Arbeitswissenschaft
Christopher Schlick • Ralph Bruder Holger Luczak
Arbeitswissenschaft Unter Mitarbeit von Marcel Mayer und Klaus Fuchs Mit Beiträgen von Bettina Abendroth, Verena Bopp, Marianela Diaz Meyer, Muriel Didier, Sönke Duckwitz, Yvonne Ferreira, Martin Frenz, Thomas Gärtner, Morten Grandt, Katharina Hasenau, Simon Heinen, Rolf Helbig, Sven Hinrichsen, Tim Jeske, Nicole Jochems, Michaela Kauer, Bernhard Kausch, Kathrin Krause, Susanne Mütze-Niewöhner, Jan Neuhöfer, Alexander Nielen, Barbara Odenthal, Meikel Peters, Hermann Rabenstein, Holger Rademacher, Sinja Röbig, Dirk Rösler, Karlheinz Schaub, Ludger Schmidt, Michael Schreiber, Sabine Schreiber, Andrea Sinn-Behrendt, Christoph Spelten, Sven Tackenberg, Sebastian Vetter, Jurij Wakula, Margeritta von Wilamowitz-Moellendorff, Janet Wilkes, Gabriele Winter, Lars Woyna
3., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage
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Univ.-Prof. Dr.-Ing. Dipl.-Wirt.-Ing Christopher Schlick Institut für Arbeitswissenschaft der RWTH Aachen Bergdriesch 27 52062 Aachen Deutschland
[email protected]
Univ.-Prof. em. Dr.-Ing. Dipl.-Wirt.-Ing. Holger Luczak Institut für Arbeitswissenschaft der RWTH Aachen Bergdriesch 27 52062 Aachen Deutschland
[email protected]
Univ.-Prof. Dr.-Ing. Ralph Bruder Institut für Arbeitswissenschaft der TU Darmstadt Petersenstraße 30 64287 Darmstadt Deutschland
[email protected]
ISBN 978-3-540-78332-9 e-ISBN 978-3-540-78333-6 DOI 10.1007/978-3-540-78333-6 Springer Heidelberg Dordrecht London New York Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 1993, 1997, 2010 Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Einbandentwurf: WMXDesign GmbH, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem Papier Springer ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media (www.springer.com)
Vorwort zur dritten Auflage
Das nunmehr in der dritten Auflage vorliegende Lehrbuch der Arbeitswissenschaft wurde ursprünglich als Vorlesungsumdruck für Studierende des Maschinenbaus sowie des Wirtschaftsingenieurwesens konzipiert und hat sich seit dem ersten Erscheinen im Jahr 1992 für die Lehre an technischen Universitäten bewährt. Die akkumulierten Erkenntnisse und Erfahrungen aus der universitären Lehre und Forschung waren die Grundlage für die Erstellung der dritten Auflage und reflektieren neben dem ausgeprägten Erkenntnisinteresse eine besondere „Kundenorientierung“ der Disziplin. Erfreulicherweise haben bereits die erste und zweite Auflage weit über den zunächst angesprochenen Leserkreis Verbreitung gefunden, und die Autoren hoffen mit der dritten Auflage diesen Trend fortschreiben zu können. So stoßen die arbeitswissenschaftlichen Lehrinhalte beispielsweise bei Studierenden der Betriebswirtschaftslehre, Psychologie und Informatik auf großes Interesse. Als angewandte Disziplin, die zunächst in den Ingenieurwissenschaften entstand, jedoch weitergehende wissenschaftliche Erkenntnisse aus den Natur-, Wirtschaftsund Sozialwissenschaften im Hinblick auf das gemeinsame Erkenntnisobjekt menschlicher Arbeit verknüpft, besitzt die Arbeitswissenschaft in der akademischen Ausbildung eine wichtige integrierende Funktion. Sie kann zum Überwinden der oft kritisierten „Versäulung“ im Wissenschaftssystem beitragen und verbindet traditionell eine fachliche Qualifizierung der Studierenden mit überfachlichen Themen, die für eine spätere berufliche Tätigkeit in multi- und interdisziplinären Teams besonders wichtig erscheinen. Darüber hinaus hat die Vergangenheit gezeigt, dass die fachsystematische Darstellung und didaktische Aufbereitung arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse in Form eines Lehrbuches auch für betriebliche Praktiker interessant und nützlich ist. Für diesen Personenkreis dient das Buch vor allem als Wissensspeicher und Nachschlagewerk, mit dem man seine Kenntnisse nach Bedarf vertiefen und auf den neusten Stand bringen kann. Diese Anspruchsgruppe ist bei der Erstellung der dritten Auflage durch die ausführliche Darstellung neuer Modelle, Methoden und Verfahren zur Analyse und Gestaltung menschlicher Arbeit sowie die erweiterte Darlegung gesicherter Erkenntnisse, die u.a. in Normen und Standards Eingang gefunden haben, ebenso deutlich berücksichtigt worden. Waren die erste und zweite Auflage noch von einem konzeptionellen, inhaltlichen und didaktischen „Alleinanstieg“ von Professor Holger Luczak zu einem – nach Aussage seiner Kollegen – qualitativen „Gipfel“ arbeitswissenschaftlicher Lehre geprägt, so hat sich bei der Erstellung der dritten Auflage der Kreis der
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„Gipfelstürmer“ um zwei jüngere Wissenschaftler und Hochschullehrer zu einem Autorenteam erweitert. Dieses Team hofft, mit dem vorliegenden Werk an die Maßstäbe der Vergangenheit nahtlos anknüpfen zu können und vor allem den Studierenden eine gute Grundlage für das Lernen zur Verfügung stellen zu können. Es ist insbesondere für den Nachfolger im Amt von Professor Luczak und Leiter des Instituts für Arbeitswissenschaft der RWTH Aachen eine besondere Ehre an die erste Stelle der Autorenliste gerückt zu sein und darüber hinaus eine besondere Freude mit dem Leiter des Instituts für Arbeitswissenschaft der Technischen Universität Darmstadt einen so ausgewiesenen Mitautor und Kooperationspartner gefunden zu haben. Durch die enge Einbindung des Professor Emeritus in das Autorenteam kann der Leser von einem reichen Erfahrungsschatz in arbeitswissenschaftlicher Lehre und Forschung profitieren, der in über 30 Jahren gewonnen wurde und schon die vorherigen Auflagen geprägt hat. Hierbei kann nicht unerwähnt bleiben, dass Professor Holger Luczak sowohl sein Dissertations- als auch Habilitationsverfahren unter der fachlichen Aufsicht von Professor Walter Rohmert an der Technischen Universität Darmstadt durchgeführt hat, der das dortige Instituts für Arbeitswissenschaft über 30 Jahre lang geleitet hat und dessen „Denkschule“ in gewisser Weise bereits die Konturen der beiden ersten Auflagen bildete. Diese Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Denkschule ermöglichte Professor Ralph Bruder das gemeinsame Buchprojekt als Hauptautor mitzugestalten. Durch die Bündelung der Kompetenzen und Ressourcen von zwei weltweit anerkannten und im dargestellten Sinn konzeptionell verbundenen Forschungsinstituten konnte die Planung und Erstellung der dritten Auflage zügig durchgeführt werden. Dieser Prozess hat die involvierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ohne Zweifel zu höheren Wissenszuständen geführt, die in den verfassten Kapiteln sichtbar ihren Niederschlag gefunden haben und von denen hoffentlich auch die Leser direkt profitieren können. Besonders hervorzuheben ist die pluridisziplinäre Herkunft der Beteiligten, die nicht nur die klassischen Natur- und Ingenieurwissenschaften einschließt, sondern sich auch auf die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften erstreckt. Dieses in der Wissenschaft nicht häufig anzutreffende Kooperationsmodell hat sich aus Sicht der beteiligten Partner bewährt und soll für die Erstellung zukünftiger Auflagen ggfs. fortgeführt werden. Die in den letzten Jahren erzielten Fortschritte in Forschung und Technik haben zu einem starken Wachstum des verfügbaren Wissens geführt, mit dem die Arbeitswissenschaft wie auch andere Disziplinen zu kämpfen hat. Einzelne Themen, wie z.B. die Betriebs- und Arbeitsorganisation sowie die Gruppen- und Teamarbeit, können daher nur so behandelt werden, dass die wesentlichen Grundlagen sowie ausgewählte Anwendungsfelder vermittelt werden. Trotz dieser notwendigen Beschränkung auf das fachlich und methodisch Wesentliche hat das Lehrbuch mit beinahe 1200 Seiten einen Umfang erreicht, der gegenüber der zweiten Auflage um ca. 50% angewachsen ist und wohl als obere Schranke für Lehrbücher gelten muss. Dieses Volumenwachstum ist allerdings zu erheblichen Teilen der neuen Formatvorlage geschuldet, die für Lehrbücher in der vorliegenden Verlagsreihe bindend ist sowie der ausführlicheren Erläuterung der Konzepte, Methoden
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und Standards durch Abbildungen und Tabellen, die vielfach von den Studierenden gewünscht wurde. Aufgrund des großen Buchumfangs hat sich die Markteinführung leider um ein Jahr verspätet. Hierfür wird in mehrfacher Hinsicht um Nachsicht gebeten. Nunmehr liegt jedoch mit der dritten Auflage ein komplett überarbeitetes Werk vor, das sich an den bereits für die erste und zweite Auflage geltenden Leitlinien orientiert und somit eine konzeptionelle Kontinuität gewährleistet: x Zentrale Gegenstände arbeitswissenschaftlicher Forschung und Lehre sind Arbeitspersonen, Arbeitsformen und die Arbeitsumgebung, die für eine fachsystematische Wissensaufbereitung in den technischen, organisatorischen und humanwissenschaftlichen Kontext des Arbeitssystems gestellt werden. x Die Arbeitswissenschaft hat eine integrative Funktion hinsichtlich natur- und ingenieurwissenschaftlicher Erkenntnisse einerseits sowie sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse andererseits, wobei die Wissenserzeugung, Stoffselektion und -aufbereitung stets auf den arbeitenden Menschen zentriert ist. x Die Arbeitswissenschaft bedient sich teilweise eklektisch der Modelle und Methoden anderer, in der Regel stärker grundlagenbezogener Disziplinen und leistet originäre Beiträge zum wissenschaftlichen und technischen Fortschritt durch Ordnungs- und Überbaumodelle von Erkenntnissen sowie die Verknüpfung von Arbeitsanalyse und -gestaltung auf der Grundlage von wissenschaftlich objektiven, validen und reliablen Gestaltungsvorschlägen bzw. -regeln. Über die oben genannten zentralen Gegenstände arbeitswissenschaftlicher Forschung und Lehre hinaus wurden wesentliche Erweiterungen und Ergänzungen der Kapitelstruktur vorgenommen. Aufgrund des in den letzten Jahren stark gestiegenen Stellenwerts organisatorischer Konzepte, Maßnahmen und Interventionen wurden eigenständige Kapitel zur Betriebs- und Arbeitsorganisation sowie der damit eng verbundenen Gruppen- und Teamarbeit verfasst. Sie sollen auf vielfachen Wunsch der Studierenden dem Leser einen kurzen, aber prägnanten Überblick vermitteln und einen leichten Einstieg in die zitierte Spezialliteratur ermöglichen. Weiterhin werden querschnittliche Themengebiete zur Arbeitswirtschaft sowie zur Arbeitszeit nach den für das Verständnis wichtigen organisatorischen Grundlagen behandelt. Wie bereits in den vorherigen Auflagen ist der Arbeitsschutz Gegenstand eines eigenen Kapitels und wurde aufgrund der besonderen praktischen Bedeutung um Konzepte zur betrieblichen Gesundheitsförderung ergänzt. Schließlich wurde die in Forschung und Lehre an technischen Universitäten prioritäre Ergonomie strukturell wesentlich aufgewertet und bildet nunmehr ein eigenständiges abschließendes Buchkapitel. Gegenüber den vorherigen Auflagen wurden die energetischen, informatorischen und anthropometrischen Gestaltungsprinzipien der Ergonomie wesentlich erweitert sowie um eigenständige Abschnitte für die ergonomische Produkt- und Produktionsgestaltung ergänzt. Die sich auf sämtliche Kapitel erstreckende Aktualisierung und Überarbeitung des Stoffes wurde in erheblichem Maße von den wissenschaftlichen Mitarbeitern
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und Führungskräften der beteiligten Hochschulinstitute geleistet. Zum Teil mussten Kapitel auch grundlegend verändert werden. Die Beiträge dieser Personen waren so essentiell, dass sie durch namentliche Nennung im Koautorenkreis entsprechend gewürdigt werden. Besonderen Dank für das Tragen der Hauptlasten bei der organisatorischen und redaktionellen Bearbeitung der dritten Auflage schulden wir den Herren Dipl.-Ing. M. Mayer sowie Dipl.-Ing. K. Fuchs, die in unermüdlicher Detailarbeit die Erstellung der Manuskripte koordiniert sowie die Drucklegung vorbereitet haben. Wenn der ehemalige Haupt-Autor sich auf die dritte Stelle im professoralen Autorenteam zurücknimmt, so ist Verständnis für die Entscheidung erbeten, dass die ehemaligen Mitarbeiter und Beitragsberechtigten der ersten und zweiten Auflage zugunsten der aktuellen Crew für die Überarbeitung nach über ein bis zwei Dekaden einer heute schon teilweise obsoleten Wissenssammlung und Formulierungsarbeit auf ihr Recht der Nennung im neuen Autorenkreis der – wie vorgelegt – massiv veränderten dritten Auflage verzichten sollen. Wir danken ihnen an dieser Stelle ausdrücklich für die Formulierungen und Darstellungen, die als Ausgangspunkt für die Aktualisierung gedient haben. Dieser Dank richtet sich auch an Herrn Professor Dr.-Ing. J. Springer, der durch sein starkes Engagement die beiden ersten Auflagen begleitet hat. Schließlich sei Herrn Dipl.-Ing. T. Lehnert vom Springer Verlag noch sehr herzlich für die menschlich äußerst angenehme Zusammenarbeit gedankt, die schon die ersten beiden Auflagen zum Erfolg geführt hat. Wir hoffen auf eine positive Rezeption des Werkes in der wissenschaftlichen Fachwelt, der Studierendenwelt und der Welt praktischer Arbeitsgestaltung in industrieller Güterproduktion sowie Dienstleistungswirtschaft. Aachen und Darmstadt, im Dezember 2009 Christopher Schlick Ralph Bruder Holger Luczak
In der vorliegenden dritten Auflage ist es den Herausgebern (noch) nicht gelungen, die Geschlechtsneutralität des Textes durchgängig zu gewährleisten. In zukünftigen Revisionen soll dieser anspruchsvollen Aufgabe besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Es muss deshalb an dieser Stelle bei dem Hinweis bleiben, dass Begriffe, die in der rein maskulinen Form verwendet werden (z.B. „Benutzer“) die weibliche Form einschließen. Dies gilt zumindest für Textpassagen, die nicht auf fremde Publikationen referenzieren.
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Einführung ...................................................................................................... 1 1.1 Begriffliche Klärungen .............................................................................. 1 1.1.1 Zum Begriff „Arbeit“ .......................................................................... 1 1.1.2 Zwei Aspekte von Arbeit ..................................................................... 2 1.1.3 Arbeit als Einsatz menschlicher Ressourcen ....................................... 3 1.1.4 Arbeit als Herstellung von Produkten und Dienstleistungen ............... 6 1.2 Gegenstand von Arbeitswissenschaft ........................................................ 7 1.2.1 Definitionen ......................................................................................... 7 1.2.2 Theorie-Praxis-Verhältnis.................................................................. 10 1.3 Arbeitsbegriffe, Menschenbilder und das Theorie-Praxis-Verhältnis arbeitsbezogener Wissenschaften ............................................................ 13 1.3.1 Wirtschaftswissenschaften ................................................................. 14 1.3.2 Soziologie .......................................................................................... 16 1.3.3 Pädagogik .......................................................................................... 18 1.3.4 Rechtswissenschaft ............................................................................ 20 1.3.5 Arbeits- und Organisationspsychologie ............................................. 21 1.3.6 Arbeitsmedizin ................................................................................... 22 1.3.7 Ingenieurwissenschaften .................................................................... 23 1.3.8 Schlussfolgerungen für eine pluri- und interdisziplinäre Arbeitswissenschaft ........................................................................... 26 1.4 Ordnungszusammenhänge arbeitsbezogener Erkenntnisse und Gestaltungsansätze .................................................................................. 27 1.4.1 Fundament- und Überbaumodelle...................................................... 27 1.4.2 Hierarchiemodelle.............................................................................. 27 1.4.3 Ebenen- und Segmentmodelle ........................................................... 28 1.4.4 Betrachtungsebenen von Arbeitsprozessen ........................................ 30 1.5 Aufgaben der Arbeitswissenschaft .......................................................... 32 1.5.1 Analysieren ........................................................................................ 34 1.5.1.1 Systemische Analyseansätze ........................................................ 34 1.5.1.2 Belastungs-Beanspruchungs-Konzept .......................................... 38 1.5.1.3 Handlungsregulationstheorie........................................................ 43 1.5.1.4 Generelle Methoden und Techniken zur empirischen Analyse .... 51 1.5.1.4.1 Beobachtung ........................................................................... 51 1.5.1.4.2 Befragung ............................................................................... 53 1.5.1.4.3 Physiologische Messtechnik ................................................... 55 1.5.1.4.4 Physikalische und chemische Messverfahren ......................... 56
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1.5.1.5 Spezifische Verfahren und Werkzeuge für die Arbeitsanalyse .... 56 1.5.2 Bewerten und Ordnen ........................................................................ 63 1.5.2.1 Ebenenschema nach Rohmert und Kirchner ................................ 63 1.5.2.2 Ebenenschema nach Hacker ......................................................... 65 1.5.2.3 Kriterien in Anlehnung an die Betrachtungsebenen von Arbeitsprozessen .......................................................................... 66 1.5.2.4 Bewertungs- und Beurteilungsprinzipien ..................................... 68 1.5.3 Gestalten ............................................................................................ 69 1.5.3.1 Gestaltungsprinzipien ................................................................... 69 1.5.3.2 Gestaltungsstrategien ................................................................... 71 1.5.3.3 Einbindung arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse in die Produktentwicklung ..................................................................... 72 1.5.3.4 Arbeitsgestaltung und Produktgestaltung ..................................... 74 1.6 Literatur ................................................................................................... 76 2
Arbeitsperson ................................................................................................ 87 2.1 Konstitution ............................................................................................. 89 2.1.1 Geschlecht ......................................................................................... 89 2.1.1.1 Definition ..................................................................................... 89 2.1.1.2 Rechtliche Grundlagen ................................................................. 90 2.1.1.3 Biologische Aspekte..................................................................... 91 2.1.1.4 Gender Mainstreaming ................................................................. 95 2.1.1.5 Arbeitsmarkt................................................................................. 96 2.1.1.6 Arbeitssituation .......................................................................... 102 2.1.2 Nationalität und ethnische Herkunft ................................................ 108 2.1.2.1 Definition und Relevanz ............................................................ 108 2.1.2.2 Rechtliche Grundlagen ............................................................... 109 2.1.2.3 Interkulturelle Zusammenarbeit ................................................. 110 2.2 Disposition ............................................................................................ 112 2.2.1 Persönlichkeit .................................................................................. 112 2.2.1.1 Definition und Relevanz ............................................................ 112 2.2.1.2 Messung der Persönlichkeit ....................................................... 113 2.2.1.3 Persönlichkeitsentfaltung ........................................................... 114 2.2.2 Alter ................................................................................................. 116 2.2.2.1 Demographische Entwicklung ................................................... 116 2.2.2.2 Jugendliche................................................................................. 118 2.2.2.3 Ältere Arbeitspersonen............................................................... 120 2.2.2.3.1 Leistungsfähigkeit ................................................................ 122 2.2.2.3.2 Leistungsbereitschaft ............................................................ 131 2.2.2.3.3 Produktivität ......................................................................... 132 2.2.2.3.4 Gestaltungs- und Interventionsstrategien ............................. 133 2.2.3 Intelligenz ........................................................................................ 134 2.2.3.1 Definition und Relevanz ............................................................ 134 2.2.3.2 Intelligenzmessung..................................................................... 135
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2.2.3.3 Intelligenzmodelle ...................................................................... 138 2.2.3.3.1 Globale Intelligenzdefinitionen ............................................ 138 2.2.3.3.2 Operationale Intelligenzdefinitionen .................................... 140 2.2.3.3.3 Multifaktorenmodelle ........................................................... 141 2.2.3.3.4 Hierarchische Intelligenzmodelle ......................................... 142 2.2.3.3.5 Fluide und kristalline Intelligenz .......................................... 143 2.2.3.4 Intelligenz - ererbt oder erworben? ............................................ 144 2.2.4 Gesundheit ....................................................................................... 146 2.2.4.1 Definition und Relevanz ............................................................ 146 2.2.4.2 Rechtliche Grundlagen ............................................................... 149 2.2.4.3 Arten von Behinderungen .......................................................... 151 2.2.4.3.1 Körperliche Behinderung ..................................................... 153 2.2.4.3.2 Psychische (seelische) Behinderung ..................................... 153 2.2.4.3.3 Geistige Behinderung ........................................................... 155 2.2.4.4 Berufliche Rehabilitation ........................................................... 156 2.2.4.4.1 Maßnahmen zur beruflichen Rehabilitation ......................... 156 2.2.4.4.2 Bedeutung von Arbeit für Menschen mit Behinderung ........ 160 2.2.4.5 Beschäftigungssituation von Menschen mit Behinderung ......... 160 2.2.5 Biorhythmus .................................................................................... 167 2.2.5.1 Definition und Relevanz ............................................................ 167 2.2.5.2 Periodische Wechsel .................................................................. 167 2.2.5.3 Biorhythmik in der Praxis .......................................................... 170 2.3 Qualifikation und Kompetenz ............................................................... 170 2.3.1 Qualifikation .................................................................................... 172 2.3.1.1 Qualifikationsdimensionen und Niveaustufen ........................... 172 2.3.1.2 Qualifikationen als Lernresultate ............................................... 175 2.3.1.3 Qualifizierungsmaßnahmen ....................................................... 176 2.3.2 Kompetenz ....................................................................................... 178 2.3.2.1 Kompetenzdimensionen ............................................................. 179 2.3.2.2 Kompetenzniveaus ..................................................................... 180 2.3.2.3 Kompetenzmessung und -entwicklung ...................................... 181 2.4 Anpassungsmerkmale ............................................................................ 182 2.4.1 Arbeitsmotivation ............................................................................ 183 2.4.1.1 Definition und Relevanz ............................................................ 183 2.4.1.2 Theorien der Arbeitsmotivation ................................................. 184 2.4.2 Arbeitszufriedenheit ........................................................................ 188 2.4.2.1 Definition und Relevanz ............................................................ 188 2.4.2.2 Messung und Beurteilung .......................................................... 190 2.4.2.3 Arbeitsmotivation und Arbeitszufriedenheit in der Praxis ......... 193 2.4.3 Ermüdung ........................................................................................ 194 2.4.3.1 Formen der Ermüdung ............................................................... 196 2.4.3.2 Ermüdungsverlauf ...................................................................... 197 2.4.3.3 Messung von Ermüdung ............................................................ 199 2.4.3.4 Bemessung von Belastung und Erholung ................................... 201
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2.5 3
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2.4.3.5 Schädigungen ............................................................................. 207 Literatur ................................................................................................. 208
Arbeitsformen ............................................................................................. 223 3.1 Begriffliche Grundlagen ........................................................................ 223 3.2 Energetisch-effektorisch ........................................................................ 228 3.2.1 Menschliche Kraft- und Energieerzeugung ..................................... 228 3.2.2 Biomechanische Aspekte energetisch-effektorischer Arbeit ........... 229 3.2.3 Arbeitsformen und Beanspruchungsfaktoren................................... 230 3.2.4 Muskelsystem .................................................................................. 233 3.2.4.1 Muskelanatomie ......................................................................... 233 3.2.4.2 Muskelerregung ......................................................................... 235 3.2.4.3 Muskelenergetik ......................................................................... 235 3.2.5 Eigenschaften der Krafterzeugung ................................................... 237 3.2.5.1 Muskuläre Arbeitsformen .......................................................... 237 3.2.5.2 Umsetzung der Muskelkraft ....................................................... 240 3.2.6 Maximale und zulässige Körperkräfte ............................................. 242 3.2.7 Methoden zur Ermittlung maximaler isometrischer Muskelkräfte .. 248 3.2.8 Analyse von Aktionskräften ............................................................ 251 3.2.9 Analyse und Bewertung muskulärer Arbeitsformen ........................ 255 3.2.9.1 Analyse der Bewegungen ........................................................... 255 3.2.9.2 Analyse der Muskelaktivität und Muskelermüdung................... 259 3.2.10 Energetik des menschlichen Körpers ............................................... 266 3.2.10.1 Stoffwechsel und Energiegewinnung ......................................... 266 3.2.10.2 Energieumsatz und Wirkungsgrad ............................................. 269 3.2.10.2.1 Bestimmung des Energieumsatzes ....................................... 269 3.2.10.2.2 Maximaler Energieumsatz .................................................... 273 3.2.10.2.3 Wirkungsgrad menschlicher Arbeit ...................................... 275 3.2.10.3 Kreislaufregulation..................................................................... 276 3.2.11 Skelettsystem ................................................................................... 281 3.2.12 Beurteilung der Belastung ............................................................... 283 3.3 Informatorisch-mental ........................................................................... 286 3.3.1 Modelle menschlicher Informationsverarbeitung ............................ 286 3.3.1.1 Phänomenologisch-empirische Modelle .................................... 287 3.3.1.1.1 Sequentielle Modelle ............................................................ 287 3.3.1.1.1.1 Subtraktionsmethode ...................................................... 288 3.3.1.1.1.2 Kaskadenmodelle ............................................................ 289 3.3.1.1.1.3 Regulationsebenenmodelle ............................................. 289 3.3.1.1.2 Kapazitätsmodelle ................................................................ 291 3.3.1.1.2.1 Aktivierungstheoretische Konzepte ................................ 291 3.3.1.1.2.2 Aufmerksamkeitstheoretische Konzepte......................... 294 3.3.1.1.2.3 Multiple Ressourcenmodelle .......................................... 298 3.3.1.2 Mathematisch-funktionale Modelle ........................................... 300 3.3.1.2.1 Signalentdeckungstheorie ..................................................... 300
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3.3.1.2.1.1 Antworteigenschaften ..................................................... 302 3.3.1.2.1.2 Empfindlichkeit .............................................................. 303 3.3.1.2.2 Informationstheorie .............................................................. 305 3.3.1.2.2.1 Definition und Maßeinheit der Information .................... 305 3.3.1.2.2.2 Informationstheoretische Analyse und Modellierung ..... 306 3.3.1.2.3 Regelungstechnische Modelle .............................................. 308 3.3.1.2.3.1 Mensch als Regler ........................................................... 308 3.3.1.2.3.2 Modellierung des Regelungsverhaltens .......................... 310 3.3.2 Phasen der menschlichen Informationsverarbeitung ....................... 313 3.3.2.1 Entdecken (frühe Prozesse) ........................................................ 313 3.3.2.1.1 Übergeordnete Gesetzmäßigkeiten ....................................... 313 3.3.2.1.2 Sinnesorgane des Menschen ................................................. 317 3.3.2.1.2.1 Visuelles Wahrnehmungssystem .................................... 317 3.3.2.1.2.2 Auditives Wahrnehmungssystem.................................... 338 3.3.2.1.2.3 Wahrnehmung von Beschleunigung und Lage ............... 345 3.3.2.1.2.4 Oberflächen- und Tiefensinn .......................................... 346 3.3.2.1.2.5 Geschmacks- und Geruchssinn ....................................... 351 3.3.2.1.3 Gestaltprinzipien der Wahrnehmung .................................... 354 3.3.2.1.4 Vigilanz ................................................................................ 356 3.3.2.2 Erkennen, Entscheiden und Gedächtnis (zentrale Prozesse) ...... 360 3.3.2.2.1 Daten- und konzeptgesteuertes Erkennen ............................. 361 3.3.2.2.2 Hypothesenbildung und Handlungsauswahl......................... 362 3.3.2.2.2.1 Normative Modelle ......................................................... 362 3.3.2.2.2.2 Deskriptive Modelle ....................................................... 364 3.3.2.2.2.3 Subjektive Wahrscheinlichkeit ....................................... 365 3.3.2.2.3 Gedächtnis ............................................................................ 366 3.3.2.2.3.1 Struktur des Gedächtnisses ............................................. 366 3.3.2.2.3.2 Hinweise für die Gestaltung............................................ 372 3.3.2.2.4 Mentale Modelle und Situationsbewusstsein........................ 375 3.3.2.2.5 Externalisierte Repräsentationen zentraler Prozesse ............ 376 3.3.2.2.5.1 Abstraktionshierarchien .................................................. 377 3.3.2.2.5.2 Kognitive Architekturen ................................................. 378 3.3.2.2.6 Über- und Unterforderung beim Erkennen und Entscheiden 379 3.3.2.3 Informationsabgabe (späte Prozesse) ......................................... 381 3.3.2.3.1 Organisation und Regelung von Bewegungen...................... 381 3.3.2.3.1.1 Motorisches System ........................................................ 381 3.3.2.3.1.2 Regelung der Bewegungen ............................................. 384 3.3.2.3.1.3 Lernen und Üben von Bewegungen ................................ 386 3.3.2.3.2 Analyse des motorischen Verhaltens .................................... 388 3.3.2.3.2.1 Reaktions- und Bewegungszeiten ................................... 388 3.3.2.3.2.2 Grenzen der menschlichen Leistungsfähigkeit ............... 389 3.3.2.3.3 Sprache ................................................................................. 390 3.3.2.3.4 Weitere Formen der Informationsabgabe ............................. 392 3.3.3 Bewertung der menschlichen Informationsverarbeitung ................. 392
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Arbeitswissenschaft
3.3.3.1 Konzeptionelle Grundlagen........................................................ 392 3.3.3.2 Modelle und Methoden der Beanspruchungsskalierung ............ 394 3.3.3.2.1 Psychophysiologische Beanspruchungsmessung ................. 396 3.3.3.2.1.1 Herz-Kreislaufsystem ..................................................... 398 3.3.3.2.1.2 Gehirnaktivität ................................................................ 402 3.3.3.2.1.3 Bewegungsapparat .......................................................... 404 3.3.3.2.1.4 Sehapparat....................................................................... 404 3.3.3.2.1.5 Elektrodermale Aktivität ................................................. 408 3.3.3.2.1.6 Endokriner Apparat......................................................... 409 3.3.3.2.2 Leistungsmaße ...................................................................... 409 3.3.3.2.2.1 Speed Accuracy Trade-Off ............................................. 411 3.3.3.2.2.2 Expertenbeurteilung ........................................................ 411 3.3.3.2.3 Zweifachaufgaben/Nebenaufgaben ...................................... 412 3.3.3.2.4 Subjektive Methoden ............................................................ 414 3.3.3.2.4.1 Erhebungsverfahren für spezielle Anwendungsfälle....... 414 3.3.3.2.4.2 Erhebungsverfahren für allgemeine Anwendungsfälle ... 415 3.4 Literatur ................................................................................................. 417 4
Betriebs- und Arbeitsorganisation............................................................... 433 4.1 Begriffliche Grundlagen ........................................................................ 433 4.1.1 Organisation..................................................................................... 433 4.1.1.1 Funktionaler Organisationsbegriff ............................................. 434 4.1.1.2 Konfigurativer Organisationsbegriff .......................................... 434 4.1.1.3 Institutioneller Organisationsbegriff .......................................... 435 4.1.2 Betriebs- und Arbeitsorganisation ................................................... 435 4.2 Aufbauorganisation ............................................................................... 436 4.2.1 Definitionen, Elemente und Beziehungen ....................................... 436 4.2.2 Aufgabenanalyse und -synthese....................................................... 437 4.2.3 Strukturdimensionen ........................................................................ 438 4.2.3.1 Spezialisierung ........................................................................... 438 4.2.3.2 Standardisierung......................................................................... 440 4.2.3.3 Formalisierung ........................................................................... 440 4.2.3.4 Konfiguration ............................................................................. 441 4.2.3.5 Delegation .................................................................................. 442 4.2.4 Formen der Aufbauorganisation ...................................................... 443 4.2.4.1 Einlinienorganisation ................................................................. 444 4.2.4.2 Mehrlinienorganisation .............................................................. 445 4.2.4.3 Stab-Linien-Organisation ........................................................... 446 4.2.4.4 Matrixorganisation ..................................................................... 446 4.2.4.5 Prozessorganisation .................................................................... 447 4.2.4.6 Produkt-/Marktorientierte Organisation ..................................... 449 4.2.4.7 Vor- und Nachteile von Aufbauorganisationsformen ................ 451 4.2.5 Projektorganisation .......................................................................... 452 4.3 Ablauforganisation ................................................................................ 455
Inhaltsverzeichnis
XV
4.3.1 Definitionen, Elemente und Beziehungen ....................................... 455 4.3.2 Ziele und Einflussfaktoren ............................................................... 456 4.3.3 Analyse und Modellierung der Ablauforganisation ......................... 457 4.3.3.1 Einordnung in das Sieben-Ebenen-Modell................................. 457 4.3.3.2 Methoden zur Modellierung der Ablauforganisation ................. 460 4.3.3.3 Flussprinzipien für die Ablaufmodellierung .............................. 463 4.3.3.4 Beispielhafte Modellierung eines Arbeitsprozesses ................... 463 4.3.4 Prozessoptimierung.......................................................................... 466 4.3.4.1 Business Process Reengineering ................................................ 466 4.3.4.2 Kontinuierlicher Verbesserungsprozess ..................................... 466 4.3.4.3 Heuristische Prozessoptimierung ............................................... 467 4.3.4.4 Simulationsgestützte Prozessoptimierung .................................. 472 4.4 Organisation der Produktion.................................................................. 476 4.4.1 Ablaufprinzipien in der Produktion ................................................. 476 4.4.1.1 Werkstättenfertigung .................................................................. 476 4.4.1.2 Reihenfertigung .......................................................................... 477 4.4.1.3 Fließfertigung ............................................................................. 478 4.4.1.4 Inselfertigung ............................................................................. 479 4.4.1.5 One-Piece-Flow ......................................................................... 481 4.4.2 Toyota Produktionssystem ............................................................... 482 4.5 Organisation der Produkt- und Prozessentwicklung.............................. 485 4.6 Organisation im Dienstleistungs- und Servicebereich ........................... 488 4.7 Literatur ................................................................................................. 489 5
Gruppen- und Teamarbeit ........................................................................... 495 5.1 Begriffliche Grundlagen ........................................................................ 495 5.1.1 Merkmale von Gruppenarbeit .......................................................... 495 5.1.2 Gruppenarbeit im Betriebsverfassungsgesetz .................................. 497 5.1.3 Gruppenarbeit als Arbeitsorganisationsform ................................... 498 5.2 Zur Verbreitung von Gruppenarbeit ...................................................... 499 5.3 Formen von Gruppenarbeit.................................................................... 501 5.4 Grundlagen der Arbeitsgestaltung für Gruppenarbeit ........................... 505 5.4.1 Klassische Konzepte der Arbeitsstrukturierung ............................... 506 5.4.2 Anforderungen an die Gestaltung .................................................... 508 5.4.2.1 Vollständigkeit ........................................................................... 508 5.4.2.2 Tätigkeitsspielraum und Autonomie .......................................... 509 5.4.2.3 Motivationspsychologische Kriterien ........................................ 511 5.4.2.4 Kerndimensionen der Arbeitstätigkeit........................................ 512 5.4.2.5 Instrumente zur Analyse, Bewertung und Gestaltung von Gruppenarbeit............................................................................. 514 5.4.3 Modelle der Teameffektivität und Implikationen für das Management von Teams .................................................................. 516 5.5 Gruppenarbeit in der Produktion: Teilautonome Arbeitsgruppen und Lean-Gruppen........................................................................................ 526
XVI
Arbeitswissenschaft
5.5.1 Ziele der Einführung ........................................................................ 526 5.5.2 Merkmale teilautonomer Arbeitsgruppen ........................................ 527 5.5.3 Merkmale von Lean-Gruppen .......................................................... 529 5.5.4 Diskussion ....................................................................................... 531 5.6 Gruppenarbeit in der Produkt- und Prozessentwicklung: CE-Teams ... 534 5.6.1 Ziele der Einführung ........................................................................ 534 5.6.2 Merkmale von Concurrent Engineering-Teams ............................... 534 5.6.3 Entwicklung komplexer Produkte in mehreren CE-Teams ............. 536 5.6.4 Maßnahmen zur Unterstützung ........................................................ 538 5.6.5 Diskussion ....................................................................................... 539 5.7 Gruppenarbeit in Servicebereichen: Planungsinsel ............................... 540 5.7.1 Ziele der Einführung ........................................................................ 540 5.7.2 Merkmale von Planungsinseln ......................................................... 541 5.7.3 Gestaltungsvarianten........................................................................ 543 5.7.4 Diskussion ....................................................................................... 544 5.8 Gruppenarbeit zur kontinuierlichen Verbesserung: Qualitätszirkel ...... 545 5.8.1 Ziele der Einführung ........................................................................ 545 5.8.2 Merkmale von Qualitätszirkeln........................................................ 545 5.8.3 Maßnahmen zur Unterstützung ........................................................ 546 5.8.4 Diskussion ....................................................................................... 548 5.9 Einführung von Gruppenarbeit .............................................................. 549 5.9.1 Vorgehensmodell ............................................................................. 550 5.9.2 Mitbestimmungsrechte..................................................................... 556 5.10 Literatur ................................................................................................. 558 6
Arbeitszeit ................................................................................................... 575 6.1 Begriffliche Grundlagen ........................................................................ 575 6.2 Entwicklung der Arbeitszeit .................................................................. 575 6.3 Arbeitszeit und Produktivität ................................................................. 579 6.4 Flexibilisierungsparameter und Gestaltungsansätze .............................. 582 6.4.1 Gesetzliche Gestaltungsbedingungen .............................................. 587 6.4.2 Tarifliche Gestaltungsbedingungen ................................................. 590 6.5 Arbeitszeitsysteme und -modelle .......................................................... 591 6.5.1 Schichtarbeit .................................................................................... 596 6.5.2 Gleitzeitarbeit .................................................................................. 608 6.6 Erweiternde Modifikationen .................................................................. 611 6.7 Flexibilisierende Elemente .................................................................... 614 6.7.1 Kurzfristig zu deckende Arbeitsspitzen ........................................... 614 6.7.2 Verteilung auf mehrere Arbeitnehmer ............................................. 615 6.7.3 Trennung zwischen Arbeitsort und Betriebsstätte ........................... 616 6.7.4 Arbeiten mit reduzierter oder erhöhter Arbeitszeit .......................... 617 6.7.5 Über(stunden)arbeit und Mehrarbeit................................................ 618 6.8 Unterstützung der Arbeitszeitorganisation durch Software ................... 622 6.9 Akzeptanz von Arbeitszeitsystemen und -modellen.............................. 623
Inhaltsverzeichnis
6.10 7
XVII
Literatur ................................................................................................. 625
Arbeitswirtschaft ......................................................................................... 629 7.1 Einführung ............................................................................................. 629 7.1.1 Begriff und Gegenstand der Arbeitswirtschaft ................................ 629 7.1.2 Prinzipien der Arbeitswirtschaft ...................................................... 629 7.2 Arbeitsentgelt ........................................................................................ 632 7.2.1 Begriffsverständnis und Grundlagen ............................................... 632 7.2.2 Aufbau des Arbeitsentgelts .............................................................. 633 7.2.3 Anforderungsabhängiges Grundentgelt ........................................... 636 7.2.3.1 Vorgehen bei der Arbeitsbewertung .......................................... 638 7.2.3.2 Systematisierung der Arbeitsbewertungsverfahren .................... 639 7.2.3.3 Analytische Verfahren der Arbeitsbewertung ............................ 640 7.2.3.4 Summarische Verfahren der Arbeitsbewertung ......................... 646 7.2.4 Leistungsabhängiges Entgelt ........................................................... 651 7.2.4.1 Kennzahlenvergleich .................................................................. 652 7.2.4.2 Leistungsbeurteilung .................................................................. 658 7.2.4.3 Zielvereinbarung ........................................................................ 661 7.3 Zeitwirtschaft ........................................................................................ 664 7.3.1 Begriff und Gegenstand der Zeitwirtschaft...................................... 664 7.3.2 Verwendungszwecke von Zeitdaten ................................................ 665 7.3.3 Beschreibung der Arbeitsbedingungen ............................................ 667 7.3.4 Zeitgliederung .................................................................................. 669 7.3.5 Methoden der Zeitdatenermittlung im Überblick ............................ 671 7.3.6 Zeitaufnahme ................................................................................... 672 7.3.6.1 Definition und Bedeutung .......................................................... 672 7.3.6.2 Anwendung ................................................................................ 672 7.3.6.3 Vor- und Nachteile ..................................................................... 674 7.3.7 Multimomentverfahren .................................................................... 675 7.3.7.1 Definition, Entwicklung und Arten ............................................ 675 7.3.7.2 Bedeutung .................................................................................. 676 7.3.7.3 Anwendungsmöglichkeiten ........................................................ 677 7.3.7.4 Theoretische Grundlagen des MMH-Verfahrens ....................... 678 7.3.7.5 Untersuchungsarten .................................................................... 682 7.3.7.6 Anwendung des MMH-Verfahrens ............................................ 683 7.3.7.7 Vor- und Nachteile des MMH-Verfahrens ................................. 688 7.3.8 Weiterentwickeltes Multimomentverfahren in Bezug auf die Schätzung der relativen Häufigkeiten von Ablaufarten ................... 690 7.3.8.1 Ausgangssituation und Zielsetzung ............................................ 690 7.3.8.2 Theoretische Grundzüge des neuen Schätzverfahrens ............... 690 7.3.8.3 Ergebnisse einer Fallstudie ........................................................ 693 7.3.8.4 Softwareentwicklung.................................................................. 694 7.3.9 Systeme vorbestimmter Zeiten ........................................................ 696 7.3.9.1 Definition, Entwicklung und Arten ............................................ 696
XVIII
Arbeitswissenschaft
7.3.9.2 Bedeutung und Anwendung ....................................................... 699 7.3.9.3 Vor- und Nachteile ..................................................................... 701 7.3.10 Planzeitermittlung mittels Regressionsanalyse ................................ 702 7.3.10.1 Definition und Arten .................................................................. 702 7.3.10.2 Bedeutung .................................................................................. 702 7.3.10.3 Mathematische Grundlagen........................................................ 703 7.3.10.4 Methode nach dem REFA-Standardprogramm .......................... 705 7.3.10.5 Methode zur Ermittlung von Planzeiten für komplexe Projekte 705 7.3.10.6 Vor- und Nachteile ..................................................................... 708 7.4 Literatur ................................................................................................. 709 8
Arbeitsschutz und betriebliche Gesundheitsförderung................................ 713 8.1 Arbeitsschutz ......................................................................................... 713 8.1.1 Historische Entwicklung des Arbeitsschutzsystems ........................ 713 8.1.2 Institutionen des Arbeitsschutzes und deren Leistungen ................. 718 8.1.2.1 Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin ................ 718 8.1.2.2 Gewerbeaufsicht......................................................................... 720 8.1.2.3 Berufsgenossenschaften ............................................................. 721 8.1.2.4 Innerbetriebliche Akteure des Arbeitsschutzes .......................... 722 8.1.2.5 Leistungen der Versicherungen .................................................. 724 8.1.3 Rechtsquellen des Arbeitsschutzes .................................................. 725 8.1.3.1 Einführung ................................................................................. 725 8.1.3.2 EU-Regelungen .......................................................................... 726 8.1.3.3 Deutsche Regelungen ................................................................. 728 8.1.3.4 Personenbezogener Arbeitsschutz .............................................. 734 8.1.3.5 Gestaltung von Arbeitsstätten, Arbeitsumgebung und Arbeitsmitteln............................................................................. 737 8.1.3.6 Produktsicherheit ....................................................................... 738 8.1.3.7 Gefahrstoffe ............................................................................... 739 8.1.4 Sicherheitstechnische Arbeitsgestaltung .......................................... 741 8.1.4.1 Produktsicherheit ....................................................................... 741 8.1.4.2 Dreistufiges Vorgehen ............................................................... 743 8.1.4.3 Sicherheit eines Arbeitssystems ................................................. 744 8.1.4.4 Gefährdungen / Richtlinien ........................................................ 746 8.1.4.5 Folgen von sicherheitsgerechtem / sicherheitswidrigem Verhalten .................................................................................... 749 8.1.4.6 Gefahrenhinweise / Gebote ........................................................ 751 8.1.4.7 Wirtschaftlichkeit ....................................................................... 752 8.2 Betriebliche Gesundheitsförderung ....................................................... 753 8.2.1 Grundlagen und Handlungsbedingungen ......................................... 753 8.2.1.1 Leitlinien: Die Ottawa-Charta .................................................... 753 8.2.1.2 Implikationen für betriebliche Gesundheitsförderung................ 755 8.2.2 Interventionsansätze des betrieblichen Gesundheitsmanagements .. 759 8.3 Literatur ................................................................................................. 763
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9
XIX
Arbeitsumgebung ........................................................................................ 769 9.1 Lärm ...................................................................................................... 772 9.1.1 Physikalische Grundlagen................................................................ 772 9.1.2 Physiologische Grundlagen ............................................................. 775 9.1.3 Wirkung von Lärm auf den Menschen ............................................ 777 9.1.3.1 Beeinträchtigung der Arbeitssicherheit durch Lärm .................. 777 9.1.3.2 Physiologische Reaktionen, Beeinflussung des Wohlbefindens und der Leistungsfähigkeit ................................................................ 778 9.1.3.3 Schädigung ................................................................................. 779 9.1.4 Messung ........................................................................................... 780 9.1.4.1 Schallintensitätsmessungen ........................................................ 780 9.1.4.2 Bewerteter Schalldruckpegel...................................................... 781 9.1.4.3 Frequenzanalysen ....................................................................... 782 9.1.5 Bewertung und Beurteilung ............................................................. 782 9.1.5.1 Beurteilung im Hinblick auf Gehörgefährdung .......................... 784 9.1.5.2 Beurteilung im Hinblick auf die ausgeübte Tätigkeit................. 784 9.1.6 Gestaltungshinweise ........................................................................ 785 9.2 Mechanische Schwingungen ................................................................. 790 9.2.1 Physikalische Grundlagen................................................................ 790 9.2.2 Physiologische Grundlagen ............................................................. 791 9.2.3 Wirkung mechanischer Schwingungen auf den Menschen.............. 794 9.2.3.1 Physiologische Reaktionen ........................................................ 794 9.2.3.2 Schädigung ................................................................................. 795 9.2.4 Messung ........................................................................................... 796 9.2.5 Bewertung und Beurteilung ............................................................. 797 9.2.6 Gestaltungshinweise ........................................................................ 802 9.3 Strahlung ............................................................................................... 805 9.3.1 Physikalische Grundlagen................................................................ 806 9.3.1.1 Korpuskularstrahlungen ............................................................. 806 9.3.1.2 Elektromagnetische Strahlung.................................................... 807 9.3.2 Wirkung von Strahlung auf den Menschen...................................... 818 9.3.2.1 Störungen elektro-physiologischer Vorgänge ............................ 819 9.3.2.2 Wärmeentwicklung .................................................................... 821 9.3.2.3 Wirkungen niederfrequenter Strahlung ...................................... 823 9.3.2.4 Hochfrequente Strahlung ........................................................... 829 9.3.2.5 Optische Strahlung ..................................................................... 831 9.3.2.6 Ionisierende Strahlung ............................................................... 833 9.3.3 Messung ........................................................................................... 836 9.3.3.1 Niederfrequente Strahlung ......................................................... 837 9.3.3.2 Hochfrequente Strahlung ........................................................... 839 9.3.3.3 Optische Strahlung ..................................................................... 839 9.3.3.4 Ionisierende Strahlung ............................................................... 840 9.3.4 Bewertung und Beurteilung ............................................................. 843 9.3.4.1 Niederfrequente Strahlung ......................................................... 843
XX
Arbeitswissenschaft
9.3.4.2 Hochfrequente Strahlung ........................................................... 847 9.3.4.3 Optische Strahlung ..................................................................... 848 9.3.4.4 Ionisierende Strahlung ............................................................... 852 9.3.5 Gestaltungshinweise ........................................................................ 853 9.4 Klima ..................................................................................................... 861 9.4.1 Physikalische Grundlagen................................................................ 862 9.4.2 Physiologische Grundlagen ............................................................. 862 9.4.3 Menschbezogene Modellierung von Klimafaktoren ........................ 867 9.4.3.1 Empfindensbezogene Modellierung ........................................... 867 9.4.3.2 Physiologische Modellierung ..................................................... 870 9.4.3.3 Rezeptoren ................................................................................. 871 9.4.4 Wirkung anormaler Klimabedingungen auf den Menschen ............ 871 9.4.5 Messung ........................................................................................... 872 9.4.5.1 Lufttemperatur ........................................................................... 872 9.4.5.2 Luftfeuchtigkeit .......................................................................... 872 9.4.5.3 Wärmestrahlung ......................................................................... 873 9.4.5.4 Ermittlung von Klimasummenmaßen ........................................ 875 9.4.6 Bewertung und Beurteilung ............................................................. 875 9.4.7 Gestaltungshinweise ........................................................................ 881 9.5 Beleuchtung ........................................................................................... 885 9.5.1 Physikalische Grundlagen und lichttechnische Größen ................... 885 9.5.2 Messung von Beleuchtung ............................................................... 891 9.5.3 Lichttechnik ..................................................................................... 891 9.5.3.1 Lampen ...................................................................................... 895 9.5.3.2 Leuchten ..................................................................................... 898 9.5.4 Wirkung des Lichts .......................................................................... 900 9.5.5 Gestaltungshinweise ........................................................................ 902 9.6 Arbeitsstoffe .......................................................................................... 907 9.6.1 Physikalische, chemische und physiologische Grundlagen ............. 911 9.6.1.1 Die Wirkung beeinflussende Größen ......................................... 911 9.6.1.2 Art des Stoffes............................................................................ 911 9.6.1.3 Konzentration ............................................................................. 913 9.6.1.4 Art der Einwirkung .................................................................... 914 9.6.1.5 Einwirkungsdauer ...................................................................... 915 9.6.1.6 Individuelle Konstitution ........................................................... 915 9.6.1.7 Tätigkeit ..................................................................................... 916 9.6.1.8 Superposition ............................................................................. 916 9.6.2 Wirkung von gefährlichen Arbeitsstoffen........................................ 916 9.6.2.1 Arten der Schädigung ................................................................. 916 9.6.2.2 Stäube......................................................................................... 916 9.6.2.3 Rauche........................................................................................ 917 9.6.2.4 Nebel .......................................................................................... 917 9.6.2.5 Dämpfe ....................................................................................... 918 9.6.2.6 Gase............................................................................................ 918
Inhaltsverzeichnis
XXI
9.6.3 Messung ........................................................................................... 919 9.6.3.1 Ermittlungs- und Überwachungspflicht ..................................... 919 9.6.3.2 Probenahme ................................................................................ 920 9.6.3.3 Analyseverfahren ....................................................................... 923 9.6.3.4 Messverfahren und -geräte ......................................................... 923 9.6.3.5 Hautresorption ............................................................................ 925 9.6.4 Bewertung und Beurteilung ............................................................. 926 9.6.4.1 Systematik der Grenzwerte ........................................................ 927 9.6.4.2 Arbeitsplatzgrenzwert ................................................................ 927 9.6.4.3 Biologischer Grenzwert ............................................................. 928 9.6.4.4 Maximale Arbeitsplatz-Konzentration ....................................... 928 9.6.4.5 Stoffgemische............................................................................. 929 9.6.4.6 Hautresorption ............................................................................ 930 9.6.4.7 Beschäftigungsbeschränkungen für besondere Personengruppen ........................................................................ 930 9.6.5 Gestaltungshinweise ........................................................................ 931 9.7 Superposition von Arbeitsumgebungseinflüssen ................................... 935 9.8 Literatur ................................................................................................. 938 10 Ergonomische Gestaltung ........................................................................... 949 10.1 Gestaltungsprinzipien ............................................................................ 950 10.1.1 Energetisch-effektorisch .................................................................. 950 10.1.1.1 Schutz der Gesundheit................................................................ 951 10.1.1.2 Minimierung der zu leistenden Arbeit........................................ 955 10.1.1.3 Optimierung des Wirkungsgrades .............................................. 960 10.1.1.4 Arbeitsabfolge und Pausenregime .............................................. 965 10.1.2 Informatorisch-mental ..................................................................... 969 10.1.2.1 Übergeordnete Gestaltungsansätze ............................................ 971 10.1.2.2 Unterstützung der Informationsaufnahme .................................. 976 10.1.2.3 Unterstützung der Informationsverarbeitung ............................. 994 10.1.2.4 Unterstützung der Informationsabgabe .................................... 1006 10.1.2.5 Systemergonomische Gesichtspunkte ...................................... 1020 10.1.3 Anthropometrie und räumliche Gestaltung .................................... 1028 10.1.3.1 Körpermaße .............................................................................. 1028 10.1.3.2 Funktionsräume ........................................................................ 1037 10.1.3.3 Anthropometrische Arbeitsplatzgestaltung .............................. 1043 10.1.3.4 Hilfsmittel zur anthropometrischen Gestaltung........................ 1057 10.2 Ausgewählte Methoden zur Gestaltung und Bewertung ..................... 1064 10.2.1 Usability Engineering .................................................................... 1064 10.2.1.1 Grundlagen ............................................................................... 1064 10.2.1.2 Vorgehen beim Usability Engineering ..................................... 1066 10.2.1.3 Methoden des Usability Engineering ....................................... 1068 10.2.2 Softwareergonomie ........................................................................ 1076 10.2.2.1 Grundlagen ............................................................................... 1077
XXII
Arbeitswissenschaft
10.2.2.2 Methoden zur Evaluation von Software ................................... 1094 10.2.2.3 Kommunikation zwischen Benutzer und Entwickler ............... 1096 10.2.3 Prototyping in der Systemkonzeption und -entwicklung ............... 1097 10.2.3.1 Virtuelle Produktentwicklung .................................................. 1097 10.2.3.2 Virtuelle Prozess- und Fabrikplanung ...................................... 1106 10.3 Anwendungsgebiete und Schwerpunkte .............................................. 1108 10.3.1 Produktgestaltung .......................................................................... 1108 10.3.1.1 Grundlagen ............................................................................... 1108 10.3.1.2 Beschreibung des Produktgestaltungsprozesses ....................... 1111 10.3.1.3 Anwendung des Produktgestaltungsprozesses in der Praxis .... 1118 10.3.2 Produktionsgestaltung.................................................................... 1129 10.3.2.1 Grundlagen ............................................................................... 1130 10.3.2.2 Ziele und Anwendungsbereiche ............................................... 1130 10.3.2.3 Ergonomie innerhalb des Produktentstehungsprozesses .......... 1132 10.3.2.4 Belastungsanalysen als Basis für Gestaltungsansätze .............. 1134 10.3.2.5 Fallbeispiele zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen und Produktivität ............................................................................. 1141 10.3.2.6 Ergonomische Gestaltung von Mensch-Maschine-Schnittstellen für die automatisierte Produktion ............................................. 1145 10.4 Literatur ............................................................................................... 1152 Index .................................................................................................................. 1173
1
Einführung
1.1 1.1.1
Begriffliche Klärungen Zum Begriff „Arbeit“
Unter Arbeit wird nach STIRN (1980) allgemein ein Tätigsein des Menschen verstanden, bei dem dieser mit anderen Menschen und technischen Hilfsmitteln in Interaktion tritt, wobei unter wirtschaftlichen Zielsetzungen Güter und Dienstleistungen erstellt werden, die (zumeist) entweder vermarktet oder von der Allgemeinheit in Form von Steuern oder Subventionen finanziert werden. Die besondere gesellschaftliche Relevanz sowie individuelle Bezogenheit der Arbeit wird auch in einer Definition des Arbeitsbegriffs nach ROHMERT (1993) deutlich, nach der unter Arbeit alles subsumiert wird, „was der Mensch zur Erhaltung seiner Existenz und/oder der Gesellschaft tut, soweit es von der Gesellschaft akzeptiert und honoriert wird“. Bei der Analyse, Bewertung und Gestaltung menschlicher Arbeit gilt es immer zu berücksichtigen, dass eben diese Arbeit neben der Ausrichtung auf objektive Zielsetzungen bestimmten subjektiven Zwecken dient und im Allgemeinen besonderen Sinn für den Menschen stiftet. Auf diesen wichtigen Aspekt weist beispielsweise Papst Johannes Paul II in seiner Enzyklika Laborem Excercens (PAPST JOHANNES PAUL II 1981) hin: „Die Arbeit ist eines der Kennzeichen, die den Menschen von den anderen Geschöpfen unterscheiden, deren mit der Erhaltung des Lebens verbundene Tätigkeit man nicht als Arbeit bezeichnen kann; nur der Mensch ist zur Arbeit befähigt, nur er verrichtet sie, wobei er gleichzeitig seine irdische Existenz mit ihr ausfüllt“. Es ist ein wesentliches Merkmal der Arbeitswissenschaft, dass sie die objektiven Bedingungen und gleichzeitig die subjektiven Aspekte von Arbeit zu ihrem Betrachtungsgegenstand macht. Subjektbezogen ist Arbeit planvoll, zielgerichtet und willentlich gesteuert und findet unter bestimmten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen statt. Schließlich erfährt durch Arbeit nicht nur die materielle und ideelle Umwelt des Arbeitenden eine Veränderung, sondern auch der Arbeitende selbst, z.B. durch Ermüdung, aber auch durch Trainingseffekte. Arbeit ist somit eine besondere Form des Tätigseins neben anderen, wie Spiel oder Sport. Die bisherigen Beschreibungen zielen primär auf Erwerbsarbeit ab, wie sie im primären, sekundären oder tertiären Sektor einer Volkswirtschaft anzutreffen ist. Daneben finden sich jedoch vielfältige Formen unbezahlter Arbeit, die häufig auf einem Solidarprinzip basieren, z.B. Arbeit im eigenen Haushalt, Kindererziehung, Altenpflege sowie ehrenamtliche Tätigkeiten (siehe LANDAU u. STÜBLER 1992). Überhaupt ist eine Definition von Arbeit, die einerseits Aktivitäten wie Spiel oder Sport eindeutig ausschließt und andererseits in Grenzfällen von Erwerbstätigkeit, wie z.B. Börsenspekulation oder Prostitution, hinreichend trennscharf ist, kaum zu
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Arbeitswissenschaft
treffen (vgl. FRIELING u. SONNTAG 1999). Für viele arbeitswissenschaftliche Fragestellungen ist eine solche aber auch gar nicht erforderlich. Zudem versuchen neuere Entwicklungen, mögliche Trennungen eher aufzuheben, wie bspw. bei einem flexiblen Übergang von „Arbeitsleben“ in den Ruhestand, bei verschiedenen Formen von Telearbeit oder bei der zunehmenden Verzahnung von Arbeitsund Freizeit. Die zunehmende Unschärfe des Arbeitsbegriffes führt demnach auch zu einer (unscharfen) Erweiterung des Gegenstandsbereichs der Arbeitswissenschaft, ohne allerdings die Arbeitswissenschaft zur universalen „Lebenswissenschaft“ auszuweiten. Im heutigen Sprachgebrauch sind in dem Wort „Arbeit“ zwei ursprünglich getrennte Begriffe vereint. Zum einen das Tätigsein und die damit verbundene Mühe (das althochdeutsche „arebeit“ bedeutet Mühsal, Not; WAHRIG 1986), zum anderen aber auch das Ergebnis dieses Tätigseins, das Produkt, im älteren Sprachgebrauch als „Werk“ (z.B. Tagewerk) bezeichnet. Diese Unterscheidung spiegelt sich noch in den Paragraphen des Bürgerlichen Gesetzbuches zum „Arbeitsvertrag“ und „Werkvertrag“ wider. Der Arbeitsvertrag regelt nach deutschem Recht vor allem den (zeitlichen) Umfang des Tätigseins im Sinne einer entgeltlichen und persönlichen Erbringung der Dienstleistung aufgrund eines privatrechtlichen Schuldverhältnisses. Beim Werkvertrag hingegen schuldet der Werkunternehmer dem Werkbesteller die Herstellung eines Werkes, das heißt die Herbeiführung eines bestimmten Ergebnisses. Als Gegenleistung schuldet der Werkbesteller dem Werkunternehmer den vereinbarten Werklohn. Somit wird primär das Ergebnis festgeschrieben und nicht berücksichtigt, welcher Aufwand (z.B. an Arbeitszeit) notwendig ist. Zwei unterschiedliche Begriffe für Arbeit eine subjekt- und eine objektorientierte Sichtweise finden sich in zahlreichen Sprachen, z.B. im Englischen „work“ und „labour“, im Französischen „oeuvre“ und „travail“ (von lat. „tripalium“, eine Foltermethode; ARENDT 1981), im Russischen „trud“ und „rabota“ und im Lateinischen „opus“ und „labor“. Oftmals wird damit zwischen den wirtschaftlich-technischen Aspekten von Arbeit (produkt-, effizienzbezogen: „Produktivitätsaspekt“) einerseits, und den menschbezogenen Aspekten (Anstrengung, soziale Auswirkungen: „Humanitätsaspekt“) andererseits unterschieden (HILF 1972; ROHMERT u. LUCZAK 1975). So heißt im Englischen die Arbeitsstudie, die sich mit der Ausführbarkeit und Effizienz der Arbeit beschäftigt, „work study“, der juristische Begriff für Zwangsarbeit dagegen „hard labour“. „Labour“ kann auch den Arbeiter selbst bezeichnen. Der Gegenstand der Arbeitswissenschaft kann somit im Englischen als „relations between labour and work“ (Beziehungen zwischen Mensch und Arbeit) beschrieben werden (siehe HILF 1972). 1.1.2
Zwei Aspekte von Arbeit
Grundsätzlich lassen sich also zwei Aspekte von Arbeit unterscheiden: Zum einen Arbeit im ursprünglichen subjektbezogenen Sinn als Anstrengung, zum anderen Arbeiten objektbezogen als Produktion von Gütern oder Dienstleistungen.
Einführung
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ARENDT (1981) unterscheidet in diesem Sinne zwischen „Arbeiten“ und „Herstel-
len“. Der arbeitende Mensch findet sich danach entweder in der Rolle des „animal rationale“ (aus Vernunftsgründen nach Arbeitsauftrag abhängig tätiges Lebewesen, das Sachzwängen mehr oder weniger machtlos ausgeliefert ist) oder der des „homo faber" (produzierender Mensch) wieder. Problematisch sind offensichtlich Disproportionalitäten zugunsten des erstgenannten Aspekts. Arbeit auf diesen Aspekt reduziert, also Anstrengung ohne produktiven Output, taucht schon in der antiken Mythologie als Fluch oder Strafe der Götter auf, etwa die Aufgabe des Sysiphos, einen Stein den Berg hinauf- und hinunterzurollen oder der Danaiden, Wasser in ein Fass ohne Boden zu schöpfen; beides Tätigkeiten, die zu keinem produktiven Output führen können. Auch für den gegenteiligen Fall eines Konsums ohne Produktionsaufwand (als gesellschaftliches Grundprinzip) lässt sich die Mythologie bemühen: In der christlichen Genesis wird dieser Zustand als Paradies beschrieben. Der Entzug dieser Konditionen, d.h. der nunmehrige Zwang für den Menschen, den Lebensunterhalt „im Schweiße seines Angesichts“ zu sichern, erfolgt ebenfalls als göttliche Strafe (KURNITZKY 1979). Eine solche Identität von Arbeit und Strafe findet sich aber nicht nur in der Mythologie, sondern hatte und hat teilweise noch heute einen festen Platz in der Riege profaner Formen des Strafvollzugs (Arbeitslager). Früher waren die Grenzen zwischen Strafarbeit und „freier Lohnarbeit“ teilweise bemerkenswert fließend: Im 18. Jahrhundert wurde zwischen Fabrik, Gefängnis und Arbeitshaus kaum unterschieden und die Institutionen wechselten (z.B. in Abhängigkeit von der Arbeitsmarktlage) zwischen diesen Betriebsformen. Aber auch Fabriken, die im heutigen Sinne auf freier Lohnarbeit basierten, waren mitunter von Gräben umgeben oder gleich den Grundrissen von Gefängnissen gebaut. Fabrikordnungen orientierten sich oftmals recht eng an Gefängnisreglements (STAMM 1982). Subjektbezogen existiert neben Anstrengung aber noch ein weiterer Aspekt von Arbeit, nämlich der der Persönlichkeitsentfaltung durch Arbeit. Arbeit als Möglichkeit zur Persönlichkeitsentfaltung versucht persönlichkeitsorientierte Ziele, wie z.B. Selbstverwirklichung und Autonomie, derart in Arbeits- und Organisationsstrukturen einzubringen, dass Arbeitsbedingungen und persönliche Ziele komplementär gestaltet werden können. Es wird davon ausgegangen, dass ein derartiger Einsatz menschlicher Ressourcen auch auf der Leistungsseite (Output) zu einer Verbesserung führt. Allerdings muss auch konstatiert werden, dass Vorstellungen der Persönlichkeitsentfaltung als Ziel nicht auf alle Menschen gleichermaßen („jedem das Gleiche“) zutreffen und somit individuell spezifische Anpassungen von Arbeitsbedingungen („jedem das Seine“) erforderlich sind (HACKER 2005; ULICH 2005). 1.1.3
Arbeit als Einsatz menschlicher Ressourcen
Extreme Arbeitsbedingungen, wie sie in der Frühzeit der Industrialisierung anzutreffen waren, mit überlangen täglichen Arbeitszeiten von bis zu 16 Stunden, Kinderarbeit, extremen Unfallgefahren und ohne soziale Absicherung gehören zu-
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Arbeitswissenschaft
mindest in den meisten Industrieländern der Vergangenheit an. Andererseits besteht offensichtlich auch in jüngerer Zeit ein erheblicher „Humanisierungsbedarf“. So wurde im Jahre 1974 vom Bundesminister für Forschung und Technologie das Förderprogramm „Forschung zur Humanisierung des Arbeitslebens“ (HdA) aufgelegt. Das Ministerium förderte in dem Zeitraum von 1974 bis 1989 über 1600 Projekte mit einem Gesamtvolumen von über 1,2 Mrd. DM (PROJEKTTRÄGER HdA 1989). Das Forschungs- und Entwicklungsprogramm „Arbeit und Technik“ (Zeitraum 1989 bis 2001) griff die Ergebnisse zur humanen Gestaltung von Arbeitsbedingungen auf, zielte aber verstärkt auf die Erforschung und Nutzung von Chancen, die sich aus einer Integration von Arbeit und Technik ergeben. Ein innovationsgetriebener Gestaltungsansatz wurde im Rahmenkonzept „Innovative Arbeitsgestaltung – Zukunft der Arbeit“ ab dem Jahr 2001 verfolgt. Das Rahmenkonzept berücksichtigte erstmalig die starken Veränderungen im Umfeld der Unternehmen sowie in den Wertschöpfungsprozessen. Das aktuelle Forschungs- und Entwicklungsprogramm „Arbeiten – Lernen – Kompetenzen entwickeln – Innovationsfähigkeit in einer modernen Arbeitswelt“ zielt darauf ab, die Innovationskraft von Unternehmen und Beschäftigten zu stärken sowie nachhaltig zu sichern, u.A. durch eine Arbeitsgestaltung, die Lernen und Kompetenzentwicklung fördert. Dienstleistungsforschung und -wirtschaft werden seit 1995 gezielt innerhalb der Initiative „Dienstleistungen für das 21. Jahrhundert“ und seit 2006 im Förderprogramm „Innovationen mit Dienstleistungen“ gefördert. In den Förderschwerpunkten wurde insbesondere der beschäftigungswirksame und innovationsförderliche Charakter von Humanisierungsforschung herausgestellt. Zudem rückt mit den letztgenannten Förderprogrammen die arbeitswissenschaftliche Forschung im Dienstleistungsbereich stärker in den Fokus (BULLINGER 1999; BULLINGER u. SCHEER 2003; LUCZAK et al. 2004; SCHENK u. SCHLICK 2009; ZINK 2009). Das Erfordernis einer Humanisierung beschränkt sich dabei nicht etwa auf einzelne „schwarze Schafe“ in Form von Betrieben, die geltende Bestimmungen missachten (wird dies bekannt, kann dagegen ohnehin auf rechtlichem Wege vorgegangen werden) oder einzelne Branchen oder Berufe, sondern betrifft den beruflichen Alltag großer Teile der Erwerbstätigen. Wesentliche Problembereiche, denen allerdings je nach Berufsgruppe und Branche unterschiedliche Bedeutung zukommt, sind wie folgt: x Gesundheitsschäden durch Unfälle oder berufsbedingte Krankheiten, z.B. infolge von Lärm, Schadstoffen, gefährlichen Werkzeugen etc. Hohe Unfallquoten finden sich z.B. in den Wirtschaftszweigen Metall, Holz und Bau. Häufige Berufskrankheiten sind Lärmschwerhörigkeit, Erkrankungen der Atemwege und Hautkrankheiten (BAUA 2009). x Arbeitsumgebungen, die zwar nicht zu Schädigungen führen, aber als unangenehm oder kaum akzeptabel empfunden werden, z.B. infolge von Hitze, Kälte, Geruchsbelästigung oder belästigenden Schallereignissen. Entsprechende Arbeitsplätze finden sich beispielsweise an Hochöfen, in Kühlhäu-
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sern, aber auch bei der Arbeit im Freien zu ungünstigen Jahreszeiten oder in extremen Klimazonen. x Tätigkeiten, die schwere körperliche Arbeit (z.B. Be- und Entladetätigkeiten), ständige Konzentration (z.B. Tätigkeiten in Leitwarten, visuelle Prüfung in der Qualitätskontrolle) oder unbequeme Körperhaltungen (z.B. Montage oder Schweißen über Kopf) erfordern. x Monotone (insbesondere kurzzyklische, repetitive) Tätigkeiten, z.B. manuelles Einlegen und Entnahme von Teilen in Stanzen, Pressen usw., u.U. nach vorgegebenem Arbeitstakt (z.B. in Form des sogenannten getakteten Fließbands) und Tätigkeiten, die keine Entscheidungsspielräume und Partizipationsmöglichkeiten hinsichtlich Planung und Gestaltung der eigenen Arbeit bieten. Im Zusammenhang mit dem Einsatz von Informationstechnologie dringen solche, aus kurzen Zyklen aufgebaute Tätigkeiten zunehmend in den Bereich von Dienstleistungen vor. x Soziale Isolation oder erschwerte Kommunikation während der Arbeit durch Absonderung von Arbeitsplätzen, die besondere Umgebungsbedingungen erfordern (z.B. Werkstoffprüfung unter UV-Licht) oder aus sonstigen Gründen aus dem betrieblichen Zusammenhang ausgegliedert sind. In diesem Zusammenhang sind auch Heimarbeit oder außerbetriebliche Arbeitsstätten mit Computerarbeitsplätzen, sog. „Telearbeit“, zu nennen. x Organisatorische Bedingungen, die die sozialen Beziehungen außerhalb der Arbeit und die Freizeitgestaltung beeinträchtigen, insbesondere durch ungünstige Arbeitszeiten (Nacht, Wochenende, Schichtarbeit). Neben Bereichen, in denen sich ungünstige Arbeitszeiten aus der Natur der Arbeit herleiten (z.B. Krankenpflege, Feuerwehr, Verkehrswesen, Gastronomie), finden sich auch solche, in denen organisatorische Rahmenbedingungen ungünstige Arbeitszeiten erzwingen (z.B. Kooperation mit weltweit verteilten Partnern in verschiedenen Zeitzonen) oder in denen Schicht- und Wochenendarbeit aus ökonomischen Gründen erfolgt (bessere Auslastung kapitalintensiver Betriebsmittel). Betraf der ökonomische Aspekt früher hauptsächlich die Produktion, so betrifft er heute in zunehmendem Maße auch Forschungs- und Entwicklungsbereiche (z.B. Ingenieure, die an teuren Versuchsträgern arbeiten). Das Spektrum der Gestaltungsmaßnahmen, um den genannten Problemen abzuhelfen, ist vielfältig. Es reicht von der Vermeidung bzw. Substitution gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe über Gefahrenaufklärung und Verhaltensmaßregeln, sicherheitstechnischen Maßnahmen konstruktiver Art und gezieltem Einsatz von Automatisierung, Gestaltung von Arbeitsablauf und Aspekten der Arbeitsteilung bis zu Maßnahmen der Partizipation und Dezentralisierung von Kompetenzen und Zuständigkeiten. Darüber hinaus ist aufgrund des tiefgreifenden Strukturwandels in den letzten Jahren eine wesentliche Weiterentwicklung der arbeitswissenschaftlichen Leitbilder zu verzeichnen (siehe GfA 2000). So wird nicht mehr alleinig auf das Vermeiden ungünstiger Gestaltungszustände abgezielt, sondern versucht eine neue Qualität der Arbeit zu fördern, die beispielsweise durch eine intensive
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Arbeitswissenschaft
Gesundheitsförderung oder eine alters- bzw. alternsdifferenzierte Gestaltung von Arbeitssystemen gekennzeichnet ist (FRIELING 2006). 1.1.4
Arbeit als Herstellung von Produkten und Dienstleistungen
Wenngleich Arbeit unter geeigneten technischen und organisatorischen Bedingungen nicht nur erträglich und schädigungslos (zur Erläuterung dieser Begriffe siehe Kap. 1.5.2.2) ist, sondern durchaus einen Lebensbereich darstellen kann, in dem der Arbeitende Selbstbestätigung, Anerkennung und Möglichkeiten sozialer Interaktion findet, mithin Arbeit einen positiven Beitrag zur Lebensgestaltung leisten kann, ist dies in der Regel nicht das primäre Ziel von Arbeit. Vielmehr geht es in einer arbeitsteiligen Gesellschaft darum, Güter und Dienstleistungen für den Konsum Anderer herzustellen. Dabei findet üblicherweise das Wirtschaftlichkeitsprinzip im Sinne einer Optimierung des Verhältnisses von Aufwand und Ertrag Anwendung. Maßnahmen, die dazu einen Beitrag leisten, werden gemeinhin als Rationalisierung bezeichnet. Begrifflich ist zunächst zu unterscheiden zwischen „Rationalisierung der Arbeit“ einerseits, d.h. Steigerung der Arbeitsproduktivität durch technische oder organisatorische Maßnahmen. Hier wird die menschliche Arbeit wirksamer gemacht, d.h. bei gleicher Verausgabung körperlicher und geistiger Kräfte des Menschen wird ein höherer Output erzielt. Andererseits ist eine Steigerung der Arbeitsproduktivität durch eine „Intensivierung der Arbeit“ möglich, also eine Steigerung des Outputs durch eine stärkere Verausgabung menschlicher „Ressourcen“. In der Praxis sind beide Aspekte der Leistungssteigerung eng miteinander verknüpft, etwa wenn technische Prozesszeiten verkürzt werden und dadurch die Frequenz von Beschickungstätigkeiten erhöht wird, oder im Bereich geistiger Arbeit, Routinetätigkeiten durch Computereinsatz automatisiert werden, und es dadurch zu einer Verdichtung von Entscheidungen durch den Menschen kommt. Auch Maßnahmen wie Ausbildung oder Training, die auf eine Steigerung des menschlichen Leistungsvermögens abzielen, sind in diesem Sinne als Rationalisierung zu betrachten. Da die genannten Möglichkeiten zur Leistungssteigerung, die direkt am Menschen ansetzen, in ihrer Wirkung begrenzt sind (evolutionsbedingte Grenzen), finden zumeist technische Hilfsmittel wie Werkzeuge oder Maschinen Anwendung. Betrachtet man im Sinne GEHLEN (1957) den Menschen als ein mit „Organmängeln“ behaftetes Lebewesen, so dienen technische Hilfsmittel als Organersatz, Organverstärkung und Organentlastung. Technische Sachmittel ersetzen somit z.B. beim Menschen nicht vorhandene Rezeptoren für ionisierende Strahlung, verstärken diese im Sinne einer Bereichserweiterung, etwa durch ein Mikroskop, oder entlasten vorhandene Organe, z.B. durch den Einsatz technischer Energieformen zur Fortbewegung. Zentraler Gestaltungsparameter des Technikeinsatzes ist der „Automatisierungsgrad“, also der Umfang, in dem ein Arbeitsprozess mechanisiert und durch Automatisierungstechnik umgestaltet werden kann, um die evolutionsbedingten
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Grenzen menschlicher Fähigkeiten und Fertigkeiten zu sprengen. Sowohl unter ökonomischen als auch unter menschbezogenen Gesichtspunkten kann ein jeweils „optimaler Automatisierungsgrad“ postuliert werden. Während unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten die Einsparungen an Kosten für Arbeit den Kosten für die Automatisierung gegenüberzustellen sind, ist unter humanbezogenen Aspekten im Wesentlichen sicherzustellen, dass die beim Menschen verbleibenden Teilfunktionen nach Art und Umfang weder eine Über- noch eine Unterforderung bedeuten. Als ein besonderes Problem sind in diesem Zusammenhang „Automatisierungslücken“ anzusehen, also ein Verbleiben von Teilfunktionen beim Menschen, die beim jeweils eingesetzten Stand der Technik weder funktionell noch ökonomisch befriedigend von technischen Sachmitteln erfüllt werden können (z.B. manuelle Beschickung von CNC-Werkzeugmaschinen). Damit ist immer die Gefahr verbunden, dass der Mensch zum „Anhängsel der Maschine“ wird, da sich seine Aufgaben in einem solchen Fall nicht über seine Fähigkeiten oder Eigenschaften des herzustellenden Produkts definieren, sondern über Defizite der Technik. 1.2 1.2.1
Gegenstand von Arbeitswissenschaft Definitionen
Mit den Begriffen „Humanisierung“ und „Rationalisierung“ sind zwei wesentliche Zielsetzungen der Arbeitswissenschaft angesprochen: Arbeit sowohl menschengerecht als auch effektiv und effizient zu gestalten. Eine an Humanisierungszielen ausgerichtete Rationalisierung (sog. humanorientierte Rationalisierung) geht dabei von dem Verständnis aus, dass humane Arbeitsbedingungen auch zugleich zu Effektivität (Ergebniserreichung) und Effizienz (geringer Ressourceneinsatz) führen. Die Berücksichtigung der „Ressource Mensch“ hat daher eine hohe Bedeutung erlangt. Eine einseitige Verfolgung des einen oder anderen Zieles führt zu deutlich suboptimalen Gestaltungszuständen. Einer „Kerndefinition“ der Arbeitswissenschaft zufolge (LUCZAK u. VOLPERT 1987), beschäftigt sie sich mit der jeweils systematischen Analyse, Ordnung und Gestaltung der technischen, organisatorischen und sozialen Bedingungen von Arbeitsprozessen mit dem Ziel, dass die arbeitenden Menschen in produktiven und effizienten Arbeitsprozessen x schädigungslose, ausführbare, erträgliche und beeinträchtigungsfreie Arbeitsbedingungen vorfinden, x Standards sozialer Angemessenheit nach Arbeitsinhalt, Arbeitsaufgabe, Arbeitsumgebung sowie Entlohnung und Kooperation erfüllt sehen, x Handlungsspielräume entfalten, Fähigkeiten erwerben und in Kooperation mit anderen ihre Persönlichkeit erhalten und entwickeln können. Gegenstand der Arbeitswissenschaft ist es also, bestehende Arbeitsbedingungen zu analysieren, das dabei gewonnene Wissen systematisch aufzubereiten und daraus Gestaltungsregeln abzuleiten. Da gleichzeitig eine Reihe von Zielvorstel-
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Arbeitswissenschaft
lungen benannt ist, ist damit ein Rahmen für eine Bewertung von realen und konzipierten Arbeitsbedingungen gegeben. Die Arbeitswissenschaft ist dabei eine relativ junge „Disziplin“ (PREUSCHEN 1973). Abgesehen von philosophischen und theologischen Ansätzen (siehe HACKSTEIN 1977a; ROHMERT u. LUCZAK 1975) gab es bis zum Zeitalter der industriellen Revolution keine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Beziehung Mensch-Arbeit. Erst die technischen, wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen dieser Epoche erzeugten einen gesellschaftlichen Bedarf nach einer wissenschaftlichen Analyse und Gestaltung menschlicher Arbeit: x FÜRSTENBERG (1981) zufolge wurde von den Wissenschaften die Beschäftigung mit der menschlichen Arbeit zuvor als nicht lohnend erachtet, da ausreichend viele, politisch unmündige Arbeitskräfte zur Verfügung standen. x Die Distanz der klassischen Geistes- und Naturwissenschaften zu der Welt des Alltäglichen ließ die menschliche Arbeit, die in der bestehenden Ausprägung ausgeführt werden musste und deren Ausprägung als unveränderbar galt, als Objekt für wissenschaftliche Betrachtungen uninteressant erscheinen (PREUSCHEN 1973). x Die industrielle Revolution brachte einschneidende Veränderungen der menschlichen Arbeit mit sich (z.B. Arbeitsteilung, hoher Leistungsdruck, schlechte, unangepasste Ernährung). Erst die auftretenden Probleme gaben einen Anstoß zu wissenschaftlicher Durchdringung des Objekts „menschliche Arbeit“ (PREUSCHEN 1973). x Das existierende Handlungswissen, gewonnen aus der betrieblichen Erfahrung, konnte nicht mehr ausreichend ausgeweitet werden, um angestrebte Ziele zu erreichen, und eine wissenschaftliche Betrachtungsweise zur Beurteilung von Gestaltungsmaßnahmen in Bezug auf ihre Auswirkungen musste entwickelt werden (LUCZAK u. ROHMERT 1984). Die Begriffe „Ergonomie“ und „Arbeitswissenschaft“ tauchen soweit bekannt erstmals bei JASTRZEBOWSKI im Jahre 1857 in der Literatur auf (Abb. 1.1). Die dort gegebene Definition orientiert sich bereits an der Zielvorstellung einer Arbeitswissenschaft, die einerseits auf die Humanisierung und andererseits auf die Rationalisierung menschlicher Arbeit abhebt, und ist somit immer noch aktuell. Allein für die deutschsprachige Literatur von 1923 bis 1975 kann HACKSTEIN (1977a) 49 Stellen belegen, an denen Aussagen zur Begriffsbestimmung, zu den Zielen und Aufgaben, zur Einordnung und Abgrenzung der Arbeitswissenschaft getroffen werden. In den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts fand eine breite Diskussion zwischen verschiedenen fachlichen Ausrichtungen innerhalb der Arbeitswissenschaft (sozialwissenschaftlich, ingenieurwissenschaftlich etc.) sowie unterschiedlichen Rezipientenkreisen arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse (z.B. Institutionen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern) bezüglich der fachlichen Abgrenzung sowie des gesellschaftlichen Interessenbezugs der Arbeitswissenschaft (TOLKSDORF 1984; ABHOLZ et al. 1981; SPITZLEY 1985; ZFA 1982) statt.
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Die in der Folge dieser Auseinandersetzung erarbeitete Kerndefinition der Arbeitswissenschaft (s.o.) in Verbindung mit einem Gegenstandskatalog (LUCZAK u. VOLPERT 1987) erwies sich in der deutschsprachigen Fachwelt als konsensfähig, da es ihr gelingt, verschiedene disziplinen- und interessenspezifische Sichtweisen zu integrieren. Eine direkte Übertragung des deutschsprachigen Verständnisses von Arbeitswissenschaft in den internationalen Kontext ist nur bedingt möglich. Im internationalen Zusammenhang sind die Bezeichnungen „Ergonomics“ oder „Human Factors“ geläufig. So definiert die International Ergonomics Association (IEA), der internationale Dachverband der Fachgesellschaften für Arbeitswissenschaft und Ergonomie die Fachdisziplin “Ergonomics” wie folgt: „Ergonomics (or human factors) is the scientific discipline concerned with the understanding of interactions among humans and other elements of a system, and the profession that applies theory, principles, data and methods to design in order to optimize human well-being and overall system performance... Derived from the Greek ergon (work) and nomos (laws) to denote the science of work, ergonomics is a systemsoriented discipline which now extends across all aspects of human activity.” (IEA 2009)
Die Bedeutung des Einsatzes unserer Lebenskräfte (...) ( ) wird für uns zum antreibenden Moment, Moment uns mit einem wissenschaftlichen Ansatz zum Problem der Arbeit zu beschäftigen (...) und sogar zu ihrer (der Arbeit) Erklärung eine gesonderte Lehre zu betreiben (…) damit wir aus diesem Leben die besten Früchte, bei der geringsten Anstrengung mit der höchsten Befriedigung für das eigene und das allgemeine Wohl ernten und dabei Anderen und dem eigenen Gewissen gegenüber gerecht verfahren. (aus dem Polnischen nach Wojciech Jastrzebowski, 1857)
Abb. 1.1: Erste bekannte Definition von Ergonomie und Arbeitswissenschaft nach JASTRZEBOWSKI (1857) Abdruck aus einer polnischen Wochenzeitschrift
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Arbeitswissenschaft
In der Definition der IEA wird auch die zuvor schon beschriebene Optimierung von humanitären („human well-being“) und effektivitätsorientierten („overall system performance“) Zielen als ein wesentliches Charakteristikum der Wissenschaftsdisziplin bezeichnet. Zudem weist die Definition der IEA auf die Wurzeln der Disziplin in der Arbeitswelt hin (und greift hier auch die Bezeichnung „science of work“ auf) und kennzeichnet den in jüngerer Zeit erweiterten Anwendungsbereich von „Ergonomics“ („all aspects of human activity“). 1.2.2
Theorie-Praxis-Verhältnis
Die Arbeitswissenschaft ist eine angewandte Disziplin, die auf den steten Kontakt zur Praxis angewiesen ist. Schließlich verdankt sie ihre Entstehung praktischen Problemstellungen, die nicht mehr allein durch Erfahrungswissen zu lösen waren, sondern wissenschaftliche Bemühungen um Aufklärung der Ursache-WirkungsBeziehungen erforderten (LUCZAK u. ROHMERT 1984). Ein Zusammenhang von Theorie und Praxis resultiert zunächst aus einem Vorlauf im Sinne einer Phasenbeziehung, der die Theorie gegenüber der Praxis auszeichnet und theoretische Forschung rechtfertigen muss. Kausal-analytisches Wissen als Leistung der Theorie wird im Zuge praktischer Deutung in technologische Erkenntnis transformiert und anschließend durch die Filter praktischer Zielsetzungen und Erfahrungen selektiert. Durch Praxis wird der Wahrheitsgehalt theoretischer Aussagen geprüft, d.h. der Wert der Aussagen bemisst sich daran, ob sie dem objektiven Sachverhalt, über den sie etwas aussagen will, gerecht wird. Im Prinzip hat die Praxis damit die Funktion, Kriterium der wissenschaftlichen Erkenntnis im Theoriebezug zu sein und als Prüfstein der Wahrheit zu dienen. In diesem wechselseitigen Zusammenhang stehen auch Theorie und Praxis in der Arbeitswissenschaft. Aufgrund komplexer Ursache-Wirkungs-Beziehungen, eines schwierigen messtechnischen Zugangs, werden arbeitswissenschaftliche Problemfelder, wie z.B. Leistungsmerkmale von Arbeitspersonen, Körperfunktionen und Umgebungsparameter, häufig isoliert behandelt. Im jeweiligen Kontext werden daraus auch Gestaltungs- und Umsetzungshinweise für Einzelprobleme abgeleitet. Ausgangspunkt ist jedoch selten eine gesamte arbeitswissenschaftliche Sichtweise, sondern je nach Einzelproblem, eine naturwissenschaftliche, medizinische, physiologische, psychologische, pädagogische etc. Betrachtung von Einzelphänomenen. Die Vorgehensweise ist überwiegend analytisch (siehe Kap. 1.5.1). In einem „bottom up“-Verfahren kann, ausgehend von Einzelphänomenen, Arbeitsgestaltung betrieben werden; jedoch ist dieses Vorgehen nicht auf übergreifende Gestaltungsziele orientiert, vielmehr auf das Einzelphänomen und seine Bewertungsmaßstäbe. Das Gestaltungsziel ergibt sich also nicht aus dem Arbeitsprozess selbst oder der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem, sondern aus wirtschaftlichen (Kapitalverwertung), politisch-rechtlichen (z.B. Fürsorgepflicht des Arbeitgebers), gesellschaftlichen und ethischen (z.B. Wertnormen, Akzeptanz) Motiven. Aus diesen erst entsteht eine Notwendigkeit oder Verpflichtung zur Beschäftigung mit Fragen des Arbeitsschutzes, der Arbeitsplatz- und Arbeitsablaufgestaltung
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oder der Entlohnung. Ausgehend von einer politisch-wirtschaftlichen Zielsetzung wird das Problem also in einem „top down“-Ansatz bis auf eine Ebene herunter gebrochen, auf der Lösungsansätze verfügbar sind. Der Prozess der Arbeitsgestaltung lässt sich soweit als ein Problemlösezyklus beschreiben (Abb. 1.2). Ausgehend von einer globalen Zielsetzung, der Gestaltung eines Arbeitssystems in technischer, ökonomischer, sozialer etc. Hinsicht, erfolgt eine gedankliche Zerlegung (Analyse) in Teilprobleme, bis die Komplexität der Einzelprobleme soweit reduziert ist, dass verfügbare Lösungen herangezogen oder neue Lösungen gefunden werden können. Die Einzellösungen werden zur Gesamtlösung zusammengefasst (Synthese). Treten Konflikte zwischen partiellen Lösungen auf, müssen neue, nicht konfligierende Teillösungen gesucht werden. Globale Zielsetzung
Gesamtproblem
(komplex, nicht direkt lösbar)
A l Analyse Teilprobleme
(lösbar bzw. Lösung bekannt)
Ziel: Konformität
Gestaltete Arbeitssysteme
Gesamtlösung S th Synthese Teillösungen
Problemunabhängige Grundlagen und Methoden arbeitsbezogener Disziplinen
Abb. 1.2: Problemlösezyklus in arbeitswissenschaftlichen Gestaltungsfragen
Zur Analyse des Theorie-Praxis-Verhältnisses der Arbeitswissenschaft ist eine Betrachtung von zwei Grenzbereichen sinnvoll: Zum einen existiert eine Reihe von Wissenschaftsdisziplinen, die sich unter anderem auch mit der menschlichen Arbeit befassen (siehe Kap. 1.3). Diese Fachgebiete werden häufig durch die vorgestellte Spezifizierung „Arbeits-“ oder einen verwandten Begriff als arbeitsbezogenes Teilgebiet einer „Mutterdisziplin“ gekennzeichnet, z.B. Arbeitspsychologie, Arbeitsmedizin etc. Das (zumindest ursprüngliche) Anliegen ist also eine Betrachtung von Arbeit aus dem Blickwinkel der Mutterdisziplin. Da Arbeit also unter dem jeweils spezifischen Aspekten gesehen wird, werden diese arbeitsbezogenen Wissenschaften auch als „Aspektwissenschaften“ bezeichnet, die den Gegenstand „menschliche Arbeit“ zumeist unter einem Aspekt, d.h. unter Zugrundelegung eines spezifischen Arbeitsbegriffes und eines spezifischen Menschenbildes betrachten (LUCZAK u. ROHMERT 1984). In dem Schema aus Abb. 1.2 wird der Gesamtkomplex der Arbeitsgestaltung demnach von der (in der Darstellung) unteren Seite her betrachtet, also den disziplinenspezifischen Teilproblemen und zugeordneten Teillösungen, z.B. pädagogische Aspekte der Arbeitssystemgestaltung (Qualifizierung der Mitarbeiter etc.).
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Arbeitswissenschaft
Zum anderen lässt sich Arbeitswissenschaft abgrenzen gegenüber „praxeologischen“ Ansätzen, die auch als disziplinäre Substruktur „unterhalb“ von Arbeitswissenschaft aufgefasst werden können. „Praxeologisch“ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass es sich um eine nach den Bedürfnissen und Interessen der Praxis gefilterte Bereitstellung von Wissen und Aussagezusammenhängen handelt, bei denen der Praktiker letztlich nicht mehr nach den Begründungszusammenhängen fragt. Auf den Problemlösezyklus nach Abb. 1.2 übertragen bedeutet dies, dass Probleme im Einzelfall nicht mehr auf eine Ebene heruntergebrochen werden, die eine wissenschaftlich begründete Lösung der Teilprobleme anstrebt, sondern durch Anwendung von Regeln dieser Prozess abgekürzt wird. Der Gestaltungsprozess wird also von der in der Darstellung oberen Seite her angegangen, d.h. das Gesamtproblem soll durch Anwendung eines Satzes von Regeln möglichst direkt einer Gesamtlösung zugeführt werden, eine Zerlegung in Teilprobleme erfolgt nur in einem solchen Grade, als dass bekannte Regeln und Verfahren angemessen angewandt werden können. Solche praxeologischen Ansätze finden sich etwa im Arbeitsschutz oder in der Arbeitswirtschaft. Zwischen diesen beiden Polen kann eine wesentliche Rolle der Arbeitswissenschaft in einer Filter- und Transformationsfunktion gesehen werden: Die Arbeitswissenschaft selektiert Erkenntnisse, Methoden und Paradigmen anderer Wissenschaftsdisziplinen hinsichtlich ihrer Relevanz für die Arbeitsgestaltung und transformiert sie in valide, reliable, objektive sowie für die Praxis handhabbare Werkzeuge. Hiermit soll kein Aus- oder Abgrenzungskriterium zwischen „Aspektwissenschaftlern“, praxisorientierten Arbeitsgestaltern und „echten“ Arbeitswissenschaftlern formuliert werden. Schließlich ist jede wissenschaftliche Tätigkeit, die sich schwerpunktmäßig mit menschlicher Arbeit auseinandersetzt, Arbeitswissenschaft. Siehe dazu auch die am Anfang von Kapitel 1.2.1 dargestellte Kerndefinition der Arbeitswissenschaft. Grundsätzlich sind in Anlehnung an den in Abb. 1.2 dargestellten Problemlösezyklus drei Fälle zu unterscheiden: (1) Es existiert ein eindeutig definiertes Problem und dafür eine eindeutige Lösung. In diesem Fall steuert eine arbeitsbezogene Disziplin, z.B. Kennwerte und Kennlinien, zur Lösungsfindung bei (günstigster Fall). Ein Beispiel ist die Optimierung von „Gehen in der Ebene“ nach arbeitsphysiologischen Erkenntnissen. (2) Häufiger ist der Fall, dass zwar ein eindeutig definiertes Problem existiert, aber mehrere Lösungen und damit mehrere relative Maxima und Minima vorliegen; eine oder mehrere Disziplinen steuern Erkenntnisse bei, um ein Optimum einzugrenzen, z.B. Lastentransport über Leitern / Treppen / schiefe Ebenen nach physiologisch-energetischen, (sicherheits-) technischen und arbeitsstättenplanerischen Optimierungskriterien. (3) Der übliche Fall ist, dass ein nur teilweise definierter Problemraum existiert, in dem viele Lösungen, basierend auf teilweise kontrastierenden Modellen
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und widersprüchlichen Erkenntnissen, möglich sind; am Lösungsprozess sind mehrere arbeitsbezogene Disziplinen beteiligt. Die dargestellte sequentielle Vorgehensweise geht damit in eine iterative über. Es handelt sich hierbei jedoch nicht um eine spezifisch arbeitswissenschaftliche Vorgehensweise. Vielmehr ist die geschilderte Vorgehensweise in der technikwissenschaftlichen Methodologie eingeführt (z.B. MÜLLER 1990) und findet sich als allgemeine Methodik der Systemgestaltung auch im technischen Regelwerk, z.B. der VDI 2221. 1.3
Arbeitsbegriffe, Menschenbilder und das Verhältnis arbeitsbezogener Wissenschaften
Theorie-Praxis-
Die verschiedenen arbeitsbezogenen Wissenschaften (Aspektwissenschaften) sind durch ein gemeinsames Erfahrungsobjekt, die menschliche Arbeit, verbunden (Abb. 1.3). Erfahrungsobjekt Identitätsprinzipien
menschliche Arbeit spezifische Betrachtungsweise von Einzeldisziplinen (Aspekte)
Erkenntnisobjekte
Arbeitsbegriffe
Beurteilungsansätze
Menschenbilder
Gestaltungsfelder
Theorie - Praxis Verhältnis
Abb. 1.3: Wissenschaftstheoretisches Schema zum Verhältnis zwischen dem Erfahrungsobjekt arbeitsorientierter Wissenschaften und dem jeweiligen Theorie-Praxis-Verhältnis (aus LUCZAK u. ROHMERT 1985)
Unterschiede ergeben sich zunächst aus dem Identitätsprinzip, welches sich aus der Einbindung in die jeweilige „Mutterdisziplin“ ergibt und zu spezifischen Betrachtungsweisen (Aspekten) des gemeinsamen Erfahrungsobjekts führt. Dies hat zur Folge, dass kein einheitliches Erkenntnisobjekt „menschliche Arbeit“ zugrunde liegt, sondern disziplinenspezifische Arbeitsbegriffe, z.B. Arbeit als Produktionsfaktor, Arbeit als Verausgabung menschlicher Ressourcen etc. Die Beurteilung von Arbeit orientiert sich wiederum an spezifischen Menschenbildern, die mit den jeweiligen Arbeitsbegriffen korrespondieren. Grundlage für eine Beurteilung können danach Kosten, Schädigungslosigkeit, Persönlich-
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Arbeitswissenschaft
keitsentfaltung etc. sein. Entsprechend unterscheiden sich auch die jeweiligen Gestaltungsfelder, die sich aus den disziplinenspezifischen Aspekten ableiten und durch das jeweilige Theorie-Praxis-Verhältnis gekennzeichnet sind. So können einzelne Disziplinen stärker theoretisch ausgerichtete Aussagen liefern und damit unter Umständen wichtige Randbedingungen definieren oder unmittelbar praktisch umsetzbare Handlungsanleitungen bereitstellen. Wenn es um Selektions- und Transformationsprozesse von Wissen für die Arbeitsgestaltung geht, so ist aus arbeitswissenschaftlicher Sicht zu prüfen, welche Wissenszusammenhänge aus den so bezeichneten arbeitsbezogenen (Einzel-) Wissenschaften zu entleihen sind. Entsprechend ihrem Erkenntnisinteresse legen diese Einzelwissenschaften ihren Theoriegebäuden jeweils eigene Arbeitsbegriffe und Menschenbilder zugrunde. Arbeitsbegriffe sind (Vor-)Verständnisse von Arbeit und Menschenbilder, Vorausurteile über die menschliche Natur und menschliches Verhalten im jeweiligen Kontext. Arbeitsbegriffe und Menschenbilder sind für die Einzelwissenschaften identitätsbegründend, da sie durch diese ihre spezifische Sichtweise auf menschliche Arbeit identifizieren. Aus dieser Sichtweise ergeben sich die Logik des Theoriegebäudes der jeweiligen Disziplin und ihr Standpunkt, was Interventionen in praxisorientierten Zusammenhängen angeht. Dieser letztere Zusammenhang wird als Theorie-PraxisVerhältnis bezeichnet. Er ist von besonderer Bedeutung für die Wissensselektion und Transformation in arbeitswissenschaftliche Gestaltungsansätze. 1.3.1
Wirtschaftswissenschaften
Innerhalb der Wirtschaftswissenschaften existieren entsprechend der mehr oder weniger generalisierenden Betrachtung von Arbeitsprozessen verschiedenartige Arbeitsbegriffe und Menschenbilder: Die Volkswirtschaftslehre (VWL) versucht, wirtschaftliche Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten aus einer makroskopischen Perspektive zu verstehen, bevor Details oder auch die Wirkungen bestimmter Eingriffe in die Wirtschaft untersucht werden (SCHIERENBECK u. WÖHLE 2008). Dafür werden Modelle wirtschaftlicher Vorgänge entwickelt, welche das Verhalten von Haushalten und Betrieben in Märkten beschreiben und die Entwicklung von Preisen, Löhnen, Produktion und Handel anhand eines breiten Spektrums von Einflussgrößen erklären. Infolgedessen ist in der Volkswirtschaft Arbeit auf abstrakter Ebene ein elementarer Produktionsfaktor, das Arbeitsergebnis ist in Form von Kapital akkumulierbar. Der Mensch wird als rationaler Träger von Entscheidungen nach Nutzenerwägungen gesehen, die nach wirtschaftlichen Kriterien und Rahmenbedingungen gefällt werden. Aus den volkswirtschaftlichen Produktionstheorien lassen sich aufgrund der Ausrichtung auf Wirtschaftssysteme nur sehr allgemeine Gestaltungsaussagen für die arbeitsbezogene Praxis treffen, wie zum Beispiel für die Steuerung des Arbeitsmarktes, der Wachstumsraten oder der Ent-
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wicklung der Lohnquote, die allerdings indirekt und langfristig Arbeitsbedingungen verändern. Die Betriebswirtschaftslehre (BWL) betrachtet im Gegensatz hierzu in erster Linie Wirtschaftsprozesse aus der mikroskopischen Perspektive der Unternehmung bzw. des Betriebs. Ihr Interessengebiet sind Strukturen und Prozesse, die ablaufen, um durch die Kombination von Produktionsfaktoren die Bedürfnisse der Menschen nach materiellen und immateriellen Gütern zu befriedigen (SCHIERENBECK u. WÖHLE 2008; THOMMEN u. ACHLEITNER 2006). Demzufolge wird der Begriff der Arbeit als Produktionsfaktor in der Betriebswirtschaftslehre differenzierter betrachtet. So werden zum Beispiel dispositive und objektbezogene (planende und ausführende) Aufgaben unterschieden (siehe GUTENBERG 1971; HUNGENBERG u. WULF 2007). Entsprechend werden auch mit dem Menschen Qualitäten wie Disponenten- und Operateursqualifikationen assoziiert. Grundsätzlich gilt aber auch hier das aus der VWL übernommene Menschenbild des „homo oeconomicus“ bzw. „economic human“, das vor allen Dingen betriebswirtschaftlichen Denkmodellen zugrunde liegt (WÖHE 2008). In der betriebswirtschaftlichen Produktionstheorie gilt der Faktor „menschliche Arbeit“ als beliebig teilbar, substituierbar, preis- und qualitätskonstant. Die Wirtschaftlichkeit der Leistungserstellung und die Rentabilität des Kapitaleinsatzes sind bei betriebswirtschaftlichen Gestaltungsansätzen maßgebend. Gestaltungsfelder sind u.A. x die Schaffung leistungsfördernder Arbeitsbedingungen, z.B. durch neue Formen der Betriebsorganisation, x Arbeitsbewertung und Entlohnung sowie x Motivationsförderung und Laufbahnplanung. Die aufgeführten Problemkreise überschneiden sich mit Gestaltungsfeldern vorwiegend menschorientierter, arbeitsbezogener Disziplinen. Das beschriebene Menschenbild wurde durch entscheidungsorientierte (HEINEN 1974) sowie verhaltenswissenschaftliche (REICHWALD 1977) und handlungstheoretische (OSTERLOH 1982) Vorstellungen ergänzt (THOMMEN u. ACHLEITNER 2006; WÖHE 2008). Damit wird anerkannt, dass die Arbeitsperson einen entscheidenden Anteil am Zustandekommen eines Produktes oder einer Dienstleistung hat. Im Gegensatz zu den rentabilitätsorientierten Ansätzen stellt die arbeitsorientierte Einzelwirtschaftslehre die Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung von autonomen Personen und Kollektiven als Aspekt menschlicher Arbeit in den Vordergrund. Das Menschenbild entspricht dem autonomer Arbeitnehmer oder deren Zusammenschluss zu Kollektiven. Diese Lehre zielt vorrangig auf die Durchsetzung von Interessen der abhängig Beschäftigten ab (FREIMANN 1979; PROJEKTGRUPPE WSI 1974). Für die Praxis ergeben sich daraus Begründungszusammenhänge für die Mitbestimmung über die Gestaltung der Produktions- und Arbeitsverhältnisse. Auf Arbeit als Ergebnis der betrieblichen Ressource „Personal“ wird in dem betriebswirtschaftlichen Feld des Personalwesens oder Personalmanagements
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Arbeitswissenschaft
fokussiert (STOCK-HOMBURG 2008). Der hohen Bedeutung der einzelnen Person entsprechend (Human-Ressourcen-Ansatz) (RINGLSTETTER u. KAISER 2008; STEINMANN u. SCHREYÖGG 2005) werden Aufgaben der Personalauswahl, des Personaleinsatzes oder der Personalentwicklung im betrieblichen Kontext organisiert und Methoden für diese Felder entwickelt. Unter organisatorischen Aspekten werden betriebswirtschaftliche Aufgaben wie x Personalbestands- und -bedarfsermittlung, x Personalrekrutierung und -auswahl, x Personalentwicklung und x Personalfreisetzung in strategische, taktische und operative Aufgaben differenziert und betrieblichen (auch außerbetrieblichen) Funktionseinheiten zugewiesen. Dabei wird differenziert, welche Aufgaben in zentralen Funktionsbereichen (z.B. Vorstandsressort „Personal“), welche Aufgaben dezentral (z.B. operative Personalentwicklung) und welche unternehmensextern durch Dienstleister (z.B. spezielle „CoachingUnternehmen“, Beschaffung von Führungskräften durch Personalberater) wahrgenommen werden sollen (HUNGENBERG u. WULF 2007). Auf ökonomischrechtliche Bedingungen wird insbesondere im Bereich des Personaleinsatzes (z.B. gesetzliche Regelungen zur Arbeitszeit) und der Personalfreisetzung (z.B. Vorruhestandsregelungen) fokussiert. Menschliche Arbeit, eingebunden in eine Organisation wird durch die betriebswirtschaftliche Organisations- und Personalwirtschaftslehre (DRUMM 2008; GAITANIDES 1976; KIESER u. WALGENBACH 2003; STAEHLE 1999; STOCK-HOMBURG 2008) behandelt. Arbeit ist unter diesem Aspekt das Verhalten von Personen in der Arbeitssituation (STAEHLE 1999), d.h. das Verhalten in Abhängigkeit von der umgebenden Organisation. Der Mensch ist demzufolge Handlungs- und Funktionsträger, hat eigene Interessen und Handlungsfreiräume und verhält sich nach bestimmten Mustern. Dementsprechend wirkt diese Lehre gestaltend auf die Beziehungen Mensch-Mensch und MenschArbeit ein. Maßstab für die Gestaltung ist dabei der Grad der Erfüllung von Zielen der Organisation. 1.3.2
Soziologie
Die für die Arbeitswissenschaft besonders relevanten soziologischen Teildisziplinen der Arbeits-, Industrie- und Betriebssoziologie lassen sich nicht einheitlich und trennscharf definieren. Daher wird hier weniger eine Differenzierung verwendeter Arbeitsbegriffe, sondern eine Differenzierung unterschiedlicher Betrachtungsebenen der Arbeitssoziologie als übergeordnete Teildisziplin vorgenommen. Die Betrachtungsebenen und die auf ihnen fokussierten Analyseaspekte sind als interdependent zu verstehen. Auf der ersten Ebene bilden das Individuum als Arbeitsperson, seine spezifische Arbeitssituation und seine Funktion als Teil eines Arbeitssystems den Mittelpunkt der Betrachtung. Hier finden Überlegungen zur Arbeitszufriedenheit und -motivation sowie Analysen zur Arbeitssystem- und
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Arbeitsplatzgestaltung ihren Platz. Dabei spielt die Techniksoziologie als eine weitere soziologische Teildisziplin eine wichtige Rolle. Ihre Hauptinhalte stellen im Allgemeinen die Technikgenese- und Technikfolgenforschung dar. Im Speziellen werden Forschungsthemen wie etwa die Gestaltung von Produktionstechnik als Ausdruck von Kaptialverwertungsbedingungen behandelt. Themen in dieser Betrachtungsebene beschäftigen sich bspw. mit der Wirkungsweise moderner Informations- und Kommunikationstechnologien in ihrer Kontroll- und Rationalisierungsfunktion (KERN u. SCHUMANN 1985; MANSKE 1987, 1991; MANSKE 1994). Eine zweite Betrachtungsebene fokussiert die Arbeitsperson als Teil des Sozialsystems Betrieb. Analysen der im Arbeitsprozess sich konstituierenden sozialen Beziehungen und der Veränderungen von betrieblichen Strukturen und der dabei auftretenden Sozialphänome finden hier ihren Platz und sind am ehesten dem Untersuchungsbereich der Betriebssoziologie zuzuordnen. Unterstützung finden die Analysen auf dieser Betrachtungsebene durch Konzepte und Erkenntnisse aus der Organisationssoziologie, sofern sie die Integration von Individuen in, die Beziehungen zwischen sowie die Steuerung und Kontrolle von sozialen Systemen beschreiben. Aktuell diskutierte Themen beschäftigen sich in erster Linie mit unterschiedlichen Modellen zur Kooperation und Partizipation einzelner Arbeitspersonen und Arbeitsgruppen sowie deren Etablierung etwa in neuen Formen der Arbeitsorganisation. Hier werden gegensätzliche Entwicklungen in Richtung zunehmender Betonung der Potenziale von Selbstorganisation und der damit verbundenen Subjektivitätsnutzung auf der einen Seite (SCHIMANK 1986; BRANDT 1990; SCHUMANN et al. 1994) und der vor allem technisch ermöglichten systemischen Kontrolle und Rationalisierung auf der anderen Seite (ALTMANN et al. 1986; WITTKE 1990; SCHUMANN et al. 1994) diskutiert. Eine dritte Ebene betrachtet die Arbeitsperson in der Arbeitswelt. Arbeitswelt wird dabei meistens als industrielle Arbeitswelt untersucht, wenngleich mit zunehmender Expansion des nicht-industriellen Dienstleistungsbereichs der Blickwinkel auf die Arbeitswelt auch in der Soziologie größer wird. Die Untersuchungen der Arbeitsbedingungen und -verhältnisse vornehmlich abhängig beschäftigter Arbeitspersonen sowie allgemeine Austauschbedingungen und -beziehungen am Arbeitsmarkt stehen hier im Zentrum des Interesses. Dabei wird auf Erkenntnisse aus dem Bereich der Bildungssoziologie- und Berufssoziologie zurückgegriffen, die auf das breite Untersuchungsfeld beruflicher Qualifikation und Qualifizierung sowie auf Rollenentwicklung und -identifikation, Karriere- und Laufbahnentwicklungen Bezug nehmen. Diskutierte Themen beschäftigen sich mit veränderten oder neuen Berufsbildern und Qualifikationsanforderungen, wie etwa beim Industriemeister (MANSKE 1991; EICHENER 1992). Ein weiteres Thema stellen die sich wandelnden Interessenstrukturen und Handlungsstrategien der diversen Interessengruppen in der Arbeitswelt, wie etwa bei den Auseinandersetzungen zum Thema Arbeitszeit dar (OFFE 1983; HÖRNING et al. 1990).
