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Irene Mandl & Andrea Dorr
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Zukunft des Alterns
Produktives Arbeiten und flexibles Altern: Forschungsprogrammatische Uberlegungen zu einem Sozialprodukt des Alters Anton Amann Institutfur Soziologie, Universitdt Wien
1. Problemstellung In seinem Buch tiber die Globalisierung schrieb der ehemalige Bundeskanzler, H. Schmid, dass es eine der wichtigsten Aufgaben fur Politik, Wissenschaft, Untemehmen und fur uns alle sei, sich mit ganz langem Atem darum zu bemuhen, die Deutschen aufzuklaren, um die psychotischen Angste vor technischer Innovation zu iiberwinden (Schmid 2006: 93). Nattirlich ist dabei technische Innovation als Aspekt des technischen Fortschritts zu verstehen, der seinerseits ein konzeptueller Teil des Sozialprodukts ist. Ob diese Angste tatsachlich psychotischer Natur sind, steht hier nicht zur Debatte. Den Impetus jedoch konnen wir uns zunutze machen. Wir soUten uns bemtihen, unsere Angste vor der angeblich unproduktiven Existenz einer immer groBer werdenden Zahl alter Menschen abzulegen, die nicht mehr im Erwerbsleben stehen, deshalb zum Sozialprodukt nichts mehr beitragen und damit folgerichtig nur noch eine finanzielle Btirde darstellen. Ein erheblicher Teil dieser Urteile und Vermutungen ist aus einer verengten Produktivitatssicht gespeist, die sich seit Beginn der industriellen Produktion im Zusammenhang mit dem Begriff „produktive Arbeit" entwickelt hat. Der traditionelle Produktivitatsbegriff der Okonomie hat eine spezifische Tatigkeit von Menschen zum Sttickpreis von Objekten in Beziehung gesetzt, die aus dieser Tatigkeit entstehen, und damit „Arbeit" ihrer sozialen und anthropologischen Dimensionen beraubt und als „Produktivitatsfaktor" eingegrenzt. Eine Vorstellung, die auf die industrielle Produktion bezogen wurde, sich damit in die Ideengestalt der „produktiven" Arbeit verwandelte, und konsequent alles als „unproduktiv" ausgrenzte, was sich den Parametem der entsprechenden Gleichung(en) nicht subsumieren liel3. Im Angesicht der vielen moglichen Beitrage der Menschen zur Entwicklung von Wirtschaft, Politik und Kultur hat diese traditionelle Auffassung von Produktivitat seit jeher mit einem Messproblem zu tun gehabt, dessen ungeloste Problematik bis heute zum Teil geradezu verheerende Folgen ideologischer Natur hatte, unter denen die angeblich die Gesellschaft belastende Unproduktivitat der Alteren zu den jungeren Konstruktionen gehort.
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Gesellschaft besteht - eine simple Tatsache, die kaum einer eigenen Erorterung bediirfte, ware da nicht diese verktirzte Sicht von Produktivitat - aus mehr als wirtschaftlicher Produktion. Sie besteht vor allem aus auBerst komplexen Zusammenhangen zwischen verschiedenen Realitatsbereichen (Wirtschaft, Kultur etc.), die gerade wegen des Wandels, dem sie standig unterworfen sind, der Tradierung, der identischen Reproduktion und zugleich der Transformation bedtirfen. Dieser Gedanke, der hier aus Platzgrlinden nicht weiter verfolgt wird, soil ausdrticken, dass einerseits zugleich der Strukturcharakter einer Gesellschaft und das kollektive sowie individuelle Handeln der Mitglieder im Kontext ihrer kulturellen Traditionen und ihrer wirtschaftlichen Produktion in dieser Gesellschaft erfasst werden mtissen, und andererseits zugleich die „Statik" der Strukturen (ihre identische Reproduktion) und ihre „Dynamik" (in Konflikten durchgesetzte Transformationen). Diese Prozesse konnen nicht realisiert werden ohne die Teilhabe aller Individuen in einer Gesellschaft. Dazu ist es allerdings notig, eine ganz andere Konzeption von Produktivitat zu entwerfen, die prinzipiell jedem Individuum zugesteht, Beitrage zur gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung leisten zu konnen, direkt und indirekt, und die in einem generellen Sinn als Nutzenstiftung verstanden werden. Dass damit auch ein Auft)rechen eingefahrener Sichtweisen auf die Frage notig wird, wer in welcher Weise wofiir nutzlich sei, ist selbstverstandlich. Die aus der Psychologic und Soziologie der Lebensspannen entworfene Vorstellung der Entwicklung bis ins hohe Alter stellt eine wichtige Grundlage fur ein erweitertes Produktivitatskonzept auf der Seite individueller Existenz zur Verfugung. Dass Altem mit Verlusten verbunden ist, herrschte als Lehrmeinung lange vor. Dass es auch mit Gewinnen und Veranderungen zu Neuem sowie Entwicklungsfahigkeit verbunden sei, musste mit Hilfe empirischer Forschung erst gelemt und auch akzeptiert werden. Verschiedene Verhaltensweisen und Emotionen sind mit verschiedenen Lebensaltem assoziiert, Umschwiinge in Lebenszielen, Personlichkeit, Erinnerungsvermogen, Wissen und Intelligenz sind ebenfalls im Ablauf der Altersstufen zu erwarten. Damit wird der altemde Mensch in einen Fahigkeitsrahmen gestellt, in dem verschiedene Potenziale verankert sind, die sich selbst iiber die Zeit hinweg verandem, nicht aber notwendigerweise altersbedingt nachlassen, und in diesem Sinn sowohl eine individuelle als auch gesellschaftliche Ressource darstellen. Die Vorstellung einer generellen Nutzenstiftung durch das Handeln der Menschen flir die Gesellschaft kann mit dem Konzept der Lebensqualitat verbunden werden. Sie besteht in der begrundeten Annahme, dass nahezu alle Ta-
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tigkeiten der Menschen direkt oder indirekt zur Gestaltung der eigenen Lebensqualitat und der anderer beitragen. Die Geschichte des Begriffs zeigte am Beginn seiner Karriere einen kiihnen politischen Anspruch, der spater nie eingelost wurde, und er hat sich bisher von einer programmatischen Vorstellung zu einem multifaktoriellen Konzept der empirischen Forschung gewandelt. Der Praxisbezug allerdings ist ein offenes Thema, das selbst erst Gegenstand einer Diskussion werden miisste. Praktisch relevant konnen Konzepte der Lebensqualitat dort am ehesten werden, w^o sie ein Moment der Politik gegen Ungleichheit sind, was gesondert untersucht werden miisste (theoretisch relevant wurden solche Uberlegungen in der Lebensqualitatsforschung bisher nur in sogenannten Wohlfahrts-Konzepten). Anfang der 1970er begann der Begriff, in Regierungserklarungen (z.B. in der Regierungserklarung der zweiten sozialliberalen Koalitionsregierung vom 18.3.1973 in Deutschland) und in anderen Stellungnahmen eine Rolle zu spielen. Frisch aus den USA importiert, begann er als neuer „Mafistab des Fortschritts der Gesellschaft" (der sozialdemokratische deutsche E. Eppler) zu gelten. Der MaBstab des Fortschritts wurde damals auf eine globale Weise defmiert und das neue Kriterium war das der Lebensqualitat. In gewisser Weise war das eine Absage an die gangige Logik der Bearbeitung von Bildungs-, Verkehrs-, Wohnungs-, Umwelt-, schlicht: Lebensproblemen, die seit den spaten 1950er Jahren vor allem auf die Hebung des materiellen Wohlstands gerichtet gewesen war; die Herstellung befriedigender Lebensverhdltnisse insgesamt war nun Programm und Thema (C. Offe). Darin lag revolutionares Potenzial verborgen, derm es ging um nicht weniger als die Antithese zwischen materiellem Lebensstandard und Lebensqualitat, oder in anderen Worten: die Antithese zwischen industriellem Wachstum bzw. materiellem Fortschritt einerseits und der Hebung der Qualitat des Lebens andererseits. Damals, so wurde behauptet, war der Konsument schuldig an der Verschlechterung der Lebensqualitat, denn schlieBlich wurden Autos massenhaft benutzt (die ein-Auto-eine-Person-Unlogik), massenhaft Miill produziert und Wohlstand individuell maximiert und zwar auf Kosten der gesamten Gesellschaft. Die politische Umsetzung der kritischen Alternative hieB: Verbesserung der Lebensqualitat durch vermehrte Bereitstellung offentlicher Gtiter auf Kosten von Reallohnsteigerungen. Lebensqualitat war also, zumindest auf der Ebene des politischen Systems, eine brisante, geradezu antikapitalistische Formel (Offe 1974). In dieser Diskussion stand im Hintergrund eine vortheoretische Annahme, in der davon ausgegangen wurde, dass Gestaltung von Lebensqualitat primar eine politische Aufgabe sei, die Perspektive individuellen, nicht offentlichen Handelns wurde ausgespart.
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In einem von U. Schultz herausgegebenen Band waren sich Autoren wie C. Amery, O. Blume oder K. Antes imd G. Wallraff noch einig, dass im Konzept Lebensqualitat soziale Lage, demokratische Entwicklung und „Utopie" eines verbesserten Lebens vereinigt werden konnten (Schultz 1975). Dieser Anspruch ist verloren gegangen und vor allem in den Sozialwissenschaften nicht zur Frage seiner Einlosung umgemiinzt worden (von einem theoretisch fraglichen Teilbereich: den objektiven Bedingungen der Lebensqualitat in der Tradition der Sozialindikatorenforschung wird abgesehen). Wenngleich der alte politische Anspruch verschuttet wurde, ist es doch eine Uberlegung wert, ihn unter dem hier gestellten Thema in veranderter Weise wieder aufzugreifen. 2. Produktivitat revidiert Ublicherweise wird Produktivitat als das Ergebnis von Tatigkeiten und Verhaltensweisen mit Bezug auf ein System oder einen Prozess defmiert, wobei die BezugsgroBen als Input und Output gefasst werden. In diesem Sinn ist der Produktivitatsbegriff eng mit dem der Konstruktivitat verbunden.^ Er lasst sich auf alle menschlichen Tatigkeiten beziehen und hat jeweils spezifische Beziige zu unterschiedlichen Systemen. Dieser Grundgedanke fmdet sich in den verschiedensten systemtheoretischen Analysen zu Fragen nach Organisationen, politischen Systemen, oder auch zu Fragen der Intervention im Gesundheits- und Sozialwesen. Er hat ebenso Bedeutung in austauschtheoretischen Uberlegungen, in betriebswirtschaftlichen Modellen, oder in lemtheoretischen Konzepten der Psychologic. In dieser weiten Perspektive kann daher nahezu jede menschliche Tatigkeit zu Produktivitat und Konstruktivitat in Beziehung gesetzt und aus dieser auch eine Nutzenstiftung abgeleitet werden. Unter (konzeptuell einschrankenden) okonomischen Gesichtspunkten gilt Produktivitat als das Mengenverhaltnis zwischen dem, was durch Produktion hervorgebracht wird (Output), und den dafur eingesetzten Produktionsfaktoren (Input). Modellhaft wird der Output als Menge in Relation zu Zeiteinheiten angegeben, was ihn als StromgroBe defmiert. Dasselbe giltfixrden Input, der dann zum Beispiel in Arbeitsstunden gemessen werden kann. Er lasst sich aber auch als BestandsgroBe auffassen, wie dies im Falle des Einsatzes der Zahl der Erwerbstatigen innerhalb eines bestimmten Zeitraums in statistische Berechnungen geschieht. Die in der Produktion erzeugten Gtiter sind sehr vielfaltiger Natur und sie andem sich im Zeitablauf, zu ihrer Vergleichbarkeit bedarf es
1 Einige der folgenden Uberlegungen sind dem Wikipedia-Artikel „Produktivitat" entnommen (abgefragt uber Google am 24.1.2007).
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daher einer universal aquivalenten GroBe, des Geldes, weshalb diese verschiedenen Giiter mit Hilfe von Marktpreisen bewertet werden. Es ist dies eine messtheoretische Entscheidung, deren Sinn darin liegt, den Output als eindimensionale GroBe erfassen zu konnen. Damit ist die Vorstellung der Faktorproduktivitat angesprochen, die sich auf Arbeit, Kapital, Grund und Boden, Wissenschaft etc. beziehen kann. Die bekannteste und am haufigsten benutzte Faktorproduktivitat ist jene der Arbeit. Nicht zuletzt hangt dies damit zusammen, dass die Menge an eingesetzter Arbeit im Vergleich zu anderen Faktorproduktivitaten relativ leicht zu ermitteln ist. Die volkswirtschaftliche Basisiiberlegung erfasst die Arbeitsproduktivitat als Pi = BIPreal / Arbeitsvolumen = Et * h, wobei BIPreal das reale Bruttoinlandsprodukt, Et die Anzahl Erwerbstatiger und h die Anzahl der geleisteten Arbeitsstunden je Erwerbstatigem ist. Die am Beginn aufgestellte Behauptung, dass der traditionelle Produktivitatsbegriff der Okonomie eine spezifische Tatigkeit von Menschen zum Stiickpreis von Objekten in Beziehung gesetzt habe, die aus dieser Tatigkeit entstehen, und damit „Arbeit" ihrer sozialen und anthropologischen Dimensionen beraubt und als „Produktivitatsfaktor" eingegrenzt worden sei, zeigt fiir die hier diskutierte Problematik wenigstens zwei Limitationen auf: Einerseits enthalt dieser Produktivitatsbegriff ein Bewertungsproblem insofem, als nur solche Tatigkeiten bewertet werden (konnen), fur die Marktpreise existieren. Andererseits besteht ein epistemologisches Problem darin, dass die volkswirtschaftlichen Berechnungsweisen der Arbeitsproduktivitat auf Operationalisierungen beruhen, die nur Dimensionen oder GroBen beriicksichtigen, die einen wirtschaftlichen Output messbar machen (das genannte Messproblem). Sie sind auf materielle Wohlfahrt abgestellt. Damit ist die wesentliche Problemverktirzung aufgedeckt, die dann Platz greift, wenn von den unproduktiven Alteren gesprochen wird. Sie sind nicht unproduktiv, sie sind nur aus der iiblichen Produktivitatsberechnung hinausgeworfen worden (wie Hausarbeit etc. ebenfalls). Und tatsachlich stellt sich unter soziologischen Gesichtspunkten die ganze Frage als wesentlich komplexer dar. Mehr als hundert Jahre Wirtschaftsdenken haben Produktivitat tendenziell unter den eindimensionalen Blickwinkel der technischen Produktionsfunktion der industriellen Arbeit gezwimgen. Was an gesellschaftlichen Beitragen sich wegen seiner zeitlichen, sozialen oder sachlichen UnregelmaBigkeit dieser Normierung nicht fiigt, fallt nach Wirtschaftlichkeitskriterien aus der Definition heraus und ist unproduktiv. Am besten sichtbar ist dies wohl an der Tatsache, dass fur alles, was als Dienstleistung gilt, ein der herstellenden industriellen Ar-
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beit vergleichbares Mal3 fehlt, aus dem sich Art und Menge, Ort und Zeitpunkt der Leistungserbringimg eindeutig ableiten lieBe. Solche Dienstleistimgen zeitigen einen konkreten Nutzen, aber keine vollstandig monetaren, also in Geldwert messbaren Ertrage im Sinne von Sttickpreisen auf einem Markt. Es gibt keine erwerbswirtschaftlichen MaBstabe ftir die vergleichende Erfassung des durch Dienstleistung erzeugten qualitativen Nutzens, es gibt auch keine technischen Produktionsfunktionen fiir die Erzeugung dieses qualitativen Nutzens. Es fehlen MaBstabe fiir den Umfang des zu befriedigenden Bedarfs, der meist auf der Angebots- statt auf der Nachfrageseite definiert wird. Das sind die Kemgriinde, weshalb z.B. Sozialberufe als gering produktiv und private Haus- und Pflegearbeit, Kindererziehung etc. als unproduktiv bezeichnet werden. Soziale Kompetenz, Verantwortungsbewusstsein, Einfuhlungsvermogen, Liebe und Leidensfahigkeit entziehen sich der okonomischen Rationalitat. Liebe, Freude, Leid und Trauer brauchen Zeit - und die hat die Produktion nicht. Die rationalen Kriterien, die der kapitalistische Betrieb fur die Nutzung und Kontrolle der Arbeitskraft in der Warenproduktion entwickelt hat, lassen sich auf Generationenarbeit nicht tibertragen. Deshalb bleiben auch alle Versuche, anhand von Stunden und Stundensatzen berechnete Wertschopfungen, z.B. der ehrenamtlichen Tatigkeit der Alten, Stiickwerk. Sie vermogen den konkret erzielten vollen Nutzen nicht abzubilden. Von der privaten Pflegearbeit, oder der Enkelbeaufsichtigung, oder der Arbeit an der Aufrechterhaltung kultureller Traditionen durch die Alten Weitergabe von Erfahrung im Leben - gar nicht zu reden. Hier zeigen sich die objektiven Grenzen des Versuchs, die Welt in Geldfltissen zu messen (Amann 2004: 107f.). Es muss eine Perspektive gefunden werden, die sich dem Rentabilitatsdenken als oberstem Wert des Handelns entziehen kann. Sie liegt in der Vorstellung, dass Menschen und Generationen aufeinander bezogen und angewiesen sind. Auch gelingende Generationenbeziehungen tragen zu einer Steigerung der Lebensqualitat der Beteiligten bei. Ihr Aufeinander-Verwiesensein konstituiert sich aus dem unauflosbaren Verhaltnis zwischen der Existenzform des Einzelnen, in seiner Lebensdauer begrenzten Individuums, und aus jener einer Gesellschaft als iiberdauemdem, wenngleich sich wandelnden System, das den individuellen Zeithorizont permanent iibersteigt. In diesem Zusammenhang haben alle Begriffe wie Generationen, Erziehung, Tradierung, Sozialisation und Erziehung unter Weitergabe von Wissen und Erfahrung etc. ihren systematischen Ort. Dass wir sterben miissen, ist mit dem Geborenwerden verbunden. Das setzt Jugend und Alter in eine Beziehung des Nachbildens und des Abgehens. Es sind die von uns in den letzten Jahrzehnten immer nachhaltiger in ihrer Bedeutung
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wahrgenommenen demografischen Veranderungen, die diesen Sachverhalt in den Vordergrund der Aufinerksamkeit treiben. Die Veranderungen der letzten hundert Jahre veranlassen uns, den Sinn dieses Zusammenhangs im Raum der Entscheidungen zu iiberdenken. Geburtigkeit (ein Ausdruck von H. Arendt, zit. bei H. Jonas) und Sterblichkeit sind mit dem Versprechen des Anfangs, der Unmittelbarkeit und dem Eifer der Jugend verbunden, zusammen mit einer standigen Zufuhr an Andersheit, die nachbildet. K. Mannheim hat dies in seinem Konzept der Generationen deutHch gemacht, und dafur gibt es in unserer Welt keinen Ersatz. So weit hat z.B. der Philosoph H. Jonas schon vor Jahrzehnten gedacht (Jonas 1979). Doch das Gegenstuck wurde bisher noch nicht gesehen: dass das Abgehen ebenfalls mit einem Versprechen verbunden ist. Das Alter gibt den Nachkommenden das Modell ab, wie sie entweder selbst werden konnen, oder nicht werden wollen oder sollen. Alle, die alter werden, haben ihren Spiegel in denen, die schon alt geworden sind. Aus ihm stammen ihre Angste und ihre Hoffiiungen, ihre Praktiken und ihre Ideologien. Auch dafiir gibt es in der Welt keinen Ersatz. Kinder gehen zu Eltem in Opposition, sie losen sich von ihnen ab. Ohne diesen Prozess konnten sie nicht „erwachsen" werden. Im groBen MaBstab sind die nachriickenden Generationen immer wieder neu. Sie sind in anderen Zeiten aufgewachsen, sie legen sich ihre Welt selbst zurecht. Doch niemals ohne den Blick auf das, was ihnen voraus gegangen ist. Dabei andem sich die konkreten Formen. Frtiher einmal mogen die Alten Autoritat und Weisheit gehabt haben und die Jungen mogen von ihnen gelemt haben. Heute haben sie Achtung und Autoritat weitgehend verloren. Heute, heiBt es, lemten die Alten von den Jungen. Doch dieses Lemen bezieht sich am ehesten auf die neuen Techniken der Alltagsbewaltigung und auf Informationstechnologien. Ob die Jungen von den Alten lemen, beide voneinander, oder die Alten von den Jungen, sind Auspragungen historischer Wandlungen. Am Generationenlemen wurden bisher die geistigen und seelischen Dimensionen zu wenig beachtet (Amann 2004: 109). Wie denn iiberhaupt ein erheblicher Teil der Nichtbeachtung solcher Tatigkeiten unter dem Gesichtspunkt der Produktivitat und der Konstruktivitat wohl einfach auf die Tatsache zuriickzufuhren ist, dass ihre geistig-psychische, emotionale und personale Qualitat keinen Eingang in wissenschaftliche Modelle der Okonomie geftinden hat, auBer ansatzweise in der Grenznutzenschule und im Humankapitalansatz. Der unverrtickbare Kern aller Verhaltnisse ist das gegenseitige AufeinanderVerwiesensein. Zu dem, was die standige Neugestaltung der Welt heiBen kann, tragen die Jungen im Eifer fiir ihre Zukunft bei, die Alten durch das, was sie sind, und an dem die Jungen ihre Entwiirfe orientieren - zustimmend oder ab-
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lehnend. Produktivitat ist unter dieser Perspektive jedweder Beitrag der verschiedenen Generationen zur Gestaltung der Welt, im hier gemeinten Verstandnis zur Lebensqualitat aller. Jener der Alten ist um nichts geringer als jener der Jimgen. Und ob einer besser oder schlechter sei, das zu beurteilen bediirfte erst einmal gesellschaftlich verbindlicher Beurteilimgskriterien im Lichte einer besseren Gesellschaft. Die sind weit und breit nicht zu sehen. Wird die Seite der Alten aus ideologischen Grtinden abgedrangt, wie es Mode geworden ist, tritt die Vemeinung des Prinzips des Aufeinander-Verwiesenseins ein. Die Gesellschaft ist ganz - oder gar nicht. Unter einer solchen weiten Perspektive lasst sich sinnvoll von einer anderen Produktivitat, besser von Beitragen zur Gestaltung der Gesellschaft unter dem Blickwinkel der Lebensqualitat reden, ein Gedanke, der in die Richtung quantitativer und qualitativer Produktivitat weist. Beide Produktivitatsvorstellungen haben materielle, soziale, emotionale, geistige und instrumentelle Seiten. Sie entwickeln und verandem sich in der Zeit. Sie sind aus der Sicht der einzelnen Menschen und jener der ganzen Gesellschaft zu sehen. Manches davon ist in Geld zu messen, anderes nicht. Vieles entzieht sich der Offentlichkeit, bleibt unsichtbar und wird doch geleistet. Wenn in Rechnung gestellt wird, dass iiber die materiellen Beitrage der Alten an die Gesellschaft wenig auf breiter Basis Fundiertes bekannt ist, von ihren sozialen, instrumentellen und emotionalen Leistungen etwas mehr, und von ihren geistig-kulturellen Vermittlungen so gut wie gar nichts, muss die Frage auftauchen, wovon hier denn geredet wird. Von Realitatsausschnitten, Teilwissen und dauemd veralteten Inft)rmationen. Aus okonomischer Sicht sind die Beitrage der Alten ihr Verkauf der Arbeitskraft, solange sie erwerbstatig sind. Dass viele gehindert werden zu arbeiten, ist ein offenes Geheimnis. Aus okonomischer Sicht sind Vererbungen, Schenkungen und private Geldleistungen fmanzielle Strome. Ebensolches gilt fiir den Konsum. Das Problem ist, dass sie nicht angemessen erfasst und dokumentiert sind. Aus psychologischer, padagogischer und soziologischer Sicht sind Kinderbetreuung, freiwillige Tatigkeit, private Altenpflege, Besuche, Anrufe und all die hunderttausend sozialen Aktivitaten der Alteren Beitrage zur standigen Emeuerung und Weiterentwicklung der sozialen und kulturellen Aufgaben der Gesellschaft. Sie dienen der Unterstutzung und der Entlastung der Jungen, sie dienen aber auch der Auseinandersetzung und dem Konflikt, der Orientierung und der Selbstbestimmung. Der Produktivitatsbeitrag der Alteren ist einer zum Zusammenhalt der Gesellschaft (Amann 2004: 111).
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3. Weiterungen Grundsatzlich konnen auf das Individuum selbst und auf die Umwelt gerichtete Beitrage oder Aktivitaten unterschieden werden. H.-P. Tews hat versucht, ein allgemeines Konzept zu entwerfen, mit dessen Hilfe es moglich ist, diese Dichotomisierung zu differenzieren (Tews 1996). Die „ individuelle Produktivitdt" besteht im zielstrebigen Aufrechterhalten der eigenen Unabhangigkeit und Selbstandigkeit, in der gesteigerten Verantwortung gegeniiber sich selbst. Individuelle Produktivitat ist ein klarer Beitrag zur Minderung der Belastung der Gesellschaft im Allgemeinen und des naheren Umfeldes im Besonderen. Die „intergenerationelle und intragenerationelle Produktivitat'' beinhalten die inner- und auBerfamilialen Austauschbeziehungen zwischen Alten und Jungen sowie innerhalb der Gruppe der Alten. Dieser Punkt schlagt als eminent wichtiger Beitrag in der sozialen und materiellen, geistigen und emotionalen Untersttitzung und als unverzichtbarer Stabilitatsfaktor in der praktischen Sozialpolitik zu Buche. Die „ Umfeldproduktivitdt" bezeichnet besonders die freiwilligen, ehrenamtlichen Tatigkeiten, ohne die viele gesellschaftliche Einrichtungen nicht fiinktionsfahig waren. Die „gesellschaftliche Produktivitat'' bezieht sich auf die Selbstorganisation der Alten und deren politischen und kulturellen Einfluss. Dieses Modell, das eine aus empirischen Befixnden gewonnene Typologie von Aktivitaten darstellt, lasst bereits erkennen, dass diese generell als nutzenstiftende Tatigkeiten aufgefasst werden konnen, wobei der Nutzen ftir den Menschen selbst und fur andere eintritt. Notwendig sind die Dimensionen, in die die Nutzenstiftung eingelagert ist, psychisch-geistiger, sozialer, kultureller und materieller sowie instrumenteller Natur. Eine begriffssystematische Weiterung ist in folgende Richtung denkbar. Der weiteste Begriff, unter den alle Aktivitaten von Menschen in dieser Diskussion gestellt werden konnen, ist jener des Beitrags zur Gestaltung und Erfiillung individueller und gesellschaftlicher Entwicklungen und Aufgaben, also zur Lebensqualitat. Dieser Zusammenhang zwischen Beitrag und Entwicklung bzw. Aufgabe wird als eine Nutzenstiftung verstanden, die den Adressaten der Tatigkeiten zugute kommt. Im Prinzip ist solche Nutzenstiftung immer ein Beitrag zur Lebensqualitat der Betroffenen. Da diese Nutzenstiftungen intern und extern sein konnen, wird zwischen Autoproduktivitdt und Heteroproduktivitdt unterschieden. Klarerweise kommen diese beiden Produktivitatstypen immer gemischt vor. Autoproduktivitat wird im Regelfall nicht (direkt) monetar messbar sein, ist aber fast immer der subjektiv erwartbare Nutzen eines Handelns, Heteroproduktivitat kann dies in vielen Fallen sein, in manchen aber auch nicht. Diese Beitrage stammen aus Potenzialen und Ressourcen. Potenziale sind aktuali-
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sierte und latente Moglichkeiten. Sie fmden sich auf Seiten der Individuen und auf Seiten der Gesellschaft. Es ist daher zwischen Individualpotenzialen und Strukturpotenzialen zu unterscheiden. Potenziale sind Ressourcen ahnlich. Letztere sind Gegebenheiten und Voraussetzungen, die von den Individuen entweder geniitzt oder nicht geniitzt werden. In der Forschung tiber Lebensqualitat ist dies eine gelaufige Konzeption. Fiir ungenutzte Potenziale oder Ressourcen gilt, dass jemand uber sie verfligt, aber aufgrund der Rahmenbedingungen nicht nutzen kann, sie aktualisiert hat, diese aber gesellschaftlich nicht anerkannt werden, viele vorhanden sind, aber gesellschaftlich nicht genutzt werden, und diese vorhanden sind, aber die Menschen zu ihrer Aktualisierung nicht motiviert werden konnen (diese Auspragung ist jener im ersten Fall ahnlich, stellt aber doch einen Sonderfall dar, der noch behandelt werden wird). A utoproduktivitdt Aus psychologischer Perspektive kann schon die (oft nicht einfache) Anpassung an spezifische Umstande (z.B. Verluste, Lebensereignisse etc.) als produktiv bezeichnet werden (Baltes 1996; Baltes/Montada 1996). Dies ist eine bedeutsame Dimension der Produktivitat, weil sie den Bereich von Aktivitaten betrifft, der jene individuelle Nutzenstiftung unmittelbar beriihrt, deren gesellschaftliche Effekte schwer zu erkennen und zu messen sind. Darunter fallt z.B. alles, was zur Aufi-echterhaltung der eigenen Unabhangigkeit und Selbstandigkeit beitragt. Es ist dies die von H.-P. Tews sogenannte „individuelle Produktivitat" (Tews 1996: 190ff.) Ihr gesellschaftlicher Effekt liegt in der Reduktion eigener, vor allem aber gesellschaftlicher Investitionen far die Korrektur oder Linderung von Schadigungen. Klare Hinweise auf die Bedeutung dieser Dimension zeigen Modellrechnungen von W. Lutz und S. Scherbov uber die kiinftige Entwicklung alterskorrelierter Behinderungen. Die Gesamtzahl der Menschen mit Behinderungen (die Summe aus mittleren und schweren Behinderungen) in den EU-15 wird von heute 60 Millionen auf 80 Millionen im Jahr 2050 anwachsen. Gelange es, den Eintritt der Behinderungen auch nur um ein Jahr im Altersmuster nach oben zu verschieben, wiirde der Zuwachs an Behinderungen halbiert. Eine Verschiebung um drei Jahre wiirde in Europa zu einem Absinken der Behinderungszahlen trotz rasanter Alterung der Bevolkerungen fiihren (Lutz/Scherbov 2003: lOf). Die Nutzenstiftung auf Seiten der Betroffenen und auf Seiten der offentlichen Kosten lasst sich kaum vorstellen.
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Heteroproduktivitdt Dieser Begriff wird in der Literatur tiblicherweise iiberhaupt mit „Produktivitat" gleichgesetzt. Er stammt aus den USA, steht im Kontext der weit gefacherten Auseinandersetzungen iiber die Idee des „produktiven Altems" und wird in normativen Diskussionen vor allem eingesetzt, um einer dominanten Typisierung der Alteren als Konsumenten des Sozialstaats entgegen zu wirken. Die Kontroversen tiber „intergenerationelle Gerechtigkeit" haben hier sehr unterschiedliche Positionen hervor gebracht, die allerdings nicht selten ideologische Begrlindungen an die Stelle empirischer Analysen rucken. In soziologisch orientierten empirisclien Analysen dominieren als produktive Tatigkeiten jene, die einen Nutzen fur andere Personen stiften (der im Prinzip auch okonomisch fassbar ist, allerdings z. T. mit erheblichen Schwierigkeiten). Die komplexen indirekten Effekte auf die soziale Umwelt kognitiver, emotionaler und motivationaler Art werden meist vemachlassigt (Amann 2004). U. Staudinger hat in diesem Zusammenhang deutlich gemacht, dass auch Tatigkeiten wie ein Hobby betreiben zu allgemeinem Wohlbefmden und der Entwicklung von „Expertenwissen" beitragen konnen und einen „psychologisch produktiven Kontext fur andere Menschen" zu bilden vermogen (Staudinger 1996: 354). Gegenstand subtilerer Operationalisierungen sind sie bisher noch nicht geworden. Die tiblicherweise diskutierten und erforschten Dimensionen „produktiver" Tatigkeit sind meist folgende: Erwerbstatigkeit, Freiwilligenarbeit bzw. ehrenamtliches Engagement (mit und ohne Anbindung an Vereine und Verbande), Kinder- und Enkelbetreuung, Pflegetatigkeit und Unterstutzungsleistungen finanzieller und instrumenteller Art, meist an Jtingere. Diese Dimensionen miissen nun erganzt werden. Die folgenden Uberlegungen sind u. a. aus den Ergebnissen einer Studie gespeist, die 2005 in Wien durchgeflihrt wurde und explorativen Charakter hatte (Amann/Felder 2005). In der qualitativen Studie ging es darum, die Erfahrungen und Meinungen von Menschen in ihrer Alltagswelt einzuholen. Folgende Aktivitatsbereiche, die als ressourcenbezogen analysiert wurden, hatten sich in diesem Projekt als von den alteren Menschen selbst wahrgenommene und als bedeutsam erachtete herausgestellt. Zur Autoproduktivitdt zahlbar: Selbstfmdung, Selbstreflexion, Selbstaufinerksamkeit, Selbstorganisation, Gesundheitsverhalten, Eigeninitiative, Lernen und Weiterbilden, Sich-auf-Neues-Einstellen, korperliche Aktivitat, Umgang mit Defiziten, Hobbys und Entwickeln von Fertigkeiten, biografische Aufarbeitung und Lebensbilanz, Mobilitat und Beweglichkeit, Geld und Vermogen verwalten, tagliche Selbstversorgung managen. Der Heteroproduktivitdt zurechenbar: Erwerbstatigkeit, Ehrenamtliche Tatigkeiten, Kinder- und Enkel-
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betreuung, Pflegetatigkeit, Untersttitzungsleistimgen, Hausarbeit, Konsum, flir andere Zeit haben, politische Partizipation, kulturelle Partizipation, Vermitteln sozialer Kompetenz, Weitergabe von Wissen und Erfahrung, Weitergabe von Werten, Erhalten sozialer Kontakte, offentliche Prasenz, Engagement in Projekten, als GroBeltem zwischen Eltem und Kindem vermitteln. Ohne an dieser Stelle eine weitere Detaillierung der Dimensionen vorzunehmen, wie sie sich aus den qualitativen Interviews im genannten Projekt ergaben, soil in einem nachsten Schritt, ausgehend von diesen empirischen Ergebnissen, versucht v^erden, und zwar in Anlehnung an H.-J. Kaiser und B. Kraus (SIZE 2003), eine tentative Klassifikation von Aktivitatsbereichen einzufuhren. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13.
(SL: Subjektive Lebensfuhrung) Auf das Selbst und die Entwicklung der Personlichkeit bezogene Aktivitaten (IB: Intrinsische Bezuge) Aktivitaten mit intrinsischem Bezug (Tatigkeiten um ihrer selbst willen). (BM: Biografisches Management) Biografische Aufarbeitung, Bilanzieren. (LG: Lebensgrundlagen) Aktivitaten der physischen Lebenssicherung (Versorgung mit Lebensmitteln, Wohnung, Kleidung etc.) (NG: Netzwerke) Aktivitaten zur Schaffung/Wahrung sozialer Netzwerke (G: Gesundheit) Aktivitaten zur Erhaltung/Wiederherstellung der Gesundheit (K: Kapital) Aktivitaten wirtschaftlicher Art (Umgang mit Finanzdienstleistungen, Erwerb etc.) (OP: Offentliche Prasenz) Aktivitaten mit offentlichen Einrichtungen und Amtem, Teilnahme an Diskussionsrunden und in Vertretungen (ET: Erwerbstatigkeit) Tatigkeiten, die dem Erwerb dienen und den Regeln der Erwerbsarbeit entsprechen (ET: Ehrenamtliche Tatigkeiten) Aktivitaten in Organisationen, Gemeinden, Vereinen etc. (PT: Pflegetatigkeit) Tatigkeiten in der informellen Alten- und Behindertensowie Krankenpflege (KE: Kinder- und Enkelbetreuung) Betreuungstatigkeiten innerhalb der Familie und bei anderen (SKP: Soziale und kulturelle Partizipation) Tatigkeiten, die aktive Teilnahme an und/oder Konsum von entsprechenden Angeboten betreffen
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14. (MK: Medienkonsum) Tatigkeiten, die aktive Nutzung und Konsum von Informationstechnologien beinhalten 15. (F: Freizeit) Aktivitaten der Freizeit, Sport etc. Es versteht sich von selbst, dass diese Aktivitatskontexte weder vollstandig noch homogen (als Dimensionen disjunkt gegeneinander) sind. Das bedtirfte erst eingehender empirischer Analysen. Mit Hilfe strukturentdeckender Verfahren lieBe sich z.B. anhand von empirischem Material analysieren, welche dieser Dimensionen relevant sind und mit welchen Variablen diese reprasentiert werden konnen. Jedenfalls aber decken sie das Spektrum auch der wesentlichen in der Literatur identifizierten Bereiche mehr oder weniger ab (vgl. z.B. Deutsches Zentrum fur Altersfragen 2006). Es konnte bei diesen Aktivitaten auch noch zwischen fur die Lebensfohrung unbedingt notigen und zumindest relativ frei wahlbaren Bereichen unterschieden werden. Selbstverstandlich hangt die Beurteilung, ob eine Aktivitat zur ersten oder zweiten Menge gehort, nicht von einem abstrakten Einteilungsprinzip, sondem von der empirischen Reprasentation ab. Mit anderen Worten: die auBeren Lebensbedingungen, biografische Konstellationen, subjektive Einschatzungen, faktisches Verhalten etc. entscheiden letztlich dartiber. In der gegenwartigen Diskussion (iber Altem und Alter zahlt zu den wichtigsten theoretischen Fundamenten die mit der Lebenslaufforschung und mit Entwicklungstheorien in Zusammenhang stehende Vorstellung, dass der Mensch iiber alle Lebensphasen hinweg entwicklungsfahig bleibt und dass Veranderungen im Erleben und Verhalten auch bis ins hohe Alter moglich sind. Jedwede Entwicklung enthalt diesem Theorem zufolge sowohl Wachstum und Gewinn als auch Abbau und Verlust (Stems/Camp 1998: 177). Ftir die Frage nach den Bedingungen, unter denen solche Entwicklungen moglich sind, ist auf deren Ausgangsbedingungen einzugehen. Sie fmden sich in entwicklungstheoretischer Sicht vor allem in den Konzepten der Plastizitdt, der Heterogenitdt und der Resilienz bzw. Widerstandsfahigkeit. Diese Konzepte sind in der Literatur ausftihrlich besprochen worden, bediirfen also an dieser Stelle keiner gesonderten Erlauterung (Baltes/Carstensen 1996). Wichtiger ist eine etwas detaillierte Erorterung der HandlungsstratQgiQn, die Menschen einsetzen konnen, um in bestimmten Situationen „erfolgreich" zu handeln. Hier sind im Wesentlichen drei Strategien zu nennen: Selektion, Optimierung und Kompensation. B. Schlag und A. Engeln haben im Rahmen eines Forschungsprojekts zum Verhalten alterer Menschen im StraBenverkehr diese Strategien empirisch naher untersucht (Schlag/Engehi2001).
