und hat in den 90er Jahren nach einem steilen Anstieg den deutschen Außenhandelsbeitrag, relativ zum BIP, noch übertroffen, bis 2003 hat D allerdings nahezu aufgeschlossen (laut Angaben des Internationalen Währungsfonds, IMF). Stärkere Schwankungen um die Null-Linie weist GB bis Ende der 80er Jahre auf; allerdings liegen die Werte zwischen 1986 und 2003 im negativen Bereich (mit Ausnahme des Jahres 1997). Noch krasser ist das Leistungsbilanzdefizit der USA; hier befindet sich der Außenbeitrag seit Ende der 70er Jahre im Abwärtstrend mit einer rasanten Beschleunigung seit Ende der 90er Jahre.125 Unter Experten ist umstritten, was Exportquoten und Außenbeiträge über die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes aussagen. Bei der Bewertung der deutschen Exporterfolge muss z. B. berücksichtigt werden, dass bei ihnen der Anteil der importierten Vorleistungen in den 90er Jahren beständig zugenommen hat (von 26,7 % in 1991 auf 38,8 % in 2002 – KfW 2004: 4), sodass der Anteil der inländischen Wertschöpfung am Produktionswert der exportierten Güter (die "Wertschöpfungsquote") gesunken ist. Hans-Werner Sinn (2004: 71-89) bestreitet nicht zuletzt aus diesem Grunde, dass die Exportleistungen als Beleg für die hohe Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu interpretieren seien. Das verknüpft er einmal mehr mit einem reißerischen Schlagwort, indem er die deutsche Wirtschaft als "Basarökonomie" bezeichnet. Dagegen stellt die KfW-Bankengruppe in einer Studie zur "Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Exportindustrie" (KfW 2004) fest: "Parallel zur Senkung der inländischen Wertschöpfungsquote haben in den letzten Jahren sowohl die im Exportsektor insgesamt erzeugte Bruttowertschöpfung als auch der Außenbeitrag zugenommen. Beides deutet auf eine erhöhte Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Exportindustrie hin" (ebd., S. 1). Vor allem hat der Anteil der exportinduzierten Bruttowertschöpfung (BWS) an der BWS der Gesamtwirtschaft auch in diesem Jahrzehnt von 19,8 % (1991) auf 22,4 % (2002) zugenommen, womit auch ein größerer Beitrag zur inländischen Beschäftigung geleistet wurde (ebd., S. 2). Außerdem sehen die Autoren der Studie Anzeichen für eine "am aktuellen Rand" wieder sinkende Importquote (ebd., S. 3). Einschränkend weisen sie aber auch darauf hin, dass, "so lange die Weltwirtschaft boomt, während sich die Konjunktur
125
134
Schon hierin zeigt sich, dass das US-amerikanische Wirtschaftssystem teilweise auf Voraussetzungen beruht, die nicht verallgemeinert werden können. (Dazu gehört im übrigen auch der horrende, umweltschädigende Energieverbrauch).
hierzulande eher verhalten entwickelt, es durch den Importsog aus dem Ausland fast zwangsläufig zu einem sich verbessernden Außenbeitrag (kommt)" (ebd., S. 4). Auch bezüglich der mutmaßlich negativen Beschäftigungseffekte, die von Direktinvestitionen deutscher Firmen im Ausland ausgehen sollen, urteilen die Autoren betont vorsichtig: "Über den Netto-Beschäftigungseffekt – und nur dieser ist hier relevant – liegen allerdings keine empirischen Informationen vor" (ebd., S. 8).126 Bezüglich der Attraktivität niedriger Lohnkosten im Ausland verweisen sie zudem auf eine Panel-Analyse von 1000 multinationalen Firmen; sie hat lediglich einen statistisch nicht-signifikanten Effekt der Lohnhöhe in diesen Ländern auf die Beschäftigung innerhalb des Mutterunternehmens im Heimatland aufgedeckt (ebd., S. 7). 4.10
Demographische Indikatoren
Die Bevölkerungsentwicklung hat bedeutende ökonomische und soziale Folgen. Im Mittelpunkt der gegenwärtigen Diskussion stehen die seit Mitte der 60er Jahre erheblich gesunkenen Geburtenraten der sich daraus und aus der steigenden Lebenserwartung ergebende Zuwachs im Anteil älterer Menschen ("Überalterung") und der voraussehbare Rückgang der Bevölkerung. 90
Geburten je 1000 Frauen 15-49 J.
80
70
60
50
40
30
20
10
19 51 19 53 19 55 19 57 19 59 19 61 19 63 19 65 19 67 19 69 19 71 19 73 19 75 19 77 19 79 19 81 19 83 19 85 19 87 19 89 19 91 19 93 19 95 19 97 19 99 20 01
0
Jahr
S
EW
D
Abb. 4.24: Entwicklung der Geburtenraten in Westdeutschland, Schweden und England /Wales Quelle: Statistisches Bundesamt, SCB, ONS.
126
Auch die Direktinvestitionen ausländischer Firmen im Inland zeitigen ambivalente Folgen. Zunächst scheint es eher zu einer Verdrängung inländischer Firmen und zu einem Beschäftigungsabbau zu kommen, im weiteren Verlauf aber auch zu einem ansteigenden Auftragsvolumen für inländische Firmen und einem damit einhergehenden Beschäftigungsaufbau (s. Barrios/Görg/Strobl 2004).
135
Überlagert werden diese Prozesse durch Zuwanderungen aus dem Ausland, aber auch durch inländische Wanderungsbewegungen. Wir beginnen mit der Entwicklung der Geburtenraten (Zahl der jährlichen Geburten je 1000 Frauen im Alter von 15 bis 49 Jahren).127 Zu Beginn der 50er Jahre liegen die Geburtenraten der drei europäischen Länder in der Nähe von 60 pro 1000 Frauen. Nach einem in D und GB besonders ausgeprägten Anstieg bis zur Mitte der 60er Jahre fallen die Raten bis Ende der 70er bzw. Mitte der 80er Jahre mehr oder weniger stetig ab. In GB ist sie seitdem relativ stabil, in Schweden verläuft sie eher zyklisch mit einem bemerkenswerten Anstieg in den 80er Jahren ("Baby-Boom"), der durch die ökonomische Krise Anfang der 90er Jahre (s. oben, Abschn. 4.1) revidiert wird. In D verbessert sich die Situation in der zweiten Hälfte der 80er Jahre ebenfalls; seitdem verläuft die Rate relativ stabil. Häufig wird statt der Geburtenrate auch die Fruchtbarkeitsziffer zitiert, also die mittlere Zahl der Kinder, die eine Frau im Verlauf ihres Lebens zur Welt bringt. Folgt man den von EUROSTAT für die Zeit ab 1992 angebotenen Daten (Internet-Abruf v. 10.8.05), so bestätigt sich die niedrige Rate für Deutschland: in der ersten Hälfte der 90er Jahre bewegt sie sich zwischen 1,25 und 1,30, seit 1997 zwischen 1,35 und 1,38. Das bedeutet, grob gerechnet, dass 100 Eltern nur noch 65 Nachkommen zeugen. In Schweden erreicht die Rate zu Beginn der 90er Jahre die zur Reproduktion der Bevölkerung notwendige Höhe von 2,1128; sie sinkt bis 1998 auf 1,50 und steigt bis 2003 wieder auf 1,71. In GB liegt die Rate Anfang der 90er Jahre bei 1,8 und bewegt sich seit 1995 zwischen 1,63 und 1,71. Unter unseren drei Vergleichsländern weist also die Bundesrepublik das mit Abstand stärkste Defizit auf, nur wenige Länder (wie Italien) liegen noch knapp unter den deutschen Werten.129 Seit Anfang der 70er Jahre übersteigt in D die Zahl der Gestorbenen die Zahl der Geborenen. Dennoch ist die Bevölkerung bisher nicht kleiner geworden.130 Zwischen 1960 und 2002 sind 26,7 Mill. ausländische Staatsbürger zugezogen und 19,2 Mill. wieder weggezogen, was einen Saldo von 7,5 Mill. ergibt. Ferner sind in dieser Zeit etwa 3,9 Mill. Aussiedlerinnen und Aussiedler aufgenommen worden (Statistisches Bundesamt 2004: 30 ff.). Ein Vergleich der Ausländeranteile in den verschiedenen Ländern ist nur begrenzt aussagekräftig, da sowohl die Registrierungs- als auch die Einbürgerungspraktiken sehr unterschiedlich sind. GB z. B. führt keine Melderegister. Außerdem werden viele der eingebürgerten Ausländer im täglichen Sozialverkehr weiterhin als "Ausländer" definiert.
127 128 129
130
136
Eine Gegenposition zu den meist pessimistisch oder gar „alarmistisch“ angelegten Verlautbarungen (besonders alarmiert – und z. T. recht unsachlich – gibt sich Miegel 2002) offerieren Bingler/Bosbach (2004) sowie Strange (2006). Mitte der 60er Jahre lag die Ziffer sogar bei 2,5. Für die längerfristige Entwicklung seit 1940 siehe den schon zitierten Bericht von Palme et al. (2003: 104). Bemerkenswert ist, dass sich die Richtung des Zusammenhangs zwischen Fertilität und weiblicher Erwerbsquote im Laufe der Zeit umgekehrt hat. Für Mütter, die 1930 geboren wurden, zeigt sich im Ländervergleich ein negativer Zusammenhang (die Fertilität sinkt bei höherer Erwerbsbeteiligung), bei 1960 geborenen Müttern ist er positiv (OECD 1999: 16 f.). Für die Abschätzung der zukünftigen Entwicklung liegen unterschiedliche Berechnungsmodelle vor. Sie gehen davon aus, dass die Bevölkerung in D demnächst, spätestens aber ab 2025 (nach einem weiteren, leichten Wachstum) abnehmen wird. Für 2050 schwanken die Schätzungen zwischen ca. 67 und 81 Mill. (Statistisches Bundesamt 2004: 58).
Trotzdem geben wir hier die Zahlen zum Ausländeranteil wieder, die die nationalen statistischen Ämter und die OECD liefern (Abb. 4.25). Blickt man nur auf die offizielle Staatszugehörigkeit, so weist Deutschland durchgängig den höchsten Ausländeranteil auf. Das Bild verändert sich, wenn man die im Ausland geborenen Personen (einschließlich der im Ausland geborenen Kinder von Briten bzw. Schweden) hinzurechnet. Die schwedische Quote steigt dann erheblich an. Für GB liegen uns hierzu nur vier Angaben vor. Demnach stieg dort der Anteil der außerhalb Großbritanniens und Nordirlands geborenen Personen von 3 % (1961) auf über 8 % im Jahre 2001.131
Anteil an der Bevölkerung in %
12
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8
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20 00
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19 66
19 64
19 62
19 60
0
Jahr
D (West, ab 1991 mit Ostberlin) S UK (im Ausland, d.h. außerhalb UK und Irland, geboren) S (im Ausland geboren) UK Abb. 4.25: Anteil der ausländischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung Quelle: eigene Berechnungen mit Daten der nationalen Ämter; OECD.
Ökonomisch und soziologisch besonders wichtig ist die Entwicklung des sog. Altersquotienten, mit dem das statistische Bundesamt die Altersgruppe der über 59-Jährigen ins Verhältnis setzt zu der Altersgruppe der 20- bis 59-Jährigen. Dieser Quotient ist in D von 29,2 im Jahre 1955 auf 44,3 im Jahre 2002 angestiegen (Statistisches Bundesamt 2004: 37). Ergänzt man die Angaben des Statistischen Bundesamtes mit denen des nationalen
131
Das Statistische Bundesamt nennt in einem aktuellen Bericht für Deutschland im Jahr 2005 einen Ausländeranteil von 9 %; weitere 10 % der Bevölkerung wiesen einen Migrationshintergrund auf (Statistisches Bundesamt 2005: 75). Laut Bevölkerungsumfragen über die Lebensqualität in Europa werden gravierende „Spannungen“ zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen in Deutschland subjektiv seltener registriert (von 38 % der Befragten) als in Schweden (45 %) und Großbritannien (48 %) (Nauenburg 2004: 71). Allerdings sind solche Einmal-Befragungen mit Vorsicht zu interpretieren.
137
statistischen Amtes in Schweden (SCB) und der WHO, zeigt sich, dass sich die Altersquotienten von 1952 bis Mitte der 70er Jahre in den drei Ländern ähnlich entwickelt haben und dass er dann in D sogar zurückging, bevor er seit Mitte der 90er Jahre wieder anstieg. 1998 lag der Quotient in SW knapp über, in D und GB knapp unter der 40-ProzentMarke. Im gleichen Zeitraum nahm der so genannte "Jugendquotient" (Zahl der 0-19Jährigen, bezogen auf die Bevölkerung von 20-59 Jahren) zunächst bis Mitte der 70er Jahre (in Schweden nur bis Anfang der 60er Jahre) zu, um anschließend – insbesondere in Deutschland – bis Ende der 80er Jahre zu sinken. Die abnehmende Stärke der unteren Altersklassen kompensierte teilweise die Zunahme der Alterslast, sodass die so genannte "Abhängigenquote" (= Altersquotient + Jugendquotient) Ende der 90er Jahre in Deutschland (nicht aber in den anderen Ländern) immer noch unter dem Niveau der 50er Jahre lag (Daten des Statistischen Bundesamtes und der WHO). 70
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20
10
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0
Jahr
Wanderungen innerhalb Deutschlands pro 1000 Einwohner (über die Gemeindegrenze, alte Bundesländer) Wanderungen innerhalb Schwedens pro 1000 Einwohner (über die Gemeindegrenze) Wanderungen innerhalb von England und Wales pro 1000 Einwohner (über die Grenze der "Family Health Service Authority")
Abb. 4.26: Binnenwanderungen pro 1000 Einwohner Quelle: eigene Berechnungen aufgrund von Daten des Statistischen Bundesamtes, des Office for National Statistic und des SCB.
Werfen wir zum Schluss noch kurz einen Blick auf die inländischen Wanderungsbewegungen (Zu- und Fortzüge) über die Gemeindegrenzen hinweg. Angesichts der häufig konstatierten "zunehmenden Mobilität" in (post-)modernen Gesellschaften, könnte man einen erheblichen Anstieg erwarten. Die Daten liefern aber ein anderes Bild (Abb. 4.26). In der Zeit von 1950 bis Mitte der 70er Jahre war die Binnenwanderung in D deutlich höher als danach; sie war rückläufig bis Mitte der 80er Jahre und stieg nach der Wieder-
138
vereinigung an, ohne das Niveau der 50er und 60er Jahre zu erreichen.132 Das Niveau der Binnenwanderung in den beiden anderen Ländern liegt vermutlich unterhalb des deutschen (die Daten sind nur eingeschränkt vergleichbar), ist dort aber ebenfalls seit Mitte der 80er Jahre angestiegen. 4.11
Fazit
Bei den ökonomischen Leistungsindikatoren bietet die Bundesrepublik Deutschland zumindest bis zur Wiedervereinigung – in manchen Bereichen auch darüber hinaus – ein durchaus positives Bild. Allerdings sind einige Strukturprobleme erkennbar, die vermutlich auch unabhängig von den ökonomischen Lasten der Wiedervereinigung (und etlichen politischen Fehlentscheidungen in diesem Zusammenhang) die wirtschaftliche Entwicklung beeinträchtigt haben und weiterhin beeinträchtigen werden. Dazu gehört weniger die häufig zitierte Abgabenlast insgesamt als vielmehr der ungewöhnlich hohe Belastungsanteil, den der Faktor Arbeit zu tragen hat. Dies findet seinen Niederschlag in einer hohen Arbeitslosenrate, die, anders als in den Vergleichsländern, während der letzten zehn Jahre nicht gesunken ist; vor allem liegt die Quote der Langzeitarbeitslosen weit über derjenigen der anderen Länder. Erhebliche Defizite sind auch im deutschen Bildungssystem auszumachen, das beträchtlich weniger Hochschulabsolventen hervorbringt als die Bildungsinstitutionen vergleichbarer Länder. (Allerdings bleiben in Deutschland auch wesentlich weniger Jugendliche als in Großbritannien ohne berufliche Ausbildung.) Außerdem haben die PISA-Studien gezeigt, dass das Kompetenz- und Leistungsniveau, das deutsche Schulen vermitteln, im internationalen Vergleich relativ niedrig einzustufen ist. Zudem wurde festgestellt, dass deutsche Schulen schichtbedingte Bildungsnachteile eher verfestigen als ausgleichen. Langfristig negative Konsequenzen sind auch aus der stabil niedrigen Geburtenrate zu erwarten. Dass sowohl Schweden als auch Großbritannien (wie auch einige andere Länder) bei einer deutlich höheren Erwerbsquote der Frauen auch eine beträchtlich höhere Geburtenrate aufweisen, lässt Fehlregulationen sowohl in der Familienals auch in der Arbeitsmarktpolitik vermuten. Wir werden auf ökonomische und familiale Strukturentwicklungen in Kap. 6 noch näher eingehen. Tempo und Intensität des sozialen Wandels in den 50er und 60er Jahren werden vor allem in den außerordentlich hohen Wachstumsraten des BIP sowie den einschneidenden Veränderungen in der Beschäftigungs- und Produktionsstruktur sichtbar. Die Bundesrepublik weist in dieser Zeit die mit Abstand höchsten Wachstumsraten auf, aber auch in Großbritannien und Schweden liegen sie in dieser Periode über dem historischen Durchschnittsniveau. Die realen Lohnsätze und damit das Arbeitnehmereinkommen und die nachfragewirksame Kaufkraft steigen rasant ("Massenkonsum"); die Technisierung der
132
Zugenommen hat allerdings der Anteil der Beschäftigten, die einen sehr langen Arbeitsweg (50 km und mehr) haben; er verdoppelt sich von 1,6 % im Jahre 1978 auf 3,8 % im Jahre 2000. Entsprechend steigt auch der Anteil derer, die eine Stunde oder mehr für den Weg bis zu ihrer Arbeitsstätte benötigen von 2,3 % auf 3,9 % (laut Angaben des Statistischen Bundesamtes aus den Daten des Mikrozensus, direkte Mitteilung an die Autoren).
139
privaten Lebenswelt und der Freizeitkultur gewinnt an Fahrt (Individualverkehr, Telefon, Fernsehen). Zu Beginn dieser Periode waren in Deutschland noch rund 40 % der Erwerbstätigen im traditionalen Sektor beschäftigt: in landwirtschaftlichen Familienbetrieben, in kleinen Handwerks- und Handelsbetrieben. In Schweden war die Situation ähnlich. Es wurde vor allem für den alltäglichen Bedarf im lokalen Nahbereich produziert, Arbeits- und Lebenswelt waren eng miteinander verknüpft. Auch die große Mehrzahl der Arbeitnehmer des industriell-marktwirtschaftlichen Sektors waren in Haushaltsführung und Lebensweise dem traditionalen Sektor noch eng verbunden; er definierte das Existenzminimum, an dem sich die Löhne orientierten (Lutz 1984: 214 f.). Dies änderte sich nach 1950 radikal. Lutz spricht von einer "massive(n) Durchdringung nahezu aller Wirtschaftsund Lebensbereiche, die noch um die Mitte dieses Jahrhunderts den traditionellen Sektor konstituierten, durch industrielle Technik und marktwirtschaftliche Verkehrsformen sowie Verhaltensorientierungen" (ebd., S. 138). Zwischen 1950 und Anfang der 70er Jahre wurde nahezu das gesamte traditionelle Versorgungsnetz nachbarschaftlicher Struktur zerstört (ebd., S. 221). Diese Veränderungen manifestieren sich seit Anfang der 60er Jahre auch in einem kräftigen "Wertwandelsschub", wie ihn die Daten demoskopischer Erhebungen aus jener Zeit belegen (s. Meulemann 1985; Klages 1985; Noelle-Neumann/Petersen 2001). Neue Formen des politischen Protests, des gemeinschaftlichen Zusammenlebens und sozialer Bewegungen entstehen. Wenn man heute mit nostalgisch verklärtem Blick auf die 50er Jahre zurückblickt, übersieht man häufig, mit welcher Radikalität und Geschwindigkeit sich die Lebensformen der Menschen in dieser Periode änderten; festgefügte Orientierungsschemata und Verhaltensweisen wurden innerhalb kurzer Zeit obsolet. Aus Durkheims Perspektive betrachtet, liefert diese Periode geradezu den Modellfall einer anomischen Konstellation. Dem entspricht auch das Resümee, das Burkhart Lutz zieht: "Mit der Absorption bzw. Zerstörung des traditionellen Sektors (ist) ein bisher sehr mächtiges Stabilisierungselement verschwunden; deshalb hat sich in einer historisch sehr kurzen Zeit, die kaum Lern- und Anpassungsprozesse gestattete, die generelle Anfälligkeit der europäischen Industriegesellschaften für systemische Gleichgewichtsstörungen bedeutend erhöht" (Lutz 1984: 245). Unser Anomie-Argument wird angreifbar, wenn man bedenkt, dass in Großbritannien dem traditionalen Sektor und der mit ihm verbundenen Lebensform schon zu Beginn unserer Beobachtungsperiode ein vergleichsweise geringes Gewicht zukam, die Intensität des sozialen Wandels in den 1950er und 1960er Jahren also möglicherweise geringer war als in Deutschland und Schweden – und dennoch die Gewaltkriminalität in England/Wales wesentlich stärker anstieg als in den beiden anderen Ländern (s. Kap. 3). Dieser Einwand wird etwas abgeschwächt, wenn man bedenkt, dass in Großbritannien die Industrieproduktion in den 50er und 60er Jahren zwar (ebenfalls) enorm anstieg, aber regionen- und branchenspezifisch auch schon Deindustrialisierungsprozesse einsetzten. Sie führten zu einem Rückgang der Beschäftigtenanteile im sekundären Sektor, der auch in der Folgezeit wesentlich schneller voranschritt als in der Bundesrepublik, wo der Anteil der industriell Beschäftigten bis 1965 sogar noch weiter anstieg und erst nach 1970 allmählich zurückging. Außerdem ist zu bedenken, dass sich in Großbritannien die Entwicklung in Richtung Konsumgesellschaft bereits in den 50er Jahren mit großer Geschwindigkeit vollzog (früher und rascher als in den beiden anderen Ländern), nachdem zuvor eine äußerst rigide Austeritätspolitik (mit Rationierung von Nahrungsmitteln teilweise bis 1954) geherrscht hatte. In dieser Zeit entwickelt sich auch eine neue Form der Jugendkultur mit einem breiten Ausdrucksspektrum, das von den Krawallen motorisierter Jugendgangs bis zur Kleidermode und Beatmusik reichte (Mergel 2005). Außerdem stieg in Großbritannien (wie 140
auch in Schweden) die Erwerbsquote von Frauen nach 1960 deutlich stärker an als in der Bundesrepublik, wo der Anteil erwerbstätiger Frauen bis Mitte der 70er Jahre relativ stabil blieb (und 1960 noch leicht über dem britischen Niveau gelegen hatte). Zu bedenken ist aber vor allem, dass der rapide soziale Wandel in Deutschland und in Schweden von einem wesentlich stärkeren Ausbau der sozialstaatlichen Leistungssysteme (in Schweden gegenüber der BRD deutlich verzögert) sowie von einer korporatistischen Lohn- und Beschäftigungspolitik gestützt wurde (ausführlicher hierzu s. Kap. 6), was den Klassenkonflikt – anders als in Großbritannien – erheblich entschärfte. Dies zeigt sich z. B. in der Häufigkeit und Intensität von Arbeitskämpfen. In Großbritannien stieg die Zahl der durch Streiks verlorenen Arbeitstage pro 1000 Beschäftigte von 89 in den Jahren 1950-54 auf 207 in der zweiten Hälfte der 50er Jahre; in den sechziger Jahren liegen die Ziffern bei 117 und 145, bevor sie in der ersten Hälfte der 70er Jahre sogar auf 441 ansteigen. Die entsprechenden Zahlen für die Bundesrepublik sind: 61, 34, 19, 5, 48 (alle Angaben aus Brown 2004: 403; vgl. Flora 1979). Freilich lassen sich weder die Intensität und Reichweite des sozialen Wandels noch die pazifizierenden Konsequenzen wohlfahrtsstaatlicher Sicherungssysteme bilanzierend quantifizieren. Unsere Hypothese, der Mitte des 20. Jahrhundert einsetzende Anstieg der Gewaltkriminalität, sei an seinem Beginn vor allem die Folge eines anomieträchtigen ökonomischen und sozialen Wandels ist zwar, so hoffen wir, plausibel begründet, aber nicht frei von spekulativen Annahmen.
141
5
Erosion des staatlichen Gewaltmonopols?
Das staatliche Gewaltmonopol hat sich in den Prozessen der gesellschaftlichen Modernisierung seit Beginn der Neuzeit allmählich herausgebildet – nicht ohne erhebliche Kämpfe und gewaltsame Auseinandersetzungen. Es konnte innerhalb der Gesellschaft seine pazifizierende Wirkung nur in dem Maße entfalten, wie es sich rechtsstaatlich "domestizieren" und in den Rahmen einer demokratischen Verfassungsordnung einbetten ließ, um auf diesem Wege Legitimität zu gewinnen. Es hat sich also – über einen langen Zeitraum und mit vielen Störungen – ein kausaler Nexus zwischen Effektivität und Legitimität des staatlichen Gewaltmonopols herausgebildet. Das bedeutet zunächst einmal, dass allein staatliche Organe die Befolgung bestimmter Normen, genauer: der Gesetze, unter Androhung oder Einsatz physischer Mittel erzwingen oder deren Nichtbeachtung auf eben diese Weise ahnden dürfen. Es bedeutet, zweitens, dass diese Organe über die dazu erforderlichen Mittel verfügen und sie erfolgreich einzusetzen vermögen. Es geht also sowohl um Tatvereitelung (durch Abschreckung und Prävention) als auch um Strafverfolgung (Erfassung der Täter sowie deren Verurteilung). Bei dieser Arbeit müssen sich die staatlichen Instanzen selbst an Regeln halten, die vom Gesetzgeber erlassen worden sind, der wiederum im Rahmen der Verfassung handeln muss, die sich ein "Staatsvolk" gegeben hat (zum legitimatorischen Konnex von Staatsvolk, Staatsverfassung und Staatsgewalt s. Offe 1998a). Das "Monopol" impliziert, dass es keine konkurrierenden Kräfte gibt, die entweder das Gleiche tun oder sich dem legitimen Zugriff des Staates entziehen können. Einen Sonderfall, den wir später noch näher erörtern wollen, stellen private Sicherheitskräfte dar, an die der Staat gewisse polizeiliche Funktionen delegiert. Dass der Monopolanspruch zu keinem Zeitpunkt perfekt realisiert worden ist, müssen wir hier nicht betonen133. Für die Beziehung von Effektivität und Legitimität lassen sich unterschiedliche Konstellationen ausmachen. Idealiter stützen sich beide Komponenten wechselseitig. Die Legitimität bzw. der Legitimitätsglaube stärkt die Bereitschaft, sich gesetzeskonform zu verhalten; der staatliche Gewaltmonopolist erzielt hohe Effektivität bei sparsamem Mitteleinsatz. Andererseits stärkt hohe Effektivität das Sicherheitsgefühl und damit das Vertrauen der Bürger. Im Idealfall sind persönliche Freiheit und Sicherheit gleichermaßen geschützt, werden nicht als auseinander strebend erlebt. Diese positiven Rückkopplungen bilden aber kein geschlossenes System; sie können von außen aufgebrochen werden: dann wird die Verbindung zwischen Sicherheits- und Freiheitsgarantie weniger eng, löst sich tendenziell auf. Anlass hierzu kann eine tatsächlich oder nur mutmaßlich gestiegene Kriminalität sein, die den Eindruck entstehen lässt, die Polizei oder andere Organe der Strafverhütung und der
133
142
Zum komplexen Verhältnis von Zivilgesellschaft und staatlichem Gewaltmonopol siehe Knöbl (2006).
Strafverfolgung seien nicht mehr in der Lage, einen ausreichenden Sicherheitsschutz zu gewährleisten, jedenfalls nicht mehr mit den bisher als legitim geltenden Mitteln. Es kann durchaus der Fall sein, dass große Teile der Bevölkerung neue, freiheitseinschränkende Mittel für legitim halten und ihren Einsatz fordern. Damit verschwindet aber nicht das Problem, dass Effektivität und Legitimität auseinander driften. Erstens bleibt fraglich, ob die neuen Mittel tatsächlich und wahrnehmbar effektiver sind – sowohl in der Vereitelung als auch in der Verfolgung von Straftaten. Unter Umständen kann hier eine fatale Aufschaukelungsdynamik zwischen Maßnahmeverschärfung und Furchtanstieg entstehen. Zweitens wird es weiterhin relevante Bevölkerungsgruppen geben, die nicht willens sind, die Aufweichung der Legitimitätskriterien hinzunehmen, d. h., der Legitimitätskonsens zerfällt. Drittens ist die "Legitimität" konzeptuell nicht identisch mit dem temporär schwankenden Legitimitätsglauben. Vielmehr ist sie in eine normative Ordnung eingebunden, die selbst der Gesetzgeber nicht verlassen darf – siehe insbesondere die in der Verfassung deklarierten Grundrechte. Diese Ordnung setzt der Einschränkung von Freiheitsrechten definitive Grenzen (etwa in Form des Folterverbots), auch unter Inkaufnahme nicht befriedigter Sicherheitsbedürfnisse. Diese normativ festgelegten Grenzen sind allerdings regelmäßig mit der empirischen Annahme verbunden, dass ihr Überschreiten langfristig auch die Sicherheit der Bürger nicht befördern, sondern eben jene Unsicherheiten heraufbeschwören würde, die dem Opportunitätsprinzip inhärent sind. Im Konzept der Legitimität ist also vorgesehen, dass der Legitimitätsglaube temporär von ihr abweichen, sich in diesem Sinne "irren" kann. Hier bleibt ein Deutungsspielraum offen, den wir im Rahmen dieser Studie nicht weiter ausleuchten werden. Die Frage nach der Erosion des legitimen staatlichen Gewaltmonopols thematisiert somit nicht zuletzt die verschiedenen Konfliktkonstellationen, in denen Effektivität und Legitimität möglicherweise in zunehmendem Maße als Alternativen auftreten und als dilemmatische Struktur bearbeitet werden. Da wir dieses Problem empirisch untersuchen wollen, benötigen wir Indikatoren, die langfristige Entwicklungstendenzen abbilden. Bezüglich der Effektivität ziehen wir die Aufklärungsquoten für unterschiedliche Deliktkategorien heran, für den Legitimitätsglauben das in Umfragen ermittelte Vertrauen der Bürger in verschiedene Institutionen, die mit dem staatlichen Gewaltmonopol verbunden sind. Man kann erwarten, dass die interpretative Verbindung zwischen beiden wesentlich bestimmt wird durch einen öffentlichen Sicherheitsdiskurs, in dem die Konjunkturen der Kriminalitätsfurcht sowie die wahrnehmbare Praxis der Strafverfolgung und Strafvereitelung und in diesem Zusammenhang auch die privaten Sicherheitsdienste eine zentrale Rolle spielen. 5.1
Die Entwicklung der Aufklärungsraten
Die jeweils aktuellen Aufklärungsraten hängen von verschiedenen Faktoren ab; sie müssen z. B. zunächst einmal fallen, wenn die Kriminalität ansteigt. Wenn die Aufklärungsrate aber langfristig hinter der Kriminalitätsentwicklung zurückbleibt, ist damit eine Effektivitätsminderung angezeigt. Mehrere Untersuchungen belegen, dass gesunkene Aufklärungsraten mit einem Anstieg von Kriminalitätsraten einhergehen (s. insbesondere Entorf/Spengler 2000: 97 ff. sowie Freeman 1995: 172 und die dort zitierte Literatur). Was also zeigen die Daten für die Zeit von Mitte der 50er bis Ende der 90er Jahre?
143
Prozent
120 110 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0
1980 1975 Jahr D: Aufklärungsquote Mord, Totschlag, Kindestötung D: Trendkomponente E&W : Aufklärungsquote Tötungsdelikte
1955
1960
1965
1970
1985
1990
1995
E&W : Trendkomponente S: Aufklärungsquote Tötungsdelikte S: Trendkomponente
Abb. 5.1: Aufklärungsraten bei Homiziden Quelle: Bundeskriminalamt, Home Office, BRÅ. Hinweis: für E&W fehlt eine Beobachtung (1974); für die Berechnung des HP-Filters wurde für sie der Mittelwert der Jahre 1973 und 1975 eingesetzt.
Die Aufklärungsraten134 bei Mord- und Totschlag sind relativ stabil sowohl in England als auch in Deutschland; eine abfallende Rate beobachten wir für Schweden, insbesondere im ersten Drittel der Untersuchungsperiode. Auch bei den Körperverletzungsdelikten unterhalb des Homizids geht die Aufklärungsrate am stärksten in Schweden zurück; in England wird der abfallende Trend Mitte der 80er Jahre gestoppt. In Deutschland gibt es einen relativ kontinuierlichen aber nur schwach ausgeprägten Rückgang über die gesamte Periode. Bei den Raubdelikten ist die Aufklärungsquote in allen drei Ländern nicht nur besonders niedrig; sie nimmt auch noch besonders stark ab, am schwächsten wiederum in Deutschland. In allen drei Ländern scheint die Abwärtsbewegung um 1990 gestoppt worden zu sein. Wenn wir die Trendentwicklung über alle drei Kategorien zusammenfassen, so registrieren wir in Deutschland einen Rückgang von etwa 10 %, in England einen Rückgang von etwa 20 %, in Schweden von 50 %. Wenn man die Gewaltkriminalität insgesamt betrachtet, so ist in Deutschland ein Rückgang der entsprechenden Aufklärungsrate um etwa 20 % zu verzeichnen.
134
144
Dargestellt in den Abbildungen ist neben der „rohen“ Aufklärungsquote jeweils auch die durch Anwendung des Hodrick-Prescott-Filters mit O = 400 ermittelte Trendkomponente (vgl. dazu oben Kap. 3).
100 90 80
Prozent
70 60 50 40 30 20 10 0
1955
1960
1965
1970
1975
Jahr
D e uts c hland (W e s t) D e uts c hland (W e s t), T re nd ko m p o ne nte E ng land & W ale s
1980
1985
1990
1995
E ng land & W ale s , T re nd ko m p o ne nte S c hwe d e n S c hwe d e n, T re nd ko m p o ne nte
Abb. 5.2: Aufklärungsraten bei Körperverletzungsdelikten Quelle: Bundeskriminalamt, Home Office, BRÅ. 70 60
Prozent
50 40 30 20 10 0
1955
1960
1965
1970
1975
Jahr D e uts c hland (W e s t) D e uts c hland (W e s t), T re nd ko m p o ne nte E ng land & W ale s
1980
1985
1990
1995
E ng land & W ale s , T re nd ko m p o ne nte S c hwe d e n S c hwe d e n, T re nd ko m p o ne nte
Abb. 5.3: Aufklärungsraten bei Raubdelikten Quelle: Bundeskriminalamt, Home Office, BRÅ.
5.2
Vertrauen in Parlament und Regierung sowie andere staatliche Institutionen
Schwindet in der Bevölkerung der Legitimitätsglaube, steigt die allgemeine Konfliktbereitschaft und die (Selbst-)Rechtfertigung von "Gegengewalt" fällt leichter (Eckert et al. 1989: 391). Lässt das Vertrauen nach, dass die eigenen Interessen und Wertvorstellungen von den politischen Institutionen ausreichend bzw. in fairer Weise berücksichtigt oder geschützt werden, wird die Normbindung geschwächt, während die Bereitschaft zur "Selbsthilfe" (gelegentlich auch zur gewaltsamen Selbsthilfe) steigt. Verschiedene empi145
rische Studien zeigen, dass Akzeptanz von oder Motivation zur Gewalttätigkeit zunimmt, wenn das Vertrauen in politische Institutionen nachlässt (siehe z. B. Chanley et al. 2000, Rahn/Transue 1998). Brehm/Rahn (1997: S. 1014) kommen auf Grund empirischstatistischer Analysen außerdem zu dem Schluss, dass das allgemeine Vertrauen in andere Menschen stark abhängt vom Vertrauen in die Regierung. Verschiedene Autoren (z. B. Inglehart, Putnam) haben in westlichen Demokratien einen Anstieg des Misstrauens gegenüber Regierungen und Parlamenten, teilweise auch gegenüber anderen politischen Institutionen seit Mitte der 60er Jahre registriert. Diese Aussagen basieren im wesentlichen auf Umfragedaten, deren Vergleichbarkeit nicht immer gesichert ist und deren Qualität hier nicht diskutiert werden kann. Wir bemühen uns, verschiedene Quellen heranzuziehen, stoßen dabei auf teilweise widersprüchliche Ergebnisse, gehen aber davon aus, dass übereinstimmende Trendaussagen hinreichend zuverlässig sind. Für die Bundesrepublik Deutschland liegen demoskopische Trenddaten zum "Vertrauen" (oder ähnlichen Meinungsäußerungen) gegenüber der Bundesregierung und anderen politischen Institutionen erst seit Mitte der 70er Jahre vor. Allerdings hat das Allensbacher Institut für Demoskopie schon 1951 einer repräsentativen Auswahl der bundesrepublikanischen Bevölkerung die Frage vorgelegt: "Glauben Sie, dass die Abgeordneten in Berlin in erster Linie die Interessen der Bevölkerung vertreten oder haben sie andere Interessen, die ihnen wichtiger sind?" Nur 25 % der Befragten glaubten damals, die Abgeordneten verträten vor allem die Interessen der Bevölkerung (Einschätzung 1), 32 % gingen davon aus, die persönlichen Interessen seien wichtiger (Noelle-Neumann/Köcher 2002: 713). Die Frage wurde später in unregelmäßigen Abständen wiederholt. 1955 war Einschätzung 1 schon auf 42 % angewachsen. Zwischen 1964 und 1978 schwankte dieser Anteil um etwa 50 %. Bei der nächsten Befragung im Jahre 1987 war sie auf 32 % gefallen, und im Jahre 2001 gingen nur noch 27 % der Befragten davon aus, dass die Abgeordneten sich vor allem um die Interessen der Bevölkerung kümmerten (s. ebd. S. 713). Insgesamt zeichnet sich also ein kurvenförmiger Verlauf ab. Die positiven Einschätzungen starten Anfang der 50er Jahre von einem sehr niedrigen Niveau aus, das zumindest bis Ende der 70er Jahre deutlich ansteigt und ab Mitte der 80er Jahre wieder abfällt. Das Allensbacher Institut hat außerdem in den Jahren 1974, 1985 und 1999 die "gute" oder "schlechte" Meinung der Bevölkerung zu verschiedenen staatlichen Institutionen untersucht. Auch hier deutet sich für den Bundestag wie auch für den Bundesrat, die Bundesregierung und die Regierungen der Länder ein deutlicher Rückgang der positiven Bewertungen spätestens ab 1985 an (Noelle-Neumann/Köcher 2002: 710 ff. ). Explizit hat das EMNID-Institut das "Vertrauen" in verschiedene staatliche Institutionen seit 1979 erhoben. Allerdings werden die Ergebnisse für Westdeutschland nur bis 1990 mitgeteilt, ab 1993 liegen uns die Werte nur für Gesamtdeutschland vor (EMNID-Institut: Umfrage & Analyse Nr. 11/12 - 1999). Beim Bundestag zeichnet sich auch hier ein deutlicher Rückgang des Vertrauensniveaus nach 1986 ab. In diesem Jahr lag die Vertrauensquote bei 74 %, bis 1988 fiel sie auf 60 %, 1990 lag sie bei 65 %. Für Gesamtdeutschland wurde die Quote 1993 mit 44 % und 1999 mit 43 % angegeben. Für die Bundesregierung ging das Vertrauen von 71 % im Jahre 1983 auf 61 % im Jahre 1990 zurück; die gesamtdeutschen Werte lagen 1993 bei 52 % und 1999 bei 53 %. Die Daten des "Politbarometer" zur "Zufriedenheit mit der Regierung in Deutschland" zeigen ein starkes Auf und Ab, aber gegenüber dem hohen Zufriedenheitsniveau in den späten 70er Jahren (mit knapp 70 % Zufriedenen) wird ein deutlicher Rückgang nach 1980 sichtbar; 1988 werden nur noch ca. 35 % Zufriedene registriert. Das Zufriedenheitsniveau 146
steigt in der Wiedervereinigungsphase bis Ende 1990 noch einmal markant an auf über 60 %, fällt dann aber drastisch ab, erreicht zeitweise nur noch Werte um 24 %. In den Jahren von 1998 bis 2000 ist eine gewisse Erholung erkennbar (der Anteil der Zufriedenen lag 2000 wieder bei knapp 50 %)(eigene Auswertungen des Politbarometer Trenddatensatzes 1977-2000, Zentralarchiv Köln Katalog-Nr. 2391). Für Großbritannien liegen relevante Daten zwar seit 1959 vor; aber auch sie sind nicht einheitlich ausgerichtet und zunächst nur in großen Abständen erhoben worden. Außerdem messen sie nicht direkt Vertrauen, sondern perzipierte Einflussmöglichkeiten. 1959 äußern 58 % der Befragten, sie hätten keinen Einfluss auf das, was die Regierung tut, 1974 sind es 61 % und 1986 71 % (Hall 2001: 93; vgl. Heath/Taylor 1999: 176; Listhaug/Wiberg 1995: 304; Noelle-Neumann/Köcher 2002: 619). Einer weiteren Quelle zufolge haben wir es zwar mit einem anderen Niveau zu tun, der Trendverlauf wird jedoch bestätigt: 1974 meinen nur 14 % der Befragten, "People like me have no say in what the government does"; dieser Anteil steigt in den 80er Jahren auf 20 % oder mehr, fällt 1991 kurzfristig auf 16 % zurück, liegt aber 1994/96 bei gut 25 % (Brook/Bryson et al. 1997: 93). Wird direkt nach dem Vertrauen in die Regierung gefragt, so liegen die positiven Antworten 1974 und 1987 bei 39 bzw. 38 %; die 90er Jahre zeigen einen eher geringen Rückgang: 1992 wird eine Vertrauensquote von 33, 1997 eine von 34 % erreicht (Heath/Taylor 1999: 176). Für Schweden belegen neun Umfragen zwischen 1968 und 1994 einen beträchtlichen Vertrauensverlust sowohl für den Reichstag als auch für die politischen Parteien, ein Rückgang der in der ersten Zeithälfte deutlicher ausfällt als in der zweiten (Holmberg 1999: 107, 112 sowie Holmberg/Weibull 1997: 3). Für die Regierung ergibt sich (nach der gleichen Quelle) ebenfalls ein Abwärtstrend zwischen 1986 und 1996. Brauchbare Vergleichsdaten zum Parlamentsvertrauen in den drei Ländern scheinen die European bzw. World Value Surveys (EVS/WVS) für die Zeit zwischen 1981 und 1999/2000 zu liefern (s. Tab. 5.1). Tab. 5.1: EVS/WVS-Daten zum Parlamentsvertrauen, 1981-2000 Vertrauen in das Parlament (Prozent, "Sehr viel" oder "ziemlich viel" ) 1981(D,GB)/ 1982 (S)
1990
1996 (S)/ 1997(D)
1999
D (West)
51,4
50,3
29,4
35,1
GB
39,7
44
-
36,2
S
46,6
47,1
44,6
50,6
Quelle: Eigene Auswertungen der World Values Surveys 1981, 1990 und 1995-1997 (Inglehart et al. 2000) sowie der European Values Study 1990/2000 (Zentralarchiv Köln, Katalog-Nr.2003)
Ihnen zufolge ist das Vertrauen in West-Deutschland erst im Verlauf der 90er Jahre erheblich zurückgegangen. Man muss allerdings beachten, dass das Erhebungsjahr 1990 in die oben schon erwähnte Phase der Wiedervereinigungseuphorie fällt, die 50,3 Prozent also vermutlich als positiver Ausreißer zu interpretieren sind. Für Großbritannien wird schon 1981 ein relativ niedriger Wert registriert; zur Jahrtausendwende liegen beide Länder auf einem etwa gleich niedrigen Niveau. Schweden dagegen zeigt in dieser Periode ein stabiles und vergleichsweise hohes Vertrauensniveau. Dem widerspricht aber die (bereits erwähnte) abfallende Trendentwicklung, die Holmberg (1999: 107) für die Zeit zwischen 1968 bzw. 1982 und 1994 identifiziert. 147
Bezüglich des Regierungsvertrauens erlaubt die "Political Action"-Studie (Barnes/Kaase et al. 1979) einen direkten Vergleich zwischen der Bundesrepublik und Großbritannien. Mitte der 70er Jahre waren 49,1 % der westdeutschen Befragten der Ansicht, dass die Regierung "fast immer" oder "meistens" so handelt, "wie sie sollte"; in Großbritannien waren es nur 38,5 %. In einer zweiten Befragungswelle 1985 ging dieser Anteil in Deutschland bereits auf 36,5 %, in Großbritannien sogar auf 29,0 % zurück. (Schweden war in diese Studie nicht einbezogen.) Der Ansicht, dass die "Mächtigen" nur zum Nutzen "für wenige" regieren, waren Mitte der 70er Jahre 26,8 % der Deutschen, aber 46 % der Briten (Angaben laut Brettschneider/Ahlstich/Zügel 1994: 561). Seit Mitte der 70er Jahre liegen für die Bundesrepublik Umfragedaten vor, die nach verschiedenen Institutionen auch außerhalb von Parlament und Regierung differenzieren. Laut dem Allensbacher Institut für Demoskopie gibt es zwischen 1974 und 1999 (mit allerdings nur einem Zwischenergebnis für 1985) nur bei zwei Institutionen keinen Vertrauensverlust oder sogar einen Vertrauensanstieg (hier erhoben als "(sehr) gute" bzw. "(sehr) schlechte Meinung" über... ): bei der Bundeswehr und dem Bundesverfassungsgericht (Noelle-Neumann/Köcher 2002: 710 f.). Für Justiz und Polizei, die hier von besonderem Interesse sind, liefern wiederum die European Values Surveys zwischen 1981 und 1999 Vergleichsdaten für unsere drei Länder. Tab. 5.2: Vertrauen in Justiz und Polizei laut European Value Surveys 1981/ 1982
1990
1996/ 1997
1999
Vertrauen in Justiz D(West)
67
65
54
65
GB
66
53
-
47
S
73
56
63
61
Vertrauen in Polizei D(West)
69
70
71
77
GB
85
77
-
69
S
80
75
81
75
Quelle: eigene Auswertungen der World Values Surveys 1981, 1990 und 1995-97 (Inglehart et al. 2000) sowie der European Values Study 1999/2000 (Zentralarchiv Köln, Katalog-Nr. 2003).
Sie zeigen nur für Großbritannien einen klar abfallenden Trend des Vertrauens in die Justiz und die Polizei. Für Deutschland und Schweden dagegen sind zwar temporäre Schwankungen, aber kein durchgängiger Trend erkennbar. Für Deutschland können die Angaben in Tab. 5.2 durch Umfragedaten des EMNIDInstituts ergänzt werden. Demnach hat es von Mitte der 80er bis Mitte der 90er Jahre gegenüber der Justiz einen leichten Vertrauensverlust gegeben, der Ende der 90er leicht korrigiert, aber nicht rückgängig gemacht wurde. Für die Polizei liefert EMNID Daten, die für die Zeit zwischen 1986 und 1999 ein leichtes Auf und Ab, aber keinen klaren Trend erkennen lassen. Bei weiteren Erhebungen (des IFOS-Instituts), die direkter nach "Vertrauen" fragen, zeigen sich nach 1984 aber auch Vertrauensverluste für die Bundeswehr, das Bundesverfassungsgericht und die Polizei (s. Klages 1993: 135; Walz 1996: 78 ff.; Brunner/Waltz 2000: 181). 148
Diese Informationen lassen sich durch Daten des "Eurobarometer" aus dem Jahre 2002 ergänzen. Aus ihnen geht hervor, dass die Deutschen ihrer Polizei viel eher trauen als die Briten und Schweden (European Commission 2003: 11). Die Arbeit der schwedischen Polizei wird auch von neutralen Beobachtern sehr kritisch gesehen. In einer Studie des World Economic Forum, die Mitte der 90er Jahre für 53 Länder die Qualität und Effektivität der Polizei einschätzt, wird Großbritannien an fünfter, Deutschland immerhin an elfter, Schweden aber erst an 21. Stelle eingestuft (de Waard 1999: 163). Hier scheinen sich die in den 90er Jahren erfolgten Mittelkürzungen für die Polizei negativ ausgewirkt zu haben. Insgesamt vermitteln die Umfragedaten zum Institutionenvertrauen ein ziemlich verworrenes Bild. Es zeichnen sich dennoch folgende Trendlinien ab: Das Vertrauen in Parlament und Regierung ist in Großbritannien und Schweden in den 60er und 70er Jahren zurückgegangen, in Deutschland – von einem sehr viel niedrigeren Niveau ausgehend – dagegen angestiegen. Mit einigen Unterbrechungen und Erholungsphasen ist in Großbritannien das Vertrauen bis zur Jahrtausendwende weiterhin gesunken. Für Deutschland liegen widersprüchliche Informationen für die 80er Jahre vor; ziemlich einhellig scheint jedoch der abfallende Trend in den 90er Jahren registriert worden zu sein. Auch für Schweden liegen widersprüchliche Informationen über die Trendentwicklung seit 1980 vor; nationale Umfragen zeigen einen fortgesetzten Abwärtstrend bis mindestens Mitte der 90er Jahre, die Europen Values Surveys dagegen eine Stabilisierung oder sogar einen leichten Aufwärtstrend. Man kann wohl davon ausgehen, dass um die Jahrtausendwende das Vertrauensniveau in Schweden weiterhin deutlich über dem in Großbritannien und in Deutschland liegt. Das gilt auch für das allgemeine Systemvertrauen, soweit es sich in der Demokratiezufriedenheit äußert (s. Tab. 5.3). Für Westdeutschland zeigt sich zwischen 1976 und 1989 eine leicht zyklische Bewegung ohne längerfristige Entwicklungstendenz, nach 1990 trotz aller Fluktuationen eine recht klare Abwärtstendenz. In Ostdeutschland sind erheblich weniger Menschen als im Westen der Republik (und unseren Vergleichsländern) mit dem Funktionieren der Demokratie zufrieden, wobei ihr Anteil bei sehr starken Fluktutationen nach der Wiedervereinigung etwas abgenommen hat. Die Werte für Großbritannien bewegen sich um ein insgesamt stabiles Durchschnittsniveau, das aber auch nach 1990 noch etwas unterhalb des Vertrauensniveaus in Westdeutschland liegt. Von Schweden liegen Eurobarometer-Daten erst ab 1995 vor; sie zeigen bis 2004 sogar eine Aufwärtstendenz.
149
Tab. 5.3 Demokratiezufriedenheit Frage: Wie zufrieden sind Sie mit der Art und Weise, wie die Demokratie in ihrem Land funktioniert? Originalantwortvorgaben: (1) sehr zufrieden, (2) ziemlich zufrieden, (3) ziemlich unzufrieden, (4) völlig unzufrieden, (0) weiß nicht, keine Antwort. Jahr
Westdeutschland
Großbritannien
Schweden
Ostdeutschland
1976
78,7
51,1
1977
78,2
60,8
1978
76,3
57,2
1979
79,8
52,8
1980
72,8
51,9
1981
68,7
48,5
1982
66,7
60,4
1983
69,2
63,8
1984
71,8
60,5
1985
69,3
51,9
1986
74
51,8
1987
72,5
58,2
1988
76,9
57,33
1989
76,6
56
1990
80,4
49,5
49,4
1991
67,3
60,6
39,1
1992
58,7
51,8
43,3
1993
55
48,3
35
1994
61,1
49,5
38,2
1995
66,4
47,4
56,5
44,4
1997
47,1
59,8
57,6
28,5
1998
54,7
61,1
57,4
30,9
1999
71,6
64,4
68,6
46,6
2000*
57,5
64
66
2001*
61
67
72
2002
71
60
76
44
2003
61
58
74
33,5
1996
2004
56
58
74
28
Ø
69,3
55,56
67,11
38,4
Die Tabelle gibt den Anteil aller Befragten (mit gültigen Antworten) wieder, die 1 oder 2 gewählt haben. Quelle: Mannheim Eurobarometer Trend File 1970-2002, Zentralarchiv Köln, Katalog-Nr. 3521, eigene Berechnungen,* Europaberichte 53, 54, 56.
5.3
Kriminalitätsfurcht
Die Balance zwischen Effektivität und Legitimität des staatlichen Gewaltmonopols kann nicht direkt beobachtet und objektiviert werden; vielmehr ist sie ein Konstrukt, das nicht zuletzt im politischen Diskurs über Bedrohungspotential, Kriminalitätsfurcht und Strafbedürfnis hervorgebracht wird. Steigende Kriminalitätsfurcht signalisiert, dass der kausale 150
Nexus zwischen Effektivität und Legitimität gefährdet ist. Kriminalitätsfurcht lässt sich aber auch von bestimmten Akteuren manipulieren und instrumentell nutzen, um bspw. eine Verschärfung des Strafrechts oder eine rigidere Praxis der Strafverfolgung durchzusetzen. Dass die Kriminalitätsfurcht zu beachten sei, betont auch der "Erste Periodische Sicherheitsbericht der Bundesregierung" aus dem Jahre 2001. Dort heißt es z. B., Kriminalitätsfurcht mindere nicht nur die persönliche Lebensqualität, sondern verdiene auch "wegen weiterer (vermuteter) unerwünschter Effekte – Verlust des Vertrauens in den Rechtsstaat und Förderung von Selbstjustiz/Bürgerwehren – besondere kriminalpolitische Aufmerksamkeit" (Bundesministerium des Innern und Bundesministerium der Justiz 2001: 38). In der kriminologischen Literatur findet man unterschiedliche Aussagen über Entwicklungstendenzen der Kriminalitätsfurcht. Mehrheitlich scheint die Auffassung zu herrschen, dass sie schon seit längerer Zeit zunehme (siehe z. B. Schwind 2000: 395 f.). Bei längerfristiger Betrachtung, für die die Datengrundlage allerdings sehr dürftig ist, ergibt sich ein etwas anderes Bild. Boers (2002: 1403) kommt zu dem Ergebnis, dass sich in Deutschland die allgemeine Kriminalitätsfurcht zwischen 1965 und 1995 auf und ab bewegt hat, ohne einen klaren Gesamttrend aufzuweisen. Für die USA und Großbritannien konstatiert er ähnliche Entwicklungsverläufe. Zeitreihen für spezifische Kriminalitätsfurcht (z. B. Furcht vor Raub oder Wohnungseinbruch) liegen für England/Wales ab 1984 und für Deutschland ab 1992 vor. Auch hier registriert Boers (ebd.) für Deutschland Auf- und Ab-Bewegungen, aber über den gesamten Zeitraum ein im Wesentlichen gleich bleibendes Niveau. Anhand der SOEP-Daten wie auch der ALLBUS-Daten lässt sich darüber hinaus zeigen, dass sowohl die persönliche Kriminalitätsfurcht als auch die Wahrnehmung von Kriminalität als soziales und politisches Problem135 in Ostdeutschland immer noch höher liegen als in Westdeutschland, dass sich diese Differenz aber seit Mitte der 90er Jahre ziemlich stetig verringert hat (Dittmann 2005). Laut Eurobarometer 2002 liegt das Furchtniveau in West-Deutschland ziemlich genau in der Mitte zwischen dem Niveau in Großbritannien (42 % fühlen sich unsicher, wenn sie "abends in der Dunkelheit draußen herumgehen") und Schweden (21 %). Deutschland ist in der EU im übrigen das einzige Land, in dem zwischen 1996 und 2002 die Kriminalitätsfurcht leicht rückläufig war; in Großbritannien hat sie stark, in Schweden geringfügig zugenommen (European Commission 2003: 3).136 Wenn man direkter danach fragt, ob man befürchte, im Laufe der nächsten 12 Monate Opfer einer kriminellen Handlung zu werden, liegt das Furchtniveau in Deutschland sogar niedriger als in irgendeinem anderen EU-Land, Großbritannien liegt an fünfter, Schweden an achter Stelle (ebd., S. 9). Auch wenn kein Zusammenhang zwischen objektivem Viktimisierungsrisiko und Furcht besteht (wie oft betont wird),137 dürfte es wenig sinnvoll sein, diesbezügliche Ängste
135 136 137
Zu dieser Unterscheidung s. Boers/Kurz (2001: 128 ff.). Laut einem Bericht des britischen Home Office (Mirrlees-Black/Allen 1998), der sich auf Ergebnisse des British Crime Survey stützt, hatte die Kriminalitätsfurcht aber zuvor, zwischen 1984 und 1996, in GB deutlich abgenommen – was die oben zitierte Zyklus-These von Boers unterstützt. Allerdings liegen auch hierzu widersprüchliche Ergebnisse vor. So z. B. meinen Hermann/Dölling (2001: 79) die Beziehung zwischen tatsächlich erfahrener Viktimisierung und Kriminalitätsfurcht sei bisher unterschätzt worden. Anders wiederum Dölling et al. (2003: 69) mit dem Hinweis, ein Einfluss der Opferwerdung auf die Kriminalitätsfurcht sei nicht nachweisbar.
151
als irrational zu disqualifizieren. Vielmehr ist anzunehmen, dass Kriminalitätsfurcht auch von gänzlich anderen Lebensrisiken und Verunsicherungen ausgeht (s. Nogala 2001: 187; Lupton/Tulloch 1999), die auf diese Weise einen Namen und Adressaten erhalten. Die oft vertretene Annahme, dass Opfer krimineller Akte und Furchtsame punitiver eingestellt seien als andere Menschen, sieht Boers (2002: 1409) nicht bestätigt. Wenn er damit Recht hat, ist anzunehmen, dass dieser Zusammenhang erst in der öffentlichen Debatte hergestellt, Furcht also für eine Punitivitätspolitik mobilisiert wird. Diese Annahme wird durch den Befund einer Studie von Oberwittler/Höfer (2005) gestützt, demzufolge auf der Aggregatebene ein deutlicher Zusammenhang zwischen Kriminalitätsfurcht und Punitivität besteht. Der nächste Abschnitt charakterisiert Tendenzen im Verlauf der Kriminalitätsdiskurse und den Wandel der Sicherheitsordnungen. Dabei spielt die Expansion der privaten Sicherheitsdienste eine wichtige Rolle. 5.4
Kriminalitätsdiskurse, private Sicherheitsindustrie und Strafbedürfnis
Der Soziologe Trutz von Trotha kennzeichnet diesen Wandel, der seiner Meinung nach in den 1960er Jahren in den europäischen Staaten eingesetzt hat, als Übergang von einer "konstitutionell-wohlfahrtsstaatlichen" zu einer "oligopolistisch-präventiven Sicherheitsordnung". In ähnlicher Weise bezeichnet sein englischer Kollege David Garland (2004; 2003) die alte Sicherheitsordnung als "penal-welfarism". Kernstück der "alten" Sicherheitsordnung war das Prinzip der Rehabilitation bzw. der Resozialisation, das auch den Täter als Opfer seiner Verhältnisse sah, die durch eine sozialreformerische Politik zu verbessern seien. Dieses Prinzip verliert seit den 80er Jahren an Gewicht im Verhältnis zu anderen Zielvorstellungen der Strafjustiz, nämlich Prävention, Abschreckung, Vergeltung und an ökonomischen Kriterien orientiertem Risikomanagement (Garland 2001: 8). Es gibt natürlich Formen der Prävention, die mit dem Ziel der Rehabilitation vereinbar sind. Der Fokus verschiebt sich aber insofern in eine andere Richtung, als dem realen oder potentiellen Täter nicht positive Alternativen geboten, sondern eher negative Anreize gesetzt bzw. Hindernisse in den Weg gestellt werden, die den kriminellen Akt unmöglich machen sollen. Sicherheitsapparate werden ausgebaut, Kontrollstrategien erweitert, zumindest für schwerere Delikte die Strafen verschärft. Knapper werdende staatliche Finanzmittel und die marktliberale Privatisierungsideologie (s. unten, Kap. 6.5.2) begünstigen einerseits das Anwachsen der privaten Sicherheitsindustrie und der privaten Sicherheitsdienstleistungen, andererseits auch die Ausbreitung "kommunitärer Kontrollordnungen" bspw. in Form von "Freiwilligenpolizeien" und lokalen SelbsthilfeOrganisationen wie "Nachbarn schützen Nachbarn" (v. Trotha 1995: 153; Hope/Trickett 2004). Garland (2001: 8 ff.) weist auf eine Reihe weiterer Begleiterscheinungen oder auch Triebfedern dieses Prozesses hin, insbesondere: (a) die Emotionalisierung des öffentlichen Kriminalitätsdiskurses und das stärker werdende Verlangen nach "expressiver" Bestrafung, die Sühne und Vergeltung symbolisiert; (b) das Eindringen kommerzieller Interessen138 und
138
152
So entstehen z.B. Anreize für die private Sicherheitsindustrie, die Kriminalitäsfurcht unter den Bürgern (ihren potentiellen Kunden) zu schüren.
kalkulatorischer Managementmethoden, die Rechtsgeltung und Rechtsdurchsetzung zunehmend informalisieren und externen Opportunitätskriterien unterwerfen. Im Maße dieser "Kommodifizierung", so ist zu vermuten, wird sich die soziale und ökonomische Ungleichheit verstärkt in den Bereich von Kriminalitätsschutz und Strafverfolgung ausdehnen (s. Gallagher 1995: 24) und hier ein spezifisches Gerechtigkeitsproblem entstehen lassen (s. Nogala 2001: 208). Hess (2001: 335) vermutet, dass die privaten Sicherheitsinvestitionen die "punitive Stimmung" auch deshalb anheizen, weil ihre Kosten Frustrationen und Aggressionen gegen potentielle oder vermeintliche Tätergruppen auslösen. Die Umorientierung in der Rechts- und Kriminalpolitik vollzieht sich in England rascher und einschneidender als in Schweden und Deutschland, wo die Entwicklungslinien heterogener verlaufen, z. B. Strafverschärfungen bei schweren Delikten mit Strafminderungen bei leichteren Delikten und mit erweiterten Präventions- und Resozialisierungsmaßnahmen verbunden werden.139 10000
1000
100
10 1950
1955
1960
1965
1970
1975
1980
1985
1990
1995
2000
Deutsc hland (W est): Umsätze in Mio. Euro (Preise von 1995) GB: Umsätze in Mio. Pfund (Preise von 1995) Sc hweden: Umsätze in Mio. SK (Preise von 1995) Deutsc hland (W est): Besc häftigte in 1000 GB: Besc häftigte in 1000
Abb. 5.4 Umsatz und Beschäftigung im privaten Sicherheitsgewerbe Quelle: BDWS; BSIA; SWESEC.
139
Dünkel (2002: 4) stellt fest, die Tendenzen der Kriminalpolitik in Deutschland seien nicht eindeutig, so z. B. sei 1998 der Strafrahmen für Gewalt- und Sexualtäter verschärft und die bedingte Entlassung erschwert worden, andererseits würden erweiterte Alternativen zur Freiheitsstrafe befürwortet. Außerdem glaubt er, dass die Idee der Resozialisierung nach einer Phase der Betonung von Abschreckung und humaner Verwahrung international wieder an Bedeutung gewinne (ebd., S. 16). Das Nebeneinander von stärkerer Punitivität (die nicht durch Kriminalitätsfurcht zu erklären sei) und Strategien der Entkriminalisierung betont auch Groenemeyer (2003: 213 ff.).
153
Eine gewisse Sonderstellung Großbritanniens zeigte sich schon in der gegenwärtig deutlich höheren Kriminalitätsfurcht; sie wird in den Daten zur Ausbreitung des privaten Sicherheitsgewerbes und zur Verhängung von Freiheitsstrafen bestätigt. In allen drei Ländern nehmen seit den 70er Jahren oder schon früher Umsatz, Anzahl der Unternehmen und Personalstärke im privaten Sicherheitsgewerbe exponentiell zu. In Schweden betrug 1975 der Umsatz des privaten Sicherheitsgewerbes 472 Millionen Schwedische Kronen, im Jahre 2000 waren es 12,5 Milliarden (Magnusson 1979: 172; Sjödin/Josefsson 2000). In Großbritannien waren 1971 rund 80.000 Menschen in diesem Bereich beschäftigt, für 1996 bewegen sich die Schätzungen zwischen 200.000 und 300.000 (Lützenkirchen/Niejenhuis 1998: 91). Die "British Security Industry Association" (BSIA) nennt Anfang 2003 auf ihrer Website die Zahl von 350.000 Beschäftigten. In Deutschland steigt nach Angaben des Bundesverbands Deutscher Wach- und Sicherheitsunternehmen (BDWS) die Anzahl der Wach- und Sicherheitsunternehmen, die von Ende der 50er bis Anfang der 70er Jahre ziemlich stabil bei etwa 325 Unternehmen lag, bis 1990 auf ca. 900 und bis 2000 auf 2570 Unternehmen an. Der Umsatz stieg in dieser Zeit von rund 100 Millionen DM auf 6,5 Mrd. DM. Die Zahl der Beschäftigten nahm wesentlich langsamer zu: von ca. 47.500 im Jahre 1970 auf 85.000 (in Westdeutschland) bzw. 118.000 (Gesamtdeutschland) im Jahre 1998. Das Gesamtvolumen des Sicherheitsmarktes (einschließlich der staatlichen Nachfrage) betrug Ende der 90er Jahre in Deutschland 15,8 Mrd. DM (Wackerhagen/Olschok 1999: 190). Die Einschätzung der Personalstärken ist schwierig und unsicher, nicht zuletzt wegen der nicht eindeutigen Abgrenzung dessen, was dem privaten Sicherheitsbereich zuzurechnen ist. Unter Experten (s. Nogala 2001: 201) scheint eine vergleichende Studie von de Waard (1999) als brauchbarste Grundlage zu gelten. Demnach war Mitte der 90er Jahre die Zahl der Polizeikräfte pro 100.000 Einwohner in unseren drei Ländern nahezu identisch: in Deutschland 320, in Großbritannien 318, in Schweden 310. Bei den Angestellten privater Sicherheitsdienste ergibt sich ein anderes Bild: 275 in Großbritannien, 217 in Deutschland, 184 in Schweden. Nach Angaben des Bundes-Innenministeriums (Website, Febr. 2003) hat sich der Vorsprung Großbritanniens auf diesem Gebiet inzwischen weiter vergrößert. Auf jeden Mitarbeiter privater Sicherheitsdienste kommen dort im Jahre 2003 nur 294 Einwohner, in Deutschland sind es 487, in Schweden 556. Der private Sicherheitsmarkt war bis in die jüngere Zeit hinein in Großbritannien fast überhaupt nicht staatlich geregelt: "(A)nyone can set up a private security organisation without any major restrictions". Allerdings galt schon seit langem: "As a matter of general policy it is illegal for civilians to carry firearms for self-protection or for the protection of others or their property" (de Waard 1999: 164). Erst 2001 wurde ein Private Security Industry Act erlassen, der eine Lizenzierung für private Sicherheitsfirmen und eine kontrollierte Ausbildung für das von diesen Firmen angestellte Wachpersonal vorsieht (Crawford 2003: 150). Auch in Deutschland besteht eine Lizenzierungspflicht für private Sicherheitsunternehmen. Nur 6 % der Beschäftigten im Sicherheitsgewerbe führen eine Waffe – überwiegend innerhalb von Bundeswehranlagen und beim Geldtransport (Wackerhagen/Olschok 1999: 183). Hubert Beste schätzt das Ausbildungsniveau als sehr niedrig ein. Man könne davon ausgehen, "dass in der Sicherheitsindustrie ein sehr hoher Anteil der Beschäftigten keine abgeschlossene Berufsausbildung aufweist" und am Arbeitsmarkt "schwer vermittelbar" sei (Beste 2000: 389), nur "ein sehr geringer Anteil der im privaten Sicherheitsgewerbe Beschäftigten" könne das Zertifikat einer "IHK-geprüften Werkschutzfachkraft" vorweisen (ebd., S. 388). Einschneidendere Regulierungen gibt es dagegen in Schweden (de Waard 1999: 168). Allerdings darf das Wachpersonal privater Sicherheits154
unternehmen dort unter bestimmten Bedingungen Feuerwaffen tragen (Waldmann 1999: 494). De Waard berichtet, dass laut Erhebungen der Confédération Européene de Service de Sécurité über die Qualität der privaten Sicherheitskräfte Schweden unter den 15 EUStaaten den Spitzenrang einnehme, während Großbritannien an zwölfter und Deutschland an vierzehnter Stelle eingestuft worden sei (de Waard 1999: 161 f.). Mit der privaten Sicherheitsindustrie ist auch die Video-Überwachung in Großbritannien wesentlich stärker ausgebaut worden als in den anderen Ländern. Die Schätzungen für die Zahl der installierten Kameras schwanken zwischen zwei und vier Millionen; in Deutschland sollen es 500.000 sein (Wehrheim 2003: 191). Dass sie die Zahl der Straftaten mindern, konnte bisher nicht nachgewiesen werden (ebd., S. 195). Wahrscheinlicher sind räumliche Verlagerungseffekte: "Die Identifikation und selektive Überwachung von Handlungen und Personen sind auch die Voraussetzungen, um Personen aus Räumen zu verdrängen und dies wird sowohl von Polizei, als auch von privaten Betreibern der Kameras explizit als ein Grund von Videoüberwachung genannt. Damit ist neben Disziplinierung eine zweite Funktion von CCTV [Closed Circuit Television, T./B.] angesprochen: Ausgrenzung, hier definiert als räumlicher ... Ausschluss von Individuen oder Gruppen aus konkreten Räumen" (Wehrheim 2003: 198 f.). Zwar trifft die Videoüberwachung gerade in Großbritannien auf die Zustimmung der ganz überwiegenden Mehrheit der britischen Bevölkerung (zwischen 60 und 90 Prozent Zustimmung werden genannt), aber offenkundig wird ihr Sicherheitsgefühl dadurch nicht gestärkt; man kann annehmen, dass die Unsicherheit sogar zunimmt, sobald man die überwachten und kontrollierten Räume verlässt – was vermutlich wiederum die Tendenz verstärkt, die Kontrolldichte weiter auszubauen und Strafen zu verschärfen (s. Hess 2001). Damit sind wir bei einem zentralen Problem, das nicht nur mit der Videoüberwachung, sondern generell mit der Ausbreitung privater Sicherheitsdienste – und wohl auch mit bestimmten Formen der Bürgerbeteiligung140 – verbunden ist: Sie fördern die soziale Ausgrenzung bestimmter Personen und Bevölkerungsgruppen durch selektive Aufmerksamkeit und räumliche Segregation (s. Beste 2000). Sie führen außerdem zu einem diffusen Ineinanderlaufen von öffentlichen und privaten Räumen, aber auch zu einer symbolischen Vermischung, in der die Grenzen zwischen der Repräsentanz des legitimen staatlichen Gewaltmonopols und der Repräsentanz eines kommerzialisierten Sicherheitsinteresses verschwimmen. "Im präventiven Sicherheitsdiskurs, ..., sind der Zweck der Freiheitssicherung und insbesondere die individuellen Freiheitsrechte nicht enthalten" resümiert v. Trotha (1995: 159). Stattdessen "(dringt) ein Zug von Konflikt- und Gewaltgegenwärtigkeit in das Netz der sozialen Beziehungen ein, mit dem ein Stück weit der Schrecken der gewalttätigen Selbsthilfe der akephalen Ordnung wiederkehrt" (ebd., S. 157). Dazu passen Hinweise, wonach private Sicherheitsdienste rechtsradikalen Gruppierungen verdeckte Einfluss- und Infiltrationsmöglichkeiten bieten141. Garland (2001: 120) vermutet, dass sich – zumindest in den USA und Großbritannien – eine Arbeitsteilung herausbildet, in der zwar
140 141
Zu verschiedenen Formen der Bürgerbeteiligung im Sicherheitsbereich und deren demokratietheoretische Bewertung siehe Wurtzbacher (2003). Die Gewerkschaftszeitung Publik (07-08/ 2006, S. 1) berichtet, dass eine große deutsche Lebensmittelkette im Ausland auch bekennende Neonazis in ihrem Wachpersonal beschäftige.
155
die Bestrafung Angelegenheit des Staates bleibt, aber die Kontrollpraxis zunehmend in die Hände privater Sicherheitsdienste übergeben wird.142 Dies geschieht besonders auffällig im Einzugsgebiet städtischer Vergnügungs- und Unterhaltungszentren, der "Night-Time Economy", deren ökonomische und kulturelle Strukturen Hobbs (2004) prägnant beschreibt. Freilich gibt es auch optimistische Deutungen der Entstaatlichung von Sicherheitsleistungen und Kontrollfunktionen. Sie sehen in der Ablösung der "penal-welfare strategy" durch eine "responsibilization strategy" die realistische Einschätzung der begrenzten Kontrollmöglichkeiten des Staates und die Stärkung der Zivilgesellschaft am Werke (siehe z. B. Braithwaite 1989 mit einem Versuch, ein fruchtbares Zusammenspiel von staatlichen und nicht-staatlichen Kontrollmaßnahmen zu konzipieren; für gesellschaftstheoretische Begründungszusammenhänge s. Johnston 1999). Dabei werde der Staat nicht auf "Nachtwächterfunktionen" reduziert, sondern das zentralistische Regieren ("government") durch dezentrierte Strukturen der "governance" teils ersetzt, teils ergänzt. Garland, der beide Entwicklungstendenzen (vorwiegend bezogen auf Großbritannien) sehr ausgewogen analysiert, kommt jedoch zu einem pessimistischen Schluß: "A realistic assessment would probably judge that the prospects for the responsibility strategy are actually quite poor at present" (Garland 1996: 463). Und weiter: "Unlike the penal-welfare strategy, which was linked into a broader politics of social change and a certain vision of social justice ... the new penal policies have no broader agenda, no strategy for progressive social change and no concern for the overcoming of social divisions. They are, instead, policies for managing the danger and policing the divisions created by a certain kind of social organization, and for shifting the burden of social control on to individuals and organizations that are often poorly equipped to carry out this task" (ebd., S. 466). Kommunale Präventionsprogramme werden laut Eurobarometer 2002 in Schweden von der Bevölkerung am stärksten unterstützt, von der Zusammenarbeit der Polizei mit privaten Sicherheitsdienstn hält man dort vergleichsweise wenig. In England will man in hohem Maße beides, in Deutschland setzt man nach wie vor am ehesten auf die Polizei, beurteilt die Möglichkeiten der Nachbarschaftshilfe skeptischer als in den beiden anderen Ländern, die privaten Sicherheitsdienste aber etwas positiver als in Schweden (European Commission, Report 2003: 11 f.). Damit kommen wir noch einmal auf die Punitivitätstendenzen zurück, die wir oben schon angesprochen hatten. Die Trendverläufe lassen sich zumindest grob an der Zahl der Gefängnisinsassen ablesen (Abb. 5.5).143 Jedenfalls ist dies ein häufig benutzter Indikator.
142
143
156
Nogala (2001: 198) weist darauf hin, dass das englische Coventry die erste europäische Stadt sei, die die operative Verantwortung für Sicherheit und Ordnung im unmittelbaren Innenstadtbereich komplett einer kommerziellen Sicherheitsfirma übertragen habe. – Groenemeyer (2003: 219) meint allerdings, für Deutschland und Schweden sei die ‚Governing-through-crime“-These kaum überzeugend. In persönlichen Gesprächen mit Polizeibeamten haben wir jedoch erfahren, dass es auch in Deutschland vorkommt, dass (a) private Sicherheitsdienste Polizeibehörden gelegentlich unter Druck setzen („Wenn Sie nicht energischer durchgreifen, werden wir die Sache in die Hand nehmen“); (b) kommunale Verwaltungen an der Polizei vorbei durch verdeckte Aufträge an private Sicherheitsdienste öffentliche Plätze von bestimmten Gruppen „säubern“ lassen, die dem Image der Stadt schaden könnten. In der Literatur ist vorgeschlagen worden, die Gefangenenrate in ihrem Verhältnis zur Kriminalitätsrate zu betrachten, also einen Quotienten zu bilden. Wenn es aber zutrifft, dass Punitivität und Kriminalität
Gefangene / 100.000 Einwohner
140 120 100 80 60 40 20
19 50 19 52 19 54 19 56 19 58 19 60 19 62 19 64 19 66 19 68 19 70 19 72 19 74 19 76 19 78 19 80 19 82 19 84 19 86 19 88 19 90 19 92 19 94 19 96 19 98
0
Jahr
D (West)
GB
S
UK
Abb. 5.5: Entwicklung der Gefangenenraten in Westdeutschland, Großbritannien bzw. dem Vereinigten Königreich, und Schweden Quelle: Dünkel et al. 2005, von Hofer 1997, SCB 2002, Office for National Statistics.
Wenn wir uns die verfügbaren Daten anschauen, erkennen wir aber nur für Großbritannien (bzw. das Vereinigte Königreich) einen durchgängig ansteigenden Trendverlauf, der mit den theoretischen Überlegungen, die wir gerade angestellt haben, gut vereinbar ist. Besonders markant ist der Anstieg in der zweiten Hälfte der 90er Jahre. Allerdings spielt auch im englischen Strafvollzug seit Mitte der 90er Jahre die Qualitätssicherung von Behandlungsprogrammen im Sinne eines appropriate treatment einschließlich der Förderung kognitiver Fähigkeiten eine besondere Rolle (s. Dünkel 2002: 39 f.). In Deutschland haben wir eine langwellige Bewegung, einen Rückgang der Gefangenenrate von Mitte der 60er bis Anfang der 70er Jahre, nachfolgend einen Anstieg bis Anfang der 80er,144 dann wieder einen Rückgang bis Anfang der 90er und seitdem wieder einen Anstieg. Angesichts solcher quasi-zyklischer Verlaufsformen ist es äußerst problematisch, Trendverläufe durch den Vergleich zweier Jahreswerte darstellen zu wollen. Laut Datenreport (2004: 232 f.) des Statistischen Bundesamtes lagen im Jahre 2002 die verhängten Freiheitsstrafen (sowohl unter als auch über einem Jahr) etwa 20 % über dem Niveau von 1980.145 Laut von Hofer (2004: 197) lag die Gefangenenrate in Deutschland am
144 145
sich wechselseitig hochschaukeln, könnte ein stationärer Quotient irrtümlich suggerieren, es habe sich nichts geändert. Dünkel (2002: 12) sieht den Rückgang der Gefangenenrate in den 80er Jahren vor allem durch die vermehrte Strafaussetzung zur Bewährung bei Freiheitsstrafen zwischen einem und zwei Jahren und im Bereich des Jugendstrafrechts durch die Ausweitung von ambulanten Sanktionen mit bedingt. Ludwig-Mayerhofer (2000: 337) berichtet, der Rückgang in den 80er Jahren stehe zwar im Gegensatz zu praktisch allen anderen Ländern, allerdings sei dabei lediglich das Niveau von 1969/70 wieder erreicht worden (damals im Zusammenhang mit der "Großen Strafrechtsform"). Im übrigen seien viele andere
157
1. Sept. 2002 etwa 5 % unter der Rate vom 1. Sept. 2003. Sack (2004: 37) teilt mit, sie sei zwischen 1992 und 2002 um 39 % angestiegen. Dass sich die Punitivitätsneigungen in Deutschland vor allem seit 1990 verstärkt haben, bestätigt auch Christian Pfeiffer in einem FAZ-Artikel (vom 5. 3. 2004, S. 9):146 Er weist darauf hin, dass in den 90er Jahren bei gefährlichen und schweren Körperverletzungen sowohl die Häufigkeit wie auch die Länge von Freiheitsstrafen zugenommen haben, ein Anstieg, den er wie folgt quantifiziert: "Beides zusammen bewirkt, dass die durchschnittliche Summe der Haftjahre, die für je 100 Angeklagte verhängt wurde, zwischen 1990 und 2001 auf fast das Doppelte gestiegen ist – von 7,4 auf 14,4 Jahre." Er sieht im übrigen "keine Anzeichen dafür, dass die Zunahme der Haftjahre mit einer Steigerung der durchschnittlichen Tatschwere einhergegangen ist". Für Schweden ist seit Ende der 70er Jahre ein leicht ansteigender Trend der Inhaftierungen zu beobachten, der aber nicht über das Niveau hinausführt, das schon Ende der 60 Jahre vorlag. Tham (1995: 89) beziffert den Anstieg zwischen 1974 und 1994 auf immerhin 40 Prozent; von Hofer (2004: 197) gibt für die Zeit von 1983 und 2002 einen Anstieg von ca. 15 % an. In einer Analyse der Strafgesetzgebung kommt Tham (1995) zu dem Befund, dass sich auch in Schweden – allerdings weniger eindeutig und stark als in Großbritannien – die Gewichtung der Strafziele verändert habe. Mit der ansteigenden Kritik am Wohlfahrtsstaat habe die Unterstützung des Rehabilitationsansatzes zu Gunsten des Abschreckungskonzepts nachgelassen. Allerdings gibt er auch zu bedenken, dass – wie er es sieht – die "vier dominanten" Strafziele: angemessene Strafe (just deserts), Abschreckung (deterrence), Rehabilitation (rehabilitation) und Tatvereitelung (incapacitation), sich nicht ohne weiteres in "harte" oder "weiche" Bestrafungsmuster übersetzen lassen. Bei der Betrachtung des Strafbedürfnisses müssen also heterogene Tendenzen und die Vielschichtigkeit des Punitivitätskonzepts (s. hierzu insbesondere Kury et al. 2004) beachtet werden. So z. B. lässt sich anhand von Meinungsumfragen (Allensbacher Institut für Demoskopie) feststellen, dass die Zahl der Befürworter der Todesstrafe in Westdeutschland zwar nicht ohne Schwankungen, aber in einem deutlich erkennbaren Trendverlauf von 1950 bis 2000 von etwa 55 % auf 20 % der Befragten zurück gegangen ist (Kury et al., S. 65). Andere Umfragedaten belegen dagegen eine seit 1970 zunehmende Unterstützung für die härtere Bestrafung von gewalttätigen Ehemännern, aber auch von Arbeitnehmern, die hohe Beträge aus der Firmenkasse entwenden (Reuband 2004: 99 f.). Mansel (2004: 106 f.) berichtet von einer weiteren Repräsentativerhebung, derzufolge etwa vier Fünftel der Befragten meinten, man solle "härter gegen Außenseiter und Unruhestifter vorgehen" und "Verbrechen sollen härter bestraft werden". Einen gesellschaftstheoretisch interessanten Beitrag zur Deutung des Strafbedürfnisses liefert Sutton (2004), der die Entwicklung der Gefängnisraten von 1960 bis 1990 in 15 wohlhabenden, kapitalistisch-demokratischen Ländern untersucht hat. Darin belegt der Autor einen deutlichen Zusammenhang zwischen dem Grad an Marktliberalismus, der in einer Gesellschaft gegeben ist, und dem Grad an Punitivität. Diesen Zusammenhang findet er auch dann bestätigt, wenn er die USA als besonders markanten Fall aus der statistischen
146
158
Länder, die seit den 80er Jahren einen Anstieg zu verzeichnen hatten, damit dennoch unter dem Punitivitätsniveau der BRD geblieben. Siehe auch den kommentierenden Bericht von Sabine Rückert in Die Zeit, 24. Mai 2006, S. 15 - 18.
Analyse ausschließt. Er resümiert seine Befunde in dem Satz: "Demand for punishment seems to be highest in societies that have a strong commitment to individualistic means of social achievement and a correspondingly weak capacity for collective responses to inequality" (ebd., S. 171). In die gleiche Richtung weisen die Analysen von Jacobs/ Carmichael (2002) zur "politischen Soziologie der Todesstrafe". Dazu passt auch eine Bemerkung des schwedischen Kriminologen Henrik Tham, mit der er zunehmende Kritik am "Wohlfahrtsstaat" mit steigenden Punitivitätsneigungen in Verbindung bringt: "Being individually responsible for his actions, the lawbreaker will no longer be treated but punished. He can as a free actor in a market choose between legal and illegal behaviors. And if he chooses crime, he will get what he deserves" (Tham 1995: 114; zitiert auch in von Hofer 2004: 200). Die Gewaltneigung einer Gesellschaft drückt sich nicht nur in kriminell-verbrecherischen Handlungen einzelner Täter aus, sondern auch in bestimmten Formen staatlich sanktionierter kollektiver Gewaltanwendung. Dazu gehören nicht nur Angriffskriege und Genozide, sondern auch bestimmte Formen einer von Angst und Vergeltungsinteresse geleiteten Punitivität. Beides, Gewaltkriminalität und Punitivität sind tendenziell umso stärker ausgeprägt, je schärfer der ökonomische Wettbewerb ist und je umfassender er die sozialen Beziehungen durchdringt. Entwicklungstendenzen, die in diese Richtung verlaufen, werden in Kapitelabschnitt 6.5 weiter erörtert. 5.5
Zusammenfassung
Gemessen an den Aufklärungsraten hat die Effektivität des staatlichen Gewaltmonopols in Deutschland innerhalb unseres Untersuchungszeitraumes allenfalls geringfügig nachgelassen. Das gilt auch für das Vertrauen in Polizei und Justiz, einem Teilaspekt der Legitimität. Zudem ist die Kriminalitätsfurcht nicht langfristig gestiegen; sie verläuft in unregelmäßigen Auf- und Ab-Bewegungen. Die These, der Anstieg der Gewaltkriminalität in den vergangenen Jahrzehnten sei auf eine Erosion des staatlichen Gewaltmonopols zurückzuführen, ist somit im Falle Deutschlands wenig plausibel, im Falle der beiden anderen Länder schon eher. In England/Wales sind sowohl die Aufklärungsraten als auch das Vertrauen in Polizei und Justiz etwas stärker zurückgegangen. In Schweden scheint zwar das Vertrauen in Polizei und Justiz relativ stabil zu sein; aber die Aufklärungsraten sind deutlich gesunken, und in internationalen Vergleichen wird die Qualität der schwedischen Polizei eher niedrig eingeschätzt. In allen drei Ländern zeichnen sich Strukturentwicklungen ab, die für die Zukunft eine stärkere Erosion des staatlichen Gewaltmonopols in seiner bisherigen Form erwarten lassen, vor allem eine Lockerung des kausalen Nexus von Effektivität und Legitimität, von Sicherheitsgarantie und Bewahrung der individuellen Freiheitsrechte. Dazu dürfte die Ausbreitung des privaten Sicherheitsgewerbes maßgeblich beitragen, das (vor allem in England) zunehmend auch öffentliche Räume kontrolliert und selbst in den Strafvollzug eindringt – inzwischen auch in Deutschland (siehe die Teil-Privatisierung eines Gefängnisses in Hessen und ähnliche Pläne in Baden-Württemberg). Damit gewinnt ein Wirt-
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schaftszweig an Einfluss, dessen Geschäftsgrundlage vollzogene oder befürchtete Normverletzungen sind, der also umso höhere Gewinne erwarten kann, je mehr Verbrechen begangen werden und je stärker die Kriminalitätsfurcht um sich greift.147 Er teilt diese Geschäftsbasis mit bestimmten Sparten der Massenmedien, die durch entsprechende Meldungen ihre Auflagenhöhe oder ihre Einschaltquoten zu verbessern suchen. Auf diese Weise wird politischer Druck aufgebaut, der dazu drängt, (a) das Strafmaß zu erhöhen und (b) für die Strafvereitelung Mittel einzusetzen, die bisher als nicht-legitim galten und sich der Kontrolle durch demokratisch legitimierte Instanzen entziehen. Eine solche Strategie enthält ein hohes Potential für soziale Diskriminierung (Furcht sucht immer einen Täterkreis); sie tendiert dazu, die sozialen und ökonomischen Ursachen für kriminelle Gewalt aus dem Blick zu verlieren und sie dadurch zu stärken. Noch beobachten wir in Deutschland ein Nebeneinander verschiedener Strategien; doch könnte der schon relativ lange anhaltende steile Aufwärtstrend bei den Gefangenenzahlen – nach den eher kurzwelligen Fluktuationen in der vorangegangenen Periode – ein Indiz für eine Neujustierung der Strafrechtspolitik und einen grundlegenden Wandel der Sicherheitsordnungen sein. Nicht wenige Experten befürchten, derartige Tendenzen könnten sich durch die jüngste Föderalismus-Reform verstärken, die die Strafvollzugsregelungen in die Kompetenz der Bundesländer verlagert hat. Das Dilemma von Effektivität und Legitimität des staatlichen Gewaltmonopols ist in jüngerer Zeit verschärft worden durch die Expansion (die Internationalisierung) des organisierten Verbrechens und die (nicht nur so wahrgenommene, sondern auch tatsächlich gestiegene) Bedrohung durch den ebenfalls international operierenden Terrorismus.148 Beiden Tätergruppen steht eine hoch entwickelte Kommunikations- und Waffentechnologie zur Verfügung, die das staatliche Gewaltmonopol auch dadurch in Frage stellt, dass es sich selbst – offen oder verdeckt – internationalisiert. Castells bringt das Dilemma, in dem sich die Staaten befinden, mit folgender Formulierung auf den Punkt: "(W)hile the nation-state keeps the capacity for violence, it is losing its monopoly because its main challengers are taking the form of, either, transnational networks of terrorism, or, communal groups resorting to suicidal violence ... (T)he contradiction the state faces [is as follows, T./B.]: if it does not use violence, it fades away as a state; if it uses it, on a quasi-permanent basis, there will go a substantial part of its resources and legitimacy, because it would imply an endless state of emergency ... the difficulty of the state to actually resort to violence on a scale large enough to be effective leads to its diminishing ability to do so frequently, and
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Aus Deutschland oder Schweden sind uns bisher allerdings keine Fälle bekannt geworden, über die Gallagher (1995) aus Großbritannien berichtet: Private Sicherheitsfirmen werben für sich gelegentlich auch dadurch, dass sie Lautsprecherwagen in Wohnviertel schicken, um deren Einwohner vor akuten Sicherheitsrisiken zu warnen. Allerdings sollte man auch hier gelegentlich die Risikoverhältnisse verschiedener Bedrohungspotentiale in den Blick nehmen. So zitiert Andrian Kreye (in einem Kommentar der Süddeutschen Zeitung vom 13./14./15. 8. 2005) das Center for Disease Control mit der Aussage, dass in den USA die Wahrscheinlichkeit, bei einem Verkehrsunfall umzukommen, bei ungefähr eins zu sieben Tausend, die Chance, einem Terroranschlag zum Opfer zu fallen, bei eins zu neun Millionen liege. Andererseits ist jedoch auch zu bedenken, dass sich der symbolische und psychologische Gehalt einer Bedrohung nicht nur in Risikozahlen ausdrücken lässt.
thus to the gradual loss of its privilege as holding the means of violence" (Castells 1997: 302). Der bisherige Legitimitätsrahmen polizeilichen Handelns droht also nach zwei Seiten hin auszufransen; zur einen durch die Einbeziehung privater Sicherheitskräfte, zur anderen durch verstärkte Kooperation von Polizei und Geheimdiensten. Die Legitimität des Gewaltmonopols ist zudem nicht unabhängig von anderen Quellen der Legitimität, auf die sich staatliches Handeln stützen kann – oder nicht. In den 1960er und 70er Jahren äußerte sich eine (damals so genannte) Legitimitätskrise vor allem in Form einer politischen Systemkritik, die von "linken" Gruppierungen (von der Studentenbewegung bis zur "Roten Armee Fraktion") getragen wurde und sich gegen einen übermächtig erscheinenden Staat im "Spätkapitalismus" richtete. (Auf der anderen Seite erlebte auch der Rechtsextremismus in Gestalt der NPD damals schon einen kurzzeitigen Aufschwung.) Die neuere Legitimitätskrise hat dagegen ihren Ursprung vermutlich eher in der relativen Machtlosigkeit des (National-)Staates: seiner reduzierten Steuerungsfähigkeit gegenüber den globalisierten, weitgehend entregulierten Märkten (hierzu mehr in Kap. 6) und einem im Zuge der "Transnationalisierung" von Politik schwindenden "Gemeinsamkeitsglauben", der demokratisch gefällte Mehrheitsbeschlüsse auch dann noch akzeptabel macht, wenn sie den eigenen Interessen widersprechen (Scharpf 1998b, 1998c; Offe 1998a, 2004).149 Eine europäische "Wir-Identität" als neue Basis für "Input-Legitimität" ist nicht in Sicht. Im Gegenteil die (durchaus unverzichtbare) Europäisierung der Politik gefährdet zusätzlich die "Output-Legitimität", weil nationalstaatliche Regierungen Kompetenzen an die Europäische Union abgegeben haben, gleichwohl aber für deren Beschlüsse haftbar gemacht werden (s. Scharpf 1998b, 2000).150 Die oben präsentierten Daten zum Regierungs- und Parlamentsvertrauen sowie zur Demokratie-Zufriedenheit deuten darauf hin, dass diese umfassenden Legitimitätsprobleme in Großbritannien und Deutschland stärker zu Buche schlagen als in Schweden.
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Michel Wieviorka diagnostiziert eine Gewichtsverschiebung von „politischer“ zu „sozialer“ Gewalt: „At the end of this century, the dominant trend is social violence rather than political violence. Rioting, for example, whether on the basis of identitity, ethnic origin, or religion, is all to some extent informed by a high degree of subjective unhappiness ... But, on the whole, the major characteristic of infrapolitical violence in the contemporary world is its association with the decline of states and with practices that are part of organized crime ...“ (Wieviorka 2003: 129). Einen kurzgefassten quantifizierenden Überblick zur „Europäisierung öffentlicher Aufgaben“ seit 1950 liefert Schmidt (1999); vgl. Töller (2004).
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6
6.1
Sozialstrukturelle Voraussetzungen des kooperativen versus desintegrativen Individualismus
Wohlfahrtsstaatliche Ordnungen: Funktionen und Dysfunktionen
In diesem Kapitel beschäftigen wir uns mit jenen Bereichen gesellschaftlicher Strukturentwicklung, die laut Durkheim für das Gewicht des kooperativen im Unterschied zum egoistischen bzw. desintegrativen Individualismus besonders bedeutsam sind. Dazu gehören das Verhältnis von Staat (Politik) und Wirtschaft (Markt), die Gestaltung der Arbeitsverhältnisse sowie die Formen institutionalisierter Erziehung (Familie und Schule). Wie in Kap. 1 erläutert, ist die Dominanz funktionaler gegenüber segmentärer oder stratifikatorischer Differenzierung die allgemeine Voraussetzung dafür, dass der "kollektivistische" Gesellschaftstyp zurückgedrängt wird – ohne dass er in allen seinen Komponenten und Erscheinungsformen gänzlich verschwindet. Durkheim nahm zunächst an, dass die "kooperative" Variante des Individualismus die evolutionär dominante sein werde, später jedoch war er pessimistischer und sah die "egoistische" Variante als ernste Bedrohung an. Entscheidende Bedeutung schrieb er der institutionellen Absicherung und der faktischen Wirksamkeit allgemeiner Prinzipien der Gerechtigkeit zu. Dabei sah er den Staat – in Kooperation mit starken Sekundärgruppen – als eine Art Garantiemacht an, die durch regulative Maßnahmen die Marktbeziehungen mitgestaltet und somit neben den rechtlichen auch die ökonomisch-materiellen Bedingungen für die Teilhabe jedes Einzelnen am gesellschaftlichen und politischen Leben befördert. Wir orientieren uns an dem von Durkheim entwickelten theoretischen Bezugsrahmen, der aber mit zusätzlichen, teils auch abweichenden Konzepten und Hypothesen auszugestalten ist. Ein großer Teil der institutionellen Vorkehrungen, die den normativen Anforderungen der Gerechtigkeit praktische Geltung verschaffen sollen, wird heute unter den Begriffen des Sozial- oder Wohlfahrtsstaates zusammengefasst. Obwohl es bei bestimmten Fragestellungen sinnvoll ist, zwischen diesen beiden Begriffen zu unterscheiden (s. Kaufmann 2003: 34; Schiller 1984: 34), werden wir sie hier terminologisch nicht trennen. Wir wollen uns in dieser Arbeit weder mit der Geschichte des Wohlfahrtsstaates noch mit theoretischen Ansätzen, die diese Entwicklung soziologisch deuten, näher beschäftigen (für einen knappen Überblick s. Lessenich 2000; ausführlicher: Alber 1989; Schmidt 2005a). Statt dessen werden wir uns – in den Abschnitten 6.1 und 6.2 – auf die Frage konzentrieren, welche Rolle die wohlfahrtsstaatlichen Ordnungen bei der langfristigen Entwicklung der Gewaltkriminalität – insbesondere innerhalb unserer Untersuchungsperiode und unserer Vergleichsländer – gespielt haben könnten. Dabei ist allerdings der weiter gespannte
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Rahmen funktionaler Bezugsprobleme im Blick zu behalten, in den die "wohlfahrtsstaatlichen Arrangements" (Kaufmann) in ihren unterschiedlichen Varianten einbezogen sind.151 In engem Zusammenhang mit den wohlfahrtsstaatlichen Ordnungen – und oft als eine ihrer Komponenten dargestellt – stehen die "Koordinierungsmodi" von Marktwirtschaften und deren Einbindung in soziale und politische Interessen- und Machtkonstellationen. Bei diesem Thema geht es weniger um die Gewährung bestimmter (Sozial-)Leistungen als um die Regulierung von Marktbeziehungen und Arbeitsverhältnissen. In dieser Hinsicht unterscheidet man verschiedene "Varianten des Kapitalismus" vor allem nach dem Grad an "Marktliberalismus" oder "Korporatismus", den sie realisiert haben (s. z. B. Hall/Gingerich 2004). Damit sind Rahmenbedingungen für die relative Gewichtung von kooperativem versus desintegrativem Individualismus gesetzt, wie wir in Abschnitt 6.3 zeigen werden. Der vierte Kapitelabschnitt (6.4) beschäftigt sich mit der Entwicklung der Arbeitsverhältnisse und der damit verbundenen sozialen Mobilität. Im Mittelpunkt stehen hierbei die Thesen einer zunehmenden Verdichtung, Flexibilisierung und Prekarisierung der Arbeit bzw. der Arbeitsverhältnisse. Ein für unser Thema wichtiger Punkt in der gegenwärtigen gesellschaftstheoretischen Diskussion ist die These, in (post-)modernen Gesellschaften würden immer mehr Lebensbereiche nach ökonomischen Prinzipien gestaltet, "Geld" (und seine Derivate) vermittelten in zunehmendem Maße Interaktionen und Transaktionen, die bisher außerhalb des Wirtschaftssektors lokalisiert waren. Einige der Entwicklungstendenzen, die in dieser Debatte – nicht zuletzt unter dem Etikett der "Globalisierung" – zur Sprache kommen, werden in Abschn. 6.5 aufgegriffen und hinsichtlich ihrer Relevanz für die Gewichtung von kooperativem versus desintegrativem Individualismus erörtert. In Abschn. 6.6 werden Strukturveränderungen der Familie dargestellt, eines gesellschaftlichen Teilsystems, das gewissermaßen quer zur Logik funktionaler Differenzierung steht, weil innerhalb von Familien die beteiligten Personen in ihrer Totalität und nicht nur (oder primär) als funktionsspezifische Rollenträger agieren und angesprochen werden. In welcher Weise dies geschieht oder ermöglicht wird, hängt allerdings in erheblichem Maße von Vorgaben ab, die andere Teilsysteme (wie Wirtschaft und Politik) an die Familie herantragen. Der Bereich Familie und Erziehung spielt eine besondere Rolle bei der Verkopplung alltäglicher Lebenswelten mit den Funktionssystemen von Wirtschaft/Markt und Staat/Politik. Nicht zuletzt in diesem Zusammenspiel entscheidet sich, in welcher Weise und in welchem Maße individuelle Handlungsfähigkeit und Selbstkontrolle sich ausbilden. Nicht nur Durkheim, sondern auch viele Kriminalsoziologen der heutigen Zeit (wie z. B. Gottfredson/Hirschi 1990) gehen davon aus, dass vor allem in der Familie Persönlichkeitsstrukturen geformt und Lebenschancen vorgeprägt werden, die die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten abweichenden bzw. kriminellen Verhaltens maßgeblich mit bestimmen. – Wir gehen in dieser Arbeit nicht auf die Rolle der Schulen ein, da sie in einem anderen Projekt unseres Forschungsverbundes (siehe in dieser Reihe das Buch von Helsper und Krüger) ausführlich behandelt wird.
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Zu einem kurzgefassten Überblick über die Problem- und Institutionenkomplexe, die den Inhalt wohlfahrtsstaatlicher Politik ausmachen s. Kaufmann (2003: 47 ff.).
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6.1.1
Allgemeine Hypothesen
6.1.1.1 Funktionen Die Kernfunktionen, die allen Varianten wohlfahrtsstaalicher Ordnung gemeinsam sind, fasst Jens Alber wie folgt zusammen: "Die großen Transformationsprozesse der Industrialisierung und der Demokratisierung ... (haben) überall Regierungen zu dem Versuch angespornt, der Dynamik der kapitalistischen Wirtschaftsordnung eine Verstetigung der Einkommen im Lebenszyklus entgegenzusetzen, der demokratischen Idee gleicher Staatsbürgerrechte eine reale Grundlage zu geben, die gesellschaftliche Integration damit zu fördern und die politische Ordnung zu stabilisieren" (Alber 2001: 1149). In abstrakterer Zusammenfassung sieht Franz-Xaver Kaufmann die Funktion sozialpolitischer Interventionen darin, "daß sie negative Folgen der heute unter dem Stichwort Modernisierung zusammengefaßten Prozesse kompensieren, ohne die damit verbundenen strukturellen Differenzierungen in Frage zu stellen" (Kaufmann 1997: 47; Hervorhebung, T/B.). Das Leitkonzept der "Kompensation" betont auch Niklas Luhmann (1981): "Wenn man von einer 'Logik des Wohlfahrtsstaates' sprechen kann, so ist diese durch ein kompensatorisches Prinzip zu bezeichnen. Es geht um Kompensation derjenigen Nachteile, die durch eine bestimmte Ordnung des Lebens auf den Einzelnen entfallen" (ebd., S. 8). "Wohlfahrtsstaat, das ist realisierte politische Inklusion" (ebd., S. 27). Das Kompensationsprinzip bedeutet u. a., dass die Funktionslogiken der spezialisierten gesellschaftlichen Teilsysteme nicht unterlaufen werden (sollen). Vorstellungen über "gerechte Preise" z. B. können zwar die Nachfrage-, nicht aber die Produktionsfunktion beeinflussen (s. die Diskussion über Durkheims Vorstellungen von "gerechten" Preisen in Beckert 1997: 152 ff.). Allerdings kann, ja muss der Staat Ordnungsvorgaben erlassen, ohne die der Markt nicht funktionsfähig wäre; so bedarf es z. B. einer rechtlichen Ordnung, die Eigentum und Verträge absichert. Auch können andere kollektive Akteure (insbesondere die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände) Vereinbarungen treffen (z. B. Tarifverträge abschließen), die den Marktmechanismus in bestimmten Aspekten modifizieren oder einschränken. Die Anreizsysteme des Marktes können in ihrer Reichweite und in ihren Folgen begrenzt, nicht aber außer Kraft gesetzt werden. Der Sozialstaat kann z. B. nicht generell Arbeitsplatzsicherheit als Bürgerrecht garantieren (Habermas 1985: 150). Kaufmann bezieht das Kompensationsprinzip nicht nur auf die Zugangs- und Teilhabechancen der Individuen, sondern auch auf die Funktionsbedingungen der Teilsysteme selbst, insbesondere auf das Verhältnis von Staat/Politik, Markt/Wirtschaft und Familie/ Haushalt. Sie sind jeweils auf Ressourcen angewiesen, die sie nicht aus sich selbst heraus erzeugen können, sondern aus den anderen gesellschaftlichen Teilsystemen geliefert bekommen. Allerdings sind die Abhängigkeitsbeziehungen zwischen den Teilsystemen nicht symmetrisch verteilt, sodass regulative Mechanismen benötigt werden, die Ungleichgewichte durch gesamtgesellschaftlich bindende Entscheidungen korrigieren; dazu gehören auch die sozialpolitischen Interventionen. Darüber hinaus benötigen die Funktionssysteme Formen des "Humanvermögens" (Kaufmann) und des "Sozialkapitals" (insbesondere "Vertrauen"), das außerhalb der mit den Medien "Geld" oder "Macht" operierenden Subsysteme in lebensweltlichen Kontexten erzeugt werden muss, in denen "verständigungsorientiertes Handeln" dominiert – nicht zuletzt in den Familien, aber auch außerhalb der Privatsphäre in den verschiedenen Arenen öffentlicher Kommunikation. Nach Meinung der meisten Soziologen, aber auch vieler Ökonomen kann das Wirtschaftssystem selbst seine internen Koordinations- und 164
Allokationsprobleme nicht ausschließlich über den Preismechanismus und das interessenbasierte Optimierungshandeln seiner Akteure lösen (s. hierzu ausführlich Beckert 1997). Für die Teilnahme an politischen Entscheidungs- und lebensweltlichen Verständigungsprozessen benötigen die Individuen eine Grundausstattung an sozialen Rechten und materiellen Ressourcen, deren Maß nicht allein durch die Funktions- und Effizienzbedingungen des wirtschaftlichen Systems vorgegeben wird, sondern sich an universalistischen Gerechtigkeitsvorstellungen und anderen kulturellen Standards orientiert.152 Dies impliziert grundsätzlich die Möglichkeit, politische Eingriffe in den Marktmechanismus in spezifischen Fällen auch dann legitimieren zu können, wenn sie unter Effizienzgesichtspunkten nicht zu rechtfertigen sind (Beckert 2001: 56). Andererseits muss klar gesehen werden, dass Sozialleistungen überwiegend aus den Erträgen des ökonomischen Systems finanziert werden und schon deshalb dessen Funktionsbedingungen nicht unterlaufen können (s. Vobruba 1978)153. In modernen Gesellschaften kann die eben angesprochene Grundausstattung an materieller und sozialer Sicherheit nicht allein der Verantwortung der Familien, generell auch nicht der fürsorglichen, aber instabilen Zuwendung einzelner Personen oder karitativer Organisationen überlassen werden (obwohl es Spielraum für unterschiedliche Gewichtungen gibt – siehe die verschiedenen Auslegungen des "Subsidiaritätsprinzips"). Es entspricht den (vor allem in den westeuropäischen Ländern) weitgehend geteilten normativen Überzeugungen von der Würde und Autonomie des Menschen, dass er im Notfall nicht auf ungewisse (kontingente) Fürsorglichkeit angewiesen ist, sondern auf rechtlich garantierte Leistungsansprüche zurückgreifen kann. Das ist der Kern des Prinzips der Sozialstaatlichkeit. Freilich ist das Bedingungsverhältnis von bürokratisch administrierten Rechtsansprüchen einerseits und den Chancen freiwillig ausgeübter Solidarität und Mitmenschlichkeit höchst prekär (s. unten). In welcher Weise kann der Wohlfahrtsstaat dazu beitragen, die Gewaltkriminalität zu dämpfen? Gemäß unserem theoretischen Bezugsrahmen geschieht dies dadurch, dass er die für die soziale Integration moderner Gesellschaften benötigte Kopplung von Solidarität (Kooperationsbereitschaft) und Individualismus materiell in einer Weise absichert, die dem Gerechtigkeitsprinzip entspricht und ein gewaltfreies Austarieren von Freiheitsstreben und Gleichheitsverlangen ermöglicht (siehe z. B. die Entschärfung des Klassenkonflikts). Das (produktive) Wettbewerbsprinzip wird nicht negiert, aber (wenigstens programmatisch) soweit eingeschränkt, dass ihm die Gewährung minimaler Schutz- und Subsistenzrechte
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Alber (2001: 1174 f.) weist auf Arbeiten des finnischen Sozialwissenschaftlers Olli Kangas hin, der versucht hat, "das Rawls'sche Differenzprinzip – wonach sich die Qualität von Verteilungen daran misst, wie hoch das Wohlfahrtsniveau der am schlechtest Gestellten ist – für den internationalen Vergleich einiger OECD-Länder zu nutzen, indem er fragte, welches Land man wohl als Wohnort wählen würde, wenn man über seine Position in der Einkommensverteilung und im Lebenszyklus vorher nichts wüsste ... Wer unter dem Schleier der Ignoranz über die zu erwartende eigene Position zu wählen hätte, würde sicherlich ein Land wählen, in dem das Armutsrisiko niedrig ist, das Einkommen im Falle von Armut aber dennoch recht auskömmlich. Dieses Kriterium erfüllen die europäischen Wohlfahrtsstaaten und hier insbesondere die skandinavischen Länder eher als andere.“ Habermas (1990: 197) formuliert das unmissverständlich: "Komplexe Gesellschaften können sich nicht reproduzieren, wenn sie nicht die Logik der Selbststeuerung einer über Märkte regulierten Wirtschaft intakt lassen."
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und damit auch die materiellen Voraussetzungen zur sozialen und politischen Teilhabe entzogen sind. Damit sind dem Wohlfahrtsstaat emanzipatorische Gestaltungsansprüche einer demokratischen Politik zugewiesen, die über die oben erwähnte kompensatorische Funktion hinausgehen. Ihre Gewährleistung erhöht die Chancen, dass sich über soziale Bindungen und politische Legitimitätszuschreibungen (die ja nicht zuletzt das staatliche Gewaltmonopol und die Gesetzgebung betreffen) auch normative Bindungen in einer Weise entwickeln, die Befürwortung oder Gebrauch illegitimer kollektiver oder individueller Gewalt unwahrscheinlich machen. Die gewaltdämpfende Wirkung gelungener sozialer Integration (oder die gewaltfördernde Wirkung mangelnder Integration) wird von verschiedenen kriminologischen Theorien in der einen oder anderen Weise näher spezifiziert (z. B. in verschiedenen Varianten einer Theorie sozialer Desorganisation, siehe z. B. Sampson et al. 1997; Endrikat et al. 2002)154. Die wohlfahrtsstaatlichen Arrangements dienen aber nicht nur der Kriminalitätsprävention, sondern bestimmen auch die Praxis der Strafverfolgung und der Rehabilitation mit (s. Ludwig-Mayerhofer 2000: 322, 337 ff.), die ihrerseits die Wahrscheinlichkeiten für kriminelle bzw. gewalttätige Handlungen beeinflussen. Wir wollen hier auf einzelne kriminologische Ansätze nicht eingehen, sondern – in Abschnitt 6.1.2 – empirische Evidenzen und theoretische Interpretationen erörtern, die sich auf zwei Konsequenzen oder Implikationen wohlfahrtsstaatlicher Ordnung beziehen, die besonders relevant zu sein scheinen: (a) die Schaffung struktureller Voraussetzungen zur Herausbildung von "Sozialkapital", (b) die Minderung von Armut, Ungleichheit und relativer Deprivation. Zuvor wollen wir jedoch Thesen vorstellen, die die eben skizzierten positiven Funktionen sozialstaatlicher Sicherungssysteme entweder bestreiten oder ihnen negative Folgen gegenüberstellen. 6.1.1.2 Dysfunktionen Der Wohlfahrtsstaat ist Teil des politischen Systems; dennoch lässt sich auch ein eigenständiges Funktionssystem "Soziale Hilfe" konzipieren, das außerstaatliche Institutionen und Organisationen einschließt und dem die Aufgabe zukommt, denjenigen eine "stellvertretende Inklusion" zu ermöglichen, die aus den anderen Teilsystemen der Gesellschaft herausfallen (Baecker 1994). Als solches entwickelt es aber – wie andere Funktionsysteme auch – seine spezifischen "Kontinuierungsmechanismen", die die ReInklusion in andere Teilsysteme auch blockieren können – bis hin zu dem Punkt, dass es teilweise die Hilfsbedürftigkeit hervorruft, die es bearbeiten soll. Jedes Funktionssystem zeitigt unvermeidlicherweise dysfunktionale Folgen und muss angesichts sich ständig wandelnder Umweltbedingungen fortlaufend reformiert werden. Allerdings wird auch keine noch so gute Reformmaßnahme ohne dysfunktionale Folgen auskommen. Diese
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Soziale Integration schließt die ambivalenten Möglichkeiten sozialer Kontrolle (vom helfenden SichKümmern bis zum strafbereiten Überwachen) ein. Schon Durkheim sah Überregulation als die Kehrseite der Anomie an (s. oben, Kap. 1).
(einigermaßen triviale, aber oft vergessene) Einsicht könnte dazu verhelfen, Debatten über notwendige oder schädliche Reformen des Wohlfahrtsstaates zu rationalisieren155. Grundsätzliche Kritik und Analysen zum Reformbedarf wohlfahrtsstaatlicher Ordnungen setzen vor allem an folgenden Punkten an (s. die ausführliche und ausgewogene Darstellung in Kaufmann 1997; einen kurzgefassten, aber prägnanten Überblick liefert Alber 2001; immer noch viel zitiert wird Janowitz 1976):156 a)
Die sozialstaatlichen Leistungssysteme haben sich in einer Weise entwickelt, die die Funktionsbedingungen ökonomischer Wohlfahrtsproduktion unterminieren. Der Wohlfahrtsstaat behindert das wirtschaftliche Wachstum, gefährdet die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, lässt die Arbeitslosenrate ansteigen und ist schlicht nicht mehr finanzierbar. Diese Probleme werden durch die demografische Entwicklung (geringe Geburtenraten, wachsender Anteil der nichtarbeitenden Bevölkerung) in Zukunft weiter verstärkt werden. b) Der jüngere sozioökonomische Wandel (charakterisiert bspw. als Übergang von der Industriegesellschaft zur Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft) und die damit verbundenen Veränderungen in der Beschäftigungs- und Klassenstruktur, dem Geschlechterverhältnis sowie den Generationsbeziehungen untergraben ihrerseits die Leistungsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme, die primär in einem industriegesellschaftlichen Kontext aufgebaut wurden. Bestimmte Kategorien der Bedürftigkeit (die "neue soziale Frage") werden in ihnen nicht hinlänglich berücksichtigt, neue Formen der Armut entstehen (z. B. bei alleinerziehenden Müttern und Migranten). c) Unabhängig vom Anpassungsdruck, der von den umgebenden gesellschaftlichen Teilsystemen ausgeht, leiden die wohlfahrtsstaatlichen Arrangements an einer internen Widersprüchlichkeit. Auf der Ebene der Individuen (Leistungsempfänger) ergibt sie sich vor allem aus der Kopplung von "Berechtigung" und (zu weit gehender) "Entpflichtung" (s. Lessenich 2000) und auf der Systemebene dadurch, dass Unterstützungsleistungen über den Einsatz von "Macht" und "Geld" vermittelt und "bürokratisch" verwaltet werden. Als nichtintendierte Folgen werden genannt: Entmündigung statt Förderung persönlicher Autonomie und Eigeninitiative; Stärkung von Egoismus und Verantwortungslosigkeit157 statt des solidarischen Reziprozitätsprinzips; Abbau statt Aufbau von Sozialkapital. Eine der bekanntesten Grundsatzkritiken stammt von Jürgen Habermas, der die These vertritt (bzw. vertreten hat), nicht nur die kapitalistische Wirtschaft, sondern auch der Wohlfahrtsstaat tendiere dazu, die Lebenswelt zu "kolonialisieren" (Habermas 1981, Bd. 2:
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Zum Konzept eines „experimentellen Wohlfahrtsstaates“ siehe Heinze et al. (1999). Kritiken, die den Sozialstaat als illegitimes Herrschaftsinstrument und als irreführendes "Illusionistentheater" porträtieren (s. Miegel 2002) oder als von faschistischer Ideologie affiziert (nicht nur, in einigen Komponenten, historisch initiiert) denunzieren (Aly 2004; Schivelbusch 2005), bleiben hier außer Betracht. U. Beck (1993: 154) meint, der Sozialstaat sei "– vielleicht [sic] wider Willen – eine Versuchsanordnung zur Konditionierung ichbezogener Lebensweisen".
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522 ff.; vgl. Habermas 1985 sowie die kritischen Anmerkungen hierzu in Vobruba 1999), vor allem durch eine Verrechtlichung von Hilfsansprüchen, "die gleichzeitig eine Bürokratisierung und Monetarisierung von Kernbereichen der Lebenswelt bedeutet. Die dilemmatische Struktur dieses Verrechtlichungstyps besteht darin, daß die sozialstaatlichen Verbürgungen dem Ziel der sozialen Integration dienen sollen und gleichwohl die Desintegration derjenigen Lebenszusammenhänge fördern, die durch eine rechtsförmige Sozialintervention vom handlungskoordinierenden Verständigungsmechanismus abgelöst und auf Medien wie Macht und Geld umgestellt werden" (Habermas 1981, Bd. 2: 534; Hervorhebung im Original). Darin sieht er u. a. "belastende Konsequenzen für das Selbstverständnis des Betroffenen und für seine Beziehungen zum Ehepartner, zu Freunden, Nachbarn usw., Konsequenzen auch für die Bereitschaft von Solidargemeinschaften, subsidiäre Hilfe zu leisten" (ebd., S. 531).158 Habermas will aber nicht einem Abbau des Wohlfahrtsstaates das Wort reden, sondern, wie er selber sagt, eine dilemmatische Struktur aufdecken, die nicht zu beseitigen ist, sondern durch Reformen in ihren negativen Konsequenzen nur abgeschwächt werden kann. Solche Reformen müssten, wenn sie den kooperativen Individualismus stärken sollen, darauf abzielen, das zivilgesellschaftliche Element (bspw. in Form von Selbsthilfegruppen) gegenüber den bürokratischen Organisationsformen des Staates zu stärken. Vorschläge hierzu macht z. B. Thomas Olk (2001), der aber auch skeptisch anmerkt, dass die gegenwärtig unter der Parole des "aktivierenden" Staates konzipierten Reformbemühungen eher darauf hinauslaufen, einseitig die Marktfähigkeit der Individuen und nicht die solidarisch angelegten sozialen Netzwerke zu stärken: "Während es in aktivierenden Konzepten, die sich auf ein liberalistisches Leitbild von Bürgergesellschaft beziehen, in erster Linie darum geht, den Einzelnen in seinen egoistischen Orientierungen zu stärken und ihn mit denjenigen Fähigkeiten und Fertigkeiten auszustatten, mit denen er auf den verschiedenen Märkten als 'Unternehmer seiner selbst' bestehen kann, geht es bei aktivierenden Programmen, die sich auf das Leitbild einer aktiven Bürgergesellschaft berufen, vor allem darum, diejenigen bürgergesellschaftlichen Organisationsformen zu stärken und zu fördern, die wie Familie, Vereine, Stiftungen und gemeinnützige Organisationen in hervorragender Weise dazu geeignet sind, Dispositionen wie Verantwortungsbereitschaft, Solidarität, wechselseitige Anteilnahme und Kooperation zu bestärken und die daher in wesentlicher Hinsicht zur Bildung von Sozialkapital beitragen" (Olk 2001: 51). Außerdem müssten öffentliche
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"Die These der inneren Kolonialisierung besagt, daß die Subsysteme Wirtschaft und Staat infolge des kapitalistischen Wachstums immer komplexer werden und immer tiefer in die symbolische Reproduktion der Lebenswelt eindringen" (Habermas 1981, Bd. 2: 539). Habermas hat seine Kolonialisierungsthese in späteren Arbeiten in einem entscheidenden Punkt differenziert: "Die Regulierungsmacht kollektiv bindender Entscheidungen operiert nach einer anderen Logik als der Regelungsmechanismus des Marktes. Nur die Macht läßt sich beispielsweise demokratisieren, nicht das Geld. Deshalb entfallen per se Möglichkeiten demokratischer Selbststeuerung in dem Maße, wie die Regulierung gesellschaftlicher Bereiche vom einen Medium auf das andere übergeht“ (Habermas 1998: 119 f.). Und: „Bei aller Vorsicht gegenüber einem unkritischen Rückgriff auf die Errungenschaften des Sozialstaates sollten wir vor den Kosten seiner ‚Transformation‘ oder Auflösung nicht die Augen verschließen. Man kann für die normalisierende Gewalt von Sozialbürokratien empfindlich bleiben, ohne vor dem skandalösen Preis, den eine rücksichtslose Monetarisierung der Lebenswelt erfordern würde, die Augen zu verschließen" (ebd., S. 133).
Diskurse, in denen sich die Interessen auch der Nicht-Organisierten Gehör verschaffen, stärkere Resonanz finden. Im folgenden Abschnitt wollen wir einige empirische Befunde zusammentragen, die bei der Diskussion über die hier referierten (Dys-)Funktionsthesen zu berücksichtigen sind. Dabei differenzieren wir zunächst noch nicht (oder nur punktuell) nach den verschiedenen Varianten wohlfahrtsstaatlicher Ordnungen, die in unseren Vergleichsländern installiert worden sind. Deren spezifische Ausprägungen und Leistungen werden in Abschn. 6.2 dargestellt. 6.1.2
Empirische Befunde zu den allgemeinen Hypothesen
6.1.2.1 Vorbemerkung Die Kritiker des Wohlfahrtsstaates mögen sich durch Daten bestätigt fühlen, die wir in vorangegangenen Kapiteln präsentiert haben. Sie zeigen, dass zentrale Kategorien der Gewaltkriminalität (Körperverletzungsdelikte, Raub) besonders stark in der Periode anstiegen (Ende der 60er bis Ende der 70er Jahre), in der auch die sozialstaatlichen Leistungssysteme erheblich ausgebaut wurden (s. Abb. 4.19). Nun lassen sich allerdings mit parallel laufenden Trends keine Kausalhypothesen begründen, wenn nicht weitere Evidenzen hinzutreten. Man muss damit rechnen, dass beide Trendverläufe von Faktoren angetrieben werden, die zwar die gleiche Dynamik entfalten, aber unabhängig voneinander wirken. Eine weitere Möglichkeit wäre, dass beide Variablen (Gewaltkriminalität, GK, und Sozialleistungen, SL) in gleicher Weise auf eine sich dynamisch entfaltende Problemkonstellation, PK, reagieren und deshalb auch dann positiv miteinander korrelieren (müssen), wenn zwischen GK und SL keine kausale Beziehung besteht. Selbst wenn eine negative Kausalbeziehung bestünde, höhere Sozialleistungen also tatsächlich die Gewaltkriminalität dämpften, könnte bivariat eine positive Korrelation entstehen, wenn PK statistisch nicht hinreichend erfasst wäre und die positiven Zusammenhänge zwischen PK und GK sowie zwischen PK und SL im Produkt stärker ausfielen als der (eventuell bestehende) negative Zusammenhang zwischen SL und GK. Dies wäre in multivariaten Kointegrationsmodellen zu klären, doch sind die vorliegenden Zeitreihen zu kurz, um zu einigermaßen gesicherten Aussagen zu gelangen. Eine zusätzliche Möglichkeit ergäbe sich, wenn Zeitreihen nicht nur für drei, sondern für zehn oder mehr Länder verfügbar wären, sodass im Querschnitt Kovarianzen außerhalb der (möglicherweise) scheinkausalen Längsschnittkonfigurationen identifiziert werden könnten. Versuche in dieser Richtung sind für ein Nachfolgeprojekt geplant; einstweilen müssen wir die aufgeworfenen Fragen weitgehend offen lassen. Allerdings liegen bereits einige Studien vor, die unterschiedliche Datensätze und Variablenkonstellationen analysiert haben. Steven Messner hat kürzlich in einem Überblicksaufsatz die vorläufigen Ergebnisse wie folgt zusammengefasst: "Zwar liegen nur spärliche Anhaltspunkte vor, aber das allgemeine Muster der Befunde ist konsistent. Eine großzügigere und umfassendere Sozialfürsorgepolitik korreliert mit
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niedrigen Homizidraten" (Messner 2002: 882).159 Interessanter als die summarischen Korrelationen zwischen dem "Volumen" des Sozialstaats und der Höhe der Gewaltkriminalität sind die Konsequenzen differentieller qualitativer Merkmale, in denen sich die verschiedenen wohlfahrtsstaatlichen Ordnungen unterscheiden, sowie die "vermittelnden" Faktoren wie "Sozialkapital" und "Armut/Ungleichheit", die erklärbar machen, wieso wohlfahrtsstaatliche Arrangements das Ausmaß der Gewaltkriminalität beeinflussen. Bevor wir uns diesen Fragen zuwenden, ist noch kurz auf eine Kritik einzugehen, die explizit (auch) mit Ausgabenvolumina argumentiert, indem sie behauptet, die Höhe der Sozialleistungen untergrabe das wirtschaftliche Wachstum und behindere die Schaffung neuer Arbeitsplätze. 6.1.2.2 Sozialausgaben und ökonomische Leistungsfähigkeit Die Entwicklung ökonomischer Leistungsindikatoren und der Sozialquoten ist bereits in Kap. 4 dargestellt worden. Daraus ergaben sich keine Anhaltspunkte für die These, dass stark ausgebaute Wohlfahrtsstaaten wie Deutschland oder Schweden langfristig ökonomisch weniger leistungsfähig wären als Länder mit einem deutlich niedrigeren Sozialleistungsniveau wie die USA oder Großbritannien. Dieses Bild gilt zumindest für die Zeit bis ca. 1990. Erweitert man die Zahl der Vergleichsländer für eine Momentaufnahme aus dem Jahre 1996, so ergibt sich selbst bei einem besonders problematischen Aspekt, dem Beschäftigungsniveau, in der generellen Tendenz nichts Neues: Kaufmann (2003: 313 f.) stützt sich auf die Daten von 18 OECD-Ländern, wenn er feststellt, es bestehe kein statistischer Zusammenhang zwischen der Beschäftigungsquote und dem Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt dieser Länder. Allerdings lässt eine genauere Inspektion der von Kaufmann reproduzierten Daten erkennen, dass die spezifische Ausformung der wohlfahrtsstaatlichen Ordnung und vermutlich auch ihre historischkulturelle Einbettung wichtiger sind als die summarische Ausgabenhöhe. Während die skandinavischen Länder hohe Sozialausgaben mit hohen Beschäftigungsquoten verbinden, die nicht unter und zum Teil über denen der Länder mit unterdurchschnittlichen Ausgabenniveaus liegen, gelingt dies den kontinentaleuropäischen Wohlfahrtsstaaten, wie Deutschland oder Frankreich, bisher nicht.160 Das Problem liegt dabei interessanterweise gerade nicht in den industriellen Wirtschaftssektoren, die dem internationalen Wettbewerb besonders stark ausgesetzt sind, sondern in bestimmten Bereichen des Dienstleistungs-
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Oft zitierte Studien in diesem Zusammenhang sind: Fiala/LaFree (1988), Gartner (1990), Pampel/Gartner (1995), Messner/Rosenfeld (1997b). Keinen Effekt wohlfahrtsstaatlicher Ausgabenvolumina auf nationale Homizidraten findet dagegen Huang (1995). Siehe hierzu auch die Studie von Heidenreich (2004), in der für 19 OECD-Länder ein negativer Zusammenhang von Investitionen in Sozialausgaben und Beschäftigung festgestellt wird. Wir vermuten allerdings, dass diese Analyse durch Multikollinearitätsprobleme beeinträchtigt ist: Transferzahlungen in % des BIP, soziale Dienstleistungen in % des BIP und „Sozialabgaben in % aller Steuern und Sozialabgaben“ werden im Regressionsmodell simultan als Prädiktorvariablen eingesetzt. – Einen Sonderfall stellt im übrigen die Schweiz dar, die mit einem leicht überdurchschnittlichen Ausgabenniveau die höchste Beschäftigungsquote überhaupt aufweist.
sektors (s. Scharpf 1997; Scharpf 1999). Während Deutschland im industriellen Sektor hoch wettbewerbsfähig ist und dort auch mehr Arbeitsplätze erhalten hat als andere Länder (s. Kitschelt/Streeck 2004; Streeck/Trampusch 2005), gilt das nicht im Bereich der Dienstleistungen. Zum einen werden die Sozialleistungen, anders als in Schweden, nur zu einem geringen Teil in Form von Dienstleistungen gewährt (was dazu geführt hat, dass in Deutschland der Anteil der Beschäftigten im öffentlichen Dienst nicht nur unter dem in Schweden, sondern auch unter dem in Großbritannien und der USA liegt; siehe Kap. 4, Abb. 4.13); zum anderen hat das deutsche System der Sozialabgaben dazu geführt, dass im unteren Bereich der Lohnskala zwar nicht die Netto-Löhne, wohl aber die Bruttobeträge so hoch liegen, dass sich für potentielle Arbeitgeber angesichts der Produktivitätsnachteile dieser Jobs keine Anreize zu Neueinstellungen ergeben (Scharpf 1997: 9f.; Scharpf 1999: 16-19). Als eine Möglichkeit, die Netto-Einkommen im Niedriglohnbereich deutlich über dem Sozialhilfe-Niveau zu belassen und dennoch das sog. Arbeitgeberbrutto beschäftigungswirksam abzusenken, sind u. a. Modelle zu einer negativen Einkommenssteuer vorgeschlagen worden. Heinze/Streeck (2000) regen an, die Sozialbeiträge im unteren Lohnbereich von Null ausgehend niedrig zu halten und bei höheren Einkommen allmählich ansteigen zu lassen. Auch diese Ausfälle müssten letztlich durch Steuererhöhungen finanziert werden. Erhöhungen direkter Steuern scheinen aber in Deutschland auch dann nicht durchsetzbar zu sein, wenn die Sozialausgaben in gleicher Höhe gesenkt werden161. An dieser Stelle ist eine weitere methodologische Bemerkung angebracht. Alle diese Querschnittskorrelationen, die für einzelne Jahre staatliche Ausgabenvolumina einerseits und ökonomische Performanzindikatoren andererseits in Beziehung zueinander gesetzt haben, sind in ihrer Aussagekraft stark begrenzt. Da die Variablen sich zu keinem beliebigen Zeitpunkt im "Gleichgewicht" befinden, wäre der Einsatz dynamischer Analysemodelle erforderlich. Da die jahresspezifischen Querschnitt-Korrelationen insgesamt aber nur geringfügig um den Nullwert streuen, kann man einstweilen davon ausgehen, dass kein kausaler Zusammenhang besteht. Wir haben in eigenen (halb-dynamischen) Analysen mit 18 OECD-Ländern festgestellt, dass das in der Zeit zwischen 1965 und 1980 erzielte wirtschaftliche Wachstum mit dem Wachstum der Sozialausgaben praktisch nicht korreliert (mit leicht positiver Tendenz); für die Periode zwischen 1981 und 2000 gibt es einen leicht negativen Zusammenhang, der aber von den üblichen statistischen Signifikanzgrenzen ein gutes Stück entfernt ist. Das Bild ändert sich im wesentlichen nicht, wenn man die BIP-Wachstumsraten mit den Niveaus der Sozialausgaben in Beziehung setzt. Auch andere Autoren kommen zu der Schlussfolgerung, dass es bei langfristiger Betrachtung keine eindeutigen Aggregatkorrelationen zwischen ökonomischen Performanzindikatoren einerseits und der Höhe der Sozialausgaben oder auch der Höhe der Staatsquote andererseits gibt (s. Obinger 2003)162. Offensichtlich spielen nicht die Volumina die
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Das ist eine der Kuriositäten der gegenwärtig in Deutschland geführten Debatten: Steuersenkungen werden viel energischer (konsequenzenreicher) gefordert als eine Abgabensenkung. Gründe, warum selbst die Arbeitgeberseite ein lohnbasiertes soziales Sicherungssystem bevorzugt, nennt Vobruba (1997: 110). Einige der methodologischen Schwierigkeiten, die bei dieser Art von Analysen regelmäßig auftreten, erläutern Levine/Renelt (1992).