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Arbeitswissenschaft
Im Grenzbereich zwischen der dritten und vierten Ebene ist ein „klassischer“ Bereich der Arbeitssoziologie anzusiedeln, der gemeinhin als Industriesoziologie bezeichnet wird und sich mit den ökonomischen, sozialen und politischen Bedingungen der Herausbildung und des Wandels von Strukturen industrieller Produktion befasst. Aufgrund der Expansion des Dienstleistungssektors gegenüber dem industriellen Sektor wechselt hier der Betrachtungsfokus zunehmend von der industriellen Produktion auf Geschäftsprozesse in indirekten bzw. Dienstleistungsbereichen. Einfluss nimmt hier die Wirtschaftssoziologie als soziologische Teildisziplin, sofern sie sich dem wirtschaftlichen Handeln als eine besondere Form des sozialen Handelns, den Strukturen und Prozessen in der Wirtschaft als ein gesellschaftliches Teilsystem und dem Verhältnis von Wirtschaft und Gesellschaft widmet. In diesem Bereich sind bspw. Themen wie die Internationalisierung und Globalisierung von Wirtschaftsstrukturen und die damit verbundenen Bedingungen und Auswirkungen für nationen- und kulturübergreifende Unternehmenskooperationen anzusiedeln (BECKENBACH 1991). Einen umfassenden Blick auf das Zusammenspiel von Arbeits- und Lebenswelt bietet schließlich die vierte Betrachtungsebene, welche die Lebensweltperspektive von Arbeitspersonen und die sozial-kulturelle Prägung der Arbeitswirklichkeit untersucht. Arbeit wird dabei im Kontext des Lebenszusammenhangs gesehen, der Arbeitsverhalten und -einstellung maßgeblich determiniert. Aus dem sehr umfassenden Bereich der Soziologie der Moderne bzw. der Soziologie moderner, (wirtschaftlich) entwickelter Gesellschaften werden Anregungen etwa in Form der Wertewandeldiskussion und der Betonung des Subjektivitätsbedarfs in immer komplexer werdenden gesellschaftlichen und damit auch wirtschaftlichen Prozessen geliefert. 1.3.3
Pädagogik
Innerhalb der Pädagogik, deren Arbeitsbegriff sich im Hinblick auf den Erfahrungs-, Qualifikations- und Professionalisierungsbereich mit dem der Soziologie überschneidet, sind drei Sichtweisen menschlicher Arbeit zu nennen (SCHELTEN 1995, SCHELTEN 1997): Die der Arbeitslehre, der Berufsbildungsforschung und der Arbeitspädagogik. Arbeitsbegriffe sind jeweils die Lehr- und Lerninhalte, das Menschenbild ist das des lernenden Menschen. Die genannten Disziplinen unterscheiden sich vor allem durch ihre Lehr- und Lerninhalte sowie durch die Umgebung, in der gelehrt wird, also durch ihre Gestaltungsfelder. Die Arbeitslehre versucht z.B. an allgemeinbildenden Schulen ein Bewusstsein für die Probleme der Arbeitswelt zu vermitteln. Diese Inhalte sind jedoch nicht fachspezifisch. Die Berufsbildungsforschung beschäftigt sich im Gegensatz zur Arbeitslehre mit der Ermittlung von Grundlagen, Inhalten und Zielen der Berufsbildung, um diese an technische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen anzupassen. Sie ist eine wesentliche Aufgabe des Bundesinstitutes für Berufsbildung. Hierzu gehört auch die Erstellung von Lehrplänen zur Vermittlung von berufsspe-
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zifischen Lerninhalten. Sie orientiert sich dabei an den Anforderungen des gelehrten Berufes. Die Ausbildung findet bspw. an berufsbildenden Schulen, Fachschulen, Hochschulen oder im dualen System (Schule und Betrieb) statt. Im Bereich der Arbeitspädagogik geht es um die Erforschung der Voraussetzungen, Durchführungen und Ergebnisse aktuellen Arbeitslernens einerseits und um Qualifizierungsmaßnahmen für die Bewältigung von Arbeit andererseits (REFA 1991). Die Gestaltungsfelder der innerbetrieblichen Einweisung, Ausbildung, Fort- und Weiterbildung sind damit der Arbeitspädagogik zuzuordnen. Innerhalb der oben beschriebenen Teildisziplinen ist keine einheitliche Zielvorstellung mit dem Arbeitsbegriff verbunden. Selbst innerhalb dieser Teildisziplinen differieren die Begriffsverständnisse von Arbeit und dem zugrunde gelegten Menschenbild. Im Folgenden wird beispielhaft ein Begriffsverständnis der Berufsbildungsforschung dargestellt, um den grundsätzlichen Unterschied eines pädagogischen Ansatzes zu wirtschaftswissenschaftlichen Ansätzen, in denen Arbeit im Wesentlichen als ein elementarer Produktionsfaktor betrachtet wird, herauszuarbeiten. In dem berufspädagogischen Ansatz der „Arbeitsorientierten Exemplarik“ von LISOP u. HUISINGA (1994) wird Arbeit nicht verengt als Erwerbsarbeit gesehen, vielmehr beschreiben sie Arbeit in einem umfassenden Sinne als pädagogische Kategorie menschlicher Entfaltung. Arbeit wird in diesem Ansatz insofern als eine sinnerfüllte Tätigkeit gesehen, als dass (1) in ihr und durch sie menschliche Potenziale entäußert und angeeignet werden und sie (2) das Medium der Befriedigung der Lebensbedürfnisse ist. Dem Begriff der Arbeit wird das Phänomen der Entfremdung gegenübergestellt und mit den folgenden Kriterien erörtert: x „Machtlosigkeit im Sinne des Ausgeliefertseins an sogenannte Sachzwänge, die sich verselbständigt und verabsolutiert haben; x Sinnlosigkeit im Sinne der Ausweglosigkeit, weil keine Möglichkeit der Einsicht in Zusammenhänge besteht und die Folgen von Entscheidungen im Dunkeln bleiben; x Normlosigkeit aufgrund sozialer Desintegration der Individuen wie von Desintegriertheit des Sozialgefüges selbst, häufig bei gleichzeitiger Isolierung gesellschaftlicher Gruppen und deren Normen; x Selbstentfremdung im Sinne der Außenlenkung und des Manipuliertwerdens des Menschen, der Verkrüppelung der Autonomie bis hin zur Sinnentleerung der Arbeit, ja des Lebens, indem das eigene Sein zu einem entäußerten und veräußerlichten Objekt gerät, ja im Extremfall auf seine bloß vegetative Erscheinungsform zurückzusinken droht.“ (LISOP u. HUISINGA 1994) Mit der Kategorie von Arbeit stellen sie somit die Frage nach Entfremdung und der Aufhebung von Entfremdung als Wesensbestimmung des Menschen und sie stellen die Frage nach der Entfaltung des menschlichen Wesens als Kategorie von Bildung und Erziehung. Beim Beantworten dieser Frage gehen sie von dem folgenden Menschenbild aus: „Subjekt ist der selbstbestimmte, aktive, die ihn umge-
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Arbeitswissenschaft
bene Welt und die Geschichte reflektierende und bewusst gestaltende wie sich selbst entfaltende Mensch.“ (LISOP u. HUISINGA 1994) Mit diesem Arbeits- und Subjektbegriff wird beispielhaft deutlich, dass pädagogische im Gegensatz zu wirtschaftswissenschaftlichen Ansätzen nicht die höchste Effektivität des Arbeitsprozesses selbst, sondern die Effektivität in der geistigen und gruppenbezogenen Auseinandersetzung mit den Arbeitsbedingungen zum Ziel haben. 1.3.4
Rechtswissenschaft
Die Rechtswissenschaft betrachtet Arbeit als Gegenstand rechtlicher Regelungen auf zwei Ebenen. Einerseits als Institution innerhalb der Gesellschaft mit Kollektivverträgen, Arbeitsverbänden, Tarifvertragsrecht, Betriebsverfassungsrecht usw., andererseits als Aufeinandertreffen von Individualsphären (ArbeitnehmerArbeitgeber), die von ihren Machtverhältnissen her nicht gleichrangig sind (Arbeitsschutzrecht, Kündigungsschutz, Datenschutz u.A.). Dementsprechend existieren auf beiden Ebenen unterschiedliche Menschenbilder und zwar x Kollektive zur Vertretung von Interessenlagen und x natürliche Personen, die mit Rechten und Pflichten sowie der Fähigkeit, diese Rechte und Pflichten in einem bestimmten Umfang wahrzunehmen, ausgestattet sind. Auf beiden Ebenen bildet, basierend auf rechtsphilosophischen Grundlagen, das Schutzbedürfnis der Arbeitnehmerseite die Basis für gestaltende Eingriffe (z.B. Gesetze). Dabei wird häufig auf arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse zurückgegriffen (z.B. Grenzen für Überforderung, Schädigung usw.). Da nicht alle Rahmenbedingungen im Detail gesetzlich geregelt werden können, und zudem oftmals einer dynamischen Veränderung unterworfen sind, kommt Kollektivvereinbarungen (Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen) eine wichtige Rolle zur Gestaltung von Arbeitsbeziehungen zu. Individuelle Regelungen werden auf der Basis von Einzelarbeitsverträgen geschlossen, die zusätzliche Vereinbarungen zu kollektivvertraglich oder gesetzlich nicht geregelten Fragen enthalten. Die Rechtsakte der Europäischen Union und die Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofes nehmen vermehrt Einfluss auf die nationalen Rechtsordnungen. Damit ergibt sich folgende Rechtssystematik (SCHNEIDER 1996, RICHARDI u. WLOTZKE 1993): x Grundgesetz (z.B. Gleichberechtigung von Mann und Frau im Arbeitsleben, freie Wahl des Arbeitsplatzes, etc.) x Arbeitsrechtliche Gesetze (z.B. Arbeitszeitgesetz, Arbeitsschutzgesetzgebung (siehe Kap.8.1), Betriebsverfassungsgesetz, etc.) x Kollektives Arbeitsrecht in Form von Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen x Individualarbeitsrecht in Form von Einzelarbeitsverträgen.
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1.3.5
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Arbeits- und Organisationspsychologie
Die Arbeits- und Organisationspsychologie ist nach FRIELING u. SONNTAG (1999) ein Teilgebiet der Angewandten Psychologie. Sie erfüllt darüber hinaus querschnittliche Funktionen, z.B. für die Allgemeine, Differenzielle, Entwicklungs- und Sozialpsychologie. Mit Bezug auf NERDINGER et al. (2008) behandelt die Arbeits- und Organisationspsychologie die Themenfelder Arbeit, Personal, Organisation und Markt bzw. Kunden unter einer psychologischen, d.h. auf die menschliche Psyche bezogenen Perspektive. Diesen Feldern sind entsprechende Teilgebiete zugeordnet. Generell beschäftigen sich Arbeits- und Organisationspsychologen mit dem Erleben und Verhalten von Menschen in Organisationen, ihrer Entwicklung im Laufe des Arbeitslebens sowie den dafür maßgeblichen inneren und äußeren Gründen und Ursachen. Damit verbunden ist die Frage, wie sich die Zugehörigkeit zu einer Organisation auf den arbeitenden Menschen auswirkt und wie das Individuum die Struktur und das Verhalten der Organisation beeinflußt. Der Grundstein der Arbeits- und Organisationspsychologie wurde zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts überwiegend durch empirische Studien im Industriebetrieb gelegt (ULICH 2005). Dies ist auch heute noch ein zentraler Gegenstandsbereich. Darüber hinaus haben in den letzten Jahren öffentliche Verwaltungen, Dienstleistungsunternehmen (Banken, Versicherungen etc.) sowie Betriebe im Gesundheitswesen als Forschungs- und Anwendungsfelder zunehmend an Bedeutung gewonnen (ZAPF et al. 2003, ZAPF u. DORMANN 2006). Gegenstand der Arbeitspsychologie ist insbesondere das Erleben und Verhalten des Menschen bei der Arbeit in Abhängigkeit von Arbeitsbedingungen, Arbeitsaufgaben und den dafür erforderlichen Leistungsvoraussetzungen (NERDINGER et al. 2008). Demhingegen setzt sich die Organisationspsychologie primär mit dem Erleben und Verhalten von Menschen in komplexen Organisationen auseinander und analysiert die Abhängigkeiten von verschiedenen Ausprägungen organisationaler Wirkgrößen, wie z.B. zwischen Führungsverhalten von Vorgesetzten und Motivation der Mitarbeiter (VON ROSENSTIEL 2007). Organisationen werden dabei als offene Systeme mit formaler sowie informaler Weisungs- und Kommunikationsstruktur verstanden, welche ihre Mitglieder auf das Verfolgen bestimmter Ziele ausrichten sollen. Über die Analyse des Arbeitsverhaltens in Abhängigkeit von Arbeitssituation und personellen Voraussetzungen hinaus wurden vielfältige theoretische Ansätze entwickelt, die zur Beschreibung und Erklärung psychischer Zusammenhänge bei der geistigen Vorwegnahme und dem Vollzug von Arbeitsaufgaben dienen. So finden sich in der Arbeitspsychologie klassische ReizReaktions-Modelle, handlungstheoretische Modelle sowie tätigkeitstheoretische Konzepte (FRIELING u. SONNTAG 1999). Eine wichtige theoretische Grundlage zur Erklärung, wie der arbeitende Mensch Ziele bildet und gliedert, Pläne entwickelt und ausführt sowie Handlungsergebnisse zyklisch rückgekoppelt werden ist die sog. Handlungsregulationstheorie (HACKER 2005, VOLPERT 1992), die in Kap. 1.5.1.3 im Detail behandelt wird.
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Arbeitswissenschaft
Das arbeits- und organisationspsychologische Menschenbild zeichnet sich durch die Betrachtung der Arbeitsperson mit individuellen Motiven, Bedürfnissen, Zielen, Plänen und Regulationserfordernissen aus sowie durch die besondere Betonung der Wechselwirkungen mit kollektiven Anreiz-, Ordnungs- und Regelsystemen. Besonderes Gewicht wird der Art der Aufgabe beigemessen, auf die individuell sehr verschieden reagiert werden kann. Daraus leitet sich ein breites Spektrum von Arbeitsbegriffen ab: Arbeit als Reaktion auf eine Aufgabe im Sinne eines externen Reizes, als zielgerichtete und planmäßige Handlung, die mentale Ressourcen benötigt und Verarbeitungskapazität belegt, als motivgeleitete Tätigkeit oder aber als Aktivität eines sozialen Wesens, dessen Verhalten von den sozialen Normen der Arbeitsgruppe bestimmt wird (ULICH 2005). Dementsprechende naturwissenschaftliche Analogiemodelle des Menschen reichen vom „Automaten“, der auf einen Reiz (Aufgabe) nach einem gewissen Zeitverbrauch eine eindeutige Reaktion (Arbeit) liefert, über den Menschen als informationsverarbeitendes System, das Grundelemente von Denkleistungen – bestehend aus einem Ziel und mehreren Transformationen, die untereinander verbunden und auf das Ziel bezogen sind – zyklisch verarbeitet, bis hin zum sozial eingebundenen Wesen, das sich betrieblichen sowie gesellschaftlichen Zielen der Produktion verpflichtet fühlt. Eine weitergehende Darstellung und Diskussion der Zusammenhänge zwischen Menschenbildern und Aspekten arbeitspsychologischer Konzeptentwicklung findet sich in ULICH (2005). 1.3.6
Arbeitsmedizin
Die Arbeitsmedizin ist die medizinische, vorwiegend präventiv orientierte Fachdisziplin, die sich mit der Untersuchung, Bewertung, Begutachtung und Beeinflussung der Wechselbeziehungen zwischen Anforderungen, Bedingungen, Organisation der Arbeit einerseits sowie dem Menschen, seiner Gesundheit, seiner Arbeitsund Beschäftigungsfähigkeit und seinen Krankheiten andererseits befasst. Die Ziele der Arbeitsmedizin bestehen in der Förderung, Erhaltung und Wiederherstellung von Gesundheit sowie der Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit des Menschen (DGAUM 2004). Kennzeichnend für das Menschenbild einer modernen Arbeitsmedizin ist die ganzheitliche Betrachtung des arbeitenden Menschen mit besonderer Berücksichtigung somatischer, aber auch psychischer und sozialer Prozesse (PERLEBACH 2007). Aufgrund des gemeinsamen Bezuges auf die Arbeitsphysiologie als konstitutives Element, besteht eine enge Verbindung zwischen der Arbeitsmedizin und der Arbeitswissenschaft (LUCZAK et al. 1983; STRASSER 2007). Dabei betrachtet die Arbeitsphysiologie vorwiegend den Bau und die Funktion des menschlichen Körpers und seiner Organsysteme mit dem Ziel, eine seinen Fähigkeiten entsprechende Umgebung zu schaffen. Sozusagen als Nebeneffekt wird damit erreicht, dass der Arbeitsprozess optimiert und eine rationellere Leistungserstellung ermöglicht wird.
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Im physiologischen Sinne entspricht der Mensch einem Organismus, der auf die Einwirkung von Arbeit reagiert. Diese Einwirkungen können beispielsweise physikalische oder chemische Reize sein. Durch die systematische Variation von Typ, Höhe und Dauer der Einwirkung (Belastung) auf den arbeitenden Menschen und die Messung seiner physiologischen Reaktionen (Beanspruchung) werden Kennwerte, Kennlinien und Kennlinienfelder gewonnen und erstellt (z.B. hinsichtlich Energieumsatz und Krafterzeugung). Ziel ist eine Vermeidung von Überforderung und Schädigung. Arbeitsphysiologisch relevante Phänomene treten bei jeder menschlichen Tätigkeit auf und nicht nur bei körperlicher Arbeit (STOLL 2007). So kann auch geistige Arbeit, die ebenfalls eng an den menschlichen Organismus gebunden ist, zum Gegenstand arbeitsphysiologischer Untersuchungen werden. Einen aktuellen Überblick über die Entwicklung der Arbeitsphysiologie im deutschen Raum und deren Verhältnis zur Arbeitsmedizin und Arbeitswissenschaft gibt STRASSER (2007). Gestaltend wirkt die Arbeitsmedizin über die Gewinnung arbeitsphysiologischer Erkenntnisse hinaus durch die Bereitstellung von Regeln, Grenzwerten und Kennlinien für die Beurteilung von bestehenden und in der Planung befindlichen Arbeitssystemen. In diesem Zusammenhang sind insbesondere die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin zu nennen (beispielsweise zu Nacht- und Schichtarbeit, SEIBT et al. 2006; oder zu Lastenhandhabung und Zwangshaltungen, HARTMANN et al. 2008). Neben den verschiedenen Formen von Arbeit (vorwiegend mechanisch oder motorisch, siehe Kap. 3.2) können auch die Arbeitsumgebungsfaktoren (siehe Kap. 9, z.B. Arbeitsstoffe) bezüglich der gesundheitlichen Risiken für bestimmte Personengruppen beurteilt werden. Ein wesentliches Konzept ist hierbei das Dosis-Wirkungs-Prinzip. Hierbei repräsentiert die Dosis die über eine gewisse Zeitspanne integrierte Belastungshöhe, die für Umgebungsfaktoren oft eine valide Prädiktorvariable im Hinblick auf Gesundheitsschäden ist (Wirkung). Schließlich spielt die Arbeitsmedizin bei der betrieblichen Gesundheitsförderung (siehe Kap. 8.2) eine wesentliche Rolle. Dort wird sie vor allem durch die Betriebsärzte vertreten. Dies gilt sowohl für die Durchführung arbeitsmedizinischer Vorsorgeuntersuchungen, die durch entsprechende Rechtsvorschriften geregelt wird, als auch für die Beratung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern im Rahmen der Planung neuer bzw. der Umgestaltung vorhandener Arbeitsplätze. 1.3.7
Ingenieurwissenschaften
Frühe ingenieurwissenschaftliche Ansätze zur Analyse, Bewertung und Gestaltung menschlicher Arbeit finden sich bei Leonardo da Vinci (siehe HACKSTEIN 1977b), dessen Werk bekanntlich nicht nur zahlreiche Kunstwerke, sondern auch eine große Anzahl von Entwürfen für Maschinen und Gebäude umfasst. Leonardo da Vinci hat intensiv die Bewegungen des Menschen studiert, um sie unter anderem in den von ihm erfundenen Maschinen nachzuvollziehen (MOUNIER 1963). Darüber hinaus hat er seine durch Beobachtungen und Messungen gewonnenen ar-
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Arbeitswissenschaft
beitsphysiologischen und biomechanischen Erkenntnisse in Form von Gesetzmäßigkeiten formuliert (z.B. „Ein Mensch, der eine schiefe Ebene begeht, muss mehr Gewicht auf seinen vorderen als auf seinen hinteren Fuß legen, das bedeutet vor der vertikalen Achse mehr als dahinter; und man platziert immer einen größeren Teil seines Gewichts in die Richtung, in die man sich bewegen will, als in die entgegengesetzte“, siehe MOUNIER 1963, übersetzt von HACKSTEIN 1977b). Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden sind seine Zeitstudien der Tätigkeit eines Erdarbeiters. Hierfür hat er vermutlich recht präzise Messgeräte eingesetzt, die auf rotatorischen Schwingungen eines Balkens basieren. Leonardo da Vinci kann als Wegbereiter ingenieurwissenschaftlicher Arbeitsstudien gelten, welche sich disziplinär in die sog. Arbeitstechnologie einordnen lassen. In dieser Disziplin, die sich stark an ingenieurwissenschaftlichen Intentionen (nämlich der Entwicklung und Optimierung praktisch einsetzbarer Technologien, Methoden und Geräte) orientiert, kommen physikalisch-technische Arbeitsbegriffe zur Anwendung. Die Arbeitstechnologie nutzt in ihren Bewegungs- und Zeitstudien beispielsweise Zulässigkeitsnormen und Gestaltungsempfehlungen der Arbeitsphysiologie. Eine der historisch prominenten Grundlagen der Arbeitstechnologie ist die wissenschaftliche Betriebsführung Taylors (1856-1915), die Arbeitsaufgaben in Planung, Ausführung und Kontrolle differenzierte und auf der Grundlage von empirischen Studien mit Zeitdaten hinterlegte (TAYLOR 1919, siehe auch Kap. 7). Mehr noch als der Arbeitsbegriff steht in der Arbeitstechnologie der Leistungsbegriff im Vordergrund. Disziplinspezifische Interessen sind die Optimierung des Produktionsfaktors Arbeit und die hierzu notwendige quantitative Erfassbarkeit von Mengen- und Güteleistungen. Der Mensch verhält sich in diesem mechanistischen Bild entsprechend Kennlinien und Regeln (z.B. mehr Lohn ĺ mehr Leistung; höhere Spezialisierung ĺ mehr Übung ĺ mehr Leistung). Die Arbeitstechnologie analysiert und optimiert Arbeitsvollzüge dahingehend, dass Tätigkeiten, die nicht direkt den Arbeitsergebnissen zuträglich sind, vermieden werden. Die Zielfunktion der Optimierung wird meistens so formuliert, dass eine Vermeidung von sog. „Verschwendung“ angestrebt wird. Ein solcher Ansatz stellt per se eine Einschränkung des persönlichen Handlungsspielraumes der Arbeitenden dar. Zeitund Bewegungsökonomie oder eine ausschließlich an technischen Funktionen ausgerichtete Arbeitsteilung zwischen Mensch und Maschine einschließlich einer Automatisierung mit sogenannten „Restfunktionen“, die aufgrund eines zu geringen technologischen Reifegrads beim Menschen verbleiben müssen, sind Ansätze, Arbeitsbedingungen alleinig effizient zu gestalten. Diese Methoden der Arbeitstechnologie finden immer noch Anwendung, besonders bei der Gestaltung hochgradig arbeitsteiliger Systeme. Es ergeben sich allerdings Zielkonflikte mit menschorientierten Ansätzen. Nach einem technikorientierten Gestaltungsansatz wird der Mensch häufig als Organismus mit beschränkter Leistungsfähigkeit betrachtet. Die eingeschränkten Möglichkeiten seiner Organe und Organsysteme erschweren die Anpassung an Umweltbedingungen, wodurch die Notwendigkeit entsteht, Natur bzw. Umgebung intelligent zu verändern. Diese Tätigkeit, zu der Fähigkeiten und Hilfsmittel also
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Technik genutzt werden, wird als Arbeit verstanden. Aus dem Verhältnis zur Technik ergeben sich dann zwei verschiedenartige Menschenbilder einerseits der Mensch, der Technik durchschaut und an ihrer Weiterentwicklung beteiligt ist („homo faber“), andererseits der Mensch, der der Technik ausgeliefert ist, der sie lediglich konsumiert und der auf sie reagiert, ohne die Zusammenhänge zu kennen („animal rationale“, siehe Kap. 1.1.2). Über die Nutzung von Technik als Mittel der Gestaltung menschlicher Arbeit hinaus ist der Einsatz von ingenieurwissenschaftlichen Methoden zum besseren Verständnis und zur Vorhersage menschlicher Vorgänge beim Arbeiten ein ganz wesentlicher Bezug der Ingenieurwissenschaften zur Arbeitswissenschaft. So werden z.B. biomechanische Ersatzmodelle des Menschen zur Analyse, Bewertung und Gestaltung körperlicher Arbeit verwendet (Kap. 3.2, Kap. 10.1.3.4) sowie thermodynamische Modelle, um die Wärmeregulation unter verschiedenen klimatischen Bedingung zu beschreiben (Kap. 9.4). Es werden die Methoden der Regelungstechnik bzw. Systemtheorie verwendet, um Regelkreise mit dem Menschen als Regler und dem zu führenden Arbeitsmittel bzw. der zu führenden Maschine als Regelstrecke aufzubauen und zu berechnen (Kap. 3.3.1.2.3). Die Methoden der Informationstheorie dienen dazu, Reaktionszeiten bei der MenschMaschine-Interaktion vorherzusagen, die Komplexität der Interaktionsprozesse zu bewerten sowie ganz allgemein die menschliche Informationsverarbeitung zu modellieren (Kap. 3.3.1.2.2). Die Signalentdeckungstheorie, die ursprünglich in der Nachrichtentechnik entstanden ist, wird genutzt, um sicherzustellen, dass kritische Ereignisse in der Arbeitsumgebung sicher wahrgenommen werden und eine angemessene Reaktion erfolgt (Kap. 3.3.1.2.1). Ferner nimmt die Nutzentheorie (utility theory) eine historisch besondere Stellung bei der Modellierung der menschlichen Hypothesenbildung und Handlungsauswahl ein und dient dazu, menschliches Verhalten in komplexen Mensch-Maschine-Systemen vorherzusagen und zu bewerten (Kap. 3.3.2.2.2.1). Schließlich sind systemtechnische Methoden in der Arbeitswissenschaft weit verbreitet, um beispielsweise Arbeitsstrukturen und -prozesse zu beschreiben sowie Ursache-Wirkungs-Beziehungen zu modellieren (Kap. 1.5.1.1). Aufgrund der vielfältigen methodischen Bezüge ist es es nicht überraschend, dass ingenieurwissenschaftliche Modellvorstellungen oft die Grundlage arbeitswissenschaftlicher Konzepte sind insbesondere im Hinblick auf die (technische) Ergonomie. So basiert das Belastungs-Beanspruchungs-Konzept (siehe Kap. 1.5.1.2) auf einer Analogie zur technischen Mechanik und ist systemtechnisch formuliert. Ergonomische Gestaltungskonzepte beziehen ihre Grundlagen i.d.R. auf die Konstruktionsmethodik (siehe Kap. 10.3.1). Dies gilt sowohl für die Strukturierung von Informationen über technisch komplexe Systeme (z.B. in Form von Abstraktionshierarchien, siehe Kap. 3.3.2.2.5.1, Kap. 10.1.2.3.2.1) als auch die konstruktionsmethodische Vorgehensweise bei der menschzentrierten Auslegung. Arbeitswissenschaftliche Optimierungskonzepte stützen sich zum Teil auf Zielfunktionen, die für Ingenieurwissenschaften typisch sind, beispielsweise die Maximierung des Wirkungsgrads oder die Minimierung des Risikos eines Schadens-
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Arbeitswissenschaft
eintritts. Schließlich sind arbeitswissenschaftliche Trade-Off-Analysen zwischen mehreren Input- bzw. Belastungsfaktoren im Hinblick auf den Output sowie der damit verbundenen Beanspruchung für den Arbeitenden typisch für eine ingenieurwissenschaftliche Vorgehensweise. Von einem Trade-Off spricht man, wenn die Verbesserung eines Aspekts, wie z.B. Sicherheit beim Vollzug einer Handlung, nur unter Inkaufnahme der Verschlechterung eines anderen, wie z.B. der Verringerung der Ausführungsgeschwindigkeit, erzielt werden kann. Im Zusammenhang mit der Analyse, Bewertung und der Gestaltung von Mensch-Maschine-Systemen sind somit vor allem die Systemwissenschaften, technische Mechanik, Konstruktionstechnik, Nachrichtentechnik und Informatik als Bezugswissenschaften zu nennen. Ferner gibt es im Anwendungskontext enge Verflechtungen mit der sog. Anthropotechnik und dem Cognitive Engineering (siehe Kap. 3.3, Kap. 10.1.2). 1.3.8
Schlussfolgerungen für eine pluri- und interdisziplinäre Arbeitswissenschaft
Aus der vorausgehenden Beschreibung von Menschenbildern und Arbeitsbegriffen arbeitsbezogener Disziplinen lassen sich disziplinspezifische Beiträge zur Arbeitsgestaltung ableiten. Bezüglich verschiedener Beurteilungsebenen menschengerechter Arbeitsgestaltung liefern sie Erkenntnisbeiträge auf unterschiedlichen Ebenen (siehe Kap. 1.5.2). Zunehmend besteht jedoch der Bedarf, Zielkonflikte und widersprüchliche Gestaltungsansätze in einen Ordnungszusammenhang zu bringen und schließlich eine disziplinübergreifende, gestaltungsbezogene Arbeitswissenschaft zu begründen. Der Vorteil einer solchen Arbeitswissenschaft, die zunächst aus den Ingenieurwissenschaften entstand, lässt sich an der Beschäftigung mit dem organisational geregelten Zusammenwirken von Menschen und technischen Sachmitteln erkennen. Das Verhältnis von Theorie und Praxis ist hier besonders eng, da organisatorische Bedingungen wie auch technische Sachmittel den Rahmen, in dem persönliche Arbeitsaufgaben definiert werden können, determinieren. Menschliche Arbeit wird somit als organisatorisch geregelter Arbeitsvollzug durch Mensch und Maschine gesehen, wobei die Funktionen, Grenzen und Beurteilungskriterien des menschlichen Anteils der Leistungserbringung in Organisationen und im Zusammenhang mit der Arbeitsumgebung im Vordergrund stehen. Diese an Mensch, Technik und Organisation ausgerichtete Betrachtungsweise menschlicher Arbeit ermöglicht einerseits eine Abgrenzung zu vorwiegend menschbezogenen Disziplinen durch die Einbeziehung der technischen Sachmittel in die Betrachtungsweise des Arbeitsvollzuges, andererseits zu ökonomisch-technischen, vorwiegend auf die Optimierung des Arbeitsergebnisses ausgerichteten Disziplinen. Die Arbeitswissenschaft als vorwiegend gestaltungsorientierte Wissenschaft nutzt Erkenntnisse der verschiedenen Disziplinen und ordnet sie mit dem Ziel, möglichst vollständige und widerspruchsfreie Gestaltungshinweise geben zu kön-
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nen. Voraussetzung hierfür ist eine Systematik arbeitsbezogener Erkenntnisse, die von allen arbeitsbezogenen Wissenschaften anerkannt wird. 1.4
1.4.1
Ordnungszusammenhänge arbeitsbezogener Erkenntnisse und Gestaltungsansätze Fundament- und Überbaumodelle
Diese Modelle gehen davon aus, dass eine Aspektwissenschaft bei der Beurteilung menschlicher Arbeit eine herausragende Stellung einnimmt. Sie versteht sich entweder als Basis allen arbeitsbezogenen Forschens, oder sie erhebt den Anspruch, die arbeitsbezogenen Beiträge anderer Aspektwissenschaften beurteilen zu können und über die Gültigkeit von Gestaltungsaussagen zu entscheiden. Als typisches Fundamentalprinzip kann in diesem Zusammenhang beispielsweise die Tendenz der Physiologie zur Betonung der organischen Bedingtheit allen Arbeitens bezeichnet werden. Zu den Überbaumodellen kann dagegen die Tendenz der Soziologie zur Betonung eines gesellschaftlichen Überbaus als Rahmenbedingung von Arbeit gerechnet werden. Da solche Ansprüche der üblichen interdisziplinären Diskussion von Wissenschaftlern entgegenstehen oder die Diskussion gar verhindern, trugen diese Modelle nicht zu einem Konsens der Vertreter arbeitsbezogener Disziplinen im Hinblick auf eine gemeinsam getragene Arbeitswissenschaft bei. 1.4.2
Hierarchiemodelle
Bei diesen Ordnungsmodellen ist eine Hierarchie nicht auf eine Ordnung von Disziplinen, sondern auf Beurteilungsebenen des Verhältnisses Mensch-Arbeit bezogen. So sind zum Beispiel zur Erzielung menschengerechter Arbeitsbedingungen menschliche Bedürfnisse in verschiedenen Wertungsebenen in einer bestimmten Reihenfolge zu erfüllen. Als arbeitswissenschaftliche Beurteilungsebenen können die Kriterien Ausführbarkeit, Erträglichkeit, Zumutbarkeit und Zufriedenheit menschlicher Arbeit (siehe Kap. 1.5.2) definiert werden. Darüber hinaus werden die menschlichen Bedürfnisse z.B. im Rahmen der Maslow´schen Motivationstheorie in einen hierarchischen Zusammenhang gestellt (siehe Kap. 2.4.1.2). Die Hierarchie der Ebenen ergibt sich aus der Ordnungsbedingung, dass die Erfüllung der menschlichen Bedürfnisse auf einer niedrigeren Ebene Voraussetzung für deren Erfüllung auf der nächsten Ebene ist. Ein Beispiel für die Verletzung dieser Bedingung ist der Fall eines Menschen, der infolge seiner persönlichen Motivation eine hohe subjektive Arbeitszufriedenheit erfährt, jedoch bei seiner Tätigkeit durch eine mangelnde ergonomische Gestaltung des Arbeitsplatzes im Hinblick auf Schädigungslosigkeit gesundheitlichen Schaden nimmt. In diesem Fall wurde die vorgestellte Hierarchie nicht eingehalten.
28
Arbeitswissenschaft
Solche Hierarchiemodelle begründen ihre Ordnung arbeitsbezogener Forschung aus dem gemeinsamen Objekt. Sie wurden deshalb von Vertretern der Aspektwissenschaften weitgehend akzeptiert und konnten so integrativ wirken. 1.4.3
Ebenen- und Segmentmodelle
Die Bandbreite von Aspektwissenschaften zeigt, wie weit das Problemfeld „menschliche Arbeit“ gesteckt ist. Die Grundlage von Ebenen- bzw. Segmentmodellen mit helfender Interdisziplinarität bildet die Einsicht, dass eine umfassende Bearbeitung arbeitsbezogener Themenstellungen unter Berücksichtigung aller Aspekte durch eine Disziplin praktisch nicht möglich ist. Diese Modelle schaffen daher eine Arbeitsteilung zwischen den Aspektwissenschaften und ermöglichen den arbeitsbezogenen Disziplinen eine Standortbestimmung. So kann festgestellt werden, wo sich die einzelnen Ansätze überschneiden und Randbedingungen beachtet werden müssen. Ein Beispiel für ein Ebenenmodell ist die Gliederung des Arbeitsprozesses nach Verlaufs- und Strukturebenen (siehe Abb. 1.4). Wird die Tätigkeit einer arbeitenden Person in ihrem zeitlichen Verlauf beobachtet, so ist es möglich, verschiedene Verlaufsebenen zu differenzieren: x V1 Aktivität der sensumotorischen Automatismen einer Person x V2 Zielgerichtete, bewusst regulierte Handlungen der Person x V3 Motivbezogene Tätigkeiten von Personen, deren gegenständliche Resultate durch die Organisation der Handlung produziert werden x V4 Kooperative Arbeit, in der die Person ihre Tätigkeiten auf andere Personen in einer Arbeitsgruppe bzw. Team abstimmen muss x V5 Auseinandersetzung der betrieblichen Akteure, in der sich die gruppenspezifischen Meinungen und Interessen ausbilden, zu der die Person explizit oder implizit Stellung beziehen muss x V6 Arbeitsbezogene politische Aktionen, die die Rahmenbedingungen für die Akteure im Betrieb erhalten oder verändern sollen, was für alle Arbeitspersonen Folgen hat. Eine solche Gliederung, bezogen auf den subjektiven Erfahrungsbereich von Arbeitspersonen, erscheint vor allem dazu geeignet, die Erkenntnisse von humanwissenschaftlichen Disziplinen, wie z.B. der Psychologie, Pädagogik oder Soziologie zu systematisieren. Steht aber das Objekt „menschliche Arbeit“ im Vordergrund, so erscheint eine Gliederung nach den Strukturebenen der Beziehung Mensch-Arbeit geeigneter: x x x x x x
S1 S2 S3 S4 S5 S6
Vegetative Systeme und Arbeitsumgebungen Operationen mit Arbeitsmitteln Arbeitsaufgaben und Arbeitsplätze Personales Handeln und Arbeitsformen Kooperationsformen in Arbeitsgruppen Formen betrieblicher Arbeitsbeziehungen
Einführung
29
S7 Gesellschaftliche Organisation der Arbeit. In diesen Ebenen können sich arbeitsbezogene Disziplinen, wie z.B. die Arbeitsmedizin (vorwiegend S1), die ergonomische Arbeitsgestaltung (S2 sowie S3) bis hin zur Volkswirtschaftslehre (S7) wiederfinden. Die Arbeitswissenschaft kann sich nicht auf eine dieser Ebenen spezialisieren, aber auch nicht auf allen Gebieten so tief eindringen wie dies die arbeitsbezogenen Disziplinen tun: Einerseits ginge gemeinsam mit dem interdisziplinären Charakter ihr Anspruch verloren, fachübergreifende Gestaltungshinweise zu geben, andererseits wäre die Arbeitswissenschaft als einzelne Disziplin infolge der Themenvielfalt in der Analyse von Arbeit überfordert. Ein gemeinsamer Bezugspunkt wurde allerdings auf der Ebene S4 „Personales Handeln und Arbeitsformen“ postuliert (LUCZAK u.VOLPERT 1987). Diese Ebene eignet sich auch als Vermittlungsposition zwischen ingenieur- und naturwissenschaftlichen Ansätzen auf der einen und denen sozialwissenschaftlicher Disziplinen auf der anderen Seite. Eine so ausgerichtete Arbeitswissenschaft kann somit disziplinenintegrierend wirken. Strukturebenen des Arbeitsprozesses (Betrachtungsgegenstand) S7 Weitester Kontext Produktions- und Verkehrsverhältnisse S6 Mittlerer Kontext Struktur des Betriebes S5 Nächster Kontext Struktur der Arbeitsgruppe S4 Subjektsystem S bj kt t Tätigkeitssystem einer Person S3 Funktionale Mittel der Person Zweckgebundene Subsysteme (Aufgaben) S2 Obere Ebene körperlicher Mittel P d kti S Produktive Subsysteme b t (Sensumotorik) (S t ik) S1 Untere Ebene körperlicher Mittel Reproduktive Subsysteme des Körpers
Verlaufsebenen des Arbeitsprozesses
V6 Arbeitsbezogene politische Aktion V5 Auseinandersetzung der betrieblichen Akteure V4 Kooperative Gruppenarbeit V3 Motivbezogene Tätigkeit V2 Zielgerichtete bewusst regulierte Handlung V1 Sensumotorische Automatismen (Operationen)
Abb. 1.4: Struktur- und Verlaufsebenen (nach LUCZAK u. VOLPERT 1987)
30
1.4.4
Arbeitswissenschaft
Betrachtungsebenen von Arbeitsprozessen
Eine Gliederung von arbeitswissenschaftlichen Problemen und Fragestellungen kann anhand des zuvor eingeführten Ebenenmodells von Arbeitsprozessen (LUCZAK u. VOLPERT 1987) vorgenommen werden (Abb. 1.4). Ein aus dem Ebenenmodell abgeleitetes Schema gliedert sich analog zu den sieben Strukturebenen, wobei die höchste Superierungsebene (7) die Arbeit auf gesamtgesellschaftlicher Ebene betrachtet, die unterste (1) dagegen elementare physiologische Prozesse zum Gegenstand hat. Auf den drei untersten Ebenen erfolgt eine getrennte Betrachtung eines subjektnahen (d.h. an den Menschen gebundenen) und eines objektnahen (d.h. Arbeitsumgebung, -platz, -mittel, -gegenstand betreffenden) Bereichs. Dieses abgeleitete Schema ist in Abb. 1.5 dargestellt. Gegenstand der nach diesem Schema elementarsten Ebene (1) sind anatomische und physiologische Grundlagen wie Biomechanik, Energieumsatz, Stoffwechsel, Tageszeitrhythmik, Einflüsse von Geschlecht und Alter sowie die naturwissenschaftlichen (insbesondere physikalischen und chemischen) Grundlagen der Arbeitsumgebung (Messung und Bewertung von Klima, Lärm, Schwingungen, Licht, Stäuben, Dämpfen und sonstigen Arbeitsstoffen). Auf Ebene (2) werden menschseitig die Grundlagen elementarer physischer (z.B. Bewegungskoordination, Erzeugung und Wertebereiche von Körperkräften, Funktion und Kennlinien von Sinnesorganen) und psychischer Funktionen (z.B. Grundprinzipien menschlicher Informationsverarbeitung, Gedächtniskapazität) betrachtet. Objektseitig sind auf dieser Ebene Fragen der anthropometrischen Arbeitsplatzgestaltung, die Untersuchung von Greif- und Bewegungsräumen, die Gestaltung von Anzeigen und Stellteilen der Sicherheitstechnik und Schutzmaßnahmen (z.B. gegen Benutzungsfehler) angesiedelt. Betrachtungsgegenstand auf der nächsthöheren Ebene (3) sind auf der einen Seite die psychischen Prozesse, die die geregelte, sinnhafte Abfolge von Handlungen (Ziel- und Teilzielbildung, Planung und Antizipation von Handlungsverläufen) ermöglichen, auf der anderen Seite Systembetrachtungen von Arbeitsplätzen, also das funktionelle und zeitliche Zusammenwirken von Menschen und technischen Sachmitteln zur Erfüllung des Systemzwecks (Erstellung eines Produkts oder einer Dienstleistung). Auf der zentralen Ebene (4) steht der arbeitende Mensch als Individuum im Mittelpunkt der Betrachtung. Kennzeichnend für diese Ebene ist eine „ganzheitliche“ Betrachtung menschlicher Arbeit als Einheit motivationaler, willensmäßiger, qualifikatorischer und sozialer Elemente. Auf dieser Ebene – wie auch auf allen höheren – wird daher nicht mehr zwischen Subjekt- und Objektbereich unterschieden. Auf der Ebene von Arbeitsgruppen (5) steht die Kooperation von Personen im Mittelpunkt. Dazu gehören neben Arbeitsteilung und Hierarchie auch Vorgesetztenverhalten, Partizipations- und Mitspracherechte sowie Fragen der Kommunikation mit Vorgesetzten und Kollegen (Human Relations).
Einführung
31
7. Arbeit und Gesellschaft 6. Betriebliche Arbeitsbeziehungen und Organisation (Produktion, Dienstleistung, Verwaltung) 5. Kooperationsformen in Arbeitsgruppen
4. Personales Handeln und Arbeitsformen 3. Arbeitstätigkeit und Arbeitsplatz 3.1 Psychische Regulation der Arbeitstätigkeit
3.2 Systembetrachtung von Arbeitsplätzen
2. Operationen und Bewegungen mit Werkzeugen und an Maschinen 2.1 Biologische und psychologische Grundlagen
2.2 Technische Grundlagen der Arbeitsgestaltung
1. Autonome Körperfunktionen und Arbeitsumgebung 1.1 Anatomie und Physiologie der autonomen Körperfunktionen
1.2 Physikalische und chemische Umgebungseinflüsse
Abb. 1.5: Betrachtungsebenen von Arbeitsprozessen (aus LUCZAK u. VOLPERT 1987)
Die Ebene (6) hat die betrieblichen Arbeitsbeziehungen zum Gegenstand. Dies sind Fragen der Mitbestimmung und Personalvertretung (Aufgaben von Betriebsbzw. Personalräten) sowie Fragen der Organisation und andere unternehmensstrategische Entscheidungen, soweit sie die menschliche Arbeit betreffen (Industrial Relations). Die nach diesem Schema umfassendste Betrachtungsebene (7) bezieht sich auf den gesellschaftlichen Kontext von Arbeit. Typische Fragestellungen auf dieser Ebene beschäftigen sich mit der Arbeit in der Gesetzgebung (Arbeitsrecht), Arbeit als volkswirtschaftlicher Produktionsfaktor, strukturellen und konjunkturellen Veränderungen von Beschäftigung und Arbeitsmarkt, beruflichen Bildungskonzepten sowie überbetrieblichen Aktivitäten der Tarifpartner.
32
Arbeitswissenschaft
Selbstverständlich wäre die Arbeitswissenschaft überfordert, wollte sie alle genannten Ebenen umfassend bearbeiten. Vielmehr sind mit Bezug auf Kap. 1.3 am Erkenntnisgewinn eine Vielzahl arbeitsbezogener Wissenschaften beteiligt (Abb. 1.6). In den höheren Ebenen sind dies vor allem die Wirtschaftswissenschaften und die Soziologie, in den mittleren Ebenen die Psychologie sowie die Pädagogik, während in den unteren Ebenen naturwissenschaftliche Disziplinen (Physik, Chemie, Biologie, Medizin) dominieren. Für all diese Disziplinen stellt die menschliche Arbeit sowie die mit ihr verbundenen Rahmenbedingungen und Grundlagen nur einen Gegenstand neben anderen dar, während die Arbeitswissenschaft sich gerade dadurch auszeichnet, dass sie menschliche Arbeit als zentralen Gegenstand unter verschiedenen Aspekten betrachtet.
Operationen und Bewegungen mit Werkzeugen und an Maschinen Autonome Körperfunktionen und Arbeitsumgebung
Soziologie S Pädagogik
internatioonaler Sprachgebrauch MiccroErggonomics
Arbeitstätigkeit und Arbeitsplatz
Arbeitsmedizin
Personales Handeln und Arbeitsformen
Arbeitstechnologie
Kooperationsformen in Arbeitsgruppen
Kern der Arbbeitswissenschaft im deuttschsprachigen Raum
Betriebliche Arbeitsbeziehungen g und Organisation
Arbeits- und Organisationspsychologie
Arbeit und Gesellschaft
MacroErgonomics
Disziplinen Wirtschaftsswissenschaften
Ebenen
Abb. 1.6: Verknüpfung von Fachdisziplinen mit den Betrachtungsebenen der Arbeitswissenschaft
1.5
Aufgaben der Arbeitswissenschaft
In der Kerndefinition der Arbeitswissenschaft nach LUCZAK u. VOLPERT (1987) (siehe Kap. 1.2.1) werden die systematische Analyse, Ordnung und Gestaltung der technischen, organisatorischen und sozialen Bedingungen von Arbeitsprozessen als wesentliche Aufgaben genannt. Die Aufgabenschwerpunkte werden je nach Fragestellung unterschiedlich gewählt und mit unterschiedlicher Intensität behandelt. Bei einem vollständigen arbeitswissenschaftlichen Problemlösezyklus werden sie aufeinanderfolgend bearbeitet.
Einführung
33
Für den systematischen Zugang wurden grundlegende Konzepte entwickelt. So wird für die Analyse menschlicher Tätigkeit in unterschiedlichen Kontexten ein systemischer Ansatz gewählt, dessen strukturelle Darstellung häufig in Form eines Arbeitssystems erfolgt (siehe Kap. 1.5.1.1). Ein Bestandteil der Analyse der technischen, organisatorischen und sozialen Bedingungen von Arbeitsprozessen ist die detaillierte Untersuchung der Wirkungen von Tätigkeitsbedingungen auf die Arbeitspersonen. Hier bietet das Belastungs-Beanspruchungs-Konzept einen theoretischen Rahmen für die Durchführung von Studien zum Aufzeigen von UrsacheWirkungs-Beziehungen in definierten Arbeitssituationen, aber auch zur Interpretation von unterschiedlichen Reaktionen von Menschen auf vermeintlich identische Arbeitsbedingungen (siehe Kap. 1.5.1.2). Weiterhin liefert die Handlungsregulationstheorie einen wichtigen Beitrag zum besseren Verständnis der menschlichen Informationsverarbeitung beim Bearbeiten einer gestellten Arbeitsaufgabe und zum Erklären individueller Unterschiede in der Aufgabenerfüllung (siehe Kap. 1.5.1.3). Basierend auf den jeweiligen Grundkonzepten wurden unter Einbezug der generellen Methoden der empirischen Analyse (Kap. 1.5.1.4) spezifische Instrumente und Werkzeuge für arbeitswissenschaftliche Analysen im Labor oder Feld entwickelt. Eine Auswahl wird in Kapitel 1.5.1.5 vorgestellt. An dieser Stelle ist auf einige Beschränkungen der Darstellung hinzuweisen. So muss aus Platzgründen beispielsweise auf eine Erläuterung der vielfältigen Modelle der Stressforschung (s. hierzu z.B. COOPER et al. 2001, SEMMER u. MOHR 2001, ZAPF u. SEMMER 2004) und anderer arbeitsbezogener Konzepte (z.B. zur komplementären Systemgestaltung von GROTE et al. 1999) verzichtet werden. Des Weiteren beziehen sich die ausgewählten Ansätze vorrangig auf die Ebene der Arbeitsperson und die darunter liegenden Ebenen (siehe Abb. 1.5). Gruppenbezogene Konzepte und Instrumente, die zum Teil auch höhere Ebenen einbeziehen, werden in Kapitel 5 behandelt. Sog. Mehr-Ebenen-Ansätze betonen die Komplexität von Arbeitssystemen/-situationen und zeigen die Notwendigkeit auf, bei der Analyse, Bewertung und Gestaltung sowohl unmittelbare Einflussfaktoren des Arbeitssystems (sog. Mikrostruktur, z.B. abteilungsspezifische technologische und organisatorische Gegebenheiten, Gruppenprozesse, Aufgaben) als auch mittelbare Einflussfaktoren aus dem betrieblichen und gesellschaftlichen Umfeld (sog. Makrostruktur, z.B. allgemeiner technischer Entwicklungsstand, Kosten- und Einkommensstrukturen, Marktsituation) zu berücksichtigen (siehe ELIAS et al. 1985). Es wird hier exemplarisch auf das Konzept zur dualen Arbeitssituationsanalyse (ebd. mit Bezug auf KARG u. STAEHLE 1982) sowie auf das sog. MTO-Konzept (MTO = Mensch, Technik, Organisation, STROHM u. ULICH 1997) verwiesen. Die mittels systematischer Analysen gewonnenen Erkenntnisse und erzielten Ergebnisse sind hinsichtlich ihrer jeweiligen Bedeutung für die Gestaltung von Arbeitssystemen zu ordnen. Ordnen bedeutet in diesem Zusammenhang die geistige Vorwegnahme, Gliederung und Priorisierung der systematischen Interventionen, die zur Herstellung eines im Hinblick auf die Arbeitsperson günstigen bzw. erwünschten Gestaltungszustands notwendig sind. Ein Prioritätsprinzip ist beispielsweise der Engpass der körperlichen und geistigen „Ressourcen“ des Men-
34
Arbeitswissenschaft
schen. Mit Bezug auf den in Abb. 1.2. dargestellten Problemlösezyklus ist Ordnen in arbeitswissenschaftlichen Gestaltungsfragen bereits Bestandteil der Synthese. Hierzu ist bei existierenden Arbeitssystemen zumindest eine Bewertung des Ausgangszustands im Hinblick auf die in der Kerndefinition genannten Kriterien notwendig sowie eine vorausschauende (antizipative) Bewertung der Wirksamkeit von Aktivitäten, mit denen im Hinblick auf die Arbeitsperson und -aufgaben bessere Gestaltungszustände erreicht werden können. Aber auch auf einer reinen Modellebene wird es bei komplexen Arbeitssystemen unumgänglich sein, die theoretisch möglichen Gestaltungszustände einem personenzentrierten Bewertungsschema mit Kriterien unterschiedlicher Gewichtung zu unterwerfen und für das Aufstellen und Lösen einer Zielfunktion zu nutzen. Insofern setzt das Ordnen in der Regel eine dezidierte Bewertung voraus. Diesbezüglich wurden unterschiedliche Konzepte entwickelt, die in Kap. 1.5.2 eingeführt und diskutiert werden. Schließlich ist die Arbeitssystemgestaltung ein (zumeist) kreativer und in Kenntnis der Bewertungs- und Ordnungszusammenhänge methodisch geleiteter Schaffensprozess des Arbeitsplaners bzw. der Arbeitspersonen selbst, bei welchem durch ihre Tätigkeit ein Arbeitsmittel, Arbeitsobjekt, Arbeitsprozess o.Ä. zielgerichtet und bewusst verändert wird, das heißt, erzeugt, angepasst oder neu entwickelt wird und dadurch eine bestimmte Funktion, Form oder Gestalt verliehen bekommt. Dies schließt die Entwicklung von Maßnahmenplänen ein. Diesbezüglich wurden vielfältige Modellvorstellungen entwickelt, die in Kapitel 1.5.3 kurz eingeführt werden und in Kapitel 10 im Hinblick auf die ergonomische Gestaltung von Arbeitssystemen im Detail behandelt werden. 1.5.1 1.5.1.1
Analysieren SystemischeĆAnalyseansätzeĆĆ
Der Systemansatz bietet eine allgemeingültige Darstellungsweise für die Struktur verschiedener Phänomene. Kennzeichen eines Systems ist, dass es über eine Systemgrenze, die es von der Umgebung abteilt, Systemelemente und Beziehungen zwischen den Elementen und ggf. zur Umgebung verfügt (Abb. 1.7). Das betrachtete System kann einerseits Teil- oder Subsystem eines übergeordneten Systems sein und andererseits als Elemente wiederum Subsysteme enthalten. Damit kann beispielsweise die Struktur technischer Systeme (Bauteile, Baugruppen, Maschine, Maschinenverband etc.) mit entsprechenden Beziehungen der Elemente untereinander und mit der Umgebung (Verbindung, Relativbewegung, Kraftübertragung, Energiezufuhr etc.) beschrieben werden.
Einführung
35
Auch der menschliche Organismus kann als System aufgefasst werden, welches mit der Umgebung in vielfältigen Beziehungen steht (Handlungen, soziale Interaktion, Stoffwechsel etc.) und über verschiedene Subsysteme (Organe) verfügt, die untereinander in funktioneller Beziehung stehen und ihrerseits Subsysteme (Zellen) enthalten. Umgekehrt kann der einzelne Mensch als Element übergeordneter (sozialer) Systeme, z.B. einer Arbeitsgruppe oder Abteilung, betrachtet werden. Das Zusammenwirken von Menschen und technischen Systemen wird im soziotechnischen Systemansatz betont (siehe EMERY 1959; EMERY u. THORSRUD 1982; TRIST 1990; SYDOW 1985). Danach besteht ein sog. „soziotechnisches System“ aus einem sozialen und einem technischen Teilsystem, die miteinander verknüpft sind und in Wechselwirkung stehen. Beziehungen
System Systemelemente
Umgebung
Abb. 1.7: Allgemeine Systemdarstellung
In der arbeitswissenschaftlichen Literatur hat sich der Begriff des Arbeitssystems durchgesetzt. Aufgrund der Allgemeinheit des Systemansatzes impliziert der Begriff zunächst keine spezielle Betrachtungsebene von Arbeitsprozessen, d.h. Teile eines einzelnen Arbeitsplatzes können damit genauso wie ein ganzer Betrieb gemeint sein. Gemeinhin ist jedoch die Ebene des Arbeitsplatzes angesprochen. Die betrachtete Struktur des Arbeitssystems kann, je nach Fragestellung, unterschiedlich differenziert sein, enthält aber zumindest den Menschen und die Arbeitsaufgabe (ROHMERT 1983). Allgemein kann ein Arbeitssystem (zum Arbeitssystem siehe auch REFA 1993) durch die Elemente Arbeitsperson(en), Arbeitsauftrag, Arbeitsaufgabe, Eingabe, Ausgabe, Arbeitsmittel, Arbeitsobjekte und Umwelteinflüsse beschrieben werden (Abb. 1.8). Damit ist ein Ordnungsschema zur systematischen Beschreibung beliebiger Arbeitsplätze gegeben.
36
Arbeitswissenschaft
Arbeitsauftrag Zielvorgabe/ZwecksetzungĆ
Arbeittsaufgabe
Eingabe
Material Information Energie
Arbeitsperson(en) Einwirkung
Ausgabe
Rückwirkung
Arbeitsmittel Geräte,ĆWerkzeuge Einwirkung
Rückwirkung
Arbeitsobjekte Arbeitsstoffe
ArbeitsergebnisĆ QuantitätĆ Qualität
Umwelteinflüsse SozialĆ/ĆEmotional OrganisatorischĆ/ĆKommunikativ
PhysikalischĆ/ĆOrganismisch ChemischĆ/ĆStofflich
Abb. 1.8: Arbeitssystem
Um eine einheitliche und möglichst vollständige Beschreibung von Arbeitsprozessen zu gewährleisten, wird im Folgenden ein erweitertes systemtheoretisches Modell vorgestellt. Das ursprünglich für die Analyse komplexer Produktions- und Dienstleistungsprozesse entwickelte Modell basiert auf der klassischen, zuvor beschriebenen Arbeitssystembeschreibung, ermöglicht jedoch eine differenziertere Klassifizierung und Analyse von Einflussfaktoren sowie deren Wechselwirkungen. Die Struktur des erweiterten Arbeitssystems wird durch vier Subsysteme 1) Führungs- und Planungssystem, 2) Wirksystem, 3) Input und 4) Output gebildet, die durch Relationen und deren Wirkrichtungen miteinander verbunden sind (siehe Abb. 1.9). Das Arbeitssystem wird durch die Ausprägung einer Systemgrenze charakterisiert, die den Betrachtungsrahmen der Arbeitsperson(en) von der Umwelt abgrenzt. Diese Grenze umfasst dabei Schnittstellen für den Input und Output des Arbeitssystems sowie für besonders relevante Variablen in Form von Zielen und Störungen. Input und Output werden dabei hinsichtlich der bekannten drei Grundgrößen 1) Materie (bzw. vereinfacht Material oder Rohstoffe), 2) Energie und 3) Information gegliedert. Unter einer Störung lassen sich physikalische, chemische, organisatorische oder soziale Umwelteinflüsse subsumieren, deren Zeitpunkt, Häufigkeit und Intensität sich nicht genau vorhersagen lassen und somit aus Sicht der involvierten Arbeitsperson statistischen Einflüssen unterliegen. Die Ausprägungen dieser Faktoren beeinflussen natürlich unmittelbar das Verhalten des betrachteten Arbeitssystems und können zu erheblichen Schwankungen im
Einführung
37
Arbeitsfortschritt führen. Im Arbeitssystem werden mit dem Führungs- und Planungssystem sowie dem Wirksystem zwei hierarchische Abstraktionsebenen gebildet, die durch die sog. Regulationsebenen menschlicher Informationsverarbeitung begründet sind (siehe Kap. 1.5.1.3 sowie Kap. 3.3). Damit wird jedoch keinesfalls eine Arbeitsteilung zwischen planenden und ausführenden Tätigkeiten von Arbeitspersonen impliziert, da bereits eine einzige Arbeitsperson beide Ebenen kompetent auszufüllen vermag. Allgemein wird nach Abb. 1.9 ein außerhalb der Systemgrenzen definiertes Ziel an das Führungs- und Planungssystem übermittelt. Umwelt
definiertes Ziel
erreichtes Ziel
A b it Arbeitsraum
Input • Information I1 • Energie E1
Führungs- und Planungssystem A b it Arbeitsperson
A b it Arbeitsperson
Output • Information I1´ • Energie E1´
Führungs- und Planungsinformationssystem Plan ngsinformationss stem
Arbeitsaufgabe
Arbeitsergebnis
Wirksystem Arbeitsperson • Information I2 • Material m • Energie E2
Arbeitsperson
Arbeitsmittel
• Information I2´ • Material m´ • Energie E2´
Arbeitsraum Arbeitsobjekte
Störung
Abb. 1.9: Erweitertes Arbeitssystem (das im Bild oben dargestellte definierte Ziel wird aus dem Arbeitsauftrag abgeleitet, wohingegen das erreichte Ziel den Erfüllungsgrad beschreibt)
Mindestens eine Arbeitsperson, die in einem Arbeitsraum agiert, interpretiert die vorgegebenen Ziele unter Einbeziehung von Informationen und Energie, transformiert sie in persönliche Teilziele und leitet daraus konkrete Arbeitsaufgaben für das Wirksystem ab. Bei mehreren Arbeitspersonen erfolgt die Teilzielbildung kooperativ. Hierzu ist in der Regel eine intensive persönliche Kommunikation nötig. Der Begriff des Wirksystems ist an die sensumotorische Koordination des Menschen angelehnt und beschreibt den von außen (zumindest teilweise) beobachtbaren Assoziations- und Transformationsprozess, der zur Erzeugung eines substanziellen Arbeitsergebnisses führt. Die häufig mittels eines Führungs- und
38
Arbeitswissenschaft
Planungsinformationssystems an das Wirksystem übermittelten Aufgaben führen aufgrund der Fähigkeiten, Fertigkeiten und des Verhaltens der einbezogenen Arbeitspersonen unter Verwendung der Arbeitsmittel, Arbeitsobjekte sowie weiterer Input-Größen zu einem Arbeitsergebnis. Dieser Prozess kann individuell oder kooperativ erfolgen. Hierbei treten verschiedene Arbeitsformen auf, die nach dem Engpass der Tätigkeit gegliedert werden können (mechanisch, motorisch, reaktiv, kombinativ oder kreativ, siehe Kap. 3). Es werden Informationen, Material und Energie zielgerichtet verknüpft und zu einem das Arbeitssystem verlassenden Output gewandelt. Hierdurch entstehen natürlich auch Rückwirkungen auf die Arbeitspersonen, beispielsweise in Form von Ermüdung, die allerdings aus Gründen der Übersichtlichkeit in Abb. 1.9 weggelassen wurden. Schließlich wird das Arbeitsergebnis dem Führungs- und Planungssystem in geeigneter Form für einen Soll-Ist-Vergleich zurückgemeldet. Im Fall einer unzureichenden Übereinstimmung mit den vorgegebenen Zielen sind gegebenenfalls Interventionen zu veranlassen, während eine ausreichende Erfüllung zu einer Rückmeldung des Zielerreichungsgrades sowie möglicher Verbesserungsmaßnahmen zur Zielsetzung an die Umwelt führt. Die skizzierten Relationen und Wirkrichtungen dieses systemtheoretischen Ordnungsmodells lassen sich mit Hilfe der Konzepte und Modelle der Betriebs- und Arbeitsorganisation präzisieren, wie sie in Kapitel 4 eingeführt werden, sowie z.B. durch die in Kapitel 3.3.1.2 dargestellten regelungstechnischen Menschmodelle quantitativ erweitern. 1.5.1.2
Belastungs-Beanspruchungs-KonzeptĆ
Mit dem Belastungs-Beanspruchungs-Konzept (ROHMERT 1983, 1984) steht ein theoretischer Ansatz zur Verfügung, mit dem die menschbezogenen Phänomene eines Arbeitssystems in einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang gebracht werden können. Als Analysekonzept bietet eine Belastungs-Beanspruchungs-Betrachtung die Möglichkeit der Interpretation vorliegender Tätigkeitsbedingungen. Die Nutzung von Belastungs-Beanspruchungs-Beziehungen im Rahmen eines Messkonzeptes erlaubt die gezielte Untersuchung der Wirkung definierter Tätigkeitsbedingungen auf den Menschen. Der Grundgedanke des Belastungs-Beanspruchungs-Konzepts fußt auf einer Analogie zur technischen Mechanik. Belastung meint dort die Gesamtheit der äußeren Einwirkungen, z.B. Kräfte, die auf ein Bauteil einwirken, während unter Beanspruchung die daraus resultierenden inneren Spannungen in dem Bauteil verstanden werden. Letztere hängen sowohl von der Höhe der Belastung als auch der Geometrie und Werkstoffeigenschaften des Bauteils ab (Abb. 1.10). Entsprechend werden in der Arbeitswissenschaft unter Belastung die äußeren Merkmale der Arbeitssituation (z.B. Arbeitsaufgabe, physikalische, chemische, organisatorische und soziale Umgebungsbedingungen, besondere Ausführungsbedingungen wie Zeitdruck etc.) verstanden, während unter Beanspruchung die
Einführung
39
Reaktionen (körperlich-physiologisch, erlebens- und verhaltensmäßig) des arbeitenden Menschen auf diese Bedingungen subsumiert werden. Bean spruchungĆ nimmt zu
Eigensch aftĆ nimmt ab
Leistu ngĆ nimmt ab
BelastungĆ bleibt konstant
Abb. 1.10: Mechanisches Ersatzmodell zum Belastungs-Beanspruchungs-Konzept (aus ROHMERT 1984)
Die Beanspruchung ist dabei nicht nur eine Funktion der Belastung, sondern hängt auch von individuellen Eigenschaften und Fähigkeiten (z.B. Gewöhnungsgrad, Qualifikation) des Individuums ab (KIRCHNER 1986; ROHMERT 1983, 1984) (Abb. 1.11). Eine gleiche Belastung führt somit bei verschiedenen Menschen zu unterschiedlicher Beanspruchung. BELASTUNG
MENSCH
BEANSPRUCHUNG
Einflüsse, die im Arbeitssystem auf den Menschen einwirken i ik
mit individuellen Eigenschaften, Fähigkeiten, Fertigkeiten und Bedürfnissen
individuelle Auswirkung der Belastung im M Menschen h
Abb. 1.11: Das einfache Belastungs-Beanspruchungs-Konzept (ROHMERT 1983)
Dieses Grundkonzept kann begrifflich weiter differenziert werden: Die Belastung setzt sich aus verschiedenartigen Teilbelastungen zusammen, die wiederum nach Höhe und Dauer (Dosis) quantifiziert werden, und gleichzeitig oder nachei-
40
Arbeitswissenschaft
Belastungshöhe
nander wirksam werden können (siehe auch Kap. 9). Im Arbeitsablauf sind Belastungsabschnitte (LAURIG 1992) dadurch definiert, dass innerhalb eines Abschnitts die Belastungshöhe und der Belastungstyp als konstant aufgefasst werden können (Abb. 1.12).
Te
BelastungsBelastungs dauer
Ta
Te
Belastungsdauer
Belaastungshöhe
Ta
Belastungshöhe
Angabe über Kräfte Energetische Arbeit
g g g Bewegungslängen
Informatorische Arbeit Arbeitsumgebung Arbeitsorganisation Ta
Te
Belastungsdauer
Abb. 1.12: Zeitliche und inhaltliche Ebenen der Belastungsanalyse (aus BRUDER 1993)
Belastungstypen können dabei situationsbezogen (an der Arbeitsumgebung orientiert) oder aufgabenbezogen (an der Tätigkeit orientiert) auftreten. Beispiele sind in Tabelle 1.1 gegeben. Situationsbezogene Belastungstypen wirken spezifisch auf bestimmte Organsysteme bzw. organismische Funktionsbereiche (z.B. Klima ĺ Thermoregulationssystem, Lärm ĺ auditives System) oder auf mehrere unterschiedliche Systeme und Funktionsbereiche (Arbeitsstoffe, Strahlung). Analog zu Teilbelastungen können damit Teilbeanspruchungen einzelner Organsysteme unterschieden werden. Dem Belastungs-Beanspruchungs-Konzept in der Form nach Abb. 1.11 liegt ein stark vereinfachtes Verständnis von menschlicher Tätigkeit zugrunde. Dies zeigt sich vor allem darin, dass das Tätigwerden selbst in dem Modell gar nicht auftaucht. Das bedeutet aber, dass z.B. unterschiedliche Beanspruchungen verschiedener Individuen, die bei ein und derselben Aufgabe beobachtet werden, zwar im Rahmen des Konzepts aus den unterschiedlichen Fähigkeiten und sonstigen Voraussetzungen erklärt werden können, aber nicht etwa daraus, dass sie verschiedene Vorgehensweisen zur Erfüllung der Aufgabe gewählt haben. Das
Einführung
41
Belastungs-Beanspruchungs-Konzept in dieser einfachen Form eignet sich somit nur zur Analyse von in gewisser Weise deterministischen Arbeitssystemen.
Belastungstyp
Beispiele für Kriterien zur Ermittlung der Höhe der Belastung
Belastungsfaktoren (qualitativ)
Belastungsgrößen (quantitativ)
energetische Belastung
Schwere oder Genauigkeit einer Arbeit
Bewegungselemente z.B. nach MTM
physikalische Größen z.B. Gewicht, K f oder Kraft d W Weg
informatorische Belastung
Schwierigkeit der Informationsverarbeitung
Art und Veränderung von Signalen
Informationsgehalt von Anzeigen
Belastung aus physikalischer oder chemischer Umgebung
Intensität eines Umgebungseinflusses
subjektive Feststellung z.B. zur Lautstärke oder Helligkeit
physikalische Größen z.B. zB Schalldruck oder Leuchtdichte
Belastung aus der sozialen Umgebung
Unterstellungsverhältnis
Feststellung zum Betriebsklima
Darstellung von Soziogrammen
aufgabenbezo ogen
Beispiele für
situationsgebunden
Arbeitsumgebung g
Arbeitsformen//-arten
Tabelle 1.1: Beispiele für unterschiedliche Belastungstypen, -faktoren und -größen
Eine weitere Differenzierung der Zusammenhänge zwischen Belastung, Beanspruchung und individuellen Eigenschaften der Arbeitsperson ergibt sich daraus, dass das Tätigwerden (Handlung) des betrachteten Individuums explizit berücksichtigt wird (siehe Abb. 1.13) und Beanspruchungen im zeitlichen Verlauf kumulativ wirken (Ermüdung, Schädigung) oder auch kompensiert werden können (Übung, Gewöhnung). Die Ausführung der Handlung hängt sowohl von der Belastungssituation (also den objektiven Gegebenheiten) als auch von der Handlungskompetenz (den Möglichkeiten der Arbeitsperson, die Anforderungen zu erfüllen) ab. Dies schließt auch den Fall ein, dass es wegen mangelnder Handlungskompetenz zu gar keiner Handlung kommt. Arbeitswissenschaftliche Bewertungsdimensionen (Ausführbarkeit, Erträglichkeit, siehe Kap. 1.5.2) wie auch Eigenschaften der Arbeitsperson (Dauerbelastungs-, Dauerleistungs- und Dauerbeanspruchungsgrenzen) lassen sich in einem derart erweiterten Konzept präzise verankern. Die Beanspruchung hängt zum einen davon ab, ob und wie die Handlung ausgeführt wird und zum anderen von der sogenannten psychophysiologischen Resistenz. Letztere kann etwas unschärfer auch als „Belastbarkeit“ der Arbeitsperson bezeichnet werden.
Teilbelastung aus: (arbeitsbezogenen) Arbeitsaufgaben, (situationsbezogener) Arbeitsumgebung
Dauer, Höhe und Zusammensetzung der Teilbelastungen: simultan, sukzessiv
F ti k it Fertigkeiten
Fähigkeiten
Motivation
Handlung Leistung
Konzentration
Ausführbarkeit
Belastung
Disposition
Antriebe
Individuelle Eigenschaften Handlungskompetenz Grenzen für Trainingswirksamkeit, Übungswirksamkeit, Dauerbeanspruchungsgrenzen
Teilbeanspruchung: Skelett Sehnen / Bänder Muskeln / Atmung Herz / Kreislauf Sinnesorgane Schweißdrüsen Zentralnervensystem Haut
(+) Übung, Anpassung (-) Ermüdung
Dauerbeanspruchungsgrenze
Erträglichkeit
Dauerleistungsfähigkeit
Kennwerte und Kennlinien der Funktion von Organsystemen
Psychologische Resistenz
Schädigung
Schädigungsgrenzen (AGW, BGW)
42 Arbeitswissenschaft
Abb. 1.13: Erweitertes Belastungs-Beanspruchungs-Konzept (nach LUCZAK 1975, modifiziert von ROHMERT 1984; Rückkopplungen im Bild weggelassen)
Einführung
43
Bezogen auf die in Abb. 1.8 sowie Abb. 1.9 dargestellten Arbeitssystemmodelle ergeben sich mit einem derart erweiterten Belastungs-Beanspruchungs-Konzept die in Abb. 1.14 wiedergegebenen Ein- und Rückwirkungen in einem Arbeitssystem. ANFORDERUNGEN verlangen bestimmte
EIGENSCHAFTEN Anforderungen und Auswirkungen bestimmen die
Einwirkung durch Arrbeitsmethoden
BEANSPRUCHUNG Menschseite des Arbeitssystems Objektseite des Arbeitssystems Arbeitsaufgabe, Arbeitsraum, Arbeitsobjekt, Arbeitsmittel, Arbeitsumgebung etc.
Rück- bzw. Auswirkung von A Arbeitsbedingungen
BELASTUNG und zusammen mit den Eigenschaften die
Abb. 1.14: Ein- und Rückwirkungen im Arbeitssystem
1.5.1.3
HandlungsregulationstheorieĆ
Ausgangspunkt der Entwicklung der Handlungsregulationstheorie ist die Kritik an der Vorstellung, menschliches Handeln ließe sich im Rahmen einer eindimensionalen und eindirektionalen Ursache-Wirkungs-Beziehung – wie sie dem Belastungs-Beanspruchungs-Konzept in seiner einfachen Form zugrunde liegt – erklären (MILLER et al. 1973). Implizit sind Vorstellungen der Handlungsregulationstheorie auch in der Entscheidungstheorie und der betriebswirtschaftlichen Organisationslehre (siehe Kap. 1.3.1), d.h. in ökonomisch orientierten Analysezusammenhängen, identifizierbar, ebenso wie in technisch orientierten Analysekonzepten, wie z.B. der Konstruktionslehre (siehe PAHL et al. 2006) und Software-Technik (siehe BALZERT 2001). Psychische Regulation von Arbeitstätigkeiten Eine effektive Arbeitsanalyse, -bewertung und -gestaltung bedingt, dass bekannt ist, wie Arbeitstätigkeiten psychisch reguliert werden. Ein wesentlicher Ausgangspunkt der Handlungsregulationstheorie ist, dass Arbeitsverhalten bzw. -handeln durch Ziele geleitet und gesteuert wird. Ziele stellen also sowohl Ausgangspunkte als auch Regulationskomponenten des Handelns dar. Das Verhalten ist dabei zweckhaft und bewusst. Die Handlungsregulationstheorie betrachtet das
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Arbeitswissenschaft
Arbeitshandeln aus zwei Perspektiven: Die prozessorientierte Perspektive beschreibt eine Handlung von einem Ziel zu einem Plan, dann zur Plan-Ausführung und schließlich zum Handlungsergebnis bzw. dessen Rückmeldung. Unter der strukturellen Perspektive wird hingegen betrachtet, wie der Handlungsverlauf durch hierarchisch gegliederte Funktionseinheiten „geregelt“ wird. Ohne Invarianten in der zu regulierenden Arbeitsaufgabe ist eine zielgerichtete Regulation kaum möglich. Mit Bezug auf ihre mentale Repräsentation spricht HACKER (1986, 2005) von zeitweilig invarianten regulierenden Abbildungen, kurz operativen Abbildsystemen, die ein wesentlicher Bestandteil der psychischen Tätigkeitsregulation sind. Operative Abbildsysteme (OAS) sind multiple Gedächtnisrepräsentationen komplexer Tätigkeitssysteme einschließlich der Prozesse, die es gestatten, Systemkomponenten und deren Interaktionen zu verstehen und vorherzusagen, wie sich Systeme auf Einwirkungen von außen verhalten. OAS beinhalten Ziele als Antizipationen von End-Zuständen, Repräsentationen (Wissen) von Ausgangszuständen und Ausführungsbedingungen sowie Hypothesen zu den erforderlichen Transformationen. OAS haben erwartungsbildende Funktionen und steuern sowohl Handlungsvorbereitung als auch Realisierung. Die Güte des Arbeitsergebnisses hängt somit vor allem von der Differenziertheit und Aufgabenadäquatheit der OAS ab und kann geschult werden. OAS werden anknüpfend an das Vorwissen in den Tätigkeiten aufgebaut. Sie können gelegentlich den Charakter einer Analogie haben, wenn die Vorwissensstrukturen bei ihrem Aufbau überdehnt werden. Besonders stark sind sie jedoch von der Art der Tätigkeit, in der sie aktiv erworben werden und deren Rückmeldungen abhängig. Folglich entstehen vom gleichen System in unterschiedlichen Tätigkeiten verschiedene Abbilder. Bezogen auf Arbeitstätigkeiten enthalten OAS alle relevanten Informationen über Arbeitsobjekte, Arbeitsmittel und die erforderliche Handlungsabfolge. Inadäquate OAS sind, zumindest der Möglichkeit nach, Ursache uneffektiver Arbeitstätigkeiten, verzögerter und auf Probieren aufbauender Eingriffe in den Prozess und verschiedener Fehlhandlungen. Beispielsweise ist ein im Umgang mit seiner Maschine erfahrener Facharbeiter in seinem Arbeitssystem in der Lage schnell, effizient und sicher zu handeln, da er über umfangreiche Kenntnisse der Maschine, ihrer Zustände, Folgezustände und Signale verfügt. Ein unerfahrener Mitarbeiter hingegen wird langsamer und ggf. fehlerhaft handeln, da er noch nicht über ein differenziertes operatives Abbildsystem verfügt. OAS sind nach HACKER (2005) durch fünf Merkmale gekennzeichnet, die anhand der Prüfungsvorbereitung eines Studierenden anschaulich dargestellt werden sollen: x Anforderungsabhängig und bewältigungsorientiert: OAS bilden einschlägige Sachverhalte und technologische Vorgänge in einer für die Regulation der Tätigkeit nützlichen Weise ab. Sie können damit objektive Merkmale verzerrt wiedergeben. Regulationsbedeutsame Sachverhalte, z.B. Reizunterschiede, werden – wenn erforderlich – deutlicher abgebildet als irrelevante. Das kann bis zu einer Vergrößerung der tatsächlich vorliegenden Reizunter-
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schiede im Wahrnehmen führen. Bezogen auf die Prüfungsvorbereitung bedeutet dies, dass der Studierende vor dem Hintergrund seines Vorwissens und seiner bisherigen Studienleistungen für die Prüfung relevante Themen von irrelevanten trennen und im Hinblick auf die zu erwartenden Prüfungsanforderungen vorbereiten muss. x Tragen von verallgemeinerten, schematischen Zügen: OAS tendieren dazu, Klassen von Merkmalen und Relationen des Gegenstandsbereiches zu repräsentieren. Schemata ermöglichen ein rationelles, auf wirksame Prototypen konzentriertes und durch dominante Details ergänztes Behalten von Informationen. So wird ein Studierender den Prüfungsstoff seinem Studienfach entsprechend fachsystematisch gliedern und sich auf die Modelle und Methoden stützen, die ihm bereits hinreichend vertraut sind. x Aufwandsbezogen: Es werden jeweils solche Abbilder erzeugt, die zu kognitiven Strategien führen, welche das Erfüllen der Anforderungen mit möglichst geringem Aufwand ermöglichen. Beispielsweise ist hier die prüfungsnahe Detaillierung und Aufbereitung des Stoffs bis zum Bestehen der Prüfung oder zum Erreichen der gewünschten Note zu nennen. x Antwort- bzw. regulationsbezogen kodiert: OAS können in verschiedener Weise repräsentiert oder kodiert sein. Sie können wie das Informationsangebot, in einem gedächtnisspezifischen, „behaltsfreundlichen“ Code oder in einer auf die Regulation der Tätigkeitsausführung bezogenen Weise kodiert sein. Die Abbildsysteme werden in einer solchen Form kodiert, dass der Rekodierungsaufwand zwischen zu regulierendem praktischem Vollzug und gespeichertem Modell minimal ist. Ein Studierender, der sich auf eine Prüfung vorbereitet, könnte die zu lernenden theoretischen Konzepte durch Beispiele aus der eigenen Erlebenswelt hinterlegen, um so den Aufwand des Merkens und Schlussfolgerns zu reduzieren. x Vorwegnahmen und Erwartungen: Das wichtigste Merkmal besteht im Wirken der Abbildsysteme in der Regulation von Arbeitstätigkeiten mit Hilfe von Vorwegnahmen und Erwartungsbildung. Aus Erfahrungen werden Regeln „extrapoliert“, und es entstehen Erwartungen bezüglich des antizipierten Vorgangs. Das Abbildsystem beschränkt sich also nicht auf statische Zustandsabbildungen, sondern schließt in schematisierter Weise unterschiedliche Formen subjektivem Kalkül entstammende Vorgangsabbildungen ein, die verschiedenartigen Änderungen Rechnung tragen und ein in die Zukunft ausgreifendes und hypothetisches Moment in die Regulation einführen. So kann sich der Studierende bei einer mündlichen Prüfung auf die Spezialgebiete und „Lieblingsthemen“ des Professors einstellen, um potentiell ein möglichst gutes Resultat zu erzielen. Bei einer Klausur hingegen wird er ein geschwindigkeitsoptimiertes Sammeln von Punkten anstreben und sich womöglich auf schriftliche Prüfungsfragen konzentrieren, die ihm bereits in Klausursammlungen zur Verfügung standen. Generell erfolgt die Handlungsregulation durch die Vorwegnahme des Resultats als Ziel, in der Regel auch des Ablaufes, sowie der handlungsrelevanten Be-
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Arbeitswissenschaft
dingungen. Das Handlungsziel ist der Fixpunkt einer ansonsten recht variablen Ausführung, aber ohne Reflexion der Realisierungsbedingungen ist die Aufstellung von Zielen sinnlos (MÜHLFELDER 2003). Hierarchisch-sequenzielle Struktur der Handlungsregulation HACKER (1986, 2005) postuliert ein hierarchisches Modell der Handlungsregula-
tion. Hierbei reguliert das operative Abbild die Handlungen mittels funktioneller Einheiten von in die Zukunft greifenden, hierarchisch gestaffelten Vornahmen und zu deren Verwirklichung dienenden, entsprechend organisierten Handlungs- und Aktionsprogrammen, die gleichfalls hierarchische Rückkopplungsprozesse einschließen. Die Struktur der Funktionseinheiten basiert auf Arbeiten von MILLER et al. (1960) zu TOTE-Einheiten (Test-Operate-Test-Exit) und ist ergänzt um unterschiedlich konkretisierte, bewertete Ziele aus selbst gestellten oder übertragenen Aufgaben (Abb. 1.15).
AUFGABE und Ausführungsbedingungen Vergleich RÜCKMELDUNG
Ziel 2 (Vorwegnahme 2 mit Vorsatz und Programm)
(veränderte) UMWELT
Ziel 1 (Vorwegnahme 1 mit Vorsatz und Programm)
Ausführen der VERÄNDERUNG Vergleich Rückmeldung
Vorwegnahme, Vorsatz, Programm
Vorwegnahme, Vorsatz, Programm Veränderung
Vergleich Rückmeldung
Vorwegnahme, Vorsatz, Programm Veränderung
Abb. 1.15: Darstellung der hierarchischen Struktur einer regulativen Funktionseinheit nach HACKER (2005)
Der Grundgedanke ist der folgende: Ziele und die zugehörigen Handlungsprogramme sind so gegliedert, dass übergeordnete, allgemeine Konstrukte in einer abgekürzten Form die untergeordneten, speziellen Konstrukte beinhalten bzw. erzeugen. Der Hierarchie der Ziele entspricht eine Hierarchie der Handlungsprogramme, die neben bewusstseinspflichtigen Vorgaben auch nichtbewusstseinspflichtige Programme postulieren. Die Zielbildung erfolgt realistisch nach Bedürfnissen und Möglichkeiten der handelnden Person. Die untergeordneten Ziele und Programme können aus den übergeordneten aufweitend abgeleitet sein. Damit kann einerseits bei begrenzter Verarbeitungskapazität Bewusstsein für vor- und nachbereitende, verallgemeinerte Leistungen frei bleiben. Andererseits wird die ausgegliederte, an nachgeordnete Regulationsvor-
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gänge delegierte Tätigkeitsausführung anhand bewährter gespeicherter Ziele und Programme aufwandsökonomisch abgesichert. Da die von den übergeordneten Zielen zu differenzierteren, nachgeordneten Zielen voranschreitende Abarbeitung stets zugleich ein zeitliches Nebeneinander bedeutet, liegt gleichzeitig eine Überordnung und zeitliche Nachordnung vor. Übergeordnete Programme haben also notwendigerweise den größeren antizipativen zeitlichen Vorgriff als die untergeordneten. Die Struktur der Handlungsregulation ist somit hierarchisch aufgebaut. Die Ausführung tatsächlicher Operationen kann jedoch nur sukzessiv erfolgen. Daraus ergibt sich das hierarchisch-sequentielle Modell der Handlungsregulation, d.h. die Oberflächenstruktur (Operationenfolge) einer Tätigkeit ist nicht mehr identisch mit ihrer Tiefenstruktur. Es kann aber „stabil flexibel“ auf äußere Änderungen, Planungsfehler oder die Nicht-Erreichung von Teilzielen eingegangen werden. Die Planung erfolgt oft erst kurz vor der Handlung. Unterschiedliche Ziele können gleichzeitig verfolgt werden, die Handlungsabfolge bleibt aber linear. Zur Veranschaulichung des hierarchisch-sequentiellen Modells dient folgendes Beispiel: Eine Arbeitsperson hat innerhalb eines Projektes zur Entwicklung eines Bauteils den Auftrag bekommen, einen Workshop zur Koordination der nächsten Entwicklungsschritte zu organisieren. Um dieses Gesamtziel zu erfüllen, müssen verschiedene Teilaufgaben abgearbeitet werden. Es muss eine Agenda festgelegt, Moderationsmethoden ausgewählt, Einladungen versendet, ein Tagungsraum sowie Verpflegung organisiert werden. Der Projektmitarbeiter legt bei der Planung der Reihenfolge der einzelnen Teilaufgaben fest, dass er mit der Agenda beginnen wird. Bei der Planung und Ausführung dieser Teilaufgabe ist es nicht nötig, die anderen Teilaktivitäten sowie deren Vornahmen im Bewusstsein zu halten. Die Vollständigkeit und Komplexität des gesamten Handlungsplans muss dem Handelnden nicht permanent bewusst sein, sonst wäre er schnell geistig überfordert. Bei der Ausführung der Teilaufgabe „Agenda aufstellen“ ergeben sich verschiedene Unteraufgaben, wie beispielsweise die Definition der Ziele des Workshops oder die Planung, welche Problem- und Aufgabenstellungen angesprochen werden sollen. Bei der Bearbeitung der Teilaufgabe „Einladungen versenden“ wird der Mitarbeiter ebenfalls vor verschiedene Unteraufgaben wie das Festlegen des Adressatenkreises sowie des zu verwendenen Mediums gestellt. Zur Umsetzung dieser Unteraufgaben sind dann wiederum Planung und Ausführung weiterer Unteraufgaben notwendig. So können die genannten Aufgaben so weit differenziert werden, bis die unterste Handlung nur noch aus der Informationseingabe in den Computer besteht. Zur formalisierten Darstellung der hierarchischen Repräsentation von Benutzerzielen bzw. Handlungsprogrammen werden Graphenbäume verwendet, die logisch-abstrakte Tätigkeitsstrukturen, psychische Abfolgen und Operationen beinhalten (Abb. 1.16).
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1) Abstrakte logische Struktur
2) Psychische Abfolgestruktur und äußere Struktur
Psychische Abfolgestruktur Operationenfolge
3)) Beispielhafte p logische g Struktur für die Tagesplanung g p g eines Studierenden Heutige Tagesaufgaben
Haushalt
Studium Mittagessen planen Einkauf planen
Bad putzen
Klausurvorbereitung
Praktikumsbericht Vorgaben ermitteln
Essen zubereiten
Geld Einkauf Gemüse Gemüse holen erledigen waschen kochen
Abendplanung
Skripte Übungen lesen rechnen
Richtlinie Vorlage lesen erstellen
Bericht erstellen
Sport Freunde treiben anrufen
Abb. 1.16: Darstellung der hierarchischen Struktur einer Ziel- bzw. Programmdekodierung nach HACKER (2005) einschließlich eines Beispiels
Erschließungsplanung
bewusstseinspflichtig Bereichsplanung kontrolliert bewusstseinsfähig, aber nicht bewusstseinspflichtig
Teilzeitplanung
automatisiert nicht bewusstseinsfähig
H dl Handlungsplanung l
Handlungsausführung
Abb. 1.17: Vorstellungen über Regulationsebenen
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Weiterhin lassen sich antriebsregulatorische (Ziele, Motivation etc.) sowie ausführungsregulatorische Vorgänge (Handlungsvorbereitung, Handlungssteuerung und Kontrolle) differenzieren. Ausgehend von der hierarchischen Struktur ausführungsregulatorische Vorgänge wurden von einigen Autoren (HACKER 1994; VOLPERT et al. 1983) verschiedene Regulationsebenen postuliert, wobei zwischen drei bzw. fünf (Abb. 1.17) oder zehn Ebenen unterschieden wird. Die unterste ist in jedem Fall die sogenannte sensumotorische Ebene, auf der die (überwiegend unbewusste) Steuerung von Bewegungen erfolgt. Teilweise kann die Handlungsausführung aber auch kontrolliert und damit bewusstseinsfähig ablaufen. Die oberen Ebenen beinhalten mehr oder weniger komplexe Planungsaktivitäten, die in jedem Fall bewusstseinsfähig, jedoch nicht immer bewusstseinspflichtig kontrolliert werden. HACKER (1994, 2005) unterteilt die Ausführungsregulation in neun hierarchische Klassen. Diese Klassen werden auf eine mittlere Granularität mit drei Ebenen abgebildet, die sich bezüglich aktionsvorbereitender Prozesse wie folgt charakterisieren lassen: (1) Die automatisierte Regulationsebene ist durch die Entstehung oder Aktualisierung eines bewegungsorientierten Abbilds gekennzeichnet. Bewegungsorientierte Abbilder sind nicht bewusstseinspflichtig und höchstens bezüglich ihrer exteriozeptiven und taktilen (nicht kinästhetischen) Komponenten bewusstseinsfähig. Die Regulation von Bewegungen oder automatisierten Bewegungsreihen erfolgt in ausschlaggebendem Umfang durch kinästhetische Signale, die als nichtbewusstseinsfähige Impulse von den bewusstseinsfähigen gegenständlichen Wahrnehmungen zu unterscheiden sind. Bewegungsstereotypen treten bei relativ konstanten manuellen Anforderungen auf. Die kinästhetische Regulation ermöglicht eine begrenzte Anpassung an veränderliche Umgebungsbedingungen. (2) Die perzeptiv-begriffliche Regulationsebene ist dadurch gekennzeichnet, dass im Unterschied zu ihren unselbständigen Komponenten und zu psychisch automatisierten Vollzügen, die Handlungen wenigstens durch bewusstseinsfähige, wenn auch nicht immer bewusstseinspflichtige Vorgänge vorbereitet werden. Es dominieren wahrnehmungsgebundene Urteils- und Klassifikationsvorgänge, die eine Informationsverarbeitung nach gespeicherten Regeln einschließen. Diese Prozesse sind begrifflich überformt. (3) Die intellektuelle Regulationsebene zeichnet sich dadurch aus, dass komplexe Handlungen und Tätigkeiten einer vorbereitenden Analyse und Synthese bedürfen, die nicht allein bewusstseinsfähig zu bewältigen sind, sondern auch eine bewusstseinspflichtige Zuwendung verlangen. Das Denken als vermittelnde, verallgemeinernd-abstrahierende Erkenntnistätigkeit ist in ausschlaggebendem Maße begrifflich gefasst. Es kann im Hinblick auf seine Modalität als bildhaft-anschauliches oder begrifflich-symbolisches Denken und im Hinblick auf die Bekanntheit von Ausgangszustand, Zielzustand und Überführungsbedingungen weiter in unselbständig / vollständig algorithmi-
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sche, unselbständig / unvollständig algorithmische, selbständig / nicht schöpferische und selbständig / schöpferische Denkprozesse unterteilt werden. Im Folgenden werden diese drei Ebenen am Beispiel der Prozessstabilisierung beim „Einfahren“ eines NC-Programmes an einer CNC-Fräsmaschine dargestellt: (1) Automatisierte Regulation: Treten beim Einfahren des NC-Programms Resonanzphänomene auf (sog. Rattern), so werden diese durch entsprechende Schlaggeräusche, Maschinenvibrationen oder Rattermarken vom Facharbeiter wahrgenommen. Aufgrund dieser Prozessindikatoren wird mit Hilfe der Overrideregler (kurz Override) Drehzahl bzw. Vorschub manuell geregelt, um den Zerspanungsprozess zu stabilisieren. Diese gleichmäßige Regelungsbewegung aufgrund der direkt perzeptiven Prozesseindrücke ist der automatisierten Regulation zuzuordnen. Die verarbeitete Information ist ein räumlich-zeitliches Signal, das keine weitere Bedeutung hat, als eine direkte Repräsentation physikalischer Prozessdaten. (2) Perzeptiv-begriffliche Regulation: In der genannten Aufgabensituation ist eine bewährte Heuristik der Benutzer die folgende: WENN Resonanzen auftreten UND die Qualität gefährdet ist, DANN regele zuerst die Drehzahl manuell am Override (in Abhängigkeit der Prozesssignale entweder erst vermindern oder erhöhen, siehe oben) DANN regele Vorschub manuell am Override DANN stoppe Bearbeitung und ändere Zustellung DANN probiere die andere Fräsrichtung DANN plane die Bearbeitung umfassend um (hierbei ist eine funktionalanalytische Betrachtung notwendig, siehe intellektuelle Regulationsebene) (3) Intellektuelle Regulation: Ist aufgrund obiger Heuristik keine Stabilisierung des Zerspanungsprozesses möglich, muss die Bearbeitung unter Berücksichtigung von Werkstückaufspannung, Werkzeugeinsatz, Schnittaufteilung etc. umgeplant werden. Im Fall komplexer, neuartiger Produkte lassen sich deren Eigenschaften in einer Abstraktionshierarchie repräsentieren, das heißt, für ein und dasselbe System werden von der Arbeitsperson in Abhängigkeit der jeweiligen Ziele unterschiedliche Ebenen der Beschreibung verwendet (siehe Kap. 3.3.2.2.5.1). Die handlungsvorbereitenden Vorgänge schaffen nach dem Prinzip der multiplen Zuordnung Aktionsprogramme, die Bestandteile der ausführlich erörterten operativen Abbildsysteme sein können (siehe Abb. 1.18).
