Frank Thieme Alter(n) in der alternden Gesellschaft
Frank Thieme
Alter(n) in der alternden Gesellschaft Eine soziolo...
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Frank Thieme Alter(n) in der alternden Gesellschaft
Frank Thieme
Alter(n) in der alternden Gesellschaft Eine soziologische Einführung in die Wissenschaft vom Alter(n)
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Frank Engelhardt Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-14563-1
Vorwort
Spät, aber mit Nachdruck, sind Politik, Massenmedien und Öffentlichkeit auf ein Thema gestoßen, dass schon bald ein Problem für moderne Zivilisationen sein dürfte, das Altern der Gesellschaft. Seit Jahrzehnten erleben wir einen Zuwachs an Lebensjahren und zugleich einen Rückgang der Geburten. Während das erste grundsätzlich begrüßt wird – wer wollte sich nicht freuen über ein längeres Leben(?) – nahm man das „Geburtendefizit“ – vor allem in Deutschland – eher schulterzuckend hin. Kinder zu bekommen gilt heute als Privatsache. Wer wollte sich da einmischen? Die Bevölkerungsforschung hat seit langem auf die aus dieser Lage hervorgehenden Probleme hingewiesen, und inzwischen ist die wachsende Lücke bei der Finanzierung der Renten in aller Munde. Bei diesem Problem wird es nicht bleiben. Schon bald werden Arbeitskräfte fehlen, werden die Koste für Alte „explodieren“, werden Orte und Regionen sich entvölkert haben. Das Altern der Gesellschaft ist die Folge individuellen Handels und Erlebens unter gesellschaftlichen Bedingungen. Zwar wird die „Nachwuchsfrage“ persönlich entschieden, und der Zugewinn an Lebensjahren wird persönlich erlebt – manchmal auch erlitten. Hier wie dort aber sind es gesellschaftliche Rahmenbedingungen, unter denen Entscheiden, Handeln und Erleben stattfinden. Und umgekehrt ist es individuelles Handeln, welches Gesellschaft verändert. Langes Leben und Geburtendefizit (es sterben mehr Menschen als geboren werden) führen zum gesellschaftlichen Altern. Mit dem rasch wachsenden Anteil alter Menschen in der Gesellschaft begann schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Wissenschaft sich für die unterschiedlichen Facetten des menschlichen Lebensalters und des Prozesses vom Altern zu interessieren. Da individuelles und gesellschaftliches Altern höchst komplexe Vorgänge sind, die obendrein zusammenhängen, ist es nie eine Wissenschaftsdisziplin allein, die Alter und Altern erforscht. Stattdessen war und ist Alternsforschung ein interdisziplinäres Forschungsgebiet. Das in den letzten Jahren immens gewachsene Interesse der Politik an den Resultaten der Bevölkerungsforschung, hat vor allem seit den 1990er Jahren zahlreiche wissenschaftliche Studien und Buchveröffentlichungen entstehen lassen. Eine zusammenfassende Darstellung, auf dem aktuellen Stand der Forschung, die ohne größere fachliche Vorkenntnisse verständlich ist, scheint mir gegenwärtig zu fehlen. Diese Lücke soll mit dem vorliegenden Buch gefüllt werden. Es
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Vorwort
richtet sich an die interessierte Öffentlichkeit, ebenso an Schüler der Oberstufe von Gymnasien und Gesamtschulen sowie an Studierende in frühen Semestern an Fachhochschulen und Universitäten. Es ist aus dem Blickwinkel des Soziologen geschrieben (wofür ich in der Einleitung eine ganz unpersönliche Begründung liefern werde), setzt aber entsprechende theoretische Fachkenntnisse nicht voraus. Alle einschlägigen Begriffe, die zum Verständnis der dargestellten Phänomene notwendig sind, werden deshalb in allgemein verständlicher Weise erklärt. Ein umfangreicher Anmerkungsapparat soll nicht Wissenschaftlichkeit vortäuschen oder das zügige Lesen behindern, sondern dient – sofern gewollt – der vertiefenden Einsichtnahme in Problemzusammenhänge. (Oder kann andernfalls einfach „übersehen“ werden.) Die kapitelweise aufgelistete Literatur enthält u. a. Empfehlungen von Büchern für Interessierte zum „Weiterlesen“. Wie immer, wenn ein größeres Projekt beendet wird, ist Grund Dank zu sagen. Dieser gilt dem Verlag, vor allem für die nicht enden wollende Geduld bis zur immer wieder verschobenen Fertigstellung des Manuskripts. Dank sage ich meinem Kollegen Dr. Klaus Schaper von der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum, dessen Sachkunde und Bereitschaft ich gewinnen konnte für das Verfassen des Kapitels über soziale Sicherung im Alter. Für Literaturhinweise danke ich Frau Prof. Dr. Ilse Lenz und meinen Kolleginnen Nicole Bartocha und Silke Bode, beide Diplom Sozialwissenschaftlerinnen. Für technische Arbeiten am Manuskript sowie unermüdliche Hilfen bei den allfälligen Korrekturarbeiten danke ich Maxim Ilassow, Ismail Köylüoglu und meinen Töchtern Christiane und Sybille. Während der Arbeit an diesem Buch war aus einschlägigen Gründen der persönliche Kontakt mit alten Menschen lehrreich. Nicht zuletzt danke ich meiner Mutter, die inzwischen ihr 90. Lebensjahr vollenden konnte und mit strenger Disziplin ein lebendiges Beispiel für selbstverantwortliches Leben im Alter liefert.
Bochum und Dortmund, im September 2007 Frank Thieme
Inhalt Inhalt
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Einleitung
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Wege zur Alter(n)sforschung 2.1 Einleitung 2.2 Die „Entdeckung“ des Alters 2.2.1 Was ist überhaupt Alter? Zur Unbestimmtheit des Altersbegriffs 2.2.2 Altern und die Lebensphase Alter: Versuch einer wissenschaftlichen Begriffsbestimmung 2.2.3 Jugendbewegung und Jugendmythos: Überraschende Impulse für die Alter(n)sforschung 2.2.4 Verjüngungstechniken im „Klima“ wissenschaftlichen Fortschritts und der Wissenschaftsgläubigkeit 2.2.5 Die „neue Universität“ im 19. und 20. Jh.: Nützliches Wissen für die moderne (Wissens-) Gesellschaft 2.2.6 Sozialer Wandel im 19. Jahrhundert: Soziale Frage und Altersfrage 2.2.7 Gesundheits- und Altersvorsorge: Anfänge des Sozialstaates im späten 19. Jahrhundert 2.3 Geschichte der Erforschung des Alters 2.3.1 Das Vorspiel: Aspekte des Alters in Religion, Philosophie und Literatur 2.3.2 Wissenschaft vom Alter und vom Altern: Die Frühphase (16. - 19. Jahrhundert) 2.3.3 Die erste Phase systematischer Alternsforschung (1909-1930) 2.3.4 Die Expansionsphase (1930 bis zur Gegenwart) 2.3.5 Die aktuelle Entwicklung: Ausbau der Alter(n)sforschung
27 27 28 28 33 38 43 44 46 47 48 48 51 54 57 59
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Inhalt
Demographischer Wandel und alternde Gesellschaft 3.1 Einleitung 3.2 Alternde Gesellschaften – die Welt verändert sich 3.3 Leben und Tod im Einflussbereich des Menschen 3.4 „Altern“ der Gesellschaft in der Folge gesellschaftlicher Modernisierung 3.4.1 Wandel der Bevölkerungsweise 3.4.2 Demographischer Wandel als Teil des sozialen Wandels 3.4.3 Aus der Geschichte der Bevölkerungsentwicklung 3.5 Gesellschaftliche Folgen der Bevölkerungsentwicklung – Gestaltungsräume der Politik? Die soziale Sicherung alter Menschen in Deutschland (Klaus Schaper) 4.1 Einleitung 4.2 Entwicklung der sozialen Sicherung in Deutschland 4.2.1 Die Bismarckschen Sozialreformen 4.2.2 Das soziale Sicherungssystem in der weiteren Entwicklung 4.3 Strukturprinzipien der sozialen Sicherung heute 4.3.1 Das Subsidiaritätsprinzip 4.3.2 Das Sozialversicherungsprinzip 4.3.3 Das Fürsorgeprinzip in der Grundsicherung 4.4 Grundprobleme im Sozialen Sicherungssystem 4.4.1 Der halbierte Generationenvertrag 4.4.2 Umlagefinanzierung oder Kapitaldeckung 4.5 Soziale Sicherung der Einkommen im Alter – die Gesetzliche Rentenversicherung (GRV) 4.5.1 Aufbau, Ziele und Leitprinzipien der GRV 4.5.2 Rentenhöhe nach Vorleistung – die Rentenformel 4.5.3 Steigende Renten oder niedrige Beiträge 4.5.4 Umlagefinanzierung und Teilhabeäquivalenz 4.5.5 Vermeidung von Armut im Alter 4.5.6 Bevölkerungsentwicklung, Rentenlast und Lebensstandard im Alter 4.5.7 Reformen zur Sicherung der Nachhaltigkeit der Rentenversicherung
65 65 66 70 76 76 79 83 104
115 115 116 116 117 119 119 121 122 123 123 124 126 126 127 130 131 132 133 136
Inhalt
4.6 Die soziale Grundsicherung gegen Armut im Alter 4.7 Soziale Sicherung bei Krankheit im Alter 4.7.1 Die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) 4.7.2 Problemfelder und Perspektiven 4.8 Die soziale Sicherung bei Pflegebedürftigkeit im Alter 4.8.1 Die gesetzliche Pflegeversicherung (GPV) 4.8.2 Problemfelder und Perspektiven 4.9 Wie sicher ist die „soziale Sicherung“ alter Menschen in der Zukunft? 5
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Fitsein im Alter? Leistungsfähigkeit, Gesundheit und Persönlichkeit, Krankheit und Pflegebedürftigkeit von Senioren 5.1 Einleitung 5.2 „Jugend“ im Alter 5.3 „Ausnahmealte“ als Vorbilder 5.4 Individualisierung des Alters 5.5 Späte Lebensfreude oder Alterspessimismus? 5.6 Gesundheitssysteme und soziale Sicherung 5.7 „Alltagstechniken“ als Lebenshilfe 5.8 Aktivität gegen Altersabbau? 5.9 Reduktion und zugleich Nivellierung des Leistungsvermögens? 5.10 Stabilität der Persönlichkeit 5.11 Krankheiten im Alter 5.12 Pflegebedürftigkeit Warum wir altern – Antworten der Naturwissenschaften 6.1 Einleitung 6.2 Erwartungen an Forschung – Gefahren durch Forschung? 6.3 Altern: logisches und „kosmisches Prinzip“ des Lebens 6.4 Ursachen des Alterns 6.4.1 Altern: Programm oder Zufall? 6.4.2 Funktionsverluste durch Zell- und Gewebeveränderungen 6.4.3 Schrittmacherorgane 6.5 Ausblick
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139 141 141 144 148 148 152 156
159 159 161 163 163 165 168 169 172 179 181 183 202 207 207 208 210 214 217 220 224 225
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Inhalt
So leben die Alten 7.1 Einleitung 7.2 Vier unterschiedliche Voraussetzungen für das „gute Leben im Alter“ 7.3 Differenzierung und Strukturwandel des Alters 7.4 Alte als „Wirtschaftsfaktor“ 7.5 Lebenslagen im Alter 7.5.1 Einkommens- und Vermögenssituation 7.5.2 Höhere Renten für ostdeutsche Frauen 7.5.3 Altersarmut 7.5.4 Einkommensverwendung und Konsum 7.6 Wo die Alten leben 7.7 Alte und Familie 7.7.1 Anhaltende Bedeutung der Familie 7.7.2 Zusammenhalt zwischen und in den Generationen 7.8 „Alten-Heimat“ Kirche? 7.9 Zeitgestaltung im Alter 7.10 Zeitgestaltung in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Bedingungen 7.11 Bürgerschaftliches Engagement, Ehrenamt und politische Partizipation 7.12 Erwerbsarbeit im Alter 7.13 Alter und Persönlichkeit
289 290 299
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Fazit und Ausblick
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Literaturverzeichnis
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227 227 229 233 235 237 239 248 248 252 254 260 260 267 272 274 282
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3:
Netz der Alternswissenschaften und Praxisbezüge Lebenserwartung in Deutschland 1871 bis 2004 Modell des Demographischen Übergangs in den Industrieländern Abbildung 4: Von der Pyramide zum Pilz. Der Altersaufbau der Wohnbevölkerung im Deutschen Reich und in der Bundesrepublik Deutschland (altes Bundesgebiet) 1910 bis 2050 Abbildung 5: Altersaufbau des ausländischen Bevölkerung 2000 und 2050 Abbildung 6: Erwerbspersonen nach Altersgruppen von 1950 bis 2040 in Prozent Abbildung 7: Altersspezifischer Anteil der Bevölkerung im früheren Bundesgebiet, der in den letzten vier Wochen krank war Abbildung 8: Gesundheitsstatus und sozioökonomische Lage Abbildung 9: Fahrleistungsbezogenes Risiko der Unfallbeteiligung, Unfalltyp: PKW gegen PKW, von 1000 Personen bei 1 Million Fahrkilometer Abbildung 10: 1997 in Deutschland getötete Verkehrsteilnehmer nach Altersgruppen Abbildung 11: Arzneimittelverbrauchsprofil 1992
64 86 92
99 103 105 184 196
199 200 202
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Tabelle 2:
Tabelle 3: Tabelle 4: Tabelle 5:
Tabelle 6: Tabelle 7: Tabelle 8: Tabelle 9: Tabelle 10: Tabelle 11: Tabelle 12: Tabelle 13: Tabelle 14: Tabelle 15: Tabelle 16: Tabelle 17: Tabelle 18: Tabelle 19:
Entwicklung des Anteils junger und alter Menschen in Deutschland von 1950 bis 2050 in Prozent Sterblichkeit in ausgewählten europäischen Ländern zwischen 1851 und 1910 anhand der Sterbeziffer (Gestorbene je tausend Einwohner) Geburten- und Sterberate in Deutschland zwischen 1875 und 2006 Bevölkerungsentwicklung in Deutschland in Millionen (früheres Bundesgebiet) 1816 - 2000 Kinderlos gebliebene Frauen und Kinderzahl auf 100 Frauen in Deutschland (altes Bundesgebiet) bezogen auf Geburtsjahrgänge Fertilität in Europa und ausgewählten EU Ländern zwischen 1960 und 1997 am Beispiel der Nettoreproduktionsziffer Altersaufbau der Bevölkerung in Deutschland 2002 (in Tsd.) Entwicklung der Bevölkerungszahl und des Anteils älterer und hochaltriger Menschen, 1953 bis 2050 Eckwerte der Rentenversicherung (Westdeutschland) Rentenhöhen in der GRV (monatlich in Euro) Bevölkerungsentwicklung, Jugend- und Altenquotient bis 2050 (in %) Rentenszenario der Rürup-Kommission (2003) für Westdeutschland (1) Riesterrente – Zulagensystem Ausgabenentwicklung in der GKV Krankheitskosten je Einwohner nach Alter im Jahr 2002 in Euro Pflegequoten in der GPV nach Lebensalter (2003) Leistungen der Pflegeversicherung im Monat (in Euro) Pflege in Deutschland im Jahr 2003 Struktur und Entwicklungen in der GPV
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84 87 88
94 96 100 101 130 132 135 137 138 144 146 149 149 151 152
Tabellenverzeichnis
Tabelle 20: Tabelle 21: Tabelle 22:
Tabelle 23: Tabelle 24: Tabelle 25: Tabelle 26: Tabelle 27: Tabelle 28: Tabelle 29: Tabelle 30:
Tabelle 31:
Tabelle 32: Tabelle 33: Tabelle 34:
Tabelle 35: Tabelle 36: Tabelle 37:
Die sechs häufigsten Krankheiten bei älteren Menschen und Anteil der Hilfs- und Pflegebedürftigkeit Krankenhausentlassdiagnosen 1998 bei Männern und Frauen nach Altersklassen Prozentanteile der 70jährigen und älteren Studienteilnehmer, die im vorhergehenden Jahr mindestens einmal in einem Krankenhaus behandelt wurden Häufigste Ursachen für Erwerbsminderungsrente in Prozentangaben Leistungsempfänger der sozialen Pflegeversicherung am Jahresende 2000 nach Pflegestufen Die wichtigsten Einkommensquellen der Bevölkerung ab 65 Jahre (in Prozent des Bruttoeinkommensvolumens) Mittleres Äquivalenzeinkommen (OECD neu) nach Region der 40-85-jährigen Bevölkerung in Euro 1996 und 2002 Mittleres Äquivalenzeinkommen (OECD neu) nach Alter, Geschlecht, Region in Euro 1996 und 2002 Schichtung der Nettoeinkommen von 65-jährigen und Älteren in Westdeutschland 1999 in Euro Schichtung der Nettoeinkommen von 65jährigen und Älteren in Ostdeutschland 1999 in Euro Einkommensstruktur nach Einkommensarten bei Einund Zweipersonenhaushalten von Rentnern im West-OstVergleich Nettoeinkommen für 65jährige und Ältere – nach Geschlecht und Familienstand – in West- und Ostdeutschland 2003 in Euro/Monat Ausländische und deutsche Altersbevölkerung in Deutschland 1991-2003 in 1.000 Personen Sparquoten verschiedener Altersgruppen und Haushaltsgrößen, 1998 Wohnentfernung zum nächstwohnenden Kind ab 16 Jahren nach Altersgruppen 1996 und 2002, für Deutsche und Nicht-Deutsche in Prozent Familienstandsstrukturen der 65 Jahre und älteren Männer und Frauen, 2002 Familienstand nach Nationalität und Alter, 2002, in Prozent Familienstand nach Nationalität und Alter, 1997, in Prozent
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187 192
193 195 204 240 241 241 242 244
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Tabelle 38: Tabelle 39: Tabelle 40: Tabelle 41: Tabelle 42: Tabelle 43: Tabelle 44:
Tabelle 45: Tabelle 46: Tabelle 47:
Tabelle 48:
Tabelle 49: Tabelle 50: Tabelle 51:
Tabellenverzeichnis
Subjektive Bewertung der Beziehung zur Familie, 1996 und 2002 Geleistete Unterstützung in den vergangenen zwölf Monaten Kontakthäufigkeit zu dem Kind ab 16 Jahren mit den meisten Kontakten nach Altersgruppen, 1996 und 2002 Erhaltene informelle Unterstützung in den vergangenen 12 Monaten, in Prozent Pläne für die Zukunft, Antworten in Prozent Was Senioren häufiger tun möchten (Angaben in Prozent), 1997 Was Alte in ihrer Freizeit tun: Ausgeübte Aktivitäten (Befragung von 500 Ruheständlern im Oktober 1997 in Deutschland. Frage: „Was tun Sie in Ihrer Freizeit so alles?“. Täglich häufig ausgeübte Beschäftigungen. Antworten in Prozent) Gründe für das Nichtausüben von Aktivitäten, 1997 (Angaben in Prozent) Wie Alte die Lebensphase Alter einschätzen, 1997 (Antworten in Prozent) Geschlechterpräferenzen bei ausgewählten Freizeitgestaltungen der 70 bis 85 Jahre alten Männer und Frauen in Deutschland, 1996 (Angaben in Prozent) Teilnahme an Weiterbildung nach Altersgruppen 1979 bis 2003 im früheren Bundesgebiet (Teilnahmequoten in Prozent) Erwerbsquote von Männern und Frauen im Alter von 55 bis 64 Jahren, 1991 bis 2004 Erwerbsquoten in Deutschland und EU in Prozent der Bevölkerung im Alter von 55 bis 64 Jahren, 1970 und 2000 Erwerbsquoten Älterer in Deutschland, Schweden, Norwegen und der Schweiz
268 269 270 271 275 276
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288 292 293 294
1 Einleitung 1 Einleitung
„2030 – Aufstand der Alten“, lautete der reißerische Titel einer so genannten „Dokumentarfiktion“ im Spielfilmformat, ausgestrahlt zu guter Sendezeit vom Zweiten Deutschen Fernsehen am 16. Januar 2007. Hat die Zukunft (endlich) die Massenmedien erreicht, oder beweist sich (einmal mehr), dass diese ihre „eigene Realität“ haben (Niklas Luhmann)? Soviel ist sicher, die Programmverantwortlichen des Fernsehens – und mit ihnen der „Rest“ der Massenmedien und Bestsellerautoren – haben das Thema „Altern der Gesellschaft“ (für sich) entdeckt. Zu einem Zeitpunkt, da dunkle Szenarien aber auch nüchterne Vorausberechnungen die Alten der Gegenwart verunsichern und die Erwartungen der künftigen Alten1 an ihren eigenen „Lebensabend“ zunehmend verdüstert haben. Die Gesellschaft muss fürchten, der durch die voranschreitende Alterung der Gesellschaft verursachten Kosten, nicht mehr Herr werden zu können. Das Leben im Alter morgen könnte von Kargheit, Krankheit und Abgeschobensein geprägt sein. Zeit für die Alten der Zukunft, sich zum „Methusalemkomplott“2 zu rüsten? Warum auf einmal mit soviel Verve? Die über Jahre nur zögerlich von Politik, Medien und Öffentlichkeit zur Kenntnis genommenen Konsequenzen der Bevölkerungsentwicklung sind seit langem bekannt. In der Folge eines über mehr als drei Dekaden anhaltend niedrigen Geburtenniveaus und parallel dazu einer ständig wachsenden Lebenserwartung, ist es zu einer voranschreitenden Überalterung und schon begonnenen Schrumpfung der Bevölkerung gekommen. Die Gesellschaft wird „grau“, „Deutschland vergreist“ und verwaist wohl alsbald, wenn nicht Massen von Zuwanderern, deren Integration dann ein anderes Problem wäre, die bereits begonnene Verringerung der Bevölkerung aufhalten würden. Der Arbeitsgesellschaft geht – anders als noch vor Kurzem behauptet – weniger die Arbeit, als vielmehr die Menschen aus. Immer weniger Kinder werden geboren – dringend notwendige Arbeitskräfte von morgen und künftige Prämienzahler für die Sozialversicherung. Der „Generationenvertrag“, jener seit 1 Der Begriff „Alte“ ist nicht despektierlich gemeint. Ich werde im Folgenden immer dann von „Alten“ sprechen, wenn die 65-jährigen und Älteren (in Ausnahmefällen die 60-jährigen und Älteren) gemeint sind. (Näheres in Kap. 2.) 2 Titel eines in zahlreichen Auflagen erschienenen populärwissenschaftlichen Buches des Mitherausgebers der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Frank Schirrmacher (2004). Schirrmacher ruft darin die Alten der Zukunft auf gegen den vermeintlich altersdiskriminierenden Jugendkult der Gegenwart.
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1 Einleitung
über hundert Jahren bewährte Kern institutionalisierter Solidarität, droht unerfüllt zu bleiben, weil Egoismus, Materialismus und „Selbstverwirklichung“ sich ausgebreitet haben. Dabei fing alles so gut an. Seit etwa hundert Jahren steigt die Lebenserwartung. Rapide hat sie sich binnen eines Säkulums in den Industrieländern geradezu verdoppelt. Hohe Geburtenzahlen wurden überflüssig, weil immer mehr Neugeborene, anstatt dem raschen Tod anheim zu fallen, erwachsen wurden. So ging die Zahl der Geburten pro Kopf zurück, während die Alten immer zahlreicher und immer noch älter wurden – und werden. Von wenigen Prozent wird der Altenanteil an der Bevölkerung bis zur Mitte dieses Jahrhunderts auf ein Drittel gewachsen sein. Diese Nachrichten irritieren eine Gesellschaft, die es – historisch erstmalig – schaffte, dass „Alter“ zu einer für alle wahrscheinlich erlebbaren und zugleich gemeinhin lebenswerten Lebensphase wurde. Soziale Sicherung, Gesundheitsfürund -vorsorge sowie der Massenwohlstand sind die Grundlagen dafür, dass „Späte Freiheit“ (Leopold Rosenmayr) und ein „gutes Leben im Alter“ für die Mehrheit der Alten Realität geworden sind. Vom „guten Leben im Alter“ handelt dieses Buch. Meine These widerspricht verbreiteter – besser: veröffentlichter – Alltagsmeinung (zuletzt: Schirrmacher 2004). Alte gelten vielfach noch immer als „abgeschoben“, „diskriminiert“ und benachteiligt. Die Forschung widerspricht dem seit langem. Befragungsergebnisse und statistische Daten werden meine These erhärten. Dieses Buch will zugleich verstanden werden als soziologische Einführung in die Wissenschaft vom Alter und vom Altern3. Eine eigene Forschungsdisziplin gibt es nicht. Alter und Altern sind komplexe Erscheinungen. An der Erforschung von Ursachen, Prozessen und Folgen des Alterns sind natur- und geisteswissenschaftliche Disziplinen beteiligt. Dazu gehören die Biologie (heute auch die Genforschung), die Medizin, die Ökonomie, die Geographie und die Erziehungswissenschaft (Pädagogik). Der Soziologie kommt eine Doppelfunktion zu. Einerseits untersucht sie die Lebensbedingungen und -lagen alter Menschen, aber auch die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Geburtenrückgang und Lebensverlängerung stattfinden (können). Andererseits erfüllt sie Transferaufgaben zwischen den Wissenschaften, indem sie Forschungsergebnisse einzelner Disziplinen in den Gesamtzusammenhang von Alternsvorgängen stellt. Das versetzt Soziologie zugleich in den Stand, der Gesellschaft, insbesondere der Politik, wichtiges
3 Die Begriffe werden in Kap. 2 erklärt.
1 Einleitung
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Steuerungswissen4 zu liefern. Aufgabe der Soziologie darüber hinaus ist die Versorgung der Öffentlichkeit mit Fachwissen.
Zur Konzeption des Buches Die – neben dieser Einleitung – sechs Kapitel des Buches, versuchen der Komplexität des Themas Rechnung zu tragen. Da das Buch eine soziologische Einführung in die Wissenschaften vom Alter ist, habe ich Wert auf die Klärung gerade der soziologischen Fachbegriffe gelegt. Aber auch Begriffe aus den anderen behandelten Wissenschaften werden – so weit nötig – benutzt und erklärt. Um den Text lesbar zu gestalten, sind alle nicht unbedingt notwendigen Informationen in Anmerkungen „verbannt“. Man kann sie „überlesen“, erhält andererseits aber vertiefende Hinweise, auch solche auf weiterführende Literatur. Die einzelnen Kapitel sollen Einblick in den Stand der jeweiligen disziplingebundenen oder interdisziplinären Forschung geben. Thesen und theoretische Ansätze werden in knapper Form dargestellt und besprochen, empirische Daten genannt. Tabellen oder Abbildungen veranschaulichen die Aussagen5. Das Buch kann als Ganzes oder kapitelweise gelesen werden. Die einzelnen Kapitel sollen deshalb „in sich“ verständlich sein. Bedingt dadurch, kann es Wiederholungen geben, vielfach kommt es zu Verweisen auf andere Kapitel. Kapitel 2. Wege zur Alternsforschung führt in die Begriffe Alter und Altern ein. Ebenso stellt es die Geschichte einer fachübergreifenden, interdisziplinären wissenschaftlichen Fragestellung vor, die sich mit der Frage und den Vorgängen des Alters und Alterns beschäftigen. Alter, auch höheres Lebensalter, ist ein relativer Begriff. Wann jemand „alt ist“, lässt sich zwar definieren, kalendarisch feststellen, oder durch Messung von Körperfunktionen bestimmen. Die Einschätzung von Alter – die eigene, wie die fremde – folgt aber stets gesellschaftlich vermittelten und im Zeitverlauf sich ändernden Bewertungsstandards. Alter ist Zustand und Altern ist Prozess. Das Altern eines komplexen Organismus beginnt früh, nicht erst in höherem Lebensalter. Es verläuft also „lebensbegleitend“, ist nicht notwendig kontinuierlich und betrifft nicht alle Körperlorgane gleichzeitig oder in gleichem Umfang. Altern beim Menschen ist ein individuell verlaufender Prozess. Altern betrifft den Körper, seine Leistungsfähigkeit,
4 Steuerungswissen hilft Politik Gesellschaft zu gestalten, Gesetze mit Inhalt zu füllen usw. 5 Ein Tabellen- und Abbildungsverzeichnis befindet sich im vorderen Teil des Buches.
18
1 Einleitung
sein Aussehen, seine Persönlichkeit und die Funktion seiner Organe. Altern wird sichtbar, bleibt aber auch verborgen. Einfluss auf den Verlauf haben neben Erbanlagen und Individualität des Menschen, die Gesellschaft, die Zeit, in der man lebt, haben „Geist“ und Bedingungen einer Epoche. Auswirkungen hat z. B. der ausgeübte Beruf, haben Umfang und Qualität der materiellen Versorgung, haben Gefahren und Risiken, denen man zwangsläufig oder gewollt ausgesetzt ist, haben Krisen, Kriegsereignisse, Flucht u. a. Altern der Gesellschaft ist die Veränderung des Verhältnisses der Altersklassen zueinander, derart, dass der Anteil der Alten steigt und jener der jungen sinkt. Ursachen sind Geburtenrückgang und Anstieg der Lebenserwartung. Die Folgen sind vielfältig. Das Kostenproblem, bedingt dadurch, dass der Anteil der nicht mehr im Erwerbslebenden stehenden Menschen steigt und von einem sinkenden Anteil Erwerbstätiger durch Beitragszahlungen in die Sozialversicherung versorgt werden muss, ist nur eines. Die Beschäftigung mit Fragen des Alters/ns fällt nicht vom Himmel. Alles (weiß schon die Bibel) hat seine Zeit. Natürlich haben einzelne Menschen „schon immer“ sich Gedanken über den „Sinn des Lebens“ gemacht und sind auf die Frage nach dem Altern gestoßen. Die geistige Auseinandersetzung mit dem Alter und dem Altwerden reicht denn auch weit zurück in die großen Religionen und die antike Philosophie. Für das Interesse an wissenschaftlicher Forschung – zunächst nur auf das Altern des Menschen, noch nicht auf das der Gesellschaft bezogen – war Voraussetzung, dass es alte Menschen in wachsender Zahl gab. Alte mussten wahrgenommen werden. Ihre Lebenslagen und Versorgung als solche betrachtet werden, die wissenschaftliche Forschung erfordert. Dazu musste Wissenschaft sich zu einem differenzierten System einzelner Disziplinen entwickelt haben, deren Aufgabe und Interesse neben der Grundlagenforschung es war und ist, für die Gesellschaft nützliches Wissen zu liefern. Dem sucht Alternsforschung gerecht zu werden, was auch deshalb von großer allgemeiner Bedeutung war und ist, weil erwartet werden konnte, dass dadurch die Probleme des Alters und des Alterns zumindest zu mildern sind. Nur vordergründig verblüffend ist deshalb, dass das Entstehen von Alternswissenschaft und die Ausbreitung des Jugendmythos zeitlich zusammen fallen. Moderne Gesellschaften werden sich zwar langfristig als „alte Gesellschaften“ erweisen. Denn sie werden zunehmend von Alten bevölkert. „Vom Geist“ her jedoch, setzen sie auf Jugend. „Niemand will alt werden“, in dem Sinne, von Nutzlosigkeit, Gebrechlichkeit und Statusverlust betroffen zu sein. Doch nie-
1 Einleitung
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mand möchte deshalb auf ein langes und lebenswertes Leben verzichten. Jungsein im Alter ist das Ziel! Die wissenschaftliche Forschung über das Alter beginnt mit der Entstehung der modernen Industriegesellschaft und dem damit einhergehenden Bevölkerungswachstum. Die Lebenserwartung stieg und der Anteil alter Menschen an der Gesellschaft nahm zu. Alte wurden nun immer weniger in der Familie versorgt, weil diese unter den Bedingungen der neuen Gesellschaft sich entscheidend veränderte. Die bürgerliche Kleinfamilie entstand. Ein System sozialer Sicherung übernahm nun die Aufgaben des Generationenvertrags. Frühe Alternsforschung sucht wie heute nach Antworten auf die Frage nach dem Warum und dem Wie des Alterns. Einen ersten Aufschwung erfährt sie durch die Einführung naturwissenschaftlicher Methoden seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Empirische Verfahren des Messens und Vergleichens ermöglichen Altern erstmals objektiv feststellbar zu machen. Später ist es in den USA die Wirtschaftskrise der 1930er Jahre, welche Anlass gibt, altersbedingte Reduktionen und Defizite an älteren Arbeitslosen zu verifizieren. Nach dem Zweiten Weltkrieg beschleunigt sich der Ausbau der Altersforschung, die nun immer mehr als Alternsforschung verstanden werden will. Hinter dieser Neuorientierung steht das Erkennen des prozesshaften und komplexen Verlaufs des Alterns. Bedeutsam sind seit der Vorkriegszeit Fachgesellschaften, die Tagungen durchführen. Fachzeitschriften werden herausgeben. Beides ermöglicht über nationale Grenzen hinweg einen fachdisziplinübergreifenden Austausch. In Deutschland gehen von der „Wiedervereinigung“ (1990) nochmals deutliche Impulse aus. Dies ermöglicht eine stärkere Bündelung von Forschungspotentialen. Zeitgleich werden die Konturen der gesellschaftlichen Dimension der Folgen der neuen Bevölkerungsentwicklung immer deutlicher. Es kommt zu Neugründungen von Forschungsverbünden, sowohl an verschiedenen Universitäten als auch übergreifend. Während durch die weltweite demographische Entwicklung die Vereinten Nationen einen „Weltaltenplan“ (1999) verabschieden, kommt es auf nationaler Ebene in Deutschland zu einer Umbenennung des verantwortlichen Ministeriums. Das frühere Familienministerium trägt nun auch die Worte Jugend und Alter in seinem Titel. Seit den 1990er Jahren hat es zahlreiche Studien, Untersuchungen, sowie Forschungs- und Tagungsberichte gegeben, die durch ihre interdisziplinäre Perspektive gekennzeichnet sind. Kapitel 3. Demographischer Wandel und alternde Gesellschaft stellt den historischen Demographischen Wandel von der traditionalen Agrar- zur modernen In-
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dustrie- und Dienstleistungsgesellschaft dar. In diese Epoche fällt das rapide Wachstum der Weltbevölkerung und beginnt deren Altern. Unter Demographischem Wandel wird die Veränderung der scheinbar allein natürlich bedingten zentralen Bevölkerungsvorgänge – der Geburten- und der Sterbefälle – verstanden. Theoretische Modelle zeigen, dass unter dem Einfluss eines umfassenden sozialen Wandels auch die Verhältnisse und Zahlen von Leben und Tod sich verändern. Demographische Alterung ist ein Phänomen, welches vor etwa hundert Jahren in den Industrieländern begann. Inzwischen hat es die Weltbevölkerung erfasst und wird auch deren Wachstum – glücklicherweise – in einigen Jahrzehnten beenden. Demographische Alterung in den Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften ist mit einer Reihe gesellschaftlicher, miteinander verwobener Prozesse verbunden. Diese seien hier benannt. Im Kapitel wird näher darauf eingegangen: Modernisierung, Arbeitsteilung und Marktwirtschaft, Technisierung, Verwissenschaftlichung, Institutionalisierung der sozialen Sicherheit, Individualisierung, Bildungspartizipation, geschlechtliche Gleichstellung; Wertewandel, Massenwohlstand und Erlebnisorientierung. Dazu gehört auch der Verlust der Deutungshoheit der westlichen Religionen. Die Errungenschaften der Moderne, in Gestalt moderner Medizin, Hygiene und Nahrungsproduktion haben einen alten Traum der Menschheit – die Unsterblichkeit – zwar nicht erfüllen können, aber sie haben ihn ein Stück näher gerückt. Der Anteil alter und sehr alter Menschen ist gerade in den letzten fünfzig Jahren in den modernen Gesellschaften stark angestiegen. Er wird weiter steigen. Die weniger entwickelten Länder beginnen inzwischen diesem „Beispiel“ zu folgen. Eine erfreuliche Entwicklung, die aber große Probleme birgt. Denn gleichzeitig wird infolge des anhaltend niedrigen Geburtenniveaus der Anteil junger Menschen immer geringer. Ohne Jugend aber hat eine Gesellschaft keine Zukunft. Während einer Phase des Schrumpfens der Bevölkerung um etwa ein Drittel des Ausgangsbestands werden moderne Gesellschaften deshalb auf Zuwanderung angewiesen sein – oder ein großes Problem wegen zu weniger „produktiver“ Menschen haben. Gestaltung durch wissenschaftlich unterrichtete Politik ist notwendig, auch wenn deren Wirkung begrenzt sein wird. Kapitel 4. Soziale Sicherung alter Menschen (Autor: Klaus Schaper) führt in Geschichte und Gegenwart der in Deutschland institutionalisierten Wohlfahrtsstaatlichen Politik und deren Prinzipien ein. Eines ihrer zentralen Elemente ist die Gesetzliche Rentenversicherung (GRV). Soziale Sicherung in Deutschland hat eine
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lange Tradition. Diese reicht auf das unter Bismarck im Deutschen Kaiserreich zur Zeit der Hochindustrialisierung und unter dem Einfluss der Arbeiterbewegung geschaffene System zurück. Über Jahrzehnte galt es weltweit als vorbildlich. Es verhinderte wohl möglich die von Marx prophezeite proletarische Revolution und bewirkte gemeinsam mit anderen Faktoren langfristig die Teilhabe aller gesellschaftlichen Gruppierungen an produktivem Fortschritt und Wohlstand. Mit der Rentenversicherung gelang – vor allem durch die Einführung der Anpassung an die allgemeine Einkommensentwicklung (Dynamisierung, 1957) – eine Sicherung des Lebensstandards im Alter. Der Erfolg dieses Systems überzeugt. Altersarmut ist in der Folge weitgehend verschwunden. Ungeachtet der Anerkennung, die dieses System noch immer genießt, krankt es zunehmend an der durch den Demographischen Wandel verursachten Unerfüllbarkeit des Generationenvertrags. Immer weniger im Erwerbsalter stehende Menschen müssen infolge des Geburtenrückgangs und des Anstiegs der Lebenserwartung für immer mehr alte Menschen arbeiten. 2005 kamen auf hundert Erwerbstätige schon 32 Nichtmehrerwerbstätige, 2050 werden es 60 bis 64 sein (vgl. Kap. 4.5.7). Ein zusätzliches Problem besteht durch das mit dem Alter steigende Krankheits- und Pflegerisiko. Alte bewirken deutlich ein Ansteigen der Gesundheitsausgaben, was wiederum nicht allein mit Beitragserhöhungen der Krankenversicherungen aufgefangen werden kann. Reduktionen von Gesundheitsleistungen im Alter gelten gemeinhin als ethisch kaum vertretbar. In anderen Ländern – z. B. in England – sind sie lange schon Realität. Dem mit der Demographischen Alterung einhergehenden Anstieg der Pflegebedürftigen, wurde mit der 1994 eingeführten gesetzlichen Pflegeversicherung begegnet. Sie verhindert durch ihre Leistungen Armutslagen, die zuvor für eine Mehrheit der Betroffenen zwangsläufig wurden. Ihre Leistungen ersetzen aber nur einen Teil der ständig steigenden Pflegekosten. Eine günstige Entwicklung ist, dass bedingt durch die Option der Pflege zu Hause (auch von Familienangehörigen, die Leistungen empfangen können), der von alten Menschen bevorzugte Verbleib in der eigenen Wohnung möglich ist. Allerdings zeigen sich erste Zeichen einer Veränderung. Seit einigen Jahren steigt der Anteil in Heimen gepflegter Personen. Der Erhalt des bewährten Systems sozialer Sicherheit ist eines der zentralen Probleme im Zusammenhang des Demographischen Wandels. Mit Kürzungen und Beitragserhöhungen ist weiterhin zu rechnen. Insofern ist die Angst der Rentner um ihre Renten nicht von der Hand zu weisen. Größer sind die Gefahren allerdings für die Rentner der Zukunft, die immer stärker auf zusätzliche Ein-
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kommensquellen im Alter angewiesen sein werden. Ob Armut im Alter auch weiterhin vermeidbar sein wird, steht zumindest in Zweifel. Dem Trend zur „Privatisierung“ der Altersrisiken steht Schaper skeptisch gegenüber. Begründete Hoffnung, dass ein weiter reformiertes System auch morgen seine Grundfunktionen erfüllen kann, sieht er in der weiter steigenden Arbeitsproduktivität, die Erwerbstätige „einsparen“ helfe. Die Bevölkerungsgruppe der Alten allein aus der Kostenperspektive zu sehen, ist ein unzulässig verkürzter Blickwinkel. Alte schaffen – hinreichende Einkommen und Versicherungsleistungen vorausgesetzt – eine beträchtliche Nachfrage. Ein in diesem Bereich wachsender Markt (Senioren-Gesundheitswirtschaft) bewirkt das Entstehen von Arbeitsplätzen und sorgt für Umsätze und Renditen. Die Volkswirtschaft müsse sich künftig viel deutlicher auf diesen langfristigen Wandel einstellen. Kapitel 5. Fitsein im Alter? Leistungsfähigkeit, Gesundheit und Persönlichkeit, Krankheit und Pflegebedürftigkeit von Senioren stellt die Frage nach der gesundheitlichen Verfassung alter Menschen in Deutschland. Hat die stetig voranschreitende Erhöhung der durchschnittlichen Lebenserwartung auch zu einer Verbesserung der Gesundheit und Leistungsfähigkeit im Alter geführt? Ist der heute sprichwörtlich gewordene „Neue Alte“ – sprich: „aktive Alte“ – ein Synonym für das „gute Leben im Alter“? Verblüffend ist, dass inmitten einer Gesellschaft, die sich – wie man bisweilen liest – dem „Jugendkult“ verschrieben habe, in der folglich „niemand alt werden wolle“ (Schirrmacher) und in der ein „Krieg der Generationen“ (Reimer Gronemeyer) drohe, es eine stattliche Reihe von begeistert gefeierten und bewunderten Alten und Hochaltrigen gibt. Die Massenmedien, oder ein Teil davon, sind jedenfalls nicht allein damit beschäftigt, ihrem lesehungrigen Publikum die immer gleichen Berichte über die „Jungen, Schönen und Reichen“ zuzumuten, sondern sie machen auch Staunen mit Berichten über, nennen wir sie: „Ausnahme-Alte“. Gemeint sind jene Hoch- und Höchstbetagten, die gleichwohl „mitten im Leben stehen“, die leistungsfähig sind und hoch geschätzt und allen Reden von der Zwangsläufigkeit des Verfalls im Alter Hohn sprechen. Geheimnis der Bewunderung ist, dass sie unser Sehnen, unseren Wunschtraum vom „alterslosen Alter“ zu verkörpern scheinen. Aber auch der „Durchschnittsalte“ hat aufgeholt. Immer weniger stimmt das Bild des von Jammer und Elend gezeichneten Greises und immer brüchiger wird das Klischee vom generellen Verlust der Kräfte. Der Gesundheitszustand alter Menschen hat sich aus unterschiedlichen Gründen heute gegenüber früher deut-
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lich verbessert. Bis zur Vollendung des neunten Lebensjahrzehnts ist die Gesundheit alter Menschen oft erstaunlich gut, die Leistungsfähigkeit nur partiell eingeschränkt, so dass Teilnahme am Leben möglich ist. Dabei helfen heute allerlei technische Einrichtungen und Geräte über körperliche Defizite hinweg. Eine Begleiterscheinung moderner Marktgesellschaften, sofern sie für hinreichende Einkommen und Versicherungsleistungen Alter sorgen. Spätestens mit Beginn des zehnten Lebensjahrzehnts nehmen allerdings Krankheits- und Pflegerisiko rasch zu, und es zeigt sich die „alte Seite“ des Alters. Alte sind dennoch durchschnittlich – zumindest bis zu Beginn der Hochaltrigkeit – mit sich und der Welt zumeist zufrieden. Sie nehmen ihre eigene Gesundheit sogar deutlich besser wahr als sie objektiv ist, und sie haben Freude am Leben. Trotz dieser erfreulichen Befunde haben sich früher verbreitete Forschungsansätze wie die Aktivitätstheorie, die eine Möglichkeit des Hinausschiebens des geistigen und körperlichen Verfalls durch Aktivität behaupten, als falsch erwiesen. Empirische Studien zeigen, dass mit dem Altern – und dies lange vor Erreichen der Lebensphase Alter – ein Rückbau der Körperfunktionen und damit eine Reduktion der Leistungsfähigkeit einsetzt. Vergleichsweise unerheblich für den Alternsprozess, wenn auch nicht ohne Belang, sind vorausgehende Bildungsbeteiligung und Art der Erwerbstätigkeit. Allerdings führen körperlich und geistig auszehrende Berufe und auch solche mit hoher Monotonie der Arbeitsabläufe, sowie fehlende Anerkennung zu frühzeitigem Verschleiß und Abbau. Andererseits erweist sich die alte Volksweisheit als stimmig, dass „rasten immer rosten“ bedeutet. Körperliche und geistige Aktivität im Alter erhält durchschnittlich längere Zeit fit. Eine Garantie dafür gibt es freilich nicht. Doch Fitness stärkt Selbstbewusstsein und Ansehen. Ein Problem für Betroffene, mehr noch für die Angehörigen, ist das Demenzrisiko, vor allem jenseits der 90. Die Hoffnung auf Behandelbarkeit von Krankheiten im Alter ist zumindest übertrieben. Heilung von alterstypischen als auch von „alternden Krankheiten“6 ist nicht zu erwarten. Wohl aber ist Linderung der Symptome möglich, so dass Alter trotz krankheitsbedingter Belastungen lebenswert bleiben kann. Kapitel 6. Warum wir altern. Antworten der Naturwissenschaften. Wesentliche Fortschritte, die eine Verlängerung des Lebens, auch eine lebenswerte, bewirkt haben, sind der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung und ihrer Umsetzung in praktische medizinische Behandlung zu verdanken. Das ganze Arsenal an Medizintechnik, Medikamenten, Diagnosemethoden, Therapien usw. fußt
6 Darunter werden chronische Krankheiten verstanden, deren Grad sich mit dem Älterwerden erhöht.
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wesentlich auf den grundlegenden Erkenntnissen dessen, was in Zellen, Geweben und Organen geschieht. Bezüglich der Frage, was Altern ursächlich auslöst, wird Grundlagenforschung in den letzten Jahren mit steigendem finanziellen Aufwand betrieben, obwohl in Deutschland noch immer Nachholbedarf reklamiert wird7. Große Erwartungen – nicht zuletzt in Bezug auf zu erwartende finanzielle Gewinne und wissenschaftliche Reputation – werden derzeit auf die Genforschung gesetzt. Gibt es für das Altern „verantwortliche“ Gene, können durch Klonen alternde Gewebe ersetzt, und damit Funktionseinbußen von Organen verhindert oder gar rückgängig gemacht werden? Was ist eigentlich Altern, das so zwangsläufig zum Leben dazu zu gehören scheint? In Zeiten, da in westlichen Zivilisationen der Glaube an religiöse Wahrheiten weitgehend abgelöst ist durch eine neue Art Urvertrauen in den wissenschaftlichen Fortschritt, löst Erstaunen aus, dass die „endgültige“ Antwort auf die gestellte Frage – was bewirkt Altern? – offenbar lange noch nicht gefunden ist. Es gibt zahlreiche Theorien, wovon die bekanntesten im Kapitel vorgestellt werden, denen letztlich aber der hinreichende empirische Nachweis fehlt. Fest steht, dass Altern ein irreversibler Prozess ist, von dem – fast – alles Leben, und, wie wir wissen, auch alles Anorganische sowie künstlich Geschaffene, betroffen ist. Trotz der Vorläufigkeit der Ergebnisse der Forschung steht außer Frage, dass die bisher gewonnenen Erkenntnisse bereits heute genutzt werden, um Leben zu verlängern und Leiden zu mildern. Das hat seinen Preis. Nicht nur den für das Forschen, sondern auch den für die Anwendung des wissenschaftlichen Fortschritts. Medizinische Analyse- und Heilverfahren werden immer teurer. Das kreuzt sich mit dem aus der Diskussion um den Generationenvertrag bekannte Kostenproblematik. Wird es künftig eine neu begründete Klassengesellschaft geben? Gesunde und Kranke, Langlebige und Kurzlebige, Fitte und Sieche – in Abhängigkeit von Geldmitteln zur Realisierung von Heilverfahren? Und noch eine Frage. Ein Durchbruch der Forschung – also die Entdeckung des oder der „Verursacher des Alterns“ würde zur Konsequenz haben, dass – jedenfalls theoretisch – Altern verhinderbar wäre! So schwer das vorstellbar ist, so sehr muss – wie immer, wenn Menschen in die Grundstrukturen des Lebens eingreifen – vor Gefahren gewarnt werden. Es geraten dann rasch ethische Grundsatzfragen in die Diskussion, wie jene nach der Rechtfertigung des Tötens von Embryonen für die Gewinnung von Zellkulturen (Therapeutisches Klonen). 7 In Deutschland gelten aus Sicht der Kritiker die ethischen Argumente (Schutz werdenden Lebens in der Embryonenforschung; Tierrechtsgedanke in Bezug auf Versuchstiere) als „übertrieben“ und forschungs- bzw. modernitätsfeindlich.
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Grundsätzlicher gefragt, was würde aus dieser Erde, auf der Leben nicht mehr untrennbar verbunden wäre mit Vergänglichkeit und dem ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen? Kapitel 7. So leben die Alten. Auch in diesem Kapitel soll die These vom „guten Leben im Alter“ belegt werden. Dazu werfen wir einen Blick auf Einkommen, Wohnungssituation, auf das Funktionieren von sozialen Beziehungen, insbesondere was solidarische Netzwerke und Familie betrifft, aber auch auf Zeitgestaltung – was tun eigentlich die Alten? – auf ehrenamtliche Betätigung und Beteiligung am Erwerbsleben. Nie zuvor konnten – in den Ländern der westlichen Zivilisation (und auch hier mit deutlichen Unterschieden) – Menschen im Alter in einem derartigen Umfang teilhaben am allgemeinen Wohlstand, konnten profitieren von sozialer Sicherheit und sozialer Anerkennung. Eine – zugegeben – kühne These und eine, die Einschränkungen erfordert. Zunächst sind die Voraussetzungen zu nennen, die das „gute Leben im Alter“ möglich machen: Das Netz sozialer Sicherung und eine bessere Gesundheit gehören dazu. Das Zweitgenannte ist vom Erstgenannten abhängig. Erst Gesundheitsleistungen, die durch Versicherungsleistungen auch bezahlbar sind, können allen zu Gute kommen. Hinzu kommt eine Einkommensentwicklung in Westdeutschland, die über Jahrzehnte hinweg für eine Verbesserung der materiellen Situation aller sozialen Schichten und Gruppierungen geführt hat – die Alten ausdrücklich nicht ausgenommen. Die durchschnittlich zufrieden stellenden Einkommenslagen alter Menschen ermöglichen die Beteiligung am Konsum. Zwar geht dieser jenseits von 75 Lebensjahren zurück, doch zumindest bis dahin sind Alte auch ein wichtiger „Wirtschaftsfaktor“. Sie tragen also – was zumeist übersehen wird – zum gesamtwirtschaftlichen Wachstum bei. Alte sind keineswegs nur eine Nachfragegruppe für Gesundheits- und Pflegedienstleistungen. Alte sind vielmehr dank ihrer Kaufkraft ein potenter Teilnehmer am gesamten Marktgeschehen. Zu weiterer Wirtschaftsbelebung trägt bei, dass Alte materiell ihre Kinder und Enkel im erheblichen Umfang unterstützen. Hinzu kommt vererbtes oder zu Lebzeiten übertragenes Vermögen. Aber es gibt Unterschiede. Mit einigem Abstand folgen in der Einkommenshöhe noch immer Ostdeutsche den Westdeutschen. Deutschland bleibt ein geteiltes Land. Hauptursache ist der größere Umfang von Einkommensquellen im Westen. Dank der Wohlstandsentwicklung war es Westdeutschen über Jahrzehnte vergönnt, Vermögen zu bilden, aus dem im Alter „gezehrt“ werden kann. Eine Ausnahme im Einkommensrückstand sind ostdeutsche Frauen, vergleicht man
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sie mit allein stehenden Frauen in Westdeutschland. Ostdeutsche Frauen verfügen über längere Erwerbsbiographien und damit über höhere Renten. Auch Migranten sind benachteiligt, dies auch in Abhängigkeit vom Herkunftsland. Und – auch wenn Altersarmut heute eine Ausnahme ist – sind Frauen auch in dieser Altersgruppe noch immer einem höheren Risiko ausgesetzt. Lebenslagen sind mitgeprägt von sozialen Beziehungen. Ein lebenswertes Leben ist „eingebettet“ in Solidarkontakte zu Verwandten, Freunden und Nachbarn. Das Klischee vom „einsamen, abgeschobenen Alten“ erweist sich bei näherem Hinsehen als deutlich revisionsbedürftig. Das Netz der Verbindungen ist groß, Familie wird als wichtig erklärt, auch wenn mit der Zunahme des Alters die Kontaktdichte- und Häufigkeit abnehmen. Vor allem Frauen sind hier aufgrund ihrer längeren Lebenserwartung und ihrer schlechteren materiellen Lage deutlich benachteiligt. „Alter ist weiblich“8 heißt hier, dass die bekannten Nachteile des Alters deutlich Frauen treffen. Längst nicht totgesagt ist Familie. Im Gegenteil, sie gilt Eltern und Kindern noch immer als wichtigste Kontakt- und Solidaritätsbasis.
8 Eine bekannte Formel die meint, dass aufgrund der längeren Lebenserwartung der Frauen, aber auch gesellschaftlich bedingter Benachteiligungen, sich ungünstige Lebenslagen im Alter überwiegend für Frauen einstellen.
2 Wege zur Alter(n)sforschung 2 Wege zur Alter(n)sforschung Das Älterwerden ist das Hinschmelzen der Zukunft. An ihre Stelle muss die Fruchtbarkeit der Vergangenheit treten. Hans-Georg Gadamer
2.1 Einleitung Ich behaupte, die Frage, warum und unter welchen Voraussetzungen es zu einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Voraussetzungen und Folgen eines hohen Lebensalters und eines wachsenden Anteils alter Menschen in der Gesellschaft gekommen ist, verdient neben dem ersten, einen zweiten und dritten Blick. Wir werden nämlich sehen, dass die Initiative zur Erforschung weder im Phänomen des Alterns der Gesellschaft und ihrer Menschen (vgl. Kap. 3), noch an der disziplinären Ausdifferenzierung des Wissenschaftssystems und des unablässigen Suchens nach neuen Forschungsfeldern liegt. Die Antwort führt vielmehr zu einigen Überraschungen, darunter auch – und paradoxerweise – zum Jugendkult moderner Gesellschaften. Bevor in diesem Kapitel die Anfänge und die derzeitigen Strukturen der Wissenschaft vom Alter – eigentlich sind es zahlreiche Wissenschaften, die sich mit Altersfragen beschäftigen – dargestellt werden, soll in ihrer Vorgeschichte „geblättert“ und soll nach der Vorgeschichte für die Genese des „Forschungsgegenstands Alter“ gesucht werden. Eine „gelehrte Beschäftigung“ mit den unterschiedlichen Facetten des menschlichen Lebensalters braucht keine Wissenschaft. Lange bevor es Forschung im heutigen Sinne gab, haben Menschen über ein hohes Lebensalter nachgedacht, haben relativ wenige es auch erreicht, hat dieses in Religionen und Philosophie eine Rolle gespielt und sind Normen entstanden, die das Verhältnis zwischen den Generationen regeln sollten. Letzteres betrifft insbesondere die Frage der Versorgung der Alten1, Regelungen des „Ausgedinges“ (z.B. für die Übergabe einer Hofstelle), der Erbfolge und auch der Verhaltensweise und die Behandlung von Alten.
1 Ich werde in diesem Buch zumeist das Wort „Alte“ für die Bezeichnung alter Menschen benutzen. Der Begriff ist keineswegs herabwürdigend oder diskriminierend gemeint, sondern soll – im Gegensatz zu den „Jungen“ – Menschen höheren und hohen Lebensalters bezeichnen.
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Alter als Forschungsgegenstand steht im Zusammenhang mit dem Entstehen einer modernen bürgerlich-industriellen Gesellschaft2 im Gehäuse des Nationalstaates und seinen die traditionalen Gemeinschaften ersetzenden Funktionen. Eine Entwicklung, die in Deutschland im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stattgefunden hat. Zu den Aufgaben des modernen Staates gehört die gesetzliche Garantie dreier Kategorien von Sicherheit: die territoriale, die rechtliche und die soziale. Nicht zufällig stieg in dieser Zeit – zwangsläufig auch eine Epoche grundlegenden sozialen Wandels3 – die Lebenserwartung, sanken mit zeitlicher Verzögerung die Geburtenzahlen, wuchs dennoch das Bevölkerungsvolumen stark an und erhöhte sich allmählich der Anteil alter Menschen. Ebenso entstanden die Grundlagen eines modernen, spezialisierten und auf ständige Veränderung der bestehenden Verhältnisse angelegten Wissenschaftssystems. Dessen Arbeitserträge sollten zunehmenden Einfluss auf die Gesellschaft und ihre nun unablässig voranschreitende Modernisierung nehmen.
2.2 Die „Entdeckung“ des Alters 2.2.1
Was ist überhaupt Alter? Zur Unbestimmtheit des Altersbegriffs
Die „Entdeckung“ des Alters Um das Alter als Lebensphase zu erforschen, musste es „entdeckt“ werden. Zwar hat es zu allen Zeiten alte Menschen gegeben, doch deren Zahl war gering. Soll Alter als soziales Phänomen wahrgenommen werden – deutlicher: das hohe Lebensalter – so muss zunächst die Zahl derer, die alt sind, größer werden, müssen die dadurch ausgelösten individuellen und gesellschaftlichen Probleme bewusst und der Ruf nach Lösungen laut werden. Erst dann wird wissenschaftliche Neugier entstehen.
2 Im Folgenden werde ich von der Moderne oder der modernen Gesellschaft sprechen. Dies in Unterscheidung zu den Typen der archaischen und der traditionalen Gesellschaften. 3 Hinter diesem auch allgemein geläufigen soziologischen Fachbegriff „verbergen“ sich insbesondere Veränderungen im Zusammenleben der Menschen (Familien-/Lebensformen), der Produktion/Arbeit, des Rechts, der Bildung und des Wissens. Im besonderen bezeichnet der Begriff jene gesellschaftliche Veränderung, die in Europa aus der feudalen Ständegesellschaft mit durch Tradition abgesicherten Privilegien, Pflichten und Abhängigkeiten zunächst eine von starken Klassengegensätzen und großer Armut gekennzeichneten Gesellschaft hervorbrachte, schließlich aber in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer von Menschenrechten, Partizipation, Bildung und Massenwohlstand geprägten „modernen Gesellschaft“ führte.
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Wann sind wir alt? Was, wer ist wo wie alt? Eine Frage, die nicht einfach zu beantworten ist. Denn, was unter alt zu verstehen ist, ist nicht objektiv und allgemein gültig bestimmbar. Zunächst ist Alter, hier gemeint als hohes Lebensalter, zwar an eine Jahreszahl, damit an ein objektives Datum, eben an das Lebensalter, an die Differenz der Jahre zwischen Geburt und Gegenwart gebunden. Darüber hinaus aber ist Alter eine Sache persönlicher Einschätzung einerseits und der gesellschaftlichen Bewertung andererseits. Abhängig ist die eigene Urteilsbildung – auch bezüglich unseres Alters oder das Anderer – nämlich immer auch von gesellschaftlichen Einflüssen. Sie ist mitbestimmt von „den anderen“, vom „Zeitgeist“, dem Empfinden jener Generation, der man angehört, dem sozialen Milieu, der Schicht, der erworbenen Bildung und dem ausgeübten Beruf. Über das Alter, genauer: über alte Menschen, gibt es gesellschaftlich vermittelte Bilder, die u. a. auch unterschiedliche Wertschätzung beinhalten, ebenso Vorstellungen angemessenen Verhaltens. Diese können voller Hochachtung sein, aber auch diskriminieren, Vorurteile und Klischees enthalten. Hilfreich erscheint es vom Altersstatus zu sprechen, der Alten unabhängig von ihrer eigenen Person zugeschrieben wird. In der Gesellschaft gibt es einen weitgehenden Konsens darüber, unter welchen Umständen „man alt ist“, und welche gesellschaftliche Bewertung – negativ oder positiv – damit einhergeht. Dem kann der Einzelne sich kaum entziehen. Die Gesellschaft bestimmt mit Was Alter ist, wer alt ist, wie Alte sich fühlen, was sie zu tun und besser zu lassen haben, ist also erheblich von der Gesellschaft und ihrer Kultur abhängig. Beide sind in ihrer jeweiligen Ausprägung und Struktur keine Konstanten, sondern dem mehr oder minder schnellen Wandel preisgegeben. Alter ist damit auch immer „relativ“. Dies im Vergleich von Gesellschaften und im Verlauf der Zeit. In einer modernen Gesellschaft gilt der 40jährige als (noch) jung, in einer archaischen oder traditionalen Gesellschaft aber als alt. Auch innerhalb moderner Gesellschaften wird differenziert und Alter zu einer relativen Größe gemacht. Zwei Beispiele: im Mannschaftssport erfolgt die Zuordnung zu Seniorengruppen häufig im Lebensalter von 35 Jahren. Politiker, Wissenschaftler, Kulturschaffende aber auch Selbständige und Freiberufler dagegen, kommen selten oder erst spät in das so genannte „Pensionsalter“ oder Rentenalter. D.h. sie bekleiden Ämter und Funktionen oft noch weit jenseits sonst üblicher Altersgrenzen. Die Rede vom Altersstatus schließt ein, dass dieser ein spezieller Status ist. Ein Status, der gegenüber einem, über den jemand zuvor verfügte – z.B. der Berufsstatus – auf die Möglichkeit einer Veränderung, auch im Sinne eines Auf-
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oder Abstiegs, verweist. Daraus abzuleiten wäre, dass der Lebenslauf diskontinuierlich verläuft, mit dem Eintritt in das höhere Lebensalter eine Veränderung – oft ein Abstieg – eintritt. Die Wahrscheinlichkeit für eine Veränderung hängt aber zusammen mit der jeweiligen Stellung oder Position auf der gesellschaftlichen Stufenleiter. Hohe Rangstellung in Politik, Wirtschaft oder Kultur führt z.B. zu einer relativ hohen Stabilität des Status. Umgekehrt haben die Inhaber mittlerer und unterer sozialer Ränge regelmäßig mit dem durch Alter verursachten Verlust der Kräfte und der gesellschaftlichen Nützlichkeit auch einen Abstieg an Ansehen und Status hinzunehmen. War früher alles besser? Alter hat in modernen Gesellschaften einen eher niedrigen Status4. Alte gelten als wenig nützlich, verursachen Kosten durch steigendes Krankheitsrisiko, entsprechen nicht den gängigen Schönheits- und Fitnessidealen usw. In traditionalen und archaischen Gesellschaften dagegen, wo der Rat und die Weisheit Alter gefragt waren, um im Alltag bestehen zu können, soll der Altersstatus häufig ein hoher gewesen sein. Das in traditionalen Gesellschaften vorhandene Prinzip der Seniorität bedeutet, dass bedeutende soziale Positionen erst mit hohem Lebensalter erreicht werden konnten (Marzi 1998, S.145). So hört man. Und so jedenfalls klang längere Zeit auch das „hohe Lied“ der Forschung. Doch die Hochbewertung des Alters ist wohl eher ein Ausschnitt aus einer an Facetten reichen Geschichte gewesen. Im Licht der Kulturkritik hat dieser vereinheitlichende Blick in die Vergangenheit allerdings oft zu einer verklärten und idealisierten Sicht auf die Stellung von Alten in vormodernen Gesellschaften beigetragen. Damit sind Klischees produziert worden: die geachtete Stellung der Alten in der Vergangenheit, in der Rahmung eines von Harmonie getragenen Generationenvertrags; der nutzlose, abgeschobene und aufgrund seiner Jahre diskriminierte Alte heute6. Die Wirklichkeit war und ist komplizierter. Immer
4 Als gegensätzliches Beispiel gilt das moderne Japan. Die Tradition eines hohen Altersstatus hat sich bis in die Gegenwart „gerettet“. Aber auch hier zeigen sich offenbar inzwischen Zeichen einer „Verwestlichung“ (Formanek 1998, S. 115ff). 5 Vgl. auch Rosenmayr (1990, 1994) 6 Ein interessantes „Gegenbeispiel“ zu den angesehenen Alten in der Vergangenheit, findet man in einem Märchen der Gebrüder Grimm „Von dem alten Großvater und seinem Enkel“. Dort geht es um den abgeschobenen Alten, der aufgrund seiner Nutzlosigkeit und Unappetitlichkeit (er verschüttet die Suppe, der Speichel fließt ihm aus dem Mund…) in eine uneinsehbare Ecke hinter dem Ofen genötigt wird. Erst durch das Handeln des vierjährigen Enkels – er bastelt vorausschauend ein „Tröglein“ für seine Eltern, das diese später als Großeltern benutzen sollen – wird den Eltern die eigene Hartherzigkeit bewusst, und sie holen den Alten zurück (zitiert nach Ganzmann 2002, S. 275). Die Moral der Grimm-
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waren neben der Möglichkeit, dass hohes Alter Ansehen und Privilegien vermitteln konnte, Nutzlosigkeit und Überflüssigkeit, mithin das ganze Elend des Verfalls mit dem Alter verbunden (Förster 1998; Ganzmann 2002; Münzel 1998). Relativität des Alters Die Wahrnehmung von Alter steht – wie wir alle fast täglich aufs Neue erfahren – in Beziehung zum eigenen aktuellen Lebensalter. So wird ein Fünfzehnjähriger einen Vierzigjährigen für alt halten, sich aber zu einem späteren Zeitpunkt – selbst in diesem Alter angekommen – als jung einschätzen. Nun hat es Gesellschaften gegeben (und einige gibt es noch heute), in denen unser Vierzigjähriger gar nicht auf die Idee gekommen wäre, sich für jung zu halten. Was vornehmlich daran lag, dass nur sehr wenige dieses Alter erreicht haben. Der Grund lag in der hohen Sterblichkeit im Kleinkind- und Kindesalter. Nur eine Minderheit (im Verhältnis zur Geborenenzahl) hatte überhaupt die Chance erwachsen zu werden. Noch nach der Mitte des 19. Jahrhunderts lag die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland bei etwa vierzig Jahren7. Menschen im Alter von siebzig oder achtzig Jahren waren seltene Ausnahmen. Einfluss der äußeren Erscheinung und der physisch/psychischen Fitness Immer hat die körperliche und geistige Verfassung des Menschen erheblichen Einfluss auf die Zuschreibung des Altersstatus. Für Frauen in traditional geprägten Gesellschaften hat der Beginn des Klimakteriums den Beginn der Altersphase dargestellt (Lehr 1987, s. 5)8. In auch gegenwärtig noch traditional geprägten Kulturen gilt das zumindest für die nichtstädtische weibliche Bevölkerung bis heute9. Unabhängig vom Geschlecht ist das Ereignis Enkel zu bekommen, ein Anlass, fortan zu den Alten zu zählen. In China gilt noch heute, dass mit der Heirat der Enkel Altsein beginnt (Krieg, 1998, S. 103)10.
schen Erzählung liegt auf der Hand: die Geschichte sollte mahnen. Dazu wird es auch Grund gegeben haben. 7 Zur Entwicklung der Lebenserwartung vgl. Kap. 3. 8 Lehr stellt heraus, wie sehr diese kulturelle Prägung das Selbstverständnis sehr alter Frauen in modernen Gesellschaften bis heute prägt. 9 Zumeist wird mit Beginn des fünften Lebensjahrzehnts das Eintreten der Menopause konstatiert. Diesen Hinweis verdanke ich der muslimischen Studentin R. (die nicht namentlich genannt werden möchte). 10 China ist wie Japan (und möglicherweise andere Länder) ein Beispiel für die Koexistenz traditionaler und moderner diesbezüglicher Normen (Krieg 1998, S. 100; Formanek 1998, S. 115ff). Beide Länder sind hier auch insofern von Interesse als es sehr hohe Anteile Alter in der Bevölkerung gibt. Japan hat den höchsten Anteil weltweit.
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Individualität des Alters Zurück zur körperlichen Befindlichkeit. Gebrechlichkeit, graue Haare, schwerfällige Bewegungsabläufe und ein verlangsamtes Reaktions- und Sprachvermögen lassen Menschen „alt aussehen“. Umgekehrt wirken ältere Menschen, die diesem gewohnten Altersbild nicht entsprechen, auf andere jünger und schätzen sich selber zumeist auch so ein. Übrigens halten sich ältere Menschen heute weit überwiegend für jünger erscheinend als sie es nach ihrem Geburtsdatum sind und geben auch vor, sich „jünger zu fühlen“. Was andere von Alten erwarten: die Altersrolle Schließlich ist die Altersrolle dem Wandel unterworfen. Unter Altersrolle sind die Erwartungen der Gesellschaft, auch die des persönlichen Umfelds, also der Familie, Nachbarschaft, Berufs-, Vereinskollegen usw., an den alten Menschen zu verstehen. Gemeint ist damit auch das durch die Gesellschaft akzeptierte Verhalten seitens des Rollenträgers. Dazu gehört die Art zu leben, das äußere Erscheinungsbild, Hobbys usw. Ein Wandel der Altersrolle gegenüber früher, wird sichtbar, wenn z.B. Fotografien alter Menschen verschiedener Epochen miteinander verglichen werden, oder wenn heute lebende Alte über ihre eigenen Erfahrungen mit Alten aus ihrer Kindheit berichten. Entspricht jemand in Verhalten und Erscheinung der Altersrolle, wird er schon deshalb – unabhängig von seinem kalendarischen Alter – als alt gelten. Ein „Abweichler“ dagegen wird sich die Zuschreibung des „komischen Kauzes“ gefallen lassen müssen. Freilich nimmt heute die Verbindlichkeit von sozialen Rollen und gerade auch der Altersrolle ständig ab. Toleranz und auch Beliebigkeit geben den Ton an und schaffen große Verhaltensspielräume. Dennoch ist die Altersrolle nicht verschwunden, gibt es nach wie vor Regeln und Tabus, wenngleich diese variieren und in Abhängigkeit von Wohnortgrößen, Bildungs- und Berufsstatus und der Zugehörigkeit zum Geschlecht, zu sozialen Schichten, Ethnien und Milieus stehen11. Alter = Ausscheiden aus dem Produktionsprozess In traditionalen und modernen Gesellschaften gilt das Ausscheiden aus dem Produktionsprozess als ein wichtiges Datum für das Altwerden. Mit Produktionsprozess ist gemeint die individuelle Beteiligung an einem durch Arbeitsteilung gekennzeichneten gesellschaftlichen Prozess, der das (Über-)Leben des Einzelnen und das Funktionieren der Gesellschaft, also die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, bewirkt. Das Ausscheiden aus dem Produktionsprozess bedeu-
11 Zum Wandel des Altersbildes vgl. Kruse/Schmitt (2005, S. 9 bis 17).
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tet das Ende gesellschaftlicher Nützlichkeit und im Regelfall den Beginn von Bedürftigkeit. Moderne Gesellschaften schaffen hierfür rechtlich verbindliche Regeln (wenngleich es Auflösungserscheinungen gibt). Altwerden ist also mit einem konkreten Datum verbunden und von der Sonderheit des Individuums unabhängig zu machen. Mit 65 wird das Rentenalter erreicht. Basta! Von da ab beginnt das Alter12. In modernen Gesellschaften, so auch in Deutschland, sind jüngst Wandlungen hinsichtlich des Stellenwertes von Erwerbstätigkeit im höheren Lebensalter zu bemerken. Der 5. Altenbericht der Bundesregierung (2005, S. 85 ff) spricht von einem „veränderten Ruhestandsbewusstsein“. Festzustellen sei ein variabler Umgang mit der Bewertung von Erwerbstätigkeit im Alter. Bei bleibender Abhängigkeit vom Berufsstatus und der Gesundheit wird das Ausscheiden aus dem Berufsleben nicht mehr generell negativ oder positiv bewertet. In der modernen Gesellschaft, die auch eine Freizeit- und Erlebnisgesellschaft ist, spielt die Freiheit über die eigene Zeit eine zunehmend wichtige Rolle. Von daher sind die Nichtmehrerwerbstätigen im Vorteil, denn sie verfügen über mehr Zeit. Damit erhält das Etikett der Nutzlosigkeit zumindest ein Gegengewicht und die Gleichsetzung des Ausscheidens aus dem Berufsleben, mit Nutzlosigkeit und Altsein ist fragwürdig geworden. Dies auch deshalb, weil das Datum für das Ende der Erwerbstätigkeit schon lange immer stärker variiert13. Die Wissenschaft vom Alter wird die Vielschichtigkeit des Problems bei der Begriffsbestimmung beachten müssen. Sie benötigt einen Altersbegriff, der an nachvollziehbaren, möglichst an messbaren Kriterien festzumachen ist. Darauf soll im nächsten Abschnitt eingegangen werden. 2.2.2
Altern und die Lebensphase Alter: Versuch einer wissenschaftlichen Begriffsbestimmung
Alter wird im Alltag zunächst mit dem kalendarischen oder chronologischen Lebensalter verbunden. Jeder ist danach so alt, wie es sich rechnerisch aus der Differenz zwischen Geburts- und aktuellem Datum ergibt. Das kalendarische Alter hat aber nur eine begrenzte Aussagekraft für das individuelle alt sein, sich alt
12 Die Rentendiskussion der Gegenwart hat inzwischen zu einer stufenweise Heraufsetzung des gesetzlichen Rentenalters auf 67 führen. Der erste betroffene Geburtsjahrgang wird 1947 sein. Angemessener – weil an den berufsbedingten Anforderungen und an der individuellen Leistungsfähigkeit orientiert – wäre ein flexibles Rentenalter, wie es ebenfalls derzeit zaghaft diskutiert wird. 13 In höher bewerteten Berufen, insbesondere den „freien“ (Anwälte, Ärzte), aber auch bei selbständigen Handwerkern steigt derzeit das Alter für den Renteneintritt (vgl. hierzu Kap. 7 Wie Alte leben).
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fühlen und ebenso das durch Gesellschaft und Kultur geprägte als alt gelten. Aus dem kalendarischen Alter sind nur bedingt Rückschlüsse auf den individuellen Gesundheitszustand oder einen möglichen sozialen Rückzug aufgrund des Alters zu ziehen. Weder das psychologische Alter – allgemeiner gesagt: die geistige Leistungsfähigkeit – muss mit dem kalendarischen Alter übereinstimmen, noch gilt dies für die organische Konstitution, die sich mit dem Begriff biologisches Alter benennen lässt. Schließlich ist vom sozialen Alter die Rede, wenn es um den unterschiedlichen Grad der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben oder den Rückzug aus sozialen Rollen (z.B. der Erwerbstätigkeit) und gesellschaftlich geprägten Verhaltensmustern (z.B. nach dem Auszug der Kinder aus der gemeinsamen Wohnung) geht. Ab wann jemand als alt gilt, ist also von verschiedenen individuellen und gesellschaftlichen Faktoren abhängig. Lebensphasen in modernen Gesellschaften Es ist gemeinhin üblich, ein menschliches Leben in Verlaufsphasen zu gliedern, nämlich in körperlich-organisch sowie sozial und lebenszyklisch determinierte Abschnitte. Die Rede ist dann von Lebensphasen, von: Kindheit, Jugend, Reife (= Erwachsenenalter geprägt durch Erwerbstätigkeit) und Alter. Während dieser Phasen sind jeweils prägnante Unterschiede hinsichtlich der organischen und psychischen Reife bzw. deren Wachsen oder deren Reduktion festzustellen. Ebenso ändern sich die Stellung in der Gesellschaft, die Position, die Partizipationsmöglichkeiten, die Zugangsmöglichkeiten zu Macht und Einfluss. Die soziale Bedeutung von Lebensphasen spiegelt sich in den Institutionalisierungen – d.h. im Vorhandensein von Regeln und Symbolen – insbesondere bei den Phasenübergängen wider. Ein nachvollziehbar wichtiger Phasenübergang – auch Rite de passage genannt – ist jener zwischen Jugend und Erwachsenenalter. Naturvölker, aber auch moderne Gesellschaften haben hierfür so genannte Initiationsrituale geschaffen14. Auch für das Erreichen des Rentenalters gibt es Rituale. So gibt es Dankesreden und Feiern, zumindest aber einen mit guten Wünschen verbundenen Händedruck seitens des Vorgesetzten. Je länger die Lebenserwartung und je differenzierter moderne Gesellschaften sind, umso reicher an Lebensphasen werden die Biographien der Menschen. Von einer Lebensphase Jugend – in Unterscheidung zu Jugend als körperlichem
14 Beispiele: In Deutschland (West) für Mitglieder der Evangelischen Kirche die „Konfirmation“. Derzeit gepflegter Traditionsbestand aus Zeiten des Sozialismus in den neuen Bundesländern ist entsprechend die „Jugendweihe“.
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und geistigem Zustand – war in traditionalen Gesellschaften nicht die Rede15. Das gleiche gilt übrigens für Kindheit im Sinne eines abgesonderten und behüteten Lebensbereichs. Und es gilt für die Lebensphase Alter. Diese war – schon wegen der geringen durchschnittlichen Lebenserwartung – in archaischen und traditionalen Gesellschaften nur für sehr wenige Menschen erlebbar. D.h. hohes Lebensalter kam zwar vor, hatte aber eine andere gesellschaftliche Bedeutung, weil es ein massenhaftes Erleben dieses Lebensabschnitts nicht gab. Dennoch gab es Regelungen für das Verhalten der Generationen untereinander, dies z.B. für die Übergabe des Besitzes an die nächste Generation, ebenso Verpflichtungen für die Versorgung von Alten. Von einer Lebensphase Alter wird hingegen erst gesprochen, seit dies ein für alle wahrscheinlich und bewusst erlebbarer Zeitabschnitt geworden ist. Lebensphase Alter kann auch als eine Addition von Jahren an das Leben im Sinne eines gestaltbaren Zugewinns verstanden werden. Historisch möglich wurde diese erst in der Moderne, als einer „Gesellschaft des langen Lebens“ (Klose 1999, S. 226). Wann beginnt die Lebensphase Alter? Wo der Beginn der Lebensphase Alter für die Gegenwart datiert wird, ist in der Fachliteratur nicht einheitlich dargestellt. Man kann ihren Anfang auf das vom Gesetzgeber festgelegte Datum für den Austritt aus dem Erwerbsleben legen. Das ist aber insofern problematisch, weil – zumindest derzeit in Deutschland – nur eine Minderheit mit der Vollendung des 65. Lebensjahres in den Rentnerstatus wechselt. Die Mehrheit scheidet früher aus16. Obwohl die gesetzliche Festlegung des Rentenalters nicht beliebig ist, sondern den allgemeinen Altersabbau und die Lebenserwartung reflektiert, ist sie letztlich willkürlich gesetzt. Denn einerseits kann sie den stets individuell verlaufenden Alterns- und Abbauprozess eines Menschen nicht berücksichtigen und andererseits setzt der körperliche und geistige Altersrückbau durchaus schon viel früher ein. „Altern beginnt mit der Geburt“.
15 Die Forschung ist sich uneins darüber, ob in der Zeit vor der Moderne, also in traditionalen Gesellschaften, bereits Jugend als Lebensphase existiert hat. Vgl. z. B. Abels (1993). 16 In Deutschland ist der Anteil älterer Beschäftigter zwischen 55 und 64 in den letzten Jahren ständig zurückgegangen. Gegenwärtig sind von dieser Altersgruppe nur 42 Prozent noch im Erwerbsleben. Nur eine Minderheit erreicht also das offizielle Rentenalter im Status der Erwerbstätigkeit. Das ist in einigen europäischen Ländern ähnlich (Kruse/Schmidt, 2005, S. 10). Es gibt aber auch Unterschiede. So sind in der Schweiz heute 70 Prozent dieser Altersgruppe noch im Erwerbsleben. Von den über 64jährigen Männern waren in der Schweiz 1994 18,5%, in Deutschland nur 4,7% noch erwerbstätig (Höpflinger 2000, S. 79). In Deutschland ist im Frühjahr 2006 die Erhöhung des Renteneinstiegsalters auf 67Jahre fest gelegt worden.
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Oder: Wer dieses Kapitel liest, wird danach älter (und hoffentlich informierter) sein, als zuvor. Alter und die damit einhergehenden Veränderungen – zunächst Entwicklung und Wachstum, dann Rückbau – sind nicht nur Zustand, sondern müssen als Kontinuum gesehen werden. Die wissenschaftliche Erforschung des Alters kann sich nicht auf die Untersuchung eines bestimmten Augenblickszustands beschränken. Sie muss vielmehr, gerade wenn sie altersbedingte, meist als nachteilig empfundene Veränderungen lindern oder aufheben will, sich für den langen Prozess des Alterns und seine vielfältigen Bedingungszusammenhänge interessieren. Deshalb ist Wissenschaft vom Alter immer auch eine solche vom Altern. Auf den konkreten Menschen bezogen, ist der Verlauf des Alterns stets mehr oder weniger weit fortgeschritten. Wobei dieser Ablauf sich unlinear vollzieht und abhängig ist von ganz verschiedenen Faktoren. Dazu gehören die erbliche Veranlagung, Umweltbedingungen, ausgeübter Beruf, erlittene Krankheiten und Unfälle, „Schicksalsschläge“, die Art des persönlichen Umgangs damit und die „seelische Bewältigung“. Wer ist alt? Wer sind im Sinne der Alternsforschung „Alte“, „Menschen im höheren Alter“, „Bejahrte“, „Betagte“ oder „Senioren“? Wer ist das „Objekt“ der Wissenschaft vom Alter(n)? Die Fachliteratur versteht darunter Menschen, die sich im Verhältnis zur beobachteten statistisch errechneten durchschnittlichen Lebenserwartung in einem fortgeschrittenen Alter und deutlich jenseits der statistischen Lebensmitte befinden. Fachwissenschaftler verstehen unter alten Menschen (=Alte) jene, die das 60ste, häufiger: das 65ste Lebensjahr vollendet haben17. Gelegentlich werden bereits die ab 55jährigen, seltener die ab 50jährigen dazu gezählt. Differenzierung der Lebensphase Alter Nie zuvor gab es eine derart lange Spanne des menschlichen Lebensalters wie heute. Für die wenigen, die 100 und mehr Lebensjahre erreichen kann die Lebensphase Alter deutlich mehr als ein Drittel eines Menschenlebens umfassen. Schon deshalb, aber auch, weil die körperlichen Befindlichkeiten, ebenso wie die Möglichkeiten am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben, heute sehr unterschiedlich sind, ist es sinnvoll von mehreren Altersgruppen innerhalb der Lebensphase Alter zu sprechen (Bundesministerium 2001, S. 46). Unterschieden wird zwischen
17 Die Anlehnung an das gesetzliche Rentenalter ist offenkundig.
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„Jungen Alten“ (ab 60 oder 65 bis 70), „Alten“ (70 bis 80 oder 85), sowie „Ganz Alten“ oder „Hochbetagten“, auch „Hochaltrige“ (ab 80 oder 85“) genannt. Auch hier ist offenkundig die Sprachregelung seitens der beteiligten Wissenschaften uneinheitlich. Der bekannte deutsche Alternsforscher Paul B. Baltes spricht für die Hochbetagten von der „Vierten Lebensphase: nach Kindheit/Jugend, Erwachsensein und Alter (Baltes 1999, S. 437)18. Die Hundertjährigen im Blick, wird auch von „Langlebigen“ gesprochen. Dominanz der „Jungen Alten“ Nur für einen Teil der Alten, unter ihnen aber ein beträchtlicher Teil der Hochbetagten, treffen heute die Beobachtungen zu, die früher fast generell für Alte – oft nannte man sie Greise – galten, nämlich eine starke allgemeine – körperliche wie geistige – Aktivitätsreduktion in der Folge von körperlichem und geistigem Verfall. Einhergehend mit dem wachsenden Unvermögen zur Selbstversorgung entsteht Abhängigkeit, steigen die Kosten für die Versorgung, die schnell eigene finanzielle Möglichkeiten überfordern, verstärkt sich die Tendenz zum Rückzug aus sozialen Kontakten, ist der Alte am Ende eines selbst bestimmten Lebens angekommen. Für die deutliche Mehrzahl der heutigen Alten gilt dies nicht. Die „Neuen Alten“ (Clemens 1993, S. 62, Dieck/Naegele 1993, S. 43; Tews 1990; Opaschowski 1998) stehen „mitten im Leben“, und dies oft unabhängig von der Frage fortdauernder beruflicher Tätigkeit. Sie sind gesundheitlich nicht oder nur wenig eingeschränkt, führen allein oder in Partnerschaft einen eigenen Haushalt und sind materiell durch Renten und private Zusatzversorgung, Erspartes, Eigentum usw. hinreichend bis gut versorgt. Sie gestalten ihre Zeit und ihr Leben selbst bestimmt, treiben Sport, bilden sich weiter, haben Hobbys, Ehrenämter, gehen auf Reisen oder in die Politik. Die „neuen Alten“, das sind die „aktiven Alten“. Die Altersspanne ist breit. Sie reicht von den ab 55- oder 60jährigen, oft in Deutschland schon aus dem Berufsleben Ausgeschiedenen, bis hin zu den 75- bis 80jährigen. Der Anteil dieser Altersgruppe umfasste in Deutschland 2002 ca. 20 % der Gesamtbevölkerung. Ihr Anteil an allen Alten (60+) lag bei mehr als 80 %19. Der
18 Der Status Hochaltrigkeit ist u. a. von den Sterblichkeitsverhältnissen einer Gesellschaft abhängig. In einer Gesellschaft mit niedriger Lebenserwartung mag 50 oder 60 als hochaltrig gelten. Entsprechend kann man Hochaltrigkeit definieren als das Lebensalter, mit dessen Erreichen 50 Prozent der Angehörigen eines Geburtsjahrgangs verstorben sind (Vierter Bericht zur Lage der älteren Generation, 2002, S. 53). 19 Berücksichtigt wurden für die Ermittlung der Zahl der „Neuen Alten“ die 60 bis 80jährigen (Statistisches Jahrbuch 2004, S. 42, eig. Berechnungen)
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größte Teil von ihnen erlebt das Alter als lebenswerte Lebensphase, als „gutes Leben“ und auch als ein Stück „späte Freiheit“ (Rosenmayr, 1983)20. 2.2.3
Jugendbewegung und Jugendmythos: Überraschende Impulse für die Alter(n)sforschung21
Die Fortschritte der gesellschaftlichen Modernisierung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ließen eine ständig größer werdende Zahl von Menschen ein höheres Lebensalter erreichen. Da nach wie vor die Kinderzahl pro Frau hoch blieb, kamen immer mehr Menschen auch in das fortpflanzungsfähige Alter. Die Bevölkerung wuchs rasant. Die Aufhebung von in der Feudalzeit üblichen Heiratsbeschränkungen22 tat ein Übriges, um die absoluten Geburtenzahlen ansteigen zu lassen. In dieser demographischen Phase stieg am stärksten der Bevölkerungsanteil der Jungen. Wachsende Bevölkerungen werden stets zahlenmäßig dominiert durch die Jugend. Diese Entwicklung wurde (und wird auch heute in Ländern mit starkem Bevölkerungswachstum) begünstigt durch den rapiden Rückgang der Säuglings- und Kindersterblichkeit. Nun haben Neugeborene auch eine große Wahrscheinlichkeit, das Erwachsenenalter zu erreichen. Der hier nur skizzierte demographische Wandel (vgl. Kap. 3.) zu einer „jungen Gesellschaft“ ließ einen geeigneten Hintergrund entstehen, für eine sich bald ausbreitende Bewegung, die auf den Primat von Jugendlichkeit setzte: die Jugendbewegung. Jugendbewegung und Altersfrage Ohne auf die Jugendbewegung hier näher eingehen zu können, soll der mit ihr verknüpfte Wertewandel angesprochen werden. Ausgehend vom „Sturm und Drang“ in der Literatur23 war sich die Jugendbewegung einig in der Ablehnung 20 Das bestätigen Umfrageergebnisse. Eine deutliche Mehrheit ist zufrieden mit ihrem Leben. (vgl. Kap. 7.10). 21 Den Jugendmythos (oder Jugendkult) positiv in einen Zusammenhang mit dem Interesse an Alter(n)sforschung zu bringen mag überraschen. So wird der Jugendkult eher als „Feind“ der Alten und als Grundlage ihrer Diskriminierung gesehen (Schirrmacher 2004). 22 In traditionalen Gesellschaften ist die „Heiratsfähigkeit“ nicht vom Gesetzgeber, sondern von standesherrlicher Zustimmung abhängig. Derzeit wird als Begleiterscheinung multikultureller Gesellschaften die Kluft zwischen Tradition und Moderne am Beispiel der „Zwangsverheiratung“ aus den Herkunftsländern von muslimischen Migranten „eingeführter“ junger Frauen mit in Deutschland aufgewachsenen Männern beobachtet. Die aus dem Herkunftsmilieu stammenden Bräute, gelten anders als ihre westlich sozialisierten Geschlechtsgenossinnen als geeignet, kulturelle Traditionen im Einwanderungsland fortzuschreiben (vgl. Kelek, 2005). 23 Hingewiesen sei nur stellvertretend für ein ganzes Genre in der Literatur auf Goethes berühmten Roman „Die Leiden des jungen Werther“.
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traditioneller Werte, der „Welt der Erwachsenen“, in ihrem Glauben an „Ideale“, eine „bessere Welt“, die „der Jugend gehöre“24. Jugendliche Werte erreichten über Kunst, Literatur, Architektur25 und Industriedesign seit dem frühen 20. Jahrhundert nicht nur die intellektuellen und bürgerlichen Oberschichten der Gesellschaft. Doch wo liegt ein Zusammenhang zwischen Jugendbewegung und der „Entdeckung des Alters“? Die Jugendbewegung verstand sich doch gerade als Protestbewegung gegen die bürgerliche und als dekadent geradezu verhasste Welt der Alten. Sie zielte darauf, Jugend zum Leitbild der Gesellschaft zu machen. Dies bewirkte auf längere Sicht eine Umwertung der Lebensalter im bisher noch nicht geschehenen Ausmaß, und zwar im Sinne einer sich nun dauerhaft durchsetzenden Geringschätzung alles Althergebrachten, der Traditionen, des an Alte gebundenen Erfahrungswissens. Jugendbewegung setzte auf das ständig Neue, das Unbelastete und Unverbrauchte. Alter dagegen galt als unproduktiv und morbid. Unter dem Einfluss des Humanismus und des Pietismus hatte Alter zuvor an positiver Einschätzung dagegen gewonnen und unter dem Eindruck der Armutsprobleme im sich entfaltenden Industriekapitalismus waren die alten christlichen Gebote der Nächstenliebe und Achtung der Alten bekräftigt worden. Das begann sich vor dem Hintergrund des demographischen Wandels, der Fortschrittsgläubigkeit und dem Jugendkult umzukehren. Dabei setzte Jugendbewegung nicht auf den Fortschritt im Sinne der bürgerlichen Werte. Vielmehr verband sie Zivilisationskritik und Romantik zu einem Gegenentwurf für eine bessere Gesellschaft. Diese sollte von unverbrauchter und unkorrumpierter Jugendlichkeit bestimmt sein. „Wer die Jugend hat, hat die Zukunft!“ Zwar haben Ideologien sich diese Logik gern auf frevelhafte Weise zu Eigen gemacht, der Nationalsozialismus ebenso wie der Marxismus-Leninismus. Für die Durchsetzung des „Jugendmythos“ waren diese Liaisons aber ohne Belang. Es war vielmehr eine Art „Seelenverwandtschaft“ von Jugend und Moderne, die dem „Prinzip Jugendlichkeit“ zum Durchbruch verhalf. Die Moderne, gekennzeichnet durch ihr Prinzip des ständigen Wandels, ihre Gegnerschaft zur Tradition, ihre schnell veraltenden und sich unaufhörlich ablösenden technischen Entwicklungen, das ständige Bauen 24 In dieser Epoche gewinnt nicht zufällig die Pädagogik, die junge Menschen zu „besseren“ formen möchte, an Bedeutung und es entsteht die Jugendforschung. 25 Ein Architekturstil um 1910 herum war der „Jugendstil“, der neben anmutigen weiblichen Bildnissen auf naturbildliche Ornamentik setzte und damit die der Jugendbewegung anhaftende Orientierung an Natur und Reinheit symbolisierte.
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und Einreißen ihrer immer größeren geistigen und materiellen Konstrukte, auch der Glaube an eine bessere – die machbare – Zukunft, das alles schuf einen Zeitgeist, einen Lebensstil, der „Jugend“ zum Durchbruch verhalf26. Das Erbe der „68er“ Nun setzte sich das Prinzip der Moderne nicht in einem Zuge durch. Der „Siegeszug“ erfolgte in Etappen. Den finalen Schub bewirkte die Protestgeneration der „68er“. Mit dem Ende der so genannten Restaurationszeit der Adenauerära in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, revoltierte zunächst die akademische Jugend lautstark und z. T. auch gewaltsam gegen die „verlogene“ Welt der Erwachsenen und deren „kapitalistisch-bürgerliche“ Weltordnung. Alles Agitieren setzte auf Freiheit und Individualität, auf Befreiung von Herrschaft, von „Fremdzwängen“ – einschließlich einer „Befreiung“ der Sexualität („Make love not war!“). Und es setzte auf Kreativität, auf Unkonventionalität, Spontaneität, vor allem auf Ungehorsam, Provokation und Häme gegenüber den alten Traditionen und die diese verkörpernden Autoritäten; in Summa auf Verhaltenskodierungen, die gemeinhin jugendlichem Lebensalter vorbehalten sind. Die studentische Protestgeneration der so genannten „68er“ erreichten zwar nicht ihr großes politisches Ziel, die Überwindung der „spätkapitalistischen Klassengesellschaft“. Viele ihrer Ideale bewirkten vielmehr, dass der gebrandmarkte „Konsumterror“ sich eher verstärkte und bisherige Symbole des Protests, wie provozierende Kleidung, Haartrachten, Musik-, Kunst- und Kulturevents, als Umsatz steigernde Elemente in die Angebotssortimente des Konsum- und Kulturkommerzes adaptiert wurden. Auch dies ist ein Beitrag zum Wertewandel27. Die von den Waren- und Dienstleistungsanbietern betriebene werbliche Verbreitung „jugendlicher Werte“ wie Unkonventionalität, Schönheit, Fitness, Spaß und 26 Ähnlich die These von Claudius Seidl: „Zur Jugendlichkeit verdammt“. Was von ihm weiter geführt wird, damit, dass zur heute geforderten ständigen Flexibilität und Transformationsbereitschaft Jugendlichkeit die Voraussetzung ist. (Seidel 2005, S. 5). 27 Der sog. Wertewandel ist in der sozialwissenschaftlichen Literatur vielfach dargestellt worden. Vgl. dazu den bekannten Buchtitel von Roland Inglehart (1989). Dessen zentrale These ist, dass es unter bestimmten historischen Voraussetzungen zu einem dauerhaften Wandel von „materiellen“ zu „postmateriellen“ Werten kommen würde. Die These ist inzwischen heftig umstritten, z.B. seitens der Jugendforschung. Vgl. Florian Illies (2000) und Markus Klein (2003) Danach ist die Werteorientierung der Kinder der „68er“, der sogen. Protestgeneration, wieder eine materialistische. Ein scharfer populistischer Wind weht der Generation des „Wertewandels“ derzeit von jenen entgegen, die im Wertewandel der „68“ den Grund für die großen Miseren der Gegenwart in der Gesellschaft Deutschlands sehen. „Selbstverwirklichung“, vulgo die „Spaßgesellschaft“ sind zum politischen Reizwort eines Teils der politischen Rechten geworden. Vgl. dazu den Bestseller von Peter Hahne (2004): Schluss mit lustig. Das Ende der Spaßgesellschaft.
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Erleben, Tempo, Fernweh und Abenteuer hat geholfen, Jugend zum – altersunabhängigen – Lebensstil zu befördern. Eine vom Lebensalter abgekoppelte Jugendlichkeit gilt als attraktiv. Sie ist inzwischen weitgehend soziale Norm, die Konformität erwartet. Zwar macht uns noch immer ein – sehr – hohes Lebensalter Staunen. Doch Bewunderung gilt allein der Fitness Hochbetagter und der Tatsache, dass körperlicher Vergänglichkeit irgendwie „ein Schnippchen geschlagen“ wurde. Altersunabhängige Jugend ist auch deshalb für jeden so attraktiv, weil sie den tatsächlichen Verlust der Jugend – und dies sozial akzeptiert und damit legitimiert – vertuscht und so von der Unausweichlichkeit des eigenen langsam verlöschenden Lebens abzulenken verspricht. Jugendbetonte Verhaltensweisen, entsprechende Kleidung, Hobbys, Reisetätigkeiten u. a. sind Symbole dieser jugendlichen Lebensnorm und zugleich Ausdruck einer „Infantilisierung“ der Gesellschaft. Schließlich und nicht zu unterschätzen ist die Bedeutung der Jugendnorm als Wirtschaftfaktor. Ein noch immer an Breite und Differenzierung gewinnendes Angebot an Therapien, Kosmetika sowie die ganze Erlebnis-, Unterhaltungs-, Tourismus- Fitness-, Schönheits- und Wellnessindustrie schafft Umsatz, Profit und Arbeitsplätze. Die Rolle der Massenmedien Nicht nur der Kommerz, auch die Massenmedien sind ein starker Motor für die Ausbreitung des Jugendkults. Die Helden von Film und Fernsehen, von Sport und Unterhaltungssendungen, der Werbung, selbst Nachrichtensprecher und ihre weiblichen Pendants, sie alle verkörpern (zumeist) eine jugendfrische Anmutung. Nun altern im kalendarischen Sinn Schauspieler und Entertainer zwar wie alle anderen. In Erscheinung und Habitus aber scheinen sie irgendwann auf der Stelle zu treten. Sie konservieren dank der Künste der Visagisten und anderer Jugendlichkeitsspezialisten den ewig jungen, oder besser: alterslosen Altersstatus. Bereits seit den 1930, 1940er Jahren ist dieses Phänomen im „Schrittmacherland“ der modernen westlichen Zivilisation, den Vereinigten Staaten, zu beobachten gewesen. Von dort hat es sich in alle Welt ausgebreitet. Publikumslieblinge wie Cary Grant, der englische Hollywoodschauspieler, gerieten zum Prototyp des alterslosen medialen Zeitgenossen. Dieser transportierte jugendliche Alterslosigkeit in die Kinosäle und später via Fernsehen und Video in die Wohn- und Kinderzimmer und auch in die Altenheime. In seinen späten Dreißigern hörte Grant einfach auf mit dem Älterwerden. „Cary Grant blieb jahrzehntelang fast derselbe jugendliche Mann“ (Seidl 2005, S. 5), an dessen Seite allein die alternden Frauen ausgewechselt werden mussten. Zur Jugend verdammt ist seitdem der Großteil
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unserer Medienhelden. Für viele „Normalsterbliche“ sind sie Vorbilder. Die Liste aktueller Beispiele ließe sich mühelos erweitern. Alt werden, ohne sich alt zu fühlen „Kein Mensch will gerne alt werden“, behauptet Frank Schirrmacher in seinem Bestseller „Das Methusalem-Komplott“ (2004, S. 1328). Das ist nur vordergründig richtig. In Wahrheit wollen die meisten von uns heute gerne alt werden. Wir wollen lange leben, was sich freilich erst dann herausstellt, wenn wir in die „Jahre gekommen sind“. Wir wollen das Leben gerne auskosten bis zuletzt, mit konstant „sprudelnder“ jugendlicher Kraft und Lebensfreude. Mit anderen Worten: wir wollen alt werden, ohne alt zu sein; will heißen: alt werden, ohne sich alt zu fühlen. Das ist Wunschtraum und Widerspruch, doch inzwischen nicht nur dies. Für viele ist daraus – freilich befristet – längst Realität geworden. Zwar ist das Risiko eines späten Tages doch „alt auszusehen“ und sich alt zu fühlen, keineswegs verschwunden, aber es ist – wissenschaftlichem Fortschritt sei Dank – kleiner geworden29. Jugendmythos – alles schon `mal da gewesen Wie alt ist der „Jugendmythos“? Vielfach wird er für ein noch junges Phänomen gehalten. Ohne Frage haben die heutigen Alten ihre eigenen Eltern in deren vorgerücktem Alter in Habitus, Kleidung usw. deutlich unterschieden zum heutigen Erscheinungsbild erlebt. Man war mit fünfzig oder sechzig alt. Und wer sich als alter Mensch in Verhaltensweise, Kleidung und Sprache vor – sagen wir fünfzig Jahren – am Vorbild der Jugend orientierte, gab sich der Lächerlichkeit preis, rief Unverständnis und Ablehnung hervor30. Der Anfang des Wandels jedoch liegt lange zurück. Waren es anfänglich Künstler, Schauspieler, Literaten usw., die vom Pfad traditioneller Tugenden kokett abzuweichen wagten, gewann allmäh28 In wenig überzeugender Weise versucht Schirrmacher den „Jugendkult“ und seine Ideale für die „Diffamierung des Alters“ verantwortlich zu machen. Dem müsse ein Komplott der „Methusaleme“, jene kollektiv altwerdenden „Babyboomers“ (die geburtenstarken Jahrgänge der 1960er Jahre) sich entgegenstellen. Aus offenbar egoistischen Motiven. Denn diese künftigen Alten, wollen verständlicherweise nicht diskriminiert werden, was Schirrmacher für die jetzigen Alten behauptet. 29 Dieser Fortschritt bewirkt allerdings, vor allem wegen des demographischen Wandels, hohe Kosten (vgl. Kap. 5 Soziale Sicherung) 30 Vgl. dazu Bert Brechts schlichte aber eindrucksvolle „Kalendergeschichte“ mit dem Titel „Die Unwürdige Greisin“. Hier führt eine alte Frau nach dem Tod ihres Mannes ein gar nicht spektakuläres aber außerhalb der damals (wohl gegen Ende des 19., frühen 20. Jh.) üblichen Norm verlaufendes Leben. Sie nimmt sich – plötzlich – gewisse „Freiheiten“ heraus, wozu gelegentliches Essen im Wirtshaus und das Verkehren mit Menschen, die andere mieden (hier: ein „Krüppel“) gehörten. Die Familie wendet sich fassungslos ab von der „unwürdigen Greisin“.
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lich eine „Revolution der Lebensläufe“ an Boden31, wird Jugend inzwischen als Lebensstil gelebt. Und noch ein wenig Geschichte. Der Traum von der „ewigen Jugend“ ist viel älter. Wir begegnen ihm z. B. in der Kunst der Antike und des Mittelalters, die oft Jugend idealisierend überhöht und mit Ästhetik, Kraft und Schönheit verbindet. Zeugnisse mittelalterlicher Künstler liefern beredte Beispiele32 . Aus dem Traum „ewige Jugend“ Realität werden zu lassen, ist der Moderne vorbehalten. Nur sie verfügt über die Arsenale des Könnens, Machens und Dürfens. Sie hat die Wissenschaft, die Technik, die Spezialisten und Experten, sie hat das Geld. Und sie hat den Glauben an Gestaltbarkeit durch des Menschen Hand und Hirn. Und sie hat die Hemmungen überwunden, irgendetwas nicht tun zu dürfen, was sie tun könnte. Die Rolle der Wissenschaft im Allgemeinen und der Alter(n)swissenschaft im Besonderen ist dabei nicht zu überschätzen. Die „Herstellung“ von Jugendlichkeit, die Entwicklung von Methoden zur Abschaffung des Alterns, das alles ist auf die Erforschung der Ursachen des Alterns angewiesen. 2.2.4
Verjüngungstechniken im „Klima“ wissenschaftlichen Fortschritts und der Wissenschaftsgläubigkeit
Lange zu leben, dennoch gesund zu bleiben, also alt zu werden und zugleich körperlich und geistig jung zu sein, die dazu erforderliche „Quadratur des Kreises“ schien durch den gewaltigen wissenschaftlichen Fortschritt schon zu Ende des 19. Jahrhunderts Realität zu werden. Das führte zu Stilblüten der Wissenschaftsgeschichte, die ohne den oben angesprochenen Jugendmythos nicht denkbar wären. Von den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts an bis Mitte der 1930er Jahre wurden in Deutschland, USA, England und Frankreich von Physiologen und Medizinern Operationstechniken, Hormonbehandlungen u. a. entwickelt und praktiziert, die eine künstliche Verjüngung zum Ziel hatten (Stoff 2004). Diese hatte 31 Vgl. „Die Revolution der Lebensläufe“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. Feb. 2005, S. 42 32 Das Begehren nach blühender Jugend ist alt. Oft trug es Zeichen einer patriarchalen – also von Männern beherrschten – Gesellschaftsordnung. Vgl. das Bild des „Jungbrunnens“ von Lucas Cranach, dem Älteren, als spätmittelalterlichem Beitrag zum modernen Thema „Wellness“. Bei genauerer Betrachtung des Bildes zeigt sich: es geht um Verjüngung – allein – von Frauen! Zu welchem Zweck? Die verjüngte Frau ist – Cranach stellt es deutlich dar – Objekt maskulin-voyeuristischen Genusses! Sinngemäßes gilt für das Faschingsbrauchtum der „Altweibermühle“. Die Altweibermühle war ein Karren, Bestandteil von Faschingsumzügen, dessen Aufbauten die – humoristisch gemeinte – Vorstellung erzeugen sollten, dass alte Frauen durch eine Maschine (!) und durchaus brachial in junge verwandelt wurden!