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Selektion ist eine Strategic, die vor allem Handlimgsziele und Absichten sowie deren Auswahl und Veranderung betrifft. Sie reicht vom volligen Verzicht auf bisher angestrebte Ziele tiber den schrittweisen Abbau bis hin zur Konzentration auf bestimmte, ausgewahlte oder die Entwicklung neuer Ziele, gebunden an die jeweils vorhandenen und wahrgenommenen Potenziale und Ressourcen der Personen wie der Umwelt (Amann 2006). Selektion kann proaktiv oder reaktiv erfolgen, also vorausschauend auf wichtige Situationen, oder im Nachhinein bei unvorhergesehenen und plotzlichen Veranderungen (Baltes/Carstensen 1996: 206; Schlag/Engeln 2001: 261). Optimierung betrifft die Konzentration auf die Mittel, die jemandem zur Verfugung stehen, um Situationen zu bewaltigen. Der (bewusste) Erwerb, wie Verbesserung sowie die Koordination der fur die Zielerreichung notigen Mittel, wird als Optimierung bezeichnet. Diese Handlungsmittel variieren in Abhangigkeit von den jeweiligen Zielen, Besonderheiten der Person und den vorhandenen Ressourcen der Umwelt (Amann 2000a). Kompensation bezicht sich auf die Vorstellung, dass auch bei eingeschrankten Handlungsmitteln ein vorhandenes Niveau beibehalten und Ziele nicht aufgegeben werden sollen. Das kann auch bedeuten, auf andere, vielleicht neue Ressourcen zurtickzugreifen, wenn etwas mit den gewohnten Mitteln nicht mehr erreichbar zu sein scheint. Gerade in der Kompensation sind Menschen auf eine forderliche Umwelt angewiesen. In einer weiteren Ausarbeitung dieser Uberlegungen mtissten nun Auto- und Heteroproduktivitat, Individual- und Strukturpotenziale sowie Plastizitat, Heterogenitat und Resilienz mit Selektion, Optimierung und Kompensation in Verbindung gebracht werden, was in anderen Worten eine Verkntipfimg von Strukturbedingungen, Ressourcen und Potenzialen sowie Handlungsstrategien unter konkreten situativen Bedingungen bedeutet. Darauf muss an dieser Stelle verzichtet werden.
4.
Ein Sozialprodukt des Alters?
4.1 Abgrenzungen Der traditionelle Begriff Sozialprodukt bezeichnet die Summe aller wirtschaftlichen Leistungen einer Volkswirtschaft (im Allgemeinen auf ein Jahr bezogen), das heiBt aller Gilter und Dienstleistungen, die investiert, gegen auslandische Gtiter und Dienstleistungen getauscht oder verbraucht wurden. Das Sozialprodukt ist daher Ausdruck der quantitativen Leistungskraft einer Volkswirtschaft.
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Es dient als MaB fiir die Wohlstandsentwicklung eines Landes, als VergleichsgroBe (z.B. gegentiber anderen Landem) und liefert Informationen tiber die Zusammensetzung der Wirtschaftsstruktur und die Konjunkturentwicklung. Die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung gibt Auskunft uber die Entstehung, die Verwendung und die Verteilung des Sozialprodukts. Innerhalb dieser Konzeption wird zwischen quantitativem und qualitativem Wirtschaftswachstum unterschieden, wobei fast uberall in der einschlagigen Literatur das Problem der Messbarkeit des qualitativen Wachstums hervorgehoben wird. Parameter des quantitativen Wachstums sind: Verfiigbarkeit der Produktionsfaktoren, technisches und okonomisches Wissen, gtinstige gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen (Verfassung, Gesetz, Arbeitsverhalten etc.); zu den Parametem des qualitativen Wachstums zahlen: Gesundheit, Bildung, Erwerbstatigkeit, Einkommen, Verbrauch und materieller Lebensstandard, physische Umwelt, politische Mitbestimmung und Rechtspflege. Es wird weiter unten zu zeigen sein, dass einige Dimensionen qualitativen Wachstums auch in sozialwissenschaftlichen Konzepten der Lebensqualitatsforschung auftauchen, ein Hinweis, der fur die „Messung" qualitativer Nutzenstiftung sprechen sollte. Ein Konzept eines Sozialprodukts, das nicht unter okonomischen Gesichtspunkten verengt ist, sondem auf alle Beitrage der Menschen fur gesellschaftliche Belange ausgerichtet wird, muss von vomherein darauf verzichten, alle diese Beitrage monetar bewerten zu konnen. Es bedarf eines Bezugspunktes, auf den hin sie zu betrachten sind. Dieser konnte in einem Konzept fortschrittlicher und demokratischer Gestaltung der Lebensqualitat gesehen werden, eine Gestaltung, die allerdings nicht primar am politischen und okonomischen Gestaltungspotenzial festgemacht wird. Wenn es (iberdies auf die Beitrage der Alteren zugeschnitten werden soil, riickt zudem der Kern des traditionellen Produktivitatsbegriffs, namlich „Arbeit" im erwerbswirtschaftlichen und produzierenden Sinn und die Bewertung aller Beitrage zu Marktpreisen, an die Peripherie der Betrachtung. Der erwahnte Bezugspunkt wurde weiter oben abstrakt als der „Zusammenhalt" der gesamten Gesellschaft bezeichnet, beinhaltet daher die Vorstellung, dass durch die Tatigkeiten der Alteren alle gesellschaftlichen Teilbereiche direkt oder indirekt beeinflusst werden. Sie leisten Beitrage zu Wirtschaft, Politik und Staat, Sozialstruktur und Kultur, indem sie an der Tradierung von Wissen, Erfahrung, Normen und Werten, an der identischen Reproduktion und an der Transformation der Strukturen mitarbeiten. Empirische Einzelnachweise sind hier nicht notwendig, da die Forschungsliteratur in der Sozialgerontologie voll von Belegen fiir den unverzichtbaren Anteil der Alteren an der Gestaltung der Gesellschaft ist. Wie dieser Zusammenhalt konzeptuell gefasst wer-
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den kann, ist hier im Einzelnen nicht zu diskutieren, jedenfalls aber sollte der Fluchtpunkt der Uberlegungen die oben genamite fortschrittliche und demokratische Gestaltung der Lebensqualitat sein. Der Grundgedanke zielt auf die Vorstellung, dass gesellschaftliche Entwicklung einen Prozess mit zugleich statischen und dynamischen Elementen darstellt, der seine Charakteristik durch individuelles und kollektives Handeln erhalt, das nicht einfach in einen offentlichen und einen privaten Teil geschieden werden kann. Es ist genau dieser alte Gedanke einer Trennung zwischen offentlich und privat, der unterschwellig seit jeher dem offentlichen Handeln das Veranderungspotenzial fur gesellschaftlichen Wandel zugeschrieben hat, wahrend jenes in der privaten Lebenswelt kaum eine Gestaltungswirkung fur sich beanspruchen konnte. Es sei auch dahin gestellt, ob die Kolonisierungsthese, der zufolge das gesellschaftliche System die Lebenswelt zunehmend durchdringt, ein Gedanke, der sich von M. Weber bis J. Habermas verfolgen lasst, fur das hier aufgeworfene Problem zielfiihrend eingesetzt werden kann. 4.2 Lebenswelt und soziale Produktion Jedenfalls ware eine gezielte Berticksichtigung lebensweltlicher Konzepte in der Analyse der Produktivitat des Alters, gewissermaBen als Gegengewicht gegen eine strukturorientierte Konzeption okonomischer Provenienz fruchtbar einzusetzen. Lebenswelt ist allerdings bis heute, wenn der Begriff nicht unreflektiert gebraucht und mit Alltag umstandslos in eins gesetzt wird, ein rein phanomenologischer Sachverhalt, sie ist „Hintergrund" des Alltaglichen. Schon bei A. Schiitz fmdet sich ein Dualismus der Begriindung, der bis heute nicht gelost erscheint. Zumindest in seinen spateren Schriften zeichnet sich, wahrscheinlich beeinflusst durch den amerikanischen Pragmatismus und Funktionalismus, dieser Dualismus zwischen egologisch begriindeter Individualitat und empirisch-genetisch eingefuhrter Sozialitat ab. Es ist eine Konfrontation zwischen einem durch phanomenologische Reduktion gewonnen „Weltkem" (im Sinne E. Husserls) und einer sozial-wirklich verstandenen Lebenswelt. hi einer sozialwissenschaftlichen Analyse der Beitrage der alteren Menschen zur Gestaltung des Sozialen auBerhalb der Erwerbstatigkeit hatte eine solche sozial-wirkliche Perspektive Prioritat. Sie ware gegenwartig vermutlich die erfolgreichste Erkenntnisstrategie, mit deren Hilfe das „Qualitative" in der Nutzenstiftung sichtbar und begreifbar zu machen ware. Ein Ansatz ware eben jener tiber die Herstellung, Wahrung und Verbesserung von Lebensqualitat. „Alltag" ist ein empirisches Phanomen, wenn damit die konkrete und lebendige, umfangliche Fiille der Erlebniserfahrung von Handehiden bezeichnet wird, die sich aufeinander in den
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unterschiedlichen Reichweiten ihrer Zugriffsmoglichkeiten auf den historischen und biografischen Bestand einer vorgegebenen Gesellschaft beziehen. Diesem Alltag wird eine generative Struktur zxigeschrieben, da er auf einem besonderen Typus von Erfahrung, Handeln und Wissen beruht, und er wird aufgrund der originaren Kompetenz der Akteure als „Interaktionsraum" aufgefasst. In ihm herrschen „ausgezeichnete" Sachverhalte vor, insbesondere dann, wenn die phanomenologische Systematik der Reduktionen in empirischer Hinsicht auf das kommunikative Handeln bezogen wird. Diese ausgezeichneten Sachverhalte sind: a) die sozialen Beziehungen, in denen der „Andere" einen (alltagsweltlichen) Primat fur die Sinnkonstitution hat; b) das soziale Bewusstsein (das Wissen), das nach Sinnhorizonten geschichtet vorhanden ist und Intentionalitat birgt; c) der soziale Sinn, auf den im strengen Verstandnis erst die phanomenologische Reduktion zurtickfiihrt, die dann die Vielfalt alltaglichen Sinnverstehens zu eroffiien imstande ist; d) die Kommunikation, die sich in einer Typik der Lebenswelt niederschlagt. Auf solche Sachverhalte nimmt die Idee der ,J<:leinen Lebenswelten" Bezug. In der modemen Gesellschaft besteht der Ausschnitt der Welt, den der Mensch bewohnt - gesehen im konzeptuellen Gegensatz zu den traditionellen Gesellschaften - gerade typischerweise aus ihnen. Sie werden als Ausschnitte der sozialen Wirklichkeit gesehen, die sich die Subjekte sinnhaft ausgestalten. Wie auf einem Patch-Work-Feld bewegen sich die Menschen uber den Tag hinweg, aber auch biografisch von einer Lebenswelt in die nachste. Diese alte Idee G. Simmels einer wechselnden Teilhabe an unterschiedlichen Verkehrskreisen oder „Bertihrungskreisen" erscheint hier allerdings starker ausgekleidet durch die Vorstellung einer dichten „Binnenkommunikation", einer situationsspezifischen Verwendung von „Milieuzeichen", Inszenierungsmustem, Darstellungsformen und Interaktionsritualen. Den empirischen Untersuchungen zufolge bilden sich kleine Lebenswelten schon um die kleinen oder groBen Interessen herum, die wir zum Wohle unserer Gesundheit, fur unser Seelenheil oder fiir die Zukunft der Natur oder der Menschheit verfolgen. Im Uberblick ergibt sich ein Kaleidoskop von partikularen Lebenswelten, deren jede ein Universum ohne allzu deutliche, aber doch vorhandene Verkniipfimg mit der herrschenden gesellschaftlichen Ordnung darstellt (Amann 2000b). Eine empirisch orientierte Differenzierung von Bereichen im Sinne kleiner Lebenswelten, die trotzdem immer in umfassendere gesellschaftliche Bereiche eingelagert sind, miisste mindestens folgende Dimensionen beriicksichtigen:
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Sozio-okonomische Bedingungen, wie sie in Arbeit imd Beschaftigung, Einkommen, Vermogen, Bildung, nachberuflicher Absicherung zum Ausdruck kommen Wohnung, Wohnumgebung und Technik Haushalt, Ehe und Familie, soziale Beziehungen, soziale Unterstiitzung, soziales Engagement und Partizipation Geschlechterverhaltnisse Recht, Politik, Staat Kultur- und Sozialbereich Alterskonstruktionen, Altersbewertungen und Altersproduktion Solidaritatsnetzwerke jenseits der Familie (in Clubs, Pfarren, Selbsthilfeorganisationen) Ehrenamtliches Engagement (in Verbanden, Vereinen, lokalen Initiativen) Kontakt und Betreuung (in Nachbarschaft, ausgewahlten Reisegruppen, selbst in speziellen Tourismusregionen) Obhut und Aufsicht fur nicht-verwandte Kleinkinder und Pflege fur Altere.
4.3 Sozialprodukt des Alters und Lebensqualitat Um die Verkntipfiing zwischen der Produktivitat der Alteren und dem Konzept der Lebensqualitat anschaulicher zu machen, mag ein vorlaufiger Defmitionsversuch dienlich sein. Das Sozialprodukt der Alteren ist die Gesamtheit aller Tdtigkeiten von Menschen jenseits des Erwerbslebens, die sich in Auto- und Heteroproduktivitdt umsetzen und einen Nutzen stiften, der in die Herstellung, Bewahrung und Erhohung von Lebensqualitat eingeht. Das Sozialprodukt des Alters ist daher Ausdruck der Leistungskraft der Alteren, die aus Individual- und Strukturpotenzialen stammt und, aufden Ausgangs bedingungen von Plastizitdt, Heterogenitdt und Resilienz beruhend, uber Handlungsstrategien wie Selektion, Optimierung und Kompensation realisiert wird. Aufhoherer Aggregatebene konnen Typen von Lebensqualitdt zwischen einzelnen Gruppen und Gesellschaften verglichen werden. Nattirlich wirft dieser Defmitionsversuch eine ganze Reihe weiter fuhrender Fragen auf, vor allem jene nach der qualitativen und quantitativen Messbarkeit der Nutzenstiftung im Kontext von Auto- und Heteroproduktivitat und nach der Messbarkeit von Lebensqualitat. Im Rahmen dieses Textes ist es nur moglich,
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auf einige Uberlegungen zur Lebensqualitatsforschung einzugehen, die Behandlung anderer Fragen muss weiterer Arbeit tiberlassen bleiben. Lebensqualitat ist ein Konzept, das in Gesundheitsprogrammen, politischen Zielformulierungen etc. als Bezugspunkt fur gesellschaftliche Nutzenstiftung anerkannt wird. In der Forschung wird zwischen objektiven und subjektiven Bedingungen der Lebensqualitat unterschieden, wobei fur die objektiven Bedingungen, in enger Koppelung mit dem Gedanken der Strukturpotenziale, der Ressourcenansatz ausgewahlt wird. Lebensqualitat wird hier als das AusmaC verstanden, in dem einer Person mobilisierbare Ressourcen zur Verftigung stehen, mit denen sie ihre Lebensbedingungen in bewusster Weise und zielgerichtet beeinflussen kann (Erikson 1974). Im Sinne der bisherigen Uberlegungen werden Menschen hier als aktive und kreative Individuen gesehen, die nach Autonomie und Erfullung bei der Erreichung selbst gesetzter Ziele streben, wobei die Effekte des Handelns selbstverstandlich auto- und heteroproduktiv sind. Ziele sind positiv bewertete Zustande. Naturlich sind hier zusatzliche exteme Determinanten zu berticksichtigen, die von der Person nicht direkt beeinflusst werden konnen (Umweltbedingungen, Wohnumgebung etc.), eine Dimension, die oben bereits als Strukturpotenzial bezeichnet wurde. Die Lebensqualitat eines Menschen lasst sich so als das AusmaB der zur Verftigung stehenden Ressourcen verstehen, und zwar sowohl der personbezogenen als auch der extemen, z.B. wie Umwelt und Infrastruktur. Langst wird aber davon ausgegangen, dass es nicht ausreicht, die Lebensqualitat nur an objektiven Situationsmerkmalen festzumachen. Zudem ist ausfuhrlich nachgewiesen, dass sich die Lebensqualitat aus der individuellen Perspektive anders darstellt als aus der Fremdperspektive, selbst bei identischen objektiven Lagen (Filipp 2001). Es ist daher empirisch begrtindbar, die Lebensqualitat auch im Urteil des Individuums selbst zu verankem. Dieses Urteil ruht in der psychologischen Forschung vor allem auf den verschiedenen Facetten des „subjektiven Wohlbefmdens". Dabei stehen drei Bereiche im Vordergrund: allgemeine Bewertungen und deren Subdimensionen; Wohlbefinden als erfahrungsabhangig bzw. erfahrungsstrukturierend; kognitive und emotionale Aspekte des subjektiven Wohlbefmdens. Allgemeine Zufriedenheitsdimensionen (z.B. Zufriedenheit mit dem Leben im Allgemeinen) erhalten in empirischen Erhebungen meist hohe positive Werte („summarische" Einschatzungen). Es ist deshalb notwendig, „multikriterial" vorzugehen und herauszufmden, welche Subdimensionen welchen Anteil der Varianz an der allgemeinen Zufriedenheit erklaren. In der wissenschaftlichen Diskussion gilt liberdies, dass subjektives Wohlbefinden breiter ist als Zufriedenheit; auch Autonomic, Selbstentfaltung, Lebenssinn, Selbstakzeptanz und
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tragfahige personliche Beziehungen beeinflussen das subjektive Wohlbefmden. In Lebensqualitatxintersuchimgen ist dies selbstverstandlich fiir die Population der Alteren bestatigt worden. In der Forschungsliteratur ist die Unterscheidung zwischen „Bottom-Up"(Wohlbefinden ist erfahmngsabhangig) und „Top-Down"-Theorien (Wohlbefmden ist erfahrungsstrukturierend) fiir die Erklarung subjektiven Wohlbefindens gangig geworden (Diener 1996). So wird postuliert (und empirisch teilweise nachgewiesen), dass subjektives Wohlbefmden als direktes Ergebnis emotionaler Erfahrungen im Alltagsleben (z.B. angenehme oder unangenehme soziale Interaktionen) zu- oder abnimmt. Eine alternative Position postuliert, dass Personen mit stabilen Grundhaltungen und Eigenschaften ausgestattet sind, die sie dazu pradisponieren, Erfahrungen in positiver oder negativer Weise zu machen. Diese Entwicklung wird hier angemerkt, weil sie fiir eine weitere psychologische Differenzierung des multidimensionalen Konzepts subjektiver Lebensqualitat von Bedeutung ist. Allerdings ist wichtig zu sehen, dass empirische Untersuchungen auch gezeigt haben, dass Personlichkeitseigenschaften nicht geeignet sind, die Schwankungen individuellen Wohlbefmdens tiber die Zeit hinweg oder den nachweisbaren Effekt von Umwelteinfltissen auf das subjektive Wohlbefmden zu erklaren (Diener 2000). In diesem Punkt steht die konzeptuelle und begriffliche Differenzierung von kognitiv und emotional zur Diskussion. Die kognitiven Aspekte werden als Urteile hinsichtlich des eigenen Lebens definiert (z.B. Lebenszufriedenheit), emotionale Aspekte verweisen auf positive oder negative Gefiihle (z.B. Gefiihle des Gliicks oder der Trauer) - beide Aspekte sind jeweils im Kontext subjektiver Lebensqualitat konzipiert. Empirisch ist von Bedeutung, dass positive oder negative Emotionen nicht zwei Positionen auf einer Dimension sind, sondem zwei unabhdngige Dimensionen. Fiir Operationalisierungsfragen ist bedeutsam, dass positive und negative Affektzustande besonders dann als voneinander unabhangig wirken, wenn nicht ihre Intensitat, sondem ihre Haufigkeit erfasst wird. Dass die Verbindung subjektiver und objektiver Lebensqualitat notig ist, zeigt am besten das Input-ZOutput-Modell, in dem subjektive Lebensqualitat als ein Resultat objektiver Bedingungen erscheint (Veenhoven 1997). Objektive und subjektive Lebensqualitat sind keine altemativen Konzepte. Gerade aus dieser Position leitet sich die Forderung nach einem multidimensionalen Konzept ab, in dem uber die Vorstellung einer Klassifikation dichotomer Auspragungen subjektiver und objektiver Lebensqualitat hinausgegangen und nach den vielfachen und nicht direkten Zusammenhangen gefragt wird. Im Mittelpunkt des theoretisch-methodischen Zuschnitts steht die Frage nach intervenierenden Einflussen.
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Dass diese eine Rolle spielen und tiber „Hintergrunddimensionen" abgebildet werden mtissen, wurde an der Funktion der Variable ,^lter" bzw. dem rekursiven Zusammenhang zwischen objektivem Gesundheitszustand, subjektiver Interpretation und Lebenszufriedenheit wiederholt expliziert. In der sogenannten „Berliner Altersstudie" wurde u.a. der Zusammenhang zwischen objektiven Lebensbedingungen, subjektiven Bewertungen verschiedener Lebensbereiche sowie generelles subjektives Wohlbefmden untersucht. In den einschlagigen Ergebnissen war Alter nur geringfiigig mit einem (zunehmend geringeren) globalen subjektiven Wohlbefmden korreliert, bis ins hohe Alter waren groBe interindividuelle Unterschiede zu verzeichnen (eine Wiederbestatigung einer schon alten These, die in den 1970er Jahren von H. Thomae vertreten worden war). In prddiktiven Analysen ergab sich, dass objektive Lebensbedingungen globales subjektives Wohlbefmden nicht vorhersagen, wenn zugleich bereichsspezifische Wertungen beriicksichtigt werden; nur Geschlecht und Wohnbedingungen zeigten darauf einen direkten Einfluss. Die starksten Prddiktoren des subjektiven Wohlbefindens waren die subjektiven Bewertungen der verschiedenen Lebensbereiche: Einkommen und Vermogen, Gesundheit, soziales Netzwerk sowie Freizeitaktivitaten spielten bei der Vorhersage der globalen Lebenszufriedenheit die groBte Rolle.
5. Eine Aufforderung Dem Gedanken, dass die okonomische Produktion einen gewissen Vorrang habe, kann leicht nachgefolgt werden. Bei ihm stehen zu bleiben, zeugt von halbierter Vemunft. Dass Menschen arbeitsam, fleiBig, plinktlich und diszipliniert sind, dass sie konsumieren auf Teufel komm 'raus und sich notorisch in die Konkurrenz um auBeres Ansehen stiirzen, hat mit Erziehung und Kultur zu tun. Solche Charakterztige und Haltungen bringt die Wirtschaft nicht hervor, sie ist auf jene angewiesen. Sind sie aber vorhanden, so verstarkt sie diese. Die gesellschaftlichen Verhaltnisse sind ein einziger Kampf um Erlangen und Bewahren guter Positionen in diesem endlosen und sehr emsten Spiel. Dass die Alten in diesem Spiel in einer verhaltnismaBig schlechten Lage sind, hat seinen Grund auch in einer Sichtweise, die alles, selbst Soziales und Kultur, nur in Geldrechnung aufgehen lasst. Dass die Alteren zur Weiterexistenz der Gesellschaft dauemd beitragen, selbst wenn sie in Pflegebetten liegen, ist eine fremde Vorstellung geworden. Mit diesen Uberlegungen sind wir aber von Wirtschaft und Produktion weit weg. Sie bewegen sich um die Frage, was die Charakteristik einer Kultur aus-
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macht, die das Alter als nutzlos ansieht. Dazu lasst sich einmal festhalten, dass in unserer Kultur in den letzten zweihundert Jahren Sterben und Tod vollig verdrangt worden sind. Lange leben und trotzdem nicht alt werden, das wollten, soil dem romischen Staatsmann und Philosophen M. Tullius Cicero geglaubt werden, die Menschen immer schon. Dass eine gesamte Kultur die Gedanken an den Tod so sehr vemeint, dass auch die Vorstufe dazu, das Alter, nur noch als etwas Furchtbares gesehen wird, das bekampft werden muss, ist unsere eigene Erfindung. In ihr wurden Jugendlichkeit, Geschwindigkeit und Produktivitat aufs Engste zusammen gekoppelt und zu Alter, Langsamkeit und Mangel an Produktivitat in einen harschen Gegensatz gebracht. Das Alter wird nicht als zum Leben gehorig betrachtet, zumindest nicht zum jungen, dynamischen und produktiven Leben. Es ist eine unangenehme Zwischenstufe zwischen dem wirklichen Leben und dem nicht Benennbaren, das zuletzt kommt. Hin und wieder nicht an Alter und Tod zu denken, ist aber etwas Anderes, als die Vorstellung davon in panischer Verbissenheit abzuwehren. Eine widerstrebende Bewegung, die den Alterssinnvemichtem die Augen offiien konnte, muss bei den Menschen selbst beginnen (Amann 2004: 51). Da ist niemand, der uns an der Hand nimmt und in einen groBen Saal fuhrt, in dem die Meinungsmacher und Sinnverdreher versammelt sind, um ihnen das Zugestandnis abzuringen, wir seien von Wert fur die Gesellschaft. Das miissen wir schon selber tun.
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Alter(n)stopografien Christine Hartmann und Marcus Hillinger Andragogin infreier Praxis, Bregrenz/Vorarlberg (Supervisor in/Mediator in) Philosoph und Projektmanager (Mediator), Linz/Oberosterreich Etwas Besseres als den Tod fmden wir allemal! (Die Bremer Stadtmusikanten)
1. Einleitung Drei Ausgangsthesen offiien, strukturieren und begrenzen unseren Zugang zum Thema: These 1: Die Zukunft ist unentscheidbar und gestaltbar. Der Forschungsfokus ,^lter" iiberlagert alle anderen moglichen Beobachtungsdimensionen^, mit denen zu rechnen ist, wenn Szenarien fur die gesellschaftlichen Entwicklungen in den nachsten zwanzig, dreiBig oder flinfzig Jahren antizipiert werden. Wir konnen nicht wissen, wie sich Lebensbedingungen angesichts zu erwartender okologischer Katastrophen, global vemetzter terroristischer Gegenkulturen, einer weiterhin wachsenden Entfesselung der Finanzmarkte oder der Uberalterung der Gesellschaften verandem werden. Einer konstruktivistischen Interpretation der Lebenswelt verpflichtet, behaupten wir daher weiters die Unmoglichkeit, favorisierte Voraussagen uber kiinftige Entwicklungen treffen zu konnen: komplexen Systemen ist ein Grad an Unberechenbarkeit immanent, der unaufhebbar ist.-^ Alle im Folgenden antizipierten Szenarien werden sich nicht mit den kiinftigen Fakten decken: Altemativen, Alterationen, Komplemente sind denkbar. Zugleich bleibt offen, wie das Kiinftige interpretiert werden wird, da auch die Interpretation selbst dem Veranderungssog des Zeitlichen ausgesetzt ist und wiederum mogliche Entwicklungen beeinflusst. Die Imaginationen des Kunftigen nehmen Einfluss auf die anstehenden Veranderungs- und Entwicklungsprozesse: Die Jungen tun gut daran, das eigene Altem zu antizipieren und die Alten beziiglich ihres eigenen kiinftigen Altseins 1 Okonomische, okologische, kulturtechnische, migrantische, ethnische, ethische etc. 2 Wir fassen diese Tatsache analog zum Goedel'schen Unvollstandigkeitsaxiom in der Mathematik auf, das im Kern besagt, dass jeder widerspruchsfreie Kalkiil, der es erlaubt, von den natiirlichen Zahlen zu sprechen, unendlich viele Aussagen enthalt, die in diesem Kalkiil weder bewiesen noch widerlegt werden konnen. Solche Aussagen heiBen unentscheidbar.
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zu befragen, um schon jetzt die kiinftigen Designs der eigenen Person in die Frage nach der „Sorge um sich" zu kleiden und Dimensionen wiinschenswerter Lebensraume und -umwelten zu definieren. Wir sind aufgefordert, Landkarten einer kiinftigen Topographie zu entwerfen, solange es die Distanz zu den Ereignissen noch erlaubt: wie der erfahrene Wanderer sich auf einer Anhohe Uberblick iiber den vor ihm liegenden Weg und das Gelande verschafft. Der altersweise Blick ist ein konservierender im besten Sinne, und idealerweise einer, der Tugenden tradiert: nur der alte Mensch ist gQSchichtsbewusst und -gewahr; dies und seine Dialogbereitschaft sind seine Referenz und seine Rechtfertigung. These 2: Altern kann man ausschliefilich in Kontexten. Nach dem Alter fragen macht nur im Zusammenhang mit den jeweiHgen Kontexten Sinn, innerhalb derer das Differenzkriterium Alter abgefi-agt wird. Alter zur spezifischen Zuschreibung einer Person oder Personengruppe zu machen bedeutet, Deutungshoheit iiber Kontexte zu beanspruchen, deren Legitimitat in Frage steht. Zinedine Zidane ist mit 34 Jahren ein alter, in den Ruhestand tretender FuBballer; als Trainer der franzosischen Nationalmannschaft ware er mit 34 ungewohnlichjung. „Kennedy, als er mit dreiundvierzig Jahren Prasident der USA wurde, war jung; der dreiundvierzigjahrige Assistent eines HochschuUehrers ist es nicht" (Amery 1968: 69). Je nach Kontext werden der Person ein bestimmtes Alter und mit diesem verbunden bestimmte Erwartungen und Beftirchtungen zugeschrieben. Ein und dieselbe Person taucht gleichzeitig in verschiedenen Kontexten mit unterschiedlichem Alter auf. Zu fi-agen ist daher, ob das biologische Alter angesichts der Kontextualisierung des Alter(n)s ein angemessenes Untersuchungskriterium ist? Ergiebiger scheint es, Bedingungen des sozialen und kulturellen Altems in Betracht zu Ziehen, die das Phanomen des demografischen Wandels mit beriicksichtigen. Angesichts der Verschiebung der Alterslandschaften ist mit einer groBen Felddichte im Bereich der 60- bis 120-jahrigen relativ zu den 15- bis 35-jahrigen zu rechnen. Dennoch darf aus mehreren noch zu erlautemden Griinden angenommen werden, dass sich die sozialen Spannungen der Zukunft weit weniger zwischen den Generationen bzw. Alterskohorten entladen werden^, als dass die di3 Einen „clash of generations", wie sie die offentlichen Debatten uber Finanzierungsengpasse in der Altersversorgung und die Vergreisung Europas evozieren, halten die Autoren fur unwahrscheinlich, schon weil die Interessenslagen der Generationen zu weit auseinander liegen. Sollte
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vergierenden Lebensentwiirfe, -anfragen und -bedarfe innerhalb der Alterenkohorten neu ausdifferenziert und kontextuell zugeordnet werden. Die Gruppe der Alten - falls deren Reprasentantlnnen sich einst noch als „alt" bzw. als „Gruppe" verstehen werden - wird in sich widersprtichlich und ephemer sein und tiber ein bislang ungekanntes MaB an Heterogenitat verfiigen. Die Ausdifferenzierung der Gruppe der Alten wird an der Bildung diverser Subgruppen unterschiedlichen Bildungs-, Aktivitats- und Partizipationsniveaus ablesbar sein: junge Alte, alte Alte, gogo's, slowgo's, nogo's werden die offentlichen Diskurse bevolkem; Rlickzuge aus dem offentlichen Raum sind, wenn iiberhaupt, erst im hohen Alter zu erwarten. Nicht nur als Gruppen werden die Alten heterogen sein, sondem sie werden auch individuell mit unterschiedlichen „Altersstufen" innerhalb der eigenen Person konfrontiert sein. Alter wird als widersprtichlich und kontextabhangig, unter Umstanden als intrapersonaler Kriegsschauplatz, gegebenenfalls als Drama unterschiedlich gealterter innerer Aspekte erlebt werden. Dass er zum Tod hin altert, wird dem Menschen in dem MaBe deutlicher, je mehr Kontexte ihn als „alt" klassifizieren. Die Ausdtinnung von Handlungsmoglichkeiten und Potenzialen, die der alter werdende Mensch subjektiv als eine „Verengung des Zeitgitters" und in der Folge als Beschleunigung seiner Lebenszeit erlebt*, wird in Bezug auf den bereits als „alt" erklarten Menschen behauptet: doch beginnt nicht diese Form des Reduktionismus bereits mit der Geburt, den ersten Lebensjahren, den sogenannten „Zeitfenstem" der frlihen Kindheit, in denen sich die Motorik fur Pianisten ebenso wie die Leichtfertigkeit des Spracherwerbs ausbilden? Im Folgenden werden wir auch Altemativszenarien zum Reduktionismus des Alter(n)s diskutieren. These 3: Alter(n)swurdigende Konzepte bedurfen zuallererst einer Strategie zur Rucknahme von Altersdiskriminierungen. Wir pladieren im Folgenden fiir eine Umkehrung der Forschungsfrage. Nicht: welche Kompetenzen bietet die Generation 55+^ dem Arbeitsmarkt und der Gesellschaft, sondem: welche Strategien werden Gesellschaft und Arbeitsmarkt entwerfen mtissen, um auf die Bedingungen und Bedingtheiten von Altersgruppen einzugehen, die ktinftig die demokratischen Mehrheiten stellen werden, und es in der Tat ktinftig zu Verteilungskampfen ungeahnten AusmaBes kommen, so werden diese innerhalb der Generationen ausgetragen. Vgl. Amery (1968: 66): „Wer immer (der altemde) A sei, er wird nicht GroBwildjager werden, wenn er es nicht schon war, noch Staatsmann, noch Schauspieler, noch Berufsverbrecher." Gegenwartig tragen arbeitsmarktpolitische Projekte ftir Altere Titel wie „Generation 40+"; Tendenz: sinkend.
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deren gesellschaftliche und arbeitsmarktpolitische Partizipation in Anbetracht fehlender Junger unverzichtbar sein wird? Bedenken wir, dass unsere Gesellschaften bereits in zehn, fiinfzehn Jahren mit den Konsequenzen eines fehlenden demografischen Hinterlandes konfrontiert sein werden, die keine Migrationsoffensive kompensieren kann. Die leitenden Fragen werden sein: Welche Angebote kann die Gesellschaft den Alten machen, damit sie weiterhin aktiv an offentlichen Diskursen und wirtschaftlichen Prozessen partizipieren? Welche neuen Konzepte von Lebens- und Arbeitswelt mussen diskutiert werden, um Leben und Arbeit dergestalt auszubalancieren, dass sie fur Bevolkerungsgruppen jenseits des Primats der Selbstausbeutung gestaltbar bleiben? Wie werden Gesellschaft und Arbeitsmarkt die Raume der Alterssegregation wieder offiien, die AusschlUsse und Altersstigmata zurticknehmen und die Handlungskontexte so umschreiben, dass die Gefahr emeuter Ausgrenzungen minimiert wird? Welche Meinungsbildungsprozesse sind in Gang zu setzen, um gewiinschte Potenziale auszubauen und weiterzuentwickeln? Denn es scheint doch immerhin moglich, dass der altersweise Blick einer Humanisierung und Ethisierung der Lebenswelt den Vorzug gegeniiber dem status quo geben konnte, einer Welt also, in der Entscheidungen zunehmend auf Nachhaltigkeit und Generationenvertraglichkeit iiberpruft werden. Entlang der skizzierten Fragestellungen und in stetem Rekurs auf unsere Ausgangsthesen werden wir Inseln moglicher Alterstopografien erortem, die keine innere Stringenz beanspruchen; vielmehr werden sie sich widersprtichlich zeigen, ganz so, wie es dem Verhaltnis der Autoren zueinander auf Grund ihrer Zugehorigkeit zu unterschiedlichen Alterskohorten entspricht. Die Widerspriichlichkeit spricht nicht flir oder gegen die vorgebrachten Thesen, spiegelt aber vielleicht die Verfasstheit einer Gesellschaft, die sich selbst zunehmend zur Frage wird: einige Spannungsfelder moglicher Antworten - nicht diese selbst werden in diesem Aufsatz bebildert.
2. Verortung: Alt werden ist nichts fiir Feiglinge! Diejenigen, die wir - hauptsachlich - vor Augen haben, wenn wir die demografischen Altersspitzen betrachten, sind heute zwischen 50 und 60. Sie bilden die Gruppe, die die Jugendrevolte und die feministische Bewegung zumindest miterlebt, wenn schon nicht mitgetragen hat; es sind diejenigen, die entweder ftir ein wachsendes okologisches Bewusstsein sorgen oder sich dariiber argem. Zur personlichen Geschichte dieser Altersgruppe gehoren also die Diskussionen liber alternative Lebens- und Familienformen und neue Geschlechter- rsp. Rollenbil-
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der oder das Unverstandnis dartiber, verbunden mit dem Wunsch, einfach nur im Aufbau mitzuschwimmen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich diese individuellen Erfahrungsbiografien auf personliches imd gesellschaftliches Altem abbilden werden, bedeutet auch, dass diese Gruppe aus ,^eitpionieren" besteht, die das Alt-Werden und vor allem das Alt-Sein neu erfinden werden. Insbesondere diejenigen, die die Bildungschancen, die verbesserte Gesundheitsversorgung und die wirtschaftliche Erweiterung in der zweiten Halfte des letzten Jahrhunderts nutzen konnten und nutzten, werden sowohl Altem neu definieren als auch die Formen erfinden und entwickeln, die Altsein aus dem zu Ertragenden ins Wtinschenswerte hineinwachsen lassen. Ob ihrer groBeren Dichte in der Nahe des Todes werden sie vermehrt spirituelle Haltungen einnehmen; ihre Lebenskunst wird auch eine Kunst des Sterbens umfassen, die als Lebenskunst auf die Nachkommenden zuriickwirken wird. Wahrend sich fur die Jungen stets Lebenshorizonte aufhin, lichten sich diese fiir die Alten, und geben Sicht frei auf den ultimativen Horizont. Die zu entwickelnde Kunst im Umgang mit dieser letzten Grenze ist eine Todesdsthetik, mit der sich eine signifikante Minderheit der Alten in sehr unterschiedlichen Formen auseinandersetzen wird.^ Viel wird davon abhangen, wie sich die Alten selbst zum Alt-Sein verhalten werden: ob der Tod weiterhin das Unerwahnbare bleibt und man seine Avancen kosmetisch, gymnastisch, sportiv und diatetisch abzuweisen versucht, oder ob man die eigene Hinfalligkeit und die Auflosungstendenzen des eigenen Korpers in seine Lebenshaltung, die dann ja auch schon eine Todeshaltung ist, zu integrieren vermag, ist nicht entscheidbar. Wahrscheinlich ist, dass sich eine Vielzahl von Haltungen ausbilden wird und dass Inkommensurables en masse nebeneinander existieren wird.^ Resignation als Ton angebende Grundstimmung ist dennoch nicht zu erwarten: Wir wagen die These, dass die jetzt 50- bis 60-jahrigen sogar weniger resignativ sind als die 20-jahrigen, da sie im Gegensatz zu den Jungen iiber Erfolgsgeschichten verfiigen. Ob die Erfolgsgewohnten Beschrankung als Zugewinn betrachten werden konnen? Werden sie erschrecken vor den dtisteren Prognosen?
6 Dies ungeachtet des Umstandes, dass voraussichtlich nur wenige Haltungen die intensive Auseinandersetzung mit der Endlichkeit beinhalten werden. 7 Man konnte in diesem Zusammenhang von einer zunehmenden Orientalisierung der Lebenshaltungen sprechen, einem Basar voll von Rezepten, Positions- und Strategiepapieren im Umgang mit der eigenen Existenz.