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entscheidende Rolle, sondern die Art der Finanzierung der Sozialleistungen sowie die spezifischen Verwendungsformen staatlich verfügbarer Mittel. Darüber hinaus ist die Adaptionsfähigkeit des Systems von großer Wichtigkeit: Wie rasch reagiert es mit reformerischen Maßnahmen auf veränderte Umweltbedingungen, z. B. auf die zunehmende Globalisierung der Märkte seit den 80er Jahren? Castles (2002) hat die sozialstaatliche Reformpolitik in 21 OECD-Ländern für die Periode 1984-1997 untersucht und dazu einen Index struktureller Transformation entwickelt. Obwohl Schweden und Großbritannien ihre Ausgabenvolumina in dieser Periode ähnlich wie Deutschland nicht vermindert, sondern leicht erhöht haben, liegen sie beim Transformationsindex an der Spitze aller Länder, während Deutschland knapp vor Österreich das Schlusslicht bildet. (Das Ergebnis sähe für die Periode nach 2000 sicherlich etwas anders aus.) Insgesamt gibt es einige Hinweise darauf, dass sowohl die skandinavischen als auch die angelsächsischen Länder mit den veränderten Weltmarktbedingungen seit den 90er Jahren bisher besser zurechtgekommen sind als Deutschland und einige andere mittel- oder südeuropäische Länder. Allerdings sollte man stets im Auge behalten, dass Deutschland nicht nur mit veränderten Weltmarktbedingungen, sondern auch mit den höchst konträren politischen und ökonomischen Folgen einer Wiedervereinigung zurechtkommen muss, die auch in anderen Systemen zu erheblichen Schwierigkeiten geführt hätten. Wirtschaftsexperten gehen davon aus, dass etwa ein Drittel des seit 1993 kumulierten Wachstumsrückstandes auf die Folgen der Wiedervereinigung zurückzuführen sei (Institut der deutschen Wirtschaft Köln 2005). 6.1.2.3 Sozialkapital Damit kommen wir zu der soziologisch relevanteren Kritik, derzufolge der Wohlfahrtsstaat nicht den sozialen Zusammenhalt fördert, sondern den Egoismus stärkt, freiwillige Hilfeleistungen einschränkt und das bürgerschaftliche Engagement behindert. Soweit ersichtlich, wird diese These kaum mit Daten belegt, sondern in den meisten Fällen impressionistisch aus persönlichen Erfahrungen oder nutzentheoretisch aus postulierten Anreizstrukturen abgeleitet163. Eine Unterstützungsleistung, die in Anspruch genommen werden kann, ohne dass der Empfänger zu einer zeitnahen adäquaten Gegenleistung verpflichtet ist, wird – so die Annahme – auch dann akzeptiert oder angefordert, wenn man ihrer nicht bedarf; und wenn man ein hohes Arbeitslosengeld oder die oft beschworene "üppige" Sozialhilfe bezieht, fehlt der Anreiz, eine Arbeit aufzunehmen. Wenn der Staat eine Pflegekraft bezahlt, wird sich das Kind nicht mehr um seine pflegebedürftige Mutter kümmern usw.164 Abgesehen davon, dass die "Anreizstruktur" häufig nur sehr verzerrt
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Eine der heftigsten Attacken gegen sozialstaatliche Programme (Murray 1984) arbeitet allerdings auch mit empirischen Daten. Zur Kritik an dieser Arbeit s. Morris (1994), Gans (1995), Wacquant (1997). Beckert (2001: 54 f.) zeigt am Beispiel des politischen Umgangs mit dem Problem von TeenagerSchwangerschaften, zu welchen Fehlurteilen (und politischen Fehlentscheidungen) unzulänglich überprüfte Annahmen über Anreizstrukturen führen können. Solche Fälle gibt es natürlich. Andererseits ist es doch völlig illusorisch zu glauben, die familiale Solidarität werde gestärkt, wenn Kinder generell gezwungen wären, ihre berufliche Arbeit einzuschränken und/oder ihre eigene Altersversorgung aufs Spiel zu setzen, um ihre Eltern im Alter selber pflegen zu
dargestellt wird (bspw. arbeiten die meisten Menschen nicht nur des Geldes wegen), wird das Modell des egoistisch handelnden Nutzenmaximierers schlicht vorausgesetzt, ohne zu prüfen, ob in einem gegebenen Handlungskontext nicht auch moralische Überzeugungen ins Spiel kommen, die der egoistischen Nutzenmaximierung zuwider laufen165. Eine Reihe von Sozialwissenschaftlern vertritt die (plausible) These, die meisten Menschen orientierten sich nicht an einer, sondern parallel oder abwechselnd an mindestens zwei Nutzenfunktionen: "(T)here are segments of the citizenry whose utility function is unitary; they are purely income maximizers or purely moral. A large proportion, however, appear to have dual utilities. They wish to contribute to the soial good, at least as long as they believe a social good is being produced. They also want to ensure their individualistic interests are being satisfied as far as possible" (Levi 1991: 133 zitiert nach Rothstein 2001b: 221; zweite Hervorhebung: T./B.). Die zweite Hervorhebung ist in unserem Zusammenhang besonders wichtig: die Bereitschaft, einen eigenen Beitrag zum allgemeinen Wohl zu leisten und die Chancen zum Trittbrettfahren nicht oder nur begrenzt zu nutzen, hängt in starkem Maße von der Wahrnehmung oder Vermutung ab, dass dies auch andere tun. Eine solche Vermutung wiederum muss sich auf geteilte Normen und institutionelle Arrangements stützen, deren Wirksamkeit in letzter Instanz staatlich garantiert ist. Dies macht unmittelbar deutlich, wie wichtig sowohl das generalisierte Vertrauen in andere Menschen als auch das Vertrauen in (staatliche) Institutionen ist. Im übrigen lassen die Kritiker des Sozialstaats eine wichtige Einsicht aus der Psychologie des Helfens außer Betracht: Hilfe wird umso eher gewährt, (a) je größer die Gewissheit des Gebers ist, dass er damit auch etwas Positives bewirkt, und (b) je weniger er sich psychisch und materiell mit seiner Hilfeleistung überfordert sieht (s. Bierhoff 1980). Indem der Wohlfahrtsstaat dazu beiträgt, diese Bedingungen zu sichern, trägt er auch dazu bei, freiwillige solidarische Hilfe eher zu fördern als zu behindern (s. hierzu auch Thome 1998: 246 ff.). Nach allem, was wir bspw. über Generationensolidarität ("früher" und "heute") wissen (s. z. B. Szydlik 2000; Sackmann 2004), lässt die sozialstaatliche Versorgung die praktische Fürsorge der Kinder für ihre Eltern nicht ab-, sondern eher zunehmen166. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine von Alber zitierte Studie der Europäischen Kommission aus dem Jahre 1993, derzufolge soziale Isolation und Einsamkeit bei älteren Menschen in südeuropäischen Ländern (mit relativ hohen Anteilen an Mehrgenerationenhaushalten und
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können oder die Pflegekosten aus ihrem (meistens doch recht bescheidenen) Vermögen bestreiten zu müssen. Empirische Befunde, die gegen die These sprechen, sozialstaatliche Programme setzten generell schädliche Anreize, fasst Alber (2001: 1166) zusammen. Es soll keineswegs bestritten werden, dass es egoistisches Schmarotzertum und falsch gesetzte Anreizstrukturen gibt, die zu korrigieren wären. Dass der Wohlfahrtsstaat generell diese Haltung fördert, ist aber unwahrscheinlich. Dafür sprechen auch Befunde, die zeigen, dass den Sozialhilfeempfängern (in Deutschland, vor „Hartz IV“) eine mindestens gleich große Anzahl von Personen gegenübersteht, die Hilfe bewusst nicht beanspruchen, obwohl sie dazu berechtigt wären. Ihr Anteil scheint auch nicht zurückgegangen zu sein, obwohl die Zahl der Sozialhilfeempfänger stark gestiegen ist (s. H. Jacobs 2000: 248 f.; Literaturhinweise zu weiteren Untersuchungen hierzu in Geißler 2002: 279, Fn. 7). Zu kontraproduktiven Effekten einer forcierten Strategie der Missbrauchskontrolle bei der Sozialhilfe siehe Voges (1999). Zur „sozialen Devianz“ (z. B. Schwarzarbeit oder Steuerhinterziehung) siehe die Beiträge in Lamnek/Luedtke (1999).
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familialer Wohlfahrtsproduktion) stärker verbreitet sind als in den nordeuropäischen Wohlfahrtsstaaten (Alber 2001: 1187; s. auch die Hinweise ebd., S. 1184). Vergleicht man das US-amerikanische Sozialsystem mit den europäischen Sozialordnungen, erhält man keine Belege dafür, dass Armut und damit verbundenes Elend durch private Hilfeleistungen effektiver bekämpft oder vermieden werden können als durch staatliche oder parastaatliche Unterstützungssysteme. Nicht überzeugend ist auch die Behauptung, private Hilfeleistungen seien weniger bevormundend, schränkten die persönliche Autonomie weniger ein als staatlich-bürokratisch organisierte Solidarleistungen. Private Hilfen wirken in ihrer Summe sicherlich stärker selektiv und diskriminierend als sozialstaatliche Unterstützungssysteme, auf deren Leistungen Rechtsansprüche bestehen, die in demokratischen Gesetzgebungsverfahren definiert werden167. Erst diese Rechtsansprüche schaffen Erwartungssicherheit, ohne die persönliche Autonomie nicht möglich und die soziale Ordnung gefährdet wäre (s. Vobruba 1999). Putnam hat die These populär gemacht, in westlichen Gesellschaften sei das Sozialkapital rückläufig (Putnam 2000; vgl. Thome 2002b). Mit dieser These, insbesondere mit der darin angesprochenen Trendentwicklung, werden wir uns weiter unten beschäftigen. Selbst für den Fall, dass sie korrekt sein sollte, zeigen die einschlägigen Untersuchungen nicht, dass der Wohlfahrtsstaat dafür verantwortlich zu machen wäre. Peter Hall z. B., der die Entwicklung des Sozialkapitals in England untersucht hat, kommt zu dem unmissverständlichen Schluss, die wohlfahrtsstaatlichen Institutionen hätten das bürgerschaftliche Engagement gefördert und nicht gestört (Hall 2001: 78, 100). Auch Bo Rothstein, der eine ähnliche Untersuchung für Schweden durchgeführt hat, stellt fest, das Beispiel Schwedens zeige, dass der Wohlfahrtsstaat keinen Gegensatz zur Bürgergesellschaft darstelle (Rothstein 2001a: 154, 162). Ähnliches konstatiert Theda Skocpol in ihrer historischen Analyse des Sozialkapitals in den USA: Private und öffentliche Sozialleistungen nahmen parallel zu, freie Vereinigungen und staatliche Einrichtungen kooperierten eng miteinander – zumindest bis zum 2. Weltkrieg (Skocpol 2001: 635). Auch die Autoren der "Eurovol-Studie" (Gaskin et al. 1996), die Verbreitung und Funktion des freiwilligen Bürgerengagements in zehn europäischen Ländern untersucht haben, gehen von einer Parallelität und wechselseitigen Ergänzung wohlfahrtsstaatlich und bürgerschaftlich organisierter Unterstützungsleistungen aus168. Eine wesentliche Komponente des Sozialkapitals ist die Bereitschaft zu bürgerschaftlichem Engagement in Selbsthilfegruppen und anderen gemeinnützigen Organisationen. Alber zitiert hier eine Studie, die für 11 ökonomisch hoch entwickelte OECDStaaten Daten zur Höhe der Sozialausgaben (in Prozent des BIP) und zum Anteil der ehrenamtlich engagierten Bürger zusammengestellt hat. Der statistische Zusammenhang ist schwach, weist aber in eine positive Richtung: Je höher die Sozialausgaben, umso höher der Anteil der ehrenamtlich Engagierten (Alber 2001: 1186 f.). In einer 24 Länder
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Was im Prinzip gilt, kann allerdings durch spezifische Formen einer kontrollierenden und stigmatisierenden Bedürftigkeitsprüfung eingeschränkt werden (s. Walklate 1998, Kap. 6). Dies schließt nicht aus, dass temporär und in einzelnen Ländern sowie in spezifischen Sektoren wohlfahrtsstaatliche Regelungen freiwilliges Engagement behindern (s. die von Putnam 2001: 790 in den Fußnoten 34 u. 35 zitierte Literatur).
umfassenden Untersuchung zum Freiwilligen-Engagement identifizieren Salamon/ Sokolowski (2001: 9) einen starken positiven Zusammenhang zwischen dem Anteil der Sozialausgaben am BIP und dem Engagement-Niveau. Auch die finanzielle Unterstützung von Freiwilligen-Organisationen durch Regierungsstellen lässt das Engagement tendenziell ansteigen (ebd., S. 11). Solche bivariaten Korrelationen belegen zwar keine positive Kausalwirkung, widerlegen aber andererseits die Annahme, der Sozialstaat unterminiere unweigerlich das Engagement seiner Bürger169. In der Literatur wird zwischen "bonding" (bindendem) und "bridging" (überbrückendem) sowie "linking" (relationalem) Sozialkapital unterschieden (siehe z. B. Karstedt 2001). Die erstgenannte Kategorie entspricht, in grober Zuordnung, einem kollektivistischen Gemeinschaftstypus, die beiden anderen entsprechen kooperativ-individualistischen Vergesellschaftungsformen, von denen wir annehmen, dass sie von wohlfahrtsstaatlichen Ordnungen gefördert werden170. Dabei bezieht sich "bridging" auf die sozialen Beziehungen zwischen Personen und Gruppen und "linking" auf die Beziehungen beider zu den Institutionen. Wesentliche Komponenten sind hier das generalisierte Personenvertrauen sowie das Vertrauen in Institutionen. Zum Zusammenhang zwischen den verschiedenen Komponenten des Sozialkapitals und abweichendem bzw. kriminellem Verhalten gibt es zahlreiche Studien, die insbesondere einen negativen Zusammenhang zwischen dem generalisierten Personenvertrauen171 wie auch dem System- oder Regierungsvertrauen einerseits und der Gewaltneigung andererseits belegen172. Wir geben hier nur ein paar knappe Hinweise auf relevante Literatur, ohne Einzelheiten zu erörtern. Rosenfeld et al. (2001) z. B. stellen in einer Querschnittuntersuchung von US-counties fest, dass die Mordraten umso niedriger lagen, je höher das (durchschnittliche) Niveau allgemeinen Vertrauens in den verschiedenen Regionen entwickelt war. Rahn/Transue (1998: 546) bemerken: "If levels of trust erode, the implication is that people in general will be less likely to obey normative rules in their own conduct". Eisner (2004: 7) stellt ebenfalls fest: "Low trust among residents and a low disposition to engage in common goals contribute to predicting levels of serious violent
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Für ausführlichere Belege zum positiven Zusammenhang zwischen dem Niveau der Sozialausgaben und dem Umfang des Freiwilligen-Engagements in einer Gesellschaft siehe die in Erlinghagen/Hank (2005: 11) zitierten Studien. Anscheinend in differentieller Weise. Delhey/Newton (2002: 8) kommen zu dem Ergebnis: "Countries with universal welfare benefits are more trusting than those with selective welfare systems." Wir werden weiter unten auf diese Unterscheidung zurückkommen. Die analytische Differenzierung zwischen „bindendem“ und „überbrückendem“ Sozialkapital darf nicht so verstanden werden, als realisierten die verschiedenen Formen sozialer Verbindungen ausschließlich den einen oder den anderen Typus. Wie in anderen Zusammenhängen schon mehrfach betont, geht es auch hier vor allem um unterschiedliche Gewichtungen. Üblicherweise wird das generalisierte Personenvertrauen in sozialwissenschaftlichen Surveys durch die Frage erfasst: „Würden Sie allgemein sagen, dass man den meisten Menschen vertrauen kann, oder kann man da nicht vorsichtig genug sein?“ Es kann dann eine der beiden folgenden Antworten angekreuzt werden: (1) „kann den meisten vertrauen“, (2) „kann nicht vorsichtig genug sein“ (hier zitiert nach Gabriel 1999b: 184). Für einen knappen Literaturüberblick s. Sampson (1995). Zudem gibt es beträchtliche Überlappungen zwischen den Konzepten des Sozialkapitals (seinem Mangel) und der „sozialen Desorganisation“ als wesentlichem Ursachenbündel für Gewaltkriminalität (s. Sampson/Morenoff/Earls 1999).
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crime." Karstedt (2004: 283 f.) verweist auf eine Studie von Lederman et al. (1999), die auf der Basis einer 39 Länder umfassenden Studie den bedeutenden Einfluss des Personenvertrauens auf die Höhe der Homizidrate hervorheben. Chanley et al. (2000: 247, 251) verweisen auf Studien von Mansbridge (1997) und des Pew Research Center (1998), die belegen "that levels of crime and levels of distrust in government track well together over time"173. Zum Zusammenhang von generalisiertem Personenvertrauen und Institutionenvertrauen liegen unterschiedliche Ergebnisse vor174. Kaase (1999: 13) kommt auf der Basis der European bzw. World Values Surveys zu dem Ergebnis, dass in verschiedenen europäischen Ländern nur ein schwacher, tendenziell aber positiver Zusammenhang besteht. Die Stärke des empirischen Zusammenhangs ist allerdings abhängig von dem verwendeten Frageformat, mit dem das persönliche Vertrauen in Bevölkerungsumfragen erhoben wird. EVS und WVS lassen nur zwei Antwortmöglichkeiten zu (sinngemäß: Vertrauen oder Misstrauen, s. Fn. 171). Das "International Social Survey Programme" (ISSP) hat in seinen 1998er Erhebungen eine 4-Punkte-Antwortskala verwendet, die jeweils zwei Stufen für (stärkeres oder schwächeres) Vertrauen bzw. Misstrauen vorsah. Bei Verwendung dieses Indikators stieg in fast allen 21 Ländern die Korrelation zwischen dem persönlichen Vertrauen und dem Vertrauen ins Parlament (ebenfalls mit einer 4-Punkte-Skala erfasst) deutlich an. Während die EVS-Korrelation von 1999 in keinem Land eine Stärke von 0,15 erreichte, lagen die ISSP-Korrelationen in fast allen Ländern über dieser Marke bis zu einer Größe von r = 0,30 (Jagodzinski/Manabe 2004: 94). Bei einer weiteren Verfeinerung des Messinstruments und der damit ermöglichten Neutralisierung von Messfehlern konnten Jagodzinski/Manabe (2005: 12) sogar eine durchschnittliche Zusammenhangsstärke (über alle Länder) von r = 0,44 ermitteln. Auch Wuthnow (2001: 705) vermutet, dass der in den USA beobachtete Vertrauensschwund gegenüber dem Staat bzw. der politischen Elite eine "recht große Wirkung auf das Vertrauen zu den Mitmenschen" hat. Dies wird durch eine methodisch anspruchsvolle Studie von Brehm/Rahn (1997: 1014) unterstützt. Sie kommen zu dem bemerkenswerten Ergebnis, dass im Wechselwirkungsverhältnis zwischen den beiden Vertrauensformen das generalisierte Vertrauen stärker von dem Vertrauen in die Regierung abhängt als umgekehrt. Paxton (1999) allerdings stellt fest, dass in den USA zwar das Personenvertrauen abgenommen habe, ein systematischer Rückgang des Institutionenvertrauens sich aber nicht zeige wenn man die statistisch geschätzten Effekte von Skandalen (wie "Watergate") in Rechnung stelle. Die umgekehrte Situation registriert
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Die einzige uns bekannt gewordene Studie, die diesen Ergebnissen entgegensteht, ist die von David Halpern (2001). In einer Analyse mit aggregierten Daten aus dem European Values Survey stellt er keinen bivariaten Zusammenhang zwischen dem durchschnittlichen Vertrauensniveau einer Nation und ihrer jeweiligen Kriminalitätsrate fest. Nach Einführung von Kontrollvariablen registriert er sogar einen positiven Zusammenhang: je höher das Vertrauensniveau, umso höher die Kriminalitätsrate. Die multivariate Regression beruht allerdings nur auf 15 Fällen (Nationen). Außerdem ist es, wie Halpern selbst einzuräumen scheint (s. ebd., S. 247) unter methodologischen Gesichtspunkten fragwürdig, in einem multivariaten Regressionsmodell aus der Vertrauensvariable die Varianzanteile herauszufiltern, die sie mit den auf gleicher Stufe eingeführten Prädiktoren „self-interested values“ und „economic inequality“ teilt. Die längerfristige Entwicklung des Institutionenvertrauens in den drei Ländern ist bereits in Kap. 5.2 dargestellt worden.
Rothstein (2001a) für Schweden, wo das Vertrauen in politische Institutionen abgenommen habe, ohne dass das interpersonale Vertrauen gleichzeitig gesunken sei. Die Entwicklung des zwischenmenschlichen Vertrauens in unseren drei Vergleichsländern wird unten in Abschn. 6.2.2.5 behandelt. Wir haben in diesem Abschnitt Argumente und empirische Befunde vorgelegt, die überwiegend dafür sprechen, dass (a) die wohlfahrtsstaatlichen Ordnungen Sozialkapital und Vertrauen nicht unterminieren, sondern eher fördern und dass (b) geringere Niveaus an Sozialkapital, insbesondere des Vertrauens mit höheren Kriminalitätsraten (einschl. Gewaltkriminalität) einhergehen. Lassen sich ähnliche Befunde bezüglich Armut und Ungleichheit beibringen? 6.1.2.4 Armut und Ungleichheit Bevor wir uns mit Daten zu diesem Thema beschäftigen, sind die Begriffe kurz zu erörtern. Üblicherweise unterscheidet man zwischen "absoluter" und "relativer" Armut. Der erste Begriff bezieht sich auf die Frage, welcher Einkommensbetrag zum "Leben" unbedingt benötigt wird. Selbst wenn man diese Frage nur auf das physische Überleben bezieht, ist sie nicht objektiv eindeutig zu beantworten – weder generell noch für ein spezifisches Land in einer bestimmten Zeit. Noch komplizierter wird es, wenn die soziokulturellen Bedürfnisse mit berücksichtigt werden sollen. Der absolute Armutsbegriff liefert keine brauchbare Messgröße, wenn Armut in ökonomisch hoch entwickelten Ländern vergleichend untersucht werden soll. Für diese Zwecke wird ein "relatives" Konzept von Armut benötigt,175 das Armut als einen bestimmten Prozentsatz des Durchschnittseinkommens definiert, der unterschritten wird. Diese Kriterien variieren üblicherweise zwischen 40 % ("strenge" Armut) und 60 %. Auch der Berechnungsmodus der Durchschnittsgröße ist variabel; je schiefer die Einkommensverteilung, umso stärker weichen arithmetisches Mittel und Median voneinander ab. Bei ländervergleichenden Studien im Rahmen der EU wird seit wenigen Jahren in der Regel das 60-Prozent-Einkommen, gemessen am Median, herangezogen (davor galt lange das 50-Prozent-Kriterium, bezogen auf das arithmetische Mittel). Das tatsächlich verfügbare Pro-Kopf-Einkommen lässt sich ebenfalls in unterschiedlicher Weise berechnen, wenn man z. B. bedenkt, dass die Ausgaben für bestimmte Güter (z. B. Wohnungsnutzung) in Mehrpersonenhaushalten pro Kopf niedriger liegen als in Einpersonenhaushalten. Um dies zu berücksichtigen, ist das Konzept der "Äquivalenzeinkommen" entwickelt worden,176 das insbesondere dann notwendig wird,
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Das heißt nicht, dass das Konzept absoluter Armut generell unbrauchbar wäre; auch in "reichen" Ländern gibt es Elend, das mit einem relativen Armutsbegriff allein nicht zu erfassen ist. Beim „Äquivalenzeinkommen“ wird einerseits berücksichtigt, dass mit zunehmender Haushaltsgröße der gleiche Lebensstandard mit geringeren Kosten pro Kopf zu erzielen ist, zum anderen, dass nicht alle Personen einen gleichen finanziellen Bedarf für die tägliche Lebenshaltung haben (z. B. ist er bei Kindern geringer als bei Erwachsenen). Dies geschieht, indem jeder Person im Haushalt in Abhängigkeit von der Haushaltsstruktur und dem unterstellten Bedarf in Relation zu den anderen Haushaltsmitgliedern ein Gewicht zugewiesen wird (z. B. bei der so genannten „alten OECD-Skala“ dem Haushaltsvorstand das Gewicht 1, jedem weiteren Mitglied ab 15 J. das Gewicht 0,7, Kindern bis 14 J. das Gewicht 0,5 etc.).
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wenn Bevölkerungen mit unterschiedlichen Haushaltsstrukturen verglichen werden sollen. Die Sachlage wird noch komplexer, wenn man nicht nur die Einkommensarmut, sondern mehrdimensionale Lebenslagen und zusätzliche Formen von "Deprivation" berücksichtigen will177. Es ist offenkundig, dass die Lebensqualität und die Chancen zur Teilhabe in den verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens nicht nur vom Einkommen, sondern – zum Beispiel – auch vom "kulturellen" Kapital, vor allem dem Bildungsniveau, abhängen. Wir werden diesen Aspekt hier zunächst ausklammern, aber später wieder darauf zurückkommen. Der relative Armutsbegriff enthält in sich schon eine Komponente sozialer Ungleichheit; er sagt aber noch nichts aus über die Gesamtstreuung der Einkommen, nichts über die Abstände der verschiedenen Einkommensklassen. Hierzu sind unterschiedliche Maßzahlen entwickelt worden. In international vergleichenden Studien wird am häufigsten der sog. "Gini-Koeffizient" eingesetzt; je höher er ist, umso größer sind die Einkommensunterschiede in einer Bevölkerung. Wir werden uns mit dem Aussagegehalt solcher Maßzahlen erst in Abschn. 6.2.3 beschäftigen, wenn wir die Entwicklung von Armut und Ungleichheit in unseren drei Vergleichsländern darstellen. In diesem Abschnitt geht es zunächst wieder nur um Belege für die zweistufige Kausalkette: (1) Sind Armut und Ungleichheit zumindest der Tendenz nach umso geringer, je höher die Sozialquote eines Landes ist? (2) Ist die Rate der Gewaltkriminalität in einem Land oder einer Region umso höher, je stärker dort Armut und Ungleichheit ausgeprägt sind? Die These, dass sozialstaatliche Sicherungssysteme dafür sorgen, die Armutsraten in der (Gesamt-)Bevölkerung relativ niedrig zu halten und die Ungleichheit der verfügbaren Einkommen zu begrenzen, ist wenig umstritten. Die empirischen Belege sind hier eindeutig. So z. B. verweist Alber (2001: 1168 f.) auf deutlich ausgeprägte negative Zusammenhänge zwischen (a) der relativen Einkommensarmut (in diesem Falle dem Anteil derer, die über weniger als die Hälfte des Medianeinkommens einer Bevölkerung verfügen) wie auch (b) der Einkommensungleicheit (gemessen über den Gini-Index) einerseits und der Höhe der Sozialausgabenquote andererseits in 13 OECD-Ländern Mitte der 90er Jahre (vgl. Vogel 2002). Die Daten zeigen auch, dass der Anstieg der Einkommensarmut zwischen Mitte der 80er und Mitte der 90er Jahre umso geringer war – oder ganz vermieden werden konnte –, je stärker die Sozialausgabenquote in dieser Zeit zunahm (Alber 2001: 1168). Andererseits ist nicht zu bestreiten, dass die verschiedenen wohlfahrtsstaatlichen Ordnungen nicht alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen vor Armut schützen. Darauf werden wir aber ebenfalls erst in Abschnitt 6.2.3 eingehen. Zuvor sollen einige empirische Befunde dargestellt werden, die den Zusammenhang zwischen Armut/Ungleichheit und Gewaltkriminalität belegen.
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Das Äquivalenzeinkommen wird ermittelt, indem – unter der Annahme, dass die Haushaltsmitglieder ihre individuellen Einkommen vollständig miteinander teilen – das gesamte Haushaltseinkommen durch die Summe der Gewichte der Haushaltsmitglieder dividiert wird. Vgl. dazu Hauser/Becker (2001: 33-35). Zur Problematik des Messens von Einkommensungleichheit siehe Alber (2001: 1172 f.); Firebaugh (1999). Zu den Versuchen, verschiedene Formen der Deprivation simultan zu erfassen, s. die Literaturhinweise in Geißler (2002: 279, Fn. 4).
Es gibt nur wenige Untersuchungen, die diesen Zusammenhang nicht bestätigen; die positiven Belege überwiegen deutlich178. In einem Literaturbericht über ländervergleichende Studien kommt Messner (2002: 882) zu dem Schluss: "Von wenigen Ausnahmen abgesehen weisen die Einkommensungleichheiten in der großen Mehrheit der ländervergleichenden Studien signifikante, positive Effekte auf die Homizidraten auf. Diese Beziehung wird über verschiedene Messgrößen der Einkommenskluft (z. B. GiniKoeffizient, Quintilanteile) und verschiedene Datenquellen zu Tötungsdelikten hinweg beobachtet." Eine weitaus größere Zahl von Studien (die meisten aus den USA) operieren auf einer niedrigeren Aggregatebene, indem sie kleinere regionale Einheiten (Kreise oder Stadtbezirke zum Beispiel) mit unterschiedlichen Messinstrumenten und Analysemodellen untersuchen. Auch hier lässt sich feststellen, dass der vermutete Zusammenhang ganz überwiegend bestätigt wird (s. den Überblicksartikel von Crutchfield/Wadsworth 2002).179 Allerdings spricht vieles dafür, dass er nicht linear, also nicht konstant proportional zum Grad der Armut/Ungleichheit (und anderer Deprivationsformen) verläuft. Bei sehr hohen Armuts- bzw. Ungleichheitswerten nehmen die Effekte überproportional zu. Außerdem steigt die Wahrscheinlichkeit, illegale Gewalt anzuwenden, wenn nicht nur einzelne Personen oder kleine Gruppen, sondern größere Wohnquartiere oder Regionen insgesamt durch Armut oder starke Ungleichheit geprägt sind, vor allem dann, wenn Deprivation mit sozialer Diskriminierung verbunden ist. Die Forschung hat eine Reihe weiterer Variablen identifiziert, die die Folgen von Armut/Ungleichheit verstärken oder abschwächen. Die
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Eine der wenigen Ausnahmen ist die Untersuchung von Neumayer (2005), der keinen signifikaten Effekt der Einkommensungleichheit findet. Es spricht einiges dafür, dass Angehörige unterer sozialer Schichten auf Grund von Stigmatisierungsprozessen und selektiven Kontrollmechanismen eher ins Visier der Strafverfolgungsinstanzen geraten als Angehörige höherer sozialer Schichten. Es gibt aber offenkundig keine empirischen Belege für die Annahme, dass sich bei Kontrolle dieses Effektes der Zusammenhang zwischen Armut/Ungleichheit und (Gewalt-)Kriminalität verflüchtigt (s. Karstedt 1996: 46). Eisner (1997: 28 f.) sieht den Zusammenhang zwischen (unterer) sozialer Schicht und Delinquenz insbesondere für schwere Gewaltdelikte bestätigt, wobei die selbst erworbene Schichtzugehörigkeit bedeutender sei als die der Eltern. Lamnek (1998: 400) verweist auf eine Studie von Junger-Tas, die bei der Analyse selbstberichteter Kriminalität zu dem Ergebnis kommt: „Sozialhilfeempfänger geben auffällig öfter an, gewalttätig geworden zu sein. Umso höher der soziale Status der Befragten war ..., desto niedriger war die Anfälligkeit für Gewalthandlungen.“ In einer auf umfassenden Aktenanalysen beruhenden Untersuchung zur Jugendgewalt kommen Pfeiffer/Wetzels (1999: 8) zu dem Ergebnis: "(D)ie Zunahme polizeilich registrierter Jugendgewalt in den neunziger Jahren (ist) zu etwa vier Fünfteln solchen Jugendlichen und Heranwachsenden zuzurechnen, die sozialen Randgruppen angehören." Dabei weisen sie zusätzlich darauf hin, dass die Zunahme der Deliktraten "weit" über das hinausgehe, "was durch eine Erhöhung der Anzeigebereitschaft erklärt werden könnte" (ebd., S. 5). Siehe auch Eckert/Willems (1993: 50, 53). Zum Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Gewaltkriminalität vgl. unten Kap. 6.4. Häufig zitierte Studien sind immer noch die von Blau/Blau (1982), Braithwate/Braithwaite (1980), Fiala/LaFree (1988); s. auch E. Currie (1997), O. James (1995) sowie den Sammelband von Hagan/Peterson (1995). Hinzuweisen ist auch auf die Metaanalyse von 34 Untersuchungen in Hsieh/Pugh (1993). Daly/Wilson/Vasdev (2001) kommen in ihren Analysen zu dem Befund, die unterschiedlichen Niveaus der Einkommensungleichheit in Kanada und den USA reichten aus, um zu erklären, warum die Homizidrate in den USA sehr viel höher ist als in Kanada. In Deutschland haben z. B. Friedrichs (1985) auf der Basis von Aggregatdaten aus 62 Großstädten und Ohlemacher (1995) auf der Basis von Daten aus knapp 200 Städten und Landkreisen in NRW und Niedersachsen einen positiven Zusammenhang zwischen Armutsindikatoren und Delikthäufigkeiten bei Eigentumskriminalität und personenbezogener Gewalt festgestellt.
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Effekte sind z. B. schwächer, wenn die Betroffenen selbst ideologische oder religiöse Überzeugungen teilen, die Armut/Ungleichheit rechtfertigen. Die Neigung, kriminelle Gewalt einzusetzen, ist auch dann geringer, wenn sich trotz akut gegebener Deprivation die Lage erkennbar bessert, der Trend also in Richtung abnehmender Armut/Ungleichheit verläuft. Ungleichheit ist erträglicher, wenn es allen zunehmend besser geht und die Aufstiegsmobilität höher ist als die Abstiegsmobilität. Umgekehrt scheint soziale Ungleichheit kriminogene Wirkungen vor allem dann zu entfalten, wenn in der betreffenden Gesellschaft selbstbezogene Werte ("self-interested values") stark ausgeprägt sind (Halpern 2001: 247). Strukturell stabilisierte Ungleichheit mindert, wie schon erwähnt, das generalisierte Vertrauen und entfaltet auch auf diesem Wege kriminogene Wirkungen. G. Albrecht (2002: 771) weist darauf hin, dass die verschiedenen Kategorien von Gewaltdelikten in unterschiedlicher Weise mit sozialer Ungleichheit zusammenhängen. Theoretische Deutungen des Zusammenhangs zwischen den vielfältigen Formen sozialer Deprivation und (Gewalt-)Kriminalität stützen sich häufig auf Mertons AnomieKonzept, auf das wir aber erst in Abschnitt 6.5.3.4 ausführlicher eingehen wollen. Dieses Konzept ist in der kriminalsoziologischen Literatur mit einer Reihe anderer Ansätze verbunden worden, insbesondere mit verschiedenen Spannungs- und Stresstheorien (s. Adler/Laufer 1995). Auf diese konzeptuellen Erweiterungen und Differenzierungen können wir hier nicht näher eingehen (s. den Überblick in Messner/Rosenfeld 1997a: 44-57); einige der handlungstheoretisch angelegten Interpretationen sollen aber wenigstens kurz erwähnt werden. Besonders populär ist die Auffassung, Deprivation werde als "Frustration" erlebt, die aggressive Impulse freisetze, die zu spontanen Gewalthandlungen oder auch zu bewussten Konfrontationsstrategien führten (für eine elaborierte Fassung dieser Hypothese s. Blau/Blau 1982). Utilitaristische Ansätze betonen hingegen, den potentiell rationalen Charakter auch (gewalt-)krimineller Handlungen (s. Fajnzylber et al. 2002; Jacobs/ Carmichael 2002). Sie werden dann wahrscheinlicher, wenn der erwartete Nutzen (in Form eines "erworbenen", z. B. geraubten, Guts) im Vergleich zu den erwarteten Kosten (einschließlich möglicher Strafen) ansteigt. Zu den Kosten gehört auch der "moralische Verlust", der mit illegitimen Handlungen verbunden ist und dessen Gewicht individuell und situativ variiert. Je (relativ) ärmer eine Person ist, desto eher wird sich (durchschnittlich) die Kosten/Nutzen-Bilanz zu Gunsten illegaler Gewalthandlungen verschieben (zur Relevanz ökonomischer Anreize und Kosten-Nutzen-Erwägungen s. auch R. B. Freeman 1995). Ein Anstieg der Ungleichheit lässt folglich einen Zuwachs an Gewalt auch deshalb erwarten, weil die Normakzeptanz und die moralischen Hemmschwellen zurückgehen – nicht nur infolge wachsenden "Neids" (wie oft behauptet wird), sondern auch in Reaktion auf verletzte Gerechtigkeitsstandards. Jenseits der Dichotomie von affektgebundenem versus rational-instrumentellem Handeln operieren Theorien, die den expressiven, symbolischen Charakter menschlichen Handelns betonen. Die mit Armut und anderen Formen der Deprivation häufig verbundene Erfahrung eines "Anerkennungsverlusts" (s. Anhut/Heitmeyer 2005) und der Erniedrigung kann – insbesondere bei jungen Heranwachsenden – zu alternativen Vorstellungen von Ehre und Achtung führen, in denen (mangels anderer Mittel) körperliche Stärke und Kampfbereitschaft zu Kriterien der Selbst- und Fremdachtung werden (s. Anderson 1999; Findeisen/Kersten 1999). Eine interessante Hypothese hierzu entwickeln Wilkinson et al. (1998). Sie berichten über eine Reihe von Studien (meistens auf der Basis von Erhebungen in den US-Bundesstaaten), in denen ein starker Zusammenhang nicht nur zwischen Einkommensungleichheit und Homizidraten, sondern auch zwischen Einkommensungleichheit und Mortalitätsraten (bereinigt um die Homizidfälle) nachgewiesen wird. Dieser 180
Zusammenhang bleibt auch dann noch bestehen, wenn die Effekte durchschnittlicher Einkommenshöhe bzw. die Armutsquote (nebst einigen anderen Faktoren wie z. B. der Höhe der Gesundheitsausgaben) statistisch kontrolliert werden. Außerdem bestehen hohe Korrelationen zwischen der Homizidrate und der bereinigten Mortalitätsrate. Die Autoren bieten hierzu folgende Erklärung an: "... the most pressing aspect of relative deprivation and low relative income is less the shortage of the material goods which others have, as the low social status and the desperate lack of sources of self-esteem which usually goes with it. If social cohesion matters to health, then perhaps the component of it which matters most is that people have positions and roles in society which accord them dignity and respect. We infer this from the fact that it is violence rather than property crime which varies so closely with income distribution, social trust and mortality. Unlike theft, which is in a sense a relationship with property, violence is a much more intensely social crime and seems above all to express a lack of adequate internal and external sources of self-esteem dignity and social satus" (ebd., S. 594). Sie verweisen auf mehrere ethnologische Studien, die physiologische Folgen chronischen Stresses dokumentieren und unterstützen ihre Interpretation mit eindrucksvollen ethnografischen Belegen. Unter anderem zitieren sie aus dem Bericht eines langjährig praktizierenden Gefängnis-Psychiaters: "I have yet to see a serious act of violence that was not provoked by the experience of feeling shamed and humiliated, disrespected and ridiculed, and that did not represent the attempt to prevent or undo this ‚loss of face‘ – no matter how severe the punishment, even if it includes death" (ebd., S. 589). Die Chance, von der Rolle des Unterlegenen in die des Überlegenen wechseln zu können, ist besonders groß gegenüber anderen "Schwachen". Gewalt wird dann nicht zuletzt gegen Angehörige anderer benachteiligter Gruppen (wie Fremde, Ausländer) eingesetzt, mit denen man im Kampf um Anerkennung und Status unmittelbar konkurriert. Dabei werden Ehrkonzepte häufig hierarchisiert, mit Sündenbocktheorien verbunden und in Ideologien der "Ungleichwertigkeit" (verschiedener Ethnien oder sonstiger sozialer Gruppen) verankert. Diese Prozesse sind in jüngerer Zeit vor allem bei der Erforschung rechtsextremer Gewalt beobachtet worden (s. den Überblicksartikel von Heitmeyer 2002a). Über diese Route ergeben sich auch Verbindungen zu den traditionsreichen Ansätzen über "deviante Subkulturen" (s. Lamnek 1993), die darauf aufmerksam machen, dass "Devianz" nicht nur als Normen verletzendes, sondern gleichzeitig auch als normenkonformes Handeln auftritt – konform zu den Regeln der eigenen Subkultur, die aber in Widerspruch zu denen der dominanten Kultur stehen können. 6.1.3
Fazit
Die Überlegungen dieses Kapitelabschnitts lassen sich wie folgt zusammenfassen: Obwohl die Forschungslandschaft etwas unübersichtlich ist und teilweise widersprüchliche Befunde vorliegen, zeichnet sich insgesamt eher eine Bestätigung als eine Widerlegung der folgenden Thesen ab: a)
Die wohlfahrtsstaatlichen Arrangements, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschaffen worden sind, haben in dieser Zeit die wirtschaftliche Entwicklung nicht behindert, sondern gefördert. b) Gefördert haben sie außerdem die Entwicklung einer spezifischen, nicht partikularistisch eng geschlossenen Form des Sozialkapitals. 181
c)
Sie haben absolute Armut nahezu beseitigt, relative Armut und soziale Ungleichheit erheblich eingeschränkt. d) Auf diese Weise haben sie den Anstieg der Gewaltkriminalität nicht verhindert, aber vermutlich eingedämmt. Für diese Vermutung werden in den folgenden Abschnitten weitere Belege beigebracht. Zunächst wollen wir untersuchen, ob die verschiedenen Varianten der wohlfahrtsstaatlichen Ordnungen in England, Schweden und Deutschland bei der Förderung des Sozialkapitals und der Begrenzung der Ungleichheit in der theoretisch zu erwartenden Weise in unterschiedlichem Maße erfolgreich waren. 6.2 6.2.1
Zur Performanz der wohlfahrtsstaatlichen Regime in Deutschland, Großbritannien und Schweden Typologische Differenzierung wohlfahrtsstaatlicher Ordnungen
6.2.1.1 Überblick Es liegen zahlreiche Versuche vor, die wohlfahrtsstaatlichen Ordnungen verschiedener Länder nach bestimmten Kriterien zu klassifizieren, die Klassifikationsmerkmale zu Typologien zu bündeln und die einzelnen Länder den so konstruierten idealtypischen Kategorien ("Wohlfahrtsregime") zuzuordnen (für einen Überblick siehe Abrahamson 1999). Der wohl einflussreichste Versuch dieser Art stammt von dem dänischen Sozialforscher Gösta Esping-Andersen (1990), der Merkmale sozialpolitischer Programme bezüglich ihrer (mutmaßlichen) Konsequenzen für die "Solidarität" (Niveau und Formen intersubjektiver Anerkennungsbeziehungen) einer Gesellschaft charakterisiert. Wir werden uns im Folgenden primär an seiner Typologie orientieren, die drei Gruppen von Wohlfahrtsstaaten unterscheidet (und die der Auswahl der drei Vergleichsländer unserer Studie zugrunde lag), dabei aber auch einige Überlegungen berücksichtigen, die Korpi/Palme (1998) zur Konstruktion einer Fünfer-Typologie geführt haben. Unter den analytischen Kriterien, die diesen Vorschlägen zugrunde liegen, scheinen uns im Hinblick auf die Gewichtung von kooperativem versus desintegrativem Individualismus die folgenden besonders relevant zu sein: (1) Universalistische versus selektive Zugangsberechtigung Universalistische Programme gewähren allen Staatsbürgern (oder sich legal im Lande aufhaltenden Personen) gleichermaßen Zugang zu den von ihnen spezifizierten Leistungen (wenn der im Programm definierte "Anlass", z. B. eine Erkrankung, eingetreten ist); selektive Programme erfassen dagegen nur bestimmte soziale Kategorien bzw. behandeln verschiedene Personengruppen bei gleichen Anlässen in unterschiedlicher Weise. Das deutsche System der Sozialversicherung z. B. ist nicht universalistisch angelegt; seine Leistungen sind nicht nur an Art und Dauer vorgängiger Erwerbstätigkeit gekoppelt, sondern es gelten für verschiedene Berufs- und Statusgruppen auch unterschiedliche Regeln. Diese Form der Sozialversicherung (von Korpi/Palme 1998 als "korporatistisch" klassifiziert) bestätigt somit das gegebene System ökonomischer und sozialer Schichtung. Universalistisch ausgerichtet ist dagegen auch in Deutschland die Sozialhilfe, auf die im Falle einer durch andere Programme (und eigene Mittel) nicht abgedeckten Bedürftigkeit alle 182
Staatsbürger (und in eingeschränktem Maße auch andere Personen) einen Rechtsanspruch haben. Allerdings wird der universalistische Charakter der Sozialhilfe und ähnlicher Programme der "social assistance" in anderen Ländern gelegentlich mit dem Argument bestritten, dass in ihnen ein Merkmal anderer universalistischer Programme fehlt: die Gruppe der potentiellen Leistungsempfänger ist in diesem Falle nicht identisch mit der Gruppe derer, die die Leistungen (mit ihren Steuern) finanzieren. Es empfiehlt sich u.E. jedoch nicht, die Übereinstimmung von Finanzierern und (potentiellen) Leistungsempfängern als definierendes Merkmal für Universalismus zu behandeln. Auch im korporatistischen deutschen System der Sozialversicherung finanzieren die potentiellen Leistungsempfänger über ihre lohnabhängigen Beiträge die jeweiligen Programme. Einige Autoren, wie z. B. Rothstein (2001b), bezeichnen als "universalistisch" nur solche Programme, deren Leistungen auch in der jeweiligen Höhe nicht vom Arbeitseinkommen abhängig sind ("flat rate"); andere wie z. B. Korpi/Palme (1998) binden das Attribut "universalistisch" ausschließlich an das staatsbürgerliche Zugangsrecht, auch wenn die Höhe der Leistung vom Verdienst abhängig ist bzw. eine verdienstbezogene Komponente enthält, wie z. B. im schwedischen Rentensystem. (2) Höhe und Qualität sowie Dauer der Leistungen ("Generosität") Nicht zuletzt vom Umfang der Leistungen (bei Dienstleistungen spielen auch andere Qualitätsmerkmale eine Rolle) hängt es ab, in welchem Maße sie Notlagen verhindern oder mildern und auf diesem Wege auch die materiellen Voraussetzungen für soziale Teilhabe sichern. (3) Bedürftigkeitsprüfung ("means testing") Das Kriterium der Bedürftigkeitsprüfung bezieht sich zum einen auf mehr oder weniger umfangreiche oder strikte Belege, die vom potentiellen oder aktuellen Leistungsempfänger individuell beigebracht werden müssen, damit überhaupt eine finanzielle Unterstützung oder eine Dienstleistung gewährt wird (z. B. ärztliche Atteste, Einkommensnachweise). Es bezieht sich zweitens auf Regeln, wonach die Leistungsgewährung überhaupt oder ihre jeweilige Höhe abhängig ist von Ressourcen (insbesondere Geld und Vermögen), über die der Antragsteller, u. U. auch seine nahen Verwandten, verfügen und die offenzulegen sind; wobei die Methoden der Offenlegung unterschiedlich rigoros sein können (bis hin zu häuslichen Kontrollbesuchen). (4) Grad der Dekommodifizierung Dieses Konzept bezieht sich auf das Maß, in dem Personen auch dann noch unabhängig von kontingenten privaten Hilfeleistungen ihren Lebensunterhalt bestreiten und am sozialen Leben teilnehmen können, wenn sie ihre Arbeitskraft nicht als "Ware" auf dem Arbeitsmarkt anbieten bzw. nicht anbieten können (Esping-Andersen 1990: 21 f.). Mit hoher Dekommodifizierung ist vor allem gemeint, dass Sozialleistungen, die physische Subsistenz und soziale Teilhabe sicherstellen, weitgehend unabhängig vom Erwerbsverlauf gewährt werden. Der in einem spezifischen Programm erreichte Dekommodifizierungsgrad ist umso höher, je weniger restriktiv die Bezugsvoraussetzungen festgelegt sind, je generöser die Leistungen bemessen sind und je umfassender der abgesicherte Personenkreis ist. Der Dekommodifizierungsgrad des Gesamtsystems bemisst sich an der Dekommodifizierungsleistung der einzelnen Programme plus dem Umfang der durch diese Programme abgedeckten Risiken. Der Begriff zielt also auf einen summarischen Index, in dem die unter Ziff. 1 bis 3 genannten Kriterien mit eingehen. (Auf Einzelheiten der Indexkonstruktion gehen wir hier aber nicht ein.) Das Konzept ist nicht frei von Ambivalenzen. Seine ursprüngliche Formulierung scheint eine Anreizstruktur zu propagieren, die möglichst viele Menschen vom Arbeitsmarkt fern hält. Aber es ist offenkundig, dass 183
generöse Sozialprogramme nur finanziert werden können, wenn möglichst viele Menschen arbeiten. Das Prinzip der Dekommodifizierung muss also zwei Komponenten verbinden: erstens, eine großzügige Absicherung für den Fall, dass jemand nicht in der Lage ist oder sich nicht in der Lage sieht, seine Arbeitskraft auf dem Markt anzubieten; zweitens, ein Angebot an Dienstleistungen und positiven Anreizen, die den einzelnen befähigen und motivieren, am Erwerbsleben teilzunehmen. Schweden z. B. bietet einerseits einen hohen Grad an Dekommodifizierung (s. unten) und hat gleichzeitig eine hohe Erwerbsquote, insbesondere einen hohen Anteil erwerbstätiger Frauen (s. Kap. 4). Esping-Andersen (1990: 69-77) konstruiert auf der Basis dieser (und einiger anderer) Kriterien drei Typen von "Wohlfahrtsregimen":180 (1) Liberale Wohlfahrtsstaaten, in denen die Unterstützungsleistungen in größerem Umfange als in den beiden anderen Regimetypen aufgrund nachgewiesener Bedürftigkeit gewährt werden. Die Leistungen sind in der Regel sehr knapp bemessen und eng befristet; der Dekommodifizierungsgrad ist gering. Staatsbürgerschaft einerseits und individuelle, erwerbsabhängige Beiträge andererseits spielen als Basis der Zugangsberechtigung in den einzelnen Ländern und Leistungsprogrammen unterschiedlich starke Rollen. In Großbritannien, das diesem Typus zugeordnet wird181, umfasst die "National Insurance" (NI) vor allem die Arbeitslosen-, Renten-, Unfall- und Invaliditätsversicherung sowie eine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Die entsprechenden Programme bieten wenig generöse Leistungen, die mittels individueller Beiträge finanziert werden, deren Höhe nach dem Einkommen gestaffelt ist. Die Erwerbstätigen sind nach verschiedenen Kategorien eingeteilt (Männer vs. Frauen, abhängig versus selbständig Beschäftigte). Beitrags- und Leistungshöhe variieren zwischen den Kategorien, waren aber ursprünglich innerhalb der Kategorien für alle Versicherten gleich. Schrittweise ist das System fester Beitrags- und Leistungssätze modifiziert worden. In einigen Versicherungssparten sind inzwischen sowohl die Beiträge als auch die Leistungen, abhängig vom Einkommen, in ihrer Höhe gestaffelt (bis zu einem Deckelbetrag). In dem nationalen Versicherungssystem sind sowohl die Arbeitnehmer als auch die Selbständigen ab einem bestimmten Einkommen pflichtversichert und anspruchsberechtigt. Erreichen sie diese Einkommensgrenze nicht, fallen sie in den Zuständigkeitsbereich der Sozialhilfe (social assistance). Selbständige sind allerdings nicht gegen Arbeitslosigkeit versichert, und ihre Rentenansprüche (innerhalb der NI) sind niedriger als die der abhängig Beschäftigten. Aber die Leistungen sind insgesamt relativ bescheiden, sodass der Kreis der bedürftigen Personen, die keinen oder einen nicht ausreichenden Anspruch auf Leistungen der NI haben, groß ist (s. unten). Für sie bleibt
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Zur Kritik siehe bspw. Castles/Mitchell (1993); Berthoud/Iacovou (2004). Vgl. z.B. Esping-Andersen (1990: 52). Allerdings stellt das britische System keine idealtypische Ausprägung des liberalen Typs dar, da es noch aus der Periode unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg stammende universalistische Elemente enthält, wie sie für Wohlfahrtsstaaten (z.B. Schweden) typisch sind, die sich – im Gegensatz zu Großbritannien – später zu sozialdemokratischen Systemen weiterentwickelten. Das britische Alterssicherungssystem bezeichnet Esping-Andersen z.B. als „real mixed case“ (ebd., S.87).
lediglich der Anspruch auf eine bedarfsgeprüfte Sozialhilfe (ähnlich wie in Deutschland), die gegebenenfalls durch eine – ebenfalls bedarfsgeprüfte – Invaliditätsrente ergänzt werden kann. Das zweite zentrale Leistungssystem des britischen Sozialstaats ist das im "National Health Service" organisierte und durch Steuern finanzierte, für alle Einwohner grundsätzlich kostenlose Gesundheitswesen (mit den allseits bekannten Leistungsdefiziten). (2) Konservative Wohlfahrtsstaaten, wie z. B. Deutschland, binden ihre relativ großzügigen und überwiegend nicht bedarfsgeprüften Leistungen bei den zentralen Programmen der Sozialversicherung an die Erwerbstätigkeit und die damit verknüpften Beitragszahlungen. Sie schließen also NichtErwerbstätige aus und versorgen die gering bzw. partiell Beschäftigten mit geringeren Leistungen – es sei denn, dass sie als Ehepartner oder Kind "mitversichert" sind (weitgehende Fixierung auf den männlichen Familienernährer). Der Familienstatus spielt auch eine Rolle bei bestimmten bedarfsgeprüften Programmen, insbesondere bei Pflegeleistungen und Sozialhilfe, die nur in dem Maße gewährt werden, wie Ehepartner, Kinder oder Eltern ihre bedürftigen Familienangehörigen nicht (ausreichend) unterstützen können. Die zentralen Programme sind nicht nur familienzentriert, sondern für unterschiedliche Berufs- und Statusgruppen (wie Selbständige, Beamte, Handwerker, Arbeiter) auch unterschiedlich ausgelegt nach dem Prinzip, im Falle der eingetretenen Bedürftigkeit den zuvor erreichten Status möglichst weitgehend zu erhalten182. In den letzten Jahrzehnten sind größer werdende Versorgungslücken für bestimmte Risiken und bestimmte Personengruppen entstanden (nicht sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, alleinerziehende Mütter, bestimmte Gruppen von Selbständigen, Immigranten); die Zahl derer, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, hat beträchtlich zugenommen (s. unten). (3) In sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten, zu denen insbesondere Schweden gehört, sind die Leistungsprogramme überwiegend universalistisch ausgerichtet und generös ausgestattet (mit verdienstbezogenen Zusatzkomponenten). Das Spektrum der abgesicherten Risiken ist relativ umfassend, die Bedarfsprüfungen finden nur bei wenigen Programmen oder Leistungskomponenten (insbesondere bei der Sozialhilfe) statt. Das System ist auf die Gleichstellung von Mann und Frau ausgerichtet; der Anteil der Dienstleistungen (und damit die aktivierende, Beschäftigung ermöglichende Komponente) ist – relativ zu den monetären Zuwendungen – erheblich höher als in den anderen Regimetypen (allerdings hat Großbritannien diese Komponente in jüngerer Zeit deutlich verstärkt). Das soziale Sicherungssystem Schwedens ist zum einen durch einen alle politischen Lager übergreifenden Egalitarismus und gesellschaftspolitischen Pragmatismus geprägt, zum anderen aber auch durch eine Tradition der Selbsthilfe, insbesondere im Bereich der Vorsorge gegen Arbeitslosigkeit und Krankheit. Unter zunehmendem fiskalischen Druck kam es in den 90er Jahren zu Reformen und
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Allerdings ist in Deutschland, insbesondere durch Reformen der 70er Jahre, der partikularistische und statusdifferenzierende Charakter des Sozialsystems auf der Ebene von Bezugsvoraussetzungen und Leistungen (nicht aber bei der Organisation der Programme) teilweise vermindert worden, bspw. durch die Angleichung der Rentenversicherung von Arbeitern und Angestellten und die Erweiterung des Personenkreises, der in die gesetzliche Renten- und Krankenversicherung einbezogen ist.
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Einschnitten, die die Generosität der Leistungen verringerten (aber immer noch auf vergleichsweise hohem Niveau hielten) und sowohl die Rolle der Familie als auch die des Marktes (bspw. auf dem Wege privater Zusatzversicherungen) wieder stärker akzentuierten (s. Palme et al. 2003: 119 ff.). Die zentralen Klassifikationskriterien dieser Typologie lassen sich hypothetisch in folgender Weise mit unserem Erklärungsschema verbinden: Das jeweilige sozialstaatliche Leistungssystem realisiert die Prinzipien des kooperativen Individualismus umso eher, je stärker die Merkmale "Universalismus", "Generosität" und "Dekommodifizierung" in ihm ausgeprägt sind; je selektiver es ausgerichtet ist und je rigoroser und umfassender die Bedürftigkeitsprüfungen ausfallen, umso weiter hat sich das System von diesen Prinzipien in Richtung eines desintegrativen Individualismus entfernt. Die universalistischen Systeme stützen eine Solidarität, die auf dem Reziprozitätsmodell beruht, in das alle einbezogen sind. Die korporatistischen, konservativen Systeme beruhen zwar ebenfalls auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit, installieren es aber in einer partikularistischen, tradierte Statusdifferenzen bewahrenden Weise. In anderen Worten, universalistische Systeme fördern Sozialkapital (s. oben) in seiner offenen, "brückenbildenden" Form (bridging); korporatistische Systeme beinhalten eine stärkere Komponente geschlossener (ausschließender) Vergemeinschaftung (bonding). Allerdings wird dieser Partikularismus im Falle des deutschen Korporatismus durch andere Strukturelemente durchbrochen, die außerhalb des Sozialversicherungssystems angesiedelt und auf politische Kooperation ausgerichtet sind (s. unten Abschn. 6.3). Programme, die auf spezifische Gruppen Bedürftiger abgestellt sind (targeted programmes), scheinen auf den ersten Blick ebenfalls eine Form des kooperativ-moralischen Individualismus im Sinne des altruistischen Solidaritätsmodells zu realisieren183. Dieses Potential wird aber tendenziell durch Diskriminierungs- und Stigmatisierungseffekte aufgehoben; sie treten umso stärker auf, je rigoroser die Bedürftigkeitsprüfungen ausfallen184. Bedürftigkeitsüberprüfungen beruhen auf Misstrauen und fördern Misstrauen (s. Kumlin/Rothstein 2005); sie laden zum Betrug ein. Außerdem machen sie einen Kontrollapparat nötig, der bestenfalls eine patriarchalisch-autoritäre Fürsorglichkeit implementiert und ansonsten Kosten verursacht, die u. U. kaum niedriger ausfallen als die finanziellen Schäden, die von missbräuchlicher Beanspruchung der Leistungen ausgehen185. Ein Gegenargument liegt ebenfalls nahe: Generöse universalistische Programme mit hohem Dekommodifizierungsgrad setzen falsche Anreize und fördern egoistisches Verhalten auf Kosten anderer (statt zu arbeiten, bezieht man "Stütze"). Dieses Argument ist weniger zwingend, als es auf den ersten Blick aussehen mag. Betrachtet man Sozialleistungen als "öffentliche Güter" in einer spieltheoretischen Perspektive, so lässt sich, wie
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Zur Unterscheidung von altruistischen und reziproken Solidaritätsformen s. Thome (1998). Ein Beispiel hierfür liefern die Folgen der sog. „Hartz IV-Reformen“ in Deutschland, durch die Langzeitarbeitslose in das gleiche bedürfnisgeprüfte Unterstützungssystem eingegliedert wurden wie die Sozialhilfe-Empfänger. Seitdem sehen auch sie sich dem pauschalen „Schmarotzer“-Verdacht (siehe BILD v. 19. 10. 05) ausgesetzt. Selbst in einem Bericht des Bundeswirtschaftsministeriums wird mit dem Begriff des „Parasiten“ hantiert (s. Süddeutsche Zeitung v. 20. 10. 05). Bezüglich anderer kontraproduktiver Folgen sei erneut auf den Artikel von Voges (1999) hingewiesen.
Rothstein (2001b) gezeigt hat, aus der Perspektive nutzenorientierter Akteure sowohl ein System selektiv gewährter minimaler Leistungen als auch ein generös-universalistisches System ableiten (multiple equilibria situation). Ist ein universalistisches System ohne (oder überwiegend ohne) Bedürftigkeitsprüfungen erst einmal etabliert, tendiert es wegen der in ihm implementierten Prozeduren (procedural justice) dazu, jenes generalisierte Vertrauen (sowohl in die Arbeitsweise der Institutionen als auch in die Kooperationsbereitschaft der Mitbürger) zu erzeugen, das die eigene Kooperationsbereitschaft fördert (Konzept des contingent consent – Rothstein 2001b: 222 ff.). Auf diese Weise wird die Neigung zu missbräuchlichem Verhalten gemindert (weil man sich darauf verlässt, dass man selbst nicht übervorteilt wird). Für die Plausibilität dieser These spricht das hohe Niveau interpersonalen Vertrauens, das sich in Schweden (oder auch in Norwegen) – bspw. im Vergleich zu Großbritannien – per Umfragen ermitteln lässt (s. unten, Abschn. 6.2.2.5). Ist dagegen ein selektives System mit Bedürftigkeitsprüfung etabliert, in dem Leistungsfinanzierer mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Leistungsempfänger sein werden (weil sie voraussichtlich nie zu den Bedürftigen gehören werden), sind die Anreize zum Betrug (um eigene Leistungsbeiträge zu umgehen oder Leistungsbewilligungen zu erschleichen) besonders groß (schließlich kann man voraussetzen, dass andere auch betrügen). Außerdem besteht ein ständiger Druck, den Kreis der Leistungsempfänger und die Höhe der Leistungen zu kürzen, also eine "Unterschicht" (underclass) auszugrenzen (vor der man sich dann wieder fürchten kann usw.). Auch bezüglich der Verteilungswirkungen, die von den verschiedenen Systemen ausgehen, ergeben sich einige kontraintuitive Einsichten. In ihrem Aufsatz "The Paradox of Redistribution" weisen Korpi/Palme (1998) nach, dass Programme, die lediglich an die akut Bedürftigen adressiert sind, im Endeffekt geringere Verteilungswirkungen erzielen als Programme, die die gesamte Bevölkerung umfassen (für weitere Befunde hierzu vgl. Birkel 2006). Auch ist es nicht zwingend, dass Systeme, die einkommensunabhängige gleiche Leistungen für alle gewähren (flat rates), wirksamer umverteilen als verdienst- bzw. beitragsabhängige Zuwendungen. In beiden Fällen muss der Budget-Umfang berücksichtigt werden, der für die Leistungsprogramme zur Verfügung steht. Korpi/Palme gehen davon aus, dass diese Budgets höher sind, wenn auch die Bessergestellten, die höhere Beiträge zahlen, zu den potentiellen Empfängern einer beitragsbezogenen Leistung gehören. Infolgedessen, so Korpi/Palme (1998: 672), haben die Bessergestellten nur geringe Anreize, das System zu verlassen (indem sie private Versicherungen abschließen); die Verteilungsmasse sei somit höher als im Grundsicherungsmodell. Der Verteilungseffekt insgesamt ergebe sich aber aus dem multiplikativen Zusammenspiel von Budgetumfang und Grad des low-income targeting. Allerdings bleibt bei diesem Argument unbeachtet, dass bei veränderter polit-ökonomischer Situation die Steuer- oder Beitragszahler auch zu der Überzeugung gelangen könnten, dass ihre Investitionen in private Versicherungen möglicherweise eine höhere Rendite bei vertretbarem Risikozuwachs einbringen. Solche Entwicklungstendenzen zeichnen sich inzwischen auch in Schweden ab. (Zur Effektivität und Effizienz der Umverteilung siehe ausführlicher Kap. 6.2.3.1.2) Bevor wir die Performanz der drei Wohlfahrtsregimes bezüglich der Sozialkapitalbildung und der Begrenzung von Ungleichheit etwas ausführlicher untersuchen, werfen wir zunächst einen kurzen Blick auf die Ausprägungen der Merkmalsdimensionen, die der Regimetypologie unmittelbar zugrunde liegen.
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6.2.1.2 Länderspezifische Ausprägung der typologischen Kriterien Ein grober indirekter Indikator für die Bedeutung bedarfsgeprüfter Programme ist der Anteil der Bevölkerung, der im Falle von Krankheit, Behinderung, Arbeitslosigkeit und Alter durch entsprechende Leistungssysteme ohne Prüfung persönlicher Ressourcen abgesichert ist. Daraus ergibt sich (als Komplementärgröße) der Anteil derjenigen Personen, die solche Ansprüche nicht geltend machen können und folglich auf bedarfsgeprüfte Programme angewiesen sind (soweit sie nicht privat vorgesorgt haben)186. Dieser Personenkreis war um 1960 in Deutschland noch größer als in England; bis 1980 (neuere Daten liegen nicht vor) wurde diese Differenz jedoch eingeebnet, siehe Tabelle 6.1. Seither dürfte sich nichts Entscheidendes an den relativen Positionen der Länder geändert haben187: In allen drei Ländern nahm der Anteil der Erwerbstätigen mit Anspruch auf Krankengeld etwas ab, in Deutschland und Großbritannien (dort jeweils etwas stärker) auch der Anteil mit Ansprüchen auf Leistungen der Arbeitslosenversicherung, während in beiden Ländern die Anteile der Personen im Rentenalter, die eine öffentliche Rente (aus der gesetzlichen Rentenversicherung oder als Beamtenpension) bezogen ("take-up rate"), zunahmen. In Schweden stieg dagegen der Anteil der im Falle der Arbeitslosigkeit abgesicherten Erwerbstätigen (Daten im "Comparative Welfare States Entitlement Data Set", vgl. Scruggs 2005). Tab. 6.1: Durchschnittlicher Bevölkerungsanteil mit Leistungsansprüchen für Krankheit, Behinderung, Arbeitslosigkeit und Rente (in Prozent der Bevölkerung von 15-65 Jahren), 1960 und 1980 Jahr
Deutschland
Vereinigtes Königreich
Schweden
1960
76
86
95
1980
87
86
95
Quelle: van Kersbergen (1995: 126).
Dabei ist allerdings zu bedenken, dass gerade in England (wie schon erwähnt) die Ansprüche auf Unterstützungsleistungen aus universalistischen Programmen noch nicht garantieren, dass diese für den Unterhalt ausreichen, ohne zusätzlich auf (bedarfsgeprüfte) Sozialhilfe angewiesen zu sein. Faktisch war dies dort seit jeher in großem Umfang der Fall, sodass man davon ausgehen muss, dass spätestens seit 1980 der Anteil bedarfsgeprüfter Unterstützungsleistungen in England erheblich höher ist als in Deutschland. In diese Richtung weist denn auch der Anteil der Ausgaben für Sozialhilfe (als dem wichtigsten der bedarfsgeprüften Programme) an allen Sozialausgaben: er ist in Großbritannien 1990/91 mit 31 Prozent deutlich höher als in Deutschland mit 12 Prozent und in Schweden mit 7 Prozent (Eardly et al. 1996: 34). Schweden hat also für den angegebenen Zeitraum (und vermutlich auch danach) den höchsten Anteil an Personen, die nicht auf bedarfsgeprüfte Programme angewiesen sind.
186 187
188
Esping-Andersen (1990) verwendet als Indikator den Anteil bedarfsgeprüfter Programme an allen Sozialausgaben, macht aber für Großbritannien keine Angaben. Zusammengefasste Absicherungsquoten liegen uns für spätere Jahre nicht vor, sondern nur entsprechende Quoten für einzelne Programme.
Die Generosität von Sozialleistungen, die als Ersatz für Einkommen konzipiert sind, wird üblicherweise durch sog. "Ersatzquoten" gemessen. Dabei wird die Höhe der Unterstützungsleistung, die ein durchschnittlich verdienender Industriearbeiter erhält, als Prozentanteil dieses Durchschnittsverdiensts ausgedrückt. Für Zwecke des Vergleichs zwischen Ländern und Zeitpunkten sind Nettoersatzquoten vorzuziehen, da es zwischen den Ländern und über Zeit Veränderungen in der Besteuerung der Einkommen wie auch der Sozialleistungen gibt (in Schweden z. B. sind die Sozialleistungen seit Anfang der 70er Jahre überwiegend steuerpflichtig, in Deutschland nicht). Tab. 6.2 Nettoersatzquoten der Rentensysteme (durchschnittliche Rente in Prozent des Nettoeinkommens des durchschnittlichen Industriearbeiters), 1960 und 1980 Jahr
Deutschland
Vereinigtes Königreich
Schweden
Alleinstehende
Paare
Alleinstehende
Paare
Alleinstehende
Paare
1960
52
47
24
36
28
42
1980
53
54
40
60
72
104
Quelle: van Kersbergen (1995:106). Tab. 6.3 Nettoersatzquoten der Rentensysteme für Männer (durchschnittliche Rente in Prozent des letzten Nettoeinkommens für Personen mit unterschiedlichem Einkommen), 2004 Männer mit Arbeitseinkommen Deutschland Vereinigtes Königreich Schweden von zuletzt 50% des Nettoeinkommens des durchschnittlichen Industriearbeiters
61,7
78,4
90,2
100% des Nettoeinkommens des durchschnittlichen Industriearbeiters
71,8
47,6
68,2
Quelle: OECD (2005c).
Bei den Rentenzahlungen hat Deutschland 1960 noch die höchsten Nettoersatzquoten vorzuweisen, 1980 sind sie bei Paaren sowohl für Großbritannien (leicht) als auch für Schweden (deutlich) höher; bei den Alleinstehenden liegt Deutschland zu diesem Zeitpunkt aber noch vor Großbritannien (s. Tab. 6.2). Für 2004 liegen Ersatzquoten getrennt für Männer mit einem Nettoeinkommen von 50 % des Durchschnittseinkommens und für Männer mit dem vollen Durchschnittseinkommen vor. In der ersten Gruppe hat Deutschland (mit 61,7 %) die niedrigste, in der zweiten die höchste Ersatzquote (mit 71,8 % noch leicht vor Schweden mit 68,2 %, s. Tab. 6.3)188.
188
Die relativ hohen Ersatzquoten in Großbritannien, wenn 50% oder (wie bei der im Folgenden dargestellten Ersatzquote für Arbeitslose) 2/3 des Einkommens eines Arbeiters die Bezugsgröße sind, erklärt sich aus dem Umstand, dass hier (anders als in Schweden) die Grundversorgungskomponente mit einheitlicher Leistungshöhe von erheblich höherer Bedeutung ist als einkommensabhängige Ergänzungen.
189
Im Falle der Arbeitslosigkeit von Industriearbeitern liegen Vergleichsdaten für das Jahr 1997 vor. Hier liegt Schweden bei den Ersatzquoten deutlich vorne (insbesondere bei Alleinerziehenden und Paaren mit Kindern). Die Rangfolge von Deutschland und Großbritannien wechselt, je nachdem, ob man die Gruppe der arbeitslos gewordenen Durchschnittsverdiener betrachtet, oder diejenigen, die vorher über ein Einkommen in Höhe von zwei Dritteln des Durchschnitts verfügten. Im ersten Falle liegt Deutschland vor Großbritannien, im zweiten Falle ist es umgekehrt, obwohl auch in Deutschland die Ersatzquoten für diese Gruppe leicht über denen der Durchschnittsverdiener liegen (s. Tab. 6.4). Tab. 6.4: Nettoersatzquoten der Leistungen an Arbeitslose während des ersten Jahres der Arbeitslosigkeit (durchschnittliche Leistungen in Prozent des letzten Nettoeinkommens für Personen mit unterschiedlichem Einkommen), 1997 Deutschland
Vereinigtes Königreich
Schweden
Letztes Einkommen in % des durchschnittlichen Industriearbeiters
100%
66,7%
100%
66,7%
100%
66,7%
Alleinstehende
60
69
50
73
72
77
Paare ohne Kinder
60
71
61
88
72
77
Paare mit 2 Kindern
74
74
64
83
84
90
Alleinerziehende mit 2 Kindern
71
78
54
69
95
96
Quelle: OECD (2002a).
Bei der Sozialhilfe (einschließlich Wohnbeihilfen) können Nettoersatzquoten in Prozent des Medians der äquivalenten Haushaltseinkommen angegeben werden. Sie liegen bei allen Personengruppen in Deutschland höher als in den beiden anderen Ländern; am höchsten ist sie bei Alleinstehenden (65,6 %), am niedrigsten bei Paaren mit zwei Kindern (54,1 %). In Schweden liegen die Ersatzquoten noch niedriger als in Großbritannien, am niedrigsten ist sie (mit 42 %) bei Alleinerziehenden mit zwei Kindern (Tab. 6.5). Eine frühere Untersuchung von Eeardly et al. ermittelt jedoch für das Jahr 1992 eine andere Rangfolge der Länder: Schweden weist hiernach die höchsten Werte auf, während die Quoten für Deutschland und Großbritannien nahe beieinander, aber deutlich unterhalb der schwedischen liegen (Eardley et al. 1996: 160). Da bei dieser Rechnung aber nicht der Median (wie in der OECD-Studie), sondern das (höhere) arithmetische Mittel als Bezugspunkt diente, ist nicht klar, wie weit die Ergebnisdifferenz dem Wechsel des Kriteriums oder den Konsequenzen der verschiedenen Reformmaßnahmen seit 1992 zuzurechnen ist. Insgesamt ergibt sich für unsere Untersuchungsperiode folgendes Bild: Die Sozialleistungen waren, gemessen an den Lohnersatzquoten, zunächst in Deutschland am höchsten; bis 1980 übernahm Schweden mit Abstand die Spitzenposition (allerdings nicht bei der Sozialhilfe). Deutschland behält den zweiten Platz; der Abstand zu Großbritannien ist aber bei diesem Indikator geringer als vielleicht erwartet. Im Zeitverlauf ist für Großbritannien nach einem Rückgang ab Mitte der 70er bis Mitte 80er Jahre eine Stabilisierung zu verzeichnen (eine Ausnahme stellten die Renten für den durchschnittlichen Arbeiter dar, deren Ersatzquote zunahm). Für Schweden war zunächst ein Anstieg der Lohnersatzquoten bis ca. 1980 zu beobachten, gefolgt von einer rückläufigen 190
Entwicklung, die beim Arbeitslosengeld erst in den 90er Jahren einsetzte. In Deutschland waren die Ersatzraten weitgehend stabil (Scruggs 2005: 24, 28, 30). Tab. 6.5: Nettoersatzquoten der Sozialhilfe 2001 (Sätze einschl. Wohnbeihilfen in % des Medians der äquivalenten Haushaltseinkommen) Haushaltstyp
Deutschland
Vereinigtes Königreich
Schweden
Alleinstehende
65,6
53,8
50,8
Paare ohne Kinder
59
47
47
Paare mit 2 Kindern
54,1
49,9
44,3
Alleinerziehende mit 2 Kindern
59
50
42
Quelle: OECD (2004b).
Zur Messung des Universalismusgrads liegen u. E. keine brauchbaren Indikatoren vor. Anders ist die Situation beim erreichten Niveau der Dekommodifizierung. Bei diesem mehrdimensionalen Konstrukt können wir auf einen von Lyle Scruggs und James Allan entwickelten Index zurückgreifen, der im Gegensatz zu Esping-Andersens ursprünglicher Skala nicht nur für ein Jahr (1980), sondern für die Jahre 1971-2002 vorliegt189 (Abb.6.1). 50,0 45,0 40,0 35,0 30,0 25,0 20,0 15,0 10,0 5,0
19 71 19 72 19 73 19 74 19 75 19 76 19 77 19 78 19 79 19 80 19 81 19 82 19 83 19 84 19 85 19 86 19 87 19 88 19 89 19 90 19 91 19 92 19 93 19 94 19 95 19 96 19 97 19 98 19 99 20 00 20 01 20 02
0,0
Deutschland
UK
Schweden
Abb. 6.1: Dekommodifizierungsindex von Scruggs und Allan, 1971-2002 Quelle: Comparative Welfare State Entitlement Data Set, vgl. Scruggs (2005), Scruggs und Allan (2006)
189
Zu einigen Abweichungen von Esping-Andersens Vorgehensweise bei der Konstruktion des Index und ihrer Begründung vgl. Scruggs/Allan (2006), Scruggs (2005).
191
Ebenso wie bei Esping-Andersen (1990: 52) weist Schweden den höchsten Dekommodifizierungsgrad auf: 1980 erreicht er einen Wert von 42,3 (Esping-Andersen: 39), gefolgt von Deutschland (29,1 bzw. 27,7) und Großbritannien (18,7 bzw. 23,4). Auffällig ist allerdings, dass der Abstand zwischen Deutschland und Großbritannien bei Scruggs und Allan deutlich größer ist als bei Esping-Andersen.190 Auch im Zeitverlauf weist Schweden durchgängig den höchsten Dekommodifizierungsgrad auf, wobei es seinen Vorsprung bis Mitte der 80er Jahre ausbaute; in den 90er Jahren kam es aber zu erheblichen Einschnitten, sodass der Indexwert 2002 nur noch wenig über dem des Jahres 1971 liegt. Eine ähnliche Entwicklung ist auch in anderen Wohlfahrtsstaaten des sozialdemokratischen Typs zu beobachten (Scruggs 2005: 15f.). Großbritannien nimmt durchgängig die Schlussposition ein, wobei es aber in der zweiten Hälfte der 70er Jahre, und erneut etwa ab der zweiten Hälfte der 90er Jahre zulegen und sich den beiden anderen Ländern annähern konnte191. Deutschland besetzt eine Mittelposition und zeigt wenig Variabilität, wobei aber seit den 90er Jahren ein moderater Rückgang zu beobachten ist, sodass der Dekommodifizierungsgrad nun unter demjenigen von 1973 liegt.192 Offenbar hat in Deutschland und Schweden eine Verschiebung zu Ungunsten des kooperativen Individualismus eingesetzt, der in Großbritannien noch nie sonderlich stark ausgeprägt war.193 Tabelle 6.6 fasst unsere Einschätzungen für die drei Länder zusammen. Insgesamt ist davon auszugehen, dass das schwedische Sozialsystem die verschiedenen Komponenten des kooperativen Individualismus stärker stützt als die beiden anderen Länder; Deutschland
190
191
192 193
192
Auch der Dekommodifizerungsindex von Alderson (1997) weist einen deutlich größeren Abstand zwischen Deutschland und dem Vereinigten Königreich aus als derjenige von Esping-Andersen. Allerdings weicht er in der Konstruktion erheblich von den Indizes von Esping-Andersen und Scruggs/Allan ab, da anstelle des Bedarfsfalls „Alter“ die Mutterschaft einbezogen wird (Alderson 1997: 67f.). Damit dürfte auch zusammenhängen, dass bei Aldersons Index Deutschland zunächst eine Spitzenposition einnimmt und sich eine andere Entwicklung im Zeitverlauf zeigt: Der Dekommodifizierungsgrad des schwedischen Systems steigt zunächst deutlicher, und für Deutschland ist anfangs noch eine leichte Zunahme zu beobachten, während die Werte für das Vereinigte Königreich Mitte der 70er Jahre bis Mitte der 80er Jahre eine deutlich sinkende Tendenz aufweisen und danach stabil sind. Dies erstaunt auf den ersten Blick etwas, da man eigentlich angesichts der Kürzungen von Sozialleistungen seit der Thatcher-Regierung ebenfalls einen abnehmenden Dekommodifizierungsgrad vermuten würde. Diese betrafen aber vorwiegend die Arbeitslosenversicherung und das Krankengeld, während die Einschnitte bei den Renten erst langfristig wirksam wurden und in der Untersuchungsperiode noch von den Auswirkungen vorhergehender Entscheidungen zum Ausbau des Systems (wie der ab 1975 schrittweise eingeführten einkommensbezogenen Zusatzrente) überlagert wurden. Daher wog die Zunahme bei Rentenersatzquoten und der „take-up-rate“ die sinkenden Maßzahlen bei Arbeitslosenversicherung und Krankengeld auf (aus den Charakteristika dieser drei Programme ist der Dekommodifizierungsindex konstruiert). Bei Verwendung der Scoring-Prozedur von Esping-Andersen wäre hingegen ein leichter Anstieg des Dekommodifizierungsgrades in Deutschland festzustellen. Hervorzuheben ist also insgesamt die relative Stabilität, während Aussagen über eine Zu- oder Abnahme mit Unsicherheiten behaftet sind. Die Bedeutung des Dekommodifizierungsgrades wird durch die Studie von Messner/Rosenfeld (1997b) unterstrichen. Diese haben den Dekommodifizierungsindex so weit vereinfacht, dass entsprechende Messergebnisse für mehr als 40 Länder verfügbar wurden. Mit Hilfe multivariater statistischer Analysemodelle konnten sie nachweisen, dass der Grad der Dekommodifizierung signifikant negativ (die Kommodifizierung also positiv) mit den Homizidraten korrelierte, und zwar unabhängig vom Ausmaß der Einkommensungleichheit (gemessen mit Hilfe des Gini-Koeffizienten) und einiger anderer struktureller Faktoren wie dem erreichten Grad der sozioökonomischen Entwicklung.
nimmt die mittlere Position ein. Festzuhalten bleibt allerdings, dass Schweden seit Anfang der 90er Jahre die stärkste Tendenz zu einer (partiellen) Rekommodifizierung zeigt. Tab. 6.6: Globale Merkmale des westdeutschen, schwedischen und britischen Wohlfahrtsstaates Deutschland
Vereinigtes Königreich
Schweden
Dekommodifizierung
Mittel
Gering
Hoch
Generosität
Hoch
Gering-moderat
Hoch
Bedürfnisprüfung
Gering-moderat
Hoch
Gering
Universalismus
Gering
Hoch
Hoch
6.2.2
Entwicklung des Sozialkapitals
Wir haben in Abschnitt 6.1.2.3 einige allgemeine Fragen des Zusammenhangs von "Sozialkapital" und "Wohlfahrtsstaat" erörtert. In diesem Abschnitt wollen wir anhand verschiedener Indikatoren die in den drei Ländern beobachtbaren Entwicklungstendenzen darstellen194. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Sozialkapital nicht nur von den aktuellen Ausprägungen der Sozialstruktur, sondern auch von kulturellen Traditionen und vermutlich auch von der Bevölkerungsgröße und Siedlungsstruktur mit geprägt ist, die in unseren Vergleichsländern unterschiedliche Rahmenbedingungen setzen. (Freilich lassen sich diese Einflüsse hier nicht quantifizieren.) Eine wichtige Komponente im Konzept des Sozialkapitals sind Mitgliedschaft und Engagement in bestimmten formalen Organisationen und verschiedenen anderen Formen freiwilliger Vereinigungen. Wir können hier nicht auf die vielfältigen und kontroversen Diskussionen eingehen, in denen erörtert wird, ob und wie sie jeweils dazu beitragen, verschiedene Varianten des Sozialkapitals zu generieren (siehe z. B. Anheier/Kendall 2000). Üblicherweise unterscheidet man zwischen den traditionalen, stark zentralisierten Groß-Organisationen (Kirchen, Gewerkschaften, andere Verbände und politische Parteien) und den vielgestaltigen kleinräumig organisierten Vereinigungen (wie Vereinen, Bürgerinitiativen und Selbsthilfegruppen), die andere Formen der Geselligkeit und des Engagements anbieten. Für unser Thema sind Kirchen, Gewerkschaften und politische Parteien von besonderem Interesse. Zum einen lässt sich für sie am ehesten die langfristige Entwicklung der Mitgliedschaftszahlen darstellen. Wichtiger ist jedoch eine theoretische Erwägung. In ihrer Gesamtheit verfügen diese Organisationen wegen ihres großen sozialen und räumlichen Einzugsgebietes über ein besonders weitgreifendes Integrationspotential (im Sinne des "überbrückenden" Sozialkapitals).195 Dies gilt auch dann noch, wenn man die Konkurrenz
194 195
Ausführlicher hierzu siehe für Großbritannien Hall (2001), für Schweden Rothstein (2001a), für Deutschland Offe/Fuchs (2001). „Beispielsweise waren diese Formen des Sozialkapitals besonders wichtig, um den weniger gebildeten und weniger wohlhabenden Gesellschaftsmitgliedern Stimme und Gewicht zu verleihen. Sie verkörperten
193
zwischen Kirchen, zwischen Parteien und zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden in Rechnung stellt, denn die gegensätzlichen Interessenlagen werden im Prinzip wechselseitig als legitim anerkannt und in einem Geflecht kooperativer Strukturen artikuliert, die grundsätzlich eine Kompromissbildung erlauben (wenigstens seit Mitte des vorigen Jahrhunderts, aber mit erheblichen Einschränkungen bezüglich des Klassenkonflikts in Großbritannien). Hinzu kommt, dass die Mitgliedschaft in Kirchen, Parteien und teilweise auch in Gewerkschaften, in der Regel nicht einem egoistischen Nutzenkalkül folgt; denn diese Organisationen stellen "Kollektivgüter" bereit, die auch diejenigen nutzen können, die keine (Mitgliedschafts-)Beiträge geleistet haben196. In fast allen ökonomisch fortgeschrittenen Ländern sind die Mitgliederzahlen in diesen Organisationen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gesunken. Putnam (2001: 770772) zitiert Studien, denen zufolge in den OECD-Ländern die Parteimitgliedschaft (gemessen am Umfang der Wählerschaft) seit Mitte der 60er Jahre von ca. 13 % auf unter 6 % bis Mitte der 90er Jahre abgefallen ist; die durchschnittliche Wahlbeteiligung reduzierte sich in dieser Zeit von rund 80% auf ca. 70%. Außer in den skandinavischen Ländern hat sich der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder unter den abhängig Beschäftigten in Europa (ähnlich aber auch in anderen OECD-Ländern) zwischen 1980 und 2000 von ca. 40 % auf unter 30% vermindert (ebd., S. 774). Stark rückläufig in den europäischen Ländern ist auch die Zahl der Kirchenmitglieder und hier vor allem derjenigen, die regelmäßig einmal wöchentlich zur Kirche gehen: Eine entsprechende Graphik in Putnam (2001: 776), die sich auf Daten der "Eurobarometer" Surveys (seit 1970) stützt, zeigt einen Rückgang von über 40 % auf unter 25 % bis Ende der 90er Jahre197. Jagodzinski/Dobbelaere (1995: 91) weisen, unter Rückgriff auf zusätzliche Daten, darauf hin, dass sich der entscheidende Einbruch in der "Kernmitgliedschaft" der großen protestantischen Kirchen in Großbritannien, Dänemark, Holland und (in schwächerem Ausmaß) in Westdeutschland bereits in den 1960er Jahren vollzog, als der Durchschnittswert in diesen Ländern auf etwa 10 Prozent
196
197
194
auch breitere soziale Zwecke ... nicht nur in ihren verbalen Zielsetzungen, sondern auch im Leben der einzelnen Aktivisten ... Ihr Niedergang könnte deshalb mit dem Schwund des sozialen Vertrauens zusammenhängen, der selbst in Ländern wie Großbritannien auftritt, in denen die Mitgliedschaft in Vereinigungen als solche offenbar nicht rückläufig ist“ (Putnam 2001: 780). Flora (1979: 120) weist ebenfalls darauf hin, dass die balancierende Funktion intermediärer Institutionen eher von Großorganisationen als durch Selbsthilfegruppen wahrgenommen wird. Der Hinweis, die Kirchenmitgliedschaft resultiere aus dem Ziel, für sich selbst das Seelenheil zu erlangen, taugt nicht als Gegenargument, da im kirchlichen Verständnis das Seelenheil mit dem gemeinschaftlichen „Dienst am Nächsten“ verbunden ist, wobei „der Nächste“ durchaus nicht ein Kirchenmitglied sein muss. Es zeigt sich ja auch, dass Kirchenmitglieder bei den freiwillig Engagierten (s. unten) besonders stark vertreten sind. Psychologische Motive im engeren Sinne spielen in unserer Argumentation im übrigen keine Rolle. Bezüglich der Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft muss im Falle Schwedens berücksichtigt werden, dass die Gewährung von Arbeitslosenunterstützung an sie gebunden ist. Bezüglich der britischen Gewerkschaften ist auf die (in den 80er Jahren verbotene) Praxis der „closed shops“ hinzuweisen; hierbei handelte es sich um Vereinbarungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern, welche vorsahen, dass nur Gewerkschaftsmitglieder eingestellt werden durften. Auf die Differenz von „Kirchlichkeit“ und „Religiosität“ gehen wir hier nicht ein.
sank198. In der katholischen Kirche verlief der Rückgang allmählicher und mit erheblichen nationalen Differenzierungen. Im Folgenden gehen wir etwas ausführlicher auf die Entwicklung in unseren drei Vergleichsländern ein, zunächst bezüglich der Unterstützung politischer Parteien. 6.2.2.1 Politische Parteien und Wahlbeteiligung In der Bundesrepublik Deutschland stieg bei den dominanten Parteien die Mitgliedschaft zwischen 1952 und 1975 stark an; bei der CDU bspw. von 200.000 auf 590.000, bei der SPD von 627.000 auf fast eine Million. Die CDU konnte ihren Bestand bis 1983 weiter erhöhen (auf 735.000), der sich dann aber bis 1989 auf 663.000 reduzierte. Bei der CSU gab es einen besonders steilen Anstieg zwischen 1970 (77.000) und 1980 (172.000); ab 1983 blieb das Niveau bis 1990 ziemlich stabil bei 185.000 Mitgliedern; auch nach 1990 ist es nur leicht abgefallen auf 180.000 im Jahre 1997. Bei der SPD sinkt die Zahl der Mitglieder bis 1989 auf 921.000. Für die FDP zeigt sich, auf niedrigerem Niveau, eine stärker abfallende Tendenz: von dem Höchswert 87.000 (1981) bis zum vorläufigen Tiefstwert von 65.000 (1989). Für die "Grünen" werden 1980 18.000 Mitglieder gezählt, deren Zahl bis 1987 auf 42.000 ansteigt; 1989 sind es 38.000 (alle Angaben nach Ismayer 1999). Nach der Wiedervereinigung geht es für die drei traditionalen Parteien weiter abwärts. Zwar gewinnt die CDU in den neuen Bundesländern 1990 145.000 Mitglieder hinzu (Gesamtzahl 784.000); 1997 hat sie im Osten aber nur noch 63.000 und insgesamt 632.000. Die SPD gewinnt in den neuen Bundesländern nur 27.000 Mitglieder; dieser Bestand bleibt aber bis 1997 erhalten; insgesamt geht die Mitgliedschaft in dieser Zeit jedoch auf 778.000 zurück. Die FDP gewinnt im Osten zunächst fast 114.000 Mitglieder hinzu (Mitgliedschaft insgesamt: 178.000), deren Zahl bis 1997 auf unter 20.000 sinkt; insgesamt sind es dann nur noch 71.000. Die Grünen können ihre Mitgliedschaft nach der Wiedervereinigung vor allem in Westdeutschland erhöhen; 1997 werden insgesamt 49.000 Mitglieder gezählt, davon nur knapp 3.000 in Ostdeutschland. Die PDS schließlich startet 1990 mit 200.000 Mitgliedern, deren Zahl sich bis 1997 auf 98.000 (davon ca. 2000 westdeutsche) vermindert. Über alle Parteien hinweg betrachtet, bleibt als Fazit: In den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik konnten sie sich auf wachsende Mitgliedschaften stützen; seit etwa 1980 haben sich diese Bestände (vom Wiedervereinigungseffekt abgesehen) ziemlich kontinuierlich abgebaut, und zwar um rund 20 Prozent, wenn man nur die alten Bundesländer betrachtet. Wenn man die Parteimitgliedschaft auf den Umfang der Wahlbevölkerung bezieht, so waren 1980 in der Bundesrepublik 4,5 % der Wahlberechtigten Mitglieder einer politischen Partei; 1999 waren es in Gesamtdeutschland nur noch 2,9 % (Mair/van Biezen 2001: 15). Parallel zum Mitgliederschwund hat in der Bevölkerung auch die Identifikation
198
Dies ist ein weiteres Indiz, das unsere Annahme eines besonders rapiden sozialen und kulturellen Wandels in dieser Periode stützt. In spezifischen protestantischen Denominationen blieb der Kernbestand hochintegrierter Mitglieder allerdings weitgehend erhalten, insbesondere bei den Neo-Calvinisten in Holland (ebd.).
195
mit einer Partei nachgelassen: in der Wahlstudie 1972 gaben noch 55% der Befragten an, sich "stark" oder "sehr stark" mit einer Partei zu identifizieren, 1976 waren es nur noch 47%, 1983 39%; nach einer vorübergehenden Stabilisierung sank die starke Parteiidentifikation 1994 auf 36% (Scarrow 2002: 82). Dalton et al. (2002: 26) geben für die Jahre 1972-1998 eine durchschnittliche Abnahme des entsprechenden Anteilswertes um jährlich knapp 0,6% an. In Großbritannien ist der Rückgang bei den drei zentralen Parteien (Labour, Conservatives, Liberals) noch wesentlich stärker, und er setzt schon in den 50er Jahren (bei den Konservativen erst in den 60er Jahren) ein: 1964 zählt Labour 830.000 individuelle Mitglieder199, 1983 295.000, 1997 420.000 und 2001 361.000 (diese und weitere Zahlen zu Großbritannien aus Webb 2002: 24)200. Bei den Konservativen ist der Rückgang noch dramatischer: von 2.150.000 im Jahre 1964 auf 350.000 im Jahre 1997. Bei den Liberals sinken die Zahlen in diesem Zeitraum von 279.000 auf 100.000. In der Summe ergibt das für Großbritannien einen Rückgang der Parteimitgliedschaften von über 70 Prozent seit Mitte der 60er Jahre.201 Besonders stark ist der Rückgang seit 1980: bis 1998 halbieren sich die Mitgliedschaftszahlen. Gemessen an der Größe der Wahlbevölkerung (die in dieser Zeit um fast 3 Mill. zunimmt), sinkt der Mitgliedschaftsanteil von 4,1 % auf 1,9 % (Mair/van Biezen 2001: 16). Allerdings ist dieser Trendverlauf auch dadurch beeinflusst, dass sich die Definition von "Mitgliedschaft" geändert hat und Reformen bei der Verwaltung der Mitgliederstatistiken durchgeführt wurden (s. Detterbeck 2002: 311 ff.). Der Trend spiegelt sich allerdings auch im Anteil derer, die sich stark mit einer Partei identifizieren. Laut Umfragedaten ist der Anteil der "very strong identifiers" von 44 % im Jahre 1964 auf 13 % im Jahre 2001 gesunken (Webb 2002: 20). Schwierig zu kalkulieren ist die Entwicklung der Parteimitgliedschaften in Schweden, da direkte und assoziierte Mitgliedschaften nicht immer getrennt wurden. Dies betrifft insbesondere die sozialdemokratische Partei (SAP); denn bis Ende der 80er Jahre implizierte die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft i.d.R. die Mitgliedschaft in der SAP. Betrachtet man die direkte Mitgliedschaft bei den anderen Parteien auf der Basis der Zahlen, die A. Widfeldt (1999) hierzu präsentiert, so ergibt sich zwischen 1960 und 1990 ein Rückgang um etwa 30 Prozent. Seit 1991 liegen für alle Parteien Angaben über direkte Mitgliedschaften vor (ebd.). Demnach lässt sich für den Zeitraum zwischen 1991 und 1998 ein weiterer Mitgliedschaftsverlust um knapp 29 % feststellen. Laut Mair/van Biezen (2001: 16) sinkt der Anteil der Mitglieder an der Wahlbevölkerung in dieser Zeit von ca. 8 auf 5,5 Prozent, bleibt damit aber deutlich über dem britischen und deutschen Niveau.
199 200 201
196
1979 wurden 666.000 individuelle und 6,5 Millionen „korporative“ Mitglieder (über angeschlossene Organisationen, vor allem Gewerkschaften) gezählt (Detterbeck 2002: 312). Diese Zahl für 1997, die wesentlich höher liegt als die von der Partei genannte, ist umstritten, worauf die Autoren selbst hinweisen; 1992 wurden nur 280.000 Mitglieder registriert. Laut Katz et al. (1992) halbieren sich die Mitgliedschaftszahlen zwischen 1979 und 1990 von 666.000 auf 311.000. In den Selbstauskünften zu Mitgliedschaften in politischen Parteien oder politischen Vereinigungen zeigt sich laut den Umfragen des „Eurobarometer“ ab 1975 ein deutlich geringerer Rückgang (s. Brettschneider/Ahlstich/Zügel 1994: 581). Die aus den Umfragen gewonnenen Zahlen sind aber, auch bei anderen Ländern, insgesamt so instabil, dass sie uns für weitreichende Schlussfolgerungen nicht geeignet erscheinen.
Besonders gravierend ist der Rückgang bei den Sozialdemokraten, deren Mitgliederzahlen zwischen 1991 und 2004 von 260.346 auf 136.335 zurückgehen, sich also fast halbieren202. Nicht nur die Mitgliedschaft in, sondern auch die Identifikation mit den Parteien hat deutlich nachgelassen: in Umfragen gaben 1960 noch 52% der Befragten an, sich stark mit einer Partei zu identifizieren, zehn Jahre später waren es noch 33%. In den 70er und 80er Jahren fluktuierte der entsprechende Anteil zwischen 30% und 35%, um gegen Ende der 80er Jahre auf 27% zu sinken (Pierre und Widfeldt 1992: 789f.). Nach Dalton et al. (2002: 26) sank der Anteil der sich stark mit einer Partei identifizierenden Befragten 1968 bis 1998 um durchschnittlich gut ein halbes Prozent jährlich. Der Rückgang der Mitgliedschaften in den Parteien deckt sich nicht mit der langfristigen Entwicklung der Wahlbeteiligung. Die Beteiligung bei nationalen Parlamentswahlen steigt in der BRD ab 1949 (78,5 %) bis 1972 (91,1 %) und 1976 (90,7 %) um mehr als 10 % an und fällt danach um etwa 10 % wieder ab (1994: 79 %, 1998: 82,3 %; 2002: 79,1 %). In Schweden ist der Trendverlauf ganz ähnlich: 1952 wird eine Beteiligungsquote von 79,1 % registriert, 1976 sind es 91,8 %, 1982 91,4 % und 1998 80,3 Prozent. Etwas anders sieht die Entwicklung wiederum in Großbritannien aus, wo 1950 die Beteiligung bei 84 % liegt und seitdem mit Unterbrechungen, aber relativ stetig um mehr als 10 % absinkt, 1997 waren es 71,2 Prozent (Zahlennachweise in Ismayer 1999: 426; Jahn 1999: 108; Sturm 1999: 234). 6.2.2.2 Gewerkschaften Beim Vergleich der Mitgliedschaftsentwicklung in den Gewerkschaften ist zu beachten, dass sich deren Organisationsformen erheblich voneinander unterscheiden. In Schweden ist, wie schon erwähnt, die Arbeitslosenversicherung an die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft gebunden, was deren starker Tradition der Selbsthilfe entspricht203. Während in Schweden und Deutschland die Gewerkschaften auf nationaler Ebene zentral organisiert sind, agieren in Großbritannien neben verschiedenen nationalen Dachorganisationen zahlreiche Einzelgewerkschaften teilweise mit-, aber auch gegeneinander. Im Jahre 1939 waren dort über 1000 Einzelgewerkschaften registriert, 1999 waren es immerhin noch 237 (Brown 2004: 400). Die unterschiedlichen Formen der Mitgliederrekrutierung wie auch die Besonderheiten der jeweiligen korporatistischen Systeme, in die die Gewerkschaften in sehr unterschiedlicher Weise einbezogen sind (s. unten Abschn. 6.3), lassen Niveauvergleiche der Mitgliedschaftszahlen zwischen den Ländern als wenig sinnvoll erscheinen; dennoch geben die Trendverläufe auch hier Hinweise zur Entwicklung des Sozialkapitals. In Schweden liegt die Organisationsdichte in der Zeit von 1950 bis 1970 ziemlich stabil zwischen 65 und 70 Prozent (Anteil der beschäftigten Mitglieder – ohne Studenten, Pensionäre usw. – an allen Beschäftigten einschließlich der Arbeitslosen). Danach nimmt
202 203
Mitteilung (per e-mail vom 14. 9. 05) des Parteibüros der SAP. Ursprünglich handelte es sich hierbei um reine Gewerkschaftskassen, die aber allmählich staatlich reguliert und subventioniert wurden.
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sie relativ stetig zu und erreicht Mitte der 90er Jahre ein Niveau von etwas über 85 Prozent (Kjellberg 2000: 644 f.). In der Bundesrepublik liegt der Organisationsgrad zwischen 1955 und 1975 weitgehend stabil bei 37 bzw. 38 Prozent (Pensionäre und Studenten mit gerechnet), steigt bis Ende der 70er Jahre auf etwa 40 Prozent an und ist seitdem rückläufig; 1997 wurde die 30Prozent-Marke unterschritten (Ebbinghaus et al. 2000: 322 f.), 2002 die 25-Prozent-Marke erreicht (Statistisches Bundesamt 2004: 180)204. Auch in Großbritannien liegt der Organisationsgrad (alle Mitglieder – einschließlich Studenten, Pensionäre usw. – bezogen auf die abhängig Erwerbstätigen einschließlich Arbeitslose, vgl. Ebbinghaus/Visser 2000:13) zwischen 1950 und 1969 relativ stabil zwischen 44 und 45 %, steigt dann bis Ende der 70er Jahre auf knapp 55 % an und fällt seitdem stetig ab; 1995 werden nur noch 32 % registriert (Ebbinghaus/Waddington 2000: 744), im Jahre 2000 noch 30 %. Die Entwicklungsverläufe in Deutschland und Großbritannien ähneln sich also, während Schweden ab 1980 mit seinen wachsenden Mitgliedschaftszahlen von diesem Muster abweicht, möglicherweise weil die Gewährung von Arbeitslosenunterstützung dort weiterhin an die Gewerkschaftsmitgliedschaft gebunden ist. 6.2.2.3 Kirchen In Westdeutschland gehörten im Jahre 1950 rund 51 % der Bevölkerung der evangelischen und etwa 32 % der katholischen Kirche an. Während in der evangelischen Kirche der Mitgliederbestand mehr oder weniger kontinuierlich seit Ende der 60er Jahre zurückging, gewann die katholische Kirche zunächst noch Mitglieder hinzu und hatte bis 1989 in absoluten Zahlen keine und bezogen auf die Gesamtbevölkerung kaum Anhänger verloren. Der Anteil betrug zu diesem Zeitpunkt 42 %, während er in der evangelischen Kirche bis dahin schon auf unter 40 % gesunken war (Statistisches Bundesamt 2004: 185f.). Bis 2000 ging die Quote bei den Katholiken leicht auf 39 % zurück (eigene Berechnung auf Grundlage von Daten, die uns die Deutsche Bischofskonferenz übermittelt hat). Bezogen auf die Bevölkerung in ganz Deutschland ging die Mitgliedschaft von 35,4 % im Jahre 1990 nur leicht auf 32,1 % im Jahre 2002 zurück (Statistisches Bundesamt 2004: 31, 185f.). (Leider stehen uns keine Daten zur Verfügung, mit denen wir getrennte Mitgliedschaftsraten für die inländische und die ausländische Bevölkerung ermitteln könnten.) Für die evangelische Kirche setzte sich die Abwärtsentwicklung nach der Wiedervereinigung fort: von knapp 40 % im Jahre 1990 auf 33,6 % im Jahre 2002, jeweils bezogen auf die westdeutsche Bevölkerung (Angaben der EKD); bezogen auf die Gesamtbevölkerung (Inländer und Ausländer in Ost und West) ergeben sich Anteile von 31,5 % (1990) und 32,1 % (2001) (Statistisches Bundesamt 2004: 31, 185f.). Wesentlich stärker rückläufig ist die
204
198
Auch der Organisationsgrad der Unternehmen im Arbeitgeberverband Gesamtmetall ist in den 90er Jahren zurückgegangen. 1990 lag er (in den alten Bundesländern) noch bei über 45 Prozent, 2001 nur noch knapp über 30 %, in den neuen Bundesländern nahe 10 Prozent (Statistisches Bundesamt 2004: S. 181).
Zahl der sonntäglichen Gottesdienstbesucher. Bei den Katholiken betrug ihr Anteil im Jahre 1950 gut 50 %, 1980 waren es noch 29,1 %, 2002 15,2 Prozent (aller Katholiken). Für die evangelische Kirche liegen uns entsprechende Angaben nur seit 1980 vor. In der ersten Hälfte der 80er Jahre lag der Anteil ziemlich stabil bei 4,5 %; danach ging er leicht zurück bis auf 3,9 % im Jahre 2002 (laut Angaben der beiden Kirchen (www.dbk.de und Mitteilungen der EKD)). Für die Entwicklung in Schweden liegen uns Daten für den Zeitraum ab 1978 vor205. Zu diesem Zeitpunkt sind 96,5 % der schwedischen (inländischen) Bevölkerung Kirchenmitglieder. 1990 beträgt der Anteil noch 92,8 %, im Jahre 2000 86,5 % (eigene Berechnungen auf Grund der Daten der Schwedischen Kirche, s. deren Homepage http://www.svenskakyrkan.se/statistik/). Seit 1999 ist die Zahl der Austritte allerdings rapide angestiegen (von ca. 13.200 im Jahr 1998 auf über 57.000 im Jahre 2001). Kirchenamtliche Daten über den Anteil regelmäßiger Kirchenbesucher liegen uns nicht vor. Bei den absoluten Zahlen der Hauptgottesdienstbesuche zeigt sich folgende Entwicklung: 1978 wurden bei einer Gesamtbevölkerung (Inländer plus Ausländer) von 8,28 Mill. insgesamt 10,4 Mill. Besuche im Hauptgottesdienst gezählt. Die Besucherzahl ging bis 1990 (9,01 Mill.) relativ langsam, danach beschleunigt zurück; im Jahre 2000 waren es noch 6,6 Mill. bei einer nur leicht gewachsenen Bevölkerung von 8,36 Mill. Dies entspricht einem Rückgang von etwas über einem Drittel. Die "Eurobarometer"-Daten von 1995 nennen 5,6 %, die von 1998 5,2 % der Schweden, die mindestens einmal wöchentlich an einem Gottesdienst teilnehmen (frühere Vergleichsdaten liegen uns nicht vor); dieser Anteil liegt etwas über dem der Protestanten in Deutschland. Der Anteil der Getauften an den im gleichen Jahr Geborenen liegt außerordentlich hoch. 1978 beträgt er 79 %; bis 1999 (75,3 %) geht er nur leicht zurück, dann aber innerhalb von zwei Jahren auf 70,9 % (SCB 1983, 1990, 2002a). In West-Deutschland gehen die Taufzahlen zwischen 1960 und 1980 bei den Katholiken von 473.000 auf 258.000 und bei den Protestanten von 476.000 (in 1963) auf 222.000 (1980) zurück. Auch unter Berücksichtigung der fallenden Geburtenraten ist dies ein erheblicher Rückgang. Allerdings steigen in den 80er Jahren sowohl bei den Protestanten als auch bei den Katholiken die absoluten Taufzahlen wieder an. 1989 sind es bei den Katholiken 282.000, bei den Protestanten 252.000. Bezogen auf Gesamtdeutschland erhöhen sich diese Zahlen 1990 leicht (300.000 bzw. 257.000); im Jahre 2001 sind es allerdings nur noch 223.000 (Katholiken) und 220.000 (Protestanten) (Statistisches Bundesamt 2004: 185 f.). Allerdings ist dies nur bei den Katholiken ein etwas stärkerer Rückgang als derjenige, der bei der Geburtenrate (je 1000 Einwohner der Gesamtbevölkerung) in diesem Zeitraum zu beobachten ist – von 11,4 auf 8,9 (s. Statistisches Bundesamt 2004: 39). Auch der Anteil der kirchlichen Trauungen an allen Hochzeiten des entsprechenden Jahres geht von 1978 (59,8 %) bis 2001 nur geringfügig zurück auf 58,6 Prozent. Wir können also feststellen, dass die formale Kirchenmitgliedschaft in Schweden während unserer Untersuchungsperiode stärker ausgeprägt und – zumindest bei den Protestanten – weniger rückläufig ist als in Deutschland. Während der regelmäßige
205
Die Erfassung erfolgt durch die Gemeinden vor Ort; einmal jährlich werden die Daten von der Schwedischen Kirche zentral zusammengefasst.
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Kirchenbesuch der schwedischen Protestanten fast so niedrig ist wie derjenige der deutschen, liegt der Anteil der regelmäßigen Gottesdienstbesucher bei den deutschen Katholiken – trotz eines starken Rückgangs – immer noch erheblich über derjenigen der schwedischen Protestanten. Die Schweden halten aber an bestimmten kirchlichen Traditionen wie Taufe und Trauung in deutlich höherem Maße fest als die Deutschen. Da die Mitgliedschaft in den anglikanischen und presbyterianischen Kirchen Großbritanniens anders definiert ist als in den Kirchen Schwedens und Deutschlands, sind die Mitgliedschaftsniveaus nicht miteinander vergleichbar. Dennoch lässt sich, mit aller Vorsicht, die zeitliche Veränderung zwischen 1960 und 2000 in etwa abschätzen. Die drei wichtigsten Kirchen des Vereinigten Königreichs sind die anglikanische Kirche, die Presbyterianer (einschließlich der congregationalists) sowie die Katholiken. Zusammen genommen zählten sie im Jahre 1960 etwa 7,8 Mill. Mitglieder. Bis 1980 reduzierte sich die Gesamtmitgliedschaft der Kirchen auf ca. 6 Mill. und bis zum Jahre 1990 auf 5,1 Mill. Für das Jahr 2000 wurde ihre Mitgliederstärke auf 4,4 Mio. geschätzt. Die Anzahl der Mitglieder in allen christlichen Kirchen (nicht nur den drei genannten) sank von 1960 bis 2000 von 9,8 Mill. auf geschätzte 5,9 Mill. (Brierley 2000: 654f.). Wenn diese Daten als Vergleichsbasis tauglich sein sollten, ergäbe sich zwischen 1960 und 2000 in Großbritannien ein prozentual stärkerer Rückgang der Kirchenmitgliedschaft als in Deutschland und Schweden. Auf Grund von "Eurobarometer"-Daten kommen Jagodzinski/Dobbelaere (1995: 92) allerdings zu dem Ergebnis, dass die Kernmitgliedschaft der regelmäßigen Kirchgänger in der Zeit zwischen 1981 und 1990 in Großbritannien nicht zurückgegangen ist, sondern leicht zugenommen hat, während sie in Westdeutschland leicht rückläufig war. In der zweiten Hälfte der 70er Jahre erhöht sich die Zahl der Nichtmitglieder in Großbritannien auf ca. 60 % und übersteigt bis Ende der 80er Jahre die 65-Prozent-Marke. Andererseits stellen die Autoren fest, dass die Kernmitgliedschaft in Großbritannien zwischen 1964 und 1989 relativ stabil auf einem niedrigen Niveau zwischen 10 und 15 % verharrt (ebd., S. 109); für die deutschen Katholiken verzeichnen sie in dieser Kategorie einen markanten Abschwung, der aber bis 1988 immer noch ein Niveau von ca. 30 % bewahrt (in ihrer Arbeit finden sich keine Angaben für die deutschen Protestanten). Zieht man Daten der Eurobarometer-Umfragen hinzu, ergeben sich beim Anteil der regelmäßigen Gottesdienstbesucher (mindestens einmal pro Woche, unabhängig von der jeweiligen Konfession) zwischen Deutschland und Großbritannien in der Zeit von 1973 bis 1990 keine nennenswerten Unterschiede und eine insgesamt nur leicht abfallende Tendenz auf ca. 20 Prozent. Nach 1990 geht das Niveau in Gesamtdeutschland zurück, während es in Großbritannien relativ stabil bleibt (abgesehen von Stichproben-Schwankungen), 1998 liegt der Anteil für Großbritannien (12,0 %) aber noch unter dem deutschen (14,5 %). Zusammenfassend können wir bezüglich der kirchlichen Bindungen feststellen: Sie sind in Schweden stärker ausgeprägt und für den hier untersuchten Zeitraum weniger stark rückläufig als in den beiden anderen Ländern – sofern man den Vergleich nur auf die Protestanten bezieht. Bei den Katholiken (deren Zahl in Deutschland etwa so hoch ist wie die der Protestanten) ist die Mitgliedschaft weniger rückläufig als bei den Protestanten. Unseres Erachtens erlaubt die Datenlage zu den kirchlichen Bindungen keine Aussage darüber, ob sie in unseren drei Vergleichsländern in unterschiedlichem Maße zum Bestand an Sozialkapital beitragen; es scheint aber deutlich zu sein, dass dieser Beitrag in allen drei Ländern seit den 60er Jahren rückläufig ist, allerdings nicht in einer zeitlich-linearen Entwicklung.
200
6.2.2.4 Sonstige Vereinigungen Während in den meisten europäischen Ländern die Mitgliedschaften in den Kirchen, Parteien, Gewerkschaften und anderen Großorganisationen zurückgegangen sind, hat sich die Zahl der Mitgliedschaften in Vereinen und ähnlichen Freiwilligen-Organisationen erhöht. Laut Anheier/Toepler (2002) hat sich z. B. in Deutschland und Frankreich die Vereinsdichte seit 1960 mehr als verdreifacht206. Gleichzeitig stellen die Autoren fest, "Ehrenamtlichkeit, obwohl weit verbreitet und ohne größere Einbrüche im Zeitvergleich, stagniert in Europa und Wachstumsschübe lassen sich sicherlich nicht erwarten" (ebd., S. 4). Länderund Zeitvergleiche sind allerdings mit großen Unsicherheiten behaftet. Die Ergebnisse der einzelnen Studien schwanken erheblich. So z. B. stellen Beher et al. (1999: 27) fest, dass "je nach Studie der Umfang des ehrenamtlichen Engagements in Westdeutschland zwischen 16 % und 41 % sowie in Ostdeutschland zwischen 9 % und 37 % (schwankt)." Und weiter: "Die Wahl und der Zuschnitt der analytisch-inhaltlichen Kategorien entscheiden jedoch in zentraler Weise darüber, welche Aspekte des Engagements durch das zugrundeliegende Erhebungsinstrumentarium erfaßt bzw. ausgeblendet werden" (ebd., S. 23). Mit allen Vorbehalten, die sich aus diesem Befund ergeben, wollen wir dennoch einige Ergebnisse empirischer Studien vorstellen. Am ehesten scheinen hierzu Erhebungen geeignet, die in unseren Vergleichsländern parallel durchgeführt wurden. Dazu gehören die European (bzw. World) Values Surveys (EVS/WVS) zwischen 1981 und 1999/2000,207 die sog. EurovolStudie (Gaskin et al. 1996) sowie das 1989 gestartete "Johns Hopkins Comparative Nonprofit Sector Project" (siehe z. B. Salamon/Sokolowski 2001). Laut EVS steigt die Mitgliedschaft in "irgendeiner Vereinigung"208 in Westdeutschland von 45,1 % im Jahre 1981 auf 50,9 % im Jahre 1999/2000209. Im gleichen Zeitraum geht in GB die Mitgliedschaft von 50,0 auf 33,6 Prozent zurück, in Schweden steigt sie dagegen von 68,3 auf 95,7 Prozent an. Der Anteil der Aktiven, die sich in diesen Vereinigungen praktisch engagieren, liegt 1999/2000 nach dieser Quelle in Westdeutschland nur bei 22,0 %, in Großbritannien dagegen bei 42,3 % (was bedeutet, dass es dort deutlich mehr Aktive als Mitglieder gibt) und in Schweden bei 56,1 % (diese Zahlen nennen auch Anheier/Toepler 2002 in ihrer Tab. 1). Wenn wir nur diejenigen Vereinigungen berücksichtigen, die in allen Erhebungswellen länderübergreifend abgefragt wurden (dazu gehören nicht die Sportvereine!), lassen sich zwar nicht mehr die Niveaus der Länder miteinander vergleichen (denn die ausgelassenen
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Auf der Basis allgemeiner Bevölkerungsumfragen hat sich laut Statistisches Bundesamt (2004: 643) der Anteil derer, die Freizeitvereinen angehören, zwischen 1976 und 1998 in Westdeutschland von 29,2 % auf 43,2 % erhöht. Die 1996-98 durchgeführten EVS-Erhebungen sind für unsere Zwecke nicht brauchbar, da die entsprechenden Fragen bzw. Kategorien auf andere Weise kodiert wurden. (Zur Dokumentation siehe Ronald Inglehart et al., World Values Surveys and European Values Surveys, verschiedene Wellen, dokumentiert am ICPSR University of Michigan, Ann Arbor, USA.) Die EVS/WVS-Umfragen haben den Befragten länderspezifische Listen solcher Assoziationen vorgelegt; leider sind diese Listen über Zeit nicht konstant geblieben. Wir haben hier für jede Person notiert, ob sie mindestens in einer der jeweils genannten Vereinigungen Mitglied war und dann für jedes Land den Anteil der Personen ermittelt, die mindestens eine Mitgliedschaft aufwiesen. Für 1990 werden ca. 65 % ausgewiesen, wohinter wir einen Stichproben- oder Kodierfehler vermuten.
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Vereinigungen sind in den einzelnen Ländern unterschiedlich stark vertreten), dafür aber die zeitliche Entwicklung wahrscheinlich besser erfassen als auf der Basis der wechselnden Listenvorgaben (solange man davon ausgehen kann, dass es keine länderspezifischen Verschiebungen im Mitgliedsbestand von genannten und ungenannten Vereinigungen gibt). Bei diesem Arrangement ergibt sich folgendes Bild: Tab. 6.7: Mitgliedschaft in freien Vereinigungen (Prozent der Befragten) Westdeutschland
Vereinigtes Königreich
Schweden
1981
47,0
50,9
66,5
1990
46,9
42,0
74,0
1999/2000
33,7
27,9
93,0
Angegeben ist der Anteil der Befragten, die mindestens in einer der folgenden Vereinigungen Mitglied waren: Wohlfahrtsorganisation, Kirche/religiöse Organisation, Gewerkschaft, Partei, Bürgerintiative, Dritte Welt-/Menschenrechtsgruppe, Verein für künstlerische/erzieherische Belange, professionelle Vereinigung, Jugendarbeit. Quelle: eigene Auswertung der World Values Surveys 1981 und 1990 sowie der European Values Survey 1999/2000.
Es bleibt bei dem Mitgliedschaftszuwachs in Schweden auf ein Niveau von über 90 %; in Großbritannien wird ein Rückgang schon für die 80er Jahre registriert, der sich in den 90er Jahren noch einmal verstärkt. In Deutschland dagegen nehmen die Mitgliedschaftszahlen erst in den 90er Jahren ab, allerdings weniger stark als in Großbritannien. Wenn man sowohl die Gewerkschaften als auch die Kirchen und andere religiöse Vereinigungen aus der Betrachtung ausschließt, ist der abfallende Trend in Großbritannien weniger stark ausgeprägt. Der Vorsprung für Schweden wird geringer, bleibt aber für alle drei Erhebungszeitpunkte bestehen und vor allem: der Trend verläuft weiterhin stark positiv. Bei der ehrenamtlichen Tätigkeit innerhalb der genannten Teilmenge aller abgefragten Vereinigungen erzielt Schweden wiederum einen deutlichen Zuwachs in den 90er Jahren (auf nahezu 44 % Engagierte). In dieser Dekade nimmt auch in Großbritannien das Engagement zu (auf gut 32 %), während es in Deutschland leicht zurückgeht auf 11,0 % (wohlgemerkt, ohne Berücksichtigung der Sportvereine). Wenn man Mitgliedschaft und/oder ehrenamtliche Tätigkeit zusammenfasst, bleibt es somit bei dem deutlichen Niveau-Vorsprung und dem ansteigenden Trend für Schweden und einer abfallenden Tendenz sowohl in Großbritannien (beginnend schon in den 80er Jahren) als auch in Deutschland (erst in den 90er Jahren). Dass sich in Großbritannien mehr Menschen im Rahmen von Vereinigungen engagieren, als es dort Mitglieder gibt, ist bemerkenswert und zeigt, dass das länderspezifische Potential an Sozialkapital nicht nur anhand von Mitgliedschaftslisten eingeschätzt werden sollte. Dies bestätigt die schon erwähnte Eurovol-Studie, die 1994 das freiwillige, unbezahlte Engagement in irgendeiner Organisation oder Gruppe (einschließlich Kirche, Parteien, Verbände) mit dem gleichen oder ähnlichen Design in 9 europäischen Ländern erhoben hat. Ihr zufolge waren nur 18 % der deutschen Befragten (Ost: 24 %, West: 16 %), aber 34 % der britischen und 36 % der schwedischen Befragten freiwillig in irgendeiner Weise engagiert. Gut die Hälfte der engagierten Briten gehörte dabei keiner Organisation als Mitglied an. Der niedrige Wert für Deutschland, insbesondere der niedrige Wert für Westdeutschland im Vergleich zu Ostdeutschland, weckt jedoch Zweifel an der Zuverlässigkeit dieser Daten, insbesondere dann, wenn man die Ergebnisse mit denen vergleicht, die der deutsche 202
"Freiwilligensurvey" von 1999 liefert (mit einem wesentlich höheren Stichprobenumfang von ca. 5.000 Befragten). Ihm zufolge sind in den alten Bundesländern 35 %, in den neuen Bundesländern 27 % freiwillig engagiert (Gensicke 2001: 24)210. Allerdings liegt die oben schon zitierte EVS-Erhebung, die für das Jahr 1999 22 % Engagierte in Westdeutschland registriert, mit diesem Ergebnis wiederum näher an dem der Eurovol-Studie. Auch die Studie der Johns Hopkins Universität über volunteering im nonprofit sector registriert auf der Basis einer 1995er Erhebung einen deutlichen Vorsprung Schwedens vor Großbritannien und Deutschland (Salamon/Sokolowski 2001). Die Autoren versuchen, diese Differenz mit Hilfe einer Regime-Typologie zu erklären, indem sie dem "sozialdemokratischen" wie auch dem "liberalen" Typus (z. B. Schweden einerseits, Großbritannien andererseits) hohes Engagementpotential, dem "korporatistischen" (z. B. Deutschland) ein mittleres und dem etatistischen ("statist") Typ (z. B. Japan) ein niedriges Engagementpotential zuschreiben. Außerdem konzentriert sich laut dieser Analyse das Engagement je nach Regimetyp auf unterschiedliche Arbeitsfelder, in liberalen Systemen auf den Bereich sozialer Dienste (weil hier ein besonders hoher Bedarf besteht), in sozialdemokratischen auf den expressiv-kulturellen Sektor. In Westdeutschland liegen laut Eurovol-Studie (Gaskin et al. 1996: 75) "Soziale Dienste/Entwicklung des Gemeinwesens" (43 %) sowie "Sport und Freizeit" (27 %) an der Spitze der Tätigkeitsbereiche, in denen man sich freiwillig engagiert. In Großbritannien liegen ebenfalls die sozialen Dienste und die Entwicklung des Gemeinwesens mit 29 % an der Spitze, gefolgt von "Kindererziehung" (23 %) und "Sport/Freizeit" (20 %). In Schweden sind die sozialen Dienste und die Entwicklung des Gemeinwesens stärker sozialstaatlich betreut, sodass hier – im Einklang mit den eben zitierten Thesen von Salamon/Sokolowski – weniger unbezahltes Engagement benötigt wird; nur 14 % der Engagierten nennen dieses Tätigkeitsfeld, dafür ist die Kategorie "Sport und Freizeit" (40 %) höher besetzt. Dieses Muster bestätigt sich auch bei der Frage nach den Beweggründen für das Engagement (ebd., S. 89). In Großbritannien nennen 32 %, in Schweden nur 18 % den "Bedarf im Gemeinwesen" als Motiv, in Westdeutschland sind es 26 %. Die Rangfolge kehrt sich um bei der Kategorie "persönliche Gründe – eigene Bedürfnisse"; sie wird genannt von 55 % der schwedischen, 47 % der westdeutschen und 39 % der britischen Befragten. Religiöse oder moralische Überzeugungen nennen 22 % der Westdeutschen, aber nur 12 % der Schweden und 14 % der Briten als Grund ihres Engagements211. Beim zeitlichen Umfang des Volunteering liegen die drei Länder nahe beieinander (ebd., S. 70). Diese Daten scheinen die These der Sozialstaatskritiker zu stützen, wonach starke Sozialstaaten solidarisches Engagement im persönlichen Bereich verkümmern lassen und eher egoistische Orientierungen fördern. Dieser Schluss wäre aber voreilig. Zunächst ist darauf zu verweisen, dass das Konzept des kooperativen Individualismus primär nicht auf altruistische, sondern auf reziproke Anerkennungs- und Austauschverhältnisse zielt. In
210 211
Die Wiederholungsbefragung im Jahre 2004 bestätigt diese Werte mit 37 % (West) und 31 % (Ost) (Gensicke 2005: 13). Laut dem deutschen Freiwilligen-Survey von 1999 steht an der Spitze der Beweggründe „Spaß“ (von 87 % der Befragten als „wichtige Erwartung“ genannt) vor „anderen Menschen helfen“ (75 %) und „etwas für das Gemeinwohl tun“ (74 %) (Gensicke 2001: 29).
203
diesem Zusammenhang ist es interessant, dass 62 % der engagierten Schweden es als Vorteil ihres Engagements ansehen "Menschen zu treffen und Freunde zu finden" – gegenüber 42 % der Briten und ebenso vielen Westdeutschen (Gaskin et al. 1996: 98). Zweitens ist kaum zu bestreiten, dass in liberalen Wohlfahrtsstaaten wie Großbritannien oder den USA die Zahl der "Bedürftigen" (der Armen, Einsamen) höher ist als in einem sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat wie Schweden. Das schlägt sich auch im Maß der Zustimmung nieder, die die Aussage findet: "Wenn der Staat alle seine Pflichten erfüllen würde, sollte keine unbezahlte Arbeit notwendig sein." 53 % der britischen Volunteers, aber nur 11 Prozent der schwedischen und 35 Prozent der westdeutschen stimmen dem zu (ebd., S.114)212. Die Zustimmung auch der relativ Wohlhabenden zu einem staatlich organisierten Umverteilungssystem, das ein höheres Maß an Gleichheit und Teilhabe für alle sichert, ist im Vergleich zu direkten persönlichen Hilfeleistungen nicht unbedingt als eine moralisch mindere Form der Solidarität zu werten, zumal es in der Summe der Effekte bei der Armutsbekämpfung und Notlagenversorgung effektiver ist als das liberale System (s. unten).213 Andererseits mahnen diese Daten auch zur Vorsicht bei Klagen über Spaßorientierung und Hedonismus. Das Streben nach Spaß und Selbstverwirklichung schließt Rücksichtnahme und Sorge für andere nicht unbedingt aus.214 Dennoch entsteht hier ein Problem der Solidarität. Wenn Spaß und Eigeninteresse unter den Motiven für Engagement zunehmen (wie viele Beobachter glauben feststellen zu können), das Niveau für die bekundete Engagementbereitschaft aber gleich bleibt (oder weniger stark zunimmt), ist insgesamt mit einer Schwächung des kooperativen Individualismus zu rechnen. Denn eine solche Entwicklungstendenz lässt das "moralische Risiko" ansteigen: das Engagement wird selektiver und instabiler; es wird rascher beendet, wenn der Spaß weg ist. Deshalb könnte es durchaus sein, dass die neueren Formen eines wachsenden Engagements außerhalb und zu Lasten der traditionalen Großorganisationen nicht die Solidaritätsverluste
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Dazu passt, dass 41 % der freiwillig engagierten Briten meinen, unbezahlte Arbeit sei „eine Bedrohung für bezahlte Arbeit und (werde) zu Kürzungen der öffentlichen Ausgaben benutzt“; diese Ansicht teilen nur 10 % ihrer schwedischen und 17 % ihrer westdeutschen Kollegen. (Dennoch weisen die Autoren der Eurovol-Studie darauf hin, dass auch in Schweden „das Volunteering momentan insbesondere von nichtsozialistischen Parteien als eine Hauptressource angesehen (wird), die die Kosten im expandierenden Wohlfahrtsstaat verringern oder zumindest stabil halten kann“; Gaskin et al. 1996: 51). Bemerkenswert auch, dass 24 % der engagierten Briten gegenüber 12 % der Schweden, allerdings auch 31 % der Westdeutschen (gegenüber 22 % der Ostdeutschen) ihre „Bemühungen nicht immer geschätzt“ finden (ebd., S. 103). Beides zusammengenommen kann als Hinweis darauf verstanden werden, dass Quantität und Qualität des Freiwilligen-Engagements nicht nur von der aktuellen gesellschaftlichen Verfassung, sondern auch – und vielleicht noch stärker – von weit zurückreichenden politischen und kulturellen Traditionen bestimmt wird (s. hierzu Putnam 1993). Dies wird noch deutlicher, wenn die Aussage kommentiert wird „Engagement in unbezahlter Arbeit hilft Menschen, eine aktive Rolle in einer demokratischen Gesellschaft einzunehmen“. Dem stimmen 74 % der schwedischen, 69 % der britischen und 56 % der deutschen Freiwilligen zu (Gaskin et al. 1996: 118). Dennoch irritiert es, wenn in einer zwischen 1997 und 1999 durchgeführten internationalen Erhebung nur 39 % der befragten schwedischen Jugendlichen ihre Bereitschaft bekunden, „Zeit aufzuwenden, um armen und älteren Menschen zu helfen“, während es im Durchschnitt der „reichen Industrieländer“ 54 % und in Deutschland 57 % waren (Oesterreich 2001: 18). Zur prekären Verbindung von Selbstinteresse und sozialem Engagement, zur „Sorge für andere als Sorge um uns selbst“ am Beispiel der USA siehe Wuthnow (1997).
wettmachen können, die durch das Disengagement bei Kirchen, Gewerkschaften, Parteien und ähnlichen Vereinigungen entstanden sind. Anheier/Toepler (2002: 4, 10) stellen fest: "Die Motivstränge für Ehrenamtlichkeit zeigen eine deutliche Verschiebung von religiösmoralischen Vorstellungen weg, hin zu instrumentellen, individualistischen Motivationslagen." Ähnlich äußern sich Brömme/Strasser (2001a: 987): "Alle neuen Formen der sozialen und politischen Beteiligung wiesen ein zentrales Charakteristikum auf: Sie basieren wesentlich auf eigeninteressierten Motivkomponenten der Engagierten ... Mitgliedschaften nehmen damit in zunehmendem Maße instrumentellen Charakter an." Hinzu kommt, dass untere soziale Schichten in den neueren Formen organisierter oder informeller Zugehörigkeit deutlich unterrepräsentiert sind (ebd., S. 987 ff.)215. Mitgliedschaft und Engagement korrelieren positiv mit der Höhe des Bildungsabschlusses und der beruflichen Position; Erwerbstätige gehören eher dazu als Arbeitslose (Gensicke 2005: 12). Dies scheint, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung, für alle Länder zu gelten (Gaskin et al. 1996: 67 f.)216. Während die Repräsentanz sozialer Gruppierungen noch einigermaßen gut erfasst ist, mangelt es an empirischen Befunden, die jenseits der Mitgliedschaftszahlen gesicherte Aussagen darüber erlaubten, in welchem Maße die verschiedenen Formen sozialer Vereinigungen in den einzelnen Ländern den kooperativen Individualismus stärken oder von ihm abrücken. Wir sind hier derzeit noch auf Vermutungen angewiesen, die sich auf relativ grobe Indikatoren und Messwerte stützen, wie wir sie hier vorgestellt haben. Wenn wir die Informationen über Mitgliedschaften und Engagement in "traditionalen" Groß-Organisationen und in moderneren Formen freiwilliger Vereinigungen zusammenfassen und als Indikatoren für "soziales Kapital" werten, dürfte trotz aller Ungereimtheiten und Lücken des vorliegenden Datenmaterials Schweden ziemlich eindeutig die erste Position einnehmen. Die Mitgliedschaftszahlen sind bedeutend höher als in den beiden anderen Ländern. Bei Wohlfahrtsorganisationen, Gewerkschaften, Parteien, Kirchen, künstlerischen Vereinigungen und Umweltgruppen hat laut EVS jeder erwachsene Schwede 1999/2000 im Durchschnitt 2,17 Mitgliedschaften inne, 1981 waren es 1,2. In Deutschland ist diese Durchschnittszahl im gleichen Zeitraum von 0,64 (1981) auf 0,43 gesunken, in GB sogar von 0,79 auf 0,35. Schweden behält einen deutlichen Vorsprung, selbst wenn man die Gewerkschaftsmitgliedschaften herausrechnet. Auch beim Engagement ergeben sich für Schweden in den Summen, also ohne qualitative Differenzierungen für verschiedene Tätigkeitsfelder, die höchsten Werte. Wie schon bei den Mitgliedschaften in den Gewerkschaften und Kirchen, so kann auch bezüglich der Mitgliedschaft und des ehrenamtlichen Engagements in sonstigen zivilgesellschaftlichen Vereinigungen keine klare Rangfolge zwischen Großbritannien und Deutschland ermittelt werden; die verschiedenen Indikatoren und Studien liefern allzu heterogene Ergebnisse.
215
216
Allerdings geben die Autoren in einem weiteren Artikel (Brömme/Strasser 2001b) auch zu bedenken, dass sich in diesen Befunden wenigstens teilweise ein Methoden-Artefakt niederschlagen könnte; Selbsthilfegruppen mittlerer Sozialschichten würden in den einschlägigen Erhebungen eher erfasst als die der unteren Sozialschichten. Für eine positive Einschätzung der neuen Assoziationsformen bezüglich ihres Potentials Sozialkapital zu bilden siehe Joas (2001b). Laut SHARE-Studie über das Engagement der Älteren (Erlinghagen/Hank 2005) ist der Zusammenhang zwischen sozialer Schicht und Engagement in Schweden zumindest bei den über 50jährigen weniger stark ausgeprägt als in Deutschland (GB wurde in die Studie nicht mit einbezogen).
205
Während Deutschland einen Vorsprung bei den formalen Mitgliedschaften zu haben scheint, so stufen die (wenigen) international vergleichenden Studien Großbritannien vor Deutschland ein, wenn es um das tatsächliche Niveau des Freiwilligen-Engagements geht. 6.2.2.5 Zwischenmenschliches Vertrauen Damit kommen wir zum letzten der zentralen Indikatoren für Sozialkapital, dem Vertrauen in (beliebige) "andere" Personen (generalisiertes zwischenmenschliches bzw. "interpersonales" Vertrauen). "Vertrauen" gilt allgemein als ein fundamentaler "Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität" (Luhmann 1968), dessen Genese, Erscheinungsformen und Funktionen in den verschiedenen psychologischen, ökonomischen und soziologischen Ansätzen sehr unterschiedlich gedeutet werden. Darauf können wir hier nicht näher eingehen (s. den knappen Überblick in Anheier/Kendall 2000; 2002), möchten aber vier Aspekte besonders betonen. (1) Vertrauen im Sinne des kooperativen Individualismus ist eine generalisierte Bereitschaft, Zuverlässigkeit bei aktuellen und potentiellen Interaktionspartnern auch dann zu unterstellen, wenn man sie weder genau kennt noch ihr Verhalten qua gemeinsamer Gruppenzugehörigkeit oder anderer bekannter Merkmale glaubt prognostizieren zu können. Diese Form des Vertrauens wird umso mehr benötigt, in je höherem Maße (in modernen Gesellschaften) Vertrautheit mit Personen und Situationen nicht oder nur sehr begrenzt gegeben ist. (2) Die Fähigkeit zu dieser universalistischen Form des Vertrauens ist aber entwicklungslogisch an eine vorgängige Form des Vertrauens gebunden, die auf Vertrautheit beruht und innerhalb der Familie und an anderen Orten des sozialen Nahraums erworben wird. Zwischen den abstrakten Bezugsgrößen des "Individuums allgemein" (Durkheim) oder des "generalisierten Anderen" (Mead) einerseits und den Primärgruppen andererseits bedarf es der Vermittlung durch sekundäre Zugehörigkeiten, die motiverzeugende und identitätssichernde partikulare Bindungen ermöglichen, im Idealfalle aber offen bleiben gegenüber den Anforderungen einer universalistischen Moral, d. h. der wechselseitigen Anerkennung von Differenzen217. (3) Die verschiedenen Formen sozialer Assoziationen, von denen oben die Rede war, agieren auf unterschiedlichen Positionen in diesem weiten Feld der Generierung von Vertrauen, das durch die Dimensionen (a) Partikularismus versus Universalismus, (b) normative Bindung versus Instrumentalismus analytisch markiert ist. Selbst wenn man die Positionen der verschiedenen Vereinigungen auf diesen Dimensionen lokalisieren könnte, wäre der Aggregateffekt, der sich aus ihrem Zusammenwirken ergibt, noch nicht hinreichend geklärt. Wir gehen aber davon aus, dass das abfragbare generalisierte Vertrauen zu anderen Menschen ein wichtiger Indikator für das relative Gewicht von kooperativem versus desintegrativem Individualismus ist, das in einer Gesellschaft gegeben ist. (4) In welchem Maße die Mitgliedschaft in solchen Assoziationen selber Vertrauen generiert oder aber anderswo erzeugtes Vertrauen seinerseits zur Mitgliedschaft motiviert, lassen wir hier offen: der korrelative Zusammenhang selbst ist länderübergreifend nachgewiesen (siehe z. B. die in
217
206
Zur Notwendigkeit und Problematik des Zusammenspiels von partikularen Bindungen und der Anerkennung universalistischer Prinzipien s. Joas (1999).