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Intellektuelle Regulationsebene
bewussteinspflichtige intellektuelle Analyseund Synthesevorgänge verschiedener Niveaus
bewusstseinspflichtige - Heuristiken - Strategien - Pläne
Perzeptiv-begriffliche Regulationsebene
bewusstseinsfähige b t i fähi wahrnehmungsinterne Urteils- und Klassifikationsprozesse
bewusstseinsfähige Handlungsschemata
Automatisierte A t ti i t Regulationsebene
nichtbewusstseinsfähige ki ä th ti h kinästhetische orientierende Rezeptionen
nichtbewusstseinsfähige St Stereotypen t (Fertigkeiten), Bewegungsentwürfe
Beziehung im Sinne eines Schaffens bzw. Aktivierens Beziehung im Sinne der abkürzenden Repräsentation auf übergeordneten Ebenen Abrufmöglichkeit aus dem Langzeitgedächtnis bei relativ gleichbleibenden Anforderungen und bei hochgeübtem Zustand
Abb. 1.18: Darstellung der multiplen Beziehungen zwischen vorbereitenden und realisierenden Regulationsbestandteilen nach HACKER (2005)
Ein zentraler Kritikpunkt an der Handlungsregulationstheorie ist, dass sie emotionale, motivationale und soziale Aspekte der Arbeit vernachlässigt. Der dargelegte Erkenntnisstand betrifft vor allem Befunde, die hauptsächlich bei sog. monologischer Arbeit in der Produktion und beim mentalen Entwerfen von Produkten und Prozessen gewonnen wurden. Dialogisch-interaktive Erwerbstätigkeiten, wie sie beispielsweise bei personenbezogenen Dienstleistungen oder in kooperativen Entwicklungsvorhaben häufig auftreten, sind kaum bearbeitet. Eine ausführliche Analyse der Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen monologischer und dialogisch-interaktiver Arbeit einschließlich Gestaltungsempfehlungen findet sich in HACKER (2009). 1.5.1.4
GenerelleĆMethodenĆundĆTechnikenĆzurĆempirischenĆAnalyseĆ
Zur Analyse von Arbeitssystemen finden die etablierten wissenschaftlichen Methoden und Techniken der empirischen Forschung Anwendung. Hierbei lassen sich vier Kategorien Beobachtung, Befragung, physiologische Messtechnik sowie physikalische und chemische Messverfahren unterscheiden. Darüber hinaus stehen zahlreiche spezifische arbeitswissenschaftliche Verfahren und Werkzeuge zur Verfügung (siehe Kapitel 1.5.1.5), die auf den zuvor dargestellten Theorien und Konzepten basieren und zum Teil mehrere Erhebungsmethoden beinhalten oder kombinieren (z.B. leitfadengestütztes Beobachtungsinterview). 1.5.1.4.1 Beobachtung Methoden zur Beobachtung von Arbeitsprozessen lassen sich nach fünf Kriterien differenzieren (FRIEDRICHS 1975), die auf der Folgeseite dargestellt sind:
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Arbeitswissenschaft
(1) Offen vs. verdeckt: Ist der Beobachter (oder ein technisches Hilfsmittel wie z.B. Kamera) als solche erkennbar oder nicht? Falls erwartet wird, dass sich das zu beobachtende Geschehen, insbesondere das Verhalten von Personen, dadurch ändert, dass bekannt ist, dass eine Beobachtung stattfindet (Problem der Reaktivität), kann es sinnvoll sein, verdeckt zu beobachten. Korrekterweise sollten die betroffenen Personen nachträglich darüber aufgeklärt werden und ihnen die Möglichkeit gegeben werden, die Bereitschaft zur Verwendung der gewonnenen Daten zu verweigern. Neben ethischen Erwägungen sind auch eine Reihe rechtlicher Rahmenbedingungen zu beachten, so dass der verdeckten Beobachtung in arbeitswissenschaftlichen Untersuchungen nur geringe Bedeutung zukommt. (2) Teilnehmend vs. nicht-teilnehmend: Nimmt der Beobachter am zu beobachtenden Geschehen teil oder steht er außerhalb? Teilnehmende Beobachtung liegt z.B. vor, wenn der Forscher bei einer Felduntersuchung in einem Betrieb selbst auf einem normalen Arbeitsplatz mitarbeitet, um den Betriebsablauf möglichst wenig zu stören und / oder möglichst authentische Informationen zu erhalten. Letzteres gilt vor allem im Zusammenhang mit einer verdeckten Vorgehensweise. (3) Systematisch vs. unsystematisch: Erfolgt die Beobachtung systematisch nach einem standardisierten Schema oder unsystematisch, explorativ, mit geringem Vorwissen über Arbeitsaufgabe und Arbeitssituation. Je präziser die Fragestellung ist und je umfassender die Vorkenntnisse über den Untersuchungsgegenstand sind, desto stärker können systematisierte Verfahren eingesetzt werden, womit auch die Auswertung der Beobachtungsergebnisse erleichtert wird. (4) Künstliche vs. natürliche Situation: Ist die zu beobachtende Situation allein zum Zweck der Beobachtung bestimmter Gestaltungszustände hergestellt worden oder besteht sie unabhängig von der Untersuchung? Hiermit ist die Unterscheidung von Labor- und Feldstudien sowie simulierten Arbeitsplätzen (z.B. Flugsimulator, Fahrsimulator) angesprochen. (5) Selbst- vs. Fremdbeobachtung: Ist der Beobachter seine eigene Versuchsperson? Der Selbstbeobachtung kommt in arbeitswissenschaftlichen Untersuchungen nur in Einzelfällen und in Ergänzung zu anderen Methoden oder im Vorfeld von Erhebungen eine gewisse Bedeutung zu. Beispielsweise kann im Rahmen einer Arbeitsanalyse der Arbeitswissenschaftler die zu untersuchende Tätigkeit selbst ausüben, um besondere Schwierigkeiten oder Erschwernisse zu erkennen. In der arbeitswissenschaftlichen Forschung herrscht die offene, nichtteilnehmende Fremdbeobachtung vor. Offene Beobachtung bedeutet jedoch nicht unbedingt, dass zu beobachtende Personen zuvor über die genaue Forschungsfragestellung aufgeklärt werden müssen. In vielen Fällen ist es sogar notwendig, dass diese während der Durchführung der Untersuchung im Unklaren bleibt, damit das Verhalten der beobachteten Person dadurch nicht beeinflusst wird.
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1.5.1.4.2 Befragung Befragungstechniken lassen sich nach dem Standardisierungsgrad der Frage und Antwortmöglichkeiten in vier Hauptgruppen einteilen (FRIELING u. SONNTAG 1999), die nach der Durchführungsart (schriftlich, mündlich) noch weiter differenziert werden können: (1) Standardisierte Fragen und standardisierte Antworten: Die Befragung erfolgt im Allgemeinen schriftlich, typischer Vertreter dieser Befragungsform ist der Fragebogen mit vorgegebenen Antwortmöglichkeiten zum Ankreuzen. Die Antwortmöglichkeiten können aus zwei (janein, richtigfalsch etc.) oder aus mehreren Alternativen bestehen (z.B. Intensitätsskala: kaumetwaseinigermaßenziemlichüberwiegendvöllig oder Häufigkeitsskala: nieseltenmanchmaloft). Ein generelles Problem dieses Befragungstyps ist, dass alle möglichen Antworten bereits vorher bekannt und im Fragebogen vorgesehen sein müssen. Ein weiteres Problem liegt darin, dass der Befragte bei Verständnisproblemen keine Möglichkeit zum Nachfragen hat und, z.B. bei postalischer Befragung, nicht immer klar ist, wer den Bogen ausgefüllt hat. Vorteilhaft ist dagegen die einfache Auswertung, die sogar automatisch erfolgen kann. Häufig angewandt wird diese Befragungsart im Zusammenhang arbeitswissenschaftlicher Untersuchungen zur Erfassung der subjektiv erlebten Beanspruchung. Bekannte Vertreter sind der BLV-Bogen nach KÜNSTLER (1980) und die Eigenzustandsskala nach NITSCH (1976) (Abb. 1.19). Diese ähnlich aufgebauten Bögen bestehen aus einer Liste von Eigenschaftswörtern (müde, gelangweilt, nervös etc.), denen jeweils eine mehrstufige Intensitätsskala (s.o.) zugeordnet ist. (2) Standardisierte Fragen und nicht-standardisierte Antworten: Die Befragung erfolgt entweder als standardisiertes Interview, in dem der Befragte auf im Wortlaut vorgegebene Fragen frei antwortet oder schriftlich als Fragebogen, in dem der Befragte die Antworten selbst formuliert. Die auftretenden Antworten können nachträglich verschiedenen Kategorien zugeordnet werden. Der Vorteil gegenüber standardisierten Antwortmöglichkeiten besteht darin, dass der Befrager die verschiedenen Antworten, die auftreten, zum Zeitpunkt der Befragung noch nicht vorhersehen muss, dafür ist die Auswertung aufwändiger. (3) Nicht-standardisierte Fragen mit standardisierten Antworten: Diesem Befragungstyp kommt kaum praktische Bedeutung zu. Denkbar wäre z.B., dass eine freigestellte Frage durch Auswahl einer von mehreren vorgelegten Abbildungen oder vorgegebenen Statements beantwortet werden muss. Nicht standardisierte Fragen kommen praktisch nur in mündlicher Form (Interview) vor. (4) Nicht-standardisierte Fragen und nicht-standardisierte Antworten: Diese als freies Interview oder narratives Interview bezeichnete Befragungsform ist besonders dann geeignet, wenn über den Befragungsgegenstand sehr wenig
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bekannt ist und vor Beginn des Interviews noch keine Fragen ausformuliert werden können, sondern sich erst im Laufe des Gesprächs ergeben. Eine größere Zahl von Interviews systematisch auszuwerten ist sehr aufwendig, so dass sich diese Technik vor allem für Einzelfallstudien eignet. AufĆmeinenĆaugenblicklichenĆZustandĆzutreffend
kaumĆ 1
etwasĆ 2
einiger-Ć über-Ć maßenĆ ziemlichĆ wiegendĆ völligĆ 6 4 3 5
gespannt schläfrig beliebt kraftvoll gutgelaunt routiniert anstrengungsbereit unbefangen .........
Abb. 1.19: Ausschnitt aus der Eigenzustandsskala (nach NITSCH 1976)
In der arbeitswissenschaftlichen Forschung sind zwei weitere Befragungstechniken von Bedeutung: (1) Die Selbstaufschreibung kommt immer dann zum Einsatz, wenn Arbeitstätigkeiten über lange Zeiträume protokolliert werden müssen. Das Verfahren kann in unterschiedlichem Grade standardisiert sein, basiert jedoch in jedem Fall darauf, dass die Arbeitsperson über ein längeres Zeitintervall ihre momentane Tätigkeit in einem Protokollbogen mit Zeitangabe festhält. Da das Verfahren in der Durchführung für den Untersucher sehr ökonomisch ist, findet es vorzugsweise bei Felduntersuchungen an zahlreichen Arbeitsplätzen über längere Zeiträume Anwendung (FRIELING u. SONNTAG 1999). (2) Die Methode des lauten Denkens oder verbale Protokolltechnik dient dazu, geistige Prozesse minutiös nachzuverfolgen (siehe Kap. 10.2.1) und findet vor allem in Laboruntersuchungen zur Analyse kognitiver Prozesse Anwendung. Die Person wird angehalten, alle Gedanken während der Arbeit laut zu äußern. Üblicherweise werden diese Äußerungen mitgeschnitten und anschließend anhand von Schemata kategorisiert. Die Auswertung ist sehr arbeitsintensiv und das Verfahren hat den Nachteil, dass die Anforderung, alle gedanklichen Vorgänge laut zu äußern, letztlich diese behindern kann. Insbesondere Aufwandsprobleme in der Auswertung von Handlungsabläufen, verbalen Protokollen u.Ä. können durch Kombinationen von Messverfahren reduziert werden: So interessieren in Handlungsverläufen häufig nur die Phasen, in
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denen Tätigkeiten selbst, der Umgang mit bestimmten Werkzeugen oder Werkzeugfunktionalitäten etc., besondere Beanspruchungen hervorruft. Diese Phasen können weitere Ansatzpunkte für Gestaltungsverbesserungen von Arbeitssystemen liefern. So bietet sich bspw. die Möglichkeit, Beanspruchungszustände einer Person mit Hilfe von Befragung, Beobachtung oder physiologischer Messtechnik zu erfassen, um dann im Nachhinein verbale Protokolle dieser Phasen von den Personen anfertigen zu lassen. Werden die Handlungsverläufe mit Video dokumentiert, so lässt sich in diesen Fällen von beanspruchungs- oder verhaltensinduzierter Videoselbstkonfrontation sprechen. Der Vorteil derartiger Methodenkombinationen ist neben der Aufwandsreduktion, dass objektive Messgrößen (z.B. erfasste Beanspruchungszustände mit Hilfe physiologischer Größen) und subjektive Erklärungen für diesen Zustand kombiniert werden können. Ursache-WirkungsZusammenhänge können damit besser interpretiert werden. 1.5.1.4.3 Physiologische Messtechnik Beanspruchungszustände einer Person lassen sich durch Befragung oder Beobachtung oftmals nicht ermitteln, da die Befragung in kurzen Abständen den zu untersuchenden Vorgang behindern würde oder äußere Anzeichen schwer zu interpretieren sind. Darüber hinaus bestehen mitunter Bedenken, dass die betroffenen Personen wissentlich oder unwissentlich falsche Auskünfte erteilen oder sich in sonstiger Weise verstellen. Physiologische Größen (z.B. die Herzschlagfrequenz) gelten als „objektiv“, da die Versuchsperson diese üblicherweise nicht willentlich beeinflussen kann, außerdem können sie (wie auch einige andere physiologische Größen) kontinuierlich erfasst werden. Mitunter ist es auch möglich Beanspruchungszustände aufzuzeigen, die den betroffenen Personen gar nicht bewusst sind und durch die weniger aufwendige Befragung auch nicht erfasst werden könnten. Folgende physiologische Größen gegliedert nach den organismischen Teilsystemen werden in der arbeitswissenschaftlichen Forschung häufig erfasst (LUCZAK 1987; MARTIN u. VENABLES 1980): x Herz-Kreislaufsystem: Herzschlagfrequenz, Arhythmie (Schwankungen der Momentanherzschlagfrequenz ), Atemfrequenz, Blutdruck. x Stütz- und Bewegungsapparat: Elektromyogramm (Elektrische Erscheinungen im Zusammenhang mit der Aktivierung von Muskeln) (EMG), Biomechanische Größen. x Großhirnrinde: Elektroenzephalogramm (Elektrische Erscheinungen der Großhirnrinde „Gehirnströme") (EEG). x Sehapparat: Blickbewegung, Lidschlussfrequenz, Flimmerverschmelzungsfrequenz (diejenige Blinkfrequenz einer Lichtquelle, bei der der Eindruck von Flimmern in kontinuierliches Leuchten übergeht) x Hautoberfläche: Elektrodermale Aktivität (z.B. Hautwiderstandsreaktionen). x Metabolisches System: Atemvolumen, O2-Aufnahme, CO2-Abgabe, Energieumsatz.
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Arbeitswissenschaft
Die Interpretation physiologischer Messdaten folgt im Wesentlichen zwei Grundmustern: (1) Die gemessene Größe liefert unmittelbar in ihrer absoluten Ausprägung Hinweise auf einen Engpass in dem betreffenden organismischen Teilsystem. Dies ist z.B. bei der Herzschlagfrequenz im Zusammenhang mit schwerer muskulärer Arbeit der Fall. (2) Veränderungen in einem Organsystem werden lediglich als Indikator für einen übergeordneten, zentraleren Prozess interpretiert. So wird z.B. ein Absinken der Flimmerverschmelzungsfrequenz als Zeichen allgemeiner Ermüdung und nicht nur des visuellen Systems interpretiert. Im Vordergrund stehen in diesem Beispiel auch nicht absolute Werte, sondern auf die einzelne Person bezogene Veränderungswerte. Soweit physiologische Größen zur Identifizierung psychischer Beanspruchungen aus geistiger Arbeit im engeren Sinne, aber auch emotionaler Art wie z.B. Angst, herangezogen werden, spricht man auch von psychophysiologischen Verfahren. Eine Zuordnung der genannten Messgrößen zu einzelnen Arbeitsformen ist in Kap. 3 detailliert beschreiben. 1.5.1.4.4 Physikalische und chemische Messverfahren Die physikalisch-chemischen Verfahren lassen sich gliedern in solche, die sich auf die Arbeitsperson beziehen und solche, die zur Erfassung der Arbeitsumgebung dienen. Hierbei sollen die bereits genannten Verfahren der physiologischen Messtechnik außer Acht gelassen werden, bei denen im Grunde auch Variablen personenbezogen erfasst werden, die durch physikalische oder chemische UrsacheWirkungs-Zusammenhänge verknüpft sind. Zur ersten Gruppe zählen die Verfahren des Zeit- und Bewegungsstudiums sowie die Analyse von Körpermaßen und -kräften. Es handelt sich also um die Messung von Zeiten, Wegen und Kräften sowie daraus abgeleiteter Größen wie Geschwindigkeit oder (physikalische) Leistung (siehe Kap. 3.2). Zur Beschreibung der Arbeitsumgebung werden Verfahren der Klima- und Lichtmesstechnik, der Schall-, Schwingungs- und Strahlungsmessung sowie Verfahren zur Analyse und quantitativen Bestimmung von Gasen, Stäuben etc. eingesetzt (Näheres siehe Kap. 9). 1.5.1.5
SpezifischeĆVerfahrenĆundĆWerkzeugeĆfürĆdieĆArbeitsanalyseĆ
Bei der Entscheidung für ein Verfahren oder Werkzeug, mit dessen Hilfe arbeitswissenschaftliche Analysen durchgeführt werden sollen, besteht im Allgemeinen die Alternative, entweder für den speziellen Untersuchungsfall gezielt ein Instrument zu entwickeln oder ein erprobtes Standardverfahren einzusetzen. Der Vorteil der erstgenannten Vorgehensweise besteht darin, dass das Erhebungsinstrument (z.B. Fragebogen, Interviewleitfaden, Beobachtungsschema) an die spezielle Fragestellung und Besonderheiten des Untersuchungsfeldes (z.B.
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Arbeitsplätze in Leitwarten, Arbeitsplätze in Konstruktionsabteilungen) angepasst werden kann. Nachteile sind darin zu sehen, dass eine solche Methodenentwicklung mit erheblichem Aufwand verbunden sein kann, insbesondere um die Einhaltung allgemeingültiger Gütekriterien, z.B. Validität, Reliabilität und Objektivität, sicherzustellen, und eine Vergleichbarkeit mit anderen Untersuchungsergebnissen kaum möglich ist. Die Validität (Gültigkeit) bezieht sich darauf, ob ein Erhebungsinstrument tatsächlich das erhebt, was es vorgibt. Die Reliabilität (Zuverlässigkeit) ist ein Maß dafür, wieweit Zufälligkeiten und unkontrollierte Störgrößen ausgeschlossen sind. Reliabilität äußert sich insbesondere darin, wie gut ein Ergebnis (unter sonst gleichen Bedingungen) reproduzierbar ist. Objektivität oder Konkordanz eines Verfahrens liegt schließlich vor, wenn sichergestellt ist, dass das Ergebnis prinzipiell unabhängig von der Person ist, die das Verfahren einsetzt. Darüber hinaus gibt es weitere Gütekriterien wie die Sensitivität, die diagnostische Aussagekraft, die Generalisierbarkeit, die Utilität o.Ä., die beispielsweise in DIN EN ISO 10075-3 im Detail erläutert werden. Umgekehrt ist die Situation beim Einsatz von Standardverfahren, welche zumeist schnell verfügbar sind. Zu den einschlägigen Gütekriterien liegen in der Regel Literaturwerte vor und die Untersuchungsergebnisse können relativ einfach mit denen anderer Untersuchungen, die auf dem gleichen Verfahren basieren, verglichen werden. Andererseits sind Standardverfahren oftmals unbefriedigend hinsichtlich ihrer Spezifität für die jeweilige Fragestellung. Auf der Grundlage der in den Kap. 1.5.1.1 bis 1.5.1.3 vorgestellten Konzepte und Theorien sowie weiterer theoretischer Ansätze sind zahlreiche Standardverfahren für die Arbeitsanalyse entwickelt worden. Arbeitsanalyseverfahren werden in der deutschsprachigen Arbeitswissenschaft üblicherweise in bedingungsbezogene und personenbezogene Verfahren unterteilt (siehe OESTERREICH u. VOLPERT 1987, DUNCKEL 1999a, FRIELING u. BUCH 2007, SCHÜPBACH u. ZÖLCH 2007, NERDINGER et al. 2008). Bei den bedingungsbezogenen Verfahren
steht die Analyse der technischen, organisatorischen und sozialen Arbeitsbedingungen im Vordergrund, also von Merkmalen der Arbeitstätigkeit, die unabhängig von den jeweiligen Arbeitspersonen sind. Mit Hilfe von Beobachtungen und Befragungen bzw. strukturierter Beobachtungsinterviews werden Anforderungen und Ausführungsbedingungen der Arbeitstätigkeit erfasst und verallgemeinernd interpretiert und bewertet (z.B. in Bezug auf Schädigungslosigkeit, Zumutbarkeit oder Lernpotenziale siehe Kap. 1.5.2). Mit dem „Arbeitswissenschaftlichen Erhebungsverfahren zur Tätigkeitsanalyse“ (AET) von ROHMERT u. LANDAU (1979) liegt ein bedingungsbezogenes Analyseinstrument vor, welches auf dem Arbeitssystemkonzept (Kap. 1.5.1.1) und dem Belastungs-Beanspruchungs-Konzept (Kap. 1.5.1.2) basiert. Das Verfahren ist auf die Lösung von Problemstellungen der Arbeitsgestaltung und die Anforderungsermittlung gerichtet, kann aber beispielsweise auch für die Unfallursachenforschung genutzt werden. Beim AET erfolgt eine Gliederung von Belastungstypen und Belastungsarten (Schlüsselklassifikation, trifft zu/ trifft nicht zu), Einstufung von Belastungshöhen (Schlüssel der Schwere/ Schwierigkeit oder Wichtig-
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Arbeitswissenschaft
keit) und Einstufung der Belastungsdauer über Zeit- oder Häufigkeitseinstufung. Die Analyse gliedert sich in die Analyse des Arbeitssystems (Arbeitsobjekte, Betriebsmittel und Arbeitsumgebung, einschließlich physikalische/chemische Umgebung, Organisation und Entlohnung), die Aufgabenanalyse und die Anforderungsanalyse. Die Erhebung basiert auf einer Kombination aus Befragung und Beobachtung, wobei bei überwiegend körperlichen Tätigkeiten die Beobachtung überwiegt. Nicht beobachtbare Tätigkeitsinhalte werden in einem standardisierten Interview erfragt, ergänzend ist ein Gespräch mit dem Vorgesetzten des Stelleninhabers vorgesehen. Das Ergebnis einer AET-Analyse ist ein „AET-Tätigkeitsprofil“. Es existieren verschiedene Verfahrenssupplemente, z.B. für den Anforderungsbereich „Handlung“ (H-AET, ROHMERT et al. 1979), für Leistungsgeminderte (B-AET, NORTH u. ROHMERT 1980) und für den Bereich der Daten- und Textverarbeitung (DTV-AET, HAIDER u. ROHMERT 1981). Eine verkürzte Verfahrensvariante liegt mit dem Softwaretool ABBA (Arbeitsplatz-Begehungs- und Belastungs-Analyse) vor (LANDAU et al. 1997). Ebenso wie das AET gelten auch der Fragebogen zur Arbeitsanalyse (FAA) von FRIELING u. HOYOS (1978) und das Tätigkeitsanalyseinventar (TAI) von FRIELING et al. (1993) als weitgehend universell einsetzbare, bedingungsbezogene Verfahren. Als deutsche, allerdings erweiterte und modifizierte Version des sog. Position Analysis Questionnaire (PAQ) von McCORMICK et al. (1969, 1972) handelt es sich beim FAA analog zur amerikanischen Originalversion um ein handlungsorientiertes Verfahren zur psychologischen Arbeitsanalyse, welches als vollstandardisiertes Beobachtungsinterview angelegt ist (FRIELING 1999a). Der FAA enthält 221 Items, die in die vier Hauptabschnitte Informationsaufnahme/-verarbeitung, Arbeitsausführung, arbeitsrelevante Beziehungen und Umgebungseinflüsse/besondere Arbeitsbedingungen gegliedert sind. Das Verfahren ist insbesondere für die Beschreibung und Klassifikation von Arbeitstätigkeiten/Stellen und für die systematische Ermittlung von Eignungsanforderungen geeignet (ebd.). Das Tätigkeitsanalyseinventar (TAI) ist mit seinen über 2.000 Items ein sehr umfassendes Verfahren zur psychologischen Arbeitsanalyse, das eine entsprechend differenzierte Beschreibung von Arbeitstätigkeiten ermöglicht. Es dient insbesondere zur Ermittlung energetischer, sensumotorischer und informatorischer Anforderungen. Das TAI besteht aus sieben Hauptabschnitten, die auch partiell eingesetzt werden können: 1) Gesamtgesellschaft/Standort, 2) Betriebsbereich, 3) Arbeitsbedingungen, 4) Sensumotorik, 5) Informationsaufnahme, 6) Informationsabgabe und 7) personenbezogene Daten. In die Entwicklung sind neben den verhaltensorientierten Ansätzen von McCORMICK et al. (1969) zahlreiche weitere arbeitswissenschaftliche/-psychologische Theorien und Konzepte eingeflossen, wie das Belastungs-und Beanspruchungskonzept und verschiedene Stressmodelle (siehe z.B. FACAOARU u. FRIELING 1985; FRIELING 1999b). Auf der Grundlage der Handlungsregulationstheorie wurden weitere wichtige Arbeitsanalyseinstrumente für den deutschsprachigen Raum entwickelt. Neben
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dem Tätigkeitsbewertungssystem (TBS) von HACKER et al. (1995) und seinen Varianten seien das Verfahren zur Ermittlung von Regulationserfordernissen in der Arbeitstätigkeit (VERA) von VOLPERT et al. (1983, überarbeitete Version 2 von OESTERREICH u. VOLPERT 1991) und das RHIA-Verfahren zur Erfassung von Regulationshindernissen in der Arbeitstätigkeit von LEITNER et al. (1987) genannt. Das TBS dient der Erhebung, Systematisierung und Bewertung von arbeitsanalytischen Daten sowie der Ableitung von Verbesserungsvorschlägen für die Arbeitsgestaltung (POHLANDT et al. 1999). Das Verfahren stellt u.A. einen Merkmalsteil mit 52 ordinalgestuften Skalen bereit und erlaubt im Ergebnis eine Beurteilung der analysierten Tätigkeiten respektive der ermittelten Arbeitsanforderungen in Bezug auf Beeinträchtigungsfreiheit, Lern- und Gesundheitsförderlichkeit (siehe Kap. 1.5.2.2). Die „objektive“ Variante für Untersucher (TBS-O) wird durch ein subjektives Modul für Arbeitsplatzinhaber (TBS-S) ergänzt. Konkrete Gestaltungsempfehlungen zählen ebenfalls zu den Bestandteilen des Verfahrens. Das TBS wurde vor allem für Montage-, Bedien- und Überwachungstätigkeiten in der Industrie entwickelt. Für Arbeitstätigkeiten im Büro mit überwiegend geistigen Anforderungen steht die Verfahrensvariante TBS-GA von RUDOLPH et al. (1987) zur Verfügung. Zur TBS-Verfahrensgruppe gehört auch das Rechnergestützte Dialogverfahren zur psychologischen Bewertung von Arbeitsinhalten (REBA Version 8.0, POHLANDT et al. 2008), das auf der Basis eines multiplen linearen Regressionsmodells bereits in der Planungsphase eine vergleichende Beurteilung von alternativen Tätigkeiten ermöglicht (RICHTER et al. 2009). Das VERA dient der Analyse von Tätigkeiten bezogen auf Denk-, Planungsund Entscheidungsanforderungen. Die Datenerhebung erfolgt ebenfalls durch geschulte Untersucher, die während der Arbeit Beobachtungen mit mündlichen Befragungen durchführen und die Ergebnisse in freier, wie auch standardisierter Form protokollieren (OESTERREICH 1999). Ergebnis ist die Einstufung eines Arbeitsplatzes in eine von zehn Regulationsebenen (die höchste, die an dem Arbeitsplatz in Anspruch genommen wird). Das Fehlen von Regulationserfordernissen höherer Ebenen wird als Defizit angesehen, welches u.A. die Persönlichkeitsentwicklung behindert. Aus diesem Konzept leiten sich zwanglos Gestaltungsmaßnahmen ab. Alle Maßnahmen, die dazu führen, dass Planungsaktivitäten auf die Ausführenden verlagert werden, erhöhen bei diesen die Planungs- bzw. Regulationserfordernisse und dienen in diesem Sinne der Persönlichkeitsentwicklung und -entfaltung. Mit dem RHIA-Verfahren sollen Arbeitshandeln behindernde Arbeitsbedingungen (sog. Regulationsbehinderungen) erfasst werden, die eine Quelle psychischer Belastung sind und auf Dauer die Gesundheit der Beschäftigten beeinträchtigen (LÜDERS 1999). Es werden zwei Formen psychisch belastender Arbeitsbedingungen differenziert: 1) Regulationshindernisse (Erschwerungen und Unterbrechungen) und 2) Regulationsüberforderungen (z.B. monotone Arbeitsbedingungen, Zeitdruck). Das zugrundeliegende Belastungskonzept unterscheidet sich damit von dem in Kap. 1.5.1.2 erläuterten Konzept, in welchem der Belastungsbegriff „neutral“ definiert ist und Belastung folglich nicht grundsätzlich zu
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Arbeitswissenschaft
einer Beeinträchtigung oder Schädigung führt (siehe hierzu auch ULICH 2005). Die ursprünglich separat entwickelten Verfahren RHIA und VERA stehen als Verfahrenskombination sowohl für Büroarbeit (RHIA/VERA-Büro von LEITNER et al. 1993) als auch für Produktionsarbeit (RHIA/VERA-Produktion von OESTERREICH et al. 2000) zur Verfügung. Zu den (eher) bedingungsbezogenen Analyseverfahren zählen auch das Instrument zur Stressbezogenen Tätigkeitsanalyse (ISTA; SEMMER 1984, SEMMER et al. 1999), der Leitfaden zur Kontrastiven Aufgabenanalyse (KABA) von DUNCKEL et al. (1993) sowie das Verfahren KOMPASS zur Komplementären Analyse und Gestaltung von Produktionsaufgaben in soziotechnischen Systemen von GROTE et al. (1999). Im Unterschied zu den bedingungsbezogenen Verfahren sind personenbezogene Arbeitsanalyseverfahren auf die Erhebung der subjektiven Wahrnehmung und Einschätzung der Arbeitstätigkeit und ihrer Ausführungsbedingungen durch die Arbeitsperson gerichtet (SCHÜPBACH u. ZÖLCH 2007). Die personenbezogene Arbeitsanalyse untersucht explizit die individuelle Vorgehensweise, die Einstellungen und Meinungen des Stelleninhabers sowie dessen Redefinition des Arbeitsauftrages (FRIELING u. BUCH 2007). Typisch sind schriftliche Befragungen mit standardisierten Fragebögen. Anhand der Daten sollen bestehende Unterschiede zwischen den Arbeitspersonen hinsichtlich der Bewältigung von Aufgaben bzw. des Umgangs mit den gegebenen Arbeitsbedingungen identifiziert werden, um darauf aufbauend beispielsweise Empfehlungen für eine differentielle Arbeitsgestaltung (Kap. 1.5.3.2) geben zu können. Ein Beispiel für ein personenbezogenes Verfahren zur Analyse von Arbeitstätigkeiten ist der Job Diagnostic Survey (JDS) von HACKMANN u. OLDHAM (1975). Der standardisierte Fragebogen operationalisiert die im Job Characteristics Model (siehe Kap. 5.4.2.4) postulierten Zusammenhänge zwischen charakteristischen Merkmalen der Arbeitstätigkeit und personenbezogenen Auswirkungen, wie der Arbeitsmotivation und der Arbeitszufriedenheit (siehe deutsche Übersetzung von SCHMIDT et al. 1985; SCHMIDT u. KLEINBECK 1999). Erfasst wird die subjektive Einschätzung der Arbeitspersonen. Zu dieser Verfahrenskategorie zählen auch das Job Characteristics Inventory (JCI) als Weiterentwicklung des JDS von SIMS et al. (1976), der Job Descriptive Index (JDI) von SMITH et al. (1969, Revision siehe BALZER et al. 1997) sowie die Fragebögen zur (salutogenetischen) subjektiven Arbeitsanalyse SAA bzw. SALSA von UDRIS u. ALIOTH (1980) bzw. RIMANN u. UDRIS (1997). Ebenfalls zu nennen sind die zahlreichen Instrumente zur Erfassung der mentalen Beanspruchung, wie z.B. die Beanspruchungsmessskalen (BMS) von PLATH u. RICHTER (1984) (siehe hierzu Kap. 3.3.3.2.4). Weitergehende Literaturanalysen und Überblicksdarstellungen zu Arbeitsanalyseverfahren finden sich in LUCZAK (1997), DUNCKEL (1999b), SCHÜPBACH u. ZÖLCH (2007), SCHÜTTE (1986, 2009) sowie RICHTER u. KUHN (2005). In den bisherigen Ausführungen wurde deutlich, dass zur differenzierten Beschreibung von Arbeitsanalyseverfahren und damit auch für die Auswahl eines geeigneten Verfahrens zahlreiche Kriterien herangezogen werden können und sollten, wie
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z. B. die wissenschaftlichen Gütekriterien, die mit dem Einsatz vorrangig verfolgten Ziele bzw. Einsatzzwecke, der Anwendungs- bzw. Gültigkeitsbereich, die eingesetzten Methoden und die Analysetiefe (siehe RICHTER u. KUHN 2005, DUNCKEL 1999a). Die Analysetiefe bzw. der Grad der Genauigkeit korrespondiert in der Regel mit dem empfohlenen Anwenderkreis (sog. Nutzergruppe) und setzt in zunehmenden Maße Fach- und Methodenkompetenz voraus. Der erforderliche Grad der Genauigkeit ergibt sich aus dem Zweck und den Bedingungen der Messung, z.B. in Abhängigkeit von gesetzlichen Anforderungen, vertraglichen Regelungen oder Kosten-Nutzen-Überlegungen (DIN EN ISO 100753). Analyseverfahren und Messinstrumente können in drei Präzisionsstufen eingeteilt werden (in Anlehnung an DIN EN ISO 10075-3 und RICHTER u. KUHN 2005): x Stufe 1 Verfahren für Zwecke der genauen Messung („Expertenverfahren“): Ziel des Verfahrenseinsatzes ist es, zuverlässige und gültige Analyseergebnisse auf hohem Präzisionsniveau zu erhalten, um darauf aufbauend geeignete Gestaltungsmaßnahmen ableiten zu können. Expertenverfahren haben in der Regel eine im Vergleich zu anderen Verfahren hohe Anzahl gestufter Merkmale. Die Stufen werden dabei oft nur verbal beschrieben und müssen vom geschulten Verfahrensanwender richtig interpretiert werden. Derartige Verfahren sind meist nur von entsprechenden Fachleuten mit einer Ausbildung in den theoretischen Grundlagen, der Anwendung und der Interpretation der Ergebnisse einsetzbar. x Stufe 2 Verfahren für Übersichtszwecke („Screening-Verfahren“): Wenngleich Screening-Verfahren ebenfalls zu zuverlässigen und validen Ergebnissen führen (sollten), erlauben sie in der Regel nicht die Ableitung konkreter Gestaltungsmaßnahmen. Zu erwarten sind beispielsweise Aussagen über Ansatz- oder Schwerpunkte für eine anschließende Optimierung. Sie unterscheiden sich von den orientierenden Verfahren meist durch eine feinere, mehrstufige Skalierung der Merkmale, z.B. dreistufig: nie - manchmal - ständig, fünfstufig: trifft überhaupt nicht zu - trifft eher nicht zu - teilsteils - trifft eher zu - trifft völlig zu, sechsstufig: sehr schwierig - ziemlich schwierig - recht schwierig - mäßig schwierig - etwas schwierig - nicht schwierig. Der Aufwand für die Durchführung ist häufig geringer als bei den Expertenverfahren. x Stufe 3 Verfahren für Orientierungszwecke („orientierende Verfahren“): Orientierende Verfahren ermöglichen dem Anwender, mit geringem Ressourceneinsatz Informationen über Arbeitsaufgaben, die Akzeptanz der Arbeitsbedingungen o.Ä. auf einem niedrigen Präzisionsniveau zu gewinnen. Typisch sind Instrumente mit mäßigen Graden an Zuverlässigkeit und Validität, wie z.B. Prüf- und Checklisten mit grob gerasterten Merkmalen und dichotomen Merkmalsstufen (ja - nein).
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Arbeitswissenschaft Anlass z.B. viele Arbeitsunfälle Klären und Festlegen der Untersuchungsaufgabe Analyseverfahren bzw. Instrumente z.B. Toolbox bbedingungsbezogene di b Verfahren Nutzergruppe • Experten • geschult • ungeschult
personenbezogene b Verfahren
Analysetiefe • Expertenverfahren • Screeningverfahren • orientierendes Verf.
B Branche h
Tätigkeitsklassen • tätigkeitsspezifisch • tätigkeitsübergreifend Methode Datengewinnung Beobachtung Befragung f etc.
Statistische Gütekriterien
Utilitätskriterien
+
Verfügbarkeit von Vergleichsdatensätzen u. Auswertemethoden
Verfahrensauswahl und Einsatzentscheidung
Abb. 1.20: Vorgehen zur Auswahl eines Arbeitsanalyseverfahrens, modifiziert nach RICHTER u. KUHN (2005)
Die Ergebnisse von Screening-Verfahren (z.B. ISTA, BMS) und orientierenden Verfahren tragen zum schnellen Erkennen von Schwachstellen der Arbeitsgestaltung bei, die spätestens dann einer differenzierteren Analyse mit aussagekräftigeren Verfahren (z.B. AET, FAA, RHIA/VERA, TAI, TBS) unterzogen werden sollten. Ein Vorgehen zur systematischen Verfahrensauswahl ist in Abb. 1.20 dargestellt. Dabei werden zusätzlich zu den bereits genannten weitere Kriterien berücksichtigt, die die Verfügbarkeit von Vergleichsdatensätzen und Auswertungsmethoden sowie die Utilität (z.B. Aufwand/Zeitökonomie, Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse) betreffen.
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1.5.2 1.5.2.1
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Bewerten und Ordnen EbenenschemaĆnachĆRohmertĆundĆKirchnerĆ
Gegenstand arbeitswissenschaftlicher Bewertung ist im Allgemeinen eine sächliche oder konzipierte Arbeitssituation, also die Gesamtheit der Arbeit einschließlich ihrer physikalisch-chemischen, technischen, organisatorischen und sozialen Rahmenbedingungen. Aufgrund der inhärenten Komplexität werden in der Regel multiple Kriteriensysteme zur Bewertung verwendet. Aufbauend auf der Bewertung kann dann die Ordnung der Beziehungen zwischen Mensch und Arbeit erfolgen, die sich auf bestimmte Ordnungshierarchien bzw. -schemata stützt und damit eine methodisch geleitete Beurteilung von Priorititäten und Posterioritäten ermöglicht. Primäres Beurteilungskriterium ist, neben anderen, z.B. ökonomischer und technischer Art, die „Menschengerechtheit“ der Arbeit, also inwieweit sie in dem Sinne menschengerecht ist, dass sie den physischen, psychischen und sozialen Anforderungen und Bedürfnissen des Menschen entspricht. Da eine Arbeitssituation an sich weder gut noch schlecht ist, erfolgt die Bewertung und Beurteilung anhand der physischen und psychischen Wirkungen, die sie beim Menschen hervorruft. In der Diktion des oben dargestellten Belastungs-BeanspruchungsKonzepts erfolgt die Beurteilung der Belastung durch die Arbeitssituation über den Umweg der Bewertung der korrespondierenden Beanspruchung des arbeitenden Menschen. Zur Belastungsbeurteilung liegt ein von KIRCHNER (1972) eingeführtes Schema vor, welches vier Einzelkriterien, nämlich Ausführbarkeit, Erträglichkeit, Zumutbarkeit und Zufriedenheit, hierarchisch miteinander verbindet (Tabelle 1.2). Dieses Schema entfaltet insofern eine ordnende Wirkung, als im Zusammenhang mit Gestaltungsmaßnahmen die Kriterien auf der jeweils elementareren Ebene zunächst erfüllt sein sollen, bevor die Kriterien der nächsthöheren Ebene in Betracht gezogen werden können. Im Sinn der Hierarchie ist zunächst die Ausführbarkeit der Arbeit sicherzustellen. Dazu ist erforderlich, dass die Anforderungen sich innerhalb der Grenzen menschlicher Leistungsfähigkeit bewegen, etwa hinsichtlich der Erreichbarkeit von Stellteilen, erforderlicher Körperkräfte oder der Wahrnehmbarkeit von Signalen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Grenzen der sensorischen, kognitiven und motorischen Fähigkeiten zwischen einzelnen Individuen stark streuen können. Explizit nicht berücksichtigt wird auf dieser Ebene, über welchen Zeitraum und mit welcher Anstrengung, Überwindung etc. die Ausführung verbunden ist. Die Erträglichkeit der Arbeit berücksichtigt zusätzlich, dass auch bei gegebener Ausführbarkeit eine Arbeit nicht zwangsläufig auch über einen längeren Zeitraum durchgeführt werden kann, ohne dass es z.B. zu Schädigungen kommt. Kriterium der Erträglichkeit ist also, dass die Arbeit über die Dauer des Berufslebens bei gegebener täglicher Arbeitszeit sowie Pausen- und Urlaubsregelungen
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Arbeitswissenschaft
ohne Beeinträchtigung der körperlichen und geistigen Gesundheit ausgeführt werden kann. Auch dieser Ebene liegt ein naturwissenschaftlich-physiologisches Verständnis zugrunde, welches die Wahrnehmung und Bewertung der Arbeitssituation durch die Arbeitenden selbst weitgehend ausklammert. Tabelle 1.2: Hierarchie für Mensch-Arbeits-Beziehungen (nach KIRCHNER 1972, ROHMERT 1983) wissenschaftsmethodischeĆĆAnsätzeĆderĆ Arbeitswissenschaft
vorwiegendĆ naturwissenschaftlich
BeurteilungsebenenĆĆmenschlicherĆArbeit
Ausführbarkeit
anthropometrisches,ĆpsychophysischesĆĆundĆtechnischesĆ ProblemĆ (ErgonomieĆi.e.S.)
Erträglichkeit
arbeitsphysiologisches,Ć arbeitsmedizinischesĆundĆ technischesĆProblemĆ (Arbeitsphysiologie,Ć ErgonomieĆu.ĆArbeitsmedizin)
vorwiegend vorwiegendĆ kollektiv-Ć individual- bezogen bezogen
vorwiegendĆ kulturwissenschaftlich
ProblemkreiseĆundĆĆ ĆĆĆZuordnungĆanĆ Einzeldisziplinen
Zumutbarkeit
soziologischesĆundĆökonomischesĆ ProblemĆ(Arbeitssoziologie,ĆArbeitspsychologie,ĆPersonalwirtschafts-Ć lehre,ĆRationalisierungsforschung)
Zufriedenheit
(sozial-)ĆpsychologischesĆundĆökonomischesĆĆProblemĆ(Arbeits-ĆundĆ Sozial/Individualpsychologie,Ć Personalwirtschaftslehre)
Mit Einbeziehung der Zumutbarkeit wird der Rahmen einer nur naturwissenschaftlichen Betrachtung verlassen, und es werden (im weiteren Sinne) soziale Aspekte mit berücksichtigt. In die Zumutbarkeit gehen vor allem kollektive Normen (z.B. gesetzlicher oder tarifvertraglicher Art) ein. Das Niveau dessen, was als zumutbar empfunden wird, hängt damit stärker als bei den zuvor betrachteten Ebenen (auf denen im Wesentlichen ein „gesicherter Kenntnisstand“ maßgebend ist) von den aktuellen sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen ab. Beispielsweise können überdurchschnittliche Bezahlung (z.B. in Form von Gefahren- oder Erschwerniszulagen) oder hohe Arbeitslosenzahlen dazu führen, dass Arbeitsplätze als zumutbar empfunden werden, die unter anderen Bedingungen nicht akzeptiert würden. Dies zeigt, dass Zumutbarkeit kein alleiniges Kriterium sein kann, sondern die vorgenannten Kriterien ebenfalls erfüllt sein müssen. Der Begriff der Zufriedenheit hebt schließlich stärker als die Zumutbarkeit auf die individuelle Bewertung und Beurteilung der Arbeitssituation ab. Zufriedenheit in der Arbeit liegt üblicherweise dann vor, wenn die objektiven Merkmale der Arbeitssituation den individuellen Erwartungen entsprechen. Daraus leitet sich aber auch ab, dass es keinen objektiv beschreibbaren Gestaltungszustand von
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Arbeit geben kann, der mit Sicherheit bei jedem möglichen Stelleninhaber auch zur Zufriedenheit führt. Einerseits ist es weder ökonomisch noch sozial vertretbar, Arbeitsgestaltungsmaßnahmen an (möglicherweise überzogenen) Vorstellungen Einzelner zu orientieren, andererseits – und das ist der problematischere Aspekt – ist es möglich, dass unerfüllte Erwartungen zu einer steten Senkung des Anspruchsniveaus führen, so dass letztlich auch Zufriedenheit unter objektiv unakzeptablen Arbeitsbedingungen möglich ist (sog. resignative Arbeitszufriedenheit, siehe BRUGGEMANN et al. 1975). Zufriedenheit mit der Arbeit kann somit zwar als notwendige, keinesfalls jedoch als hinreichende Bedingung betrachtet werden, da auch hier zunächst die Erfüllung der Kriterien der untergeordneten Ebenen sichergestellt sein muss. 1.5.2.2
EbenenschemaĆnachĆHackerĆ
Ein zumindest formal ähnliches Schema, wie das zuvor dargestellte nach Rohmert und Kirchner, wurde von HACKER (1986) eingeführt (Abb. 1.21). Die vier Beurteilungsebenen stehen ebenfalls in einem hierarchisch strukturierten Zusammenhang, d.h. auch hier sind zunächst die Kriterien tieferer Ebenen zu erfüllen, bevor übergeordnete in die Betrachtung einbezogen werden. Da sich das hier beschriebene Konzept als eine Weiterentwicklung u.A. des Ansatzes von Rohmert und Kirchner versteht, weist es auch einige deutliche Parallelen insbesondere auf den unteren Ebenen zu diesem auf. BEWERTUNGSEBENEN
Mögliche KRITERIEN (Beispiele)
UNTEREBENEN
Realisierung - + 4
Persönlichkeitsförderlichkeit
Weiterentwicklung Erhaltung Dequalifizierung
ሽausgewählter LV
- + Beeinträchtigungs3 freiheit (Zumutbarkeit)
ohne Beeinträchtigungen volle Kompensation labile Kompensation anhaltend verminderte Effektivität funktionelle Störungen
- + 2
Gesundheitsschäden - ausgeschlossen - möglich - höchstwahrscheinlich
Schädigungslosigkeit
einschlägige Normwerte eingehalten - + 1
Ausführbarkeit Normwerte überwiegend nicht eingehalten / zuverlässige Ausführung nicht gewährleistet
o Zeitanteil für - selbstständige - schöpferische Verrichtungen o Erforderliche Lernaktivitäten o Stufen psychophysischer Belastungswirkungen
o MAK-Werte o BK-Morbidität o Unfälle o anthropometrische Normen o sinnesphysiologische Normwerte
Abb. 1.21: System zur Beurteilung von Arbeitsgestaltungsmaßnahmen (LV Leistungsvoraussetzungen, BK Berufskrankheit) (aus HACKER 1986, 2005)
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Arbeitswissenschaft
Unter Ausführbarkeit der Arbeit ist inhaltlich das gleiche, wie im vorausgegangenen Abschnitt zu verstehen. Der Aspekt der Schädigungslosigkeit ist im oben genannten Konzept in der Erträglichkeit enthalten und meint insbesondere die Vermeidung von Gesundheitsschäden durch Unfälle, Berufskrankheiten oder Schadstoffe. Das Kriterium der Beeinträchtigungsfreiheit (im Konzept von Rohmert und Kirchner ebenfalls in der Erträglichkeit enthalten) bezieht sich gegenüber der Schädigungslosigkeit auf kurzfristige Belastungswirkungen, die im Regelfall innerhalb von Arbeitspausen und Freizeit kompensiert werden sollten. Der eigentliche Unterschied gegenüber dem Konzept nach Rohmert und Kirchner manifestiert sich in der Forderung nach Persönlichkeitsförderlichkeit: Stärker als in dem Begriff Zufriedenheit klingt darin das dynamische Element einer (permanenten) Entwicklung der Persönlichkeit in der Arbeit an. Während Zufriedenheit als empirische Kategorie (die Person gibt an, zufrieden zu sein) hinreichend hinterlegt ist, setzt die Operationalisierung von Persönlichkeitsförderlichkeit eine entsprechende Vorstellung davon, was Persönlichkeit ausmacht, voraus, also ein (psychologisches) Menschenbild. Im vorliegenden Fall leitet sich dieses in wesentlichen Punkten aus der weiter oben dargestellten Handlungsregulationstheorie ab. Neben Möglichkeiten sozialer Kooperation und (gesellschaftlicher) Anerkennung der Arbeit ist danach eine Einbeziehung zunehmend höherer Regulationsebenen erforderlich (mit anderen Worten: zunehmende Einbeziehung von Planungs- und Kontrolltätigkeiten in die Arbeitsaufgabe bei gleichzeitiger Routinisierung elementarer Bestandteile). Teilweise wird der Begriff der „Persönlichkeitsförderlichkeit“ als zu deterministisch d.h. an einem zu eng (extern oder kollektiv) definierten Menschenbild orientiert, abgelehnt. Weitere Ablehnungsgründe sind die mit dem Begriff der „Förderlichkeit“ eventuell verbundene Vorstellung eines idealen Sollzustands, der mit gezielten Interventionen erreicht werden kann. Alternativ wird der Begriff der „Persönlichkeitsentfaltung“ vorgeschlagen, womit auf individuell unterschiedliche Ziele und Möglichkeiten der Entfaltung abgehoben wird. Damit wird ein Begriff gewählt, der auch verfassungsrechtlich im Grundgesetz als elementares Personenrecht definiert ist (LUCZAK 1989). 1.5.2.3
KriterienĆ inĆ AnlehnungĆ anĆ dieĆ BetrachtungsebenenĆ vonĆ ArbeitsprozessenĆ
Dieser breite Konsens hinsichtlich einer Bewertung und Beurteilung von Arbeitsprozessen lässt sich mit den in Kap. 1.4.4 beschriebenen Betrachtungsebenen in Verbindung bringen. Da sich die Ausführbarkeit als anthropometrisches Problem auf die Ebene von Arbeit mit Werkzeugen und Maschinen (Ebene 2) bezieht, die Erträglichkeit dagegen als arbeitsphysiologisches und arbeitsmedizinisches Problem sich primär mit der Ebene 1, den autonomen Körperfunktionen und der Arbeitsumgebung, beschäftigt, ist allerdings ein Austausch der Reihenfolge der ersten beiden Kriterien notwendig. Darüber hinaus behandeln die genannten Konzepte das Arbeiten einer einzelnen Person, also die Ebenen 1 bis 4, in dem in
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Kap. 1.4.3 dargestellten Ebenenmodell. In Anknüpfung an kooperative Arbeitsformen in Arbeitsgruppen und betriebliche Arbeitsbeziehungen (Ebenen 5 und 6) ist deswegen das Kriterium der Sozialverträglichkeit zu ergänzen. Sozialverträglichkeit bedeutet in diesem Zusammenhang, inwieweit eine Beteiligung von Arbeitenden an der Gestaltung von Arbeitssystemen, bezogen auf die kooperative Organisation der Produktion oder Dienstleitung, vorgesehen ist. Damit ergibt sich das in Abb. 1.22 dargestellte Ebenenschema, das der Kerndefinition zugrunde liegt. Demnach ist der Kern der Disziplin im Bewertungs- und Ordnungszusammenhang von Arbeit als Ausgangspunkt und Bezugsrahmen für Gestaltungsmaßnahmen zu suchen und zu finden. Sozialverträglichkeit
Zufriedenheit und Persönlichkeitsentfaltung Zumutbarkeit und Beeinträchtigungsfreiheit
Ausführbarkeit
Schädigungslosigkeit Schädig ngslosigkeit und nd Erträglichkeit
Ć Abb. 1.22: Arbeitswissenschaftliche Kriterien und Ordnungszusammenhänge in Anlehnung an die Betrachtungsebenen von Arbeitsprozessen (LUCZAK u. VOLPERT 1987)
Auch hier besteht ein grundsätzlicher Ordnungszusammenhang zwischen Kriterien der Ebenen 2-6 insofern, als Kriterien einer niedrigeren Ebene erfüllt sein müssen, bevor die einer höheren Ebene greifen können. Der korrespondierende humanorientierte Gestaltungsprozess dient vorwiegend dem Vermeiden von ungünstigen Gestaltungszuständen, die möglicherweise vom simultan laufenden Kreislauf zur „effektiven Gestaltung“ ausgelöst werden (siehe Abb. 1.22, links). Ein solcher Kreislauf ist natürlich unabdingbar. Neuerdings wird dem Vermeidungskonzept ein komplementärer Kreislauf mit dem Ziel einer „affektiven Gestaltung“ beigeordnet (siehe Abb. 1.22, rechts), der eher menschbezogen positiv besetzte Werte in den Vordergrund stellt und sich am Leitbild von „bester Praxis“ (best practice) orientiert (siehe KHALID 2006, HELANDER u. KHALID 2006). In Deutschland wird diese Diskussion unter dem Titel „gute Arbeit“ – auch „Neue Qualität der Arbeit“ – geführt und mit entsprechenden Programmen hinterlegt (INQA 2009). Auf der Ebene der Europäischen Union existieren Initiativen mit vergleichbarer Zielsetzung (siehe z.B. SOBANE 2009)
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1.5.2.4
Arbeitswissenschaft
Bewertungs-ĆundĆBeurteilungsprinzipienĆ
Die oben dargestellten Konzepte skizzieren zunächst nur einen groben Rahmen in Form von Zielvorstellungen. Die Bewertung und Beurteilung konkreter Arbeitsbedingungen muss deshalb durch ergänzende Bewertungs- und Beurteilungsprinzipen erfolgen. Es lassen sich folgende Ansätze unterscheiden: x Sollwerte: Für verschiedene quantitativ bestimmbare Merkmale von Arbeitsbedingungen lässt sich ein Optimum und unter Berücksichtigung notwendiger Toleranzen ein Optimalbereich angeben. Die Gestaltung hat dann darauf abzuzielen, einen Zustand herbeizuführen, der unter jeweils zu beachtenden Voraussetzungen innerhalb der Spanne zwischen einem gegebenen Minimalund Maximalwert liegt. Beispielsweise lässt sich für das Raumklima (Konstellation aus Lufttemperatur, -feuchte und -geschwindigkeit) für verschiedene Tätigkeiten ein sog. Behaglichkeitsbereich angeben (siehe Kap. 9.4). x Grenzwerte: Für andere ebenfalls quantifizierbare Bestimmungsgrößen der Arbeitssituation gibt es keinen Idealbereich, anzustreben ist vielmehr, dass ein bestimmtes Merkmal überhaupt nicht auftritt. Da dies nicht in allen Fällen möglich ist, existieren für jeweils festgelegte Rahmenbedingungen Grenzwerte, die auf keinen Fall überschritten werden dürfen. Solche Grenzwerte liegen beispielsweise in Form maximaler Arbeitsplatzkonzentrationen (Arbeitsplatzgrenzwerte) für verschiedene gefährliche bzw. gesundheitsschädliche Arbeitsstoffe vor (siehe Kap. 9.6). x Extremalwerte: Daneben existieren Bestimmungsgrößen, für die sich weder ein Soll- noch ein Grenzwert sinnvoll angeben lässt, an die aber Maximierungs- bzw. Minimierungsforderungen gestellt werden können. Beispielsweise lässt sich für Arbeitszufriedenheit weder ein Optimum noch eine vernünftige untere Schranke angeben. Hier kann lediglich in einem Vergleich zwischen verschiedenen Konstellationen von Arbeitsbedingungen derjenigen der Vorzug gegeben werden, die die größte Zufriedenheit bzw. geringste Unzufriedenheit hervorruft. x Binäre Entscheidung und ordinale Klassifikation: Oftmals liegen Gestaltungsregeln vor, so dass die Beurteilung eines Ist-Zustandes auf eine JaNein-Entscheidung, ob eine Regel eingehalten ist oder nicht, reduziert werden kann. Beispiel: Verfügt eine Maschine über einen „Not-Aus“-Schalter? Auch Rangfolgen (Beispiel: „nicht geeignet“ bis „vollständig geeignet“) lassen sich so definieren. Vielfach hat sich in der Anwendung arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse in der Praxis das Ampelschema nach DIN EN 614 durchgesetzt. Bei diesem Schema werden folgende drei Stufen unterschieden: o GRÜN (niedriges Risiko, empfehlenswert): Vernachlässigbares Risiko einer Erkrankung oder Verletzung, welches für alle in Frage kommenden Arbeitspersonen auf einem annehmbar niedrigen Niveau ist. o GELB (mögliches Risiko, nicht empfehlenswert):
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Für in Frage kommende Arbeitspersonen besteht insgesamt oder teilweise ein nicht vernachlässigbares Risiko einer Erkrankung oder Verletzung. o ROT (hohes Risiko, zu vermeiden): Das Risiko einer Erkrankung oder Verletzung ist hoch und es ist nicht zumutbar, die in Frage kommenden Arbeitspersonen diesem Risiko auszusetzen. x Komplexe Bewertungsprinzipien: Mitunter können für verschiedene Einzelaspekte Zielvorgaben formuliert werden, die bei der Realisierung allerdings miteinander in Konflikt geraten oder einander sogar ausschließen. Da in einem solchen Fall die Möglichkeit versagt, die einzelnen Parameter jeweils für sich zu optimieren, müssen Maße für die Beurteilung des Gesamtzustandes gebildet werden. Dies kann zum Beispiel über Verfahren der statistischen Nutzwertanalyse geschehen (siehe Kap. 3.3.2.2.2.1). 1.5.3 1.5.3.1
Gestalten GestaltungsprinzipienĆ
Ziel der Arbeitsgestaltung ist die Optimierung des gesamten Arbeitssystems, also ein möglichst günstiges Verhältnis von Input (Material, Rohstoffe, Energie, Information) und Output (Produkt, ggf. Zwischenprodukt oder Dienstleistung), bei gleichzeitiger Berücksichtigung der in Kap. 1.5.2 genannten Humankriterien. Dabei ergeben sich die Zielsetzung sowie die Bewertungskriterien, durch die der Grad der Zielerreichung operationalisiert wird, in der Regel nicht aus dem Arbeitsprozess selbst, sondern aus wirtschaftlichen, politisch-rechtlichen, ökologischen, gesellschaftlichen oder ethischen Motiven. So entstehen beispielsweise wirtschaftliche Motive aus der Absicht einer möglichst wirksamen Verwertung des eingesetzten Kapitals sowie Gewinnerzielung. Politisch-rechtliche Motive leiten sich z.B. aus der Fürsorgepflicht des Arbeitsgebers ab, die sich in Deutschland aus §§241 Abs. 2, 617-619 BGB als Nebenpflicht aus dem Arbeitsverhältnis ergibt. Ökologische Motive stützen sich häufig auf das Konzept der Nachhaltigkeit, das die Nutzung eines regenerierbaren (Arbeits-)Systems in einer Weise fordert, bei welcher dieses System in seinen wesentlichen Eigenschaften erhalten bleibt und sein Bestand auf natürliche Weise nachwachsen kann. Schließlich ist die Schädigungsvermeidung ein wohl unbestrittenes ethisches Postulat und deshalb auch ein bereits benanntes Humankriterium. Im Prozess der Arbeitsgestaltung (siehe Kap. 1.2.2) ist zu beachten, dass den Fähigkeiten und Fertigkeiten der Arbeitspersonen – auch bei besonderer Eignung im Einzelfall – recht enge evolutionsbedingte Grenzen gesetzt sind, die durch Ausbildung und Training nur in gewissem Umfang verschoben werden können. Dies betrifft z.B. die maximal erzeugbaren Körperkräfte, die Empfindlichkeit der Sinnesorgane, die Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung sowie die Resistenz gegenüber verschiedenen Umgebungseinflüssen (Hitze, Kälte, toxische Substanzen, ionisierende Strahlung etc.). Neben diesen biologischen Grundgegeben-
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heiten spielen selbstverständlich auch soziale Momente wie die Zumutbarkeit bestimmter Tätigkeiten und die Akzeptanz von Gestaltungsmaßnahmen eine Rolle, die in höherem Maße zeitlichen Veränderungen unterliegen. Durch Maßnahmen der Arbeitsgestaltung soll eine Anpassung der technischen, organisatorischen und sozialen Bedingungen an den Menschen erreicht werden, so dass mit Bezug auf die Kerndefinition schädigungslose, ausführbare, erträgliche und beeinträchtigungsfreie Arbeitsbedingungen sichergestellt werden, Standards sozialer Angemessenheit nach Arbeitsinhalt, Arbeitsaufgabe, Arbeitsumgebung sowie Entlohnung und Kooperation erfüllt werden, die Arbeitspersonen Handlungsspielräume entfalten, Fähigkeiten erwerben und in Kooperation mit Anderen ihre Persönlichkeit erhalten und entwickeln können (siehe Kapitel 1.2.1). Ausgehend von verschiedenen empirischen Untersuchungen sowie vergleichbaren theoretischen Überlegungen, die die Annahme stützen, dass es keine einheitlichen, für alle Arbeitspersonen „optimalen“ Arbeitsstrukturen und -prozesse geben kann (siehe ZINK 1978; TRIEBE 1980, 1981), postuliert ULICH (1978, 2005) drei zentrale Prinzipien der Arbeitsgestaltung: (1) Das Prinzip der flexiblen Arbeitsgestaltung bezieht sich zunächst nur auf die Berücksichtigung interindividueller Differenzen innerhalb einer vorgegebenen Arbeitsstruktur. Unterschiede in der menschlichen Krafterzeugung und Informationsverarbeitung können hier ebenso eine Rolle spielen wie Unterschiede im Lernstil oder in der Motivation (siehe LUCZAK et al. 2006). Arbeitssysteme sind danach so auszulegen, dass basierend auf gewissen Arbeitsmethoden unterschiedliche Arbeitsweisen ermöglicht werden. (2) Das Prinzip der differentiellen Arbeitsgestaltung greift mit seinem Anspruch, interindividuelle Unterschiede zu berücksichtigen, weiter, in dem es in bewusster Erweiterung der klassischen Suche nach dem „one best way“ das gleichzeitige Angebot verschiedener Arbeitsstrukturen fordert, zwischen denen die Arbeitspersonen wählen können. Die Wahlmöglichkeit erlaubt die kritische Auseinandersetzung mit der Arbeitstätigkeit und trägt damit zur Persönlichkeitsentwicklung bei. (3) Mit dem Prinzip der dynamischen Arbeitsgestaltung werden darüber hinaus intraindividuelle Unterschiede der Beschäftigten berücksichtigt, welche sich beispielsweise durch Prozesse der Qualifikations- und Kompetenzentwicklung ergeben (siehe Kap. 2.3). Es sollen Möglichkeiten zur Erweiterung bestehender und zur Schaffung neuer, dem Lernfortschritt Rechnung tragender Arbeitsinhalte vorgesehen werden. Die Notwendigkeit der Berücksichtigung interindividueller Unterschiede bei der Gestaltung von Arbeitssystemen, sowohl im Hinblick auf die persönliche Entwicklung als auch auf die Effizienz, wird auch von LUCZAK et al. (2006) betont. Weitere empirische Untersuchungen, die die genannten Prinzipien untermauern, finden sich beispielsweise in ZÜLCH u. STARRINGER (1984), GROB (1985); PAETAU u. PIEPER (1985), MORRISON u. NOBLE (1987).
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Die Berücksichtigung interindividueller Unterschiede bei der Gestaltung von Arbeitssystemen und insbesondere auch Arbeitsplätzen gehört zu den Grundprinzipien der Arbeitswissenschaft. Diesem Grundprinzip folgend, sollten vor jedem menschbezogenen Gestaltungsprozess die spezifische Konstitution, Disposition, Qualifikation und Kompetenz (Näheres in Kap. 2) derjenigen Personen erfasst werden, für die das zu gestaltende System ausgelegt werden soll. Da eine Auslegung für einen heterogenen Kreis von Menschen zwar dem arbeitswissenschaftlichen Ziel der gleichzeitigen Optimierung von humanitären und wirtschaftlichen Zielen entspricht, aber aus Aufwandsgründen z.B. bei der ergonomischen Arbeitsplatzgestaltung nicht per se alle potentiellen Benutzer hinsichtlich ihrer individuellen Anforderungen im vollen Umfang berücksichtigt werden können, findet in der Regel eine Einschränkung der zu berücksichtigenden Charakteristiken entsprechend der „90%-Regel“ statt. Gemäß dieser Regel findet eine Anpassung von Arbeitssystemen lediglich an die Gruppe von Arbeitspersonen statt, die in der Summenhäufigkeit das Intervall von 5% bis 95% hinsichtlich des betreffenden Gestaltungsparameters (z.B. Körperhöhe) einschließt. Darüberhinausgehende untere und obere Randbereiche werden nicht berücksichtigt. Die geometrische Auslegung von Arbeitsplätzen nach dieser Regel wird in Kapitel 10.1.3 ausführlich dargestellt. In ausgewählten Fällen muß die Gestaltung mit erweiterten Intervallgrenzen von 1% bzw. 99% erfolgen. Dies trifft beispielsweise auf sicherheitsrelevante Systeme zu, aber auch auf die Gestaltung von technischen Einrichtungen im öffentlichen Bereich, wo einer großen Zahl von Menschen die Benutzung ermöglicht werden soll. 1.5.3.2
GestaltungsstrategienĆ
Bezogen auf den Zeitpunkt der Berücksichtigung arbeitswissenschaftlicher Kriterien und Erkenntnisse im Prozess der Gestaltung lassen sich prinzipiell zwei Fälle unterscheiden: x Bestehende Arbeitsstrukturen und -prozesse werden nachträglich den (veränderten) Anforderungen menschlicher Arbeit angepasst. x Arbeitswissenschaftliche Ziele, Kriterien und Erkenntnisse werden bereits im Stadium des Entwurfs neuer Arbeitsstrukturen/-prozesse berücksichtigt. Die unterschiedlichen Fälle charakterisieren verschiedene Strategien der Arbeitsgestaltung. Der erstgenannten Strategie kommt aus arbeitswissenschaftlicher Sicht insofern eine besondere Bedeutung zu, als in der Praxis häufig bestehende Arbeitssysteme nachträglich angepasst werden müssen. Man spricht auch von sog. Humanisierungsmaßnahmen. In diesem Fall handelt es sich also um eine korrigierende bzw. korrektive Arbeitsgestaltung. Derartige Maßnahmen beschränken sich häufig auf die ergonomische (z.B. Änderung von Stellteilen, nachträgliche Schalldämmung) und organisatorische Gestaltung (z.B. Einführung von teilautonomer Gruppenarbeit, siehe Kap. 5.5). Werden Arbeitssysteme grundlegend neu gestaltet, so können die Erfordernisse menschlicher Arbeit von vornherein berücksichtigt werden. Es bietet sich demzu-
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folge die Möglichkeit einer konzeptionellen bzw. konzeptiven Arbeitsgestaltung. Die konzeptive Arbeitsgestaltung wird häufig auch als konzeptive Ergonomie bezeichnet (siehe LAURIG 1992). Dabei bedeutet konzeptive Ergonomie, dass ergonomische Anforderungen – zusammen mit technischen, organisatorischen und wirtschaftlichen Anforderungen – schon in der Gestaltungsphase gleichberechtigt berücksichtigt werden. Bei jedem Gestaltungsschritt wird auch die Erfüllung ergonomischer Forderungen überprüft (PETERS 2007). Wenn bei der korrektiven oder konzeptiven Gestaltung von Arbeitssystemen Kriterien der Persönlichkeitsentfaltung besondere Berücksichtigung finden, kann von einer prospektiven Arbeitsgestaltung gesprochen werden. Prospektive Arbeitsgestaltung nach ULICH (2005) „meint das bewusste Schaffen von Möglichkeiten der Persönlichkeitsentwicklung im Stadium der Planung bzw. des Entwurfs – oder: der Neustrukturierung – von Arbeitssystemen durch Erzeugen objektiver Handlungs- und Gestaltungsspielräume, die von den Beschäftigten in unterschiedlicher Weise genutzt – und nach Möglichkeit auch erweitert werden können“. Er differenziert drei Strategien, die in Verbindung mit den jeweiligen Zielgrößen in Tabelle 1.3 dargestellt sind. Tabelle 1.3: Strategien und Ziele der Arbeitsgestaltung nach ULICH (2005) Strategien
Ziele
Korrektive Arbeitsgestaltung
Korrektur erkannter Mängel
Präventive Arbeitsgestaltung
Vorwegnehmende Vermeidung gesundheitlicher Schädigungen und Beeinträchtigungen
Prospektive Arbeitsgestaltung
Schaffung von Möglichkeiten der Persönlichkeitsentwicklung
1.5.3.3
EinbindungĆ arbeitswissenschaftlicherĆ ErkenntnisseĆ inĆ dieĆ ProduktentwicklungĆ
Im Rahmen der Produktentwicklung und dort insbesondere im Zusammenhang mit der Gestaltung von Mensch-Maschine-Interaktionen wurden Vorgehensweisen zur menschengerechten Gestaltung definiert und in Normen übertragen (z.B. DIN EN ISO 13407). Diese Ansätze werden in Kapitel 10.3.1.2 ausführlich beschrieben. In Anlehnung an die bekannten Gestaltungsmethodiken, beispielsweise aus der Konstruktionslehre (siehe u.A. VDI 2221), gliedern sich menschbezogene Gestaltungsprozesse in die Phasen: (1) Analyse (Bezug zu menschlichen Nutzungskontexten) (2) Konzeption (Berücksichtigung von Benutzer- und Benutzungsanforderungen) (3) Entwerfen (Einbeziehen der späteren Benutzer)
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(4) Ausarbeiten (inklusive der Bewertung des Erfüllungsgrades von Benutzungsanforderungen). In Ergänzung zu den rein technischen Gestaltungsmethodiken wird bei der menschbezogenen Gestaltung auf eine frühzeitige und kontinuierliche Einbindung des späteren Nutzers in den Gestaltungsprozess geachtet. Somit stellen menschbezogene Gestaltungsprozesse keinen Ersatz existierender Produktentwicklungsprozesse dar, sondern ergänzen diese um den häufig benötigten Bezug zu den Benutzern. Von der International Ergonomics Association (IEA) wurden Anforderungen an einen Gestaltungsprozess definiert, die bei der Entwicklung von Produkten zu berücksichtigen sind, die dem Anspruch nach hoher ergonomischer Güte entsprechen sollen. Der Gestaltungsansatz wird als „Ergonomic Quality in Design“ (EQUID) bezeichnet (IEA 2009) In dem von der IEA definierten Gestaltungsprozess (siehe Abb. 1.23) wird gefordert, dass die Beteiligung der Nutzer an der Produktentwicklung nachvollziehbar und transparent dokumentiert wird. Zu Beginn der Produktentwicklung werden dazu die Benutzer- und Benutzungsanforderungen erhoben und so aufbereitet, dass sie allen Beteiligten klar sind und jederzeit im nachfolgenden Entwicklungsprozess genutzt werden können. In festgelegten zeitlichen Abständen wird geprüft, ob sich die definierten Anforderungen geändert haben bzw. geändert werden müssen. Nach Abschluss der Entwicklungsphase erfolgt eine ergonomische Evaluation (siehe auch Vorgehen in DIN EN ISO 13407, Kap. 10.2.1). Schließlich wird nach der Markteinführung von Produkten eine Evaluation der Benutzerzufriedenheit durchgeführt und dokumentiert. Die Ergebnisse dieser Erhebung dienen sowohl der Verbesserung des aktuellen Produktes als auch der Definition von Anforderungen an die nächste Generation von Produkten.
Abb. 1.23: Ansatz des “Ergonomic Quality in Design“ (EQUID) (IEA 2009)
Neben der Berücksichtigung und der Dokumentation der Nutzerinteressen während der Produktentwicklung zielt die mit dem EQUID-Ansatz definierte Vorge-
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hensweise auf die Verknüpfung einer ergonomischen Produktentwicklung mit den strategischen Zielen eines Unternehmens. Dazu wird zu Beginn der menschbezogenen Produktentwicklung eine Zustimmung der Unternehmensleitung zu dem ergonomischen Gestaltungsprozess erwartet. Weiterhin muss die Bereitstellung von Ressourcen sichergestellt sein. Der mit dem EQUID-Ansatz beschriebene Gestaltungsprozess gilt in der bisherigen Form nur für die Produktentwicklung im engeren Sinn. Allerdings lassen sich die grundlegenden Prinzipien dieses Ansatzes auch auf die Arbeitsgestaltung in der Produktion sowie im Service übertragen. Ein Beispiel für eine frühzeitige und kontinuierliche Berücksichtigung von menschbezogenen Aspekten im gesamten Produktentstehungsprozess ist in Abb. 1.24 dargestellt (siehe auch Kap. 10.3.2).
Abb. 1.24: Einbindung der Ergonmomie in den Produktentstehungsprozess
Schon in frühen Phasen des Produktentstehungsprozesses können, durch die Anwendung von Methoden und Technologien der Modellbildung und Simulation, die zur Produktherstellung notwendigen Produktionskonzepte und -systeme antizipiert und deren ergonomische Qualität für die Arbeitspersonen bewertet und beurteilt werden (siehe Kap. 10.2.3). 1.5.3.4
ArbeitsgestaltungĆundĆProduktgestaltungĆ
Gemäß dem bereits erläuterten Gegenstandsbereich der Arbeitswissenschaft (siehe Kap. 1.1.1 und Kap. 1.2.1), gehören neben der „Arbeitswelt“ auch weitere Bereiche menschlicher Tätigkeit zum Anwendungsbereich arbeitswissenschaftlicher Theorien, Prinzipien und Methoden. Dies gilt insbesondere für die Gestaltung von Produkten, deren Einsatz nicht auf Arbeitsprozesse beschränkt bleibt. Dazu gehören Produkte aus den Bereichen Mobilität (z.B. Kraftfahrzeuge, Flugzeuge,
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Schienenfahrzeuge), Informationstechnologie (z.B. graphisch-interaktive Systeme, Ein-/Ausgabegeräte für Computer, Mobilfunkgeräte), aber auch Konsumgüter (z.B. Spielgeräte, Kücheneinrichtungen). Eine Auswahl von Fallbeispielen findet sich in BRUDER (2004) oder SCHMIDT et al. (2008). Hinsichtlich der anzuwendenen Prinzipien und einzusetzenden Methoden bestehen große Ähnlichkeiten zwischen der Arbeitsgestaltung und der Produktgestaltung (LANDAU 2003). So gelten beispielsweise die informatorischen Gestaltungsprinzipien (siehe Kap. 10.1.2) sowohl für die Gestaltung von Mensch-MaschineSystemen in einem Arbeitskontext als auch in einem Freizeitzusammenhang. Gleiches gilt für die Verfahren der anthropometrischen Arbeitsgestaltung (siehe Kap. 10.1.3), die zur räumlichen Auslegung von Arbeitsplätzen, aber auch häufig zur Dimensionierung von Produkten verwendet werden. Allerdings gilt es zu beachten, dass der Nutzen von Gestaltungsmaßnahmen im betrieblichen und im privaten Kontext häufig unterschiedlich zu bewerten ist. So sind Gestaltungsmaßnahmen in Arbeitssystemen stark beeinflusst durch einen engen Rahmen aus gesetzlichen Vorschriften und den durchaus unterschiedlichen Interessen der von einer Gestaltungsmaßnahme betroffenen Gruppen (z.B. Betriebsinteresse vs. Mitarbeiterinteresse). Die Interessenskonflikte werden nicht selten dadurch verursacht, dass der „Käufer“ einer Arbeitsgestaltungsmaßnahme in der Regel nicht identisch mit der tangierten Arbeitsperson ist (LANDAU 2004). Hier bietet es sich an, die zuvor beschriebenen Beurteilungsebenen menschlicher Arbeit (siehe Kap. 1.5.2) auch im Sinne einer Möglichkeit des Interessensausgleichs zu nutzen. Die vielfältigen gesetzlichen Vorgaben sind ebenfalls bei der Produktgestaltung für den privaten Bereich wichtig. Dagegen spielen Interessenskonflikte eine deutlich geringere Rolle, da bei Produkten des privaten Bedarfs Käufer und Benutzer in der Regel identisch sind (LANDAU 2004). Allerdings ist zu beachten, dass die Interessenslage zwischen unterschiedlichen Benutzern, aber auch bei einem Nutzer zu unterschiedlichen Zeitpunkten stark differieren kann. Das Beschreiben und Festlegen solcher Nutzendimensionen, die mit einer Produktgestaltung erfüllt werden sollen, ist daher ein wichtiger Aspekt im Rahmen eines menschbezogenen Produktentwicklungsprozesses (siehe Kapitel 10.3.1).
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1.6
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Arbeitswissenschaft
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Arbeitswissenschaft
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Einführung
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2
Arbeitsperson
Um die individuellen Unterschiede bei der Gestaltung von Arbeitssystemen berücksichtigen zu können (siehe Kap. 1.5.3), sollte zu Beginn eines menschzentrierten Gestaltungsprozesses erhoben werden, welche Eigenschaften die Arbeitspersonen besitzen, für die das System ausgelegt werden soll. Diese Eigenschaften beziehen sich sowohl auf die individuelle Konstitution und Disposition der Arbeitsperson als auch auf ihre Qualifikation und Kompetenz. Mit dem Personaleinsatz ist weiterhin die Tatsache verbunden, dass einerseits unter organisatorischen Aspekten soziale und kommunikative Bedürfnisse, andererseits bezogen auf den Arbeitsplatz Leistungs- und Eigenschaftsunterschiede der Personen berücksichtigt werden müssen. Dabei existiert zwischen sozialem Bedürfnis und individueller Leistungserbringung ein enger Zusammenhang, bspw. wenn durch Gruppenarbeit ein positives Betriebsklima entsteht, dadurch Kooperationsprozesse vereinfacht werden können und die Leistung zunimmt. Die Leistung, die Arbeitspersonen erbringen können, unterliegt Schwankungen. Dabei differiert die Leistung sowohl interindividuell, also zwischen verschiedenen Personen, als auch bei einer Einzelperson (intraindividuell), bei der die Leistung, die erbracht werden kann, bspw. vom Übungsgrad oder vom aktuellen Gesundheitszustand abhängt. Es ist daher für technische wie auch organisatorische Gestaltungsmaßnahmen wichtig, notwendige Leistungsvoraussetzungen für die Bearbeitung einer Arbeitsaufgabe zu definieren. Wird dabei von der Arbeitsperson ausgegangen, so lassen sich verschiedene Dimensionen menschlichen Leistungsvermögens theoretisch unterscheiden, auch wenn es im Anwendungsfall schwer fällt, diese messtechnisch differenziert nachzuweisen. Diese Dimensionen werden einerseits als Ausführungsregulation bei der Bewältigung einer Handlung (HACKER 1978) oder auch Leistungsfähigkeit (KULKA 1988; SCHMIDTKE 1981), andererseits als Antriebsregulation oder Leistungsbereitschaft bezeichnet: (1) Als Leistungsfähigkeit werden all die Merkmale bezeichnet, die physiologisch als Leistungskapazität der Organe bzw. Organsysteme und psychologisch als Leistungspotenz psychischer Funktionen bzw. informatorisch-mentaler Komponenten (LUCZAK 1989) das Leistungsgefüge einer Arbeitsperson bedingen. (2) Leistungsbereitschaft wird physiologisch durch das Erregungsniveau von Organen bzw. Organsystemen, im psychologischen Sinne durch Leistungshaltungen und Motive wie Bedürfnisse, Interessen, Absichten oder Überzeugungen bestimmt. Komponenten der Leistungsbereitschaft sind somit eine notwendige aber nicht hinreichende Bedingung, um vorhandene Potentiale der Leistungsfähigkeit auszuschöpfen. Dies bedeutet, dass nur Personen, die sich physiologisch oberhalb eines bestimmten Erregungszustands befinden (z.B. Muskeltonus) und die
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Arbeitswissenschaft
zusätzlich motiviert sind (psychische Dimension), die Leistung erbringen können, zu der sie aufgrund ihrer physiologischen und psychischen Eigenschaften befähigt sind. Wie sich physische und psychische Komponenten beschreiben lassen, welchen Veränderungen sie unterliegen und welche Bedeutung sie für die Arbeitstätigkeit wie auch für die Arbeitsperson besitzen, wird in den nachfolgenden Kapiteln behandelt. Die Eigenschaften einer Person, die diese zur Leistung befähigen, setzen sich aus verschiedenen Bestimmungsgrößen zusammen, die zeitlichen Veränderungen unterliegen können und beispielsweise durch Personalauswahl, Qualifizierung oder Arbeitsgestaltung beeinflusst werden können. Die Bestimmungsgrößen sind in Abb. 2.1 im Überblick dargestellt. Das der Abbildung zugrunde liegende Beschreibungsmodell hat nicht den Anspruch eines normativen Modells, sondern dient lediglich der Gliederung. Dabei werden zugunsten der Komplexitätsreduktion gewisse Vereinfachungen vorgenommen. In diesem Sinne werden einzelne Bestimmungsgrößen als unveränderbar angesehen, sog. Konstitutionsmerkmale. Unter der Kategorie der sog. Dispositionsmerkmale werden hingegen solche Merkmale genannt, die zwar im Zeitverlauf relativ stabil sind aber dennoch als veränderlich angenommen werden, allerdings ohne dass die Arbeitsperson selbst direkt darauf Einfluss nehmen kann. Darüber hinaus werden sog. Qualifikations- und Kompetenzmerkmale einer Person differenziert, die Ergebnisse von Lernprozessen sind und damit kurz-, mittel- oder langfristig veränderbar sind. Durch systematische Interventionen der Arbeitsgestaltung kurzfristig veränderbar sind schließlich Anpassungsmerkmale, die die Reaktionen auf energetisch-effektorische, informatorisch-mentale sowie emotionale Belastungen der Arbeit beschreiben.
• • • •
im Lebenszyklus unveränderbar
Direkte Einflussnahme schwer zugänglich, aber veränderlich
Geschlecht Körperbau Kulturkreis Erbanlagen
• • • • • •
Konstitutionsmerkmale
Persönlichkeit Alter Intelligenz Körpergewicht Gesundheitszustand Rhythmologische Einflüsse
Dispositionsmerkmale
Durch lang-, mittel- und DurchĆlangfristigeĆProzesseĆ kurzfristige Prozesse veränderbar veränderbar • • • • • •
Erfahrung Wissen Fähigkeiten Fertigkeiten Bildungg Kompetenz
Qualifikations- und Kompetenzmerkmale
Durch Interventionen kurzfristig veränderbar • • • • •
Beanspruchung Ermüdung Motivation Zufriedenheit Stimmungg
Anpassungsmerkmale
menschliche Leistung
notwendige Bedingung: soziale Determinanten der Leistungsbereitschaft
Abb. 2.1: Individuelle Bestimmungsgrößen menschlicher Leistung (angelehnt an LUCZAK 1989)
Arbeitsperson
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In ihrer Gesamtheit bestimmen alle Merkmale, wie die Arbeit gestaltet werden muss, welche Personen eingesetzt werden können oder wie sie zu qualifizieren sind, um eine gewünschte Arbeitsleistung sicherzustellen. Da die Merkmale unterschiedliche Wirkungsrichtungen und -stärken in Bezug auf eine zu erbringende Leistung haben, also leistungssteigernd oder -mindernd wirken können, müssen sie gemeinsam betrachtet werden. Entsprechend der Kerndefinition der Arbeitswissenschaft (Kap. 1.2.1) reicht eine statische Betrachtung nicht aus, sondern es müssen bei der Arbeitssystemgestaltung zu erwartende und gewünschte Veränderungen berücksichtigt bzw. ermöglicht werden (z.B. Alterungsprozesse und Persönlichkeitsentfaltung) und unerwünschte Veränderungen bzw. Wirkungen vermieden werden (z.B. Gesundheitsschädigungen). Hierbei sollten Überschneidungen zwischen den einzelnen Dimensionen bedacht werden. Zum Beispiel lassen sich alternsbedingte Fähigkeitsveränderungen durch entsprechende Qualifizierungsmaßnahmen kompensieren. 2.1
Konstitution
Konstitutionsmerkmale sind im Lebenszyklus unveränderbare Bestimmungsgrößen menschlicher Leistung, das heißt unveränderbar im arbeitswissenschaftlich relevanten Rahmen. Zu diesen Merkmalen gehören das Geschlecht, der Körperbau sowie Nationalität und ethnische Herkunft. Da der Körperbau in Kapitel 10.1.3 im Rahmen der anthropometrischen Arbeitsgestaltung ausführlich behandelt wird, wird auf dieses Kapitel verwiesen. 2.1.1 2.1.1.1
Geschlecht DefinitionĆ
Das Geschlecht eines Menschen kann unter biologischen Aspekten definiert werden oder aber unter sozialen, sog. Gender-Aspekten (BISCHOF-KÖHLER 2004). Man unterscheidet: x Genetisches Geschlecht: Das genetische Geschlecht wird über die Geschlechtschromosomenpaare definiert (Mann: XY; Frau: XX). x Gonadales Geschlecht: Die Definition des gonadalen Geschlechts erfolgt über die Geschlechtsmerkmale Keimdrüse, Eierstock oder Hoden. Die Differenzierung ist zum einen genetisch bestimmt und zum anderen wird sie hormonell gesteuert. x Morphologisches/genitales Geschlecht: Das morphologische Geschlecht wird rein durch die äußeren sichtbaren Geschlechtsmerkmale (Genitalien) definiert.
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Arbeitswissenschaft
x Soziales Geschlecht: Das soziale Geschlecht definiert sich aus den biologischen, psychologischen und sozialen Aspekten der Geschlechtszugehörigkeit und der Betrachtung der Geschlechterrolle. x Identitätsgeschlecht: Das Identitätsgeschlecht bezeichnet das Geschlecht, dem sich ein Mensch zugehörig fühlt. Meistens stimmt dies mit dem genetischen Geschlecht überein. Während im Deutschen nur ein Wort für „Geschlecht“ existiert, wird im Englischen zwischen "Sex" und "Gender" differenziert. Unter „Sex“ wird im Allgemeinen das biologische Geschlecht verstanden. Der Begriff „Gender“ (häufig vereinfachend als „soziales Geschlecht“ übersetzt) erfasst hingegen die sozialen und kulturellen Geschlechterrollen, die weiblich und männlich konnotierten Eigenschaften und Verhaltensweisen und das Verhältnis von Frauen und Männern zueinander (siehe STIEGLER 2000; MEUSER u. NEUSÜSS 2004; KRELL et al. 2008). Die historisch gewachsenen, im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext zugeschriebenen bzw. erlernten Geschlechterrollen sind keineswegs als unveränderbar zu betrachten, sondern als (politisch) gestaltbar. Nach einer kurzen Darstellung der rechtlichen Grundlagen wird in Kapitel 2.1.1.3 zunächst auf biologische bzw. physiologische Aspekte eingegangen. Gender-Aspekte werden in den anschließenden Kapiteln angesprochen, indem der Ansatz des Gender Mainstreaming (Kap. 2.1.1.4) vorgestellt und ein Blick auf den Arbeitsmarkt (Kap. 2.1.1.5) und die Arbeitssituation (Kap. 2.1.1.6) geworfen wird. 2.1.1.2
RechtlicheĆGrundlagenĆ
Die Gleichstellung der Geschlechter ist im Grundgesetz verankert: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ (Art. 3 Abs. 2 S. 1 GG). Mit der Änderung des Grundgesetzes im Jahr 1994 hat sich der Staat außerdem dazu verpflichtet, „die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern“ zu fördern und „auf die Beseitigung bestehender Nachteile“ hinzuwirken (Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG). Die Verpflichtung zur Umsetzung und Beachtung von Gleichstellung findet sich in weiteren nationalen Gesetzen wieder. Zu nennen sind das Bundesgleichstellungsgesetz (BGleiG), das Soldatinnen- und Soldatengleichstellungsgesetz (SGleiG), das Sozialgesetzbuch VIII zur Kinder- und Jugendhilfe (§9 SGB VIII) und das Sozialgesetzbuch III zur Arbeitsförderung (z.B. §1 SGB III, in 2001 geändert durch das sog. Job-AQTIV-Gesetz). Im SGB III ist beispielsweise festgelegt, dass die Leistungen der Arbeitsförderung (u.A.) auf die Überwindung des geschlechtsspezifischen Ausbildungs- und Arbeitsmarktes hinwirken sollen. Seit dem Jahr 2006 ist darüber hinaus das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) in Kraft. „Ziel des Gesetzes ist, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen“ (§ 1 AGG). Das AGG enthält zivil- und arbeitsrechtliche Regelungen. Der Schwerpunkt liegt auf dem Schutz vor Diskriminierung in Be-
Arbeitsperson
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schäftigung und Beruf. Neben einem arbeitsrechtlichen Benachteiligungsverbot werden Maßnahmen und Pflichten des Arbeitgebers zum Schutz vor Benachteiligungen sowie Rechte der Beschäftigten (Beschwerderecht, Leistungsverweigerungsrecht) und ihre Ansprüche bei Verstößen gegen das Benachteiligungsverbot (Entschädigung, Schadensersatz) geregelt. Als Beschäftigte gelten nicht nur Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sondern auch Bewerberinnen und Bewerber für ein Beschäftigungsverhältnis sowie Personen, deren Beschäftigungsverhältnis beendet ist. 2.1.1.3
BiologischeĆAspekteĆ
Zurecht weist RESCH (2007) darauf hin, dass zahlreiche bisher als gesichert geltende geschlechtsspezifische Unterschiede starken Schwankungen unterworfen sind bzw. sogar als überholt gelten sollten. Die folgende Darstellung konzentriert sich auf wenige nachgewiesene anatomische und physiologische Unterschiede, die beispielsweise bei der Personaleinsatzplanung, im personenbezogenen Arbeitsschutz oder bei der ergonomischen Gestaltung von „barrierefreien“ Arbeitsplätzen berücksichtigt werden sollten. Für die Kraftbegrenzung am Arbeitsplatz ist von Bedeutung, dass für maximal mögliche (isometrische, isotonische oder auxotonische) Muskelkräfte, zum Beispiel für das Bewegen von Lasten in der Fertigung, von Frauen im Mittel etwa zwei Drittel der für Männer ermittelten Werte erwartet werden können (HETTINGER u. HOLLMANN 1969). Abb. 2.2 zeigt die empirischen Perzentilwerte für Frauen und Männer in Bezug auf die isometrischen Maximalkräfte (nach Daten von RÜHMANN u. SCHMIDTKE 1992). Hier gilt, dass Frauen etwa die Hälfte der isomterischen Maximalkräfte von Männern zu erbringen vermögen.
Abb. 2.2: Empirische Perzentilwerte in Bezug auf isometrische Maximalkräfte (nach Daten von RÜHMANN u. SCHMIDTKE 1992)
92
Arbeitswissenschaft
Die in Abb. 2.2 grau hinterlegten Bereiche (graue Linien) spiegeln jeweils die Vertrauensbereiche wider, wobei eine statistische Sicherheit von 95% zugrunde gelegt wird. Angaben zu maximal möglichen Kräften können für verschiedene Kraftrichtungen aus sog. Kräfteatlanten oder DIN-Normen entnommen werden (DIN 33411; DIN EN 1005; ROHMERT et al. 1994; WAKULA et al. 2009). Ein Auszug aus einem Kräfteatlas für die manuelle Montage ist in Abb. 2.3 zu sehen. Für Frauen ist hier ein Korrekturfaktor von 0,5 anzuwenden. Diese Unterschiede lassen sich sowohl auf geringere Anteile verfügbarer Muskelmasse zurückführen, als auch auf geschlechtsbedingte Unterschiede im Kreislauf- und Atmungssystem.
Montagespezifischer Kraftatlas Fmax
Alle Kräfte in Newton [N]
Ganzkörperkräfte, beidhändig, Männer; (Korrekturfaktor für Frauenwerte: 0,5) Die angegebenen Werte sind die Resultierenden der Kraftvektoren auf 5 N gerundet P15 : 15. männliches Kraftperzentil (für Planungsanalysen) P 50: 50. männliches Kraftperzentil (für Ist-Analysen) aufrecht
P15
P50
+A 380 -A 405 +B 260 -B 380 +C 205 -C 170 stehen - aufrecht h = 1500 mm
515
+A 320 -A 345 +B 335 -B 370 +C 225 -C 180 knien - aufrecht h = 800 mm
450
+A 315 -A 375 +B 330 -B 315 +C 190 -C 175 sitzen - aufrecht h = 1000 mm
435
P15
gebeugt
530 340 505 315 280 gebeugt
455 485 530 335 265 gebeugt
465 435 410 270 260 gebeugt
P50
+A 320 -A 305 +B 315 -B 440 +C 225 -C 140 h = 1100 mm
485
+A -A +B -B +C -C
275
410
290
360
335
555
340
475
220
310
160
230
h = 600 mm +A 295 -A 300 +B 380 -B 325 +C 205 -C 155 h = 800 mm
405 420 645 335 230 Überkopf
Überkopf 425 400 485 450 300 230 Überkopf
P50
P15
Überkopf
+A 360 -A 410 +B 245 -B 395 +C 160 -C 150 h = 1700 mm
455
+A -A +B -B +C -C
345
460
410
520
320
430
340
445
200
300
200
295
h = 1100 mm +A 330 -A 395 +B 305 -B 325 +C 155 -C 150
520 330 525 235 235
410 475 390 390 215 220
h = 1200 mm
Abb. 2.3: Auszug aus einem montagespezifischen Kraftatlas (WAKULA et al. 2009)
Betrachtet man die kardiopulmonale Leistungsfähigkeit, gemessen als maximale Sauerstoffaufnahmefähigkeit, sind ebenso geschlechterspezifische Differenzen nachzuweisen. Diese treten jedoch erst in der Präpubertät auf und sind durch das frühere Eintreten der Pubertät bei Mädchen bedingt (RUTENFRANZ 1983). Infolge des früheren Wachstumsendes bei Mädchen kommt es bei ihnen schon im Alter von 16-18 Jahren zum Maximum der kardiopulmonalen Leistungsfähigkeit. Dieses Maximum wird bei den Jungen erst im Alter von 18-22 Jahren erreicht. Danach kommt es bei Männern und Frauen zu einem
Arbeitsperson
93
kontinuierlichen Abfall der Leistungsfähigkeit, der bei den Männern relativ stärker ist als bei den Frauen. Diese geschlechtsspezifischen Unterschiede der kardiopulmonalen Leistungsfähigkeit hängen von den Dimensions- und Massenunterschieden der für die körperliche Leistungsfähigkeit relevanten Organsysteme ab. Berücksichtigt man diese Verhältnisse in einem ersten Schritt durch Bezug auf die Körpermasse, so verringern sich die Alters- und Geschlechtsunterschiede deutlich, und die Varianz wird kleiner, wobei die Alterswerte der Frauen unter denen der Männer verbleiben (SELIGER u. BATUNEK 1976; LANGE-ANDERSEN et al. 1978). Dieser verbleibende Unterschied ist bedingt durch die Unterschiede in der Körperkomposition, da Frauen einen relativ höheren Fettanteil an der Körpermasse aufweisen. Berücksichtigt man auch diesen Faktor, z.B. bei Bezug der Leistungsfähigkeit auf die sog. fettfreie Körpermasse („lean body mass“) oder auf die Zellmasse (BURMEISTER et al. 1972), dann verschwinden die Alters- und Geschlechtsunterschiede der Leistungsfähigkeit weitgehend. Dennoch muss man feststellen, dass die Dauerleistungsgrenze für eine tägliche Arbeit von acht Stunden, wenn man für sie einen Energieumsatz entsprechend 30% der maximalen O2-Aufnahme zugrunde legt, eine Alters- und Geschlechtsabhängigkeit aufweist (RUTENFRANZ 1983). Abb. 2.4 zeigt die Unterschiede in der Muskelkraft von Männern und Frauen in Abhängigkeit vom Lebensalter. Insofern ist HIERSCHE (1973) zuzustimmen, der schreibt: „Die Leistungsfähigkeit des Mannes im Arbeitsprozess ist anatomisch und physiologisch im Gegensatz zur allgemeinen Meinung nicht geschlechtsspezifisch begrenzt, sondern gegenüber der der Frau anders gestaltet“.
Abb. 2.4: Unterschiede der Muskelkraft von Männern und Frauen in Abhängigkeit des Lebensalters (HETTINGER 1993)
Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass der Mensch für mechanische Arbeit generell wenig geeignet ist. Der Wirkungsgrad des Menschen für mechanische Arbeit liegt zwischen 1% und max. 30% (Fahrrad fahren) (ROHMERT 1983). Der Mensch ist eben keine „Kraft-“, sondern eine „Denkmaschine“. Und im Bereich der Denkleistungen lassen sich keine signifikanten geschlechtsspezifischen Unterschiede feststellen (LAURIG 1990).
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Arbeitswissenschaft
Relativ große Ausfälle zeigen Männer bei der Farbsichtigkeit. Auf eine Frau mit Störungen des Farbsinns kommen 20 Männer mit denselben (DOBT 1973), was darauf zurückzuführen ist, dass dieses Defizit x-chromosomal gebunden ist und vererbt wird. Auch die Altershörminderung ist bei Frauen geringer als bei Männern (DAVIS 1983). Obwohl die Variationskoeffizienten der Körpermaße im Vergleich zu anderen Eigenschaften verhältnismäßig gering sind, haben die geschlechtsbedingten Unterschiede der Körpermaße für die Arbeitsplatzgestaltung große praktische Bedeutung. Frauen haben im Vergleich zu Männern eine im Durchschnitt um 10 cm geringere Körperhöhe. Abb. 2.5 zeigt die Einteilung der Körperhöhen in Körpergrößenklassen nach der DIN 33402-2. Geschlechtsbedingte Unterschiede lassen sich auch bei anderen Körpermaßen nachweisen (DIN 33402-2). Eine Studie, die die Gelenkwinkel von Männern und Frauen während eine Fertigungsaufgabe untersuchte, ergab bspw., dass der Ellenbogenwinkel bei Männern geringer war als bei Frauen, wohingegen der Schulterwinkel wiederum bei Männern im Schnitt grösser war als bei Frauen (O´SULLIVAN u. GALLWEY 2002).
Frauen
Männer
90% der Frauen ca. 95% der männlichen und weiblichen Nutzergruppe Frau: 5. Perzentil (1535mm) Mann:
50. Perzentil (1625mm)
95. Perzentil (1720mm)
5. Perzentil (1650mm)
50. Perzentil (1750mm)
95. Perzentil (1855mm)
Abb. 2.5: Einteilung der Körperhöhen in Körpergrößenklassen nach DIN 33402-2.