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u. a. die Nutzung tierischer Sekrete zum Inhalt, bzw. basierten auf Transplantationen tierischer Organe oder nahmen operative Manipulationen an den männlichen Keimbahnen vor. Ausschließlich waren Männer die bereiten Objekte. Von einer Revitalisierung der Libido wurden die Stimulierung aller Körper- und Geisteskräfte und eine dauerhafte Verjüngung erwartet. Es gab eine größere Zahl von Behandlungsfällen, es gab wissenschaftliche Literatur, es gab allerdings auch den Vorwurf der Kurpfuscherei. Der seriöse Charakter dieser Medizin blieb umstritten. Aber es schien Erfolge zu geben. Bei den Operierten traten tatsächlich Verjüngungseffekte auf. Doch diese hatten nur kurzzeitig Bestand. So scheiterten die Verfahren, dies schließlich auch in der Tierzucht, wo man zuletzt noch Fortschritte erwartet hatte33. Der Hinweis auf diese Techniken ist Beleg für einen schon vor über hundert Jahren vorhandenen Jugendmythos und ebenso für die Wissenschaftsgläubigkeit dieser Epoche. Und sie sind Beispiel für Alternsforschung, deren grundlegende Absicht die Verhinderung von Altern ist. 2.2.5
Die „neue Universität“ im 19. und 20. Jh.: Nützliches Wissen für die moderne (Wissens-) Gesellschaft
Die Hinwendung der Forschung zum menschlichen Lebensalter war nicht möglich ohne die neue Universität, ihre Ausdifferenzierung in immer neue Fächer, Forschungsrichtungen und Hochschultypen. Charakteristisch für sie sind die Verknüpfung von Forschung und Lehre, Voraussetzung für eine stetige Aktualisierung des Lehrkanons und der Übertragung von wissenschaftlichem Wissen 33 Diese „Quadratur des Kreises“ schien erstmals Ende des 19. Jahrhunderts zu gelingen. 1889 verbreitete der Neurologe und Physiologe Charles Edouard Brown-Sequard (1817-1894) – nach Selbstversuchen – die Auffassung, dass mittels der Injektion eines aus tierischen Hoden gewonnenen Saftes eine Verjüngung des Menschen erreichbar sei. Seit 1920 sorgten der Wiener Physiologe Eugen Steinacher (1861-1944) und der in Russland geborene, nach Frankreich immigrierte Gynäkologe und Chirurg Samuel Abramowitsch Voronoff (1866-1951) für Aufsehen mit zwei voneinander verschiedenen Verfahren zur geistigen und körperlichen Verjüngung. Beim sogenannten „Steinachen“ ging es um Operationen an den Keimbahnen des Mannes (Abbinden der Samenstränge, was zu einer Revitalisierung der „Pubertätsdrüse“ führte unter Inkaufnahme des Erliegens der männlichen Samenproduktion), während Voronoff Tierhoden oder Teile davon transplantierte. Eine größere Zahl von Behandlungsfällen ist bekannt. Auch Siegmund Freud unterzog sich – in der (vergeblichen) Hoffnung vom Krebs geheilt zu werden – der auch von weiteren Chirurgen übernommenen Methode des „Steinachens“. Das Verfahren war allerdings heftig umstritten und galt einer Mehrheit der Mitglieder der Fachzunft als unseriös. Zweifel galten insbesondere der Person Voronoffs. Ende der 20er Jahre kamen die Behandlungen zum Erliegen, und zwar nachdem ein anhaltender Erfolg sich nach den Operierten nicht einstellte. Bis Anfang der 30ger Jahre gab es aber in der Viehzucht weitere Versuche, die schließlich aber ebenso erfolglos blieben. Damit war diese Blüte hoffnungsfroher Wissenschaftsgläubigkeit verwelkt (Stoff 2004, S. 26ff).
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auf die Gesellschaft. Diese Orientierung nach Außen in Richtung Gesellschaft erforderte eine auf Anwendbarkeit, und Nützlichkeit ausgerichtete Wissens„Produktion“34. Eine Entwicklung, die – ohne auf Grundlagenforschung verzichten zu können – im weiteren Verlauf zur „Wissensbasierung“ der Lebenspraxis geführt hat35. Voraussetzung dazu war die Selbstbefreiung der Naturwissenschaft aus den Fesseln der Bevormundung durch Kirche und feudale Obrigkeit36. Damit war – beginnend schon im 16. Jahrhundert – das „Zeitalter der Wissenschaft und des Wissens“ eingeläutet37. Die Enträtselung der Wirkungskräfte der Natur38 durch die Naturwissenschaften schuf die Grundlage für deren Nutzung. Dieses Prinzip ermöglicht die Konstruktion von Maschinen ebenso, wie das erfolgreiche Bekämpfen von Krankheiten, die Realisierung von Hygienestandards und die Verbesserung und Sicherung der Nahrungsgrundlagen. Die auf Anwendung am Menschen ausgerichteten Humanwissenschaften bestellten seit dem späten 19. Jahrhundert mit Zellforschung, Pharmakologie, Bakteriologie und Immunbiologie, mit der Entwicklung von Medikamenten, Seren und Impfstoffen den Boden für eine allgemeine Verbesserung der Überlebens- und Lebensbedingungen und zugleich für ein sich ausbreitendes Vertrauen in den wissenschaftlichen Fortschritt39. Die modernde Wissenschaft erwies sich als Sieger bei der Suspendierung zahlreicher Krankheiten, der Seuchen und des frühen Todes. Sie verstand es, sich für die Gesellschaft nicht allein nützlich, sondern unentbehrlich zu machen.
34 Wesentliche Impulse für die „neue Universität“ gingen aus von der Preußischen Reformuniversität durch Wilhelm von Humboldt im Jahre 1809. 35 Lit. zur „Wissensgesellschaft“ Nico Stehr (1994) 36 Zur Geschichte der Universität vgl. Ellwein (1985) 37 Zur Vorbereitung für ein „Zeitalter der Wissenschaft“ gehörten die Philosophie der Aufklärung, ebenso der Liberalismus und die allmähliche Übertragung dieser Lehren in gesellschaftliche Praxis, was schließlich zur bürgerlichen Gesellschaft führte. Die bahnbrechenden naturwissenschaftlichen Erfolge – zunächst gegen den durchaus lebensgefährlichen Widerstand der Katholischen Kirche – kann man mit Nicolaus Kopernikus beginnen lassen, der 1507 die Grundlagen für die Durchsetzung des Heliozentrischen Weltbildes schuf. Als Begründer einer modernen, auf Beobachtung und Berechnung beruhenden wissenschaftlichen Methode, gelten Isaac Newton (1687) und Johannes Keppler (vgl. Meyers Großes Universallexikon, versch. Bd. 1981 bis 1987). 38 Das 1596 erschienene, noch auf Spekulation beruhende „Jugendwerk“ des Astronomen, Mathematikers und Physikers Johannes Keppler, trägt den bezeichnenden Titel „Mysterium Cosmographicum“, deutsch 1926: „Weltgeheimnis“. Die Naturwissenschaft schickte sich an, es zu lüften. 39 Dazu zwei Daten: 1881 fand Louis Pasteur einen Impfstoff gegen Milzbrand. 1890 gelang es Eugen Behring durch die Entdeckung von Seren die Immunkraft zu stärken.
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2.2.6
2 Wege zur Alter(n)sforschung
Sozialer Wandel im 19. Jahrhundert: Soziale Frage und Altersfrage
Der Wandel der Gesellschaft im 19. Jahrhundert führte nicht nur zu einer wachsenden Zahl alter Menschen. Zugleich wandelten sich Familie und Nachbarschaft. Alte wurden infolge der Auflösung dörflicher Hausgemeinschaften zurück gelassen und oft auch sich selber überlassen. In den rasch größer werdenden Industriestädten war die Lebenserwartung für das Arbeiterproletariat zunächst gering, waren frühzeitige Invalidität und Versorgungsbedürftigkeit die Regel. Es fehlte an bezahlbarem Wohnraum, um alte, nicht mehr produktive Menschen unterbringen und versorgen zu können. Die Trennung von Wohnstätte und Arbeitsplatz ließ die Möglichkeiten verschwinden, in der Alte sich für die Hausgemeinschaft hätten nützlich machen können. Vor allem aber lösten sich traditionelle Beziehungsmuster und Normen auf. Die zeitgenössische Fachliteratur beklagte neben einer regionalen Entwurzelung – infolge der Migration – auch eine soziale. Zwar ist die lange Zeit kolportierte These von der Universalität der „Großfamilie“ in früheren Gesellschaftsformen und der durch sie gestifteten Harmonie zwischen den Generationen lange widerlegt40. Es gab die „Großfamilie“ ohne Frage, aber es gab sie nicht immer und nicht überall. Verstanden wurde sie als „Drei-Generationenfamilie“ – Großeltern, Eltern und meist zahlreiche Kinder. Dort lebte man, als autarke Produktions- und Versorgungsgemeinschaft unter einem Dach (das „Ganze Haus“41), die neben der eigentlichen Familie noch unverheiratete Verwandte, sowie das Gesinde beherbergte. Diese – im heutigen Sinne Beschäftigten oder Mitarbeiter – empfingen keinen oder nur geringen Lohn, erfreuten sich aber einer bescheidenen freien Unterkunft und Verpflegung und nötigenfalls auch der Pflege. Diese traditionalen Lebensräume entbehrten in der Regel zumeist der ihr später zugeschriebenen Idylle. Denn sie waren immer auch ein Ort von Abhängigkeit, Herrschaft und oft des Mangels. Aber sie regelten das „ganze Leben“, einschließlich seiner Notzeiten, für deren Bewältigung sie auch dann allein zuständig und verantwortlich blieben. Diese Strukturen begannen sich im Wandel zur modernen Gesellschaft aufzulösen, ohne dass Äquivalente entstanden waren, die ihre Aufgabe der Versorgung, insbesondere bei Alter und Krankheit, hätten übernehmen können.
40 Literatur zur Geschichte der Familie: Hubbarb (1983); Mitterauer/Sieder (1982); Segalen (1990). 41 Der Begriff des „Ganzen Hauses“ wurde von einem der ersten Familienforscher Wilhelm Heinrich Riehl (1823-1897) geprägt.
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2.2.7
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Gesundheits- und Altersvorsorge: Anfänge des Sozialstaates im späten 19. Jahrhundert
Die Suspendierung des frühen Todes war nicht möglich, ohne die Existenz eines staatlich geschaffenen Gesundheitssystems in Gestalt von Gesetzen, Versicherungen und den vielfältigen Einrichtungen der Gesundheitsfürsorge, der Pflege, Vorbeugung und Rehabilitation, ebenso der Sozialmedizin und des Arbeitsschutzes. Unverzichtbar für die Herstellung der „Volksgesundheit“ waren zugleich Aufklärung über gesundheitliche Gefahren und deren Abwehr. Der noch junge Nationalstaat übernahm auf dem ersten Höhepunkt der industriellen Entwicklung, die zugleich die sozialen Verwerfungen einer Klassengesellschaft drastisch sichtbar werden ließ, die Rolle der Lebensvorsorge. Dabei spielten humanitäre Erwägungen vermutlich eine eher nachgeordnete Rolle42. Vielmehr waren es die Erfahrungen mit dem staatlichen Laissez-faire des Wirtschaftsliberalismus, der die Verarmung breiter Teile der Gesellschaft hatte geschehen lassen und damit auch die Gefahren politischer Radikalisierung heraufbeschwor. Staatliche Für- und Vorsorge war eine Antwort auf Missstände wie Massenverelendung, die gefährdete „Volksgesundheit“43. und – nicht zuletzt – Befürchtungen um eine Verminderung der Wehrtüchtigkeit44. Der vor diesem Hintergrund entstehende Sozialstaat war ohne wissenschaftliche Forschung und sozialstatistische Daten nicht möglich.
42 Dies ist zugleich die Entstehungszeit des kirchlichen und sozialdemokratischen Wohlfahrtsgedankens. Theodor Fliedner (1800-1864) und Friedrich von Bodelschwingh (1831-1910) gelten als Begründer der modernen (evangelischen) Diakonie. 1897 werden durch Lorenz Werthmann (1858-1921) die katholischen Wohlfahrtspflegeorganisationen zum Deutschen Caritasverband zusammengeschlossen (Meyers Grosses Taschenlexikon (1998), Bd. 4), Marie Juchacz (1879-1956) gründet 1919 den „Hauptausschuss der Arbeiterwohlfahrt“ aus dem später die AWO hervorging (http://www.awo-ortenau.de/geschichte.html, Recherche 18.3.05). 43 Diese Aufgabe wurde u.a. von den Gesundheits- und Hygieneausstellungen übernommen. Ein einflussreicher Aufklärer für Zusammenhänge zwischen sozialer Lage und Gesundheit war der Zellularpathologe und Politiker Rudolf Virchow (1821-1902). Virchow hatte 1848 unter Inkaufnahme persönlicher Nachteile deutlich auf Zusammenhänge zwischen massenhaften Hungertyphuserkrankungen und der Armut der arbeitenden Bevölkerung in Oberschlesien hingewiesen. 44 Wichtiger Teil dieser Vorsorge und lange beispielhaft, ist die ab 1883 eingeführte Bismarck'sche Sozialgesetzgebung, bestehend aus Kranken-, Unfall-, Invaliden- und Alterssicherung.
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2.3 Geschichte der Erforschung des Alters 2.3.1
Das Vorspiel: Aspekte des Alters in Religion, Philosophie und Literatur
„Zu allen Zeiten“ haben in den Hochkulturen45 einzelne Gelehrte oder Weise sich – zumeist selbst im hohen Lebensalter stehend – mit Fragen des Alters beschäftigt. Immer weist das dabei entstehende Bild zwei gegensätzliche Seiten auf: Das menschliche Lebensalter bietet sowohl Vorzüge und als auch Nachteile, es ist positiv als auch negativ zu bewerten. Darin spiegelt sich das unterschiedliche Ansehen alter Menschen. Es bewegt sich zwischen hoher Achtung, Geringschätzung und Karikatur. Unübersehbar wird das Schwinden körperlicher und geistiger Kräfte, werden Rückzug und das Wachsen von Abhängigkeiten wahrgenommen. Doch auch die guten Seiten des Alters finden Beachtung. Dazu gehören die „Schätze“ eines langen Lebens: der Reichtum an Erfahrung, Weisheit und Wissen46. Alter als Thema der Weltreligionen Leben, Vergehen und Endlichkeit sind zentrale Themen der monotheistischen Weltreligionen. Alte verkörpern darin häufig herausgehobene Stellungen. Sie gelten – am Ende ihres irdischen Lebens – Gott ebenso nahe wie den ihnen vorausgegangenen Ahnen. Es sind Alte, die im vorchristlichen Judentum aller menschlichen Erfahrung zum Trotz, Wesen darstellen, die mit einer ungebrochenen Vitalität noch in einem wahrhaft „biblischen Lebensalter“ gesegnet sind47. Im höchsten (eigentlich phantastischen) Alter stehend, zeugen und gebären sie Söhne und Töchter48. Körperliche Fruchtbarkeit im höchsten Alter dient hier als Beleg für das 45 Schon in den Hochkulturen wurde Schönheit mit Jugend, Weisheit mit Alter in Verbindung gebracht. Die Philosophen im antiken Griechenland und im römischen Reich waren alte Männer; so Cicero, als er mit 62 eine Abhandlung über das Alter schreibt, die er seinem Freund Attikus (65 Jahre) widmet (Parkin 2005, S. 41). 46 Eine umfassende und ansprechend gestaltete Kulturgeschichte des Alters von der Antike bis zum 20. Jahrhundert ist unter der Herausgeberschaft von Pat Thane (2005) erschienen. 47 Vorbilder oder Entsprechungen für diese Darstellung finden sich in den mythischen Figuren der antiken Literatur wie Tithonos, Teiresias und die Sibyllen, von denen einige auch als unsterblich galten (Parkin 2005, S. 37). 48 Vgl. das „Geschlechtsregister“ im Buch Genesis, 1. Mose, Kap. 5.: „Adam war 130 Jahre alt und zeugte einen Sohn und lebte danach 800 Jahre und zeugte Söhne und Töchter ...“(auch Kap. 11.) Es handelt sich im Alten Testament nicht nur um Männer, die hier in jeder Erfahrung widersprechen. So wird Abraham, Stammvater des biblischen Volkes nicht nur mit 100 Jahren abermals Vater, sondern nachdem er seine Magd geschwängert hat, tut er selbiges nun auf Geheiß Gottes auch bei seiner Frau Sarai, 90, die damit zu Sara wird. Sie wird Isaak gebären, dessen Söhne die zwölf Stämme Israels begründen (1. Mose, Kap. 17).
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Auserwähltsein durch Gott. An ihnen wird Gott tätig und dies sichtbar für alle. „Das Judentum“, schreibt Rosenmayr, „sieht hohes Alter als Auszeichnung des 'Gerechten' durch Gott an“ (1976, S. 221). Ebenso ist das Verhältnis zwischen Jung und Alt Gegenstand göttlicher Gebote. Im jüdischen Gesetzbuch, der Thora, werden die Jungen zur Achtung und Fürsorge gegenüber den Altern in die Pflicht genommen: „Du sollst Deinen Vater und Deine Mutter ehren“49. Die Bedeutung des Alters, verbunden mit dem Gebot des Ehrens (ein früher „Generationenvertrag“) ist später auf das Christentum übergegangen. Eine gewisse Umkehr hinsichtlich der herausragenden Bedeutung Alter scheint es dennoch mit dem Erscheinen des Neuen Testaments zu geben. Dessen Held und Religionsstifter ist Jesus, ein junger Mann, der in frühen Jahren einen gewaltsamen Tod stirbt. Im Gehorsam gegenüber Gott ist er auf der anderen Seite ungehorsam gegen das Gesetz, ist aufsässig gegenüber den Eltern und vor allem der geistlichen Oberschicht50. Antike, Mittelalter, Neuzeit Im antiken Griechenland scheinen die negativen Konnotationen des Alters überwogen zu haben. Zwar weiß Platon (427-347 v. Chr.) auch Positives darüber zu sagen. So, wenn er eine Zunahme von Weisheit und Gelassenheit sieht. Dazu allerdings sind in jüngeren Jahren die Voraussetzungen erst selber zu schaffen. Das eigene Altwerden bot den antiken Denkern auch Anlass und Anschauungsbasis zugleich für eine verallgemeinernde Betrachtung. Naturgemäß fällt hier eine Zunahme der Gebrechen im Alter auf. Alter wird wahrgenommen, denn nichts deutet auf Besserung, als „unheilbare Krankheit“. So bei Seneca (gest. 65 n. Chr.). Und Aristoteles (384-322 v. Chr.) hält Krankheit in jüngeren Lebensjahren gar für ein „vorzeitig erworbenes Altern“51. Mit Hippokrates (460-370 v. Chr.), dem Begründer der empirischen – also auf Beobachtung und Erfahrung beruhenden – Medizin52, geraten aber bereits Absicht und Methoden des Heilens53,
49 2. Mose, Kap. 20. Entsprechendes gilt für den Islam. Vgl. Sure Isra, Ayat 23: „Dein Herr hat geboten: …. und erweiset Güte den Eltern … stoße sie nicht zurück, sondern sprich zu ihnen ein ehrerbietiges Wort“. Für diesen Hinweis danke ich der muslimischen Studentin R., deren Name ungenannt bleiben soll. 50 Vgl. dazu die Textstellen: Matthäus 12 (Brechung des Arbeitsverbots am Sabbat), Matthäus 23 (gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer, und zahlreiche weitere Textstellen); Markus 3, v. 31 ff (gegen die eigenen Verwandten); Lukas 2, V. 41 ff (gegen die Eltern und Geschwister). 51 Lehr (1979), S. 15f 52 Die empirische Medizin steht für Heilverfahren auf der Grundlage von Beobachtung der Krankheit und der Bewährung von Maßnahmen. Ihr Gegenbild ist die okkultistisch oder spiritistisch verfahrende
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statt einer Hinnahme körperlichen Abbaus, in den Blick. Auch er rät, sollen altersbedingte Krankheiten vermieden oder gelindert werden, zur steten aber maßvollen Betätigung des Körpers. Mit der Wahrnehmung schwindender Kräfte geht zumeist ein Verlust des Ansehens einher. Aber es geht auch anders. In schriftlosen Kulturen, auch in den frühen Schriften führender Zivilisationen verfügen die wenigen Alten oft über ein hohes Ansehen. Denn sie sind diejenigen, die über einen – im Sinne des Wortes – lebenswichtigen Schatz während eines langen Lebens erworbener Erfahrungen verfügen. Das Erfahrungswissen der Alten war Grundlage von Altenherrschaften („Gerontokratien“). Alte galten als die „besten Kenner der heiligen Tradition“ (Max Weber)54. In Kulturvölkern konnte ein in jungen Jahren erworbenes oder auf Grund von Standeszugehörigkeit zugeschriebenes hohes Ansehen meist auf das Alter übertragen werden. Angehörige niederer Stände dagegen büßten im Alter oft jede Achtung ein. Der römische Staatsmann und Philosoph Cicero (106-43 v. Chr.), ein Mitglied der Herrscherschicht, konnte deshalb einige Begleiterscheinungen des Alters offenbar genießen, wenn er schreibt: „Was gibt es Angenehmeres als ein Greisenalter, das umgeben ist von einer Jugend, die von ihm lernen möchte!“ Und er nimmt, selbst im höheren Lebensalter stehend, Thesen der viel späteren „Aktivitätstheorie“55 vorweg: „Alle Teile des Körpers wachsen und haben ein gutes Alter, wenn sie mit Maß gebraucht und in den Arbeiten, an die jeder gewöhnt ist, geübt werden. Wenn man sie aber nicht braucht, sondern untätig lässt, neigen sie eher zu Krankheiten, nehmen nicht zu und altern vorzeitig“56. Cicero spart auch nicht an der Hochschätzung des Leistungsvermögens im Alter, das er zwar nicht in Schnelligkeit und körperlicher Kraft sieht, sondern geistiger Überlegenheit. Und doch überwiegt die negative Einschätzung, die neben körperlicher Schwächung eine Entbehrung der Sinnesfreuden reklamiert. Nicht zuletzt ist es das Bewusstsein der Todesnähe, was Lebensqualität mindert.57
Medizin der Medizinmänner und Priester in Naturvölkern, die Geister beschwört und auf übersinnliche Kräfte vertraut. (Auch diese Form der Medizin hat allerdings bis in die Moderne praktizierende Nachfolger und gläubige Patienten.) 53 So später auch bei Galen von Pergamon (129-199), dem Leibarzt römischer Kaiser (Lehr 1979, S. 16) 54 Zitiert nach Rosenmayr (1976), S. 220 55 Die „Aktivitätstheorie“ geht auf die sozialwissenschaftliche und psychologische Alters- und Alternsforschung der 1970er Jahre zurück und versteht sich als Gegenpol zur „Rückzugs-“ oder „Disengagementtheorie“. 56 Zitiert nach Lehr (1979), S. 17 57 Cicero konnte bereits von einer im Römischen Reich bekannten Einteilung von Lebensphasen ausgehen, wonach die Phase des Alters mit 61 Jahren begann (Lehr 1979, S. 16f).
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Für das Mittelalter und die frühe Neuzeit lassen sich zahlreiche Beispiele einer gelehrten bzw. literarischen Auseinandersetzung mit den zwei Seiten des Alters finden58. Dabei begegnen wir bekannten Bildern. So bei Shakespeare (15641616) in „Wie es Euch gefällt“, wo die negative Zerrgestalt des Alten eher Grausen als Mitleid erregt: „...ohn’ Aug, ohn’ Zahn, Geschmack und alles“. Aber 200 Jahre später sieht der Philosoph Arthur Schopenhauer (1788-1860), selbst im höheren Alter stehend, nach einem kritischen Blick auf die vermeintlich glückliche Zeit der Jugend, das Alter als Phase der Ruhe und Überlegenheit an: „… denn die Erkenntnis wird frei und erhält die Oberhand“.59 Zahlreiche Stellungnahmen zum Alter verdanken wir dem selber zweiundachtzig Jahre alt gewordenen Goethe. Aus eigenen Erfahrungen der Altersrolle schöpfend, erteilt er Ratschläge, „fordert Anpassung an die neue Situation und ermutigt zur Aktivität“ (Lehr, 1979, S. 20). Eine Kostprobe: „Man sagt sich oft im Leben, dass man die Vielgeschäftigkeit ...vermeiden, besonders, je älter man wird, sich desto weniger in ein neues Geschäft einlassen soll. Aber man hat gut reden, gut sich und anderen raten. Älterwerden heißt selbst ein neues Geschäft antreten; alle Verhältnisse verändern sich, und man muss entweder zu handeln ganz aufhören, oder mit Willen und Bewusstsein das neue Rollenfach übernehmen“60
Alter wird hier als ein eigener Lebensabschnitt begriffen, der angenommen, nicht abgewehrt oder ignoriert gehört, der Neuerungen bringt, ohne allein mit schlechten Erfahrungen verknüpft zu sein. Dem Beobachter verschließt sich dabei nicht die Parallele zwischen menschlichem Lebenszyklus und der Entwicklung jedweder belebten und unbelebten Natur. Eine Verbindung, die bereits die naturnah lebenden frühen Stammeskulturen empfanden. 2.3.2
Wissenschaft vom Alter und vom Altern: Die Frühphase (16. – 19. Jahrhundert)61
Alter als wissenschaftliches Thema stellt die Frage nach Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten in den Vordergrund. Beschränkte sich das gelehrte Auseinanderset58 Vgl. Rosenmayr (1976) S. 224 59 Zitiert nach Lehr (1979), S. 18f 60 In: „Maximen und Reflexionen“, zitiert nach Lehr (1979), S. 20 61 Wir folgen hier einer Phaseneinteilung der Geschichte der Altersforschung, wie sie von James Birren (1961) vorgeschlagen und später von Ursula Lehr (1979, zuerst 1971) übernommen wurde. Birren unterscheidet zwischen einer „Frühperiode“, die er von 1835 bis 1918 ansetzt, der „systematischen Alternsforschung“, er verortet sie zwischen den Weltkriegen und der „Expansionsphase“, die nach dem II. Weltkrieg begann (Lehr, 1979, S. 20). Ich werde für den Beginn der „Expansionsphase“ allerdings, Lehr folgend, das Jahr 1909 ansetzen.
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zen mit der Erscheinung des Alters noch auf Zustandsbeschreibungen und Ratschläge, so geht es der Wissenschaft um die Erforschung des Phänomens Alter. Dabei steht zunächst allein der Mensch im Focus. Schon bald aber wird nach den universalen Ursachen von Verfall und Verlöschen gesucht. Und es gibt die Zielsetzung, die Verknüpfung von zunehmendem kalendarischen Alter und Verfall zu beeinflussen, aufhalten, zumindest verlangsamen zu können. So wird aus der Forschung über das Alter zugleich eine über den Prozess des Alterns. Die Anfänge wissenschaftlicher Altersforschung fallen auf den Beginn der „modernen Gesellschaft“. Auf die frühe Neuzeit datiert Alex Comfort (1964) das wohl erste wissenschaftliche Werk über das Altern aus der Feder des englischen Staatsmanns und Philosophen Francis Bacon (1561-1626). Es trägt den Titel „Live and Death“62. Große Bedeutung für den Beginn der wissenschaftlichen Alternsforschung hat der belgische Sozialstatistiker Adolphe Quetelet (1796-1874). James Birren (1961) sieht in dessen Werk den Anfang der „Frühperiode“ einer Wissenschaft vom Altern. Unter dem Titel „Sur l'homme et le developpement de ses facultes“63 war 1835 ein fundamentales Werk erschienen. Quetelet zog darin auf der Grundlage erstmals umfangreicher sozialstatistischer Daten64, Schlüsse für das Altern unter spezifischen sozialen Bedingungen. Doch seine Arbeiten gaben nicht nur der Altersforschung wichtige Impulse. Seine Studien waren auch grundlegend für die empirisch verfahrende Sozialwissenschaft65. Empirisch gewonnenes Datenmaterial – bei Quetelet ist es das Vermessen menschlicher Körper(!)66 – sind Material für sein Werk „Anthropometrie“ (1871), worin er Wachstum, Handgröße, sowie Körpergröße und -gewicht von über 400 männlichen und weiblichen Personen zwischen 5 und 60 Jahren vergleicht und schlussfolgert, dass eine niedrige soziale Herkunft nachteilige Auswirkungen für die Entwicklung des Körpers zeige. Wei62 vgl. Lehr (1979), S. 20. Bacon ist mit seiner erfahrungswissenschaftlichen Methodik und eines auf Verbesserung der Gesellschaft zielenden Anspruchs einer der Schrittmacher für moderne auf Nützlichkeit bedachte Wissenschaft. 63 Vgl. Lehr (1979), S. 20f) 64 Quetelet gilt als einer der Begründer der statistischen und prohabilistischen (mit Wahrscheinlichkeitsberechnungen) arbeitenden Modellverfahren. Neben wichtigen Positionen, die er in der Wissenschaft innehatte, wurde er 1841 zum Präsidenten der statistischen Zentralkommission Belgiens ernannt (Fleischhacker 2002, S. 234). 65 Bezeichnend der Titel eines seiner Werke (1838): „Über den Menschen und die Entwicklung seiner Fähigkeiten, oder Versuch einer Physik der Gesellschaft“. Hier geht es um die statistische Ermittlung des „Durchschnittsmenschen“. 66 Die Vermessung des Körpers und daraus abgeleitete Schlussfolgerungen für Reifung und Verfall von Körper und Psyche sind lange für Medizin, Sportmedizin und Jugendforschung wichtige Methoden geblieben. Schlussfolgerungen wurden gezogen für Intelligenz und soziale Herkunft.
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terhin versuchte er, Sterbedaten (auch über Suizide) im Zusammenhang sozialer und regionaler Herkunft (Stadt-Land) auszuwerten. Bereits 1842 beschäftigte er sich – in einer der Alterspsychologie voraus greifenden Arbeit – mit der Quantität der Leistungen englischer und französischer Dramatiker in Abhängigkeit von ihrem Lebensalter. Bei seinen Fallbeispielen stellte er eine Zunahme der Leistungen bis etwa zum 50/55. Lebensjahr fest. Erst danach stellt sich gradueller Abfall ein67. Ähnlich ging der Engländer Francis Galton (1822-1911)68 vor. Typisch ist die Übernahme naturwissenschaftlicher Verfahren. Auch hier wird das Vermessen menschlicher Körper im Labor praktiziert. Mittels so gewonnener „anthropometrischer“ Daten werden Schlussfolgerungen auf geistige Fähigkeiten gezogen (Lehr 1979, S. 22). Erstmals gelang es Galton mit Längsschnittuntersuchungen Veränderungen des menschlichen Organismus und Körperbaus während des Älterwerdens nachzuweisen. Die gewonnen Daten korrelierte er mit solchen der Wahrnehmungsprozesse, z.B. dem Hören von Tönen. Den „fundamentalsten Beitrag zur Alternsforschung“ (Lehr) lieferte Galton mit einer Laboruntersuchung von 9000 Probanden unterschiedlichen Alters während der Internationalen Gesundheitsausstellung, die 1884 in London stattfand69.
67 Vgl. Lehr (1979), S. 21f) 68 Galton gilt auch als Begründer der „Eugenik“. Diese ist vor allem in Deutschland später, dort unter dem Begriff „Rassenhygiene“, zu unrühmlichen Ehren gelangt. Eugenik verfolgte den Zweck der Eliminierung von Erbkrankheiten, sollte also zur Förderung der damals so genannten „Volksgesundheit“ beitragen. Im NS-Deutschland diente sie ab 1933 auch der „Reinhaltung“ der „arischen Rasse“ (Nürnberger Gesetze). Auf der Grundlage zeitgenössischer wissenschaftlicher Forschung, die es seit dem späten 19. Jahrhundert in Europa, USA und Japan gab, basierte ein umfangreicher Katalog an Gesetzen, der u.a. die massenhaft durchgeführte Zwangssterilisation legalisierte. Die Eugenik ist unrühmliches Beispiel für die Verquickung von Wissenschaftsgläubigkeit, Zeitgeist und totalitärer Politik (vgl. Thieme 1988; Weingart 1988; Kühl 1997). 69 „Gesundheits- und Hygieneausstellungen“ (die erste Hygieneausstellung in Deutschland fand 1911 in Dresden statt) sind ein weiteres Merkmal der wachsenden Bedeutung der neuen nutzenorientierten Wissenschaften und der Rolle des Staates im Zusammenhang der Verbesserung der Lebensumstände und der Verlängerung der Lebensdauer, dies auch aus der Kostenperspektive des Staates. Um die Bedeutung solcher Ausstellungen recht zu erfassen, muss man die oft katastrophalen hygienischen und sozialen Verhältnisse in den durch rasanten Bevölkerungszuwachs während der Industrialisierung sich verdichtenden Städten vor Augen halten. Hier existierten Wohnviertel, vergleichbar den heutigen Slums in den sog. Entwicklungsländern. In Hamburg etwa war die Bevölkerung zwischen 1850 und 1910 von 132.000 auf 932.000 Einwohner – hauptsächlich durch Zuzug – gewachsen. Zu den Arbeiterquartieren zählten die sogenannten „Gängeviertel“. Tausende von Menschen lebten hier auf engstem Raum. Neben dem „sozialen Zündstoff“, der hier lagerte, waren die hygienischen Bedingungen in unmittelbarer Nähe der „Fleete“ (Wasserkanäle der Alster, die auch der Entsorgung dienten u. a. Fäkalien aufnahmen) katastrophal. In der norddeutschen Großstadt starben 1892 8000 Menschen an den Folgen einer Choleraepidemie (Thieme, 1988, S. 124).
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Untersucht wurde die geistige Leistungsfähigkeit in Abhängigkeit vom Alter. Ein Zusammenhang wurde bestätigt. Ein deutlicher Leistungsabfall stellte sich jedoch erst jenseits von siebzig Lebensjahren ein (Lehr 1979, S. 23 f)70. 2.3.3
Die erste Phase systematischer Alternsforschung (1909-1930)
Viel spricht dafür, mit Ursula Lehr die Phase der „systematischen Alternsforschung“ nicht erst mit dem Ausgang des Ersten Weltkriegs zu datieren. Denn schon 1909 wurde durch den Österreicher Ignatz L. Nascher (1863-1944) in einer Buchveröffentlichung der Begriff Geriatrie (als „Gegenpol“ zur bereits bekannten Pädiatrie) eingeführt. Unter Geriatrie versteht Nascher einen Zweig der Medizin, der sich mit den Krankheiten des Alters beschäftigt und der nach Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten sucht. Nascher gilt als „Vater der medizinischen Altersforschung“ und der Sozialmedizin (Streib und Orbach 196771). Er war Arzt an einem Wiener Krankenhaus und hatte an älteren Patienten Zusammenhänge zwischen bestimmten Erkrankungen und Lebensbedingungen beobachtet (Lehr 1979, S. 25). Als Markenzeichen einer „systematischen Alternsforschung“ gelten experimentelle Einzelfallstudien. Im Mittelpunkt der Forschungsinteressen stehen Veränderungen der psychischen und körperlichen Leistungsfähigkeit, insbesondere der Psychomotorik und der Reaktionsfähigkeit (Lehr 1979, S. 25). Auffällig ist bei einigen Wissenschaftlern das Interesse sowohl an der Lebensphase Jugend als auch an Alter. So sind mit den frühen Jugendforschern, dem Amerikaner Stanley Hall (1844-1924)72 und der Deutschen Charlotte Bühler (18931974), zwei Wissenschaftler zu nennen, die sich ebenso mit der Erforschung des Alters einen Namen gemacht haben. Halls wie Bühlers Fachgebiet war die Psychologie. Bühler zählte auch zu den Pionieren der biographischen Methode, wobei sie sich auf Tagebuchaufzeichnungen stützte. Hall benutzte empirisches Datenmaterial aus Fragebögen. Es gelang ihm, verbreitete Altersstereotype zu widerlegen. Er konnte nachweisen, dass der Prozess des Alterns nicht gleichzusetzen ist mit einer linearen und persönlichkeitsunabhängigen Rückentwicklung. Altersrückbau verlaufe vielmehr individuell verschieden und hänge mit dem Verlauf der gesamten 70 Dieses Messen am Menschen hat im Zusammenhang der Rassenpolitik verheerende Auswirkungen gezeitigt. Es hat zur Aussonderung; Unfruchtbarmachung und Tötung von Menschen geführt. Dies geschah, wie man vorgab oder glaubte, mit wissenschaftlicher (!) Legitimation (Thieme 1988; Kühl 1997). 71 Zitiert nach Lehr, 1979, S. 24 72 Hall, S. (1922): Senescence of the Last Half of Life; Bühler, C (1933): Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem. Hall lässt das Alter allerdings schon mit dem 41. Lebensjahr beginnen, weil es sich hierbei um die zweite Lebenshälfte handelt (vgl. Titel seiner Arbeit).
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Lebensspanne zusammen. Damit verwirft er dass Defizit-Modell als universell gültige Alternstheorie (Lehr 1979, S. 26; Rosenmayr 1976, S. 225). Ein erstes größeres Forschungsinstitut für Altersfragen wurde 1928 an der Stanford-University in Kalifornien gegründet. Anlass zu empirischen Untersuchungen durch C.C. Miles und W.R. Miles (1932, 1934) war die Beobachtung der schwierigen Jobvermittlung von über 40-jährigen Arbeitssuchenden. Es lag nahe, eine Messung der geistigen Leistungsfähigkeit Älterer vorzunehmen, mit dem Ergebnis, dass mit Zunahme des chronologischen Lebensalters eine durchschnittliche Verringerung des Leistungsvermögens einhergeht (Lehr 1979, S. 26). Überraschend früh begann die Alternsforschung in Russland. Die Ergebnisse der berühmten Verhaltensexperimente an Hunden durch den Physiologen Iwan Petrowitsch Pawlow (1849-1936) bestätigten die These einer allgemeinen altersbedingten Reduktion (1926). 1929 führte der russische Psychologe N.A. Rybnikov (1880-1961) den Begriff Gerontologie als Bezeichnung für eine neue Wissenschaftsdisziplin ein, mit der Zielstellung, eine Verhaltensforschung für das höhere menschliche Lebensalter zu begründen (Lehr 1979, S. 27). Auf ihn geht die folgende Definition zurück: Die Gerontologie soll danach „Ursachen und Bedingungen des Alterns wie auch die Erforschung und sorgfältige Beschreibung regulär fortschreitender Verhaltensveränderungen, die zum Lebensalter in Beziehung stehen“, erforschen73.
Auch in Japan gab es seit den 1920er Jahren Forschungsaktivitäten. Dabei ging es in verschiedenen Arbeiten um die Frage der Minderung geistiger Fähigkeiten im Alter74. Die Entwicklung in USA und Europa war während der Zeit der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren auf die Folgen demographischer und sozialer Veränderungen konzentriert. Schwerpunkt blieben auch hier die gesundheitlichen Auswirkungen des Alters und der geistige und körperliche Rückbau (Rosenmayr 1976, S. 226). Fachzeitschriften sind für die Etablierung neuer wissenschaftlicher Fragestellungen ein wichtiger Indikator. Von daher verdient das Erscheinen des ersten
73 Zitiert nach Lehr (1979, S. 27) 74 Vgl. hierzu die Ausführungen von Lehr (1979, S. 27f). Es gab in den 1920 und 1930er Jahren eine Reihe weiterer Veröffentlichungen seitens europäischer, amerikanischer und japanischer Wissenschaftler. Dabei überwogen die psychologischen und medizinischen Abhandlungen (vgl. Lehr 1979, S. 28f, Rosenmayer 1976, S. 226).
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2 Wege zur Alter(n)sforschung
Bandes der „Zeitschrift für Altersforschung“75, herausgegeben durch den Internisten Max Bürger (1885-1966) Erwähnung. Es handelte sich um die erste einschlägige deutschsprachige Fachzeitschrift (Lehr 1979, S. 28ff). Bürger stellte früh heraus, dass Alter die Folge einer prozesshaften Entwicklung von Altern ist. Altern definiert er wie folgt: „Altern bedeutet jede irreversible Veränderung der lebenden Substanz als Funktion der Zeit“ (Bürger 1966, S. 109)76
Die Definition lässt erkennen, dass Bürger über das bis dahin überwiegend praktische Bedürfnis der Alternsforschung hinaus, an einer grundlegenden Antwort auf die Frage, was Altern ist, gelegen war. Altern von Organismen ist nichts grundsätzlich anderes, als vergleichbare Vorgänge im physikalisch-chemischen Bereich. Seine These lautet: Altern beginnt nicht erst im Alter, als der letzten Lebensphase. Altern setzt vielmehr ein schon mit der Geburt. „Alle mehrzelligen Tiere und Menschen sind dem Tode verfallen. Den Weg, der zum natürlichen Tode führt, nennen wir Alternsvorgang. ... Der Keim zum Leben wird gewissermaßen mit dem Keim zum Sterben gepaart“ (Bürger, 1966, S. 109). Altern beschränkt sich daher nicht allein auf ein Nachlassen der geistigen Leistungsfähigkeit. Es kennzeichnet vielmehr den gesamten Körper und seine Organe. Mit dem „seelischen Altern“77 gehen, so Bürger, weitere Minderungen einher, wie die Schwerfälligkeit bei der Aneignung neuer Sachverhalte, Vergesslichkeit, Eigensinn und zunehmende Gereiztheit (Lehr 1979, S. 28)78. Das Altern nicht allein an von „außen“ sichtbaren Veränderungen bemerkbar ist, sondern auch von den Betroffenen selber wahrgenommen wird, war bereits 1928 Resultat einer Befragung (Giese 1928). Die 1930er Jahre erlebten in Deutschland verstärkte Anstrengungen für eine Etablierung der psychologischen Alternsforschung. Drei bekanntere Namen seien hier stellvertretend genannt: P. R. Hofstätter (1937), der Philosoph Erich Rothacker (1939) und E. Stern (1931) (Lehr 1979, S. 29).
75 Bald darauf in „Zeitschrift für Alternsforschung“ umbenannt. Einer der Mitbegründer ist der Psychiater H. W. Gruhle. 76 Zitiert nach Thomae/Lehr 1968, S. 109 77 Während bei den hier angesprochenen Autoren das „seelische Altern“ empirisch behandelt wird, ist es, methodisch davon abweichend, in den 1930 Jahren in Deutschland auch von namhaften Philosophen aufgegriffen worden, so von Erich Rothacker (1939), vgl. Lehr 1979, S. 29. 78 Dies war Thema eines Aufsatzes im ersten Band der Zeitschrift für Alternsforschung von H.W. Gruhle unter dem Titel „Das seelische Altern“ (Bd. 1/2, 1938, S. 89-95). Vgl. Lehr 1979, S. 28.
2 Wege zur Alter(n)sforschung
2.3.4
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Die Expansionsphase (1930 bis zur Gegenwart)
In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre kam es zu einer starken Ausweitung der Alternsforschung, insbesondere in den USA (Rosenmayr 1976, S. 226)79. Die umfangreichen demographischen und sozialen Veränderungen des späten 19. und des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts warfen ihre Schatten auf die gesundheitliche und materielle Versorgung insbesondere alter Menschen. Und sie erzeugten einen zunehmenden Bedarf an praktischen durch Forschung begründeten Problemlösungen. Deutlicher traten nun soziologische Fragestellungen hervor, was vor dem Hintergrund der sozialen Problemlagen nachvollziehbar ist. Rosenmayr: „Für die alterssoziologischen Studien ... wurden weniger grundsätzliche, sondern vor allem praktische Fragestellungen ausschlaggebend; z.B. die Überfüllung von Altersspitälern und Altersheimen, Fürsorgeprobleme mit allein stehenden und allein wohnenden oder von der Familie vernachlässigten alten Menschen...“ (1976, S. 226). Wie kaum eine andere Fachdisziplin, schreibt Rosenmayr, „ist die Alterssoziologie (Hervorh. F.T.) vorerst von praktischen Bedürfnissen vorangetrieben ... worden“ (1976, S. 226). Damit war das Fundament einer social gerontology80 gegossen und zugleich das Feld der durch Psychologie und Medizin bereits bestehenden Interdisziplinarität erneut erweitert worden. Das gilt anfänglich jedoch nur für die USA. Dort begann in den 1930er Jahren eine Welle von Tagungen und Gründungen von Gesellschaften, die der Alternsforschung verschrieben waren. Lehr berichtet von einem 1937 in Massachusetts abgehaltenen Fachseminar, das erstmals interdisziplinär besucht wurde. 1939 finanzierte der Veranstalter, die Macy-Foundation, die Gründung des „Club of Research in Aging“. Diese Einrichtung sollte sich auf ihren zweimal jährlichen stattfindenden Konferenzen allerdings auf biologischmedizinische Forschungsaspekte beschränken (Lehr 1979, S. 30). Weiteres Beispiel für die zahlreichen Gründungsaktivitäten ist die 1945 gegründete „Gerontological Society“. Dieses Datum steht im Zusammenhang mit der Etablierung der American Psychological Association, aus der eine Sektion „Maturity and Old Age“ hervorging. 1946 erschient erstmals das „Journal of Gerontology“, und im September des folgenden Jahres fand der erste Kongress der „Gerontology Society“ in Detroit statt (Lehr 1979, S. 30f).
79 Diese Aussage befindet sich in der ersten systematischen Darstellung der Geschichte der Alterswissenschaften bei Gordon F. Streib und Harold L. Orbach (1967); vgl. Rosenmayr (1976) S. 226. 80 Gerontology, bzw. Gerontologie = Alter(n)swissenschaft
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2 Wege zur Alter(n)sforschung
In Deutschland gilt Max Bürger als Begründer der ersten einschlägigen Forschungseinrichtung, der 1938 gegründeten „Deutsche Gesellschaft für Altersforschung“81 , bald danach umbenannt in „Deutsche Gesellschaft für Alternsforschung“. Der eigentliche Entwicklungsschub in Europa setzte aber erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein. Hier ist die Gründung der „International Association of Gerontology“ 1950 in Lüttich (Belgien) zu nennen. Es folgten durch sie einberufene internationale Tagungen an wechselnden Orten unter stark zunehmender Beteiligung verschiedener Disziplinen, so 1951 in St. Louis, Missouri und 1954 in London (Lehr 1979, S. 32)82. Hierzulande fehlte es zu dieser Zeit aber noch an einer Zusammenarbeit der Forschungsdisziplinen. Bürgers „Deutsche Gesellschaft für Alternsforschung“ wurde 1949 wieder gegründet und später noch mehrere Male umbenannt. Sie ist ebenso Basis für eine 1966 vorgenommene Gründung in der DDR unter dem Namen „Deutsche Gesellschaft für Alternsforschung der DDR“83. Ende der 1960er Jahre wurden die Fachzeitschriften „Zeitschrift für Gerontologie“ (1968) und die „Zeitschrift für Gerontopsychologie und -psychiatrie“ gegründet. In dieser Zeit erschienen erste grundlegende Fachbücher, die sich an ein größeres Leserpublikum richten. Dazu gehört der Titel „Altern. Probleme und Tatsachen“ (1968), der beiden Herausgeber Hans Thomae und Ursula Lehr. Sie gelten als Pioniere der jüngeren Alternsforschung in Deutschland. Der Band enthält eine größere Zahl unterschiedlicher psychologischer und soziologischer Fachbeiträge84. 1969 folgte in der Reihe „Handbuch zur empirischen Sozialforschung“, herausgegeben von dem Kölner Soziologen und Sozialpsychologen Rene König, der Band 7 mit dem Titel „Familie und Alter“. Der Teil „Alter“ wurde von Leopold Rosenmayr verfasst. Mit der Veröffentlichung dieses Textes in einer für das Grundlagenstudium der Sozialwissenschaften wichtigen Reihe, hielten altersoziologische Fragestellungen und Forschungsergebnisse Einzug in die Seminare von Universitäten und Fachhochschulen. 1972 ergänzte der Band „Psychologie des Alterns“ von Lehr diese Publikationen. Die genannten Bücher erschienen in mehreren Auflagen und bereiteten den Boden für eine ständig breiter werdende Rezeption alterswissenschaftlicher Themenstellungen.
81 Vgl. Geschichte der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie e.V. (http://www.dgggonline.de/, Recherche am 11.3.05) 82 Unter Beteiligung der damaligen sozialistischen Länder. Zur Fortsetzung der internationalen Tagungen, der Themenstellungen usw. vgl. Lehr (1979), S. 32 f. 83 1977 umbenannt in Gesellschaft für Gerontologie der DDR (http://www.dggg-online.de, Recherche vom 11.3.05) 84 Darin auch der Wiederabdruck einiger älterer Arbeiten.
2 Wege zur Alter(n)sforschung
2.3.5
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Die aktuelle Entwicklung: Ausbau der Alter(n)sforschung
Vor dem Hintergrund der aktuellen Alterung der Gesellschaft in Deutschland und Europa ist der Bedarf an Forschung und wissenschaftlich begründeter Beratung ständig gewachsen (Mayer et al. 1996, S. 59 ff). Hier soll eine Beschränkung auf die Darstellung der Entwicklung in Deutschland erfolgen. Nach der Wiedervereinigung beider deutschen Staaten schlossen sich 1991 die beiden großen deutschen Fachgesellschaften unter dem Namen „Deutsche Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie e.V.“85 zusammen. Die Gesellschaft veranstaltet – heute im Zweijahresturnus – disziplinübergreifende Kongresse. Die Interdisziplinarität der Alternsforschung hat generell weiter zugenommen86. Dies zeigt das Beispiel des 1974 an der Universität Heidelberg gegründeten „Deutsches Zentrum für Altersforschung“ (DZFA)87. Dort wurde das Ziel verfolgt, gerontologische Forschung im Sinne einer wissenschaftlichen Politik- und Trägerberatung88 und ebenso unter dem Aspekt der Bereitstellung von Hilfe zur Selbsthilfe zu bündeln. Es bestand folgende Gliederung in Sektionen: 1. Biologie des Alterns, 2. Geriatrie, 3. Verhaltenswissenschaft und Gerontologie und 4. Soziale Gerontologie und Gesundheitspflege für Ältere89. Das DZFA betreute und organisierte entsprechende Forschungsprojekte. Weitere Fachgesellschaften sind das „Max-Bürger-Institut für Altersforschung“, das „Ludwig-Bolzmann-Institut für Altersforschung“, die „Deutsche Gesellschaft für Altersforschung“ (gegründet 1990) und die (1990) an der Universität Dortmund gegründete „Forschungsgesellschaft für Gerontologie e. V“90. Schließlich unterhält die Fachgemeinschaft der Soziologen in Deutschland, Die „Deutsche Gesellschaft für Soziologie“ (DGS) eine Sektion „Alter(n) und Gesellschaft“91.
85 Zu den Präsidenten der Gesellschaft gehörten Hans Thomae (1977-1980) und Ursula Lehr (1997-1998) (Vgl. Anm. 71). Lehr war als Mitglied der CDU von 1988-1991 in der Regierung Kohl von 1988-1991 Bundesministerin für das Ressort Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit. (http://infos.ausgermanien.de/Ursula_Lehr). Geriatrie = Altersheilkunde 86 Vgl. Naegele (1999, S. 29ff) 87 Wurde 2005 wegen Mangel an Forschungsgeldern geschlossen. 88 Mit „Trägern“ sind in erster Linie die so genannten Träger der freien Wohlfahrtspflege (Kirchen, Arbeiterwohlfahrt) aber auch die privaten Gesellschaften gemeint. 89 Quelle: Internetrecherche vgl. Anm. 71. Das DZFA ermöglichte auch die vorerst letzte von bislang drei 100-jährigen-Studien, die 2001 erschien. 90 Die Gesellschaft ist verbunden mit dem Institut für Gerontologie an der Universität Dortmund. Vorsitzender des Vereins ist z.Z. (2006) G. Naegele. 91 Die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
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2 Wege zur Alter(n)sforschung
Politik in Deutschland hat dem Bedeutungszuwachs der gesellschaftlichen Alterung inzwischen Rechnung getragen. Das zuständige Bundesministerium weist seine Zuständigkeit für Alte deutlich auch in der Benennung aus92. 1990 erschien der erste einer bislang fünf Folgen umfassenden Altenberichterstattung der Bundesregierung93. Seit dem 5. Juli 2006 liegt der „Fünfte Altenbericht“ mit dem Titel „Potenziale des Alters, Wirtschaft und Gesellschaft – Der Beitrag älterer Menschen zum Zusammenhalt der Generationen“, zur Lage der älteren Generation vor94. Verantwortlich für den Inhalt ist eine elfköpfige Expertenkommission von zumeist Hochschullehrern und -lehrerinnen. Die sieben Kapitel des aktuellen Bandes behandeln Erwerbsarbeit im Alter, Bildung, Einkommenslage im Alter, Seniorenwirtschaft, Familie und private Netzwerke, Engagement und Teilhabe älterer Menschen sowie ein Kapitel über ältere Migrantinnen und Migranten. Das Ministerium förderte weiterhin u. a. den Alters-Survey, in dessen Folge bisher eine größere Anzahl von Bänden erschienen ist. Hervorzuheben ist der Band „Grunddaten zur Lebenssituation der 40-85jährigen deutschen Bevölkerung“, der 2000 auf der Basis einer repräsentativen Stichprobenerhebung95 herauskam. Außerdem gibt es eine Schriftenreihe zu Fragen von Familie, Senioren, Frauen und Jugend, die vom Bundesministerium herausgegeben wird. In einigen Bundesländern sind im Auftrag der Landesregierungen Kommissionsberichte und Landesaltenberichte erschienen. Sie dienen dem Gesetzgeber und der kommunalen Politik als Entscheidungs- und Planungshilfen.
92 Gegenwärtige Namensgebung: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. 93 1994 hat der Bundestag die Regierung aufgefordert, in jeder Legislaturperiode einen Altenbericht vorzulegen. Dazu werden Sachverständigenkommissionen einberufen. Die Themenstellungen der vier ersten Altenberichte der Bundesregierung lauten: 1993: Gesamtbild der Lebenssituation älterer Menschen im vereinigten Deutschland. 1998: Wohnen im Alter. 2001: Lebenssituation Älterer. Ressourcen für ein selbständiges, produktives Alter. 2002: Risiken, Lebensqualität und Versorgung Hochaltriger – unter besonderer Berücksichtigung dementieller Erkrankungen (http://www.dza.de/allgemein/politik-alten bericht.html). 94 Der Bericht fokussiert damit erstmals die sozialen Beziehungen zwischen den Generationen und ebenso erstmalig den Aspekt der „gebenden Alten“, im Gegensatz zu den Bedürftigen und Kosten verursachenden. Dabei zeigt sich, dass Alte zu denen gehören, die selber Pflegedienste an entsprechend Bedürftigen in Familie und Nachbarschaft leisten. 95 Herausgeber sind Martin Kohli, Harald Künemund, Andreas Motel und Marc Szydlik. Befragt wurden im ersten Halbjahr 1996 auf der Basis von zunächst 10.608 Adressen schließlich 4.034 Personen nach ihren Lebensgewohnheiten, Einkommen, Vermögen, Haushalt, Familie, Freizeit, Gesundheit, sozialen Beziehungen, Pflegetätigkeiten, Kinderbetreuung u. a. (Kohli, 2000, S. 5 ff). 2006 erschien ein neuer Band des Alterssurveys, dessen Daten auf Untersuchungen des Jahres 2002 beruhen. Dabei wurde auch eine Panelstichprobe durchgeführt, die jene Befragungsteilnehmer umfasste, die bereits 1996 befragt wurden (Tesch-Römer, Engstler, Wurm (2006).
2 Wege zur Alter(n)sforschung
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Das in den letzten Jahren ständig steigende Interesse der Politik an Altersfragen zeigt sich auch im Weltmaßstab. So berieten die Vereinten Nationen im Oktober 1999 – das Jahr war auch als „Internationales Jahr der Senioren“ ausgerufen – über einen Weltaltenplan (Bundesministerium 2001, S. 5f). Lehr- und Forschungseinrichtungen wurden in jüngerer Zeit an Fachhochschulen und Universitäten ausgebaut96. So verfügen heute einige dieser Einrichtungen über spezielle gerontologisch/geriatrisch ausgerichtete Forschungs- und Lehreinrichtungen. An verschiedenen wissenschaftlichen Instituten wurden in den letzten Jahren Aufbaustudiengänge eingerichtet. Die Universitäten Dortmund und Heidelberg, ebenso die Gesamthochschule-Universität Kassel haben Lehrstühle bzw. Institute für (Soziale) Gerontologie eingerichtet97. Die Fachhochschule Braunschweig bietet einen Studiengang für „Geragogik“ an98. Die gewachsene Multidisziplinarität der Alternsforschung zeigt sich neben der großen Zahl neuer Arbeiten in dem 1992 erschienenen Forschungsbericht der „Akademie der Wissenschaften zu Berlin“, Titel „Zukunft des Alterns und gesellschaftliche Entwicklung“99. Der Band enthält Beiträge von Historikern, Demographen, Biologen, Medizinern, Psychiatern, Psychologen, Pharmakologen, Soziologen, Anthropologen und Sozialrechtlern. Die Artikel thematisieren einen umfassenden Einblick in den Stand der Forschung und behandeln u. a. biologische Alternstheorien, einen interkulturellen Vergleich der sozialen Position alter Menschen, Arzneimittelwirkungen, biographische Alternsverläufe, Gesundheitsökonomie, soziale Sicherung, Ethik und Altenpolitik. Auf Feldforschung basiert die 1996 veröffentlichte „Berliner Altersstudie (BASE)“100. Befragt wurden hierbei erstmals Senioren zwischen 70 und 105 Jahren, ausschließlich mit Wohnsitz in Berlin. Die Längsschnittstudie erfolgte in mehreren zeitlichen Untersuchungsabschnitten zwischen 1990 und 1997101. Als empirische Analyse präsentiert sich 96 Kühnert/Niederfranke (1993, S. 94) zählen folgende universitäre Standorte gerontologischer Forschung auf: Berlin, Dortmund, Erlangen-Nürnberg, Heidelberg, Kassel, Osnabrück-Vechta. 97 In Kassel waren Neueinschreibungen allerdings vorerst letztmalig für das Sommersemester 2005 möglich. 98 An der Sächsischen Verwaltungs- und Wirtschaftsakademie gibt es einen Fachstudiengang für Pflegemanagement und Heimleiter Altenpflege. Ein älterer Überblick zu bedeutenden gerontologischen Institutionen in Deutschland ist zu finden bei Reimann/Reimann (1983, S. 13). Die Nennungen erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. 99 Herausgeber sind Paul B. Baltes und Jürgen Mittelstraß. 100 Unterstützt wurde das Projekt u. a. durch die 1993 neu gegründete „Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften“, die eine Arbeitsgruppe „Alter und gesellschaftliche Entwicklung“ gründete. Es gab auch hierbei eine institutionell breit angelegte Kooperation; vgl. Mayer/Baltes, Hg. (1996), S. 8f. 101 Die Untersuchung wurde als Längsschnittstudie angelegt. Der 1996 erschienene Band enthält die Ergebnisse der 1993 abgeschlossenen Befragungen
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ebenso die Heidelberger Hundertjährigen-Studie (2001)102, herausgegeben vom DZFA, deren bisher erste Ergebnisse z. T. auch im vorliegenden Buch vorgestellt werden. Aus eine Reihe von Einzeluntersuchungen stellt der „Datenreport Alter“ (Baur et al. 1997) Ergebnisse zusammen. Die Lebensphase Alter tritt nicht plötzlich ein. Sie existiert nicht ohne die strukturellen Voraussetzungen zuvor durchschrittener Lebensphasen, und sie ist nicht frei von gesellschaftlichen und zeitspezifischen Einflüssen. Eine Alternswissenschaft sollte deshalb mehr noch Prozess- und Biographiewissenschaft sein. Langzeitstudien können interessante Einblicke in die Ursachen und Auswirkungen auf konkrete Lebensbedingungen im Alter liefern und Problemlösungsstrategien für den Alltag anbieten. Alter(n) ist wie kaum ein anderes Forschungsthema auf den Austausch der Fachwissenschaftler der natur-, sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen angewiesen. Die Medizin benötigt ähnlich wie die Geriatrikaforschung (= altersbezogene Pharmakologie) Ergebnisse biologischer Grundlagenforschung. Auf die Zellforschung, die menschliche Genomforschung und die Genforschung richten sich Hoffnungen, altersbedingte Erkrankungen künftig zu lindern oder gar zu verhindern. Medizin und Psychiatrie können Altersleiden bzw. im Biographieverlauf erworbene und sich verschlimmernde Erkrankungen in ihren Auswirkungen mildern und erträglich machen. Soziologie und Demographie liefern Einsichten in die Ursachen der gesellschaftlichen Bedingungen individuellen Alterns und andererseits des Alterns der Gesellschaft. Ebenfalls erstellen sie Prognosen und Modellrechnungen für zu erwartende Entwicklungen, die der Politik und anderen Bereichen der Gesellschaft Handlungs- und Steuerungsnotwendigkeiten sowie -möglichkeiten aufzeigen. Insbesondere die Soziologie untersucht den Alltag von Alten, das Zusammenleben der Generationen, Altersnormen und deren Wandel usw. Sie sieht sich zugleich gefordert, die Kommunikation unter den Fachwissenschaften zu organisieren, Forschungsergebnisse zu bündeln und an die gesellschaftliche Praxis zu vermitteln. Die großen gesellschaftspolitischen Herausforderungen, die sich für die nahe und fernere Zukunft für die „alternde Gesellschaft“ stellen werden, sind zentrale Fragestellung für die Soziologie. Diese Aufgabe nimmt sie seit Anfang der 1990er Jahre immer deutlicher wahr. Es sind soziologische Beiträge, die nicht unerheblich dazu beigetragen haben, dass das Problem des Demographischen Wandels inzwischen (und endlich) auch über die begrenzte fachwissenschaftliche Wahrnehmung hinaus „die Gesellschaft“ er102 Herausgeber sind C. Rott, V. d’Heureuse, P. Schönemann, M. Kliegel und P. Martin. Auf der Basis der Befragungsdaten waren weitere Veröffentlichungen geplant. 2005 wurde die Einrichtung jedoch geschlossen.
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reicht hat.103. Die Pädagogik schließlich kann u. a. Hilfen für ein „erfolgreiches Altern“, und Hilfestellungen für die Betreuer von Senioren und den wachsenden Bereich altenorientierter Dienstleistungen bereitstellen. Alter und Altern sind eingebettet in den jeweiligen Kontext einer Gesellschaft und ihrer Kultur. Hohes Lebensalter ist das finale Stadium eines biologischen Prozesses, aber es ist auch ein „soziales Konstrukt“. D. h. die Inhalte von Altersrollen, der Altersstatus, Bedingungen, unter denen Alte leben, sind nicht Ausdrucksformen naturhafter Bedingungen und Gesetzmäßigkeiten, sondern sie sind – sich mal schneller, mal langsamer – verändernde Folgen des Handelns von Menschen in gesellschaftlichen Zusammenhängen, gleich ob dieses Handeln planvoll oder unbewusst erfolgte. Das Erkennen der wandelbaren Bedingungen von Alter und Altern wird erleichtert durch historisches und ethnologisches Wissen. Wie war es früher oder wie ist es anderswo? Dieser Bereich in der Zuständigkeit von Geschichtswissenschaft104 und Ethnologie (Marzi 1998) ist bisher nur relativ wenig erforscht worden, was an der nur mittelbaren Bedeutungsrelevanz dieser Fragestellung für die Lösung von gegenwärtigen Alltagsproblemen liegen dürfte105. Ebenso fehlt es noch weitgehend an überzeugenden Versuchen, Alter(n)sphänomene mit allgemeiner soziologischer Theorie zu erklären. Auf das soziologische Theoriedefizit in der Altersforschung wird in jüngster Zeit häufiger aufmerksam gemacht (Stoßberg 2000; Amrhein 2004). Der Gewinn aus der Verknüpfung von altenbezogener Empirie und soziologischer Theorie könnte sein, dass gerontologische Fragestellungen weniger isoliert und stärker verknüpft mit anderen Veränderungsprozessen der Gesellschaft und der naturwissenschaftlichen Forschung verstanden würden. Es dürfte wenige Forschungsfelder geben, für die eine Zusammenarbeit der Disziplinen derzeit notwendiger und die Bedeutung für die gesellschaftlichen und individuellen Wirklichkeiten deutlicher nachvollziehbar wäre als es für das Thema Alter und Altern ist. Selten war die Verbindung zwischen Grundlagenforschung und der gesellschaftlichen Praxis größer und aktueller. Alternde Gesellschaften suchen Lösungen für drängende Probleme, von denen die Zukunftsfähigkeit von Gesellschaften abhängt. Beispiele sind: das Rentenproblem, die qualitativ und kostenmäßig vertretbare Versorgung von Pflegebedürftigen mit Pflege-
103 Vgl. hierzu auch: Backes (2000), S. 7ff). Offen ist die Frage, ob eine Alters-oder Gerontosoziologie Impulse für die allgemeine Soziologie und umgekehrt liefern kann (vgl. Stoßberg (2000), S. 33 ff. Zur „Zeitgemäßheit“ der Alternssoziologie vgl. Clemens, Wolfgang (2000), Alternssoziologie – eine zeitgemäße Bindestrich-Soziologie? 104 Neu hierzu: Thane (2005) 105 Literatur dazu: Elwert (1992); Rosenmayr (1990, 1994); Drackle (1998)
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2 Wege zur Alter(n)sforschung
leistungen, Medikamenten, Therapien, die Bereitstellung von Techniken, die Beschwerden des Alters erleichtern können. Ausbau und Vernetzung der Alternsforschung sind exemplarisch zum Spiegelbild eines neuen westlichen Typus von Gesellschaft, der alternden Gesellschaft, geworden (vgl. Abb. 1). Abbildung 1:
Netz der Alternswissenschaften und Praxisbezüge
Quelle: Reimann, Helga, Horst Reimann (1983), S. 9
3 Demographischer Wandel und alternde Gesellschaft 3 Demographischer Wandel und alternde Gesellschaft Die demographische Alterung wird in den kommenden Jahrzehnten zu einem bestimmenden Element der demographischen, sozioökonomischen und politischen Entwicklung Deutschlands werden. Charlotte Höhn, Direktorin des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung
3.1 Einleitung Während der vergangenen fünfzig Jahre hat die rasante Zunahme der Bevölkerung in den so genannten unterentwickelten Teilen der Erde („Dritte Welt“) als besorgniserregende Entwicklung im Blickfeld wissenschaftlicher Politikberatung gestanden. Inzwischen ist die weltweite „Alterung“ hinzugetreten. Obwohl dieses ein universaler Trend ist, macht er vorläufig nur den „entwickelten“ Gesellschaften Sorge. Die Alterung der Bevölkerungen dort hat ihre Ursachen in der anhaltend niedrigen Geburtenrate und dem seit Jahrzehnten beobachteten Anstieg der Lebenserwartung. In diesem Kapitel sollen die demographische Entwicklung und der Trend zu einer Alterung der Gesellschaft dargestellt werden. Die Alterung der Gesellschaft ist nicht Folge davon, dass die Menschen in modernen Gesellschaften es sich „abgewöhnt haben, Kinder zu bekommen“ (Charlotte Höhn)1 und durch moderne Medizin die Lebensverlängerung für jeden möglich geworden ist. Vielmehr ist sie Teil eines umfassenden sozialen Wandels auf dem Weg in die moderne Gesellschaft. Dort „angekommen“, verstärkt sich diese Entwicklung noch einmal. Der Prozess begann mit der Auflösung der traditionalen, vorindustriellen Gesellschaften in West- und Mitteleuropa sowie – unter anderen Vorzeichen – in Nordamerika im 18. und 19. Jahrhundert. Inzwischen findet er seine Fortsetzung in weiten Teilen der Erde.
1 So eine wohl „flapsig“ gemeinte Bemerkung der Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Demographie, Frankfurter Allgemeine Zeitung, März 2005.
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3 Demographischer Wandel und alternde Gesellschaft
3.2 Alternde Gesellschaften – die Welt verändert sich In fast allen Gesellschaften der westlichen Kultur wächst seit einigen Jahrzehnten der Anteil alter Menschen. Zugleich sinkt der Anteil Junger. Inzwischen wird dieser Entwicklungstrend weltweit beobachtet, und es ist davon auszugehen, dass er einen grundlegenden Wandel im Altersaufbau und der Verteilung der Weltbevölkerung eingeleitet hat. Das heißt vor allem: das durchschnittliche Alter aller auf der Welt lebenden Menschen steigt, die Weltbevölkerung altert. Die Ursachen dieses Demographische Alterung genannten Prozesses2 sind ein allgemeiner Anstieg der Lebenserwartung und ein Rückgang der Geburtenzahlen. Die Lebenserwartung hat sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts weltweit – beginnend in Nord-, Mittel- und Westeuropa sowie bei der weißen Bevölkerung der Vereinigten Staaten – verdoppelt. Die Geburtenzahlen haben sich weltweit erhöht, sind aber in den Ländern der westlichen Kultur – bezogen auf die Bevölkerungsgröße – seit über hundert Jahren permanent gefallen3. Inzwischen unterschreiten sie vielfach die Sterbezahlen. Es ist zu erwarten, dass sich langfristig diese Entwicklung in den meisten Ländern der Erde fortsetzen wird. Der Wandel der Sterbeverhältnisse (Anstieg der Lebenserwartung) und die Entwicklung hin zu einer niedrigen Fertilität (Kinderzahl pro Frau) werden als Demographischer Wandel bezeichnet. Diese Entwicklung führt zu einer Veränderung im Altersaufbau der Bevölkerung. Im Mai 2007 lebten etwa 6,6 Mrd. Menschen auf der Erde4. Von den Ende des vorigen Jahrtausends lebenden 6,3 Mrd. Menschen waren 9,7 Prozent über 65 Jahre alt. 2030 werden es voraussichtlich 13 Prozent sein (Möhle, Glatzer 2000, S. 66). Zeitgleich sinkt weltweit der Anteil junger Menschen. Deutschland ist eines jener Länder, in denen sich derzeit der Demographische Wandel besonders deutlich zeigt. Der Anteil der bis 18jährigen ist hier von 28 % im Jahr 1950 (Geißler 1996, S. 345) auf 19 % im Jahr 2001 gesunken5 Der Anteil der mindestens 65jährigen – die Gruppe der so genannten Alten6 – stieg dagegen in demselben Zeitraum von 9 % auf 17 %. Für die Gruppe der 60jährigen 2 Von Demographischer Alterung wird gesprochen, wenn das Durchschnittsalter einer Bevölkerung mindestens 35 Jahre beträgt und/oder der Anteil der 65jährigen und Älteren 15 % an der Gesamtbevölkerung übersteigt (Dinkel 1992, S. 62ff). 3 Absolut sind die Geburtenzahlen allerdings auch in den Ländern der westlichen Zivilisation bis vor etwa 40 Jahren weiter gestiegen. Der Grund liegt in der höheren Zahl fortpflanzungsfähiger Menschen. 4 Quelle: http://www.learn-line.nrw.de/angebote/agenda21/daten/bevolk.htm, 22.6.07 5 Eig. Berechnungen nach Statistisches Jahrbuch 2003 für die Bundesrepublik Deutschland, S. 60. 6 In der Fachliteratur wird von unterschiedlichen „Einstiegsaltern“ – nämlich 60 oder 65 – in das „Alter“ ausgegangen (vgl. Kap. 2.2.1).
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3 Demographischer Wandel und alternde Gesellschaft
und Älteren ist vorausberechnet worden7, dass ihr Anteil bis 2050 auf etwa 37 % anwachsen wird (Mai 2003, S 106)8. Tabelle 1:
Entwicklung des Anteils junger und alter Menschen in Deutschland von 1950 bis 2050 in Prozent
Jahr
Altersgruppe bis 18
Altersgruppe bis 65+
1950
28
9
2001
19
17
2050
15
37
Anmerkung: 2050: 60+ Quellen: Geißler 1996, S. 345 und eig. Berechnungen bzw. Schätzungen nach Stat. Jahrbuch 2003 für die Bundesrepublik Deutschland, S. 60 und Mai (2003) S. 81ff
Eigene Kinder zu wollen, ist für viele Menschen in den Ländern der westlichen Kultur inzwischen keine Selbstverständlichkeit mehr. Aus den Daten der Bevölkerungsstatistik für Deutschland ist zu schlussfolgern, dass ein Drittel der Frauen, die heute im Alter zwischen 25 und 30 sind, niemals Kinder bekommen wird. Fast immer ist dies Folge einer eigenen Entscheidung, und es liegen keine gesundheitlichen Ursachen zugrunde. Stark rückläufig ist außerdem der Anteil von Familien mit mehr als zwei Kindern. Jahr für Jahr geht der Anteil der Verheirateten zurück und die Zahl der Scheidungen nimmt zu. Derzeit beträgt der Wert der Fertilität für alle Frauen in Deutschland (einschl. Migrantinnen) 1,39, für Frauen mit deutscher Herkunft nur 1,210.
7 Es gibt verschiedene Vorausberechnungen, die jeweils von unterschiedlichen Grundannahmen (z.B. bezüglich der Entwicklung der Fertilität) ausgehen. Grundsätzlich schreiben Vorausberechnungen, die keine Prognosen sein können, solche Trends fort, die in der Vergangenheit und Gegenwart beobachtet wurden. 8 Diese Angabe betrifft nur die deutschstämmige Wohnbevölkerung. Aber auch der Anteil der über 60jährigen unter den in Deutschland lebenden Ausländern wird steigen. Die Annahmen der Modellrechnungen für die zukünftige Entwicklung variieren hinsichtlich eines weiteren Anstiegs der Lebenserwartung und des Einwanderungssaldos. Auf diese Begriffe wird weiter unten eingegangen. 9 vgl. www.weltbevoelkerung.de/info-service/land.phd, 28.6.07 10 Kürzlich ist das bislang praktizierte statistische Verfahren für die Ermittlung der durchschnittlichen Kinderzahl pro Frau infrage gestellt worden. Es wurde festgestellt, dass Frauen, die zum zweiten Mal heiraten, als mögliche Mütter unberücksichtigt blieben. D. h. Kinder, die sie in die neue Ehe mitbrachten, oder beim Vater ließen, wurden von den Standesämtern nicht gezählt. Wenn diese Behauptung stimmt, wären die bisher veröffentlichten Werte der Fertilität nach oben zu korrigieren (Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. Aug. 2007; Kreyenfeld, Konietzka (2007)).
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3 Demographischer Wandel und alternde Gesellschaft
Wo immer weniger Kinder geboren werden, schrumpft – sofern nicht Einwanderungen für einen Ausgleich sorgen – die Bevölkerung. Um einen bereits begonnenen Bevölkerungsrückgang auszugleichen, müsste die Zuwanderung weit höher sein als sie derzeit ist. Für Deutschland lassen die Modellrechnungen11 bis 2050 trotz Anhaltens eines Einwanderungsüberschusses einen Rückgang des Bevölkerungsvolumens erwarten. Von derzeit (2004) 82,5 Mill. Einwohnern (Statistisches Bundesamt 2005, S. 28) wird die Bevölkerung mindestens um 12,6 Prozent, möglicherweise aber auch um bis zu 24 Prozent schrumpfen (Mai 2003, S.73 ff)12. Die Entwicklung in vergleichbaren Gesellschaften ist ähnlich. Dagegen gibt es in den rückständigen Regionen der Welt und häufig auch noch in den „Schwellenländern“13 ein starkes Bevölkerungswachstum. 95 Prozent des weltweiten Bevölkerungswachstums finden in den Entwicklungsländern statt. Am Ende des 20. Jahrhunderts lebten dort bereits 82,9 % der Weltbevölkerung. 2025 werden es voraussichtlich 85,3 % sein (Höpflinger 1997, S. 23). Die Bevölkerung wird sich dort gegenüber dem heutigen Stand noch einmal verdoppeln. 2050 wird die Weltbevölkerung voraussichtlich bei etwa 9 Mrd. Menschen angekommen sein14. Danach wird sie nicht mehr wesentlich wachsen und langfristig wieder abnehmen15. Das zu erwartende Ende des auch als „Bevölkerungsexplosion“ bezeichneten dramatischen Weltbevölkerungswachstums könnte die Menschheit vor einer Katastrophe bewahren. Denn die „Tragfähigkeit“ der Erde gilt als begrenzt. Wichtige Ressourcen (wie Boden und Bodenschätze, Wasser, Luft) sind nicht erneuerbar16 und durch eine wachsende Bevölkerung sowie den Einsatz die Umwelt schädigender Technologien gefährdet. Noch immer lebt ein großer Anteil der Menschen in Armut: Derzeit leiden nach Schätzung der UN 1,3 Mrd. Men-
11 Modellrechnungen sind ausdrücklich keine Prognosen. Modellrechnungen schreiben derzeit beobachtete Trends fort, wobei sie jeweils alternative Variable einfügen und so zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen. 12 Die unterschiedlichen Zahlen resultieren aus verschiedenen Annahmen, die den Berechnungen zugrunde liegen (z.B. hinsichtlich der Einwanderungszahlen und der Fertilität). 13 Als „Schwellenländer“ werden bezeichnet, Länder die in Teilen noch unterentwickelt sind (z. B. noch kein demokratisches System existiert), andererseits schon starke Modernisierungsschübe – z. B. Wirtschaftswachstum – stattfinden. China gilt als Schwellenland. 14 Quelle: http://www.lern-line.nrw.de/angebote/agenda 21/daten/bevolk.htm, 22.6.07. 15 Vor einigen Jahren waren bis zu 20 Mrd. erwartet worden. Inzwischen sind diese Zahlen nach unten korrigiert worden, weil auch in den armen Ländern die Fertilität zurückgeht. 16 Sehen wir von den technischen Möglichkeiten ab, z.B. aus Salzwasser Trinkwasser zu gewinnen, oder Böden zur landwirtschaftlichen Nutzung zu (re-)kultivieren.
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schen an absoluter Armut. Ihr Tageseinkommen unterschreitet die Grenze von einem US-Dollar, was als Existenz gefährdend gilt. Folge des Demographischen Wandels in den reichen Gesellschaften ist ein Mangel an Menschen, die sich im „erwerbsfähigen“ Alter befinden. Von diesen wird erwartet – und in vielen Ländern sind sie vom Gesetzgeber dazu verpflichtet („Generationenvertrag“, vgl. Kap. 4.) – über Einkommensabgaben eine Finanzierung des Unterhalts der Nichterwerbstätigen zu leisten. Nichterwerbstätige sind neben Kindern, Jugendlichen, Arbeitslosen und krank- oder unfallbedingt Arbeitsunfähigen die Rentenbezieher. Alte haben nicht nur einen Anspruch auf Existenzsicherung, sondern auch auf eine angemessene Teilhabe am gesellschaftlichen Wohlstand. Der so genannte Altenquotient17 misst den Belastungsgrad, welcher den Erwerbstätigen durch die Mitversorgung der Alten entsteht. Er ist zwischen 1960 und 1999 von 17,0 auf 23,3 Punkte gestiegen. Er wird weiter zunehmen und seinen Höhepunkt voraussichtlich erst 2035 erreichen (Mai 2003, S. 72 ff). Zu bedenken ist der höhere Pflegebedarf von Alten. Auch wenn der größte Teil der alten Menschen heute bei guter Gesundheit ist, wird die Zahl der Pflegebedürftigen bis 2040 voraussichtlich um etwa 50 % zunehmen.18 Durch die Demographische Alterung entsteht ein wachsender Bedarf an Zuwanderung jüngerer – möglichst beruflich bereits qualifizierter – Menschen. Mit gut ausgebildeten Einwanderern wird allerdings – ohne hierfür deutliche Anreize zu setzen – kaum zu rechnen sein. Vielmehr werden aus den armen und politisch unruhigen, sowie zunehmend den ökologisch gefährdeten Regionen der Erde Einwanderer mit geringer Qualifikation erwartet. Die bereits stattfindende und an Umfang voraussichtlich wachsende Süd-Nord-Wanderung wird die Aufnahmegesellschaften verändern. Eine Entwicklung, die vor erhebliche politische Herausforderungen stellt. Die Welt wird sich auf Grund des Demographischen Wandels dramatisch verändern. Sie wird kaum friedfertiger werden. Denn immer mehr Menschen müssen sich knappe aber lebenswichtige Ressourcen teilen. Ist diese Entwicklung, die man vor allem in Deutschland lange Zeit viel zu wenig beachtet hat, eine naturhafte und nicht beeinflussbare, oder ist sie mit politischen Mitteln zu steuern? Was sind die Gründe und Bedingungen des Demographischen Wandels und der Alterung der Bevölkerung? Wie stellt sich diese Entwicklung in Zahlen dar? 17 Der Altenquotient bezeichnet das Verhältnis zwischen den ab 65jährigen (oder den 60jährigen) und den 15-64jährigen (Mai 2003, S. 72). Zu beachten ist, dass auch andere Berechnungsverfahren bzw. Bezugsgrößen verwandt werden. 18 Es gibt unterschiedliche Berechnungen, die sich um diesen Wert bewegen (Mai 2003, S. 161).
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3.3 Leben und Tod im Einflussbereich des Menschen Zum Verständnis der genannten Vorgänge sind einige grundlegende Kenntnisse über die Mechanismen und die Geschichte der Bevölkerungsentwicklung Voraussetzung. Dieses Kapitel soll deshalb als Einführung in zentrale Vorgänge der so genannten natürlichen Bevölkerungsbewegung verstanden werden. Mit diesem Begriff werden in der Bevölkerungswissenschaft19 solche Ereignisse bezeichnet, die Strukturen und Entwicklung der Bevölkerung scheinbar naturhaft bestimmen; nämlich die Masse der Geburten- und Todesfälle. Im Unterschied dazu gelten Migrationen (Wanderungen) als Folge willentlicher Entscheidungen einzelner Personen oder Gruppen. Sie sind somit nicht Teil der natürlichen Bevölkerungsbewegung. Datengewinnung Die so genannten bevölkerungsstatistischen Ereignismassen von Geburten und Sterbefällen werden ebenso wie die Gesamtheit der Migrationen (und auch Eheschließungen und Scheidungen) durch amtliche Melderegister (in örtlichen Standesämtern) und durch Umfragen (Volkszählungen und Mikrozensus20) regelmäßig erfasst. Diese Zählungen sind vor allem als Kontrollzählungen gedacht, durch die die Datenmassen der Melderegister überprüft werden. Dadurch ist (jedenfalls in modernen Gesellschaften) mit einer verlässlichen Datenbasis zu rechnen. Dennoch gibt es „Dunkelziffern“, z.B. durch illegale Einwanderungen und „vergessene“ Meldungen über Hin- und Wegzüge. Migrationen haben erhebliche Auswirkungen auf die natürliche Bevölkerungsbewegung. Dies insbesondere in einem Land wie Deutschland, mit einem seit Jahrzehnten ausschließlich durch Einwanderungen bewirkten Bevölkerungswachstum. Ein- und Auswanderungen verändern die Altersstruktur, also den Aufbau einer Bevölkerung nach Altersklassen. In der Regel verjüngen Einwanderungen die Bevölkerung des Aufnahmelandes – mit umgekehrtem Effekt
19 Eine in ihrem Selbstverständnis eigenständige Bevölkerungswissenschaft gibt es zumindest in Deutschland nicht. Vielmehr erforschen mehrere Wissenschaften – in alphabetischer Reihenfolge: Biologie, Geographie, Medizin, Psychologie, Soziologie, Wirtschaftswissenschaft – Bevölkerungsvorgänge. Dabei kommt der Soziologie seit einigen Jahrzehnten wachsende Bedeutung zu. Zentral bleibt die bereits auf Anfänge in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückreichende Bevölkerungsstatistik. Sie liefert geeignete Erhebungsverfahren, Methoden der Darstellung und Berechnung von Daten, sowie für das Erstellen von Modellrechnungen für die zukünftige Entwicklung. 20 Volkszählungen sollen in Deutschland alle zehn Jahre stattfinden. Beim Mikrozensus wird jährlich eine repräsentative Stichprobe erhoben. D.h. eine Auswahl von Bewohnern eines Gebietes wird nach demographisch relevanten Daten (Alter, Kinderzahl, verheiratet u.a.) gefragt.
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für das Abgabeland – wodurch eine Veränderung der Geburten- und Sterblichkeitsentwicklung in beiden Ländern zu erwarten ist. Geburt und Tod als gesellschaftlich und individuell beeinflusste Ereignisse Geburten und Todesfälle sind keineswegs im engen Sinn des Wortes „natürliche“, also ausschließlich biologisch-physiologisch bedingte Ereignisse. Vielmehr werden Beginn aber auch das Ende menschlichen Lebens durch individuelle Entscheidungen und gesellschaftliche Bedingungen beeinflusst, initiiert, aufgeschoben oder verhindert. So sind Schwangerschaften heute (zumeist) persönlich gewollt und nicht durch Erwartungen oder das Handeln anderer erzwungen. Am Anfang steht eine persönliche Entscheidung; es gibt ein verbreitetes Wissen über Verhütungstechniken und -mittel; diese sind im Regelfall verfügbar und ihr Gebrauch wird von der Gesellschaft normalerweise akzeptiert21. Der Tod wird durch gute Ernährung und Hygiene und in den letzten Jahrzehnten vor allem durch Medizin und Medizintechnik hinausgeschoben22. Schließlich gewinnt eine Diskussion an Raum, die den Zeitpunkt des Todes zum Recht persönlicher Entscheidung machen will und – auf der anderen Seite – zu einer Sache der Mitsprache der Gesellschaft. Eine Frage mit hoher ethischer Brisanz23. Die Wirkung von Normen Die persönliche Entscheidungsfreiheit hat jedoch Grenzen. Erörtern wir dies noch einmal am Beispiel der Frage des Nachwuchses. Die persönliche Entscheidung ist gerahmt von biologischen und sozialen Bedingungen. Zu dem „individuellen Wollen“ muss neben dem „physischen Können“ auch das „gesellschaftliche Dürfen“ hinzutreten. So wird ein Individuum bzw. ein Paar normalerweise nicht nur prüfen, ob Nachwuchs in der jeweiligen wirtschaftlichen Lage möglich, gewünscht und erstrebenswert ist, und dabei die Folgen entsprechenden Handelns bedenken. Es wird auch klären wollen, ob die entsprechende Absicht aus Sicht der jeweiligen Umgebung, der Familie, den Freunden, der Gruppen, deren Mitglied man ist, angemessen erscheint, oder mit Sanktionen, also „Bestrafungen“ irgendeiner Art zu rechnen ist. Es geht um die Wirkung von Normen auf das individuelle Handeln. Unter Normen werden Handlungsmuster oder Regeln
21 Die Römisch-katholische Kirche lehnt bekanntlich den Gebrauch von Verhütungsmitteln noch immer kategorisch ab. Das hat Einfluss zumindest auf einen Teil der Gläubigen. 22 In der Fachliteratur ist von „vermeidbarer Mortalität“ die Rede. Durch Prävention kann einer Reihe von Krankheiten vorgebeugt werden. Der Tod wird damit aufgeschoben (Walter/Schwartz 2001, S. 155ff). 23 Es geht um Fragen zur Patientenverfügung und ein Recht auf Sterbehilfe.
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verstanden, die die mehr oder minder starken Erwartungen der „Anderen“ widerspiegeln. Normen bündeln sich häufig zu so genannten Rollen (z.B. Frauenrolle, Mutterrolle, Berufsrolle). Rollen sind als Summe der gesellschaftlichen Erwartungen zu verstehen, bezogen auf die Position, in der ein Individuum sich befindet (z.B. Verheiratete/r, Unverheiratete/r, Berufstätige/r, Arbeitslose/r). Rollen sind nicht immer eindeutig und Probleme entstehen dann, wenn es Widersprüche zwischen unterschiedlichen Rollenerwartungen gibt. Die Erwartungen an eine Mutter sind von Seiten der Kinder andere als von Seiten des Partners. (Rollenkonflikte). Das Problem des Rollenkonflikts im Zusammenhang der „Kinderfrage“ stellt sich heute vor allem für Frauen. So wird von der „modernen Frau“ heute hohe Bildung und Berufstätigkeit erwartet. Frauen wollen auch teilhaben an den Errungenschaften der Wohlstands- und Konsumgesellschaft und vor allem wollen sie materiell unabhängig sein, dies auch von einem geliebten Partner. Begehrt ist Selbstbewusstsein, das durch Bildung und Beruf erreicht wird. Damit konkurriert der Kinderwunsch. Denn ein Kind fordert ebenfalls Zeit, Hingabe und Geld. Ein Kind wird aber auch wahrgenommen als eine nicht durch nichts ersetzbare Erfahrung und Erfüllung. Es bedeutet Kontinuität für Familie, den Namen und Besitz, und es ist die Einlösung gesellschaftlicher Verantwortung. Doch sind alle Erwartungen für eine Frau nur schwer zu erfüllen. Die Wirkung sozialer Normen auf die Fortpflanzung soll noch an anderen Beispielen gezeigt werden. So wird einem Menschen mit einer „höheren Position“ in der Gesellschaft (insbesondere vermittelt durch die Stellung im Beruf) in unserer Gesellschaft eine höhere Kinderzahl „erlaubt“ als einem Menschen mit einer niedrigen Position. Unterschiedliche Erwartungen werden auch an Personen unterschiedlichen Alters gestellt. Von einem sehr jungen – oder auch einem älteren Menschen – wird in unserer Gesellschaft nicht erwartet Kinder „in die Welt zu setzen“. Unabhängig vom physischen Können gilt oder galt etwa eine verfrühte Mutterschaft oder Vaterschaft als „Malheur“, Makel oder Problem, mit möglicherweise unangenehmen Folgen für die von der Norm abweichenden Personen. Man denke an die „Ächtung“ lediger Mütter (und ihrer Kinder) in vergangenen Zeiten oder noch heute in anderen Kulturen. Normen wandeln sich aber auch. Häufig sind Normen religiös begründet. Das gilt insbesondere für Normen, die Sexualität und Fortpflanzung betreffen. In der Gegenwart beobachten wir in unserer Gesellschaft allgemein die Schwächung von Normen und die Zunahme individueller Entscheidungsspielräume, verbunden allerdings mit dem Risiko fehlender Orientierung und Beliebigkeit. Durch die Anwesenheit von Migrantengruppen entsteht u. U. das Nebeneinander von einander abweichenden Normensystemen. Dies erklärt z. B. unterschiedliche Kinderzahlen in bei Frauen
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mit einheimischer Herkunft im Vergleich zu Migrantenfamilien. Migrantinnen leben hier manchmal in dramatischer Weise „zwischen den Gesellschaften“ und ihren sich gegenseitig ausschließenden Erwartungen24. Fortpflanzungsnorm Unabhängig davon gibt es eine allgemein zu beobachtende Fortpflanzungsnorm. Sie drückt sich aus in der durchschnittlichen Kinderzahl pro Frau. Ein Abweichen von dieser Norm ist immer in irgendeiner Weise erklärungsbedürftig, zumindest aber auffällig. Wir wundern uns über Menschen, die heute vier oder fünf Kinder haben und suchen nach Erklärungen. Vor hundertfünfzig Jahren wäre eine heute übliche Kinderzahl, mehr noch – sofern eine Ehe bestand – das Nichtvorhandensein von Kindern erklärungsbedürftig gewesen. Hinzuweisen ist auch darauf, dass der Bereich der Sexualität bekanntlich von Normen reguliert ist. Nicht alles was möglich ist, ist auch erlaubt. Man denke an das Inzesttabu. Aber nicht allein die Fruchtbarkeitsnorm hat sich gewandelt. Dies trifft – und es gibt zwischen beidem Zusammenhänge – auch für die Normierungen des Sexualverhaltens zu. Wir wissen, dass der Umgang mit Sexualität heute viel freizügiger – also weniger normiert ist – als noch vor einigen Jahrzehnten. So ist z. B. ist der (erste) Geschlechtsverkehr (auch für Frauen) heute nicht mehr an den Trauschein gebunden. Wichtig für unser Thema ist die Entkopplung von Sexualität und Fortpflanzung. Das bedeutet, dass Sexualkontakte auch ohne die Absicht der Fortpflanzung legitim (d. h. gesellschaftlich erlaubt) und deshalb problemlos möglich sind. Während die Römisch-katholische Kirche zwar auch heute noch an der Kopplung von Sexualität und Fortpflanzung festhält, bzw. nur Ausnahmen zulässt, dann aber auf die empfängnisfreie Periode der Frau verweist, ist dies in der Realität westlicher Gesellschaften anders. Das hat Folgen für die Fortpflanzung. Da einerseits sexuelle Kontakte weitgehend eine Angelegenheit der Privatpersonen geworden sind (der Gesetzgeber behält sich nur den Schutz von Minderjährigen vor), und es andererseits leicht verfügbare Empfängnis verhütende Mittel gibt (außerdem ist auch die Abtreibung erleichtert), werden weniger Kinder geboren, gibt es weniger „ungewollte Schwangerschaften“.
24 Leser werden sich an das Frühjahr 2006 und den Fall Sürücü in Berlin erinnern, über den die Presse ausführlich berichtete. Ein junger Mann türkischer Herkunft ermordete im Auftrag seiner Familie seine Schwester, die unverheiratet Mutter geworden war. Die Tat sollte die „Ehre“ der Familie wieder herstellen. Das Ereignis erschütterte die Öffentlichkeit und führte der Gesellschaft die gleichzeitige Existenz zweier höchst unterschiedlicher Moralsysteme vor Augen.
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Gesellschaftliche Einflüsse auf Sterben und Tod Auch das Ereignis des Todes und der Umgang damit sind von gesellschaftlichen Normen geprägt. Zwar gilt der Tod (noch?) als unvermeidlich, zugleich aber als „Feind des Lebens“. Aus dieser Einschätzung erwächst das Bestreben, seine Frühzeitigkeit zu verhindern. Ein erheblicher Teil menschlicher Anstrengungen beschäftigt sich seit jeher auf vielfältige Weise mit dem Tod. Beklagt wird das persönliche Unglück, das er zumeist bedeutet, gefragt wird nach seinem Sinn, der Unausweichlichkeit und Endgültigkeit. Sei es, dass die Existenz des Todes zu geistigen (religiösen, philosophischen, esoterischen) Auseinandersetzungen herausfordert; sei es, dass die Errungenschaften der Zivilisation darauf verwendet werden, ein längeres Leben und eine bessere Gesundheit dem (zu frühen) Sterben abzutrotzen. Bessere Ernährung, medizinische Versorgung, Hygiene usw. bezwecken die Realisierung eines besseren und auch längeren Lebens. Da überrascht nicht, dass in modernen Gesellschaften, denen ein nennenswerter Aufschub des Todes gelungen ist, der Tod häufig aus dem Alltag und dem Denken verdrängt und widerstrebend nur als Unvermeidlichkeit akzeptiert wird. Man tut sich schwer, Sterben und Tod als unausweichlich und in letzter Konsequenz auch als sinnvoll (man stelle sich eine stets begrenzte Welt ohne den ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen vor!) zu akzeptieren. Gefördert wird diese „Verweigerung“ gegenüber dem Tod dadurch, dass für die meisten Menschen der Prozess des Sterbens heute, ebenso wie der plötzliche Tod, nur selten ein unmittelbar erfahrbares Ereignis ist. Sterben findet gegenwärtig fast immer in Krankenhäusern (inzwischen zu einem wachsenden Teil auch in Sterbehospizen) statt, unter der Betreuung von geschulten und bezahlten Fachkräften25. Auch Menschen, die den plötzlichen (Unfall-)Tod erleiden, werden von Experten versorgt oder „entsorgt“. Schließlich wird auch der „letzte Weg“, das Begräbnis und die Vorbereitungen dazu, für die Angehörigen fast immer aus der Distanz erlebt. Die eigentliche Arbeit wird Spezialisten übertragen. Der Tod ist – die Berufsgruppen der Experten und Ausnahmesituationen unbeachtend lassend – aus dem persönlichen Erfahrungsraum entschwunden, aus dem Alltag entfernt und somit fremd geworden. Für Menschen, die in Gesellschaften lebten, in denen die Lebenserwartung niedrig war, im Grunde ständig und in unmittelbarer Umgebung „gestorben wurde“, war der Tod alltäglich sicht- und spürbares Geschehen26. Der moderne Mensch hat sich vom Tod entfernt und entfremdet.
25 Allerdings steht das Pflegepersonal in Krankenhäusern hier noch immer vor einer Überforderung. Man ist auf den Auftrag „Hilfe zur Gesundung“ vorbereitet, nicht auf den der Sterbebegleitung. 26 Vgl. hierzu das aufschlussreiche Buch von Arthur Imhoff: Die gewonnenen Jahre (1981).
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Gedanken und Gespräche über den Tod, auch über das eigene Sterben, dürften in Gesellschaften der Vergangenheit andere gewesen sein als in heutiger Zeit. Der Tod war immer ein zentrales Thema der Religionen. Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist nicht vom Tod zu trennen. Die religiöse Fragestellung zielt auf die Auflösung des scheinbaren Widerspruchs von Werden, Sein und Vergehen. Religionen spenden Trost und machen Hoffnung über den irdischen Tod hinaus. Das ist der Schlüssel für die Antwort auf die Frage nach den Gründen eines vermutlich früher eher unkomplizierten Umgangs mit Sterben und Tod. In einer säkularisierten Welt ist die religiöse Wahrheit der Religionen abgelöst durch die relativen Wahrheiten wissenschaftlichen Wissens. Damit sind Form und Inhalt des durch Glauben gestifteten Trostes den meisten Menschen fremd geworden. Das schließt einen versöhnlichen Umgang mit dem Lebensende eher aus. Jenseits von Religion und Philosophie findet derzeit ein neuer Diskurs über das Sterben ab. Er verfolgt zwei Argumentationslinien. Die eine thematisiert kühl und zweckrational die durch Langlebigkeit verursachten Kosten für die Allgemeinheit. Die andere stellt aus Humanitätsgründen den Sinn eines durch die Apparatemedizin künstlich verlängerten Lebens in Zweifel. Dieser Diskurs war noch vor Kurzem kaum denkbar. Unabhängig von einer Bewertung, scheint er die Rede von einer „Verdrängung des Todes“ nicht länger zu rechtfertigen. Eher geht es um eine Rationalisierung des Themas. Es zeigt sich aber auch ein Dilemma, welches typisch ist für moderne Gesellschaften. Diese sind bekanntlich sowohl der Humanität als auch der Zweckrationalität verpflichtet. Sie verfügen über ein hohes Potential an Wissen und technischen Möglichkeiten, auch zur Lebensverlängerung. Konflikte zwischen Positionen und Parteien, die einerseits für die Wahrung des Rechts auf ein menschenwürdiges und selbst bestimmtes Lebensende setzen und andererseits der Gemeinschaft unzumutbare Kosten ersparen wollen sind aber schwer auflösbar. Widersprüchlicher Umgang mit dem Tod Zu allen Zeiten war und ist der Tod aber auch gewollt, wird er „künstlich“ herbeigeführt oder billigend in Kauf genommen, sei dies in Gestalt von Kapitalverbrechen, sei es als Mittel der Strafe für Gesetzesbrecher, sei es im Krieg. Relativ neu ist die Diskussion über „Sterbehilfe“ – zu unterscheiden von der „Sterbebegleitung“ – die in einigen Ländern bereits legalisiert ist. Und auf ein Paradox sei hingewiesen: Auch wenn der Tod zumeist als „Feind des Lebens“ gilt, verfügt er bekanntlich über einen höchst lebendigen „Unterhaltungswert“. Auch das ist nicht neu. Doch verfügen die modernen Medien heute über Mittel einer äußerst realitätsnahen Sterbe- und Todesinszenie-
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rung, was den Unterhaltungswert noch zu steigern vermag. Und: wohl „immer schon“ ist der Tod in Kulturgesellschaften ein Sujet der darstellenden Kunst und des Romans gewesen. Viel mehr noch als im „richtigen Leben“ erweist er sich hier als „in der Hand“ des Menschen befindlich27. Grenzen der „Machbarkeit“ von Leben und Tod Den Einflussmöglichkeiten des Menschen auf Leben und Tod und der damit einhergehenden Veränderung seiner Wahrnehmung und Wertung, ist es zuzuschreiben, dass die Geburtenraten28 in den so genannten „entwickelten Gesellschaften“ in den letzten Jahrzehnten geradezu dramatisch gesunken sind und aller Voraussicht nach weiter sinken werden. Ähnliches gilt für den Tod, der zugunsten eines längeren Lebens beträchtlich in das höhere Lebensalter „hinausgeschoben“ wurde. Diese Entwicklung begann seit dem 18./19. Jahrhundert sich in den modernisierenden Gesellschaften der so genannten westlichen Kultur auszubreiten. Sie findet inzwischen weltweit in vielen Ländern statt. Die vielleicht nahe liegende Schlussfolgerung, eines Tages könnten die Menschen vollständig und planvoll über Leben und Tod „verfügen“, bleibt dennoch wohl Utopie. Was auch deshalb eher eine beruhigende Vermutung ist, weil der Mensch sich von jeher nicht scheut, nach jeweils eigenen Wertmaßstäben höchst unterschiedlich den Tod zum Instrument seines Machtstrebens zu machen – Leben schützend wie Leben vernichtend. Ebenso wissen wir heute, dass den Mitteln der Politik zu planvoller Gestaltung des Gemeinwesens – man vergleiche Maßnahmen zur Veränderung der Geburtenrate oder von Migrationen – auch Grenzen gesetzt sind. Daran hat auch die Existenz moderner Sozialwissenschaften nichts geändert.
3.4 „Altern“ der Gesellschaft in der Folge gesellschaftlicher Modernisierung 3.4.1
Wandel der Bevölkerungsweise
Kern des Demographischen Wandels ist eine Veränderung der Bevölkerungsweise (Mackenroth 1953). Mit diesem Begriff werden jene Vorgänge bezeichnet, die zu den statistisch erfassbaren Ereignissen der natürlichen Bevölkerungsentwicklung gehören also die Masse der Geburten- und Sterbefälle. Diese sind nicht – wie 27 Zur Geschichte des Todes vgl. Aries (1984) und Ebeling (1992). 28 Die Geburtenrate (auch -ziffer) stellt das Verhältnis der Gesamtheit der Geburten eines Jahres zur Bevölkerung (Geburten auf 1000 der jahresdurchschnittlichen Bevölkerung) dar.