Anheier/Kendall 2002: 544 f. zitierten Ergebnisse des European Values Survey). Einigermaßen gesichert scheint uns auch die Erkenntnis zu sein, dass die gesellschaftlichen Institutionen, das Maß an Gerechtigkeit und Fairness, das durch sie realisiert bzw. gesichert wird, die procedural justice, die sich darin niederschlägt, erheblich zu dem allgemeinen zwischenmenschlichen Vertrauen beitragen (s. Kumlin/Rothstein 2005). Eine Reihe von Autoren vertritt die These, dass generalisiertes Vertrauen umso geringer ist, je stärker das Eigeninteresse und die Konkurrenzorientierung entwickelt sind. Schon Tocqueville sah einen engen Zusammenhang von materialistischer Orientierung und "rohem Egoismus", der die Demokratie gefährden könne. Peter Hall (2001) z. B. führt den starken Rückgang des gemessenen Vertrauens in der britischen Bevölkerung auf verstärkte instrumentalistische Orientierungen und die zunehmende Betonung individueller Leistungen zurück (S. 83). Auch Rahn/Transue (1998) kommen zu dem Ergebnis, dass "the rapid rise of materialistic value orientations that occurred among American youth in the 1970s and 1980s severely eroded levels of social trust" (S. 545 f., vgl. Robinson/Jackson 2001: 140; Brehm/Rahn 1997: 1008f. und Kawachi et al. 1999: 724 f.). Der Versuch, die Entwicklung des zwischenmenschlichen Vertrauens für unsere drei Länder vergleichend darzustellen, stößt wiederum auf eine wenig befriedigende Datenlage. Wenn man mehrere Quellen zusammenfasst, so scheint in Westdeutschland das zwischenmenschliche Vertrauen seit Mitte der 50er Jahre bis Ende der 80er Jahre erheblich gewachsen und danach, bis zum Jahre 2000, leicht zurück gegangen zu sein, allerdings mit großen Schwankungen zwischen den einzelnen Umfragewerten. Der Trendverlauf entspräche damit in etwa demjenigen des Vertrauens in Regierung und Parlament (s. Kap. 5) (Newton 1999: 177; Noelle-Neumann/Köcher 2002: 87; Conradt 1980: 254). Der Ländervergleich lässt sich mit der berühmten "Civic Culture"-Studie von Almond und Verba (1965) beginnen, die aus Umfragen Ende der 50er Jahre entsprechende Daten für Großbritannien und Deutschland (sowie einige andere Länder, aber nicht Schweden) präsentiert. In gleicher Weise hat Inglehart in seinen European bzw. World Values Surveys das zwischenmenschliche Vertrauen erfasst.218 Tabelle 6.8 stellt die Werte für die einzelnen Länder zusammen. Während in Großbritannien das Vertrauensniveau zwischen 1959 und Mitte der 80er Jahre leicht abfällt, steigt es in der Bundesrepublik deutlich an und erreicht 1986 das britische Niveau. Der bis 1981 abfallende Trend in Großbritannien entspricht dem von Hall (2001) registrierten Rückgang des Regierungsvertrauens in der gleichen Periode (s. Kap. 5.2). Das zwischenmenschliche Vertrauen in Schweden liegt auf erheblich höherem Niveau als in Deutschland und Großbritannien und nimmt nach 1981 bis 1990 sogar weiter zu; die zu dieser Zeit erreichten 66 % werden 1999/2000 bestätigt. In Westdeutschland gibt es zwischen 1986 und 1999/2000 einen deutlichen Vertrauensschwund, in Großbritannien setzt er erst nach 1990 ein, führt dann aber bis 1999/2000 zu einem Wert (29 %), der noch
218
Die Frage lautete: Some people say that most people can be trusted. Others say you can‘t be too careful in your dealings with people. How do you feel about it? Es konnte nur eine von zwei Antworten angekreuzt werden: (a) Most people can be trusted, (b) You can‘t be too careful in dealing with people. Auch das „Eurobarometer“ Nr. 25 hat in seiner 1986er Umfrage dieses Frageformat übernommen, sodass wir auch diese Ergebnisse in die Tabelle mit aufnehmen.
207
etwas unterhalb des westdeutschen Niveaus (32 %) liegt. Bemerkenswert ist, dass in Großbritannien die jungen Befragten (bis 25 Jahre) noch unterhalb dieses Wertes lagen (24,6 %), während in Deutschland in dieser Altersgruppe 42 % der Befragten Vertrauensbereitschaft bekundeten (eigene Auswertungen der EVS-Daten). In allen drei Ländern äußern sich die Befragten mit relativ niedriger Schulbildung deutlich seltener als Befragte mit höherer Schulbildung im Sinne eines generalisierten zwischenmenschlichen Vertrauens. Tab. 6.8: Zwischenmenschliches Vertrauen (Prozentanteil der Befragten, die der Ansicht waren "that most people can be trusted") Westdeutschland
Vereinigtes Königreich
Schweden
1959
19
49
-
1981 (D, GB)/ 1982 (S)2
32
43
57
19863
43
40
-
19902
38
44
66
1996 (S)/ 1997 (D)/ 1998 (GB)2
42
30
60
19992
32
29
66
1
Quelle: 1Almond und Verba (1965: 213); 2eigene Auswertungen der World Values Surveys 1981, 1990 und 1995-97 (Inglehart et al. 2000) sowie der European Values Study 1999/2000 (Zentralarchiv Köln, KatalogNr. 3811, 2003); 3Inglehart (1990: 438), zitiert nach Kaase (1999: 6).
Wie schon bei dem Zusammenhang von persönlichem Vertrauen und Institutionenvertrauen erkennbar (s. Abschn. 6.1.2.3), sind die Ergebnisse aber auch hier nicht unabhängig von dem verwendeteten Frageformat. Wird das persönliche Vertrauen statt mit einer dichotomen Antwortvorgabe (s. Fn. 218) mit der schon erwähnten 4-Punkte-Skala des International Social Survey-Programms (s. Abschn. 6.1.2.3) erhoben, verschieben sich die gemessenen Vertrauenswerte der einzelnen Länder wie auch deren Rangfolge. In der ISSPStudie von 1998 liegen Großbritannien und Westdeutschland mit jeweils knapp 50 Prozent gleichauf. Der deutlich höhere Wert für Schweden (nahe 70 %) wird allerdings auch in dieser Studie bestätigt (s. Jagodzinski/Manabe 2004: 89). Auf der anderen Seite wiederum stellt Kenneth Newton (1999: 175) aus fünf Eurobarometer-Befragungen eine Zeitreihe zusammen, die für die Periode zwischen 1976 und 1993 – ebenfalls auf der Basis einer Vier-Punkte-Skala – durchgängig höhere Vertrauenswerte für die Bundesrepublik als für Großbritannien ausweist; in beiden Fällen ist aber kein klarer Trend erkennbar219. Es bestätigt sich also auch anhand der Indikatoren zum zwischenmenschlichen Vertrauen, dass Schweden mit mehr Sozialkapital ausgestattet ist als die beiden anderen Länder – nicht nur bezüglich des Niveaus, sondern auch in der Trendentwicklung seit 1981;
219
208
Das Eurobarometer hat dieses Frageformat nicht über 1993 hinaus fortgeführt. Für Schweden liegen keine Daten vor.
allerdings fehlen uns für Schweden vergleichbare Daten für die Zeit vor 1981. In Westdeutschland nimmt das Vertrauen seit den 50er Jahren bis Mitte der 80er Jahre deutlich zu, schwenkt dann aber in einen Abwärtstrend ein. Großbritannien startet 1959 mit einem hohen Vertrauensniveau, das bis 1980 leicht abfällt, in der nächsten Dekade relativ stabil bleibt, nach 1990 aber rascher als in Deutschland zurückgeht. Das ISSP-Ergebnis von 1998 zeigt Großbritannien jedoch auf gleicher Höhe wie Deutschland. Wenn man allerdings die Kriminalitätsfurcht ebenfalls als generalisiertes Misstrauen gegenüber anderen Menschen interpretiert, verschiebt sich die Evidenz wiederum zugunsten Deutschlands, das bei diesem Indikator seit Mitte der 90er Jahre deutlich besser abschneidet als Großbritannien (s. oben, Kap. 5). Auch eine WHO-Studie lässt Großbritannien weniger gut aussehen. Nach unseren Kalkulationen auf Basis der Ergebnisse dieser Studie (vgl. Samdal/Dür/Freeman 2004: 46) meinten nur 43 % der dort befragten 11- bis 15-Jährigen "die meisten ihrer Mitschüler seien freundlich und hilfsbereit"; in Schweden äußerten sich 77, in Deutschland 76 Prozent der Befragten in dieser Weise. Doch lässt sich auch hier wieder ein gegenteiliges Umfrageergebnis zitieren: Im European Social Survey 2002 stuften die befragten Briten ihre Landsleute eher als hilfsbereit ein (Mittelwert von 5,4 auf einer Zehn-Punkte-Skala) als dies die befragten Deutschen taten (Mittelwert von 4,8). Allerdings schätzten in der gleichen Erhebung die Deutschen eher als die Briten ihre jeweiligen Landsleute als "fair" ein (Mittelwert von 5,8 bzw. 5,6). Beide Male liegen die Mittelwerte der Schweden (6,0 bzw. 6,7) deutlich höher (Statistisches Bundesamt 2004: 665). 6.2.3
Entwicklung der Einkommens- und Vermögensungleichheit220
6.2.3.1 Langfristige Entwicklung der personellen Einkommensverteilung Abbildung 6.2 zeigt die Entwicklung der Verteilung des verfügbaren Einkommens (d. h. nach Steuern und Transfers), gemessen mit dem Gini-Index, in den drei Ländern (die Werte der Jahre 1973 bzw. 1975 wurden gleich Hundert gesetzt). Zu beachten ist, dass für alle Länder zwei Reihen unterschiedlichen Typs dargestellt sind: die am weitesten zurückreichenden Reihen für Deutschland und Großbritannien sind Werte sogennanter "synthetischer Indizes"221, für Schweden handelt es sich um Daten aus der Einkommenssteuerstatistik. Bei diesen Reihen erfolgte keine Gewichtung der Haushalte bzw. Steuereinheiten nach ihrer Personenzahl. Die bis in die Gegenwart reichenden Reihen basieren
220 221
Dieser Abschnitt beruht auf Birkel (2004); dort findet sich auch eine Diskussion methodologischer Fragen, von der wir hier absehen. Vgl. auch Birkel (2006). Schweden kürzen wir in diesem Kapitel mit „S“ ab. Derartige Indizes beruhen auf Schätzungen, in deren Rahmen Daten aus verschiedenen Quellen (Steuerstatistiken, Umfragen, Daten der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung) zusammengeführt wurden.
209
dagegen auf repräsentativen Bevölkerungsumfragen222, bei denen eine Gewichtung der Haushalte mit Äquivalenzskalen223 erfolgte. 180 160 140
Gini-Index
120
100 80 60 40 20
19 49 19 51 19 53 19 55 19 57 19 59 19 61 19 63 19 65 19 67 19 69 19 71 19 73 19 75 19 77 19 79 19 81 19 83 19 85 19 87 19 89 19 91 19 93 19 95 19 97 19 99
0
Jahr D (West): synthetischer Index (1973=100)
D (West): äquivalenzgewichtetes Einkommen, EVS (1973=100)
GB: Blue Book (1975=100)
GB: äquivalenzgewichtetes Einkommen, FES/FRS (1975=100)
S: Steuerstatistik (1975=100)
S: äquivalenzgewichtetes Einkommen, IDS (1975=100)
Abb. 6.2: Entwicklung der Einkommensungleichheit in Westdeutschland, Großbritannien und Schweden Quelle: Guger (1989); Hauser/Becker (2001); Hauser/Becker (1998); Royal Comission on the Distribution of Income and Wealth (1979); Spånt (o.J.); SCB (2002b); IFS. Hinweis: Die Reihe für Schweden weist aufgrund einer Änderung der Einkommensdefinition einen Bruch in 1989 auf. Wir haben die Reihe hierfür adjustiert, indem wir die Werte nach der neuen Definition mit dem Verhältnis der Werte nach der alten und der neuen Definition für 1989 multipliziert haben.
Diese Reihen beruhen allerdings auf Studien, die sich in Hinblick auf Design, Äquivalenzgewichtung etc. unterscheiden, sodass querschnittliche Niveauvergleiche nur eingeschränkt aussagekräftig sind (deshalb die Indexierung). Allerdings lassen sich die Trendverläufe vergleichen (sofern die Unterschiede zwischen den Studien sich nicht über die Zeit verändern)224 – jedoch ist nicht auszuschließen, dass sich demographische Veränderungen (z. B. der Haushaltsstruktur) bei den unterschiedlichen Äquivalenzskalen verschieden stark
222 223 224
210
Deutschland: Einkommens- und Verbrauchsstrichprobe (EVS), Großbritannien: Family Expenditure Survey (FES) und Family Resources Survey (FRS), Schweden: Inkömstfördelningsundersökningen (IDS). Vgl. oben Kap. 6.1, Fn.176. Vgl. Gottschalk/Smeeding (2000: 285). Allerdings: alle hier betrachteten Reihen weisen Brüche durch Wechsel der Befragung, Definitionsänderungen etc. auf.
auswirken und Veränderungen der Einkommensverteilung dementsprechend stärker oder schwächer ausfallen225. Großbritannien zeigt die größte Variation über den Beobachtungszeitraum, mit dem stärksten Anstieg der Einkommensungleichheit seit Ende der 70er Jahre (+56 Prozent, vgl. Tabelle 6.9, deshalb letzter Rang bei der Entwicklung in der zweiten Phase) nach vorhergegangener Stabilität und einem leichten Rückgang (-18 Prozent) Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre. Es folgt Schweden mit der bis Anfang der 80er Jahre am stärksten abnehmender Ungleichheit (-35 Prozent) und anschließend zunächst leichtem, seit Mitte der 90er Jahre stärkerem Anstieg, der aber mit insgesamt 43 Prozent gegenüber 1981 geringer ist als derjenige in Großbritannien. Deutschland zeigt eine relative Stabilität der Einkommensverteilung seit den 70er Jahren (+9 Prozent, d. h. geringster Zuwachs) nach vorherigem, im Vergleich zu den anderen Ländern aber geringsten, Rückgang der Ungleichheit (-9 Prozent bei Zugrundelegung des synthetischen Index), wobei auch hier die späten 70er Jahre den Zeitpunkt mit der höchsten Einkommensgleichheit darstellten. Allerdings ist nicht auszuschließen, dass die Veränderungen in Deutschland tatsächlich stärker sind, aber wegen der im Vergleich zu den anderen Ländern unzureichenderen Erfassung der hohen Einkommen von der EVS nicht abgebildet werden. Tab. 6.9: Die prozentuale Veränderung des Gini-Indexes in den Phasen abnehmender und steigender Einkommensungleichheit D (West) Rang GB Rang S Rang Veränderung ca. 1950 bis -9 -15 -35 ca. 1975 (in Prozent des Wertes 3 2 1 (1950-1978) (1949-1977) (1951-1981) von 1973/1975) Differenz des höchsten und des niedrigsten Wertes (in -9 -18 -35 3 2 1 Prozent des Wertes von 1973/1975) Veränderung ca. 1975 bis +43 +56 +9 ca. 2000 (in Prozent des Wertes 2 3 1 (1981-2000) (1977-2000) (1978-1998) von 1973/1975) Quelle: s. Abb. 6.2.
Ein etwas anderes Bild ergibt sich, wenn man die Daten der Luxembourg Income Study (LIS) heranzieht226 (Tabelle 6.10, Abbildung 6.3): für Großbritannien bleibt zwar das Bild eines starken Anstieges in den 80er und frühen 90er Jahren erhalten, der Anstieg in Schweden wirkt nun aber wesentlich schwächer (der Wert von 2000 liegt etwa um 17
225 226
Vgl. Atkinson/Rainwater/Smeeding (1995: 52). Allerdings scheint das Bild der Veränderungen in Großbritannien und Deutschland kaum von der Wahl der Äquivalenzskala beeinflusst zu werden (vgl. Hills 1995: 109; Becker/Hauser 2003: 183f.). Sie beruhen für die drei Länder auf den gleichen Befragungen wie die oben herangezogenen (mit Ausnahme Deutschlands, wo ab 1984 auf das SOEP zurückgegriffen wurde), aber unter Verwendung einer einheitlichen Äquivalenzskala (Gewichtung mit der Quadratwurzel der Haushaltsmitglieder), vereinheitlichter Einkommensdefinitionen und Behandlung fehlender Werte usw., d. h. mit einem höchst möglichen Maße an Standardisierung (aber leider nur für einzelne Jahre vorliegend). Genauere Angaben finden sich auf der LIS-Webpage (http://www.lisproject.org), wir beziehen uns hier auf den Stand vom 8.3.2004.
211
Prozent über dem von 1975, die Differenz von höchstem und niedrigstem Wert, ausgedrückt in Prozent des Wertes von 1975, beträgt etwa 26 Prozent (gegenüber 43 Prozent nach den nationalen Quellen)), und für Deutschland ist langfristig kaum ein Anstieg festzustellen227. Wie wir weiter erkennen können, hatte die Verteilung des verfügbaren Einkommens im Vereinigten Königreich zunächst eine ähnliche Spreizung wie in Westdeutschland, liegt nach dem Anstieg der 80er Jahre aber nun deutlich über derjenigen der anderen Länder. Schweden weist durchgängig die geringste Ungleichheit der Einkommen auf; diese hat sich aber inzwischen dem stabilen deutschen Niveau angenähert. Tab. 6.10: Die proportionale Veränderung des Gini-Indexes in der Phase steigender Einkommensungleichheit nach der Luxembourg Income Study D (West) Rang GB Rang S Rang Veränderung (in Prozent +26 +29 +3 des Wertes von 1974 (UK) 2 3 1 (1981-2000) (1974-2000) (1989-2000) /1975 (S) / 1973 (D) Differenz des höchsten und des niedrigsten Wertes 7 29 26 (in Prozent des Wertes von 1 3 2 1974 (UK) /1975 (S) / 1973 (D) Quelle: s. Abb. 6.3.
Ein ähnliches Bild wie bei Betrachtung des Gini-Koeffizienten ergibt sich, wenn man das Verhältnis der Einkommen des 90. und des 10. Perzentils heranzieht, ein Maß, das weniger sensibel auf Unterschiede in der Erfassung sehr hoher Einkommen reagiert; allerdings ist hier im Falle Deutschlands in den 90er Jahren gegenüber dem vorangegangenen Jahrzehnt ein höheres, aber stabiles Niveau festzustellen (auf eine graphische Darstellung verzichten wir).
227
212
Um auszuloten, ob das Bild der langfristigen Entwicklung von der Wahl der Äquivalenzskala abhängig ist, wurde der Gini-Index auch für das ungewichtete Haushaltseinkommen und mit gleichem Gewicht für alle Haushaltsmitglieder berechnet (also den Grenzen des Spektrums möglicher Gewichtungen). Tatsächlich zeigt sich eine gewisse Empfindlichkeit der Befunde, insofern z. B. in Großbritannien ohne Äquivalenzgewichtung der Koeffizient durchgehend steigt, während mit einer gleichen Gewichtung aller Haushaltsmitglieder die Werte noch bis Ende der 70er Jahre sinken. Für den Zeitraum danach und für die beiden anderen Länder ergibt sich aber eine weitgehende Übereinstimmung. Vgl. auch Atkinson/ Rainwater/Smeeding (1995: 52-58) mit gleichartigen Sensibilitätstests für verschiedene Ungleichheitsmaße und eine größere Zahl von Ländern.
0,4 0,35 0,3
Gini-Koeffizient
0,25 0,2 0,15 0,1 0,05
19 99
19 97
19 95
19 93
19 91
19 89
19 87
19 85
19 83
19 81
19 79
19 77
19 75
19 73
19 71
19 69
0
Jahr D (LIS): EVS
D (LIS): SOEP
S (LIS): IDS
GB (LIS): FES
GB (LIS): FRS
Abb. 6.3: Entwicklung der Einkommensungleichheit (verfügbares Einkommen) in Westdeutschland, Großbritannien und Schweden nach der Luxembourg Income Study (LIS) Quelle: Luxembourg Income Study (LIS) Key Figures, zugänglich über http://www.lisproject.org/ keyfigures.htm, Stand 11.3.2004.
Für uns ist die Entwicklung im unteren Bereich der Einkommensverteilung besonders wichtig. Sie wird von dem Atkinson-Maß am sensibelsten registriert. Da diese Maßzahl (spezifiziert durch den auf den Wert 1 gesetzten Ungleichheitsaversions-Parameter İ) stärkere Veränderungen anzeigt (bei gleicher Trendrichtung, s. Abbildung 6.4), ist davon auszugehen, dass hinter dem Anstieg der Einkommensungleichheit ein Sinken des Anteils der unteren Perzentile am verfügbaren Einkommen steht. Betrachtet man die Veränderung der Dezilsanteile, zeigt sich denn auch, dass deutliche Bewegungen an den Rändern der Verteilung stattgefunden haben: die obersten Dezile haben im Vereinigten Königreich und Schweden ihren Anteil am verfügbaren Einkommen vergrößert, während die unteren Dezile mit einem geringeren Anteil auskommen müssen. Dies ist primär eine Folge differentieller Zuwächse der Realeinkommen, im Falle des untersten Dezils sogar eines Rückgangs des mittleren Realeinkommens (vgl. Birkel 2004: 16f., 20 und 64-67).
213
0,25
0,2
Atkinson-Maß
0,15
0,1
0,05
19 99
19 97
19 95
19 93
19 91
19 89
19 87
19 85
19 83
19 81
19 79
19 77
19 75
19 73
19 71
19 69
0
Jahr
D (LIS): Atkinson EVS GB (LIS): Atkinson FES
D (LIS): Atkinson SOEP GB (LIS): Atkinson (FRS)
S (LIS): Atkinson
Abb. 6.4: Die Entwicklung der Einkommensungleichheit in Deutschland, Großbritannien und Schweden im Vergleich, 1969-2000 (LIS-Daten, Atkinson-Maß, İ=1) Quelle: Luxembourg Income Study (LIS) Key Figures, zugänglich über http://www.lisproject.org/ keyfigures.htm, Stand 11.3.2004.
Die LIS-Daten ergeben also für alle Länder niedrigere Anstiege der Einkommensungleichheit als die nationalen Quellen228; insgesamt betrachtet weist jedoch alles auf einen langfristigen Anstieg der Einkommensungleichheit seit den 80er Jahren in allen drei Ländern hin, nach einem vorherigen Rückgang seit den 50er Jahren (und auch schon davor). Dieser Anstieg vollzieht sich vor allem durch ein Auseinanderdriften der Ränder der Verteilung. Die Zunahme war in Großbritannien eindeutig am stärksten, in Westdeutschland dagegen sehr gering. Bei Vergleich der absoluten Werte zeigt sich, dass sich in der ersten Teilperiode die Niveaus des Vereinigten Königreichs und Westdeutschlands noch stark ähnelten (bis auf einen höheren Abstand der sehr hohen Einkommen zu dem untersten Dezil in Großbritannien), in der zweiten Periode wies das Vereinigte Königreich nach allen Maßen deutlich die größte Ungleichheit auf229. Schweden weist durchgängig nach allen Kriterien die niedrigste Ungleichheit auf (Tabellen 6.11 und 6.12).
228
229
214
Was auch daran liegen dürfte, dass in dieser Quelle u.a. (z. B. neben Stipendien für Studenten) Kapitalgewinne ausgeschlossen werden und es Abschneidegrenzen an den Rändern der Verteilung (das Zehnfache des Medians bzw. ein Prozent des mittleren Einkommens) gibt, sodass die zunehmende Bedeutung von Kapitalgewinnen und Veränderungen der Besetzung sehr hoher und sehr niedriger Einkommenspositionen weniger Einfluss haben. Vgl. Björklund (1998: 59); Homepage der LIS (http://www.lisproject.org , wir beziehen uns hier auf den Stand 8.3.2004). Die Daten suggerieren, dass das Niveau der Einkommensungleichheit in Westdeutschland in der zweiten Periode niedriger war; dies ist nicht der Fall. Die niedrigeren Werte sind durch einen Wechsel der Datenquelle (ab 1984 SOEP statt EVS) für Deutschland in der LIS verursacht.
Tab. 6.11: Durchschnittliche Einkommensungleichheit des äquivalenzgewichteten verfügbaren Haushaltseinkommens nach verschiedenen Maßen, ca. 1970 - ca.1980 D (West) UK S Gini-Koeffizient 0,27 0,27 0,21 Rang 2 2 1 90-10-Verhältnis 3,14 3,39 2,58 Rang 2 3 1 Atkinson-Maß 0,12 0,12 0,08 Rang 2 2 1 durchschnittlicher Rang 2,0 2,3 1,0 Quelle: Luxembourg Income Study (LIS) Key Figures, zugänglich über http://www.lisproject.org/ keyfigures.htm, Stand 11.3.2004. Tab. 6.12: Durchschnittliche Einkommensungleichheit des äquivalenzgewichteten verfügbaren Haushaltseinkommens nach verschiedenen Maßen, ca. 1980 - ca. 2000 D (West) UK S Gini-Koeffizient in % 0,25 0,32 0,22 Rang 2 3 1 90-10-Verhältnis 3,13 3,66 2,70 Rang 2 3 1 Atkinson-Maß 0,11 0,18 0,10 Rang 2 3 1 durchschnittlicher Rang 2 3 1 Quelle: Luxembourg Income Study (LIS) Key Figures, zugänglich über http://www.lisproject.org/ keyfigures.htm, Stand 11.3.2004.
6.2.3.1.1 Ungleichheit der langfristigen Einkommensniveaus und Einkommensmobilität Die im vorangegangenen Abschnitt vorgestellten Zahlen beziehen sich auf die Verteilung von Jahreseinkommen. Für den Lebensstandard ist vermutlich aber das langfristige Einkommensniveau relevanter (kurzfristige Einkommensfluktuationen können unter Umständen durch Rückgriff auf Ersparnisse ausgeglichen werden), und dieses könnte sich theoretisch erheblich vom kurzfristigen unterscheiden, wenn in einer Gesellschaft ein hohes Maß an Einkommensmobilität besteht. Insbesondere ist die Annahme nicht unplausibel, dass in den Gesellschaften mit liberalen Wohlfahrtssystemen die Einkommensmobilität sehr hoch und die Ungleichheit der langfristigen Einkommensniveaus erheblich geringer ist als diejenige, die sich bei kurzfristiger Betrachtung ergibt. Möglicherweise wäre dann in langfristiger Perspektive die Einkommensungleichheit in Großbritannien nicht höher als in den anderen Ländern. Anders Björklund hat die Ergebnisse einiger Längsschnittanalysen bezüglich dieser Frage zusammengetragen (Björklund 1998). Sie legen nahe, dass x
x
die Ungleichheit der langfristigen durchschnittlichen Einkommen (sowohl Marktwie verfügbare Einkommen) i.d.R. spürbar niedriger ist als die der Jahreseinkommen, wobei die Variation der proportionalen Differenz im internationalen Vergleich sehr gering ist die Niveauunterschiede zwischen den Ländern bei Vergleich der Spreizung der langfristigen Einkommen bestehen bleiben. Insbesondere ist die Ungleichheit der langfristigen Einkommen in Schweden und Deutschland wesentlich niedriger als in den USA, und in Deutschland (zumindest was die Markteinkommen betrifft) 215
x
x
niedriger als in Großbritannien (ein Vergleich zwischen Großbritannien und Schweden lag nicht vor) die proportionale Differenz von Maßen kurz- und langfristiger Einkommensungleichheit, die als ein Indikator für das Maß an Einkommensmobilität aufgefasst werden kann, in Deutschland größer ist als in den USA (Markteinkommen und verfügbares Einkommen) und Großbritannien (Markteinkommen). Auch in Schweden ist die Mobilität der verfügbaren Einkommen größer als in den USA, nicht aber die der Markteinkommen230. Die Unterschiede in der (relativen) Einkommensmobilität sind freilich nicht sehr ausgeprägt. auch die intergenerationelle Mobilität in Bezug auf die Arbeitseinkommen in Deutschland und Schweden höher als in den USA ist (Vergleiche mit Großbritannien lagen nicht vor231).
Neuere Untersuchungen232 bestätigen im wesentlichen dieses Bild, was den Vergleich zwischen Deutschland, Schweden und den USA sowie liberalen, konservativen und sozialdemokratischen Regimen im allgemeinen betrifft (Österberg 2000; Ayala/Sastre 2002; Muffels/Frick/Uunk 2004; Gangl 2005; Aaberge et al. 2002). Allerdings enthalten sie auch einige Hinweise darauf, dass die Einkommensmobilität inzwischen in Großbritannien etwas größer als in Westdeutschland ist, ohne dass sich dadurch eine Rangplatzvertauschung bei der Einkommensungleichheit ergibt (Muffels/Frick/Uunk 2004; Ayala/Sastre 2002; Schluter 1998; Gangl 2005)233. Zudem scheint die intergenerationelle Einkommensmobilität in Westdeutschland größer als in Großbritannien, aber allenfalls geringfügig höher als in den USA zu sein (Corak 2004; Grawe 2004; Couch/Lillard 2004; Couch/Dunn 1999). Es ist also zu vermuten, dass die Performanz Großbritanniens auch bei Betrachtung der langfristigen Einkommensungleichheit und der Einkommensmobilität schlechter als zumindest diejenige Schwedens, wahrscheinlich auch Deutschlands ist. Allgemein gilt: "Low cross-sectional inequality, low income insecurity, and nevertheless open and dynamic economic structures are thus a joint outcome of, especially, social democratic and corporatist welfare regimes in Europe" (Gangl 2005: 160). 6.2.3.1.2 Die Umverteilungswirkung von Steuern und Transfers Welchen Einfluss haben mit Geldtransfers verbundene wohlfahrtsstaatliche Programme und das Steuersystem auf die Einkommensverteilung? Einen ersten Hinweis gibt der Vergleich der Spreizung der Markteinkommen mit der Verteilung der verfügbaren Einkommen.
230 231 232 233
216
Absolut betrachtet ist die Mobilität in den USA jedoch größer als in europäischen Ländern, was allerdings nicht ausreicht, um das wesentlich höhere Ausmaß an Ungleichheit zu kompensieren. Die für dieses Land ermittelten Korrelationen zwischen dem Einkommen von Vätern und Söhnen lagen über den für Deutschland und Schweden ermittelten, mit denen sie allerdings nicht vergleichbar sind. Für Überblicke vgl. Gangl (2005: 142-145) und Corak (2004). Dies gilt obwohl, wie Gangl (2005: 151) anmerkt, die Einkommensmobilität in Deutschland nach der Wiedervereinigung offenbar deutlich abgenommen hat.
Tab. 6.13: Reduktion des Gini-Koeffizienten durch Steuern und Transferzahlungen D (West): D (West): GB: % S: % % % Veränderung Veränderung Veränderung Veränderung Gini durch Gini durch Gini durch Jahr Gini durch Transfers + Transfers + Transfers + Transfers + Steuern (IDS) Steuern (FES) Steuern Steuern (EVS) (SOEP) 1969 25,8 1973 24,7 1974 27,6 1975 47,6 1978 32,3 1979 32,5 1981 52,0 1983 35,0 1984 40,0 1986 36,9 1987 49,3 1989 37,2 1991 30,0 1992 51,3 1994 36,9 1995 53,0 32,5 1999 2000 40,7 44,0 Durchschnitt Periode bis 1983/1981/1979 Rang Durchschnitt Periode von 1983/1981/1979 bis 1999/2000 Rang
GB: % Veränderung Gini durch Transfers + Steuern (FRS)
33,5 32,4
30,7
49,8
28,7
2
1
3
38,7
49,9
33,0
2
1
3
Quelle: eigene Berechnungen mit Daten der Luxembourg Income Study, Stand 25.3.2004.
Tabelle 6.13 zeigt die Entwicklung der prozentualen Differenz der Gini-Koeffizienten für Markteinkommen und verfügbares Einkommen nach der LIS; diese Differenz entspricht der gesamten Umverteilungswirkung von Steuern und Transfers (einschließlich privater Transfers, wobei deren Bedeutung allerdings gering ist)234. Wie zu erkennen ist, hat in allen
234
Die Umverteilungswirkung von Transfers ist nicht nur im Hinblick auf die letztlich resultierende Ungleichheit der verfügbaren Einkommen und als Indikator für das Maß, in dem staatliche Interventionen das Wirken von Marktkräften ausgleichen (also die Stärke des kooperativen Individualismus auf insti-
217
drei Ländern die Reduktion der Einkommensungleichheit bis in die 80er Jahre zugenommen. Danach verharrte sie in Deutschland auf stabilem Niveau (nahm nach der EVS allerdings in der zweiten Hälfte der 90er Jahre ab), sank in England bereits in den 80er Jahren deutlich, in Schweden dagegen erst etwa 10 Jahre später. Schweden ist auch das einzige Land, in dem der gegenwärtige Umverteilungseffekt unter demjenigen zu Beginn der Reihe liegt. Durch die Abnahme der Umverteilungsintensität wurden bereits früher erfolgte Anstiege der Ungleichheit der Markteinkommen verzögert in eine solche der verfügbaren Einkommen umgesetzt. Dabei war die Verteilungswirkung der Steuern und Transfers in Großbritannien bis Mitte der 80er Jahre – vermutlich bis zu den ersten tiefgreifenden Einschnitten bei den Sozialleistungen, die 1986 beschlossen wurden – durchaus mit der des deutschen Systems vergleichbar (das zeigt auch der Vergleich der Durchschnitte für die Perioden von den 70er bis in die frühen 80er Jahre und danach), sank dann aber deutlich ab. Tab. 6.14: Reduktion des Gini-Koeffizienten durch Steuern und Transferzahlungen in der aktiven Bevölkerung (Haushaltsvorstände sind zwischen 25 und 59 Jahre alt) BRD: % GB: % GB: % BRD: % Veränderung S: % Veränderung Veränderung Veränderung Gini durch Veränderung Gini durch Gini durch Gini durch Transfers + Gini durch Jahr Transfers + Transfers + Transfers + Steuern (EVS, Transfers + Steuern Steuern Steuern 1981: Social Steuern (IDS) (FRS) (FES) (SOEP) Transfer Survey) 1981 14,1 32,8 1983 13,0 1984 19,3 1986 27,8 1987 27,1 1989 17,4 1991 18,6 1992 33,6 1994 22,7 23,8 1995 40,4 26,4 1999 23,5 2000 28,5 35,2 Durchschnitt Periode von 1981/1986 bis 1999/2000
19,2 (1984-2000: 22,0)
33,8
24,0
3
1
2
Rang Quelle: Mahler und Jesuit (2004: 48f.).
tutioneller Ebene) von Interesse, sondern auch, weil sie das generalisierte Vertrauen (s. Kap. 6.2.2) begünstigt, wie Bornschier (2001) in einer ländervergleichenden Studie zeigt.
218
Die Verteilungswirkung des schwedischen Systems war durchgehend die höchste, näherte sich aber Ende der 90er Jahre derjenigen in Westdeutschland an, das, was die Entwicklung der Umverteilungswirkung betrifft, durchgängig den ersten Platz einnimmt. Die bisherigen Vergleiche sind in dem Sinne "unfair", als wir nicht berücksichtigt haben, dass die Verteilungswirkung von Steuer- und Sozialsystemen durch die primäre Einkommensverteilung sowie die demographische Zusammensetzung der Bevölkerung konditioniert wird (Gardiner 1997: 48f.): progressive Steuersysteme führen z. B. dazu, dass die Umverteilungswirkung der Einkommenssteuer mit zunehmender Ungleichheit automatisch zunimmt, sodass ein schwach progressiver Steuertarif bei hoher Ungleichheit der Markteinkommen eine höhere Umverteilungswirkung haben kann als ein stark progressiver Tarif bei geringer Ungleichheit der Markteinkommen. Unterschiede und Veränderungen sind also eigentlich in diejenigen Anteile zu zerlegen, die Veränderungen/Unterschieden in Steuer- und Sozialsystemen, und solchen in den anderen Faktoren zuzuschreiben sind. Zu diesen gehören – neben häufig genannten Größen wie Globalisierungsprozessen oder sektoralem Wandel – der Einfluss staatlicher Politiken auf die primäre Einkommensverteilung (z. B. durch Mindestlohngesetzgebung und gesetzliche Grenzen für Einkommenssteigerungen; vgl. Goodman/Johnson/Webb 1997: 168f.), nichtmonetäre Transfers (einschließlich der Verteilungswirkung der Bereitstellung öffentlicher Infrastruktur und Dienstleistungen) sowie der Einfluss von Umverteilungspolitiken auf Verhaltensweisen, die für die Einkommensverteilung relevant sind. Bei einem anderen Transfersystem sähe also die primäre Einkommensverteilung anders aus. Dies ist vor allem im Hinblick auf die Altersvorsorge zu bedenken: Ohne öffentliche Rentenversicherung – deren Renten als Transfers verbucht werden – wären aufgrund der höheren Bezüge aus privaten Renten die Markteinkommen höher und deren Verteilung anders, und wegen der geringeren Differenz von Markt- und verfügbaren Einkommen wäre die Umverteilungswirkung von Transfers niedriger (Goodman/Shephard 2002: 29; Björklund 1998: 46; Ritakallio 2001: 11f.). Der Einfluss der öffentlichen Rentenversicherung wird neutralisiert, wenn man den Umverteilungseffekt nur für die aktive Bevölkerung betrachtet. Mahler und Jesuit (Mahler/Jesuit 2004) haben eine solche Berechnung für die Periode seit den 80er Jahren vorgenommen (Tabelle 6.14): Wie zu sehen ist, ist der Umverteilungseffekt für die Einkommen der aktiven Bevölkerung erheblich niedriger als für die Gesamtbevölkerung, wobei die Differenz für Deutschland und Schweden größer ist als im Falle des Vereinigten Königreichs. Betrachtet man den Durchschnitt, liegt das Vereinigte Königreich nun etwas vor Deutschland, Schweden bleibt jedoch das Land mit der stärksten Umverteilungswirkung. Die Luxembourg Income Study bietet zudem die Möglichkeit, durch Umgewichtung der einzelnen Haushalte deren strukturelle Zusammensetzung konstant zu halten und dadurch den Einfluss demographischer Veränderungen teilweise auszuschalten, die neben staatlichen Politiken die Umverteilungswirkung der Transfersysteme beeinflussen. Wir haben die Verläufe der Umverteilungswirkung berechnet, die sich bei einer demographischen
219
Struktur der Bevölkerung in allen Ländern und allen Jahren wie in Großbritannien (dem Land mit der geringsten Umverteilungswirkung) in 1969 ergeben hätten (Abbildung 6.5)235. Für Westdeutschland würde sich ein niedrigeres Niveau der Reduktion des GiniKoeffizienten ergeben – nach den Daten der EVS läge es sogar unter dem britischen; der Verlauf bliebe bei einer deutlich größeren Dynamik jedoch ähnlich. Für Schweden hätte sich dagegen nach einem zunächst (bis Mitte der 90er Jahre) schwächeren Zuwachs ein gegenüber den unstandardisierten Werten deutlich höherer Anstieg der Umverteilungswirkung ergeben, gefolgt von einem schwächeren Abfall (der aber die Anstiege bis Mitte der 90er Jahre übertrifft). Die gute Performanz des schwedischen Systems ist also nicht einfach auf eine günstigere Bevölkerungsstruktur zurückzuführen236. Die angeführten Befunde und die Rangplätze der Länder bleiben auch bei Heranziehung unterschiedlicher Standardbevölkerungen erhalten. Insofern können wir mit einer gewissen Sicherheit annehmen, dass die Umverteilungswirkung von Steuern und Transfers in Schweden am höchsten ist, während sie in Großbritannien erheblich niedriger ausfällt. Weniger eindeutig sind die Befunde bezüglich Deutschlands, da sie je nach Datenquelle und Berechnungsweise teilweise über, teilweise unter dem britischen Niveau liegen.
235
236
220
Wir haben uns dabei am Vorgehen von Kangas und Ritakallio (Kangas/Ritakallio 1999) orientiert. Für das Basisjahr wurden zunächst zusammengefasste demographische Kategorien gebildet. Anschließend wurde eine Variable für die Merkmalskombinationen gebildet und die Prozentanteile der einzelnen Merkmalskombinationen in der gewichteten Stichprobe des Basisjahres berechnet. Die Variable für die Merkmalskombinationen wurde ebenfalls für das Zieljahr und die Zielstichprobe berechnet. Anschließend wurden modifizierte Hochrechnungsgewichte ermittelt, bei denen die Hochrechnungsfaktoren so modifiziert wurden, dass die Anteile der Merkmalskombinationen an der gewichteten Stichprobe denjenigen im Basisjahr entsprachen. Im nächsten Schritt wurden auf dem üblichen Weg Gini-Koeffizienten für das Markteinkommen und das verfügbare Einkommen berechnet, wobei als Äquivalenzgewicht die Quadratwurzel der Haushaltsmitglieder herangezogen und die empfohlenen Prozeduren für „Top“- und „BottomCoding“ angewandt wurden (auch für das Markteinkommen). Die Berechnungen bezogen sich auf alle Haushalte mit einer Angabe zum verfügbaren Einkommen, d. h. auch auf Haushalte mit einem Markteinkommen von Null; negative Werte beim Markteinkommen wurden als Missing Values behandelt. Gleichartige Berechnungen wurden auch unter Zugrundelegung der Bevölkerungsstruktur der Stichproben der ersten Wellen für die jeweils anderen Länder berechnet, sodass für jedes Land und jedes Jahr GiniKoeffizienten auf Basis einer Bevölkerungsstruktur wie in Deutschland 1973, England 1969 und Schweden 1975 vorlagen. Es ist allerdings nicht möglich, die Zusammensetzung der Stichproben exakt konstant zu halten, da nicht alle Merkmalskombinationen in der Basis-Stichprobe sich auch in der ZielStichprobe finden und umgekehrt. Der letztere Fall ist weniger problematisch, insofern es sich hier um genau jene Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur handelt, die durch die Standardisierung ausgeschaltet werden sollen. Haushalte, bei denen letzteres zutrifft, wurden daher ausgeschlossen (mit der Folge, dass der Umfang der umgewichteten hochgerechneten Zielpopulation kleiner ist als ohne Standardisierung). Ersteres führt aber dazu, dass die Struktur der Zielstichprobe zwangsläufig nicht exakt der Basisstichprobe entspricht. Die Abweichungen der Prozentanteile der einzelnen Merkmalskombinationen sind allerdings i.d.R. gering. Zwangsläufig unberücksichtigt blieben zudem reziproke Effekte des Transfersystems auf die primäre Einkommensungleichheit, vermittelt etwa über Veränderungen im Erwerbsverhalten, im generativen Verhalten etc. Die Berechnungen zeigen zudem, dass sich bei Zugrundelegung der deutschen Bevölkerungsstruktur von 1973 oder der schwedischen von 1975 als Standard bezüglich der Entwicklung im Zeitverlauf nur geringe Unterschiede gegenüber den Resultaten mit der britischen Bevölkerung von 1969 als Referenz ergeben. Differenzen zeigen sich v.a. bei dem ermittelten Niveau der Umverteilung, ohne dass sich dadurch die Rangfolge der Länder verändert.
Reduktion des Gini-Koeffizienten in %
70
60
50
40
30
20
10
2000
1999
1998
1997
1996
1995
1994
1993
1992
1991
1990
1989
1988
1987
1986
1985
1984
1983
1982
1981
1980
1979
1978
1977
1976
1975
1974
1973
1972
1971
1970
1969
1968
1967
0
Jahr D: % Veränderung (EVS)(unstandardisiert)
D: % Veränderung (SOEP)(unstandardisiert)
S: % Veränderung (unstandardisiert)
UK: % Veränderung (FES) (unstandardisiert)
UK: % Veränderung (FRS)(unstandardisiert)
D: % Veränderung Gini durch Transfers + Steuern (EVS)
D: % Veränderung Gini durch Transfers + Steuern (SOEP)
S: % Veränderung Gini durch Transfers + Steuern (IDS)
UK: % Veränderung Gini durch Transfers + Steuern (FES)
UK: % Veränderung Gini durch Transfers + Steuern (FRS)
Abb. 6.5: Reduktion des Gini-Koeffizienten durch Transfers und Steuern bei Konstanthalten der demographischen Struktur (Basisjahr GB 1969) in Westdeutschland, Großbritannien und Schweden Quelle: eigene Berechnungen mit Daten der Luxemburg Income Study (LIS), Stand 28.5.2004.
Bisher haben wir in unserem Vergleich nur Transferzahlungen und Steuern, nicht aber soziale Dienstleistungen berücksichtigt, da es schwierig ist, diese in Einkommensbestandteile der einzelnen Haushalte zu transformieren. Mahler und Jesuit (Mahler/Jesuit 2004: 35) haben allerdings für 1999/2000 einen groben Vergleich der Umverteilungswirkung von Bildungsausgaben vorgenommen (indem sie den Haushalten das Produkt der Anzahl der Kinder mit den durchschnittlichen öffentlichen Bildungsausgaben pro Schüler als Einkommen zugeordnet haben): die Umverteilungswirkung der Bildungsausgaben war demnach im Großbritannien mit 7,1 Prozent am größten, gefolgt von Deutschland (4,5 Prozent) und Schweden (3,7 Prozent)237. Der Abstand zwischen Schweden und Großbritannien verringert sich also, wenn dieser Faktor berücksichtigt wird. Garfinkel et al. (vgl. Garfinkel/Rainwater/Smeeding 2004) haben eine ähnliche Berechnung vorgelegt, die zusätzlich noch gesundheitsbezogene Sach- und Dienstleistungen berücksichtigt, und kommen zu dem Ergebnis, dass hierdurch die Abstände zwischen den Ländern erheblich schrumpfen, ohne zu verschwinden238. Ob dieses Ergebnis auch für andere Arten
237 238
Allgemein war der Effekt bei den Regimen des liberalen Typs am höchsten, insgesamt lagen die USA mit 11 Prozent an der Spitze. Die Ergebnisse sind allerdings sehr empfindlich gegenüber den getroffenen Annahmen über die Verteilung dieser Dienstleistungen (Gleichverteilung) und den Gegenwert globaler Ausgaben (dass also der Wert für die Leistungsempfänger den Aufwendungen entspricht, was bei Dienstleistungen zweifelhaft ist).
221
öffentlicher Dienstleistungen gilt, ist damit freilich noch nicht gesagt: Kinderbetreuungseinrichtungen sind z. B. in Schweden wesentlich stärker ausgebaut als in Großbritannien. 6.2.3.1.3 Die Umverteilungseffizienz der Sozialsysteme239 Sowohl in normativer Hinsicht als auch angesichts begrenzter Ressourcen ist die Effizienz, mit der umverteilt wird, ein wichtiges Kriterium für die Beurteilung der Performanz von Wohlfahrtsregimen. Häufig wird die Annahme vertreten, dass liberale Wohlfahrtsstaaten zwar möglicherweise ineffektiver, aber effizienter als sozialdemokratische oder konservative umverteilen, da bei ihnen Armutsbekämpfung (und nicht, wie bei konservativen Regimen, Statuserhalt) das dominante Ziel und bedarfsgeprüfte Leistungen (die im Gegensatz zu universellen oder beitragsfinanzierten Leistungen nur an einkommensschwache Personen gezahlt werden) das bevorzugte Mittel seien (z. B. Castles/Mitchell 1993; vgl. Korpi/ Palme 1998: 662f. für einen Überblick). Dabei ist aufgrund der einheitlichen Höhe der Leistungen bei universalistischen Programmen von einem stärker nivellierenden Effekt auszugehen, als er bei Programmen gemäß dem Sozialversicherungsprinzip zu erwarten ist (s.o). Demnach würde vielleicht doch das Effizienzargument trotz der möglichen unerwünschten Nebenfolgen (s.o.) für bedarfsgeprüfte Programme sprechen. Nach Korpi und Palmes These des "Umverteilungsparadoxons" (s. Korpi/Palme 1998) ist der Preis der Effizienz allerdings geringe Effektivität: effektive Umverteilungspolitiken müssen ihnen zufolge notwendig ineffizient sein, um politische Unterstützung zu finden: nur wenn auch Mittelschichtangehörige (die nicht einkommensschwach sind) von ihnen profitieren, finden voluminöse Programme auch in dieser Gruppe Akzeptanz. Umgekehrt seien selektive Programme zwangsläufig ineffektiv, da das hierfür notwendige Transfervolumen keine Unterstützung bei den Mittelschichten (die nicht zu den Nutznießern gehörten) fände. Wir würden demnach die größte Umverteilungseffizienz im Vereinigten Königreich, gefolgt von Schweden und Westdeutschland erwarten. Im Zeitverlauf sollte die Effizienz zunächst (in der Periode der wohlfahrtsstaatlichen Expansion, die im wesentlichen durch Ausbau von beitragsfinanzierten Systemen erfolgte) nachgelassen haben. Nach der Logik des Arguments von Korpi und Palme ist zu erwarten, dass in der folgenden Periode der Begrenzung von Sozialausgaben (vor allem in Großbritannien und Schweden) Einsparungen zunächst bei den Politiken mit der schwächsten politischen Unterstützung, also bedarfsgeprüften Programmen, vorgenommen wurden, sodass die Umverteilungseffizienz weiter abgenommen haben sollte. Bezieht man den Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt auf die durch Transfers erzielte Reduktion der Einkommensgleichheit, erhält man ein Maß für die Effizienz des Transfersystems. Zu bedenken ist dabei, dass – wie erwähnt – der GiniKoeffizient vor allem auf Veränderungen in der Mitte der Verteilung reagiert, während z. B. das Atkinson-Maß sensibel gegenüber Veränderungen im unteren Bereich reagiert: erzielt ein System Umverteilungseffekte vorwiegend im Bereich niedriger Einkommen,
239
222
Der folgende Abschnitt stützt sich weitgehend auf Birkel (2006).
2,5
2
1,5
1
0,5
UK (FES)
S
UK (FRS)
1999
1997
1995
1993
1991
1989
Jahr
D (EVS)
1987
1985
1983
1981
1979
1977
1975
1973
1971
0 1969
Reduktion des Gini-Koeffizienten durch Transfers / Anteil der Sozialausgaben am GDP
wird der Atkinson-Koeffizient stärker reduziert, als wenn vor allem innerhalb des mittleren Einkommensbereichs umverteilt wird; unser Maß wird dem entsprechend im ersten Fall eine hohe, im zweiten eine niedrige Effizienz indizieren. Nach Maßgabe der Reduktion des Gini-Koeffizienten wird es umgekehrt sein. Insofern ist nach Korpis und Palmes Überlegungen zu erwarten, dass Grundsicherungssysteme (wie in Großbritannien) bei Verwendung des Atkinson-Maßes eine hohe Effizienz aufweisen, während dies auch für "umfassende" Systeme (wie in Schweden) gelten könnte, wenn man den Gini-Index heranzöge. Bei der gewählten Berechnungsweise ohne Berücksichtigung des Verteilungseffektes von Steuern und des Rückflusses von Geldern durch Besteuerung von Sozialleistungen wird Schweden benachteiligt, da hier Transferzahlungen zum größten Teil steuerpflichtig sind, was dazu führt, dass die Sozialleistungsquote nach Steuern240 deutlich niedriger ist; die Besteuerung von Sozialleistungen spielt im Vereinigten Königreich und Deutschland dagegen nur eine geringe Rolle (vgl. Ferrarini/Nelson 2002).
D (SOEP)
Abb. 6.6: Entwicklung der Umverteilungseffizienz in Westdeutschland, Großbritannien und Schweden, 1969-2000 (basierend auf dem Gini-Index; Daten der OECD zu Sozialausgaben) Quelle: eigene Berechnungen mit Daten der Luxembourg Income Study, Stand 25.3.2004, aus dem Comparative Welfare States Data Set (Huber/Ragin/Stephens 1997) und in OECD (2001a: 67).
Abbildung 6.6 und Abbildung 6.7 zeigen die Entwicklung beider Varianten. Für das auf dem Gini-Index beruhende Maß zeigt sich für alle drei Länder ein nicht-linearer Verlauf, d. h. zunächst eine Zunahme (am stärksten im Vereinigten Königreich, am schwächsten in
240
Wir haben Bruttosozialleistungsquoten herangezogen, weil Nettosozialleistungsquoten nur für die 90er Jahre verfügbar sind.
223
7
6
5
4
3
2
1
D: EVS
D: SOEP
UK: FES
1999
1997
1995
1993
1991
1989
Jahr S
1987
1985
1983
1981
1979
1977
1975
1973
1971
0
1969
Verhältnis der Reduktion des AtkinsonKoeffizienten durch Transfers zum Anteil der Sozialausgaben am GDP
Schweden), aber seit etwa Mitte der 80er Jahre (in Deutschland später) eine Abnahme, wobei in Deutschland der geringste Rückgang zu verzeichnen ist241. Der Verlauf entspricht also nur bedingt den Erwartungen242. Die Abnahme der Umverteilungswirkung der Transfersysteme (vgl. oben) war aber, wie erwartet, von einem Verlust an Effizienz begleitet, sodass sie in Großbritannien und Schweden gegen Ende der Untersuchungsperiode geringer als zu Beginn war (wobei in Großbritannien freilich eine erneute Zunahme der Effizienz zu beobachten war). Insgesamt scheint (bei Zugrundelegung des Gini-Koeffizienten) die Umverteilungseffizienz in Schweden am größten zu sein, gefolgt von Großbritannien und Deutschland.
UK: FRS
Abb. 6.7: Entwicklung der Umverteilungseffizienz in Westdeutschland, Großbritannien und Schweden, 1969-2000 (basierend auf dem Atkinson-Index; Daten der OECD zu Sozialausgaben) Quellen: eigene Berechnungen mit Daten der Luxembourg Income Study, Stand 25.3.2004, aus dem Comparative Welfare States Data Set (Huber/Ragin/Stephens 1997) und in OECD (2001a: 67).
Nach dem auf dem Atkinson-Index beruhenden Maß weist das Vereinigte Königreich dagegen unabhängig von der Datenquelle für die Sozialausgaben die größte Umverteilungseffizienz auf. Die Rangfolge der beiden anderen Länder hat im Beobachtungszeitraum ge-
241
242
224
Zugrunde gelegt wurden die Gini-Koeffizienten für das Markteinkommen bzw. das Markteinkommen zuzüglich öffentlicher Transfers aus der LIS sowie der Anteil der Sozialausgaben am BIP nach Definition der OECD (entnommen aus dem „Comparative Welfare States Data Set“ (vgl. Huber/Ragin/Stephens 1997) sowie OECD (2001a: 67). Die Ergebnisse sind aber sehr sensibel für die gewählte Datenbasis: Bei ähnlicher Entwicklung im Zeitverlauf ergibt sich eine völlig andere Reihenfolge der Länder, wenn man statt der Daten der OECD zu den Sozialausgaben diejenigen der ILO heranzieht, die neben monetären Transfers auch Sachleistungen (die nicht zu den erhobenen Einkommensbestandteilen gehören) enthalten: Großbritannien belegt nun den Spitzenplatz, gefolgt von Schweden und Deutschland.
wechselt: zunächst belegte Schweden, dann Deutschland den zweiten Platz. Wie erwartet, ist das britische System also vor allem bezüglich der Umverteilung im unteren Einkommensbereich effizient, das schwedische bezüglich der Nivellierung in der Mitte der Verteilung. Im Zeitverlauf zeigen sowohl Großbritannien als auch Schweden bis Anfang der 90er Jahre wie erwartet eine langfristig abnehmende Tendenz, allerdings gefolgt von einer leichten Zunahme in Schweden. In Deutschland nahm dagegen die Effizienz bis Ende der 80er Jahre zu, bis 1994 nahm sie dann etwas ab. Im Mittel der Beobachtungen zwischen 1969 und 1983 war mit jedem Prozent des BIP, das für Sozialausgaben verwendet wurde, in Großbritannien eine Reduktion des Atkinson-Index um 3,6 Prozent verbunden, in Schweden und Deutschland eine Abnahme von 2,7 bzw. 2,4 Prozentpunkten; im Durchschnitt der Jahre 1984-2000 waren es 3,3 (GB), 2,2 (S) und 2,9 (D) Prozent. Das bisher verwendete Effizienzmaß bezog sich nur auf die Differenz von Markteinkommen und Einkommen nach Transfers, aber vor Steuern – Rückflüsse über die Besteuerung von Sozialleistungen blieben unberücksichtigt. Alternativ kann man die Sozialausgaben nach Abzug von Steuern auf Transfers ("net cash public social expenditure", d. h. Sozialleistungsquote nach Abzug direkter Steuern auf Sozialleistungen) auf die Differenz von Markteinkommen und verfügbaren Einkommen (also nach Transfers und Steuern) beziehen. Derartige Netto-Sozialleistungsquoten liegen allerdings nur für wenige Jahre vor. Für Mitte der 90er Jahre wurde auf ihrer Basis die pro eingesetztem Prozent des BIP erzielte Umverteilungswirkung berechnet; daraus ergibt sich folgendes Ergebnis: In Schweden betrug die proportionale Reduktion des Gini-Koeffizienten 1,6 Prozent, gefolgt vom Vereinigten Königreich mit 1,3 Prozent und Westdeutschland mit 1,2 Prozent, d. h. Schweden führt auch nach diesem Maß, Deutschland nimmt aber mit geringem Abstand zu GB den letzten Platz ein243. Bei Verwendung der Reduktion des Atkinson-Maßes im Zähler ergibt sich – wie erwartet – eine andere Reihenfolge: GB (2,7 Prozent), S (2,5) und D (2,4). Um Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur zu kontrollieren, haben wir zudem die Umverteilungseffizienz im Sinne einer prozentualen Reduktion des Gini-Koeffizienten je konstantem Dollar an Steuern und Transfers pro Kopf bei Einfrieren der Bevölkerungsstruktur auf die Zusammensetzung des jeweils ersten Jahres bzw. bei einer Bevölkerungsstruktur wie im Vereinigten Königreich 1969 durchgeführt. Nach unseren Ergebnissen werden zwar die Entwicklungsverläufe der Umverteilungseffizienz kaum durch Unterschiede in und Veränderungen der Bevölkerungsstruktur beeinflusst, wohl aber die Niveauunterschiede zwischen den Ländern: sie fallen bei Ausschaltung von Kompositionseffekten deutlich niedriger aus. Inhaltlich ist interessant, dass sich zwar bei Verwendung dieses Maßes die erwartete Abfolge der Länder mit deutlicheren Abständen einstellt, d. h. Großbritannien zeigt die größte und Schweden die niedrigste Umverteilungseffizienz, aber in den 90er Jahren ist eine starke Konvergenz zu beobachten und um 2000 sind die Differenzen nur noch gering. Eine alternative Operationalisierung des Konzepts der Umverteilungseffizienz besteht darin, nicht das Transfervolumen auf den erzielten Effekt zu beziehen, sondern die
243
Die Daten bezogen sich auf 1994 (Westdeutschland, als Wert für die Netto-Sozialleistungsquote wurde das Mittel der Jahre 1993 und 1995 verwendet) bzw. 1995 (UK, S); die Werte wurden Adema (2001: 39, 41) entnommen.
225
Konzentration der Transfers auf die Haushalte mit dem geringsten Einkommen zu messen. Mahler/Jesuit 2004 haben ein solches Maß berechnet, das den Wert -1 annimmt, wenn die ärmste Person alle Transfers bekommt, und den Wert +1, wenn die reichste Person alle Transfers bezieht (Tab. 6.15). Im Zeitverlauf ist für Deutschland zunächst eine zunehmende, dann aber nachlassende Effizienz zu beobachten, in Schweden ein umgekehrter Verlauf, und für das Vereinigte Königreich eine gegenüber 1986 gestiegene, aber relativ stabile Effizienz in den 90er Jahren. Ähnlich wie bei dem auf dem Atkinson-Index basierten Effizienzmaß führt im Vergleich der langfristigen Durchschnitte – in Übereinstimmung mit der These vom "Umverteilungsparadox" – Großbritannien nun die Rangliste an, und Schweden zeigt die geringste Effizienz. Allerdings: das Ergebnis wäre für Schweden vermutlich günstiger, wenn die Konzentration der Transfers nach Abzug von Steuern berechnet worden wäre. Tab. 6.15: Index für die Konzentration der Transfers in der BRD, Schweden und Großbritannien BRD: % GB: % GB: % BRD: % Veränderung S: % Veränderung Veränderung Veränderung Gini durch Veränderung Gini durch Gini durch Gini durch Transfers + Gini durch Jahr Transfers + Transfers + Transfers + Steuern (EVS, Transfers + Steuern Steuern Steuern 1981: Social Steuern (IDS) (FRS) (FES) (SOEP) Transfer Survey) 1981 -0,189 -0,050 1983 -0,240 1984 -0,199 1986 -0,228 1987 -0,015 1989 -0,276 1991 -0,326 1992 -0,027 1994 -0,236 -0,292 1995 -0,101 -0,303 1999 -0,322 2000 -0,200 -0,119 Durchschnitt -0,223 Periode von -0,062 -0,294 (1984-2000: -0,228) 1981/1986 bis 1999/2000 Rang
2
3
1
Quelle: Mahler und Jesuit (2004: 42f.).
Die Erwartung einer kontinuierlich sinkenden Effizienz im Zeitverlauf wird jedoch nicht erfüllt. Mahler und Jesuit präsentieren allerdings noch weitere Befunde, die Korpi und Palmes These stützen: bei den Staaten mit der (nach ihrem Maß) höchsten Effizienz ist die Größe des Transfer-Budgets am geringsten; in einer bivariaten Regression hat das Effizienzmaß einen starken positiven Effekt auf das Volumen von Sozialleistungen (d. h.: je geringer die Effizienz, desto höher das Transfervolumen). In einem weiteren Modell hat der Umfang der Transfers einen signifikanten positiven Effekt auf die Umverteilungswirkung, allerdings hat auch das Konzentrationsmaß einen starken negativen Effekt: je effizienter die Transfers, desto höher der erzielte Effekt. Das bedeutet: sowohl Effizienz wie Transfer-
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volumen tragen zur Umverteilung bei, wobei die Effizienz aber das Transfervolumen (und damit indirekt den Umverteilungseffekt) senkt. Insgesamt unterstützen die vorgelegten Berechnungen also die These des "Umverteilungsparadoxons" weniger eindeutig als die bisher vorliegenden Befunde, da die Rangfolge der untersuchten Systeme bezüglich der Umverteilungseffizienz von der Gewichtung unterschiedlicher Regionen der Einkommensverteilung abhängt. Allerdings entsprechen die Unterschiede der Rangordnungen den Erwartungen, insofern das britische System bei starker Gewichtung des unteren Bereichs der Einkommensverteilung, das schwedische hingegen bei höherer Gewichtung des mittleren Einkommensbereichs besonders effizient ist. Zudem ergaben sich einige Hinweise darauf, dass die Expansion der sozialen Sicherungssysteme in den 60er und 70er Jahren unerwarteterweise nicht von einer sinkenden Umverteilungseffizienz begleitet war, was möglicherweise auf zunehmende Umverteilungseffekte im mittleren Einkommensbereich zurückzuführen ist. Allerdings besteht kein Anlass, Korpis und Palmes Vermutung grundsätzlich in Frage zu stellen, da eine Generalisierung der Befunde gewagt wäre, solange sie sich nur auf drei Länder stützen. 6.2.3.2 Die Entwicklung der Vermögensverteilung Für den materiellen Lebensstandard und die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ist der Besitz von Geld- und Sachvermögen von ähnlicher Bedeutung wie das laufende Einkommen. Es kann nicht nur unmittelbar als Einkommensquelle, sondern auch als Substitut für Einkommen zur Befriedigung von Konsumbedürfnissen genutzt werden. Der Rückgriff auf Vermögen erlaubt insbesondere die Erhaltung des materiellen Lebensstandards bei vorübergehenden oder auch dauerhaften Einkommensausfällen. Durch Bildung von Vermögen kann zudem das Einkommen zwischen verschiedenen Phasen des Lebenszyklus umverteilt und lebensphasenspezifische Einkommensrisiken können ausgeglichen werden. Vermögen erlaubt eine langfristige Lebensplanung und vermittelt ein Gefühl von Sicherheit; beides sind wichtige Grundlagen für Selbststeuerung und Handlungskompetenz. Nicht zuletzt ist (v.a. Produktiv-)Vermögen eine Quelle von ökonomischem und politischem Einfluss (Stein 2004: 28-30). Die Verteilung des Vermögens innerhalb einer Gesellschaft ist also von ähnlichem Interesse wie die Einkommensverteilung, weshalb wir sie hier kurz behandeln werden. Die Probleme, was Datenlage, Erhebungsmethoden und Vergleichbarkeit anbelangt, sind jedoch noch gravierender als bei der Einkommensverteilung: Vermögensbesitz ist stark bei Haushalten konzentriert, die im obersten Bereich der Einkommensverteilung positioniert sind und bekanntlich kaum zur Teilnahme an Befragungen zu motivieren sind; Befragungsdaten unterschätzen daher die Vermögenskonzentration erheblich. Für einige Länder stehen alternativ Schätzungen auf Basis von Vermögens- oder Erbschaftssteuerstatistiken zur Verfügung; sie leiden allerdings z. T. unter Unvollständigkeit (aufgrund von Freibeträgen oder nicht auszuweisenden Vermögensarten) und anderen Quellen von
227
Schätzfehlern244. Eine Vergleichbarkeit zwischen Untersuchungen und Datenquellen ist zudem i.d.R. bereits dadurch ausgeschlossen, dass unterschiedliche Vermögenskonzepte verwendet werden, wobei zusätzlich unterschiedliche Verfahren bei der Bewertung bestimmter Vermögensarten (etwa: Anschaffungswert, Verkehrswert oder Wiederbeschaffungswert) eingesetzt werden. In einem sehr weit gefassten Sinn könnte in Analogie zum Begriff des Volksvermögens etwa Folgendes unter dem Begriff des personellen Vermögens subsumiert werden: finanzielles Vermögen (Bargeld, Anlagevermögen, Ansprüche auf Versicherungsleistungen); reproduzierbares (Gebrauchsgegenstände etc.) und nicht-reproduzierbares Sachvermögen (Grund und Boden), auch abgeleitet als Produktivvermögen; geistiges Eigentum (Urheberrechte etc.); Humankapital; Nutzungsrechte an der natürlichen Umwelt (etwa von Wind- oder Wasserkraft); kulturelles Vermögen (durchaus im Sinne des "kulturellen Kapitals"); Ansprüche auf Sozialversicherungsleistungen (Sozialvermögen) (Stein 2004: 17-20). Die Summe dieser Vermögenswerte könnte man als Bruttovermögen bezeichnen, nach Abzug von Schulden erhielte man das Nettovermögen. Eine Messung vieler dieser Vermögensformen in einer einheitlichen (typischerweise: monetären) Einheit ist ein Ding der Unmöglichkeit. Üblicherweise beschränken sich Untersuchungen auf nur wenige, leicht in Geldeinheiten auszudrückende Komponenten, wobei selten die gleiche Auswahl berücksichtigt wird. Querschnittsvergleiche sind daher und aufgrund starker Unterschiede in der Reliabilität der Messung sehr schwierig zu bewerkstelligen, und wir konzentrieren uns auf eine Längsschnittbetrachtung auf Basis einigermaßen konsistenter Datenquellen für die einzelnen Länder. 6.2.3.2.1 Westdeutschland Die wichtigste Datenquelle ist die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS). Aufgrund der notorischen Untererfassung hoher Vermögen (verursacht durch ihre Unterrepräsentanz in der Stichprobe und eine relativ niedrige Abschneidegrenze bei den anzugebenden Höchstbeträgen) sowie des Ausschlusses von institutionalisierten und wohnungslosen Personen ist grundsätzlich von einer Unterschätzung der Vermögenskonzentration auszugehen. Zudem ist die Vergleichbarkeit im Zeitverlauf dadurch eingeschränkt, dass die genannte Abschneidegrenze unregelmäßig verändert wurde und seit 1993 auch ausländische Haushalte (die aber unterrepräsentiert sind) befragt werden; außerdem wechseln die erfassten Vermögensarten. In der EVS werden nur Immobilien- und Geldvermögen, Schulden (gewissermaßen negatives Vermögen) sowie Gebrauchsvermögen mit gewissen Einschränkungen (z. B. kein Bargeld, Girokonten nur 1993, keine Kunstgegenstände und Schmuck) erfasst. Betriebsvermögen sind seit 1993 nur enthalten, soweit es sich um
244
228
Vermögensstatistiken auf Basis von Erbschaftssteuerstatistiken beruhen auf der Annahme, dass nach Berücksichtigung von alters-, familienstands- und geschlechtsspezifischen Sterbewahrscheinlichkeiten die Verstorbenen eines Jahres eine repräsentative Auswahl aus der Gesamtbevölkerung darstellen. Z. T. erfolgt noch eine grobe Anpassung an nach sozioökonomischem Status variierende Risiken. Zu den verschiedenen Datenquellen und ihren Problemen vgl. Davies/Shorrocks (2000: 628 ff.).
Aktienbesitz handelt, zuvor wurden sie mit dem Einheitswert erfasst; aus der lückenhaften Erfassung von Produktivvermögen (das von allen Vermögensarten am ungleichsten verteilt ist) resultiert eine weitere Unterschätzung der Vermögensungleichheit. Immobilienbesitz wurde vor 1993 ebenfalls nur nach dem Einheitswert erhoben. Nicht erfasst werden Ansprüche an die Sozialversicherung. Die verschiedenen Untersuchungen auf Grundlage der EVS ziehen wiederum meist nur einen Teil der Vermögensvariablen heran, und ergänzen z. T. einige Vermögenskomponenten auf Basis von Simulationsrechnungen. Hinreichend vergleichbare Schätzungen von Konzentrationsmaßen für die Vermögensverteilung sind erst seit 1973 verfügbar. Sie beziehen sich auf die Verteilung von (Netto-)Geldund Immobilienvermögen auf Ebene der Haushalte (also vor allem nicht: Betriebs-, Gebrauchs-, und Sozialvermögen) 245. Für den Zeitraum vor Verfügbarkeit von Daten der EVS lassen sich begrenzt Informationen aus der alle drei Jahre erhobenen Vermögenssteuerstatistik gewinnen, die von vornherein nur vermögenssteuerpflichtige Personen erfasst. Sie erstreckt sich auf Immobilien-, Geld- und Betriebsvermögen, soweit es Freibeträge überschreitet, wobei Immobilien und Betriebsvermögen nur zum Einheitswert erfasst werden; nicht erfasst sind also vor allem Gebrauchsvermögen und Sozialversicherungsansprüche246. Tab. 6.16: Entwicklung verschiedener Maße für die Verteilung des Nettovermögens in Westdeutschland, 1953-1998 III: Gini-Indexes für die II: Gini-Indexes für die I: Anteil des reichsten Verteilung des NettoverVerteilung des NettoverJahr Prozents am Nettovermögen mögens (Personen) mögens (Haushalte) aller Haushalte in Prozent 1953 23,3 1957 24,1 1960 29,6 1963 28,2 1966 25,5 1972 19,7 1973 0,748 0,69 1974 23,0 1977 22,2 1980 23,0 1983 0,683 0,647 1988 0,668 0,635 1993 0,622 0,603 1998 0,640 0,624 Quelle: Baron (1988: 179ff). (I); Mierheim/Wicke (1978), wie in Hauser (2003: 22) und Stein (2004: 214) wiedergegeben (II, III:1973); Stein (2004: 210, 214) (II, III: 1983-1998).
245 246
Eine Äquivalenzgewichtung ähnlich wie beim Einkommen ist unüblich, da man skalenökonomische Effekte nur annehmen könnte, wenn das gesamte Vermögen zu Konsumzwecken verwendet würde. Zu den Datenquellen vgl. Ring (2000: 152ff.).; Stein (2004: 42ff.). Die hier wiedergegebenen Auswertungen von Baron (1988) beruhen auf Schätzungen der aktuellen Ertragswerte der nur mit dem Einheitswert erfassten Komponenten; nicht berücksichtigt wurden Bargeld und Sichteinlagen, der Kapitalwert von privaten Renten, und das „übrige sonstige Vermögen“ (v.a. Luxusgüter).
229
Tabelle 6.16 zeigt die Entwicklung der Verteilung des Nettovermögens nach beiden Quellen: Seit Anfang der 70er Jahre bis Anfang der 90er Jahre war nach den Daten aus der EVS (Spalten II, III) die Vermögenskonzentration in Westdeutschland rückläufig, seitdem hat sie aber wieder zugenommen. Nach der Vermögenssteuerstatistik (Spalte I) zeigt sich eine zunächst steigende Vermögenskonzentration in den 50er Jahren247, wonach ab ca. 1960 eine Egalisierungstendenz einsetzte, die – was die Abnahme der Konzentration am obersten Rand der Verteilung betrifft – bereits in den frühen 70er Jahren endete und in eine Phase der Stabilität mündete (vgl. auch Ring 2000: 230-235 zu verschiedenen anderen Untersuchungen). Insgesamt ist daher anzunehmen, dass – bei hoher Stabilität – die Vermögensverteilung in den Anfangsjahren der BRD zunächst ungleicher wurde, worauf anschließend eine gegenläufige Bewegung einsetzte, die erst in den 90er Jahren endete. 6.2.3.2.2 Vereinigtes Königreich Für das Vereinigte Königreich stellen Schätzungen auf Basis der Erbschaftssteuerstatistik die wichtigste Datenquelle dar. Sie beziehen sich auf das veräußerbare Vermögen ("marketable wealth"), d. h. Immobilienvermögen, Geldvermögen (einschließlich Lebensversicherungen), Gebrauchsvermögen (langlebige Gebrauchsgüter) und Betriebsvermögen von volljährigen Einwohnern (und nicht Haushalten). Einige Datenreihen beziehen zusätzlich den geschätzten Wert von Betriebsrenten und/oder staatlichen Pensionen mit ein; im Vergleich zur EVS wird also eine größere Bandbreite von Vermögensarten erfasst248. Aufgrund von Unterschieden bei den Schätzmethoden und dem geographischen Bezug (Großbritannien, Vereinigtes Königreich oder England/Wales) sind die im folgenden präsentierten Reihen nicht unmittelbar vergleichbar, vermitteln aber zusammen einen Eindruck von der langfristigen Entwicklung (Tabelle 6.17). Über einen längeren Zeitraum war demnach bis ca. 1980 ein deutlicher Rückgang der Vermögenskonzentration im obersten Bereich der Verteilung (gemessen über den Anteil des vermögendsten Prozents der Bevölkerung am Gesamtvolumen der Vermögen) zu beobachten; nach einer Phase der Stabilität nahm diese dann in den 90er Jahren wieder etwas zu. Über die gesamte Verteilung betrachtet war – nach Maßgabe des Gini-Koeffizienten – die Spreizung der Vermögen freilich von Mitte der 60er bis Ende der 80er Jahre stabil, um dann ebenfalls zuzunehmen. Bei Einbeziehung der Rentenansprüche ergibt sich eine wesentlich gleichmäßigere Verteilung der Privatvermögen, deren Ungleichheit bereits Anfang der 80er Jahre etwas zugenommen hat und dann bis zur letzten Beobachtung stabil blieb.
247
248
230
Wobei die Vermögenskonzentration in der Nachkriegszeit niedriger als vor dem Krieg war und 1960 wieder den Wert von 1935 erreichte; Grund war eine starke Verschuldung der reichen Haushalte aufgrund des Lastenausgleichs. 1953 entfielen 72 Prozent der Schulden auf das reichste Prozent der Haushalte, 1935 waren es 22 Prozent, 1960 wieder 30 Prozent (Baron 1988 : 179-182, 191f.). Zu den methodologischen Details vgl. Board of Inland Revenue (1998: 123ff.) sowie Royal Commission on the Distribution of Income and Wealth (1979: 83ff.) (auch zu Veränderungen bei den Methoden und Aspekten der Vergleichbarkeit im Zeitverlauf).
Tab. 6.17: Entwicklung verschiedener Maße für die personelle Vermögensverteilung in England/Wales bzw. Großbritannien bzw. dem Vereinigten Königreich, 1950-2000 Anteil des obersten Prozents Gini-Index für die UngleichGini-Index für die Ungleichheit am veräußerbaren Vermögen heit des veräußerbaren der Vermögensverteilung (einJahr in % Vermögens schl. Ansprüche auf staatliche und Betriebsrenten)5 E&W I1 E&W II2 UK II4 GB2 UK I3 UK II4 1950 47,2 1951 45,8 1952 43,0 1953 43,6 1954 45,3 1955 44,5 1956 44,5 1957 43,4 1958 41,4 1959 41,4 1960 33,9 1961 36,5 1962 31,4 1964 34,5 1965 33,0 0,767 1965 30,6 0,773 1967 31,4 1968 33,6 0,775 1969 31,1 0,776 1970 29,7 0,765 1971 28,4 0,768 0,800 1972 31,7 0,760 1973 27,3 1974 22,6 1975 22,7 0,760 1976 24,4 21 0,760 0,66 0,48 1977 22,1 22 0,66 0,48 1978 21,9 20 0,64 0,47 1979 21,5 20 0,65 0,47 1980 19,4 19 0,65 0,46 1981 22,7 18 0,65 0,45 1982 18 0,64 0,45 1983 20 0,65 0,47 1984 18 0,64 0,47 1985 18 0,65 0,48 1986 18 0,64 0,48 1987 18 0,66 0,50 1988 17 0,65 0,49 1989 17 0,65 0,49 1990 18 0,64 0,49 1991 17 0,64 0,49 1992 18 0,66 0,49 1993 18 0,66 0,49 1994 19 0,67 0,49 1995 19 0,65 1996 20 0,68 1997 22 0,69 1998 22 0,69 1999 23 0,70 2000 23 0,71
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Legende zu Tabelle 6.17: 1
Ohne nicht erbschaftssteuerpflichtigem Besitz. Mit nicht erbschaftssteuerpflichtigem Besitz, der den Steuerbehörden zur Kenntnis gelangt ist. 3 Geänderte Schätzmethode. 4 Aktuellste Schätzung. 5 Aktuelle Bewertung der Rentenansprüche ("latest valuation"). Die Reihe wurde aufgrund von Reliablitätsproblemen nach 1994 nicht mehr fortgeführt. Quelle: Atkinson/Gordon/Harrison (1989: 318) (E&W I, II) HM Revenue & Customs (2005) (UK II); Board of Inland Revenue (1998: 135); Board of Inland Revenue (1992: 117) (Gini einschließl. Rentenansprüche); Royal Commission on the Distribution of Income and Wealth (1979: 93, 95). 2
Ähnlich wie in Deutschland war auch im Vereinigten Königreich in den 90er Jahren, also deutlich später als bei der Einkommensverteilung, eine Kehrtwende der langfristigen Entwicklung zu beobachten. 6.2.3.2.3 Schweden Am weitesten reicht eine von Roland Spånt zusammengestellte Datenreihe zurück, die auf Vermögenssteuerunterlagen beruht. Erfasst sind dort alle veräußerbaren Vermögenswerte der Privathaushalte (nach der steuerrechtlichen Definition, d. h. bei den Eltern lebende volljährige Kinder gelten als eigene Haushalte249): Geldvermögen, Betriebsvermögen und Immobilienvermögen, einige langlebige Gebrauchsgüter (wie Kraftfahrzeuge und Boote) zum Versteuerungswert (der nicht dem Marktwert entspricht) sowie Schulden. Die Daten lassen erkennen, dass auch in Schweden bis Mitte der 70er Jahre die Vermögenskonzentration bei den reichsten Haushalten deutlich nachgelassen hat (Tabelle 6.18, Reihe I). Für die Zeit ab Mitte der 70er Jahre stehen Daten aus dem Income Distribution Survey (IDS) zur Verfügung, der auf einer Verknüpfung der auch von Spånt verwendeten Steuerunterlagen mit Befragungsdaten beruht; ein Unterschied besteht darin, dass hier Marktpreise bei der Bewertung der Vermögensbestände herangezogen werden250. Nach diesen Daten endete Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre die (vor die untersuchte Periode zurückreichende) langfristige Tendenz zu einer gleichmäßigeren Vermögensverteilung; sie wurde ab Mitte der 80er Jahre durch eine Phase der erneuten Polarisierung abgelöst (Tabelle 6.18, Reihen II-V). Zunächst vergrößerte sich der Abstand des untersten Dezils der Vermögensverteilung zum Median (Reihe III), ab Ende der 80er Jahre drifteten beide Enden der Vermögensverteilung auseinander (auch der Abstand des obersten Dezils zum Median nahm nun zu, Reihe IV).
249 250
232
Dies führt zu einer Überschätzung der Ungleichheit der Vermögensverteilung (Klevmarken 2003: 4). Ab Mitte der 80er Jahre sind auch Daten aus einer zweiten Umfrage, dem schwedischen Haushaltspanel (HUS), verfügbar, bei dem eine breitere Palette von Vermögensarten (insbesondere eine weitere Bandbreite an Gebrauchsgütern als in den Steuerstatistiken und Ansprüche aus privaten Rentenversicherungen, die in den Steuerdaten ebenfalls nicht erfasst sind) erfragt wird; diese Daten ziehen wir hier wegen der Kürze der Reihe nicht heran, sie führen aber zu einem ähnlichen Bild von der Entwicklung der Vermögensverteilung (vgl. Klevmarken 2003; Bager-Sjörgen/Klevmarken 1998).
Tab. 6.18: Entwicklung verschiedener Maße für die Ungleichheit der Verteilung der Nettovermögen in Schweden, 1951-1999 V: Abstand des I: Anteil des Medians im 1. wohlhabendsten IV: Verhältnis III: Verhältnis II: GiniDezil zum des Medians im 1. des Medians im Prozents der Koeffizient Median im 10. Jahr Haushalte in 10. Dezil zum 50. Dezil zum 50. Dezil in Viel(IDS) Prozent Perzentil (IDS) Perzentil (IDS) fachen des 50. (Steuerstatistik) Perzentils (IDS) 1951 33 1966 24 1970 23 21 / 17 1975 (Marktpreise) 1978 0,783 -0,40 15,31 15,71 1983 19,5 (Marktpreise) 0,798 -0,78 12,83 13,61 1984 0,798 1985 0,808 -0,85 11,70 12,55 1988 0,831 -1,20 13,91 15,11 1989 0,809 1990 0,838 -1,33 15,16 16,49 1991 0,857 1992 0,865 -1,65 14,79 16,44 1997 0,855 -1,53 17,43 18,96 1999 -4,03 35,99 40,02 Quelle: Spånt (1981: 70); Spånt (1987: 68) (I); SCB (1993: 98); SCB (2000a: 29) (II) ; Klevmarken (2003: 15) (III, IV); eigene Berechnung auf Basis von III, IV (V).
6.2.3.2.4 Die Entwicklung der Vermögensverteilung im Vergleich Die Niveaus der Ungleichheit der Vermögensverteilung lassen sich, wie schon angemerkt, wegen der unterschiedlichen Datenquellen und Vermögenskonzepte kaum vergleichen251. Ein Vergleich muss sich daher auf die Verläufe beschränken. Diese ähneln sich stark, insofern für eine längere Periode zunächst ein Rückgang der Vermögenskonzentration zu beobachten war (mit Ausnahme der BRD in den 50er Jahren, eine Folge des Krieges, s.o.), der nach einer Phase der Stabilisierung eine erneute Zunahme folgte, die zuerst und am deutlichsten in Schweden in den 80er Jahren einsetzte, gefolgt vom Vereinigten Königreich und Westdeutschland in den 90er Jahren. In Tabelle 6.19 haben wir für vier Teilperioden
251
Vgl. aber Spånt (1982) mit einer Reihe von Paarvergleichen (u.a. von Westdeutschland und dem Vereinigten Königreich) mit Schweden, der für Mitte der 70er Jahre für das Referenzland die geringste Konzentration der Vermögen feststellt, sowie Wolff (1996), der für Mitte der 80er Jahre Vergleiche mit den USA anstellt (wobei alle drei Länder zu diesem Zeitpunkt eine gleichmäßigere Vermögensverteilung als die USA aufwiesen, ohne dass sich aus der Studie eine klare Rangfolge zwischen ihnen ableiten ließe). Davies/Shorrocks (2000: 636f). ordnen für Mitte der 80er Jahre Schweden der Gruppe der Länder mit der geringsten Ungleichheit der Vermögen und Westdeutschland der Gruppe mit einer mittleren Vermögenskonzentration zu.
233
die proportionale Veränderung der Vermögenskonzentration dargestellt252. Insgesamt finden wir in Westdeutschland die größte Stabilität. Die größte Verringerung der Vermögenskonzentration bis ca. 1980 war im Vereinigten Königreich festzustellen, der größte Anstieg in der anschließenden Periode in Schweden. Tab. 6.19: Die proportionale Veränderung der Vermögenskonzentration in Westdeutschland, dem Vereinigten Königreich und Schweden Periode Westdeutschland Vereinigtes Königreich Schweden ca. 1950-1960 +27,0 -12,3 -27,31 ca. 1961-1980
-18,4
-42,7
-12,52
ca. 1981-1990
-2,2
0 / -1,5
+21,1 / +5,0
ca. 1991-2000
+2,9
+27,8 / +10,9
+15,33 / -0,2
1
1951-1966 1966-1975 3 1992-1997 (1999 stellt vermutlich einen Ausreißer dar). Quelle: eigene Berechnungen auf Grundlage der Angaben in Tab. 6.16 - 6.18. Zur Erläuterung siehe auch die Hinweise in Fußnote 252. 2
6.2.3.3 Die Entwicklung von Armut 6.2.3.3.1 Die Entwicklung von Armutsquoten In Abbildung 6.8 ist die Entwicklung der relativen Armutsquoten für das verfügbare Einkommen nach der LIS dargestellt; wir haben hier 50 Prozent des Medians als Armutsgrenze verwendet. Wie zu erkennen ist, sind die Armutsquoten für das verfügbare Einkommen seit Ende der 80er Jahren im Vereinigten Königreich (nach einem ersten Anstieg bereits Anfang der 70er Jahre) und seit Anfang der 90er Jahre auch in Westdeutschland deutlich gestiegen, stärker im Vereinigten Königreich. In Schweden kam es nach einem vorangegangenen Rückgang bereits in den 80er Jahren zu einem Anstieg, dem wieder ein leichter Abfall folgte, sodass in 2000 die Armutsquote etwa so hoch war wie 1975. Proportional war der Anstieg seit den 80er Jahren in Westdeutschland und dem Vereinigten Königreich etwa gleich hoch, in Schweden niedriger (Tabelle 6.21). Im Vergleich der absoluten Niveaus (zur Neutralisierung kurzfristiger konjunkturell bedingter Schwankungen wurden Mittelwerte aller Beobachtungen in der jeweiligen Periode ermittelt) schneidet sowohl in der Phase sinkender als auch in der Phase steigender Armut Schweden am besten ab, während Großbritannien trotz eines auf die Armutsbekämpfung konzentrierten Sicherungssystems stets die höchste Quote aufweist. Weitere Analysen
252
234
Hierzu wurden teilweise mehrere Datenreihen miteinander verknüpft. Die Werte für die ersten beiden Teilperioden beziehen sich alle auf die Veränderung des Anteils des obersten Perzentils am Vermögen aller Personen bzw. Haushalte; für Deutschland beziehen sich die Werte für die folgenden Perioden auf Veränderungen des Gini-Koeffizienten (Haushaltsebene). Für Großbritannien sind als erstes die Veränderung des Anteils des obersten Perzentils und als zweites die Veränderung des Gini-Index (Vermögen zu Marktwert, ohne Rentenansprüche) aufgeführt; für Schweden wurde die Veränderung der Werte in Reihe V (Tab. 6.18) berechnet, dahinter ist auch die Veränderung des Gini-Index aufgeführt.
zeigen, dass in Großbritannien, aber auch in Deutschland von diesem Anstieg der relativen Armut besonders die Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren betroffen waren, deren Armut in Schweden dagegen sich insgesamt wenig verändert hat – obwohl auch hier (wie in den meisten Industrieländern) die Durchschnittseinkommen in den jüngeren Altersgruppen gemessen am Durchschnitt der Gesamtbevölkerung etwas gesunken sind253. Noch höhere und überdurchschnittlich steigende Armutsquoten wiesen die Alleinerziehenden in Großbritannien und Deutschland auf, nicht aber in Schweden, wo die Armut dieser Gruppe abnahm254. 16
% mit weniger als 50% des Medians
14
12
10
8
6
4
2
Schweden UK (FRS)
Westdeutschland (EVS) Westdeutschland (SOEP)
2000
1999
1998
1997
1996
1995
1994
1993
1992
1991
1990
1989
1988
1987
1986
Jahr
1985
1984
1983
1982
1981
1981
1980
1979
1978
1977
1976
1975
1974
1973
1972
1971
1970
1969
0
UK (FES)
Abb. 6.8: Entwicklung der relativen Armut (verfügbares Einkommen, Grenze: 50 Prozent des Medians) in Westdeutschland, Großbritannien und Schweden Quelle: LIS Key Figures (Stand 31.3.04) und eigene Berechnungen mit den LIS-Daten (Stand 5.4.2004). Tab. 6.20: Armutsquoten (50 Prozent des Medians) ca. 1970 und ca. 1980 D (West) UK 1973 1983 1969 1979 Jahr Quote in %
6,7
5,8
5,5
9,2
S 1975
1981
6,5
5,3
Veränderung in %
-13
+67
-18
Rang (Veränderung)
2
3
1
Quelle: s. Abb. 6.8.
253 254
Vgl. Förster (2002: 16). Vgl. Ritakallio (2001: 23).
235
Tab. 6.21: Armutsquoten (50 Prozent des Medians) ca. 1980 und ca. 2000 D (West) GB 1984 2000 1979 1999 Jahr 6,5 8,8 9,2 12,5 Quote in % +35 +36 Veränderung in % Rang (Veränderung) 2 3 Quelle: s Abb. 6.8.
S 1981 5,3
2000 6,5 +23 1
Tab. 6.22: Durchschnittliche Armutsquoten (50 Prozent des Medians) ca. 1970 - ca.1980 D (West) GB 6,3 7,9 Quote in % Rang 2 3 Quelle: s. Abb. 6.8.
S 5,9 1
Tab. 6.23: Durchschnittliche Armutsquoten (50 Prozent des Medians) ca. 1980 - ca. 2000 D (West) GB 7,3 11,6 Quote in % Rang 2 3 Quelle: s. Abb. 6.8.
S 6,5 1
Auch Niveauunterschiede und Trendverläufe der Armutsquoten werden durch unterschiedliche bzw. sich wandelnde soziodemographische Strukturen beeinflusst. Fritzell und Ritakallio haben Armutsquoten für die Zeitpunkte um 1980 und 2000 unter Konstanthalten der strukturellen Zusammensetzung der Bevölkerung (im Prinzip nach demselben Verfahren, das wir bei unseren obigen Berechnungen verwendet haben) ermittelt (Fritzell/ Ritakallio 2004). Sie stützen sich ebenfalls auf Daten aus der LIS, setzen die Armutsgrenze aber bei 60 Prozent des Medians an und verwenden eine andere Äquivalenzskala; außerdem ziehen sie für Deutschland für das Jahr 1981 Daten aus dem (nur einmal durchgeführten, mit EVS und SOEP nicht vergleichbaren) "German Transfer Survey" heran; die Daten für 2000 beziehen sich auf Gesamtdeutschland. Nach ihren Ergebnissen wäre bei einer (für alle Jahre und Länder konstanten) Zusammensetzung der Bevölkerung wie in Schweden 2000 der Anstieg der Armutsquoten in Deutschland und Schweden stärker, in Großbritannien aber niedriger gewesen. Tab. 6.24: Armutsquoten (60 Prozent des Medians) ca. 1980 und ca. 2000 bei einer Zusammensetzung der Bevölkerung wie in Schweden 2000 und ohne einheitliche Bevölkerungsstruktur D GB S 1981 2000 1979 1999 1981 2000 standardisierte 8,3 12,6 11,8 14,3 7,4 9,6 Bevölkerungsstruktur 52 21 30 Veränderung in % Rang 3 1 2 ohne Standardisierung 9,9 12,5 13,9 19,5 8,2 9,6 Veränderung in % 26 Rang 2 Quelle: Fritzell/Ritakallio (2004: Table 1 und Table 2).
40 3
17 1
Der Anstieg wäre dann proportional in Deutschland am stärksten und im Vereinigten Königreich sogar (allerdings von einem wesentlich höheren Ausgangsniveau aus) am schwächsten gewesen. Die absoluten Niveauunterschiede verringern sich zwar, die Rangfolge der Länder bleibt aber erhalten (Tabelle 6.24). Die relative Armut ist demnach im 236
Vereinigten Königreich auch um 2000 die höchste und in Schweden die niedrigste. Nach den Ergebnissen von Fritzell und Ritakallio ist es v.a. die unterschiedliche Verbreitung von Doppelverdiener-Haushalten, welche für die strukturell bedingten Unterschiede der Armutsquoten verantwortlich ist. 6.2.3.3.2 Die Dauerhaftigkeit von Armut Hohe Armutsquoten auf Basis der Jahreseinkommen (wie bisher betrachtet) sind als weniger gravierend anzusehen, wenn die Armut überwiegend kurzfristiger Natur ist, also eine vorübergehende Abweichung von einem langfristigen Einkommensniveau oberhalb der Armutsgrenze darstellt. Die Autoren des Armuts- und Reichtumsberichts stellen hierzu beispielsweise fest: "Einkommensarmut ist keineswegs ein permanenter Zustand, sondern wird vielmehr durch ein hohes Ausmaß an Fluktuation gekennzeichnet. In den Jahren 1998 bis 2003 ist es mehr als der Hälfte der dem Risikobereich der Einkommensarmut zuzuordnenden Bevölkerung gelungen, ihre Situation zu verbessern" – vor allem auf Grund positiver Veränderungen im Erwerbseinkommen (BMGS 2005: 24). Allerdings gibt es auch eine Einkommensmobilität in umgekehrter Richtung. So zum Beispiel ist "(d)ie Hälfte derjenigen mit relativen Einkommenspositionen ab dem Doppelten des Medians der Nettoäquivalenzeinkommen fünf Jahre später in eine niedrigere Klasse abgestiegen" (ebd., S. 25). Umgekehrt könnten niedrige Armutsquoten bei der Einschätzung der Performanz eines Wohlfahrtsstaates täuschen, wenn die (relativ) wenigen, die auf Basis des Jahreseinkommens als arm eingestuft werden, auch langfristig nur ein Einkommen unterhalb der Armutslinie erzielten. Für unsere Performanzeinschätzung müssen wir daher auch die Dauer von Armut berücksichtigen. Informationen hierzu liegen erst vor, seitdem große Panel-Surveys durchgeführt werden, d. h. seit etwa den 80er Jahren. International vergleichbare Daten liegen in Form des Europäischen Haushaltspanels (ECHP: 1993-1995) und des "Cross-National Equivalent File" (CNEF: zwischen 6 und 19 Wellen) für noch kürzere Perioden vor, wobei schwedische Daten für hinreichend lange Perioden in keinem der beiden Datensätze enthalten sind, sodass Vergleiche in erster Linie für Großbritannien und Deutschland möglich sind. Die OECD hat eine derartige Vergleichsstudie auf Grundlage beider genannter Datensätze durchgeführt (OECD 2001b). Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass in Ländern mit hohen jährlichen Armutsquoten auch der Bevölkerungsanteil, der in dauerhafter Armut lebt, höher ist als in Ländern mit niedrigen jährlichen Armutsquoten. Dies gilt unabhängig davon, ob kontinuierliche Armut im Sinne eines Einkommens unterhalb der Armutsgrenze in mehreren aufeinander folgenden Jahren definiert oder ob es als ein unter der Armutslinie liegendes mehrjähriges Durchschnittseinkommen verstanden wird. Für Großbritannien und Deutschland sind die Ergebnisse des Vergleichs allerdings widersprüchlich: bei Zugrundelegung der ECHP-Daten weist das Vereinigte Königreich niedrigere Quoten dauerhafter Armut (bezogen auf das verfügbare Einkommen) und kürzere durchschnittliche Dauern von Armutsepisoden auf als Deutschland (auch unter
237
Kontrolle von Unterschieden in der demographischen Zusammensetzung), bei Heranziehung des CNEF verhält es sich genau umgekehrt (allerdings sind die Quoten dauerhafter Armut vor Steuern und Transfers in Deutschland höher als in Großbritannien)255. Verfügbare andere Vergleichsstudien ziehen ebenfalls die Daten des Britischen HaushaltsPanels (BHPS) heran, welche dem CNEF zugrunde liegen. Sie kommen im wesentlichen ebenso wie die OECD-Studie zu dem Ergebnis, dass die Prävalenz dauerhafter Armut256 in Großbritannien größer als in Deutschland ist (Ruspini 1997; Fouarge/Muffels o.J.; Layte/ Fouarge 2004). Ruspini (1997) kommt z. B. zu dem Schluß, dass in Westdeutschland 1%, in Großbritannien 5,2% der Bevölkerung in allen vier beobachteten Jahren (1991-1994) arm (bei einer Armutsgrenze von 50% des Medians) waren. Nach den Angaben von Eriksson und Pettersson (Eriksson/Pettersson 2000: 171) dürfte der Wert für Schweden dazwischen liegen (2,1% waren in der fünfjährigen Periode 1991-1995 vier Jahre oder länger arm)257. Die einzige uns bekannte Vergleichsstudie, die auch Schweden mit einbezieht258 führt wie die oben zitierte Untersuchung der OECD zum Schluss, dass Armutsquoten (für einzelne Jahre) und Raten dauerhafter Armut stark positiv miteinander korrelieren. Daneben zeigt sie, dass in Schweden zwar der höchste Anteil (nämlich 45% gegenüber 24 % in Westdeutschland und 22 % in den USA ) der armen Familien mit einem Einkommen nahe der Armutsgrenze (40-50% des Medians) im Folgejahr ein höheres Einkommen von mindestens 60% des Medians hatte, aber nur ein geringer Teil des untersten Einkommensdezils (16% gegenüber 23 % in Westdeutschland und den USA) im Folgejahr ein spürbar höheres Einkommen (mind. 20% oberhalb des untersten Dezils) erzielte. Zudem war die durchschnittliche Veränderung des Einkommens einer typischen armen Familie gegenüber dem Vorjahr in Schweden sehr gering (9% gegenüber 18% in Westdeutschland und 15% in den USA). In Schweden scheint also die Einkommensmobilität von armen Familien mit Einkommen nahe der Armutsgrenze hoch, von Familien in großer Armut aber im Vergleich zu Deutschland niedrig zu sein (Duncan et al. 1993, 1995). Dies trübt das Bild Schwedens, was das Kriterium "Armut" betrifft, etwas. Was die Dauer des Bezugs von Soziahilfe betrifft, fanden Duncan und Koautoren im internationalen Vergleich sehr kurze Bezugsdauern in Westdeutschland259. In Großbritannien wiesen alleinerziehende Mütter (nur für diese Gruppe lagen Daten zum Sozialhilfebezug vor) dagegen die höchsten Bezugsdauern überhaupt auf (nach drei Jahren bezogen noch 84% von ihnen Sozialhilfe), während in Bremen die Bezugsdauern in
255 256 257 258 259
238
Wie diese Diskrepanz zustande kommt, ist schwer zu sagen; denkbar ist, dass die unterschiedliche Länge der Beobachtungsperioden (3 Jahre vs. 8 Jahre) hierfür verantwortlich ist oder auch der Umstand, dass sich der ECHP-Datensatz auf das Vereinigte Königreich, das CNEF aber nur auf Großbritannien bezieht. Nach beiden o.g. Definitionen. Wobei diese Vermutung tentativen Charakter hat, da die Daten von Eriksson und Petersson nicht direkt mit denen von Ruspini vergleichbar sind. Die Untersuchung bezieht sich ausschließlich auf Familien mit Kindern. Die Daten für Deutschland bezogen sich freilich nur auf Bremen und entstammten derselben Quelle wie die in der nachfolgend zitierten Arbeit von Buhr (1995).
dieser Kategorie trotz geringer Arbeitsanreize260 ebenfalls kurz waren (nach einem Jahr bezogen noch 39%, nach drei Jahren 26% Sozialhilfe). Hinweise zur Performanz Schwedens ergeben sich aus einer ähnlichen Studie zu Sozialhilfebezugsverläufen in Bremen und Göteborg (Buhr 1998)261: demnach ist (unter Kontrolle von Unterschieden der Zusammensetzung der untersuchten Populationen) die Performanz des schwedischen Sozialhilfesystems, was die dauerhafte Behebung materieller Notlagen betrifft, ungünstiger als die des deutschen Systems, insofern die Zeitspannen, über die (mit Unterbrechungen) Sozialhilfe bezogen wurde, in Göteborg länger waren. In Bremen dauerten dagegen einzelne kontinuierliche Bezugsepisoden i.d.R. länger, endeten aber mit höherer Wahrscheinlichkeit mit einer dauerhaften Unabhängigkeit von Sozialhilfe. Trotz geringer jährlicher Armutsquote scheint die Performanz des schwedischen Sozialstaates, was die Vermeidung dauerhafter strenger Armut betrifft, also nicht durchgängig besser zu sein als die konservativer und sogar liberaler Wohlfahrtsstaaten. Dies liegt vermutlich daran, dass die Sozialhilfe (das wichtigste Instrument der Armutsbekämpfung) im schwedischen System der sozialen Sicherung nur eine "residuale", gegenüber arbeitsmarktbezogenen Programmen nachrangige Rolle spielt (was sich auch in der geringen Leistungshöhe niederschlägt, vgl. oben 6.2.1.2) und verbliebene Lücken im Spektrum der dort abgedeckten Risiken nur unzureichend auffangen kann (Buhr 1998: 16ff.). Insgesamt weisen die vorliegenden Befunde dennoch darauf hin, dass die höhere jährliche Armutsquote in Großbritannien nicht durch eine höhere Mobilität aus Armut und geringere dauerhafte Armut aufgewogen wird, sondern eher mit einer höheren Persistenz von Armut einhergeht. Deutschland und Schweden kombinieren geringere jährliche Armutsquoten mit geringerer über längere Perioden anhaltender Armut, wobei allerdings sehr arme Haushalte in Schweden eine unerwartet geringe Einkommensmobilität aufweisen, während Armutsepisoden (die nicht unbedingt mit dem Sozialhilfebezug enden) in Deutschland länger dauern. Eine eindeutige Überlegenheit der sozialdemokratischen Variante des Wohlfahrtsstaates gegenüber der konservativen zeichnet sich nach diesem Kriterium nicht ab.
260
261
In den Augen von Duncan et al. ist der kurze Leistungsbezug alleinerziehender Bremer Mütter eine Anomalie (Duncan et al. 1995: 87); bei näherer Betrachtung der von ihnen präsentierten Daten zur Verfügbarkeit von Kinderbetreuungseinrichtungen könnten der (etwas unerwartet) hohe Versorgungsgrad in Deutschland und der niedrige Versorgungsgrad in England sowohl die geringe Bezugsdauer in Deutschland als auch die hohe Bezugsdauer in Großbritannien erklären, möglicherweise in Verbindung mit der sehr unterschiedlichen Altersstruktur (in Großbritannien überwiegend junge Frauen unter 25 Jahren, in Deutschland überwiegend Frauen über 25 Jahren) und dem Umstand, dass Sozialhilfebezug in Deutschland sehr häufig mit einer Scheidung oder Trennung verbunden ist, in UK dagegen selten (53% vs. 8%): vermutlich endet der größte Teil der Sozialhilfebezüge alleinerziehender deutscher Mütter mit der Durchsetzung von Unterhaltsansprüchen (Genaues hierzu geht aus den präsentierten Informationen nicht hervor) oder der Aufnahme einer Berufstätigkeit (29% in Deutschland, für UK keine Angaben). Natürlich sind die Ergebnisse hinsichtlich der Bezugsverläufe nur mit Zurückhaltung als indikativ für die Mobilität aus Armut zu betrachten, da ein Ende des Bezugs von Unterstützung nicht zwangsläufig ein Einkommen oberhalb der Armutsgrenze impliziert. Die Befunde fügen sich aber gut in das Gesamtbild ein.
239
6.2.3.3.3 Die Reduktion von Armut durch Transfers und Steuern Betrachtet man statt der verfügbaren Einkommen die Markteinkommen, zeigt sich, dass die Armutsquoten (bei Zugrundelegung des gleichen Kriteriums) hier in allen drei Ländern durchgängig schon seit den 70er Jahren gestiegen sind. Offenbar haben Veränderungen im Transfersystem (oder der Zusammensetzung der Bevölkerung) ähnlich wie bei der Einkommensungleichheit auch hier dafür gesorgt, dass sich die Entwicklung bei den Markteinkommen nur verzögert auf die verfügbaren Einkommen ausgewirkt hat: eine zunächst steigende Umverteilungswirkung hat den Anstieg der Armutsquote abgeschwächt. Dies zeigt sich auch in Abbildung 6.9, welche die Entwicklung des prozentualen Umfangs der Reduktion der Armutsquote beim Übergang vom Markt- zum verfügbaren Einkommen darstellt 262. Auffällig ist auch hier, dass es in Schweden im Gegensatz zu Deutschland und England kaum Veränderungen gegeben hat (auch wenn der Vergleich einzelner Zeitpunkte – s. Tabellen 6.25 und 6.26 – anderes suggeriert). Während hier die globale Umverteilungswirkung von Steuern und Transfers Ende der 90er Jahre nachgelassen hatte (s. oben), trat dieser Effekt bei den Armutsquoten allenfalls in geringem Maße auf. Zudem folgen hier die Differenzen zwischen den Ländern stärker den theoretischen Erwartungen, insofern sich Großbritannien (liberaler Typus) und Deutschland (konservativer Typus) deutlicher unterscheiden263. Großbritannien hat (trotz einer auf Armutsbekämpfung zielenden Politik) durchgängig die schlechteste Performanz der drei Länder; allerdings hat sie sich in den 90er Jahren etwas verbessert. Deutschland belegt den zweiten Platz, wobei hier die stärkste Zunahme in den 70er Jahren zu verzeichnen war. Bei Zugrundelegung von 40% des Medians als Armutsgrenze würde sich der Abstand Großbritanniens zu den anderen Ländern allerdings deutlich verringern, zu Anfang und Ende des Untersuchungszeitraums liegen die Reduktionsquoten in diesem Falle sogar über denen Westdeutschlands, d. h.: das
262
263
240
Unsere Ergebnisse sind möglicherweise sensibel gegenüber der gewählten Äquivalenzskala (Gewichtung mit der Quadratwurzel der Anzahl der Haushaltsmitglieder) und der Behandlung extrem hoher und niedriger Einkommensangaben. Behrendt (2000) kommt bei Zugrundelegung anderer Verfahren zu etwas anderen Armutsquoten. Er bemisst bei Angaben zur Armut vor Steuern und Transfers die Armutsgrenze außerdem am Median des verfügbaren Einkommens, während wir den Median des Markteinkommens zugrundelegen. Zudem dürften Niveauvergleiche bei der Betrachtung von Armut aufgrund der bekanntermaßen starken Stichprobenausfälle und Untererfassung niedriger Einkommen (insbesondere auch von Transfereinkommen), die zudem noch zwischen den Ländern variieren, besonders problematisch sein (ebd.). Vgl. Ritakallio (2001: 21). Fritzell/Ritakallio (2004) kommen zu ähnlichen Ergebnissen, allerdings stellen sie für Deutschland einen durchgehenden Anstieg der Armutsreduktion durch Transfers fest, was möglicherweise damit zusammenhängt, dass sie sich für 2000 auf Gesamtdeutschland beziehen. Allerdings sind Niveauunterschiede in der proportionalen Armutsreduktion durch Transfers sehr vorsichtig zu interpretieren, da sie auch in nicht unerheblichen Maße Unterschiede der demographischen Struktur reflektieren. Modellrechnungen zeigen z. B., dass in Frankreich die proportionale Reduktion der Armutsquote um annähernd 10 Prozent zunehmen würde, wiese die Bevölkerung die gleiche Zusammensetzung wie die schwedische bezüglich Altersstruktur, Familiengröße, Erwerbsbeteiligung und Anzahl der Kinder pro Familie auf. Im umgekehrten Falle würde der Koeffizient um drei Prozent sinken (vgl. Kangas und Ritakallio 1999: 530-536). Fritzell/Ritakallio (2004) präsentieren leider keine derartigen Berechnungen. Andererseits findet Brady (2004) in einer multivariaten Analyse auf Aggregatebene keinen Effekt einiger relevanter demographischer Variablen (inaktive Bevölkerung, Arbeitslosenquote, Anteil der Kinder mit alleinerziehenden Müttern) auf die Reduktion von Armutsquoten.
britische System mildert strenge Armut immerhin ab, und dies offenbar z. T. wirksamer als in den anderen Ländern, wie die detaillierte Analyse von Behrendt (2000) für die frühen 90er Jahre zeigt.
Differenz der Quoten für das Markteinkommen und das verfügbare Einkommen in % (Basis: Markteinkommen)
90 80 70 60 50 40 30 20 10
19 79 19 80 19 81 19 82 19 83 19 84 19 85 19 86 19 87 19 88 19 89 19 90 19 91 19 92 19 93 19 94 19 95 19 96 19 97 19 98 19 99 20 00
77
78
19
76
19
75
19
19
73
74
19
72
19
71
19
19
69
19
19
70
0
Jahr D (LIS): < 50 % des Medians Reduktion Quote in % (EVS)
D (LIS): < 50 % des Medians Reduktion Quote in % (SOEP)
S (LIS): < 50 % des Medians Reduktion Quote in % (IDS)
UK (LIS): < 50 % des Medians Reduktion Quote in % (FES)
UK (LIS): < 50 % des Medians Reduktion Quote in % (FRS)
Abb. 6.9: Entwicklung der prozentualen Differenz der Armutsquoten des Markteinkommens und des verfügbaren Einkommens in Westdeutschland, Großbritannien und Schweden (Grenze: 50 % des Medians), 1969-2000 Quelle: eigene Berechnungen mit Daten der LIS (Stand 5.4.2004) Tab. 6.25: Reduktion der Armutsquoten (50 Prozent des Medians) durch Steuern und Transfers ca. 1970 und ca. 1980 D (West) GB S 1973 1983 1969 1979 1975 1981 Jahr 62,4 75,2 64,3 61,5 74,5 81,4 Reduktion der Quote in % +20,5 -4,4 +9,3 Veränderung in % Rang (Veränderung) 1 3 2 Quelle: eigene Berechnungen mit Daten der LIS (Stand 5.4.2004). Tab. 6.26: Reduktion der Armutsquoten (50 Prozent des Medians) durch Steuern und Transfers ca. 1980 und ca. 2000 D (West) UK S 1984 2000 1979 1999 1981 2000 Jahr 74,8 69,1 61,5 61,6 81,4 78,4 Reduktion der Quote in % -7,6 +0,2 -3,7 Veränderung in % Rang (Veränderung) 3 1 2 Quelle: eigene Berechnungen mit Daten der LIS (Stand 5.4.2004).
Noch stärkere Differenzen und eine andere Rangfolge erwarten wir bei der Betrachtung der Effizienz der Regime bei der Armutsreduktion. Es ist zu erwarten, dass sich die vielfach angenommene Überlegenheit von bedarfsgeprüften Programmen in diesem Punkte beson241
ders bemerkbar macht, da derartige Leistungen primär im unteren Bereich der Einkommensverteilung in Anspruch genommen werden und auch in erster Linie der Armutsbekämpfung (und nicht einer gleichmäßigeren globalen Einkommensverteilung) dienen. Tab. 6.27: Durchschnittliche Reduktion der Armutsquoten (verschiedene Armutsgrenzen, in Prozent) ca. 1970 - ca. 1980 Kriterium D (West) UK S 83,5 82,0 88,1 <40% des Medians Rang 2 3 1 69,2 59,4 78,0 <50% des Medians Rang 2 3 1 49,5 37,4 66,1 <60% des Medians Rang 2 3 1 Quelle: eigene Berechnungen mit Daten der LIS (Stand 5.4.2004). Tab. 6.28: Durchschnittliche Reduktion der Armutsquoten (verschiedene Armutsgrenzen, in Prozent) ca. 1980 - ca. 2000 D (West) UK S 83,1 81,4 85,9 <40% des Medians Rang 2 3 1 72,4 62,4 79,0 <50% des Medians Rang 2 3 1 57,2 40,3 68,1 <60% des Medians Rang 2 3 1 Quelle: eigene Berechnungen mit Daten der LIS (Stand 5.4.2004).
Liberale Regime, die überwiegend auf derartige Programme setzen, sollten daher zwar möglicherweise bei der Umverteilung nicht deutlich effizienter als andere Regime sein, wohl aber bei der Armutsbekämpfung. Abbildung 6.10 zeigt ein Effizienzmaß, das die Reduktion der Armutsquote ins Verhältnis setzt zu den Sozialausgaben264. Wie zu erkennen ist, zeigt das Vereinigte Königreich tatsächlich anfangs die größte Effizienz, die aber auch hier langfristig rückläufig ist und in den 90er Jahren zwischenzeitlich unter der westdeutschen liegt. Die Effizienz des schwedischen Systems ist erwartungsgemäß niedriger als die des britischen und verläuft ähnlich wie diese, liegt aber anfangs noch vor der des westdeutschen Systems. In Westdeutschland war die Effizienz langfristig stabil auf einem Niveau, das anfangs unter dem der anderen Länder lag, aber in den 90er Jahren über deren Werten. Das mittlere Effizienzniveau lag im Vereinigten Königreich in der Periode 19691979 bei 6,1 (1974-1979: 5,5), in Schweden 1975-1981 bei 4,9, in Westdeutschland 19731983 bei 4,4. In der zweiten Periode ab Anfang der 80er Jahre lag der Mittelwert für das Vereinigte Königreich bei 4,6 (1979-1994: 4,7), für Schweden bei 4,0 (1981-1995: 3,9) und für Westdeutschland bei 4,6. Insgesamt scheint also das britische System am effizientesten zu sein, wenn auch das Transfervolumen nicht ausreicht, um eine erhebliche Reduktion der
264
242
Wie bereits erwähnt, ist diese Berechnungsweise für Schweden ungünstig, da hier der Abstand von Brutto- und Nettosozialleistungsquote (die eigentlich verwendet werden müsste, da beim verfügbaren Einkommen Steuern bereits abgezogen sind) deutlich höher ist als im Vereinigten Königreich.
Armutsquote zu erreichen. Diese Beobachtung stimmt gut sowohl mit den Aussagen bei Mahler und Jesuit (2004) zur Effizienz (s.o.) als auch mit allgemeineren Befunden überein, wonach die Effizienz der Armutsreduktion265 in sozialdemokratischen (nicht aber konservativen) Wohlfahrtsstaaten niedriger ist als in liberalen (Brady 2004).
7 6 5 4 3 2 1
99 19
97 19
95 19
93 19
91 19
89 19
87 19
85 19
83 19
81 19
79 19
75
73
71
77 19
19
19
19
69
0 19
Reduktion der Armutsquote (<50 % des Medians) pro % des BIP für Sozialausgaben
8
Jahr
Westdeutschland (EVS) GB (FES)
Westdeutschland (SOEP) GB (FRS)
Schweden
Abb. 6.10: Reduktion der Armutsquote je für Sozialausgaben aufgewandtem Prozent des BIP Quellen: eigene Berechnungen auf Basis von Daten der LIS (Armutsquoten) und der OECD (Sozialausgaben).
Die Ausführungen über Effektivität und Effizienz lassen sich somit wie folgt zusammenfassen. Die durch Steuern und Transfers bewirkte Reduktion der Armut ist in Schweden durchgängig am höchsten und im Vereinigten Königreich am niedrigsten. Das schwedische Wohlfahrtsregime ist also, was das Kriterium der relativen Einkommensarmut betrifft, das effektivste, sowohl im Hinblick auf den erzielten proportionalen Reduktionseffekt als auch bezüglich der aus dem Zusammenwirken von Markt und staatlicher Intervention resultierenden Armutsquote. Dies hat sich bis in die Gegenwart nicht geändert. Das britische Regime weist auch nach Maßgabe dieser Kriterien die schlechteste Performanz aller drei Länder auf, wobei sie sich in der Thatcher-Ära wesentlich verschlechtert hat. Die Leistung des deutschen Systems bei der Armutsbekämpfung ist mäßiger als bei der Nivellierung der Einkommensverteilung. In den 90er Jahren minderte sich der immer noch starke Reduktionseffekt, und es kam zu einem deutlichen Anstieg der relativen Armut. Die Armutsquote in Westdeutschland ist aber immer noch erheblich niedriger als im Vereinigten Königreich. Bei der Effizienz der Verwendung der eingesetzten
265
Gemessen über den Interaktionseffekt zwischen den Sozialausgaben und einer Dummy-Variable für den Typ des Wohlfahrtsregimes.
243
Mittel verhält es sich umgekehrt: das Vereinigte Königreich zeigt die beste Performanz und Schweden die schlechteste. Insofern bestätigt sich die theoretische Erwartung, dass Effizienz und Effektivität der Armutsbekämpfung invers korreliert sind. Dies bedeutet jedoch nicht unbedingt, dass bedarfsgeprüfte Programme effizienter sind als andere266. 6.2.4
Zusammenfassung
In Kap. 1 haben wir die Begrenzung der sozialen bzw. ökonomischen Ungleichheit sowie die Bildung von Sozialkapital als zentrale Strukturelemente des kooperativen Individualismus hervorgehoben. In Kapitelabschn. 6.1 haben wir erläutert, in welcher Weise wohlfahrtsstaatliche Ordnungen generell hierfür günstige oder weniger günstige Bedingungen bereitstellen. Der vorliegende Kapitelabschn. 6.2 hat sich mit der Frage beschäftigt, in welchem Maße die spezifischen wohlfahrtsstaatlichen Arrangements in unseren drei Vergleichsländern tatsächlich in der Lage waren, Ungleichheit und Armut zu begrenzen und soziales Kapital zu bewahren bzw. zu entwickeln. Die typologische Differenzierung der wohlfahrtsstaatlichen Regime stützt sich – gemäß einem Vorschlag von Esping-Andersen – vor allem auf folgende Merkmale: (1) den Grad an Universalität oder Selektivität der Leistungsprogramme (der Zugangsberechtigung zu ihnen), (2) die Höhe und Dauer der gewährten Leistungen, (3) Umfang und Rigidität der individuellen Bedarfsprüfungen (als Bedingung der Leistungsgewährung). Weitere differenzierende Merkmale sind (a) das relative Gewicht, das dem Staat, dem Markt und der Familie bei der Wohlfahrtsproduktion zukommt, sowie (b) die jeweiligen Anteile sozialer Dienstleistungen und monetärer Aufwendungen innerhalb des Gesamtvolumens der Sozialausgaben. Nach diesen Kriterien zeigt Schweden (als Prototyp des sozialdemokratischen Wohlfahrtsregimes) die stärkste Affinität zu den Strukturmerkmalen des kooperativen Individualismus. Die Bundesrepublik Deutschland (von Esping-Andersen dem konservativen Wohlfahrtsregime zugeordnet) weicht vor allem wegen der berufsständischen Organisation ihrer beitragsfinanzierten sozialen Sicherungssysteme und der relativ starken Orientierung an der Familie in ihrer traditionalen Form (mit dem Mann als Haupt- oder Alleinverdiener) von dem Idealtypus dieses Modells ab, und zwar in Richtung einer tendenziell partikularistischen (statt universalistischen) Solidarität. Das britische "liberale" System überlässt dagegen wegen seiner starken Betonung der Marktkräfte, seiner (mit Ausnahmen) wenig generösen Unterstützungsleistungen und der rigorosen (diskriminatorischen) Bedürftigkeitsprüfungen den Kräften eines desintegrativen Individualismus größere Spielräume. Einige der Merkmale, die einen kooperativen Individualismus begünstigen, hat EspingAndersen im Konzept der "Dekommodifizierung" zusammengefasst. Der "Dekommodifizierungsindex" ist von mehreren Autoren neu konstruiert worden. Die jüngste, von Scruggs und Allan (2006) vorgelegte Fassung führt zu Zeitreihen, die in Abb. 6.1 wiedergegeben sind. Sie belegen nicht nur das spätestens seit Mitte der 70er Jahre erheblich höhere
266
244
Moller et al. (2003) fanden z. B., dass der Anteil der bedarfsgeprüften Programme an den Sozialausgaben unter Konstanthalten der Gesamtausgaben keinen Effekt auf die Reduktion der Armutsquote in der ökonomisch aktiven Bevölkerung hat.
Dekommodifizierungsniveau in Schweden, sondern zeigen auch, dass dieses Niveau seit Anfang der 90er Jahre dort stärker rückläufig ist als in Deutschland und Großbritannien. Großbritannien weist durchgängig das niedrigste Niveau auf, lässt aber über die gesamte Periode von 1971 bis 2002 eine leichte Aufwärtstendenz erkennen, sodass sich die drei Länder im Grad der erreichten Dekommodifizierung heute ähnlicher sind als Anfang der 70er oder (erst recht) während der 80er Jahre. Zu erinnern ist auch daran, dass Schweden den Wohlfahrtsstaat später als die Bundesrepublik ausgebaut hat, was sich z. B. oben in Tab. 6.2 in den relativ niedrigen Netto-Ersatzquoten des schwedischen Rentensystems im Jahr 1960 zeigt. Zu beachten ist weiterhin, dass die schwedische Sozialhilfe niedrigere Ersatzquoten bereitstellt als die britische und (mit noch größerem Abstand) die deutsche Sozialhilfe (s. Tab. 6.5) und zudem eine relativ geringe Unterstützung in der Bevölkerung genießt (Rothstein 2001b: 228). Der strukturell größeren Nähe des schwedischen Wohlfahrtsregimes zum kooperativen Individualismus wie auch dem insgesamt höheren Niveau an Dekommodifizierung entspricht die bessere Performanz Schwedens bei der Bildung von Sozialkapital (Abschn. 6.2.2) und bei der Begrenzung von Ungleichheit und Armut (Abschn. 6.2.3); allerdings sind auch hier wieder Einschränkungen in einzelnen Punkten zu beachten. Die Entwicklung des Sozialkapitals haben wir anhand folgender Indikatoren erörtert: (1) Mitgliedschaften in politischen Parteien, Gewerkschaften und Kirchen, (2) Mitgliedschaften in sonstigen freiwilligen Vereinigungen, (3) Ausprägung des zwischenmenschlichen Vertrauens. Ein weiterer Indikator, das Institutionenvertrauen, insbesondere das Vertrauen in Regierung und Parlament, wurde schon in Kap. 5.2 dargestellt. Unsere Analyse wird durch eine ziemlich defizitäre Datenlage beeinträchtigt; insbesondere die Indikatoren unter Ziff. 2 und 3 sind längsschnittlich unzureichend erfasst. Außerdem liefert die einschlägige Literatur keine hinreichend klaren und operationalisierbaren Kriterien, nach denen die Vielfalt der freiwilligen Vereinigungen und der in ihnen praktizierten Formen des individuellen Engagements nach ihrem jeweiligen Potential für kooperativen Individualismus klassifiziert werden könnten. Relativ gut dokumentiert sind die Mitgliedschaftszahlen für die zivilgesellschaftlichen Großorganisationen. Bei den politischen Parteien ist der stärkste Rückgang seit den 60er Jahren für Großbritannien registriert, der schwächste (erst seit den 80er Jahren überhaupt) für die Bundesrepublik. Ende der 90er Jahre ist, gemessen an der Größe der wahlberechtigten Bevölkerung, der Anteil der Parteimitglieder immer noch am höchsten in Schweden, Deutschland liegt an zweiter, Großbritannien klar an letzter Stelle. Bei den Gewerkschaften sind die Organisationsformen und die Bindung oder Nähe zu spezifischen politischen Parteien so unterschiedlich, dass Niveauvergleiche zwischen den Ländern kaum sinnvoll sind. Die Mitgliedschaftszahlen zeigen in Großbritannien und der Bundesrepublik ähnliche Entwicklungsverläufe: Anstiege bis Ende der 70er Jahre, danach deutliche Rückgänge bis zur Gegenwart. In Schweden ist die gewerkschaftliche Organisationsdichte während des gesamten Zeitraumes mit Abstand am größten, wobei zu berücksichtigen ist, dass die volle Arbeitslosenunterstützung nach wie vor an die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft gebunden ist. Das erklärt wohl auch, dass die Mitgliedschaft in den 90er Jahren (also bei rapide angestiegener Arbeitslosigkeit) zunächst sogar noch zugenommen hat. Die kirchlichen Organisationsformen sowie die konfessionelle Vielfalt variieren zwischen den drei Ländern ebenfalls in starkem Maße, sodass auch hier Niveauvergleiche bezüglich der Mitgliedschaftszahlen auf dieser Ebene nicht sinnvoll sind. Im Längsschnitt werden stärkere Rückgänge in Großbritannien als in Schweden und Deutschland registriert. 245
Religionssoziologische Untersuchungen zeigen, dass vor allem in den 60er Jahren die sog. "Kernmitgliedschaften" (definiert über regelmäßige und häufige Gottesdienstbesuche) drastisch (aber je nach Konfession unterschiedlich stark) zurückgehen, wobei Großbritannien und Deutschland (Ost und West) bis Ende der 90er Jahre ein ungefähr gleiches Niveau erreichen. Das kirchliche Bindungsniveau im protestantischen Schweden scheint leicht über dem der Protestanten in Deutschland zu liegen. Auch bei den Mitgliedschaftszahlen und dem Engagement in anderen Formen freiwilliger Vereinigungen liegt Schweden deutlich vor den beiden anderen Ländern. Während Deutschland bei den formalen Mitgliedschaften einen Vorsprung vor Großbritannien zu haben scheint, stufen die (wenigen) international vergleichenden Studien Großbritannien vor Deutschland ein, wenn es um die Zahl der tatsächlich Engagierten geht, wobei, wie bereits erwähnt, eine analytische und normative Bewertung der verschiedenen Tätigkeitsbereiche nicht erfolgt. Insgesamt muss auch offen bleiben, ob das bei den traditionalen Großorganisationen verloren gegangene Sozialkapital funktional äquivalent und dauerhaft durch das gestiegene Engagement in anderen Freiwilligen-Vereinigungen ausgeglichen (oder sogar übertroffen) worden ist. Die Entwicklung des zwischenmenschlichen Vertrauens, soweit angesichts fehlender und widersprüchlicher Umfragedaten überhaupt rekonstruierbar, spricht im Falle Großbritanniens und Deutschlands eher für eine negative Tendenz je stärker man sich der Gegenwart nähert. Für Schweden liegen uns keine vergleichbaren Daten für die Zeit vor 1981 vor. Seitdem ist dort allerdings kein Rückgang des Vertrauensniveaus beobachtbar; es liegt zudem deutlich über demjenigen der beiden anderen Länder. In Westdeutschland nimmt das Vertrauen ab 1950 bis Mitte der 80er Jahre erheblich zu, schwenkt dann aber in einen Abwärtstrend ein. Großbritannien startet Ende der 50er Jahre mit einem hohen Vertrauensniveau, das bis 1980 leicht abfällt, in der folgenden Dekade relativ stabil bleibt, nach 1990 aber möglicherweise (die Befunde sind hier nicht einheitlich) noch stärker abfällt als in Deutschland. Trotz der unbefriedigenden Datenbasis scheint folgendes Fazit vertretbar: Insgesamt hat Schweden bei der Entwicklung des Sozialkapitals einen beachtlichen Vorsprung vor den beiden anderen Ländern; Deutschland dürfte im Niveau, über alle Indikatoren betrachtet, ähnlich wie Großbritannien einzustufen sein, wobei es aber in der ersten Hälfte unserer Untersuchungsperiode, von einem niedrigen Niveau aus startend, zunächst eine deutlich positivere Entwicklungsrichtung aufweist. Für die Einschätzung der Ungleichheits- und Armutsentwicklung stehen präzisere und weniger lückenhafte Datenreihen zur Verfügung als im Falle des Sozialkapitals. Allerdings beruhen sie nicht durchgängig auf gleichen konzeptuellen Grundlagen und Messverfahren. Die Bezugsgrößen Einkommen, Vermögen und Armut sind jeweils in unterschiedlicher Weise definiert und operativ erfasst worden; und auch der Begriff der Ungleichheit lässt sich in verschiedene statistische Maßzahlen umsetzen, die zu unterschiedlichen Ergebnissen führen können. Wir haben uns bewusst dafür entschieden, alternative methodische und konzeptuelle Varianten vorzustellen (auch wenn die Lektüre dadurch erschwert wird), um dem Argument vorzubeugen, die präsentierten Ergebnisse sähen anders aus, wenn statt der Variante A die Variante X gewählt worden wäre. Folgende Befunde sind hervorzuheben: Die Verteilung der jährlichen Einkommen wird in der Zeit von ca. 1950 bis Mitte oder Ende der 70er Jahre (der Zeitpunkt variiert zwischen den Ländern und je nach verwendeter Maßzahl) in allen drei Ländern weniger ungleich; der Trend verläuft seitdem in umgekehrter Richtung. In Großbritannien und (etwas schwächer) in Schweden nimmt die Ungleichheit stärker zu als in Deutschland (vor allem durch ein Auseinanderdriften der 246
oberen und unteren Ränge der Einkommensverteilung); in Schweden bleibt die Ungleichheit aber durchgängig auf dem niedrigsten Niveau. (Die Umkehr des säkularen Trends von größerer zu geringerer Gleichheit ist auch für andere ökonomisch hoch entwickelte Länder nachgewiesen.) Legt man den Berechnungen statt der Jahreseinkommen langfristige Durchschnittseinkommen zu Grunde, sinkt in allen Ländern die Einkommensungleichheit, die Rangfolge der Länder scheint sich jedoch nicht zu verändern. Aus dem Vergleich der Ergebnisse dieser beiden Berechnungsmethoden ergeben sich Hinweise über die Einkommensmobilität im Lebensverlauf und zwischen den Generationen; sie scheint – mit Ausnahme der jüngsten Jahre – in Großbritannien geringer zu sein als in Schweden und Deutschland. Die Umverteilungswirkung wohlfahrtsstaatlicher Programme und des Steuersystems nahm in allen drei Ländern bis mindestens in die 80er Jahre hinein zu und ging danach (außer in Deutschland) leicht zurück. Während der gesamten Periode blieb das Umverteilungsniveau in Schweden am höchsten, in Großbritannien am niedrigsten. Wenn man die Umverteilungswirkung nur auf die aktive Bevölkerung bezieht – also die Rententransfers ausklammert – erzielt Großbritannien allerdings eine leicht höhere Wirkung als Deutschland. Auch wenn man die Effekte unterschiedlicher struktureller Zusammensetzung der Haushalte und sonstiger demografischer Veränderungen (über Zeit und zwischen den Ländern) rechnerisch neutralisiert, bleibt die Umverteilungswirkung in Schweden über die gesamte Periode am höchsten, geht dort aber seit Mitte der 90er Jahre deutlich zurück, während sie in der Bundesrepublik auch in der zweiten Hälfte unserer Untersuchungsperiode noch leicht zunimmt. Im Umverteilungsniveau liegt Deutschland unter dieser Voraussetzung je nach Datenquelle und Berechnungsweise mal über, mal unter dem britischen Niveau. Wesentlich unbefriedigender ist die Datenlage bei der Vermögensverteilung. Da insbesondere die sehr hohen Vermögen nicht adäquat erfasst sind, ist von einer durchgängigen Unterschätzung der Verteilungsungleichheit auszugehen. Da die Erfassungsmethoden zwischen den Ländern stark variieren, sind die dokumentierten Ungleichheitsniveaus nicht sinnvoll vergleichbar. Auf jeden Fall sind sie in allen Ländern wesentlich höher als bei der Einkommensverteilung. Die zeitliche Entwicklung verläuft in den drei Ländern in ähnlicher Weise. In ungefähr der ersten Hälfte unserer Untersuchungsperiode erfolgte ein Rückgang der Vermögenskonzentration, bevor nach einer Phase der Stabilisierung die Ungleichheit wieder zunahm: zuerst und am deutlichsten in Schweden schon in den 80er Jahren, gefolgt von Großbritannien und Westdeutschland in den 90er Jahren. Auch die Armutsquoten variieren je nach Definitionskriterien und Berechnungsmethoden; aber durchgängig werden über die gesamte Periode (mit der Ausnahme eines einzelnen Messzeitpunktes) für Schweden die niedrigsten und für Großbritannien die höchsten Quoten ausgewiesen. In allen Ländern nimmt in (ungefähr) der ersten Hälfte der Untersuchungsperiode die Armut ab, steigt dann aber wieder deutlich an. Der Zeitpunkt der Trendumkehr wie auch das Ausmaß der Armutszunahme variieren je nach Berechnungsmethode. Die Rangfolge der Länder hinsichtlich des Armutsniveaus ändert sich dadurch jedoch nicht (anders als bei den Veränderungsraten). Vergleichbare Informationen über die Dauerhaftigkeit der individuell erfahrenen Armut liegen erst seit den 80er Jahren vor, sind aber weiterhin allzu lückenhaft. Die vorliegenden Befunde stützen die Annahme, dass die höhere jährliche Armutsquote in Großbritannien nicht durch eine höhere Mobilität aus Armut, also durch eine geringere dauerhafte Armut aufgewogen wird, sondern im Gegenteil mit einer höheren Persistenz von Armut verbunden ist. Die Leistungsfähigkeit des schwedischen Systems scheint in dieser 247
Hinsicht nur geringfügig besser als die des britischen Systems zu sein. Im Vergleich zu Deutschland weist Schweden zwar die durchschnittlich kürzeren Armutsepisoden auf, hat aber gerade bei den sehr armen Haushalten ein auffälliges Leistungsdefizit: deren Einkommensmobilität ist geringer als in den beiden anderen Ländern. Die unterschiedlich hohen Armutsquoten resultieren zum Teil aus der unterschiedlich hohen Ungleichheit der Markteinkommen in den drei Ländern, sind aber auch das Ergebnis unterschiedlich starker Umverteilungseffekte, die von dem jeweiligen Steuersystem und den sozialstaatlichen Transferleistungen erzielt werden. Unabhängig davon, welches Median-Kriterium (40, 50 oder 60 Prozent) man für die Definition der Armutsgrenze heranzieht, erzielt Schweden sowohl vor 1980 als auch danach im Langfristvergleich die höchste Reduktion der Armutsquoten, gefolgt von der Bundesrepublik, während Großbritannien mit deutlichem Abstand an letzter Stelle platziert ist (obwohl sein Wohlfahrtssystem programmatisch besonders auf die Armutsbekämpfung ausgerichtet ist). Es bleibt also festzuhalten, dass die kompensatorische Leistungsfähigkeit der wohlfahrtsstaatlichen Systeme bezüglich Ungleichheit und Armut seit Mitte/Ende der 70er Jahre schrittweise – und je nach Leistungsindikator und Land variierend – nachgelassen hat: die vom Markt induzierte Ungleichheit der Einkommen und Vermögen sowie die Armutsquoten haben (wieder) zugenommen, obwohl der Leistungsaufwand nicht zurückgegangen ist. Über die gesamte Periode betrachtet, zeigt das schwedische System die beste Performanz, anscheinend aber auch den stärksten Rückgang seit den 90er Jahren, während Deutschland bisher das höchste Beharrungsvermögen aufweist (was angesichts einer stabil hohen Arbeitslosigkeit möglicherweise nur als Aufschub radikalerer Einschnitte zu lesen ist). Kapitelabschnitt 6.5.1 bringt einen summarischen Überblick über bisher erfolgte Reformmaßnahmen und diskutiert sie unter dem Aspekt eingeschränkter staatlicher Regulierungsfähigkeit. 6.3
Marktliberalismus versus Korporatismus
Die Art und Weise wie gesellschaftliche Interessengruppen sie betreffende Konfliktkonstellationen auf dem Verhandlungsweg bearbeiten (unter Umständen unter direkter Beteiligung des Staates) und bei der Gestaltung der staatlichen Ordnungs-, Wirtschafts- und Sozialpolitik mitwirken, wird in der politikwissenschaftlichen Literatur unter dem Konzept des "Korporatismus" diskutiert267. In den einschlägigen Studien findet man verschiedene Varianten des Konzepts (s. Lijphart/Crepaz 1991: 235 f.; Siaroff 1999: 176 f.); wir zitieren hier die Definition von Kenworthy (2002: 367): "Corporatism refers to various types of institutional arrangements whereby important political-economic decisions are reached via negotiation between, or in consultation with, peak-level representatives of employees and/or employers, sometimes involving other interest groups and the state." Der Bezug zu
267
248
Gelegentlich wird auch der Begriff des „Korporativismus“ benutzt (s. Ritter/Gründer 1976: 1136 f.; Wehler 1995: 664 ff.), der aber in neuerer Zeit eher als Bezeichnung für die ständestaatlichen oder faschistischen Varianten des Korporatismus (im Gegensatz zu den hier gemeinten demokratischpluralistischen Varianten) herangezogen wird (s. Holtmann 2000: 326).
unsererem Thema (und zu Durkheim) kommt gut in folgender Begriffsexplikation zum Ausdruck: "Charakteristisch für den demokratischen K. ist die Einbindung der wichtigsten Interessengruppen sowohl bei der Formulierung polit. Ziele als auch bei den Entscheidungen darüber und der Erfüllung staatlicher Aufgaben und Leistungen ... Zentrale Elemente korporatistischer Interessenvermittlung sind die ... gegenseitige Information, das Aushandeln multilateraler Vereinbarungen und kontrollierbarer Verpflichtungen, die von den beteiligten Akteuren ein hohes Maß an Rationalität, Überzeugungskraft, gegenseitigem Vertrauen und Bereitschaft zum Konsens erfordern" (Nohlen/Schultze/Schüttemeyer 1998: 334). Der "Korporatismus" ist also ein weiteres zentrales Element im Geflecht institutionalisierter gesellschaftlicher Regulation, das die Gewichte von kooperativem versus desintegrativem Individualismus mit bestimmt268. Hier tritt der Staat als Mittler und Verhandlungspartner auf, der Vereinbarungen zwischen gesellschaftlichen Gruppierungen (organisiert in "Verbänden") absichert, moderiert, gelegentlich auch anregt oder in ihrer Reichweite begrenzt. Der Korporatismus soll sicherstellen, dass öffentliche bzw. kollektive Güter auch dann erzeugt oder bewahrt werden, wenn die im Marktkontext eingesetzte individuelle Nutzenrationalität dazu allein nicht in der Lage ist. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr, dass bestimmte gesellschaftliche Interessen, die nicht in das Geflecht korporatistischer Organisation eingebunden sind, unbeachtet bleiben. Der Korporatismus ist eng mit den weiter oben behandelten sozialstaatlichen Arrangements verbunden; einige Autoren betrachten ihn auch explizit als Komponente der sozialdemokratischen und der konservativen Varianten wohlfahrtsstaatlicher Ordnungen. Während den sozialen Leistungssystemen vor allem eine kompensatorische Funktion zuerkannt wird, die hilft individuelle Lebensrisiken abzusichern und Benachteiligungen auszugleichen, soll das korporatistische System auf dem Wege von Konsens- und Kompromissfindung einen Ausgleich zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Interessenlagen finden. Auf diese Weise soll der soziale Zusammenhalt gefördert und verhindert werden, dass gesellschaftliche Entwicklungsprozesse einseitig ökonomischen Steuerungsmechanismen folgen. Kritisch wird eingewandt, der Korporatismus sei allzu stark an industriegesellschaftlichen Strukturen ausgerichtet und folglich mit den Rahmenbedingungen postindustrieller Wissensgesellschaften nicht mehr vereinbar. Er ersticke die notwendige wirtschaftliche Dynamik, sei ein Standortnachteil im globalisierten Wettbewerb und vernachlässige wegen seiner starken Konzentration auf Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen andere gesellschaftliche Bedürfnislagen269. Wir werden diese Debatte hier nur sehr punktuell aufgreifen, indem wir einige Forschungsergebnisse präsentieren (a) zum Zusammenhang zwischen Korporatismus und ökonomischer Entwicklung, (b) zum Zusammenang zwischen Korporatismus und Gewaltkriminalität.