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3. Schattenzukunften a.) Die Leistungskurven der jetzt Jungen verflachen, ebenso wie humanistische Bildung und soziale Kompetenzen. Sollte sich der Trend zur Privatisierung von Bildung, zur fruhen „Zurichtung" der Heranwachsenden fiir die Wirtschaft fortsetzen, ist mit weiteren Verlusten im Bereich der Kulturtechniken, der Allgemein- und Menschenbildung zu rechnen. Die kommenden Generationen werden sich zunehmend aus subdominanten Fach- und Bildungseliten und einer dominanten bildungsfemen und -resistenten Masse von Konsumenten, denen die schwachere Personlichkeitsbildung, die Unfahigkeit, sich Zugang zum Wissen zu verschaffen und ihre Unkenntnis und Unfahigkeit, auch nur fur das (Uber)lebensnotwendige zu sorgen, zum Nachteil werden, zusammensetzen. b.) In einer oder mehrerer der potenziellen Schattenzukunften werden die Verteilungskampfe entlang der Versorgungslinien des Lebensnotwendigen (Nahrung, Wasser) und nicht entlang der Partizipation am Wohlstand stattfmden. Man wird weder marodierenden Banden und Privatmihzen, die die Zugange zum Lebensnotwendigen kontrolHeren, etwas entgegen setzen noch es aus eigener Kraft besorgen konnen. In dreiBig Jahren wird das ohnehin nur mehr rudimentar vorhandene Wissen um Naturzyklen und Anbautechniken nahezu verschwunden sein, nicht zuletzt auch deshalb, weil diese auf Grund der Folgen des Klimawandels und der damit einhergehenden Instabihtaten ihre Gtiltigkeit und Vorhersehbarkeit groBteils eingebiiBt haben werden. Die jetzt 50-jahrigen und dann Alten und Hochalten werden die letzten sein, die dieses Alltagswissen noch fi-agmentarisch erinnem. Sie werden es aber auch sein, die panikartig letzte rare Pflegeplatze und Zugange zu medizinischer Versorgung und ambulanter Betreuung sttirmen. c.) Eine Schattenzukunft wird Hochtechnologie vor allem im Bereich der Inft)rmations- und Biowissenschaften bereitstellen, die jedoch jeder gesetzgebenden Kontrolle einer legitimierten Mehrheit entzogen ist. Selbst wenn es staatHche Systeme unseres Typs noch geben wird, werden diese sich - wenn iiberhaupt - iiber manipuHerte Mehrheiten legitimieren. Der Zugang zu Information wird in ungekanntem AusmaB entweder selektiv gesteuert oder in einer Weise manipuhert werden, die die Inft)rmation wertlos fur poHtische Partizipationsprozesse macht. Diese dusteren Zukunftsbilder heBen sich behebig ft)rtsetzen. GemaB unserer ersten Ausgangsthese favorisieren wir keines von ihnen und eingedenk der Hypothese, dass ausreichend Inszeniertes nicht wirkHch zu werden braucht^, 8 Entgegen den Prognosen sind das Waldsterben und der ultimative Atomkrieg, also die kollektiven Schreckensvisionen der 1980er Jahre, bislang ausgeblieben, wenngleich Ereignisse wie
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werden wir sie mit etwas Gluck zu gegebener Zeit im Requisitenfundus unserer Kleinstadttheater ad acta legen konnen. Warum aber die spiirbare Wehmut jenes Teils der jungen Alten, die wie beschrieben als Zeitpioniere und Altersweise die Erosion der abendlandischen Kulturtechniken erleben? Hier zeigt sich eine der grundlegenden Qualitaten der Alten, ein Potenzial: die Alten erinnern auf Grund ihres ,Mehr' und ihres ,Langer' an Erfahrung andere Zeitqualitaten. Jeder Generation, ja schon jeder Alterskohorte fehlt das Erfahrungswissen der Vorganger. Die Jungen werden weder ihr sinkendes Bildungsniveau, noch das Verschwinden ihres naturlichen Lebensraumes, noch den Verlust an politischen Partizipationsmoglichkeiten vermissen konnen, da sie es nie gekannt haben. Die heute 20-jahrigen, die auf verschulten Universitaten fur die Wirtschaft zugerichtet werden, haben keine Vorstellung mehr davon, worum es beim Studieren in den 1970er und 1980er Jahren gegangen ist. Angesichts der zunehmenden Geschichtslosigkeit und der beschleunigten Verfallszeit der kognitiven Wahmehmung konnen sich prozesshafte Vermogen wie es Kulturtechniken sind, nur mehr erschwert ausbilden. Vielleicht werden die Alten ihre Funktion als Geschichts- und Geschichtentrager wieder aufiiehmen, weil nur sie tiber Geschichtsbewusstsein verfugen. Doch blicken auch sie in eine prekare Zukunft.
4.
Pladoyer fur die Denunzierung von Alter(ii)sdiskriniinierungen in den Kontexten von Arbeit und Arbeitsmarkt Wenn, wie die Autoren behaupten. Alter und Altem nur kontextuell Bedeutung gewinnen und wenn weiters die Vermutung nahe liegt, dass Kontexte auch Raume fiir die Entfaltung von Machtdispositiven zur Wahrung partikularer Interessen sind, muss die zentrale Aufgabe alter(n)swtirdigender Konzepte darin liegen, reihum die Verwerfungen und Alter(n)sdiskriminierungen - Kontext fiir Kontext, Raum fiir Raum - zu denunzieren. Wer wann wie lange und unter welchen Einkommensverhaltnissen auf dem Arbeitsmarkt als (zu) jung bzw. (zu) alt anzusprechen ist, bestimmen diejenigen, die die Verteilungshoheit tiber das als rar defmierte Gut (Lohn-)Arbeit innehaben, zunachst um ihre Profite zu optimieren. Die Erwerbstatigen werden auf die vermeintlichen Bedarfe der Wirtschaft, die sich allenthalben andem, da sie selber der Beliebigkeit der entregelten Markte ausgesetzt sind, zugerichtet. Der Hang zur Kurzlebigkeit untemehmerischer Strategien ist auch daran abzulesen. Tschemobyl und die lange Liste der seither stattfindenden Kriege allerorts keinen Zweifel an der Emsthaftigkeit der Potenzialitat dieser Kollektiwisionen lassen.
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dass die Wirtschaft iiberhaupt nicht auf die Prognosen der Altersforscher zum demografischen Wandel reagiert. Der Kurzlebigkeit und Unverbindlichkeit, einhergehend mit der Zurticklegung sozialer Verantwortung, korrespondiert die irritierte Wahmehmung der individuellen Zeitlichkeit: eine Welt, die sowohl ihr Geddchtnis wie auch ihre Vision verloren hat, ist ein ubiquitares Nirgendwo, innerhalb dessen „alles" moglich scheint (Anders 1956). Das Schwinden des sozialen Zusammenhalts, die Aushebelung tradierter Berufsverlaufe und ihrer Einbettung in die sozialen Beztige bewirkt wie nebenbei auch eine Korrosion des sozialen Alters. 50-jahrige arbeitslose Bankmanager konnten doch noch brauchbare Lagerarbeiter abgeben; die Generationenkompetenz der GroBmutter und -vater lieBe sich auch noch in Horten und Erziehungsheimen verwerten usw. Die Launenhaftigkeit der Markte fahrt dazu, dass man zumeist in mehreren Kontexten gleichzeitig als alt, als jung, als zu alt, zu jung auftaucht und wieder verschwindet. Wer gestem zu alt fur den Krankenpflegedienst oder das Call Center war, ist morgen dafiir wieder zu jung, weil er/sie aus statistischen Grunden ins Visier arbeitsmarktpolitischer Forderprogramme gertickt oder daraus herausgefallen ist. So gesehen konnten die vom Wirtschaftsprimat bestimmten politischen Lenkungsinstrumente zufallig und unbeabsichtigt zu einer schrittweisen Egalisierung der Gesellschaft und einer Rticknahme von Altersdiskriminierung beitragen, indem sie unwissentlich an der Auflosung von identitatsstiftenden Alterszuschreibungen arbeiten. Hat nicht die Politik selbst diese Entgrenzung lanciert, indem sie gerade mal DreiBigjahrige - tibrigens mit alien Konsequenzen, mit denen bei den jungen Emporkommlingen zu rechnen ist - zu Finanz- und Justizministem gekiirt hat?^ Nun miissten noch die in die Jahre gekommenen Minister und Ministerinnen, Staatssekretare und -sekretarinnen zuriickkehren in die anfanglichen Verwaltungsebenen und Basisgremien ihrer Parteien, um vorzuleben, was sie den alteren Arbeitsuchenden ganz selbstverstandlich zumuten: namlich auf die Halfte ihres letzten Gehalts zu verzichten, die Karriereleiter bei der untersten Sprosse wieder anzufassen oder ein Drittel ihres Gehalts fiir die Beweisfuhrung ihrer Mobilitatswilligkeit aufzuwenden. Im Wesentlichen lassen sich drei Gruppen jener jungen Alten^^ unterscheiden, die als Projektionsfolien fiir okonomische Diskurse in Frage kommen: Je9 Die Rede ist von Osterreich und seinem als „Wende" bekannt gewordenen Regierungswechsel im Jahr 2000. 10 Die jungen Alten sind zwischen 50 und 60, stehen entweder im Erwerbsprozess oder sind angehalten, sich emeut dazu Zutritt zu verschaffen.
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ne, die in gefestigten Positionen, unabwahlbar oder unkundbar auf ihre Pensionierung warten; jene, die erwerbstatig, aber auf Grund ihres Alters^ ^ in als prekar zu bezeichnenden Arbeitsverhaltnissen sind; und jene, die bereits aus der Erwerbstatigkeit ausscheiden mussten und auf groBe Probleme bei dem Versuch der Reintegration in den primaren Arbeitsmarkt stoBen.^^ Je nach Umstanden - und vielleicht ist es gerade die Willktir, die wir beklagen - entscheiden aktuelle Branchenbedarfe und spezifisch gepragte Firmenkulturen und nicht verbindliche gesellschaftsethische Ubereinkiinfte tiber den „Wert" der jungen Alten. Die Okonomie nimmt sie in ihrer Ambivalenz als Bereicherung oder Hemmnis wahr und klassifiziert sie dementsprechend: entweder als (wenn auch teure) Erfahrungstrager und Ruckgrat des Untemehmens oder als Sesselkleber, Unproduktive und Krankheitsanfallige; nur vor der dritten der erwahnten Gruppen herrscht Schweigen. Die Exponiertheit alterer Arbeitsuchender bezieht sich auf ihr soziales Alter; dieses steht auf dem Spiel. Prinzipiell ist das soziale Alter des Arbeitslosen unbestimmt, unentschieden, es wartet auf neue Zuschreibungen. Die anfangliche Vehemenz, mit der der altere Mensch nach Uberwindung des Schocks seiner beruflichen „Freisetzung" seine Rtickkehr in die Erwerbsarbeit betreibt, hangt mit der Notwendigkeit zusammen, sein soziales Alter - weil sonst die anderen tiber ihn richten werden - neu zu bestimmen. Er sptirt: sein Zustand ist ein vogelfreier. Vom Markt abgewiesen und flir die staatliche Arbeitsmarktpolitik nach und nach ein wachsendes statistisches Argemis, erregt er die professionelle Neugier jener Institutionen, Firmen und Vereine, die gut leben vom Geschaft mit den Arbeitslosen. Sein primarer Kontext ist ein zur Ganze fremdbestimmter, ein Uberlaufbecken, ein Reservoir bevolkert von aus anderen Kontexten Ausgeschlossenen. Vielleicht ist gerade von dieser Gruppe zu erwarten, dass sie - in Kooperation mit den jungen partizipationsbereiten Rentnem - neue, vom Entgelt entkoppelte Formen der Arbeit erfinden wird. Was den alten vom jungen arbeitslosen Menschen unterscheidet, was ihn, den Alteren im Mark trifft, ist, dass er in personam, seinem Wesen nach, abgewiesen wird. Der junge mag zu jung, gering- oder tiberqualifiziert sein; stets handelt es sich um Eigenschaften, die prinzipiell disponibel sind. Der Junge 11 Innerbetriebliche Senioritatsregelungen und legistische Schutzbestimmungen fiir Altere werden den Betroffenen zum Nachteil. 12 Diese dritte Gruppe ist das Klientel fiir arbeitsmarktpolitische Programme wie „Hartz 4" in Deutschland oder jungst dem sogenannten „Kombilohn" in Osterreich, bei dem Untemehmen, falls sie Zielgruppenpersonen anstellen, betrachtliche Zuschiisse zu den Personalkosten von der offentlichen Hand (dem Arbeitsmarktservice) erhalten. Weder die Begiinstigten noch die Unternehmen haben bislang auf dieses Angebot reagiert.
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wird alter, der Geringqualifizierte geschult, der Uberqualifizierte findet fruher Oder spater vielleicht eine adaquate Anstellung. Derjenige jedoch, der seines Alt-Seins wegen verworfen wurde, blickt nur in die zunehmende Prekarisierung seines status quo: er wird immer alter. Wer Deutungshoheit tiber Kontexte beansprucht, wird in aller Kegel das Prinzip des „Mangels" in die Debatte einbringen (Gronemeyer 2002). Arbeit selbst wird zum Mangelgut erklart, das seine Aufwertung und seine Wertschatzung durch sein „zu wenig" erfahrt. Das „Alter" zu prekarisieren in einer Zeit, in der viele alter werden, wirkt als Attraktivierungskatalysator auch noch der unattraktivsten Arbeiten. Man ist schon froh, tiberhaupt welche zu haben; Fragen nach dem Wert oder Sinn dieser Arbeit zu stellen, gilt als unanstandig oder wenigstens undankbar. Zu alt, zu teuer, zu unflexibel sind die Alten den Unternehmen und Konzemen. Die Alten werden verstoBen, ohne dass jemand die Wahrheit iiber die Arbeit sagte: dass sie es namlich ist, der die Luft ausgeht, und zwar nicht als die Not wendende, zu verrichtende Tatigkeit, sondem als sinnstiftende erfullende Lebensaufgabe.^^ Die Einschreibung des Mangels in das Aktionsfeld „Arbeit" lenkt davon ab, dass die Massenerwerbsarbeit - vomehmlich in der Industrie - schon seit langerem dramatisch riicklaufig ist und die daraus resultierende und so dringend zu fiihrende Wertedebatte bis auf weiteres verschoben wurde. Der viel beschworene (Personal-)Dienstleistungssektor wird die freigesetzten und alter werdenden Arbeitermassen nicht aufiiehmen konnen. SchlieBlich mangelt es - das haben Wirtschaft und Politik richtig erkannt - an der Bereitschaft der Leute, ohne Murren in Reih und Glied im Tross der neuen „Arbeitssklaven" mitzumarschieren und jene Arbeiten zu verrichten, die in prosperierenderen Zeiten an Fremd- und Gastarbeiter delegiert wurden. Subtil gewendet konnten die Altersstigmata moglicherweise Ausdruck eines Residuums noch verbliebenen Schamgefuhls der Shareholder sein, denen angesichts sechzigjahriger Kindergartnerinnen, siebzigjahriger Fensterputzer und zittemder vergreister Oberkelbier kurzfristig die Lust am mondanen Weltverzehr vergeht. Die Autoren mutmaBen, dass Fragestellungen wie die vorliegende, namlich welche Potenziale die Alteren haben, Reaktionen auf ihre Verwerfungen sind. Nur ist den Alten damit geholfen? Macht es Sinn, einseitig Ressourcen der Alteren bis hin zum Verweis auf den Altestenrat in den afrikanischen Savannen herbeizureden, nur um Eintritt in dieselbe Kneipe zu bekommen, aus der man zuvor rausgeworfen wurde? Wer diesen Weg beschreitet, hat akzeptiert, dass die Seinsberechtigung einer Personengruppe uberhaupt zur Debatte steht. Wer die Potenziale der Alteren (oder irgendeiner anderen Gruppe) abfragt, unterwirft sie 13 Exemplarisch sei auf eine der neueren Publikationen verwiesen: Engler (2005).
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dem Utilitarismus: es geht dann um die Nutzlichkeit der Alien, die erst mal bewiesen werden muss, und dann Seinsberechtigung, vielleicht sogar Anerkennung verleiht; der Diskurs aber (der Priifstand) ist derselbe, der sie zuvor ausgeschlossen hat. Das Ergebnis einer solchen Potenzialabfrage wiirde - redlich untersucht ebenso widerspruchlich ausfallen, wie sich die Alterengruppen selbst prasentieren. Wir werden die „Altersweisen" finden, die mit Bedacht und AugenmaB Bildungsbereiten, die geistig und emotional Wachen ebenso wie die Empathischen und abgeklart Altersklugen; es werden Sorgende und Besorgte sein, die nachhaltig und generationenvertraglich wirtschaften und ein Menschenbild zu fordem suchen, das im Humanistischen und fallweise auch im Spirituellen wurzelt. Wir werden aber auch die anderen Alten entdecken, die vom Leben Enttauschten und von der Arbeit Ausgelaugten, die Altersmuden und Verbrauchten, die sozial und kulturell vorzeitig Gealterten; diejenigen, die allein auf den eigenen Vorteil bedacht sind, koste es, was es wolle; die Neidischen und Missgtinstigen, die zu kurz Gekommenen und Verletzten. Jede Zuschreibung beztighch der Alter(n)spotenziale bleibt einseitig, solange nicht ihr wichtigster Grundzug, namhch ihre Multidimensionalitdt mitgedacht ist. Die aktive ArbeitsmarktpoHtik untemimmt es zur Zeit, die von der Wirtschaft in den zwangsweisen Vorruhestand Geschickten mit neuen Etiketten wieder der Wirtschaft unterzujubeln. Das geht zuletzt zu Lasten der Begtinstigten: derm sie glauben ja selbst nicht an die Superlative, mit denen sie beworben werden. Es macht einsam, seine soziale und gesellschaftliche Daseinsberechtigung aus Zuschreibungen zu beziehen, die weder in ihrer AusschlieBlichkeit noch im vorgetragenen Pathos der Selbstwahmehmung entsprechen. Nur ein holistischer Betrachtungsansatz, der den altemden Menschen in seiner Ganzheit registriert, die auch seine Zwiespaltigkeit, Widerspriichlichkeit und widerstreitenden Strebungen umfasst, kann Potenziale in angemessener Form und Relation artikulieren. Und zweifellos existieren sie, die Potenziale der Altemden. Noch stehen manche von ihnen fassungslos vor den Tiiren der Arbeitsagenturen, weil sie, die an kontinuierliche Erwerbskarrieren Gewohnten, noch keine Habitate im Umgang mit offentlichen Arbeitslosenversicherungssystemen und deren innerer Logik ausgebildet haben. Doch mit ihrer Zahl wachst auch ihre normative Kraft, ihre gesellschaftspolitische Potenz.
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5. Gesichte des AIter(n)s Wie bereits einleitend betont, ist die Setzung von Zeit- und Altersschwellen kiinstlich und willkurlich. Die Ausdtinnung von Handlungsmoglichkeiten, die als zimehmende Verengung des Zeitgitters erfahren wird, ist evident, aber subjektiv definiert und abhangig von individuellen Erlebnissen, Erfahrungen, Konstitutionen. Virulent werden diese Raster, wenn sie instrumentalisiert werden, um Machtverhaltnisse zu etablieren. Die willkiirliche Auswahl von Aspekten im Zeitgitter verschiebt die subjektiven Einschatzungen der eigenen Handlungsmoglichkeiten in Angstbereiche, wie an der aktuellen Debatte um steigende Kosten im Gesundheitswesen und Finanzierungsengpasse in der Altersversorgung abzulesen ist. Die Debatte geht von einer altersimmanenten Hinfalligkeit und Pflegebedtirftigkeit aus und bedient damit, so unsere Vermutung, ein Ressentiment, das sich in seinem Kern nicht gegen die „Alten", sondem gegen die Unausweichlichkeit der eigenen Endlichkeit richtet; es ist das Aufbegehren des Lebendigen gegen sein Ende. Die Autoren bleiben bei ihrer Behauptung, dass der Jtingere wenig bis nichts vom Alteren weifi. Er versteht nicht dessen Sorge bezuglich der Verganglichkeit, dem langsamen, aber so sicheren Verbliihen und Vergehen der Jugend und ihrer virilen und fruchtbaren Potenziale, die lange Zeit so selbstverstandlich warenJ^ Aber weifi der Alte vom Alten? Vom Alt-Sein? Von seiner Endlichkeit? Es scheint, als waren nur die Alterssiechen, die chronisch Alten und Kranken, die von ihren Schmerzen und Unpasslichkeiten miirbe Gemachten die, die sich mit dem Unvermeidlichen ausgesohnt haben. Die fidelen Alten aber, die mit groBer Bereitwilligkeit in das Hohelied der Jugend einstimmen, die mit Besessenheit Sportlichen, Fitten, Emahrungsbewussten, die mit „rucksichtsloser Frohlichkeit" alle Begleiterscheinungen des Alter(n)s kaschieren und dem Tod unisono ein trotziges „Mit sechsundsechzig Jahren, da fangt das Leben an..." entgegenhalten?^^ Sie hangen selber am Leben wie an einem Tropf; nicht voraus, sondem zurtick schauen sie, als konnten sie sich wie Kinder vor dem verstecken, was sie selber nicht anschauen. So stoBen sich diese Altersjungen gegenseitig gesund und verschweigen die Tatsache, dass auch die Gesunden hiniibergehen werden. Der Partizipationswunsch dieser Alten ist auch ein Wille zur Macht.
14 Von Curd Jiirgens ist die Feststellung iiberliefert: „Bis sechzig glaubte ich, mein Penis ware ein Knochen. Dann merkte ich, dass es ein Muskel ist." ISAmery (1968: 83): „Man kann dem Werden nachlaufen und, das ist ein beliebter Streich der Selbst-Diiperie, ,jung bleiben mit den Jungen'."
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Kontextoffnungen
6.1 Thesen zur Zukunft der Arbeit Arbeit und Arbeitsmarkt, Erwerbstatigkeit imd Arbeits- bzw. Beschaftigungslosigkeit: die Kontexte sind unauflosbar ineinander verzahnt. Bewegt man eines, dreht sich das andere mit. Das zentrale „double binding", dem die Alten derzeit ausgesetzt sind, lautet: 1. Ftir den Arbeitsmarkt seid ihr zu alt und fur die Rente zu jung. 2. Arbeitest du, enthaltst du sie dem jtingeren vor, und: wer sich in die Rente verzieht, ist ohnehin ein Sozialschmarotzer. Die Sessel werden so geriickt, dass der altemde Betroffene immer dazwischen zu sitzen kommt. Inmitten der Asynchronizitat von Wirtschaft, Arbeitsmarkt und sozialstaatlichen Sicherungssystemen bietet der altemde Mensch die ideale Projektionsflache fiir die Verschleierung systemischer Storfalle und strukturellen Versagens der wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Kreislaufe. Weder bekennen sich Politik und Okonomie nachdriicklich zum demografischen Wandel der Gesellschaft und seinen Folgen noch zur Tatsache, dass ihr nach und nach die (Lohn-) Arbeit ausgeht. Noch funktioniert die Bauemfangerei, die in ihrer perfidesten Form dem Individuum die alleinige Verantwortung fiir das strukturelle Versagen des Gemeinwesens zuschiebt. Doch die Alten werden zahlreicher, wie man weiB: was jetzt noch Teil ihres Problems ist, konnte bald Potenziale fiir gesellschaftliche Losungen im grofien Stil freisetzen. GemaB unserer Annahme, dass eine betrachtliche Minoritat von Alten zu jenen Zeitpionieren und Altersweisen zu zahlen ist, die die gesellschaftlichen Paradigmenwechsel des zwanzigsten Jahrhunderts initiiert oder zumindest mitgetragen haben, konnten gerade sie es sein, die auf Grund ihrer Lebenserfahrung wieder aufstehen werden, um anstehende gesellschaftliche Veranderungen voranzutreiben. Die Aktionsfelder, die zur Disposition stehen, konnen hier nur angedeutet werden: die oft noch immer nach dem Muster der Industrialisierung organisierten Arbeitsbereiche werden reorganisiert und in zunehmend selbstbestimmte und -gesteuerte Arbeitsformen transformiert werden; die Dezentralisierung von lokal verorteten Arbeitsagenden wird von jenen Alten betrieben werden, die (Gro6-)Teile ihrer Arbeit von zu Hause oder vom Sttitzpunkt ihrer Ferien- und Zweitdomizile aus erledigen^^; neue flexible Formen der Arbeits(zeit)organisation und eine gezielte Deroutinisierung der Arbeitsablaufe werden von jenen betrieben werden, die wissen, dass Routine Menschen altem lasst; Zeit- und Entscheidungsautonomie werden die 16 In einer der wahrscheinlicheren moglichen Zukunften wird man Anstrengungen untemehmen, bereits pensionierte Knowhow-Trager mit attraktiven Angeboten in den Arbeitsprozess zuriickzuholen.
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Freiraume sich ihrer Verantwortung bewusster Akteure markieren; es werden aber auch Entschleunigungs- und Verlangsamungsstrategien entworfen werden, die den langen Rhythmen einer Lebensarbeitszeit Rechnung tragen, die bedeutend uber dem derzeitigen Niveau rangieren wird; dazu wird man sich einer Kunst des Verlangsamens und Abkiihlens bedienen, und mittels des Prinzips Nachhaltigkeit als Handlungspramisse Langlebigkeit in schnelllebigen Zeiten propagieren. 6.2 Zeitfenster des Alter(n)s Mehr noch als die okonomischen Veranderungsprozesse, die von den Alten angetrieben werden, sind es die ideellen, die die Welt in einer Weise umformen werden, die den Namen „Wendezeit" verdienen wird. Sehr wahrscheinlich wird sie ihren Ausgang in der Transformation des Begriffs „Arbeit" nehmen: Mit dem sukzessiven Verschwinden der Lohnarbeit und dem Heraufdammem alternativer und komplementarer Auffassungen dessen, was Arbeit sein kann^'^, wird sich die Aufinerksamkeit vieler und zuvorderst die der Zeitpioniere und Altersweisen der Gestaltung des eigenen Lebens zuwenden, unter anderem in der wieder aufgegriffenen antiken Debatte der griechischen Lebenskunst, der „Sorge um sich" und dem Bemtihen um ein „gelingendes Leben".^^ Sie selbst werden Paradigmen erfmden, den altersbedingten VerschleiB als Zugewinn zu betrachten, indem sie die daraus resultierenden Freiheiten wertschatzen: der Wegfall der Gebarfahigkeit bei Frauen und die schwindende Potenz bei Mannem werden erotische Neuorientierungen innerhalb der Partnerschaften sowie die Neugier auf neue Partnerschaften befordem; manche werden bewusst auf ihre Autos verzichten und die damit verbundene Entschleunigung als Zugewinn von Lebensqualitat wahmehmen; an die Stelle des Versorgtwerdens und des Zeit Totschlagens in den Senioren- und Altersheimen werden partizipative Formen des Zusammenlebens in Form loser oder straffer organisierter Wohngemeinschaften treten; und noch einige der Hochalten, die dann die „Hochweisen" sein werden, werden eine „Kunst des letzten Augenblicks"^^ kultivieren, und eine „Asthetik der Existenz" vollenden, die sie als junge Alte des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts programmatisch ausgerufen hatten. Der Reduktionismus im Wahrnehmen von „Alter" wird von einem ethisch und asthetisch verstandenen Kon17 Formen der ehrenamtlichen, der Gemeinwesen-, der Nachbarschafts-, der PersOnlichkeits- und der Kreativarbeit werden zunehmend als sinnstiftend und zeitlohnend angesehen werden. Lohnarbeit konnte kiinftig nur einen minoritaren Anteil am Gesamtarbeitszeitvolumen einnehmen (vgl. dazu Bergmann 2004). 18 Vgl. dazu vor allem Schmidt (1998, 2004). 19 Vgl. dazu Hoffiiiann (2000).
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zept der Selbstbeschrdnkung abgelost werden, in dem die Kategorien Nachhaltigkeit und Weltvertraglichkeit ebenso handlungsleitend sind wie das Bediirfhis nach Schonheit und Lustbarkeit. Was jetzt ganz unwahrscheinlich klingt, konnte sich bewahrheiten. Grund dafiir ist, dass sich die Alten selbst nicht in dem Sinne als „alt" erfahren, wie ihnen von auBen souffliert wird. Noch ist „Alter (...) etwas, was man nicht selbst defmiert, sondem die Anderen"^^, doch wahr ist auch, dass obzwar unsere Gesellschaften demografisch altem, sie sich zeitgleich soziokulturell verjtingen. Altem ist eine zunehmend subjektive Angelegenheit: „die eigene Identitat altert sehr langsam"^^. Die Erfahrung des eigenen Altems verlauft weder konform noch synchron mit dem Alterungsprozess des Korpers oder sogar den einzelnen intrapersonalen Arealen. Mit der Neuverteilung der Alterskohorten werden die Alteren zunehmend kulturelle und gesellschaftliche Hegemonic gewinnen: sie werden die Trendsetter des Jahrhunderts sein, neue Asthetiken der (Alters-)Wahmehmung etabheren und zu den Altersikonen Karl Lagerfeld und Keith Richards schlaffhautige Endsiebziger beim Trommelworkshop auf Bali oder im niederosterreichischen Waldviertel ebenso wie morphinvergntigte Geriatriepatienten als Ausdruck einer neu verstandenen (Uber-)Lebenskunst in die offentlichen Raume bringen. In dreiBig Jahren werden sich unsere Vorstellungen von Attraktivitat dahingehend verandert haben, dass man nicht mehr verstehen wird, warum sie einst ausgerechnet mit Jugend in Zusammenhang gebracht wurde. Hat man noch nicht bemerkt, welche Grazie die Bewegungen eines Menschen haben, dessen Motorik auf Jahrzehnte lange Erfahrung zuruckgreift? Die Beilaufigkeit und Behandigkeit, mit der eine 80-jahrige das Geschirr sptilt? Die vollendete Atmung von Altersgelassenen? Je nach Fasson werden eine Vielzahl asthetischer Varianten das kulturelle und soziale Wahmehmen der Zukunft strukturieren: gute Grtinde sprechen dafiir, dass es tendenziell eine „Alter(n)sasthetik" sein wird.
7. Gegenwartsgestaltung: Kein Ende der Zukunft! Der Angel- und Drehpunkt in unserer Argumentation sind die heute 50- bis 60jahrigen, diejenigen also, die erstens gegenwartig noch aktiv an den gesellschaftlichen Prozessen partizipieren und die zweitens in dreiBig Jahren - am voraussichtlichen Hohepunkt des demografischen Paradigmenwechsels - jene 20 F. Hopflinger in einem Gesprach mit H. Schenk und A. Frey zum Thema „Alter" im Schweizer Femsehen im Februar 2006. 21 Herrad Schenk, Feb. 2006.
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Hochbetagten, Hochalten und Hochweisen sein werden, die sich immer noch einmischen und gehort werden wollen.-^^ So vage die Zukimft bleiben muss, weil sie nicht anders sein kann^^, so Not wendend ist es, sich jetzt Gedanken iiber die kunftigen wtinschenswerten Rahmenbedingungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu machen. Hochpolitisch ist der Prozess, denn es sind Verteilungskampfe zu erwarten, die sich an den alten Dichotomien Macht-Ohnmacht, Reich-Arm, KapitalArbeitskraft usw. entztinden werden. Der demografische Fokus lenkt von krisenhaften Themenfeldem wie Kapitalismus, KoloniaHsmus, Globahsierung oder Finanzkapital ab. Die Kontexte offentHchen Handelns sind nicht nur von (Alters-)Diskriminierungen zu befreien, sondem mtissen fur Neupositionierungen und BeobachtungsHnien geoffiiet werden, die verhindem, dass sich wiederum Exklusionsmechanismen bilden. Wohl werden wir fiir das Lancieren demokratischer Meinungsbildungsprozesse eintreten, auch wenn wir daran zweifeln, dass die Altersweisen und Zeitpioniere, unsere Hofftiungstrager, aus ihrem minoritaren Dasein heraustreten werden. Nichtsdestotrotz werden sie es sein, die die ethischen Diskussionen und Neuausrichtungen in Gang setzen werden, die sowohl partizipativ und menschen- und weltvertragHch sind als auch ein Mehr an MogHchkeiten (Optionen) fiir individuelle und gesamtgesellschafthche Lebensgestaltung bereit stellen. Eine zentrale Frage lautet: Haben unsere Regierungen Interesse an einer Neuausrichtung der Deutungshoheit von kunftigen Lebenskontexten? Es steht zu erwarten, dass eine partizipative, solidarische, egalitare und weitgehend machtfreie Neuverteilung von Kontextdeutungen den Interessen von PoHtik und Okonomie diametral entgegen steht. Aus der wert- und sinnorientierten Entscheidungsfmdung der Alten lieBe sich schlieBen, dass Nachhaltigkeit und Verantwortungsbewusstsein fur nachfolgende Generationen aus der bloBen Htilsenhaftigkeit in gelebte Realitat tibergehen konnten. Es ist zu hoffen, dass die Alten im Sog ihrer Vordenker und auf Grund ihres Alters so viel Weisheit und Einsicht aufbringen, um sozialvertragliche Trends zu setzen und zu fordem. Die politischen Diskurse werden, wie sich zeigt, von auBerst heterogenen Gruppen von Alteren beansprucht werden, die sehr unterschiedliche Auffassungen iiber die kunftige Gestalt der Welt und die in ihr wirkenden Werte haben. Unabhangig davon, welcher Gruppe sich die Einzelnen zugehorig fuhlen, werden alle eine Anforderung zu erfullen haben, namlich politische Klugheit zu 22 Warum sie nicht in Angst und Schrecken angesichts der behaupteten Ressourcenverknappung fur die Altesten verfallen, weiB niemand. 23 Vgl. dazu These 1 der Einleitung.
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entwickeln sowie Strategien, wie die Verantwortung fur sich in Verantwortung fur sich und andere mtinden kann, da ansonsten die zu erwartenden Dysfunktionen in komplexen Systemen nachteilig auf die Einzelnen zuriickwirken werden. Es wird von immenser Bedeutung sein, wer welche Geschichten tiber die sich andemde Gesellschaft erzahlen wird. Wird es Raume geben, in denen minoritare Gruppen von Altersweisen und Zeitpionieren andere Geschichten erzahlen konnen? Und wird man sie anhoren? Werden sich auBerparlamentarische Gruppen und Biirgerrechtsbewegungen formieren konnen? Sicher scheint, dass eine groBere Altengruppe andere Themen als bisher ins offentHche Leben einbringen wird. Der Komplex „Zeitlichkeit-EndHchkeitSterbhchkeit" wird neu verhandelt werden; Sinn- und Wertausrichtungen werden sich individuaHsieren und diskursivieren; das Spannungsfeld OffentHchkeitPrivatheit und ihre Grenzen werden verstarkt diskutiert werden; die Sorge fiir die Nachkommenden und die Altesten wird zunehmen; andere Verantwortungsparameter werden in die Diskussion kommen, die, aus der Sorge um sich selbst generiert, in die Sorge um alle kulminieren werden; in Wissensgesellschaften wird Weisheit in Form von Erfahrungswissen an Bedeutung gewinnen; die offentHche Kommunikation wird sich in langsamere, dialogorientierte Richtung entwickeln und Entscheidungen abwarten konnen, die nicht aus hohlem Kopf und vollem Bauch heraus getroffen werden; eine tolerantere und pazifistischere Gesamtsituation ist zumindest vorstellbar; und schon um die eigene Sicherheit zu wahren, werden die Alten daran interessiert sein, Gerechtigkeit und Chancengleichheit anzustreben. . denn nah am Tod sieht man den Tod nicht mehr ..." (Rainer Maria Rilke)
8. Schluss Wir haben viel „Vemtmftiges" tiber die Alten ins Feld gefiihrt, auch viel Widerspriichliches, aber etwas fehlt noch, dessen Nichterwahnung das Bild unvollstandig lieBe: Unter den Altersweisen und Zeitpionieren leben stets einige wenige, die als Gruppe unerfasst bleiben, da sie sich in aller Regel nur um ihre eigenen Angelegenheiten ktimmem. Sie haben es verstanden, ihr Leben zu einem Kunstwerk zu machen, sei es durch friihe Ubung oder durch intensive Erfahrungen. Sie haben erkannt, dass alles mit allem nicht nur zusammenhangt, sondem alles voneinander abhdngt. Sie werden nicht unter jenen zu finden sein, die in einer der moglichen Schattenzukunften Pflegestationen oder Krankenhauser
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stiirmen werden. In einer Welt, in der alles von allem abhangt, gibt es fur sie nur eine angemessene Haltung: „interbeing". Sie iiben sich in Demut und verwelken wie die Blumen auf dem Feld; ein groBes Einverstandnis mit dem, was ist, ist ihnen eigen; dankbar nehmen sie Leben und Tod an: es ist ihnen dasselbe; sie beschworen taglich ihren „Anfanger-Geist" mit der Frage: „Hab ich mich heute schon gewundert?". Sie sind die Gegenwartigen, Meister der Zeit, jenseits von Regression und Antizipation: darum haben sie Zukunft! Sie haben ihre Aufmerksamkeit schon in der Jugend nach innen und auBen gerichtet und dabei gelemt, alt zu sein, und sich von der Versuchung femzuhalten, ihre Alterszeit mit Rasonieren und Rekapitulieren zu verschwenden. Sie bereuen keinen Tag in ihrem Leben und wiinschen sich nicht in ihre Jugend zuruck. Ihr Geschenk und ihre Botschaft an die Welt, an Zeitgenossen wie Nachkommende lautet: Altern ist das Wunschenswerte schlechthin; Altern entfaltet den Menschen in seine Ganzheit.
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Ausdehnung der Lebensarbeitszeit und die Stellung alterer Arbeitskrafte Perspektiven aus Sicht einer differenziellen Alternsforschung Frangois Hopflinger Soziologisches Institut, Universitdt Zurich und Forschungsdirektion Universitdres Institut Altern und Generationen (INAG)
1.