In einigen Statistiken zu geschlechtsspezifischen krankheitsbedingten Abwesenheiten vom Arbeitsplatz kann eine höhere Krankheitsanfälligkeit von Frauen festgestellt werden. Die Einflüsse sind jedoch nicht eindeutig. Wenn Frauen und Männer sich in gleichen beruflichen und gesellschaftlich-privaten Lebenssituationen befinden (Arbeiten als Existenzgrundlage, keine Fremdbelastung durch zu versorgende Angehörige etc.), ist kein signifikanter Unterschied beim Krankenstand festzustellen. Ein Zusammenhang mit dem Menstruationszyklus kann nicht belegt werden. Als besonders wichtiger Punkt muss bei der Erörterung von geschlechtsspezifischen Unterschieden die größere Anfälligkeit gegenüber Schadstoff-
Arbeitsperson
95
konzentrationen und Strahlungen während der Schwangerschaft Beachtung finden (KULKA 1988). Bei den empirisch abgesicherten Unterschieden sollte jedoch beachtet werden, dass den relativ kleinen Unterschieden zwischen den Mittelwerten der Personengruppen große individuelle Unterschiede innerhalb jeder Gruppe gegenüberstehen. Deshalb liefert die Zugehörigkeit eines Individuums zu einer Gruppe nur wenig Information über seinen Status in den meisten Eigenschaften (ANASTASI 1976). Man kann sich gut vorstellen, dass der Unterschied zwischen einem Bauarbeiter und einem Pianisten in vielen Bereichen größer ist als zwischen einem Pianisten und einer Pianistin. 2.1.1.4
GenderĆMainstreamingĆ
Der Ansatz des Gender Mainstreaming wurde vor allem auf den Weltfrauenkonferenzen der Vereinten Nationen (1985 in Nairobi, 1995 in Peking) entwickelt und hat seither Eingang in die Politik der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten gefunden. Mit dem 1999 in Kraft getretenen Amsterdamer Vertrag haben sich die EU-Mitgliedstaaten zu einer Gleichstellungspolitik im Sinne des Gender Mainstreaming verpflichtet (ausführliche Darstellungen der historischen Entwicklung usw. finden sich z.B. in FREY 2003 und KRELL 2008). Diese Verpflichtung hat u.A. auch zu Veränderungen der bundesdeutschen Gesetzgebung geführt (siehe Kap. 2.1.1.2). Eine häufig zitierte Definition von Gender Mainstreaming findet sich in KRELL et al. (2008): „Gender Mainstreaming besteht in der (Re-)Organisation, Verbesserung, Entwicklung und Evaluierung der Entscheidungsprozesse, mit dem Ziel, dass die an politischer Gestaltung beteiligten Akteure und Akteurinnen den Blickwinkel der Gleichstellung zwischen Frauen und Männern in allen Bereichen und auf allen Ebenen einnehmen.“ (Die Autorinnen beziehen sich dabei auf einen vom Europarat beauftragten Sachverständigenbericht aus dem Jahre 1998.) Ausgangspunkt bildet die Erkenntnis, dass es keine geschlechtsneutrale Wirklichkeit gibt (MEUSER u. NEUSÜSS 2004). Als politische Strategie zielt Gender Mainstreaming auf die nachhaltige Beseitigung bestehender Ungleichheiten bzw. Ungleichbehandlungen von Frauen und Männern respektive auf die Herstellung von Chancengleichheit und Gleichberechtigung in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Bei der Umsetzung dieser Strategie geht es deshalb nicht ausschließlich oder vorrangig um die Entwicklung von Sondermaßnahmen für Frauen; das Augenmerk ist vielmehr auf die Geschlechterverhältnisse zu richten (JUNG u. KÜPPER 2001). Der Begriff Gender Mainstreaming wird auch außerhalb von Politik und Verwaltung verwendet und bringt i.A. die bewusste Integration der Gleichstellungsperspektive und die durchgängige Berücksichtigung der Lebenssituationen und Interessen von Frauen und Männern zum Ausdruck. In dem Bemühen, die Gleichstellung auf dem Arbeitsmarkt voranzutreiben, initiierte die Bundesregierung im Jahr 2001 den Abschluss einer Vereinbarung zur
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Arbeitswissenschaft
Förderung der Chancengleichheit von Frauen und Männern in der Privatwirtschaft mit den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft. Inhaltliche Ziele sind die nachhaltige Verbesserung der Ausbildungsperspektiven und der beruflichen Chancen von Frauen, die nachhaltige Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Mütter und Väter, eine deutliche Erhöhung des Beschäftigungsanteils von Frauen – insbesondere auch in Führungspositionen und in zukunftsorientierten Berufen – sowie die Verringerung der Einkommensunterschiede zwischen Frauen und Männern. Mit diesen Zielen sind die zentralen Schwachpunkte benannt, die auch heute noch den Arbeitsmarkt unter dem Gesichtspunkt der Gleichstellung charakterisieren. In der Vereinbarung wird die ökonomische Notwendigkeit der anvisierten Verbesserungen betont. Es wird insbesondere auf das hohe Ausbildungs- und Qualifizierungsniveau von Frauen verwiesen, das es besser zu nutzen gilt. Die Umsetzung der Vereinbarung und die Fortschritte in den Unternehmen werden alle zwei Jahre bilanziert und auf den Internetseiten des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend veröffentlicht. Beispiele für betriebliche Maßnahmen sind: Mentorenkonzepte für den weiblichen Führungsnachwuchs, Einrichtung von Betriebskindergärten, Job Sharing in Managementpositionen. Angesichts der demographischen Entwicklung und ihrer Folgen (z.B. Fach- und Führungskräftemangel) kann davon ausgegangen werden, dass die Anstrengungen der Privatwirtschaft in dieser Richtung zunehmen werden. Ziel von Unternehmen sollte es sein, Kompetenzen, Potentiale und Lebenssituationen von Frauen und Männern gleichermaßen zu berücksichtigen. Veränderungsprozesse im Sinne des Gender Mainstreaming sollten dabei nicht nur in vereinzelte Maßnahmen münden (s.o.), sondern auf eine nachhaltige Anpassung des Unternehmensleitbildes, der Organisations- und Führungskultur, der Personalpolitik und -entwicklung sowie ggf. der Kundenausrichtung angelegt sein. 2.1.1.5
ArbeitsmarktĆ
Seit Ende der 1960er Jahre leben immer weniger Frauen und Männer in der tradierten Rollenverteilung – den Männern der Beruf, die Produktion und der Gelderwerb (indirekte Familienpflichten), den Frauen die Familie, die Haushaltsund Kinderversorgung (direkte Familienpflichten). Eine Entwicklung, die u.A. einer während der letzten 100 Jahre sehr aktiven Frauenbewegung zu verdanken ist und die mittlerweile durch eine intensive Gleichstellungspolitik auf Bundesund Länderebene vorangetrieben wird (siehe auch Kap. 2.1.1.4). Die klassische Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern beruht auf dem Vollzeit-Normalarbeitsverhältnis des Mannes, das sich in der Industriegesellschaft entwickelte. Es war auf die Bedürfnisse der Normalfamilie abgestimmt und bot ein gewisses Maß an (Arbeitsplatz-)Sicherheit für die Versorgung der Familie. Inzwischen ist der Typ des Familienvaters und alleinigen Ernährers auf dem Arbeitsmarkt in die Minderheit geraten. „Doppelverdiener“ („DINKS - Double
Arbeitsperson
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Income No Kids“) und alleinstehende Berufstätige sind in der Mehrzahl. Das Ende der Versorgungsehe ist in Sicht (2006 standen beispielsweise 373.681 Eheschließungen 190.928 Ehescheidungen gegenüber). Von lebenslanger Sicherheit nicht erwerbstätiger (Ehe-)Frauen kann nicht mehr die Rede sein. Im 2008 reformierten Unterhaltsrecht wird mit dem Grundsatz der Eigenverantwortung (§1569 BGB) klargestellt, dass es nach der Scheidung jedem Ehegatten selbst obliegt, für seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Bezüglich der Beschäftigungsmöglichkeiten und Arbeitsbedingungen für Frauen und Männer ergeben sich jedoch Unterschiede auf einem Arbeitsmarkt, der – trotz zahlreicher gleichstellungspolitischer Maßnahmen – nach wie vor geschlechtsspezifisch ist (RESCH 2007). Frauen sind noch immer in „niedrigeren“ beruflichen Positionen anzutreffen und arbeiten nicht selten unterhalb ihrer Qualifikation mit geringeren oder gar fehlenden Weiterbildungsmöglichkeiten und Aufstiegschancen. Die als typisch männlich zu bezeichnenden Tätigkeitsfelder sind häufig besser dotiert und mit einem höheren sozialen Status belegt. Berufsspektrum Das Spektrum von Frauen- und Männerberufen hat sich in den letzten 100 Jahren durchaus verändert. Die Frauenberufstätigkeit konzentrierte sich in diesem Zeitraum allerdings stärker als die der Männer auf wenige Bereiche. Fast 82% aller erwerbstätigen Frauen waren 1925 in nur 10 Berufen anzutreffen, wobei an der Spitze die mithelfenden Familienangehörigen standen, gefolgt von Hauswirtschaftsberufen und der Landarbeit. Bei den Männern waren hingegen nur 54% auf wenige Berufsbereiche konzentriert. Auch bei ihnen rangierten die landwirtschaftlichen Berufe an der Spitze, gefolgt von den Verwaltungs- und Verkaufsberufen. Mit der Zeit hat sich das Berufsspektrum für Frauen geweitet (wenngleich es insgesamt auch heute noch auf wenige Berufe konzentriert ist, insbesondere im Vergleich zum Spektrum der männlichen Erwerbstätigen). Es sind in den 30er und 40er Jahren des letzten Jahrhunderts „moderne“ Berufe wie Reinigungsberufe und Lagerarbeit, später dann Hilfsberufe in der Krankenpflege dazugekommen. In den 1980er Jahren stieg mit dem Lehrerberuf erstmals ein Beruf mit (Fach)Hochschulabschluss in den Kreis der zehn „größten“ Frauenberufe auf. Die Berufe der Investitions- und Konsumgüterproduktion verloren an Gewicht und Berufe des Dienstleistungssektors traten an ihre Stelle. Nicht in jedem Fall war der Tertiarisierungsprozess aber mit einer Höherqualifizierung der Beschäftigten verbunden. In den letzten Jahren ist die Bedeutung des tertiären Sektors immer größer geworden. Der Dienstleistungssektor ist seit 1996 um 3,2 Millionen auf 25,5 Millionen Erwerbstätige im Jahr 2006 angewachsen (das entspricht 72,3% der Erwerbstätigen in 2006). Nach Ergebnissen des Mikrozensus waren 2006 im Dienstleistungssektor mehr Frauen als Männer beschäftigt; die Differenz lag über zwei Millionen. Weibliche Erwerbstätige waren vor allem in den Wirtschaftsabschnitten der sonstigen öffentlichen und privaten Dienstleistungen
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Arbeitswissenschaft
vertreten. Dazu zählen Dienstleistungen im Bereich der kommunalen Versorgung, Dienstleistungen von Verbänden, Kirchen, kulturellen und sportlichen Einrichtungen, Dienstleistungen in privaten Haushalten, in Forschung und Entwicklung sowie im Bereich Erziehung und Bildung. Im primären Sektor (Land- und Forstwirtschaft, Fischerei) arbeiteten hingegen doppelt so viele Männer wie Frauen, im sekundären Sektor (produzierendes Gewerbe) waren es sogar dreimal so viele (WINGERTER 2008). Die drei am stärksten besetzten Berufsordnungen bei den weiblichen Erwerbstätigen sind „Bürofachkräfte und kaufmännische Angestellte“, „Gebäudereinigerin und Raumpflegerin“ sowie „Verwaltungsfachangestellte im mittleren Dienst“ (Tabelle 2.1). Auch bei den Männern sind neue Berufe an die Spitze gerückt und haben den Landwirt (Spitzenreiter bis in die 1950er Jahre) und den Schlosser (1960er Jahre) als häufigsten Männerberuf abgelöst. So waren Männer im Jahr 2006 besonders häufig als Berufskraftfahrer, Bürofachkraft, kaufmännischer Angestellter, Unternehmer oder Geschäftsführer tätig. Tabelle 2.1: Erwerbstätige Männer und Frauen in den zehn am stärksten besetzten Berufen 1996 und 2006 (entnommen aus WINGERTER 2008)
Erwerbsbeteiligung Im Jahr 2006 lag der Anteil der Erwerbspersonen an der Gesamtbevölkerung in Deutschland mit 50,5% um 1,6 Prozentpunkte höher als 1996 (48,9%) und stieg damit erstmals seit der Wiedervereinigung an. Die Zunahme resultiert aus einer
Arbeitsperson
99
höheren Erwerbsquote der Frauen, die seit 1996 um knapp vier Prozentpunkte auf 44,7% zugenommen hat, während die Erwerbsquote für die Männer mit 56,6% weiterhin leicht rückläufig war (WINGERTER 2008). Die Erwerbsquote steht dabei für den Anteil der Erwerbspersonen an der gleichaltrigen Gruppe in der Gesamtbevölkerung und schließt auch Erwerbslose mit ein. Erwerbstätigenquoten geben hingegen den Anteil der erwerbstätigen Frauen und Männer an der entsprechenden weiblichen bzw. männlichen Bevölkerungsgruppe an. Zu den Erwerbstätigen werden auch die Personen gezählt, deren Arbeitsverhältnis zum Erhebungszeitpunkt ruht, z.B. die Personen in Elternzeit. Die Erwerbstätigenquoten von Frauen und Männern entwickelten sich seit 1993 gegenläufig. Die Quote verringerte sich bei den Männern im betrachteten Zeitraum um 0,3 Prozentpunkte auf 74,7%. Dagegen stieg diese bei den Frauen um 9,0 Prozentpunkte auf 64,0%. Bei einer Bewertung des Anstiegs der Frauenerwerbstätigenquote ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Erhöhung der Quote einherging mit einer deutlichen Zunahme der Teilzeitbeschäftigung (plus 3,1 Millionen), während sich die Zahl der vollzeitbeschäftigten Frauen um 0,9 Millionen verminderte (STATISTISCHES BUNDESAMT 2008), weitere Daten und Analysen finden sich im sog. Gender-Datenreport, siehe CORNELISSEN 2005). 2004 gab es in Deutschland rund 11,6 Millionen Frauen und 9,9 Millionen Männer im erwerbsfähigen Alter (15 bis 64 Jahre), die mit mindestens einem leiblichen, Stief- oder Adoptivkind in einem gemeinsamen Haushalt lebten. 7,1 Millionen dieser Mütter und 8,4 Millionen dieser Väter waren aktiv erwerbstätig, d.h. sie übten ihren Beruf zum Zeitpunkt der Befragung wirklich aus und waren nicht, z.B. wegen Elternzeit, übergangsweise abwesend. Somit betrug die Erwerbstätigenquote der aktiv erwerbstätigen Mütter 61%, wohingegen sie mit 85% bei den Vätern deutlich höher lag (STATISTISCHES BUNDESAMT 2006a). Die aktive Erwerbsbeteiligung von Müttern, unabhängig davon, ob diese in Voll- oder Teilzeit ausgeübt wird, variiert deutlich mit der Anzahl der Kinder. Je mehr Kinder zu betreuen sind, desto seltener sind Frauen aktiv erwerbstätig. Spätestens mit dem dritten Kind im Haushalt gibt ein hoher Anteil der Mütter den Beruf, zumindest vorübergehend, auf. Im früheren Bundesgebiet nimmt die Vollzeittätigkeit der Mütter mit jedem weiteren Kind schrittweise ab, während sie bei den Müttern in den neuen Ländern und Berlin-Ost erst nach dem dritten Kind deutlich zurückgeht. Allerdings sind Mütter in den neuen Ländern und Berlin-Ost mit drei und mehr Kindern mit 29% mehr als doppelt so häufig in Vollzeit tätig als Mütter im früheren Bundesgebiet (12%). Abb. 2.6 zeigt die Erwerbsquoten von Frauen und Männern mit Kindern in Abhängigkeit von der Anzahl der Kinder (STATISTISCHES BUNDESAMT 2006a).
100
Arbeitswissenschaft
Abb. 2.6: Erwerbstätigenquoten von Männern und Frauen mit Kindern im März 2004 (STATISTISCHES BUNDESAMT 2006a) [Prozentualer Anteil der Erwerbstätigen an der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (15 bis unter 65 Jahren); Ergebnisse des Mikrozensus – Bevölkerung (Konzept der Lebensformen); Erwerbstätige im Alter von 15 bis unter 65 Jahren ohne vorübergehende Beurlaubte (z. B. wegen Elternzeit); Kinder: In einer Eltern-Kind-Gemeinschaft lebende ledige Kinder]
Politische Steuerungselemente Je nach Arbeitsmarktlage wird versucht, (Haus-)Frauen als Arbeitskräfte zu gewinnen, oder sie vom Arbeitsmarkt zu drängen. Dies geschieht häufig „versteckt“, aber oft genug auch offen mittels der Sozial- und Familienpolitik. Versteckt waren diese Arbeitsmarktsteuerungsfunktionen z.B. in den besonderen Arbeitsschutzbestimmungen für Frauen (GERHARD 1988). Dort gab es bis zum Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 28.01.1992 („Benachteiligung von Frauen
Arbeitsperson
101
durch Nachtarbeitsverbot“) ein Nachtarbeitsverbot für Arbeitnehmerinnen. Dieses Verbot wurde allerdings in vielen Bereichen durch Ausnahmeregelungen umgangen, wie z.B. in der Krankenpflege, die ohne Frauen zweifellos zusammengebrochen wäre. Die Teilzeitarbeit wurde bereits Anfang der 1960er Jahre, als die Arbeitskräfte knapp waren, als geeignetes Mittel zur Ausschöpfung der „größten inländischen Arbeitsmarktreserve“, der Frauen, angesehen. Dadurch, dass die Unternehmen in verstärktem Maße Teilzeitarbeitsplätze anboten, kam es zu einem rasanten Anstieg der Frauenerwerbstätigkeit (EPPING 1979). Diese Teilzeitbeschäftigungsmöglichkeiten wurden und werden jedoch häufig schlecht bezahlt und befinden sich in weniger qualifizierten Arbeitsfeldern. Höher qualifizierte Aufgaben werden selten als Teilzeitbeschäftigung angeboten (z.B. Ingenieure, Facharbeiter). Eine Ausnahme bilden hier die Lehrer. Die bereits spürbaren Auswirkungen des demographischen Wandels auf die Betriebe (siehe Kap. 2.2.2.1) führen dazu, dass Frauen auch heute wieder im Fokus arbeitsmarktpolitischer Strategien stehen. Die niedrigen Geburtenzahlen auf der einen und die europäischen Vorgaben zur Schaffung von Chancengleichheit auf der anderen Seite haben darüber hinaus die Familien- und Gleichstellungspolitik aktiviert und gestärkt. Neben den in Kapitel 2.1.1.2 aufgeführten Gesetzen sind weitere gesetzgeberische Maßnahmen zu nennen, die für die Aufteilung der Erwerbs- und Familienarbeit zwischen den Geschlechtern Relevanz besitzen. So ist beispielsweise seit 2001 das Gesetz über Teilzeit und befristete Arbeitsverträge (TzBfG) in Kraft. Das Gesetz sieht erstmalig einen allgemeinen Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit vor und soll auch Männer ermutigen, verstärkt Teilzeitarbeit in Anspruch zu nehmen. Mit der Einführung des Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetzes (BEEG) zum 1. Januar 2007 wurde eine wichtige Grundlage für eine moderne Familienpolitik geschaffen, welche die sich wandelnden Lebensumstände von Familien zu berücksichtigen sucht. Das Elterngeld soll das wegfallende Einkommen nach der Geburt eines Kindes ausgleichen und wird auf Basis des durchschnittlich vor der Geburt monatlich verfügbaren laufenden Erwerbseinkommens berechnet. Dieser Betrag rangiert zwischen einem Mindestbetrag von 300 € und einem Maximalbetrag von 1.800 €. Der zustehende Betrag wird an die Mutter und den Vater des Neugeborenen für maximal 14 Monate gezahlt. Hierbei ist es möglich, den Zeitraum frei zwischen den Elternteilen aufzuteilen, allerdings mit der Einschränkung, dass ein Elternteil das Elterngeld maximal für 12 Monate in Anspruch nehmen kann. Somit gilt der Anspruch auf die vollen 14 Monate Unterstützung nur, wenn auch tatsächlich eine Teilung der Betreuungsleistung zwischen den Partnern stattfindet. Es gelten außerdem besondere, individuelle Verhältnisse berücksichtigende Regelungen z.B. für Alleinerziehende und Adoptiveltern sowie für Eltern von Mehrlingen. Dieses Modell trägt somit der Vielfalt von familiären Lebenssituationen Rechnung und kann einen Anreiz dafür bieten, die Betreuung des Kindes in den ersten Lebensmonaten zwischen den
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Arbeitswissenschaft
Elternteilen aufzuteilen und damit auch dem Vater des Kindes die Möglichkeit zur Betreuung zu geben (BMFSFJ 2009). 2.1.1.6
ArbeitssituationĆ
Die Zahlen zur Beteiligung am Erwerbsleben (siehe Kap. 2.1.1.5) haben nur eine bedingte Aussagekraft für die Beschreibung der Arbeitssituation, mit der Frauen und auch Männer konfrontiert werden. Die Arbeitssituation wird vor allem durch die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und die daraus häufig resultierenden geringer qualifizierten Arbeitsfelder von Frauen geprägt. So haben die tradierte Teilung der gesellschaftlichen Arbeit zwischen den Geschlechtern, sozialpolitische Schutzmaßnahmen u.a.m. zu einem frauenspezifischen Arbeitsmarkt geführt, der durch spezifische Arbeitsbedingungen, Aufstiegsmöglichkeiten und Entgeltregelungen gekennzeichnet ist. Es fällt auf, dass die weiblichen Erwerbstätigen vorrangig in arbeitsintensiven Branchen und Zweigen beschäftigt sind: im Handel, insbesondere Einzelhandel; im Bereich Dienstleistungen von Unternehmen und freien Berufen, insbesondere Gaststätten- und Beherbergungsgewerbe, Wäschereien, Reinigungen; auf den unteren und mittleren Sachbearbeiterebenen in Dienstleistungsbetrieben, im öffentlichen Dienst und in Industrieverwaltungen; in konsumnahen Bereichen der Elektroindustrie und der feinmechanisch-optischen Industrie. Vor allem sind sie aber in jenen Industriezweigen bzw. Wirtschaftsgruppen tätig, in denen die Konjunkturempfindlichkeit noch durch saisonale Schwankungen (Nahrungs- und Genussmittelindustrie, Einzelhandel, Gaststätten- und Beherbergungsgewerbe) und modebedingte Absatzschwankungen (Bekleidungs-, Lederverarbeitende- und Textilindustrie) überlagert bzw. verstärkt wird (siehe auch Kap. 2.1.1.5). Quantitative Veränderungen erfuhren die frauenspezifischen Arbeitsplätze durch den Einsatz neuer Fertigungstechnologien in Verbindung mit arbeitsorganisatorischen Maßnahmen in den traditionellen Fraueneinsatzbereichen (z.B. Textil-, Nahrungs- und Genussmittelindustrie), die zu einer teilweise erheblichen Reduktion des Frauenanteils führten. Die Einführung neuer Technologie hat in fast allen klassischen Frauenarbeitsfeldern auch zu erheblichen qualitativen Veränderungen in den Anforderungsstrukturen (Qualifikation, Belastung, Disposition, Kooperation) geführt. Dies betrifft vor allem hocharbeitsteilige Arbeitsprozesse in den Bereichen, die durch „Automatisierungssperren“ gekennzeichnet sind oder für die noch keine kostengünstigen technologischen Möglichkeiten (Automatisierungslücken) entwickelt worden sind, und schließlich dort, wo die Technologie geringe Qualifikationen abfordernde und (zumeist psychisch) hochbelastende Restfunktionen übrig lässt. Wie hoch in einigen Extrembereichen der partialisierten „Nutzung“ menschlicher Sensumotorik die Zumutbarkeitsschwelle angesetzt ist, wird z. B. bei der Sichtkontrolle in der Qualitätssicherung deutlich. In den Bereichen des Versicherungs- und Kreditwesens, in den Verwaltungen der gewerblichen Wirtschaft und des öffentlichen Dienstes, in denen Massendaten
Arbeitsperson
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geradezu fabrikmäßig unter Einsatz von Informationstechnik verarbeitet werden, kam und kommt es ebenfalls zur Bildung von „Restarbeitsplätzen“. Frauen in Führungspositionen Im Rahmen des Mikrozensus (repräsentative 1%-Stichprobe der Bevölkerung, entspricht etwa 800.000 Datensätzen) werden alle vier Jahre Daten zum Thema Führungskräfte in Deutschland erhoben. Aus diesen Daten lässt sich ableiten, dass der Frauenanteil bei abhängig beschäftigten Führungskräften in der Privatwirtschaft gestiegen ist und zwar von 21% in 2000 auf 23% in 2004. Allerdings trifft diese Steigerung nur für Frauen zu, die unter 30 Jahren sind. Während der typischen Zeiten von Familiengründung und Kinderbetreuung sinkt der Anteil und verbleibt anschließend auf einem niedrigen Niveau. In der Altersgruppe der Frauen unter 30 Jahren liegt der Anteil an Führungspositionen noch bei 43%, bei den 30- bis 34-Jährigen sinkt diese Quote auf etwa 30% ab und bei den 35- bis 49-Jährigen liegt sie nur noch bei knapp über 20% (KLEINERT 2006). Eine durch das IAB (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit) im Jahr 2004 durchgeführte Führungskräftestudie mit 16.000 Betrieben brachte u.A. folgende Ergebnisse: In der obersten Leitungsebene von Betrieben ist nur jede vierte Führungskraft eine Frau; in der zweiten Führungsebene liegt der Frauenanteil bereits über 40%; kleine Betriebe werden häufiger von Frauen geführt als große und in Großbetrieben liegt der Frauenanteil in der ersten Führungsebene lediglich bei 4% (BRADER U. LEWERENZ 2006). Einkommensunterschiede zwischen Männern und Frauen Frauen verdienen im Durchschnitt weniger als Männer. So lag beispielsweise im Jahr 2006 der Verdienst der vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmerinnen im Produzierenden Gewerbe, Handel, Kredit- und Versicherungsgewerbe in Deutschland 20% unter dem ihrer männlichen Kollegen. Es bestanden allerdings Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland: Frauen in den neuen Ländern und Berlin-Ost verdienten 11,7% weniger als die Männer, im früheren Bundesgebiet waren es 20,1% (BICK 2008). Niedrige Positionen, hohe Beschäftigungsanteile in schlecht zahlenden Branchen und kleinen Betrieben sowie in Arbeitsfeldern mit generell niedrigem Entgeltniveau, hohe Teilzeitarbeitarbeitsquoten, kurze Betriebszugehörigkeiten, Erwerbsphasenunterbrechungen – alle diese Merkmale charakterisieren die Erwerbsarbeit von Frauen und werden i.A. auch zur (teilweisen) Erklärung der bestehenden Einkommensdifferenzen herangezogen (CORNELISSEN et al. 2005). BOTHFELD u. ZIEGLER (2005) zeigen allerdings auf, dass sich durchaus nicht alle Einkommensdifferenzen durch Unterschiede in den tätigkeitsbezogenen, einkommensrelevanten Merkmalen (z.B. Berufs- und Tätigkeitsposition, Berufsund Tätigkeitsjahren) erklären lassen. Ob und welche diskriminierenden Mechanismen hier wirken, ist schwer nachzuweisen und zum Teil arbeitspolitisch brisant, wenn es zum Beispiel um die Diskriminierungsfreiheit von Tarifverträgen
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Arbeitswissenschaft
geht. Die politischen und betrieblichen Maßnahmen zur Verbesserung der Chancengleichheit konzentrieren sich bislang stärker auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und die Beeinflussung der Berufswahlentscheidungen von jungen Frauen (siehe z.B. BdReg 2006 u. 2008). Berufswahl und Bildungsbeteiligung Bei der Berufswahl orientieren sich Mädchen und junge Frauen scheinbar immer noch häufig an tradierten Rollenmustern und weniger an anscheinend möglichen Aufstiegschancen oder an späteren Existenzgründungsmöglichkeiten, sodass sich für sie nur ein begrenztes Berufsspektrum ergibt. So fanden sich im Jahr 2008 75,8% aller Ausbildungsanfängerinnen in nur 25 Ausbildungsberufen (von 349 möglichen) wieder. Bei den männlichen Ausbildungsanfängern lag dieser Anteil bei 59,6%. Zu den zehn am häufigsten gewählten Berufen der Frauen zählten kaufmännische Berufe (Kauffrau im Einzelhandel, Büro- und Industriekauffrau), Berufe im Gesundheitswesen (Medizinische Fachangestellte, Zahnmedizinische Fachangestellte) sowie Berufe im Handwerk (Friseurin, Verkäuferin im Lebensmittelhandwerk) (BMBF 2009, vgl. Tabelle 2.1). Die Daten beziehen sich auf die duale Berufsausbildung, an der Frauen insgesamt in geringerem Umfang beteiligt sind (42% in 2008, ebd.). Frauen erlernen häufig auch Berufe, deren Ausbildung schulisch erfolgt, wie z.B. Kranken- oder Altenpflegerin (KRÜGERHEMMER 2008). Ausbildungen im Bereich der kaufmännischen Dienstleistung (Einzel-, Großund Außenhandelskaufmann, Verkäufer) waren auch bei den männlichen Ausbildungsanfängern sehr beliebt. Besonders stark vertreten sind neben der Ausbildung zum Koch Berufe in technischen Domänen, wie Kraftfahrzeugmechatroniker, Industriemechaniker, Elektroniker, Anlagenmechaniker für Versorgungstechnik, Metallbauer und Fachinformatiker (BMBF 2009). Im Jahr 2007 war die Hälfte (50%) derjenigen, die ein Studium aufnahmen, Frauen. Die Frauenanteile variierten allerdings je nach fachlicher Ausrichtung des Studiums. So waren die Studienanfängerinnen beispielsweise in den Fächergruppen Sprach-/Kulturwissenschaften (74%) und Humanmedizin/ Gesundheitswissenschaften (67%) deutlich in der Mehrheit. In der Fächergruppe Rechts-, Wirtschaftsund Sozialwissenschaften, die die meisten Neueinschreibungen zu verzeichnen hatte, stellte sich das Geschlechterverhältnis mit einem Frauenanteil von 53% nahezu ausgeglichen dar. In der Fächergruppe Ingenieurwissenschaften (22%) waren Studienanfängerinnen hingegen deutlich unterrepräsentiert (KRÜGER-HEMMER 2008). Auf dem Gebiet der beruflichen Weiterbildung sind die bundesweiten Gesamtteilnahmequoten bei Männern und Frauen mit 44% bzw. 42% relativ ausgeglichen (ROSENBLADT u. BILGER 2008). Auch Bildungsmaßnahmen, die zu
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einem Berufsbildungsabschluss führen, werden von Männern und Frauen zu fast gleichen Anteilen genutzt. Der Frauenanteil bei Fortbildungsprüfungen, wie bspw. Meister- und Fachwirtprüfungen, beträgt durchschnittlich allerdings nur 35,7% (BMBF 2008). Diese Unterrepräsentation wird u.A. auf mangelnde zeitliche Freiräume zurückgeführt. Eine Verbesserungsmaßnahme besteht in der Möglichkeit, Online-Qualifizierungsmaßnahmen anzubieten, um mehr Gesellinnen für die Meisterprüfung gewinnen zu können oder spezielle Netzwerke für Frauen aufzubauen. Hierzu gibt es bereits Modellprojekte wie beispielsweise den Verband „Unternehmerfrauen im Handwerk“. Dieser Verband stellt einen Zusammenschluss mit dem Ziel der Förderung der Weiterbildung und des Erfahrungsaustauschs von Unternehmerfrauen und politischer Lobbyarbeit dar. In Unternehmen, die betriebliche Lehrveranstaltungen anbieten, nahmen im Jahr 2005 rund 35% der Frauen dieses Weiterbildungsangebot wahr, gegenüber 41% der Männer (KRÜGER-HEMMER 2008). Vereinbarkeit von Familie und Beruf Die Berufsverläufe von verheirateten Frauen und Müttern sind im Gegensatz zu denen der Männer meist nicht kontinuierlich. Sie sind durch eine oder mehrere Unterbrechungen bestimmt, die i.d.R. mit der Kinderversorgung oder auch mit der Pflege von Familienmitgliedern in direktem Zusammenhang stehen (BMFSFJ 2005). Die von vielen Frauen praktizierte Berufsunterbrechung aus familiären Gründen kann die Frauen sowohl finanziell als auch in Bezug auf ihre berufliche Laufbahn benachteiligen. Je kürzer eine Familienpause ist und je intensiver die Kontakte zum Unternehmen gepflegt werden, desto leichter gelingt den Frauen die Rückkehr in den beruflichen Alltag. Jedoch ist festzustellen, dass sich bereits kurze Unterbrechungen angesichts der raschen Veränderungen besonders im technologisch-organisatorischen Bereich negativ auf die Karrierechancen auswirken (BdReg 2006). Allerdings sollte auch die Wirtschaft ein Interesse daran haben, dass besonders die Potentiale von höher qualifizierten Frauen während der beruflichen Pause nicht verloren gehen. Um diesem Potentialverlust vorzubeugen, bieten sich Wiedereinstiegsprogramme an, die die Wiedereingliederung nach der Elternzeit erleichtern. Wenn Frauen mit betreuungsbedürftigen Kindern (wieder) arbeiten und sich mehr oder weniger alleine um Kinder und Haushalt kümmern müssen, kommt für sie meistens „nur“ eine Teilzeitarbeit in Frage. Teilzeitarbeit wird in den meisten Fällen halbtags, am Vormittag, und mit der Hälfte der üblichen Wochenarbeitszeit ausgeübt. Die Erwerbstätigenquoten von Müttern und Vätern, differenziert nach dem Alter des jüngsten Kindes, sind in Tabelle 2.2 dargestellt (STATISTISCHES BUNDESAMT 2006b).
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Arbeitswissenschaft
Tabelle 2.2: Erwerbstätigenquoten von Müttern und Vätern, nach Alter des jüngsten Kindes differenziert (STATISTISCHES BUNDESAMT 2006b) [Ergebnisse des Mikrozensus – Bevölkerung (Lebensformenkonzept); 1) Anteil der aktiv Erwerbstätigen (ohne vorübergehend Beurlaubte, zum Beispiel wegen Mutterschutz, Elternzeit) an der Bevölkerung; 2) Anteil der Vollzeit-/Teilzeiterwerbstätigen an allen aktiv Erwerbstätigen; 3) Elternteile im erwerbsfähigen Alter mit im Haushalt lebendem jüngsten Kind unter 15 Jahren, auch Stief-, Pflege- und Adoptivkind] Früheres Bundesgebiet ohne Berlin Erwerbstätigenquote 1)
Alter des jüngsten Kindes (von . . . bis . . . Jahren
Vollzeitquote 2)
Neue Länder einschl. Berlin Erwerbstätigenquote 1)
Vollzeitquote 2)
Teilzeitquote 2)
75,9 68,3 79,4 80,0 73,8
60,6 40,9 64,0 68,6 71,6
56,8 55,1 53,9 56,5 60,1
43,2 44,9 46,1 43,5 39,9
3,7 4,7 3,4 3,4 3,3
80,0 77,4 80,7 82,6 80,2
93,6 91,2 93,3 94,9 95,1
6,4 8,8 6,7 5,1 4,9
Teilzeitquote 2) %
Mütter 3) Zusammen unter 3 . 3– 5 . 6– 9 . 10 – 14 .
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55,7 30,6 53,7 64,7 71,0
24,1 31,7 20,6 20,0 26,2
Zusammen unter 3 . 3– 5 . 6– 9 . 10 – 14 .
. . . . .
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88,7 87,1 88,6 90,0 88,9
96,3 95,3 96,6 96,6 96,7
Väter 3)
_________________ Ergebnisse des Mikrozensus – Bevölkerung (Lebensformenkonzept).
Die männlichen Erwerbstätigen nutzen den seit 2001 bestehenden Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit immer noch selten aus. Allerdings stoßen Männer, die eine andere innerfamiliäre Arbeitsteilung anstreben, sowohl im beruflichen als auch im privaten Umfeld häufig auf Widerstände, die sie Einbußen hinsichtlich Status und Karriere befürchten lassen. 64% der berufstätigen Mütter halten die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in Deutschland im Vergleich zu Modellen in anderen Ländern für schlechter gelöst und nur knapp jede fünfte berufstätige Mutter ist davon überzeugt, dass sich Familie und Beruf in Deutschland gut vereinbaren lassen (IFD 2008). Die Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach zeigt, welche Maßnahmen nach Ansicht der Gesamtbevölkerung bzw. der Mütter ergriffen werden müssten, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu erleichtern (Abb. 2.7). In beiden Gruppen halten die meisten Befragten eine ausreichende (kommunale) Kinderbetreuung für die wichtigste Voraussetzung.
Arbeitsperson
107
Abb. 2.7: Was die Vereinbarkeit von Familie und Beruf am meisten erleichtert: Besondere Bedeutung der Kinderbetreuung (IFD 2008)
Im Jahr 2004 gab es für rund neun von zehn westdeutschen Kindern im Kindergartenalter Plätze in Kindergärten und ähnlichen Einrichtungen. Trotz dieser hohen Versorgungsquote mangelt es allerdings bei den drei- bis sechsjährigen Kindern besonders in Gebieten Westdeutschlands an Betreuungsmöglichkeiten über Mittag und an Ganztagsplätzen (BdReg 2008). Eine 2003 durchgeführte Unternehmensbefragung konnte zeigen, dass lediglich 1,9% der Unternehmen einen Betriebskindergarten und 1,8% eine Betriebskinderkrippe unterhalten. 1,4% der Unternehmen mieten zur Nutzung für die Kinder ihrer Beschäftigten Kindergartenbelegplätze in betriebsnahen Einrichtungen an und 1% der Unternehmen bieten einen Tagesmütterservice an (WAGNER 2005). Für eine Verbesserung der Möglichkeiten, Familie und Beruf zu vereinbaren, besteht also nach wie vor Handlungsbedarf. Dass sich die Umsetzung familienfreundlicher Maßnahmen, wie z.B. Flexibilisierung der Arbeitszeiten, Einführung von Wiedereingliederungsprogrammen oder Unterstützung bei der Kinderbetreuung, auch für Unternehmen betriebswirtschaftlich rechnet, konnte eine Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zeigen (BMFSFJ 2005).
108
2.1.2
Arbeitswissenschaft
Nationalität und ethnische Herkunft
Unternehmen müssen heute in einer Umwelt bestehen, die mehr denn je durch Dynamik und Komplexität geprägt ist. Daraus leiten sich beispielsweise hohe Anforderungen an die Wandlungs- und die Innovationsfähigkeit ab. Zu denken ist auch an die immer intensiver werdende Interaktion mit Kunden, die sich in vielen Fällen in diversen Ländern der Erde befinden und womöglich unterschiedliche kulturelle Prägungen besitzen. In der Heterogenität der Beschäftigten wird ein Potential gesehen, diese Anforderungen dauerhaft zu erfüllen. Die „Verschiedenheit“ oder Vielfalt (diversity) kann aufgrund von Geschlecht, Herkunft, Alter, Religion u.v.m. entstehen. Zu den Merkmalen, die in einem umfassenden Diversity-Ansatz Berücksichtigung finden, gehört auch die Nationalität bzw. die ethnische Herkunft. 2.1.2.1
DefinitionĆundĆRelevanzĆ
Der Begriff der Nationalität wird hier politisch verstanden. Die Nationalität bezeichnet damit die Zugehörigkeit zu einer Nation und entspricht weitgehend dem Begriff der Staatsangehörigkeit. Das Merkmal „ethnische Herkunft“ meint die Zugehörigkeit zu einer kulturellen, räumlich begrenzten Völkergruppe oder einem Stamm (HOPFNER u. NAUMANN 2007). Eine ethnische Gruppe ist gekennzeichnet durch Vorstellungen einer kollektiven Identität. Diese tatsächlichen oder vermeintlichen Gemeinsamkeiten und Verbindungen können sich auf unterschiedliche Aspekte beziehen: z.B. Sprache (wir gehören zusammen, weil wir die gleiche Sprache sprechen), Geschichte (gemeinsame Vergangenheit), Religion (gemeinsamer Glaube), Kultur (geteilte Normen, Werte, Rituale). Von Bedeutung sind auch Vorstellungen von einer gemeinsamen Herkunft. Dabei ist es nicht entscheidend, ob eine Abstammungsgemeinschaft real vorliegt oder nicht: Die Bezeichnung "Ethnie" wird vor allem über die Selbstzuschreibung der jeweiligen Gruppe definiert. Als Fremdzuschreibung können ethnische Merkmale allerdings auch der Legitimierung von Ausgrenzung und Diskriminierung dienen (IDA 2009). Nach den Zahlen des Statistischen Bundesamtes wies das Ausländerzentralregister (AZR) Ende 2008 rund 6,73 Millionen Personen in Deutschland auf, die ausschließlich eine ausländische oder keine Staatsbürgerschaft besaßen. Das entspricht einem Anteil von rund 8% an der Gesamtbevölkerung. Dies ist jedoch nur ein Teil der in Deutschland lebenden Menschen mit fremden Wurzeln. Seit dem Jahr 2005 ermöglichen die Daten der amtlichen Statistik auch die Identifizierung von Personen mit Migrationshintergrund. Im vorliegenden Kontext versteht man unter Migration die dauerhafte Wanderung (Abwanderung und Zuwanderung) von Menschen in ein anderes Land. Arbeitsmigration bezeichnet die Abwanderung, um in einem NichtHeimatland eine Arbeit aufzunehmen. Zur Bevölkerung mit
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Migrationshintergrund zählen „neben allen nach Deutschland Zugewanderten und allen im Inland mit fremder Staatsangehörigkeit Geborenen auch die hier geborenen Deutschen mit zumindest einem Elternteil, der zugewandert ist oder als Ausländer in Deutschland geboren wurde. Vertriebene und ihre Nachkommen zählen nicht dazu“ (GROBECKER u. KRACK-ROHBERG 2008). Im Jahr 2006 hatten ca. 18,4% der 82,4 Millionen Einwohner in Deutschland einen Migrationshintergrund. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer von Ausländerinnen und Ausländern in Deutschland hat sich in den letzten Jahren kontinuierlich erhöht. Für 2007 ergab sich ein Wert von 17,7 Jahren (TUCCI 2008). Die hauptsächlich gewählten Bundesländer der Zuwanderer sind in erster Linie durch die Erwerbsmöglichkeiten bestimmt. Die höchsten Anteile hatten Ende 2004 Hamburg (14,1%), Berlin (13,4%) und Bremen (12,8%) zu verzeichnen, den geringsten die Bundesländer Sachsen-Anhalt (1,9%), Thüringen (2,0%) und Mecklenburg-Vorpommern (2,3%) (STATISTISCHES BUNDESAMT 2006c). Die größten Zuwanderergruppen, die in Deutschland beschäftigt sind stammen aus den früheren Anwerbestaaten für sog. „Gastarbeiter“, wie Türkei, Italien, Spanien, Griechenland, Portugal und dem früheren Jugoslawien. Der größte Teil der Zuwanderer ist als ungelernte oder angelernte Arbeitskraft in der Industrie tätig. Die Beschäftigten aus Südwest-Europa sind häufiger als Facharbeiter tätig und weisen den höchsten Anteil an höheren Angestellten auf. Generell werden jedoch hochqualifizierte Stellungen nur selten eingenommen (STATISTISCHES BUNDESAMT 2006d). 2.1.2.2
RechtlicheĆGrundlagenĆ
Die Unionsbürgerschaft verleiht das Recht auf den Schutz vor Diskriminierung, unter Anderem aus Gründen der ethnischen Herkunft. Dieses Recht ist in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert. In der nationalen Gesetzgebung ist der Schutz vor Diskriminierung im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) geregelt, das seit dem Jahr 2006 in Kraft ist (siehe Kap. 2.1.1.2). Die Möglichkeiten und Bedingungen der Einreise, des Aufenthaltes, der Erwerbstätigkeit und der Integration von Ausländern werden durch das Aufenthaltsgesetz (AufenthG) geregelt. „Ausländer ist jeder der nicht Deutscher im Sinne des Artikels 116 Abs. 1 des Grundgesetzes ist.“ (§2 Abs. 1 AufenthG). Im Aufenthaltsgesetz ist ferner bestimmt, dass sich die Zulassung ausländischer Beschäftigter „… an den Erfordernissen des Wirtschaftsstandortes Deutschland unter Berücksichtigung der Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt und dem Erfordernis, die Arbeitslosigkeit wirksam zu bekämpfen“ (Abschnitt 4, §18 AufenthG) zu orientieren hat. Seit dem 1. Januar 2005 sieht das Aufenthaltsgesetz vier Aufenthaltstitel vor: 1) das Visum für kurzfristige Aufenthalte, 2) die befristete Aufenthaltserlaubnis, 3) die unbefristete Niederlassungserlaubnis und 4) die ebenfalls unbefristete Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG (für EU-Bürger). An die Stelle des früheren
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Arbeitswissenschaft
Systems der Aufenthaltsgenehmigung einerseits sowie der Arbeitsgenehmigung andererseits trat am 1. Januar 2005 eine Aufenthaltserlaubnis, die gleichzeitig den Zugang zum Arbeitsmarkt regelt. Die Beteiligung der Arbeitsverwaltung erfolgt dabei bei zustimmungspflichtiger Erwerbstätigkeit in einem verwaltungsinternen Verfahren. Für Hochqualifizierte ist die Gewährung eines Daueraufenthalts von Anfang an vorgesehen, sie können sofort eine Niederlassungserlaubnis erhalten. Mit- oder nachziehende Familienangehörige sind zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigt (Auswärtiges Amt 2009). Von der Aufenthaltsgenehmigungspflicht befreit sind Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union. Nach fünf Jahren erhalten sie ein Niederlassungsrecht. Neben diesen gesetzlichen Regelungen existiert in Deutschland ein sog. Gastarbeitnehmerverfahren. Mit einigen osteuropäischen Staaten hat Deutschland ein Abkommen getroffen, das den Austausch von Fachkräften aller Berufsgruppen im Alter von 18 bis 40 Jahren regelt. Die Fachkräfte aus den Ländern Albanien, Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Kroatien, Polen, Rumänien, Russland, Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn (Stand: September 2007) haben in der Regel die Möglichkeit, bis zu 18 Monate lang in ihrem erlernten Beruf zu arbeiten. Ziel des Gastarbeitnehmerverfahrens ist die berufliche und sprachliche Fortbildung der Teilnehmer (BfA 2009). 2.1.2.3
InterkulturelleĆZusammenarbeitĆ
Interkulturelle Zusammenarbeit kann sowohl als Chance gesehen als auch als problematisch beschrieben werden. Als problematisch anzusehen ist die häufig unbewusste Überzeugung, dass die eigenen Werte, Denk- und Handlungsmuster die einzig richtigen sind (BUSCH u. SCHENK 2005). Selbst in kulturell homogenen Teams müssen erst gemeinsame Standards erarbeitet werden, um die Zusammenarbeit und Kommunikation möglichst effizient zu gestalten und Konflikte zu vermeiden. BUSCH u. SCHENK (2005) berichten aus ihren Praxiserfahrungen, dass „der Grad an auftretenden Irritationen, Unsicherheiten, kommunikativen Fehlinterpretationen, Missverständnissen bis hin zu ernsthaften Kontaktstörungen und zum Abbruch des Kontaktes …“ um so höher ist, je größer die kulturellen Unterschiede sind. Um die interkulturelle Zusammenarbeit zu beschreiben, wird häufig der bereits oben eingeführte Begriff Diversity verwendet. Das dahinter liegende Konzept steht für die Vielfältigkeit und Unterschiedlichkeit von Lebensstilen und -entwürfen, die die Gesellschaft charakterisieren (FAGER 2006). Das Konzept soll zum Ausdruck bringen, dass die menschliche Vielfalt positiv anzusehen ist und darin zahlreiche Möglichkeiten für gesellschaftliche und ökonomische Entwicklung liegen. Allerdings ist Diversity nicht ausschließlich auf eine kulturelle Vielfalt oder ethnische Zugehörigkeit hin zu verstehen, sondern auch bezogen auf Geschlecht, Erscheinung, Status in der Organisation, Arbeitserfahrungen, Strategien usw. (ARETZ u. HANSEN 2003).
Arbeitsperson
111
In der Wissenschaft wird der Ansatz des Diversity-Managements kontrovers diskutiert. Einerseits findet sich die Auffassung, dass man zukünftig von einer Homogenisierung der Organisationsstruktur bzw. -kultur sowie der Personalrekrutierung und -entwicklung ausgehen kann. Solche Ansätze empfehlen entsprechende Strategien zur Organisationsentwicklung und Personalmarketing (ARETZ u. HANSEN 2003). Andererseits wird die Auffassung vertreten, Diversity Management sei ein Ansatz, die Unterschiedlichkeiten gezielt als strategische Ressourcen zur Realisierung der Unternehmensziele einzusetzen (ARETZ u. HANSEN 2003). Das Diversity-Management ist als ein Prozess der Organisationsentwicklung zu sehen. Damit ist der geplante organisatorische Wandel gemeint, in dem die Organisationsstruktur verändert wird und alle Beteiligten Anpassungsleistungen erbringen müssen (ROSENSTIEL 2007). Hierbei gelten die folgenden Merkmale (ROSENSTIEL et al. 2005): x Geplanter, langfristiger, organisationsumfassender Wandel x Wird von Betroffenen mitgetragen x Basiert auf erfahrungsgeleiteten Lern- und Problemlösungsprozessen, die durch Verfahren der angewandten Sozialwissenschaften induziert und unterstützt werden. In der Entwicklung von mehrkulturellen Arbeitsgruppen können drei Phasen identifiziert werden, die aufeinander aufbauen (STUMPF 2006): x Mapping-Phase: Es besteht das Ziel, dass die Beschäftigten relevante Unterschiede und Gemeinsamkeiten erkennen. Beides muss gedanklich in Verbindung gesetzt werden mit den vorhandenen und zukünftigen Gruppenprozessen und -leistungen. x Bridging-Phase: Es werden Standards für die erfolgreiche Kommunikation entwickelt und etabliert. x Integrations-Phase: Ziel ist es, die in der Mapping-Phase identifizierten Unterschiede hinsichtlich der Perspektiven und Präferenzen der Gruppenmitglieder zusammenzubringen und Möglichkeiten zu erarbeiten, sich daraus ergebende Konflikte zu lösen, um das Gruppenziel zu erreichen. Aufgrund der Anforderungen des Marktes an die Betriebe (Globalisierung, demografischer Wandel etc.) stößt das Diversity-Konzept in Deutschland, das in den USA bereits seit mehr als 20 Jahren in die Praxis umgesetzt wird, auf großes Interesse, denn neben der erwähnten Potentialerschließung spricht das Konzept zentrale Werte wie Fairness, Toleranz, Chancengleichheit an und scheint Vorurteile oder Rassismus minimieren zu können (VEDDER 2005).
112
Arbeitswissenschaft
2.2
Disposition
2.2.1 2.2.1.1
Persönlichkeit DefinitionĆundĆRelevanzĆ
Persönlichkeit ist das Forschungsgebiet der Persönlichkeitspsychologie, die sich wissenschaftlich mit den individuellen Unterschieden im Verhalten und Erleben von Menschen auseinandersetzt. Das Konstrukt Persönlichkeit wird von EYSENCK (1970) definiert als „die mehr oder weniger stabile und dauerhafte Organisation des Charakters, Temperaments, Intellekts und Körperbaus eines Menschen, die seine einzigartige Anpassung an die Umwelt bestimmt“ (EYSENCK 1970). GUILFORD (1974) bezieht den Begriff trait ein: „Die Persönlichkeit eines Individuums ist seine einzigartige Struktur von Persönlichkeitszügen (traits). Ein trait ist jeder abstrahierbare und relativ konstante Persönlichkeitszug, hinsichtlich dessen eine Person von anderen Personen unterscheidbar ist.“ (GUILFORD 1974) Somit ist Persönlichkeit ein Konstrukt, das die charakteristischen, zeitlich überdauernden Denk-, Gefühls- und Verhaltensmuster eines Individuums im Umgang mit seiner Umwelt beinhaltet. Die Persönlichkeitsforschung beschreibt die inter- und intraindividuellen Differenzen der Persönlichkeit und beruft sich dabei auf unterschiedliche Theorien, die sich nach der Forschungsrichtung und den jeweiligen Ansätzen der einzelnen Begründer ausrichten. Hier zu nennen wären bspw.: x x x x x x
Kognitive Persönlichkeitstheorien (George A. Kelly) Lerntheoretische Ansätze (Skinner, Watson) Phänomenologische Theorie (Carl Rogers) Psychodynamische Theorien (Freud) Sozial-kognitive Theorie (Bandura, Mischel) Trait-Theorien (Eigenschaftstheorien) (Allport, Eysenck, Cattell).
Das Wissen um die Persönlichkeit einer Arbeitsperson ist vor allem hinsichtlich der Berufs- und Laufbahnberatung, der Personalauswahl und der Organisationsgestaltung und -entwicklung von großem Interesse (siehe Kap.5). Um die Struktur der Persönlichkeit zu charakterisieren wird häufig das FünfFaktoren-Modell (Big Five) verwendet (GOLDBERG 1990; WIGGINS u. PINCUS 1992), das Eigenschaftsbegriffe, die einen Menschen beschreiben, auf fünf grundlegenden Dimensionen beschreibt. Diese sind: (1) Neurotizismus stabil, ruhig, zufrieden versus gespannt, ängstlich, nervös, launisch (2) Extraversion gesprächig, aktiv, offen, energiegeladen versus still, reserviert, zurückgezogen, schüchtern
Arbeitsperson
113
(3) Offenheit breit interessiert, fantasievoll, kreativ, intellektuell versus gewöhnlich, einseitig interessiert, einfach, oberflächlich (4) Verträglichkeit mitfühlend, nett, bewundernd, herzlich, freundlich versus kalt, unfreundlich, streitsüchtig, unbarmherzig (5) Gewissenhaftigkeit organisiert, sorgfältig, zuverlässig, verantwortungsbewusst versus sorglos, unordentlich, leichtsinnig, verantwortungslos. 2.2.1.2
MessungĆderĆPersönlichkeitĆ
Zur Messung von Persönlichkeit gibt es zahlreiche Inventare, häufig in Form von standardisierten Fragebögen, in denen die Selbsteinschätzung über die eigenen Merkmale und Verhaltensweisen erfragt wird. Fragebogenverfahren sind ökonomisch, genügen dem Gütekriterium der Objektivität und in der Regel auch der Reliabilität und Validität. BORKENAU et al. (2005) beschreiben einige Einschränkungen, die sich aufgrund des Einsatzes von Fragebögen ergeben. Hierzu gehören bspw., dass sie leicht verfälschbar sind, indem die Befragten absichtlich unrichtige Angaben vornehmen. Auch zählen hierzu die zahlreichen Fehlertendenzen bei der Selbstbeurteilung (siehe auch Kap. 1.5.1.4.2). Besonders häufig wird das oben genannte Fünf-Faktoren-Inventar von Costa und McCrae verwendet, das auf den fünf Persönlichkeitsdimensionen basiert. Beispiele für die einzelnen Dimensionen (je 12 Sätze) der insgesamt 60 Items sind: „Manchmal erscheint mir alles düster und hoffnungslos“ (Neurotizismus), „Ich habe gerne viele Leute um mich herum“ (Extraversion), „Ungewöhnliche Dinge wie bestimmte Gerüche oder die Namen ferner Länder können starke Stimmungen in mir erzeugen“ (Offenheit für neue Erfahrungen), „Ich könnte niemanden betrügen, selbst wenn ich es wollte“ (Verträglichkeit) und „Ich arbeite hart, um meine Ziele zu erreichen“ (Gewissenhaftigkeit) (PERVIN et al. 2005). Eine andere Art der Erfassung von „traits“ im Sinne von stabilen Persönlichkeitsmerkmalen ist die Erfragung der Selbstbewertung (core selfevaluation). Hier werden Variablen wie Selbstwert (self-esteem), Selbstwirksamkeit (self-efficacy), Selbstkontrolle (locus of control) und negative Affektivität abgefragt und somit die individuelle Selbstbeurteilung und Einschätzung der Person erfasst. Die neuere Forschung rückt Implizite Assoziationstests (IAT) in den Vordergrund (BORKENAU et al. 2005), da andere Testverfahren an mangelnder interner Konsistenz und Stabilität sowie begrenzter Sensitivität für individuelle Unterschiede leiden. IAT sind computergestützte Testverfahren. Die Versuchspersonen müssen zwischen zwei Kategorien unterscheiden (z.B. Mann / Frau, dünner Mensch / dicker Mensch, dunkle Hautfarbe / helle Hautfarbe) und gleichzeitig positive und negative Attribute zuordnen (wundervoll, angenehm, grauenhaft, hässlich etc.). Während des Tests müssen die Befragten so schnell wie
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Arbeitswissenschaft
möglich Bilder und Attribute zuerst in einer (vermuteten) assoziationskongruenten Kombination zuordnen und dann in einer assoziationsinkongruenten Kombination. Es wird davon ausgegangen, dass assoziationskongruente Kombinationen schneller und fehlerfreier gewählt werden als assoziationsinkongruente. Neigt der Befragte bspw. dazu, dünne Menschen eher mit positiven Gedanken zu verbinden, dann wird es ihm schneller möglich sein, die positiven Attribute und die Gesichter von dünnen Menschen in eine Kategorie zu bringen (zum Beispiel auf die linke Seite des Bildschirms) als die positiven Attribute und die Gesichter von dicken Menschen in eine Kategorie zu bringen (zum Beispiel auf die rechte Seite des Bildschirms). BORKENAU et al. (2005) beschreiben die interne Konsistenz der Persönlichkeits-IAT mit Cronbachs Alpha um 0,80 und ihre Retest-Reliabilität nahe bei 0,60 als gut. Es konnte gezeigt werden, dass herkömmliche Verfahren willentlich viel einfacher zu manipulieren sind als IAT. 2.2.1.3
PersönlichkeitsentfaltungĆ
Dem Konzept der Persönlichkeit wird heute eine hohe Bedeutung im Hinblick auf Leistungs- und Eignungsvorhersagen für Schule, Studium und Beruf zugewiesen. Von dem zuvor beschriebenen Fünf-Faktoren-Modell erweisen sich vor allen Dingen Gewissenhaftigkeit, emotionale Stabilität sowie Extraversion als relevant bspw. für beruflichen Erfolg und Zufriedenheit (siehe BORKENAU et al. 2005). Die Dimension Offenheit ist verwendbar, um Trainingserfolg vorherzusagen, und die Dimension Verträglichkeit kann die Zusammenarbeit in einem Team positiv beeinflussen. Neben der Vorhersagbarkeit von Leistung und Erfolg ist auch die Gestaltung der Arbeit hinsichtlich der Persönlichkeitsentfaltung ein wichtiges Anliegen der Arbeitswissenschaft (siehe Kap. 1.5.2). ULICH (2005) analysiert zahlreiche Längsschnittstudien und beschreibt den Einfluss der Arbeitsbedingungen auf die Persönlichkeit über Lern- und Generalisierungsprozesse. Nachgewiesen werden konnten unter anderem Zusammenhänge zwischen den Merkmalen der Arbeitstätigkeit sowie der Persönlichkeitsmerkmale Selbstvertrauen, intellektuelle Flexibilität, Moralbewusstsein, soziale Kompetenz, internale Kontrolle sowie Erweiterung fachlicher Qualifikation. Arbeit als Möglichkeit zur Persönlichkeitsentfaltung versucht, persönlichkeitsorientierte Ziele (Selbstverwirklichung, Autonomie) derart in Arbeits- und Organisationsstrukturen einzubringen, dass Arbeitsbedingungen und persönliche Ziele komplementär gestaltet werden können. Es wird davon ausgegangen, dass ein derartiger Einsatz menschlicher Ressourcen auch auf der Leistungsseite (Output) zu einer Verbesserung führt. Allerdings muss auch
Arbeitsperson
115
konstatiert werden, dass Vorstellungen der Persönlichkeitsentfaltung als Ziel nicht auf alle Menschen im selben Maße zutreffen und somit individuell spezifische Anpassungen von Arbeitsbedingungen erfordert (ULICH 2005). Die Operationalisierung von Persönlichkeitsentfaltung setzt eine entsprechende Vorstellung davon voraus, was Persönlichkeit ausmacht, also ein Menschenbild. Neben Möglichkeiten sozialer Kooperation und Anerkennung der Arbeit ist laut HACKER (1995) eine Einbeziehung zunehmend höherer Regulationsebenen erforderlich, bspw. Einbeziehung von Planungs- und Kontrolltätigkeiten in die Arbeitsaufgabe bei gleichzeitiger Routinisierung elementarer Arbeitsverrichtungen. Aus diesem Konzept leiten sich zwanglos Gestaltungsmethoden ab. Alle Maßnahmen, die dazu führen, dass Planungsaktivitäten auf die Ausführenden verlagert werden, erhöhen bei diesen die Planungs(-Regulations-)erfordernisse und dienen in diesem Sinne der Entfaltung der Persönlichkeit. Die Persönlichkeitsentwicklung mit dem Alter – differenziert nach dem Geschlecht – kann anhand der „Big Five“ veranschaulicht werden (SRIVASTAVA et al. 2003, siehe Abb. 2.8). Es ist zu erkennen, dass Männer durchgehend eine geringere Gewissenhaftigkeit zeigen als Frauen. Zudem wurde ein kontinuierlicher Anstieg dieses Merkmals während der gesamten Berufsbiographie festgestellt. Auch bei der Verträglichkeit zeigen Männer durchweg geringere Werte als Frauen. Bis zu einem Lebensalter von etwa 55 Jahren ist bei beiden Geschlechtern ein Anstieg, danach ein leichter Abstieg zu verzeichnen. Der Verlauf des strukturellen Merkmals Neurotizismus ist bei Männern über dem Alter relativ stabil im niedrigen Bereich, jedoch mit zunehmender Streuung zwischen den Probanden. Bei Frauen ist über die Lebensjahre ein deutlicher Abfall von relativ hohen Werten auffällig. Für die Extraversion ergeben sich erneut höhere Werte der weiblichen Probanden im Vergleich zu den Männern, wobei im höheren Alter eine Annäherung stattfindet, da die Werte der Frauen leicht abnehmen und die der Männer in geringem Maße zunehmen. Hinsichtlich der Offenheit sind bei Frauen und Männern leichte Abnahmen mit dem Alter zu beobachten, mit einer geringen Annäherung, da sich die Werte der Frauen etwas stärker verringern. Jedoch zeigt sich bei Männern im Gegensatz zu den vier anderen Merkmalen eine größere Offenheit als bei Frauen (LUCZAK u. FRENZ 2008). Die in Abb. 2.8 anhand der interindividuell gemittelten Werte von Persönlichkeitsfaktoren dargestellte Persönlichkeitsentwicklung macht deutlich, dass eine eindeutige Zuordnung der Persönlichkeit von Arbeitspersonen weder zu den Konstitutions- noch zu den Dispositionsmerkmalen möglich ist. Vielmehr sind bei diesem Merkmal sowohl konstitutive als auch dispositive Anteile erkennbar.
116
Arbeitswissenschaft
Verträglichkeit Anteil am Skalenmaximum [%]
Anteil am Skalenmaximum [%]
Gewissenhaftigkeit 757371696765636159575521
24
27
30
3 3 36
39
42
45
48
51
5 4 57
60
807876747270686664626021
24
27
30
3 3 36
Neurotizismus
59 55 53 51 49 47 45 43 41 24
27
30
33 3 6
39
42
42
45
48
51
54 57
60
48
51
54 5 7
60
Offenheit
57 -
39 21
39
Alter
Anteil am Skalenmaximum [%]
Anteil am Skalenmaximum [%]
Alter
45
48
51
54 5 7
60
Alter
85 83 81 79 77 75 73 71 69 67 65 21
24
27
30
33 3 6
39
42
45
Alter
Anteil am Skalenmaximum [%]
Extraversion 6563-
Frauen – Mittelwerte
6159-
Männer – Mittelwerte
5755-
Frauen – Regressionsanpassung
5351-
Männer – Regressionsanpassung
49474521
24
27
30
3 3 36
39
42
45
48
51
54 57
60
Alter
Abb. 2.8: Persönlichkeitsentwicklung mit dem Alter – Strukturelle Merkmale („Big Five“, nach SRIVASTAVA et al. 2003, Daten einer Internet-Studie an 132.515 Personen)
2.2.2 2.2.2.1
Alter Demographische Entwicklung
Der Alterungsprozess von Arbeitspersonen gewinnt immer mehr an Bedeutung. Dies wird durch einen Vergleich zwischen dem Altersaufbau für die Bundesrepublik Deutschland von Ende 2005 und dem prognostizierten Altersaufbau Ende 2050 deutlich (Abb. 2.9). Während zu Beginn des 19. Jahrhundert die durchschnittliche Lebenserwartung ca. 45 Jahre betrug, so lag sie 2002/2004 für neugeborene Jungen bei 75,9 Jahren, für neugeborene Mädchen sogar bei 81,5 Jahren (STATISTISCHES BUNDESAMT 2006e).
Arbeitsperson
117
Abb. 2.9: Altersaufbau Deutschlands im Vergleich (STATISTISCHES BUNDESAMT 2006e)
Demographische Modellrechnungen zeigen für Deutschland einen Bevölkerungsrückgang, verbunden mit einem steigenden Prozentsatz älterer Einwohner (Ende 2005: 19% der Bevölkerung über 65 Jahren, 2050: über 30%, STATISTISCHES BUNDESAMT 2006e). Selbst unter Einbeziehung der ausländischen Bevölkerung wird sich dieser Trend wohl fortsetzen, da das starke Geburtendefizit kaum mehr durch Nettozuwanderung kompensiert werden kann (STATISTISCHES BUNDESAMT 2006e). Langfristig könnte es zu einer markanten Verknappung des Arbeitskräfteangebots kommen, außerdem werden immer weniger Beitragszahler für die auszuzahlenden Renten und Pensionen zur Verfügung stehen. Es bleibt jedoch abzuwarten, inwieweit der technische und organisatorische Fortschritt eine Produktivitätserhöhung zulässt, die die Nachfrage nach Arbeit reduzieren könnte. Hierdurch wäre es zwar möglich, eine quantitative Deckung der Arbeitsnachfrage zu erzielen, offen bleibt jedoch die Frage der qualitativen Deckung, da bei hoher Produktivität i.A. höhere Qualifikationen verlangt werden. Die Bevölkerung im Erwerbsalter, also Personen zwischen 20 und 65 bzw. 67 Jahren altert und schrumpft zugleich auf lange Sicht. Sie beträgt im Jahr 2030 voraussichtlich insgesamt zwischen 42 und 44 Millionen und 2050 nur noch zwischen 35 und 39 Millionen. Diese Entwicklung wird in der Zukunft das jetzige Rentensystem, in dem die Arbeitnehmer/innen die Renten durch die Umlage ihrer Beiträge finanzieren, in Frage stellen. Dem wurde durch eine Erhöhung des Renteneintrittsalters von 65 auf 67 Jahre bereits teilweise Rechnung getragen. Im
118
Arbeitswissenschaft
Jahr 2005 stellte die mittlere Altersgruppe der 30- bis 49-jährigen mit 50% den größten Anteil an der Erwerbsbevölkerung im Vergleich zu den Jungen mit 20% (20 bis 29 Jahre) und den Älteren mit 30% (50 bis 64 Jahre). Im Jahr 2050 werden die mittlere Gruppe mit 43% und die ältere Gruppe mit 40% voraussichtlich wesentlich ähnliche Anteile aufweisen, wobei der Anteil der Jüngeren sich nicht so stark ändern wird. Die Bevölkerung im Erwerbsalter wird somit in den kommenden Jahrzehnten immer stärker durch die Älteren geprägt (STATISTISCHES BUNDESAMT 2006e). 2.2.2.2
JugendlicheĆ
Wenn man nicht auf die gesetzlichen Altersgrenzen zurückgreift, ist es schwierig, die Jugendzeit gegenüber der Kindheit und dem Erwachsenenalter abzugrenzen. Das Jugendarbeitsschutzgesetz (JArbSchG) definiert: x Kinder sind Personen unter 15 Jahren bzw. Vollzeitschulpflichtige x Jugendliche sind Personen ab 15 und unter 18 Jahren. Man könnte auch den Zeitpunkt der Arbeitsaufnahme als Grenze verwenden, dieses ist aber aus dem Grunde umstritten, dass eine eindeutige Trennung von Berufsausbildung und Berufsausübung nicht möglich ist. Hinzu kommt die Tendenz, die Ausbildung mehr und mehr vom Arbeitsplatz zur Schule zu verlagern. Die Bestimmung eines Zeitpunktes, an dem ein Jugendlicher seine Entwicklung zum Erwachsenen abgeschlossen hat, gestaltet sich also abgesehen von den rechtlichen Grundlagen problematisch. Die größte Schwierigkeit besteht darin, die körperliche und geistige Entwicklung zu beurteilen, da die interindividuelle Streuung zu hoch ist. Insbesondere durch die unterschiedliche körperliche Entwicklung in der Pubertät ist eine starke Inhomogenität in dieser Gruppe zu beobachten. Aufgrund der noch ungünstigen Proportionen haben Jugendliche oftmals ergonomische Probleme, da sie häufig an Arbeitsplätzen arbeiten müssen, die für Erwachsene entworfen wurden. Dazu kommen noch die nicht voll entwickelten physiologischen und sensumotorischen Eigenschaften, wie Muskelkraft, Herzund Lungenleistungsfähigkeit, Geschicklichkeit und Reaktionsvermögen. Die Leistungsfähigkeit des Herz-Kreislaufsystems, dargestellt in Abb. 2.10 am Kriterium der maximalen Sauerstoffaufnahme pro Minute, ist im Kindesalter zwischen Mädchen und Jungen noch nicht unterschiedlich. Aufgrund einer höheren jährlichen Leistungszuwachsrate von 5-7% erreichen Jungen bzw. Männer jedoch später ein höheres Niveau, wobei die maximale Leistungsfähigkeit des Herz-Kreislaufsystems etwa mit dem 20. Lebensjahr erreicht wird. Bei Mädchen bzw. Frauen ist die maximale Leistungsfähigkeit bereits mit dem 14.-16. Lebensjahr erreicht. In der Regel ist es für Jugendliche schwierig, ihre Kräfte ökonomisch einzusetzen und Anforderungen und Gefahren richtig einzuschätzen. Versuche, so
Arbeitsperson
119
viel zu leisten wie ein Erwachsener, können zu Überforderung und schlimmstenfalls zu bleibenden Gesundheitsschäden führen (GRIEFAHN 1992).
Abb. 2.10: Maximale Sauerstoffaufnahme in Abhängigkeit von Lebensalter und Geschlecht (Mittelwerte einer Querschnittstudie an insgesamt 2834 Personen nach HOLLMANN 1963)
Das Jugendarbeitsschutzgesetz (JArbSchG) begrenzt daher den Einsatz von Jugendlichen in Arbeitssystemen durch Beschäftigungsverbote und Beschränkungen. Ein positiver Aspekt betrifft die Mobilität junger Arbeitnehmer/innen. Bis zur Familiengründung ist es in der Regel einfacher, sowohl den Betrieb als auch den Ort zu wechseln. Jugendliche sind daher oft flexibler einsetzbar als familiär gebundene Erwachsene. Geschichtlich lässt sich eine Entwicklung der Arbeitsorganisation von der familienwirtschaftlichen Kooperation zur „Lohnarbeit“ im Betrieb feststellen. Hierdurch wurden die Arbeitsbedingungen versachlicht und die sozialen Beziehungen verändert. An Stelle einer umfassenden Einbindung in den Familienbetrieb treten Arbeitsbedingungen auf, die reglementiert und fremdbestimmt werden. Durch die geringere persönliche Fürsorge entsteht oft eine gewisse soziale Unsicherheit. Dieses trifft zwar für jede Arbeitsperson zu, Jugendliche sind jedoch von diesen Veränderungen besonders betroffen, da ihre Position als Anfänger besonders schwach und der Kontrast zur Familie besonders ausgeprägt ist, sowie im Umfeld der Familien altersspezifische Arbeitszuordnungen stark berücksichtigt werden, was in normalen Betrieben kaum möglich ist.
120
2.2.2.3
Arbeitswissenschaft
ÄltereĆArbeitspersonenĆ
Es gibt keine gesetzlichen Bestimmungen, die eine Grenze festlegen, ab wann eine Arbeitsperson „alt” ist. In der betrieblichen Praxis geht man daher meistens von der Verrentung bzw. Pensionierung als Übergang aus, allerdings muss man beachten, dass keine Höchstaltersgrenze für die Ausübung der meisten Tätigkeiten besteht. Der Ruhestandstermin entstand im Zuge der Verallgemeinerung der öffentlichen Rentensysteme. Vom Beginn des letzten Jahrhunderts bis etwa 1970 konzentrierte sich der Zeitpunkt für das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben um das 65. Lebensjahr. Danach ließ sich feststellen, dass das durchschnittliche Zugangsalter der Versichertenrenten – wegen Alters und wegen verminderter Erwerbsfähigkeit – mehr oder weniger kontinuierlich sank. Jedoch ist seit dem Jahr 1999 wieder ein Ansteigen des durchschnittlichen Zugangsalters festzustellen. Im Jahr 2007 lag es bei 61,0 Jahren (1980: 59,2 Jahre). Zu beachten ist, dass das durchschnittliche Zugangsalter wegen verminderter Erwerbsfähigkeit weiterhin abnimmt (1970: 58,3 Jahre, 2007: 50,1 Jahre), während der Rentenzugang wegen Alters tendenziell immer später erfolgt (2007: 63,3 Jahre, DEUTSCHE RENTENVERSICHERUNG 2008). In Rezessionsphasen wiederum verschärft sich die Tendenz zur Frühverrentung, da die Möglichkeit, Arbeitskräfte durch vorzeitigen Ruhestand abzubauen, den sozialen Frieden in der Regel weniger gefährdet als Entlassungen. Aufgrund der auch langfristig zu erwartenden angespannten Lage auf dem Arbeitsmarkt sind die Einsatzmöglichkeiten älterer Arbeitsperson von besonderem Interesse. Allgemein ist die Leistungsfähigkeit älterer Arbeitspersonen nicht vom kalendarischen Alter abhängig und schwer einzuschätzen (SHEPHARD 2000). Dies hat folgende Gründe: (1) Die Streuung der individuellen Fähigkeiten ist bei älteren Arbeitspersonen dominierender als deren mittlere Abnahme (ILMARINEN u. TEMPEL 2002). (2) Leistung und Leistungsbereitschaft sind stark von den Arbeitsaufgaben und -bedingungen abhängig. Die Arbeitswissenschaft distanziert sich inzwischen von der Auffassung einer generellen Verschlechterung der Fähigkeiten mit zunehmendem Alter (Ablehnung der sog. „Defizit“-Theorie, siehe LANDAU et al. 2007). Stattdessen postuliert das sog. „Kompensations-Modell“, dass nicht alle körperlichen und geistigen Funktionen notwendigerweise und in gleicher Weise einem Abbau und Verfall unterliegen. Mithin können Fähigkeiten – insbesondere der sozialen Kompetenz – im Altersverlauf stabil bleiben oder auch zunehmen (ADENAUER 2002, Tabelle 2.3; LUCZAK et al. 2010, Abb. 2.11).
Arbeitsperson
121
Abb. 2.11: Kompensations-Modell versus Defizit-Modell (aus LUCZAK et al. 2010); die mittlere Leistungsabnahme im Alter, welche die Vorhersagen des Defizit-Modells dominiert, lässt sich in einem kontrastierenden Erklärungsansatz durch die Akkumulation der Individualverläufe begründen, die für sich genommen lange Zeit konstant bleiben und erst nach dem Erreichen einer individuellen Grenze im hohen Alter deutlich abfallen
Unter ungünstigen Umständen, z.B. unter hoher Dauerbelastung, ist jedoch mit zunehmendem Alter eher mit Einbußen zu rechnen (KENNY et al. 2008). Diese Veränderungen sind allerdings nicht immer messbar oder ziehen oftmals nicht einmal negative Auswirkungen auf Wertschöpfungsprozesse nach sich. Vor diesem Hintergrund ist die Sinnhaftigkeit einer fixen oder lediglich nach unten durch Vorruhestandsregelungen flexiblen Altersgrenze in Frage zu stellen. Bereits in den 60er Jahren gab es in der Bundesrepublik eine Diskussion über die Flexibilisierung der Altersgrenze (LEHR 2003). Angesichts einer dauerhaft hohen Arbeitslosigkeit wird diese immer wieder sowohl von den Gewerkschaften als auch von den politischen Parteien aufgegriffen, z.B. im Zusammenhang mit der sog. Altersteilzeit.
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Arbeitswissenschaft
Tabelle 2.3: Gegenüberstellung von Defizit-Modell und Kompensations-Modell (nach ADENAUER 2002) Defizit-Modell x bis Anfang 1990 x einseitig negative Betrachtungsweise des Alterns und Alters x Altern und Alter = Abbau und Verfall von Qualifikation und Leistung x betrifft alle Altersentwicklungen aller Menschen, d.h. Annahme: Alle Menschen altern in gleicher Weise
Kompensations-Modell x seit Anfang 1990; Perspektivenwechsel x differenzierte Sichtweise des Alterns und Alters x Wandel von Fähigkeiten im Alter: o z. T. abnehmend o stabil bleibend o zunehmend x weitere Differenzierung: o Unterschiede zwischen den Individuen; jeder altert zu einem anderen Zeitpunkt und in unterschiedlicher Weise (Einfluss hat auch die Lebensbiographie) o Unterschiede in den Alterungsprozessen verschiedener Organe und Funktionen innerhalb eines Individuums (Zu- oder Abnahme von Funktionen) o Unterschiede in der körperlichen und geistigen Entwicklung o auch im Alter ist Verhaltensänderung sowie Lernen möglich o differenzierte Beurteilung der Leistungsfähigkeit Älterer
2.2.2.3.1 Leistungsfähigkeit Mittelwertsvergleiche, die für energetisch-effektorische Arbeit einen altersbedingten Abbau der Leistungsfähigkeit von Mitte 20 an aufzeigen, können aufgrund der großen Streuung nicht pauschal auf ältere Arbeitspersonen sowie andere Arbeitsformen angewandt werden (SILVERSTEIN 2008). Die Beurteilung der Leistungsfähigkeit sollte sich daher immer auf die Person und die von ihr zu verrichtende Tätigkeit beziehen. Zudem können im Fall von Querschnittstudien im Gegensatz zu Längsschnittstudien Verzerrungen durch die Berücksichtigung von hinsichtlich bestimmter Merkmale unterschiedlichen Geburtskohorten entstehen, die ein falsches Bild vermitteln (Abb. 2.12). Bei Querschnittstudien zu Veränderungen mit dem Alter werden einmalig Personen aus unterschiedlichen Kohorten untersucht, wobei Längsschnittstudien bzw. genauer gesagt sog. Panelstudien Erhebungen einer bestimmten Stichprobe zu mehreren Zeitpunkten beinhalten. Dadurch wird die Ableitung kohortenspezifischer Verläufe ermöglicht.
Arbeitsperson
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Abb. 2.12: Verzerrung des Altersverlaufs eines beliebigen Kriteriums aufgrund von Kohorteneffekten im Fall einer Querschnittstudie (idealisierte Darstellung)
Alternsbedingte Veränderungen des visuellen Systems Die Abnahme der Sehfähigkeit nimmt eine besondere Stellung unter den altersbedingten Veränderungen der Wahrnehmungssysteme ein (siehe Kap. 3.3.2.1.2.1). Die Augenlinse zeigt ein stetiges, lebenslanges Wachstum unter Bildung neuer Fasern. Normalerweise erfahren diese keinen physiologischen Zelltod und keine Abstoßung in die Umgebung, so dass sich in einer Augenlinse Zellen und Fasern aller Altersstufen befinden. Dies führt zu einer Sehleistungsminderung, die sehr hoch mit dem Alter korreliert. Für ältere Personen sind maßgebend: x Die Verringerung der Lichttransmission, d.h. Augentrübung mit vermehrter Lichtstreuung (Abb. 2.13) (HOCKWIN 1989). x Ein erhöhter Lichtbedarf infolge der Altersmiose (Engstellung der Pupille), weshalb beim Sechzigjährigen im Vergleich zum Zwanzigjährigen nur noch ein Drittel der Lichtmenge die Netzhaut erreicht. (Abb. 2.14) (KLINE u. SCHIEBER 1985; WOLF 1960). x Das Nachlassen der Fähigkeit zur Formänderung der Linse und damit der Schärfeeinstellungsfähigkeit (HOFSTETTER 1965; SCHIEBER 2006). Dies ist in Abb. 2.15 am Beispiel der sog. Akkommodationsbreite (siehe Kap. 3.3.2.1.2.1) dargestellt. x Die Verlangsamung der Dunkeladaption sowie Sensititvitätseinschränkung der Farbwahrnehmung (HELVE u. KRAUSE 1972; SCHIEBER 2006). x Die Abnahme der Kontrastempfindlichkeit aufgrund vermehrter Lichtstreuung und entsprechend erhöhter Blendwahrscheinlichkeit (OWSLEY et al. 1983).
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Arbeitswissenschaft
%ĆT 100
0,5Ća.
90 8Ća. 80 70 60
25Ća.
50
47Ća. 54Ća.
40 82Ća. 30 20 10
300 350 400 450 500 550 600 650 700 750 800 nm
Abb. 2.13: Lichtdurchlässigkeit der Augenlinse (aus HOCKWIN 1989)
20 Jahre
250
60 Jahre
183
2099
183
150
1000
1000
100
1000
Lichtbedarf [%]
200
50
0 100
300 E [lx]
900
Abb. 2.14: Unterschied im Lichtbedarf LB zwischen alten (60 Jahre) und jungen Arbeitspersonen (20 Jahre = 100%) bei verschiedenen aufgabenbezogenen Beleuchtungsstärken (aus HANDBUCH FÜR BELEUCHTUNG 1975)
Arbeitsperson
125
Akkomodationsbreite [Dioptrien]
16 14 12
Streubreite
10 8 6 4 2 0 5
15
25
35
45
55
65
75
Alter [Jahre]
Abb. 2.15: Veränderung der Akkommodationsbreite mit dem Alter (SCHMIDT u. SCHAIBLE 2000)
Als einfache Gegenmaßnahmen sind eine stärkere Beleuchtung sowie Sehhilfen zu nennen. Die Grenzen liegen bei verstärkter Beleuchtung im Nichterkennen abgeschatteter Teile sowie in der Blendwirkung durch vermehrte Lichtstreuung. Insbesondere die Blendung ist problematisch, denn die Empfindlichkeit wird im Alter höher, da die mit dem Alter zunehmenden Linsen- und Glaskörpertrübungen Streulicht im Auge selbst erzeugen (physiologische Blendung). Sehhilfen führen zu häufigem Akkommodieren während eines Arbeitsvorgangs. Auch mehrfach geschliffene Gläser vermindern kaum die erhöhte Beanspruchung. Aufgrund der physiologischen Änderungen der Augenlinse ist eine Verbesserung der Sehfähigkeit durch Training in der Regel nicht möglich. Alternsbedingte Veränderungen des auditiven Systems Durch den Alterungsprozess des auditiven Systems wird das Hörvermögen älterer Menschen beeinflusst. Dabei können erste Erscheinungen einer abnehmenden Hörfähigkeit bereits in einem Alter zwischen 30 und 40 Jahren auftreten. Zwischen 45 und 54 Jahren leiden bereits 20% an einer Hörschwäche und spätestens nach dem 70. Lebensjahr tritt eine deutliche Altersschwerhörigkeit ein. Bei den 75 bis 79-jährigen leiden 75% an einem reduzierten Hörvermögen (FOZARD 1990, KLINE 1996). Alternsbedingte anatomische Veränderungen des auditiven Systems führen des Weiteren zu einer erhöhten Hörschwelle. So können speziell hochfrequente Töne zwischen 1000 und 8000 Hz von älteren Menschen schlechter wahrgenommen werden (siehe Abb. 2.16; SCHIEBER 1992). Auch die hörbaren Unterschiede in Bezug auf Lautstärken- und Frequenzänderung nehmen mit zunehmendem Alter ab (SMALL 1987). Trotz vieler Untersuchungen besteht noch immer eine allgemeine Uneinigkeit über die Ursachen und den pathologisch-
126
Arbeitswissenschaft
anatomischen Mechanismus der Altersschwerhörigkeit (SZADKOWSKI 1983). Daher kann die altersbedingte Verschlechterung des Hörvermögens nicht immer durch technische Hilfen ausgeglichen werden.
Hörschwellenabweeichung ǻH
-10
30 Jahre
0 10
50 Jahre
20 30 40
70 Jahre
m
50
w
60 100
1000
10000
Frequenz [Hz]
Abb. 2.16: Obere Hörgrenze in Abhängigkeit des Alters (Daten aus DIN EN ISO 7029)
Alternsbedingte Veränderungen des kognitiven Systems Die Betrachtung und Erläuterung kognitiver Alterungsprozesse hat sich in den letzten Jahren stark gewandelt. Waren die altersbedingten Veränderungen kognitiver Fähigkeiten lange von einer rein defizitorientierten Sichtweise geprägt (BALTES 1984), sind sich Altersforscher heute einig, dass sich Verschlechterungen vor allem bei den Teilleistungen zeigen, bei denen die Geschwindigkeitskomponente eine Rolle spielt. Nach CATTELL (1963) lassen sich zwei Komponenten kognitiver Leistungen unterscheiden: die kristalline und die fluide Intelligenz (siehe Kap. 2.2.3.3.5). Die kristalline Intelligenz, hierzu zählen z.B. der Wortschatz, das Allgemeinwissen oder die Erfahrung, wird als stark wissens- und kulturabhängig angesehen und umfasst erworbene kognitive Fähigkeiten und die Fähigkeit erworbenes Wissen auf Problemlösungen anzuwenden. Die fluide Intelligenz, hierzu zählen z.B. die Schnelligkeit der Wahrnehmung, die Reaktionszeit und induktives Denken, bezieht sich auf die Basisfähigkeit des Denkens, die Fähigkeit, sich neuen Situationen anzupassen und neuartige Probleme zu lösen. Während die fluide Intelligenz mit zunehmendem Alter systematisch abnimmt, bleibt die kristalline Intelligenz bis ins hohe Alter intakt und kann sogar mit dem Alter noch zunehmen. Die Abnahme der fluiden Intelligenz, kann durch den Zugriff auf Wissen und Erfahrung (kristalline Intelligenz) kompensiert werden (siehe Abb. 2.17; HORN u. CATTELL 1966; LEHR 2003).
Arbeitsperson
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Intelligenzleistung Gesamtintelligenz Kompensation durchĆWissen undĆErfahrung Elementarintelligenz Lebensalter Abb. 2.17: Schematische Darstellung des Verlaufs von Intelligenzleistung bei zunehmendem Alter (nach HACKER u. RAUM 1992)
Es kann also nicht von einem generellen Verlust kognitiver Leistungsfähigkeit ausgegangen werden. Vielmehr ist anzunehmen, dass unterschiedliche kognitive Fähigkeiten unterschiedlichen Alterungsprozessen unterliegen. Bezüglich des Kurzzeitgedächtnisses ergaben Studien, dass insbesondere bei hohen Anforderungen bezüglich der Komplexität der zu verarbeitenden Stimuli die Effektivität des Arbeitsgedächtnisses bei älteren Personen geringer ist (CRAIK u. JENNINGS 1992; SALTHOUSE 1992a; SALTHOUSE u. DUNLOWSKI 1995). BOTWINICK u. STORANDT (1973) konnten zeigen, dass sich die Gedächtnisspanne im Alter zwischen 60 und 70 Jahren von durchschnittlich 6,5 memorierten Items (20 bis 50 Jahren) auf 5,5 Items reduziert. Bei dem Teil der sich noch im Erwerbsleben befindenden älteren Bevölkerung sind die Unterschiede zwischen Jüngeren und Älteren jedoch geringer. Zudem sind die in diesen überwiegend aus Laboruntersuchungen gewonnenen Ergebnisse aufgrund des zumeist enthaltenen Lernens von für die Betroffenen sinnlosem, da unvertrautem und abstrakten Materials wie Silben, Zahlenreihen etc. mit Vorsicht zu behandeln, da vor allem ältere Personen mit dem Lernen von für sie bezuglosen Inhalten Probleme haben (LEHR 2003; WARR 1994). Die Leistungen des Langzeitgedächtnisses von älteren Menschen sind differenziert zu betrachten und in starkem Maße aufgabenabhängig. Zu den relativ altersstabilen, weil mit einer stark automatisierten Komponente versehenen Gedächtnisprozessen zählen das semantische Gedächtnis (in Bezug auf allgemeines Faktenwissen), das Wiedererkennen von (auswendig gelernten) Informationseinheiten und das prozedurale Gedächtnis (gespeicherte Fertigkeiten, Erwartungen und Verhaltensweisen). Auch das autobiographische Gedächtnis ist im Alter in der Regel genauso intakt wie in jungen Jahren. Dahingegen haben Personen ab dem mittleren Alter (ab ca. 45 Jahren) häufiger Probleme mit der Erinnerung an Namen und ein schwächeres episodisches Gedächtnis (Erinnerung an kürzlich geschehene autobiografische Ereignisse) insbesondere bei hoher
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Arbeitswissenschaft
informatorischer Belastung (ZACKS et al. 2000). Zudem sind das Quellengedächtnis oder die Erinnerung an Kontextdetails sowie im Fall von unvertrauten (Labor-)Aufgaben prospektive Gedächtnisleistungen (Erinnerung an Absichten) im Alter oftmals schlechter. Untersuchungen mit älteren Personen zeigten bspw., dass sich die Reaktionszeit auf einfache Ereignisse um 20% bei einem Alter von 60 Jahren im Vergleich zu einem Zwanzigjährigen erhöht (SMALL 1987). Bei alltäglichen und Alltagsaufgaben jedoch schneiden ältere Personen oft sogar besser ab als junge Erwachsene (MARTIN et al. 2008). Neben den alternsbedingten Veränderungen der Gedächtnisleitung unterliegen die kognitiven Funktionen Aufmerksamkeit, räumliches Vorstellungsvermögen sowie Wissenserwerb ebenfalls einem Alterungsprozess. Während die fokussierte Aufmerksamkeit kaum vom Alterungsprozess betroffen ist (WRIGHT u. ELIAS 1979; ZEEF et al. 1996) konnten altersspezifische Veränderungen bei der selektiven sowie verteilten Aufmerksamkeit in verschiedenen Studien aufgezeigt werden. Jedoch können diese, vor allem bei komplexen Aufgaben eintretenden altersspezifischen Leistungsunterschiede, durch Vorerfahrung und Training reduziert werden (CLANCY u. HOYER 1994; PLUDE u. DOUSSARDROOSEVELT 1989; SOMBERG u. SALTHOUSE 1982). Nach HOYER u. ROODIN (2003) sind altersbedingte degenerative Veränderungen bei allen sieben „primary mental abilities“ zu beobachten, so dass auch eine Abnahme des räumlichen Vorstellungsvermögens mit steigendem Alter einhergeht (SALTHOUSE 1992b). So haben ältere Menschen häufig mit der Wahrnehmung von räumlichen Verhältnissen und entsprechender Navigation, bspw. mit Hilfe einer Straßenkarte, Probleme (HOYER u. ROODIN 2003). Des Weiteren konnten Zusammenhänge zwischen dem räumlichen Vorstellungsvermögen älterer Menschen und ihrer Leistung bei computergestützten Aufgaben ermittelt werden (GARFEIN et al. 1988). Insbesondere bei der Navigation in komplexen Internetseiten konnten im Bezug zum räumlichen Vorstellungsvermögen, altersbedingte Leistungsunterschiede ermittelt werden (COYNE u. JAKOB 2002; ELLIS u. KURNIAWAN 2000; MEYER et al. 1997). Hinsichtlich des Erwerbs neuer Fertigkeiten wird heute davon ausgegangen, dass gesunde ältere Menschen bis ins hohe Alter die Fähigkeit besitzen neue Fertigkeiten zu erlernen. In unterschiedlichen Studien konnte jedoch gezeigt werden, dass ältere Menschen beim Erlernen von computergestützten Tätigkeiten deutlich mehr Zeit benötigen als die Jüngeren (CAPLAN u. SCHOOLER 1990; GIST et al. 1988), mehr Fehler machen (CZAJA et al. 1989) und mehr Hilfestellung benötigen (CHARNESS et al. 1992; ELIAS et al. 1987). Der Lernerfolg eines älteren Menschen wird vor allem von der Komplexität der zu erlernenden Fertigkeit (SALTHOUSE 1989) sowie von der Möglichkeit zur Übung bestimmt. ASTOR et al. (2006) gehen davon aus, dass ältere Menschen nicht generell schlechter lernen als jüngere. Vielmehr lernen ältere Erwachsene anders, und äußere Umstände können auch für die schlechteren Lernleistungen Älterer verantwortlich gemacht werden. Einen Überblick über alternsspezifische Veränderungen des psychomotorischen Systems findet man in VERCRUYSSEN (1996).