268 269
Laut einer (schon früher erwähnten) Studie von Bornschier (2001) begünstigen korporatistische Strukturen die Bildung von Sozialkapital. Einen knapp gefassten Überblick zur (Erfolgs-) Geschichte des Korporatismus in Deutschland liefert Abelshauser (2001); ausführlicher hierzu und mit einem ausgewogenen Kommentar zur jüngeren Reformdebatte s. Abelshauser (2004: 436 ff.). Zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des (demokratischen) Korporatismus weltweit siehe Wilensky (2002).
249
Auch bei der Diskussion der funktionalen und dysfunktionalen Effekte korporatistischer Systeme sind, wie schon in anderen Zusammenhängen betont, Fehlregulierungen, die von einzelnen Komponenten ausgehen, von der Steuerungsleistung des Gesamtsystems ebenso zu trennen wie temporäre von langfristigen Effekten. Außerdem ist stets im Auge zu behalten, dass einzelne Länder auf Grund spezifischer Bedingungskonstellationen (zu denen nicht zuletzt kulturelle Traditionen gehören) von einem allgemein identifizierten Kausalmuster abweichen können. Bevor wir auf einzelne Studien eingehen, die diese Kritik aufgreifen, sei die Entwicklung des Niveaus korporatistischer Strukturen in unseren drei Ländern anhand eines von Alexander Hicks und Lane Kenworthy entwickelten Index dargestellt, der aber nur bis 1994 verfügbar ist (Abb. 6.11). 1,2
Neokorporatismus-Index
1
0,8
0,6
0,4
0,2
19 94
19 92
19 90
19 88
19 86
19 84
19 82
19 80
19 78
19 76
19 74
19 72
19 70
19 68
19 66
19 64
19 62
19 60
0
Jahr
Deutschland
GB
Schweden
Abb. 6.11: Entwicklung des Neokorporatismus-Index von Hicks/Kenworthy Quelle: Comparative Welfare States Data Set, vgl. Huber et al. (2004) (Primärquelle: Hicks/Kenworthy 1998).
Diesem Index zufolge ist die Distanz zwischen Schweden und Deutschland nur gering, während die Werte für Großbritannien (wie bei anderen Autoren ebenfalls) im unteren Bereich des internationalen Vergleichs liegen. Für Deutschland ermitteln Hicks/Kenworthy ein stabiles Niveau, das sich Anfang der 80er Jahre etwas verringert. Für Schweden werden bis 1989 mit zwei Unterbrechungen hohe Werte notiert, danach erfolgt, zunächst in zwei Etappen, ein Rückgang. Für Großbritannien wird bis 1974 ein stabil niedriges Niveau (0,210) ausgewiesen; ab 1977 bis 1994 liegt es noch ein erhebliches Stück niedriger. Den wohl umfassendsten Versuch einer analytischen Differenzierung und Operationalisierung des Korporatismus-Konzepts hat Siaroff (1999) vorgelegt. Auch bei ihm liegt Schweden (mit etwas größerem Abstand als bei Kenworthy) vor Deutschland und beide liegen mit großem Abstand vor Großbritannien. Auch er registriert für Schweden einen leichten Rückgang des Koordinationsniveaus seit den späten 80er Jahren, während es in dieser Rechnung für Deutschland gleich bleibt (bis Mitte der 90er Jahre). Für England registriert 250
er einen Rückgang in den 80er Jahren und eine partielle Erholung bis Mitte der 90er Jahre. Eine Übersicht für 18 "reiche Demokratien" präsentiert Bornschier (2005). Zur Entwicklung von Zentralisation und Koordination speziell der Lohnverhandlungen in unseren drei Vergleichsländern siehe unten Kapitelabschnitt 6.4.4, Tab. 6.29. Die Kritik am Korporatismus verweist nicht zuletzt auf den Anstieg der Arbeitslosenzahlen in den letzten Jahrzehnten. Hierzu hat Kenworthy (2002) eine international vergleichende Studie vorgelegt, die die Entwicklung zwischen 1980 und 1997 in 16 der reichsten OECD-Länder auf der Basis von Zeitreihendaten untersucht270. Sie verdeutlicht, wie komplex verschiedene Komponenten des Korporatismus zusammenspielen. Dabei konzentriert sie sich auf die Form der Lohnfindung, an der die Gewerkschaften und die Arbeitgeber in unterschiedlicher Weise beteiligt sind und die den jeweiligen Regierungen bestimmte Politik-Optionen eröffnet oder verschließt. Der Autor entwickelt zunächst die Hypothese, dass die Kombination von dezentralisierten und nichtkoordinierten Lohnfindungsprozessen eher zu hohen Lohnabschlüssen führt als zentralisierte und koordinierte Verhandlungen, jedenfalls dann, wenn in beiden Fällen "starke" Gewerkschaften involviert sind. "Zentralisation" bezieht sich auf die Reichweite (oder "Ebene") der Vereinbarungen, die auf nationaler, regionaler, sektoraler oder betrieblicher Ebene getroffen werden. "Koordination" bezieht sich auf den Grad der Verbindlichkeit und der Folgebereitschaft, mit der die auf der Spitzenebene getroffenen Vereinbarungen (zwischen den Dachverbänden der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände) von den Akteuren nachgeordneter Ebenen (z. B. einzelnen Betrieben) eingehalten werden. In einer weiteren Hypothese geht er davon aus, dass die auf Grund hoher Koordination erwartbaren moderaten Lohnabschlüsse und der damit verbundene relativ geringe Inflationsdruck Regierungen zu einer wachstumstimulierenden Wirtschaftspolitik ermutigen, die ihrerseits die Schaffung von Arbeitsplätzen fördert. Auf der Gegenseite nimmt er an, dass eine restriktive Arbeitsmarktpolitik (Stichwort: Überregulation) zu mehr Arbeitslosigkeit führt. Einige weitere Kontrollvariablen (z. B. das Volumen des Außenhandels), die in das Analysemodell mit aufgenommen werden, lassen wir hier unerwähnt. Die wichtigsten Ergebnisse dieser Studie sind: (1) Höhere Grade der Lohnkoordination führten in der Periode zwischen 1980 und 1991 zu niedrigerer Arbeitslosigkeit. Dieser Zusammenhang war teilweise vermittelt durch eine aktive Arbeitsmarktpolitik, höhere Bildungsausgaben und höhere Beschäftigungsquoten im öffentlichen Sektor. In der Periode zwischen 1991 und 1997 gab es weder einen positiven noch einen negativen Gesamteffekt dieser Variablen, Länder mit niedriger Lohnkoordination hatten zu den Ländern mit hoher Lohnkoordination aufgeschlossen271. (2) Die Arbeitslosigkeit nahm zwar tendenziell unter "linken" Regierungen stärker zu als unter "nicht-linken"; allerdings wurde dieser negative Effekt vor allem in den neunziger Jahren gemindert oder sogar aufgehoben, wenn der politische Einfluss der Gewerkschaften
270 271
Weitere Studien, die einen Zusammenhang zwischen der Stärke korporatistischer Strukturen und niedriger Arbeitslosigkeit für die 70er und 80er Jahre belegen, zitiert der Autor auf S. 367. Einen die Arbeitslosigkeit mindernden Effekt koordinierter Lohnpolitik bestätigen Nickell et al. (2005) in einem ökonometrischen Modell für die OECD-Länder von 1961-1995. Keinen Effekt zentral koordinierter Tarifverhandlungen auf das Beschäftigungsniveau findet Heidenreich (2004).
251
relativ hoch war272. Andererseits vermutet Kenworthy, dass fragmentierte Lohnfindungsprozesse nur dann zu höheren Arbeitskosten und damit zu höherer Arbeitslosigkeit führen, wenn die einzelnen Gewerkschaften politisch stark sind; nur eine hohe Lohnkoordination schafft für starke Gewerkschaften Anreize zu einer moderaten Lohnpolitik. Andererseits führt ein Mangel an Koordination nicht zu höheren Arbeitskosten, wenn die Gewerkschaften schwach sind (siehe Großbritannien vor und nach den Thatcher-Reformen273). Schließlich weist Kenworthy noch auf einen weiteren Effekt koordinierter bzw. zentralisierter Lohnverhandlungen hin: Auch wenn sie keine relevanten – positiven oder negativen – Auswirkungen auf Arbeitskosten und Arbeitslosenquote mehr haben sollten, bliebe ein bedeutsamer Effekt bestehen: sie begrenzen das Ausmaß der Einkommensungleichheit. Für die Beibehaltung zentralisierter und hoch koordinierter Lohnverhandlungen scheint uns auch der Tatbestand zu sprechen, dass andernfalls Löhne nur als Kosten, nicht als Nachfragepotential ins Spiel gebracht werden. Für das einzelne Unternehmen ist das an Einkommen gebundene Nachfragepotential seiner Arbeitnehmer praktisch irrelevant. Zwar haben sich inzwischen einzelne Unternehmen (insbesondere die international tätigen Großkonzerne), teilweise auch einige Wirtschaftsbranchen in Deutschland weitgehend von der Inlandsnachfrage abgekoppelt; aber fast zwei Drittel der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage wird immer noch im Inland generiert. Vor allem der Mittelstand, der ja die weitaus meisten Arbeitnehmer beschäftigt, ist stark von der Binnennachfrage abhängig. Dass die Unternehmen in Deutschland trotz steigender Gewinne derzeit weniger investieren, hängt sicherlich (auch) mit einer lang andauernden Schwäche der Binnennachfrage zusammen, jedenfalls nicht mit steigenden Lohnstückkosten, denn die sind seit 1995 in Deutschland deutlich weniger gestiegen als z. B. in Ländern wie Großbritannien, Frankreich oder den USA (s. oben Kap. 4). Einen interessanten Versuch, die Konsequenzen unterschiedlicher Mischungsverhältnisse von marktliberalen und korporatistischen Komponenten zu erhellen, haben Hall/Gingerich (2004) unternommen. Sie betrachten zunächst die Arbeitsbeziehungen und die Art der Unternehmensführung (Corporate Governance) als zentrale institutionelle Bereiche, in denen marktliberale versus korporatistische Koordinationsmodi festgelegt werden. Zu den Arbeitsbeziehungen gehören, ähnlich wie bei Kenworthy (s. oben) die Ebene der Lohnkoordination (auf nationaler Ebene oder auf Unternehmensebene) und der Grad der Lohnabstimmung (z. B. in Form von tarifvertraglichen Vereinbarungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern mit oder ohne weitgehende Öffnungsklauseln für
272 273
252
Hierzu passt ein von Castells (2001: 316 f.) zitierter Befund, wonach in Deutschland in den 1980er Jahren diejenigen Unternehmen zu den Innovativsten gehörten, deren Arbeitnehmer in besonders hohem Maße gewerkschaftlich organisiert und in ihrem Beschäftigungsstatus hochgradig abgesichert waren. Zum Wandel der „industrial relations“ in Großbritannien s. Brown (2004). Auch Brown betont die negativen Konsequenzen einer dezentralisierten Lohnkoordination: „At the macroeconomic level there can be little doubt that the root of much of the inflationary pressure which successive British governments struggled during the 1960s and 1970s was the fragmented, and highly strike-prone, bargaining system“ (ebd., S. 415). Zwischen 1950 und 1998 stieg der Anteil der britischen Beschäftigten, deren Löhne nicht über kollektive Verhandlungen festgelegt waren, von 20 auf 60 % an. Die Löhne von weiteren 20 % der Beschäftigten wurden auf betrieblicher Ebene vereinbart, und nur für das restliche Fünftel der Beschäftigten wurden sie in überbetrieblichen Verhandlungen festgelegt (ebd., S. 402).
abweichende Regelungen). Als weiteren Indikator betrachten die Autoren das Maß der Arbeitskräftefluktuation, gemessen als Anteil der Beschäftigten (des jeweiligen Landes), die ihre gegenwärtige berufliche Position weniger als ein Jahr ausgeübt haben. Der Bereich der Corporate Governance umfasst drei Hauptkomponenten: die "Aktionärsmacht" (ein Index für rechtliche Regelungen, die den Einfluss "normaler" Aktionäre auf die Geschäftspolitik spiegelt), die "Streuung der Unternehmenskontrolle" (wie hoch ist der Anteil der Kapitalgesellschaften, die von Mehrheitseignern kontrolliert werden, im Vergleich zum Anteil der Firmen, die sich im Streubesitz befinden) sowie die "Größe des Aktienmarktes" (Marktwert der Wertpapiere, die an der Börse eines Landes gehandelt werden, in Prozent des Bruttoinlandsprodukts). Die Autoren stellen fest, dass in den ökonomisch am weitesten fortgeschrittenen Ländern nicht nur ein klarer Zusammenhang zwischen der Stärke korporativer Unternehmensführung und dem Grad der Regulation der Arbeitsbeziehungen besteht, sondern dass sich dieser Zusammenhang auf andere polit-ökonomische Bereiche ausdehnt: die sozialen Sicherungssysteme, die Form der Berufsausbildung, die Produktmarktregulierung und die Art der zwischenbetrieblichen Beziehungen. In allen diesen Bereichen geht es jeweils um die Art der Koordination, mit der die relevanten Akteure ihre Aktionen steuern: Inwieweit ist diese Koordination über den Markt geregelt (also über den Preismechanismus und individuelle Kosten-Nutzen-Kalkulationen) oder über längerfristig wirksame strategische Kooperationen und Vereinbarungen zwischen den Akteuren selbst? In einem zweiten Schritt untersuchen sie (unter Berücksichtigung verschiedener statistischer Kontrollvariablen (wie z. B. einem demografischen Alterslastkoeffizienten), welchen Einfluss diese beiden Koordinationsmodi auf das wirtschaftliche Wachstum zwischen 1971 und 1997 zuzuschreiben ist. Dabei stellen sie fest, dass das Volkseinkommen in denjenigen Ländern am stärksten wächst, in denen in beiden Bereichen (Arbeitsbeziehungen und Corporate Governance) konsequent ein hohes Maß an marktliberaler oder ein hohes Maß an strategischer Koordination vorliegt274. Das Wirtschaftswachstum fiel umso geringer aus, je stärker sich die beiden Koordinationsmodi auf jeweils mittlerem Niveau miteinander vermischten ("hybride" Koordination). Die Autoren betrachten für eine Reihe weiterer Aktionsfelder die Möglichkeiten ertragssteigernder "Komplementaritäten", die sich jeweils auf diese beiden Koordinationsmodi beziehen. Darauf wollen wir hier nicht näher eingehen, sondern nur noch kurz die Frage ansprechen, welche Entwicklungstendenzen sich abzeichnen. Hall und Gingerich haben die Veränderungen zwischen den 1980er und den 1990er Jahren in verschiedenen institutionellen Bereichen untersucht, wobei sie zu dem Ergebnis kommen, dass sich innerhalb der Untersuchungsperiode zwar partielle Konvergenzen abzeichnen, dass aber insgesamt kein Trend zu erkennen ist, der die korporatistischen Systeme in Richtung hybrider oder marktliberaler Koordinationsmodi führen würde275. Allerdings schließen sie
274
275
Großbritannien gehört in den 90er Jahren klar, mit geringem Abstand zu den USA, zur Gruppe der marktliberalen, Deutschland und Schweden zur Gruppe auf der anderen Seite, wobei Deutschland – laut dieser Studie – sowohl bei der korporativen Unternehmensführung als auch bei der Regulation der Arbeitsbeziehungen zu dieser Zeit höhere Werte aufweist als Schweden. Im Hinblick auf die weiter oben dargestellten Überlegungen ist die Feststellung interessant, dass in der Untersuchungsperiode zwar die Beschäftigungsquote in den marktliberalen Ländern etwas stärker ansteigt (von 64 auf 67 %), aber weiterhin leicht unterhalb des Niveaus der korporatistisch ausgerichteten
253
eine solche Entwicklung auch nicht aus: "Natürlich, der Liberalisierungsprozess in den koordinierten Marktwirtschaften schreitet voran und könnte sich verstärken" (ebd., S. 24). Da der Druck internationaler Organisationen und der globalen Finanzmärkte zu weitergehenden Liberalisierungsmaßnahmen erheblich ist (s. unten Kap. 6.5), sind in den bisher eher korporatistisch orientierten Ländern (in denen sich sog. "Traditionalisten" und "Modernisierer" gegenüber stehen) politische Kompromisse zu erwarten, die unseres Erachtens durchaus in Richtung eines zunehmend hybriden Koordinationsmodus verlaufen könnten. Zu einer – begrifflich allerdings etwas anders gelagerten – "Hybridisierungsthese" gelangt auch Klaus Schmierl (2001) in einer Analyse der gegenwärtigen Wandlungstendenzen industrieller Beziehungen in Deutschland. Sie stellten, so Schmierl, weniger einen umfassenden Strukturbruch dar als ein "heteromorphe(s) Nebeneinander der Erosion bekannter Interessenvertretungsformen", die gekennzeichnet sei durch "die widersprüchliche Gleichzeitigkeit von Kontinuitäten und Diskontinuitäten" (ebd., S. 429). Er verweist u. a. auf die abnehmende Zahl der Betriebsräte, die Zunahme nicht tarifgebundener Unternehmen, den Rückgang nicht nur des gewerkschaftlichen Organisationsgrads, sondern auch des Mitgliederstandes in den Arbeitgeberverbänden (ebd., S. 433 f.)276. Vor allem in der "neuen [wissensbasierten, T./B.] Ökonomie" breite sich eine informelle und "entsolidarisierte Interessendurchsetzung" aus (ebd., S. 436), eine "Systemarchitektur", die "zunehmend in viele unterschiedliche, teils miteinander konkurrierende Institutionen, Regularien und Akteure" zerfalle (ebd., S. 441). So befindet sich auch das Netzwerk, das Finanz- und Industrieunternehmen miteinander verband und ein gemeinsames Interesse an der Stabilität der Wirtschaft entstehen ließ, zunehmend in Auflösung. Für den Erfolg im internationalen Investmentbanking sind allzu solidarische Beziehungen zur heimischen Industrie hinderlich (Höpner/Krempel 2005). Der Einfluss der internationalen Kapitalmärkte lässt sich durch nationalstaatlich institutionalisierte Kooperationsformen offenkundig immer weniger steuern. Was hier verloren geht, ist von Claus Offe (1998b: 366) u. a. in folgender Weise – und ganz im Sinne Durkheims – charakterisiert worden: Die "repräsentativen kollektiven Akteure in den verschiedenen politischen Domänen" dienen als "Transmissionsriemen" im zweifachen Sinne, "da sie nicht nur die Forderungen ihrer Wählerschaften an jeweils andere weiterleiten, sondern auch der Erziehung, Disziplinierung und formativen Beeinflussung ihrer Mitglieder dienen. Diese ‚hegemoniale‘ Rolle kollektiver Akteure trägt zu den oftmals subtilen und nicht wahrnehmbaren sozialisatorischen oder habitualisierenden Effekten von Institutionen und deren repräsentativer Akteure bei. Diese Effekte führen allmählich dazu, dass die institutionellen und kollektiven Arrangements für die in sie Involvierten als nahezu natürliche, normale Routinen erscheinen, die berechtigterweise Loyalität fordern, denen man vertrauen kann und von denen man Dauer erwarten kann". Wesentlich optimistischer beurteilt Volker Bornschier (2005) die Chancen des Fortbestands korporativer Strukturen und der Regulierungsfähigkeit des Staates auch im
276
254
Länder (69 %) bleibt. Bemerkenswert auch, dass die Lohnstückkosten in der zweiten Gruppe etwas schwächer ansteigen (15 %) als in der ersten Gruppe (18 %). Auch das (von Schmierl nicht erwähnte) Ausscheiden bestimmter Berufsgruppen (wie Piloten und Ärzte) aus den gewerkschaftlichen Dachorganisationen weist in diese Richtung.
Zeitalter der Globalisierung. Dabei stützt er sich zum einen auf die nachgewiesene ökonomische Leistungsfähigkeit des, wie er es nennt, "ausgehandelten Kapitalismus", zum anderen auf das Vertrauens- und Legitimitätsniveau das innerhalb dieser Strukturen in nicht geringerem Maße erzeugt werde als in den liberalen angelsächsischen Systemen. Sein Optimismus stützt sich außerdem auf die Beobachtung, dass nach 1968 zumindest bis 1995 faktisch keine Konvergenz der verschiedenen Systeme in Richtung eines Abbaus korporativer Strukturen festzustellen sei. Die Beweiskraft dieses Arguments lässt sich u. E. aber durchaus in Frage stellen. Erstens ist festzuhalten, dass in den 18 reichsten OECDLändern die durchschnittlichen Index-Werte für Korporatismus in allen Regimetypen zurückgegangen sind (laut der von Bornschier selbst auf S. 344 präsentierten Übersicht). Zweitens fällt der Vergleich zwischen den angelsächsischen und den übrigen Ländern anders aus, wenn man ihn auf die Periode nach 1980 bezieht, also auf die Periode, in der sich die Globalisierung erheblich beschleunigt hat. Während der niedrige Korporatismusgrad der angelsächsischen Länder in dieser Zeit im allgemeinen nicht weiter zurückgegangen ist, ist genau dies in einigen Musterländern aus der anderen Gruppe (wie Norwegen, Schweden, Dänemark) geschehen. Diese Entwicklung zeichnet sich auch ab, wenn man einen spezifischen, aber zentral wichtigen Indikator wie die Arbeitsschutzmaßnahmen betrachtet. Nickell et al. (2005: 9) präsentieren für 20 OECD-Länder einen "Employment Protection Index" (mit Werten zwischen 0 und 2)277. Für die meisten Länder liegt dieser Indexwert innerhalb der Periode von 1980-87 deutlich höher als in der Periode von 196064. Interessant sind hier aber vor allem die Veränderungen, die sich seit den 1980er Jahren vollzogen haben. Für die angelsächsischen Länder (Australien, Kanada, Irland, Neuseeland, Großbritannien und USA) ergibt sich auf niedrigem Niveau (z. B. liegt der Wert für GB bei 0,35) keinerlei Veränderung. Für die konservativen oder sozialdemokratischen Länder: Österreich, Belgien, Dänemark, Finnland, Westdeutschland, Norwegen und Schweden ergibt sich ein Rückgang des durchschnittlichen Indexwertes von 1,45 auf 1,07 (für Schweden z. B. von 1,8 auf 1,1), also eine Reduktion von über 25 Prozent. Aus dieser Ländergruppe wird nur für Frankreich ein leichter Zuwachs von 1,3 auf 1,4 notiert. Um eine differenzierte Argumentation bemüht sich auch Klaus Armingeon (2005). Er konstatiert einerseits einen Prozess pfadabhängiger institutioneller "Hybridisierung", in dem sich die verschiedenen sozialstaatlichen Arrangements und politischen Koordinationsmodi einander annähern, so "dass die nationalen sozialen Sicherungssysteme schwerer einer idealtypischen Ausprägung zugeordnet werden können, ohne jedoch deshalb zu konvergieren" (S. 455). Andererseits glaubt er nicht, dass die liberalisierten Kapitalmärkte die bestehenden wohlfahrtsstaatlichen Systeme in ihrem Kernbestand gefährden könnten. Allerdings sind die empirischen Belege, die er für diese Annahme ins Feld führt, nicht sehr überzeugend. So stellt er einerseits fest, die meisten der zweiundzwanzig von ihm untersuchten OECD-Länder hätten das Anfang der 1990er Jahre erreichte Höchstniveau der
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Zu beachten ist dabei, dass sich dieser Index (der im Wesentlichen auf Daten von Blanchard/Wolfers 2000 beruht) bis 1985 nur auf zwei Teilaspekte des Beschäftigungsschutzes (Höhe von Abfindungen und Länge der Kündigungsfrist für Arbeiter mit zehn Jahren Betriebszugehörigkeit) bezieht, für die Zeit danach jedoch auf einem umfassenderen Index der OECD basiert (Blanchard/Wolfers 2000: C14; dort heißt es: „these series are at best rough approximations to the evolution of employment protection“).
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Sozialausgaben (gemessen als Anteil am BIP) im Wesentlichen beibehalten (ebd., S. 452). Die tabellarischen Angaben auf S. 453 lassen jedoch einen anderen Schluss zu. Wenn man von Griechenland, Japan, Portugal und der Schweiz absieht, die erst im Jahre 2001 ihren Höchstwert erreichten, so lässt sich für die übrigen 18 Länder bis zu diesem Zeitpunkt ein durchschnittlicher Rückgang der staatlichen Sozialausgabenquote um knapp 13 % – gemessen am jeweiligen Höchststand Anfang der 90er Jahre oder noch früher – berechnen. Betrachtet man zudem die Entwicklung des Dekommodifizierungsgrades seit den 80er Jahren, stellt man fest, dass dieser gerade in den sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten nachgelassen hat: "The results show that ... the 1990s was indeed a period of retrenchment. All social democratic regimes, except for probably idiosyncratic reasons Norway, [were, T./B.] considerably less generous in 2002 than they were in the mid 1980s. (...) After becoming more generous during the 1970s and early 1980s, social democratic regimes have converged considerably downwards" (Scruggs 2005: 15f.). Wenn man außerdem bedenkt, dass in dieser Zeit Einkommensungleichheit und (relative) Armut eher zugenommen haben (s. oben Kap. 6.2.3), so spricht dies für die Vermutung, dass im Zuge der beschleunigten Globalisierung der Druck nicht nur zum Umbau, sondern auch zu einem partiellen Abbau der sozialen Sicherungssysteme und der korporatistischen Strukturen in den sozialdemokratischen und konservativen Wohlfahrtsstaaten zugenommen hat278. Wir werden Fragen des Anpassungsdrucks, den die liberalisierten Kapitalmärkte auf nationale Politiken ausüben, in Abschnitt 6.5 weiter behandeln, wollen hier aber zunächst noch die Relevanz korporatistisch-solidarischer Strukturen für die Entwicklung der Gewaltkriminalität verdeutlichen. Der direkte Einfluss korporatistischer versus marktliberaler Koordinationsmodi auf die Gewaltkriminalität ist bisher systematisch kaum untersucht worden. Die bis heute, nach unserer Kenntnis, umfassendste empirische Studie, die sich mit dieser Frage beschäftigt, ist immer noch die von Pampel/Gartner (1995). Dabei handelt es sich um eine ländervergleichende Längsschnittanalyse, die in einem multivariaten Modell die Homizidraten von 18 OECD-Staaten für die Zeit von 1951 bis 1986 untersucht. Dabei berücksichtigen die Autoren "Korporatismus" nicht als eigenständige Variable, sondern als eine von fünf Subdimensionen, aus denen sie eine zusammengefasste "Kollektivismus"-Skala bilden279. Die weiteren Teildimensionen sind: (a) ein Maß für "Konsens-Demokratie" (auch dies letztlich eine Schätzskala, die u. a. berücksichtigt, ob es eine Mehrheits- oder ein Verhältniswahlrecht gibt, eher Ein-Parteien- oder Koalitionsregierungen usw.), (b) die Anzahl
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Allerdings könnten in einem so kurzen Beobachtungszeitraum konjunkturelle Effekte (insbesondere ein Rückgang der Arbeitslosigkeit) die Höhe der Sozialausgaben vorübergehend mindern, ohne dass damit eine langfristige Reduktion angezeigt wäre. – Armingeon präsentiert auch die Ergebnisse verschiedener Regressionsanalysen, die keinen oder nur einen schwachen Einfluss der Börsenkapitalisierung und der Streuung des Aktienbesitzes auf Korporatismus-Indizes und Sozialausgaben zu belegen scheinen. Unseres Erachtens hätte jedoch nicht der „Startwert“ (das Niveau der abhängigen Variablen) von 1960, sondern eher der von ca. 1980 als Regressorvariable eingesetzt werden müssen, da die zur Debatte stehenden Globalisierungseffekte erst später wirksam wurden. Außerdem wäre es sinnvoll gewesen, die abhängige Variable zumindest alternativ auch in ihren Differenzenbeträgen (für den gleichen Zeitraum) und nicht nur in ihren Niveaus in die Analyse einzubeziehen. Der Korporatismusgrad der einzelnen Länder wird mit Hilfe einer Expertenschätzung festgelegt, ähnlich wie in der bekannten Studie von Lijphart/Crepaz (1991).
der Jahre zwischen 1949 und 1986, in denen linksgerichtete Parteien die Regierung stellten, (c) eine zusammenfassende Maßzahl für die Stärke von Streik- und Protestbewegungen in den 1960er Jahren, (d) Esping-Andersens Dekommodifizierungsindex (s. oben). Die Skalenkonstruktion beruht auf einer Hauptkomponentenanalyse, die bestätigt, dass alle fünf Teildimensionen eng miteinander zusammenhängen und als "Ausdruck" eines übergeordneten theoretischen Konstrukts (hier als Kollektivismusgrad bezeichnet) zu interpretieren sind280. Unter Berücksichtigung mehrerer Kontrollvariablen281 erweist sich der "Kollektivismus"-Grad als besonders starke Einflussgröße: Je höher die Kollektivismuswerte eines Landes sind, umso niedriger ist im Durchschnitt der Länder die Homizidrate. Dies gilt auch, allerdings in abgeschwächter Form, wenn die USA (mit extrem hohen Homizidraten und extrem niedrigem Kollektivismusgrad) aus der Analyse ausgeschlossen werden. Drei weitere Ergebnisse verdienen darüber hinaus Beachtung: (1) Auch die Einzelkomponenten der fünfdimensionalen "Kollektivismus"-Skala, also z. B. auch der Korporatismusgrad und der Dekommodifizierungsindex, korrelieren negativ mit der Höhe der Homizidrate. (2) Zusätzlich, also über den "Kollektivismus"-Effekt hinaus, hat auch die Höhe der Sozialausgaben (relativ zum Bruttoinlandsprodukt) eine dämpfende Wirkung auf die Homizidraten. (3) Erwartungsgemäß sind im allgemeinen die Homizidraten umso höher, je höher der Anteil der 15- bis 29jährigen ist. Dieser Effekt wird aber umso weitgehender reduziert, je höher der Kollektivismusgrad eines Landes ausfällt (sog. Interaktionseffekt). Eine Aktualisierung der Untersuchung von Pampel und Gartner auf der Basis neuerer Daten ist überfällig, liegt aber, soweit wir sehen, bisher nicht vor. Angesichts der Kürze dieses Kapitelabschnitts verzichten wir auf eine "Zusammenfassung". Als Fazit bleibt vor allem festzuhalten: (1) die vorliegenden Befunde stützen die Annahme, dass korporative Strukturen des hier geschilderten Typs das kriminogene Potential moderner Gesellschaften mindern, ohne ihre ökonomische Leistungsfähigkeit zu reduzieren. (2) Die entsprechenden Maßzahlen sind unterschiedlich konzipiert, deuten aber überwiegend darauf hin, dass die korporativen Strukturen – je nach Land – seit den 90er, teilweise seit den 80er Jahren bröckeln – auch in Schweden und, in geringerem Maße, in Deutschland. 6.4 6.4.1
Strukturwandel von Arbeitsmärkten und Erwerbsformen Die Relevanz von regulärer und prekärer Beschäftigung sowie Arbeitslosigkeit
Abhängige Erwerbsarbeit ist in modernen Industriegesellschaften von fundamentaler Bedeutung für die Inklusion der Personen in die funktionalen Teilsysteme, die Integration in lebensweltliche Anerkennungsbeziehungen und die Bildung stabiler Identitäten. Von Art
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Die Autoren weisen darauf hin, dass ihre Skala zudem hoch mit einer anderen Skala korreliert, die von Hicks/Swank (1992) als Index für "linken Korporatismus" konstruiert worden ist. Hierzu gehören die Arbeitslosenrate, das Pro-Kopf-Volkseinkommen, die Rate der Ehescheidungen, der Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt, der Anteil der Jugendlichen zwischen 15 und 29 Jahren an der Gesamtbevölkerung.
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und Umfang der bezahlten Erwerbstätigkeit einzelner Haushaltsmitglieder wird die Einkommenslage aller (auch der nicht berufstätigen) Haushaltsmitglieder und damit deren Zugang zu dem generalisierten Kommunikationsmedium "Geld" bestimmt. Geld steuert nicht nur ökonomische Transaktionen; von ihm hängt auch in hohem Maße der Zugang zu anderen gesellschaftlichen Teilsystemen ab. Zudem leiten sich – vor allem in Wohlfahrtsstaaten des konservativen Typs – Ansprüche auf Sozialleistungen in hohem Maße aus Erwerbstätigkeit ab (Bonacker 2003). Wer innerhalb eines Betriebs bzw. eines Unternehmens beschäftigt ist, ist dadurch in ein Netz dauerhafter reziproker Anerkennungsbeziehungen eingebunden (natürlich teilweise zwischen Personen, die in der Betriebshierarchie einander über- bzw. untergeordnet sind), insbesondere wenn die Beteiligung der Arbeitnehmer an Entscheidungsprozessen institutionalisiert ist (Kraemer/Speidel 2005: 371f.). Dies sollte der Ausbildung kooperativer Handlungsorientierungen ebenso förderlich sein wie der Stabilisierung der personalen Identitäten der Beteiligten (Jahoda 1983). Soweit Beschäftigungsverhältnisse auf Dauer gestellt sind, ermöglichen sie den Entwurf langfristiger Lebenspläne und Handlungsorientierungen. Ein zweiter relevanter Aspekt von Beschäftigungssicherheit in zeitlicher Perspektive ist der damit gegebene Dekommodifizierungseffekt: die so Beschäftigten sind nicht genötigt, ihre Arbeitskraft erneut und immer wieder zu Markte zu tragen und in Konkurrenz zu anderen Anbietern zu treten, was ebenfalls kooperativen Orientierungen und Anerkennungsbeziehungen zwischen Kollegen förderlich ist. Eine zeitlich klar strukturierte Erwerbstätigkeit ermöglicht zudem kontinuierliche gemeinschaftliche Aktivitäten in der Privatsphäre und im sonstigen sozialen Nahraum, begünstigt also die Bildung von Sozialkapital. Als "prekär" hingegen bezeichnen wir ein Beschäftigungsverhältnis dann, wenn es mit materieller und zeitlicher Unsicherheit, fehlender sozialer Absicherung sowie einem vergleichsweise geringem Ausmaß an Anerkennung und Partizipationsmöglichkeiten verbunden ist (Dörre/Kraemer/Speidel 2004: 380; Kraemer/Speidel 2005: 379). Wir können erwarten, dass von einer möglichen Zunahme prekärer Beschäftigung ein kriminogener Effekt ausgeht. Dabei ist nicht anzunehmen, dass diese Folgen auf die unmittelbar von prekärer Beschäftigung Betroffenen beschränkt bleiben, sondern auch regulär Beschäftigte erfassen. Denn die (noch) in einem "Normalarbeitsverhältnis" (s.u.) Stehenden geraten durch die Verfügbarkeit von atypisch Beschäftigten in eine Situation der Konkurrenz mit diesen (und untereinander); die Existenz potentiell prekärer Beschäftigungsformen prekarisiert also auch reguläre Beschäftigung (vgl. Dörre/Kraemer/Speidel 2004: 14-16); ähnliches ist auch für die gestiegene Arbeitslosigkeit zu vermuten282. Sofern Arbeitslosigkeit und Prekarisierung sich auf die subjektiv wahrgenommene Beschäftigungssicherheit der regulär Beschäftigten auswirken, haben sie eine zusätzliche Relevanz: subjektive Beschäftigungssicherheit steht nicht nur in engem Zusammenhang mit der
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Gegenläufig könnte der enorme Konformitätsdruck wirken, unter den die Arbeitnehmer durch die fortbestehende Orientierung am Ziel, in ein Normalarbeitsverhältnis zu gelangen, geraten (dieses Ziel wird man nicht dadurch gefährden, dass man sich dem Risiko strafrechtlicher Sanktionen aussetzt). Wir vermuten aber, dass dies in erster Linie für instrumentell motivierte Delikte gilt, nicht aber für Gewaltdelikte, die auf Defizite in der Handlungskompetenz (in der emotional-expressiven und normativ-kommunikativen Dimension) oder anomischer Verunsicherung beruhen. Insofern ist im Hinblick auf Gewaltdelinquenz ein Überwiegen des kriminogenen Effektes zu erwarten.
Arbeitszufriedenheit (Blanchflower/Oswald 1999) und der Qualität innerbetrieblicher Beziehungen (die bei Beschäftigungsunsicherheit von Kooperation auf Konkurrenz umgestellt werden, vgl. Seifert/Pawlowsky 1998: 605), sondern auch mit dem physischen und psychischem Wohlbefinden. Die Auswirkungen erstrecken sich dabei nicht nur auf die unmittelbar betroffenen Arbeitnehmer: "Job insecurity is a substantive source of ill health and job dissatisfaction, has long-lasting impacts on individuals, and extends beyond insecure individuals to their households. In some studies, the effects of insecurity on wellbeing are found to be as great or exceeding the impact of becoming unemployed" (Green 2003: 6; für einen Überblick über die Forschungsliteratur zu den psychischen Konsequenzen von Beschäftigungsunsicherheit s. Wichert 2002). In dem Maße, in dem wahrgenommene Beschäftigungsunsicherheit einen Stressor darstellt, ist ein Zusammenhang mit Gewaltdelinquenz naheliegend. Schließlich ist es plausibel anzunehmen, dass Prozesse, die zu einer Zunahme an prekärer Beschäftigung führen, in der Regel auch eine Zunahme atypischer Arbeitszeiten (mit ebenfalls bedenklichen Konsequenzen) und Arbeitsverdichtung mit sich bringen.283 Hohe Arbeitsintensität wiederum ist mit physischer Erschöpfung und psychischem Stress sowie einem geringfügig höheren Risiko verbunden, Opfer von Belästigungen oder Gewalt am Arbeitsplatz zu werden (vgl. Wichert 2002: 96ff.; Isaksson o.J.: 118) und belastet die innerfamiliären Beziehungen (Nolan 2002: 120f.). Arbeitsverdichtung kann daher ebenfalls zum Ausgangspunkt von Wirkungsketten werden, die kriminogene Effekte einschließen. Hierbei handelt es sich freilich im Wesentlichen um noch nicht hinreichend bestätigte Vermutungen: es gibt – sieht man von der ziemlich unübersichtlichen Forschungsliteratur zum Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit (der extremsten Form von Prekarität) und Kriminalität ab284 – nur wenige Studien, in denen Beziehungen zwischen atypischer
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Von Bedeutung sind hier auch Veränderungen in der Unternehmensorganisation und -führung, die unternehmensinterne Märkte und Konkurrenzsituationen schaffen und dazu führen, dass zunehmend auch dauerhaft Beschäftigte zu Arbeitskraftunternehmern werden, die „(…) ihre Arbeitskraft weitgehend selbstorganisiert und selbstkontrolliert in konkrete Beiträge zum betrieblichen Ablauf überführen, für die sie kontinuierlich funktionale Verwendungen (d.h. ‚Käufer’) suchen müssen“ (Voß/Pongratz 1998: 139f.). Auf diese Weise werden auch regulär Beschäftigte in einen Prozess der Rekommodifizierung von Arbeit mit einbezogen. Der Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und (Gewalt-)kriminalität ist umstritten. Entorf/Spengler (2000: 100) sprechen von "uneindeutigen" Forschungsresultaten (vgl. Pyle/Deadman 1994; s. auch den skeptisch angelegten Überblick in Schwind 2000: 231 ff.); Karstedt (1996: 52) spricht dagegen von einem empirisch eindeutig abgesicherten Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Kriminalität sowohl auf individueller als auch auf der Ebene räumlicher Aggregate. Positive Befunde präsentiert auch Lamnek (1998: 398 ff.); gegenteilige Äußerungen wiederum findet man in Gottfredson/Hirschi (1990: 72 f.). Einen ausgewogenen Literaturüberblick (einschließlich ethnografischer Studien) bietet Freeman (1995) mit dem Ergebnis, dass die positive Evidenz für einen Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit (sowie anderen „economic incentives“) und Kriminalität überwiege (s. auch die Literaturhinweise in Crutchfield/Pitchford 1997). Bemerkenswert sind die Befunde von Lehti (2004a: 139 f.), der auf der Basis finnischer Daten der Jahre 1998-2000 für arbeitslose Männer eine jährliche Mordrate von 56,9 und für (beschäftigte) Arbeiter eine von 3,6 ermittelt; für arbeitslose Frauen beträgt die Rate 5,6; insgesamt liegt sie bei 27,2 (pro 100.000 Arbeitslose). In einem Konferenzbeitrag (Lehti 2004b: 17) zitiert er eine weitere Studie, die für schwedische Arbeitslose (Männer und Frauen, ebenfalls 90er Jahre) eine Mordrate von 14,6 ausweist. (Derart starke Differenzen wecken freilich den Verdacht auf nicht kontrollierte
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Beschäftigung und Kriminalität untersucht wurden. Zu nennen ist hier die Arbeit von Allan/Steffensmeier (1989), welche für die US-Bundesstaaten eine positive Assoziation der Quoten unfreiwillig Teilzeitbeschäftigter und Niedriglohnempfänger (deren Lohn in Vollzeitäquivalenten unter der Armutsgrenze liegt) mit den Arrestraten von jungen Erwachsenen (nicht aber Jugendlichen) für Raub, Diebstahl und Autodiebstahl ermitteln. Crutchfield/Pitchford (1997) stellen überdies bei jungen amerikanischen Erwachsenen eine negative Assoziation zwischen der erwarteten Dauer des gegenwärtigen Arbeitsverhältnisses und der Beteiligung an (selbstberichteter) Gewaltdelinquenz fest, was die Annahme eines Zusammenhangs von zeitlicher Beschäftigungssicherheit und Neigung zu kriminellem Handeln untermauert. Schließlich ermittelte Crutchfield (1989) in einer Stichprobe mit 121 Volkszählungsbezirken in Seattle einen starken positiven Zusammenhang zwischen (a) einem kombinierten Index aus der Arbeitslosenquote und dem Anteil der Beschäftigten in externen Arbeitsmärkten (die durch Beschäftigungsinstabilität gekennzeichnet sind) und (b) einem Gewaltkriminalitätsindex sowie den Raten von Mord und Totschlag, schwerer Körperverletzung, Vergewaltigung und Raub. Insgesamt gehen diese Befunde also mit der Annahme konform, dass prekäre Beschäftigung mit einer höheren Neigung zu Gewaltkriminalität einhergeht285. 6.4.2
Erscheinungsformen regulärer und prekärer Beschäftigung
Sichere (nicht-prekäre) Beschäftigungsverhältnisse treten bisher in einer spezifisch institutionalisierten Form auf: dem so genannten "Normalarbeitsverhältnis" (Mückenberger). Dieses beinhaltet einen unbefristeten Arbeitsvertrag, Vollzeitbeschäftigung auf Basis regelmäßiger Arbeitszeiten (die den Arbeitnehmer vor exzessiven Anforderungen schützen und damit seine Arbeitskraft langfristig erhalten, vgl. Bosch 2004: 619) und eine feste, nach beruflichem Status und familiärer Stellung differenzierte Entlohnung, die den Lebensunterhalt (auch für abhängige Familienangehörige) sichert. Hinzu kommt ein Niveau von sozialer und arbeitsrechtlicher Absicherung, das in Abhängigkeit von Erwerbsbiographie und (im Falle betrieblicher Sozialleistungen) Betriebszugehörigkeit den Lebensstandard auch bei Eintritt von Erwerbsunterbrechungen durch Krankheit, Alter, Arbeitslosigkeit etc. erhält, und schließlich eine Reihe von Mitbestimmungsmöglichkeiten im Unternehmen (Kraemer/Speidel 2005: 373f.; Dörre/Kraemer/Speidel 2004: 379f.; Mückenberger 1985). Dieses Normalarbeitsverhältnis wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts schrittweise institutionalisiert und stellt auch heute noch das normative Leitbild der Erwerbstätigen (aber nicht
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Drittvariablen.) Für weitere Überblicke vgl. Schumann (2003: 11-13); Entorf/Spengler (2002: 68-73); Chiricos (1987). Hinzuweisen ist allerdings auf die Studie von Entorf/Spengler (2002: 132-136), die für 15 EU-Länder 1990-1996 zwar einen positiven Zusammenhang zwischen der Teilzeitquote bei Männern und der Rate der Raubdelikte feststellen, aber einen negativen mit dem Anteil befristed beschäftigter Männer. Für beide Größen wird zudem kein Zusammenhang mit den Homizidraten und den Raten der Körperverletzungsdelikte ermittelt. Allerdings sind wir der Ansicht, dass die in dieser Untersuchung verwendeten Indikatoren das Gesamtkonstrukt „Prekarität“ unzureichend abbilden, sodass die zitierten Befunde wenig aussagekräftig sein dürften.
mehr der arbeitsrechtlichen Gesetzgebung) dar (Kraemer/Speidel 2005: 374)286. Die rechtliche Ausgestaltung von regulären Arbeitsverhältnissen vor allem im Hinblick auf Bestimmungen zur Arbeitszeit und zum Kündigungsschutz unterscheidet sich allerdings stark in unseren Vergleichsländern287. Die Regelungsdichte ist im Falle Großbritanniens außerordentlich gering; die regelmässigen Arbeitszeiten unterliegen kaum rechtlichen Vorgaben; Kündigungen sind relativ einfach durchzusetzen, insbesondere bei Arbeitnehmern, die die (lange) Qualifikationsperiode für den Kündigungsschutz noch nicht erreicht haben. Dagegen sind insbesondere in Deutschland, aber auch in Schweden, die Arbeitszeiten gesetzlich stark reguliert288 und die Voraussetzungen für Kündigungen restriktiver als in England. Eine Besonderheit des deutschen Arbeitsrechtes stellen die zahlreichen dort verankerten individuellen und kollektiven Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer dar, die es in vergleichbarer Weise weder in Schweden noch in Großbritannien gibt. Als potentiell prekär wollen wir "atypische" (anormale, irreguläre) Beschäftigungsverhältnisse bezeichnen, die nicht die genannten Merkmale aufweisen. Im Einzelnen handelt es sich um befristete Arbeitsverhältnisse, Leih- und Zeitarbeit, (unfreiwillige) Teilzeiterwerbstätigkeit, Selbständige ohne Beschäftigte und geringfügige Beschäftigungsverhältnisse. Diese Beschäftigungsformen bergen zunächst nur ein Prekaritätspotential in sich, das nicht zwangsläufig realisiert wird. Allerdings schließen arbeits- und sozialrechtliche Regelungen in allen drei Ländern atypisch Beschäftigte (z. B. Teilzeitbeschäftigte unterhalb einer Mindestwochenarbeitszeit, Selbständige289) teilweise vom Zugang zu bestimmten Sicherungssystemen aus, und bestimmte Qualifikationsvoraussetzungen können von diesen typischerweise nicht erfüllt werden (v.a. von Zeitarbeitern mit i.d.R. sehr kurzer Beschäftigungsdauer); auf die Details können wir hier aber nicht eingehen290. Zudem zeigen zahl-
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Dies kommt auch in einer aktuellen Befragung von Erwerbstätigen in Deutschland zum Ausdruck. In den Antworten auf die Frage nach den wichtigsten Aspekten der Arbeit nehmen Merkmale, die für das Normalarbeitsverhältnis typisch sind (wie festes Einkommen, Sicherheit des Arbeitsplatzes, unbefristetes Arbeitsverhältnis) die oberen Rangplätze ein (Fuchs 2006: 4f.). Vgl. dazu Lampert/Althammer (2001: 161ff., .209ff.); Kronke (1990: 27ff., 383, 393ff.); Hector (1988, 97ff.); Schömann/Schömann (2003); Hueck/von Hoyningen-Huene/Linck (1997); Söllner (1998); Stein/Rabe von Pappenheim (1996); Kronke (1990, 180-191, 276-281, 420f.); Dickens/Hall (1995); Ständer (1996); Deakin/Reed (2000); Gotthardt (1999); Bellaagh (1998); Eklund (2004); Pongratz (2000); Waschke (1982). Lt. Grubb/Wells (1993: 17) belegte Ende der 80er Jahre Deutschland im Vergleich mit zehn anderen europäischen Ländern (Schweden gehörte nicht zu ihnen) bei mehreren Indizes für die gesetzlichen Einschränkungen von Überstunden, flexiblen Arbeitszeiten, Wochenend- und Nachtarbeit durchschnittlich den Rang 6, Großbritannien den Rang 1 (=geringste Einschränkungen). Bei den Regelungen zur regelmäßigen Arbeitszeit lag Großbritannien ebenfalls durchschnittlich auf Rang 1, Deutschland auf Rang 8,5. Wobei sich der sozialversicherungsrechtliche Status von Selbständigen unterscheidet: in Deutschland unterliegen sie der Sozialversicherungspflicht nicht, in Großbritannien ab einem gewissen Einkommen (aber nicht für die Arbeitslosenversicherung), in Schweden sind sie in Renten- und Krankenversicherung pflichtversichert. Vgl. u.a. Lampert/Althammer (2001: 161ff., 209ff.); Schömann/Schömann (2003); Landenberger (1995); Voswinkel (1995); Bielenski/Kohler (1995); Stein/Rabe von Pappenheim (1996); Eardley et al. (1996); Ginn/Arber (1998); Fink (1999); Burchell/Deakin/Honey (1999); Pongratz (2000); Eklund (2004); Nyström (2001); Storrie (2002a); Vidmar (1999).
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reiche Untersuchungen291, dass die genannten Formen atypischer Beschäftigung, insbesondere Leiharbeit und befristete Arbeitsverhältnisse, i.d.R. mit Einkommensunsicherheit, Risiken für den weiteren Erwerbsverlauf und eingeschränkter sozialer Absicherung verbunden sind. Insofern ist es angebracht, diese Erwerbsformen auch als faktisch prekär zu betrachten. Prekarität ist freilich kein neues Phänomen. Die Stabilität des Normalarbeitsverhältnisses für die Vielen war stets mit der dauerhaften Konzentration von Arbeitsmarktrisiken (d.h.: Prekarität) bei Wenigen (in nur formal regulären Arbeitsverhältnissen) erkauft; und sie war auf den Arbeitsmärkten moderner Industriestaaten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stets anzutreffen (Mückenberger 1985), wenn auch ihre quantitative Bedeutung vermutlich zunächst rückläufig war. Typischerweise traten Merkmale von Prekarität vor allem bei Beschäftigungsverhältnissen in sogenannten externen Arbeitsmärkten kumuliert auf. Wir nehmen daher an, dass nach einer Phase der Stabilisierung interner Arbeitsmarktsegmentierung nun quantitativ die externen und Puffer-Arbeitsmärkte an Bedeutung gewinnen292. Dabei sind unsichere Beschäftigungsverhältnisse in den neuen rechtlichen Formen atypischer Arbeitsverhältnisse institutionalisiert.
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Vgl. u.a.: Giesecke/Groß (2002); Gustafsson/Kenjoh/Wetzels (2003); Bielenski/Kohler (1995); Rudolph/Schröder (1997) Büchtemann/Quack (1989); Scherer (2003); Groß (2001); Fuchs/Conrads (2003); Hagen (2003); Jahn/Rudolph (2002a); Jahn/Rudolph (2002b); Booth/Francesconi/Frank (2002); Gregg/Wadsworth (1995); Hegewisch (2002); Marshall (1989); Rubery (1989); Ginn/Arber (1998); Burchell (1989); Holmlund/Storrie (2002); Wallette (2004); Korpi/Levin (2001); Nyström (2001); Storrie (2002a); Håkansson/Isidorsson (2003); de Graaf-Zijl (2005). Die Auswirkungen auf das physische und psychische Wohlbefinden atypisch Beschäftigter sind nicht ganz klar; einige Studien berichten von überdurchschnittlichen psychischen und gesundheitlichen Belastungen für Leiharbeiter und befristet Beschäftigte (Burchell 1989: 237; Fuchs/Conrads 2003: 86-101, 110ff.; de Graaf-Zijl 2005: 7f.), während eine aktuelle Studie diesen (auch nach Kontrolle relevanter Drittvariablen) ein höheres Wohlbefinden als fest angestellten Arbeitnehmern bescheinigt (Isaksson o.J.; Guest/Clinton 2006; Rigotti/Mohr 2006); lt. Bernhard-Oettel/Isaksson (2005: 186-188) kommen einige schwedische Studien zu ähnlichen Befunden für einige Formen befristeter Beschäftigung. Tendenziell scheint dies auch für Teilzeitbeschäftigte zu gelten Fuchs/Conrads (2003). Eine kurze Erläuterung der segmentierungstheoretischen Begrifflichkeit, der wir uns hier bedienen, scheint angebracht; wir haben sie von Sengenberger übernommen. Dieser differenziert anhand zweier Dimensionen (Qualität des Beschäftigungsverhältnisses und Organisationsform) vier Arbeitsmarktsegmente (Sengenberger 1987: 117ff., 209-213; vgl. auch Lutz 1987): a) Berufsfachliche Märkte: Anbieter und Nachfrager von Arbeitskraft orientieren sich an einem bestimmten Beruf. Arbeitnehmer sind nicht von einem bestimmten Arbeitgeber abhängig, sondern von der Verfügbarkeit von Arbeitsplätzen, die einen bestimmten Ausbildungsabschluss voraussetzen. Ebenso sind die Arbeitgeber nicht auf bestimmte Arbeitskräfte, sondern allgemein auf Arbeitskräfte mit entsprechender beruflicher Qualifikation angewiesen. Die Qualität der Arbeitsplätze in diesem Segment ist, was Löhne und Arbeitsbedingungen betrifft, hoch, gleichzeitig ist jedoch die Beschäftigung wenig stabil, und Betriebswechsel sind ebenso wie kurze Phasen der Arbeitslosigkeit häufig. b) Betriebsinterne Märkte: Arbeitnehmer und Arbeitgeber sind an bestimmte Arbeitsplätze bzw. -kräfte mit betriebsspezifischen Qualifikationsanforderungen bzw. nur im Betrieb erwerbbaren Fertigkeiten gebunden. Arbeitsplätze im internen Segment zeichnen sich durch hohe Qualität und insbesondere eine hohe Beschäftigungsstabilität aus. Dass insbesondere Arbeitsplätze in geschlossenen internen Märkten die meisten Merkmale des „Normalarbeitsverhältnisses“ aufweisen, ist augenfällig. c) Unabhängige externe Märkte („Jedermannsmärkte“): weder Arbeitnehmer noch Arbeitgeber sind auf spezifische Qualifikationen bzw. Arbeitsplätze mit einem bestimmten Anforderungsprofil angewiesen, weshalb es keine wechselseitige Bindung gibt. Die Qualität der Beschäftigungsverhältnisse ist niedrig, die Beschäftigungssicherheit ebenfalls. d)
Zu fragen ist demnach, wie sich die bereits lange übliche, auf konventionellen, formal unbefristeten Arbeitsverträgen beruhende Beschäftigung in externen Arbeitsmärkten einerseits und die Bedeutung neuer, atypischer Erwerbsformen andererseits quantitativ entwickelt haben; dabei darf auch nicht die extremste Form von Prekarität, die Arbeitslosigkeit, vernachlässigt werden. Hierbei stößt man jedoch auf das Problem, dass keine Indikatoren verfügbar sind, anhand derer sich die Entwicklung prekärer Beschäftigung "alten" Typs rekonstruieren lässt, sodass wir uns auf die atypischen Erwerbsverhältnisse konzentrieren müssen. Dies hat freilich zur Folge, dass wir nicht mit Sicherheit sagen können, ob Prekarität tatsächlich bis Mitte der 70er Jahre ein Phänomen von abnehmender Bedeutung war. Ehe wir uns der Entwicklung von Arbeitslosigkeit und prekärer Beschäftigung zuwenden, stellt sich zunächst die Frage, aus welchen Gründen eine problematische Entwicklung zu erwarten ist und wie die Faktoren, die für eine derartige Entwicklung verantwortlich sein könnten, mit den institutionellen Besonderheiten der hier untersuchten Gesellschaften interagieren könnten. 6.4.3
Wieso ist eine Erosion von regulären Erwerbsformen und Vollbeschäftigung zu erwarten?
Spätestens mit den Ölkrisen der 70er Jahre endete in den westlichen Industrieländern die Phase hohen Wirtschaftswachstums mit Vollbeschäftigung, die Grundlage der Konsolidierung des "Normalarbeitsverhältnisses" gewesen war293. Seitdem machten sich zunehmend Prozesse bemerkbar, die a) das Ziel der Vollbeschäftigung und dasjenige der geringen Einkommensungleichheit in Spannung zueinander setzen, b) das "Normalarbeitsverhältnis" in seiner bisherigen Form in Frage stellen, insofern die Unternehmen unter Druck geraten, das Produktionsvolumen und damit den Einsatz von Arbeitskräften stärker als bisher zu variieren ("Flexibilisierungsdruck"294). Auf der Nachfrageseite sind folgende Aspekte bedeutsam: Ein langsameres Wirtschaftswachstum führte dazu, dass für die Unternehmen die relativen Kosten von Beschäftigungsfluktuation ab- und diejenigen langfristiger Bindungen an Beschäftigte zugenommen haben und sich außerdem die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer verschlechtert hat (Breen 1997: 478; Bosch 2004). Die zunehmende wirtschaftliche Verflechtung verschärft zudem die internationale Konkurrenz (vor allem in Märkten für arbeitsintensiv herzustellende Produkte) und erhöht die zeitliche Unsicherheit für Unternehmen durch eine höhere Volatilität von Kapital- und Produktmärkten (Breen 1997). Dies führt nicht nur zu Flexiblisierungsdruck (Erlinghagen 2004: 126), sondern auch zum Verlust von Arbeitsplätzen für niedrig qualifizierte
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Abhängige externe Märkte („Puffermärkte“): von unabhängigen externen Märkten unterscheidet sich dieses Segment im Wesentlichen dadurch, dass es in Abhängigkeit zur Beschäftigung in anderen Segmenten steht, insofern seine Existenz an diejenige von internen Arbeitsmärkten gebunden ist, die es durch Absorption von Nachfrageschwankungen stabilisieren soll. Soweit nicht anders vermerkt, folgt unsere Argumentation Esping-Andersen (1999). Unter Flexibilität verstehen wir hier die Fähigkeit, das Produktionsvolumen rasch an die Nachfrage anzupassen (vgl. Håkansson/Isidorsson 2003: 142).
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Arbeitskräfte oder, alternativ, zu sinkenden Löhnen295. In die gleiche Richtung wirkt der technologische Wandel, der die Kosten des Ersatzes von Arbeitsplätzen mit niedrigen Qualifikationsanforderungen durch Maschinen verringert. Außerdem ermöglichen die neuen Informationstechnologien schnellere Innovationszyklen und neue Formen der Unternehmens- und Produktionsorganisation ("lean production", "just in time"-Produktion, etc.), die einen flexibleren Personaleinsatz und eine erhöhte Arbeitsintensität erfordern (vgl. Castells 2001; Håkansson/Isidorsson 2003: 141f.; Bosch 2004: 627). Zudem verlieren im Rahmen der Reorganisation der Unternehmen Großbetriebe – in denen interne Arbeitsmärkte und das "Normalarbeitsverhältnis" primär zu finden sind – zugunsten von Kleinbetrieben an Bedeutung (Erlinghagen 2004: 124; Hillmert/Kurz/Grunow 2004: 68). Allein aufgrund dieser strukturellen Verschiebung ist mit einer zunehmenden Bedeutung externer Arbeitsmärkte und damit unsicherer Beschäftigung zu rechnen. Neue Beschäftigung auch für niedrig qualifizierte Arbeitskräfte ist nur vom expandierenden Dienstleistungssektor zu erwarten. Dabei hat der Bereich der einfachen Dienstleistungen das größte Wachstumspotential (vgl. Esping-Andersen 1999, 107)296. Da allerdings das betriebswirtschaftliche Produktivitätsniveau einfacher Dienstleistungstätigkeiten niedrig ist, ist Beschäftigungswachstum nur auf Basis eines niedrigeren Lohnniveaus als bei vergleichbaren Positionen in der Industrie möglich297. Von der Tertiarisierung geht schließlich ein weiterer Flexibilisierungsdruck aus, da Dienstleistungen zeitnah, und zwar häufig zu irregulären Zeiten oder kontinuierlich erbracht werden müssen und nicht "auf Halde" produziert werden können (Erlinghagen 2004: 125; Kress 1998: 499, unter Verweis auf Bosch 1986: 170).
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Dies impliziert nicht notwendig, dass es ein Trade-Off zwischen Lohnspreizung und Gesamtarbeitslosigkeit gibt (diese Annahme ist als „Krugman-Hypothese“ bekanntgeworden, vgl. Krugman 1994), da Beschäftigungsgewinne in den von intensiviertem Außenhandel profitierenden Branchen zu erwarten sind, die die Arbeitsplatzverluste durch starre Löhne kompensieren können. Aber auch die Annahme, dass geringe Lohnflexibilität die Arbeitslosigkeit von niedrig qualifizierten Arbeitskräften erhöht, ist nicht völlig unumstritten. Einige empirische Einwände gegen die Annahme eines Trade-Offs von Arbeitslosigkeit und sinkenden Löhnen im unteren Bereich (d.h. steigender Lohnungleichheit) finden sich bei Weins (2005: 496-498). Für eine ausführliche Diskussion ist hier nicht der Ort. Dagegen geht Castells (2001: 237ff). von einer Beschäftigungsexpansion v.a. bei hochqualifizierten Tätigkeiten und weniger bei einfachen Dienstleistungen aus, was aber bei gleichzeitiger Schrumpfung der Beschäftigung im Bereich mittlerer Qualifikationsanforderungen ebenfalls zu einer (allerdings „kopf“nicht „fußlastigen“) polarisierten Beschäftigungsstruktur führen sollte. Ähnlich gibt es nach OECD (2001b) in den USA und Europa Beschäftigungswachstumsowohl bei hoch- als auch in niedrigbezahlten Arbeitsplätzen, wobei das Wachstum bei hochbezahlten Stellen stärker ist. Das Beschäftigungswachstum konzentriert sich bei produktionsbezogenen Dienstleistungen und sozialen Diensten, wo die Löhne höher oder mit denen im produzierenden Gewerbe ungefähr vergleichbar sind (in dem Band der OECD wird auch auf eine Studie verwiesen, nach der die bessere Beschäftigungsperformanz in den USA nichts mit Struktur und Niveau der Löhne dort zu tun hat (ebd.: 109)). Hinzu kommt, dass die Nachfrage wesentlich von den relativen Kosten derartiger Dienstleistungen abhänt, die prinzipiell durch Eigenarbeit substituierbar sind. Diese werden durch moderne Haushaltsgeräte (welche die Kosten der Eigenproduktion senken) erhöht; hierdurch entsteht eine weitere nachfrageseitige Begrenzung des Lohn- bzw. Beschäftigungsniveaus im Dienstleistungsbereich. Des Weiteren hängt der Umfang der Beschäftigungsexpansion davon ab, ob die durchschnittlichen Einkommen steigen und gleichzeitig die Einkommensspreizung zunimmt (was beides die Nachfrage nach Dienstleistungen stimuliert; zu empirischen Belegen für Letzteres s. Esping-Andersen 1999: 117).
Zu einer abnehmenden Bedeutung regulärer Beschäftigung könnten aber auch Veränderungen im Arbeitskräfteangebot beigetragen haben: erstens die steigende Erwerbsbeteiligung von Frauen, die – in Abhängigkeit von der Verfügbarkeit von Kinderbetreuungseinrichtungen – instabilere Erwerbsverläufe aufweisen und häufig atypische Beschäftigungsformen (Teilzeitarbeit) präferieren (Bosch 2004: 628), zweitens ein gestiegenes Qualifikationsniveau der Erwerbsbevölkerung, das ein höheres Maß an zwischenbetrieblicher Mobilität erwarten lässt (Erlinghagen 2004: 131-134). Die Arbeitsmarktchancen derjenigen, die eine geringe berufliche Qualifikation erworben haben, dürften dadurch sinken (Hillmert/Kurz/Grunow 2004: 67). In Zusammenhang mit der Bildungsexpansion haben sich auch die Ausbildungszeiten verlängert, was dazu führt, dass Weiterqualifikation mit Beschäftigung kombiniert wird, was häufig nur in einer atypischen Beschäftigungsform (Teilzeitarbeit, befristete Beschäftigung) als möglich angesehen wird (Bosch 2004: 628). 6.4.4
Moderatoren des Flexibilisierungsdrucks
Die o.g. Prozesse lassen erwarten, dass das "Normalarbeitsverhältnis" erodiert. Prinzipiell kann der Personaleinsatz aber auf verschiedene Weise flexibler werden (vgl. Håkansson/Isidorsson 2003: 144f.): Es kann zum einen die Anzahl der Beschäftigten variiert werden (numerische oder auch externe Flexibilität), z. B. durch die Heranziehung atypischer Beschäftigungsformen. Es kann aber auch der Einsatz einer gegebenen Zahl von fest beschäftigten Arbeitnehmern an Nachfrageschwankungen angepasst werden, z. B. über variierende Arbeitszeiten oder indem dieselben Arbeitnehmer bei Bedarf zwischen verschiedenen Aufgaben und Arbeitsplätzen wechseln (funktionale oder interne Flexibilität). Flexibilisierung impliziert also nicht zwangsläufig eine Zunahme prekärer Beschäftigung (im Rahmen externer Flexibilisierung), sondern kann auch auf der Basis dauerhafter (und insofern sicherer) Beschäftigungsverhältnisse durch Abkehr von regelmäßigen Arbeitszeiten und Rotation der Arbeitskräfte zwischen verschiedenen Aufgaben erfolgen. Welche der beiden Flexibilisierungsstrategien tatsächlich verfolgt wird, hängt auch von den Qualifikationsanforderungen an die Beschäftigten ab: externe Flexibilisierungsstrategien sind in erster Linie in Bezug auf Tätigkeiten zu erwarten, die kein betriebsspezifisches Humankapital erfordern oder leicht zu überwachen sind. Geht es um Arbeitsplätze, die firmenspezifisches Humankapital oder (mangels direkter Kontrollierbarkeit) eine dauerhafte Bindung des Arbeitnehmers an das Unternehmen und/oder besondere Vertrauensbeziehungen (zum Arbeitgeber und zu Kollegen) erfordern, ist interne Flexibilisierung wahrscheinlicher (Breen 1997; Seifert/Pawlowsky 1998). Denkbar ist zwar, dass die Unternehmen versuchen werden, durch organisatorische Veränderungen ("Re-Taylorisierung der Arbeit") betriebsspezifische Kompetenzen auf eine kleinere Kernbelegschaft zu konzentrieren (Bosch 2004: 627). Die neuen Managementkonzepte und Organisationsformen verlangen aber spezifische Fähigkeiten (Teamarbeit, Initiative, Kreativität, Lernfähigkeit, usw.) und ein hohes Maß an innerbetrieblichem Vertrauen, die mit einer externen Flexibilisierungsstrategie nicht kompatibel sind (Seifert/Pawlowsky 1998; Breen 1997). Zudem gibt es empirische Belege dafür, dass Unternehmen ihren Beschäftigten Sicherheit bieten müssen, wenn sie ein hohes Maß an Innovationsfähigkeit erreichen wollen (Storey et al. 2002). Neben den Qualifikationsanforderungen hängt es aber auch vom institutionellen Kontext ab, welche Strategie dominiert; dieser beeinflusst zudem, wie sich die o.g. Prozesse auf Struktur und Niveau der Arbeitslosigkeit auswirken (Esping-Andersen 1999): 265
Die Systeme der industriellen Beziehungen (Stärke der Gewerkschaften, Zentralisation und Koordination der Lohnverhandlungen) sollten das Niveau der Arbeitslosigkeit beeinflussen (vgl. oben, Kap. 6.3). Überdies könnten sie sich auf ihre Struktur auswirken: Das Zusammentreffen von starken Gewerkschaften mit zentralisierten und koordinierten Tarifsystemen führt zu einer geringen Lohnspreizung, was aber auch relativ hohe (Brutto-) Löhne für unerfahrene und niedrig qualifizierte Arbeitnehmer impliziert – mit der Gefahr, dass deren spezifische Beschäftigungschancen dadurch gemindert werden. Die durch einen restriktiven Kündigungsschutz bedingten hohen Entlassungskosten können Neueinstellungen behindern und Unternehmen bei Nachfragesteigerungen auf interne Flexibilisierungsstrategien (statt einer Ausweitung der Belegschaft) setzen lassen298. Dies kann die Beschäftigungschancen für Arbeitslose und neu in den Arbeitsmarkt tretende Personen (insbesondere Jugendliche und Frauen) verschlechtern und die strukturelle Arbeitslosigkeit erhöhen. Des Weiteren werden Arbeitgeber auf atypische Beschäftigungsformen ausweichen, wenn ihr Gebrauch keinen Beschränkungen unterliegt und sich ein restriktiver Kündigungsschutz nur auf unbefristete "Normalarbeitsverhältnisse" bezieht (Bosch 2004: 631). Häufig wird argumentiert, dass lohnersetzende Leistungen für Arbeitslose (Daten hierzu finden sich in Kap. 6.2.1) die Anreize für die Aufnahme von Beschäftigung und damit die Suchaktivität von Arbeitslosen verringern könnten. In diesem Zusammenhang wird auf "moral hazards" verwiesen im Sinne der Gefahr, dass die Leistungen der Arbeitslosenversicherung zur Umwandlung von Arbeitslosigkeitsepisoden in bezahlten Urlaub missbraucht werden können (Korpi 2002: 377). Zudem steigerten Lohnersatzleistungen den "Anspruchslohn" (reservation wage), was zu einer höheren Dauer von Arbeitslosigkeitsepisoden299 und größeren Lohnkosten führe, was langfristig die Nachfrage nach unqualifizierten Arbeitskräften senke. Unter "Lohn" sind hier nicht nur das Entgelt, sondern auch nicht-monetäre Qualitäten eines Arbeitsplatzes (Sicherheit, Status, Arbeitsbedingungen etc.) zu verstehen. Diese Annahme wird verschieden begründet: zum einen wird vermutet, dass wegen der Anrechnung von Erwerbseinkommen auf die Unterstützungsleistungen mit deren Höhe die Lohnschwelle, ab der eine Arbeitsaufnahme dem Arbeitlsosen einen ökonomischen Gewinn bringt, steige (Scharpf 2001: 278f.). Eine andere Argumentation (gemäß der ökonomischen Suchtheorie) lautet, dass höhere Lohnersatzleistungen die Opportunitätskosten (in Gestalt entgangenen Lohnes) der Arbeitssuche verringern und daher zu einer selektiveren (und somit längeren) Arbeitssuche bei rational agierenden Arbeitslosen führen würden (Gangl 2004: S.1325). Einen ähnlichen Effekt habe die maximale Bezugsdauer von Lohnersatzleistungen300, da es von ihr abhänge, wann die Opportunitätskosten einer weiterhin selektiven Arbeitssuche zunehmen, in Reaktion hierauf der Anspruchslohn abgesenkt und die Wiederbeschäftigungschancen dadurch steigen
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Zu betonen ist der Effekt auf die Struktur der Arbeitslosigkeit, weniger ihre Höhe: zwar sind Auswirkungen auf das Niveau der Erwerbslosigkeit theoretisch plausibel, empirisch finden sie sich aber kaum (vgl. z. B. Heidenreich 2004; Nickell/Layard 1999). Eine höhere Arbeitslosigkeitsdauer ist zu erwarten, da mit zunehmendem Anspruchslohn die Zahl der in Frage kommenden offenen Arbeitsplätze abnimmt. Die maximale Dauer des Bezuges von Arbeitslosengeld betrug in Deutschland und dem Vereinigten Königreich 1989 jeweils 52 Wochen, in Schweden 60 Wochen (OECD 1993b: 51).
würden. Dementsprechend sei mit oder kurz vor Auslaufen von Unterstützungsleistungen mit einem Anstieg der Übergangsrate in Erwerbstätigkeit zu rechnen. Des Weiteren werde das Niveau der Arbeitslosigkeit positiv mit der Lohnersatzquote korrelieren, und es sollte die Dauer von Arbeitslosigkeitsepisoden (vermittelt hierdurch auch die Höhe der Arbeitslosenquote301) mit der Höhe und der maximalen Bezugsdauer von Unterstützungsleistungen zunehmen. Tatsächlich finden sich (unter Kontrolle des Anteils von Steuern und Sozialabgaben an den Lohnkosten) auf Aggregatebene die erwarteten Beziehungen zwischen Arbeitslosenquote und Lohnersatzquote sowie Dauer des Anspruchs auf Arbeitslosenunterstützung (vgl. Nickell/Layard 1999: 3053, 3070; Nickell/Nunziata/Ochel 2005: 4). Vorliegende Befunde auf individueller Ebene sprechen allerdings stärker für die Annahme, dass längere maximale Anspruchsperioden die Arbeitslosigkeitsdauer erhöhen, während Effekte der Lohnersatzquote allenfalls gering zu sein scheinen (LudwigMayerhofer 2005: 218f.; Plaßmann 2002: 127; Carling et al. 1996; Belzil 2001; Biewen/ Wilke 2005). Es ist allerdings zweifelhaft, ob die vorliegenden Befunde im Sinne der Argumente zu interpretieren sind, die auf Anreizeffekte bzw. Auswirkungen auf die Suchintensität abstellen. Derartige Überlegungen basieren auf der fragwürdigen Annahme, dass Erwerbsarbeit ausschließlich eine Last ("disutility") ist, die Arbeitnehmer nur bei entsprechender monetärer Entschädigung auf sich nehmen. Wir haben aber bereits (vgl. Abschnitt 6.4.1) auf nicht-monetäre Vorteile von Erwerbsarbeit hinsichtlich z. B. der Stabilisierung der personalen Identität, der Einbindung in soziale Beziehungsnetzwerke usw. hingewiesen302. Dem steht als nicht-monetäre Belastung durch Arbeitslosigkeit (neben gravierenden psychischen Folgen) das mit ihr verbundene soziale Stigma gegenüber (Korpi 2002: 377). Unabhängig von finanziellen Aspekten ist es also für Arbeitslose stets vorteilhaft, sich um Beschäftigung zu bemühen. Befragungen von Arbeitslosen zeigen auch, (a) dass diese ganz überwiegend und in höherem Maße als Personen, die einen Arbeitsplatz haben, auch dann an einer Beschäftigung interessiert wären, wenn sie hierauf nicht zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts angewiesen wären (Gallie/Alm 2000: 113), (b) dass zumindest deutsche Arbeitslose, die Unterstützungsleistungen beziehen, intensiver nach Arbeit suchen als Personen ohne Leistungsanspruch (Cramer 2002: 57f.), (c) Arbeitsangebote selten abgelehnt werden (Korpi 2002: 379f. m.w.N.; Cramer 2002: 61f.). Es gibt allerdings einige Hinweise darauf, dass Arbeitslose, die Lohnersatzleistungen beziehen, eine selektivere Stellensuche betreiben. So ist z. B. die Bereitschaft zur Hinnahme eines geringeren Ein-
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Im Falle einer Erhöhung des Anspruchslohns durch die Arbeitslosenversicherung ist dies jedoch nur eine mögliche, aber nicht zwangsläufige Folge – ein abgelehnter Arbeitsplatz kann ja von einem anderen Arbeitslosen eingenommen werden (Korpi 2002: 379), d.h. die Zunahme der Selektivität bei bestimmten (höher qualifizierten) Arbeitnehmern zu einem Anstieg der „job offer rate“ für andere Arbeitnehmer führen. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung v. 19. Juni 2006 (S. 6) kommentiert der Hartz-IVOmbudsmann Kurt Biedenkopf Missbrauchsvorwürfe und Vorschläge zu Leistungskürzungen wie folgt: „Ich glaube nicht, dass wir das Problem so lösen. Ich bin außerdem gegen diese rein ökonomische Betrachtung. Es ist ja nicht so, dass die Menschen gerne zu Hause sitzen und sich über ihr Hartz-Geld freuen. Für viele Betroffene ist das Ausgeschlossensein ein viel größeres Problem als Einkommenslosigkeit.“
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kommens relativ gering (Cramer 2002: 54). Die Bereitschaft, ein Einkommen hinzunehmen, das unterhalb des letzten vor der Arbeitslosigkeit erzielten Erwerbseinkommens liegt, ist mit einer sehr hohen Dauer der Arbeitslosigkeit assoziiert; dies gilt insbesondere dann, wenn das angebotene Einkommen unterhalb der Lohnersatzleistungen liegt (Plaßmann 2002: 169, 173f.). Zudem ist die Übergangswahrscheinlichkeit in die Erwerbstätigkeit bei deutschen Arbeitslosen, die Leistungen beziehen – trotz höherer Suchintensität! – geringer als bei Personen, die keine Leistungen beziehen, was ebenfalls auf selektives Suchverhalten hinweist (Cramer 2002: 83). Ein derartiges Verhalten ist ökonomisch jedoch durchaus vorteilhaft, da dadurch die Qualität (im Sinne von Dauerhaftigkeit und Bezahlung) von Beschäftigungsverhältnissen im Anschluss an die Arbeitslosigkeit erhöht wird. Eine relativ großzügige Arbeitslosenversicherung erlaubt es zudem, gezielt solche Arbeitsplätze zu suchen, die es ermöglichen, akkumuliertes Humankapital und Arbeitsvermögen zu erhalten, sodass die Folgen der Arbeitslosigkeitsepisode für den weiteren Erwerbsverlauf minimiert werden (Gangl 2004: 1325f.). Gerade in Volkswirtschaften (wie der deutschen und schwedischen), deren Unternehmen in hohem Maße industriespezifisches Humankapital nachfragen, kommt der Arbeitslosenversicherung gerade dadurch, dass sie eine selektive Arbeitsplatzsuche ermöglicht, eine wichtige Rolle zu, indem sie den Arbeitnehmern fortdauernde Anreize bietet, in industrie-spezifisches Humankapital zu investieren (Estevez-Abe/Iversen/Soskice 2003). Der geschilderte Dekommodifizierungseffekt der Arbeitslosenversicherung – die Schaffung der Möglichkeit, eben nicht jedes Arbeitsangebot annehmen zu müssen – entspricht zudem dem normativen Gehalt des kooperativen Individualismus: ökonomische Zwänge zu begrenzen, gehört zu seinen wesentlichen Merkmalen303. Die Effekte hoher Einstiegslöhne und von Lohnersatzleistungen können freilich durch eine aktive Arbeitsmarktpolitik (insbesondere Qualifikationsmaßnahmen, welche die Produktivität niedrig qualifizierter Arbeitskräfte steigern) beeinflusst werden. Durch sie werden (a) die Effektivität der Arbeitsplatzsuche erhöht (durch Vermittlungsleistungen und Beratung), (b) Qualifikationsdefizite beseitigt bzw. das Qualifikationsprofil an eine veränderte Nachfrage angepasst (und auf diese Weise die Passung zwischen Arbeitskräfteangebot und -nachfrage verbessert), (c) die Unsicherheit der Arbeitgeber über die "employability" von Arbeitslosen reduziert sowie Lohndruck gemindert (in Segmenten, in denen ohne aktive Maßnahmen ein Mangel an geeigneten Arbeitskräften bestünde) und dadurch (d) die Arbeitskräftenachfrage erhöht. Des Weiteren erhöhen aktive Programme das Arbeitskräfteangebot (indem sie verhindern, dass z. B. Langzeitarbeitslose den Arbeitsmarkt verlassen) und reduzieren so ebenfalls den Lohndruck. Schließlich erhöhen aktive Arbeitsmarktpolitiken die Produktivität der Erwerbsbevölkerung, was sowohl die
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In Betracht zu ziehen sind zudem noch weitere positive Beschäftigungseffekte der Arbeitslosenversicherung, z. B.: a) „Entitlement“-Effekte: höhere Lohnersatzquoten erhöhen den Anreiz, wieder in Beschäftigung zurückzukehren und dadurch neue Ansprüche auf derartige Leistungen zu erwerben (Bennmarker/Carling/Holmlund 2005: 16). b) Der konjunktur-stabilisierende Effekt der Arbeitslosenversicherung: Leistungen an Arbeitslose stabilisieren den Konsum und federn so Konjunktureinbrüche ab, was sich auch auf die Arbeitslosigkeit auswirkt (Chimerine/Black/Coffey 1999).
Löhne als auch die Arbeitskräftenachfrage erhöhen sollte, sofern dadurch eine allgemeine Produktivitätssteigerung erreicht wird304 (OECD 1993b: 46f.; OECD 2002b: 210ff.). Auf der Basis all dieser Überlegungen können wir für unsere Vergleichsländer eine unterschiedliche Beschäftigungsperformanz erwarten: Tab. 6.29: Zentralisation und Koordination der Lohnverhandlungen (Werte auf Skalen von 1 = "niedrig" bis 5 = "hoch") Periodenmittelwerte stehen in Klammern. Zentralisation Koordination Jahre D UK S D UK S 3 2 5 4 (3) 4 1970-74 3 2 5 4 4 4 1975-79 3 1 (4,5) 4 1 (3,5) 1980-84 3 1 3 4 1 3 1985-89 3 1 3 4 1 3 1990-94 3 1 3 4 1 3 1995-00 Quelle: OECD (2004c: 151).
Schweden weist ein stark zentralisiertes und koordiniertes System der Lohnverhandlungen auf (s.Tab. 6.29); daher sollte die Arbeitslosigkeit dank moderater Lohnentwicklung niedrig sein. Die ungünstigen Effekte der niedrigen Einkommensspreizung und großzügiger Ersatzquoten (vgl. Kap. 6.2.1) werden durch aktive Beschäftigungspolitik (Tab. 6.30) aufgefangen. Wegen des starken rechtlichen Kündigungsschutzes (Tab. 6.31) sollten atypische Beschäftigungsformen eine große Rolle spielen, insbesondere nach deren Deregulierung in den letzten Jahren (vgl. Tabelle 6.32, Tab. 6.33). Beschäftigungswachstum ist vor allem im Bereich der öffentlichen Dienstleistungen zu erwarten, was es prinzipiell ermöglicht, weiterhin geringe Arbeitslosigkeit und geringe Lohnspreizung zu verbinden (da die öffentliche Finanzierung der Dienstleistungen Löhne, die nicht zur Produktivität proportional sind, zulässt, ohne dass dadurch die Nachfrage reduziert wird)305. Auf diesem Wege lässt sich auch die private Nachfrage nach personenbezogenen Dienstleistungen erhöhen306. In Großbritannien sollte wegen der Kombination aus (zunächst) starken Gewerkschaften und geringem Grad an Zentralisation und Koordination der Lohnaushandlung die Arbeitsmarktentwicklung bis etwa Mitte der 80er Jahre ungünstiger verlaufen als in Schweden. Wegen des geringen Kündigungsschutzes ist zu erwarten, dass atypische Beschäftigungsverhältnisse eher selten vorkommen, auch wenn sie kaum rechtlichen Restriktionen unterliegen. Die (mit Ausnahmen) mäßigen Sozialleistungen für Arbeitslose dürften sich kaum auf das Niveau der Arbeitslosigkeit auswirken. Ein starkes Beschäf-
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Nachteilig auf die Beschäftigung können sich aber Substitutionseffekte auswirken (wenn eine nichtgeförderte Kategorie von Beschäftigten durch eine geförderte ersetzt wird) sowie der Umstand, dass aktive Politiken die Kosten von Arbeitslosigkeit für die Betroffenen verringern und damit auch für Gewerkschaften den Anreiz zu Lohnzurückhaltung. Allerdings findet Heidenreich (2004) einen theoretisch nicht sehr plausiblen negativen Effekt der gesamten Beschäftigung im öffentlichen Dienst auf die Beschäftigungsquote. Die Nachfrage sollte wegen der geringeren Kosten höher sein. Zudem entstehen neue Beschäftigungsmöglichkeiten für Frauen im öffentlichen Dienstleistungsbereich, was wiederum neue Nachfrage nach derartigen Dienstleistungen erzeugt (da die Zeitknappheit in Doppelverdienerhaushalten die Bedeutung der Preise für derartige Dienstleistungen relativiert) (Esping-Andersen 1999: 110f., 117).
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tigungswachstum im Dienstleistungssektor wird durch eine hohe Lohnspreizung bei gleichzeitig expandierender Nachfrage auf Seiten der Haushalte im oberen Einkommensbereich ermöglicht. Aber auch der Staat hat seit 1999 die Zahl seiner Beschäftigten stark ausgeweitet, sodass die Arbeitslosigkeit erheblich reduziert werden konnte. 307
Tab. 6.30: Ausgaben für aktive Arbeitsmarktprogramme in Prozent des Bruttoinlandproduktes Deutschland United Kingdom Schweden 0,8 0,8 2,1 1985 1,0 0,6 1,7 1990 1,3 0,5 3,5 1995 1,3 0,4 1,8 1999 Quelle: OECD, Labour Market Statistics, in: OECD (2004d). Tab. 6.31: Striktheit des Kündigungsschutzes für regulär Beschäftigte in Deutschland, Großbritannien (UK) und Schweden (Werte auf einer Skala von 0=geringste Restriktionen bis 6=stärkste Restriktionen) Deutschland United Kingdom Schweden 2,6 0,9 2,9 Ende der 80er Jahre 2,7 0,9 2,9 Ende der 90er Jahre 2,7 1,1 2,9 2003 Quelle: OECD (2004c: 117). Tab. 6.32: Kombinierter Index für die Striktheit des Kündigungsschutzes und Beschränkungen für befristete Beschäftigung in Deutschland, Großbritannien (UK) und Schweden (Werte auf einer Skala von 0=geringste Restriktionen bis 6=stärkste Restriktionen) Deutschland United Kingdom Schweden 3,5 0,0 2,7 Ende der 80er Jahre 1,8 0,0 1,8 Ende der 90er Jahre 1,8 0,3 1,8 2003 Quelle: OECD (2004c: 115). Tab. 6.33: Kombinierter Index für die Striktheit des Kündigungsschutzes und Beschränkungen für Leiharbeit in Deutschland, Großbritannien (UK) und Schweden (Werte auf einer Skala von 0=geringste Restriktionen bis 6=stärkste Restriktionen) Deutschland United Kingdom Schweden 4,0 0,5 5,5 Ende der 80er Jahre 2,8 0,5 1,5 Ende der 90er Jahre 1,8 0,5 1,5 2003 Quelle: OECD (2004c: 115).
Für Deutschland ist wegen des stark ausgebauten Kündigungsschutzes und der Kombination von generösen Lohnersatzleistungen einerseits und einem niedrigeren Niveau an aktiver Beschäftigungspolitik andererseits mit einer höheren Arbeitslosigkeit zu rechnen,
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Hierunter werden alle arbeitsmarktpolitische Ausgaben subsumiert, die nicht auf Lohnersatzleistungen (wie Arbeitslosengeld, Kurzarbeitergeld, Schlechtwettergeld, Vorruhestand) entfallen (vgl. OECD o.J.: 120f.).
vor allem aber mit einer Konzentration der Arbeitslosigkeit bei Frauen (wegen des dualen Systems der Berufsausbildung in geringerem Maße bei Jugendlichen) und bei niedrig qualifizierten Arbeitskräften (trotz des gegenläufigen Effekts der Frühverrentungspolitik). Außerdem dürfte der atypischen Beschäftigung eine hohe und steigende Bedeutung zukommen; nicht zuletzt deshalb, weil die Ausweitung der weiblichen Erwerbsbeteiligung mangels Kinderbetreuungsmöglichkeiten überwiegend über Teilzeitarbeit erfolgt und rechtliche Beschränkungen abgebaut wurden. Positiv auf die Arbeitsmarktentwicklung sollte sich das hohe Maß an Koordination der Lohnaushandlungen, kombiniert mit einem mittleren Zentralisationsgrad und starken Gewerkschaften auswirken, möglicherweise allerdings um den Preis schlechterer Beschäftigungschancen für gering qualifizierte Arbeitskräfte. Zukünftig ist ein weiterhin hohes Niveau der Arbeitslosigkeit zu erwarten. Denn zum einen ist eine Expansion der Beschäftigung im privatwirtschaftlichen Dienstleistungsbereich unwahrscheinlich: a) wegen der niedrigen Nachfrage (aufgrund der geringeren Erwerbstätigkeit von Frauen), b) aufgrund der hohen Kosten derartiger Dienstleistungen (wegen des Lohnniveaus). Aber auch ein Ausbau staatlicher Dienstleistungen in dieser Richtung ist wegen der familialistischen Ausrichtung der Politik und dem Zwang zur Haushaltskonsolidierung derzeit nicht zu erwarten. 6.4.5
Die Entwicklung von Arbeitslosigkeit und unsicherer Beschäftigung
6.4.5.1 Die Entwicklung von Arbeitslosigkeit Auf die Entwicklung der Arbeitslosigkeit sind wir bereits in Kap. 4 eingegangen. Noch mit in die Betrachtung einzubeziehen sind die geschlechtsspezifische Entwicklung der Arbeitslosigkeit (Abbildung 6.12), sowie die Betroffenheit von Haushalten und Kindern (Tab. 6.34, Tab. 6.35): Wie Abbildung 6.12 zeigt, war besonders in Deutschland, aber auch in Schweden lange Zeit die Arbeitslosenquote bei den Frauen höher als bei den Männern, während sie in Großbritannien durchgehend deutlich niedriger als die der Männer war. Tab. 6.34 zeigt die Entwicklung des Anteils der Haushalte mit einem Vorstand im Alter von 25-64 Jahren308, in denen kein Bezieher von Erwerbseinkommen lebte. Wie zu erkennen ist, hat es hier in Großbritannien zwischen Mitte der 70er und Mitte der 80er Jahre eine dramatische Entwicklung gegeben, in deren Verlauf der Anteil der Haushalte ohne Bezieher von Erwerbseinkommen von 6 auf 20 Prozent stieg. Auffällig ist, dass der deutliche Rückgang der Arbeitslosenquote in den 90er Jahren kaum zu einer Entspannung führte. Diese Divergenz dürfte im Wesentlichen auf Veränderungen in der Haushaltsstruktur beruhen: die Zahl der Haushalte mit nur einem Erwachsenen stieg deutlich an (vgl. OECD 1998: 17, 19). Weniger dramatisch verlief die Entwicklung in den beiden anderen Ländern, wo zunächst bis in die 80er Jahre hinein der Anteil der Haushalte ohne Erwerbs-
308
Die untere Grenze des Intervalls wurde bei 25 Jahren angesetzt, um den Einfluss der in der Beobachtungsperiode steigenden Bildungspartizipation und der verlängerten Ausbildungszeiten zu minimieren.
271
tätige zurückging und anschließend ein moderater – im Vergleich zur Entwicklung der Arbeitslosenquote schwächerer – Anstieg zu beobachten war309. 16 14
Quote in %
12 10 8 6 4 2
19 63 19 65 19 67 19 69 19 71 19 73 19 75 19 77 19 79 19 81 19 83 19 85 19 87 19 89 19 91 19 93 19 95 19 97 19 99
0
Westdeutschland: Männer United Kingdom: Frauen
Jahr Westdeutschland: Frauen Schweden: Männer
United Kingdom: Männer Schweden: Frauen
Abb. 6.12: Entwicklung der geschlechtsspezifischen Arbeitslosenquoten Quellen: OECD (2004d; 1984).
Ähnlich entwickelte sich die Betroffenheit von Kindern (Tab. 6.35), d.h. in Großbritannien hat der Anteil der Kinder, die in einem Haushalt ohne Erwerbseinkommen leben, erheblich zugenommen, während er in Deutschland und Schweden zunächst abnahm und dann wieder – in Deutschland moderat, in Schweden stärker – zunahm. Im Vereinigten Königreich lebt demnach etwa ein Fünftel der Kinder in Haushalten ohne Einkommen aus Beschäftigung, in Deutschland und Schweden sind es ca. 5 Prozent.310
309
310
272
Die Commission of the European Communities (2005: 95) weist auf Basis der Europäischen Arbeitskräftestichprobe für Großbritannien in 2003 allerdings mit 11% einen Anteil von Personen in Haushalten ohne Erwerbseinkommen an allen Personen im Alter von 18-59 Jahren aus (die Betrachtungsebene sind also Personen, nicht Haushalte), der so hoch ist wie in (Gesamt-)Deutschland und niedriger als in Schweden 1999 mit 12 % (für 2003 sind keine Daten ausgewiesen). Die Niveauunterschiede fallen also möglicherweise anders aus, wenn man den Anteil der Personen in arbeitslosen Haushalten (und nicht den Anteil der Arbeitslosen-Haushalte an allen Haushalten) analysiert. Die Commission of the European Communities (2005: 95) nennt für Großbritannien und Schweden in 1999 allerdings einen exakt identischen Anteil von 18,4% an Kindern, die in Haushalten ohne Erwerbseinkommen leben (wobei nicht klar ist, ob – wie bei unseren Berechnungen – die Gesamtzahl der Kinder in Haushalten mit einem Vorstand in der Altersgruppe von 25-64 Jahren als Basis gewählt wurde). Das Zustandekommen dieser Diskrepanz konnten wir leider nicht klären.
Tab. 6.34: Anteil der Haushalte mit einem Haushaltsvorstand zwischen 25 und 64 Jahren, in denen kein Mitglied Erwerbseinkommen bezieht, an allen Haushalten (deren Vorstand zwischen 25 und 64 Jahren alt ist) D (West) GB* S 19,4 5,9 8,4 ca. 1975 17,9 9,5 6,1 ca. 1980 10,6 19,8 5,9 ca. 1985 8,4 17,2 6,5 ca. 1990 11,0 22,7 9,8 ca. 1995 10,6 19,0 9,6 ca. 2000 Quelle: Eigene Berechnung mit Daten der LIS (27.2.2006) basierend auf folgenden Erhebungen: D: 1973, 1978 EVS, 1984, 1989, 1994, 2000 SOEP; GB: 1974, 1979, 1986, 1991 FES, 1995 und 1999 FRS; S: 1975, 1981, 1987, 1992, 1995, 2000 IDS. *erst ab 1991 gewichtet Tab. 6.35: Anteil der Kinder unter 18 Jahren in Haushalten mit einem Haushaltsvorstand zwischen 25 und 64 Jahren, in denen kein Mitglied Erwerbseinkommen bezieht (an allen Kindern)(%) D (West) GB* S 13,0 3,3 2,8 ca. 1975 11,0 7,0 1,5 ca. 1980 4,9 18,4 ,8 ca. 1985 3,3 14,4 2,1 ca. 1990 5,9 22,0 3,2 ca. 1995 4,8 16,6 4,2 ca. 2000 Quelle: s. Tab. 6 *erst ab 1991 gewichtet
6.4.5.2 Die Entwicklung unsicherer Beschäftigung Befristete Beschäftigung spielt quantitativ in Schweden, gefolgt von Deutschland, die größte Rolle und ist dort im Zunehmen begriffen, während ihr in Großbritannien nur eine geringe Bedeutung zukommt (Abb. 6.13). Vor allem in Schweden, aber auch in Großbritannien weisen befristete Beschäftigungsverhältnisse sehr häufig eine kurze Dauer auf (Tabelle 6.36). Frauen sind in allen Ländern etwas häufiger befristet beschäftigt als Männer, insbesondere in Schweden: In Deutschland lag im Durchschnitt der Jahre 19952000 die Befristungsquote der Männer bei 11,6 Prozent, die der Frauen bei 12,2 Prozent, im Vereinigten Königreich betrugen die entsprechenden Quoten 6,1 bzw. 8,0 Prozent, in Schweden 10,8 bzw. 15,1 Prozent.
273
befristet Beschäftigte in % aller abhängig Beschäftigten
16
14
12
10
8
6
4
2
0
1983
1984
1985
1986
1987
1988
1989
1990
1991
1992
1993
1994
1995
1996
1997
1998
1999
2000
Jahr
Deutschland (ab 1991 gesamt)
UK
Schweden
Schweden (nat. Quelle)
Abb. 6.13: Entwicklung des Anteils der befristet Beschäftigten (15-64 Jahre) an allen abhängig Beschäftigten Quelle: OECD, Labour Market Statistics (in: OECD 2005b); SCB. Tab. 6.36: Befristungsquoten nach Altersgruppen (jew. Anteil der befristet Beschäftigten an allen abh. Beschäftigten in Prozent). AltersJahr 1985 1990 1995 2000 gruppe Land 20-24 J. D 17,5 21,6 24,9 38,0 UK 6,8 5,9 10,8 11,6 S 35,6 39,7 25-54 J. D 4,6 5,5 6,5 7,5 UK 4,4 3,9 5,8 5,3 S 9,7 11,6 55-64 J. D 2,9 2,8 4,1 4,4 UK 3,4 3,6 5,6 6,2 S 4,8 7,4 Quelle: OECD, Labor Market Statistics (eigene Berechnungen). Tab. 6.37: Dauer der befristeten Beschäftigungsverhältnisse von 15- bis 64-Jährigen, nach Geschlecht (jew. Anteil an allen befristeten Beschäftigungsverhältnissen in Prozent), Durchschnitt jew. 2. Quartal 1995-2004 Dauer Geschlecht D UK S Männer 35,3 58,5 77,2 bis 12 Monate Frauen 40,7 59,7 77,2 Männer 42,5 26,8 10,9 13-36 Monate Frauen 49,6 28,9 13,5 Männer 22,1 14,6 11,7 mehr als 36 Monate Frauen 10,3 10,9 11,4 Quelle: Eigene Berechnungen auf Grundlage von Daten aus der europäischen Arbeitskräfteerhebung (Daten von EUROSTAT).
Die aufgrund des relativ strikten Kündigungsschutzes zu erwartende Benachteiligung von Frauen schlägt sich in Deutschland offenbar weniger in einer erhöhten Befristungsquote, 274
sondern eher in einer im Vergleich zu Männern geringeren durchschnittlichen Dauer nieder. In Deutschland, vor allem aber in Schweden konzentriert sich befristete Beschäftigung zudem auf junge Arbeitnehmer (Tab. 6.36), insbesondere junge Frauen. Sehr häufig verbinden sich zudem befristete Beschäftigung und Teilzeitarbeit: zwischen 40% der befristet Beschäftigten in Schweden und 70% in Großbritannien arbeiten in Teilzeit (ohne Personen in Ausbildung: zwischen 12% in Deutschland und 55% in Großbritannien). Besonders häufig findet sich diese Kombination bei jungen Arbeitnehmern: zwischen 9% aller Beschäftigten von 15-24 Jahren in Großbritannien und 42% in Deutschland; ohne Personen in Ausbildung sind es in Deutschland 2%, in Großbritannien 8% und in Schweden sogar 29%.
Anteil an allen Beschäftigten in %
30
25
20
15
10
5
0
1973
1975
1977
1979
1981
1983
1985
1987
1989
1991
1993
1995
1997
1999
Jahr D: 1-19 Std. D: bis 29 Std. D (bezogen auf alle Erwerbstätigen)
UK: 1-19 Std. UK: bis 29 Std. UK (bezogen auf alle Erwerbstätigen)
S: 1-19 Std. S: bis 29 Std. S (bezogen auf alle Erwerbstätigen)
Abb. 6.14: Entwicklung der Teilzeitbeschäftigung nach nat. Definitionen als Anteil an allen Erwerbstätigen 1973-1983 und nach einheitlicher Definition (1-29 Std./Woche und 1-19 Std./Woche), Deutschland (ab 1991 gesamt), Vereinigtes Königreich und Schweden, 1983-2000 Quelle: OECD, Labour Market Statistics in: OECD (2005b); OECD (1985) zitiert nach Hegner/ Kramer/Lakemann (1988: 249).
Kurze befristete Arbeitsverhältnisse in Teilzeit (2004 waren im 2. Quartal über 40% der schwedischen Beschäftigten von 15-24 Jahren in einem befristeten Arbeitsverhältnis von bis zu 12 Monaten Dauer tätig) können vor allem für junge schwedische Frauen – statistisch gesehen – nicht mehr als "atypisch" bezeichnet werden. Die Beschäftigungslage von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Schweden ist also von einem hohem Maß an zeitlicher Unsicherheit gekennzeichnet, das sich mit den Nachteilen von Teilzeitbeschäftigung verbindet. Teilzeitbeschäftigung ist insbesondere für Frauen quantitativ bedeutsam, vor allem in Großbritannien. Sie hat allerdings in Deutschland in jüngerer Zeit stärker zugenommen als in Großbritannien; in Schweden dagegen ist sie leicht rückläufig (Abbildung 6.15). In allen drei Ländern sind in zunehmendem Maße vorwiegend jüngere Arbeitnehmer in Teilzeit beschäftigt: um 2000 lag in Schweden die Teilzeitquote der 15bis 24-Jährigen bei 40 Prozent für beide Geschlechter, in Großbritannien um 25 Prozent für 275
beide Geschlechter, in Deutschland um 7 Prozent bei den jungen Männern und 14 Prozent bei den Frauen (OECD, Labour Market Statistics). Bei den jungen Teilzeitbeschäftigten handelt es sich aber überwiegend um Personen, die sich in einer Ausbildung befinden. In Deutschland galt dies in den 80er Jahren für 20 bis 30 Prozent, in den 90er Jahren stieg die Quote auf über 50 Prozent an. In Großbritannien war seit den 80er Jahren eine Zunahme des entsprechenden Anteils von über 50 (Frauen: 40) auf über 70 Prozent zu verzeichnen, und in Schweden fluktuierte er in den 90er Jahren zwischen 51 und 57 Prozent (bei den Frauen zwischen 43 und 50 Prozent) (eigene Berechnungen mit Daten von EUROSTAT).
Anteil an allen Beschäftigten des jew. Geschlechts
50 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0
1983
1985
1987
1989
1991
1993
1995
1997
1999
1991
1993
1995
1997
1999
Jahr D: Männer
D: Frauen
UK: Männer
UK: Frauen D: Männer (Anteil an allen Erwerbstätigen)
S: Männer D: Frauen (Anteil an allen Erwerbstätigen)
S: Frauen UK: Männer (Anteil an allen Erwerbstätigen)
UK: Frauen (Anteil an allen Erwerbstätigen)
S: Männer (Anteil an allen Erwerbstätigen)
S: Frauen (Anteil an allen Erwerbstätigen)
Abb. 6.15: Entwicklung der Teilzeitbeschäftigung nach nat. Definitionen als Anteil an allen Erwerbstätigen 1973-1983 und nach einheitlicher Definition (1-29 Std./Woche) 1983-2000 nach Geschlecht, Deutschland (ab 1991 gesamt), Vereinigtes Königreich und Schweden Quelle: OECD, Labour Market Statistics in: OECD (2005b); OECD (1985) zitiert nach Hegner/Kramer/Lakemann (1988: 249).
Teilzeitbeschäftigung ist in Deutschland nur relativ selten unfreiwillig, selbst bei Frauen, obwohl diese stärker betroffen sind (Abb. 6.16). Häufiger ist sie in Großbritannien und vor allem in Schweden nicht aus freien Stücken gewählt. Bezogen auf die Gesamtzahl der Arbeitnehmer war das Ausmaß der unfreiwilligen Teilzeitarbeit aber auch in Schweden gering. Vorübergehend nahm ihre Verbreitung in den 90er Jahren deutlich zu, dauerhaft (auf niedrigerem Niveau) aber nur in Deutschland.
276
9 8 7
Anteil in %
6 5 4 3 2 1 0 1983
1984
1985
1986
1987
1988
1989
1990
1991
1992
1993
1994
1995
1996
1997
1998
1999
2000
2001
2002
2003
Jahr D (ab 1991 gesamt) Anteil unfreiwillig Teilzeitbeschäftigter an allen abh. Beschäftigten: Frauen UK Anteil unfreiwillig Teilzeitbeschäftigter an allen abh. Beschäftigten: Frauen S Anteil unfreiwillig Teilzeitbeschäftigter an allen Beschäftigten (Frauen) D (ab 1991 gesamt) Anteil unfreiwillig Teilzeitbeschäftigter an allen abh. Beschäftigten: Männer UK Anteil unfreiwillig Teilzeitbeschäftigter an allen abh. Beschäftigten: Männer S Anteil unfreiwillig Teilzeitbeschäftigter an allen Beschäftigten: Männer
Abb. 6.16: Unfreiwillige Teilzeitbeschäftigung als Anteil an allen abhängig Beschäftigten, nach Geschlecht, Deutschland (ab 1991 gesamt), Vereinigtes Königreich und Schweden, 1983-2000 Quelle: OECD, Labour Market Statistics (in: OECD 2005b).
Bedeutsamer als unfreiwillige Teilzeitarbeit ist dagegen die Teilzeitbeschäftigung mit kurzen Arbeitszeiten, die in Großbritannien über 10 Prozent der Arbeitnehmer betrifft. In Deutschland ist die geringfügige Beschäftigung zwar quantitativ noch immer unbedeutend, hat aber stark zugenommen (nach dem Mikrozensus von 1,4% der Erwerbstätigen in 1991 auf 7,6% in 2003311). In Schweden ist der Anteil von Teilzeitarbeit mit kleiner Stundenzahl gering, hat aber auch nicht – in Gegensatz zu Teilzeitbeschäftigung mit höherer Stundenzahl – abgenommen. Ähnlich wie die unfreiwillige ist die befristetete Teilzeitbeschäftigung in Deutschland von geringer Bedeutung (etwa 8% der Teilzeitbeschäftigten ohne Probezeit
311
Die Daten wurden uns vom Statistischen Bundesamt übermittelt. Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass ein Teil der Zunahme einer Ausweitung des Erfassungskonzeptes im Mikrozensus ab 1996 zuzurechnen ist (Rudolph 1998: 11). Diese Daten unterschätzen jedoch nach Expertenmeinung das Ausmaß der sozialversicherungsfreien Beschäftigung um etwa 50 Prozent (Friedrich 1995: 67; Jungbauer-Gans/ Hönisch 1998: 699). Zuverlässigere Informationen enthalten drei Erhebungen von 1987, 1992 und 1997. Demnach waren 1987 etwa 2,3 Mio. Personen (entsprechend ca. 8 Prozent der Erwerbstätigen lt. Mikrozensus), 1992 2,6 Mio. Personen (ca. 9 Prozent der Erwerbstätigen) und 1997 3,6 Mio. Personen (ca. 12 Prozent der Erwerbstätigen) ausschließlich sozialversicherungsfrei beschäftigt (Friedrich 1995; Rudolph 1998). Allerdings ist es wegen Mehrfachzählungen bei den geringfügig Beschäftigten und der unterschiedlichen Altersspannen (15-69 Jahre vs. alle) nicht ganz unproblematisch, diese in Bezug zur Erwerbstätigenzahl zu setzen (Rudolph 1998: 9) Die starke Zunahme 1992 bis 1997 war teilweise artifiziell, da der befragte Personenkreis von den 15-69-Jährigen auf die 14-74-Jährigen ausgeweitet wurde, sodass insgesamt 135.000 nebenberuflich und ausschließlich geringfügig Beschäftigte zusätzlich erfasst wurden (Rudolph 1998: 13).
277
und Personen in Ausbildung) in Großbritannien von moderater (der Anteil fluktuierte zwischen 10% und 20%), in Schweden aber durchaus von erheblicher Bedeutung (Anstieg auf über 50% in den 90er Jahren). Besonders betroffen sind dort, wie schon erwähnt, jüngere Arbeitnehmer, von denen viele eine Teilzeitstelle innehaben, die befristet ist, obwohl der Betreffende eine unbefristete Stelle vorgezogen hätte (in Schweden in den 90er Jahren bis zu 40% der Teilzeitbeschäftigten aller Altersgruppen; bei den 15- bis 24 Jährigen betrug der Anteil an allen Erwerbstätigen zeitweise 27%). Die Entwicklung kann daher in erster Linie in Schweden als Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse für jüngere Arbeitnehmer interpretiert werden. Dies könnte ein weiterer Hinweis darauf sein, dass hier der hohe Kündigungsschutz unerwünschte Nebenfolgen zeigt. Ansonsten hängt die Zunahme von Teilzeitarbeit, insbesondere auch befristeter, bei jüngeren Personen offenbar mit den verlängerten Ausbildungszeiten zusammen (Zunahme von studienbegeleitender Teilzeitarbeit) und ist insofern auch nicht unbedingt als problematisch zu betrachten. 10
1
0,1
0,01 1975
1977
1979
1981
1983
1985
1987
1989
1991
1993
1995
1997
1999
2001
Jahr UK: Leiharbeiter als % der Beschäftigten (ONS)
UK: Leiharbeiter als % der Beschäftigten (REC)
S: Leiharbeiter als % der Beschäftigten (Storrie/SPUR)
D: Anteil an soz.pfl. Beschäftigten in %
Abb. 6.17: Entwicklung der Leiharbeit (Anteil an den Beschäftigten insgesamt) in Deutschland (ab 1991 gesamt), dem Vereinigten Königreich und Schweden, 1975-2002 Quelle: Bundesagentur für Arbeit; Office for National Statistics; REC, zitiert nach Hegewisch (2002: 11); PricewaterhouseCoopers (2004: 10); ONS; SPUR, zitiert nach Storrie (2002a: 7).
Leiharbeit ist in allen drei Ländern von sehr geringer, aber steigender quantitativer Bedeutung (Abbildung 6.17)312. Insbesondere jüngere Arbeitnehmer sind zunehmend von
312
278
In Großbritannien wird Leiharbeit erst seit 1992 in der regelmäßigen Arbeitskräftebefragung (entsprechend der Reihe „ONS“ in Abbildung 6.17) erhoben, wobei die Zahl der Leiharbeitnehmer aus verschiedenen Gründen unterschätzt wird, nicht zuletzt deshalb, weil sich diese oft selbst nicht darüber im
Leiharbeit betroffen. In allen drei Ländern sind Personen, die weniger als 35 Jahre alt sind, unter den Leiharbeitnehmern überrepräsentiert, am stärksten in Schweden (in 2000 stellen sie 81% der Leiharbeitnehmer, in Deutschland sind es 74%, in Großbritannien 70%, s. Jahn/Rudolph 2002b). Die Zusammensetzung der Leiharbeiter nach Geschlecht unterscheidet sich deutlich zwischen den Ländern. In Deutschland handelt es sich ganz überwiegend um Männer (ihr Anteil fluktuierte 1973 bis 2001 zwischen 60 und 80 Prozent), in Großbritannien ist die Geschlechterverteilung ausgewogen oder die Männer sind leicht im Übergewicht (die Angaben schwanken hier), in Schweden sind Frauen mit 60-80 Prozent (je nach Quelle) deutlich überrepräsentiert (vgl. Storrie 2002b; Hegewisch 2002; Jahn/Rudolph 2002a; Rudolph/Schröder 1997). Sehr unterschiedlich ist auch die Häufigkeit von Leiharbeit auf Teilzeitbasis: in Deutschland ist sie sehr selten (1995 waren 0,5% der männlichen und 5,7% der weiblichen Leiharbeitnehmer in Teilzeit tätig), in Großbritannien ist der Anteil wesentlich höher, sank aber in den 90er Jahren von 35% auf 25%; in Schweden überwiegt die Beschäftigung mit 75% der vollen Wochenarbeitszeit (Rudolph/Schröder 1997; Hegewisch 2002; Nyström 2001). Die Kombination der Prekaritätsmerkmale "Leiharbeit" und "Teilzeitbeschäftigung" dürfte also in erster Linie in Großbritannien von Relevanz sein. Insgesamt kann wohl angesichts der (bisher noch) geringen Häufigkeit von Leiharbeit nicht davon gesprochen werden, dass bestimmte Arbeitnehmergruppen einem besonders hohen Risiko der (ungewollten) Leihbeschäftigung ausgesetzt sind (vielleicht abgesehen von den Arbeitslosen in Deutschland, aus denen sich die Leiharbeitnehmerschaft hierzulande zunehmend rekrutiert). Wie in Abb. 6.18 zu erkennen ist, fluktuierte die Quote der Selbständigen ohne Beschäftigte in Westdeutschland bis in die erste Hälfte der 90er Jahre um ein stabiles Niveau, um dann bis Ende der 90er Jahre und nochmals 2002/3 deutlich zuzunehmen. In Schweden313 beobachten wir eine ähnliche Entwicklung, allerdings fand hier der Anstieg bereits Anfang der 90er Jahre statt und wird im Aggregat durch eine gleichzeitige Abnahme der Selbständigen in der Landwirtschaft etwas verdeckt (wie entsprechende Daten von EUROSTAT zeigen). In Großbritannien fand dagegen ein noch stärkerer Anstieg bereits ab Mitte der 80er Jahre statt, der 1995 abgeschlossen war; in jüngster Zeit kam es zu einem erneuten Zuwachs (s. dazu Lindsay/Macaulay 2004; Macaulay 2003). In allen drei Ländern hat also die Bedeutung Selbständiger ohne Mitarbeiter zugenommen, allerdings zu unterschiedlichen Zeitpunkten und in unterschiedlichem Umfang. Am höchsten ist sie in Großbritannien, gefolgt von Schweden und Deutschland mit inzwischen einander ähnlichen Quoten, die aber deutlich unter denen für das Vereinigte Königreich liegen. Zu beachten ist dabei, dass es sich bei den referierten Quoten um Bestandsgrößen handelt. Da die Zahl der
313
Klaren sind, ob sie Selbständige oder Beschäftigte sind. Eine alternative Quelle sind Schätzungen auf Basis regelmäßiger Umfragen des Verbandes der Leiharbeitunternehmen (REC), welche den Umfang der Leiharbeitnehmer wiederum überschätzen (weil viele Leiharbeitnehmer für mehrere Firmen arbeiten). Wir haben beide Reihen in Abbildung 6.17 dargestellt, um zu verdeutlichen, in welcher Größenordnung sich die Leiharbeit in Großbritannien bewegt. Die Reihen für Schweden weisen Mitte der 80er Jahre einen Bruch auf; es änderte sich nicht nur die erfasste Altersspanne, sondern auch die Definition der Selbständigkeit: ab diesem Zeitpunkt wurden Personen, welche die Firma besitzen, bei der sie beschäftigt sind, als Selbständige gezählt (vgl. Ohlsson 2004: 5).
279
Zu- und Abgänge in/aus Selbständigkeit sehr hoch ist, machen erheblich mehr Personen, als diese Zahlen nahe legen, im Laufe ihrer Erwerbsbiographie Erfahrung mit dieser Form der Selbständigkeit. Nach Daten der British Household Panel Study (BHPS) wiesen z. B. 13,5% der Befragten im erwerbsfähigen Alter innerhalb einer Periode von vier Jahren eine Episode der Selbständigkeit auf, während die Selbständigenquote für ein einzelnes Jahr nur bei 8,7% lag (Meager/Bates 2002: 307).
Anteil der Selbständigen ohne Beschäftigte an den Erwerbstätigen in %
10 9 8 7 6 5 4 3 2 1
2003
2002
2001
2000
1999
1998
1997
1996
1995
1994
1993
1992
1991
1990
1989
1988
1987
1986
1985
1984
1983
1982
1981
1980
1979
1978
1977
1976
1975
1974
1973
1972
1971
1970
0
Jahr
S: 16-74 J. S D (West)
S: außerhalb der Landwirtschaft, 16-74 J. S: außerhalb der Landwirtschaft UK (außerhalb der Landwirtschaft)
Abb. 6.18: Entwicklung der Selbständigen ohne Beschäftigte bezogen auf die Erwerbstätigen insgesamt, Westdeutschland, Vereinigtes Königreich und Schweden, 1970-2003 Quelle: Statistisches Bundesamt; SCB (versch. Jahre) (7.11.2005); Duggan (o.J.: 38).
Die Zusammensetzung der Selbständigen ohne Beschäftigte314 weist viele Gemeinsamkeiten auf: es handelt sich überwiegend um Männer mittleren und höheren Alters, die ihrer Tätigkeit auf Vollzeitbasis nachgehen (selbständige Frauen arbeiten dagegen in erheblichem Umfang in Teilzeit). Die Geschlechterdifferenz bei den Selbständigenquoten hat in Deutschland allerdings etwas abgenommen.
314
280
Vgl. Moralee (1998); Duggan o.J.; Weir (2003); Andersson/Wadensjö (2004); Kim/Kurz (2003); Kim/Kurz (2001); Gottschall/Kroos (2003). Zu Schweden liegen uns lediglich Informationen über alle Selbständigen (mit und ohne Beschäftigte) vor.
6.4.5.3 Die Prekarisierung von Beschäftigung: weitere Aspekte
30
25
20
15
10
5
0
19 9
2 19 q02 93 19 q01 94 19 q01 95 19 q01 96 19 q01 96 19 q03 97 19 q01 97 19 q03 98 19 q01 98 19 q03 99 19 q01 99 20 q03 00 20 q01 00 20 q03 01 20 q01 01 20 q03 02 20 q01 02 20 q03 03 20 q01 03 20 q03 04 20 q01 04 20 q03 05 q0 1
% der Beschäftigten, die gewöhnlich Schichtarbeit leisten
Bisher haben wir nur die Entwicklung atypischer Beschäftigung betrachtet, die in erster Linie indikativ für externe Flexibilisierungsstrategien ist. Ergänzend betrachten wir zunächst noch zwei Indikatoren, die auf interne Flexibilisierung verweisen können, nämlich auf Arbeitszeiten und Arbeitsintensitäten, die von dem üblichen Format der Normalarbeitsverhältnissse abweichen. Zugenommen hat bis zur Jahrtausendwende lediglich die Verbreitung von Schichtarbeit in Deutschland und Großbritannien (Abb. 6.19).
Jahr/Quartal
Deutschland (einschließlich ex-DDR seit 1991)
Schweden
Vereinigtes Königreich
Abb. 6.19: Anteil der Personen, die "gewöhnlich" Schichtarbeit leisten, unter allen Erwerbstätigen Quelle: EUROSTAT 2005b. Tab. 6.38: Arbeitsintensität – Prozentsatz der Befragten, der angab, mindestens die Hälfte der Zeit mit sehr hohem Tempo zu arbeiten. 315 UK S D-West 42,4 30,8 1991 40,2 40,5 53,0 1995/96 42,7 38,9 65,4 2000 Quelle: Eigene Auswertung der Datensätze der "European Surveys on Working Conditions" 1991, 1995/96 und 2000 , die uns freundlicherweise von der Europäischen Stiftung für die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen zur Verfügung gestellt wurden.
315
2000 ohne West-Berlin.
281
In Tab. 6.38 und Tab. 6.39 sind ergänzend die Prozentsätze der Befragten notiert, die jeweils angaben, ungefähr die Hälfte der Zeit oder mehr (Werte von 4-7 auf einer 7erSkala) mit sehr hoher Geschwindigkeit oder unter Termindruck zu arbeiten (zwei Indikatoren für Arbeitsintensität). Tab. 6.39: Arbeitsintensität – Prozentsatz der Befragten der angab, mindestens die Hälfte der Zeit unter Termindruck zu arbeiten. D-West UK S 46,2 51,0 1991 47,6 63,8 47,1 1995/96 51,1 62,2 54,3 2000 Quelle: s.Tab. 6.38.
Wie zu sehen ist, gab es in Großbritannien Anfang der 90er Jahre eine deutliche Arbeitsverdichtung, der eine Stabilisierung in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts folgte, während es nun insbesondere in Schweden, in moderatem Maße auch in Westdeutschland zu einer Erhöhung der Arbeitsintensität kam. In allen drei Ländern wurde zur Jahrtausendwende also häufiger mit sehr hohem Tempo und unter Termindruck gearbeitet, was vermuten lässt, dass die durchschnittlichen Niveaus an berufsbedingtem Stress zugenommen haben. Wenn das Normalarbeitsverhältnis an Bedeutung verliert, sollte auch die durchschnittliche Verweildauer in einem Beschäftigungsverhältnis (die Beschäftigungsstabilität) abnehmen. Ist dies der Fall? Die vorliegenden Untersuchungen zeichnen für Deutschland bis Mitte der 90er Jahre ein Bild geringer Veränderungen bei der Beschäftigungsstabilität im Aggregat, begleitet von deutlicheren Veränderungen für einzelne Beschäftigtengruppen (Hillmert/Kurz/ Grunow 2004; Erlinghagen/Knuth 2002; Erlinghagen 2004; Grotheer/Struck 2003; Winkelmann /Zimmermann 1998): Beschäftigung von jüngeren und älteren Arbeitnehmern wurde instabiler, diejenige in den mittleren Altersgruppen dauerhafter. Gleichzeitig sank die Beschäftigungsstabilität für Arbeitnehmer ohne Berufsausbildung geringfügig, während die ohnehin höhere von Akademikern spürbar stieg. In Bezug auf Geschlecht und Betriebsgröße gab es dagegen Angleichungstendenzen: Ende der 80er Jahre kam es zu einer tendenziellen Nivellierung von Differenzen nach Betriebsgröße, insofern die Stabilität der Beschäftigung (sowohl im Hinblick auf Betriebswechsel als auch im Hinblick auf Wechsel in Arbeitslosigkeit) in Klein- und Kleinstbetrieben zunahm, während sie in Großbetrieben nachließ. Zudem näherte sich die niedrigere zwischenbetriebliche Mobilität der Frauen derjenigen der Männer an, während ihr höheres Risiko der Mobilität in Arbeitslosigkeit nachließ. Eine weitere Nivellierung ergab sich nach beruflicher Stellung: die Mobilität von Arbeitern und einfachen Angestellten nahm ab und glich sich derjenigen der qualifizierten Angestellten an. Ab Mitte der 90er Jahre zeigen sich stärkere Dynamisierungstendenzen: Ende der 90er Jahre hat die Rate der zwischenbetrieblichen Jobwechsel in einem Maße zugenommen, das nicht allein konjunkturell bedingt war (Diewald/Sill 2004)316. Zudem hat die durch-
316
282
Anders Erlinghagen (2005).
schnittlich beobachtete Betriebszugehörigkeitsdauer 1998 gegenüber 1991 von 11,5 auf 10 Jahre abgenommen; außerdem hat in dieser Zeit der Anteil von Beschäftigungsdauern von bis zu 2 Jahren zu- und derjenige einer Dauer von über 20 Jahren abgenommen (Grotheer/Struck 2003). Insgesamt scheint es also, dass vor allem in den letzten Jahren die Dauerhaftigkeit von Beschäftigungsverhältnissen auf breiter Front nachgelassen hat. Stärkere Veränderungen als in Deutschland hat es bei der Beschäftigungsstabilität offenbar in Großbritannien gegeben: die mediane Dauer von Beschäftigungsverhältnissen hat dort, wie retrospektive Befragungsdaten zeigen, langfristig von Kohorte zu Kohorte (beginnend mit den Berufseintrittsjahrgängen 1915-1950) nachgelassen, mit Ausnahme der Eintrittsjahrgänge 1961-70 bei den Männern (Booth/Francesconi/García Serrano 1999; Hillmert 2001). Die Ergebnisse von Bevölkerungsumfragen lassen jedoch nicht eindeutig erkennen, ob im Aggregat die Beschäftigungsstabilität seit den 70er Jahren abgenommen hat (Gregg/Wadsworth 2002: 116). Auf disaggregierter Ebene zeigen sich aber eindeutig starke Veränderungen: Bei den Männern, besonders bei den älteren, haben über alle Altersund Qualifikationsstufen hinweg, lange Beschäftigungsverhältnisse an Bedeutung verloren, während der Anteil kurzer Beschäftigungsdauern zugenommen hat. Die Austrittsraten sind vor allem bei den jüngeren und älteren Arbeitnehmern angestiegen. Zudem scheint die Beschäftigungsstabilität bei den Beziehern niedriger Einkommen deutlich nachgelassen zu haben (nach Maßgabe von Austrittsraten und Ein-Jahres-Verbleibsraten). Bei Frauen mit Kindern haben dagegen lange Beschäftigungsdauern stark zugenommen, was in Kombination mit einer steigenden Frauenerwerbstätigkeit die Beschäftigungssdauer im Durchschnitt über alle Arbeitnehmer stabilisierte. In Schweden war die Beschäftigungsdauer nach der Untersuchung von Vejsiu (vgl. Vejsiu 2001) im Aggregat seit Ende der 60er Jahre bei den Männern stabil (die durchschnittliche beobachtete Beschäftigungsdauer lag 1968 bis 1991 bei etwa 10 Jahren), während sie bei den Frauen zunahm, vorwiegend bei den über 30-Jährigen, bei denen die durchschnittlich beobachtete Dauer von 6,4 auf 9,7 Jahre anstieg, wobei sich aber Ende der 90er Jahre insgesamt ein Rückgang andeutete. Hinter der Stabilität im Durchschnitt verbergen sich bei den Männern aber durchaus Wandlungstendenzen: zunächst ein Rückgang sehr kurzer zugunsten mittlerer Beschäftigungsdauern, in den 90er Jahren umgekehrt ein deutlicher Anstieg des Anteils kurzer Beschäftigungsdauern zu Lasten der mittleren. Ähnlich war auch die Entwicklung bei den Frauen in den 90er Jahren. Zudem hatte bei den Männern mit Hochschulabschluss die Beschäftigungsdauer im Vergleich zu Personen mit niedrigem allgemeinen Bildungsabschluss nachgelassen (unter Kontrolle relevanter Drittvariablen). In den 90er Jahren nahm dann die Beschäftigungsdauer derjenigen mit niedrigem Schulabschluss ab, während diejenige von Personen mit Hochschulbesuch stabil blieb und diejenige bei Personen mit weniger als 2 Jahren Gymnasiumsbesuch sogar zunahm. Die bisherigen Ergebnisse beruhen auf unterschiedlichen Daten und Maßzahlen nationaler Statistiken und sind daher nur eingeschränkt vergleichbar. Um einen besseren Vergleich der Entwicklung seit den 80er Jahren vornehmen zu können, geben wir im folgenden einige Zahlen aus mehreren international vergleichenden Untersuchungen wieder (s. Tabellen 6.40 und 6.41). Die Daten bestätigen den bisherigen Eindruck nur teilweise: nach den Zahlen von Doogan (2005) hat der Anteil langfristiger Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland und Großbritannien seit den 90er Jahren eher zugenommen (was im Falle Großbritanniens allerdings vor dem Hintergrund eines vorangegangenen Rückgangs zu sehen ist); insofern
283
ist es etwas unsicher, ob in Deutschland die Beschäftigungsstabilität im Aggregat tatsächlich nachgelassen hat. Die niedrigeren Werte in 2000 gegenüber 1992 bei Auer/Cazes (2003a) könnten auf die bessere Arbeitsmarktlage in diesem Jahr (sowohl gegenüber 1992 als auch 2002) zurückzuführen sein: bei guter Arbeitsmarktlage gibt es mehr Neueinstellungen, daher ist der Anteil kurzer Beschäftigungsdauern höher als bei schlechter Beschäftigungslage, wenn es wenig Neueinstellungen gibt. Tab. 6.40: Entwicklung der durchschnittlichen beobachteten Beschäftigungsdauern, Deutschland (gesamt), Vereinigtes Königreich, Schweden Durchschnittliche Anteil <1 J. an Anteil 10 J.+ an Anteil 10 J.+ an Beschäftigungsdauera Erwerbstätigen (%)a Erwerbstätigen (%)a Erwerbstätigen (%)b % % % % VerVerVerVerände1992 2002 1992 2000 1992 2000 1992 2000 ändeändeänderung rung rung rung D
10,7
10,5
-1,9
14,0
14,8
5,7
41,7
39,7
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36,4
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S
-
11,5
8,5*
-
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-
46,7
17,6*
-
-
-
U 8,1 8,2 1,2 15,6 19,3 23,7 31,5 33,3 5,7 28,6 32,0 11,8 K Quellen: a) Auer/Cazes (2003a: 25); b) Auswertung der Europäischen Arbeitskräfteerhebung bei Doogan (2005: 71). *im Vgl. zu 1995. Tab. 6.41: Entwicklung der beobachteten Beschäftigungsdauern in Westdeutschland und dem Vereinigten Königreich 1984(D)/1985 1989(D)/1990 1994(D)/1995 DurchDurchDurch< 1J. (%) < 1J.(%) < 1J.(%) schnitt schnitt schnitt D (West) 11,3 9,8 11,2 10,2 9,8 10,8 UK 17,7 8,3 21,2 7,8 18,6 8,3 Quelle: OECD (1997b: 140).