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oben schon dargestellt – allein naturbedingte „Tatsachen“, noch allein individuell bedingte Ereignisse. Sie sind vielmehr beeinflusst von gesellschaftlichen – materiellen und immateriellen – Bedingungen. Außerdem überlagert die Struktur einer Bevölkerung, d.h. die Zusammensetzung – u. a. nach Geschlecht und Alter – diese Vorgänge. So macht es einen Unterschied für die Geburten- und Sterblichkeitsereignisse, ob eine Bevölkerung im Durchschnitt jung oder alt ist, und zwar sowohl für die Geburtenzahlen als auch für die Sterbezahlen29. Einfluss auf die tatsächlichen Geburtenzahlen hat die Fruchtbarkeitsnorm, also die „übliche“, „normale“ Zahl der Kinder pro Frau (s. o.), weiter die Normen bezüglich des Heiratsalters – je niedriger dieses ist, umso mehr Kinder kann potentiell eine Frau gebären. Die Bevölkerungsweise ist stets Widerspiegelung der gesellschaftlichen Verhältnisse einer Zeit, der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Bedingungen und sie ist dem Wandel unterworfen. So werden wirtschaftlich unsichere Zeiten in Verbindung mit einer verbreitet pessimistischen Haltung eine Beschränkung der Geburtenzahlen bewirken. Wirtschaftlicher Wohlstand führt aber keineswegs zu einer höheren Fruchtbarkeitsnorm, weil die Kosten für Kinder die eigene Beteiligung an der gesellschaftlichen Prosperität verringern könnten. Vergleicht man moderne Gesellschaften mit traditionalen, findet man deutlich von einander abweichende Bevölkerungsweisen vor. Da es aber auch in der Gegenwart Gesellschaften gibt, die traditionale Züge aufweisen (z. B. bezüglich der Familienstruktur und/oder der Bedeutung der Religion), finden wir heute das zeitliche Nebeneinander zweier verschiedener Bevölkerungsweisen. So ist beispielsweise dort, wo Religion eine große Bedeutung für den Lebensalltag hat, die Geburtenrate deutlich höher. „Fruchtbar“ zu sein, gilt als göttliches Gebot, hohe Kinderzahl als Gnadenerweis oder Belohnung für ein gottgefälliges Leben. Wenn dann gleichzeitig dazu die Lebenserwartung sich dem Niveau moderner Gesellschaften anpasst, ist ein starkes Bevölkerungswachstum die Folge Hohe Lebenserwartung bei gleichzeitig niedrigem Geburtenniveau sind daneben Merkmale fast aller modernen Gesellschaften. Zugleich steigt dort das Durchschnittsalter der Bevölkerung, es beginnt der Prozess der Demographischen Alterung und die Bevölkerung schrumpft. Demographischer Übergang Der grundlegende Wandel der Bevölkerungsweise hat sich nicht sprunghaft eingestellt. Vielmehr ist er Ergebnis eines allmählichen und stufenweisen Übergangs 29 Die Auswirkungen eines unausgeglichenen Verhältnisses der Geschlechter wird derzeit – nach Abwanderung qualifizierter junger Frauen aus einzelnen Regionen in den neuen Bundesländern – beobachtet. Die Geburtenrate ist dort dramatisch niedrig.
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von der Bevölkerungsweise einer traditionalen hin zu der einer modernen Gesellschaft30 (auch als Industrie- oder Dienstleistungsgesellschaft bezeichnet). Ein solcher Wandel ist zuerst in jenen Staaten beobachtet worden, in denen während des 18. und 19. Jahrhunderts die Industrialisierung begann. Man geht inzwischen davon aus, dass es sich hierbei um einen universalen Trend handelt, der – allerdings zeitlich versetzt – in den meisten Ländern der Erde stattfindet bzw. noch stattfinden wird. Die Betrachtung der Bevölkerungsentwicklung der letzten fünfzig Jahre gibt dieser Annahme recht. Mit dem Modell des Demographischen Übergangs (oder: Demographische Transition, vgl. Abb. 2) hat man die Logik dieser Entwicklung bereits Ende der 1920er Jahre modellhaft dargestellt (Thompson 1929, Notestein 1945). Das Modell beschreibt einen Wandel der Bevölkerungsweise mit einer hohen Fertilität und Sterblichkeit hin zu einer Bevölkerungsweise mit wachsender Lebenserwartung und zurückgehender Fertilität. In Kürze dargestellt ist die Aussage des Modells, dass sich nach einer langen und stabilen Phase mit hohen Geburtenraten und hohen Sterberaten – eine Phase in der die Bevölkerung nur wenig wächst – eine Übergangsphase (= Transition) einstellt. Darin beginnt die Sterblichkeit zurückzugehen, während die Geburten auf hohem Niveau verbleiben. Es kommt zu einem starken Bevölkerungswachstum. Erst nachdem in einer weiteren Phase auch die Geburten zurückgehen, nähern sich deren Werte wieder jener der Sterblichkeit an und das Bevölkerungswachstum kommt zum Abschluss. Nun befindet sich die Entwicklung in der dritten Phase. Das ursprüngliche Dreiphasenmodell ist inzwischen (vor allem in Konsequenz der Beobachtung der Entwicklung in der „Dritten Welt“) zu einem Fünf-PhasenModell erweitert worden (Coale 1975, Hauser 1974, Mackensen 1973). Dabei wird zwischen der Ersten Phase als Prätransformativer Phase (hohe Geburtenrate und hohe sowie schwankende Sterberate mit geringer Wachstumsrate der Bevölkerung) und der zweiten als Frühtransformativer Phase (allmähliches Sinken der Sterberate sowie hohe oder steigende Geburtenrate in der Folge verbesserter Ernährung und Gesundheit bei sich beschleunigendem Bevölkerungswachstum) unterschieden. Es schließt sich die Mitteltransformative Phase an (weiteres Absinken der Sterbeziffern, langsam einsetzender Geburtenrückgang). Die Schere der graphischen Kurven der Geburtenziffer und der Sterbeziffer gehen dabei immer weiter auseinander. Das ist das Kennzeichen eines starken Bevölkerungswachstums. In der vierten Phase – der spättransformativen – sinken die Geburten stark ab. Die Sterbeziffer stabilisieren sich auf einem niedrigen Niveau. Die Scherenhälften der graphischen Kurven nähern sich einander wieder an, und die Wachs-
30 Vgl. Kap. 2.2.2.1
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tumsraten der Bevölkerung gehen zurück. In der fünften, der posttransformativen Phase, kommt es zur Angleichung der Geburten- und Sterberaten auf einem niedrigen Niveau. Das Bevölkerungswachstum kommt zum Erliegen.31 3.4.2
Demographischer Wandel als Teil des sozialen Wandels
Der Demographische Wandel als grundlegende Veränderung der Bevölkerungsweise, vollzieht sich nicht losgelöst von anderen gesellschaftlichen Entwicklungen, sondern ist Teil eines Prozesses des sozialen Wandels. Unter dem zweiten Begriff wird die umfassende Veränderung sozialer – ineinander verwobener – Strukturen verstanden. Bespiele sind z. B. der Wandel von der Stände- zur Klassengesellschaft; oder von der Agrar- zur Industriegesellschaft. Veränderungen solcher Makrostrukturen gehen immer einher mit dem Wandel von Meso- und Mikrostrukturen, z. B. der Familie und des Handelns von Menschen. Im Folgenden sollen einige Bedingungen und Voraussetzungen für diesen sozialen Wandel, der von der traditionalen zur modernen Gesellschaft führte, skizziert werden. Von der Traditionalen zur modernen Gesellschaft In Traditionalen Gesellschaften lebten und arbeiteten ca. 80 bis 95 Prozent der Bevölkerung auf dem Land und in der landwirtschaftlichen Produktion („Naturalwirtschaft“). Die politische und wirtschaftliche Macht war an Grund- und Boden gebunden. Die soziale Struktur war gekennzeichnet durch voneinander abgeschlossene Stände oder Kasten. Die Lebensweise der Menschen war von Gewohnheiten und dem Einhalten von Regeln gekennzeichnet, zugleich prägten Unsicherheiten (Ernteausfälle, Kriege, Willkür und Wechsel der Herrschaft) den Alltag. Es gab keine Freizügigkeit hinsichtlich des Wohnens, Arbeitens, des Zugangs zu Bildung, dem religiösen Bekenntnis usw. Heiraten erfolgte unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten (auch im Zusammenhang eines Erbes) und war auf
31 Zu diesem Modell sind verschiedene Kritiken geäußert worden. Dazu gehören: 1. dass die Annahme einer linearen Entwicklung der Bevölkerungsvorgänge, die tatsächlichen, historischen Ereignisse nicht widerspiegelt. Denn diese sind beeinflusst durch Kriege, Naturkatastrophen, Epidemien. wirtschaftliche Depression aber auch Phasen des Massenwohlstands. Diese Ereignisse sind im Altersaufbau einer Bevölkerung deutlich ablesbar (vgl. zu Deutschland Abb.2). Inzwischen muss für weite Teile der Welt von einem umfassenden Trend der Modernisierung ausgegangen werden. Dieser ist mit dem Prozess der Säkularisierung („Entkirchlichung“, d.h. in letzter Konsequenz einem Rückgang der Bedeutung von durch Kirche „organisiertem“ und institutionalisiertem Glauben) verknüpft. Es wird in Teilen der Welt als z.T. militante Gegenbewegung aber auch eine Erstarkung fundamentalistisch- religiös motivierter Bewegungen beobachtet (vgl. Islamismus und „Heiliger Krieg“). Ausführlich zum Modell des Demographischen Übergangs vgl. Höpflinger (1997, S. 32ff).
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dem Land vom Innehaben einer Wirtschaftsstelle (von der man eine Familie ernähren konnte) und der Erlaubnis durch den Feudalherren abhängig. Die Geburtenrate war hoch, denn Kinder waren ein wichtiger „Produktionsfaktor“. Sie waren unersetzliche Helfer bei den Mühen im für die tägliche Produktion alles Lebensnotwendigem, und sie waren Bedingung für die Versorgung im Alter und die Weitergabe des Hofes oder Handwerksbetriebs an die nächste Generation. Da die Sterblichkeit hoch war, musste auch die Kinderzahl hoch sein. Nur wenige Kinder erreichten das Erwachsenenalter. Die Lebensweise war von der gemeinschaftlichen Produktion des Lebensnotwendigen bestimmt. Die Menschen lebten, zumindest auf dem Land, in wirtschaftlich autarken Hausgemeinschaften. Unter einem gemeinsamen Dach lebte und arbeitete man oder wurde versorgt. Zur Hausgemeinschaft gehörte oft auch eine größere Anzahl mitarbeitender bzw. versorgter unverheirateter Verwandter und Familienfremder. In den relativ wenigen und kleinen Städten wich die Lebensweise z. T. von der der Landbevölkerung ab. Uns muss hier nur soviel interessieren, dass Lebenserwartung und Geburtenhäufigkeit hier geringer waren (später sollte das für die Lebenserwartung umgekehrt sein). Städte waren daher auf den Zuzug vom Lande angewiesen. In kriegerischen Zeiten erwiesen sie sich aber wegen ihrer Befestigungsanlagen als der sicherere Ort. Grund für die Abhängigkeit vom Land, war die weitgehend fehlende Nahrungsmittelproduktion. Grund für den früheren Tod war die mangelhafte Hygiene, was die Ausbreitung von Seuchen begünstigte. Moderne Gesellschaften sind Stadtgesellschaften. Die meisten Menschen leben und arbeiten in der Stadt32. Städte sind hier der Mittelpunkt des wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Lebens. Die Lebensbereiche sind getrennt Leben. Arbeit findet als Erwerbsarbeit jenseits des privaten Haushaltes statt, dies auf der Basis eines Vertrags und verschafft Einkommen. Dieses dient in modernen Wohlfahrts- und Konsumgesellschaften nicht mehr ausschließlich der Beschaffung des Lebensnotwendigen, sondern schafft Möglichkeiten des Sparens oder weiterer Verausgabungen. Ein Teil davon wird durch den Staat „umgeleitet“, transferiert, um Aufgaben für das Gemeinwesen zu erfüllen oder soziale Ausgleiche zu schaffen. Die Produktion ist durch einen hohen Grad an arbeitsteiliger und technischer Organisation (Industriegesellschaft) gekennzeichnet. Voraussetzung dazu sind Wissen und hohe allgemeine Qualifikation sowie berufliche Spezialisierung. Die 32 Bald kann auch die Weltgesellschaft eine Stadtgesellschaft genannt werden. Ab 2008 wird mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten leben (http://www.weltbevoelkerung.de/publikationen/ Weltbevoelkerungsbericht.shtml?navid=52, 28.6.07). Dies wird Konsequenzen für die Bevölkerungsweise haben.
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äußeren Lebensbedingungen sind prägend für die Lebensweise. Diese ist gekennzeichnet durch Mobilität (Bereitschaft und Anreiz Wohnort und Arbeitsplatz zu verändern), einer wachsenden Bedeutung von Dienstleistungen und den Massenkonsum. Moderne Gesellschaften sind differenziert, d.h. sie bestehen – ausgehend von der beruflichen Arbeitsteilung und hoher formaler Qualifikation der Erwerbstätigen – aus vielen und weiter zunehmenden relativ eigenständigen, hoch spezialisierten gesellschaftlichen Bereichen – z.B. Wirtschaft, Bildung, Politik, die zugleich in hohem Maße voneinander abhängig sind. Die Lebenserwartung ist hoch, die Lebensweise individualisiert, die Lebensformen (Familie, Alleinleben u. a.) vielfältig (pluralisiert), und damit relativ unabhängig von Traditionen und gesellschaftlichen Zwängen. Weil außerdem die Kindersterblichkeit sehr niedrig ist, Kinder aus Sicht der persönlichen Altersversorgung keine Rolle spielen, andererseits für den Einzelnen Kosten verursachen und überdies als erstrebenswertes Lebensziel mit anderen konkurrieren, ist die Geburtenrate niedrig. Absicherung in Notsituationen findet nicht durch gewachsene soziale Netze (Familie, Nachbarschaft) statt, sondern ist angewiesen auf vom Gesetzgeber oder den Markt eingesetzte bzw. bewirkte Institutionen (staatliche Sozialversicherung und/oder private Versicherungen)33. Die „Dreifache Revolution“ als „Geburtshelfer“ der modernen Gesellschaft Als Auslöser der Modernisierung gilt die im 18. und 19. Jahrhundert beginnende Politisch-Technisch-industrielle Revolution34. Einvernehmen besteht darin, als Wegbereiter einer umfassenden Modernisierung nicht – wie zuvor üblich – die Durchsetzung der industriellen Produktionsweise als Konsequenz auf die großen technischen Erfindungen (Stichwort: Dampfmaschine) gelten zu lassen, sondern ebenso die Politische Revolution in West- und Mitteleuropa (Beendigung des Feudalismus und schließlich die Herausbildung demokratisch verfasster Staaten) als Folge der philosophischen Aufklärung dazu zu zählen35. Diese „Dreifache Revolution“ war der Antrieb für einen grundlegenden und sozialen Wandel, die schließlich hinführte zu einer durch Demokratie-, Freiheit- und Konsum charakterisierten Bildungs- und Wissensgesellschaft36. 33 Vgl. Kapitel 4. 34 Von Eric Hobsbawn (1962) als „Doppelrevolution“ bezeichnet. 35 Voraussetzung für den grundlegenden sozialen Wandel von der traditionalen zur modernen Gesellschaft war die philosophische Aufklärung (17. bis 18. Jh.), die interessanterweise auch von christlichen Philosophen (John Locke, Immanuel Kant) ausging. Sie brachte den Rationalismus hervor, der schließlich in seiner Konsequenz die Existenz einer göttlichen Ordnung für überflüssig erklärte. 36 Vgl. die Thesen von Douglass C. North zur Industriellen Revolution (1988, Kap. 12). Talcott Parsons hat ebenfalls vorgeschlagen, von einer dreifachen Revolution zu sprechen (Parsons, 1972, S. 96f).
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Rationalisierung der Lebensführung Unlösbar verbunden ist die Entstehung der modernen Gesellschaft aber mit der so genannten Rationalisierung der Lebensführung. Gemeint ist ein Typus von Alltagshandeln, der – anstelle von durch Tradition und Glauben legitimierten Handlungsweisen – ein überlegendes, kalkulierenden, planendes – zweckrationales Element enthält. Dieses anfänglich religiös motivierte Handeln – zunächst ging es um Gotteserkenntnis und „Gnadengewissheit“ – verselbständigte sich von seinen Grundlagen und schuf die Voraussetzung zu einer Säkularisierung und die Entwicklung der modernen Gesellschaft37. Die Rationalisierung der Lebensführung ist Voraussetzung für technische Erfindungen ebenso, wie für eine planvolle Organisation von Betriebsabläufen und bürokratisch legitimierter wie verfahrender Herrschaft. Rationalisierung prägt die Lebensweise des „modernen Menschen“ im Alltag. Dies betrifft auch das Fortpflanzungsverhalten. So konkurriert der Kinderwunsch mit anderen Lebenszielen, wenn die wirtschaftliche Notwendigkeit für Nachwuchs aus Sicht des Einzelnen (scheinbar) entfällt. Für die Versorgung im Krankheits- und Altersfall sind die Familie ersetzenden staatlichen oder staatlich veranlassten Institutionen (Rentenversicherung, Krankenkassen) getreten. Kinder bedeuten für den Menschen der Gegenwart ein Handlungsziel neben anderen, dessen Erreichung in jedem Fall „Kosten“ verursacht, ohne wirtschaftlichen Nutzen kalkulierbar einzubringen. Dem traditionalen Wirtschafts- und Solidarverband Familie38, ist die wirtschaftliche Basis genommen. Die Notwendigkeiten zur Reproduktion und zur Versorgung nicht selbst Versorgungsfähiger sind freilich geblieben. Ebenso die dadurch verursachten Kosten, die durch „Umlage“ von der Gesellschaft aufzubringen sind. Schon während der ersten Phase des Geburtenrückgangs in Deutschland (zwischen etwa 1885 und 1930) wurden Theorien entwickelt, die eine zunehmende Veränderung der Lebensziele der Menschen zum Inhalt hatten. „Wohlstandsgesinnung“ und Kosten-Nutzendenken des „modernen Menschen“ wurden
37 Die Rationalisierung der Lebensführung und davon ausgehend die Entstehung des „modernen Kapitalismus“, hat Max Weber in seiner heute als Klassiker geltenden Arbeit „Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ (2006, zuerst 1905/06) dargestellt. Er führt deren Durchsetzung maßgeblich auf das Wirken der protestantischen Sekten – hier der durch den Reformator Calvin – geprägten „Puritaner“ (sie waren im 17. Jh. die ersten Kolonisatoren der sogenannten „neuen Welt“) – zurück. Rationales Handeln findet sich aber auch schon früher, z.B. bei den wirtschaftlich tätigen Mönchsorden (im Gegensatz zu den „Bettelorden“). 38 Die sogenannte Dreigenerationenfamilie wird hier als „Modell“ verstanden, als eine die Gesellschaft in der Vergangenheit tragende Solidargemeinschaft. In der Geschichte haben – z.T. auch parallel – zahlreiche andere Formen existiert.
3 Demographischer Wandel und alternde Gesellschaft
83
wahrgenommen, die sich zu Lasten des Kinderwunsches auswirken würden (Höpflinger 1997, S. 64f). 3.4.3
Aus der Geschichte der Bevölkerungsentwicklung
Der Demographische Übergang in den Industrieländern Der im Modell des Demographischen Übergangs skizzierte Wandel der Bevölkerungsweise soll hier in Grundzügen empirisch nachvollzogen werden. Die Entwicklung begann in jenen Ländern, in denen zuerst umfassende politische und soziale Veränderungen stattfanden, die mit der Entfeudalisierung, der Industrialisierung und der Säkularisierung im Zusammenhang stehen. So wurde der Geburtenrückgang zuerst in Frankreich und England wahrgenommen. Rückgang der Sterblichkeit Deutlich vor dem Einsetzen des Geburtenrückgangs begann die Sterblichkeit zu sinken, die Lebenserwartung stieg. Die Ursachen dafür wurden bereits genannt. Zusammen genommen sind sie die Widerspiegelung der Modernisierung einer Gesellschaft. Die so genannte mittlere Lebenswartung (statistisch ermittelte Lebenserwartung bei Geburt) lag beispielsweise in England zwischen 1871 und 1880 bei 43 Jahren. Die gegenüber Deutschland bereits vorangeschrittene Modernisierung wird im Vergleich der Lebenserwartung von hier nur 37 Jahren deutlich (Köllmann 1974, S. 31). Tabelle 2 macht den unterschiedlichen Grad der Modernisierung am Beispiel der Sterblichkeitsziffer europäischer Länder deutlich und zeigt zugleich deren deutlichen Rückgang innerhalb eines Zeitraums von 50 Jahren. Die eigentliche „Revolution“ bei der Entwicklung der Sterblichkeit in Richtung einer Zunahme der Lebenserwartung war die kontinuierliche Reduzierung des „frühen Todes“, Ergebnis einer erfolgreichen Bekämpfung der Säuglings- und Kleinkindersterblichkeit. Im 17. und 18. Jahrhundert starb noch jeder dritte Säugling im ersten Lebensjahr. Nur die Hälfte der Kinder konnte das fünfte Lebensjahr vollenden (Schmid 1976, S. 133). Die in historischen Quellen aber auch heute bei aktuellen Berichten über Familienstrukturen in rückständigen Regionen der Erde genannten hohen Kinderzahlen müssen vor diesem Hintergrund stark relativiert werden. Erst durch die hohen Geburtenzahlen besteht bei großer Kindersterblichkeit überhaupt eine Chance, dass eine Population in der nächsten Generation fortbestehen, d.h. überleben kann. Noch um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert starb in Deutschland mehr als ein Fünftel der Neugeborenen binnen eines Jahres. Heute haben Jugendliche die vierfache Lebenserwartung gegenüber
84
3 Demographischer Wandel und alternde Gesellschaft
der vorindustriellen Zeit. Die zu Eingang dieses Kapitels erwähnte Verlängerung der Lebenserwartung der Menschen um durchschnittlich zwanzig Jahre allein im 20. Jahrhundert, ist also in erster Linie das Ergebnis einer radikalen Senkung der Kleinkindersterblichkeit. Während solche Erfolge am Beginn dieser Entwicklung vor allem auf die bessere Ernährung, Bekämpfung von Epidemien, sowie Hygienefortschritte zurückzuführen waren, sind es in der jüngsten Vergangenheit vor allem weitere Fortschritte der Medizin sowie der pränatalen Versorgung und Früherkennungsdiagnostik. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts liegt die Säuglingssterblichkeit in Deutschland bei 3,9 auf 1000 Geburten39. Tabelle 2:
Sterblichkeit in ausgewählten europäischen Ländern zwischen 1851 und 1910 anhand der Sterbeziffer (Gestorbene je tausend Einwohner)
Land
1851 - 1860
1901 - 1910
Belgien
22,5
16,4
Dänemark
20,6
14,2
Deutschland
26,4
18,7
England und Wales
22,2
15,4
Finnland
28,7
18
24
19,4
Niederlande
25,6
15,1
Norwegen
17,1
14,2
Österreich
31,4
23,2
Schweden
21,7
16,7
Frankreich
Quelle: Schmid, 1976, S.132
Die Lebenserwartung hat sich in den letzten fünfzig Jahren in den entwickelten Industrieländern aber auch für alle anderen Altersgruppen deutlich erhöht. So dürfen heute 60jährige Frauen im Vergleich zu Angehörigen dieser Altersgruppe vor fünfundzwanzig Jahren mit einer Lebensverlängerung (nicht weiteren Lebenserwartung) von rund vier Jahren rechnen. Ein heute 60jähriger Mann kann derzeit auf eine weitere Lebenserwartung von neunzehn Lebensjahren statistisch berechtigt hoffen, d.h. er kann voraussichtlich 89 Jahre alt werden. Geblieben ist eine vom biologischen Geschlecht abhängige Lebenserwartung, die seit Beginn der 39 www.weltbevoelkerung.de/info-service/land.php, 28.6.07
3 Demographischer Wandel und alternde Gesellschaft
85
Industrialisierung für Frauen ein Plus von einigen Jahren ausweist40. Die so genannte mittlere Lebenserwartung41 liegt in Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts für Frauen bei 81, für Männer bei 75 Jahren. Und sie steigt weiterhin an. Die meisten Langlebigen, bezogen auf die Bevölkerungsgröße, hat Japan. Mehr als 17.000 der 124 Mill. Japaner sind 100 Jahre und älter42. In Deutschland sind es derzeit knapp 5000 (vgl. 3.3.3.5 Hochaltrigkeit und in diesem Kap. Hochaltrigkeit). Den Anstieg der Lebenserwartung Neugeborener unter Berücksichtigung eines auch weiterhin zügigen Rückgangs der Sterblichkeit, wie er seit 1970 beobachtet wird, fasst Abbildung 2 zusammen. Dabei wird von zwei Berechnungsvarianten ausgegangen (vgl. Erläuterungen unter der Abbildung). Ein Trend zu wachsender Lebenserwartung ist in allen modernen Wohlstandsgesellschaften zu beobachten und hat zu einem historisch neuen Phänomen geführt, dem der Hochaltrigkeit. Als „hochaltrig“ gelten Menschen, deren Lebensalter das vollendete 80. oder 85. (die Forscher und Statistiker sind sich über die Altersschwelle uneinig) überschritten hat. Gerade diese Altersgruppe hat in den letzten Jahrzehnten an Umfang stärker zugenommen als jede andere. Ein relativ hoher Anteil sehr alter Menschen beeinflusst allerdings die Sterblichkeit aufgrund seiner hohen Sterbewahrscheinlichkeit negativ. Mit voranschreitender Demographischer Alterung wird – trotz weiteren Anstiegs der durchschnittlichen Lebenserwartung – die Sterberate deshalb mittelfristig wieder ansteigen und das Bevölkerungsvolumen sinken, da immer mehr Menschen sich in 40 Die Ursachen der unterschiedlichen Lebenserwartung der Geschlechter sind vermutlich gesellschaftlicher Art. Seit der weitgehenden medizinischen Beherrschung von Gefährdungen während oder nach der Schwangerschaft – als gesellschaftlichen Faktoren – ist weltweit die Lebenserwartung von Frauen deutlich höher als die von Männern. Der Abstand ist in den letzten Jahren sogar noch gewachsen. Es ist deshalb anzunehmen, dass die gesellschaftlichen Erwartungen an Männer (Mut, Kampfbereitschaft, Aggression) bzw. die Bedingungen, unter denen sie leben (berufliche Tätigkeiten, Sport, militärische Einsätze, höhere Kriminalitätsrate) eine geringere Lebenserwartung bedingen. Für diese Annahme spricht u. a. die Beobachtung, dass die Säuglingssterblichkeit (Sterblichkeit im 1.Lebensjahr) der Mädchen höher als die der Jungen ist. 41 Mit der „Durchschnittlichen Lebenserwartung“ ist die auf Basis von statistischen Daten der aktuellen Sterbeverhältnisse rechnerisch ermittelte Lebenserwartung bei gegenwärtiger Geburt bezeichnet. Diese Daten stellen somit eine Projektion dar. Niemand weiß allerdings, welche Einflüsse tatsächlich auf die Lebenserwartung in den nächsten 75 bis 80 Jahren wirksam werden. Unter Berücksichtigung des gegenwärtigen Anstiegs der Lebenserwartung ist nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes zu erwarten, dass 2004 geborene Mädchen 87,8 bzw. 90,4 (je nach Trendvariante) Jahre alt werden. Die Werte für Jungen liegen bei 81,7 bzw. 84,9 Jahren (vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. April 2006). Auf Grundlage desselben Zahlenmaterials werden auch altersspezifische Lebenserwartungen errechnet, z.B. für heute (1998/2000) 80jährige Männer mit 7,01 Jahren (Statistisches Jahrbuch 2003 für die Bundesrepublik Deutschland, S. 72). Zur Entwicklung der Sterblichkeit (Mortalität) in Deutschland vgl. Dinkel (1992, S. 62 ff). 42 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. März 2003.
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3 Demographischer Wandel und alternde Gesellschaft
einem fortgeschrittenen Alter mit höheren Sterberisiko befinden. Diese Entwicklung ist in Tabelle 3 (Geburten- und Sterberate) bereits erkennbar. Abbildung 2:
Lebenserwartung in Deutschland 1871 bis 2004
1) früheres Bundesgebiet; 2) Variante 2 geht von einer stark sinkenden Sterblichkeit aus (Trend seit 1871 und seit 1970 kombiniert). 3) Variante 1 geht von einer weniger stark sinkenden Sterblichkeit aus (Trend seit 1871) Quelle: Statistisches Bundesamt Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. April 2006
Geburtenrückgang Später als der Rückgang der Sterblichkeit setzte der Geburtenrückgang ein. In Deutschland wird er seit 1885 beobachtet. Zunächst allerdings wuchsen noch die absoluten Geburtenzahlen, weil ja eine größere Zahl von Menschen als zuvor das fortpflanzungsfähige Alter erreicht hatte. Da die Geburtenzahl über jener der Sterbezahl lag, musste das Bevölkerungsvolumen weiter wachsen. Die Geburtenrate oder die Fertilität – also die Kinderzahl pro Frau – aber sank. Zeichen für einen Wandel des Fortpflanzungsverhaltens.
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3 Demographischer Wandel und alternde Gesellschaft
Tabelle 3:
Geburten- und Sterberate in Deutschland zwischen 1875 und 2006
Jahr
Geburtenrate
Sterberate
1875
40,6
27,6
1900
35,6
22,1
1925
20,7
11,9
1950
16,3
10,9
1975
9,9
12,6
2002
9,0
10,0
2006
8,0
10,0
Quellen: www.weltbevoelkerung.de/info-service/land.phd, 28.6.07 Statistisches Jahrbuch 2003 für die Bundesrepublik Deutschland, S. 68; Köllmann (1974), S. 101. Anmerkung: Die Geburtenrate (auch Geburtenziffer) gibt die Zahl der Lebendgeborenen, bezogen auf 1.000 der im Jahresmittel in einem gegebenen Raum (hier: Deutschland) an. Entsprechendes gilt für die Sterberate (-ziffer). Die Werte der Jahre 1900 und 1925 beziehen sich auf das Gebiet Deutschlands zur Zeit der Weimarer Republik.
Die Differenz zwischen Geburtenrate und Sterberate wird als Geburtenüberschussbzw. Sterbeüberschussziffer bezeichnet. Sie markiert das Bevölkerungswachstum bzw. die Stagnation oder den Rückgang der Bevölkerung. Nur wenn – wie im Modell des Demographischen Übergangs beschrieben (vgl. Abb. 2) – beide Werte auseinander klaffen und sich eine Schere öffnet, ändert sich das Volumen der Bevölkerung. Befindet sich die Geburtenziffer oberhalb der Sterbeziffer, so wächst die Bevölkerung. In Deutschland (früheres Bundesgebiet bis 1990) wuchs die Bevölkerung seit Beginn der Industrialisierung (bei gleichzeitiger Auswanderung von mehreren Millionen Menschen) zwischen 1816 und 1925 von 13,7 auf 39 Mill. (Statistisches Jahrbuch 2003, S. 44, vgl. Tabelle 4). Inzwischen ist dieses „natürliche“ Wachstum zum Erliegen gekommen. Seit den 1970er Jahren ist die Bevölkerung in Deutschland ausschließlich durch einen Wanderungsüberschuss gewachsen.
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Tabelle 4:
3 Demographischer Wandel und alternde Gesellschaft
Bevölkerungsentwicklung in Deutschland in Millionen (früheres Bundesgebiet) 1816 - 200043
Jahr
Bevölkerung
1816
13.720
1840
17.010
1880
22.820
1925
39.017
1950
49.989
1975
61.847
2000
67.018
2004
65.680
Anmerkung: 2004: ohne Angabe für Westberlin Quelle: Statistisches Jahrbuch 2003 für die Bundesrepublik Deutschland, S. 44 und 2005, S. 34
Der Demographische Übergang in den „rückständigen“ Regionen44 der Welt Der am Beispiel Deutschlands dargestellte Demographische Übergang und seine Folgen, finden – ca. 200 Jahre später als bei den „Vorbildern“ – seit Mitte des 20. Jahrhunderts in den rückständig entwickelten Regionen der Welt statt. Folglich wächst die Bevölkerung dort erst seit dieser Zeit, und es findet in diesen Ländern heute fast ausschließlich das Weltbevölkerungswachstum statt. Die Entwicklung verläuft dort allerdings sehr unterschiedlich, so dass – bezogen auf das Modell des Demographischen Übergangs – die Länder bzw. Kontinente sich in unterschiedlichen Phasen befinden. So durchläuft Afrika derzeit die dritte Phase (bezogen auf das Fünf-Phasen-Modell). Dort findet heute das größte Wachstum
43 Die Bevölkerungsentwicklung in der früheren DDR hat zwischen 1949 und 1990 einen anderen Verlauf genommen und ist – insbesondere durch die massiven Abwanderungen (Flucht, Übersiedlung) bis 1961 und noch einmal kurz vor dem „Fall der Mauer“ 1989 – durch Bevölkerungsverlust gekennzeichnet. Das Bevölkerungsvolumen für das wiedervereinigte Deutschland wird für 2001 mit 82.339 Mill. angegeben. Davon lebten in den neuen Ländern und Berlin-Ost 13.788 Mill., das sind 4,6 Millionen weniger als 1950 im Gebiet der damaligen DDR (Statistisches Jahrbuch 2003 für die Bundesrepublik Deutschland, S. 44). 44 Gemeint ist die so genannte „Dritte Welt“ und ebenso Gesellschaften mit traditionalen gesellschaftlichen Strukturen. Beide Begriffe sind problematisch, weil sie kulturabhängige Bewertungsmaßstäbe der „entwickelten“ Gesellschaften auf andere Kulturen projizieren.
3 Demographischer Wandel und alternde Gesellschaft
89
statt, während China, das Land mit der noch immer größten Bevölkerung der Erde (2006: 1,31 Mrd. Geburtenrate 1,645), sich in der vierten Phase befindet. Aber nicht nur das Bevölkerungswachstum ist in den rückständigen Weltregionen viel stärker als es in den „Vorbildländern“ der westlichen Kultur jemals war. Auch der Prozess der Demographischen Alterung verläuft dort schneller. Während zum Beispiel Frankreich 115 Jahre brauchte, bis sich der Anteil der Übersechzigjährigen von 7 auf 14 Prozent erhöhte, vergingen dafür in China gerade 27 Jahre (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. April 2002, S. 9). Zahlen zur historischen Bevölkerungsentwicklung Für den Beginn der Zeitrechnung, also vor etwa 2000 Jahren, wird die Weltbevölkerung auf etwa 200 bis 250 Millionen Menschen geschätzt (Höpflinger 1997, S. 18). Nach langen Phasen geringen Wachstums, unterbrochen von Perioden der Stagnation und des Bevölkerungsrückgangs (verursacht vor allen durch Epidemien, wie die Pest seit dem Mittelalter und in Mitteleuropa durch den 30jährigen Krieg im 17. Jahrhundert), kam es mit Beginn der Neuzeit zu einem stärkeren Wachstum. Erst um 1600 hatte sich die Weltbevölkerungszahl auf etwa 500 Millionen verdoppelt. Heute vergehen für eine Verdoppelung gerade noch etwa 50 Jahre46. Bis 1750 dürfte die Weltbevölkerung – wiederum Schätzungen zufolge – auf gut 790 Millionen angestiegen sein (Höpflinger 1997, S. 19). Zu Beginn des 19. Jahrhunderts lebten etwa 1 Mrd., zu Beginn des 20. Jahrhunderts etwa 1,6 Mrd. Menschen auf der Erde. Während des letzten Jahrhunderts fand dann ein enormer Wachstumsschub statt, so dass heute (zum Beginn des 21. Jahrhunderts) ca. 6,6 Mrd. Menschen auf der Erde leben. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts fand das starke Bevölkerungswachstum ausschließlich in den Industrieländern statt, während im größten Teil der Erde das Bevölkerungsvolumen stagnierte oder auch schrumpfte. Demographische Trägheit Wie ist das starke Bevölkerungswachstum zu erklären? Die Veränderung der Sterblichkeit führt zu einer stärkeren Besetzung der fortpflanzungsfähigen Teile einer Bevölkerung. Halbiert sich z.B. die Kleinkindersterblichkeit, so bekommt (andere Einflüsse außer acht lassend) eine doppelt so große Bevölkerungsgruppe die „Gelegenheit“ zur Reproduktion. Verändert sich nun die Fortpflanzungsnorm nicht – haben die „neuen“ Eltern also wieder z.B. durchschnittlich zehn Kinder,
45 www.weltbevoelkerung.de/info-service/land.php, 27.6.07 46 www.g-o.de/home04z.htm. Recherche 12.3.04
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3 Demographischer Wandel und alternde Gesellschaft
so ist damit auch die Gesamtzahl der Kinder der neuen Elterngeneration die doppelte im Vergleich zur vorausgegangenen Generation. Dieser Effekt tritt aber mit Verzögerung ein. D. h. der Rückgang der Sterblichkeit wirkt sich erst eine Generation (ca. 25 Jahre) später aus. Man spricht wegen dieser Verzögerung auch von Demographischer Trägheit. Diese entsteht ebenso bei einer Umkehrung der Bevölkerungsweise, sollte sich also die Fertilität verringern. Diese Trägheit erklärt, warum z. B. in rückständigen Regionen der Welt trotz Sinkens der Fertilität (1990/95: 3.3; 2006: 2,747), die Bevölkerungen noch eine Weile weiter wachsen werden48. Ursachen der unterschiedlichen Bevölkerungsentwicklung im Vergleich von „entwickelten“ und „rückständigen“ Gesellschaften Auch wenn sich der Demographische Wandel nach dem Vorbild der Gesellschaften der westlichen Kulturen seit ca. 50 Jahren in den rückständigen Regionen der Welt wiederholt, gibt es doch Unterschiede. Während die Voraussetzungen für den Rückgang der Sterblichkeit und später für den der Fertilität, im ersten Fall durch diese Kulturen selbst geschaffen wurden – also endogene Faktoren sind – wurden sie den „Entwicklungsländern“ von außen zugetragen. Es sind somit exogene Faktoren. Die beschriebene Entwicklung ist Folge des „Exports“ der kulturellen Errungenschaften des „Westens“ im Zusammenhang von Kolonisation und fortdauernden wirtschaftlichen Abhängigkeiten. Damit ist auch der Unterschied der Bevölkerungsentwicklung zu den Industrieländern erklärbar. Während dort dem Rückgang der Sterblichkeit relativ bald der Geburtenrückgang folgte, verharrt die Kinderzahl in den rückständigen Regionen heute oft noch lange auf dem traditionell hohen Niveau. Die Wachstumsraten der Bevölkerung übertreffen dort deshalb die der europäischen „Vorbilder“ aus der Zeit der Industrialisierung. Langsamer aber grundlegender Wandel der Fertilität Der inzwischen eingetretene Rückgang der Wachstumsraten der Weltbevölkerung (nicht der des Wachstums) hat eine langsam zurückgehende durchschnittliche Kinderzahl pro Frau zur Ursache. Die Fertilität in den Ländern mit derzeit 47 Höpflinger 1997, S. 23; www.weltbevoelkerung.de/info-service/region.php, 28.6.07 48 Auf die Gefahren eines dauerhaften starken Bevölkerungswachstums hat erstmals der englische Bevölkerungstheoretiker und Nationalökonom Robert T. Malthus (1766-1834) hingewiesen. Er behauptete, dass die Nahrungsmittelproduktion nur in arithmetischer Reihe(1, 2, 3, 4 ...) steigerbar sei, während sich die Wachstumskurve der Bevölkerung in geometrischer Reihe (2, 4, 8, 16, 32 ...), also exponentiell, entwickle. Damit wäre die Hungerkatastrophe unausweichlich. Malthus gilt deshalb – im Gegensatz zu den meisten seiner Zeitgenossen – als „Bevölkerungspessimist“.
3 Demographischer Wandel und alternde Gesellschaft
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starkem Bevölkerungswachstum gleicht sich damit allmählich jener in den Ländern mit geringem bis keinem Bevölkerungswachstum an. Während weltweit der Wert für die Fertilität zur Zeit noch bei 2,7 liegt, wird er voraussichtlich in den nächsten Jahrzehnten auf das so genannte Ersatzreproduktionsniveau (erforderliche durchschnittliche Kinderzahl pro Frau unter Berücksichtigung der Sterblichkeit, um das Bestandsvolumen der Bevölkerung zu erhalten) fallen. Dieses wird mit 2,1 benannt. Allerdings wird zurzeit eine hohe Fertilität vielfach in sehr armen Ländern beobachtet. Auf dem afrikanischen Kontinent liegt sie bei durchschnittlich über fünf Kindern49. Hoffnung, in Zukunft einer drohenden Überbevölkerung zu entgehen, schöpft sich aus der allgemein zurückgehenden Fertilität in den derzeitigen „Wachstumsländern“. Sorge bereiten andererseits die Bevölkerungsstagnation, die Alterung der Bevölkerung und der in naher Zukunft beginnende oder schon eingesetzte Bevölkerungsrückgang in den meisten Ländern der westlichen Zivilisation. Aktuelle Geburtenentwicklung in modernen Gesellschaften Die im Modell des Demographischen Übergangs angenommene Stabilisierung zwischen Geburten- und Sterbeentwicklung mit der Folge, dass eine Bevölkerung nur noch langsam wächst bzw. stagniert, ist in einer Reihe von Ländern nicht eingetreten. Vielmehr ist das Geburtenniveau weiter abgesunken und liegt vielfach unter dem der Sterblichkeit. Wenn nicht – wie oben schon beschrieben – ein Zuwanderungsgewinn stattfindet, schrumpft die Bevölkerung. Dieser Befund wird mit dem Begriff Zweiter Demographischer Übergang50 bezeichnet. Es ist sehr wahrscheinlich, dass eine „postindustrielle Bevölkerungsweise“ in den Staaten der westlichen Kultur auf Dauer durch gewollte Kinderlosigkeit geprägt sein wird. Abbildung 3 greift das bereits besprochene Modell des Demographischen Übergangs auf und modifiziert es im Bereich der fünften Phase, die sich nun als solche eines anhaltenden Bevölkerungsrückgangs erweist.
49 Eine der höchsten Fertilitätsraten dürfte Angola mit einem Wert von 6,8 (2006) aufweisen (www.weltbevoelkerung.de/info-service/region.php, 28.6.07). 50 vgl. Höpflinger 1997, S.66 ff
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Abbildung 3:
3 Demographischer Wandel und alternde Gesellschaft
Modell des Demographischen Übergangs in den Industrieländern
Quelle: www.learn-line.nrw.de/angebote/bevwachstum/bev_entw/wd/u1/d02_de.htm (Recherche 20.4.04)
Erklärungsansätze für den Rückgang der Fertilität: Kosten-Nutzen-Kalküle und Kinderlosigkeit Schon vor hundert Jahren wurden Zusammenhänge zwischen rationaler Lebensführung und dem beobachteten Geburtenrückgang thematisiert. So genannte „Wohlstandstheorien“ (von Brentano 1909, Mombert 1929) führten die Fertilitätsentwicklung auf den wachsenden Stellenwert materiellen Wohlstands zurück. Das ist bis heute richtig geblieben. Wobei anders als vor dem Zweiten Weltkrieg, entsprechende Handlungsoptionen inzwischen auch den Mitgliedern unterer sozialer Schichten offen stehen. Neuere ökonomische Ansätze, wie die WealthFlow-Theory (Caldwell 1982) unterstellen ein generell ökonomisch rationales Verhalten (also schon in traditionalen Gesellschaften), wenn es um Fertilität geht. Dieses sei immer rational, weil es das Kosten-Nutzen-Verhältnis von Kindern kalkuliere. Die Geburtenhäufigkeit ist hoch oder niedrig, je nachdem, ob Kinder dem Individuum oder der Familie ökonomische Vorteile versprechen oder nicht. Kinder, so Caldwell, hätten sich nicht mehr gerechnet, seit die Schulpflicht eingeführt wurde. Von da ab waren sie nicht mehr frei verfügbare Helfer (Höpflinger 1997, S. 66). Bei aller Skepsis gegenüber ausschließlich ökonomisch argumentierenden Ansätzen, ist soviel daran akzeptabel, dass Kinder heute vielfach auch im Rahmen von familiären Kostenanalysen geplant werden. Insofern konkurrieren sie
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mit anderen Zielen, werden auch „zurückgestellt“, wohl möglich um später aufgegeben zu werden. Kinder „lohnen“ sich auch dann um so weniger, wenn, worauf Linde in seiner Theorie der säkularen Nachwuchsbeschränkung (1984) hinweist, Institutionen bestehen, wie soziale Sicherungssysteme, die die Versorgungsfrage bei Krankheit und Alter gelöst haben Höpflinger 1997, S. 71). Unberücksichtigt bleibt bei diesen Ansätzen, dass erst der Rückgang der Strenge und Wirksamkeit gesellschaftlicher Normen, individuelle Entscheidungsfreiräume freisetzt. Individualisierung in der Zweiten Moderne Eine der Ursachen des Zweiten Demographischen Übergangs, also der anhaltend niedrigen unter dem Reproduktionsniveau verbleibenden Fertilität, kann in der „sogenannten „Zweiten Moderne“51 und dem dadurch ausgelösten Individualisierungsschub gesehen werden. Mit „Zweite Moderne“ benennt Ulrich Beck (1986) Entwicklungen, die zu einer Aufhebung der während der „Ersten Moderne“ entstandenen Institutionen, Gruppierungen und sozialen Rollen führen. Dazu gehört die „bürgerliche Frauenrolle“. Frauen nehmen in der „Zweiten Moderne“ an Bildung teil, durchlaufen berufliche Karrieren und stellen den Kinderwunsch zurück. Die „Zweite Moderne“ führt generell zum Verlust der Bedeutung von Traditionen und damit zum regelrechten Zwang, Freiheiten zu nutzen, eigene Entscheidungen zu fällen. Dabei bestehen Risiken. Die moderne Gesellschaft ist bekanntlich eine „Multioptionsgesellschaft“, in der vieles „geht“, aber immer weniger Gewissheiten bei der Orientierung helfen. Mit wohl möglich weitreichenden Folgen. So scheuen sich Mancher/Manche heute lieber vor einer Partnerschaft und Kindern, weil die Risiken nicht kalkulierbar sind, und es allein „einfacher“ zu gehen scheint. Und schließlich ist da der Reiz der Bindungslosigkeit, der Inbegriff von Freiheit. Bindungslosigkeit verhilft zur „Selbstverwirklichung“, weil – vermeintlich – auf nichts und niemanden Rücksicht zu nehmen ist. Staatliche Institutionen helfen im Notfall ja weiter. Strukturelle Rücksichtslosigkeiten 52 Hinzu kommen Widersprüche, die das Individuum in modernen Gesellschaften allein aufzulösen hat. So konkurrieren und kollidieren die Erfordernisse des Ar51 Der Begriff „Zweite Moderne“ ist soziologisch schlüssiger als jener von der „Postmoderne“, weil letzterer ja ein „Verlassen“ der Moderne fälschlicherweise unterstellt. Dazu vgl. die Kontroverse zwischen Ulrich Beck und Anthony Giddens (1996). Der Begriff ist von Kaufmann (2005, S. 152 ff) und bezieht sich auf die Zwänge der modernen Marktgesellschaft, die die Existenz von Familie erschweren.
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beitsmarktes – z.B. nach zeitlicher und örtlicher Flexibilität – mit den Bedürfnissen der Familie. Nachteilig für Familiengründungen ist auch die gesellschaftlich erwartete höhere formale Bildung und Erwerbstätigkeit – nicht allein von Frauen. „Kinderfeindliche“ Strukturen treten hinzu. Betreuungsplätze für Kinder gibt es in Deutschland schon notorisch zu wenige. „Kindergerechte“ Wohnungen sind rar und teuer. Mit zunehmender Kinderzahl wachsen deshalb die ökonomische Benachteiligung und das Armutsrisiko. So sinkt das Pro-Kopf-Einkommen mit der Anzahl der Kinder, wobei Familien mit jungen Haushaltsvorständen besonders betroffen sind. Insgesamt ist von gesellschaftlichen Strukturen in modernen Gesellschaften auszugehen, die schwer überwindbare Barrieren für Familiengründungen und die Realisierung des Kinderwunsches darstellen. Es fehlt an einem wirkungsvollen Familienlastenausgleich, also an Möglichkeiten, die Kosten von Kindern auf die gesamte Gesellschaft zu verteilen (Kaufmann 1995, S. 141). Verstärkend für die Entscheidung gegen Kinder ist die fehlende Einsicht in deren gesamtgesellschaftliche Notwendigkeit. Dies auch deshalb, weil die Hauptlebensrisiken Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter durch den Gesetzgeber zwangsversichert sind. Tabelle 5:
Kinderlos gebliebene Frauen und Kinderzahl auf 100 Frauen in Deutschland (altes Bundesgebiet) bezogen auf Geburtsjahrgänge
Geburtsjahrgänge
kinderlos
Kinder auf 100 Frauen
1896/00
23
215
1911/15
22
198
1926/30
14
200
1941/45
12
182
1956/60
24
163
1961/66
25
150
nach 1994 geborene Kinder geschätzt Quelle: Höpflinger (1997), S. 54
Langfristige und kurzfristige Trends der Geburtenentwicklung Die in Tabelle 6 dargestellte Entwicklung des Rückgangs der Kinderzahl brauchte, wie erkennbar, ein ganzes Jahrhundert, um sich durchzusetzen. Dies geschah nicht überall zur gleichen Zeit. Politische und wirtschaftliche Ereignisse, in einigen Ländern auch der weiter andauernde kirchliche Einfluss, wirkten jeweils als Bremse oder Beschleuniger dieses Prozesses. In Deutschland war zunächst in den
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95
Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg eine dem Jahrhunderttrend entgegen gesetzte Entwicklung mit relativ hohen Geburtenzahlen zu beobachten. Ursachen dafür waren das „Nachholen“ kriegsbedingter Geburtenausfälle und die starke Besetzung der „fortpflanzungsfähigen“ Altersjahrgänge aus der Zeit relativ hoher Geburtenraten in den 1930er Jahren (vgl. Demographische Trägheit, s. o.). Der „Geburten- oder Babyboom“ kam aber in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre zum Erliegen. Hier wird als Begründung gern vom „Pillenknick“ gesprochen. Gemeint ist damit der Geburtenrückgang als Folge der Verfügbarkeit der „Antibabypille“ als leicht zugänglichem und handhabbarem Verhütungsmittel. Eine zu kurz greifende Begründung. Zum einen sind Verfahren der Empfängnisverhütung keineswegs ein Novum, sondern in der Geschichte der Kultur- und Naturvölker nachweisbar, wenn auch Bekanntsein, Zugang und Akzeptanz immer von sozialen Faktoren, vor allem der Bildung abhängig waren. Wesentlich für die Verbreitung der „Pille“ sind die Bereitschaft und die materielle Möglichkeit der Menschen, sich ihrer Wirkung zu versichern. Dies ist als Folge des Bedeutungsrückgangs der Religion und ihrer zentralen Werte und der Bedeutungszunahme individueller Orientierungen zu verstehen. Zu dieser Entwicklung gehören die Schwangerschaftsabbrüche53. Wobei durch die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen54, entsprechend der vom Gesetzgeber bestimmten Bedingungen, sich auch die starke Zunahme der öffentlichen Akzeptanz gegenüber solchem zuvor als Abweichung und strafbare Handlung etikettiertem Verhalten zeigt. Seit Anfang der 1970er Jahre ist das Reproduktionsniveau in der Folge der technisch und sozial möglich gewordenen „Entkopplung von Sexualität und Fortpflanzung“ negativ. Es sterben mehr Menschen als geboren werden. Inzwischen hat der Geburteneinbruch auch die lange Zeit durch die Römisch katholische Kirche55 geprägten Länder Italien und Spanien erreicht. Dort gibt es derzeit das höchste negative Reproduktionsniveau der Welt.
53 Die Höhe der Schwangerschaftsabbrüche ist seit einigen Jahren in Deutschland recht konstant und markiert hier (2004: 129.600, Stat. Jahrbuch 2005, S. 244) derzeit ungefähr die aktuelle Differenz zwischen Geburten- und Sterbefällen. Eine Interpretation ist jedoch mit Vorsicht zu führen. 54 Legalisiert sind in Deutschland die medizinische und die kriminologische Indikation und die so genannte Beratungsregelung. Auf letztere entfallen fast 90 Prozent der künstlichen Aborte. 55 Die Katholische Kirche erlaubt Sexualverkehr einzig für den Zweck der Fortpflanzung. Neben der Knaus-Ogino-Methode sind keinerlei empfängnisverhütende Maßnahmen oder Mittel erlaubt.
96
Tabelle 6:
3 Demographischer Wandel und alternde Gesellschaft
Fertilität in Europa und ausgewählten EU Ländern zwischen 1960 und 1997 am Beispiel der Nettoreproduktionsziffer56
Land
Jahr
Jahr
1960
1997
Europa
1,23
0,68
Belgien
1,19
0,74
Deutschland
1,13
0,63
Frankreich
1,29
0,83
Großbritannien
1,26
0,83
Irland
1,75
0,92
Italien
1,07
0,57
Schweden
1,05
0,74
Spanien
1,24
0,55
Quelle: Mai, Ralf, Die Alten der Zukunft. Eine bevölkerungsstatistische Datenanalyse. 2003, S. 69
Deutliche Unterschiede in der Fertilität gibt es in Abhängigkeit von Bildung, Beruf, Religion und Konfession, der Wohnregion (Stadt-Land-Gegensatz), sowie der nationalen bzw. kulturellen Herkunft. Noch immer ist die durchschnittliche Kinderzahl auf dem Land höher als in der Stadt, wächst mit höherer Bildung und gehobener beruflicher Position der Frauen die Wahrscheinlichkeit für Kinderlosigkeit. Der gebliebene Einfluss von Religion und Tradition ist in Deutschland an der höheren Fertilität der Frauen mit türkischer Herkunft zu erkennen. Der entsprechende Wert weicht bei dieser Bevölkerungsgruppe mit 2,5 deutlich von dem der deutschen Frauen (1,2) ab. Zukünftige Bevölkerungsentwicklung Eine für die Bestandserhaltung des Bevölkerungsvolumens zu niedrige Fertilität gibt es – bei allerdings deutlichen Unterschieden – inzwischen in allen europäischen Ländern (vgl. Tabelle 6). Frankreich bildet eine bemerkenswerte Ausnah-
56 Die Werte stellen die Nettoreproduktionsziffer dar (Zahl der Mädchengeburten von Frauen eines bestimmten Geburtenjahrgangs am Ende ihrer Fruchtbarkeitsperiode, die ihrerseits, unter Berücksichtigung der Sterbewahrscheinlichkeit, die Fruchtbarkeitsperiode erreichen (Schmid 1976, S. 314). Der Wert muss zur Bestandserhaltung der Bevölkerung 1,0 betragen.
3 Demographischer Wandel und alternde Gesellschaft
97
me57. Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht abzusehen. Die eigentlich dramatische Auswirkung dieses Prozesses ist aber erst anlässlich des Eintritts der jetzt geborenen Generation in die Lebensphase des „fortpflanzungsfähigen Alters“ erreicht. Denn die Auswirkungen demographischer Entwicklungen sind – bedingt durch die immer altersabhängigen Vorgänge von Fertilität und Sterblichkeit (demographische Trägheit) immer erst verzögert – nämlich etwa zwanzig bis dreißig Jahre später sichtbar. Außerdem wirkt sich hier jene Logik aus, die zur Erklärung des exponentiellen Bevölkerungswachstums bereits genannt wurde – hier nun in umgekehrte Richtung. Wenn eine bereits gegenüber ihrer Elterngeneration um ein Drittel reduzierte Generation (vgl. den Wert Deutschlands mit 0,63 für 1997 in Tabelle 6) das Fortpflanzungsverhalten der Eltern kopiert – wie zu erwarten ist – dann wird nach Absterben der jetzigen Elterngeneration das Bevölkerungsvolumen um ca. ein Drittel reduziert sein. Zusammengefasst: Geht man davon aus, dass sich (1) die Lebenserwartung weiterhin positiv entwickeln wird, (2) die Fertilität auf einem niedrigen Niveau verharrt, sowie (3) mit einem jährlichen Zuwanderungsgewinn von ca. 200.000 Menschen zu rechnen ist (das entspricht ungefähr den Beobachtungen der letzten zehn Jahre), so wird es in Deutschland bis 2050 einen Bevölkerungsrückgang – wie in Kapitel 2.1 bereits geschrieben – um ca. 15 Prozent geben58. Entwicklung der Altersstruktur Die Durchsetzung der modernen Bevölkerungsweise hat nachhaltige Folgen für den Altersaufbau, also die Zusammensetzung der Bevölkerung nach Altersgruppen und für das Durchschnittsalter. Dieser eingangs in diesem Kapitel bereits angesprochene Punkt ist das eigentliche Problem der Bevölkerungsentwicklung in modernen Gesellschaften. Es soll hier ausführlicher behandelt werden. Die typische Bevölkerungsweise einer traditionalen Gesellschaft mit hohen Geburtenund Sterberaten bewirkt eine durchschnittlich junge Bevölkerung mit einer hohen „Durchgangsgeschwindigkeit“ der Generationen, stark besetzten jungen Altersklassen und nur geringen Zahlen in den alten Altersklassen. In einer modernen 57 Die Fertilität wurde für Frankreich kürzlich von der Presse mit dem Wert von 2,0 für das Jahr 2006 benannt. Der Grund wird in der effizienten Familienpolitik des Nachbarlandes vermutet, der eine Verbindung von Beruf und Familie erleichtert. Vergleichbare Systeme gibt es in den nordeuropäischen Staaten, wo die Fertilität inzwischen ebenfalls angestiegen ist, allerdings dennoch unter dem Nettoreproduktionsniveau verbleibt. 58 Es gibt verschiedene Modellrechnungen mit jeweils variierenden Annahmen über die zukünftigen Entwicklungen, insbesondere die Einwanderung und die Lebenserwartung betreffend. Die berechneten Bevölkerungsverluste liegen danach für Deutschland bis 2050 zwischen 12,6 und 21,4 Prozent (Mai 2003, S. 80).
98
3 Demographischer Wandel und alternde Gesellschaft
Gesellschaft verhält es sich umgekehrt. Es besteht ein deutlicher Trend zum Demographischen Altern, zu einer Fertilität unterhalb des Reproduktionsniveaus und zu einem Rückgang des Bevölkerungsvolumens. Die Altersstruktur einer Bevölkerung lässt sich durch die so genannte Alterspyramide veranschaulichen. Abbildung 4 zeigt den Wandel des Altersaufbaus der Bevölkerung in Deutschland im Verlauf eines Jahrhunderts. Der Vergleich der Figuren macht die Radikalität der Veränderungen deutlich. Die Gestalt des Altersaufbaus wandelt sich im Verlauf des Demographischen Wandels von einer Pyramide – als klassischer Form des Altersaufbaus einer traditionalen Gesellschaft – über das Bild der „zerzausten Wettertanne“ (Geißler/Meyer 1996, S. 344) hin zum (angedeuteten) „Pilz“. Der schmale Fuß der zweiten Figur (2000) und stärker noch jener der dritten (2050), führt die seit über drei Jahrzehnten infolge des „Geburtenmangels“ geringe Besetzung der jungen Altersjahrgänge vor Augen. Andererseits stellen die bis heute überlebenden „Jungen“ aus der Alterspyramide von 1910 durch das „Hinaufwachsen“ in die oberen Altersgruppen gegenwärtig die „(ganz) Alten“ dar. Sie bewirken gemeinsam mit der Gesamtheit der Alten die relativ breite Spitze (im Vergleich mit dem Bild von 1910) der „Tanne“. Die stämmige „Taille“ unseres Baumes von 2000 – die etwa dreißig- bis fünfundfünfzigjährigen – wird dargestellt durch jenen Bevölkerungsteil, der angefangen in der frühen Nachkriegszeit bis in die Mitte der 1960er Jahre geboren wurde: die „Babyboomers“59. Im Jahr 2050 werden sie für das (angedeutete) Dach des „Pilzes“ sorgen, während der tragende Stamm nach unten zunehmend dünner wird: Abbild einer dauerhaft unter dem Niveau der Sterblichkeit liegenden Geburtenzahl. Die über 2050 hinaus zu erwartende Entwicklung wird zu einer „Versäulung“ führen. Dann nämlich werden die „Babyboomers“ verstärkt „absterben“. Dies wird die Phase eines starken Bevölkerungsrückgangs sein, weshalb einige Autoren für diesen Altersaufbau auch das beziehungsreiche Bild einer „Urne“ verwenden. Je nach variierenden Grundannahmen der Modellrechnungen (betreffend der weiteren Entwicklung von Sterblichkeit und Zuwanderung) ist ein Schrumpfen der Bevölkerung in Deutschland (s.o.) zu erwarten60. Die aktuelle Altersstruktur in Zahlen enthält Tabelle 7. 59 So lautete die Bezeichnung in den USA, wo es – unter anderen Vorzeichen – ein ähnliches Phänomen gab. 60 Es ist bei dieser Darstellung aus Vereinfachungsgründen darauf verzichtet worden, die unterschiedliche Bevölkerungsentwicklung in Deutschland während der Zeit der Zweistaatlichkeit und nach der „Wiedervereinigung“ – dann: innerdeutsch – zwischen alten und neuen Bundesländern darzustellen. Ohne hier auf Zahlen und Hintergründe einzugehen, sei auf die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen verwiesen, die die Bevölkerungsweise einer jeweiligen Gesellschaft beeinflussen. Ähnli-
3 Demographischer Wandel und alternde Gesellschaft
Abbildung 4:
99
Von der Pyramide zum Pilz. Der Altersaufbau der Wohnbevölkerung im Deutschen Reich und in der Bundesrepublik Deutschland (altes Bundesgebiet) 1910 bis 2050
Quellen: 1910: Geißler 1996, S. 343; 2000 und 2050: Mai 2003, S. 81 Anmerkung: Die Querachse der Abbildung stellt für 1910 die Bevölkerungszahl absolut dar. Die Bevölkerungsgröße ist mit 64,6 Mill. genannt. Die Abbildungen für 2000 und 2050 enthalten auf der Querachse Prozentangaben61.
ches trifft für die Bevölkerung in Deutschland mit nichtdeutscher Herkunft zu. Grundsätzlich ist allerdings im Zeitverlauf mit einer Angleichung der entsprechenden Parameter zu rechnen (Lit. dazu: Geißler 1996, Kap. 15. Zur künftigen Entwicklung in alten und neuen Bundesländern: Mai 2003). 61 Die unterschiedlichen – und zum Teil sehr unregelmäßigen – Besetzungen einzelner Altersgruppen sind eine Widerspiegelung der historischen Ereignisse. Einkerbungen erklären sich aus vorübergehenden Geburtenrückgängen während der Kriegs- und Nachkriegsjahre (Erster und Zweiter Weltkrieg), die außerdem zu einer Erhöhung der Sterblichkeit führten. „Auswüchse“ resultieren aus kriegsbedingt „nachgeholten“ Geburten. Die Bilder zeigen auch die unterschiedliche Lebenserwartung von Frauen und Männern („Frauenüberschuss“ und den höheren Anteil von Jungengeburten („Männerüberschuss“).
100
Tabelle 7:
3 Demographischer Wandel und alternde Gesellschaft
Altersaufbau der Bevölkerung in Deutschland 2002 (in Tsd.)
Bis 5
5-10
10-15
15-20
20-25
25-30
30-35
35-40
3804,4
4005,8
4605,2
4673,5
4841,0
4679,4
5072,0
7235,4
40-45
45-50
50-55
55-60
60-65
65-70
70-75
75-80
6777,0
5889,8
5411,3
4439,2
5663,6
4637,1
3580,3
2857,4
80-85
85-90
90-95
95+
1912,3
873,2
443,1
135,5
Quelle: Statistisches Jahrbuch, 2004, S. 42
Hochaltrigkeit „Alter hat Zukunft“, so ein Buchtitel (Klose 1993). Dieses eigentliche Paradoxon ist an keiner Altersgruppe nachhaltiger zu verdeutlichen als an der Entwicklung des Bevölkerungsanteils der Hochaltrigen oder Hochbetagten. Darunter sollten die über 80 bzw. 85 Jahre Alten verstanden werden62. Naturgemäß ist der Anteil der Hochbetagten an der Gesamtbevölkerung noch immer niedrig. Aber das Größenwachstum dieser Gruppe ist verblüffend. Bedingt durch den Zugewinn an Lebenserwartung hat diese Altersgruppe ihren Anteil an der Gesamtbevölkerung zwischen 1955 und 1995 in Deutschland von 1,2 Prozent auf 4,1 Prozent erhöht. Die Gruppe der 90jährigen und Älteren hat ihren Bevölkerungsanteil seit 1980 von 0,2 Prozent auf 0,66 Prozent gesteigert und damit mehr als vervierfacht. Bemerkenswerter Weise steigt also der prozentuale Zugewinn der Größe der Altersgruppen mit dem Lebensalter. So steigerten zwischen 1950 und 1990 die 80 bis 89jährigen ihren Anteil um 3,8 %, während die 90 bis 99jährigen um 7,9% wuchsen, und die 100jährigen und Älteren um 22% zulegten (HundertjährigenStudie 2001, S. 6). Gleichwohl darf man sich nicht täuschen lassen. Die absoluten Zahlen sind relativ niedrig. 2002 waren in Deutschland etwa 135.500 Menschen älter als 95 Jahre (Statistisches Jahrbuch 2004, S. 42). Die Altersgruppe der 100jährigen und Älteren war 2001 knapp 5000 Menschen groß (Rott, 2001, S. 6). Der derzeit älteste Mensch in Deutschland – eine Frau – wurde im September 2006 111 Jahre alt63. 62 In der Fachliteratur uneinheitlich. Der Trend geht dahin, von 85 Jahren plus auszugehen 63 Das nachweislich höchste Lebensalter wurde von der Französin Jeanne Calment mit 122,4 Jahren erreicht. Sie starb in den 1990er Jahren (www.spiel.de/panorama/0,1518, 43819,00html, 29.6.07; Hundert-
101
3 Demographischer Wandel und alternde Gesellschaft
Weil von einer weiter zunehmenden Lebenserwartung auch im höchsten Lebensalter auszugehen ist, wird der Anteil Alter, Hochbetagter und Langlebiger64 weiter wachsen (vgl. Tabelle 8). Das statistische Mittel von drei verschiedenen Bevölkerungsprognosen erwartet bis 2050 in Gesamtdeutschland ein Anwachsen des Anteils dieser Altersgruppe (90+) auf 1,56 Prozent der Gesamtbevölkerung (Dinkel 2003, S. 92). Nach Vorausberechnungen wird jedes zweite der heute geborenen Mädchen 100 Jahre werden können. Von den neugeborenen Jungen können 50 % mit 95 Jahren rechnen (Hundertjährigen-Studie, 2001, S. 5). Entwicklung der Bevölkerungszahl und des Anteils älterer und hochaltriger Menschen, 1953 bis 2050
Tabelle 8: Alter
Kalenderjahr (jeweils 1. Januar)
Zu-/Abnahme
1953
1971
2000
2020
2050
1953-2000
200020501
Insgesamt
70.163.872
78.069.471
82.163.475
80.339.100
70.381.400
17,10%
-14,30%
60 und älter
10.618.429
15.567.540
18.881.148
22.886.300
25.199.500
77,80%
33,50%
80 und älter
783.540
1.536.469
2.934.837
5.068.300
7.922.200
274,60%
169,90%
90 und älter
30.679
105.347
497.343
771.200
1.482.600
1521,10%
198,10%
60 und älter
15,10%
19,90%
23,00%
28,50%
35,80%
+ 7,8 %-Pkt.
+12,8%-Pkt.
80 und älter
1,10%
2,00%
3,60%
6,30%
11,30%
+ 2,5 %-Pkt.
+ 7,7 %-Pkt.
0,10%
0,10%
0,60%
1,00%
2,10%
+ 0,5 %-Pkt.
+ 1,5 %-Pkt.
27,8
39,8
41,3
52,8
74,7
(in Jahren) Bevölkerungszahl:
Bevölkerungsanteil:
90 und älter Altenquotient
2
1Die Angaben für die Jahre 2020 und 2050 sind Schätzwerte auf der Grundlage der 9. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des statistischen Bundesamtes (Variante 2). 2Altenquotient: Bevölkerung im Alter von 60 und mehr Jahren je 100 20- bis 59-Jährige. Quelle: Vierter Bericht zur Lage der älteren Generation (2002, S. 55)
jährigen Studie 2001, S. 6. Derzeit (Juni 2007) sind die ältesten Menschen der Welt – eine Amerikanerin und eine Japanerin – 114 Jahre alt. 64 Zu diesen Begriffen vgl. Kap. 2.2.2
102
3 Demographischer Wandel und alternde Gesellschaft
Alter ist weiblich Aufgrund der geringeren Lebenserwartung der Männer (Übersterblichkeit) steigt mit zunehmendem Lebensalter die Präsenz der Frauen. Stellen heute bei der Gesamtgruppe der 65jährigen und Älteren die Frauen schon einen Anteil von zwei Dritteln, so wächst deren Anteil mit dem Lebensalter weiter. Von den 95jährigen und Älteren sind derzeit in Deutschland knapp 75 Prozent Frauen65. Für die 100jährigen ermittelte die Heidelberger Hundertjährigen Studie 85 % (2001). Andererseits sind die überlebenden Männer unter den Hochaltrigen durchschnittlich gesünder66 Entwicklung des Bevölkerungsanteils Alter mit nichtdeutscher Herkunft Das Bevölkerungsgeschehen in Deutschland ist in den letzten gut sechzig Jahren erheblich von Wanderungen mitbestimmt worden. Neben dem millionenstarken Zuströmen von Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit aus den östlichen Teilen Deutschlands nach dem Ende des 2. Weltkriegs, hat vor allem die Zuwanderung von Arbeitsmigranten ab Ende der 1950er Jahre und in den 1980er und 1990er Jahren von politischen Flüchtlingen und Asylsuchenden, sowie von so genannten Deutschstämmigen aus Polen und Russland das Volumen und die Struktur der Bevölkerung stark verändert. Kein Land der Erde war und ist in den letzten Jahrzehnten stärker durch Zuwanderung geprägt als Deutschland. Dennoch ist es erst in den letzten Jahren zu einer Akzeptanz des Status „Einwanderungsland“ und zu Ansätzen einer angemessenen Politik und Gesetzgebung gekommen67. Der Anteil von Menschen mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit betrug Ende 2004 8,1%68. Der Anteil von Menschen mit so genanntem Migrationshintergrund ist jedoch erheblich größer und liegt bei etwa 20%69.
65 Allerdings werden Männer ihren Lebenserwartungsnachteil in Deutschland geringfügig verkleinern. Der Grund: es hat hier seit einigen Jahrzehnten keine größere Beteiligung an kriegerischen Auseinandersetzungen gegeben (Dinkel 1994, S. 83) 66 Dies berichtet Rott aus einer dänischen repräsentativen 100jährigen Studie (Andersen-Ranberg et al. 1999). Dort hatten sich 20 % der Frauen aber 44 % der Männer als imstande erwiesen, die täglichen Basaltätigkeiten selbständig zu verrichten (Hundertjährigen-Studie 2001, S. 12) Vgl. auch Kap. 5.11. 67Seit 1998 hat es in mehreren Schüben eine Reform des Gesetztes für die Regelungen der Staatsangehörigkeit gegeben (Art. 116 Abs. 1 GG). Wichtiger Bestandteil ist, das neben das Abstammungsrecht auch das Aufenthaltsrecht gekommen ist, wodurch der Zugang zur deutschen Staatsangehörigkeit erleichtert wurde. 68 Berechnet nach Statistisches Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland (2005, S. 34, 48). 69 Der „gefühlte“ Ausländeranteil ist jedoch deutlich höher. Ursache: eine zunehmende Zahl von Migranten nimmt die deutsche Staatsangehörigkeit an. 2004 betrug die Zahl der Einbürgerungen 127.153
3 Demographischer Wandel und alternde Gesellschaft
Abbildung 5:
103
Altersaufbau des ausländischen Bevölkerung 2000 und 2050
Quelle: Mai (2003, S. 88)
Auch Migranten altern. Zwar wird die Demographische Alterung in Deutschland durch den für die Zukunft erwarteten jährlichen Zuwanderungsgewinn von 200.000 Menschen gemildert, denn Migranten haben mehrheitlich zum Zeitpunkt ihrer Einwanderung ein relativ niedriges Lebensalter und in der so genannten ersten Generation auch eine höhere Fertilität. Diesen Wanderungsgewinn gibt es derzeit allerdings nicht (vgl. Anm. 71). Die bereits seit längerem ansässigen nichtdeutschen Bevölkerungsteile haben im Übrigen lange schon damit begonnen, den Alterungsprozess nach- und mit zu vollziehen und werden sich dem Altersaufbau der „deutschstämmigen“ Bevölkerung in den nächsten Jahrzehnten weitgehend anpassen (vgl. Abbildung 5)70. Das gilt auch für Veränderungen der Fertilität. Damit wird diese Bevölkerungsgruppe das Voranschreiten der Demo(Stat. Jahrbuch 2004, S. 49). Eine erhebliche Zahl illegaler Migranten (nach Schätzungen über eine Million) wird von keiner Statistik erfasst. 70 Eine andere Entwicklung scheint inzwischen allerdings denkbar. Sollte die soziale Integration nichtdeutschstämmiger Bevölkerungsteile nicht gelingen, so wären in „Parallelgesellschaften“ auch dauerhaft unterschiedliche Niveaus der Fertilität wahrscheinlich.
104
3 Demographischer Wandel und alternde Gesellschaft
graphischen Alterung auf Dauer nicht wirklich aufhalten. Zu berücksichtigen ist der das Bild dieser Statistik verzerrende Effekt des novellierten Staatsbürgerschaftsrechts (s. o.)71.
3.5 Gesellschaftliche Folgen der Bevölkerungsentwicklung – Gestaltungsräume der Politik? Das Rentenproblem Welche Folgen hat diese Entwicklung, die insbesondere in Deutschland von der Politik und der Öffentlichkeit erst sehr spät wahrgenommen wurde, obwohl die Bevölkerungswissenschaft schon lange Besorgnis auslösende Trends meldet? Inzwischen ein wichtiges politisches Thema ist das Rentenproblem. Das in Deutschland praktizierte System der Gesetzlichen Rentenversicherung arbeitet nach dem Umlageverfahren. Vereinfacht: die derzeit Erwerbstätigen entrichten Versicherungsbeiträge für die Finanzierung der aktuellen Rentenzahlungen. Die Höhe der Beiträge für die Versicherten und die Höhe der Renten hängen damit wesentlich vom Zahlenverhältnis der Erwerbstätigen zu den Nichtmehrerwerbstätigen ab. Derzeit kommen auf 100 Menschen im erwerbsfähigen Alter 43,9 60jährige und Ältere. 2050 werden es voraussichtlich 77,8 zu versorgen sein (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7.8.2003, Quelle: Destatis 2003). Damit ist klar, dass die derzeitige Relation von Beiträgen und Rentenhöhe nicht zu halten ist72. Wenn höhere Beiträge oder niedrigere Renten vermieden werden sollen, sind Transferleistungen des Staates aus Steuergeldern nötig, was bereits heute praktiziert wird. Eine Milderung des Problems sehen einige Experten und Teile der Politik in einer – gesteuerten – Zuwanderung von jungen, arbeitsfähigen und für den Arbeitsmarkt hinreichend qualifizierten Menschen73.
71 Die Statistik kann „eingebürgerte Ausländer“ nur als Deutsche zählen. Im Frühjahr 2005 hatten etwa 800.000 Einwanderer die deutsche Staatsangehörigkeit. Ein unbekannter Anteil verfügt über die im Regelfall nicht zulässige doppelte Staatsbürgerschaft. Vom Recht zum Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft wurde für längere Zeit nach Verabschiedung des neuen Gesetztes nicht im erwarteten Ausmaß Gebrauch gemacht. 72 Bereits heute werden die Renten teilweise steuerfinanziert vgl. Kap. 4. 73 Das erfordert allerdings einen jährlichen Wanderungsgewinn (nicht Zuwanderung, sondern: Zuwanderung abzüglich Auswanderung) von etwa 300.000 Migranten. Seit Anfang des Jahrzehnts beträgt der positive Wanderungssaldo aber nur etwa 100.000 Menschen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Ein Wanderungsgewinn von 300.000 Menschen würde das Schrumpfen der Bevölkerung und deren Alterung nur mildern, nicht verhindern. Derzeit ist die Zuwanderung rückläufig. Von 2003 bis 2005 hat sich die jährliche Zuwanderungszahl um 10,5 Prozent verringert.
3 Demographischer Wandel und alternde Gesellschaft
105
Das Arbeitskräfteproblem Die Rentenproblematik ist jedoch nur eine Facette eines vielfältigen Problemkatalogs74. Schon in wenigen Jahren werden in großer Zahl Arbeitskräfte fehlen. Bereits heute wird für einige Arbeitsmarktbereiche, wo hohe formale Qualifikation und technisch-organisatorisches Wissen gefordert sind, ein Mangel geeigneter Bewerber seitens der Wirtschaft beklagt und der Ruf nach entsprechend qualifizierten Arbeitsmigranten laut. Vielleicht sollten sich die Unternehmen zunächst vom „Jugendwahn“ (Clemens 2004, S. 87) verabschieden. Gemeint ist die Praxis frühzeitiger Entlassung fähiger Erwerbstätiger in den (Vor-)Ruhestand. Prognosen Abbildung 6:
Erwerbspersonen nach Altersgruppen von 1950 bis 2040 in Prozent
Quelle: Clemens (2004), S. 93
74 Vgl. Kap. 6. Soziale Sicherung
106
3 Demographischer Wandel und alternde Gesellschaft
sprechen für die Jahre ab 2015 von einer deutlich sinkenden Zahl jüngerer und im mittleren Lebensalter stehender Erwerbstätiger (vgl. Abb. 5). Auch wenn es wegen der problematischen Einschätzung des Weiteren technischen Fortschritts und der künftigen wirtschaftlichen Entwicklung keinen einheitlichen Standpunkt bezüglich der Frage nach der zukünftig benötigten Zahl von Arbeitskräften gibt, gilt die Gewohnheit der frühzeitigen Ausgliederung als überholt. Weil es auf dem Arbeitsmarkt zu einem Ungleichgewicht von Angebot und Nachfrage – zuungunsten des Angebotes – kommen dürfte, werden Betriebe Schwierigkeiten bekommen, geeignete Arbeitskräfte zu finden. Entsprechend werden sich die Älteren darauf einstellen müssen, länger im Erwerbsleben zu bleiben – was zumindest bisher durchaus nicht ihrem Wunsch entsprach (vgl. Kap. 7.12). Aber auch über Zuwanderung und Anwerbung von qualifizierten Arbeitskräften75 aus anderen Ländern wird wieder verstärkt nachzudenken sein. Generationenkrieg? Mahnende Stimmen sprechen vor dem Hintergrund, dass immer weniger Junge für eine wachsende Zahl Älterer und sehr Alter mit zu sorgen haben, vom drohenden Generationenkrieg (Gronemeyer 1989, 2004)76. Auseinandersetzungen und Verteilungskonflikte zwischen Jung und Alt könnten zunehmen. Wirtschaftliche Krisen würden dieses Problem verschärfen. Doch die gesellschaftlichen Folgen sind viel weitgehender. Bevölkerungsrückgang Demographische Alterung führt innerhalb des „Absterbezeitraums“ nur einer einzigen Generation zum dramatischen Schrumpfen der Bevölkerung. Dies allerdings in regional sehr unterschiedlichem Umfang, so dass einerseits die Auswirkungen kaum spürbar, andererseits katastrophal sein können. Die Folgen für alle Bereiche der Gesellschaft, der Wirtschaft, des Konsums, der Bildung, des Verkehrs, des Wohnens usw. sind kaum absehbar. Während des voranschreitenden
75 Dabei wird es sich um einen anderen Typus von Arbeitsmigranten handeln als er mehrheitlich seit den späten 1950er Jahren nach Deutschland wanderte, nämlich einen mit hoher spezifischer formaler Bildung (besonders im technischen und naturwissenschaftlichen Bereich) und entsprechender Berufserfahrung. Für diesen Migrantentyp werden hohe Anreize geschaffen werden müssen. 76 Inzwischen werden vor dem Hintergrund wachsender Soziallasten Rufe aus der Politik nach einer Begrenzung der Kosten für Alte lauter. Dennoch war das Echo auf die Aufforderung des Vorsitzenden der Jungen Union, der Jugendorganisation der CDU, Philipp Mißfelder, die Krankenkosten für Alte zu begrenzen, negativ. Mißfelder hatte in einem Interview geäußert: „Ich halte nichts davon, wenn 85jährige noch künstliche Hüftgelenke auf Kosten der Solidargemeinschaft bekommen“. (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. August 2003, S. 3)
3 Demographischer Wandel und alternde Gesellschaft
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Alterungsprozesses der Gesellschaft werden zunächst einzelne Dörfer, Städte und Regionen von Bevölkerungen bewohnt sein, die fast ausschließlich im Rentenalter sind. Kindergärten und Schulen wird man schließen. Unsicher ist, ob der gleichzeitig erforderliche Ausbau der Arbeitsplätze im Bereich von Pflege und Betreuung den Stellenabbau in anderen Bereichen kompensieren wird. Betriebe werden verbliebene Arbeitsplätze abbauen und schließen. Das wird die Jungen zum Abwandern zwingen, was den Alterungsprozess beschleunigen wird. Die Versorgungseinrichtungen für Ältere und Kranke werden in einigen Regionen dagegen boomen. Jedenfalls so lange, wie sich Finanzierungsquellen erschließen lassen und die Alten nicht gestorben sind77. In einigen Regionen werden Betreuungseinrichtungen massiv ausgebaut werden müssen. Man wird die Alten aus anderen lokalen Zonen zu „Sammeleinrichtungen“ für die letzte Lebensphase, das Dahinsiechen und Sterben „deportieren“78. Einen „Korridor der Alterung“ erwarten Forscher in Teilen der neuen Bundesländer. Dieser Korridor wird sich schon 2020 zwischen Usedom und dem Fichtelgebirge entlang ziehen und dazu führen, dass sich dieses Gebiet besonders rasch entleert79. Doch das ist nur eine Seite. Denn es wird auch Regionen geben, die sich auf Alte einstellen. Das werden „Rentnerparadiese“ für die „Gutsituierten“ unter den Alten sein. Schon heute gelten Kurorte oder Gebiete mit langen Schönwetterperioden und malerischer Landschaft als solche Zonen. Sicher wird die Wirtschaft noch mehr die Alten „entdecken“. Die „Seniorenwirtschaft“ wird ihre Produkte und Dienstleistungen an den „Markt“ anpassen (vgl. Kap 7.4). Ein Teil des Dienstleistungsangebots wird sich auf körperlich Hinfällige konzentrieren, die diese Leistungen allerdings auch bezahlen können müssen. Wahrscheinlich ist, dass einige Regionen, nämlich solche, die Arbeitsplätze insbesondere für die Versorgung der Alten und Kranken schaffen werden, Menschen anderer nationaler Herkunft anziehen werden. Dort wird möglicherweise eine untere Klasse von mäßig dotierten Pflegern und Dienstleistern nichtdeutscher Herkunft entstehen. Es wird darauf ankommen, sie zu qualifizieren und zu integrieren und die sozialen Abstände nicht zu groß werden zu lassen. Misslingt dieses Experiment, so werden tief greifende soziale Konflikte wahrscheinlich. Aber auch dieses Bild wird vergehen und dem sozialen Wandel das Feld räumen. Nur ein bis zwei Jahrzehnte später wird manche einstmals prosperierende Region entvölkert, werden ganze Ortschaften mit zum Teil langer und großer 77 Nach 2050 wird der Altenanteil voraussichtlich wieder langsam zurückgehen. 78 Vgl. das düstere Szenario bei Gronemeyer (s.o.) 79 Dies ist die Aussage des Berlin-Instituts für Demographie unter der Leitung von Reiner Klingholz. Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. April 2004.
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Geschichte verfallen sein oder geschleift werden. Dieses Szenario mag heute übertrieben klingen, ist aber schon jetzt ansatzweise in Teilen der neuen Bundesländer zu besichtigen80. Andere Regionen – allen voran die alten Zentren der Schwerindustrie – könnten zu Armutsgebieten absinken, vorübergehend aber dennoch Anziehungskräfte für Flüchtlinge aus den (noch ärmeren) Krisenregionen der Welt und für „Verlierer“ der Marktgesellschaft entwickeln81. Ghettos und Slums würden entstehen. Das Szenario ist nicht vollständig. Nicht jede Prognose mag sich als zutreffend erweisen. Dennoch, betrachtet man die z. Z. in den Erdteilen immer noch gegenläufige Bevölkerungsentwicklung – Wachstum dort, Stagnation, Bevölkerungsrückgang und demographische Alterung hier – so muss von einer ernsthaften Krise gesprochen werden, die zugleich ein Dilemma mit möglicherweise dramatischem Ausgang ist. Einerseits kann der Mensch heute dank wissenschaftlich/technologischem Fortschritt mehr denn je das Leben, dessen Dauer und Qualität verbessern. Derzeit scheint die Biogenetik82 gar eine lange erträumte, kaum jemals für möglich gehaltene Entwicklung in Richtung einer Minderung oder Verhinderung der negativen Seiten des Alterns zu eröffnen. Die „Qualität“ jedes einzelnen Lebens – und auch des Sterbens – scheint damit planbar und gestaltbar zu werden. Doch jenseits der Frage nach der Wünschbarkeit und der ethischen Dimension solcher Vorhaben, ist damit noch immer nicht die Frage nach der „Beschaffung“ eines sozialökonomisch wünschenswerten Anteils junger Menschen beantwortet. Gibt es Möglichkeiten zum Handeln? Der hier dargestellte Prozess des demographischen Wandels ist ja keineswegs ein naturwüchsiger, sondern wesentlich ein von Menschen gemachter Vorgang, der, einmal zur Wirkung gebracht, scheinbar unaufhaltsam seine quasigesetzliche Logik vollzieht. Da es aber gesellschaftliche Faktoren sind, die diese Entwicklung bedingen, muss es grundsätzlich möglich sein, diese Entwicklung zu steuern. Nomadenvölker haben sich früher ihrer „überflüssigen“, d. h. nicht mehr arbeitsfähigen Mitglieder durch einfaches „Sichselbstüberlassen“ entledigt, manchmal wurden sie auch getötet. Die zivilisierte Gesellschaft muss einfallsreichere und vor allem humane Wege finden.
80 Nach der Maueröffnung und der Wiedervereinigung wanderten bis heute über 1,6 Mill. Menschen in den „Westen“; viele Erwerbstätige „pendeln“. 81 Die „Mischung“ und gegenseitige Verstärkung von Verarmung und Zuzug ist in Teilregionen des Ruhrgebiets bereits zu beobachten. Vgl. Strohmeier et al. (2002). 82 Vgl. Kap. 6.
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Bevölkerungspolitik oder Familienplanung? Historische Beispiele Eingriffe in das Bevölkerungsgeschehen kennt die Menschheitsgeschichte seit den antiken Hochkulturen. Zwangsdeportationen und Genozid sind ebenso wie das Ausrotten der Erstgeborenen gleichfalls brutale wie wirkungsvolle Methoden für die Regulierung von Bevölkerungsvorgängen. Menschlichere Züge trägt das Verfahren einer gezielten Anwerbung von Siedlern, wie es z.B. für den Raum Ostdeutschlands im Mittelalter verwandt wurde. Die aufgeklärten Landesherrn der deutschen Kleinstaaten des 17. und 18. Jahrhunderts und Preußens bedienten sich schon eines ganzen Maßnahmenbündels einer so genannten „Peupleierungspolitik“83, zu der neben anderem auch die Beseitigung von Heiratsbeschränkungen gehörte, ebenso die gezielte Anwerbung von religiös verfolgten Menschen oder Spezialisten für den Deichbau oder die Entwässerung von Sumpfgebieten. Gefahren durch Bevölkerungspolitik Eine modernere Variante politisch initiierter Arbeitsmigration ist die Anwerbung von „Gastarbeitern“, wie sie in Deutschland von Ende der 1950er bis Anfang der 1970er Jahre zur Unterstützung des „Wirtschaftswunders“ betrieben wurde. Ein hässliches Beispiel für eine sehr aktive (und im Sinne ihrer Erfinder effiziente) Bevölkerungspolitik sind die auf den Annahmen so genannter Rassentheorien basierenden Maßnahmen des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland. Diese zielten auf eine Zunahme der als „rassisch wertvoll“ eingeschätzten Bevölkerungsteile84. Dies einerseits durch ein Verbot der Abtreibung, andererseits durch Schaffung eines Anreizsystems für höhere Kinderzahlen. Dazu gehörten monetäre Aspekte, z.B. steuerliche Maßnahmen (Schaffung von Steuerklassen, die Verheiratete und Eltern begünstigten, Ledige und Kinderlose „bestraften“), ebenso Kindergeld, Familiendarlehen u. a. Derartige Regelungen gibt es auch heute. Sie könnten ausgebaut und erweitert werden. Hinzu traten damals psychologische Aspekte. Ein Teil der politischen Propaganda hatte die hohe Bewertung von Kindern und der Mutterschaft zum Ziel. Zum Maßnahmenkatalog
83 Vom französischen Peuple = Volk. Die sogen. Merkantilisten in Frankreich hatten zwischen dem 16. und 18. Jh. staatliche Wirtschaftspolitik zur Stärkung des Absolutismus betrieben, zu dem auch Bevölkerungspolitik gehörte: Ziel war Wirtschaftswachstum durch Bevölkerungswachstum. 84 Gemeint sind damit die sogenannten „Arier“ oder auch Angehörige der „nordischen Rasse“. Zu den menschenverachtenden Maßnahmen der Nationalsozialisten und ihren z.T. wissenschaftlichen oder pseudowissenschaftlichen Grundlagen vgl. Thieme (1988).
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gehörten die öffentliche Belobigung85 oder die Produktion von Filmen, in denen Rollen die entsprechenden Ideale verkörperten. Als wichtiges Ziel galt die Anhebung der „Qualität“ der Bevölkerung („Aufartung“), indem ein Teil der Menschen von der Reproduktion ausgeschlossen wurde (Zwangssterilisation), andere gezielt gefördert wurden. Schließlich ist auch das unmenschlichste Kapitel der deutschen Geschichte hier nicht zu verschweigen: Der Holocaust an Juden, Sinti und Roma und anderen Minderheiten, ebenso die Tötung von Behinderten – so genannte „Minderwertige“ – ist barbarisch, aber er gehört zur realen Geschichte der Bevölkerungspolitik86. Diskreditierung der Bevölkerungspolitik in Deutschland Die Unmenschlichkeit der Bevölkerungspolitik in Deutschland während der Zeit des Nationalsozialismus hat hierzulande zu einer nachhaltigen Diskreditierung jeglicher Politik unter diesem Namen geführt. In der deutschen Vergangenheit, ihren Irrwegen und Grausamkeiten liegt der Grund, dass trotz betriebener Forschung, statistischen Erhebungen und Auswertungen in der Zeit nach 1949, die Ergebnisse im politischen Diskurs stets eine untergeordnete Rolle gespielt haben87. Schließlich tun sich modere demokratische Gesellschaften schon prinzipiell schwer, staatliche Eingriffe in Bevölkerungsvorgänge zu legitimieren, geht es doch immer um Eingriffe in persönliche bis intime Entscheidungs- und Freiheitsbereiche. Das Problem mit Bevölkerungspolitik stellt sich ähnlich auch in anderen modernen Gesellschaften dar. In Ländern mit starkem Bevölkerungswachstum dagegen müssen Maßnahmen zu einer Reduzierung der Fertilität gefunden wer85 Dazu gehört auch der „Muttertag“. Er ist eine Erfindung der Vereinigten Staaten und wurde dort 1914 zum offiziellen Feiertag erklärt. In Deutschland durch die Nationalsozialisten zum 2. Maisonntag 1933 eingeführt (Brockhaus Enzyklopädie Bd. 13, 1971). 86 Gesetzlich begründete Zwangssterilisationen hat es seit dem frühen 20. Jahrhundert auch in anderen europäischen Ländern sowie in Japan und einigen US-Staaten gegeben. In Skandinavien gab es entsprechende Gesetze noch bis in die 1950er Jahre. Bemerkenswert ist dabei das Vorbereiten und z.T. Mitwirken von namhaften Wissenschaftlern. Vgl. zu diesem „dunklen“ Kapitel der jüngeren Menschheitsgeschichte u.a. Bernhard vom Brocke (1998) und Stefan Kühl (1997). Die Wirkung der Bevölkerungswissenschaft an der Bevölkerungspolitik während der NS-Herrschaft ist umstritten. Fest steht: die Geburtenrate wuchs. Dies muss allerdings auch auf das nach Beendigung der politischen und wirtschaftlichen Krise zu Ende der Weimarer Republik (hohe Arbeitslosigkeit u. a.) „nachgeholte“ Heiraten und entsprechende Fertilität zurückgeführt werden. Vor allem dürfte der Anstieg der Fertilität mit der Verschärfung des Abtreibungsverbots (einschl. des Verbots der Bewerbung von Verhütungsmitteln) zusammen hängen. 87 Vgl. hierzu auch die Debatte um die Einwanderungsgesetze 2003/2004 und Anfang der 1990er Jahre um das Asylgesetz in Deutschland. Bereits in den 1970er Jahren haben Vorausberechnung der Bevölkerungsentwicklungen in Deutschland vorgelegen, die seinerzeit politisch aber nicht wahrgenommen wurden.
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den. Politisches Gegensteuern – etwa durch „Strafsteuern“ für Kinderlose bzw. „Kinderreiche“ – ist in jedem Fall problematisch. Dies hinsichtlich seiner Wirkung aber auch wegen der geschichtlichen Erfahrungen. Außerdem sind monetäre Leistungen, wie Kindergeld oder steuerliche Vorteile mit der Umverteilung von finanziellen Mitteln verbunden. Das wird Interessengegensätze auf den Plan rufen. Dieses und anderes veranlasst politische Entscheidungsträger immer wieder zur Untätigkeit. Erfolge bevölkerungspolitischer Maßnahmen Bevölkerungspolitische Maßnahmen lassen bestenfalls eine Linderung der dargestellten Probleme erwarten. Aber neben den historischen Beispielen im NSDeutschland und auch in der DDR – wo es jeweils Anstiege der Geburtenraten gab – als auch moderne wie China oder Frankreich zeigen, dass entsprechende Maßnahmen nicht wirkungslos sein müssen. Dies gilt ebenfalls für den Weg einer Einwanderungspolitik, die ebenfalls umstritten ist. Auch in diesem Fall ist die Politik selber Verursacher einer belasteten Diskussion. Zu spät und zu wenig wirksam wurden bisher die Folgeprobleme des Einwanderungsgeschehens in Deutschland, insbesondere die Notwendigkeit der Integration von Zuwanderern, erkannt und aufgearbeitet. Zudem gibt es Sorgen und Widerstände von Seiten nicht unbeträchtlicher Bevölkerungsteile, gegenüber einer weiteren starken Zuwanderung, wie umgekehrt, Hindernisse auf dem Weg der Integration seitens der Einwanderungsgruppen. Probleme allesamt, die politisches Handeln mit wissenschaftlich geschärftem Sachverstand erfordern. Die problematische politische Bewertung von Bevölkerungspolitik nach dem Geschehen in NS-Deutschland hat hierzulande sogar zu einer Suspendierung des Begriffs geführt. Das bedeutet allerdings nicht ein faktisches Unterlassen. So ist dem Gesetzgeber und den Regierungen die Förderung von „Familienplanung“ Handlungsziel. Diese ist letztlich ein Instrument der Bevölkerungspolitik. Daraus hervorgegangen ist ein ganzes Bündel von Maßnahmen, dessen Zweck die Umverteilung von zeitlichen und monetären Belastungen ist. Wer sich den „Aufwand“ eigener Kinder „zumutet“, verdient Entlastung, deren Kosten diejenigen zu tragen haben, die sich der Reproduktion enthalten88. Das ist inzwischen ein verbreitetes politisches Credo.
88 Die derzeitige Regierungskoalition aus CDU/CSU und SPD beabsichtigt zum Jahresbeginn 2006 eine Gesetzesinitiative zur steuerlichen Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten für erwerbstätige Paare aber auch wenn nur ein Elternteil erwerbstätig ist.
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Zur Familienpolitik gehört ein Katalog von monetären Maßnahmen wie Kinderfreibeträge, Kindergeld, steuerliche Ungleichbehandlung von Verheirateten gegenüber Nichtverheirateten über das Steuerklassensystem und das Ehegattensplitting, außerdem Erziehungsgelder, Erziehungsurlaub. Familienpolitik beinhaltet auch ein ausreichendes und von den Nutzern bezahlbares und erreichbares Angebot an Kindergartenplätzen, Bildungseinrichtungen, Unterstützung bei Lernmitteln, sowie staatlich unterstützte Erholungsmaßnahmen für Mütter und Kinder. Schließlich ist Politik in der Pflicht, die Bedingungen von Ausbildung, Erwerbstätigkeit und Kind vereinbar zu gestalten. Bevölkerungspolitik als „Zankapfel“ unterschiedlicher Interessen Die praktische Umsetzung der Politik kostet das Geld des Steuerzahlers. Streitpunkt ist stets die Höhe der Belastung für Kinderlose und der Einfluss auf die Höhe der vom Arbeitgeber zu tragenden Lohnnebenkosten. In Deutschland wird oft ein zu geringer Umfang der familienpolitischen Maßnahmen beklagt. Andererseits gibt es die anhaltende Diskussion um die Höhe der die Arbeit verteuernden Lohnnebenkosten. Konsens herrscht darüber, dass Familien mit Kindern faktisch finanziell benachteiligt sind und eine Umverteilung privat entstehender Kosten angemessen ist, weil ohne eine hinreichende Kinderzahl in der Zukunft schwer lösbare gesellschaftliche Probleme zu erwarten sind. Kinder sind kein „Privatvergnügen“, dass man sich etwas kosten lassen muss. Die Gesellschaft braucht Kinder. Die Anreize Kinder zu wollen, müssen demnach größer werden. Tatsächlich zeigt ein Vergleich mit Ländern, die umfassendere Maßnahmenbündel entworfen haben, dass Familienpolitik aber auch Einwanderungsgesetze einen gewissen Erfolg haben können. Ihre Wirkung hängt allerdings davon ab, ob die übrigen gesellschaftlichen Bedingungen derartige Maßnahmen flankieren können. So ist die in der Gesellschaft verbreitete Einstellung zu Kindern bzw. Einwanderern kritisch zu überdenken. Der Wert von Kindern und Familie89 gilt derzeit als zu wenig anerkannt90. Hier sind auch die Massenmedien bei der Er-
Ebenfalls ist eine Diskussion über Kindergartenkosten entstanden. Nachdem bereits im Saarland seit 2000 ein Kindergartenplatz im dritten Jahr kostenfrei ist, wollen sich andere Bundesländer diesem Modell möglicherweise anschließen (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18.1.2006). Es wird hier nicht allein an die traditionelle bürgerliche Form der Familie gedacht. Familie hat historisch und findet aktuell in sehr verschiedenen Formen statt (vgl. Kap. 7.7.1). 90 Was sich im Kinderwunsch äußert. Eine vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung finanzierte und im November 2005 vorgestellte Studie, zeigt, dass in Deutschland bei der jüngeren Generation heute der weltweit niedrigst platzierte Kinderwunsch besteht. Ein Fünftel der potenziellen Mütter möchte heute generell auf Kinder verzichten und ein Drittel der heute im fortpflanzungsfähigen Alter befindlichen Frauen und Männer wird kinderlos bleiben.
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zeugung von Unterhaltungsprodukten gefragt. Das Sichern der wirtschaftlichen Entwicklung, das Lösen der Probleme mit der Integration von Migranten ist das eine, die „Kulturarbeit“ zur Schaffung eines den gegenwärtigen Bedingungen entsprechenden Problembewusstseins, ist das andere. Bevölkerungspolitik in Ländern mit starkem Bevölkerungswachstum In Ländern mit hoher Fertilität zielt Bevölkerungs- bzw. Familienpolitik in die entgegen gesetzte Richtung. Auch hier gibt es Beispiele für erfolgreiches staatliches Handeln. Naturgemäß verfügen allerdings autoritäre Staaten über die wirksameren Mittel, wie mit dem Fall China91 zu zeigen ist. Bevölkerungspolitik als Zukunftspolitik Die Folgeprobleme des weltweiten demographischen Wandels fordern Fantasie, den Mut zur politischen Entschlossenheit und wissenschaftliche Beratung. Sie benötigen auch „Kulturarbeit“ im genannten Sinne, mit dem Ziel der Aufklärung und des Appells an Solidarität und Verantwortung. Wenn die Zukunft des Planeten Erde im Rahmen menschlicher Möglichkeiten gesichert werden soll, wird es wesentlich von der Bereitschaft und Fähigkeit der Menschen, den Gesellschaften und Staaten, ihren Regierungen und den Kultur tragenden Eliten und Institutionen abhängen, die Folgewirkungen des Demographischen Wandels zu mildern.
91 China setzte 1971 das Mindestheiratsalter (empfohlen) auf 28 (Männer) bzw. 26 (Frauen) fest. Die EinKind-Familie wird propagiert; auf dem Land sind zwei Kinder erlaubt (weil als Arbeitskräfte wichtig). Mehr als drei Kinder werden mit einer Sondersteuer belegt. Bis 1981 sank die Geburtenrate um die Hälfte. Die Fertilität lag 2006 bei 1,6.
4 Die soziale Sicherung alter Menschen in Deutschland (Klaus Schaper) 4 Die soziale Sicherung alter Menschen in Deutschland „Das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung verknüpft die Bedürfnisse der heutigen Generation mit den Lebenschancen zukünftiger Generationen, in einer Art Generationenvertrag die langfristige Entwicklung so zu gestalten, dass sie beiden gerecht wird…“ Strategiepapier der Bundesregierung, 2001 „Ich halte nichts davon, wenn 85-jährigen noch künstliche Hüftgelenke auf Kosten der Solidargemeinschaft bekommen … Früher sind die Leute auf Krücken gelaufen“. Philipp Mißfelder, Vorsitzender der Jungen Union, in einem Interview mit dem „Tagesspiegel“. Zitiert nach Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3.8. 2003
4.1 Einleitung Während in der bisherigen Menschheitsgeschichte der Lebensunterhalt und die pflegerische Versorgung alter Menschen in den Familien geleistet wurden – dies geschieht heute noch in vielen Ländern der sog. Dritten Welt – sind im Zuge der sozialökonomischen und politischen Entwicklung in den letzten 150 Jahren neue, viel leistungsfähigere Sicherungsformen entwickelt worden. Die Sicherung des Lebensunterhalts durch ein befriedigendes Einkommen im Alter wird heute zum einen durch die immense Kapital- und Vermögensbildungsfähigkeit kapitalistisch- marktwirtschaftlicher Systeme ermöglicht (Privates Sparen als Vorsorge) und zum andern durch die institutionelle Innovation der (Privat-)Versicherung gegen viele Lebensrisiken. Beide modernen Vorsorgesysteme ergänzen sich zudem und sind je nach Risikolage vorteilhaft. Sie ersetzen nicht nur die im Modernisierungsprozess ständig abnehmende Selbsthilfekraft der Familien, sondern heben – zumindest potentiell – das Versorgungsniveau im Alter auf eine qualitativ deutlich höhere Stufe. Mit einer weiteren Innovation, der Einrichtung moderner sozialer Sicherungsformen, vor allem der Sozialversicherung, erschlossen sich für die Sozialpolitik erhebliche Gestaltungsspielräume. Das Ziel der Sicherung des Lebensstandards auch im Alter erschien erreichbar. Eine Umverteilung zugunsten der sozial Schwächeren könnte und sollte auch die Lage ärmerer Schichten im Alter verbessern.
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Diese optimistische Einschätzung der Möglichkeiten moderner Sozialstaaten, die Lebenslage älterer Menschen zu verbessern, trifft heute auf eine zunehmende Skepsis. Die Kosten der sozialen Sicherung steigen unter anderem wegen der demographischen Entwicklung, die Abgabenlast der aktiven Bevölkerung ebenfalls. Trotz der immensen Produktivitäts- und Wohlstandsentwicklung zeigen sich Risse im System, ein Generationenkonflikt droht. In der folgenden Darstellung zur Geschichte, zur aktuellen Situation und zu den Zukunftsperspektiven der sozialen Sicherung alter Menschen sollen Chancen und Probleme einer sozialstaatlichen Lösung aufgezeigt werden.