Arbeitsperson
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Besonders belastende Arbeitsbedingungen Eine Vielzahl von Untersuchungen zeigen, dass ältere Arbeitspersonen bei gleicher Arbeit unter Umständen stärker beansprucht werden als jüngere. Diese Einwirkung kann in Abhängigkeit der zeitlichen Dauer (ROHMERT 1973) zu einer überproportional raschen Ermüdung sowie Fehlern führen. Für ältere Personen besonders belastende Arbeitsbedingungen sind (KENNY et al. 2008; SHEPHARD 2000; WHO 1994): x eine unflexible Arbeitsorganisation, d.h. o ein von Maschinen oder Gruppenforderungen bestimmtes Arbeitstempo, o lange Arbeitszeiten bei hohen physischen oder mentalen Anforderungen und inadäquate Pausenregelungen, o keine oder wenig Abwechslung hinsichtlich der körperlichen und geistigen Anforderungen, x psychologische Faktoren, d.h. o eine unklare Rolle der älteren Arbeitsperson, o Sorgen über die Zukunft (z.B. Ruhestand, Beförderung, Arbeitslosigkeit während einer Rezession), o mangelnde Kontrolle über die eigene Arbeit, x ergonomische Faktoren, d.h. o o o o o o o
repetitive Arbeitstätigkeiten, ungünstige Körperhaltungen (Zwangshaltungen), Heben und Tragen schwerer Lasten, hohe Geschwindigkeitsanforderungen bezüglich der Körperbewegungen, hohe manuelle Präzisionsanforderungen, hohe aerobe Anforderungen, ungenügende Berücksichtigung von verändertem Körperbau und Körpergewicht,
x physikalische Faktoren, d.h. o Arbeit unter ungünstigen Umweltbedingungen wie Hitze, Lärm, Beleuchtung, Vibration und Schadstoffbelastung, x sowie Schichtarbeit (insbesondere Nachtschichten). Beeinflussung von Leistungsentwicklungen durch Training Viele der sich mit steigendem Alter ergebenden positiven bzw. negativen Veränderungen beim Menschen, seien sie körperlicher oder geistiger Natur, lassen sich durch verschiedene Formen von Training verstärken bzw. kompensieren. So ist bspw. körperliches Ausdauertraining sehr gut geeignet der altersbedingten Verringerung der Leistungsfähigkeit des Herz-Kreislaufsystems entgegenzuwirken bzw. diese sogar mehr als auszugleichen. Die maximale Sauerstoffaufnahme ist in hohem Maße von der körperlichen Aktivität abhängig, d.h. aktive Individuen haben i. d. R. eine wesentlich höhere kardiovaskuläre
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Leistungsfähigkeit als ihre nicht-aktiven Gegenüber. Auch der Verschlechterung der Lungenfunktion mit dem Alter lässt sich in Grenzen entgegenwirken. Während Ausdauertraining bezogen auf die muskuloskelettale Leistungsfähigkeit mehr zum Erhalt von z.B. Muskelkraft und weniger zu ihrer Steigerung dient, hilft Krafttraining in hohem Maße die Muskelmasse und -kraft zu erhöhen, aber auch Haltungsstabilität und dynamisches Gleichgewicht profitieren, was der Verringerung des Risikos arbeitsbedingter Verletzungen dient. Die positiven Effekte von körperlichem Training schlagen sich häufig (insbesondere bei vorwiegend körperlicher Arbeit) in der Arbeitsleistung und Einsatzfähigkeit nieder, d.h. körperlich trainierte Menschen erreichen gegebenenfalls eine höhere Produktivität, weisen weniger Ausfalltage auf und sind flexibler einsetzbar. Selbst das Stressempfinden kann durch körperliches Training positiv beeinflusst werden. Demnach wird in der Literatur die Einrichtung von betrieblichen Trainingsprogrammen empfohlen, die jedoch vor Ort angeboten und während der Arbeitszeit nutzbar sein müssen, um eine ausreichende Akzeptanz bei den Beschäftigten zu erhalten, da sonst u.A. Zeitmangel (z.B. aus familiären Gründen) oder die Schwierigkeit der Vereinbarkeit mit Schichtarbeit zur Ablehnung des Angebots führen. Eine aktuelle und ausführliche Diskussion des Stands der Forschung zu körperlichem Training in Verbindung mit dem Thema Arbeit und Altern ist bei KENNY et al. (2008) zu finden. In Bezug auf die Entwicklung der kognitiven Leistungsfähigkeit mit dem Alter wird in der Literatur häufig die Ansicht vertreten, dass ein wesentlicher Teil der zu beobachtenden Leistungsabfälle durch „Nichtnutzung“ der individuellen kognitiven Ressourcen bedingt ist (SCHAIE 2005). Im Rahmen der über mehrere Jahrzehnte andauernden ‚Seattle Longitudinal Study‘ (Seattle-Längsschnittstudie) wurde u.A. durch eine mehrjährige Teilstudie zu kognitivem Training festgestellt, dass bereits mit kurzen Trainingseinheiten die Leistung von ungefähr zwei Dritteln der allesamt mindestens 64 Jahre alten Teilnehmer verbessert werden konnte. Untersucht wurden die Fähigkeiten „Logisches Denken“ und „Räumliche Orientierung“, wobei von den Teilnehmern, die signifikante Leistungsabnahmen aufwiesen, mit dem Training etwa 40% auf ein Leistungsniveau gebracht werden konnten, dass sie 14 Jahre zuvor (zu Beginn der Studie) erreicht hatten. Im Rahmen von Folgeuntersuchungen nach 7 und nach 14 Jahren wurde gezeigt, dass Probanden, die vor dem allerersten Training der Studie signifikante Abnahmen der kognitiven Leistungsfähigkeit zeigten, im Vergleich zu untrainierten Kontrollgruppen wesentliche Vorteile hatten. Spezielle Trainingswiederholungen zur Verstärkung der Trainingseffekte erhöhten diese Vorteile noch weiter. Über die 14 Jahre hinweg konnte bei trainierten Teilnehmern die Leistung beim logischen Denken vom ersten Vortest bis zum letzten Nachtest im Durchschnitt stabil gehalten werden und für die räumliche Orientierung ergab sich ein geringerer Abfall im Vergleich zur Kontrollgruppe ohne Training (SCHAIE 2005). Neben dem Erhalt oder der Steigerung von körperlichen und geistigen Fähigkeiten ist auch die Qualifikation der Arbeitspersonen im Sinne des Erhalts der Wettbewerbsfähigkeit des Betriebs wie auch der „Arbeitsfähigkeit“
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altersadäquat aktuell zu halten bzw. auszubauen. Nach BUCK et al. (2002) ist bei der Gestaltung von Fort- und Weiterbildung für ältere Arbeitspersonen insbesondere auf Folgendes zu achten: x „Lernentwöhnte“ benötigen unabhängig vom Alter die Möglichkeit, den Lernprozess zeitlich zu steuern (selbstbestimmtes Lerntempo). x Auf eventuell vorhandene Ängste, die vermittelten Lerninhalte nicht bewältigen zu können, muss eingegangen werden, und diese Ängste sollten nicht als mangelnde Lernmotivation fehlinterpretiert werden. x Es ist wichtig, dass auf Erfahrungen und Tätigkeitsinhalte der Teilnehmer Bezug genommen wird, d.h. anhand praktischer Fragestellungen und Aufgaben lassen sich theoretische bzw. abstrakte Lerninhalte älteren Mitarbeiter/-innen häufig besser vermitteln bzw. werden offener aufgenommen (aufgabenbezogenes, arbeitsnahes Lernen). Überdies kann eine Vor-Ort-Schulung inklusive direkter Anwendung von bspw. vermittelten Arbeitsmethoden gegenüber einer Qualifikationsveranstaltung in einem externen Seminarraum vorteilhaft sein. Neben Fort- und Weiterbildung kann aber auch durch vollständige und herausfordernde Tätigkeiten und die mit ihnen gegebenenfalls einhergehenden Lerneffekte der „Veralterung“ von Qualifikationen entgegengewirkt werden (BRUGGMANN 2000). 2.2.2.3.2 Leistungsbereitschaft Grundsätzlich gilt, dass eine „optimale“ Leistungsfähigkeit älterer Arbeitspersonen nur dann erreicht werden kann, wenn ihre Leistungsbereitschaft entwickelt und gefördert wird. Wesentlich hierbei sind die Arbeitsmotivation, Arbeitszufriedenheit und das emotionale Erleben während der Arbeit. Bei älteren Berufstätigen treten zukunftsorientierte Motive (z.B. Interessantheit der Tätigkeit oder persönliche Selbstverwirklichung) im Vergleich zu jüngeren Berufstätigen eher in den Hintergrund. Dagegen erhalten emotionsbezogene Motive (wie etwa gegenseitige Hilfeleistung oder Autonomie) einen signifikant höheren Stellenwert. Relativ konstant über das Alter haben Spaß und Freude an der Arbeit eine sehr hohe Bedeutung, während gesellschaftliches Ansehen die niedrigste Bedeutung hat (GRUBE u. HERTEL 2008). Hinsichtlich der Arbeitszufriedenheit wurden bislang unterschiedliche Zusammenhänge zum Alter in wissenschaftlichen Untersuchungen festgestellt. Sowohl U-förmige Verläufe mit dem Minimum im mittleren Alter (z.B. HERZBERG et al. 1957; HOCHWARTER et al. 2001) als auch lineare positive Trends (z.B. BRUSH et al. 1987; RHODES 1983; SCHULTE 2005), d.h. eine stetig zunehmende Arbeitszufriedenheit mit dem Alter wurden in Studien gefunden. Hier ist nach Ansicht von GRUBE u. HERTEL (2008) die jeweils angewandte Methodik der Zufriedenheitsmessung ein wesentlicher Einflussfaktor auf die Ergebnisse, und es bedarf weiterer Forschungsanstrengungen im Bereich der Messinstrumente. Vergleichende Untersuchungen bei älteren Beschäftigten haben ein höheres Engagement, eine höhere Einsatzbereitschaft, eine stärkere Betriebsbindung und
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Arbeitswissenschaft
weniger Störungen und Belastungen durch private und familiäre Angelegenheiten festgestellt (LEHR 1997). Wenn man bedenkt, dass die intellektuelle Leistungsfähigkeit in höherem Maße altersstabil ist als die körperliche, ist es daher bei förderlichen Arbeitsbedingungen durchaus möglich, eine hohe Leistungsbereitschaft bei älteren Beschäftigten aufrecht zu erhalten (GRUBE u. HERTEL 2008). 2.2.2.3.3 Produktivität Die in der betrieblichen Praxis teilweise anzutreffende Vermutung, dass mit einer älter werdenden Belegschaft Produktivitätseinbußen zu erwarten sind, lässt sich durch wissenschaftliche Studien, die potenzielle Störgrößen soweit möglich kontrollieren, nicht belegen. Vielmehr zeigt eine Untersuchung des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung anhand von Längsschnittdaten des sog. Linked Employer-Employee-Datensatzes (LIAB) des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung aus den Jahren 1997-2005, dass die Unternehmensproduktivität bis zur Altersgruppe „50-55 Jahre“ kontinuierlich ansteigt und danach nur leicht abfällt (Abb. 2.18)
Bruttowertschöpfung 0,8 0,6 0,4 0,2 0,0 20 -0,2 -0,4 -0,6 Ͳ0,8
25
30
35
40
45
50
55
60
Alter
Abb. 2.18: Relative Veränderung der Bruttowertschöpfung in verschiedenen Altersgruppen (Referenz = Altersgruppe „35-40 Jahre“) nach GÖBEL u. ZWICK (2009)
Bei den in Abb. 2.18 dargestellten Ergebnissen handelt es sich jedoch um Mittelwerte, die eine große Zahl von Unternehmen zusammenfassen, wobei eine große Streuung zwischen den Werten der einzelnen Unternehmen zu beobachten ist (Standardfehler = senkrechte Linien). Die Ergebnisse der Studie deuten somit auf erhebliche Unterschiede bei den Alters-Produktivitätsprofilen zwischen den in diesem Fall ca. 9.600 jährlich befragten Betrieben hin. Die Altersstruktur der
Arbeitsperson
133
Beschäftigten in einem Unternehmen wirkt sich demnach sehr unterschiedlich auf die jeweilige Produktivität aus, d.h. Unternehmen mit einer eher „jungen“ oder „alten“ Belegschaft erreichen nicht notwendigerweise eine niedrigere oder höhere Produktivität (GÖBEL u. ZWICK 2009). 2.2.2.3.4 Gestaltungs- und Interventionsstrategien Für die Tätigkeit älterer Arbeitspersonen gibt es keine spezifischen Arbeitsschutzregelungen. Lediglich §75 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) besagt, dass eine Benachteiligung aufgrund des Alters unzulässig ist. Das Betriebsverfassungsgesetz weist weiterhin die Förderung älterer Beschäftigter als eine der Aufgaben des Betriebsrates aus (§80-6 BetrVG). Bei der Entwicklung eines nachhaltigen Altersmanagementkonzepts für Betriebe spielen verschiedene mikro- und makroergonomische Gestaltungs- und Interventionsstrategien eine tragende Rolle. Im Mittelpunkt steht schließlich eine effektive alterns- und altersdifferenzierte Gestaltung von Arbeitssystemen (siehe FRIELING 2006). In Tabelle 2.4 sind einige wesentliche Strategien genannt und beschrieben. Tabelle 2.4: Gestaltungs- und Interventionsstrategien bei alternden Belegschaften (nach LUCZAK u. STEMANN 2008) Ebene
Strategie Kompensation
Beschreibung Anpassung von Arbeitsplatz und Arbeitsumgebung unter Berücksichtigung von altersabhängigen physiologischen und psychologischen Veränderungen Zuweisung des Arbeitnehmers zu bestimmten Arbeitsplätzen nach
Selektion
vorheriger altersbezogener Analyse und Beurteilung von Belastungsarten, -
Mikroergonomie
höhen und -dauern (häufig verbunden mit einer Spezialisierung der Arbeitskraft, flexiblen Arbeitszeitvereinbarungen und Arbeitsplatzwechseln) Minimierung oder im Idealfall Eliminierung von Altersbarrieren durch: Adaptierung
Ausbildung, Förderung und Aktivierung von beruflichen Kompetenzen mit operativen Qualifikationsplänen, Abstimmung von Aufgabenanforderungen und Mitarbeiterfähigkeiten
Prävention
Erstellung von komplexen Sicherheits- und Gesundheitskonzepten, primär zur Schaffung einer sicheren Arbeitsumgebung und sekundär zur Bewirkung von Verhaltensänderungen und organisatorischen Maßnahmen Entwicklung eines Ergonomiekatalogs mit Zielen in Bezug auf Gesundheit
Salutogenese
und moralische Verantwortung; Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz werden integraler Bestandteil der operativen Geschäftsprozesse
134
Arbeitswissenschaft
Tabelle 2.4 (Fortsetzung): Gestaltungs- und Interventionsstrategien bei alternden Belegschaften (nach LUCZAK u. STEMANN 2008) Promotion des Themas „Demographische Entwicklung“ im eigenen Unternehmen durch verschiedene Maßnahmen, u.A.: Sensibilisierung
Altersstrukturanalyse (gegenwärtig und zukünftig), Checkliste zur Zukunftsorientierung der Personalpolitik, Workshops zum Bewusstsein für das Thema Alter, Neuorientierung bzw. Abkehr vom „Jugendwahn“ Systematische Strukturierung eines organisierten,
Know-how-Transfer
generationenspezifischen Wissenstransfers u.A. durch Zusammenarbeit von jüngeren und älteren Mitarbeitern (Wissensträger) mit kurzen und direkten Informationswegen sowie flachen Hierarchien Durchführung einer Qualifikationsbedarfsanalyse zum Abgleich von Qualifikationslevel der Mitarbeiter und (erwarteten) Arbeitsanforderungen;
Makroergonomie
zudem Selbstbeurteilung der Mitarbeiter möglich; mittelfristig ist die Laufbahnplanung
Erarbeitung eines Personalentwicklungsplans empfehlenswert und langfristig sollte eine lebensphasenorientierte Laufbahnplanung das Ziel sein, während Schritte zur Implementierung mithilfe von Szenarioworkshops (Analyse von Veränderungen und Perspektiven der operativen Struktur) abgeleitet werden können
berufliche Weiterbildung Erweiterung des Aufgabenspektrums durch Team-/Gruppenarbeit und Job und lebenslanges Lernen Rotation sowie langfristig Sicherstellung, dass sich die Qualifikationen der jüngeren und älteren Mitarbeiter ergänzen Umfangreiche Bestandsaufnahme zur Identifikation alterskritischer Arbeitsplätze (systematische Detektion, Bewertung und Dokumentation von Arbeitsplatzbelastungen); Erstellung eines Gesundheitsreports für das betriebliche Gesundheitsförderung
Unternehmen; Angebot von speziellen Gesundheits-Checks für Mitarbeiter ab einem gewissen Alter; altersdifferenzierte ergonomische Arbeitsplatzgestaltung; Job Enlargement/Enrichment/Rotation; Senkung von Leistungszielen für gesundheitlich beeinträchtigte Mitarbeiter; interne operative Gesundheitszirkel; unternehmensspezifisches Programm zum Erhalt und der Förderung von Gesundheit (ggf. mit entsprechendem Lenkungsausschuss)
2.2.3 2.2.3.1
Intelligenz DefinitionĆundĆRelevanzĆ
Obwohl die Intelligenzforschung fast so alt ist wie die Psychologie selbst, gibt es bis heute keine einheitliche Definition dieses Konstruktes. STEINMAYR u. AMELANG (2007) fassen die Gemeinsamkeiten der meisten Intelligenzdefinitionen wie folgt zusammen:
Arbeitsperson
135
„Intelligenz wird als eine Begabung angesehen, die interindividuell variieren kann und die eine Fähigkeit beschreibt, Probleme richtig zu lösen und neue Situationen zu bewältigen. Intelligenz ermöglicht zielgerichtete Lösungsstrategien, die durch Versuch und Irrtum entstehen. Mit Intelligenz wird eine Fähigkeit beschrieben, Zusammenhänge zu erfassen, herzustellen und auch zu deuten.“ Allgemein ausgedrückt beschreibt Intelligenz somit die Fähigkeiten einer Person, kognitive Aufgaben zu lösen (BOURNE u. EKSTRAND 2005). In der neueren Kognitionsforschung werden zwei grundlegende Bestandteile der menschlichen Intelligenz benannt: Die Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung (speed of information processing) sowie die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses (working memory capacity). Personen mit einer höheren Intelligenz sind fähig, Informationen schneller aufzunehmen und zu verarbeiten sowie schneller auf das Kurz- und Langzeitgedächtnis zuzugreifen (BORKENAU et al. 2005). 2.2.3.2
IntelligenzmessungĆ
Das Thema Intelligenz ruft wegen seiner gesellschaftlichen Relevanz zahlreiche Stellungnahmen hervor, die es schwer machen, einen Gesamtüberblick über die Einflüsse der einzelnen Forscher zu geben. Die historischen Abhandlungen unterscheiden sich sehr stark und zwar vor allen Dingen dahin gehend, welche Persönlichkeiten welchen Einfluss auf das heutige Konzept der Intelligenz hatten und welche Ergebnisse als Erfolg oder als Misserfolg zu werten sind. Als gesichert ist anzusehen, dass Francis Galton der erste Wissenschaftler war, der über Intelligenz und Intelligenzmessung publizierte (GALTON 1883, GALTON 1908). Er beschäftigte sich mit der Frage, wie geistig zurückgebliebene Kinder unterrichtet werden müssten. Zu diesem Zweck wollte er die Intelligenz dieser Kinder erheben. In umfangreichen Langzeitstudien konnte Galton bspw. nachweisen, dass Kinder, die auf einer Altersstufe als zurückgeblieben eingestuft worden waren, noch weiter hinter das Intelligenzalter ihrer Altersgruppe zurückfielen, wenn sie älter wurden (ZIMBARDO u. GERRIG 2004). Weiterhin ergaben seine Untersuchungen, dass einfache Reaktionszeiten oder Fähigkeiten im sensorischen Bereich keine Zusammenhänge zeigten zu anderen Aspekten der Bildung und Begabung (NEUBAUER 1995). Galtons Untersuchungen inspirierten zahlreiche Forscher seiner Zeit. So standardisierte TERMAN (1916) Galtons Test und entwickelte weitere altersspezifische Normdaten durch Testung von sehr großen Kinderstichproben. Der so entstandene Test wird als Stanford-Binet-Intelligenztest bezeichnet. Dabei berief sich Terman auf STERN (1912), der einen sog. Altersquotienten postulierte, der jedoch heute nicht mehr gebräuchlich ist. Stern definierte den Intelligenzquotienten als das Verhältnis des Intelligenzalters zum Lebensalter. Terman, dem durch die Entwicklung des Standford-Binet-Tests sehr große Beachtung zuteil wurde, vertrat die Ansicht, dass der Intelligenzquotient IQ
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Arbeitswissenschaft
unveränderliche (erbliche) Aspekte der menschlichen Intelligenz beschreiben würde. Der Stanford-Binet-Test wurde 1972 von Terman und Merril überarbeitet. Hierbei wurden neue Normen erstellt und anstelle des Altersquotienten trat der Abweichungsquotient, der sich nach der Abweichung des eigenen Ergebnisses zur Kohorte bestimmt. Heute gelten Werte des IQ zwischen 90 und 110 als normal; Werte über 120 werden als überdurchschnittlich angesehen und Werte unter 70 gelten als Anzeichen für eine geistige Behinderung (ZIMBARDO u. GERRIG 2004) (siehe Kap. 2.2.4.3). Neben der Weiterentwicklung der ursprünglichen Binet-Simon-Skalen durch Terman fand in Deutschland eine Überarbeitung durch BOBERTAG (1911, zitiert nach ZIMBARDO u. GERRIG 2004) und später (1972 und 1982) durch Kramer statt. Diese Skalen sind unter dem Namen Binet-Simon-Kramer-Test (BSK) und Kramer-Test (KT) bekannt (ZIMBARDO u. GERRIG 2004). David Wechsler entwickelte einen Intelligenztest, der nur teilweise sprachabhängig ist, denn seine Tests beinhalten Verbalteile und Handlungsteile. Bei den Tests handelt es sich um den Hamburg-Wechsler-Intelligenztest, den es für Erwachsene (HAWIE), für Kinder (HAWIK-R) und für Vorschulkinder (HAWI-VA) gibt. Diese Tests gehören zu den in Deutschland am häufigsten eingesetzten. Existierende Intelligenztests vernachlässigen häufig Aspekte der geistigen Leistungsfähigkeit, wie bspw. Problemlösefähigkeit. Die Tests beurteilen nicht die Art und Weise, wie der Proband zur Lösung der Aufgabe gekommen ist, sondern nur dessen Endergebnis. Die Fähigkeit, sich Kenntnisse und Fertigkeiten anzueignen, ist Bestandteil der geistigen Leistungsfähigkeit, wird aber in Intelligenztests häufig nicht geprüft. Bei der Testkonstruktion werden vereinfachende Annahmen gemacht, die streng genommen nicht zulässig sind. So beruhen Intelligenztests auf der Annahme der klassischen Testtheorie, die besagt, dass Zusammenhänge linear und additiv sind, d.h. löst jemand doppelt so viele Aufgaben wie ein anderer, so ist er zweimal so intelligent. Ebenso werden bei der Testkonstruktion Intelligenzmodelle zugrunde gelegt, so dass die Auswahl der Merkmale, die gemessen werden sollen, beeinflusst werden. Im Extremfall misst ein Intelligenztest dann das, was er messen soll. Die sich dadurch zwangsläufig häufig ergebende Übereinstimmung zwischen Modell und Test ist deshalb streng genommen ein methodisches Artefakt. Bei der Testdurchführung unterscheidet man zwei Gruppen von Problemen: Universalität und Generalität. Die Generalität beschreibt die Abhängigkeit von den Randbedingungen der jeweiligen Testsituation, z.B. Ermüdung, Stress, Testangst, Instruktionsverständnis, Testtraining, Zeitdruck usw. Das Universalitätsproblem ist Gegenstand zahlreicher Veröffentlichungen und beschreibt die Abhängigkeit der Testergebnisse von Alter, Begabung, Geschlecht, Erbgut, Schulbildung, Kultur, sozialem Umfeld, ethnischer Herkunft etc. Die
Arbeitsperson
137
Angabe der Intelligenz durch einen von einem Intelligenztest gemessenen IQ ist daher mit Vorsicht zu werten. BORKENAU et al. (2005) berichten über Zusammenhänge zwischen Intelligenz und Berufserfolg zwischen r = 0,51 und r = 0,62. Der Zusammenhang zwischen Studienerfolg und Intelligenz liegt zwischen r = 0,32 und r = 0,36. In Unternehmen wird daher dem Konstrukt Intelligenz großes Interesse beigemessen. Intelligenztests werden vor allem in größeren Betrieben in Kombination mit anderen Fähigkeitstests (technisches Verständnis, Maschineschreiben, Sozialverhalten, Führungsqualitäten etc.) zur Beurteilung der Fähigkeiten von einzustellendem Personal verwendet. Abhängigkeit von Kultur und Bildung Die meisten Intelligenztests setzen voraus, dass der Proband lesen und schreiben kann. Diese Anforderungen sind jedoch nur in Abhängigkeit von der Ausbildung, der Kultur und dem sozialen Hintergrund des Probanden erfüllbar. Die Folge ist, dass Intelligenztests bei Angehörigen ethnischer oder kultureller Minderheiten sowie sozial schwacher Schichten eine niedrigere Intelligenzleistung messen. Um diese Problematik zu vermeiden, sind sog. kulturfreie Tests entwickelt worden, die auf Symbolen und grafischen Darstellungen beruhen. Ein Problem der kulturfreien Intelligenztests ist, dass mit soziokulturellen Unterschieden nicht richtig umgegangen wird. So geben diese Tests genau wie herkömmliche Tests, wenn auch in geringerem Maße, soziale Klassenunterschiede wieder und sind außerdem als Prädiktor für Schul- bzw. geistige Leistung weniger zuverlässig. Diese wird immer auch von dem kulturellen und sozialen Hintergrund geprägt. Es ist daher zweifelhaft, ob es überhaupt möglich ist, kulturfreie Tests zu konstruieren, und falls doch, kann deren Aussagekraft bezüglich der geistigen Leistungsfähigkeit angezweifelt werden. Abhängigkeit vom Alter Aufgrund der Definition des IQs als eine relativ zur Altersgruppe berechneten Größe könnte man glauben, dass die Intelligenzleistung über dem Alter konstant ist. Die Entwicklung der Intelligenz ist jedoch kein kontinuierlicher Prozess, sondern läuft in mehr oder weniger diskreten Phasen ab, so dass die Normierung der Intelligenzleistung durch eine Gruppe Gleichaltriger problematisch ist. Dies gilt insbesondere in der Jugend, in der die Intelligenz den heftigsten Entwicklungen unterworfen ist. Obwohl es zahlreiche Intelligenztests für Kinder gibt, die bis in das Vorschulalter reichen, sind Intelligenzmessungen im Allgemeinen unter 17 Lebensjahren unzuverlässig. Aber auch im Erwachsenenalter ist die Intelligenzleistung nicht konstant. Abhängigkeit vom Geschlecht Um die Jahrhundertwende wurde von vielen Forschern behauptet, dass sich die männliche Dominanz im gesellschaftlichen Leben aus einer höheren männlichen
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Arbeitswissenschaft
Intelligenz ableiten würde. Man würde erwarten, dass sich diese Aussagen durch die Durchführung von standardisierten Intelligenztests überprüfen ließen. Es stellte sich heraus, dass wirklich die Ergebnisse von Männern und Frauen differierten. Die Ursache dafür ist, dass tatsächlich Unterschiede zwischen Männern und Frauen in der Intelligenzleistung bestehen und diese sich je nach Testkonstruktion mehr oder weniger stark auswirken. Die Hauptunterschiede sind: x Frauen erbringen im Allgemeinen bessere akademische Leistungen (sie bekommen bessere Noten in Schulen und Universitäten (SHERMAN 1971)) x Frauen besitzen eine höhere Leistungsfähigkeit bei verbalen Fähigkeitstests x Männer leisten mehr bei Tests, die Technikverständnis messen x Männer leisten mehr bei räumlichen Fähigkeitstests (WITKIN et al. 1962). Damit sich diese Unterschiede nicht durch die Auswahl bestimmter Merkmale bei der Testkonstruktion bemerkbar machen, haben u.A. TERMAN u. MERRILL (1937), die maßgeblich den Stanford-Binet-Test überarbeiteten, die Testitems, die große Unterschiede bei Männern und Frauen aufwiesen, aus der endgültigen Version des Testes entfernt. Somit weist dieser Test im Durchschnitt für Frauen und Männer identische Ergebnisse auf. Die Diskussion, ob Intelligenz geschlechtsabhängig ist, ist eng verbunden mit der Frage, ob Intelligenz durch das Erbgut oder die Umgebungsfaktoren festgelegt wird (siehe unten). Allgemein lässt sich sagen, dass sehr wohl Geschlechtsunterschiede existieren, diese sich jedoch nicht in der allgemeinen Intelligenzleistung äußern, sondern dass die Schwerpunkte der Leistungsfähigkeit in unterschiedlichen Bereichen liegen (siehe Kap. 2.1.1). 2.2.3.3
IntelligenzmodelleĆ
Intelligenz ist eine Eigenschaft eines Individuums, die als positiv eingestuft wird: Je mehr man davon hat, umso besser. Intelligenz ist nicht, wie z.B. Körpergröße oder Haarfarbe, direkt beobachtbar, sondern muss aus dem Verhalten erschlossen werden. Hieran muss sich die Überlegung anschließen, ob Intelligenz eine einheitliche, allgemeine Fähigkeit oder eine mehr oder weniger offene Vielzahl von Einzelfähigkeiten ist. Vor diesem Hintergrund unterscheidet man die globalen (ganzheitlichen) und die operationalen Intelligenzdefinitionen. 2.2.3.3.1 Globale Intelligenzdefinitionen Die globalen (ganzheitlichen) Definitionen versuchen, das Wesen der Intelligenz in seiner Gesamtheit zu beschreiben. Auf formale Aussagen über Zusammensetzung und Struktur von Intelligenz wird in der Regel verzichtet. Im Folgenden sind einige Beispiele für ganzheitliche Intelligenzdefinitionen gegeben: Antike Intelligenz ist die Funktion höchsten abstrakten Erkennens, als Einsicht oder Verständnis (intellectus) der Vernunft (ratio) und dem sinnlichen Erkennen (sensatio) übergeordnet.
Arbeitsperson
139
STERN (1912)
Intelligenz ist die allgemeine Fähigkeit eines Individuums, sein Denken bewusst auf neue Forderungen einzustellen; sie ist allgemein geistige Anpassungsfähigkeit an neue Aufgaben und Bedingungen des Lebens. ANASTASI U. FOLEY (1949)
Intelligenz ist die Summe der den innerhalb einer bestimmten Kultur Erfolgreichen gemeinsamen Fähigkeiten. HOFSTÄTTER (1966)
Intelligenz ist die Fähigkeit zur Auffindung von Redundanz. WECHSLER (1964)
Intelligenz ist die zusammengesetzte und globale Fähigkeit des Individuums, zweckvoll zu handeln, vernünftig zu denken und sich mit seiner Umgebung wirkungsvoll auseinanderzusetzen. Das bedeutendste ganzheitliche Intelligenzmodell ist das Stufenleitermodell, das hauptsächlich auf Arbeiten von BINET u. SIMON (1905) sowie TERMAN (1916) zurückgeht und bereits Grundergebnisse späterer Intelligenzforschung vorwegnimmt: x Intelligenz variiert interindividuell x Intelligenz ist abhängig vom Lebensalter. Das Stufenleitermodell entwickelt die Idee, dass der durchschnittliche „mentale Alterswert“ oder das „Intelligenzalter“ mit dem chronologischen Alter übereinstimmt, und schwächere Personen lediglich im „mentalen Wachstum“ zurückgeblieben sind und somit einen mentalen Alterswert haben, der geringer als das chronologische Alter ist. Ein Intelligenztest nach diesem Modell ist daher derart konzipiert, dass die Schwierigkeit der Aufgaben kontinuierlich ansteigt und so beschaffen ist, dass sie jeweils von einer bestimmten Altersstufe gerade noch gelöst werden kann. Damit erhält man eine Skala (Stufenleiter) für die Intelligenz. Diesen Überlegungen liegen folgende Annahmen zugrunde: x Intellektuelle Fähigkeiten entwickeln sich bis zu einem Höchstalter linear und stetig x Ein Entwicklungsvorsprung ist ein Anzeichen für höhere Intelligenz und umgekehrt x Die Entwicklung der Intelligenz ist mit einem bestimmten Alter beendet. Insbesondere die letzte Annahme ist problematisch, weil das Alter, in dem die Entwicklung der Intelligenz beendet sein soll, nur schwer anzugeben ist. Außerdem war die Berechnungsmethode für den mentalen Alterswert fragwürdig.
140
Arbeitswissenschaft
2.2.3.3.2 Operationale Intelligenzdefinitionen Die operationalen Intelligenzdefinitionen beruhen auf der Annahme, dass Intelligenz durch eine Vielzahl einzelner Eigenschaften bestimmt wird. Ziel ist es, diese auf Basis von Ergebnissen aus Intelligenztests zu identifizieren. Die verwendete Vorgehensweise ist eine statistische Auswertung der Ergebnisse von Intelligenztests, bei der versucht wird, aus dem Zusammenhang zwischen Leistungen in verschiedenen Bereichen auf die allen gemeinsam zugrunde liegenden Bedingungen zu schließen. Zweifaktorenmodell von Spearman Der britische Wissenschaftler SPEARMAN (1927) stellte fest, dass „alle Zweige intellektueller Tätigkeit eine grundlegende Funktion gemeinsam haben, während die verbleibenden oder spezifischen Elemente dieser Tätigkeit in jedem Fall von denen aller anderen völlig verschieden zu sein scheinen.“ Er schreibt die positiven Korrelationen zwischen den Ergebnissen verschiedener Intelligenztests T1 bis Tn der Existenz eines Generalfaktors (g-Faktor) zu, der für alle Aufgaben notwendig ist, wogegen die verbleibenden Restvarianzen durch spezifische Faktoren si (sFaktoren) für die speziellen Aufgaben zu erklären sind (Abb. 2.19). Das Modell von Spearman wird als Zweifaktorenmodell bezeichnet.
T1
T2 s1 s2
T3
s3 g
T4
s4
sn Tn
Abb. 2.19: Das Zweifaktorenmodell von Spearman (T1 bis Tn sind die Korrelationen zwischen verschiedenartigen Intelligenztests, die grauen Felder stellen die extrahierten Faktoren dar und die hellen Felder entsprechen den nicht bestimmbaren Residualkorrelationen)
Ausgehend von den Arbeiten von Spearman entwickelten sich zwei verschiedene Forschungsrichtungen. Während die eine auf dem Zweifaktorenmodell von Spearman aufbaute und diese Faktoren weiter
Arbeitsperson
141
verfeinerte, was zu hierarchischen Intelligenzmodellen führte, entwickelten die anderen Multifaktorenmodelle. Da Erstere hauptsächlich in Großbritannien und Letztere in den USA verbreitet waren, nennt man diese Forschungsrichtungen auch die englische bzw. amerikanische Schule. 2.2.3.3.3 Multifaktorenmodelle Ausgehend von dem Problem, dass nach der Extraktion des g-Faktors bei Spearman oft substanzielle Restkorrelationen verblieben, vermuteten einige Wissenschaftler, dass die Intelligenz aus verschiedenen Faktoren zusammengesetzt ist. Diese Faktoren bestimmen jeweils die Leistungen in bestimmten Bereichen, was der landläufigen Vorstellung von Intelligenz entspricht. Primärfaktorenmodell von Thurstone Mithilfe dieses Verfahrens entwickelte THURSTONE (1938) ein alternatives Modell mit mehreren Intelligenzfaktoren. Dieses Modell besteht aus sieben Intelligenzfaktoren, den sog. primary mental abilities (PMA) (Abb. 2.20):
Abb. 2.20: Multifaktorenmodell von Thurstone (T1 bis Tn sind die Korrelationen zwischen verschiedenartigen Intelligenztests, die grauen Felder stellen die extrahierten Faktoren dar und die hellen Felder entsprechen den nicht bestimmbaren Residualkorrelationen)
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Arbeitswissenschaft
Die PMA werden wie folgt erhoben: (1) Verbales Verstehen (verbal comprehension) wird meist gemessen mit Vokabulartests (Synonymen und Antonymen) und Tests für Textverständnis (Lesen). (2) Sprachgewandtheit (word fluency) betrifft die schnelle Produktion von Wörtern (z.B. in einer beschränkten Zeit möglichst viele Wörter, die mit „d” anfangen). (3) Numerische Fähigkeiten (number) werden mit Aufgaben gemessen, die sowohl Rechnen als auch logisches Denken erfordern, jedoch mit relativ geringer Bedeutung von Vorkenntnissen. (4) Räumliches Vorstellungsvermögen (space): Eine typische Aufgabe ist die der mentalen Rotation wie bspw. die Frage, ob Figurenpaare identisch oder gespiegelt sind. (5) Gedächtnis (memory): Eine typische Aufgabe ist das paarweise assoziative Lernen. Eine Reihe (photographischer) Bilder von Personen wird zusammen mit den Namen angeboten. Nach einer gewissen Zeit werden die Bilder gezeigt und die dazu gehörenden Namen gefragt. (6) Logisches Denken (induction and reasoning) wird mit Hilfe von Analogien untersucht sowie mit der geforderten Fortsetzung arithmetischer Reihen (z.B. 2, 4, 7, 11, ?). (7) Wahrnehmungsgeschwindigkeit (perceptual speed) wird gemessen mit Aufgaben, die das schnelle Erkennen von Symbolen erfordert, z.B. alle Buchstaben „I” aus einer Reihe von Buchstaben anzukreuzen. 2.2.3.3.4 Hierarchische Intelligenzmodelle Als Mittelweg zwischen dem Zweifaktorenmodell und den Multifaktorenmodellen wurden hierarchische Intelligenzmodelle entwickelt, die zwar auf den oberen Ebenen den g-Faktor enthalten, aber auf den unteren Ebenen eine Aufspaltung analog zu den Mehrfaktorenmodellen aufweisen. Burt, Wechsler, Vernon, Cattell u.A. haben solche hierarchischen Intelligenzmodelle entwickelt, von denen hier die von VERNON (1950) und CATTELL (1941) dargestellt werden. Die hierarchische Ordnung spiegelt bei allen Modellen nicht nur eine klassifikatorische Ordnung wider, sondern drückt auch eine funktionale Abhängigkeit aus. Das heißt, dass sowohl die Faktoren der unteren Ebenen von denen der oberen Ebenen abhängig sind als auch die der unteren Ebenen Voraussetzung für die der übergeordneten Ebenen sind. Diesen Zusammenhang verdeutlicht JENSEN (1969) anhand eines Beispiels: Die Leistung beim Ziehen eines Gewichtes mit der rechten Hand ist u.A. korreliert mit der Muskelgröße sowohl des rechten Unterarms als auch des rechten Oberarms. Wenn der Oberarmmuskel nun durch Atrophie oder Verletzung geschwächt ist, wird der Unterarm unabhängig von seinem eigenen muskulären Zustand mehr oder weniger ineffektiv sein, seine Zugkraft gering. Andererseits, wenn der Unterarmmuskel atrophiert, während der Oberarmmuskel seine volle Stärke behält, wird die gesamte Zugkraft viel weniger beeinträchtigt sein. Mit
Arbeitsperson
143
anderen Worten, die Effektivität des Unterarmes ist viel stärker von der Kraft des Oberarmes abhängig als umgekehrt. Dies ist die Bedeutung der hierarchisch funktionalen Abhängigkeit. Hierarchisches Intelligenzmodell von Vernon Bei dem Intelligenzmodell von VERNON (1950, 1972) werden die verschiedenen Intelligenzfaktoren vier Hierarchieebenen zugeordnet (Abb. 2.21). Ausgehend von der allgemeinen Intelligenz, die durch den g-Faktor in Analogie zu Spearman beschrieben wird, gibt es auf der Hauptgruppenebene die zwei bedeutenden Faktoren v:ed (verbal-educational) und k:m (kinesthetic-mechanical) neben dem Faktor i (induction). Der Faktor k:m steht dabei mit nicht der Intelligenz zuzuordnenden psychomotorischen (sensumotorischen) Fertigkeiten in Verbindung. Auf den unteren Ebenen spalten sich die Faktoren weiter auf, bis auf der untersten Ebene spezifische Testvarianzanteile enthalten sind. Das Intelligenzmodell von Vernon lässt die Integration verschiedener Komponenten menschlicher Leistungsfähigkeit zu. Die verschiedenen Bereiche der Intelligenz, von den spezifischen konkreten Eigenschaften bis zu den allgemeinen abstrakten, sind in diesem Modell nicht starr getrennt, sondern funktional miteinander verbunden.
Abb. 2.21: Hierarchisches Intelligenzmodell von Vernon (v:ed = sprachlich-anerzogen, k:m = kinesthetisch-mechanisch, i = induction, f = Flüssigkeit des Denkens, w = Wortflüssigkeit, v = sprachliche Fähigkeit, n = Operieren mit Zahlen, p = Wahrnehmungsgeschwindigkeit, nach VERNON 1972)
2.2.3.3.5 Fluide und kristalline Intelligenz Obwohl er der „amerikanischen Schule“ zugewiesen werden kann, hat auch CATTELL (1941, 1963, 1971) ein hierarchisches Intelligenzmodell entwickelt. Er
144
Arbeitswissenschaft
führte dabei die Begriffe fluid general intelligence gf(h) (fluide Intelligenz) und crystallized general intelligence gc (kristalline Intelligenz) ein. Die kristalline Intelligenz besteht aus dem erworbenen Wissen und der Fähigkeit, auf dieses Wissen auch zuzugreifen. Gemessen wird die kristalline Intelligenz mit Wortschatztests, Tests zur Überprüfung des Allgemeinwissens oder mit Rechentests. Die fluide Intelligenz ist als Fähigkeit zu interpretieren, Zusammenhänge, die komplex sind, zu erkennen und auch Probleme zu lösen. Erhoben wird diese Intelligenz mit Matrizenaufgaben und Anordnungen räumlicher Art, die zur Lösung logische Schlussfolgerungen erfordern (ZIMBARDO u. GERRIG 2004). Das Besondere an Cattells Modell ist die Zerlegung der Intelligenz in ererbte und erworbene Anteile. Nach Cattell handelt es sich bei dem gf-Faktor um die vom Lernschicksal und den Umgebungsbedingungen unabhängige, genetisch veranlagte Intelligenz und bei der kristallisierten Intelligenz um den durch Lernvorgänge ausgelösten Komplex schulischer und familiärer Erfahrungen. Das Intelligenzmodell ist allerdings bezüglich seiner physiologischen und erbpsychologischen Gegebenheiten weitgehend spekulativ und konnte nicht eindeutig bestätigt werden. Bei Nachfolgeuntersuchungen nach Cattells Versuchsdesign konnten die strukturellen Eigenschaften des Modells bestätigt werden; bei abweichenden Versuchsplänen war diese Bestätigung allerdings schon erheblich schwieriger.
2.2.3.4
IntelligenzĆ-ĆererbtĆoderĆerworben?Ć
Der Einfluss des Erbgutes bzw. der Umgebung auf die Intelligenzleistung ist und war Gegenstand zahlreicher Diskussionen. Es handelt sich hierbei um essenzielle Fragen der sozialen Verantwortung und der Gestaltung von Bildungssystemen. Dementsprechend wurden die diversen wissenschaftlichen Ergebnisse oftmals für politische Ideen missbraucht. Die Amerikaner ERLENMEYER-KIMLING u. JARVICK (1963) haben 52 unabhängige Untersuchungen in 8 Ländern ausgewertet, die insgesamt über 30000 Korrelationspaare umfassten. Das Ergebnis ist in Abb. 2.22 dargestellt und lässt sich im Sinne sowohl der Vererbungs- als auch der Umgebungstheorie interpretieren. Im Sinne der Vererbungstheorie: x Die mittlere Korrelation bei eineiigen Zwillingen (0,87 und 0,75) ist erheblich höher als bei zweieiigen (0,56 und 0,49). x Die Korrelation bei eineiigen Zwillingen, die getrennt aufgewachsen sind, ist höher (0,75) als bei zweieiigen Zwillingen (0,56 und 0,49) und Geschwistern, die zusammen aufgewachsen sind (0,55). x Die Korrelationen für Geschwister (0,47 und 0,55), zweieiige Zwillinge (0,49 und 0,56) und Eltern und Kindern (0,5) liegen um den Wert von 0,5 (sie haben jeweils 50% der Gene gemeinsam).
Arbeitsperson
145
x Großeltern und Enkel haben eine Korrelation von etwa 0,25 (sie haben 25% gemeinsame Gene). x Die Korrelationen von Pflegeeltern zu ihren Kindern sind gering. Im Sinne der Umgebungstheorie: x Eineiige Zwillinge, die zusammen aufgewachsen sind, haben keine 100%ige Korrelation. x Eineiige Zwillinge, die zusammen aufgewachsen sind (0,87), haben eine höhere Korrelation als getrennt aufgewachsene (0,75). x Geschwister, die zusammen aufgewachsen sind (0,55), haben eine höhere Korrelation als getrennt aufgewachsene (0,47). 1 0,9
0,87
0,8 0,75
Korrrelation
0,7 0,6
0,56
0,55
0,5
0,5
0 49 0,49
0 47 0,47
0,4 0,3
0,27
0,24
0,2
0,2
0,1
Eineiige Zwillin nge, zusammen n aufgewachse en
Eineiige Zwillin nge, getrennt aufgewachse en
nge, Zweieiige Zwillin gleiches Geschlecht
nge, Zweieiige Zwillin verschiedene es Geschlecht
Geschwistter, zusamme en aufgewachsen
Geschwistter, getrenntt aufgewachsen
Eltern-K Kind
Großeltern-En nkel
Pflegeeltern-K Kind
Nichtverwan ndte Personen n, zusamme en aufgewachssen
0
Nichtverwandtte Personen, getre ennt aufgewachse en
0
Abb. 2.22: IQ-Korrelationen von Personen mit verschiedenem Verwandtschaftsgrad nach ERLENMEYER-KIMLING u. JARVICK (1963) (Die senkrechte Linie gibt die Streuung der Ergebnisse der verschiedenen Autoren an. Der Mittelwert ist angegeben.)
Die Ergebnisse der Familienforschung bestätigen eindeutig, dass zumindest Sonderbegabungen wie musikalische, künstlerische oder mathematische Begabungen, eine erbliche Grundlage haben. Sicherlich werden diese Fähigkeiten durch das Elternhaus entsprechend gefördert, aber die Höchstbegabungen, die z.B. in den Familien Bach, Mozart-Weber, Cranach, Bernoulli, Darwin, Tischbein etc. auftraten, sind durch Förderung ohne Begabung nicht zu erreichen. Umgekehrt gibt es viele Fälle, in denen Höchstbegabungen in Familien Einzelfälle waren (vgl. Abb. 2.23). Aus diesen und ähnlichen Untersuchungen ergibt sich, dass Intelligenz sowohl erblich bedingt als auch erworben ist. Das bedeutet, dass man durch eine entsprechende Förderung bzw. Vernachlässigung die Intelligenzleistung stark beeinflussen kann, aber auch, dass diesen Bemühungen Grenzen durch die Begabung gesetzt sind.
146
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Im Einklang mit der Umgebungstheorie wurde in den 70er Jahren die These entwickelt, dass die Arbeitsplatz- und Tätigkeitsgestaltung einen wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung der geistigen Leistungsfähigkeit hat. Obwohl viele Untersuchungen zu diesem Thema methodische Schwächen haben, kann die Schlussfolgerung gezogen werden, dass die Intelligenz durch Tätigkeiten auf niedrigem Niveau negativ und durch anspruchsvolle positiv beeinflusst wird. SCHLEICHER (1973), der in einer Querschnittsanalyse 500 männliche Personen im Alter von 16 bis 68 Jahren unter Anwendung mehrerer Teile des Intelligenzstrukturtests (I-S-T, AMTHAUER 1953) untersuchte, konnte deutliche Hinweise auf diese Schlussfolgerung finden. x
x
männlich
weiblich
Maler
Kunsthandwerker
Abb. 2.23: Stammbaum der Familie Tischbein
2.2.4
2.2.4.1
Gesundheit
DefinitionĆundĆRelevanzĆ
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat im Jahr 1946 Gesundheit als „Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen“ beschrieben. Mit dieser Definition wurde Gesundheit zunächst in ihren körperlichen, psychischen und sozialen Dimensionen gesehen. Die WHO definiert heute Gesundheit als „positiver funktioneller Gesamtzustand im Sinne eines dynamischen biopsychologischen Gleichgewichtszustandes, der erhalten bzw. immer wieder hergestellt werden muss“ (WHO 1986). Das Gleichgewichtszustandsmodell betont die aktive Rolle von Arbeitspersonen bei der Erhaltung und Förderung ihrer Gesundheit sowie im Genesungs- und Rehabilitationsprozess.
Arbeitsperson
147
Während dieser Ansatz die aktive Rolle des Individuums in den Mittelpunkt rückt, fokussiert die Definition der „Gesundheitsförderung“ stärker auf eine Handlungsorientierung der Gruppe bzw. eine „gesundheitsfördernde Gesamtpolitik“, indem Gesundheitsförderung als „Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen“ (WHO 1986) beschrieben wird (siehe Kap. 8). Das Leitprinzip besteht darin, persönliche Kompetenzen, körperliche und geistige „Ressourcen“ sowie soziale und gesellschaftliche Verhältnisse, die Gesundheit bedingen und fördern, zu aktivieren, zu unterstützen und zu stabilisieren (siehe Kap. 8.2.1). Adressat der Gesundheitsförderung im Betrieb sind Arbeitspersonen aller Lebensphasen und Altersstufen. Eine besondere Rolle kommt in diesem Zusammenhang Menschen mit Beeinträchtigung und Behinderung zu, die deshalb in den folgenden Kapiteln in den Fokus gerückt werden. Akute Erkrankungen und ihre Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit werden hingegen im Weiteren nicht behandelt. Dem Ansatz der WHO folgend ist das Ziel, Menschen trotz Beeinträchtigung und Behinderung ein gesundes (Arbeits-)Leben zu ermöglichen und sie bei der Bewältigung unterschiedlicher Lebensphasen und Verfolgung von Karrierewegen zu unterstützen. Menschen mit einer Behinderung gelten grundsätzlich nicht als „nicht gesund“. Dabei ist zu beachten, dass Behinderungen in ca. 80% der Fälle auf eine Krankheit zurückzuführen sind (STATISTISCHES BUNDESAMT 2009). Um eine soziale und berufliche Integration bzw. Reintegration zu ermöglichen, bedarf die Mehrzahl der Menschen adäquater Unterstützungsangebote (u.A. medizinischer, psychosozialer, pädagogischer Art). Der Begriff der Behinderung lässt sich schwer definieren (EURICH 2008; vgl. Definitionen im Sozialgesetzbuch in Kap. 2.2.4.2). Der Begriff steht im Kontext vielfältiger Lebensbezüge und ist mehrdimensional zu betrachten. Nicht die Schädigung und die Beeinträchtigung sind ausschlaggebend, sondern die Folgen, die sich daraus für das Individuum ergeben. 1980 wurde die erste Fassung der International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps (ICIDH) – ein Klassifikationsschema von Krankheiten und Behinderung – durch die WHO publiziert. Die WHO hat 2001 die neue Klassifikation nach ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) genehmigt, die die ICIDH ablöste. Die ICF dient als länder- und fachübergreifende einheitliche Klassifikation zur Beschreibung des funktionalen Gesundheitszustandes, der Behinderung, der sozialen Beeinträchtigung und der relevanten Umgebungsfaktoren einer Person. Während das alte Modell defizitorientiert angelegt war ist das neue Modell ressourcen- und defizitorientiert. Das klassische biopsychosoziale Modell wurde erweitert, insbesondere wurde der Lebenshintergrund der Betroffenen mitberücksichtigt (Kontextfaktoren), indem die Partizipation (Teilhabe) und deren Beeinträchtigung als Wechselwirkung zwischen dem gesundheitlichen Problem und ihren personen- und umweltbezogenen Kontextfaktoren betrachtet wird (RENTSCH u. BUCHER 2006).
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Arbeitswissenschaft
Die ICF ist hierarchisch aufgebaut. Die Informationen werden in zwei Teile gegliedert, wobei sich der eine Teil mit der Funktionsfähigkeit und Behinderung (Körperfunktionen und -strukturen, Schädigungen, Aktivitäten und Partizipation) und der andere Teil mit den Kontextfaktoren (Umweltfaktoren, personenbezogene Faktoren) befasst. Die Dimensionen sind wie folgt: x Schädigungen sind Beeinträchtigungen einer Körperfunktion oder -struktur, wie z.B. eine wesentliche Abweichung oder ein Verlust (funktionell, z.B. ein fehlender Arm). x Unter Partizipation versteht man das Einbezogensein in eine Lebenssituation. Dies bedeutet bis zu einem gewissen Grad eigenständig zu sein und fähig zu sein, die eigene Lebenssituation unter Kontrolle zu haben, auch wenn die Aktivitäten nicht selbst ausgeführt werden. x Umweltfaktoren bilden die materielle, soziale und einstellungsbezogene Umwelt eines Menschen. Diese Faktoren liegen außerhalb des Individuums und können u.A. seine Leistung, seine Leistungsfähigkeit oder seine Körperfunktionen und -strukturen positiv oder negativ beeinflussen. x Personenbezogene Faktoren sind der spezielle Hintergrund des Lebens und der Lebensführung eines Menschen. Sie umfassen Gegebenheiten des Menschen, die nicht Teil ihrer Gesundheitsproblems oder -zustandes sind. Diese Faktoren können u.A. Konstitutionsmerkmale wie Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit oder Dispositionsmerkmale wie Alter, Fitness, Lebensstil, sozialer Hintergrund, Bildung und Ausbildung, Beruf sowie vergangene oder gegenwärtige Erfahrungen, allgemeine Verhaltensmuster und Charakter, individuelles psychisches Leistungsvermögen und andere Merkmale umfassen, die bei Behinderungen auf jeder Ebene eine Rolle spielen können. x Schließlich bezeichnet eine Aktivität generell die Durchführung einer Arbeitsaufgabe durch einen Menschen. Die Interdependenzen zwischen den Dimensionen sind in Abb. 2.24 dargestellt. Nach Abb. 2.24 stehen die Umweltfaktoren und die personenbezogenen Faktoren in einer Wechselwirkung mit der Komponente Schädigung sowie den Aktivitäten und der Partizipation. Behinderung ist das Resultat der Beziehung zwischen dem Gesundheitsproblem eines Menschen und seinen personenbezogenen Faktoren einerseits und den externen Faktoren, welche die Umwelteinflüsse repräsentieren, andererseits. Aufgrund dieser Beziehungen können verschiedene Konstellationen unterschiedliche Einflüsse auf denselben Menschen haben. Folglich ist Behinderung das Resultat komplexer Wechselwirkungen zwischen den Komponenten des Körpers und der Komponente von Aktivitäten und Partizipation sowie den Kontextfaktoren (RENTSCH u. BUCHER 2006).
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Health condition (Gesundheitsproblem) disease / disorder (Krankheit / Störung)
Impairment (Schädigung)
Contextual factors (Kontextfaktoren) A: Environmental (umweltbedingte)
Activity (Aktivität)
Participation (Partizipation)
Contextual factors (Kontextfaktoren) B: Personal (persönliche)
Abb. 2.24: Wechselwirkungen zwischen den Komponenten der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) (in Anlehnung an RENTSCH u. BUCHER 2006)
2.2.4.2
RechtlicheĆGrundlagenĆ
In Deutschland wurden in dem Neunten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB IX) („Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen“) wesentliche Aspekte der ICF aufgenommen. Das zum 01.07.2001 in Kraft getretene SGB IX, welches das Schwerbehindertengesetz (SchwbG) abgelöst hat, hat zum Ziel, Menschen mit Behinderung oder von Behinderung bedrohte Menschen in ihrer Selbstbestimmung und in der gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern. Der erste Teil des SGB IX enthält Regelungen zur Rehabilitation von Menschen mit Behinderung oder von Behinderung bedrohter Menschen. Das bisherige SchwbG wurde in den zweiten Teil des Gesetzes integriert. Es enthält die „besonderen Regelungen zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen”. Als sozialpolitisches Ziel aller Teilhabeleistungen nennt §1 des SGB IX die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung und ihre umfassende Teilhabe am Leben in der Gesellschaft. Das SGB IX definiert in §2 die Begriffe Behinderung und Schwerbehinderung. Nach §2 Abs. 1 SGB IX gelten Menschen als behindert, „wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist.“
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Arbeitswissenschaft
Diese Begriffsbestimmung lehnt sich an Vorschläge der WHO an. Sie orientiert sich nicht an wirklichen oder vermeintlichen Defiziten, sondern im Vordergrund steht das Ziel der Teilhabe an verschiedenen Lebensbereichen. Dabei ist als Abweichung vom "typischen Zustand" der Verlust oder die Beeinträchtigung von - im jeweiligen Lebensalter - normalerweise vorhandenen körperlichen, geistigen oder seelischen Strukturen zu verstehen. Folgt aus dieser Schädigung eine Teilhabebeeinträchtigung, die sich in einem oder mehreren Lebensbereichen auswirkt, liegt eine Behinderung vor. Menschen im Sinne des §2 Abs. 2 SGB IX sind schwerbehindert, „wenn bei ihnen ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des §73 rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben.“ Menschen mit einem Grad der Behinderung „von weniger als 50, aber wenigstens 30“ können Menschen mit einer Schwerbehinderung gleichgestellt werden, wenn sie infolge ihrer Behinderung ohne die Gleichstellung einen geeigneten Arbeitsplatz im Sinne des §73 nicht erlangen oder nicht behalten können (gleichgestellte behinderte Menschen) (§2 Abs. 3 SGB IX). Während der Begriff Grad der Behinderung (GdB) in Zusammenhang mit dem Schwerbehindertenrecht verwendet wird (Teil 2 SGB IX), wird der Grad der Schädigungsfolgen (GdS) (hat die frühere Bezeichnung MdE, die Minderung der Erwerbsfähigkeit, abgelöst) im sozialen Entschädigungsrecht und im Rahmen der gesetzlichen Unfallversicherung genannt. Rechtlich stellen GdS und GdB einen wichtigen Rahmen dar und sind zugleich Zugangsvoraussetzungen zur Erlangung von sozialstaatlichen Leistungen (von steuerrechtlichen Begünstigungen bis hin zu auf Behinderung basierenden Renten). GdS und GdB werden nach gleichen Grundsätzen bemessen. Sie können zwischen 20 und 100 variieren. Sie werden in 10er-Schritten gestaffelt. GdS und GdB unterscheiden sich lediglich dadurch, dass der GdS nur auf die Schädigungsfolgen (kausal) und der GdB auf alle Gesundheitsstörungen unabhängig von ihrer Ursache (final) bezogen ist. Der GdB bezieht sich allein auf die Auswirkungen einer Behinderung in allen Lebensbereichen und ist grundsätzlich unabhängig vom ausgeübten oder angestrebten Beruf. Er wird somit als ein Maß für einen körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Mangel verstanden. Der GdB sagt nichts über die tatsächliche Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit und die Belastbarkeit am Arbeitsplatz aus. Deshalb ist zu prüfen, ob die funktionellen Einschränkungen die vorgesehene Tätigkeit beeinträchtigen. Entscheidend ist immer eine Gesamtsicht der tatsächlichen Beeinträchtigung. Für die Feststellung gibt es bundesweite Richtlinien, die sog. „Versorgungsmedizinischen Grundsätze", die am 1. Januar 2009 in Kraft getreten sind. Als „leistungsgewandelt” wird eine gesundheitlich beeinträchtigte Arbeitsperson bezeichnet, der kein Grad der Behinderung zuerkannt wurde. Von „leistungsgewandelt“ kann gesprochen werden, wenn eine Krankheit zu einer
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nicht nur vorübergehenden Beeinträchtigung der Gesundheit und Leistungsfähigkeit führt. Leistungsgewandelte weisen demnach eine irreversible Einschränkung der körperlichen Leistungsfähigkeit auf (RUDOW 2004). Eine Leistungswandlung kann sich auf körperliche, mentale und psychische Aspekte beziehen. x Die körperliche Leistungswandlung untergliedert sich für gewöhnlich in wesentliche Abweichungen von mittlerer und maximaler Muskelkraft (dynamisch und statisch gefordert), motorischer Leistungsfähigkeit (Handgeschicklichkeit, Bewegungsgeschwindigkeit, Koordination) und kardiopulmonaler Leistungsfähigkeit (Herz und Lunge betreffend). x Die informatorisch-mentale Leistungswandlung beinhaltet die Informationsaufnahme, Informationsverarbeitung und Informationsabgabe. x Die psychische Leistungswandlung wird anhand folgender Analysen bewertet: Anforderungsanalyse (Welche Voraussetzungen müssen zur Erfüllung von Aufgaben mitgebracht werden?), Analyse der Leistungsvoraussetzungen, Analyse der Aufmerksamkeit und Analyse der Motivation und Arbeitszufriedenheit (NOWAK 2006). Im Gegensatz zum Schwerbehinderten wird der Leistungsgewandelte stets in Beziehung zur konkreten Tätigkeit, zu den Arbeitsanforderungen und Belastungen beurteilt. Eine Fallbesprechung unter Beteiligung von Patient, Hausarzt, Betriebsarzt, Rehaklinik, Personalvertretung (Betriebs-, Personalrat) und Geschäftsleitung soll bereits bei drohenden Abweichungen von Anforderungsund Fähigkeitsprofil intensiviert werden (NOWAK 2006). Der Wiedereingliederungsprozess stellt derzeit für viele Unternehmen eine Herausforderung dar (Rudow 2004): Einerseits ist eine signifikante Zunahme der leistungsgewandelten Beschäftigten zu beobachten, u.A. hervorgerufen durch die demographische Entwicklung, längere Lebensarbeitszeiten und Veränderungen in den Krankheitsbildern. Andererseits ist infolge von technologischen Innovationen, Rationalisierungsmaßnahmen u.a.m. eine Abnahme von Arbeitsplätzen zu konstatieren, die von Leistungsgewandelten besetzt werden können. Für die nachhaltige Problemlösung sind arbeitsorganisatorische Gestaltungsansätze (siehe Kap. 5 und Kap. 8) sowie Maßnahmen zur ergonomischen Arbeits(platz)gestaltung (siehe Kap. 10.1) angezeigt.
2.2.4.3
ArtenĆvonĆBehinderungenĆ
In der Bundesrepublik Deutschland waren im Januar 2008 6,9 Millionen Menschen bei den Versorgungsämtern als Schwerbehinderte amtlich anerkannt. Verglichen mit der Gesamtbevölkerung entspricht dies einem Anteil von 8,4%. Statistisch gesehen war somit jeder zwölfte Einwohner in Deutschland schwerbehindert. Die Schwerbehindertenquote ist durch zwei wesentliche Charakteristika gekennzeichnet. Zum einen steigt die Schwerbehindertenquote mit zunehmenden Alter an (mehr als die Hälfte der schwerbehinderten Menschen (54,4%) waren
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Arbeitswissenschaft
2007 65 Jahre und älter) und zum anderen ist die Schwerbehindertenquote bei Männern höher als bei Frauen. Insgesamt haben körperliche Behinderungen den größten Anteil an den Behinderungsarten. 2007 litten fast 2/3 der schwerbehinderten Menschen unter körperlichen Behinderungen (siehe Tabelle 2.5). Tabelle 2.5: Häufigkeiten der schwersten Behinderungen im Jahr 2007 (Daten nach STATISTISCHES BUNDESAMT 2009) Art der Behinderung
Häufigkeit
Beeinträchtigung der Funktion von inneren Organen bzw. Organsystemen
25,3%
Querschnittslähmung, zerebrale Störungen, geistigseelische Behinderungen, Suchtkrankheiten
18,9%
Sonstige und ungenügend bezeichnete Behinderungen
16,8%
Funktionseinschränkung von Gliedmaßen
13,8%
Funktionseinschränkung der Wirbelsäule und des Rumpfs, Deformierung des Brustkorbes
12,6%
Blindheit und Sehbehinderung
5,0%
Sprach- oder Sprechstörungen, Taubheit, Schwerhörigkeit, Gleichgewichtsstörungen
4,1%
Verlust einer Brust oder beider Brüste, Entstellungen u.a.
2,6%
Verlust oder Teilverlust von Gliedmaßen
1,1%
Allgemeine Krankheit 82,3% Sonstige Ursachen 9,9% Angeborene Behinderung 4,4% Arbeitsunfall, Berufskrankheit 1,1% Kriegs-, Wehrdienst- oder Zivildienstbeschädigung 1,1% Verkehrsunfall 0,6% Sonstiger Unfall 0,4% Häuslicher Unfall 0,1%
Abb. 2.25: Ursachen der schwersten Behinderungen im Jahr 2007 (Daten nach STATISTISCHES BUNDESAMT 2009)
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153
Behinderungen sind meist krankheitsbedingt. 2007 wurde in 82,3% aller Fälle die Behinderung durch eine Krankheit ausgelöst, bei 1,1% war die Ursache auf einen Unfall- oder Berufskrankheiten zurückzuführen (siehe Abb. 2.25) (STATISTISCHES BUNDESAMT 2009). Mit Bezug auf das SGB IX werden häufig drei Arten von Behinderungen unterschieden: körperliche, psychische (seelische) und geistige. Trotz bestehender Überschneidungen und definitorischer Schwächen wird diese Unterteilung aufgrund ihrer hohen Verbreitung hier übernommen. 2.2.4.3.1 Körperliche Behinderung Als körperbehindert bezeichnet man eine Person, die infolge einer Schädigung des Stütz- und Bewegungsapparates, einer anderen organischen Schädigung oder einer chronischen Krankheit so in ihren Verhaltensmöglichkeiten beeinträchtigt ist, dass die Selbstverwirklichung in sozialer Interaktion erschwert ist (LEYENDECKER 2005). Da Menschen mit einer Körperbehinderung mental nicht beeinträchtigt sind, können sie durch geeignete Wahl der Arbeitsaufgaben oder durch den Einsatz von Arbeitshilfen (z.B. spezielle Eingabegeräte für Computer, wie bspw. eine Fußmaus; SPRINGER 1996; SCHNEIDER et al. 2008) einer „normalen” Arbeitstätigkeit nachgehen. Ca. 64,3% aller Schwerbehinderten sind körperlich behindert. Körperliche Behinderungen sind zu x 25,3% Beeinträchtigungen der Funktionen innerer Organe bzw. Organsysteme, x 26,4% Funktionseinschränkungen der Gliedmaße, Wirbelsäule, des Rumpfes und/oder einer Deformierung des Brustkorbes, x 3,8% Sprachstörungen, Schwerhörigkeit und sonstige Behinderungen (STATISTISCHES BUNDESAMT 2009). 2.2.4.3.2 Psychische (seelische) Behinderung Psychische Störungen treten in vielfältigen Formen auf, die in ihrer Beeinflussbarkeit sehr unterschiedlich sind. Eine psychische (seelische) Behinderung liegt vor, wenn als Folge einer psychischen Störung nicht nur vorrübergehend erhebliche Beeinträchtigungen in den Bereichen der Alltagsbewältigung, der Erwerbstätigkeit und der sozialen Interaktion auftreten. Der Begriff der Behinderung bezieht in diesen Kontext die Wechselwirkung zwischen psychischen Beeinträchtigungen und sozialen Folgen mit ein (BUNDESARBEITSGEMEINSCHAFT FÜR REHABILITATION 2003). Nahezu jede psychische Krankheit kann in eine Behinderung übergehen, wenn sie längerfristig besteht und die „Lebenspraxis“ einschränkt. Der Betroffene kann den Rollenerwartungen in diesem Fall nicht mehr nachkommen. Insbesondere sind Menschen mit schizophrenen Psychosen, endogenen-psychotischen Erkrankungen, Suchtkrankheiten und schweren Persönlichkeitsstörungen betroffen (EIKELMANN u. ZACHARIAS 2005).
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Arbeitswissenschaft
Um die Beschreibung und Interpretation psychischer Störungen und Behinderungen weltweit zu vereinheitlichen liegen Diagnose- bzw. Klassifikationssysteme vor. Die bekanntesten Klassifikationssysteme stellen die von der WHO herausgegebene International Classification of Diseases (ICD-10), das Klassifikationssystem der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (APA) und das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-IV) dar (HERRMANN u. HOLZHAMMER-HERRMANN 2008). Für das deutsche Gesundheitswesen ist die ICD-10 maßgeblich. Dort werden für jede psychische Störung genau definierte Kriterien (Bedingungen) genannt, die erfüllt sein müssen, bevor die Störung diagnostiziert werden darf. Sie beschreibt Phänomene (Krankheitszeichen), fasst diese zu Diagnosen zusammen und verzichtet darauf, die Störung mit einer möglichen Ursache zu verbinden (GEIßENDÖRFER u. HÖHN 2007). Für den Bereich der psychischen Störungen ist das fünfte Kapitel relevant. Die ICD-10-Klassifikation für psychische Störungen und Verhaltensstörungen enthält folgende Hauptgruppen: x F00-F09: Organische, einschließlich symptomatische psychische Störungen (Symptome: Störungen der kognitiven Funktionen (Strömungen des Gedächtnisses, des Lernens und des Intellekts) oder Störungen des Sensoriums (z.B. Bewusstseins- und Aufmerksamkeitsstörungen); Störungen im Bereich der Wahrnehmung (Halluzinationen), der Denkinhalte (Wahn), der Stimmung und der Gefühle (Depressionen, Angst)) x F10-F19: Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen x F20-F29: Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen (Symptome: Akustische Halluzinationen (insbesondere Hören von Stimmen) und Wahndenken (typischerweise Verfolgungs- oder Beeinträchtigungswahn)) x F30-F39: Affektive Störungen (Symptome: Veränderung der Gestimmtheit, meist zur Depression hin, mit oder ohne begleitende Angst, oder nicht so häufig zur gehobenen Stimmung). x F40-F48: Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen (Symptome: Phobien, generalisierte oder anfallartige Ängste, Zwänge sowie Depressionen, dissoziative Störungen (Konversionsstörungen)) x F50-F59: Verhaltensauffälligkeiten in Verbindung mit körperlichen Störungen und Faktoren x F60-F69: Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen x F70-F79: Intelligenzminderung x F80-F89: Entwicklungsstörungen x F90-F98: Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend x F99: Nicht näher bezeichnete psychische Störungen.
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155
2.2.4.3.3 Geistige Behinderung Die geistige Behinderung wird klinisch und psychometrisch nach dem allgemeinen Intelligenzniveau (Kap. 2.2.3) und nach dem Grad der sozialen Anpassungsfähigkeit definiert (GONTARD 2003). Unter Intelligenzminderung wird eine Störung der Entwicklung geistiger Fähigkeiten (z.B. von Sprache, kognitiven, motorischen und sozialen Fertigkeiten) mit Minderung des Intelligenzniveaus und verminderter sozialer Anpassungsfähigkeit verstanden (FRANK 2004). Es bestehen unterschiedliche Schweregrade der Intelligenzminderung. Es werden eine leichte, eine mittelgradige, eine schwere und eine schwerste Form unterschieden (siehe Tabelle 2.6). Tabelle 2.6: Klassifikation der geistigen Behinderung nach ICD-10 (in Anlehnung an FRANK 2004) Klassifikation nach ICD-10
Leichte Intelligenzminderung
IQ-Wert
Häufigkeit
50-59
2-3%
• Schulbildung auf einer Förderschule • Ausübung einfacher Handwerksberufe ist in der Regel möglich
0,50%
• In der Regel unmöglich, sich im täglichen L b allein Leben ll i zurechtzufinden ht fi d • Unter Anleitung können einfache Arbeiten (z.B. im Garten) ausgeführt werden • Sprachliche Ausdrucksweise ist stark eingeschränkt g
0,25%
• Spracherwerb nicht möglich • Intensive Zuwendung, Fürsorge und Aufsicht erforderlich
Mittelgradige Intelligenzminderung
35-49
Schwere Intelligenzminderung
20-34
Schwerste I t lli Intelligenzminderung i d
< 20
Merkmale
Eine geistige Behinderung stellt meistens eine Folge von prä-, peri- und postnatalen Faktoren dar. NEUHÄUSER u. STEINHAUSEN (2003) unterscheiden folgende Ursachen für eine geistige Behinderung: x Genetische Bedingungen (z.B. Genmutationen durch ein verändertes Genprodukt, z.B. Enzymdefekt) x Chromosomenanomalien (z.B. Down-Syndrom, spezielle Genmutation, bei der das 21. Chromosom oder Teile davon dreifach vorliegen) x Stoffwechselstörungen (z.B. angeborene Unterfunkunktion der Schilddrüse) x Sauerstoffmangel während der Geburt x Schwangerschaftsbelastungen durch Substanzmissbrauch der Mutter (Rauchen, Alkoholabusus) x Umweltgifte (polychlorierte Biphenyle, z.B. PCB) x Infektionen (z.B. HIV-Infektionen).
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2.2.4.4
Arbeitswissenschaft
BeruflicheĆRehabilitationĆ
Üblicherweise wird zwischen medizinischen, beruflichen, schulischen und sozialen Leistungen zur Rehabilitation unterschieden (NAGEL 2007). Rehabilitation von Menschen mit Behinderung umfasst eine Vielzahl von Maßnahmen mit dem Ziel, in allen Bereichen der körperlichen, sensorischen, geistigen, psychischen und sozial funktionalen Aktivitäten das für jeden Einzelnen optimale Ergebnis, das insbesondere auch die Teilhabe am Arbeitsleben umfasst, zu erreichen. Berufliche Rehabilitation ist Teil des umfassenden Systems der Rehabilitation, das einerseits die Wiederherstellung des körperlichen und seelischen Wohlbefindens und andererseits die soziale und berufliche Integration bzw. Reintegration zum Ziel hat (HINZ u. BOBAN 2001). Berufliche Rehabilitation und Teilhabe am Arbeitsleben wird durch die drei folgenden Begriffspaare bestimmt: (1) Berufliche Rehabilitation/Eingliederung (sozialpolitische Sichtweise) (2) Normalisierung/Integration (soziologische Sichtweise) (3) Bildung/Qualifizierung (pädagogische Sichtweise). Diese Gesichtspunkte veranschaulichen die Notwendigkeit eines ganzheitlichen Gestaltungskonzeptes der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (GRAMPP 2003). Rechtliche Grundlagen für die berufliche Rehabilitation stellen vor allem das dritte Buch des Sozialgesetzbuches (SGB III) und das neunte Buch des Sozialgesetzbuches (SGB IX) dar. Als Rehabilitationsträger für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben kommen die Träger der Gesetzlichen Rentenversicherung, der Gesetzlichen Unfallversicherung und der sozialen Entschädigung bei Gesundheitsschäden oder die Bundesagentur für Arbeit in Betracht. Bei technischen und arbeitsorganisatorischen Fragestellungen können technische Berater der Arbeitsagentur oder das Integrationsamt Unterstützung bieten (MAIER-LENZ u. LENK 2005). 2.2.4.4.1 Maßnahmen zur beruflichen Rehabilitation Die berufliche Rehabilitation umfasst Maßnahmen und Unterstützungsmöglichkeiten, die für eine dauerhafte Eingliederung oder Wiedereingliederung von Menschen mit Behinderung in Arbeit und Beruf erforderlich sind. Dieser Schritt ist möglich, wenn die Rehabilitanden in der Lage sind mit begrenzten Hilfestellungen auszukommen und der Betrieb bzw. die Berufsschule in der Lage ist, die Ausbildung angepasst an die Bedürfnisse durchzuführen (MAIER-LENZ u. LENK 2005). Entsprechende Maßnahmen, die dazu dienen, die Diskrepanz zwischen den Anforderungen bzw. der Tätigkeit und dem Fähigkeitsprofil des Rehabilitanden zu vermindern oder zu beseitigen, werden im Rahmen der beruflichen Rehabilitation unter dem Begriff „Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben“ (LTA)
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zusammengefasst (BECK u. MAU 2007). Die LTA umfassen eine breite Palette von Angeboten, die individuell und flexibel erbracht werden sollen (ebd.): x Hilfen zur Erhaltung oder Erlangung eines Arbeitsplatzes einschließlich Beratung und Vermittlung, Mobilitätshilfen (z.B. Beihilfen für Reise-/ Fahrtkosten, Umzug, Trennungsgeld), Trainingsmaßnahmen x Berufsvorbereitung einschließlich erforderlicher Grundausbildung x Berufliche Anpassung und Weiterbildung x Berufliche Ausbildung (inkl. Umschulung) x Überbrückungsgeld x Kraftfahrzeughilfen (z.B. Erwerb der Fahrerlaubnis, Kfz-Anschaffung, behindertengerechte Ausstattung) x Arbeitsassistenz (z.B. Gebärdendolmetscher) x Hilfsmittel (z.B. Sitz-Steh-Hilfe) x Technische Arbeitshilfen (z.B. Hebe-Hilfen). Die berufliche Rehabilitation wird häufig in den Unternehmen durchgeführt, bspw. durch die Einrichtung von Betriebsstätten oder Werkstattbereichen, die mit unterschiedlicher Bindung an die Produktion des Unternehmens Arbeitsaufträge ausführen. Diese Formen der betrieblichen Rehabilitation gewinnen sowohl unter psychologischen und sozialen als auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zunehmend an Bedeutung. Arbeitgeber sind durch die arbeitsrechtliche Fürsorgepflicht angehalten, für schwerbehinderte Beschäftigte angemessene Arbeitsvoraussetzungen zu schaffen (§93 SGB IX), dazu zählt u.A. eine behinderungsgerechte Gestaltung des Arbeitsplatzes, des Arbeitsumfeldes, der Arbeitsorganisation und der Arbeitszeit sowie die Ausstattung des Arbeitsplatzes mit den erforderlichen technischen Arbeitshilfen. Bei einer Arbeitsunfähigkeit einer Arbeitsperson von mehr als sechs Wochen muss der Arbeitgeber mit Betriebsrat und Personalrat mit Zustimmung und Beteiligung der betroffenen Person klären, wie die Arbeitsunfähigkeit überwunden werden kann, mit welchen Leistungen und Hilfen erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und wie der Arbeitsplatz erhalten werden kann (WELTI 2005). Wenn diese Art der Qualifizierung aufgrund der Schwere der Behinderung nicht möglich ist, kommt eine berufliche Rehabilitation in einer überbetrieblichen Einrichtung in Betracht. Zu den überbetrieblichen Rehabilitationseinrichtungen zählen: x Berufsbildungswerke x Berufsförderungswerke x Werkstätten für behinderte Menschen. Berufsbildungswerke (BBW) sind überregionale Einrichtungen, die jungen Erwachsenen und Jugendlichen mit Behinderungen eine berufliche Erstausbildung ermöglichen. Das Ziel der Berufsbildungswerke ist die Eingliederung der Rehabilitanden in den allgemeinen Arbeitsmarkt sowie deren persönliche, soziale und gesellschaftliche Integration. Zu diesem Zweck bieten die BBW Maßnahmen
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zur Berufsvorbereitung sowie Berufsausbildungen in anerkannten Ausbildungsberufen und nach Ausbildungsregelungen für Menschen mit Behinderung an. Das Angebot der Berufsbildungswerke besteht in der Regel aus Ausbildungsstätten, Berufsschulen, Freizeitangeboten und Wohngelegenheiten mit bis zu 24-stündiger fachlicher Betreuung. In den 52 Berufsbildungswerken wurden 2008 15.000 Auszubildende in insgesamt 190 Berufen ausgebildet (BMAS 2008a). Finanziert werden die Berufsbildungswerke hauptsächlich durch die Bundesagentur für Arbeit. Berufsförderungswerke (BFW) sind überregionale und überbetriebliche Bildungsunternehmen, die sich auf die Ausbildung und Weiterbildung erwachsener Menschen mit Behinderung spezialisiert haben. Die Fortbildung und Umschulung in einem Berufsförderungswerk ist eine Zweitausbildung und nur für Menschen zugänglich, die bereits berufstätig waren und aufgrund einer Krankheit oder Behinderung Weiterbildung benötigen. Die Maßnahmen der beruflichen Umund Neuorientierung sind auf die individuellen Belange der betroffenen Menschen ausgerichtet und werden mit begleitender Betreuung und angemessener Dauer durchgeführt. Ziel dieser Maßnahmen ist vor allem die erfolgreiche Wiedereingliederung in das Arbeitsleben. Das Netz der Berufsförderungswerke in Deutschland umfasste 2008 28 Einrichtungen mit ca. 15.000 Plätzen in 180 Bildungsgängen mit anerkannten Abschlüssen (BMAS 2008b). Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) sind gemeinnützige Dienstleister zur Eingliederung von Menschen mit Behinderung in das Arbeitsleben. Sie bieten denjenigen Menschen mit Behinderung einen Arbeitsplatz, die „nicht, noch nicht oder noch nicht wieder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können“ (§136 SGB IX). Die WfbM soll Menschen mit Behinderung (1) eine „angemessene berufliche Bildung“ und eine Beschäftigung zu einem ihrer Leistung angemessenen Arbeitsentgelt anbieten und (2) ihnen ermöglichen, ihre Leistungs- oder Erwerbsfähigkeit zu erhalten, zu entwickeln und zu erhöhen oder wiederzugewinnen und dabei ihre Persönlichkeit weiterzuentwickeln (§136 SGB IX). Menschen, die aufgrund der Art und Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können, aber „ein Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung“ erbringen, haben einen Rechtsanspruch auf einen Platz in einer anerkannten WfbM mit entsprechender Betreuung und Begleitung. 2007 arbeiteten 259.301 Beschäftigte in 651 Werkstätten für behinderte Menschen in Deutschland. Die Zahl der Plätze in WfbM ist von 2001 bis 2006 um rund 16% gestiegen. Von den im Arbeitsbereich Beschäftigten hatten im Jahr 2006 rund 70% eine vorrangig geistige Behinderung, etwa 17% waren seelisch behindert, rund 6% wiesen eine Körperbehinderung (einschließlich Sinnesbehinderung) auf und jeweils rund 3% eine Schwerst-Mehrfachbehinderung und eine Lernbehinderung (DETMAR et al. 2008).
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Nach dem Eingangsverfahren (Klärung, ob die WfbM die geeignete Einrichtung ist; Erstellung eines Eingliederungsplans; Dauer: bis zu drei Monate) wird jedem Menschen mit Anspruch auf Werkstattförderung eine zweijährige berufliche Förderung im Berufsbildungsbereich der Werkstatt angeboten (Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für Behinderte Menschen e.V. 2009). Ausgebildet werden die Beschäftigten von Fachkräften, die neben einer berufsfachlichen Ausbildung auch eine sonderpädagogische Zusatzqualifikation erworben haben. Wenn nach dem Berufsbildungsbereich eine Vermittlung in einen Betrieb auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht möglich ist, erfolgt in der Regel eine unbefristete Anstellung in dem Arbeitsbereich der Werkstatt. Die behinderten Beschäftigten erhalten einen sog. Werkstattvertrag, ein monatliches Entgelt und sind kranken-, unfall-, pflege- und rentenversichert. Die Höhe des Entgeltes hängt von den Erlösen der Werkstatt ab. Das geltende Recht schreibt den Werkstätten vor, mindestens 70 Prozent ihres erwirtschafteten Arbeitsergebnisses als Arbeitsentgelte an die behinderten Beschäftigten auszuzahlen (Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für Behinderte Menschen e.V. 2009). Die absolute Zahl der Übergänge von 2002 bis 2006 aus WfbM in den allgemeinen Arbeitsmarkt hat zugenommen. Die Übergangsquote, die sich auf 1.400 in diesem Zeitraum gemeldete Übergänge (von 482 WfbM) in Arbeitsverhältnisse, Ausbildung oder andere berufliche Bildungsmaßnahmen bezieht, hat sich jedoch nur marginal von 0,15% im Jahr 2002 auf 0,17% in 2006 erhöht. Im Durchschnitt lag sie bei 0,16% (DETMAR et al. 2008). Die meisten Werkstätten verfügen über ein breites Angebot an Beschäftigungsmöglichkeiten. Typische Arbeitsfelder einer WfbM liegen in den Bereichen Montage, Verpackung, Versand, Druck, Holzverarbeitung, Garten- und Landschaftsbau, Küchenservice und Wäscherei (DOOSE 2009). Neben den auch für andere mittelständische Unternehmen geltenden verschärften Wettbewerbsbedingungen sehen sich WfbM einem besonderen Veränderungsdruck ausgesetzt: Die immer schneller voranschreitende Technisierung und Automatisierung macht viele Tätigkeiten im Bereich der klassischen (Lohn-) Auftragsfertigung überflüssig. Im Zuge der Globalisierung werden darüber hinaus gerade die für WfbM interessanten, meist manuell auszuführenden Tätigkeiten in Niedriglohnländer verlagert bzw. von Unternehmen aus entsprechenden Ländern zu Tiefpreisen angeboten. Hinzu kommen Veränderungen in den sozialpolitischen Strukturen, die zu einem Rückgang der öffentlichen Förderung führen und zudem den Wettbewerb unter Anbietern im sozialen Bereich forcieren. Es zeigt sich nicht selten, dass potenzielle Kunden die Leistungsfähigkeit von WfbM bzw. der dort tätigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter deutlich unterschätzen. Hier ist eine gezielte Öffentlichkeitsarbeit notwendig, die das gesamte Leistungsspektrum aufzeigt und hilft, Vorbehalte abzubauen. Bestehende Kunden und Auftraggeber von WfbM schätzen vor allem die Qualität, Zuverlässigkeit und Flexibilität, die es zu erhalten und nach außen transparent zu machen gilt.
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Arbeitswissenschaft
2.2.4.4.2 Bedeutung von Arbeit für Menschen mit Behinderung Die Teilhabe an Arbeitsprozessen hat für viele Menschen einen hohen Stellenwert. Arbeit stellt einen zentralen Bereich des gesellschaftlichen Lebens dar, da sie als vermittelnde Instanz zwischen Mensch und Umwelt fungiert (MICHELS 2002). Die Zufriedenheit am Arbeitsplatz wirkt sich auf die gesamte Lebenssituation aus (Kap. 2.4.2). Eine Studie von LELGEMANN (2000), in der 386 Beschäftigte mit schweren Körperbehinderungen befragt wurden, zeigt, dass diese Menschen möglichst auf dem ersten Arbeitsmarkt tätig sein oder - falls dies nicht möglich ist - eine Tätigkeit in einer WfbM oder einer anderen Einrichtung ausüben möchten. Arbeit verbinden die Befragten mit folgenden Erfahrungen: x Ein Produkt oder eine Dienstleistung mitgestalten x Kolleginnen und Kollegen haben x sozial anerkannt sein x Geld selbst verdienen und ausgeben können. Diese und weitere Studien (u.A. SCHABMANN u. KLICPERA 1998; BAUDISCH 2000) unterstreichen die Bedeutung von Arbeit für Menschen mit (und ohne) Behinderung. Im Hinblick auf den Integrationsprozess werden u.A. folgende Aspekte als wichtig erachtet: x Durch die eigene berufliche Tätigkeit kann der Beschäftigte wirtschaftlich unabhängig werden. Diese ist damit eine wesentliche Grundlage seiner wirtschaftlichen und sozialen Sicherheit und Selbständigkeit. x Arbeit bedeutet Anerkennung. Die Berufstätigkeit verschafft dem Beschäftigten einen sozialen Status, er wird zum aktiv teilhabenden und anerkannten Mitglied der Gemeinschaft. x Durch die berufliche Tätigkeit werden dem Beschäftigten weitere soziale Kontaktmöglichkeiten eröffnet. x Arbeit eröffnet Möglichkeiten zur Persönlichkeitsentwicklung und Qualifizierung. x Die Berufstätigkeit verschafft dem Beschäftigten die Befriedigung einer persönlich und sozial fruchtbaren und sinnvollen Arbeit und bei anspruchsvollen Tätigkeiten die breiteste Befriedigung menschlicher Bedürfnisse bis zur Selbstverwirklichung. Die Teilhabe am Arbeitsleben ist damit eine wichtige Voraussetzung für die ganzheitliche gesellschaftliche Integration von Menschen mit Behinderung.
2.2.4.5
BeschäftigungssituationĆvonĆMenschenĆmitĆBehinderungĆ
Die Beschäftigungsquote schwerbehinderter Menschen entwickelte sich in den letzten Jahren positiv. So steigt seit dem Jahr 2000 die Beschäftigungsquote leicht an. Im Jahr 2006 wies die Statistik der Bundesagentur für Arbeit eine Beschäftigungsquote schwerbehinderter Menschen von 4,3% aus. Im Vergleich zum Jahr 2000 ist die Beschäftigungsquote um 0,6% gestiegen. Die privaten
Arbeitsperson
161
Arbeitgeber besetzten im Jahr 2006 im Durchschnitt 3,8% der Stellen mit schwerbehinderten Beschäftigten. Im öffentlichen Dienst betrug die Beschäftigungsquote 5,9% (siehe Abb. 2.26). Insgesamt waren in Deutschland 2006 811.931 Stellen mit schwerbehinderten Beschäftigten besetzt, ca. ein Drittel davon waren Arbeitsstellen im öffentlichen Dienst (BIH 2008). 187.000 Menschen mit einer Schwerbehinderung waren im Jahresdurchschnitt 2007 arbeitslos gemeldet, 10.000 (5,1%) weniger als noch im Vorjahr. Die Arbeitslosigkeit dieser Personengruppe hat sich damit von 17,8% auf 16,6% verringert. Im Januar 2008 verzeichnete die Arbeitslosenstatistik noch 177.000 schwerbehinderte Arbeitslose, bis Mai 2008 verminderte sich die Zahl weiter auf 168.000 (BUNDESAGENTUR FÜR ARBEIT 2007).
Angaben in % 7 6
5,6
5,7
5,1
5,4
5,9
5,2
3,8
3,8
4
4,1
4,2
4,3
3,7 3,3
3,4
3,4
3,6
3,6
3,7
3,8
5,2
4 3
5
Private Wirtschaft Öffentlicher Dienst Durchschnittliche Beschäftigungsquote
2 1 0 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006
Abb. 2.26: Entwicklung der Beschäftigungsquote Schwerbehinderung 2000-2006 (BIH 2008)
von
Menschen
mit
einer
Einsatzgebiete von Menschen mit Behinderung Die Situation schwerbehinderter Menschen auf dem Arbeitsmarkt belegt, dass keine Chancengleichheit zwischen schwerbehinderten und nicht behinderten Menschen besteht. Die mangelnde Bereitschaft Menschen mit einer Schwerbehinderung einzustellen, resultiert überwiegend daraus, dass Arbeitgeber betriebliche und wirtschaftliche Nachteile fürchten (EULER 2004). Dabei ist zu beachten, dass sich in den letzten Jahrzehnten im Zusammenhang mit der Entwicklung der Rehabilitation auch ein deutlicher Bewusstseinswandel hinsichtlich beruflicher Einsatzmöglichkeiten von Menschen mit Behinderung vollzogen hat. Der Bereich der in Betracht gezogenen und der tatsächlich verfügbar gemachten Beschäftigungsmöglichkeiten hat sich stark ausgeweitet. Die Leistungsminderung bei Menschen mit einer körperlichen Behinderung besteht in der Einschränkung einiger physischer Funktionen. In der Regel bietet sich die Möglichkeit, dass die Arbeitsperson durch technische Arbeitshilfen
162
Arbeitswissenschaft
unterstützt wird. Technische Arbeitshilfen sind meist Bestandteil einer umfassenden ergonomischen und behindertengerechten Gestaltung des Arbeitsplatzes. Sie sollen dabei unterstützen, eine dauerhafte Eingliederung zu erreichen und zu sichern. Die schwerbehinderte oder gleichgestellte behinderte Arbeitsperson hat gegenüber dem Arbeitgeber einen Anspruch auf Ausstattung des Arbeitsplatzes mit den erforderlichen technischen Arbeitshilfen (§81 Abs. 4 Nr. 5 SGB IX). Zur Anschaffung technischer Arbeitshilfen können die Integrationsämter finanzielle Unterstützung gewähren, soweit Leistungen nicht von einem Rehabilitationsträger oder vom Arbeitgeber erbracht werden (LUTHE 2003). Technische Hilfsmittel werden nach DIN EN ISO 9999 (Hilfsmittel für Menschen mit Behinderungen – Klassifikation und Terminologie) klassifiziert. Mit Hilfe dieser Norm wurde eine einheitliche internationale Klassifikation und Terminologie geschaffen. Die Basis der Norm stellen die jeweiligen Funktionen des Hilfsmittels dar. Ein Hilfsmittel ist laut DIN EN ISO 9999 definiert als „jegliches Produkt (einschließlich Vorrichtungen, Ausrüstung, Instrumenten, Technologie und Software), sei es Sonderanfertigung oder allgemeines Gebrauchsgut, das Schädigungen, Beeinträchtigungen der Aktivität und Einschränkungen der Teilhabe vermeidet, ausgleicht, überwacht, mildert oder neutralisiert.“ Die Klassifikation enthält drei Hierarchieebenen, anhand derer die Hilfsmittel in eine definierte Klasse, Unterklasse und Gruppe eingeteilt werden (siehe Tabelle 2.7). Menschen mit einer Körperbehinderung stehen heutzutage vielfältige Möglichkeiten der technischen Unterstützung zur Verfügung, wie z.B. speziell hierfür entwickelte Computerhardware und -software. Spezielle Hardware für Menschen mit einer Körperbehinderung reicht von Spezialtastaturen bis zu Hilfssystemen zur Steuerung des Bildschirmcursors (z.B. Blicksteuerung, Fußmaus) (DIN EN ISO 9999; Klassifikation 22/36) (siehe Tabelle 2.7). Ebenso stellen spezielle Softwaresysteme bspw. für eine synthetische Sprachausgabe (siehe Kap. 10.1.2.2.3) geeignete Unterstützungshilfen im Bereich der informatorischmentalen Arbeitstätigkeiten (Kap. 3.3) dar (DIN EN ISO 9999; Klassifikation 22/39). Ein Überblick über den Stand der Forschung und Technik in diesem Bereich findet sich u.A. bei JACKO et al. (2008), SEARS et al. (2008) und HANSON (2008). Menschen mit einer geistigen Behinderung haben, wie bereits erwähnt, Schwächen im kognitiven Bereich. Das bedeutet, dass Funktionen wie Abstraktionsvermögen, Gedächtnis, Lernfähigkeit usw. eingeschränkt sind. Ihre manuelle Leistungsfähigkeit ist i. d. R. nicht beeinträchtigt. Es bieten sich daher für Menschen mit einer geistigen Behinderung dementsprechend Tätigkeiten mit geringen kognitiven Anforderungen an. Ihre Leistungsfähigkeit sowie ihre Motivation sind im Allgemeinen über einen längeren Zeitraum konstant, so dass sie nach einer Arbeitstrainingsphase auf einem Dauerarbeitsplatz mit fester Arbeitszeit beschäftigt werden können.
Arbeitsperson
163
Tabelle 2.7: Auszug aus DIN EN ISO 9999: Hilfsmittel für Menschen mit Behinderungen
Hilfsmittel für Menschen mit Behinderungen 04 05 06 09 12 15 18 22
24
27 30
Hilfsmittel für die persönliche medizinische Behandlung Hilfsmittel für das Training von Fähigkeiten Orthesen und Prothesen Hilfsmittel für die persönliche Versorgung und Sicherheit Hilfsmittel für die persönliche Mobilität Hilfsmittel im Haushalt Mobiliar und Hilfen zur Wohnungs- und Gebäudeanpassung Hilfsmittel für Kommunikation und Information 03 Sehhilfen 06 Hörhilfen 09 Sprechhilfen 12 Schreib- und Zeichenhilfen 15 Rechenhilfen 18 Hilfmittel zur Verarbeitung von visueller Information sowie Audio- und Videoinformation 21 Hilfsmittel für die Nahkommunikation 24 Hilfsmittel für Telefonie (und Telematik) 27 Hilfsmittel für das Alamieren, Anzeigen und Signalisieren 30 Lesehilfen 33 Computer und Terminals 36 Eingabegräte für Computer 39 Ausgabegeräte für Computer Hilfsmittel für die Handhabung von Objekten und Vorrichtungen 04 Kennzeichnungsmaterialien und-werkzeuge 06 Hilfsmittel zum Hantieren mit Behältern 09 Hilfsmittel zur Bedienung und Steuerung von Vorrichtungen 13 Hilgsmittel für die Fernsteuerung 18 Hilfsmittel, die Arm- und/oder Hand und/oder Fingerfunktion unterstützen und/oder ersetzen 21 Hilfsmittel zur Vergrößerung der Reichweite 24 Positionierungshilfen 27 Haltevorrichtungen 30 Hilfsmittel für die Positionsänderung und das Heben 36 Trage- und Transporthilfen 39 Transportfahrzeuge im industriellen Bereich 42 Förderer 45 Kräne Hilfsmittel für eine bessere Gestaltung der Umgebung, Werkzeuge und Maschinen Hilfsmittel für die Freizeit
164
Arbeitswissenschaft
Nach bisheriger Erfahrung werden Menschen mit einer geistigen Behinderung in folgenden Arbeitsfeldern eingesetzt: x Rund 45% mit Hilfstätigkeiten und einfachen Zuarbeiten. Dazu gehören bspw. Aufgaben, die im Bereich der Gebäudereinigung und Wagenpflege anfallen sowie Dienstleistungen im Hotel- und Gaststättenbereich. x Etwa 35% führen einfache Tätigkeiten aus, wie zum Beispiel das Arbeiten an Sägen, Bohrmaschinen und das Ver- und Auspacken von Waren. x Rund 20% übernehmen überschaubare eigenständige Tätigkeiten, wie einfache Reparaturarbeiten, Arbeiten im Bereich der Landschaftspflege, Botengänge und Auslieferungen von Bestellungen (BIH 2008). Menschen mit einer psychischen Behinderung haben zwar die gleiche kognitive und manuelle Leistungsfähigkeit wie Menschen ohne psychische Behinderung; sie sind jedoch psychisch instabil. Sie unterliegen i.d.R. großen Schwankungen in ihrer Leistungsfähigkeit, so dass eine mittelfristige Arbeitsplanung nur schwer möglich ist. Obwohl die Einrichtung von Arbeitsplätzen oft keinen Zusatzaufwand (z.B. für technische Arbeitshilfen) erfordert, zögern Arbeitgeber aufgrund von Berührungsängsten mit psychischen Krankheiten mit einer Anstellung. Die Arbeitstätigkeit dieser Gruppe beschränkt sich daher hauptsächlich auf WfbM und die Arbeitstherapiebereiche psychiatrischer Krankenhäuser. Eine ausschließliche Zusammenarbeit mit geistig Behinderten und die damit verbundenen Arbeitsverhältnisse erleben sie jedoch als eine leidvolle Unterforderung. Ebenso empfinden sie Maßnahmen wie Beschäftigungstherapie oder Scheinentlohnung, da sie trotz ihrer Erkrankung eine hohe Sensibilität für die Wirklichkeit und damit verbundene Diskongruenzen besitzen. Psychische und soziale Schäden gehören zum klinischen Bild des chronischen Alkoholismus. Alkoholabhängigkeit ist i.d.R. durch körperliche, somatische und soziale Folgeschäden gekennzeichnet. ICD-10 und og. DSM-IV führen unter den diagnostischen Leitlinien psychische und soziale Folgeschäden als ein diagnostisches Kriterium auf (SOYKA 2004). Hirnorganische Leistungsminderung, Beeinträchtigungen von Gedächtnis, Aufmerksamkeit, kognitiver Leistungsgeschwindigkeit, visuell räumlicher Wahrnehmung und Abstraktionsvermögen sowie Persönlichkeitsveränderungen zählen zu den häufigsten Folgeschäden (WINDISCH u. ZOSSEDER 2006). In Deutschland konsumieren mehr als 9,5 Millionen Menschen Alkohol in gesundheitlich riskanter Form – 13,7% dieser Menschen gelten als alkoholabhängig. Der dadurch entstehende Schaden für die Volkswirtschaft und die Betriebe ist nur schwer abschätzbar. Die Kosten alkoholbezogener Krankheiten werden deutschlandweit auf mehr als 20 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt (BMG 2009). Die Ursache des Alkoholismus muss als Überlagerung mehrerer Faktoren betrachtet werden, die vom Individuum selbst (z.B. genetische Faktoren, Vorbilder) über das soziale Umfeld (z.B. Risikoberufe) bis hin zu psychosozialen Belastungen und der daraus resultierenden Beanspruchung am Arbeitsplatz (z.B.
Arbeitsperson
165
Beziehungskonflikte, Krisen in der beruflichen Entwicklung, massiver Leistungsdruck) und im privaten Umfeld (z.B. Partner- und Familienprobleme) reichen (WINDISCH u. ZOSSEDER 2006). Ein Verbleiben im Betrieb ist für Alkoholiker langfristig nur möglich, wenn sie sich in medizinische Behandlung begeben und diese erfolgreich ist. Untersuchungen zeigen aber auch, dass eine Wechselwirkung zwischen Arbeitslosigkeit und Alkoholismus besteht (PULS u. MÜMKEN 2008). Während Alkoholismus oft Arbeitslosigkeit nach sich zieht, führt eine erfolgreiche Behandlung mit nachfolgender Abstinenz auch unter ungünstigen konjunkturellen Gesamtbedingungen zu einem Rückgang der Arbeitslosigkeit. Fortdauernde Arbeitslosigkeit hingegen erhöht die Rückfallwahrscheinlichkeit. Gesetzliche Bestimmungen Durch das Schwerbehindertenrecht (SGB IX) versucht der Gesetzgeber, Nachteile von Menschen mit Behinderung in Arbeitssystemen auszugleichen. Es gilt nur für Schwerbehinderte und ihnen Gleichgestellte, nicht jedoch für Leistungsgewandelte. Das Schwerbehindertenrecht verpflichtet alle Arbeitgeber bei der Besetzung freier Stellen zu prüfen, ob sie Schwerbehinderte oder ihnen Gleichgestellte darauf beschäftigen können. Für Schwerbehinderte gelten nach dem Schwerbehindertenrecht besondere gesetzliche Bestimmungen: Beschäftigungspflicht (§71 Abs. 1 SGB IX): Private und öffentliche Arbeitgeber (Arbeitgeber) mit jahresdurchschnittlich monatlich mindestens 20 Arbeitsplätzen im Sinne des § 73 haben auf wenigstens 5 Prozent der Arbeitsplätze schwerbehinderte Menschen zu beschäftigen. Dabei sind schwerbehinderte Frauen besonders zu berücksichtigen. Abweichend von Satz 1 haben Arbeitgeber mit jahresdurchschnittlich monatlich weniger als 40 Arbeitsplätzen jahresdurchschnittlich je Monat einen schwerbehinderten Menschen, Arbeitgeber mit jahresdurchschnittlich monatlich weniger als 60 Arbeitsplätzen jahresdurchschnittlich je Monat zwei schwerbehinderte Menschen zu beschäftigen. Ausgleichsabgabe (§77 Abs. 1 SGB IX): Sie wird von Arbeitgebern erhoben, die die vorgeschriebene Zahl schwerbehinderter Menschen nicht beschäftigen. Diese Zahlung entbindet jedoch nicht von der Verpflichtung zur Beschäftigung schwerbehinderter Menschen. Die Ausgleichsabgabe wird auf der Grundlage einer jahresdurchschnittlichen Beschäftigungsquote ermittelt. Die Ausgleichsabgabe beträgt je unbesetzten Pflichtarbeitsplatz zwischen 105 Euro bei einer jahresdurchschnittlichen Beschäftigungsquote von 3% bis weniger als dem geltenden Pflichtsatz und 260 Euro bei einer jahresdurchschnittlichen Beschäftigungsquote von weniger als 2% (§77 Abs. 2 SGB IX). Sie soll die Arbeitgeber zur vermehrten Einstellung veranlassen, zumindest aber
166
Arbeitswissenschaft
ungerechtfertigte Kostenvorteile gegenüber Unternehmen, die Schwerbehinderte eingestellt haben, abschöpfen. Auf diese Ausgleichsabgabe werden Aufträge an WfbM angerechnet. Aus den Mitteln der Ausgleichsabgabe werden zusätzliche Eingliederungsmöglichkeiten, die die Unternehmen schaffen, gefördert. Es unterliegt nicht der Wahlfreiheit der Arbeitgeber, für welche Lösung sie sich entscheiden. Die Beschäftigungspflicht lässt sich nicht durch Zahlung der Ausgleichsabgabe ablösen. Deshalb müssen Arbeitgeber, die der Beschäftigungspflicht schuldhaft nicht oder nicht in vollem Umfang nachkommen, damit rechnen, dass sie zusätzlich noch mit einem Bußgeld belegt werden. Kündigungsschutz (Kapitel 4 SGB IX): Schwerbehinderte sind besonders gegen Kündigung geschützt. Jeder Auflösung oder Änderung des Arbeitsverhältnisses muss vorher das Integrationsamt zustimmen. Zusatzurlaub (§125 SGB IX): Schwerbehinderten steht ein zusätzlicher Urlaub von einer Arbeitswoche zu (gilt nicht für Gleichgestellte); also sechs Tage bei einer Sechstagewoche, fünf Tage bei einer Fünftagewoche. Mehrarbeit (§124 SGB IX): Schwerbehinderte können Mehrarbeit ablehnen, damit ihre Leistungsfähigkeit nicht über Gebühr in Anspruch genommen wird. Pflichten des Arbeitgebers (§81 SGB IX): Der Arbeitsplatz muss auf den Schwerbehinderten abgestimmt sein; die Fähigkeiten des Behinderten sollen voll verwertet und weiterentwickelt werden; Schwerbehinderte müssen in ihrem beruflichen Fortkommen gefördert werden und es muss ihnen die Teilnahme an ständiger beruflicher Weiterbildung erleichtert werden. Die besonderen Interessen Schwerbehinderter in Betrieben und Verwaltung werden vom Betriebs- und Personalrat gewahrt. Werden ständig mehr als fünf Schwerbehinderte beschäftigt, so ist zusätzlich noch eine Schwerbehindertenvertretung zu wählen. Sie hat vor allem die Einhaltung aller zugunsten Behinderter geltenden Vorschriften zu überwachen und den Behinderten beratend und helfend zur Seite zu stehen. Aufgabe der begleitenden Hilfe ist es auch, im Arbeits- und Berufsleben auftretende Schwierigkeiten zu beseitigen. Um an Ort und Stelle die Verhältnisse zu überprüfen, führt die dafür zuständige Hauptfürsorgestelle regelmäßig oder aus besonderem Anlass Betriebsbesuche durch.
Arbeitsperson
2.2.5
2.2.5.1
167
Biorhythmus
DefinitionĆundĆRelevanzĆ
Fast alle menschlichen Körperfunktionen verändern sich periodisch innerhalb eines gewissen Bezugszeitraums mehr oder weniger stark um einen Mittelwert. Diese Veränderungen sind biologisch bedingt. Hinzu kommen noch Veränderungen, die aufgrund der Umwelteinwirkungen hervorgerufen werden. Diese Aktivitätsänderungen beeinflussen den Menschen sowie seine Reaktionen auf äußere Reize. Die biologischen Veränderungen (Biorhythmen) können eine Periodendauer von wenigen Millisekunden bis zu einem Jahr und darüber aufweisen. Bei kurzen Rhythmen geht man davon aus, dass diese endogen fixiert sind und auch dann aufrechterhalten werden, wenn äußere Bedingungen, wie zum Beispiel Zeitgeber, wegfallen. Lange Rhythmen unterliegen sehr häufig sozialen Komponenten.
2.2.5.2
PeriodischeĆWechselĆ
Zur Unterscheidung der einflussreichsten Zyklen des menschlichen Lebens können die Biorhythmen nach ihrer Periodendauer eingeteilt werden in: x Jahresrhythmik (zirkaanuale Rhythmik) x Lunarrhythmik x Wochenrhythmik (zirkaseptane Rhythmik) x Zirkadiane Rhythmik x Ultradiane Rhythmik. Die Jahresrhythmik betrifft bspw. die physische und psychische Leistungsbereitschaft und die Stimmungslage. Ausschlaggebend für die Entstehung und Aufrechterhaltung der Jahresrhythmik sind klimatische Veränderungen und teilweise damit verbundene Verhaltensweisen. Das Wissen um die Existenz der Lunarrhythmik ist aufgrund des weiblichen Menstruationszyklus weit verbreitet. Aber auch viele andere Abläufe des menschlichen Körpers sind von der Lunarrhythmik abhängig, wie bspw. der Schlaf. Die Wochenrhythmik ist weniger biologisch bedingt als vielmehr von der zeitlichen Organisation der Freizeit und der Arbeit abhängig, wie bspw. vermehrte Unfälle an Montagen oder eine höhere Suizidrate am Wochenende. Die Zirkadiane Rhythmik, also die Schwankungen innerhalb einer Dauer von etwa 24 Stunden, ist der für die Arbeitszeitgestaltung wichtigste Zyklus. Als Hauptantriebe für diese Rhythmik sind der Hell-Dunkel-Wechsel und die sozialen Zeitgeber zu nennen. Aber auch ohne diese Einflüsse bleibt diese Rhythmik bestehen, wie sog. Bunkerversuche zeigten (ASCHOFF 1964, siehe Abb. 2.27). Von zahlreichen physiologischen Funktionen lassen sich zirkadiane Rhythmen nachweisen wie bspw. die Produktion des Hormons Melatonin, die Herzschlagfrequenz oder die Körperkerntemperatur. Viele dieser Veränderungen
168
Arbeitswissenschaft
werden nicht bewusst wahrgenommen. Die offenkundigste Auswirkung der zirkadianen Rhythmik ist der Wechsel zwischen Schlaf- und Wachzeiten. Einige physiologische Funktionen folgen kürzeren Rhythmen als dem zirkadianen Rhythmus. Diesen periodischen Wechsel nennt man die Ultradiane Rhythmik. Dieser Rhythmik folgen bspw. die einzelnen Schlafzyklen oder die Herzschlagfolge (siehe GRIEFAHN 2007). Besonders wichtig ist die Veränderung der menschlichen Leistungsfähigkeit unter der zirkadianen Rhythmik. Sie ist über den Tagesverlauf nicht konstant. Zunächst steigt sie an, bis zwischen 9 und 11 Uhr ein Maximum eintritt. Dann beobachtet man meist ein Absinken bis zu einem flachen Minimum um die Mittagszeit, worauf ein erneutes, im Vergleich zum Vormittag jedoch nicht so ausgeprägtes Maximum am frühen Abend folgt. Danach sinkt die Leistungsfähigkeit kontinuierlich ab, bis zwischen 2 und 4 Uhr ein absolutes Minimum erreicht wird.
Abb. 2.27: Freilaufende Rhythmik einer Person unter konstanten Lebensbedingungen (sog. Bunkerversuche) ohne Zeitgeber (nach ASCHOFF u. WEVER 1962) GRAF (1954) nannte diese Schwankungen der Leistung über den Tagesverlauf die physiologische Arbeitskurve (Abb. 2.28). Das Arbeiten nach diesem Rhythmus wird subjektiv als besonders natürlich empfunden. Neben der physiologischen Arbeitskurve wird die Leistungsfähigkeit durch weitere Faktoren, wie die Leistungsbereitschaft (Motivation), Zeitpunkte der Nahrungsaufnahme usw., beeinflusst. Auch die Aufmerksamkeit, die unter anderem für den Arbeitsvollzug von großem Interesse ist, unterliegt einer zirkadianen Rhythmik. Sie zeigt eine hohe Korrelation mit der Mundtemperatur und verläuft, mit einer geringen
Arbeitsperson
169
Phasenverschiebung, ähnlich wie die physiologische Arbeitskurve (MONK u. EMBREY 1981). In den frühen Morgenstunden sind sowohl die Temperatur als auch die Aufmerksamkeit minimal, während am frühen Abend bei der Aufmerksamkeit ein zweites relatives Minimum auftritt (Abb. 2.29).
Abb. 2.28: Verlauf der physiologischen Arbeitskurve über 24 Stunden (nach GRAF 1954)
Abb. 2.29: Zirkadiane Rhythmik der Mundtemperatur Aufmerksamkeit (nach MONK u. EMBREY 1981)
und
der
subjektiven
170
Arbeitswissenschaft
2.2.5.3
BiorhythmikĆinĆderĆPraxisĆ
Besonders das Wissen um die zirkadiane Rhythmik und das enge Zusammenspiel zwischen den einzelnen physiologischen Rhythmen machen deutlich, dass ein Eingreifen – wie bspw. durch Interkontinentalflüge oder Nachtarbeit – mit weitreichenden Folgen verbunden ist. Deutlich wird dies bei der Gestaltung der Arbeitszeit, vor allem bei der Gestaltung von Nachtarbeit. Die physiologischen Belange des Körpers müssen berücksichtigt werden, um Leistungsschwächen, Fehler, überhöhte Belastung, Beanspruchung und Ermüdung entgegenzuwirken. Näheres zur Gestaltung von Arbeitszeiten findet sich in Kapitel 6. 2.3
Qualifikation und Kompetenz
Qualifikationen und Kompetenzen gelten als Lernresultate der Arbeitsperson. Im Vergleich zur Konstitution, die weitgehend unveränderliche Merkmale der menschlichen Leistungsfähigkeit beschreibt, sind Qualifikationen und Kompetenzen durch Lernprozesse veränderbar. Trotzdem wird insbesondere im Zusammenhang mit dem Kompetenzbegriff häufig der Begriff der Disposition verwendet, mit welchem relativ zeitstabile Persönlichkeitsmerkmale beschrieben werden. Gemeint ist hier speziell die Bereitschaft, in bestimmten Klassen von Situationen mit bestimmten Verhaltensweisen zu (re)agieren. Die Veränderung der Qualifikationen und Kompetenzen einer Arbeitsperson erfolgt durch Interaktion dieser Person mit ihrer Umwelt. Sie erweitert dadurch ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Bewältigung von Arbeitsaufträgen und -aufgaben. Ebenso schließen diese Veränderungen nicht nur den Neuerwerb von Fähigkeiten und Fertigkeiten, sondern auch deren Abbau, Umstrukturierung und Vergessen mit ein. Der Begriff der Qualifikation hängt eng mit dem Kompetenzbegriff zusammen. Oft werden beide Begriffe teils fälschlicherweise oder auf Grund eines Bedeutungswandels des Qualifikations- wie auch des Kompetenzbegriffes einander gleich gesetzt. Die Begriffe sollten jedoch wegen ihrer unterschiedlichen wissenschaftlichen Herkunft differenziert werden. Dazu werden sie hier zunächst definiert und voneinander abgegrenzt. Der Qualifikationsbegriff wird vorrangig in der Bildungsökonomie verwendet. Mit ihm einher geht stets die Frage, wie das Bildungssystem ausbilden kann, so dass die Anforderungen des Arbeitssystems an die Arbeitsperson berücksichtigt sind. Unter Qualifikation werden also die zur Ausführung von Arbeitsaufgaben zu vermittelnden Fertigkeiten, Fähigkeiten und Kenntnisse zusammengefasst. Qualifikationen sollten „zertifiziert“ sein, damit sie auf dem Arbeitsmarkt von den Arbeitspersonen verwertet werden können. Insbesondere beinhaltet dieser Begriff das Vermögen zur Ausführung einer vollständigen Arbeitshandlung, vorgegeben durch die Arbeitsorganisation und Arbeitssystemgestaltung, also den Zusammenhang von Planung, Ausführung und
Arbeitsperson
171
Bewertung von Arbeitsaufgaben. Qualifikationen berücksichtigen jedoch kaum individuelle Eigenschaften der handelnden Person. Sie lassen sich zwar mit exakten Testmethoden prüfen, Grundlage ist dabei jedoch eine bekannte Aufgabenstellung mit einem bekannten Arbeitsablauf. Qualifikationen spiegeln somit die objektive Seite des Könnens und Wissens für die Arbeit wider. Qualifikationen sind nach ZABECK (1991) das Komplement zu den Tätigkeitsanforderungen von Industrie und Wirtschaft, die als sachliche Forderung am Arbeitsplatz aufgestellt werden; sie dienen als Mittel zum Vollzug konkreter Arbeit in einem Produktions- oder Dienstleistungsprozess und sie umfassen jene spezifische Form von Kompetenz, die es dem Menschen ermöglicht, mehr oder minder komplexen Funktionsbündeln gerecht zu werden, die als Folge arbeitsorganisatorischer Entscheidungen an Arbeitsplätzen anfallen. Unter arbeitswissenschaftlichen Gesichtspunkten weist der Qualifikationsbegriff als Zielbegriff von Aus-, Fort- und Weiterbildung gewisse Defizite auf: Er berücksichtigt kaum autonomes Handeln mit eigenen Zielsetzungen sowie die in der handelnden Person angelegten Dispositionen für neue Handlungsfolgen. Der Qualifikationsbegriff versucht personenunabhängige Handlungsfolgen zur Bearbeitung von Aufgaben zu definieren. Damit birgt dieser Begriff also aus handlungstheoretischer Perspektive die Gefahr zu übersehen, dass definierte Handlungsfolgen stets auf individuell verschiedenen Zielhierarchien und Handlungsschemata basieren. Auch aus der Perspektive von Unternehmen, die die Fähigkeiten ihrer Beschäftigten in veränderten Managementkonzepten bzw. organisatorischen Verfahrensweisen, z.B. einem kontinuierlichen Verbesserungsprozess (Kap. 5.8.4), umfassender in Anspruch nehmen müssen, erweist sich der Qualifikationsbegriff häufig als ungenügend. Es sollte zusätzlich auch das durch unternehmerisches Denken geprägte, selbst gesteuerte Agieren von Fachkräften genutzt werden. Im Gegensatz dazu schließt Kompetenz das situierte Handeln nach eigenen Zielen und die subjektiven Leistungsvoraussetzungen dafür mit ein. WEINERT hat 1999 für den Begriff der Kompetenz in einem Gutachten für die OECD verschiedene Definitionsmöglichkeiten aufgezeigt und 2001 eine heute in Deutschland sehr häufig verwendete Definition formuliert. Danach sind Kompetenzen bei einer Person verfügbare oder erlernbare Fähigkeiten und Fertigkeiten, die zur Lösung bestimmter Probleme eingesetzt werden. Darüber hinaus schließt der Begriff die motivationale, volitionalen (d.h. willentlichen) und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten mit ein, um die erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten verantwortungsvoll sowie erfolgreich auf andere Herausforderungen zu übertragen (WEINERT 2001). Kompetenz als Merkmal von Individuen umfasst also Facetten wie Wissen, Fähigkeit, Verstehen, Können, Handeln, Erfahrung und Motivation. Sie wird verstanden als Disposition, die eine Person befähigt, konkrete Anforderungssituationen eines bestimmten Typs zu bewältigen und äußert sich in der tatsächlich erbrachten Leistung (KLIEME et al. 2003).