Überdies legen die Befunde insgesamt nahe, dass die Beschäftigungsstabilität im Durchschnitt in Großbritannien am niedrigsten und in Schweden am höchsten ist, das aber einen höheren Anteil kurzer Beschäftigungsdauern als Deutschland und eine ähnliche Instabilität neuer Beschäftigungsverhältnisse (nach Maßgabe der "failure rate", vgl. Auer/Cazes 2003a: 52) wie Großbritannien aufweist; ihnen wiederum steht ein hoher Anteil sehr langer Beschäftigungsdauern gegenüber. Insgesamt ist daher davon auszugehen, dass es in allen drei Ländern, in Großbritannien schon seit längerem, in Deutschland und Schweden vor allem in den 90er Jahren, spürbare Veränderungen bei der Beschäftigungsstabilität für bestimmte Gruppen gegeben hat. Als ebenso bedeutsam wie problematisch hervorzuheben sind hier: die Abnahme der Beschäftigungsstabilität (a) bei Männern generell und unabhängig vom Geschlecht in den unteren Einkommensklassen in Großbritannien, (b) bei älteren Arbeitnehmern in Deutschland und Großbritannien sowie (c) bei jüngeren Beschäftigten in Deutschland und Schweden. Zudem nahm auch bei niedrig qualifizierten Arbeitskräften in Deutschland die Beschäftigungsstabilität ab. Darüber hinaus ist die Zunahme kurzer Beschäftigungsdauern in allen drei Ländern bemerkenswert. Gegenläufige Entwicklungen, wie etwa die steigende Beschäftigungsstabilität in Kleinbetrieben (die quantitativ an Bedeutung gewinnen) und bei Dienstleistungstätigkeiten in Deutschland (vgl. Erlinghagen 2004) oder bei Frauen mit Kindern in Großbritannien lassen für die 284
Zukunft aber keine dramatische globale Verringerung der Beschäftigungsstabilität erwarten. Die Folgen nachlassender (objektiver) Beschäftigungssicherheit hängen auch (aber nicht ausschließlich) davon ab, ob sie sich in einer subjektiven Verunsicherung über die Dauerhaftigkeit des Arbeitsverhältnisses niederschlagen. Vergleichbare Daten für unsere drei Länder sind einmal mehr notorisch rar317; im wesentlichen beschränken sie sich auf zwei Erhebungen im International Social Survey Programme (ISSP) 1989 und 1997, in denen die beschäftigten Befragten angeben sollten, ob sie der Aussage zustimmen, dass ihr Arbeitsplatz sicher sei (Schweden nahm an der ersten Welle nicht teil). Die Prozentsätze derjenigen, welche diese Aussage ablehnten oder stark ablehnten, sind in Tab 6.42 wiedergegeben. Sowohl in Westdeutschland als auch in Großbritannien lagen die Anteilswerte 1997 deutlich über denen von 1989 – ob dies einen langfristigen Anstieg oder konjunkturelle Fluktuationen reflektiert, ist aber nicht zu beurteilen. Die höchste Beschäftigungsunsicherheit war 1997 in Großbritannien zu verzeichnen, die niedrigste in Deutschland. Tab 6.42: Prozentsatz, der der Aussage nicht zustimmt, dass "mein Arbeitsplatz sicher ist" GB D (West) S 1989 19,3 5,8 1997 28,1 15,4 19,0 Quelle: Eigene Berechnung auf Basis der Angaben in ISSP-Codebüchern für 1989 und 1997 (Zentralarchiv Köln, Katalog-Nr. 1840 und 3090).
Darüber hinaus vorliegende Daten zur längerfristigen Entwicklung in Großbritannien und Westdeutschland lassen erkennen, dass die subjektive Beschäftigungsunsicherheit weitgehend parallel zur Arbeitslosigkeit verlief (Burchell 2002; Green 2003). Interessant ist auch der Befund, dass Arbeitnehmer in Firmen, die in ausländischem Besitz sind, ebenso wie Beschäftigte in Unternehmen, die in Konkurrenz zu Wettbewerbern aus Niedriglohnländern stehen, unter Kontrolle relevanter Drittvariablen eine höhere wahrgenommene Beschäftigungsunsicherheit aufweisen (Green 2003: 21-24): zunehmende internationale wirtschaftliche Verflechtung scheint demnach unmittelbar Ängste vor Arbeitsplatzverlust zu befördern. 6.4.6
Zusammenfassung
Insgesamt stellt sich die Arbeitsmarktperformanz unserer drei Länder wie folgt dar: Es ist sinnvoll, zwei Phasen zu unterscheiden, die in etwa durch das Jahr 1990 markiert sind. In der ersten Phase ergibt sich wie erwartet für Schweden die beste Performanz in Bezug auf die Arbeitslosigkeit: das Land wies bis dahin die niedrigste Gesamtarbeitslosigkeit, im internationalen Vergleich wenig Jugendarbeitslosigkeit und eine geringe Langzeitarbeits-
317
Auer/Cazes (2003b) und OECD (1997b) ziehen Daten aus mehreren Befragungen eines privaten Umfrageunternehmens (International Survey Research) heran, deren Validität und Reliabilität aber fraglich ist (s. Burchell 2002: 64f.).
285
losigkeit auf. Zudem war die Betroffenheit von Arbeitslosigkeit auf Haushaltsebene und von Kindern niedrig und rückläufig, vermutlich aufgrund der expandierenden Frauenerwerbstätigkeit. Getrübt wird das Bild durch eine geringfügig höherer Arbeitslosigkeit von Frauen, die sich in den 80er Jahren anglich318. Vermutlich kompensierten die aktive Arbeitsmarktpolitik und die Expansion der öffentlichen Beschäftigung die Effekte des strikten Kündigungsschutzes. Sie kamen jedoch sowohl in einer zwar absolut gesehen niedrigen, im Vergleich zu den übrigen Altersgruppen aber hohen Arbeitslosigkeit der Jugendlichen wie auch in einer relativ hohen Bedeutung atypischer Beschäftigung (insbesondere Teilzeit- und befristete Beschäftigung) zum Ausdruck. Betrachtet man hingegen den Aspekt der Beschäftigungsstabilität, ist festzustellen, dass in dieser Periode die Beschäftigungsverhältnisse eine hohe und zunehmende Dauerhaftigkeit aufwiesen. Das Vereinigte Königreich wies in dieser ersten Phase bis ca. 1990 die schlechteste Bilanz unter den drei Ländern auf: mit der höchsten und beständig zunehmenden Arbeitslosigkeit insgesamt, verbunden mit den höchsten Werten bei Langzeit- und Jugendarbeitslosigkeit. Begleitet wurde diese Entwicklung von einer steigenden Furcht vor Arbeitsplatzverlust, einer abnehmenden Dauerhaftigkeit von Beschäftigungsverhältnissen, vor allem bei Männern. Des Weiteren ging der Anstieg der Arbeitslosigkeit mit einer Zunahme der Lohnspreizung und einem Zuwachs gering entlohnter Beschäftigung (weniger als zwei Drittel des Medians der Bruttolöhne) einher (vgl. OECD 2003: 44, 63). Zudem nahm auf Haushaltsebene die Arbeitslosigkeit sowie die Zahl der von ihr betroffenem Kinder stark zu. Die Bedeutung regulärer Beschäftigung ließ allmählich nach319. In dieser ungünstigen Gesamtperformanz dürfte sich die Kombination aus bis in die 80er Jahre starken Gewerkschaften und geringer Koordination und Zentralisation der Lohnverhandlungen niedergeschlagen haben. Vermutlich dank des niedrigeren Kündigungsschutzes war immerhin eine geringere Arbeitslosenquote von Frauen und eine niedrigere Arbeitslosigkeit von Jugendlichen (im Vergleich zu Männern insgesamt) als in Schweden zu beobachten. Atypische Beschäftigung, insbesondere Teilzeitarbeit und abhängige Selbständigkeit (nicht aber befristete Beschäftigung), war trotz des geringen allgemeinen Kündigungsschutzes erstaunlich weit verbreitet, vermutlich weniger aufgrund von Ausweichbewegungen der Arbeitgeber, sondern eher wegen angebotsseitiger Faktoren (schlechte Kinderbetreuungsmöglichkeiten320) und staatlichen Förderungsmaßnahmen (Existenzgründerprogramme für Arbeitslose321).
318 319 320
321
286
Das dürfte auch daran liegen, dass sich der schwedische Staat bis in die 60er Jahre am Modell des alleinverdienenden männlichen Familienernährers orientierte und sich danach auf das Doppelverdienermodell umstellte (Bosch 2004: 620). 1979 waren noch 67% der Erwerbstätigen in einer unbefristeten Vollzeitbeschäftigung, 1984 65% und 1990 62% (Deakin/Reed 2000: 139). 2000 befanden sich in England 34% der Kinder unter 4 Jahren und 60% der 4- bis unter 6-Jährigen in einer formellen (öffentlichen oder privaten) Kinderbetreuung (ohne Vorschulen). In Deutschland galt dies für 10% der unter 3-Jährigen sowie 78% der 3- bis unter 6-Jährigen, gegenüber 48% der unter 1-Jährigen bzw. 80% der 3- bis unter 6-Jährigen in Schweden (1998) (vgl. OECD 2001b: 144). Vgl. aber Kap. 6.6 zu einigen Daten, die eine bessere Versorgung von Kindern ab 4 Jahre in GB nahelegen. Vgl. Duggan (o.J.).
Die Bundesrepublik Deutschland nahm eine Mittelposition ein: Bis Mitte der 70er Jahre war die Gesamt- und Jugendarbeitslosigkeit ähnlich niedrig wie in Schweden, letztere aber seit Anfang der 80er Jahre höher als in Schweden (nachdem dies Mitte der 70er Jahre schon einmal vorübergehend der Fall gewesen war). Parallel zur Arbeitslosigkeit stieg dann auch die subjektive Beschäftigungsunsicherheit. Die Zahl der durch Arbeitslosigkeit betroffenen Haushalte und Kinder war dagegen rückläufig. Möglicherweise sind die höhere Langzeitund Frauenarbeitslosigkeit auch auf den hohen Kündigungsschutz zurückzuführen, während das duale Ausbildungssystem dessen Auswirkungen auf Jugendliche offenbar kompensiert hat. Trotz des restriktiven Kündigungsschutzes für reguläre Beschäftigung war die atypische Beschäftigung (v.a. befristete Beschäftigung und Teilzeitarbeit) relativ unbedeutend. Sie nahm jedoch bereits seit den 70er Jahren zu: 1970 hatten etwa 83% der Erwerbstätigen eine unbefristete Vollzeit-Stelle, 1980 waren es noch 80% und 1990 nur noch 74%.322 Seit den 90er Jahren hat sich das Bild erheblich gewandelt: der Entwicklungstendenz und z. T. auch den Niveaus nach wies nun Großbritannien die günstigste Arbeitsmarktlage auf, mit einem (nach dem kurzfristigen Einbruch Anfang der 90er Jahre) starken Rückgang der Arbeitslosigkeit, und zwar auch der Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit, sodass in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts das Arbeitslosigkeitsniveau insgesamt hier am niedrigsten lag und Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit sich auf einer mittleren Position bewegten (nach 2000 war hier auch die Jugendarbeitslosigkeit am niedrigsten). Parallel nahm die subjektive Beschäftigungsunsicherheit seit 1997 ab. Die Frauenarbeitslosenquote blieb dabei im Vergleich zu derjenigen der Männer deutlich günstiger, bei der relativen Jugendarbeitslosigkeit belegte Großbritannien weiterhin die Mittelposition. Dieser positive Trend dürfte vor allem auf eine bessere konjunkturelle Entwicklung als in den anderen Ländern und die Schwächung der Gewerkschaften durch die Thatcher-Regierung bereits in den 80er Jahren zurückzuführen sein323. Zudem dürfte die (verteilungspolitisch durchaus problematische) hohe Lohnspreizung zu einer Beschäftigungsexpansion im tertiären Sektor beigetragen haben. Allerdings hat die Entwicklung auch ihre Schattenseiten: Durch die Verbesserung der Beschäftigungslage änderte sich nicht die Betroffenheit von Haushalten und Kindern von Arbeitslosigkeit; atypische Beschäftigung nahm zu Lasten regulärer Beschäftigung zu (Tab. 6.43, Tab. 6.44), ebenso die Arbeitsintensität und die Verbreitung von Schichtarbeit, während sich die Abnahme der Beschäftigungsstabilität fortsetzte. Die Arbeitsmärkte der beiden anderen Länder gerieten in den 90er Jahren in eine tiefe Krise. Besonders drastisch war der Anstieg von allgemeiner Arbeitslosigkeit, Jugendarbeitslosigkeit und Langzeitarbeitslosigkeit ab 1992 in Schweden, dem eine deutliche Erholung gegen Ende der 90er Jahre folgte (nur in eingeschränktem Maße bei Jugendlichen)324. Allerdings war das Niveau der Arbeitslosigkeit dank der aktiven Arbeitsmarktpolitik zu keinem Zeitpunkt das höchste in den drei Ländern. Zu vermuten ist, dass sich
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Schätzung der Zukunftskommission der Freistaaten Bayern und Sachsen (Miegel/Wahl 1996: 64). Es sei noch einmal betont, dass von starken Gewerkschaften dieser negative Effekt nur zu erwarten ist, wenn sie nicht in koordinierte und zentralisierte Lohnfindungsprozesse eingebunden sind. Allerdings wäre die Arbeitslosigkeit in Schweden wahrscheinlich ohne eine Expansion der Hochschulen und Stipendienprogrammen für Arbeitslose weniger stark zurückgegangen (Björklund 2000: 157).
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hier schon länger vorhandene Erosionstendenzen im schwedischen Tarifaushandlungssystem (ablesbar am abnehmenden Zentralisations- und Koordinationsgrad, vgl. Tabelle 6.29) ebenso wie fiskalische Grenzen der Beschäftigung im öffentlichen Sektor325 bemerkbar machten. Es kam zu einem spürbaren Anstieg der Arbeitslosigkeit auf Haushaltsebene und bei der Betroffenheit von Kindern, die aber im Niveau noch vergleichsweise niedrig blieben, sowie einem moderaten Anstieg der (nach wie vor sehr geringen) Lohnspreizung (OECD 2003: 44). Die Arbeitslosigkeit bei Frauen war nun geringer als bei Männern, möglicherweise weil Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst (wo schwedische Frauen überwiegend arbeiten) sicherer sind als im Privatsektor. Bei der Gesamtarbeitslosigkeit nahm Schweden jetzt eine Mittelposition ein (mit deutlichem Vorsprung vor Deutschland), die Jugendarbeitslosigkeit blieb am höchsten, und die relative Arbeitslosigkeit junger Arbeitnehmer war und ist weiterhin die höchste (wenn sie sich auch leicht verbesserte). Vermutlich machten sich hier die ungünstigen Folgen eines restriktiven Kündigungsschutzes trotz einiger Lockerungsmaßnahmen und der Deregulierung atypischer Beschäftigung bemerkbar. Letzteres begünstigte eine deutliche Zunahme prekärer Beschäftigung (Tab. 6.44), von der wiederum vor allem junge Arbeitnehmer betroffen waren und sind; gleichzeitig kam es zu einer Polarisierung bei der Beschäftigungsdauer. Die Unternehmen setzten nicht nur auf externe, sondern auch auf interne Flexibilisierung, die sich in einer Zunahme der Arbeitsintensität niederschlug. Auch in Westdeutschland kam es zu einem erheblichen Anstieg der Arbeitslosigkeit und Jugendarbeitslosigkeit bei hoher Langzeitarbeitslosigkeit326. Trotz eines besseren konjunkturellen Umfeldes gegen Ende der 90er Jahre kam es kaum zu einer Erholung und aktuell sogar wieder zu einer Verschlechterung (besonders bei den Jugendlichen). Seit Mitte der 90er Jahre ist die Arbeitslosigkeit somit in Deutschland am höchsten. Gleichzeitig nahmen (v.a. bei jüngeren Arbeitnehmern) atypische zu Lasten regulärer Beschäftigungsverhältnisse ebenso wie irreguläre Arbeitszeiten deutlich zu; die Beschäftigungsstabilität nahm (vor allem in den letzten Jahren) ab, und die Arbeitsintensität erhöhte sich. Immerhin blieb die Zunahme der arbeitslosen Haushalte und der Betroffenheit von Kindern moderat. Tab. 6.43: Prozentanteil der in Teilzeit, befristet und selbständig (o. Beschäftigte) Tätigen an allen Erwerbstätigen, 15-64 Jahre (jew. 2. Quartal) Jahr D (ab 1991 gesamt) UK S 17,74 28,46 1984 24,58 34,44 1996 28,47 34,54 30,00 2000 31,55 36,39 36,83 2004 Quellen: eigene Berechnungen auf Basis von EUROSTAT-Daten.
Die Jugendarbeitslosigkeit war zudem bis auf die Jahre nach der Jahrtausendwende weiterhin insgesamt am niedrigsten und die relative Jugendarbeitslosigkeit (gemessen an der Gesamtarbeitslosigkeit) hat sich nicht wesentlich verändert (sie ist allenfalls etwas ge-
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Die Beschäftigung im öffentlichen Dienst ging Anfang der 90er Jahre stark zurück, vgl. Abb. 4.13. Bei Berücksichtigung der sogenannten verdeckten Arbeitslosigkeit wäre der Anstieg der Arbeitslosigkeit noch stärker ausgefallen, vgl. Fuchs/Schettkat (2000: 213).
sunken), d. h. das duale Berufsausbildungssystem erleichtert weiterhin die Integration neuer Arbeitskräfte in das Erwerbssystem. Zudem kam es zu einer Angleichung der Arbeitslosigkeit nach Geschlecht, im Wesentlichen durch einen schnelleren Anstieg der Arbeitslosigkeit bei den Männern – was ein Hinweis auf einen sinkenden Schutz von Normalarbeitsverhältnissen vor Entlassung sein könnte. Die Lohnstreuung blieb in Deutschland weitgehend stabil, ebenso der Anteil der gering entlohnten Arbeitnehmer (OECD 2003: 44, 63). Tab. 6.44: Prozentanteil der Arbeitnehmer mit einer unbefristeten Vollzeitbeschäftigung an allen Erwerbstätigen, 15-64 Jahre (jew. 2. Quartal) Jahr D (ab 1991 gesamt) UK S 76,0 69,0 1984 71,8 64,3 1996 68,7 64,5 67,6 2000 65,4 63,0 62,0 2004 Quellen: eigene Berechnungen auf Basis von EUROSTAT-Daten.
Zusammenfasssend lässt sich also feststellen, dass bezüglich der Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen Schweden bis 1990 – vor allem wegen seiner anhaltend niedrigen Arbeitslosenrate – eindeutig am günstigsten abschneidet, Deutschland mit erheblichem Abstand an zweiter und Großbritannien an dritter Stelle einzustufen ist. In allen drei Ländern nimmt die Prekarisierung aber nach 1970 zu. Weniger eindeutig ist die Situation seit Anfang der 90er Jahre einzuschätzen. In Großbritannien und Schweden geht die Arbeitslosigkeit um ca. die Hälfte zurück, einige andere Prekarisierungsindikatoren legen dagegen zu. In Deutschland bleibt die Arbeitslosigkeit, insbesondere die Langzeitarbeitslosigkeit auf einem hohen Niveau. In anderen Prekarisierungsdimensionen schneidet es aber sowohl dem Niveau wie auch dem Trend nach besser ab als die beiden anderen Länder. Auch wenn es kein Modell für die Gewichtung und Addition der verschiedenen Prekarisierungseffekte gibt, führt eine Zusammenschau der verschiedenen Prekarisierungsdimensionen wohl doch zu dem Ergebnis, dass das Prekarisierungsniveau in allen drei Ländern um die Jahrtausendwende höher liegt als zu Beginn unserer Untersuchungsperiode in den 1960er und 1970er Jahren. Ob mit einem weiteren Zuwachs an Prekarität gerechnet werden muss, ist freilich eine offene Frage327. 6.5
Von der Marktwirtschaft zur Marktgesellschaft?
Diese Frage ist von vielen Sozialwissenschaftlern und anderen Kommentatoren in jüngerer Zeit immer wieder gestellt und häufig mit Ja beantwortet worden. Wir beschränken uns bei dieser Problematik auf diejenigen Aspekte, die für unser Thema der Gewaltkriminalität besonders wichtig zu sein scheinen. Dazu gehört (in Abschn. 6.5.1) die Frage, in welcher
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So verweist z. B. Doogan (2005) darauf, dass im Durchschnitt von 12 EU-Ländern in den 90er Jahren die Beschäftigungsstabilität in expandierenden Dienstleistungsbranchen und Berufen mit wachsender Bedeutung (Dienstleistungsberufe, Manager, Professionen, Techniker) zugenommen hat.
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Weise die Globalisierung der Märkte die staatlichen Regulierungskompetenzen einschränkt, vor allem, wenn es darum geht, die bisherigen wohlfahrtsstaatlichen Ordnungen zu bewahren oder neu zu gestalten. Ein weiterer Aspekt, der mit der Globalisierung zu tun hat, aber nicht allein von ihr bestimmt wird, ist die zunehmende Kommerzialisierung (Monetarisierung) zentraler Lebensbereiche und die damit einhergehende verschärfte, generalisierte Wettbewerbsorientierung. Mit diesem Thema knüpfen wir (in Abschn. 6.5.2) an Habermas‘ These von der "Kolonialisierung der Lebenswelt" durch die Ökonomie an. In Abschn. 6.5.3 vertiefen wir bestimmte Aspekte der zunehmenden sozialen Ungleichheit und fragen u.a., ob sie auf dem Wege einer Rehierarchisierung von Statusbeziehungen kriminogene Potentiale wiederbelebt, die Durkheim einst den kollektivistisch strukturierten Gesellschaften zuschrieb. In Abschn. 6.5.4 schließlich greifen wir das Konzept der "Dominanzideologie" bzw. des "hierarchischen Selbstinteresses" auf. Mit ihm wird ein Deutungsmuster beschrieben, das wir als Korrelat der gesellschaftlichen Entwicklungsprozesse betrachten, die einen desintegrativen Individualismus fördern. 6.5.1
Globalisierungsprozesse und staatliche Regulierungskompetenzen
Phasen einer raschen Ausdehnung des internationalen Handels mit Gütern und Dienstleistungen hat es im Verlauf der Geschichte immer wieder gegeben (s. Osterhammel/ Petersson 2003). Ein besonders starker Globalisierungsschub fand Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts statt. Die internationalen Kapital- und Warenströme erreichten bis zum Ersten Weltkrieg ein Volumen, das im Verhältnis zur Größe der damaligen Volkswirtschaften noch über dem gegenwärtig (wieder) erreichten Niveau lag (Hertner 2002: 40). Der Globalisierungsschub der letzten zwanzig Jahre ist vor allem durch seine technologische Basis charakterisiert, mit der die Geschwindigkeit des Wissens- und Informationstransfers enorm gesteigert werden konnte328. Infolgedessen laufen die Innovations- und Produktzyklen heute erheblich rascher ab; wachsende Kapitalmengen werden immer kurzfristiger (virtuell, aber mit realen Konsequenzen) von einer Region oder einem Ort der Erde zum anderen bewegt329. Zudem werden die internationalen Transaktionen in deutlich größerem Umfang als früher innerhalb multi-nationaler Unternehmen vollzogen. Castells (2001: 108 f.) betont ebenfalls die Geschwindigkeit der Transaktionen und den Netzwerk-Charakter der globalen Wirtschaft, die trotz aller Asymmetrien und Regionalisierungstendenzen zwar eine Einheit bildet, deren hektische Dynamik aber von keinem Zentrum aus gesteuert werden kann. Zwar wurde der Globalisierungsschub, der in
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Zur grundsätzlichen Bedeutung technologischer Stile innerhalb einer Theorie sozialen Wandels siehe Bornschier (1988). Dabei sind die entscheidenden Informationen keinesfalls jederzeit allgemein zugänglich – worauf die gelegentlich publik werdenden „Insidergeschäfte“ hinweisen. Selbst für die Wissenschaft stehen zuverlässige Informationen oft nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung. „Der Verzicht auf das ehemalige staatliche Erfassungsmonopol wird dann zur Farce, wenn das Abbild wesentlicher Bereiche der postmodernen Weltwirtschaft ausschließlich auf Statistiken basiert, die private Insider für private Insider erarbeitet haben. Empirische Forschung zu den innovativen Finanzgeschäften wird dann zwangsläufig zu dem, was sie eigentlich erforschen soll: zur Spekulation“ (Albert et al. 1999: 290).
den 70er Jahren einsetzte, durch politische Entscheidungen, die vor allem im Interesse der USA lagen, in Gang gesetzt bzw. beschleunigt; dennoch ist auszuschließen, dass er gezielt durch politische Entscheidungen wieder rückgängig gemacht oder in eine andere Richtung gelenkt werden könnte. In diesem Netzwerk sind die Nationalstaaten eine Teilmenge der Akteure,330 die sich im Wettbewerb miteinander befinden; sie konkurrieren um die Gunst der international agierenden Investoren und Rating-Institute; sie können Bündnisse bilden und Absprachen treffen, Konkurrenten zeitweilig in Schach halten oder mit Anreizen überbieten, aber "souverän" gegenüber dem globalen Markt sind sie nicht mehr. "Letztlich führt die Verlagerung weltwirtschaftlicher Aktivitäten in die Grauzonen deterritorialer Kapitalmärkte zu einer Neudefinition des Hegemoniebegriffes ... Auf den Kapitalmärkten wird der Staat weltweit immer mehr zu einer Residualkategorie. Hier diagnostizieren wir den eigentlichen Hegemonieverlust" (Albert et al. 1999: 290). Hoogvelt (1997: 131) registriert für die 1990er Jahre eine "andauernde und tatsächlich in manchen Fällen anscheinend sogar verstärkte Ausübung von Souveränität und regulierendes Eingreifen durch nationale Regierungen. Und dennoch läuft ein Großteil dieser Regulierung am Ende auf nichts anderes hinaus als auf eine Regulierung für die Globalisierung" (zitiert nach M. Castells 2001: 148). Einige Etappen dieses Weges seien kurz in Erinnerung gerufen: 1971 wurde das Bretton-Woods-Abkommen auf Betreiben der USA gekündigt; die meisten Staaten verloren die Kompetenz, die Wechselkurse ihrer Währungen festzulegen, und damit wesentliche Spielräume für die eigene Wirtschafts- und Sozialpolitik. Keynes hatte einst gewarnt, mit der Freigabe der Wechselkurse werde die Demokratie gefährdet. Diese Warnung mag übertrieben gewesen sein, verdeutlicht aber das Gewicht der damals getroffenen politischen Entscheidung. 1974 wurden in den USA die Kontrollen für den grenzüberschreitenden Kapitalverkehr faktisch abgeschafft, Großbritannien hob die Devisenkontrollen 1980 auf. "Die vollständige Deregulierung der Finanzmärkte in der Londoner City im Oktober 1987 eröffnete eine neue Ära finanzieller Globalisierung" (Castells 2001: 147). Deutschland steht in dem Ruf, bei der Liberalisierung seiner Kapitalmärkte eher zögerlich vorgegangen zu sein. Die internationalen Statistiken und Kennziffern zeigen aber ein etwas anderes Bild. Nach Quinn (1997) liegen die USA und die Bundesrepublik bei der Liberalisierung von Finanztransaktionen bis 1978 deutlich vor Großbritannien und Schweden; erst 1979 (Beginn der Thatcher-Regierung) schließt Großbritannien auf; Schweden erst 1990. Nach einem neueren, von Nancy Brune (2004; persönliche Mitteilung) vorgelegten 12-Punkte"Overall Capital Account Openness Index" (CAOI) ergibt sich für unsere drei primären Vergleichsländer Folgendes: Deutschland liegt bis 1979 mit 8 Punkten weit vor Schweden (1 bis 2 Punkte) und Großbritannien (0 Punkte). 1980 geht Großbritannien mit 9 Punkten in Führung und bleibt auf diesem Niveau bis 2003 (letzter Eintrag); 1999 zieht Deutschland aber mit einem Sprung auf 11 Punkte wieder vorbei. Schweden nähert sich stufenweise,
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Dazu gehören Unternehmen, deren Jahresumsätze das Etatvolumen der Bundesrepublik Deutschland (rund 250 Milliarden €) überschreiten. Exxon zum Beispiel soll im Jahre 2005 einen Umsatz von 371 Milliarden Dollar erreicht und dabei einen Gewinn von rund 35 Milliarden Dollar erzielt haben, den es zum größeren Teil nicht reinvestiert, sondern für Dividenden und (nominell die Eigenkapital-Rendite steigernde) Aktienrückkäufe verwandt hat (Süddeutsche Zeitung, 31. 1. 2006, S. 20)
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1989 und 1992, dem Niveau der beiden anderen Länder und wird bis 2003 mit einem Wert von 7 Punkten notiert. Die Relationen verschieben sich ein wenig, wenn man Inflows und Outflows getrennt betrachtet; auf diese Details wollen wir hier aber nicht eingehen. Die entscheidende Dynamik geht von den internationalen Finanzmärkten aus331. Zwar nimmt der internationale Handel schon seit 1950 exponentiell stark zu (wesentlich stärker als das weltweite Bruttosozialprodukt), wird aber vom Devisenhandel, der zunächst 1983 und nochmals 1987 sprunghaft beschleunigt, bei weitem übertroffen (Huber 1998). Das Volumen dieses Handels wird anschaulich, wenn man die grenzüberschreitenden Transaktionen in Anleihen und Beteiligungen ("cross-border transactions in bonds and equities") als Prozentanteil des nationalen BIP ausdrückt (wir zitieren hier die Angaben aus Castells 2001: 109): 1975 werden für die USA 4,2 % und für die Bundesrepublik 5,1 % registriert (keine Angabe für Großbritannien). 1990 liegen diese Werte bei 89,0 (USA) und 57,3 (BRD) Prozent; für Großbritannien werden 690,1 Prozent notiert (nach 367,5 in 1985). Deutschland macht einen riesigen Sprung in der ersten Hälfte der 90er Jahre. Schon in den ersten neun Monaten des Jahres 1996 wächst das Volumen auf 196,8 Prozent (USA 151,5 %; keine Angaben für GB). Die Bewegungen auf den Finanzmärkten werden zunehmend von den Investment-Fonds (IF) bestimmt, deren Vermögen zwischen 1990 und 2000 global stark gewachsen ist. "Gemessen als Anteil am Brutto-Sozialprodukt wuchsen die Vermögen der IF in den USA von 127 auf 195 Prozent, in Großbritannien von 131 auf 226 Prozent, in Deutschland von 34 auf 80 Prozent" (Windolf 2005: 35). Dieses Geld wird vor allem eingesetzt, um kurzfristige Profite zu erzielen, nicht um langfristigen Unternehmensstrategien zu folgen. Für 1960 wurde an der New Yorker Börse für Aktien eine "Umschlaghäufigkeit" errechnet, der zufolge die Besitzer ihre Aktien durchschnittlich 8,3 Jahre hielten; schon 1987 waren es nur noch 1,4 Jahre (ebd., S. 24)332. Dabei ist das Aktienvermögen relativ zum Gesamtvermögen zwischen 1990 und 2000 in den meisten Ländern beträchtlich gewachsen: "In den USA von 25 auf 51 Prozent, in Deutschland von 9 auf 28 Prozent, in den Niederlanden von 14 auf 43 Prozent. In Großbritannien ist dieser Anteil bei ca. 67 Prozent stabil geblieben" (ebd., S. 35). Der Tagesumsatz der Devisenmärkte erreichte 1998 weltweit 1,5 Bill. US-Dollar, lag also schon 10 % über dem britischen BIP, inzwischen sollen es bereits zwei Billionen sein. Der spekulative Charakter dieses Marktes wird besonders deutlich333, wenn man den Jahresumsatz in Devisen zu dem wesentlich geringeren Volumen der weltweiten Exporte ins Verhältnis setzt: 1979 lag dieser Quotient bei 12:1, 1996 bei 60:1 (Castells 2001: 110). Allein der Marktwert der 1997 gehandelten Derivate (also komplexer finanzieller Produkte, die eigens für Spekulationszwecke geschaffen werden) betrug das Zwölffache des globalen BIP (ebd., S. 111 f.). Die Dominanz der Finanzmärkte löst die direkte Verbindung von materialer Produktion und "Wertschöpfung" weitgehend auf; dazwischen schieben sich die
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„Die Kapitalströme werden zur selben Zeit global und gegenüber dem tatsächlichen Wirtschaftsverlauf zunehmend autonom. Am Ende sind es die Kapitalbewegungen auf den global voneinander abhängigen Finanzmärkten, die das Schicksal der gesamten Wirtschaft bestimmen“ (Castells 2001: 113). Die von Windolf angegebene Internet-Adresse ist nicht mehr abrufbar; neuere Daten stehen uns nicht zur Verfügung. Die immensen Spekulations- und Betrugsmöglichkeiten, die dieser fast unbeaufsichtigte Markt bietet, schildert ein Artikel von Heike Buchter (Die Zeit, 2. 2. 2006, S. 33); siehe auch Windolf (2005: 33 f.).
"Erwartungen" von Spekulanten, die sich u. a. auf "Bewertungen" privater RatingAgenturen (wie Standard & Poor‘s oder Moody‘s) stützen, die nicht nur Unternehmen, sondern auch ganze Volkswirtschaften nach bestimmten Kriterien bewerten334. Hinzu kommen Äußerungen von bestimmten Funktionsträgern (wie Finanzminister und Notenbankchefs), ad hoc interpretierte politische Ereignisse, die "Informationsturbolenzen" auslösen und das "Herdenverhalten" der Spekulanten auf Trab bringen. Castells vermutet, dass sich der Marktwert von Unternehmen nicht nur zunehmend von deren "realen" Werten löst, sondern zunehmend auch von deren tatsächlich erzielten Erträgen, bspw. in Form von Gewinnen und Dividenden, abkoppelt. Als Indiz wertet er, dass selbst von den hoch profitablen US-Unternehmen in den 90er Jahren nur etwa ein Drittel Dividenden zahlten, gegenüber fast zwei Dritteln 1970 (ebd., S. 166). Ein weiteres Indiz sind die zum Teil grotesken Wertsteigerungen (im Aktienkapital), die einige Internet-Firmen und Unternehmen aus dem Sektor der Informationstechnologie innerhalb kurzer Zeit erzielten. So stieg der Marktwert von "Dell Computers" zwischen 1995 und 1999 um neuntausendvierhundertzwei Prozent; Microsoft konnte seinen Wert in der gleichen Zeit immerhin noch mehr als Verzehnfachen (ebd., S. 168). Ein weiteres Beispiel: "America Online (AOL) mit 10.000 Beschäftigten und Gewinnen von 68 Mio. US $ (wurde) im vierten Quartal 1998 mit 66,4 Mrd. US $ bewertet, was fast das Doppelte des Gesamtwertes des Aktienkapitals von General Motors von 34,4 Mrd. US $ war, und das, obwohl General Motors 600.000 Menschen beschäftigte und Quartalseinnahmen von 800 Mio. US $ verbuchen konnte" (ebd., S. 161). Statt der realen Erträge und der tatsächlichen Rentabilität bestimmt die erwartete Zunahme des Aktienwertes die Kalkulationen der Anleger (ebd., S. 169). "Wagemutige Finanzinvestoren ... schaffen Kapital aus Kapital und steigern den Nominalwert exponentiell – während sie periodisch einen Teil dieses Wertes im Lauf von ‚Marktkorrekturen‘ wieder vernichten" (ebd., S. 113). Castells bewertet diese Spekulationsspiralen in ökonomischer Hinsicht nicht grundsätzlich negativ (siehe S. 162), weist aber andererseits selbst auf die "Zerstörungskraft" hin, "die der Flüchtigkeit der globalen Ökonomie innewohnt" (ebd., S. 143). Diese strukturell angelegte Instabilität verursachte z. B. 1997/98 in einigen asiatischen Ländern (wie Thailand, den Philippinen oder Indonesien) eine Finanzkrise, die große Teile des eben erst erworbenen Reichtums vernichtete, Arbeitslosigkeit und Armut sprunghaft ansteigen ließ und in Indonesien gar einen Prozess der De-Industrialisierung und De-Urbanisierung einleitete. Legendär geworden ist der Großspekulant George Soros, der Anfang der 90er Jahre gegen das britische Pfund wettete, dabei nicht nur eine Milliarde Dollar gewonnen haben soll, sondern die Regierung auch noch zwang, das britische Pfund aus dem europäischen Wechselkurssystem herauszunehmen. Die globalisierte Wirtschaft fördert (zumindest in der jetzigen Phase) nicht nur regionale Ungleichgewichte, sondern auch die soziale Polarisierung in den ökonomisch fortgeschrittenen Ländern, z. B. dadurch, dass die Anzahl der Arbeitsplätze im mittleren
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Die Süddeutsche Zeitung brachte am 21. 9. 05 einen Kurzartikel mit der Überschrift „Standard & Poor‘s droht Deutschland“: Falls Deutschland nicht bald eine striktere Haushaltspolitik durchsetze, die Sozialsysteme nicht reformiere und die Strukturreformen nicht fortsetze, sei mit einer Herabstufung seiner Kreditwürdigkeit zu rechnen. Dies würde bedeuten, dass Deutschland für seine Kredite höhere Zinssätze akzeptieren müsste als bisher, was eine Konsolidierungspolitik zusätzlich erschwerte.
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Qualifikationsbereich tendenziell reduziert wird, während ihre Zahl sowohl im hohen als auch im niedrigen Qualifikationsbereich ansteigt (ebd., S. 285). Insgesamt scheint die Segmentierung der Arbeitsmärkte zuzunehmen, was, wie einige Studien darlegen, die Gewaltkriminalität fördern kann (s. Crutchfield 2002, Crutchfield/Pitchford 1997; vgl. auch oben Kap. 6.4). Windolf charakterisiert den Finanzmarkt-Kapitalismus u. a. wie folgt: a)
"(A)uf den Finanzmärkten werden Zahlungsversprechen, d. h. fiktives Kapital gehandelt. Diese besondere ‚Ware‘ schafft eine spezifische Gelegenheitsstruktur für Opportunismus und ‚moral hazards‘ ... (D)ie anarchische Konkurrenz des Finanzmarktes verstärkt die Probleme des Opportunismus. Die Konkurrenz treibt die Akteure dazu, ihr Überleben durch Strategien und Geschäftspraktiken zu sichern, die jenseits der Legalität liegen ... (D)ie Investment-Fonds operieren direkt unter den spezifischen Bedingungen der Aktienmärkte. Als die ‚neuen‘ Eigentümer der großen Unternehmen können sie ‚property rights‘ geltend machen und eine Anpassung der Unternehmen an die operatorische Logik der Finanzmärkte erzwingen. Damit transferieren sie den Opportunismus der Finanzmärkte in die Unternehmen" (Windolf 2005: 34). b) "(Auf den globalen Finanzmärkten herrscht) eine mehr oder weniger vollständige Konkurrenz. Diese Konkurrenz wurde ... auf den Güter- und den Arbeitsmarkt übertragen ... Die Folgen einer zunehmenden Öffnung von Marktchancen waren jedoch paradox. Wir beobachten nicht eine Abnahme, sondern eher eine Zunahme sozialer Ungleichheit" (ebd., S. 53). c) Die Zunahme der Ungleichheit wird nicht einmal durch höhere Wachstumschancen kompensiert. "Das Regime des Finanzmarkt-Kapitalismus bewirkt eine tendenzielle Erhöhung der Kapitalkosten (hohe Eigenkapital-Rendite). Unternehmen, die zwar profitabel sind, die exorbitanten Rendite-Ziele jedoch nicht erreichen können, müssen verkauft oder geschlossen werden. Diese Maxime der Investment-Fonds wirkt tendenziell nicht wachstumsfördernd, sondern eher wachstumshemmend" (ebd., S. 53). Auch Christoph Deutschmann sieht den Finanzmarkt-Kapitalismus langfristig als Wachstumshemmnis: "Zum einen wird eine übermäßige Akkumulation finanzieller Vermögen gefördert, zum zweiten wird ein eher ungünstiges Umfeld für reale wirtschaftliche Innovationen geschaffen, zum dritten werden die Regierungen und Zentralbanken zu einem restriktiven fiskal- und geldpolitischen Kurs genötigt" (Deutschmann 2005: 58). Welche Folgen ergeben sich aus der Globalisierung der Märkte für die Handlungskompetenzen nationaler Regierungen und Parlamente? Die Forschungsliteratur zu dieser Frage ist zu umfangreich und komplex, um hier zusammenfassend dargestellt werden zu können.335 Wir konzentrieren uns deshalb auf die Frage, welche Restriktionen sich für die
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Einen guten Einblick vermittelt die Studie von Garrett (1995), die zeigt, dass eine „sozialdemokratische“ Kompensationspolitik zwischen 1970 und 1990 durchaus erfolgreich sein konnte, allerdings unter
Steuerpolitik ergeben, da in vielen Politikbereichen – nicht zuletzt bei der Gestaltung der sozialen Sicherungssysteme – die Regulierungsfähigkeit des Staates auf dessen Recht beruht, Steuern und andere Abgaben zu erheben. Es lässt sich zunächst einmal zeigen, dass das Steueraufkommen relativ zum BIP in den ökonomisch fortgeschrittenen Ländern trotz der Deregulierung der Kapitalmärkte seit 1970 nicht generell zurückgegangen ist, auch nicht bei den Unternehmenssteuern (Brune et al. 2001: 26). Daraus lässt sich jedoch nicht schließen, dass die Spielräume für eine staatliche Umverteilungspolitik nicht geschmälert worden wären. Zunächst ist daran zu erinnern, dass die Einkommensungleichheit seit Mitte der 70er Jahre in den OECD-Staaten zugenommen hat (s. Kap. 6.2.3) und die Generosität der individuellen sozialstaatlichen Hilfeleistungen rückläufig sein muss, wenn die Zahl der Hilfsbedürftigen zunimmt, das Finanzierungsvolumen aber bestenfalls gleich bleibt oder, gemessen am BIP sogar rückläufig ist. Außerdem ist die sozialdemokratische Kompensationspolitik, die die sozial polarisierenden Effekte globalisierter Kapitalmärkte mindern sollte (und dies zunächst auch erfolgreich getan hat) mit wachsenden Haushaltsdefiziten und Zinssätzen belastet worden (s. Garrett 1995). Drittens ist zu beachten, dass die Spitzensteuersätze bei den Unternehmenssteuern deutlich gesenkt wurden – zugunsten einer Ausweitung der Bemessungsgrundlage (s. oben, Kap. 4), was letztlich bedeutet, dass die Möglichkeiten, mit Steuern zu steuern, eingeschränkt worden sind. (Der Endpunkt dieser Entwicklung wäre der Einheitssteuersatz für alles und jeden.) Die Entwicklung der Einkommens- und Unternehmenssteuern in den fortgeschrittenen Industriestaaten ist von Steffen Ganghof (2005: 49ff.) zusammenfassend dargestellt worden. Bis Mitte der 80er Jahre wurden die einbehaltenen Unternehmensgewinne in 21 OECD-Ländern durchschnittlich mit etwa 50 % Steuern belastet, gleichzeitig war die Steuerbasis relativ schmal, da Investitionen durch weit gefächerte selektive Anreize (z. B. beschleunigte Abschreibung bei Wirtschaftsgütern) gefördert wurden. "Steuerreformen in Großbritannien (1984) und in den USA (1986) gaben den Startschuss für einen Wettlauf um niedrigere Körperschaftssteuersätze, der bis heute anhält"; bis zum Jahre 2003 sank der durchschnittliche Unternehmenssteuersatz auf 32 %. Zwar war deutlich geworden, dass die großzügigen Investitionsanreize Marktprozesse allzu stark verzerrten und deshalb reduziert werden sollten; doch zeigt Ganghof, dass der Steuerwettbewerb als eine zentrale Triebkraft der Steuersatzsenkungen anzusehen ist. Dies ist gelegentlich mit dem Hinweis bestritten worden, dass der Wettbewerb zu einer Konvergenz der Steuersätze führen müsse, dass aber die Variation der Steuersätze in den fortgeschrittenen Industriestaaten nicht zurückgegangen sei. Ganghof verweist dagegen auf die seit Ende der 80er Jahre stark angestiegene positive Korrelation zwischen der Bevölkerungsgröße und der Höhe der Steuersätze; genau dies habe die Theorie des asymmetrischen Steuerwettbewerbs vorhergesagt: "Einem kleinen Land fällt es leichter, die Steuersätze zu senken, weil die eigene Steuerbasis relativ
Inkaufnahme höherer Zinsniveaus, was den längerfristigen Erfolg dieser Politik wiederum in Frage stellt. Auch hier haben wir es also wieder mit dem Problem zu tun, dass kausale Zusammenhänge schwierig zu identifizieren sind, da die entsprechenden Konstellationen oft einer langfristigen Dynamik unterliegen, die über eine aktuell gegebene Untersuchungsperiode häufig hinausreicht.
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klein ist im Vergleich zu der, die es durch einen niedrigen Steuersatz importieren kann" (ebd., S. 51). Was bedeutet der Wettbewerb bei der Körperschaftssteuer für die Steuersätze beim persönlichen Kapital- oder Arbeitseinkommen? Für den Staat entsteht hier ein Dilemma: Wenn die Steuer auf persönliche Einkommen nicht ebenfalls gesenkt wird, könnte dies Steuerzahler mit persönlichem Kapitaleinkommen dazu anregen, "die Form der Kapitalgesellschaft (zu) benutzen, um einen Teil ihrer Kapitaleinkommen von der höheren und progressiven Besteuerung in der persönlichen Einkommensteuer abzuschirmen" (ebd.). Die Senkung der persönlichen Einkommensteuer würde dagegen dem Gleichheitsprinzip Genüge tun, andererseits aber das Gesamtsteueraufkommen erheblich reduzieren. Auf diese Weise entsteht eine Tendenz weg vom Prinzip der "synthetischen" hin zum Prinzip der "dualen" Einkommensteuer: niedrige, proportionale Sätze bei der Köperschaftssteuer und der Besteuerung der persönlichen Kapitaleinkommen, höhere Sätze bei der Besteuerung des Einkommens, das der relativ wenig mobilen Arbeitskraft zufließt. "Die Festlegung der Körperschaftssteuersätze folgt in großem Maße der ökonomischen Logik des internationalen Steuerwettbewerbs. Die Festlegung der (Spitzen-)Steuersätze der persönlichen Einkommensteuer folgt dagegen viel stärker einer innerstaatlichen, eher politisch bestimmten Logik, für die das historisch gewachsene Niveau sozialstaatlicher Absicherung und somit auch das Niveau der Steuer- und Abgabenbelastung des Faktors Arbeit von zentraler Bedeutung ist" (ebd., S. 54). Dennoch begrenzt auch hier der internationale Wettbewerb die verfügbaren Optionen politischer Gestaltung. Wenn die Unternehmenssteuern gesenkt werden, wird es schwieriger, die persönlichen Einkommenssteuern nicht auch zu senken oder gar zu erhöhen. Wenn der technologische und ökonomische Wandel die Einkommensungleichheit wachsen lässt, steigen für die "Besserverdienenden" in den konservativen und sozialdemokratischen Wohlfahrtsordnungen die Anreize, aus den bestehenden sozialen Sicherungssystemen zugunsten privater Versicherungen auszusteigen. Die wohlfahrtsstaatliche Ordnung, die sich in Deutschland herausgebildet hat, ist besonders schlecht vereinbar mit den Strukturen des internationalen Wettbewerbs um Arbeitsplätze. Gleichzeitig ist sie – im Verein mit dem hohen Grad an institutioneller Machtteilung (s. vor allem die Spezifika des deutschen Föderalismus) – besonders reformresistent (wie schon in Kap. 6.2 dargestellt). Dringend müssten nicht die Nettolöhne, sondern die Bruttolöhne in den niedrigen Lohngruppen reduziert werden; d. h., die Sozialabgaben (Lohnnebenkosten) müssten deutlich gesenkt und die Besteuerung der höheren Arbeitseinkommen (und der geerbten Vermögenswerte) entsprechend angehoben werden – was derzeit in Deutschland offenkundig politisch nicht durchsetzbar ist: die "Linken" wollen sich mit der von der globalisierten Wirtschaft erzwungenen niedrigen Besteuerung des Kapitals nicht abfinden336, die neoliberal Orientierten wollen auch die Besteuerung der hohen Arbeitseinkommen mindern.
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Was insoweit verständlich ist, als das duale Steuersystem langfristig die Ungleichheit anwachsen lässt, da auch bei progressiver Besteuerung die höheren Arbeitseinkommen mit höheren Anteilen kapitalisiert werden können als die niedrigeren Einkommen. So z. B. betrug der Anteil des Kapitaleinkommens am Gesamteinkommen der wohlhabenden Haushalte (oberstes Quintil der Einkommensskala) im Jahre 1991 in Schweden 14,0 %, im Jahre 1999 schon 18,5 %; bei den niedrigen Lohngruppen waren es dagegen 5,0
Aber auch das sozialdemokratische Modell des Wohlfahrtsstaates gerät unter starken Änderungsdruck, wie sich anhand verschiedener Reformmaßnahmen in Schweden während der 1990er Jahre zeigen lässt. Rothstein (2001a: 178 ff.) zufolge ist die Erosion des von ihm so genannten "organisierten Sozialkapitals" in Schweden allerdings nicht der Globalisierung zuzuschreiben; vielmehr liege ihr Ausgangspunkt in der Radikalisierung der schwedischen Gewerkschaften, die 1976 eine seit 1938 bestehende historische Grundsatzvereinbarung mit dem Arbeitgeberverband (SAF) kündigten und dabei das Prinzip aufgaben, die Arbeitsbeziehungen untereinander, aber ohne direkte Beteiligung der (sozialdemokratischen) Regierung zu regeln. Außerdem sorgten sie dafür, dass die Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung – anders als in Dänemark und Norwegen – in den 80er Jahren kaum gesenkt wurden (lediglich von 49 auf 45 %, s. Jochem 1998: 15). Der Arbeitgeberverband "antwortete", indem er Anfang der 80er Jahre das Prinzip zentralisierter Tarifverhandlungen aufgab und Anfang der 90er sich aus allen korporatistischen Gremien und Institutionen zurückzog. Während Schweden 1982 seine internen Probleme noch einmal mit einer starken Abwertung seiner Währung mildern konnte, war die (sozialdemokratische) schwedische Regierung Ende der 80er Jahre (angesichts der veränderten weltwirtschaftlichen Bedingungen) nicht bereit, der Forderung der Gewerkschaften nach einer neuerlichen massiven Abwertung zu entsprechen (Jochem 1998: 11). Die schwedische Exportindustrie verlor rapide an Boden und innerhalb kurzer Zeit stieg die Arbeitslosigkeit von etwa zwei auf über acht Prozent an (s. oben, Kap. 4, Abb. 4.6)337. Damit war die Notwendigkeit für einschneidende Änderungen im Steuer- wie im Sozialversicherungssystem gesetzt; die Inflationsbekämpfung gewann Vorrang vor dem Ziel der Vollbeschäftigung. Wir wollen hier lediglich die Richtung der Reformen bei den Sozialleistungen anhand einiger Beispiele andeuten, für mehr Details siehe Palme et al. (2003). a)
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Höhe oder/und Dauer vieler Unterstützungsleistungen (z. B. beim Arbeitslosengeld) wurden gemindert, Ende der 90er Jahre – bei wieder gesunkener Arbeitslosigkeit – teilweise wieder korrigiert, im allgemeinen allerdings nicht mehr auf das frühere Niveau angehoben. Dennoch blieben die Leistungen im internationalen Vergleich auf einer Spitzenposition (Arbeitslosengeld z. B. in einer Höhe von 80 % des vorherigen Einkommens)
(1991) und 2,5 % (1999) (Palme et al. 2003: 70). Ein Vergleich der obersten und untersten Perzentile würde sicherlich noch wesentlich krassere Differenzen liefern. Hinzu kommt, dass ökonomische Ungleichheit umso eher dazu tendiert, sich selbst zu verstärken, je höher das Niveau ist, das sie bereits erreicht hat, denn eine gleichbleibende Umverteilungsrate wird dann für die Wohlhabenden relativ teurer; die politische Unterstützung für sie schwindet demzufolge. – Warum sich das Kapital nur minimal besteuern lässt, erläutert gut nachvollziehbar Huber (1998). Insofern ist es auch müßig, sich über vorrangige oder nachrangige Kausalitäten zu streiten. Systeme, die unter bestimmten Umweltbedingungen „funktionieren“, mögen bei veränderten Umweltbedingungen nicht ausreichend (oder weniger gut als andere) adaptionsfähig sein. Die daraus resultierenden Probleme haben also zweierlei Ursachen: die Umweltveränderung (hier die Globalisierung der Wirtschaft) und die mangelnde Adaptionsfähigkeit des Systems (hier die spezifische Ausprägung des Korporatismus in Schweden oder anderswo) einschließlich der zentralen politischen Akteure (hier der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände).
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b) In einigen Programmen, z. B. bei Arbeitsinvalidität, wurden die Anspruchsbedingungen enger definiert; auch die Bedürftigkeitsprüfungen für die Gewährung von Sozialhilfe wurden verschärft und bei den Witwenrenten eingeführt. c) In den Haushalten mit niedrigem Einkommen nahm der Einkommensanteil zu, der über selektive Leistungsprogramme (vor allem Sozialhilfe, aber auch Wohngeld) erworben wurde. d) Insgesamt nahm der Finanzumfang privater Versicherungsprogramme im Verhältnis zu dem der Sozialversicherungsprogramme zu, insbesondere bei den Pensionen. Dieser Trend könnte sich dadurch verstärken, dass die Deckelung der einkommensbezogenen Höhe der Sozialleistungen nicht in gleichem Umfang angepasst wird, wie die Arbeitseinkommen steigen, dass also die Gruppe der Personen zunimmt, die bei Eintreten des Versicherungsfalles einen zunehmend geringeren Lohnersatzanteil erhalten. Dies könnte langfristig die politische Unterstützung dieser Gruppen für das wohlfahrtsstaatliche System mindern; bis zur Jahrtausendwende ist ein solcher Trend aber noch nicht registriert worden (Palme et al. 2003: 116). e) Auch bei den sozialen Dienstleistungen ist ein Trend hin zur (Teil-)Privatisierung entstanden, insbesondere im Bereich der Kinder- und Altenfürsorge; außerdem werden die Dienstleistungen in größerem Umfang als früher über Nutzungsgebühren von den Empfängern selbst teilfinanziert. f) Die Höhe der Altersrente wurde stärker an die Höhe des lebenslang erzielten Arbeitseinkommens gebunden; außerdem wurde die Rentenversicherung erstmals in nennenswertem Umfang (1999 zu nahezu 18 Prozent) über individuelle Beiträge der Arbeitnehmer finanziert. Zusammenfassend kann man feststellen, dass sowohl die Generosität der Sozialleistungen als auch der Grad der Universalität reduziert wurden, während die Selektivität der Leistungen und die Reichweite der Bedürftigkeitsprüfungen zunahmen. Palme et al. (2003: 120) stellen fest, dass im schwedischen Wohlfahrtssystem eine Gewichtsverschiebung stattgefunden hat, "a shift in responsibility from the public sector to the family and the market". Ihr Kommissionsbericht betont ebenfalls die Restriktionen, die von einer globalisierten Wirtschaft ausgehen: "The removal of constraints on the flow of capital and labour across national boundaries may severely limit state and municipal tax levies and thus reduce the scope for financing a public welfare system of today‘s size and construction" (ebd., S. 109).338
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Die Ohnmächtigkeit der Politik (lokalisiert innerhalb von Staaten und internationalen Organisationen) gegenüber der globalisierten Wirtschaft zeigt sich in geradezu grotesker Weise in der Diskussion um die sog. Tobin-Steuer. Eine (minimale) Steuer (0,1 % oder noch weniger) auf Umsätze im internationalen Devisenhandel würde weder den Reichtum der Spekulanten spürbar mindern (in dieser Hinsicht wäre sie völlig irrelevant) noch würde sie die Märkte verzerren. Stattdessen würde sie auf relativ einfache Weise, Kapital für dringend benötigte Entwicklungsprojekte in den ärmsten Ländern bereitstellen, – was langfristig auch der globalisierten Wirtschaft zugute käme. Dennoch ist diese Steuer nicht durchsetzbar, weil die im Standortwettbewerb engagierten Staaten diese Koordinationsleistung nicht aufbringen.
In Großbritannien erfolgte mit der konservativen Regierungsübernahme bereits Ende der 70er/Anfang der 80er eine entschiedene Abkehr vom Ziel der Vollbeschäftigung. Dieser Schritt war begleitet von einer Reihe von Einschnitten bei Sozialleistungen sowie eine Stärkung der marktförmigen Organisation von Leistungen im Bereich des Gesundheitswesens und der Altersvorsorge, aber auch im Bereich der Wohnungspolitik. Diese Tendenz setzte sich auch unter der Blair-Regierung fort, die nach dem Prinzip "work for those who can and security for those who cannot" überwiegend Leistungen für Nichterwerbstätige, die als prinzipiell arbeitsfähig betrachtet werden, gekürzt339, dafür Leistungen für Familien mit niedrigem Einkommen und – freilich nur in bescheidenem Maße – nicht erwerbsfähige Unterstützungsbedürftige erhöht hat. Gleichzeitig wurde im Bereich der Wohnungspolitik und der sozialen Dienste stärker auf die Familien und auf zivilgesellschaftliche Träger unter staatlicher Koordination gesetzt340. Als wichtige Änderungen sind zu nennen (s. Parry 1986: 225ff.; Davy 2000; Pierson 1994; Fraser 2003; Johnson 1990): a)
Eine Reihe von Kürzungen bei den Leistungen für Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger sowie Verschärfung der Bezugsvoraussetzungen. b) Die Rentenformel wurde geändert mit der Folge langfristig sinkender Renten (Social Security Act 1986). Gleichzeitig wurden Zuschüsse für private Rentenpläne eingeführt. 2001 wurde dann die einkommensabhängige Zusatzrente (SERPS) in eine zusätzliche Mindestrente mit einheitlicher Rentenhöhe umgewandelt (die "Second State Pension") bei gleichzeitiger Einführung einer privatwirtschaftlich organisierten, staatlich subventionierten und regulierten Zusatzrente ("Stakeholder Pension") als Alternative zur "Second State Pension" für diejenigen, die es sich leisten können. c) In den 80er Jahren erfolgten Erhöhungen von Zuzahlungen und die Streichung von Leistungen bei der Gesundheitsversorgung. In den 90er Jahren wurden die Krankenhäuser privatisiert. d) Auf der anderen Seite wurden 1984 die Bezugsvoraussetzungen für den "Family Income Credit" (Beihilfe für erwerbstätige Familien mit geringem Einkommen) gelockert. 1986 wurde dieses Programm durch den generöseren "Family Credit" abgelöst. Unter New Labour wurde dieser wiederum durch den "Working Family Tax Credit" mit großzügigeren Bezugsvoraussetzungen ersetzt. e) Privatisierung der öffentlichen Wohnungsbestände durch Subventionierung des Kaufs von kommunalen Wohnungen durch ihre Bewohner341.
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Gleichzeitig wurden in Form der „New Deals“ für bestimmte Gruppen von Arbeitslosen die Ansätze zu einer aktiven Arbeitsmarktpolitik ausgebaut, die allerdings nur im Falle der jugendlichen Arbeitslosen nennenswerte Erfolge brachten. Siehe unten e). So bekamen die Mieter kommunaler Wohnungsbaugesellschaften die Möglichkeit, aus kommunaler Trägerschaft zu „Housing Action Trusts“ zu wechseln. Insgesamt ist die verteilungspolitische Bedeutung der auf Privatisierung des von staatlich subventionierten kommunalen Wohnungsbaugesellschaften dominierten Wohnungsmarktes zielenden Politik der konservativen Regierung enorm: sie verhalf Personen mit moderatem und mittlerem Einkommen zu einem preisgünstigen Eigenheim (die Kosten, die dem Staat durch Steuernachlässe und den Kommunen durch Preise unterhalb des Marktwertes entstanden
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f)
Unter Blair wurden in Gestalt verschiedener "New Deals" aktivierende Arbeitsmarktprogramme für benachteiligte Gruppen mit stark paternalistischen Zügen (bei Verweigerung der Teilnahme Entzug von Unterstützungsleistungen – "there is no fifth option") aufgelegt.
Dies alles führte zu einer Stärkung der Bedeutung von Programmen mit Bedürftigkeitsprüfung gegenüber beitragsfinanzierten342, insgesamt zu einer Reduktion universalistischer Elemente und zur Schwächung öffentlicher gegenüber privatwirtschaftlich oder zivilgesellschaftlich organisierten Formen von Vorsorge- und Versorgungsleistungen. In Deutschland sind die Veränderungen, die auch hier aufgrund fiskalischer Probleme und vor dem Hintergrund eingeschränkter politischer Optionen (z.B. Unabhängigkeit der Bundesbank, die sich auf eine geldwertorientierte Politik festgelegt hatte) bereits früh – Mitte/Ende der 70er Jahre – einsetzten, bisher dagegen eher gradueller Natur, wobei auch hier die Tendenz in Richtung Leistungskürzungen und zunehmender marktwirtschaftlicher Organisation geht, mit Ausnahmen bei Leistungen für Familien und ältere Arbeitslose (Frühverrentung). Die Stoßrichtung von Eingriffen war zumindest bis zur Rot-Grünen Regierungsperiode eine Konsolidierung des bestehenden Systems durch Minderung der aus ihm resultierenden Belastungen des (klammen) Staatshaushaltes, was im Wesentlichen durch ausgabenseitige Maßnahmen bewerkstelligt wurde343. Betroffen waren in erster Linie die Arbeitslosenversicherung und die Sozialhilfe, während gravierende Einschnitte bei Krankenversicherung und Rente lange ausblieben (Seeleib-Kaiser 2001: 154f.). Zu nennen sind vor allem (s. Alber 1986: 114ff.; Lampert/Althammer 2001: 92-95; Schmidt 2005b: 96-124): a)
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Eine Reihe von Kürzungen der Leistungen für Arbeitslose, Verschärfungen der Zumutbarkeitskriterien für Arbeitsangebote (u.a. 1975, 1981, 1983, 1993, zuletzt "Drittes Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt", 2004) ebenso wie Leistungskürzungen (freilich unterbrochen durch eine deutliche Anhebung 1985)
sind, dürften erheblich gewesen sein), während die Wohnkosten für diejenigen, die sich auch den subventionierten Kauf ihrer Wohnung nicht leisten konnten, einen zunehmenden Anteil ihres Einkommens ausmachten (im untersten Einkommensquintil sank der Anteil der Eigenheimbesitzer sogar, vgl. Pierson 1994: 83). Die vorher eher universalistische Wohnungsbaupolitik (günstige Mietwohnungen „für alle“) wurde also in Richtung einer selektiven Politik umstrukturiert (oder zumindest einer Politik, die nach sozialem Status differenziert: Arme bekommen subventionierte Mietwohnungen, der Rest Steuererleichterungen und Vorzugskonditionen beim Wohnungskauf). Zudem dürfte sie zu einer erheblichen sozialen Segregation geführt haben, da die mittleren Einkommensgruppen den kommunalen Wohnungsbaugesellschaften den Rücken kehrten, mit dem Effekt einer Stigmatisierung der verbleibenden Bewohner (was ein weiterer Anreiz war, kommunale Wohnungen zu verlassen, wenn man es sich leisten konnte). Was freilich nicht nur eine Folge politischer Entscheidungen, sondern auch sozialstruktureller Veränderungen und der Arbeitsmarktlage ist, die dazu führen, dass Personen hilfebedürftig werden, bevor sie Ansprüche auf Leistungen der National Insurance erwerben können, sowie außerdem steigende Mieten; vgl. Goodman/Johnson/Webb (1997: 223-227). Tatsächlich gelang hierdurch bis zur Wiedervereinigung eine Entlastung der Staatskasse (1960 brachte der Bund 41,3% des Sozialbudgets auf, 1989 31,8 %, 1997 wieder 33,2%, vgl. Jochem 2001: 202), allerdings um den Preis weiterhin steigender Sozialabgaben (Jochem 2001).
für Sozialhilfeempfänger (seit 1978 wiederholt Anpassung der Regelsätze unterhalb der Inflationsrate, schließlich 1990 Abkehr von der Leistungsanpassung nach einem Warenkorb) (Becker/Hauser 2003: 49f.). Der radikalste Schritt war die 2004 beschlossene Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe (was einer Abschaffung der Arbeitslosenhilfe gleichkam). Hier ist eine Verschiebung des Vorsorgeziels von Statussicherung hin zum Fürsorgeprinzip sowie eine Rekommodifzierung von Arbeit festzustellen (Seeleib-Kaiser 2001: 134-137). Allerdings wurde auch für ältere Arbeitslose die maximale Bezugsdauer von Arbeitslosengeld verlängert (1986 ), um im Rahmen der Frühverrentungspolitik die Lücke bis zum Übergang in die vorgezogene Rente zu schließen (Boeckh et al. 2004: 133; Erlinghagen 2004: 123)344. b) Mehrere Rentenreformen seit 1977, die langfristig zu Leistungseinschränkungen führten (dies gilt v.a. für die Reformen seit den 90er Jahren), aber auch die familienpolitischen Elemente stärkten (Anrechnung von Kindererziehungszeiten). Mit der Einführung einer privatwirtschaftlich organisierten, staatlich subventionierten und regulierten Komponente in Form der sogenannten "RiesterRente" erfolgte 2000/ 2001 eine erste grundsätzliche Veränderung im Rentenversicherungssystem. Arbeitsmarktpolitisch motiviert war die Schaffung großzügiger Möglichkeiten für den vorzeitigen Übergang in den Ruhestand mit geringen Abschlägen (1984-1988: Vorruhestandsgesetz, 1989-1991: Altersteilzeitgesetz, seit 1992: Möglichkeit des Bezuges einer Teilrente)345. c) Eine Reihe von Gesundheitsreformen (u.a. 1977, 1981, 1982, 1988, 1992, 1997, 1998), die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung einschränkten, Zuzahlungen einführten oder erhöhten und Elemente des Wettbewerbs im Gesundheitswesen stärkten. Allerdings wurde 1995 mit der Pflegeversicherung eine Absicherungslücke teilweise346 geschlossen. d) Außerdem gab es eine Verbesserung der finanziellen Unterstützung von Familien durch mehrere Kindergelderhöhungen (nach Kürzungen Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre) sowie die Einführung von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub (1985, 2001 zur "Elternzeit" modifiziert). Für die Zukunft sind radikalere Schritte entlang des bereits eingeschlagenen Kurses zu erwarten: Leistungskürzungen in verschiedenen Programmen, größere Selektivität, strengere Bedürfnisprüfungen und mehr Privatisierung. Die Abschaffung einer wichtigen Leistungsart (der Arbeitslosenhilfe) im Rahmen der Hartz-Gesetze war möglicherweise der Auftakt hierzu.
344 345 346
Im Rahmen der „Hartz-Gesetze“ wurden die Höchstbezugsdauern von Arbeitslosengeld für ältere Arbeitnehmer jüngst wieder verkürzt. Allerdings wurde durch die Rentenreform 1992 eine schrittweise Anhebung des minimalen Renteneintrittsalters von 60 auf 65 Jahre eingeleitet. Die Leistungen der Pflegeversicherung (deren Höhe von einem Beitragsaufkommen abhängt, das sich aus einem nicht veränderbaren Beitragssatz ergibt) decken die Pflegekosten allenfalls teilweise ab (Boeckh et al. 2004: 287ff.).
301
Was sich hier abzeichnet, ist nicht unbedingt eine "Konvergenz" der wohlfahrtsstaatlichen Ordnungen (dafür sind die kulturellen Traditionen zu wirkmächtig und die kurz- wie mittelfristigen Kosten radikaler Umbaumaßnahmen zu hoch); aber die bisher erkennbaren Reformmaßnahmen deuten in ihrer Gesamtheit darauf hin, dass zentrale Komponenten, die den kooperativen Individualismus stützen, Schritt für Schritt geschwächt werden. Das gilt insbesondere für die abnehmende Generosität der Unterstützungsleistungen und die zunehmende Rigorosität selektiver Bedürftigkeitsprüfungen. Lyle Scruggs (2005) sieht daher (wie schon erwähnt) sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten auf dem Weg der Abwärts-Konvergenz mit den anderen Regimetypen. Am wenigsten verträglich mit den Bedingungen, die eine globalisierte Wirtschaft setzt, dürfte längerfristig die deutsche Variante der Sozialversicherung sein, nicht so sehr wegen der Gesamthöhe an Steuern und Abgaben, sondern wegen ihrer Systematik: sie belastet den Faktor Arbeit besonders stark, obgleich der gegenüber dem mobilen Kapital auf den Weltmärkten sowieso schon strukturell benachteiligt ist. Außerdem wird in Deutschland nach wie vor zu wenig zur Förderung von Chancengleichheit und individueller Arbeitsfähigkeit getan. Dies spiegelt sich auch im Größenverhältnis der Aufwendungen für soziale Dienstleistungen einerseits und monetäre Transfers andererseits (Zahlenangaben bei Esping-Andersen 1999: 166). Das System ist zudem besonders resistent gegenüber Reformen, weil seine berufsständische Gliederung im Verbund mit der wahrscheinlich noch gewichtigeren institutionell-politischen Machtzersplitterung (insbesondere im Rahmen des Föderalismus) zu viele Vetogruppen ins Spiel bringt. (In dieser Hinsicht haben es britische und schwedische Regierungen wesentlich leichter.) Gerade deshalb ist zu befürchten, dass dem ökonomischen Anpassungsdruck zwar länger widerstanden wird, dass ihm aber schließlich eher auf dem Wege forcierter Kostensenkungen (durch Leistungskürzungen und höhere Selektivität) als mittels sinnvoller Strukturreformen begegnet wird. "Hartz IV" z. B. war der Ansatz zu einer Strukturreform, die sich im Kompetenzwirrwarr zwischen verschiedenen Institutionen und "Agenturen" verhakt hat und nun möglicherweise eher verschlechtert als verbessert wird. Sollte der Vorschlag realisiert werden, die Arbeitswilligkeit dadurch zu testen, dass man den eben beschäftigungslos gewordenen Arbeitnehmern sofort irgendeine Arbeitsstelle anbietet (vielleicht sogar gezielt eine mit besonders niedrigem Qualifizierungsniveau), hätte dies vor allem zwei Folgen. Zum einen würde man in der Tat einige (vermutlich relativ wenige) Absagen erhalten, also (etwas) Geld sparen, zum anderen aber würde man die Chancen gerade derjenigen noch weiter mindern, die schon länger auf eine Wiederbeschäftigung warten. Es ist wohl kaum anzunehmen, dass man mit dem so gesparten Geld per Lohnsubventionen die Anzahl der angebotenen Jobs nennenswert erhöhen kann (wenn man das eingesparte Geld überhaupt in diesem Sinne verwendet). Außerdem dürfte die soziale Degradierung, der Anerkennungsverlust, den jemand erfährt, der gezwungen wird, einen Job anzunehmen, der weit unterhalb seines bisherigen Beschäftigungsniveaus liegt, kaum geringer sein als im Falle eines Wechsels in die Arbeitslosigkeit. 6.5.2
Ökonomisierung der Gesellschaft?
Märkte sollen eigennützig motivierte, vorwiegend geldvermittelte Interaktionen, bei denen unter Konkurrenzbedingungen Waren und Dienstleistungen getauscht werden, so organisieren, dass die allgemeine Wohlfahrt gefördert wird. Sie sind der Ort, an dem eine 302
egoistische Handlungsorientierung grundsätzlich legitimiert ist, was allerdings nicht ausschließt, dass Akteure miteinander paktieren (aber stets in Konkurrenz zu anderen Akteuren)347. Damit dies funktioniert, müssen bestimmte Voraussetzungen gegeben und immer wieder neu arrangiert werden, die von den Märkten selbst nicht geschaffen werden. Der Staat z. B. muss (durch hoheitliches Handeln und nicht durch Tauschbeziehungen) bestimmte rechtliche Rahmenbedingungen schaffen, die Eigentum schützen und Vertragstreue (weitgehend) garantieren; die Akteure müssen darüber hinaus genügend wechselseitiges Vertrauen aufbringen, das auch unter Bedingungen unvollständiger Information hinreichende Erwartungssicherheiten bietet. Ein solches Vertrauen kann aber nicht entstehen, wenn nicht ein Minimum an geteilten normativen Überzeugungen gegeben ist, die ihrerseits nur in lebensweltlichen Kontexten generiert werden können, dort also, wo – in Habermas Terminologie – verständigungsorientiertes Handeln (und nicht das instrumentellstrategische) dominiert. Die These von der zunehmenden Ökonomisierung der Gesellschaft besagt zunächst einmal, dass der Anteil der Transaktionen, die am geldwerten Nutzen orientiert sind, zunimmt und dass diese Transaktionen verstärkt in Bereiche eindringen, die bisher nicht durch ökonomische Nutzenkalküle beherrscht wurden. Dadurch, so die weitergehende Vermutung, rücken in der Hierarchie sozialer und politischer Werte die ökonomisch-kompetitiven Zielvorgaben auf Kosten solidarischer Orientierungen nach oben. In anderen Worten: kapitalistische Märkte tendieren immer stärker dazu, den sozialen Zusammenhalt und damit ihre eigenen Funktionsbedingungen zu unterminieren, indem sie ihre an Konkurrenz, Eigennutz und Rentabilität ausgerichteten Handlungsmodi über verschiedene Kanäle in andere gesellschaftliche Teilsysteme und Lebensbereiche hinein ausdehnen.348 Die strukturellen und kommunikativen Interdependenzen, die damit angesprochen sind, sind zu vielgestaltig und komplex, als dass wir sie hier umfassend darstellen und theoretisch erhellen könnten349. Wir gehen von folgenden Arbeitshypothesen aus: (1) Die Ökonomisierung der Gesellschaft resultiert aus verschärften Wettbewerbsbedingungen und kann ihrerseits als Generalisierung des Wettbewerbsprinzips interpretiert werden. Verschärfung meint hierbei den graduellen Übergang vom Leistungswettbewerb zur agonalen Konkurrenz, in der die Chancen steigen, als Wettbewerbsteilnehmer eliminiert zu werden (s. Rosa 2006). Kriminogenes Potential entfaltet dieser Prozess unmittelbar als Stressor, der
347
348
349
Behauptet wird nicht, dass in der Sphäre des Marktes nur instrumentell und strategisch nach egoistischen Nutzenkalkülen gehandelt wird; auch ökonomische Transaktionen sind eingebettet in komplexe Netzwerke sozialer Beziehungen, die bei geschäftlichen Transaktionen mit ins Spiel kommen und ein gewisses Maß an Rücksichtnahme und Vertrauen ermöglichen (Granovetter 1985). Dominant bei ökonomischen Transaktionen ist aber die instrumentell-egoistische Nutzenorientierung. „Marktgesellschaften stellen jene institutionellen Formen des modernen Kapitalismus dar, die sich aus der Einbettung des wirtschaftlichen Wettbewerbs in begleitende Sozialnormen ... sukzessiv herauslösen und dabei die relative Vielgestaltigkeit in den modernen Regeln der Ressourcendistribution – Recht, Solidarität, Bedürftigkeit – auf das schließlich vorherrschende Prinzip von Angebot und Nachfrage reduzieren“ (S. Neckel 2001: 252 f.). Die zu diesem Thema meist zitierte Arbeit ist wahrscheinlich immer noch die von Polanyi (1944). Klassisch geworden ist inzwischen auch das Buch von Fred Hirsch (1980 [1976]); erhellend auch die Beiträge in Ian Taylor (1990) und die Monografie von Judith Blau (1993). Seitdem ist die Literatur zu diesem Thema so kräftig angeschwollen, dass sie kaum noch zu überblicken ist.
303
aggressive Energien freisetzt; aber auch mittelbar, indem er die Herausbildung und Stabilisierung von Selbstidentitäten erschwert (s. Lamla 2005). Er reduziert die Vielfalt der wechselseitig substituierbaren Dimensionen und Kriterien, nach denen man sich als Person Anerkennung verschaffen kann. (2) Kommerzielle Werbung und Marketing gehören zu den Treibriemen, die diese Prozesse in Schwung halten. (3) Die Vermarktlichung gesellschaftlicher Verhältnisse fördert die (partielle) Privatisierung der Politik, die damit der egalitärdemokratischen Kontrolle ein Stück weit entzogen wird. Auf diese Weise wird der Gemeinsamkeitsglaube (s. Scharpf 1998c) als Grundlage für Legitimitätszuschreibungen sowie für eine generalisierte Vertrauens- und Kooperationsbereitschaft in Frage gestellt. Damit ist in etwa die Gliederung des folgenden Textes vorgegeben. Wir beginnen mit einigen Indikatoren, die die langfristige Intensivierung des ökonomischen Wettbewerbs spiegeln. Dazu gehören insbesondere die Insolvenz von Unternehmen und Privathaushalten sowie die Expansion der Werbeindustrie. Anschließend beschäftigen wir uns mit spezifischen Formen und Methoden der kommerziellen Werbung und des Marketing. Der dritte Teil schließlich beleuchtet einige Aspekte der Privatisierung und Verprivatrechtlichung von Funktionsbereichen und Aufgaben, die bisher im Rahmen öffentlichrechtlicher, insbesondere staatlicher Institutionen ausgeübt und politisch kontrolliert wurden. 6.5.2.1 Weitere Indikatoren der Intensivierung des ökonomischen Wettbewerbs Die Verschärfung des Wettbewerbs ist schon in vorangegangen Abschnitten angesprochen und für verschiedene Bereiche dokumentiert worden: der Anstieg der Arbeitslosigkeit (s. Kap. 4), die zunehmende Prekarisierung der Arbeit (s. Abschn. 6.4) sowie der im Zuge der Globalisierung sich intensivierende Standortwettbewerb der Staaten und Staatenbündnisse (s. Abschn. 6.5.1). Der verschärfte Wettbewerb zeigt sich auch im langfristigen Anstieg der Insolvenz von Firmen und Privathaushalten, deren Trendverläufe in den folgenden Abbildungen dargestellt werden. Trotz der starken konjunkturbedingten Schwankungen ist ein langfristig ansteigender Trendverlauf der Unternehmensinsolvenzen klar erkennbar. Er ist in Westdeutschland und England/Wales ähnlich stark ausgeprägt; allerdings haben sich die Konjunktur-Zyklen der beiden Länder seit Ende der 80er Jahren nicht mehr parallel entwickelt, was den unmittelbaren Vergleich erschwert. Für die Bundesrepublik liegen zusätzliche Daten des Statistischen Bundesamtes vor, die die Entwicklung der Insolvenzen je 10.000 Unternehmen zwischen 1962 und 1993 zeigen; bei diesem Indikator ist der Trendanstieg steiler als der in Abb. 6.20 gezeigte. Für England/Wales liegen entsprechende Angaben nur ab 1985 vor; sie ähneln in ihrer Verlaufsform derjenigen in Abb. 6.20; sie ist also in dieser kurzen Periode vor allem durch konjunkturzyklische Schwankungen geprägt. Für Schweden liegen keine damit vergleichbaren Daten vor, sondern – für den langen Zeitraum ab 1950 – lediglich Zeitreihen, die die Zahl der Bankrotte von Unternehmen und Privatpersonen zusammenfassen. Eine solche Reihe lässt sich aber auch für Westdeutschland seit 1954 und für Großbritannien seit 1976 zusammenstellen (s. Abb. 6.21).
304
Insolvenzen bezogen auf das BIP in Mrd. nat. Währungseinheiten (Preise von 1995, 1962=100)
600
500
400
300
200
100
2000
1998
1996
1994
1992
1990
1988
1986
1984
1982
1980
1978
1976
1974
1972
1970
1968
1966
1964
1962
1960
0
Jahr E&W
D (West)
Abb. 6.20: Unternehmensinsolvenzen bezogen auf das BIP Quellen: eigene Berechungen auf Grundlage von Daten des Statistischen Bundesamtes, des Department of Trade and Industry, des Office for National Statistics und des IMF.
Anzahl je 100.000 Einwohner
1000
100
10
02
00
20
98
20
96
19
19
94
19
92
90
19
88
19
86
19
19
84
19
82
80
19
78
19
76
19
74
19
19
72
19
70
68
19
66
19
64
19
19
62
19
60
58
19
56
19
19
52 54 19
19
19
50
1
Jahr
E&W: Insolvenzen
S: Bankrotte
D: Insolvenzen
Abb. 6.21: Entwicklung der Insolvenzen/Bankrotte von Unternehmen und Privatpersonen Quellen: eigene Berechnungen auf Grundlage von Daten des Statistischen Bundesamtes, ONS, SCB.
Da die Werte logarithmiert sind, indiziert die lineare Trendzunahme eine exponentielle Entwicklung in der Anzahl der Insolvenzen und Bankrotte. Für Schweden liegen getrennte 305
Angaben für Privatbankrotte ab 1982 vor; sie weisen für die letzten zwei Jahrzehnte eine lediglich von konjunkturellen Schwankungen unterbrochene Abwärtstendenz auf, die in etwa zu einer Halbierung des Niveaus führte. Für die Firmenbankrotte (für die ab 1982 Zahlen vorliegen) lässt sich ein deutlich niedrigerer Trendanstieg als in den beiden anderen Ländern feststellen, der von einem vorübergehenden starken Anstieg in den 90er Jahren überlagert wird. Für England und Wales sind individuelle Insolvenzen seit 1960 registriert; sie zeigen einen sprunghaften Anstieg zwischen 1988 und 1992. Für die Bundesrepublik haben wir in Abbildung 6.21 die Werte nur bis 1998 notiert, da 1999 ein neues Insolvenzrecht für Privatpersonen in Kraft trat, das eine komplette Entschuldung, verbunden mit einer Stundung der Gerichtskosten, ermöglicht. Laut einer Recherche der Süddeutschen Zeitung (v. 20./21. 3. 2004, S. 33) sind die privaten Insolvenzverfahren von 3.400 im Jahre 1999 auf 33.600 im Jahre 2003 angestiegen, während sich die Gesamtzahl der Insolvenzen (einschließlich der Unternehmenspleiten350) verdreifachte – von 34.000 auf 100.700. Der Anstieg reflektiert aber nur teilweise eine Zunahme der Verschuldungsproblematik und ist in hohem Maße der Effekt von a) einem Aufschieben von Insolvenzverfahren und b) einer Veränderung der "Hellfeldrelation" (aufgrund des erleichterten Verfahrens beantragt ein höherer Anteil der überschuldeten Personen Insolvenz und gelangt in das Hellfeld der Insolvenzstatistik). Das neue Insolvenzrecht könnte sich auch auf die Statistik der Unternehmensinsolvenzen ausgewirkt haben, insofern es eine frühere Einleitung eines Insolvenzverfahrens ermöglichen soll und z. B. die drohende Zahlungsunfähigkeit als neuen Eröffnungsgrund eingeführt hat (Kießner 2004: 5). Als ein weiterer Beleg dafür, dass es langfristig eine solche Verschärfung zumindest bis zu diesem Zeitpunkt gegeben hat, kann jedoch die Entwicklung der abgegebenen eidesstattlichen Erklärungen betrachtet werden: seit Mitte der 70er Jahre hat deren Rate zugenommen, und zwar vor allem Anfang der 80er und, nach zwischenzeitlicher Stabilisierung, in den 90er Jahren, also in Phasen einer ungünstigen wirtschaftlichen Lage. 1975 wurden in Westdeutschland pro 100.000 Einwohner etwa 1800 eidesstattliche Erklärungen abgegeben, 1998 waren es 2300 (eigene Berechnung auf Basis der Rechtspflegestatistik des Statistischen Bundesamtes; ab 1999 liegen keine Daten für Westdeutschland vor). Nach Analysen der Schutzgemeinschaft für allgemeine Kreditsicherung (Schufa) waren 13 Prozent der knapp 39 Millionen Privathaushalte in Deutschland überschuldet, also nach Auflösung aller Ersparnisse nicht mehr in der Lage, aus dem laufenden Einkommen ihre Zahlungsverpflichtungen zu erfüllen; dies bedeutet mehr als eine Verdoppelung innerhalb von 15 Jahren (Süddeutsche Zeitung v. 14./15. 2. 2004). Nach dem zweiten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung waren im Jahre 2002 3,13 Mio. und damit rund 8 % aller privaten Haushalte in Deutschland überschuldet (BMGS 2005: 49); dies stellt einen deutlichen Anstieg seit Anfang der 90er Jahre dar (1994 waren es noch 2 Mio.
350
306
Neben den Verbraucher- und Unternehmensinsolvenzen umfasst diese Gesamtzahl auch Nachlassinsolvenzen, Insolvenzen ehemals Selbständiger und Insolvenzen natürlicher Personen als Gesellschafter.
Haushalte)351. Man kann die Überschuldungsrate als einen Indikator für das Potential an sozialer Exklusion (dazu mehr in Abschn. 6.5.3) interpretieren, denn: "Überschuldete Personen und ihre Familien können nur begrenzt am normalen wirtschaftlichen und sozialen Leben teilnehmen ... Überschuldung bedeutet Armut und soziale Ausgrenzung für die Betroffenen (ebd.)." Auch junge Leute geraten immer häufiger in die Verschuldungsfalle. Einem jüngeren Bericht zufolge haben gut 10 Prozent der 18- bis 24-Jährigen und knapp 13 Prozent der jungen Erwachsenen zwischen 25 und 29 Jahren Probleme beim Rückzahlen von Krediten (Bericht in der Süddeutschen Zeitung v. 25. 11. 2004, S. 34). Diese Entwicklung passt, obwohl sie nur ein schmales Handlungsfeld abdeckt, zu unserer in Kap. 1 geäußerten Vermutung, dass sich in den letzten Jahrzehnten allgemein die Schere zwischen notwendigen bzw. angeforderten und faktisch verfügbaren Handlungskompetenzen in großen Teilen der Bevölkerung weiter geöffnet hat. Eine Untersuchung über das Finanzwissen der Verbraucher, die für den Schuldenkompass der Schufa angefertigt wurde, stellt fest, dass 15 Prozent der Kreditnehmer über sehr geringes Zahlungswissen verfügen, also einen Kredit mit einer Einnahme gleichsetzen, ohne sich Gedanken über die Verpflichtung zur Rückzahlung zu machen (zitiert nach Süddeutsche Zeitung, 14./15. 2. 2005, S. 26). Menschen mit geringem Zahlungswissen sind Werbeslogans von Banken ausgesetzt, die eine problemlose Wunscherfüllung suggerieren und Kreditsuchende wohl auch allzu oft nicht adäquat beraten. Auch die Einführung und Verbreitung von Kreditkarten dürfte die Neigung, sich zu verschulden, erhöht haben.352 In dieses Bild passen die Zeitreihen in Abb. 6.22. Für Großbritannien dokumentieren sie unmittelbar, dass die Gesamthöhe der Konsumentenkredite (Kredite ohne Immobilien als Sicherheit, d. h. möglicherweise einschließlich einiger Wohnungsbaukredite, sofern keine Immobilie als Sicherheit dient), ab den 80er Jahren wesentlich stärker zugenommen hat als das Einkommen. Dies gilt in ähnlicher Weise auch für Westdeutschland, wenn man den in Abb. 6.22 belegten Anstieg der Kreditsummen mit dem Anstieg der verfügbaren Einkommen vergleicht. Ein hierzu bemerkenswert konträres Bild liefert wiederum Schweden, für das uns Angaben über Bankkredite an Privatkunden allerdings erst ab 1980 vorliegen: Sie zeigen, abgesehen von den Krisenjahren um 1990, sogar einen abfallenden Trend bei den Konsumentenkrediten,353 jedoch bleibt das Niveau über dem englischen und dem deutschen.
351 352
353
In Westdeutschland stieg der Anteil der überschuldeten Haushalte von 4,2 % in 1989 auf 7,2 % in 2002 (vgl. BMGS 2005: 49; Korczak/Pfefferkorn 1992: 110-112). Nach den Ergebnissen der bisher einzigen international vergleichenden Untersuchung zum Analphabetismus Erwachsener schneidet 1994-1998 die schwedische Bevölkerung bei allen drei untersuchten Dimensionen (Verständnis von Prosatexten, Verständnis von Dokumenten, sowie mathematische Kompetenzen) am besten ab, die deutsche liegt im Mittelfeld (bei Dokumentenverständnis und Rechnen im oberen Mittelfeld), und die britische im unteren Mittelfeld (vgl. OECD/Statistics Canada 2000: 17f.). Dies legt nahe, dass die Diskrepanz zwischen erforderlichen und verfügbaren Handlungskompetenzen in GB am größten und in Schweden am niedrigsten ist. Leider stehen uns zuverlässige Zeitreihendaten zur langfristigen Entwicklung des Analphabetismus nicht zur Verfügung. Allerdings könnte die Entwicklung in Schweden durch wirtschaftspolitische Maßnahmen (wie die steuerliche Begünstigung von Schulden), die kurzfristige Niveau- oder Trendveränderungen herbeigeführt haben mögen, beeinflusst worden sein – was wir nicht recherchiert haben.
307
60,00 50,00 40,00 30,00 20,00 10,00
19 60 19 62 19 64 19 66 19 68 19 70 19 72 19 74 19 76 19 78 19 80 19 82 19 84 19 86 19 88 19 90 19 92 19 94 19 96 19 98 20 00 20 02
0,00
Jahr D (West, ab 1991 gesamt): Konsumentenkredite in Prozent des verfügbaren Einkommens der privaten Haushalte Großbritannien: ungesicherte Kredite in Prozent des verfügbaren Einkommens der privaten Haushalte Schweden: Bankkredite in Prozent des verfügbaren Einkommens der privaten Haushalte
Abb. 6.22: Entwicklung des Anteils der Konsumentenkredite am verfügbaren Jahreseinkommen Quelle: Statistisches Bundesamt, Deutsche Bundesbank; Holzscheck/Hörmann/Daviter 1982; ONS; Bank of England; SCB; eigene Berechnungen. Hinweise: Die Angaben der Deutschen Bundesbank beziehen sich auf Konsumentenkredite einschließlich solchen, die nicht bei Banken aufgenommen wurden (die anderen Reihen enthalten diese nicht). Den eigenen Berechnungen für Großbritannien wurde das verfügbare Brutto-Einkommen der Haushalte und "non-profit institutions serving private households" zugrundegelegt; die Angaben zum Kreditvolumen schließen dagegen die Kredite an "non-profit institutions serving private households" nicht ein.
6.5.2.2 Ausdehnung der kommerziellen Werbung und des Marketing Ein wichtiges Vehikel, mit dem die Ökonomisierung vorangetrieben wird, ist die kommerzielle Werbung, die in den letzten Jahrzehnten ihr Volumen erheblich erweitert hat. Allerdings liefern die verschiedenen Datenquellen auch hier wieder divergierende Informationen. Die Definitionen sind nicht einheitlich, die Abgrenzungskriterien unsicher. Die meisten der uns zugänglichen Belege deuten darauf hin, dass seit den 1960er Jahren die Werbeaufwendungen erheblich stärker angestiegen sind als das Volkseinkommen. So z. B. präsentieren Sabel/Weiser (1995: 206), gestützt auf Daten der "Grey Gruppe Deutschland" eine Graphik, derzufolge die internationalen Werbeaufwendungen von ca. 15 Mrd. US-$ im Jahre 1959 auf ca. 265 Mrd. US-$ im Jahre 1989 angestiegen sind, wobei die Zuwächse zwischen 1974 und 1979 sowie zwischen 1984 und 1989 besonders stark ausfielen. Für die Bundesrepublik Deutschland werden an gleicher Stelle Aufwendungen von etwas über 3 Mrd. im Jahre 1964 notiert, die bis 1992 auf ca. 30 Mrd. ansteigen. Folgt man Bertram (1996: 162) dürfte es sich dabei aber lediglich um die "Netto-Werbeeinnahmen" handeln; die "Werbeinvestitionen" lagen 1992 laut dieser Quelle bei ca. 47 Mrd. DM; im Trendverlauf (1986 bis 1994) zeigen sich aber keine Unterschiede zwischen diesen beiden Kategorien. Zugenommen hat auch die Anzahl der Marken, die beworben werden ("Kampagnen"): in der BRD von 29.988 in 1979 auf 48.877 in 1989 (ebd., S. 207). Zahlen für die 1990er Jahre liefern K. Becker et al. (2003: 58). Demnach ist das "kapitalisierte 308
Werbevolumen" weltweit von 96 Mrd. (1991) auf 259 Mrd. US-$ (2000) angewachsen. Folgt man den Angaben des Zentralverbandes der deutschen Werbewirtschaft, so sind die Werbeinvestitionen in Deutschland im gleichen Zeitraum um etwa 50 % angewachsen: von 22,3 Mrd. € auf 33,21 Mrd. € (Behrens 1996: 162; ZAW 2005: 11). In Großbritannien sind die Werbeausgaben relativ zum Bruttoinlandsprodukt erheblich höher als in Deutschland und Schweden. Für das Jahr 1989 z. B. beziffern Sabel/Weiser (1995: 207) den Werbeanteil in Großbritannien mit 1,48 % des BIP, für Deutschland liegt diese Größe bei 0,9 % und in Schweden bei 0,48 %. Ähnliche Relationen ergeben sich für das Jahr 2003; allerdings liegen uns hier vergleichbare Daten nur für das Werbegeschäft der Medien vor (ZAW 2005: 23). Von den bisher zitierten Informationen weichen diejenigen ab, die Alderson (2004) anbietet. Dieser Quelle zufolge sind in Großbritannien zwischen 1970 und 1995 die Werbeausgaben nur geringfügig stärker angestiegen als das BIP, von anteilig 2,1 % auf 2,4 Prozent. In der Bundesrepublik ging dieser Anteil zwischen 1970 und 1975 sogar deutlich zurück (von ca. 2,4 auf 1,7 %) und stieg danach bis 1995 lediglich auf 1,9 % an. In Schweden fiel die Quote von 1978 bis 1983 von 2,4 % auf 1,7 % und blieb bis 1995 in etwa auf diesem Niveau. Aber auch konstante BIP-Anteile bedeuten, dass die Werbeausgaben pro Konsument langfristig erheblich zugenommen haben. Steigende Werbeetats deuten darauf hin, dass sich der Wettbewerb um den Absatz von Gütern und Dienstleistungen verschärft hat. Das marktwirtschaftliche Wettbewerbsprinzip impliziert einen Zwang zum Wachstum, der eine Sättigung der Märkte nicht zulassen kann, was längerfristig nur zu vermeiden ist, wenn – nicht zuletzt durch Werbung – ständig neue Bedürfnisse erzeugt werden. Wettbewerb und Wachstum sind Selbstzweck geworden resümiert Hartmut Rosa (2006: 94 f.). In zunehmendem Maße dient der Wettbewerb nicht mehr der Befriedigung anderswo entstandener Bedürfnisse; sondern Bedürfnisse werden an der Wettbewerbsfähigkeit ausgerichtet. "Der Interaktionsmodus Wettbewerb ... ist ein alternativloses Instrument zur Verwirklichung exogen bestimmter sozialer Zielvorgaben; er entwickelt jedoch individuell wie kollektiv selbstzerstörerische Tendenzen, wo jene Zielvorgaben endogenisiert werden, weil dann die Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit unvermeidlich zum wert- und zielopportunistischen Selbstzweck wird, dem gegenüber alle anderen Ziele nach und nach ins Hintertreffen geraten" (ebd., S. 103)354. Dabei spielt auch der technologische Wandel eine erhebliche Rolle. Insbesondere die Beschleunigung der Innovationsraten impliziert, wie Backhaus (1999) zeigt, einen steigenden Wettbewerbsdruck, der für viele Firmen ruinös ist355. Ein verschärfter Wettbewerb führt nicht nur zu höherer sozialer und ökonomischer Ungleichheit (s. Jacobs 1982; Jacobs/Carmichael 2002), sondern er fördert allgemein eine Kultur der Konkurrenz (Albrecht 2002: 775; Coleman 1987), die insbesondere in Jugendgruppen die Delinquenz, einschließlich Gewaltanwendung, ansteigen lässt. So z. B.
354 355
Der einzige prominente Politiker in Deutschland, der sich immer wieder einmal öffentlich als Kritiker des Wachstumszwangs äußert, ist der ehemalige CDU-Generalsekretär und vormalige sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf. Hierzu passt eine Information, die das Institut für marktorientierte Unternehmensforschung der L.-MUniversität München im Herbst 2005 in einer Online-Befragung mit liefert: Die Anzahl der angebotenen Markenartikel habe sich seit 1980 verfünffacht.
309
zeigen Hurrelmann/Engel (1992) auf der Basis von Befragungsdaten, dass StatusDeprivation, die Jugendliche in ihrer Peer Group erfahren, weil sie nicht über prestigeträchtige Konsumgüter verfügen, als Nährboden für delinquentes Verhalten dient. "The degree to which one has access to suitable status goods of the leisure and consumer society (clothing, vehicles, media hardware, etc.) plays an important role here. A lack of access to such goods, which prove important in social intercourse, results in a feeling of deprivation that can be regarded as a source of socially deviant behavior in adolescence” (ebd., S.: 134). Zahlreiche Studien haben zudem einen Zusammenhang zwischen Konkurrenzdenken und gewaltbereitem Rechtsextremismus nachgewiesen (s. Heitmeyer 2002a; Held et al. 1991). Verschärfter Wettbewerb schafft nicht nur Verlierergruppen, für die Gewaltanwendung attraktiv wird (s. Pfeiffer 1998), sondern erhöht allgemein das Stressniveau, das individuell zu verarbeiten ist (s. Badura/Paff 1989: 652) und die Wahrscheinlichkeit für ein Versagen der Affektkontrolle erhöht. Wir werden auf die Kultur der Konkurrenz im nächsten Abschnitt noch weiter eingehen. Der Konsumismus kann, worauf schon in den frühen utilitaristischen Sozialtheorien (und dann nachdrücklich von Georg Simmel) hingewiesen wurde, in bestimmten Phasen und Kontexten pazifizierend wirken, zum Beispiel indem er mit kulturellen Bedeutungen aufgeladene Konflikte zwischen Ethnien oder sozialen Klassen entschärft (s. Lamla 2005). Er verliert jedoch diese Funktion, wenn der Wettbewerb generalisiert wird, die ökonomische Ungleichheit in diesem Prozess zunimmt und die Statusdifferenzen erneut hierarchisiert und teilweise naturalisiert werde (s. unten, Abschn. 6.5.3). Der forcierte Konsum dient dann weniger der Befriedigung originärer materieller Bedürfnisse, sondern wird (wieder) in großem Stil zur conspicuous consumption (Veblen), mit der symbolische Distinktionsgewinne eingefahren werden sollen: "It is the Rockefellers who ensure that the Smiths need to keep up with the Joneses" (G. A. Cohen 1977: 119). Diese Tendenzen kennzeichnen nicht einzelne Länder, sondern das globale marktwirtschaftliche System. Wir veranschaulichen sie in diesem wie auch in den folgenden Kapitelabschnitten zwar vor allem an Hand von Materialien, die deutschen Quellen entstammen, gehen aber davon aus, dass die daraus gewonnenen Aussagen in ihrem qualitativen Gehalt weitgehend verallgemeinerbar sind. Außerdem stützen wir uns von nun an verstärkt auf Zeitungsberichte – zum einen, weil in manchen Fällen brauchbare statistische Daten nicht vorliegen, zum anderen aber auch, um unsere Thesen anhand spezifischer Beispiele besser konkretisieren zu können. Die kommerzielle Werbung hat nicht nur ihr Finanzvolumen gesteigert; sie hat sich dabei auch qualitativ in mancherlei Hinsicht verändert. Zum einen dadurch, dass der Kreis der Personen erweitert wurde, der aktiv umworben wird. Dies betrifft vor allem Jugendliche und Kinder. Geworben wird hier nicht nur offen und direkt (s. Der Spiegel 29/2003, S. 66), sondern – bspw. über Partnerschaften zwischen Firmen und Schulen – auch indirekt (s. Die Zeit v. 16. Juni 2005, S. 38). Zwei weitere Artikel in "Die Zeit" vom 19. 5. 2005 (S. 19 f.) geben einen prägnanten Überblick über die Methoden und möglichen Folgen der kommerziellen Werbung, die gezielt Kinder und Jugendliche anspricht, vor allem über Fernsehen und Internet. Gefährdet werden dadurch vor allem Kinder, die in ärmlichen Verhältnissen aufwachsen und beim prestigeträchtigen Konsum nicht mithalten können. "Wie viele letztlich auf der Suche nach Selbstwert konsumieren, ohne die Folgen zu bedenken, wie viele sich verschulden oder sogar Marken klauen – etwa von Schulkameraden –, weiß niemand. Das gilt nur für eine kleine Minderheit, aber sie wächst", wird der Soziologe und Pädagoge Klaus Hurrelmann zitiert (ebd., S. 19; s. auch die oben schon 310
erwähnte Arbeit von Hurrelmann/Engel 1992)356. Inzwischen gibt es auf Schul- und Kindergartenmarketing spezialisierte Agenturen wie die Bottroper Firma Il Piccolino (www.kindergartenmarketing.de). Auf ihrer Homepage ist z. B. zu lesen: "Das Zielgruppenteam von Piccolino hat jahrelange Erfahrung mit der Platzierung von Werbeträgern und der professionellen Ansprache von Kindern. Alle rund 50.000 deutschen Kindergärten werden von uns regelmäßig angesprochen ... Schon im Vorschulalter beherrschen viele Sprösslinge ein erstaunliches Repertoire an Werbesprüchen und -melodien, und von diesen bleibt offensichtlich auch einiges hängen, wie neue Studien belegen ... Viele Kinder wissen, was sie wollen und sind oft die heimlichen Entscheider der Familie ... Die Kleinen wissen durch ihre Kindergartenfreunde genau was gerade angesagt ist und entwickeln hier ein frühzeitiges eigenes Markenbewusstsein". Aktuelle Informationen zu den Strategien und Folgen dieser Art von Werbung liefert auch das Unternehmen iconkids & youth (www.iconkids.com). Produktwerbung an Schulen (allerdings nicht uneingeschränkt) ist in einigen Bundesländern erlaubt, andere gestatten lediglich das Sponsoring, bei dem das Unternehmen Schulprogramme fördert, um auf diese Weise für sich Image-Werbung zu betreiben (Süddeutsche Zeitung, 5. 12. 2005, S. 13). In Schweden darf sich die Produktwerbung nicht gezielt an Kinder unter 12 Jahren richten; in Großbritannien sind lediglich ausgewählte Produktgruppen (wie Alkohol oder Glücksspiele) in Abhängigkeit vom Alter potentieller Adressaten aus der Werbung ausgeschlossen (siehe z. B. eine entsprechende Mitteilung in "Adervertising Guidance Note No. 5" der britischen Advertising Guidance Authority – Internet-Abruf vom 29. 11. 2005). An dieser Stelle ist ein kurzer historischer Rückblik angebracht (zum Folgenden siehe Feil 2003). Das Jugendmarketing hat sich erst in den 60er, das Kindermarketing erst in den 70er Jahren allmählich entwickelt, zunächst mit Hilfe der expandierenden Kinderzeitschriftenverlage, die damit begannen, ihre Produkte als Insertionsobjekte zu lancieren und Leseranalysen in Auftrag zu geben. Allerdings wurden Kinder in dieser Zeit "noch nicht als eigenständige Zielgruppe, sondern als an den Elternwillen gebundene Konsumenten wahrgenommen" (Feil 2003: 117). Dies änderte sich allmählich, als das Fernsehen, ab Mitte der 80er Jahre vor allem das kommerzialisierte Fernsehen, in die Kinderwerbung einstieg. Bis Ende der 90er Jahre wurden immer wieder heftige Debatten geführt, Selbstbeschränkungen der Werbewirtschaft in Verhaltensregeln für Kinderwerbung kodifiziert, Untersuchungsberichte vorgelegt und gemeinsame Richtlinien der Landesmedienanstalten für die Werbung beschlossen. In diesen Diskussionen entstand weitgehender Konsens, "dass die Mediatisierung der Lebenswelt der Kinder auf privatwirtschaftlicher Basis nicht ohne kommerziellen Druck auf Kinder zu haben ist" (ebd., S. 121), allerdings solle er durch medienpädagogisches Engagement ergänzt
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Zum ansteigenden Verschuldungstrend trägt das bei vielen Jugendlichen zum Fetisch mutierte Handy bei (s. H. Hordych: Die alltägliche Verführung, Süddeutsche Zeitung v. 11. 12. 03, S. 3). Laut einem weiteren Bericht der Süddeutschen Zeitung v. 4. 11. 03 hat sich die Zahl der 20 bis 24-Jährigen, die in Zahlungsschwierigkeiten stecken, zwischen 1999 und 2002 vervierfacht. Nach Angaben des Instituts für Jugendforschung (München) stehen aber auch 6 Prozent der 13- bis 17-Jährigen mit ein paar hundert Euro in der Kreide (Süddeutsche Zeitung, 18. 8. 03).
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werden357. Im Ergebnis bedeutet dies, "dass die Werbung immer jüngere Kinder direkt anspricht, ohne den Umweg über die Eltern zu gehen. Dies ist das eigentlich Neue auf dem Kindermarkt" (ebd., S. 122). Die Autorin fragt: "Beginnen Kinder, die in einer kommerzialisierten Kindheit aufwachsen, bereits im Prozess der Identitätsfindung damit, sich von sich selbst zu entfremden, weil nicht nur die Rollen im Spiel des Massenkonsums zwischen Wirtschaft und Kindern ungleich verteilt sind, sondern Kinder das Spiel, das mit ihren Wünschen, Träumen, Idealen getrieben wird, nicht durchschauen?" (ebd., S. 123; vgl. unten, Kap. 7). Die von der Werbung unterstellte Autonomie der Kinder wird manipulativ genutzt (und damit widerlegt) und fördert nebenbei die Entdifferenzierung der Generationen (auch wenn die vielfach geäußerte These von der zunehmenden Infantilisierung der Erwachsenen überzogen sein dürfte). Im Verhältnis zu Familie und Schule haben sich die elektronischen Kommunikationsmedien und der Werbemarkt seit den 80er Jahren als konkurrierende Sozialisationsinstanzen etabliert, "die sich durch Unpersönlichkeit, Anonymität und strategische Kommunikation auszeichnen" (ebd., S. 264). Die Autorin beklagt, u. E. zu recht, dass sich die Sozialwissenschaften dieses Themas bisher nicht im erforderlichen Umfang angenommen haben, dass insbesondere "über die Qualität des Kommerzialisierungsprozesses der Kindheit und seiner Voraussetzungen relativ wenige, für einen historischen Vergleich zu wenige empirische Untersuchungen vorliegen" (ebd., S. 265). Wesentlich erweitert worden ist nicht nur der Adressatenkreis, sondern auch die Palette der Produkte, die auf legalen oder illegalen Märkten gehandelt und (zum Teil verdeckt) beworben werden. Dazu haben nicht zuletzt Entwicklungen in der Genetik, der Fortpflanzungs- und der Transplantationsmedizin beigetragen, die die Ökonomisierung des menschlichen Körpers und sonstiger natürlicher Ressourcen in eine neue Dimension gerückt haben. Hier seien nur kurz einige Beispiele genannt, die wir wiederum der Presse entnehmen. Nach Einschätzung von Experten (zitiert in einem Bericht von Christina Berndt in der Süddeutschen Zeitung, 10. 3. 2005) hat sich ein Handel mit menschlichem Gewebe längst etabliert. Anders als Organe, die unmittelbar in den kranken Empfänger eingepflanzt werden, müssen Gewebe erst aufbereitet werden. Die dazu nötigen Zwischenschritte machen sie zu einer industriellen Ware, auf deren Herstellung und Vertrieb sich bereits einige Firmen spezialisiert haben – oft in enger Zusammenarbeit mit Transplantationsmedizinern, die in Kliniken arbeiten. Es winken nicht nur lukrative Patentrechte; es besteht auch die Gefahr, dass potentiell lebensrettende, aber nicht handelbare Organspenden zu Gewebespenden umgewidmet werden. Anfang März 2005 verabschiedete das Europaparlament eine Resolution mit dem Aufruf, den kommerziellen Handel mit menschlichen Eizellen und Embryonen zu unterbinden. Hintergrund dieser Resolution waren (laut einer Reportage der Süddeutschen Zeitung v. 11. 3. 2005) Berichte britischer Medien, wonach dortige Kliniken rumänischen Frauen bis zu 1400 Euro (mehr als die Hälfte eines Jahreseinkommens) zahlten, damit sie britischen Paaren ihre Eizellen für eine künstliche Befruchtung zur Verfügung stellten.
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Wie sehr der Werbewirtschaft der („politisch ausgebeutete“) Jugendschutz missfällt, zeigt ein Kapitel in ZAW (2005: 119 ff.).
Nach einem weiteren Bericht der Süddeutschen Zeitung v. 5. 10. 2004 (der sich auf eine Information der Umweltschutzorganisation Greenpeace stützt) hat das Europäische Patentamt in München Ende 2003 nicht nur ein Verfahren zur chemischen Optimierung von Spermienzellen, sondern auch das so behandelte kommerziell verwertbare Sperma patentiert. Zwar verbiete es die europäische Biopatentrichtlinie, menschliche Samen- oder Eizellen zu patentieren, doch sei ungeklärt, ob dies auch für technisch behandeltes Sperma gelte. Wie auch immer die Richtlinien angepasst werden, es ist damit zu rechnen, dass fortlaufend neue Forschungsergebnisse auf diesem Gebiet fortlaufend neue Grauzonen für die Patentierung schaffen. Insbesondere die Bevölkerung in den ärmeren Weltregionen wird von den Firmen des "genetic engineering" in die Rolle des Rohstofflieferanten gedrängt. So z. B. wird Firmen, die auf "genetic engineering" spezialisiert sind, die genetische Erfassung ganzer Bevölkerungsgruppen ermöglicht (Süddeutsche Zeitung, 16. Okt. 2003). Auch auf anderen Gebieten (Stichwort: Stammzellen- und Embryonenforschung) lässt die Kombination von medizinischen Heilungsversprechen und wirtschaftlichen Interessen die Technisierung und Ökonomisierung menschlicher Lebensformen in einer Weise fortschreiten, die tradierte Konzepte menschlicher Würde und die damit verbundenen moralischen Prinzipien zunehmend in Frage stellt. In einem Artikel der Süddeutschen Zeitung (6. 8. 2001) warnte Jeremy Rifkin schon vor einigen Jahren vor der Heraufkunft einer kommerziellen Eugenik. Eine Schlüsselrolle spielen auch hier wieder die Lizenzierungs- und Patentrechte, die politisch festzulegen sind. Mit Blick auf die Klontechnologie und Stammzellenforschung, in der insbesondere in Großbritannien und den USA akademische Institutionen und private Unternehmen eng verbandelt sind, fragt Rifkin: "Können kommerzielle Einrichtungen tatsächlich mit Recht Anspruch auf das geistige Eigentum an einem in der Frühphase seiner Entwicklung befindlichen individuellen Menschenleben erheben – so wie es das Britische Patentamt unterstellt?" Bis vor kurzem galten als Marken lediglich ökonomische Produkte und deren Hersteller-Firmen. Inzwischen betreiben Sportvereine, Politiker, Parteien und allerlei sonstige Organisationen (einschließlich der Kirchen und anderer religiöser Vereinigungen) nicht nur herkömmliche Image-Werbung und Public Relations, sondern auch an kommerziellen Werbestrategien geschultes Marketing358. Hellmann (2005) sieht die Ursache hierfür vor allem in zwei Strukturproblemen: (1) im verschärften Wettbewerb um knappe Ressourcen, einschließlich öffentlicher Aufmerksamkeit und Anerkennung, (2) in der Notwendigkeit, den wachsenden Bedarf an kommunikativ angebotener Selbstlegitimation zu decken, den eine Zunahme der Kontingenz (s. Luhmann) geschaffen hat. Eine glaubwürdige Selbstdarstellung, verdichtet in einer Marke, soll dasjenige Vertrauen (in Institutionen und Personen) schaffen, das nicht mehr durch Tradition, Gewohnheit oder eigenes Wissen gesichert ist. Hellmann vermutet, dass sich dabei lediglich die Markensemantik, nicht aber die Markenstrukturen ausdehnen; es handele sich hier eher um ein Spiel mit Worten als um eine ernsthafte Ausdehnung, Einmischung und Verdrängung durch das, was Marken in der Wirtschaft bedeuten (ebd., S. 14). Wir vermuten dagegen, dass die Struktur von der Semantik nicht unberührt bleibt, dass das
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Zur „Ausweitung der Markenzone“ siehe den Sammelband von Hellmann/Pichler (2005).
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Objekt, das als Marke präsentiert wird, sich vom Warencharakter nicht fernhalten kann, seinen Gebrauchswert an den Tauschwert anpassen muss (s. hierzu Neckel 2001: 259 unter Verweis auf Fromms Sozialtypus des Marketing-Charakters). Im politischen Bereich ist hier die "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" mit ihrer PR-Agentur Berolino.pr GmbH besonders rührig; über ihre Methoden und ihre Verbindung zum Arbeitgeberverband Gesamtmetall berichtet die Süddeutsche Zeitung vom 26. 11. 2004 ("Hallo, Partner"). Seit einiger Zeit gehören auch die staatlichen Universitäten (und andere wissenschaftliche Einrichtungen) zu den Marktteilnehmern bzw. zu den "Marken". Am 19. 9. 2005 brachte die Süddeutsche Zeitung unter der Überschrift Marken-Unis folgende Kurzmeldung: "Die RWTH Aachen, die Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und die Technische Universität München treten von allen Hochschulen hierzulande bereits am stärksten als ‚Marke’ auf. Zu diesem Schluss kommen die Pressesprecher der deutschen Hochschulen in einer jetzt auf ihrer Jahrestagung vorgestellten Umfrage". Die (notorisch unterfinanzierten) Universitäten werben nicht nur um Studenten und Forschungsmittel, sondern bieten sich den Werbeagenturen als Medium für kommerzielle Werbekampagnen an. An einer Fassade der Berliner Humboldt-Universität prangen (nachts mit grellen Scheinwerfern angeleuchtet) viele Monate lang überdimensionierte Werbeposter eines Bekleidungsunternehmens. Zahlreiche Universitäten haben inzwischen Verträge mit Werbeagenturen (wie der Deutschen Hochschulwerbung oder der Deutschen Städtewerbung) abgeschlossen und stellen Räumlichkeiten, Schaukästen usw. für die kommerzielle Werbung zur Verfügung. Einzelne Versuche von Professoren, in Vorlesungen Werbespots einzublenden, mussten bisher auf Drängen der Universitätsleitungen wieder eingestellt werden. Ansonsten wird das Universitäts-Marketing auch von Hochschullehrern zum Teil sehr offensiv propagiert. Ein Beispiel liefert Thilo Büsching mit einem Gastkommentar ("Universitäten sind Markenartikel") in der Süddeutschen Zeitung (v. 18. 10. 2005, S. 2). Darin stehen z. B. Sätze wie die folgenden: "Deutsche Hochschulen sind noch keine Marken – und schlimmer noch, sie verstehen sich nicht als Marke. Dabei haben Hochschulen – wie Medienunternehmen – ein besonderes Potenzial. Denn auch Medien stellen Produkte her, die informieren, unterhalten und im besten Falle bilden". Dies ist vermutlich noch eine Minderheitsposition. Da aber in einer Informationsgesellschaft Wissen zunehmend als Produktionsfaktor eingesetzt wird (Humankapital) und Warencharakter annimmt, andererseits nicht damit zu rechnen ist, dass die Universitäten in absehbarer Zukunft durch Staat und Öffentlichkeit stärker unterstützt werden als bisher, kann man vermuten, dass solche Positionen demnächst häufiger vertreten und umgesetzt werden. Inzwischen gibt es auch hierzulande ehrgeizige Präsidenten staatlicher Universitäten (z. B. in München), die eine "unternehmerische" Ausrichtung ihrer Universität anstreben. Soweit wir wissen, trägt derzeit in Deutschland noch keine staatliche Universität und kein größeres Institut offiziell den Namen eines kommerziellen Sponsors359 (anders als in den USA); aber auch im Fußballsport hätte man vor wenigen Jahren noch nicht gedacht, dass Dortmunds Westfalenstadion (neben der "Kampfbahn Rote Erde")
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Allerdings firmiert die Hauptbibliothek der Technischen Universität Berlin (untergebracht im Volkswagen-Haus) auch als Volkswagen-Bibliothek, wird so jedenfalls häufig adressiert. An der gleichen Universität gibt es seit April 2005 (in Form eines An-Instituts) das Deutsche Telekom Innovation Center.
einmal "Signal Iduna Park" oder das "Müngersdorfer Stadion" in Köln einmal "RheinEnergie-Stadion" heißen würden (wie schon etliche andere Groß-Arenen, die inzwischen den Namen des jeweiligen Vereinssponsors tragen). In Nürnberg soll es demnächst sogar ein "Easycredit-Stadion" (statt des von den Fans gewünschten "Max-Morlock-Stadions") geben. Im Bereich "Kunst und Kultur" sind das traditionale Stiftungswesen und private Mäzenatentum, das die Eigenständigkeit und Vielfalt der geförderten Institutionen und Projekte bewahrt(e) oder gar erst ermöglicht(e), von kommerziellen Sponsoring-Strategien zu unterscheiden, die ihre Partner mediatisieren, deren künstlerischen oder wissenschaftlichen Hervorbringungen (wenigstens partiell) Warencharakter verleihen und dabei Potential und Wirksamkeit der Ausdrucks- und Erkenntnismöglichkeiten einschränken. Beispiele für Deutschland nennt ein Bericht der Süddeutschen Zeitung ("Kulturlandverschickung") vom 24. 11. 2004: eine bestimmte (Berliner) Operninszenierung gefällt dem Sponsor nicht, weshalb er seine Unterstützung zurückzieht; ein Firmenmanager (in BadenWürttemberg) will zwar Geld geben, aber auch dafür sorgen, dass mehrere regionale Theater zu einem einzigen zusammengefasst werden. In einer Analyse anlässlich der von Friedrich Carl Flick in Berlin betriebenen Ausstellung seiner privaten Sammlung moderner Kunstwerke kommt Beat Wyss (Professor für Kunst- und Mediengeschichte an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe) zu dem Fazit: "Unser System hat sich zurückentwickelt zur Ständegesellschaft, wo Bauern und Bürger für den Adel die Steuern zahlten, damit der auf seinen Schlössern mit Kunst repräsentieren konnte ... Wir sind Zeugen vom Umbau der republikanischen Strukturen des bürgerlichen Staates in einen neuen Absolutismus der Superreichen, welche die Kultur bestimmen wie einst die Medici. Die Politiker, wir alle werden zu Hofschranzen des internationalen Kunstkartells" (in Süddeutsche Zeitung, 12. 10. 2004, S. 13). In großem Stil betriebene private Kulturförderung dürfte insgesamt weniger wegen (gelegentlicher) direkter Einflussnahmen, sondern eher wegen ihrer selektiven Effekte problematisch sein – vor allem dann, wenn sie nicht zusätzlich, sondern als Ersatz für reduzierte öffentliche Förderprogramme geleistet wird. Natürlich wird auch für karitative Zwecke geworben, zunehmend aber auch dort in einer Wettbewerbskonstellation, in der die guten Zwecke untereinander und gegen die kommerziellen Verlockungen um Aufmerksamkeit und Geld konkurrieren, – ein weiterer Markt also, in dem Wahrhaftigkeit sich selten bezahlt macht und Misstrauen sich leicht ausbreitet. In ihm scheinen "Events" immer populärer zu werden, in denen Firmenmanager und allerlei Prominente ihre Distinktionsbedürfnisse in öffentlichen Spendenaktionen befriedigen, die gleichzeitig als glamouröse Marketing-Show aufgezogen werden – so z. B. im September 2005 in einer New Yorker Modenschau ("Fashion For Relief"), in der StarModels von Top-Designern gestiftete Einzelstücke vorführten, um sie anschließend im Internet zugunsten der Flutopfer des Hurrikan "Katrina" versteigern zu lassen. Zum Abschluss der Veranstaltung präsentierte eine Sängerin ihr Label auf dem Laufsteg (Süddeutsche Zeitung, 19. 9. 2005). Auch bei den "Benefiz-Galas" (welch verräterisches Wort) im deutschen Fernsehen wird ein erklecklicher Teil der eingetriebenen Spenden (die dann – zumindest teilweise – denjenigen fehlen, deren Bedürftigkeit sich nicht medienwirksam zur Schau stellen lässt) für die Deckung der Produktionskosten abgezweigt, nicht zuletzt an Betreiberfirmen, die daraus ihren Profit ziehen. Natürlich ist es löblich, wenn Bill Gates oder Warren Buffett Milliarden ihres Vermögens spenden, um damit Gesundheitsprojekte in der Dritten Welt zu fördern. Allerdings ist es auch nicht unproblematisch, wenn ein privater Spender mit einem Jahresetat, der höher ist als derjenige der World Health Organization, entscheidet, welche Projekte in welchem Land unter welchen 315
Bedingungen gefördert werden (siehe hierzu den Bericht von Tina Baier in der Süddeutschen Zeitung v. 18. 3. 2005 oder in der gleichen Zeitung unter dem Datum des 30. 6. 2006 den Kommentar von Sonja Zekri). Damit kommen wir zu einem weiteren Aspekt qualitativer Veränderungen in den Werbeformaten: Es gilt nicht mehr nur die klassische Formel "the medium is the message", sondern die Medien (insbesondere das kommerzialisierte Fernsehen) selektieren und gestalten ihre Botschaften (Programme) zunehmend so, dass sie als Hülle oder Hintergrund für die Werbespots attraktiv sind360. Wenn in Europa (wie anscheinend von der EUKommission geplant) Product Placement in Fernsehsendungen zugelassen wird (die werbeträchtigen Produkte lassen sich ja auch nachträglich in die Aufnahmen hinein projizieren), werden auch hier (wie schon in den USA) die Drehbuchautoren unter den verstärkten Druck der Werbeindustrie geraten. Allüberall tobt ein Kampf um Aufmerksamkeit, um Auflagen- und Quotenhöhe, dem andere Gütekriterien tendenziell untergeordnet werden. Auch außerhalb der Medien und außerhalb der Ökonomie wird der Kampf um Anerkennung immer mehr als Kampf um Aufmerksamkeit geführt. Dies ist häufig beschrieben worden; hier sollen nur drei Aspekte besonders hervorgehoben werden: (1) Zum einen findet fortlaufend und auf verschiedenen Ebenen eine desorientierende Sinnvermischung statt: in der Werbebotschaft selbst, wo das angepriesene Produkt mit Eigenschaften assoziiert wird, die mit seinem substanziellen Gehalt und seinen tatsächlichen Funktionen nichts zu tun haben; aber auch in dem umhüllenden Programm, das ein Publikum ansprechen und empfangsbereit stimmen soll. Auf derartige Entgrenzungsphänomene und ihr kriminogenes Potential werden wir in Kap. 7 näher eingehen. (2) Im Kampf um Aufmerksamkeit sind die Personalisierung von strittigen Sachentscheidungen und die Skandalisierung von (harmlosen oder auch nur vermeintlichen) Normübertretungen besonders erfolgreich ("only bad news are good news"). Das verzerrt oder unterdrückt nicht nur die Erörterung von Sachproblemen, stört also den Prozess diskursiv-demokratischer Willensbildung; es unterminiert darüber hinaus das Vertrauen in Personen und Institutionen, in denen Entscheidungen zu treffen sind (s. Robinson/Jackson 2001: 140 in Verbindung mit Rahn/Transue 1998). In der Medienwirkungsforschung spricht man in diesem Zusammenhang von der Scary-World- Hypothese (s. Lukesch 2002: 663). (3) Der Kampf um Aufmerksamkeit, den die Werbung führt, verführt dazu, Sprache zu verhunzen ("Wir machen ihr Fahrrad unplattbar") und zu inflationieren, bspw. durch Superlative, die nochmals gesteigert werden. Langfristig, so ist zu fürchten, mindert dies sicherlich nicht nur das Ausdrucks-, sondern auch das Unterscheidungsvermögen – beides sind wichtige Komponenten der individuellen Handlungskompetenz. Werbung ist heute allgegenwärtig. Das kann zu einer stresserzeugenden Dauerbelästigung ausarten. Vor allem aber ist die zeitliche und räumliche Expansion der Werbung verbunden mit einer sozialen und sachlichen Generalisierung der Konsumentenrolle, die jedermann angesonnen wird. Gegen die damit verbundenen Appelle und Einschleicheffekte mögen sich die Adressaten in unterschiedlichem Maße wappnen können; der
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Siehe den sehr aufschlussreichen Artikel von Th. Fischermann u. G. Hamann: Die ewige Werbepause, Die Zeit v. 21. 7. 05, S. 17 f.
egozentrisch-kalkulatorische Habitus, der dieser Rolle eingeschrieben ist (und sich gelegentlich in Sinnsprüchen wie "Geiz ist geil" emphatisch äußert), wird sich unvermeidlich mit ihr generalisieren, wenngleich nur in Graden. In jüngerer Zeit werden nicht nur diejenigen Programme ausgeweitet, in denen allerlei Arten der Normübertretung (von der Verletzung normaler Höflichkeitsregeln bis hin zu inszenierten brutalen Wortgefechten oder gar Prügeleien) vorgeführt werden, sondern es wird mit Normübertretungen direkt geworben. Zum Beispiel wird die kriminelle Vergangenheit von Rappern und anderen Hip-Hop-Stars in der Werbung für neue CDs als Ausweis ihrer Authentizität eingesetzt; je länger die abgesessene, noch laufende oder bevorstehende Haftstrafe, umso attraktiver die Platte (s. den Artikel "Jailhouse Rap" in "Die Zeit", 13. 10. 05, S. 61 oder die Süddeutsche Zeitung Nr. 220/2005, S. 15 mit dem Artikel "Ich bin Malcolm X" von J. Fischer). Der Gangsta-Rapper-Mythos wird noch auf andere Weise werblich genutzt. So z. B. stellt ein Textilunternehmen auf einem Werbeflyer seine Waren als Jailwear dar, die von Gefängnisinsassen hergestellt worden seien, sich durch "schlichte, ehrliche Formen" auszeichneten und "ein wenig härter im Nehmen sind als die von draußen" (Süddeutsche Zeitung, 2. 3. 2005, S. 17). Aber auch anderswo wird die Attraktivität von Normübertretungen unterstellt. So etwa wirbt Mercedes für ein neues Modell ("Maybach") mit der Parole: "Leadership is about breaking the rules" (Süddeutsche Zeitung, 2. 3. 05, S. 17361).