4.2 Entwicklung der sozialen Sicherung in Deutschland 4.2.1
Die Bismarckschen Sozialreformen
Otto Graf v. Bismarck gilt als Architekt der deutschen Sozialversicherung. Es ging dem Reichskanzler darum, die durch die Industrialisierungswelle nach 1850 stark anwachsende Arbeiterschaft zu befrieden und ihr den Platz in der angestrebten hierarchisch-konservativen Gesellschaftsordnung zuzuweisen. Die angewandte Doppelstrategie sollte „mit Zuckerbrot und Peitsche“ − zum einen einer Sozialversicherung für Arbeiter und zum anderen dem Verbot sozialistischer Aktionen − dieser Gefährdung Herr werden. Letztlich führte diese Strategie zwar nicht zur erhofften Stabilität des Kaiserreichs, bescherte aber der Welt eine sozialpolitische Innovation, die aus heutiger Sicht zweifelsohne als ein Jahrhundertwerk bezeichnet werden kann. Wesentliche Strukturelemente dieser neuen Sozialpolitik in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts − 1883 Krankenversicherungsgesetz, 1884 Unfallversicherungsgesetz, 1889 Invaliden- und Altersversicherungsgesetz (Rentenversicherung) − sind noch erhalten und erweisen ihre Funktionsfähigkeit auch unter den heutigen veränderten Bedingungen. Die Versicherungspflicht war zunächst auf die Industriearbeiter beschränkt. Finanziert wurde das System vor allem über Beiträge der versicherten Arbeiter und/oder ihrer Arbeitgeber (Staatszuschuss bei der Rentenversicherung). Der damit geschaffene Typ eines Sozialstaats wird heute oft als „konservativer Wohlfahrtsstaat“ bezeichnet (Esping-Andersen, 1990). In Mitteleuropa war er den meisten Ländern ein Vorbild, an dem sie ihre eigene Sozialreform orientierten. Mit der Entscheidung für dieses Sozialstaatsmodell wurde die weitere Entwicklung, wie wir heute erkennen können, stark vorgeprägt.
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Die konservative Ausrichtung zeigt sich vor allem in den geschaffenen Strukturen, welche die Entwicklung des Sozialstaats bis heute prägen und auch belasten. Die Ausdehnung der sozialen Sicherung auf weitere gefährdete Gruppen in der Bevölkerung erfolgte im ständischen Sinne. Jeder soziale Stand wurde – so die Staatsphilosophie − seinen spezifischen Bedarfslagen entsprechend sozialpolitisch versorgt. Die Standesgruppen (Beamte, Angestellte, Handwerker, Landwirte, freie Berufe usw.) wurden nicht in das System der Arbeiterversicherung integriert, sondern erhielten eigene Organisationen und unterschiedliche Leistungssysteme. Dieses Erbe prägt noch heute unser Soziales Sicherungssystem und erschwert Reformen, die eine allgemeine Bürgerversicherung mit gleichen Rechten, Pflichten und Leistungen für alle Staatsbürger anstreben. Die Exklusivität und die höheren Leistungen beispielsweise bei der Beamtenversorgung oder den Sozialeinrichtungen der freien Berufe erweisen sich als starke konservative Beharrungselemente und werden von den Interessengruppen mit Vehemenz verteidigt. 4.2.2
Das soziale Sicherungssystem in der weiteren Entwicklung
Die Wiederaufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg wurde auch zur entscheidenden Orientierungsphase der bundesdeutschen Sozialpolitik. Richtungsweisend für die Entwicklung der Sozialordnung wirkte sich vor allem die Entscheidung für die Wirtschaftsordnung der „sozialen Marktwirtschaft“ aus. Dieses Ordnungsmodell stellt nach Alfred Müller-Armack, dem Schöpfer dieses Begriffs, einen dritten Weg zwischen reiner kapitalistischer Marktwirtschaft und Sozialismus dar. Im Mittelpunkt der ordnungspolitischen Gestaltungsaufgabe steht die Wirtschaftsordnung. Die Sozialordnung − so notwendig der soziale Ausgleich und die Abdeckung der Lebensrisiken auch sind – soll sich an die marktwirtschaftliche Ordnung anpassen. Von neoliberalen Kritikern wird heute eine wohlfahrtsstaatliche Fehlentwicklung diagnostiziert. Der ausufernde Sozialstaat lähme inzwischen den Leistungswillen der Bürger und unterminiere damit die Marktordnung. Das von Bismarck gegründete und in der Folgezeit in Weimar ausgebaute System der sozialen Sicherheit wurde unter dem Naziregime in seinen Strukturen so belassen (Ausnahme: Ersetzung der Selbstverwaltung der Sozialversicherung durch eine hierarchische Führung) und zum Teil materiell ausgebaut (Alterssicherung selbständiger Handwerker). In der Bundesrepublik wurde das System in den 1950er Jahren restauriert (Wiedereinführung der Selbstverwaltung) und erneuert. Es waren vor allem zwei Innovationen, die zukunftsweisend wirkten.
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Zum einen wurde mit der Rentenreform 1957 die Dynamisierung der Sozialeinkommen eingeführt. Die automatische Anpassung der Renten an die allgemeine Lohn- und Gehaltsentwicklung unter Zugrundelegung einer mathematischen Anpassungsformel (Rentenformel) ließ die Rentner und später andere Leistungsbezieher am Einkommenszuwachs der arbeitenden Menschen teilhaben. Die zweite ebenso bedeutsame Neuerung der Reform von 1957 bestand in der Proklamierung des Ziels der Lebensstandardsicherung im Alter. Die bis dahin sehr knapp bemessenen Sozialrenten wurden auf ein deutlich höheres Niveau gehoben. Jeder Arbeitnehmer, der lange Zeit (45 Jahre) aktiv war und laufend Rentenbeiträge abführen musste, sollte im Alter eine Rente erhalten, die ausreicht, um den bisherigen Lebensstandard zu halten. Auch das Einkommen einer verwitweten Ehefrau eines Arbeiters sollte ein befriedigendes Sicherungsniveau erreichen. Nur so konnte das klassische Familienmodell, das die Frau auf die Mutter- und Hausfrauenrolle festlegte, sozial abgesichert werden. Die Reformer – wie Wilfried Schreiber (1968) − gingen davon aus, dass durch eine staatliche Stabilitätspolitik Massenarbeitslosigkeit in Deutschland verhindert werden könnte und die Arbeitnehmer lange und stetige Erwerbszeiten realisieren würden. Gleichermaßen erwartete man, dass die Lohneinkommen eines Arbeiters bei hoher und ständig steigender Produktivität ausreichen würden, um seinen und den Bedarf von Frau und Kindern zu decken. Tatsächlich sind diese Erwartungen zu einem erheblichen Teil eingetroffen. Die Lohneinkommen stiegen stetig an, die Arbeitslosigkeit war jahrzehntelang kein Thema. Die Altersarmut, die zunächst bei Frauen noch recht hoch lag, wurde in den folgenden Jahrzehnten (1960-1980) durch steigende Witwenrenten und eigene Rentenansprüche der Frauen aufgrund eigener Erwerbstätigkeit stark vermindert. Selbst die Massenarbeitslosigkeit, die seit den 1970er Jahren in mehreren Schüben zugenommen hat, hat die Altersarmut bisher nicht wiederaufleben lassen. Nicht einmal die Belastung durch die Rentenzahlungen in den neuen Bundesländern hat bisher zu einer Verschlechterung der Lebensverhältnisse der alten Menschen in Deutschland geführt. Vielmehr wurde trotz der Belastung der Sozialversicherung durch die deutsche Einheit eine sozialpolitische Innovation von erheblicher Bedeutung verabschiedet (1994). Die soziale Pflegeversicherung hat für viele ältere Menschen zu einer deutlichen Verbesserung ihrer Lebenslage geführt. Nun mehren sich allerdings die Warnrufe, dass das soziale Sicherungssystem im Zangengriff von Massenarbeitslosigkeit und demographischer Entwicklung in Zukunft nicht mehr finanzierbar sei und nur über eine erhebliche Reduzierung der Leistungsansprüche ein Kernbestand sozialer Sicherung erhalten
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werden könne. Dies hätte erhebliche Auswirkungen auf die Lebenslage alter Menschen.
4.3 Strukturprinzipien der sozialen Sicherung heute Zentrale Prinzipien des sozialen Sicherungssystems gelten seit den Bismarckschen Reformen, sind allerdings im Prozess des sozialen Wandels neu interpretiert und aufeinander abgestimmt worden. 4.3.1
Das Subsidiaritätsprinzip
Die für die Entwicklung der deutschen Sozialordnung maßgebenden gesellschaftspolitischen Leitbilder Katholische Soziallehre, Evangelische Sozialethik, Ordoliberalismus und freiheitlicher Sozialismus favorisieren alle das Subsidiaritätsprinzip, allerdings in jeweils unterschiedlicher Ausprägung. Kernelement des Prinzips ist das Recht und die Pflicht zur Selbsthilfe (Selbsthilfeprinzip). Das Solidarprinzip der gegenseitigen Verantwortung der Mitglieder einer Gesellschaft untereinander tritt hinzu. Es existiert die Verpflichtung der Gesellschaftsmitglieder Hilfe, wenn möglich Hilfe zur Selbsthilfe, zu leisten. Das eigentlich besondere am Subsidiaritätsprinzip ist jedoch die Forderung, die sozialen Aufgaben möglichst dezentral zu lösen, also das, was die kleineren Gemeinwesen leisten können, nicht auf den Gesamtstaat zu übertragen. Dieser soll allerdings die Voraussetzungen (vor allem öffentliche Bildung) schaffen, ohne die die Eigenvorsorge der Bürger nicht funktionieren kann (Hilfe zur Selbsthilfe). In welcher Ausprägung findet sich das Subsidiaritätsprinzip in der heutigen Sozialordnung? Die Gestaltung ist für Arbeitnehmer und Selbständige (und Vermögende) unterschiedlich. Arbeitnehmer sind zur Selbsthilfe durch Erwerbsarbeit verpflichtet. Daran knüpft die Pflicht zur Risikovorsorge, die Pflichtversicherung in den fünf Sozialversicherungen. Tritt ein Risiko, z. B. nachlassende Leistung im Alter ein, hat der Arbeitnehmer durch seine Beiträge selbst vorgesorgt und hat Ansprüche auf eine Altersrente. Ist diese Rente nicht ausreichend zur Existenzsicherung, wird geprüft, ob etwa Vermögen vorliegt oder in seiner kleinen Lebensgemeinschaft (Ehepartner, Kinder) andere Einkommen anfallen, so dass diese Gruppe belastbar genug ist, ihren Unterhaltspflichten nachzukommen. Erst wenn die kleinen Gemeinschaften überfordert sind, kommt die Verpflichtung des Staates zum Tragen, eine aus Steuern finanzierte Grundsicherung im Alter nach dem Fürsorgeprinzip zu garantieren.
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Der soziale Wandel und der damit einhergehende Wertewandel haben in der Vergangenheit die konkrete Ausprägung des Subsidiaritätsprinzips verändert. So hat die Entwicklung zur Kleinfamilie dazu geführt, dass die gegenseitigen Unterhaltsansprüche immer mehr auf die Kernfamilie (Eltern und Kinder) reduziert wurden. Aktuell finden folgende Entwicklungen statt. Der Anteil der Menschen, die Kinder erziehen, ist stark gesunken. Gleichzeitig leben immer mehr Bürger in unehelichen Gemeinschaften. Eine Grundsicherung im Alter, die den Ehepartner und die Kinder zur Unterstützung heranzieht, stößt auf Bedenken nach dem Gleichheitsgrundsatz. Kinderlose und uneheliche Partnerschaften haben hier Vorteile. In diesen Fällen wurden schon Konsequenzen durch den Gesetzgeber gezogen. Partnerschaften wurden im Sozialgesetzbuch zum gegenseitigen Unterhalt verpflichtet und bei der Grundsicherung im Alter wird seit 2003 nur dann noch auf das Einkommen der Kinder zurückgegriffen, wenn diese sehr gut verdienen. Anders sieht es u.a. noch bei der Altenpflege aus. Hier hat das Verfassungsgericht erneut bestätigt, dass die Kinder vom Sozialamt sich an den hohen Kosten der Heimpflege ihrer Eltern prinzipiell beteiligen müssen. Dieser Wandel in der konkreten Ausgestaltung bedeutet nicht, dass das Subsidiaritätsprinzip als solches auf dem Prüfstand steht. Der Zeitgeist weht eher in die Richtung einer verstärkten Forderung nach Eigenverantwortung der Bürger und ihrer Lebensgemeinschaften. Die lange Zeit von den Grünen vertretene Forderung nach einem „Bürgergeld“ war eine klare Absage an das Subsidiaritätsprinzip, da jeder Bürger ohne Bedürftigkeitsprüfung ein auskömmliches Grundeinkommen vom Staat erhalten sollte. Dieser Angriff auf die Leitidee der deutschen Sozialordnung hat wenige Chancen. Eher werden sich eine weitere Individualisierung und Stärkung der Eigenverantwortung in folgender Form durchsetzen. Die Eltern werden von der materiellen Versorgung ihrer Kinder freigestellt und diese erhalten ein auskömmliches eigenes Einkommen als Kredit aus einer gesellschaftlichen Kinderkasse. Später als Erwerbstätige tilgen die Bürger ihren Kinderkredit und finanzieren so den Kredit an die neue Kindergeneration. Damit versorgt sich Jeder selbst von der Wiege bis zur Bahre und die sozialen Sicherungseinrichtungen (Kinderkasse und Rentenversicherung) sind die institutionellen Garanten einer quasi vollständigen Selbstversorgung. Unterhaltsansprüche in der Familie sind dann als überholt anzusehen. Diese Ideen wurden schon früh von Wilfried Schreiber (1964) entwickelt und stoßen heute auf immer mehr Interesse.
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Das Sozialversicherungsprinzip
Die Sozialversicherung bildet eine fast ideale Umsetzung der Forderungen des Subsidiaritätsprinzips nach individueller Verantwortung, Eigenvorsorge und solidarischer Hilfe. Das Sozialversicherungsprinzip ist das dominante Gestaltungsprinzip der deutschen Sozialordnung. Die Sozialversicherung ist eine Kombination aus dem Äquivalenzprinzip der privaten Versicherung und dem Solidarprinzip einer Umverteilung der Lasten zugunsten bestimmter Gruppen. Zwei andere Grundtypen sozialer Sicherung lassen sich unterscheiden (Esping-Andersen 1990). Die angelsächsische Konstruktion nach dem Fürsorgeprinzip wird als liberaler Typ des Wohlfahrtsstaates bezeichnet. Die Verpflichtung zur Selbsthilfe überwiegt eindeutig. Eine Umverteilung nach dem Solidarprinzip wird auf das Notwendigste beschränkt, Sozialtransfers dienen zur Verhinderung absoluter Armut und werden nur nach einer strengen Bedürftigkeitsprüfung gewährt. Der dritte Gestaltungstypus greift auf das Versorgungsprinzip zurück (Beispiel: Dänemark). Sozialleistungen werden für alle Bürger oder bestimmte Gruppen ohne eine Bedürftigkeitsprüfung aus Steuern finanziert. Ein Altersversorgungssystem zahlt typischerweise eine gleiche Grundrente an alle. Da die Grundrenten zumeist eher niedrig angesetzt werden, ist auch hier eine ergänzende private Eigenvorsorge der Bürger notwendig, wollen sie ihren Lebensstandard im Alter sichern. Da die steuerfinanzierte Grundrente nicht von einer individuellen Vorleistung abhängig ist, wie die Rente in einem Sozialversicherungssystem, in dem die Versicherten Beiträge zahlen, gilt das Leistungsniveau in einem Versorgungssystem als stärker krisenanfällig. So stehen in Deutschland nach einem Urteil des Verfassungsgerichts die durch Beiträge erworbenen Rentenansprüche unter dem Eigentumsschutz des Grundgesetzes. Eine Senkung der Renten nach Haushaltslage wie in Versorgungssystemen ist damit unmöglich. Allerdings sind auch die Renten in Sozialversicherungssystemen nicht vor staatlichen Eingriffen geschützt, wenn diese zur Systemstabilisierung notwendig erscheinen. Die deutsche Sozialversicherung gliedert sich in fünf selbständige Zweige: Gesetzliche Renten-, Kranken-, Unfall-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung. Sie ist immer noch weitgehend eine Arbeitnehmer-Sozialversicherung. Es gilt eine Versicherungspflicht zum Teil für alle Arbeitnehmer, zum Teil für bestimmte Gruppen, zum Teil sogar für fast alle Bürger (Pflegeversicherung). Die Reform zu einer umfassenden Bürger-Sozialversicherung ist zurzeit in der politischen Diskussion.
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Das Solidarprinzip ist in den fünf Zweigen unterschiedlich stark entwickelt. Durch die Konstruktion eines einheitlichen Beitragssatzes für alle Versicherten bezogen auf das Arbeitseinkommen steigt die Beitragshöhe mit steigenden Einkommen (bis zu einer Bemessungsgrenze). Monetäre Sozialtransfers sind stark nach dem Versicherungsprinzip äquivalenter Leistung und Gegenleistung (Äquivalenzprinzip) gestaltet. Arbeitnehmer, die mehr verdienen, zahlen höhere Beiträge und erwerben dadurch höhere Transferansprüche. Bei den Sach- und Dienstleistungen, die in der Kranken- und Pflegeversicherung dominieren, ist dagegen das Solidarprinzip stark ausgeprägt. Unabhängig von der Beitragshöhe haben alle Versicherten den gleichen Anspruch auf z.B. ärztliche Behandlung. 4.3.3
Das Fürsorgeprinzip in der Grundsicherung
Die letzte Bastion gegen Armut und Verelendung bildet ein System der Grundsicherung in Deutschland. Mit den Sozialreformen im letzten Jahrzehnt wurde ein gegliedertes System sozialer Grundsicherung gegen Armut geschaffen:
Die neue Sozialhilfe, Die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, Die Grundsicherung für Arbeitsuchende: Arbeitslosengeld II (und Sozialgeld) für erwerbsfähige Bürger und die Gesonderte Grundsicherung für Asylbewerber (1993) (abgesenktes Niveau und Sachleistungsprinzip).
Die steuerfinanzierten Leistungen werden dem Fürsorgeprinzip entsprechend nur nach einer Bedürftigkeitsprüfung gewährt. Die Sicherungssysteme sollen für die jeweils betroffenen Gruppen das kulturelle Existenzminimum garantieren. Es soll dem Hilfsbedürftigen die Führung eines Lebens ermöglichen, welches der Würde des Menschen entspricht. Das Asylbewerberleistungsgesetz garantiert in den ersten drei Jahren nach Asylantrag allerdings nur ein geringeres Versorgungsniveau.
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4.4 Grundprobleme im Sozialen Sicherungssystem 4.4.1
Der halbierte Generationenvertrag
Ein Grundanliegen Oswald von Nell-Breuning1 (1979) bestand darin, deutlich zu machen, dass ein nachhaltiger Generationenvertrag nicht nur darauf basiert, dass die gerade aktive Generation die Sicherung der Alten garantiert. Genau so bedeutsam ist die Verpflichtung dieser mittleren Generation, die heranwachsende Generation zu zeugen, zu versorgen und zu erziehen. Die erste Aufgabe wird heute zum erheblichen Teil gesamtgesellschaftlich über das soziale Sicherungssystem (Renten- Kranken- und Pflegeversicherung) organisiert, während die zweite Aufgabe noch weitgehend in Familienselbsthilfe geschieht, da der staatliche Familienlastenausgleich den Familien allenfalls 3525% (nach Einkommenshöhe gestaffelt) dieser Last abnimmt. Dem deutschen sozialen Sicherungssystem liegt nach Nell-Breuning ein „halbierter“ Generationenvertrag zugrunde, der so lautet: Die aktive Generation zahlt Beiträge, aus denen die Rentnergeneration mit Einkommen und sozialen Diensten (Rente, Pflege, Gesundheitsleistungen) versorgt wird. Dadurch entsteht ein Anspruch an die nachwachsende Kindergeneration auf entsprechende Versorgung im Alter. Dieses monetär verkürzte Äquivalenzdenken, welches nur die reinen Geldleistungen der Beitragszahler berücksichtigt, unterstellt, dass immer eine nachwachsende Generation in ausreichender Größe, entsprechender Ausbildung und Bereitschaft, diesen Generationenvertrag zu erfüllen, vorhanden ist. Damit ist die Kindererziehung zu einem Kollektivgut geworden, da das soziale Sicherungssystem nun allen Beitragszahlern – auch den Kinderlosen – Ansprüche auf eine Versorgung im Alter garantiert. Sozialökonomisch notwendig ist in jeder Gesellschaft ein Dreigenerationenvertrag. Die aktive Generation leistet einerseits vor, indem sie Kinder aufzieht, sie trägt andererseits eine Schuld ab, indem sie die ältere Generation als Gegenleistung für Bildung und Erziehung mit Einkommen und notwendigen sozialen Diensten versorgt. Nach dieser Logik leisten Kinderlose zu wenig. Sie beteiligen sich trotz des Familienlastenausgleichs nicht ausreichend an der Versorgung der Kinder, erwerben aber dennoch Rentenansprüche gegen diese Generation. Sie haben da1 Oswald von Nell-Breuning (1890-1991); Jesuit, war der Vordenker der katholischen Soziallehre und nahm erheblichen Einfluss auf die Sozialpolitik der CDU/CSU; darüberhinaus war er Zeit seines Lebens ein wachsamer Schützer der deutschen Sozialordnung und des sozialen Fortschritts.
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durch im Schnitt einen höheren Konsumstandard, da sie zudem keine Unterbrechung der beruflichen Karriere erleiden. Da sie mehr und höhere Rentenbeiträge einzahlen, erwerben sie auch höhere Rentenansprüche. Mit steigender Kinderlosigkeit steigt die künftige Altenlast und das soziale Sicherungssystem wird unterminiert. Die Kindererziehung ist ein unverzichtbarer Naturalbeitrag zur Sicherung des Sozialsystems. Borchert (1993) fordert daher, den Menschen, die bereit sind Kinder aufzuziehen, müsse aus Gründen der Leistungsgerechtigkeit diese Leistung auch im Renten- oder Pflegesystem angerechnet werden. Verschiedene Reformvorschläge zielen darauf ab, die künftige Mehrbelastung, die aus der demographischen Entwicklung entsteht, aus Gründen intragenerativer Verteilungsgerechtigkeit zu einem gewissen Teil den Kinderlosen aufzubürden. Das Bundesverfassungsgericht hat in verschiedenen Urteilen seit 1992 den Gesetzgeber verpflichtet, die Leistung der Kindererziehung in der Rentenund Pflegeversicherung höher zu bewerten. Dies kann im Rahmen des bestehenden Systems durch eine verbesserte Anrechnung von Kindererziehungszeiten geschehen, wie es in den Rentenreformgesetzen von 1997 und 2001 verwirklicht wurde. In der Pflegeversicherung müssen Kinderlose seit 2005 einen höheren Beitragssatz zahlen. 4.4.2
Umlagefinanzierung oder Kapitaldeckung
Die Finanzierung der Sozialversicherung erfolgt nach dem Umlageverfahren. Die Beiträge werden in der gleichen Periode zur Finanzierung der laufenden Leistungsausgaben verwendet. Für neoliberale Ökonomen ist das kein nachhaltiges Finanzierungsverfahren. Vorgeschlagen wird deshalb der Umbau der Finanzierung zu einem einen Kapitalstock bildenden System. Folgende Vorteile eines Kapitalgedeckten Systems werden genannt. Eine Vorsorge aus privatem Sparen garantiere, dass die Eigentumsrechte gegen staatliche Kürzungen oder Umverteilungsbestrebungen besser geschützt seien, dass höhere Renditen und damit Renten über den Zinseszinseffekt zu erzielen wären, in modernen Gesellschaften der Kapitalmarkt die optimale Vorsorge im Vergleich zur Versichertengemeinschaft oder einem „Generationenvertrag“ biete und sich die Wachstumsrate des Volkseinkommens durch das gestiegene Sparvolumen erhöhen ließe. Gerhard Mackenroth (1952) verteidigte das Umlagesystem mit dem Argument, jeder Sozialaufwand (Sozialtransfer) könne nur aus dem Sozialprodukt (der Wertschöpfung) der laufenden Periode bestritten werden. Das gelte auch für Renten, die aus einem angesparten Kapitalstock finanziert werden sollen. Nach
4 Die soziale Sicherung alter Menschen in Deutschland
125
der zeitlichen Phase des Ansparens stehe eben kein Kapitalstock in konsumierbarer Form zur Verfügung. Das angesparte Vermögen muss erst einen Käufer finden, der aus seinem laufenden Einkommen den Kauf finanziert. Mackenroth und keynesianisch orientierte Ökonomen2 sehen aus diesem Grund Vorteile beim Umlageverfahren im Vergleich zum Kapitaldeckungsverfahren.
Es biete einen besseren Schutz vor Inflation und Katastrophen, wie die Erfahrungen im 20 Jahrhundert eindrücklich belegen. Die Bildung des zur Deckung notwendigen riesigen Kapitalstocks sei nur über eine deutlich erhöhte Sparquote möglich. Das führe zu Nachfrageausfällen, wenn nicht Investitionen das Sparkapital verwerten. Da aber Investitionen auf steigenden Massenkonsum zielen, dieser aber gerade durch erhöhtes Sparen stagniert, kann es zu Absatzstockungen und einer Wirtschaftskrise in der Aufbauphase kommen. In der Keynesschen Theorie entscheiden die Investitionen über die Höhe der Ersparnis und nicht umgekehrt. Damit ist es überhaupt sehr fraglich, ob durch den Versuch eines erhöhten Sparens volkswirtschaftlich tatsächlich mehr Kapital gebildet wird. Wenn alle entwickelten Länder – die übrigens alle ähnliche demographische Probleme verkraften müssen – gleichzeitig einen zusätzlichen Kapitalstock aufbauen wollten, wäre eine rezessive krisenhafte Entwicklung der Weltwirtschaft zu erwarten. Das Risiko des Vermögensverlustes sei mit dem letzten Aktiencrash (2001) noch einmal sehr deutlich geworden. Die kapitalgedeckten Systeme (z.B. in Großbritannien) gerieten in Bedrängnis, das Sparkapital ging zum Teil verloren und viele Pensionäre „standen vor dem Abgrund“. Nach der Anspar- folgt die Auflösungsphase. Bei der gegenwärtigen demographischen Entwicklung wird das Verhältnis von Sparern (Aktive) und Entsparern (Rentner) immer ungünstiger. In Zukunft werden die Entsparprozesse deutlich zunehmen. Durch die Auflösung eines erheblichen Teils des Kapitalstocks würden nun Vermögenswerte (Aktien, Rentenpapiere) verstärkt angeboten. Ein Preis- (Kurs-)verfall drohe, der das Kapital stark entwerten könnte, so dass die Sicherheit der Altersrenten gefährdet sei. Damit sei klar, dass auch ein Kapitaldeckungssystem von der demographi-
2 Keynesianer sind Ökonomen, die in der Denktradition von John Maynard Keynes (1883-1946) stehen. Keynes (Hauptwerk 1936) gilt als einer der bedeutenden Ökonomen des 20. Jahrhunderts, der mit der heute wieder vorherrschenden Lehrmeinung der Neoklassik gebrochen und ein eigenes makroökonomisches Paradigma (Theoriegebilde) begründet hat, welches die Bedeutung der Nachfragseite in der Volkswirtschaft betont.
126
4 Die soziale Sicherung alter Menschen in Deutschland
schen „Zeitbombe“ nicht weniger stark belastet werden könnte und gerade seine Nachhaltigkeit in Frage zu stellen sei. Das Umlageverfahren ermögliche solidarische Umverteilungsprozesse zugunsten sozial Schwacher oder anderer Gruppen durch den Staat.
Letztlich führt eine radikale Reform des Übergangs vom Umlage- zum kapitalgedeckten System zu erheblichen Zusatzlasten der gerade aktiven Generation. Diese muss die alten Ansprüche weiter erfüllen, gleichzeitig für sich selbst einen Kapitalstock aufbauen und soll dann noch Kinder aufziehen. Das ist ohne Zweifel eine starke Überforderung. Allenfalls ist eine ergänzende private Kapitalbildung, wie sie mit der „Riesterrente“ staatlich gefördert wird, zumutbar.
4.5 Soziale Sicherung der Einkommen im Alter – die Gesetzliche Rentenversicherung (GRV) 4.5.1
Aufbau, Ziele und Leitprinzipien der GRV
Den Kern der sozialen Alterssicherung bildet die Gesetzliche Rentenversicherung. Sie besteht aus der Arbeiterrentenversicherung, der Angestelltenrentenversicherung und der Knappschaftlichen Rentenversicherung für die Bergleute. Für selbständig Erwerbstätige bestehen in der Bundesrepublik einige besondere Trägerschaften: die Altershilfe für Landwirte, die Handwerkerversicherung und die Versicherungen freier Berufe. Es besteht Versicherungspflicht für alle Arbeitnehmer (wenige Ausnahmen). Selbstständige haben die Möglichkeit des freiwilligen Beitritts zur GRV. Die Alterssicherung der Beamten wird aus Steuern finanziert und fällt damit als Versorgungssystem aus dem üblichen Rahmen der Sozialversicherungslösung. Diese Rentensysteme stellen sehr unterschiedliche Leistungen (Rentenhöhe) bereit. Hauptaufgabe der GRV ist die Finanzierung von Sozialrenten, also von Einkommenstransfers an anspruchsberechtigte Versicherte und Hinterbliebene: Erwerbsminderungsrenten bei Invalidität, Altersruhegeld, Witwen- und Waisenrenten. Hinzu tritt die Finanzierung von Sachleistungen in Form von Rehabilitationsmaßnahmen, Heilverfahren zur Gesunderhaltung und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit. Die Ziele der sozialen Rentenversicherung sind von der Politik mit den jüngsten Reformen von 2001 und 2004 deutlich verändert worden:
4 Die soziale Sicherung alter Menschen in Deutschland
4.5.2
127
Angestrebt wird eine angemessene Grundsicherung oberhalb des Existenzminimums. Das seit 1957 angestrebte Ziel der Sicherung des Lebensstandards im Alter ist aufgegeben worden. Neues Ziel ist die Realisierung eines angemessenen Rentenniveaus im Alter unter der Voraussetzung langer (über 40jähriger) Erwerbstätigkeit. Die Rente soll eine noch deutlich über der Sozialhilfe liegende Grundsicherung bilden. Die Sozialrente wird künftig den gewohnten Lebensstandard nicht mehr decken. Betriebsrenten und private Vorsorge, die steuerlich begünstigt wird, sollen die Einkommenslücke im Alter schließen. Das Teilhabeziel bezieht sich auf die Dynamisierung der Renten, die Anpassung an die allgemeine Lohnentwicklung, so dass die Rentner am Einkommenswachstum der Aktiven angemessen beteiligt werden und gleichzeitig die Renten möglichst nicht durch die Inflation entwertet werden. Die Einhaltung dieses Ziels hat jedoch keine besondere Priorität für die Politik, wie die fehlenden Rentenanpassungen der letzten Jahre klar erkennen lassen. Die Sicherheit der Renten: Die Grundlage bildet ein sog. Generationenvertrag. Durch Zahlung des Rentenbeitrags werden dem Versicherten individuelle, einklagbare Rentenansprüche an die Solidargemeinschaft der Versicherten gutgeschrieben. Diese Ansprüche sind bei Invalidität oder im Alter von der Versichertengemeinschaft einzulösen. Darüber hinaus ist auch der Staat verpflichtet, diese Ansprüche wie Eigentumsansprüche zu behandeln und auch in schwierigen ökonomischen Zeiten so gut wie möglich einzulösen. Im Generationenvertrag versorgt die erwerbstätige aktive Generation die ältere Rentnergeneration über Transferzahlungen (Einkommensübertragungen) mit Einkommen. Dies geschieht in der durch Gesetz und Verfassung abgesicherten Erwartung, dass die nachrückende junge Generation diese Pflicht ebenso übernehmen wird und so fort. Der gesetzlich fixierte Pflichtcharakter dieses Systems sichert der jeweils leistenden Generation zukünftige, der empfangenden Generation gegenwärtige Transferleistungen. Rentenhöhe nach Vorleistung – die Rentenformel
Die Rentenformel – das Herzstück der GRV − lautet: Monatsrente in Euro = Ep x aRW x RaF x ZF3
3 Ep = Entgeltpunkte, aRW = aktueller Rentenwert; RaF = Rentenartfaktor; ZF = Zugangsfaktor.
128
4 Die soziale Sicherung alter Menschen in Deutschland
Entgeltpunkte (EP) werden jedem Versicherten für seine Beiträge zur GRV gutgeschrieben. Je höher das Gehalt ist, umso höher ist die monatliche Beitragssumme und entsprechend sind es auch die gutgeschriebenen Entgeltpunkte. Ein Arbeitnehmer, der in einem Jahr genau den Durchschnittsverdienst (Bruttoarbeitsentgelt) aller Arbeitnehmer erzielt hat, bekommt für diese 12 Monate einen Punktwert von genau 1,0 angerechnet. Hätte er stattdessen einen Jahreslohn von 90 Prozent des Durchschnittsverdieners erzielt, bekäme er entsprechend 0,9 Entgeltpunkte angerechnet. Beispiel: Hat ein Arbeiter 40 Jahre lang gearbeitet, Beiträge gezahlt und in jedem Jahr genau 90 Prozent des durchschnittlichen Arbeitnehmereinkommens verdient, dann errechnen sich die gesamten Entgeltpunkte des Arbeiters wie folgt: 40 Versicherungsjahre x 0,9 Entgeltpunkte pro Jahr = 36,00 Ep. Der aktuelle Rentenwert (aRW) ist ein Geldbetrag, der jedes Jahr nach einer Formel (Rentenanpassungsformel) neu berechnet und der volkswirtschaftlichen Lohnentwicklung angepasst wird. Durch diese Dynamisierung steigt bei normaler ökonomischer Entwicklung der aktuelle Rentenwert jedes Jahr ein wenig an. In den Jahren 2003 bis 2007 blieb er aufgrund einer neuen Anpassungsformel und schwacher Lohnsteigerungen konstant. Ein Absinken ist bisher politisch verhindert worden, jedoch nicht gesetzlich ausgeschlossen. Der aRW gibt den monatlichen Betrag der Altersrente in Euro an, den derjenige Altersrentenbezieher tatsächlich erhält, der für ein Jahr genau den Durchschnittsbetrag aller Versicherten entrichtet hat. Im Jahr 2007 beträgt der aRW in Westdeutschland 26,13 Euro und in den neuen Bundesländern 22,97 Euro. Der Rentenartfaktor (RaF) stuft die Rentenhöhe danach ab, welche Rentenart beantragt wird. Er beträgt z.B. für die Altersrenten 1,0 und für die große Witwen/Witwerrente 0,55 (bzw. für ältere Jahrgänge 0,6). Der Zugangsfaktor (ZF) berücksichtigt das Alter des Versicherten bei Rentenbeginn. Er mindert die Rente bei vorzeitigem und erhöht sie bei späterem Rentenbeginn. Die Regelaltersgrenze beträgt derzeit 65 Jahre. Sie soll von 2012 bis 2029 stufenweise auf 67 Jahre erhöht werden. Ein vorzeitiger Rentenbezug ist nur mit Abschlägen möglich, sodass die Frühverrentung umso teurer wird, je früher man in Rente geht. Bald können nur noch langjährig Versicherte, die mindestens 35 Jahre Beitragszeit nachweisen, vorzeitig und zwar frühestens mit der Vollendung des 62. Lebensjahrs in den Ruhestand gehen (flexible Altersgrenze).
129
4 Die soziale Sicherung alter Menschen in Deutschland
Wer vorzeitig in Rente geht, muss also versicherungsmathematische Abschläge in Höhe von 0,3 Prozentpunkten pro Monat in Kauf nehmen. Bei einer Erwerbstätigkeit über die Regelaltersgrenze von 65 Lebensjahren hinaus wird die Rente um 0,5 % pro Monat erhöht. Kehren wir zu unserem Beispiel zurück: Unterstellen wir einmal, unser Arbeiter sei mit Vollendung seines 62. Lebensjahres in Altersruhe gegangen. Für diese drei Jahre vorzeitigen Rentenbezugs muss er einen Abzug von 10,8 Prozent (36 Monate x 0,3%) hinnehmen, so dass sein Zugangsfaktor auf 1,000 - 0,108 = 0,892 sinkt. Wir setzen jetzt alle Werte in die Rentenformel ein und berechnen seine Monatsrente (MR). MR
=
Ep
x
aRW
x
RaF
x
ZF
839,09 Euro
=
36
x
26,13 Euro
x
1,0
x
0,892
Der Einkommensverlust durch die vorzeitige Verrentung ist beträchtlich: Gerade für ältere Bürger, die nicht so viele Entgeltpunkte in ihrem Erwerbsleben sammeln konnten, wird die Versorgung kritisch. Dies ist gewollt, soll doch die Lebensarbeitszeit durch solche Anreize wieder verlängert werden. Nicht nur gering entlohnte Arbeiter werden sich in Zukunft eine Verkürzung der Lebensarbeitszeit kaum noch leisten können. Über die Lebenslage vieler alter Frauen entscheidet die Höhe der Witwenrente. Man unterscheidet die große und die kleine Rente. Anspruch auf die große Rente hat der hinterbliebene Ehepartner, wenn er über 45 Jahre alt oder erwerbsunfähig ist oder solange er ein Kind zu betreuen hat. Hat die Witwe/der Witwer ein eigenes Erwerbs-, Renten- oder Pensionseinkommen, das einen Freibetrag überschreitet, wird es zu 40 Prozent auf die Hinterbliebenenrente angerechnet.
130
4 Die soziale Sicherung alter Menschen in Deutschland
Tabelle 9:
Eckwerte der Rentenversicherung (Westdeutschland)
Jahr
Beitragsbemessungsgrenze West(1)
Beitragsbemessungsgrenze (Ost)
1990
3221
1534
20,24
10.79
910,80
485,55
18,7
1995
3988
3272
23,64
18,58
1063,80
836,10
18,6
2000
4379
3630
24,84
21,61
1117,80
972,45
19,3
2005
5200
4400
26,13
22,97
1175,85
1033,65
19,5
2007
5250
4550
26,13
22,97
1175,85
1033,65
19,9
Aktueller Aktueller Rentenwert Rentenwert (West) (Ost)
Standardrente im Monat (West)
StandardBeirente im tragsMonat satz (Ost) in %(2)
(1) Der Beitragssatz in Höhe von 19,9% (2007) wird nur bis zu einer Einkommenshöchstgrenze angelegt. Versicherte, die 5250 Euro oder mehr verdienen, bezahlen einen maximalen Beitrag von 1045 Euro (Westdeutschland). Damit werden auch die späteren Rentenansprüche gedeckelt. (2) Man unterscheidet formal den hälftigen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteil; Quellen: StatBA; Institut der deutschen Wirtschaft, Zahlen zur wirtschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland 2006, Tabelle 6.19.
4.5.3
Steigende Renten oder niedrige Beiträge
Der aktuelle Rentenwert ist dynamisiert und folgt der durchschnittlichen Lohnentwicklung mit der Verzögerung von einem Jahr (vgl. Tabelle 9). Die genaue Rentenanpassungsformel wurde in den Reformen seit 2001 mehrfach verändert und ist inzwischen bis auf Unverständlichste modifiziert worden. Letztlich ging es bei allen Reformen im letzten Jahrzehnt darum, den Rentenbeitragssatz zu stabilisieren. Um dies zu erreichen, durften die Renten nicht zu stark steigen. Es wurden Absenkungsfaktoren in die Formel geschrieben. Dabei ging es politisch immer darum, die Belastung für die aktiven Beitragszahler zu senken, und den Beitragssatz zu stabilisieren, um einen Anstieg der Lohnnebenkosten zu vermeiden. Die letzte Korrektur erfolgte 2005 durch die Einbeziehung eines sog. Nachhaltigkeitsfaktors. Die Bundesregierung folgte dabei der Rürup-Kommission, die vorschlug, jährlich die Veränderungen in der Relation von Rentnern zu Beitragszahlern (Rentner/Beitragszahlerquote) bei der Berechnung des aktuellen Rentenwerts mit zu berücksichtigen.
4 Die soziale Sicherung alter Menschen in Deutschland
131
Während die steigende Lebenserwartung zu einer Verlängerung der Zeiten des Rentenbezugs führt, bringt die hohe Arbeitslosigkeit Beitragsausfälle. Um steigende Beiträge zu verhindern, korrigiert der Nachhaltigkeitsfaktor automatisch die Höhe der Rentenanpassung nach unten, wenn die Relation der Zahl der Rentner zu der Zahl der Beitragszahler ansteigt. Allerdings würde bei sinkender Arbeitslosigkeit und steigender Beschäftigungsquote der Rentenanstieg dann höher ausfallen als bisher. 4.5.4
Umlagefinanzierung und Teilhabeäquivalenz
Die Finanzierung der Renten erfolgt über Beiträge der Versicherten und ihrer Arbeitgeber und über Bundeszuschüsse, die aus Steuern finanziert werden. Die Beiträge werden bis zu einer dynamisierten Beitragsbemessungsgrenze (vgl. Tabelle 9) der Versicherten erhoben. Der Beitragssatz wird jährlich neu berechnet und den erwarteten Ausgaben und Einnahmen entsprechend angepasst. Arbeitgeberund Arbeitnehmeranteil machen 2007 zusammen 19,9% aus. Wer aufgrund seiner Einkommenshöhe bei gleichem Beitragssatz absolut einen höheren Beitrag in Euro zahlt, erhält mehr Entgeltpunkte und bekommt später eine höhere Rente ausgezahlt. Hier gilt also eine Form des Äquivalenzprinzips. Man spricht von einer Teilhabeäquivalenz. Leistung (Beitragssumme) und Gegenleistung (Rente) sind zwar nicht wie bei einer idealen privaten Versicherung vollkommen ausgeglichen, da auch in der GRV das Solidarprinzip das Versicherungsprinzip überlagert. Die Umverteilung bleibt aber moderat und die Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung weitgehend erhalten. Die Art der Finanzierung wird als Umlageverfahren bezeichnet. Im Gegensatz zum Kapitaldeckungsverfahren werden hier die Einnahmen jedes Jahres zur Deckung der laufenden Ausgaben herangezogen. Es wird kein Kapitalstock angespart, der Zinsen bringt und später, wenn die Renten gezahlt werden, wieder aufgelöst werden kann. Im GRV-System wird nur eine geringe Rücklage vorgehalten, die als Reserve kleinere Einnahmeschwankungen ausgleichen soll. Der Bundeszuschuss ist dynamisiert und wird an die Entwicklung von Beitragssatz und Löhnen angepasst. Er dient dazu, sog. versicherungsfremde Leistungen der Rentenversicherung (u. a. Rente wegen Kindererziehung) zu finanzieren.
132
4.5.5
4 Die soziale Sicherung alter Menschen in Deutschland
Vermeidung von Armut im Alter
Das wohl wichtigste Ziel einer Rentenversicherung sollte die Vermeidung von Altersarmut sein. Ein Blick auf die Durchschnittsrenten zeigt, dass die Versichertenrenten der Männer deutlich über dem Existenzminimum der Sozialhilfe liegen. Im Durchschnitt beträgt der Anspruch eines alleinlebenden Sozialhilfeempfängers aktuell (2005) etwa 630 Euro im Monat (einschließlich Regelsatz, Wohnen, Heizung). Nun streuen die Renten je nach Erwerbsbiographie und der Vorleistung der Bürger erheblich um diesen Mittelwert. Auch heute noch gibt es viele Rentnerinnen, die keine oder nur eine kleine eigene Rente haben und vor allem auf ihre Witwenrente angewiesen sind. Die Zahl alter Menschen, die ergänzend Sozialhilfe beantragen müssen, ist zwar deutlich gesunken, aber es gibt eine hohe Dunkelziffer von Rentnern, die obwohl bedürftig, nicht zum Sozialamt gehen. Um der verschämten Altersarmut zu begegnen, wurde die Grundsicherung im Alter auf eine neue Grundlage gestellt (vgl. dazu Kapitel 4.5). Tabelle 10:
Rentenhöhen in der GRV (monatlich in Euro) West
Ost
Jahr
1990
2005
2005
Brutto-Standardrente
911
1176
1034
Durchschnittliche Altersrente Männer
869
1048
1023
Durchschnittliche Altersrente Frauen
374
495
661
Durchschnittliche Witwenrente (2004)
469
553
562
Quelle: IdW, Deutschland in Zahlen 2006, Tabelle 6.19 und 7.21.
Mit der steigenden Erwerbsbeteiligung der Frauen und der Dynamisierung der Renten hat sich die Einkommenssituation älterer Menschen im Laufe der Zeit recht deutlich verbessert und die bis in die 1960er Jahre verbreitete Altersarmut wurde deutlich zurückgeführt. Allerdings muss man sich inzwischen Gedanken machen, ob bei wachsender geringfügiger Beschäftigung, einem großen Niedriglohnsektor und hoher Arbeitslosigkeit das Problem der Unterversorgung im Alter wieder aktuell werden könnte. Vieles hängt hier von der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt ab. Massenarbeitslosigkeit kann in Zukunft Altersarmut wieder befördern. Zwar zahlt die Arbeitsagentur für Arbeitslose Beiträge in die Sozi-
4 Die soziale Sicherung alter Menschen in Deutschland
133
alversicherung. Diese sind allerdings vor allem beim Arbeitslosengeld II extrem niedrig, so dass nur sehr geringe Rentenansprüche entstehen. Die meisten Prognosen zur langfristigen Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt gehen allerdings wegen der sinkenden Zahl von Erwerbsfähigen (sinkendes Arbeitsangebot) von einer deutlichen Reduktion der Arbeitslosigkeit aus. Die Profession der Ökonomen führt Arbeitslosigkeit ohnehin auf eine fehlerhafte Wirtschaftspolitik zurück. Zwar streiten sich neoklassisch/neoliberal und keynesianisch orientierte Ökonomen, welche Reformen konkret notwendig sind4. Beide Gruppen sind sich jedoch einig, dass die Rückkehr zur Vollbeschäftigung weder durch den technischen Fortschritt noch durch die Globalisierung prinzipiell gefährdet ist5. 4.5.6
Bevölkerungsentwicklung, Rentenlast und Lebensstandard im Alter
Mit der bahnbrechenden Rentenreform von 1957 wurde das ehrgeizige Ziel der Sicherung des Lebensstandards im Alter anvisiert. Denjenigen, die auf ein langes Erwerbsleben zurückblicken können, sollte diese Perspektive innerhalb der sozialen Rentenversicherung garantiert werden. Mit dem Indikator „Standardrente“ wird der Grad der Erreichung dieses Ziels überprüft. Unter der Standardrente ist eine Rente zu verstehen, die derjenige erhält, der 45 Jahre lang als Durchschnittsverdiener gearbeitet und Beiträge gezahlt hat und nicht frühzeitig in den Ruhestand tritt. Wir berechnen die Bruttostandardrente für 2006 nach der Rentenformel: Bruttostandardrente (West) (2006) = 45 x 26,13 Euro x 1 x 1 = 1175,85 Euro Mit dem Indikator „Rentenniveau vor Steuern“ wird geprüft, ob das Sicherungsziel der Rentenversicherung erreicht oder verfehlt wird. Das Rentenniveau vor Steuern beschreibt das Verhältnis zwischen der Bruttostandardrente – vermindert um die Sozialabgaben der Rentner und dem Durchschnittsentgelt – vermindert um die durchschnittlich geleisteten Beiträge der Arbeitnehmer zur Sozialversicherung plus durchschnittlicher Aufwand zur staatlich geförderten privaten Altersvorsorge. 4 Neoliberale Ökonomen sehen in der Flexibilisierung der Arbeitsmärkte (u.a. Abbau von Mindestlöhnen und des Kündigungsschutzes) die Lösung, während Keynesianer vor allem eine falsche Geld- und Fiskalpolitik für die Misere verantwortlich machen. 5 Im Gliederungspunkt 4.8 wird genauer auf die zukünftige ökonomische Entwicklung eingegangen.
134
4 Die soziale Sicherung alter Menschen in Deutschland
Im Jahr 2004 lag das Rentenniveau vor Steuern bei ca. 53%. Als Untergrenze wurde in der Rentenreform 2005 die Marke von 46% vorgegeben. Droht der Wert darunter zu sinken, soll die Bundesregierung geeignete Maßnahmen dagegen ergreifen. Kritisch ist zu diesem Maßstab anzumerken, dass nur wenige Arbeitnehmer auf eine Versicherungszeit von 45 Jahren hoffen können; für die weitaus überwiegende Zahl der Arbeitnehmer ist daher der Einkommensausfall im Alter größer (vgl. die durchschnittliche Höhe der Altersrenten in Tabelle 10). Außerdem werden die jüngsten Rentenreformen auf lange Sicht eine deutliche Absenkung des Niveaus der Sozialrenten bewirken. Damit ist schon heute wahrscheinlich, dass das Mindestsicherungsziel von 46 Prozent bald in Gefahr geraten könnte. Wenn die Absicht gelingt, das durchschnittliche Renteneintrittsalter deutlich anzuheben, wäre hier ein gewisser Ausgleich geschaffen. Das aber setzt voraus, dass ältere Menschen wieder eine Chance auf dem Arbeitsmarkt erhalten. Auch das Ziel der Teilhabe der Rentner an der durchschnittlichen Einkommensentwicklung gerät immer mehr außer Sicht. Die Gründe liegen zum einen in der schwachen Lohnentwicklung der letzten Jahre und zum anderen in dem politischen Bestreben, die Beitragssätze um jeden Preis zu stabilisieren und lieber die Dynamisierung der Renten auszusetzen oder zu beschneiden. Selbst der notwendige Inflationsausgleich zur Stabilisierung des Realwerts der Renten ist inzwischen nicht mehr gewährleistet. Durch die Festschreibung des aktuellen Rentenwerts über die Jahre 2004 bis 2008 ist mit einem Realwertverlust von mindestens 9-10 Prozent zu rechnen. Da zusätzliche Belastungen hinzukommen (erhöhte Beiträge zur Pflege- und Krankenversicherung), kann man die Sorgen vieler älterer Menschen verstehen. Die Menschen leben länger und beziehen damit länger Rente. Betrug die Zeitdauer des Rentenbezugs 1960 noch im Durchschnitt 10,6 (9,6) Jahre für Frauen (Männer) im Westen, so stieg sie bis 2003 auf 18,8 (14,8) Jahre an (Osten: 21,2 (12,2)6. Da zudem in Zukunft immer mehr ältere Menschen das Rentenalter erreichen werden, sind die Sorgen um die zukünftige Finanzierung zu verstehen. Im Kapitel 3. ist ausführlich über die demographischen Trends berichtet worden. Wie die Veränderung der Altersstruktur, die zum einen durch den Rückgang der Geburtenrate und zum anderen durch die steigende Lebenserwartung bewirkt wird, das Soziale Sicherungssystem belasten wird, hängt entscheidend von der weiteren ökonomischen Entwicklung ab.
6 Institut der deutschen Wirtschaft, Deutschland in Zahlen 2005, Tabelle 7.20, S. 81, Köln.
135
4 Die soziale Sicherung alter Menschen in Deutschland
Im System existiert eine Reihe von „Stellschrauben“ und automatischen Stabilisatoren, die es ermöglichen sollten, die Probleme sozialverträglich zu bewältigen. Tabelle 11:
Bevölkerungsentwicklung, Jugend- und Altenquotient bis 2050 (in %) Altenquotient(2)
Jugendplus Altenquotient
Hochaltrigenquotient(3)
33
32
65
8,6
77,2 - 79,7
29,8 - 29,9
52 -50
82 - 80
14,8 - 14,3
68,7 - 74,0
29,1 - 29,2
64 - 60
89 - 93
28,3 - 26,0
Jahr
Bevölkerung in Mio.
Jugendquotient(1)
2005
82,4
2030(4) 2050(4)
Anzahl der unter 20jährigen bezogen auf die Bevölkerungszahl im erwerbsfähigen Alter von 20-65 Jahren, (2) Anzahl der über 65 jährigen bezogen auf die Bevölkerungszahl im erwerbsfähigen Alter, (3) Anzahl der über 80jährigen bezogen auf die Bevölkerungszahl im erwerbsfähigen Alter, (4) Der erste (zweite) Wert berechnet sich unter den Annahmen eine Netto-Zuwanderung von 100 000 (200000) pro Jahr, einer konstanten Geburtenrate (1,4) und einer Zunahme der Lebenserwartung bei Geburt von 7 Jahren bis 2050; Quelle: StatBA (2006): Der Bericht „11. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung − Annahmen und Ergebnisse, eigene Berechnungen aus Tabellenwerten in Anhang B: Varianten 1-W1 und 1-W2. (1)
In der 11. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung berechnet das Statistische Bundesamt (2006) elf Varianten einer möglichen Entwicklung. Zwei Varianten (1-W1 und 1-W2) werden vom Amt besonders herausstellt. Sie gehen beide von einer Fortsetzung des aktuellen demographischen Trends aus:
Die zusammengefasste Geburtenziffer (total fertility rate) bleibt mit 1,4 Kindern je Frau während der nächsten 50 Jahre konstant. Die Lebenserwartung bei Geburt steigt bis 2050 um etwa sieben Jahre auf 83,5 Jahre für die Jungen und auf 88 Jahre für die Mädchen.
Variante 1-W1 geht von einer Nettozuwanderung nach Deutschland von 100000 Menschen pro Jahr aus, Variante 1-W2 von einer Zuwanderung von 200000. In diesen Szenarien wird die Bevölkerung stark schrumpfen (vgl. Tabelle 11). Auch eine Zuwanderung von 200000 pro Jahr kann den Effekt nur wenig mildern. Der Altenquotient verdoppelt sich bis 2050 und Hochaltrigenquotient verdreifacht
136
4 Die soziale Sicherung alter Menschen in Deutschland
sich. Da der Jugendquotient nur noch wenig sinkt, geht davon keine starke Reduktion der Gesamtbelastung (Jugend- plus Altenquotient) aus. Die Herausforderungen für den Sozialstaat sind also erheblich. Eine steigende Rentenbelastung, höhere Krankheits- und Pflegekosten kommen mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die Gesellschaft zu. Wie sicher sind diese Prognosen? Schon eine relativ kleine Variation der Basisannahmen führt zu erheblichen Veränderungen. So zeigen die Berechnungen von Birg (2003), dass bei einer Geburtenrate von 1,4 ohne Zuwanderung die Bevölkerung bis 2050 sogar auf 59 Mio. sinken würde. 4.5.7
Reformen zur Sicherung der Nachhaltigkeit der Rentenversicherung
Mit den Rentenreformen seit 1992 sind − unabhängig von der sonstigen Bewertung − Beweise für die Fähigkeit der Politik geliefert worden, das Rentensystem zu reformieren und zu stabilisieren. Es wurde auf die Herausforderungen, die aus der demographischen Entwicklung resultieren, eingestellt und dürfte ihnen nunmehr gewachsen sein. Die Maßnahmen zur langfristigen Stabilisierung waren die Abschwächung der Dynamisierung (u.a. Nachhaltigkeitsfaktor), die Erhöhung und Dynamisierung des Staatszuschusses und eine Rentenminderung bei vorgezogenem Rentenbezug. Diese Maßnahmen haben den Nachteil, dass damit eine deutliche Absenkung des Niveaus der Sozialrenten einhergeht. Dies könnte zum Teil vermieden werden, wenn es gelänge, die Erwerbsquote (Anteil der Erwerbspersonen an der Wohnbevölkerung) der Frauen und der älteren Menschen zwischen 55-und 65 Jahren in Deutschland deutlich zu erhöhen. Sie ist im Vergleich zu vielen anderen entwickelten Ländern deutlich geringer. Gelänge es daher, die hohe Arbeitslosigkeit abzubauen, weiterhin die Erwerbsquote der Frauen deutlich zu steigern und zum dritten den vorzeitigen Ruhestand zu verringern, wäre das vorhandene Erwerbspotential der Gesellschaft besser genutzt und die Alterslast pro Aktiven deutlich reduziert. Dann könnten weitere Kürzungen des Rentenniveaus unterbleiben. Mit den Rentenreformen der letzten Jahre ist die Grenze der Frühverrentung deutlich nach hinten verschoben worden und die Anreize, länger zu arbeiten, wurden verstärkt. Der nächste Schritt wurde 2007 realisiert: die Verschiebung der Altersruhegrenze von 65 auf 67 Jahre. Die Gegenargumente beziehen sich auf die aktuelle Situation am Arbeitsmarkt. Eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit kann zu Lasten der jüngeren Arbeitnehmer gehen, wenn ältere länger im Beruf bleiben. Die Arbeitslosigkeit
137
4 Die soziale Sicherung alter Menschen in Deutschland
könnte durch die damit verbundene Erhöhung des Arbeitsangebots noch gesteigert werden. Sollte die Massenarbeitslosigkeit in absehbarer Zeit deutlich sinken, werden auch die Beiträge zur Rentenkasse wieder reichlicher fließen, so dass mittelfristig kein Bedarf an einer Verschiebung der Ruhestandsgrenze entstehen dürfte. Auf lange Sicht ist diese Stellschraube sicher ein sehr wirksames Instrument zur Stabilisierung des Systems. Aus politökonomischer Sicht ist darauf hinzuweisen, dass in einer alternden Gesellschaft auch die Wählerschaft mit altert und so in der Zukunft Reformen gegen diese Gruppe immer schwerer durchsetzbar werden. Auf lange Sicht könnte auch eine nachhaltige Familienpolitik der Geburtenförderung die Lage entspannen helfen. Wie das Beispiel nicht nur Frankreichs zeigt, hat eine ehrgeizige und effiziente Kinderförderung durchaus einen Einfluss auf die demographische Entwicklung. Tabelle 12:
Rentenszenario der Rürup-Kommission (2003) für Westdeutschland (1)
Jahr
Realer Bruttolohn (Durchschnittsentgelt pro Monat) in Euro (inflationsbereinigt)(2)
Reale Bruttostandardrente pro Monat in Euro (inflationsbereinigt)(2)
Rentenniveau vor Steuern in %
Beitragssatz in %
2003
2451
1171
52,7
19,5
2030
3957
1662
ca. 45,4
22,0
2040
4713
1875
ca. .43,7
22,9
(1) Schätzung auf der Grundlage der Rentenanpassungsformel nach den Reformen von 2004 und 2007 (Nachhaltigkeitsfaktor und Verschiebung der Altersgrenze); (2) in Preisen von 2003; Quelle: Rürup-Kommission 2003b, Tabellen 4 und 5.
In der Prognose der Rürup-Kommission (2003) (Tabelle 12) steigen die realen Bruttolöhne von 2451 Euro in 2003 auf 3957 Euro im Jahr 2030. Das ist ein Anstieg von 61% in 27 Jahren. Quelle der Einkommenssteigerung ist ein Wachstum der Arbeitsproduktivität von 1,8% pro Jahr. Wenn die Quelle des „technischen Fortschritts“ nicht versiegt – und nichts spricht dafür − ist eine deutliche Steigerung des Wohlstands in den nächsten Jahrzehnten zu erwarten. Das wirkt sich auch auf die Renten aus. Selbst wenn man das Rentenniveau – wie geplant – drastisch auf ca. 46,0% bis 2030 herunterfährt (vgl. Tabelle 12), errechnet die Rürup-Kommission eine deutliche absolute Steigerung der realen also preisbereinigten Brut-
138
4 Die soziale Sicherung alter Menschen in Deutschland
tostandardrente von 1171 auf 1634 Euro pro Monat. Das ist eine Erhöhung um fast 40 Prozent. Damit wäre das relative Rentenniveau zwar deutlich gesunken, das absolute Einkommensniveau der Rentner aber hätte sich ebenso deutlich verbessert. Private Vorsorge und Riesterrente Um die selbst geschaffenen Versorgungslücken im Alter zu schließen, fördert der Staat in Zukunft die zweite Säule der privaten Altersvorsorge in beträchtlichem Umfang. Damit will man der Falle der Lohnnebenkosten entrinnen. Dazu ist vor allem das neue Produkt der kapitalfundierten sog. Riesterrente entwickelt worden. Tabelle 13:
Riesterrente – Zulagensystem
Zeitraum
Grundzulage pro Jahr in Euro (1)
Kinderzulage pro Jahr
Mindesteigenbeitrag in % vom Bruttoeinkommen (2)
2004/2005
76
92
2
2006/2007
114
138
3
ab 2008
154
185
4
Ehepartner erhalten zwei Grundzulagen, wenn jeder einen Vorsorgevertrag abgeschlossen hat, (2) Eigene Einzahlungen müssen zusammen mit der Zulage den Prozentbetrag ergeben (sonst erfolgt eine Kürzung der Zulagen). (1)
Das Konzept folgt einem breiten Reformtrend in Europa. Neben der Sozialrente soll eine zweite Säule errichtet werden. Das Risiko der Alterssicherung wird aufgeteilt, der Generationenvertrag entlastet und durch ein kapitalfundiertes System ergänzt. Die Finanzierung erfolgt aus Nettolöhnen und Steuern, so dass die Lohnkosten nicht tangiert werden. Die Umverteilung durch das Zulagensystem zugunsten der ärmeren Schichten und der Familien ist erheblich höher als bei der Sozialrente (GRV). Nach schwachem Start ist die Riesterrente inzwischen in den Mittelschichten angenommen worden. Es bleiben allerdings erhebliche Versorgungslücken gerade bei den unteren Einkommensgruppen bestehen. Das Zulagensystem (Tabelle 13), obwohl recht großzügig dotiert, erscheint nicht anziehend genug. Um die Versorgungslücke wirklich zu schließen, muss wohl eine Versicherungspflicht für alle Bürger erlassen werden. Zu betonen ist, dass bei der individuellen Wahl der Kapitalanlage die Höhe der privaten Rente im Alter bei gleicher Beitragsvorleistung erheblich streuen
4 Die soziale Sicherung alter Menschen in Deutschland
139
wird. Der soziale Ausgleich kann in dem System privater Vorsorge nur bei der Subventionierung der Beiträge ansetzen, nicht bei der späteren Rente. In der Rentenfrage zeigt sich ein zunehmender politischer Aktionismus, der sowohl Folge als auch Ursache einer Verunsicherung der Bevölkerung ist. Die drastische Zurücknahme der Leistungen hat das Vertrauen in den Generationenvertrag erschüttert. Die Renten sind schon deshalb nicht sicher, weil in Krisenzeiten eine verunsicherte Politik die Übersicht verliert und neoliberale Ökonomen Konjunktur haben, die in der Privatisierung des Systems und einer sozialen Minimalrente für alle das Heil sehen. Eine beliebige Absenkung des Rentenniveaus wird in jedem Fall durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verhindert. Die Rente ist keine Mildtätigkeit, sondern Gegenleistung für gezahlte Beiträge. Das (Teilhabe) Äquivalenzprinzip garantiert die erworbenen Rentenansprüche. Hier greift die Eigentumsgarantie des Grundgesetzes (Art. 14). Grundsätzlich hat der Gesetzgeber zwar zur Sicherung des Systems einen erheblichen Gestaltungsspielraum, dieser ist jedoch nicht unbegrenzt. „Je höher der einem Anspruch zu Grunde liegende Anteil eigener Leistung ist, desto stärker trifft der verfassungsrechtlich wesentliche personale Bezug und mit ihm ein tragender Grund des Eigentumsschutzes hervor“ (BverfG 53, 257 (292)).
Die Garantien des Bundesverfassungsgerichts gelten nur für die schon erworbenen Ansprüche. Eine radikale Systemumstellung ist daher nicht ganz unmöglich. Allerdings müsste die aktive Generation in der Übergangszeit eine doppelte Last tragen. Sie müsste die erworbenen Rentenansprüche der älteren Generation erfüllen und gleichzeitig für sich privat vorsorgen!
4.6 Die soziale Grundsicherung gegen Armut im Alter Um vor allem die Altersarmut zu bekämpfen, wurde im Jahr 2003 die Grundsicherung im Alter und bei dauerhafter und voller Erwerbsminderung eingeführt und 2005 als 4. Kapitel in dass SGB XII (Sozialhilfe) eingestellt. Die bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter ist vorrangig gegenüber der Sozialhilfe. Auch bei ihr gilt das Fürsorgeprinzip. Die Leistungen werden aus Steuermitteln finanziert und es erfolgt eine Bedürftigkeitsprüfung, bei der eigenes Einkommen und Vermögen und das der Familienangehörigen angerechnet wird. Dabei ist die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips im Vergleich zur Sozialhilfe eingeschränkt
140
4 Die soziale Sicherung alter Menschen in Deutschland
worden. Viele alte Menschen schämten sich und sind früher nicht zum Sozialamt gegangen. Viele wollten auch nicht, dass Ihre Kinder zur Unterhaltspflicht herangezogen wurden. Mit der Reform von 2003 gilt diese Verpflichtung nur noch bei einem hohen Grundeinkommen von über 100000 Euro, wobei das Sozialamt nicht generell verpflichtet ist, die Einkommen der Kinder zu prüfen. Trotz dieser Sonderstellung ist das Niveau der Leistungen nicht generell höher, und es gelten die gleichen Regelsätze wie in der Sozialhilfe. Mehrbedarfszuschläge dienen dazu, individuelle Bedarfe zu decken (Beispiel: Gehbehinderte mit Schwerbehindertenausweis G erhalten einen Aufschlag von 17 Prozent auf den Regelsatz). Die Höhe des Sozialtransfers ist abhängig vom Grad der Bedürftigkeit des Einzelnen oder einer Familie (Bedarfsgemeinschaft). Das vorhandene Einkommen und Vermögen wird angerechnet und durch die Hilfe zum Lebensunterhalt aufgestockt, um den anerkannten Bedarf zu decken.
Der anerkannte Bedarf wird zum einen durch eine monatliche Pauschale bestimmt, die nach Zahl und Altersstruktur der Haushaltsmitglieder variiert. Diese sog. Regelsätze wurden 2005 deutlich erhöht und dienen seitdem nicht nur zur Deckung des täglichen Bedarfs (Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, persönliche Bedürfnisse einschließlich kultureller Teilhabe an der Gesellschaft) sondern sollen auch den Ersatzbedarf an Kleidung und Wohnungsausstattung abdecken. Zweitens übernimmt das Sozialamt Heiz- und Mietkosten in voller Höhe, wenn die Wohnung nach Größe und Ausstattung den Vorgaben des Wohngeldgesetzes entspricht. Drittens besteht ein Anspruch auf einmalige Leistungen für drei Bedarfsfelder: Erstausstattung der Wohnung, Erstausstattung mit Kleidung und Zuschuss zu Klassenfahrten. In besonderen Lebenslagen werden Mehrbedarfszuschläge gezahlt. Nicht zuletzt besteht für die Betroffenen ein Anspruch auf Krankenhilfe (freie Arztwahl, Vergütung der Ärzte nach AOK-Tarif).
Der Eckregelsatz beträgt im Jahr 2007 in Deutschland 345 Euro, wobei die Bundesländer abweichende Regelungen treffen können. Der Haushaltsvorstand hat Anspruch auf 100%, Kinder unter 14 Jahren auf 60% und alle übrigen Familienmitglieder haben einen Anspruch auf 80% des Eckregelsatzes. Bei Ehegatten (oder Lebenspartnern) wird jedem Partner jeweils 90% zuerkannt, um die leidige Frage nach dem Haushaltsvorstand zu klären.
4 Die soziale Sicherung alter Menschen in Deutschland
141
4.7 Soziale Sicherung bei Krankheit im Alter 4.7.1
Die gesetzliche Krankenversicherung (GKV)
Die Gesetzliche Krankenversicherung versichert 90% der Bevölkerung. Dies gilt auch für die Gruppe der Altersrentner, ihren Familien und Hinterbliebenen, die üblicherweise nahtlos, da sie schon vorher langfristig in der GKV pflicht- oder freiwillig versichert waren (die „Vorversicherungszeit“ erfüllt haben), weiter versichert bleiben. Ohne Versicherungsschutz ist nur eine verschwindend kleine Gruppe, die aber Anspruch auf Krankenhilfe durch die Sozialhilfe hat. Die übrigen Pensionäre sind wie in ihrer aktiven Zeit privat versichert. Ein Übergang zur GKV ist ihnen nicht mehr möglich. Die Rentner in der GKV zahlen den üblichen Beitragssatz ihrer Kasse (durchschnittlicher Beitragssatz 2006: 14,2%) auf ihre Einkommen aus der Sozialrente (GRV), aus Versorgungsbezügen (u.a. Betriebsrenten) und einem Arbeitsvertrag. Der Beitragsanteil aus der GRV wird zur Hälfte vom Rentenversicherungsträger gezahlt. Die Verteilung in der sozialen Krankenversicherung erfolgt nach dem Bedarfsprinzip! Die Vertragsärzte der Kassen entscheiden über den Bedarf. Sie sollen den Mitgliedern eine dem heutigen medizinischen Wissensstand entsprechende und dem Wirtschaftlichkeitsgebot verpflichtete optimale Versorgung mit Gesundheitsleistungen anbieten. Es gilt die Gesundheit der Versicherten zu erhalten (präventive Komponente), wiederherzustellen oder deren Gesundheitszustand zu verbessern (kurative Komponente). Die Versicherten ihrerseits sind verpflichtet, ein gesundes Leben zu führen (SGB V, § 1). Anreize oder Sanktionen zur Einhaltung dieser Verpflichtung existieren allerdings nur in Ansätzen. Das Solidarprinzip ist in der GKV im Vergleich zu den anderen Sozialversicherungen am stärksten ausgeprägt. Es erfolgt ein vielfältiger Solidarausgleich im Sinne von sozialpolitisch gewollten Umverteilungsprozessen. Erstens bewirkt die Beitragsstaffelung nach der Höhe des Einkommens eine Belastungsumverteilung zugunsten der Bezieher niedriger Einkommen. Zweitens stellt die beitragsfreie Mitversicherung von Familienangehörigen eine erhebliche Entlastung vor allem kinderreicher Familien dar. Weiterhin ist auf die Zusammenlegung aller Risiken hinzuweisen. Im Gegensatz zur PKV, die nach Vorerkrankung und Eintrittsalter Risikogruppen unterschiedlicher Beitragshöhe bildet, werden in der GKV Mitglieder mit schwächerer gesundheitlicher Konstitution bzw. höherem Eintrittsalter nicht höher belastet. Gerade für alte Menschen ergeben sich deutliche Vorteile,
142
4 Die soziale Sicherung alter Menschen in Deutschland
da sie trotz erheblich wachsendem Risiko (steigende Morbidität und Krankheitshäufigkeit) im Alter keine höheren Beiträge zahlen müssen. Die Private Krankenversicherung (PKV) kalkuliert in die Prämie für einen jungen Versicherten die im Alter zu erwartende Risikoverschlechterung mit ein, bildet damit Kapital als Altersrückstellung, so dass trotz steigender Morbidität der Beitrag im Alter nicht steigen soll. Tatsächlich sind die Schätzungen der PKV zur Verschlechterung des Krankheitsrisikos im Alter bisher aber immer von der Realität überholt worden. Die Prämien der älteren Versicherten stiegen deshalb immens an und der Staat musste schon regulierend und preisdämpfend eingreifen, damit ältere Privatversicherte überhaupt noch in der Lage sind, die Prämien aufzubringen. Im Rahmen der Gesundheitsreform 2007 wird den privaten Krankenkassen aufgetragen, einen günstigen Basistarif einzuführen und diesen auch ehemaligen Versicherten, die sich die Prämien nicht mehr leisten konnten, anzubieten. Sowohl PKV als auch GKV bilden ein gegliedertes System einzelner selbständiger Kassen. 2005 gab es noch 262 selbständige GKV-Kassen. Der Wettbewerb der GKV-Kassen um Mitglieder, der 1996 eröffnet wurde, hat zu Zusammenschlüssen geführt. So gab es im Jahr 1995 noch fast 1000 Kassen. Damit haben sich die Nachteile starker Dezentralisierung (Aufsplitterung der Interessen, geringe Gegenmacht gegenüber Ärzten, Krankenhäusern und Pharmaunternehmen) verringert. Der Leistungskatalog der GKV bietet vor allem Sach- und gesundheitliche Dienstleistungen. Man unterscheidet kurative Leistungen, wie ärztliche-, zahnärztliche- und Krankenhausbehandlung, Arzneimittelversorgung von präventiven Leistungen (u.a. Früherkennung) und rehabilitiven Maßnahmen (u.a. Kuren). Für ältere Menschen sind flankierende Maßnahmen wie häusliche Krankenpflege und Haushaltshilfen besonders wichtig, während das Krankengeld für Rentner keine Rolle mehr spielt. In der GKV gilt das Sachleistungsprinzip. Die Versicherten haben mit der Bezahlung der Rechnungen wenig zu tun. Vielmehr existiert folgender Kreislauf: Die Versicherten erhalten von ihren Kassen eine Versichertenkarte, die sie beim Arzt vorlegen. Der Arzt rechnet mit seiner Kassenärztlichen Vereinigung seine Leistungen ab und erhält von dort seine Vergütung. Die Vereinigungen wiederum rechnen mit den GKV-Kassen, die das Geld über die Beiträge der Versicherten einnehmen. Allerdings ist die Selbstbeteiligung der Versicherten bei der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen in den letzten Jahrzehnten ständig erhöht worden. Zuzahlungen sind und bleiben umstritten, da sie natürlich für Gering-
4 Die soziale Sicherung alter Menschen in Deutschland
143
verdiener eine größere Belastung darstellen und den Solidarausgleich gefährden. Um dies in Grenzen zu halten, müssen Versicherte nur maximal 2% (chronische Kranke maximal 1%) ihres jährlichen Bruttoeinkommens für Zuzahlungen aufwenden. Gerade viele ältere Bürger leiden unter chronischen Krankheiten und könnten ohne diesen Sozialausgleich ihre Medikamente nicht bezahlen. Von Selbstbeteiligungen erhoffen sich Ökonomen auch eine Verhaltenssteuerung, dass die Versicherten nur dann Leistungen in Anspruch nehmen, wenn es wirklich nötig ist. Mit der Praxisgebühr von 10 Euro beim ersten Arztbesuch in jedem Quartal sollen überflüssige Inanspruchnahmen verhindert werden. Allerdings besteht gerade bei dieser Form der Zuzahlung, die den Einstieg in das System begrenzt, die Gefahr, dass Ärmere einen notwendigen Arztbesuch verschleppen. Mit dem „Hausarztmodell“ soll dieses Problem in Zukunft überwunden werden. Versicherte erklären sich freiwillig bereit, im Krankheitsfall zuerst ihren Hausarzt einzuschalten. Dieser wird zum „Lotsen“ durch das Gesundheitssystem und spart so Kosten für unnötige (Doppel-)Untersuchungen. Diese erwarteten Einsparungen soll die Kasse dann über einen Bonus (z.B. reduzierte Praxisgebühr) an die Versicherten weitergeben. Seit 1994 findet in der GKV ein „einnahmeorientierter“ Risikostrukturausgleich (RSA) statt, der für eine Annäherung der früher weit auseinander liegenden Beitragssätze gesorgt und die Solidarität im System gestärkt hat. Ausgeglichen werden die Unterschiede der einzelnen Kassen in der Grundlohnsumme (unterschiedliche durchschnittliche Lohnhöhe ihrer Beitragszahler), in der Zahl mitversicherter Familienangehöriger, der Altersstruktur, der Verteilung der Geschlechter (ab 2007 sollen auch die unterschiedlichen Morbiditätsraten der Kassen ausgeglichen werden). Dabei werden nicht die tatsächlichen Kosten einer Kasse z.B. pro Rentner ausgeglichen, vielmehr bekommt eine Kasse mit höherer Rentnerdichte einen Zuschuss nur in einer Höhe, der die durchschnittlichen Kosten eines Rentners in allen Kassen ausgleicht. Die regionale Kassenwahlfreiheit für Arbeitnehmer und Rentner bei gleichzeitigem Kontrahierungs (Aufnahme-)zwang für alle AOKs und Ersatzkassen sorgt für eine Wanderung zu den Kassen mit niedrigen Beitragssätzen und damit zu einer Angleichung der Beitragssätze.
144
4.7.2
4 Die soziale Sicherung alter Menschen in Deutschland
Problemfelder und Perspektiven
Um die Dramatik der Situation zu verdeutlichen, wird gerne von der Kostenexplosion im Gesundheitswesen gesprochen. Bei genauerem Hinsehen relativiert sich indes vieles. Tabelle 14:
Ausgabenentwicklung in der GKV
Jahr
Gesamtausgaben GKV -West in Mrd. Euro
Gesamtausgaben GKV Ost in Mrd. Euro
Ausgabenquote = Ausgaben/BIP in %(1)
Durchschnittlicher Beitragssatz – West in %
1970 1980
12,9 45,9
-
3,7 6,1
8,2 11,4
1990 2000
72,4 111,6
22,2
5,8 6,6
12,5 13,5
2005
119,1
24,5
6,4
14,2
(1) Ab 2000 für Gesamtdeutschland; Quellen: Institut der Deutschen Wirtschaft, Zahlen zur wirtschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland 1996 und 2005; GKVStatistik BMGS; eigene Berechnungen.
Insgesamt sind die Ausgaben in der GKV deutlich stärker als die Einnahmen gestiegen. Dadurch kam es zu den erheblichen Beitragssatzsteigerungen. Weniger bedrohlich erscheint dagegen die Relation der Ausgaben zum Bruttoinlandsprodukt (Tabelle 14). Diese Quote konnte zwischen 1980 und 1990 durch verschiedene Kostendämpfungsgesetze sogar wieder gesenkt werden. Auch die Gesundheitsreform von 2003 zeigte hier Erfolge, indem die Quote von 6,8% (2003) auf knapp 6,4% (2005) gesenkt werden konnte. Damit ist die These von der „Kostenexplosion“ und des Steuerungsverlustes der Gesundheitspolitik widerlegt. Ein Anstieg der Gesundheitsausgaben im Rahmen des Wirtschaftswachstums ist unproblematisch. Im Gegenteil wird man davon ausgehen müssen, dass ein überproportionaler Anstieg für Gesundheitsgüter in einer immer reicheren und älteren Gesellschaft sowohl unvermeidlich als auch wünschenswert ist, da es den Bedürfnissen der Bürger entspricht. Eine übermäßige Sparpolitik führt unausweichlich zu Versorgungsdefiziten vor allen bei den alten Menschen. Steigende Beitragssätze in der GKV bei gleichzeitiger relativer Konstanz der Ausgabenquote gemessen am BIP sind auf zwei Faktoren zurückzuführen: Einmal sank die Lohnquote aufgrund nur bescheidener Reallohnsteigerungen im letzten Jahrzehnt und zum anderen stieg und verfestigte sich die Arbeitslosigkeit.
4 Die soziale Sicherung alter Menschen in Deutschland
145
Die Grundlohnsumme, aus der sich die Einnahmen der GKV speisen, erreichte Mitte der 1970er Jahre noch einen Anteil am BIP von 54 %. Dieser Anteil sank auf 44 % im Jahr 2000 (Berie/Fink 2003). Daraus lässt sich folgern, dass die GKV in den letzen zwei Jahrzehnten weniger ein Ausgaben- als ein Einnahmeproblem hatte. Wenn es nicht gelingt, die Massenarbeitslosigkeit abzubauen und die Lohneinkommen parallel zu den Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen steigen zu lassen, wird sich die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben auch dann weiter öffnen, wenn der Ausgabenanstieg sich an der Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts orientiert. Der Trend zu steigenden Beitragssätzen würde sich fortsetzen und eine sinnvolle, bedürfnisorientierte Entwicklung des Gesundheitssektors, in dem viele Arbeitsplätze entstehen könnten, verhindern. Deshalb denken Sozialwissenschaftler und Politiker über eine Verbreiterung der Finanzierungsbasis nach. Mit dem Reformvorschlag einer Bürgerversicherung, in der alle Bürger einbezogen wären und andere Einkommensarten neben den Löhnen mitbelastet würden, zielt ein Teil der Rürup-Kommission (2003) genau auf diesen Punkt. Die Ursachen der Kostenentwicklung sind vielfältig: Steuerungsdefizite im System, falsche Anreize der Honorierungsverfahren, kostenintensive soziale Dienste, fehlerhaftes Gesundheitsverhalten der Bürger und mangelhafte Koordination im Leistungsangebot. Trotz dieser Defizite gelang es der Gesundheitspolitik bisher, mit vielen Kostendämpfungsmaßnahmen die Ausgabenentwicklung im Zaum zu halten. Mit der letzten Gesundheitsreform von 2003 werden Anreize verändert und neue Versorgungsformen initiiert. Die Führung und Beratung chronisch kranker Patienten soll verbessert werden, integrierte Versorgungsformen sollen ambulante und stationäre Versorgung besser verzahnen und medizinische Versorgungszentren sollen Kompetenzen unter einem Dach vereinen. So genannte Disease-Management-Programme (DMP) sollen die beste Behandlungsweise für chronisch Kranke erkunden und eine vernetzte regionale Versorgungsstruktur entwickeln. Man verspricht sich hier neben einer qualitativ besseren Versorgung der oft älteren chronisch Kranken auch ein hohes Einsparpotential, da diese Gruppe bei schlecht aufeinander abgestimmter Versorgung dauerhaft hohe Ausgaben verursacht. Insgesamt war und ist die Versorgungslage für die älteren Versicherten durchaus als gut einzuschätzen. Das Leistungsniveau des deutschen Gesundheitssystems ist trotz der genannten Mängel hoch und der Zugang für alle durch das Solidarprinzip bei der Finanzierung weiter offen. Die Begrenzung der Zuzahlungen verhinderte bisher eine Ausgrenzung der ärmeren Versicherten.
146
4 Die soziale Sicherung alter Menschen in Deutschland
Was wird die Zukunft für die älteren Menschen bringen? Ein wachsendes Finanzierungsproblem für die Kassen stellt das Defizit bei der Rentnerkrankenversicherung dar, das in Zukunft aufgrund der demographischen Entwicklung noch zunehmen wird. Die durchschnittlichen Krankheitskosten pro Person steigen mit dem Alter deutlich an (Tabelle 17). Tabelle 15:
Krankheitskosten je Einwohner nach Alter im Jahr 2002 in Euro
Altersgruppe Kosten
unter 15
15-45
45-65
65 und älter
alle Gruppen
1000
1510
2960
6740
2710
Quelle: StatBA
Die Aktiven müssen die Rentner immer stärker „subventionieren“. Im Jahr 1960 deckten die Einnahmen aus den Beiträgen der Rentner noch über 90% der Ausgaben, im Jahre 2000 waren es nur noch etwa 40%. Im Jahre 2000 flossen schon 45% der GKV-Ausgaben in die Versorgung der Rentner, bis 2020 werden es aufgrund der demographischen Entwicklung geschätzte 56 % sein (Berie/Fink 2003). Das ist ein erheblicher Solidarbeitrag zum Generationenvertrag. Dieses Szenario ergibt sich allein aus der ansteigenden Altersquote bei unveränderter Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen durch jeden älteren Versicherten. Tatsächlich jedoch zeigen die zurückliegenden Jahrzehnte eine expansive Entwicklung der Ausgaben pro Kopf bei den älteren Mitbürgern. Pessimistische Prognosen gehen davon aus, dass dieser Trend sich fortsetzt und errechnen daraus horrende Belastungen und Beitragssätze für die GKV der Zukunft. Die Ursache der Steigerung der Ausgaben pro Kopf liegt vor allem in der speziellen Wirkungsweise des medizinisch-technischen Fortschritts. Immer mehr chronische Krankheiten wurden behandelbar, Medikamente linderten Schmerzen und verbesserten die Lebensqualität, ohne dass dies zur völligen Gesundung der älteren Menschen führte. Das Lebensalter wurde verlängert und damit auch der Verbrauch von medizinischen und Pflegeleistungen. Gefolgert wird daraus, dass der medizinisch-technische Fortschritt zwar in einigen Feldern zu Kosteneinsparungen führe, im Ganzen jedoch wirke er stark Kosten treibend. Diese pessimistische sog. Medikalisierungsthese prognostiziert wahre Kostenexplosionen, wenn es nicht zu erheblichen Leistungsbegrenzungen und Rationierungen in Kranken- und Pflegeversicherung kommt.
4 Die soziale Sicherung alter Menschen in Deutschland
147
Dagegen argumentiert die optimistische Kompressionsthese mit folgendem Befund. Nicht das Kalenderalter führt zu hohen Ausgaben, sondern die Nähe zum Todeszeitpunkt. Das Sterben sei durch die Intensivmedizin so teuer geworden. Immer mehr Menschen leben lange gesund und fit als leistungsfähige Senioren (Höpflinger 2002). Auch der Kostenanstieg in der Sterbephase könnte ein vorübergehender Trend sein. Eine Konzentration der Forschung auf die Präventivmedizin und die Beeinflussung des Gesundheitsverhaltens könnten in Zukunft den Gesundheitszustand älterer Menschen deutlich verbessern und sogar zu Kosteneinsparungen führen. Es erscheint beim Stand der Diskussion sinnvoll, die pessimistischen Prognosen ernst zu nehmen und sich Gedanken über diesen „worst case“ Fall zu machen. Wenn wir zusätzlich davon ausgehen können, das der Bedarf an Gesundheitsleistungen in Gesellschaften, deren Bürger im Durchschnitt reicher und älter werden und fitter sein wollen, steigt und gleichzeitig die Medizintechnik immer neue attraktive Angebote bereit hält, dann müssen wir der Tatsache wohl ins Auge schauen, dass ohne Rationierung das System unbezahlbar wird. Dann stellt sich nicht mehr die Frage, ob, sondern wie wir intelligent und sozial ausgewogen rationieren können. Natürlich werden die Besserverdienenden sich immer privat das leisten können, was sie wollen. Was jedoch soll die GKV noch abdecken? Wir haben hier keine Lösung parat. Ein gesellschaftlicher Diskurs wird darüber entscheiden müssen. Einige Vorschläge zielen auf einen Abbau des Solidarausgleichs zuungunsten der älteren Menschen: Höhere Beitragssätze für Rentner, Rationierung medizinischer Leistungen ab einem bestimmten Lebensalter und Abdeckung des Risikos über private Zusatzversicherung (wie in Großbritannien). Die demokratische Öffentlichkeit hat bisher auf solche Vorschläge, wie sie auch von Sozialethikern in die Diskussion gebracht wurden, äußerst ablehnend reagiert und mehr Solidarität mit den Älteren angemahnt. In jedem Fall ist die seit Jahren von der Politik propagierte einnahmeorientierte Ausgabenpolitik eine wenig intelligente Lösung. Einen Teil des steigenden Bedarfs an medizinischen Leistungen und des Fortschritts der Medizin wird man den Bürgern und auch den alten Menschen nicht vorenthalten können. Ein Jahr für Jahr leicht steigender Anteil der GKV-Ausgaben am BIP erscheint hier zielführend. Warum soll nicht ein maßvoller Anstieg dieser Ausgabenquote hingenommen werden, zumal hier neue Arbeitsplätze entstehen würden, die gesellschaftlich sinnvoll erscheinen, da hier wichtige Bedürfnisse gedeckt werden? Schon heute arbeiten über vier Mio. Menschen − ungefähr jeder zehnte Erwerbstätige − im Gesundheitswesen. Gesundheit wird in Zukunft angesichts der älter
148
4 Die soziale Sicherung alter Menschen in Deutschland
werdenden Bevölkerung in den Industrieländern eine immer wichtigere Ressource darstellen, in die zunehmend investiert werden muss. Zur Finanzierung eines solchen gleichzeitig rationierenden und expandierenden Systems wird man auf den Beitrag aller Bürger und auch ihrer Kapitaleinkommen nicht verzichten können. Der Beitrag eines erhofften Rationalisierungsschubs zur Kostensenkung durch optimierte Versorgungsstrukturen wäre, wenn er gelingt, nur ein einmaliger Effekt in der Größenordnung von 1 bis maximal 2 Beitragssatzpunkten und damit nur eine Atempause. Auch für die Zukunft wird man ein überproportionales Anwachsen der Gesundheitsausgaben wohl oder übel akzeptieren müssen, wenn man nicht erhebliche Leistungseinschränkungen oder Ausgrenzungen bei der ökonomisch Schwachen und Älteren vornehmen will. Von der aktuellen Gesundheitsreform 2007 gehen keine entscheidenden Innovationen zur Lösung dieser drängenden Probleme aus. Als Fazit lässt sich vorläufig festhalten: Die gesundheitliche Versorgung der alten Mitbürger in Deutschland kann sich auch im internationalen Vergleich sehen lassen. Die zukünftige Entwicklung steht wahrscheinlich unter einem erheblichen Kostendruck und die heikle Diskussion über die gerechte Lastverteilung hat gerade erst begonnen.
4.8 Die soziale Sicherung bei Pflegebedürftigkeit im Alter Der soziale Wandel und die demographische Entwicklung führten zunehmend zu einer bedrohlichen Unterversorgung mit Pflegeleistungen. Die Familien werden kleiner, die Mobilität der Menschen höher, so dass ein Teil der Bevölkerung schon jetzt über keine oder nur noch geringe familiäre Hilfen verfügt. In Zukunft wird sich diese Versorgungslücke drastisch vergrößern. 4.8.1
Die gesetzliche Pflegeversicherung (GPV)
Die zunehmenden Versorgungsdefizite führten nach langer Reformdiskussion 1994 zur Errichtung eines neuen sozialen Sicherungssystems, der gesetzlichen Pflegeversicherung. Es wurde also der bewährte Pfad der Gestaltung nach dem Sozialversicherungsprinzip nicht verlassen. Pflichtversichert sind alle in der gesetzlichen Krankenversicherung Versicherten. Für privat Krankenversicherte (u.a. Selbständige und Beamte) ist ebenfalls eine Versicherungspflicht gesetzlich verankert worden. Anbieter sind hier die privaten Krankenkassen, während die GPV
149
4 Die soziale Sicherung alter Menschen in Deutschland
von den Gesetzlichen Krankenkassen als eigenständige Sparte geführt werden muss. Beitragshöhe und Leistungsniveau der privaten Pflegekassen entsprechen denen der GPV. Leistungen der Pflegeversicherung erhalten Pflegebedürftige, die dauerhaft wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Krankheit oder Behinderung auf erhebliche Hilfe bei der täglichen Lebensführung angewiesen sind. Vorrang hat die ambulante Versorgung vor allem als Stütze der Familienpflege vor der stationären Unterbringung in Pflegeeinrichtungen. Mit steigendem Alter steigt auch das Risiko der Pflegebedürftigkeit überproportional an (vgl. Tabelle 16). Tabelle 16:
Pflegequoten in der GPV nach Lebensalter (2003)
Lebensalter
15-60
65-70
75-80
80-85
85-90
Pflegequote weiblich in %
0,4
2,5
10,6
22,5
43,4
Pflegequote männlich in %
0,5
2,9
8,5
16,1
29,4
Quelle: StatBA (2005): Bericht: Pflegestatistik 2003, Tabelle 1.2
Die Pflegebedürftigen haben bei der ambulanten Pflege die Wahl zwischen Sachleistungen (Pflegeeinsätze durch ambulante Dienste) und Geldleistungen (Pflegegeld) oder einer Kombination aus beidem. Tabelle 17:
Leistungen der Pflegeversicherung im Monat (in Euro) Ambulante Pflege
(1) (2)
Vollstationäre Pflege in Heimen(1) (Als Sachleistung erbracht)
Tages- und Nachtpflege (teilstationär)
Pflegestufe
Pflegegeld
Sachleistung
Stufe I
205
bis 384
1023
383
Stufe II
410
bis 921
1279
766
Stufe III
665
bis 1432(2)
1432 (Härtefälle: 1688)
1058
Die sog. Hotelkosten für Unterkunft und Verpflegung bleiben beim Pflegebedürftigen. In Härtefällen kann die Sachleistung bis zu 1918 Euro erhöht werden.
150
4 Die soziale Sicherung alter Menschen in Deutschland
Die Leistungen sind nach dem Grad der Hilfsbedürftigkeit in drei Pflegestufen unterteilt.
Pflegestufe I: Erheblich Pflegebedürftige mit einem Hilfebedarf einmal täglich, Pflegestufe II: Schwerpflegebedürftige mit einem Hilfebedarf dreimal täglich, Pflegestufe III: Schwerstpflegefälle mit Betreuungsbedarf rund um die Uhr.
Die Ärzte des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen prüfen den Hilfebedarf, teilen die Betroffenen den Pflegestufen zu und verschreiben weitere Leistungen wie Kurzzeitpflege (max. 4 Wochen) zur Entlastung der pflegenden Angehörigen, Pflegehilfsmittel (z.B. Pflegebett), Pflegekurse für Angehörige und Hilfen zum Wohnungsumbau. Die GPV wird über Beiträge mit einem bundesweiten Beitragssatz von 1,7 % des Arbeitseinkommens bis zu einer Beitragsbemessungsgrenze (2007: 3562,50 Euro) finanziert. Dem Solidarprinzip entsprechend sind Ehegatten und Kinder im Rahmen der Familienversicherung beitragsfrei mitversichert. Auch Rentner zahlen seit 2004 den vollen Beitragssatz, während für Arbeitslose die Arbeitsagentur den Beitrag trägt. Aufgrund eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts wurde ab 2005 die Finanzierung geändert. Kinderlose zahlen nun einen Zuschlag von 0,25 Beitragspunkten. Dies wird aus der Sicht des Drei-Generationen-Vertrags mit dem Äquivalenzprinzip begründet. Kindererziehung ist ein unverzichtbarer Beitrag („Naturalbeitrag“) zur Funktion des Pflegesystems (vgl. Kapitel 4.3.1). Mit der großen Pflegereform sollte einerseits die Pflege-Infrastruktur (das Angebot an Diensten und Heimen) quantitativ und qualitativ deutlich verbessert werden und andererseits sollte die Effizienz durch einen Wettbewerb der Anbieter verstärkt werden. Beiden Zielen ist man deutlich näher gekommen. Im Wettbewerb kam es zu einem deutlichen Gewinn an Marktanteilen durch private Pflegedienste, verbunden mit Effizienzgewinnen, und auch die Pflegeinfrastruktur entwickelte sich sehr dynamisch. So hat sich die Zahl der ambulanten Dienste bis 2003 fast vervierfacht und die Zahl der Pflegeheime verdoppelt.
151
4 Die soziale Sicherung alter Menschen in Deutschland
Tabelle 18:
Pflege in Deutschland im Jahr 2003(1)
Ambulant Zahl der Dienste Personal insgesamt Zu Hause gepflegte Personen
Stationär 10619
Zahl der Heime
9743
200 897
Personal insgesamt
510 857
1.436 646 In Heimen gepflegte 640289 (30,8%) (69,2%) Personen
nur von Angehörigen
986 520
durch Pflegedienste
450 126
davon in:
Pflegestufe I
59,6%
Pflegestufe I
33,8%
Pflegestufe II
31,8%
Pflegestufe II
44,2%
in Pflegestufe III
8,6%
Pflegestufe III
20,9%
(1)
Im Rahmen der Pflegeversicherung; Quelle: StatBA (2005): Bericht: Pflegestatistik 2003.
Die Bundesländer tragen die Verantwortung für eine hochwertige und flächendeckende Versorgungsinfrastruktur. Alle Pflegedienste, welche die Qualitätsstandards (Kontrollen durch die Sozialämter und den Medizinischen Dienst der Krankenkassen) erfüllen, werden zugelassen. Die Preise für die Leistungen der Pflegedienste werden zwischen den Kassen und den Verbänden der Pflegedienste ausgehandelt. In der Pflegeversicherung ist bewusst nicht das Bedarfsprinzip, wie etwa in der sozialen Krankenversicherung eingeführt worden. Nur ein Teil des tatsächlich festgestellten Pflegebedarfs wird von der Versicherung getragen, ein erheblicher Teil der Kosten bleibt bei den Versicherten als Selbstbeteiligung oder ihren Angehörigen (Unterhaltspflicht). Das kann auch zu einer Unterversorgung mit Leistungen bei der ambulanten Versorgung führen. Im Falle der Heimunterbringung müssen die Pflegesätze bezahlt werden, sonst können die Heime ihre Kosten nicht decken. Letzter Ausfallbürge ist weiterhin die Sozialhilfe, auf die gut 30 % der Betroffenen trotz der Pflegeversicherung weiterhin angewiesen sind. Durch die hohe Selbstbeteiligung werden bewusst Anreize gesetzt, um die Pflegebedürftigen an einer wirtschaftlichen Versorgung zu interessieren.
152
4 Die soziale Sicherung alter Menschen in Deutschland
Tabelle 19:
Struktur und Entwicklungen in der GPV
Indikatoren
1997
1999
2004
Beitragszahler in Mio.
51,1
51,3
50,8
Versicherte in Mio.
71,7
71,5
70,3
Einnahmen in Mrd. Euro
15,90
16,35
16,87
Leistungsausgaben in Mrd. Euro
15,13
16,35
17,69
davon: vollstationäre Pflege
6,50
7,37
8,35
davon: Pflegegeld
4,33
4,23
4,08
davon: Pflegesachleistung
1,81
2,13
2,37
43,0 %
45,1%
47,2%
Anteil vollstationärer Pflege an den Ausgaben
Quelle: Statistisches Taschenbuch 2005, Tabelle 7.18; eigene Berechnung.
Die Anreize zur Stärkung der ambulanten Versorgung waren bisher recht erfolgreich. Da sich ein großer Teil der Betroffenen für das Pflegegeld entscheidet, also auf die Pflege durch Angehörige vertraut, werden weitere Kosten gespart. Erste Spuren einer nachlassenden familiären Betreuung werden sichtbar. So stieg in den letzten Jahren die Nachfrage nach den ambulanten Pflegediensten und vor allem nach der kostenintensiven stationären Pflege vermehrt an (vgl. Tabelle 19). Aufgrund der hohen und drastisch gestiegenen Selbstbeteiligung an den Kosten wird allerdings ein Heimaufenthalt auch immer mehr hinausgeschoben. Die Altenpflegeheime werden zu „Sterbeheimen“, da inzwischen 80% der Bewohner stark pflegebedürftig sind. In aktuellen Reformplänen sollen die Anreize für die Wahl der ambulanten Versorgung deutlich verstärkt werden. So schlägt die Rürup-Kommission (2003) eine Angleichung der Förderungsbeträge im ambulanten und stationären Bereich vor: Pflegestufe 1: 400 Euro; Stufe 2: 1000 Euro und Pflegestufe 3: 1500 Euro. Diese Geldbeträge sollen außerdem dynamisiert werden, um sie der Entwertung durch die jährliche Inflation zu entziehen. 4.8.2
Problemfelder und Perspektiven
Ungelöst und nur schwer lösbar erscheint das Problem der Qualitätssicherung. Immer wieder wird über schwere Mängel und Fälle menschenunwürdiger Versorgung in Pflegeheimen aber auch in Familien berichtet. Der Alarm, den die
4 Die soziale Sicherung alter Menschen in Deutschland
153
Betroffenenverbände schlagen, verhallt bald wieder, ohne dass sich scheinbar viel ändert. Der für die Qualitätskontrollen zuständige Medizinische Dienst der Krankenkassen gibt in seinem Bericht von 2004 weitgehend Entwarnung. In 90 Prozent der Heime herrschen danach zumindest befriedigende qualitative Bedingungen. Allerdings verzichtet der Dienst weitgehend auf das Instrument der unangemeldeten Kontrollen. Das gleiche gilt in vielen Fällen für die Heimaufsicht der Sozialämter vor Ort.Umstritten sind angesichts der hohen Kosten schon die zu setzenden Qualitätsstandards: Satt, sauber und still oder mehr? Die Qualitätssicherung für die Betroffenen in dieser Lebenslage ist deshalb so schwierig, weil hier ökonomische und soziale Probleme gehäuft aufeinandertreffen. Da ist einmal die Kostenintensität sozialer Dienste, die dazu führt, dass Pflege immer teurer wird und/oder die professionellen Pflegerinnen immer schlechter bezahlt werden. Dies führt über ein Abwandern qualifizierter Kräfte (aktuell fehlen ca. 20000 Fachkräfte) und burn-out-Syndromen (seelische Belastungen mit Erschöpfungszuständen) bei überlasteten Pflegerinnen zu einem Notstand aus Mangel an Fachkräften. Immer mehr unqualifizierte angelernte billige Arbeit wird eingesetzt, um Kosten zu sparen und die Lücken notdürftig zu schließen. Um dies zu verhindern, müssen Pflegedienste und Heime einen bestimmten Anteil an Fachpersonal garantieren. In den Familien werden inzwischen nach Schätzungen 60000 bis 100000 illegale Pflegekräfte vor allem aus Osteuropa zu geringen Löhnen beschäftigt. Eine Qualitätskontrolle findet hier natürlich nicht statt. Die Betroffenen selbst sind oft in einer sozialen und psychischen Situation, die für eine Gegenwehr und einen aktiven Einsatz zur Selbstbehauptung und Interessenwahrnehmung nicht förderlich ist. Ihre Interessen müssen daher von anderen Personen wahrgenommen werden. Dabei ergeben sich über die üblichen Kommunikationsprobleme zwischen Auftraggeber und professionellem Dienstleister (principal-agent-Beziehung) hinausgehende soziale Abhängigkeiten. Das erfordert zur Wahrung der Interessen der Pflegebedürftigen eine öffentliche Kontrolle und die Stärkung des Einflusses von Vertrauensleuten der Betroffenen. Das alles existiert schon, ohne dass die Regelungen bisher befriedigen können. Die Sachlage wird noch dadurch erschwert, dass die Entwicklung von Qualitätsstandards, Ausbildungsgängen, individuellen Pflegebedarfs-Messverfahren usw. im politischen Prozess seine Zeit braucht und immer wieder unter Kostengesichtspunkten zurückgestellt wird. Leider verursachen Qualitätskontrollen außerdem erhebliche Transaktionskosten und die Dienste klagen schon über den hohen Dokumentationsaufwand, der von der eigentlichen Pflegezeit abgeht.
154
4 Die soziale Sicherung alter Menschen in Deutschland
Selbst wenn man den Politikern und den anderen Verantwortlichen in diesem Bericht den guten Willen bescheinigen möchte, wäre ein schneller Fortschritt hier eine echte Überraschung. In jedem Fall hängt von diesem Fortschritt die Lebensqualität vieler alter Menschen ab. Ein erheblicher Teil der Pflegebedürftigen in Deutschland muss durch einen sehr eingegrenzten Pflegebegriff auf Hilfen verzichten. Vor allem die steigende Zahl der Demenzkranken wird fast ausgegrenzt. Die Definition von Pflegebedürftigkeit konzentriert sich auf körperliche, somatische Behinderungen und berücksichtigt die Bedürfnisse verwirrter alter Menschen, die Hilfe bei der Kommunikation und eine intensive soziale und allgemeine Betreuung benötigen, viel zu wenig. Mit einem Modellvorhaben der Verbände der Pflegekassen werden aktuell (2007) ein neuer Pflegebegriff und bessere Begutachtungsverfahren entwickelt. Angesichts der demographischen Entwicklung und der hohen Personalintensität sozialer Dienste ist ein dynamischer Ausgabenanstieg in der Pflegeversicherung zu erwarten. Die Rürup-Kommission (2003) schätzt einen Anstieg des Beitragssatzes bis 2030 von heute 1,7 % auf fast 4% (Inflationsausgleich eingerechnet). Lassen sich diese Kostenentwicklungen durch Strukturreformen aufhalten oder entschärfen? Die nüchterne Analyse führt zur Erkenntnis, dass hier erhebliche Belastungen auf die Sozialversicherung zu kommen und dass keine Reform der Welt diese Belastungen vermeiden kann, es sei denn, die Ursachen (zu geringe Geburtenrate und steigender Pflegebedarf einer älter werdenden Bevölkerung) würden beseitigt. Da beides kaum gelingen wird, muss jedes System mit den Folgen leben. Es muss deutlich mehr Geld ins System fließen, will man auch nur den Standard halten. Auch eine Privatversicherung wird den Kostenanstieg nur über Beitragssatzsteigerungen auffangen können. Bei dem Übergang zu einer Privatversicherungslösung (Aufbau eines individuellen Kapitalstocks) ist der erforderliche soziale Ausgleich über das Steuersystem immer ein heikles ungesichertes Versprechen der aktuellen im Namen aller zukünftigen Regierungen. Im Kampf um die knappen Steuermittel könnte der solidarische Ausgleich mangels Durchsetzungskraft der Verbände der Betroffenen bei knappen Haushaltsmitteln des Staates bald gekürzt werden. Ob ein Kapitalstock in dem Umfang, wie er nach Vorstellungen der Angebotsökonomen gebildet werden müsste, um die Renten-, Pflege- und Krankenversicherung nachhaltig zu machen, wirklich gebildet werden kann und welche
4 Die soziale Sicherung alter Menschen in Deutschland
155
ökonomischen Probleme aus Sicht der Keynesianer damit verbunden sein können, ist schon unter 4.3.2 ausführlich behandelt worden. Es geht kein Weg daran vorbei: die Aufgabe der Altenbetreuung muss in einer solidarischen Form getragen werden, sonst wird es zu einem Mehrklassensystem der Versorgung und erheblicher Unterversorgung der ärmeren Bürger kommen. Einen Fortschritt in Richtung gesellschaftlicher Solidarität mit einer gewissen Garantie auf Dauerhaftigkeit könnte die Erweiterung der Sozialversicherung (insbesondere der GPV und GKV) zu einer umfassenden Bürgerversicherung bringen, da so auch die erkennbaren negativen Ausleseeffekte (adverse selection) durch die Private Kranken- und Pflegeversicherung, die überproportional gute Risiken auf sich vereinigen, verhindert werden können. Pessimistische Stimmen prognostizieren in Zukunft erhebliche Versorgungsdefizite bei den sozialen und Pflegediensten. Der Ausfall der Betreuung in der Familie würde weder durch Selbsthilfegruppen noch durch die immer teurer werdenden professionellen Dienste kompensiert werden können. Ein Teil der Lösung könnte in der Pflicht aller Bürger zum Sozialdienst liegen. Um Versorgungsdefizite bei den sozialen Diensten zu schließen, wird heute schon zur Dienstverpflichtung in Form des sozialen Ersatzdienstes junger Männer gegriffen. Dieser wird bei der Abschaffung der Wehrpflicht zum Auslaufmodell. In der Diskussion sind einige interessante Nachfolgemodelle. Neben den bekannten Entwurf eines sozialen Pflichtjahres für junge Menschen (Fink 1990) werden interessante Alternativen vorgestellt, wie die Verpflichtung von leistungsfähigen Senioren oder der Vorschlag einer langjährigen Verpflichtung aller Bürger zur sozialen Nachbarschaftshilfe für wenige Stunden pro Woche (Lagergren 1984). Diese Vorschläge passen nicht zum aktuellen Lebensgefühl der Menschen in der freien Gesellschaft und sie haben deshalb kaum eine Realisierungschance. Man glaubt, mit Geld – sofern man genügend davon hat – alles kaufen zu können und sich seiner sozialen Verpflichtungen durch Beitragszahlung in die Sozialversicherung entledigen zu können. In seinen utopisch anmutenden Entwürfen zeigt Gronemeyer (1990) eine Zukunft, in der die Pflegeprobleme zum Teil technisch, zum Teil über Rationierung und zum Teil über einen Pflichtdienst von Senioren angegangen werden. Die Familie sei im Aussterben begriffen und die Geburtenzahl werde über genetisch kontrollierte Retortenbabys dem politisch und ökonomisch definierten Bedarf angepasst. Die Aufzucht finde in öffentlichen Erziehungseinrichtungen statt. Die noch leistungsfähigen Senioren müssen sich nach entsprechender Pflichtausbildung um die pflegebedürftigen Alten kümmern. Die
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4 Die soziale Sicherung alter Menschen in Deutschland
gesundheitlichen Dienstleistungen sind rationiert. Sterbehilfe ist selbstverständlich. Die alte Generation ist in Altenghettos entsorgt (zum Teil im preiswerten Heimen der dritten Welt, in der damit Arbeitsplätze geschaffen werden), um die Hochleistungsgesellschaft der auf dem Selbstverwirklichungstrip abgefahrenen erwerbstätigen Aktiven so wenig wie möglich zu stören. Dieses Scenario ist noch weitgehend Utopie. Gronemeyer zeigt aber viele Beispiele, die beweisen, dass Ansätze zu dieser Entwicklung durchaus schon erkennbar sind. Umso wichtiger ist es, Gegenentwürfe einer humanen Sozialordnung zu entwerfen und politisch umzusetzen. Das vorhandene sozialstaatliche Fundament bietet dafür eine gute Chance.