Einfiihrung: Ausdehnung der Lebensarbeitszeit - als neues gesellschaftspolitisches Programm In den letzten Jahren wurde die Forderung nach einer Ausdehnung der Lebensarbeitszeit - primar durch eine Erhohung des Rentenalters zu erreichen - immer haufiger formuliert und unterstiitzt. Hinter dieser - politisch immer konsensfahigeren - Forderung stehen verschiedene Argumentationslinien: Einerseits geht es um die Umkehr des Trends zur vorzeitigen Verrentung und Ausgliederung von Arbeitskraften; eines Trends, der sich sowohl wirtschafts- als auch sozialpolitisch als nicht nachhaltig erweist und der im Ubrigen auch nicht zu einer wesentlichen Reduktion von Jugendarbeitslosigkeit beitrug (vgl. Sackmann 1998). Andererseits stehen demografische Befiirchtungen um die Finanzierbarkeit von (umlagefinanzierten) Rentensystemen in einer demografisch altemden Gesellschaft im Zentrum (vgl. Bellmann et al. 2003). Neben erhohten Rentenbeitragen oder gektirzten Altersrenten erscheint eine Erhohung des Rentenalters als wirksame Losung der demografischen Alterung, sofem eine Erhohung des formellen Rentenalters tatsachlich auch zu einer Verlangerung des Erwerbslebens eines bedeutsamen Teils der Erwerbsbevolkerung beitragt. Unterstiitzt wird die Forderung nach einer Ausdehnung der Lebensarbeitszeit durch weitere Argumentationsstrange, etwa der Blick auf eine globalisierte Wirtschaft, in der nur die Mobilisierung aller Ressourcen und Kompetenzen unabhangig von Geschlecht und Alter - die zukiinftige Konkurrenzfahigkeit eines Landes garantiere. Die Ausdehnung der Lebensarbeitszeit wird in Zusammenhang mit Fragen der intemationalen Wettbewerbsfahigkeit der deutschen Wirtschaft gestellt, wobei neben erhohter Produktion durch mehr Arbeitsjahre auch die sozialpolitische Entlastung der erwerbstatigen Bevolkerung als Argumente angefiihrt werden. Ein davon unabhangiger Argumentationsstrang zur Ausdehnung der produktiven Lebenszeit bieten gerontologische Kompetenzmodelle, die auf vorhandene Kompetenzen und Ressourcen alterer Menschen hinweisen. Modellvorstellun-
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gen eines ,aktiven' oder sogar ,produktiven Alters' postulieren ein hohes Aktivitatsniveau in spateren Lebensphasen als eine bedeutsame Voraussetzung fiir ein gltickliches und erflilltes Altem (vgl. Baltes/Montada 1996). Empirische Beobachtungen in der Richtung, dass neue Generationen auch im hoheren Lebensalter haufiger gesund, aktiv, initiativ und innovativ sind als fruhere Generationen starken die Vorstellung, dass - wenn nicht heute, aber doch in Zukunft mehr Frauen und Manner fur Formen von Altersarbeiten motiviert sein werden. „Alt, innovativ und produktiv" kann damit zu einem neuen gesellschaftlichen Normprogramm fur Menschen zwischen dem 60. und 75. Altersjahr werden. Dabei ist es durchaus denkbar, dass ,anti-aging-Bewegung' und Projekte zur Ausdehnung der Lebensarbeitszeit gesellschaftlich eine inhaltliche Allianz eingehen: Wer langer gesund und Jung' zu bleiben sucht, von dem kann man/frau auch langer eine produktive Tatigkeit erwarten. Ohne ins Detail zu gehen, leiden die meisten aktuellen Diskussionen und Modellvorstellungen zur Ausdehnung der Lebensarbeitszeit oder zur Erhohung des Rentenalters an drei kritischen Punkten: Erstens werden die individuellen Unterschiede des Altems wie auch der bisherigen beruflichen, familialen und sozialen Lebensgeschichte - und damit auch der Bedurfiiisse alterer Frauen und Manner - haufig ausgeblendet. Es bleibt vergessen, was die differenzielle Gerontologie schon seit langem belegt hat, dass Menschen im hoheren Lebensalter auf alien Dimensionen nicht homogener, sondem heterogener werden (wobei in diesem Zusammenhang auch die geschlechtsspezifischen Differenzen eine neue Gestalt erreichen). Viele Projektund Programmvorschlage zur Weiterarbeit im hoheren Lebensalter erweisen sich als Projekte flir eine ,Elite' alterer Menschen. Zweitens wird oft ausgeblendet, dass ein gesundes Rentenalter - im Sinne einer ,spaten Freiheit' von beruflichen Zwangen und hierarchischen Unterordnungen - eine durchaus positive zivilisatorische Entwicklung darstellt. Viele Menschen werden dadurch von Arbeitszwangen zu einem Alter befreit, wo sie noch neue Lebensoptionen auBerhalb von Beruf und Arbeit aktiv und individuell zu gestalten vermogen. Das gesunde Rentenalter ist eine der wenigen Phasen menschlichen Lebens, welches nicht - wie Kindheit und Jugend oder das Erwachsenenalter - heteronom vorstrukturiert und leistungsbezogen definiert wird. Jede Erhohung des Rentenalters - namentlich fiir Personen, die sich ein frtiheres Freisetzen von der beruflichen Arbeit wiinschen - ist in einem gewissen Sinne eine Riickkehr zu einer Zeit, wo ,Arbeit bis zum Tod' die Norm war. Eine massive Heraufsetzung des Rentenalters schrankt die sozialpolitisch langwierig gewonnene , spate Freiheit' ein. Frauen und Manner waren bei langerer
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Erwerbsarbeit langer von Arbeitgebem abhangig und langer in hierarchische Ordnungsstrukturen eingebettet. Bei vielen okonomischen Diskursen zur Erhohung des Rentenalters bleibt zudem der andere Teil der okonomischen Gleichung - der Konsum - vergessen, und die Altersrentner und -rentnerinnen gehoren in vielen Bereichen zu den zentralen Konsumstutzen einer auf Absatz orientierter Massenproduktion und Dienstleistungsgesellschaft. Drittens - und dies ist vor allem aus der Genderperspektive ein entscheidender Punkt - beschranken sich die allermeisten Diskurse zur Ausdehnung der Lebensarbeitszeit auf eine Ausweitung der monetaren Arbeitsleistungen. Informelle auBerfamiliale und famihale Arbeiten (Betreuungs- und Pflegeleistungen, Nachbarschaftshilfe, Haus- und Familienarbeit usw.) bleiben bei diesen Diskussionen so gut wie unberticksichtigt. Dadurch wird vergessen, dass - wenn Arbeit umfassend definiert wird - die Ausdehnung von Arbeitsleistungen bis ins hohe Lebensalter schon vielfach Realitat darstellt, namentlich fur Frauen: Frauen leisten auch nach ihrer Pensionierung - und vor allem auch nach der Pensionierung ihres Ehemannes - weiterhin Hausarbeit, und Daten aus der Schweiz zeigen, dass 65-69-jahrige Frauen mit durchschnittlich 22 Wochenstunden Hausarbeit sozusagen eine 50%-Altersarbeit leisten (vgl. Bundesamt fur Statistik 1999). GroBmiitter - und einige GroBvater - betreuen in wesentlichem Umfang Enkelkinder, und als Ehepartnerin bzw. Tochter hochbetagter Eltemteile sind Frauen wahrend ihrer Erwerbsjahre oder danach in bedeutsamer Weise in Pflegearbeiten involviert. Dazu kommen auBerfamiliale Tatigkeiten in der Nachbarschaftshilfe oder in der Freiwilligenarbeit. In welchem MaBe eine spatere Pensionierung sich auf die Freiwilligenarbeit auswirken wiirde, ist unklar, aber eine damit verbundene teilweise Verdrangung informeller Arbeiten durch formelle Erwerbsarbeit ware denkbar. In jedem Fall ist,Arbeit nach der Arbeit' bei manchen alteren Menschen - und hier vor allem bei Frauen - schon Realitat, und die Konzentration der Diskussionen auf formelle, monetare Arbeitsleistungen vemachlassigt einen wesentlichen Teil der schon heute bestehenden Produktivitat des hoheren Lebensalters. Im Folgenden sollen einige der angesprochenen Diskussionspunkte zur Ausdehnung der Lebensarbeitszeit genauer untersucht werden, und zwar immer unter der Beachtung der Grundlagen einer differenziellen Gerontologie (und eines gesellschaftlich weiten Arbeitsbegriffes). In einem ersten Teil werden demografische und gesellschaftliche Perspektiven aufgezeigt, wobei auf die doppelte Dynamik des Altems neuer Generationen hingewiesen wird (demografische Alterung einerseits, erhohte Dynamik spaterer Lebensphasen andererseits).
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In einem zweiten Teil wird auf die widerspmchliche Lage alterer Arbeitnehmer imd Arbeitnehmerinnen eingegangen, weil eine Ausdehnung der Erwerbsarbeit nicht oder nur sehr eingeschrankt moglich ist, solange nicht die Stellimg alterer Arbeitskrafte (50+) grundlegend neu definiert imd gestaltet wird. In einem dritten Teil werden verschiedene Formen der Altersarbeit vorgestellt und diskutiert, wobei neben bezahlter Arbeit auch unbezahlte (familiale und auBerfamiliale) Arbeiten berucksichtigt werden. Zum Abschluss werden wichtige Schlussfolgerungen aus der Analyse angefiihrt.
2. Demograflsche und gesellschaftliche Perspektiven Europaische Lander erleben einen Prozess ,doppelter demografischer Alterung': Einerseits erhoht sich der Anteil alterer Menschen als Folge eines Geburtenriickgangs, und seit Jahrzehnten liegt das Geburtenniveau Deutschlands und anderer europaischer Lander niedriger als zur demografischen Reproduktion der Bevolkerung notwendig ware. Andererseits steigen Zahl und Anteil alterer Menschen auch aufgrund einer erhohten Lebenserwartung alterer Menschen jenseits des Erwerbsalters an (vgl. Rott 2004). Die demografische Alterung der nachsten Jahrzehnte wird sich vor allem aufgrund des Altems geburtenstarker Jahrgange beschleunigen; Geburtsjahrgange, die selbst wenige Kinder zur Welt brachten, aber voraussichtlich langer leben als ihre Eltem. Nach dem Ableben der BabyBoom-Generationen wird der Anteil der 65-jahrigen und alteren Bevolkerung an der Gesamtbevolkerung selbst bei weiterhin steigender Lebenserwartung wieder sinken. Wirtschaftspolitisch betrachtet, beinhaltet die demografische Alterung drei miteinander verbundene Prozesse: Erstens kommt es zu einer demografischen Alterung der Erwerbsbevolkerung, und Arbeitsmarktprognosen verweisen auf eine weitere Zunahme des Anteils alterer Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in den nachsten beiden Jahrzehnten, namentlich aufgrund des Altems der geburtenstarken Jahrgange 1955 bis 1965. Dem steht eine sinkende Zahl jiingerer Erwerbstatiger und Erwerbstatiger mittleren Alters in den Jahren nach 2015 gegeniiber (vgl. Fuchs 2002; Zimmermann et al. 2002). Die Alterung der Arbeitskrafte stellt Untemehmen vor personalpolitisch neue Herausforderungen, etwa bezuglich Laufbahnplanung nach 50, Forderung der Weiterbildung in spaten Erwerbsphasen usw. Vom allgemeinen Trend zur „Alterung der Gesellschaft" (Schimany 2003) ist schlussendlich auch das Erwerbspersonenpotenzial betroffen. Nach ihrer Pensionierung hinterlassen die geburtenstarken Jahrgange auf dem Arbeitsmarkt eine bedeutsame
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Lticke, die nachkommende Generationen nicht - oder hochstens bei massiver Einwanderung - zu schlieBen vermogen. Diese Entwicklung bedeutet, dass der quantitative Effekt von Friihpensionierungen auf den Arbeitsmarkt zimehmen wird, selbst wenn die Quoten auf dem Niveau von heute verbleiben oder sogar leicht rticklaufig sind. Eine Erhohung des Rentenalters ihrerseits verstarkt die demografische Alterung der Erwerbsbevolkerung zusatzlich. Zweitens ergibt sich eine Alterung der Kunden und Kundinnen bzw. der Konsumentenmarkte. Die Auswirkungen einer altemden Kundschaft variieren sachgemaB je nach Wirtschaftsbranchen und Produkten. Einige Branchen - etwa Wohnungsbau - konnen aufgrund der demografischen Entwicklung (weniger neue Haushalte) Umsatzeinbussen erfahren, wogegen andere Branchen - etwa Tourismus, Finanzgeschafte, Medizinaltechnik u.a. - dank dem Anwachsen einer alteren Kundschaft zusatzliche Wachstumsimpulse erleben konnen. Die demografische Alterung eroffiiet neue Markte, vor allem beziighch gesundheitsund freizeitbezogener Angebote (vgl. UBS Wealth Management 2006). In jedem Fall werden immer mehr Untemehmen - und hier namentlich Dienstleistungsuntemehmen - mit Fragen eines Seniorenmarketings konfrontiert, wobei altere Menschen vielfach gerade nicht als „Senioren" angesprochen werden mochten (vgl. Hock/Bader 2001). Gleichzeitig wird ein ausgewogener Generationenmix von Belegschaft und Kundschaft zumindest fiir Dienstleistungsunternehmen vermehrt zum Thema. So haben schweizerische Banken erfahren, dass sich ein ungtinstiger Generationenmix (junge Bankberater und altere Bankkunden) negativ auf die Kundenbindung auswirkt; mit ein Grund, die Stellung alterer Bankfachleute wieder gezielt zu starken. Drittens kommt es zu einem raschen Anstieg der Rentnerbevolkerung sowie zu einer Verschiebung im Verhaltnis von erwerbstatigen zu nicht mehr erwerbstatigen Personen. Vor allem bei gleich bleibendem Rentenalter dtirfte sich das Verhaltnis zwischen Erwerbsbevolkerung und Rentenbevolkerung rasch verschlechtem, was speziell bei gemass Umlageverfahren fmanzierten Rentensystemen deutliche Anpassungen erzwingt. Neben Beitragserhohungen oder Leistungskurzungen ist eine Erhohung des Rentenalters eine mogliche Anpassungsstrategie. Allerdings ist eine Erhohung des gesetzlichen Rentenalters okonomisch wenig sinnvoll, wenn nicht vorgangig die Arbeitsmarktfahigkeit alterer Arbeitskrafte gesichert wird und Vorbehalte gegenuber der Einstellung alterer Erwerbstatige nicht abgebaut werden. Sozial- und wirtschaftspolitische Plane zur Ausdehnung der Lebensarbeitszeit via Erhohung des Rentenalters erzwingen somit vielfaltige Veranderungen in der Behandlung alterer Arbeitskrafte (50+).
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Das AusmaB der Einwanderung junger Arbeitskrafte bleibt auch in Zukunft ein wirtschaftspolitischer wichtiger Einflussfaktor, und verstarkte Einwanderung vermag die demografische Alterung der Bevolkerung regional zu bremsen (vgl. Miinz/Ulrich 2001). Zu erwarten ist allerdings eine verstarkte Konkurrenz um qualifizierte jlingere Arbeitskrafte, wodurch wirtschaftlich starke Regionen zulasten wirtschaftsschwacher Regionen an Gewicht gewinnen, dabei wird die demografische Alterung regional noch starker divergieren als heute. Ein Ansteigen des Geburtenniveaus - wie politisch haufig postuliert - erhoht in einer ersten Phase die demografische „Belastung", da Kinder zuerst kosten und erst spater produktiv sein konnen. Geburtenfordemde MaBnahmen konnen erst langerfristig in positiver Weise beschaftigungswirksam werden, wahrend sie kurzfristig das Erwerbspotenzial sogar senken konnen, etwa wenn mehr Frauen - und zukiinftig mehr Manner - nach der Geburt eines Kindes ihr Erwerbspensum reduzieren. Die demografischen Entwicklungen und vor allem die demografischen Perspektiven lassen sich allerdings nur in Zusammenspiel mit anderen gesellschaftlichen Veranderungen richtig einordnen. Ohne Beriicksichtigung entsprechender sozialer und wirtschaftlicher Zusammenhange ist die Gefahr von demografischen Fehlschlussen - etwa in der Art, demografische Alterung = gesellschaftliche Uberalterung' - groB. Zwei zentrale Aspekte sind in diesem Zusammenhang anzufuhren (vgl. Hopflinger 2005): Erstens unterliegen Gesellschaft und Wirtschaft einem deutlichen Generationenwandel, und neue Generationen alterer Menschen haben wahrend ihrer Jugendjahre und ihrem frUhen Erwachsenenalter andere soziale, berufliche und wirtschaftliche Rahmenbedingungen erfahren als friihere Generationen. So haben beispielsweise jlingere Generationen von einer starken Expansion des Bildungssystems profitiert, wodurch Manner und Frauen jtingerer Generationen haufiger eine hohere Fachausbildung oder ein universitares Studium absolviert haben als altere Generationen, was sich auf die Lebensgestaltung in spateren Lebensphasen auswirkt. Ein zentraler Generationenwandel ist sicherlich auch die erhohte Erwerbsbeteiligung jtingerer Frauengenerationen. Der Anteil von Frauen, die nach der Geburt eines Kindes ihre Erwerbstatigkeit vollstandig aufgeben oder unterbrechen, ist bei jiingeren Frauengenerationen gesunken, wodurch auch die Erwerbsquoten iiber 50-jahriger Frauen eine ansteigende Tendenz aufweisen. Die jiingeren Generationen sind zudem starker als fruhere Generationen gewohnt, in einer mobilen und standig sich andemden globalen Gesellschaft zu leben. In diesem Zusammenhang mehren sich die Hinweise, dass heutige Generationen alterer Menschen vielfach ein ,jungeres Verhalten' aufweisen als filihere Generationen. Viele Aktivitaten, die filiher primar jiinge-
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ren Erwachsenen zugetraut wurden, werden heute von alteren Menschen erfolgreich ausgetibt. Aktiv-sein wird selbst fiir Leute im hoheren Rentenalter empfohlen. Dasselbe gilt fiir eine regelmafiige sportliche Betatigung, wobei sich immer mehr altere Menschen trauen, Leistungssport zu betreiben. Sich im Alter modisch zu kleiden, frtiher als unangebracht verpont, gehort heute zur Normvorstellung gepflegten Altems, und der Anteil 50-80-jahriger Menschen, die sich nach eigenen Angaben unauffallig kleiden, sank gemass einer schweizerischen Marktstudie zwischen 1991 und 2000 von 63% auf 49% (vgl. Ernest Dichter SA 2000). Zweitens wird der gesellschaftliche Wandel durch die Tatsache verstarkt, dass auch spatere Lebensphasen (spate Familien- und Berufsphase, nachberufliche Lebensphase) ausgepragten Veranderungen unterliegen. Lebens- und Wohnformen in der zweiten Lebenshalfte zeigen eine verstarkte Dynamik, etwa wenn vermehrt auch tiber 50-jahrige Personen gezielt eine neue Partnerbeziehung eingehen oder ihren Wohnort wechseln. In diesem Rahmen kommt es haufiger zu einer Neuorganisation von Erwerbsarbeit und Berufstatigkeit nach dem Alter von 50 Jahren, wie Wahl einer neuen beruflichen Tatigkeit, Umschulung zu einem neuen Beruf oder Wechsel der beruflichen Ziele (vgl. Guillemard 2003). Dieser Trend - der sich zukiinftig verstarken wird - lauft parallel zur tendenziellen Auflosung von Normalarbeitsverhaltnissen (im Sinne lang dauemder Anstellung, Arbeit bei einem einzigen Arbeitgeber und Vollzeitarbeit mit einer kontinuierlichen Hauptbeschaftigung). So ist in den letzten Jahrzehnten der Anteil von Teilzeiterwerbstatigen angestiegen, namentlich bei Frauen. Auch nichtdauerhafte Arbeitsvertrage sowie flexibilisierte Arbeitszeiten haben an Gewicht gewonnen. In diesem Prozess einer tendenziellen Auflosung klassischer Normalarbeitskarrieren - der sich in den nachsten Jahrzehnten verstarken durfte - sind kurz angefuhrt folgende vier Entwicklungen bedeutsam (vgl. Garhammer 2001): Erstens zeigt sich eine verstarkte Entgrenzung des Status von Selbstandigerwerbenden und Arbeitnehmem; ein Trend, dem heutige Sozialversicherungsregelungen oft zu wenig Rechnung tragen. Zweitens werden Berufe - frtiher standardisierte und fixierte Qualifikationsbiindel - durch die Dynamik der Entwicklung standig neu konstruiert, und anstelle eines Lebensberufs ergibt sich haufiger eine lebenslange Jobmobilitat. Der Anteil von Erwerbstatigen, die einen anderen als den erlemten Beruf ausiiben, hat sich bei jungeren Generationen erhoht (vgl. Riphahn/Sheldon 2006). Drittens werden Personen haufiger zu Untemehmem der eigenen Arbeitskraft, und gefordert ist vermehrt eine hohe Flexibilitat des Personaleinsatzes und der Arbeitsformen. In diesem Rahmen
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wird Weiterbildung teilweise in die Freizeit und Privatsphare der Arbeitnehmenden ausgelagert. Viertens kommt es zu einem sptirbaren Auseinanderfallen von sozialstaatlichen Wohlfahrtsregelungen - die noch stark auf klassische (mannliche) Normalarbeitsverhaltnisse orientiert sind - und den tatsachlichen beruflichen Verlaufen von Mannem und Frauen. Immer mehr Manner und Frauen wechseln zwischen verschiedenen Arbeitsformen und Arbeitsverhaltnissen hin und her. Diskontinuierliche Erwerbsverlaufe werden haufiger, aber manche wohlfahrtsstaatliche Regelungen basieren weiterhin auf dem Idealbild einer lebenslangen Vollzeitstelle beim gleichen Arbeitgeber (vgl. Guillemard 2003). Ftir die Gestaltung des Rentenlebens in einer dynamischen Gesellschaft kann ein weiterer Punkt wichtig werden: das Gefiihl, dass die Pensionierung kein irreversibler Schritt darstellt, sondem dass auch im Rentenalter selbst - v^enn gewiinscht - diverse Erwerbsmoglichkeiten bestehen. Innovative Formen der Altersarbeit oder ein offener Arbeitsmarkt im Rentenalter konnen selbst fiir nicht-erwerbstatige Rentner und Rentnerinnen eine hohe symbolische Bedeutung aufweisen, weil damit die Endgtiltigkeit einer Pensionierungsentscheidung aufgehoben wird. Wahrend die Pensionierung heute weitgehend ein einmaliges Ereignis darstellt, werden in Zukunft moglicherweise mehr Menschen mehrere ,Pensionierungen' erleben; zum Beispiel Ende der vollzeitlichen Erwerbsarbeit mit 65 bzw. 66, Ruhestand bis 69, Wiederaufiiahme einer Teilzeitarbeit mit 70, zweite Pensionierung mit 74, Aufiiahme einer fachlich anspruchsvollen Freiwilligenarbeit mit 75, und dritte Pensionierung aus dem Freiwilligenbereich mit 82 Lebensjahren. Die Kombination von steigender demografischer Alterung und raschen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und technologischen Wandlungen stellt Sozialpolitik, Wirtschaft und Untemehmen vor bedeutsame Herausforderungen, und bisher wurde in der Menschheitsgeschichte noch keine Gesellschaft damit konfrontiert, eine demografisch altemde Bevolkerung wirtschaftlich innovativ zu halten. Soziologische Analysen deuten allerdings immer starker darauf hin, dass die demografische Alterung gegenwartig tatsachlich weitgehend durch eine markante sozio-kulturelle Verjtingung eines wachsenden Teils alterer Frauen und Manner kompensiert wird (vgl. Hopflinger 2005). Dadurch werden Vorstellungen relativiert, dass eine demografisch altemde Gesellschaft an Dynamik und Innovationsfahigkeit verliert. Wenn ein wachsender Teil alterer Menschen aktiv, innovativ, dynamisch und motiviert bleibt, erweisen sich viele Befiirchtungen zur demografischen Alterung schlussendlich als Mythen. Gleichzeitig verscharfen sich durch solche Entwicklungen allerdings auch die Unterschiede innerhalb von Altersgruppen bzw. Geburtskohorten. In einer
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hoch dynamischen Gesellschaft verlaufen biologische, psychische und soziale Prozesse des Altems sehr unterschiedlich, und ein Grundmerkmal des Altems neuer Generationen ist die ausgepragte Heterogenitat zwischen gleichaltrigen Menschen. Dies hat zum einen mit einer anwachsenden wirtschaftlichen Ungleichheit innerhalb der alteren Bevolkerung zu tun. Neben einer ansteigenden Zahl wohlhabender bis reicher Altersrentner und Altersrentnerinnen finden sich weiterhin einkommensschwache Gruppen (geschiedene Frauen, pensionierte Migranten usw.). Der Trend zu einem aktiven, verjungten Altem vergroBert die Unterschiede aber auch in physischer, psychischer und sozialer Hinsicht: Wahrend die Einen sich aktiv um ihre spatere Lebensphasen kummem, erfahren Andere ihr Alt-Werden eher als unausweichhches Schicksal. Entsprechend ihren bisherigen Lebenserfahrungen gehen Menschen mit Altemsprozessen unterschiedHch um, und je nach beruflichen, familialen und sozialen Erfolgen bzw. Misserfolgen weist das Rentenalter eine andere Pragung auf. Menschen werden mit steigendem Lebensalter nicht gleicher, sondem ungleicher; ein Punkt, der von der differenziellen Gerontologie schon seit Jahrzehnten betont wird (vgl. Backes/Clemens 2004). In vielen gesellschafts- und sozialpoHtischen Diskursen wird die Herausforderung der demografischen Alterung ins Zentrum gestellt, ohne jedoch zu berticksichtigen, dass sich die demografischen Entwicklungen vor dem Hintergrund der vorher skizzierten grundlegenden Wandlungen von Lebensverlaufen vollziehen. Sozial- wie personalpoHtisch entscheidend ist vielfach nicht, dass es mehr altere Menschen beziehungsweise altere Arbeitnehmende gibt, sondem dass sich das Altem selbst wesentlich verandert. Dabei entstehen vielfaltige Formen im Umgang mit dem spaten Bemfsleben und der nachbemflichen Lebenszeit, und gefragt sind flexible Losungen, die den Bediirfiiissen unterschiedlicher Gmppen von Frauen und Mannem entgegenkommen. Dies setzt sozialpolitische Regelungen voraus, die kalendarische Altersgrenzen aufheben. 3. Zur Stellung alterer Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen (50+) Trotz weiterhin prekaren Arbeitsmarktchancen alterer Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen wird in Offentlichkeit und Presse schon die „Wiedergeburt" des alteren Arbeitnehmers gefeiert, wobei die aktuellen Diskurse aber auch die Widerspriichlichkeit in der Stellung alterer Beschaftigter verdeutlichen (vgl. Clemens 2001): Erfahmng und Kompetenzen alterer Mitarbeitender werden zwar als positive Faktoren hervorgehoben, aber man zieht vielfach trotzdem jiingere Mitarbeitende vor und gliedert altere Arbeitnehmende weiterhin vorzeitig aus. In die gezielte Weiterbildung alterer Arbeitskrafte wird eher wenig in-
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vestiert und auch eine Gestaltung der Arbeitsbedingungen und Arbeitsorganisationen nach den Bedurfiiissen alterer Beschaftigter ist noch vergleichsweise selten. Die Situation alterer Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen jenseits des 50. bzw. 55. Lebensjahres in Deutschland ist jedenfalls seit nahezu drei Jahrzehnten durch tiberdurchschnittlich hohe Arbeitsmarkt- und Beschaftigungsrisiken gepragt. Vor allem wenig qualifizierte Arbeitskrafte, teilweise aber auch hochspezialisierte Fachkrafte haben - im Vergleich zu Jtingeren - mit veraltetem fachlichem Wissen und Leistungseinbussen aufgrund von gesundheitlichem VerschleiB zu kampfen, was fur sie Nachteile im betrieblichen Konkurrenzkampf und auf dem Arbeitsmarkt einschlieBt. Die Beschaftigungsrisiken alterer Arbeitskrafte widerspiegeln sich in einer relativ geringen Erwerbsquote dieser Gruppe und einem hohen Anteil an vorzeitiger Verrentung; auch wenn - unter dem Eindruck rentenfiskalischer Betrachtungen und demografischer Perspektiven - ein Umdenken eingesetzt hat (vgl. Clemens 2005). Allerdings fiel die Erwerbstatigenquote der 55-64-jahrigen Manner in Deutschland bis 2000 weiter. Erst nach 2000 stieg der Anteil der Erwerbstatigen unter den 55-64-Jahrigen wieder leicht an, von 37.8% (2001) auf 41.2% (2004). Die vom Europaischen Rat in Stockholm festgelegte Zielsetzung, dass bis 2010 die Halfte der 55-64Jahrigen erwerbstatig bleibt, setzt eine weitere Erhohung der Erwerbstatigkeit alterer Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen voraus. Die Erwerbstatigenquote der tiber 55-Jahrigen ist in starkem MaBe mit dem Bildungsniveau (gemessen am Berufsabschluss) verkntipft, wie die Daten in Tabelle 1 illustrieren. Erwerbstatigenquoten nach Berufsabschluss: Deutschland 2004 %-erwerbstatig im Alter von: 55-60 Jahre Ohne Berufsabschluss Lehrabschluss Fachschulabschluss Fachhochschulabschluss Universitatsabschluss Promotionsabschluss
44%
60-65 Jahre 16% 22%
60% 75% 78%
37% 42%
84% 88%
54% 71%
Tab. 1: Erwerbstatigenquoten (Quelle: Mikrozensus 2004, vgl. Bosch/Schief 2005)
Im Folgenden sollen einige der (negativen wie positiven) Aspekte skizziert werden, die mit der Beschaftigung alterer Arbeitskrafte verbunden werden. Derin, so lasst sich sagen, eine Ausdehnung der (bezahlten) Lebensarbeitszeit wird nur
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sinnvoll und realistisch, wenn die Stellung alterer Mitarbeitender eine Neuorientierung erfahrt. Jung und alt - neu und alt - zur doppeldeutigen Stellung alterer Mitarbeitender. Beim Verhaltnis jtingerer und alterer Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sind immer zwei zentrale Unterscheidungsdimensionen des Alters von Bedeutung (vgl. Hopflinger/Clemens 2005): Erstens geht es um die Dimension Jung - alt", wodurch primar Unterschiede im Lebensalter, teilweise aber auch Unterschiede der Generationenzugehorigkeit angesprochen werden. Zweitens wird gleichzeitig auch die Dimension ,,neu - alt/langjahrig" angesprochen, wobei „alt" mit Aspekten wie lange Betriebszugehorigkeit, langjahrige Berufserfahrung sowie mit Aspekten wie „veraltet" und „altmodisch" in Verbindung gebracht wird. Beide Unterscheidungen - „neu - alt" und Jung - alt" - erzeugen Differenzen, die fur Arbeitsorganisationen gleichermaBen bedeutsam sind. Die Unterscheidung von ,jung und alt" differenziert nach Lebensalter und Generationen sowie ihren Erfahrungsformen. Die Unterscheidung von „neu und alt" unterscheidet zwischen Innovation und Tradition. Beide Altersdimensionen sind im betrieblichen Leben faktisch eng miteinander verkntipft, da neueintretende Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen haufig jiinger sind als langjahrige Betriebsangehorige. Allerdings kommt es in modemen Untemehmen haufiger als frtiher zum Auseinanderfallen beider Altersdimensionen. Dies ist der Fall, wenn altere Arbeitnehmende aufgrund eines Berufs- oder Betriebswechsel neu in einen Betrieb eintreten und damit im Vergleich zu jtingeren Menschen eine geringere Betriebserfahrung vorzuweisen haben. Die Kombination „alt" in Lebensjahren und Erfahrung und „neu" beziiglich betrieblicher Zugehorigkeit gewinnt in einer dynamischen Wirtschaft an Bedeutung, und sofem Alterserwerbsarbeit haufiger wird, ist entsprechend haufiger eine Dissoziation der beiden Altersdimensionen zu erwarten. Bei genauer Betrachtung zur Lage alterer Mitarbeitender wird deutlich, dass viele Diskussionspunkte iiber altere Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen an und fur sich weniger mit dem Alter an sich, sondem primar mit ihrem langjahrigen Verbleiben an der gleichen Stelle oder derselben Position zu tun haben. ,Jung - Alt' steht in enger Assoziation zu ,Neu - Alt', wobei primar das Neue hochgeschatzt wird. Nicht selten ergibt sich innerbetrieblich deshalb eine grundsatzliche Ambivalenz zwischen Neuerung auf der Basis neuer und junger Arbeitskrafte und der Bewahrung betrieblicher Sozialisationsleistungen durch langjahrige (altere) Arbeitskrafte (vgl. Struck 2004).
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Die Stellimg alterer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen wird faktisch oft weniger durch ihr Lebensalter als durch ihre Stellung im Verhaltnis von „neu - alt" bestimmt: Altere Mitarbeitende konnen geschatzt sein, nicht weil sie alter sind, sondem weil sie als langjahrige Berufsfachleute wertvolle Erfahrungen an nachkommende Generationen vermitteln. Umgekehrt konnen altere Arbeitnehmende eine soziale Abwertung erfahren, weil ihr Verhalten und Gehabe als altmodisch eingeschatzt werden oder ihr Wissen als veraltet gilt. Ein langjahriges Verbleiben an der gleichen Arbeitsstelle oder in der gleichen Position wird personalpolitisch heute oft als Hinweis fur fehlende fachliche, berufliche oder soziale Mobilitat interpretiert. Nicht dass eine Person 50 Jahre alt ist, wird negativ beurteilt, sondem die Tatsache, dass diese Person bis zu diesem Alter keine Karrierefortschritte gemacht hat. Die Differenz von ,neu - alt' hat geschichtlich eine Umwertung erfahren, und eines der gesellschaftlich auffalligsten Phanomene der heutigen Zeit ist zweifellos die Hochschatzung von Neuheit und die Begeisterung ftir Innovationen, Daran beteiligen sich Jung und Alt, wenn teilweise mit unterschiedlicher Begeisterung. Wahrend in filiheren Zeiten soziale oder technische Innovationen gerechtfertigt werden mussten, steht heute ein Desinteresse an Innovation unter gesellschaftlichem Rechtfertigungsdruck (vgl. Brosziewski 2001). Dem Druck, standig innovativ zu bleiben, konnen sich altere Arbeitskrafte und zusehends auch pensionierte Menschen immer weniger entziehen. Altere Arbeitnehmende, die soziale und technologische Innovationen nicht aktiv bewaltigen, werden sozial und beruflich ausgeschlossen, und auch pensionierte Menschen, die sich neuen sozialen und technischen Veranderungen verweigem, erfahren den Ausschluss zu einem unzeitgemaBen Leben (das sich hochstens reiche alte Menschen ohne Statusverlust erlauben konnen). Die Wertung der Altersdimension ,neu - alt' hat ftir die Arbeitsmarkt- und Personalpolitik von heute bedeutsame Konsequenzen: Erstens verlagem sich die beruflichen und betrieblichen Integrationsprobleme in einer demografisch altemden Gesellschaft von der Neuintegration junger Arbeitskrafte starker auf die Beibehaltung der Innovativitat alterer Arbeitskrafte. ,Alt und innovativ' wird zunehmend zum Lebensprogramm, und immer haufiger mtissen altere Mitarbeitende von jiingeren Personen lemen, beispielsweise, weil die jiingste Generation die ersten und besten Erfahrungen mit neuen Technologien oder neuen Stilformen aufweist. Die geforderte Aufwertung alterer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen - in einer demografisch altemden Wirtschaft ohne Zweifel notwendig - kann daher nicht ohne starke Teilnahme der jiingsten Generation geschehen, etwa dadurch, dass junge Mitarbeitende gezielt und be-
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wusst eingesetzt werden, um langjahrige Betriebsangehorige mit den neuesten Modehaltungen, Sprachformeln usw. vertraut zu machen. Denkbare betriebliche MaBnahmen sind der gezielte Einsatz jugendlicher „Innovations-Mentoren" fur tiber 50-jahrige Arbeitskrafte oder gezielte Fokusgruppen-Sitzungen mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Zweitens liegt der Wert von Lebens- und Berufserfahrungen langjahriger Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen immer weniger in konkreten Wissensbestanden und Handlungsformen als darin, durch Erfahrung Neues und Altes, Kurzund Langfristiges, Mogliches und Unmogliches ins Gleichgewicht zu bringen. So kann eine altere Flihrungskraft flir eine Untemehmung in einer Krisensituation gerade deshalb zentral sein, weil diese Person schon friihere Krisensituationen bewaltigt hat und deshalb Strategien kennt, auch eine neue Krise rasch und erfolgreich zu bewaltigen. Eine altere Verkauferin kann Kunden deshalb flir eine neue Technologie gewinnen, weil sie auch die Grenzen dieser Technologie anerkennt und anspricht, oder weil sie das Neue mit dem Alten verbindet und vergleicht, denn Innovation ist oft Anlass, tiber Altes zu reden. Wahrnehmung alterer Arbeitskrafte: In fachlichen und offentlichen Diskussionen werden positive und negative Eigenschaften alterer Mitarbeitender haufig nebeneinander gestellt. So werden Alteren etwa mehr Verantwortungsbewusstsein und Zuverlassigkeit, mehr Berufserfahrung und Umsicht zugeschrieben; alles Eigenschaften, die weniger mit dem Alter als mit langjahriger Betriebs- und Berufstatigkeit verbunden sind. Interessanterweise waren die den alteren Menschen zugeschriebenen sozialen Kompetenzen beim deutschen lAB-Betriebspanel aus Arbeitgeberseite diejenigen Eigenschaften, die insgesamt als besonders wichtig eingeschatzt werden (vgl. Struck 2005). Jtingere werden als anpassungsfahiger betrachtet, und sie werden als aufgeschlossener gegenliber Neuerungen eingestuft, als weiterbildungsfahiger und -bereiter, als belastbarer und flexibler in der Einsetzbarkeit (vgl. Koller/Gruber 2001). Eine im Jahr 2005 durchgefiihrte Erhebung bei 804 Untemehmen der Schweiz HeB ebenfalls erkennen, dass alteren Arbeitskraften gleichzeitig Schwachen wie Starken zugesprochen werden (vgl. Hopflinger et al. 2006). Bei den negativen Faktoren lieBen sich drei Hauptdimensionen erkennen: Eine erste Dimension betraf die monetaren Kosten alterer Arbeitskrafte (hohe Lohnnebenkosten, keine Rtickstufung des Lohns moglich und - sofem vorhanden - Entlohnung nach Senioritatsprinzip). Es handelt sich um Kostenfaktoren, die unter heutigen sozialpolitischen und arbeitsmarktlichen Regelungen die Beschaftigung alterer Personen verteuem. Eine zweite Dimension reflektierte vermutete Leistungseinbussen alter werdender
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Arbeitskrafte: geringere Leistungsfahigkeit, erhohtes Krankheitsrisiko, Motivationsverluste sowie nicht mehr aktuelle Ausbildung. Eine dritte Dimension bezog sich auf Probleme innerbetrieblicher Generationenverhaltnisse: mangelnde Bereitschaft alterer Personen, jtingeren Mitarbeitem imterstellt zu sein, wie umgekehrt eine mangelnde Bereitschaft jungerer Personen, altere Untergebene zu leiten. Was die fiir eine Weiterbeschaftigung alterer Menschen notwendigen positiven Eigenschaften betraf, wurden zwei bedeutsame Dimensionen festgestellt: Eine Dimension sprach einerseits Aspekte an, die mit langer Betriebszugehorigkeit entstehen, wie Loyalitat und starke Kundenbeziehungen. Andererseits wurden hier auch klassische soziale Arbeitswerte angesprochen, wie Zuverlassigkeit und Verantwortungsbewusstsein. Es geht sozusagen um soziale Kompetenzen, die oft - wenn auch nicht immer - mit Lebenserfahrung verbunden werden. Die andere Dimension bezog sich auf die von alteren Mitarbeitem geforderte Flexibilitat und Innovativitat. Damit verkntlpft ist auch eine Bereitschaft zum Wechsel des Arbeitsbereichs sowie eine gute Zusammenarbeit mit jungeren Menschen. Oder in anderen Worten: Flexibilitat und Innovativitat werden heute personalpolitisch auch von alteren Mitarbeitenden erwartet. Die differenzierte, wenn auch teilweise widerspruchliche Wahmehmung alterer Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen durch Personalverantwortliche fiihrt faktisch dazu, dass betriebsintem altere Arbeitskrafte durchaus geschatzt und gefbrdert werden, sofem sie den betrieblichen Leistungsanft)rderungen geniigen. Betriebsintem wird eine positive Wahmehmung alterer langjahriger Mitarbeitender durch Selektionsprozesse gestarkt, da primar als leistungsfahig und sozial kompetent erachtete Mitarbeitende im Alter noch beschaftigt bleiben. Dagegen werden altere Arbeitskrafte nur selten neu rekmtiert oder angestellt. Die Stellung alterer Arbeitskrafte auf dem extemen Arbeitsmarkt unterscheidet sich vielfach stark von ihrer betriebsintemen Stellung. So bietet eine Mehrheit der 2005 befragten 804 Untemehmen der Schweiz spezifische MaBnahmen zugunsten alterer Mitarbeitender (50+) an (namentlich Teilzeitarbeit gegen Bemfsende, Wechsel der Stelle innerhalb der Untemehmung, Austausch von Aufgaben u.a.), aber bei einer Neurekmtiemng werden - auch bei an und fiir sich gleicher Eignung - mehrheitlich jungere Personen bevorzugt (vgl. Hopflinger et al. 2006). Ein ahnlich ambivalentes Bild zeigt sich in deutschen Erhebungen: Einerseits wird die Leistungsfahigkeit der - schon beschaftigten Alteren von den Personalverantwortlichen geschatzt, andererseits ist mnd die Halfte der Betriebe grundsatzlich nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen bereit, altere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer neu einzustellen (vgl. Bmssig 2005). In den letzten Jahren hat sich der exteme Arbeitsmarkt einzig bei al-
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teren Fiihrungskraften teilweise verbessert (primar weil entsprechende Positionen vermehrt extern ausgeschrieben werden). Ansonsten ergibt sich bei alteren Arbeitskraften eine starke - und wahrscheinlich wachsende - Kluft zwischen ihrer betriebsintemen Stellung - wo vermehrt ForderungsmaBnahmen eingefuhrt werden - und ihrer Stellung auf dem extemen Arbeitsmarkt (wo ein stillschweigender Ausschluss haufig bleibt). Die doppelte (und oft doppeldeutige) Stellung alterer Mitarbeiter im Betrieb und im Arbeitsmarkt zwischen , jung - alt" und „neu - alt" beriihrt in der einen Oder anderen Form alle alteren Arbeitnehmenden - und beztiglich der Kundschaft auch viele Selbstandigerwerbende. Andere Problembereiche alterer Mitarbeitender beschranken sich hingegen auf spezifische Gruppen von alteren Erwerbstatigen. Dies gilt vor allem fur die nachfolgend angeflihrten gesundheitlichen und qualifikatorischen Beschaftigungsrisiken alterer Mitarbeitender. Gesundheitliche Arbeitsfdhigkeit: Eine produktive Arbeit in der zweiten Lebenshalfte ist bei gesundheitlichen Einschrankungen nicht oder nur reduziert moglich. Gesundheitliche Probleme in spateren Lebensphasen sind oft mit gesundheitlichen und sozialen Belastungen in filiheren Lebensphasen assoziiert. Dabei wirken sich chronische berufliche Belastungen vor allem gegen Ende der Berufslauft)ahn besonders negativ auf das gesundheitliche Befmden aus, wie eine zehnjahrige Langsschnittbeobachtung aus Genf nachwies (vgl. GognalonsNicolet/Bardet Blochet 2004). Im spateren Erwerbsalter konnen die Auswirkungen lang andauemder beruflicher, aber auch privater Belastungen durch biologische Altemsprozesse verstarkt werden. Es ist auffallend, dass in Deutschland ein betrachtlicher Teil schon der 4054-Jahrigen ihre Gesundheit als mittelmaBig bis schlecht beurteilt (vgl. Tabelle 2). Die gesundheitliche Selbsteinschatzung ist in Deutschland deutlich schlechter als etwa in der Schweiz (wo auch die Erwerbsquoten der 55-64-Jahrigen deutlich hoher liegen). Besonders haufig klagen 40-69-jahrige Frauen und Manner in Deutschland iiber Gelenk-, Knochen-, Bandscheiben- oder Riickenleiden sowie Herz- und Kreislauferkrankungen (vgl. Wurm/Tesch-Romer 2006). Dies sind Krankheiten und Beschwerden, welche sachgemaB die Leistungsfahigkeit alterer Arbeitskrafte bedeutsam reduzieren. So werden rd. die Halfte der Antrage ftir eine vorzeitige Rente mit Riickenleiden begrtindet (vgl. Ueberschar 2006).