172
2.3.1
Arbeitswissenschaft
Qualifikation
Der Begriff der Qualifikation wird meist im Kontext betrieblicher Arbeitsprozesse verwendet. Er stellt die Gesamtheit aller Fähigkeiten, Kenntnisse und Fertigkeiten dar, welche an eine bestimmte Person gebunden und auf deren Arbeitshandeln bezogen sind, über welche diese Arbeitsperson zur Ausübung einer bestimmten Funktion oder von Tätigkeiten am Arbeitsplatz verfügen muss (ZABECK 1991). Qualifikationen stellen sozusagen das Komplement zu den Tätigkeitsanforderungen in einem Arbeitssystem dar. Qualifikationen sind Lernresultate der Arbeitsperson. Sie werden bewusst oder unbewusst in Lernprozessen erworben. Wichtig sind in diesem Zusammenhang die Verwertbarkeit und Anwendbarkeit von Qualifikationen, die den Begriff nicht auf abstraktes und theoretisches Wissen beschränken, sondern das Ausführen von Handlungen in konkreten Situationen ermöglichen. Dabei spiegelt die Verwertbarkeit den Nutzen der Qualifikationen wider, während Anwendbarkeit die Fähigkeit zum Ausdruck bringt, erworbene Qualifikationen auch einsetzen zu können.
2.3.1.1
QualifikationsdimensionenĆundĆNiveaustufenĆ
Sehr häufig wird der Qualifikationsbegriff dahingehend eingeengt, dass lediglich der Zusammenhang zwischen einer zertifizierten, durch Ordnungsmittel beschriebenen Ausbildung und konkreten Arbeitsplatzanforderungen gesehen wird und dadurch die Qualifikationsziele auf den kognitiven und sensumotorischen Bereich beschränkt bleiben. Zu betrachten sind aber außerdem die sog. affektiven Merkmale im Sinne von Einstellungen oder Werthaltungen. Die taxonomische Gliederung von Qualifikationen nach DAUENHAUER (1981) berücksichtigt dies durch die Unterscheidung von kognitiven, affektiven und sensumotorischen Dimensionen, die wiederum je nach Komplexität verschiedenen Lernzielstufen unterliegen (siehe Tabelle 2.8). Tabelle 2.8: Taxonomische Gliederung von Qualifikationen nach DAUENHAUER (1981)
VertikaleĆDimensionenĆ (Lernzielstufen)
wachsendeĆKomplexität
HorizontaleĆDimensionen kognitiv
affektiv
Einsicht
Haltung
WissenĆ VerständnisĆ AnwendungĆ Beurteilung
Aufnahme-Ć ĆĆĆĆbereitschaftĆ Beantwortungs-Ć ĆĆĆĆbereitschaftĆ Bewertungs-Ć ĆĆĆĆbereitschaftĆ Verantwortungs-Ć ĆĆĆĆbereitschaft
sensumotorisch Tätigkeit BeachtungĆ HandhabungĆ AusführungĆ Beherrschung
Arbeitsperson
173
Die vertikale Dimension der Lernzielstufen stellt die Ausprägung der Qualifikationsmerkmale nach dem Grad der Beherrschung dar. So müssen bspw. sensumotorisch bei einem bestimmten Montagevorgang Reihenfolge und Typ einzelner Bewegungsabfolgen beachtet, die Handhabung notwendiger Arbeitsmittel geübt und die Ausführung einzelner Teilmontagen gelernt werden, bis schließlich der gesamte Montagevorgang beherrscht wird. Die Gesamtheit für ein Arbeitssystem notwendiger Qualifikation kann jedoch nur über die Verknüpfung der verschiedenen horizontalen Dimensionen erfasst werden. Zu den kognitiven Fähigkeiten zählen die Fähigkeiten, die die Wiedergabe von Wissen, das Verstehen von Sachverhalten oder das Bearbeiten von Problemen fordern (DUBS et al. 1977). Kognitive Fähigkeiten lassen sich nach SCHLEUCHER u. MASKOW (1983) in Kenntnisse und formale Fähigkeiten gliedern. Kenntnisse bilden die Summe aus dem Wissen und Verstehen von Sachverhalten. Sie werden durch das geistige Können bestimmt, das auf Ausbildung und Erfahrung sowie auf Denkfähigkeit beruht, soweit diese zur Erfüllung der Arbeitsaufgabe benötigt werden. Kenntnisse setzen sich u.A. aus Sach-, Maschinen- und Anlagen-, Verfahrens-, organisatorischen und allgemeinen Kenntnissen zusammen. Der Gebrauch von formalen Fähigkeiten zeigt sich beim Lösen von (beruflichen) Problemen und leitet zur selbständigen Weiterbildung an. Formale Fähigkeiten (z.B. Abstraktionsvermögen, Merkfähigkeit, Kreativität) beabsichtigen einen Übertragungseffekt, indem sie Qualifikationen fächerübergreifender Inhalte zur Verfügung stellen. Nach REFA (1991) steht „formal“ für selbständiges Gestalten. Es handelt sich also um Fähigkeiten des selbständigen Denkens und Handelns, Lernens und Entscheidens. Den formalen Fähigkeiten können weiterhin zugeordnet werden: Beurteilungsvermögen, Dekodierfähigkeit, Disponibilität, Flexibilität, Formen- und Zahlengedächtnis, Improvisationsfähigkeit, Koordinationsfähigkeit, Kreativität, Organisationstalent, Planungsfähigkeit, räumliches Vorstellungsvermögen, Sprachkompetenz und technisches Verständnis. Die Kategorie der vorwiegend affektiven Merkmale berücksichtigt Empfindungen, Gefühle, Interessen und Werthaltungen (DUBS et al. 1977). Beispiele für affektive Persönlichkeitsmerkmale sind Arbeitseifer, Arbeitsfreude, Entscheidungsbereitschaft, Gewissenhaftigkeit, Konzentrationsfähigkeit, Mobilität (gesellschaftlich und beruflich), Nachahmungsfähigkeit, Ordnungssinn, Pflichtbewusstsein, psychische Belastbarkeit, Pünktlichkeit, Sauberkeit, Selbständigkeit, Selbstkritik, Selbstvertrauen, Sicherheitsbewusstsein, Sorgfältigkeit, Verantwortungsbewusstsein, Wettbewerbsbereitschaft, Zähigkeit, Zielstrebigkeit und Zuverlässigkeit. SCHLEUCHER u. MASKOW (1983) differenzieren die Kategorie der affektiven Merkmale in soziale Qualifikationen und Arbeitshaltungen. Soziale Qualifikationen werden nach REFA (1991) als Fähigkeiten gesehen, mit anderen Menschen kommunikativ zusammenzuarbeiten und Verantwortung für
174
Arbeitswissenschaft
eine Gemeinschaft zu übernehmen. Somit betreffen sie den gesellschaftlichen Umgang sowie das Miteinander im beruflichen Alltag. Die Ausprägung der Arbeitshaltung („Arbeitshaltungsqualifikation“) kennzeichnet eine positive Einstellung zur Arbeit im Allgemeinen und zu einer konkreten Arbeitsaufgabe im Besonderen. Die dritte horizontale Dimension des Qualifikationsmodells betrifft die sensumotorischen Qualifikationen, die z.B. für feinmechanische Montagearbeiten besonders wichtig sind. Sensumotorische Leistungen erfordern keinen großen Energieumsatz, sondern sind durch die Koordination kleiner Muskelgruppen gekennzeichnet. Sie erfordern zudem eine besondere Geschicklichkeit. Nach LUCZAK (1983) sind sensumotorische Qualifikationen menschliche Arbeitsfunktionen, welche als Verhaltensweisen erlernt werden. Sensumotorische Tätigkeiten umfassen motorische, also bewegungsbedingte, sowie sensorische Komponenten. I.d.R. werden dabei hohe Anforderungen an die Abstimmung dieser Komponenten miteinander zur Koordination der Bewegungen gestellt. Sensumotorische Qualifikationen schließen damit die Steuerung muskulärer Bewegungsanteile ebenso ein wie die Aufnahme und die Verarbeitung der von den verschiedenen körperlichen Sensoren gelieferten Informationen (Kap. 3.3.2.3). Sensumotorische Qualifikationen beinhalten somit auch Aspekte des Reaktionsvermögens. Die Geschicklichkeit eines Menschen drückt sich allgemein durch seine Handfertigkeit und Körpergewandtheit aus. Dies bedeutet die Fähigkeit zur Ausübung bestimmter Arbeitstätigkeiten, die unter Beteiligung unterschiedlicher Körperglieder ausgeführt werden müssen. Die Tätigkeiten basieren hierbei nicht auf Maximalkraft, sondern auf Feingefühl. Geschicklichkeit beruht auf persönlichen Anlagen und spezifischen Lernprozessen. Sie äußert sich in der Sicherheit und Genauigkeit der Bewegungen des Körpers oder einzelner Gliedmaßen. Geschicklichkeit lässt sich entsprechend den bei den jeweiligen Arbeitsbewegungen beteiligten Körpergliedern unterscheiden. Es ergeben sich damit drei Ausprägungen: Handgeschicklichkeit ist definiert als Fähigkeit, Arm-, Hand- und Fingerbewegungen zielgerecht im richtigen Kraftund Zeitmaß auszuführen (z.B. für manuelle Montagetätigkeiten). Dementsprechend bezieht sich die Fußgeschicklichkeit auf Fußbewegungen (z.B. Pedalbewegungen beim Autofahren). Als (Ganz-)Körperbeherrschung wird die Fähigkeit bezeichnet, Kopf-, Rumpf- und Beinbewegungen zielgerecht im richtigen Kraft- und Zeitmaß auszuführen (z.B. Außenarbeiten im Anlagenbau). Als Reaktionsvermögen, das sich in Reaktionsfähigkeit und Reaktionsschnelligkeit einteilen lässt, kann man die Fähigkeit beschreiben, Sachverhalte zu erkennen und richtig zu beantworten, also die Fähigkeit, auf Anforderungen hin mit sensumotorischen Handlungen schnell und sicher zu reagieren. Eine strikte Trennung in die drei Bereiche kognitiver, affektiver und sensumotorischer Qualifikation lässt sich nicht durchhalten, genau genommen sind stets alle drei Bereiche angesprochen, wobei i.d.R. eine Dimension dominanten Charakter besitzt: Kognitive Prozesse werden affektiv gestützt und
Arbeitsperson
175
erfordern sensumotorische Fähigkeiten, sensumotorische Handlungen erfolgen wiederum unter der Kontrolle kognitiver Mechanismen und sind affektivmotivational begründet.
2.3.1.2
QualifikationenĆalsĆLernresultateĆ
Lernen ist das bewusste oder unbewusste Erwerben bestimmter Qualifikationen (LAURIG 1990). Dabei wird eine Art „Grundmuster“ eben dieser Qualifikationen erzeugt. Eine Verbesserung des Ablaufes ist dann durch regelmäßiges oder unregelmäßiges Wiederholen, also einer Übungsphase im Lernprozess zu erreichen. Die Entwicklung von Qualifikationen eines Individuums kann mit Hilfe von Lernkurven mathematisch beschrieben werden. Es gibt verschiedene LernkurvenModelle (siehe HIEBER 1991), die das betriebliche Lernen anhand verschiedener Variablen quantifizieren. Das sog. Lerngesetz der industriellen Produktion beschreibt einen gesetzesmäßigen Zusammenhang in allgemeiner Form, um verschiedene Größen in Beziehung zu setzen. Damit sind in erster Linie Vorgänge zu verstehen, die eine Verminderung des zur Herstellung einer Produktionseinheit notwendigen Inputs zur Folge haben. Konkret ist nach BAUR (1979) das Lerngesetz beschrieben als die „aus individuellen wie kollektiven Lernprozessen der am Produktionsprozess mitwirkenden Menschen resultierende, gesetzmäßige Abnahme des Fertigungsaufwandes je Fertigungseinheit mit zunehmender Anzahl der erzeugten Einheiten“. Dieser grundlegende Zusammenhang lässt sich in Form einer Potenzfunktion des Lernens wie folgt darstellen (HIEBER 1991): Y
A x b
(2.1)
Die logarithmierte Form ist auch vielfach anzutreffen: log Y
log A b log x
(2.2)
Y Faktoreneinsatzmenge oder Kostengröße für die im Rahmen der kumulierten Produktionsmenge zuletzt produzierte Einheit A Faktoreneinsatzmenge oder Kostengröße für die im Rahmen der kumulierten Produktionsmenge zuerst produzierte Einheit x kumulierte Produktionsmenge b Lernindex / Steigungsparameter (siehe dazu BAUR 1967). In der Arbeitswissenschaft werden die Größen entsprechend des sog. „Power Law of Practice“ konkretisiert (ROSENBLOOM et al. 1987). Dabei ergibt sich aus der obigen Gleichung die Funktion
Tn Tn T1 n a
T1 n a Zeit zur Ausführung einer Arbeit im n-ten Versuch Zeit zur Ausführung einer Arbeit nach dem ersten Versuch Anzahl der Versuche Steigungsparameter [0,2…0,6].
(2.3)
176
Arbeitswissenschaft
In Abb. 2.30 wird beispielhaft eine Lernkurve entsprechend des Power Law of Practice für eine sensumotorische Qualifikation aufgezeigt. Es wird der Lernkurvenverlauf für die Ausführungszeit für einen Arbeitszyklus bei der Montage von Vergaser-Klappenstutzen in Abhängigkeit der Gesamtzahl der Arbeitszyklen dargestellt (GREIFF 2001). Bis zur Erreichung der Endleistung von 110 Sekunden Montagezeit pro Stück sind ca. 3.000 Zyklen, d.h. montierte Teile, notwendig. Ein wichtiger Parameter dieser Kurve, die Anfangslernleistung, ist dabei (auch) abhängig vom Übungsstand der Arbeitsperson bei ähnlicher Verrichtung. I.d.R. gilt: Je weniger Vorkenntnisse der Lernende besitzt, desto höher ist die Ausführungszeit bei Übungsbeginn, desto stärker fällt die Lernkurve und desto größer ist die (relative) Leistungsverbesserung.
Abb. 2.30 Lernkurvenverlauf bei der Montage von Vergaser-Klappenstutzen (nach GREIFF 2001)
Für die Vorhersage der gesamten Übungs- oder Anlernzeit ist es wichtig, aus dem Verlauf der Lernkurve den Zeitpunkt zu schätzen, an dem die gewünschte Endleistung erreicht sein wird. Dieser ist u.A. abhängig von der Komplexität der Arbeitsaufgabe, der Arbeitsumgebung, den Vorkenntnissen der Arbeitsperson, ihren Eigenschaften und auch von der Übungsform. Bislang sind lediglich Prognoseverfahren für sehr einfache Tätigkeiten entwickelt worden, so dass man in der Praxis auf Erfahrungswerte angewiesen ist.
2.3.1.3
QualifizierungsmaßnahmenĆ
Qualifizierungsmaßnahmen für Arbeitspersonen werden üblicherweise in Anlehnung an die Lernsituation am Arbeitsplatz entwickelt. Die Lernmöglichkeiten orientieren sich arbeitsplatzbezogen an entsprechenden Lern- und Arbeitsaufgaben. In Tabelle 2.9 wird ein Überblick zu Methoden der Qualifizierung gegeben. Eine besondere Bedeutung kommt dabei der Vier-Stufen-
Arbeitsperson
177
Methode sowie der Leittextmethode zu, welche am häufigsten eingesetzt werden (BONZ 1999; SCHELTEN 2005). Tabelle 2.9: Methoden zur Qualifizierung (BONZ 1999) Überwiegend bezogen auf den motorischen Lernbereich, Bewegungsbereich
kognitiven Lernbereich, Verstandesbereich
Unterweiserzentriert
Anweisung
Vortrag
Unterweiser und Lernende beteiligt
Vier-Stufen-Methode
Betriebliches Lehrgespräch
Lernerzentriert
Leittextmethode Trainingsmethode
Handlungsorientiert
Simulation, Projektmethode
Fallstudie, Planspiel
Die Vier-Stufen-Methode stellt eine Erweiterung des Vormachens – Nachmachens dar. Die manuellen Tätigkeiten werden zunächst von Experten vorgemacht, woran anschließend die zu qualifizierenden Arbeitspersonen die entsprechenden motorischen Fertigkeiten durch Nachahmen erwerben und praktizieren. Es wird dabei ein Unterweisungsplan aufgestellt, in welchem die Arbeit in einzelne Lernabschnitte aufgeteilt wird. Weiter sind ergänzende Hinweise zum Arbeitsablauf und zur Begründung gegeben. Ebenso werden die Koordinationsphasen des motorischen Lernens (Bewegungsablauf erfassen, Bewegungsmuster festigen, Bewegung perfektionieren und automatisieren) berücksichtigt. Die Qualifizierungsmaßnahme läuft in vier Stufen ab: (1) Vorbereitung: Die zu qualifizierenden Arbeitspersonen werden auf das Ziel der Qualifizierung eingestellt, sowie sachliche Voraussetzungen geschaffen (2) Vorführung: Vormachen und Erklären der zu erlernenden Tätigkeit (3) Ausführung: Nachvollziehen des Arbeitsablaufes durch die Lernenden (4) Üben: Zum Abschluss der Unterweisung erfolgen mehrere selbstständige Ausführungen bis die Lernenden die Fertigkeiten entwickelt haben. Um komplexe oder langandauernde Tätigkeiten zu erlernen, ist die Gliederung eines gesamten Arbeitsablaufs in Teilbereiche hilfreich. Das Erlernen von Teilbereichen einer komplexen Tätigkeit wird von ROHMERT als Elemententraining bezeichnet (ROHMERT et al. 1971). Das Üben der Gesamtarbeit erfolgt in Form eines Ausdauertrainings, in welchem die Anzahl der lückenlos ausgeführten Gesamtarbeiten allmählich erhöht wird. Für sensumotorische Tätigkeiten können mit einem solchen Trainingsaufbau besondere Effekte erzielt werden. Bestimmte Bewegungselemente, z.B. das
178
Arbeitswissenschaft
Hinlangen, müssen nicht geübt werden, da mit der Übungszeit keine Übungseffekte zu erkennen sind. Bewegungselemente dieser Art würden beim Üben im Gesamtzusammenhang die Übungszeit ohne Nutzen verlängern. Für das Bewegungselement des Greifens kann jedoch ein großer Übungseffekt im Elemententraining erzielt werden. Die Leittextmethode orientiert sich an dem Gedanken, dass Leittexte als Hilfe und als Ausgangspunkt für selbstgesteuertes Lernen am Arbeitsplatz dienen sollten. Anhand von Leitfragen wird die selbstständige Bearbeitung eines Projektes angeregt und zu einer strukturierten Vorgehensweise angeleitet. Die Arbeitstätigkeit wird von der Arbeitsperson bzw. dem Lernenden also systematisch durchdacht. Ergänzende Hilfestellungen werden von einem Betreuer in beratender Weise gegeben. Der Lernende durchläuft dabei sechs Phasen einer vollständigen Handlung: (1) Information: „Was soll getan werden?“ (2) Planung der Vorgehensweise (3) Entscheidungen treffen in Rücksprache mit Betreuer (4) Ausführung (5) Kontrolle der Ausführung (6) Bewertung: Feedback des Betreuers. 2.3.2
Kompetenz
Der Kompetenzbegriff hat den betrieblichen sowie privaten Alltag erobert und wird dabei in unterschiedliche Bedeutungen und diversen historischen Ableitungen verwendet (LUCZAK u. FRENZ 2008). Im Folgenden wird der arbeitswissenschaftliche Verwendungszusammenhang des Kompetenzbegriffes dargestellt und erläutert, und es werden Möglichkeiten vorgestellt, Kompetenzen zu messen. Weiterhin wird auf Aspekte der Kompetenzentwicklung eingegangen. Ausgangspunkt hier ist die in Deutschland häufig verwendete Definition von Kompetenz nach WEINERT (2001). Danach sind Kompetenzen „die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“. Diese Definition entstand auf der Grundlage eines Gutachtens der OECD (Organisation for Economic Co-operation and Developement). Sie wurde im Zusammenhang mit der OECD-Studie DeSeCo (Definition and Selection of Competencies: Theoretical and Conceptual Foundations sowohl im deutschsprachigen Raum als auch auf internationaler Bühne umfangreich diskutiert und findet weltweit Anerkennung (FOSS u. KNUDSEN 1996; RYCHEN u. SALGANIK 2001; STERNBERG u. KAUFMAN 1998; PALINCSAR 1998).
Arbeitsperson
179
Ohne näher auf Differenzierungen und Kontroversen zum Kompetenzbegriff einzugehen, lassen sich einige konsensuale Merkmale dieses Konstrukts herausstellen (BRAND et al. 2005). Kompetenzen sind demnach subjektzentriert, d.h. sie werden in Bezug auf Menschen formuliert, die über diese Kompetenzen verfügen oder sich diese aneignen sollen. Weiterhin werden sie in Bezug auf abgegrenzte Leistungsbereiche formuliert, sind also performanzbezogen. Der Kompetenzbegriff ist darüber hinaus domänenspezifisch zu fassen, d.h. er bezieht sich auf abgegrenzte Gegenstandsbereiche, Problem- oder Handlungsfelder und setzt damit auch spezifisches Wissen und Können voraus. Kompetenzen implizieren also eine strukturierte Wissensbasis, wobei Kompetenzentwicklung somit immer auch Wissensentwicklung ist. Umgekehrt soll sich aus Wissenserwerb eine Kompetenzerweiterung ergeben. Kompetenzen sind daher wissensbasiert sowie lern- und erfahrungsabhängig, wobei angenommen werden kann, dass sich die Kompetenzentwicklung in mehreren Entwicklungsstufen bzw. -phasen vollzieht. Zudem umfasst dieses Konstrukt nicht nur kognitive und psychomotorische Aspekte, sondern auch motivationale, soziale und volitionale, es kann also als mehrdimensional bezeichnet werden. Weiterhin umfasst der Kompetenzbegriff die vorhandenen subjektiven Selbstorganisations-, Handlungsund Persönlichkeitsdispositionen einer Arbeitsperson. Schließlich ist es sinnvoll, Niveaustufen der Kompetenz einzuführen, da anzunehmen ist, dass Kompetenzen in unterschiedlichen Ausprägungen vorhanden sind.
2.3.2.1
KompetenzdimensionenĆ
Zur Differenzierung von Kompetenzdimensionen sind in unterschiedlichen Anwendungsbereichen zahlreiche theoretische Modelle entwickelt worden. Puristische Modelle unterscheiden auf Grund der Subjekt-Objekt-Beziehung oft nur zwischen Fach-, Human- und Sozialkompetenz. Z.B. wird im Modell der beruflichen Handlungskompetenz nach BADER u. MÜLLER (2002) basierend auf der in der pädagogischen Anthropologie üblichen Unterscheidung in Sach-, Sozial- und humane Selbstkompetenz differenziert. Die Fachkompetenz ergibt sich auf Grund der Subjekt-Objekt-Beziehungen, die Sozialkompetenz auf Grund der Beziehung zwischen unterschiedlichen Subjekten, während die Personalkompetenz Aspekte der Kompetenz bezogen auf das eigene Subjekt beschreibt (LUCZAK u. FRENZ 2008). Auch das Modell von SONNTAG u. SCHAPER (1999) greift die Subjekt-ObjektRelationen auf, unterscheidet aber aufgrund des besonderen Applikationszusammenhangs, nämlich Unternehmensprozesse kreativ zu gestalten, zwischen vier Kompetenzarten: personale Kompetenz, aktivitäts- und umsetzungsorientierte Kompetenz, fachlich-methodische Kompetenz sowie die sozial-kommunikative Kompetenz.
180
2.3.2.2
Arbeitswissenschaft
KompetenzniveausĆ
Neben einer Unterscheidung in Kompetenzdimensionen liegen Kompetenzen in unterschiedlichen qualitativen und quantitativen Ausprägungen vor, so dass Niveaustufen der Kompetenz zu definieren sind und diese auf unterschiedlichen Ebenen erfasst werden sollten. Exemplarisch wird in der folgenden Abb. 2.31 eine Möglichkeit aufgezeigt, in Abhängigkeit vom Verwendungszusammenhang zwischen unterschiedlichen Niveaustufen zu unterscheiden (BADER 2004).
Gestalten Systematisches Problemlösen (Experiment und Konstruktion) Sprache Norm- und Formalsprache (Mathematisierung) Verstehen Theoriebildung
Gestalten Lösungsstrategien Sprache
Fachsprache
Verstehen Modellbildung (z. B. System)
Gestalten Werkregeln Sprache
Werkstattsprache
Verstehen Werkstatterfahrung
Gestalten Pragmatische Lösungen Sprache
Umgangssprache
Verstehen Alltagserfahrung
Abb. 2.31 Spiralmodell nach BADER (2004)
Das Spiralmodell nach Abb. 2.31 nimmt Niveaustufen als verschiedene hintereinander ablaufende Entwicklungsstufen im didaktischen Zusammenhang in den Blick. Die einzelnen Niveaustufen werden dabei hierarchisch abgearbeitet und stellen verschiedene Grade der Kompetenzausprägung dar. Das Modell beschreibt dabei die Kompetenzentwicklung von der pragmatischen zur systematischen Lösung und von der Alltagserfahrung zur Theoriebildung.
Arbeitsperson
2.3.2.3
181
KompetenzmessungĆundĆ-entwicklungĆ
Im Zusammenhang mit dem Kompetenzbegriff ergibt sich auch die Frage nach der empirischen Erhebung von Kompetenzen. Wie können Kompetenzen ermittelt werden, wenn sie doch innere, unbeobachtbare Voraussetzungen, Fähigkeiten oder Veranlagungen des selbst organisierten Handelns einer Person sind? Kompetenz ist also stets eine Form von Zuschreibung (Attribution) aufgrund eines Urteils des Beobachters: Man schreibt dem physisch und geistig selbst organisiert Handelnden aufgrund bestimmter, beobachtbarer Verhaltensweisen bestimmte messbare Merkmale als Kompetenzen zu (ERPENBECK u. ROSENSTIEL 2003). Die Messung von Kompetenz kann auf Basis subjektiver Einschätzung erfolgen, wie auch auf Grundlage objektiver Verfahren. Zur Verfügung stehende Tests unterteilen sich in quantitative und qualitative Methoden, wobei quantitative Methoden zumeist eher objektiv orientiert sind. Die Übergänge sind jedoch fließend. Die ausgewählten Tests müssen hinsichtlich bekannter Gütekriterien, wie Objektivität, Reliabilität und Validität (siehe Kap. 1.5.1.5), bewertet werden. Ein Standardwerk ist das „Handbuch Kompetenzmessung“ von ERPENBECK u. ROSENSTIEL (2003). In diesem Handbuch wird das Erkennen, Charakterisieren und Messen von Kompetenzen beschrieben und richtet sich dabei an die Anwendung in der betrieblichen und pädagogischen Praxis, z.B. im Personalmanagement. Das Handbuch ist mit zahlreichen Beispielen unterlegt und fächert das gesamte Spektrum der Mess- und Erfassungsverfahren auf: von Verfahren aus der betrieblichen und pädagogischen Praxis bis zu Verfahren, die derzeit noch erprobt werden. In einem vergleichenden Ausblick wird der Bezug zu Methoden hergestellt, wie sie in modernen psychologischen Diagnostik-, Personalauswahl und Arbeitsanalyseverfahren angewandt werden. Die Kompetenzmessung bietet die Möglichkeit, zu einem bestimmten Moment die Kompetenzen einer Arbeitsperson zu ermitteln und zu evaluieren. Demgegenüber integriert die Kompetenzentwicklung einen zeitlichen Aspekt in die Momentaufnahmen der Kompetenzmessung. Zudem lässt sich durch Methoden und Verfahren der Kompetenzentwicklung auch die individuelle Kompetenzentwicklung einer Arbeitsperson über einen bestimmten Zeitraum analysieren und über diese Zeitspanne als einen Tätigkeitsprozess festhalten und beschreiben. Die kann z.B. vor und nach einer Aus- oder Weiterbildungsmaßnahme, über eine Ausbildungsspanne oder auch über ein ganzes Leben erfolgen. Im Laufe dieser Zeitspanne eignet sich eine Person Kompetenzen an, verknüpft diese, löscht, regeneriert oder formt sie um (KIRCHHÖFER 2004; ERPENBECK u. HEYSE 2007). Kompetenzen sind Lernresultate, dementsprechend besteht auch ein offensichtlicher Zusammenhang zwischen selbstorganisiertem Lernen, einem persönlichen Lernstil und Kompetenzentwicklung. Die Kompetenzentwicklung beinhaltet für jede Arbeitsperson individuelle, selbstorganisierte Lernprozesse, welche einer eigenen Logik und Ordnungsparametern (Regularitäten, Werte) folgen. Selbstorganisiertes Denken und Handeln erfordern dabei ein ständiges
182
Arbeitswissenschaft
Entscheiden. Die reinen Fähigkeiten, Fertigkeiten und das Wissen reichen dafür jedoch nicht aus, deshalb sind diese in den zu bewältigenden Entscheidungssituationen zu bewerten. Zur Entwicklung von Kompetenz sind also auch Wertvorstellungen notwendig. Es reicht jedoch nicht aus, dass die Arbeitsperson diese Werte nur erlernt, sie muss diese auch verinnerlichen und aus sich heraus diese Wertvorstellungen „leben“. Einen umfassenden Ansatz zu Erfassungs- und Darstellungsmethodik bieten sog. kompetenzbiographische Verfahren (ERPENBECK u. HEYSE 2007). Diese messen über eine gewisse Zeitspanne die qualitative und quantitative Entfaltung beruflicher Handlungskompetenz als Netzwerk fachlicher, methodischer, sozialer und personaler Einzelkompetenzen in der stets einzigartigen, lebenslangen realbiographischen Entwicklung. Solche Verfahren fokussieren dabei bestimmte, die Arbeitsperson prägende Arbeitssituationen und Ereignisse, die für dessen Kompetenzentwicklung wichtig waren sowie für die weitere Kompetenzentwicklung förderlich sind. Es gibt eine Reihe von theoretisch hinterlegten empirischen Untersuchungen und praktischen Umsetzungen, welche zeigen, dass sich mit den kompetenzbiographischen Verfahren gezielt Kompetenzentwicklungsprozesse bspw. in Unternehmen erforschen lassen (ERPENBECK u. HEYSE 2007). Die vorhandenen Instrumente nutzen bekannte Verfahren der Kompetenzmessung und bieten außerdem konkrete Methoden der Kompetenzanalyse sowie entsprechende Erhebungs-, Auswerte- und Evaluationstechniken. Zudem lassen sich Vorschläge für den Einsatz selbstorganisierter Strategien der Kompetenzentwicklung in der Praxis ableiten sowie künftige Kompetenzentwicklungen initiieren. Schließlich lassen sich wertvolle Hinweise auf die Einbeziehung kompetenzfördernder Rahmenbedingungen in die berufliche Bildung und für die Ausnutzung von entsprechenden Entwicklungspotentialen des sozialen Umfelds ableiten. Kompetenzbiographische Verfahren sind also nicht nur für Forschungszwecke einsetzbar, sie liefern auch Führungskräften im Unternehmen, Bildungspraktikern und Trainern unmittelbar nützliche Resultate. 2.4
Anpassungsmerkmale
Arbeitstätigkeiten sind meist bewusste Handlungen und werden durch Motive, Ziele und Wissen reguliert. Dabei wirken tätigkeitsleitende Gedächtnisinhalte oder Modelle der Umwelt und des eigenen Handelns auf diese Regulation ein (siehe Kap. 1.5.1.3). Die psychische Handlungsregulation ist bestimmend für die Tätigkeiten des arbeitenden Menschen. Beeinflusst wird die Regulation durch bestimmte Anreize wie zum Beispiel Entgelt, Entfaltungsmöglichkeiten und „Wertigkeit“ der Arbeit. Die Beziehung der Motivation zu Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft hat anwendungsorientierte Arbeitswissenschaftler angeregt, die psychische Handlungsregulation den betrieblichen Zielen nutzbar zu machen.
Arbeitsperson
183
Die Erforschung der Motive der Arbeitstätigkeit und der Arbeitszufriedenheit hat dabei nicht nur anwendungsbezogene und leistungssteigernde Erkenntnisse gebracht, sondern auch Strukturen der allgemeinen Regulation menschlichen Handelns aufgedeckt. Die beiden Konstrukte Arbeitsmotivation und Arbeitszufriedenheit haben gemeinsam, dass sie eine Einstellung der berufstätigen Menschen zu ihrer Arbeit bzw. zu ihrem Betrieb beschreiben. Ebenso werden beiden Konzepten positive Auswirkungen auf die Arbeit zugeschrieben: Eine hohe Arbeitsmotivation wird immer auch mit einer hohen Leistungsbereitschaft gleichgesetzt, ebenso wie eine hohe Arbeitszufriedenheit viele positive Auswirkungen auf Arbeitsmenge und -qualität verspricht. Auch für die Beschäftigten selbst wird ein positiver Effekt einer hohen Arbeitsmotivation und Arbeitszufriedenheit bspw. in Bezug auf eine verbesserte Stressresistenz, geringere Unlustgefühle bis hin zu vermehrten sozialen Kontakten angenommen. Wenngleich diese Urteile durchaus plausibel erscheinen, muss einschränkend darauf hingewiesen werden, dass die postulierten Wirkungen nur zum Teil als theoretisch fundiert und empirisch bestätigt gelten können. Arbeitszufriedenheit und Arbeitsmotivation sind zwei prinzipiell getrennte Konstrukte, die deshalb im Weiteren auch getrennt behandelt werden. Ihre häufige gemeinsame Nennung ist auf die ihnen zugeschriebenen positiven Auswirkungen zurückzuführen. Weiterhin fanden sich zwischen beiden Konstrukten in zahlreichen Untersuchungen signifikante Zusammenhänge. 2.4.1
2.4.1.1
Arbeitsmotivation
Definition und Relevanz
Die Frage nach der Motivation impliziert die Frage nach den Gründen für ein bestimmtes Verhalten. Warum verfolgt ein Mensch mit welcher Anstrengung und Ausdauer ein Ziel? Diese und verwandte Fragen versucht die Motivationspsychologie zu beantworten, indem sie zielorientiertes Handeln analysiert. Es wird davon ausgegangen, dass zielgerichtetes Handeln von verschiedenen Faktoren abhängt bzw. beeinflusst wird: Zum einen muss eine Person über die relevanten Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten (Können, i.S.v. Handlungsfähigkeit) verfügen. Zum anderen muss die Person bereit sein, ihr Können auch einzusetzen (Wollen, i.S.v. Handlungsbereitschaft). Neben personenbezogenen Einflussfaktoren (z.B. Motive, Fähigkeiten) spielen auch situationsbezogene Faktoren (z.B. Handlungsmöglichkeiten, Anreize) eine Rolle (BRANDSTÄTTER 1999; BRANDSTÄTTER u. SCHNELLE 2007). So können beispielsweise ungünstige situative Bedingungen zielgerichtetes Handeln verhindern. NERDINGER et al. (2008) liefern folgende Definition: „Motivation ist das Produkt aus individuellen Merkmalen von Menschen, ihren Motiven, und den
184
Arbeitswissenschaft
Merkmalen einer aktuell wirksamen Situation, in der Anreize auf die Motive einwirken und sie aktivieren.“ Nach HECKHAUSEN u. HECKHAUSEN (2005) bezeichnet der Begriff Motivation eine momentane Ausrichtung auf ein Handlungsziel. Motive sind zeitlich relativ überdauernde psychische Dispositionen, die für einzelne Personen charakteristische Ausprägungen haben (siehe STAEHLE 1999; SCHNEIDER u. SCHMALT 2000). Als Anreize werden Merkmale der Situation bezeichnet, die Motive anregen können. Anreize fordern dazu auf, bestimmte Handlungen auszuführen und andere zu unterlassen (NERDINGER et al. 2008). Bei der Arbeitsmotivation wird die Frage gestellt, welche (Arbeits-) Bedingungen gegeben sein sollten, damit sich die Beschäftigten die Betriebsziele zueigen machen und diese auch verfolgen: Es steht das Leistungsbild im Vordergrund. Wie bei der Arbeitszufriedenheit, erhofft man sich auch aus einer erhöhten Arbeitsmotivation positive Auswirkungen für den Betrieb: bspw. geringere Fehlzeiten, sorgsamerer Umgang mit Arbeitsmitteln, erhöhtes Commitment, geringere Fluktuation u.v.m. (SIX u. FELFE 2004). 2.4.1.2
TheorienĆderĆArbeitsmotivationĆ
Es gibt zahlreiche Theorien zur Erklärung von Motivation. Ihre Ursprünge liegen in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts. Ähnlich wie beim Konstrukt Arbeitszufriedenheit stieß auch das Konstrukt der Arbeitsmotivation auf sehr großes Interesse. Die Theorien lassen sich in Anlehnung an BRANDSTÄTTER u. FREY (2004) in drei Klassen gliedern: 1) Bedürfnis-Motiv-Wert-Theorien (oder auch Inhaltstheorien), 2) Theorien der Zielwahl und 3) Theorien der Zielrealisierung. (Die beiden letzten Kategorien werden auch als Prozesstheorien bezeichnet. Ausführliche Darstellungen der im Folgenden dargestellten Ansätze sowie weiterer Motivationstheorien finden sich in HECKHAUSEN u. HECKHAUSEN 2006; KEHR 2004; VANCOUVER u. DAY 2005). Bedürfnis-Motiv-Wert-Theorien Das Ziel, das einen Menschen zum Handeln bringt, hat gemäß den BedürfnisMotiv-Wert-Theorien seinen Ursprung in überdauernden Bedürfnissen, Motiven und Werten der Person. Ein bekannter Vertreter dieser Theorie ist MASLOW (1954). Er postuliert, dass der Mensch Bedürfnisse hat und ordnet diese Bedürfnisse in Form einer Pyramide an. Nur, wenn eine Bedürfnisstufe befriedigt ist, wird die Befriedigung der in der Hierarchie nächsten Stufe durch Handlung in Angriff genommen werden (Abb. 2.32). Sind die Bedürfnisse 1-4 nicht erfüllt, dann wird der Mensch durch seine Handlungen versuchen, diese der Reihe nach zu befriedigen. Das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung wird nie gänzlich gestillt. Die Theorie von Maslow besitzt eine hohen Bekanntheitsgrad, ist allerdings von wissenschaftlicher Seite vielfach kritisiert worden. Bemängelt wird z.B. die vage Definition der verwendeten Begriffe, die in der Folge auch dazu geführt hat,
Arbeitsperson
185
dass die empirische Überprüfung bislang unbefriedigend geblieben ist (HECKHAUSEN u. HECKHAUSEN 2006).
Die einzelnen Bedürfnisstufen lauten: (1) Physiologische Grundbedürfnisse (z.B. nach Nahrung und Wärme) (2) Sicherheit (3) Soziale Beziehung (4) Anerkennung und Status (5) Selbstverwirklichung.
BedürfnisĆĆ nachĆSelbst-Ć verwirklichungĆ Ć AchtungsbedürfnisseĆ Ć SozialeĆBedürfnisseĆ Ć SicherheitsbedürfnisseĆ Ć PhysiologischeĆBedürfnisse Abb. 2.32: Maslow´sche Bedürfnispyramide
Bei der Frage nach der Arbeitsmotivation geht es weniger um Ziele, die sich die arbeitende Person selbst setzt, sondern um fremdgesetzte Ziele, also Ziele der Organisation. Damit ein Mensch sich dieser Ziele annimmt, müssen die gestellten Aufgaben auch persönliche Motive befriedigen und mit diesen – zumindest zum Teil – übereinstimmen. Durch neuere Befunde, die diese These stützen (siehe KEHR 2004), gewinnt die Motivtheorie von (McCLELLAND 1985) an Bedeutung (BRANDSTÄTTER u. SCHNELLE 2007). McCLELLAND benennt drei zentrale Motive: 1) das Leistungsmotiv, 2) das Machtmotiv und 3) das Anschlussmotiv. Die Ausprägungen dieser Motive variieren interindividuell. Menschen mit einem starken Leistungsmotiv bevorzugen Aufgaben, bei denen sie durch ihre Fähigkeiten und ihren Einsatz erfolgreich sein können. Selbstvertrauen, Eigeninitiative und Erfolgssuche sind kennzeichnend für diese Orientierung. Menschen mit einem ausgeprägten Anschlussmotiv streben nach positiven sozialen Beziehungen. Gewünscht sind insbesondere Akzeptanz,
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Arbeitswissenschaft
Beliebtheit bei Anderen sowie Kooperation und Harmonie. Ein hohes Machtmotiv kommt in dem Bestreben zum Ausdruck, die Verhaltensweisen anderer zu beeinflussen. Mit dieser Orientierung sind der Wunsch nach Status und Aufstieg verbunden (HENTZE et al. 2005). Ein Ergebnis einer Studie von McCLELLAND u. BOYATZIS (1982) beim amerikanischen Konzern AT&T weist darauf hin, dass ein für den wirtschaftlichen Erfolg optimales Organisationsklima dann zustande kommt, wenn leitende Manager ein hohes Leistungsmotiv, kombiniert mit einem starkt ausgeprägten Machtmotiv und einem niedrigen Anschlussmotiv besitzen (KÜHN et al. 2006). Motive lassen sich mit dem sog. Thematischen Auffassungstest (TAT) messen, bei dem zu vorgegebenen Bildkarten Phantasiegeschichten zu schreiben sind (BRUNSTEIN u. HOYER 2002). Zur Erhebung der Leistungsmotivation stehen darüber hinaus standardisierte Fragebögen zur Verfügung, wie bspw. das Leistungsmotivationsinventar (LMI) von SCHULER et al. (2001). Kognitive Theorien der Zielwahl Diese Theorien werden auch Erwartungs-mal-Wert-Theorien genannt. Sie postulieren, dass ein Mensch seine Handlungsziele bewusst wählt. Hierbei wird die Attraktivität eines Ziels mit der Wahrscheinlichkeit, dieses zu erreichen, multipliziert. Die Attraktivität eines Ziels wird als Wert bezeichnet; die Wahrscheinlichkeit es zu erreichen wird Erwartung genannt. Als einer der wichtigsten Vertreter dieser Theorie ist ATKINSON (1953) zu nennen, der das Risikowahl-Modell entwickelte. Dieses Modell hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem klassischen Expected-Utility-Modell zur Erklärung menschlichen Entscheidungsverhaltens, das in Kapitel 3.3.2.2.2.1 zu finden ist. Das Risikowahl-Modell ermöglicht eine Vorhersage darüber, welche Aufgabe eine Person wählt, wenn sie die Wahl zwischen mehreren Aufgaben unterschiedlichen Schweregrades hat. Das Modell geht davon aus, dass die handelnde Person eine subjektive Erfolgswahrscheinlichkeit und eine subjektive Misserfolgswahrscheinlichkeit bewertet. Diese beiden Aspekte werden beeinflusst von der objektiven Aufgabenschwierigkeit und der eigenen Fähigkeit. Der Wert eines Ziels wird dabei bestimmt durch ein Gefühl des Stolzes bei Erreichung des Ziels bzw. ein Gefühl der Scham, wenn das Ziel nicht erreicht wird. Je geringer die Erfolgswahrscheinlichkeit, das Ziel zu erreichen, umso stolzer bzw. weniger betroffen ist die Person laut Atkinson bei einem Erfolg bzw. Misserfolg. Eine weitere wichtige Rolle spielen annäherungsorientierte Erfolgsmotive und vermeidungsorientierte Misserfolgsmotive. Erfolgsmotivierte Menschen wählen laut Atkinson am ehesten Aufgaben mit mittlerer Schwierigkeit während misserfolgsmotivierte Menschen Leistungssituationen am liebsten ganz meiden. Mittelschwere Aufgaben werden von misserfolgsmotivierten Menschen am stärksten vermieden; sie entscheiden sich entweder für anspruchslose oder jedoch für viel zu schwierige Aufgaben, was sich negativ auf ihre Leistungsfähigkeit auswirken kann (BRANDSTÄTTER u. SCHNELLE 2007).
Arbeitsperson
187
Um die vielfältigen Anreize einer gegebenen Entscheidungsalternative berücksichtigen zu können, kann VROOMs Valenz-InstrumentalitätsErwartungstheorie (1964), kurz VIE-Modell genannt, herangezogen werden (Abb. 2.33). Es geht dabei darum, Entscheidungen für die Wahl von Handlungsalternativen vorherzusagen (ROSENSTIEL 2007). Dabei wird zwischen der Ergebniserwartung, also dass man es sich zutraut, eine Handlung erfolgreich abzuschließen, und der Instrumentalitätserwartung, also von der Erwartung weiterer Folgen des Ergebnisses, deren Eintreten normalerweise nicht innerhalb der eigenen Kontrolle liegen, unterschieden. Ob eine Handlung ausgeführt wird, hängt also sowohl von der subjektiven Erfolgswahrscheinlichkeit als auch von der Instrumentalitätserwartung ab. Ein Motivationsmangel kann folglich unterschiedliche Gründe haben: Er könnte an einer geringen Ergebniserwartung liegen (die Person traut sich eine Aufgabe nicht zu), an einer fehlenden Instrumentalität für hohe Leistung (es bringt nichts, sich anzustrengen) oder aber an einer geringen Valenz der Ergebnisfolgen (die Ergebnisfolgen sind für den Ausführenden bspw. nicht attraktiv). Diese differenzierte Betrachtung von Anreizen und Erwartungen bietet gute Ansatzmöglichkeiten, um motivationale Probleme am Arbeitsplatz zu diagnostizieren und gestaltend einzugreifen (BRANDSTÄTTER u. FREY 2004).
Instrumentalitätserwartung
Ergebniserwartung
Leistungsverhalten
Leistungsergebnis
Valenz
Folge a Folge g b ...
Bewertung a Bewertungg b ...
Weitere Ergebnisse und Folgen
Abb. 2.33: Das VIE-Modell von VROOM (1964), (aus BRANDSTÄTTER u. SCHNELLE 2007)
Volitionale Theorien der Zielrealisierung Volitionale Theorien der Zielrealisierung befassen sich mit der Frage, welche Bedingungen, Strategien und Mechanismen die Realisierung von gewählten Handlungszielen fördern (BRANDSTÄTTER u. SCHNELLE 2007). Die sog. Zielsetzungstheorie von LOCKE u. LATHAM (2002) soll hier beispielhaft beschrieben werden (siehe auch Kap. 5.4.2.3). Die Autoren richteten bei ihren Studien besonderes Augenmerk darauf, welche Merkmale ein Ziel aufweisen muss, um leistungsfördernd zu sein. Die Hauptannahme der Zielsetzungstheorie ist, dass anspruchsvolle, herausfordernde und präzise formulierte, spezifische Ziele zu höheren Leistungen anregen als Ziele, die vage formuliert und leicht zu erreichen sind.
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Arbeitswissenschaft
Ziele als bewusst vorgestellte Ergebnisse des Handelns lösen volitionale Prozesse (Willensprozesse) aus, die zu ihrer Realisierung beitragen (siehe NERDINGER 2006; NERDINGER et al. 2008; BRANDSTÄTTER u. SCHNELLE 2007): Herausfordernde, spezifische Ziele bestimmen durch die Steuerung der Aufmerksamkeit (z.B. auf relevante Informationen) die Richtung des Handelns, sie mobilisieren die Anstrengung (Intensität) und sie können die Ausdauer erhöhen, mit der Handlungen über die Zeit aufrechterhalten werden (vorausgesetzt, es bestehen keine zeitlichen Vorgaben). Sie können sich außerdem mittelbar auf die Leistung auswirken, indem sie die Suche nach geeigneten Handlungsstrategien fördern. Die Wirksamkeit von Zielen hängt von verschiedenen Moderatorvariablen ab. Zu nennen sind insbesondere die Zielbindung (Gefühl der Verpflichtung gegenüber einem Ziel), die Selbstwirksamkeit (aufgabenspezifisches Selbstvertrauen), die Rückmeldung (über den Stand der Zielverfolgung) und die Aufgabenstruktur bzw. -komplexität. Die Theorie der Zielsetzung konnte in zahlreichen Studien empirisch bestätigt werden (WEGGE 2004; NERDINGER et al. 2008). 2.4.2
2.4.2.1
Arbeitszufriedenheit
DefinitionĆundĆRelevanzĆ
Der Begriff Arbeitszufriedenheit ist ebenso vielfältig wie die zahlreichen Publikationen zum Thema. So verwundert es nicht, dass in der gängigen Literatur viele verschiedene Definitionen und Begriffsbestimmungen parallel verwendet werden. Gemeinsam ist allen Definitionen, dass Arbeitszufriedenheit als ein hypothetisches Konstrukt verstanden wird. Als Übersetzung des englischen Begriffs job satisfaction hat sich im deutschen Sprachraum der Begriff Arbeitszufriedenheit durchgesetzt. Der Terminus steht für die „Zufriedenheit mit einem gegebenen betrieblichen Arbeitsverhältnis“ (BRUGGEMANN et al. 1975). Ausgeschlossen davon sind jedoch die Begriffe Berufszufriedenheit oder Arbeitsklima. Weitere Begriffe aus der englischsprachigen Fachliteratur sind job attitude, morale und vocationale satisfaction. Diese Termini werden teilweise synonym für Arbeitszufriedenheit gebraucht, teilweise werden sie jedoch auch zur definitorischen Abgrenzung von job satisfaction verwendet und stehen damit für Konzepte, die dem Bereich der job satisfaction zwar zugeordnet werden können, jedoch nicht gleichzusetzen sind. Bei NEUBERGER u. ALLERBECK (1978) ist eine sehr umfangreiche Abbildung der in der Literatur vorzufindenden Definitionen und Beschreibungen von Arbeitszufriedenheit und ihrer Bedeutung zu finden. So definiert Neuberger Arbeitszufriedenheit im Zuge des Entwurfs eines Instrumentes zur Bewertung vorhandener Arbeitszufriedenheit als ein einstellungsbezogenes Konstrukt: „Arbeitszufriedenheit ist die kognitiv-evaluative Einstellung zur Arbeitssituation“ (NEUBERGER u. ALLERBECK 1978). Eine allgemeinere Definition von
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Arbeitszufriedenheit schlagen BRUGGEMANN et al. (1975) vor: Der Terminus „Arbeitszufriedenheit“ - entsprechend dem englischen Analogon zu „job satisfaction“ - ist zu sehen als „Zufriedenheit mit einem gegebenen (betrieblichen) Arbeitsverhältnis“. „Arbeitszufriedenheit“ bezeichnet damit eine Attitüde, die das Arbeitsverhältnis, mit allen seinen Aspekten, hinsichtlich der Beurteilungsdimension „zufrieden-unzufrieden“ betrifft. LOCKE (1976, zitiert nach ROSENSTIEL 2003) rückt in seiner Definition die Emotionen in den Mittelpunkt: Arbeitszufriedenheit bezeichnet einen „positiven emotionalen Zustand, der sich aus der Bewertung der eigenen Arbeit und der Arbeitserlebnisse der Person ergibt“. SIX u. FELFE (2004) konstatieren die in der Literatur überwiegend vertretene Meinung, dass „Arbeitszufriedenheit die Einstellung des Mitarbeiters gegenüber seiner Arbeit insgesamt oder gegenüber einzelnen Facetten der Arbeit erfasst“. Der Begriff der Arbeitszufriedenheit wird sowohl in wissenschaftlichen Publikationen als auch in populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen und im Alltagsgebrauch sehr häufig genannt. Die wissenschaftliche Forschung zur Arbeitszufriedenheit begann im 20. Jahrhundert und das Interesse daran ist bis heute ungebrochen, wie die zahlreichen Untersuchungen zum Thema belegen. Das hohe Interesse ist vor allem auf die Untersuchung von Zusammenhängen zwischen der Arbeitszufriedenheit und Faktoren wie bspw. Leistung, Fehlzeiten, Commitment, Fluktuation, Produktivität etc. zurückzuführen. Arbeitszufriedenheit soll als abhängige oder unabhängige Variable in Bezug auf die einzelnen Faktoren definiert werden und es sollen Interventionsstrategien identifiziert werden, die die Arbeitszufriedenheit erhöhen können. So sollen die postulierten positiven Auswirkungen messbar gemacht werden. Erhöhte Arbeitszufriedenheit könnte für die Arbeitsperson z.B. eine Verbesserung der Gesundheit, eine Steigerung des Selbstwertgefühls, mehr Freude bei der Arbeit u. v. m. hervorrufen. Auf Seiten des Betriebs wäre eine Verbesserung der Situation durch sinkende Fehlzeiten, weniger Fluktuation sowie steigende Leistungen u.a.m. möglich. Es kann also von einer „Win-Win-Situation“ für den Betrieb und die Arbeitsperson als Folge einer Erhöhung der Arbeitszufriedenheit gesprochen werden. Viele der postulierten Zusammenhänge konnten allerdings nicht eindeutig nachgewiesen werden. Ein Mangel an Vergleichbarkeit der Studien zum Thema, bspw. aufgrund der Verwendung unterschiedlicher Messinstrumente sowie Analysen im Querschnitt statt im Längsschnitt tragen ebenso zu diesem Zustand bei wie Mängel bei der Erhebung der unabhängigen Variablen. Leistung wird bspw. häufig nicht auf der Individualebene erhoben, sondern durch einen Vorgesetzen bewertet. Unterschiedliche Modellvorstellungen innerhalb der Forschungsgemeinschaft tragen ebenfalls zur mangelnden Belegbarkeit der Zusammenhänge bei. Einflussfaktoren der Arbeitszufriedenheit sind neben Arbeitsumständen und -bedingungen auch Personen, bzw. Personengruppen mit ihren Erwartungen und Arbeitszielen. Diese bestimmen die Wertestruktur und die Zusammenarbeit, den
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Führungsstil und das Arbeitsklima. Erwartungen, Bedürfnisse und Werte der Arbeitsperson sind bedeutsam, da im Wesentlichen durch sie das Anspruchsniveau für das Zufriedenheitsgefühl der Einzelperson festgelegt wird. Als miteinander verflochtene Determinanten der Arbeitszufriedenheit sind folglich situative und persönliche Faktoren zu unterscheiden. Die situativen Faktoren sind zum Beispiel physiologische Faktoren am Arbeitsplatz, Vorgesetztenverhalten und Entgeltstrukturen, Arbeitsbelastung sowie Inhalte der Tätigkeit. Ebenfalls konjunkturelle, branchenspezifische und familiäre Einflüsse können hier genannt werden (FERREIRA 2007a). Die persönlichen Determinanten der Arbeitszufriedenheit beziehen sich auf die Charakteristika der Persönlichkeit, die Fähigkeiten der Person und auf deren Anspruchsniveau. Soll also von bestimmten Merkmalen der Arbeitssituation auf Konsequenzen für die Arbeitsperson und ihr Verhalten geschlossen werden, müssen die Erfahrungen der Arbeitsperson, das, woran sie sich schon gewöhnt hat, Menschen mit denen sie sich vergleicht und ihre Handlungsalternativen mit einbezogen werden.
2.4.2.2
MessungĆundĆBeurteilungĆ
Üblicherweise wird Arbeitszufriedenheit aus Gründen der Praktikabilität schriftlich mithilfe eines Fragebogens erhoben und beurteilt. Mithilfe von Fragebögen kann eine große Anzahl an Beschäftigten effizient und vergleichbar befragt werden. Ein Fragebogen kann durch die vorgegebenen Antworten objektiv und ökonomisch ausgewertet werden. Zur Fragebogen-gestützten Messung der Arbeitszufriedenheit gibt es eine Fülle von Instrumenten. In einer Studie von FERREIRA (2007b) konnten 307 deutschsprachige Fragebögen ermittelt werden. Allerdings genügt eine Vielzahl der dort recherchierten Fragebögen nicht den wissenschaftlichen Anforderungen an Erhebungsinstrumente, bspw. in Bezug auf Reliabilität, Objektivität und Validität. Im Folgenden sollen drei der im deutschsprachigen Raum akzeptierten und häufig eingesetzten Erhebungsinstrumente vorgestellt werden: Skala zur Messung der Arbeitszufriededenheit (SAZ) FISCHER u. LÜCK (1972) entwickelten das erste Instrument zur Messung der Arbeitszufriedenheit im deutschsprachigen Raum. Die Skala zur Messung der Arbeitszufriedenheit wurde nach dem Verfahren der summierten Einschätzungen entwickelt und soll die allgemeine Arbeitszufriedenheit unter Berücksichtigung einzelner Arbeitsaspekte messen. Neben allgemeinen Fragen der Arbeitszufriedenheit wurde daher ein möglichst vollständiger Katalog von relevanten Aspekten der Arbeit berücksichtigt, die sich in vorhergehenden Untersuchungen bereits als bedeutsam erwiesen hatten. Die SAZ besteht aus 37 Items mit je 5 Antwortmöglichkeiten, durch die abgestuft die Zustimmung zu den Items ausgedrückt werden kann (es werden nur 36 von 37 Items ausgewertet). Weiterhin werden Fragen zur Erhebung der
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demografischen Daten gestellt. Eine erste Überprüfung der Skala ergab mittels Faktorenanalyse die Verdichtung der einbezogenen Items auf vier sinnvoll interpretierbare Faktoren. Von ihnen wurde angenommen, dass sie sowohl situative Aspekte der Arbeitszufriedenheit als auch motivationale Aspekte erfassen. Als ökonomischer Ersatz für die SAZ wurde eine SAZ-Kurzskala entwickelt, die acht vorwiegend globale Items erhält. Sie korreliert hoch mit der Langskala. Eine Verdichtung auf Basis einer Faktorenanalyse ergab folgende vier interpretierbare Formen: (1) Zufriedenheit mit der Möglichkeit, die eigenen Fähigkeiten am Arbeitsplatz anzuwenden (2) Psychische und physische Reaktionen auf die Arbeitssituationen (3) Zufriedenheit mit der Bezahlung (4) Einschätzung des Betriebs, z.B. Führungsstil, Aufstiegsmöglichkeiten usw. Die SAZ ermöglicht eine differenzierte Erfassung der allgemeinen Arbeitszufriedenheit unter Berücksichtigung einiger Aspekte der Arbeitssituation. Mithilfe des Instruments kann also kurzfristig ein Maß für die Gesamtzufriedenheit der Beschäftigten ermittelt werden. Eine Gewichtung einzelner Arbeitszufriedenheitsaspekte für die allgemeine Arbeitszufriedenheit, die den individuellen Präferenzen entspricht, wird jedoch vernachlässigt. Arbeitsbeschreibungsbogen (ABB) Neben persönlichen Faktoren und situativen Faktoren ist vor allem die Interaktion zwischen Person und Situation entscheidend um größere Varianzanteile der Arbeitszufriedenheit und des menschlichen Verhaltens aufzuklären. Laut NEUBERGER u. ALLERBECK (1974) mangelt es an der Untersuchung eben dieser Interaktion. Die beiden Autoren postulieren eine Prägung des Interaktionsprozesses durch nachfolgende auf die Person bezogene Aspekte. Sie bestimmen die Einbettung der Arbeitszufriedenheit in das Person-SituationKonsequenzen System: (1) Demografische Merkmale (Alter, Geschlecht, Bildung usw.) (2) Stabile Persönlichkeitsmerkmale (Werte, Fähigkeiten, Fertigkeiten usw.) (3) Dynamische Persönlichkeitsmerkmale (Bedürfnisse, Motive usw.) (4) Kognitive Persönlichkeitsmerkmale (Erwartungen, Einstellungen usw.) (5) Aktuelle Persönlichkeitsmerkmale (Stimmungen, Launen, Gefühle usw.). Die situativen Gegebenheiten beeinflussen den Interaktionsprozess durch: (6) Physische Merkmale der Arbeitssituation (Staub, Hitze, Lärm usw.) (7) Merkmale der Arbeitsaufgabe (muskuläre oder mentale Beanspruchung usw.) (8) Soziale Merkmale der Arbeitssituation (Arbeitsgruppen, Vorgesetzte usw.) (9) Organisatorische Prozesse und Strukturen (Arbeitsablauf, Arbeitszeit usw.) (10) Umweltbedingungen (Arbeitsmarkt, Familie, Freizeit, Politik usw.).
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Arbeitspersonen sammeln bestimmte Erfahrungen nicht nur, sondern bewerten sie gleichzeitig. Daher setzen die Autoren nicht bei den Bedürfnissen des Menschen und deren Befriedigung an, sondern bei den äußeren Aspekten der Arbeitssituation. Diesem Prinzip liegen anreiztheoretische Konzeptionen zugrunde. Danach haben Menschen zwei tendenzielle Verhaltensmöglichkeiten: Die Erreichungstendenz, also das Streben nach positiven Erfahrungen, und die Vermeidungstendenz, also das Vermeiden von negativen Erfahrungen. Der Grad der Arbeitszufriedenheit ergibt sich dabei aus deren Bewertung anhand einer subjektiven Soll-Größe. Die Person nimmt in selektiver und evaluativer Weise zu ihrer Situation Stellung und ist damit nicht passives Opfer ihrer Arbeitsumwelt. Diese Erfahrungen werden das künftige Deutungs-, Zuwendungs- und Meidungsverhalten des Individuums beeinflussen. Der Arbeitsbeschreibungsbogen von NEUBERGER u. ALLERBECK (1978) stellt eine Weiterentwicklung des Job Descriptive Index (JDI) von HULIN u. SMITH (1965) dar. Der JDI ist ein standardisiertes Messinstrument, welches über die Beschreibung der Situation – aus der Perspektive der Arbeitsperson – die Zufriedenheit ermittelt, und zählt zu den Messinstrumenten der Arbeitszufriedenheit, die am häufigsten eingesetzt werden. Das weiterentwickelte Messkonzept der Autoren beruht auf der Definition der Arbeitszufriedenheit als Einstellung zu verschiedenen Facetten der Arbeitssituation. Der ABB misst die kognitive-evaluative Einstellung zu sieben Arbeitsaspekten: (1) Kollegen (2) Vorgesetzte (3) Tätigkeit (4) Arbeitsbedingungen (5) Organisation und Leistung (6) Entwicklung (7) Bezahlung. Zusätzlich wurden Items zur Beurteilung der Arbeitszeit, der Arbeitsplatzsicherheit und der allgemeinen Arbeits- und Lebenssituation angefügt. Diese ließen sich nach Ansicht der Autoren nicht in die übrigen Aspekte integrieren und stehen deshalb separat. Die Messung von Einzelzufriedenheiten der wichtigsten Aspekte der Arbeitssituation steht beim ABB im Vordergrund. Der Vorteil des ABB gegenüber anderen Messinstrumenten liegt darin, dass Beschreibungen der Arbeitssituation verwendet werden. Deskriptiv formulierte Arbeitsaspekte zu beschreiben ist wesentlich einfacher und präziser, als einen bestimmten Gefühlszustand zu beschreiben. Trotz globaler Zufriedenheit können auf diese Weise einzelne Aspekte dennoch negativ beurteilt werden. Das Erhebungsinstrument ermöglicht den Probanden außerdem eine individuelle Gewichtung der Bedeutung der Arbeitsaspekte. Es lassen sich mit Hilfe des Arbeitsbeschreibungsbogens, entgegen der Kritik der Gegenstandsbezogenheit der
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erfassten Zufriedenheitsaspekte, gezielte Hinweise auf einzelne Schwachstellen in den Arbeitszufriedenheit bestimmenden Faktoren lokalisieren. Arbeitszufriedenheits-Kurzfragebogen (AZK) Beim Arbeitszufriedenheits-Kurzfragebogen von BRUGGEMANN (1976) lassen sich verschiedene Formen der Arbeitszufriedenheit in Abhängigkeit vom intrapsychischen Prozess der Entstehung des jeweiligen Grades der Arbeitszufriedenheit differenzieren. Damit unterscheidet er sich vom Arbeitsbeschreibungsbogen, in dem das Gesamtkonzept der Arbeitszufriedenheit nach inhaltlichen Gesichtspunkten der umgebenden Arbeitssituation differenziert wird. Der Arbeitszufriedenheits-Kurzfragebogen besteht aus sechs Fragen. BRUGGEMANN verfolgt damit das Ziel, die von ihr postulierten verschiedenen Formen der Arbeitszufriedenheit zu messen. Beispielsweise sollen sich Befragte mit resignativen Einstellungsakzenten von jenen abheben, die deutlich artikulieren, dass ihre Bedürfnisse und Wünsche durch das Arbeitsverhältnis befriedigt werden. Die bewertende Erfassung verschiedener Arbeitszufriedenheitsformen steht also im Mittelpunkt dieses Fragebogens. Problematisch erscheint jedoch die Komplexität der Items, die mangelnde Differenzierung einzelner Arbeitsbereiche und deren fehlende individuelle Bedeutungsgewichtung für die Arbeitszufriedenheit sowie die Verwendung verschieden skalierter Itemtypen (FERREIRA 2007a).
2.4.2.3
ArbeitsmotivationĆundĆArbeitszufriedenheitĆinĆderĆPraxisĆ
Die neuere Forschung im Bereich der Arbeitszufriedenheit verspricht auch interessante Hinweise für die Praxis (FISCHER 2006). Das Konstrukt Arbeitszufriedenheit kann durch neue Ansätze von anderen Konzepten besser abgegrenzt werden. Studien, die den Zusammenhang zwischen Arbeitszufriedenheit und Emotionen (WEGGE u. VAN DICK 2006) oder Commitment (FELFE u. SIX 2006) untersuchen und darstellen, liefern weitere Erkenntnisse. Beispielsweise wird der Frage nachgegangen, ob Arbeitszufriedenheit eine Emotion ist und welche Zusammenhänge Wertüberzeugungen zum Urteil über die eigene Zufriedenheit haben. Auf emotionale und kognitive Prozesse, die die Urteilsbildung beeinflussen, wird ein besonderes Augenmerk gerichtet. Dabei wird der Frage nachgegangen, welche Erlebnisse und Erfahrungen Arbeitszufriedenheitsaussagen widerspiegeln. Dabei werden sowohl kürzlich erlebte Situationen betrachtet, bspw. im Hinblick auf die Frage, ob das Urteil aufgrund eines soeben vorgefallenen Streites mit einem Vorgesetzten schlechter ausfällt, als auch das additive Maß aller erlebten Situationen. Hierbei wird auch dem Anspruchsniveau der Person vermehrt Beachtung geschenkt. Bei einer betrieblichen Untersuchung der Arbeitsplätze, Arbeitsabläufe und Arbeitsumgebungen sollten trotz kritischer und einschränkender Bemerkungen die
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Konstrukte Arbeitszufriedenheit und Arbeitsmotivation mit erhoben werden. Zahlreiche Gestaltungshinweise, die zu humaneren aber auch zu wirtschaftlicheren Arbeitsplätzen führen, können so aufgedeckt werden. Bei der Erhebung der Arbeitszufriedenheit und der Arbeitsmotivation ist die gleichzeitige Erhebung von detaillierten Informationen über den Arbeitsplatz, die Tätigkeit und die Arbeitsumgebung unumgänglich. Mit Hilfe statistischer Auswertungen können auf dieser Basis sog. „Stellschrauben“ identifiziert werden. In einer Untersuchung bei den Stadtwerken einer hessischen Kleinstadt wurde zusätzlich zu den relevanten Aspekten der Arbeit ein Arbeitszufriedenheitsinventar eingesetzt. Die Auswertung von Korrelationsanalysen zu Items der Arbeitszufriedenheit zeigten beispielweise, dass im untersuchten Betrieb ein signifikanter Zusammenhang zwischen Fluktuationsabsichten mit dem Ausprägungsgrad der Abwechslung der Tätigkeit (Aspekte der Arbeitszufriedenheit) bestand. Dies lässt vermuten, dass die Fluktuationsabsichten dann sinken (wirtschaftlicher Aspekt), wenn der Abwechslungsgrad der Tätigkeit (humaner Aspekt) verändert wird (FERREIRA 2007a). Zwischen dem Abwechslungsgrad der Tätigkeit und der wahrgenommenen Unterforderung konnte ebenfalls ein signifikanter Zusammenhang nachgewiesen werden. Weil Unterforderung sowohl humane Aspekte betrifft, bspw. als Faktor bei psychosomatischen Beschwerden und sozialen Beeinträchtigungen, als auch wirtschaftliche Nachteile mit sich bringt (infolge nicht ausgeschöpften Potentials), lassen Maßnahmen zu ihrer Vermeidung in mehrfacher Hinsicht positive Effekte erwarten. Beziehungen zwischen der Aufgaben- bzw. Arbeitsgestaltung und der Motivation werden außerdem in den Kapiteln 5.4.2.3 und 5.4.2.4 dargestellt sowie ausführlicher in LUCZAK et al. (2006) diskutiert. 2.4.3
Ermüdung
Die Ausführung der Arbeitsaufgaben erfordert eine Inanspruchnahme der physischen und psychischen Ressourcen der Arbeitsperson. Solange neue Ressourcen im gleichen Umfang nachgebildet werden können, entsteht ein stationäres Gleichgewicht zwischen Verbrauch und Nachschub (steady-state), und somit dürfte eine Ermüdung nicht eintreten. Soll jedoch mehr Leistung erbracht werden als an Nachbildung von Ressourcen möglich ist (Überschreiten der Dauerleistungsgrenze), so werden zwangsläufig die vorhandenen bzw. vorrätigen Ressourcen in Anspruch genommen. In Folge verringert sich die Ressourcenverfügbarkeit und somit die mögliche Anpassungsbreite in der Reaktion. Dies bedeutet, dass trotz konstanter Belastung die Höhe der Beanspruchung zunimmt. Dieser Vorgang wird als Ermüdung bezeichnet. Beschränkt man sich auf eine Ermüdung in Folge einer Arbeitstätigkeit, so spricht man von Arbeitsermüdung.
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Die Ermüdung des Menschen ist im Gegensatz zum Ermüdungsbegriff für technische Systeme dadurch gekennzeichnet, dass sie durch Erholung wieder vollständig rückgängig gemacht werden kann, d.h. es handelt sich um einen reversiblen Vorgang. Um die ursprüngliche Leistungsfähigkeit wiederherstellen zu können, sind Abschnitte mit geringerer Belastung notwendig (Erholung). Von einer Pause spricht man immer dann, wenn die Belastung durch Unterbrechung der Tätigkeit so stark verringert wird, dass sie vernachlässigt werden kann. Eine Beanspruchung muss jedoch nicht in jedem Fall zu einer Ermüdung führen. Es gibt Beanspruchungen, bei denen es aufgrund eines physiologisch bedingten Gleichgewichtes zwischen Verbrauch und Nachbildung von Ressourcen (bzw. zwischen Ermüdung und Erholung) normalerweise nicht zur Erhöhung des Ermüdungsgrades kommt (z.B. Herzmuskel). Ermüdung und Erholung sind demnach zeitabhängige Prozesse, die auf den relevanten Zeitskalen des analysierten Arbeitsprozesses immer im Gleichgewicht miteinander stehen müssen. Gelingt dieser Ausgleich nicht, so kann es zu starken Funktionsminderungen kommen, die die Leistungsfähigkeit nicht nur vorübergehend, sondern auch längerfristig einschränken. Ein solcher Zustand wird als Übermüdung oder Erschöpfung bezeichnet. Die Erholung von solchen Zuständen dauert unverhältnismäßig lange. Unter Umständen kann die ursprüngliche Leistungsfähigkeit trotz Erholung nicht in vollem Umfang wiederhergestellt werden, so dass bleibende Funktionsminderungen entstehen. In einem solchen Fall spricht man von Schädigung. Die Wirkungszusammenhänge der Ermüdung können je nach Form und Zusammensetzung der Belastung sehr vielschichtig sein. Daher erweist sich eine allgemeingültige Definition des Ermüdungsbegriffes nicht ohne weiteres als möglich (Ermüdungserscheinungen bei verschiedenen Belastungsformen). Zudem sind die biologischen Vorgänge der Ermüdung messtechnisch im Allgemeinen nicht direkt zugänglich, so dass sich die Definitionen vorwiegend an den Symptomen (Ermüdungserscheinungen) orientieren. Diese umfassen sowohl physikalisch messbare als auch durch Selbstbeobachtung wahrgenommene Veränderungen. Als gemeinsamen Inhalt der Ermüdungsdefinitionen kann man folgende Merkmalshierarchie bilden (nach SCHMIDTKE 1965):
x Ermüdung tritt als Folgeerscheinung einer vorhergehenden Belastung und Beanspruchung auf x Ermüdung bewirkt eine reversible Leistungs- oder Funktionsminderung x Ermüdung beeinflusst das organische Zusammenspiel der Funktionen x Ermüdung verursacht eine Abnahme der Arbeitsfreudigkeit und eine Steigerung des Anstrengungsgefühls x Ermüdung kann schließlich zu einer Störung des Funktionsgefüges der Persönlichkeit führen. Eine Differenzierung der Ermüdung kann nach verschiedenen Gesichtspunkten erfolgen, siehe Abb. 2.34.
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RhythmikĆ SchlafmangelĆ "Tagesermüdung"
Schädigung peripherĆ (auchĆmuskulär/sensorisch)
BelastungsmerkmalĆ (arbeitsbezogen) Beanspruchungs-Ć reaktion/be-Ć anspruchungs-Ć bedingteĆDefizienz
ReversibilitätsmerkmalĆ (zeitlich) InsuffizienzmerkmalĆ (organisch)
zentralĆ (auchĆkardiovaskulär/Ć metabolisch/neurovegetativ)
neinĆ(zeitlichĆpermanent)
nein
< ja
ja
ErmüdungĆ (objektiveĆ Arbeitsermüdung)
<
ja
physischĆ (auchĆenergetisch-Ć effektorisch,Ć physikochemisch-situativ) psychischĆ (auchĆinformatorisch-Ć mental/emotional)
neinĆ(ohneĆZeitĆreversibel) <
nein
MüdigkeitsgefühlĆ (subjektiveĆErmüdung)
ermüdungs-Ć ähnlicheĆZuständeĆ -ĆMonotonieĆ -ĆSättigungĆ -ĆÜberforderung
allgemeinĆ (auchĆallseitig/total) partiellĆ (auchĆlokal/regional)
Abb. 2.34: Der Ermüdungsbegriff (aus LUCZAK 1983)
2.4.3.1
FormenĆderĆErmüdungĆ
Psychische / physische Ermüdung Betrachtet man vorwiegend die Art der Belastung, so führt dies zu einer Unterscheidung zwischen physischer und psychischer Ermüdung. Während sich die physische Ermüdung auf eine Verschiebung im physiologisch-chemischen Gleichgewicht bezieht (z.B. Muskelermüdung aufgrund mangelnder Sauerstoffversorgung), bezeichnet die psychische Ermüdung Veränderungen der informationsverarbeitenden Funktionen in Verbindung mit emotionalen Anpassungen im gesamten neuronalen System. Beispiele von Symptomen nach SCHMIDTKE (1965) sind:
Physische Ermüdung x x x x x
Nachlassen der Muskelleistung Störung der peripheren Koordination Veränderung des Blutbildes Veränderung im Bereich der Atmung Veränderungen der Herz- und Kreislauftätigkeit.
Psychische Ermüdung x x x x x x
Rezeptions- und Wahrnehmungsstörungen Koordinationsstörungen Störungen der Aufmerksamkeit und der Konzentration Störung des Denkens Störung der personalen Antriebs- und Steuerungsfunktionen Störung der sozialen Beziehungen.
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Im Gegensatz zur psychischen Ermüdung als Folge von Überforderung (auf Grund von Belastungsdauer, Art der Aufgabe etc.) können ähnliche Wirkungen als Folge von Wachsamkeitsproblemen (Unterforderung/Vigilanz) identifiziert werden, sog. ermüdungsähnliche Zustände (SCHMIDTKE 1993) (siehe Kap. 3.3.2.1.4). Diese ermüdungsähnlichen Zustände können entgegen muskulärer oder psychischer Ermüdung schlagartig aufgehoben werden, bspw. dann, wenn 1) die ermüdende Tätigkeit durch eine andere ersetzt, 2) die Umgebung geändert, 3) der Organismus bei drohender Gefahr oder Angst in einen Alarmzustand versetzt, 4) das Interesse durch eine neue Information wieder geweckt oder 5) eine affektive Umstimmung ausgelöst wird (GRANDJEAN 1979). Die Möglichkeit eines schlagartigen Verschwindens dieser Zustände zeigt, dass dabei eine Anhäufung von Ermüdungsstoffen und ein Verbrauch von Energiereserve, wie dies bei Überforderung der Fall ist, unmaßgeblich ist. Ermüdungsähnliche Zustände sind vielmehr im Zusammenhang mit der den Hirnstamm durchziehenden formatio reticularis zu sehen, die über eine Vielfalt afferenter und efferenter Verbindungen verfügt und deren Aktivität nicht nur durch intensive geistige Tätigkeit, sondern auch durch Monotonie beeinflusst wird (SCHMIDT u. THEWS 1995). Periphere / zentrale Ermüdung Eine andere Möglichkeit besteht darin, die Auswirkungen auf den Organismus zu betrachten, dies führt zu den Begriffen der zentralen und der peripheren Ermüdung. Eine periphere Ermüdung liegt dann vor, wenn die während einer Arbeit auftretende Abnahme bestimmter Eigenschaften sich Organen in der „Peripherie“ des Körpers zuordnen lässt. Ändern sich jedoch die Eigenschaften „zentraler“ Organe durch Ermüdung, so wird dies als zentrale Ermüdung bezeichnet (LAURIG 1990). Als peripher werden muskuläre und sensorische Funktionen häufiger angesprochen als zentral kardiorespiratorische oder neuronale Funktionen. Allgemeine / partielle Ermüdung Ähnlich verfährt auch die Gliederung nach „allgemein“ versus „partiell", wobei zusätzlich eine Reihenfolgebedingung eingebaut ist, so dass zunächst einzelne organismische Systeme von der Ermüdung betroffen sind, die dann im Zuge einer weitergehenden Destabilisierung auf den Gesamtorganismus übergreift. Diese Gliederung trägt insbesondere dem Umstand Rechnung, dass Ermüdung ein dynamischer Prozess ist, der sich hinsichtlich seiner Stärke in unterschiedliche Stadien unterscheiden lässt, die nach dem Grad der Betroffenheit und Irradiation in unterschiedliche organismische Systeme zu separieren sind (LUCZAK 1983).
2.4.3.2
ErmüdungsverlaufĆ
Neben den physiologischen Reaktionen ist eine Ermüdung auch subjektiv feststellbar. Dieses Ermüdungsgefühl stellt eine Schutzfunktion dar, die eine zu weitgehende Ausschöpfung der Leistungsreserven verhindern soll. Normalerweise
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kann der Mensch nicht willkürlich voll über seine angelegte und durch Übung entwickelte maximale Leistungsfähigkeit verfügen, sondern es bleibt stets eine gewisse Leistungsreserve autonom geschützt. Diese Leistungsreserven für Notsituationen können nicht über den Willen, sondern nur über den Weg starker Affekte unter existenzkritischen Bedingungen mobilisiert werden (EYSENCK 1947, in SCHMIDTKE 1965).
Eine generelle Charakteristik des Ermüdungsverlaufes ist dahingehend festzustellen, dass sich die beginnende Ermüdung zuerst in dem am stärksten beanspruchten Bereich bzw. Organ auswirkt und dann mit zunehmender Ermüdung in ihren Symptomen auf den gesamten Organismus übergreift. Spezifische Ermüdungsreaktionen lassen sich durch die Betrachtung einzelner Symptome beurteilen, während eine umfassende Beurteilung der Ermüdung nur über die Sukzessivreaktionen unterschiedlicher Größen zugänglich ist. Hieraus ergeben sich Strukturmodelle, die den zunehmenden Verlauf der Ermüdung beschreiben und bei denen eine Quantifizierung durch die Einstufung in verschiedene Ermüdungsgrade vorgenommen wird (sukzessive Destabilisierungstheorie, LUCZAK 1983). Diese haben insbesondere Bedeutung bei Ermüdungen aufgrund informatorischer Arbeit, zeigen jedoch auch in exemplarischer Weise die Symptome eines Ermüdungsverlaufes für andere Arbeitsformen (LUCZAK UND ROHMERT 1974):
x Ermüdungsgrad 1: Bei einer die Grenze der momentanen Regenerationsfähigkeit überschreitenden Beanspruchung treten als erste Ermüdungssymptome Störungen in den psychophysiologischen Funktionsbereichen auf, die durch die verrichtete Tätigkeit besonders beansprucht sind. Hierbei ist eine Reaktion der Engpassbereiche, in der Regel der im Arbeitsvollzug gebundenen peripher-physiologischen Organsysteme der Sensorik und Motorik, zu erwarten. x Ermüdungsgrad 2: Erreichen die Störungen einen Grad, dass sie der Selbstbeobachtung des Individuums zugänglich werden, so ist eine weitere Stufe der Ermüdung erreicht. In dieser Phase wird der Mittelwert der Leistungskurve noch nicht betroffen, jedoch nehmen die Leistungsstreuung und die Häufigkeit von Fehlleistungen zu. Da die Arbeitsperson bei entsprechender Motivation versucht, durch erhöhte Willensanspannungen das bisherige Leistungsniveau aufrechtzuerhalten, ist im Beanspruchungsbereich eine Reaktion der Indikatoren zentraler Aktiviertheit zu erwarten. x Ermüdungsgrad 3: Die Phase der Leistungskurve mit der Häufung von Schwankungen wird abgelöst von einer solchen mit fallender Tendenz. Wegen der Störung von zentralen Integrationsprozessen spricht man auch von Allgemein- oder Willensermüdung. Dabei sind primär nicht beanspruchte Funktionssysteme des Organismus beeinträchtigt. Eine simultane Reaktion zentralphysiologischer Beanspruchungsindikatoren kann erwartet werden.
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x Ermüdungsgrad 4: Schließlich treten Störungen des organismischen Funktionsgefüges ein, die schon als qualitative Veränderungen der Persönlichkeitsstruktur anzusehen sind und als erschöpfungsähnliche Zustände psychopathologischen Erscheinungsbildern sowie Bewusstseinsstörungen durch Narkotika gleichen. In der Regel wird die Arbeit spätestens bei Beginn dieses Stadiums von der Arbeitsperson verweigert. Das Ermüdungsphänomen gilt nicht nur für Belastungen aus der Tätigkeit selbst, sondern für alle Arten der Belastung, so auch der Umgebungsfaktoren (z.B. Lärmermüdung). Ähnliches gilt auch für zeitliche Zusammenhänge. Werden normalerweise bevorzugt kurzfristige Vorgänge betrachtet (z.B. innerhalb eines Arbeitszyklus oder eines Arbeitstages), so gelten die Zusammenhänge auch analog für eine längerfristige Betrachtung (z.B. Tagesrhythmik, Arbeit über mehrere Monate und Urlaub). 2.4.3.3
MessungĆvonĆErmüdungĆ
Biologische Vorgänge der Ermüdung sind i.d.R. nicht direkt messbar. Daher wird der Nachweis der Ermüdung normalerweise anhand der Phänomene der Ermüdung durchgeführt. Es ergeben sich grundsätzlich drei verschiedene Möglichkeiten: (1) Messung der Leistungserfüllung (2) Messung der physiologischen Reaktionen (3) Ermittlung der Müdigkeit als Indikator der Ermüdung. Messung der Leistungserfüllung Hierbei wird von der Wirkung (Leistungsabfall) auf die Ursache (Ermüdung) geschlossen. Insbesondere bei Tätigkeiten mit Ausschöpfung der Leistungsreserven eignet sich diese Art der Darstellung. Es wird entweder der Abfall der Leistung (siehe Abb. 2.35) oder der Anstieg der menschlichen Fehler mit der Zeit ermittelt. Die Ermüdung zeigt sich also in einer zeitabhängigen Veränderung der Leistungsgröße. Zum Vergleich der Wirkung verschieden großer Belastungen wird die maximal mögliche Arbeitszeit (bis zum Erreichen einer Ermüdungsgrenze) in Abhängigkeit von der Arbeitsschwere (Belastung) aufgezeigt. Eine solche Darstellung wird als Ausdauerdiagramm bezeichnet und zeigt für energetisch-effektorische Arbeitsformen typischerweise einen hyperbolischen Zusammenhang (Abb. 2.36). Die Asymptote in Abb. 2.36 zeigt direkt die Dauerleistungsgrenze, d.h. die Leistung, die praktisch ohne Zeitbegrenzung – bspw. im Rahmen einer 8h-Schicht – erbracht werden kann. Häufig wird die Leistung im Verhältnis zur Dauerleistung skaliert.
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mittlerer Prozentsatz entdeckter Signale
%
100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 15 30 45 60 75 90 105 120 135 150 165 180 min Versuchszeit
0
Abb. 2.35: Signalentdeckungsleistung in Abhängigkeit der Versuchszeit und nach physischer Vorbelastung (60 min. Ergometerarbeit, 30 Pulse/min, Bild modifiziert nach SCHMIDTKE 1981)
Maximale Arb beitszeit
N3eff >N2eff >N1eff >NDLG
N1eff N2eff N3eff
0,5
1
1,5
2
2,5
3 ª N eff º Leistung bezogen auf die Dauerleistungsgrenze « » ¬ N DLG ¼
Abb. 2.36: Grenzen der Ausdauer am Beispiel verschiedener Muskelarbeitsformen bei verschiedenen Effektivbelastungen N1eff, N2eff und N3eff (nach ROHMERT 1962)
Messung der physiologischen Reaktionen In diesem Fall wird die Reaktion des Körpers auf eine Belastung als Ermüdungsindikator herangezogen. Besonders deutlich messen solche Parameter die Beanspruchung bei körperlicher Arbeit, da hierbei das Herz-Kreislauf-System unmittelbar auf die energetische Belastung reagiert. Bei körperlicher Arbeit steigt typischerweise nach Beginn die Pulsfrequenz an. Bei Belastungen, die die Dauerbeanspruchungsgrenze nicht überschreiten, stellt sich allmählich eine konstante Pulsfrequenz ein. Die Höhe der Pulsfrequenz ist
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hierbei von der Belastung abhängig. Belastungen oberhalb der Dauerleistungsgrenze führen zu einem kontinuierlichen Anstieg der Pulsfrequenz (siehe Kap. 3.2.10). In diesem Fall kann also die Pulsfrequenz unmittelbar als Indikator der Ermüdung betrachtet werden. Für andere Arbeitsformen müssen dementsprechend weitere physiologische Größen ausgewertet werden. Ermittlung der Müdigkeit als Indikator der Ermüdung Da sich der messtechnische Nachweis der Ermüdung u. U. als schwierig erweist, erscheint es wünschenswert, wenigstens die Müdigkeit als Hinweis auf das Vorliegen von Ermüdung festzustellen. Dies kann z.B. über die „subjektive Einschätzung der Wirkung von Arbeitsbedingungen“ (LAURIG 1990) erfolgen. Die Veränderungen der subjektiven Einschätzung der Arbeitsbedingungen in Abhängigkeit von der Belastungszeit oder Belastungsdauer lassen sich als Veränderungen der Müdigkeit interpretieren. Abb. 2.37 zeigt den Vergleich von Ergebnissen, die zu Beginn und Ende bei Früh- und Mittagsschichten und bei sonst unveränderten Arbeitsbedingungen erhoben wurden. Die niedrigeren Werte am Ende der Schichten entsprechen bei dem verwendeten Fragebogen (nach PLATH u. RICHTER 1978, in LAURIG 1990) einer schlechteren Beurteilung. Wie man leicht sieht, hat in diesem Fall die Belastungszeit einen stärkeren Einfluß auf die Müdigkeit als die Belastungsdauer.
empfundene B Belastung
hohes Wohlbefinden 60
Beeinträchtigung B i t ä hti des Wohlbefindens
Beginn
Ende
50 40 30 20 10 0 Frühschicht
Mittagschicht
Abb. 2.37: Subjektive Einschätzung von identischen Arbeitsbedingungen zu Beginn und Ende von Schichten in der Endmontage einer Automobilfabrik (Daten aus LAURIG 1990)
2.4.3.4
BemessungĆvonĆBelastungĆundĆErholungĆ
Extrahiert man aus den gemessenen Größen den Verlauf der Ermüdung in Abhängigkeit von Belastungsdauer und Belastungshöhe, so zeigen sich charakteristische Kennlinien, die in Abb. 2.38 schematisch dargestellt sind.
202
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Bei Belastung oberhalb der Dauerleistungsgrenze steigt der Ermüdungsgrad sowohl mit der Dauer als auch mit der Höhe der Belastung nach einer Potenzfunktion an (ROHMERT 1962). Der Zusammenhang kann dadurch gedeutet werden, dass durch die Verringerung der Ressourcen das Verhältnis zwischen den entnommenen Ressourcen zu den noch verfügbaren Ressourcen kontinuierlich ansteigt und somit die Ermüdung bei konstanter Belastung immer schneller fortschreitet. Bei Erholung fällt der Ermüdungsgrad anschließend exponentiell wieder ab. Es gelten die in den Gleichungen (2.4) und (2.5) wiedergegebenen Gesetzmäßigkeiten. Ermüdungsgrad: A
§ N eff · a tarb m ¨ ¸ © N DLG ¹
A tarb Neff NDLG a, m, p
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N eff N DLG
! 1, 2
(2.4)
Zustand der Ermüdung zum Zeitpunkt tarb Arbeitsdauer (tarb 0) Erbrachte Leistung bzw. Effektivbelastung Dauerleistungsgrenze Konstanten, die den Ermüdungsverlauf charakterisieren.
Erholung: A
A0 e k terh
(2.5)
A Zustand der Ermüdung zum Zeitpunkt terh A0 Zustand der Ermüdung zum Beginn der Erholung terh Erholungsdauer (terh 0) k Restitutionskonstante. „k“ ist eine Konstante, die die Geschwindigkeit der Ermüdung bzw. Erholung beeinflusst (sog. Restitutionskontante, nach SIMONSON 1935, in ROHMERT u. RUTENFRANZ 1983). Erholungspausen sind demnach grundsätzlich zum Ausgleich von Ermüdungserscheinungen erforderlich. Je weiter die Ermüdung fortschreitet, desto länger werden die zur Erholung notwendigen Pausen. Dies entspricht nicht nur dem Interesse des Wohlbefindens der arbeitenden Person, sondern führt auch zur höchsten Gesamteffektivität. Als Pause in diesem Sinne wird eine Unterbrechung der Arbeitsbelastung bezeichnet, so dass der Körper seine natürlichen Ressourcen wieder aufbauen kann. Hierbei ist zu beachten, dass bereits sehr geringe Belastungen die Erholungswirkung erheblich beeinträchtigen können. Bei spezifischen Belastungsformen (einseitige Arbeit) genügt im Wesentlichen eine Pause für die besonders belasteten Organe, so dass eine Erholungswirkung bereits durch eine Verlagerung der Belastung auf andere Organe entstehen kann.
Arbeitsperson
203
Ermüdungssgrad
Belastung N3eff >N2eff >N1eff >NDLG N3eff
N2eff
N1eff
Arbeitsdauer tarb
Erhohlungsdauer terh
Abb. 2.38: Ermüdungsgrad in Abhängigkeit von Arbeitsdauer und Erholungsdauer bei verschiedenen Belastungshöhen N1eff, N2eff und N3eff (in Anlehnung an ROHMERT 1962)
Erholungswert d der Pause
Da der Erholungsverlauf einer Exponentialfunktion folgt, ist der Erholungswert zu Beginn einer Pause wesentlich größer als im weiteren Verlauf der Pause (siehe Abb. 2.39). Da der Ermüdungsverlauf einem Potenzgesetz zu gehorchen scheint, verursacht eine erbrachte Arbeitseinheit zu Beginn der Arbeit eine wesentlich geringere Zunahme der Ermüdung als im weiteren Verlauf (siehe Abb. 2.39).
0
1/4
1/3
1/2 normierte Pausenzeit
1
Abb. 2.39: Erholungswert einzelner Pausenteile in schematischer Darstellung (nach LEHMANN 1962)
204
Arbeitswissenschaft
Daraus können folgende Feststellungen abgeleitet werden: Der Erholungswert einer Pause steigt mit kürzer werdender Zykluszeit von Belastung und Erholung an. Das heißt, bei kürzerer Zykluszeit ist insgesamt weniger Erholzeit für die gleiche Endermüdung notwendig, bzw. die Zunahme der Ermüdung verlangsamt sich. Andererseits wird deutlich, dass eine starke Ermüdung eine unverhältnismäßig lange Erholung erfordert. Abb. 2.40 zeigt am Beispiel körperlicher Schwerarbeit den Verlauf der Pulsfrequenz und die zur Erholung notwendigen Pausen bei unterschiedlichen Zykluszeiten, jedoch gleicher Belastungshöhe und gleicher Gesamtarbeitsdauer. Je länger die einzelnen Arbeitsabschnitte dauern, desto höher steigt die Pulsfrequenz (als Indikator für den Ermüdungsgrad) bis zum Ende des Abschnittes an, dementsprechend sind im Verhältnis dazu längere Erholungspausen notwendig. Im Diagramm A (Abb. 2.40) ist nach einer Arbeitsperiode von 10 Minuten eine Erholungspause von 10 Minuten zum Ermüdungsausgleich erforderlich. Im Diagramm B ist die Arbeitszeit in drei Abschnitte zu je 3,3 Minuten gegliedert, hierbei beträgt die zum Ermüdungsausgleich notwendige Pause jeweils 2 Minuten. Im Diagramm C ist die Arbeitszeit schließlich in 10 Abschnitte zu je 1 Minute aufgeteilt. Zum Ermüdungsausgleich ist hier eine Erholungspause von je 0,4 Minuten erforderlich. Insgesamt ergibt sich die in Tabelle 2.10 dargestellte Bilanz. Tabelle 2.10: Arbeits- und Pausendauer bei unterschiedlichen Zykluszeiten Fall A B C
Arbeitszyklus 10 min 3,3 min 1 min
Gesamtarbeitsdauer 10 min 10 min 10 min
Gesamtpausendauer 10 min 6 min 4 min
Die Arbeitsleistung zeigt in Abhängigkeit der Arbeitspausenlänge ein Maximum, d.h. ein bestimmtes Verhältnis zwischen Arbeitslänge und Pausenlänge erweist sich für die Gesamtleistung am effektivsten. Man spricht in diesem Zusammenhang von einer lohnenden Pause, wenn der Leistungsverlust durch die Pause geringer ist als die Leistungssteigerung durch die Erholung. Die vorangehenden Beispiele beziehen sich im Wesentlichen auf die Ermüdung in Folge körperlicher Arbeiten. Die Ermüdungs- und Erholungsreaktionen, bedingt durch die Umgebungsbedingungen (z.B. Lärm und Klima), zeigen ähnliche Tendenzen. Für Arbeiten mit informatorisch-mentaler Belastung liegen aufgrund der Vielzahl möglicher Belastungs- und Beanspruchungsformen, deren Superpositionseffekte und vor allem des Einflusses der Motivation keine einheitlichen Erkenntnisse vor. Die in verschiedenen Laborexperimenten ermittelten Leistungskurven gehen von optimalen Erholzeitzuschlägen bei Vigilanzaufgaben von 15%-35% aus (LUCZAK 1982).
Arbeitsperson
205
A
Arbeitspulsfrequenz (1/min) PeriodeĆAĆ:ĆP=Ć10Ć:Ć10min
RP
Zeit (min)
B
Arbeitspulsfrequenz (1/min) PeriodeĆA:ĆP=Ć3,3Ć:Ć2min
RP
Zeit (min)
C
Arbeitspulsfrequenz (1/min) PeriodeĆA:ĆP=Ć1Ć:Ć0,4min
RP
Zeit (min)
Abb. 2.40: Einfluss der Zykluszeit auf die zur Erholung erforderlichen Pausen bei gleicher Belastungshöhe (aus SCHMIDTKE 1969, RP: Ruhepuls)
206
Arbeitswissenschaft
Bei kontinuierlichen Informationsverarbeitungsaufgaben in denen der Menschen als Regler fungiert zeigt sich, dass eine Pause dann die günstigsten Erholungseffekte bewirkt, wenn sie im Bereich von 2/3 bis 3/4 der maximalen Ausdauer gegeben wird. Für die Pausenlänge wird ein näherungsweise linearer Zusammenhang zwischen Pausendauer und dadurch bewirktem Zugewinn an maximaler Ausdauer angegeben (LUCZAK 1979). Bei Rechenarbeiten zeigt GRAF (1954, zitiert in LUCZAK 1982) eine optimale Pausenlänge auf, ober- und unterhalb derer die Gesamteffektivität absinkt. Die günstigste Zykluszeit von Arbeits- und Pausendauer zeigt am Beispiel von Videokodiertätigkeiten beim Kurzpausenregime (25/5 min) eine überproportionale Häufung von Ermüdungsgraden. Dies ist auf einen Antriebseffekt, der auf die Arbeitsperson wirkt, zurückzuführen, da hierbei die Leistung ansteigt. Das Langpausenregime (100/20 min) zeigte eine Reduktion der Ermüdungsgrade bei gleichzeitigem Anstieg der Leistung gegenüber dem Normalpausenregime (50/10 min) (LUCZAK u. ROHMERT 1974). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass bei verschiedenen Tätigkeiten auf eine jeweils angepasste Pausendauer zu achten ist. Darüber hinaus tritt das Müdigkeitsgefühl erst mit vorhandener Ermüdung auf und hat somit keine Indikatorfunktion. Dies führt in der Praxis häufig dazu, dass selbstgewählte Pausen zu spät eingelegt werden und damit die vorbeugende Wirkung verlieren. Zudem scheint sich die Länge selbstgewählter Pausen eher an deren Sozialwert als an ihrem Erholungswert zu bestimmen. Dies bedeutet, dass die erholungsfördernde Wirkung selbstgewählter Pausenverteilungen fragwürdig ist, sofern diese nicht auf entsprechender Information und Einsicht in die Zusammenhänge beruhen (ULICH 1994). Tägliche Arbeitszeit Die gezeigten Zusammenhänge gelten analog auch für die Betrachtung größerer Zeiträume, so z.B. auch der täglichen Arbeitszeit. Untersucht man die erbrachte Leistung im Verlauf eines Tages, so zeigt sich schematisiert ein Verlauf, wie in Abb. 2.41 dargestellt. Zu Beginn der Arbeit steigt die Gesamtleistung aufgrund der Einarbeitungsund Umstellungsphase mit einer Verzögerung an und verläuft dann gleichmäßig. Ab einer gewissen Arbeitszeit wird der Anstieg aufgrund von Ermüdungserscheinungen zunehmend flacher. Die Gesamt-Effektivität erreicht ihr Maximum dort, wo die Asymptote zwischen dem Nullpunkt und der Leistungskurve die höchste Steigung besitzt. Das bedeutet, dass bei einer Verlängerung der Arbeitszeit über diesen Punkt hinaus die Effektivität abfällt, d.h. für eine Mehrleistung unverhältnismäßig viel Zeit aufgewendet werden muss. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der konkrete Verlauf dieser Kurve von vielen äußeren und individuellen Faktoren abhängig ist.
Arbeitsperson
207
Leistu ung
höchste Gesamteffektivität
tägliche Arbeitszeit
Abb. 2.41: Schematische Darstellung der Beziehungen zwischen Arbeitszeit und Leistung nach GRAF (1954)
2.4.3.5
SchädigungenĆ
Wie bereits in diesem Kapitel besprochen, zählen Schädigungen nicht zu den Ermüdungserscheinungen, wenngleich die Ursachen meist ähnlich sind und Ermüdung Vorbedingung einer organischen Schädigung ist. Im Falle von chronischen Ermüdungen oder Übermüdungen des Organismus bzw. einzelner Organe können in Abhängigkeit von Dauer und Intensität der Belastung bleibende Funktionsminderungen entstehen, diese werden dann als Schädigung bezeichnet. Hierzu gehören sowohl Schädigungen ausgelöst durch körpereigene Aktivitäten (z.B. Überdehnung von Gefäßwänden und Knochenveränderungen infolge andauernder Druckwirkungen) als auch durch äußere Einwirkungen (z.B. Lärm, chemische Substanzen). Bei einigen Belastungen, die zu einer Schädigung führen können, ist die Feststellung der fortschreitenden Ermüdung dem Menschen direkt zugänglich (z.B. durch Schmerzempfindung), so dass einer Schädigung vorgebeugt werden kann. Für Belastungsarten, bei denen das nicht der Fall ist, besteht eine besondere Gefahr der Schädigung, da diese im Allgemeinen erst an einer Funktionsminderung erkannt werden, die nicht mehr reversibel ist. Die Arbeitsschutzbestimmungen beinhalten diesbezüglich Richtlinien zum Schutz der Gesundheit der Arbeitspersonen (siehe Kap. 8).