4.9 Wie sicher ist die „soziale Sicherung“ alter Menschen in der Zukunft? Viele Menschen sind heute deutlich verunsichert und glauben nicht mehr an eine ausreichende soziale Absicherung im Alter. Ein kleiner ökonomischer Grundkurs kann hier Entwarnung geben. Für Ökonomen ist bei dieser Frage die Produktivitätsentwicklung der Volkswirtschaft das Maß aller Dinge. Der Wohlstand der Bürger (Aktive und Rentner) hängt entscheidend von der Entwicklung der Arbeitsproduktivität und nicht so sehr von der Zahl der aktiven Erwerbstätigen ab. Vor 200 Jahren waren 90% der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig, heute reichen weniger als 3% aus, um die Bevölkerung mit Nahrung im Überfluss zu versorgen. Die Arbeitsstundenproduktivität gibt an, wie viele Arbeitsstunden benötigt werden, um eine bestimmte Menge eines Gutes zu erzeugen. Waren früher 100 Stunden nötig, so wird heute ein Auto schon in weniger als 20 Stunden produziert. Diese Produktivitätsentwicklung speist sich aus innovativem technischen Fortschritt, der im kapitalistischen Wettbewerb und im Wissenschaftssystem permanent erzeugt wird und alle Unternehmen zwingt, diesem Trend zu folgen. Viele Bürger befürchten, dass durch den technischen Fortschritt permanent Arbeitsplätze wegrationalisiert werden und so der „Arbeitsgesellschaft die Erwerbsarbeit ausgeht“ (Beck 2001). Wenn es so wäre, wäre das marktwirtschaftlich-kapitalistische System, in dem seit 200 Jahren der technische Fortschritt die Produktivität vorantreibt, schon längst in einer großen Krise zusammengebrochen! Zu verweisen ist auf folgende Wirkungskette: Die steigende Produktivität führt bei den Unternehmen zu sinkenden Stückkosten. Wenn man eine Produktmenge in der halben Zeit herstellen kann, fällt nur die Hälfte der bisherigen Lohnkosten an! Nun kommt der Wettbewerb ins Spiel, der die Unternehmer
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dazu zwingt, die Preise parallel zu den gesunkenen Kosten zu reduzieren. In der Konsequenz steigen die Realeinkommen der Bürger. Eine andere Möglichkeit zur Realeinkommenssteigerung bilden Lohnerhöhungen, die Gewerkschaften aufgrund gestiegener Arbeitsproduktivität in Lohnverhandlungen durchsetzen können. Steigende Realeinkommen führen zu mehr Kaufkraft und mehr Nachfrage der Bürger, so dass die Produktivitätssteigerungen sowohl zu einer Steigerung des potentiellen Angebots als auch der Nachfrage führen. Gesamtwirtschaftlich kommt es nicht zu den befürchteten großen Entlassungswellen. Natürlich gibt es hin und wieder konjunkturelle Einbrüche. Auch der Strukturwandel schafft im Übergang oft Arbeitslosigkeit. Genau auf diesen Überlegungen basieren die Szenarien der Ökonomen, die in die Zukunft des sozialen Sicherungssystems blicken. Prognosen der Rürup-Kommission (2003) oder der Herzog-Kommission (2003) fußen auf diesen grundsätzlichen Überzeugungen. Sie unterscheiden sich nur in den konkreten Annahmen etwa über die Entwicklung der Produktivität und die Flexibilität des Wettbewerbs in Deutschland. In allen ernst zu nehmenden Prognosen wird eine deutliche Steigerung des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf, also ein wachsender materieller Wohlstand berechnet. Das wirkt sich aufgrund der Dynamisierung nach der Rentenanpassungsformel auch auf die Renten aus. Selbst wenn man das Rentenniveau vor Steuern von heute 53% auf 46% fallen sollte (vgl. Tabelle 12), errechnet die RürupKommission eine deutliche absolute Steigerung der realen (Standard-)Rente (vgl. Tabelle 12). Damit wäre – wie noch einmal betont werden soll − das relative Rentenniveau zwar deutlich gesunken, das absolute Einkommensniveau der Rentner aber hätte sich ebenso deutlich verbessert. Mit diesen Überlegungen wird deutlich, dass kein Anlass zur Dramatisierung besteht. Das darf natürlich nicht dazu verleiten, die eigene Vorsorge herunterzufahren. Will man die eigenen Ansprüche, an die man sich im aktiven Leben gewöhnt hat, auch nur annähernd im Alter erfüllen, dann muss eine große Lücke geschlossen werden, die durch die bisherigen und angekündigten Reformen bei der gesetzlichen Rente entstehen wird und zusätzlich durch Maßnahmen zur Kosten- und Leistungssenkung in der Kranken- und Pflegeversicherung vergrößert werden könnte. Die Auslotung des Verteilungsspielraums in der Zukunft zeigt immerhin, dass selbst bei relativ geringen Wachstumsraten und erheblich steigender Altenquote eine deutliche reale Erhöhung auf beiden Seiten – bei den Nettolöhnen und den Sozialleistungen (Rente, Pflege, Gesundheit) möglich ist.
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4 Die soziale Sicherung alter Menschen in Deutschland
Dieser zunächst optimistische Ausblick wird deutlich getrübt, wenn man die aktuelle Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt und in der Sozialpolitik betrachtet. Die Renten sind an die Lohnentwicklung gekoppelt. Wenn die Löhne nur noch verzögert der Produktivität folgen, weil die niedrigen Tarifabschlüsse in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit die geringe Kampfkraft der Gewerkschaften spiegeln, dann können auch die Renten kaum steigen, zumal hier die letzten Reformen zu einer erheblichen Absenkung des Rentenanpassung geführt haben. Nur wenn es gelingt, die Massenarbeitslosigkeit zu überwinden und die Koppelung von Löhnen und Renten an die Produktivitätsentwicklung wiederherzustellen, werden sich die Dinge wieder bessern und das Wirtschafts- und Sozialsystem auf einen expansiven Pfad zurückfinden.
5 Fitsein im Alter? Leistungsfähigkeit, Gesundheit und Persönlichkeit, Krankheit und Pflegebedürftigkeit von Senioren 5 Fitsein im Alter? „Alter ist in den Augen der Gesellschaft teuer und unproduktiv, aber wir tun alles, um noch länger zu leben.“ Frank Schirrmacher
5.1 Einleitung „Vor allem Gesundheit!“ wünschen wir Jubilaren anlässlich hoher Geburtstage. Eine gute körperliche und geistige Verfassung1 ist – nicht überraschend – Voraussetzung für Alltagskompetenz im Alter. Diese ist einer der zentralen Schlüssel zu einem als lebenswert empfundenen Leben. Wer über Alltagskompetenz verfügt, gilt – unabhängig von seinem kalendarischen Alter2 – als „mitten im Leben stehend“ und damit gewissermaßen als „vollwertiges“ Mitglied der Gesellschaft. Einleuchtend, dass „Gesundheit“ für Alte ganz oben auf der Liste erstrebenswerter immaterieller Güter steht3 und Bedingung für „ein gutes Leben im Alter“ ist. Einerseits ist eine als befriedigend empfundene Gesundheit Bedingung dafür, sich selber mit den Dingen des täglichen Lebens versorgen zu können. Darin einzuschließen ist die Pflege sozialer Kontakte. Andererseits ist sie für die meisten Menschen Grundlage materieller Unabhängigkeit und die Fortsetzung eines während eines langen Lebens erworbenen Wohlstands. Denn fast zwangsläufig bedeutet eine größere Einschränkung der Gesundheit und Alltagskompetenz den
1 Der Begriff Gesundheit ist für die Forschung schwer definierbar und messbar, da das Gesundheitsempfinden der Menschen von subjektiven Wahrnehmungen geprägt ist. Zur Messung von Gesundheit werden drei Dimensionen untersucht: Multimorbidität (Gleichzeitigkeit mehrerer körperlicher Erkrankungen); funktionale Gesundheit (Fähigkeit zur Selbstversorgung) und kognitive Leistungsfähigkeit. Die Bedeutung der Gesundheit als Wirtschaftsfaktor spiegelt sich wieder in der Entstehung und Ausbreitung eines eigenen wachsenden Marktsegments („Gesundheitswirtschaft“). Der „Jugendkult“ befördert diese Entwicklung (Baier 1997; Fretschner/Hartmann 2002; Grönemeyer 2004; Wolk 2004) 2 Zu den verschiedenen Alter-n-sbegriffen vgl. Kap. 2 3 Das gilt natürlich nicht nur für Alte, aber diese dürften sie – noch – besser zu schätzen wissen. Bereits die ab 40jährigen nennen Gesundheit als „wichtigstes Gut“ (Alters-Survey 2000, S. 29. Auf den nächsten Plätzen folgen bei den über 70jährigen „Wohlergehen der Angehörigen“ und „Geistige Leistungsfähigkeit“ (BASE 1996, S. 338).
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Verlust des zuvor erreichten sozialen Status und oft auch eine Verschlechterung der materiellen Lebenslage4. Altern ist ein auf unterschiedlichen Ebenen voranschreitender Prozess. Funktionale Einbußen und organische Rückbildungen des menschlichen Körpers treten ungleich und ungleichzeitig auf. Altern ist immer auch ein individueller Vorgang. Das kann jeder beobachten: Glatzenbildung, Ergrauen der Haare, das Erschlaffen des Haut- und Muskelgewebes, Verschlechterung des Seh- und Hörvermögens usw. sind offenkundige Zeichen des Alterns, die Individuen zu differenten Zeitpunkten ihres Lebens und in unterschiedlichem Ausmaß betreffen. Einzelne Alternsmerkmale, dazu gehört auch die Verlangsamung des Lernens, können – sicht- oder spürbar – bereits zu Beginn des Erwachsenenalters auftreten. Bei manchen Menschen hingegen lassen manche Reduktionen noch im höchsten Lebensalter auf sich warten und das Auftreten einzelner Altersmerkmale lässt nicht zwingend Rückschlüsse auf die Gesamtkonstitution zu. Die Forschung spricht deshalb vom individuellen Altern. Und dennoch: mit dem Voranschreiten des Alternsprozesses geht das Leistungsvermögen zurück, verschlechtert sich regelmäßig und fühlbar die Gesundheit. Die äußeren Sinnesorgane büßen einen Teil ihrer Fähigkeiten ein, Bewegungsabläufe und Reaktionsvermögen verlangsamen sich, die Gesundung nach Krankheiten dauert länger. Es treten vermehrt Krankheiten auf (Multimorbidität) oder vorhandene verschlimmern sich (Krankheiten „altern“). Damit einher gehen zum Teil depressive Beeinträchtigungen. Mit Zunahme des Lebensalters treten Demenzen immer häufiger auf. Eine beizeiten auf Gesundheit bedachte Lebensweise, ebenso Bewegung und ein aktives Training gegen das Altern können Rückbauprozesse beeinflussen, so dass Alter nicht zwangsläufig zu einer Lebensphase des Siechtums werden muss. Vom erfolgreichen Altern ist dann die Rede. Gemeint ist, dass selbst bestimmtes Leben in der letzten Lebensphase gelingen kann. Leopold Rosenmayr fand dafür das schöne Wort von der „späten Freiheit“ (1983)5. Der gegenwärtige „Jugendkult“ in Gesellschaften der westlichen Zivilisation (vgl. Kap. 2) muss, anders als oft behauptet, die Alten nicht in eine „Ecke“ der „Abgeschobenen“ drängen. Das Gegenteil ist der Fall. Alte haben sich dem Ju-
4 Zwar haben die sozialen Sicherungssysteme (vgl. Kap. 4.) in den letzten Jahrzehnten den Abstieg in die Altersarmut fast völlig verschwinden lassen. Dennoch ist der Verlust von Alltagskompetenz für die meisten Menschen auch heute damit verbunden, den gewohnten Lebensstandard radikal reduzieren und/oder sich oft von Besitz und Vermögen trennen zu müssen, oftmals mit Auswirkungen für die eigenen Kinder. 5 So auch der Titel von Rosenmayrs Buch. Untertitel: Das Alter ein Stück bewusst gelebten Lebens.
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gendkult angepasst, sind aktiv und nehmen Teil am gesellschaftlichen Leben. Lange schon ist diese Klientel von den Märkten als Nachfragepotential entdeckt6. Zu einer Verbreitung des „Lebensgefühls Jugend“ im Alter hat die Wissenschaft wesentlich beigetragen, indem sie Problemlösungen für die Erhaltung der Gesundheit und für ein längeres Leben, aber auch die Voraussetzungen für die vielen Hilfen im Alltag schuf. Der bloße Augenschein – die massenhafte Wahrnehmung von alten Menschen, die althergebrachten Altersklischees widersprechen, weil sie „fit“ und aktiv sind, verstärkt den Eindruck von der „Jugend im Alter“. Aber ist das Sichtbare, ist der schöne Schein, schon die „ganze Wirklichkeit“? Altersabbau oder nicht? In diesem Kapitel sollen Forschungsergebnisse der Alternswissenschaften, die sich mit der Leistungsfähigkeit und Persönlichkeit im Alter sowie mit dem Auftreten alterstypischer oder im Alter aus dem Latenzstadium heraustretender Erkrankungen beschäftigen, vorgestellt und diskutiert werden7. Weiterhin werden Verbreitung des Medikamentenkonsums, Gefährdung durch Unfälle und das Pflegerisiko angesprochen.
5.2 „Jugend“ im Alter Für viele ist der alte Traum von „ewiger Jugend“ längst ein Stück Realität geworden. Mehr an erträglicher Gesundheit und selbst bestimmtem Leben über viele Jahre hinweg, mehr „Jugend im Alter“ war nie! Diese Beobachtung korrespondiert ausgerechnet mit einer von demographischer Alterung (vgl. Kap. 3) betroffenen Gesellschaft. Zu keiner anderen Zeit gab es so viele leistungsfähige, so viele mobile, „mitten im Leben stehende“, „jugendliche Alte“ wie heute. Und auch: keine Gesellschaft der Vergangenheit dürfte es ihren Alten gestattet haben, ihre (vermeintliche) Jugend zu demonstrieren, sprich: sich ungestraft „jugendlich“ zu kleiden, zu verhalten, „jugendlichen“ Beschäftigungen nachzugehen. 65jährige mit Piercing, Tattoos und gefärbtem Haarzopf, ältere Frauen nackt präsentiert in der Werbung8, 75jährige beim Marathonlauf oder auf Skiern, 85jährige in Jeans oder in Freizeitshorts, auf dem Motorrad oder im offenen Cabrio, Abenteuerrei-
6 Gegenteiliges versucht Schirrmacher in seinem populären Bestseller „Das Methusalemkomplott“ nachzuweisen (2004). 7 Vgl. zur Thematik: Deutsches Zentrum für Altersfragen, Bd. 1 (2001). Dort die Beiträge von Schwarzer/Noll; Staudinger/Greve; Walter/Schwartz 8 Im Frühjahr 2007 gab es die Fotoserie eines Kosmetikherstellers, der eine Reihe älterer nackter Frauen („50plus“) in der Werbung präsentierte und mit der „Ästhetik des Alters“ warb.
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sen oder Vaterfreuden genießend, auf dem Chefsessel oder im Hörsaal, oder, oder …Fast alles ist heute – ungestraft – möglich9. Sich im Alter den negativen Begleiterscheinungen des Alters widersetzen, die „Natur auf den Kopf stellen“, alt werden, ohne alt zu sein, das ist vielen jenseits des fünften Lebensjahrzehnts heute ein kaum infrage gestellter Wert. Diese „modernen Alten“ sind stolz darauf, wenn sie damit einer offenbar auch allgemein in sie gesetzten Erwartung entsprechen. Die Standardfrage „Schätzen Sie mal mein Alter“, spekuliert ja auf nichts anderes, als auf die Bestätigung der Selbsteinschätzung, nämlich jünger zu wirken als man ist. Ältere Menschen fühlen sich, wie Befragungen gezeigt haben, jünger als sie es nach ihrem kalendarischen Alter sind, und sie glauben auch jünger auszusehen. Unabhängig von ihrem Alter, fühlten sich die Teilnehmer der Berliner Alterstudie10– sie waren zwischen 70 und 105 Jahre alt – durchschnittlich um zwölf Jahre jünger, und sie schätzten sich als um 9,5 Jahre jünger aussehend ein. Was sie nicht hinderte, sich zu wünschen, um fünfundzwanzig Jahre (!) jünger zu sein. Nicht immer gehen vom „Zwang zur Jugend“ nur positive Impulse aus. Für manche kann er zur Hybris werden. Wenn Alte erst spät damit beginnen, bewusst mit ihrem Körper umzugehen, ihn zu fordern und zu bewegen, z. B. Sport leistungssteigernd zu betreiben11, dann ist dies – maßvoll und mit ärztlichem Beistand betrieben – oft Basis für eine wieder erlangte körperliche und geistige Gesundheit und die Hebung des Selbstwertgefühls. Soziale Anerkennung, neue soziale Beziehungen können folgen. Aber dieses Rezept hat Tücken. Manch’ später Narziss kokettiert übertrieben mit dem Widerspruch zwischen kalendarischem Alter und körperlicher Fitness. Für das körperliche und seelische Wohlempfinden geht das auf Dauer selten gut. Der Sportwissenschaftler Roland Singer: „Einige Menschen klammern sich an ihre körperlichen Kräfte als dem wesentlichen ‚Instrument’ vermittels dessen sie mit dem Leben fertig werden wollen. Dieses ist für sie auch das wichtigste Element in ihrer Hierarchie der Werte, vor allem was die Definition ihrer selbst … anbelangt. Da die physischen Kräfte … nachlassen, neigen diese 9 Ein passendes Bild dazu, „wie es früher einmal war“ (und zugleich dafür, dass früher nicht alles besser war), liefert „Die unwürdige Greisin“ von Brecht (vgl. Kap. 2., Anm. 30) 10 Die Berliner Altersstudie (BASE, Hrsg. Karl Ulrich Meyer und Paul B. Baltes) untersucht ausschließlich Berliner Senioren. Untersuchungsergebnisse sind für Berliner Verhältnisse repräsentativ, für Großstadtbevölkerungen der westlichen Zivilisation aber ebenso verallgemeinerbar. Ein Problem gerade bei sehr alten Untersuchungspersonen ist die ausdauernde Fähigkeit und Bereitschaft zur Mitarbeit. Auf Grundlage von 2297 angeschriebenen Adressen konnten schließlich 516 Personen zur Mitarbeit gewonnen werden (BASE 1996, S. 67ff). 11 Leistungssteigerung im Sport ist auch im Alter möglich, vornehmlich wenn es um Ausdauer geht. Aber nicht alle Sportarten sind geeignet.
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Menschen – wenn sie älter werden – zunehmend zu traurigen Verstimmungen“ (Singer 1981, S. 61). Sollte der Wunsch nach Jugend im Alter ein Selbsttäuschungsmanöver sein, hinter dem sich in Wahrheit die Angst vor dem Alter verbirgt? Die Berliner Altersforscher sehen es gelassen und halten die Orientierung an dem Wert „Jüngersein“ für die Widerspiegelung eines positiven Weltbildes und für den Ausdruck von Bewältigungskompetenz (BASE 1996, S. 232).
5.3 „Ausnahmealte“ als Vorbilder Der Natur ein „Schnippchen schlagen“, jünger wirken als man ist und weit entfernt sein von Siechtum und Tod. Dieser Wunschvorstellung mangelt es nicht an Leitbildern. Die Medienberichterstattung bietet regelmäßig Gelegenheit, sich über – nennen wir sie „Ausnahmealte“ – zu delektieren. Schwankend zwischen Bewunderung und Neid, erfahren wir begierig von den hochaktiven Methusalemen, hören wir von jenen „Exoten“, die dem Altersklischee partout nicht entsprechen wollen. Gleich, wer es ist, der aktive 101jährige Fallschirmspringer, der 103jährige Schauspieler und Sänger, der 103jährige Bergsteiger, der emeritierte 110jährige Universitätsprofessor, sie alle lösen Bewunderung aus und wecken Sehnsüchte nach Unsterblichkeit. Alte Männer als Gallionsfiguren inmitten von weiblichen Hochbetagten? Wo sind die Frauen, die doch die Altersgruppe zahlenmäßig dominieren? Es gibt sie. Aber Frauen sind unter den berühmten Langlebigen selten zu finden. Die gesellschaftlichen Bedingungen haben nur wenigen Frauen Gelegenheit gegeben, in prominente Positionen aufzurücken und dort auch im hohen Alter unter Anteilnahme der Öffentlichkeit zu verbleiben12.
5.4 Individualisierung des Alters Dass, jenseits bloßer Wunschvorstellungen Mimikry und „Ausnahmealten“, tatsächlich die deutliche Mehrheit der Alten heute dem überkommenen Bild des hilfsbedürftigen, mittellosen und ins Altenheim abgeschobenen Greises nicht entspricht, hängt – sagt die Forschung – mit dem „Strukturwandel des Alters“ zu-
12 Beispiele für hochbetagte berühmte Frauen sind schwerer zu finden. Einige finden sich in Anm. 35 in diesem Kap.).
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sammen. Alte sind nicht gleich Alte! Im Zuge der Bedeutungsabnahme allgemein verbindlicher Werte, Normen und Traditionen sowie dem raschen technischen und sozialen Wandel, hat der gegenwärtige Trend der gesellschaftlichen Individualisierung13 längst auch die Alten erreicht. Im Alter ist heute deshalb vieles möglich. Eine einheitliche „Altenrolle“, im Sinne von gesellschaftlichen Erwartungen an das Verhalten alter Menschen, gibt es nicht. Höhere Bildungsverläufe und Berufslaufbahnen und durchschnittlich gute finanzielle Ausstattungen der Haushalte schaffen kulturellen und materiellen Gestaltungsspielraum und bedingen inzwischen zumeist Unabhängigkeit von der Kindergeneration. Individualität im Alter ist letztlich aber erst dadurch möglich, weil staatliche Institutionen und ein Markt mit Gesundheitsangeboten familiäre und nachbarschaftliche Hilfeleistungen im Alter ersetzen oder ergänzen können. Schließlich haben die zunehmende Lebenserwartung und das Anwachsen der Zahl der Alten zu einer Differenzierung in mehrere Altersgruppen geführt: die jungen Alten, die Alten und die Hochbetagten (von Altersforscher Baltes auch das Vierte Lebensalter genannt, vgl. Kap. 3.). Jede Gruppe ist anders. Der Sinn solcher Unterscheidungen liegt nahe. Nehmen wir die Altersspanne der 60/65jährigen und Älteren. Schwerlich lassen sich sinnvoll Mittsechziger mit über 100jährigen in einer Alterskategorie zusammenfassen. „Welten“ liegen dazwischen. Die Differenzen bleiben ja nicht auf eine breite Spanne an Jahren beschränkt. Vergleichen wir 60jährige mit 90jährigen, die immerhin eine ganze Generation trennt, betreffen die Unterschiede sowohl die körperliche und geistige Gesundheitsverfassung, aber auch den Erfahrungs- und Erlebnishorizont, die Denk- und Empfindungsweisen zweier Generationen, die auch verschiedene „Schicksalsgemeinschaften“ sind14.
13 Unter dem Begriff der Individualisierung wird in der Soziologie eine gesellschaftliche Entwicklung in der Moderne verstanden, die einen Bedeutungsverlust traditioneller und kollektiver Zwänge für den Einzelnen bedeutet – also mehr individuelle Freiheit – umgekehrt aber auch eine „Befreiung“ aus dem Schutz der Gemeinschaft und damit Risikolagen bewirkt. Vgl. dazu: Beck (1986). 14 So ist von großer Bedeutung, ob z.B. Kriege oder Zeiten großer Entbehrung erlebt wurden, auch in welchem Alter dies geschah. Gerade für Frauen ist die Chance auf höhere Bildung oder Erwerbstätigkeit abhängig von der Generationszugehörigkeit. Die Berliner Altersstudie hat diesen Aspekt erstmals empirisch untersucht (BASE 1996, Kap. A 4 und 5, S. 109 ff).
5 Fitsein im Alter?
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5.5 Späte Lebensfreude oder Alterspessimismus? Lebensfreude Lebensfreude ist das Rezept für ein gelungenes Leben. Das gilt erst recht im Alter. Ein erheblicher Anteil der Alten hat daran keinen Mangel, denn sie möchten noch weitere Jahre leben: Ein knappes Fünftel, zweiundzwanzig Prozent der 7079jährigen und ebenso der 90- bis 94jährigen freuen sich auf den Beginn des nächsten Lebensjahrzehnts. Insbesondere der dann anstehende „runde Geburtstag“ – also der 80., der 90. bzw. der 100 – möchte erlebt werden. Mehr als die Hälfte der Alten ist „zufrieden“ mit ihrem Leben. 63 Prozent der 70- bis 105jährigen gaben diese Antwort (BASE 1996, S. 232). Sind Alte glücklich? Die Antwort ist überraschend und widerspricht üblichen Stereotypen: Die Mehrheit der Befragten bejaht dies. Vergleicht man über 70jährige mit dem Durchschnitt der jüngeren Altersgruppen, stellt sich allerdings ein etwas höherer Anteil der „Unglücklichen“ ein. Dass die Teilung in Deutschland nach der Wiedervereinigung auch im Glücklichsein fortbesteht, zeigt der West-Ost-Vergleich: Im Westen fühlen sich nur dreizehn Prozent unglücklich, im Osten sind es siebzehn (Vierter Altenbericht 2002, S. 120). Das Lebensgefühl ist abhängig von der Einschätzung der eigenen Gesundheit. Dabei muss die subjektive Einschätzung nicht mit den objektiven Befunden übereinstimmen. Zumeist wird die Gesundheit in der eigenen Wahrnehmung deutlich positiver bewertet als sie ist. Doch wird sie realistisch mit zunehmendem Alte schlechter eingeschätzt. Dennoch gibt von den 70- bis 85jährigen nur ein Fünftel an, über eine schlechte oder sehr schlechte Gesundheit zu verfügen. Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt es hierbei nicht. Ein Vergleich zwischen neuen und alten Bundesländern weist allerdings eine durchschnittlich schlechtere Bewertung der eigenen Gesundheit im Osten aus. Hier dürfte ein Zusammenhang mit der für alle Altersgruppen beobachteten schlechteren Zukunftserwartung in den östlichen Bundesländern bestehen (Alters-Survey 2000, S. 28)15.
15 Der Alters-Survey (2000) enthält repräsentative Grunddaten zur Lebenssituation der 40-85jährigen deutschen Bevölkerung. Herausgeber sind Martin Kohli u.a. Die Erhebung ist mit öffentlichen Geldern gefördert worden. Zwischen 1994 und 1997 wurden mittels Fragebogen die Daten von 4.034 Personen erhoben.
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Alterspessimismus „Zum Leben verurteilt“, überschreibt die 85jährige Dr. Hedwig Müller, pensionierte Landgerichtsdirektorin, einen Aufsatz, den sie der Zeitschrift „Die Zeit“ schickte. Untertitel ihres Textes war: „Notschrei einer sehr alten Frau, allein lebend, aber keineswegs einsam, unbeschäftigt, oder aus einem anderen Grund unglücklich, mit erträglichen Altersbeschwerden, die aber mit Grausen der Wahrscheinlichkeit entgegensieht, noch Jahre auf den Tod warten zu müssen“. (Die Zeit 1990)16
Lebensoptimismus im Alter ist offenbar nur eine Seite. Dagegen steht das am eigenen Körper wahrgenommene Schwinden der Kräfte, die Verschlechterung der Gesundheit, die Zunahme bzw. die Verschlimmerung von Krankheiten und Gebrechen, vor allem: die Angst davor. Lähmt die Befürchtung, eines Tages hilfsbedürftig zu werden, „andern zur Last zu fallen“, „ins Heim zu müssen“17 jeglichen Lebenswillen? Alterspessimismus auch als Folge der Beobachtung des Verlustes von Alltagskompetenz anderer, erlebt am Beispiel des eigenen Lebenspartners oder früher der eigenen Eltern oder Großeltern. Das Schwinden von Alltagskompetenz, auch wenn es schleichend daher kommt, ist mit einer Reduzierung sozialer Kontakte, oft auch einem Verlust an Würde verbunden. Der altersbedingt eingeschränkte Mensch muss sich helfen lassen. Dies und anderes bedingt eine radikale Veränderung des Alltags, bedeutet Abschied nehmen von Lebensgewohnheiten, ist Statusverlust und oft ein Stück Selbstaufgabe. Einschnitte, wie die Schwelle zum Alter, gingen und gehen für die Mehrheit der Bevölkerung mit erheblichen finanziellen Einschnitten einher. Ein Ereignis, das kaum der Lebensfreude dient. Die gegenwärtige wirtschaftliche und demographische Lage in Deutschland verschärft die Ängste. Diese münden in die berühmte Frage nach der „Sicherheit unserer Renten“ und die pauschale Befürchtung „alles“ müsse „schlechter werden“. Verlust der Alltagskompetenz ist mehr als der an sich schon demütigende körperliche Verfall, der vom Arzt des Medizinischen Dienstes18 erst noch amtlich zu prüfen und zu attestieren ist. Das Selbstwertgefühl leidet, wenn für die notwendig gewordene Pflege und Betreuung Wohlstand und Ersparnisse geopfert werden müssen.
16 Zitiert nach Hirsch, R.D. (Hg.), Multimorbidität im Alter (1992), S. 16. 17 Die Lebenszufriedenheit ist deutlich davon abhängig, ob im Heim gewohnt wird oder im eigenen Haushalt (BASE 1996, S. 510). 18 Der Medizinische Dienst wird von den Krankenkassen organisiert, die auch Träger der Pflegeversicherung sind. Die Ärzte prüfen die Anträge auf Einstufung in eine der drei Pflegestufen (vgl. Kap. 4).
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Das alles ist nicht neu. Altsein ist – irgendwann noch immer – Rückzug. Auch wenn dieser heute immer später stattfindet und immer seltener vor dem Beginn des neunten Lebensjahrzehnts beginnt. Rückzug aus dem Leben ist – wenn nicht der Ausnahme gewordene schnelle Tod diesen Prozess verkürzt – prägend für unsere letzte Phase des Lebens, die oft auch ein langsames „soziales Sterben“, ein zwangsläufiges Abschiednehmen von Familie, Freunden, Nachbarn ist. So erklärt sich auch die zunächst Erstaunen machende Beharrung auf der oft gehörten negativen Bewertung des Alters: „Niemand will alt werden!“ Eine positive „Entdeckung“: Bewältigungskompetenz im Alter Soweit die Alltagsbeobachtung. Die Forschung (BASE 1996) bestätigt das Überwiegen von Alterspessimismus nicht. Zwar ist mit dem Alter die Erlebnishäufigkeit abnehmend, dies aber kaum vor dem Beginn des neunten Lebensjahrzehnts. Auch dann verstärken sich nicht etwa die negativen Gefühlslagen. Im Gegenteil, diese nehmen ab. Untersuchungsergebnisse führen zu der These, dass mit zunehmender Hochaltrigkeit eine Tendenz zur Meidung aller außergewöhnlichen Gefühlslagen besteht, sozusagen als Selbstschutz vor Stresssituationen. Belastungssituationen seelischer und körperlicher Art werden nach Möglichkeit umgangen. Dazu verhilft eine lebenslange Erfahrung, wie andererseits die Beobachtung an sich selbst, daran Schaden zu nehmen. So werden individuelle Bewältigungsstile gegenüber als negativ empfundenen Ereignissen und Einflüssen entwickelt. Dies betrifft ebenso den Umgang mit dem eigenen verringerten Leistungsvermögen (BASE 1996, S. 329f). Alte Menschen reduzieren häufig kontinuierlich die einst gewohnte Komplexität der Alltagsverrichtungen (BASE 1996, S. 374); eine Art behutsamer Rückzug aus dem Leben. Grundsätzlich Gleiches gilt für den Umgang mit sozialökonomischen Risiken im Alter. Diese werden überraschender Weise – folgt man der Forschung – gelassen hingenommen. Dabei spielt freilich eine Rolle, dass Alte in materiell deprivierten Situationen bereits im Regelfall in jüngeren Jahren damit ihre Erfahrungen sammeln mussten. Die häufig angesprochene „Scheu“ oder auch der „Stolz“ im Falle materieller Bedürftigkeit den Gang zum Sozialamt zu meiden, scheint demnach in der Mehrzahl der Fälle nichts anderes als – gewohnte – Selbstbescheidung zu sein (BASE 1996, S. 331). Mit dem Alter umgehen können, Defizite im körperlichen und geistigen Bereich kompensieren lernen und angepasstes Verhalten zu üben – das alles gelingt gar nicht so wenigen. Die Angehörigen dieser Gruppe verkörpern das genannte Ideal des erfolgreichen Alterns. Immerhin einem Viertel der Senioren zwischen 70 und 105 haben die Berliner Altersforscher diese Lebensweise bescheinigt. Hoch-
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gerechnet auf die Gesamtpopulation der Berliner Alten macht diese Gruppe sogar 34 Prozent aus (BASE 1996, S. 245). Unterschiede in den Bewältigungsstilen zwischen den Geschlechtern sind für alte Menschen nicht nachgewiesen worden. Anders als in jungen Jahren, gleichen sich Frauen und Männer, jedenfalls was Fragen der Lebensbewältigung betrifft, mit den Lebensjahren offenbar einander an (BASE 1996, S. 578).
5.6 Gesundheitssysteme und soziale Sicherung Der Zugewinn an Lebensqualität im Alter ist wesentlich auf das Vorhandensein eines umfassenden Angebots gesundheitlicher Versorgungsleistungen zurückzuführen. Diese setzen mit ihren Behandlungs-, Operations-, Therapierungs- und Rehabilitationsmaßnahmen nicht erst im Alter an, sondern begleiten in Gesellschaften der westlichen Zivilisation den Menschen mit Beginn seines Lebens, bzw. schon in dessen Entstehungsphase. Dank der Bezahlbarkeit dieser Dienste, Voraussetzung dafür ist die Existenz eines Systems staatlicher sozialer Sicherung (vgl. Kap. 4), kommen diese heute grundsätzlich im Bedarfsfall allen – unabhängig von deren materieller Lage – zugute. Umgekehrt stellt sich eine gesicherte, weil bezahlbare, Nachfrage nach Gesundheitsleistungen ein. Die Nachfrage ist im übrigen Anreiz für Forschung und Anbieter von Behandlungsmethoden, in die Errichtung von Gesundheits- und Rehabilitationseinrichtungen u. ä. zu investieren. Die ständig steigende Nachfrage nach gesundheitsbezogenen und bezahlbaren Dienstleistungen hat – ausdrücklich: unter der Voraussetzung der Existenz des sozialen Sicherungssystems – einen umfassenden „Gesundheitsmarkt“ und damit eine große Zahl von Arbeitsplätzen geschaffen. Gesundheit und Leistungsfähigkeit im Alter sind zivilisatorische Errungenschaften der modernen Gesellschaft. Sie haben ihren Preis und werfen heute Fragen und Probleme der Finanzierbarkeit auf. Zu bedenken angesichts der Kostendiskussion ist aber, dass ohne Existenz des staatlichen sozialen Sicherungssystems, der Ausbau des Gesundheitswesens und dessen Erhalt in diesem Umfang nicht realisierbar wäre. Dieses System ist auch nur auf der Basis einer durch den Gesetzgeber zum Beitrag verpflichteten Solidargemeinschaft möglich und nicht auf Freiwilligkeit. Dabei werden die Leistungen für die nicht mehr oder nur eingeschränkt Leistungsfähigen durch die im Sinne des Gesetzgebers Beitragspflichtigen in Form von Sozialabgaben von ihren Einkommen getragen. Sie werden im Vertrauen darauf geleistet, im Bedarfsfall selber zu den Leistungsempfängern zu gehören (vgl. Kap. 4.). Da das Krankheitsrisiko im Alter steigt, sind mit dem
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Wachsen des Altenanteils in unserer Gesellschaft (vgl. Kap. 3.) die Sozialausgaben für die Gesundheit älterer Menschen in den europäischen Mitgliedstaaten (vor der Osterweiterung) zum größten Posten geworden. Der anhaltende demographische Wandel verschärft diese Entwicklung. Allein zwischen 1960 und 1985 stieg der Anteil am Brutto-Inlandsprodukt in der (alten) Bundesrepublik Deutschland von 9,7 auf 21,1 Prozent (Guillemard 1992, S. 615).
5.7 „Alltagstechniken“ als Lebenshilfe Der technische Fortschritt und die „Bezahlbarkeit“ von Produkten, die den Alltag erleichtern, sind ein nicht zu unterschätzender Faktor für die Bewältigung des Alters19. Dabei ist zunächst noch gar nicht an technische Hilfen wie Treppenlifte, Gehwagen und Roll-/Fahrstühle sowie behindertengerechte Türbreiten, Bett- und WC-Schüsseln in Extrahöhe, Haltegriffe, bedienungsfreundliche Armaturen etc. zu denken. Da 95 Prozent der über 65jährigen in Deutschland in ihren privaten Wohnungen leben (Vierter Altenbericht 2002, S. 188), spielt schon die Haushaltsausstattung mit technischen Geräten jeglicher Art, wie Telefon, TV, Kühlschrank und Geschirrspüler etc. eine Rolle. Bis auf das letztgenannte Gerät ist heute in westlichen Gesellschaften von einer annähernden Vollausstattung der Seniorenhaushalte zu sprechen. Ein Ergebnis, dass sich nicht von dem jüngerer Altersjahrgänge unterscheidet (Vierter Altenbericht 2002, S. 110)20. Kommunikationsmedien wie das Fernsehen ermöglichen Alten das „Teilnehmen an der Welt“, verhindern oder vermindern – maßvoll genutzt – Phasen der Einsamkeit. Weitere Möglichkeiten für die Zukunft, vor allem späterer Altengenerationen, versprechen die „Neuen Medien“, die neben dem Unterhaltungs- und Informationswert Alltagserleichterung, z. B. durch das Bestellen und Buchen via Bildschirm, ermöglichen. Als die Folgen des Alters erleichternde Techniken seien Hör- und Sehhilfen genannt (einschl. moderner Operationsmethoden zur Beseitigung bzw. Minderung alterstypischer Sehbeeinträchtigungen wie z.B. beim Katarakt). Hausnotrufe erhöhen die Sicherheit allein lebender Senioren und beruhigen Angehörige. Vorbehalte der Alten gegenüber neuer Technik spielen heute sicher noch eine Rolle, dürften aber bald bei den jüngeren „nachwachsenden“ und aus früheren Lebensphasen „technikgewohnten“ Senioren weitgehend verschwinden.
19 Vgl. Kruse (1992); Bundesministerium (2001, S. 189ff). Altersfreundliche Umwelten: Der Beitrag der Technik. In: Akademie 1992, S. 668ff 20 Zur Frage von Alter und Technik vgl. Wilde/Franke (2006, Kap. 6.2).
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Multiple Einsatzfelder altengerechter Technik Die geriatrischen Einsatzfelder von Technik sind vielfältig. Eine Auswertung von Daten des Dritten Altenberichts der Bundesregierung nennt: Prävention, Diagnostik, Therapie, ambulante Versorgung und die Pflege ergänzende und – unterstützende Dienstleistungen (Mollenkopf, Mix, Gäng, Kwon 2001, S. 328). Für eine effiziente Nutzung kommt es hier, wie bei anderer Technologie, auch auf die Akzeptanz seitens der Adressaten an. Eine Herausforderung an Pfleger, Therapeuten und Angehörige, nicht zuletzt auch an die Hersteller von Geräten – z.B. des Mobiltelefons. Wohnen und Alter Die Bedürfnisse behinderter Senioren werden seit Längerem beim Bau von Pflegeeinrichtungen und altengerechten Wohnungen berücksichtigt. Hier spielen neben den eingangs erwähnten Faktoren wie Türbreiten etc. auch die Flächen von Räumen (z. B. für das Drehen eines Bettes) eine Rolle. Es sollten für die Zukunft vermehrt preisadäquate und seniorengerechte Umbaukonzepte für die Weiterbenutzung von Wohnungen entwickelt werden, andererseits generell bei Wohnungsneubauten entsprechende Maßeinheiten – beispielsweise für Treppenhäuser – Bestandteil schon der Planung werden21. Für altengerechtes Wohnen sind in den letzten zwei Jahrzehnten viele neue Einrichtungen entstanden, die zum Teil von privaten Trägern, vor allem aber den Trägern der freien Wohlfahrtspflege22 betrieben werden. Diese Einrichtungen berücksichtigen neben den technischen Besonderheiten die sozialen Bedürfnisse alter Menschen. So fehlt es i. d. R. weder an Kommunikationsräumen23 und -angeboten, noch an Unterstellplätzen für private PKW der Senioren24. Pflegeeinrichtungen mit einer genügenden Bettenzahl sind angeschlossen.
21 Vgl. Höpflinger (2004): Traditionelles und neues Wohnen im Alter. 22 Vgl. zu den Trägern der freien Wohlfahrtspflege Anmerkung 76 in diesem Kapitel (vgl. auch Kap. 7.6) 23 Für diese Einrichtungen wird heute nicht nur auf eine gute verkehrstechnische Anbindung gedacht, sondern auch an die kurze fußläufige Erreichbarkeit urbaner Stadtzentren. In diesem Sinne ist gerade ein „Stadtdorf für Senioren“, betrieben von der Caritas, im mittelfränkischen Hilpoltsheim entstanden (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. Sept. 2005). 24 Laut Bericht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (vom 7. Sept. 2005) ist in den Niederlanden eine Stadt nur für Senioren geplant, für die noch 2005 der Grundstein gelegt werden soll. Mindestzuzugsalter: 55 Jahre.
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Alte und Verkehr Wichtig in einer alternden Gesellschaft ist auch die altengerechte Benutzbarkeit öffentlicher Verkehrsmittel. Gerade hier sind in den letzten Jahren ganz erhebliche Fortschritte erzielt worden (z.B. Einbau von Liften in Bahnhöfe, Niederflurbusse mit nur einer Einstiegstufe und Absenkvorrichtung). Auch die Autoproduzenten sind gefordert. Da immer mehr Senioren auch bis in das neunte und zehnte Lebensjahrzehnt hinein nicht auf die Nutzung eines Autos verzichten wollen (und können), besteht Bedarf nach entsprechender Ausrüstung und Gestaltung (Fahrzeughöhe, Türöffnungswinkel, Türbreite) von Fahrzeugen. Für das seniorengerechte Fahrzeug sollten die Parameter sich an Nützlichkeit (z.B. Unterbringungsmöglichkeit von Rollstühlen) und überschaubarem, weniger komplexem Ausstattungsumfang orientieren25. Da das Auto für viele nach wie mehr als ein Zweckgegenstand ist, nämlich meist auch ein Statussymbol, sollte das altengerechte Auto nach Außen besser nicht als solches erkennbar sein. Das „Opamobil“ würde am Markt scheitern. Seniorenwirtschaft als Wachstumsfaktor Der Bedarf an „technischer Bewältigung“ des Alters hat zur Entwicklung eines eigenen Marktsegments geführt. Dieser birgt, in Abhängigkeit von der wirtschaftlichen Gesamtentwicklung und der Kaufkraft große Wachstumspotentiale. Von „Seniorenwirtschaft“ ist – in Abkehr von der alten einseitigen Diskussion um Kosten- und Finanzierungsprobleme – inzwischen die Rede. Alte sind – gesund oder krank – Konsumenten. Altengerechte Produkte und Dienstleistungen – insbesondere aber nicht ausschließlich solche, die der Gesundheitspflege dienen26 – sind in der alternden Gesellschaft ein bedeutender Angebots- und Nachfragebereich geworden (Fünfter Altenbericht, 2005, S. 234ff).
25 Der japanische Autohersteller Nissan hat laut Bericht des Nachrichtenmagazins Der Spiegel (48/2004) ein spezielles Modell für Alte entwickelt. Besonderheiten: Schwenkbare Sitze zur Erleichterung von Einund Ausstieg, eingebauter Kran für das Manövrieren von Gehhilfe oder Rollstuhl. Auf dem deutschen Markt ist es bislang nicht „angekommen“. 26 Bereiche der Gesundheitswirtschaft: Förderung der selbständigen Lebensführung, Bildung und Kultur, Informationstechnologien und Medien, Freizeit, Reisen; Fitness und Wellness, Kleidung und Mode, alltagserleichternde Produkte und Dienstleistungen, „Anti-Ageing-Produkte“; spezielle Finanzdienstleistungen (5. Altenbericht 2005, S. 236)
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5.8 Aktivität gegen Altersabbau? Gestaltbares Altern Der Status von Alten wird heute ganz erheblich von der individuellen Leistungsfähigkeit mitbestimmt. Dennoch bleiben Bildung, der früher ausgeübte Beruf und natürlich die materielle Lebenslage, die Versorgung mit Einkommen usw. bedeutsam27. Wer „fit“ ist, genießt Anerkennung. Der „aktive Alte“ verkörpert das „Gegenbild“ zum Altersstereotyp des hilfsbedürftigen Greises. Ist die Konstitution dagegen durch Gebrechlichkeit, vor allem geistigen Verfall gekennzeichnet, so gehört man auch heute noch „zum alten Eisen“. Das „scharenweise“ Auftreten „aktiver Alter“, jener, die sich (äußerlich) erfolgreich dem Alternsprozess widersetzen, hat schon in den 1970er Jahren die so genannte Aktivitätstheorie (Rosenmayr 1976, 359)28 hervorgebracht. Deren Hauptthese ist die von der individuellen Gestaltbarkeit des Alterns, der Möglichkeit durch Aktivität den Alterungsprozess zu verlangsamen. Wichtig daran ist die Annahme, dass eigentlich erst die Erwartungen der Gesellschaft – also die Altersnorm – den Rückzug aus Aktivitäten verlangen würden. Experimente – bei allerdings kleinen Untersuchungszahlen – schienen zu bestätigen, dass Altern durch Aktivität aufhaltbar sei. Aktivitäts- versus Disengagementtheorie Gegen die Aktivitätstheorie behauptete die Disengagementtheorie wenig später, dass der Rückzug aus sozialen Rollen, kein gesellschaftlich erzwungener sei, sondern das Individuum damit eigenen Bedürfnissen aufgrund des Nachlassens der Kräfte folge (Rosenmayr 1976, S. 360)29. Die Alternsforschung der vergangenen Jahrzehnte hat eine Zeitlang die These der Aktivitätstheoretiker gestützt. Die Disengagementthese wurde zurück gewiesen. Beleg für die Richtigkeit Ersterer schien die Gruppe der rüstigen Frührentner und Altersteilzeitler zu sein, die nicht im Ruhe- und Rückzugsraum der Gesellschaft Platz genommen hatten, sondern sich mit Verve in einen neuen, sehr aktiven Lebensabschnitt begaben.
27 Die Zugehörigkeit zu sozialen Großgruppen wie Schichten oder Klassen, ebenso der Bildungsstatus sowie die Vermögens- und Einkommenslage haben Einfluss auf das Ansehen und die Selbstwahrnehmung alter Menschen. 28 Rosenmayr erwähnt Arbeiten von Sh. S. Tobin und B.L. Neugarten (1961). Die Aktivitätstheorie hat vor allem in den Sozialwissenschaften und der Psychologie einige Zeit Akzeptanz gefunden. 29 Rosenmayr verweist auf Elaine Cumming und William Henry (1961).
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Defizittheorie Die Hoffnung machende These von der „Machbarkeit“ des Alters steht im Gegensatz zur Abbau- oder Reduktionstheorie (auch: Defizittheorie). Sie beruft sich auf naturwissenschaftliche, insbesondere medizinische Studien. Die jüngere Alternsforschung hat die Zuversicht der Aktivitätstheoretiker deutlich gedämpft und der Defizittheorie neue Belege geliefert. Dabei wissen Anhänger dieses Modells sogar von den positiven Folgen des sich altersbedingt einstellenden Defizits zu berichten. So konnte der bekannte Alternsforscher Paul B. Baltes überzeugend darauf hinweisen, dass gerade dem Abbau der Leistungsfähigkeit jeglicher Fortschritt zu „verdanken“ sei30. „Die Defizite des Alters sind Quellen für Innovation“ (Baltes 2004) 31. Ob Baltes daran dachte oder nicht, aber der Leser erinnere sich einen Moment an die o. g. Entwicklung altersfreundlicher Technologien im Haushalt, für Ernährung, Verkehr. Auch diese sind Beispiel für die Richtigkeit seiner These. Die großen Alten und die Aktivitätstheorie Bestätigung erfuhren die Verfechter der Aktivitätsthese durch Beobachtungen, die z. B. im Alterssport gemacht wurden. Alte hatten in einigen Sportarten durch Training ihre Leistungen deutlich steigern können. Auch für das erfolgreiche Trainieren geistiger Leistungsfähigkeit gibt es Belege. So konnten Künstler, Wissenschaftler oder Politiker den höchsten Stand ihrer Leistung erst in einem Alter erreichen, in dem durchschnittliche Zeitgenossen sich lange zurückgezogen haben. Eindrucksvoll ist die Betrachtung ausgewählter Künstler-Biographien. Rosenmayr hat gezeigt, dass die produktivste Lebensphase bei dieser Personengruppe gerade nicht die Jugend ist. Komponisten erreichen erst in der Mitte des sechsten Lebensjahrzehnts ihren Schaffenshöhepunkt, Maler und Schriftsteller kommen jenseits der Schwelle der siebzig ein weiteres Mal auf einen Stand einer aus ihrer Biographie herausragenden hohen Produktivität (Rosenmayr 1976, S. 288f32). Der Dichter Gottfried Benn hat einmal vor Jahrzehnten, selbst damals schon ein Senior, eine Erstaunen machende Liste von Künstlern und Wissenschaftlern aus verschiedenen Zeitepochen zusammengestellt. Benn’s Liste demonstriert, dass Leistungsfähigkeit und hohes Lebensalter nicht notwendig Gegensätze sind. 30 Wie im Übrigen auch die Kürze der Lebensdauer stetiger Ansporn sein kann – eine durchaus nicht neue Erkenntnis. 31 Paul B. Baltes, ein Nestor der Alternswissenschaft, war Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin und einer der Hauptverantwortlichen für die Berliner Altersstudie, die in diesem Kapitel mehrfach zitiert wird, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 12. Mai 2004. Er starb Anfang 2007. 32 Nach Lehr 1972
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Das Durchschnittsalter der ausgewählten „Koryphäen“ lag bei 81 Jahren. Von allen ist überliefert, dass sie im hohen Lebensalter aktiv und kreativ blieben33. Eine andere, am oberen bürgerlicher Existenzen stehende Berufsgruppe, die durch beachtliche Aktivitäten im hohen Lebensalter oft Staunen machen, sind Wissenschaftler. Nicht wenige Mitglieder dieser Berufsgruppe gewinnen im höchsten Lebensalter an Ansehen noch hinzu. Sie erreichen dies durch Präsenz in der Fachgemeinschaft, mittels Publikationstätigkeit, Teilnahme an Kongressen und die Pflege ihrer Reputation durch einen Schülerkreis. Einige entwickeln gar eine Popularität, die über die Fachgemeinschaft hinausstrahlt34. Beispiele für gleichsam hoch betagte als auch mit hoher Reputation und öffentlicher Aufmerksamkeit bedachte Persönlichkeiten gibt es in Politik und Unternehmertum35. Aktivität und Ansehen im Alter haben ganz offenkundig auch 33 Die Liste umfasst 67 Personen. Unter ihnen: Maler, Bildhauer, Dichter, Schriftsteller und Musiker von der Antike bis zur frühen Nachkriegszeit (vgl. Schirrmacher 2004, S. 202). Die Ergebnisse sind natürlich nicht repräsentativ. Auch nicht für Künstler. Einige Jahrzehnte später wäre aus einer Neuauflage der Liste Benn’s mit Leichtigkeit ein noch höheres Durchschnittsalter zu errechnen gewesen. U.a. hätte der Schriftsteller Ernst Jünger aufgenommen werden müssen (s.o.). Der 102jährige publizierte bis kurz vor seinem Tod. 34 Dafür Personenbeispiele: Der 1991 101jährig verstorbene katholische Theologe, Sozialethiker und Sozialpolitiker Oswald von Nell-Breuning. Der Philosoph Hans-Georg Gadamer, der im Jahr 2000 102jährig verstarb, oder der 2004 mit 100 Jahren verstorbene Evolutionsbiologie Ernst Mayer. Der Soziologe und Philosoph Jürgen Habermas (Jahrgang 1929) scheint auf dem Weg dorthin. Auch Würdenträger der katholischen Kirche wären hier zu nennen. Nur ein Beispiel: Im Alter von 78 Jahren wurde Joseph Ratzinger am 19. April 2005 zum Papst gewählt. 35 Ausgewählte Beispiele für die Politik: Konrad Adenauer wurde mit 73 Jahren erster deutscher Bundeskanzler. 1963, mit 87 Jahren, trat er – auf Druck aus einer Partei – zurück. Er starb – bis zuletzt am politischen und öffentlichen Leben teilnehmend – 91jährig. In Italien wurde 1978 der damals 82jährige Sandro Pertini Präsident. Er blieb bis 1985 im Amt und verstarb 93jährig. Im September 2005 bereitete der 77jährige Muhammad Hosni Said Mubarak seine fünfte Periode als ägyptischer Präsident erfolgreich vor. Im November 2005 kündigte der israelische Ministerpräsident, der 75jährige Ariel Scharon, seinen Rückzug aus der Likud-Partei an, um in Kürze eine neue Partei zu gründen zu wollen. Anfang 2006 zwang ihn ein Schlaganfall allerdings zum Rückzug und für den Rest seines Lebens auf das Krankenlager. Zur Gruppe der „öffentlichen Senioren“ gehört auch der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt, Jahrgang 1918. Beispiele aus der Wirtschaft: Eine seit vielen Jahren öffentliche Figur ist der inzwischen 93jährige Vorsitzende des Kuratoriums der Alfried-Krupp-von Bolen und Halbach-Stiftung Berthold Beitz. Medienliebling ist der im Juni 2006 90 Jahre alt gewordene amerikanische Multimilliardär und Investor Kirk Kekorian, der immer wieder durch gewagte Finanzmanöver in die Schlagzeiten gerät. Mit 75 (März 2006) nicht ganz so alt, aber mindestens genauso aktiv ist der australische Medienmogul Rupert Murdoch, der sein Imperium auch im Rentenalter unangefochten „regiert“. Sehr alte Frauen spielen in der öffentlichen Wahrnehmung, solange sie nicht zu den „Rekordhaltern“ im Höchstalter gehören, kaum eine Rolle. Aber es gibt Ausnahmen. Dazu gehören: Elisabeth Noelle-Neumann, Jahrgang 1916, die Gründerin des Demoskopischen Instituts in Allensbach und – wie man hört – bis zur Stunde beruflich und wissenschaftlich aktiv. Marion Gräfin Dönhoff, die vielbeachtete Publizistin und Mitherausgeberin der bekannten Wochenzeitschrift „Die Zeit“, die bis zuletzt publizistisch aktiv und im öffentlichen
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mit der Zugehörigkeit zum „sozialen Oben“ und mit Prominenz zu tun. Die Beispiele (vgl. Anm. 34) stärken die Aktivitätsthese. Sie zeigen zugleich, dass es einen Zusammenhang zwischen dem individuellen Prozess des Alterns und dem sozialen Umfeld, insbesondere dem vormals ausgeübten Beruf und der Bildungsqualifikation gibt. Ein hoher formaler Bildungsgrad und eine anspruchsvolle berufliche Tätigkeit sind zwar keine Garantie für eine hohe Aktivität im Alter, aber sie wirken offenbar begünstigend. Und doch ist es einseitig, dieses schöne Bild vom „suspendierten Alter“. Denn das „Verfallsdatum“ des Lebens bleibt ja bestehen. Es ist nur verschoben. Einen „Garantieanspruch“ auf ein langes und möglichst leidensloses Leben gibt es – trotz der Errungenschaft der Moderne – so wenig wie eine Bürgschaft auf die späten Erfolge einer gesunden und körperlich aktiven Lebensweise. Noch immer gibt es den frühen Tod und das in jungen Jahren einsetzende Leiden. Auch wenn die Hochbetagtenforschung zeigt, dass es grundsätzlich möglich ist, die funktionelle Autonomie noch im Alter von 100 Jahren zu bewahren, so hat sie ernüchternd ergänzen müssen, dass nur einer Minderheit von 10 bis 25 % dies auch gelingt36. Verlust der Alltagskompetenz im Alter Den Optimismus verbreitenden Thesen der Aktivitätstheoretiker fehlt es zumeist an einer zureichenden Datenbasis. Verallgemeinerbare Forschungsresultate gibt es erst seit wenigen Jahren. Die Berliner Altersstudie (s. o.), bestätigt einen mit dem Alter einhergehenden geistigen Abbau. Zwar wies ein Viertel der Teilnehmer ein psychologisches Profil auf, das dem Bild des „erfolgreichen Alterns“ entspricht, und als „psychisch gesund“ erwiesen sich 44 Prozent. Auf der anderen Seite waren aber auch 35 Prozent der Senioren durch psychische Einschränkungen belastet, knapp ein Viertel war eindeutig psychisch krank, die Hochbetagten mehr als die unter 85jährigen (BASE 1996, S. 22137). Blickfeld stehend, 2002 92jährig starb. Die Dichterin Hilde Domin, die mit 90 ihren letzten Gedichtband vorlegte und auch danach gelegentlich öffentlich präsent war. Sie starb 96jährig im Februar 2006. 101 Lebensjahre erreichte die wegen ihrer Verwicklung in das NS-Regime umstrittene Regisseurin und Fotografin Leni Riefenstahl. Sie erstaunte mit ihrer sportlichen und geistigen Präsenz bis zuletzt (u. a. lernte sie – um Unterwasseraufnahmen machen zu können – das Tauchen mit über 90). 36 Vgl. Heidelberger Hundertjährigen-Studie (2000), hrsg. Vom Deutschen Zentrum für Alternsforschung (DZFA); Forschungsbericht Nr. 9. Untersucht wurden auf der Basis von 349 Adressen im Großraum Rhein/Neckar, Darmstadt-Dieburg 30 exakt hundertjährige Personen mit persönlichen Interviews und Befragung von Betreuungspersonen. 87 Prozent waren Frauen. (http://www.dzfa.uni-heidelberg.de/ AfE/afeframemain.html). 37 In der Heidelberg Hundertjährigen Studie erwiesen sich 54 Prozent als psychisch unauffällig, 36 Prozent aber zeigten ein klinisch relevantes Ausmaß an depressiven Symptomen (2001, S. 82).
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Psychische Erkrankungen gehen häufig mit einer Verschlechterung der allgemeinen körperlichen Verfassung einher. Kognitive Leistungsfähigkeit (Intelligenz), insbesondere Wahrnehmungsgeschwindigkeit, Gedächtnis und Wissen sind die Basis für das „Zurechtkommen“ im Alltag. Etwa 40 Prozent der Abweichungen bei der Alltagskompetenz erklären die Berliner Altersforscher mit einer durch Alter Schaden genommenen Intelligenz (BASE 1996, S. 225). Oft ist es aber „nur“ die Angst vor dem Versagen, vor dem Verlust der Alltagskompetenz, die als Auslöser von Krankheiten wirkt. Zwar fürchten Alte sich zumeist nicht vor dem Tod, aber doch vor dem Leiden und Sterben. Sie „horchen dann in sich hinein“, deuten Symptome des Nachlassens der Kräfte, Schmerzen usw. als Anzeichen nahen Siechtums und werden aus Angst über eine Verschlimmerung in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt. Sie klagen dann über Schlafstörungen, Appetitlosigkeit und innere Unruhe. Hinzu kommt das Gefühl der Einsamkeit, unter dem vor allem Frauen, weil sie die Männer zumeist überleben, zu leiden haben. Das kann Depressionen und Phobien auslösen. Umgekehrt können körperliche Erkrankungen die Ursache psychischer Störungen sein (Hirsch 1992, S. 16ff). Die Berliner Altersstudie hat bei den über 70jährigen einen Anteil von 27 Prozent depressiv Erkrankten ermittelt, allerdings ein bisher vermutetes lineares Ansteigen dieses Krankheitsbefunds jenseits des 70. Lebensjahres eindeutig nicht nachweisen können. Frauen scheinen – aber das ist eine Vermutung – höher belastet zu sein. Letzteres ist auch für jüngere Lebensalter beobachtet worden (BASE 1996, S. 200 ff). Alter und Demenz Eindeutig ist der Zusammenhang zwischen hohem Lebensalter und Demenzen. Mit zunehmendem Lebensalter steigt der Anteil von Altersdemenzen, also schwerwiegenden und nicht heilbaren organischen Erkrankungen des Gehirns. Die Alzheimersche Krankheit ist ein Typ der Altersdemenz und gilt als die häufigste altersspezifische Erkrankung – körperliche also eingeschlossen – überhaupt (Akademie der Wissenschaften 1992, S. 162). Die Ursachenforschung hat bisher zu wenig hilfreichen Erkenntnissen geführt. Therapien können in absehbarer Zukunft bestenfalls den Verlauf verlangsamen, und dies auch nur bei frühzeitiger Diagnose. An Formen der Altersdemenz litten in der Berliner Untersuchungsgruppe bei den 70jähren vierzehn Prozent. Bei den 90jährigen war der Anteil auf vierzig Prozent gestiegen. Frauen sind stärker betroffen als Männer, und das Risiko scheint durch soziale Faktoren beeinflusst. So waren Frauen mit höherer Bildung, auch solche mit früherer Berufstätigkeit, weniger belastet. Dagegen tragen Frauen mit dem niedrigsten Schulabschluss gegenüber Absolventinnen höherer Bildungseinrichtungen ein um das 2,7fache höhere Demenzrisiko (BASE 1996, S. 204).
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Organischer Rückbau und funktionale Leistungsreduktion Der organische Rückbau beginnt lange vor dem Eintritt in die Lebensphase Alter. Grundsätzlich muss von einem fortschreitenden Verlust der organischen Leistungsfähigkeit mit Beginn des Erwachsenenalters ausgegangen werden. Die Auswirkungen werden allerdings oft erst im Alter spürbar. Bereits ab fünfzig ist mit einer beträchtlichen Einbuße der Sehkraft zu rechnen. Drei von fünf der über 75jährigen, Frauen stärker als Männer, sind von einem Nachlassen der Sehkraft betroffen (Zins 1987, S. 194). Zehn Prozent der 60-69jährigen und 25 bis 35 Prozent der über 80jährigen sind – auf ihrem besseren Auge (!) – von einem Sehverlust von fünfzig bis achtzig Prozent betroffen (BASE 1996, S. 381f)38. Unter einer Verschlechterung der Hörkraft leiden dagegen Männer stärker als Frauen. Allerdings verringert sich der Abstand zwischen den Geschlechtern mit zunehmendem Alter. Auch hierbei beginnt das Altern früh. Die Fähigkeit für das Hören hoher Töne sinkt bereits jenseits des zwanzigsten Lebensjahrs kontinuierlich. Neben der Verschlechterung der Hörfähigkeit treten Störungen wie Tinnitus (Ohrenklingeln) und Krankheiten des Gehörs auf (BASE 1996, S. 382f)39. Die sensorischen Fähigkeiten, vor allem Sehkraft und Gehör40, haben zentrale Bedeutung für die Alltagskompetenz und die Ermöglichung sozialer Beziehungen. So führt ein Nachlassen zu einer Verlangsamung der Bewegungsabläufe und zu einer Zunahme eines allgemeinen Unsicherheitsbefindens. Verringerte Hörkraft kann verzerrte Wahrnehmungen hervorrufen und schließlich zum sozialen Rückzug führen. Aber auch für die allgemeine geistige Leistungsfähigkeit sind sensorische Fähigkeiten die Basis41. Große Bedeutung kommt dem Gleichgewichtssinn zu. Seine Verschlechterung bewirkt ebenfalls eine Verlangsamung und Verunsicherung aller Bewegungsabläufe, insbesondere beim Gehen. Etwa 60 Prozent der über 65jährigen Frauen und 30 Prozent der gleichaltrigen Männer leiden unter Schwindelanfällen (BASE 1996, S. 384). Die häufige Verkettung eingeschränkter sensorischer Fähigkeiten steigert das Gefühl der Unsicherheit und erhöht das Risiko von Stürzen.
38 Diese Daten beziehen sich auf den sog. Fernvisus (Fernsehschärfe). Die Ergebnisse der Tests für den Nahvisus (Nahsehschärfe) bewegen sich in einem ähnlichen Bereich. Aspekte wie Gesichtsfeld, Farbenund Dunkelsehen sind ebenfalls relevant, wurden in der Untersuchung aber nicht berücksichtigt (BASE 1996, S. 380) 39 Vgl. den Abschnitt Krankheiten in diesem Kapitel. 40 Zu den sensorischen Fähigkeiten gehören auch Schmecken, Riechen, Tasten und der Gleichgewichtssinn. Dieser gilt als „Sinn höherer Ordnung“ (BASE 1996, S. 383). 41 Untersuchungen haben gezeigt, dass für Vergleichsgruppen im Alter zwischen 15 und 54 die sensorischen Fähigkeiten für die Intelligenz eine geringere Rolle spielten als bei alten Versuchspersonen spielten (BASE 1996, S. 227).
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Alter ist sichtbar und fühlbar Das Alter ist, wenn auch mit sehr großen individuellen Unterschieden, dem Menschen (und nicht nur ihm) anzusehen. Neben dem Ergrauen und Schütterwerden der Haare altert die Haut. Sie verliert ihre Elastizität und Geschmeidigkeit und neigt zur verstärkten Falten- und Fleckenbildung. Gesichtszüge werden schärfer, die Körperhaltung gebückt, Bewegungen verlangsamen sich, das Gebiss wird zunehmend schad- und lückenhaft42. Nicht sichtbar für Betrachter und Betroffene altern die Organe. Durchschnittlich verlieren Herz und Nieren zwischen dem zwanzigsten und dem neunzigsten Lebensjahr etwa fünfzig Prozent ihrer Leistungsfähigkeit. Die Lunge büßt bereits ab dem dreißigsten Lebensjahr an Leistung ein. Bis zur Mitte der 70er hat sie ihre Kapazität um rund fünfundvierzig Prozent reduziert. Die Sauerstoffaufnahme sinkt um fünfzig Prozent. Das menschliche Skelett wird brüchig. Da Calcium ab etwa dem vierzigsten Lebensjahr durch den Körper nicht mehr ausreichend absorbierbar ist, verlieren die Knochen ihre Elastizität. Die Folge: ein Viertel der Alten ist durch Knochen- und Gelenkbrüche gefährdet. Gelenke altern, verschleißen und verändern sich krankhaft. Insbesondere Knie, Fußgelenke und Hüften sind betroffen. Zunehmender Verschleiß der Wirbelsäule tritt bereits häufig in der Lebensmitte schmerzhaft auf und führt dann spätestens im höheren Lebensalter zu erheblichen Bewegungseinschränkungen43. Die Muskelkraft bildet sich zurück, was nicht allein mit einem Verlust an Kraft, sondern auch einer Reduktion der Koordinationsfähigkeit der Körperorgane einhergeht. Der Rückgang des Hormonflusses durch die Adrenalindrüse verringert die Fähigkeit mit Stress umzugehen. Für Frauen bewirkt er das Eintreten der Menopause. Eine Schwächung des Immunsystems führt zu höherer Infektions- und auch allgemein Erkrankungsgefahr, ebenso zu einer Verlängerung von Gesundungsphasen. Das Nervensystem verlangsamt seine Funktion. Das führt nicht allein zu einer Verringerung des Tempos der Bewegungsabläufe, sondern aller organischen Funktionen. Die schlechter werdende Blutversorgung des Gehirns hat Einfluss auf die kognitive Leistung, ist aber auch eine schleichende Gefahr für den gesamten Organismus (Zins, 1987, S. 194). Hinzu kommt eine Funktionsschwäche der Blase und der Analmuskulatur, bei Männern zusätzlich der Prostata. 42 Einbußen des Gebiss’ werden heute weniger als alternsbedingt, denn als Folgen der Vernachlässigung der Mundhygiene in der Vergangenheit gewertet. In der Berliner Untersuchung waren 52 Prozent zahnlos, wobei die höchste Altersgruppe (95+) nicht die höchste Zahnlosigkeit aufwies (BASE 1996,S. 430f). Neben den technischen Möglichkeiten der Mundhygiene hat hier in der Vergangenheit vor allem das entsprechende Bewusstsein für die Notwendigkeit aufwändiger Pflege gefehlt. Auch die Ernährung spielt eine Rolle. 43 Vgl. den Abschnitt Krankheiten in diesem Kapitel.
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5.9 Reduktion und zugleich Nivellierung des Leistungsvermögens? Die kognitive Leistungsfähigkeit (Intelligenz) von 70jähren und Älteren ist in der Berliner Altersstudie in fünf Bereichen mit verschiedenen Tests untersucht worden. Dabei ging es um Denkfähigkeit, Wahrnehmungsgeschwindigkeit, Gedächtnis, Wissen und Wortflüssigkeit. Was zunächst nicht erwartet wurde: die Berliner Senioren bestätigten die Reduktions-/Defizitthese. Durchschnittlich sinkt das Leistungsvermögen mit zunehmendem Alter – und zwar ausdrücklich bei Abwesenheit solcher Krankheiten, die Einfluss auf geistige Fähigkeiten haben. Allerdings gibt es deutliche individuelle Unterschiede (BASE 1996, S. 359)44. Differenzen gibt es auch im Vergleich der Fähigkeiten zueinander. Dabei nehmen die mechanisch-fluiden Fähigkeiten im Alternsprozess früher ab als die pragmatischkristallinen (BASE 1996, S. 225). Unter dem ersten Begriff versteht die Psychologie die weitgehend wissensunabhängige Fähigkeit zur schnellen Informationsverarbeitung (Mechanik der Intelligenz). Der zweite Begriff bezeichnet die wissensabhängigen Fähigkeiten. Das bedeutet, dass lebenslang erworbene Wissensbestände beim älteren Menschen nur in geringerem Maße abgebaut werden und – was wichtig ist – dass diese geeignet sind, altersbedingte Abbauprozesse im Bereich der fluiden Intelligenz teilweise zu kompensieren. Zwar nehmen auch Wissen und Wortflüssigkeit mit zunehmendem Alter ab, dies aber in geringerem Umfang als dies bei Denkfähigkeit und Wahrnehmungsgeschwindigkeit der Fall ist. Der Rückbau erfolgt kontinuierlich. D.h. die Verringerung des kognitiven Leistungsvermögens verhält sich parallel zum voranschreitenden Alter. Die Zahl solcher Personen, die im hohen Alter eine Stabilität des kognitiven Leistungsvermögens aufweisen, ist dagegen gering (BASE 1996, S. 225). Mehr als ein Drittel des Leistungsabbaus ist eindeutig auf das Altern zurückzuführen. Vergleicht man siebzig bis achtzigjährige mit noch Älteren, so sind die Mitglieder der altershöheren Gruppe deutlich stärker vom Abbau betroffen45. Der Anteil der Alten mit „unerwünschten Eigenschaften“ ist unter den Hochbetagten jenseits des vierundachtzigsten Lebensjahres deutlich höher – hier macht er über ein Drittel aus – als bei den Übersiebzigjährigen (BASE 1996, S. 245). Die stärksten Einbußen wurden bei der Wahrnehmungsgeschwindigkeit beobachtet (BASE
44 Diese Tests wurden unter Ausschluss von 109 (gesamt 516) Personen mit klinischer Demenzdiagnose durchgeführt. 45 Optimistischer sind die Ergebnisse einer älteren Längsschnittstudie, die in USA in den 1980er durchgeführt wurde. Die sogen. Seattle-Studie ermittelte, dass fünfundsiebzig Prozent der 60 und immerhin noch über fünfzig Prozent der über 80jährigen in wenigstens vier von fünf getesteten Bereichen ihre kognitive Leistungsfähigkeit erhalten hatte (Akademie 1992, S. 193).
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1996, S. 371), was im Zusammenhang mit der Verschlechterung der sensorischen Fähigkeiten stehen dürfte. Sind im Alter alle gleich? Der tendenzielle Abbau verschont niemanden. Betroffen sind sowohl Personen mit in jüngeren Jahren niedriger kognitiver Leistungsfähigkeit als auch solche mit hoher. Die Forschung spricht von einer Dedifferenzierung der Fähigkeitsstruktur im Alter. D. h., mit den Jahren gleichen sich die kognitiven Fähigkeiten der Menschen an. Die Bedeutung von in jüngeren Jahren verschieden entwickeltem Leistungsvermögen geht zurück, wenn auch Differenzen nicht ganz verschwinden (BASE 1996, S. 359 ff)46. Die gern kolportierte These, dass Personen mit hohem Bildungsniveau und/oder starkem körperlichem Leistungsvermögen weniger vom alternsbedingten Rückbau betroffen sind, findet durch die Forschung inzwischen kaum noch Unterstützung. Zumindest Bildung schützt vor dem Altern nicht! Unterschiede bei der Geschlechtszugehörigkeit fallen in diesem Zusammenhang nicht auf. Es gibt keine Überlegenheit des einen oder des anderen Geschlechts. Vergleicht man Frauen und Männer und isoliert dabei den Einfluss der Bildung47, so ergeben sich im Alter keine Unterschiede des kognitiven Leistungsvermögens (BASE 1996, S. 365). Dennoch wäre die Schlussfolgerung „Alter ist der große Gleichmacher“ falsch. Auch die These vom individuellen Altern ist bestätigt worden. In beiden Altersgruppen – also bei den bis 80jährigen und ebenfalls bei den älteren – so fand die Berliner Forschergruppe heraus – fanden sich jeweils Personen, die dem allgemeinen Alternstrend nicht entsprachen. Es gab also sowohl „fitte“ Alte unter den Hochbetagten, aber sie sind die „Ausnahmealten“, als auch altersbedingt reduzierte schon unter den jüngeren Alten (BASE 1996, S. 244). Sozialstrukturelle, biographische48 und vermutlich auch genetische Gründe (BASE 1996, S. 368) geben Spielraum für „individuelles Altern“. Sofern Demenzen ausbleiben49, erhalten sich Unterschiede in der kognitiven Leistungsfähigkeit 46 Bei diesen Tests waren die Personen mit Demenzdiagnose eingeschlossen, beeinflussen also das Ergebnis negativ. Die Testergebnisse decken sich mit den Resultaten anderer Untersuchungen (BASE 1996, S. 361). 47 Frauen im Seniorenalter verfügen heute aufgrund der früheren Benachteiligung im Zugang zu höheren Bildungseinrichtungen und eines anderen weiblichen Leitbildes, über einen wesentlich geringeren Umfang an formaler Bildung. Das wird sich in der Zukunft wegen der seit den 1970er Jahren stark gestiegenen Bildungspartizipation der Mädchen und Frauen ändern. 48 Gemeint sind hier z.B. Einflüsse durch die erworbene Bildung, ausgeübten Beruf, Einkommen, „schicksalhafte Ereignisse“ (Kriege, Krankheiten, Todesfälle), Lebensweise u. a. 49 Bei Demenzen treten zusätzlich zum übrigen starken Leistungsabbau Sprach- und Gedächtnisstörungen auf.
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bis ins höchste Alter (BASE 1996, S. 373). Ein über das ganze Leben hohes kognitives Leistungsniveau erhöht auch die Wahrscheinlichkeit für ein sehr langes Leben, aber es garantiert dieses nicht. Vermutlich ist großes Leistungsvermögen im hohen Alter das Ergebnis „guter Erbanlagen“ und eines „erfolgreich“ – also auch „gekonnt“ im Sinne des Umgehens mit sich selbst und den Ereignissen – gelebten Lebens. Ein sehr langes Leben stellt sich dann „fast von selber“ ein. Aber auch diese Annahme ist mit Vorsicht zu behandeln. Wie die Heidelberger Hundertjährigen-Studie zeigt, haben auch Nichtgesunde eine Chance die magische 100 zu erreichen. Die „natürliche Selektion“ sorgt nämlich nicht unbedingt für ein vorzeitiges Ausscheiden durch den Tod. Dies zeigt sich am sehr verschiedenen Gesundheitszustand der Untersuchungspersonen: 26,6 Prozent wiesen eine gute bis ausgezeichnete körperliche Verfassung auf, 50 Prozent geringe bis mäßige Einschränkungen, während 23,4 Prozent mit starken bis totalen Einschränkungen leben mussten (2000, S. 26)50.
5.10 Stabilität der Persönlichkeit Im Laufe der Sozialisation eines Menschen reift seine Persönlichkeit. Mit dem – heute immer mehr fließenden – Abschluss der Lebensphase Jugend51 wird von einem ausgebildeten Selbst, dem Entstandensein einer Identität ausgegangen. Auch wenn wir feststellen, dass die damit verbundenen Eigenschaften, Anschauungen und Selbstbeschreibungen keine lebenslangen Konstanten sind, weil gesellschaftliche und eigene Entwicklungen weiter gehen, Erlebnisse und Eindrücke psychisch verarbeitet werden und Veränderungen in den eigenen Sichtweisen und Handlungsorientierungen bewirken können, so sind sie doch in hohem Maße stabil. Eigenschaften wie Verlässlichkeit, Berechenbarkeit, Hartnäckigkeit, Neugier, ebenso auch Sprunghaftigkeit, Unzuverlässigkeit, Unbeherrschtheit u. a. werden in der Kindheit und Jugendphase entwickelt und verändern sich nach Erreichen des Erwachsenenalters – also nach etwa Mitte der Zwanziger Jahre kaum mehr52. Aber hält das Selbst auch dem Übergang in die Lebensphase Alter stand? 50 Alle Befragten waren genau hundert Jahre alt. 51 Sie wird gegenwärtig in der Literatur mit 18 bis 21 Lebensjahren angegeben. Bis zum Erreichen des Erwachsenenalters wird heute aber noch eine Phase der „Postadoleszenz“ angefügt, die mit 27 bis 29 Lebensjahren endet. 52 Die Fachliteratur definiert den Abschluss der Lebensphase Jugend unterschiedlich, heute zumeist mit 25 (Shell-Jugendstudie) oder auch 29 Jahren. Seit einiger Zeit wird eine Verlängerung der Jugendphase beobachtet, verursacht u. a. von langen Bildungs- und Ausbildungsabschnitten und den Unsicherheit am Arbeitsmarkt.
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Die Forschung hat eine beträchtliche Stabilität der Struktur der Persönlichkeitseigenschaften – zumindest bis zum achtzigsten Lebensjahr -nachgewiesen53. Der Befund ist hier also gegenteilig zu dem des deutlichen Nachlassens der kognitiven Fähigkeiten. Es ist allerdings auch zu sehen, dass die gemeinhin wünschenswerten Eigenschaften im Alter eher zurückgebildet werden, während weniger wünschenswerte zunehmen. Weisheit, Gelassenheit und Güte im Alter sind keine Merkmale, mit denen Alte per se beeindrucken können. Eine über die Jahre eher negativ ausgebildete charakterliche Gesamtdisposition wird sich im Alter eher verstärken. Eine positive Konstellation wird bleiben, sich unter dem Einfluss von Rückbauprozessen und sozialer Isolation aber ebenfalls zurückbilden. Überwiegend wird im Alter eine „psychologische Widerstandsfähigkeit“ entwickelt, die für Beobachter langläufig als „Abgeklärtheit“ wahrgenommen wird. Alte Menschen wehren solche Einwirkungen und Einflüsse von außen ab, von denen sie annehmen, dass diese für sie schädlich seien. Wir haben es hier mit Bewältigungskompetenz (vgl. Kap. 5.5; Bundesministerium 2001, S. 55) zu tun, woraus im Ergebnis wesentlich die schon erwähnte bemerkenswert hohe Zufriedenheit im Alter resultiert. Daraus zu folgern, Alte seien in ihrer Sensibilität reduziert, ist dennoch falsch. Alte erhalten sich überwiegend durchaus ihre Offenheit und Neugier, wenngleich sie Neues kritischer als Jüngere wahrnehmen (BASE 1996, S. 321ff). Zur Persönlichkeit gehört die eigene Wahrnehmung, das Selbstbild. In hohem Alter und durch Wirkung gesundheitlicher Einbußen, die zur Hilfsbedürftigkeit führen können, ist mit Veränderungen der eigenen Wahrnehmung zu rechnen. Gerade bei relativ stabiler kognitiver Leistungsfähigkeit werden sich unter dem Eindruck des immer weniger Könnens und sich einstellender Hilflosigkeit, zwangsläufig auch Auswirkungen auf das Zufriedenheitsgefühl einstellen. Einfluss ist dabei von Seiten der äußeren Lebensumstände zu erwarten. Eine soziale Umgebung, die fordert und zugleich anerkennt, wird hier andere Wirkungen zeigen, als eine, die beständig und übertrieben umsorgt, abhängig von Hilfe macht und dadurch Disengagement noch verstärkt. Selbstunterschätzung ist daher häufiger bei Heimbewohnern („Heimeffekt“) beobachtet worden (Akademie 1992, S. 190). Wobei zu berücksichtigen ist, dass dem Einzug ins Pflegeheim heute im Regelfall die Attestierung des Pflegestatus vorausgeht, Heimbewohner daher generell bereits bei Eintritt in das Heim schon pflegebedürftig sind. 53 Dies haben amerikanische Längsschnittstudien gezeigt (BASE 1996, S. 228). Längsschnittuntersuchungen messen die Veränderung von Variablen (z.B. Eigenschaften, Fähigkeiten) im Zeitverlauf. So lässt sich die Leistungsfähigkeit einer z.B. 30jährigen Person mit ihren eigenen, später ermittelten Daten vergleichen und damit Veränderungen feststellen. Längsschnittuntersuchungen liefern für die Alternsforschung also sehr wichtige Ergebnisse, organisatorischer und finanzieller Aufwand sind freilich hoch.
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Bemerkenswert ist die offensichtlich geringe Wirkung kritischer Lebensereignisse auf das Wesen der Persönlichkeit und deren Stabilität. Dramatische politische, naturbedingte, wirtschaftliche Ereignisse aber auch persönliche Schicksalsschläge werden von „stabilen Persönlichkeiten“ verarbeitet, ohne das erkennbare Veränderungen in ihrem Wesen stattfinden. Umgekehrt scheint dies auch für labile Charaktere zuzutreffen, die hinsichtlich der Erlebnisverarbeitung eine oft heikle Form beibehalten. Eindeutige Vorhersagen für die späte Persönlichkeitsentwicklung sehr alter Menschen, sind nach dem Stand der Forschung derzeit nicht möglich (Akademie 1992, S. 198)54. Gern wird kolportiert, Alte seien „rückwärtsgewandt“ und ablehnend allem Neuen gegenüber eingestellt. Richtig daran ist, dass Neugierde und Begeisterungsfähigkeit im Alter mitunter einer Abgeklärtheit weichen. Das stellt aber nicht das Interesse an der Gegenwart und Zukunft infrage, insbesondere dann, wenn eigene Angehörige einbezogen sind. Die „Selbstdefinition“ von Senioren hat durchaus etwas mit dem Teilhaben an der Gegenwart und auch mit Plänen für die nächste Zukunft zu tun. Der Tod als bald erwartetes Ereignis ist dagegen kaum ein Thema. Zu der Frage, was ihnen wichtig sei, machten in der Berliner Altersstudie zum Tod lediglich 7 Prozent eine Aussage (BASE 1996, S. 231). Von einer stabilen Persönlichkeit im Alter kann allerdings nur gesprochen werden, wenn psychische Erkrankungen in der späten Lebensphase weitgehend ausbleiben. In der Folge einer Demenz dagegen treten erhebliche Veränderungen auf. Dabei bleibt die emotionale Grundhaltung zwar weitgehend stabil, es kommt jedoch zu einer abnehmenden Impulskontrolle. Betroffene sind dann immer weniger spontan, wirken verschlossen, apathisch, desinteressiert und „chaotisch“ in ihren Alltagsaktivitäten (Vierter Altenbericht 2002, S. 172).
5.11 Krankheiten im Alter Das zunehmende Krankheitsrisiko im Alter ist trotz ständigem Anstieg der Lebenserwartung und einem Sinken der „Krankenkurve“ im Zeitverlauf ein Faktum geblieben (vgl. Abbildung 7). Zwar verschieben sich heute durchschnittlich
54 Interessant ist hier die Beobachtung des Spätwerkes von Künstlern, hinsichtlich möglicher Veränderungen, auch solcher, die nicht (allein) auf typische Altersreduktionen zurückführbar sind. Dies ist z. B. für den berühmten französischen Impressionisten Claude Monet untersucht worden. Dieser durchlebte nach dem Tod seiner zweiten Frau nach 1912 nochmals eine sehr aktive Schaffensphase, die deutliche Wechsel seiner Topoi erkennen lässt und dem Spätwerk einen besonderen Stil verleiht (van den Berg, 2005, S. 249).
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der „Ausbruch“ – besser das Erkennen und Wahrhabenwollen – und auch die Behandlungsnotwendigkeit von Krankheiten in ein höheres Lebensalter, und vielfach ist das Bemerken erst mit dem Auftreten von Organfunktionsstörungen verbunden. Viele Krankheiten bleiben lange latent, kommen „schleichend“ und symptomarm daher, ihre Verlaufsform ist chronisch und progressiv, und am Ende verursachen sie oft eine lange Invalidität. Schwierig für ärztliche Behandlungen ist, dass Krankheiten oft empfindlich gegenüber anderen schon vorhandenen Erkrankungen sind. Dadurch lassen sich wirkungsvolle Therapierungen kaum realisieren (Hirsch 1992, S. 17). Abbildung 7:
Altersspezifischer Anteil der Bevölkerung im früheren Bundesgebiet, der in den letzten vier Wochen krank war
Anteil derjenigen, die nach eigenen Angaben zum Zeitpunkt der Befragung (1992: Mai, sonst jeweils April) oder in den vier Wochen davor krank waren (in % derjenigen, die auf diese Frage geantwortet haben). Quelle: Eigene Berechnungen aus Angaben des Statistischen Bundesamts (Fachserie 12, Reihe S 3). Quelle: Vierter Bericht zur Lage der älteren Generation (2002, S. 146)55
55 Bemerkenswert an dieser Tabelle ist der für alle Altersgruppen absinkende „Krankenstand“ im Zeitverlauf.
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Gesundheitsgefühl Der objektive Gesundheitszustand und das Empfinden darüber (Subjektive Gesundheit) scheinen mit zunehmendem Alter offenbar – anders als in jüngerem Lebensalter – positiv voneinander abzuweichen56. D. h. die eigene Gesundheit wird im Alter durchschnittlich besser eingeschätzt als sie objektiv gemessen ist. Es gibt allerdings Hinweise darauf, dass sich das Verhältnis von Wahrnehmung und objektivem Zustand in sehr hohem Alter auch wieder umkehren könnte. Andererseits fühlen sich Alte deutlich häufiger gesundheitlich eingeschränkt, als es bei Jüngeren der Fall ist. Von den ab 65jährigen empfinden sich 63,6 % auf Grund von Krankheit oder Unfallfolgen ein Jahr lang oder länger körperlich beeinträchtigt. Bei den 15-40jährigen sind es dagegen nur 12,4 % (Burzan 2002, S. 2757). Die Gesundheitswahrnehmung ist davon geleitet, ob funktionale Einbußen bestehen, oder chronische Erkrankungen eher latent bleiben bzw. sich erfolgreiche persönliche Bewältigungsstrategien im Alter entwickeln ließen. Außerdem relativiert sich mit zunehmendem Alter der Gesundheitsbegriff. „Gute Gesundheit“ im Alter bedeutet nicht die vollständige Abwesenheit von Beschwerden und funktionalen Einschränkungen, sondern wohl eher das Nichterleidenmüssen starker Schmerzen und deutlicher Funktionseinbußen. Vor allem vergleichen sich Alte mit Gleichaltrigen und nicht mit Jüngeren und finden so ihren ganz persönlichen, immer relativen Gesundheitsbegriff. In diesem Zusammenhang spielt das Persönlichkeitsprofil (s. o.) eine Rolle, ebenso die psychische Gesundheit, die Bildung und das Vorhandensein sozialer Kontakte (BASE 1996, S. 465f). Eine wichtige negative Wahrnehmung im Alter und von Alter ist das häufige Gefühl der „Erschöpfung und Müdigkeit“. Durchschnittlich 42 Prozent der deutschen Bevölkerung der über 70jährigen klagen darüber58. Vielfach wird auch ein Zustand des „Durcheinanders“ bemerkt, und 30 Prozent klagen über Kopfschmerzen (Vierter Altenbericht 2002, S 145). Chronizität und Multimorbidität Eine Minderung der Lebensqualität geht von dem Auftreten bzw. dem Spürbarwerden häufig mehrerer parallel bestehender Krankheiten aus. Diese sind in der Regel chronisch, d. h. nicht heilbar, so dass Behandlungen sich auf eine Reduzierung der negativen Begleitumstände, vor allem der Schmerzen und starker Be56 Der Forschungstand ist hierzu nicht eindeutig. 57 Burzan zitiert hier aus dem Dritten Bericht zur Lage der älteren Generation des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2000). 58 Bemerkenswert der Unterschied im West (39%) – Ost (45) – Vergleich (Vierter Bericht zur Lage der älteren Generation (2002), S. 145).
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wegungsbehinderungen beschränken müssen. Das Krankheitsbild der Gleichzeitigkeit zahlreicher, auch unabhängig voneinander entstehender akuter59, d.h. in der Regel behandlungsbedürftiger Krankheiten, wird Multimorbidität (Vielfacherkrankungen60) genannt. Von „Mehrfachleiden“ (Polypathie) wird gesprochen, wenn jeweils verschiedene Behandlungen benötigt werden. Multimorbidität und Polypathie erschweren das Leben der Betroffenen und zugleich die Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten, insbesondere bei Fehlen von geriatrischem Spezialwissen seitens der Ärzte. Es hat sich allerdings gezeigt, dass solche Krankheiten, die von einer Therapierung ausgenommen werden, beim Vorkommen von Polypathie durchaus in die „Latenz verschwinden“ können (Hirsch 1992, S. 18). Häufigste – vielfach parallel auftretende – Krankheiten im Alter:
Erkrankungen von Herz und Kreislauf Zunahme von Diabetes mellitus Störungen des Bewegungs- und Stützapparates Zunahme von Lungenemphysemen und Atemwegserkrankungen Störungen der Hautfunktionen Magen-Darm-Störungen Störungen des Uro-Genital-Systems Bösartige Neubildungen Hör- und Sehstörungen Zunahme der Stoffwechselstörungen Altersdemenzen
Die Berliner Altersstudie ermittelte bei ihrer Untersuchungsgruppe für Frauen durchschnittlich acht, für Männer sieben Erkrankungen (BASE 1996, S. 582). Tabelle 20 gibt Aufschluss über die sechs häufigsten Krankheiten bei über 70jährigen in Verbindung mit dem Auftreten von Pflegebedürftigkeit.
59 Es können auch zugleich „ruhende“, nicht behandlungsbedürftige Krankheiten auftreten. 60 Organe können auch gleichzeitig von mehreren Krankheiten befallen werden. Die Behandlungsmöglichkeiten sind dann jeweils verschiedene (Hirsch 1992, S. 17f).
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Tabelle 20:
Die sechs häufigsten Krankheiten bei älteren Menschen und Anteil der Hilfs- und Pflegebedürftigkeit 65-79 Jahre
80 Jahre und älter
Rang
davon hilfsund pflegebedürftig (%)
Rang
davon hilfsund pflegebedürftig (%)
Gelenkerkrankungen
-1
40
-1
74
Herzerkrankungen
-2
31
-2
64
-3
77
Krankheiten
Sehbehinderungen
keine Angabe
Krankheiten der Blutgefäße insbesondere Arteriosklerose)
-5
35
-4
70
Hirngefäßkrankheiten (insbesondere Schlaganfall)
-6
61
-5
81
Stoffwechselerkrankungen (insbesondere Diabetes)
-4
29
-6
59
Krankheiten des Nervensystems
-3
59
keine Angabe
Quelle: Vierter Bericht zur Lage der älteren Generation (2002, S. 147)
Eine „Volkskrankheit“ im Alter – s. Platz 1 in Tabelle 20 – sind die Gelenkerkrankungen. Dazu gehört die Arthritis, die als Osteoarthritis und als Rheumatoide Arthritis auftritt. Es können einzelne oder mehrere Gelenke betroffen sein. Unter der häufig schmerzvollen Osteoarthritis leiden ca. 80 Prozent aller über 65jährigen. Stärkere Symptome treten jedoch nur bei ca. 25 Prozent der Betroffenen auf. Schmerzlinderung ist durch Medikamente und Gymnastik möglich. Die rheumatoide Arthritis ist chronisch, noch schmerzhafter, und sie tritt typischerweise in Schüben auf. Sie kann zu dauerhaften Behinderungen führen. Neben den Gelenken ist u. U. auch das Stütz- und Bindegewebe betroffen. Schmerzmilderung durch geeignete Behandlung ist möglich. Dritte hier zu nennende Erkrankung ist die Arthrose, ein Verschleiß der Gelenke, als Folge von Überbeanspruchung (auch durch Sport) und/oder Körperübergewicht. Als „Volkskrankheit“ gelten auch Rückenleiden, die oft bereits in jüngeren oder mittleren Lebensjahren auftreten. Rückenleiden sind die „teuerste
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Krankheit“61, dies einerseits wegen ihres massenhaften Auftretens, andererseits wegen der schwierigen Behandlungsmöglichkeiten und der oft frühzeitig bewirkten Erwerbsunfähigkeit. Erkrankungen der Blutgefäße (Rang 4, Tabelle 20) werden angezeigt durch Hypertonie (Bluthochdruck), ein wesentlicher Risikofaktor für Herzinfarkte und Schlaganfälle. Neben erblichen Faktoren spielen Lebensweise und Umweltbedingungen ursächliche Rollen für die sehr weit verbreitete Erkrankung. Mit zunehmendem Alter steigt typischerweise der Blutdruck, allerdings nicht notwendig in gesundheitsbedrohlichem Ausmaß. Als Gegenmittel sind medikamentöse Behandlungen und eine angemessene Bewegung (letztere auch als Vorbeugung) vorgesehen. Auf Platz 6 in Tabelle 20 rangiert Diabetes. Die Erkrankung breitet sich weltweit stark aus. Seit 1969 hat sich die Zahl der Diabetiker verzehnfacht. Jedes Jahr kommen zu den bekannten sechs Millionen schätzungsweise zwei bis drei Millionen hinzu (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. August 2005). Diabetes kann in jedem Lebensalter auftreten, mit Altersdiabetes ist oberhalb des 40. Lebensjahres zu rechnen. Es handelt sich um eine Störung des Kohlenhydratstoffwechsels, der zu einem hohen Zuckerspiegel in Blut und Harn führt. Bei ausbleibender Behandlung treten Nierenschäden, Sehstörungen und mangelnde Durchblutung der Gliedmaßen auf, was Taubheitsgefühle hervorruft und bis zum Absterben (verbunden mit der Notwendigkeit der Amputation) führen kann. Auch das Herzinfarkt- und Schlaganfallrisiko ist erhöht. In Tabelle 20 nicht enthalten aber zunehmend weltweit verbreitet ist die Parkinson-Krankheit, die langsam voranschreitet und zu ernsthafter körperlicher Behinderung führt. Typisches Symptom ist das ständige Zittern. Überwiegend sind Männer befallen. Therapien können die Begleiterscheinungen mildern. Ebenfalls alterstypisch sind fortschreitende Atemwegserkrankungen – das Emphysem – welche zu Husten, Atemnot und Niesen führen. Starke Atembeschwerden folgen. Sie können zu dauerhaften Behinderungen und schließlich zum Tod führen. Alternde Krankheiten, Alterskrankheiten und gesteigerte Anfälligkeit für „normale Krankheiten“ Viele Krankheiten werden zwar bereits in früheren Lebensphasen erworben, bleiben oft aber lange Jahre latent und verschlimmern sich erst mit den höheren 61 Pro Jahr verschlingt der Rückenschmerz in Deutschland 25 Mrd. Euro. Knapp ein Viertel entfällt auf Diagnostik und Therapie, der große Rest auf Folgekosten wie Krankengeld und Frührente (vgl. Bericht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 21. März 2006).
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Lebensjahren. Die Geriatrie spricht von „Alternden“ Krankheiten (z.B. die chronische Bronchitis). Dagegen treten andere Krankheiten typischerweise erstmals in höherem Lebensalter (ab 50) auf. Diese werden als Alterskrankheiten bezeichnet. Dazu gehört die Trübung der Augenlinse, der Katarakt, volkstümlich „Grauer Star“ genannt. Während der Katarakt heute in der Regel komplikationslos operabel ist, führt die altersbedingte Schädigung der Netzhaut, die Makuladegeneration, häufig zur Erblindung. In Deutschland sind rund eine Million Menschen davon betroffen62. Schließlich gibt es im Alter infolge der Minderung der körpereigenen Abwehrkräfte eine wachsende Anfälligkeit für das Erleiden von Krankheiten, die keine besondere Altersspezifität haben, also in jedem Lebensalter auftreten können, insbesondere gilt dies für Infektionen. Aber auch Erfreuliches ist festgestellt worden. Umgekehrt sinkt nämlich für einzelne Krankheiten mit zunehmendem Alter das Auftretensrisiko. Eine Auswertung von Krankenhausentlassdiagnosen zeigt, dass dies z. B. für den Befund „Neubildungen“ (Krebs) gilt. Beim Vergleich der Altersgruppe der 65-74jährigen mit jenen der über 75jährigen sinkt das Risiko bei Männern hier von 19 auf 14 Prozent, bei Frauen von 17 auf 10 Prozent (Vierter Altenbericht 2002, S. 139). Das Risiko einer Krebserkrankung geht weiter zurück im höchsten Lebensalter. So ist nur noch für 10 % der 90 bis 94 die Todesursache Krebs. Von den Hundertjährigen sind noch 4 Prozent betroffen. (Hundertjährigen-Studie, 2001, S. 60). Migranten Die gesundheitliche Verfassung von Migranten (Fünfter Altenbericht 2005, S. 423 ff) weicht von jener der deutschen Vergleichsbevölkerung ab. In der Alterskohorte der ab 65-jährigen waren Migranten zu Anfang dieses Jahrtausends im Durchschnitt zwar seltener durch die Folgen von Krankheiten behindert als Deutsche. Umgekehrt nimmt die Konsultation des Arztes jenseits des fünfzigsten Lebensjahres bei Migranten aber stärker zu und die Zeitdauer der Krankmeldungen der 45bis 65-jährigen ist höher. 2002 gaben 13,7 Prozent der Migranten dieser Altersgruppe, aber nur 6,9 Prozent der Deutschen an, im Vorjahr mehr als sechs Wochen lang arbeitsunfähig gewesen zu sein63. Damit hängt die persönliche Einschätzung des eigenen Gesundheitszustands zusammen, die schlechter als bei der deutschen 62 Die Makuladegeneration gilt in Industrieländern als die häufigste Erblindungsursache (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. Juli 2006). 63 Denkbare Ursache des höheren Krankenstands von Migranten: Der Raucheranteil unter männlichen Migranten – bezogen auf die 40-60jährigen -war 2003 höher als unter Deutschen (5. Altenbericht 2005, S. 423).
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Vergleichsbevölkerung ist. Mit zunehmender Tendenz benennen (2002) die über 65jährigen Ausländer ihre Gesundheit zu 50,7 Prozent mit weniger gut bzw. schlecht. Zusammenhänge können in unterschiedlicher beruflicher Belastung64 vermutet werden. Aber auch kulturelle Ursachen dürften von Bedeutung sein. So könnte ein geringeres Bewusstsein für Prävention und Ernährung eine Rolle spielen. Die stärker verbreitete Übergewichtigkeit von Frauen – 62,7 Prozent der 60jährigen Migrantinnen, aber „nur“ 54,9 Prozent der deutschen Frauen sind adipös – könnte u. a. auf die kulturell bedingt unterschiedlichen weiblichen Geschlechtsrollen zurück zu führen sein. Obwohl sich die Lebenslagen der Migrantenbevölkerung zunehmend positiv entwickeln und die Morbiditätsraten sich langfristig an die deutschstämmige Bevölkerung anzugleichen scheinen, liegt die Lebenserwartung noch deutlich hinter der der deutschen Bevölkerung zurück (Fünfter Altenbericht 2005, S. 425). Mangelernährung Mangelernährung ist ein Problem Hochbetagter. Leiden jüngere Alte häufig noch an Übergewicht, so verkehrt sich das Ernährungsproblem in der Folge von Gebrechlichkeit und Immobilität. In Alten- und Pflegeeinrichtungen steigt der Anteil der Betroffenen stark an. Mangelernährung ist schwer diagnostizierbar. Sie zeigt sich nicht durch Untergewicht, da der Anteil des Körperfetts auf Kosten der Muskelmasse steigt und außerdem Flüssigkeitseinlagerungen den Gewichtsverlust kaschieren. Ursachen für Mangelernährung, die vor allem die qualitative Zusammensetzung der Nahrungsmittel und den Flüssigkeitskonsum umfasst, sind vorhandene Krankheiten wie Probleme mit dem Gebiss, Schluckbeschwerden, Schilddrüsenerkrankungen, Krebs, Demenz und Depressionen, aber auch körperlich oder psychisch bedingte Immobilität. Auch in der Folge von Alleinsein fehlt oft die Einsicht, sich den technischen Aufwand des Ernährens zu leisten. Mangelernährung verstärkt Krankheiten oder führt zu neuen, und sie beschleunigt den Alternsprozess65.