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Subjektive Gesundheitseinschatzung der 40-69-jahrigen Manner und Frauen 2002 %-Anteil, die ihre Gesundheit als gut/sehr gut einschatzen Altersgmppe Deutschland 2002
Schweiz 2002
40-54 Jahre
55-69 Jahre
Manner
West Ost
73% 66%
55% 55%
Frauen
West Ost
73% 69%
57% 50%
Manner
88%
83%
Frauen
84%
80%
Tab. 2: Subjektive Gesundheitseinschatzung (Quelle fiir Deutschland Wurm/Tesch-Romer 2006, fiir die Schweiz Hopflinger et al. 2006)
Langsschnittbeobachtungen verschiedener Berufsgruppen lassen vor allem drei Gruppen von beruflich bedingten gesundheitlichen Risikofaktoren bei alteren Arbeitskraften hervortreten (vgl. Ilmarinen 1995, 2004): a) zu hohe physische Arbeitsanfordemngen, wie statische Muskelarbeit, hoher Krafteinsatz, Heben und Tragen, sonstige Spitzenbelastungen, repetitive Arbeit, gleichzeitig gebeugte und gedrehte Korperhaltung u.a. Solche Faktoren sind fiir altere Arbeitskrafte kritischer als fiir jiingere, da die Inzidenz von muskuloskelettaler Erkrankungen mit dem Alter ansteigt; b) eine belastende und gefahrliche Arbeitsumgebung (schmutzige oder nasse Arbeitssituation, Unfallrisiko, Hitze, Kalte oder rasche Temperaturanderungen). Solche Faktoren erhohen das Risiko von Unfallen sowie die Beanspruchung der muskuloskelettalen Systeme sowie von Herz und Lunge; c) mangelhaft organisierte Arbeit, Rollenkonflikte, Angst vor Fehlleistungen, Mangel an Freiheitsgraden, Zeitdruck, geringe Einflussmoglichkeiten auf die eigene Arbeit, Mangel an beruflicher Perspektive, wenig Anerkennung durch Vorgesetzte; alles Arbeitsfaktoren, die primar zu psychischen oder psycho-somatischen Einschrankungen beitragen konnen. Eine Ausdehnung der Lebensarbeitszeit setzt verstarkte MaBnahmen der betrieblichen wie auBerbetrieblichen Gesundheitsfi)rderung voraus. Weil Gesundheit und Gesundheitsverhalten im hoheren Lebensalter berufs- und lebensbiografisch verankert sind, sind bei einer Gesundheitsforderung fur die zweite Lebenshalfte drei Grundprinzipien zentral:
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a)
Sie anerkennt die Heterogenitat der Lebenslage alterer Menschen und ihrer Altemsprozesse und sie ist deshalb in weiten Teilen zielgruppenspezifisch organisiert; b) Sie umfasst sowohl primare wie sekundare PraventionsmaBnahmen und teilweise auch rehabilitative MaBnahmen, und c) Sie berticksichtigt, dass neue Generationen von Frauen und Manner je andere berufliche und familiale Hintergriinde aufweisen, was eine periodische und generationenbezogene Uberpriifung gesundheitsfordemder Programme impliziert. Qualifikationsrisiken'. Bei raschen wirtschaftlichen und technologischen Veranderungen haben altere bzw. langjahrige Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen im Vergleich zu Jiingeren oft mit dem Problem (und Vorurteil) eines veralteten fachlichen Wissens zu kampfen. Die intergenerationellen Bildungsunterschiede verscharfen diese Situation, da die Bildungsexpansion der letzten Jahrzehnte dazu beitragt, dass altere Arbeitskrafte vielfach geringere schulische und berufliche Grundqualifikationen aufweisen als jungere Kollegen und Kolleginnen. Dies gilt insbesondere ffir Frauen aus alteren Geburtskohorten, die in ihrer Jugendzeit bildungsmaBig benachteiligt waren (vgl. Clemens 1997). Zusatzlich besaBen die heute alteren Beschaftigten vielfach weniger Moglichkeiten zur Kompensation schulisch-beruflicher Bildungsdefizite; ein Punkt, der bei alter werdenden Migranten und Migrantinnen besonders haufig zutrifft. In Verbindung mit einem hoheren Risiko von Qualifikationsdefiziten unterliegen altere Arbeitskrafte aber auch erhohten Dequalifikationsrisiken, die sich mit zunehmender Dauer ihrer Erwerbstatigkeit verscharfen konnen (vgl. Naegele 1992): Erstens besteht das Risiko, den erlemten Beruf nicht mehr ausiiben zu konnen, weil er entweder weggefallen ist oder sich die typischen Tatigkeitsfelder in diesem Beruf tiefgreifend verandert haben. Besonders betroffen sind gering qualifizierte Arbeitnehmer, die in traditionellen Branchen tatig sind, aber auch hochspezialisierte Personen in aussterbenden Berufszweigen. Zweitens besteht das Risiko einer Dequalifizierung durch Verschiebungen im Anforderungsprofil, besonders bei innerbetrieblichen Anderungen von Produktionstechniken und Organisationskonzepten. Solche Dequalifizierungsprozessse vollziehen sich haufig verdeckt, sie stehen oft in Zusammenhang mit der Einfuhrung neuer Informationsund Kommunikationstechnologien sowie neuer Organisationsund Managementkonzepte. Drittens kann eine jahrelang eingeschrankte oder sehr spezialisierte Arbeitstatigkeit zu einer erwerbsmaBigen Dequalifikation beitragen. Dazu gehort das Risiko einer zu stark betriebsspezifischen Quali-
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fizierung. Eine hohe berufliche Spezialisierung bedeutet einerseits haufig wertvolles betriebliches Humankapital und garantiert unter giinstigen Umstanden eine sichere oder geschatzte Position im Betrieb. Andererseits wird dies bei einem raschen und tiefgreifenden Wandel der Produktionskonzepte und Organisationsstrukturen zum Risikofaktor, vor allem, wenn infolge der Spezialisierung iibrige, nicht ausgetibte Leistungspotenziale entwertet und eingeschrankt wurden. Eine Dequalifizierung alterer Arbeitskrafte ist daher nicht allein auf fehlende Weiterbildung zuriickzufiihren, sondem sie entsteht haufig aus einer - langfristig nicht vorhersehbaren - Diskrepanz zwischen dem etabherten Leistungsvermogen und gewandelten QuaHfikationsanforderungen. Entsprechend sind in manchen Fallen Umbildung und Umlemen bei alteren Arbeitskraflen wichtiger als Weiterbildung in seinem klassischen Verstandnis. ,Permanentes Lemen' ist die eine Forderung, aber ebenso zentral ist die Erhaltung der Lemfahigkeit und der Fahigkeit zum Umlemen. Die Annahme, dass die Lemfahigkeit mit dem Alter generell abnimmt, ist seit langem widerlegt (vgl. Herschkowitz 2001). Einzig bei der Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung ergeben sich relativ fhih altersspezifische EinbuBen, und sie verlauft bei Menschen um 50 merkbar langsamer als bei Menschen um 20. Auch die Ubergangszeit vom Kurzzeit- ins Langzeitgedachtnis dauert bei 50-Jahrigen in der Kegel langer als bei 20-Jahrigen. Zudem wird explizit Gelemtes mit dem Alterwerden eher vergessen als implizit Gelemtes. Wenn etwas im Langzeitgedachtnis verankert ist, dann besteht beim Erinnemngsvermogen hingegen kaum ein Unterschied zwischen jiingeren und alteren erwerbstatigen Menschen (vgl. Semmer/Richter 2004). Die Unterschiede im Lernen zwischen jiingeren und alteren Arbeitskraften betreffen primar die Lemgeschichte, die Lemmotivation und die Lemumwelt: Erstens zeigen altere Menschen aufgmnd ihrer langeren Erfahmngs- und Lembiographie mehr Miihe mit dem sogenannten ,Uberlemen'. Sie haben teilweise mehr Schwierigkeiten frtiher Gelemtes auch zu vergessen. Entsprechend benotigen altere Personen insgesamt langer, um sich neuen Lemstoff anzueignen, der quer zu friiherem Wissen steht (vgl. Raabe et al. 2003). Zweitens ist der bemfliche Erfahrungshorizont alterer Lemender - im positiven wie negativen Sinne - breiter als bei Jungeren. Damit fliefien biografische Erfahrungsaspekte in die padagogischen Interaktionen ein, und altere Frauen und Manner mochten haufig an dem anknlipfen, was sie schon kennen oder zu kennen glauben (vgl. Rohs 2002). Bedeutsam sind auch friihere Lemerfahmngen (Schule, Lehre), die bei alteren Generationen aufgmnd der damals autoritaren Ausrichtung nicht immer positiv waren. Drittens haben viele altere Arbeitskrafte keine kontinuierliche Weiter-
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und Fortbildung erfahren. Wenn Lemprozesse bei alteren Arbeitnehmenden weniger effizient sind als bei jtingeren Arbeitnehmenden, ist dies haufig das Ergebnis fehlender oder vergessener Lemerfahrungen, und langjahrige Lticken in der Weiterbildung reduzieren die Lemmotivation. Viertens ist berufliche und betriebliche Weiterbildung eng an berufliche Karriereplane gekntipft, und bei alteren Mitarbeitenden gegen Ende des Berufslebens entfallt diese Lemmotivation. Lembarrieren sind besonders zentral bei alteren Menschen, die Weiterbildung als anstrengend und stressvoll erleben (vgl. Axhausen et al. 2002). Im Zeitverlauf hat sich der Anteil alterer Erwerbstatiger erhoht, die sich beruflich weiterbilden, auch wenn nach 1997 die Teihiahmequoten an der beruflichen Weiterbildung emeut leicht sanken (vgl. Tabelle 3). Auf den ersten Blick zeigen die Angaben in Tabelle 3, dass berufliche Weiterbildung nach 50 seltener wird. Allerdings beziehen sich die angefiihrten Zahlen auf die Gesamtbevolkerung. Betrachtet man ausschlieBlich die Gruppe der erwerbstatigen Personen, so verringem sich die Differenzen zwischen den Altersgruppen. Insgesamt variierten die Weiterbildungsquoten 2003 bei den 19- bis 59-jahrigen Erwerbstatigen nur zwischen 32% und 39%, erst ab einem Alter von 60 Jahren fallt die Quote deutlich auf 16% ab. Die selektive Gruppe alterer Menschen, die noch erwerbstatig ist, bleibt nicht selten weiterhin ins System der beruflichen Weiterbildung eingebunden, wahrend bei der nicht erwerbstatigen alteren Bevolkerung die berufsbezogenen Weiterbildungsaktivitaten abfallen. Hinter dem vermeintlichen altersbedingten Ruckgang beruflicher Weiterbildungsaktivitaten versteckt sich als Drittvariable die Erwerbsbeteiligung in spateren Lebensjahren. Entwicklung der Teilnahmequote an beruflicher Weiterbildung nach Altersgruppen Altersgruppe 1979 1991 1997 2003
(Westdeutschland) (Westdeutschland) (Deutschland) (Deutschland)
19-34 Jahre 16% 25% 33% 29%
35-49 Jahre
50-64 Jahre
9% 24% 36% 31%
4% 11% 20% 17%
Tab. 3: Entwicklung der Teilnahmequote an beruflicher Weiterbildung (Teilnahmequote bezieht sich auf Gesamtbevolkerung), (Quelle: Kuwan/Thebis 2005: 26)
Ein bedeutsamer Einflussfaktor fiir die Teilnahme an betrieblicher Weiterbildung ist die BetriebsgroBe, Mitarbeitende in kleinen Betrieben bilden sich seltener weiter als Beschaftigte in groBeren Betrieben (vgl. Bellmann/Leber 2004). Daneben sind individuelle Merkmale der Mitarbeitenden bedeutsam, wobei der bisher absolvierten Ausbildung die groBte Bedeutung zukommt: Je hoher das
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Ausbildungsniveau ist, desto mehr steigt die Wahrscheinlichkeit, betriebliche Weiterbildungskurse zu besuchen. Die formelle berufliche Weiterbildung scheint weitgehend komplementar zum schulischen Bildungsniveau zu verlaufen, was auch damit zusammenhangt, dass viele Weiterbildungskurse ein gewisses Bildungsniveau voraussetzen (vgl. Leu/Gerfm 2004). Personen, die sich weiterbilden, unterscheiden sich auch in anderer Hinsicht von ,Bildungsunwilligen', sie sind interessierter, flexibler und motivierter. Das ,Matthaus-Prinzip der Weiterbildung' (,wer hat, dem wird gegeben') wird durch die Tatsache verstarkt, dass ein bedeutsamer Teil der besser ausgebildeten Personen kontinuierliche Weiterbildung betreibt, wahrend Personen mit wenig (Schul)-Bildung dazu tendieren, fruhzeitig auf Bildungsanstrengungen verzichten. Wenig qualifizierte altere Personen sind nicht nur von Beschaftigung im Alter uberhaupt, sondem auch von beruflicher Weiterbildung oft ausgeschlossen (vgl. Schroder et al. 2004). Umgekehrt schlagt sich Weiterbildung nach 50 vor allem dort in hoheren Lohnen nieder, wo diese vorher schon hoch waren. Solche Selektionsprozesse verscharfen in spateren Berufsjahren die Qualifikations- und Einkommensunterschiede alterer Arbeitskrafte, wobei diese sozio-okonomischen und bildungsmaBigen Differenzen anschlieBend auch zu Unterschieden des Altems nach der Pensionierung beitragen. Alter und Leistungsfdhigkeit - empirisch betrachtet Der Bogen der wahrgenommenen oder vermuteten positiven wie negativen Merkmale alterer Arbeitskrafte ist sehr breit. Alle neueren empirischen Studien zur allgemeinen Leistungsfahigkeit alterer Arbeitskrafte ergeben dagegen ein klares Ergebnis: Personlichkeits- und Verhaltensmerkmale verandem sich mit dem Lebensalter mit Ausnahmen wie etwa Reaktionsgeschwindigkeit - generell wenig. So zeigte eine in der Region Basel durchgeftihrte Studie der Ftihrungsftinktionen zwischen jiingeren und alteren Abteilungsleitem keine signifikanten Unterschiede von Personlichkeits- und Verhaltensmerkmalen. Auch beztiglich spontanem Planungsverhalten, Arbeitsmotivation, Zuverlassigkeit oder Offenheit ftir Neues oder Lembereitschaft ergaben sich kaum Altersunterschiede (vgl. Steiner 2000). Auch die von Michael Bruggmann (2000) diskutierten empirischen Studien zum Thema lieBen keinen allgemeinen Leistungsabbau mit dem Alter erkennen: „Wenn auch mit dem Alter einhergehende Verschiebungen in den Leistungsvoraussetzungen zu beobachten sind, so auBem sich diese nach heutigem Forschungsstand nicht in einem generellen Zusammenhang zwischen Alter und Arbeitsleistung" (Bruggmann 2000: 25). Altere Mitarbeitende konnen u.U. einige ftir die Arbeit positive Eigenschaften einbiissen, sie gewinnen jedoch oft neue
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Eigenschaften dazu, oder sie wahlen andere Kombinationen von Leistungsdimensionen, wodurch sie Verluste kompensieren konnen (vgl. Semmer/Richter 2004: 101). Zwischen dem Alter und der allgemeinen Arbeitsleistung lasst sich somit kein negativer Zusammenhang feststellen. Ein Zusammenhang besteht lediglich darin, dass im hoheren Lebensalter die interindividuellen Variationen von Leistungsvoraussetzungen und Leistungsniveau eher zunehmen als abnehmen. Oder methodisch formuliert: Mittelwertsvergleiche zeigen kaum Altersunterschiede, hingegen steigen die Varianzkoeffizienten (Standardabweichung in % der Mittelwerte) im hoheren Alter an. Eine Zusammenfassung der Untersuchungen zu den arbeitsrelevanten Fahigkeiten, Ressourcen und Leistungen alter werdender Menschen fiihrt deshalb zu den folgenden zwei zentralen Feststellungen: Erstens sind die Unterschiede beziiglich arbeitsrelevanter Eigenschaften und Leistungsdimensionen innerhalb von Altersgruppen groBer als zwischen verschiedenen Altersgruppen, und zweitens vergroBem sich die intemen Differenzen mit steigendem Alter. Die individuellen Unterschiede zwischen 50-60-Jahrigen sind im Allgemeinen ausgepragter als bei 3 0-40-Jahrigen. Die groBen - und tendenziell wachsenden - Unterschiede der Leistungsvoraussetzungen und Kompetenzen uber 50-jahriger Arbeitskrafte weisen darauf hin, dass bisherige und aktuelle Berufs- und Arbeitsverhaltnisse einen entscheidenden Einfluss auf die Arbeitsfahigkeiten alterer Arbeitskrafte ausiiben. Eine hohe und dauerhafte Leistungsfahigkeit im spateren Erwerbsleben ist nur bei entsprechenden beruflich-betrieblichen Rahmenbedingungen moglich. Gleichzeitig setzt „erft)lgreiches Altem" permanente Investitionen in die Kompetenzerhaltung (Weiterbildung u.a.) voraus. Eine Ausdehnung der Lebensarbeitszeit tiber das 60. oder 65. Altersjahr hinaus - ist daher nur moglich, wenn die vorgangigen beruflichen Phasen erft)lgreich bewaltigt wurden. Alle sozial- und wirtschaftspolitischen Bestrebungen zur deutlichen Ausdehnung der Lebensarbeitszeit erfordem entsprechende Veranderungen der Berufsverlaufe und eine Starkung der Stellung alterer Arbeitskrafte. 4. Arbeit im hoheren Lebensalter - Feststellungen und Perspelctiven Erwerbstatigkeit im hoheren Lebensalter (60+) ist in Deutschland selten geworden, und nach den Daten des deutschen Alterssurveys 2002 waren nur 23% der 60-64-Jahrigen und nur 10% der 65-69-Jahrigen in irgendeiner Form erwerbstatig (vgl. Engstler 2006). Die Frage, wie viele altere Menschen jenseits des Rentenalters produktiv tatig sind, kann allerdings nicht unabhangig von einer Neudefmition des Arbeitsbegriffs beantwortet werden, da die Fixierung auf bezahlte Erwerbsarbeiten bei alteren Frauen und Mannem wenig Sinn macht. Im hoheren
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Lebensalter ist - gerade bei unbezahlten familialen oder auBerfamilialen Tatigkeiten - die Definition dessen, was als Arbeit gilt, offen, weil das Rentenalter klassischerweise als Lebensphase jenseits der Arbeit defmiert wird. Deshalb sind je nach Studiendesign imd Erhebungsform mit teilweise divergierenden Ergebnissen zur Verbreitung von bezahlter wie unbezahlter Altersarbeit zu rechnen. Die Offenheit des Arbeitsbegriffs im Alter fiihrt wahrscheinlich auch dazu, dass sich die geschlechtsspezifischen Unterschiede der Antworten teilweise verwischen, weil Frauen unbezahlte Tatigkeiten weniger oft als ,Arbeit' ankreuzen als Manner. In Tabelle 4 sind Angaben aus zwei imterschiedlichen Erhebungen (Alterssurvey 2002 und Share-Studie 2004) einbezogen, und sachgemaB ergeben sich teilweise einige Unterschiede in der Haufigkeit angegebener ,produktiver Aktivitaten'. Beide Erhebungen verdeutlichen jedoch eines klar: Im hoheren Lebensalter - und vor allem im Rentenalter - uberwiegen nicht-monetare produktive Tatigkeiten zugunsten von Familienangehorigen oder Dritten, und „produktives Alter" umfasst heute weitgehend unbezahlte und damit gesellschaftlich eher unbeachtete Arbeitsleistungen (die auch nicht in die offiziellen Wohlstandsberechnungen einflieBen). Im Folgenden sollen die verschiedenen Formen eines ,produktiven Alters' genauer betrachtet werden: Erwerbsarbeit im Alter. Die Chance, eine vergleichsweise lange gesunde Lebensphase jenseits beruflicher Erfordemisse und Anforderungen zu erleben, ist eine relativ neue Entwicklung, die sich fiir die Mehrheit alterer Menschen in Europa erst seit den 1970er Jahren realisiert hat. Die „spate Freiheit" ist eine wichtige Errungenschaft gegen Ende des 20. Jahrhunderts, die im 21. Jahrhundert nicht leichtfertig aufgegeben werden sollte. Gegenwartig gehen in Deutschland weniger als zehn Frozent der 65-jahrigen und alteren Menschen einer bezahlten Erwerbsarbeit nach, wahrend dies beispielsweise in der Schweiz deutlich mehr sind. Allerdings beschrankt sich die Weiterarbeit nach 65 auch in der Schweiz weitgehend auf - zum Teil geringfiigige - Teilzeitarbeit, und hohere Arbeitspensen finden sich primar bei Selbstandigerwerbenden ohne berufliche Vorsorge und/oder mit Nachfolgeproblemen sowie bei Landwirten. Einzig bei akademisch ausgebildeten Mannem und Frauen sind Freude an der beruflichen Herausforderung sowie eine ungentigende Auslastung ohne Berufsarbeit zentrale Motive einer Weiterarbeit liber das Rentenalter hinaus (vgl. Balthasar et al. 2003; Wanner et al. 2003: 63). Zusatzlich ist der Fensionierungsentscheid alterer Erwerbspersonen auch von ihren Beschaftigungschancen abzuhangen. Dies ist daran zu erkennen, dass die Erwerbs-
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beteiligung von Personen im Rentenalter vor allem in solchen Berufen stark sank, in denen die Beschaftigung stagnierte oder rticklaufig war (vgl. dazu Riphan/Sheldon 2006).
Arbeit in der 2^weiten Lebenshalfte - nach neueren Erhebungen A) „Produktive" Tatigkeiten im hoheren Lebensalter nach deutschem Alterssurvey 2002 Vlanner Frauen 55-69 J. -69 J. 70-85 J. 70-85 J. Erwerbstatigkeiten parallel zu einem 8% 4% Altersrentenbezug 8% 6% 23% 15% 18% 5% Ehrenamtliche Tatigkeiten insgesamt 12% 19% 13% 3% davon in Vereinen und Verbanden 9% 7% 15% 10% Pflegetatigkeiten * 21% 15% 17% (Enkel-)Kinderbetreuung ** 27% 34% 24% 17% Instrumentelle Unterstiitzungsleistungen *** 15% * Gibt es innerhalb oder auBerhalb Ihres Haushalts Personen, die Sie aufgrund einer Hilfsoder Pflegebediirftigkeit privat oder ehrenamtlich pflegen oder denen Sie regelmaiiig Hilfe leisten? ** Betreuen oder beaufsichtigen Sie privat Kinder, die nicht Ihre eigenen sind, z.B. auch Ihre Enkel oder Kinder von Nachbam, Freunden oder Bekannten? *** Haben Sie wahrend der letzten 12 Monate jemanden, der nicht hier im Haushalt lebt, bei Arbeiten im Haushalt, z.B. beim Saubermachen, bei kleineren Reparaturen oder beim Einkaufen geholfen?
B) Angefiihrte Haufigkeit von bezahlter und unbezahlter Arbeit nach SHARE-Studie 2004 Manner Frauen Deutschland Bezahlte Erwerbsarbeit Unbez. Hilfsleistungen * Enkelkind-Betreuung **
50-54 84% 46% 9%
Schweiz 92% Bezahlte Erwerbsarbeit 42% Unbez. Hilfsleistungen * Enkelkind-Betreuung ** 6% * providing help ** caring for grandchildren
55-59 72% 43% 21%
60-64 37% 44% 23%
65+ 7% 28% 26%
50-54 77% 44% 25%
55-59 56% 45% 37%
60-64 20% 35% 39%
65+ 4% 15% 18%
95% 35% 15%
68% 44% 23%
24% 24% 23%
79% 52% 10%
63% 38% 28%
45% 44% 39%
17% 27% 19%
Tab. 4: Arbeit in der zweiten Lebenshalfte (Quelle A: Kiinemund 2006: Tabelle A1-A3, Quelle B: SHARE-Survey 2004, vgl. Hank/Erlinghagen 2005: Tabl. 5A18)
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Eine bei 804 Schweizem Untemehmen 2005 durchgefuhrte Faktoranalyse zu realisierten Projekten der Altersarbeit lieB denn zwei unterschiedliche Dimensionen von Alterserwerbsarbeit erkennen (vgl. Hopflinger et al. 2006): Auf einer ersten Dimension befinden sich befristete Projekte und Hilfsarbeiten durch Pensionierte. Altersrentner sind hier vor allem „Reservearbeitskrafte", die namentlich in Zeiten von knappem Arbeitsangebot fur unqualifizierte oder unregelmaBige Arbeitseinsatze aufgeboten werden. Diese Dimension reflektiert einen eher marginalen und residualen Charakter von Altersarbeit. Auf einer zweiten Dimension befmden sich Beratungsaufgaben alterer Menschen, etwa als ,Senior Consultants'. So hat beispielsweise die ABB Schweiz schon 1994 die Consenec AG gegrtindet (friiher ABB Consulting AG): Mit 60 Jahren treten Ftihrungsmitarbeiter zur Consenec tiber. Sie geben ihre bisherige Funktion auf und sind bis zum Alter von 65/66 Jahren als Senior Consultants tatig. Consenec tibemimmt Fiihrungsaufgaben und Management-Beratung und bietet Fachberatung und Coaching fur Fuhrungskrafte und -teams an. Das Modell verfolgt neben dem Wissenstransfer auch den schrittweisen Ausstieg aus dem Berufsleben sowie eine Verjtingung des Managements. Nicht selten iibemehmen pensionierte Mitarbeitende zudem Vertretungsfiinktionen; eine Form der Altersarbeit, die in der Schweiz vor allem in Untemehmen mit hohem Frauenanteil (Vertretung bei Mutterschaft) praktiziert wird. Untemehmen, die personalpolitische MaBnahmen fur langjahrige und altere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen eingefuhrt haben, haben haufiger auch Angebote fiir Pensionierte, namentlich bezliglich Senior Consultants und befristeten Projekten. Die positive Beziehung zwischen der Zahl personalpolitischer MaBnahmen 50+ und Formen der Altersarbeit ist auch nach Kontrolle der UnternehmensgroBe statistisch bedeutsam. Die Fordemng alterer Mitarbeiter und Altersarbeit sind damit nicht altemative, sondem erganzende Strategien einer Politik in Richtung einer langeren Lebensarbeitszeit. Eine Aufwertung alterer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hilft mit, dass sie - sofem gewtinscht - auch spater aktiv sein konnen. In jedem Fall zeigt sich bei der Alterserwerbsarbeit eine inharente Segmentation, die wahrscheinlich auch in Zukunft bedeutsam sein wird: Einerseits handelt es sich um qualifizierte und intergenerationell ausgerichtete Formen der Weiterarbeit alterer Fachleute, die auf personalisierten Kompetenzen basieren (Senior Consultants, Mentoren). Andererseits handelt es sich um marginale und oft unqualifizierte Arbeitstatigkeiten (befristete Projekte, Hilfsarbeiten). Wahrend die erste Form der Altersarbeit kompetenzorientiert ist und vom Angebot an hochqualifizierten Fachleuten mit aktualisierten Kenntnissen und guten in-
Ausdehnung der Lebensarbeitszeit und die Stellung alterer Arbeitskrafte
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tergenerationellen Kommunikationsfahigkeiten abhangig ist, bilden bei der zweiten Form von Altersteilzeitarbeit die alteren Arbeitskrafte sozusagen eine „Reservearmee", die je nach konjunkturellem Bedarf mobilisiert oder nicht mobilisiert wird. Zuktinftige Entwicklungen - sei es ein Abbau der staatlichen Alterssicherung, sei es eine steigende Nachfrage nach alteren Arbeitskraften oder ein verstarkter Wunsch alterer Menschen, im Alter beruflich engagiert zu verbleiben konnen emeut einen Trend zur Weiterarbeit im Alter auslosen. Je mehr Frauen und Manner sich im hoheren Alter gesund und kompetent fiihlen, desto groBer ist das Bedtirfiiis nach einer aktiven Gestaltung der spateren Lebensjahre, und nach kontinuitatstheoretischen Ansatzen gehort zum ,aktiven Altem' flir zunehmend mehr Menschen auch die teilweise Weiterfiihrung einer Erwerbsarbeit. Es ist jedoch klar, dass mit dem Stichwort ,Alterserwerbsarbeit' gegenwartig und in naher Zukunft primar eine kleine, wenn auch anwachsende Gruppe alterer Arbeitskrafte (60/65+) angesprochen wird. Denkbar ist zudem, dass altere Arbeitskrafte - nach den Frauen - zukiinftig vermehrt die Rolle eines ,Arbeitskrafte-Reservoirs' tibemehmen, und sich der Anteil der erwerbstatigen alteren Frauen und Manner je nach Konjunkturlage rasch erhoht oder wieder reduziert. Nur eine sozial selektive Minderheit wird auch im hoheren Lebensalter starker im Form kompetenzorientierter Berufs- und Erwerbsarbeit tatig sein, und Bestrebungen die Alterserwerbsarbeit auszudehnen, werden die wirtschaftlichen und sozialen Differenzen der alteren Bevolkerung zusatzlich verstarken. Gesamtwirtschaftlich ist zudem zu beachten, dass selbst eine Verdoppelung der Altersarbeit im Vergleich zu heute das Arbeitskraftepotenzial in Deutschland wie der Schweiz nicht wesentlich zu erhohen vermag, namentlich, wenn die iiberwiegende Mehrheit der Erwerbstatigen im Rentenalter teilzeitlich tatig sind. Der Altersarbeitsmarkt kann hochstens langerfristig einen bedeutsamen Beitrag zur Ausdehnung des gesamten Beschaftigungsvolumens leisten. Ehrenamtliche Tdtigkeiten und Freiwilligenarbeit im Alter. Unterschieden werden Ehrenamt und Freiwilligenarbeit bzw. formale Tatigkeiten gegentiber informellen Aktivitaten (vgl. Backes 2000). Ehrenamtlichkeit bezieht sich auf ein offentliches, aber prinzipiell unentgeltlich ausgeiibtes Amt in Vereinen oder Verbanden. Haufig sind Tatigkeiten in Sport- und Kulturvereinen, in Kirchen, in politischen, gewerkschaftlichen und sozial tatigen Organisationen. Da die Tatigkeiten des (alten) Ehrenamtes erwerbsahnlichen Charakter haben, ist es weit verbreitet, dass Aufsvandsentschadigungen bezahlt und bestimmte Versicherungsleistungen angeboten werden. Bei der Freiwilligenarbeit handelt es sich
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hingegen um Aktivitaten in informellen Sozialnetzen, wie Nachbarschaft und Freundeskreis. Freiwilligenarbeit kann auch in starker organisierter Form im Rahmen von Selbsthilfegruppen und freien Initiativen geleistet werden. „Die Freiwilligenarbeit entspricht ihrem Charakter nach eher der Hausarbeit, Leistungen werden kaum monetar abgegolten. Gemeint sind hier Tatigkeiten in der Nachbarschaftshilfe, Betreuung von alteren Menschen, Hilfe bei der Sicherung von Schulwegen, der Aufsicht in Grtinanlagen" (Kolland 2002: 79). Ehrenamtliches und freiwilliges Engagement erfahrt gegenwartig eine Neukonjunktur (vgl. Enquete-Kommission 2002). In aktuellen offentlichen Diskursen wird allerdings vieles wiederholt und zum Teil als ,neu' entdeckt, was bereits Ende der 1970er Jahre zum Allgemeingut zahlte. Nicht selten sind positive Illusionen und sozialpolitische Mythen, namentlich was die Chancen und Moglichkeiten freiwilliger Arbeiten nach der Erwerbsarbeit betrifft. Das Thema ist wie Backes (2005) feststellt - von einer Fiille ideologieverdachtiger Pradispositionen, latenter oder manifester GlticksverheiBungen und moralischer Implikationen besetzt, etwa beztiglich der sozialen Verpflichtungen zwischen jungen und alten Alten, Gesunden und Kranken, alteren und jungeren Generationen u.a.m. In Zusammenhang mit alteren, nicht mehr erwerbstatigen Menschen werden freiwillige und ehrenamtliche Arbeiten in Deutschland seit Jahren unter zwei Perspektiven diskutiert (vgl. Backes 2005): Gesunde altere Pensionierte gelten erstens als gesellschaftlich zu nutzende soziale Ressource. Sie konnen und sollen einen wesentlichen Beitrag zur Bearbeitung ansonsten vemachlassigter oder von der Versorgung her prekarer gesellschaftlicher Aufgabenbereiche leisten. Dazu gehort auch die Kompensation unzureichender Betreuungsmoglichkeiten kranker, hilfe- und insbesondere pflegebedtirftiger alter und hochbetagter Menschen. Zweitens gelten freiwillige und ehrenamtliche Arbeiten als sinnvolle Handlungsperspektive fur Frauen und Manner jenseits der Erwerbsarbeit und diesseits der Hausarbeit. Dabei geht es vor allem um als sinnvoll erlebte Moglichkeiten der Beschaftigung im Alter, die auch dazu dienen, einen Beitrag zur sozialen Integration von Frauen und Manner in der nachberuflichen Lebensphase zu leisten. Flankiert wird dies durch Anlehnung an gerontologische Diskussionen zum „aktiven und kompetenzorientierten Altem". Faktisch zeigen die vorhandenen Daten jedoch keine klare Zunahme des ehrenamtlichen und freiwilligen Engagements in der nachberuflichen Lebensphase. Die Stellung im Erwerbsleben spielt fiir die Haufigkeit entsprechender Tatigkeiten keine klare Rolle, und es zeigt sich keine Zunahme des ehrenamtlichen Engagements nach dem LFbergang in den Ruhestand. Bisher ist es , jedenfalls of-
Ausdehnung der Lebensarbeitszeit und die Stellung alterer Arbeitskrafte
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fenbar nicht so, dass ein Ehrenamt als , Ersatz' fur den Fortfall der Erwerbstatigkeit aufgenommen wird" (Kiinemund 2006: 303). Umgekehrt konnte dies bedeuten, dass eine Verlangerung der Erwerbsarbeit - etwa durch eine Erhohung des Rentenalters - sich auch nicht zwangslaufig negativ auf familiales und ehrenamtliches Engagement auswirken wurde. Wie in anderen Landem zeigt sich aber auch in Deutschland ein starker Bildungseffekt, indem die Haufigkeit freiwilHger und vor allem ehrenamtHcher Tatigkeiten im hoheren Lebensalter eng mit dem Bildungsniveau assoziiert ist. Die Zugangschancen - namentlich bei Ehrenamtem - sind damit sozial ungleich verteilt, und dementsprechend zeigen sich auch geschlechtsbezogene Differenzen. So stellen Frauen in vielen Bereichen freiwilHger sozialer Arbeit die weitaus groBte Gruppe, wahrend Manner sich eher in pohtischen Ehrenamtem (Vorstanden, Beiraten usw.) und im Bereich instrumenteller Tatigkeitsfelder (wie Expertendienste) fmden. „Frauen und Manner verteilen sich dabei sehr unterschiedhch auf die verschiedenen Tatigkeitsfelder. In einer Reihe von Tatigkeitsfeldem wird das ehrenamtliche Engagement (iberwiegend von Frauen geleistet. So betragt der Frauenanteil unter den ehrenamtlich Aktiven im sozialen Bereich 67%, im Gesundheitsbereich 66%, im Bereich Schule/Kindergarten 65%, im Bereich Kirche/Religion 65%" (Rosenbladt et al. 1999: 20). Dies spiegelt sich teilweise auch in den in Tabelle 4 angefuhrten Daten wider: Ehrenamtlichkeit im Alter ist bei Manner haufiger als bei Frauen, werden jedoch informelle Pflege und Betreuungsleistungen betrachtet, andert sich die geschlechtsspezifische Verteilung. Aber bei alteren Frauen wie bei alteren Mannem ergeben sich je nach individuellen Ressourcen unterschiedliche Zugange zur Freiwilligenarbeit, wobei die Verbreitung ehrenamtlicher bzw. freiwilHger Arbeit bei den iiber 50-Jahrigen in Deutschland im intereuropaischen Vergleich relativ tief erscheint, namentlich im Vergleich zu skandinavischen Landem (vgl. Hank/Erlinghagen 2005). Detaillierte soziologische Analysen weisen auf bedeutsame Widerspruche und Ambivalenzen in der Stellung und Bedeutung ehrenamtHcher und freiwilHger Arbeiten bei alteren Menschen hin. Auszugehen ist aus Sicht einer differenziellen Gerontologie namentlich von folgenden Beobachtungen (vgl. Kohli/ Kiinemund 1997; Braun/Bischoff 1999): Erstens sind - wie schon erwahnt - die Chancen der Teilnahme sozial ungleich verteilt. Langst nicht alle alteren Menschen, fiir die eine solche Beschaftigung sinnvoll und wichtig ware, haben Zugang zu einer (qualitativ zufriedenstellenden) sozialen oder pohtischen Freiwilligenarbeit oder gar Ehrenamt.