208
2.5
Arbeitswissenschaft
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Arbeitsperson
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Normen, Richtlinien und gesetzliche Vorschriften AGG (2008) Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz vom 14.08.2006 (BGBl. I S. 1897) i.d.F. vom 05.02.2009 (BGBl. I S. 160) BEEG (2006) Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz vom 5.12.2006 (BGBl. I S. 2748) i.d.F. vom 28.03.2009 (BGBl. I S. 634) BetrVG (2001) Betriebsverfassungsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 25.09.2001 (BGBl. I S. 2518) i.d.F. vom 29.07.2009 (BGBl. I S. 2424) BGBI.IS. 1970 (2008a)Bundesgesetzblatt (BGBI) Jahrgang 2006 Teil I Nr.40, 25. August 2006 BGB (2002) Bürgerliches Gesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Januar 2002 (BGBl. I S. 42, 2909; 2003 I S. 738) i.d.F. vom 28.09.2009 (BGBl. I S. 3161) BGleiG (2001) Gesetz zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der Bundesverwaltung und in den Gerichten des Bundes (Bundesgleichstellungsgesetz) vom 30.11.2001 (BGBl. I S. 3234) i.d.F. vom 05.02.2009 (BGBl. I S. 160) Deutsche Rentenversicherung Bund (2007) Rentenversicherung in Zahlen 2008, Berlin, Deutsche Rentenversicherung Bund DIN 33402-2 (2005) Ergonomie - Körpermaße des Menschen: Werte. Berlin, Beuth DIN 33411-1 (1982) Körperkräfte des Menschen. Begriffe, Zusammenhänge, Bestimmungsgrößen. Beuth, Berlin DIN 33411-4 (1987) Körperkräfte des Menschen. Maximale statische Aktionskräfte (Isodynen) Beuth, Berlin DIN EN 1005-3 (2001) Sicherheit von Maschinen - Menschliche körperliche Leistung Teil 3. Empfohlene Kraftgrenzen bei Maschinenbetätigung. Berlin, Beuth DIN EN ISO 7029 (2001) Akustik – Statistische Verteilung von Hörschwellen als eine Funktion des Alters. Beuth, Berlin DIN EN ISO 9999 (2007) Hilfsmittel für Menschen mit Behinderungen. Beuth, Berlin GG (1949) Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23.05.1949 in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 100-1, veröffentlichten bereinigten Fassung, i.d.F. vom 29.07.2009 (BGBl. I S. 2248) Job-AQTIV-Gesetz (2001) Gesetz zur Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente vom 10.11.2001 (BGBl. I S. 3443) Jugendarbeitsschutzgesetz (JArbSchG). Gesetz zum Schutze der arbeitenden Jugend. Bundesgesetz für den Geltungsbereich Bundesrepublik Deutschland der Rechtsmaterie Arbeitsrecht. FNA 8051-10. 12.04.1976 (BGBI. I S. 965). Inkraftgetreten am 8. Mai 1976. Letzte Änderung durch Art. 3 Abs. 2 G vom 31. Oktober 2008 (BGBl. I S. 2149, 2151) SGleiG (2004) Gesetz zur Gleichstellung von Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr (Soldatinnen- und Soldatengleichstellungsgesetz) vom 27.12.2004 (BGBl. I S. 3822) i.d.F. vom 14.08.2006 (BGBl. I S. 1897) SGB IX (2004) Sozialgesetzbuch Neuntes Buch. Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen. In der Fassung des Gesetzes zur Förderung der Ausbildung und Beschäftigung schwerbehinderter Menschen vom 23. April 2004 (BGBI I S. 606) TzBfG (2000) Teilzeit- und Befristungsgesetz vom 21. Dezember 2000 (BGBl. I S. 1966), i.d.F. vom 19.04.2007 (BGBl. I S. 538)
3 3.1
Arbeitsformen Begriffliche Grundlagen
Durch Typenbildung realer Arbeitssysteme und Tätigkeiten wird die enorme Vielfalt menschlicher Arbeit geordnet und dadurch Komplexität reduziert. Basis der Typenbildung sind sowohl organismische Segmente oder Funktionen als auch vorwiegende Aufgaben- oder Leistungsarten. Dies bedeutet, dass Arbeitsformen nach dem Prinzip eines aussagefähigen minimalen Satzes von Mess-, Bewertungsund Beurteilungsgrößen zusammengefasst werden. Die wohl geläufigste Gliederung von Arbeitsformen ist die Unterscheidung von geistiger und körperlicher Arbeit, auch Kopf- und Handarbeit genannt. Üblicherweise ist damit das Überwiegen einer der beiden Aspekte gemeint, da in realen Arbeitstätigkeiten weder nur geistige Tätigkeiten noch körperliche Arbeit ohne zumindest elementare geistige Prozesse anzutreffen sind. Zwar ist über einen gewissen Zeitraum eine rein geistige Tätigkeit (z.B. Planen) möglich, jedoch mündet diese entweder in eine Ausführung der zuvor gedanklich durchgespielten Tätigkeit oder das Ergebnis der gedanklichen Beschäftigung wird in irgendeiner Weise (beispielsweise durch Sprechen, Schreiben oder Gestik) weitergegeben, was üblicherweise ebenfalls mit körperlichen (muskulären) Aktivitäten verbunden ist. Umgekehrt erfordern auch primär körperliche Arbeiten, wie beispielsweise das Tragen schwerer Werkstücke, mindestens rudimentäre geistige Aktivitäten, wie etwa das geistige Präsenthalten der Aufgabenstellung. In der Arbeitswissenschaft werden die idealtypischen Extremformen menschlicher Arbeit als informatorische und energetische Arbeit, als reiner Informationsbzw. Energieumsatz, bezeichnet. In Arbeitssystembetrachtungen wird neben Informations- und Energieumsatz auch noch ein Stoffumsatz unterschieden. Die dem Menschen im Rahmen seines Stoffwechsels verfügbaren Möglichkeiten des Stoffumsatzes werden jedoch üblicherweise nicht in Arbeitstätigkeiten genutzt. Ein Beispiel für eine solche Nutzung wäre das Aufschließen von Stärke bei der Bierproduktion durch Einspeicheln, wie es bei einzelnen Naturvölkern anzutreffen ist. Der menschliche Beitrag zum Energiefluss beschränkt sich in der Regel auf die Abgabe mechanischer Energie, obgleich andere Energieformen denkbar wären, etwa das Erzeugen von Prozesswärme, beispielsweise das Schmelzen von Eis durch Körperwärme. Tabelle 3.1 zeigt fünf Mischformen der idealtypischen Extremformen, die sich nach dem oben genannten Prinzip des aussagefähigen minimalen Satzes von Mess-, Bewertungs- und Beurteilungsgrößen bilden lassen.
224
Arbeitswissenschaft
Tabelle 3.1: Verschiedene Arbeitsformen als Kombination der Grundtypen energetische und informatorische Arbeit (modifiziert nach ROHMERT 1983a) Typ der Arbeit
Energetische Arbeit
Art der Arbeit Mechanisch Motorisch Was verlangt Kräfte abgeben Bewegungen die Erledigung ausführen der Aufgabe vom „Mechanische Genaue Menschen? Arbeit“ im Bewegung Sinne der bei geringer Physik Kraftabgabe Welche Organe oder Funktionen werden beansprucht?
Muskeln, Sehnen, Skelett, Atmung
Beispiele
Tragen
Informatorische Arbeit Reaktiv Kombinativ Kreativ Reagieren und Informationen Informationen Handeln kombinieren erzeugen Informationen aufnehmen und darauf reagieren
Informationen mit Gedächnisinhalten verknüpfen
Verknüpfen von Informationen zu „neuen“ Informationen
Sinnesorgane, Sinnesorgane, ReaktionsMuskeln, Sehnen, und Kreislauf Merkfähigkeit sowie Muskeln
Denk- und Merkfähigkeit sowie Muskeln
Denk-, Merksowie Schlussfolgerungsfähigkeit
Konstruieren
Erfinden
Montieren
Auto fahren
Energetisch-effektorischer Anteil Der energetische Anteil von Arbeitstätigkeiten beinhaltet üblicherweise die Inanspruchnahme der Skelettmuskulatur, so dass Kräfte erzeugt und Bewegungen ausgeführt werden können. Daher wird auch von energetisch-effektorischer Arbeit gesprochen. Die Arbeitsmöglichkeiten eines Muskels lassen sich nach zwei Grundformen (Abb. 3.1) unterscheiden: x Die sog. statische Muskelarbeit, bei der lediglich einer einzuwirkenden Kraft (z.B. gehobene Last, Eigengewicht von Gliedmaßen) das Gleichgewicht gehalten wird (isometrische Kontraktion). Da keine Bewegung vorliegt, wird dabei im physikalischen Sinn keine Arbeit geleistet. Physikalisch entspricht Arbeit dem Skalarprodukt aus Kraft und Weg. Unter physiologischen Gesichtspunkten würde sich das Produkt aus Kraft und Zeit besser als Arbeitsmaß eignen (ROHMERT 1983a).
Arbeitsformen
225
x Die sog. dynamische Muskelarbeit, bei der sich einzelne Muskeln abwechselnd anspannen und wieder entspannen und physikalische Arbeit (z.B. Heben einer Last, Drehen einer Kurbel) geleistet wird (abwechselnde isotonische Kontraktion).
kim
kr
sim
sr kim
F
Isometrische (im) Kontraktion
Statische Arbeit
kit
kit
kat
sit
sat
F
Isotonische (it) Kontraktion
kat
F
Auxotonische (at) Kontraktion
Dynamische Arbeit
Abb. 3.1: Schematische Darstellung zu statischer und dynamischer Muskelarbeit (in Anlehnung an SILBERNAGEL u. DESPOPOULOS 1983) (k: Länge des kontraktilen Muskelanteils, s: Länge des serienelastischen Muskelanteils)
Aus physiologischer Sicht ist vor allem statische Muskelarbeit problematisch. Durch die Dauerkontraktion verschlechtert sich die Durchblutung des Muskels und die Versorgung mit Sauerstoff und Nährstoffen sowie die Entsorgung von Stoffwechselprodukten sind nach kurzer Zeit unzureichend. Abwechselnde Kontraktion und Erschlaffung eines Muskels bei dynamischer Arbeit fördert dagegen unter Umständen bei einem günstigen zeitlichen Verhältnis der beiden Zustände sogar die Durchblutung (ROHMERT 1983a). Eine weitere Unterscheidung statischer Muskelarbeit kann danach erfolgen, ob, bezogen auf den Körper, nur eine innere Kraftwirkung vorliegt (statisches Beibehalten einer Körperstellung). In diesem Fall spricht man von statischer Haltungsarbeit. Kommt es zu einer äußeren Kraftwirkung (z.B. Halten von Werkzeug oder Werkstück) wird dies als statische Haltearbeit bezeichnet. Die dynamische Muskelarbeit wird danach gegliedert, welcher Anteil der Gesamtmuskelmasse eingesetzt wird. Bei der einseitig dynamischen Muskelarbeit werden nur kleine Muskelgruppen eingesetzt, in denen es (lokal) zu Ermüdungserscheinungen kommt, während bei der schweren dynamischen Muskelarbeit auch das Kreislauf- und Atmungssystem (erhöhter Sauerstoff- und Nährstoffbedarf) involviert sind (siehe Kap. 3.2.3). In Tabelle 3.2 sind die Untergruppen der Muskelbelastungsformen im Überblick dargestellt.
226
Arbeitswissenschaft
Tabelle 3.2: Formen von Muskelarbeit (nach ROHMERT 1983a) Muskelbelastungsform physiologische Grobgliederung
statisch
dynamisch
Kriterien für Feingliederung
innere und äußere Kraftwirkung
Größe der Muskelgruppe
Beispiele
ergonomische Bezeichnung
Biomechanische Kennzeichen
statische Haltungsarbeit
Halten des Oberkörpers beim gebeugten Stehen
keine Bewegung von Gliedmaßen, keine Kräfte auf Werkstück oder Bedienelemente keine Bewegung von Gliedmaßen; Kräfte an Werkstück, Werkzeug oder Bedienelement
Statische Haltearbeit
Überkopfschweißen oder Montieren, Tragearbeit
Kontraktionsarbeit
Gussschleifen
Folge statischer Kontraktionen
einseitig dynamische Arbeit
Handhebelpresse, Schere betätigen
schwere dynamische Arbeit
Schaufelarbeit
kleine Muskelgruppen im allgemeinen mit relativ hoher Bewegungsfrequenz Muskelgruppen >1/7 der gesamten Skelettmuskelmasse
Physiologische Kennzeichen der Beanspruchung Durchblutung wird bereits bei Anspannung von 15% der maximal möglichen Kraft durch Muskelinnendruck gedrosselt, dadurch starke Beschränkung der maximal möglichen Arbeitsdauer auf wenige Minuten Übergang zu statischer Arbeit vergleichbarer Beanspruchung bei geringen Bewegungsfrequenzen maximal mögliche Arbeitsdauer durch Arbeitsfähigkeit des Muskels beschränkt Begrenzung durch Leistungsfähigkeit der Sauerstoffversorgung durch Herz, Kreislauf, Atmung
Informatorischer Anteil Angesichts der Vielfalt der Ausprägungen vorwiegend nicht-körperlicher Arbeitsformen ist es bis heute nicht gelungen, eine der Muskelarbeit ähnliche logischstringente Untergliederung auf hohem Abstraktionsgrad zu schaffen. Vielversprechende Gliederungsansätze stützen sich auf komplexitätstheoretische Maße aus der Grundlagenforschung (GRASSBERGER 1986; BIALEK et al. 2001), die den Informationsfluss zwischen Vergangenheit und Zukunft eines Arbeitsprozesses zu beschreiben vermögen (siehe SCHLICK et al. 2006, 2007, 2009), jedoch noch weiteren theoretischen und experimentellen Validierungen unterzogen werden müssen, um eine wissenschaftlich hinreichende Typenbildung zu ermöglichen. Unter Einbeziehung von Überlegungen bezüglich der Beobachtbarkeit und Messbarkeit von Zustandsgrößen wird daher der klassische psychophysiologische
Arbeitsformen
227
Ansatz der Gliederung nicht-körperlicher Arbeit verwendet, der drei Phasen unterscheidet: x Die frühen Prozesse der Informationsaufnahme, welche das Entdecken und Wahrnehmen eines Reizes mittels der Rezeptoren (Sinnesorgane) einschließlich der Vorverarbeitung zum Gegenstand haben (Kap. 3.3.2.1). x Die zentralen Prozesse der Informationsverarbeitung, welche das Erkennen der Signalbedeutung, Identifizieren der wesentlichen Merkmale und Entscheiden zwischen Handlungsalternativen beinhalten sowie die Verknüpfung mit Gedächtnisinhalten sicherstellen (Kap. 3.3.2.2). x Die späten Prozesse der Reaktion durch motorische Regulation und Informationsabgabe, beispielsweise durch Sprache, Gesten oder weitere Handlungen (Kap. 3.3.2.3). Darauf aufbauend lässt sich die in Tabelle 3.1 eingeführte Typenbildung hinsichtlich der dazu nötigen Verarbeitungsressourcen weiter verfeinern (Abb. 3.2): x Liegt der Schwerpunkt bzw. Engpass der Arbeit in der Informationsaufnahme, sind also vor allem die Rezeptoren beansprucht, handelt es sich um sog. sensorische Arbeit. Weitere Differenzierungen sind nach der Art (visuell, auditiv, taktil, olfaktorisch, propriozeptiv) der involvierten Rezeptoren möglich. Begrenzender Faktor ist die (von Alter, Ermüdungszustand etc. abhängige) Empfindlichkeit der Sinnesorgane und die Filterfunktionalität der damit verbundenen Vorverarbeitungsprozesse. x Steht das Erkennen im Vordergrund, so handelt es sich um diskriminatorische Arbeit. Beim Erkennen geht es um das Extrahieren im Hinblick auf die Vorhersage wesentlicher Eigenschaften eines Signals und die symbolische Verdichtung dieses Signals zu einem Begriff oder Sachverhalt, beispielsweise die Verknüpfung von Liniensegmenten zu einem optischen Warnzeichen oder eines Geräusches zum Vorliegen eines Motorschadens. Das Leistungsspektrum wird unter anderem dadurch begrenzt, wie viele unterschiedliche Ausprägungen eines Reizes (z.B. Tonhöhe, Lautstärke, Helligkeit) identifiziert und unterschieden werden können und welcher minimale Kontrast erforderlich ist. x Das Entscheiden ist das primäre Kennzeichen kombinatorischer Arbeit. Dem identifizierten Signal und seinen symbolischen Repräsentationsformen muss aus einem verfügbaren Handlungsrepertoire eine adäquate Reaktion zugeordnet werden. x Werden solche Handlungsmöglichkeiten erst generiert, d.h. besteht ein wesentlicher Teil der Arbeit darin, auf Basis bereits bestehender oder latenter Information neue Symbolstrukturen sowie raum-zeitliche Korrelationen zwischen Symbolen zu erzeugen und damit offene Problemstellungen zu lösen, so handelt es sich um kreative Arbeit. x Signalisatorisch-motorische Arbeit beinhaltet im Wesentlichen die Informationsabgabe. Diese kann in Form gesprochener oder geschriebener Sprache,
228
Arbeitswissenschaft
in Gesten oder sonstiger Handlungen (z.B. Bedienen von Stellteilen wie Druckknöpfen, Hebeln etc.) erfolgen. x Tätigkeiten, bei denen eine besonders enge Verbindung zwischen energetisch-motorischen und sensorisch-informatorischen Leistungsanteilen besteht, ohne dass die Muskelarbeit durch besondere Schwere oder Einseitigkeit gekennzeichnet wäre oder die Anforderungen an die Informationsverarbeitung (Erkennen, Entscheiden) besonders hoch wären, werden als sensumotorische Arbeit bezeichnet. Typische Vertreter dieses Arbeitstyps sind feine Montagetätigkeiten. motorische Arbeit
Sensu-
Signal
Sensorische Arbeit
Diskriminatorische Arbeit
Kombinatorische Arbeit
Signalisatorischmotorische Arbeit
Entdecken Wahrnehmen
Erkennen Identifizieren
Entscheiden
Handeln Aktion
Kreative Arbeit
Reaktion
Sensorisches Gedächtnis, Kurzzeitgedächtnis, Langzeitgedächtnis
Abb. 3.2: Systematik der menschlichen Informationsverarbeitung und primär vorliegende informatorische Arbeitsformen (nach LUCZAK 1975)
3.2 3.2.1
Energetisch-effektorisch Menschliche Kraft- und Energieerzeugung
Der energetisch-effektorischen Arbeit werden Tätigkeiten des Menschen zugeordnet, die mit Erzeugung von Kräften bzw. Umsetzung mechanischer Energie verbunden sind. In der arbeitswissenschaftlichen Literatur wird diese Arbeit auch als „Muskelarbeit“ bezeichnet. Obwohl in den letzten Jahren die Bedeutung der energetisch-effektorischen Arbeit durch Mechanisierung und Automatisierung zurückgegangen ist, so verbleibt dennoch eine Vielzahl von Arbeitsplätzen in der Industrie und in der Landwirtschaft, bei denen eine erhebliche Muskelarbeit zu leisten ist. Dies sind bspw. Arbeitsplätze, bei denen eine Mechanisierung technisch kaum möglich (z.B. Arbeiten in kleinen Lagern) oder solche, für die eine Mechanisierung nicht wirtschaftlich ist (z.B. das Abladen von unregelmäßig geformtem Stückgut). Gerade moderne, flexibel gestaltete Arbeitssysteme verlangen aus Gründen der schnellen Disposition häufig die manuelle Ausführung bestimmter Abläufe. Dies sind leider oft nur Teile eines größeren Prozesses, die nicht ohne Weiteres zu mechanisieren oder automatisieren sind (z.B. das Verladen von Waren auf ein
Arbeitsformen
229
Transportband), wodurch besonders einseitige und kurzzyklische Arbeitsvorgänge entstehen können. Arbeitsgestalterische Aufgaben bei energetisch-effektorischer Arbeit liegen allerdings nicht darin, den Menschen vor körperlicher Arbeit möglichst zu bewahren, sondern diese so zu gestalten, dass sie dauerhaft und ohne unnötig hohe Beanspruchungen bzw. gesundheitlichen Beschwerden bewältigt werden können. Dies ist insofern von Bedeutung, da unnötig hohe Beanspruchungen häufig subjektiv nicht sofort spürbar sind, sondern erst längerfristig in Form von Schädigungen und Erkrankungen wirksam werden (z.B. Muskelerkrankungen, Sehnenscheidenentzündung und Wirbelsäulenschädigungen). Trotz vielfältiger arbeitsgestaltender Maßnahmen in den letzten Jahren nehmen in Deutschland die Erkrankungen des Muskel- und Skelettsystems bei der Arbeitsunfähigkeit die erste Stelle ein (MILDE u. PONTO 2005). 3.2.2
Biomechanische Aspekte energetisch-effektorischer Arbeit
Unter mechanischen Gesichtspunkten stellt der menschliche Körper ein lose gekoppeltes Stabwerk dar, wobei die „Stäbe“ (Knochen) über bewegliche Gelenke miteinander verbunden sind. Beim Einwirken oder Aufbringen von Kräften entstehen solche folglich nicht nur an der Einwirkungsstelle und den unmittelbar beteiligten Gelenken, sondern im gesamten Körper zur Aufrechterhaltung der notwendigen Kräftegleichgewichte. Dabei müssen die Knochen stabilisiert werden durch x aktive Muskelanspannung an den Gelenkpunkten, x Positions- bzw. Lageveränderungen des Körpers oder x äußere Abstützung des Körpers oder Teilen davon (z.B. im Sitz). Damit wird deutlich, dass bei der Betrachtung energetisch-effektorischer Arbeitsformen Belastungen nicht nur am Eintrittsort von Kräften, Momenten und Energien, sondern im ganzen Körper mit unterschiedlicher Verteilung auftreten. Grundsätzlich kann so mit den Prinzipien der klassischen Mechanik für jeden Gelenkpunkt eine Momentenbilanz aufgestellt werden sowie der statische und dynamische Kraftfluss nachverfolgt werden. Damit wird beispielsweise deutlich, dass beim stehenden Menschen Zugkräfte an der Hand mit entsprechenden Kräften im Rumpf, in den Knien und in den Füßen einhergehen, wenn der Körper in freier Lage unverändert bleiben soll. Bei bewegten Massen müssen darüber hinaus die Massenträgheitskräfte mitberücksichtigt werden, bei hohen Bewegungsfrequenzen auch die viskösen Dämpfungskräfte durch die Verformung von Körpergewebe und innerer Reibung. Aus der biomechanischen Analyse können somit einerseits Aussagen bezüglich der mechanischen Verhältnisse x der Standsicherheit, x der Wirkung von Körperunterstützungsflächen, x dem Kräftefortsatz im Körper
230
Arbeitswissenschaft
und andererseits wichtige Rückschlüsse auf die in den einzelnen Körperteilen auftretenden Belastungen gezogen werden. Belastet werden im Wesentlichen x die Muskulatur, mit der Kräfte erzeugt werden, x die Knochen, Gelenke, Sehnen und Bänder, die Kräfte aufnehmen müssen, und x der Stoffwechsel und das Herz-Kreislauf-System, welche die von den Muskeln umgesetzte Energie bereitstellen müssen. Eine besondere Bedeutung kommt der biomechanischen Analyse bezüglich der Belastung der Wirbelsäule zu, da diese nicht-klinisch weder mittelbar noch unmittelbar messbar ist. 3.2.3
Arbeitsformen und Beanspruchungsfaktoren
Bei energetisch-effektorischen Arbeitsformen werden als aktive Organe hauptsächlich die Muskeln und das Herz-Kreislauf-System belastet. Im Sinne einer Engpassbetrachtung unterscheidet man daher bezüglich der Arbeitsform: Schwere dynamische Arbeit Hierbei kommen mehrere, in der Regel große Muskelgruppen gleichzeitig zum Einsatz (siehe Tabelle 3.3). Bei hoher Belastung kommt es primär zu einem Versorgungsengpass durch die begrenzte Leistungskapazität des Herz-KreislaufSystems. Beispiele hierfür sind manuelle Transporttätigkeiten oder Lastenhandhabung. Einseitig dynamische Arbeit Hierbei sind hauptsächlich kleinere bzw. lokal begrenzte Muskelgruppen im Einsatz (siehe Tabelle 3.3), die bei hoher Belastung schnell ermüden. Der Engpass liegt hierbei also primär im Muskel, wobei das Herz-Kreislauf-System nicht zwangsläufig spürbare Beanspruchungsreaktionen zeigen muss (z.B. beim Schrauben Eindrehen, Montieren von kleinen Teilen). Allseitig dynamische Arbeit Wird schwere dynamische Arbeit mit z.B. wechselnden Haltungskomponenten über längere Dauer (8h Arbeitstag) gekoppelt, so wandert der Engpass in das metabolische System (Atmung, VO2, Energiebereitstellung und -umsatz, Thermoregulation). Der Ausgleich von Nahrungszufuhr und arbeitsbedingten Verbrennungsprozessen wird zum Problem, das in Kampagnen (z.B. Erntearbeit) zeitweise auf Koste des Körpergewichts gelöst wird. In der Vergangenheit wurden solche Arbeiten bei Nahrungsknappheit und Bewirtschaftung mit so bezeichneten „Schwerarbeiter-Marken“ bedacht, die über 5000 kcal Nahrungsmengen/Tag vorsahen, so z.B. im Bergbau und der Waldarbeit. Heute findet man diese Arbeitsform allenfalls noch beim Spitzensport in Ausdauersportarten.
Arbeitsformen
231
Tabelle 3.3: Unterschiede zwischen einseitiger und schwerer dynamischer Muskelarbeit Dynamische Arbeit von Finger Hand Arm
allein
Fuß Bein
Finger
zusammen mit anderer Extremität Hand Arm Fuß
Bein
einseitig dynamische Muskelarbeit ohne Schultern mit Schultern schwere dynamische Muskelarbeit
Die Differenzierung zwischen schwerer dynamischer und einseitig dynamischer Arbeit hängt folglich vom Beanspruchungsengpass ab. Wenn regelmäßig mehr als ca. 1/8 bis 1/7 der Muskelmasse des Körpers im Einsatz ist, kann in erster Näherung von einer schweren dynamischen Arbeitsform ausgegangen werden. Bei allseitig dynamischer Arbeit wandert der Engpass in Richtung maximale Sauerstoffaufnahme, maximale Nahrungsaufnahme im metabolischen System sowie Thermoregulation (bei Hitzearbeit). Statische Arbeit Im Unterschied zur mechanischen Betrachtung der äußeren Situation müssen die Muskeln jedoch auch bei unbewegtem Körper (d.h. ohne Erzeugung physikalischer Arbeit) zur Erhaltung der Körperposition angespannt werden. Die besondere Bedeutung statischer Arbeitsformen liegt darin, dass diese energetisch besonders unwirtschaftlich sind, da die aufgrund der fehlenden Bewegung unzureichende Muskeldurchblutung zu einer viel schnelleren Muskelermüdung und letztere wiederum zu einer gesteigerten Kreislaufaktivität führt. Eine solchermaßen statische Muskelbelastung entsteht bei x statischer Haltungsarbeit, bei der lediglich bestimmte Gelenk- oder Körperstellungen fixiert werden (Beispiel: Gebeugte Körperhaltung bei klinischen Operationen, Verkehrsregelung per Hand, Montage abgehängter Decken), x statischer Haltearbeit, bei der zur Körperstellung zusätzlich eine Last fixiert wird (Beispiel: Das Halten von Deckenplatten bei Ausbauarbeiten, das Halten eines Handwerkzeuges: Bohrmaschine / Winkelschleifers etc.) sowie x statischer Kontraktionsarbeit, die das Aufbringen einer nicht konstanten Kraft beschreibt, ohne dass eine Bewegung vorliegt (Beispiel: Betätigen einer Bandbremse zum Steuern einer Maschinendrehzahl oder das Ansetzen einer elektrischen Handbohrmaschine und Bohren eines Sacklochs). Bei der statischen Arbeit und der dadurch im Muskel auftretenden Daueranspannung kann der Muskelstoffwechsel durch hohe Muskelinnendrücke, die über dem des Kapillardrucks liegen, nicht mehr ausreichend gewährleistet werden (Abb. 3.3).
232
Arbeitswissenschaft
Ruhe
Blutbedarf
Durchblutung
Dynamische Arbeit
Blutbedarf
Durchblutung
z.B. Kurbeln
Statische Arbeit
Blutbedarf
Durchblutung
z.B. Halten
Abb. 3.3: Blutversorgung und Blutbedarf statisch und dynamisch arbeitender Muskeln (schematisch, nach LEHMANN 1962)
Durch den damit verbundenen Sauerstoffmangel kommt es zu einer schnellen Ermüdung des Muskels. Wie die Untersuchungen von ROHMERT (1960) zeigen, können daher bereits statische Kräfte im Bereich von mehr als 15% der Maximalkraft zu lokalen Muskelermüdungen und somit zu einer Begrenzung der möglichen Ausübungsdauer führen (Abb. 3.4). Werden 25% der Maximalkraft statisch abverlangt, so kann die Kraft wegen der schnell eintretenden Muskelermüdung nur für etwa vier Minuten aufrechterhalten werden; bei 50% der Maximalkraft sogar nur für eine Minute. Aus der spezifischen Entstehungsursache der Ermüdung bei statischer Arbeit erklärt sich gleichzeitig die praktische Differenzierung von statischer und dynamischer Arbeit: Zur Blutversorgung des Muskels muss dieser kurzfristig – entsprechend der Dauer des Durchflusses für ca. 0,3s – entspannt sein. Zur Vermeidung der schnellen Ermüdung bei statischer Arbeit sind demzufolge möglichst völlige Erschlaffungsphasen notwendig, denn bereits kleine statische Anspannungen verlangsamen die Blutversorgung in erheblichem Maße. Obwohl der Engpass bei der statisch ausgeübten Kraft zunächst im Muskel liegt, ist bei größeren Muskelgruppen daher auch eine erhebliche Beanspruchung des Herz-Kreislauf-Systems zu verzeichnen. Neben den aktiv kraft- und energieerzeugenden Organen werden darüber hinaus immer auch Knochen, Gelenke, Sehnen und Bänder beansprucht. Deren Beanspruchung bleibt subjektiv nicht deshalb unbeachtet, weil sie unbedeutend ist, sondern weil deren Schmerzrezeptoren eine hohe Empfindlichkeitsschwelle besitzen. Von daher sind bei den passiven Elementen nur extrem hohe Beanspruchungen – dann allerdings sehr schmerzhaft – spürbar. Die praktische Konsequenz dieses Zusammenhangs liegt im oft leichtfertigen Umgang mit derartigen Beanspruchungen. Erst wenn die Belastbarkeitsgrenze aufgrund von Erkrankungen oder gar Schädigungen deutlich herabgesetzt ist, verhindern die – dann starken – Schmerzen eine weitere Beanspruchung. Neben den persönlich unangenehmen
Arbeitsformen
233
Konsequenzen muss die Tätigkeitsausführung dann mittelfristig oder sogar endgültig unterbrochen werden. Eine wichtige arbeitsgestalterische Aufgabe liegt daher im präventiven Schutz vor derartigen Überbeanspruchungen, weil der bei den Muskeln und beim Herz-Kreislauf-System im Allgemeinen gut funktionierende Begrenzungsmechanismus hier nicht in gleicher Weise wirkt.
Abb. 3.4: Maximale Ausdauer in Abhängigkeit von der statisch ausgeübten Muskelkraft (ROHMERT 1960)
3.2.4
Muskelsystem
Die Muskulatur des Bewegungsapparates besteht aus quergestreifter Muskulatur, die sich u.a. durch eine hohe Kontraktionsgeschwindigkeit auszeichnet und die, abgesehen von der Gesichtsmuskulatur, vom Rückenmark aus aktiviert wird. Darüber hinaus gibt es die vegetativ gesteuerte und relativ träge „glatte Muskulatur“ bei den inneren Organen des Körpers und die Herzmuskulatur als spezifische Form der quergestreiften Muskulatur 3.2.4.1
MuskelanatomieĆ
Anatomisch besteht der Muskel aus einer Vielzahl von Muskelfasern, die bei einem Durchmesser von 0,01 bis 0,1 mm noch mit bloßem Auge zu erkennen sind (Abb. 3.5). Ihre Länge kann bis zu 30 cm betragen und geht an beiden Enden in die Sehnen über. Die eigentlichen Träger der muskulären Funktion, die kontraktilen Elemente, bestehen aus länglich angeordneten Fadenbündeln, wobei zwei
234
Arbeitswissenschaft
Proteinsubstanzen – Actin und Myosin – filamentartig ineinandergreifen. Die dünnen Actinfäden sind an den Z-Scheiben angeheftet, die dicken Mysosinfäden an den H-Linien miteinander vernetzt. Im ruhenden Muskel überlappen sich die Enden nur geringfügig.
Abb. 3.5: Struktur des Muskels (nach HUXLEY 1960)
Arbeitsformen
3.2.4.2
235
MuskelerregungĆ
Die Innervierung der Muskelzellen erfolgt synaptisch über so genannte motorische Endplatten, die mit den zuständigen Motoneuronen im Rückenmark verbunden sind. Auf diese Weise werden mehrere gleichzeitig aktivierte Muskelfasern (beim Bewegungsapparat zwischen 10 und 1000) zu einer „motorischen Einheit" zusammengeschaltet. Über vom Motoneuron mittels Nervenleitungen an die motorische Endplatte übertragene elektrische Impulse (Aktionspotentiale), die sich regenerativ entlang der Muskelfaser ausbreiten, werden Depolarisationsimpulse der Muskelzellmembran ausgelöst und bewirken damit eine Einzelzuckung in den Muskelfasern der motorischen Einheit von etwa 35-70 ms Dauer. Von Bedeutung ist hierbei, dass jedes ausreichend große Aktionspotential zu einer kurzen Kontraktion führt, wobei weder deren Dauer noch deren Stärke modifiziert werden kann. Die mittlere Kontraktionsstärke einer einzelnen motorischen Einheit lässt sich durch die Entladungsrate des Motoneurons (5-20, max. 50 Hz) nur in sehr begrenztem Maße steuern. Eine genaue Abstufung der Gesamtspannung des Muskels wird deshalb durch die kontrollierte Aktivierung verschiedener (und verschieden großer) motorischer Einheiten ergänzt („Rekrutierung"). Eine schwache Muskelkontraktion wird typischerweise durch Motoneurone kontrolliert, die zu kleineren motorischen Einheiten gehören, eine zunehmend stärkere Kontraktion wird dann durch das Hinzuschalten von mehr und größeren motorischen Einheiten erreicht. Innerhalb des Gesamtmuskels arbeiten die einzelnen motorischen Einheiten (bei nicht zu hohen Aktivierungsgraden) asynchron und bewirken damit in der Summe einen geglätteten Kraftverlauf (DELUCA et al. 1982). Ab ca. 60% der Maximalkraft ist dann eine zunehmende Synchronisation der motorischen Einheiten zu verzeichnen, die zu einer – auch im Alltag leicht zu beobachtenden – unruhigeren Kraftentwicklung führt. Für die verschiedenen Muskelgruppen ist der prinzipielle Ablauf zwar ähnlich, jedoch sind die beteiligten Mechanismen entsprechend ihren Aufgaben unterschiedlich ausgeprägt. So findet man bei den Muskeln der oberen Extremitäten eine relativ größere Zahl motorischer Einheiten mit verhältnismäßig wenigen Muskelfasern pro motorische Einheit. Des Weiteren sind in den für die Motoriksteuerung zuständigen Zentren überproportional mehr Areale für die oberen Extremitäten als für die Beine vorgesehen. Das Hand-Arm-System kann daher wesentlich gezielter und feinfühliger angesteuert werden (siehe Kap. 3.3.2.3.1.1). 3.2.4.3
MuskelenergetikĆ
Der energieliefernde Brennstoff des Muskels ist das Adenosintriphosphat (ATP), das bei der Kontraktion in Adenosindiphosphat und Phosphat hydrolytisch gespalten wird. Im Muskel wird die chemische Energie direkt in mechanische Energie und (Verlust-) Wärme umgewandelt, wobei dieser Vorgang anaerob, also ohne Zufuhr von Sauerstoff abläuft (Abb. 3.6). Im Unterschied zu den meisten technischen Systemen, die auf thermodynamischer Basis mechanische Energie über eine vorherige Wärmeenergieumwandlung erzeugen (wobei für einen hohen Wir-
236
Arbeitswissenschaft
kungsgrad eine möglichst große Temperaturdifferenz erforderlich ist), liegt hier also eine direkte chemomechanische Energietransformation vor. Kreatinphosphatzerfall
Anteil de er Energie ebereitsttellung [% %]
ATP - Zerfall Oxidation
100
Glykolyse
75
50
25
0 0
10
20
30
40
50
60
70
80
90
100
Belastungsdauer [s]
Abb. 3.6: Zeitgang der energieliefernden Prozesse zu Beginn einer leichten Arbeit (KEUL et al. 1969)
Die Resynthetisierung des ATP, das in den muskeleigenen Vorräten nur für wenige Zuckungen reicht, erfolgt in den Muskeln selbst durch die Spaltung von Kreatinphosphat (ebenfalls anaerob). Ist auch dieser Speicher nach etwa 100 Zuckungen erschöpft, wird die zur ATP-Resynthese erforderliche Energie durch den Abbau von Glukose bereitgestellt. Dieser erfolgt bei ausreichender Sauerstoffzufuhr aerob zu Kohlendioxid und Wasser. Liegt der ATP-Verbrauch über der aeroben Glukoseabbaukapazität, kann kurzfristig Glykogen auch anaerob abgebaut werden. Dies ermöglicht eine zwei bis dreimal so schnelle ATPSpaltungsrate wie im Fall einer aerob erbrachten Dauerleistung. Allerdings kann diese hohe Rate (und damit die mechanische Leistung) nur für kurze Zeit erbracht werden, weil die anaerob verfügbaren Energiereserven beschränkt sind und weil sich in der Zellflüssigkeit und im Blut Milchsäure anhäuft, die schließlich zur metabolischen Acidose und damit zur Muskelermüdung führt. Solche anaerob energieliefernden Prozesse sind darüber hinaus oft zu Beginn einer - auch unterhalb der Dauerleistungsgrenze liegenden - Muskeltätigkeit nötig, weil die Anpassung der aeroben ATP-Bildung an den erhöhten Tätigkeitsstoffwechsel eine gewisse Anlaufzeit (1-2 min) benötigt (Abb. 3.6). Das Wiederauffüllen der anaeroben Energiespeicher nach Beendigung der Muskelarbeit erfolgt wiederum durch Oxydation, so dass in der Ruhephase noch für eine gewisse Zeit ein erhöhter Sauerstoffbedarf zur Rekonstitution, d.h. Erholung, besteht.
Arbeitsformen
237
Die Maximalkraft eines Muskels hängt von seinem Querschnitt ab, wobei von einem relativ konstanten Verhältnis im Bereich von 0,6 N/mm2 auszugehen ist. Hierbei ist jedoch die mechanische Übersetzungswirkung durch den Lastarm (Knochen) zu berücksichtigen, über den die Kraft zugunsten des Weges um ein Vielfaches reduziert wird. Der gesamte Wirkungsgrad eines Muskels liegt bei 20-30%, unter günstigen Umständen bis 35% (der der elementaren Energietransformation beträgt 40-50%, der Rest wird für energieverzehrende Prozesse zur ATP-Generierung benötigt). Der Anteil der Muskeln am gesamten Körpergewicht beträgt bei Frauen etwa 2530% und bei Männern 40-50%. 3.2.5
Eigenschaften der Krafterzeugung
3.2.5.1
MuskuläreĆArbeitsformenĆ
Der biomechanische Zustand eines aktiven Muskels ist durch zwei unabhängige Zustandsgrößen bestimmt, nämlich durch seine Länge und durch seine momentan erzeugte Kraft (ROHMERT u. JENIK 1973). Je nach Beschaffenheit dieser Größen können verschiedene Arbeitsformen unterschieden werden (Abb. 3.7).
Dynamische Arbeit
Statische Arbeit
Kontraktionsart
IsometrischĆ Ć Ć Ć Ć Ć Ć IsotonischĆ Ć Ć Ć Ć Ć AuxotonischĆ Ć Ć
KraftĆ konstantĆ Muskel-Ć längeĆ konstantĆ KraftĆver-Ć Ć änderlich Ć Ć Ć KraftĆkonstant,Ć MuskellängeĆ veränderlichĆ Ć Ć Ć MuskellängeĆĆ undĆKraftĆ veränderlichĆ
StatischeĆ HaltearbeitĆ Ć StatischeĆ HaltungsarbeitĆ Ć Kontraktions-Ć arbeit
Beispiele:Ć HaltenĆeinesĆAuspuffsĆĆ beiĆderĆMontageĆ Ć GebeugteĆKörperhaltungĆ beiĆklinischenĆOperationenĆĆ Ć AndrückenĆeinerĆ BohrmaschineĆ Ć Ć Ć VerschiebenĆeinesĆ GegenstandesĆ Ć Ć Ć Ć BetätigenĆeinerĆPresse
Abb. 3.7: Verschiedene Arbeitsformen (Kontraktionsarten) des Muskels (LUCZAK 1998)
Jede Muskelanspannung die mit einer Längenänderung einhergeht, wird als dynamische Muskelarbeit bezeichnet. Die häufigste in der Praxis zu findende dynamische Arbeitsform ist die der auxotonischen Kontraktion, bei der sich die Muskelkraft mit der Muskellänge ändert. Im Unterschied dazu bleibt bei einer isotonischen Kontraktion die Kraft während der Bewegung konstant. Die erzeugte Kraft und die Bewegung müssen im Übrigen nicht gleich gerichtet sein; bei Angriff
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Arbeitswissenschaft
einer äußeren Kraft, die größer ist als die erzeugte, dehnt sich der Muskel trotz einer erzeugten Zugkraft (negativ dynamische Muskelarbeit). Bei einer isometrischen Kontraktion bleibt die Muskellänge unverändert, d.h. es liegt keine Bewegung vor (statische Muskelarbeit). Dies schließt jedoch eine Variation der Kraft nicht aus. Wie die Beispiele in Abb. 3.7 zeigen, findet sich diese Arbeitsform – ohne Bewegung – dennoch sehr häufig. Obwohl dabei nach außen keine Energie abgegeben wird, sind die Myosinköpfe in dauernder „Rudertätigkeit" und leisten so eine erhebliche innere Haltearbeit. Aus muskulärer Sicht ist es dabei also nahezu gleichgültig, ob die entwickelte Kraft in Bewegungsenergie umgesetzt wird oder nicht. Im Unterschied zur skalaren physikalischen Definition der Arbeit Arbeit= Kraft · Weg muss eine physiologische Begriffsbestimmung der Arbeit demzufolge lauten (ROHMERT 1960) Arbeit= Kraft · Zeit . Im Übrigen wird bei statischer Arbeit – entsprechend dem 1. Hauptsatz der Thermodynamik – die gesamte umgesetzte chemische Energie in Wärme umgewandelt, weswegen eine solche Arbeitsform mit einer beträchtlichen Wärmeentwicklung einhergeht. Ein weiterer Unterschied zu dynamischen Arbeitsformen ist, dass bei letzteren durch den ständigen Wechsel zwischen Anspannung und Erschlaffung eine Pumpwirkung im Muskel selbst entsteht, die den notwendigen Stoffwechsel wirksam unterstützt und dafür sorgt, dass der Muskel relativ lange ohne Ermüdungserscheinungen arbeiten kann. Obwohl Kraft und Länge des Muskels nach außen unabhängige Zustandsgrößen beschreiben, so besteht dennoch ein innerer – muskelphysiologischer – Zusammenhang. Eine der Kraft entgegengesetzte Wirkung entsteht bei sehr großer Muskellänge allerdings durch die Dehnungskraft des Muskels. Bei sehr kleiner Muskellänge behindern sich dann die Actin- und Myosinfilamente, darüber hinaus wird die elektrische Erregung der Muskelfasern zunehmend gestört, woraus ebenfalls eine nachlassende Muskelkraft resultiert. Bei mittlerer Muskellänge kann folglich die größte Muskelkraft erzeugt werden, bei zunehmender oder abnehmender Muskellänge sinkt die Kraft dann ab (Abb. 3.8). Da sich der geschilderte Mechanismus unmittelbar auf die Krafterzeugung bezieht, gilt die Gesetzmäßigkeit der muskellängenabhängigen ErregungsKraft-Umsetzung auch bei submaximalen Kräften. Bei dynamischer Arbeitsform des Muskels spielt neben den unvermeidlichen Massenträgheitsmomenten auch der Gleitprozess der Actin- und Myosinfilamente im Muskel eine wichtige Rolle. Da hierfür – analog zu einer inneren Reibung – ein geschwindigkeitsabhängiger Teil der Gesamtkraft aufgebraucht wird, sinkt die maximal nach außen abgegebe-
Arbeitsformen
239
ne Kraft mit zunehmender Änderungsgeschwindigkeit der Muskellänge (sog. HillKraft-Geschwindigskeitsrelation, Abb. 3.9).
Abb. 3.8: Abhängigkeit der mittleren Armbeugekraft von der Winkelstellung des Ellenbogengelenks (ROHMERT 1962)
Abb. 3.9: Beziehung zwischen Kraft und Kontraktionsgeschwindigkeit mit daraus errechneter Abgabeleistung (Daten aus WILKIE 1950)
240
Arbeitswissenschaft
Hiermit erklärt sich die alltägliche Erfahrung, dass wir sehr schnelle Bewegungen nur bei geringer Kraftaufwendung ausführen können (wenn die Muskeln entspannt sind) und dass umgekehrt schwere Gegenstände nur sehr langsam gehoben oder bewegt werden können. Interessanterweise folgt daraus auch, dass bei isometrischer Kontraktion (statischer Muskelarbeit) – trotz der schnellen Muskelermüdung – die größten Kräfte erzeugt werden können. 3.2.5.2
UmsetzungĆderĆMuskelkraftĆ
Im einfachsten Fall ist ein Muskel spindelförmig mit einem Muskelbauch in der Mitte und je einen Sehnenansatz an den beiden Enden. Diese sind wiederum mit dem Knochengerüst verbunden, wobei zwischen den beiden Enden ein Gelenk liegt (Abb. 3.10).
Abb. 3.10: Prinzipien der Muskelanordnung am Skelett (nach SCHÜTZ u. ROTHSCHUH 1963, aus SCHMIDTKE, 1993)
Ein Muskel leistet Arbeit, indem er sich (ausgelöst von einer zentralnervösen Erregung) kontrahiert und somit ein Drehmoment im Gelenk erzeugt. Für eine Hin- und Rückbewegung sind daher immer mindestens zwei Muskeln mit entgegengesetzter Wirkungsrichtung erforderlich, die abwechselnd aktiviert werden (Antagonisten), es sei denn, dass sich bereits aus der Schwerkraft eine genügende Gegenkraft ergibt (Abb. 3.11). Zur Realisierung komplexer Bewegungen herr-
Arbeitsformen
241
schen im menschlichen Körper jedoch mannigfaltige Formen des Muskelaufbaus und der Gelenkankopplung vor (Abb. 3.12).
Beuger Reibung Strecker Beuger Trägheit Strecker Beuger Gravitation Strecker Mitte Mitte Mitte gestreckt gebeugt gestreckt
Abb. 3.11: Idealisierte Darstellung der Tätigkeit antagonistischer Muskelgruppen bei verschiedenen Arten des äußeren Widerstands (nach WAGNER 1927)
Abb. 3.12: Verschiedene Formen von Muskeln. a) Einfacher spindelförmiger Muskel mit Muskelbauch und Sehne; b) zweiköpfiger Muskel (M. Biceps); c) dreiteiliger Muskel (Delta-Muskel); d) vielfach gezackter Muskel; e) halbgefiederter Muskel; f ) gefiederter Muskel; g) Muskel mit sehnigen Einschneidungen; h) zweibäuchiger Muskel; i) mehrschwänziger Muskel (nach NEMESSURI 1963, aus SCHMIDTKE 1993)
242
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Setzt ein Muskel gelenkfern an (mit folglich großer Momentwirkung der erzeugten Kraft), so wird er meist für kraftbetonte und relativ langsam ablaufende Bewegungen eingesetzt, bei gelenknahem Ansatzpunkt (mit kleiner Momentwirkung) eignet er sich in der Regel für weniger kraftbetonte, dafür aber schnell zu verrichtende Bewegungen. Wird die Kraft über lange Sehnen in den Hebelarm eingeleitet, so erhöht sich damit der Bewegungsspielraum eines Gelenks und gleichzeitig wird das Trägheitsmoment des zu bewegenden Gliedes durch die geringere Massenbewegung verringert (z.B. bei den Fingern). Da menschliche Gelenke keinen festen Drehpunkt besitzen, verändert sich bei einer Bewegung folglich neben der Muskellänge auch der wirksame Hebelarm. 3.2.6
Maximale und zulässige Körperkräfte
Mit Bezug auf Abb. 3.13 lassen sich eher grundlagenorientierte Gliederungsschemata der Muskel- und Massenkräfte (im Körpersystem wirkend) sowie eher praxisorientierte Gliederungen hinsichtlich der erzeugten Aktionskräfte (vom Körper nach außen wirkend) unterscheiden und miteinander verknüpfen.
Abb. 3.13: Begriffe und Zusammenhänge bei Körperkräften des Menschen (nach DIN 33411 Teil 1)
Der Zusammenhang zwischen den Aktions-, Muskel- und Massenkräften sei anhand eines einfachen Beispiels erläutert (siehe Abb. 3.14). Die auf einen festen Griff nach außen hin ausgeübte statische Aktionskraft ergibt sich hier als Wirkung der statischen Massenkräfte (Eigengewichtskräfte des Armes) und der Muskelkräfte (bzw. Muskelmomente im Hand-, Ellenbogen- und Schultergelenk).
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243
Abb. 3.14: Zusammenwirken von Aktionskraft mit Muskel- und Massenkräften (nach DIN 33411 Teil 1)
Die zuvor dargelegten Zusammenhänge sind für die Arbeitsgestaltung von Bedeutung. Beispiele hierfür sind: x Die Eigengewichte der Körperteile (Massenkräfte) werden zum Einhalten einer Körperhaltung durch statische Muskelkräfte ausgeglichen. x Aktionskräfte an Körperstützflächen können sich aus Massenkräften der Körperteile und aus Haltungskräften zusammensetzen. Dies ist z.B. bei der Dimensionierung der Rückstellkräfte eines Pedals zu beachten. x Verkürzungsmuskelkräfte sind teilweise oder ganz Ursache der Antriebskräfte (z.B. Anheben von Lasten). x Verlängerungsmuskelkräfte sind teilweise oder ganz Ursache der Bremskräfte (z.B. Herabnehmen von Lasten). x Manipulationskräfte und Betätigungskräfte werden teilweise oder ganz durch das Zusammenspiel von Verkürzungs- und Verlängerungsmuskelkräften (einzelne Muskelgruppen) aufgebracht (z.B. Umsetzen von Lasten). Beispiel für Körperkräfte des Menschen (Isodynen) In der Abb. 3.15 sind maximale statische Haltungskräfte (sog. Isodynen) dargestellt. Für die Armkräfte (siehe auch DIN 33411, Teil 1) senkrecht nach oben ergibt sich bei einem Seitenwinkel von 30 Grad, einem Höhenwinkel von 0 Grad und einer relativen Armreichweite (a/amax= 50%) eine maximale mittlere Aktionskraft von 150 Newton. Eine vollständige Übersicht über die Körperkräfte des Menschen lässt sich nur durch systematische Untersuchungen im Bereich des gesamten Bewegungsraumes der Arme und Beine gewinnen. Die Darstellung der Ergebnisse erfolgt vielfach in Form der bereits erwähnten Isodynen (ROHMERT 1966). Hierunter werden Linien gleicher Kräfte im Bewegungsraum der Arme und Beine verstanden.
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Abb. 3.15: Ablesebeispiel für Armkräfte aus DIN 33411, TEIL 4 (Ausgabe September 1982) für maximale statische Haltungskräfte. Senkrecht nach oben ergibt sich bei einem Seitenwinkel ȕ=30°, einem Höhenwinkel Į=0° und einer relativen Reichweite a/amax =50% eine maximale mittlere Aktionskraft von 150 N
Für die Anwendung von Maximalkräften in der praktischen Arbeitsgestaltung empfiehlt sich, sie mit Zu- oder Abschlagsfaktoren zu multiplizieren, die vorhandene mechanische, individuelle und betriebliche Einflussgrößen (z.B. Lage des Handgriffes außerhalb der bequemen Armreichweite, ungünstige Armstellung, unzweckmäßige Form des Handgriffes mit der Folge großer Flächendrücke auf der Hand oder größte Kraft am Ende statt am Anfang der Bewegung) beinhalten, wodurch die Körperkraft als arbeitsfunktionelle Größe angegeben werden kann. Statische Daueranspannungen der Muskeln sind zumutbar, wenn die jeweilige Kraft 15% der individuellen maximalen Muskelkraft nicht übersteigt (ROHMERT 1960). So werden nach Tabelle 3.4 für das Betätigen von Fußstellteilen im Sitzen unterschiedliche Maximalwerte empfohlen. Die Werte für Häufigkeit und Haltedauer beim Betätigen von Fußhebeln im Sitzen können Abb. 3.16 entnommen werden.
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Tabelle 3.4: Beispiel für Maximalwerte im Sitzen für das Betätigen von Fußstellteilen Druckkraft Hublänge Hubarbeit
Fußschalter ca. 60 N 6 cm ca. 200 Ncm
Fußhebel 150 N 30 cm (empfohlen 8-16) Bei 25 Hüben/min – 300 Ncm Bei 15 Hüben/min – 1000 Ncm
Häufigkeit Haltedauer Haltearbeit
25 je min 20 s ca. 500 Ns
Häufigkeit und Haltedauer nach Abb. 3.16
Abb. 3.16: Mechanische Parameter für sitzend betätigte Fußhebel (ROHMERT, 1973) [1kp = 9,807 N] ROHMERT u. JENIK(1973) stellte die Abnahme der Maximalkraft bei ermüdender statischer Haltearbeit fest und leitet diesbezüglich die Gesetzmäßigkeiten ab, die in Abb. 3.17 wiedergegeben sind.
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Abb. 3.17: Abnahme der Maximalkraft bei ermüdender statischer Halterarbeit (nach ROHMERT 1973)
Angaben über die Hand-Arm-Kräfte für verschiedene Kraft- und Momentangriffsrichtungen und verschiedene Extremitätenpositionen finden sich grafisch dargestellt in DIN 33411 Teil 4. Abb. 3.18 stellt als Beispiel verschiedene Isodynen in Abhängigkeit von der Körperstellung und der wirksamen Armlänge dar, wobei für unterschiedliche Kraft- und Momentangriffsrichtungen sowie seitliche Auslenkungen der Arme eine Reihe von Diagrammen zur Verfügung stehen. Die maximal erreichbaren statischen Kräfte und Momente sind in gleicher Weise im vierten Teil der DIN 33411 aufgeführt. Eine gewisse Problematik bei der Anwendung solcher und ähnliche Diagramme bzw. Tabellen ist, dass die maximalen Kräfte darüber hinaus eine konstitutionelle Varianz aufweisen (z.B. hinsichtlich Geschlecht) sowie vom Alter der Personen und von der Ausübungsdauer abhängig sind. Daher ist bei der Anwendung grundsätzlich auf die den Angaben zugrunde liegenden Bedingungen zu achten, welche gegebenenfalls approximativ umzurechnen sind. Zum Beispiel beziehen sich die Angaben der DIN 33411 nur auf männliche Personen, die nicht älter als 40 Jahre sind. Frauen können aufgrund der geringeren Muskelmasse nur etwa 60% der Kräfte von Männern aufbringen, weiterhin schwanken die Kräfte auch innerhalb der Geschlechter ca. um den Faktor 3 (Abb. 3.19). Wie bereits in Kapitel 2.1.1 gezeigt wurde, sind solche Angaben jedoch nur als Richtwerte zu verstehen, da die Unterschiede und Schwankungsbreiten von der spezifischen Tätigkeit abhängen. Wenn im praktischen Gestaltungszusammenhang also sicherzustellen ist, dass wenigstens 90% eines zufälligen Personenkollektivs die erforderliche Kraft aufbringen können, so dürfen jeweils nicht mehr als etwa 55-70% der durchschnittlichen Maximalkräfte abverlangt werden.
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Abb. 3.18: Maximale Armkräfte (Isodynen) am Beispiel horizontaler Druckkräfte; dargestellt sind maximal ausübbare Kräfte des 50. Perzentils (aus DIN 33411 TEIL 4; gilt für männliche Personen bis 40 Jahre)
Abb. 3.19: Häufigkeitsverteilung der maximalen Kräfte der Fingerbeuger und der Fußstrecker bei Frauen und Männern (aus HETTINGER u. WOBBE 1993)
Darüber hinaus ist mit zunehmendem Alter ab ca. 20-25 Jahren mit einem Nachlassen der maximalen Kräfte um 25-40% zu rechnen. Neben den individualspezifischen Einflüssen und der Körperhaltung spielt auch die Dynamik der Tätigkeitsausübung in Bezug auf die Ausführungsgeschwindigkeit und -dauer eine erhebliche Rolle. Sowohl die „innere Reibung" als auch die Elastizitätswirkung der Muskeln, Sehnen und Bänder sowie die Massenträgheits- und Schwerkräfte stellen geschwindigkeits- und beschleunigungsabhängige mechanische Lasten dar. In der Regel findet sich eine optimale Geschwindigkeit bei nicht zu hohen und nicht zu niedrigen Geschwindigkeiten, bei der eine relativ maximale Nutzung der Energien
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möglich ist und die sich daher durch ein Maximum im Wirkungsgrad auszeichnet (Abb. 3.20). Die Lage und Breite des Optimums ist allerdings stark von den Ausführungsbedingungen abhängig, daher können kaum generelle Richtwerte angegeben werden.
Abb. 3.20: Wirkungsgrad beim Kurbeldrehen in Abhängigkeit der Kurbeldrehzahl
Die Ausdauerkennlinien (z.B. Abb. 3.4) besitzen hingegen eine generelle Charakteristik, die auch für schwere körperliche Arbeitsformen gilt. 3.2.7
Methoden zur Ermittlung maximaler isometrischer Muskelkräfte
Die Methoden zur Ermittlung maximaler isometrischer Muskelkräfte können nach dem Charakter der Ergebnisse und der Methodik der Kraftermittlung eingeteilt werden: x Sind die Ergebnisse von dem Leistungswillen der Versuchsperson abhängig, spricht man von subjektiven Verfahren. Im umgekehrten Fall werden die Verfahren als objektiv eingestuft. x Wird die Kraft selbst gemessen, handelt es sich um ein direktes Verfahren. Wird die Kraft hingegen über eine andere, hoch korrelierende Größe ermittelt, spricht man von einem indirekten Verfahren. Demnach ergeben sich vier prinzipiell unterschiedliche Verfahren, die im Folgenden dargestellt sind. Subjektiv/direktes Verfahren Beim subjektiv/direkten Verfahren handelt es sich um das klassische Verfahren zur Ermittlung der maximalen Aktionskraft, indem die Versuchsperson auf einen Dynamometer einwirkt. Die größtmögliche willentliche Anstrengung der Versuchsperson wird bei ihrem aktiven Einsatz gefordert und vorausgesetzt. Die ausgeübten Aktionskräfte können dabei messtechnisch je nach der verwendeten
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Messeinrichtung sehr exakt bestimmt werden. Bei guter Mitarbeit des Probanden liegt die Variationszahl des Messergebnisses bei 2-6%. Subjektiv/indirektes Verfahren Beim subjektiv/indirekten Verfahren wird die maximale Dauer gemessen, über die eine bekannte, konstante Aktionskraft ausgeübt werden kann. Die ausgeübte Aktionskraft wird um die Massenkraft bereinigt und man erhält die ausgeübte Muskelkraft. Mit Hilfe des Diagramms (Abb. 3.21) kann über die Ausdauerzeit ermittelt werden, welcher Bruchteil der Maximalkraft ausgeübt wurde. 10
9
8
7 6
10
5
9 1,4
8
Haltezzeit in min n
4
0,5
§t · §k · EZ 18 ¨ ¸ ¨ 0,15 ¸ 100% ©T ¹ © K ¹
3
7 6
2
5 4
50
3
600 400
25
2
15
1
5
1
800
200 100
1000
0.5
1200 1400
0
0 0
0.1
0.2 0.3 0.4 0.5 0.6 0.7 0.8 0.9 Haltekraft in Bruchteilen der statischen Maximalkraft
1.0
Abb. 3.21: Erholungszuschläge bei statischer Arbeit (Angelehnt an ROHMERT 1960); (EZ – Erholungszuschlag in % von t; t – Haltezeit in Minuten; T – maximale Haltezeit in Minuten; k – Haltekraft in kp; K – maximale Haltekraft in kp [1kp = 9,807 N])
Das Diagramm enthält als Ordinate die verlangte Haltezeit in Minuten und als Abszisse die verlangte Kraft in Bruchteilen der Maximalkraft. Die gezeichneten Kurven stellen Linien konstanten Erholungszuschlages von 5% bis 1400% dar. Bei der Darstellung wurde der Ordinatenmaßstab verzerrt, um das Diagramm auch im Bereich großer Kräfte (50% bis 100% der Maximalkraft) gut lesbar zu gestalten. Die Linien gleicher Haltezeit verlaufen nicht parallel zu einander und zur Abszissenachse, weil die Ordinate im Abszisspunkt des Kraftverhältnisses „0“ linear die Ordinate im Abszisspunkt des Kraftverhältnisses „1“ logarithmisch geteilt ist. Für jede Kraftverhältniss (k/K) kann der für eine bestimmte Haltezeit
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notwendige Erholungszuschlag direkt aus dem Diagramm abgelesen werden. Beträgt z.B. die Haltekraft 50% der Maximalkraft und soll diese Kraft 0,5 min. lang gehalten werden, so ist laut Diagramm ein Erholungszuschlag von 400% (= 2 min) notwendig, um die muskuläre Ermüdung vollständig zu beseitigen. Objektiv/direktes Verfahren Als prinzipielle, wenn auch nicht zumutbare Methode ist die Messung der Muskelkraft bei maximaler elektrischer Reizung des Muskels zu erwähnen. Objektiv/indirektes Verfahren Bei objektiv/indirekten Verfahren handelt es sich um: x Die Ermittlung der Maximalkraft aus dem Muskelquerschnitt unter Zugrundelegung einer „spezifischen“ Muskelkraft. x Die Ermittlung der Maximalkraft bei konstanter, submaximaler Kraftentwicklung aus dem relativen zeitlichen Anstieg der myoelektrischen Aktivität des aktiven Muskels (LAURIG 1974). Das letztgenannte Verfahren kann insofern unter die objektiven Verfahren eingestuft werden, als die Versuchsperson zwar zur Mitarbeit prinzipiell bereit sein muss, das Ergebnis jedoch kaum beeinflussen kann. Die wichtigsten Einflussgrößen auf die gemessenen maximalen Aktionskräfte sind: (1) Versuchsmethodische Einflussgrößen o Körperstellung und Körperhaltung o Körperabstützung o Lage des Kraftangriffspunktes o Richtung der Wirkungslinie der Kraft o Kraftrichtungssinn o Art des Kraftaufbaus (ruckartiger Kraftaufbau oder kontinuierlicher Kraftaufbau) (2) Interindividuelle Einflussgrößen o Geschlecht o Körperbautyp o Lebensalter o Übungsgrad o Trainingsgrad (3) Intraindividuelle Einflussgrößen o Motivation o Gesundheitszustand o Übungsgrad o Ermüdungsgrad o Trainingszustand
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(4) Umwelteinflüsse o Jahreszeit o Tageszeit o soziale Einflüsse durch Dritte o Verletzungsgefahr. Bei der Ermittlung von Körperkräften werden in der Regel entsprechend der Fragestellung bestimmte Einflussgrößen vorgegeben oder planmäßig variiert (z.B. geforderte Richtung der Aktionskraft, Körperstellung, Geschlecht der Versuchspersonen), die den interessierenden Kraftausübungsfall charakterisieren. Die übrigen Einflussgrößen bzw. Randbedingungen der Kraftmessungen sind zu beschreiben und sinnvollerweise nach Möglichkeit konstant zu halten (z.B. die Umwelteinflüsse). 3.2.8
Analyse von Aktionskräften
Unter Aktionskräften versteht man – gemäß DIN 33411 Teil 1 – Kräfte, welche vom Menschen nach außen abgeben werden. Sie setzen sich aus Muskel- und Massenkräften zusammen (siehe auch Abb. 3.13). Für praktische Arbeitsgestaltung ist interessant, welche Kräfte ein Mensch bei bestimmten Aufgaben ausüben kann. Diese schwanken aufgrund der von der Muskellänge und vom aktuell wirksamen Hebelarm abhängigen Kraftwirkung u.U. erheblich mit der Körperstellung. Aufgrund der Vielzahl beteiligter Muskeln und weiterer Randbedingungen (z.B. dem entstehenden Druck auf die inneren Organe) ist hierbei eine integrale Betrachtung, die sich nur am Effekt unter den jeweils relevanten Randbedingungen orientiert, sinnvoll. Eine alle praktischen Randbedingungen berücksichtigende Einschätzung der menschlichen Körperkräfte ist dabei aufgrund der Vielzahl von Einflussfaktoren (Kraft- bzw. Momentenrichtung, Körperhaltung, Abstützungsmöglichkeiten, zeitliche Struktur, geschlechts- und altersabhängigkeit, usw.) nur begrenzt möglich. Es existiert jedoch eine Reihe von spezifischen Erkenntnissen und Verfahren, aus denen die zumutbare Kraftausübung für den Einzelfall abgeleitet werden kann. Verfahren nach Burandt / REFA / Schultetus Als Ergebnis der Verfahren nach Burandt / REFA / Schultetus (BURANDT u. SCHULTETUS 1978) werden „zulässige“ Kräfte / Momente des Hand-Arm- bzw. Hand-Finger-Systems sowie der Beine in Abhängigkeit von folgenden Faktoren ermittelt (LANDAU et al. 1997): x x x x
persönliche Faktoren (Geschlecht, Alter, Trainiertheit) Kraftaufbringung (statisch / dynamisch) Häufigkeit und je nach Verfahren auch der Dauer der Kraftausübung Kraftangriffspunkt (weit / mittel / nah sowie vor dem Körper / seitlich / diagonal und Kopfhöhe / Schulterhöhe / Taillenhöhe / Beckenhöhe) x Handstellung
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x Kraftrichtung. Die oben genannten Faktoren sind nicht wissenschaftlich gesichert, haben sich aber – nach Ansicht der Autoren – in der Praxis bewährt. Der Vorteil gegenüber anderen Datenquellen liegt darin, dass neben Kraftangriffspunkt und Kraftrichtung auch tätigkeits- und personenbezogene Parameter in den Rechnungsgang einfließen. Ein deutlicher Kritikpunkt ist die unsichere, nicht mehr recherchierbare Datenquelle. Da zur Zeit des Entstehens dieser Verfahren eine Perzentildarstellung von Kraftwerten noch unüblich war, ist zu vermuten, dass es sich bei den Referenzkraftwerten in den Tabellen um Kraftmittelwerte (evtl. mit leichten Abschlägen) handelt, welche einen großen Teil der Arbeitsbevölkerung überfordern würde. Äußerst bedenklich erscheint auch der Faktor (Konstitution und) Trainiertheit, der je nach Verfahren Abschläge von 20%, aber auch Zuschläge von bis zu 60% gestattet. Mit dem Einschätzen dieses Parameters dürfte der „normale“ Arbeitsgestalter wohl überfordert sein. Von einer Anwendung dieses Faktors in der Dimension >1 sei deshalb dringend abgeraten! Der Verfahrensablauf beinhaltet folgende Schritte: Zunächst werden tätigkeits(Dauer, Häufigkeit, statisch/dynamisch) und personenbezogene Parameter ermittelt. Danach werden die Referenzkraft- und Referenzmomentenwerte (z.T. in Abhängigkeit weiterer Parameter wie z.B. Kraftangriffspunkt und Kraftrichtung) aus den Tabellen abgelesen und mit Hilfe der o.g. Parameter korrigiert. Das Ergebnis hieraus ist die „zulässige“ Grenzkraft bzw. das „zulässige“ Grenzmoment. Dem Verfahren liegen Maximalkraftmessungen zugrunde. Da die Häufigkeit und Dauer der Kraftausübung in den Verfahren berücksichtigt werden, steht zu vermuten, dass als Beurteilungsgrößen die Muskelermüdung oder Arbeitsenergieumsatzschätzungen im Verfahren berücksichtigt sind. Die Methoden haben ihren Ursprung in den Ergonomielabors von Siemens, wo von Burandt und Schultetus die ersten Verfahren entwickelt wurden. Später wurden diese von REFA und dem VDI mit Modifikationen übernommen. Kräfteatlas Der Kräfteatlas wurde am Institut für Arbeitswissenschaft der Technischen Hochschule Darmstadt entwickelt (ROHMERT et al. 1994). Er beschreibt den aktuellen Wissensstand zum Thema statische Aktionskräfte. Ein Datensatz enthält die Werte des Gelbdruckes von DIN 33411 Teil 5 (Abb. 3.22), welcher aus einem vom Bundesministerium für Forschung und Technologie geförderten Verbundforschungsvorhaben zwischen dem Lehrstuhl für Ergonomie der TU München und dem Institut für Arbeitswissenschaft der TH Darmstadt hervorgegangen ist. Der gesamteDatensatz enthält 391 Kraftausübungsfälle an einem homogenen Kollektiv für sitzende und stehende Körperhaltungen.
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Abb. 3.22: Auszug aus dem Kräfteatlas mit Krafttabelle und zugehöriger Körperstellung (nach ROHMERT et al. 1994)
DIN 33411 DIN 33411 ist nicht als Methode bzw. Verfahren anzusehen. Sie ist eine Datensammlung, die wissenschaftlichen Gütekriterien genügt. Die in ihr enthaltenen Daten können aber bei der Anwendung von Verfahren wie z.B. Burandt / Schultetus sowie DIN EN 1005-3 berücksichtigt werden.
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Enthaltene Daten sind: x Teil 3: Maximale statische Aktionsmomente an Handrädern in perzentilierter Form x Teil 4: Maximale statische Aktionskräfte als Isodynen der Mittelwerte des Personenkollektivs x Teil 5 (Entwurf): Maximale statische Aktionskräfte in perzentilierter Form. Die Daten von Teil 3 und 5 sind direkt vom Konstrukteur anwendbar. Bei der Dimensionierung von Aktionskräften sollte er sich an den unteren (5-15 Perzentil) Perzentilwerten orientieren, um auch schwachen Personen ein Bedienen zu ermöglichen. Beim Festigkeitsnachweis für das Bauteil sollte er sich an den oberen Perzentilwerten orientieren, damit auch starke Personen das Stellteil nicht zerstören. Da die Isodynen in Teil 4 Mittelwerte (50 Perzentil) darstellen, sollten die Isodynenwerte nicht direkt im Konstruktionsprozess verwendet werden. Die Isodynen liefern dem Konstrukteur aber wertvolle Hinweise an welchen Stellen im Manipulationsraum für eine vorgegebene Kraftrichtung Maxima und Minima vorliegen, d.h. günstige oder ungünstige Orte für die Positionierung von Stellteilen vorliegen. DIN EN 1005-3 Das Verfahren nach DIN EN 1005-3 berechnet auf der Basis statischer Aktionskräfte empfohlene Grenzen für das Ausüben von Kräften. Die im Verfahren angewandten Korrekturfaktoren sind teils als wissenschaftlich gesichert, teils als Expertenurteil anzusehen. Die im Hauptteil dargestellten Referenzkräfte entstammen einer französischen Norm. Sie sind teils als Messwerte, teils als Expertenrating zu betrachten. Das Verfahren berücksichtigt die Verteilung von Geschlecht und Alter in der Benutzerpopulation. In den Berechnungsgang fließt die Geschwindigkeit der Kraftausübung, Frequenz und Dauer der Kraftausübung, sowie die Arbeitsdauer ein. Verfahrensergebnisse sind empfohlene Kraftgrenzen für eine gewählte Kraftausübung (Körperhaltung, Kraftrichtung, Kraftangriffspunkt) durch eine definierte Nutzerpopulation („beliebige“ Zusammensetzung hinsichtlich Geschlecht und Alter). Dabei werden Arbeitstempo, Arbeitsfrequenz und Arbeitsdauer berücksichtigt. Die Anhänge A und B liefern Prozeduren, welche die Berechnung von Referenzkräften als Eingabegrößen für das Verfahren ermöglicht: (1) In einem ersten Schritt werden die Maximalkräfte für die Anwendergruppe aus Referenzkräften bestimmt. (2) In einem zweiten Schritt werden Maximalkräfte berechnet, welche die Ausübungsgeschwindigkeit, die Ausübungsfrequenz und die Arbeitsdauer berücksichtigen. (3) Im dritten Schritt werden daraus auf der Basis eines drei Zonen Modells empfohlene Kraftgrenzen für die Maschinenbedienung abgeleitet.
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Der montagespezifische Kraftatlas Nationale und internationale Verfahren zur ergonomischen Bewertung von Aktionskräften sind in verschiedenen Branchen (Automobil- und Nutzfahrzeugbau, Flugzeugindustrie) nur begrenzt anwendbar, da durch die Geometrie des Arbeitsobjektes ergonomisch ungünstige Haltungen (gedreht, gebeugt, über Kopf, einhändig) und Kombinationen dieser Haltungs- und Kraftanforderungen bei der Kraftausübung entstehen. Derzeit angebotene Kraftdaten wurden jedoch fast allesamt in aufrechten Körperhaltungen ermittelt. Im Rahmen des Projektes "Montagespezifischer Kraftatlas" (WAKULA et al. 2009) wurden Aktionskräfte des ganzen Körpers und des Finger-Hand-Arm-Systems von 273 Arbeitspersonen für realtypische symmetrische Haltungen (beidhändige Kraftausübung im Stehen, Knien und Sitzen) in der Industrie ermittelt und in perzentilierter Form dargestellt. Gleichzeitig wurden in Laborstudien des Institutes für Arbeitswissenschaft der TU Darmstadt und des Instituts für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (BGIA) maximale statische Aktionskräfte des ganzen Körpers für asymmetrischen Haltungen sowie für einhändige Kraftausübungen ermittelt. Aufbauend auf den bestehenden Ansätzen wurde ein Kraftbewertungsverfahren für nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft und eigenen Laborstudien modelliert. 3.2.9
Analyse und Bewertung muskulärer Arbeitsformen
Die Analyse und Bewertung muskulärer Arbeitsformen kann anhand der erzeugten Kräfte, umgesetzten Energie, beobachtbaren Bewegungen oder Beanspruchung der eingesetzten Muskeln erfolgen. Hierbei werden die im Folgenden umrissenen Untersuchungsmethoden angewendet. 3.2.9.1
AnalyseĆderĆBewegungenĆ
Es besteht eine gewisse Notwendigkeit, bewegungsbezogene Risikofaktoren am Arbeitsplatz zu erkennen (CHAFFIN 2002, WOLFER 2000), da ein großer Teil der Arbeit dynamisch durchgeführt wird, in der Vergangenheit sich aber die Arbeitsplatzgestaltung häufig alleinig auf statische anthropometrische Daten bezog (STRASSER und MUELLER 1999). Man untersucht dabei die Bahn der Bewegung sowie die Geschwindigkeit und Beschleunigung, die von dem betrachteten Körperteil vom Anfangspunkt bis zum Zielpunkt einer Bewegung bzw. einer Abfolge von Bewegungen zurückgelegt wird, ggf. unter Berücksichtigung der dabei aufzubringenden äußeren Kräfte („Bewegungsstudium"). Unter Heranziehung biomechanischer Gesetzmäßigkeiten kann daraus auf die im Körper herrschenden Kräfte geschlossen werden. Erste Analysen von Elementarbewegungen gehen auf F.W. Taylor (1865-1915) sowie auf F.B. Gilbreth (1886-1924) zurück. Hierbei stand besonders die Fraktio-
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Arbeitswissenschaft
nierung einzelner Bewegungsabschnitte mit dem Ziel der Minimierung der notwendigen Einzelbewegungen zur Ausführung einer Tätigkeit im Vordergrund. Auf diesen Untersuchungen basierte die spätere Entwicklung der „Systeme vorbestimmter Zeiten“ (SvZ), wie z.B. das Work-Factor-System (WF) oder das Methods Time Measurement-System (MTM), die primär zur synthetischen Kalkulation von Bewegungsabläufen und zur Zeitbedarfsminimierung eingesetzt werden (siehe Kap. 7.3.9). Unter physiologischen Gesichtspunkten spielen allerdings die eingenommenen Körperstellungen und die zeitlichen Determinanten der Bewegung (Dauer, Geschwindigkeit, Beschleunigung) eine ausschlaggebende Rolle. Im Unterschied zu den Systemen vorbestimmter Zeiten liegt der Betrachtungs- und Gestaltungsschwerpunkt hierbei auf der Belastungs- und Beanspruchungsoptimierung. Dabei spielen nicht nur die physikalisch-energetischen Gesichtspunkte, sondern auch die der Bewegungskoordination eine Rolle. Unter biomechanischen Gesichtspunkten ist die Koordination der Bewegungen ein kompliziertes Zusammenspiel einer Vielzahl beteiligter Muskeln zur Abstimmung von Kraft, Geschwindigkeit und Beschleunigung, die eine komplizierte Regulationsaufgabe darstellt (LUCZAK 1983). Eine optimierte Bewegungsabfolge zeichnet sich daher sowohl durch eine geringe muskuläre Beanspruchung als auch durch angemessene Koordinationsanforderungen aus. Zwischen diesen beiden Faktoren herrscht darüber hinaus ein innerer Zusammenhang, da höhere Koordinationserfordernisse in der Regel mit zunehmenden Stabilisierungskräften und somit einer stärkeren muskulären Beanspruchung einhergehen (siehe auch GÖBEL 1996). Zur Untersuchung von Bewegungen werden traditionell Foto- oder Videoaufnahmen angefertigt, wobei durch die Anbringung von Leuchtpunkten eine anschauliche Darstellung der Bewegungsverläufe möglich ist (Abb. 3.23). Eine exakte und schnelle Auswertung ist jedoch mit Schwierigkeiten verbunden. Moderne Aufzeichnungsmethoden basieren daher auf einer elektronischen Registrierung der Bewegung einzelner – markanter – Körperpunkte. Mit Hilfe von optischen, magnetischen oder auf Ultraschallsignalen basierenden Abtastsystemen wird dabei die Position von auf dem Körper angebrachten Messpunkten berührungslos in allen drei Koordinatenebenen der Bewegung gemessen. Damit gelingt eine vollständige Erfassung der Bewegungsabfolgen (siehe auch Kapitel 10.1.2.4.6.1). Trotz der Anschaulichkeit beziehen sich solche Messungen allerdings primär auf die Belastung der Arbeitsperson. Da zwischen der Muskelaktivität und der erzeugten Kraft an sich eine unmittelbare Beziehung besteht, sollte bei erster Betrachtung die Abschätzung der erzeugten Kräfte bzw. der Ermüdungsnachweis anhand des Nachlassens der Maximalkraft zur Abschätzung der Beanspruchung ausreichen. Dies gilt jedoch nur für genau determinierte und extrem einfache Arbeitsformen. Bei in der Praxis üblichen Tätigkeitsformen wirken immer viele Muskeln kombiniert auf die Krafterzeugung ein, so dass die Rückrechnung der erzeugten
Arbeitsformen
257
Kraft auf die Aktivität der einzelnen Muskeln nicht eindeutig sein kann. Darüber hinaus sind die verschiedenen Muskeln unterschiedlich stark mit entsprechend variierenden Beanspruchungsgraden bei gleicher erzeugter Kraft. Je nach Bewegungs- und Kraftkonstellation können daher einzelne Muskeln ermüden, auch wenn übliche Dauerleistungsgrenzen nicht überschritten werden.
Abb. 3.23: Zyklographische Aufnahmen eines Arbeiters, links in nicht ermüdetem Zustand, rechts bei stärkerer Ermüdung (ROHMERT u. RUTENFRANZ 1983)
Schon seit den 70er Jahren ist die Vielseitigkeit der Bewegungsanalyse bekannt. Die Bewegungsanalyse in der Arbeitswissenschaft lässt sich durch verschiedene Klassen von Messgrößen charakterisieren (JENIK 1973): x Mechanische x kinematische (Zeit, Weg, Geschwindigkeit, Beschleunigung) x kinetische (Maße, Kraft, Drehmoment) x mechanisch-energetische (Arbeit, Leistung) x biologische x biomechanische (Einsatz des körperlichen mechanischen Apparates) x physiologische (Stoff und Energieumsatz) x neuro-psychische (Steuerung, Koordination) x technisch-ökonomische x technologische (sachlicher Inhalt, Zweck und Ziel der Arbeitsbewegung) x ökonomische (Nutzeffekt und Wert, Bewegungsstudium). Dennoch wurden Untersuchungen nach einem polygraphischen Messkonzept bisher nur in wenigen Fällen durchgeführt. Bei einem polygraphischen Messkonzept werden synchronisierte Messsysteme zur integrierten Erfassung und Darstellung mehrere Bewegungsdaten angewendet, um menschliche Bewegungen zu beschreiben und zu modellieren. Es ist zu erwarten, dass die Bedeutung polygraphischer Messkonzepte aufgrund der Weiterentwicklung der Messtechnik und der damit verbundenen Vereinfachung der Anwendung zunehmen wird.
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Arbeitswissenschaft
Diesbezüglich erläutern CHAFFIN et al. (1999), dass die Weiterentwicklung der Messsysteme zur Erfassung und Analyse von kinematischen, biomechanischen und elektromyographischen Daten in den letzten Jahren bessere Bewegungsanalysen ermöglichen und somit eine geeignete Erhebungsmethodik darstellen. Beispielweise wurde bei DIAZ ZELEDON et al. (2007) und DIAZ MEYER (2009) 3D-Bewegungen des Menschen per Video aufgenommen, Elektromyograme mit Oberflächenelektroden gemessen, Befragungen über die subjektive Empfindung der Instabilität durchgeführt sowie anthropometrische und biomechanische Daten erhoben, um eine Aufklärung und Modellierung menschlicher natürlicher Bewegungen sowie deren Veränderungen bei der Handhabung delikater Objekte am Beispiel instabiler Objekte (z.B. mit Flüssigkeit gefüllt) zu ermöglichen. Die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) setzt seit Jahren zur kontinuierlichen Messung von Muskel-Skelettbelastungen das in Ihrem BGIAInstitut entwickelte, körperbezogene Messsystem CUELA (Computer unterstützte Erfassung und Langzeit-Analyse von Belastungen des Muskel-Skelettsystems) ein. Das Messsystem ist für ergonomische Felduntersuchungen während der gesamten Arbeitsschicht konzipiert (siehe Abb. 3.24). Es besteht aus Bewegungssensoren (Inertialsensoren und Goniometern), Kraftsensoren und einem Miniaturdatenlogger (Abtastrate 50 Hz, 168 Kanäle), die direkt auf der Arbeitskleidung angebracht werden (ELLEGAST u. KUPFER 2000, ELLEGAST et al. 2009).
Abb. 3.24: Einsatz des CUELA-Messsystems zur Ermittlung von MuskelSkelettbelastungen bei Bauberufen. Links: visuelle Darstellung von Körperbewegungen mittels CUELA-Software, rechts: Anbringung des Messsystems an der Arbeitsperson
Arbeitsformen
259
CUELA kann für eine 3D-Bewegungsanalyse der oberen Extremitäten (Schulterblatt und -gelenk, Ellbogen, Unterarm und Handgelenk), des Kopfes, der Wirbelsäule und der unteren Extremitäten eingesetzt werden. Eine automatisierte Bewertung der Messdaten erfolgt mit Hilfe der CUELA-Software, in der verschiedene ergonomische und biomechanische Bewertungsverfahren integriert sind. Die Belastungsdaten können einfach mit einem Video der Arbeitssituation synchronisiert werden, so dass Belastungsschwerpunkte im Arbeitsprozess identifiziert und entsprechende präventive Maßnahmen eingeleitet werden können. 3.2.9.2
AnalyseĆderĆMuskelaktivitätĆundĆMuskelermüdungĆ
Eine präzise Analyse energetisch-effektorischer Arbeitsformen sollte direkt an den einzelnen Muskeln ansetzen, sie darf naheliegenderweise jedoch nicht in den Körper eingreifen. Hierzu macht man sich die elektrischen Potentiale zunutze, die mit der Muskelerregung einhergehen. Die zentralnervöse Auslösung der Muskelkontraktion erfolgt durch die Aktionspotentiale der innervierenden Motoneurone im Rückenmark, die - via neuromuskuläre Übertragung an den motorischen Endplatten - Muskelaktionspotentiale auslösen. Diese impulsförmigen elektrischen Potentiale mit einer Größe von ca. 90 mV und einer Dauer von etwa 5 ms breiten sich regenerativ im transversalen Röhrensystem des Muskels aus und bewirken über die Calziumfreisetzung des damit erregten Longitudinalsystems nach etwa 15 ms die Kontraktion der Myofibrillen (Abb. 3.25). Jede Kontraktion einer motorischen Einheit resultiert folglich aus einer elektrischen Potentialänderung, die im Muskel und in dessen Umgebung vorliegt.
Abb. 3.25: Zeitverlauf von Aktionspotential und isometrischer Zuckung beim quergestreiften Muskel (aus RUEGG 1990)
260
Arbeitswissenschaft
Obwohl die genauen Mechanismen der Muskelerregung erst seit wenigen Jahrzehnten bekannt sind, ist bereits aus dem Jahre 1844 von MATTEUCCI ein erster Nachweis elektrischer Potentiale im Zusammenhang mit der willkürlichen Muskelanspannung überliefert. Durch das Einführen von Nadelelektroden in den Muskel oder das Anbringen von Oberflächenelektroden in unmittelbarer Nähe des Muskels können die mit der Muskelerregung verbundenen elektrischen Potentiale abgeleitet und ausgewertet werden. Eine solche Messung wird als Elektromyographie (bzw. Elektromyogramm, EMG) bezeichnet. Bei der Ableitung mittels Oberflächenelektroden wird eine Elektrode mittig über dem Muskel angebracht sowie eine sog. Nullelektrode über inaktivem Gewebe. Die in den nahe der Elektrode gelegenen motorischen Einheiten entstehenden Erregungsimpulse (Muskelaktionspotentiale) werden damit summarisch erfasst. Durch das dazwischen liegende Gewebe und die Hautschichten werden die elektrischen Potentiale allerdings stark gedämpft, so dass die abgeleiteten Potentiale nur im μV-Bereich liegen. Für eine selektive Messung, z.B. bei eng nebeneinander liegenden Muskeln, kann auch eine bipolare Elektrodenanordnung gewählt werden, bei der neben der Nullelektrode zwei Ableitelektroden im Abstand von wenigen Zentimetern in Muskellängsachse angebracht werden. Über eine Differenzbildung der beiden Elektrodensignale wird damit eine räumliche Differenzierung bewirkt. Signale, die sich in Richtung der Achse zwischen den Elektroden ausbreiten, werden so deutlich erfasst, während von der Seite ankommende Signale durch die Differenzbildung ausgelöscht werden. Die Elektroden bestehen in der Regel aus einer kleinen Plastikhaube, die mit Kleberingen auf die Haut geklebt werden. In der Mitte der Haube befindet sich ein Metallplättchen (aus Silber bzw. Silberchlorid, Ø 5-20 mm), wobei der elektrische Kontakt zur Haut über die Füllung der Elektroden mit einem creme- oder gelartigen (elektrisch leitenden) Kontaktvermittler bewirkt wird. Damit wird der elektrische Kontakt verbessert und die Störung des schwachen Elektrodensignals durch Bewegung der Elektrode auf der Haut vermindert. Eine solche Oberflächen-Elektromyographie gelingt nur bei direkt unter der Hautoberfläche liegenden Muskeln, nicht aber bei innenliegenden Muskeln, die von anderen verdeckt sind. Das abgeleitete Signal stellt das Mittel aus den an der Kontaktfläche anliegenden Einzelpotentialen dar. Dies hat die Form eines Interferenzmusters, in dem sowohl Summationen als auch Auslöschungen einzelner Potentialspitzen vorkommen. Obwohl aus dem Interferenzmuster des Elektrodensignals nur mit Schwierigkeiten einzelne motorische Einheiten erfasst werden können, so steht doch die mittlere Größe des Potentialmusters in einem direkten Zusammenhang zur Erregungsstärke. Nach einer ausreichenden Verstärkung der sehr kleinen Signale wird mittels einer Gleichrichtung der Betrag der elektrischen Signale gebildet. Um aus den Einzelimpulsen einen Mittelwert zu erhalten, wird das gleichgerichtete Signal an-
Arbeitsformen
261
schließend über einen bestimmten Zeitraum ti (meist 50 bis 500 ms) integriert oder alternativ tiefpassgefiltert (Abb. 3.26). Die Ausgangsgröße, die „elektrische Aktivität" EA nach Gl. (3.1) repräsentiert folglich die Summe aller Erregungsimpulse pro Zeiteinheit und steht in einem weitgehend linearen Zusammenhang zur Erregungsstärke. t
EA ~
1 i U EMG dt ti ³0
(3.1)
Bei isometrischen Kontraktionen (d.h. konstanter Muskellänge) oder gleichbleibenden Bewegungen gilt dies auch für die erzeugte Kraft (Abb. 3.26). Elektroden
Verstärkung (V)
Tiefpassfilter bzw. Integration
Gleichrichtung
EA eA
0
0
Zeit
tt
EMG-Signal (U EMG-Signal (UEMG EMG) )
0
Zeit
t
Zeit
tt
0
Integrationszeitraum ti:t i:Integrationszeitraum
Zeit
tt
tit i 11 dt dt eA EA V •~ • ³ UUEMG EMG t i t i 00
Elektrische Aktivität Elektrische Aktivität(eA) (EA)
Abb. 3.26: Schema der Bildung der elektrischen Aktivität aus dem Roh-Elektromyogramm
Da die Größe der gemessenen Potentiale jedoch nicht nur von der Erregungsstärke, sondern auch stark von den Ableitbedingungen abhängt (z.B. der Dicke der dazwischenliegenden Gewebeschichten), können die erzeugten Kräfte damit nicht unmittelbar bestimmt werden. Um die verschiedenen Messungen dennoch vergleichen zu können, muss eine Normierung der elektrischen Aktivität z.B. anhand einer Referenzkontraktion durchgeführt werden. Benutzt man hierfür die Maximalkontraktion, so erhält man ein Maß für die relative Höhe der Muskelaktivierung. Ein weiteres wichtiges Anwendungsfeld der Elektromyographie liegt in der Möglichkeit, Muskelermüdungen festzustellen. Da bei einem ermüdenden Muskel die pro Erregung erzeugte Kraft abnimmt, muss die Erregungsstärke mit fortschreitender Ermüdung immer weiter zunehmen, wenn die nach außen abgegebene Kraft konstant bleiben soll. Dies äußert sich folglich in einem Anstieg der gemessenen elektrischen Aktivität. Kann also bei gleichbleibender erzeugter Kraft im Laufe der Zeit ein Anstieg der elektrischen Aktivität festgestellt werden, so lässt dies auf eine zunehmende Muskelermüdung schließen (Abb. 3.27). Aus der Geschwindigkeit des Anstiegs kann die Ermüdungsgeschwindigkeit bestimmt werden (Abb. 3.28).
262
Arbeitswissenschaft
Abb. 3.27: Beziehung zwischen der elektrischen Aktivität (EA) und der erzeugten isometrischen Kraft für zwei Muskeln (oben: m. biceps brachii, unten: m. deltoideus pars spinalis) und an zwei verschiedenen Ableitpositionen (Kennlinien von je fünf Personen; MÜLLER et al. 1988)
Die Anwendung dieser Methode gelingt jedoch nur, wenn die erzeugte Kraft auch von außen messbar ist. Bei vielen in der Praxis vorkommenden Arbeitsaufgaben ist dies nicht ohne weiteres zu gewährleisten. Eine andere Möglichkeit zur Detektion von Muskelermüdungen, die weniger empfindlich auf Veränderungen in der erzeugten Kraft ist, besteht in der Frequenzanalyse des Elektromyogramms: Mit zunehmender Muskelermüdung sinkt die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Aktionspotentiale aufgrund der Anhäufung von Stoffwechselprodukten und der sich dadurch ändernden intrazellulären pH-Werte, und es findet eine zunehmende Synchronisation der Aktivierung motorischer Einheiten statt (KADEFORS et al. 1968, LINDSTRÖM et al. 1970, KARLSSON et al. 1975, KOMI u. VIITASALO 1976). Beide Effekte führen dazu, dass sich das Frequenzspektrum des RohElektromyogramms hin zu niedrigeren Frequenzen verschiebt (Abb. 3.29).
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Abb. 3.28: Höhe und Zeitverlauf der elektrischen Aktivität (EA) bei einer Haltearbeit mit unterschiedlichen Kräften (M. gastrocnemius einer Person, in Anlehnung an LAURIG 1970)
Zur Untersuchung solcher Spektralveränderungen wird – neben spezifischen Auswerteverfahren – normalerweise die Median- oder die Schwerpunktfrequenz als integraler Kennwert gebildet (KWATNY et al. 1970, STULEN u. DELUCA 1981). Ausgehend von der grafischen Darstellung des Frequenzspektrums entspricht die Medianfrequenz derjenigen Frequenz, unterhalb und oberhalb derer jeweils die halbe Signalenergie liegt (Abb. 3.30, links). Die Schwerpunktfrequenz ergibt sich aus dem Abszissenwert des Schwerpunkts der vom Spektrum eingeschlossenen Fläche (Abb. 3.30, rechts). Die beiden Methoden unterscheiden sich folglich nur im Detail, wobei die Schwerpunktfrequenz empfindlicher auf die jeweils äußeren Frequenzanteile reagiert und daher meist als störanfälliger eingestuft wird.
264
Arbeitswissenschaft
Abb. 3.29: Frequenzspektren vom Roh-Elektromyogramm des m. biceps beim waagrechten Halten eines Gewichtes (10 N, Lastarm 1 m)
Gegenüber der Ermüdungsfeststellung mit Hilfe der elektrischen Aktivität hat die Auswertung des Frequenzspektrums den Vorteil, dass die Kennwerte nicht zwangsläufig von der Aktivitätshöhe abhängen. Allerdings finden sich in der Praxis durchaus auch Schwankungen im Frequenzspektrum, die nicht auf Muskelermüdungen zurückzuführen sind, sondern auf Verschiebungen zwischen den Determinanten des Spektrums. Solche Einschränkungen im Diskriminationsvermögen führen dazu, dass nur ausreichend starke Ermüdungserscheinungen eindeutig nachweisbar sind.
f
f SP
³S 0
2
( f ) f df
f
³S
2
( f ) dff
fMed: fSP: S(f):
Medianfrequenz Schwerpunkzfrequenz Frequenzspektrum des Signals
f Med
³ 0
f
S 2 ( f ) df
³
S 2 ( f ) df
f Med
0
Abb. 3.30: Bildung der Medianfrequenz (links) und der Schwerpunktfrequenz (rechts) aus dem Frequenz- bzw. Leistungsdichtespektrum der Roh-Elektromyogramms
Ein weiteres wichtiges Anwendungsgebiet der Elektromyographie liegt in der Untersuchung der statischen Muskelaktivität. Bei nahezu allen Tätigkeitsformen
Arbeitsformen
265
sind Gewichtskräfte auszugleichen, und oft werden Muskeln zu Stabilisierungszwecken teilweise antagonistisch aktiviert. Aufgrund der großen Ermüdungsgefahr bei bereits geringer statischer Aktivierung bedarf dieser Punkt, insbesondere für Halte- und Haltungsarbeit, einer besonderen Aufmerksamkeit. Gerade die statische Belastung der Muskeln lässt sich von außen jedoch nur sehr grob abschätzen. Mit Hilfe der Elektromyographie können dagegen die statischen Anteile über eine spezifische Auswertung der Minima der EA-Verlaufskurve unmittelbar bestimmt werden (MÜLLER et al. 1988, GÖBEL 1996). Auch bei dynamischen Bewegungsformen werden Muskeln teilweise statisch beansprucht. Mit Hilfe der Elektromyographie können diese Anteile ermittelt werden. Das Beispiel in Abb. 3.31 zeigt die Veränderung der elektrischen Aktivität und des statischen Anteils in Abhängigkeit der Bewegungsfrequenz bei einer Nachführaufgabe (m. brachialis; nach GÖBEL 1996).
Abb. 3.31: Veränderung der elektrischen Aktivität und des statischen Anteils in Abhängigkeit der Bewegungsfrequenz bei einer Nachführaufgabe (m. brachialis; nach GÖBEL 1996).
Die Elektromyographie stellt folglich eine elegante Methode zur Untersuchung der Muskelaktivität und der Muskelermüdung dar. Obwohl eine indirekte Kraftmessung durch die Überlagerung einer Vielzahl von Einflussfaktoren nur eingeschränkt möglich ist, kann die gemessene elektrische Aktivität gut als Indikator der Erregungshöhe und somit zur Beurteilung des physiologischen Aufwandes der Krafterzeugung herangezogen werden. Problematisch ist jedoch die starke Abhängigkeit der Potentialgröße von der Elektrodenplazierung und der elektrischen Leitfähigkeit der zwischen Muskel und Elektrode liegenden Schichten. Trotz einer Reihe von Versuchen lässt die Normierung der EMG-Ableitung bis dato keine allgemeingültige Bewertung zu (siehe auch ZIPP 1988). Daher eignet sich die Elektromyographie hauptsächlich für vergleichende Messungen (z.B. von verschiedenen Werkzeugen oder Arbeitsmethoden) oder bei einer nicht zu großen Zahl beteiligter Muskeln durch eine Normierung auf die Maximalkraft.
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Die Schwierigkeiten zur Erfassung von Muskelermüdungen hängen jedoch nicht nur mit der Messmethode zusammen, sondern auch mit dem „Verhalten“ der untersuchten Personen zur Vermeidung von Ermüdungserscheinungen. Dies kann einerseits durch den Wechsel von ermüdeten auf andere – nicht ermüdetete – Muskeln geschehen, oder einfach durch Verringerung der Arbeitsleistung. Daher müssen bei einer Ermüdungsuntersuchung das Zusammenspiel der Muskeln und das Leistungsverhalten der Arbeitsperson, sofern Spielräume bestehen, berücksichtigt werden. In den letzten Jahrzehnten wurden reichhaltige Erfahrungen gesammelt mit mehrkanaligen, rechnergestützten elektromyographischen Verfahren, mit denen die ergonomische Qualität von Arbeitsplätzen mit manuellen Tätigkeitsmerkmalen und handgeführten Arbeitsmitteln bestimmt wurde. Wenn also z.B. bei Arbeitsmitteln, an die Hand anzulegen ist, mehr oder weniger die Gleichung "menschengerecht = handgerecht" erfüllt ist – die Arbeitsmittel also mehr oder weniger mit dem Hand-Arm-System kompatibel sind – dann konnte stets in vergleichenden Untersuchungen ein "Mehr" oder "Weniger" an physiologischen Kosten objektiviert werden (siehe z.B. KLUTH et al. 1997; STRASSER u. WANG 1998). In der skandinavischen und anglo-amerikanischen Literatur sind elektromyographische Verfahren – wenn auch oftmals beschränkt auf punktuelle Kurzzeit-Messungen – im Verbund mit subjektiven und operationellen Erhebungsmethoden für die Gestaltung von Handwerkzeugen – nach den Pionierleistungen von TICHAUER (1978) – seit einiger Zeit bereits zur Regel geworden (vgl. u.a. EKLUND u. FREIVALDS 1993; KILBOM et al. 1993; MARRAS 1990; KUMAR u. MITAL 1996). 3.2.10 Energetik des menschlichen Körpers Bei schwerer energetischer Arbeit sind Beanspruchungsengpässe weniger im muskulären System als vielmehr im Bereich des Stoffwechsels und der Energiegewinnung zu suchen. Daher muss bei solchen Arbeitsformen die Energetik des menschlichen Körpers im Vordergrund der Betrachtungen stehen. 3.2.10.1 StoffwechselĆundĆEnergiegewinnungĆ Voraussetzung für die Energiegewinnung zur Krafterzeugung ist die Aufnahme, Verarbeitung und Bereitstellung entsprechender Nährstoffe. Die notwendige Energiezufuhr erhält der Körper in Form von Nahrungsmitteln und Sauerstoff. Als Stoffwechsel bezeichnet man alle chemischen Vorgänge innerhalb des Körpers (Abb. 3.32). Hierzu gehören die folgenden wichtigen Teilvorgänge: x Nahrungsaufnahme und Aufbereitung (Kohlehydrate, Fette, Eiweißstoffe), x Ab- und Umbau der aufgenommenen Stoffe zu Zucker, Fettsäure und Aminosäuren im Magen-Darm-Trakt x Teilweiser Umbau der Nährstoffe in der Leber
Arbeitsformen
267
x Verbrennen der energiereichen Stoffe mit Sauerstoff in den Verbrauchern unter Abgabe von Energie und Bildung der energiearmen Abfallprodukte (Kohlendioxid, Wasser, Milchsäure, Harnsäure usw.). Für die Energiegewinnung werden zu etwa 85% Fette und Kohlehydrate und zu etwa 15% Eiweißstoffe verbrannt. Diese sind in erheblicher Menge im Körper gespeichert, so dass bei der Arbeit jederzeit auf diese Depots zurückgegriffen werden kann. Der zur Verbrennung notwendige Sauerstoff hingegen muss fortlaufend aus der Luft entnommen werden und über die Blutbahn an den Verbrennungsort transportiert werden, da im Körper keine nennenswerten Sauerstoffdepots vorhanden sind.
Abb. 3.32: Schema des Stoff- und Energiewechsels bei energetisch-effektorischer Arbeit (nach MÜLLER u. SPITZER 1952)
Für die Funktion und Aufrechterhaltung des Stoffwechsels spielt der Blutkreislauf eine entscheidende Rolle: x Transport der im Magen-Darm-Trakt umgewandelten Nährstoffe zu den Verbrauchern (z.B. Muskeln) oder in Speicher x Transport des über die Lunge eingeatmeten Sauerstoffs zu den Verbrauchern: der Sauerstoff wird dabei chemisch an das Hämoglobin, den roten Blutfarbstoff, gebunden x Rücktransport der bei den biochemischen Prozessen entstandenen Abfallprodukte zu den Ausscheidungsorganen (Lunge, Niere usw.). Sowohl bei der Nahrungsverbrennung als auch bei den peripheren Arbeitsprozessen im Gehirn und in den Muskeln entsteht Wärme. Eine weitere Aufgabe des Blutkreislaufs in Verbindung mit den vegetativen Wärmeregulationsmechanismen besteht daher in der angemessenen Wärmeverteilung im Körper zur Aufrechterhaltung einer konstanten Körperkerntemperatur von 37±1°C. Überschüssige
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Wärme wird durch verstärkte Blutzirkulation aus dem Körperinneren zur Körperoberfläche (Haut) transportiert, bei einem Wärmedefizit wird die Blutzirkulation an der Körperperipherie gedrosselt bzw. der Energieumsatz im Sinne der Wärmebildung gesteigert. Die Aufgaben des Herz-Kreislauf-Systems sind hierarchisch aufgebaut. Primäre Aufgabe ist die Sauerstoffversorgung des Gehirns, da schon kurzzeitige Unterbrechungen zu teilweise irreversiblen Schäden führen können. An zweiter Stelle steht die Wärmeregulation. An dritter Stelle folgt die Versorgung der Muskulatur zur Energiegewinnung, allerdings erst dann, wenn die beiden erstgenannten Voraussetzungen hinreichend erfüllt sind. Viele dieser Funktionen werden nicht nur über die Zusammensetzung, sondern vor allem über die Blutmenge reguliert. Für den Transport ist das Herz verantwortlich, welches die gestellten Anforderungen durch die Anpassung des Schlagvolumens (in geringem Maße) und vor allem durch die Veränderung der Herzschlagfrequenz erfüllt. 100 [%] 80
Autonom geschützte Reserven Mobilisationsschwelle
60
Gewöhnliche Einsatzreserven 40 20 0
Physiologische Einsatzbereitschaft Automatisierte Leistung
Abb. 3.33: Schema der Leistungsbereiche (aus HETTINGER u. WOBBE 1993)
Die Aktivität des Stoffwechsels und des Herz-Kreislauf-Systems hängt nicht nur von der im Zusammenhang mit einer Arbeitstätigkeit unter bewusster Anstrengung erbrachten mechanischen Leistung ab (Abb. 3.33). Neben den für die Grundfunktion des menschlichen Körpers quasi automatisiert erbrachten Leistung wird bis zu ungefähr einem Drittel der maximalen Leistungsreserve aus der physiologischen Einsatzbereitschaft ohne spezifische Anstrengung erbracht (z.B. Laufen, Aufstehen, usw., siehe auch Abb. 3.33). Die willentlich verfügbaren Einsatzreserven vermögen jedoch auch unter hoher Anstrengung nur etwa zwei Drittel der maximalen Leistungsfähigkeit auszuschöpfen. Noch höhere Leistungen sind zwar für begrenzte Zeit möglich, können jedoch wegen der Gefährdung der Gesundheit nur unter akuter Bedrohung der personellen Existenz („Todesangst“) mobilisiert werden, es sei denn, die Mobilisationsschwelle wird durch pharmazeutische Manipulation aufgehoben („Doping“). Die Betrachtung des menschlichen Körpers im Sinne der Energietransformation kann – je nach Beobachtungsfokus – anhand der umgewandelten Energiemengen und anhand der damit verknüpften Kreislaufreaktionen erfolgen (Abb. 3.34).