64 Die Vermutung einer höheren beruflichen Belastung für Migranten wird bestätigt durch eine Untersuchung bei in Deutschland arbeitenden türkischen Staatsangehörigen der Jahre 1995 bis 1997, wobei das durchschnittlich erreichte Lebensalter von an den Folgen einer Berufskrankheit Gestorbenen mit 58,3 Jahren um neun Jahre unter der von deutschen Arbeitnehmern liegt (Fünfter Altenbericht 2005, S. 424). 65 Mangelernährung gilt als eine der größten aber auch am meisten unterschätzten Herausforderungen der Geriatrie (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. Februar 2006).
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Krankheit und Geschlecht „Alter ist weiblich“ hieß es an anderer Stelle in diesem Buch. Wie bereits ausgeführt, korreliert die Lebenserwartung mit dem Geschlecht. Frauen haben in Deutschland eine gegenüber den Männern um durchschnittlich ca. sechs Jahre höhere statistische Lebenserwartung. Entsprechend sind die hohen und höchsten Altersgruppen mit steigenden Anteilen weit überwiegend von Frauen besetzt. Bei den 95+jährigen beträgt der Frauenanteil 75 Prozent (vgl. Kap. 3.). Umgekehrt verhält es sich überraschenderweise mit der Gesundheit im Alter. Zwar werden bei Männern und Frauen generell dieselben chronischen Erkrankungen im Alter registriert, die Rangordnung jedoch ist verschieden. So leiden Frauen am häufigsten unter Osteoarthritis (s. o.) und erhöhtem Blutdruck. Bei Männern sind Erkrankungen der Herzkranzgefäße das häufigste Leiden (BASE 1996, S. 576). Im Nachteil sind Frauen bezüglich ihres Bewegungsapparates. Auswertungen von Krankenhausentlasspapieren zeigen, dass für über 75jährige Frauen entsprechende Erkrankungen auf Platz vier (von acht) mit 11 Prozent Anteil rangieren, während bei Männern diese Erkrankungen auf diesen Rängen gar nicht auftauchen (vgl. Tabelle 21). Eine lästige und bei den Betroffenen Peinlichkeit auslösende Krankheit ist die Harninkontinenz, die Frauen oberhalb von 60 Jahren häufiger als gleich alte Männer beeinträchtigt. Als Ursache gilt ein schlechter Trainingszustand der Beckenbodenmuskulatur (Walter/Schwartz 2001,S. 212). Bemerkenswert ist vor allem der durchschnittlich bessere Gesundheitszustand der betagten Männer. Das kann an der Häufigkeit von Krankenhausaufenthalten abgelesen werden. Der Anteil der 70- bis 90-jährig und älteren Männer, die im Jahr vor der Befragung mindestens einmal in einem Krankenhaus behandelt wurden, betrug bei den Teilnehmern der Berliner Altersstudie 20,2 Prozent, bei den Frauen dagegen 24,9 Prozent. Allerdings ist das Verhältnis bei den 85- bis 94-jährigen für die Frauen besser, bei den 95-jährigen und älteren – wie schon bei den bis 84-jährigen – wiederum für die Männer besser (BASE 1996, S. 482, vgl. Tabelle 22). Nebenbei widerlegen die Befragungsergebnisse die These, dass aus Kostengründen die Behandlung alter Patienten in den Krankenhäusern eher restriktiv gehandhabt würde. Immerhin ein Fünftel der über 70jährigen hatte im Vorjahr der Befragung mindestens einen Krankenhausaufenthalt zu überstehen.
192
Tabelle 21:
5 Fitsein im Alter?
Krankenhausentlassdiagnosen 1998 bei Männern und Frauen nach Altersklassen
Erkrankung (Entlassdiagnose)
Alter (Jahre) 55-64
65-74 Männer
>75
Gesamt (ICD-9:001-999) Neubildungen Nervensystem Herzkreislaufsystem Atmungsorgane Verdauungssystem Urogenitalsystem Verletzungen/Vergiftungen
100% 17% 5% 28% 5% 11% 5% 7%
100% 14% 8% 33% 8% 9% 6% 6%
Gesamt (ICD-9:001-999) Neubildungen Nervensystem Herzkreislaufsystem Atmungsorgane Verdauungssystem Urogenitalsystem Muskel-Skelettsystem Verletzungen/Vergiftungen
100% 20% 6% 18% 3% 10% 8% 12% 7%
100% 19% 6% 33% 6% 9% 6% 5% Frauen 100% 17% 8% 25% 4% 9% 6% 11% 8%
100% 10% 9% 30% 5% 9% 4% 6% 13%
Quelle: Vierter Bericht zur Lage der älteren Generation 2002, S. 139
Die gesundheitliche Verfassung hat zwangsläufig eine Minderung der Alltagskompetenz zur Folge. Auch hier wird der Geschlechterunterschied zu Gunsten der Männer deutlich. So gaben in der Berliner Altersstudie 3,5 Prozent der Männer aber 8,9 Prozent der Frauen an, z. B. Hilfe bei der Benutzung der Toilette zu benötigen. Ähnliche Verhältnisse ergeben sich für andere Basaltätigkeiten, wie das Anziehen (8,5:13,6), Duschen/Baden (20,4:34,5) oder die Darmkontrolle (9,3:18,2) (BASE, 1996, S. 531).
193
5 Fitsein im Alter?
Tabelle 22:
Prozentanteile der 70jährigen und älteren Studienteilnehmer, die im vorhergehenden Jahr mindestens einmal in einem Krankenhaus behandelt wurden
Altersgruppen
Männer
Frauen
Gesamt
70 - 74
14,3
26,2
20,2
75 - 79
11,9
16,7
14,3
80 - 84
22,0
34,1
28,0
85 - 89
39,5
23,7
31,6
90 - 94
33,3
24,4
27,8
95 +
21,2
28,2
24,7
Alle
20,2
24,9
21,4
Quelle: Die Berliner Altersstudie (BASE 1996, S. 482)
Physiologisches Altern und krankhaftes Altern Auch wenn Alter und Morbidität eng miteinander verknüpft sind, haben nicht alle Funktionsverluste und -einschränkungen im natürlichen Verlauf des Alters ihre Ursache. Neben der natürlich-alternsbedingt ansteigenden Morbidität, auch physiologisches Altern genannt, gibt es jenseits davon Formen krankhaften Alterns. Die Unterscheidung beider Formen ist im Zusammenhang einer angemessenen und wirksamen Behandlung von Krankheiten im Alter von grundlegender Bedeutung. Um krankhafte Formen bzw. Ausmaße diagnostizieren zu können, müssen altersspezifische Vergleichswerte bezüglich der Organfunktion, also solche, die den körperlichen bzw. psychischen Altersstatus berücksichtigen, herangezogen werden66. Dies war lange Zeit nicht gegeben, vielmehr dienten Referenzwerte von jüngeren Patienten. Erst neuerdings gibt es altersspezifische Referenzwerte, die in Laboruntersuchungen zunächst gewonnen werden mussten. Erst damit wird eine altersgerechte Behandlung von Krankheiten möglich, und Fehltherapierung und Übermedikationen werden vermieden. Psychische Erkrankungen Während – wie bereits ausgeführt – generell mit zunehmendem Lebensalter das Erkrankungsrisiko im psychischen Bereich nicht steigt, muss für Demenzen vom Gegenteil ausgegangen werden. Deren Auftretenswahrscheinlichkeit steigt vor 66 In der Medizin werden deshalb bei Laboruntersuchungen anstelle von „Normalwerten“ heute „Referenzwerte“, die das Patientenalter berücksichtigen, herangezogen (BASE 1996, S. 406).
194
5 Fitsein im Alter?
allem oberhalb von neunzig Lebensjahren deutlich an67. Bis zu 40 Prozent (s. o.) dieser Altersjahrgänge sind betroffen. Insgesamt wurde für das Jahr 1999 in Deutschland von einem Krankheitsstand von etwa 900.000 ausgegangen (Vierter Altenbericht 2002, S. 181). Mit einem weiteren Anstieg der Gesamtzahl der Demenzerkrankten ist parallel zur wachsenden Lebenserwartung zu rechnen. Schätzungen der jährlichen Neuerkrankungen in Deutschland fokussieren für die 65jährigen und Älteren die Zahl von 192.000 (Vierter Altenbericht 2002, S. 169). Bis 2050 wird mit einem Ansteigen der Gesamtzahl der Erkrankungen auf über zwei Millionen gerechnet (Vierter Altenbericht 2002, S. 182). Demenzen ziehen somatische Krankheiten oft nach sich, da die Patienten zunehmend die Kontrolle über die körperlichen Abläufe – wie das Wahrnehmen von Durst oder Hunger, Schmerzen, ebenso eine volle Blase/Mastdarm – verlieren. Dies gilt in besonderer Weise bei der Alzheimerkrankheit. Damit geht ein fortschreitender Autonomieverlust einher. Die Versorgung durch Helfer ist schwierig, belastend und – im privaten Bereich – oft überfordernd. Unterernährung und Verhungern sind möglich. Hinzu kommen seitens der Patienten Aggressionen, Orientierungsprobleme, Verfolgungswahn, Halluzinationen u.ä. Gewichtsverlust gehört zu den typischen Störungen bei der Alzheimerkrankheit. 25 Prozent sind untergewichtig (Vierter Altenbericht 2002, S. 172). Wie oben bereits ausgeführt sind die Ursachen für Demenzen, insbesondere für die Alzheimerkrankheit, trotz intensiver Forschung zurzeit weitgehend unbekannt. Wirksame Behandlungsmöglichkeiten fehlen. Nicht vollständig geklärt ist, in wie weit das „Vorleben“ der Patienten, etwa ein hoher Bildungsgrad oder gesundheitsschädliche Arbeits- und/oder Wohnbedingungen Einfluss auf das Erkrankungsrisiko haben (Vierter Altenbericht 2002, S. 171)68. Erwiesen scheint, dass körperliche Aktivität im Alter das Demenzrisiko senkt69. Depressive Vorerkrankungen scheinen das Risiko allerdings zu erhöhen, intensive soziale Kontakte dagegen zu verringern. Frauen sind deutlich stärker betroffen, was allerdings
67 In der Berliner Altersstudie fand sich allerdings für Männer jenseits von 95 kein Anstieg (BASE 1996, S. 199). 68 Der Forschungsstand ist uneinheitlich. Untersuchungen – wie oben schon ausgeführt – weisen für Volksschulabsolventen im Vergleich zu Absolventen höherer Bildungseinrichtungen ein 2,7fach höheres Demenzrisiko aus (BASE 1996, S. 204). 69 Generell sollen Gedächtnisleistungen durch körperliche Betätigung positiv beeinflusst werden. Das zeigen zwei US-Studien, von denen eine als Langzeitstudie auf der Untersuchung von 19 000 Frauen im Alter zwischen 70 und 81 Jahren beruht. In der zweiten Studie wurden 2 200 Männer zwischen 71 und 93 Jahren untersucht. Die jeweils aktiveren Personen schnitten besser ab. Das Demenzrisiko der Bewegungsarmen lag um 1,8fach höher (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. Sept. 2004).
195
5 Fitsein im Alter?
auch im Zusammenhang der höheren weiblichen Lebenserwartung begründet liegt (Vierter Altenbericht 2002, S. 169 ff). Gesundheitsrisiko und soziale Ungleichheit Mit sozialer Ungleichheit wird in der Soziologie jener gesellschaftliche Tatbestand benannt, der Individuen, je nach Bildung, Geschlecht, Alter, sozialer, räumlicher und ethnischer Herkunft in unterschiedlicher Weise an wichtigen sozialen Ressourcen teilhaben lässt – also unabhängig vom eigenen Wollen und Können. Die Vermutung liegt nahe, dass die Zugehörigkeit zu privilegierten Statusgruppen Wirkung auf Erkrankungsrisiken hat. So verhilft ein hohes Einkommen zu Lebensumständen, die befriedigender Gesundheit grundsätzlich förderlich sind. Man denke nur an die Möglichkeit hoher Ausgaben für Medikamente, Therapien, ausgesuchte Lebensmittel, das Leben erleichternde Haustechnik, komfortable Wohnungen etc. Angehörige niedriger sozialer Schichten verfügen aber nicht nur über geringere Einkommen, die zu Beschränkungen der Lebenshaltung führen. Sie haben regelmäßig auch Berufe ausgeübt, deren Begleiterscheinungen durch Lärm, Schmutz, chemische Emissionen, Unbilden der Natur, körperlich und/oder psychisch hohe Belastungen gekennzeichnet sind. Das Invaliditätsrisiko ist dort hoch. Der Anteil von gesundheitlich gedingten Frühverrentungen ist bemerkenswerter Weise auf psychische Erkrankungen zurückzuführen (32 Prozent), mit einigem Abstand in zweiter Linie auf Erkrankungen von Skelett, Rücken, Gelenken und Muskeln 18 Prozent (vgl. Tabelle 23). Tabelle 23:
Häufigste Ursachen für Erwerbsminderungsrente in Prozentangaben
Psychische Erkrankungen
37
Skelett, Rücken, Gelenke, Muskeln
18
Tumore
14
Herz-Kreislauferkrankungen
11
Stoffwechsel
4
Sonstige Krankheiten
21
Quelle: Deutsche Rentenversicherung (zit. nach Unicum Beruf, 2007, S. 18)
Unterschichtberufe dagegen sind häufig solche, die durch Stress und sonstige Arbeitsbelastungen die gesundheitliche Verfassung beeinträchtigen. Die Auswirkungen der Lebensbedingungen und damit auch der Arbeitsbedingungen auf
196
5 Fitsein im Alter?
Gesundheit und Lebenserwartung ist nirgendwo deutlicher ablesbar als in der unterschiedlichen durchschnittlichen Lebenserwartung von Menschen in hochund wenig entwickelten Ländern. In wie weit in modernen westlichen Gesellschaften der Beruf die Lebenserwartung und die körperliche Konstitution im Alter beeinflusst, ist derzeit eine nach meiner Kenntnis offene Forschungsfrage70. In westlichen Zivilisationen mit einer gewissen Nivellierung der Lebenslagen, fallen gesundheitliche Benachteiligungen in Folge unterprivilegierter Schichtzugehörigkeit heute weniger deutlich auf. Personen mit einem höheren Bildungsstatus (und damit im Regelfall besseren Lebensbedingungen), sowie solchen mit höherem Einkommen und Vermögen sind im Alter dennoch nach wie vor in geringerem Umfang von körperlichen Erkrankungen betroffen. Werden drei Vergleichsgruppen gebildet (vgl. Abbildung 8), in der hier zitierten Untersuchung benannt als Benachteiligte, Mittelgruppe und Begünstigte, so zeigt sich, dass mit steigendem Lebensalter die Mulitmorbidität in Abhängigkeit von der Gruppenzugehörigkeit zunimmt, die funktionale Gesundheit und die kognitive Leistung hingegen abnimmt (Lampert 2000, S. 175 ff). Abbildung 8:
Gesundheitsstatus und sozioökonomische Lage
70 Auswertungen von Krankenversicherungsunterlagen könnten hier Aufschluss gewähren.
5 Fitsein im Alter?
197
Quelle: Lampert, 2000, S. 176 f
Gesundheit im Vergleich alte und neue Bundesländer Über Jahrzehnte war die durchschnittliche Lebenserwartung für Frauen und Männer in der DDR um einige Jahre niedriger als im Westen (2,4 für Männer, 2,7 für Frauen) (Geißler 2002, S. 60). Als Ursachen wurden vor allem die größeren Belastungen durch mangelnden Umweltschutz, schlechte Arbeitsbedingungen, insbesondere in der technisch überalterten Industrie, die engen Wohnverhältnisse, die schlechtere Versorgung mit bestimmten Nahrungsmitteln (unzureichende Vitamin C-Zufuhr) aber auch der höhere Drogengenuss und eine größere Suizidrate genannt. Außerdem wurde für Frauen die Doppelbelastung durch Beruf und Hausarbeit ins Feld geführt. In der DDR gehörte die quasi ununterbrochene Erwerbstätigkeit zur weiblichen „Normalbiographie“. Auf der anderen Seite steht
198
5 Fitsein im Alter?
der Versorgungspaternalismus der ehemaligen DDR und der leichter realisierbar Rückzug aus der Arbeit im Krankheitsfall in der Folge großer Arbeitsplatzsicherheit. Ob aus der im Osten deutlich höheren Verordnung von Insulin-, Hypertonie- und Koronarpräparaten sich ein im Vergleich zum Westen anderer Lebensalltag widerspiegelt, ist allerdings umstritten (Backes 2000, S. 109). Ursache könnte hier auch eine durch das politische System beeinflusste positive Einschätzung von Medikationen sein. Politische Partizipation und Kritikbereitschaft gegenüber obrigkeitlicher Bevormundung hat hier ebenso einen Stellenwert, wie eine – von oben verordnete – „Gläubigkeit“ gegenüber Wissenschaft und Technik. Jedenfalls sind bis heute besagte Unterschiede zwischen Ost und West bestehen geblieben. Im Allgemeinen jedoch ist, wie auch bei der Lebenserwartung, ein Prozess der Angleichung zwischen alten und neuen Bundesländern zu beobachten. Stürze und Unfälle Alte Menschen sind durch Stürze besonders gefährdet. Das Alter zählt dafür eindeutig als Indikator. Mehrere Studien konnten nachweisen, dass ein Drittel der über 65jährigen innerhalb eines Jahres einen Sturz erlitten hatte. Dabei wurden nur solche Stürze gezählt, die ohne äußere Ursache (Stolpern, Ausrutschen etc.) zustande gekommen waren. Stürze sind oftmals Auslöser für schwere und dauerhafte Verletzungen bzw. Behinderungen und häufig auch den Tod. Bei den über 65-jährigen steht der vorausgegangene Sturz an sechster Stelle der Todesursachen. Das Risiko des Sturzes ist gegeben bei Vorliegen medizinischer Faktoren, z.B. vorausgegangenem Schlaganfall, Parkinsonerkrankung, Depression, Inkontinenz und Arthrose, auch körperlicher Inaktivität, vor allem das Vorliegen weiterer altersbedingter Reduktionen wie Sehstörungen, Muskelschwäche und Gleichgewichtsstörungen (Vierter Altenbericht 2002, S. 159). Alte Menschen sind häufiger als Angehörige anderer Altersgruppen von Unfällen, insbesondere im Straßenverkehr und im Haushalt betroffen. Da Unfälle im Haushalt generell als Todesursache noch vor Unfällen im Straßenverkehr rangieren, ist zu vermuten, dass sie auch für Senioren an besonders prominenter Stelle stehen. Aussagefähige Statistiken sind mir allerdings nicht bekannt. Immerhin weisen die Krankenhausentlassdiagnosen für die 75jährigen und Älteren einen Anstieg bei dem Befund „Verletzung“ (hier allerdings einschließlich Vergiftungen) aus, für Männer auf 6 Prozent und für Frauen auf 13 Prozent. Das ist bei den Männern der fünfte, bei den Frauen aber der zweite Rang betreffend die vorausgegangenen Einweisungsgründe (vgl. Tabelle 21). Im Straßenverkehr ist die Altersgruppe der über 75jährigen als Opfer deutlich häufiger betroffen. Es kommt sogar zu einem regelrecht sprunghaften An-
5 Fitsein im Alter?
199
steigen der im Straßenverkehr getöteten Personen (einschl. der Fußgänger und Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel) jenseits dieser Altersschwelle. Dagegen ist unterhalb dieser Schwelle, nämlich zwischen dem 30. und dem 75. Lebensjahr ein Absinken bzw. ein Verharren der Opferzahlen auf niedrigem Niveau zu beobachten (vgl. Abbildung 10). Die Alten sind damit in diesem Zusammenhang deutlich „besser als ihr Ruf“. Wenngleich zu berücksichtigen ist, dass mit höherem Lebensalter die Teilnahme am Straßenverkehr (auch als Fußgänger und Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel) zurückgeht, so sind doch eindeutig die Jahrgänge der jungen Erwachsenen (Altersgruppe 18 bis 30) als die Hauptverursacher von Verkehrsunfällen anzusehen71 (Oswald 1999, S. 186). Ähnliches gilt für Auto fahrende Senioren und deren Beteiligung an Verkehrsunfällen im Vergleich zu jüngeren Altersgruppen. Abbildung 9:
Fahrleistungsbezogenes Risiko der Unfallbeteiligung, Unfalltyp: PKW gegen PKW, von 1000 Personen bei 1 Million Fahrkilometer
Quelle: Oswald (1999), S. 188
71 Das gilt auch für Unfälle mit PKW. Unter Berücksichtigung der Fahrleistungen ist das von Fahranfängern (18-24 Jahre) ausgehende Risiko 4,6mal so hoch wie das von 65jährigen und Älteren (Oswald 1999, S. 188).
200
5 Fitsein im Alter?
Anders als zumeist kolportiert, ist das relative Risiko in Straßenverkehrsunfälle mit selbst gesteuertem PKW verwickelt zu werden für Senioren also keinesfalls größer als für Angehörige jüngerer Altersgruppen. Das Gegenteil ist richtig. Dies vor allem im Vergleich zwischen Jugendlichen und alten Autofahrern. Während „946 von 100.000 der 18-25jährigen als PKW-Fahrer verunglücken, gilt dies nur für 73 von 100.000 der Senioren“ (Oswald 1999, S. 192f). Andererseits bestätigt die Statistik den über 70jährigen eine gegenüber jüngeren Altersgruppen deutlich höhere Quote als Unfallverursacher. 58 Prozent aller über 70jährigen, die in einen Unfall verwickelt wurden, gelten auch als deren Hauptverursacher. Neue Statistiken des Statistischen Bundesamtes zeigen, dass in den letzten zehn Jahren der Anteil der an Unfällen beteiligten Senioren um gut zwei Prozentpunkte gestiegen ist72 Das deute auf ihre höhere Beteiligung am Auto fahren hin. Abbildung 10:
1997 in Deutschland getötete Verkehrsteilnehmer nach Altersgruppen
Quelle: Oswald (1999), S. 186
Andererseits ist nicht richtig, dass Alte als Fußgänger häufiger als Angehörige anderer Altersgruppen in Straßenverkehrsunfälle involviert sind. Hier stehen
72 Vgl. http://www.zukunftsradar2030.de/die_fakten/hglebenserwartung/d..., 28.2.07
5 Fitsein im Alter?
201
Senioren nur auf Platz drei – nach den 18-25jährigen sowie den 15-18jährigen. Eine Folge größerer Vorsicht. Dagegen ist das Risiko bei Unfällen getötet zu werden rund viermal höher als bei Jüngeren (Oswald 1999, S. 193), was sich aus der labileren Gesamtkonstitution der Alten erklären dürfte (Abbildung 10). Medikamentenkonsum und Arzneimittelwirkungen Eine der Ursachen für ein immer länger währendes Leben dürfte in der Verfügbarkeit von geeigneten Medikamenten liegen (Walther/Schwarz 2001, S.145ff). Medikamente mindern Funktionseinbußen, lindern Schmerzen, verhindern oder verkürzen Krankenhausaufenthalte und verlangsamen chronische Krankheitsverläufe und verschieben so häufig den Zeitpunkt des Todes. Ohne Frage wird durch Medikation für die meisten Patienten eine erhebliche Verbesserung der Lebensqualität erreicht. Der Medikamentenkonsum ist – und zwar unabhängig vom Lebensalter – in den zurückliegenden Jahrzehnten ständig angestiegen. Indikator dafür sind die Kosten. So betrugen die Pro-Kopfausgaben einschließlich der Selbstmedikation in Deutschland 1991 noch 145 Euro. 2000 lagen sie bei 355 Euro. Erwartungsgemäß erhöht sich der Verbrauch von Arzneimitteln mit zunehmendem Alter (vgl. Abbildung 11). Während 1998 durchschnittlich 32 Prozent der Bevölkerung in Westdeutschland (Ost: 34 Prozent) regelmäßig mindestens ein Medikament einnahmen, waren es bei den 70jährigen und Älteren ein Anteil von 77 Prozent (Vierter Altenbericht 2002, S. 160). Auch die Anzahl der regelmäßig eingenommenen Arzneimittel steigt mit dem Lebensalter. So konsumierten die Berliner Senioren zwischen 70 und 105 Jahren im Durchschnitt fünf verschiedene Medikamente täglich (BASE 1996, S. 165). Der Anstieg des Medikamentenkonsums (Abbildung 11) tritt allerdings nicht erst im hohen Lebensalter ein, sondern ist bereits jenseits des vierten Lebensjahrzehnts zu beobachten. Nach dem sechsten aber steigt er steil an, um dann zwischen 80 und 90 wieder zurückzugehen (BASE 1996, S. 481). Das parallele Einnehmen mehrerer Medikamente (Multimedikation) ist bekanntermaßen nicht unproblematisch. Neben- und Wechselwirkungen können Probleme bereiten. Außerdem sind im Alter veränderte und verstärkte Wirkungen von Arzneimitteln zu beobachten. Auch Fehlmedikationen treten auf. Von den 70jährigen und Älteren sind Untersuchungen zufolge 19 Prozent betroffen. Ähnlich verhält es sich mit Unter- und Übermedikationen. Die Unterbehandlung betrifft immerhin ein Viertel der Patienten. Zu den am häufigsten unterbehandelten Krankheiten gehört an erster Stelle die Hypertonie (Vierter Altenbericht, 2002,
202
5 Fitsein im Alter?
S. 163). Unterdiagnose und Unterbehandlung nehmen mit dem Lebensalter zu73. Die damit verbundenen Risiken steigen auch durch die wachsende Hilfsbedürftigkeit bei der Einnahme von Medikamenten. Knapp 15 Prozent der über 80jährigen bedürfen hier der Unterstützung (Vierter Altenbericht 2002, S. 161). Hochaltrige Patienten sind deshalb in besonderem Maße auf das Zusammenspiel mit Arzt und Betreuungs- und Pflegepersonal angewiesen. In diesem Zusammenhang ist derzeit noch von erheblichen Defiziten bei Teilen der behandelnden Ärzte und des Pflegepersonals auszugehen. Abbildung 11:
Arzneimittelverbrauchsprofil 1992
Quelle: BASE 1996, S. 483
5.12 Pflegebedürftigkeit Die „Verschiebung“ des mit fühl- und sichtbaren Funktions- und Leistungsverlusten verbundenen „eigentlichen“ Alternsprozesses in das höhere und höchste Lebensalter hat zur Folge, dass die Wahrscheinlichkeit der Unterstützung zu bedürfen, immer mehr in die Phase der Hochaltrigkeit verlagert wird. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes lag im Dezember 1999 die Zahl der Pflege73 Ausführlich dazu: BASE 1996, S. 151ff
5 Fitsein im Alter?
203
bedürftigen im Sinn des Gesetzgebers in Deutschland bei über zwei Millionen. Anfang 2007 ist sie auf fast 2,13 Millionen gestiegen74. Mehr als die Hälfte davon hat das 80. Lebensjahr überschritten, mehr als ein Drittel ist mindestens 85 Jahre alt. Von den 60 bis 64jährigen sind dagegen lediglich 1,6 Prozent pflegedürftig. Bei den 80-84jährigen sind es schon 38,4 Prozent; bei den über 90jährigen liegt der Anteil bei 60,2 Prozent (Vierter Altenbericht 2002, S. 250). Auch hier gilt: „Alter ist weiblich“. 1999 waren 68,7 Prozent aller Pflegebedürftigen, die Leistungen nach SGB XI75 erhielten, Frauen. Bei den hochaltrigen Frauen erhöht sich dieser Anteil noch (90 und älter: 84,5 Prozent). Eine – allerdings nicht zureichende – Erklärung dafür ist, wie erwähnt, die bessere Gesundheit alter Männer. Ein anderer Grund ist, dass die – jüngeren – Frauen ihre Ehemänner zuhause pflegen (häufig ohne Inanspruchnahme von Sach- oder Geldleistungen nach dem Pflegegesetz; Vierter Altenbericht 2002, S. 261), was im Übrigen auch ihrer eigenen Gesundheit wenig förderlich sein dürfte. . Pflegebegriff Im Sinne des Pflegegesetzes pflegebedürftig (§ 14 SGB XI) sind solche Personen, die der Hilfe bedürfen und zwar bei „gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens“, die auf Krankheiten und zwar sowohl somatische als auch psychische, sowie Behinderungen zurückzuführen sind. In der Fachliteratur wird unterschieden zwischen Pflegebedürftigkeit und Pflegebedarf. Während der erste Begriff den pflegerelevanten Zustand des Menschen bezeichnet, ist mit Pflegebedarf der Zustand gemeint, der zusätzlich zur körperlichen individuellen Bedürftigkeit die äußerlichen Rahmenbedingungen (z.B. Familienund Haushaltssituation) berücksichtigt, aus der ein Bedarf an Pflege geschlossen wird (Vierter Altenbericht 2002, S. 272). Ziel der Pflege kann in diesem Zusammenhang nicht die Wiederherstellung der Gesundheit sein, sondern Hilfe bei der Bewältigung der notwendigen Alltagsverrichtungen76. Mit der 1994 nach langer und höchst kontroverser Diskussion eingeführten gesetzlichen bzw. privaten Pflegeversicherung (vgl. Kap. 4.8) ist eine Teilung in drei Pflegestufen, je nach Schwere bzw. zeitlich bewertetem Aufwand der Pflegeleistungen, vorgesehen. Die Zuordnung erfolgt auf Antrag von Seiten des Betrof74 Bericht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 2.1 März 2007. 75 Das sind Leistungsempfänger der sozialen und privaten Pflegeversicherungen, einschl. der Pflegebedürftigen in Heimen, die noch keiner Pflegestufe zugeordnet sind (Vierter Altenbericht 2002, S. 251). SGBXI = Sozialgesetz Buch XI. 76 Der Pflegebegriff wird derzeit (2007) neu definiert. Vorbereitende Arbeiten werden von einem Sachverständigenbeirat geleistet. U.a. soll das Begutachtungsverfahren bezüglich der Einordnung in Pflegestufen geändert werden (http://www.awo.org/pub/sen_pflege/pflege/def_pflegebed/view (20.2.07).
204
5 Fitsein im Alter?
fenen oder Dritter durch einen Arzt. Es liegt auf der Hand, dass die Zuweisung einer Pflegestufe ein konfliktbehafteter Vorgang77 ist. Der Arzt vertritt die ggfls. in der Zahlungspflicht stehende Kasse, aber auch die Allgemeinheit. Der Betroffene und dessen Angehörige gehen als in der Regel zahlende Mitglieder einer Versicherung von ihrem erworbenen Leistungsanspruch aus. Entsprechend des ärztlichen Gutachtens erfolgt die Zuordnung. Danach befanden sich im Jahr 2000 46 Prozent aller Leistungsempfänger in Pflegestufe I, 38,9 Prozent in Pflegestufe II und 14,1 Prozent in Pflegestufe III. Der überwiegende Teil der anerkannt Pflegebedürftigen – über 70 Prozent – wird zu Hause (ambulant) versorgt (vgl. Tabelle 24) 78. Tabelle 24:
Leistungsempfänger der sozialen Pflegeversicherung am Jahresende 2000 nach Pflegestufen
Ort der Versorgung
Leistungsempfänger
davon: in Pflegestufe I
Anzahl zu Hause (ambulant) im Heim (stationär)* Insgesamt
II
III
in %
1 442 880
52
37,1
10,9
573 211
30,8
43,4
22,4
2 016 091
46
38,9
14,1
* Zum Erhebungszeitpunkt waren 3,4% der Leistungsempfänger im Heim ohne Pflegestufenzuordnung Quelle: Vierter Altenbericht 2002, S. 252
Die gegenüber früheren Jahren zu vermutende Zunahme der Zahl der zu Hause Versorgten dürfte neben dem starken Kostenanstieg im Gesundheitswesen auch
77 Die Konfliktsituation ist auch deshalb komplex, weil die zu begutachtende Person zum Objekt wird, sich aber als individuelles Subjekt präsentieren möchte. Dabei können Eitelkeit und Disziplin leicht einen falschen Eindruck beim Gutachter hinterlassen – andererseits sind auch raffinierte Täuschungsmanöver möglich. 78 Hierbei ist zu berücksichtigen, dass mit der Einführung der Pflegeversicherung heute ausschließlich pflegebedürftige Menschen den Einzug in Pflegeheime vollziehen. An die Stelle des Altenheims früher bekannter Prägung sind Altenwohnheime mit Service- und Pflegeangeboten getreten und Einrichtungen des „Betreuten Wohnens“ mit angeschlossener Pflegeabteilung. Anbieter solcher Einrichtungen sind vor allem die Träger der „Freien Wohlfahrtspflege“ (Arbeiterwohlfahrt, Caritas, Deutsche Paritätischer Wohlfahrtsverband, Deutsches Rotes Kreuz, Diakonisches Werk, Jüdische Kultusgemeinde). Hinzu treten zahlreiche privatwirtschaftliche Unternehmen insbesondere im Bereich des „Betreuten Wohnens“ und der Altenwohnheime und z.B. der Malteser Orden (vgl. hierzu Kap. 7).
5 Fitsein im Alter?
205
mit der Einführung der Pflegeversicherung im Zusammenhang stehen. Ein politisch gewollter und auch im Interesse der meisten Betroffenen stehender Effekt. Bei Anerkennung des Pflegebedarfs ist allerdings nicht nur die Pflege zu Hause durch beauftragte Dienstleister möglich. Vielmehr kann diese auch von Angehörigen oder Nachbarn und Freunden gegen durch die Versicherung geleistetes Entgelt erbracht werden. Über zwei Drittel der 1.4 Millionen zu Hause ambulant Versorgten, wurden 2001 von Angehörigen bzw. Nachbarn betreut. Eine grundsätzlich begrüßenswerte Entwicklung. Und eine deutliche Korrektur der gern kolportierten These, in der heutigen Gesellschaft würden „die Alten abgeschoben“. Allerdings scheint es inzwischen eine Trendwende zu geben, die künftig, bedingt durch den demographischen Wandel (weniger Kinder = weniger pflegebereite Angehörige), zu einer kontinuierlichen Nachfragesteigerung gegenüber der professionellen Pflege führen wird (Vaskovics 2004). Nach einer Untersuchung des Statistischen Bundesamtes ist zwischen 2003 und 2005 die Zahl der in Heimen gepflegten Personen um 5,7 Prozent gestiegen. Auch die Zahl der durch ambulante Dienste Versorgten erhöhte sich im gleichen Zeitraum. Hier waren es 4,8 Prozent79. Inzwischen steigt mit dem Altern der Migranten die Pflegebedürftigkeit bei Angehörigen auch dieser Bevölkerungsgruppe. Obwohl hier die noch stärkeren Familiennetzwerke (vgl. Kap. 7.5) verlässliche Hilfestrukturen darstellen, dürften sich Probleme durch kulturelle Bedingungen, insbesondere durch bei älteren Frauen oft unzureichenden deutschen Sprachkenntnissen ergeben. Allerdings muss auch häusliche Betreuung nicht Harmonie zwischen den Generationen unter einem Dach bedeuten. Ein Problem stellt u. a. die fehlende Schulung, oftmals auch die körperliche und psychische Überforderung seitens der Helfer dar. Dies insbesondere dann, wenn sie Mitglieder der Familie oder Freunde und Nachbarn sind oder selber schon im hohen Alter sind. Häufig pflegen Frauen ihre durchschnittlich deutlich älteren Männer. Hochbetagte Männer sind aber ebenso vor dieser Aufgabe, die leicht zur Überforderung wird, nicht gefeit. Da sie häufig noch in einer Partnerschaft leben80, der Gesundheitszustand hochaltriger Frauen aber durchschnittlich schlechter ist als gleich alter Männer, stehen sie hier gleich vor einem doppelten Handicap. Sie sind zur Pflege „verurteilt“, obwohl selber alt und im Pflegen als traditionell „weiblicher“ Aufgabe ungeübt. Schließlich ist ein Missbrauch beim Bezug von Leistungsentgelten nicht auszuschließen. Eine – freilich kaum realisierbare Kontrolle – täte Not. 79 So ein Bericht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 6. Februar 2007. 80 Männer über 80 waren 2002 zu 67,1 Prozent verheiratet, Frauen nur noch zu 16 Prozent. Umgekehrt sieht es bei der Verwitwung aus: 28,8 zu 72,9 Prozent (Fünfter Altenbericht 2005, S. 288).
206
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So vielschichtig wie das Thema Alter und Gesellschaft sind die Probleme des Pflegens und des Gepflegtwerdens. Da, wie ausgeführt, das „lange Sterben“ heute zum Regelfall geworden ist, steht das „Pflegerisiko“ trotz unbestreitbaren Zugewinns an Lebensqualität im Alter für die meisten von uns heute am „Ende unserer Tage“. Hier sind sicher stetige Verbesserungen notwendig.81 Und diesem Thema ist ein Hauptaugenmerk der Alternsforschung und ebenso dem eigenen Umgang mit dem Altwerden zu widmen.
81 Zu einem Verbesserungskatalog gehören u.a. und vor allem „mehr Zeit“ aller für den Patienten, ebenso die Erreichbarkeit und eine Verbesserung der schmerztherapeutischen Versorgung (Bundesministerium 2001, S. 58).
6 Warum wir altern – Antworten der Naturwissenschaften 6 Warum wir altern – Antworten der Naturwissenschaften „Im Alter wird man alt und sonst nichts.“ Alterserkenntnis (angeblich) von Bernhard Shaw auf den Punkt gebracht, in einer Situation, in der alle Welt von der Weisheit des Alters sprach. Kolportiert von Wolf Jobst Siedler, dem langjährigen Suhrkamp-Verlagschef, als er kurz vor seinem 80.Geburtstag stand. Zu lesen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 2.1.2006.
6.1 Einleitung (Fast) alles altert, doch warum? Die Frage nach den Ursachen des Alterns dürfte so alt sein, wie die Fragen nach dem Grund unseres Daseins. Sie ist damit so alt wie die ältesten Kulturen. Weise und Gelehrte suchten oft nicht allein nach dem Sinn des Lebens, sondern zugleich nach den Gründen des Vergehens (vgl. Kap. 2.). Auf Dauer gültige Antworten sind ausgeblieben. Zwar haben die modernen Wissenschaften in den letzten hundert Jahren viele Geheimnisse gelüftet – eine Theorie des Alterns ohne Verfallsdatum aber sind sie schuldig geblieben. Vermutungen, Thesen und Theorien gibt es viele. Mindestens so viele – scherzt die Zunft der Experten – wie es Alternsforscher gibt. Dieses Kapitel versucht aus sozialwissenschaftlicher Sicht, aber mit Blick auf die Erkenntnisse der naturwissenschaftlichen Forschung, Einblicke in die Ursachen des Alterns zu nehmen1. Ein Einblick, der nicht vollständig sein wird2. Zugleich wird die Frage anzuschneiden sein, inwieweit wissenschaftlich mögliche Lösungen für die Probleme des Alterns und des Alters neue Fragen und Probleme in ethischer Sicht bewirken können.
1 Der Autor erlaubt sich – da dieses Buch für fachliche Laien lesbar sein soll – an einigen Stellen lexikalisch gestützte Erläuterungen naturwissenschaftlicher Begriffe. 2 Und Naturwissenschaftler werden um Nachsicht gebeten gegenüber den Versuchen eines Sozialwissenschaftlers, fachfremde Inhalte zu verstehen und verständlich darzustellen.
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6.2 Erwartungen an Forschung – Gefahren durch Forschung? Zu viele Mutmaßungen und unvollständige Antworten auf wichtige Fragen trüben noch immer das Vertrauen in den Nutzen der Alternsforschung. Gleichwohl wurden wichtige Erfolge in den letzten Jahren erreicht. Den Naturwissenschaften ist es in den letzten Jahrzehnten gelungen, erstaunliche Einblicke in das „Rätsel“ des Lebens und des Alterns zu ermöglichen. Forschungsresultate aus der Biologie, der Humangenetik und der molekular-gerontologischen Grundlagenforschung haben der interdisziplinären Alternswissenschaft einen enormen Schub versetzt. Was ist weiterhin zu erwarten? Grundsätzlich: nicht weniger als eine gesellschaftliche Zukunft, in der eine Milderung der negativen Seiten des Alterns gelingen könnte. Das ist von großem Belang in einer alternden Gesellschaft. Der Aufwand dafür freilich ist groß3. Eingriffe, z.B. in genetisch bedingte Abläufe des Alterns, könnten den Prozess von Rückbau und Verfall aufhalten, zumindest verlangsamen. Bisher noch unheilbare Krankheiten ließen sich erfolgreich bekämpfen, und so die Voraussetzungen für eine weitere Verlängerung der Lebensspanne schaffen. Hoffnungen sind in diesem Zusammenhang vor allem auf die Genom- und Stammzellenforschung gerichtet. Deren Anwendung könnte zu völlig neuen Behandlungsmethoden von Krankheiten führen, gegen die heute noch „kein Kraut gewachsen ist“. So zielt das therapeutische Klonen am Menschen auf das Züchten von spezialisierten Zellkulturen, die auf der Basis von gesunden Stammzellen4 gewonnen werden und durch das Verfahren des Klonens5 die erkrankten Gewebekulturen ersetzen sollen. 3 Deutsche Wissenschaftler beklagen die zu niedrige Höhe der gewährten Fördermittel. Der kürzlich verstorbene bekannte deutsche Alternsforscher Paul B. Baltes stellte fest, dass in den USA im Vergleich mit Deutschland, unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Bevölkerungsgrößen, der Forschungsaufwand dort mindestens fünfmal höher sei (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. Mai 2004). 4 Stammzellen sind „multipotent“, d.h. sie können durch Wachstumsfaktoren angeregt werden, sich zu jedem spezialisierten Zelltyp weiter zu entwickeln. So genannte fetale Stammzellen können heute aus Föten gewonnen werden; adulte Stammzellen sind aus dem Rückenmark Erwachsener zu entnehmen. Von embryonalen Stammzellen ist die Rede für Zellen im Entwicklungsstadium vor dem dritten Schwangerschaftsmonat. 5 Klonen = Herstellung eines identischen Gens, Organs, Körperteils oder Lebewesens aus einem Gen einer beliebigen Körperzelle. Bei der Herstellung von Lebewesen spricht man vom reproduktiven Klonen. Die Gentechnik wird schon längere Zeit in der Landwirtschaft bei der Herstellung von Saatgut angewandt und ist in zahlreichen Ländern in die Nahrungsmittelproduktion eingedrungen. In Deutschland ist sie – auch in diesem Zusammenhang – politisch umstritten und wurde erst kürzlich gesetzlich mit Auflagen legalisiert. Das Klonen, also die ungeschlechtlich erzeugte Reproduktion – ist bekanntlich bei Säugetieren in den letzten Jahren mehrfach gelungen. Das walisische Bergschaf „Dolly“ machte 1996 den Anfang (auch wenn es nicht als hundertprozentiger Klon gilt).
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Schöne neue Welt? Vielleicht. Doch wissenschaftlicher Fortschritt löst nicht nur alte Probleme, er schafft auch neue. Neben der grundsätzlichen Frage nach der Ethik solchen Handelns – immerhin geht es um Eingriffe in die (einigen immer noch heiligen) Grundlagen des menschlichen Lebens – entsteht spätestens dann ein neues Problem, wenn zur Zucht von Zellkulturen ein menschlicher Embryo benutzt wird, der nach Erfüllung seines Zweckes – Lieferung von Stammzellen – „Abfall“ ist und der Tötung anheim fällt6. Wie weit darf Wissenschaft gehen? Wäre sie legitimiert – wenn sie es eines Tages könnte – menschliches Leben – unendlich – zu verlängern? Was wäre der Preis? Nicht allein, aber doch auch im monetären Sinne. Wer würde sich lebensverlängernde oder das „ewige Leben“ ermöglichende Medizintechniken überhaupt leisten können? Könnte praktische Anwendung wissenschaftlichen Fortschritts, wenn auch ungeplant, eine neue Dimension gesellschaftlicher Klassenspaltung schaffen?7 Denkbar etwa, dass eine Klasse von Reichen sich Leben und Gesundheit erhaltende Behandlungsmethoden leisten könnte, während einer zweiten Klasse diese aus finanziellen Gründen versagt blieben. Wobei den Mitgliedern der Klasse der Armen irgendwann nicht einmal mehr die Möglichkeit bliebe, die eigenen – leidlich – verzichtbaren Teile ihres Körpers auf dem Organmarkt zu „verhökern“, weil dieser Markt inzwischen verschwunden wäre, in der Folge davon, dass in Organfabriken – der Gentechnologie sei Dank – passgenaue Körperersatzteile wohlfeil für Begüterte hergestellt würden8. Ethisch kaum in Zweifel zu ziehen ist der Versuch, Risiken für Erkrankungen frühzeitig zu erkennen, um Maßnahmen zur Prävention zu treffen. Gesucht wird nach „Vorboten“, so genannten „Biomarkern“ bestimmter Todesursachen. So könnten gewisse biochemische Verbindungen im Blut Vorboten des Herztodes sein. Die gesuchten Vorboten sind jedoch „heimliche“, d.h. sie müssen erst noch bestimmt werden, um Vorsorge für den noch gesund erscheinenden Patienten zu treffen. Der Suche nach Biomarkern haben sich Forscher der Princeton University
6 Diese menschlichen Embryonen sind heute bereits verfügbar, wenn im Rahmen der In-Vitro-Fertilisation (IVF = künstliche Befruchtung der Eizelle außerhalb des Mutterleibes) und der dann obligatorischen pränatalen Implantationsdiagnostik (PID; ein grundsätzlich bei der IVF vorgesehenes Verfahren) Schäden festgestellt werden, die eine Behinderung des Neugeborenen wahrscheinlich sein lassen. Diese Embryonen werden nicht ausgetragen, sondern getötet oder sie stehen Forschungszwecken zur Verfügung. 7 Dass Gesundheit „ihren Preis“ hat, und nicht jeder ihn bezahlen kann, ist natürlich nicht neu. Das Problem droht aber schärfer zu werden, wenn die Preise steigen und der Kostendruck auf die Versorgungssysteme durch demographische Alterung und wirtschaftlich-konjunkturelle Gründe steigt. 8 Auf Gesundheits- und Sterblichkeitsunterschiede in Abhängigkeit vom sozioökonomischen Status (also Einkommen, Bildung u.a.) ist in der Forschung verschiedentlich hingewiesen, wenig dazu aber bisher erforscht worden (Lampert 2000, S. 160 ff). Vgl. auch Kap. 4.)
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und der Washington University School in den Vereinigten Staaten verschrieben. Die Forschung ist nicht nur wegen der Komplexität der Verursacherfaktoren aufwändig. Da eine Bestätigung für vermutete Biomarker erst nach Jahren zu bekommen ist, müssen Versuchspersonen im Verlauf von Jahren oder Jahrzehnten bezüglich ihrer gesundheitlichen Entwicklung bzw. ihres zwischenzeitlichen Todes immer wieder untersucht werden9.
6.3 Altern: logisches und „kosmisches Prinzip“ des Lebens Altern und Sterben sind offenkundig universale und ewige Prinzipien. Sie stehen komplementär zueinander in Beziehung, wie alles Werden und Vergehen. Leben bedeutet Beständigkeit im Altern, und ohne Tod wäre neues Leben nur begrenzt möglich. Schon die Knappheit lebenswichtiger Ressourcen führt zu Konkurrenz und fordert die „evolutionäre Entscheidung“ zwischen der Bevorzugung einer Unendlichkeit des Lebens bei begrenzter Anzahl der Lebewesen oder – andererseits – der Endlichkeit des Lebens bei ständig zunehmender Zahl. Die Evolution hat sich bekanntlich für die zweite Möglichkeit „entschieden“. Durch Mutationen10 sorgt sie für Anpassung an Umweltbedingungen. Je gelungener diese ausfällt, desto größer sind die Chancen für eine lange individuelle Lebensspanne und zugleich das Überleben einer Spezies. Doch auch hier zeigt Ressourcenknappheit Wirkung. Das Setzen auf Langlebigkeit erfordert die Zufuhr von Energie, dies in einer Menge, die dem jungen und zur Mutation fähigen Leben aus Gründen der Ressourcenknappheit vorenthalten werden muss. Die „Energiefrage“ bestimmt also darüber, wo der Organismus investiert: In Langlebigkeit auf Kosten des evolutionären Fortschritts, oder in die Differenzierung des Lebens – dann allerdings auf Kosten der Langlebigkeit der einzelnen Lebewesen. Mit anderen Worten: die Evolution findet nur dann statt, wenn dem jungen Leben, zugleich Träger der für die Art überlebenswichtigen Mutationen, jene Menge an Energie zuführt wird, die der Realisierung von individueller Langlebigkeit auf der anderen Seite entzogen wird. Denn, zentrale Prinzipen der Evolution sind:
9 Vgl. hierzu Bericht von Joachim Müller-Jung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 17. Jan. 2007 10 Mutationen = zufällige und ungerichtete Veränderungen (Verminderung oder Vermehrung) der Erbsubstanz als Reaktion auf Umweltanforderungen, bzw. –belastungen (z. B. gefährlicher Strahlung). Der in der Einleitung genannte „Selbst-Reparatur-Mechanismus“ ist darauf gerichtet, durch Enzymkomplexe die durch Mutation angelegten Schäden zu reparieren. Enzyme sind organische Verbindungen, die in den Zellen gebildet werden und den Stoffwechsel der Zellen bewirken.
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Selektion und Mutation11. Sie sind Voraussetzung für Anpassung und für die Entwicklung neuer Arten, so dass umgekehrt die ausschließliche Zielverfolgung von Langlebigkeit die Evolution zum Erliegen brächte12. Evolution des Alterns Andererseits gibt es auch eine Evolution des Alterns im Sinne der Zunahme von Langlebigkeit. D. h. die Verlängerung der Lebensspanne ist ebenso ein Merkmal der Evolution, und sie ist genauso wenig zu Ende, wie eine fortlaufende Evolution der Arten13. Könnte, das in den letzten gut einhundert Jahren so erfolgreiche Bestreben des Menschen nach einer Verlängerung des Lebens14, in diesem Evolutionsprinzip seinen – ganz natürlichen – Ursprung haben? Ein weiteres in diesem Zusammenhang interessantes Prinzip der Evolution ist die Neotenie15. Entdeckt hat sie der nordamerikanische Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould16. Diese bewirkt, dass bestimmte Organismen in postjuvenilen („nachjugendlichen“) Entwicklungsstadien verschiedene jugendliche Eigenschaften beibehalten. Im Vergleich mit anderen hoch stehenden Arten der Evolution nimmt der Mensch bezüglich der Bewahrung von Jugend – man denke an die Länge von Schwangerschaft, Kindheit und Jugendphase – eine Sonderstellung ein. Dies könnte eine Voraussetzung für die Intelligenz des Menschen sein, für
11 Nicht alle Mutationen sind im Sinne der Evolution und der Lebensverlängerung positiv zu bewerten. Mutationen können Schäden an der DNA (Träger der Erbinformationen) bewirken (Erbkrankheiten). 12 Von einer Fortsetzung der Evolution wird ausgegangen, auch wenn sie sich – aus Zeitgründen – empirisch schwerlich beobachten lässt. Das gilt auch für einzelne Organe wie das menschliche Gehirn. Humangenetiker der University of Chicago haben kürzlich eine entsprechende These veröffentlicht (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. Sept. 2005). 13 Diese Tendenz zum Zugewinn an Leben ist nicht nur im Vergleich höherer und niederer Lebewesen zu beobachten, sondern auch bei einzelnen Arten mit ausgeprägter Kurzlebigkeit wie der Fruchtfliege. Die Schlussfolgerungen sind allerdings umstritten. (Akademie 1992, S. 106). Die Fruchtfliege (lat. Drosophila melanogaster) hat sich eine weitere Anmerkung verdient. Sie gelangte bekanntlich dadurch zu „Prominenz“, dass der amerikanische Biologe und Pionier der Genforschung Thomas Hunt Morgan mit ihr Kreuzungsversuche unternahm, die u. a. eine weitgehende Richtigkeit der von Gregor Mendel (ab 1854) entdeckten Erbregeln bestätigte. Mendel hatte Erbsen benutzt und wurde vergessen, während Morgan 1933 für seine Verdienste den Nobelpreis erhielt. Die Fruchtfliege gilt seither als das „Haustier“ der Genetiker (Jaenicke, Paul 2004, S. 126). 14 Es ist kein Zufall, dass als ein Indikator (von mehreren) für den Entwicklungsgrad der Zivilisation die durchschnittliche Lebenserwartung benutzt wird. 15 Neotenie bezeichnet in der Medizin den unvollkommenen Entwicklungszustands eines Organs. 16 Gould (1941-2002) ist einer der bekanntesten Evolutionsbiologen der Gegenwart. Er lehrte zuletzt an der Harvard Universität.
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seine größere Sozialisationsbedürftigkeit aber auch -fähigkeit und damit den Grund liefern, der den Menschen erst zum Kulturwesen17 macht. Mindestlebenszeit Zur Logik des Lebens gehört eine Mindestlebenszeit. Diese ist markiert durch die Notwendigkeit der Fortpflanzung. Ist sie vollzogen, so gilt die Art als gesichert. Mindestlebenszeit ist also gleich Generationszeit. Je kürzer die Lebensphase bis zur Fortpflanzungsfähigkeit ist, umso höher ist das Tempo der Evolution (Akademie 1992, S. 106). Am deutlichsten verkörpern dieses Prinzip solche Organismen, deren Dasein nach einem einzigen Reproduktionszyklus mit dem Tod endet, wie das des Oktopus (einer Tintenfischart), des pazifischen Lachs’ oder einiger Beutelmäuse (Akademie 1992 S. 103). Hier wird die Energie des Lebens im Wesentlichen auf die Produktion vieler Nachkommen gerichtet und nicht auf ein langes Leben weniger Exemplare. Dies wohl unter den Bedingungen einer lebensfeindlichen Umwelt und bislang erfolgloser Versuche zur Erreichung einer besseren Anpassung. Das Erreichen der Fortpflanzungsfähigkeit markiert hier Minimum und Maximum des Lebens zugleich. Altern als „kosmisches Prinzip“ An anderer Stelle dieses Buches haben wir definiert, dass Altern eine irreversible Veränderung ist, an deren Ende das Vergehen und der Tod stehen (vgl. Kap. 2.). Das gilt für alles Leben, somit für Pflanzen, aber auch für anorganische Stoffe. Es gilt im Übrigen ebenso für alle künstlich hergestellten Gegenstände und Substanzen. Nichts scheint vor struktureller Auflösung sicher. Das Diktum Begrenztheit der „Lebenszeit“ gilt letztlich im Großen und im Kleinen. Es betrifft „unsere“ Erde, ihre Gebirge, Flüsse, Bodensubstanzen, es gilt für Himmelskörper, Galaxien, das Universum; für alles pflanzliche und organische Leben und für alle Produkte menschlicher Arbeit und des Wissens. Es gilt für Marmeladengläser und Gebäude ebenso wie für Computerchips, Automobile und Kraftwerke. Nichts, so sagt uns die Erfahrung des Alltags, „hält ewig“.
17 Robert P. Harrison in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 27. August 2005. Neotenie wollen einige Alternsforscher wie Tom Kirkwood und Jay Olshansky von der Universität of Illinois nutzen, um den Prozess des Alterns „umzudrehen“, um so ein Konzept des Anti-Ageing zu finden. Eine Strategie, die im Fall des Gelingens, die Utopie vom „ewigen Leben“ vielleicht wahrmachen könnte (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. Dezember 2004).
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Stark differierende Lebensspannen Höchst verschieden zeigt sich im Vergleich der Arten die verfügbare Zeit des Lebens. Die von den Vertretern der einzelnen Arten durchlebten Zeiträume bis zum Tod – die Lebensspannen18 – weichen extrem von einander ab. Sie unterscheiden sich offenbar arttypisch, wie etwa der Vergleich von Mäusen und Schildkröten zeigt. Für einige Lebewesen ist die Lebensspanne übrigens an das Erreichen der Reproduktionsfähigkeit gekoppelt (s. o.). Auch hier zeigt sich die Logik des Lebens. Zugleich demonstriert das Beispiel von Maus und Schildkröte, dass das Erreichen einer größeren Lebensspanne nicht notwendig ein Privileg des in der Evolution höher stehenden Lebewesens ist19. Vorhersagbarkeit der Lebensspanne Differenziert muss die Frage nach der Möglichkeit einer Vorhersehbarkeit der Lebensspanne beantwortet werden. Für hochkomplexe lebende Systeme, also Säugetiere und damit auch für den Menschen, scheint die Vorhersagbarkeit der Lebensspanne möglich zu sein. Gleiches gilt übrigens für künstlich geschaffene komplexe Systeme. So ist eine entsprechende Vorhersage für einen komplexen technischen Gegenstand wie z. B. ein Auto recht zuverlässig zu treffen – im Gegensatz etwa zum wenig komplexen Trinkglas oder Haushaltsgeschirr, deren Lebensspannen extrem streuen (Akademie 1992, S. 97). Der Grund für die Endlichkeit der Lebensspanne könnte in der begrenzten Vermehrungsfähigkeit der Zellen liegen. Die Verfechter dieser „Begrenzungsthese“ gehen von der Wahrscheinlichkeit aus, dass „nach etwa fünfzig Populationsverdoppelungen der Stillstand kommt“. Von dieser These ist die Annahme abgeleitet, dass die Lebensspanne des Menschen bei 115 Jahren liegt. Das ist freilich umstritten. Seit 1990 hat es nachweislich fünf Menschen gegeben, die dieses Alter überschritten haben (Heidelberger Hundertjährigenstudie 2001, S. 6 f).
18 Mit dem Begriff Lebensspanne ist – im Unterschied zu dem wahrscheinlichkeitsstatistisch basierten Begriff der Lebenserwartung – der immer arttypische aber biologisch möglicherweise vorgegebene und damit begrenzte Zeitraum an Lebensjahren gemeint, der – unter Ausschluss möglicher Störfaktoren (Unfälle, Krankheiten, Hungersnöte etc.) maximal erreichbar ist. Die Forschung ist allerdings uneins darüber, ob es eine dieserart zu definierende Lebensspanne überhaupt gibt. 19 Wie der hier vorgenommene Vergleich der Maus als Säugetier und der Schildkröte. Die Lebensspanne von Mäusen liegt etwa bei drei Jahren, die von einigen Schildkrötenarten bei über 100. Eine Schildkröte, die angeblich schon Darwin auf den Galapagosinseln als Studienobjekt für seine Evolutionstheorie galt, ist im Juni 2006 in einem australischen Zoo im Alter von – wie berichtet wird – 175 Jahren gestorben. Es sollen schon Lebensalter von knapp 200 Jahren von Schildkröten erreicht worden sein.
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Es gibt sie doch: Unsterblichkeit. Und doch: nicht alles altert! Verschiedene Bakterien – z. B. Hefe – scheinen vom Altern ausgenommen (Akademie 1992, S. 103). Einzellige Lebewesen verschaffen sich durch Zellteilung ständig neue Kopien. Und wenn einzelne von ihnen durch Außeneinwirkung sterben, so sind sie zuvor nicht gealtert. Auch beim Menschen gibt es ein Gewebe, das unsterblich ist: die Haut. Jeder kann das durch Beobachtungen an sich selber bestätigen. So genannte projektive Moleküle, die in prinzipiell jeder Zelle in begrenztem Umfang vorhanden sein können, sorgen hier für die notwendige „Ersatzteilung“ und damit immer wieder für die uns so willkommene Heilung von Verletzungen (Akademie 1992, S. 107 f). Strategien für Langlebigkeit Die Geschwindigkeit von Alterungsprozessen ist, wie auch der Vergleich von Arten zeigt, sehr verschieden. Es gibt solche, die derart langsam ablaufen, dass sie praktisch nicht festgestellt werden können. Dies wirft die Frage nach der Existenz von Strategien des Organismus auf, die dazu dienen, Langlebigkeit zu bewirken. Gleich drei davon scheint es zu geben: (1) Eine, die Ersatz für geschädigte Organteile schafft (s. das Beispiel Haut), (2) einen Selbst-Reparatur-Mechanismus (s. 6.4.1) und (3) so genannte Schutzmoleküle. Auch hier ist das „einfache Leben“ gegenüber dem hochkomplexen im Vorteil. Einzellige und auch einige vielzellige Organismen können sich aller drei Strategien bedienen (Akademie 1992, S. 107).
6.4 Ursachen des Alterns Deutschland scheint für die Alternsforschung noch immer eine Art Diaspora zu sein. „Es gibt in ganz Deutschland noch kein eigenes Institut zur Biologie des Alterns“, beklagt der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft20. Diese Lücke in der Forschungslandschaft, zumal in einem Land, das derzeit gemeinsam mit Japan im weltweiten Maßstab zu den am stärksten durch den demographischen Wandel beeinflussten gehört, ist kaum verständlich. Gleichwohl wird dieser Missstand nicht allein für den noch immer unbefriedigenden Erkenntnisstand bezüglich der Ursachen des Alterns verantwortlich sein. 20 So Peter Gruss, Entwicklungsbiologe und Präsident der Max-Planck-Gesellschaft. Das soll sich ändern. Bis 2008 sollen das bereits existierende Institut für demographische Forschung in Rostock und das auf psychologische Alterungsforschung spezialisierte Institut in Berlin ergänzt werden um eine Einrichtung, die sich mit der Biologie des Alterns beschäftigt. (Christian Schwägerl in der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. Februar 2007)
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Was also bewirkt Altern? Grundsätzlich ist bis heute unklar, bzw. umstritten, ob Altern auf einen oder mehrere ursächliche Faktoren zurück zu führen ist21; ob es dafür ein genetisches Programm gibt, ob dieses durch Mutationen Schaden nimmt, weil der „Selbst-Reparaturmechanismus“ versagt, oder ob Altern „einfach“ eine Folge von Zufällen ist? Mit der Zunahme des Lebensalters steigende Krankheitsraten, z. B. beim Krebs, zeigen, dass körpereigene Abwehrstrategien an Wirkung verlieren, sich wohlmöglich abnutzen oder auch – fatalerweise – sich zerstörerisch gegen das zu schützende Organ oder Gewebe richten. Die weißen Blutkörperchen, von denen sonst nur Gutes zu berichten ist, gehören dazu (s. Kap. 6.4.2). Ungeachtet aller Forschungsfortschritte: aktuelle Definitionen von Altern unterscheiden sich verblüffend wenig von der ebenso alten wie simplen Erkenntnis, dass Altern eine Krankheit sei (vgl. Kap. 2.). Ungeklärt geblieben ist, welche grundlegenden Ursachen zu einer finalen Erkrankung führen. Populäre Alternstheorien setzen zumeist auf das Wirken eines einzigen spezifischen Mechanismus. Evolutionstheoretiker dagegen halten Altern für eine Anhäufung zahlreicher Mutationen, die in frühen Lebensjahren zwar die Vitalität eines Organs erhöhen, deren Effekte aber von einem gewissen Zeitpunkt an ins Negative umschlagen und so eine Verkürzung der Lebensdauer bewirken (Akademie 1992, S.108). Die Forschung ist, wie bereits angesprochen, durch die Gen- und Genomforschung inzwischen zum eigentlichen Kern ihrer Fragestellung vorgedrungen. Alternsforschung im Sinne der hier federführenden Biologie ist heute Zell- und Genforschung. Verstärkt wird der Frage nachgegangen, ob DNA-Schäden beim Altern ein zentraler Stellenwert zukommt. Die Forschung richtet sich dabei vor allem auf intrazelluläre Vorgänge, die Veränderungen der Zelle bezüglich ihrer Genstruktur bewirken. Ist einmal ein Schaden aufgetreten, so wird er sich über die Zellteilung ungehindert fortsetzen. Warum aber versagt – unter gewissen Umständen – der vermutete „Selbst-Reparatur-Mechanismus, indem er schädigende Mutationen nicht verhindert? Der Schlüssel zu den Ursachen des Alterns könnte in den Erbinformationen der DNA22 liegen. Die DNA sorgt bekanntlich dafür, dass bei jeder Zellteilung die individuellen Erbinformationen weiter gegeben werden und damit Bestandteil jeder einzelnen Körperzelle sind. Es wurde beobachtet, dass die DNA im Zeitver21 Die Forschung spricht dann vom uni- bzw. andererseits vom multifaktoriellen Altern (Akademie 1992, S. 108) 22 DNA = engl.: deoxyribonucleic acid, in den Chromosomen und damit in den Kernen aller Zellen vorhandene Erbinformationen (auch DNS = deutsch: Desoxyribonukleinsäure).
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lauf Schaden nimmt und zwar in der Form, dass es zu einem Ansteigen von Ablagerungen fremder Substanzen kommt. Noch steht der Nachweis aus, dass damit auch tatsächlich schädigende Auswirkungen verbunden sind (Akademie 1992, S. 95; 111f). Schaden an der DNA entsteht auch durch die mit jeder Zellteilung sich verkürzenden Telomere. Telomere sind die Enden der Chromosomen, die aus demselben Material wie die DNA bestehen, keine Erbinformationen enthalten, die eigentlichen Gene aber schützen. Der Vorgang des Verkürzens führt irgendwann zum völligen Verschwinden der Telomere, womit die Erbanlagen ungeschützt und die entstehenden Tochterzellen fehlerhaft sind. Die betroffenen Organe sterben ab23. Andererseits ist umstritten, ob Veränderungen an den Erbanlagen für das Altern überhaupt bestimmend sind. So haben biochemische Untersuchungen in der Mitte der 1990er Jahre an der Universität von San Francisco gezeigt, dass Eingriffe in den Stoffwechsel von Zellen – sozusagen an den Genen „vorbei“ – lebensverlängernd wirken können. Bei Fadenwürmern hat man die Zufuhr eines lebensnotwendigen Botenstoffes, des Hormons Insulin, reduziert. Das Ergebnis: die behandelten Fadenwürmer lebten etwa doppelt so lange, wie ihre unbehandelten Artgenossen. „Fasten als Jungbrunnen“, wie eine Berichterstatterin schreibt. Offenbar produzieren die Zellen mehr Proteine, wenn die Insulinzufuhr reduziert wird24. Altern hätte demnach – vereinfacht gesprochen – zur Ursache eine von der Natur angelegte – nicht optimale – Versorgung der Zellen. Der durch Menschenhand regulierende Eingriff in die Natur wirkt lebensverlängernd. Von einer Reihe namhafter Forscher wird Altern (noch immer) als eine Art chronische Entzündung gesehen. Ursachen könnten in einer nachlassenden Fähigkeit der Organe zur „Selbstreparatur“ liegen. „Altern resultiert größtenteils von der Anhäufung somatischen Schadens, der auf das begrenzte Investieren in die Erhaltung der Reparatur zurückzuführen ist“ (Heidelberger Hundertjährigenstudie 2001, S. 8). Dass der Feind des Lebens nicht nur außerhalb des Organismus lauert, sondern zugleich in ihm selbst, lässt sich auch anhand der so genannten freien Radikalen belegen. Dabei handelt es sich um Moleküle, die ebenso instabil wie reaktionsfreudig sind und sich vor allem als ausgesprochen aggressiv erweisen. Obgleich sehr schnelllebig, denn nur Sekunden existierend, richten sie an organischen Molekülen großen Schaden an und können ganze Kettenreaktionen auslösen (s. Kap. 6.4.2).
23 Vgl. www.wissenschaft.de/wissenschaft/news/247032.html, 10.7.07 24 Vgl. ein Bericht von Nicola von Lutterotti in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 1. März 2006.
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6.4.1
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Altern: Programm oder Zufall?
Der menschlichen Zivilisation ist es in den letzten gut einhundert Jahren gelungen, viele das Leben bedrohende Faktoren zu eliminieren bzw. in ihrer Wirkung einzuschränken. Zahlreiche Gefahren, die von der Natur oder durch das Zusammenleben der Menschen für das Leben ausgehen, lehrten unsere Vorfahren noch das Fürchten, oder ließen sie davor kapitulieren. Den Gegenwartsmenschen hingegen, hat er das Glück, sich der Errungenschaften der westlichen Zivilisation bedienen zu können, lassen sie „kalt“. In der Folge dieser „Domestizierung“ der Gefahren stieg die durchschnittliche Lebenserwartung rasch an und mit ihr der aktiv zu gestaltende Lebensraum. Eine (möglicherweise) von der Natur bestimmte Lebensspanne (s. o.) wird immer länger und von immer mehr Menschen auch ausgeschöpft. Die Wirkung kultureller Faktoren auf die Lebensspanne ist übrigens auch bei Wildtieren beobachtet worden, die in Zoos in einer Art Schutzraum gehalten werden. Selbst-Reparatur-Mechanismus (Immunsystem) Eine populäre Theorie zur Erklärung des Alterns geht vom Vorhandensein eines zelleigenen Selbst-Reparatur-Mechanismus aus. Dessen einzige Funktion ist die wirkungsvolle DNA-Reparatur. Diese Reparatur ist insofern bedeutsam, als einmal verloren gegangene Gene nicht ersetzbar sind (Akademie 1992, S. 111). Die Funktionsweise ist grob beschrieben die folgende: Eine entscheidende Rolle spielen die weißen Blutkörperchen. Sie greifen Krankheitserreger an und vernichten sie. Unter gewissen Umständen und offenbar einhergehend mit dem Altern versagt aber das System, indem die weißen Blutkörperchen schadhaft werden und dann fatalerweise gegen die zu schützenden Körperzellen vorgehen. Die Körperzellen verändern sich aber auch selber (intrazelluläre Vorgänge, s. u.), so dass das Immunsystem nicht mehr angemessen reagieren kann. Aber auch von außen wirkende Faktoren können zu DNA-Schäden führen, wenn das körpereigene Abwehrsystem ihnen nicht gewachsen ist25. Programmiertes oder zufälliges Altern? Lässt die empirisch (d.h. durch zahlreiche beobachtete Fälle) begründete Vorhersagbarkeit der Lebensspanne komplexer Organismen auf ein allen lebenden Systemen innewohnendes Programm des Alterns schließen? Die Nichtannahme eines
25 Dies ist durch Beobachtungen bei der Einstrahlung von Ultraviolett (UV)-Licht auf die menschliche Haut gezeigt worden (Akademie 1992, S. 111).
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derartigen Programms müsste Altern als Folge äußerlich bedingter Zufälle begreifen (Unfälle, Infektionen etc.). Wenn es dagegen diese Programme gäbe, was bisher nicht zweifelsfrei begründet ist, und gelänge die Entschlüsselung deren komplexer Ursachen-Wirkungszusammenhänge, dann müsste auch eine Vorhersehbarkeit und Planbarkeit des Todes möglich sein. Die Frage: Programm oder Zufall ist folglich eine der Grundsatzfragen nach den Ursachen des Alterns. Zufälliges Altern durch auf Langlebigkeit spezialisierte Gene Der Titel dieses Abschnittes klingt zunächst paradox. Das mögliche Vorhandensein von Genen, die auf Langlebigkeit spezialisiert sind, würde ein programmiertes Ende des Lebens vermuten lassen. Dem ist aber nicht so. Langlebigkeitsgene bewirken zwar Langlebigkeit, aber sie enthalten kein Programm für das Altern. Dieses bleibt von äußeren, also zufälligen Ereignissen abhängig. Bei einigen Tieren (Fliegen, Würmern26 und Mäusen) wurden mehrere Genorte aufgespürt, die Gene enthalten, die anscheinend Langlebigkeit bewirken27. Beim menschlichen Genom ist allerdings bisher erst ein einziger entsprechender Genort identifiziert worden. Die Forschung erhofft sich eine Bestätigung der Hypothese für die Existenz von Langlebigkeitsgenen. Für deren Richtigkeit spricht die Beobachtung von Hochbetagten und ihren Nachkommen. Angehörige der Kindergeneration von sehr alt gewordenen Menschen sind häufig in körperlich deutlich besserer Verfassung als Gleichaltrige, deren Eltern früher starben. Die Chance auf Hochaltrigkeit scheint also vererbbar zu sein. Ein weiteres Indiz für die Richtigkeit der Annahme von Langlebigkeitsgenen ist das folgende: In einigen abgeschiedenen Regionen der Erde, wo es auch heute noch mangels des Zuzugs fremder Menschen zu einem endogamenen Heiratsverhalten28 kommt, sind höhere Anteile von Hochbetagten an der Population beobachtet worden. Bespiel ist das chinesische Dorf Bapan im Landkreis Bama der Provinz Guangxi. Dort ist eine auffällige Häufung von Hundertjährigen beo-
26 Biologen der Universität Freiburg haben im Frühjahr 2004 bei Fadenwürmern einen zentralen Biokatalysator für zelluläre Entwicklungs- und Alterungsprozesse ausgespürt. Wird ein bestimmtes Enzym mit der Bezeichnung SGK-1 ausgeschaltet, reagieren die Würmer weniger empfindlich auf ungünstige Umweltbedingungen. Die Lebenserwartung steigt (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. April 2004). Ähnliche Beobachtungen sind bei Mäusen gemacht worden. Mit der so genannten RibonukleinsäureInferenz können Gene gezielt abgeschaltet werden, und so den Nager vor Leberschäden bewahren (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. März 2003). 27 Solche Gene könnten die Ursache dafür sein, dass es Lebewesen gibt – z. B. den amerikanischen Hummer, der bis ins hohe Alter fortpflanzungsfähig bleibt. Ebenso gibt es Lebewesen, deren Körperwachstum keine Altersbegrenzung kennt (Heidelberger Hundertjährigenstudie 2001, S. 8). 28 Man heiratet sozusagen „unter sich“.
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bachtet worden. In Bapan gab es im Jahr 2002 zwei Frauen und zwei Männer, die älter als einhundert Jahre waren. In dem gesamten Landkreis kamen auf 234.000 Einwohner seinerzeit 81, die ein dreistelliges Lebensalter erreicht hatten. In China spricht man vom „Tal der Hundertjährigen“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. Feb. 2002). Die Menschen dort leben fern der westlichen Zivilisation und sind arm. Sie leben in äußerster Bescheidenheit, so wie seit Jahrhunderten ihre Vorfahren29. Programmiertes Altern durch Alternsgene Eine den Langlebigkeitsgenen entgegen gesetzte Wirkung haben so genannte Alternsgene. Ihre Funktion ist, den Vorgang des Alterns herbeizuführen und zwar innerhalb einer „geregelten“, also programmierten Zeitpanne (Programmiertes Altern). Gelänge es, diese Alternsgene zu finden, so könnte versucht werden, sie „lahm zu legen“. Altern würde verhindert, zumindest „verschoben“ werden können. Vorzeitiges und krankhaftes Altern Neben dem „normalen“ Altern sind verschiedene Formen krankhaften und vorzeitigen Alterns beobachtet worden. Eine genetische Veranlagung wird verantwortlich gemacht für verschiedene Erscheinungsformen. Hierbei setzen typische Alterserscheinungen wie das Ergrauen und Ausfallen der Haare, Gefäßkrankheiten, Katarakte usw. in der Kindheit oder im frühen Jugendalter ein und führen zu einem stark verfrühten Tod. Es sind allerdings nicht einzelne Gene, die für diese Erscheinungen verantwortlich zu machen sind. Vielmehr ist von Syndromen, also vom Zusammentreffen verschiedener Krankheitserscheinungen, auszugehen, die zu Veränderungen führen, die denen des Alterns ähnlich sind. Die drei bekanntesten Syndrome dieser Art sind das Down-Syndrom, das Hutchinson-GilfordSyndrom und das Werner-Syndrom (Akademie 1992, S. 118 f). Sie sollen hier kurz beschrieben werden. Das Down-Syndrom basiert auf einer Extra-Kopie des Chromosoms 2130. Die beteiligten Gene sind derzeit noch nicht alle festgestellt. Down-Syndrom-Patien29 An der Universität Bologna wurde 2004 unter Leitung von Claudio Franceschi, einem der renommiertesten europäischen Alternsforscher, eine Untersuchung von 3000 Hochbetagten aus elf europäischen Ländern begonnen, mit dem Ziel des Aufspürens von Langlebigkeitsgenen im Erbgut (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. April 2004). 30 Chromosomen sind in artspezifischer Anzahl und Gestalt vorhanden. Während der Kernteilung der Zelle kann es zu Fehlern in Form von Mutationen kommen. Verschiedene solcher „Erbkrankheiten“ sind neben denen, die vorzeitiges Altern bewirken, bekannt (z. B. Wachstumsstörungen, das so gen. WolfHirschhorn-Syndrom; die Lippe-, Kiefern-, Gaumenspalte, das so gen. Pätau-Syndrom u. a.) vgl. Medizin, Mensch, Gesundheit, 2005, S. 205, 722.
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ten zeigen u. a. eine frühzeitige Ergrauung der Haare mit Glatzenbildung, eine Akkumulation des so genannten Alterspigmentes Lipofuszin, Tumore, Gefäßkrankheiten, Veränderungen des Gehirns, die von denen der Alzheimer-Krankheit nicht unterscheidbar sind. Die Lebenserwartung ist deutlich herabgesetzt (Akademie 1992, S. 119). Das Hutchinson-Gilford-Syndrom ist eine äußerst seltene Mutation (eins auf acht Millionen). Bei der Geburt normal entwickelt, bilden sich bei den Patienten in der Kindheit schwere Veränderungen, von denen einige denen des Alterns ähneln. Von der Krankheit Betroffene haben einen großen Kopf und einen schmalen Kiefer. U. a. entwickeln sich die Schlüsselbeine zurück und oft auch der Kopf des Hüftknochens, die Intelligenz dagegen ist normal. Wahrscheinlich liegt hier ein Problem ungenügenden Wachstums vor, da andere alterstypische Erkrankungen nicht vorkommen. Die Betroffenen sterben mit etwa zwölf Jahren (Akademie 1992, S. 119). Von dem ebenfalls sehr seltenen Werner-Syndrom betroffene Patienten entwickeln sich während der Kindheit normal In der Jugendphase jedoch stoppt das Wachstum, und es kommt zu zahlreichen alternsähnlichen Veränderungen. Die Patienten sterben in den Vierzigern, meist an den Folgen der Komplikationen der Atheriosklerose (krankhafte Veränderung der Blutgefäße). Es gibt eine Reihe von Anzeichen, die auf DNA-Schäden schließen lassen. Das Syndrom erscheint häufig bei Verbindungen von Blutsverwandten (Akademie 1992, S. 120). 6.4.2
Funktionsverluste durch Zell- und Gewebeveränderungen
Altern findet in den Zellen statt. Untersuchungen der Zell- und Gewebestrukturen von Säugetieren haben eine Vielzahl von Veränderungen erkennen lassen, die sich als Altern deuten lassen. Allerdings ist es verfrüht, Schlüsse auf mögliche universelle Alternsvorgänge zu ziehen, oder auch „nur“ auf solche, die sich auf alle Säugetierarten oder gar auf alle Zellarten übertragen lassen. Über längere Zeit ist fälschlicherweise vermutet worden, dass Altern auf einer mangelhaften Teilungsfähigkeit der Zellen beruhe. Bis dahin war man von der Annahme ausgegangen, dass alle Zellkulturen unbegrenzt wachsen würden. Inzwischen ist bekannt, dass – wenn es so wäre – alle bekannten Lebewesen sehr viel größer sein müssten als sie es sind31. Forschungsarbeiten, die eine begrenzte Lebensspanne und limitiertes Wachstum für normale Zellen nachweisen konn-
31 Es gibt unter weniger hoch entwickelten Lebewesen solche (z.B. Fischarten) die ein Leben lang wachsen, wobei das Wachstum von den Umweltbedingungen abhängig ist.
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ten, taten sich vor etwa dreißig Jahren schwer, Akzeptanz zu finden. Seit der Durchsetzung dieser Erkenntnis wissen wir aber um die wahrscheinliche Unmöglichkeit, Altern „in vitro“ (im Reagenzglas) experimentell darzustellen (Akademie 1992, S.117 f). Freie Radikale Körpereigene Zerstörungskräfte gehen von den eingangs erwähnten so genannten Freien Radikalen aus. Es handelt sich um körpereigene Moleküle, die sich an organische Moleküle ankoppeln und sie zerstören, indem sie deren Funktion behindern. Opfer sind Enzyme, Hormone, Proteine und die DNA. Ausgangspunkt ist die Überlastung von Verbrennungsprozessen im Körper. Diese können von Außen ausgelöst sein, z.B. durch große Hitze oder UV- und Röntgenstrahlen oder auch Nahrungsmoleküle32. Durch eine Reihe von chemischen Reaktionen entstehen aus Sauerstoffmolekülen Zwischenprodukte, die für den lebenden Organismus toxisch sind. Obwohl sich dagegen körpereigene Abwehrmechanismen entwickeln, können in Zellen geringe Konzentrationen der Sauerstoffradikalen festgestellt werden, die übrigens im Urin nachweisbar sind (Akademie 1992, S. 110). Altern durch Auszehren der Zellen (Atropie) Unumstritten ist, dass Alter mit solchen Veränderungen einhergeht, die zu fortschreitenden Funktionseinbußen der meisten Gewebe- und Zellstrukturen führen. So kommt es zu einem prozentual allerdings kleinen Verlust eines Teiles des charakteristischen Zelltyps. Ein Vorgang, der Atropie genannt wird und zu einer Schädigung der Organe führt. Derartige Veränderungen sind in verschiedenen Gewebestrukturen gefunden worden, allerdings in verschiedenem Umfang. So ereignet sich der Verlust von Nervenzellen (Neuronen) in den verschiedenen Regionen des menschlichen Hirns und des Herzens am stärksten (Akademie 1992, S. 98). Bestimmte Zellen vermehren sich im Alter stärker, z.B. solche, die Narbengewebe bilden. Die Narbenbildung – z.B. nach einem Herzinfarkt – führt zur Schwächung des Organs. Zuweilen wird eine Erhöhung der weißen Blutzellen gesehen, ein Vorgang der typisch für einen chronischen Entzündungsprozess ist. Möglicherweise entwickeln Gewebe im Alter solche Zellen, die als Reaktion auf Schädigungen von Außen, also als eine Art Selbst-Reparatur-Mechanismus fungieren, die aber 32 Vgl. www.inform24.de/radikale.html, 10.7.07. Diäten könnten u.U. einen positiven Einfluss auf die Verringerung der freien Radikalen haben und – wie bei Tieren schon nachgewiesen – lebensverlängernd wirken.
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gleichzeitig langfristig das Altern verstärken, indem sie die Widerstandsfähigkeit herabsetzen und damit das Ausmaß der Schädigung erhöhen. In einigen Gewebestrukturen befinden sich im fortgeschrittenen Alter Stoffwechselrückstände, wie das so genannte Alterspigment, das Lipofuszin, die in einer gewissen Konzentration eine funktionale Beeinträchtigung des Stoffwechsels erwarten lassen. Andererseits ist dieser Stoff auch in den Zellen Neugeborener nachzuweisen, wo er vermutlich zu keiner Schädigung führt (Akademie 1992, S. 99). Forschungen haben nachgewiesen, dass Lipofuszin einen wichtigen „chemischen Schalter“ in den Zellen, das Proteasom33 hemmt, womit durch Sauerstoff (oxydativ) geschädigte Proteine nicht abgebaut werden können. Diese Proteine vernetzen sich dann, was zu Alterserscheinungen führt. Verlust der Gewebearchitektur Andere Gewebe, und zwar solche, die aus teilungsfähigen Zellen bestehen, verändern sich ebenfalls. So kommt es in verschiedenen Geweben zu einer Vermehrung der Chromosomenzahl, was einen Verlust der normalen Gewebearchitektur bedeutet. In den meisten solcher Gewebe entstehen dann Veränderungen, die als nicht korrekte Differenzierung (Metaplasien) gesehen werden. Auch damit geht ein Funktionsverlust einher (Akademie 1992, S. 99f). So scheint die These vom generellen Funktionsverlust im Alter bestätigt zu sein. Und doch sind Einschränkungen zu nennen. Denn es kann nicht für alle Gewebe von einer Beschleunigung solcher Veränderungen gesprochen werden. So ist für das Nervensystem der Verlust bestimmter Zellen im Verlauf der frühen Entwicklungsphase viel höher als im Alter (Akademie 1992, S. 98). Bisher unbestätigt ist eine andere Vermutung, nämlich dass Rückbau- oder degenerative Differenzierungsprozesse zu einer Art Selbsttötung des Zellgewebes führten. Stoffwechselreduktion durch Veränderung der Proteinproduktion Proteine gehören zu den wichtigsten Grundbausteinen der Zellen, die deren Aufbau bestimmen (z.B. den der Spezialisierung, etwa der Haarstruktur) und die Steuerungsfunktionen (z. B. der Muskeln und Hormone) sowie Transportaufgaben übernehmen34. Im Zusammenhang des zellularen Wandels kommt es auch zu Veränderungen der Proteinproduktion. Das führt zu einer Verlangsamung des Stoffwechsels in den Geweben und zu einem Verlust an Elastizität. Ein Beispiel 33 Proteasom ist ein Proteinkomplex der als „zentraler Schalter” innerhalb der Zellen gilt. Er steuert den gesamten Zellzyklus (http://www.ora.uni-konstanz.de:8890/owa_fprs/pwa/Pout.show_Pr_D?FP_Nr_= 575/05, 10.7.07) 34 http://www.biosicherheit.de/de/lexikon/, 10.7.07
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dafür ist die Verhärtung der Blutgefäßwände; möglicherweise ein Hauptgrund für den alterstypisch erhöhten systolischen Blutdruck35 (Akademie 1992, S. 100). Veränderungen der Zell-Interaktionen Komplexe Organismen sind auf die Kommunikation zwischen den Zellen angewiesen. Biochemische und molekularbiologische Techniken haben in den letzen Jahren eine Reihe so genannter Signal-Moleküle nachgewiesen, von denen z. B. Wachstumsimpulse an andere Zellen abgegeben werden. Noch ist unklar, inwieweit diese sich in Abhängigkeit vom Altern verändern. Als gesichert gilt der Befund, dass es zum Verlust bestimmter Rezeptoren kommt, die eine Versorgung von bestimmten Hirnregionen (wie des Cortex36) mit Adrenalinderivaten oder des Uterus mit Estrogen bewirken. Ebenso scheint die „Mobilisierung“ von Calcium, normalerweise durch eine Vielzahl von Signalstoffen hervorgerufen, im Alter eingeschränkt, was Folgen für Vorgänge der Zellteilung oder der Muskelkontraktion nach sich zieht (Akademie 1992, S. 100f). Veränderungen im Zellinnern und die Fehlerkatastrophentheorie Auch innerhalb der Zellen kommt es zu Veränderungen. So verlangsamt sich offenbar die Bildung von RNA (Ribonukleinsäure), die als so genannter Botenstoff oder Messenger Informationen der DNA enthält, von denen die Proteinsynthese in der Zelle abhängig ist. Die Folge ist ein exponentieller Verlust der Genauigkeit der RNA- und Proteinsynthese (Akademie 1992, S. 103). Eine Hypothese ist, dass aufgrund so initiierter Fehler weitere Fehlregulationen durch die Produktion defekter Zellkopien entstehen und sich deren Zahl schließlich häuft, was zum völligen Zusammenbruch des Organs führt (Fehlerkatastrophentheorie)37. Konzentrationen von Blutglukose als Folge fehlerhafter Proteinproduktion Unter Umständen kann es zu einer Bildung von erhöhtem Gehalt von Blutzucker (Blutglukose) kommen. Der so genannte Alterszucker (Diabetes mellitus) gilt als eine der typischen Alterserkrankungen, der in der Folge einer Schädigung der Nieren auftritt. Das Auftreten der Krankheit begünstigt das Entstehen weiterer Erkrankungen, z. B. tritt auch eine verzögerte Heilung von Entzündungen auf.
35 Der Systolische Blutdruck (erster gemessener hoher Wert) markiert das Zusammenziehen des Herzmuskels; der Diastolische Blutdruck (zweiter gemessener, niedrigerer Wert) misst den Druck des zurückfließenden Blutes (Medizin, Mensch, Gesundheit 2005, S. 141, 196, 697). Sofern der diastolische Blutdruck konstant bleibt, gilt das Ansteigen des systolischen als relativ unproblematisch (Akademie 1992, S. 100) 36 Cortex = wichtige Teile der Hirnrinde, in der z. B. das Seh- und Hörzentrum liegen. 37 Die Theorie geht zurück auf Orgel 1963; 1970 (Akademie 1992, S. 103).
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Vereinfacht gesprochen handelt es sich bei diesem krankhaften Prozess – im Fachjargon als Nicht-enzymatisches Bräunen bezeichnet – um die Folge einer fehlerhaften Proteinproduktion, die zur Akkumulation von glykosylierten Makromolekülen führt. Schäden sind auch in der DNA nachgewiesen worden. Der Erklärungswert als allgemeine Alternstheorie wird aber angezweifelt (Akademie 1992, S.114). Reduziertes Altern durch Nahrungsrestriktion Interessant ist eine Beobachtung bei Tierversuchen, wo eine Einschränkung der Nahrungsaufnahme zu einer Verlängerung der Lebensspanne führte. Dabei wurden die Zugewinne umso größer, je früher die Restriktionen begonnen hatten. Parallelen eröffnen sich zur Beobachtung beim Menschen, wo sowohl ein zu niedriges, vor allem aber ein zu hohes Körpergewicht negativen Einfluss auf die Lebenserwartung hat (Akademie 1992, S. 118). 6.4.3
Schrittmacherorgane
Eine ebenfalls populäre – aber nach Ansicht der Fachgelehrten – unzureichend belegte These, setzt auf das Vorhandensein so genannter Schrittmacherorgane. Deren Existenz wirke als Schutzmechanismus für den Gesamtorganismus. Zu diesen Organen wird das Immunsystem gezählt. Dessen Schwächung wird für die Zunahme von Infektionen und Krebserkrankungen im Alter (mit)verantwortlich gesehen. Unstrittig ist, dass Altern mit einer Schwächung des Immunsystems einhergeht, unwahrscheinlich jedoch, dass in dieser Schwächung die Ursache des Alterns selber liegt. Ein anderes denkbares Schrittmacherorgan ist das neuroendrokrine System, zuständig für die Hormonproduktion und damit für die Fortpflanzungsfähigkeit. Ein Nachlassen der Funktion gilt als Altersmerkmal. Andererseits kann eine Überproduktion – wie zumindest Tierversuche zeigen – auch zu einem verfrühten Tod führen38 (Akademie 1992, S. 117). Operative Eingriffe in die Keimbahnen des Menschen zum Zwecke der Funktionserhaltung oder Wiederherstellung, oder auch das Einspritzen von aus tierischen Hoden gewonnenen Säften, galten bereits – im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts – als allerdings nur kurzzeitig Erfolg versprechende Verjüngungsmethoden beim Menschen, genauer gesagt: beim Mann. Verschiedene Methoden,
38 Gemeint ist der nach der Kopulation eintretende Tod bei den männlichen Vertretern einiger Arten.
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darunter das so genannte Steinachen39, bei dem die Samenstränge abgebunden wurden, sahen Eingriffe in die Hormonproduktion vor, von denen Verjüngungseffekte erwartet wurden. Diese stellten sich auch tatsächlich ein, waren jedoch nur von kurzer Dauer. Ein weiteres mögliches Schrittmacherorgan ist die Nebennierenrinde. Sie ist zuständig für die Produktion der Stresshormone (Glukokortikoide). Auch hier haben Tierversuche gezeigt, dass die Steigerung oder Verringerung der Produktion dieses Einfluss auf die Lebensdauer des gesamten Organismus haben (Akademie 1992,S. 117).
6.5 Ausblick Die Suche nach den Ursachen des Alterns ist noch längst nicht abgeschlossen. Erkenntnisse sind von größtem Interesse, weil sich Methoden und Medikamente zur Verlangsamung oder Abmilderung der Begleiterscheinungen der Alternsprozesse entwickeln lassen. Daran wird lange schon gearbeitet. Der Markt ist riesig in einer alternden Gesellschaft, wenn sie zugleich auch eine vom Jugendkult geprägte Wohlstandsgesellschaft mit einem „Gesundheitsmarkt40“ ist.
39 Die Methode wurde benannt nach ihrem „Erfinder“, dem Wiener Physiologen Eugen Steinacher (1861-1944). Vgl. Kap. 2.2.4 und ausführlich: Stoff 2004, S. 26ff. 40 Vgl. zu Gesundheitsmarkt und Gesundheitswirtschaft Kap. 7.
7 So leben die Alten 7 So leben die Alten „Alte wollt ihr ewig leben?“ (Titel eines Beitrags von Frank Schirrmacher in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über eine dreiteilige „ Dokumentarfiktion“ des Zweiten Deutschen Fernsehens mit dem Titel „2030 – Aufstand der Alten“ vom 16. Jan. 2007)
7.1 Einleitung Wie leben die Alten? „Gut“, könnte die pauschale Antwort lauten. Das war nicht immer so. Eine gesicherte, angenehme, mit dem heute allgemein üblichen Komfort verbundene Lebensführung ist für die große Mehrheit der Alten erst in der modernen Gesellschaft möglich geworden. Zugleich ist sie auf die westlichen Wohlfahrtsstaaten beschränkt1. Niemals zuvor waren soziale Sicherheit, wirtschaftliche Lage, Teilhabe an gesellschaftlichen Ressourcen, sowie Akzeptanz seitens der anderen Altersgruppen so verbreitet wie heute. Das spiegelt sich wieder in der Zufriedenheit alter Menschen. Nicht allein mit ihrer Gesundheit, auch mit der finanziellen, der familiären sowie der nachbarschaftlichen Situation waren Ende der 1990er Jahre über achtzig Prozent der Alten zufrieden (Bundesministerium 2001, S. 69). Die These vom „guten Leben im Alter“ mag dennoch überraschen. Macht doch zugleich die Rede von der Altersdiskriminierung und der Entsolidarisierung der Generationen die Runde. Altersdiskriminierung meint Benachteiligung oder Ausschluss aufgrund eines höheren Lebensalters. Zu beobachten ist sie beispielsweise, wenn Menschen wegen ihres Alters keinen Arbeitsplatz finden oder entlassen werden. Altersdiskriminierung, so hört man, habe zugenommen. Ein höheres Lebensalter schließt immer stärker in den letzten Jahren von Erwerbstätigkeit aus. Der andere Begriff: Entsolidarisierung spricht – wie behauptet wird – de zunehmenden Unwillen der Jungen an, für die immer zahlreicher und älter werdenden Alten materiell verantwortlich zu sein und steigende Rentenversicherungs- und Krankenkassenbeiträge abführen zu müssen. Die These vom „guten Leben im Alter“ ist deshalb eine kühne These. Sie steht im Widerspruch zu Berichten über Altersarmut, Einsamkeit und das „Ab-
1 Gegenstand dieses Kapitels ist die Lebenslage alter Menschen in Deutschland.
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schieben“ nicht mehr nützlicher, weil alter Menschen. Und sie steht im Gegensatz zur oft diskutierten These von der für die Gesellschaft ins Unerträgliche wachsenden Kostenlast, verursacht durch Alte, welche die Solidarität zwischen den Generationen überfordere und ernsthaft gefährde. Ein „Krieg der Generationen“ (Gronemeyer 2004) drohe. Die These, vom „guten Leben im Alter“ soll hier belegt werden. Einschränkungen werden erforderlich sein. Z. B. jene, dass ein „gutes Leben im Alter“ vom – unkalkulierbaren – Faktor Gesundheit abhängig ist. Mit ihm steht und fällt das „gute Leben“. Tritt der Pflegezustand ein, ist nicht allein das körperliche Wohlbefinden eingeschränkt, sondern es stellt sich auch materiell für viele eine von Defiziten gekennzeichnete Lebenslage2 ein (vgl. 7.5.1 „Die Pflegefalle“). Mitten im Leben Wer um sich schaut, muss erkennen, dass alte Menschen heute – auch jenseits von Erwerbstätigkeit und „leerem Nest3„ – oft noch bis ins hohe Lebensalter hinein „mitten im Leben“ stehen. Alte führen in großer Mehrheit selbständig ihren Haushalt, pflegen Kontakte zu Familienangehörigen, unterhalten alte und neue Freundschaften. Sie nehmen teil an Konsum- und Kulturangeboten, schätzen Freizeitgestaltungen wie Reisen und Hobbys und sind dank hinreichender Kaufkraft und – bei „jungen“ bis „mittelalten“ Alten – befriedigender Gesundheit in der Lage, die meisten ihrer Wünsche und Ziele Wirklichkeit werden zu lassen, Alte sind in ihrer Mehrheit heute ein integrierter Teil der Gesellschaft. Sie bilden keine „Parallelgesellschaft“, die hinsichtlich Lebensstandart, Verhalten, Einstellungen und Lebensstilen eine separierte oder gar benachteiligte Welt für sich darstellen würde. Alte verfügen über Kaufkraft und nehmen rege teil am Marktgeschehen. Schließlich leisten sie mit ihrer solidarischen Unterstützung an die Adresse der jüngeren Generationen auf vielfältige monetäre und nichtmonetäre Weise einen substantiellen Beitrag zum Zusammenhalt der Gesellschaft. Alte sind weder abgeschoben oder „unnütz“, noch könnte sich der „Rest“ der Gesellschaft dies überhaupt „leisten“. Und sie sind nicht – von beklagenswerten und ernst zu nehmenden Ausnahmen und von den meist späten, durch Krankheiten überschatteten Jahren abgesehen – zu sozialem Abstieg und Ausschluss verurteilt. Zwar gibt es biographische Brüche. Die tiefgreifendsten sind das Ausscheiden aus dem Beruf und die Verwitwung. Das muss mental verarbeitet werden und führt zu finanziellen Einbußen. Vor allem für Frauen bedeuten diese Brüche 2 Zum Begriff Lebenslage vgl. Kap. 7.2. 3 „Leeres Nest“ war eine Zeit lang ein gängiges Bild für die Lebenssituation von Eltern, deren Kinder erwachsen und aus dem gemeinsamen Haushalt ausgezogen waren.
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regelmäßig eine Einschränkung des Budgets und damit u. U. auch den Ausschluss aus sozialen Beziehungen. Zahlreicher und typischer aber als die Einschnitte, sind die Kontinuitäten. Alte können sich und ihrem Lebensstil heute lange Zeit „treu“ bleiben. Mitunter realisieren sie erst in späten Jahren lange aufgeschobene Wünsche. Das Letztere macht Alte in Verbindung mit einem allgemein gestiegenen Bewusstsein für Körper und Gesundheit auch aus volkswirtschaftlicher Sicht wichtig. Weil Alte über Kaufkraft verfügen und meist auch Freude am Konsum haben, beleben sie die wirtschaftliche Entwicklung und lösen das Entstehen neuer Märkte („Gesundheitsmarkt“, „Seniorenmarkt“) aus.
7.2 Vier unterschiedliche Voraussetzungen für das „gute Leben im Alter“ Was sind die Ursachen für ein „gutes Leben im Alter“? In den zurück liegenden fünfzig Jahren hat sich vor allem die Existenz eines staatlichen sozialen Sicherungsnetzes (s. u.) als Garant für die Absicherung des Lebens im Alter erwiesen. Darüber hinaus aber sind andere Faktoren wirksam geworden. Arbeitsregulierung und Arbeitsschutz Weiterhin haben die Errungenschaften des technischen und organisatorischen Fortschritts zu einer Erleichterung der Arbeitsbedingungen im Erwerbsleben geführt. Schließlich sind die gesundheitlichen Gefahren, die von vielen beruflichen Tätigkeiten ausgehen, durch Gesetze und darüber hinaus durch Vereinbarungen der Tarifpartner – z.B. in Gestalt von geregelten Arbeitszeiten und des Arbeitsschutzes – verringert worden. Gerade der letzte Aspekt wird im Zusammenhang der Gründe für eine verbesserte Gesundheit im Alter und dem kontinuierlichen Anstieg der Lebenserwartung selten angesprochen. Massenwohlstand Ein wesentlicher Grund für die Verbesserung der Lebenslagen im Alter ist die Wohlstandsentwicklung und der verbreitete Massenwohlstand der letzten Jahrzehnte. Einkommenssteigerungen haben allen sozialen Schichten und Altersgruppen eine – freilich unterschiedliche – Teilhabe an Wohlstand, Konsum, Kultur und Freizeit ermöglicht. Voraussetzung für ein „gutes Leben“.
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Jugendkult Was hat der Jugendkult4 mit dem „guten Leben im Alter“ zu tun? Bewirkt er nicht das Gegenteil? Führt er nicht dazu, dass Alte lächerlich, überflüssig, nutzlos, ja eben „alt aussehen“? In der Summe kommt es eher zu gegenteiligen Entwicklungen. Alte nutzen heute ihre Möglichkeiten, und sie nutzen die gesellschaftliche Akzeptanz, sich an jugendlichen Werten zu orientieren. Alte wollen und dürfen aktiv und mobil sein, wollen und können konsumieren. Alte wollen erleben – und an alledem Freude haben dürfen. Dem Jugendkult sei Dank, ist dies auch gesellschaftlich toleriert. So trägt der Jugendkult überraschend – und scheinbar paradox – mit dazu bei, dass Alte „jung“ sein dürfen. Voraussetzung für ein „gutes Leben“. Bedeutung des Sozialstaates Die eigentliche Basis für die durchgreifende Verbesserung der Lebenslagen im Alter sind die Leistungen des Sozialstaates5. Mit dem Ausscheiden aus dem Beruf und dem Beginn des Rentenbezugs, wird heute im Regelfall keine Zäsur in der Lebensführung ausgelöst. Mit einschneidender materieller Schlechterstellung und Statusverlusts ist in diesem Zusammenhang in den letzten Jahrzehnten nicht zu rechnen gewesen. Es ist der Einrichtung der gesetzlichen Rentenversicherung zu verdanken, dass prinzipiell jeder einen gesicherten Altersruhestand erwarten kann. Zu den Grundpfeilern der Rentenversicherung zählen: das Sozialversicherungsprinzip (allgemeine Versicherungspflicht), die Teilhabeäquivalenz (Einhaltung der Verhältnismäßigkeit zwischen Erwerbseinkommen, Beitragsleistung und Renteneinkünften) und die Ende der 1950er Jahre eingeführte „Dynamisierung“ der Renten (regelmäßige Anpassung der Rentenleistungen an die allgemeine Einkommensentwicklung), die Garant für eine Teilhabe an der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung und damit der Lebensstandartsicherung ist. Zur Vermeidung der noch in den 1950er Jahren verbreiteten Altersarmut – diese ging seit Anfang der 1970er Jahre kontinuierlich zurück (Bundesregierung 2001, S. 42) – hat außerdem das im Sozialhilfegesetz ausgestaltete Fürsorgeprinzip6 (staatliche Hilfe bei Bedürftigkeit) geführt. Der Sozialstaat hat allerdings in den letzten Jahren verschiedene Umbaumaßnahmen erfahren müssen. So gilt das Prinzip der Sicherung des Lebensstandards nicht mehr. Renten werden seit einigen Jahren nicht mehr automatisch an 4 Vgl. Kap. 2.2.3. 5 Vgl. Kap. 4. 6 Sozialhilfe regelt unabhängig vom Alter die Grundversorgung bei nachgewiesener Bedürftigkeit. Vgl. Kap. 4.