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Franfois Hopflinger
Zweitens ist freiwilliges und ehrenamtliches Engagement keine sinnvolle Beschaftigungsperspektive fiir alle Frauen und Manner jenseits der Erwerbsimd/oder Familienarbeit. Die Moglichkeiten, daraus positive Effekte fiir die eigene Lebenslage im Alter zu beziehen, sind sozialstrukturell (nach Geschlecht, Sozialstatus, Region usw.) ebenfalls ungleich verteilt. Fehlen im hoheren Lebensalter die materiellen Voraussetzungen, besteht die Gefahr, dass fi-eiwilliges Engagement zur schlecht bezahlten, ungeschtitzten Fast-Erwerbsarbeit wird. Drittens kann fi-eiwilliges und ehrenamtliches Engagement - unter giinstigen Bedingungen der Lebenslage und der Gestaltung fi-eiwilliger Tatigkeiten durchaus einen bedeutsamen Beitrag zur Verbesserung der sozialen Integration, psychischen Gesundheit und Sinnfmdung im Alter leisten. Allerdings ist dies faktisch (iberwiegend bei denjenigen alteren Menschen der Fall, die auch dariiber hinaus tiber hinreichend Ressourcen und Potenziale verfugen (wie etwa der enge Zusammenhang von Bildungsniveau und Ehrenamt illustriert). Viertens mtissen - um ein Ehrenamt aus der Sicht alterer Menschen ertragreich zur Entfaltung kommen zu lassen - die lebensphasenspezifischen Gestaltungsspielraume fi-eiwillig und ehrenamtlich tatiger Menschen gefordert werden. In der heute haufig tiblichen Form bietet soziales fi-eiwilliges Engagement oft nur wenig Grundlage fiir Selbsthilfe, und Freiwilligenarbeit ist noch zu oft einseitig an den Interessen der Organisationen als an den Intereressen etwa freiwillig tatiger Frauen ausgerichtet. Fiir eine zuktinftig angestrebte Ausdehnung der ehrenamtlichen und freiwilligen Arbeit im Alter sind deshalb einige wichtige Voraussetzungen zentral (vgl. Backes 2005): Erstens ist eine materielle Existenzgrundlage des Rentenalters zentral, die unbezahlte Arbeiten ermoglicht. Rentenkiirzungen untergraben wahrscheinlich das Potenzial, auch im Alter aktiv zu bleiben bzw. aktiv fiir Dritte tatig zu sein. Zweitens ist bedeutsam, dass die „Freiwilligen" tatsachlich frei zur Ubemahme dieser Arbeit sind und nicht nur fi-eigesetzt von anderen Arbeitsverhaltnissen bzw. Beschaftigungsft)rmen und Sinnfindungsmoglichkeiten. Drittens sollten die Rahmenbedingungen fiir die Gestaltung und den Einfluss der Freiwilligen auf Ziele, Inhalte und fi)rmale Gestaltung ihrer Arbeit optimal sein, etwa zur Starkung der Motivation und sozialen Integration alterer Freiwilliger (z.B. durch Arbeit in Gruppen und an Themen, die selbst gewahlt werden). Viertens sind Rahmenbedingungen fiir die Entwicklung eines politischen Engagements alterer Frauen und Manner zu schaffen, was schlussendlich auch die Aufliebung der Trennung von sozialer „Schmutz" - und politischer „ehrenvoller" Arbeit einschlieBt.
Ausdehnung der Lebensarbeitszeit und die Stellung alterer Arbeitskrafte
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Ebenso wie eine Ausdehnung der Erwerbsarbeit nach oben eine Neudefinition der Stellung alterer Arbeitskrafte impliziert, beinhaltet eine Ausdehnung der ehrenamtlichen und freiwilligen Leistungen alterer Frauen und Manner oft eine Neuorganisation dieser Tatigkeiten; und zwar eine Neuorganisation, die der Lebenslage unterschiedlicher Gruppen alter werdender Menschen entspricht. Familiale Pflege- und Betreuungsleistungen: Die vorher genannten unbezahlten Arbeiten (Ehrenamt, Freiwilligenarbeit) bezogen sich auf ,produktive Tatigkeiten fiir Dritte'. Ein wesentlicher Teil unbezahlter UnterstUtzungsleistungen bezieht sich jedoch auf Angehorige. In der zweiten Lebenshalfte stehen - neben der Weiterfiihrung der alltaglichen Haushaltsarbeiten (Putzen, Waschen, Kochen, oft von Frauen fiir den pensionierten Ehemann geleistet - zwei familiale Arbeitsleistungen im Vordergrund: die Betreuung von Enkelkindem einerseits und die Betreuung und Pflege hilfs- und pflegebediirftiger Eltemteile oder Ehepartner andererseits. GroBeltemschaft ist eine der v^enigen positiv besetzten Altersrollen, und unter Bedingungen eines gesunden und aktiven Altems wurden die Beziehungen zwischen GroBeltem und Enkelkindem vielfach intensiver (vgl. Attias-Donfut/ Segalen 2001; Hopflinger et al. 2006). Im Sauglings- und Kleinkindalter iibernehmen viele GroBmiitter die zeitweise Betreuung ihrer Enkelkinder, und nach der 2004 durchgefiihrten SHARE-Erhebung betreuen gut 43% der deutschen GroBmiitter zeitweise oder regelmaBig ihre Enkelkinder (Kohli et al. 2005: 171). Auch die Angaben in Tabelle 4 illustrieren die Bedeutung dieser unbezahlten intergenerationellen Betreuungsaufgabe. Wahrend familialer Krisensituationen (Krankheit, Scheidung) leisten GroBeltem zudem haufig bedeutsame soziale Unterstutzung. Selbst erwerbstatige GroBmiitter messen der GroBmutterschaft eine hohe Bedeutung zu, wenn auch unter Beachtung ihrer auBerfamilialen Interessen (vgl. Herlyn/Lehmann 1998). Das idealisierte, aber normativ relativ offene Bild von GroBeltemschaft erlaubt viele Freiraume in der konkreten Gestaltung der Beziehung zu Enkelkindem: Von GroBeltem wird ein positiver Einfluss idealerweise erwartet, aber da sie gleichzeitig keine Erziehungsverantwortung haben (diirfen), sind sie in der personlichen Gestaltung der Beziehung zur jiingsten Generation rechtfi^ei.Die Geburt von ersten Enkelkindem fmdet allerdings vielfach noch wahrend des Erwerbslebens statt, und eine Erhohung des Rentenalters kann die Gefahr familial-bemflicher Unvereinbarkeiten (BemfEnkelkindbetreuung) verscharfen. Auch ein wesentlicher Teil der Pflege im Alter wird von Angehorigen informell und unbezahlt erbracht. Sofem vorhanden, stehen Ehe- und Lebenspart-
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nerin als Hauptpflegepersonen eindeutig an erster Stelle. Aufgrund der hoheren Lebenserwartimg von Frauen und dem traditionellen Altersunterschied in Paarbeziehungen bedeutet dies faktisch eine starke Vertretung von pflegenden Ehefrauen. An zw^eiter Stelle stehen die eigenen Kinder und dabei namentlich die Tochter. Eine deutsche Erhebung zur Hilfe und Pflege in Privathaushalten zeigte, dass in 32% der hauslichen Pflegesituationen die Partnerin bzw. der Partner die Hauptpflegeperson war. In 23% der Falle war es eine Tochter, und in 27% der Pflegesituationen intervenierten andere Verwandte (vgl. Schneekloth/Miiller 2000: 52ff.). SachgemaB ergibt sich mit steigendem Alter einer hilfs- und pflegebedtirftigen Person eine Verlagerung der Hilfe und Pflege von den Ehepartnem zu den Kindem (vgl. Blinkert/Klie 1999). Eindeutig ist jedoch in jedem Fall die starke Ubervertretung der Frauen bei der informellen Alterspflege (vgl. Bundesministerium fur Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2002: 196). Alle Studien zeigen tibereinstimmend, dass vor allem bei chronischen Krankheiten Oder in spateren Phasen der Pflegebediirftigkeit der zeitliche Aufwand von Hauptpflegepersonen auBerordentlich hoch sein kann. Durchschnittlich stehen gemass der Studie von Grassel (1998) 80% der Hauptpflegepersonen von chronisch hilfs- und pflegebediirfligen alten Menschen rund um die Uhr zur Verftigung, wobei die reine Pflegezeit zwischen 3 und 6 Stunden taglich betragt. Etwa die Halfte der Pflegenden miissen den Nachtschlaf wegen Hilfs- und Pflegetatigkeiten unterbrechen (vgl. Schneekloth et al. 1996). In diesem Rahmen konnen sich familial-berufliche Doppelbelastungen ergeben, wenn die Pflege betagter Eltem mit einer Erwerbstatigkeit zusammenfallt (vgl. Dallinger 1996; Kiinemund 2000). Eine familiendemografische Analyse lieB erkennen, dass gut zwei Funftel der Frauen in der Schweiz zwischen dem 40. und 64. Lebensjahr potenziell damit konfrontiert sind, Erwerbstatigkeit und Pflege betagter Eltem zu vereinbaren (vgl. Perrig-Chiello/Hopflinger 2006). In einigen Fallen wird die Pflegesituation durch eine vorzeitige Aufgabe der Erwerbstatigkeit bewaltigt, was sich negativ auf die Rentenanspriiche vormals pflegender Frauen auswirken kann (vgl. Schneider et al. 2001). Die demografische Entwicklung (mehr hochbetagte Menschen und verhaltnismaBig weniger Nachkommen) wird pflegerisch-berufliche Vereinbarkeitskonflikte zukiinftig noch starker in den Vordergrund rucken. Sozialpolitische Bestrebungen zur Erhohung des Rentenalters und SparmaBnahmen bei staatlichen Pflegeleistungen konnen diesen zweiten familial-beruflichen Vereinbarkeitskonflikt von Frauen unter Umstanden zusatzlich verscharfen. Insgesamt wird deutlich, dass - wenn auch unbezahlte Arbeiten beriicksichtigt werden - die Ausdehnung des Arbeitslebens tiber das Rentenalter hinaus schon
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337
vielfach Realitat ist, wobei sich diese unbezahlten Altersarbeiten vor allem bei Frauen aus familialen Bediirfiiissen (und Zwangen) ergeben (etwa ausgelost durch eine Pflegebedtirftigkeit altemder Eltem oder eines Ehepartners).
5.
Schlussfolgerungen in Thesenform
1.
Die Ausdehnung der Lebensarbeitszeit wird immer starker zu einem zentralen Programmpunkt zur Bewaltigung der demografischen Alterung, wobei wirtschafts- und sozialpolitische Argumente mit gerontologischen Konzepten eines ,aktiven Alters' in Allianz stehen. Viele aktuelle Projekt- und Programmvorschlage zur Weiterarbeit im hoheren Lebensalter erweisen sich allerdings als Projekte fur eine ,EHte' alterer Menschen. Ftir die Mehrheit alterer Menschen ist die nachberufliche Lebensphase - die spate Freiheit - durchaus ein Gewinn.
2.
Die Diskussionen zur Ausdehnung der Lebensarbeitszeit konzentrieren sich vielfach nur auf monetare Erwerbsarbeit im Alter, und die iiberwiegend von Frauen geleisteten unbezahlten Arbeitsleistungen im Alter bleiben unberticksichtigt. Unbeachtet bleibt haufig auch, dass sich die demografische Alterung vor dem Hintergrund eines raschen Wandels der spateren Lebensphasen selbst vollzieht; Wandlungen, welche die Heterogenitat des Altems zusatzlich verstarken.
3.
Eine Verlangerung der Erwerbsarbeit im Alter setzt eine grundlegende Starkung der betriebsintemen wie betriebsextemen Stellung alterer Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen (50+) voraus. Die Stellung alterer Mitarbeitender im Betrieb und im Arbeitsmarkt wird heute durch zwei miteinander verbundene Altersdimensionen (Jung versus alt' und ,neu versus alt') bestimmt, und vielfach erweist sich weniger das Alter an sich als Langjahrigkeit als Problempunkt.
4.
In einer demografisch altemden, aber innovativen und dynamischen Wirtschaft verlagem sich die beruflichen und betrieblichen Integrationsprobleme von der Neuintegration junger Arbeitskrafte starker auf die Beibehaltung der Leistungsfahigkeit und Kompetenzen alterer Arbeitskrafte. ,Alt und innovativ' wird zunehmend zum Lebensprogramm.
5.
Insgesamt sind die Unterschiede bezuglich arbeitsrelevanter Leistungsdimensionen innerhalb von Altersgruppen deutlich groBer als zwischen verschiedenen Altersgruppen von Mitarbeitenden, wobei sich die intemen Leistungs- und Kompetenzunterschiede mit steigendem Alter bzw. Er-
338
6.
Fran9ois Hopflinger
werbsdauer verstarken. Ein Teil der alteren Arbeitnehmenden erfahrt in spaten Erwerbsphasen gesundheitliche Einschrankungen und erhohte Dequalifikationsrisiken. Betriebliche oder auBerbetriebliche MaBnahmen zxir Starkung der Leistungsfahigkeit oder der Kompetenzen alterer Mitarbeitender (Gesundheitsforderung, Weiterbildung) verstarken die Unterschiede in der Lebenslage alterer Menschen vor und nach ihrer Pensionierung. Berufliche Weiterbildung nach 50 schlagt sich beispielsweise vor allem dort in hoherem Einkommen nieder, wo dieses schon vorher hoch war.
7.
Alterserwerbstatigkeit (nach 60 oder 65) ist weiterhin selten, und sie segmentiert sich in zwei Gruppen: einerseits qualifizierte und intergenerationell ausgerichtete Formen der Weiterarbeit alterer Fachleute, die auf personalisierten Kompetenzen basieren (Senior Consultants, Mentoren), andererseits marginale und oft unqualifizierte Arbeitstatigkeiten (befristete Projekte, Hilfsarbeiten). Es ist durchaus denkbar, dass - nach oder neben den Frauen - die Pensionierten der Zukunft vermehrt die Rolle eines ,Arbeitskrafte-Reservoirs' tibemehmen werden.
8.
Wird Arbeit umfassender definiert - unter Einbezug informeller und unbezahlter Arbeitsleistungen - ist ,Arbeit im Alter' vielfach schon heute Realitat. Manche altere Menschen leisten ehrenamtliche und freiwillige Arbeit, und viele altere Menschen - und hier namentlich Frauen - leisten in der zweiten Lebenshalfte unentgeltliche Betreuungs- und Pflegeleistungen (etwa zugunsten von Enkelkindem oder pflegebediirftigen Eltemteilen).
9.
Auch ehrenamtliche und freiwillige Arbeiten im Alter unterliegen sozial selektiven Zugangen, und entsprechende Arbeitsformen sind nicht fiir alle alteren Menschen gleichermaBen positiv. Auch familiale Hilfe- und Pflegearbeiten sind sozial selektiv (und oft nicht immer frei gewahlt), und die sozialen Vorteile und Kosten einer (unbezahlten) „Arbeit nach der Arbeit" sind ungleich verteilt. 10. Bisherige intereuropaischen Erfahrungen zur Ausdehnung der Lebensarbeitszeit verdeutlichen, dass isolierte EinzelmaBnahmen zum Scheitem verurteilt sind. Erfolgreiche Strategien zur Ausdehnung der Lebensarbeitszeit (Erwerbs- und Freiwilligenarbeit) beriihren Bildungs- und Gesundheitspolitik ebenso wie Arbeitsmarkt-, Sozial- und Familienpolitik. Den enormen Unterschieden in der Lebenslage, den sozialen Voraussetzungen und Bediirfriissen ist Rechnung zu tragen (und einheitliche staatliche Regelungen erweisen sich als wenig sinnvoll).
Ausdehnung der Lebensarbeitszeit und die Stellung alterer Arbeitskrafte
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Altern: Zur Individualisierung eines demografischen Phanomens Ursula Pasero Gender Research Group, Universitdt Kiel
1. Die Vergangenheit unserer Zukunft? Die Altersstruktur in Deutschland hat - bildlich gesprochen - ihre Form gewechselt: von einer hochgezogenen Pyramide aus dem Jahr 1910 hin zu einer schmalen Zwiebel im Jahr 2005 (Statistisches Bundesamt 2006: 3). Der Formwechsel zeigt zunachst nichts anderes an als den radikalen Umbau einer Population durch Geburtenruckgang bei gleichzeitig steigender Lebenserwartung. Mit diesem Formwandel gehen Annahmen einher, bei denen die Perspektive einer demografischen „Uberalterung" (Barbier 2007) im Mittelpunkt steht. Die zugrunde liegende demografische Projektion ist dabei auf die Mitte des 21. Jahrhunderts gerichtet - auf das Jahr 2050 - in dem der Bevolkerungsanteil der tiber 65-jahrigen auf fast 30% der Gesamtbevolkerung angewachsen sein wird. „Uberalterung" ist dabei eine sozialpolitische Formel, mit der umgangssprachlich ausgedrtickt wird, dass dieser 30%-Anteil dann mehr oder weniger zeitgleich in den Altersruhestand gewechselt sein wird, und dass die damit einhergehenden sozialen Kosten von einer zahlenmaBig abnehmenden erwerbstatigen Population fmanziell nicht mehr getragen werden konnen. Die Formel „Uberalterung" fokussiert damit den Problemfall einer teuren, nicht mehr tatigen Population, deren Lebenserwartung zudem weiter anwachsen wird. In dieser Logik von „Uberalterung" steckt ein bemerkenswerter semantischer Unterschied: der zwischen einer Normalform demografischer Alterung und einer davon abweichenden Form, die in dem Prafix „Uber" zum Ausdruck kommt. Und dieses „Uber" heiBt nichts anderes als ein „Zuviel" einer altemden Population. Der Normalfall ware dann eine Alterspyramide von beispielsweise 1910, der abweichende Fall hingegen die Zwiebelform von 2005, die das „Zuviel" abbildet. Dieses „Zuviel" gewinnt seine Plausibilitat und Dynamik durch die Engflihrung auf sozialpolitische Problemlagen. Gemeint sind damit die anwachsenden Renten- und Pensionskosten und die anwachsenden Krankheitsund Pflegekosten. Kosten also, die deshalb aus dem Ruder laufen, well die sozialen Umlagesysteme auf einem Populationsmodell fuBen, das mit hohen Geburtenraten und kiirzeren Lebenserwartungen assoziiert war - eben dem Modell von 1910.
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Dieser Zusammenhang ist langst gut dokumentiert und begrtindet: Aber das Jahr 2050 wird populationsstatisch wohl nur dann in etwa so aussehen, wenn alles so bleibt, wie es vermutlich schon heute gar nicht mehr ist. Denn die mit diesem Altersszenario adressierten Individuen werden nicht nur mit zunehmend unsicher werdenden Inklusionsformen in den Arbeitsmarkt rechnen mtissen, sondem selber mit einer jetzt noch unvertrauten Vielfalt von Lebensverlaufen reagieren: mit der Entfaltung neuer Formen von Diversitat, in der die Anpassung an unsichere soziale Umwelten bereits einbezogen ist. Die Behauptung und Beschreibung einer „tiberalterten" Zukunft konnte zudem den Effekt haben, dass solche Prozesse starker in den Mittelpunkt der Beobachtung geraten, die gegen den Trend gerichtet sind und somit dazu beitragen, dass diese „Zukunft" gar nicht erst stattfmden wird. Das heiBt keinesfalls, dass der Formwandel der Bevolkerungsentwicklung anders verlaufen wird. Aber der Diskurs von „Altem in Gesellschaft" wird sich andem. Dazu gehort beispielsweise die Beobachtung des Umbaus von Proportionen zwischen Erwerbsarbeit und von Erwerb freier Zeit, in denen ein sukzessives Ausscheiden tiber langere Zeitraume wahrscheinHcher wird (Gobel 2006; Hopflinger und Priddat in diesem Band). Dafiir spricht die Art und Weise, in der sich der Arbeitsmarkt bereits schon verandert hat. Dieser lasst die Konventionen unbefristeter Beschaftigung und langer Arbeitsvertrage immer unwahrscheinhcher werden (Priddat 2002). Dafur spricht das Auslaufen des „Senioritatsprinzips" (Below o.J.), das einherging mit Arbeitsplatzsicherheit und dem Automatismus eines mit dem Alter wachsenden Einkommens. Dafur spricht die beschleunigte Dynamik des Veraltens und Emeuem gesellschaftlich relevanter Wissensbestande, die neue Formen der Weiterbildung, der professionellen Neuorientierung, der beruflichen Zweitund Drittkarrieren und neue Proportionen von selbstandiger und unselbstandiger Arbeit nach sich ziehen wird (s. Hopflinger und Priddat in diesem Band). Der damit einhergehende Umbau von Lebensverlaufen und Lebensformen wird nicht mehr selbstverstandlich in sukzessive aufeinander folgenden Formationen von Bildungs- und Ausbildungsphasen, Erwerbsarbeitsphasen und Ruhestandsphasen ablaufen, so dass von einer Kontinuitat der Gegenwart in die Zukunft 2050 nicht mehr ausgegangen werden kann. Insoweit sind die oben genannten Szenarien nichts anderes als Themen der Vergangenheit einer Zukunft, die gar nicht erst eintreten wird, weil sich langst schon neue Mischungsverhaltnisse von Bildung und Ausbildung, von Berufen und Auszeiten, von Zweit- und Dritt-Karrieren abzeichnen.
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2. Disposable Time: Auf der Suche nach der gewonnenen Zeit Im soziokulturellen Sinne alt zu sein hat - von heute aus gesehen - ein einschlagiges Datum, das in den meisten Fallen abrupt einsetzt: Man ist spatestens dann alt, wenn man aus dem Erwerbsleben ausscheidet und sich von einem auf dem anderen Tag im Ruhestand befmdet. Von einer solchen eher direkt als sequentiell verlaufenden Versetzung in das „Altsein" sind weitgehend alle abhangig Erwerbstatigen betroffen. Es versteht sich von selbst, dass jede Alterskohorte taglich naher an einen solchen, sozialpolitisch defmierten Stichtag heranrtickt. Damit gehort die Verbindlichkeit des „Ruhestands" zum Kembestand einer gesellschaftlichen Moralokonomie (Randl 2007: 60). In diesem Sinne ist das Datum von Hochstrelevanz, aber der Horizont dieses Phanomens bleibt fur die Populationen, die etliche Jahre von diesem Datum entfemt sind, mehr oder weniger unscharf. Ausnahmen von einem abrupten Wechsel in den Ruhestand gelten fur vor allem fur Selbstandige, die nicht nur das Datum ihres Altseins als Rentner und Pensionare weitgehend selber bestimmen konnen, sondem zudem auch den Vorteil haben, sukzessive aus dem Erwerbsleben ausscheiden zu konnen. Es zeichnet sich ab, dass ein solcher, sukzessiv verlaufender Rtickzug aus dem Erwerbsleben von der Ausnahme zum Regelfall werden wird. Das Rentenrecht lasst zwar auch jetzt schon die Moglichkeit zu, freiwillig langer zu arbeiten und dadurch hohere Rentenanspriiche zu erwerben. Doch ist das bislang nur eine Option fur Wenige, weil in den Tarif- und Arbeitsvertragen dieser Fall gar nicht vorgesehen ist: mit Erreichen des gesetzlichen Rentenalters endet das Arbeitsverhaltnis zumeist automatisch. Was macht eine zahlenmaBig anwachsende Population „im besten Alter" von 55 bis 70 Jahren mit ihrer immerhin mehr als ein Jahrzehnt dauemden „gewonnenen Zeit"? Diese Frage hatten DGB-Gewerkschaften, gewerkschaftsnahe Institute und Forschungsgruppen bereits Ende der 1980er Jahre aufgeworfen und dazu eine spektakulare „Zeitakademie" initiiert, die unter dem Motto „Auf der Suche nach der gewonnenen Zeit" nicht nur thematisierte, wie eine weitere Verktirzung der Normalarbeitszeit durchzusetzen sei, sondem vor allem auch danach fragte, was aus der in sakularen Auseinandersetzungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebem durchgesetzten freien Zeit kulturell geworden war. Der Befund fiel niichtem aus. Beklagt wurde eine Zeitokonomie, die von der Erwerbsarbeit in die Freizeit diffundiert zu sein schien: Beschleunigung, Hektik und allenthalben Zeitknappheit. Daraus wurde der erwartbare Schluss gezogen, die Ergebnisse jahrzehntelanger Gewerkschaftsstrategie noch zu steigem und dabei nicht nur das programmatisch verankerte Ziel der 35-StundenWoche weiter zu verfolgen, sondem daruber hinaus fur eine weitere Verktirzung
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der Lebensarbeitszeit einzutreten (vgl. Auer et.al. 1990). Ein solcher Schluss lag auf der Hand, well das zugrunde liegende Gesellschaftsmodell von einem kulturellen Bild physisch und psychisch zerrtittender Arbeit gepragt war - einem klassischen Bild von „entfremdeter Arbeit", in der das zugehorige Personal vernutzt und verbraucht und eher die Berufs- und Erwerbsunfahigkeit als ein ruhiger Lebensabend erwartet wurden. In diesem Kontext konnte letztlich eine von Arbeit und Erwerb freie Zeit nichts anderes mehr sein als die nie gelingende Erholung von der Arbeitszeit. Die aktuellen Auseinandersetzungen zwischen den Gewerkschaften und den politischen Parteien um die Heraufsetzung des Rentenalters auf 67 Jahre sind noch immer von diesem soziokulturellen Deutungsmuster von Arbeit und Freizeit gepragt. Kein geringerer als Karl Marx hatte in seinen „Grundrissen der Kritik der Politischen Okonomie" wenige, eher verdunkelnde Andeutungen zum transitorischen Charakter von freier, das heiBt von Arbeit freier, Zeit hinterlassen. Seine oft zitierte Botschaft lautete: „Okonomie der Zeit, darein lost sich schlieBlich alle Okonomie auf (Marx 1953: 89). Eine mogliche Lesart zielt auf die zeitlichen Proportionen von notwendiger Arbeit und Arbeit an einem gesellschaftlichen Uberschuss, der ihren Besitzer in ein anderes Subjekt verwandeln wiirde, weil es iiber fi'eie Zeit verfixgt (vgl. Marx 1953: 599): „Es ist dann keineswegs mehr die Arbeitszeit, sondem die disposable time das MaB des Reichtums" (Marx 1953: 596, kursiv UP). Jenseits dieser emphatischen Andeutungen in den „Grundrissen" wird in den Verhandlungen von Befimden zur demografisch altemden Gesellschaft ein beeindruckendes Plateau an disponibler Zeit sichtbar, das mit der Einfiihrung der Bismarck'schen Sozialgesetzgebung und mit dem Aufleben eines umlagefmanzierten Rentensystems nach dem Zweiten Weltkrieg sicherlich nicht intendiert gewesen war. Werden die Dauer der Schulpflicht, Ausbildungszeiten, Friihverrentung, Vorruhestand und ansteigende Lebenserwartung zusammengerechnet, dann ergibt sich ein anschwellender Sockel an disposable time, der durchaus auf iiber die Halfte der Lebenserwartungszeit ansteigen kann. Wie wird iiber eine solche Zeitdimension zukunftig disponiert werden? „Auf der Suche nach der gewonnenen Zeit" sind langst schon neue Fragen und neue Perspektiven entstanden, die mehr als die dominante Polaritat von Arbeitszeit und Freizeit einschlieBen.
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3. Rechnen in Kohorten Die Altersforschung hat langst darauf aufinerksam gemacht, dass hier eine sozial relevante Verschiebung stattgefunden hat: Zwischen 1970 und 2000, also innerhalb von dreiBig Jahren ging die Erwerbsquote der 55- bis 64-jahrigen um 9% von 51,9% auf 42,9% zuruck. Im Jahr 2004 fiel diese Quote auf 41,4% (Kruse/Schmitt 2005: 10; Bosch/Schief 2005). Auf der anderen Seite wird genau diese Alters-Kohorte im Jahr 2020 auf 34% des Potenzials aller Erwerbspersonen ansteigen (Kruse/Schmitt 2005: 9). Eine solche wachsende Quote eines Erwerbspotenzials, das bildlich gesprochen bereits zum „alten Eisen" gerechnet wird und ohne groBen Plausibilitatsaufsvand ausrangiert und in den vorzeitigen „Ruhestand" versetzt werden kann, verweist auf eine lang anhaltende gesellschaftliche Dynamik, in der die Verkiirzung von Lebensarbeitszeit durch spateren Eintritt und friiheren Austritt selbstverstandlich geworden ist: Langer werdende Bildungs- und Ausbildungszeiten korrespondieren mit einem fast 60% betragenden Anteil von nicht mehr Erwerbstatigen zwischen 55 und 64 Jahren, die arbeitslos oder friihverrentet worden sind. Diese Dynamik dieser Verschiebung von Proportionen zwischen Erwerbszeiten und von Erwerb freien Zeiten zugunsten der disposable time scheint zu Ende zu gehen. Damit kundigt sich zugleich auch das Ende einer prekaren Semantik an, in der das „Altsein" respektive das „zu alt sein" ab dem 55. Lebensjahr zum kommunikativen Standard geworden ist. Die institutionelle Rahmung dieser Semantik ist bis heute in Vorruhestandsregelungen, Altersteilzeit oder Altersarbeitslosigkeit belegt. Der Ablauf und die Wirkungen der damit einhergehenden Verrentungspolitik sind in einer aktuellen Studie emeut thematisiert worden (Radl 2007). Die Befunde zeigen nicht nur die bekannten Strukturen der Ungleichheit in der zeitlichen Handhabung des Eintritts in den Ruhestand, sondem die Umkehrung eines Privilegs: wer langer tatig sein darf ist in der Rangordnung sozialer Positionen oben angesiedelt, wer friiher ausscheidet, ist weiter unten positioniert. Radls Auswertung des „Scientific Use File Versichertenrentenzugang 2004" belegt, dass die Wahlfreiheit in Bezug auf den individuellen Zeitpunkt des Renteneintritts aufgrund mangelnder Beschaftigungschancen alterer Beschaftigter deutlich eingeschrankt ist. Zudem erweisen sich gerade fmanzielle Anreize zur Friihverrentung als ausschlaggebend fur einen vorzeitigen Rentenzugang. Spate Renteneintritte hingegen haben sich als privilegierte Entscheidungen von Hochqualifizierten, Selbstandigen und hoch Positionierten entwickelt, wobei ein posi-
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tiver Zusammenhang von beruflichem Status und Erwerbsneigung zur Geltung kommt (Radl 2007). Auf der einen Seite trifft die Verrentung als primares Signal von Altsein eine bemerkenswert groBe Population in einem Alter, das langst nicht mehr als „alt" wahrgenommen wird. Auf der anderen Seite entsteht eine herausgehobene Schicht von Tatigen, die das normierte Renteneintrittsalter tiberschreiten und das proportionale Verhaltnis von Erwerbsarbeitszeit und Freizeit neu defmieren. In diesem Kontext bilden sich neue, sozial relevante Avantgarden, die in der Lage sind, wechselvolle und unstete Lebensverlaufe sowie Erwerbsbiografien auszuhalten. Solche Verlaufe also, in denen die nacheinander folgenden, standardisierten Lebensabschnitte von Bildungs- und Ausbildungszeiten, beruflichen Tatigkeiten und Ruhestand einen eher diskontinuierlichen Verlauf nehmen: mit Berufswechseln, mit Wiedereintritt in neue Bildungsabschnitte, begleitet von Umorientierungen, Unterbrechungen, die dann auch nicht mehr zwangslaufig in einen Ruhestand einmiinden, der mit einem fixierten Altersdatum schlagartig eintritt (siehe vor allem auch Priddat, Hopflinger in diesem Band). Gemeint ist damit eine neue Qualitat der Individualisierung von Lebensverlaufen und Erwerbsbiografien.
4. Altersbilder: unbestimmt „Warum wir nicht mehr alter werden", mit diesem, auf dem ersten Blick eher unplausibel erscheinenden Befund konfrontiert uns ein Essay des Feuilletonchefs der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (Seidl 2005a, 2005b). In Abgrenzung zum stereotypen Bild von „Uberalterung" wird hier ein vollig anderer Fokus eingenommen. Der Autor macht auf das paradoxe Phanomen aufmerksam, dass sich das Altem verjiingt hat und mit dem stereotypen Formenvorrat an Altersbildem nicht mehr kongruent ist. Es wird eine „Revolution der Lebenslaufe" diagnostiziert (Seidl 2005a: 4), die die heute 50-, 60- oder 70-jahrigen anders aussehen lasst, als ihre vorgangige Generation. Zuschreibungen von Alterscharakteristika wie ein Mehr an „Gesetztheit", ein Mehr an „Langsamkeit" oder ein Mehr an „Reife" werden nunmehr als ausgesprochen ambivalent registriert. Solche klassischen Altersstereotype erweisen sich vielmehr als prekare Zuschreibung, weil sie mit den leistungsorientierten Ansprtichen an Fahigkeiten und Professionalitat kollidieren. Mit „Gesetztheit" und „Reife", d.h. mit der „Erfahrung" von vor zwanzig Jahren lassen sich weder Intemet-Recherchen durchfuhren noch eine Fahrkarte
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am Automaten losen. Vielmehr entstehen neue „Alters-Avantgarden", die als Vorbilder wahrgenommen werden. Bemerkenswert an diesen Alters-Pionieren ist, dass ihnen - obwohl sie die 60, 70 Oder 80 Jahre iiberschritten haben - keinesfalls mehr „Reife", sondem vielmehr Innovationsfahigkeit nachgesagt wird. Solche „alterslosen" Personlichkeiten sind genau deshalb in der Lage, eine Avantgarde-Rolle einzunehmen, weil sie klassische Alters-Stereotype unterlaufen und neue Zuschreibungen moglich machen, die eher flir eine jiingere Generation reserviert scheinen: Seien es die uber 60-jahrigen „Rolling Stones", der im Rollstuhl sitzende Kiinstler Robert Rauschenberg (Jg. 1925) oder der Wirtschaftswissenschaftler und Notenbanker Alan Greenspan (Jg. 1926). Dagegen erinnem die gesetzten, Htite und schwere Mantel tragenden Politiker und Firmeninhaber der Adenauer-Ara an ein personales Inventar aus einem lang zuruckliegenden Jahrhundert. Zweifellos gab es immer Professionen und Tatigkeiten - vor allem kiinstlerische oder wissenschaftliche -, die an keine Altersschranken gebunden waren. Aber der Fokus auf solche exponierten Personlichkeiten hat sich geandert, weil diese nicht mehr nur als Ausnahme, als „Genie" oder als ein Fall von Rekrutierung aus den Netzwerken altgewordener Eliten (ehemalige Manager oder Politiker) beobachtet werden, sondem als Individuen, die sich darauf eingestellt haben, gesellschaftlich bereitgestellte Gelegenheiten - opportunities - wahrzunehmen, die auch jenseits des Uberschreitens einer moralokonomisch standardisierten Altersgrenze sichtbar und greifbar gemacht werden konnen. ,yAlter" und „A1tem" zeigen auf diese Weise einen Wandel ihrer zugehorigen Altersbilder (Kunow 2005) an: sie werden um so unscharfer und unbestimmter, je deutlicher ihre stereotypen Formen durchkreuzt und die damit einhergehenden kulturellen Grenzen und Erwartungen iiberschritten werden. In diesem Kontext werden solche Begriffe wie „altersadaquat" oder „altersgerecht" prekar. Die damit einhergehende Ambivalenz trifft nicht nur die heute ,jungen Alten" zwischen 55 und 75 Jahren, sondem alle Alterskohorten: Sie trifft die Fiin^ahrige, die eingeschult werden will, den zwanzigjahrigen Entrepreneur, der bereits ein Untemehmen gegriindet hat oder die sechzehnjahrigen Schtilerinnen und Schiiler, die an der Technischen Universitat Berlin parallel zu ihrem Schulbesuch bereits studieren und somit Kurse belegen, die bei einem spateren Studium dann auch anerkannt werden (Technische Universitat Berlin o. J.).
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5. Alter: Zur Individualisierung eines demografischen Phanomens Individualitat wird als ein modemes Phanomen beschrieben, das mit kulturell anerkannten Erwartungen einhergeht: Obwohl sich gerade sichtbare Unterschiede in interaktiven Situationen aufdrangen, sind Individuen dahingehend konditioniert, sich sowohl als einzigartig als auch als gleich wahrzunehmen (Luhmann 1997a: 1018). Damit wird ein hochst voraussetzungsvoller Mechanismus relevant, der Individuen dazu notigt, sichtbare Unterschiede und damit einhergehende stereotype Schemata und Zuschreibungsmuster auszublenden, es sei denn, die Beteiligten lassen eine solche Thematisierung ausdrlicklich zu. Gemeint ist damit der kulturelle Mechanismus des Offenhaltens von Unbestimmtheit, der fur eine auf Individualisierung ausgerichtete Gesellschaft charakteristisch ist. Damit wird die Konditionierbarkeit individuellen Verhaltens betont ausgerichtet auf solche Fahigkeiten, Altemativen zu sehen, Kausalketten zu entwerfen und Entscheidungsmoglichkeiten zu projektieren. In dieser Lesart ist Individualitat allerdings keine Form, die auf das Individuum selber zuruckgefiihrt werden kann. Vielmehr ist Individualitat eine Form, die aus dem spezifischen Bedarf an Differenzierung sozialer Systeme die hierfiir notwendige .JMikrodiversitdf (Luhmann 1997b) von Individuen bereitstellt. Die damit einhergehende Unbestimmtheit von Individualitat meint somit nichts anderes als einen Modus von Offenheit - offen gegentiber den Anforderungen einer „Wissensgesellschaft", die ihr Wissen laufend umstellt. Die Frage, die daran anschlieBt, lautet: Mit welchen Einschrankungen bei zunehmendem Alter zu rechnen ist. Hier sind nicht der Einzelfall oder die Individualitat zerstorenden Alterskrankheiten wie Demenz oder Alzheimer gemeint, sondem ein kultureller, sozialer und okonomischer Modus zuriickgenommener Erwartungen, der in einen Zirkel daran anschlieBender Restriktionen fuhrt. Giancarlo Corsi hatte dieses Phanomen als „dunkle Seite der Karriere" (Corsi 1993) thematisiert. Der dort verwendete Begriff der Karriere meint keinesfalls die landlaufige Auffassung vom Aufstieg oder vom „Karriere machen", sondem die Positionierung von Individuen im Kontext wahrgenommener und nicht wahrgenommener Optionen, die eine irreversible Strukturgeschichte zwischen praktizierten und ausgeschlossenen Altemativen generieren. Der Ruhestand ist auch fiir Corsi das entscheidende Datum, mit dem bemfliche Optionen vollig unabhangig von der vorherigen Karriere abbrechen, die Zukunft nur noch als „Freizeit" verfiigbar bleibt und die Dynamik des Wechsels von der Publikumsin die Leistungsrolle (Stichweh 1996, 2005) unwiederbringlich abgeschnitten ist. In dieser Konstellation scheinen sich das „Offenhalten von Unbestimmtheit" und „soziales Altem" auszuschliefien - zumal, da die Altersgrenze des Ruhe-
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stands sowohl als Anreizstruktur als auch als soziale Erwartungsstruktur gebaut ist. Das soil hier nicht bestritten werden. Der Streit wird um die zuktinftige Positionierung einer Avantgarde sogenannter ,jimger Alter" zwischen 55 und 70 Jahren gehen, die sich als „old professionals" nicht nur einer kulturell zugewiesenen Altersruhe zu entziehen wissen und auf Vertragsfreiheit pochen (Gobel 2006), sondem auf neue Bedingungen und Moglichkeiten eingestellt sind. Als gut ausgebildete Funktionseliten sind sie langst dahingehend konditioniert, mit Restriktionen und Unsicherheiten zu rechnen und mit zeitlich befristeten Loyalitaten zu reagieren. An die Stelle des „Senioritatsprinzips" setzen sie das Leistungsprinzip, das in den basalen Erwartungshorizont von „professiorials'' eingelassen ist. Mit der Umstellung vom „Senioritatsprinzip" auf das Leistungsprinzip geht einher, dass keine Position mehr auf Dauer gestellt ist und die Art der Positionierung nunmehr von Bildung, Wissen, Professionalitat, aber auch von der Qualitat der personlichen Vemetzung in ,,weak ties " (Granovetter 1973, 1983) abhangig wird. Die modeme Gesellschaft bietet folglich keinen verbindlichen Status mehr, der zugleich das definiert, was die Einzelnen nach Herkunft und Zugehorigkeit flir die Dauer ihres Lebens zu sein haben. Vielmehr macht diese Gesellschaft die individuellen Moglichkeiten von hochdifferenzierten Kommunikationschancen abhangig (Luhmann 1997a:625). Solche Kommunikationschancen ergeben sich keinesfalls von selbst, sondem mussen buchstablich „entdeckt" werden. Zu fmden sind sie nur, wenn das langst global situierte, laufend Korrekturen und Veranderungen ausgesetzte Plateau von Leistung, Wissen und Vemetzung betreten wird - ein Plateau, das sich als „domain of uncertainty" erweist, weil es keinesfalls mehr zeitbestandig gesichert werden kann. Bine kleine crew dieser old professionals hat es geschafft, sich den Konventionen alterstypischer Selbstzurucknahme zu entziehen: als ehemalige Professoren an deutschen Universitaten, die mit 65 Jahren zwangspensioniert werden, haben sie ihre Forschungsprojekte in die USA verlegt - selbstverstandlich befristet und im standigen Vergleich und Wettbewerb mit anderen Forscherinnen und Forschem. Der alteste erfolgreiche Antragsteller im US-amerikanischen Wissenschaftssystem war immerhin 103 Jahre alt (Focus 2006: 58f). Das konnte zu denken geben.