6.5.2.3 Privatisierungstendenzen in der Politik In jüngerer Zeit werden Ökonomisierungsprozesse verstärkt durch die Privatisierung staatlicher Einrichtungen und Aufgaben vorangetrieben. Dabei geht es längst nicht mehr primär um die Überführung staatlicher Unternehmen in Privateigentum, sondern vor allem um die Übertragung staatlicher Dienstleistungen an private Unternehmen. Im ersten Falle wechselt zwar der Eigentümer; aber auch der Staat musste in dieser Rolle schon im wesentlichen gewinnorientiert handeln; eine zusätzliche Ökonomisierung findet also nicht unbedingt statt.362 Allerdings war die Gewinnorientierung staatlicher Unternehmen länger-
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In diesem Artikel bemerkt die Autorin, Jutta Göricke, dass die Produkt-Marken „keinen Bezug mehr zum Realen haben, sondern künstlich aufgeladen sind mit Bedeutungen, die Lebensgefühl vermitteln sollen und Glückserfüllung verheißen ... die Ausweitung der Marketingzone ist total. Marken stiften Identität und helfen bei der Konstruktion eines coolen Ichs. Mercedes-Sterne und Modelabels sind die neuen Leitbilder, weil Heimat, Familie, Beruf, weil soziale Schicht und Religion an Bedeutung verloren haben ... Man sagt, der Wert der Marke mache im Schnitt 56 Prozent des Gesamtwertes eines Unternehmens aus. Nicht die Produktionsmittel bestimmen heute die Stellung in der politisch-ökonomischen Hegemonie, sondern die Marke“. Eine andere Situation dürfte vorliegen, wenn gemeinnützige Unternehmen privatisiert werden, zum Beispiel Sozialwohnungen, die bisher von kommunalen Wohnungsbaugesellschaften verwaltet wurden, nun aber an internationale Fonds verkauft werden. Wenn dies im großen Stil geschieht, ist zu befürchten, dass sich die soziale Segregation in den Städten erheblich verschärfen wird (s. den sehr erhellenden Bericht von Roland Kirbach in Die Zeit v. 5. 1. 2006, S. 11-14 sowie am gleichen Ort das Interview mit
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fristig ausgelegt, sodass sie eine antizyklische Steuerungspolitik wenigstens punktuell unterstützen konnte. Insofern kann diese Form der Privatisierung in einigen Segmenten durchaus zu einer Wettbewerbsverschärfung beitragen. Eine besondere Situation ist dann gegeben, wenn die gehandelten Güter nicht in beliebigen Mengen produziert werden können, wie z. B. beim Trinkwasser und bei einigen anderen Leistungen, die staatliche oder kommunale Versorgungsunternehmen bereitstellen. Besonders problematisch ist die Privatisierung von Dienstleistungen, die in den Bereich hoheitlicher Aufgaben gehören. Das markanteste Beispiel, die Einschränkungen des staatlichen Gewaltmonopols durch die Einschaltung privater Sicherheitsdienste, wurde schon in Kap. 5 behandelt. In Hessen wurde Anfang Dezember 2005 das erste teilprivatisierte Gefängnis eingeweiht. Wenn Einsparzwänge auf Seiten des Staates und das Gewinnstreben von Unternehmen hinter den Gefängnismauern zusammentreffen, darf man auf die daraus folgenden Resozialisierungsprogramme gespannt sein. Sogar die bayerische Justizministerin Beate Merk (CSU) wird in der Süddeutschen Zeitung vom 7. 12. 05 (S. 1) mit der Aussage zitiert: "Wenn wir Beamte nur noch dort einsetzen würden, wo es die Verfassung zwingend verlangt und darüber hinaus alles outgesourced würde, könnten wir unseren Standard an Sicherheit und Resozialisierung nicht halten." Auch im Bereich des Gerichtsvollzieherwesens sind, wie zu lesen ist, in einigen Bundesländern Privatisierungen geplant363. Neben der reinen Privatisierung haben sich, insbesondere in Großbritannien, verschiedene Formen einer Kooperationen zwischen privaten Unternehmen und staatlichen Instanzen entwickelt. Laut einem Bericht in Die Zeit (6. 10. 2005, S. 25) wird in Großbritannien inzwischen ein Fünftel der staatlichen Projekte in Form der Private-PublicPartnership durchgeführt. In Deutschland sind es weitaus weniger364, aber nachdem das Gesetz über Öffentlich-Private Partnerschaften (ÖPP) im Spätsommer 2005 in Kraft getreten ist, kann man mit einem erheblichen Anstieg rechnen. Eine spezifische Form öffentlich-privater Partnerschaften hat sich inzwischen auch in Deutschland in Gestalt des Cross-Border-Leasing (CBL) etabliert. Dabei vermietet (verleast) eine Kommune Immobilien und andere Projekte langfristig an einen ausländischen (in der Regel einen USamerikanischen) Investor und mietet sie sogleich von diesem zurück. Die Abmachungen binden die Vertragspartner auf mehrere Jahrzehnte. Beide profitieren in folgender Weise: Der Investor, der nach amerikanischem Steuerrecht (im Unterschied zum deutschen) wie ein Eigentümer behandelt wird, kann die geleasten ausländischen Objekte abschreiben und auf diese Weise 10 % der Investitionssumme bei seinen Steuern sparen. Diesen Betrag teilt er sich mit seinem deutschen Vertragspartner. Auf diese Weise haben deutsche Gemeinden schon Straßenbahnen, Klär- und Müllverbrennungsanlagen, Messegelände und Opernhäuser finanziert, die man andernfalls nicht (oder mutmaßlich nicht) hätte erhalten oder bauen können. Diese Form der Ökonomisierung öffentlicher Einrichtungen birgt jedoch
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dem Stadtsoziologen Hartmut Häussermann). Zu den Folgen der Privatisierung kommunaler Wohnungen in England siehe oben, Abschnitt 6.5.1, Fn.341 Siehe zu diesem Komplex den Kommentar von Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung v. 29. 9. 2006, S. 6. Laut einer in der Süddeutschen Zeitung v. 25. 11. 2005 (S. V2/2) zitierten Studie des Deutschen Instituts für Urbanistik machen Investitionen in ÖPP-Projekte derzeit rund 5 Prozent der gesamten kommunalen Sachinvestitionen aus.
mindestens zwei gravierende Risiken. Erstens könnten im Falle einer Insolvenz des Investors die deutschen Objekte in den USA der Konkursmasse zugeschlagen werden. Zweitens beinhalten die CBL-Verträge in der Regel eine mindestens dreißigjährige Nutzungsgarantie. Während dieser Zeit kann das Objekt (z. B. ein Gebäude) nicht einem anderen Zweck zugeführt werden. Dies ist insbesondere dann eine riskante Festlegung, wenn zahlreiche Objekte zu einem Leasing-Pool zusammengefasst werden (um die Finanzmasse zu erhöhen); die Gemeinde kann dann keines der Objekte für neue Zwecke einsetzen. Es soll nicht bestritten werden, dass die Privatisierung staatlicher Einrichtungen und Dienstleistungen häufig (nicht immer, siehe das Beispiel der britischen Eisenbahnen) zu ökonomischen Effizienzgewinnen führt. Auch werden auf diesem Wege gelegentlich bürokratische Auswüchse einer obrigkeitsstaatlichen Verwaltungspraxis beseitigt, in der Bürger vor allem als Bittsteller und Untertanen behandelt wurden. Dennoch ist mit der gegenwärtigen Privatisierungswelle ein problematischer Rollenwechsel verbunden: der Bürger, also der Teilhaber am staatlich organisierten Gemeinwesen, der Teilnehmer an öffentlichen Diskursen zur politischen Willensbildung wird in die Rolle des Kunden und Konsumenten gegenüber eben diesem Gemeinwesen gedrängt. Dabei könnten folgende Probleme entstehen: "Citizens as consumers and consumers as citizens transfer their distrust, moral indignation and strategies for ‚getting things done’ from the arena of consumption into the arenas of social and political life” (Karstedt/Farrall 2004: 68, im Anschluss an B. Barber). "The sovereign consumer actively chooses when to ‚conform’, when to ‚deviate’, when to ‚complain’, when to take risks of unfair behaviour or offending, and how to express their grievances. Thus it is reasonable to predict that their expectations of redress when they feel victimized and complain to private or public institutions may be transferred into increased willingness to engage in ‚cheating’ behaviours (ebd., S. 71). Neoliberal market policies and rhetoric increasingly dominate government policy and services, with different levels of privatisation producing increasing levels of fear as well as higher levels of ‚Machiavellian’ strategies” (ebd., S. 72). Diese Hypothesen sind sicherlich wohlbegründet (und passen gut in unser Erklärungsschema); allerdings mangelt es noch an empirischen Belegen, die die kriminogenen Effekte der Privatisierung staatlicher Dienstleistungen dokumentierten. Diese Effekte dürften eher indirekter Art sein: Es scheint plausibel anzunehmen, dass die Privatisierungspolitik und der Wechsel von der Bürger- zur Konsumentenrolle das Wir-Gefühl und die Gemeinsamkeitsunterstellungen schwächen, auf die ein kooperativer Individualismus angewiesen ist (s. Kap. 1). Ein weiterer Bereich, in dem sich in jüngerer Zeit politische Handlungsfelder verstärkt ökonomischen Interessen öffnen, ist die zunehmende Einbeziehung von Lobbyverbänden und privaten Beratungsfirmen in die Gesetzgebungsverfahren. Sie artikulieren nicht nur ihre eigenen Interessen, sondern werden nun auch beauftragt, Entwürfe für Gesetzestexte auszuarbeiten (s. die aufschlussreichen Berichte in Die Zeit, 5. 12. 2002: S. 22; 30. 10. 2003: S. 5). Zum Teil erklärt sich dieses Phänomen wiederum aus der Natur der global vernetzten Wissens- und Informationsgesellschaft. Für die Problemdefinitionen und die Abschätzung von Folgen gesetzgeberischer Maßnahmen müssen Wissensbestände mobilisiert werden, über die die Ministerialbürokratien nur noch selten – so zumindest die Unterstellung – in ausreichendem Maße verfügen. Beratungsdienste versprechen, das benötigte Wissen zu liefern, gefährden damit aber möglicherweise die Gestaltungsmacht der demokratisch legitimierten Institutionen. Unternehmensberatungen mischen sich denn auch immer lautstärker in die öffentliche politische Debatte ein und können dabei Ressourcen nutzen, die Bürgergruppen überhaupt nicht zur Verfügung stehen. So z. B. 319
berichtet die Süddeutsche Zeitung vom 28. 10. 2005 (S. 5): Die Unternehmensberatung McKinsey hat die Bundesregierung aufgefordert, ein Milliarden-Programm für die frühkindliche Bildung zu starten. Ein Vier-Punkte-Plan, dessen Umsetzung jährlich 6,5 Milliarden Euro kosten soll, wird gleich mitgeliefert. Die durchschnittliche Zahl der Kinder pro Pädagoge sei von derzeit vierzehn auf sieben zu senken, eine bundesweit arbeitende Evaluationsagentur sei zu gründen, auf eine Erhöhung des Kindergeldes zu verzichten usw. In einem Interview äußert sich der Deutschland-Chef von McKinsey u. a. wie folgt: "Alle Analysen zeigen, dass eine Erhöhung des Kindergeldes keinen Einfluss auf die Kinderzahl hat. Ich bin sicher, das es besser ist, das Geld in die Infrastruktur zu stecken, statt es den Eltern in die Hand zu geben ... Gegenüber dem Kindergeld wäre das ein Fortschritt; gerade Familien, denen es sozial nicht gut geht, geben einen Teil des Kindergeldes für den Konsum aus, statt ihre Kinder zu fördern" (Die Zeit, 27. 10. 2005, S. 96). Problematisch ist auch eine Ankündigung der Europäischen Zentralbank (laut Die Zeit, 17. 11. 05, S. 44), in Zukunft die Kreditwürdigkeit von Staaten abschließend von drei privaten RatingAgenturen beurteilen zu lassen. Der klassische Lobbyismus ist zwar recht gut erforscht365, Ausmaß und Konsequenzen der Einbeziehung privater Beratungsfirmen in die Ausarbeitung von Gesetzesentwürfen scheinen dagegen bisher nur unzulänglich dokumentiert zu sein. Problematisch dürfte auch die Privatisierung von Universitätskliniken sein, wie sie der Hessische Landtag jüngst für die Standorte Gießen und Marburg beschlossen hat. Das Land hat sich zwar einige Einflussmöglichkeiten vertraglich gesichert; ob sie ausreichen, eine enge Verbindung von (Grundlagen-)Forschung, Lehre und Patientenversorgung aufrechtzuerhalten, bleibt abzuwarten (zur Problematik s. einen Bericht in Die Zeit v. 13. 10. 2005, S. 28). Allerdings wird auch jetzt schon ohne Privatisierung die medizinische Forschung an den Universitäten in erheblichem Umfang von der Pharmaindustrie finanziert. Eklatante Manipulationen oder die Unterdrückung brisanter Forschungsergebnisse dürften eher selten vorkommen (wegen des Risikos ihrer rufschädigenden Entdeckung); aber es wird unwahrscheinlicher, dass Projekte unterstützt werden, deren Ergebnisse es ermöglichten, den Verbrauch von Medikamenten (und damit die Kosten des Gesundheitssystems) zu reduzieren. Stattdessen werden, so ist anzunehmen, hohe Anreize gesetzt, unnötige Nachahmerprodukte zu entwickeln und später als neue Medikamente zu vermarkten. Dies legen Erfahrungen mit dem weitgehend privatisierten US-amerikanischen Gesundheitssystem nahe. Nach Einschätzung von Beobachtern investiert die Pharma-Industrie insbesondere dann viel in ihre Produktwerbung (doppelt so viel wie in Forschung), wenn es für bestimmte Medikamente keine klaren medizinischen Argumente gibt (s. K. Koch, "Pillendreher und Strippenzieher, in: Süddeutsche Zeitung v. 19. 5. 05, S. 10). Wie sehr ökonomische Interessen der medizinischen Sorgfaltspflicht gelegentlich übergeordnet werden, hat in jüngerer Zeit vor allem der Skandal um das Schmerzmittel Vioxx verdeutlicht (s. Die Zeit v. 27. 1. 05; Süddeutsche Zeitung 28. 10. 05, S. 11; verschiedene Artikel im New England Journal of Medicine, Jahrgang 2004). Zwar ist in Deutschland (wie auch in Großbritannien und Schweden) die direkte Werbung für rezeptpflichtige Medikamente
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Für unterschiedliche Positionen und Schlussfolgerungen siehe z. B. Eckert (2005), Leif/Speth (2003).
untersagt; aber die Pharma-Industrie findet zunehmend Wege und Mittel, dieses Verbot zu unterlaufen (s. Die Zeit, 11. 9. 2003, S. 39). Die Kommerzialisierung der medizinischen Versorgung erhält im übrigen einen starken Auftrieb dadurch, dass sie zunehmend über die Vorsorge und Behandlung von Krankheiten hinaus geht und die Nachfrage nach Vitaloptimierung im Rahmen einer rationalisierten Lebensplanung befriedigt (etwa im Bereich der Schönheitschirurgie und der Fortpflanzungsmedizin). Oft zielen die Werbestrategien auch darauf ab, einer prospektiven Klientel normale biologische Abläufe (z. B. Alterungsprozesse) als Krankheit einzureden. Auf diese Weise wird für Unsicherheit gesorgt, und der Begriff des Krankhaften ungebührlich ausgedehnt. Der verschärfte Wettbewerb lässt darüber hinaus die ökonomische und soziale Ungleichheit wachsen, eine Entwicklungstendenz, die wir schon in Kapitalabschnitt 6.2.3 dargestellt haben. In den folgenden Abschnitten wollen wir spezifische Aspekte dieses Themas weiter vertiefen. 6.5.3
Soziale Ungleichheit in der Winner-Take-All Society
Anfang des Jahres 2005 offerierte das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" (Nr. 9/2005, S. 92 ff.) seinen Lesern ein Interview mit dem Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank, Josef Ackermann. Darin wird die schon von anderen Quellen verbreitete Information bestätigt, dass Ackermann im Jahre 2003 11,1 Millionen Euro verdient hat. Der Interviewte ergänzt diese Information mit einigen interessanten Hinweisen und Kommentaren. So lässt er wissen, dass er in den letzten beiden Jahren auf Geld verzichtet habe, das ihm vertraglich zustand ("Ich will nur sagen: So unsensibel sind wir nicht", S. 97). Er teilt außerdem mit, er sei im betriebsinternen Ranking beim persönlichen Einkommen "die Nummer 14" seiner Bank, ein Sachverhalt, den er mit der Bemerkung erläutert: "Wenn Sie einen Mittelstürmer haben, der viele Tore schießt, dann ist er mehr wert als der Trainer." Die Deutsche Bank beschäftigt einige solcher Stürmer, die dort "Investmentbanker" heißen; sie erhielten (wie der Interviewer unwidersprochen einfließen lässt) im Jahre 2003 den Hauptanteil "etlicher Milliarden an Boni". Ackermann erklärt hierzu: "Ich würde gern weniger Boni ausschütten. Aber wenn Sie die besten Talente haben wollen, müssen Sie im Wettbewerb um die Besten mitbieten. Das ist wie bei Fußballspielern. Sie glauben gar nicht, was für eine Belastung es ist, nie zu wissen, ob einer ein so attraktives Angebot bekommt, dass er zur Konkurrenz geht. Dann schreibt die gleiche Presse, die uns für die hohen Boni kritisiert: Dramatische Niederlage für die Deutsche Bank ... Sie haben Recht, dass die Gehälter hoch sind, besonders verglichen mit anderen. Mein Bruder ist Professor für Urologie und verdient den Bruchteil eines guten Händlers. Aber wenn er auch so viel verdienen will, hätte er Händler werden müssen. Doch dafür liebt er seinen Beruf viel zu sehr." Wir zitieren diese Passage, weil sie verdeutlicht, was Frank & Cook (1995) mit ihrem Begriff der "Winner-take-all Society" meinen.366 In einer solchen Gesellschaft dominieren
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Vieles von dem, was Frank & Cook (1995) darstellen, ist von Fred Hirsch (1980 [1976]) vorweggenommen worden, insbesondere die These, dass es im ökonomischen Wettbewerb zunehmend weniger um die Befriedigung materieller Bedürfnisse als um den Erwerb von Positionsgütern geht. Da
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Märkte, die die Höhe von Lohn und Gewinn nicht oder nur teilweise an die substanzielle Leistung ("absolute performance") binden, die jemand erbracht hat, sondern primär an die Position, die jemand in einem Leistungswettbewerb erreicht hat ("relative performance"). Dabei werden die – äußerst knappen – Spitzenpositionen überproportional belohnt; geringe Leistungsdifferenzen führen zu hohen Einkommensdifferenzen (falls überhaupt Leistungen den Erwerb der Positionen bestimmen). Paradigmatisch hierfür ist die Entwicklung im Profi-Sport, wo gelegentlich Sekundenbruchteile über Sieg oder Niederlage, Platz eins oder Platz zwei entscheiden. Und in manchen Sportarten (wie Kunstturnen, Eislaufen) sind Leistungsdifferenzen nicht einmal objektiv messbar und subjektiv immer wieder umstritten. Aber der Gewinner erhält in jedem Falle eine vielfach höhere Prämie als der Zweite, vor allem eine vielfach höhere Werbeprämie.367 Im übrigen werden die Spitzenleistungen in den verschiedenen Sektoren äußerst unterschiedlich bewertet. Der Fußballstar kassiert einen wesentlich höheren Lohn als der Spitzenspieler im Tischtennis, wird aber noch übertroffen von den Stars der American Football- oder Basketball-Ligen, ganz zu schweigen von einigen Formel-I-Rennfahrern wie Michael Schuhmacher. Im Kunst- und Show-Geschäft sind die Verhältnisse ganz ähnlich; allerdings sind hier die Leistungsdifferenzen oft noch weniger messbar als im Sport. Welcher Konzertbesucher kann wirklich "hören", dass Pollini so viel besser spielt als ein anderer Pianist, dessen Gage wesentlich niedriger liegt (es sei denn, Joachim Kaiser habe es ihm eingeflüstert)? Auch in der Wirtschaft sind die Leistungsdifferentiale gerade in den Spitzenpositionen der Managergilde oft viel weniger messbar als suggeriert wird (nicht zuletzt wegen der
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Positionsgüter, anders als materielle Güter, prinzipiell nicht gleich verteilt sein können, verschärft sich der Konkurrenzkampf. „Gesteigerter Wohlstand, der allen verfügbar ist, bedeutet paradoxerweise einen wachsenden Kampf um die Formen des Wohlstands, die nur einige wenige erreichen können“ (ebd., S. 50). „Wenn eine ungleiche Verteilung vorherrscht, werden die Begüterten den Preis dieser seltenen Dinge so hochtreiben, dass der Durchschnittsmensch sie nicht mehr bezahlen kann“ (ebd., S. 48), d. h., das relative Einkommen wird wichtiger als das absolute (ebd., S. 21). Siehe hierzu auch Schnierer (1996) mit einer treffenden Kritik an den Konzepten der „Erlebnisgesellschaft“ (G. Schulze) und des „Fahrstuhleffekts“ (U. Beck). Hierzu passt eine Zeitungsmeldung des Jahres 1984: „Um den ‚WintersportCharakter‘ zu erhalten, wollen das Bergdorf Lech am Arlberg und Skiliftgesellschaften die Parkplatzgebühren und die Preise für Tageskarten drastisch erhöhen. Weniger betuchten einheimischen und ausländischen Wintersportlern soll damit das Skifahren erschwert werden“ (Süddeutsche Zeitung, 15./16. 12. 1984). Für eine gegenwartsnahe Sammlung von Beispielen exklusiven und demonstrativen Konsums siehe J. Steinhauer in der New York Times vom 29. Mai 2005. Bei den Olympischen Winterspielen 1956 in Cortina d‘Ampezzo siegte der Österreicher Toni Sailer in allen alpinen Skirennen mit einem Vorsprung von über drei bis sechs Sekunden; heute trennen die Erstplatzierten in der Regel nur noch Zehntel- oder sogar Hundertstel Sekunden. Früher wurden in den Zeitungen Länderwertungen präsentiert, in denen nicht nur die Medaillenränge, sondern auch die Plätze 4 bis 6 positiv berücksichtigt waren. Inzwischen werden nicht einmal alle Medaillenplätze simultan (mit unterschiedlichen Gewichten) berücksichtigt. Bei den jüngsten Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen wurden die Rangplätze der teilnehmenden Länder (z. B. von der Süddeutschen Zeitung) nach der Zahl der Goldmedaillen vergeben; erst wenn mehrere Länder in diesem Punkt gleichrangig waren, wurden zur weiteren Differenzierung die Silbermedaillen mit herangezogen usw. Ein Land mit einer einzigen Goldmedaille und keiner weiteren Platzierung unter den ersten Drei rangierte also vor einem Land, dessen Sportler zwar keine Goldmedaille, aber zehn silberne gewonnen hatten – ein schöner Indikator für den Vormarsch des Erfolgskriteriums gegenüber dem Leistungskriterium. Zur beispielhaften Konkurrenzkultur im Sport und deren kriminogenem Potential s. Dunning (2002).
Volatilität der Märkte). Man weiß, dass Erfolg oder Misserfolg eines Unternehmens nur partiell von der Leistung der Manager abhängen, dass es gelegentlich schwieriger ist, den Verlust gering zu halten als den (kurz- oder langfristigen?) Gewinn (oft bei gleichzeitigem Abbau von Arbeitsplätzen) zu steigern. Prämiert wird hier letztlich nicht die subjektive Leistung, sondern der "Erfolg", der sich in kaum kontrollierbaren Wertschöpfungsketten entwickelt – oder auch nicht. Kommen wir noch einmal auf Ackermanns Bemerkung über das Einkommen seines Bruders zurück, weil sie eine weit verbreitete Illusion wiedergibt, die dazu beiträgt, dass sich "Winner-take-all"-Märkte ausbreiten; die Illusion nämlich, es bedürfe lediglich eines gewissen Talents gepaart mit Leistungsbereitschaft sowie einer entsprechenden Karriereentscheidung, um viel Geld zu scheffeln. Vor allem aus dieser Illusion nährt sich die Legitimität des Winner-take-all-Systems. Es ähnelt der Lotterie (bei der allerdings jeder Teilnehmer tatsächlich die gleiche Gewinnchance pro Einsatz hat): Je höher der Jackpot, umso größer die Zahl der Spieler, aber auch die Zahl der Verlierer, die es dann erneut versuchen und auf diese Weise ihre Ressourcen vergeuden. Das amerikanische Wirtschaftsund Gesellschaftssystem (The Great American Dream) kommt in seinen Funktionsmechanismen diesem Modell recht nahe;368 der Neo-Liberalismus müht sich – erfolgreich, wie es scheint – um seine weltweite Verbreitung. Wir können auf die Mechanismen, die die "Winner-take-all"-Regeln verbreiten, hier nicht näher eingehen. Wichtig sind vor allem (a) die Ausdehnung der Märkte im Zuge ihrer Internationalisierung und die damit verbundenen Skaleneffekte (längere, weniger steuerbare Wertschöpfungsketten, höhere Absätze) sowie (b) die Ausbreitung der Computertechnologie und der elektronischen (Tele-)Kommunikation, die den Informationsaustausch beschleunigen. Außerdem kreieren das Fernsehen und andere weltweit operierende Medien ein für den Starkult empfängliches (und von den Werbeagenturen nutzbares) Massenpublikum. Wie auch immer diese Tiefenstrukturen aussehen, ihre Resultate sind offenkundig. In den siebziger Jahren ist in den wirtschaftlich hoch entwickelten Ländern des Westens ein säkularer Trend zu mehr Gleichheit bei wachsendem ökonomischen Wohlstand an sein (vorläufiges?) Ende gelangt.369 Beginn und Schärfe dieser Trendumkehr variieren zwischen
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In einem Artikel für Die Zeit (8. 9. 2005, S. 3) schreibt der US-amerikanische Sozialwissenschaftler Jedediah Purdy: „Die meisten Amerikaner – ungefähr 90 Prozent, einschließlich der meisten Schwarzen – geben in Umfragen zu Protokoll, die Vereinigten Staaten seien eine gerechte Gesellschaft. Die Regeln ihres sozialen und wirtschaftlichen Lebens, sagen sie, seien fair ... Kein Wunder also, dass 20 Prozent aller Amerikaner erklären, sie gehörten dem reichsten Hundertstel der Gesellschaft an; kein Wunder auch, dass weitere 20 Prozent meinen, sie würden schon bald zu dieser bevorzugten Gruppe gehören. Die Kehrseite dieses Optimismus ist: Die große Mehrheit glaubt, alle Armen, Kranken oder Einsamen seien an ihrem Schicksal selbst schuld ... Spätestens jetzt [nach Hurrican Katrina, T./B.] ist die Illusion erledigt, die Tugenden der Mitmenschlichkeit und der Hilfsbereitschaft seien genug, um Menschen Sicherheit zu geben. Wer dies glaubt, verwechselt den moralischen Wert dieser Tugenden mit ihrer Effektivität.“ Es sei daran erinnert, dass auch in der Phase beschleunigter Industrialisiserung und Globalisierung – in Deutschland zwischen 1875 und 1913 – die Reallohn-Entwicklung deutlich hinter dem Produktivitätszuwachs zurückblieb (s. Lutz 1984: 154 f.), ein Phänomen, das sich – in abgeschwächter Form – auch jetzt wieder zeigt. Ob dies lediglich ein vorübergehend zu zahlender Preis ist, damit die weitaus größere Ungleichheit zwischen den „reichen“ und den „armen“ Ländern abgebaut werden kann, ist hier
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den verschiedenen Ländern; zudem wird der Trend von konjunkturellen Schwankungen überlagert. Nimmt man diese Nationen in ihrer Gesamtheit in den Blick, zeichnet er sich aber klar ab (s. Smeeding 2002; Hradil 2005). Er ist ein fundamentales Datum für die Verlagerung der Gewichte vom kooperativen hin zum desintegrativen Individualismus. Darauf wurde schon weiter oben hingewiesen. Im Folgenden werden wir versuchen, diese These zu plausibilisieren. In Kapitelabschnitt 6.2.3 haben wir die Zunahme der ökonomischen Ungleichheit in unseren drei Vergleichsländern anhand verschiedener summarischer Maßzahlen dokumentiert. In Abschnitt 6.5.3.1 wollen wir die extremen Ränder der Einkommens- und Vermögensverteilung etwas beleuchten, die in den üblichen Kennzahlen zur Ungleichheit nicht sichtbar sind. Dabei stützen wir uns wiederum auf ausgedehnte Zeitungs-Recherchen. In Abschnitt 6.5.3.2 werden wir auf einige Aspekte sozialer Exklusionsprozesse eingehen und in Abschnitt 6.5.3.3 die These von der "Renaturalisierung" sozialer Ungleichheit aufgreifen. In beiden Abschnitten verwenden wir erneut vor allem Materialien aus deutschen Quellen, um auch hier wieder allgemeine Sachverhalte und Problemlagen anhand spezifischer Beispiele zu veranschaulichen. (Für länderspezifisches Zahlenmaterial sei auf Abschnitt 6.2.3 verwiesen). Schließlich wird in Abschnitt 6.5.3.4 eine anomie-theoretische Interpretation der "Winner-take-all Society" vorgeschlagen.
nicht zu diskutieren (zu dieser „Trade-off“-These und einer neuen Diskussion über die berühmte „Kuznets-Kurve“ der Entwicklung von Ungleichheit s. Korzeniewicz/Moran 2005: 303; vgl. hierzu die optimistischen Annahmen von Münch 2003). Skeptisch stimmt, dass in den Entwicklungsländern außerhalb Chinas, Indiens und weiterer Länder in Süd-Ost-Asien seit 1975 im allgemeinen ein weitaus geringeres wirtschaftliches Wachstum erzielt wurde als in den USA und den EU-Ländern (detailliert dazu: Milanovic 2005). Die Streuung des mit der Bevölkerung gewichteten Bruttoinlandprodukts pro Kopf hat – wenn China und Indien aus der Betrachtung ausgeschlossen werden – zwischen 1980 und 2000 deutlich zugenommen (der Gini-Index stieg von etwa 0,48 auf 0,54, vgl. Brune/Garrett 2004: 409), was ebenfalls nicht gerade für Konvergenz spricht. Faux/Mishel (2001: 117) präsentieren auf der Basis des UN Human Development Report eine Übersicht, aus der hervorgeht, dass „die am wenigsten entwickelten Länder“ zwischen 1980 und 1995 sogar einen Einkommensverlust hinnehmen mussten. Extreme Armut herrscht nicht nur in weiten Regionen Afrikas, sondern auch in Süd- und Zentralamerika. Laut einer Studie der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (Cepal) hat dort zwischen 2000 und 2003 die Zahl der „sehr Armen“ (die über weniger Einkommen verfügen, als für die physische Subsistenz notwendig ist) um 10 Millionen auf 98 Millionen (von insgesamt 550 Mill. Latinos) zugenommen (seither ist sie allerdings wieder in ähnlichem Umfang rückläufig) (Bericht der Süddeutschen Zeitung vom 1.7.2005 und ECLAC 2005: 52-54). Auch die Welternährungsorganisation (FAO) hat festgestellt, dass die Zahl der Unterernährten, die Anfang der 90er Jahre leicht rückläufig war, inzwischen wieder angestiegen ist (Süddeutsche Zeitung, 26.11.2003). Die Forschungsliteratur zu den Auswirkungen der Globalisierung auf das Wirtschaftswachstum von Entwicklungsländern kommt bei einigen Fragen zu keinen eindeutigen Resultaten. China und Indien scheinen von der Globalisierung zu profitieren, ob dies für andere Länder gilt, ist offen. Vorteilhafte Effekte einer Liberalisierung der Kapitalmärkte sind anscheinend allenfalls dann zu erwarten, wenn im betreffenden Land starke Institutionen vorhanden sind, welche die aus der Volatilität der Kapitalströme resultierenden Risiken abfedern können (Brune/Garrett 2004: 409-412).
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6.5.3.1 Einkommen und Vermögen: Spannweiten der Ungleichheit Die Armutsrisikoquote wird, wie schon in Abschn. 6.2.3 dargelegt, auf unterschiedliche Weise definiert und auf der Basis unterschiedlicher Daten berechnet. In den EUMitgliedsstaaten bezeichnet sie derzeit "den Anteil der Personen in Haushalten, deren bedarfsgewichtetes Nettoäquivalenzeinkommen [s. oben, Fn. 176] sich auf weniger als 60 % des Mittelwertes (Median) aller Personen beläuft. In Deutschland beträgt die so errechnete Armutsrisikogrenze 938 Euro (BMGS 2005: 6), die von 13,5 % (in Ostdeutschland von 19,3 %) aller Personen auch dann unterschritten wird, wenn sie öffentliche Transferzahlungen von Gebietskörperschaften und Sozialversicherungen schon erhalten haben. Werden diese Transferleistungen von den Haushaltseinkommen abgezogen, ergibt sich eine (fiktive) Armutsrisikoquote von 41,3 % (ebd., S. 19 f.). Diese hohe Quote wird allerdings im wesentlichen von den Rentnern "verursacht", die ausschließlich Transferzahlungen (eben die Rente) beziehen. In die (relative) Armut führt nicht nur die Erwerbslosigkeit, sondern auch niedrig bezahlte Arbeit. Nach einer in "Die Zeit" (10. 3. 2005, S. 23) zitierten Studie des DIW (s. Göbel et al. 2005) hatten 1993 2,2 Mill. und 2003 3,0 Mill. der Erwerbstätigen (d.h. 8 %; bei den abhängig Beschäftigten in Vollzeit waren es 4,4 %) Einkommen unterhalb der Armutsschwelle (definiert als jährliches Nettoäquivalenzeinkommen unter 60% des Medians). Dies wird verständlich, wenn man sich die tariflich vereinbarten Stundenlöhne mancher Wirtschaftsbranchen ansieht und bedenkt, dass Beschäftigte mit diesem Verdienst häufig nicht nur sich selbst, sondern auch noch Familienangehörige versorgen müssen. Laut einem von dem ehemaligen nordrheinwestfälischen Arbeitsminister Harald Schartau vorgelegten "Tarifspiegel" legen insgesamt 44 Tarifverträge Niedriglohngruppen bis zu einem Bruttomonatsverdienst von 1300 € fest (Stand v. 5. 12. 2005). Ganz unten auf der Skala sind Hilfskraftarbeiten im Friseurhandwerk platziert (793 €), Hilfsarbeiter in der Landwirtschaft erhalten 1028 €, Wachleute in geschlossenen Objekten 1124 €, ungelernte Verkäufer im Einzelhandel 1187 €. An der Spitze der tariflich vereinbarten Löhne und Gehälter liegt das Baugewerbe, wo bestimmte Tätigkeiten mit 4532 € (ab 1. 4. 06 mit 4577 €) entlohnt werden (s. www.tarifregisternrw.de). Es sei daran erinnert, dass viele Ökonomen immer wieder die in Deutschland zu geringe Lohnspreizung kritisieren370 und entweder fordern oder voraussagen, dass die Erwerbseinkommen "in gar nicht so ferner Zukunft im Durchschnitt um etwa 15 bis 20 Prozent niedriger sein werden als heute" (so Meinhard Miegel in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung, v. 11. 11. 2005, S. 15) Im Durchschnitt (Median) betrug das Brutto-Jahreseinkommen aus unselbständiger Arbeit (einschließlich Arbeitgeberanteile an den Sozialversicherungsbeiträgen) im Jahre 2003 in Gesamtdeutschland 25.692 Euro; bei den Vollzeitbeschäftigten waren es 34.776 Euro371. Das nach der neuen OECD-Skala bedarfsgewichtete durchschnittliche Nettoäquivalenzeinkommen pro Haushaltsmitglied betrug 18.768 Euro (BMGS 2005: 18).
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Für eine Analyse mit gegenteiligem Befund siehe Möller (2004). Die oft zitierte Zahl von „40.000 Euro Arbeitgeberbrutto“ pro vollzeitig Beschäftigtem bezieht sich auf das entsprechende arithmetische Mittel in Westdeutschland.
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Sozialhilfeempfänger in Deutschland (knapp 3 % der deutschen, über 8 % der ausländischen Bevölkerung) verfügten im Jahre 2002 je Haushaltsmitglied über ein (ungewichtetes) Netto-Jahreseinkommen (arithm. Mittel) von 6.100 Euro jährlich; für die Bevölkerung insgesamt belief sich das Durchschnittseinkommen auf 15.000 Euro (Statistisches Bundesamt, Datenreport 2004: 125; BMGS 2005: 60). Nachdem Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe zusammengelegt worden sind (sog. Hartz-IV-Reform), werden für ein Kind monatlich 207 Euro Unterstützung gewährt, bzw. 276 Euro, wenn es über 14 Jahre alt ist (zum Vergleich: schon 1998 gaben Paare mit einem Kind monatlich 498 Euro für dieses Kind aus; s. Peuckert 2005: 403). In den oberen Regionen der Einkommensverteilung werden die Differenzen immer größer. Laut dem neuesten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung hatten 1998 weniger als 6 % der Steuerpflichtigen ein Netto-Äquivalenzeinkommen, das mindestens doppelt so hoch lag wie das arithmetische Mittel (BMGS 2005: 27). Zu den reichsten 1 % gehörte man demnach schon mit einem Nettoeinkommen ab 65.273 Euro. Damit verdiente diese knapp 609.000 Personen umfassende Gruppe aber schon nahezu 10 % des gesamten Einkommens – das innerhalb dieser Gruppe aber wesentlich ungleicher verteilt war als in den darunter liegenden Einkommensgruppen. Nur 0,01 % der Steuerpflichtigen (etwas mehr als 6.000 Personen) verdienten netto mindestens 1 Million Euro; ihr Anteil am Gesamteinkommen betrug damit zwar nur 2,43 %, was aber das 243fache ihres Anteils an der Gesamtzahl der Steuerpflichtigen bedeutet. Wie wir schon sahen, sind die Privatvermögen erheblich ungleicher verteilt als die jährlichen Einkommen. Im Jahre 2003 "(verfügen) die unteren 50 % der Haushalte über etwas weniger als 4 % des gesamten Nettovermögens .... Auf das oberste Zehntel entfallen allein knapp 47 %" (BMGS 2005: 35). Das unterste Zehntel der Haushalte hatte einen Anteil von -0,6 %, also einen Schuldenstand, der ihr Vermögen überstieg. Über die Reichen und Superreichen weiß man in Deutschland recht wenig; sie werden von der alle fünf Jahre vom Statistischen Bundesamt erstellten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe gar nicht erfasst. Allerdings sind die Durchschnittsgehälter der Vorstandsmitglieder der DAX-Unternehmen – teilweise auch (wie im Falle der Deutschen Bank) einzeln offengelegte Gehälter – bekannt. Die entsprechenden Angaben variieren leicht je nach Quelle. Die Süddeutsche Zeitung (3. 9. 04) nennt auf der Basis von Unternehmensangaben und Berechnungen der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz für das Jahr 2003 einen Durchschnittswert (über alle 30 DAX-Unternehmen) von 1,42 Mill. Euro. Bemerkenswert sind auch die jährlichen Fluktuationen; sie reichen von einem Minus von 45 % (Lufthansa) bis zu einem Zuwachs um 146,6 % bei SAP; der durchschnittliche Zuwachs von 2002 bis 2003 betrug 11,2 %. Gelegentlich hört man von Milliardären wie den "Brüdern Albrecht" (ALDI), sie hätten den Geldwert ihres Vermögens innerhalb eines Jahres um 1 Milliarde Euro gesteigert; Bill Gates schafft wohl noch etwas mehr. Betrachtet man die Trendentwicklung von 1990 bis 2002, zeigt sich Folgendes: Das Gewinn- und Vermögenseinkommen in Deutschland konnte preisbereinigt im Durchschnitt um 40 % brutto und um 50 % netto zunehmen. In der gleichen Zeit nahmen die Bruttolöhne der Arbeitnehmer lediglich um 7 % zu, ihre Nettoverdienste gingen sogar um 0,7 % zurück
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(W. Uchatius in "Die Zeit", 23. 9. 2004, S. 25; zu den Verteilungseffekten der Steuerpolitik nach 1995 s. auch K.-P. Schmid in "Die Zeit", 5. 12. 2002, S. 25)372. In Deutschland ist der schon zitierte Josef Ackermann Spitzenreiter unter den Managern. Im Vergleich zu einigen Kollegen in England, der Schweiz oder den USA muss er sich allerdings recht bescheiden vorkommen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung bringt in ihrer Ausgabe vom 28. 7. 2006 (S. 19) eine Liste der höchsten Vergütungen von Vorstandsvorsitzenden in den USA im Jahre 2005 (Quelle: Forbes). Sie beginnt mit Richard D. Fairbank (Capital One Financial), für den 249,42 Mio. US Dollar notiert werden; 68,95 Mio. Dollar reichen für Angelo R. Mozilo (Countrywide Financial) nur zum zehnten Platz. Auch die von Mannesmann gezahlte Abfindung an Herrn Esser in Höhe von rund 30 Millionen Euro nimmt sich geradezu manierlich aus gegenüber der Abfindung im Wert von 130 Millionen Dollar, die der Ex-Disney-Präsident Michael Ovitz 1996 nach nur 14 Monaten Amtszeit erhalten haben soll (Süddeutsche Zeitung, 12. 8. 05). Solche Zahlen werden (halbwegs) anschaulich, wenn man sie ins Verhältnis zum normalen Lebenszeiteinkommen setzt. Nehmen wir als Ausgangspunkt das BruttoDurchschnittseinkommen in Höhe von jährlich 40.000 €, das ein vollzeitbeschäftigter westdeutscher Arbeitnehmer im Jahre 2003 verdient hat. Machen wir die optimistische Annahme, dass er dieses Einkommen (preisbereinigt) über 40 Lebensjahre halten kann. Er käme dann in der Summe auf 1,6 Millionen Euro. Dieses Einkommen verdient Herr Ackermann (s. oben) in weniger als zwei Monaten, der Rennfahrer Michael Schuhmacher in weniger als zwei Wochen und viele amerikanische Chief Executives in einer Zeit irgendwo dazwischen. Sie alle werden noch weit übertrumpft von dem 52jährigen Bill Gates, dessen Vermögen auf einen Betrag von rund 50 Milliarden Dollar geschätzt wird: rein rechnerisch betrachtet, hat er ab seinem zwanzigsten Lebensjahr täglich über 4 Millionen Dollar verdient. Es muss hier nicht diskutiert werden, ob solchen Einkommens- und Vermögensdifferentialen irgendein volkswirtschaftlicher Nutzen zuzuschreiben ist. Es scheint aber von derartigen Reichtümern (selbst wenn sie nicht immer spektakulär zur Schau gestellt werden) ein breit ausgreifender Sog zur Maßlosigkeit auszugehen, der die Distinktionssymbolik gelegentlich grotesk aufbläht,373 zu bizarren Rechtfertigungsversuchen greifen lässt374 und manchmal auch erstaunliche kriminelle Energien freisetzt.375 Sie sind die
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Allerdings ist es uns derzeit nicht möglich, diese Berechnungen zu überprüfen. Nach der volkswirtschaftlichen Gesantrechnung des Statistischen bundesamtes sind die Nettolöhne und –gehälter je Arbeitnehmer zwischen 1991 und 2005 um gut 3% gesunken (Statistisches Bundesamt 2006) So z. B. reicht dem ehemaligen Chef des US-Konzerns General Electric, Jack Welch, seine üppige Pension von 9 Millionen Dollar jährlich nicht. Zeitungsmeldungen zufolge (Süddeutsche Zeitung, 21. 2. 2005, S. 27) ist er gierig nach weiteren Vergünstigungen, die seinen Erfolg demonstrativ sichtbar machen. Sie reichen von der kostenlosen Benutzung eines Firmenjets und einer Wohnung in New York bis zur Inanspruchnahme von Gratis-Theaterkarten. In Deutschland sind Maßlosigkeit und fehlgeleitete Rechtfertigungsversuche in jüngerer Zeit vor allem im „Mannesmann-Prozess“ bühnenreif inszeniert worden. Bekanntlich sind bei der Übernahme der Mannesmann-AG durch den britischen Konzern Vodafone an ehemalige Manager Abfindungen und Anerkennungsprämien in Höhe von 111 Millionen DM gezahlt worden, darunter 60 Millionen DM allein an den Vorstandschef Klaus Esser. Diese Summen wurden unter Verweis auf international übliche Gepflogenheiten gerechtfertigt. Die Effekte einer seinerzeit haussierenden Börse, die bei Übernahme-
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Symptome eines Wirtschaftssystems, das sich ohne umfassende internationale Wettbewerbsordnung global ausbreitet und seit über zwanzig Jahren die zusätzlich geschaffenen Werte disproportional vor allem an diejenigen verteilt, die schon mehr haben als andere. Dabei nimmt die Disproportionalität zu, je weiter man sich der Spitze der Reichtumspyramide nähert (s. Paul Krugmann in Die Zeit, 7. 11. 2002, S. 25 ff. sowie David C. Johnston in New York Times, 5. 6. 2005 mit besonders eindrucksvollen Zahlen). Dabei geraten auch Angehörige der Mittelschicht zunehmend in eine "Zone der Prekarität". 6.5.3.2 Von der Ungleichheit zur sozialen Exklusion Die sich daraus ergebenden negativen Folgen für die soziale Integration der Gesellschaft sind in den letzten Jahren verstärkt unter dem Stichwort der "sozialen Exklusion" diskutiert worden (s. Castel 2000, Kronauer 2002). Der Begriff der "sozialen Marginalisierung" weist in eine ähnliche Richtung. Mit diesen Konzepten werden Zustände und Prozesse angesprochen, die dazu führen, dass für bestimmte Individuen oder Gruppen die Möglichkeiten der sozialen Teilhabe und des Zugangs zu den gesellschaftlichen Institutionen drastisch und für längere Zeit eingeschränkt sind, in der Regel verbunden mit einem Verlust an sozialer Anerkennung. Die beiden wichtigsten Routen, die zu solchen Einschränkungen führen, sind: (a) die Verweigerung von Rechten auf der Basis von askriptiven Merkmalen und Gruppenzugehörigkeiten, Formen sozialer Diskriminierung also; (b) ein Mangel an verfügbaren Ressourcen, der primär aus gesellschaftlich organisierten Verteilungsprozessen und nicht aus dem autonomen, selbst-verantworteten Handeln der betreffenden Personen resultiert.376 Diese Ressourcen sind in unterschiedlicher Weise klassifiziert worden. Besonders prominent ist die Unterscheidung von ökonomischem, sozialem und kulturellem "Kapital", also von finanziellen Mitteln, sozialen Beziehungen, Bildung und Wissen (einschließlich sozial-kommunikativer Kompetenzen). Eine weitere wichtige Ressource ist die körperliche und seelische (geistige) Gesundheit. Man geht davon aus, dass sich die verschiedenen Ressourcen bis zu einem gewissen Grade wechselseitig bedingen, dass sie
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kämpfen üblicherweise die Kurse noch einmal sprunghaft ansteigen lässt (und sie im Falle Mannesmann nach vollzogener Übernahme in noch höherem Maße abfallen ließ) wurden Esser als persönliche Leistung zugerechnet – besonders lautstark von dem Aufsichtsratsmitglied Ackermann, das sich zu der Aussage verstieg, Deutschland sei „das einzige Land, wo die Leute, die Werte schaffen, vor Gericht kommen“ (hier zitiert nach Süddeutsche Zeitung, 23. 1. 2004). (Immerhin ist er für dieses Gebaren sogar von dem manager magazin (Heft 2, 2006, S. 10 f.) gerügt worden). Das „Prinzip der Leistungsgerechtigkeit“, dem Ackermann gefolgt sein will, wurde im übrigen auch dadurch desavouiert, dass Vodafone den nach der Übernahme rapide abgefallen Kurs seiner Aktie beim Düsseldorfer Finanzamt als abzuschreibenden Buchverlust in Höhe von 50 Milliarden Euro geltend gemacht hat (Süddeutsche Zeitung, 7. 6. 2004) – womit das Unternehmen verlangt, dass der Steuerbürger die Prämienzahlung erstattet. Die Korruptionsprozesse der letzten Jahre, in die einige US-Spitzenmanager verwickelt waren (und sind), zeigen nur die Spitze des Eisbergs. Zur weltweit sich ausbreitenden Wirtschaftskriminalität s. Bussmann/ Werle (2006). Zur Analyse des Anreizsystems, das solche Erscheinungen hervorbringt s. Windolf (2005). Zum Thema Korruption s. Bannenberg (2002). Die hier vorliegenden Anreizsysteme sind aber nur eine Komponente in dem umfassenderen Geflecht Anomie erzeugender Ungleichheitsstrukturen (s. unten). Individuelle Merkmale können darüber mit entscheiden, welche, aber nicht wie viele Personen depriviert werden.
sowohl kumulativ abhanden kommen können als auch – zumindest für eine begrenzte Zeit – sich untereinander substituieren lassen. Wir wollen hier nicht in eine begriffliche und theoretische Feinanalyse einsteigen, sondern vor allem einige (weitere) empirische Befunde präsentieren, die für unser Thema relevant sind. Über die Verteilung des ökonomischen Kapitals und die Entwicklung der Armutsquoten in unseren Vergleichsländern ist schon einiges gesagt worden (s. Kapitelabschnitt 6.2.3).377 Soziale Exklusion droht vor allem bei dauerhafter Arbeitslosigkeit und langfristiger Abhängigkeit von Sozialhilfe. Neben den Informationen über die jährliche Zahl der Arbeitslosen und der Sozialhilfe-Empfänger interessiert vor allem die individuelle "Verweildauer": Wie lange bleibt jemand arbeitslos oder abhängig von Sozialhilfe? Wie lange bleibt er oder sie mit seinem Einkommen unterhalb der Armutsgrenze? Welche sozialen Gruppen sind in besonderer Weise betroffen? Hierzu haben wir schon in Kapitelabschnitt 6.2.3 einige Basisinformationen für alle drei Länder referiert. In diesem Abschnitt werden wir vor allem für Deutschland einige Details hinzufügen, insbesondere um die von Armut betroffenen Gruppen näher zu charakterisieren. Dabei stützten wir uns vorwiegend auf den Zweiten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (BMGS 2005).378 Ihm zufolge bezogen am Jahresende 2003 3,7 % aller deutschen Privathaushalte laufende Hilfe zum Lebensunterhalt. Es ist aber davon auszugehen, dass etwa die Hälfte der Anspruchsberechtigten ihren Unterstützungsanspruch nicht geltend macht,379 der Anteil der Hilfsbedürftigen also ungefähr 7 % beträgt (Geißler 2002: 249). Am stärksten betroffen – mit großem Abstand – waren allein erziehende Frauen mit einer Quote von 26,3 % (BMGS 2005: 62).380 Die Berechtigungsgrenze zum Bezug dieser Hilfe liegt unterhalb der offiziellen Armutsgrenze (statt bei 60 % des Medianeinkommens, s. oben, liegt sie zwischen 40 und 45 %), die über 35 % der Alleinerziehenden nicht überschreiten (ebd., S. 76). Ohne Familienlastenausgleich und andere Sozialtransfers betrüge das Armutsrisiko dieser Gruppe sogar mehr als 60 % (ebd., S. 77). Die Sozialhilfequote korreliert negativ mit dem Alter (Statistisches Bundesamt, Datenreport 2004: 218). Bei den unter 18jährigen beträgt die Quote 7,2 %, bei Kindern unter 3 Jahren sogar 11,1 % (BMGS 2005: 59 f.). In
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Es sei noch einmal betont: für die sozialen Teilhabechancen ist in der langfristigen Betrachtung die relative Armut nicht weniger wichtig als die absolute Armut im Sinne der Gefährdung des physischen Existenzminimums. Egal welche Linie unterhalb des Durchschnittseinkommens man als Armutsgrenze definiert: der Anteil der Armen hat seit Mitte der siebziger Jahre zugenommen (s. Geißler 2002: 250 in Verbindung mit Statistisches Bundesamt 2004: 630). Vor allem hat die sog. Armutslücke, ein Maß für den durchschnittlichen Einkommensabstand, der zur Überschreitung der Armutsgrenze fehlt, seit 1994 (für die Zeit davor liegen keine Messungen vor) deutlich zugenommen (ebd.). Eine kompakte und detaillierte Übersicht über gruppenspezifische Armutsquoten liefert der Datenreport (Statistisches Bundesamt 2004: 631 ff.). Über die Gründe hierzu siehe die Kurzdarstellung von Mika (2006); ausführlicher: Becker/Hauser (2005). Diese Situation könnte sich allerdings mit der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe („Hartz IV“) geändert haben. Vergleichsdaten zum Armutsrisiko für unterschiedliche Haushaltstypen und andere Sozialkategorien in Deutschland, Schweden und USA liefert DiPrete (2002). Daraus geht u. a. hervor, dass bei Haushalten mit mindestens einem Vollzeitbeschäftigten das Armutsrisiko in Deutschland niedriger ist als in Schweden, umgekehrt ist die Relation innerhalb der Gruppe der Teilzeitbeschäftigten. Anfang der 90er Jahre liegt das Armutsrisiko allein erziehender Mütter in Schweden bei 5 %, in Deutschland bei 29 % und in den USA bei 56 %.
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Großbritannien ist die Kinderarmut noch höher; ungefähr jedes vierte Kind lebt dort unterhalb der Armutsgrenze. Nach Ergebnissen der Luxembourg Income Study betrug 1999 in Großbritannien die Armutsquote (gemessen an 60% des Medians) bei Kindern unter 18 Jahren 27 %, in Deutschland im Jahr 2000 14,3 % und in Schweden 9,2% (s. Luxembourg Income Study 2005). Über diese Gruppen hinaus ist das Armutsrisiko besonders hoch bei Ausländern (8,4 % bezogen am Jahresende 2003 laufende Hilfe zum Lebensunterhalt) und bei Arbeitslosen, deren Armutsrisikoquote zwischen 1998 und 2003 von 33 % auf 41 % gestiegen ist und die fast die Hälfte aller erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger ausmachen (BMGS 2005: 58, 60, 118). Dagegen soll das Armutsrisiko der Erwerbstätigen seit 1992 nicht angestiegen sein (ebd., S. 116); aber selbst bei den Vollerwerbstätigen mussten im Jahre 2000 immerhin 3,4 % mit einem Einkommen unterhalb der 50-%-Armutsgrenze leben (Geißler 2002: 254). Der Datenreport (Statistisches Bundesamt 2004: 632) gibt diese Quote bei Zugrundelegung des 60-%-Kriteriums für das Jahr 2002 mit 4,7 % an (in den neuen Bundesländern mit 5,8 %). Die gegenwärtig laufenden Diskussionen lassen erwarten, dass der Niedriglohnsektor weiter ausgebaut wird und diese Quoten infolgedessen noch ansteigen werden. Die Gefahr der sozialen Exklusion vergrößert sich, je länger Arbeitslosigkeit und/oder Armut andauern381. In Abschnitt 6.2.3 haben wir bereits einige Befunde zur Verbreitung dauerhafter Armut referiert, die zeigen, dass sie in Großbritannien weiter als in Deutschland und Schweden verbreitet ist. Von Interesse ist daneben der Personenkreis, der zwar nicht dauerhaft unter der Armutsschwelle lebt, aber immer wieder von Armutsepisoden betroffen ist. So waren in Deutschland während einer fünfjährigen Untersuchungsperiode (Umfragen des "Sozio-ökonomischen Panels" am DIW) immerhin etwa 25 % der Bevölkerung mindestens einmal kurzzeitig von (relativer) Armut betroffen, 6 % der Bevölkerung mit immer wiederkehrenden Phasen und 10 % dauerhaft über drei oder mehr Jahre. Diese
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Wie schon in Kapitel 4 dargestellt, ist der Anteil der Langzeitarbeitslosen in Deutschland besonders hoch. Dieser Anteil korreliert positiv mit dem Alter. Der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung gibt die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit (bei deren Beendigung) mit knapp 9 Monaten an und folgert daraus: „Arbeitslosigkeit ist somit für die meisten Betroffenen kein langfristiges Problem“ (ebd., S. 112). Dieser Schluss scheint uns schon deshalb voreilig, weil er wiederholte Perioden der Arbeitslosigkeit nicht berücksichtigt. So waren z. B. nach einer Untersuchung der OECD (2002b: 201f.) in Deutschland von den im Dezember 1995 Arbeitslosen 87 % in der Periode zwischen 1994 und 1997 insgesamt mindestens 12 Monate arbeitslos, und zwar im Durchschnitt 28 Monate; in Großbritannien galt dies für 78 % der zum gleichen Zeitpunkt arbeitslosen Personen, die es im Durchschnitt auf 26 Monate Arbeitslosigkeit brachten (für Schweden werden keine Angaben gemacht). In beiden Ländern verbrachte etwa die Hälfte der im Dezember 1995 arbeitslosen Erwerbstätigen mindestens ein Viertel der Jahre 1994 bis 1997 in Arbeitslosigkeit, ohne zu irgendeinem Zeitpunkt als Langzeitarbeitsloser im konventionellen Sinne zu gelten. Eine Studie zur Dauer des Sozialhilfebezugs – also bei einem noch tiefer angesetzten Armutskriterium, das knapp über der 40-Prozent-Grenze liegt – kommt zu dem Ergebnis, dass nach einem Zeitraum von zweieinhalb Jahren knapp die Hälfte der Betroffenen einen nicht nur vorübergehenden Ausstieg aus der Sozialhilfe geschafft hatte. Ein besonderes Risiko innerhalb der Gruppe von Personen im erwerbsfähigen Alter tragen hier die 50- bis 59-Jährigen mit einer durchschnittlichen Bezugsdauer von 41 Monaten (BMGS 2005: 64). Mit der Zunahme der Hilfsbedürftigen ist – seit den 80er Jahren – die mittlere Dauer des Sozialhilfebezugs zurückgegangen, wohl vor allem deshalb, weil die Arbeitslosen (die einen zunehmenden Anteil der Hilfsbedürftigen stellen) vergleichsweise kurzzeitig auf diese Hilfe angewiesen sind (Geißler 2002: 262).
Personen wiesen häufig ein relativ niedriges Bildungs- bzw. Qualifikationsniveau auf (BMGS 2005: 25). Eine andere Untersuchung, die die 50-%-Armutsgrenze heranzieht, kommt zu dem Ergebnis, dass zwischen 1991 und 1997 etwa ein Fünftel der Deutschen zumindest kurzfristig und über 8 % längerfristig (mindestens 3 von 7 Jahren) diese Linie unterschritten haben (zitiert in Geißler 2002: 263, 269). Geißler addiert zu dieser Gruppe noch die Mehrzahl der in Deutschland registrierten Ausländer und kommt auf diese Weise (im Sinne einer "informierten Schätzung") zur Definition einer "Randschicht", die 14 bis 15 % der in Westdeutschland lebenden Bevölkerung, also 9 bis 10 Millionen Menschen umfasst. Er hält es aber wegen der noch relativ hohen Armutsfluktuation und weitgehend fehlender Ghettobildung nicht für sinnvoll, sie als "soziale Unterklasse" zu bezeichnen (ebd., S. 267). Allerdings scheint sich der Trend hin zu sozial-räumlicher Segregation in den letzten Jahren beschleunigt zu haben. Der Stadtsoziologe Hartmut Häußermann wird in "Die Zeit" (16. 12. 2004) mit der Aussage zitiert: "Die sozial gemischten Quartiere lösen sich auf, und eine stärkere Sortierung der Wohnbevölkerung nach Einkommen, Lebensstil und Nationalität in verschiedenen Quartieren greift Platz" (s. auch Häußermann/Kapphan 2000). Längere Arbeitslosigkeit und Armut sind nicht nur mit erheblichen Einschränkungen in der alltäglichen Lebensführung, insbesondere beim Konsum und der Ernährung, verbunden (s. Andreß 1999). Darüber hinaus werden psycho-soziale Schäden und Beeinträchtigungen wahrscheinlicher (s. BMGS 2005: 171 unter Verweis auf eine Studie von Neumann et al. sowie die in Geißler 2002: 264 ff. zitierte Literatur), z. B. eine stärkere Belastung mit körperlichen und seelischen Krankheiten, niedrigere Lebensdauer, mehr Streit in der Familie, niedrigere politische Beteiligung. "Gravierend sind die Folgen besonders für junge Menschen. Bei 12- bis 16-Jährigen aus unterversorgten Familien sind die Risiken, mit dem Leben unzufrieden zu sein, sich als Außenseiter zu fühlen und von den Mitschülern nicht akzeptiert zu werden, etwa doppelt so hoch wie bei Gleichaltrigen aus Durchschnittsfamilien; auch Gefühle von Einsamkeit und Hilflosigkeit sowie Defizite im Selbstbewusstsein treten häufiger auf" (Geißler 2002: 265). Dagegen sieht Geißler keine allgemeine, über Einzelfälle hinausgehende Bestätigung der sozialen Isolationsthese. Petra Böhnke (2001: 19) hat dagegen auf der Basis der Daten des Wohlfahrtssurveys von 1998 festgestellt, dass die Zufriedenheit mit den Möglichkeiten der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben deutlich zurückgeht, wenn die Zahl der Benachteiligungen auf verschiedenen Dimensionen sozio-ökonomischer Ressourcen ansteigt. Nicht nur die soziale Isolation nimmt zu, sondern auch Angstgefühle, individuelle "Anomie" (definiert als normative und kognitive Desorientierung) sowie die Erfahrung von Kontrollverlusten und Unsicherheit (ebd., S. 21). In einem weiteren Artikel stellt die gleiche Autorin auf der Basis mehrerer Bevölkerungsumfragen fest, dass zwischen 1988 und 2003 der Anteil derer, die sich aus der Gesellschaft ausgegrenzt fühlen, auf etwa 10 % der Gesamtbevölkerung zugenommen hat (Böhnke 2005: 33). "Insbesondere von Langzeitarbeitslosigkeit, anhaltend prekären Lebensbedingungen und chronischer Krankheit Betroffene nehmen ihre Chancen der Teilhabe als massiv eingeschränkt wahr ... Mehrfache und dauerhafte Benachteiligung in materieller und sozialer Hinsicht betrifft nahezu ausschließlich gering Qualifizierte sowie Angehörige der un- oder angelernten Arbeiterschicht ... 1988 hatte etwa jeder Zehnte derjenigen, die sich der Arbeiterschicht zuordnen, Sorge um seinen Arbeitsplatz. Gegenwärtig ist es nahezu jeder Vierte. Der relative Anstieg der Angst vor Arbeitslosigkeit in Mittel- und Oberschicht ist noch gravierender. Es sind aber insgesamt nur etwa zehn bzw. acht Prozent der jeweiligen Bevölkerung im Jahr 2004 davon betroffen" (ebd., S. 34 f.) Eine weitere Zeitreihe für Westdeutschland lässt außerdem für die 90er Jahre eine 331
deutliche Zunahme von "Orientierungslosigkeit" erkennen (Eindruck, das Leben sei zu kompliziert geworden, um sich darin zurechtzufinden) – wiederum vor allem in der schwächsten Einkommensgruppe, aber: "Auch in der Mittelschicht sind Ängste und Verunsicherungen verbreitet, die vor allem aus Veränderungen am Arbeitsmarkt resultieren" (ebd., S. 35 f.; vgl. verschiedene Beiträge in Heitmeyer 2006). In einem Bericht für die European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions hat Petra Böhnke (2004) auch Daten für einen Ländervergleich vorgelegt, die auf Bevölkerungsumfragen ("Eurobarometer" 2001 und 2002) beruhen. In ihnen wurde mit mehreren Fragen ermittelt, ob oder wie stark sich Menschen als sozial ausgegrenzt wahrnehmen. Bei Anwendung gleicher Kriterien fühlen sich knapp 14 % der Briten, 12 % der Deutschen und gut 8 % der Schweden sozial ausgeschlossen (ebd., S. 17). Menschen im unteren Einkommensquartil fühlen sich deutlich häufiger ausgegrenzt: in GB sind es 29 %, in D 24 % und in SW 19 % (ebd., S. 24). Die Schicht- bzw. Klassendifferenzen sind in Großbritannien stärker ausgeprägt als in den beiden anderen Ländern (ebd., S. 26). Arbeitslose und vorübergehend nicht Arbeitende fühlen sich in Deutschland aber häufiger ausgegrenzt (42 %) als in GB (32 %) oder Schweden (16 %) (ebd., S. 29). In der sich entwickelnden Informations- und Wissensgesellschaft ist das Bildungs- und Qualifikationsniveau als Bestimmungsfaktor für ökonomischen Erfolg und soziale Teilnahme zunehmend bedeutsam geworden. Im Vollzug der Bildungsexpansion seit den 60er Jahren382 und infolge der gestiegenen Qualifikationsanforderungen auf dem Arbeitsmarkt sind niedrige Bildungsabschlüsse entwertet worden, ihr Marginalisierungspotential hat folglich zugenommen. 1952 besuchten 79 % der Siebtklässler in der Bundesrepublik die Volksschule, 1999 ging in (Gesamt-)Deutschland weniger als ein Drittel aller Schüler dieser Altersstufe in die Hauptschule bzw. integrierte Hauptschule (Geißler 2002: 335). Der Anteil der Schulabgänger mit einem Hauptschulabschluss liegt nur noch bei ca. 25 % (Solga 2003: 549). Wenn die Mehrheit der Bevölkerung einen Bildungsabschluss nur auf der formal niedrigsten Stufe erreicht, ist dieser Abschluss für sich genommen kein Ansatzpunkt für soziale Marginalisierung. Heute dagegen sind Personen mit Hauptschulabschluss in fast allen Bereichen sozialer und ökonomischer Teilhabe erheblich benachteiligt. Sie sind als Gruppe sehr viel homogener und im Durchschnitt schon deshalb auch relativ leistungsschwächer als die frühere Gruppe der Volksschüler. Hinzu kommt, dass in Deutschland Bildungsniveau und Schulerfolg besonders stark von der sozialen Schichtzugehörigkeit der Eltern bestimmt sind383 (s. die vielzitierten PISA-Studien). Die stärkere
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Die Bildungsexpansion ist in Deutschland allerdings schon vor zehn Jahren an ihr (vorläufiges) Ende gelangt; die Verteilung der Schüler auf die verschiedenen Schulformen hat sich seitdem kaum noch verändert. Der zweite Pisa-Bundesländer-Vergleich, der im Herbst 2005 vorgestellt wurde, stellt fest, dass sogar bei gleichem Wissensstand und Lernvermögen ein 15-jähriger Schüler aus reichem Elternhaus eine viermal so große Chance hat, das Abitur zu erlangen als ein gleichaltriger aus einer ärmeren Familie (Süddeutsche Zeitung, 31.10./1.11.05; s. auch Prenzel et al. 2005: 32). Die herkunftsbedingte Selektivität schwankt mit dem Lebensalter und den verschiedenen Stufen des Bildungssystems (s. Hillmert/Jacob 2005). Der Erste Bildungsbericht der Bundesregierung verweist ebenfalls auf die PISA Studien (von 2000 und 2003), wenn er feststellt, der sog. „soziale Gradient“, der die Stärke des Zusammenhangs zwischen sozialer Herkunft der Familie und der Lesekompetenz der Schüler ausdrückt, sei „in Deutschland so steil wie in keinem anderen Staat“ (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2006: 70). Zum Zusammenhang
Selektivität liefert ein größeres Potential für soziale Exklusion. Hauptschüler stellen in gewissem Sinne eine "normabweichende Minderheit" dar, die sozial stigmatisiert wird, diese Diskreditierung teilweise aber auch in ihr Selbstbild übernimmt – u. a. mit der Folge, sich gar nicht erst um qualifizierte Arbeitsplätze zu bewerben. Heike Solga (2002) hat in einer eindrucksvollen empirischen Studie gezeigt, wie auf dem Arbeitsmarkt Verdrängungseffekte durch Höherqualifizierte384 mit den aus der Stigmatisierung folgenden Prozessen der Fremd- und Selbstselektion zusammenwirken und gemeinsam soziale Exklusion begünstigen. Der Zugang zum Arbeitsmarkt und damit der Zugang zu einer "Normalbiografie" ist insbesondere für diejenigen erschwert oder gänzlich blockiert, die keinen Schulabschluss erreichen (s. Solga 2003). Zwar ist ihr Anteil von 10 % heute nur noch halb so hoch wie 1965; aber diese Jugendlichen besuchen heute bis zum Abbruch ihrer Bemühungen die Schule etwa genauso lange wie Schulentlassene mit einer Mittleren Reife, ein Tatbestand, der "in neuer Qualität zu altersbasierten Selbst- und Fremdtypisierungsprozessen mit negativer Bilanz bei(trägt)" (ebd., S. 551). Unter den Jugendlichen ohne Schulabschluss hat sich zwar der Anteil derjenigen, die in ein berufliches Bildungssystem eintreten, ebenfalls erhöht (auf über 90 % bei den Männern und ca. 85 % bei den Frauen); aber nur 30 % derjenigen, die an einer solchen "ausbildungsvorbereitenden Maßnahme" teilnehmen, erreichen im Anschluss daran den Übergang in eine stabile berufliche Ausbildung oder Beschäftigung (ebd., S. 553). Auch im deutschen System beruflicher Ausbildung zeichnet sich seit Mitte der 90er Jahre eine problematische Strukturverschiebung ab: zwischen 1995 und 2004 hat sich die Zahl der Teilnehmer am sog. Übergangssystem385 um 43 % erhöht. 1995 waren diesem Teilsystem beruflicher Ausbildung knapp 32 %, 2004 knapp 40 % aller Neuzugänge zugeordnet (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2006: 80 f.). "Für zwei Fünftel der Ausbildungsanfänger beginnt ihr Start ins Berufsleben mit Unsicherheit und ohne konkrete Berufsbildungsperspektive ... Hier könnte ein wichtiges Arbeitskräftepotenzial für die Zukunft verspielt und sozialer Ausgrenzung Vorschub geleistet werden" (ebd., S. 82). Das Ausgrenzungspotential konzentriert sich auch hier wieder auf die Schulabbrecher und Hauptschüler. Über die Hälfte der Absolventinnen und Absolventen mit Hauptschulabschluss und mehr als 84 % derjenigen ohne Abschluss hielten sich 2004 mit ungewisser Perspektive in dem Übergangssystem auf (ebd.). Hierzu passt die schon früher zitierte
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zwischen Sozialer Schicht, sozialem und kulturellem Kapital sowie Schulleistungen siehe auch Jungbauer-Gans (2004). Vermutlich wirken hier zwei Effekte zusammen: das durchschnittliche Leistungsvermögen der Hauptschüler liegt niedriger als das der früheren Volksschüler; andererseits dürften im expandierenden Dienstleistungsbereich die Qualifikationsanforderungen gestiegen sein: höhere kognitive, soziale und kulturelle Kompetenzen, mehr Selbstinititative und Flexibilität sind gefragt. „Die beruflichen Bildungsteilsysteme sind nach Bildungsziel und rechtlichem Status der Schülerinnen und Schüler unterschieden. Bildungsgänge, die einen qualifizierenden beruflichen Abschluss vermitteln, finden sich im dualen System [betriebliche Ausbildung mit begleitendem Berufsschulunterricht, T./B.], im Schulberufssystem (vollzeitschulische Ausbildung) und in der Beamtenausbildung (einfacher und mittlerer Dienst). Maßnahmen außerschulischer Träger und schulische Bildungsgänge, sofern sie keinen qualifizierenden Berufsabschluss anbieten, sind dem Übergangssystem zugeordnet“ (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2006: 84; Hervorhebung T./B.).
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Information von Pfeiffer/Wetzels (1999), wonach etwa vier Fünftel der Zunahme der Jugendgewalt in den 90er Jahren sozialen Randgruppen zuzuschreiben ist (ebd., S. 7 f.). 6.5.3.3 Gerechtigkeitsdefizite und die Renaturalisierung der Ungleichheit Über den Zusammenhang von sozialer bzw. ökonomischer Ungleichheit und Gewaltkriminalität ist in Abschn. 6.1.2.4 schon einiges gesagt worden. Er kann über verschiedene Kanäle hergestellt werden. Zwei dieser vermittelnden Prozesse und Strukturen sollen hier noch etwas näher betrachtet werden: die Verletzung von Gerechtigkeitsprinzipien und (im folgenden Abschn. 6.5.3.4) die von Merton (1938; 1968) konzipierte strukturelle Anomie. Im ersten Fall wird angenommen, dass die (mutmaßliche oder reale) Verletzung von Gerechtigkeitsprinzipien bei den Benachteiligten die normativen Bindungen erodieren lässt. Daraus folgt nicht zwangsläufig kriminelles bzw. gewalttätiges Handeln, aber es wird wahrscheinlicher, wenn die Benachteiligung zunimmt.386 Mertons Konzept steht nicht in Opposition zu dieser Annahme, kommt aber ohne sie aus. Das heißt, er identifiziert eine spezifische Struktur von Ungleichheit, die auch dann deviantes Verhalten erwarten lässt, wenn die Benachteiligten ihre Situation nicht als ungerecht interpretieren. Außerdem fördert diese Struktur kriminelles Verhalten nicht nur bei den Benachteiligten. Auf eine ausgedehnte Erörterung von Gerechtigkeitsprinzipien müssen wir hier verzichten. In demokratischen Gesellschaften scheinen folgende Regeln oder Kriterien weitgehend anerkannt zu sein: (1) Wer mehr leistet, soll auch mehr verdienen: Leistungsgerechtigkeit. Umstritten ist, wie die Leistung in den jeweiligen Kontexten "gemessen" werden soll und welches Verhältnis von Leistungs- und Belohnungsdifferenz wünschenswert oder akzeptabel ist. (2) Unabhängig von der Leistung sollte die Befriedigung bestimmter physischer und sozialer Grundbedürfnisse gesichert bzw. eine Mindestentlohnung gewährt werden: Bedarfsgerechtigkeit. Umstritten ist, welche Bedürfnisse hierbei in Anschlag zu bringen sind, bis zu welchem Grade sie erfüllt sein sollen und wer dafür Sorge zu tragen hat. (3) Bei der Anwendung dieser Verteilungsprinzipien sollten alle Menschen gleich behandelt werden und alle sollten die gleiche Chance erhalten, ihre Talente und ihr Leistungsvermögen zu entwickeln bzw. einzusetzen: Gleichheitsprinzip, Chancengleichheit. Umstritten sind hierbei die Grenzen des Sozialverbandes (des sog. "Verteilungsuniversums", s. Wegener 2001: 884), innerhalb dessen der Gleichheitsgrundsatz in den verschiedenen Anwendungssituationen gelten soll – die Familie, die Freundschaftsgruppe, die Nation, die Weltgesellschaft usw. Die "Globalisierung", das sei nebenbei angemerkt, wird auch deshalb zu einer Quelle der Desorientierung, weil sie die für komparative Gerechtigkeitsaussagen benötigten Grenzziehungen zumindest im politischen Raum enorm erschwert. Die oben skizzierte "Winner-take-all"-Gesellschaft ist u. a. dadurch gekennzeichnet, dass sie "nach unten" das Leistungsprinzip gegen die Bedarfsgerechtigkeit ausspielt und "nach oben" das Leistungsprinzip durch das Erfolgsprinzip (weitgehend) ersetzt. Die
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Zur „Gerechtigkeitsmotivation“ (neben der Motivation zu sozialer Kontrolle und der Identitätsmotivation) als Antrieb für aggressive Handlungen s. Tedeschi (2002: 582 f.).
Verantwortungsrhetorik bläht sich auf, die Bedürftigkeitsprüfungen und die Zumutbarkeitsregeln im Rahmen sozialstaatlicher Unterstützungsleistungen werden strenger (s. oben) und der Erfolg in ökonomischen Märkten – die dort erreichte, in Geldgrößen ausdrückbare "Wertschöpfung" – wird zum Indikator, zum Nachweis für das Maß individueller Leistungen. Dabei wird propagandistisch verdeckt, was offenkundig sein könnte (s. das oben zitierte Beispiel "Mannesmann"): Unter der Dominanz globalisierter Finanzmärkte wird der monetäre Erfolg (gemessen u. a. an volatilen Börsenkursen, die sich von den Realwerten der Unternehmen weitgehend gelöst haben) in den oberen Rängen der Einkommens- und Vermögensskala in hohem Maße vom Zufall abhängig. Manager, die in einem Jahr zu den "Besten" ihrer Zunft ausgerufen werden, verlieren wunderlicherweise ihr Leistungsvermögen innerhalb eines oder weniger Jahre und werden zu geschassten Versagern (mit komfortablen Abfindungen allerdings). Zusammenschlüsse großer Unternehmen sind nur zu 50 Prozent, einige Quellen sprechen sogar von nur 25 % (s. manager magazin 2006: 64, Interview mit Roland-Berger-Chef Burkhard Schwenker) erfolgsträchtig387. Das auf Basis der Bildungsinvestitionen (maßgeblich für das individuelle Leistungsvermögen) errechnete Humankapital ist erheblich gleichmäßiger verteilt als das materielle Vermögen (BMGS 2005: 42 f.). Besonders krass von Zufallseinflüssen abhängig sind die Erfolge in der Unterhaltungsindustrie und im Show-Business, wie jüngst ein sozialwissenschaftliches Internet-Experiment zu Platzierungen in den Hit-Paraden gezeigt hat (Salganik/Dodds/Watts 2006). Es ist bekannt, dass Verleger und Lektoren, Musik- und Filmproduzenten den Erfolg oder Misserfolg ihrer Produkte häufig nicht korrekt voraussagen können. Entscheidend kann sein, ob das Werk in einer Talkshow positiv angesprochen wird. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der Wirtschaftsexperte und empirische Gerechtigkeitsforscher Gert G. Wagner vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) meint feststellen zu können, dass die meisten Menschen den "Superstars unter den Musikern oder Sportlern ... ihre Einkünfte nicht neide(n)" – warum?: "Im Zeitalter der preiswerten Verbreitung der einzigartigen Leistung via Massenmedien können Superstars deswegen [wegen ihrer Leistung oder wegen deren Verbreitung in den Massenmedien? T./B.] unglaubliche Einkommen erwirtschaften, denn die von ihnen produzierte Wertschöpfung ist enorm. Neid spielt wohl vor allem deswegen keine Rolle, weil die Supereinkommen auf einem knallharten und völlig transparenten Markt verdient werden" (in: Süddeutsche Zeitung, 3. 9. 2004). Wagner verwechselt hier möglicherweise die Transparenz des Marktergebnisses mit der nicht vorhandenen und nicht herstellbaren Transparenz des Marktgeschehens. Folglich glaubt er, die wahrgenommene Gerechtigkeitslücke bei den Gehältern der Spitzenmanager388 wäre dadurch zu schließen, dass nicht die
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Die Süddeutsche Zeitung berichtet am 6.9.2006 und am 22.9.2006 (S.23) über eine Studie der Unternehmensberatung Ernst & Young, derzufolge zwischen 1950 und 2000 „etwa 62 % aller Übernahmen und Zusammenschlüsse gescheitert sind oder Wert vernichtet haben“. Schupp/Wagner (2005) stellen auf der Basis der Daten des sozioökonomischen Panels (SOEP) des DIW fest, dass die Mehrheit der bundesdeutschen Berufstätigen sich selbst als angemessen entlohnt fühlt, dass aber nur 23 % die Managergehälter und 29 % die Hilfsarbeiterlöhne für gerecht halten, mehrheitlich also die ersten für zu hoch und die zweiten als zu niedrig ansehen. Außerdem halten drei Viertel der Bevölkerung, darunter auch zwei Drittel der leitenden Angestellten, die Managergehälter für zu niedrig
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Kollegen in den Aufsichtsräten, sondern die Aktionäre über das Gehalt der Vorstandsmitglieder entscheiden. "Dem innovativen Unternehmer, der pfiffig ist und persönliche Risiken eingeht, wird sein Vermögen ... kaum geneidet. Bill Gates ist ein Beispiel dafür" (ebd.). Wagners Einlassungen sind ein Hinweis auf die zunehmend erfolgreiche Verdrängung des Leistungsprinzips (in der Praxis, nicht in der Rhetorik) durch das marktgebundene Erfolgsprinzip – sogar innerhalb einer beibehaltenen, Legitimität suggerierenden Semantik der Gerechtigkeit: Wo der Zufall regiert und hohe Gewinne verspricht, scheint der Gerechtigkeit Genüge getan, weil scheinbar jeder in das Spiel einsteigen kann389. Eine völlig andere Deutung dieser Vorgänge liefert Sieghard Neckel: "Märkte sind ausschließlich an ökonomischen Ergebnissen interessiert, gegenüber der Art ihres Zustandekommens sind sie gleichsam ‚blind‘ und neutral ... Im normativen Bezugsrahmen des Leistungsprinzips zeigen sich [dagegen, T./B]... jene Reziprozitätsregeln am Werk, die insgesamt den Zusammenhalt einer Gesellschaft begründen [wir würden hinzufügen: solange sie die Bedarfsgerechtigkeit nicht untergraben, T./B.] ... Der Geldwert des Erfolgs lässt die Gewinne zu den bereits Mächtigen streben, sodass zwischen Individuen und Gruppen die scharfe Unterscheidung von Gewinnern und Verlierern regiert. Wenn Markterfolge zur Grundlage gesellschaftlichen Ansehens werden, können Misserfolge die Voraussetzungen sozialer Anerkennung vernichten ... Bei der Statusverteilung kommt es nun nicht allein darauf an, die eigene Position zu verbessern, was auch den Konkurrenten eine Chance auf Fortkommen gewährt, sondern den Rivalen Niederlagen zu bescheren" (Neckel 2001: 259, 261; vgl. Neckel/Dröge 2002). Selbst erfolgreich wird man nicht zuletzt durch den Misserfolg der anderen (s. den schon oben zitierten Begriff des "agonalen Wettbewerbs"). 390 Fast paradoxerweise verleiht der Siegeszug des Erfolgsprinzips dem altertümlichen Herkunftsprinzip neuen Glanz, nicht zuletzt durch die (insbesondere in Deutschland steuerlich kaum behinderte) Vererbung von Vermögen und Positionen (finanziellem, sozialem und kulturellem Kapital) der Eltern an die Kinder. "Durch den leistungslosen Erwerb von Sachwerten, Geld und Aktienkapital kommt derzeit schon die Hälfte des
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und etwa 65 % die Hilfsarbeiterlöhne für zu hoch besteuert. „(Es wird) deutlich, dass in Fragen der Einkommen- und Steuergerechtigkeit in allen Schichten der Bevölkerung egalitärer gedacht wird, als es in breiten Teilen der öffentlichen Meinung und der Politik angenommen wird“ (ebd., S. 451). Dazu muss angemerkt werden, dass die durchschnittliche steuerliche Belastung der Bruttoeinkommen prozentual erheblich unterhalb der nominalen Steuersätze liegt. Zwar ist es richtig, dass die obersten zehn Prozent der Einkommensbezieher (Durchschnittseinkommen 135.000 €) gut die Hälfte (51,3 %) des Steueraufkommens tragen; ihr effektiver (durchschnittlicher) Steuersatz beträgt aber nur 23 % (Bach 2005: 524). Die Zahl der Aktienbesitzer in Deutschland hat sich in den Jahren des Börsenbooms zwischen 1997 und 1999 mehr als verdoppelt – „seit 1999 gibt es somit erstmals mehr Aktionäre in Deutschland als Mitglieder im Deutschen Gewerkschaftsbund“, wie Neckel (2001: 256) anmerkt. Allerdings ist der Aktienbesitz weiterhin extrem ungleich über die sozialen Schichten verteilt. Die Agonalität des Wettbewerbs kommt auch in der Sprache der Akteure zum Vorschein. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung (7. 3. 2006, S. 20) lässt sich z. B. der Vorstandsvorsitzende von Dell Computers wie folgt vernehmen: „Wir werden die Branche auch in Zukunft dominieren. Denn selbst wenn wir die Preise senken, verdienen wir mehr als alle anderen. In welchen Aggressionsmodus die Konkurrenz auch schaltet – am Ende wird Dell den Kampf gewinnen.“
bestehenden Vermögensbesitzes zustande" (Neckel/Dröge 2002: 97). Die besten Chancen, in Spitzenpositionen der Wirtschaft und der Wissenschaft zu gelangen, haben weiterhin Personen, die dem Großbürgertum entstammen (Hartmann 2002). All dies bedeutet freilich nicht, dass persönliche Leistung – im Sinne von Anstrengung und kompetenter Aufgabenerfüllung – für die Entlohnung generell keine Rolle mehr spielte. Innerhalb der betrieblichen Arbeitsstrukturen hat im Gegenteil die verstärkte Ergebnisorientierung (das Benchmarking) zu größerer Arbeitsverdichtung und intensiviertem Arbeitseinsatz geführt (s. Pongratz 2003). Leistung ist zwar in vielen Fällen noch eine notwendige aber seltener eine hinreichende Bedingung für den angestrebten Erfolg. Leistung und Erfolg entwickeln sich zunehmend disproportional, vor allem wenn es um sehr hohe Einkommen und Vermögen geht. Wir möchten diesen Beobachtungen eine – einstweilen noch recht spekulative – Überlegung hinzufügen. Bernhard Giesen hat in einer Analyse verschiedener Formen von Ungleichheit und diverser Strategien ihrer Rechtfertigung das Konzept einer "Naturalisierung der Ungleichheit" eingeführt. Er definiert sie als das Bemühen, soziale Ungleichheit als naturbedingt auszugeben, sie somit dem Geltungsbereich des Gleichheitsideals zu entziehen und vom Begründungs- und Veränderungsdruck zu befreien (Giesen 1987: 315). Solche Versuche hat es auch in modernen Gesellschaften stets gegeben; man kann aber wohl annehmen, dass sie verstärkt werden, wenn die Ungleichheit zunimmt, vor allem dann, wenn ein vorangegangener Trend zu mehr Gleichheit umgedreht wird (s. oben).391 Des weiteren lässt sich konstatieren, dass es auch in modernen Demokratien und Marktgesellschaften stets Standesdünkel, differentielle Prestigezuschreibungen und Distinktionsansprüche gegeben hat, die sich weniger auf differentielle Leistungen als auf die soziale Herkunft und andere askriptive Merkmale392 stützen. In der jetzigen Entwicklungsphase werden der monetäre Erfolg und die damit erwerbbaren Güter und Machtpositionen zu überragenden (wenn auch nicht zu alleinigen) Distinktionsausweisen.393 Der statussicherende Erfolg ist nicht eine absolute, sondern eine relative Größe; man kann ihn nur haben, sofern andere weniger davon haben. Zunehmend ist der (marktabhängige) Erfolg nicht auf eine unabhängig von ihm zu identifizierende Leistung zurückzuführen, sondern der Erfolg wird umgekehrt zum Beleg der Leistung, der Misserfolg dagegen zu einem persönlich zurechenbaren Versagen: der Erfolglose oder minder Erfolgreiche will oder kann es nicht (besser), er ist entweder moralisch oder natürlich defekt. Umfrageergebnisse auf der Basis der "Eurobarometer"-Studien zeigen, dass diese Tendenz in Großbritannien stärker ausgeprägt ist als in den beiden anderen
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Michael Young (1958) hat schon vor einem halben Jahrhundert die Vermutung geäußert, dass naturalistische Rechtfertigungen von Ungleichheit um sich greifen, wenn das Leistungsprinzip auf die Spitze getrieben wird. (Diesen Hinweis verdanken wir Reinhard Kreckel) Auch das „gute Aussehen“ scheint, zumindest in den USA, zunehmend an Bedeutung zu gewinnen. Die New York Times (Beilage zur Süddeutschen Zeitung, 27. 2. 2006, S. 5) berichtet, dass nach Angaben der American Academy of Facial Plastic and Reconstructive Surgery die Zahl der chirurgischen Gesichtsmanipulationen von 2000 zu 2004 um 34 % zugenommen habe, wobei „22 percent of men and 15 percent of women who sought plastic surgery did so for work-related reasons“. Die folgenden Ausführungen sollen eine Tendenz beschreiben, nicht einen bereits voll entwickelten Zustand.
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Ländern. 25 Prozent der befragten Briten gehen davon aus, dass Menschen, die in einer Notlage leben, zu faul sind bzw. nicht genügend Willenskraft aufbringen. In Deutschland lag dieser Anteil bei 18, in Schweden bei 9 Prozent. Nur 22 Prozent der Briten sehen die Ursache solcher Notlagen in gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten, in Deutschland sind es 40, in Schweden 44 Prozent (Böhnke 2004: 10). Die von oben nach unten durchgereichte Entwertung wird umso brachialer, je stärker die Ökonomisierung der Gesellschaft (s. oben, Abschn. 6.5.3.2) vorangeschritten ist, weil sich in diesem Prozess die Möglichkeiten verringern, Anerkennung vermöge sonstiger (nicht geldwerter) Tugenden und Fähigkeiten zu erwerben. Was den Verlierern am unteren Ende der Erfolgsskala bleibt, ist die Suche nach anderen Schwachen oder noch Schwächeren, die Suche nach der abwertbaren "Andersartigkeit", die man Andersfarbigen, Asylanten, Obdachlosen, Drogenabhängigen, Behinderten oder wem auch immer zuschreiben kann, um wenigstens im Vergleich zu ihnen eigene Überlegenheit behaupten zu können. Anschauliche Materialien und Befunde hierzu liefert die schon in Kapitelabschn. 6.1.2.4 zitierte Studie von Wilkinson et al. (1998). Auf diese Weise könnte sich ein Prozess der Re-Hierarchisierung sozialer Beziehungen einstellen, die nicht auf Herkunft, sondern auf verschärfter, verallgemeinerter Konkurrenz beruht und askriptive Merkmale zusätzlich oder hilfsweise einsetzt (vor allem jene, die medial besonders gut verwertbar sind). Die strukturelle Basis dieser Hierarchisierung ist also eine andere als diejenige, die wir aus segmentär differenzierten, traditional-kollektivistischen Gesellschaften kennen. Gleichwohl entfaltet sich auch in ihr ein besonderes kriminogenes Potential, Gewalt als Mittel zur Selbstbehauptung einzusetzen oder zuzulassen. Empirische Belege hierfür sind in der Forschungsliteratur zum Rechtsextremismus, zur Ausländerfeindlichkeit und zur Gruppengewalt reichlich zu finden. Neben vielen Einzelstudien, die hier genannt werden könnten, ist insbesondere auf ein langfristig angelegtes Forschungsprojekt der Universität Bielefeld zu verweisen, das sich unter Leitung von Wilhelm Heitmeyer explizit dem Thema "gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" widmet und seit 2002 jährliche Bevölkerungsumfragen durchführt (s. Heitmeyer 2002b bis 2006). Zu den bisherigen zentralen Befunden gehört, dass die sozialen und ökonomischen Abstiegsängste auch in den mittleren und gehobenen Soziallagen wachsen, dass auch die "Mitte" der Gesellschaft sich zunehmend macht-, einfluss- und orientierungslos fühlt. In einem Zeitungsartikel fasst Heitmeyer diese Beobachtung pointiert zusammen: "Eine große Zahl von Menschen versucht, ihrer eigenen Unsicherheit mittels einer Ideologie der Ungleichwertigkeit zu entkommen. Sie äußert sich als demonstrative Überlegenheit ... Man kann sagen: Die Mitte wird ‚normal feindselig‘ " (Die Zeit, 15. 12. 2005, S. 24; s. auch Neckel/Soeffner 2007). Beispiele und Symptome hierfür lassen sich darüber hinaus in persönlichen Alltagserfahrungen sowie in Zeitungsberichten und anderen Medienprodukten laufend auffinden. Die BILD-Zeitung z. B. kann in ihrer Ausgabe vom 19. 10. 2005 auf ihrer Titelseite in dicken Lettern die "Hartz-IV"-Empfänger pauschal als "Schmarotzer" diffamieren, offensichtlich ohne Leserverluste befürchten zu müssen. Im Gegenteil, solche Kampagnen scheinen sehr erfolgreich zu sein: Seit Ende der 90er Jahre stieg in Deutschland der Anteil
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derer, die unter den Arbeitslosen viele Arbeitsunwillige vermuten, von 39 auf 66 Prozent (so ein Bericht der Süddeutschen Zeitung, 20. 1. 2006, S. 11; allerdings ohne Quellenangabe).394 In den USA werden im Fernsehen sog. "Bum Fights" inszeniert, in denen Obdachlose und Drogenabhängige sich gegen Bezahlung vor laufender Kamera misshandeln lassen. In Norddeutschland erklären Jugendliche, die einen Mitschüler monatelang immer wieder misshandelt hatten, sie hätten sich von den Prügel-Orgien der "Bum Fights" inspirieren lassen (Süddeutsche Zeitung, 9. 2. 2004, S. 10). Menschenverachtendes Verhalten wurde auch pompös inszeniert in amerikanischen Fernsehsendungen ("Apprentice"), in denen ein weltbekannter Milliardär Serien von Stellen-Bewerbern mit rüdesten Methoden aus dem Wettbewerb werfen konnte, um den jeweiligen Sieger umso glanzvoller belohnen zu können. Zwar ist in Deutschland nach einigen Anläufen der Versuch einer (privaten) Fernsehanstalt gescheitert, dieses Programmformat zu übernehmen; aber auch im deutschen Fernsehen gibt es genügend Sendungen, in denen sich Menschen geplant erniedrigen lassen (müssen). Derartige Sendeformate gab es in den 70er Jahren überhaupt nicht (s. unten, Kap. 7). Die Spannweite bereits vollzogener Hierarchisierungen wird uns gelegentlich in geradezu grotesker Weise vorgeführt: Da lässt z. B. die Ehefrau eines Fußballstars für einige Stunden zur normalen Öffnungszeit ein großes Kaufhaus für das allgemeine Publikum sperren, um selbst in Ruhe einkaufen zu können (in Los Angeles). Oder: ein Krankenhaus (in Australien) verlegt in einer hektischen Aktion zahlreiche Herzpatienten in Notquartiere, um einer international gefeierten Pop-Sängerin, die sich einer Krebsoperation unterziehen muss, ganze Zimmerfluchten für sich und ihre Begleitung zur Verfügung zu stellen. Eine andere Diva, die sich auf ihren Tourneen von mehr als zwei Dutzend Bediensteten begleiten lässt, soll eine Helferin speziell für die Aufgabe engagiert haben, ihr die Schuhe anzuziehen. Die Reichen und Superreichen benötigen nicht nur eine Haushaltshilfe und einen Fahrer, sondern eine Art Hofstaat. Laut einem Bericht von Jennifer Steinhauer in der New York Times vom 29. Mai 2005 hat sich die Zahl der "Personal Chefs" in den USA seit 1995 von rund 400 auf 9000 erhöht. Aber auch unterhalb dieser Sphären breitet sich eine neue niedere Dienstklasse aus, die – schlecht bezahlt und häufig ohne Sozialversicherung – nicht nur Arbeiten verrichtet, für die ihre Auftraggeber keine Zeit haben, sondern die sie auch für unter ihrer Würde erachten. Wie weit soziale Deklassierung schon salonfähig geworden ist, wird auch in den Verlautbarungen etlicher wissenschaftlicher Experten immer häufiger erkennbar. Ein Beispiel liefert der Ökonom Dirk Meyer, der sich für eine "Entmachtung der Politik" stark macht, damit sie den wirtschaftlichen Fortschritt nicht länger mehr behindere. Unverblümt nennt er den Preis, der dafür zu zahlen ist: "Die zugleich erstarkte Privatrechtsgesellschaft wird die Freiheitsspielräume und die Verantwortung der Bürger achten, wobei die hiermit einhergehende soziale Diskriminierung eine durchaus erwünschte Begleiterscheinung darstellt" (Meyer 2005: 323). In einem Zeitungsartikel, der von verschiedenen KombilohnModellen handelt, fasst Alexander Spermann, Forschungsbereichsleiter am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim, seine Überlegungen in einer
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Zu den Debatten über Arbeitsunwilligkeit und Leistungsmissbrauch, die in der Bundesrepublik seit Anfang der 70er Jahre geführt werden, siehe Oschmiansky (2003).
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imaginierten "Botschaft" zusammen, die sich direkt (und in Duz-Form) an "zukünftige Arbeitslosengeld-II-Empfänger" richtet: "Wenn ihr Stellen auf dem privaten Arbeitsmarkt annehmt, dann dürft ihr für zwölf Monate euren Verdienst fast vollständig behalten, sodass ihr über der statistischen Armutsgrenze leben könnt. Wenn ihr trotz größter Anstrengungen keinen Job findet, dann müsst ihr gemeinnützig arbeiten. Dann erhaltet ihr das bisherige, im internationalen Vergleich großzügige Grundsicherungsniveau. Das Arbeitslosengeld II – nicht das Sozialgeld für die Kinder – muss dabei schrittweise und mit Fingerspitzengefühl je nach Bedarfslage und verfassungskonform auf ein physisches Existenzminimum abgeschmolzen werden" (Die Zeit, 19. 1. 2006, S. 26). Auch in seriösen Tageszeitungen kann inzwischen nicht nur in Gastkommentaren "Gerechtigkeit" als politische Zielgröße denunziert werden. So z. B. von Michael Bauchmüller im Wirtschaftsteil der Süddeutschen Zeitung (6. 2. 2006, S. 17). Da heißt es z. B.: "Kaum steht eine sozialpolitische Debatte an, melden sich Verfechter der so genannten sozialen Gerechtigkeit zu Wort ... Wie so oft kommt die ‚soziale Gerechtigkeit‘ mit einem Hauch von Romantik daher ... Das deutsche Problem mit der Gerechtigkeit liegt in dem Wunsch, sie politisch herstellen zu wollen: Das führt zwangsläufig in Ungerechtigkeit." In einem solchen Umfeld kann die sich ausbreitende Rede von der sozialen "Unterschicht" die gelegentlich noch beanspruchte Unschuld reiner Deskription kaum noch bewahren. 6.5.3.4 Strukturelle Anomie Die "Winner-take-all"-Gesellschaft breitet sich in der gegenwärtigen Phase der Globalisierung besonders stark aus, ist aber als Strukturtypus – zumindest als Strukturkomponente kapitalistisch-demokratischer Gesellschaften – keine neue Erscheinung. Vieles von dem, was in jüngerer Zeit als Merkmal von Marktgesellschaften diskutiert worden ist, ist schon in Mertons Anomie-Theorie (Merton 1938; 1968) vorformuliert worden.395 In ihr werden – mit Blick auf die US-amerikanische Gesellschaft, aber auch darüber hinaus – in prägnanter Weise jene marktgesellschaftlichen Strukturmerkmale identifiziert, die ein sozial generalisiertes Erfolgsstreben so anregen und ausrichten, dass sich in ihm ein besonders kriminogenes Potential entfalten kann. Da Merton wohl kaum als "linker" Gesellschaftskritiker abgestempelt werden kann und seine Theorie explizit die Verbindung zwischen Gesellschaftsstruktur und kriminellem Verhalten herausarbeitet, scheint es uns sinnvoll zu sein, ihre Grundannahmen hier kurz zu skizzieren. Anders als Durkheim betont Merton in seiner Anomie-Theorie nicht die Geschwindigkeit des sozialen Wandels und die daraus folgenden temporären Anpassungsund Regulierungsdefizite, sondern eine dauerhafte Strukturproblematik, die modernen
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Auch wenn man nicht bis zu Hobbes, Locke und anderen frühen Theoretikern des „Besitzindividualismus“ (s. MacPherson 1962), sondern nur etwa hundert Jahre zurückgehen will, lassen sich innerhalb der Soziologie weitere Vorgänger nennen. So z. B. Georg Simmel mit seiner „Philosophie des Geldes“ und seiner „Soziologie der Konkurrenz“ oder Thorsten Veblen, der schon 1899 in seiner „Theory of the leisure class“ die „Barbarei der Konkurrenzgesellschaft“ angeprangert hat.
kapitalistischen Gesellschaften in unterschiedlichem Maße zu eigen ist:396 die Diskrepanz zwischen kulturell vorgegebenen, allgemein geteilten Werten bzw. Handlungszielen und den ungleich verteilten, für viele, insbesondere für Angehörige der unteren sozialen Schichten, nicht ausreichend verfügbaren legitimen Mitteln, mit denen das Erstrebte erreicht werden kann (s. Merton 1938; 1968). Diese Diskrepanz führt bei den Betroffenen zu verschiedenen Reaktionen: Während die einen z. B. in Resignation verfallen, kämpfen andere politisch für eine neue soziale Ordnung; viele aber greifen auch zu illegitimen bzw. illegalen Mitteln, also zu kriminellen Handlungen, um das angestrebte Ziel doch noch zu erreichen. Die kriminelle Variante wird umso wahrscheinlicher, a)
je exklusiver und alternativloser ein bestimmtes "Gut" kulturell dominiert, je weniger es durch ein anderes Gut (einen anderen, ranggleichen Wert) ersetzt werden kann, b) je größer die Chancen sind (oder erscheinen), sich mit illegalen Mitteln im Wettbewerb um das knappe Gut durchsetzen zu können, c) je weniger stark in diesem Falle der Einsatz illegaler Mittel kulturell geächtet ist. Merton sah diese Situation beispielhaft in der US-amerikanischen Gesellschaft gegeben. "Contemporary American culture appears to approximate the polar type in which great emphasis upon certain success-goals occurs without equivalent emphasis upon institutional means" (Merton 1968: 190). "Erfolgswerte" sind inhärent exklusiv; denn der Erfolg bemisst sich vor allem an der Position, die man erreicht: Der Erste triumphiert über den Zweiten, der Zweite über den Dritten usw. und unten versammelt sich die Menge unter dem Slogan "ferner liefen". Der Wettbewerb ist umso härter, je größer die Zahl der Teilnehmer ist, die um das gleiche Ziel kämpfen. Chancengleichheit mindert somit den Druck nicht, kann ihn sogar erhöhen397. Notorisch knappe Güter sind z. B. Macht und Prestige. Führungspositionen in Unternehmen, Parteien, Verbänden und anderen hierarchisch gegliederten Organisation gibt es per Definition nur wenige. Auch soziales Prestige kann nicht jeder gleichermaßen erwerben. Alle diese "Positionsgüter" werden nach der Logik der NullSummenspiele ("er/sie oder ich") erworben. Geld und Reichtum können dagegen, so scheint es, kollektiv wachsen, gerade wegen der anreizstiftenden Ungleichheit. So jedenfalls will es die marktliberale Wettbewerbsideologie: Chancengleichheit ja, Ergebnisgleichheit nein; je höher die Ergebnisungleichheit, umso besser398. Zwei Mechanismen lassen diese Idee scheitern.399 Erstens folgt aus der Ergebnisungleichheit der Eltern immer
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Durkheim nähert sich – u. a. in seiner Selbstmord-Studie – dieser Sichtweise mit dem Konzept der „chronischen“ Anomie, die vom Wirtschaftssystem induziert wird (s. Durkheim 1990: 290-292; s. auch oben Kap.1). Das kriminogene Potential, das aus einer Verbindung von verschärftem Leistungswettbewerb und Chancengleichheit hervorgeht, betont auch Münch (1996). Zur empirischen Widerlegung der These, dass die ökonomische Leistungsfähigkeit positiv mit dem Grad der Einkommensungleichheit korreliert, s. die Studie von Kenworthy (1995). Um Missverständnissen vorzubeugen: Das Konzept des kooperativen Individualismus plädiert nicht für völlige Ergebnisgleichheit (in der Tat braucht man ein gewisses Maß an Ungleichheit), soll aber darauf hinweisen, dass (a) Produktivität und soziale Ungleichheit keinen linearen Zusammenhang bilden, dass
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noch, mit Ausnahmen allerdings, die Chancenungleichheit der Kinder.400 Keine kompensatorischen Maßnahmen, keine reale Aufstiegsmobilität können diese Implikation aufheben; sie können sie nur entschärfen. Zweitens, je stärker (ungleich verteiltes) Geld und Reichtum anwachsen, umso unwichtiger wird sein "Gebrauchswert", umso wichtiger dagegen sein Prestigewert. Der nicht ererbte (oft sogar der geerbte) monetäre Reichtum wird zum allgemeinsten und sichtbarsten Erfolgssymbol, zum Ausweis persönlicher Größe, weil man ihn – zumindest vorgeblich – im chancengleichen Wettbewerb (durch eigene Leistung) selbst errungen hat – oder weil andere Erwerbsquellen im Dunkeln bleiben. Je stärker positiv der monetäre Erfolg in einer Kultur gewertet wird, umso stärker lastet der Druck, ihn auch zu erreichen. "In some large measure, money has been consecrated as a value in itself, over and above its expenditure for articles of consumption or its use for the enhancement of power. 'Money' is particularly well adapted to become a symbol of prestige ... (I)n the American Dream there is no final stopping point. The measure of 'monetary success' is conveniently indefinite and relative. At each income level, ..., Americans want just about twenty-five per cent more ... In this flux of shifting standards, there is no stable resting point, or rather, it is the point which manages always to be "just ahead” (Merton 1968: 190). Die amerikanischen Glücksforscher Glenn Firebaugh und Laura Tach haben jüngst auf der Basis von Umfragedaten (des "General Social Survey" der USA) die Annahmen Mertons bestätigt. Sie sprechen von einer "hedonistischen Tretmühle": Das persönliche Glücksgefühl hängt nicht nur von der absoluten Höhe des eigenen Einkommens, sondern auch von der relativen Einkommensposition ab, hier gemessen als Differenz zum Durchschnittseinkommen der jeweiligen Alterskohorte. Sie zitieren zudem andere Autoren, die davon ausgehen, dass der Grenznutzen steigender Absoluteinkommen gegen Null geht. "Indeed, many observers ... believe that the absolute effect of income on happiness is now close to zero in the United States and other rich countries" (Firebaugh/ Tach 2005: 6). Die entscheidenden Komponenten dieser Struktur, wie sie Merton beschrieben hat, breiten sich, wie wir glauben gezeigt zu haben, in Zeiten beschleunigter Globalisierung (wenn auch nicht unbedingt in gleicher Stärke) auch in anderen (nicht nur den "westlichen") Gesellschaften aus: (1) In der Hierarchie der kulturellen Werte nimmt der monetäre Erfolg eine zunehmend prominente Stellung ein. (2) Die soziale Ungleichheit (die ungleiche Verteilung der Mittel) nimmt langfristig zu (s. oben Kap. 6.2.3). (3) Die vielbeschworene Pluralisierung der Werte und Lebensstile geschieht nicht (jedenfalls nicht in quantitativ relevantem Maße) abseits, sondern auf der Grundlage des ökonomischen
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die Produktivität nach einem gewissen Schwellenwert bei weiter zunehmender Ungleichheit wieder sinkt, (b) Chancengleichheit nicht unabhängig vom Ausmaß der Ergebnisungleichheit zu realisieren ist: die Armut der Eltern ist der größte Risikofaktor für die Chancengleichheit der Kinder. (c) Chancen sozialer Teilhabe und Anerkennung immer relational bestimmt sind, also von den relativen Positionen und Ressourcen der Akteure – und den jeweiligen Abständen zwischen ihnen – abhängig sind. In Deutschland haben das nicht zuletzt die sog. PISA-Studien ans Licht gebracht (s. hierzu auch Jungbauer-Gans 2004): Der Schulerfolg ist hierzulande besonders stark von der sozialen Schicht abhängig, denen die Eltern angehören (s. oben, Abschn. 6.5.3.2).
(beruflichen) Erfolgs oder Misserfolgs.401 Der von Inglehart u. a. so bezeichnete postmaterialistische Wertewandel sollte nicht als längerfristige anti-materialistische Entwicklungstendenz missverstanden werden. Mit anderen Worten: was "Postmaterialismus" genannt wird, ist ohne Materialismus gar nicht zu haben.402 Jedenfalls deutet derzeit nichts darauf hin, dass sich in absehbarer Zukunft politisch relevante Subkulturen ausbreiten, die nicht nur sich selbst vom Ziel des ökonomischen Erfolgs emanzipieren, sondern in diesem Sinne auch die weitere gesellschaftliche Entwicklung bestimmen könnten. In der Terminologie soziologischer und sozial-psychologischer Werttheorien (s. Parsons und Rokeach als besonders prominente Beispiele) ist der ökonomische Erfolg ein "instrumenteller", kein Letzt-Wert (ultimate value); er verkörpert weder das Gute, noch das Wahre noch das Schöne. In einer pluralistischen, kapitalistischen Gesellschaft ist er aber ein sozial besonders weit generalisiertes und operational leicht definierbares Handlungsziel, das zudem vielfältige Sinneinbettungen ermöglicht (vom calvinistisch interpretierten Zeichen des Erwähltseins bis zum nackten Genuss-Materialismus). All dies könnte bedeuten, dass sich das Normalniveau der Kriminalität auch in anderen ökonomisch prosperierenden Ländern dem US-amerikanischen Niveau annähern wird, obwohl davon auszugehen ist, dass länderspezifische Einflussgrößen wirksam bleiben. "(W)hen poverty and associated disadvantages in competing for the culture values approved for all members of the society are linked with a cultural emphasis on pecuniary success as a dominant goal, high rates of criminal behavior are the normal outcome" (Merton 1968: 201; vgl. Messner/Rosenfeld 1997a). Auf den ersten Blick scheint das nur für die Eigentumskriminalität plausibel zu sein. Es ist jedoch noch ein weiterer Sachverhalt zu bedenken, auf den schon früh Cloward/Ohlin (1960) aufmerksam gemacht haben:403 Nicht nur die legalen, auch die illegalen Mittel sind ungleich verteilt. Angehörige höherer sozialer Schichten können sich weitaus eher durch Betrug, Bestechung, Rufmord usw. bereichern ("white-collar crime") als Angehörige unterer sozialer Schichten. Für diese wird somit körperliche Gewalt (in den USA besonders häufig verbunden mit der leichten Verfügbarkeit von Handfeuerwaffen) viel eher das Mittel ihrer Wahl. Allerdings bleibt auch hier Gewalt vor allem ein Ausdrucksmittel, mit dem Unterlegenheit und Erniedrigung in ein rauschhaftes Erleben von Macht und Überlegenheit transformiert werden soll (s. Sutterlüty 2002 sowie die oben schon zitierte Arbeit von Wilkinson et al. 1998 mit zahlreichen Beispielen und Belegen). James Coleman (1987: 408) hat allerdings darauf hingewiesen, dass die Kriminalität der "Weißen Kragen" weitaus mehr Tote und Verletzte hervorbringt als die "Straßenkriminalität" der unteren Sozialschichten. Im Übrigen hat Coleman eine "integrated theory of white-collar crime" vorgelegt, die mit Mertons Anomie-Theorie im Ansatz gut verträglich ist, sie aber auch erweitert und in einem wichtigen Punkt korrigiert:
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Zur fortdauernden Relevanz von Klassenstruktur und sozialer Schichtung für die Verteilung von Lebenschancen und Lebensstilen siehe die Habilitationsschrift von Rössler (2005), vgl. auch Müller (1998), und Isengard (2005). Zur Kritik an Ingleharts Thesen zum Wertewandel s. Thome (1985). Siehe hierzu auch den sehr erhellenden autobiografischen Essay von Merton (1995).
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Die "Kultur der Konkurrenz"404 enthält ein kriminogenes Potential, das für höhere soziale Schichten kaum geringer sein dürfte als für niedrigere soziale Schichten (allerdings nähert sich Merton 1964 selbst schon diesem Gedanken). Denn ganz gleich, wie hoch man auf der Leiter von Erfolg und Prestige geklettert ist, man bleibt in einer Situation der Konkurrenz gefangen. "One element of the culture of competition ... is the pervasive sense of insecurity that has always been a powerful undercurrent in the culture of industrial capitalism. This fear of failure permeates every stratum of contemporary society from the corporate leaders to the underclass" (Coleman 1987: 416). Coleman beschreibt in seinem Aufsatz ausführlich die "Neutralisierungstechniken", also die Art und Weise, wie kriminell gewordene Angestellte und Manager ihre Handlungen rechtfertigen und entkriminalisieren.405 Eine gegenwärtig gerade in Deutschland besonders breit eingesetzte Rechtfertigungsstrategie liegt in der Rede von dem "bevormundenden" Staat, der den leistungsfähigen Leuten das Geld aus der Tasche ziehe, das man sich deshalb auf andere Weise (wieder) besorgen dürfe – eine Propagierung der Illegalität, die sicherlich weiter ausgreift als ihre Urheber beabsichtigt haben. Coleman macht darauf aufmerksam, dass die Überzeugungskraft solcher Rechtfertigungsideologien sich insbesondere in professionellen Subkulturen entwickelt, die ihre Mitglieder vom übrigen gesellschaftlichen Leben und dessen Realitätskonstruktionen weitgehend isolieren (ebd., S. 422). In jüngerer Zeit sind verschiedene Konzepte einer "Dominanzideologie" ausgearbeitet worden (siehe z. B. Sidanius/Pratto 1999), die den Einfluss von Strukturvariablen, wie sie eben dargestellt worden sind, auf das individuelle Handeln "vermitteln" soll. Hierzu gehört auch das Konstrukt des "Hierarchischen Selbstinteresses", das wir im nächsten Abschnitt kurz vorstellen wollen. 6.5.4
`Hierarchisches SelbstinteresseA: Ein Versuch, Ellbogenmentalität zu messen406
Wir haben in den vorangegangenen Abschnitten gesellschaftliche Entwicklungstendenzen beschrieben, in denen sich die Strukturen eines desintegrativen Individualismus auf Kosten des kooperativen Individualismus ausbreiten. Es sind auch schon Komponenten kultureller Deutungsmuster angesprochen worden, die diesen Strukturen entsprechen und deren kriminogenes Potential befördern. In diesem Abschnitt werden Konzepte vorgestellt, die solche Deutungsmuster so weit spezifizieren, dass sie als individuelle Handlungsorientierungen empirisch nachweisbar werden. Für besonders vielversprechend halten wir das Konstrukt
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„The idea that wealth and success are central goals of human endeavor is part of a larger complex of beliefs that may be termed the ‚culture of competition‘“ (Coleman 1987: 416). Diese Kultur macht den Erfolg zu einem „badge of one‘s intrinsic value“. Coleman charakterisiert sie darüber hinaus wie folgt: „The competitive economic struggle typical of life in capitalist society is seen as a battlefied on which the most capable and hardest-working individuals emerge victorious. Over the years, these beliefs have become a fundamental legitimation for social inequality because they imply that the poor deserve their inferior position because of laziness, incompetence, or some other personal failing“ (ebd.). Allgemein zu Neutralisierungstechniken s. Lamnek (1993); die klassische Arbeit hierzu stammt von Sykes/Matza (1957). Der Titel ist dem Buch von Hadjar (2004) entnommen.
des `Hierarchischen SelbstinteressesA (HSI), das unter diesem Titel von Hagan et al. (1998) – nicht zuletzt unter Rückgriff auf den oben schon zitierten Aufsatz von Coleman (1987) sowie Überlegungen zu einer allgemeinen `DominanzideologieA (Sidanius/Pratto 1999; vgl. Six et al. 2001)407 – ausgearbeitet worden ist. HSI wird als `Syndrom von WerthaltungenA aufgefasst, das mehrere Orientierungsdimensionen integriert; bei Hagan et al. (1998) sind es drei: (1) Individualismus, (2) Leistungs- bzw. Erfolgsorientierung, (3) Konkurrenzorientierung. Operationalisiert wurden diese Konzepte zunächst für Befragungen von Schülern und Jugendlichen. Dabei wurde `IndividualismusA mit zustimmenden oder ablehnenden Stellungnahmen zu folgenden Aussagen erfasst (wir übernehmen die Formulierungen aus Hadjar 2004: S. 200 ff.): a)
Eine Reise zusammen mit Freunden zu machen führt dazu, dass man weniger frei und mobil ist. Letztlich hat man weniger Spaß. b) Wir stünden alle besser da, wenn jeder sich nur um sich selbst kümmern würde. c) Um Spitze zu sein, muss der Mensch alleine bestehen können. Diese Statements repräsentieren nicht den Individualismus schlechthin, sondern seine egoistische, desintegrative Variante. Die nächste Dimension wird in Hagan et al. (1998) als `Success OrientationA, in der deutschen Literatur (s. Hadjar 2004) als `LeistungsorientierungA bezeichnet. Damit wird eine begriffliche Ambivalenz angedeutet, die sich u. E. auch in den folgenden Aussagen (Skalen-Items) niederschlägt: a) Wer keine Leistung bringt, wird auch nicht glücklich. b) Das Wichtigste im Leben ist Leistung. c) Erfolg in der Schule und später im Beruf ist das Wichtigste im Leben. Leistungsbereitschaft kann – bspw. im Rahmen einer "protestantischen Ethik" – durchaus als normative und nicht nur als instrumentalistische Orientierung (nicht nur als Bedingung für individuellen Erfolg) akzeptiert werden. Der semantische Gehalt zumindest der beiden ersten Aussagen schließt die normative Interpretation nicht aus; die empirischen Analysen mit Jugendlichen belegen jedoch deren instrumentalistische Auffassung des Leistungsmotivs. In diesem Zusammenhang sei nochmals auf Beobachtungen bspw. von Hurrelmann/Engel (1992) und Naplava/Oberwittler (2001) hingewiesen, die das kriminogene Potential eines schulischen Leistungsdrucks aufdecken, das sich entwickelt, wenn dieser Druck von dem einzelnen Schüler nicht bewältigt und in der Familie verstärkt statt neutralisiert wird (s. auch Heitmeyer u.a. 1995: 339 ff.). Das "Konkurrenzdenken" schließlich wurde mit folgenden Items erfasst: a)
Am liebsten möchte ich in allen Lebensbereichen (Beruf, Schule, Sport etc.) zu den Besten gehören. b) Erfolg im Leben zu haben, bedeutet für mich, besser als andere zu sein.
407
Zum weiter gefassten ideengeschichtlichen Hintergrund s. Hadjar (2004).
345
c) Ich habe immer den Ehrgeiz, besser als der Durchschnitt zu sein. d) Ich bin nur dann zufrieden, wenn meine Leistung überdurchschnittlich ist. Auch diese Formulierungen scheinen uns nicht frei zu sein von semantischen Ambivalenzen; die Abgrenzung zur Leistungsorientierung ist kaum nachvollziehbar. Die empirische Analyse belegt jedoch erneut eine hinreichend hohe Konsistenz der Items, die somit als Ausdruck einer Dominanzideologie gedeutet werden können. Hadjar (2004: 96 f., 201 ff.) hat diesen drei Orientierungsdimensionen unter Rückgriff auf frühere sozialpsychologische Arbeiten sowie Überlegungen von Heitmeyer (1991) eine vierte hinzugefügt, die er als "Machiavellismus" bezeichnet und mit folgenden Aussagen zu erfassen sucht: a)
Im Alltagsleben kommt es auf Geld an, ganz gleich, woher es kommt, denn wer Geld hat, ist König. b) Es ist nicht so wichtig, wie man gewinnt, sondern dass man gewinnt. c) Wer sich für die Zwecke anderer ausnutzen lässt, ohne es zu merken, verdient kein Mitleid. d) Man muss die Taten der Menschen nach ihrem Erfolg beurteilen. Inhaltlich wird den drei vorherigen Dimensionen nichts Neues hinzugefügt; aber Egoismus, instrumentalistische Erfolgsorientierung und Dominanzstreben werden in diesen Aussagen noch einmal radikalisiert. Mit Hilfe statistischer Algorithmen der konfirmatorischen Faktorenanalyse haben sowohl Hagan et al. (1998) als auch Hadjar (2004) die drei bzw. vier Subdimensionen zu einem `Faktor zweiter OrdnungA, eben dem Hierarchischen Selbstinteresse, zusammengefasst. Hagan et al. konnten nachweisen, dass HSI signifikant zur Erklärung delinquenten Verhaltens in Gruppen, des Ethnozentrismus, der Akzeptanz von Ungleichheit und der `Anomic AmoralityA beiträgt. Hadjar führt in seiner Studie den Nachweis, dass die Fremdenfeindlichkeit von Jugendlichen in etwa gleichem Maße von der Fremdenfeindlichkeit der Eltern und darüber hinaus von dem eigenen Hierarchischen Selbstinteresse bestimmt wird. Außerdem konnte gezeigt werden, dass das HSI der Jugendlichen negativ mit dem demokratischen Erziehungsstil der Eltern korreliert, der wiederum positiv mit deren beruflichem Prestige zusammenhängt. In einem von Heitmeyer und Thome geleiteten Forschungsprojekt ("Öffentliche Gewalt im Stadtquartier") wurde ein Teil der HSI-Items in Bevölkerungsumfragen eingesetzt, die in Stadtteilen Duisburgs, Frankfurts und Halles durchgeführt wurden. Zwar konnte die HSISkala nicht in der gleichen Form wie in Hagan et al. (1998) oder in Hadjar (2004) reproduziert werden (das Modell eines Faktors zweiter Ordnung konnte statistisch z. B. nicht bestätigt werden); dennoch ließen sich positive Zusammenhänge zwischen der individuell geäußerten Gewaltbereitschaft einerseits und den Summen-Skalen `egoistischer IndividualismusA sowie `MachiavellismusA andererseits nachweisen (bisher unveröffentlicht). Leider liegen für das Konstrukt des Hierarchischen Selbstinteresses keine repräsentativen Erhebungen vor, die Trendaussagen ermöglichen würden. Ansatzweise und in begrenztem Umfang ist dies möglich auf der Basis von Untersuchungen, die Helmut Klages und seine Mitarbeiter zum Wertewandel durchgeführt haben. Unter anderem haben sie festgestellt, dass sich die seit den 1960er Jahren ausbreitenden `SelbstentfaltungswerteA (konzipiert in Kontrast zu den `Pflicht- und AkzeptanzwertenA) im Laufe der 80er Jahre zunehmend deutlicher in zwei Varianten ausprägen, einer `idealistischenA und einer 346
`hedonistisch-materialistischenA (s. Herbert 1991). Die `IdealistenA streben nicht für sich nach `Macht und EinflussA oder einem hohen Lebensstandard. Für sie ist es wichtig, sich sozial und politisch zu engagieren, z. B. `sozial Benachteiligten und gesellschaftlichen Randgruppen (zu) helfenA. Die `HedonistenA lehnen ebenfalls einen Teil der traditionellen Werte ab, der materielle Wohlstand gehört für sie aber weiterhin zu den wichtigen Zielen, ebenso wie `Macht und Einfluss habenA und `das Leben genießenA zu können. In einer Charakterisierung von Klages (2001: 10) heißt es hierzu: `Die Dominanz des Lustprinzips und Jagd nach schnellen Gewinnen lassen sie ... nicht selten die Grenzen des sozial und legal Verträglichen austesten.A Offenkundig kann das idealistische Orientierungsmuster dem kooperativen, das `hedonistisch-materialistischeA einem egoistischen Individualismus zugeordnet werden. Dieter Hermann (2003) hat auf der Basis diverser Erhebungen einen deutlich positiven Zusammenhang zwischen hedonistisch-materialistischen Orientierungen und selbst berichteter Delinquenz (sowohl als `AbsichtA wie auch als vollzogene Handlungen) nachgewiesen (s. insbesondere ebd., S. 157, 161, 165, 195). Auch in dem oben schon erwähnten Stadtteilprojekt (Heitmeyer/Thome et al.) konnte unter Rückgriff auf die Klages-Items ein deutlicher positiver Zusammenhang zwischen selbstberichteter Gewaltbereitschaft und `HedonismusA sowie eine negative Beziehung zwischen Gewaltbereitschaft und `IdealismusA belegt werden. Allerdings liegen auch für diese Wertetypen vergleichbare Daten nur für den relativ kurzen Zeitraum von 1987 und 1999 (und auch nur für West-Deutschland) vor (s. Klages 2001). Ihnen zufolge ging der Anteil der Idealisten unter den 18- bis 30-Jährigen zwischen 1987 und 1993 von 25 auf 15 Prozent zurück, für 1999 werden 18 Prozent notiert (in der Gesamtbevölkerung 17 %). Demgegenüber steigt in dieser Altersgruppe im gleichen Zeitraum der Anteil der Hedonisten von 21 auf 31 Prozent und sinkt 1999 leicht auf 27 Prozent; in der Gesamtbevölkerung sind es nur 15 Prozent. Bei diesem Wertetyp ist die Generationen-Differenz also besonders stark ausgeprägt, sodass man davon ausgehen kann, dass er in Zukunft ein stärkeres Gewicht erhält als bisher. Für die Einschätzung der Trendentwicklung in den 80er Jahren lassen sich auch die SINUS-Milieustudien heranziehen, in denen zunächst acht soziale Milieus spezifiziert wurden. Zwei von ihnen, das `aufstiegsorientierteA und das `hedonistischeA Milieu, kommen dem Bedeutungsgehalt des desintegrativen Individualismus recht nahe; unter den restlichen Milieus befindet sich aber keines, das wir dem kooperativen Individualismus zuordnen könnten. Thomas Schnierer (1996: 79) präsentiert die Entwicklung der verschiedenen Milieus zwischen 1982 und 1990. In dieser Zeit hat sich das Aufsteigermilieu kontinuierlich von 20,3 % der Bevölkerung auf 26,7 % und das hedonistische Milieu von 10,4 % (1983 wurde ein Anteil von 9,0 gemessen) auf 13,1 % ausgedehnt. In der Folgezeit hat das SINUS-Institut seine Milieu-Kategorien stärker ausdifferenziert und umdefiniert, sodass weitergehende zeitliche Vergleiche nicht möglich sind.408 Insgesamt scheinen die vorliegenden Befunde aber die These zu stützen, dass der desintegrative Individualismus auch auf der Ebene kulturell generalisierter Wertorientierungen in den letzten Jahrzehnten an Gewicht gewonnen hat. Diese Annahme wird auch
408
Den gegenwärtigen Stand (im Jahr 2006) sowie Zukunftsprojektionen findet man im manager magazin, Heft 2/2006, S. 84-91.
347
durch eine Studie gestützt, die David Halpern (2001) auf der Basis der European bzw. der World Values Surveys der Jahre 1981-83 und 1990 sowie zweier Eurodata Surveys von 1969 und 1990 vorgelegt hat. Demnach zeigen die `self-interested valuesA in 19 ökonomisch hoch entwickelten Ländern zwischen 1969 und 1990 einen deutlichen Aufwärtstrend (leider nicht spezifiziert für die einzelnen Länder). Außerdem ermittelte Halpern einen ausgeprägt positiven Zusammenhang zwischen den self-interested values und der Höhe der nationalen Opferraten, die er für verschiedene Eigentums- und Gewaltdelikte zusammenfasste (ebd., S. 245). Tab. 6.45: Zustimmung/Permissivität gegenüber moralisch anfechtbaren Handlungen (Skalenwerte 6-10, Durchschnitt über 8 Items, s. Fußnote) 1981(D, GB) /1982(S)
1990
1999 (4 Items)
D (West)
8,95
9,69
6,45
GB
9,56
6,21
8,2
S
3,06
5,43
6,9
Quelle: eigene Auswertungen der World Value Surveys 1981 und 1990 (Inglehart et al. 2000) sowie der European Values Study 1999/2000 (Zentralarchiv Köln, 2003).
Unsere eigene Auszählung der entsprechenden EVS/WVS-Daten von 1981 bis 1999/2000 gibt Tabelle 6.45 wieder. Die von uns ausgewählten acht Indikatoren409 formulieren Verhaltensweisen, die nach allgemeinem Verständnis nicht moralisch zulässig sind. Die Befragten wurden gebeten, auf einer Skala von 1 bis 10 ihre Ansicht darüber auszudrücken, ob sie das entsprechende Verhalten `immerA (Skalenwert 10), `gelegentlichA oder `niemalsA (Skalenwert 1) für gerechtfertigt halten. Für jedes Land haben wir den Prozentanteil derer ermittelt, die im Skalenbereich zwischen 6 und 10 ein abweichendes Verhalten für (gelegentlich) zulässig halten. Über die gesamte Periode betrachtet, gibt es in Schweden die geringste Unterstützung für Handlungen, die den Prinzipien des kooperativen Individualismus widersprechen. Andererseits ist Schweden das einzige der drei Länder, in dem ein aufsteigender Trend zu beobachten ist. Die mittleren Werte von Großbritannien und Westdeutschland liegen auf etwa gleichem Niveau.
409
348
Die Indikatoren sind: (1) Leistungen aus einem öffentlichen Unterstützungssystem erschleichen, (2) Schwarzfahren in öffentlichen Verkehrsmitteln, (3) Steuerbetrug, (4) bekanntermaßen gestohlene Ware kaufen, (5) Schmiergelder akzeptieren, (6) im eigenen Interesse lügen, (7) gefundenes Geld behalten, (8) selbst verursachten Schaden nicht anzeigen. Alle diese Verhaltensweisen stehen im Widerspruch zu Prinzipien des kooperativen Individualismus. In die Auswertung für 1999/2000 konnten nur die Items Nr. 1, 3, 5 und 6 aufgenommen werden (da die anderen nicht in allen drei Ländern erhoben wurden). Wenn man über alle drei Befragungswellen nur diese 4 Indikatoren berücksichtigt, ergibt sich kein wesentlich anderes Bild als das der Tabelle 6.45.
6.5.5
Zusammenfassung
Eine zentrale Voraussetzung für den Bestand des kooperativen Individualismus ist die institutionalisierte Absicherung universalistischer Gerechtigkeitsprinzipien, was wiederum voraussetzt, dass der demokratisch verfasste Staat eine hohe Regulierungskompetenz gegenüber der Wirtschaft behält, die er in enger Koordination mit zivilgesellschaftlichen Organisationsformen ausübt. Im Zuge der Globalisierungsprozesse, insbesondere der Expansion weitgehend unkontrolliert operierender internationaler Finanzmärkte werden die staatlichen Regulierungskompetenzen in erheblichem Maße reduziert, ohne in dieser Funktion durch andere demokratisch kontrollierte und koordinierte Politik-Formen ersetzt zu werden (Abschn. 6.5.1).410 Vielmehr treten die Staaten selbst in einen Standort-Wettbewerb ein, der sie zwingt, den international agierenden Unternehmen und Kapitaleignern möglichst günstige Bedingungen für Investitionen und Renditen zu bieten. Ein Indikator hierfür ist der Tatbestand, dass seit Mitte der 80er Jahre in den OECD-Ländern die durchschnittlichen Steuersätze bei den Unternehmenssteuern von rund 50 auf etwa 32 Prozent gesenkt worden sind, ohne dass ein Ende dieser Entwicklung abzusehen wäre. Kein Land kann es sich leisten, sich dem Sog zur Senkung der Unternehmenssteuern und der Steuern auf Kapitaleinkünfte zu entziehen. Dabei scheint die Einführung eines "dualen" Systems (wie in Schweden schon seit längerem realisiert, s. Kap. 4) für jedes einzelne Land das insgesamt kleinere Übel zu sein (unbeschadet der suboptimalen Struktur des Gesamtsystems), obwohl es mit der stärkeren Belastung der Arbeitseinkommen (im Vergleich zu den Kapitaleinkommen) bisherige Gerechtigkeitsprinzipien verletzt. Grundlegende Reformen der sozialstaatlichen Sicherungssysteme sind allerdings nicht nur durch die Globalisierung, sondern auch durch innergesellschaftliche Entwicklungsprozesse (wie z. B. demografische Veränderungen) nötig geworden. Für diese Reformen bleiben, bis zu einem gewissen Grade, nationalstaatliche Politik-Spielräume und die oft zitierte "Pfadabhängigkeit" erhalten. Die global gesetzten Rahmenbedingungen geben aber auch hier die Richtung vor: das sozialdemokratische wie auch das konservative Modell stehen unter Druck sich eher dem liberalen Modell anzunähern als umgekehrt: Die Generosität der Leistungen nimmt ab, ihre Selektivität nimmt zu; die individuellen Bedürfnisprüfungen werden strikter und umfassender, der Anteil privatrechtlicher Absicherungen wird größer. Die in Abschn. 6.5.1 skizzierten Reformmaßnahmen in unseren drei Vergleichsländern zeigen, dass Schweden bereits erhebliche Schritte in diese Richtung vollzogen hat. In Deutschland sind in den letzten zwanzig Jahren einige traditionale Programmkomponenten sogar noch ausgebaut, andere reduziert oder – in jüngerer Zeit verstärkt – im eben genannten Sinne umgebaut worden. Auch die Reformmaßnahmen in Großbritannien haben die Programme mit Bedürfnisprüfung (noch) gewichtiger werden lassen und die universalistischen Komponenten geschwächt, während die privatwirtschaftlichen Sicherungssysteme an Bedeutung gewonnen haben.
410
Neben den in Abschn. 6.5.1 zitierten Befunden siehe hierzu auch Scharpf (2000) sowie Mayntz/Scharpf (2005). Diese Papiere sind besonders erhellend, wenn man sie mit einer früheren Arbeit von Scharpf vergleicht, in der er gegen Luhmann den funktionalen Primat der Politik innerhalb des Gesellschaftssystems behauptet hatte (Scharpf 1989).
349
Der Strukturwandel der Märkte hat nicht nur die Steuerungsspielräume der (staatlich oder international organisierten) Wirtschafts- und Sozialpolitik eingeengt und die menschliche Arbeitskraft wieder stärker kommodifiziert, sondern auch den Prozess vorangetrieben, der allgemein als "Ökonomisierung der Gesellschaft" beschrieben und von Habermas als "Kolonialisierung der Lebenswelt" charakterisiert worden ist: die partielle Verdrängung des verständigungsorientierten Handelns durch geldvermittelte strategische Interaktionen auch außerhalb der Sphäre ökonomischer Produktion und Konsumtion. Dieser Prozess wird angetrieben von einem Wettbewerb, der sich in dem Maße verschärft, wie das Wirtschaftssystem das für seinen Bestand notwendige Wachstum nur noch dadurch sicherstellen kann, dass es selber die Bedürfnisse erzeugt, die es benötigt, um seine Produkte absetzen zu können. Die Situation wird zusätzlich verschärft, wenn die Ungleichheit zunimmt, wenn also den eher "bedürftigen" Schichten Kaufkraft zu Gunsten der nicht bedürftigen Schichten entzogen wird. Nachdem die Verschärfung des Wettbewerbs auf dem Arbeitsmarkt schon in Kap. 6.4 dargestellt wurde, haben wir in Kap. 6.5.2.3 mit den langfristig ansteigenden Unternehmens-Insolvenzen einen allgemeinen Indikator für die Intensivierung des Wettbewerbs präsentiert. Die zumindest in Deutschland und Großbritannien ansteigende Zahl der Insolvenzen von Privatpersonen stützt, allerdings im Rahmen eines sehr eingeengten Aktionsfelds, die Annahme, dass in der jetzigen Gesellschaftsformation die funktional geforderte Handlungskompetenz in einigen Bereichen tendenziell rascher ansteigt als die faktisch verfügbare Kompetenz (im Sinne eines erweiterten Konzepts der Selbst-Kontrolle, s. Kap. 1). Auch die stärker als das BIP gestiegenen Werbeausgaben belegen die Wettbewerbsverschärfung. Qualitative Veränderungen in den Werbestrategien verweisen zudem auf spezifische Routen einer forcierten Ökonomisierung gesellschaftlicher Verhältnisse. Dazu gehören die verstärkte Werbung unter Jugendlichen und Kindern (zunehmend auch im Kindergarten und an Schulen) sowie die Erweiterung der Produktpalette, für die (versteckt oder offen) geworben wird. Inzwischen betreiben Sportvereine, Politiker, Parteien und allerlei sonstige Organisationen einschließlich der Kirchen und anderer religiöser Vereinigungen nicht nur Image-Werbung im herkömmlichen Sinne, sondern an kommerziellen Werbestrategien geschultes "Marketing". Seit einiger Zeit gehören auch die staatlichen Universitäten (und andere wissenschaftliche Einrichtungen) zu den Marktteilnehmern bzw. zu den "Marken". In diesem Zusammenhang verweisen wir auch auf die Ausweitung des kommerziellen Sponsorings im kulturellen Bereich. Ein weiterer Aspekt ist die Durchdringung der elektronischen Kommunikationsmedien mit Werbeformaten. Der darin entfesselte Kampf um Aufmerksamkeit führt zur Entgrenzung symbolischer Sinnwelten und lässt Normübertretungen attraktiv werden (hierzu mehr in Kap. 7). Eine weitere Route der Ökonomisierung ist die voranschreitende "Verprivatrechtlichung" staatlicher und sonstiger öffentlicher Funktionen. Dazu gehört die Privatisierung staatlicher bzw. kommunaler Unternehmen (bis hin zu Universitätskliniken), die Ausgliederung bestimmter Dienstleistungen (auch solcher, die in den Bereich hoheitlicher Aufgaben gehören) oder deren verstärkte Kommerzialisierung durch Erhöhung
350
bzw. Einführung individueller Nutzungsgebühren,411 die Veräußerung von Vermögen (insbesondere im Bereich des kommunalen Wohnungsbaus) sowie die sich (vor allem in Großbritannien) ausbreitenden Mischformen einer öffentlich-privaten Partnerschaft (s. Abschn. 6.5.2). Hinzu kommt das anscheinend wachsende Gewicht privater Beratungsfirmen innerhalb parlamentarischer Gesetzgebungsverfahren und in der Einwirkung auf die öffentliche Meinungsbildung (wobei wir allerdings konzedieren müssen, dass gerade zu diesem Punkt noch erhebliche Informationslücken bestehen). Im Zuge dieser Entwicklung verschieben sich die Gewichte zwischen der Rolle des Bürgers und der Rolle des Konsumenten: Der "Bürger", also der Teilhaber am staatlich organisierten Gemeinwesen, der Teilnehmer an öffentlichen Diskursen zur politischen Willensbildung wird zunehmend in die Rolle des Kunden und Konsumenten gegenüber eben diesem (seinem?) Gemeinwesen gedrängt. Die Verschärfung des Wettbewerbs geht einher mit einer Zunahme der sozialen Ungleichheit, einer verstärkten Tendenz zu Prozessen sozialer Marginalisierung und Exklusion sowie – so unsere noch etwas spekulative These – zu einer Rehierarchisierung sozialer Beziehungen. Nachdem wir in Abschn. 6.2.3 die Entwicklung der Ungleichheit und der Armutsquoten summarisch anhand bestimmter Kennziffern dargestellt haben, veranschaulichen wir in Abschn. 6.5.3.1 die enorme Spannweite und Schiefe der Einkommensverteilung anhand konkreter Beispiele. Zu ihrer Charakterisierung greifen wir u. a. auf Konzepte zurück, mit denen Frank/Cook (1995) die "Winner-take-all Society" beschrieben haben. Dazu gehören die zunehmende Bedeutung von Positionsgütern im Verhältnis zu materiellen Gütern sowie die weitgehende Entkopplung von Einkommen und Leistung: Geringe Leistungsdifferenzen sind mit überproportional hohen Lohndifferenzen verbunden; "Erfolg" wird zum Maßstab für Leistung, obwohl er weitgehend von nicht kontrollierbaren und nicht prognostizierbaren Marktbewegungen abhängt. Am unteren Ende der Reichtumsverteilung dagegen kumulieren und verfestigen sich die sozialen Benachteiligungen bis hin zu sozialer Exklusion (s. Abschn. 6.5.3.2). Das Armutsrisiko ist, außer bei Arbeitslosen, besonders hoch bei allein erziehenden Müttern und Kindern (vor allem in Großbritannien und Deutschland) sowie Immigranten. Selbst unter den Vollerwerbstätigen in Deutschland leben inzwischen fast 5 Prozent unterhalb der Armutsgrenze (60 % des Median-Einkommens). Laut "soziökonomischem Panel" (SOEP) waren während einer fünfjährigen Beobachtungsperiode etwa 25 Prozent der deutschen Bevölkerung mindestens einmal kurzzeitig und 10 Prozent mit einer Dauer von drei oder mehr Jahren von (relativer) Armut betroffen. Zehn Prozent beträgt auch der Anteil derjenigen, die sich laut Wohlfahrtssurvey Ende der 90er Jahre selbst als aus der Gesellschaft ausgegrenzt ansahen. Zentrale Bedeutung für die individuellen Teilhabechancen kommt der schulischen und beruflichen Qualifikation zu, die in Deutschland in besonders hohem Maße von der sozialen Herkunft bestimmt ist. Das kriminogene Potential sozialer Ungleichheit wird in Abschn. 6.5.3.3 unter dem Gesichtspunkt der Verletzung von Gerechtigkeitsprinzipien und in Abschn. 6.5.3.4 unter
411
Erstaunlicherweise ist gerade in England der Besuch vieler Museen kostenlos – ein weiteres Beispiel für die Heterogenität der Prozesse und die Schwierigkeit, ihre dominanten Entwicklungstendenzen zu identifizieren.