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die allgemeine Einkommensentwicklung angepasst. Stattdessen wurde eine Grundsicherung eingeführt, die – soll der Lebensstandard gehalten werden – eine private Zusatzabsicherung erfordert7. Wohlstandskultur und Massenkaufkraft Wenig beachtet in diesem Zusammenhang ist der über nahezu drei Jahrzehnte andauernde wirtschaftliche Aufschwung in Westdeutschland, der zu einer regelrechten Wohlstandskultur geführt hat. Deren weitere Entwicklung hat sich inzwischen allerdings abgeschwächt bzw. ist eine gleichmäßige Teilhabe aller sozialen Schichten nicht mehr gegeben. Diese historisch wohl einmalige Entwicklung hat bis vor Kurzem zu einer für alle gesellschaftlichen Schichten und Altersgruppen deutlich spürbaren Wohlstandsentwicklung8 („Wirtschaftswunder“; „Wohlstandsexplosion“ (Miegel 1983; Geißler 2006, S. 69) geführt. Einkommenssteigerungen um ein Vielfaches sind den Angehörigen aller sozialen Großgruppen (Schichten) innerhalb von vier Jahrzehnten zugute gekommen, so dass die Rede vom „Massenwohlstand“ gerechtfertigt ist. Dennoch hat es keine Einebnung von sozialen Unterschieden gegeben. Vielmehr hat ein „kollektiver Aufstieg“ aller sozialen Schichten stattgefunden („Fahrstuhleffekt“, Beck 1986), während die Abstände untereinander weitgehend gleich geblieben sind und neue Differenzierungen sozialer Ungleichheit9 hinzukamen. Zugleich hat die Wohlstandsentwicklung infolge des Ausbleibens großer politischer Krisen, ebenso von Währungsreformen und Kriegen, in weiten Teilen Europas den Grundstock für die Schaffung einer Reihe weiterer Einkommensquellen wie Immobilienbesitz, Versicherungen
7 Vgl. Kap. 4.5.2 8 Von 1950 bis 1989 stieg in der Bundesrepublik das real verfügbare (also um den Kaufkraftverlust bereinigte) Einkommen pro Kopf um das Vierfache (Geißler 2006, S. 69). In der DDR kam es zu einer wesentlich geringeren Steigerung und der Wohlstandabstand zur Bundesrepublik vergrößerte sich ständig. 1960 lag der Abstand real bei 30 %, Anfang der 1980er Jahre bei 55%. Danach verringerte sich der Abstand etwas. Dies liegt u.a. daran, dass seit Anfang der 1980er Jahre sich der Einkommenszuwachs in Westdeutschland deutlich verlangsamte und zeitweise ganz zum Stillstand kam. In den 1990er Jahren stieg das Einkommen in Gesamtdeutschland bis 1998 um 2,9%. (Bundesregierung 2001, S. 19). Nach der Wiedervereinigung nähern sich die Einkommen zwischen Ost und West an, ohne dass es bisher zu einer Angleichung gekommen ist (Geißler 2006, S. 76). 9 Unter sozialer Ungleichheit wird die gruppenweise in der Gesellschaft unterschiedlich verteilte Chance verstanden, an wichtigen Ressourcen – materieller und nichtmaterieller Art – teilzuhaben. Ungleichheitsdimensionen sind z.B. Einkommen, Bildung, Prestige und Macht. S.U. stellt sich heute differenzierter denn je dar. So hat sich die so genannte Dienstklasse in mehrere Gruppierungen aufgeteilt, die die gesamte Bandbreite zwischen dem sozialen Oben und Unten abdecken. Die massenhafte Einwanderung der zurückliegenden Jahrzehnte hat das Entstehen von „Nebenschichten“ bewirkt, wobei der „Grenzverlauf“ zur „deutschstämmigen“ Bevölkerung relativ undurchlässig ist.
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und Geldanlagen gelegt. Dies hat zu einer gewaltigen Zunahme des Privatvermögens10 geführt, von dem auch Alte und deren Erben profitieren. Dem Aufwärtstrend des „Fahrstuhls“ droht allerdings Stillstand. Schlimmer, durch Materialermüdung brüchig gewordene Halteseile könnten ihn schon bald um Stockwerke tiefer sacken lassen. Auch wenn Deutschland weiterhin zu den wirtschaftlich erfolgreichen Staaten gehört, so ist es seit den 1990er Jahren im internationalen Vergleich bezüglich des Prokopfeinkommens um einige Ränge zurück gefallen11. Und während die Entwicklung des privaten Reichtums – auch in der „Fläche“ weiter zunimmt (d.h. eine Bevölkerungsgruppe mit überdurchschnittlichem Einkommen und Vermögen wächst) – wird zugleich die Verteilung des Wohlstands ungleicher12. Diese Entwicklung hat zahlreiche Ursachen. Dazu zählen die Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit, die Kosten der „Wiedervereinigung“, ebenso wie Anpassungsschwierigkeiten an die Bedingungen des voranschreitenden Globalisierungsprozesses, die Liberalisierungen des Arbeitsrechts und die Korrekturen der Sozialpolitik. Folgen sind u. a. reale Einkommensrückgänge im unteren und mittleren Bereich der Einkommensstatistik, verringerte Einzahlungen in die gesetzliche Rentenversicherung und damit das Problem der Sicherung auskömmlicher Renten. Außerdem haben infolge eines jahrelang ausbleibenden Wirtschaftswachstums, verminderte Steuereinnahmen und die gleichzeitige demographische Alterung (vgl. Kap. 3) zu einer größeren Belastung der Kranken- und Pflegeversicherung und des zum Finanzausgleich verpflichteten Staates geführt. Seit 2004 stagnierten bis vor Kurzem die Renten, was zu realen Einkommensverlusten führte. Das Ende dreier „Null-Runden“ (Nichterhöhung der Renten) hat – überraschend (zunächst war erst für 2008 ein Rentenzuwachs seitens des Gesetzgebers angekündigt worden) – der wirtschaftliche Aufschwung der 10 Die Vermögensentwicklung verlief in Westdeutschland noch rasanter nach oben als die Einkommensentwicklung. Das Nettogeldvermögen stieg zwischen 1960 und 1994 nominal um das 15fache (Geißler 2006, S. 72). 11 Gemessen am Bruttoinlandsprodukt pro Kopf lag Deutschland 2002 im internationalen Vergleich auf Rang sechzehn (Geißler 2006, S. 71), 1993 hatte man sich noch auf Platz neun befunden (Geißler 2002, S. 83). 12 Die Streuung der Einkommen – und stärker noch der Vermögen – hat in den letzten Jahren zugenommen. Die Armutsquote (Anteil der Haushalte mit höchstens 60% des durchschnittlichen Haushaltseinkommens) ist zwischen 1998 und 2003 von 12,8 % auf 13,5 % gestiegen (Bundesregierung 2004, S. 19). Andererseits erhöhte sich der Anteil der reichen Haushalte (200 % des Durchschnittshaushaltseinkommens) zwischen 1992 und 1998 von 5,2 % auf 5,9 % (Bundesregierung 2004, S. 26). Die Zahl der Vermögensmillionäre (DM-Basis) hat sich lt. Bericht der Bundesregierung zwischen 1978 und 1998 versiebenfacht. 1998 gab es 1,5 Millionen Einkommensmillionäre (DM-Basis) in Deutschland (http://online.wdr.de/online/news/armutsbericht/index.phtlml, 13.1.03)
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Jahre 2006/07 möglich gemacht. Erstmals kommt es 2007 nach längerer Unterbrechung zu einer geringen nominellen Zulage von 0,54 Prozent bei der gesetzlichen Rente. Dieses Plus dürfte aber zu keinem realen Zuwachs an Kaufkraft führen. Entgegen dem jahrzehntelangen Trend und auch im Gegensatz zur Zusage des Gesetzgebers, haben sich die Renten inzwischen über mehrere Jahre ein Stück weit von der allgemeinen Einkommensentwicklung abgekoppelt. Dies trifft die Rentner in den neuen Bundesländern stärker als ihre Altersgenossen im Westen, da Letztere wegen weiterer Einkommensquellen weniger stark auf die gesetzliche Rentenversorgung angewiesen sind. Der Abstand zu den Erwerbseinkommen erhöht sich weiter durch die höhere Beteiligung der Rentner an den monatlichen Krankenkassenprämien, der Praxisgebühr und den erhöhten Rezeptgebühren. Der Prozess der Abkopplung der materiellen Versorgung der Alten von den Beziehern der Erwerbseinkommen und einer weiteren Differenzierung der Lebenslagen im Alter hat also begonnen (Motel-Klingebiel 2006). Ob er weiter an Fahrt aufnehmen wird, hängt vor allem von der wirtschaftlichen Entwicklung und den politischen Entscheidungen ab. Zumal die Weichen für die künftige Entwicklung durch den Demographischen Wandel – d.h. die voranschreitende Alterung der Bevölkerung – gestellt sind. Zu befürchten ist neben einem allgemeinen altersunabhängigen Anstieg des Anteils prekärer sozialer Lagen in den nächsten Jahren auch eine Rückkehr der Altersarmut (Bundesregierung 2001, S. 29). Konsequenzen aus der gegenwärtigen Entwicklung sind bereits erkennbar: z. B. werden Arztbesuche reduziert. Eine weitere wichtige Einschränkung meiner These vom „guten Leben im Alter“ entsteht durch das Pflegerisiko. Fehlt es an Pflegemöglichkeiten und -bereitschaft in der Familie und Nachbarschaft – was künftig immer wahrscheinlicher sein wird – so verändert sich, manchmal quasi „über Nacht“, die Lebenslage von Menschen grundlegend (vgl. 7.5.2 „Die Pflegefalle“).
7.3 Differenzierung und Strukturwandel des Alters Die These vom „guten Leben im Alter“ behauptet nicht die Vereinheitlichung der Lebenslagen auf hohem Niveau. Diese sind heute – in Bezug auf das Leben im Alter – uneinheitlicher denn ja. Das bringt schon die Verlängerung der Lebenserwartung und die damit einhergehende Differenzierung in unterschiedliche Alten-Altersgruppen mit sich. Aus der Differenzierung nach Lebensalter in Junge
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Alte, Alte, Hochbetagte und Langlebige13 leiten sich unterschiedliche Chancen für die Lebensführung ab, wobei Zusammenhänge zwischen sozialer Herkunft, Bildung, Beruf, Gesundheit und Pflegerisiko bestehen bleiben. Lebenslagen im Alter sind aber nicht nur uneinheitlicher geworden; sie sind auch anders als früher. Alte leben heute – wie bereits dargestellt – in den sozialen Strukturen einer durch Massenwohlstand, Bildungs- und Konsumpartizipation definierten Gesellschaft, die sie zugleich auch selber mit beeinflussen. Sie sind zahlenmäßig eine starke Gruppe, die politisch und wirtschaftlich Gewicht hat. Waren Alte in der Zeit vor der allgemeinen Wohlstands- und Wohlfahrtsentwicklung eine relativ homogene und vor allem kleine Gruppe, die – von einzelnen Ausnahmen abgesehen – am Rande der Gesellschaft stand, so sind sie heute ein maßgeblicher Teil des sozialen Geschehens. Diese grundlegenden Veränderungen zusammenfassend, kann deshalb vom Strukturwandel des Alters (Tews 1993 S. 15) gesprochen werden. Lebensstile Differenzierung und Strukturwandel des Alters führen zur Differenzierung von Lebensstilen. Unter Lebensstil soll hier verstanden werden die Gesamtheit des Verhaltens, der Orientierungen und Werthaltungen von Menschen. Die Praktizierung von Lebensstilen setzt eine gewisse Autonomie des Individuums, setzt Freiräume jenseits tradierter sozialer Normierung, setzt Individualisierung14 voraus, und sie ist an die Überwindung einer von Mangel und akuter Bedrohung überschatteten Gesellschaft gebunden. Die moderne Gesellschaft hat mit einer Zunahme materiellen Wohlstands einerseits und dem Anstieg individueller Entscheidungsspielräume und Verhaltensmöglichkeiten in der Folge der Auflösung traditioneller Bindungen und Verpflichtungen andererseits, zu einer Vielfalt von Lebensstilen geführt. Für Alte bedeutet das den Gewinn neuer Freiheiten und die Abkehr von engen Altersrollen. „Verjüngung“ des Alters Zum Strukturwandel des Alters gehört auch die „Verjüngung des Alters“. Gemeint ist zweierlei: einerseits sind während der vergangenen fünfundzwanzig Jahre (insbesondere in Westdeutschland) Menschen in großer Zahl lange vor Erreichen des gesetzlichen Rentenalters aus dem Berufsleben ausgeschieden. (Entberuflichung). Wir haben es also mit einer Verjüngung (nach kalendarischem Alter) der
13 Vgl. Kap. 2 und 3.4.3 14 Zum Begriff Individualisierung s. Anmerkung 95.
7 So leben die Alten
235
nicht mehr Erwerbstätigen zu tun. Es liegt auf der Hand, dass die deutlich vor Erreichen der gesetzlichen Altersgrenze das Erwerbsleben verlassenden Jungen Alten (Opaschowski 1998)15 in anderen Lebenssituationen leben als Hochbetagte. Dies allein schon wegen der zumeist besseren körperlichen Verfassung und der geringeren Gesundheitsrisiken16. Auf der anderen Seite hat der „Jugendkult“ auch bei den Alten einen jugendlichen Lebensstil, erkennbar an Wertorientierungen, Verhaltensweisen, Kleidung usw. bewirkt. Es gibt folglich auch eine mentale Verjüngung des Alters. Feminisierung und Singularisierung des Alters Weiterer Ausdruck von Differenzierung und Strukturwandel ist die unterschiedliche Lebenserwartung der Geschlechter. Dies führt dazu, dass Frauen die Mehrheit der im Alter Überlebenden sind. Da Frauen außerdem häufiger ledig bleiben oder geschieden sind, dominiert Weiblichkeit das Alter17. Wir haben es mit einer Feminisierung des Alters zu tun, die umso deutlicher wird, je höher das Lebensalter steigt. Alleinsein im Alter – auch als Singularisierung bezeichnet – ist eine typisch weibliche Lebenserfahrung. Unter den 80jährigen Männern waren 1995 noch immer über 55 Prozent verheiratet, während es von den Frauen weniger als zehn Prozent waren (Backes 2001, S. 46). Durch das Alleinsein entstehen Frauen Nachteile, die aus typisch weiblichen Erwerbsbiographien (häufig ohne oder nur mit geringen selbst erworbenen Rentenansprüchen) und dem durch den Gesetzgeber vorgesehenen Abschlag bei den Witwenrenten resultieren. Im Vergleich zwischen alten und neuen Bundesländern ergeben sich weitere Differenzierungen dadurch, dass Frauen in der DDR infolge der deutlich größeren weiblichen Erwerbsbeteiligung, meist weniger fragmentierte Erwerbsbiographien aufweisen und deshalb heute über höhere eigene Renten verfügen (vgl. 7.5.1 Gründe weiblicher Erwerbsminderung)
7.4 Alte als „Wirtschaftsfaktor“ Im Zuge verbreiteten Jammerns über die hohen Kosten des Alters, ist lange aus dem Blick gewesen, dass Alte ein wesentlicher Motor der wirtschaftlichen Entwicklung moderner Gesellschaften sind. Alte wollen und dürfen heute nicht nur teilhaben am Leben, sie können es auch. Alte sind wichtige Konsumenten. Senio15 Vgl. Kap. 2.2.1 16 Vgl. Kap. 5.5.11 und 5.12 17 Vgl. Kap. 3.4.3
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ren verfügen dank (noch) befriedigender Alterseinkommen über eine beträchtliche Kaufkraft. Diese nutzen sie auch. Die früher bekannte Bescheidenheit im Alter – „wozu soll ich mir noch etwas kaufen“ – ist heute – zumindest bei den jüngeren Alten – einer Freude am Konsum gewichen, die allerdings die Neigung zum Sparen nicht aufhebt.. Alter ist zu einer Lebensphase geworden, die wichtige Ressourcen für die Erfüllung von Wünschen verfügbar werden lässt, nämlich Zeit und Geld. Ein kräftig in der Entwicklung befindlicher „Seniorenmarkt“ bringt „seniorengerechte“ Angebote – z.B. Reisen18 – hervor. Gesundheits- und Seniorenwirtschaft Der demographische Wandel erhöht die Nachfrage nach Leistungen, die dem Erhalt, und der Wiederherstellung der Gesundheit dienen, bzw. körperliche und psychische Beschwerden lindern helfen. Alte haben wesentlich dazu beigetragen, dass das Marktsegment der Gesundheitsdienstleistungen und –produkte kräftig expandieren konnte. Was wiederum ohne ein vorhandenes Soziales Netz und die Massenkaufkraft nicht möglich gewesen wäre. Ein Übriges trägt das allgemein stark gestiegene Gesundheitsbewusstsein – vgl. Fitness- und Jugendkult – dazu bei, dass der Gesundheits- und Pflegebereich zu einem wichtigen Teil des Marktes, einschließlich der Schaffung von Arbeitsplätzen geworden ist19. Darüber hinaus werden Arbeitsplätze eingerichtet, beispielsweise durch Aufträge für Handwerksbetriebe, die dem altengerechten Umbau von Wohnungen und Häusern dienen. Schließlich erweist sich die Investition in private Alten- und Wohnstifte derzeit als zukunftsweisende Kapitalanlage (Fünfter Altenbericht 2005, S. 234 ff). Alte als „Wohltäter“ Einkommensverbesserungen nutzen Alte auch für die Unterstützung ihrer Kinder und Enkelkinder. Waren es in den traditionalen Gesellschaften die Jungen, die für die nicht mehr Arbeitsfähigen zu sorgen hatten, so sind heute oft Alte die „Wohltäter“. Dank besserer Gesundheit und Kaufkraft und erleichtert durch
18 Ferntourismus steht bei den jungen Alten hoch im Kurs. Zwischen 1995 und 2005 wurde Ende der 1990er Jahre eine Steigerung der Ausgaben von 20,3 auf 27,2 Mio. erwartet. Inlandsreisen, die mit zunehmendem Lebensalter bevorzugt werden, sollten sich im selben Zeitraum von 20,2 auf ebenfalls 27,2 Mio. steigern (Dietzel-Papakyrakou 1999, S. 143). 19 Gesundheits- und Seniorenwirtschaft sind relativ spät als Wachstumsmärkte in der alternden Gesellschaft vom Markt und den Wissenschaften entdeckt worden (Fünfter Altenbericht 2005, S. 187. Vgl. Hartmann (2002); Hilbert/Fretschner/Dülberg (2002); Hilbert/Naegele (2002); Wolk (2004). In der Gesundheitswirtschaft sind heute bereits 14 Prozent der Erwerbstätigen beschäftigt.
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frühzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben, sind Alte in die Unterstützung der jüngeren Generationen eingebunden. Die Formen der Unterstützung sind vielfältig (Bundesministerium 2001, S. 36). Zu den nichtmateriellen Formen gehört – in erster Linie für Frauen – die traditionelle Rolle der Kinderbeaufsichtigung. Weibliche „junge Alte“ setzen sich ein bei der Entlastung von Haushaltsarbeiten wie Kochen, Waschen, Reinigung und der Versorgung im Krankheitsfall. Die materielle Unterstützung reicht vom „Sponsoring“ bei der Anschaffung von Waschmaschine oder neuem Familienauto, Hilfen bei der Renovierung der Wohnung oder dem Erwerb einer Immobilie am Stadtrand. Mit finanziellen Zuwendungen für Kinder und Enkelkinder20 sorgen Alte also auch indirekt für eine Erhöhung des Konsums und der Investitionen und beeinflussen so positiv die gesamtwirtschaftliche Entwicklung. Trotz der Eindeutigkeit dieser Fakten, sind Alte in ihrer volkswirtschaftlichen Bedeutung regelmäßig unter- bzw. falsch eingeschätzt worden. Sie sind zumeist einseitig als Risiko, als sieche Kostenverursacher und als „Bremsklotz“ für die allgemeine Wirtschafts- und Wohlstandsentwicklung wahrgenommen worden. Das Gegenteil ist richtig. Alte sind nicht nur Nachfrager nach gesundheitsbezogenen Dienstleistungen, sondern selber konsumorientiert und dank guter Einkünfte im Stande, die jüngeren Generationen zu unterstützen und deren Konsum zu erhöhen.
7.5 Lebenslagen im Alter Der Begriff Lebenslage bezeichnet die Gesamtheit der materiellen und nichtmateriellen Bedingungen, unter denen Menschen leben. Die materielle Lebensgrundlage, im Kern die Voraussetzungen für das physische Überleben, ist zuerst von der Verfügbarkeit über Nahrungsmittel, Kleidung, dem sprichwörtlichen „Dach über dem Kopf“ bestimmt. In modernen Gesellschaften21 erfolgt der Zugang zu diesen Gütern über die Angebote des Marktes und damit über finanzielle Ressourcen. Die Qualität von Lebenslagen ist deshalb wesentlich von der Höhe und der Regelmäßigkeit des Bezugs von Geld oder geldwerten Mitteln bestimmt. Die
20 Die Betreuung von Enkelkindern ist eine „Domäne“ der „jungen Alten“, der 55-69jährigen (Kohli, Künemund 2001, S. 117), was mit dem Altersabstand der Generationen zusammenhängen dürfte. Mit ansteigendem Alter bei Geburt der Kinder, werden auch die betreuenden Großeltern älter. 21 Moderne marktwirtschaftliche Systeme sind typischerweise hinsichtlich ihres Warenangebots nicht von Knappheit, sondern vom Überfluss gekennzeichnet. Der Erwerb der Waren ist freilich von – für die Mehrheit der Bevölkerung – begrenzten finanziellen Ressourcen abhängig.
238
7 So leben die Alten
Quellen können verschiedene sein: Erwerbstätigkeit, Vermögen, staatliche Transferleistungen u.a. Nicht mehr im Erwerbsleben stehende Menschen erhalten in Staaten mit gesetzlich geregelter Alterssicherung eine Altersrente. Das in Deutschland praktizierte System sieht vor, dass die aktuell Erwerbstätigen durch monatliche Einzahlungen in die Rentenversicherung für den Lebensunterhalt der aus dem Erwerbsleben alters- oder krankheitshalber Ausgeschiedenen sorgen („Generationenvertrag“, vgl. Kap. 4). Im Falle des Todes erlischt dieser Anspruch nicht notwendigerweise. Nahe Angehörige wie Witwen und Waisen haben Anspruch auf Versorgung. Weitere Einkommensquellen für Rentner sind heute verbreitet. Dazu gehören Erträge aus Privatvermögen und privaten Versicherungen, sowie Immobilienbesitz und Vermögensanlagen. Nur ein kleiner Teil der über 65jährigen ist auch weiterhin erwerbstätig22. Zumeist handelt es sich dabei um Selbständige und Freiberufler. Lebenslagen im Alter sind weiterhin von der Vergangenheit des Individuums in seinen sozialen Lebenszusammenhängen abhängig. Soziale Lagen im Alter sind beeinflusst vom Handeln und den Entscheidungen des Individuums, die z.T. lange zurück liegen, z.B. in Bezug auf den absolvierten Bildungsgang, den ausgeübten Beruf, das Heiratsverhalten23, die Bildung von im Alter verfügbaren Rücklagen usw. Die Gesamtheit der Einkünfte hat erheblichen Einfluss auf Umfang und Qualität auch aller nichtmateriellen Facetten der Lebenslage. Das Unterhalten sozialer Beziehungen, das Teilhaben an Konsum- und Kulturangeboten macht abhängig von Geld. Andererseits kann die Einbindung in soziale Netzwerke – etwa in einen größeren Haushalt – auch mehr oder weniger ein Äquivalent für das Verfügen über Geldeinkünfte sein, d.h. diese zu erheblichen Teilen ersetzen. Dies deshalb, weil Dienste und Hilfen nicht eingekauft werden müssen, sondern von Haushaltsangehörigen ohne Berechnung geleistet werden; aber auch deshalb, weil die fixen Kosten eines Haushaltes – z. B. für Wohnungsmieten – durch eine größere Anzahl von Personen geteilt werden. Ein niedriges persönliches Einkommen und Vermögen mündet daher nicht zwangsläufig in Armut. Die Bedeutung der geldlichen oder geldwerten Ressourcen hat dennoch elementare Bedeutung für die Lebenslagen in modernen Gesellschaften.
22 Im alten Bundesgebiet waren 1998 nur 1,3 Prozent der über 65-jährigen Männern erwerbstätig, von den Frauen nur 1,0 Prozent. Für Männer ist der Trend – auch in den neuen Ländern – inzwischen leicht positiv (Behrend 2001, S. 49). Vgl. dazu Kap. 7.12 23 Besonders für ältere Frauen wichtig, da sie als Hausfrauen in der Familie versorgt wurden, gegen das Entgelt lohnfreier Haus- und Erziehungsarbeit.
7 So leben die Alten
7.5.1
239
Einkommens- und Vermögenssituation
Teilhabe an der Wohlstandsentwicklung in Westdeutschland Wie schon erwähnt, gehört der Übergang vom Erwerbsleben in den „Altersruhestand“ auch heute zu den tiefen und folgenreichen Zäsuren im Leben. Dies bedeutet jedoch nicht notwendig einen spürbaren Bruch hinsichtlich der materiellen Situation. Wesentlicher Grund dafür ist die Angleichung der gesetzlichen Rentenhöhe an das durchschnittliche Lohnniveau („Dynamisierung“) und die rechtlich garantierte Zuverlässigkeit des Bezugs von Alterseinkünften. Daraus folgt die Wahrscheinlichkeit für Kontinuitäten der Lebensführung. Weder ein Auszug aus der bisherigen Wohnung, noch der Verzicht auf den privaten PKW oder Reise- und Freizeitgewohnheiten gehen heute mit dem Eintritt in den Altersruhestand zwangsläufig einher. Weit verbreitet macht eine durchaus komfortable Einkommenssituation die Unterstützung von jüngeren Angehörigen möglich. Wesentliche Voraussetzung für „finanzielle Beweglichkeit“ ist neben der Verfügung über eine Rente das Vorhandensein zusätzlicher Einkommensquellen. Aus diesen speisen sich für die Senioren in Westdeutschland bis zu gut vierzig Prozent der Gesamteinkünfte, so dass auch Haushalte mit niedrigen Renten aus der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) in der Regel über eine ausreichende materielle Basis verfügen. Dieses gilt allerdings nur für die alten Bundesländer, in denen seit Jahrzehnten neben der stetigen Wohlstandsentwicklung auch zahlreiche Möglichkeiten und Anreize zur Vermögensbildung bestehen (vgl. Tabelle 25 und 26). Damit hat sich in Westdeutschland die Kaufkraft der Rentnerhaushalte kontinuierlich erhöht. Allein zwischen 1972 und 1994 gab es ein reales Wachstum um 48 Prozent (Alter/Schölkopf 1999, S. 25). Die Einkommenssituation alter Menschen hat sich in den zurückliegenden Jahrzehnten und gegenüber allen vorausgegangenen Generationen also grundlegend verbessert. Alte nehmen am Wohlstand moderner westlicher Gesellschaften teil. So lag 1998 das durchschnittlich verfügbare gewichtete monatliche Äquivalenzeinkommen24 für Rentnerhaushalte mit DM 2.710 nur um drei Prozent unter dem eines Arbeitnehmerhaushaltes (Bundesministerium, 2001, S. 72). Die Situation für die Altersgruppe der 40- bis 85-jährigen der Jahre 1996 und 2002 stellt 24 Das so genannte Äquivalenzeinkommen – ein international (OECD-Länder) gebräuchliches Maß – hat in der Armuts- und Reichtumsforschung heute einen wichtigen Stellenwert. Es ist ein „gewichtetes Einkommen“ und dient der besseren Vergleichbarkeit von Haushaltseinkommen (nicht persönlichen Einkommen) mit unterschiedlicher Personenanzahl. Größere Haushalte verfügen über ein Einsparpotential. So ist, um den gleichen Lebensstandard zu gewähren, für einen Zwei-Personen-Haushalt gegenüber einem Ein-Personen-Haushalt, nicht das doppelte Einkommen erforderlich (Bundesregierung 2001, S. 20). „OECD neu“ meint ein modifiziertes Berechnungsverfahren.
240
7 So leben die Alten
Tabelle 26 dar. Ein Vergleich der einzelnen Altersgruppen über 40 Lebensjahren ist in Tabelle 27 abgebildet. Darin sind die Einkommenszuwächse aber auch eine Differenzierung zwischen den Gruppen erkennbar. Auf den Einkommensrückstand der neuen Länder wird im nächsten Abschnitt eingegangen. Tabelle 25:
Die wichtigsten Einkommensquellen der Bevölkerung ab 65 Jahre (in Prozent des Bruttoeinkommensvolumens)
Einkommensquelle
Alle Ehepaare Alleinst. Männer Alleinst. Frauen
West Ost Gesetzliche Renten66 versicherung Andere Alters21 sicherungssysteme Erwerbstätigkeit, 4 Zinsen, Vermietung Lebensversicherung 7 u.a. Wohngeld / Sozialhilfe 1 / Grundsicherung Summe
100
West
Ost
West
Ost
57
89
60
87
68
95
26
2
26
5
22
2
7
5
3
1
1
0
9
j
9
6
6
2
0
0
1
1
1
1
100
100
100
100
100
100
0 = weniger als 0,5, jedoch mehr als 0 Abweichungen der Summe von 100% sind rundungsbedingt. Quelle: Fünfter Altenbericht 2005, S. 198
7 So leben die Alten
Tabelle 26:
Mittleres Äquivalenzeinkommen (OECD neu25) nach Region der 4085-jährigen Bevölkerung in Euro 1996 und 2002
Quelle: Motel-Klingenbiel 2006, S. 174
Tabelle 27:
241
Mittleres Äquivalenzeinkommen (OECD neu) nach Alter, Geschlecht, Region in Euro 1996 und 2002
Quelle: Motel-Klingenberg 2006, S. 175
25 Vgl. Anm. 24.
242
7 So leben die Alten
Breite Streuung der Alterseinkommen und Differenzen zwischen Ost und West Von einer Nivellierung der Alterseinkommen kann allerdings keine Rede sein. Die Schichtung der Alterseinkommen ist vielmehr äußerst differenziert, breit gestreut und ihre Heterogenität dürfte weiter zunehmen. Es gibt – was die allgemeine Wohlstandsentwicklung zunächst verdeckt – „stabile Ungleichheiten“ (Geißler 2006, S. 78) im Einkommensbezug und damit auch in der Lebenslage. D. h. es ist neben der durchschnittlichen Besserversorgung der Alten zu einer Zunahme der Verschiedenheit (auch) der Alterseinkünfte gekommen. Erheblich sind die Differenzen beispielsweise zwischen den Pensionärshaushalten ehemaliger Beamter und solchen von Sozialversicherungsrentnern. Erstere verfügten 1998 durchschnittlich über DM 4.090 im Monat, Letztere über DM 2.590 (Bundesministerium 2001, S. 72). Und dies, obwohl sich der Abstand zwischen 1972 und 1994 etwas verringert hatte (Alber/Schölkopf 1999, S. 25). Die stark differenzierte Einkommensstruktur der Senioren in Westdeutschland zu Ende der 1990er Jahre zeigt Tabelle 28. Neueste Befragungen (2002) belegen, dass „mittelfristig mit einer erheblichen Zunahme der Ungleichverteilung zu rechnen“ ist (Motel-Kleingenbiel 2006, S. 191). Tabelle 28:
Schichtung der Nettoeinkommen von 65-jährigen und Älteren in Westdeutschland 1999 in Euro
Quelle: Fünfter Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 2005, S. 196
7 So leben die Alten
243
Die größere Heterogenität der Alterseinkünfte in Westdeutschland (vgl. Tabelle 29 und 30) ergibt sich einerseits aus den stark streuenden Erwerbseinkommen im Westen26 und den davon abhängigen Spar- und Vermögensbildungspotentialen. Ursächlich sind aber andererseits die unterschiedlichen Regelungen für die verschiedenen Gruppen von Erwerbstätigen (z.B. für unselbständig Beschäftigte im privaten und öffentlichen Sektor). Durch die Einführung einer „bedarfsgerechten Grundsicherung“ im Alter und bei Erwerbsminderung (vgl. Kap. 4.), die bedürftigkeitsgeprüfte Leistungen bei unzureichenden Alterseinkünften bereitstellt (wie früher die Sozialhilfe), ist eine weitere Gruppe dazu gekommen (Fünfter Altenbericht, 2005, S.188 f). Anzumerken ist, dass die Angleichung der Einkommenssituation von Alten an jene der Erwerbstätigen (Dynamisierung) in den Jahrzehnten vor der Wiedervereinigung auf Westdeutschland beschränkt war. Zwar waren DDR-Rentner durch den auf bescheidenem Niveau aber allumfassend sorgenden sozialistischen Staat mit dem Notwendigen versorgt27. Sie bezogen jedoch – bis auf Ausnahmen – eine sehr niedrige so genannte „Einheitsrente“28. Diese Situation änderte sich mit der „Wiedervereinigung“ und der Transferierung des westdeutschen Rentensystems. Die Renten sind in Ostdeutschland trotz des dort niedrigeren „aktuellen Rentenwerts“ durchschnittlich höher als in Westdeutschland, was vor allem auf die höhere Zahl von Versicherungsjahren zurückzuführen ist (Fünfter Altenbericht 2005, S. 193). Verspätet gegenüber dem Westen, erhielten Rentner nun auch im Osten „Anschluss“ an die Wohlstandsentwicklung. Dennoch sind bis heute zwischen alten und neuen Bundesländern Unterschiede geblieben. So ist die Quote des Besitzes an Wohneigentum – ein wichtiger Indikator für die Einkommenshöhe und Lebenslage – mit einem Verhältnis von 42,6 zu 28.8 Prozent sehr ungleich. Die Einkommenslagen zwischen West und Ost sind also bis heute uneinheitlich geblieben. 2001 war die Einkommenshöhe von Einpersonenhaushalten im Westen noch immer um fünfundzwanzig Prozent über jener im Osten. Für Zweipersonenhaushalte betrug die Abweichung im selben Jahr knapp neunzehn Prozent. Die Abweichung fällt hier aufgrund der doppelten Erwerbstätigkeit in DDR-Haushalten (Frauen und Männer waren weitgehend unterbrechungslos bis
26 Vgl. Geißler 2006, S. 80 27 Dazu zählten die staatlich festgelegten und subventionierten extrem niedrigen Kosten für Unterkunft, Energie und lebensnotwendige Lebensmittel. 28 Das durchschnittliche Prokopf-Nettoeinkommen von Rentnern betrug in der DDR 1985 445 Mark; zum Vergleich: das von Angestellten und Arbeitern belief sich auf 608 Mark (Alber/Schölkopf 1999, S. 173).
244
7 So leben die Alten
zum Rentenalter berufstätig) geringer aus. Die Schichtung der Alterseinkommen in den neuen Bundesländern fällt im Vergleich zum Westen insgesamt geringer aus, und sie bewegt sich auf einem niedrigeren Niveau (vgl. Tabelle 29). Tabelle 29:
Schichtung der Nettoeinkommen von 65jährigen und Älteren in Ostdeutschland 1999 in Euro
Quelle: Fünfter Altenbericht 2005, S. 19
Unterschiedliche Quellen der Alterseinkünfte Deutlich sind auch die konstanten Unterschiede hinsichtlich der Quellen der Alterseinkommen im Ost-West-Vergleich. Fast vollständig, nämlich zu knapp neunzig Prozent – sind Ost-Rentner (2001) zur materiellen Sicherung ihres Lebens auf die Gesetzliche Rentenversicherung angewiesen; bei den West-Rentnern waren es dagegen nur etwa zweiundsechzig Prozent (vgl. Tabelle 30). Ein weiterer Unterschied liegt im ungleich verteilten Bezug von Betriebsrenten, die es im Osten nicht gibt, weil sie im Sicherungssystem der DDR nicht vorgesehen waren. Diese Unterschiede werden noch einige Zeit bestehen bleiben.
7 So leben die Alten
Tabelle 30:
245
Einkommensstruktur nach Einkommensarten bei Ein- und Zweipersonenhaushalten von Rentnern im West-Ost-Vergleich
Quelle: Fünfter Altenbericht 2005, S. 192
Strukturelle Benachteiligung von Frauen Markantes Beispiel für die negativen Auswirkungen der Einkommensstreuung sind Frauen. Sie dominieren noch immer das untere Ende der Statistik von Alterseinkünften. 1998 waren in Gesamtdeutschland 9,1 Prozent der allein stehenden Frauen, aber nur 5,1 Prozent der allein stehenden Männer mit einem monatlichen persönlichen Einkommen von unter DM 1.000 ausgestattet und damit in der Nähe von Armut angesiedelt. Es ist dabei allerdings zu berücksichtigen, dass die Betroffenen – und das gilt für beide Geschlechter – nicht notwendig in Einpersonenhaushalten lebten, sondern eher und sogar typischerweise in größeren Haushalten, wodurch die Folgen der niedrigen Einkommen abgemildert sind (Bundesministerium 2001, S. 72). Eine bleibende Benachteiligung von Frauen, auch in Abhängigkeit vom Familienstand (verwitwet, geschieden, ledig), zeigen die Zahlen für 2003. Ebenfalls ist die Benachteiligung von Rentnern im Osten – mit den Ausnahmen verwitweter Frauen und lediger Männer – erkennbar (vgl. Tabelle 31).
246
Tabelle 31:
7 So leben die Alten
Nettoeinkommen für 65jährige und Ältere – nach Geschlecht und Familienstand – in West- und Ostdeutschland 2003 in Euro/Monat
Familienstand
Männer
Frauen
West
Ost
Ost : West (in %)
Ehepaare 1)
2.209
1.938
88
Alleinstehende
1.513
1.282
Verwitwete
1.598
Geschiedene2) Ledige
West
Ost
Ost : West (in %)
85
1.166
1.119
96
1.314
82
1.176
1.195
102
1.427
1.132
79
1.050
827
79
1.386
1.403
101
1.187
953
80
darunter:
Ehemann ab 65, Einschließlich getrennt lebender Ehemänner. Quelle: Fünfter Altenbericht 2005, S. 197
1) 2)
Gründe für weibliche Erwerbsminderung Wesentliche Gründe für weibliche Einkommensbenachteiligung sind die Diskontinuitäten der Erwerbsbiographien (Backes 1999) und die in der Vergangenheit starke Bildungsbenachteiligung von Frauen. Beides steht in engem Zusammenhang. Diese Benachteiligungen sind durch die GRV nicht gänzlich aufhebbar, auch deshalb nicht, weil Frauen älter werden als Männer und bei fehlender oder geringfügiger eigener Erwerbstätigkeit auf das verringerte Witwengeld angewiesen sind. Beide genannten Gründe finden ihre sozialen Ursachen in gesellschaftlichen Strukturen, konkreter: im traditionellen bürgerlichen Frauenbild. Dieses hat sich über viele Jahrzehnte nur schwerlich mit dem Erreichen höherer Bildungsabschlüsse, einer Berufsausbildung und einer regelmäßigen Erwerbsbeteiligung für Frauen in Einklang bringen lassen. Die weiblichen Hochbetagten der Gegenwart hatten in ihrem Leben nur geringe Bildungschancen. Dies schon deshalb, weil hohe formale Bildungsabschlüsse und eine dauerhafte oder gar „gehobene“ Erwerbsbiographie nicht zum überkommenen Bild bürgerlich-männlich bestimmter weiblicher Tugenden, soziologisch gesprochen: der „Frauenrolle“, passen wollten. Kam es dennoch zu „gehobener“ Bildungsbeteiligung, so hatten Frauen dies
7 So leben die Alten
247
– stärker noch als die Männer – einer bildungsnahen elterlichen Herkunft – z. B. als Professorentochter – zu verdanken. Ein höherer Bildungsabschluss oder eine Berufsausbildung mündeten dennoch üblicherweise in typische „Frauenberufe“ – solche, bei denen soziale Fürsorge, Erziehung und Pflege die Inhalte waren und deren Status und Besoldung im Verhältnis zu „Männerberufen“ niedriger lagen. Zur Veranschaulichung: Die Erwerbsbeteiligung von Frauen29 lag 1950 bei 30,2 Prozent, 1960 bei 33,4 Prozent30 (Institut der deutschen Wirtschaft 1982). Die Bildungsbeteiligung von Frauen, demonstriert am weiblichen Studierendenanteil, lag 1908 bei zwei Prozent, 1924 bei 11 Prozent und 1939 bei 14 Prozent (Geißler 2006, S. 304)31. Frauen waren in der Vergangenheit – wenn überhaupt – so gut wie ausschließlich in den so genannten Frauenberufen (s. o.) tätig, oder haben in familieneigenen Betrieben als „Mithelfende Familienangehörige“ 32 gearbeitet. Dabei erzielten sie – gegenüber den Beschäftigten in „männlichen Berufen“ geringere Einkommen, bzw. – im anderen Fall – gar keine und nur selten hatten sie Aufstiegsmöglichkeiten33. Oft waren sie selber nicht sozialversichert. Das Risiko arbeitslos zu werden, ist für Frauen noch heute größer als für Männer. Bezüglich weiblicher Berufschancen hat es erst in den letzten Jahren Veränderungen gegeben, die einer zukünftigen weiblichen Altengeneration deutliche Verbesserungen bringen werden34.
29 Bis 1958 war die Erwerbsbeteiligung verheirateter Frauen in der Bundesrepublik abhängig von der Entscheidung des Ehemanns. Entsprechende Rechtsgrundlage war § 1354 des BGB alt (Reichle 1998, S. 4) 30 2003 betrug der Anteil der erwerbstätigen Frauen an allen Frauen in Gesamt-Deutschland 43,1 Prozent. (Institut der deutschen Wirtschaft 2005, S. 11). 31 1960 lag der Studierendenanteil von Frauen von 31 Prozent; nach 1970 pendelte er sich langsam auf etwa 50 Prozent ein. In der DDR wurde zeitweilig (ab 1970) eine deutliche höhere weibliche Bildungsbeteiligung erreicht. Die Erwerbstätigkeit von Frauen war dort Normalität. 92 Prozent der 25-60jährigen Frauen (ohne Studentinnen) gingen 1990 einer Erwerbstätigkeit nach (Geißler 2006, S. 304; 306), was ideologische aber auch praktische Gründe (geringe Produktivität der DDR-Wirtschaft) hatte. 32 1907 betrug der Anteil der „Mithelfenden Familienangehörigen“ – zumeist Frauen – an den Erwerbstätigen 15 Prozent, um bis Ende der 1930er Jahre auf über 18 Prozent zu steigen. Erst in den 1960er Jahren fiel er unter 10 Prozent (Bolte 1967, S. 279). 33 Die berufliche Benachteiligung wird sichtbar an den Auf- und Abstiegen von Erwerbspersonen: Zwischen 1991 und 2002 erlebten bei den Männern 33 Prozent Aufstiege und 15 Prozent Abstiege. Bei den Frauen lauten die entsprechenden Anteile: 24 Prozent Aufstiege und 19 Prozent Abstiege. Die Aufstiegschancen haben sich für Frauen allerdings kontinuierlich verbessert (Geißler 2006, S. 257) 34 Der Anteil von Frauen an der Erwerbsbevölkerung hat sich inzwischen (2003) auf 41,9 Prozent erhöht. Die Erwerbsquote (=Anteil der erwerbstätigen Frauen an allen Frauen) bezogen auf alle Altersgruppen zwischen 15 und 65 lag 2003 in Deutschland bei 80.3 Prozent (Institut der deutschen Wirtschaft 2005, S. 12)
248
7.5.2
7 So leben die Alten
Höhere Renten für ostdeutsche Frauen
Infolge besserer Ausbildung und längerer, in der Regel weitgehend und oder nur kurzzeitig unterbrochener Erwerbstätigkeit ostdeutscher Frauen in der früheren DDR, beziehen diese heute eine durchschnittlich höhere Rente als Frauen im Westen. Deshalb kommen in Altenhaushalten in Ostdeutschland häufiger zwei Renten zusammen35. Die Berufstätigkeit der Frau führt also im Vergleich zum Westen zu einer besseren Lebenslage im Alter36. Tabelle 31 zeigt die unterschiedlichen Nettoeinkommen der 65jährigen und Älteren unter Berücksichtigung des Familienstands (Ehepaare, Alleinstehende, Verwitwete, Geschiedene, Ledige) für das Jahr 2003. 7.5.3
Altersarmut
Alte sind seit etwa zwanzig Jahren nur noch unterdurchschnittlich unter den „Armen“ vertreten (Alber/Schölkopf 1999; Bundesregierung 2005). D.h. alle anderen Alters- und Bevölkerungsgruppen37 sind stärker betroffen. Zwischen 1998 und 2003 ist der Anteil der Altenhaushalte mit Einkommensarmut38 noch einmal – und zwar von 13,3 Prozent auf 11,4 Prozent – zurückgegangen. Ebenso ging der Anteil der Sozialhilfebezieher unter den 65jährigen und Älteren zurück und zwar von 1,4 Prozent (1998) auf 1,3 Prozent (2002). Wenn beide Ehepartner noch zusammen leben, sinkt das Armutsrisiko weiter. Anfang der 1960er Jahre musste noch ein knappes Fünftel mit weniger als fünfzig Prozent des durchschnittlichen Haushaltseinkommens auskommen, und Armut war unter den Alten doppelt so hoch verbreitet wie unter der übrigen Bevölkerung (Alber/Schölkopf 1999, S. 27). Die Bundesregierung führt den Rückgang der jüngsten Zeit auf die Einführung
35 Hat der Witwer oder die Witwe eine eigene Erwerbsrente oder Pension, die einen Freibetrag überschreitet, so wird sie zu 40 Prozent angerechnet (vgl. Kap. 4.5.2). 36 Es ist an dieser Stelle nicht zu diskutieren, dass aus den Modellen der doppelten Erwerbstätigkeit (Frauen und Männer in einer Partnerschaft oder Familie) bzw. der erwerbstätigen alleinstehenden Frau nicht auch Nachteile abzuleiten sind. Beispielsweise derart, dass weniger oder keine Kinder geboren werden – mit den bekannten Folgen für die Sicherung des „Generationenvertrags“ oder der Verkleinerung eines familialen und zur Solidarität befähigten Beziehungsnetzes. Ebenfalls nicht übersehen werden sollte, dass oftmals unzureichende Einkommen eines Alleinverdieners der Grund für doppelte Erwerbstätigkeit in einer Partnerschaft oder Familie sind. 37 Am stärksten betroffene Altersgruppe sind Jugendliche. Zu den stark betroffenen Bevölkerungsgruppen unabhängig vom Alter, gehören alleinerziehende Frauen und Migranten. 38 Zum Begriff Einkommensarmut vgl. Anm. 24 in diesem Kap.
7 So leben die Alten
249
der Grundsicherung für Ältere und Erwerbsgeminderte und die Aufhebung des Unterhaltrückgriffs zurück (Bundesregierung 2005)39. Soweit die Entwicklung bis zur Gegenwart. Bereits in naher Zukunft dürfte sich der Trend jedoch umkehren und Armut im Alter wieder zunehmen. Die durchschnittliche Armutsquote für die 40- bis 85-jährige Bevölkerung ist zwischen 1996 und 2002 bereits leicht – von 6,2 Prozent auf 7,4 Prozent – angestiegen (Motel-Klingebiel 2006, S. 185). Einer der Gründe liegt im – nun schon über Jahre – ausgebliebenen realen Einkommenszuwachs eines erheblichen Teils der Erwerbsbevölkerung und bei den Renten40. Die Erwerbsbiographien künftiger Alter, sind außerdem vielfach von Brüchen, Phasen der Erwerbslosigkeit oder Einkommensrückgängen gekennzeichnet. Hierbei handelt es sich um Beschäftigte des privaten Sektors, wobei geringer Qualifizierte besonders betroffen sind. Damit zeigt sich neben dem bekannten Einflussfaktor Bildung, eine weitere Determinante für soziale Ungleichheit41: der segregierte Arbeitsmarkt. Beschäftigte im öffentlichen Dienst können bislang von einer auf dem übrigen Arbeitsmarkt nicht vorhandenen Beschäftigungssicherheit ausgehen. Brüche in der Erwerbsbiographie mit den bekannten Langzeitfolgen sind dort bislang nicht zu befürchten42. Dagegen beeinflussen Langzeitarbeitslosigkeit oder häufige Unterbrechungen der Erwerbstätigkeit durch kurzzeitige Arbeitslosigkeit und berufliche Abstiege mit verminderten Einkommen die Zeitdauer und Höhe der Einzahlungen in die GRV negativ. Zugleich sinkt das Potenzial zur Bildung von Ersparnissen. Der Rückgriff auf zusätzliche Einkommensquellen im Alter wird damit künftig wahrscheinlich nur noch einer geringeren Zahl von Rentnern möglich sein. Wachsen dürfte dagegen der Anteil von Beziehern der Leistungen aus der „bedarfsorientierten Grundsicherung“43, auf die bei Alter und Minderung der Erwerbstätigkeit Anspruch besteht, für den Fall, dass zuvor schon Sozialhilfe bezogen wurde (Fünfter Altenbericht, 2005, S. 188).
39 Dieser Gesetzesmaßnahme ging eine längere Diskussion voraus (Alber/Schölkopf 1999, S. 31). Vgl. Kap. 4. 40 Zur besonderen Einkommenslage in den neuen Bundesländern vgl. oben in diesem Kap. 41 Unter sozialer Ungleichheit wird die – sozial verursachte – unterschiedliche Verfügbarkeit wichtiger aber knapper Ressourcen (Einkommen, Bildung, Ansehen, Macht u.a.) verstanden. Sie zeigt sich nicht allein in individuell unterschiedlich privilegierten oder depriviligierten Lebenslagen, sondern typischerweise in Form von sozialen Klassen, Schichten oder Sozialmilieus. 42 Allerdings kommt im Rahmen der Privatisierung von Betrieben im Besitz der öffentlichen Hand inzwischen auch dort zur Durchsetzung der „Marktgesetze“. 43 Vgl. Kap. 4 Soziale Sicherung
250
7 So leben die Alten
Die „Pflegefalle“ Knapp 2,13 Mio. Menschen waren Anfang 2006 in Deutschland pflegebedürftig44. Eine erhebliche Unsicherheit für die Lebenslage geht – wie erwähnt – vom Pflegerisiko aus. Die Pflegenotwendigkeit kann sich schleichend oder „über Nacht“ einstellen. Die Kosten für professionell geleistete Pflege „fressen“ dann schnell nicht nur die monatlichen Einkünfte, sondern auch angesparte Vermögenswerte und Erbschaften auf. Betrachten wir den – zugegeben Extremfall – der „vollstationären Dauerpflege“, so beliefen sich 2005 laut Recherchen des Statistischen Bundesamtes die Kosten auf monatlich 2.706 Euro im Bundesdurchschnitt. Die Pflegeversicherung zahlte zu diesem Zeitpunkt für Pflegestufe III 1.432 Euro, in Härtefällen 1.688 Euro45 (vgl. Kap. 4.7). Es sind folglich 1.274 Euro, bzw. 1.018 Euro aus dem privaten Einkommen monatlich hinzuzuzahlen – das ist mehr bzw. gleichviel wie einer 65jährigen und älteren allein stehenden Frau im Durchschnitt an Nettoeinkommen zur Verfügung steht (vgl. Tabelle 31). Der Pflegefall ist also auch nach Einführung der gesetzlichen und privaten Pflegeversicherung ein Armutsrisiko geblieben. Dies insbesondere für Frauen. Alte werden dann zu Sozialhilfeempfängern, was zwar materielle Armut im Sinne des Gesetzgebers verhindert, aber zu Abhängigkeit, Statusverlust und oft einer Minderung der Selbstachtung führt. Einkommenssituation älterer Migranten Deutschland ist seit Jahrzehnten ein Einwanderungsland. Der Anteil von Menschen aus anderen Ländern an der Wohnbevölkerung ist nicht nur über Jahre gewachsen. Viele Migranten sind inzwischen alt geworden. Waren 1987 Ausländer46 zu 1,3 Prozent an der Bevölkerungsgruppe der über 60jährigen beteiligt, so wird ihr Anteil bis 2010 voraussichtlich auf 6,4 Prozent steigen (Dietzel-Papakyriakou 1999, S. 144). Die Alterung der Migrantenbevölkerung wird also zügig vorangehen. Fast ein Drittel der 1,6 Mio. über fünfzigjährigen Migranten in Deutschland entstammen EU-Ländern, knapp zwei Drittel kommen aus NichtEU-Staaten. 57 Prozent der älteren Ausländer sind aus den ehemaligen Anwerbeländern Griechenland, Italien, Türkei und dem ehemaligen Jugoslawien eingewandert. Da in den 1950er und 1960er Jahren ausschließlich junge Männer ange44 Bericht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 21. März 2007. 45 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. März 2007. Die Preise für vollstationäre Pflege schwanken zwischen den einzelnen Bundesländern. So sind die höchsten Beträge in Hamburg und NRW fällig (3.110 bzw. 3.101 Euro). „Billigstes“ Bundesland ist Sachsen-Anhalt mit 2.250 Euro (a.a.O.). 46 Der Begriff Ausländer gibt nur unvollkommen den Anteil von Zuwanderern wieder, da viele Migranten inzwischen die deutsche Staatsangehörigkeit erworben haben und so nicht mitgerechnet werden. Vgl. Kap. 3.4.3
251
7 So leben die Alten
worben wurden, sind weibliche Migranten in den höheren Altersgruppen derzeit unterrepräsentiert (Fünfter Altenbericht 2005, S. 403f). Die durchschnittliche Alterung von Einwanderern wird auch aufgrund rückläufiger Einwandererzahlen zunehmen (vgl. Tabelle 32). Tabelle 32:
Ausländische und deutsche Altersbevölkerung in Deutschland 1991-2003 in 1.000 Personen Jahr
Altersgruppen
Bevölkerung insgesamt
deutsche Bevölkerung
ausländische Bevölkerung
1991
1997
2003
1991
1997
2003
1997
2003
80.27
82.05
82.53
74.20
7463
75.19 6.067 7.419
7.341
50 – u. 55 J.
6.211
4.569
5.521
5.874 4.156
5.081
337
413
440
55 – u. 60 J.
4.919
5.910 4.417 4.697 5.577
4.021
222
333
396
60 – u. 65 J.
4.352
4.961
5.476 4.226 4.745
5.175
126
215
301
65 – u. 70 J.
3.797
4.001
4.962
3.723 3.881 4.760
74
120
202
70 – u. 75 J.
2.756
3.389
3.511 2.717 3.318
3.399
38
71
113
75 J. und älter
5.480
5.577
6.386 5.429 5.492
6.243
52
85
143
50 J. und älter
27.51 28.40 30.27 26.66 27.17 28.67
849
1.236
1.595
14
17
22
insgesamt
1991
darunter:
in % der jew. Gesamtbevölkerung
34
35
37
36
36
38
Quelle: Fünfter Altenbericht der Bundesregierung 2005, S. 403
Von den über 60jährigen Migranten gehen derzeit noch 42 Prozent einer Erwerbstätigkeit nach; 33 Prozent erhalten eine Rente. Das verfügbare Einkommen rangiert, ohne Berücksichtigung von Personen mit türkischer Nationalität, allerdings beträchtlich – nämlich um ein Fünftel – unter dem der gleichaltrigen Deutschen. Noch einmal darunter liegen türkische Migranten. Deren Einkommen ist mit nur 58 Prozent der Vergleichsgruppe der Deutschen noch einmal niedriger und erreicht nur drei Viertel des Einkommens der übrigen älteren Ausländer. Die niedrigeren Renten resultieren aus dem häufig relativ späten Beginn einer rentenrelevanten Erwerbstätigkeit, woraus kürzere Versicherungs- und Beitragszeiten entstehen. Außerdem machen sich hier ein höheres Arbeitsplatzrisiko und die Aus-
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7 So leben die Alten
übung niedrig qualifizierter Berufe bemerkbar. Erfreulich ist, dass zunehmend ältere Migranten und auch Migrantinnen Ansprüche auf eine gesetzliche Rente erwerben, womit eine Angleichung an die Werte der deutschen Bevölkerung abzusehen ist. Unterschiede gibt es aber noch zwischen den nationalen Herkunftsgruppen. So bezogen 2002 95,2 Prozent der über 65jährigen Griechen und Griechinnen eine gesetzliche Altersrente. Die Türken und Türkinnen waren aber nur mit 79,4 Prozent beteiligt. Bedingt durch die unterschiedlichen Haushaltsgrößen wachsen allerdings die Einkommensunterschiede zwischen deutschen und nichtdeutschen Bevölkerungsgruppen. So hatte ein deutscher Haushalt in der Altersgruppe über 65 im Jahre 2002 1.101 Euro monatlich je Haushaltsmitglied zur Verfügung. Bei den türkischen Haushalten betrug der Vergleichswert lediglich 593 Euro, bei den italienischen 892 und den griechischen 793 Euro (Fünfter Altenbericht 2005, S. 405f). 7.5.4
Einkommensverwendung und Konsum
Konsum spielt für die „jungen Alten“ eine wichtige Rolle. Im Osten allerdings noch immer weniger als im konsumgewohnten Westen. So geben die 65- bis 69jährigen anteilsmäßig von ihrem Gesamthaushalt sogar mehr aus als ihre jüngeren Zeitgenossen. Offenbar ist die Konsumorientierung im Alter möglich durch die bis dahin erreichte Versorgung mit dem Notwendigen und zugleich durch eine auskömmliche Altersvorsorge. Mit weiter steigendem Alter sinkt die Konsumquote aber kontinuierlich. Die Altersgruppe der über 85jährigen gibt im Vergleich mit den 50 bis 54jährigen nur etwa zwei Drittel für den Konsum aus. Die anteiligen Ausgaben für den privaten Konsum sind bei Einpersonenhaushalten von Frauen niedriger als bei Männern, und sie stehen selbstredend in Abhängigkeit von der Höhe des verfügbaren Einkommens. So geben Haushalte mit niedrigem Einkommen absolut weniger, anteilmäßig zum Haushaltseinkommen aber mehr als Haushalte mit höherem Einkommen aus. Höher als bei allen anderen Altersgruppen sind die Aufwendungen für Wohnen, Energie und Wohnungsinstandhaltung. Zwar ist im Zeitverlauf die Kostenposition für die lebenswichtigen Bereiche wie Wohnung, Ernährung, Energie und Bekleidung gesunken, so dass Kaufkraft für andere Dinge des Konsums frei wurde, jedoch sind die Wohnungskosten, einschließlich Nebenkosten seit Ende der 1960er Jahre ständig gestiegen. Betrugen sie 1969 noch ein Fünftel des Haushaltsbudgets, so war dieser Anteil bis 1993 auf ein Viertel angewachsen (Alber/Schölkopf 1999, S. 29). Anfang des neuen Jahrtausends waren sie auf über 30 Prozent gestiegen (Wilde/Franke 2006, S. 94). Zu bedenken ist, dass sich viele
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7 So leben die Alten
Senioren heute nach Auszug der Kinder oder Verlust des Partners für die Weiternutzung der gewohnten Räumlichkeiten entscheiden. Sinkende Tendenz dagegen haben mit weiter zunehmendem Alter die Ausgaben für langfristige Gebrauchsgüter, ebenso für Verkehr und Mobilität, wobei das Reisen eine bemerkenswerte Ausnahme bildet. Nicht überraschend, dass mit zunehmendem Alter die Ausgaben für die Gesundheit steigen, auch dies in Abhängigkeit von der Höhe des Einkommens. In Anspruch genommen werden gesundheitsbezogene Dienstleistungen, Therapien und entsprechende Medikamente (Fünfter Altenbericht 2005, S. 229 f). Erhöhen dürften sich künftig in der Folge des demographischen Wandels und eines teilweisen Verlustes von Familiennetzwerken, der Kostenaufwand für haushaltsnahe Dienstleistungen – z.B. Einkäufe, Putz- und Pflegearbeiten im Haushalt. Zurzeit liegt der entsprechende Anteil nur bei sechs Prozent (Wilde/Franke 2006, S. 95). Tabelle 33:
Sparquoten verschiedener Altersgruppen und Haushaltsgrößen, 1998
Alter
Einpersonenhaushalte
Zweipersonenhaushalte
30 bis 34 35 bis 39 40 bis 44
13,7 14,3 16,5
16,5 17,7 16,0
45 bis 49
13,4
17,1
50 bis 54
14,2
15,1
55 bis 59 60 bis 64 65 bis 69
7,8 5,8 0,4
13,1 8,1 1,3
70 bis 74
5,2
5,8
75 bis 79
10,9
8,3
80 bis 84
10,1
6,8
85 und älter
5,9
15,2
Quelle: Fünfter Altenbericht der Bundesregierung 2005, S. 233
Ein Teil der Einkommen gilt auch im Alter einer fortgesetzten Ersparnisbildung, dies wiederum im Westen stärker als im Osten. Dabei nehmen die Sparquoten jenseits von 69 Jahren wieder zu, offenbar im Anschluss an eine Phase stärkerer Konsumorientierung (s. o.). Selbst von den 80 bis 84jährigen – sofern in einem
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7 So leben die Alten
Einpersonenhaushalt lebend, was für die Mehrheit gilt – werden noch mehr als zehn Prozent des Einkommens auf die „hohe Kante“ gelegt (vgl. Tabelle 33). Überraschenderweise erhöht der sich der Anteil bei den Zwei-Personenhaushalten jenseits der Altersschwelle von 85 noch einmal. Offenbar ist man sich dort sicher, alles Notwendige zu besitzen; die Aktionsräume werden kleiner; man spart für den „Notfall“ oder für die Erben. Zur Auflösung von Sparguthaben kommt es in keiner der Altersgruppen (Fünfter Altenbericht 2005, S. 232 f). Das ist verwunderlich, sollte doch angenommen werden, dass der Eintritt der Pflegebedürftigkeit hierzu Veranlassung böte.
7.6 Wo die Alten leben Die Mehrheit lebt in Privatwohnungen Schenkt man zählebigen Klischees Glauben, so leben die Alten heute separiert in Ghettos, sind abgeschoben in unwirtliche Heime, deren überfordertem Personal die lieblose Versorgung ebenso überflüssiger wie gering geschätzter Bedürftiger mit dem Notwendigsten obliegt. Das Gegenteil ist der Fall. Die breite Mehrheit der Alten – 1995er Jahre waren es 95 Prozent der über 60jährigen – lebt in Privathaushalten (Backes 2001, S. 69)47. Das entspricht auch ihrem Wunsch. 73 Prozent wollen in den eigenen vier Wänden bleiben, 21 Prozent können sich ein Wohnen mit den eigenen Kindern vorstellen. Ein Altenheim oder Wohnstift steht nur für sechs Prozent auf dem Wunschzettel (Wilde/Franke 2006, S. 114). Allerdings steigt der Anteil der Heimbewohner mit zunehmendem Alter rapide an. Hochaltrigkeit ist – wenn auch nicht zwangläufig – mit Heimleben verknüpft. Denn ein sehr hohes Lebensalter erhöht das Pflegerisiko48. So beträgt der Anteil Pflegebedürftiger bei den 80-84jährigen 38,4 Prozent, bei den über 90jährigen 84,5 Prozent49. Inzwischen zeichnet sich auch deutlich ein Trend zur Heimpflege ab. So ist zwischen 2003 und 2005 der Anteil der in Heimen Gepflegten um 5,7 Prozent gestiegen (Statistisches Bundesamt 2005, S. 4). Das Verbleiben in gewohnter häuslicher Umgebung, in den über oft viele Jahrzehnte genutzten, schon wegen der persönlichen Gewohnheiten und Erinnerungen wertgeschätzten Räumen, ist also für die meisten Alten Realität. Und 47 Zu den Wohnverhältnissen alter Menschen vgl. ausführlich: Wilde/Franke (2006, dort Kap. 5.4). 48 Das wird von den Alten realistisch eingeschätzt. Zu den wichtigsten vorstellbaren Gründen, die für ein Verlassen der liebgewonnen Wohnung führen, zählt an erster Stelle Krankheit (Wilde/Franke 2006, S. 124). 49 Vgl. Kap. 5.12
7 So leben die Alten
255
trotz der unbestreitbaren großen Qualitätsverbesserungen des Wohnens in so genannten „institutionellen Einrichtungen“, werden mit dem Wohnen dort von der Mehrheit der Alten und auch der jüngeren Jahrgänge noch immer Alleingelassenwerden, Entmündigung und Verurteilung zur Nutzlosigkeit verbunden. Doch scheint sich Wandel anzudeuten. Vierzig Prozent der heute 40- bis 60jährigen rechnen damit, ihren Lebensabend im Pflegeheim zu verbringen (Vascovics 2004, S. 169). Das könnte einen Rückgang von Realitätsfurcht bedeuten. Erleichterung häuslicher Pflege durch gesetzliche Pflegeversicherung Mit der Einführung der Pflegeversicherung (1994) haben sich die Bedingungen für ein langes Verbleiben in gewohnter häuslicher Umgebung verbessert. Für mehr als zwei Drittel der Pflegebedürftigen findet die Pflege zu Hause statt50. Das Pflegegesetz hat seinerzeit einen regelrechten Boom zur Gründung von privatwirtschaftlich betriebenen Pflegediensten ausgelöst. Die Angebote der traditionellen Anbieter von Pflegediensten, die so genannten Träger der freien Wohlfahrtpflege51 wurden erweitert, zahlreiche private Pflegedienste entstanden. Gesetzlich definierte Pflegestufen und Verfahren zur amtlichen Feststellung von Pflegebedürftigkeit schaffen Übersichtlichkeit hinsichtlich Leistungsansprüchen und Kostenregulierung52. Von daher ist es heute einfacher als vor 1994, in den „eigenen vier Wänden“ mit bezahlbaren professionellen Angeboten rechnen zu können. Zum anderen trägt diese Entwicklung der Tatsache Rechnung, dass bedingt durch den Wandel der Lebensformen53, die gestiegene Erwerbsbeteiligung der Frau54 und eine – jedenfalls in großstädtischen Räumen – erwartbare
50 Die hier genannten Zahlen handeln ausschließlich von den Pflegebedürftigen, die Pflegegeld erfolgreich beantragt haben. 51 Unter freier Wohlfahrtspflege wird die Gesamtheit sozialer Hilfen verstanden, die auf freigemeinnütziger Grundlage und in organisierter Form geleistet werden. In Deutschland gibt es sechs Dachorganisationen die „Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege“: Arbeiterwohlfahrt; Deutscher Caritasverband; Paritätischer Wohlfahrtsverband; Deutsches Rotes Kreuz, Diakonisches Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland; Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (http://de.wikipedia.org/ wiki/Wohlfahrtsverband, 22.2.07) 52 Vgl. Kap. 4 53 Neben die traditionelle Familie aus verheirateten Eltern und Kindern sind verstärkt seit den 1980er Jahren zahlreiche andere mögliche und legitime Lebensformen getreten, zu denen auch das Alleinleben gehört. In der Soziologie wird von „Pluralisierung der Lebensformen“ gesprochen. Während für die „traditionelle Familie“ die Pflege von Alten und Kranken zu den ureigensten Funktionen gehörte, ist diese in neuen Lebensformen z. T. nicht oder nur schwer realisierbar (z.B. bei Alleinlebenden, oder Partnerschaften auf Zeit, in denen dauerhafte Solidarität geringer ausgebildet ist). 54 Das gilt nicht für die neuen Bundesländer, in denen weibliche Erwerbsbeteiligung heute niedriger ist als zu Zeiten des Sozialismus vor der Wende.
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7 So leben die Alten
Erosion nachbarschaftlicher Bindungen – Pflegepersonen aus der unmittelbaren Umgebung immer weniger verfügbar sind. Nachteile bei der Nutzung privaten Wohnraums Die Bevorzugung privaten Wohnens im Alter – zumal in „Normalwohnungen“ ohne spezielle Vorkehrungen – birgt aber auch Nachteile und Risiken. Alte wohnen häufig lange schon in Wohnungen, die überaltert und ohne zeitgemäßen Komfort sind. Der technische Standard ist mehrheitlich unterdurchschnittlich (Wilde/Franke 2006, S. 110). Modernisierungen haben wegen der Zunahme des Alters der Betroffenen – oder auch weil der Vermieter generell nur bei Auszug des Mieters umfangreiche Renovierungsmaßnahmen durchführt – häufig über Jahre nicht stattgefunden. Eine alten- und pflegegerechte Ausstattung fehlt. Das gilt für Fahrstühle55, gehwagengerecht breite Türen und Treppenaufgänge, Barrierefreiheit, erhöhte Toilettenschüsseln u. a. Eigenheime verfügen oft über mehrere bewohnte Stockwerke, die nur über (häufig enge) Treppenhäuser miteinander verbunden sind. Je älter der Wohnbestand, desto ungeeigneter ist er in der Regel für alte Menschen. Wohnungen sind nach dem Auszug der Kinder und den Tod des Ehepartners oft auch zu groß. Technische Verbesserungen – wie der Einbau von Treppenliften – sind möglich, unterbleiben aber meist aus Kostengründen. Dies gilt vor allem für den durchschnittlich noch immer schlechteren technischen Zustand von Wohnungen in den neuen Bundesländern. Modernisierungen hatten während der DDR-Zeit häufig über Jahrzehnte nicht stattgefunden. Dort hat es in den letzten Jahren allerdings innerhalb kurzer Zeit grundlegende Veränderungen gegeben. Hinzu kommt, dass Einkaufsmöglichkeiten heute oft weit entfernt und fußläufig für alte Menschen kaum erreichbar sind. Ein angewiesen sein auf den öffentlichen Personennahverkehr birgt weitere Tücken. Zwar wurden die Verkehrsmittel in den letzten Jahren immer behindertengerechter. So sorgen Niederflurbereiche und einstufige Einstiege in Bussen und Bahnen für altengerechte Sicherheit und Bequemlichkeit. Die Kehrseite der Medaille ist der in Großstädten oft in den Untergrund verlegte öffentliche Nahverkehr. Er zwingt zu langen Wegen und das Überwinden häufig mehrerer Verkehrsebenen. Diese sind zwar 55 Selbst das Vorhandensein von Fahrstühlen, etwa in älteren Hochhäusern, ist kein Garant für risikofreies Wohnen im Alter. Ein Beispiel aus dem privaten Beobachtungswinkel des Autors. In einem ca. 40 Jahre alten achtgeschossigen Bau musste der Lift erneuert werden. Das bedurfte einer Reparaturzeit von einem viertel Jahr. Eine im siebten Geschoss lebende 86jährige zog es vor, während der liftlosen Zeit zur Tochter überzusiedeln. Gut, wenn es sie gibt.
7 So leben die Alten
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durch technische Einrichtungen wie Rolltreppen und Fahrstühle erschlossen, aber bekanntlich sind diese nicht gefeit vor häufigen technischen Defekten und den Folgen jugendlichen Vandalismus. Das Ergebnis: unüberbrückbare Hindernisse für Alte, die schließlich oft schon vorausahnend den Weg aus der Wohnung scheuen und damit Einbußen ihrer Mobilität und Selbständigkeit in Kauf nehmen müssen. Wohnen und „Auto-Mobilität“ im Alter Eine wichtige Hilfe zum Erhalt der Mobilität, und damit eine Voraussetzung in den „alten vier Wänden“ zu bleiben – ist das eigene Auto. Der Anteil von Senioren „am Steuer“ ist in den letzten Jahren – nicht zuletzt auch eine Folge des gewachsenen Wohlstands – ständig gestiegen56. Wenn für die heutigen Alten männlichen Geschlechts der Besitz eines Führerscheins weitgehende Selbstverständlichkeit ist, gilt dies für Seniorinnen nur eingeschränkt. Damit sind Frauen nach dem Verlust des Partners zusätzlich in ihrer Mobilität und Selbstbestimmtheit erheblich gehandikapt und in ihrer Lebensqualität eingeschränkt. Eine Benachteiligung, die in Zukunft allerdings zurückgehen dürfte, weil der Erwerb der Fahrerlaubnis inzwischen auch für Frauen zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Es versteht sich von selbst, dass „Auto-Mobilität“ – wie alles im Leben – nur auf Zeit gegeben ist und zugleich gebunden an körperliche und geistige Leistungsfähigkeit. Je höher das Alter, desto deutlicher tritt auch hier der langsame „Abschied vom Leben“ ins Bewusstsein und in die Praxis des Alltags. Institutionalisiertes Wohnen Unter institutionalisiertem Wohnen wird das Wohnen in organisierten Einrichtungen verstanden. Dazu gehören Pflegeheime, betreutes Wohnen und die so genannten Seniorenresidenzen. Betreutes Wohnen wird von den Trägern der freien Wohlfahrtspflege und von privaten Dienstleistern angeboten. Derartige Einrichtungen verfügen – in der Regel im Verbund mit Pflegeeinrichtungen unter demselben Dach – über vollwertige Wohnungen, einschließlich Küche und Bad. Die altersspezifische Ausstattung und Technik (z. B. Barrierefreiheit) folgt vom Gesetzgeber genormten Vorgaben. Dienstleistungen jeglicher Art sind gesondert zu bestellen und zu bezahlen. Rund 10.400 Pflegeheime gab es Anfang 2007 in Deutschland. Allein seit 2003 wurden mehr als 700 neue Einrichtungen eröffnet57. Moderne Häuser verfügen
56 Hierzu liegen allerdings keine Zahlen vor. 57 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. März 2007.
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über auf Funktionalität ausgerichtete Zimmer oder Pflegeappartements, immer mit eigener Nasszelle. Zuzugskriterium für diese Häuser ist faktisch die attestierte Pflegebedürftigkeit (mindestens Stufe eins nach Pflegegesetz)58. Dem Zuzug steht zwar auch ohne das amtliche Pflegetestat kein Hindernis im Wege, doch ist in diesem Fall die gesamte Kostenrechnung privat zu begleichen. Das Personal der Heime zeichnet sich durch Fachlichkeit und Professionalität aus. Es gibt vielfältige Qualitätskontrollen, z. B. durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen und die Heimaufsicht. Seniorenresidenzen Residenzen sind die (kosten)aufwendigste Möglichkeit für ein komfortbetontes Leben im Alter. Auch hier handelt es sich um eine Form des institutionalisierten Wohnens. Die Häuser haben hotelähnlichen Charakter und verfügen über Wohnungen oder Appartements – ähnlich dem betreuten Wohnen – unterschiedlich großen Zuschnitts, mit Kochgelegenheit oder eigener Küche. Ein umfassendes Dienstleistungsangebot ist im Grundpreis enthalten. Bewohner zahlen keine Miete, sondern einen Pensionspreis, der Wohnen, Speisen, Service und Betreuung einschließt. Es gibt hochwertige Gemeinschaftseinrichtungen und ein umfangreiches Unterhaltungs- und Kulturangebot. Die Einrichtungen verfügen meist über einen eigenen ambulanten Pflegedienst und eine – für den Fall schwerer Pflegebedürftigkeit – eigene Pflegestation. Auch diese Einrichtung fällt unter die Heimaufsicht. Es gibt die Mitwirkung in organisatorischen Angelegenheiten eines durch die Einwohner gewählten Heimbeirats59. Wachsende Bereitschaft zum zeitigen Wechsel in altengerechte Wohneinrichtungen? Wenngleich die lang gewohnte Umgebung – wie erwähnt – für die Mehrheit der Alten auch die Wunschwohnung der Zukunft ist und die Bereitschaft zum Wechsel mit dem Alter sinkt, könnte sich ein Trend zu wachsender Mobilität abzeichnen. Heinze et al. (1997) stellten nach Befragung westdeutscher Haushalte und den Hochrechnungen der Ergebnisse fest, dass bei den ab 55jährigen 65 Prozent der Bewohner von Mieterhaushalten grundsätzlich umzugsbereit seien (Wilde/Franke 2006, S. 120). Schon heute ist – sicher auch eine Folge des qualitativ deutlich verbesserten Angebotes an institutionalisierten Wohnformen – eine durchaus wachsende Bereitschaft in der Regel materiell gut gestellter Alter60 zu 58 Vgl. Kap. 4.7 59 Vgl. Internetrecherche (http://www.immobilienscout24.de/definden/wohnen/seniorenwohn..., 27.2.07). 60 Ein überdurchschnittliches Alterseinkommen ist dazu Voraussetzung. So berechnete Ende 2006 ein privatwirtschaftlicher Anbieter von altengerechten Wohnungen in einer selbst ernannten „Residenz“
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beobachten, beizeiten aus der bisherigen Wohnung in eine altengerechte Wohnform zu wechseln. Erhebliche Teile der Migrantenbevölkerung leben in größeren Familien, in denen auch die Generationensolidarität (s.u.) einen höheren Stellenwert haben sollte. Überraschend war deshalb, dass Anfang 2007 in Berlin das erste Pflegeheim für Menschen ausschließlich türkischer Herkunft in Deutschland eröffnet wurde. Ein Kennzeichen für die Existenz von „Parallelgesellschaften“61? Offenbar versuchen auf diese Weise Teile der türkischstämmigen Migranten ihre kulturelle Identität auch unter den Lebensbedingungen des Alters in einer fremd gebliebenen Gesellschaft zu bewahren. Einbußen innerfamiliarer Solidarität hinter diesem Vorgang zu vermuten, erscheint deplatziert. So gibt es nämlich einen erheblichen Teil der nichtdeutschstämmigen Bevölkerung, der gerade aufgrund der für Migranten typischen Lebenssituation – nämlich aus materiellen Gründen erzwungener Familientrennung – weit entfernt von Angehörigen lebt (vgl. 7.7.1, Tabelle 32). Die Unterbringung Pflegebedürftiger Migranten in Heimen dürfte Folge ihrer typischem Lebenssituation sein. Neue Trends: Seniorenstädte62 Eine neuere Entwicklung sind die so genannten „Seniorenstädte“. Nach US-amerikanischem Vorbild63 soll in den Niederlanden erstmals eine Stadt entstehen, in der Senioren „unter sich“ ihren Lebensabend verbringen werden. Das wird sich nicht vollständig realisieren lassen, denn man wird auf jüngere Pfleger und Helfer nicht verzichten können. Die Übersiedlung in diese in baulicher wie kultureller Hinsicht altengerechte Stadt, sollte beizeiten erfolgen, so dass das (weitere) Altern gemeinsam mit anderen geschehen kann. Merkmal dieser Einrichtung soll ein dichtes Angebot an Orten und Gelegenheiten sein, die der Kommunikation und Unterhaltung dienen. Einsamkeit soll somit vermeidbar sein. Der Ort der Altenstadt stand 2005 noch nicht fest. Sie muss auch nicht auf der grünen Wiese mittlerer Preislage im Ruhrgebiet etwa 950 Euro/Monat. In diesem Betrag für die ca. 60 qm große Wohnung sind Mietzins, Grundservice und Nebenkostenumlage enthalten. Als Kaution ist die doppelte Monatsmiete zu hinterlegen. Energiekosten werden zusätzlich privat abgerechnet. Mahlzeiten oder Betreuungs-/Pflegeleistungen und überhaupt jeder kleinste Service werden gesondert berechnet. Der untersuchte Anbieter hatte diese Kosten in den letzten zweieinhalb Jahren um ca. acht Prozent erhöht. 61 Dieser politisch geprägte Begriff bezeichnet das Nebeneinander von größeren Gesellschaftsgruppen mit unterschiedlichen kollektiven Identitäten, Normen und Wertvorstellungen. „Parallelgesellschaften“ sind das Ergebnis missglückter Integration von Zuwanderern. 62 Vgl. zum Thema Neues Wohnen für Alte: BauWohnberatung Karlsruhe, Schader-Stiftung 2004; Höpflinger, Francois, Traditionelles und neues Wohnen im Alter. Age Report 2004. 63 Im US-Bundesstaat Arizona gibt es die Altenstadt Sun-City (vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. Sept. 2005).
260
7 So leben die Alten
entstehen, sondern könnte – innenstadtnah – etwa auf Industriebrachen errichtet werden. Neue Trends: Gemeinschaftliche Wohnformen Vorbildhafte Entwicklungen gibt es auch hierzu in den Niederlanden. 1997/98 gab es 200 Projekte für gemeinschaftliche Wohnformen, die über zusammen 4.800 Wohnungen mit unterschiedlich großen Haushalten verfügten64. Auch hierbei ist ein frühzeitiger Wechsel – 55 Jahre werden empfohlen65 – in die neue Wohnumgebung vorgesehen, so dass gemeinsames Altern möglich ist, und ein hinreichend großer Anteil aktiver Alter vorhanden ist, um das Pflegen der Gebrechlichen zu sichern. Allerdings gibt es in den Niederlanden ebenso Projekte, die altersdurchmischt sind. Alleinstehende Frauen stellen erwartungsgemäß den höchsten Anteil (etwa 60 Prozent). Auch bei diesem Projekt stand das gemeinschaftliche Leben zunächst auf dem Prioritätenkatalog. Dazu ist räumlich entsprechend vorgesorgt worden. Inzwischen setzt sich – ohne dass der Gemeinschaftsaspekt aufgegeben wurde – jedoch der Trend zu größerer Autonomie und Individualität der Haushalte und ihrer Bewohner durch. Eine altengerechte Ausstattung der Wohnungen versteht sich von selbst (Narten 2004, S. 53).
7.7 Alte und Familie 7.7.1
Anhaltende Bedeutung der Familie
Auch wenn Familie66 gerne „totgesagt“ wird, oder als „Auslaufmodell“ gilt, erweist sie sich in der gesellschaftlichen Wirklichkeit als überraschend stabil. Fami64 Ein vergleichbares Projekt ist in den italienischen Apenninen entstanden. In einem von den Jüngeren weitgehend verlassenen Dorf wurden die Häuser altengerecht instand gesetzt. Jüngere, für die nun Arbeitsplätze als Pfleger u. a. entstehen konnten, sind in den Ort zurück gekehrt (Deutsch 2007). 65 Das Höchsteinzugsalter liegt bei 70 Jahren. 66 Der Begriff Familie ist ebenso wie deren unterschiedliche Formen in den letzten etwa zwanzig Jahren in widersprüchlicher Weise definiert und interpretiert worden (Nave-Herz 2004; Peukert 2004). Diese Diskussion kann hier ebenso wenig geführt werden, wie jene über die historische Entwicklung der Familie. Familie hat keineswegs in der Vergangenheit in einer einheitlichen Form – z.B. als „DreiGenerationen-“ oder „Großfamilie“ bestanden. Unter Familie soll hier in Anlehnung an den Begriff „Normal-“ oder „Kleinfamilie“ verstanden werden, eine dauerhafte heterosexuelle Paarbeziehung, aus der mindestens ein blutsverwandtes oder adoptiertes bzw. in eine Partnerschaft „eingebrachtes“ Kind gehört. Für die Generation der heutigen Alten ist Familie noch nahezu hundertprozentig an die Ehe gebunden. Für künftige Altengenerationen wird der Verheiratetenanteil für familienartige Formen des Zusammenlebens deutlich zurückgehen (vgl. Kap. 2.2.6)
7 So leben die Alten
261
lie hat weiterhin „zentrale gesellschaftliche Bedeutung“, auch wenn sie immer weniger in der Form der so genannten „Normalfamilie“67 existiert. Familie besteht heute68 aus einer Vielzahl paralleler Formen („Pluralisierung“). Der Anstieg der Lebenserwartung hat bewirkt, dass Kinder heute ihre Eltern viel länger erleben können. Enkelkinder haben – anders als in vormoderner Zeit – eine realistische Chance ihre Großeltern – obwohl Großelternschaft heute zumeist erst im höheren Lebensalter beginnt – über oft mehrere Jahrzehnte zu erleben (Fünfter Altenbericht 2005, S. 283). Die für die vorindustrielle Zeit zeitweilig gern (romantisierend) behauptete „flächendeckend“ verbreitete Existenz der „DreiGenerationen-Familie“, ist heute sogar eher wahrscheinlich geworden. Denn mehr als nur ein kleiner Anteil der Bevölkerung erreicht heute das Seniorenalter69. Für Migranten hat diese Familienform wegen der dort stärker an traditionellen Werten ausgerichteten Werte weitgehend ungebrochene Aktualität. Auch wenn Familie heute nur selten noch „Produktionsgemeinschaft“70 ist, stellt sie nach wie vor das zentrale Beziehungsnetz zwischen den Generationen dar. Während für die Jüngeren die Ehe derzeit an Bedeutung verliert71, ist sie im Verständnis der Alten meist noch deren Basis. Der Anteil derer, die so denken, wird allerdings zurückgehen. Nichteheliche Partnerschaften sind auch im Alter längst akzeptabel geworden, sei es nach dem Tod des Ehepartners, nach einer Scheidung oder aus anderen Gründen. Die Berliner Altersstudie72 ermittelte schon Mitte der 1990er Jahre bei den über 70-jährigen einen Anteil von vierzehn Prozent bei den Männern und von fünf Prozent bei den Frauen (BASE 1996, S. 306), die ohne Trauschein zusammen lebten73. Elternschaft und der Zusammenhalt zwischen Eltern und Kindern, ist entgegen langläufiger Reden, noch immer der wichtigste Bezugspunkt für soziale Beziehungen (BASE 1996, S. 307). Zwar wohnt nur eine Minderheit der Alten mit 67 Vgl. Anmerkung 66. 68 Allerdings haben auch in der Vergangenheit zumeist mehrere Familienformen nebeneinander bestanden. Die so genannte „Bürgerliche Familie“ (auf Ehe basierend, mit meist ein bis drei Kindern u.a. Merkmalen) galt zwar zu Recht lange Zeit als „Leitbild“, gleichwohl hatte sie sich im Arbeitermilieu niemals vollständig durchgesetzt. 69 Vgl. zur Entwicklung der Lebenserwartung Kap. 3.4.3. 70 Produktionsgemeinschaft in dem Sinne, dass „unter einem Dach“ alle wesentlichen Funktionen, die das Leben ermöglichen, vereinigt sind: Reproduktion, Produktion, Sozialisation, Versorgung bei Krankheit und Alter, Geselligkeit und Intimität. 71 Die öffentliche Diskussion ist hier oft verzerrend. Denn trotz Rückgang der Eheschließungsziffern von 1950 bis heute um die Hälfte, sind noch immer 50 Prozent der 25jährigen bis über 65jährigen (bei den mittleren Altersgruppen ist es die Mehrheit) verheiratet (Stat. Jahrbuch 2005, S. 46). 72 Kurze methodische Einführung zur Berliner Altersstudie vgl. Kap. 2.3.5. 73 Dabei ist eine Großstadt wie Berlin allerdings nicht repräsentativ für das ganze Land.
262
7 So leben die Alten
den jüngeren Generationen unter einem gemeinsamen Dach, doch sind die Entfernungen meist gering. Fasst man die 40- bis 85-jährigen zu einer Altersgruppe zusammen, so wohnten 2002 erstaunliche 39,7 Prozent zusammen mit einem Kind im gemeinsamen Haus. Am gleichen Ort wohnten 20,1 Prozent, weiter entfernt wohnten nur 7,2 Prozent. Betrachtet man die Gruppe der Alten getrennt, z. B. die 70- bis 85-jährigen, so lebten 2002 immerhin noch 22,2 Prozent mit zumindest einem Kind im selben Haus. In der Nachbarschaft lebten 19 Prozent und im gleichen Ort 28,8 Prozent. Allerdings gibt es seit 1996 einen Trend zu wachsenden Entfernungen. Ausnahme bildet hierbei die Kategorie „weitere Entfernung“, deren Anteil bei der ältesten Altersgruppe zwischen 1996 und 2002 sogar zurückgegangen ist (vgl. Tabelle 34; Fünfter Altenbericht 2005, S. 302). Die Daten zeigen, dass die moderne, vom Menschen immer mehr Flexibilität und Mobilität erwartende Gesellschaft, (vorläufig) nicht zu einem Trend der Lockerung von Familienbanden geführt hat. Es mag in Zeiten, in denen die so genannten „Wahlverwandtschaften“ so wichtig scheinen, überraschen, dass „Zusammensein mit der Familie“, möglichst einschließlich der Kinder und Enkel, von Alten als Voraussetzung für einen „schönen, harmonischen Tag“ (und wohl darüber hinaus) genannt wird (Opaschowski 1998, S. 61). Migranten leben anders Die Wohnsituation von Migranten unterscheidet sich von jener der deutschstämmigen Bevölkerung. Sie wohnen zu einem deutlichen Anteil mit zwei Generationen unter einem Dach. 2002 lebte sogar mehr als die Hälfte (54,7 Prozent) der 40 bis 85jährigen mit mindestens einem Kind im selben Haus, aber auch 11,6 Prozent „weiter entfernt“. Bei den 70-85jährigen Migranten liegt der Anteil der „weiter entfernt“ Lebenden bei 27,8 Prozent. Das ist mehr als das Dreifache dessen, was bei der einheimischen Bevölkerung beobachtet wurde (vgl. Tabelle 34; Fünfter Altenbericht 2005, S. 302). Dies erklärt sich aus einer migrantentypischen Lebenssituation (s. o.). Migration bedeutet auch Trennung. Verwandte wohnen oft weit entfernt, ein Teil von ihnen weiterhin im Herkunftsland. Relativ viele Alte kehren nach dort auch zeitweilig oder auf Dauer zurück74; für wieder andere bleibt es ein nie realisierter Traum (Baykara-Krumme/Hoff 2006).
74 Altgewordene Arbeitsmigranten beteiligen sich relativ intensiv an temporärer Migration (Pendeln zwischen Wohnort und Herkunftsland) und auch permanenter Migration – wobei Letztere nur wenig zur Kenntnis genommen wird. Zielorte sind zumeist Orte der Geburt und/oder des Aufenthaltes im Herkunftsland vor der Auswanderung Dietzel-Papkyriakou 1999, S. 144f).
263
7 So leben die Alten
Tabelle 34:
Wohnentfernung zum nächstwohnenden Kind ab 16 Jahren nach Altersgruppen 1996 und 2002, für Deutsche und Nicht-Deutsche in Prozent 40-54
55-69
70-85
40-85
1996 2002 2002 1996 2002 2002 1996 2002 2002 1996 2002 2002 D
D
ND*
D
D
ND
D
ND
D
Im selben Haus
69,9 67,4 69,5 34,3 27,3 40,4 25,9 22,2 22,2
47
In der Nachbarschaft
6,2
4,8
3,1
Im gleichen Ort
8,9
9,4
12,8 24,4 23,8 14,6 23,9 28,8 16,7 18,1 20,1 13,8
14,7 14,3 15,9 17,6
D
19
25
D
ND
39,7 54,7
11,8 12,2
9,7
In max. 11,3 13,2 2 Std. erreichbar
7,1
19,6 26,1 15,2 23,4 22,3
8,3
17
20,8 10,2
Weiter entfernt
7,5
7,1
27,8
6,1
7,2
Anzahl
3,7
5,2
1219 691
8,6
226 1532 903
13,9
9,1
7,7
151 1137 870
36
11,6
3888 2464 413
Quelle: Fünfter Altenbericht 2005, S. 302)
Grenzen der Singularitätsthese Die oben erörterte Singularisierungsthese ist vor dem Hintergrund der räumlichen Nähe von Familienangehörigen zu relativieren. Zwar führen die Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen den Geschlechtern, das höhere Heiratsalter von Männern und die seit den 1960er Jahren stark gestiegene Scheidungshäufigkeit (insbesondere in der früheren DDR) ohne Frage zu einer Erhöhung des Anteils der dauerhaft Alleinlebenden, von denen die meisten Frauen sind75. Aber diese alleinstehenden alten Frauen leben infolge der Existenz familialer Netzwerke nicht notwendig allein und schon gar nicht in Einsamkeit. Dagegen ist die Mehr75 In diesem Zusammenhang wird oft übersehen, dass die in den 1950 und 1960er Jahren sehr hohen Verheiratungsquoten historische Ausnahme war. Die Verheiratung als Teil einer Normalbiographie ist eine Erscheinung des bürgerlichen Zeitalters. Dieser Trend hatte sich in der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik und unter anderen politisch-ideologischen Vorzeichen in der DDR noch einmal verstärkt, bevor danach ein bis heute anhaltender Wandel einsetzte. (Zum soziahistorischen Hintergrund in der vormodernen Zeit vgl. Kap. 3.4.3).
264
7 So leben die Alten
zahl der Männer über 65 verheiratet. Das trifft auch für die höchste Altersgruppe der über 80jährigen zu. Von ihnen sind es zwei Drittel. Von den gleichaltrigen Frauen sind fast drei Viertel verwitwet (vgl. Tabelle 35). Die in der Tabelle ausgewiesenen Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland werden bis 2030 durch die Angleichung der Biographien allerdings verschwunden sein. Für Frauen wird das Risiko der Verwitwung noch weiter ansteigen (Fünfter Altenbericht 2005, S. 288). Tabelle 35:
Von 100 waren:
Familienstandsstrukturen der 65 Jahre und älteren Männer und Frauen, 2002 65 J. u. m.
65 - 69 J.
70 - 74 J.
75 - 79 J.
80 J. u. m.
Mann Frau Mann Frau Mann Frau Mann Frau Mann Frau Deutschland
Ledig
3,8
6,3
5,0
4,7
3,5
6,2
2,7
7,8
2,4
7,0
Verheiratet
79,7
43,5
83,4
64,5
82,0
49,9
77,1
35,1
67,1
16,0
Verwitwet
13,2
45,2
7,0
25,0
11,4
38,8
17,9
52,5
28,8
72,9
Geschieden
3,4
5,0
4,6
5,8
3,2
5,1
2,3
4,6
1,6
4,1
Westdeutschland Ledig
4,1
6,3
5,5
4,7
3,8
6,3
2,8
7,7
2,6
7,1
Verheiratet
79,0
42,6
82,9
64,4
81,7
50,1
77,6
36,1
65,7
15,0
Verwitwet
13,5
46,4
6,8
24,9
11,2
38,6
17,3
52,1
30,1
74,3
Geschieden
3,4
4,7
4,8
6,0
3,3
4,9
2,2
4,1
1,6
3,6
Ostdeutschland Ledig
2,1
5,9
2,9
4,7
1,6
5,6
1,7
8,3
1,5
5,6
Verheiratet
80,2
41,2
85,7
63,5
83,6
48,0
74,2
30,2
62,5
12,7
Verwitwet
14,8
45,9
7,9
24,9
12,2
39,4
21,6
54,0
34,1
75,0
Geschieden
2,9
7,0
3,6
7,0
2,6
7,0
2,6
7,4
1,8
6,7
Quelle: Fünfter Altenbericht der Bundesregierung, 2005, S. 288
265
7 So leben die Alten
Strukturen in Migrantenfamilien Abweichende Familienstandstrukturen gibt es bei der nichtdeutschen Bevölkerung (vgl. Tabelle 36 und 37). Insbesondere bei türkischen Migranten ist der Verheiratetenanteil deutlich höher als bei der deutschen Bevölkerung. Vergleicht man die über 65-jährigen verheirateten Deutschen mit den gleichaltrigen Ausländern, so ergeben sich für 2002 Anteile von 55,4 Prozent zu 65,1 Prozent. Auch die Verwitwetenanteile weichen deutlich voneinander ab (deutsch: 34,4 Prozent; ausländisch 23,4 Prozent). Überraschenderweise ist der Geschiedenenanteil bei der Ausländerbevölkerung höher – am niedrigsten dort bei der türkischstämmigen Bevölkerung. Ein Vergleich der Daten in den Tabellen 36 (2002) und 37 (1997) zeigt Veränderungen, so z.B. einen Anstieg der Geschiedenen sowohl bei der deutschen als auch bei der ausländischen Bevölkerung. Aber auch der Verheiratetenanteil ist in beiden Gruppen gestiegen, eine Folge des Anstiegs der Lebenserwartung – Alte können länger zusammen bleiben. Tabelle 36:
Familienstand nach Nationalität und Alter, 2002, in Prozent Deutschland Türkei Griechenland Italien
Ehemaliges Ausland Jugoslawien insgesamt:
2002 18 bis 44 jährige Ledig
47,9
24,4
42,3
42,1
33,3
32,6
Verheiratet
46,2
71,2
53,7
53,7
61,9
62,8
Verwitwet
0,4
0,4
0
0,3
0,7
0,4
Geschieden
5,5
3,1
4
4
4,1
4,1
45 bis 64 jährige Ledig
8,2
1,2
3,8
6,1
4,1
5,1
Verheiratet
77,1
90,1
86,7
83,3
82,7
83
Verwitwet
5,2
4,3
4,8
3,5
5,4
4,6
Geschieden
9,5
4,5
4,8
7,1
7,8
7,4
5,7
3,1
4,8
9,4
9,7
5,6
65 u. älter Ledig Verheiratet
55,4
78,1
71,4
62,5
54,8
65,1
Verwitwet
34,4
15,3
19
25
25,8
23,4
Geschieden
4,4
3,1
4,8
3,1
9,7
5,9
Quelle:: Fünfter Altenbericht 2005, S. 428
266
Tabelle 37:
7 So leben die Alten
Familienstand nach Nationalität und Alter, 1997, in Prozent Deutschland Türkei Griechenland Italien
Ehemaliges Ausland Jugoslawien insgesamt:
1997 18 bis 44 jährige Ledig
43,9
25,3
39
37,7
32
31,3
Verheiratet
50,6
72,3
58,1
58
64,2
65
Verwitwet
0,5
0,4
0,6
0,6
0,8
0,6
Geschieden
5
2
2,3
3,7
3,1
3,1
6,8
1,4
3,8
8,1
5,2
5,2
Verheiratet
79
92,1
88,7
81,4
83,4
84,9
Verwitwet
5,9
3,4
3,8
3,1
4,5
3,8
Geschieden
8,3
3,2
3,8
7,5
6,9
6,1
45 bis 64 jährige Ledig
65 u. älter Ledig
6,1
3,2
3,6
8,3
4,3
6,9
Verheiratet
52
80,6
73,6
62,5
56,5
60,6
Verwitwet
38
12,9
20
25
26,1
27,3
Geschieden
3,9
3,2
2,7
4,2
13
5,2
Quelle: Fünfter Altenbericht 2005, S. 428
Vorhandensein von Angehörigen In Zeiten, da der Bedeutungsverlust der Familie festgestellt wird, stellt sich die Frage, ob Verwandte im Einzelfall überhaupt existieren? Von den 70- bis 85jährigen hatten Mitte der 1990er Jahre in den neuen Ländern 36 Prozent Kinder, Enkel oder Urenkel. In den alten Ländern waren es nur 17 Prozent (Kohli, Kühnemund 2001, S. 157). Hier macht sich der im Westen früher begonnene Wandel der Lebensformen bemerkbar. In beiden Teilen Deutschlands werden sich diese Anteile in den nächsten Jahren infolge des Geburtenrückgangs verringern. Zu den nahen Verwandten gehören auch Geschwister. Die 40 bis 44jährigen haben in Gesamtdeutschland durchschnittlich 2,17 Geschwister, die 80-85jährigen noch 1,94 (Kohli, Kühnemund 2001, S. 158). An diesen Zahlen dürften sich für künftige Altengenerationen wenig ändern, da in Deutschland trotz sich verbreitender Kinderlosigkeit, nicht das Ein-Kind-Familienmodell dominiert, sondern das „ZweiKinder-System“.
7 So leben die Alten
7.7.2
267
Zusammenhalt zwischen und in den Generationen
Solidarität gilt gemeinhin als das verbindende Element, als das „soziale Band“ zwischen den Menschen und Generationen76. Das gegenwärtig u. a. von den Massenmedien gepflegte Szenario vom „Krieg der Generationen“, behauptet einen baldigen Verlust, zumindest aber eine Reduzierung der Solidarität zwischen Alt und Jung (Rosenmayr 1999)77. Dies sei unausweichliche Folge der Verschiebung der Bevölkerungsanteile zwischen Jung und Alt, welche eine Überlastung der immer weniger werdenden Jungen bewirke. Diese können und wollen – so die These – ihrer Verantwortung im Rahmen des Generationenvertrags immer weniger nachkommen. Auch die vergleichsweise harmlose These von der Singularität im Alter setzt ja einen Verlust an Solidarität voraus, denn der vereinzelte Alte ist ein einsamer und verlassener Alter. Die empirischen Daten sprechen zumindest vorerst noch eine andere Sprache. Soziale Beziehungen zwischen den Generationen, zwischen Angehörigen, aber auch innerhalb von Nachbarschaften und Freundeskreisen sind nämlich – noch immer – weit verbreitet. Sie gehören zum Alltagserleben (Alters-Survey 2000; BASE 1996; Fünfter Altenbericht 2005; Brauer 2002; Kohli/Künemund 1997; Naegele/Schütz 1999; Szydlik 2000; Motel-Klingebiel 2006). Dabei spielt die Familie nach wie vor eine herausragende Rolle, und ihre Bedeutung steigt noch mit dem Alter. Kinder, die ihren Eltern helfen, Alte, die ihre jüngeren oder auch gleich alten Angehörigen auf vielfältige Weise unterstützen, sind der Regelfall. Und sie sind ein Beleg für den Fortbestand von Solidarität zwischen den Generationen (Intergenerationensolidarität)78. Da verwundert nicht, dass die Bewertung der Beziehung zur Familie deutlich positiv ausfällt. 76,1 Prozent der 40- bis 54jährigen gaben ihr 2002 die Note „sehr gut“. Bei den 70- bis 85-jährigen waren es sogar 84,3 Prozent. Bemerkenswert: der Anteil der Sehr-gut-Bewerter ist seit 1996 sogar noch gestiegen (Hoff 2006, S. 264) (vgl. Tabelle 38).
76 Das ist in der soziologischen Theorie oft betont worden (zuerst in Durkheims Theorie der Arbeitsteilung (1893). Vgl. Dollinger (2000). 77 Die These vom Verlust der Generationenmobilität ist natürlich keine Erfindung der Massemedien. Bereits 1996 waren annähernd 50 Prozent laut Umfragen der Meinung, dass der Generationenvertrag gefährdet sei (Rosenmayr 1999, S. 164). 78 Vor diesem Hintergrund wird zumindest zweifelhaft, dass der Kinderwunsch und dessen Realisierung heute – wie oft behauptet wird – keine rationale (!) Entscheidung (im Sinne einer Nutzenerwartung) sei, wie noch kürzlich die für Familie, Jugend und Alter zuständige Bundesministerin verkündete.
268
Tabelle 38:
7 So leben die Alten
Subjektive Bewertung der Beziehung zur Familie, 1996 und 2002
Quelle: Hoff, 2006, S. 265
Stand in der vormodernen Zeit die Hilfe innerhalb der Familie zumeist im Zeichen der Unterstützung der Jungen gegenüber den (relativ wenigen) Alten, so wird in der modernen Gesellschaft Unterstützung typischerweise in beide Richtungen geleistet. Infolge des Anstiegs der Lebenserwartung gibt es heute eine größere Zahl älterer Eltern und Großeltern, die einen mit dem Lebensalter wachsenden Betreuungsaufwand erfordern. Hier wird es in der Zukunft fraglos zu wachsenden Belastungen für die jungen und mittleren Jahrgänge, aber auch für die „jungen Alten“ kommen. Denn infolge des Geburtenrückgangs nehmen Anteil und Zahl der Jungen, die Pflegeleistungen erbringen können, ab. (Fünfter Altenbericht 2005, S. 283). Schließlich dürfte eine weiter zunehmende weibliche Erwerbstätigkeit Bereitschaft und Möglichkeiten von Frauen, Pflegeleistungen zu erbringen, mindern. Und es werden deren Belastungen steigen. Umgekehrt wirken aber eine länger erhaltene Gesundheit und die durchschnittlich z. Z. noch gute Einkommenslage der Alten dahin, dass Senioren die
269
7 So leben die Alten
Kinder- und Enkelgenerationen unterstützen (vgl. 7.4 Alte als Wohltäter) (MotelKlingebiel 2006, S. 199 ff). Die Hilfen sind materieller und immaterieller Art79. Die wichtigsten Personen, die Hilfen erfahren, sind allerdings die (Ehe-) Partner. Und, auch wenn Pflegeleistungen zumeist in die Richtung der Alten gerichtet sind, so ist auch hier der umgekehrte Fall – z. B. bei behinderten Kindern oder Enkelkindern – Teil solidarischer Hilfe. Also hat nicht nur zwischen den Generationen, auch innerhalb der Generationen Solidarität (Intragenerationensolidarität) einen hohen Stellenwert. Diese hält auch im Alter an. Eine Form von Intragenerationensolidarität ist die Hilfe zwischen dem zur Pflege fähigen und dem pflegebedürftig gewordenen (Ehe-) Partner. Zumeist ist die in der Regel deutlich jüngere Frau gefordert. Aber auch der Mann steht hier inzwischen häufiger in der für ihn – aufgrund traditioneller Geschlechterrollen – noch ungewohnten Pflicht. Sofern er ein sehr hohes Lebensalter erreicht, ist er noch verheiratet (vgl. Tabelle 36), mitunter auch mit einer gleichaltrigen, dann oft in schlechterer körperlicher Konstitution befindlichen Ehefrau80. Tabelle 39:
Geleistete Unterstützung in den vergangenen zwölf Monaten Kognitive Unterstützung
40 - 54 Jahre 55 - 69 Jahre 70 - 85 Jahre Gesamt
Emotionale Unterstützung
Instrumentelle Unterstützung
Finanzielle Unterstützung
1996
2002
1996
2002
1996
2002
1992
2002
91,5
91,0
87,8
89,3
41,8
37,3
29,3
27,1
86,8
83,4
82,2
82,4
32,8
29,1
32,6
36,6
80,2
74,7
79,0
74,2
18,2
15,6
32,3
31,0
87,7
84,7
84,2
83,9
34,3
29,6
31,0
31,3
Quelle: Fünfter Altenbericht, 2005, S. 306 79 Der Alten-Survey ermittelte für die 40-85jährigen, dass ein Fünftel der Alten instrumentell (das sind nicht ausschließlich Geldleistungen) von ihren Kindern unterstützt wird, während knapp sieben Prozent ihre Kinder auf diese Weise unterstützen (2000, S. 53). Zu Generationenbeziehungen vgl. auch Rosenmayr 1999, S. 157 ff. Zu den Unterstützungsformen gehören auch Erbschaften und materielle Transfers zu Lebzeiten. Beide Formen haben in der Vergangenheit an Umfang im Zeitverlauf zugenommen. Zwischen 1996 und 2002 ist allerdings erstmals ein Rückgang zu beobachten, der in der Abkopplung der Alteneinkommen vom Durchschnitt der Bevölkerung seine Ursache haben dürfte (Motel-Klingebiel 2006, S. 205, 208). 80 Zwar ist die Lebenserwartung von Frauen deutlich höher als die von Männern. Hochbetagte Männer verfügen indes durchschnittlich über eine bessere Gesundheit als gleichalte Frauen. Vgl. Kap. 5.11.