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Potenziale einer alternden Gesellschaft: ,Silver Generation' und ,kluge Geronten' Birger P. Priddat Lehrstuhlfur Politische Okonomie, Zeppelin University, Friedrichshafen
1. Einleitung Wir werden alter: die Frauen mehr als die Manner. Und wir werden mehr Alte (1970: 6 Mio. Rentner; 2006: 18 Mio. Rentner; vgl. Gaschke 2007: 57, Sp. 1). „Niedrige Fertilitat und steigende Lebenserwartung werden die Altersstruktur der deutschen Bevolkerung in den nachsten 50 Jahren nachhaltig andem. So kommt die 10. koordinierte Bevolkerungsvorausberechnung des statistischen Bundesamtes zu dem Ergebnis, dass im Jahre 2050 der Anteil der unter 20jahrigen von gegenwartig 21% auf 16% der deutschen Gesamtbevolkerung zurtickgehen wird. Gleichzeitig wird die Gruppe der mindestens 60-jahrigen mit 37% mehr als doppelt so groB sein wie heute. Noch gravierender ist die Zunahme bei den tiber 80-jahrigen, deren Anteil sich bis 2050 auf 12% verdreifacht haben wird. Zahlen der Vereinigten Nationen ergeben, dass die Gruppe der Arbeitsbevolkerung - hier die 15- bis 64-jahrigen - in den nachsten 50 Jahren um 19%) schrumpfen wird. Die einstige Bevolkerungspyramide wird sich dann vollends auf den Kopf gestellt haben" (Wilkoszewski 2006: 498). Bis Mitte des 21. Jahrhunderts wird sich der Anteil der tiber 60-jahrigen von einem Viertel auf mehr als ein Drittel erhohen, der Altersdurchschnitt von heute 40 Jahren voraussichtlich auf 52 Jahre steigen, d.h. mehr als Halfte der Bevolkerung wird tiber 50 Jahre alt sein. Die wesentlichen Elemente dieses Wandels sind (vgl. Wilkoszewski 2006: 498f): Verjtingung des Alters, Entberuflichung, Feminisierung, Singularisierung, Hochaltrigkeit, Polarisierung, Vergesellschaftung. Folgende Politikfelder werden vom demografischen Wandel betroffen: Sozialpolitik, Familienpolitik,
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Altenpolitik, Bildungspolitik, Arbeitsmarktpolitik, Rentenpolitik, Gesundheitspolitik, Pflegepolitik, Wohnungs- und Stadtebau, Verkehrspolitik, Einwanderungspolitik. Neu daran ist, dass nicht nur die einzelnen Politikfelder singular betroffen sind, sondem auch die Interdependenz zwischen diesen Feldem. Politik muss strategisch werden, ohne es zu konnen. „Noch starker als die Gesamtbevolkerung altert das Elektorat, also jene Bevolkerungsgruppe, die fiir die Legitimierung politischer Macht entscheidend ist. Prognosen gehen davon aus, dass im Jahr 2050 die Halfte der wahlberechtigten Deutschen tiber 46 Jahre alt sein wird. 2002 lag es bei unter 46 Jahren. Blickt man auf die Wahlbeteiligung bei deutschen Bundestagswahlen, so ist zudem festzustellen, dass altere Staatsburger ihr Wahlrechts durchweg deutlich starker wahmehmen als jungere. Die Durchsetzung notwendiger Reformen vor allem im Bereich der sozialen Sicherungssysteme konnte in Zukunft noch schwieriger werden fur den Fall, dass sich die alteren Wahlberechtigten mit ihrer in absehbarer Zeit gewonnenen Mehrheit gegen fur sie schmerzliche Einschnitte stellen und somit eine gestalterische Ordnungspolitik behindem, wenn gar unmoglich machen" (Wilkoszewski 2006: 499). Die Herausforderungen fur Wirtschaft und Gesellschaft lassen sich auflisten (vgl. Niemann 2006): Die Altersphase dehnt sich aus, die Alteren werden jtinger, die Alten werden immer alter, Demenzzustande nehmen zu, immer mehr Alte leben allein, Lebenslagen differieren stark, Kultur-Unterschiede wachsen, Familien- und Haushaltsstrukturen verandem sich deutlich, das Alter ist weiblich, altere Menschen sind keine homogene Gruppe. Das ist fiir eine Marktwirtschaft, als Marktwirtschaft, letztlich kein Problem, wenn sie sich die Altersmarkte erschlieBt, die sich gerade offiien.
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„Bei den Werbem heiBen die neuen Alten „best ager", „silver generation" Oder „golden customer". Denn auch das Portmonee sitzt heute lockerer: „Die Bereitschaft alterer Menschen, Geld auszugeben, hat zugenommen", sagt Volker Nickel vom Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft in Berlin. Lebensversicherungen im Wert von rund 15 Milliarden Euro wiirden in Deutschland Jahr fiir Jahr ausgezahlt. Laut Statistischem Bundesamt verfugen die liber 60Jahrigen uber rund 1,5 Billionen Euro. Das sind fast 40 Prozent des Nettovermogens der Deutschen" (zit. nach Nercessian 2006: o.S.). Diese Marktdynamik hat schon langst begonnen: „Die iiber 50-jahrigen disponieren tiber mehr als die Halfte der Kaufkraft und des Geldvermogens in Deutschland, sie kaufen 45% der Neuwagen (und 80% der Luxusklasse), 50% aller Gesichtspflegemittel und buchen 35% aller Pauschalreisen (nebst 80%) aller Kreuzfahrten)", heiBt es in einem Artikel aus dem offenen Internet-Forum www.4.am.^ Was wir bisher nur zaghaft und am Beispiel eigentiimlicher Produkte zur Kenntnis nehmen, wird normal werden: Altersgerechte Produkte und Dienstleistungen. Man erfmdet die ,Silver Generation' der 50plus-Jahrigen. So fahrt etwa der Artikel fort: „Eine neue Studie von Bbw Marketing Dr. Vossen & Partner (...) aus Neuss belegt, dass das Konsumverhalten der Generation 50plus tiber die Zukunft vieler Untemehmen entscheiden wird. Nur langsam nehme die Werbebranche den wachsenden Markt der „best ager" (50 bis 59 Jahre) und der „Generation Silber" (liber 60) ins Visier. Da diese Zielgruppe aber liber eine 30- oder 40-jahrige Werbe- und Konsumerfahrung verfugt, lasst sie sich nicht mit billigen und falschen Angeboten kodem. Viele altere Menschen haben finanziell ausgesorgt und woUen - anders als die sparsame Generation zuvor - das Leben auch in vollen Zligen genieBen. Reisen, regelmaBige Restaurantbesuche und ein modisches Erscheinungsbild sind fiir viele wichtig. ,Mit 17 hat man noch Traume', mit 50 erfullt man sie sich - wie den von einer Harley. Im Schnitt sind die Kaufer dieser chromblitzenden 20.000 Euro-Maschinen 52 Jahre alt. Auch jeder dritte Porsche geht an einen Turbo-Senior von durchschnittlich 57 Jahren. Doch viele Produkte sind fur Senioren unbrauchbar, so Bbw Marketing. Jlingere Menschen in den Entwicklungsabteilungen konnen sich oft nicht gut genug in die Denkstrukturen der Alteren hineinversetzen, die beispielsweise technische Gerate nicht einfach ausprobieren oder Schwierigkeiten haben mit Gebrauchsanweisungen, die zum Beispiel in englischer Sprache gehalten sind „Die deutsche Wirtschaft, die Generation SOplus und die drei weisen Affen" unter http://www.4.am/Recht/Recht/Die_deutsche_Wirtschaft,_die_Generation_50_plus_und_die_drei weisen_Affen_200602071883.html, gesehen am 31.01.2007.
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Oder zu viele technische Kenntnisse voraussetzen. „Erfolgreiche Produkte fiir altera Menschen passen die Gestaltung des Produkts den Fahigkeiten der Konsumenten an - und nicht umgekehrt", sagt Udo Nadolski, Geschaftsflihrer des Dusseldorfer Beratungshauses Harvey Nash (...) ,Die Mitarbeiter in der Entwicklungsabteilung und die Produktmanager sind aber in der Kegel jung. Sie konnen gar nicht wissen, wie altere Personen auf ein solches Angebot reagieren. Daher bietet es sich an, diese Gruppe, die man ja als Kunden ansprechen will, in den gesamten Innovationsprozess einzubinden'. "^ Eine Studie, die die LBS bei dem Berliner Forschungsinstitut Empirica AG in Auftrag gab, weist nach, dass „selbst bei einer auf lange Sicht rticklaufigen Bevolkerungsentwicklung die Nachfrage nach Wohnungen bis zum Jahre 2015 (Ostdeutschland) beziehungsweise 2020 (Westdeutschland)" steigt. „Da die Haushalte kleiner werden, nehmen nach Prognosen von Empirica die wohnungsnachfragenden Haushalte um 2 Millionen zu. Allein in den Jahren zwischen 2004 und 2020 wird die Zahl der uber Fiinfzigjahrigen um knapp 5 Millionen wachsen. Damit sind sie eine relevante Gruppe fiir den Wohnungsmarkt" (Harriehausen 2007: Sp. 1). Die Angebote, die heute existieren, gehen oft an der Nachfrage vorbei. Die jungen Alten wollen eigene Wohnungen: ,Sie sind fiir die Schlosswohnungen in iiberschaubaren Wohngebauden mit Aufzug ansprechbar' heiBt es in der Studie. „Einpersonenhaushalte suchen mindestens Zweizimmerwohnungen und Zweipersonenhaushalte mindestens drei bis vier Zimmer. Dieser Altersgruppe liegt auBerdem an weit gehender Schwellenfreiheit in der Wohnung" (Harriehausen 2007: Sp. 2). Die alten Alten hingegen - 80 Jahre und alter - suchen eher professionelle Angebote in Kombination mit Hilfs- oder Pflegeleistungen. Auch diese Personengruppe wird kiinftig eine verstarkte Nachfrage entwickeln; nicht nur in den Stadten, sondem auch in landlichen Regionen, insbesondere Kleinstadten hier ist das Angebot noch sehr schwach entwickelt (Harriehausen 2007: Sp. 2). Die Wirtschaft ist in Deutschland - anders als in Japan - nicht darauf eingestellt. Die Wirtschaft ist in Deutschland - anders als in Japan - darauf nicht eingestellt. Man bietet sogenannte Seniorenprodukte an, verfehlt hiermit aber die Selbsteinschatzung der Zielgruppe, die weder zu den ,lustigen Alten' gehoren will noch dement ist. Gar nicht zu reden von den ublichen Geraten und Produkten in so genannten Sanitatshausem (in der Jahrtausendfarbe grau). Ansonsten
„Die deutsche Wirtschaft, die Generation SOplus und die drei weisen Affen" unter http://www.4.am/Recht/Recht/Die_deutsche_Wirtschaft,_die_Generation_50_plus_und_die_drei weisen_Affen_200602071883.html, gesehen am 31.01.2007.
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beschrankt sich Seniorenmarketing vor allem auf eine groBere Schrift auf den Preisschildem. Ein paar Informationen aus Japan, dem Land mit einer ahnlich hohen erwarteten Alterspopulation wie in Deutschland, zeigen den Unterschied. Naturlich ist die japanische Kultur different. Dennoch lassen sich in Japan Muster von AltenMarkten entdecken, die im Hinblick auf die deutsche Entwicklung zumindest Aufinerksamkeit verdienen. Unter der Uberschrift „Japan's silver generation goes for gold!" berichtet das japanische Marktforschungsuntemehmen „Japan Market Intelligence" auf seiner Homepage Trends unter japanischen Senioren:^ „Among seniors, the key word is ,enjoyment'. Over 90% of the silver generation say that their priority when spending money is their own enjoyment not that of their children or grand children! 72% of seniors consider themselves to be ,active' and 90%) said they are enjoying their lives. 88% have hobbies and 66% said they have increased spending in order to enjoy themselves. Seniors have an average of 7.7 hobbies! And those interests are diverse. The top three are domestic travel (64%), appreciating music (37%) and movies (35%)). On average they start 3 new hobbies while in their 50s and the most popular of these new hobbies are: running/walking, eating out at gourmet restaurants and walking around town. Gardening is also very popular among seniors. According to the World Health Organization (WHO) life expectancy ratings, the Japanese have the longest healthy life expectancy, on average 81 years, among 191 countries in 2002. This is very much reflected in the image that Japanese seniors have of themselves, which is typically 10 years younger than their actual age. This is backed-up by the fact that three quarters say they have never bought, silver' products. Seniors, especially women, are more interested in new products. Their taste and trends in fashion are similar to those of their daughters and they are very concerned about the way they look. They prefer to buy goods that they can show off to others and favor limited editions to mass-produced products. Interest in their health is also very high. Over 60% claim to exercise regularly and 18% have signed up for the fitness club. Popular health/wellness goods are health food/drinks (for 42%) and sleeping/bath related products (37%). Massages or massage equipment and vitamin supplements also feature strongly. But traveling is the most popular hobby of all for seniors. Almost 70% said they traveled at least twice a year domestically and a number have traveled abroad during the last 3 years. And well-traveled seniors do not like ordinary tours! They Ich m5chte nicht auf die auBerst illustrative Darstellung verzichten, auch wenn der Text - aufgrund des Sprachstils - augenscheinlich nicht von einem native speaker stammt.
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prefer intellectual tours with knowledgeable guides (76%) or luxurious train traveling (64%)"."^ Welches sind nun die Produkte, die bei Japans Senioren im Trend liegen? Hierzu teilt der Artikel Folgendes mit: „So for global marketers with an eye on Japan, here are the most popular products among the country's seniors: 1. 2.
luxury travel - priced anywhere from of USD 4,000 to USD 30,000, trips to destinations all over the globe digital cameras - 30% of seniors said they use digital cameras, mainly to take pictures of their grand children. The shift from film to digital cameras is as apparent among seniors as for other age groups
3.
raku-raku hon (easy-to-use mobile phones) - with bigger screens, larger key pads, voice instruction features and more user friendliness, seniors can now browse the web and send e-mails to each other from their mobile phones
4.
dinner shows of old-time stars - the annual dinner show of old-time star Yuzo Kayama sell out within a week the Toyota Prius - a gas and electric hybrid car high quality walking shoes flat-screen TVs the ,just as I wanted' food line (from Nippon Suisan) - home-made style frozen foods that are sold in convenient containers, so that they can be defrosted and used in just the small quantities for ,o-bento' (lunch boxes) bathing suites for seniors (Mizuno)
5. 6. 7. 8.
9.
10. membership Hotels such as Harvest Club (Tokyu Real Estate) and Hatsushima Resort (Resort Trust). Members' average age is 61".^ So weit die Marktdimension. Der japanische Katalog wird an dieser Stelle so detailliert entfaltet, weil er Themen anspricht, auf die sich die deutschen Markte noch nicht eingelassen haben. Wir haben es mit einem, wenn auch kulturell gepragten, Spiegel der Zukunft zu tun, in dem die ,Silver Generation' den ,klugen Geronten' dominiert.^
4 Unter http://\vww.jmintelligence.co.jp/trends/trends_2004_spring.html, gesehen am 31.01.2007. 5 Vgl. auch Korb (2002). 6 Der ,kluge Geront' ist eine Bezeichnung von Lars Gustafsson fur das Gegenteil des rankesiichtigen und misanthropischen alten Professors (Spiegel 2006: Sp.2).
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2. Verlangsamung der Gesellschaft Die anschwellende Menge an alteren und alten Menschen wird politisch von einer Bedeutung, die wir uns heute noch nicht vorstellen, weil ,die Alten' noch nicht umworben werden. Wir werden die staatliche Forderung der Genforschung erleben, der Biomedizin: um die genetische und biotonische Protheik zu erforschen und zu ermoglichen'^; wir werden Verkehrsberuhigung und -verlangsamung auf alien Strassen erleben, damit die Alten dort weiterhin sich zu fahren trauen (die Altersbeschrankung bei Fuhrerscheinen ist im EU-Parlament 2005 gerade gescheitert), inklusive der Zunahme von Sicherungs- und Wahmehmungstechnologien; wir werden Arbeitsmarktregulierungen fiir Service- und Pflegearbeitsplatze finden, Stadtplanungen und Infrastrukturen fiir Alte, Bticher mit 20 bis 26 Punkte-Schriften, sprachgefiihrte Informationstechnologien allenthalben (mit Antwortverzogerungstoleranz etc.) etc. Weil wir hier politische Riicksichten und neue, groBe Wachstumsmarkte erwarten^, werden wir - wegen der Besonderheit dieser alten Klientel - ein neues MaB an Riicksichtnahme und Kundenorientierung erleben, die man insgesamt als Verlangsamung der Gesellschaft erfahren wird: These 1: Die zunehmende Menge der Alten, mit ihr die zunehmende Kaujkraft fur Altersspezifika, wird eine Rucksicht erzeugen, die auf die langsameren Gewohnheiten Alter eingeht, insgesamt eine Verlangsamung der Gesellschaft: im Verkehr, im TV, in den Gesundheitssystemen, in den Verwaltungen, in den Kaufhdusern, etc. Je alter die Menschen werden, desto weniger schnell sind ihre Reaktionen, ihre Aufinerksamkeit sinkt, sie erkennen nicht gleich alles, verstehen manches nicht (oder nicht mehr, oder nicht mehr so schnell) (vgl. Soelke 1998; Baltes/Lindenberger/Staudinger 1998). Die wachsende Menge der Nachfi-ager wird ,Markte fiir Rucksichtnahme und Verlangsamung' generieren, die wir heute noch nicht kennen (vgl. Gassmann/Reepmeyer/Walke 2005). Dazu gehoren elektronische und andere Gerate, die einfache Bedienung und groBe Tastaturen haben werden (vgl. generell zum Altendesign: Randow 1996). Die Fahrzeugtechnik Vgl. Kirkwood (2001). „A\\QS hangt davon ab, wie schnell der Fortschritt in der Biotechnologie vorankommt. Die Zahlungsbereitschaft der Menschen fiir ein langeres und gesiinderes Leben ist groB" (Fogel 2004: Sp. 3f.). „Die Zukunft konnte noch weniger kinderfreundlich aussehen: Wenn die Alten die Wahlermehrheit ausmachen - aber nur noch eine Minderheit von ihnen Enkel hat. Wie reformfreudig wird die Gesellschaft dann noch sein? Wie bereit, in den Nachwuchs zu investieren, statt in den Erhalt des Status quo?" (Klingholz 2004: 92).
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wird sich anpassen, ob als Auto oder als Bahn; die Haus- und Wohnungsinfrastruktur wird intelligent-altersgerecht mitdenken und Verhalten (und Vergessen!) antizipieren. Die individuelle und personliche sprachliche Kommunikation wird die Computertastaturen ersetzen; hier werden neuartige kognitive Techniken einsetzen (langsame Visualisierung, redundante Riickfragesysteme, einfache und langsame Sprache), aber auch eine neue Form von Aufinerksamkeit und Hilfsbereitschaft in den unmittelbaren Kontakten und Kommunikationen, sei es im Markt und sei es in der PolitikA/'erwaltung. Die Gesellschaft ,zivilisiert' sich mehr; die Zivilgesellschaft wird durch die Alten eher eingefiihrt: als kalkulierte Rucks ichtnahme. Naturlich wird das, dem Trend folgend, vomehmlich technologisch ausgepragt werden (unter Ftihrung der Japaner, weil deren Gesellschaft noch ein positives Altersbild hat, bei gleichzeitiger Uberalterung auf dem gleichen Niveau wie Deutschland), aber zugleich werden sich neue Standards der Kundenorientierung etablieren, die - paradox - die Achtung vor dem Alter tiber deren Kaufkraft wieder einfiihren werden: These 2: Die Achtung vor dem Alter, die die moderne Gesellschaft verloren hat, wird uber die Kundenorientierung kaufkrdftiger dlterer und alter Menschen wieder eingefiihrt. Die Verlangsamung der Gesellschaft wird von den Jungen allerdings nicht ohne Weiteres akzeptiert: so werden sich Zeitklassen-Systeme ausbilden: z.B. alte Schlangen und jungen Schlangen an den Kassen der Supermarkte, den Postschalter etc. Verschieden aufwendige Zeitzonen werden entstehen. Da ,Zeit Geld' ist, d.h. hohere Kosten verursacht, werden ,die Alten' Preisaufschlage flir den Zeitservice zahlen: damit sie langsamer, aufinerksamer und riicksichtsvoller bedient werden. Das wird sich atmospharisch auswirken. These 3: Der ruhige Modus von Altersheimen wird sich auf grofiere Areale der Gesellschaft ausdehnen, auch aufheute offentliche Bereiche, die so alters-privatisiert werden. Was aber, aus heutiger Sicht, als Privileg der Alten gelten mag, wird auch - nur scheinbar paradox - von den Jungen genutzt werden: als Insel der Langsamkeit, in denen man sich ausruhen kann, zur Ruhe kommen, abschalten. Der Begriff
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des „time-management" wird eine neue Bedeutung bekommen: Wechsel von schnell zu langsam irnd umgekehrt: Zeitoszillation. Es geht nicht mehr um Zeitoptimierung, sondem um AltersgemaBheit. Die Menge der Optionen, die in der Jugend fast unendlich zu sein scheint, ist im Alter fokussiert, so dass die psychologische Illusion, etwas zu verpassen, auf ein tiberschaubares MaB reduziert ist. „Ein gutes Alter bedroht den Menschen durch das Festwerden von Gewohnheiten. Das schlieBt ab, das nimmt dem Leben an Reichtum" (Gadamer 1996: 18). Gadamer, der Philosoph, weiB, „dass das Alter einsam macht. Aber fur unsereinen ist es eine durch einen ungeheuer gewachsenen Erinnerungsschatz bereicherte Einsamkeit" (Gadamer 1996: 18). These 4: Verlangsamung der Alien setzt die Dynamik der Jungen nicht aufier Kraft, sondem differenziert die Gesellschaft in unterschiedliche Zeitzonen, die - im Gegensatz zu ihrer heutigen Vorkommnis - besonders kultiviert werden. Generell ist es bei der erwarteten demografischen Entwicklung fraglich, „ob die Produktivitat der Arbeit auf hohem Niveau gehalten werden kann, wenn die Arbeitskrafte im Durchschnitt immer alter werden. In dieser Lage kommt es darauf an, inwieweit die (totale) Faktorproduktivitat gesteigert werden kann. Lander mit altemder und schrumpfender Bevolkerung brauchen vermehrt wissenschaftlich-technische und institutionelle Innovationen, wenn sie auf Wachstumskurs bleiben wollen (Walter 2001: 2). „Wie eine Internationale Studie belegt, stellt die Gruppe der 25- bis 44-jahrigen die aktiven Untemehmensgriinder. Bereits im Jahr 2015 wird jedoch jede dritte Erwerbsperson liber 50 sein. ,Natiirlich steckt in den Alten Potenzial, aber Weisheit hilft wenig, wo Innovation notig ware', sagt Ralf Ulrich, Bevolkerungswissenschaftler der Berliner HumboldtUniversitat" (Klingholz 2004: 92; ahnlich kritisch Sinn 2003: 25). Horst Siebert sieht die altemde Gesellschaft sich kiinftig auf einem niedrigeren Wachstumspfad bewegen (Siebert 2004). Axel Borsch-Supran ist hierin viel vorsichtiger: „Wir wissen es nicht. Erfahrung, Ausgleich und Ruhe, die altere Mitarbeiter oft haben, werden in den okonomischen Analysen oft auBer Acht gelassen. Vor allem aber ist die Produktivitat alterer Mitarbeiter nicht vorgegeben: Aus- und Weiterbildung konnen sie entscheidend beeinflussen. Daran mangelt es zur Zeit, und das konnen wir andem" (Borsch-Supran 2004: Sp. 1; vgl. auch Amds/Bonin 2002; Schroder/Gilberg 2005; Loebe/Severing 2005; Geldermann/Geldermann 2005). R.F. Fogel, Nobelpreistrager von 1993, ist in dieser Frage optimistisch: „Stellen wir einen
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langerfristigen Vergleich an. In der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts waren sehr viel weniger Menschen im Wirtschaftsleben aktiv als, sagen wir, im Jahr 2035. Auch wenn der prozentuale Anteil der Erwerbstatigen an der Gesamtbevolkerung heut und morgen sehr viel geringer sein wird als friiher, so ist doch die Gesamtzahl der aktiven Bevolkenmg sehr viel groBer - und sie arbeitet sehr viel produktiver. Wer heute arbeitet, ist ungefahr lOmal produktiver als vor 150 Jahren. Und bis zum Jahr 2050 wird sich die Wirtschaftsleistung noch einmal urn 70 bis 80 Prozent erhohen" (Fogel 2004: Sp. If.; auch Birg 2005b: Sp. 2). Gadamer, der Philosoph, ist skeptischer: Auf die Frage, ob eine Altersgesellschaft (bei einem Drittel der Burger tiber 65) nicht vielleicht nachsichtiger, weniger egoistisch sei, antwortet er: „Eine Subventionsempfangerwelt ist nicht besser als die jetzige. Dieses Empfinden, dass man durch seine eigene Arbeit seinen Lebensunterhalt verdient, scheint mir, auf den groben Durchschnitt der Menschen, weise. Noch sind es nur privilegierte Falle, wo sich das Alter fruchtbar gestaltet. Wir brauchen eine neue Alterskultur" (Gadamer 1996: 20). Doch wenn die diesjahrige Studie des Deutschen Institutes fur Altersvorsorge Recht behalt, „werden in zwanzig Jahren vier Millionen uber Sechzigjahrige noch arbeiten wollen und miissen (heute ist es eine Million), aber womoglich nicht mehr arbeiten konnen und durfen" (Schirrmacher 2005b: Sp. 2).
3. Differente Zeit-Zonen in Organisationen Die Detemporalisierung der Gesellschaft greift weit in alle Bereiche, auch in die Arbeit innerhalb der Untemehmen (vgl. Bullinger 2002). So wie die Alten langsamer lemen (vgl. Baltes/Lindenberger/Staudinger 1998), so werden sie auch langsamer arbeiten^, und zwar organisiert in besonderen Arbeitszeitzonen. Wenn wir in der zu erwartenden demografischen Entwicklung sowieso langere Arbeitszeiten einfuhren, werden wir die Untemehmensdynamik aber nicht dem hoheren Durchschnittsalters des Beschaftigtenpools angleichen, sondem Zonen diversifizierter Produktivitat einrichten, die nicht nur nach jung/alt unterscheiden wird, sondem auch den Jiingeren Moglichkeiten verschafft, fiir eine Phase langsamer zu arbeiten als in den ,4iigh-productivity-zones" innerhalb von Untemehmen. Alte Arbeitnehmer - wir reden hier nicht von 55-jahrigen, sondem kiinftig auch von 65-jahrigen und alteren - haben Erfahmngen, Wissen, Einschatzungsund Urteilsfahigkeiten, die Jiingeren fehlen (Loebe/Severing 2005; Rimser Anders bei den Bienengesellschaften: Nur die alten, erfahrenen Bienen fliegen zum Honigsammeln aus dem Wabenbau; sie haben Altersschwache in Altersstarke verwandelt (Schmundt 2005: 163, Sp. 2).
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2006); hier passt die Rede vom ,klugen Geronten' (vgl. Spiegel 2006: Sp. 2). Sie sind lediglich langsamer in der Umsetzung (vgl. Selkoe 1998; Baltes/ Lindenberger/Staudinger 1998). So verteilen sich Kompetenzen anders, worauf intelligente Organisationen intelligent antworten: mit neuer Kompetenzverteilung innerhalb der Organisation („generation ressource management", vgl. Rimser 2006). Dabei geht es um Differenzierungen der Arbeitsintensitaten, aber auch um die Nutzung von Kompetenzen, die bei einseitiger Ausrichtimg auf Intensitat nicht zum Tragen kame: Anstelle z.B. von Sabbaticals (Totalausstieg aus der Arbeit fiir ca. 1 Jahr) andem Mitarbeiter ihr Produktivitatsangebot oder ihre Arbeitsintensitat: sie wechseln in „low-intensity-zones", um stressfreier tatig zu sein, bis sie wieder neue „high-intensity-projects" angehen. Dass diese „low-intensity-zones" fiir Altere offen stehen und von ihnen eher besetzt werden als von Jtingeren, ist wahrscheinlich. Die Jtingeren haben ebenfalls die Moglichkeit in den Arbeitsintensitaten zu wechseln; sie rekreiren in der „low-intensity-zone", ohne ,auszusteigen'. Natiirlich haben sie fiir diese Phase andere Vertrage. Das Modell ist deshalb besonders interessant, weil es zum einen aus dem Diversity-Kontext stammt, aber nicht nach den klassischen Unterscheidungen ,jung/alt' diversifiziert, sondem nach Arbeitsintensitaten, die sich nach jung/alt sortieren mogen, aber auch nach „high-speed/low-speed": nach rhythmischen Konzeptionen, die die Work-Life-Balance nicht zwischen Arbeit und Leben legen, sondem in die Arbeit. Okonomisch betrachtet haben wir es mit differenzierten Investitionen in Humankapital zu tun, insbesondere in eine Differenzierung zwischen Investitionen in Bildung und Gesundheit. Der Wechsel der Tatigkeiten ist keine Rticknahme, sondem eine Investition, die in nachhaltige Arbeitsfahigkeit investiert. Nur wenn man den Wechsel vollzieht, bleibt man auf die Dauer arbeitsintensiv. Die Bildung ist hier unvermittelt eingefuhrt: Sie ist natiirlich selber ein Moment im Wechsel der Tatigkeiten nun weniger nur fiir die Alteren, sondem vomehmlich fiir die Jtingeren. So oszilliert das Tdtigkeitssystem, wenn wir der Sache einen Namen geben, um drei Zustande: um eine „high-intensity-work", die in Projektphasen iiber jedes ,gewerkschaftliche MaB' hinausgehen kann. um eine „low-intensity-work" (fiir die Alteren haufiger, fiir Jiingere im Wechsel der Tatigkeiten). Anstatt vollig aufzuhoren, werden a) die Tatigkeitsart und/oder b) der Tatigkeitslevel geandert: kein Sabbatical, sondem eine andere Gangart!
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um „educational work", also um eine Bildungszeit. Wiedemm eine Form des Wechsels der Tatigkeit, nun aber ins Lemen. In der kommenden Wissensgesellschaft wird es ,Arbeitslosigkeit' im klassischen Sinne nicht mehr geben, well - neben den Ferien, dem Urlaub von der Arbeit - keine offene Oder freie Zeit mehr existieren wird.^^ Was hier als oszillatorische Struktur vorgestellt wird, entwickelt sich tiber die Lebensarbeitszeit in Verschiebimgen. Natiirlich wird die „high-intensity-work" bei den Jiingeren dominieren, und die „low-intensity-work" bei den Alteren. Aber die Alteren werden nicht nur in der „low-intensity-zone" arbeiten: sie wechseln weiter, vielleicht in langeren Abstanden und nicht mehr gleich lang im „high-level". In den mittleren Phasen wird die Bildungszone starker belegt, aber zunehmend auch bei den Alteren, die auch mit 50 bis 60 noch einmal aufladen wollen, um bis 65, 68 oder sogar 70 (wie es fur Manner erortert wird) kompetent zu bleiben. These 5: Das Argument bei den Alteren wird lauten: wir arbeiten Idnger in der „ lowintensity-zone ", um Idnger arbeiten zu konnen. Der Wechsel in die ''low intensity " ist kein Nachlassen der Fdhigkeit, sondern eine Investition in die Nachhaltigkeit von Arbeit und Arbeitsfdhigkeit (unter einem produktiven Work-LifeBalance-Ansatz). Nur wer sich nicht zufriih verausgabt, bleibt effektiv arbeitsfdhig ilber lange Zeit. Mary Catherine Bateson schlagt in der Harvard Business Review ein anderes Modell vor, das mit dem genannten Vorschlag kompatibel ist: Dass die mittleren Alter sich an der Schwelle zum Alter eine Memopause gonnen, nach der sie eine zweite Karriere beginnen: einen existentiellen Einschnitt, der das Arbeitsleben nicht als Durchlauf ansieht, sondern als Zeit bewusster Entscheidungen von Anderungen (Bateson 2005; auch 2004). Sie fordert zu Recht einen Einschnitt (eine Auszeit zwischen 50 und 55), um fiir die zweite Karriere einen
10 Wir haben uns im Sozialstaat Deutschland angewOhnt, ,Arbeitslosigkeit' als einen bemitleidenswerten Zustand zu betrachten. Folglich wird er allenfalls als Demiitigung angesehen, ohne produktiv damit umzugehen: Im Gegenteil sollte Arbeitslosigkeit als eine Zeit angesehen werden, in der die Arbeitnehmer sich weiter entwickeln, bilden und ausbilden, um wieder ins Arbeitssystem Eingang zu finden. In einer Wissensgesellschaft wird man absichtlich immer wieder arbeitslos werden, um in Bildungszusammenhange zu kommen, die die kiinftige Einkommensbildung weiter ermoglichen. Momentan wird Arbeitslosigkeit als eine Art erzwungener Freizeit gesehen - eine absolut unproduktive Phase wie Definition.
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„elan vital" zu entwickeln, der im alten Pfad nicht mehr zu gewinnen war (weil die Karrieren dort bereits zu Ende gegangen waren). Dass dabei neue Energien und Motivationen freigesetzt werden, ist in der Altersliteratur eindeutig („erfolgreiches Altem", vgl. Schulz/Heckhausen 1996); „produktives Altem" (Baltes/Montada 1995; Knopf 1997; Baltes/Mayer 1999; Timmer/Steverink 2001; vgl. auch Geldermann/Geldermann 2005). Es handelt sich um das Modell einer „aktualisierenden Verjungung" von Menschen, die alter zu werden beginnen (vgl. auch Ibelgaufts 2003; Frey 2004). These 6: Anstatt linear alter zu werden, kann das Leben oszillatorisch angelegt werden, mit mehreren Unterbrechungen, die neue Pfade des Arbeitens anlegen (bzw. neuer Work-Life-Relations). Jede dieser Unterbrechungen setzt neue Erwartungen, Energien, Hoffnungen, Gestaltungen an: eine Form der Revitalisierung, die die Alteren junger macht. Das Programm lautet: Verjungung durch Abwechslung der Anforderungen. Beide Modelle sind tiberlegenswert. Das Modell der Arbeitsintensitats-ZonenUnterscheidung in Organisationen wird viele falsche Standardisierungen losen helfen: Menschen sind unterschiedlich, im Alter zunehmend starker; organisieren wir die Unterschiede, anstatt sie zu extemalisieren - durch Entlassung, wie heute die ,Altersfrage' ,gelost' wird. „Altemde Gesellschaften sind nicht automatisch weniger innovativ und produktiv als junge: (...) Deutschland braucht gesellschaftliche Reformen, Innovationen und Ideen, mit denen sich der Schatz an Produktivitatsreserven heben lasst, der ungenutzt im Humankapital der Alteren steckt" (Birg 2005b: Sp. 2). Was sich innerhalb von Untemehmen fur zeitdifferentielle Dynamiken entwickeln, ist organisationsentwicklerisch Neuland (vgl. Geldermann/Geldermann 2005; Loebe/Severing 2005). Dass sich die Menschen, im Ubergang zu ihrem Alter, zusatzlich Gedanken machen iiber das, was sie immer schon erreichen und gestalten wollten, ist ein „revitalizer" erster Ordnung. Sie kniipfen wieder an Traume an, die sie als Kinder hatten. Diese aber nun endlich realisierend, statt angesichts nicht-verwirklichter Lebenstraume ,Jioffiiungslos" zu werden.
4. Alter als Extremform der Individualisierung Im Alterssurvey 2001 zeigt sich, dass fur die Alteren in Deutschland der „Ubergang von anstrengenden Berufs- und Familienrollen in eine sogenannte roUenlo-
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se Zeit mit groBerer Ruhe imd Wahlfreiheit assoziiert wird und - jedenfalls bei Abwesenheit von Notlagen - zur Entfaltung der Wunsche nach Lebenserfiillung und Selbsterweiterung beitragt. (...) Zum Beispiel treten die fur jtingere Menschen typischen Arten von Kompetenz und Leistungsfahigkeit in den Hintergrund, wahrend im mittleren und vor allem im hoheren Alter Wunsche, Sorgen und tjberlegungen tiber Vitalitat und sonstige Funktionstuchtigkeit des Korpers, der Sinne und des kognitiven Potentials hervortreten. (...) Die eigene Personlichkeit wird mit steigendem Alter haufiger in der Perspektive existentieller Zufriedenheit anstelle von Charakter oder Kompetenz thematisiert" (DittmannKohli 2001: 561; vgl. auch Naegele/Weidekamp-Maicher 2002). Dies sind Hinweise auf einen Wechsel der Erwartungen von Anforderungen der Gesellschaft im Vergleich zu Anforderungen an sich selbst. Hier generieren sich Markte fur Wellness, Gesundheit und Vitalitatsreputation auBerhalb der Konkurrenz der Jungen (vgl. Tugel/Steinmetz 2004). Aber dann, wenn die Alten langer arbeiten werden, werden diese „mental models" nicht mehr aufrecht zu erhalten sein; das „role model" wird auf Kompetenz, auf Gestaltungsfahigkeit und „modemized wisdom" hinauslaufen. Es wird einen zweiten Wechsel geben, der das entfaltete Bild erfullt - dies aber eindeutig spater. Zuvor wird es einen Wechsel in eine zweite aktive Phase ergeben (,drittes Lebensalter', Siegrist 2002). Insofem weist der Alterssurvey 2001 auf eine alte Welt des Alters, die demnachst von einer neuen Epoche verabschiedet werden wird. Dies wird umso bedeutsamer, als die demografische Entwicklung andere Tendenzen eher fordert. Eine alter werdende Gesellschaft wird gewahr werden, dass mit dem Altem , Gesellschaft' schwindet: das Netzwerk der Freunde, Bekannten, Verwandten dunnt sich aus, weil etliche vorher sterben oder speziell isoliert sind, weil sie als Pflegefalle nicht mehr sozial prasent sind (vgl. Lang/Schiitz 1998). Wir haben es hier mit einer Individualisierung zu tun, die wir in der Gesellschaft so noch nicht erlebt haben: Auseinanderfallen der sozialen Beziehungen, der Netzwerke, der Partnerschaften durch Tod und Krankheiten. Die Alten bleiben alleine iibrig, in Umgebungen, die sie nicht gewahlt haben oder zu wahlen nicht mehr in der Lage sind. These 7: Alter individualisiert extrem. Nur ist es eine Form der Individualisierung, die als Abkopplung von sozialen Netzwerken erfahren wird, nicht als bewusste soziale WahL
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Die alte Gesellschaft hierarchisiert sich im Altersende negativ: die Selbstandigkeit nimmt ab, die Pflegebedtirftigkeit wachst, die Freunde sterben, das soziale Netz verdtinnt sich, die Urteilsfahigkeit nimmt ab. Wir haben es mit einer Individualisierung als Ent-Autonomisierung zu tun, deren Lebensqualitat wir nicht einschatzen konnen, weil die Alten, die in dieser Glocke der sozialen Verdiinnung leben, keine Sprache mehr haben: sie werden nicht befragt, reden nicht mehr (und nicht mehr mit), vegetieren z.T. am Rande der Gesellschaft. Nichtvitale Mentalitaten verstarken sich. Hier werden kompensatorische Institutionen entstehen, die wir noch nicht kennen. Die bekannten Formen: Familie, Altersheim, Krankenhaus, Hospiz, ambulante Pflegedienste, etc. bleiben bestehen, aber sie werden erganzt durch Formen ehrenamtlicher Tatigkeit (Nachbarschaftspflegschaften, Quartiersservices, Schulpflegschaften) oder - wenn die Gesellschaft das Thema aufgreift durch eine Umwidmung des Zivildienstes in ein ,soziales Jahr', zu dem auch junge Frauen verpflichtet werden. Die kommerziellen Angebote werden sich weiter differenzieren (vgl. Banze 2004). Eine altemde Gesellschaft wird eher nach arbeitsintensiven Dienstleistungen als nach kapitalintensiven Giitem verlangen (Brauninger/Grafi^Guber/Neuhaus/Schneider 2002). Die Professionalisierung dieses Bereiches wird fortschreiten und damit auch die Ausbildung fiir pflegerische Berufe (z.B. Pflegewissenschaften an der Universitat Witten/Herdecke). Zugleich wird der jetzt schon ersichtlichen Tendenz entgegengewirkt, dass fiir die Pflege zu wenige Menschen zur Verfiigung stehen. Die beginnende Thematisierung des Alters belasst den Tod noch weiter tabuisiert. Das kann ein Trend bleiben: dass Leid, Krankheit, Tod in segmentierten Institutionen stattfmden, die der Offentlichkeit intransparent bleiben, gleichsam als stille Verbergung und ,Entsorgung'. Und das nicht, weil es die Jugend stort, sondem vor allem die Alten in der Jung-Alt-Phase. Man will, wenn man alt ist, solange wie moglich den vitalen Teil des Alters erleben und konsumieren. Dazu gehort es, den nicht-vitalen Teil des spaten Alters zu verschieben, zu verdrangen, auszublenden. Solche ausgeblendeten Telle sind, wirtschaftlich betrachtet, hochprofitabel. Hier wird sich eine ,Altersindustrie' einrichten. Die Transaktionskosten der beizubehaltenden Ausblendung des Blends des alten Alters werden hoch.