351
Rückgriff auf Mertons Theorie der strukturellen Anomie erörtert. Die Winner-take-allGesellschaft ist u. a. dadurch gekennzeichnet, dass sie "nach unten" das Leistungsprinzip gegen die Bedarfsgerechtigkeit ausspielt und "nach oben" das Leistungsprinzip durch das Erfolgsprinzip (weitgehend) ersetzt. In die so entstehende Gerechtigkeitslücke stoßen, so unsere durchaus noch recht spekulative Annahme, verschiedene Varianten einer Ideologie der Ungleichwertigkeit, die sich u. a. einer Naturalisierung der Ungleichheit bedienen und einer Rehierarchisierung gesellschaftlicher Verhältnisse den Weg ebnen: Erfolglosigkeit wird zu einem persönlich zurechenbaren, gleichsam naturbedingten Versagen, das keine Maßnahmen ausgleichender Gerechtigkeit geboten erscheinen lässt. (Darin dürfte auch ein Teil der Erklärung für die – in Kap. 5 erwähnte – besonders hohe Punitivität in marktliberalen Gesellschaften liegen). Die von oben nach unten durchgereichte Entwertung ist umso schärfer, je stärker die Ökonomisierung der Gesellschaft vorangeschritten ist, weil sich in diesem Prozess die Möglichkeiten verringern, Anerkennung vermöge sonstiger (nicht geldwerter) Tugenden und Fähigkeiten zu erwerben. Was den Verlierern am unteren Ende der Erfolgsskala bleibt, ist die Suche nach anderen Schwachen oder noch Schwächeren, denen gegenüber man Überlegenheit, mit welchen Mitteln auch immer, demonstrieren kann. An diesem Punkte berühren sich die Konzepte der Winner-take-all-Gesellschaft mit Mertons Theorie struktureller Anomie, sofern man sie mit Colemans Überlegungen zur "Kultur der Konkurrenz" verbindet: Die Akteure erfahren eine permanente Diskrepanz zwischen dem monetären Erfolg als kulturell hoch (oder höchst) bewertetem Handlungsziel und den stets begrenzten Mitteln, es zu erreichen. Diese Diskrepanz besteht im Prinzip auch für die höheren Schichten, denn der Erfolg ist ein positionales Gut, der zehnte Platz wertvoller als der zwanzigste, der erste wertvoller als der zweite. Die Mittel freilich sind ungleich verteilt, die legitimen ebenso wie die illegitimen. Ein Versuch, bestimmte Aspekte einer Dominanzideologie auf der Ebene persönlicher Wertorientierungen und Einstellungen messbar zu machen, wird in Abschn. 6.5.4 mit dem Konzept des "Hierarchischen Selbstinteresses" vorgestellt; in eine ähnliche Richtung zielt innerhalb der Wertetypologie von Helmut Klages die "hedonistisch-materialistische" Orientierung, die sich seit den 80er Jahren stärker verbreitet zu haben scheint. 6.6
Strukturwandel der Familie
In kriminalsoziologischen Untersuchungen spielen Familienverhältnisse eine besonders prominente Rolle. Zum einen ist die Familie selbst Ort zahlreicher Gewalthandlungen, zum anderen ist sie die primäre Sozialisationsinstanz, die heranwachsenden Kindern Erfahrungen, Kompetenzen, aber auch Schädigungen vermittelt, die für ihr weiteres Leben außerordentlich bedeutsam sind, auch in dem Sinne, dass sie die Entwicklung langfristig wirksamer Gewaltneigungen begünstigen oder hemmen. Zahlreiche Studien sind zu dem Ergebnis gekommen, dass jugendliche Gewalttäter weit überproportional häufig in gestörten Familienverhältnissen heranwuchsen (siehe z. B. Bannenberg/Rössner 2000). Nach Lösel/Bliesener (2003: 10) gehören Erziehungsdefizite und Probleme im familialen Klima zu den am besten bestätigten Risikofaktoren gravierender Delinquenz. Gottfredson und Hirschi (1990) gehen in ihrer viel zitierten "General Theory of Crime" davon aus, dass im Wesentlichen das Erziehungsverhalten der Eltern festlegt, in welchem Maße ihre Kinder die Fähigkeit zur Selbstkontrolle erwerben, mit der sie aggressive Impulse meistern und anderen Anreizen für gewalttätiges Handeln widerstehen können. Darüber hinaus stellen Familien gesellschaftlich benötigte Ressourcen zur Verfügung, die für den Bestand eines 352
kooperativen Individualismus relevant sind, bspw. im Bereich der sog. Human- und Sozialkapitalbildung. Andererseits benötigen Familien ihrerseits Ressourcen aus verschiedenen gesellschaftlichen Teilsystemen, insbesondere politisch garantierte Schutz- und Teilhaberechte. Bestimmte Komponenten des familialen Strukturwandels sind häufig als Erklärungsfaktoren für den Anstieg der Gewaltkriminalität genannt worden. Allerdings ist auch hier wieder die Beweislage ziemlich komplex, in einigen Teilen sogar verworren, sodass bilanzierende Schlussfolgerungen kaum möglich erscheinen. Dennoch werden wir versuchen, jene Komponenten und Aspekte des Strukturwandels herauszuarbeiten, die für unsere Problemstellung aussagekräftig sind. Wir beginnen mit dem Thema "Gewalt in der Familie" und beschäftigen uns sodann mit den mutmaßlichen Folgen (bzw. Korrelaten) des Rückgangs der Geburtenrate und der Geschwisterzahlen, des Anstiegs der Ehescheidungen, der zunehmenden Bedeutung nicht-ehelicher Lebensformen sowie der Zunahme von sog. Ein-Eltern-Familien. 6.6.1
Gewalt in der Familie
In politisch pazifizierten Gesellschaften ist die Familie derjenige Ort, in dem möglicherweise immer noch mehr Gewalthandlungen geschehen als irgendwo sonst (Lamnek/ Ottermann 2004: 9). Für diese Annahme sprechen die besondere Intensität und Häufigkeit körpernaher Kontakte, die weiterhin bedeutsamen, aber auch umstrittenen und ungeklärten Machtdifferenzen zwischen den Familienmitgliedern und nicht zuletzt die private Abgeschiedenheit, die vieles im Verborgenen (also mit geringem Bestrafungsrisiko) geschehen lässt, unzugänglich für externe soziale Kontrolle. Dennoch gibt es einige Belege und Indizien dafür, dass die Gewalt innerhalb der Familie schon seit längerer Zeit rückläufig ist. Dafür spricht zum Beispiel die Rechtsentwicklung, die vor allem die schwächeren Mitglieder der Familie schrittweise unter den Schutz des Staates gestellt und das Bestrafungsrisiko zumindest für einige Formen der Gewaltanwendung spürbar angehoben hat. Hinzu kommt, dass solche gesetzgeberischen Maßnahmen nicht nur ein verändertes Problembewusstsein reflektieren, sondern diesen Wandel auch weiter verbreiten und beschleunigen. Es sei also daran erinnert, dass noch das Allgemeine Preußische Landrecht von 1794 dem Manne das "Recht der mäßigen Züchtigung" seiner Ehefrau zusprach und dass dieses Züchtigungsrecht "erst mit Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches im Jahre 1900 als abgeschafft gelten kann" (Nave-Herz 1994: 77). Den Eltern wurde aber weiterhin das Recht eingeräumt, ihre Kinder körperlich zu züchtigen; immerhin wurden "Misshandlungen" unter Strafe gestellt. "Die Anerkennung von Kindern als Rechtssubjekten und die Verankerung von Kindesinteressen im Recht erfolgten erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts" (Lamnek/Ottermann 2004: 28; siehe dort auch den knappen Abriss zur Entwicklung einschlägiger pädagogischer Konzepte und der Kinderschutzbewegung). Formal abgeschafft wurde das elterliche Züchtigungsrecht in Deutschland (nach einem reformerischen Zwischenschritt im Jahre 1980) jedoch erst im Jahre 2000, in Schweden
353
bereits im Jahre 1979412, während es in England fortbesteht: zwar sind körperliche Strafen in öffentlichen Erziehungseinrichtungen verboten, aber "reasonable chastisement" gilt als hinreichender Entschuldigungsgrund für Eltern, körperliche Strafen anzuwenden, sofern diese keine Verletzungen verursachen (The International Save the Children Alliance 2005: 199). Nach dem "Children‘s Act" von 2004 ist das Schlagen der eigenen Kinder nicht illegal, wenn dadurch keine körperlichen Verletzungen irgendwelcher Art (z. B. Quetschungen) resultieren413. Mit spezifischem Bezug zum Thema elterliche Gewaltanwendung und Strafneigung legt Bussmann (2004; 2006) eindrucksvolle empirische Belege für die These vor, dass dem Recht eine Leitbildfunktionfunktion zukommt und gesetzliche Regelungen das Erziehungsverhalten der Eltern beeinflussen. Bussmann (2004: 296f.) zitiert auch Studien die zeigen, dass schwedische Eltern deutlich seltener als deutsche und diese wiederum seltener als englische Eltern ihre Kinder schlagen. Dass die elterliche Erziehungspraxis in Deutschland in etwa parallel zum Trend der Rechtsentwicklung verlief, belegt auch eine von K. H. Reuband durchgeführte Retrospektivbefragung mit Angehörigen unterschiedlicher Altersstufen. Demnach wurden um 1925 in Deutschland etwa 80 % der Kinder "streng erzogen" (laut ihren späteren Angaben), bis Mitte der 80er Jahre fiel der Anteil auf rund 20 %. Etwas schwächer war der Rückgang körperlicher Strafen von etwa 55 % auf ca. 30 %, mit einer Trendabweichung nach oben in der Zeit des Nazismus (Reuband 1997: 148). Die Ergebnisse von Retrospektivbefragungen sind mit besonderer Vorsicht zu betrachten; der ermittelte Trend gewinnt aber gerade durch die abweichenden Werte für die Zeit der Nazi-Herrschaft an Glaubwürdigkeit. Die Niveauangaben in Form der Prozentwerte hängen natürlich stark von der vorgegebenen und von den Befragten sicherlich auch variabel gehandhabten Definition von körperlichen Strafen ab (s. den berühmten "Klaps auf den Po"); aber auch hier ist davon auszugehen, dass die Definitionen in früheren Zeiten strenger gefasst wurden als heute, sodass der tatsächliche Trendabfall eher noch unterschätzt sein dürfte (es sei denn, man will annehmen, dass die Älteren in kritischer Distanz zur heutigen Situation ihre eigenen Kindheitserfahrungen in starkem Kontrast erscheinen lassen wollen). Andere Studien bestätigen jedenfalls den Rückgang elterlicher Gewaltanwendungen im Vergleich verschiedener Altersgruppen (Bussmann 1996, 2004; Enzmann/Wetzels 2001: 248; Sentker 2004). Lamnek/Ottermann (2004: 100) verweisen auf "Untersuchungen aus dem deutschen Sprachraum", denen zufolge "bis in die 1990er Jahre ca. die Hälfte bis zwei Drittel der Eltern ihre Kinder körperlich bestraften". Laut einer von den Autoren selbst in Bayern durchgeführten (Telefon-)Befragung hatte etwa ein Drittel der Eltern schon Gewalt gegen eigene Kinder angewandt; in 36 % der Fälle handelte es sich dabei lediglich um "heftiges Schubsen", nur in 3,3 % der Fälle gaben die Eltern zu, auch "Tritte" und "Schläge mit Gegenständen" angewandt zu haben (ebd., S. 102).
412 413
354
Laut Umfragen befürworteten 1965 noch 53 % der schwedischen Eltern die körperliche Züchtigung, 1994 waren es nur noch 11 % (Lamnek/Ottermann 2004: 77). Für England liegen uns Längsschnittvergleiche dieser Art nicht vor. Diese Information verdanken wir einer persönlichen Mitteilung von Dick Hobbs (London School of Economics).
Mehrere repräsentative Erhebungen, in denen nicht nur Eltern, sondern auch Kinder befragt wurden, lassen vermuten, dass der Anteil körperlich gezüchtigter Kinder auch zur Jahrtausendwende in Deutschland eher noch bei 10 % liegt (Enzmann/Wetzels 2001: 248). Während wissenschaftliche Untersuchungen überwiegend einen Rückgang in der Anwendung körperlicher Gewalt durch Eltern feststellen, steigt die Anzahl der gemeldeten und öffentlich bekannt gewordenen Fälle von Misshandlungen, was wohl vor allem als Folge einer wachsenden Sensibilität gegenüber solchen Vergehen zu verstehen ist. Die Zahl der Verurteilungen wegen Kindesmisshandlungen hat dagegen nachgelassen (Nave-Herz 1994: 79). Gut belegt ist die Feststellung, dass familiale Gewalt deutlich häufiger in Familien vorkommt, die in ökonomisch schwierigen Verhältnissen leben (siehe z. B. Naplava/ Oberwittler 2001 sowie den Überblick in Hill/Kopp 2004: 236 ff.). Hinter diesen Trendentwicklungen steht ein bedeutsamer Wandel der inneren Struktur der Familie. Schon seit längerer Zeit verschiebt sich das Verhältnis zwischen Ehepartnern wie auch dasjenige zwischen Eltern und Kindern von einer "positionalen" (hierarchischen) hin zu einer "personalen" (partnerschaftlichen) Struktur. Dies belegen u. a. die Daten zur Entwicklung der Erziehungsziele:414 Ab 1960 (soweit reichen die Umfragedaten zurück) wird in Deutschland das Ziel "Selbständigkeit und freier Wille" zunehmend unterstützt, und zwar vor allem zu Lasten des Erziehungsziels "Gehorsam und Unterordnung", das im Jahre 2001 nur noch von 5 % der Befragten als primäres Erziehungsziel genannt wird (s. Meulemann 1985, 2002; Reuband 1997: 134). Reuband (1997: 144) verweist auf weitere Trendstudien, die belegen, "daß sich langfristig die Eigenständigkeit der Jugendlichen erhöht hat", Ausmaß und Dichte elterlichen Kontrollhandelns abgenommen haben. Dies bedeutet nicht, dass der normative Anspruch, seinen Eltern mit Respekt zu behandeln, in gleicher Weise zurückgegangen wäre. Vergleichende Umfragedaten hierzu liefern wiederum die World Values Surveys mit Angaben über den Anteil der Befragten, die glauben, man habe die Pflicht, seinen Eltern unabhängig von deren Fehlern mit Liebe und Respekt zu begegnen. Sie zeigen zwischen 1981 und 1990 stabile Zustimmungsquoten für Westdeutschland von etwas über 60 %, für Schweden von ca. 50 % und für Großbritannien einen leichten Zuwachs von ca. 30% auf ca. 35% Prozent (Inglehart 1997: 382). Die 1999er Befragungswelle bestätigt den Wert für Deutschland (60 %), während für Großbritannien ein sprunghafter Zuwachs auf 64 % und für Schweden ein Rückgang auf 43 % registriert wird (eigene Auszählung der WVSDaten). Der Wandel hin zu eher partnerschaftlichen Beziehungen innerhalb der Familie kann in dem für diese Studie ausgearbeiteten theoretischen Bezugsrahmen als Rückgang kollektivistisch-hierarchischer Orientierungen zugunsten eines kooperativen Individualismus gedeutet werden. So z. B. verweist Bertram auf einige Studien, denen zufolge "sich die Eltern-Kind-Beziehungen insbesondere im Jugendalter seit den 50er Jahren im Laufe der zunehmenden Liberalisierung des elterlichen Erziehungsverhaltens deutlich verbessert
414
Hinzuweisen ist auch auf die Ergebnisse dreier demoskopischer Erhebungen (in der Bundesrepublik) aus den Jahren 1970, 1987 und 2003. In ihnen wurde gefragt, ob man es für schlimm halte, wenn ein Mann seine Frau verprügele, weil sie den Haushalt nicht ordentlich führe. 1970 hielten nur 32 % dies für „sehr schlimm“, 1987 waren es 69 % und 2003 75 % (Reuband 2004: 99).
355
haben" (Bertram 1997: 152).415 Allerdings scheinen sich parallel hierzu auch Strukturelemente eines desintegrativen Individualismus auszubreiten, wie in den folgenden Abschnitten gezeigt werden wird.416 Widersprüchliche oder ambivalente Konsequenzen parallel laufender Entwicklungstrends sind bspw. im Zusammenhang mit der zunehmenden außerhäuslichen Erwerbstätigkeit von Frauen und Müttern417 und der sich verringernden Differenz geschlechtspezifischer Bildungsniveaus diskutiert worden. Einerseits haben die größere ökonomische Unabhängigkeit der Frauen und ein erweitertes Feld eigener sozialer Kontakte die Entwicklung partnerschaftlicher Beziehungen innerhalb der Familie gefördert, andererseits haben sich auf diesem Wege auch neue, stresserzeugende Spannungslinien herausgebildet, die das "Familienklima" belasten können, bspw. bei konkurrierenden beruflichen Karrieren. Grundsätzlich positiv gewertete Struktureffekte können für längere Zeit durch gegenläufige Wandlungs- und Anpassungseffekte überlagert werden. So z. B. müssen neue Kompetenzen erworben, neue Rollenerwartungen erlernt und emotional bewältigt werden; die Zeitstrukturen beruflicher Tätigkeiten, der Betreuung von Kindern, des partnerschaftlichen Zusammenseins und für individuelle Unternehmungen sind neu (oft auch schwieriger) aufeinander abzustimmen. Wir wollen hier nur vier längerfristige Entwicklungstendenzen etwas näher betrachten (die oben schon erwähnt wurden): die rückläufige Zahl der Kinder, den Anstieg der Ehescheidungen, die Zunahme nicht-ehelicher Lebensformen und die Zunahme von sog. Ein-Eltern-Familien. 6.6.2
Weniger Ehen, weniger Kinder
Der Rückgang der Geburtenrate am Ende des 19. Jahrhunderts kann als Indikator für die Erosion kollektivistischer und das Vordringen individualistischer Lebensformen interpretiert werden (s. Thome 2002a). Kann der weitere Rückgang der Geburten- bzw. Fertilitätsrate bis weit unterhalb des sog. Reproduktionsniveaus von 2,1 Geburten pro Frau als Beleg für das Vordringen des desintegrativen (egoistischen) zu Lasten des kooperativen Individualismus gelten? Eine eindeutige Antwort scheint kaum möglich. Kollektivismus und Individualismus lassen sich analytisch und empirisch klarer trennen als kooperativer und desintegrativer Individualismus. Außerdem sind die strukturellen Bedingungen für die differenziellen Entwicklungschancen von kooperativem und desintegrativem Individualismus komplexer zusammengesetzt als dies beim Übergang von (primär) kollektivistisch zu (primär) individualistisch ausgerichteten Gesellschaftsformationen der Fall war. Daraus
415 416 417
356
Eine andere Einschätzung gibt Dollase (1991); vgl. ders. (2000). Zum Thema „Individualismus und familiale Solidarität“ siehe Bertram (1997). Hier noch eine Ergänzung zu den in Kap. 4 gemachten Angaben: Der Anteil der Kinder, die während der ersten 15 Lebensjahre eine Berufstätigkeit ihrer Mutter erlebt haben, hat in Westdeutschland seit Mitte des vorigen Jahrhunderts wie folgt zugenommen: Bei Frauen, die zwischen 1933 und 1937 geboren wurden, lag dieser Anteil bei 54 %; bei der Geburtskohorte von 1948-52 stieg der Anteil auf 69 %; sowohl bei der Kohorte 1953-57 wie auch bei der von 1958-62 lag der Anteil bei 80 % (Bertram 1997: 70). Die Erwerbstätigenquote westdeutscher Mütter mit Kindern unter 15 Jahren stieg von 22,8 % im Jahre 1950 auf 61,5 % im Jahre 2000, bei Kindern unter 6 Jahren stieg sie von 29,7 % (1961) auf 51,8 % (2000) (Nave-Herz 2004: 40).
folgt, dass auch die Motivlagen und die gesellschaftlichen Randbedingungen für generatives Verhalten (und auch für Ehewilligkeit) vielgestaltiger geworden sind und länderspezifisch stärker variieren. Der langfristige Rückgang der Geburtenraten, der in Europa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (in Deutschland Ende des 19., Anfang des 20. Jh.) einsetzte ("erster demografischer Übergang"), hat sich nicht kontinuierlich, sondern mit periodischen Schwankungen vollzogen und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den westeuropäischen Ländern merklich abgeflacht. Wie in Kap. 4 schon dargestellt, gab es jedoch in Deutschland in der Zeit zwischen 1965 (mit 17,7 Lebendgeborenen je 1000 Einwohner) und 1975 (mit einer Rate von 9,7) einen besonders markanten Rückgang, der einen vorausgegangenen rapiden Anstieg der Geburtenraten ("Babyboom" – auch in Großbritannien) seit 1955 korrigierte (Peuckert 2005: 121). 3,5 3
Fertilitätsrate
2,5 2 1,5 1 0,5
2004
2002
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1952
1950
0
Jahr
Deutschland (West)
Schweden
Vereinigtes Königreich
Abb. 6.23: Fertilitätsraten für West-Deutschland, Vereinigtes Königreich und Schweden Quelle: EUROSTAT, Statistisches Bundesamt.
Seit 1975 bewegt sich die westdeutsche Geburtenrate relativ stabil um Werte zwischen 9,6 und 11,5; im Jahr 2000 lag sie bei 9,8 in West- und 7,3 in Ostdeutschland (ebd.). Aussagekräftiger für das generative Verhalten ist die Fertilitätsrate, also die Geburtenziffer je Frau in der Altersspanne von 15 bis 44 Jahren. Aber auch sie geht zwischen 1965 (2,51) und 1975 (1,45) in Deutschland besonders stark zurück und pendelt dort seit Anfang der
357
90er Jahre um einen Wert von etwa 1,35.418 Die Trendentwicklung der Fertilitätsraten in den drei Vergleichsländern ist in Abb. 6.23 wiedergegeben. Zu DDR-Zeiten lagen in Ostdeutschland die Geburtenraten zwischen 1970 und 1989 deutlich höher als in Westdeutschland, fielen nach der Wiedervereinigung steil ab, haben sich nach 1995 wieder leicht erholt, liegen aber immer noch deutlich unterhalb des westdeutschen Niveaus (Peuckert 2005: 121). Angesichts der Entwicklung der Geburten- oder Fertilitätsraten ist es zunächst erstaunlich, dass sich in Deutschland "in diesem Jahrhundert die Zahl der [im gesamten Lebensverlauf, T./B.] kinderlos bleibenden Ehepaare kaum verändert hat, obwohl die Zahl der [akut, T./B.] kinderlosen Ehepaare deutlich angestiegen ist" (Bertram 1997: 96; Hervorhebungen T./B.). Der scheinbare Widerspruch löst sich dadurch auf, "dass Ehepaare heute einerseits länger zusammenleben, bevor sie Kinder bekommen, und andererseits länger zusammenleben, nachdem die Kinder aus dem Elternhaus ausgezogen sind" (ebd.). Nachdem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Anteil der Frauen insgesamt (einschließlich der unverheirateten), die dauerhaft kinderlos blieben, zunächst rückläufig war, ist er in den Geburtskohorten zwischen 1935 und 1965 ziemlich stetig von 10 % auf 31 % in West-Deutschland und auf 26 % in Ost-Deutschland angestiegen (Peuckert 2005: 125). Für den Geburtsjahrgang 1955 liegt uns ein Ländervergleich vor: in Deutschland blieben 22 %419, in Großbritannien 17 % und in Schweden 13 % der Frauen dieses Jahrgangs kinderlos (Höhn et al.: 19 unter Bezugnahme auf EUROSTAT). Kinderlosigkeit korreliert in den einzelnen Ländern unterschiedlich mit dem formalen Bildungsniveau. Hohes Bildungsniveau (insbesondere von Frauen) ist in Deutschland z. B. stärker mit Kinderlosigkeit verbunden als in Schweden. Dieser Trendverlauf entspricht in etwa der ansteigenden Zahl der Frauen und Männer, die lebenslang keine Ehe eingegangen sind. In der Geburtskohorte von 1930 betrug ihr Anteil sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen in Deutschland etwa 5 %. Bis 1950 hatte sich dieser Anteil bei den Frauen mehr als verdoppelt und bei den Männern mehr als verdreifacht. Der Aufwärtstrend scheint ungebrochen. "Im früheren Bundesgebiet werden schätzungsweise drei von zehn der 1960 geborenen Männer und zwei von zehn Frauen dieses Geburtsjahrgangs nicht heiraten. In den neuen Ländern werden es rund 18 % der Männer und 10 Prozent der Frauen sein" (Engstler/Menning 2003: 68). Während 1960 noch 9,5 Ehen je 1000 Einwohner geschlossen wurden, waren es 1980 nur noch 6,3, im Jahr 2000 nur noch 5,1 und 2001 4,7 (Statistisches Bundesamt, Datenreport 2004: 46; NaveHerz 2004: 59). Im Vereinigten Königreich ging die Quote von 7,4 (1980) auf ebenfalls 5,1 (2000) zurück, in Schweden blieb sie in dieser Zeit stabil niedrig bei 4,5 (Nave-Herz 2004: 59). Auch die Ledigenquote korreliert im Allgemeinen positiv mit dem schulischen und beruflichen Qualifikationsniveau (Engstler/Menning 2003: 237), allerdings mit erheblicher
418
419
358
Allerdings handelt es sich hierbei um geschätzte Größen, die Niveau und Trendverlauf vermutlich etwas verzerren. Die Statistiker rechnen mit einer „Geburtenphase“ bis zum 45. Lebensjahr der Frau, sodass gegenwärtig der Geburtsjahrgang von 1960 der jüngste ist, für den endgültige Geburtenraten ermittelt worden sind. Sie liegen (bei dieser Kohorte) in Deutschland immerhin bei 1,7; in Großbritannien bei 2,0 und in Schweden bei 2,1 (Peuckert 2005: 418; vgl. Engstler/Menning 2003: 90). Für die 1960 geborenen Frauen nennt der 7. Familienbericht der Bundesregierung eine Quote von 26 % (BMFSFJ 2006: 20).
Varianz in bestimmten Bevölkerungsgruppen. Der Rückgang der Eheschließungen ist zum Teil durch die Zunahme nicht-ehelicher Lebensgemeinschaften kompensiert worden, vor allem in Schweden (s. hierzu Abschn. 6.6.3). Bei den Geburtskohorten zwischen 1930 und 1965 hat insbesondere der Anteil der Frauen mit drei und mehr Kindern abgenommen – von 33 auf 15 Prozent. Dagegen sind die Anteile der Frauen mit einem oder mit zwei Kindern relativ stabil geblieben, wobei der Anteil der Frauen mit zwei Kindern höher liegt (Peuckert 2005: 125). Der Geburtenrückgang ist also vor allem mit einem Rückgang hoher Kinderzahlen in den Familien und mit der Zunahme kinderlos bleibender Frauen außerhalb von Ehe und Familie verbunden. Die durchschnittliche Zahl der Kinder in Familien ist dagegen "seit einigen Jahrzehnten einigermaßen konstant geblieben" (Peuckert 2005: 126). Engstler/Menning (2003: 73) rechnen allerdings mit einer Zunahme der Ein-Kind-Familien bei der jüngeren Elterngeneration. "Dafür spricht ...(die) Tatsache, dass ein wachsender Anteil der 6- bis 9jährigen Kinder keine Geschwister hat, also mit großer Wahrscheinlichkeit Einzelkinder bleiben" (ebd.). Laut Peuckert (2005: 126 f.) lebten im Jahre 2000 in Westdeutschland 23 % der Kinder unter 18 Jahren ohne Geschwister im Familienhaushalt, in Ostdeutschland waren es 32 %. Wenn man die gesamte Lebensspanne in Betracht zieht, schätzt Peuckert, dass in Westdeutschland 18 % und in Ostdeutschland 30 %, insgesamt also etwa ein Fünftel der Kinder ohne Geschwister aufwachsen. Es gibt kein klares Forschungsbild zur Frage, wie sich das Fehlen von Geschwistern auf die psycho-soziale Entwicklung der Einzelkinder auswirkt. Es werden sowohl Vorteile (wie intensivere Betreuung durch die Eltern) als auch Nachteile (zu starke Intensität der Eltern-Kind-Beziehung; mangelnde Erfahrung im Austragen von Konflikten unter (nahezu) Gleichrangigen) genannt. Nave-Herz weist darauf hin, dass es wegen des Geburtenrückgangs häufig auch an nachbarschaftlichen Spielgruppen mangelt, "und dadurch ist das Einzelkind heute nicht nur in der Familie, sondern auch in der nächsten Umgebung allein" (Nave-Herz 1994: 27). Möglicherweise kann dies aber durch einen Ausbau der Kindergartenplätze und ähnlicher Betreuungsangebote zunehmend besser kompensiert werden. Peuckert (2005: 127) resümiert: "Welche Auswirkungen die Situation als Einzelkind auf den Sozialisationsprozess hat, darüber lässt sich beim gegenwärtigen Erkenntnisstand fast nur spekulieren." Der Kinderwunsch und seine Realisierung sind nicht zuletzt von den Kosten- und Anreizstrukturen sowie den außerfamilialen Betreuungsmöglichkeiten abhängig, die z. B. betriebliche Einrichtungen, Kindergärten und Schulen bieten. Hier gibt es erhebliche Variationen zwischen den verschiedenen Ländern. Insbesondere bei der Betreuung von Kindern unter drei Jahren liegen Großbritannien und Westdeutschland (im Unterschied zu Ostdeutschland) weit hinter Schweden zurück. Auch bei den älteren Kindern fehlt es vor allem an ganztäglichen Betreuungsangeboten. Genauere Angaben hierzu finden sich im Ersten Bildungsbericht der Bundesregierung (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006: 34 f., 59), im Siebten Familienbericht der Bundesregierung (BMFSFJ 2006: 59) sowie in den OECD Länderberichten "Starting Strong: Early Childhood Education and Care" (2001c: u. a. Schweden und Großbritannien; 2004e: Deutschland) und in Engstler/Menning (2003: 128 f.) Auch bei den familienbezogenen öffentlichen Ausgaben hinkt Deutschland hinterher. Gemessen am BIP betragen sie in Schweden 2,9 %, in Großbritannien 2,2 % und in Deutschland 1,9 %. In Schweden z. B. werden wesentlich höhere Lohnersatzleistungen gewährt, wenn sich Eltern entscheiden, für eine gewisse Zeit sich nur um ihr Kind zu kümmern (BMFSFJ 2006: S. 27). Allerdings handelt es sich bei den zitierten Prozent-
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anteilen um Brutto-Quoten, die die unterschiedlichen Besteuerungsregeln nicht berücksichtigen (BMFSFJ 2006: 38 f.). Kommunale oder staatliche Angebote zur Kinderbetreuung hängen offensichtlich eng mit dem Rollenbild von Frauen und Müttern zusammen. Die Aussage "Frauen sollen zuhause bleiben, wenn sie ein Kind im Vorschulalter haben" fand (vor wenigen Jahren) bei 68,5 % der westdeutschen und 62,7 % der britischen Befragten Zustimmung, aber nur bei 29,5 % der schwedischen. Allerdings teilten nur 39 % der Briten gegenüber 71 % der Deutschen die Ansicht, dass ein Kind leide, wenn seine Mutter arbeite (Schweden: 28,5 %) (Nave-Herz 2004: 75). Zwei Drittel der Schweden, aber nur 32 % der Deutschen und 21 % der Briten plädieren für eine Vollzeitbeschäftigung beider Eltern mit Kindern unter 6 Jahren. Realisiert ist diese Situation bei 51 % der schwedischen, 25 % der britischen und 16 % der deutschen Paare (Peuckert 2005: 431). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang der Befund, dass "im europäischen Vergleich der Zeitaufwand, den Mütter für ihre Kinder erbringen, in den Ländern sehr hoch zu sein scheint, in denen auch die Erwerbsquote der Frauen relativ hoch ist" (BMFSFJ 2006: 32). Die relativ geringe Präsenz deutscher Mütter am Arbeitsmarkt führe nicht zu höherem Zeitaufwand im Haushalt, sondern zu mehr Freizeit. Die schwedischen Mütter dagegen kompensierten ihre höhere Präsenz am Arbeitsmarkt durch eine Reduktion an Freizeit (ebd., S. 32 f.). Im Längsschnittvergleich kann Hans Bertram dagegen konstatieren, dass Eltern heute nicht nur mehr Geld für Kinder aufbringen (Betram 1997: 132), sondern zumindest die Mütter (in Deutschland) heute auch mehr Zeit in die Betreuung ihrer Kinder investieren als früher. Aus Zeitbudgetstudien und verschiedenen anderen Untersuchungen folgert er, "daß die Investitionen in Zeit ... in den letzten 25 Jahren trotz zunehmender außerhäuslicher Erwerbstätigkeit der Frauen eher zugenommen haben, als sich zu vermindern" (ebd., S. 138). Wenn die Anreiz- und Betreuungsstrukturen insgesamt so gestaltet sind, dass sich viele potentielle Eltern die Realisierung des Kinderwunsches versagen oder einen solchen Wunsch gar nicht erst entwickeln; wenn also relativ viele Menschen die besonders intensive (beglückende, fordernde und bildende) Bindungserfahrung, die eine Elternschaft bietet, gar nicht machen, kann man dies durchaus als einen Indikator für die stärker werdende Gewichtung des desintegrativen Individualismus in einer Gesellschaft ansehen. Dafür spricht z. B. der Befund, dass Menschen, die in Haushalten von vier oder mehr Personen leben, sich deutlich stärker bürgerschaftlich engagieren als andere (Gensicke 2005: 12). "Mit dem Alter des jüngsten Kindes und der Anzahl der Kinder steigt die Wahrscheinlichkeit einer ehrenamtlichen Tätigkeit ... Die Analyse verdeutlicht aber auch dass mehr monetäre Ressourcen und ein größeres Humanvermögen Familien zur Herstellung von mehr Sozialkapital befähigen" (BMFSFJ 2006: 164). Die Mehrzahl der Männer und Frauen, die keine Kinder haben, geben bei Befragungen durchaus zu erkennen, dass sie gerne Kinder hätten oder noch haben wollen. Aber auch die Zahl der tatsächlich noch "gewollten" Kinder ist bei den 20- bis 39-jährigen Frauen in Deutschland zurückgegangen: 1988 lag die durchschnittlich gewünschte Kinderzahl bei 2,15, vier Jahre später bei 1,75; dieser Wert wurde auch bei einer Befragung im Jahre 2005 registriert, bei den Männern lag er zu diesem Zeitpunkt bei 1,59. "In Europa will niemand
360
so wenig Kinder wie die Deutschen" (Höhn et al. 2006: 15 f.420). Laut einer Befragung aus dem Jahre 2003 wollten 27 % der westdeutschen und 21 % der ostdeutschen Männer ausdrücklich keine Kinder; die Anteile bei den Frauen waren 17 % und 6 % (ebd., S. 20). In einer 1999 durchgeführten Erhebung hatten lediglich 14 % der westdeutschen und 5 % der ostdeutschen Befragten eine Präferenz für "keine Kinder" geäußert (Peuckert 2005: 134 unter Berufung auf eine Studie von Brähler/Stöbel-Richter). Aus rein ökonomischer Sicht sind Kinder für potentielle Eltern heute "teurer" als früher, eine Investition, die sich nicht einmal für die eigene, individuelle Alterssicherung zu lohnen scheint. Paare ohne Kinder verfügen über ein wesentlich höheres Pro-KopfEinkommen (im Sinne des Äquivalenzeinkommens) als Paare mit Kindern. Der "Wert" der Kinder liegt also vor allem in der emotionalen Bindungserfahrung und der Stabilisierung der (ehelichen oder nicht-ehelichen) Partnerschaft der Eltern, die durch sie ermöglicht werden (s. Nauck 2001). Höhn et al. (2006: 28 f.) gehen allerdings davon aus, dass auch dieser Wert im Schwinden begriffen ist. U. a. zitieren sie aus einer 2005 durchgeführten Studie (für Deutschland) den Befund: "Von den hier befragten Männern und Frauen geht nur etwa ein Viertel davon aus, dass ein erstes bzw. weiteres Kind ihre Lebensfreude und -zufriedenheit verbessern würde" (ebd., S. 23). Gemäß der "Value-of-Children"-Theorie ist der emotionale "Zugewinn" beim ersten Kind deutlich höher als bei jedem weiteren Kind. Dies schlägt sich in dem Ergebnis nieder, dass immerhin 44 % der Kinderlosen (im Alter zwischen 20 und 49 Jahren und in einer Partnerschaft lebend) davon ausgehen, dass durch die Geburt eines Kindes ihre "Lebensfreude und -zufriedenheit" in den nächsten drei Jahren zunähme – was aber andererseits bedeutet, dass mehr als die Hälfte diese Erwartung nicht hegen. Dieser Studie zufolge stimmen auch nur 30 % der befragten Männer wie auch 30 % der befragten Frauen der Aussage zu "Eine Frau braucht Kinder, um ein erfülltes Leben zu haben"; 45 % der Männer und 50 % der Frauen äußern sich ablehnend (ebd., S. 29). Dieses Resultat widerspricht Befunden der World-Values Surveys, in denen die Befragten eine ähnlich formulierte Aussage ("A woman has to have children in order to be fulfilled") zu bewerten hatten. Im Jahr 1981 stimmten 36 % der westdeutschen Befragten dieser Einschätzung zu, 1990 waren es knapp 44 % und 2000 fast 60 %. Die Zustimmungsraten in Schweden und Großbritannien bewegen sich erheblich unter diesem Niveau, obwohl in beiden Ländern die Geburtenraten über der deutschen liegen. Immerhin steigt die Zustimmungsrate in Schweden von knapp 16 % (1981) auf knapp 25 % (2000). In Großbritannien bleibt sie stabil bei etwas über 20 % (eigene Auszählung der WVS-Daten). Bekundete Wertschätzung (für Kinder) und Werte-Realisierung scheinen in diesem Falle tendenziell auseinander zu laufen. (Allerdings könnte die geschlechtsspezifische Akzentuierung der Frage in den einzelnen Ländern zu unterschiedlich starken Verzerrungen führen.) Das "Eurobarometer" liefert jedoch zwei Umfrageergebnisse über die Bedeutung von Kindern aus den Jahren 1998 und 2003, die diesen Eindruck wiederum relativieren. Der Anteil der Befragten, die es für "sehr wichtig" halten Kinder zu haben, betrug 1998 in Deutschland (insgesamt) 44,6 %; in Schweden waren es 51,6 % und im Vereinigten
420
Aus dem Text geht nicht eindeutig hervor, ob sich die Daten jeweils auf Westdeutschland beziehen. Zum Kinderwunsch präsentiert die Studie zwar Daten für 14 europäische Länder, aber keine für Großbritannien und Schweden.
361
Königreich 37,4 %. In Deutschland stieg der Anteil bis 2003 nur leicht an auf 48,7 %, in Schweden stärker auf 62,4 %, während er im Vereinigten Königreich leicht zurück ging auf 35,4 % (ZUMA, Mannheim: European System of Social Indicators). Unter Familienforschern gibt es eine lebhafte Diskussion über das relative Gewicht, das den materiellen (finanziellen und beruflichen) Nachteilen im Vergleich zu den Werthaltungen bei der Entscheidung für oder gegen Kinder zukommt. Die Familienforscher scheinen mehrheitlich die Auffassung zu vertreten, dass mit dem Anstieg des Bildungsniveaus und der auf dem Arbeitsmarkt verstärkten Nachfrage hoher beruflicher Qualifikationen die "Opportunitätskosten" für Familiengründungen im Allgemeinen zunehmen: Mit dem höheren Bildungsniveau steigen die beruflichen Möglichkeiten; dies lässt andererseits die Verluste anwachsen, die entstehen, wenn man auf seine beruflichen Chancen verzichtet oder sie reduziert, um Kinder betreuen zu können. Folglich ist damit zu rechnen, dass Menschen mit höherem Bildungsniveau eher als andere auf Kinder verzichten. Da das durchschnittliche Bildungsniveau seit den 60er Jahren stark angestiegen ist, erklärt sich daraus wenigstens teilweise auch der Rückgang der Geburtenrate. Dagegen legen Klein/Eckhard (2005) Untersuchungsergebnisse vor, denen zufolge die wahrgenommenen Opportunitätskosten nicht mit dem schulischen Bildungsniveau ansteigen und "opportunitätskostenbezogene Motive und Einstellungen in keiner der hierzu durchgeführten Berechnungen für die Familiengründungsrate statistisch signifikant (sind)" (ebd., S. 159). Demgegenüber stellen sie fest, dass Abiturientinnen seltener als Hauptschulabsolventinnen der Aussage zustimmen, dass Kinder das Leben ‚erfüllter und intensiver‘ machen, eine Werthaltung, die ihrerseits die Bereitschaft zur Familiengründung stark beeinflusst. "Die Wahrnehmung des immateriellen Wertes von Kindern als ‚Erfüllung im Leben‘ hat sich einerseits als ein bedeutsamer Einflussfaktor der Erstgeburtenneigung herausgestellt und ist andererseits bei Frauen mit Abitur deutlich seltener als bei Frauen mit niedrigerem Schulbildungsniveau" (ebd., S. 164).421 Dieser Befund wird jedoch durch das Ergebnis einer anderen Studie relativiert, derzufolge die erheblichen regionalen Unterschiede (innerhalb Deutschlands) im generativen Verhalten nicht durch entsprechende regionale Unterschiede in der Wertschätzung von Kindern (im Sinne ihres immateriellen Nutzens) erklärt werden können. "If the positive values of children hardly vary between regions and over the last few decades then the varying direct and indirect costs of children may be responsible for the heterogeneity in fertility” (Klaus et al. 2005: 38). Wieder einmal liefert die Forschung widersprüchliche Ergebnisse, die generalisierende Schlussfolgerungen unterlaufen.
421
362
Die Opportunitätskosten-Hypothese muss deshalb nicht aufgegeben, sondern lediglich erweitert werden, um immaterielle Werte mit berücksichtigen zu können. Offensichtlich sieht eine relevante und vermutlich wachsende Gruppe von Personen auch für die Befriedigung emotionaler Bedürfnisse reizvolle Alternativen außerhalb der spezifischen Bindungserfahrungen, die Kinder vermitteln. Andererseits könnten die prospektiven Eltern den immateriellen Nutzen von Kindern auch zu optimistisch einschätzen – mit dem Risiko, später Frustrationen und nicht erwartete Belastungen tragen zu müssen. In dieses Szenario passen Zeitungsmeldungen, wonach die Zahl der sehr jungen, minderjährigen Mütter zunimmt, die eine Schwangerschaft ohne feste partnerschaftliche Bindung in der Hoffnung zulassen, auf diese Weise der Einsamkeit und Sinnleere entfliehen zu können. In einer Umkehrung bisheriger Kausalitätszuschreibungen wäre in diesem Falle der Kinderwunsch Folge eines desintegrativen Individualismus.
6.6.3
Nicht-eheliche Lebensgemeinschaften und Single-Dasein
Die Familienforschung unterscheidet sieben "private Lebensformen": (1) ledig, (2) verheiratet, (3) wiederverheiratet, (4) verwitwet sein; (5) in Trennung, (6) in nicht-ehelicher Lebensgemeinschaft (NEL) oder (7) nach einer Ehe in einer NEL Lebend (s. Brüderl 2004: 5). Man kann sie in drei Hauptkategorien zusammenfassen: Ehe, nicht-eheliche Lebensgemeinschaft und "Single"-Dasein, wobei man allerdings die nach einer Ehe ungewollt alleine Lebenden bei den Singles nicht unbedingt mitzählt. Berücksichtigt man auch die Zahl der Kinder wird dieses Kategorienschema weiter ausgedehnt. Üblicherweise wechselt man im Laufe seines Lebens mindestens einmal die Lebensform, wobei die Zahl der Lebensformwechsel im 20. Jahrhundert zugenommen hat. Brüderl (2004: 5) hat die durchschnittliche Häufigkeit der Lebensformwechsel bis zum Alter von 35 Jahren für verschiedene Geburtskohorten berechnet. Demnach steigt in den Geburtsjahrgängen von 1944 bis 1961 die mittlere Häufigkeit der Wechsel von 1,3 auf 1,67 und geht in der letzten Kohorte leicht zurück auf 1,58. Auf Basis der Lebensformwechsel lassen sich verschiedene Typen von Lebensverläufen identifizieren. Betrachtet man diese Lebensverläufe wiederum nur bis zu einer Altersstufe von 35 Jahren, so ergeben sich folgende besonders auffällige Entwicklungstendenzen (wiederum bezogen auf die og. Geburtskohorten). Der Anteil der "reinen" Ehetypen (ohne länger andauernde vorherige NEL) geht von 75 Prozent in der ältesten auf 45 Prozent in der jüngsten Kohorte zurück. Auch wenn man die Variante mit vorheriger NEL mit hinzu rechnet, gehen die ehelichen Engagements von 79 auf 52 Prozent zurück. Zugenommen hat die Einbindung in eine oder mehrere NEL ohne nachfolgende Eheschließung bis zum Alter von 35 Jahren von 3 Prozent auf 13 Prozent. Dieser Anstieg reichte allerdings nicht aus, um den Rückgang der "reinen" Ehetypen zu kompensieren, sodass insgesamt ein Rückgang der "Bindungsquote" zu verzeichnen ist.422 Stattdessen stieg der Anteil derer, die ledig blieben, von 13 auf 28 Prozent (alle Angaben aus Brüderl 2004: 6 f.). Brüderl relativiert die These von der zunehmenden "Pluralisierung" der Lebensformen, weil er vermutet, dass sich neben der Ehe in Westdeutschland (aber noch stärker z. B. in Italien) ein Singularisierungstrend abzeichnet: das Leben als Single wenigstens bis Mitte dreißig als eine neue "Standard"Lebensform (die Datenlage erlaubt derzeit keine Aussage über die Fortsetzung der Lebensläufe in den höheren Altersstufen). In Schweden zeichnet sich dagegen eher ein Dominantwerden der nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften ab (ebd., S. 9). Im Vergleich zu Großbritannien und Schweden ist der Anteil der in eheähnlichen Gemeinschaften lebenden Paare in Deutschland recht gering; 1997 waren es hier 7,0 %, in Großbritannien 11,0 %, in Schweden schon 23,0 % (Engstler/Menning 2003: 235). Peuckert (2005: 425) liefert für 1994 folgende Vergleichsdaten: Der Anteil der in nichtehelichen Lebensgemeinschaften lebenden 25- bis 44-jährigen Bevölkerung betrug zu dieser Zeit in Schweden 26,3 %, in Großbritannien 12,5 % und in Deutschland 7 %. 1972 gab es in Westdeutschland nur 137.000 nichteheliche Lebensgemeinschaften (18,4 % von ihnen hatten Kinder), 1991
422
Klaus et al. (2005 : 23) stellen dagegen mit Blick auf Westdeutschland fest : „young adults show an increasing rate of commitment across the generation … rates of companionship are not decreasing at all”, bemerken andererseits aber auch “a slightly increasing tendency to remain single” (ebd.).
363
waren es schon 1.066.000, im Jahre 2000 1.593.000 (davon 23,3 % mit Kindern); in Ostdeutschland waren es zu diesem Zeitpunkt 520.000 Paare, davon 48,7 % mit Kindern (nach 55 % in 1991) (ebd., S. 44). Leider sind die statistischen Informationen für einen Ländervergleich in diesem Bereich noch sehr lückenhaft. Das European System of Social Indicators (EUSI) von ZUMA (Mannheim) registriert zwar die Anzahl der 18- bis 39-jährigen Personen, die in eheähnlichen Gemeinschaften ohne Kinder zusammenleben, man erfährt aber aus dieser Quelle nichts über den Anteil entsprechender Partnerschaften mit Kindern. Auch der Anteil der "single persons" ab 15 Jahren differenziert nicht nach Ledigen oder Verwitweten, und es bleibt unklar, ob oder wie die verschiedenen Formen nichtehelichen Zusammenlebens berücksichtigt sind. Außerdem fehlen zuverlässige Daten über die Zahl derjenigen Personen, die in einer festen Partnerschaft, aber nicht in einem gemeinsamen Haushalt leben ("living apart together"). Einen weiteren Anhaltspunkt über die länderspezifische Bedeutung außerehelicher Lebensformen und deren zeitliche Entwicklung erhält man aus einer 1980 beginnenden Zeitreihe über den Anteil der Lebendgeborenen außerhalb der Ehe (also ohne Trennung von ledigen und kohabitierenden Müttern), wie sie das EUSI von ZUMA liefert. Demzufolge stieg dieser Anteil in Westdeutschland von 7,6 % im Jahre 1980 auf 17,7 % im Jahre 1999 (in der DDR bzw. Ostdeutschland von 22,8 % auf 49,9 %). In Schweden stieg diese Quote im gleichen Zeitraum von 39,7 % auf 55,3 % und im Vereinigten Königreich von 11,5 auf 38,8 %. Der höhere Anteil für Schweden ist offensichtlich dem größeren Gewicht nichtehelicher Lebensgemeinschaften zuzuschreiben (s. die oben zitierte Arbeit von Brüderl 2004): Für 1990 liefert die gleiche Quelle für Schweden einen Anteil allein erziehender Mütter mit Kindern (in Relation zu allen Privathaushalten) von nur 2,7 %. Der entsprechende Anteil für Deutschland insgesamt betrug 1991 5,1 % und für das Vereinigte Königreich im gleichen Jahr 7,7 % (mehr hierzu in Abschnitt 6.6.5). Auch Hradil (2004: 115) stellt fest: "In Schweden lebt ... die Mehrheit der jungen Frauen bei Geburt ihres ersten Kindes in einer Nicht-ehelichen Lebensgemeinschaft." Demnach scheint folgendes Zwischen-Resümee plausibel: In Schweden ist die kollektivistisch-hierarchische Struktur des familialen Zusammenlebens in höherem Maße als in den beiden anderen Ländern durch individualistisch-partnerschaftliche Formen abgelöst worden, die aber ihrerseits in geringerem Maße als in den beiden anderen Ländern zur Bindungslosigkeit des Single-Daseins geführt haben. Die diesbezüglichen Annahmen von Brüderl (2004) werden durch eine Information aus dem Siebten Familienbericht der Bundesregierung bestätigt. Ihm zufolge ist der Anteil junger Erwachsener zwischen 25 und 29 Jahren, die ohne festen Partner innerhalb oder außerhalb einer gemeinsamen Wohnung leben, in Deutschland wesentlich höher als in Schweden (BMFSFJ 2006: 22f.). Auch Hans Bertram hebt in einem Interview (DJI Bulletin 74, Heft 1/2006, S. 4-7) den wachsenden Anteil Alleinstehender im mittleren Lebensalter hervor: "30 % der vierzig- bis fünfzigjährigen Männer sind unverheiratet. Das hat es historisch in Deutschland noch nie gegeben. Das ist neu, und weltweit sind wir hier führend. Es gibt einen zunehmend großen Prozentsatz von Männern, die gar nicht mehr Partnerschaft und Familie zu ihrem Thema machen" (ebd., S. 7).
364
6.6.4
Anstieg der Scheidungsraten
Nicht nur hat sich der Anteil der Frauen und Männer erhöht, die überhaupt nicht heiraten (s. oben); auch die Häufigkeit, mit der Ehen geschieden werden, ist drastisch angestiegen. Im langfristigen Trend steigen die Scheidungsraten in Deutschland schon seit Ende des 19. Jahrhunderts, allerdings mit einigen Trendbrüchen (Daten liegen erst seit 1888 vor; s. Peuckert 2005: 175).423 In unseren drei Vergleichsländern erfolgt im Laufe der 60er Jahre ein relativ steiler Anstieg, der sich zwischen Ende der 70er und Mitte der 80er Jahre abflacht, stellenweise (in Schweden) sogar in einen absteigenden Verlauf übergeht und in allen drei Ländern bis zur Jahrtausendwende stärker fluktuiert. (s. Abb. 6.24) Der vorübergehende starke Rückgang der Scheidungsrate in Deutschland nach 1976 hat verfahrenstechnische Gründe: 1976 wurde das Scheidungsrecht grundlegend reformiert, das Verschuldungs- durch das Zerrüttungsprinzip abgelöst – was im übrigen eine nachlassende Stigmatisierung Geschiedener signalisiert und im weiteren Verlauf zusätzlich begünstigt haben dürfte. Insgesamt haben sich die Scheidungsraten (Scheidungen pro 100.000 Einwohner) in Deutschland zwischen 1965 und 2002 mehr als verdoppelt, in England von einem sehr niedrigen Niveau ausgehend in etwa verdreifacht und in Schweden knapp verdoppelt.
Scheidungen / 100.000 Einwohner
350 300 250 200 150 100 50
2002
2000
1998
1996
1994
1992
1990
1988
1986
1984
1982
1980
1978
1976
1974
1972
1970
1968
1966
1964
1962
1960
1958
1956
1954
1952
1950
0
Jahr
Schweden
E&W
D (West, ab 1995 einschl. Ostberlin)
DDR/D-Ost
Abb. 6.24: Scheidungsraten (Scheidungen pro 100.000 Einwohner) in Westdeutschland, der DDR/Ostdeutschland, England/Wales und Schweden Quelle: Statistisches Bundesamt, Office for National Statistics, SCB.
423
Aufgrund der deutlich gestiegenen Lebenserwartungen ist allerdings die durchschnittliche Ehedauer heute höher als je zuvor in der Geschichte (Hill/Kopp 2004: 265).
365
Scheidungsraten, die im Verhältnis zur Bevölkerungsgröße berechnet werden, sind abhängig von demografischen Veränderungen (insbesondere der Alterszusammensetzung) und vor allem von der Heiratsneigung. Wenn (relativ zur Bevölkerungsgröße) weniger Menschen heiraten, muss die so definierte Scheidungsrate tendenziell zurückgehen. Allerdings sind für diesen Indikator noch am ehesten Zeitreihendaten für den Ländervergleich verfügbar. Wenn es um die Frage der Ehestabilität geht, muss man jedoch die Zahl der Scheidungen ins Verhältnis setzen zur Zahl bestehender Ehen. Wenn man die Angaben verschiedener Quellen zu den Scheidungen je 10.000 bestehender Ehen zusammenstellt, erhält man für unsere drei Vergleichsländer folgendes Bild: In Westdeutschland und Schweden hat sich die Rate zwischen 1965 und 2002 in etwa verdreifacht und in England mehr als vervierfacht (bis 1998) (Statistisches Bundesamt; Bach 2001: 394; SCB; Flora/Kraus/Pfenning 1987: 198).424 Es fällt auf, dass sich in England der Anstieg seit Ende der 80er Jahre merklich abgeflacht hat und auch in Schweden seit den 80er Jahren nur moderate Zuwächse zu verzeichnen waren, während in Westdeutschland das Scheidungsrisiko auch in den 90er Jahren weiter anstieg. In England wurde das zunächst sehr restriktive Scheidungsrecht in mehreren Etappen zwischen 1969 und 1984 liberalisiert (s. Bach 2001: 372 - 377). Seitdem setzt auch in England die Scheidung nicht länger mehr eine öffentliche, höchstrichterliche Untersuchung voraus, sondern wird als eine von der Verwaltung ratifizierte private Entscheidung der Eheleute vollzogen. In Schweden wurde die Scheidung von ihren materiellen Voraussetzungen her Anfang der 70er Jahre wesentlich durch die beruflich-steuerliche Gleichstellung von Mann und Frau erleichtert; eine Regelung ähnlich des in Deutschland nach wie vor praktizierten Ehegatten-Splittings wurde abgeschafft. Gemeinsame Kinder senken das Trennungsrisiko der Eltern (in Ostdeutschland in erheblich geringerem Maße als in Westdeutschland); aber "(m)it zunehmender Ehedauer und zunehmendem Alter der Kinder wirkt sich die Kinderzahl immer weniger auf die Scheidungshäufigkeit aus" (Peuckert 2005: 185). Bei den nicht-ehelichen Partnerschaften (s. oben) ist das Trennungsrisiko höher, vor allem bei Paaren ohne Kinder. "Die Trennungsrate von nichtehelichen Lebensgemeinschaften innerhalb der ersten 6 Jahre ist etwa dreimal so hoch wie die Trennungsrate von Ehen ... Wenn die leiblichen Eltern eines nichtehelich geborenen Kindes unverheiratet zusammenleben, liegt das Risiko einer Trennung bis zum 18. Lebensjahr des Kindes bei über 80 % ..., wenn sie sich entscheiden, zu heiraten, unter 20 %" (Peuckert 2005: 181 f.; die Informationen beziehen sich auf Deutschland).
424
366
Familienforscher ermitteln nicht nur die tatsächlich vollzogenen Ehescheidungen je 1000 oder 10.000 bestehender Ehen, sondern berechnen darüber hinaus eine „zusammengefasste Scheidungsziffer“, die das über Zeit sich verändernde tatsächliche Scheidungsrisiko besser abbildet (zur Erläuterung s. Peuckert 2005:178). Gemäß dieser Scheidungsziffer ist in Westdeutschland das Scheidungsrisiko von 12,2 % der im Jahre 1965 geschlossenen Ehen auf 41,3 % der 2002 geschlossenen Ehen gestiegen, in Ostdeutschland steigt die nach der Wiedervereinigung zunächst stark gefallene Scheidungsziffer wieder deutlich an, liegt aber mit 34,6 % im Jahre 2002 nicht nur unter dem westdeutschen Risikoniveau, sondern auch etwas unter dem DDR-Niveau Mitte der 80er Jahre (ebd., S. 177). In Schweden stieg die Scheidungsziffer von 20 (1965) auf 53 Prozent (1999), in Großbritannien von 30 (1975) auf 43 Prozent (1998) (ebd., S. 415).
Man trennt sich aber heute nicht nur in ehelichen und nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften häufiger als früher, sondern auch in den Beziehungen, die vor Ehe oder Lebensgemeinschaft liegen. "Ein Vergleich ausgewählter Geburtsjahrgänge zwischen 1935 und 1960 anhand des Familiensurveys West zeigt, dass die Anzahl der (mindestens 1 Jahr bestehenden) zwischengeschlechtlichen Partnerschaften, die ein Mensch bis zum Alter von 30 Jahren durchläuft, zugenommen hat. Mit jeder jüngeren Geburtskohorte sinkt der Anteil derjenigen, die nur eine Beziehung hatten ... und es steigt der Anteil jener mit zwei und mehr Beziehungen (Peuckert 2005: 183 unter Verweis auf eine Studie von Tölke). Eine Befragung in Hamburg und Leipzig ergab: "Bis zum Alter von 30 Jahren hatten die 1942 Geborenen nur etwa halb so viele feste Beziehungen (1,9) wie die 1972 Geborenen (3,7)" (Peuckert 2005: 182 unter Verweis auf eine Studie von Schmidt u. a.).425 Unter den Kindern, die in den ersten fünf Jahren einer Ehe geboren werden, ist der Anteil derer, die die Scheidung ihrer Eltern erleben, bei den Heiratsjahrgängen zwischen 1965 und 1990 (in Westdeutschland) ziemlich konstant geblieben; bei längerer Ehedauer nimmt dieser Anteil im Trendverlauf seit 1965 deutlich zu. Beim Heiratsjahrgang von 1980 waren bis zum Jahre 2000 16,3 % der Kinder betroffen (Engstler/Menning 2003: 83). Die absolute Zahl der jährlich von Scheidung betroffenen Kinder fluktuiert, zeigt aber seit 1970 insgesamt einen ansteigenden Trendverlauf von knapp über 80.000 (1970) auf etwas über 110.000 (1994) bis zu knapp 150.000 im Jahre 2000 (Bertram 1997: 93; Walper/Schwarz 2002: 8). Seit 1975 hat sich der Anteil der Kinder unter sechs Jahren, die bei einem geschiedenen Elternteil leben, verdoppelt; bei den 15- bis unter 18-Jährigen ist er auf fast das Dreifache gestiegen (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2006: 16). 1972 lebten in Westdeutschland noch 93,4 % aller Kinder unter 18 Jahren bei einem zusammenlebenden Ehepaar; dieser Anteil ging bis 2000 auf 83,9 % zurück; in Ostdeutschland lag im selben Jahr dieser Anteil bei 69 % (Engstler/Menning 2003: 214). In kriminalsoziologischen Untersuchungen sind Scheidungsraten nicht nur als Indikator für den Zerfall von Familien, sondern auch als genereller Indikator für "soziale Desorganisation" und "Anomie" eingesetzt worden. Insbesondere US-amerikanische Studien haben wiederholt signifikante Zusammenhänge zwischen lokal bzw. regional gegebenen Scheidungsziffern und der jeweiligen Kriminalitätsrate ermittelt (siehe z. B. Blau/Blau 1982). Einen signifikanten positiven Zusammenhang zwischen der Höhe der Scheidungsraten und der personenbezogenen Gewaltrate ermittelte Thomas Ohlemacher (1995) auch für die Kreise und kreisfreien Städte in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen. Friedrichs (1985) fand in 62 deutschen Großstädten ebenfalls einen Zusammenhang zwischen der Scheidungsrate und den Häufigkeitszahlen verschiedener Deliktkategorien. Auch in Untersuchungen mit Individualdaten konnte gezeigt werden, dass Menschen sich eher deviant, auch eher gewalttätig verhalten, wenn sie in einem sozialen Kontext leben, der durch hohe Scheidungsraten gekennzeichnet ist.
425
Aus alldem folgt nicht zwingend, dass man sich früher weniger leicht trennte als heutzutage. Es könnte sein, dass (z. B. wegen später beginnender Pubertät) Beziehungen nicht so früh wie heute aufgenommen wurden oder dass zwischen den Beziehungen längere Wartezeiten (ohne Beziehungen) in Kauf genommen wurden.
367
Dies scheint Interpretationen zu bestätigen, wonach ansteigende Scheidungsraten nicht nur einen zunehmenden Zerfall der Familien, sondern eine allgemeine Erosion sozialer Bindekräfte und damit ein wachsendes Potential für kriminelle Handlungen dokumentieren. Wir haben aber schon in Kap. 2 darauf hingewiesen, dass querschnittliche Variationen (unterschiedliche Scheidungsraten in verschiedenen Regionen zum gleichen Zeitpunkt) mit anderen Ursachen und Folgen verbunden sein können als entsprechende längsschnittliche Variationen. Selbst wenn variierende Scheidungsraten in verschiedenen Ländern zu einem bestimmten Zeitpunkt als valider Indikator für das jeweilige Niveau sozialer Desorganisation gelten können, bleibt zunächst die Frage offen, ob Veränderungen der Scheidungsraten über Zeit in gleicher Weise gedeutet werden können. Zwar hat die Soziologie verschiedene Modelle entwickelt, um das Risiko des Scheiterns einer Ehe erklären zu können (s. den Überblick in Hill/Kopp 2004: 266-292); die theoretische und empirische Gewichtung der verschiedenen Einflussfaktoren und erst recht ihre Deutung im Sinne wachsender oder abnehmender sozialer Integration ist aber weiterhin unklar. Verwiesen wird bspw. auf die zunehmende "Individualisierung", die die Ehepartner normativ und ökonomisch unabhängiger voneinander hat werden lassen; gleichzeitig sind die affektivemotionalen Ansprüche, deren Erfüllung die Partner wechselseitig voneinander erwarten, gestiegen. Das damit verbundene Enttäuschungsrisiko ist ebenso gewachsen wie die ökonomischen, rechtlichen und sozial legitimierten Möglichkeiten, neue Partnerschaften auszuprobieren. Diese Individualisierungsvorgänge können, wie oben schon dargelegt, einerseits eine partnerschaftlich-kooperative Variante ehelichen (oder auch nicht-ehelichen) Zusammenseins begünstigen, andererseits aber auch egoistisch-instrumentellen Handlungsweisen den Raum öffnen. Welche dieser beiden Entwicklungstendenzen dominiert, ist nicht mit Sicherheit auszumachen. Auch wenn bezüglich der Ursachen steigender Scheidungsraten eine solche Bilanzierung kaum möglich zu sein scheint, ist zu fragen, ob uns die Forschungsbefunde zu den Folgen von Ehescheidungen in dieser Hinsicht weiterhelfen. Dass die Scheidungsrate ansteigt, impliziert nicht, dass die Zahl der zerrütteten Ehen und die Zahl der davon negativ betroffenen Kinder zunimmt. Es könnte sogar sein, dass die größere Scheidungsbereitschaft dazu geführt hat, dass Kinder heute im Durchschnitt seltener oder für kürzere Dauer als zu früheren Zeiten Ehestreitigkeiten und andere Formen belastender Familienverhältnisse mit ertragen müssen. Zahlreiche Untersuchungen belegen jedoch, dass Kinder, die als Minderjährige die Scheidung ihrer Eltern erlebt haben, in den Jahren danach, zum Teil auch bis in das Erwachsenenalter hinein öfter und in höherem Maße psychische Schäden (z. B. ein geringeres Selbstwertgefühl) aufweisen und ein sog. Problemverhalten (wie Drogenkonsum und Neigung zu aggressiven Handlungen) zeigen als Kinder aus stabilen Familien. Allerdings ist zu fragen, ob sich diese Belastungen nicht schon vor der Ehescheidung ausgebildet haben; die Scheidung selbst also keine zusätzlichen negativen Entwicklungen in Gang gesetzt hat. Längsschnittstudien haben nachgewiesen, "dass Scheidungskinder oft schon Jahre vor der Trennung der Eltern familiäre Belastungen wie Konflikte zwischen den Eltern erleben, selbst eine problematischere Beziehung zu den Eltern haben und auch mehr emotionale und Verhaltensbeeinträchtigungen zeigen als Kinder, deren Eltern sich im weiteren Entwicklungsverlauf der Familie nicht trennen" (Walper/Schwarz 2002: 13). Etliche Untersuchungen konnten belegen, dass sich für manche Kinder aus zerrütteten Familien die Lage sogar verbessert, wenn sich die Eltern scheiden lassen. Wie sich die Scheidung auf die sich trennenden Partner und auf die betroffenen Kinder auswirkt, hängt nicht nur von der Intensität und Dauer der ehelichen und sonstigen familialen Konflikte vor der formalen Trennung ab, sondern wird von einer Vielzahl von "Mediator-Variablen" 368
beeinflusst (wie ökonomischen Ressourcen und sozialen Kontakten), auf die wir hier nicht näher eingehen können. Für unser Thema sind nur die Aggregateffekte wichtig, die für eine Erklärung ansteigender Gewaltkriminalität in Frage kommen. Solche Effekte könnten aber nur in sehr langfristig angelegten Längsschnittstudien ermittelt werden, in denen eine große Zahl von Familien (nicht nur solche, die von Scheidung betroffen sind) über einen langen Zeitraum vor und nach einer eventuellen Scheidung beobachtet wird. Solche "prospektiven" Längsschnittstudien "sind jedoch auch im internationalen Vergleich rar und fehlen in Deutschland noch völlig" (Walper/Schwarz 2002: 14). Etliche solcher Studien sind jedoch in den USA durchgeführt und in ihren Ergebnissen von Amato (2000) zusammengefasst worden. Obwohl in zahlreichen Fällen starke Belastungen zur Scheidung führen, bringt die Scheidung selbst in der Mehrzahl der Fälle sowohl für die Ehepartner als auch für ihre Kinder zumindest vorübergehend ("crisis model"), oft aber auch langfristig ("chronic strain model") zusätzliche Belastungen und psycho-soziale Schädigungen mit sich. Nur in einer Minderheit der Scheidungsfälle sind die vorangegangenen Zerwürfnisse so gravierend, dass nicht nur für die Eltern, sondern auch für die Kinder die Trennung besser ist als ein Weiterbestehen der kompletten Familie. Meta-Analysen zeigen außerdem, dass sich die negativen Effekte der Ehescheidung zwischen den 60er und den 90er Jahren nicht abgeschwächt haben trotz der größer gewordenen Toleranz für Scheidungen und trotz verbesserter Betreuungsprogramme für die Phase nach der Scheidung (Amato 2000: 1278). Auch in einer methodisch aufwändigen eigenen Studie kommt Amato zu dem Schluss: "Our data suggest that children‘s psychological well-being generally declines with the number of family transitions" (Amato/ Sobolewski 2001: 917). Dieses Ergebnis wird durch eine deutsche Studie (Bamberger Längsschnittstudie zu Familienänderung und Schulerfolg) bestätigt: Trennung und Scheidung der Eltern, aber auch die spätere Geburt von Halbgeschwistern begünstigen ein sozioemotionales Problemverhalten (s. Schlemmer 2004). Kann man davon ausgehen, dass nicht nur die Ehescheidungen zugenommen haben, sondern auch die Intensität der ehelichen und familialen Krisen? Für diese Annahme sprechen die Ergebnisse der "Mannheimer Scheidungsstudie", die auf der Befragung von ca. 2.000 verheirateten und 2.000 jeweils in erster Ehe geschiedenen Paaren aus den alten Bundesländern beruhen (s. Esser 2002). Esser hat insbesondere die eigenständige Bedeutung von Ehekrisen und des sog. "Framing" für die Erklärung des Anstiegs der Scheidungsraten seit den 1950er Jahren untersucht. Der Begriff des Framing bezieht sich auf symbolische Bedeutungszuschreibungen sowie die emotionale und soziale Einbettung, mit denen die Partner ihre Ehe beginnen. Ein starkes Framing interpretiert die Ehe als eine geradezu sakralisierte und unantastbare Institution (ebd., S. 474). Erfassbar wird es in der Kombination folgender Merkmale: (a) die Eheleute lassen sich kirchlich trauen, (b) sie wünschen sich mindestens zwei Kinder, (c) sie stimmen in hohem Maße überein in Fragen des Geschmacks, des Lebensstils und der Politik, (d) die Ehe wird in hohem Maße von den jeweiligen Verwandten und Bekannten unterstützt. Ein schwaches Framing hält dagegen den (gedanklichen) Weg zu Alternativen (wie einer Scheidung) offen, die gegen den "Ehegewinn" abgewogen werden können. Die Rahmung bleibt in den folgenden Ehejahren nicht notwendigerweise konstant; selbst ein ehemals fester Rahmen kann u. U. durch eine heftige Ehekrise oder (eine dem Partner bekannt gewordene) Untreue zerstört werden (ebd., S. 186 f.). Esser kann nachweisen, dass das "Framing" eine zentrale Rolle für das Scheidungsrisiko spielt. Partner, die mit einem "schwachen Framing" ihre Ehe beginnen, trennen sich mehr als viermal so häufig wie Partner, die mit einer "starken Rahmung" in die Ehe eintreten. Auch unabhängig von diesen Rahmungen mindert eine religiöse 369
Orientierung der Partner das Scheidungsrisiko. Risikosteigernde Faktoren sind außerdem eine frühere Scheidung oder Trennung (d. h., Wiederverheiratete trennen sich häufiger als Erstverheiratete), die Scheidung der Eltern sowie eine volle Erwerbstätigkeit der Ehefrau. Unmittelbarer Anlass für die eigene Scheidung sind aber vor allem eheliche Untreue und länger andauernde Ehekrisen (die zudem häufig auch die Beziehung zu den Kindern belasten). Das Risiko wird u. a. gemindert von der Vollerwerbstätigkeit des Mannes, der Präsenz von mindestens einem Kind und ökonomischen Ressourcen (z. B. gemeinsames Wohneigentum). Esser weist nach, dass im Laufe der Zeit der Anteil der stark "gerahmten" Ehen immer kleiner geworden ist und dass die Ehen vor allem aus diesem Grunde immer krisenanfälliger geworden sind,426 wobei die Ehekrisen seit den 1950er Jahren noch stärker zugenommen haben als die Scheidungen. Die Krisenanfälligkeit der 1990er Heiratskohorte war siebenmal so hoch wie die der 1955er Kohorte. Ist die Krise erst einmal da, wird selbst bei den zu Beginn stark "gerahmten" Ehen die Beziehung neu definiert. "(D)ieser aktuelle Rahmen enthält die Trennung mindestens schon als Denkmöglichkeit. ... Nicht mehr reziproker Altruismus, sondern egoistische Berechnung bestimmen nun das Geschehen". Es geht, wie es insbesondere die Familienökonomie postuliert, dann "nur noch um die ‚Bilanz‘ von Ehegewinn und alternativen Möglichkeiten" (ebd., S. 484). Esser macht (ähnlich wie z. B. Nave-Herz) vor allem die gestiegenen Ansprüche an die Ehe für deren Krisenanfälligkeit verantwortlich. "(D)ie heutigen Ehen sind ‚objektiv‘ wahrscheinlich eher besser als die damaligen. Aber die ‚Ansprüche‘ sind mit den ‚alternativen‘ Möglichkeiten gestiegen, und zwar offensichtlich rascher als der ‚Ehegewinn‘, wozu ohne Zweifel auch die gegenseitige Liebe zählt" (ebd., S. 493). Er deutet dies durchaus im Durkheimschen Sinne: "Mit den Möglichkeiten steigen die Unzufriedenheiten, weil dann nur noch die Interessen und die (Ehe-)‘Gewinne‘ regieren. Und wenn es jetzt kein rahmendes und dadurch begrenzendes ‚gesellschaftliches‘ Band gibt, das die Menschen wieder orientiert und verpflichtet, dann sind Anomie und Zerfall nicht fern" (ebd.). Spekulationen über eine eventuelle Differenz von "objektiver" und "subjektiver" Qualität der Ehe wollen wir hier nicht anstellen.427 Wir gehen davon aus, dass eine Intensivierung der Krisenerlebnisse in der Regel bedeutet, dass für alle Beteiligten die
426 427
370
Vgl. Tyrell (1988) über Tendenzen zur „De-Institutionalisierung“ von Ehe und Familie. Peuckert (2005: 192) zitiert eine Studie von G. Schmidt: „Die Instabilität heutiger Beziehungen ist nicht, wie manche Moralisten oder Psychotherapeuten klagen, eine Folge von Bindungslosigkeit oder Beziehungsunfähigkeit; sie ist vielmehr die Konsequenz des hohen Stellenwertes, der Beziehungen für das persönliche Glück beigemessen wird und der hohen Ansprüche an ihre Qualität. Dadurch wird die Trennungsschwelle niedriger, und das führt zu multiplen Trennungserfahrungen und dazu, dass heute massenhaft Beziehungen getrennt werden, die früher als ganz gesund und keinesfalls als zerrüttet gegolten hätten.“ Das mag so sein. „Bindungslosigkeit“ sollte aber von einem mangelnden „Wunsch nach Bindung“ definitorisch getrennt werden. Wenn eheliche Bindungen zunehmend scheitern, dann ist für diesen Bereich eine zunehmende Bindungslosigkeit, vielleicht sogar eine abnehmende Bindungsfähigkeit dokumentiert, unabhängig davon, ob die Bindungswünsche gleichbleiben oder sich sogar noch intensivieren. Ob man dies dann als Indikator für einen allgemein zunehmenden desintegrativen Individualismus ansehen möchte (wie wir) oder eher als eine temporäre Erscheinungsform der Anomie (in Durkheims Sinne: als pathologische Übersteigerung von nicht erfüllbaren Aspirationen) mag dahingestellt bleiben.
psychischen und körperlichen Belastungen steigen und dass auch für Kinder das Risiko, psycho-soziale Schädigungen zu erleiden und problematische Verhaltenstendenzen zu entwickeln, zunimmt. Will man die Kette von Konsequenzen betrachten, die sich aus der Veränderung der Familienverhältnisse möglicherweise ergeben, ist man also, wie anfangs schon angedeutet auch an diesem Punkt wieder, mit zwei gegenläufigen Entwicklungstendenzen konfrontiert. Zum einen gibt es starke Indikatoren, die auf eine Erosion hierarchisch-kollektivistischer Orientierungsmuster und damit auf einen Rückgang der Gewalt innerhalb der Familien hinweisen. Zum anderen gibt es Belege dafür, dass der desintegrative gegenüber dem kooperativen Individualismus auch im Zugriff auf die Familien an Gewicht gewinnt. Das zeigt sich nicht zuletzt im reduzierten symbolischen Bedeutungsgehalt – siehe Essers "Framing" –, den die Eheschließenden ihrer Ehe zu deren Beginn zuschreiben. Damit wird auch in diesem Bereich das Streben nach Selbstentfaltung von der Idee der Selbstverpflichtung entkoppelt. Darauf weisen auch andere Untersuchungsergebnisse hin: Unter Rückgriff auf Klages‘ Thesen über den Wertewandel sowie einige familiensoziologische Untersuchungen zu diesem Thema stellt Peuckert (2005: 193) zum Beispiel fest: "Die Geschiedenen der jüngeren Kohorte vertraten häufiger Selbstentfaltungswerte, waren z. B. häufiger davon überzeugt, dass man ‚in der Ehe seine eigenen Bedürfnisse erfüllen können muss, auch wenn der Partner damit einmal nicht einverstanden ist‘. In den Mittelpunkt rücken immer mehr individuelle Glückserwartungen (angestrebte eigene Befriedigungen, das persönliche ‚Glück‘), während der Verpflichtungs- und Verbindlichkeitscharakter der Institution Ehe nachlässt." Dies gilt für Männer in deutlich höherem Maße als für Frauen. "Männer betonen neben der instrumentellen Seite von Liebe und Ehe, ihrer Versorgung im Alltag, die sexuelle Zufriedenheit und das ‚Spaß haben‘. Frauen legen – neben der wachsenden Betonung ihrer Selbständigkeit – mehr Nachdruck auf Gefühle, innere Nähe und gegenseitiges Verstehen" (Peuckert 2005: 194 unter Rückgriff auf eine Studie von Hassebrauck). Peuckert verweist zudem auf Ergebnisse des "BambergerEhepaar-Panels", das Befragte aus (innerhalb von 6 Jahren) geschiedenen und aus (bis dahin) stabilen Ehen vergleicht. Bei der ersten Gruppe wurde allgemein eine "schwächere Familienorientierung" festgestellt. "Die Männer waren freizeitorientierter als die Männer in stabilen Partnerschaften, die Frauen konsumorientierter ... Die stärksten Zusammenhänge zeigten sich bei einem Vergleich der beruflichen Aufstiegsorientierungen. Während bei stabilen Partnerschaften in der Regel der Mann stärker aufstiegsorientiert ist als die Frau, fanden sich bei den getrennten Paaren häufiger Konstellationen, bei denen entweder beide Partner beruflich Karriere machen wollten oder die Frauen stärker karriereorientiert waren als ihre Männer" (ebd., S. 186). Peuckert (ebd., S. 173) verweist zudem darauf, dass "(a)ufgrund der Rückverlagerung schulischer Funktionen an die Familie immer stärker ein Erfolgs- und Leistungsdruck sowie Sach- und Rationalitätslogiken vom Inneren der Familie Besitz ergriffen (haben)".428
428
Die negativen Konsequenzen, die vom schulischen Leistungsdruck auf das Familienklima ausgehen und auf diesem Wege jugendliche Delinquenz begünstigen, bestätigen u. a. die Untersuchungen von Hurrelmann/Engel (1992) und Naplava/Oberwittler (2001). Laut der WHO-Studie „Young people‘s health in context“ (Samdal/Dür/Freeman 2004: 48) fühlten sich in England erheblich mehr der 11- bis 15-
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Hinzu komme, dass "über die Expansion moderner Massenmedien" der "Familienalltag immer mehr zum Medienalltag" werde und auf diesem Wege eine "Fiktionalisierung von Wirklichkeit" stattfinde (ebd.). Und er resümiert: "Familie kann demnach heute immer weniger als Inbegriff von Privatheit verstanden werden, als Gegenprinzip der rational und instrumentell orientierten Organisationswelt der Öffentlichkeit" (ebd., S. 174). 6.6.5
Familien mit allein erziehenden Eltern
Familien mit allein erziehenden Eltern sind häufig das Resultat von Ehescheidungen, seltener (jedenfalls in Deutschland) die Folge von Verwitwung oder von nicht-ehelichen Geburten (Hradil 2004: 120). In den Anfangsjahren der Bundesrepublik war der Anteil der Ein-Eltern-Familien an allen Familien mit ledigen Kindern auf Grund der Kriegsfolgen recht hoch; erst 1968 erreichte er einen Tiefpunkt von 12,55 %. Seit Mitte der 70er Jahre stieg er relativ kontinuierlich an und erreichte 1998 die Marke von 20 % (Bach 2001: 175; vgl. Hradil 2004: 120). Tab. 6.46: Familientypen, in denen Kinder unter 18 Jahren leben, Deutschland 1972-2000 (Anteil in Prozent) Neue Länder/ Früheres Bundesgebiet Kind lebt bei... Berlin -Ost 1972 1981 1991 2000 2000 ... Ehepaar 93,4 90,6 88,6 83,9 69,0 ... geschiedener/getrennt leb. Mutter 2,9 5,0 6,2 8,9 12,7 ... verwitweter Mutter 2,3 2,1 1,1 1,0 1,4 ... lediger Mutter 0,7 0,9 2,4 3,6 12,6 ... geschiedenem/getrennt leb. Vater 0,5 0,9 1,0 1,4 2,0 ... verwitwetem Vater 0,3 0,5 0,3 0,3 0,3 ... ledigem Vater 0,0 0,1 0,3 0,9 1,9 16.588 14.047 11.711 12.612 2.580 Zahl der Kinder in Tsd. Quelle: Engstler/Menning (2003: 25).
jährigen Kinder schulischem Leistungsdruck ausgesetzt als in Schweden oder Deutschland. Während bei den 13- und 15-jährigen Schülern Schweden vor Deutschland lag, war der Leistungsdruck bei den 11Jährigen in Schweden erheblich geringer als in Deutschland. In allen drei Altersgruppen fanden es die schwedischen Kinder häufiger leicht („easy“), mit ihren Eltern zu sprechen als in England und Deutschland (Pedersen et al. 2004: 31 f.). Hierzu passt eine Information, die die Familienministerin Ursula von der Leyen in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung (21. 2. 2006, S. 6) weitergibt: „zwei Drittel der jungen Männer sagen, dass ihr Vater kein taugliches Rollenvorbild für sie ist“. (Die Presseabteilung des Ministeriums beantwortete unsere Frage nach der Informationsquelle mit einem nicht exakt spezifizierten Hinweis auf eine repräsentative Bevölkerungsumfrage.) Laut der PISA-Studie des Jahres 2000 ist die Kommunikation mit den Eltern wie auch die familiale Unterstützung bei den Schularbeiten in Deutschland schwächer entwickelt als in Schweden und Großbritannien. Den im Vergleich zu Schulmerkmalen stärkeren Einfluss des elterlichen Unterstützungsverhaltens auf „antisoziale Verhaltensweisen“ betonen z. B. Neuenschwander/Böni (2001).
372
1972 lebten in der Bundesrepublik Deutschland über 90 % der Kinder unter 18 Jahren bei ihren verheirateten Eltern; bei ihrer geschiedenen, getrennt lebenden oder verwitweten Mutter lebten etwa 5 %, bei einer ledigen Mutter 0,7 %, bei einem ledigen Vater praktisch keine. Tab. 6.46 sind weitere Angaben zu entnehmen. In Ostdeutschland ist der Anteil der unter drei Jahre alten Kinder, die bei einem allein erziehenden Elternteil wohnen, mit rund 45 % besonders hoch; in Westdeutschland liegt dieser Anteil bei etwa 15 % (ebd., S. 26 f.). Von denjenigen, die bis zum Jahre 2002 in der deutschen Statistik als "allein erziehende" Eltern geführt wurden, lebte allerdings ein beträchtlicher Teil in einer nichtehelichen Gemeinschaft mit einem Partner bzw. einer Partnerin zusammen. So z. B. wurden im Jahre 2003 21,4 % aller Familien mit Kindern unter 18 Jahren unter der Rubrik "Alleinerziehende" aufgeführt; nach Ausschluss der "Alleinerziehenden", die mit einem Partner oder einer Partnerin in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft verbunden sind, reduzierte sich dieser Anteil auf 15,8 % (Peuckert 2005: 203). Engstler/Menning (2003: 39) beziffern diesen Anteil für das Jahr 2000 auf 15,4 %, was ein wesentlich höherer Anteil ist als derjenige der nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften (NEL) mit Kindern unter 18 Jahren (6,2 %). Allerdings ist zu bedenken, dass ein allein erziehender Elternteil auch außerhalb eines gemeinsamen Haushalts in einer festen Partnerschaft leben kann. Klaus et al. (2005: 28) verweisen auf eine Studie von Teubner, derzufolge von den 1,8 Mill. allein erziehenden Eltern in Deutschland mindestens 245 Tsd. in einer festen Partnerschaftsbeziehung ohne gemeinsamen Haushalt leben. Die unterschiedlichen Definitionen, denen die amtlichen Statistiken folgen, erschweren den internationalen Vergleich. Bach (2001) hat sie für Großbritannien und Deutschland soweit bearbeitet und standardisiert, dass ein Vergleich zwischen diesen beiden Ländern möglich ist. Demnach erhöhte sich der Anteil der Ein-Eltern-Familien in Großbritannien (bezogen auf alle Familien mit abhängigen Kindern) von 8 % im Jahr 1972 auf 24 % im Jahr 1998 (ebd., S. 382). Bei dieser Rechnung bleiben die NEL mit Kindern unberücksichtigt. In der Bundesrepublik bzw. Westdeutschland war das Ausgangsniveau 1972 in etwa das gleiche; 1998 lag der für Westdeutschland korrigierte Prozentanteil bei 14,7; für Ostdeutschland wurde der Rohwert von 30 % auf 20,5 % korrigiert (ebd., S. 466f.). Bilden sich bei Kindern, die nur mit einem (leiblichen) Elternteil aufwachsen, eher psycho-soziale Schäden und problematische Verhaltensweisen aus als bei Kindern, die mit beiden Eltern aufwachsen? Eine typische Charakterisierung der wissenschaftlichen Befunde zu diesem Thema gibt Nave-Herz (1994: 93; ähnlich S. 103 f.): "Die Untersuchungen ... zeigen aber alle übereinstimmend, dass bei vater- bzw. mutterlos aufgewachsenen Kindern mit spezifischen Entwicklungs- und Persönlichkeitsstörungen gerechnet werden kann, aber nicht muss" (Hervorhebungen im Original). Solche (sicherlich korrekten) Einschätzungen und der Hinweis auf eine Vielzahl von moderierenden und vermittelnden Variablen helfen uns kaum weiter, da sie keine Schlüsse über (zeitvariable) Aggregateffekte zulassen. Dass es keine deterministischen, monokausalen Beziehungen gibt, ist ohnehin klar; auch ist unmittelbar einsehbar, dass z. B. reife Frauen, die bewusst eine Mutterschaft ohne Ehepartner wählen, diese Situation in der Regel anders meistern als junge Frauen, die ungewollt schwanger werden und dennoch das Kind austragen. Ein adäquates Untersuchungsdesign müsste neben den unterschiedlichen Familienstrukturen (gemeinsame oder Einzel-Elternschaft, allein erziehende Väter vs. allein erziehende Mütter usw.), verschiedene Merkmale der Interaktionsbeziehungen innerhalb der Familien sowie eine Reihe sonstiger Einflussfaktoren (z. B. Einkommen, Bildungsniveau der Eltern, Geschlecht der Kinder) simultan berücksichtigen. Ein solches Design haben 373
Demuth/Brown (2004) auf der Basis des 1995 in den USA durchgeführten "National Longitudinal Survey of Adolescent Health" angewandt, um Bedingungsfaktoren für verschiedene Formen selbstberichteten abweichenden (kriminellen) Verhaltens identifizieren zu können. Ihre Untersuchung bestätigt frühere Befunde, wonach Struktureffekte (verschiedene Varianten kompletter und unvollständiger Familien) weitgehend durch das innerfamiliale Interaktionsgeschehen vermittelt werden. Besonders wichtig ist hier die emotionale Nähe zwischen Eltern(teil) und Kind; aber auch das spezifische Kontrollverhalten der Eltern spielt eine erhebliche Rolle. Es wäre aber falsch, die Strukturbedingungen für unwichtig zu halten, denn sie beeinflussen in signifikantem Maße das Erziehungsverhalten: "Parental absence is negatively associated with involvement, supervision, monitoring, and closeness" (ebd., S. 78). Darüber hinaus wird für Kinder allein erziehender Eltern auch dann eine signifikant höhere Wahrscheinlichkeit ausgewiesen, gewalttätig zu werden, wenn sie sich bezüglich des Erziehungsverhaltens, des Einkommens und der sonstigen Randbedingungen nicht von den Kindern vollständiger Familien unterscheiden. In Deutschland scheinen diese Struktureffekte zwar ebenfalls nachweisbar, aber schwächer ausgeprägt zu sein als in den USA. In einer methodologisch ähnlich anspruchsvoll angelegten Studie, die mehr als 5000 Acht- und Zehntklässler in Freiburg und Köln umfasst, kommen Naplava/Oberwittler (2001) u. a. zu folgenden Ergebnissen: "Child-parent interactions are largely unaffected by family structure and economic strain" (S. 11); allerdings: "conflicts with parents are more frequent in disrupted families irrespective of socio-economic status" (ebd., S. 12). Auch werden Eltern generell eher gewalttätig, wenn sie mit ihren Kindern in ökonomisch prekären Verhältnissen leben, was wiederum die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass ihre eigenen Kinder gewalttätig werden (ebd., S. 10 f.). Insgesamt ist abweichendes Verhalten, insbesondere Drogenkonsum, aber auch (in geringerem Maße) Gewalt- und schwere Eigentumskriminalität, bei Kindern aus unvollständigen Familien etwas wahrscheinlicher als bei Kindern aus vollständigen Familien, selbst dann, wenn man ökonomische Deprivation, Bildungsniveau der Eltern und die Variablen der familialen Interaktion statistisch kontrolliert (ebd., Table 5). Der Tendenz nach bestätigen die Autoren eine frühere Studie von Thomas et al. (1998), in der 1965 erhobene Daten von inhaftierten Straftätern im Alter zwischen 20 und 30 Jahren sowie von gleichaltrigen, aus den Melderegistern zufällig ausgewählten Personen erneut analysiert wurden. Auch hier wird ein eher schwacher Zusammenhang zwischen der Strukturvariable (vollständige versus unvollständige Familien mit allein erziehendem Elternteil) und verschiedenen Dimensionen familialer Interaktion nachgewiesen, dem ein stärkerer Zusammenhang zwischen Interaktionsprozessen und Delinquenz folgt. Wahl et al. (2001: 247) gehen ebenfalls auf die kontroverse Diskussion über die Rolle abwesender Väter ein und kommen auf Grund ihrer eigenen Untersuchungen zu dem Schluss, die Abwesenheit des leiblichen Vaters scheine noch wichtiger zu sein als die Qualität der Beziehung zum vorhandenen Vater (ebd., S. 252, 270). Die oben schon erwähnte Bamberger Studie zu "Familienänderung und Schulerfolg" kommt zu dem Ergebnis, "dass Kinder von Alleinerziehenden, aus sozialen (so genannten ‚Stieffamilien’) und sonstigen Familien
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(Adoptiv- und Pflegefamilien) gegenüber Kindern aus Familien, in denen das Kind bei beiden leiblichen Eltern lebt, beim Schulerfolg benachteiligt sind" – zum Teil deshalb, weil die vorausgegangenen "kritischen Familienereignisse" zu problematischem Verhalten geführt haben (Schlemmer 2004: 30 f.). 429 Ronald Inglehart registriert auf der Basis seiner World-Values-Surveys eine seit den 80er Jahren zunehmende Verbreitung der Ansicht, dass "Kinder ein Zuhause mit Vater und Mutter brauchen, um glücklich aufzuwachsen." Er stellt fest: "In 16 der 19 Gesellschaften [in denen entsprechende Befragungen durchgeführt wurden, T./B.] waren 1990 nicht weniger, sondern mehr Befragte mit dieser Aussage einverstanden als 1981" (Inglehart 1998: 398). In Schweden nahm ihr Anteil von ca. 70 auf 85 Prozent und in Großbritannien von ca. 65 auf 75 Prozent zu. Für die Bundesrepublik gibt Inglehart einen stabilen Wert von ca. 20 % an, der offensichtlich auf einem Ablesefehler beruht. Unsere eigene Auszählung der Daten ergibt Anteilswerte von 90 % (1981), 94 % (1990) und erneut 90 % (1999). Die 1999er Werte liegen in den beiden anderen Ländern deutlich unter diesem Niveau: 60 % für Schweden und 63 % für Großbritannien. Wie schon erwähnt (s. Kap. 6.2.3), tragen Alleinerziehende mit Kind(ern) in Deutschland, aber auch in Großbritannien, ein besonders hohes Armutsrisiko. 1998 erhobene Daten des Europäischen Haushaltspanels zeigen, dass das Durchschnittseinkommen (medianes Äquivalenzeinkommen) der Alleinerziehenden in Deutschland und in Großbritannien weiter hinter dem Durchschnittseinkommen der jeweiligen Gesamtbevölkerung zurück lag als in irgend einem anderen der seinerseits fünfzehn EU-Länder. Alleinerziehende verfügten in Deutschland nur über 61 %, in Großbritannien über 62 % des nationalen Durchschnittseinkommens, in Schweden waren es dagegen 78 % (Engstler/Menning 2003: 181). Auch der Anteil der Kinder unter 16 Jahren, die überhaupt in einkommensschwachen Familien (also solchen mit einem äquivalenzgewichtetem proKopf-Einkommen von weniger als 60 % des Medians) leben, ist nach dieser Quelle in Großbritannien (26 %) und Deutschland (27 %) besonders hoch, in der EU nur noch übertroffen von Irland (28 %); in Schweden liegt er bei 17 %. Die entscheidende Rolle ökonomischer Verhältnisse betont auch James (1995), der nach Durchsicht angelsächsischer Studien zu dem Schluss kommt, dass das Aufwachsen in unvollständigen Familien nur dann die spätere Gewalttätigkeit der Kinder (vor allem der männlichen) erheblich begünstigt, wenn die Unvollständigkeit der Familie sich aus einer Ehescheidung ergibt und mit ökonomischer Deprivation verbunden ist. 6.6.6
Zusammenfassung
Innerhalb unserer Untersuchungsperiode verschiebt sich das Verhältnis zwischen Ehepartnern wie auch die Beziehung zwischen Eltern und Kindern von einer hierarchischkollektivistischen hin zu einer partnerschaftlich-individualistischen Struktur. Parallel dazu geht der Einsatz von Gewalt innerhalb der Familien zurück, ohne zu verschwinden (s.
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Weitere Hinweise auf Forschungsliteratur, in der negative Effekte des Aufwachsens in Ein-ElternFamilien registriert werden, gibt Klages (2001: 12); s. auch Inglehart (1998: 402).
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Abschn. 6.6.1). Die Erosion kollektivistischer Strukturkomponenten eröffnet Entwicklungspotentiale sowohl für den kooperativen als auch für den desintegrativen Individualismus. Selbst wenn man annehmen will, dass sich die Familienstrukturen und die innerfamilialen Beziehungen eher in Richtung eines desintegrativen Individualismus entwickelt haben, ist damit nicht gesagt, dass die heutigen Familienverhältnisse Gewalt stärker begünstigen als zu früheren Zeiten: die mit dem Abbau der kollektivistisch-patriarchalischen Strukturen einhergehende Reduktion von Gewalttätigkeiten könnte bedeutsamer sein. Als indikativ für zunehmenden Egoismus sind in der fachinternen und in der öffentlichen Diskussion vor allem die folgenden Trendverläufe gewertet worden: (a) der zunehmende Anteil derer, die lebenslang keine Ehe eingehen und/oder ohne Kinder bleiben (Abschn. 6.6.2), (b) der Anstieg der Scheidungsraten (Abschn. 6.6.4) sowie – vor allem als deren Folge – (c) der zunehmende Anteil der Kinder, die nur mit einem Elternteil aufwachsen (Abschn. 6.6.5). Unsere Argumentation geht aber nicht von der Prämisse aus, dass diese Trendverläufe die Folge eines zunehmenden Egoismus sind, sondern wertet sie als Symptome, teilweise auch als Bekräftigung eines desintegrativen Individualismus, der seine Wurzeln in einem übergreifenden gesellschaftlichen Strukturwandel hat, wie er in den vorangegangenen Kapiteln beschrieben worden ist. Auch wenn der individuelle "Egoismus" im Sinne einer am Eigeninteresse orientierten Verhaltensdisposition nicht zunimmt, kann der Grad an Kooperation im Sinne einer "Solidarität aus Fairness" (s. Kap. 1) abnehmen, wenn gesellschaftliche Strukturentwicklungen die Produktionsbedingungen für individuelle und kollektive Güter zunehmend diskrepant werden lassen bzw. die Akteure ihre Situation zunehmend in diesem Sinne interpretieren: dass der eigene Nutzen nur auf Kosten des Nutzens anderer Personen oder gemeinschaftlicher Interessen verfolgt werden kann. Kinder verursachen heute in der Tat höhere materielle Kosten als früher, nicht zuletzt wegen der im Durchschnitt erheblich verlängerten Ausbildungszeiten (die ihrerseits im gesellschaftlichen Interesse liegen). Es steigen sowohl die direkten Unterhaltskosten als auch die Kosten, die durch Verzicht auf andere Handlungsmöglichkeiten, vor allem im Bereich beruflicher Karrieren, entstehen (Opportunitätskosten). Außerdem ist der sog. Versicherungsnutzen der Kinder im Sinne einer anderweitig nicht garantierten Versorgung in Notfällen und im Alter rückläufig. Demgegenüber könnte der immaterielle Nutzen von Kindern, also die positive emotionale Bindungserfahrung, die sie ihren Eltern nicht nur faktisch, sondern auch antizipativ ermöglichen, über Zeit zugenommen haben. Die uns zugänglichen empirischen Befunde reichen aber nicht aus, um eindeutige Aussagen über die langfristige Entwicklung der tatsächlich wahrgenommenen (materiellen) Opportunitätskosten und der Einschätzung des immateriellen Werts von Kindern zu machen. Wenn, wie die oben erwähnte Studie von Klein (2005) zu belegen scheint, die Wertschätzung von Kindern negativ mit dem Bildungsniveau korreliert, könnte dies angesichts des langfristigen Anstiegs des durchschnittlichen Bildungsniveaus bedeuten, dass auf lange Sicht nicht nur der materielle, sondern auch der (durchschnittliche) immaterielle Wert von Kindern abnimmt bzw. schon seit längerem zurückgegangen ist. Dies wäre ein Indiz für die Stärkung des desintegrativen Individualismus. Der Schluss ist allerdings schon deshalb nicht zwingend, weil wir über die langfristige Stabilität dieser Korrelation nichts wissen. Wie auch immer die individuellen Motive und strukturellen Ursachen für eine Entscheidung gegen eigene Kinder zu beurteilen sein mögen, bezüglich der Folgen ergibt sich ein relativ klarer Sachverhalt: zunehmende Kinderlosigkeit und eine Geburtenrate weit unter dem Reproduktionsniveau liegen nicht im gesellschaftlichen Interesse; sie sind insofern ein Indiz für desintegrativen Individualismus auf der Ebene der Sozialstruktur. 376
Auch auf der Ebene personaler Systeme ist eine solche Schlussfolgerung nicht unplausibel, wenn man bedenkt, dass Eltern nicht nur ihre Kinder, sondern Kinder auch ihre Eltern "sozialisieren", was deren Kooperationsbereitschaft auch außerhalb der Familie zu stärken scheint. Das gelingt (intern und extern) zwar nicht immer in der gewünschten Weise; doch liefern die oben zitierten Forschungsergebnisse zum relativ hohen bürgerschaftlichen Engagement von Eltern einen indirekten Beleg für diese Annahme. Auch die Autoren des 7. Familienberichts der Bundesregierung betonen die wichtige Rolle, die Familien mit Kindern bei der Bildung von Sozialkapital in Nachbarschaften und Gemeinden zukommt. Die Interpretation abnehmender Eheschließungen und zunehmender Ehescheidungen (in allen drei Ländern) stößt auf ähnliche Schwierigkeiten. Auf den ersten Blick indizieren wechselnde (statt dauerhafte) Partnerschaften und nicht-eheliche (statt eheliche) Lebensgemeinschaften per se weder einen Rückgang an Bindungs- und Kooperationsbereitschaft noch einen Verlust an Kooperationsvermögen oder in dem Volumen faktisch vollzogener kooperativer Handlungen. Doch gibt es für diese Annahme einige gewichtige Gegenargumente. So zeigt die oben zitierte "Mannheimer Scheidungsstudie" (s. Esser 2002), dass nicht nur die Zahl der Ehescheidungen, sondern auch die Intensität der Auseinandersetzungen innerhalb der Ehe seit 1950 erheblich zugenommen hat. Es mag sein, dass dies vor allem als Konsequenz gestiegener Ansprüche an die Ehe zu verstehen ist. Das ändert jedoch nichts an dem Befund, dass entweder die Heterogenität der Interessen der jeweiligen Partner zugenommen oder die Bereitschaft zu Zugeständnissen und einem Ausgleich unterschiedlicher Interessen abgenommen hat. Nicht nur nimmt (länderspezifisch) die Zahl der nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften zu (s. Abschn. 6.6.3), auch eheliche Partnerschaften werden zunehmend unter dem Vorbehalt ihres erwartbaren Endes eingegangen (s. Essers Beobachtungen zum "Framing"); dies erhöht die Neigung der Partner, kurzfristig angelegte und selbstbezogene Nutzenbilanzierungen vorzunehmen. Für eine Stärkung des desintegrativen Individualismus spricht auch die Beobachtung, dass in den mittleren Altersgruppen der Anteil derer zunimmt, die überhaupt nicht in einer (wenigstens vorübergehend) "festen" Partnerschaft leben (s. Brüderl 2004). Diese "Singularisierung" scheint zwischen den verschiedenen Ländern erheblich zu variieren und am stärksten dort ausgeprägt zu sein, wo nicht-eheliche Lebensgemeinschaften am wenigsten anerkannt und gesellschaftlich legitimiert sind. Der gesellschaftliche Kontext (kulturelle Akzeptanz und materielle Unterstützung) scheinen sich auch in erheblichem Maße auf die Konsequenzen auszuwirken, die Ehescheidungen und "Unvollständigkeit" der Familien für die davon betroffenen Kinder haben. In allen drei Ländern hat der Anteil der Kinder zugenommen, die die Scheidung ihrer Eltern erfahren oder aus anderen Gründen mit einem allein erziehenden Elternteil aufwachsen (s. Abschn. 6.6.4 und 6.6.5). Forschungsergebnisse insbesondere aus den USA zeigen, dass die Trennung der Eltern wie auch das Aufwachsen mit nur einem Elternteil für die Kinder zwar nicht in jedem Falle, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit längerfristige psycho-soziale Schädigungen nach sich ziehen. Methodisch anspruchsvolle Studien zu dieser Frage sind in Deutschland (und wohl auch in Schweden und Großbritannien) noch Mangelware. Die vorliegenden deutschen Studien lassen jedoch erkennen, dass die negativen Effekte hierzulande weniger stark ausgeprägt sind als in den USA. Offensichtlich wirken die gesellschaftlichen Kontexte in erheblichem Maße auf die sog. "Moderatorvariablen" ein, die ihrerseits die Scheidungskonsequenzen und die Alleinerziehungseffekte beeinflussen. Da z. B. das Armutsrisiko (als bedeutsame Moderatorvariable) nach der Scheidung und insbesondere für allein erziehende Mütter in Deutschland und Groß-
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britannien höher ist als in Schweden, dürften die negativen Effekte in Schweden eher noch geringer sein als in Deutschland. Familien erfüllen wichtige Funktionen für die Gesellschaft, benötigen dazu aber Ressourcen aus anderen gesellschaftlichen Teilsystemen, über die vor allem politisch zu entscheiden ist. Viele Familienforscher sehen weniger die innerfamilialen Strukturentwicklungen als problematisch an, sondern eher das Auseinanderklaffen wachsender gesellschaftlicher Anforderungen an die Familien einerseits und die dahinter zurückbleibende Ressourcenzuteilung andererseits (Bertram 1997; Peuckert 2005).430 In Deutschland z. B. können viele Familien die gestiegenen schulischen Leistungsanforderungen nicht bewältigen, weil das deutsche Schulsystem die individuelle Betreuung der Schüler vernachlässigt. Die materielle Unterstützung der Familien (bspw. mittels Steuervergünstigungen und direkter Transfer- oder Dienstleistungen) orientiert sich immer noch weitgehend am Leitbild der Versorgerehe, das weitgehend obsolet geworden ist. Berufliche Anforderungen sind unzulänglich mit den Funktionserfordernissen der Familie koordiniert, obwohl es auf diesem Gebiet einige Verbesserungen gegeben hat. Fernsehen und vor allem das Internet unterlaufen elterliche Kontroll- und Erziehungsbemühungen und etablieren sich als konkurrierende Sozialisationsagenturen (s. Kap. 7). Gewaltanwendungen innerhalb der Familie mögen weiterhin rückläufig bleiben, die "strukturelle Rücksichtslosigkeit gesellschaftlicher Verhältnisse gegenüber Familien" (Peuckert 2005: 399 ff.) gefährdet aber, möglicherweise in zunehmendem Maße, zumindest in bestimmten Bevölkerungsgruppen die Entwicklung ausreichender Selbstkontroll- und Handlungskompetenzen der in ihnen aufwachsenden Kinder.
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Probleme in den innerfamilialen Verhältnissen betont dagegen Dollase (1991).
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Medien und Gewalt: Anomie durch Entgrenzung
In Kap. 1 haben wir die Vermutung geäußert, dass das Fernsehen und die neueren Kommunikationsmedien (Internet, Video, Handy) anomische Entwicklungen u. a. dadurch fördern, dass sie symbolisch konstituierte Sinnwelten entdifferenzieren ("Sinn-Entropie") und eine wichtige Barriere gegen normabweichendes Verhalten, nämlich die "Präventivwirkung des Nichtwissens" (Popitz), unterlaufen. Unserem Eindruck nach haben sich weder die soziologisch-kriminologische Anomieforschung noch die kommunikationswissenschaftliche Medienwirkungsforschung mit dieser spezifischen Ausformung eines kriminogenen Potentials systematisch beschäftigt.431 Wesentlich mehr Aufmerksamkeit hat man der Frage gewidmet, ob die in den Medien in verschiedenen Programmen und technischen Formaten dargestellte Gewalt432 bei den Konsumenten/Rezipienten die Neigung zu aggressivem und gewalttätigem Verhalten wachsen lässt. Dieser Zusammenhang ist in zahlreichen Studien mit verschiedenen methodischen Ansätzen nachgewiesen worden, wird aber weiterhin kontrovers diskutiert. Mehrheitlich scheint sich die Auffassung durchgesetzt zu haben, dass die im Fernsehen und anderen Medien gezeigte Gewalt insbesondere (aber nicht nur – s. Lukesch 2002: 646) bei Kindern und jugendlichen Zuschauern (Konsumenten, Nutzern) die Neigung zu aggressivem und gewalttätigen Verhalten ansteigen lässt (Anderson et al. 2003; Lukesch 2002). Außerdem liegen schlüssig ausgearbeitete Modelle vor, mit denen dieser Zusammenhang erklärt werden kann, wie z. B. die "sozial-kognitive
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Teilaspekte dieser Thematik werden in vielerlei Studien angesprochen, z. B. in dem Band „Affektfernsehen“ von Bente/Fromm (1997). Auch außerhalb kriminologischer Studien sind negative Effekte des Fernsehens immer wieder hervorgehoben worden. Am bekanntesten ist wohl (neben Postman 1986) Putnams These, wonach der Rückgang des Sozialkapitals in den USA wesentlich durch die Ausbreitung des Fernsehens verursacht worden sei (Putnam 2000; skeptisch hierzu: Norris 2000). Eine Aufzählung verschiedener negativer Effekte des Fernsehens für das Sozialsystem geben auch Frank/Cook (1995: 202 ff.). Eine vehemente Kritik an der vom Fernsehen betriebenen „Charakterformung“ liefert WinterhoffSpurk (2005). Zur „Sozialpsychologie des Internet“ siehe umfassend Döring (2003); zu kriminogenen Gelegenheitsstrukturen, die das Internet eröffnet, und den sich daraus ergebenden Konsequenzen für den Sicherheitsdiskurs s. einführend Thomas/Loader (2000). Fortlaufende Informationen zur Internet-Kriminalität liefern z. B. die private Sicherheitsfirma Symantec Corp. (www.symantec.com) sowie das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (www.bsi.de). Kommentierende Literaturhinweise zur (allgemeinen) „Soziologie des Internets“ bieten die Bereichsrezensionen von Geser/Bühler-Ilieva (2006) und Schäfer (2006). Für einen Problemüberblick s. auch Becker et al. (2003). Hierzu kommt in jüngerer Zeit ein verstärkter Anreiz für Technik-Nutzer, Gewalt nicht nur spielerischfiktiv, sondern in realer Brutalität zu inszenieren, um sie per Video oder Handy aufzunehmen und privat oder im Internet zur Schau zu stellen. (Siehe die Folter-Videos aus Abu Ghraib und die aus Großbritannien auf den „Kontinent“ überschwappende „Mode“ des „happy slapping“). Die Anreize hierzu erwachsen zum einen aus der Technik selbst (jeder kann sein eigener Filmemacher werden, sich in die Position eines Regisseurs hieven) und zum anderen aus der Bereitschaft, „Aufmerksamkeit“ als Substitut oder Nachweis für „Anerkennung“ zu betrachten.
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Theorie der Massenkommunikation" von Bandura (s. die Zusammenfassung in Lukesch 2002: 651 ff.). Anderson et al. (2003: 81) halten die wissenschaftliche Debatte über Mediengewalt für "im wesentlichen" beendet. In ihrem ausgedehnten, zahlreiche MetaAnalysen heranziehenden Überblicksaufsatz zu den einschlägigen Forschungsbefunden kommen sie zu folgendem Fazit: "Research on violent television and films, video games, and music reveals unequivocal evidence that media violence increases the likelihood of aggressive and violent behavior in both immediate and long-term contexts. The effects appear larger for milder than for more severe forms of aggression, but the effects on severe forms of violence are also substantial (...) when compared with effects of other violence risk factors ... The evidence is clearest within the most extensively researched domain, television and film violence. The growing body of video-game research yields essentially the same conclusions” (ebd.; speziell zum Gewaltpotential von Video-Spielen siehe den Forschungsüberblick in Anderson et al. 2004). Wichtig ist vor allem der in LangzeitStudien erarbeitete Befund, dass intensiver Konsum gewalthaltiger Mediendarstellungen während der Kindheit aggressives Verhalten einschließlich körperlicher Gewalttätigkeit bis in das spätere Lebensalter hinein wahrscheinlicher werden lässt433. Der Übersichtsartikel von Lukesch (2002) macht deutlich, dass diese Befunde im wesentlichen auch für die deutsche Situation gelten. Hinzuweisen ist auf eine Arbeit von M.-L. Mares (1996), die versucht hat, nicht nur negative, sondern auch positive Folgen des Fernsehkonsums für das Sozialverhalten von Kindern zu ermitteln und gegeneinander abzuwägen. Sie kommt zu dem Ergebnis: "Taken together, these results suggest that there can be positive results of television as well as negative ones, but that the negative effects of violent depictions are more powerful. This may be because ... violent depictions are often more visually salient and explicit. It may also be because antisocial content is more arousing or interesting" (ebd., S. 13). Anders als von Kritikern häufig unterstellt, werden in all diesen Hypothesen keine deterministischen, sondern probabilistische Zusammenhänge behauptet. Sie sind deshalb auch nicht mit dem Hinweis zu entkräften, die meisten Menschen, die gewalthaltige Medienangebote annähmen, würden dadurch keineswegs selbst gewalttätig. Es sei daran erinnert, dass eine gestiegene Wahrscheinlichkeit für Handlung X stets die Erwartung impliziert, dass in dem entsprechenden Kollektiv Handlung X häufiger vorkommen wird als zuvor. In unserem Falle heißt das: die Gewaltrate wird steigen, wenn der mediale Gewaltkonsum zunimmt. (Wir haben in Kap. 2 schon darauf hingewiesen, dass auf der Individualebene schwach ausgeprägte kausale Zusammenhänge auf der Aggregatebene durchaus relevante Effekte, z. B. einen erheblichen Anstieg der Gewaltrate, hervorrufen können.) Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass angeschaute Gewaltdarstellungen eigenes aggressives Verhalten hervorrufen, variiert allerdings erheblich, je nachdem wie und in
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Nach methodologischen Kriterien halten wir die Langzeitanalyse von Johnson et al. (2002) für besonders beweiskräftig. Sie zeigt, dass intensiver Fernsehkonsum als solcher, nicht nur das Betrachten von Gewaltdarstellungen, das Aggressionspotential ansteigen lässt. Das gilt nicht nur für den Fernsehkonsum in der frühen Jugend, sondern auch noch für den Konsum in der frühen Erwachsenenzeit (hier erfasst mit einem Durchschnittsalter von 22 Jahren). Zusätzliche Belege liefert die Langzeitstudie von Huesmann et al. (2003). Als Beispiel für eine empirische Studie mit gegenläufigen Ergebnissen s. Wiegman/Riaglor (1992).
welchem Kontext die Gewalt und ihre jeweiligen Folgen präsentiert werden oder wie die soziale Umgebung beschaffen ist, in der man die Gewaltdarstellungen konsumiert (z. B. innerhalb einer intakten Familienkonstellation oder innerhalb einer Gruppe schon gewaltbereiter Altersgenossen). Die individuellen Dispositionen und Interpretationsmuster, die in die Rezeptionssituation mit hinein gebracht werden, spielen eine erhebliche Rolle. Gewaltdarstellungen sind besonders attraktiv für Personen, die schon gewaltbereit sind. Deren Gewaltbereitschaft wird aber, wie verschiedene Studien belegen (siehe z. B. Hopf 1996) durch den Konsum von Gewaltdarstellungen verstärkt, sodass dieser Selektionseffekt das Fernsehen (Internet, Videospiel) nicht von kausaler Verantwortung entlastet434. Die kontextuell wirksamen "Moderator"-Variablen, die die Effekte konsumierter Gewaltdarstellungen vermitteln und spezifizieren, mögen zahlreich sein und komplex miteinander interagieren; aber sie ändern nichts an dem Befund, dass Gewalt in den Medien an der Produktion dieser Effekte als Auslöser oder Verstärker beteiligt ist.435 Wir sehen auch keine Gründe für die Annahme, dass innerhalb unseres Untersuchungszeitraumes die Moderatorvariablen (wie sie z. B. in Familien- und Schulsituationen eingebaut sind) eine zunehmend gewaltdämpfende Wirkung entfaltet hätten. Die Kenntnis derjenigen Faktoren, die die Medienwirkung vermitteln und spezifizieren, ist natürlich für die Ausarbeitung von (medienpädagogischen) Interventionsprogrammen äußerst wichtig. Sollten solche Programme installiert werden, wären sie als weiterer Komplex von Moderatorvariablen in die kausalanalytische Untersuchung einzubeziehen. Gegenwärtig müssen wir jedoch davon ausgehen, dass – zumindest außerhalb spezifischer lokaler Kontexte – keine Interventionsprogramme implementiert sind (innerhalb unseres Untersuchungszeitraumes auch nicht implementiert waren), denen man relevante Effekte für die Entwicklung der (aggregierten) Gewaltraten zuschreiben könnte. Wir gehen also davon aus, dass eine Trendanalyse der durch Medien induzierten Gewaltneigung die Entwicklung der Moderatorvariablen weitgehend außer Acht lassen kann. Dennoch bleibt eine solche Trendanalyse mit großen Schwierigkeiten behaftet, weil die Daten, mit denen zu rekonstruieren wäre, wie sich das mediale Gewaltangebot ausgebreitet hat und wie es konsumiert worden ist, lückenhaft sind. Wir beginnen mit einer knappen Charakterisierung des institutionellen Rahmens, innerhalb dessen sich das Fernsehen in unseren drei Vergleichsländern entwickelt hat, beschäftigen uns sodann mit der Programmgestaltung und schließlich mit dem Nutzer- bzw. Konsumentenverhalten.
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Man stelle sich einen Menschen vor, der einen schweren Stein zuerst gegen eine Fensterscheibe und dann gegen eine Betonwand wirft. Während die Fensterscheibe zerbricht, bleibt die Betonwand stehen. Würde deshalb jemand auf die Idee kommen zu behaupten: nicht der Steinewerfer, sondern die Fensterscheibe sei ursächlich „Schuld“ an ihrem Zerbrechen, denn die Betonmauer sei unter dem physikalisch gleichen Wurf nicht zerbrochen? Die Argumente mancher Medienwissenschaftler, die dem Fernsehen unter Hinweis auf Moderator-Variablen keine ursächliche Wirkung zuschreiben wollen, entsprechen logisch genau diesem Argument. Zu dieser Debatte s. auch Huesmann/Taylor (2003). Anderson et al. (2003: 100) schließen ihre zusammenfassende Analyse von Moderatoreffekten mit der Bemerkung ab: „although there is evidence of a number of moderating factors (...), there is no evidence that any group is completely protected from the effects of media violence or that any moderator provides complete protection from these effects.“
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7.1
Institutioneller Rahmen
In Deutschland liegen die Entscheidungsbefugnisse in Medienfragen bei den Bundesländern. Die "Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Deutschland" (ARD) setzt sich seit 1950 aus den Landesrundfunkanstalten der einzelnen Länder zusammen. Im November 1950 startete zunächst aber nur ein Versuchsprogramm des Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR) unter dem Namen "Nordwestdeutscher Fernsehdienst" Hamburg und Berlin – dreimal wöchentlich (Montags, Mittwochs und Freitags) von 20 bis 22 Uhr436. Diese Beschränkung war nicht begrenzten technischen Möglichkeiten geschuldet, sondern resultierte aus einer Entscheidung für "kulturell verantwortliches Handeln" (Hickethier 1998: 73); man wollte "(nicht) das amerikanische Beispiel nachahmen: nämlich von morgens bis abends pausenlos zu senden; sondern das englische Beispiel ..." (ebd., S. 73; vgl. S. 65 ff.). Das "Deutsche Fernsehen" als gemeinsames Programm der ARD-Anstalten begann im November 1954. Das per Staatsvertrag zwischen den Bundesländern geschaffene Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) nahm im April 1963 den Sendebetrieb auf – mit der vertraglich festgeschriebenen Möglichkeit, täglich zwischen 18 und 20 Uhr zwanzig Minuten lang Werbung ausstrahlen zu können.437 Ab 1964 entwickelten die ARD-Anstalten regionale "Dritte Programme", die vor allem kulturell anspruchsvolle Sendeformate anbieten sollten. Eine radikale Umgestaltung der Fernsehlandschaft in Deutschland wurde Anfang 1984 mit der Errichtung kommerzieller Sender (zunächst begrenzt auf vier Kabelpilotprojekte) eingeleitet; 1993 konnte mit dem RTL erstmals ein Privatsender im Jahresdurchschnitt mehr Zuschauer anziehen als die ARD oder das ZDF. "Das Grundverständnis wandelte sich von einem Fernsehen, das sich auf einen Kulturauftrag berief, zu einem Fernsehen, das als Marktgeschehen verstanden wurde" (ebd., S. 414). Es bildeten sich auf dem privaten Fernsehmarkt schließlich zwei beherrschende Firmen-Konsortien heraus: die KirchSpringer-Gruppe und die Bertelsmann-CLT-Gruppe mit den Flaggschiffen RTL und SAT.1. Eine neue Form der Kommerzialisierung und des Konkurrenzkampfes wird mit der Einrichtung von "Pay-TV" seit 1991 betrieben; 1997 hatte Springer bereits 1,5 Mio. Abonnenten. "Mit der Einigung von Kirch und Bertelsmann über die Durchführung des digitalen Fernsehens, insbesondere in der Vereinbarung einer gemeinsamen digitalen Plattform und einem einzigen Digitaldecoder (D-Box), ..., droht ... langfristig eine monopolartige Kontrolle darüber, wer Zutritt zum digitalen Fernsehen erhält" (Hickethier 1998: 519). Die Finanzierung des ZDF- wie des ARD-Programms erfolgt bis heute ganz überwiegend durch Teilnehmergebühren, die an das Vorhandensein von Empfangsgeräten geknüpft sind. Die Höhe der Gebühren wird durch die Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (KEF) festgesetzt, durch die Landesparlamente
436 437
382
Für eine umfassende Geschichte des Fernsehens, die schon im 19. Jahrhundert beginnt (in Deutschland startete das Fernsehprogramm im Jahre 1935 unter den Nationalsozialisten) siehe Hickethier (1998). Der Bayerische Rundfunk hatte 1956 mit der Ausstrahlung eines halbstündigen Werbeprogramms begonnen, in dem insgesamt sechs Minuten lang Werbespots gezeigt wurden (Hickethier 1998: 135).
beschlossen und durch die Gebühreneinzugszentrale (GEZ) eingenommen. Während die öffentlich-rechtlichen Anstalten nur etwa eine halbe Million Euro an Werbeeinnahmen erzielen, erhalten sie (im Jahre 2001) 6,5 Milliarden Euro über den Gebühreneinzug (Dreier 2002: 262). Die privaten Anbieter finanzieren sich ausschließlich über Werbeeinnahmen. Die Werbezeit darf bis zu 20 % der täglichen Sendezeit umfassen. Im Jahr 2000 erzielten die kommerziellen Sender 4,3 Milliarden Euro Werbeeinnahmen, von denen zwei Drittel auf die Anbieter RTL, SAT.1 und PRO 7 entfielen (Dreier 2002: 262). Die über die Presse oder die elektronischen Medien lancierten Werbegeschäfte haben in Deutschland (mit ca. 18 Milliarden US-Dollar) ein etwas geringeres Volumen als in Großbritannien (20 Milliarden US-Dollar); außerdem ist dort der über das Fernsehen abgewickelte Anteil mit 30,3 % höher als in Deutschland mit 26,2 %. Gemessen an der Bevölkerungszahl erreicht das Werbevolumen in Schweden (gut 2 Milliarden US-Dollar) in etwa das deutsche Niveau, der TV-Anteil beträgt aber nur 21,3 % (ZAW 2005: 22 f.).438 Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten werden durch Rundfunkräte kontrolliert, die sich je nach Bundesland und den entsprechenden Landesgesetzen unterschiedlich zusammensetzen. Mitglieder der Räte sind Vertreter von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, Kirchen und politischen Parteien sowie anderen gesellschaftlichen Gruppen. Sie wählen die Intendanten und überwachen die Einhaltung der "Grundsätze der Programmgestaltung"; außerdem haben sie haushaltsrechtliche Kompetenzen wie die Genehmigung des Wirtschaftsplanes. Die Beaufsichtigung der privaten Rundfunkanstalten erfolgt durch die Landesmedienanstalten, in denen ebenfalls verschiedene gesellschaftliche Gruppen repräsentiert sind. Theoretisch sollen sie die Ausgewogenheit der Programme, die Einschränkungen bezüglich des Umfangs der Werbesendungen sowie Belange des Jugendschutzes beaufsichtigen. Sie bearbeiten u. a. Zuschauerbeschwerden und können Sanktionen verhängen, die von Bußgeldern bis zum Lizenzentzug reichen. Solche Maßnahmen sind bisher jedoch äußerst selten ergriffen worden (Krotz 2000: 126). Vieles wird der "Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen" (FSF) der Anbieter überlassen. In Großbritannien nahm die British Broadcasting Corporation (BBC) den Fernsehbetrieb (mit dem sie schon 1936 begonnen hatte), im Jahre 1946 wieder auf (zum Folgenden siehe Humphreys 2000; 2002). Bereits 1954 wurde mit der Einführung eines kommerziellen Kanals (Independent Television, ITV) ein duales System etabliert, wobei aber das öffentlich-rechtliche Fernsehen der BBC unangefochten blieb. Die öffentlichen Sender (neben BBC1 auch der "high brow service" BBC2) finanzieren sich ausschließlich über Gebühren, deren Höhe mit der Entwicklung eines Preisindexes verbunden ist (ohne automatisch an ihn gekoppelt zu sein); nur vereinzelt werden Sendungen durch Sponsoring mitfinanziert. Allerdings hat die BBC in den 90er Jahren ihre kommerziellen Aktivitäten ausgebaut, z. B. mit BBC Prime (einem Kanal für Unterhaltungsprogramme) und dem Nachrichtenkanal BBC World, die sich über Abonnementgebühren bzw. Werbeeinnahmen finanzieren. Die Einnahmen aus den Rundfunkgebühren betrugen im Geschäftsjahr
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IP-International Marketing (2001: 47) gibt andere TV-Anteile bei den Werbeausgaben an, ohne dass sich die Reihenfolge der Länder ändert: GB 46,9 %, D 43,9 %, SW 39,8 %.
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2000/2001 2,37 Milliarden Pfund (Humphreys 2002: 335), lagen also deutlich unter dem Gebührenniveau in Deutschland. Die BBC untersteht theoretisch der Aufsicht der Regierung, hat aber auch ihren eigenen Code of Practice entwickelt. Humphreys (2000: 185) urteilt: "in practice voluntary restraint on the part of the state is part of a welldeveloped political consensus on British broadcasting". Das Aufsichtsgremium der BBC (Board of Governors) besteht aus 12 Mitgliedern, die für fünf Jahre von der Königin auf Vorschlag der Regierung ernannt werden, die zuvor die Parlamentsopposition konsultiert hat. Laut Humphreys (2000: 185) hat es zwischen den großen politischen Parteien niemals Streit um die Besetzung des Gremiums gegeben. Sicherlich ist es ein Vorteil des britischen Systems gegenüber dem deutschen, dass in dem obersten Aufsichtsgremium keine aktiven Parteipolitiker vertreten sind. Die privaten Sender werden ausschließlich über Werbung finanziert und stehen unter der Aufsicht der Independent Television Commission (ITC), vormals Independent Broadcasting Authority (IBA), die ebenfalls 12 Mitglieder umfasst, die vom zuständigen Minister direkt ernannt werden. Neben dem schon erwähnten ITV gibt es, für das breite Publikum, einen Channel 3 mit 14 Regionallizenzen. Channel 4 (seit 1982) wird ebenfalls kommerziell finanziert, ist jedoch in öffentlichem Besitz. Er sendet vor allem unabhängig produzierte Programme der verschiedenen ethnischen oder weltanschaulichen Minderheiten. Seit 1997 sendet auch Channel 5, der in seiner Programmgestaltung Channel 3 ähnelt. Insbesondere der (private) ITV-Sektor ist hoch profitabel und erwirtschaftete im Jahr 2000 insgesamt 3,4 Milliarden Pfund (Humphreys 2002: 335). Bis 1990 war die IBA "closely involved in ITV‘s programming policies, ensuring that a diverse range of programmes was broadcast and that adequate air-time was dedicated to education, news and current affairs" (Humphreys 2000: 185). 1990 wurde die Vergabe der Senderechte im Privatsektor stärker kommerzialisiert und die Kontrollfunktion der Aufsichtsbehörde etwas eingeschränkt; allerdings achtete sie weiterhin darauf, dass hochwertige Nachrichtensendungen produziert und verschiedene gesellschaftliche Interessen berücksichtigt wurden. Einen Einschnitt brachte der Cable and Broadcasting Act von 1984, mit dem private Kabel- und Satellitenprogramme mit minimaler behördlicher Kontrolle eingerichtet wurden, "a first definitive break with the traditions of public broadcasting" (Humphreys 2000: 187). Diese Programme (betrieben u. a. von Rupert Murdoch) erreichten bereits 1999 einen Zuschaueranteil von 13 Prozent. Mit der 1996 eingerichteten Struktur für Digitalfernsehen sowie der zunehmenden "Konvergenz" von traditionalen Medien, Telekommunikation und Informationstechnologie wird es, so ist anzunehmen, in Zukunft auch in Großbritannien schwieriger werden, die traditional hohen Qualitätsstandards für Funkmedien weiterhin gegenüber den kommerziellen Interessen privater Betreiber zu behaupten. Schon 1996 hatte ITV mit 35,2 % einen höheren Zuschaueranteil als BBC1 mit 33,3% oder BBC2 mit 10,7 % (Tunstall 1997: 256). Die Relation veränderte sich bis 2001 kaum: BBC1 26,6 %; BBC2 10,9 %; ITV 27,8 %; Channel 4 (s. oben) kam auf 9,7 %, der 1997 neu eingerichtete werbefinanzierte Channel 5 auf 5,7 %; auf die Satellitenkanäle entfiel ein Anteil von nur noch 6,2 % (Humphreys 2002: 336). In Schweden gibt es ein öffentlich-rechtliches Fernsehen seit 1957 mit dem zentral produzierenden Programm SVT1; ihm folgte 1969 SVT2 mit lokalen Produktionen der zehn Distrikte der Sveriges Television. Die öffentlichen Anstalten werden über Rundfunkgebühren finanziert; Werbung ist nicht zulässig, lediglich ein begrenztes Sponsoring von Sportprogrammen. Für private Radio-Sender wurde bereits 1979 der Markt geöffnet, 1986 folgte die Zulassung privaten Kabel- und Satellitenfernsehens, zunächst mit gewissen Auflagen für die inhaltliche Programmgestaltung, die aber ab 1992 weitgehend aufgehoben 384
wurden (Hulten 2000: 329). Allerdings gilt weiterhin für national ausstrahlende Kanäle die Auflage, höchstens 10 % der gesamten Sendezeit für Werbung einsetzen zu dürfen. Ein wesentlicher Schritt hin zur stärkeren Kommerzialisierung des Fernsehens auch in Schweden war die Zulassung eines dritten terrestrischen Kanals, der ab 1992 unter der Bezeichnung TV4 von einem privaten Sender betrieben wurde. (Die Bezeichnung TV3 hatte zuvor schon der größte Satellitensender erhalten, der seit 1987 sein Programm von London aus betrieb). Allerdings sind die Lizenzauflagen für diesen privaten Kanal bezüglich der Programmgestaltung relativ strikt, insbesondere im Hinblick auf Gewaltdarstellungen in der Zeit vor 21 Uhr; außerdem dürfen Werbesendungen sich nicht an Kinder unter 12 Jahren richten (Hulten 2000: 332 f.). Die Einhaltung der Auflagen wird von einer Kommission (Granskningsnamnden, GN) überwacht, deren Mitglieder von der Regierung ernannt werden. Während im schwedischen Fernsehen im Jahre 2000 nur 1740 Produkte beworben wurden (IP-Internat. Marketing Committee 2001: 270), waren es im deutschen Fernsehen 5066 (ebd., S. 159) und im britischen 7306 (ebd., S. 301). Auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen hat seine Kanäle und Programme diversifiziert, dabei aber einen starken Fokus auf Nachrichten- und sonstige Informations- und Bildungsprogramme beibehalten (Hulten 2000: 332). Im Jahre 2000 lag sein Marktanteil (mit SVT1 und SVT2) immer noch bei nahezu 45 % (Jönsson 2002: 538). Die schwedische Regierung versucht seit Ende der 90er Jahre – bisher mit geringem Erfolg – den Ausbau des Digital-Fernsehens voranzutreiben, zum einen aus ökonomischen Motiven, zum anderen mit der Begründung, auf diese Weise die Marktanteile der national nicht kontrollierbaren Kabel- und Satellitenprogramme einschränken zu können. Hulten (2000: 337) ist skeptisch: "Even the digital terrestrial networks, once at full capacity, will effectively negate the reason for their original aim, namely to permit special national regulation." Die Zeit der umfassenden politischen Medienkontrolle gehe zu Ende, in Zukunft würden die Publikumswünsche darüber entscheiden, welche Art von MedienDienstleistungen angeboten werde. 7.2
Entwicklung des TV-Programmangebots und des Nutzerverhaltens
In diesem Abschnitt beschränken wir uns im wesentlichen auf die Bundesrepublik Deutschland; der Entwicklungstrend in den anderen Ländern dürfte ähnlich verlaufen sein, wenn auch mit unterschiedlicher zeitlicher Dynamik und variierenden Niveaus. Mitte der 70er Jahre hatten 95 % aller Haushalte in Deutschland mindestens ein Fernsehgerät, im Jahr 2000 hatte die Hälfte von ihnen mindestens ein weiteres Gerät (Berg/Kiefer 2002: 21). Das Sendevolumen der ARD blieb zwischen 1963 und 1973 ziemlich stabil; die tägliche Sendezeit lag zwischen 10,5 und 11 Stunden, ein Volumen, das auch vom ZDF bis Anfang der 70er Jahre fast erreicht wurde (Hickethier 1998: 221). Bis 1983 dehnen ARD und ZDF die tägliche Sendezeit auf etwa 12 Stunden aus (ebd., S. 332). Zwischen 1964 und 1982 steigt der Anteil der Informationsprogramme bei der ARD von 31,5 auf 43,1 % des Gesamtprogramms; beim ZDF geht er von 28,6 % auf 23,9 % zurück (ebd., S. 221, 333). Die zeitliche Nutzung des Fernsehens durch die Haushalte bleibt zwischen 1964 und 1985 ebenfalls recht stabil, wächst lediglich von knapp zwei auf gut zwei Stunden an einem durchschnittlichen Werktag; die Nutzungszeit für das Radio verdoppelt sich dagegen auf gut zweieinhalb Stunden (ebd., S. 327). Das Volumen der angebotenen Vollprogramme steigt nach Einführung des kommerziellen Fernsehens rapide an. ARD und ZDF erhöhen ihre tägliche Sendezeit bis 385
1992 auf etwa 16 und bis 1994 auf über 20 Stunden; der private Kanal Tele5 sendet ab 1990, RTL ab 1992 rund um die Uhr. Das zusammengefasste Programmangebot aller Sender wuchs von täglich 145 Stunden im Jahre 1986 auf 493 Stunden im Jahre 1992 (Raue 2005: 14; Hickethier 1998: 432). Zwischen 1987 und 1995 reduzierten sich die Zuschaueranteile von ARD und ZDF von jeweils über 40 % auf unter 15 %; Spitzenreiter wurde RTL mit 17,6 % (Hickethier 1998: 485). Die kommerziellen Sender machten nicht zuletzt dadurch auf sich aufmerksam, dass sie die bisherigen Programmnischen "Erotik" und "Gewalt" besetzten. Allerdings richteten sie, als sich Proteste häuften und nach juristischen Gegenmaßnahmen verlangt wurde, die schon erwähnte "Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen" (FSF) ein, bei der die Sender problematische Filme prüfen lassen können. Lukesch (2003: 300, 312 f.) konstatiert eine rückläufige Tendenz beim Gewaltangebot kommerzieller Fernsehsender und eine Annäherung bezüglich der Gewaltanteile bei den öffentlich-rechtlichen Anstalten und den privaten Anbietern in den letzten zehn Jahren. Ausgebaut wurden dafür Sendeformate des "Confrontainment" (Zurschaustellen aggressiver persönlicher Auseinandersetzungen), des "Infotainment", in dem Nachrichtenvermittlung auf Unterhaltung ausgerichtet wird, und des "Emotions-Fernsehens" vom "Reality-TV" bis zu den Bekenntnis- und Versöhnungsshows. "Die verstärkte Emotionalisierung zielte damit auf eine Entdifferenzierung im Sinne einer mentalen Vereinheitlichung unterschiedlicher Programmangebote" (Hickethier 1998: 448). "Die Nichteinhaltung der Regeln gehörte zum neuen Unterhaltungsprinzip, Anstand war nicht gefragt. Die Kandidaten hatten sich gegen Anzüglichkeiten zu behaupten, wurden häufig bloßgestellt, lächerlich gemacht. Jeder hatte dabei schlagfertig zu sein" (ebd., S. 484). Mit der wachsenden Zahl der Programme veränderte sich auch das Zuschauerverhalten. Die Fernbedienung ermöglichte ein ständiges "Switching" und "Zapping" und damit eine "Zerfledderung von Sinneinheiten" (Hickethier 1998: 488), die potentiell noch über das hinausgeht, was die Anstalten innerhalb ihrer Sendungen an Sinnvermischung schon liefern. Die durchschnittliche Sehdauer, die sich von Mitte der 60er bis Mitte der 80er Jahre nur wenig erhöht hatte (auf etwas mehr als zwei Stunden, s. oben), stieg in der Folgezeit rasch an. 1989 lag sie (für Personen über 14 Jahre) bei zweieinhalb Stunden (in Westdeutschland); im Jahre 2001 waren es fast dreieinhalb Stunden (Gesamtdeutschland) (Raue 2005: 15 unter Rückgriff auf Daten der AGF/GfK Fernsehforschung). Für die tägliche Zeitungslektüre wird dagegen nur eine halbe Stunde aufgewandt (Berg/Kiefer 2002: 67).439 In Großbritannien lag der Fernsehkonsum durchschnittlich eine halbe Stunde höher (IPInternat. Marketing Committee 2001: 294), in Schweden dagegen etwa 40 Minuten darunter (ebd., S. 263). Weiß (2000: 100, zitiert nach Raue 2005: 16) verweist auf Berechnungen, wonach Kinder bis zum 15. Lebensjahr mehr Zeit vor dem Bildschirm als in der Schule verbringen. Kinder zwischen 10 und 13 Jahren sitzen seit 1992 ziemlich konstant knapp zwei Stunden
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Erhebungen der Allensbacher Markt- und Werbeträgeranalyse (AWA) zeigen, dass in Westdeutschland bei den 14- bis 29-Jährigen die Reichweite der Tageszeitungen („gestern Tageszeitung gelesen“) von über 75 % der Befragten im Jahr 1979 auf weniger als 55 % im Jahr 2000 zurückgegangen ist.
täglich vor dem Fernsehgerät; bei den Drei- bis Fünfjährigen sind es seit 1996 ungefähr 70 bis 75 Minuten (Raue 2005: 21 unter Rückgriff auf Daten der AFG/GfK Fernsehforschung). Während die durchschnittliche "Sehdauer" auf der Basis aller Kinder berechnet wird, wird die sog. "Verweildauer" als durchschnittliche tägliche Sehdauer derjenigen Kinder berechnet, die tatsächlich fernsehen. Für die Gruppe der 3- bis 13-Jährigen betrug 2001 die Sehdauer 98 Minuten, die Verweildauer 154 Minuten (Media-Perspektiven 4/2004: 153, zitiert nach Raue 2005: 23)440. Für Schweden liegen entsprechende Daten für 3- bis 14-Jährige vor: 96 und 132 Minuten (IP-Internat. Marketing Committee 2001: 263), in Großbritannien sind es bei den 4- bis 15-Jährigen 157 und 231 Minuten (ebd., S. 294). In den letzten 20 Jahren hat insbesondere die Zahl der Vielseher erheblich zugenommen. Zu den intensivsten Nutzern gehören Jugendliche mit geringer Schulbildung. Allgemein gilt, dass Kinder und Jugendliche aus ärmeren Familien ihre Freizeit zu einem deutlich größeren Anteil zu Hause – u. a. mit dem Fernseher – verbringen, als Kinder aus wohlhabenderen Familien (Raue 2005: 38, 49). Ein Drittel der Kinder zwischen 3 und 13 Jahren verfügte im Jahr 2001 über einen eigenen Fernseher, fast 15 % über einen eigenen Computer und 5 % über einen eigenen Internet-Anschluss (ebd., S.18, ebenfalls unter Rückgriff auf Daten des MPFS),441 bei "Jugendlichen" zwischen 12 und 19 Jahren lagen die entsprechenden Prozentanteile bei 64 %, 49 % und 25 % (ebd., S. 19). Allerdings lässt die durchschnittliche Sehdauer bei den Jugendlichen ab dem 16. Lebensjahr etwas nach (Klingler et al. 1998: 69, zitiert nach Raue 2005: 34). Selbst das Spätabendprogramm wird von einem Teil der Kinder konsumiert. Die AGF/GfK stellte 1999 fest, dass ca. 10 % der 10- bis 13-jährigen Kinder auch noch um 22:30 vor dem Fernseher hocken (Raue 2005: 27). Auch Zehnjährige widmen nur noch ein Viertel ihrer Fernsehzeit expliziten Kinderprogrammen (IZI/GfKErhebung aus dem Jahre 2000, zitiert in Raue 2005: 33). Bei Kindern wie bei Jugendlichen sind die Programme der kommerziellen Sender weitaus beliebter als diejenigen von ARD und ZDF. Bei den weiblichen Jugendlichen stehen die "Daily Soaps", bei den männlichen Comics und Zeichentrickfilme an der Spitze der Beliebtheitsskala (Raue 2005: 36, sog. JIM [Jugend, Information, Media]-Studie 2001 des MPFS).