270
7 So leben die Alten
Kontakthäufigkeit Die oben dargestellte Existenz von Verwandten in mehr oder minder naher Umgebung ist noch kein Garant für regelmäßige Kontakte. Diese sind jedoch durchaus häufig, so dass die Bedeutung von Familiennetzwerken nach wie vor wichtig bleibt. Über tägliche Kontakte verfügen bei den 40- bis 85-jährigen 52,4 Prozent (2002). Hier gibt es allerdings einen Rückgang gegenüber 1996 (59,5 Prozent). Von der nichtdeutschen Bevölkerung pflegen sogar 65,5 Prozent tägliche Kontakte (2002). Mindestens wöchentliche Kontakte hatten in derselben Altersgruppe 38,2 Prozent der deutschen Bevölkerung. Von den 70 bis 85jährigen hatten 42,2 Prozent tägliche Kontakte mit dem eigenen Kind; mindestens wöchentlich waren es 46 Prozent. Auch hier ist jedoch die höhere Intergenerationensolidarität der nichtdeutschen Bevölkerung auffällig. (vgl. Tabelle 40; Fünfter Altenbericht 2005, S. 304). Tabelle 40:
Kontakthäufigkeit zu dem Kind ab 16 Jahren mit den meisten Kontakten nach Altersgruppen, 1996 und 2002 40-54 55-69 70-85 40-85 1996 2002 2002 1996 2002 2002 1996 2002 2002 1996 2002 2002 D D ND* D D ND D D ND D D ND
Täglich
74,3
72,8
75,4
50,6
41,8
53,6
47,7
42,2
52,8
59,5
52,4
65,5
20,2
16,7
37,4
48,3
33,1
40,5
46,0
36,1
30,9
38,2
24,3
5,5
7,5
11,2
8,8
13,2
10,8
11,4
11,1
8,8
8,3
9,9
0,7
1,5
0,4
0,8
1,2
--
1,1
0,4
--
0,8
1,1
0,2
1215
694
228
1539
913
151
1144
873
36
Mind. wöchent- 19,5 lich Weniger 5,4 häufig Nie Anzahl
3898 2480
415
Quelle: Fünfter Altenbericht 2005, S. 304 Anm. D = deutsch; ND = Nichtdeutsch
Kinder haben für soziale Kontakte – noch vor den (Ehe-) Partnern herausragende Bedeutung. Freunde dagegen verlieren mit steigendem Alter an Stellenwert. Während von den 40-54jährigen jeder Zweite mindestens einen Freund als wichtige Bezugsperson nennt, sind dies bei den 70- bis 85jährigen nur noch 28 Prozent. Frauen nennen Freunde übrigens häufiger, was mit ihrer größeren Singularisierung zu tun haben dürfte (Alters-Survey 2000, S. 48).
271
7 So leben die Alten
Auf der anderen Seite muss gesehen werden, dass mit zunehmendem Alter – im Regelfall aber erst in der Phase der Hochaltrigkeit – die Kontakthäufigkeit abnimmt. Disengagement (vgl. Kap.5.7) ist also eine Begleiterscheinung des sehr hohen Alters. Bei Frauen ist diese Tendenz stärker ausgeprägt. Außerfamiliale Solidarität Intergenerationensolidarität ist nicht auf das Vorhandensein familialer Netzwerke angewiesen. Unterstützungsleistungen außerhalb der Familien nehmen sogar zu. So steigt der Anteil derer, die nichtverwandte Bedürftige pflegen, mit dem Alter an: 22 Prozent der 55-69jährigen, aber 28 Prozent der 70-80jährigen betreuen eine Person, mit der sie nicht verwandt sind (Alters-Survey 2000, S. 57). Vielfältige Unterstützungsformen Die Mehrheit der Alten erfährt also gegenwärtig Unterstützungsleistungen durch die Familie, Freunde und Nachbarschaft. Allerdings nehmen diese mit zunehmendem Alter ab (vgl. Tabelle 41), weil die unterstützungsbedürftigen Angehörigen, Freunde oder Nachbarn selber alt werden oder sterben. Solidarität hat folglich nach wie vor einen hohen Stellenwert. Eine „Entsolidarisierung“ oder gar ein „Krieg der Generationen“ ist nicht nachweisbar. Nach den Umfrageergebnissen des Alters-Survey erfahren derzeit lediglich zehn Prozent der 40 bis 85jährigen keinerlei Unterstützung (Alters-Survey 2000, S. 49ff). Tabelle 41:
40-54 Jahre 55-69 Jahre 70-85 Jahre Gesamt
Erhaltene informelle Unterstützung in den vergangenen 12 Monaten, in Prozent Kognitive Unterstützung
Emotionale Unterstützung
Instrumentelle Unterstützung
Finanzielle Unterstützung
1996
2002
1996
2002
1996
2002
1996
2002
81,5
80,0
73,3
73,8
29,8
22,7
12,7
11,6
74,4
74,2
66,4
62,4
26,4
20,7
5,4
5,5
71,1
71,1
65,6
63,1
41,3
36,3
3,4
2,7
77,1
76,0
69,4
67,4
30,6
25,0
8,4
7,5
Quelle: Fünfter Altenbericht 2005, S. 306
272
7 So leben die Alten
7.8 „Alten-Heimat“ Kirche?81 Zu den traditionellen kulturtragenden Institutionen der westlichen Zivilisation gehören die christlichen Kirchen. Mit dem Beginn der Moderne, der Rationalisierung der Lebensführung und der Verwissenschaftlichung (vgl. Kap. 3.4.2) ist es zum Prozess der Säkularisierung82 gekommen, einer voranschreitenden „Entkirchlichung“ der Gesellschaft. Mit dem „Rückzug“ der „Volkskirchen“83 ist neben dem Mitgliederschwund ein Verlust der Deutungshoheit in Sinnfragen, ein Schwinden der Autorität für die Begründung und Vermittlung von Werten, sowie eine Erosion der durch die christlichen Kirchen getragenen Institutionen – vor allem Ehe und Familie – verbunden. Vor allem seit den 1990er Jahren ist es in Deutschland zu einem starken Rückgang der Mitgliederzahlen beider Volkskirchen84 – ausgelöst vor allem durch eine „Austrittswelle“ – gekommen. Zwischen 1972 und 2002 hat die evangelische Kirche 5,2 Mio. Mitglieder allein durch Austritte verloren. In der DDR war Kirchenmitgliedschaft in der Folge politischer Restriktionen, massiver Benachteiligungen (z. B. beim Besuch höherer Schulen oder Berufslaufbahnen) bereits seit den 1970er Jahren Angelegenheit einer Minderheit geworden. Hoffnungen auf Zuwächse der Mitgliedschaften nach der politischen Wende haben sich nicht erfüllt. In der Gegenwart reduzieren sich die Anteile der Christen an der Bevölkerung weiter durch eine wachsende Migrantenpopulation mit muslimischem Bekenntnis sowie die hohen Todesraten einer voranschreitenden Überalterung des Mitgliederbestands. Während die Austrittszahlen inzwischen auf einem niedrigeren Level verharren, geht die Zahl der Taufen und kirchlichen Eheschließungen kontinuierlich zurück. Der Rückzug der beiden Volkskirchen in Zahlen85: 2003 gehörten noch 30,8 Prozent der Bevölkerung in Deutschland der als Evangelischer Kirche in Deutschland (EKD) organisierten Protestantischen Konfession
81 Die Überschrift spielt an auf den Titel der dritten EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft EKD 1997) mit dem Titel: „Fremde Heimat Kirche“ 82 In den letzten Jahren ist es weltweit zu einer religiös-politischen Gegenbewegung gekommen, die durch den Islam getragen wird. Durch den wachsenden Anteil von Muslimen in Deutschland, sind diese Wirkungen auch hier zunehmend spürbar. 83 Neben den Volkskirchen (das sind in Deutschland die Römisch-katholische und die Evangelische Kirche in Deutschland, EKD) gibt es zahlreiche kleinere protestantische Freikirchen und Sekten sowie weitere katholische Kirchen, die von Rom unabhängig sind. 84 Der Begriff Volkskirche stand dafür, dass quasi die gesamte Bevölkerung Mitglied der katholischen oder der evangelischen Kirche war, und die Kirchen – trotz rechtlicher Trennung von Kirche und Staat – Legitimation für die Einmischung in politische und gesellschaftliche Fragen beanspruchten konnten. 85 Zahlen sofern nicht anders vermerkt: Statistisches Bundesamt (2005, S. 63 f und 1995, S. 63).
7 So leben die Alten
273
an (1987: 41 Prozent86). Der Anteil der Mitglieder der Römisch-katholischen Kirche lag 2003 bei 31,6 Prozent (1987: 42,9 Prozent87). Damit waren 2003 62,4 Prozent der Bevölkerung Mitglied einer der beiden „Volkskirchen“. 1987 waren es noch 83,9 Prozent gewesen. Neben der steigenden Zahl „Konfessionsloser“ ist der Anteil der muslimischen Bevölkerung88 gewachsen. Der Islam ist inzwischen – immer noch deutlich nach den beiden „Volkskirchen“ – die größte Glaubensgemeinschaft in Deutschland. 2006 lebten etwa 3,3 Mio. (= vier Prozent der Bevölkerung) Muslime in Deutschland89. Kirchenverbundenheit am Beispiel der Mitglieder der Evangelischen Kirche Die Über-65-Jährigen stellen gegenwärtig eine anteilsmäßig wachsende Altersgruppe in beiden „Volkskirchen“ dar. Alte sind aus einer Reihe von Gründen90 eine wichtige Klientel beider christlicher Kirchen. Dies bestätigt die „Verbundenheit“ mit der Kirche. Von den evangelischen Kirchenmitgliedern91 in Westdeutschland fühlten sich 2002 60 Prozent der über 65-jährigen mit ihrer Kirche „sehr oder ziemlich verbunden“. Bei den 50- bis 64-jährigen waren es 45 Prozent, bei den 35- bis 49-jährigen nur 29 Prozent. In den jüngeren Altersgruppen sinkt das Verbundenheitsgefühl weiter. Im Vergleich zu früheren Erhebungen ging bei fast allen Altersgruppen – Ausnahme sind die 25- bis 34-jährigen – die Verbundenheit zurück. Allerdings sinkt „Kirchenverbundenheit“ auch bei den Senioren. Hier liegt der Rückgang gegenüber 1992 bei sieben Prozent (EKD 2006, S. 57). Ebenso eindeutig ist das Bekennen zentraler Glaubensinhalte ein Anliegen der Alten: 63 Prozent der über 60-jährigen in Deutschland bekannten sich 2002 dazu, „dass es einen Gott gibt, der sich in Jesus Christus zu erkennen gegeben hat“. Nur 39 Prozent der 30- bis 59-jährigen machten diese Aussage und lediglich 25 Prozent der 14- bis 29-jährigen (EKD 1997, S. 46). Die Bedeutung des Kirchgangs ist bei der Gruppe der über 70-jährigen am größten. 69 Prozent dieser Altersgruppe in den alten Ländern halten den Besuch des Gottesdienstes für eine Notwendigkeit. Bei den 50- bis 59-jährigen sind es 49 Prozent) (EKD 2006, S. 86). Entsprechend fällt die Beteiligung am kirchlichen Leben aus. Mit 42 Prozent wird 86 Daten für 1987: heutige alte Bundesländer. 87 Daten für 1987: heutige alte Bundesländer. 88 Muslime sind in Deutschland in verschiedenen Einrichtungen – meist Vereinen – organisiert. 89 Unter ihnen etwa 1 Mio. mit deutschem Pass und ca. 15.000 Deutschstämmige (http://www.remid.de/ remid_info_zahlen.htm, 31.5.07). 90 Dazu gehören die Diakonie und das Anbieten von altengerechten Geselligkeits- und Reiseveranstaltungen und Kreisen. 91 Alle nachfolgenden Daten beziehen sich stets auf die Mitglieder der evangelischen Kirche, nicht auf die gesamte Gesellschaft.
274
7 So leben die Alten
von den 60-jährigen und Älteren auch hier der höchste Anteil erreicht (EKD 1997, S. 125). Damit steht die Evangelische Kirche (für die Römisch-katholische Kirche sind ähnliche Ergebnisse zu erwarten) der Gruppe der Alten derzeit näher als jeder anderen Altersgruppe. Das dürfte Auswirkungen auf deren Zeitgestaltung haben, wozu allerdings keine Daten bekannt sind.
7.9 Zeitgestaltung im Alter Alte Menschen verfügen mit dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben über ein deutlich höheres Maß an Freizeit als zuvor. Auch das gehört zu einem „guten Leben im Alter“. Unter Freizeit soll „frei disponible Zeit“ verstanden werden, also jenes Quantum an Stunden, welches frei von natürlichen und gesellschaftlichen Zwängen und Notwendigkeiten ist. Entsprechend sind Zeiten für Schlafen, Einkaufen, Mahlzeiten92, auch notwendige Behördengänge und Arztbesuche keine Freizeit. Verglichen mit anderen Altersgruppen verfügen Rentner über etwa zwei Stunden an zusätzlicher Freizeit93. Männer sind gegenüber Frauen im Vorteil (Burzan 2002, S. 74). Finanzielle Spielräume, eine durchschnittlich bessere Gesundheit und eine die Aktivität von Alten bejahende Gesellschaft, könnten Freiheitsräume bewirken, die in früheren Jahrhunderten und Jahrzehnten aus körperlichen, materiellen und gesellschaftlichen Gründen für die breite Mehrheit der Alten nicht bestanden haben, oder die als „unschicklich“ galten. So könnte eine „Ethik der Geschäftigkeit“94 (Burzan 2002, S. 71) gemeinsam mit dem Jugendkult eine neue Altersrolle bewirken, die Engagement statt Rückzug fordert. Schließlich tragen die gewachsene Bedeutung von Konsum, Erlebnis, Körper und Gesundheit dazu bei, Aktivität statt Rückzug auch im Alter zur Verhaltensnorm zu machen. Nicht zuletzt hat der Individualisierungstrend95 dem Einzelnen eine Fülle neuer Handlungspotentiale eröffnet und von überkommenen Normen und traditionellen Zwängen befreit. Alt sein kann heute auch biographische Brüche und Neuanfänge in der letzten Lebensphase zulassen. Etwas Neues beginnen, lange Jahre brachliegende Begabungen, aufgeschobene Wünsche in Handlungen 92 Für Mahlzeiten, Einkaufen – auch für Schlafen – gilt dieser Ausschluss nur bedingt. Denn bekanntlich kann für alle Zeitverwendungen auch mehr als das notwendige Maß an Zeit aufgewandt werden. 93 Nämlich über 9 Stunden und 40 Min., statt 7 Std. und 44 Min. folgt man Berechnungen von Tokarski (1989 S. 97 f). 94 Der Begriff stammt von David J. Ekerdt (1986, S. 239-244). 95 Unter Individualisierung wird u. a. eine Freisetzung aus traditionellen Zwängen der Lebensführung und des Lebensstils verstanden.
275
7 So leben die Alten
umsetzen, etwa den fehlenden Bildungstitel nachholen, sich auf die Weltreise begeben, es sich und den anderen noch einmal beweisen – das alles ist im Alter möglich geworden. Tabelle 42:
Pläne für die Zukunft, Antworten in Prozent 1983
1997
Zeit sinnvoller gestalten
14
21
Weiter leben wie bisher
70
50
Verein beitreten
9
11
Zeit in Ruhe genießen
45
34
Mehr Zeit mit Kindern und Enkeln verbringen
29
27
Quelle: Opaschowski 1998, S. 76, 135
„Neue Alte“ in der Freizeitgesellschaft? Und die Wirklichkeit? Ist die eine Zeitlang behauptete „neue Freiheit“ in der „Freizeitgesellschaft“96 bei den Senioren angekommen? Sind die „Neuen Alten“ zugleich die „Jungen Alten“ (Opaschowski 1998, S. 9)? Sind Senioren von heute ständig aktiv, sind sie solche, die mit alten Gewohnheiten und Tabus brechen, und sich die Ressourcen einer „späten Freiheit“ (Rosenmayr 1983) selbstbewusst zunutze machen? Obwohl im Alter heute durchaus Neues gewagt wird, vor allem das Maß an Selbstbestimmung über die Zeit hohe Wertschätzung besitzt, ist der Alltag doch weithin von Routinen und Kontinuitäten97 geprägt. Die Hälfte der Alten (To-
96 Die in den 1970er Jahren vorgestellte These von der „Freizeitgesellschaft“ als Zukunftsgesellschaft (Lüdtke 1975; Opaschowski 1977; Prahl 1977) ist früh kritisiert worden, und es scheint fraglich, ob angesichts wieder zunehmender wöchentlicher und Lebensarbeitszeit einerseits und unfreiwilliger erwerbsfreier Zeit andererseits, eine Charakterisierung der modernen Gesellschaft mit diesem Begriff sinnvoll ist. Frühe Kritik übten Habermas (1971, zuerst 1958) und Adorno (1977), in dem sie nachzuweisen suchten, dass die Strukturzwänge der kapitalistischen Warengesellschaft sich auch auf die Freizeit übertragen würden, um damit wirkliche Freiheit verunmöglichten. 97 Eine Bestätigung der Kontinuitätsthese, die besagt, dass Interessen und Verhaltensoptionen weitgehend den lebenslang herausgebildeten Mustern folgen und sich im Alter nicht verändern. Eine andere These ist diejenige, die von Lebenszyklen ausgeht, in denen jeweils neue Orientierungen entstehen würden. Beide Thesen können nur durch Längsschnittstudien bestätigt werden. Diese liegen für Deutschland bisher kaum vor. Einzige war lange die Bonner Längsschnittstudie des Alterns (BSLA), die repräsentative Daten zweier Alterskohorten in den Jahren 1965, 1977 und 1980/81 ermittelte (Lehr 1979, Schmitz-Scherzer 1975, 1977, Thomae 1986, Tokarsky 1989). Seit 2006 liegt eine zweite vor (Tesch-Römer,
276
7 So leben die Alten
karski 1989, S. 224) scheint auch heute eher nichts Neues mehr anzufangen (vgl. Tabelle 42). Wer beispielsweise ein Leben lang einen eher geringen Zugang zu Bildung hatte, wird im Alter Defizite nicht aufholen wollen. Umgekehrt ist häufig ein höherer Bildungsabschluss oder ein geistig anspruchsvolles Berufsleben Bedingung für Bildungsaktivitäten im Alter. Kontinuität ist also hier wie da die Regel. Dabei ist das Interesse an Bildung im Alter durchschnittlich noch immer eher gering (Tews 1993, S. 235). Allerdings sind bezüglich der Wünsche für die Zukunftsgestaltung Veränderungen sichtbar, wie der Vergleich der Daten von 1983 und 1997 (Tabelle 42) zeigt. Die größere Beweglichkeit im Alter und das (mäßig) gewachsene Interesse an Neuem, dürften daran liegen, dass inzwischen mehr Menschen mit höherer Bildungsbeteiligung ins Alter wachsen (vgl. Kap. 7.10). Dennoch: „Kurse besuchen“, „etwas Neues lernen“, gehörte auch 1997 nur für sieben Prozent zu den „häufig ausgeübten Beschäftigungen“ (Opaschowski 1998, S. 136) Tabelle 43:
Was Senioren häufiger tun möchten (Angaben in Prozent), 1997
Reisen
52
Tagesausflüge
30
Konzertbesuche
23
Restaurantbesuche
21
Mit Enkelkindern beschäftigen
21
Einkaufsbummel
20
Quelle: Opaschowski 1998, S. 65
Alte heute: zwischen Aktivität, Ruhebedürfnis und „weiter machen wie bisher“ Der (hyper-)aktive Alte, jener nur „formelle“ Ruheständler, der im Zeitraffertempo eilig nachzuholen sucht, was zuvor versäumt schien, ist Legende. Der Alltag von Alten ist vor allem und noch immer durch Gleichmäßigkeiten, Routinen und dem Festhalten an Bewährtem geprägt. Alltag im Alter ist vor allem „Ruhestandsalltag“. Nur 10 Prozent der Senioren schätzen ihren Ruhestand als „aktiven Ruhestand“ ein, für 26 Prozent ist er „Lebensabend“ (vgl. Tabelle 46). „Der Rentneralltag macht den Eindruck eines geregelten, ritualisierten und unspektakulären Lebens“ (Opaschowski 1998, S. 39). Routinen ersetzten – durchaus im positiven Sinn – die zuvor fremd verordneten Zeitregime (Burzan 2002, S. 73), ohne Engstler, Wurm). Hier wurde im Jahre 2002 noch einmal das Panel (d.h. dieselben Personen) von 1996 befragt.
277
7 So leben die Alten
zugleich die im vorherigen Berufsalltag offenbar überdrüssig gewordene Stressbelastung fortzuschreiben. Hier fallen Unterschiede zu früher auf. Allem Anschein nach wird Berufsalltag mit zunehmendem Alter von den meisten heute als immer belastender empfunden, so dass der Ruhestand als Befreiung erlebt wird. Eine Fortsetzung oder Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit können sich folglich Ende der 1990er Jahre nur wenige vorstellen: 69 Prozent der Rentner waren 1997 daran nicht interessiert. Ähnlich viele (68 Prozent) haben kein Interesse daran, Kontakte zur ehemaligen Arbeitswelt, etwa durch Besuche der früheren Kollegen am Arbeitsort, aufzufrischen (Opaschowski 1998, S. 68). Tabelle 44:
Was Alte in ihrer Freizeit tun: Ausgeübte Aktivitäten (Befragung von 500 Ruheständlern im Oktober 1997 in Deutschland. Frage: „Was tun Sie in Ihrer Freizeit so alles?“. Täglich häufig ausgeübte Beschäftigungen. Antworten in Prozent)
Fernsehen
82
Zeitung lesen
89
Ausgiebig frühstücken
71
Sich der Familie widmen
67
Radio, Musik hören
65
Spazierengehen
64
Zeitschriften lesen
56
Das tun, wozu man gerade Lust hat
54
Im Haus arbeiten
53
Mit Nachbarn plaudern
50
Ausgiebige Mittagsruhe halten
49
Mit Enkelkindern beschäftigen
44
Ausflüge in nähere Umgebung machen
44
Besorgungen machen
44
Handarbeiten basteln
42
Ein Buch lesen
41
Faulenzen, nichts tun
39
Im Garten arbeiten
38
Einem speziellen Hobby nachgehen
37
278
7 So leben die Alten
Freunde, Verwandte besuchen
32
Kreuzworträtsel lösen
30
Sich ausgiebig pflegen
30
Sich fit halten, Sport treiben
29
Einkaufs-, Schaufensterbummel
27
Reparaturen ausführen
26
Cafe, Restaurantbesuche
25
Ausgehen
25
Reisen
25
Tagesausflüge, Busfahrten
20
Skatabend, Stammtisch
19
Spiele spielen
18
Ehrenamtliche Aufgaben übernehmen
16
Kaffeekränzchen
15
Arztbesuche
15
Ausstellungen, Vorträge besuchen
14
Hund ausführen
14
Theater, Konzerte besuchen
12
Kurse besuchen, etwas Neues lernen
7
Quelle: Opaschowski 1998, S. 136
Für vieles nehmen Alter sich gerne mehr Zeit. Die Rede vom „Rentnerstress“, so meint jedenfalls der Freizeitforscher Opaschowksi (1994), ist „Legende“. Gewohnheiten würden „gestreckt“. Der Zugewinn an freier Zeit schafft „Zeitluxus“ (Opaschowski 1998, S. 73). So sind die Tage gefüllt, ohne dass ein Gefühl der Leere entsteht. Eine Erscheinung, die sich mit fortschreitendem Alter, wenn Bewegungsabläufe sich verlangsamen, der Körper mehr Aufmerksamkeit fordert und ärztlich verordneter Hilfsmittel bedarf, noch verstärkt. So wird ein offenbar tiefes Bedürfnis der Alten geweckt, solche nach Ruhe und Entspannung. Die „Seele baumeln lassen“ und gleichwohl den Eindruck erwecken, sinnvoll beschäftigt zu sein, ist der Wunsch der Mehrheit. Für alles nimmt der alte Mensch sich das, woran er reicher geworden ist: Zeit. Mehr Zeit für Schlafen – obwohl zeitig aufgestanden wird – für den Einkauf, für das Spazierengehen, für das Zei-
7 So leben die Alten
279
tungslesen, für die Familie, für den Haushalt, für das Hobby, für das, worauf man gerade Lust hat. Liebgewonnenes kann in größerer Ruhe genossen werden. Opaschowski hat Befragungsergebnisse von 1983 und 1997 verglichen und festgestellt, dass ein Vorgang, der zunächst eher dem Reich des Notwendigen als dem des „Zeitluxus“ zuzuordnen ist – das „vormittägliche Einkaufen“ – sogar wichtiger geworden ist. 43 Prozent der Befragten, statt nur 38 Prozent vierzehn Jahre zuvor, widmen sich dieser Tätigkeit. Es darf angenommen werden, dass „Einkaufen“ dabei für die meisten mehr bedeutet als bloße Versorgung. Auch wenn die heute länger und „fußgängerfeindlicher“ gewordenen Wege zu den Einkaufsplätzen gerade für ältere Menschen mehr Zeit fordern dürften, ist „Einkaufen“ auch Aktivität. Wege zurücklegen, Menschen begegnen, Angebote prüfen, zu kalkulieren und zu rechnen, sich auch von einem „Schnäppchen“ „verführen“ lassen – alles das dürfte als sinnvolle Aktivität empfunden werden und ist Verbleiben in der Praxis des Lebens. Eine deutlich passive Haltung dagegen – offenbar ein Trend – verraten die Fernsehgewohnheiten. Für 29 Prozent beginnt inzwischen bereits nachmittags die tägliche „Fernsehsaison“ (1983: 12 Prozent). Das abendliche Fernsehen hat für 63 Prozent der Senioren seine beherrschende Stellung behalten. Jenseits der Routinen ist Alten „Sinnvolles“ wichtig. Dabei wird auch das ein oder andere Neue begonnen. Wichtig ist, eine „Aufgabe“ zu haben. Gerade vom Gefühl „gebraucht zu werden“, hängen Zufriedenheit und Selbstwertgefühl in starkem Maße ab. 68 Prozent der Befragten hatten 1997 diesen Wunsch, und 61 Prozent erschien er Wirklichkeit geworden (Opaschowski 1998, S. 72). Der Umgang mit der Familie, mit Kindern und Enkeln wird, wie schon erwähnt, als gelungene und sinnerfüllte Beschäftigung angesehen. Wie wichtig die Frage nach der „sinnvollen Gestaltung“ von Freizeit ist, kann daran gemessen werden, dass schon Jahre vor dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben die 50- bis 60-jährigen damit beschäftigt sind. 83 Prozent nehmen sich „sinnvolle Beschäftigung“ für ihre Zeit als Ruheständler vor (Opaschowski 1998, S. 35). In der Lebensphase Alter angekommen, hat die „Sinnfrage“ gegenüber früher an Stellenwert noch gewonnen: 1997 wollten 21 Prozent ihre „Freizeit sinnvoll gestalten“. 1983 hatten sich nur 14 Prozent so geäußert. Andere bekanntlich hoch gehaltene Werte, wie „Gesundheit“ (1983: 57 Prozent; 1997: 39 Prozent) oder einfach „Zeit in Ruhe genießen (1983; 45 Prozent; 1997; 34 Prozent) haben Ende der 1990er Jahre an Bedeutung eingebüßt (Opaschowski 1998, S. 135). Hinter dieser Veränderung dürfte die deutlich gewachsene Zufriedenheit alter Menschen in der Folge von materieller Sicherheit, besserer Gesundheit und veränderter Altersrolle stehen. Zu der Aussage „ich fühle mich wohl, es fehlt nichts“, konnten sich 1997 42 Pro-
280
7 So leben die Alten
zent (1983: 18 Prozent) finden (Opaschowski 1998, S. 130). Andererseits zählt noch immer für ein Drittel der Befragten das Geld (36 Prozent), dicht gefolgt von der Zeit (35 Prozent), zu den Gründen, die eine Realisierung von Freizeitaktivitäten verhindern (Opaschowski 1998, S. 43; vgl. Tabelle 45). Tabelle 45:
Gründe für das Nichtausüben von Aktivitäten, 1997 (Angaben in Prozent)
Bequemlichkeit, mangelnde Initiative
46
Geld
36
Zeit
35
Gesundheit
26
Fehlender Partner
19
Quelle: Opaschowksi 1998, S. 43
Rentnerstress: es gibt ihn doch Und doch: die Rede vom Rentnerstress hat ihre Berechtigung. Rentnerstress stellt sich dort durchaus unfreiwillig ein, wo Alte den gebrechlichen Partner, den Angehörigen oder den Nachbarn versorgen müssen. Dies oft über Jahre und unter sich ständig erschwerenden Bedingungen, weil sowohl der Gesundheitszustand des Pflegebedürftigen als auch der eigene sich verschlechtern. Oder auch dort, wo regelmäßig Haushalts- und Familienbetreuung für die erwerbstätigen Kinder und Schwiegerkinder geleistet wird, ist leicht Überlastung im Spiel. Insbesondere kleine Familienbetriebe oder Freiberufler dürften auf diese alltägliche und manchmal Stress fördernde Form der Intergenerationenmobilität rechnen. „Freizeitrenner“ Tourismus Alte haben zwar nicht das Reisen erfunden, und es gibt einen breiten gesellschaftlichen Trend zu mobiler Freizeitgestaltung. Und doch: eine wichtige und im Alter in diesem Umfang neue Qualität der Freizeitbeschäftigung stellt der Tourismus dar (Bundesministerium 2001, S. 155 f). Ausschließlich Alte können sich – allein schon aus zeitlichen Gründen – derart ausgedehnte Reisen leisten. Aber auch finanziell können Alte sich das Reisen erlauben. (Mehr) Reisen steht für Senioren ganz oben auf der Prioritätenliste. 52 Prozent wollen das häufiger tun (Opaschowski 1998, S. 65, vgl. Tabelle 38). Waren früher – vor Beginn der Wohlstandsgesellschaft – Kuren oder Bildungsreisen ein Privileg der Minderheiten aus Adel, Besitz- und Bildungsbürgertum, so sind die Alten längst – jenseits von
7 So leben die Alten
281
Standes-, Klassen- und Schichtgrenzen – Akteure des Massentourismus geworden. Bis zu 4,1 Prozent ihres Konsumbudgets gaben Seniorenhaushalte im ersten Halbjahr 2003 für Pauschalreisen aus. Im Durchschnitt aller Haushalte waren es nur 2,7 Prozent98. Das bedeutet nicht, dass soziale Ungleichheiten nicht auch im Altentourismus sicht- und spürbar sind. Touristikanbieter sorgen durch abgestimmte Angebote für ihre nach Bildung, Herkunft und Einkommen differenzierten Klientele dafür, dass die „feinen Unterschiede“99 auch im Alter und auf Reisen erkennbar bleiben. Die Touristikanbieter haben früh die besonderen Bedürfnisse dieser Kundengruppe entdeckt. Dazu gehört eine größere Beliebtheit von Pauschalreisen, deren inklusive Organisation es erspart, vor Ort unter den Bedingen einer fremden Sprache und Kultur eigene aufwändige Aktivitäten entfalten zu müssen. Weiter ist dem größeren Verlangen nach Kommunikation, Kontakten und Animation Rechnung zu tragen. Wichtig ist schließlich die Sicherstellung ärztlicher Versorgung. Für eine betagtere Kundschaft ist auf die alten- und behindertengerechte Gestaltung von Gebäuden zu achten. Auf ältere Kunden eingestellte Häuser bieten Gruppenreisen und gesellige Abende an. Eine Reihe von deutschen Kurorten oder in anderen Ländern ganze Regionen – wie etwa Florida in den USA – haben beizeiten ihre Vorzüge für das Altenklientel kultiviert. Die Verbindung von Gesundheits-, Fitness- und Wellnessangeboten mit dem traditionsreichen Charme alter Heilbäder sowie günstigen klimatischen und topographischen Bedingungen, wird – geschickt organisiert – nicht nur Alten gut tun. Sie wird sich auch als Garant wirtschaftlichen Erfolgs erweisen.
98 Ergebnisse der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS), zit. nach http://www.50plusmarkt. com/seniorenmarketing/liste_doss_cat.ph (30.3.07). Die Quelle enthält keinen Hinweis auf das Alter der Befragten, sondern spricht von „Seniorenhaushalten“. 99 Den Begriff hat der französische Soziologe Pierre Bourdieu Mitte der 1960er Jahre geprägt, um zu verdeutlichen, dass trotz „offener“ von Standes- und Klassenunterschieden scheinbar nicht geprägter moderner Gesellschaft, die Unterschiede im Verhalten, Geschmack, dem Lebensstil klassenspezifisch erhalten geblieben sind und als Unterscheidungskriterium („Distinktionsmittel“) benutzt werden (Bourdieu 1998, zuerst deutsch: 1982)
282
Tabelle 46:
7 So leben die Alten
Wie Alte die Lebensphase Alter einschätzen, 1997 (Antworten in Prozent)
Lebensabend, -abschluss
26
Wohlverdienter Ruhestand
14
Harmonische Lebensphase
14
Aktiver Ruhestand
10
Die beste Lebensphase
9
Quelle: Opaschowski 1998
7.10 Zeitgestaltung in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Bedingungen Soziale und biographische Überformung persönlicher Entscheidungspräferenzen Praktiken der Zeitgestaltung, die Präferierung von Handlungszielen und Lebensstilen sind immer mitgeformt von den gesellschaftlichen Bedingungen: der wirtschaftlichen Lage, den sozialen Normen, der Zugehörigkeit zu Gruppen, Schichten, Klassen oder sozialen Milieus, einer Generation100, dem „Zeitgeist“. Die Persönlichkeit des Individuums ist bei aller Einmaligkeit deshalb immer zugleich auch Spiegelbild jener gesellschaftlichen Verhältnisse, in der Menschen leben. Spiegelbild in dem Sinne, als diese Bedingungen und Umstände weniger als Zwang oder Hinzunehmendes empfunden werden, sondern – zumeist unbewusst – Teil eigenen Wissens, Deutens und Wertens geworden sind. Individuen sind immer zugleich soziale Akteure, „gesellschaftliche Wesen“, was sie durch Erziehung und ein Leben lang währende Sozialisation101 geworden sind. Soziale Akteure sind keine Marionetten oder leicht manipulierbare charakterlose Agenten. Und die Zugehörigkeit zu einer Schicht oder Generation bringt auch keine homogenen Wesen hervor. Aber Individuen sind geprägt – nicht determiniert – durch Gesellschaft.
100 Generationenzugehörigkeit (vgl. Kap. 5.9 und 5.10) schafft gemeinsame – oft ein Leben lang prägende – Erlebenshorizonte. Man denke an Kriege, wirtschaftliche Krisen, aber auch „kollektiv gefeierte Ereignisse“ wie die deutsche Fußballweltmeisterschaft von 1954. 101 Sozialisation meint den Prozess des „Hineinwachsens“ in die Gesellschaft; das „Kennenlernen“ von Werten und die teilweise Identifikation damit, meint das Lernen von Normen und sozialen Rollen. Durch Sozialisation entsteht das sozial handlungsfähige und selbstbewusste Individuum. Der Begriff geht vom Menschenbild eines „Kulturwesens“ aus. D. h. der Mensch ist „mehr als Natur“, weil er diese systematisch nutzt, verändert und zugleich von ihr abhängig ist.
7 So leben die Alten
283
Der Einfluss von Bildung Neben der sozialen Herkunft aus Klasse, Stand, Schicht oder sozialem Milieu102 sind es weiterhin Bildung, Beruf und Geschlecht, die die Prägung eines Individuums ausmachen. Bildung (dokumentiert durch den Bildungsabschluss in der Form eines Abschlusszeugnisses, Diploms etc.) ist in modernen Gesellschaften eine Art Platzanweiser für die berufliche Position und Voraussetzung für die Integration103 in die Gesellschaft. Bildung hat zugleich die Funktion, Kompetenzen bezüglich der Wahrnehmung der Welt und der Nutzung ihrer Ressourcen zu vermitteln. Ohne Bildung ist die moderne Gesellschaft undenkbar. Ohne Bildung bleiben Menschen ausgeschlossen oder in Randgruppen gedrängt. Bildung ist aber nicht nur „Eintrittskarte“ in die Gesellschaft. Bildung ist auch Voraussetzung für Weltoffenheit und Interessiertheit von Individuen. Sie wird ein ganzes Leben lang die Entscheidungspräferenzen eines Menschen beeinflussen. Die bei den jüngeren Generationen gegenüber älteren viel größer gewordene Teilnahme an so genannter „höherer Bildung“104, dürfte bei zukünftigen Altengenerationen Auswirkungen auch auf die Zeitgestaltung im Alter haben105. Diese positive Einschätzung gilt vor allem für Frauen, die aufgrund der stark gestiegenen Bildungspartizipation seit den 1970er Jahren (vgl. Kap. 7.5.1 Gründe für weibliche Erwerbsminderung) vermutlich auch ihre Chancen auf höhere berufliche Laufbahnen verbessern werden. Die gegenwärtige Altenpopulation ist dagegen noch weitgehend unter den Bedingungen traditioneller Geschlechterungleichheit, d. h. durch das Innehaben gegenüber dem Mann geringer bewerteter sozialer Positionen und geringerer Bildungsbeteiligung aufgewachsen. Frauen haben bis weit in die 1960er Jahre hinein nur deutlich unterrepräsentiert an höherer Bildung teilnehmen können, und sie waren überwiegend in monetär und sozial geringer bewerteten Berufen tätig. Eine geringe Bildungsbeteiligung gilt ebenso für Menschen mit einer Herkunft aus unteren sozialen Schichten oder Migrantengruppen, wobei nachteilige Bedingungen häufig miteinander korrelieren (z.B. soziale Herkunft und Geschlecht). Auch hier mit den gleichen Folgen für Handlungsoptionen und Zeitgestaltung im Alter. 102 Diese Begriffe aus der soziologischen Ungleichheitsforschung dienen der Klassifikation von Großgruppen der Gesellschaft, die sich hinsichtlich der Lebenschancen ihrer „Mitglieder“ unterscheiden von den jeweils anderen. Vgl. einführend Hradil (2007), Thieme (2007). 103 Integration meint die Aufnahme des Individuums in die Gesellschaft, das Teilen gesellschaftlicher Werte, das Einhalten von Normen, die Anerkennung durch die Anderen und die Partizipation an den gesellschaftlichen Ressourcen. 104 In Folge der so genannten „Bildungsexpansion“ in Westdeutschland stieg z.B. der Besuch des Gymnasien von 13 Prozent (1952) auf 33 Prozent (2004) (Geißler 2006, S. 275). 105 Vgl. zur zunehmenden Bedeutung von Bildung für Lebensstile im Alter Tews (1993).
284
7 So leben die Alten
Zeitgestaltung und Geschlecht Während Zusammenhänge zwischen sozialer Herkunft, Bildungsabschluss, ausgeübtem Beruf und Zeitgestaltung im Alter in den letzten Jahren kein Thema der Forschung waren, sind Unterschiede zwischen den Geschlechtern (vgl. Tabelle 43) untersucht worden (Alters-Survey 2000, S. 141f)106. Geschlechtsspezifische Unterschiede fallen z. B. bei der Auswahl von Fernsehsendungen auf. Während die 70- bis 85 Jahre alten Frauen mit einem Anteil von 47,2 Prozent Fernsehshows- und Quizsendungen (ähnlich bei Talkshows) vorziehen. liegt der Anteil bei den Männern nur bei 35,7 Prozent. Dabei bleiben diese Unterschiede auch im Vergleich zu jüngeren Altersgruppen bestehen. Sportsendungen dagegen werden eindeutig (und erwartungsgemäß) von Männern bevorzugt: 62 Prozent der Männer, aber nur 25,2 Prozent der Frauen haben hier ihre Vorliebe. Ähnliche Differenzen gibt es im Konsum von politischen Sendungen, die von 53,4 Prozent der Männer der genannten Altersgruppe aber nur von 35,8 Prozent der Frauen gesehen werden107. Ähnlich sind die Geschlechteranteile beim Leseverhalten verteilt. Die hier dargestellten Unterschiede gehen nicht auf das „biologische Geschlecht“ zurück. Das heißt Frauen sind nicht „von Natur“ aus zu wenig intelligent, um höhere Bildungsabschlüsse zu erwerben oder in berufliche Spitzenpositionen aufzusteigen. Sie sind auch nicht „von Natur“ aus die schwachen „Gefühlswesen“, die ständig des Schutzes von Seiten des „starken Geschlechts“ bedürfen, oder sich „von Natur aus“ nicht für Politik interessieren. Derartige Eigenschaften werden – und das gilt ebenso für das männliche Geschlecht, meist von der Gesellschaft „zugeschrieben“ Ähnlich wie es „Berufsrollen“ gibt, die die Erwartungen der Gesellschaft an den Inhaber einer beruflichen Position umfassen, gibt es „Geschlechterrollen“. Diese variieren im Vergleich zwischen Kulturen, und sie verändern sich im Laufe der Zeit. Womit die Belege geliefert werden, dass es ein „soziales Geschlecht“ (englisch: Gender) gibt, welches vom „biologischen Geschlecht“ (englisch: Sex) zu trennen ist108.
106 Die Daten wurden 1996 erhoben. 107 Die Daten wurden getrennt nach alten und neuen Bundesländern erhoben. Dadurch wird der gesellschaftlich-kulturelle Einfluss auf die Fernsehgewohnheiten sichtbar. Die Ergebnisse weichen z.T. erheblich voneinander ab. So sehen in den neuen Ländern nur 25,5 Prozent der Frauen politische Sendungen, gegenüber 35,8 Prozent in den alten Ländern. Bei den Männern beträgt das Verhältnis 45,5 Prozent (neue Länder) zu 53,4 Prozent (alte Länder); (Alters-Survey 2000, S. 141). 108 Einführend in die Geschlechtersoziologie vgl. Becker-Schmidt/Knapp (2001) und Vogel (2007)
7 So leben die Alten
285
Die gesellschaftliche Konstruktion109 des „sozialen Geschlechts“ („Geschlechterrolle“) führt dazu, dass (alte) Frauen über weniger Bildung verfügen als Männer und weibliche Erwerbstätigkeit – wenn sie überhaupt vorkam110 – mit geringerer Wertschätzung und Entlohnung verbunden ist. Zur Interpretation der Daten: Vorlieben und Abneigungen haben ihre Wurzeln mit wesentlichem Anteil in der unterschiedlichen Sozialisation der Geschlechter und weniger in deren „natürlicher Veranlagung“. Das bestätigen die nachfolgenden Daten (vgl. Tabelle 47). Heimwerker- und Gartenarbeit erweist sich – kaum überraschend – als eine Domäne der Männer. Dagegen sind Hand- und Hausarbeiten „Frauensache“. Beim männlichen Geschlecht handelt es sich offenbar um das geselligere Wesen, bzw. haben es gesellschaftliche Normen dazu gemacht. Männer sind, zumal die der älteren Generation, entsprechend bürgerlicher Rollenerwartung für die Außenwelt jenseits der Familie verantwortlich. Frauen sind Hausfrauen, also für den „Innendienst“ zuständig. Durch Mitgliedschaften in Vereinen, geselligen Gruppen usw. beteiligen sich Männer stärker an den vielfältigen Formen von Gruppenleben. In mindestens einer Gruppe sind 48,2 Prozent der Männer Mitglied, aber nur 39,9 Prozent der Frauen. Das Verhältnis bei ehrenamtlicher Tätigkeit gestaltet sich ähnlich: 7,7 der Männer sind engagiert, aber nur 3,8 Prozent der Frauen. Männer mischen sich stärker ein in politische und gesellschaftliche Aufgaben und nutzen Einflussmöglichkeiten. Die Zufriedenheit über die Freizeitgestaltung weicht wenig voneinander ab: 60,1 Prozent der Männer bewertet sie als gut; 6,8 Prozent als schlecht. Bei den Frauen sind es 57,5 Prozent zu 7,6 Prozent. Das erhärtet die These vom „guten Leben im Alter“.
109 Gemeint ist damit grundsätzlich das oft unbewusste Herstellen von gesellschaftlichen Formen und Bedingungen des Zusammenlebens, die gleichsam als „natürlich“ und unveränderbar erscheinen. Dazu gehört z.B. eine bestimmte Form der Familie. 110 Die bürgerliche Familie, die sich als verbreitetste Form des Zusammenlebens in den letzten ca. 100 Jahren erwies, sah die weibliche (bezahlte) Erwerbstätigkeit nicht vor. Der Mann war in der Rolle des erwerbstätigen Ernährers, die Frau stand in der Rolle der unbezahlten Hausfrau und Mutter.
286
Tabelle 47:
7 So leben die Alten
Geschlechterpräferenzen bei ausgewählten Freizeitgestaltungen der 70 bis 85 Jahre alten Männer und Frauen in Deutschland, 1996 (Angaben in Prozent)
Fernsehgewohnheiten: Bevorzugte Sendungen Selten Shows, Quiz Sport Talk-Shows Politische Magazine Kunst u. Kultur Wohnen, Kochen, Essen Mode, Kosmetik Gesundheit Wissenschaft/Technik Hand-, Bastel- und Heimwerkerarbeiten Täglich Mehrmals i. d. Woche Einmal i. d. Woche Einmal bis dreimal i. Mon. Seltener Nie Hausarbeit Täglich Mehrmals i. d. Woche Einmal i. d. Woche Einmal bis dreimal i. Mon. Seltener Nie Gartenarbeit in den Sommermonaten Täglich Mehrmals i. d. Woche Einmal i. d. Woche Einmal bis dreimal i. Mon. Seltener Nie Sport, Wandern, Fußball, Gymnastik, Schwimmen Täglich Mehrmals i. d. Woche
Männer 12,0 35,7 62,1 26,0 53,4 20,5 20,3 2,0 61,2 21,5
Frauen 13,5 47,2 25,1 33,5 35,8 28,3 48,3 18,0 62,2 4,1
8,8 13,6 8,4 10,0 16,7 42,7
14,7 12,1 6,4 5,3 16,5 44,8
56,8 12,7 4,0 0,8 8,7 17,0
88,1 4,5 1,3 0,6 1,7 3,8
36,7 20,0 5,6 3,5 3,2 31,0
23,9 12,8 5,9 1,8 5,7 49,7
7,1 10,8
5,6 6,2
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7 So leben die Alten
Einmal i. d. Woche Einmal bis dreimal i. Mon. Seltener Nie Kreuzworträtsel, Denksportaufgaben Täglich Mehrmals i. d. Woche Einmal i. d. Woche Einmal bis dreimal i. Mon. Seltener Nie Konzert-, Theater-, Museumsbesuch Täglich bis einmal im Monat Seltener Nie Besuch von Freunden, Bekannten Täglich bis einmal im Monat Seltener Nie
8,5 4,6 8,3 60,7
9,2 3,2 5,4 70,4
23,3 10,9 8,4 5,9 8,4 43,0
24,1 12,7 8,3 3,2 10,7 41,0
10,6 27,4 61,9
13,8 28,9 57,3
58,6 28,3 13,1
64,6 21,9 13,5
Quelle: Alters-Survey 2000, eigene Datenauswahl
(Weiter-)Bildung im Alter? Regelmäßige oder über längere Zeiträume kontinuierlich verlaufende Weiterbildung im Alter ist den Daten nicht zu entnehmen. Der vor Jahren häufiger thematisierte angebliche „Bildungshunger“ nach dem Ende der Erwerbstätigkeit konnte offenbar rasch gesättigt werden. Hatte es ihn überhaupt gegeben? Schon diesseits des Rentenalters sinkt die Beteiligung an der Weiterbildung, was allerdings für den Bereich der beruflichen Weiterbildung nicht verwunderlich ist (vgl. Tabelle 48). Aber auch unabhängig vom Alter ist das Interesse an allgemeiner Weiterbildung nach einem Höhepunkt der Entwicklung Anfang des neuen Jahrtausends wieder gesunken111. Das Bildungsinteresse in den neuen Bundesländern ist noch geringer als in den alten (Fünfter Altenbericht 2005, S. 135, S. 150). Die Ergebnisse erstaunen anlässlich der sich beständig vorbereitenden Erkenntnis über die Not-
111 Die Beteiligung der gesamten Bevölkerung an Weiterbildung stieg von 18 Prozent (1979) relativ kontinuierlich auf 31 Prozent (1997), um danach auf 26 Prozent (2000 und 2003) zu sinken (Fünfter Altenbericht 2005, S. 135).
288
7 So leben die Alten
wendigkeit eines lebenslangen Wissenszuwachses in der heutigen so genannten „Wissensgesellschaft“112. Tabelle 48:
Teilnahme an Weiterbildung nach Altersgruppen 1979 bis 2003 im früheren Bundesgebiet (Teilnahmequoten in Prozent) Altersgruppe
1979 1982 1985 1988 1991 1994 1997 2000 2003
19 - 34 Jahre
34
38
32
43
44
49
53
47
46
35 - 49 Jahre
21
31
25
37
40
47
54
49
46
50 - 64 Jahre
11
14
14
20
23
28
36
31
31
Allgemeine 19 - 34 Jahre Weiter35 - 49 Jahre bildung 50 - 64 Jahre
23
28
23
27
25
30
35
29
29
16
21
17
24
24
29
33
29
27
9
11
12
14
15
19
26
21
20
19 - 34 Jahre
16
15
14
23
25
27
33
31
29
35 - 49 Jahre
9
15
14
20
24
29
36
36
31
50 - 64 Jahre
4
4
6
8
11
14
20
18
17
Weiterbildung insgesamt
Berufliche Weiterbildung
Quelle: Fünfter Altenbericht 2005, S. 135
Bildung als Voraussetzung für Weiterbildung im Alter Beteiligung an Weiterbildung im Alter setzt die Bereitschaft zum heute gern geforderten „lebenslangem Lernen“ voraus. Gemeinhin gilt, nur wer in früheren Lebensphasen ein aufgeschlossenes Verhältnis zu Bildung gefunden hat, wird auch im Alter das Interesse daran zeigen. Im Alterssurvey von 1996 (Kohli et al 2000) hatten von den 258 Teilnehmern an Bildungsangeboten 46,2 Prozent einen Volks- oder Hauptschulabschluss, 27,8 Prozent einen Realschulabschluss und 18,8 Prozent Abitur, Hochschulreife oder EOS113. Unter den Nicht-Teilnehmern hatten dagegen 75,5 Prozent einen Volks- oder Hauptschulabschluss, 11,9 Prozent einen Realschulabschluss und nur 5,6 Prozent Abitur, Hochschulreife oder EOS.
112 Von der Gegenwart und Zukunft der Wissensgesellschaft ist die Rede, weil Wissen zunehmend die Bedeutung der traditionellen Produktionsfaktoren – Boden, Arbeit und Kapital, vor allem aber auch den des materiellen Werts – verdrängt. Man nehme als Beispiel einen Computer, dessen materieller Wert und Arbeitskosten im Vergleich zum investierten Wissen – als wesentliche Voraussetzung ihn herzustellen – gering sind. 113 EOS = dem Abitur vergleichbar Schulabschluss der Einheitsoberschule des DDR-Bildungssystems.
7 So leben die Alten
289
Bei diesen Zahlen ist zu erinnern, dass höhere Bildungsabschlüsse umso weniger verbreitet sind, je älter die Jahrgänge sind. Ähnliche Zusammenhänge gibt es zwischen Einkommenshöhe und Berufsausbildung. Je höher also Schulabschluss und Status der Berufsausbildung, desto größer das Bildungsinteresse im Alter (Fünfter Altenbericht 2005, S. 147 f). Vor dem Hintergrund dieser Daten, die eine (aus heutiger Sicht) relativ geringe Beteiligung an höherer formaler Bildung zeigen, verwundert nicht das weiterhin geringe Interesse von Senioren an (Weiter-) Bildung. Das Bildungsinteresse sinkt mit dem Alter (vgl. Tabelle 48). Von den 70- bis 85-jährigen besuchten 2002 nur 13 Prozent wenigstens einmal im Jahr einen Kurs oder Vortrag – von den 40- bis 54-jährigen waren es mehr als doppelt so viele (Künemund 2006, S. 312).
7.11 Bürgerschaftliches Engagement, Ehrenamt und politische Partizipation Auf der Suche nach sinnvoller und verantwortungsvoller Betätigung, die auch soziale Anerkennung einbringt, kommt dem Ehrenamt wichtige Bedeutung zu. In der Gegenwartsgesellschaft, in der scheinbar nur eigener Nutzen zählt, ist es zeitweise „tot geglaubt“ oder geredet worden. Derzeit gewinnt es wieder an Beliebtheit. Das gilt auch für Alte (Bundesministerium 2001, S. 37f; Heinze/Olk 2001). Im Gegensatz zu den Jüngeren bevorzugen sie zumeist das „klassische Ehrenamt“, nämlich das dauerhafte Engagement im Verein, Parteien, Gewerkschaften, Verbänden, in der Kirche oder den Wohlfahrtsorganisationen. Seit Mitte der 1980er Jahre ist der Anteil in der Gruppe der über 60-jährigen mit „bürgerschaftlichem Engagement“ gestiegen. Im höheren Lebensalter – jenseits von 75 Jahren – geht diese Betätigung allerdings deutlich zurück, spielt aber immer noch eine nennenswerte Rolle114. Das entspricht der allgemein beobachteten Entwicklung. Etwa ein Drittel der Bevölkerung Deutschlands bekleidet dauerhaft ein oder mehrere Ehrenämter, ein weiteres Drittel tut es sporadisch115 . Wichtige Betätigungsfelder sind – unabhängig von der Altersgruppe – Ökologie, Kultur, Schule, Kindergarten, Gesundheit, Nachbarschaftspolitik. Alte profitieren dabei von ihrem reichen 114 Zwischen 1999 und 2004 stieg das ehrenamtliche Engagement bei den 55- bis 64-jährigen und den bis 74-jährigen um fünf Prozentpunkte auf 40 Prozent (bis 64-jährige) bzw. 32 Prozent (bis 74-jährige) an. Von den 75-jährigen und Älteren sind noch 19 Prozent engagiert (Bundesregierung, Freiwilligensurvey, zitiert nach Bundesregierung Fünfter Altenbericht 2005, S. 354). 115 Vgl. Bericht der Bundesregierung; Fünfter Altenbericht 2005, S. 341ff. Vgl. auch EnqueteKommission „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“ 2002, S. 122 und Bundesregierung „Freiwilligensurvey“ 1996 und 2002
290
7 So leben die Alten
Erfahrungswissen und Kontakten oder auch früher erworbenen handwerklichen Fertigkeiten. Dies, kombiniert mit der Ressource Zeit, lässt die Allgemeinheit zum Nutznießer werden. Alte für Alte Ein wichtiger Bereich ehrenamtlichen Engagements der Alten gilt der Beteiligung am Aufrechterhalten der gesellschaftlichen Integration der Senioren. Es sind vorwiegend die jungen Alten, die sich für Hochbetagte engagieren, z. B. bei der Realisierung kollektiver Selbsthilfeaktivitäten (Bundesregierung 2005, S. 341)116. Bürgeramt statt Bürgerkrieg Die Beteiligung am Ehrenamt setzt ein Zeichen für den Fortbestand der Solidarität innerhalb und zwischen den Generationen (Bundesministerium 2001, S. 33). Das Interesse am Ehrenamt im Alter wird wohl möglich gefördert durch das in den letzten zwanzig Jahren in Deutschland immer stärker praktizierte frühzeitige Ausscheiden aus der Erwerbstätigkeit (vgl. Kap. 7.12). Ob die inzwischen auf den Weg gebrachte Verlängerung der Lebensarbeitszeit sich zum Schaden des Ehrenamts auswirken wird, bleibt abzuwarten. Jedenfalls wird, so lange Alte sich für ihre Mitmenschen engagieren, der häufig beschworene „Krieg der Generationen“117 ein zwar ernst zu nehmender, aber auch die Wirklichkeit verzerrend abbildender Kassandraruf bleiben. Dies auch deshalb, weil über das Ehrenamt grundsätzlich Möglichkeiten zu Einflussnahmen auf das Geschehen in den entsprechenden Organisationen, den Vereinen, Parteien, Kirchen usw. gegeben ist. Ehrenämter bieten folglich neben Statusgewinn und Leisten eines Solidaritätsbeitrags, auch die Möglichkeit zur politischen Partizipation, d. h. zur Mitgestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse.
7.12 Erwerbsarbeit im Alter Trotz des durch die demographische Alterung schon in wenigen Jahren zu erwartenden Arbeitskräftemangels (vgl. Kap. 3.5) und einer über Altersgrenzen hinaus
116 Zu einem für Alte typischen Bereich des Engagements gehört die Hospizbewegung. Von den dort etwa 80.000 Aktiven, sind ein großer Teil ältere Frauen und Männer (Bundesregierung 2005, S. 350) 117 Gronemeyer 1989, 2004. Kassandra verkündete auch zu Jahresbeginn 2007 das „Zweite Deutsche Fernsehen“ mit einer dreiteiligen „Dokumentarfiktion“, Titel: „2030 – Aufstand der Alten“. Der „Demographieschocker“ (Presseurteil) verspricht das, was derzeit, anders als offenbar anderswo, in Deutschland so beliebt ist: Zukunftspessimismus zu verbreiten.
7 So leben die Alten
291
verbreiteten „Ethik der Geschäftigkeit“, ist Erwerbstätigkeit im höheren Lebensalter derzeit noch wenig gefragt. Das gilt für beide Seiten. Die Alten, so scheint es, wollen nicht, und die Arbeitgeber auch nicht. Opaschowski (1998, S. 68) hat 1996 durch Befragung von Ruheständlern festgestellt, dass 69 Prozent der über 65jährigen an Erwerbsarbeit kein Interesse haben. Altersdiskriminierung Den Arbeitgebern gelten Alte in Deutschland als Kostenrisiko. Ausnahme ist der Öffentliche Dienst, wo der Anteil älterer Beschäftigter überdurchschnittlich hoch ist. Höheres Lebensalter ist verbreitet ein „Ausschlussgrund“ oder „Ausschlussmotiv“ aus bezahlter Arbeit. Alte werden heute aufgrund ihres Alters entlassen oder nicht mehr eingestellt. Jeder vierte Arbeitslose war 2005 über 50 Jahre alt (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. 3. 2005). Ältere sind von Entlassungswellen im Zuge von Rationalisierungsmaßnahmen und Betriebsschließungen stets stärker betroffen als Jüngere. Qualifikation, Bewährung am Arbeitsplatz und ein lebenslang erworbenes Wissen, haben so wenig wie die individuelle gesundheitliche Verfassung Einfluss auf Beschäftigungschancen im Alter. Zugleich wird der volkswirtschaftliche Nutzen menschlicher Ressourcen („Humankapital“) gering geschätzt. Vielmehr wird die Beschäftigung Älterer aus Arbeitgebersicht mit Risiken verbunden. Ältere gelten als verbraucht, gesundheitlich angeschlagen, nicht anpassungsbereit und dem Druck hohen Arbeitstempos als nicht gewachsen. Unterschiede resultieren allerdings aus dem unterschiedlich hohen Status von Berufen. Je niedriger dieser ist, desto größer fällt die Geringschätzung aus und steigt die Wahrscheinlichkeit für ein frühes Ausscheiden (Engslter 2006, S. 119). Parallel zum Anstieg der Lebenserwartung und zum Auftreten der „neuen, aktiven Alten“ ist die Beschäftigung älterer Mitarbeiter über mehrere Jahrzehnte zurückgegangen. Ein Paradoxon, wenn bedacht wird, dass im Zeitraum zwischen 1970 und 2000 die Erwerbsquote118 der 55- bis 64-jährigen von 51, 9 Prozent auf 42,9 Prozent gesunken ist. Der Trend ist inzwischen allerdings gebrochen. Vor allem seit 2003 steigt die Erwerbsquote wieder an (vgl. Tabelle 49). Der Rückgang traf ausschließlich männliche Beschäftigte. Ältere Frauen dagegen konnten ihre – in den alten Bundesländern traditionell wesentlich niedriger liegende – Beschäftigungsquote kontinuierlich ausbauen. Im EU-Raum war der Rückgang der Er-
118 Unter Erwerbsquote wird der Anteil der Erwerbstätigen in Bezug zur Gesamtzahl der Personen einer (Alters)gruppe – einschließlich der Arbeitslosen – verstanden.
292
7 So leben die Alten
werbsquote mit 9,2 Prozent sogar noch etwas größer (Fünfter Altenbericht 2005, S. 51, vgl. Tabelle 51119). Tabelle 49:
Erwerbsquote von Männern und Frauen im Alter von 55 bis 64 Jahren, 1991 bis 2004
Quelle: Tesch-Römer, Engstler, Wurm 2006, S. 88
Beginn einer Trendwende auf dem Arbeitsmarkt für Ältere Bei der Betrachtung der erheblichen Unterschiede zwischen den Ländern wird deutlich, dass die so genannte „Entberuflichung“ im Alter keineswegs eine universale und unvermeidliche Erscheinung ist. Vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung nur vordergründig überraschend ist, dass zwischen 2002 und 2004 der Anteil der Beschäftigten im Alter zwischen 60 und 65 Jahren in Deutschland nach langer Zeit insgesamt wieder gestiegen ist und zwar für Männer von 35,1 (2002) auf 38,9 (2004) Prozent; für Frauen von 16,9 auf 20,4 Prozent (Institut der deutschen Wirtschaft 2006, S. 12)120. Ein neuer Trend scheint eingeleitet, wobei sich derzeit auch das Wirtschaftswachstum in Deutschland begünstigend auswirkt. Diese Entwicklung ist gesamtgesellschaftlich wichtig. Einerseits entlasten das Wirtschaftswachstum und die höhere Beschäftigungsquote von Älteren die Rentenkassen. Andererseits werden die Folgen der Demographischen 119 Der EU-Durchschnitt ergibt sich allerdings aus sehr verschiedenen Länderprofilen (vgl. Tabelle 51) 120 Eine Verteilung der Beschäftigten nach Alter und Wirtschaftszweigen findet sich bei Behrend (2001 S. 56 ff).
7 So leben die Alten
293
Alterung – Fehlen von jungen Erwerbstätigen auf dem Arbeitsmarkt – gedämpft (vgl. Kap. 3.4; 3.5). Langfristig ist ein weiterer Anstieg der Beschäftigung Älterer zu erwarten, sofern nicht das Fehlen jüngerer Jahrgänge vollständig durch Migranten ausgeglichen würde – was höchst unwahrscheinlich ist. Für die Altersgruppe der ab 50-jährigen wird bereits ab 2008 mit einem Anwachsen des Beschäftigungsanteils gerechnet. Dieser wird bis 2020 auf 35 Prozent angestiegen sein. Erst danach wird es infolge eines demographischen Ausgleichs der Altersklassen langsam wieder zu einem Rückgang kommen (Clemens 2004, S. 92). Tabelle 50:
Erwerbsquoten in Deutschland und EU in Prozent der Bevölkerung im Alter von 55 bis 64 Jahren, 1970 und 2000
Quelle: Fünfter Altenbericht 2005, S. 51
294
Tabelle 51:
7 So leben die Alten
Erwerbsquoten Älterer in Deutschland, Schweden, Norwegen und der Schweiz Beschäftigungsquoten 2004 in Prozent
Altersgruppe
55-59
60-64
E
A
I
E
A
I
Deutschland
61,3
9,7
29,1
25,3
3,2
71,6
Schweden
78,1
3,4
18,5
57,8
3,8
38,4
Norwegen
74,8
1,0
24,2
54,2
0,5
45,4
Schweiz
77,5
2,3
20,2
50,0
2,1
47,9
Land
Quelle: Fünfter Altenbericht 2005, S. 54
„Je früher desto besser?“ Erwerbstätigkeit im Alter aus Sicht der Erwerbstätigen Der hohe Ablehnungsgrad von Erwerbsarbeit im Alter spiegelt den gesellschaftlichen Wandel der letzten Jahrzehnte wider. Trotz des vorherrschenden Leistungs- und Aktivitätsethos hat die Bedeutung des beruflichen Status nachgelassen. Beruf, Aktivität und Leistung sind heute keine exklusiven Verknüpfungen mehr. Lange vorbei sind die Zeiten, da Ursula Lehr von den frühzeitig aus dem Beruf Entlassenen als einem „Heer missmutiger Greise“ (Bäcker/Naegele 1993, S. 135) sprechen konnte. Mit dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben ist keineswegs mehr ein radikaler Statusverlust – nun zum „alten Eisen“ zu gehören – verbunden. Während die ersten Vorruhestandsregelungen Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre noch für viele zum Gefühl der Ausgrenzung und Nutzlosigkeit beitrugen – begünstigt durch den Eindruck, als Einzelner betroffen zu sein – ist in der Folge einer Neubewertung der Altersrolle auch ein „verändertes Ruhestandsbewusstsein“ entstanden. (Fünfter Altenbericht 2005, S. 85). Wesentliche Voraussetzung dazu ist die durch den Sozialstaat geschaffene soziale und materielle Absicherung. Alte sind, weil materiell durch eigene Vorausleistungen abgesichert, auch ohne Erwerbsarbeit heute durchaus anerkannte Mitglieder der Gesellschaft. Sie gelten nicht als „Almosenempfänger“. Damit haben Notwendigkeit aber auch Reiz der Erwerbstätigkeit im höheren Lebensalter ihren Rang weitgehend verloren. Selbständige und Freiberufler, Politiker in hohen Ämtern, Künstler, Kleriker und zum Teil auch Wissenschaftler bilden da eine Ausnahme. Die viel zitierte Hektik und Überlastung am Arbeitsplatz tut ein Übriges. Die ständig erhöhten Anforderungen, der Zuwachs an Wochenarbeitszeit bei gleichzeitigem Verzicht auf Einkommenssteigerungen sind zur Regel geworden.
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Der rasche Wandel von organisatorischen und technischen Strukturen überfordert das Lernvermögen. Besitzerwechsel von Betrieben, und die damit verbundenen Veränderungen des „Arbeitsklimas“ oder der Identität des Unternehmens tun ein Übriges und sind Bedingungen, die – aus Sicht der Älteren – eine Entwertung und Abwendung von Erwerbsarbeit begünstigen. Schließlich sind da die Bedingungen am Arbeitsplatz, die – je nach Beruf – in hohem Masse unterschiedlich belastend sind121. „Je früher, desto besser“ war folglich – aber wohl vorübergehend – eine verbreitete Auffassung, die sich im zitierten Befragungsergebnis von Opaschowski (s. o.) spiegelt. Doch auch hier deuten sich Wandel und Differenzierung an. Wie eine Studie im Auftrag der Bertelsmann Stiftung, bei der Erwerbstätige zwischen 35 und 55 Jahren befragt wurden (veröffentlicht 2006), zeigt, wird heute ein „flexibles“ Ausscheiden aus dem Berufsleben vorgezogen. Eine starre Rentenregelung dagegen wird mehrheitlich in Deutschland abgelehnt. 61 Prozent der Befragten wünschten sich ein Renteneintrittsalter zwischen 60 und 67 Jahren. Nur 11 Prozent gaben an, am Ende ihrer Laufbahn gar nicht mehr arbeiten zu wollen. 47 Prozent wünschen sich Teilzeit und würden Abschläge bei der Entlohnung und der Rente in Kauf nehmen (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. Juli 2006). In flexiblen Ausgestaltungen des Rückzugs aus dem Arbeitsleben scheint die Zukunft zu liegen. Immerhin aber sinkt der Wunsch nach frühzeitigem Ausstieg aus dem Beruf, was auch an den verringerten Altersbezügen liegen dürfte (vgl. Kap. 4.5.7). Zwischen 2002 und 1996 reduzierte sich unter den 40-jährigen und Älteren der Anteil derer, die mit spätestens 60 Jahren aus dem Erwerbsleben ausscheiden wollen, um 15 Prozent. Allerdings stieg der Anteil derer, die ein späteres Datum nannten, nur geringfügig (Engstler 2006, S. 123 f)122. Sicher dürfen diese Ergebnisse nicht einseitig als ein neu entdeckter „Lustgewinn“ an der Erwerbstätigkeit interpretiert werden. Eine Durchsetzung des Wissens um die Probleme des demographischen Wandels dürfte eine Rolle spielen.
121 Es wird oft beflissentlich übersehen, dass die körperlichen Beanspruchungen eines Bauarbeiters, Mechanikers oder Berufskraftfahrers auch im Zeitalter von „Hightech“ ungleich höher und verschleißender sind, als die eines am Schreibtisch und Computer Tätigen. Ein weiterer Faktor ist der Grad der Identifikation und Selbstbestimmung mit dem bzw. am Arbeitsplatz. Je größer diese sind – andere Faktoren einmal ausgeschlossen – desto geringer dürfte durchschnittlich der Grad der dauerhaft gesundheitlichen Gefährdung sein. 122 Generell muss der Ausstiegswunsch nicht mit der Realität übereinstimmen. Das Alterssurvey von 1996/2002 ermittelte, dass der großen Mehrheit der Befragten dies jedoch gelang (Engstler 2006, S. 129).
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„Je früher desto besser“. – Argumente aus Sicht der Arbeitgeber Der Trend zur Nichtbeschäftigung Älterer wird vor allem begründet mit einem Nachlassen von deren Produktivität (Fünfter Altenbericht 2005, S. 206). Betriebe und Branchen mit einem hohen physisch-psychischen Anforderungsprofil weisen die niedrigsten Raten älterer Beschäftigter auf (Fünfter Altenbericht 2005, S. 85). Neben einem höheren Krankheitsrisiko Älterer – das allerdings nur für Arbeiter und nicht für Angestellte nachweisbar ist123 – sind das im Einzelnen die fehlende Anpassungsbereitschaft an sich verändernde Organisationsabläufe, neue Techniken am Arbeitsplatz und die Verweigerung von Mobilität (Wechsel der Arbeitsortes oder -platzes). Fähigkeit und Bereitschaft zu ständigem und schnellem Lernen Älterer werden infrage gestellt. Es wäre allerdings zu überprüfen, ob Unternehmen betriebliche Weiterbildungsangebote älteren Beschäftigten überhaupt machen, oder ob dieses nicht aus kostenkalkulatorischen Gründen – für die paar Jahre lohne sich ja der Aufwand nicht – unterbleibt? Nach den Ergebnissen der Untersuchung der Bertelsmann Stiftung (s. o.) sind heute die – zukünftigen – Älteren zur Weiterbildung durchaus bereit. Jedenfalls sagten dass 77 Prozent der Befragten, die zum Untersuchungszeitpunkt zwischen 35 und 55 Jahre alt waren. Der Chemiekonzern BASF trägt dem bereits heute Rechnung: 50-jährige und Ältere sollen gezielt in die Fortbildung geschickt werden (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. März 2006)124. Ein wichtiges Argument gegen ältere Beschäftigte sind die Arbeitskosten. Tarifrechtlich sind mit dem Anstieg des Lebensalters Einkommenssteigerungen verbunden. Begründet wurde dies bisher mit den wachsenden Fertigkeiten und Kenntnissen, die am Arbeitsplatz und unter Umständen in Fortbildungsmaßnahmen erworben wurden. Auch sollte eine Art Treuebonus für langjähriges Verbleiben im Betrieb zuerkannt werden. In den Tarifverträgen ist deshalb das so genannte „Senioritätsprinzip“ verankert, dass eine Erhöhung der Löhne nach Lebensalter und Betriebszugehörigkeit vorsieht. In den Genuss kommen Mitarbeiter zwischen dem 40. und 50. Lebensjahr mit einer Betriebszugehörigkeit von zehn bis zwanzig Jahren. Entlassungen von Älteren sind tarifrechtlich erschwert, Abgruppierungen faktisch unmöglich. Das bedeutet aus Sicht der Unternehmen eine doppelt herabgesetzte Produktivität älterer Beschäftigter. Zur altersbeding123 Der Betriebsrat des Automobilherstellers Daimler-Chrysler hat festgestellt, dass die Fehlzeiten in der Montage ab einem Alter von 50 Jahren signifikant zunehmen. Mitarbeiter melden sich durchschnittlich an 26 Tagen im Jahr arbeitsunfähig, in der Gruppe ab 55 sind es 28 Tage. Angestellte fehlen nur an 9 Tagen (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. August 2005). 124 Dieser Trendwende, die natürlich durch den Demographischen Wandel begründet ist, kommt inzwischen die Politik der EU nach. Zielsetzung bis 2010 ist eine Erhöhung des Beschäftigungsanteils der 55- bis 64-jährigen auf 50 Prozent (Engstler 2006, S. 87).
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ten Minderung der Leistungsfähigkeit – wobei Differenzierungen je nach Tätigkeit vorzunehmen sind (s. o.) – treten höhere Arbeitsentgelte und faktisch ein Kündigungsschutz hinzu. Auch eine Wiederbeschäftigung nach Arbeitslosigkeit ist von daher massiv erschwert (BDA 2002125). Kommt es im Zusammenhang von Betriebsvereinbarungen dennoch zu Entlassungen, wird das regelmäßig – neben dem Kostenargument – mit verbesserten Chancen für den Erhalt von Arbeitsplätzen, die dann mit Jüngeren besetzt werden sollen, begründet. Nach Ansicht des BDA wirken besondere Kündigungsschutzbestimmungen, Besitzstandssicherungen und Entgeltsicherungsklauseln „beschäftigungsfeindlich und erhöhen den Rationalisierungsdruck in den Betrieben … und bilden ein starkes Motiv …, Frühverrentungsmaßnahmen durchzuführen“ (BDA 2002). Hier ist inzwischen eine große politische Debatte zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern sowie den politischen Parteien entbrannt. Ein weiterer Grund, der gegen die Beschäftigung Älterer genannt wird, ist die gegenüber Jüngeren durchschnittlich niedrigere formale Bildung. Daraus wird geschlossen, dass eine geringere Fähigkeit zum Erwerb neuer technischer und organisatorischer Kenntnisse besteht. Tatsächlich steigen die Chancen auf dem Arbeitsmarkt mit dem Bildungsgrad, was durch die Beschäftigungsquoten in den EU-Ländern, sowohl bei den 25- bis 44-jährigen als auch bei den 55- bis 64jährigen bestätigt wird. Formal höher Qualifizierte haben auch im höheren Alter bessere Chancen einen Arbeitsplatz zu finden, bzw. weiter beschäftigt zu bleiben (Fünfter Altenbericht 2005, S. 55). Niedrige formale Qualifikation und die vermeintlich altersbedingten Defizite (Belastbarkeit, mangelnde Flexibilität u. a.) verstärken somit den Trend zum Ausschluss aus der Erwerbstätigkeit. Unberücksichtigt bleibt in dieser Diskussion zumeist, dass über viele Jahre am Arbeitsplatz erworbenes „institutionelles Wissen“ und außerdem die bei „Langgedienten“ oft höhere Identifikation mit „ihrem“ Betrieb, sich als ausgleichendes Gegengewicht zu den „Altersdefiziten“ auswirken dürfte. Ältere Beschäftigte als politische und unternehmerische „Verhandlungsmasse“ Auf einem anderen Blatt steht die frühzeitige Entlassung in den („Vor“-)Ruhestand aus wirtschaftlichen Erwägungen „überflüssig“ gewordener älterer Arbeitnehmer (Bäcker/Naegele 1993; Bäcker 1999; Hilbert/Naegele 2001). Ältere Beschäftigte sind im Zusammenhang wirtschaftlicher Krisen und steigender Arbeitslosigkeit seit den späten 1960er zu einer regelrechten „Verhandlungsmasse“
125 BDA Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Arbeitgeber Nr. 12, Dezember 2002 (http://www.arbeitgeber.de/www/bdaonline.nsf/id/3788FB52F2796E85C1256C7D003 vom 4.6.2007)
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zur Lösung betrieblicher und lokaler Beschäftigungs- und Unternehmensprobleme geworden. Beginnend in den 1970er Jahren wurde mit der Einführung der flexiblen Altersgrenze in der Rentenversicherung, dem auf 32 Monate verlängerten Arbeitslosengeldbezug und dem Vorruhestandsgesetz in den 80er Jahren, schließlich der Altersteilzeit in den 1990er Jahren unter dem Etikett „sozialverträglich“ eine Strategie der „Kultivierung“ des Vorruhestands betrieben. So gingen z. B. 1997 20 Prozent aller Rentenneuzugänge auf den Bezug der vorzeitigen Altersrente126 wegen Arbeitslosigkeit zurück – eine Verdopplung gegenüber 1991 (Bäcker 1999, S. 256). In besonders problematischer Weise hat diese Entwicklung die neuen Bundesländer in der Folge der massiven Betriebsschliessungen betroffen (Bäcker/Naegele 1993, S. 138 ff)127. Die Arbeitslosigkeit verblieb bis zum Beginn des neuen Wirtschaftswachstums seit 2006 indes auf einem unverändert hohen Niveau. Lediglich einer besseren „Optik“ der Arbeitslosenstatistik hat diese Strategie gedient. Der Gemeinschaft der Steuer- und Beitragszahler hat sie geschadet. Erst 2001 ist mit dem „Bündnis für Arbeit“, bestehend aus Regierung, Arbeitgebern und Gewerkschaften, ein Paradigmenwechsel eingeleitet worden, der darauf hinausläuft, Arbeitnehmer künftig länger auf dem Arbeitsmarkt zu behalten. Dazu sind eine Reihe struktureller Maßnahmen erforderlich. Nämlich solche, die einerseits das frühzeitige Ausscheiden aus der Erwerbsarbeit wieder erschweren. Der vorzeitige Ruhestand ohne Rentenabschlag wird dann Vergangenheit sein. Andererseits muss dem Produktivitätsdenken der Arbeitgeber ein Schritt entgegen gegangen werde – z.B. durch den Verzicht auf das Kriterium Alter beim Kündigungsschutz (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. August 2005). Die jahrzehntelang politisch gepflegte und lange schon fragwürdig gewordene Strategie einer frühzeitigen „Entberuflichung“ dürfte damit zu Ende gehen. Neue Möglichkeiten und Notwendigkeiten für Erwerbstätigkeit im Alter Bessere Gesundheit im Alter macht Erwerbstätigkeit jenseits festgeschriebener starrer gesetzlicher Altersgrenzen und gewohnter Klischees möglich. Das zeigt das Beispiel der Freiberufler, Selbständigen und Künstler. Eine starre Heraufset126 Die vorgezogene Rente bewirkt Einkommensverlust. Wenn beispielsweise – noch unter der Voraussetzung des alten Renteneinstiegsalters von 65 – Männer Ende 2001 mit 60 in die vorgezogene Rente gingen, betrug die Rentenkürzung 18 Prozent (Bäcker 1999, S. 259). 127 Dabei sind vor allem die persönlichen und sozialen Folgen des abrupten, völlig überraschenden zwangsweisen Abschieds aus der Erwerbsarbeit in den neuen Bundesländern zu berücksichtigen, die gleichsam „über Nacht“ eine ganze Generation zu „Alters-Freizeitlern“ machte. Dies musste in einer Gesellschaft, die zuvor – durch den Sozialismus geprägt – ein anderes Verhältnis zur Arbeit, Freizeit und Konsum hatte, zu erheblichen Desintegrationswirkungen führen, u. a. an politischer Unzufriedenheit (Bäcker/Naegele 1993, S. 142) und im Wahlverhalten ablesbar.
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zung der Altersgrenze, wie mit der neuen Rentenregelung beschlossen, ignoriert die Tatsache, das Gesundheit im Alter nicht genormt werden kann. Frühzeitige Defizite sind oft durch die ausgeübte Tätigkeit zumindest mit bedingt. Beschäftigung im Alter muss deshalb durch ein Individualität zulassendes Regelwerk organisiert werden, dass schließlich auch eigene Vorlieben berücksichtigen sollte, insbesondere jene nach einem allmählichen Ausstieg aus der beruflichen Aktivität128. Ein Rückschritt von historischem Format wäre es, aus Gründen unzureichender Renten, die Menschen zu lebenslanger Mehrarbeit zu verpflichten. Dies wäre zugleich die Suspendierung einer Errungenschaft der Moderne, nämlich des „guten Lebens im Alter“.
7.13 Alter und Persönlichkeit Bekanntlich ist kein Mensch wie der andere. Eine Botschaft, die uns in der „individualisierten Gesellschaft“ ständig auch als Aufforderung zur Unterscheidung begegnet. Es überrascht nicht, dass die Persönlichkeit und das eigene Selbstverständnis die Präferenzen der Zeit- und Lebensgestaltung mitbestimmen. Opaschowski (1998, S. 83) unterscheidet auf der Basis der Selbsteinschätzung der Befragten drei Typen unter den Ruheständlern: Der Typ der „Freiheit und Aktivität“ gilt als Protagonist der „jungen Alten“. Er war Ende der 1990er Jahre mit 29 Prozent vertreten. Der zweite Typ ist der „Ruhe und Erholungssuchende“ und mit 33 Prozent anzutreffen. Der dritte ist jener, der eher konfrontiert ist mit „Problemen und Konflikten“. Er stellt mit 38 Prozent die größte Gruppe. Diese Befunde stellen die These vom „guten Leben im Alter“ ein Stück weit infrage. Holen sie uns in die Wirklichkeit eines doch von Defiziten überschatteten zu Ende gehenden Lebens zurück? Ja und nein zugleich. Immerhin: „Aktivität“, „Jungsein im Alter“, sind Eigenschaften, die Freiheiten im materiellen und immateriellen Sinne voraussetzen. Es muss sie also geben. Ein knappes Drittel der Alten ist hier zu verorten. Ein weiteres Drittel scheint sich dieser Freiheiten eher still zu erfreuen und die äußeren Bedingungen für einen Rückzug in Ruhe zu nutzen. Es bleiben die 38 Prozent der unter Problemen leidenden, die zumindest auch mit dem Alter zu tun haben. Nur jeder Zehnte, stellt Opaschowski fest (1998, S. 83), bejahe das Alter. „Forever young“; beruht dieses Lebensgefühl der 128 Wie es durch das Gesetz zur Regelung von Altersteilzeit vorgesehen war. Es bestanden danach die Varianten des frühzeitigen vollständigen Ausstiegs aus der Erwerbsarbeit oder der Reduzierung der wöchentlichen Arbeitszeit bei jeweiliger Einkommensreduktion. Die erste Regelung ist rasch in Vergessenheit geraten.
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Moderne doch nur auf einer Illusion? So ist es wohl. Aber einer, die bewirken kann, positive Kräfte zu entfesseln. Beflügelt und motiviert sie doch zumindest einen Teil der Alten, „späte Freiheiten“ zu nutzen, während sie den Jüngeren ein Stück der Angst vor dem Altern nimmt. Zugleich soll gewarnt werden, Befragungsergebnisse allzu ernst zu nehmen. Denn die Antworten auf die Frage nach der Wirklichkeit des „guten Lebens im Alter“ sind uneinheitlich. So hatte die Berliner Altersstudie – etwa zeitgleich – den 70-bis 105-jährigen nämlich eine deutlich positivere Einschätzung des Alters entlocken können. Stattliche 63 Prozent hatten sich als „zufrieden“ mit ihrem Alter geäußert (BASE 1996,S. 232129). Heinze et al. (1997), Großhans (2001) und Schroeter/Prahl (1999) haben nur 15 Prozent „Resignierte Ältere“ gefunden. Die „aktiven Alten“ machen in der Zusammenfassung letztgenannter Forschungen 25 Prozent aus, während die „pflichtbewusst-häuslichen“ mit 31 Prozent die größte Gruppe stellen und die „sicherheits- und gemeinschaftsorientierten“ mit 29 Prozent vertreten sind (Wilde/Franke 2006, S. 86). Die zuletzt genannten Alterstypen nehmen Senioren in den Blick, die sich auch in den zuvor genannten Daten finden lassen. Die „Pflichtbewussthäuslichen“ sind jene, die Wert auf das (gewohnte) Zuhause legen, denen Familie wichtig ist und die Unterstützung gewähren und erwarten. Die „Sicherheits- und gemeinschaftsorientierten“ sind jene, denen eine sichere materielle und immaterielle Versorgung als Basis des „guten Lebens im Alter“ gilt. Gleichwohl muss sie ihnen bedroht erscheinen. Diese Einschätzung ist verständlich. Alte wissen – noch aus eigener Erfahrung oder den Erzählungen der Eltern – vom Zusammenbruch politischer und sozialer (Sicherungs-) Systeme. Sie verfolgen die Debatten um die Zukunft unseres Solidarsystems, und sie können aufgrund ihrer Stellung im Lebenslauf schließlich kaum noch gewinnen – aber (alles) verlieren.
129 Vgl. Kap. 5.5
8 Fazit und Ausblick 8 Fazit und Ausblick
Das „gute Leben im Alter“ Nie zuvor gab es derart viele alte Menschen. Nie zuvor gab es auch soviel „gutes Leben im Alter“. Der Zugewinn an Lebensjahren gehört zweifellos zu den historischen Errungenschaften der modernen Gesellschaft. Binnen gut hundert Jahren hat sich nicht nur die Lebenserwartung verdoppelt, sondern ist eine Geißel früherer Jahrhunderte und Jahrtausende – der Säuglings- und Kindertod1 – weitgehend besiegt und ist auch in höheren Lebensjahren mit einer ständig steigenden Lebenserwartung zu rechnen. Das soziale Netz, eine moderne medizinische Versorgung und ein auskömmliches an die gesamtwirtschaftliche Entwicklung angekoppeltes Einkommen sorgten bisher dafür, dass der weitaus größere Teil der Alten teilhaben konnte an den Errungenschaften der Wohlstandsgesellschaft. Der Großteil der alten Menschen führt ein lebenswertes und selbstverantwortliches Leben. Dem entspricht die Einschätzung der alten Menschen, von denen immerhin 63 Prozent mit ihrem Leben zufrieden sind (vgl. Kap. 7.13). Kaufkraft der Alten Das Bild vom „abgeschobenen“ und durch den „Jugendkult“ (Schirrmacher) deklassierten Alten entbehrt einstweilen der Grundlage. Alte sind eine kaufkräftige Gruppe und ihre Nachfrage richtet sich nicht allein nach altersspezifischen Produkten der „Gesundheits- und Seniorenwirtschaft“. 1998 lag das durchschnittliche Einkommen eines Rentnerhaushaltes2 in Westdeutschland nur um drei Prozentpunkte unter dem eines durchschnittlichen Arbeitnehmerhaushaltes (vgl. Kap. 7.5.1). Alte in Westdeutschland sind nicht allein auf Renten angewiesen. Daneben stehen ihnen in nennenswertem Umfang weitere Einkommensquellen, wie Sparguthaben, Vermögensbeteiligungen und Immobilienbesitz zur Verfügung. Derartige Rücklagen waren nur möglich durch eine über Jahrzehnte in der Bundesrepublik bestehende Wohlstandsentwicklung, die auch unteren sozialen Schichten sozialen Aufstieg ermöglichte. Ostdeutsche Rentner hatten dagegen diese Möglichkeiten nicht. Sie sind daher heute benachteiligt. Auch die gesetzliche Rente ist für sie noch immer niedriger. Alleinstehende Frauen sind in Ost1 Und hat gemeinsam mit anderen Entwicklungen hohe Nachwuchszahlen überflüssig gemacht. 2 Durchschnittseinkommen auf der Basis des OECD-Netto-Äquivalenzeinkommens.
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deutschland allerdings besser versorgt als alleinstehende Frauen in Westdeutschland. Eine Folge ihrer längeren Erwerbsbeteiligung. Generell sind Frauen jedoch materiell noch immer deutlich im Nachteil. Viele haben keinen eigenen Rentenanspruch erworben und sind – bei hoher Überlebenswahrscheinlich gegenüber dem Partner – auf die verminderte Witwenrente angewiesen. Diese Benachteiligung dürfte erst künftigen weiblichen Altengenerationen infolge der höheren weiblichen Bildungs- und Erwerbsbeteiligung erspart bleiben. Gute Gesundheit bis in das neunte Lebensjahrzehnt Voraussetzung für ein gutes Leben ist eine gute Gesundheit. Die gesundheitliche Verfassung alter Menschen ist zumeist bis in die Mitte oder das Ende des achten Lebensjahrzehnts – nicht selten auch darüber hinaus – befriedigend und wird auch so wahrgenommen. Eine Gefährdung für „das gute Leben im Alter“ geht dennoch vom Gesundheitsrisiko aus. Schwindet die Gesundheit schleichend oder plötzlich dahin, hat es mit dem guten Lebensgefühl rasch ein Ende. Das Eintreten des Pflegefalls, wofür das Risiko mit dem Beginn des zehnten Lebensjahrzehnts stark steigt, hat aber auch einschneidende materielle Folgen. Pflegebedürftigkeit ist – auch nach Einführung der Gesetzlichen Pflegeversicherung ein Armutsrisiko geblieben (vgl. Kap. 7.5.1). Mit dem Eintreten der Pflegebedürftigkeit schmelzen Ersparnisse und Vermögenswerte dahin, hat es mit dem „guten Leben“ ein Ende. Von „ Neuen“ und „Jungen Alten“ Verwandt mit meiner These vom „guten Leben im Alter“ ist die von den Neuen oder den Jungen Alten (Opaschowski 1998, vgl. Kap. 7.9). Gemeint sind jene aktiven Vorruheständler und Rentner, die überkommene Altenklischees beherzt Lügen strafen. Aktivität und Engagement sind verbreitet, anstelle von gesundheitlichen Defiziten und sozialem Rückzug. Seit den späten 1970er Jahren wurden die „Neuen Alten“ nicht zuletzt von der wachsenden Gruppe der Ergrauenden selbst mit Enthusiasmus gefeiert. Spätestens jetzt hatte der Jugendkult die Alten erfasst. „Man ist so alt, wie man sich fühlt“, wurde keck behauptet. Schlagermacher und Sänger Udo Jürgens (1978) dichtete wider besseres Wissen, dafür den Zeitgeist punktgenau treffend: „Mit „66 Jahren, da fängt das Leben an…“ In Wahrheit war und ist, beginnend mit diesem Datum eher von einer bescheidenen
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restlichen Lebensspanne auszugehen. Sie umfasst, folgt man der „Sterbetafel“3, noch etwa fünfzehn Jahre4 (vgl. Kap. 5.8). Grenzen der Aktivitätstheorie Inzwischen haben empirische Studien eher für Ernüchterung gesorgt. Zwar ist der Prozess des Alterns kein einheitlicher und linear verlaufender, sondern von unterschiedlichen Faktoren abhängig. Wichtige Größen sind die Lebensumstände, die materiellen Bedingungen und die individuelle Lebensführung. Die Umstände eines Lebens können den Alternsprozess positiv oder negativ beeinflussen. Altern aber ist und bleibt, was der Nestor der Alternsforschung in Deutschland Max Bürger (1966) schon vor über vierzig Jahren feststellte: eine „irreversible Veränderung der lebenden Substanz als Funktion der Zeit“ (vgl. Kap. 2.3.3). D. h. noch immer: Altern bedingt Defizite. Altern ist zwangsläufig, und es bewirkt fortschreitende Funktionseinschränkungen. Diese können am Ende eines langen Lebens, aber durchaus viel früher, zu schweren Leiden und zum sozialen Rückzug führen. Gleichwohl ist dieser Prozess gestaltbar, haben Persönlichkeit, Bildung und Lebensumstände, der eigene Wille und Selbstdisziplin, Einfluss auf das individuelle Altern. Die Vertreter der These von den „Neuen Alten“ hatten sich wohl in den 1980er Jahren zu sehr auf die finanziell gut ausgestatteten Vorruheständler gestützt. Diese „überflüssig“ gewordenen Arbeitskräfte waren im Rahmen so genannter Sozialpläne, oft noch nicht einmal Mitte ihrer fünfzig Lebensjahre stehend, als Gegenbild zum überkommenen Bild des Alten wahrgenommen worden. Gefährdung des guten Lebens im Alter In Zukunft wird das „gute Leben im Alter“ gefährdet sein. Ein Teil der Bevölkerung in modernen Gesellschaften wird sich allerdings weiterhin dessen erfreuen können. Das jedenfalls ist wahrscheinlich, weil es seit Jahren eine wachsende Bevölkerungsgruppe mit hohen und wachsenden Einkommen und Vermögenswerten gibt. Der Jugendkult (nichts lässt sein Verschwinden begründen) wird auch weiterhin dafür sorgen, dass Fitness und Aktivität, gepaart mit Kaufkraft und Erlebnishunger, für einen erheblichen Teil der Gesellschaft eine realisierbare Version des Lebens im Alter ist. Für einen – vermutlich größeren und wachsen3 Die Sterbetafel ist eine Statistik, die auf der Grundlage der beobachteten Sterbefälle eines bestimmten Zeitraums, die aktuelle wahrscheinliche Lebenserwartung für unterschiedliche Altersgruppen errechnet. Sie befindet sich u. a. im Statistischen Jahrbuch. 4 Durchschnittliche Lebenserwartung im Alter von 66 Jahren, extrapoliert nach der Sterbetafel der Bevölkerungsstatistik (Statistisches Bundesamt 2005, S. 54)
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den Teil der Gesellschaft – wird das nicht so sein. Der Demographische Wandel macht die Finanzierbarkeit des „guten Lebens“ im Alter für immer mehr Menschen schwieriger. Das Herunterfahren der Leistungen der GRV erfordert privates zusätzliches Sparen. Das wird einigen Bevölkerungsgruppen, insbesondere weniger Qualifizierten und Migranten, nicht möglich sein. Altersarmut trotz Verlängerung der Lebensarbeitszeit Eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit wird nicht zu umgehen sein – vorausgesetzt es gibt hinreichend Arbeitsplätze in Deutschland (!) – um am gesellschaftlichen Wohlstand auch als Älterer teilhaben zu können. Diese Möglichkeit steht und fällt mit der Gesundheit! Jenseits der Erwerbstätigkeit sind empfindliche materielle Einschnitte zu erwarten. Dies nicht allein wegen der Umstellung von der Sicherung des Lebensstandards auf die Grundsicherung (vgl. Kap. 4.5.7 ), sondern auch, weil die Belastungen für Rentner (Beteiligung an Krankenkosten u. a.) weiter wachsen werden. Zugleich werden zusätzliche Betriebsrenten in der Folge der Arbeitskostendiskussionen zurück gefahren werden. Die über Jahre anhaltende hohe Arbeitslosigkeit führt, ebenso wie die zunehmende Verbreitung des Niedriglohnsektors, sowie die von Teilzeit- bzw. befristeter Arbeit dazu, dass eine hinreichende Anzahl an Beitragsjahren für die Rentenversicherung immer weniger erreicht wird, bzw. die Leistungen geringer ausfallen. Viele Beitragszahler werden gar keine Chance haben, leistungsberechtigt zu sein, weil sie mangels hinreichender Zahlungen keine Ansprüche erworben haben. Hier treten dann andere Instrumente des sozialen Netzes in Aktion, aber so wird – erstmals seit Jahrzehnten – Altersarmut in Zukunft wieder wahrscheinlich werden. Das in einer Gesellschaft, die nach wie vor zu den reichen zählt und die über ein bewährtes und international gerühmtes Instrumentarium der sozialen Sicherung verfügt. Erste Anzeichen der Wiederkehr von Altersarmut gibt es bereits (vgl. Kap. 7.5.1). Die „Zukunft des Alters“ hängt wesentlich davon ab, die Leistungsfähigkeit des bewährten sozialen Netzes zu sichern, was freilich ohne Reformen nicht möglich sein wird. Der Demographische Wandel bleibt damit ein Problem, das nicht zu unterschätzen ist. Er hat auf der einen Seite das „gute Leben im Alter“ erst ermöglicht – durch den permanenten Anstieg der Lebenserwartung. Auf der anderen Seite lässt er es an Nachwuchs fehlen.
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„Geburtenstreik“?5 Gibt es in Deutschland eine Gesellschaft, deren „Menschen sich abgewöhnt haben, Kinder zu bekommen“ (Charlotte Höhn)? Soviel ist richtig: Die Geburtenrate ist in Deutschland seit Jahrzehnten auf einem Niveau, dass den Bestandserhalt der Bevölkerung nicht gewährleistet. Die Bevölkerung altert in der Folge, wobei sich diese Erscheinung noch durch die ständig steigende Lebenserwartung erhöht. Deutschland steht damit nicht allein. Allerdings gehört Deutschland zu den „Vorreitern“ dieser Entwicklung, die außerdem nun bereits seit über 35 Jahren anhält. Dennoch greift das Zitat zu kurz. Es erklärt nichts. Zwar sind es einzelne Menschen, die entscheiden und handeln und damit ihre Bedürfnisse und Wünsche erfüllen wollen. Dies selbstredend auch dann, wenn es um Nachwuchs geht. Aber Menschen entscheiden nicht in luftleeren Räumen, vollständig autonom, nach eigenem Gusto und aktueller Laune. Handeln benötigt Orientierung. Handeln ist – bewusst oder nicht – zumeist im Einklang stehend mit gesellschaftlichen Werten. Jenseits davon wird man zum Außenseiter, droht Desintegration. Wertorientierungen im Zusammenhang mit Kindern sind: Leben schaffen, Kontinuität herstellen – also auch für die Gesellschaft von morgen sorgen (Kinder sind künftige Arbeitskräfte), Ideale und Besitz weiter geben u. a. Wertpräferenzen sind zwar persönlicher Art, doch Werte denkt sich niemand selber aus. Sie sind Teil von Kultur, und sie werden durch gesellschaftliche Einflüsse (Erziehung u.a.) erst dem Einzelnen vermittelt. In modernen Gesellschaften ist der Wert von Kindern ein anderer als in Gesellschaften in vorindustrieller Zeit. Viele der Gründe, warum früher viele Kinder – persönlich einsehbar oder unter sozialem Druck – notwendig waren und deshalb einen hohen Wert darstellten, gelten in modernen Gesellschaften nicht mehr. Arbeitsteilung, Wissen und Technik sowie staatliche oder halbstaatliche Institutionen gewähren ausreichende Versorgung und Sicherheit. Leben – auch im Alter und in Not – ist ohne die Existenz eigener Kinder möglich. Zugleich haben Religion und Traditionen ihre handlungsleitende Kraft verloren. Kinder gelten heute nur noch wenigen als „Geschenk Gottes“, und das biblische Gebot der „Fruchtbarkeit“ wird nur selten ernst genommen. Ein vergleichsweise hoher Wohlstand ist für viele möglich geworden. Ihn zu erreichen erfordert Kosten-Nutzen-Denken. In den zweckrationalen Kalkülen des
5 Das Wort stammt von Ernst Kahn, einem Ökonomen und Privatgelehrten, der 1930 ein Buch mit dem Titel „Der internationale Geburtenstreik“ veröffentlichte. Das Thema war bereits damals ein viel diskutiertes. Es sollte alsbald auch in ideologisches Fahrwasser geraten.
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Gegenwartsmenschen hat längst auch das Kind – in Konkurrenz zu anderen Handlungszielen – seinen Ort zugewiesen bekommen. Kinder haben also aus Gründen der Kultur einer Gesellschaft einen hohen oder einen geringeren Stellenwert. Moderne Gesellschaften sind nicht kinderfeindlich und die Menschen dort haben auch nicht verlernt, Kinder zu bekommen. Sie brauchen – aus persönlichem und überschaubarem Blickwinkel – nur keine oder weniger. Und sie nehmen sich das Recht dazu, nach eigenem Kalkül zu handeln. Zugleich verfügen sie über alle notwendigen Techniken, die Kinderzahl zu planen. Eine Sexualmoral, die eine empfängnisfreie sexuelle Betätigung bejaht, wird demonstrativ verbreitet, und sie gibt ihnen Recht. Voranschreitende Alterung und Schrumpfung der Bevölkerung Und so altert und schrumpft die Bevölkerung. Erwartbar ist in nächster Zukunft, dass einige geographische Räume in Deutschland sich entleeren werden. Erst wandern die erwerbsfähigen und qualifizierten Menschen ab. Die zurückbleibenden Alten sterben. Arbeitsplätze und Infrastruktur werden zurück gebaut. Das wird insbesondere strukturschwache Gebiete in den neuen Bundesländern treffen, die schon heute nur dünn besiedelt und überaltert sind. In noch intakt bleibenden Regionen werden Migranten sich ansiedeln. Sie werden einen Teil der fehlenden Arbeitskräfte ersetzten. Dies nur, sofern es gelingt, ausreichend qualifizierte Einwanderer zu motivieren. Abzuwarten bleibt, ob deren Integration gelingt, oder ob „Parallelgesellschaften“ entstehen. Mehr Alte bedeuten nicht nur mehr Kosten Die Nachfrage nach Erwerbstätigen wird – ebenso der Bedarf an Beitragszahlern für das Sozialversicherungssystems – schon in naher Zukunft nicht ohne Einwanderer zu bewältigen sein. Erforderlich ist eine Einwanderungspolitik, die – neben den humanitären Pflichten, Flüchtlinge und Verfolgte aufzunehmen – den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes Rechnung trägt. In einer Übergangsphase werden während der voranschreitenden Überalterung der Bevölkerung alte Menschen zurück bleiben, deren Versorgung dann der einzig dort verbleibenden sozialen Dienstleistungsbranche überlassen sein wird. Auch dürfte der Trend zur Entwicklung von „Rentnerparadiesen“ sich fortsetzten6, Orten und Regionen, die Alte mit angenehmen Lebensbedingungen locken. Doch Alte bewirken nicht nur Kosten, sie schaffen auch Arbeitsplätze und sie bringen Kaufkraft. Dies allerdings 6 Es lassen sich sogar durch Abwanderung und Überalterung schon weitgehend entleerte Städte und Regionen wieder „beleben“, wie jüngst am Bespiel der reizvollen Stadt Görlitz am östlichen Rand Deutschlands zu erfahren war.
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unter Voraussetzungen, die gegenwärtig ebenfalls gefährdet erscheinen. Das soziale Netz muss in Armut verhindernder Form bestehen bleiben und die Wohlstandsgesellschaft muss fort existieren. Für die künftige wirtschaftliche Entwicklung sind „Gesundheitsmarkt“ und „Seniorenwirtschaft“ gar nicht hoch genug einzuschätzen. Erforderlich ist die Flexibilität der Wirtschaft. Politische Steuerung ist nötig Nach einer Übergangsphase des Schrumpfens der Bevölkerung wird das Gesamtvolumen gegenüber heute um ca. ein Drittel geringer sein. Unbeachtet bleiben bei diesen Überlegungen, dass möglicherweise größere Gruppen von Migranten in der Folge von politischen Konflikten, Armut oder Naturkatastrophen einwandern werden. Die Folgen des Klimawandels könnten neue Dimensionen schaffen. Politische und soziale Konflikte wären dann vorprogrammiert. Es bleibt menschlichem Einfallsreichtum, vor allem ernsthaften und erfolgreichen Bemühungen bei der Schaffung einer gerechten Weltordnung, sowie der Wirksamkeit politischer Steuerungsmaßnahmen überlassen, künftige Katastrophen zu verhindern.
9 Literaturverzeichnis 9 Literaturverzeichnis
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Warum wir altern Antworten der Naturwissenschaften Empfohlene Literatur Keine Empfehlung
Benutzte Literatur Für dieses Kapitel wurde mehr als in wissenschaftlichen Texten gemeinhin üblich, im Internet recherchiert bzw. aus den Wissenschaftsbeilagen der Tagespresse zitiert. Der Verfasser bittet deshalb um Nachsicht und begründet dieses Vorgehen mit der Notwendigkeit, naturwissenschaftliche Forschungsthesen einzublenden, die sich andernfalls nur sehr mühsam über ein Studium der – für Nichtnaturwissenschaftler – schwer lesbaren Fachliteratur erschließen ließen. Zitierhinweise zu den Berichten aus Tageszeitungen vgl. die Anmerkungen in diesem Kapitel. Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Forschungsbericht 5, Zukunft des Alterns und gesellschaftliche Entwicklung, hrsg. von Paul B. Baltes und Jürgen Mittelstraß, Berlin, New York 1992 (zitiert als Akademie 1992) Danner, David B., Heinz C. Schröder, Biologie des Alterns (Ontogenese und Evolution). In Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Forschungsbericht 5. Zukunft des Alterns und gesellschaftliche Entwicklung S. 95-123, Berlin 1992 (zitiert als Akademie) Jaenicke, Joachim, Andreas Paul (Hg.), Biologie heute entdecken S II, Braunschweig 2004
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