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5.
Hinausgezogerte Altersadoleszenz: Differenzierung von Versorgung und Altersmarkten Momentan erleben wir ,Alter' als dichotome Tendenz: einerseits sind die Alten vitaler als je zuvor: reisen, ,leben', kaufen^^; andererseits warden sie zu anonymen Besetzungen von Altersheimen, deren tatsachlichen Tagesablauf man gar nicht genau wissen will. Das Alter hat nicht mehr das Dictum der Reife und Weisheit. Es ,verjugendlicht' zum einen mit den Jungen Alten', wahrend es zum anderen die Phanomene der Demenz, der Hinfalligkeit, der intensivstationaren Lebensfunktionsaufrechterhaltung, der alzheimerischen Pflegebediirftigkeiten etc. bei den ,alten Alten' auspragt. Deshalb ist die veranschlagte Tendenz des Gesamtgenoms, eine langere Lebensdauer zu entwickeln (vgl. Mertens 2004), selber zwiespaltig: bei welcher Lebensqualitat in der Altersendphase? Zwischen beiden Bereichen gibt es Umschlagspunkte: die hinausgezogerte ,Adoleszenz des Alters' kippt dann plotzlich um in Hilfs- und Pflegbediirftigkeit. Die Korper konnen dann plotzlich nicht mehr, wollen nicht mehr. Die hinausgeschobene Altershinfalligkeit kommt auffallig spater, aber sie kommt natiirlich: iiber die dann folgende Phase reden wir nicht mehr in „market-terms", sondem in wohlfahrtsstaatlichen Pflegeterms. „Wo mangels Kindem die soziale Funktion der Familien geschwacht wird, muss zunehmend der Staat einspringen. So wird sich der Anteil der Pflegebedtirftigen, die von Verwandten versorgt werden, bis 2020 von derzeit 70 auf 35 Prozent halbieren" (Klingholz 2004: 91). Beide Bereiche werden Markte: fur die Alterphase I-Markte haben wir Modelle ,jungen Alters'. Hier greifen auch die Revitalisierungs-Motivationen. Ftir die Altersphase II-Markte bekommen wir es hingegen mit einer intensiven Form der Service-Okonomie zu tun, die die Pflege und Rekreation tibemimmt inklusive der Nahrungslieferung nach Hause etc. Insbesondere fiir die Phase II miissen die Vermogensriicklagen reichen: deshalb wird die Phase I nicht die hohen Konsumausgaben zeitigen; die Alten legen auch im Alter zuruckfur das Alter (der Phase II), weil sie davon ausgehen, dass ihre staatlichen Rententransfers fiir die dann erhohten Pflegekosten nicht reichen werden.
11 „Ein Teil der Versicherten wird zu Beginn ihres Rentenalters - in Erwartung spaterer gesundheitsbedingter Konsumeinschrankungen - grSBere Konsumprojekte wie teure Reisen durchfiihren"(Breyer 2004: 238).
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These 8: So wie man zwischen Jung und Alt differenziert, differenziert man kunftig zwischen Jung-alt (Phase I) und alt-alt (Phase II). Die Altersmdrkte richten sich vornehmlich aufdie konsumintensive Phase I, das ,dritte Lebenalter'; wdhrend Phase II - das , vierte Lebensalter' - wesentlich durch Pflege- und Betreuungsdienstleistungen charakterisiert sein wird (und die angeschlossenen Mdrkte). Die tatsdchliche Alterung: das neue Altern, geschieht im Phaseniibergang von I nach II Alt-alt ist die Problemzone der demografischen Entwicklung, wahrendyw/ig-a// Losungen anbietet, die dennoch der Verlangsamung der Gesellschafl; Raum geben. T>iQ jung-alt-?hsiSQ nennt Baltes „das dritte, das junge Alter" (Baltes 1999: 12, mit Bezug auf die Gruppe der 60- bis 75-Jahrigen). Alt-ah wird hingegen zum Raum der Verdeckung der Hinfalligkeit des Lebens; Baltes spricht hier vom ,vierten Alter' (Baltes 1999: 13; mit Bezug aufdie Gruppe der 80- bis 100Jahrigen). „Wenn man also alter als 90 wird und auf die 100 zugeht, ist die Wahrscheinlichkeit, an einer Form der Demenz erkrankt zu sein, etwa 50 Prozent Oder mehr" (Baltes 1999: 13). Wahrend sich AQX jung-alt-EQXQioh als relativ vital zeigt, d.h. zu einer dominanten Lebenssphare ausgestaltet wird, wird umgekehrt der a/r-a//-Bereich verdeckt, der Sichtbarkeit entzogen. „Nach ihrem Wunschalter befragt, sagen Berliner 90-Jahrige, dass sie am liebsten so um die 60 geblieben waren" (Baltes 2000). Die bioprothetischen Fortschritte, die Neuroscience-Ergebnisse der Neurotransmitterforschung, etc. werden die Lebenszeit der alt-alt-ZoYiQ verlangem, ohne womoglich die Lebensqualitat zu heben. Das wird, qua Neurotransmitter, liber angepasste Altersdrogen laufen. Die Demenz wird chemisch heruntergespielt, die Pflege wird einfacher: flir den Alterspatienten wie fiir das Pflegepersonal. Hier werden in den alt-alt-ZonQn ,Traumlandschaften' entstehen besonderer Art. Und alle Themen der Erlosung Kranker aus dauerhaftem Schmerz (,terminale Sedierung', vgl. Sahm 2004: Sp. 3) werden neu ins Spiel gebracht. Hier entstehen auch Zonen der Verwischung, die mit Zonen des ExtraProfits verschwagert sind. Alte sind ausbeutbar: ihre Entscheidungsfahigkeit sinkt. So wie ihnen jetzt schon Produkte verkauft werden konnen, die ein Mensch mit Urteilskrafl; nicht akzeptieren wiirde (wenn z.B. Banken/Sparkassen 75-jahrigen Frauen Kapitallebensversicherungen verkaufen), werden sie im Altersprothetik-Bereich Dinge verkauft bekommen, von denen niemand abschatzen kann, ob sie wirklich lebenshilfi-eich sind. Hier werden sich Untemehmen
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„aufinachen", die Vermogen der Alten abzuschopfen (,dement business': Rentenabschopfiing im doppelten Sinne). Generell wird man deshalb uberlegen, ob es nicht sinnvoll sein wird, patenschaftliche Vormundschaften zu verleihen, in sehr viel groBerem AusmaB als heute. Und nicht, weil die Alten dement sind oder nur langsamer und etwas zerstreuter, sondem um sie zu untersttitzen und zu beraten im Konsum. Denn vielen von ihnen fehlt der Diskurs mit der Jugend und die Einschatzungsfahigkeit von Neuerungen. In ihren Netzwerken haben sie, jedenfalls im Single-Bereich der Gesellschaft, keine natiirlichen Diskursarenen mehr. Viele Aspekte und Konstellationen bleiben ihnen unerklarlich, wenn es ihnen nicht erklart wird. Das lasst sich nicht als ,Information' tiber Markte kaufen, w^eil es Vertrauen voraussetzt. Deshalb w^ird das Vormundschaftspaten-Modell geeigneter sein: Jung und Alt bilden ein soziales Paar, kennen sich, vertrauen sich (oder wechseln sonst). Die Gesellschaft wird das Altem nach hinten verschieben, indem sie die Jung-alt-FhasQ verlangert und die alt-alt-FhasQ verdeckt. Der Phasenubergang markiert so etwas wie einen ,Tod im Leben'. Hier werden die hochsten Kosten anfallen - auch, weil es eine der Transparenz der Offentlichkeit entzogene Zone ist bei gleichzeitigem Vorhandensein von zum Teil erheblichem Vermogen: eine Extraprofit-Zone, in der die Alten vor Ausbeutung geschutzt werden mtissen. Das Alter erweist sich als zwiespaltiges Phanomen: solange man erwartet (und mit alien Mitteln dazu helfen wird), die Phase I zu verlangem, d.h. im Alter ,jung' zu bleiben, werden wir einen positiven Lebensstilbegriff entfaltet bekommen. Wenn dann aber der Umschlag in Phase II einsetzt, wird das Alter wie heute zunehmend - ,verschwinden' in Heimen, Pflegestationen, Krankenhausem, Hospizen. Mit dem Lebensalter steigt der Bedarf an Unterstutzung (Harriehausen 2007; Baltes spricht von ,Kultur'1999: 5), aber im Alter nimmt die Effektivitat der Kultur, die Wirkung der Untersttitzung ab (Baltes 1999: 6). Hier Formen und Institutionen zu fmden, die die Vitalitatspotenziale stiitzen und evozieren, wird nicht selbstverstandlich sein. Die vorhandenen Institutionen die Altenheime, sind es nicht: „Der Alte hat keinen Platz mehr in der Familie. Die natUrliche Form des Aufwachsens der Generationen unter demselben Dach ist selten geworden. Nun gibt es das Altenheim. Das sind die Hochschulen des schnellen Altwerdens. Da lemt man ganz schnell, dass man alles nicht mehr kann, daB man von alien bedient wird, dass alle einander nur noch langsam verstehen, und alles alles, das. Wenn man Gliick hat, in hohen Jahren noch einigermaBen alle Tassen im Schrank zu haben, empfindet man das als eine geradezu schreckliche Vorstellung" (Gadamer 1996: 20).
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Die Leistimg der alten Familie, viele Generationen unter einem Dach zu vereinen, hat integrative Funktionen: sie bewahrt die Alten vor Isolation und negativer Selbstanahnlichung. Neue Lebensformen des Alters mtissen diese Funktion mit bedenken: welche Mischung der Generationen, der Vitalitaten, der Anregungen gewahren sie? Sind Altenwohngemeinschaften realistisch? Sind nicht altersgemischte Populationen, gleich welchen Arrangements: Wohnungen, Mauser, Stadtviertel etc. probater? These 9: Das Alter wird eine positive Welt bleiben, solange es eine Form von Vitalitdt zeigt. Doch ist das unsere aktuelle Perspektive. Wir wissen nicht, welche Dynamiken einsetzen, wenn die Menge der Alten zunimmt, damit ihre akkumulierte Zahlungsfahigkeit und ihr politisches (Wahler-)Gewicht. Wir wissen nicht, welche anderen „mental models" einsetzen, in denen nicht mehr die Vitalitat der Jugend das ReferenzmaB abgibt. Was passiert in iiberwiegend von Alten bevolkerten Gemeinden, in denen uber die Einrichtung von Kindergartnem = Larmquellen abgestimmt wird?
6. Zukunftsmarkt: ,Verjtingerung der Alten' Gesundheit und ein langes Leben wtinschte man sich friiher. Diese Wiinsche werden jetzt wahr gemacht: das lange Leben ist in den nordatlantischen Kulturen bereits eingetreten. Die Menschen werden alter als friiher im Durchschnitt; die Frauen mehr als die Manner. Wir merken es kiinftig als demografisches Problem der Arbeitsmarkte, der Rentenversicherungen und der Immobilienmarkte. Doch was in Deutschland als Problem behandelt wird, wird anderswo als Zukunftsmarkt gewertet. Bildung und Gesundheit sind hochwertige Potenzialmarkte, und zwar aus systematischen Grunden: Sie sind abgeleitete Markte der Individualisierung, die die modemen Gesellschaften hervorgebracht haben. Die Individualisierung weist auf die Mindergeltung (nicht das Verschwinden, aber den Abbau) normativer sozialer Gefiige. In der Individualisierung werden die Individuen nicht individualistischer (in moralischer Tonung: egoistischer). Aber ihre Orientierungen sind nicht mehr normativ festgelegt, sondem netzwerk-offen: man orientiert sich nicht mehr nur z.B. an den Normen der Familien, sondem ebenso an denen von Bekannten, Freunden und Kollegen bis hin zur ,Offentlichkeit'. Das Netzwerk der beeinflussenden Orientierungen ist offe-
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ner, darum auch komplexer. Und darum auch wechselbereiter. Individualisierung beschreibt keine Zunahme von Egomanie, sondem von normativer Entkopplung, bei zunehmender Differenziertheit, vielfaltigerer und damit singular instabilerer Orientierung. Der Prozess der Individualisierung in modemen Gesellschaften ist ein Diversity-Prozess (vgl. auch Ehrenberg 2004). Doch ist die modeme Transformation von Normenverbanden in offenere Netzwerkbeziehungen keine lineare Transformation: Netzwerkbeziehungen sind offener, aber sie brechen auch haufiger ab. Und sie sind nicht langfristig ausgelegt. In modemen Gesellschaften individueller zu leben bedeutet, proaktiv zu leben, d.h. selbstandig soziale Beziehungen aufzunehmen, sozial kompetent zu sein. Wer hier herausfallt, wem es zu anstrengend ist, standig neue soziale Beziehungen einzugehen, wird - bei Fehlen traditioneller Normengefiige - mit der negativen Seite der Individualisierung bekannt: dem „ennuie", der Angst, der Einsamkeit, der sozialen Inkompetenz etc. Das sind die Kosten der Entborgenheit, die die Normengeftige der Tradition (bei hohen Transaktionskosten der Unterentwicklung) nicht in diesem AusmaBe kannten. Das ist die Dimension, die die Frage der Gesundheit: in somatischer wie psychischer Form, als neuen Markt ausweiten wird. Viele Krankheiten sind Folgen der Modemisierung der Gesellschaft.^^ Das ist kein kulturkritischer Beflind. Viele Krankheiten, die wir heute haben, konnten frUher gar nicht zur Geltung kommen, weil die meisten Menschen vorher verstarben. Wir ,leisten uns' heute Krankheiten, weil wir alter werden als frliher im Durchschnitt - der Zugewinn an durchschnittlicher Lebenserwartung im 20. Jahrhundert belauft sich von 45 Jahren um 1900 auf etwa 75 Jahre in 1995 (Baltes 1999: 4). Warum werden wir alter? Zum einen wegen des Fortschritts der Medizin: der Besiegung von Seuchen, Epidemien, vomehmlich wahrscheinlich durch kulturelle Organisation von Hygiene. Zum anderen durch bessere Emahrung, und durch Umweltschutz, der direkte Luftverschmutzung beseitigt hat, krankmachende Arbeitsplatze aufgelost und allgemeine Gesundheitsdienste eingefuhrt hat. Insgesamt haben die Risiken abgenommen, friih zu sterben. Die bessere Emahrung: Vitamine, Mineralien, ausgewogenere EiweiB-/ Kohlehydrate-Nahmngen fordem eine andere Entwicklung (auch die DurchschnittsgroBe der Kinder nimmt zu), wie sie zugleich die Menge der Krankheiten und ihre relativen Dauem zunehmen lassen, denn die meisten Krankheitsfalle treten im Alter auf, das dann, wenn es langer dauert, einfach eine groBere 12 Wenn Depressionen modeme Krankheiten sind, die aus der Uberfordemng des Individuums an Individualitat entspringen (Ehrenberg 2004: Kap. 7), dann nehmen diese Krankheiten im Alter zu, weil die Forderungen nach Autonomie, SelbstSndigkeit usw. nicht mehr erfullt werden konnen.
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Zahl von krankeren Menschen hervorbringt. An diesem Ende ist das Gesundheitssystem langst ein Krankheitssystem: Thesen 11-16: Je Idnger wir leben, desto krdnker werden wir. Je krdnker wir werden, desto hohere Aujwendungen fur das Krankheitssysteme haben wir zufinanzieren, undzwar von einer kleineren Zahl erwerbsfdhiger Jungerer, die deshalb mehr einzahlen miissen, um in tutto weniger ausbezahlt zu bekommen an Gesundheitsleistungen. Oder die Auszahlungen sinken, entweder a) durch Zuteilungen von Therapieleistungen (was einschliefit, dass bestimmte Therapien nicht mehr allgemein gezahlt werden) bzw. durch selektive Therapie oder b) durch Prdventionsmedizin, die alle, die sich nicht daran beteiligen oder abbrechen, zu Zuzahlungen bei den dann folgenden Therapien notigt. Oder Idngere Einzahlungszeiten durch Verschiebung des Rentenalters auf ein paar Jahre spdter. „Da die Pro-Kopf-Kosten fiir die Gesundheit der Alteren das Acht-bisZehnfache der Pro-Kopf-Kosten eines Zwanzigjahrigen betragen, nehmen die Gesundheitsausgaben in den nachsten fiinf Jahrzehnten mit steigendem Durchschnittsalter kontinuierlich zu. Gleichzeitig geraten die Einnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung unter Druck, weil die Zahl der Beitragszahler demographisch bedingt stark schrumpft. Als Konsequenz miisste der Beitragssatz von 14 auf etwa 25 Prozent erhoht werden - eine Unmoglichkeit. Ebenso ausgeschlossen ist die Alternative, den Leistungskatalog drastisch zu reduzieren" (Birg 2005a: Sp. 2). Fiir die Rentenversicherung konstatiert Hans-Werner Sinn: „Man muss kein formelles Rentenmodell berechnen, um zu erkennen, dass eine solche Verdopplung (des Altersquotienten) entweder eine Verdopplung des Beitragssatzes zur Rentenversicherung von jetzt etwas 20 auf 40% oder eine Halbierung der Renten relativ zu den Bruttolohnen bedeuten wird. Innerhalb dieses Spektrums kann sich die Politik einen Punkt aussuchen, aber die fondamentale Verknappung der Beitragszahler, ja die krisenhafte Zuspritzung der Rentensituation, kann sie nicht verhindem"^^ (Sinn 2003: 24). Deshalb haben wir fur die Rentenversicherung ein gleiches Strickmuster:
13 Sinn (2003: 24). Der Altersquotient der BevClkerung bildet sich aus dem Verhaltnis der Alten (ab 60) zu den Jungen (20-59).
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Thesen 17-21: Je langer wir leben, desto hoher sind die Rentenauszahlungen (bei angenommen gleicher oder auch sinkender monatlicher Auszahlungshohe). Je langer wir also leben, desto hohere Aujwendungen fur das Rentensystem habenwir zufinanzieren, undzwar von einer kleineren Zahl erwerbsfdhiger Jungerer, die deshalb mehr einzahlen mussen, um in tutto weniger ausbezahlt zu bekommen an Rentenleistungen. Oder die Auszahlungen sinken, entweder a) unmittelbar, oder b) mittelbar, indem das Rentenalter nach hinten verschoben wird (was die Einzahlungen erhoht und die Auszahlungen mindert). ^"^ H.-W. Sinn halt das deutsche Rentensystem fiir „eine Versicherung gegen Kinderlosigkeit imd die daraus entstehende Altersarmut. Auch wenn man selbst keine Kinder haben kann, muss man im Alter nicht darben, weil man von den Kindem anderer Leute emahrt wird. Der gegenseitige Yersicherungsschutz ist ein groBer Vorteil fiir alle Beteiligten. Problematisch ist nur, dass diese Versicherung die okonomischen Grlinde fiir den Kinderwunsch aus der Familienplanung ausblendet, indem sie die Leistungen der Kinder an die vorangehende Generation fast vollstandig sozialisiert" (Sinn 2003c). Daraus folgt, dass die Kinderlosen mehr in die Rentenfonds einzahlen sollen: „Die Rente nach der Kinderzahl einzufuhren, heiBt, den Grad der Sozialisierung zurtickzufahren, also den Staat wieder ein Stiick weit aus der Familienplanung herauszunehmen" (Sinn 2003c: 13).
14 „So mussen Versicherte, die 2035 mit 62 Jahren in Rente gehen wollen, ab sofort reichlich sechs Prozent ihres Bruttoeinkommens auf die hohe Kante legen, um so versorgt zu sein, wie ein Rentner heute. Warten sie mit ihrer Vermogensbildung, bis sie Mitte 40 sind, mussen sie bereits rund 15 Prozent sparen. Wer noch langer wartet, schafft realistischerweise den Ausgleich nicht mehr. Ein 57-jahriger miisste beispielsweise mehr als die Halfte seines Bruttoeinkommens fur Zwecke der Alterssicherung zuriicklegen, um mit 62 Jahren das zu haben, was ein 62-jahriger Rentner heute von der gesetzlichen Rentenversicherung erhalt. Kiinftige Rentner, die eine Altersversorgung anstreben, die uber dem heutigen Rentenniveau liegt, miissen sogar noch mehr als die genannten Prozentsatze sparen. Wer noch keine 30 Jahre alt ist, sollte sich darauf einstellen, ftir die Dauer seines Erwerbslebens etwa 10 Prozent seines Bruttoeinkommens fiir Zwecke der Alterssicherung abzweigen zu mussen. Bei Alteren ist der Anteil noch hoher" (Miegel, zit. bei: Schirrmacher 2005a: Sp. 2). Soviel strategische Kalkulation ist von Vielen nicht zu erwarten; die Altersarmut wird deutlich zunehmen, vor allem wegen privater anteiliger Unterversicherung (mit der Folge einer jetzt bereits erwartbaren hoheren Last der Sozialfonds des Staates). Vgl. auch Schaier(2005:24ff.).
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7. Potenziale einer alternden Gesellschaft In einem Workshop von DaimlerChrysler (Ruff 2006) wurden die Gewinner und Verlierer des ,demographic shift' benannt. Zu den Gewinnem gehoren (Ruff 2006: 14): health (pharmaceutical, biotech, medical tech, health care) leisure, culture and education tourism financial service housing and home-related services. Zu den Verlierem gehoren (Ruff 2006: 14): construction (riQw houses) parts of consumer goods industry (e.g. tobacco, alcohol) industries focused on kids, youth and family. Vieles andere ist schon vorher genannt worden. Gehen wir die Bereiche durch: Essen, Wohnen, Gesundheit, Transport, Kommunikation, Pflege, Einsamkeit, Interaktion, Arbeit. Essen: Ich unterscheide nach den zwei groBen Alterphasen: jung-alt und altalt. Jung-alt wird sich all die Dinge leisten konnen und gonnen, die einem wahrend des Arbeitslebens versagt waren, well man weder Zeit noch MuBe hatte. Man wird besser essen, ausgewahlter und nicht nur zu Hause. Alt-alt hingegen wird spezielle Produkte zu sich nehmen, ftir die es bisher keine besonderen Markte gibt. Kaufreundlich, magenvertraglich (saurearm), vitaminreich, vor allem viel Fltissigkeit enthaltend. Die dahinterstehende Logik lautet: von der harten Pizza zur weichen Pasta; cremig, breiig, halbflussig (notfalls in Tuben zum Lutschen - damit das muhsame Hantieren mit dem Besteck entfallt). Solange die Alten jung sind, holen sie nach, was sie in ihrem bisherigen Leben versaumten: einen gewissen Luxus, neue Lebensqualitaten, Reisen und Restaurantbesuche. Das sind identitatstiftende MaBnahmen. Man kann sich endlich erlauben, das zu tun, was man immer wollte: „die von kleinlichen Rucksichten entfesselte Radikalitat des Alters" (Gaschke 2007: Sp. 2). Wohnen: Alte werden kleinere Wohnungen brauchen, da sie 1. ohne Kinder, 2. haufig ohne Ehepartner, also solo sind. Die Wohnung wird nach der GroBe des Putz- und Reinigungsaufwandes bemessen werden - oder man zahlt fiir die Services. Parallel werden sich mobile Services ausbreiten; die es Alten erlauben, nicht in Wohnheime und Pflegeheime abgeschoben zu werden. Die Altenwohnungen sind ebenerdig (Parterre), leicht zu saubem, hell und breit, ohne viele
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Ecken, einbruchsicher. Doch nicht die Wohnung allein ist entscheidend, sondem das Ambiente. Alte, die allein wohnen, brauchen Geschafte, Post, Apotheke und Arzte in ihrer Nahe, am besten fuBlaufig. Und sie brauchen Extra-Services, z.B. Quartierdienste, die sie anrufen konnen. So etwas kann letztlich nur durch Stadtplanung erreicht werden. Gesundheit Hier wird der groBte Markt entstehen: Wellness, Prothetik, alle Kuren und Behandlungen. Allerdings ist zu bedenken, dass Demenzerkrankungen und Depressionen zunehmen. Je langer Menschen leben, als desto sinnloser wird das Leben im Durchschnitt empfunden. Wir werden die staatliche Forderung der Genforschung erleben, der Biomedizin: um die genetische und biotonische Prothetik zu erforschen und zu ermoglichen. Und wir werden offizielle Drogenpolitiken erleben, die den Alt-Alten das Leben ertraglich machen. Transport und Verkehr. Altersgerechte Busse, Bahnen und Autos werden entwickelt werden mit einer hochwertigen kognitiven Elektronik, die die abnehmende Wahmehmungsqualitat kompensiert. Langsamkeit wird zu einem wichtigen Thema im StraBenverkehr! wir werden Verkehrsberuhigung und -verlangsamung auf alien Strassen erleben, damit sich Alte dort weiterhin zu fahren trauen, inklusive der Zunahme von Sicherungs- und Wahmehmungstechnologien. Kommunikation: Altersgerechte Kommunikationstechnologien werden zur Verfiigung stehen. E. Poppel hat z.B. einen Flachbildschirm in DESf A 4-Gr66e entwickelt, der als Touch Screen liber einem Festnetztelefon hangt, auf dem, in groBer Schrift und mithilfe von Photos veranschaulicht, die wichtigsten Adressen notiert sind - zum Fingertasten (Kutter 2006: 56). Pflege: Wer soil die Pflege leisten? Zu welchen Preisen? Gut, dass wir europaische Arbeitsmarkte haben: Ukraine bis Turkei und Palastina. Wir werden Arbeitsmarktregulierungen flir Service- und Pflegearbeitsplatze fmden, aber der Service-Markt wird die Lohnbindungen nach unten aufheben lassen miissen. Die japanische Variante, die Alten mit intelligenten Robotem auszustatten, die wie Kinder/Tiere reagieren, wird sich in Europa weniger durchsetzen. Finales „enjoyment" leistet immer noch das Femsehen. Einsamkeit'. Das groBte Problem des zunehmenden Alters wird in der Vereinsamung bestehen. Vertraute Menschen sterben allmahlich weg. Aus diesem Grunde baut man in Japan Roboter in das Leben vereinsamter alter Menschen ein (z.B. kuscheltierartige Therapieroboter, Koehler 2006). Andere Alte als Kontaktpersonen sind oftmals keine Losung. Haufig werden sie als unsympathisch empfunden und erregen Arger. In diesem Bereich werden wir neue Formen der ,Drogenpolitik' erleben (statt Alkoholismus).
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Interaktion: Soziale Kontakte nehmen ab, sodass sich neue Formen des gemischten Wohnens entwickeln mussen - mit Familien (Alte konnen die Aufsicht iiber Kinder iibemehmen) oder in Wohngemeinschaften mit anderen Alten. Ziel ist dabei eine Erhaltung der Selbstandigkeit im Alter, so lange es geht, damit keine Passivierungssyndrome auftreten. Arbeit'. In Norwegen wird heute bereits bei den Mannem bis 70 gearbeitet; in Deutschland wird die heutige Zahl von 1 Million Beschaftigter im Alter zwischen 60 bis 64 Jahren auf 4 Millionen in 2025 geschatzt (Enn 2005, eine Studie der DIA; vgl. auch Schroder/Gilberg 2005 und Loebe/Severing 2005). „Freilich muB das Rentenalter ganz erheblich ausdehnt werden, um die demographischen Verwerfungen, die in Deutschland bevorstehen, zu kompensieren. Nach Berechnungen der vereinigten Nationen, mtisste das formelle deutsche Rentenalter von 65 auf 77 Jahre ansteigen, woUte man die Renten in Relation zu den Bruttolohnen im Jahr 2050 konstant auf dem Niveau von 1995 halten, was wohl jenseits des auf absehbare Zeit gultigen Akzeptanzbereichs fur die Politik liegen durfte" (Sinn 2003: 30; vgl. United Nations 2001: 42; vgl. auch Sinn 2003c). Familie: Nun, die Familie stirbt weg bzw. will - was den jungen Teil betrifft mit den Alten nicht eng zusammenleben. Vielleicht sind gemischte Wohnlagen eine richtige Richtung: aber die Toleranz ist nicht so groB, dass die differenten Lebensformen ohne weiteres kooperieren. Eher werden lokale Netzwerkstrukturen denkbar: die Eltem wohnen in der Nahe der Jungen, aber nicht zusammen. Religion: Das Interesse an Religion nimmt zu. Ein Vermogensentwerter! denn religiose Gemeinschaften sind natiirlich darauf ausgelegt, Anteile des Vermogens ihrer Mitglieder in die Finanzierung der Kirchen/Sekten umzuleiten. Das wird umso mehr zunehmen, je mehr sich solche Kirchen auf die Pflege von Alt-Alten verlegen. Politik: Graue Panther sind nur die Vorreiter. Alle Parteien werden grauer werden, denn insgesamt werden die Alten die Politik dominieren und mehr Rlicksicht einfordem. Ftir die Jungen wird das riskanter. Vermogen: Je alter man wird, umso mehr kosten Therapie und Pflege. Das Vermogen schmilzt ab 80. Das hat Folgen fur die Erbschaft. Je langer die Eltem leben, desto weniger bleibt ftir die Kinder. Wenn wir uns jetzt noch einmal in Erinnerung rufen, welche Artikel und Dienstleistungen derzeit bei Japans Senioren hoch im Kurs stehen, konnen wir auf dieser Basis eine Prognose fur alte Menschen in Europa versuchen:
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1. Lwcusreisen. Das wird fiir die deutschen 65plus-Jahrigen ebenso der Fall sein, jedenfalls fur die Vermogenderen unter ihnen. Kreuzfahrtschiffe sind heute bereits zu uber 80% von dieser Altersgruppe belegt. 2. Digitalkameras. Dieser Trend halt sich bei uns in Grenzen. Aber der Fotokult grassiert auch unter Europaem. 3. Leicht zu benutzende Telefone. Das haben wir in Europa bislang noch kaum, es wird sich aber wie in Japan rasant als eigenstandiger Markt entwickeln: „simple becomes smart". Vitaphone (in Kooperation mit Vodaphone) hat ein Handy konzipiert mit nur drei Tasten und einer Freisprecheinrichtung. Bisher haben aber nur 5.000 Nutzer diesen Service in Anspruch genommen. 4.
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Fernsehsendungen mit Old-TimeStars. In Japan zeichnet sich hier eine eigene Altenwelt ab - das ist in Europa erst in Ansatzen vorhanden. TV-Sender wie ARD und ZDF leben z.T. davon, wenn sie z.B. Volksmusiksendungen bieten. Der Rest der Nation interessiert sich fur diese ,Altersmusik' eher nicht. Der Toyota Prius - ein Hybridauto zwischen Benzin- und Elektromotor. Dieses Potenzial ist in Europa noch vollig unausgelotet. Im DaimlerChrysler Prospekt der „silver age generation" von 2006 taucht dieses Thema noch nicht auf (vgl. Ruff 2006; uberhaupt fallt in dieser Studie auf, dass das Okologieproblem nicht thematisiert wird, obwohl Senioren fiir diesen Bereich sensibel sind). In Japan hingegen boomt der Autospezialmarkt: mit extrabreiten Schiebetiiren, mit einem Sitz, der nach der Fahrt als Rollstuhl verwendet werden kann. Kastenformige Wagen lassen Alte mit Riickenproblemen einfacher ein- und aussteigen (Koehler 2006).
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Qualitdtslaufschuhe. Auch hierbei handelt es sich um einen vollig unausgeloteten Markt. Aber die Sport-Industrie beginnt auch hierzulande bereits, nach den Alten zu greifen (z.B. Nordic Walking).
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Flachbildschirme. Das Interesse an diesen Produkten ist in Europa altersneutral. Aber in der Frage einfacher Bedienbarkeit wird sich der Markt nach Alter aufspalten. Die europaischen Altemativen bewegen sich in ahnlichen Dimensionen wie in Japan, hierzu gehoren z.B. aufrollbare Displays (Fraunhofer-Institut IVV). Die ,Genau wie ich es mag'-Linie, die traditionelle Gerichte in frei portionierbaren Mengen anbietet. Auch hierbei handelt es sich um einen Markt, der in Europa noch vollig unausgelotet ist. Je alter die Alten werden, desto
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schwieriger wird nicht nur die Nahrungszubereitung, sondem auch deren Aufiiahme. Badevorrichtungen speziell fur Altere. Das ist nun extrem japanisch. Aber es werden sich Sauna-Raume fiir Alte etablieren, eigene Bader, wo sie ungestort sein konnen, ebenso wie altengerechte Massagesalons (altersgemaBe Wellness bis hin zu - eine neue Geschaftsidee - Bordellen fur Alte). Uber Alterssex und -korperlichkeit beginnt man erst jetzt allmahlich nachzudenken. Der groBte japanische Sanitarhersteller Toto hat z.B. ein sich selbst reinigendes Klo entwickelt. Doch auch bei uns beginnt ein neuer Trend: „Grey is beautiful - Grau ist schon": Unter diesem Motto stemmen sehnige Senioren in Fitness-Studios Gewichte, lassen sich beim Schonheitschirurgen ihre Falten wegspritzen oder schwimmen auf der Wellness-Welle. Die „Woopies" (well-off older people - wohlhabende altere Leute) haben den Berufsstress hinter sich und wollen es noch einmal wissen. Im Schoneberger Fitness-Studio Ars Vitalis sind vier Prozent der Kunden alter als 60 Jahre. „ ,Die 45- bis 55-Jahrigen machen den groBten Anteil unserer Gaste aus', sagt Studio-Sprecher Jiirgen Schultze. Besonders gefragt sind Rtickenubungen und Wellness" (Nercessian 2006).
10. Club-Hotels mit einem durchschnittUchen Mitgliedsalter von 61. In Japan gibt es Uber 200 Interessenclubs, mit denen gleichgesinnte Alte durch die Welt reisen (Koehler 2006). Hier wird eine Exklusivitat deutlich, die wir in Europa so noch nicht kennen. Dass altere Menschen exklusiv unter sich bleiben wollen, ist in Europa bislang noch kein Trend. Hier herrscht eher eine Mischungsideologie vor. Aber lasst sich diese Vorstellung auf Dauer aufrecht erhalten? Wie entstehen etwa in den USA ,Altenghettos' wie z.B. in Florida? Handelt es sich hierbei um Fehlentwicklungen - oder aber entsprechen diese gerade den spezifischen Bedtirfiiissen von Senioren? Vieles wird sich in Europa anders entwickeln als es in Japan der Fall ist. Ausgespart in dieser Liste sind die Gesundheitsbedtirfiiisse, die sich in Europa zu einer Konsummanie entwickeln. Hier werden sich auch nicht-klassische Methoden marktlich ausweiten, vor allem solche Formen von Therapien, bei denen man andere Menschen kennenlemen kann. Hinzu kommen Heiratsmarkte (und deren Vorformen) fur Alte, alle Formen von Kontaktanbahnung, mit nachgereichter Therapie fiir Versagen. Weil die Alten erleben, dass ihre Freunde, Verwandte etc., wegsterben, wird die Frage nach neuen Bindungen starker, nach professionellem Kontakt, nach Zuhorensbereitschaft etc. Hier werden sich kleine, aber stabile Markte profes-
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sioneller Begleitung, Betreuung etc. entwickeln, mit neuen Berufen, fur die wir noch keinen Namen haben. Und es werden sich neue Formen der Begleitung der Erinnerung auftun. Gadamers Diktion, einen Schatz an Erinnerung zu haben, wird fur Langlebende ein Thema werden, das man nicht alleine bewaltigt: indem man es mitteilt fur andere (Literatur), indem man Partner gewinnt, die es heben, Partner der Einstimmung auf diese Lebensform (bei Schlaganfallpatienten und vielen anderen eine langjahrige Form des erinnemden Dammems). Hier aber wird es prekar mit der Voraussage. Es gilt nur der Hinweis, dass sich die Gesellschaft darauf einstellen muss, dass wir Alte haben, die uber lange Zeit Dahindammem werden - bei alien btirgerlichen Rechten. Gesellschaftlich brisant daran ist die Frage, wie geklart werden kann, dass diese Alten weder mental noch monetar noch politisch ausgebeutet werden. Hier kann eine unaufhebliche Ftirsorglichkeit ins Spiel kommen, so wie der Philosoph Odo Marquard den Schlaf, den kleinen Tod, lobt. Er habe zum Schlaf eine so starke Zuneigung gefasst, „dass er auf eine Gott hofft, „der mich nach meinem Tode nicht aufweckt, sondem schlafen lasst" (Spiegel 2006: Sp. 3). Hier spricht der ,kluge Geront', der dem alten, verlorengegangenen Bild des ,weisen Alten' nahe kommt.
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Autorenverzeichnis
Kuhne, Barbel; Dr., Dozentin fiir Designtheorie und Designgeschichte, u.a. Hochschule fiir Kiinste Bremen, E-Mail: [email protected]. Kunemund, Harald; Prof. Dr., Institut fiir Gerontologie und Zentrum Altem und Gesellschaft, Hochschule Vechta, E-Mail: [email protected]. Maierhofer, Roberta; Prof. Dr., Institut fiir Amerikanistik, Universitat Graz, E-Mail: [email protected]. Mandl, Irene; Mag., KMU FORSCHUNG AUSTRIA /Austrian Institute for SME Research, Wien, E-Mail: [email protected] und http ://www.kmuforschung. ac. at. Pasero, Ursula; Dr., Gender Research Group, Institut fur Sozialwissenschaften, Universitat Kiel, E-Mail: [email protected]. Priddat, Birger P.; Prof. Dr., Lehrstuhl fiir Politische Okonomie, Zeppelin University Friedrichshafen, E-Mail: [email protected]. Schroeter, Klaus R.; PD Dr., Institut fiir Sozialwissenschaften, Universitat Kiel, E-Mail: [email protected].