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Raue (2005: 16) zitiert außerdem eine Studie des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest (MPFS) des Jahres 2001, derzufolge nur knapp 50 % der Jugendlichen eine reale Person als Vorbild angeben; die andere Hälfte nannte ein Vorbild, das sie hauptsächlich aus dem Fernsehen kannte. Eine UNESCO-Studie, bei der 1996/97 5000 zwölfjährige Schüler in 23 Ländern der Erde befragt wurden, kam zu dem Ergebnis, dass 26 % der befragten Kinder einen aus dem Fernsehen bekannten „Action Hero“ als Vorbild nannten; an zweiter Stelle folgten Popstars/Musiker (Groebel 1998: 18). Übrigens gaben in der gleichen Studie 25 % der Jungen und 19 % der Mädchen an, ihr dringlichster Wunsch sei „always to be a winner“; 10 % gaben „ausreichende Nahrung“ an und für 40 % war der größte Wunsch, eine Familie zu haben (ebd., S. 19). Pfeiffer (2005b: 7) ermittelt im Jahre 2005 einen Anteil von 36,1 % unter den Zehnjährigen, die über ein Fernsehgerät im eigenen Zimmer verfügen; 36 % haben einen eigenen PC, 26,8 % eine eigene Spielkonsole und 22,4 % ein eigenes Video- oder DVD-Gerät. Bei Kindern ausländischer Eltern sind diese Anteil noch wesentlich höher (ebd., S. 10). Selbst an Schultagen kommt zur durchschnittlichen Fernsehzeit von 103 Minuten eine PC-Video-Spielzeit von 51 Minuten hinzu. Die Seh- und Spielzeiten sind wesentlich höher, wenn das Kind über ein eigenes Gerät verfügt (s. auch unten, Abschn. 7.3).
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7.2.1
Rezeptionssituation innerhalb der Familie
Wie oben betont, hängt die Wirkung des Fernsehkonsums von Kindern und Jugendlichen in hohem Maße vom Familienklima und von der Rezeptionssituation innerhalb der Familie ab. Im allgemeinen verbringen Kinder ihre Zeit vor dem Fernseher meist nicht alleine, sondern vorwiegend mit Geschwistern und Eltern (zum Folgenden s. Hurrelmann et al. 1996). Allerdings neigen gerade die Vielseher unter den Kindern stärker zum einsamen Fernsehgebrauch als die Wenigseher. 18 % der von Hurrelmann befragten Kölner Kinder gaben an, mit niemandem über Fernsehen zu sprechen. Die Vervielfachung des Programmangebots sowie die Ausbreitung von Zweit- oder Drittgeräten innerhalb des Haushalts begünstigen eine Entwicklung, die dazu führt, dass man nicht mehr gemeinsam, sondern eher einzeln, jeder für sich fernsieht (s. Hackl 2001). Allerdings ist die Situation in den verschiedenen Familientypen sehr unterschiedlich. Am häufigsten verfügen Kinder über ein eigenes Fernsehgerät, wenn sie nur mit einem Elternteil oder als Einzelkind bei beiden Eltern aufwachsen. Für alle Familientypen gilt, dass Eltern mit niedrigerer Schulbildung ihren Kindern wesentlich öfter ein eigenes Gerät verschaffen als Eltern mit höherer Schulbildung (Hurrelmann et al. 1996: 118, zitiert nach Raue 2005: 78). Laut dieser Studie sehen Kinder in Ein-Eltern-Familien und Einzelkinder in kompletten Familien häufiger mit ihren Eltern gemeinsam eine Fernsehsendung als diejenigen Kinder, die mit einem oder mehreren Geschwistern aufwachsen und dann auch ganz überwiegend mit ihnen gemeinsam die Sendungen anschauen (deren Auswahl allerdings von den älteren Geschwistern dominiert wird). In allen Familienkonstellationen sitzen die Kinder häufiger mit ihren Eltern als alleine vor dem Fernseher. In der Situation des einsamen Konsumenten befinden sich am ehesten die Einzelkinder, die mit beiden Eltern zusammen wohnen, gefolgt von Kindern, die nur mit einem Elternteil aufwachsen. Über Probleme mit heimlichem oder zu langem Fernsehen berichten vor allem allein erziehende Mütter und Eltern mit mehr als zwei Kindern. In beiden Konstellationen kommt es auch seltener als in vollständigen Familien mit einem oder zwei Kindern vor, dass die Eltern von sich aus mit ihren Kindern über deren Fernseherlebnisse sprechen wollen; Verhaltensauffälligkeiten und Albträume traten dagegen häufiger auf. 7.2.2
Gewaltangebot im Fernsehen
Wir haben schon darauf hingewiesen, dass die Quantität des Gewaltangebots alleine wenig aussagekräftig ist, dass nicht nur die soziale Rezeptionssituation, sondern auch die Art der Gewaltdarstellung eine erhebliche Rolle spielen, vor allem in Kombination mit bestimmten Dispositionen der Rezipienten. Dennoch können quantitative Indikatoren gewisse Anhaltspunkte für Entwicklungstendenzen und länderspezifische Variationen liefern. So z. B. berichtet Groebel (1994: 33), das Angebot an Mediengewalt sei in den USA und Japan am höchsten, während die meisten europäischen Länder sich im Mittelfeld und die skandinavischen Länder noch darunter befänden. Gunter et al. (2003: 230 ff.) kommen bei einem Vergleich entsprechender Erhebungen in den USA und Großbritannien Mitte der 90er Jahre zu dem Befund, dass pro Kanal und Tag im US-Fernsehen durchschnittlich 113, im britischen 106 gewaltsame Interaktionen gezeigt wurden. Wenn man also die in den USA wesentlich größere Anzahl der angebotenen Programme mit Gewaltdarstellungen außer Betracht lässt, liegt Großbritannien beim tatsächlich konsumierbaren Gewaltangebot nicht weit hinter den USA. Nimmt man die von Groebel gegebene Information hinzu, kann man 388
annehmen, dass unter unseren Vergleichsländern Deutschland an zweiter, Schweden an dritter Stelle liegt. Groebel/Gleich (1993: 38 f.) berichten, dass Anfang der 70er Jahre im schwedischen Fernsehen der Anteil von Gewaltfilmen noch so gering war, dass es bei international vergleichenden Erhebungen "gar nicht mehr möglich war, Durchschnittszahlen pro Stunde festzulegen". In Deutschland war Anfang der 90er Jahre das Gewaltangebot der privaten Sender deutlich höher als das der ARD oder des ZDF, und zwar sowohl bei der summarischen Kategorie "aggressive Ereignisse als Anteil am jeweiligen Gesamtprogramm" als auch bei Mordszenen und anderen Formen körperlicher Gewalt (Groebel/Gleich 1993: 72 ff.). Nicht nur hat mit der Einführung des kommerziellen Fernsehens das Gewaltangebot zugenommen, sondern auch die Form der Darstellung hat sich gewandelt. Während früher bei schrecklichen Szenen die Kamera häufig ausgeblendet oder auf Distanz gehalten wurde, werden sie heute eher detailliert und in Nahaufnahme gezeigt (Merten 1999: 89). Die größte "Gewaltdichte" wurde ausgerechnet im Vorabendprogramm, insbesondere von RTL und PRO7, angeboten, also in der Hauptfernsehzeit der Kinder und von den beiden Sendern, die sie am ehesten einschalten. Groebel (1999: 105) geht jedoch davon aus, dass "durch die intensive öffentliche Debatte und diverse Maßnahmen" das Vorabendprogramm inzwischen "entschärft" worden sei. In einem anderen Punkt sieht er eine bedenkliche Übereinstimmung zwischen dem deutschen und dem amerikanischen TV-Gewaltangebot. Es ist überwiegend in Spielfilmen und Serien eingebaut "und wird vor allem in einem ‚belohnenden‘ Kontext gezeigt, macht also Spaß oder hilft, Probleme zu lösen und Status und Macht zu erwerben. In beiden Ländern blieben ... rund siebzig Prozent der dargestellten Gewaltszenen ohne negative Konsequenzen für die Aggressoren" (ebd.). Eine neuere inhaltsanalytische Studie von Lukesch kommt allerdings zu dem Ergebnis, dass "nur" etwa die Hälfte der im deutschen Fernsehen angebotenen Gewalthandlungen mit keinen oder sogar positiven Konsequenzen für die Täter gezeigt werden (Lukesch 2003: 302). Nach wie vor ist der Anteil aggressiver, aber auch der Anteil "prosozialer" Handlungen, die von privaten Fernsehanstalten gezeigt werden, etwas höher als die entsprechenden Anteile in den Programmen öffentlich-rechtlicher Sendeanstalten (jeweils gemessen an der Gesamtsendezeit). Lukesch geht davon aus, dass die Gewaltdichte in den Programmangeboten der Privatsender seit Anfang der 90er Jahre leicht rückläufig ist (Lukesch 2003: 300, 313). Für bedenklich hält er aber eine andere Tendenz: Zwar "(werden) Männer seltener als gewalttätig geschildert, bei Frauen nimmt dieser Anteil hingegen zu"; parallel dazu "hat sich die Zuschreibung von Prosozialität zu weiblichen Fernsehprotagonistinnen deutlich reduziert" (ebd., S. 314 f.). Er verweist auf Banduras sozial-kognitive Lerntheorie, die erwarten lässt, dass unter dieser Voraussetzung insbesondere junge Frauen eine stärkere Neigung zu eigenem gewalttätigen Handeln entwickeln werden. Und er sieht diese Erwartung durch US-amerikanische Wirkungsstudien wie auch durch kriminalstatistische Daten aus der jüngeren Zeit bestätigt. Die Entwicklung der Tatverdächtigenbelastungszahlen in Westdeutschland stützt diese Vermutung. Wir hatten bereits in Kap. 3 bei Körperverletzungs- und Raubdelikten einen überproportionalen Anstieg der Belastung von Frauen festgestellt; dieser ist insbesondere auch bei jungen Frauen festzustellen: So hat sich bei Raubdelikten die Belastung weiblicher Jugendlicher (14 bis 17 Jahre) von 1984 bis 2002 vervierfacht, während sie sich insgesamt in dieser Altersgruppe lediglich verdreifacht hat. Ähnliches ist in dieser Altersklasse bei den schweren und gefährlichen Körperverletzungsdelikten zu beobachten. Hier stieg auch bei den Heranwachsenden und Jungerwachsenen (bis 24 Jahre) die Beteiligung der Frauen etwas stärker an als die der Männer (Heinz 2004: 54 f.). Unsere Auswertungen der 389
Statistiken von Verwarnten und Verurteilten in England und Wales zeigen, dass auch dort bei weiblichen Jugendlichen und jungen Frauen (bis zum Alter von 20 Jahren) die Belastung mit Körperverletzungs- und Raubdelikten überproportional zugenommen hat, und zwar nicht erst in jüngster Zeit, sondern auch in der ersten Periode des Anstiegs der Gewaltkriminalität Jugendlicher Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre (s. oben, Kap. 3). Auch für Schweden belegen unsere Auswertungen der einschlägigen Statistiken für die Zeit zwischen 1987 und 2001 einen überproportionalen Anstieg der Belastung mit Körperverletzungsdelikten bei den weiblichen Jugendlichen und jungen Frauen (zwischen 14 und 24 Jahren). Allerdings nahm deren Belastung bei Raubdelikten weniger stark zu als die der Männer. Selbst wenn man davon ausgeht, dass die Gewaltstimulation durch das Fernsehen in den letzten zehn Jahren zurückgegangen ist, wird man dennoch annehmen müssen, dass sich der mediale, insbesondere der voyeuristische Gewaltkonsum insgesamt erheblich gesteigert hat durch die Ausbreitung des Internet, der Video-Produkte und – in jüngerer Zeit – auch durch Handys, die man mit Internet- und Video-Nutzung kombinieren kann. 7.3
Ausbreitung des Gewaltangebots durch Internet und Video
Das Internet hat sich seit Mitte der 90er Jahre auch in Deutschland in rasantem Tempo ausgebreitet. 1997 waren nur 6,5 % der über 14-Jährigen zumindest gelegentliche Nutzer dieses Mediums, im Frühjahr 2005 waren es knapp 58 % (v. Eimeren/Frees 2005: 364)442. Hohe jährliche Zuwachsraten gab es vor allem bis zum Jahr 2003, als die 53-Prozent-Marke überschritten wurde. Etwas langsamer verlief die Entwicklung in Großbritannien, noch rasanter dagegen in Schweden (s. IP-International Marketing Committee 2001: 146, 260, 290). Das neue Medium wurde zunächst ganz überwiegend am Arbeitsplatz genutzt, inzwischen aber weitaus eher nur zu Hause (49 %) oder an beiden Orten (37 %) (v. Eimeren/Frees 2005: 372). Die Nutzerquoten variieren stark mit dem Alter; bei den 14- bis 19-Jährigen sind es über 95 %, bei den 50- bis 59-Jährigen 54 % und bei den noch Älteren lediglich 18 % (ebd., S. 364), was zumindest ein partielles Auseinanderdriften von generationenspezifischen Lebenswelten bedeutet. Auch das Bildungsniveau spielt weiterhin eine erhebliche Rolle: 38,5 % der Volks- oder Hauptschüler, aber 84,8 % der Abiturienten wurden als Online-Nutzer erfasst (ebd., S. 365). Obwohl damit zu rechnen ist, dass die Volks- bzw. Hauptschüler in den nächsten Jahren bei den Nutzerquoten weiter aufholen werden, verstärkt das Internet derzeit die bildungsbezogenen sozialen Statusdifferenzen. Es hat sich aber nicht nur die Zahl der Nutzer, sondern auch die Online-Verweildauer stark erhöht. Im Jahr 1997 lag sie bei 76 Minuten täglich, im Jahr 2003 bei 138 Minuten; seitdem ist sie auf 123 Minuten gesunken. Auch nach diesem Kriterium sind die 14- bis 29-
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Einen Ländervergleich liefert z. B. Bitkom (2003: 12): Im Jahr 2002 wurden in Schweden 61 % der Einwohner als Internet-Nutzer gezählt, in Großbritannien waren es 53 % und in Deutschland 44 %. Im Jahr 2001 hatten in Schweden 20 % der Sekundarschüler einen Internetzugang in ihrer Schule, in Großbritannien 11 %, in Deutschland 4 %. (Sicherlich indizieren solche Zahlen auch Chancen medienpädagogischer Einflussnahme.)
Jährigen die nutzungsintensivste Gruppe: Im Schnitt sind sie an 4,5 Tagen je Woche "online" bei einer durchschnittlichen Verweildauer von 152 Minuten. Der Gebrauch anderer Medien (Radio, Fernsehen, Tageszeitung) hat sich zumindest bezüglich der täglichen Nutzungsfrequenz anscheinend nicht vermindert (ebd., S. 376, Fn.439); vielmehr ist der Medienkonsum insgesamt angestiegen. "Jeder Erwachsene in Deutschland verbringt täglich 562 Minuten mit Medien" (ebd., S. 377). Im Anstieg begriffen ist auch der Anteil derjenigen, die das Internet mobil nutzen, wobei vor allem der Webzugang per Handy von 2 % im Jahr 2004 auf 9 % im Jahr 2005 angestiegen ist (ebd., S. 372). Der mobile Zugang dürfte die sowieso geringen Möglichkeiten der Eltern, die Internetnutzung ihrer Kinder zu kontrollieren, weiter herabsetzen. Der Medienforscher Jo Groebel stellt fest: "As the media become ever more perfect with the introduction of three dimensions (virtual reality) and interactivity (computer games and multimedia), and as they are always accessible and universal (video and the Internet), the representation of violence ‚merges‘ increasingly with reality" (Groebel 2001: 257). Das über Video und Internet übermittelte und allgemein zugängliche Angebot an Horror-, Porno- und Gewaltfilmen jeglicher Extremitätsstufe dürfte inzwischen weit über das hinausgehen, was das Fernsehen in dieser Richtung anzubieten hat. Schon für die Zeit vor den technologischen Neuerungen zitiert Lukesch (2002: 646) Befunde, wonach der Anteil an Schülern der 8./9. Klassen in Deutschland, die als "Extremseher" von Gewalt zu qualifizieren sind, zwischen 1989 und 1992 von 6,8 % auf 10 % zugenommen habe. Hinzu kommen die sog. "Vielseher", deren Anteil in der gleichen Zeit von 10 auf 12 Prozent anstieg. Bei der Aufzählung ihrer Lieblingsvideos nannte ein Drittel der befragten Jugendlichen unter 18 Jahren spontan auch solche Videos, die als jugendgefährdend indiziert waren. Bei bestimmten Gruppen lag dieser Anteil noch wesentlich höher, bei männlichen Berufsschülern z. B. bei 57 %. Trotz ihrer begrenzten Wirkung hält Lukesch gesetzgeberische Maßnahmen schon wegen ihrer Signalwirkung durchaus für angebracht. Neuere Daten zum Video-Konsum hat das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) vorgelegt. Sie beruhen auf einer Befragung von Schülern vierter Klassen in 7 Städten und Gemeinden sowie zwei Landkreisen, die für Nord- und Süddeutschland repräsentativ sein sollen. Demnach besitzen mehr als ein Drittel der Zehnjährigen nicht nur ein eigenes Fernsehgerät, sondern auch einen eigenen PC; etwa ein Viertel besitzt jeweils eine eigene Spielkonsole oder ein Video-/DVD-Gerät. Die Video-Spielzeit beträgt in diesem Fall selbst an Schultagen durchschnittlich 80 Minuten, an freien Tagen sogar 134 Minuten - doppelt so viel wie bei Kindern, die keine eigenen Abspielgeräte besitzen. Allerdings bestehen erhebliche regionale Unterschiede mit deutlich höheren Nutzungszeiten in Norddeutschland. Jungen nutzen sowohl das Fernsehen als auch das Spieleangebot intensiver als Mädchen; Kinder ausländischer Eltern intensiver als Kinder deutscher Eltern (Pfeiffer 2005b: 13 ff.). Wenn Kinder über eigene Geräte verfügen, konsumieren sie auch wesentlich häufiger Spiele und Filme, die nach den Regeln des Jugendmedienschutzes erst ab einem Alter von 16 bzw. 18 Jahren erlaubt sind. Ein Drittel dieser Kinder gab an, solche Filme in den letzten 7 Tagen gesehen zu haben; 17,4 % berichteten, Spiele "ab 16", 12,8 % Spiele "ab 18" oft zu sehen (ebd., S. 18). Bei deutschen Kindern liegen diese Anteile weniger als halb so hoch wie bei Kindern ausländischer Eltern (ebd., S. 22). Deutliche Zusammenhänge wurden auch zwischen der Qualität der Sozialkontakte und der Intensität des Medienkonsums festgestellt. Kinder, denen es in der Familie, mit Freunden und in der Schule "richtig gut geht", verbringen erheblich weniger Zeit vor dem Fernseher als Kinder, die in ihrem sozialen Umfeld Probleme haben (ebd., S. 23 ff.). Die Kausalrichtung konnte 391
in dieser Querschnittserhebung nicht überprüft werden; man kann aber vermuten, dass hier Prozesse einer wechselseitigen Verstärkung von Medienkonsum und negativen Sozialkontakten ablaufen. Eine aufschlussreiche Untersuchung über Medienkonsum und Gewaltneigung bietet Lamnek (1995). Er stützt sich dabei vor allem auf eine 1993/94 durchgeführte Repräsentativbefragung von 3609 Schülern im Alter zwischen 13 und 22 Jahren an bayerischen Haupt- und Realschulen sowie Gymnasien. Gut drei Viertel der Schüler hatten Zugang zu einem Video-Recorder im elterlichen Haushalt; das entspricht ziemlich genau dem Anteil, der im Jahre 2000 für die Haushalte in Deutschland registriert wurde (Berg/Kiefer 2002: 21). Der Zugang zum PC lag mit 43 % in Bayern Mitte der 90er Jahre nur leicht unter der Marke von 54 %, die im Jahr 2000 für Deutschland insgesamt ermittelt wurde443. Lamnek stellte fest, dass es kaum einen Zusammenhang zwischen dem Konsum von Krimis und Abenteuerfilmen einerseits und selbst berichteten Gewalthandlungen andererseits gab; dagegen konnte er einen beachtlichen Zusammenhang (mit einer Varianzaufklärung von rund 15 %) zwischen dem Anschauen von Kriegs-, Horror- oder Sexfilmen (aufsteigend in dieser Reihenfolge) und persönlicher Gewalttätigkeit nachweisen444. Die Anwendung physischer Gewalt gegen andere Personen vervielfachte sich, je intensiver derartige Filme konsumiert wurden. Lamnek selbst betont, er wolle damit "keine Kausalaussage vornehmen" (ebd., S. 242). Andererseits bietet er die (gut bestätigte) These an, "nach der mit der Steigerung der durch die Medien produzierten emotionalen Erregung auch das Triebund Gewaltpotential der Zuschauer zunimmt" (ebd., S. 241 f.). Außerhalb des Gymnasiums sahen männliche Schüler solche "erregenden" Filme häufiger als politische Sendungen und Dokumentarfilme; etwa 10 % der Befragten sahen sie mehrmals innerhalb einer Woche. Als Intensivkonsumenten zeigten sich vor allem die männlichen Berufsschüler im Alter zwischen 16 und 18 Jahren. Neuere Erhebungen von Lamnek und Koautoren zeigen, dass im Jahre 2004 die bayrischen Schüler Krieg-, Horror- und Sexfilme insgesamt in etwa gleichem Umfang konsumieren wie zehn Jahre zuvor, die jüngeren und männlichen Schüler etwas häufiger, die älteren und weiblichen etwas weniger; insbesondere der Konsum von Sexfilmen nahm bei den Jungen deutlich zu. Die oben zitierten Zusammenhänge zwischen bestimmten
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Feierabend/Klingler (2003) berichten von repräsentativen Erhebungen, die 1998 und 2002 unter den „Jugendlichen im Alter von zwölf bis 19 Jahren in Telefonhaushalten der Bundesrepublik Deutschland“ durchgeführt wurden. Demnach verfügten im Jahr 2002 etwa ein Drittel der Haupt- oder Realschüler über ein persönliches Video-Gerät, bei den Gymnasiasten waren es 28 %. Zugenommen hat in dem angegebenen Zeitraum der Anteil derer, die über eine eigene Spielkonsole verfügen: bei den Hauptschülern stieg er von 32 auf 47 %, bei den Realschülern von 25 auf 39 % und bei den Gymnasiasten von 16 auf 26 % (ebd., S. 454). Einer MPFS-Studie zufolge war das „Fernsehen“ im Jahre 2002 das am häufigsten (von 62 % der Befragten) genannte Gesprächsthema von Jugendlichen mit ihren Freunden. Bei den Jungen folgten an zweiter Stelle Computer-/Videospiele (53 %) bei Mädchen Zeitschrifteninhalte. Über Bücher redeten regelmäßig nur 7 % der Jungen und 16 % der Mädchen (Feierabend/Klingler 2003: 462). Zum negativen Zusammenhang zwischen der Intensität des TV-/Video-Konsums von Jugendlichen und der sozialen Schicht der Eltern in Schweden s. Rosengren (1997: 67 ff.); für Großbritannien (und Holland) siehe Voort et al. (1998: 62-64). Auch Lukesch (2002: 656) berichtet von einer früheren Studie, die zu dem Ergebnis führte, dass Videound Kinofilme stärker als das Fernsehen die Gewaltbereitschaft der Konsumenten stimulieren können.
Inhalten und der Gewalttätigkeit fielen in der Untersuchung von 2004 stärker aus als in der von 1994 (Fuchs et al. 2005). Dennoch konstatieren die Autoren keine Zunahme, sondern einen leichten Rückgang der Gewaltbelastung der Schulen, wobei Hauptschüler weiterhin häufiger als Schüler anderer Schularten als Täter auftreten (ebd., S. 107 f.). Ein weiteres Problem, das an Bedeutung zu gewinnen scheint, ist die Internetsucht, also der selbst empfundene Zwang, länger oder häufiger online zu sein, als man es selbst für sinnvoll hält. Nach unserer Kenntnis liegen bis heute keine zuverlässigen Daten über das Ausmaß der Internetsucht vor. Die umfangreichste Erhebung in Deutschland scheint immer noch die von Hahn/Jerusalem (2001) zu sein, die wir hier in ihrer Internetversion zitieren (www.internetsucht.de). Die Daten beruhen auf einer Online-Befragung von ca. 7000 Personen. Es ist nicht anzunehmen, dass diese Auswahl repräsentativ für alle Nutzer ist, denn es kann nicht ausgeschlossen werden (wie die Autoren selbst betonen), dass Betroffene überproportional vertreten sind. Die Internetsucht wurde mit fünf psychometrischen Skalen zum Kontrollverlust, zu Entzugserscheinungen, zur Toleranzentwicklung und zu negativen Konsequenzen bei sozialen Beziehungen sowie im Bereich Arbeit und Leistungsfähigkeit erfasst. Insgesamt wurden 90 % der Befragten als "unauffällig", 6,6 % als "gefährdet" und 3,2 % als "süchtig" eingestuft. Bei den unter 16-Jährigen lag die Suchtgefahr aber schon bei 20 %. Die Suchtgefahr erstreckte sich (in ansteigender Intensität) auf folgende Genres: Erotik, Spiel ohne Geldeinsatz, Musik und Chats bzw. Foren. Die als süchtig eingestuften Befragten verbringen wöchentlich fast 35 Stunden, die "Gefährdeten" knapp 29 Stunden und die unauffälligen Internetnutzer 7,6 Stunden online im Netz (letzteres spricht dafür, dass die Repräsentativität nicht allzu stark verfehlt wurde). Internetsucht lässt sich vermutlich nicht als temporäres Phänomen interpretieren, das der Faszination durch ein neues Medium geschuldet wäre. Die Autoren betonen: "Langjährige Internetnutzer sind im gleichen Ausmaß wie Anfänger betroffen" ( ebd., S. 13).445 7.4
Zusammenfassung
In unserer Untersuchungsperiode haben sich Volumen und Zugangschancen sowie Formen und Intensität der Nutzung elektronischer Kommunikationsmedien enorm ausgeweitet, Inhalt (Qualität) und technologische Struktur der angebotenen "Programme" erheblich verändert – und mit ihr die Gesellschaft, die sich bekanntlich durch "Kommunikation" konstituiert. Mit Blick auf unser Thema "Gewaltkriminalität" haben wir nur wenige Aspekte dieser Entwicklung herausgestellt: Der Generaltrend ist in der schon zitierten Feststellung von Hickethier (1998: 414) wiedergegeben: "Das Grundverständnis wandelte sich von einem Fernsehen, das sich auf einen Kulturauftrag berief, zu einem Fernsehen, das als Marktgeschehen verstanden wurde." Dies zeigt sich sowohl in der institutionellen Form (zunehmende Privatisierung
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Eine psychologische Interpretation der Internet-„Sucht“ (mit einer Problematisierung dieses Begriffs) und zahlreiche Hinweise zur einschlägigen Forschungsliteratur bieten LaRose et al. (2003). Sie betonen vor allem die Rolle der mangelnden Selbst-Regulation, ein Mangel, der u. a. durch Depressionen begünstigt werde.
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bzw. Kommerzialisierung) als auch in der Programmgestaltung des Fernsehens. Die Bundesrepublik und Großbritannien sind diesen Weg rascher und weiter gegangen als Schweden (s. Abschn. 7.1). Neuere visuelle Medien wie Internet, Video und Handy haben diese Entwicklungstendenz aufgenommen und verstärkt (s. Abschn. 7.3). Problematisch ist vor allem der hohe Anteil minderjähriger Kinder, die über eigene Fernsehgeräte (in Deutschland bspw. ein Drittel der Zehnjährigen), PC-Anschlüsse und Video-/DVDSpielkonsolen (in Deutschland etwa ein Viertel der Zehnjährigen) verfügen und in ihrem Medienkonsum kaum beaufsichtigt werden. Insgesamt unterstützen die elektronischen Medien die im vorigen Kapitel behandelte Ökonomisierung der Gesellschaft. Zwar schließen Kultur und Markt nicht einander aus, können sich sogar wechselseitig stimulieren; in ihren Operationen folgen sie jedoch konkurrierenden Selektionskriterien (insbesondere beim Programmangebot) und bedienen unterschiedliche, teilweise gegensätzliche Funktionen. Die von den visuellen Medien (und der hier nicht behandelten Boulevardpresse) geprägte Aufmerksamkeitsökonomie fördert (nicht in allen Sparten und Programmsegmenten, aber in der Summe) die Skandalisierung und Trivialisierung der Politik, begünstigt das Ephemere und führt zu einem anomisch desorientierenden Überangebot an Reizen und Informationen. In der Aufmerksamkeitsökonomie sind Lüge/Täuschung häufig erfolgsträchtiger als Wahrheit und Wahrhaftigkeit, Normabweichungen spektakulärer als Normbewahrung. Insbesondere lässt sie den klassischen Schutzwall der Normgeltung, die "Präventivwirkung" des Nichtwissens" erodieren. In den Medien findet jeder, der Normen verletzen will, erfolgreiche Vorbilder oder gleichgesinnte Mitmacher, und im allgemeinen stimulieren Bilder mehr als Texte. Die Folgen der in den Medien angebotenen Visualisierung von Gewalt werden in der Wirkungsforschung zwar immer noch kontrovers diskutiert. Nach unserer Einschätzung bestätigen die Befunde aber ganz überwiegend die Annahme, dass dieses Angebot bei den Nutzern die Wahrscheinlichkeit erhöht, sich selbst aggressiv und gewalttätig zu verhalten. Die Einwände gegen diese Hypothese beruhen häufig auf einer methodologisch falschen Interpretation der Effekte von Moderatorvariablen; ebenso missachten sie die Differenz zwischen deterministischen und probabilistischen Aussagen sowie deren unterschiedliche Implikationen für individuelle und aggregierte Effekte. Bei der Affektproduktion und der direkten Gewaltstimulation haben die neueren Medien Internet und Video/Handy das Fernsehen inzwischen weit überholt.446 Sie haben nicht nur das konsumierbare Gewaltangebot anschwellen lassen. Ihre technologische Struktur offeriert den Nutzern eine Doppelrolle: Sie müssen sich nicht mehr mit der Rolle des Konsumenten begnügen; sie können selbst Gewalt produzieren und im "Netz" (oder auf herumgereichten Handys) zur Betrachtung anbieten; Konsum und Produktion können sich wechselseitig stimulieren. Die Folterbilder von Abu Ghraib und die "Botschaften" terroristischer (politisch, geschäftlich oder narzisstisch motivierter) Kidnapper präsentieren die
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Lutz Hachmeister (2005) meint sogar: „Die große Party ist vorüber: Das deutsche Fernsehen wird insgesamt wieder öffentlich-rechtlich“, die Höhe der Zuschauerquoten habe auch für die Werbewirtschaft an Bedeutung verloren.
perversen Spitzen, die aus dieser Apparatur herauswachsen;447 die jüngst auch in Deutschland (zuvor in Großbritannien) bekannt gewordenen Fälle des "happy slapping"448 zeigen ihr soziales Verbreitungspotential. In einem Essay zu den Folter-Fotos von Abu Ghraib weist Susan Sontag auf die Verbindung des Perversen mit dem Normalen hin: "Die Menschen zeichnen immer häufiger auf, was sie tun ... Diese Norm gilt für Millionen von Webcasts, bei denen Menschen mit der Videokamera ihren Tagesablauf aufzeichnen. Jeder produziert seine eigene Reality-Show ... Für immer mehr Menschen besteht ihr erotisches Leben in dem, was sie mit der Digitalkamera einfangen können ... Es fragt sich, wie viele der sexuellen Foltermethoden im Abu-Ghraib-Gefängnis durch das reiche Angebot pornografischer Bilder im Internet inspiriert wurden ... Leben heißt fotografiert werden und Aufzeichnungen vom eigenen Leben zu besitzen ... Doch das Vermögen, zwischen Foto und Wirklichkeit, zwischen Grundsätzen und Taktieren zu unterscheiden, kann leicht dahinschwinden" (Süddeutsche Zeitung, 24. 5. 2004, S. 13 f.). Das Medium liefert einen Reiz, die Wirklichkeit spektakulär zu inszenieren, um sie aufnehmen zu können – eine Form der Anomie, von der Durkheim noch nichts ahnen konnte. Einerseits sind die elektronischen Massenmedien im Prinzip allen zugänglich, haben also ein großes Universalisierungspotential; andererseits scheinen sie soziale Exklusion zu fördern. Die sich ausbreitende Rede vom Unterschichten-Fernsehen ist ein Symptom hierfür449. Die problematischeren Formen der Mediennutzung, das haben zahlreiche Studien immer wieder gezeigt, finden sich gehäuft in den unteren sozialen Schichten, bei Kindern in nicht intakten Familien, bei ökonomisch deprivierten und sozial marginalisierten Personen. Der medienpädagogische Unterricht in den Schulen, sofern er überhaupt angeboten wird, dürfte daran kaum etwas ändern.
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„Seit der Zerschlagung der Al-Qaida-Zentrale in Afghanistan ist ihre virtuelle Unterstützung stark gestiegen. Mehr als 4500 dezentrale Websites machen inzwischen Werbung für Al-Qaida. Die milieuinterne Kommunikation läuft weitgehend in Foren, Chat-Räumen und per E-Mail ab ... Ziel der Terroraktion sind nicht Zerstörung und Gewalt, sondern die durch die Tat erlangte Aufmerksamkeit. Erst in der öffentlichen Aufmerksamkeit wird ein Forum zur Verbreitung der inhaltlichen Botschaft gesehen“ (Daniel Dettling in einem Gastkommentar für die Süddeutsche Zeitung v. 29. 3. 2006, S. 2). Zu InternetAdressen, die eine „neue Pornografie des Krieges“ anbieten s. Sonja Zerki in der Süddeutschen Zeitung v. 30. 9. 2005. Laut einer Notiz in der Süddeutschen Zeitung v. 10. Febr. 2005 hat in Großbritannien Channel 4 mit „Folter-Shows“ begonnen, die Folterpraktiken im US-Gefangenenlager in Guantanamo simulieren sollen. Jugendliche misshandeln ein Opfer, um die Szenen mit ihren Handys aufzunehmen und die Bilder anschließend unter Freunden oder auch im worldwide web kursieren zu lassen. Diedrich Diederichsen (2006) schreibt mit Blick auf die Big-Brother-Sendungen und andere Formen des Reality-TV: „Nichts ist kranker als den beschädigsten Opfern einer Gesellschaft – denn das sind naturgemäß die Angehörigen der Unterschicht – dabei zuzuschauen, wie sie auf Befehl versuchen, authentisch zu sein ... Diese Fernseh-Unterschicht ähnelt am ehesten dem, was in der Antike ein Gladiator gewesen sein muss. Ein Elender, dessen Elend zugleich Voraussetzung für eine bestimmte Art Ruhm ist ...“.
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Resümee
Die vorausgegangenen Kapitel, in Kapitel 6 auch die Hauptabschnitte, schließen mit Zusammenfassungen ab. Dennoch soll in diesem "Resümee" noch einmal der "rote Faden" ausgezogen werden, der die zentralen Konzepte und Befunde miteinander verbindet. Anschließend kommen wir zu einem kurzgefassten Fazit und einigen Vorschlägen darüber, in welchen Schritten die hier begonnenen Forschungsbemühungen weiter geführt werden könnten. Am Anfang des Projekts steht eine empirische Beobachtung: Seit Beginn der Neuzeit geht in den kerneuropäischen Ländern die strafrechtlich definierte Mordrate diskontinuierlich, aber in einem klar abfallenden Trend bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zurück. Nach 1950 steigt sie wieder an; noch stärker nehmen Gewalttätigkeiten zu, die in anderen Deliktkategorien erfasst sind, insbesondere leichte und schwere Körperverletzungen sowie Raubüberfälle. Dieser neuerliche Anstieg ist in fast allen ökonomisch hoch entwickelten und demokratisch verfassten Staaten zu beobachten. Trotz aller Probleme, die mit der strafrechtlichen Definition, der Verfolgungspraxis und der Registrierung dieser Delikte verbunden sind (s. Kap. 2), interpretieren wir die Delikthäufigkeiten als Indikatoren des sich langfristig entwickelnden Normalniveaus innergesellschaftlicher Gewaltverhältnisse. Sieht man von länderspezifischen Variationen und kurzfristigen Trendabweichungen ab, ähnelt das Verlaufsmuster der Homizidraten während der letzten fünfhundert Jahre (in Europa) einer U-förmigen Linie, deren rechter Ast nicht voll ausgezogen ist. Hierfür entwickeln wir in Kap. 1 ein (vor allem von Durkheim und Elias inspiriertes) Erklärungsschema, das wir anschließend in einer vergleichenden Analyse, die drei Länder im Zeitraum zwischen 1950 und 2000 umfasst, anwenden und erproben. Eine gedrängte Zusammenstellung der entsprechenden Schlüsselkonzepte und der damit formulierten Hypothesen findet sich am Schluss des ersten Kapitels (Abschn. 1.4). Wir gehen davon aus, dass die Trendumkehr in den 50er/60er Jahren durch einen rapiden und tief greifenden sozialen Wandel eingeleitet wurde, in dem sich eine anomische Konstellation im Sinne Durkheims herausbildete. Unser Hauptaugenmerk gilt jedoch der weiteren Entwicklung, in der die Strukturkomponenten eines desintegrativen Individualismus gegenüber denen des kooperativen Individualismus zunehmend gewichtiger werden. Nach einer Erörterung methodischer Probleme und Möglichkeiten in Kap. 2 wird die Entwicklung der Gewaltkriminalität in der Bundesrepublik Deutschland (Westdeutschland), England/Wales und Schweden seit etwa 1950 in vier Kategorien dargestellt: Tötungs-, Körperverletzungs-, Raub- und Vergewaltigungsdelikte. Dargestellt wird jeweils die Entwicklung der Häufigkeitsziffern ("Inzidenz"), der Tatverdächtigenbelastungszahlen (differenziert nach Altergruppen, Geschlecht und Einheimischen versus Migranten) und der Opferraten (differenziert nach Geschlecht). Die Trendentwicklung bei den Vergewaltigungsdelikten ist zumindest für Schweden und England nicht zuverlässig identifizierbar; in Deutschland zeichnet sich (trotz stark gestiegener Anzeigebereitschaft) kein langfristiger Anstieg, sondern eher ein Rückgang der Inzidenz ab. Die drei anderen Delikte zeigen in allen drei Ländern einen aufsteigenden Trendverlauf; die stärkste Zunahme (wiederum in allen drei Ländern) gibt es bei den Raubdelikten (bei denen instrumentalistische Motive 396
vermutlich stärker zur Geltung kommen als bei den anderen Delikten). Am schwächsten ist der Anstieg bei den vollendeten Tötungsdelikten (wobei allerdings auch Fortschritte in der Notfallmedizin zu beachten sind); für die Bundesrepublik bzw. Westdeutschland ist seit Anfang der 80er Jahre sogar eine leicht abfallende Trendneigung zu beobachten. Insgesamt sind Jugendliche und Heranwachsende stärker, im Zeitverlauf auch zunehmend stärker als Erwachsene in Gewaltdelikte involviert; Frauen sind es deutlich seltener als Männer. Allerdings nahm die Tatverdächtigenbelastung der Frauen bei Körperverletzung und Raub überproportional zu. In allen drei Delikt-Kategorien steigen die Häufigkeitsraten in England am stärksten, in Westdeutschland am geringsten an. Bei ungewichteter Durchschnittsberechnung wird ein Trendanstieg für England (das allerdings von einem sehr niedrigen Niveau aus startet) um den Faktor 18, für Schweden um den Faktor 6 und für Westdeutschland um den Faktor 4 ermittelt (s. Tab. 3.1). Aus Gründen, die wir in Kap. 2 erläutert haben, können wir derzeit noch keine formalen statistischen Tests durchführen, mit denen die Annahme zu überprüfen wäre, dass die differentiellen (länder- und zeitspezifischen) Trendverläufe in den Kriminalitätsraten mit der differentiellen Entwicklung jener Strukturkomponenten kovariieren, die wir in unserem Erklärungsansatz als Bedingungsfaktoren eingeführt haben. Die nachfolgenden Kapitel liefern aber empirische Belege und Argumente, die diese Annahme stützen und zumindest plausibilisieren. Zunächst präsentieren wir in Kap. 4 Basisindikatoren der ökonomischen und demografischen Entwicklung. Diese Informationen dienen zum einen als Beleg- und Illustrationsmaterial, mit dem der These widersprochen werden kann, hohe Staatsausgaben und insbesondere hohe staatliche Sozialleistungen behinderten grundsätzlich das wirtschaftliche Wachstum (s. Kap. 6.1). Sie lassen, zweitens, erkennen, wie tiefgreifend der soziale Wandel war, der in den 50er/60er Jahren des vorigen Jahrhunderts einsetzte. Stichworte hierzu sind: Besonders hohes wirtschaftliches Wachstum, Ausbreitung des Massenkonsums, Auflösung lokal-nachbarschaftlicher Versorgungsnetze; in Schweden und Deutschland rapider Rückgang der Beschäftigtenzahlen in Landwirtschaft und Kleingewerbe, in England schon partiell einsetzende Deindustrialisierung; Ausbreitung des Dienstleistungssektors, zunehmende Erwerbsbeteiligung der Frauen, anlaufende Bildungsexpansion; beschleunigter Wertewandel, Auftreten neuartiger politischer Protestbewegungen. Aus Durkheims Perspektive betrachtet, liefert diese Periode geradezu den Modellfall einer anomischen Konstellation. In Kapitel 5 beschäftigen wir uns mit der Frage, ob sich tatsächlich, wie einige Autoren behaupten, schon seit den 60er Jahren eine schleichende Erosion des staatlichen Gewaltmonopols vollzieht, sich insbesondere der kausale Nexus zwischen Effektivität und Legitimität des Gewaltmonopols auflöst. Dazu betrachten wir mehrere empirische Indikatoren, für die Zeitreihendaten vorliegen, insbesondere die Entwicklung der Aufklärungsraten (Effektivität), des Vertrauens in Regierung und Parlament, Polizei und Justiz (Legitimität), der Kriminalitätsfurcht und der Gefangenenraten (Punitivität) sowie die Ausbreitung des privaten Sicherheitsgewerbes (unmittelbare Einschränkung des staatlichen Gewaltmonopols, sozial diskriminative Kommodifizierung ursprünglich hoheitlicher Aufgaben). Für Deutschland ergeben sich innerhalb des Untersuchungszeitraumes nur schwache Anhaltspunkte für eine Erosion des staatlichen Gewaltmonopols. Die Aufklärungsraten sind nur leicht zurückgegangen, das Vertrauen in die Polizei ist relativ hoch und stabil. In England sind die Aufklärungsraten etwas stärker gesunken, auch ist das Vertrauen in Polizei und Justiz eher rückläufig, das private Sicherheitsgewerbe expandiert dort wesentlich stärker als in den beiden anderen Ländern. In Schweden sind die Aufklärungsraten weitaus am stärksten zurückgefallen; die Polizei nimmt bei internatio397
nalen Rankings einen hinteren Platz ein; bei der Bevölkerung findet sie, zumindest in jüngerer Zeit, weniger Vertrauen als in Deutschland. Seit den 90er Jahren verstärken sich aber in allen drei Ländern die Hinweise auf weitergehende Erosionstendenzen. Insbesondere treten "effektive" und "legitime" Handhabung des staatlichen Gewaltmonopols zunehmend als konkurrierende Kriterien in Erscheinung. Allgemein nimmt das Strafbedürfnis zu; das Präventionsprinzip gewinnt gegenüber dem Resozialisationsprinzip und dem Prinzip der individuellen Freiheitssicherung stärkere Bedeutung. Diese Tendenzen werden durch einen öffentlichen Sicherheitsdiskurs gefördert, der sich zunehmend an der Bekämpfung des international organisierten Verbrechens und der Abwehr terroristischer Angriffe orientiert. Die Forderungen nach ökonomischer Effizienz (unterstützt durch klamme Staatsfinanzen) begünstigen den weiteren Ausbau des privaten Sicherheitsgewerbes bis hinein in den Strafvollzug (am stärksten in England). Auch der umfassendere Legitimitätsrahmen zeigt Risse: Das Vertrauen in Regierung und Parlament ist in Deutschland und Großbritannien im Verlauf der 90er Jahre stark zurückgegangen; in Schweden wird zwar weiterhin ein höheres Vertrauensniveau registriert, es liegt aber deutlich unter dem Niveau, das in den 60er Jahren gegeben war. Abnehmende Effektivität mindert das Entdeckungs- und Strafrisiko für kriminelle Handlungen; sinkende Legitimität reduziert die Konformitäts- und Folgebereitschaft (senkt also die moralischen "Kosten" der Normübertretung), stärkt die Motivation zur gewaltsamen Selbsthilfe und beeinflusst die Kriminalitätsraten zudem indirekt, indem sie das generalisierte Vertrauen gegenüber anderen Menschen schwächt (s. Abschn. 6.1.2.3 und 6.2.2.6). Der zunehmende Einsatz privater Sicherheitsdienste auch bei der Kontrolle öffentlicher Räume verstärkt Tendenzen zur sozialen und räumlichen Segregation und indiziert darüber hinaus das Eindringen kommerzieller Interessen und kalkulatorischer Managementmethoden, die Rechtsgeltung und Rechtsdurchsetzung zunehmend informalisieren und externen Opportunitätskriterien (auch solchen des finanziellen Gewinns) unterwerfen. Im Gesamtkomplex der Prozesse, in denen die Ökonomisierung der Gesellschaft fortschreitet (s. Kap. 6.5.2), ist dies allerdings nur ein Nebenschauplatz. Über das relative Gewicht, das kooperativen oder desintegrativen Komponenten im gesellschaftlichen Strukturwandel zufällt, entscheiden nicht zuletzt die wohlfahrtsstaatlichen Ordnungsstrukturen und Leistungssysteme. Sie korrigieren die Anreizsysteme und Verteilungswirkungen des Marktes, müssen aber dessen Funktionsbedingungen zumindest intakt lassen. Intendierte und nicht intendierte Folgen regulativer Maßnahmen laufen häufig auseinander, sind selten in ihrem vollen Umfang zu antizipieren, oft auch im nachhinein nicht klar zu identifizieren. Es bleibt also viel Raum für Spekulation und Demagogie. In Kap. 6.1 erörtern wir einige der gängigen Thesen über funktionale und dysfunktionale Folgen wohlfahrtsstaatlicher Arrangements. Die Durchsicht verschiedener theoretischer Argumente und empirischer Befunde führt zu dem Ergebnis, dass die wohlfahrtsstaatlichen Regelungen langfristig weder das wirtschaftliche Wachstum noch die Entwicklung von Sozialkapital behindert, sondern eher gefördert haben. Insbesondere haben sie dazu beigetragen, Armut und soziale Ungleichheit einzuschränken, eine wichtige Voraussetzung für die Pazifizierung und den inneren Zusammenhalt der Gesellschaft. Technologische Innovationen, demografischer Wandel und weltgesellschaftliche Entwicklungsdynamiken haben jedoch in jüngerer Zeit die Erfolgsbedingungen wohlfahrtsstaatlicher Arrangements verändert und einen erheblichen Reformdruck aufgebaut. In unseren drei Vergleichsländern sind in einem langen historischen Prozess unterschiedliche Typen wohlfahrtsstaatlicher Ordnung ("Regime") aufgebaut worden – mit unterschiedlichen Zielvorstellungen, Organisationsstrukturen und Leistungsvermögen. Sie 398
sind auch in unterschiedlichem Maße kompatibel bzw. inkompatibel mit den eben angesprochenen globalen Entwicklungstendenzen und den darin neu entstehenden Funktionsbedingen; und sie sind in unterschiedlichem Maße fähig, darauf mit geeigneten Reformen zu reagieren. In Kap. 6.2 stellen wir zunächst die von Esping-Andersen ausgearbeitete Typologie vor und bewerten die charakteristischen Merkmale der verschiedenen Kategorien hinsichtlich ihrer Potentiale für kooperativen Individualismus: Er wird am stärksten gestützt von dem sozialdemokratischen Typus (realisiert in Schweden), während der liberale Typus (näherungsweise realisiert in Großbritannien) die Gewichte am ehesten in Richtung eines desintegrativen Individualismus verschiebt; der kontinental-konservative Typus (wie er in Deutschland installiert ist) pflegt mit seiner berufsständischen Ausrichtung weiterhin auch partikularistisch-exklusivistische Solidarformen, die dem Leitbild des universalistisch ausgerichteten kooperativen Individualismus zuwiderlaufen. Im nächsten Schritt untersuchen wir die Performanz dieser drei Systeme hinsichtlich der Entwicklung des Sozialkapitals (Abschn. 6.2.2) und der Reduktion von Armut und sozialer Ungleichheit (Abschn. 6.2.3). Ungleichheit nur so weit zuzulassen, wie sie mit Gerechtigkeitsprinzipien vereinbar bleibt, ist eine wichtige strukturelle Voraussetzung des kooperativen Individualismus, Sozialkapital eine seiner zentralen Komponenten. In empirischen Untersuchungen haben sich beide als robuste Prädiktoren für Gewaltkriminalität erwiesen. Wir betrachten zunächst die langfristige Mitgliedschaftsentwicklung in politischen Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und Vereinen sowie in den neueren Organisationsformen bürgerschaftlichen Engagements und wechselseitiger Selbsthilfe; ferner die Wahlbeteiligung, das Vertrauen in Regierungsinstitutionen sowie das generalisierte, zwischenmenschliche Vertrauen. Bei den verschiedenen Indikatoren sind zum Teil gegenläufige Entwicklungstendenzen zu beobachten; gravierende Datenlücken und in der einschlägigen Literatur noch nicht geklärte konzeptuelle Fragen machen ihre zusammenfassende Bewertung unsicher. Die bisher vorliegenden Befunde scheinen aber zumindest folgende Schlussfolgerungen zu erlauben: Über die gesamte Untersuchungsperiode betrachtet, weist Schweden ein höheres Niveau an Sozialkapital auf als die beiden anderen Länder, die Rangfolge zwischen Großbritannien und der Bundesrepublik bleibt offen. Im Trendverlauf zeigt die Bundesrepublik, von einem sehr niedrigen Niveau ausgehend, bis Mitte der 70er Jahre die günstigste Entwicklung, vor allem bei den Vertrauensindikatoren. In allen drei Ländern verstärken sich in den 90er Jahren die Anzeichen für einen Rückgang des Sozialkapitals. Für die Einschätzung der Armuts- und Ungleichheitsentwicklung stehen präzisere und weniger lückenhafte Datenreihen zur Verfügung. Allerdings beruhen sie nicht durchgängig auf gleichen konzeptuellen Grundlagen und Messverfahren. Die Bezugsgrößen Einkommen, Vermögen und Armut sind jeweils in unterschiedlicher Weise definiert und operativ erfasst worden; auch der Begriff der Ungleichheit lässt sich in verschiedene Maßzahlen umsetzen, die jeweils unterschiedliche Aspekte einer Verteilung berücksichtigen und folglich zu unterschiedlichen Ergebnissen führen können. Wir stellen in Abschn. 6.2.3 verschiedene Konzepte und Berechnungsmethoden vor und berücksichtigen dabei auch Effekte, die aus unterschiedlichen demografischen Entwicklungstendenzen herrühren. Einer der wichtigsten Befunde liegt in folgender Beobachtung: Die Verteilung der jährlichen Einkommen wird in der Zeit von ca. 1950 bis Mitte oder Ende der 70er Jahre in allen drei Ländern weniger ungleich; der Trend verläuft seitdem jedoch (wie in den meisten anderen reichen Ländern) in umgekehrter Richtung. In Großbritannien und (schwächer) in Schweden nimmt die Ungleichheit stärker zu als in Deutschland; in Schweden bleibt die Ungleichheit aber durchgängig auf dem niedrigsten Niveau. Die Einkommensmobilität im 399
Lebensverlauf und zwischen den Generationen scheint – mit Ausnahme der jüngsten Jahre – in Großbritannien geringer zu sein als in Schweden und Deutschland. Die Zunahme der Ungleichheit hätte noch früher und stärker eingesetzt, wenn die Umverteilungswirkung wohlfahrtsstaatlicher Programme und des Steuersystems in allen drei Ländern nicht bis mindestens in die 80er Jahre hinein zugenommen hätte und erst danach (mit Ausnahme Deutschlands) leicht zurückgegangen wäre. Bei der Vermögenskonzentration und der Armutsentwicklung sind ähnliche Trendverläufe (Trendumkehren) wie bei der Einkommensungleichheit zu beobachten. Bemerkenswert ist, dass die (deutlich) höhere jährliche Armutsquote in Großbritannien nicht durch eine höhere Mobilität aus Armut aufgewogen wird, sondern im Gegenteil mit einer höheren Persistenz von Armut verbunden ist. Obwohl das britische Wohlfahrtssystem programmatisch insbesondere auf die Armutsbekämpfung ausgerichtet ist, zeigt es in dieser Hinsicht die geringste Umverteilungseffektivität. Schweden nimmt hier zwar, über das gesamte Verteilungsspektrum betrachtet, den Spitzenplatz ein, zeigt aber gerade bei den sehr armen Haushalten ein auffälliges Leistungsdefizit: deren Einkommensmobilität ist geringer als in den beiden anderen Ländern und die Sozialhilfe-Leistungen (gemessen in Form der Lohnersatzquoten) sind in Schweden noch etwas niedriger als in Großbritannien. Über die gesamte Periode betrachtet, zeigt das schwedische System in der Summe der Prüfkriterien jedoch die beste Performanz, anscheinend aber auch den stärksten Rückgang seit den 90er Jahren, während Deutschland bisher das höchste Beharrungsvermögen aufweist – was angesichts einer stabil hohen Arbeitslosigkeit möglicherweise nur als Aufschub einschneidender Eingriffe zu lesen ist. Bisher erfolgte und zukünftig erwartbare Reformmaßnahmen werden in Kapitelabschn. 6.5.1 unter dem Aspekt eingeschränkter staatlicher Regulierungsfähigkeit und erkennbarer Tendenzen in Richtung einer weiteren Zunahme sozialer Ungleichheit in Abschn. 6.5.3 diskutiert. Zuvor erörtern wir (in Abschn. 6.3) eine weitere Strukturkomponente, die eng mit den wohlfahrtsstaatlichen Arrangements verbunden ist und in der Durkheim-Tradition als wesentliches Element des kooperativen Individualismus angesehen wird: den Grad an "Korporatismus", also die Art und Weise, wie gesellschaftliche Interessengruppen sie betreffende Konfliktkonstellationen auf dem Verhandlungsweg bearbeiten (teilweise unter direkter Beteiligung des Staates) und darüber hinaus bei der Gestaltung der staatlichen Ordnungs-, Wirtschafts- und Sozialpolitik mitwirken. Es sind diverse Indizes entwickelt worden, mit denen die verschiedenen Aspekte des Korporatismus zusammenfassend quantifiziert werden; sie weisen im Zeitverlauf übereinstimmend hohe, nur geringfügig differierende Werte für Schweden und Deutschland und ein weitaus niedrigeres Niveau für Großbritannien auf. Gegen Ende unserer Untersuchungsperiode mehren sich die Anzeichen für eine Erosion korporatistischer Strukturen – nicht nur in unseren Vergleichsländern, sondern weltweit. Der Einfluss korporatistischer versus marktliberaler Koordinationsmodi auf die Gewaltkriminalität ist bisher nur unzulänglich untersucht worden. Die wichtigste ländervergleichende Längsschnittstudie, die hierzu vorliegt, umfasst lediglich den Zeitraum von 1951 bis 1986. Sie belegt einen signifikant negativen Effekt korporatistischer Strukturelemente auf die Höhe der Homizidraten: sie sind durchschnittlich umso niedriger, je höher der Korporatismusgrad. Die Gestaltung von Beschäftigungsverhältnissen gehört zu den zentralen Funktionsbereichen, in denen sich korporatistische Systeme bewähren müssen oder scheitern können. Empirische Studien zeigen, dass Regulierungen, die mit einem hohen Grad an Zentralisation und Verbindlichkeit von den Interessenvertretungen (hier insbesondere: Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände) ausgehandelt worden sind, im zeitlichen Rahmen unserer Untersuchungsperiode wirtschaftliches Wachstum nicht behindert haben und im 400
Durchschnitt auch nicht zu höherer Arbeitslosigkeit geführt haben. In Kap. 6.4 betrachten wir den Strukturwandel von Arbeitsmärkten und Erwerbsformen vor allem unter der Frage, inwieweit "reguläre" durch "prekäre" Arbeitsverhältnisse abgelöst werden. Stabile Beschäftigung ermöglicht den Entwurf langfristiger Lebenspläne und Handlungsorientierungen und damit ein hohes Maß an Selbstregulierung. Eine zeitlich klar strukturierte Erwerbstätigkeit begünstigt zudem gemeinschaftliche Aktivitäten im privaten wie im öffentlichen Bereich, fördert also die Bildung von Sozialkapital. Prekäre, insbesondere diskontinuierliche Beschäftigungsverhältnisse führen häufig zu psychischen Belastungen und gesundheitlichen Schäden, mindern längerfristig die individuelle Handlungskompetenz, belasten nicht selten die innerfamilialen Beziehungen und begünstigen in ihrer extremen Form (insbesondere bei lang andauernder Arbeitslosigkeit) soziale Ausgrenzungsprozesse. Eine Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse ist in der Regel mit verschärftem ökonomischem Wettbewerb und einer Segmentierung der Arbeitsmärkte verbunden – Prozesse, die, wie empirische Untersuchungen zeigen, kriminogene Effekte nach sich ziehen. Wir erörtern in Abschn. 6.4.3 einige der strukturellen Bedingungen, die die Zunahme prekärer Erwerbsformen begünstigen, und diskutieren in Abschn. 6.4.4 die mutmaßlichen Konsequenzen spezifischer Regulierungsansätze (wie z. B. die Höhe von Lohnersatzleistungen und Kündigungsschutz). Nachdem die Entwicklung der Arbeitslosigkeit schon in Kap. 4 dargestellt wurde, dokumentiert Abschn. 6.4.5 spezifische Facetten dieser Entwicklung, z. B. den Anteil der Haushalte, in denen kein Mitglied Erwerbseinkommen bezieht, sowie den – in Großbritannien nach 1980 besonders hohen – Anteil der Kinder, die in solchen Haushalten leben; außerdem: die Entwicklung des Anteils der befristet und der (unfreiwillig) teilzeitig Beschäftigten, der Leiharbeit, der Selbständigen ohne Beschäftigte, der Personen, die regelmäßig Schichtarbeit leisten, sowie Umfragedaten zur Arbeitsintensität und zur wahrgenommenen Sicherheit des Arbeitsplatzes. Die Daten lassen eine gewisse Zäsur um etwa das Jahr 1990 erkennen. Bis dahin zeigt Schweden die mit Abstand beste, Großbritannien die schlechteste Performanz bei den Arbeitsmärkten. Im Verlauf der 90er Jahre rutscht Deutschland an die letzte und Großbritannien zumindest in der Entwicklungstendenz, bei einigen Indikatoren auch im Niveau an die erste Stelle. Freilich sind in einer so kurzen Periode langfristig wirkende strukturelle Effekte kaum von konjunkturellen zu trennen. Einige der Langfristtrends setzten sich auch in der Phase des konjunkturellen Aufschwungs in Großbritannien fort: Trotz der Verbesserung der Beschäftigungslage insgesamt ist der Anteil der von Arbeitslosigkeit betroffenen Haushalte und Kinder nicht zurückgegangen; die atypische Beschäftigung nahm zu Lasten regulärer Beschäftigung zu, ebenso die Arbeitsintensität und die Verbreitung von Schichtarbeit; die Beschäftigungsstabilität nahm weiter ab; die Ausdehnung der Beschäftigung im tertiären Sektor wurde mit einer sehr hohen Lohnspreizung erkauft. Auch in Deutschland haben sich in dieser Zeit die atypischen Beschäftigungsverhältnisse und irregulären Arbeitszeiten zu Lasten "normaler" Beschäftigungsformen ausgebreitet, vor allem bei jüngeren Arbeitnehmern; die Beschäftigungsstabilität hat (vor allem in den letzten Jahren) abgenommen, die Arbeitsintensität sich dagegen erhöht. Nach wie vor weist Deutschland unter den drei Ländern die geringste Jugendarbeitslosigkeit auf; hier hat das schwedische System einen seiner markantesten Schwachpunkte. Fasst man die verschiedenen Indikatoren zusammen, zeichnet sich der Befund ab, dass in allen drei Ländern um die Jahrtausendwende das Prekarisierungsniveau höher liegt als zu Beginn unserer Untersuchungsperiode in den 1960er und 70er Jahren.
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Wenn mehr Menschen ihre persönliche Arbeitskraft immer wieder neu und mit ungewissem Ausgang auf dem Markt anbieten müssen, kann man dies (im Sinne EspingAndersens) als Rekommodifizierungsprozess interpretieren, der die Gestaltung individueller Lebensläufe (wieder) zunehmend von einem nicht kontrollierbaren Marktgeschehen abhängig macht. In Kapitel 6.5 betrachten wir weitere Entwicklungstendenzen, die in der einschlägigen Literatur als "Vermarktlichung" der Gesellschaft diskutiert worden sind und im Rahmen unseres Erklärungsschemas mit der Hypothese verknüpft werden, dass sie den desintegrativen Individualismus stärken. In diesem Kapitel konzentrieren wir uns mehr auf globale als auf länderspezifische Entwicklungstendenzen. Abschn. 6.5.1 zeigt zunächst, wie die Internationalisierung der Märkte, insbesondere der sich ausbreitende FinanzmarktKapitalismus und die damit verknüpfte Verschärfung des Standortwettbewerbs zwischen den Staaten die Regulierungskompetenzen der Politik gegenüber der Ökonomie erheblich eingeschränkt haben. Die sich ebenfalls verstärkende Internationalisierung der Politik kann diesen Verlust nicht ausgleichen und lässt zusätzliche Probleme ihrer demokratischen Legitimation entstehen. Wir gehen in diesem Zusammenhang vor allem auf die Entwicklung der Einkommens- und Unternehmenssteuern ein. Außerdem werfen wir einen Blick auf wohlfahrtsstaatliche Reformen, die seit den 80er Jahren durchgeführt worden sind. Sie lassen sich zwar nicht alle einer einzigen Entwicklungslinie zuordnen, belegen in ihrer Gesamtheit aber eine Tendenz, in der sich die sozialdemokratischen und konservativen Systeme eher in Richtung des liberalen Modells bewegen als umgekehrt – was auf eine Reduktion kooperativer Sicherungssysteme hinausläuft, auch wenn eine strikte Konvergenz der wohlfahrtsstaatlichen Regime nicht zu erwarten ist. Es verschärft sich nicht nur der Standortwettbewerb der Nationen, sondern generell der Wettbewerb der Unternehmen um Absatzmärkte und Kunden, der Arbeitnehmer um Arbeitsplätze und Einkommen, der Organisationen um Mitglieder und Klienten; schließlich die Konkurrenz um "Erfolg" und "Distinktion" in einer stressgeladenen Aufmerksamkeitsökonomie. In Abschn. 6.5.2 interpretieren wir diese Tendenzen als breit angelegte Ökonomisierungsprozesse, in denen am geldwerten Nutzen orientierte Handlungsstrategien und am Prinzip von Angebot und Nachfrage ausgerichtete Ressourcenzuteilungen zunehmend in gesellschaftliche Teilsysteme und Lebensbereiche eindringen, die bisher eher durch tradierte Werte, Gerechtigkeitsnormen und verständigungsorientiertes Handeln geprägt waren. Wir dokumentieren diese Entwicklung zunächst (in Abschn. 6.5.2.1) anhand von Zeitreihendaten zu Insolvenzen von Unternehmen und Privathaushalten sowie zur Höhe der Konsumentenkredite relativ zum verfügbaren Einkommen. Die Überschuldung der Privathaushalte indiziert ein spezifisches Potential für soziale Ausgrenzung; dass sie im Zeitverlauf zunimmt, interpretieren wir zudem als Hinweis darauf, dass sich die Schere zwischen funktional geforderten und tatsächlich erreichten individuellen Handlungskompetenzen weiter öffnet. Ein wichtiges Vehikel, mit dem die Ökonomisierung vorangetrieben wird, ist die kommerzielle Werbung, die in den letzten Jahrzehnten ihr Volumen erheblich erweitert hat. Wie wir in Abschn. 6.5.2.2 zeigen, hat sie sich in diesem Prozess auch qualitativ erheblich verändert, z. B. dadurch, dass Kinder und Jugendliche mit wachsender Intensität umworben werden. Erweitert worden ist auch die Palette der "Produkte", die auf legalen und illegalen Märkten gehandelt und folglich – zum Teil verdeckt – angeboten und beworben werden (von rezeptpflichtigen Medikamenten über Schönheitsoperationen bis zu menschlichem Gewebe). Kommerzieller Marketing-Strategien bedienen sich inzwischen auch Kirchen, karitative Organisationen und Hochschulen. Die elektronischen Massenmedien (insbesondere Fernsehen und Internet) sorgen für eine visuelle und akustische Dauerpräsenz von 402
Werbung, der man sich kaum noch entziehen kann. In jüngerer Zeit werden nicht nur diejenigen Programme ausgeweitet, in denen Normübertretungen vorgeführt werden, sondern es wird mit Normübertretungen (bspw. in der Hip-Hop-Szene) direkt geworben. Auch die sich verstärkenden Privatisierungstendenzen in der Politik, die Verprivatrechtlichung öffentlicher Funktionen eröffnen Pfade, auf denen die Ökonomisierung der Gesellschaft voranschreitet. Darauf gehen wir kurz in Abschnitt 6.5.2.3 ein. In Kapitelabschnitt 6.5.3 kehren wir zu dem Thema ansteigender sozialer Ungleichheit zurück. Wir interpretieren diesen Anstieg als langfristig angelegten Trend, in dessen Verlauf das für eine Volkswirtschaft funktionsnotwendige ökonomische Wachstum disproportional denen zugute kommt, die es materiell (schon lange) nicht mehr, wohl aber symbolisch umso dringlicher als Beleg für den eigenen "Erfolg" benötigen. Über den Erfolg entscheiden vor allem nicht-kontrollierbare Marktprozesse; die Verteilung der Erfolgsprämien löst sich zunehmend von den Leistungsdifferentialen – oder: "Leistung" wird nicht mehr intern über das Produkt von individueller Kompetenz und Anstrengung, sondern extern über den in volatilen Märkten erzielten Erfolg gemessen, zunehmend nur noch als relative Größe: erfolg"reich" ist, wer einen höheren Erfolg erzielt als andere. Nachdem eine bestimmte (wenn auch nicht genau fixierbare) Schwelle des ökonomischen Wohlstands in einer Gesellschaft überschritten ist, wird der Konkurrenzkampf wieder umso schärfer, der Wachstumszwang umso härter, je größer der bereits angesammelte Reichtum ist. In Abschnitt 6.5.3.1 stellen wir die Einkommens- und Vermögensungleichheit nicht anhand summarischer Kennzahlen dar (wie in früheren Abschnitten), sondern beleuchten sie von ihren äußeren Rändern her. In Abschnitt 6.5.3.2 betrachten wir die in extremer Ungleichheit angelegten Prozesse der sozialen Marginalisierung und Ausgrenzung und versuchen, diejenigen Gruppen zu identifizieren, die davon besonders betroffen sind. Soziale Ungleichheit und Ausgrenzung können auf unterschiedliche Weise Gewaltkriminalität fördern. Sie können z. B. über Anerkennungsdefizite hinausgehende Erfahrungen persönlicher Missachtung und Demütigung beinhalten, denen man zu entrinnen sucht, indem man sie umkehrt: Gewalt gegen andere anwendet, um sich nicht mehr schwach fühlen zu müssen. Darüber hinaus kann Ungleichheit als Ungerechtigkeit erfahren werden, die soziale Normen delegitimiert und zu ihrer demonstrativen Verletzung, zum Normbruch auffordert. Auf der anderen Seite (der Seite der "Gewinner") wehrt man den Rechtfertigungsdruck ab, indem man die Ungleichheit "renaturalisiert", sie als naturbedingt ausgibt und den Verlierern mangelnde Fähigkeiten oder mangelnden Willen vorhält, für deren Kompensation andere nicht verantwortlich zu machen sind. Diese Strategie, die auf einer Ideologie der "Ungleichwertigkeit" beruht, führt ihrerseits zu sozialer Diskriminierung, die Gewalttätigkeit begünstigt (Mit der Gerechtigkeitsproblematik und der Renaturalisierung der Ungleichheit beschäftigt sich Abschnitt 6.5.3.3). Ungleichheit kann aber auch in eine Struktur eingebunden sein, die unabhängig von Gerechtigkeitserwägungen abweichendes Verhalten bis hin zur Gewaltkriminalität fördert. Eine solche Konstellation beschreibt Merton in seiner Anomie-Theorie, die wir in Abschnitt 6.5.3.4 skizzieren. Ihren Ausgangspunkt hat sie in einer strukturell verfestigten Diskrepanz zwischen kulturell hochgeschätzten, allseits geteilten Handlungszielen und ungleich verteilten legitimen Mitteln. Der Anreiz zur (ersatzweisen) Anwendung illegitimer Mittel ist umso höher, je stärker eine Kultur den Handlungserfolg gegenüber der Mittelwahl auszeichnet (mit der Tendenz: der Zweck heiligt die Mittel). Wenn der Erfolg primär im Sinne von Positionsgütern (statt im Sinne teilbarer materieller Güter oder anzustrebender Ideale) definiert ist, neigen (wie Coleman im Anschluss an Merton betont) nicht nur die Angehörigen der niederen, sondern auch die Angehörigen der höheren sozialen Schichten 403
dazu, sich illegitimer Mittel zu bedienen. Allerdings sind auch die illegitimen Mittel ungleich verteilt; den oberen Schichten steht eine breitere Palette zur Verfügung (z. B. großformatiger Betrug und Bestechung) als den gesellschaftlichen Randgruppen, die außerhalb physischer Gewalt kaum Machtressourcen besitzen. Merton hat seine AnomieTheorie vor allem im Hinblick auf die U.S.-amerikanische Gesellschaft konstruiert; die Entwicklungstendenzen, die wir in vorangegangenen Abschnitten dargestellt haben, lassen uns vermuten, dass sich die Marktgesellschaften generell in diese Richtung bewegen, Prozesse sozialer Ausgrenzung sich verstärken werden. Es ist davon auszugehen, dass sich dabei auch die modalen Orientierungsmuster, die Werte und Einstellungen der Individuen verändern. Darauf gehen wir in unserer Arbeit nur am Rande ein, stellen aber in Abschn. 6.5.4 mit dem "Hierarchischen Selbstinteresse" ein Konzept vor, das wesentliche Elemente des desintegrativen Individualismus auf der Ebene individueller Orientierungsmuster erfasst. Allerdings fehlen hierzu noch weitgehend die empirischen Untersuchungen, die in unterschiedlichen Kontexten seine Tauglichkeit überprüfen könnten; vor allem fehlen Längsschnittstudien, die die Verbreitung solcher Orientierungsmuster über längere Zeiträume dokumentierten würden. Individuelle Handlungs- und Orientierungsmuster erfahren ihre frühe Prägung vor allem innerhalb von Familien. Familien sind auch der Ort, an dem sich Selbstkontrollstrukturen und andere Handlungskompetenzen in unterschiedlichem Maße ausbilden; und sie sind immer noch, wenngleich seltener als "früher", der Ort, an dem sich ein erheblicher Teil alltäglicher Gewalt abspielt. In Kapitel 6.6 geben wir einen Überblick über den Wandel der Familienstrukturen in jenen Bereichen, die die besondere Aufmerksamkeit der Kriminalsoziologie gefunden haben: Erziehungsverhalten der Eltern, abnehmende Zahl von Eheschließungen, Anstieg der nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften, Rückgang der Geburtenrate, Anstieg der Scheidungsziffern, zunehmender Anteil von Kindern, die von Scheidung betroffen sind und/oder mit einem alleinerziehenden Elternteil zusammen leben. Folgende Entwicklungstendenzen scheinen uns besonders bedeutsam zu sein: Erstens verschiebt sich innerhalb unserer Untersuchungsperiode das Verhältnis zwischen Ehepartnern wie auch die Eltern-Kind-Beziehung weg von einer hierarchisch-kollektivistischen hin zu einer partnerschaftlich-individualistischen Struktur. Parallel dazu (und im Einklang mit unserem Erklärungsschema) geht die Gewalt innerhalb der Familien zurück. Zweitens lässt die Bereitschaft zu einer dauerhaften Bindung an einen Lebenspartner und an Kinder nach, was ein stärker werdendes Gewicht des desintegrativen relativ zum kooperativen Individualismus anzeigt. Drittens sind die modernen Kommunikationsmedien, vor allem Fernsehen und Internet, zunehmend in der Lage, elterliche Kontroll- und Erziehungsbemühungen zu unterlaufen – oder Anreize für Eltern zu bieten, sich von solchen Bemühungen zu entlasten. Welche Folgen es für die zunehmende Zahl der Kinder hat, wenn sie die Trennung ihrer Eltern erleben oder aus anderen Gründen nur mit einem Elternteil aufwachsen, ist unter Fachleuten weiterhin umstritten. Die Durchsicht vorliegender Forschungsliteratur führt uns zu dem Ergebnis, dass trotz hoher Variation der Einzelfälle Scheidungserfahrungen bei den davon betroffenen Kindern durchschnittlich die Wahrscheinlichkeit erhöhen, längerfristig wirksame psycho-soziale Schädigungen (darunter mangelnde Selbstkontrolle und Neigung zu aggressivem Verhalten) zu erleiden. In Kap. 6.5 wurde gezeigt, wie die Prozesse der Vermarktlichung von Gesellschaft soziokulturelle Strukturen hervorbringen, die Merton schon in den 1930er und 50er Jahren als "anomisch" charakterisiert hat. Inzwischen hat die Marktgesellschaft aber auch die Gestalt einer "Mediengesellschaft" angenommen und darin zusätzliche Mechanismen der Anomie-Produktion ausgebildet. Damit beschäftigen wir uns in Kapitel 7 (s. aber auch die 404
Überlegungen in Kapitelabschn. 1.2.4). Wir gehen zunächst auf die Diskussion über "Gewalt in den Medien" ein. Die vorliegenden empirischen Studien bestätigen ganz überwiegend die These, dass Gewaltdarstellungen im Fernsehen (oder anderen Medien wie Internet und Video) zumindest in bestimmten Konsumentengruppen unter regelmäßig vorhandenen Bedingungen die Wahrscheinlichkeit ansteigen lassen, selbst gewalttätig zu werden. Dem Fernsehen und anderen elektronischen Kommunikationsmedien (bis hin zum Handy) sind aber noch andere Anomie-Potentiale eingeschrieben, die auch unabhängig von der direkten Gewaltstimulation wirksam werden. Dazu befähigt sie nicht zuletzt ihre technologische Struktur und die damit verbundene soziale Reichweite, die sie zu Hauptträgern einer globalen Aufmerksamkeitsökonomie haben werden lassen. In ihr werden Normüberschreitungen und andere Entgrenzungsprozesse bevorzugte Valuta, mit denen sich Aufmerksamkeit (und damit Geld, Prestige, Einfluss) erwerben lässt. Dabei werden die Trennlinien zwischen Fiktion und Realität, Heiligem und Profanem, Privatem und Öffentlichem, Lüge und Wahrheit, Erlaubtem und Unerlaubten fortlaufend verwischt. Die Folgen dieser Form von Sinnentropie für Selbstkontrolle und individuelle Handlungskompetenz sind von der Medienwirkungsforschung bisher unzureichend untersucht worden. Wir vermuten, dass permanent erlebte Sinnentgrenzung (s. die Daten über die wachsende Dauer der täglichen Mediennutzung und über den Wandel der Programmstrukturen) nicht nur die Bindung an spezifische Normen schwächt, sondern das Konzept einer bindenden Gültigkeit von Normen gefährdet. Kehren wir noch einmal zum Ausgangspunkt unserer Analysen zurück: dem seit Mitte des vorigen Jahrhunderts in fast allen ökonomisch fortgeschrittenen Gesellschaften zu beobachtenden Anstieg der Gewaltkriminalität, der die Umkehr eines jahrhundertelang dominanten Abwärtstrends bedeutet. Die Ubiquität dieses Musters deutet auf den Wandel fundamentaler Strukturparameter hin, die das "Normalniveau" des Gewaltvorkommens verschoben haben. Mit Anleihen insbesondere bei Norbert Elias und Emile Durkheim haben wir versucht, ein heuristisches Schema zu entwickeln, das diese Strukturparameter mit "sparsamen" und empirisch – wenigstens partiell – operationalisierbaren Konzepten identifiziert. Unsere zunächst nur drei Länder umfassende vergleichende Fallanalyse ist ein erster Schritt, die Brauchbarkeit dieses Erklärungsschemas zu überprüfen. Unserer Einschätzung nach hat es sich in dieser Analyse bewährt. Vor allem wurde es möglich, ein weites Spektrum empirischer Materialien und Tatbestände unter einen einheitlichen analytischen Fokus zu bringen und ihre jeweilige Erklärungskraft für die langfristige Entwicklung der Gewaltkriminalität hypothetisch anzugeben. Allerdings bleiben einige Fragen offen. Zwar ist der vorgeschlagene Erklärungsansatz gut vereinbar mit der Beobachtung, dass in England/Wales die Gewaltkriminalität wesentlich stärker angestiegen ist als in den beiden anderen Ländern. Andererseits ist mit ihm derzeit nicht erklärbar, warum dieser Anstieg in Deutschland geringer ausfällt als in Schweden, denn die verschiedenen Komponenten eines kooperativen Individualismus scheinen sich in Schweden während unserer Untersuchungsperiode insgesamt auf einem höheren Niveau gehalten zu haben als in der Bundesrepublik. Allerdings stoßen wir hier auch an die Grenzen einer Fallanalyse, die sich keiner statistischen Modelle bedienen kann, die einen quantitativen Vergleich der Effektstärke unterschiedlicher Einflussfaktoren erlauben würden (s. hierzu die Hinweise in Kap. 2.2). Immerhin sind wir in unserer Analyse auch auf einige potentiell Gewalt fördernde Einflussgrößen gestoßen, die stärker in Schweden ausgeprägt sind, so z. B. die Einschränkungen bei der Effektivität des staatlichen Gewaltmonopols, die über lange Zeit höhere Arbeitslosigkeit und Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse von Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowie die geringeren finanziellen Unterstützungsleistungen 405
für Sozialhilfeempfänger und deren, im Vergleich zu Deutschland, längere Verweildauer in Armut. Außerdem scheinen in Schweden einige Änderungen in der Erfassungspraxis und Strafgesetzgebung in besonderem Maße zu einem Anstieg der registrierten Gewaltkriminalität beigetragen zu haben (s. Kap. 3). Grundsätzlich ist natürlich auch damit zu rechnen, dass unser Modell (wie wohl andere Modelle auch) nicht alle Faktoren erfasst, die länderspezifisch wirksam werden. Dazu dürften kulturelle Traditionen gehören, die die Wirkungen spezifischer institutioneller Arrangements und sie betreffender Reformmaßnahmen modifizieren, z. B. indem sie unterschiedliche Anspruchsniveaus festlegen; auch können sie bestimmte Reformen ausschließen oder zumindest erschweren, weil sie mit starken normativen Präferenzen nicht vereinbar sind. Gerade auch der symbolische Gehalt der Gewalt, ihre Ächtung oder Legitimierung, dürfte stark von kulturellen Traditionen bestimmt sein. Es liegen derzeit aber keine Daten vor, mit deren Hilfe sich z. B. abschätzen ließe, in welchem (länderspezifischen?) Maße eine gewachsene Sensibilität gegenüber dem Einsatz von Gewalt und eine zunehmende Anzeigebereitschaft zu dem Anstieg der registrierten Gewaltkriminalität beigetragen haben. Es ist durchaus denkbar, dass es teilweise die gleichen Faktoren sind, die die Gewaltneigung dämpfen und gleichzeitig Sensibilität und Anzeigebereitschaft bei vollzogenen Gewalthandlungen erhöhen. Diese Effekte überlagern sich im Trendverlauf der registrierten Gewaltkriminalität und sind derzeit nicht zu trennen. Nicht gelungen ist bisher auch die Trennung und Kombination von Struktureffekten einerseits und Effekten des sozialen Wandels andererseits. Rascher Wandel kann selbst dann anomische (und damit kriminogene) Wirkungen entfalten, wenn sich darin Strukturen ausbilden, die für sich genommen gewaltdämpfend wirken. So z. B. können wir den Beginn des Anstiegs der Gewaltkriminalität Mitte des vorigen Jahrhunderts nicht mit einer relativen Stärkung des desintegrativen im Vergleich zum kooperativen Individualismus erklären (s. Hypothese 3 am Schluss des 1. Kapitels); denn eine solche Gewichteverschiebung ist in dieser Periode (50er bis Anfang der 70er Jahre) gar nicht zu beobachten. Die empirischen Befunde, die wir in Kap. 6 zusammengetragen haben, deuten darauf hin, dass sie sich erst seit Mitte der 70er oder Anfang der 80er Jahre in nennenswertem Maße vollzogen hat. Das gilt ebenso für die in Hypothese (4) angesprochene Erosion des staatlichen Gewaltmonopols und der Schwächung staatlicher Regulierungskompetenzen im beginnenden Globalisierungsschub. Auch die anomisch-kriminogenen Effekte, die wir im Sinne der Hypothese (5) dem Fernsehen und den nachfolgend entwickelten elektronischen Kommunikationsmedien zuschreiben, breiten sich erst in der zweiten Hälfte unserer Untersuchungsperiode stärker aus. Der steilste Anstieg der Gewaltkriminalität erfolgt jedoch in allen drei Ländern in der ersten Hälfte unserer Untersuchungsperiode, in der sich mit dem Ausbau des Wohlfahrtsstaates und der weiteren Reduktion von sozialer Ungleichheit zentrale Strukturkomponenten des kooperativen Individualismus günstig zu entwickeln scheinen. Die sich an dieser Stelle abzeichnende Diskrepanz zwischen unserem Erklärungsschema und dem empirischen Befund versuchen wir mit einer Hypothese zu bearbeiten, die sich auf die Unterscheidung von Wandlungs- und Struktureffekten stützt. Sie wird zwar ad hoc eingeführt und kann insofern nicht voll befriedigen, doch ist sie auch durch empirische Evidenzen gestützt. Wir beziehen uns dabei auf Durkheims Überlegungen zu einer (von uns so genannten) prozessualen Anomie: Rascher sozialer Wandel kann zu Regulierungsdefiziten, zu einem Verlust an normativer und kognitiver Orientierung führen und damit einen Anstieg der Kriminalität begünstigen – selbst dann, wenn der Wandel gesellschaftliche Strukturen hervorbringt, die, einmal etabliert, zu einem Rückgang der Kriminalität führen. Eine solche Konstellation lässt sich z. B. für die gesellschaftliche 406
Entwicklung in Deutschland Ende des 19. Jahrhunderts nachweisen: Die Gewaltkriminalität stieg in dieser Periode einer beschleunigten Industrialisierung und Urbanisierung stark an, sowohl in den Land- als auch in den Stadtkreisen. Es lässt sich jedoch zeigen, dass der in diesen Wandlungsprozessen sich vollziehende Abbau kollektivistischer zugunsten individualistischer Orientierungen und Strukturen längerfristig die Gewaltkriminalität hat sinken lassen (s. Thome 2002a). Der gesellschaftliche Wandel in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts dürfte kaum weniger tiefgreifend gewesen sein als der am Ende des 19. Jahrhunderts. Seine kriminogenen Effekte wurden durch die Stärkung kooperativer Strukturkomponenten (Ausbau des Wohlfahrtsstaats, Abbau sozialer Ungleichheit) nicht neutralisiert, und der Wandel führte, anders als im 19. Jahrhundert, längerfristig nicht zu einer Sozialstruktur mit geringerem, sondern zu einer mit höherem Potential für Gewaltkriminalität. In der eben erwähnten historischen Studie ließen sich Prozess- und Struktureffekte trennen, weil auf der Basis von mehreren hundert Untersuchungseinheiten (Kreisen) nicht nur Längsschnitt-, sondern auch Querschnittvergleiche in statistischen Modellen dargestellt werden konnten. Außerdem ließ sich die Intensität des Wandels innerhalb der verschiedenen regionalen Einheiten relativ einfach mit Hilfe des Bevölkerungswachstums (Urbanisierung als Prozess) abbilden, während das regional variierende Niveau an Individualisierung (und somit die strukturellen Effekte) u. a. durch den jeweils erreichten Grad an Urbanität (z. B. Stadt- vs. Landkreise) und anhand von Indikatoren zur Beschäftigungsstruktur sowie einiger anderer (Kontroll-)Variablen erfasst werden konnte. Ein solches Forschungsdesign lässt sich natürlich nicht mit nur drei "Fällen" (Ländern oder anderen regionalen Einheiten) realisieren. Außerdem müsste für die jetzige Untersuchungsperiode ein neues und komplexeres Messmodell entwickelt werden, mit dem sich die Intensität des sozialen Wandels in verschiedenen Ländern nach vereinheitlichten Kriterien quantitativ erfassen ließe. Ein solches Modell liegt unseres Wissens derzeit nicht vor. Im Prinzip gilt dies auch für die anderen Konstrukte unseres Erklärungsschemas. Nehmen wir als Beispiel das "Sozialkapital". Hierzu hat Pamela Paxton (1999) ein mehrdimensionales, verschiedene Indikatoren umfassendes und empirisch validiertes Messinstrument entwickelt, mit dessen Hilfe sie Putnams These über den Rückgang des Sozialkapitals in den USA überprüfen konnte. Es wäre wünschenswert, auch für unsere drei Vergleichsländer (und nach Möglichkeit darüber hinaus) Messinstrumente zu entwickeln, die die verschiedenen Dimensionen von Sozialkapital jeweils mit mehreren Indikatoren erfassen würden (sodass die Güte der Messung überprüft werden könnte). Dazu müssten neben den internationalen Survey-Programmen (wie den European bzw. World Values Surveys) die nationalen Bestände an Umfragedaten stärker durchforstet und herangezogen werden, als wir dies im Rahmen unseres Projektes tun konnten. Auch für andere Konzepte wie z. B. "Ökonomisierung der Gesellschaft" oder "Wettbewerbsverschärfung" sollte man weitere Datenquellen erschließen und mit verschiedenen Index-Konstruktionen und Messmodellen experimentieren. Es werden vermutlich gravierende Datenlücken bleiben, sodass formale Validitätsprüfungen für den postulierten Zusammenhang zwischen hypothetischen Konstrukten und ihnen zugeordneten empirischen Indikatoren nur in sehr begrenztem Umfang möglich sein dürften, vor allem wenn weiter zurückliegende Zeitabschnitte zu untersuchen sind. Ein weiterer Kritikpunkt könnte sein, dass wir möglicherweise zu einseitig die Schwächung des kooperativen Individualismus herausgearbeitet und gegenläufige Entwicklungstendenzen nicht oder nicht hinreichend beachtet haben. Man kann z. B. darauf verweisen, dass bestimmte gesellschaftliche Gruppen wie Homosexuelle und körperlich 407
oder geistig behinderte Menschen heute in viel geringerem Maße sozial ausgegrenzt oder diskriminiert werden als zu Beginn unserer Untersuchungsperiode. In der Tat wäre es sinnvoll, in Länder vergleichenden Studien auch in diesen Bereichen Indikatoren zu erheben und in ihrer zeitlichen Entwicklung darzustellen. Allerdings ist kaum damit zu rechnen, hierbei auf Sachverhalte und Tendenzen zu stoßen, die in ihrer Intensität und sozialen Reichweite ähnlich gewichtig wären wie bspw. die oben dokumentierten Prozesse (erneut) zunehmender sozialer Ungleichheit und fortschreitender Ökonomisierung der Gesellschaft. Trotz der nicht nur in diesem Resümee, sondern auch in den vorangegangenen Kapiteln immer wieder vermerkten Daten- und Forschungslücken möchten wir zum Schluss noch einige kommentierende Hinweise zu den Problemkonstellationen und Entscheidungsalternativen anbieten, mit denen die Politik gegenwärtig konfrontiert ist (soweit sie den hier bearbeiteten Themenbereich betreffen)450. Sie zielen vorwiegend auf die Situation in Deutschland. Zu den Rahmenbedingungen, die der Politik vorgegeben sind und auf die sie nur in stark begrenztem Maße einwirken kann, gehören globalisierte, weitgehend deregulierte Märkte sowie eine – vergleichsweise noch recht eingeschränkte – Internationalisierung der Politik, in der die Kontexte der Entscheidungsfindung einerseits und der Legitimitätsbeschaffung andererseits auseinander rücken. Wie oben dargelegt, befinden sich die Staaten in einem Standortwettbewerb, der an die Regierungen vor allem zwei Forderungen stellt, nämlich: die Unternehmens- und Kapitalertragssteuersätze zu senken und die Lohnspreizung zu erhöhen – insbesondere durch eine Absenkung der Brutto-Löhne im unteren Bereich (s. Kap. 6.2.3 und 6.5.1).451 Solange es nicht zu internationalen Absprachen kommt, die diesen Wettbewerb entschärfen – und das gelingt derzeit nicht einmal den Staaten der Europäischen Union – geht von ihm ein starker Druck aus, innerhalb der
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Es sei daran erinnert, dass die kausaltheoretische Beweisführung auch anderswo, insbesondere in den Wirtschaftswissenschaften, die das politische Beratungsgeschäft dominieren, recht lückenhaft ist und die verschiedenen Institute und Autoren zu durchaus widersprüchlichen Ergebnissen gelangen. Ein (weiteres) Absinken auch der Netto-Löhne würde die Bildung einer „Unterschicht“ weiter vorantreiben. (Gelegentlich wird diese – in der Tat problematische – Bezeichnung mehr skandalisiert als der Sachverhalt, der damit benannt wird; die Ablehnung des Wortes dient dann der Leugnung des Tatbestands.) Die Brutto-Löhne („Arbeitgeberbrutto“) könnten im Niedriglohnbereich gesenkt werden durch a) Reduktion der Lohnnebenkosten (Finanzierung des Sozialsystems weniger über lohnabhängige Beiträge als über das allgemeine Steueraufkommen), b) Lohnsubventionen (Kombilöhne, negative Einkommensteuer etc.). Sollen die Sozialleistungen nicht sinken, müsste in beiden Fällen das Steueraufkommen außerhalb der Unternehmens- und Kapitalbesteuerung angehoben werden. Wenn dies (unabhängig von Konjunkturen) nicht gelingt (etwa bei der Besteuerung der Arbeitseinkommen im oberen Bereich, des Grundvermögens und der Erbschaften) dürfte ein Anwachsen der Unterschicht kaum zu vermeiden sein. Eine Anhebung des durchschnittlichen Bildungsniveaus der unteren sozialen Schichten (immer wieder als Allheilmittel propagiert) wäre ohne enormen finanziellen Aufwand nicht machbar. Selbst wenn sie gelänge, würde zwar die Chancengleichheit verbessert, möglicherweise ließe sich auch der Anteil hochqualifizierter Arbeitsplätze anheben, dennoch würde der damit verbundene Verdrängungswettbewerb die Unterschichtbildung voranschreiten lassen.
einzelnen nationalen Gesellschaften die Ungleichheit zu erhöhen und Prozesse der sozialen Marginalisierung und Ausgrenzung zuzulassen.452 Einige der drängenden Probleme sind freilich nicht durch die Globalisierung hervorgerufen, und ihre Lösung wird auch nicht durch sie behindert oder entscheidend erschwert. Die antiquierte Form des Föderalismus z. B., der in Deutschland herrscht und viele Reformen blockiert oder verwässert, ist nicht der Globalisierung anzulasten. Die Globalisierung zwingt die Politik auch nicht, am Leitbild der Versorgerehe und am Ehegatten-Splitting festzuhalten sowie die äußerhäusliche Betreuung der Kinder (insbesondere der sozial benachteiligten) weiterhin zu vernachlässigen. Die Schwächen des deutschen Bildungssystems (wie niedrige Quote an Hochschulabsolventen, schichtspezifisch eingefahrene, frühzeitig einsetzende Vernachlässigung und frühzeitig vollzogene Aussortierung vermeintlich unbegabter Kinder) liegen so offen zutage, dass wir sie hier gar nicht erörtern wollen.453 Auch die Folgen des Geburtenrückgangs und einiger anderer demografischer Veränderungen sind wenigstens teilweise zunächst einmal im nationalstaatlichen Rahmen politisch zu bearbeiten. Wer z. B. die Altersversorgung (Renten und Pensionen) auf einem hohen Niveau sichern will, muss flexible Regelungen akzeptieren, die dafür sorgen, dass die durchschnittliche Zahl der Arbeitsjahre (im Unterschied zur Wochenarbeitszeit) erhöht wird; dem Prinzip "Vorsorge" sollte (auch um die "Nachsorge" zu entlasten) mehr Gewicht beigemessen werden (was eine Verschiebung von finanziellen Transfers zu mehr sozialen Dienstleistungen mit sich brächte). Ob der Kündigungsschutz in seiner jetzigen Form Arbeitsverhältnisse insgesamt weniger prekarisiert als dies bei einer differenzierten Einschränkung der Fall wäre, ist fraglich und wäre experimentell zu testen. Bei der Gewährung von Sozialleistungen sollte man jedoch sehr zurückhaltend mit individuellen Bedarfsprüfungen umgehen; deren Diskriminierungspotential mit all seinen kriminogenen Implikationen dürfte erheblich sein, die finanziellen Entlastungsfolgen wären eher minimal. Die gegenwärtigen Kampagnen, mit denen man Unterstützungsempfänger pauschal diskreditiert (um den völlig abwegigen Eindruck zu wecken, die Arbeitslosigkeit sei vor allem durch Arbeitsunwilligkeit verursacht), sind – unabhängig von ihrer moralischen Bewertung – kurzsichtig und langfristig durchaus nicht nur für die Betroffenen schädlich. Zur Schadensbegrenzung in Deutschland würde es auch gehören, die ökonomische Ungleichheit nicht in eine verstärkte sozialräumliche Segregation münden zu lassen. Dazu wäre es z. B. notwendig, den jüngst in Schwung gekommenen Verkauf kommunaler Wohnungen an private Investoren wieder einzuschränken.
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Die einzelnen Staaten (gelegentlich auch Staatenbündnisse) befinden sich in der Lage von Akteuren, die, indem sie sich rational am eigenen Interesse orientieren, Schritt für Schritt und unkoordiniert ein System etablieren, das für die meisten oder sogar für alle suboptimal ist. Eine einzelne nationale Gesellschaft könnte sich jedoch erheblich schädigen, wenn sie sich als einzelne so verhielte, wie sich alle verhalten müssten, um das für alle oder zumindest für die meisten beste Ergebnis zu erzielen. Allerdings gibt es noch einen Bildungsnotstand anderer Art: Offensichtlich sind viele Mitglieder der wirtschaftlichen und politischen Elite (darunter auch manche der wissenschaftlichen „Sachverständigen“, die prominent im Beratungsgeschäft engagiert sind) völlig ahnungslos gegenüber den Lebensverhältnissen derer, die unterhalb der Armutsgrenze leben und vielleicht als Empfänger von „Arbeitslosengeld II“ mit monatlich weniger als 250 Euro Zuschuss ein Kind nicht nur ernähren sollen.
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Ungleichheit wird von Ökonomen als Anreizsystem für größere Leistungsbereitschaft und höheres wirtschaftliches Wachstum angepriesen, wobei höheres Wachstum mit höherem Wohlstand gleichgesetzt wird. Es ist erstaunlich, wie viele Anhänger die Idee in dieser simplen Form immer noch findet, obwohl schon seit langem in den reichen Ländern (in den USA schon seit fast zwanzig Jahren) das Wachstum zunehmend disproportional vor allem denen zugute kommt, die es am wenigsten zu ihrer (materiellen) Wohlstandsmehrung benötigen, und nicht wenige Menschen auch im absoluten Sinne ärmer werden. (Wobei immer wieder darauf hinzuweisen ist, dass für soziale Exklusion oder Teilhabe wie auch für die Förderung von Gewalttätigkeit relative Armut nicht weniger relevant ist als sog. absolute Armut). In welche Richtung die Entwicklung zielt, wird von Norbert Walter, Chefökonom der Deutschen Bank, unverblümt formuliert: "Offene Märkte verändern relative Knappheiten und damit auch die Entlohnung der Produktionsfaktoren. Für Deutschland ist beispielsweise zu erwarten, dass Tätigkeiten, die nur eine geringe Qualifikation erfordern, künftig schlechter entlohnt werden ... Die Globalisierungsgewinne sind größer als die Globalisierungsverluste, sodass die Gewinner die Verlierer prinzipiell kompensieren können. Dass dies in der Realität nicht passiert, mag bedauerlich sein, es ist aber kein spezifisches Phänomen der Globalisierung" (Walter 2003: 1077). Immerhin hält Walter eine staatlich festgelegte Mindestsicherung für "die Grundrisiken wie Krankheit, Invalidität und Armut in einem engen Sinne" für nötig. Der "enge Sinn" freilich ist eine Leerformel, deren Sinn sich im nächsten Satz polemisch enthüllt: "Dagegen sind Maßnahmen zur ‚Rundumversorgung‘ des Einzelnen ineffizient und schädlich. Die sozialstaatlichen Aktivitäten haben daher eine hohe Durchschnitts-, aber nur eine geringe oder sogar negative Grenzproduktivität. Im Standortwettbewerb werden nur die Regelungen mit einer hohen Grenzproduktivität überleben" (ebd., S. 1081). Es ist zu fürchten, dass der Nobelpreisträger für Wirtschaft, Reinhard Selten, mit seinen öffentlichen Warnungen vor einem "ökonomischen Imperialismus" (siehe z. B. Süddeutsche Zeitung v. 27. 8. 2006, S. 19) bei der Mehrheit seiner Kollegen keine positive Resonanz finden wird. In den Diskussionen um Gerechtigkeitsfragen ist es Usus geworden, die Chancengleichheit gegen die Verteilungs- bzw. Bedarfsgerechtigkeit auszuspielen, indem man dem Konzept der Verteilungsgerechtigkeit irreführenderweise die Forderung nach Ergebnisgleichheit unterstellt und so tut, als sei die Chancengleichheit unabhängig von Verteilungsgerechtigkeit herzustellen. Bei der gegenwärtigen Beschleunigung technologischer Innovationen und weiterer Globalisierung der Märkte (zunehmend auch der Märkte für hoch- oder niedrig qualifizierte Arbeitskräfte) werden die Wertschöpfungsdifferentiale immer größer und damit eine politisch gesteuerte Umverteilung immer nötiger und gleichzeitig schwieriger. Die Polemik gegen Umverteilung ist wirklichkeitsfremd: Wer gesellschaftlichen Zusammenhalt und sozialen Frieden bewahren will, muss morgen nicht weniger, sondern mehr Umverteilung zulassen als heute.
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manager magazin 2006 Heft 2 New York Times 2005 18. April, 29. Mai, 22. August 2006 27. Februar Süddeutsche Zeitung 1984 15./16. Dezember 2001 22./23. Dezember 2003 18. August, 16. Oktober, 4. November, 26. November, 11. Dezember 2004 23. Januar, 9. Februar, 14./15. Februar, 20./21. März, 7. Juni, 3. September, 5. Oktober, 24. November, 25. November, 26. November 2005 10. Februar, 21. Februar, 2. März, 10. März, 11. März, 18. März, 9. Mai, 19. Mai, 1. Juli, 12. August, 13./14./15. August, 22. August, 19. September, 21. September, 30. September, 20. Oktober, 28. Oktober, 31. Oktober/ 1. November, 25. November, 5. Dezember, 7. Dezember, Nr.220 2006 20. Januar, 31. Januar, 6. Februar, 7. März, 19. Juni, 30. Juni, 25. August, 27. August, 6. September, 22. September, 29. September
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Index A Abhängigenquote 138 absolutes Dunkelfeld 7, 50, 51 absolute Lohnkosten 121 Affektkontrolle 46, 310 Agrarsektor 114 Aktionärsmacht 253 Alleinerziehende 10, 185, 238, 351, 372f., 377 Altersquotient 137f. Altruismus 34, 370 Ambiguitätstoleranz 46 Anerkennungsbeziehungen 182, 257f. Anerkennungsbilanzen 47 Anerkennungsverlust 35, 180, 302 anglikanische Kirche 200 Anomia 37 Anomie 7, 10, 20, 29f., 36f., 39, 47ff., 140, 166, 180, 328, 331, 334, 340f., 344, 352, 367, 370, 379, 395, 403f., 406 Antragsdelikte 56f. Anzeigebereitschaft 5ff., 57, 62f., 71f., 75ff., 87ff., 96, 179, 396, 406 Äquivalenzeinkommen 177, 326, 375 Äquivalenzskala 211f., 236, 240 Arbeitgeberbrutto 171, 326, 408 Arbeitgeberverband 198, 297, 314 Arbeitsintensität 18, 259, 264, 281f., 287f., 401 Arbeitskosten 8, 121, 252 Arbeitskraftunternehmern 259 Arbeitslosigkeit 8ff., 16, 69f., 99, 105ff., 121, 123, 179, 184f., 188, 190, 245, 248, 251, 256ff., 282, 285ff., 293, 297, 302, 304, 329f., 331, 400f., 405, 409 Arbeitsmärkte 9, 104, 119, 124, 257, 260, 262ff., 287, 294, 401 Arbeitsmarktpolitik 139, 251, 268, 286f., 299 Arbeitsmarktsegmentierung 262 Arbeitsrecht 261 Arbeitsschutzmaßnahmen 255 Arbeitsteilung 26, 29ff., 36, 155 Arbeitsverdichtung 259, 282, 337 Arbeitszeit 112f., 119, 261 Arbeitszeitvolumen 8, 112 Armut 9, 14, 27, 165ff., 170, 174, 177ff., 182, 234ff., 248, 256, 293, 307, 324f., 329ff., 342, 351, 398f., 406, 410
Armutslücke 329 Armutsquote 14, 17, 108, 181, 234ff., 247f., 329f., 351, 400 Armutsrisiko 165, 329f., 351, 375, 377 Armutsrisikoquote 325, 330 Atkinson-Maß 13, 213, 214, 215, 222 atypisches Beschäftigungsverhältnis 261 Aufklärungsquote 8, 13, 62f., 80, 86, 90, 93, 143ff., 159 Aufmerksamkeitsökonomie 42, 394, 402, 405 ausbildungsvorbereitende Maßnahme 333 Ausgangsstatistik 58 Ausländeranteile 99, 136 Außenbeitrag 134f.
B Babyboom 357 Basarökonomie 134 Bauernkriege 28 Bayerisches Strafgesetzbuch 27 Bedarfsgerechtigkeit 334ff., 352, 410 Bedürftigkeitsprüfung 174, 183, 186f., 244, 298, 300, 302, 335 Befristete Beschäftigung 273 Benchmarking 337 Beratungsfirmen 320, 351 Beschäftigungsquote 8, 12f., 109, 112ff., 118f., 170, 251, 253, 269 Beschäftigungssektoren 114 Beschäftigungssicherheit 258, 260, 262, 285 Beschäftigungsstabilität 262, 282ff., 401 Beschleunigung 7, 39f., 42, 134, 309, 410 Besitzindividualismus 340 Bielefelder Desintegrationsansatz 35, 44 Bildungsausgaben 13, 130, 221, 251 Bildungsexpansion 265, 332, 397 Bindungsquote 363 Binnennachfrage 252 BIP 13ff., 100ff., 122ff., 139, 170f., 174, 222ff., 243, 256f., 292, 295, 305, 309, 350, 359 Bretton-Woods 291 British Crime Survey 55, 151 Bruttoarbeitskosten 121 Brutto-Inländer-Produkt 100 Bruttonationaleinkommen 100 Bruttosozialprodukt 100, 292 449
Bürgerliches Gesetzbuch 28, 353 bürgerschaftliches Engagement 174
C Chancengleichheit 31, 36, 302, 335, 341f., 408, 410 chronische Anomie 37 closed shops 194 Confrontainment 386 Corporate Governance 252 Cross-level-Inferenzen 70
D Dekommodifizierung 34, 183, 186, 191f., 244f., 256, 258, 268 Delegitimierungsprozesse 25 Demokratiezufriedenheit 16, 149f. Deprivation 69, 166, 178ff., 310, 374f. Deregulierung 269, 288, 291, 295 Derivate 163, 292 Designeffekte 124 Devisenhandel 292, 298 Devisenkontrollen 291 Devisenmärkte 292 Dienstleistungssektor 115f., 122, 264, 270 differentielle Gültigkeit 66 Direktinvestitionen 135 Dominanzideologie 290, 344ff., 352 Duelle 27
E effektive Steuerquote 125f. Ehekrisen 369f. Ehre 27, 28, 35, 180 ehrenamtliches Engagement 201f., 205, 360 Ehrhändel 27 Ehrkonzepte 181 Ein-Eltern-Familien 353, 356, 372f., 375, 388 Eingangsstatistik 58 Ein-Kind-Familien 359 Einkommensmobilität 215f., 237ff., 247f., 400 Einkommensteuer 125f., 296, 408 Einkommensverteilung 9, 165, 177, 209, 211, 213, 216, 219, 227, 232, 242f., 247, 326, 351 EKS-Methode 12, 105f. Embryonenforschung 40, 313 Empathie-Fähigkeit 46 450
Entgrenzung 7, 10, 36f., 39, 42, 350, 379 Erbschaftssteuerstatistik 227f., 230 Erfolg 31, 62, 254, 294, 323, 327, 332, 335, 337f., 341ff., 351f., 385, 402f. Erfolgsprinzip 335ff., 352 Ergebnisgleichheit 342, 410 Ersatzquoten 189f., 245, 269 demografischer Übergang 357 Erwerbspersonen 109, 118, 132 Erwerbsquote 13, 104, 109, 118f., 136, 139, 141, 184, 360 Erwerbstätige 14, 18, 109, 112, 114f., 120f., 140, 184, 188, 198, 260f., 275ff., 280f., 284ff., 325, 330 Erziehungsziele 355 experimenteller Wohlfahrtsstaat 167 Exportquote 133
F Fairness 33f., 49, 207, 376 Fatalismus 30, 38 Fertilitätsrate 356f. Finanzmärkte 254, 291f., 294, 335, 349 Finanzmarkt-Kapitalismus 294, 402 Flexibilisierung 10, 40, 163, 263ff., 281, 288 Fortsetzungszusammenhang 60 Frauenerwerbsquote 8, 117f. Freiwilligensurvey 203 Fruchtbarkeitsziffer 136 Fundamentalismus 39 funktionale Differenzierung 26, 29, 36, 163 Fürsorglichkeit 165, 186
G Geburtenrate 13, 29, 68, 99, 135f., 139, 167 199, 353, 356ff., 361f., 376, 404 Gefangenenrate 156f. Gefängnisinsassen 108, 156, 317 Geld 163f., 167, 168, 183, 227, 229, 258, 267, 292, 302, 315, 320f., 323, 337, 342, 344, 346, 348, 360, 405 Gelegenheitsstrukturen 7, 25, 44, 69, 95, 99, 379 generalisiertes Vertrauen 176, 206 Generationensolidarität 173 Gerechtigkeit 31, 48, 162, 165, 207, 336, 340, 352 Gerechtigkeitsmotivation 334 Gerechtigkeitsprinzipien 24, 47, 334, 349, 352, 399 Geringqualifizierte 112
Gesamtabgabenbelastung 124 Gewalt 5, 10, 19, 23ff., 34, 36, 38, 46ff., 54f., 64, 68, 72, 75, 77, 82, 88, 95, 97, 153, 160f., 166, 168, 179ff., 259, 338, 343, 346, 353ff., 371, 374f., 379, 381, 386, 389ff., 403ff. Gewaltangebot 10, 381, 386, 388, 389, 394 Gewaltmonopol 8, 24f., 27f., 44, 48f., 63, 142f., 150, 155, 159ff., 166, 318, 397, 405f. Gewalttabu 25 Gewerkschaften 9, 164, 193f., 196f., 201f., 205, 245, 251f., 266, 269, 271, 286f., 297, 399f. Gini-Index 14, 178f., 209, 212, 215, 222f., 231, 233f., 324 Gleichheitsprinzip 296, 335 Globalisierung 25, 38f., 104, 126, 133, 163, 172, 255f., 289, 291, 294, 297, 304, 324f., 340, 343, 349, 409f. Grundsicherungsmodell 187
H Handlungskompetenz 7, 25, 39, 45ff., 227, 258, 294, 307, 317, 350, 378, 401f., 404f. happy slapping 379, 395 Hauptschule 130, 332 Hierarchie 26f., 35, 303, 343 Hilfe zum Lebensunterhalt 329f. Hodrick-Prescott-Filter 78, 81, 86, 90, 92, 94f., 144 Homizid 76, 79 Homizidrate 70, 176, 179, 181, 257 Humankapital 131, 228, 265, 268, 314, 335 Humanvermögen 164, 360 hybride Koordination 253 Hybridisierungsthese 254f.
I Identität 27, 42, 267, 317 Ideologien 19, 35, 181 Importquote 133f. Individualisierung 23, 26, 29f., 97, 98, 368, 407 Individualismus 7, 9, 20, 26, 29ff., 44ff., 67, 95, 103, 162f., 165, 168, 182, 186, 192, 203, 206, 217, 244f., 249, 268, 290, 302, 319, 324, 342, 345ff., 353, 355ff., 360, 362, 370f., 376f., 396, 399ff. individuelles Gut 32 Industriegesellschaft 115, 167 informelle Regelungen 44, 53, 57
Infotainment 386 Inhaltsvalidität 64, 66 Inklusion 24, 164, 166, 257 Input-Legitimität 161 Insolvenz 15, 304ff., 319, 350, 402 Insolvenzrecht 306 Institutionenvertrauen 149, 176, 208, 245 Instrumentalismus 32, 47, 206 instrumentalistisches Denken 35, 40, 43, 95 Integration 29ff., 42, 44, 47, 164ff., 168, 257, 288, 328, 368 International Crime Victims Survey 55 Internationalisierung 25, 49, 160, 323, 402, 408 Internet 10, 22, 41f., 121, 127, 136, 292f., 310f., 316, 335, 378f., 381, 387, 390f., 393ff., 402, 404f. Internetsucht 393 Investment-Fonds 292, 294 Inzidenz 8, 53, 64, 67, 72, 78, 84, 89, 91, 94, 396
J Jugendquotient 138
K Kapitalbildung 8, 129, 131 Kapitalmärkte 254ff., 291, 295, 324 Kaufkraftparitäten 100ff., 106 Kirchen 9, 24, 193f., 198ff., 205, 245, 313, 350, 383, 399, 402 kirchliche Trauungen 199 Kointegrationsmodelle 69, 169 Kollektivbewusstsein 28 Kollektivismus 7, 26, 28f., 34, 36, 39, 45, 48f., 96, 256f., 356 Kolonialisierung 168, 290, 350 Kommerzialisierung 47, 290, 321, 351, 382, 385, 393 Kommunale Präventionsprogramme 156 kommunitäre Kontrollordnungen 152 Kommunitarismus 31 Konkurrenz 34, 97, 193, 258f., 263, 285, 294, 303, 309, 310, 321, 337f., 341, 344, 352, 402 Konkurrenzdenken 310, 346 Konkurrenzgesellschaft 341 Konkurrenzkampf 322, 403 Konservative Wohlfahrtsstaaten 185 Konstruktvalidität 44, 65, 67f., 73, 150, 191, 344f., 347
451
Kontexteffekt 71 Kontrollstrategien 57, 88, 152 Kooperationsmoral 32, 37 körperliche Strafen 354 Körperverletzungsdelikte 8, 12, 27, 51, 72, 76f., 84ff., 95, 169, 260 Korporatismus 9, 163, 186, 248ff., 255ff., 297, 400 Korporativismus 248 Kriminalitätsfurcht 8, 143, 150ff., 159f., 209, 397 Kriteriumsvalidität 67 kulturelles Kapital 178 Kundenprofile 42 Kündigungsschutz 17f., 261, 266, 269f., 274, 278, 286ff., 401, 409
Meso-Ebene 43 Mikroebene 7, 43 Moderator-Variablen 377, 381 moderner Sektor 116 Modernisierung 26, 142, 164
L
O
Landesmedienanstalten 312, 383 Landesrundfunkanstalten 382 Lange Wellen 104 Langzeitarbeitslose 12, 109f., 139, 330 Lebensformwechsel 363 Lebenswelt 140, 167, 168, 290, 312, 350 legal cynicism 44 Legalitätsprinzip 56 Legitimität 25, 48f., 142f., 150, 159, 160f., 323, 336, 397f. Legitimitätsglaube 142f., 145 Legitimitätskrise 161 Leichenschau 51 Leiharbeit 14, 18, 262, 270, 278f., 401 Leistungsgerechtigkeit 328, 334 Leistungsprinzip 336 Liberale Wohlfahrtsstaaten 184 Lobbyverbänden 320 Lohnersatzleistungen 266ff., 270, 359, 401 Lohnkoordination 251f. Lohnspreizung 264, 266, 269f., 286ff., 325, 401, 408 Lohnstückkosten 121f., 252, 254
öffentliche Güter 32, 34, 186 öffentlicher Sektor 8, 116 Öffentlich-Private Partnerschaften 318 Offizialdelikt 61 Offizialklagedelikte 57 ökologischer Fehlschluss 70 Ökonomisierung 10, 20, 22, 34, 49, 302f., 308, 312f., 318f., 338, 350, 352, 394, 398, 402f., 407f. Opferbefragungen 7, 51, 53ff., 63ff., 72 Opferbereitschaft 33f. Opferstatistik 88 Opportunitätsprinzip 56, 143 organisierte Kriminalität 25 Output-Legitimität 161
M Machiavellismus 346f. Macht 30, 46, 103, 164, 167f., 341, 344, 347, 389 Makroebene 7, 43 Marketing 10, 304, 308, 313ff., 350, 383, 385ff., 390, 402 Marktliberalismus 9, 103, 158, 163, 248 Mediengewalt 380, 388
452
N National Crime Survey 73 negative Einkommenssteuer 171 Neokorporatismus-Index 14, 250 Netto-Sozialleistungsquote 225 Neutralisierungstechnik 344 Nicht-eheliche Lebensgemeinschaft 10, 363 Normalarbeitsverhältnis 258, 260f., 263ff., 282
P Partei 9, 147, 193, 195ff., 201f., 204f., 245, 256, 313, 341, 350, 383f., 399 Pay-TV 382 Penn World Tables 100ff. Personenvertrauen 175f. PISA-Studien 139, 333, 342 Politbarometer 146 polizeiliche Kriminalstatistiken 22, 50, 56, 74 Positionsgüter 322, 342 Präimplantationsdiagnostik 40 Prävalenz 67, 238 Prävention 142, 152 prekäre Beschäftigung 9, 257ff., 263, 265, 288 Presbyterianer 200
Preußisches Landrecht 28 privates Sicherheitsgewerbe 13, 143, 152f., 156 Privatisierung 25, 159, 298f., 301, 304, 318ff., 350, 393 Privatklagedelikte 56f. Privatrechtsgesellschaft 340 procedural justice 187, 207 Produktivität 105ff., 115, 121, 131, 264, 268f., 342 Punitivität 152f., 156, 158, 352, 397
R Rachehandlungen 27 Rational-Choice-Ansatz 34 Rationalisierung 23 Raubdelikte 8, 12, 73, 76, 89f., 94ff., 260 reale Nettolöhne 122 Realinjurien 28 Rechtsextremismus 39, 161, 310, 338 Reformation 28 Rehabilitation 152, 158, 166 Rekommodifizierung 32, 34, 193, 259 relative Deprivation 181 relatives Dunkelfeld 7, 50f. Reliabilität 7, 50, 75, 228, 285 Resozialisierung 152f., 318 Reziprozitätsnormen 41 Reziprozitätsprinzip 167 Reziprozitätsregeln 336 Routine-Activity-Approach 44 Rundfunkräte 383
S Scheidungskinder 368 Scheidungsrate 10, 15, 68, 365ff., 376 Scheinselbstständige 120 Schichtarbeit 14, 281, 287, 401 Schulabgänger 332 Schuldenkompass 307 Sehdauer (TV) 386f. sekundärer Sektor 13, 114ff., 140 Selbständige ohne Beschäftigte 14, 121, 279f., 401 Selbsthilfegruppen 168, 174, 193f., 205 Selbstjustiz 27, 151 Selbstkontrolle 7, 24f., 35, 41f., 45f., 48f., 163, 350, 352, 383, 386, 404f. Selbstmord 35f., 38, 59, 341 Selbstständigenquote 8, 13, 120 Selbststeuerung 45ff., 165, 168, 227
self-esteem 181 Sicherheitsordnung 25, 152 SINUS-Milieustudien 347 social efficacy 44 Solidarität 29, 32ff, 39, 49, 165, 168, 172, 182, 186, 204, 244, 303, 356, 376 Sozialausgaben 9, 14, 128, 130, 170f., 174f., 188, 222ff., 242ff., 256f. Sozialbeiträge 128f., 171 sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten 185, 256 soziale Desorganisation 40, 44, 67f., 166, 175, 367f. soziale Diskriminierung 160, 340 soziale Exklusion 10, 110f., 307, 328ff., 333, 351, 395, 410 soziale Marginalisierung 328, 403, 409 soziale Ausgrenzung 334, 404 soziale Differenzierung 26, 30, 38 Sozialhilfe 16, 171ff., 182, 184ff., 188, 190f., 238f., 245, 298, 300f., 326, 329f., 400 Sozialhilfeempfänger 63, 173, 179, 299, 301, 326, 330, 406 Sozialisation 45, 47 Sozialkapital 9, 20, 44, 53, 164, 166ff., 170, 172, 174f., 177, 181f., 186, 193, 197, 200, 202, 205f., 208, 244ff., 249, 258, 297, 360, 377, 398ff., 407 Sozialleistungsquote 123, 223, 225 sozial-räumliche Segregation 331 Sozialversicherung 110, 182, 185, 229, 297, 302, 340 sozialversicherungsfrei Beschäftigte 277 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte 114, 185 Sozialversicherungsprinzip 222 Spitzensteuersatz 125f. Staat 25, 30ff., 39, 103, 123, 142, 156, 161ff., 168, 172, 176, 204, 244, 249, 270, 286, 291, 296, 299, 303, 314, 318, 333, 344, 349 Staatsquote 123, 129f., 171 Stammesgesellschaft 27 Stände 27 Steuerpolitik 295, 327 Strafbedürfnis 9, 150, 152, 158, 398 Strafgesetzgebung 27, 39, 158, 406 Strafrecht 27 Strategisches Registrierverhalten 62 strenge Armut 177 Stress 41, 98, 259, 282 Subkultur 96, 181, 343, 344
453
Subsidiaritätsprinzips 165 synthetische Indizes 209
T Tarifspiegel 325 Tateinheits-Regel 60 Täterbefragungen 7, 66f., 73 Täter-Opfer-Beziehung 52 Tatverdächtigenstatistik 59, 87, 93 Tatverdächtigenzählung 59, 79, 81, 86, 90, 92 Taufe 200 Teilzeitarbeit 119, 265, 271, 275ff., 286f. Teilzeitbeschäftigung 14, 114, 275ff., 279 Terrorismus 160 tertiärer Sektor 13, 114ff.., 287, 401 Tötungsdelikte 7, 12, 23, 29, 51, 57f., 61, 72, 76ff., 84, 95 Trittbrettfahren 33, 173
U Übergangssystem 333f. Umverteilung 20, 187, 220, 225, 227, 242, 410 Umverteilungseffizienz 14, 222ff., 227 Umverteilungsparadoxon 222, 227 Ungleichheit 9, 10, 17, 19, 22, 28, 35, 44, 96, 100, 153, 166, 170, 177ff., 187, 211ff., 230ff., 244ff., 290, 294, 296, 309f., 321, 324f., 328, 334, 337, 342f., 346, 350ff., 398f., 403, 406, 408ff. Ungleichheitsaversions-Parameter 213 Ungleichwertigkeit 19, 35, 39, 181, 339, 352, 403 Unit Labor Cost 13, 122f. universalistische Moral 46 Unternehmenskontrolle 253 Unternehmenssteuern 126f., 295f., 349, 402 Unterschicht 187, 340, 395, 408 Unterschichten-Fernsehen 395 Utilitarismus 31
V Validität 7, 50, 64, 67, 73f., 285 Verallgemeinerungsprinzip 33f., 41 Verein 43f., 168, 202, 296 Vergewaltigungsdelikte 8, 12, 91f., 96, 396
454
Vermögensstatistiken 228 Vermögensverteilung 17, 227ff., 247, 324 Verprivatrechtlichung 304, 350, 403 versicherungsfremde Leistungen 128 verständigungsorientiertes Handeln 32, 303 Verteilungskoalitionen 123 Verteilungsuniversum 335 Vertrauen 8f., 16, 70, 72, 96, 142f., 145ff., 159, 164, 173ff., 180, 187, 206ff., 218, 245f., 249, 265, 303, 314, 316, 397ff. Video 10, 97, 155, 379f., 387, 390ff., 394, 405 Videoüberwachung 155 Viktimisierungsbefragungen 54, 64 Volksschule 130, 332
W Wahlbeteiligung 9, 194f., 197, 399 Wanderungsbewegungen 136, 138 Werbestrategien 313, 321, 350 Werbung 10, 304, 308ff., 317, 321, 350, 382, 384, 394, 402 Wertschöpfungsquote(-anteile) 115, 134 Wettbewerb 10, 99, 159, 170, 249, 291, 295f., 301, 303f., 309f., 313, 321f., 337, 339, 341, 349ff., 401f., 408 Wettbewerbsprinzip 165, 309 Wettbewerbsverschärfung 49, 318, 350, 407 white-collar crime 343f. Wiedervereinigung 104, 108, 112, 122, 124, 128f., 139, 147, 149, 172, 195, 198, 216, 300, 358, 366 Wir-Identität 27, 161 Wohlfahrtsregime 182, 184, 222, 243f. Wohlfahrtsstaat 31, 99, 158f., 164ff., 172ff., 193, 204, 245
Z Zeitverwendung 41 Zivilgesellschaft 142, 156 Zivilisation 26, 29 Zivilisationstheorie 7, 23, 24, 48 Züchtigungsrecht 28, 353 zwischenbetriebliche Mobilität 265
Abkürzungsverzeichnis
AGF
Arbeitsgemeinschaft Fernsehforschung
ALLBUS
Allgemeine Bevölkerungsumfrage Sozialwissenschaften
ARD
Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Deutschland
AWA
Allensbacher Markt- und Werbeträgeranalyse
BBC
British Broadcasting Corporation
BCS
British Crime Survey
BDWS
Bundesverband Deutscher Wach- und Sicherheitsunternehmen
BHPS
British Household Panel Study
BIP
Bruttoinlandsprodukt
BITKOM
Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und Medien e.V.
BKA
Bundeskriminalamt
BNE
Bruttonationaleinkommen
BRÅ
Brottsförebyggande rådet (Nationaler Rat für Kriminalitätsprävention in Schweden)
BSIA
British Security Industry Association
BSP
Bruttosozialprodukt
BWS
Bruttowertschöpfung
CAOI
Overall Capital Account Openness Index
CCTV
Closed Circuit Television (System von Überwachungskameras)
CEPAL
Comision Economica para America Latina
CLP
Cross-Border-Leasing
CNEF
Cross-National Equivalent File
DIW
Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (Berlin)
DJI
Deutsches Jugendinstitut (München)
ECHP
European Community Household Panel = Europäisches Haushaltspanel
ECLAC
Economic Commission for Latin America and the Caribbean (s. auch CEPAL)
EKD
Evangelische Kirche in Deutschland
EUSI
European System of Social Indicators
EVS
Einkommens- und Verbrauchsstichprobe
EVS/WVS
European bzw. World Values Surveys
FAO
Food and Agriculture Organization
FES
Family Expenditure Survey
455
FRS
Family Resources Survey
FSF
Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen
FuE
Forschung und Entwicklung
GB
Großbritannien
GDP
Gross Domestic Product
GEZ
Gebühreneinzugzentrale
GfK
Gesellschaft für Konsumforschung
HSI
Hierarchisches Selbstinteresse
HUS
Household Market and Nonmarket Activities Survey (Schweden)
IAB
Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
IBA
Independent Broadcasting Authority
ICVS
International Crime Victims Survey
IDS
Inkömstfördelningsundersökningen (Einkommensverteilungsuntersuchung, Schweden)
IF
Investment-Fonds
IHK
Industrie- und Handelskammer
ILO
International Labour Organization
IMF
International Monetary Fund
ISSP
International Social Survey Programme
ITC
Independent Television Commission
ITV
Independent Television
IW
Institut der deutschen Wirtschaft Köln
JIM
Jugend, Information, Media
KEF
Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten
KFN
Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen
KKP
Kaufkraftparitäten (s. auch PPP)
KPMD-S
Kriminalpolizeilicher Meldedienst in Sachen Staatsschutz
LIS
Luxembourg Income Study
MPFS
Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest
NEL
nicht-eheliche Lebensgemeinschaft
NWDR
Nordwestdeutscher Rundfunk
OECD
Organization for Ecomomic Cooperation and Development
ONS
Office for National Stististics
ÖPP
Öffentlich-Private Partnerschaften
PKS
Polizeiliche Kriminalstatistik
456
PKS-S
Polizeiliche Krimimalstatistik Staatsschutz
PPP
Purchasing Power Parities (Kaufkraftparitäten, s. auch KKP)
REC
Recruitment & Employment Confederation
RTL
Radio Television Luxembourg
SAF
Svenska Arbetsgivareföreningen (Schwedischer Arbeitgeberverband)
SAP
Sozialdemokratische Partei (Schwedens)
SAT1
Satelliten Fernsehen
SCB
Statistiska centralbyrån (Statistisches Amt Schweden)
SCHUFA
Schutzgemeinschaft für allgemeine Kreditsicherung
SERPS
State Earnings-Related Pension Scheme
SHARE
Survey of Health, Aging and Retirement
SOEP
Sozio-ökonomisches Panel
SPUR
Svenska Personaluthyrnings- och Rekryterignsförbundet (Schwedischer PersonalverleihBranchenverband der schwedischen Leiharbeitsfirmen)
SVT1/SVT2
Sveriges Television
SW
Schweden
SWESEC
Svenska säkerhetsföretag (schwedische Sicherheitsunternehmen)
TVBZ
Tatverdächtigenbelastungszahl
UK
Veinigtes Königreich
UNESCO
United Nations Educational, Scienfitic and Cultural Organization
WHO
World Health Organization
WTO
World Trade Organization
ZAW
Zentralverband der Deutschen Werbewirtschaft
ZDF
Zweites Deutsches Fernsehen
ZEW
Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (Mannheim)
ZUMA
Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen (Mannheim)
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