Arbeitsformen
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beiĆnormalerĆErnährungĆ <Ć20000ĆkJĆ/Ć24h VerlusteĆbeiĆderĆ Umwandlung
EnergieaufnahmeĆĆ ausĆderĆNahrung AufnahmeĆausĆ EnergievorrätenĆ (z.B.ĆFette)
BedarfĆzurĆAufrechterhaltungĆ derĆKörperfunktionenĆ (GrundumsatzĆ Ć8000ĆkJ)
zurĆVerfügungĆ stehendeĆ Nettoenergie
AufbauĆvonĆ Energievorräten
BedarfĆfürĆFreizeitĆundĆRuhe,Ć variablelĆjeĆnachĆAktivität
verbleibtĆbeiĆtäglicherĆ WiederholungĆweni-Ć gerĆalsĆ10000ĆkJĆ (männl.) FürĆberuflicheĆArbeitĆzurĆVerfügungĆstehenderĆAnteilĆ (Arbeitsenergieumsatz)
Abb. 3.34: Aufteilung der aus Nahrung gewonnenen Energie in den Bedarf für innere und für äußere Arbeit (angenommene Werte für Männer, aus LAURIG 1990)
3.2.10.2 EnergieumsatzĆundĆWirkungsgradĆ Die Ermittlung des Energieumsatzes dient x der Beurteilung der Inanspruchnahme der Energietransformationsprozesse im Sinne der Zumutbarkeit bzw. notwendiger Arbeitszeit- und Pausenregelungen und x der Beurteilung der Wirtschaftlichkeit der Energietransformation im Sinne der effizienten Gestaltung des Arbeitsprozesses. 3.2.10.2.1 Bestimmung des Energieumsatzes Die Messung des Energieumsatzes kann grundsätzlich über die Messung der aufgenommenen Energie oder der abgegebenen Energie erfolgen. Die direkte Bestimmung einer der beiden Größen ist jedoch nicht praktikabel, da einerseits die Energieaufnahme durch die Nahrung zeitlich versetzt zur Energieabgabe erfolgt (Prozesszeit, Vorratsbildung) und andererseits die Summe der abgegebenen Energie in Form mechanischer Arbeit, Temperaturleitung der Hautoberfläche, Verdunstungswärme und Atemlufterwärmung nur schwer zu messen ist. Als wesentlich praktikablere Methode hat sich dagegen die Messung des aufgenommenen Sauerstoffs bewährt. Da jeglicher Energieumsatz mit einem Sauerstoffverbrauch einhergeht, und da die Speichermöglichkeit von Sauerstoff im Körper gering ist, spiegelt die verhältnismäßig einfach zu messende Sauerstoffaufnahme den Energieverbrauch unmittelbar wider. Die Energieumsatzmessung in der Praxis erfolgt anhand von Proben der Ausatmungsluft und Feststellung deren Menge. Bei der klassischen Douglas-Sack-
270
Arbeitswissenschaft
Methode atmet der Proband die Frischluft über ein Ventil mit Mundstück ein, die Nase wird durch eine Nasenklemme verschlossen. Die gesamte Ausatmungsluft wird über ein Atemventil in einen luftdichten, auf dem Rücken getragenen Sack von 100-200 l Volumen geleitet. Nach Abschluss der Messperiode wird der Sack über eine Gasuhr (zur Mengenmessung) entleert und aus der Luftmenge eine repräsentative Probe zur chemischen Analyse entnommen. Dies ermöglicht die freie Bewegung des Probanden in der üblichen Umgebung. Da der Luftsauerstoffgehalt mit 20,8 bis 21,0% relativ konstant bleibt, bezieht sich die Analyse normalerweise nur auf die ausgeatmete Luft. Eine gewisse Schwierigkeit entsteht jedoch dadurch, dass der Sauerstoffbedarf zum Umsatz einer bestimmten Energiemenge von der Art des Nährstoffes abhängt. Die Glukoseverbrennung – welche näherungsweise für Kohlehydrate angesetzt werden kann – erfolgt nach folgender Gleichung: C6H12O6+6O2= 6CO2+6H2O+Energie Das Fettmolekül enthält dagegen bezogen auf die Anzahl der C- und H-Atome relativ wenig Sauerstoff, benötigt also mehr Sauerstoff aus der Luft zur vollständigen Verbrennung: Wegen der unterschiedlichen Brennwerte von Fetten und Kohlehydraten muss daher der Anteil der beiden Stoffe an der Verbrennung bekannt sein. Dieser kann wiederum indirekt durch die unterschiedliche Menge von gebildetem Kohlendioxid ermittelt werden. Auch hier genügt die Messung des CO2-Gehalts der ausgeatmeten Luft, da der CO2-Gehalt in der Umgebungsluft nur 0,03 Vol-% beträgt. Das Verhältnis von gebildetem Kohlendioxid CO2 zu aufgenommenem Sauerstoff O2 ergibt bei der vollständigen Verbrennung für jeden Brennstoff einen charakteristischen Wert, der als Respiratorischer Quotient, kurz RQ, bezeichnet wird. Dieser beträgt für Kohlehydrate RQ(Kohlenhydrate)= 6CO2 / 6O2=1 für Fette RQ(Fette)= 57CO2 / 81,5O2=0,7 und für Eiweißstoffe RQ(Eiweiß)= 0,81. Bei gemischter Verbrennung liegt der RQ also zwischen 0,7 und 1. Der Durchschnittswert bei der in Mitteleuropa üblichen Ernährung beträgt etwa 0,85. Aus dem Respiratorischen Quotienten kann somit die verbrannte Energiemenge im Verhältnis zum Sauerstoffverbrauch, auch als kalorisches oder energetisches Äquivalent bezeichnet, ermittelt werden (Tabelle 3.5). Die praktische Bestimmung des Energieumsatzes am Arbeitsplatz kann daher über die Messung der Sauerstoffaufnahme erfolgen, wenn auch das gleichzeitig ausgeatmete CO2-Volumen und damit der Respiratorische Quotient bekannt ist. Die Messung des Energieumsatzes beinhaltet grundsätzlich die gesamte umgesetzte Energie. Davon entfällt ein Teil für die ohnehin notwendige Aufrechterhal-
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tung der Körperfunktionen (Grundumsatz) und ein Teil auf den Arbeitsumsatz, der von der Tätigkeit selbst hervorgerufen wird. Zur Bestimmung des für die Arbeitsgestaltung relevanten Arbeitsumsatzes muss daher der Grundumsatz vom gemessenen Energieumsatz subtrahiert werden: Arbeitsenergieumsatz = Gesamtenergieumsatz Grundumsatz Tabelle 3.5: Energetisches Äquivalent aus dem respiratorischen Quotienten (aus HETTINGER 1980) Respiratorischer Quotient (RQ)
Energetisches Äquivalent (kJ / l O2)
0,70 0,75 0,80 0,85
19,58 19,84 20,10 20,36
0,90 0,95 1,0
20,62 20,88 21,14
Der sog. Ruheumsatz durch die ständig in Tätigkeit befindlichen Organe (Gehirn, Herz, Lunge, Leber und Nieren) ändert sich jedoch tageszyklisch, bei Nahrungsaufnahme und in Abhängigkeit der Umgebungstemperatur. Darüber hinaus erfordern elementar notwendige Alltagstätigkeiten weitere Energiemengen. Der Grundumsatz wird daher aus der Messung des Ruheumsatzes unter vier verschiedenen Bedingungen berechnet. Aufgrund der Abhängigkeit von der Körperoberfläche (bzw. Körperlänge und -gewicht), vom Alter sowie vom Geschlecht, erweist es sich als vorteilhaft, vorhandene Tabellen heranzuziehen (Abb. 3.35, siehe auch HARRIS u. BENEDICT 1919, STEGEMANN 1977). In der Regel kann der Grundumsatz eines 70 kg schweren Erwachsenen grob mit 7100 kJ pro Tag angesetzt werden. Obwohl der Energieumsatz anhand des Sauerstoffverbrauches und des Kohlendioxidgehalts der Ausatmungsluft nahezu unmittelbar gemessen werden kann, müssen dennoch zeitliche Verschiebungen im Arbeitsprozess ggf. berücksichtigt werden. Nach Beginn der körperlichen Tätigkeit stellt sich die Anpassung des Stoffwechsels erst mit einer gewissen Verzögerung ein (Abb. 3.36, oben). Während dieser Phase wird die benötigte Energie aus anaeroben Reserven bereitgestellt, die nach Beendigung der Tätigkeit über aerobe Prozesse wiederhergestellt werden. Zu Beginn der Tätigkeit wird daher zunächst weniger Sauerstoff verbraucht, als für die Tätigkeit eigentlich erforderlich ist (Entstehung einer „Sauerstoffschuld"). Nach Beendigung der Tätigkeit besteht zum Bilanzausgleich noch für eine gewisse Zeit ein erhöhter Sauerstoffbedarf („Abtragen der Sauerstoffschuld“). Bei leichten und mittelschweren Tätigkeiten unterhalb der Dauerleistungsgrenze stellt sich ca. 3-5 Minuten nach Arbeitsbeginn ein Gleichgewicht zwischen Sauerstoffverbrauch und Energieumsatz ein, daher genügt zur Energie-
272
Arbeitswissenschaft
umsatzbestimmung die Messung innerhalb der Gleichgewichtsperiode (Partialoder Steady-State-Methode, (Abb. 3.36, oben). Bei schweren Arbeiten in der Nähe oder oberhalb der Dauerleistungsgrenze kann nicht von einem solchen Gleichgewicht ausgegangen werden, da der O2Bedarf größer sein kann als das maximale O2-Aufnahmevermögen. In Folge entsteht neben der anlaufbedingten O2-Schuld ein mit der Arbeitszeit ständig steigendes O2 Defizit, das nach Aufbrauch der Reserven zur Erschöpfung führt. Die Energieumsatzmessung muss dann folglich den gesamten Zeitraum vom Beginn der Arbeitsaufnahme bis einschließlich der Rekonstitutionsphase umfassen (Integralmethode, Abb. 3.36, unten). Der Bilanzausgleich entspricht jedoch nur näherungsweise der O2-Schuld zuzüglich dem O2-Defizit, da sowohl die Umsetzung und die Rekonstitution der Energiespeicher als auch die erhöhte Körpertemperatur und die insgesamt vermehrte Atmungsarbeit zu einem zusätzlichen Energiebedarf führen. Genau genommen ist daher der O2-Bedarf zum Bilanzausgleich größer als die auszugleichenden Defizite. Nach leichter Arbeit beträgt das O2-Volumen für den Defizitausgleich bis zu 4 l, nach schwerer Arbeit bis zu 20 l (ULMER 1990).
Abb. 3.35: Abhängigkeit des relativen Grundumsatzes von Körperoberfläche, Lebensalter und Geschlecht (in kJ/m2.h, aus BOOTHBY et al. 1936)
Saauerstoffaufnahme
Arbeitsformen
273
O2 - Defizit = O2 - Bilanzausgleich
Arbeitsumsatz Arbeit
RuheRuhe umsatz
Sauerstooffaufnahme
Messung
O 2 - Defizit + O 2 - Schuld = O 2 - Bilanzausgleich
Arbeitsumsatz
Ruheumsatz
Zeit
Arbeit Messung
Zeit
Abb. 3.36: Energieumsatzmessung nach der Partialmethode (oben) und nach der Integralmethode (unten), nach LEHMANN (1953).
3.2.10.2.2 Maximaler Energieumsatz Die Höhe des Energieumsatzes hängt überwiegend von der zu erbringenden Leistung und dem Arbeitswirkungsgrad multiplikativ ab, interindividuelle Unterschiede bestehen nur in geringem Maße (Abb. 3.37). Dies erweist sich als vorteilhaft zur Abschätzung des Arbeitsenergieumsatzes anhand von Datentabellen (z.B. SPITZER et al. 1982). In Verbindung mit einer Arbeitsablaufstudie lässt sich damit der Energieumsatz für eine bestimmte Arbeitsfolge bestimmen (Beispiel in Tabelle 3.6). Die überwiegend funktionale Abhängigkeit des Energieumsatzes erlaubt andererseits jedoch nur eine eingeschränkte Betrachtung als Beanspruchungsindikator, da die individuell unterschiedliche Beanspruchungshöhe bei gleicher Leistung hieraus nicht deutlich wird.
274
Arbeitswissenschaft 20000Ć kJ/Tag
ArbeitĆ(mechanisch/äußere) Wärme
16000Ć
12000Ć
8000Ć Ruheumsatz 4000Ć
0 Buch-ĆBetriebs-Ć Mau-Ć Gießer halter ingenieur rer
Berg-Ć mann
Holz-Ć fäller
Abb. 3.37: Energieumsatz in verschiedenen Berufen Tabelle 3.6: Energieumsatzbestimmung anhand einer Arbeitsablaufstudie unter Verwendung der Energieumsatztabellen (aus HETTINGER 1980) Tätigkeit Art
Dauer (min)
Energieumsatz lt. Energieumsatz in der Energieumsatztafel (kJ/min) Tätigkeitszeit (kJ)
Stehen
0,5
2,5
1,25
Gehen
0,8
11,7
9,36
Schaufeln
1,4
36,8
51,52
Transport von Hand 10 kg
0,6
15,1
9,06
Gehen
0,5
11,7
5,85
Protokoll ausfüllen (im Stehen)
1,2
5,0
6,00
5,0
83,04
Geht man von einem täglichen Gesamtenergieumsatz von max. 18.830 kJ aus, so verbleibt nach Abzug des Ruhe- und Freizeitumsatzes noch ein möglicher Arbeitsumsatz von 8.400 kJ für die 8-Stunden-Schicht. Auf die Minute bezogen ergibt sich daraus ein Wert von 17,5 kJ / min. Der maximale Arbeitsumsatz von 17,5 kJ / min, der im Jahresdurchschnitt nicht überschritten werden sollte, gilt nur dann, wenn der gesamte Organismus, z.B. beim Tragen von schweren Lasten, eingesetzt wird. Sind vorwiegend ein Arm oder beide Arme an der Tätigkeit beteiligt und die anderen Muskeln durch die Arbeitshaltung (z.B. Sitzen) weitgehend entlastet, so gilt als höchstzulässiger Wert 5,0 kJ / min (ein Arm) bzw. 8,4 kJ / min Arbeitsumsatz für die Tätigkeit (MAINZER 1983). Die Festschreibung dieser Grenzwerte in der arbeitswissenschaftlichen Literatur basiert zum einen auf der Erkenntnis, dass eine schwere dynamische Arbeit mit
Arbeitsformen
275
einem höheren als dem angegebenen Energieumsatz in der Regel dazu führt, dass diese Tätigkeit das Herz-Kreislauf-System übermäßig beansprucht, das heißt, es kann nicht mehr im sogenannten „steady state“ arbeiten. Bei Überschreiten dieser Grenzwerte, die für Frauen mit dem Faktor von 0,75 zu multiplizieren sind, kann eine Kompensation bzw. ein Ausgleich dadurch erfolgen, dass einer erhöhten Energie-Verausgabung in einer vorausgegangenen Arbeitsphase begrenzter Dauer eine Pause folgt, in der der Energieumsatz deutlich unter dem entsprechenden Grenzwert liegt. Die Begrenzungen im kurzfristigen Bereich sind in der Erschöpfung der Energiespeicher und der begrenzten Sauerstofftransportkapazität des kardiorespiratorischen Systems begründet. Langfristig – im Tage-, Wochen- und Monatsbereich – kann auch das System der Nahrungsaufnahme und Nährstoff-Erschließung zum Engpass werden, sei es aufgrund der Erbringung sehr großer energetischer Leistungen (Gewichtsverlust, z.B. bei Sportlern) oder aus Mangel an Nahrungsenergie heute hauptsächlich bedeutend für Entwicklungsländer). 3.2.10.2.3 Wirkungsgrad menschlicher Arbeit Da die Höhe des Grundenergieumsatzes für eine bestimmte Tätigkeit interindividuell nahezu konstant ist, kann der Arbeitsenergieumsatz weiterhin zur Beurteilung der energetischen Effizienz eines Arbeitsprozesses herangezogen werden. Ein relativ maximaler Wirkungsgrad liegt bei Tätigkeiten mit kontinuierlicher Bewegung vor, bei denen mehrere größere Muskeln gleichmäßig arbeiten (z.B. Radfahren, Laufen, Kurbel drehen; siehe Abb. 3.38). Wirkungsgrad 30 % Rad fahren
25
Ziehen von Lasten
20
Kurbeln Zugbewegung senkrecht abwärts Ziehen waagerecht
15 Leiter
10 5
Gewicht heben
Lasten tragen auf schiefer Ebene Stoßen waagerecht
0 0 20
40
60 80 100 120 140 160 180 200 Nettoleistung W
Abb. 3.38: Wirkungsgrad des menschlichen Körpers als „Kraftmaschine" bei verschiedenen Tätigkeiten und in Abhängigkeit von der erzeugten Leistung (in Anlehnung an KEIDEL 1985)
276
Arbeitswissenschaft
Datentabellen des Energieumsatzes helfen darüber hinaus, den energetischen Aufwand zur Durchführung verschiedener Tätigkeiten abzuschätzen, auch wenn die erzeugte mechanische Leistung schwer zu messen ist (Abb. 3.39). Aus der Datentabelle wird deutlich, dass bereits das alleinige Ausführen einer Tätigkeit mit einem nicht unerheblichen Energieumsatz einhergeht. Neben der Abschätzung der energetischen Effizienz bestimmter Tätigkeitsausprägungen dienen solche Tabellen auch zur Kalkulation des Energieumsatzes bei komplexeren Tätigkeiten unter Zuhilfenahme einer Arbeitsablaufstudie (siehe auch Tabelle 3.6). Gehen mit Last 2,5 km / h 25 ° Steigung
Schaufeln ĆĆWurfweiteĆ3,0Ćm 8 kg, 10 Hübe / min. Ć2,0Ćm Wurfhöhe 2 m 1,0Ćm
50Ćkg 30Ćkg 10Ćkg 0Ćkg
Wurfhöhe 1 m
Gehen mit LastĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆ50Ćkg 2,5 km / h ĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆ30Ćkg 15 ° Steigung ĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆ10Ćkg ĆĆĆ0Ćkg
WurfweiteĆ3,0Ćm Ć2,0Ćm 1,0Ćm
Gewicht heben 0 auf 150 cm 10 Hübe / min.
ĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆ30Ćkg ĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆ20Ćkg 10ĆkgĆĆ
ĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆ50Ćkg Gehen mit Last ĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆ30Ćkg 2,5 km / h 10 ° Steigung ĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆ10Ćkg ĆĆĆĆ0Ćkg
Gewicht heben 0 auf 100 cm 10 Hübe / min.
ĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆ30Ćkg ĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆ20Ćkg ĆĆĆ10ĆkgĆĆ
Gehen mit LastĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆ50Ćkg Ebene ĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆ30Ćkg 4 km / h ĆĆĆ10Ćkg
Leiter steigen mit LastĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆ50Ćkg ĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆ30Ćkg 90 ° Neigung ĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆ10Ćkg Sprossenabstand 17 cm ĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆ0Ćkg 70 Sprossen / min
ĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆNeigungĆ25Ć° Abwärts gehen ĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆ15Ć° 5 km / h ĆĆĆ5Ć°
Leiter steigen mit LastĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆ50Ćkg 70 ° Neigung ĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆ30Ćkg ĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆ10Ćkg Sprossenabstand 17 cm 70 Sprossen / min 0ĆkgĆ
Aufwärts gehen 10 ° Steigung
5Ćkm/h 3Ćkm/h 1Ćkm/h
Leiter steigen mit Last ĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆ50Ćkg 50 ° Neigung ĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆ30Ćkg Sprossenabstand 17 cm ĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆ10Ćkg 70 Sprossen / min
Laufen Ebene 20Ćkm/h 15Ćkm/h Laufen Ebene Laufen Ebene 12Ćkm/h Laufen Ebene 4Ćkm/h 4Ćkm/h Kriechen Ganz gebückt gehen 4Ćkm/h 4Ćkm/h Halbgebückt gehen
Treppauf gehen mit Last ĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆ50Ćkg 30Ćkg 100 Stufen / min. ĆĆĆĆĆĆĆĆĆĆ10Ćkg 0Ćkg
0
20
40
60
80
100
Arbeitsenergieumsatz (KJ / min)
Treppab gehen
120ĆStufen/min 90ĆStufen/min 60ĆStufen/min
0
20
40
60
80
100
Arbeitsenergieumsatz (KJ / min)
Abb. 3.39: Energieumsatz einiger Grundtätigkeiten (Daten aus SPITZER et al.1982)
3.2.10.3 KreislaufregulationĆ Der bei körperlicher Arbeit gesteigerte Energiebedarf setzt einen verstärkten Stoffwechsel zur Versorgung der in Anspruch genommenen Organe mit Nährstoffen und zum Rücktransport von Abfallprodukten voraus. Daher muss die vom Herzen umgesetzte Blutmenge etwa im gleichen Verhältnis zum Energiebedarf gesteigert werden. Das Herzschlagvolumen bleibt dabei weitgehend konstant (GRIMBY et. al. 1966), von daher ist im Normalleistungsbereich eine nahezu lineare Zunahme der Herzschlagfrequenz mit dem Energieverbrauch zu beobachten (Abb. 3.40). Aus diesem Grund kann zur Untersuchung energetischer Arbeitsformen auch die Messung der Herzschlagfrequenz herangezogen werden.
Arbeitsformen
277
Abb. 3.40: Pulsfrequenz und Energieverbrauch beim Radfahren (ROHMERT 1968)
Auf direktem Wege erfolgt dies durch die elektrokardiografische Ableitung der Herzmuskelerregung (EKG, siehe Kap. 3.3.3.2.1.1). Mit auf der Brustwand fixierten Oberflächenelektroden werden dabei die bei der umlaufenden Erregung des Herzmuskels entstehenden elektrischen Potentiale aufgezeichnet. Dem Vorteil der Genauigkeit stehen beim EKG-Verfahren die Nachteile des möglicherweise unzuverlässigen Elektrodenkontakts (z.B. bei Schweißbildung) und die Problematik der Artefakt freien Ausübung von Tätigkeiten trotz Anbringung von EKG-Elektroden gegenüber. Ein in der betrieblichen Praxis einfacher anzuwendendes Verfahren basiert auf der Änderung der Lichtdurchlässigkeit des Ohrläppchens, die durch die Pulswelle bei jedem Herzschlag verursacht wird. Mit einem kleinen Ohrclip kann diese, ähnlich wie bei einer Lichtschranke, von außen gemessen werden. Für arbeitsphysiologische Untersuchungen wird aus dem Schlagrhythmus des Herzens üblicherweise nur die Zahl der Schläge pro Minute, für langsame Veränderungen durch direkte Zählung und für schnelle Veränderungen durch Messung der Zeit zwischen zwei aufeinanderfolgenden Schlägen und Berechnung einer „Momentan-Herzschlagfrequenz“, gebildet. Obwohl die Herzschlagfrequenz mit dem Energieumsatz hoch korreliert, ist eine direkte Umrechnung weder allgemein möglich noch sinnvoll. Bei gleicher Belastung ist die von der Muskulatur benötigte Blutmenge bei verschiedenen Personen zwar ungefähr gleich, das Schlagvolumen ist jedoch individuell unterschiedlich groß. Die Herzschlagfrequenz steigt daher sowohl abhängig von der persönlichen Konstitution als auch in erheblichem Maße abhängig vom Trainingszustand unterschiedlich stark an (Abb. 3.41). Auch die Herzschlagfrequenz in Ruhe schwankt beträchtlich von Person zu Person (zwischen 40 und 100 Schlägen/min). Um aus der Herzschlagfrequenz die Arbeitsbeanspruchung zu ermitteln, wird deshalb nicht von der absoluten Herz-
278
Arbeitswissenschaft
schlagfrequenz, sondern nur vom Anstieg gegenüber dem Ruhewert ausgegangen (Arbeitsherzschlagfrequenz).
Abb. 3.41: Zusammenhang zwischen Pulsfrequenz und Sauerstoffaufnahme bei Personen verschiedenen Alters und Geschlechts (in Anlehnung an LEHMANN 1983)
Da die Herzschlagfrequenz – wie alle anderen Kreislaufgrößen – vegetativ gesteuert ist, hat auch der Erregungszustand der Person einen erheblichen Einfluss. Eine psychisch bedingte Anspannung – bewusst oder unbewusst – führt ebenso zu einem Anstieg der Herzschlagfrequenz wie ein erhöhter Lärmpegel oder der Konsum von Koffein, Teein oder Nikotin, was ebenso auch für jede körperliche Indisposition gilt. Der zeitliche Verlauf der Arbeits-Herzschlagfrequenz zeigt im Wesentlichen eine vergleichbare Charakteristik wie die O2-Aufnahme (Abb. 3.42, vgl. Abb. 3.36).
Arbeitsformen
279
Nach Arbeitsbeginn steigt die Herzschlagfrequenz mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung auf ein höheres – von der Belastungshöhe abhängiges – Niveau. Bei niedriger und mittlerer Beanspruchung stellt sich dann ein Gleichgewicht in Form einer konstanten Herzschlagfrequenz ein („steady state"), das über mehrere Stunden beibehalten werden kann. (Abb. 3.42).
Abb. 3.42: Zeitlicher Verlauf (schematisch) bei unterschiedlich schwerer Belastung (in Anlehnung an ARRASCH u. MÜLLER 1951, aus LEHMANN 1983)
280
Arbeitswissenschaft
Nach Beendigung der Tätigkeit klingt die Herzschlagfrequenz dann verzögert ab, wobei – wie bei der Sauerstoffschuld, da mit dem Energieversorgungsmechanismus unmittelbar zusammenhängend – ein Bilanzausgleich stattfindet. Bei schweren Arbeiten oberhalb der Dauerleistungsgrenze stellt sich nach der Anlaufverzögerung der Herzschlagfrequenz allerdings kein Gleichgewichtszustand ein, sondern die Herzschlagfrequenz steigt – trotz gleichbleibender Belastung – stetig an (Ermüdungsanstieg). Dies liegt daran, dass neben der Pumpleistung des Herzens eine Reihe weiterer Engpässe vorliegen, z.B. die begrenzte Gefäßweite (Durchblutungsmöglichkeit) oder die begrenzte Leistungsfähigkeit der Energietransformationsprozesse. Deshalb vermag die durch das Versorgungsdefizit angeregte Verstärkung der Herzschlagaktivität selbiges nicht zu kompensieren, in Folge steigt die Pulsfrequenz bei Überschreitung der Dauerleistungsgrenze stärker an als die Sauerstoffaufnahme. Eine solche Abweichung von der ansonsten gegebenen Proportionalität zwischen Energieumsatz und Herzschlagfrequenz kann zur Differenzierung der wirkenden Engpässe (und somit zur Unterscheidung zwischen vorwiegend einseitiger und vorwiegend zentraler Beanspruchung) genutzt werden (Abb. 3.43): Bei einem lokalen Engpass steigt die Herzschlagfrequenz schon unterhalb des maximalen Energieumsatzes überproportional an.
Abb. 3.43: Zusammenhang zwischen Herzschlagfrequenz und Energieumsatz (nach STEGEMANN u. KENNER 1971)
Ähnlich wie die Sauerstoffaufnahme erreicht auch die Herzschlagfrequenz einen oberen Grenzwert. In diesem Bereich nehmen die Defizite so schnell zu, dass kurzfristig eine akute Erschöpfung eintritt. Als Richtwert kann angesetzt werden:
Maximale Herzschlagfrequenz | 200 Lebensalter
Arbeitsformen
281
Die Überschreitung der Dauerbeanspruchungsgrenze zeigt sich sowohl im weiteren Anstieg der Herzschlagfrequenz über das im steady-state eingehaltene Plateau (Ermüdungsanstieg) als auch in der Erhöhung der Erholungspulssumme. Diese bezeichnet die Anzahl der zusätzlichen Schläge im Zeitraum vom Arbeitsende bis zum Wiedererreichen des Ausgangsniveaus der Herzschlagfrequenz. Ein Überschreiten der Dauerbeanspruchungsgrenze ist zu erwarten, wenn die Arbeitsherzschlagfrequenz den Wert von 40 Schlägen/min über der RuheHerzschlagfrequenz (im Liegen gemessen) überschreitet. Wenn die RuheHerzschlagfrequenz in Arbeitshaltung gemessen wird, verringert sich dieser Wert auf 35 Schläge/min (Sitzen) bzw. 30 Schläge/min (Stehen). Als weiteres Kriterium des Überschreitens der Dauerbeanspruchungsgrenze ist eine Erholungspulssumme von > 75 bis 150 Schlägen anzusehen. Die Herzschlagfrequenz stellt folglich eine bedeutende Beanspruchungsgröße zur Beurteilung energetisch-effektorischer Arbeit dar, da neben der erbrachten Leistung und dem Arbeitswirkungsgrad auch die individuelle Konstitution und Disposition einen unmittelbaren Niederschlag finden. 3.2.11 Skelettsystem Die Belastung des Skeletts hängt unmittelbar mit den zu handhabenden Kräften im Sinne der biomechanischen Struktur zusammen. Normalerweise führen die aktiv aufgebrachten Kräfte zu keiner Überbeanspruchung der mechanischen Tragfähigkeit der Knochen. Jedoch sind die beweglichen Teile des Skeletts, die Gelenke und insbesondere die Bandscheiben der Wirbelsäule, beim Handhaben schwerer Lasten mitunter einer sehr hohen Belastung und Beanspruchung ausgesetzt, wodurch irreversible Schädigungen des Skelettsystems hervorgerufen werden können. Beim Handhaben von Lasten ersteht ein spezifischer Belastungsschwerpunkt auf der Wirbelsäule. Dies hängt damit zusammen, dass die Wirbelsäule - als einzig tragendes Element des Rumpfes - über die Hebelwirkung der äußeren Last mit großen Momenten und daraus resultierend großen inneren Kräften belastet wird. Mögliche Negativwirkungen betreffen dabei hauptsächlich die elastischen Bandscheiben zwischen den einzelnen Wirbeln, die wegen der kleinen Flächen (wirksame Fläche je nach Körperposition bis deutlich unter 10 cm2) enorm hohen Drücken ausgesetzt sind (Abb. 3.44). Bei Beugung des Rückens entstehen darüber hinaus erhebliche innere Querkräfte (Abb. 3.45). Bei Überbelastung entsteht eine Reihe von Gefährdungen der Gesundheit, z.B. in Form von x Bandscheibenschäden (bis hin zum „Bandscheibenvorfall“ bei hohen Querkräften), x Verformung der Wirbelkörper bei dauerhaft bzw. zu häufiger hoher punktueller Druckbelastung oder x Reißen einzelner Muskelfasern oder ganzer Muskelteile durch zu starke Zugbeanspruchung.
282
Arbeitswissenschaft
Abb. 3.44: Belastung der präsakralen Bandscheibe beim körpernahen Halten einer Masse von 10 kg mit beiden Armen (oben) und bei waagrecht ausgestreckten Armen (unten) mit entsprechenden, auf dem Kopf getragenen, Äquivalenzlasten (aus JUNGHANNS 1979)
Abb. 3.45: Beanspruchung der Bandscheiben bei gebeugter und gerader Wirbelsäule. Z=Zugbeanspruchung, D=Druckbeanspruchung (in Anlehnung an ROHMERT 1983b)
Arbeitsformen
283
3.2.12 Beurteilung der Belastung Die für die Arbeitsgestaltung relevanten Kriterien beziehen sich u.a. auf die Schädigungsfreiheit der Ausübung bestimmter Tätigkeiten. Diese kann mit Bezug auf die Wirbelsäule des Arbeitenden jedoch nicht direkt gemessen werden. Eine Untersuchung anhand von Röntgenbildern vermag zwar Aufschluss über den Zustand der Wirbelkörper zu geben, letztlich lassen sich damit jedoch nur ex-postErkenntnisse über die Wirkung der zurückliegenden Belastungen gewinnen, d.h. Überbelastungen werden erst dann offensichtlich, wenn eine Schädigung bereits eingetreten ist. Zur Beurteilung der arbeitstechnischen Voraussetzungen im BK 2108Feststellungsverfahren wird von den Berufsgenossenschaften seit einigen Jahren das Mainz-Dortmunder Dosismodell (MDD) angewandt, welches für eine einheitliche Belastungsbewertung übergreifend für alle Gewerbezweige konzipiert wurde (JÄGER et al. 1999, HARTUNG et al. 1999, SCHÄFER u. HARTUNG 1999). Im MDD wird die Kompressionskraft auf die unterste lumbale Bandscheibe als Maß für die Belastungshöhe herangezogen. Hierzu stehen sieben Bestimmungsgleichungen für die retrospektive Abschätzung der Belastungshöhe für Hebe- und Tragetätigkeiten sowie Arbeiten in extremer Rumpfbeugehaltung zur Verfügung (HARTUNG et al. 1999). Die fundierte Abschätzung von Schädigungsrisiken setzt x die Kenntnis der Belastbarkeit der Wirbelsäule und x die Kenntnis der Druckbelastung der Wirbelkörper und Bandscheiben bei einer bestimmten Tätigkeit voraus. Zur Abschätzung der Kraftverhältnisse an der Wirbelsäule werden hauptsächlich dafür spezifizierte biomechanische Modelle (z.B. „Der Dortmunder“) herangezogen (z.B. CHAFFIN 1969, JÄGER 1987, JÄGER et. al. 2001, GRANATA u. MARRAS 1995, siehe auch Abb. 3.46). Die Prüfung der Validität solcher Modelle (insbesondere bezüglich Nichtlinearitäten, Idealisierungen, Koeffizientenvorgaben usw.) ist, ebenso wie die Feststellung der Belastbarkeitsgrenze der Wirbelsäule, nur empirisch möglich. Hierzu werden Untersuchungen mit in die Wirbelsäule eingebrachten Messsensoren, Analysen von toten Körpern und epidemologische Befunde herangezogen (z.B. NACHEMSON u. MORRIS 1964, EVANS u. LISSNER 1959, SONODA 1962). Aus solchen biomechanischen Modellen können zunächst die auf die Wirbelsäule wirkenden Kräfte in Abhängigkeit der Tätigkeitssituation abgeschätzt werden. Die Betrachtung aller einzelnen Wirbel führt dabei – wegen der unterschiedlichen Belastung – zu einem komplexen Bild. Meist wird daher auf den Bereich L5/S1, also den Übergang zwischen Lenden und Kreuzbein, fokussiert, da hier in der Regel ein Belastungsschwerpunkt auftritt.
284
Arbeitswissenschaft
Abb. 3.46: Druckkraft am Lenden-Kreuzbein-Übergang beim Halten von Lasten mit vorgeneigtem Oberkörper für verschiedene Lastmassen und unterschiedliche Armhaltungen (aus JÄGER 1987)
Betrachtet man die Belastung (Druckkraft) in Abhängigkeit der Körperstellung und der äußeren Last, so finden sich die in Abb. 3.46 gezeigten typischen Kennlinien: Eine relativ maximale Belastung liegt bei einer Rumpfneigung im mittleren Bereich vor; das Halten mit ausgestreckten Armen führt zu einer deutlich verstärkten Belastung. Differenziertere Belastbarkeitsgrenzen wurden von JÄGER (1996) vorgeschlagen (Tabelle 3.7). Jüngere Personen können demzufolge mit höheren Druckkräften belastet werden. Die in Tabelle 3.7. angegebenen Grenzwerte gelten für zweihändig, symmetrisch, gleichmäßig und frontal zum Körper durchgeführte Hebetätigkeiten.
Arbeitsformen
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Tabelle 3.7: Empfohlene Grenzwerte für die lumbare Kompressionsbelastung bei der manuellen Lastenhandhabung (nach JÄGER 1996)
Alter 20 Jahre 30 Jahre 40 Jahre 50 Jahre > 60 Jahre
Frauen 4,4 kN 3,8 kN 3,2 kN 2,6 kN 2,0 kN
Männer 6,0 kN 5,0 kN 4,0 kN 3,0 kN 2,0 kN
Eine Seitenneigung, Torsion oder die Beaufschlagung mit asymmetrischen Lasten führt, ebenso wie ruckartige Bewegungen, zu einer Vergrößerung der Belastung von Wirbelkörpern und Bandscheiben (siehe Abb. 3.47).
Abb. 3.47: Schematische Darstellung der unterschiedlichen Flächenpressungen der Bandscheiben bei geradem und gebeugtem Rücken (links); Veranschaulichung der Wirbelsäulenbelastung bei asymmetrischem und symmetrischem Lastentragen (rechts; in Anlehnung an HETTINGER u. WOBBE 1993)
In solchen Fällen sind folgende Abschläge – ggf. kummuliert – vorzusehen (Schätzwerte, abgeleitet aus GARG 1986, HARTUNG u. DUPUIS 1994): x -10% bei Seitenneigung des Rumpfes oder Verdrehung um 15..30° x -15% bei Verdrehung um 30..60° x -25% bei Verdrehung um 60..90° x -25% bei ruckartigen Bewegungsabläufen. Im Rahmen der Arbeitsgestaltung spielt die explizite Berücksichtigung solcher Grenzwerte insofern eine große Rolle, da die Maximalkräfte und die subjektive Zumutbarkeitsgrenze meist höher liegen als die gesundheitskritischen Grenzwerte (um 10-60%, außer im Schulterbereich; NICHOLSON 1989). Mehr als 99% der männlichen und 75% der weiblichen Personen können größere Kräfte aufbringen, als zur Erreichung eines Grenzwertes von 3400 N erforderlich ist (WATERS et al. 1993; siehe Kap. 10.1.1.1).
286
3.3
Arbeitswissenschaft
Informatorisch-mental
Neben der Gestaltung energetisch-effektorischer Arbeit ist eine wichtige Aufgabe des Arbeitswissenschaftlers die Konzeption, Entwicklung und Verbesserung von Arbeitssystemen im Hinblick auf die menschliche Informationsverarbeitung. Diese Systeme können sehr unterschiedliche Funktionen besitzen, wie z.B. ein Cockpit zum Führen eines Verkehrsflugzeugs im Vergleich zu einer Leitwarte zur Führung und Überwachung einer hochautomatisierten Produktionsanlage. Beiden Fällen ist jedoch gemein, dass zur Erfüllung der Aufgaben Information zielgerichtet verarbeitet werden muss. Wichtige Zielgrößen sind die Effektivität (das Flugzeug muss fliegen) und Effizienz (es sollte nicht zu viel Treibstoff verbraucht werden), ohne jedoch den Menschen zu unter- oder überfordern oder die Sicherheit zu gefährden. Diese Forderung der Effektivität und Effizienz gilt im Umkehrschluss auch für menschliches Handeln: Es muss das Richtige zur richtigen Zeit bei einem geringen physiologischen und psychologischen Ressourcenverzehr getan werden, wobei die Technik nicht in oder über Funktionsgrenzen hinaus zu belasten ist und sicherheitskritische Funktionsbereiche zu meiden sind. Die Gestaltung der Interaktion von Mensch und Technik sollte auf der Grundlage gesicherter Erkenntnisse über die Funktionsweise der menschlichen Informationsverarbeitung erfolgen. Erst wenn man eine genaue Vorstellung über die Möglichkeiten und Grenzen der menschlichen Wahrnehmung, Kognition und Motorik besitzt, ist man in der Lage, durch eine methodisch geleitete Gestaltung des Arbeitssystems unnötige Belastungen zu vermeiden und dieses in einem günstigen Bereich des Ressourcenverzehrs zu betreiben. Die Entwicklung von Modellen der menschlichen Informationsverarbeitung und die Kenntnis ihrer Gestaltungskonsequenzen ist bspw. Gegenstand der Arbeits- und Ingenieurpsychologie (früher Psychotechnik, heute Anthropotechnik), der physiologischen und biologischen Systemforschung sowie der Mensch-Maschine-Systemtechnik. 3.3.1
Modelle menschlicher Informationsverarbeitung
Alle menschlichen Aktivitäten sind mit Prozessen der Informationsverarbeitung verknüpft, nicht nur diejenigen, die gemeinhin als geistig bezeichnet werden. Auch jede körperliche Tätigkeit wird von Informationsverarbeitungsvorgängen bewusst oder unbewusst reguliert. Deutlich wird die besondere Qualität der menschlichen Informationsverarbeitung, die gerade bei ganz alltäglichen Aufgaben erforderlich ist und meist gar nicht als besondere Leistung wahrgenommen wird, wenn versucht wird, diese auf eine Maschine zu übertragen. Ein Beispiel ist das Erkennen, Hinlangen und zielgerichtete Greifen von a priori nicht oder nicht genau bekannten Werkstücken aus elastischem Kunststoff, die sich in einem einfachen, nicht maschinengerecht gestalteten Transportbehälter befinden und dort ungeordnet liegen. Möchte man eine solche scheinbar triviale Aufgabe auf einen Roboter mit entsprechenden bildgebenden Sensorsystemen und geeigneten Aktuatoren übertragen, so werden die Grenzen der Automatisierung schnell deutlich, da
Arbeitsformen
287
bereits die zuverlässige und schnelle Erkennung von Lage, Zustand und möglichen Greifpunkten der Werkstücke erhebliche technische Schwierigkeiten aufwirft. Der Mensch hingegen vermag diese Aufgabe ohne besonderes Training und bei geringer mentaler Beanspruchung schnell und zuverlässig auszuführen. Wie bereits in Kapitel 3.1 dargestellt wurde, lassen sich anhand des Paradigmas des Informationsumsatzes die drei Phasen der Informationsaufnahme (sog. frühe Prozesse), Informationsverarbeitung (sog. zentrale Prozesse) sowie Informationsabgabe (sog. späte Prozesse) differenzieren. Aus ingenieurwissenschaftlicher Sicht (siehe Abb. 3.2) beziehen sich die frühen Prozesse in erster Linie auf die Entdeckung von informationstragenden optischen und akustischen Signalen im Arbeitssystem und die Trennung dieser Signale gegenüber dem „Hintergrundrauschen“. Die zentralen Prozesse beinhalten das Erkennen und Identifizieren der Signalbedeutung und die darauf aufbauenden Entscheidungsprozesse zur Urteilsbildung und Konsequenzbewertung. Die späten Prozesse „formen“ schließlich das manipulative und kommunikative Handeln und beinhalten u.a. die Organisation und Regelung von Bewegungen. Zur Erforschung der menschlichen Informationsverarbeitung sind verschiedene Modellvorstellungen entwickelt worden, die wertvolle Hinweise für die Gestaltung von Arbeitssystemen liefern. Sie bieten darüber hinaus einen messtheoretischen Zugang zur Bewertung informatorisch-mentaler Arbeit, z.B. im Hinblick auf die Analyse mentaler Belastung und Beanspruchung. 3.3.1.1
Phänomenologisch-empirischeĆModelleĆ
Phänomenologisch-empirische (biologische) Modelle der menschlichen Informationsverarbeitung zielen darauf ab, den Ablauf und die beteiligten wahrnehmungsund kognitionspsychologischen Funktionsbereiche zu beschreiben. Im Wesentlichen können sequentielle Modelle und Kapazitätsmodelle unterschieden werden. Sie sollen nachfolgend im Detail behandelt werden. 3.3.1.1.1 Sequentielle Modelle Sequentielle Modelle der Informationsverarbeitung beschreiben den Fluss der Information durch den Organismus – von einem wahrgenommenen Reiz bis zur Ausführung einer Reaktion. Grundannahme ist, dass Informationsverarbeitung Zeit kostet. Leistungsvariabilität wird auf Anzahl und Art der zu durchlaufenden Stufen der Verarbeitung zurückgeführt und üblicherweise durch die Reaktionszeit gemessen, weshalb sie auch als Stufenmodelle bezeichnet werden. Diese Modelle gehen davon aus, dass mehrere sequentielle Verarbeitungsstufen durchlaufen werden. Die linearen Stufenmodelle betonen die Tatsache, dass Stimulus und Reaktion (response) über eine Reihe von Transformationen miteinander verbunden sind. Diese Transformationen sind streng seriell, d.h. die nachfolgende Stufe kann erst dann begonnen werden, wenn die vorherige durchlaufen ist. Eine korrekte Interpretation oder Voraussage von Ergebnissen kann nur anhand einer mög-
288
Arbeitswissenschaft
lichst präzisen Beschreibung der Art und Struktur solcher Transformationen stattfinden. 3.3.1.1.1.1
Subtraktionsmethode
Einer der ersten Versuche, mentale Prozesse systematisch zu erkunden, stammt aus dem Jahr 1868 und wurde vom Ophthalmologen Frans C. Donders unternommen (siehe Jubiläumsabdruck DONDERS 1969). Er war fasziniert von Helmholtz's Entdeckung, dass die neurale Übertragung von Signalen Zeit kostet und sich nicht, wie bis dahin angenommen, augenblicklich vollzieht. Donders fragte sich, ob die Geschwindigkeit des Denkens messbar sei. Um diese Frage zu beantworten, führte er eine bestechend einfache Methode zur Analyse von Reaktionszeiten ein. Seine Methode basiert auf der heute von den meisten Wissenschaftlern nicht mehr geteilten Annahme, dass mentale Prozesse streng seriell ablaufen und die „Durchlaufzeiten“ durch die einzelnen Stufen der Verarbeitung additiv sind. Er entwarf drei Typen von Reaktionszeitaufgaben, die in Tabelle 3.8 dargestellt sind. Tabelle 3.8: Reaktionszeitaufgaben von DONDERS Aufgabe
Anzahl
Anzahl der
gemessene mentale
der Stimuli
Responses
Prozesse
A
1
1
einfache Reaktionszeit
B
viele
viele
einfache Reaktionszeit Stimuluskategorisierung Response-Auswahl
C
viele
1
einfache Reaktionszeit Stimuluskategorisierung
Aufgabe A ist eine einfache Reaktionsaufgabe. Sie beinhaltet eine einfache Stimulusdarbietung und einen einfachen Response, z.B. möglichst schnell nach Aufleuchten einer Lampe eine Taste zu drücken. Aufgabe B ist eine Wahlreaktionsaufgabe: Es gibt z.B. zwei Lampen und zwei Tasten. Wenn die linke Lampe brennt, soll die linke Taste gedrückt werden, bei der rechten Lampe die rechte. Die Zeit, die man braucht, um die richtige Taste zu drücken, heißt Wahlreaktionszeit bzw. Auswahl-Reaktionszeit (siehe Kap. 3.3.1.2.2.2). Die Aufgabe kann natürlich durch eine Erhöhung der Anzahl von Stimuli sowie Responses beliebig erschwert werden. Aufgabe C hat zwei (oder mehr) Stimuli, jedoch nur einen Response. Wenn z.B. die linke Lampe brennt, soll die Taste gedrückt werden, wenn die Rechte brennt, soll nichts unternommen werden. Auch hier ist beim Aufleuchten der linken Lampe eine Wahlreaktionszeit feststellbar. Donders nahm an, dass die komplexeste Aufgabe B drei Prozesse erfordert: (1) die einfache Reaktion, (2) die Stimuluskategorisierung sowie (3) die sog. Response-Auswahl. Aufgabe A lässt sich somit als eine Teilaufgabe von B auffassen. Die Wahlreaktionszeiten in den Aufgaben B und C sind länger als die einfachen Reaktionszeiten, weil sie zwei eigene Prozesse voraussetzen. Aufgabe C beinhaltet sowohl Stimuluskategorisierung als auch einfache Reaktionszeit, jedoch keine
Arbeitsformen
289
Responseauswahl. Durch Vergleich der drei Aufgaben kann man herausfinden, wie viel Zeit für jeden der seriell nacheinander ablaufenden Prozesse gebraucht wird: x Einfache Reaktion = A x Stimuluskategorisierungszeit = C A x Response-Auswahlzeit = B C Die Subtraktionsmethode ist ein Beispiel dafür, wie man mentale Prozesse zeitlich entkoppeln kann. Die deutlichste Schwäche dieses Modells liegt in der Annahme, dass die unterschiedlichen Aufgaben tatsächlich den unterstellten Prozess, und nur diesen, erfordern. 3.3.1.1.1.2
Kaskadenmodelle
Während Stufenmodelle davon ausgehen, dass der Prozess [n+1] erst beginnen kann, wenn der Prozess [n] vollständig ausgeführt ist, basieren Kaskadenmodelle auf der Annahme, dass mehrere Prozesse simultan anlaufen und sich gleichzeitig fortpflanzen. Diese Prozesse sind als einfaches Netzwerk miteinander verknüpft. Die genannte Betrachtungsweise schließt die Möglichkeit ein, dass die Prozesse eine mentale Ressource gleichzeitig in Anspruch nehmen. Somit dient das Kaskadenmodell als Übergang vom Stufen- zu den später ausführlich erläuterten Kapazitätsmodellen. 3.3.1.1.1.3
Regulationsebenenmodelle
Eine Betrachtung von Informationsverarbeitungsvorgängen auf verschiedenen Abstraktionsebenen erlauben sog. Regulationsebenenmodelle. Dabei werden bewusste und unbewusste mentale Prozesse unterschieden und es wird individuellen Trainings- oder Lernzuständen Rechnung getragen (SCHLICK 1999; SCHMIDT 2007a). Wie bei den Kaskadenmodellen ermöglichen die Regulationsebenen eine simultane Informationsverarbeitung, die sich jedoch auf Hierarchieebenen vollzieht. Auf den einzelnen Hierarchieebenen werden jedoch nach wie vor sequentielle Funktionsketten differenziert. Das wohl prominenteste Regulationsebenenmodell entstammt den „Unified Theories of Cognition“ von NEWELL (1990, 1992). Es postuliert vier „Bänder“ menschlicher Informationsverarbeitung: biologisch, kognitiv, rational und sozial. Diese Bänder können anhand der Zugriffszeiten auf die Speicherstrukturen differenziert werden. Die akkumulierte Betrachtung elementarer Zugriffsmechanismen eines Bands bzw. der zugehörigen Zugriffszeiten führt dabei jeweils auf das nächsthöhere (Sub-)Band, dessen Zykluszeit jeweils in etwa um den Faktor zehn höher liegt. Mit einer Zykluszeit von 100 Ps bis 10 ms beinhaltet das biologische Band in drei Subbändern die neuronalen Funktionen (elektrochemisch arbeitende Organellen, daraus zusammengesetzte impulsverarbeitende Neuronen und aus diesen Nervenzellen kombinierte Schaltkreise). Das darüber liegende kognitive Band umfasst wiederum drei Subbänder, bei denen nun aber auf entfernte symbolhafte Wissensstrukturen zugegriffen wird. Auf dem untersten Subband repräsen-
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Arbeitswissenschaft
tieren automatisierte, nicht bewusstseinsgesteuerte Prozesse die frühen Bewusstseinsakte. Das mittlere Subband verankert die einfachen Operationen, die aus automatisierten Prozessen sequentiell zusammengesetzt werden. Im obersten Subband werden sie zu Einheitsaufgaben zusammengefasst. Das Band des rationalen Verhaltens beinhaltet bewusste zielorientierte Schlussfolgerungsprozesse im Minuten- bis Stundenzeitraum. Mit dem sozialen Band wird schließlich auf der obersten Ebene die Informationsübertragung bei der Zusammenarbeit von Menschen betrachtet. Strukturell ähnlich ist HACKERS (2005) Modell der Regulation von Arbeitstätigkeiten (siehe hierzu auch Kap. 1.5.1.3). Auf den drei Individualebenen dieses Modells werden die automatisierte, die perzeptiv-begriffliche und die intellektuelle Regulation differenziert. Darüber kann bei arbeitsteiligen Tätigkeiten eine kooperative Regulationsebene angeordnet werden, die Wirkungen auf die Individualebenen hat. Auf der automatisierten Ebene sind nichtbewusstseinspflichtige Bewegungsstereotypen verankert, die durch kinästhetische Regulation in Grenzen an die veränderlichen Umgebungsbedingungen angepasst werden können. Perzeptiv-begriffliche Vorgänge sind bewusstseinsfähig, aber nicht immer bewusstseinspflichtig. Wahrnehmungsinterne Klassifikationsvorgänge laufen entsprechend gespeicherter Regeln ab. Auf der intellektuellen Ebene finden bewusstseinspflichtige Analyse- und Synthesevorgänge statt, deren Denkvorgänge unter Nutzung von bildhaft-anschaulichem oder begrifflich-symbolischem Wissen ablaufen. Auch RASMUSSEN (1983) unterscheidet drei Regulationsebenen, nämlich fertigkeitsbasiertes (skill-based), regelbasiertes (rule-based) und wissensbasiertes (knowledge-based) Verhalten (siehe Abb. 3.48). Die fertigkeitsbasierte (auch: sensumotorische) Ebene ist durch erlernte und automatisiert ablaufende Handlungsmuster geprägt, die nicht mehr bewusstseinspflichtig sind, wie z.B. das Einhalten eines Fahrstreifens eines Kraftfahrzeugs durch einen erfahrenen Fahrer. Auf der regelbasierten Ebene laufen bewusstseinsfähige Verarbeitungsprozesse ab, bei denen als Ergebnis der Merkmalsextraktion bestimmte Zeichen erkannt werden, mit denen erlernte Regeln und Schemata assoziiert werden (z.B. Verkehrsregeln oder Standardvorgehensweisen bei der Fehlersuche). In unbekannten oder neuartigen Situationen, in denen nicht auf bewährte Prozeduren zurückgegriffen werden kann, muss eine Handlungsstrategie auf der wissensbasierten Ebene entwickelt werden. Auf dieser höchsten kognitiven Ebene werden Informationen als Symbole interpretiert, um die Situation zu analysieren. Die bewusste Formulierung von Zielen und das Einbeziehen mentaler Modelle dienen dazu, Alternativen im Hinblick auf die Zielerreichung gegeneinander abzuwägen und nach der Entscheidung einen Plan zu entwerfen (z.B. bei komplexen Störungsdiagnoseaufgaben). Die verschiedenen Regulationsebenen sind also auch mit den unterschiedlichen Arten der Informationsnutzung verbunden. Im Sinne der ergonomischen Gestaltung sollten Informationen so dargeboten werden, wie es die Regulationsebene erfordert, die aufgrund des Qualifikationsprofils des Benutzers zu erwarten ist. Zusätzlich zu beachten sind mögliche Regulationsebenenwechsel durch das Trainieren
Arbeitsformen
291
der Aufgabenbearbeitung, dem z.B. durch einen Novizen- und Expertenmodus Rechnung getragen werden kann. Wissensbasiertes Verhalten
Ziele
Symbole
Identifizieren
Entscheiden
Planen
• Strukturiertes Mentalmodell für unbekannte Situationen • Vorwärts- u. Rückwärtsverkettung beim Schlussfolgern • Bewusste Handlungsregulation
Zeichen
Regelbasiertes Verhalten Erkennen
Merkmals funktion
Sensorischer Input
Assoziieren
(Signale)
Regeln
Sensumotorische Muster
Signale Handlungen
• Heuristiken, „Kochrezepte“ für bekannte Situationen • Vorwärtsverkettung (WennÆDann) • Bewusste Handlungsregulation
Fertigkeitsbasiertes Verhalten • Erlernte oder intuitive sensumotorische Muster • Unbewusste Handlungsregulation
Abb. 3.48: Regulationsebenenmodell nach RASMUSSEN (1983)
3.3.1.1.2 Kapazitätsmodelle Die Stufenmodelle tragen der Erfahrung Rechnung, dass menschliche Informationsverarbeitung Zeit kostet. Insbesondere in der psychophysiologisch geprägten Aktivierungstheorie und der kognitionspsychologisch geprägten Aufmerksamkeitstheorie wurden weitergehende Modellvorstellungen entwickelt, die nicht den Zeitverbrauch, sondern die Zuweisung „kognitiver Kapazität“ bzw. die Regulation des damit verbundenen „Energieeinsatzes“ in den Mittelpunkt stellen. Vorrangiger Zweck dieser Modelle ist es, einen messtheoretischen Zugang für die Erfassung von mentaler Beanspruchung zu formulieren (siehe Kap. 3.3.3). Beide Theorien gehen davon aus, dass die für die Informationsverarbeitung zur Verfügung stehende Kapazität begrenzt ist und die psychophysiologischen Reaktionen des Menschen auf informatorische Arbeit im Sinne einer mentalen Beanspruchung als Kapazitätsaktivierung bzw. -ausschöpfung beschrieben werden können. 3.3.1.1.2.1
Aktivierungstheoretische Konzepte
Aktivierungstheoretische Modelle analysieren die Regulation der Anstrengung (effort) unter psychisch energetischen Gesichtspunkten. In Abb. 3.49 ist die mit der Informationsverarbeitung verbundene Anstrengungsregulation schematisch dargestellt. Der Informationsverarbeitungsprozess wird durch einen Reiz ausgelöst, bspw. ein auditives Signal bzgl. eines kritischen Systemzustands, und mündet in eine motorische Reaktion, z.B. eine Steuerungshandlung. Die Reaktion führt zu einer Veränderung des Systemzustands. Die Information über diese Zustandsänderung kann wiederum als Reiz wahrgenommen werden, so dass eine Rückkopplung
292
Arbeitswissenschaft
vorliegt. In die Verarbeitung dieser Information sind verschiedene physiologische Systeme eingebunden. Dabei bestimmt sich der Zustand der zur Wahrnehmung des Reizes erforderlichen Sinnesorgane aus der momentan gegebenen Aufmerksamkeit (attention). Der Zustand der für die Entscheidungsfindung und die Einleitung einer motorischen Reaktion notwendigen Systeme resultiert aus deren momentanen Aktivierung (activation). Mechanismen der Aufgabenund Situationsbewältigung
PsychischEnergetische Mechanismen
Verarbeitungs stufen
1. Ebene
Beurteilung und Bewältigung
Anstrengung 2. Ebene Erregung Wachsamkeit
Aktivierung Anspannung Reaktion
Reiz
Beispiele für experimentell belegte Einflussgrößen
Sensorische ReizVorverarbeitung
MerkmalsExtraktion
Handlungsauswahl
Motorische Regulation
Reizintensität R i Reizspezifität ifität
Signalqualität G t lt“ „Gestalt“
Signal-ReaktionsK Kompatibilität tibilität
Zeitliche Unsicherheit U i h h it
Stufe 1
Stufe 2
Stufe 3
Stufe 4
3. Ebene Rückkoppelungsschleifen
Abb. 3.49: Anstrengungsregulation bei der Informationsverarbeitung nach SANDERS (1983)
Die zur Erbringung der Aufmerksamkeit und Aktivierung erforderliche „psychophysische Energie“ wird durch eine zentrale Ressource bereitgestellt, auf die von den physiologischen Systemen gemeinsam zugegriffen wird. Die maximale Kapazität dieser unspezifischen, zentralen Ressource wird durch die individuelle Konstitution des Menschen bestimmt. Darüber hinaus können zeitlich variable Faktoren bewirken, dass die Maximalkapazität ggf. nicht voll verfügbar ist. In welchem Maße der Informationsverarbeitungsprozess durch „Energiezufuhr“ unterstützt wird, hängt von der für die Aufgabendurchführung aufgebrachten Anstrengung ab. Diese wiederum resultiert aus einem Bewertungsvorgang, in dem die momentane Leistung den Aufgabenanforderungen und Durchführungszielen sowie der momentan verfügbaren Kapazität gegenüber gestellt wird. Erfordert die Ausführung der fortlaufenden Aktivitäten einen zunehmenden Bedarf an Kapazität, steigt das Arousal und somit die Anstrengung (effort) (KAHNEMAN 1973, siehe Abb. 3.50). Die Aktivierung hängt somit zum einen davon ab, wie viel Kapazität dem Menschen zur Verfügung steht, zum anderen davon, ob ihn die durchgeführte Bewertung der eigenen Leistung zu einer weiteren Erhöhung oder zur Reduktion der Anstrengung motiviert. Die gesamte „Energieregulation“ geschieht normalerweise unbewusst und in einer Form, die eine genügende Leistung ermöglicht. Sie kann jedoch unter bestimmten Umständen gestört werden.
Arbeitsformen
293 Verschiedene Quellen von Arousal: Angst, Wut, sexuelle Erregtheit, Muskelspannung, Drogen, usw.
Arousal
verfügbare Kapazität
Verschiedene Äußerungen von Arousal: Pupillendilation, Abnahme des Hautwiderstands, Pulsfrequenz nimmt zu, usw.
Verfügbare Kapazität und Arousal nehmen zu, um Nachfrage nach Verarbeitungskapazität zu befriedigen
Allocation Policy
Bewertung der Nachfrage nach Kapazität
Momentane Absichten
mögliche Aktivitäten
Reaktionen
Abb. 3.50: Relation zwischen Kapazität und Aufgabenschwierigkeit nach KAHNEMAN (1973)
Da die für den Informationsverarbeitungsprozess verfügbare Kapazität variabel ist, kann für die Durchführung von Aufgaben ggf. zu wenig zur Verfügung stehen und selbst bei Anstrengung nicht weiter gesteigert werden. Eine zeitweise geringere Kapazität liegt allgemein bei Müdigkeit und Monotonie vor. Weiterhin kann die Leistung durch eine ungünstige Verteilung der Anstrengung auf die mit Aufgaben verbundenen Aufmerksamkeits- und Aktivierungskomponenten gemindert werden. Dieser Zustand wird bspw. durch Angst und Verwirrtheit hervorgerufen. Die mentale Beanspruchung des Menschen wird durch die psychophysischen „Kosten“ der informatorischen Arbeit widergespiegelt. Diese Kosten der Informationsverarbeitung entsprechen dem Ausmaß der psychophysischen Aktivierung bzw. Aktiviertheit (arousal) bei der Aufgabendurchführung. Wenn die Aufgabenerfüllung erschwert wird, weil bspw. eine zusätzliche Aufgabe gestellt wird, ermöglicht der Arousalmechanismus eine Steigerung der verfügbaren Kapazität. Diese Kapazitätssteigerung ist jedoch oft nicht ausreichend, um den erhöhten Bedarf ganz auszugleichen, so dass die Leistung abnehmen wird.
294
Arbeitswissenschaft
Die psychophysische Aktiviertheit ist eng verbunden mit der Aktivität des sympathischen Nervensystems und lässt sich demzufolge mittels physiologischer Indikatoren wie Herzschlagfrequenz, Blutdruck, Lidschlussfrequenz, Pupillendurchmesser etc. messen oder anhand von Selbsteinschätzungen ermitteln (siehe Kap. 3.3.3.2). Da die Aktivierungstheorie einen verhältnismäßig einfach zu erklärenden Zusammenhang zwischen dem Informationsverarbeitungsprozess und physiologischen Indikatoren herstellt, dient sie vielfach als Grundlage für psychophysiologische Untersuchungen (AASMAN et al. 1987; LUCZAK 1987; AGARD 1989; BARTENWERFER 1969; MANZEY 1998; VELTMAN u. GAILLARD 1994). Der nicht angenommenen Spezifität der psychophysischen Aktiviertheit widerspricht die Existenz empirisch nachgewiesener spezifischer Aktivierungsmuster, die bei STEMMLER (2001) wie folgt definiert sind: x Situationsspezifische Reaktionsmuster beschreiben den Interaktionseffekt Situation u Variable und postulieren stabile Unterschiede zwischen den Reaktionsprofilen innerhalb von Situationen x Individualspezifische Reaktionsmuster beschreiben den Interaktionseffekt Person u Variable und postulieren stabile Unterschiede zwischen den Reaktionsprofilen von Personen x Motivationsspezifische Reaktionsmuster beschreiben den Interaktionseffekt Situation u Person u Variable und postulieren stabile Unterschiede zwischen den Reaktionsprofilen auf Situationen bei einer Person. Diese Reaktionsspezifitäten sowie die bei Anwendung verschiedener Aktivierungsindikatoren zu beobachtenden geringen Kovariationen der physiologischen Indikatoren untereinander und in Bezug zu subjektiven bzw. verhaltensbezogenen Maßen sprechen für die Mehrdimensionalität des Aktivierungsmechanismus. Dem folgend unterteilen PRIBRAM u. MCGUINNESS (1975, zitiert in MANZEY 1998) den Aktivierungsmechanismus in drei miteinander interagierende Funktionssysteme, die die Aktivität des zentralen Nervensystems beeinflussen: x Ein Arousal-System, das primär selektive Aufmerksamkeitsprozesse steuert und physische Aktivierungsprozesse, insbesondere Orientierungsreaktionen auf neuartige Wahrnehmungen, auslöst x Ein Activation-System, das motorische Prozesse kontrolliert und tonische Aktivierungsprozesse, d.h. eine erhöhte Reaktionsbereitschaft, auslöst x Ein Effort-System, das die Aktivitäten von Arousal- und Activation-System koordiniert und bspw. bei inkompatiblen Reiz-Reaktions-Verknüpfungen eine Entkopplung dieser beiden Systeme herbeiführt. 3.3.1.1.2.2
Aufmerksamkeitstheoretische Konzepte
Zur Erklärung von Interferenzeffekten bei Doppeltätigkeiten wurden aufmerksamkeitstheoretische Modelle entwickelt. So sehen NORMAN u. BOBROW (1975) das Problem der mentalen Beanspruchung vorrangig als Kapazitätsproblem an. Auch hier wird zunächst von einer momentan begrenzten, zeitlich variablen, unspezifischen Ressource des Informationsverarbeitungssystems ausgegangen, die
Arbeitsformen
295
als Verarbeitungskapazität interpretiert wird. Des Weiteren wird angenommen, dass den aufeinander folgenden Stufen des Informationsverarbeitungsprozesses die durch die aufgebrachte Anstrengung bemessene Kapazität stufenspezifisch zugeteilt wird. Unter mentaler Beanspruchung wird in diesem Zusammenhang die Ressourcenauslastung durch den Informationsverarbeitungsprozess verstanden. Das in Abb. 3.51 schematisch dargestellte Modell von WICKENS und HOLLANDS (1999) integriert neben den verschiedenen Stufen des Verarbeitungsprozesses auch das Arbeits- und Langzeitgedächtnis in einen derartigen Ansatz, da Gedächtnisleistungen an der Mustererkennung und Entscheidungsfindung großen Anteil haben. Aufgegriffen wurde der Ansatz auch von SANDERS (1983) (Abb. 3.49), der besagt, dass die Aktivierung der Verarbeitungsstufen stufenspezifisch erfolgt, wobei den Prozessphasen der Informationsaufnahme und -strukturierung (Wahrnehmen und Erkennen) das Aufmerksamkeits-(Arousal)-System und den Entscheidungs- und motorischen Prozessen das Aktivierungs-(Activation)-System zugeordnet wird. Des Weiteren wurde hier auch die sich aus den verschiedenen Sinnesorganen ergebende Mehrkanaligkeit der Informationsaufnahme berücksichtigt. Aufmerksamkeit Ressourcen
LangzeitGedächtnis Auswahl sensorischer Kurzzeitspeicher
ArbeitsGedächtnis Perzeption
Kognition
Aktionsauswahl
Aktionsausführung
direkte Reiz-Reaktionsmuster: fertigkeitsbasiertes Verhalten Anzeigen unmittelbare Informationsübertragung
Technisches System Umwelt
Stellteile unmittelbare Interaktion Mensch – System/Umwelt
Abb. 3.51: Informationsverarbeitungsmodell nach WICKENS u. HOLLANDS (1999)
Wenn mehrere Prozesse simultan auf dieselbe Kapazität zurückgreifen, muss sie unter den Prozessen verteilt werden. Diese Verteilung wird mit allocation policy angedeutet. Im Prinzip wird sich ein Mangel an verfügbarer Kapazität als ein gleitender Leistungsabfall (graceful degradation) äußern. Wenn es vorkommt, dass eine kritische Menge verfügbarer Ressourcen unterschritten wird, kann das einen dramatischen Leistungsabfall hervorrufen. NORMAN u. BOBROW (1975) unterscheiden zwei Kategorien von Prozessen. Erstens „kontrollierte“ Prozesse (controlled processes), die für ihre Entfaltung die Bereitstellung von Ressourcen benötigen. Zweitens sog. automatische bzw. datenabhängige Prozesse (automatic processes), die stets in gleicher Qualität erbracht werden, wenn nur die reizseitigen Vorraussetzungen für ihre Durchführung erfüllt sind. Es liegt nahe, Automa-
296
Arbeitswissenschaft
tismen als in diesem Sinne datenabhängige Prozesse zu betrachten (POSNER u. SNYDER 1975). Das Vorliegen eines automatischen Prozesses kann nach dieser Definition dadurch festgestellt werden, dass er die Ausführung anderer Prozesse nicht behindert und umgekehrt von der Ausführung anderer Prozesse selbst nicht behindert wird, unabhängig davon, ob die Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet ist oder nicht. Er ist allein abhängig von der Qualität der jeweiligen Stimuli. Angenommen, zur Entdeckung eines akustischen Signals gegen einen Hintergrund von Rauschen stehen alle sinnvoll einsetzbaren Filterverfahren zur Verfügung, so hängt die Leistung nur noch von der Qualität des Signals ab. Eine erhöhte Anstrengung kann unter diesen Umständen keinen Effekt auf die Leistung haben. Im Gegensatz zu den automatischen Prozessen beanspruchen die kontrollierten Prozesse ein Mindestmaß an Ressourcen und interferieren darüber mit der gleichzeitigen Durchführung anderer Prozesse. Wenn bspw. bei der Ausführung einer Aufgabe eine Zunahme der Menge von Verarbeitungsressourcen zu einer besseren Leistung führen kann, heißt eine solche Aufgabe also ressourcenlimitiert. Generell müsste eine Funktion, welche die Leistung mit den investierten Ressourcen verbindet, nicht fallend sein. Ein Beispiel für eine solche Funktion, im Englischen auch „Performance Resource Function“ (PRF) genannt, zeigt Abb. 3.52. Datenlimitiert
Le eistung
Ressourcenlimitiert
Rmin
Ressource
Rdl
L
Abb. 3.52: Performance Resource Function nach NORMAN u. BOBROW (1975)
Eine PRF kann sowohl kontinuierlich als auch abschnittsweise diskret sein. Eine abschnittsweise diskrete PRF liegt vor, wenn sich die Leistung stufenartig ändert und entsprechend diskret steigende Ressourcen erfordert. Dies kann der Fall sein, wenn eine minimale Ressourcenmenge erforderlich ist, um einen Anfang der Verarbeitung zu ermöglichen (Rmin). Eine ausschließlich datenlimitierte Funktion würde einen horizontalen Verlauf ergeben, unabhängig von den investierten Ressourcen. Eine ausschließlich kontinuierliche ressourcenlimitierte Funktion würde einen monoton steigenden Verlauf vom Ursprung bis zum Ressourcenlimit L ergeben. Ein spezieller Fall einer solchen ressourcenlimitierten Funktion ist gegeben wenn die Leistung proportional mit der Quadratwurzel der Menge an Verarbeitungsressourcen ansteigt. Dieser Funktionstyp wird u.a. beim d' - Leistungsmaß für Signalentdeckungsaufgaben beobachtet (siehe Kap. 3.3.1.2.1.2). Eine PRF muss nicht immer alle diese genannten Verlaufscharakteris-
Arbeitsformen
297
tika aufweisen. Die exakte Form der PRF hängt von den gelieferten Ressourcen und der Art der Aufgabe ab. Wenn die totale Kapazität verschiedenen Prozessen zugeordnet werden muss, ermöglicht die PRF, die sich daraus ergebende Leistungsverteilung zu bestimmen. Außerdem können die sich aus einer geänderten Ressourcenzuweisung ergebenden Veränderungen der Leistung einfach berechnet werden. Im einfachsten Fall, bei dem zwei Informationsverarbeitungsprozesse auf die gleiche Ressource zugreifen müssen, ist es möglich, eine „Performance Operating Characteristic“ (POC) zu erstellen, die angibt, wie die Leistung bei der einen Aufgabe die bei der anderen Aufgabe beeinflusst. Es ist natürlich auch möglich, eine solche Kurve für n Prozesse zu erstellen. Eine POC wird unter der Annahme berechnet, dass die verfügbare Ressourcenmenge R konstant ist. Wenn Aufgabe X eine Menge x der Ressourcen braucht, hat die Aufgabe Y die Anzahl R - x zur Verfügung. Um eine Kurve zu erstellen, werden x bzw. y zwischen 0 und R systematisch variiert. I.Allg. wird die POC eine stetig fallende Beziehung zwischen den Leistungen von Aufgabe X und Aufgabe Y aufweisen. Wenn nur eine der Aufgaben datenlimitiert ist, wird die Kurve entweder horizontal oder vertikal verlaufen (Abb. 3.53). Sind beide Prozesse datenlimitiert, ist die sich ergebende Funktion ein einziger Punkt. Anwendung findet das der POC zugrundeliegende Prinzip bei der Doppeltätigkeit bzw. Zweitaufgabentätigkeit (siehe Kap. 3.3.3.2.3), die von BORNEMANN (1943) erfunden wurde. Oftmals zeigen Informationsverarbeitungsaufgaben über weite Bereiche der Aufgabenschwierigkeit eine konstante Leistung. Leistung in Aufgabe A c b a Leistung in Aufgabe B
Abb. 3.53: Performance Operating Characteristic; Beispiele für Kurven der wechselseitigen Leistungsbeeinflussung zweier Tätigkeiten: a: starke Interferenz; b: mittlere Interferenz; c: keine Interferenz
Die Aufgabe stößt also an keine Kapazitätsgrenzen. Um in solchen Fällen die Beanspruchung der Arbeitsperson trotzdem beurteilen zu können, erhalten diese eine zweite, ähnliche Aufgabe. Je höher die Leistung bei der Zweitaufgabe, desto größer ist die freie, von der ersten Aufgabe nicht beanspruchte Kapazität. Die mit der Durchführung zweier miteinander konkurrierender Aufgaben verbundene Leistungsreduktion erklärt sich aus der begrenzten Kapazität der von allen Verarbeitungsstufen gemeinsam genutzten Ressource. Einige Effekte, die bei der Bearbeitung von Mehrfachaufgaben auftreten, lassen sich jedoch mit einem
298
Arbeitswissenschaft
derartigen einkanaligen Modell nicht erklären. So treten bei Mehrfachtätigkeiten mit gleichermaßen hohen Aufgabenanforderungen keine Interferenzen auf, wenn sich die Anforderungsstrukturen stark genug voneinander unterscheiden. Unter dieser Voraussetzung zeigen sich ebenfalls keine Interferenzen, wenn die Schwierigkeit einer der beiden Aufgaben variiert wird. Dies widerspricht der Annahme einer zentralen Kapazität (MANZEY 1998). Basierend auf diesen Effekten wurden mehrkanalige Modelle entwickelt, die davon ausgehen, dass für verschiedene Informationsverarbeitungsstufen unterschiedliche, voneinander unabhängige Ressourcen genutzt werden. 3.3.1.1.2.3
Multiple Ressourcenmodelle
Die Theorie der multiplen Ressourcen nach WICKENS (1992) geht davon aus, dass es statt nur einer zentralen Quelle von Ressourcen mit Satellitenstruktur mehrere Kapazitäten mit ressourcenartigen Eigenschaften gibt. Eine Reihe von Untersuchungen mit Zweitaufgaben zeigen, dass Ressourcen nach drei relativ einfachen Dimensionen unterschieden werden können (siehe Abb. 3.54) (1) Nach den Stufen der Verarbeitung. Die Ressourcen, die für perzeptuelle und zentrale Verarbeitungsprozesse gebraucht werden, scheinen ähnlich zu sein. Funktional getrennt davon sind die Ressourcen für Responseauswahl und Ausführung. Dies wird klar, wenn die Schwierigkeit der Reaktion bei einer Aufgabe erhöht wird und dies keine Auswirkung auf die Leistung einer Zweitaufgabe hat, die mehr perzeptueller Art ist (ISREAL 1980). (2) Nach der sensorischen Modalität (im Besonderen visuell und auditiv). Es ist offensichtlich, dass wir besser in der Lage sind, unsere Aufmerksamkeit zwischen Auge und Ohr zu verteilen, als zwischen zwei auditiven oder zwei visuellen Kanälen. Mit anderen Worten ist bimodales „time-sharing“ unter Kapazitätsgesichtspunkten günstiger als intramodales, was folgendes Beispiel erläutert: Wenn zwei visuelle Informationsquellen räumlich getrennt sind, kann nur eine scharf auf die Netzhaut projiziert werden. TREISMAN u. DAVIES (1973) stellten in klassischen Experimenten den Versuchspersonen die Aufgabe, simultan Paare von „targets“ zu entdecken. Die „targets“ wurden entweder beide visuell, beide auditiv oder bimodal angeboten. In der bimodalen Darbietungsweise waren die Leistungen signifikant besser als in den beiden intramodalen Modi. TROUVAIN u. SCHLICK (2006, 2007) konnten in neueren Untersuchungen zur Führung und Überwachung von mobilen Mehrrobotersystemen belegen, dass bimodale Mensch-RoboterSchnittstellen (visuell-auditiv sowie visuell-taktil) zu besseren Leistungen und geringerer mentaler Beanspruchung führen. Darüber hinaus erlaubten die untersuchten bimodalen Schnittstellen signifikant mehr Blickfixationen in Randbereichen des Bildschirms und können somit zur Vermeidung eines „Tunnelblicks“ (tunnel vision) beitragen. (3) Nach Verarbeitungscodes. Räumliche und verbale Ressourcen basieren auf den Codes der Verarbeitung. Die Trennung von räumlichen und verbalen Ressourcen ist durch die funktionale Spezialisierung der Hirnhemisphäre zu
Arbeitsformen
299
erklären. Das große Maß an Effizienz, mit dem manuelle und vokale Informationsausgaben gleichzeitig durchgeführt werden können, basiert darauf, dass manuelle Reaktionen (sog. Responses) überwiegend räumlich (rechtshemisphärisch), vokale Äußerungen überwiegend verbal (linkshemisphärisch) kodiert sind. Während also Aufgaben, die hauptsächlich unterschiedliche Ressourcen benutzen, relativ gut gleichzeitig durchgeführt werden können, kommt es bei Aufgaben, die von denselben Ressourcen Gebrauch machen, zu Interferenzen. Eine Gedächtnisleistung wird etwa durch den Versuch, eine Rechenaufgabe zu lösen, stärker gestört, als durch die gleichzeitige Ausführung einer gezielten Handbewegung. Umgekehrt wird die Betätigung von Schaltern durch eine Zielbewegung der anderen Hand stärker gestört als durch eine Rechenaufgabe. Die Annahme multipler Ressourcen erlaubt es, die geschilderten Inkonsistenzen der einfachen Ressourcenmodelle aufzuklären. Die Rechenaufgabe, so lässt sich nun argumentieren, interferiert mit der Gedächtnisleistung so stark, weil gemeinsam „kognitive“ Ressourcen beansprucht werden, während die Zielbewegung mit der Betätigung von Schaltern besonders interferiert, weil beide „motorische“ Ressourcen beanspruchen. Die übungsabhängige Koordination von zwei Leistungen lässt sich damit als Abbau der Beanspruchung gleicher Ressourcen ansehen. Verarbeitungsstufe Perzeption
Kognition
Wahrnehmungsmodalität
sprachlich
t
verbal
visuell
motorisch
or tw An
räumlich
Reaktionsausführung
auditiv
g un er di Ko
räumlich verbal
Abb. 3.54: Struktur der Verarbeitungsressourcen nach WICKENS u. HOLLANDS (1999)
Mit dieser Mehrdimensionalität der Ressourcen ist folglich eine mehrdimensionale Struktur der mentalen Beanspruchung an sich verbunden. Die mentale Beanspruchung könnte demnach in Beanspruchungsarten gegliedert werden, die mit den Ressourcenarten korrespondieren (MANZEY 1998). Die Mehrdimensionalität des vorgestellten Modells kann einen guten Teil der in Versuchen gefundenen Varianz erklären und als Leitfaden beim Entwurf von Arbeitssystemen genutzt werden. Die drei Teilungen erklären jedoch nicht alle strukturellen Einflüsse auf Leistungen bei Zweitaufgaben. Aufgaben haben oft
300
Arbeitswissenschaft
noch mehr oder andere Dimensionen, die zu berücksichtigen sind. Hierzu gehören z.B. „Timing“-Anforderungen (z.B. das Klopfen eines Rhythmus' und eine gleichzeitige Konversation) und Ähnlichkeitseffekte (z.B. bei grafischen Darstellungen auf einem Bildschirm). Außerdem dürfen die „Zellen“ in Abb. 3.54 nicht so interpretiert werden, dass ein perfektes Time-Sharing immer dann möglich ist, wenn unterschiedliche Zellen belegt werden. Perfektes Time-Sharing ist dem Menschen so gut wie unmöglich. Im Sinne wissenschaftlicher Exaktheit wäre es weiterhin wünschenswert zu wissen, über wie viel verschiedene Ressourcen das menschliche Gehirn verfügt, wie stark die Interdependenzen zwischen den Ressourcen sind und ob es neben spezifischen auch eine zentrale Ressource gibt, die etwa für Koordinationsaufgaben verantwortlich ist. Die Versuche zur Beantwortung dieser Fragen führten allerdings nicht zu konvergierenden Einsichten, sondern zu einer inflationären Differenzierung von immer neuen Ressourcen. 3.3.1.2
Mathematisch-funktionaleĆModelleĆ
Mathematisch-funktionale (technische) Modelle der menschlichen Informationsverarbeitung zielen darauf ab, die mentalen Prozesse mittels Gleichungen zu beschreiben. In den meisten Fällen wird man zwar die in realen Entscheidungssituationen erforderlichen sehr komplexen Wahrnehmungs- und Kognitionsprozesse nur unvollständig in dieser Form beschreiben können. Durch eine rigorose quantitative Modellierung können jedoch fundamentale Eigenschaften und insbesondere Leistungsgrenzen der menschlichen Informationsverarbeitung identifiziert werden. Darüber hinaus liefern quantitative Modelle wichtige Hinweise für die in Kapitel 10.1.3 behandelte informationstechnische Gestaltung von Arbeitssystemen. 3.3.1.2.1 Signalentdeckungstheorie Wenn ein kritisches Ereignis in der Arbeitsumgebung vom Menschen sicher wahrgenommen werden soll, geht es um die Frage der Signalentdeckung. Dabei werden in einem ersten Ansatz lediglich zwei Zustände differenziert: ein Signal ist entweder anwesend oder abwesend. Der binäre Entscheidungsprozess zwischen Signal und Rauschen wird im Rahmen der Signalentdeckungstheorie, die ursprünglich aus der Nachrichtentechnik stammt und von der Psychologie rezipiert wurde, statistisch modelliert. Beispiele hierfür sind die Entdeckung von Kontakten auf einem Radarbildschirm oder eines Tumors auf einem Röntgenbild. Die Kombination von jeweils zwei Zuständen der „Wirklichkeit“ mit zwei Antwortmöglichkeiten führt zu einer 2 x 2 Matrix, die in Tabelle 3.9 skizziert ist. Die Zellen der Matrix repräsentieren vier mögliche Antwortkategorien, nämlich „Correct Rejection“ (CR: korrekte Zurückweisung), „Miss“ (ausgelassene Antwort), „False Alarm“ (FA: falsche Antwort) und „Hit“ (richtige Antwort).
Arbeitsformen
301
Tabelle 3.9: Die vier Antwortkategorien der Signalentdeckungstheorie Wirklichkeit
Antwort
Ja Nein
Signal (Ja) Hit Miss
Rauschen (Nein) False Alarm Correct Rejection
Eine perfekte Leistung entspricht einer Belegung der Zellen, in der keine „Misses“ oder „False Alarms“ auftreten. In der Realität werden jedoch aufgrund der begrenzten menschlichen Zuverlässigkeit Notierungen in allen vier Zellen zu verzeichnen sein. In der Signalentdeckungstheorie wird das Antwortverhalten auf anwesende Stimuli durch bedingte Wahrscheinlichkeiten beschrieben. Die Wahrscheinlichkeiten werden durch die relative Häufigkeit der Notierungen geschätzt. Hierbei wird die Anzahl der Notierungen in einer Zelle durch die Gesamtzahl geteilt. Die Gesamtzahl ist spaltenweise akkumuliert. 5 Hits und 15 Misses werden also geschrieben als P( Hit )
5 5 15
0, 25
(3.2)
Nach der Signalentdeckungstheorie erzeugen externe Stimuli eine messbare neurale Aktivität im Hirn. Es wird angenommen, dass eine stärkere neurale Aktivität erzeugt wird, wenn ein Signal präsent ist. Die sog. neurale Evidenz (Zufallsvariable X) kann als „Feuerrate“ von Neuronen in einem hypothetischen Entdeckungszentrum interpretiert werden. Diese Rate unterliegt zwar statistischen Fluktuationen, korreliert jedoch positiv mit der Stimulusintensität. In Abb. 3.55 sind die bedingten Wahrscheinlichkeitsdichtefunktionen von X aufgetragen, wenn entweder ein Rauschen (links) oder ein Signal (rechts) gegeben ist. Die Dichtefunktionen werden zwar typischerweise als normalverteilt angenommen, sind jedoch rein hypothetisch. Der Kreuzungspunkt der beiden Normalverteilungen beschreibt diejenige Stützstelle, an der die Wahrscheinlichkeit, dass X durch Rauschen verursacht wird, gleich ist mit der Wahrscheinlichkeit, dass X von einem Signal erzeugt wird. Alle Werte links von diesem Punkt lassen den Operateur mit „Nein“ antworten, alle rechts davon mit „Ja“. Die Flächen unter den Kurven entsprechen von links nach rechts den oben eingeführten Antwortkategorien CR, Miss, FA und Hit. Da die Fläche unter den Kurven zu 1 normiert ist, müssen P(Hit) und P(Miss) sowie P(CR) und P(FA) zusammen 1 ergeben.
302
Arbeitswissenschaft
Abb. 3.55: Hypothetische Verteilungen, wie sie der Signalentdeckungstheorie zugrunde liegen nach WICKENS u. HOLLANDS (1999)
3.3.1.2.1.1
Antworteigenschaften
Der Mensch kann mit Hilfe der Signalentdeckungstheorie in Bezug auf seine Neigung zu einer „Beantwortungsschiefe“ (response bias) beurteilt werden. Eine Person kann die Neigung haben, öfter „Ja“ als „Nein“ zu antworten, und dadurch zwar die meisten Signale „entdecken“, jedoch auch viele falsche Alarme erzeugen. Solche Personen bezeichnet man als „risky responders“. Umgekehrt kann eine Person konservativ sein, oft mit „Nein“ antworten und wenige FAs auslösen, jedoch auch viele Signale nicht entdecken. Verschiedene Umstände bestimmen, welche Strategie die Beste ist: wenn eine Radiologin ein Röntgenbild eines Patienten betrachtet, der mit kritischen Symptomen zu ihr überwiesen wurde, kann es angebracht sein, eher als „risky responder“ aufzutreten. Ein Maschinenführer in der flexiblen Fertigung kann hingegen von seinem Vorgesetzten angewiesen worden sein, keine unnötigen Stillstände zu verursachen und entsprechend konservativ zu reagieren, wobei billigend in Kauf genommen wird, dass eine Fehlfunktion nicht oder nicht rechtzeitig entdeckt wird. Bezogen auf Abb. 3.55 bedeutet dies, dass für ein nach rechts verschobenes Entscheidungskriterium Xc eine besonders große Evidenz notwendig ist, um überschritten zu werden, und die meisten Antworten des Operateurs werden „Nein“ sein. Positiv korreliert mit Xc ist die Variable ß:
E
P( X | S ) P( X | N )
(3.3)
Sie beschreibt das Verhältnis der Werte beider Kurven bei einem gegebenen Xc. Große Werte von ß liefern weniger Hits und weniger FAs. ß ist daher ein sog. Bias-Parameter, der die Auswirkungen bzw. den Nutzen einer Antwort beschreibt. Anhand von Abb. 3.55 wird deutlich, dass sich ein ß von 1 ergibt, wenn die Va-
Arbeitsformen
303
rianzen der normalverteilten Rausch- und Signalkurven identisch sind und somit P(Hit) = P(CR) und P(FA) = P(Miss) ist. Man kann genau bestimmen, wo das optimale ß-Kriterium liegt, vorausgesetzt, dass die Verteilungsfunktionen sowie Auswirkungen und Nutzen der vier möglichen Entscheidungsergebnisse bekannt sind. Wenn es keinen Unterschied im Nutzen der richtigen Ergebnisse (CR und Hits) und keinen Unterschied in der Auswirkung der beiden falschen Antworten (FA und Miss) gibt, ist die optimale Leistung die, bei der die Anzahl der Fehler minimal ist. Bei einer Symmetrie wie in Abb. 3.55 liegt die optimale Leistung auf dem Schnittpunkt beider Kurven, d.h. bei ß = 1. Intuitiv ergibt sich, dass das Kriterium für einen Hit gesenkt wird, wenn ein Signal wahrscheinlicher ist (siehe das Beispiel der Radiologin). Umgekehrt ist bei kleinerer Wahrscheinlichkeit ein höheres, konservativeres Kriterium angebracht. Formal ist diese Anpassung zu schreiben als
E opt
P( N ) . P(S )
(3.4)
Das optimale Niveau von ß kann von „Belohnungen“ und „Strafen“ beeinflusst werden. In diesem Fall wird das Optimum von ß nicht von einer minimalen Fehlerzahl bestimmt, sondern vom maximalen „Gewinn“. Wenn es wichtig ist, kein einziges Signal zu verfehlen, kann der Systembenutzer „belohnt“ werden für Hits und „bestraft“ für Misses, so dass ß auf ein niedrigeres Niveau eingestellt wird. Solche Auswirkungen und Nutzen können in ein optimales ß übersetzt werden, indem man Gleichung (3.4) wie folgt erweitert
E opt
P ( N ) V (CR) C ( FA) . P( S ) V ( Hit ) C ( Miss )
(3.5)
Dabei repräsentiert die Variable V den zugeordneten Wert eines erwünschten Ergebnisses (Hit oder CR). C stellt die Auswirkungen (Kosten) eines unerwünschten Ergebnisses (Miss, FA) dar. Jede Zunahme von P(S), V(Hit) oder C(Miss) reduziert den Wert von ßopt und löst risikovollere Reaktionen aus. Praktisch passt sich der Mensch zwar meistens an die geänderten Bedingungen an, häufig jedoch in geringerem Maße, als von ßopt vorhergesagt wird. Offen dabei bleibt jedoch die auch ethisch problematische Frage, wie Kosten und Nutzen quantifiziert werden sollen: wie viel „kostet“ z.B. ein Flugzeugabsturz oder ein unentdeckter Tumor? 3.3.1.2.1.2
Empfindlichkeit
Nicht nur durch ein konservatives Entdeckungsverhalten können Signale unentdeckt bleiben, sondern auch weil die Empfindlichkeit des Entdeckungsprozesses zu niedrig ist. Nach der Darstellung in Abb. 3.55 kann die Empfindlichkeit als die Trennung zwischen Rauschen und Signal betrachtet werden.
304
Arbeitswissenschaft 5
$ 1 % 7UHIIHUTXRWH &
4XRWH)DOVH $ODUP
Abb. 3.56: Beispiel zweier ROC-Kurven. Kurve A: hochempfindlich; Kurve B: wenig empfindlich. Beobachtertyp Punkt C: konservativ; Punkt N: neutral; Punkt R: risikovoll, nach WICKENS u. HOLLANDS (1999).
Wenn die Trennung scharf ist, ist die Empfindlichkeit hoch und ein bestimmter Wert von X hat eine große Chance, entdeckt zu werden. Da unterstellt wird, dass die Kurven interne Prozesse repräsentieren, kann deren Trennung beeinflusst werden von den Merkmalen des Signals (z.B. Änderung in Intensität oder Auffälligkeit) oder von Eigenschaften des Individuums (z.B. Hörschäden, Mangel an Ausbildung, usw.). In Abb. 3.55 wurden bereits zwei Beispiele für eine hohe (oben im Bild) und eine niedrige Empfindlichkeit (unten) dargestellt. Die Empfindlichkeit wird mit d' bezeichnet und entspricht dem Abstand der Mittelwerte der Dichtefunktionen aus Abb. 3.55, ausgedrückt im Vielfachen ihrer Standardabweichungen. In den meisten Anwendungsfällen liegt d' zwischen 0,5 und 2,0. Wie der response bias hat auch d' einen Optimalwert, der hier aus Platzgründen nicht wiedergegeben werden soll. Ergebnisse aus Laborversuchen lassen vermuten, dass Abweichungen eines optimalen d' aus einer mangelhaften Erinnerung an die genauen physikalischen Merkmale des Signals resultieren. Wenn „Gedächtnisstützen“ gegeben werden, die eine genauere Erinnerung fördern, nähert d' sich dem optimalen Niveau. Eine graphische Methode, um die Empfindlichkeit d' abzubilden, ist bekannt geworden als „Receiver Operating Characteristic“, kurz „ROC“ (Abb. 3.56). In einer ROC-Kurve wird die Wahrscheinlichkeit eines Hits gegen die Wahrscheinlichkeit eines False Alarms aufgetragen. In Abb. 3.56 sind die ROC's zweier Operateure abgebildet, wobei jeder versucht hat, eine Reihe von Signalen zu entdecken. Kurve A ist die Leistung eines empfindlichen Beobachters, der viel mehr Hits als False Alarms produziert, unabhängig davon, ob A konservativ (C), neutral (N) oder risikovoll (R) reagiert. Diese drei Punkte entsprechen jeweils einem hohen, mittleren und niedrigen Niveau von ß. Kurve B stellt die Leistung eines weniger empfindlichen Beobachters dar, für den die Wahrscheinlichkeit eines FA's stets nahe bei der Wahrscheinlichkeit eines Hits liegt, unabhängig vom Niveau von ß. Die ROC ermöglicht es, verschiedene Entdeckungsstile abzubilden
Arbeitsformen
305
und die Leistungen zweier Beobachter oder eines Beobachters an zwei Systemen zu vergleichen. 3.3.1.2.2 Informationstheorie Im Alltagsverständnis wird Information als etwas Immaterielles angesehen, das man in der Zeitung zu lesen oder im Fernsehen zu sehen bekommt. Erforscht man jedoch die menschliche Informationsverarbeitung, so reicht dieses naive Verständnis natürlich bei weitem nicht aus. Hierzu bedarf es einer exakten Definition der Information und einer Methode zu ihrer Messung. Dieses Instrumentarium wird von der Informationstheorie zur Verfügung gestellt (siehe WIENER 1963), die ebenso wie die Signalentdeckungstheorie der Nachrichtentechnik und Kybernetik entstammt. 3.3.1.2.2.1
Definition und Maßeinheit der Information
Die Informationstheorie stützt sich auf die Wahrscheinlichkeitsrechnung. Sie definiert den Informationsgehalt I(ai) eines Zufallsereignisses ai als dual logarithmierten Kehrwert der Eintretenswahrscheinlichkeit P(X = ai): I (ai )
log 2
1 P( X
ai )
(3.6)
Das Eintreten hochwahrscheinlicher Ereignisse liefert folglich nicht viel Information, da nur bestätigt wird, was ohnehin schon erwartet wurde. Das Auftreten unwahrscheinlicher Ereignisse steht hingegen für einen großen Informationsgehalt. Wenn in einem Fahrzeug die Warnanzeige für die Kühlwassertemperatur aufleuchtet, so beinhaltet dies in der Regel eine erhebliche Information, da ein seltenes Ereignis zugrunde liegt. Das Aufleuchten der Kontrollleuchte für die Sicherheitsgurte liefert beim Starten des Fahrzeugs hingegen viel weniger Information, da es erwartet wird. Es ist wichtig zu erwähnen, dass die Bedeutung eines Ereignisses nicht in die Berechnung der Information eingeht, sondern lediglich statistische Zusammenhänge bewertet werden. Daher können sehr bedeutsame Ereignisse nur wenig Information enthalten, wenn sie erwartungsgemäß eintreffen. Die Informationstheorie misst Information in bits (binary digits). Ein bit bezeichnet eine Variable, die die Werte 0 oder 1 annehmen kann und ist die Information, die benötigt wird, um zwischen zwei gleich wahrscheinlichen Alternativen zu differenzieren. Wenn allgemein die Wahrscheinlichkeiten von Alternativen gleich sind, so berechnet sich die erwartete bzw. mittlere Information H in bits aus dem Logarithmus ihrer Anzahl N: H
log 2 N
(3.7)
Bspw. enthält ein zufällig aus dem Alphabet ausgewählter Großbuchstabe eine Information von 4,7 bit (log2 26 = 4,7). Sollen nicht nur Ereignisse mit gleichen Wahrscheinlichkeiten bewertet werden, so müssen lediglich die partiellen Informationsgehalte nach Gleichung (3.6)
306
Arbeitswissenschaft
berechnet und gewichtet werden. Die Gewichtung wird durch den Erwartungswert hergestellt. Der erwartete Informationsgehalt H(X) eines Ensembles von N disjunkten Ereignissen ai berechnet sich wie folgt: H(X )
N
¦ P( X
ai )log2
i 1
N
¦ P( X
1 P( X
ai )log2 P( X
ai )
(3.8)
ai )
i 1
Die Variable H wird auch Entropie genannt und ist eine wichtige Basisgröße der Informationstheorie (siehe WIENER 1963). Der Entropiebegriff ist an die Thermodynamik angelehnt. Die Entropie misst den „Grad der Unsicherheit“ vor dem Eintreten von zufälligen Ereignissen. Haben bspw. zwei komplementäre Ereignisse Wahrscheinlichkeiten von 0,9 bzw. 0,1, so beträgt die Entropie H = 0,47 bit (H = -[0,9log2(0,9) + 0,1log2(0,1)]). Ist entweder das eine oder das andere Ereignis dann tatsächlich eingetreten, so wird die Unsicherheit eliminiert und die Entropie auf Null reduziert. Wie man leicht sieht, stellt sich ein Entropiemaximum immer dann ein, wenn die Eintretenswahrscheinlichkeiten der Ereignisse gleich sind und analog zu Gleichung (3.7) gilt Hmax = log2 N. Je größer die Abweichung von der Gleichverteilung, desto größer ist die Reduktion der Entropie gegenüber dem Maximum. Dies führt zum Konzept der Redundanz R (von latein. redundare „im Überfluss vorhanden sein“), die sich definieren lässt als: R( X ) 1
H(X ) H max
1
H(X ) log 2 N
(3.9)
Da in einer menschlichen Sprache, wie z.B. Englisch, die Buchstaben eine unterschiedliche Häufigkeit besitzen und gewisse Buchstaben häufig gemeinsam auftreten (z.B. th und st), hat geschriebenes Englisch einen geschätzten Grad an Redundanz von ca. 68 Prozent. Durch die Redundanz enthält die Folge von Buchstaben Symbole, die nicht zwingend für die Interpretation notwendig sind und ein falsches Ergebnis liefern, wenn man sie falsch dekodiert. Die Redundanz hilft dem Menschen jedoch, wichtige Informationen trotz eines partiellen Datenverlusts noch entziffern und interpretieren zu können. Sie schützt also vor Informationsverlust und erlaubt zudem, verfälschte Information als solche zu erkennen. 3.3.1.2.2.2
Informationstheoretische Analyse und Modellierung
Die Informationstheorie entstand Ende der 1940er Jahre in der Nachrichtentechnik und nicht etwa der Psychologie. Sie wurde von vielen Forschern schnell aufgegriffen und weckte große Erwartungen hinsichtlich der Analyse und Modellierung menschlicher Informationsverarbeitung. So wurde die Informationstheorie häufig verwendet, um die Kapazität der Wahrnehmungskanäle des Menschen zu untersuchen (siehe ATTNEAVE 1974; KANG u. SEONG 2001) oder um AuswahlReaktionszeiten zu erforschen (HICK 1952; HYMAN 1953; FITTS 1954). Bspw. sind
Arbeitsformen
307
zwei bekannte Gesetzmäßigkeiten für die Prognose des Zeitverbrauchs bei Wahlreaktionsaufgaben, nämlich das Hick-Hyman´sche Gesetz (HICK 1952; HYMAN 1953) sowie das Fitts´sche Gesetz (FITTS 1954), informationstheoretisch begründet und formuliert. Das Hick-Hyman´sche Gesetz wird verwendet, um die Kapazitätsgrenze der menschlichen Informationsverarbeitung aufzuzeigen. Bevor der Mensch auf ein Signal reagiert, muss er eine Auswahl treffen. Eine einfache Auswahlaufgabe besteht z.B. darin, beim Aufleuchten eines roten Alarmindikators einen bestimmten Knopf zu drücken und beim Aufleuchten eines grünen Indikators einen anderen. Die Zeit, die zwischen dem Aufleuchten und dem Betätigen des richtigen Knopfs vergeht, heißt Auswahl-Reaktionszeit. Je größer die Wahlmöglichkeiten sind, desto länger dauert es natürlich, die Entscheidung für die richtige Handlung zu treffen. Die mittlere Auswahl-Reaktionszeit T nach einem Reiz ist nach dem Gesetz von Hick-Hyman proportional zur differentiellen Entropie Hd der Entscheidung: T
b Hd
N § 1 · b ¦ pi log 2 ¨ 1¸ i 1 © pi ¹
(3.10)
In Gleichung (3.10) repräsentiert pi die Eintretenswahrscheinlichkeit des der Auswahl zugrunde liegenden Ereignisses i bei insgesamt N Alternativen; b ist eine Konstante, die empirisch ermittelt wird. Auch FITTS (1954) leitete die nach ihm benannte Gesetzmäßigkeit informationstheoretisch ab und fand sie in zahlreichen empirischen Untersuchungen bestätigt. Die Originalaufgabe bestand einfach darin, Ziele mit einem handgeführten Stift zu treffen. Das Fitts´sche Gesetz prognostiziert den zugehörigen mittleren Zeitverbrauch. Parameter sind der Abstand A vom Startpunkt bis zur Mitte des Ziels sowie die Zielbreite W in Bewegungsrichtung. Details zum Fitt´schen Gesetz finden sich in Kap. 10.1.2.4.2 zur informationstechnischen Gestaltung. Trotz der unbestrittenen Erfolge bei der Analyse und Modellierung von Wahlreaktionsaufgaben konnte die Informationstheorie die ursprünglich geweckten Erwartungen nicht erfüllen und ihre generelle Bedeutung ging zurück. Das Problem der Informationstheorie besteht im Wesentlichen darin, dass die Konzepte eher beschreibend als erklärend sind und nur statistische Hinweise auf die zugrundeliegenden Mechanismen der menschlichen Informationsverarbeitung erlangt werden können (BLAIRD 1984; WICKENS u. HOLLANDS 1999). Weiterhin sind informationstheoretische Analysen von realen Entscheidungsprozessen aufwendig und erfordern profunde Kenntnisse in der Wahrscheinlichkeitsrechnung. In den letzten Jahren ist trotz dieser Probleme eine gewisse „Renaissance“ der Informationstheorie in der Forschung festzustellen, um bspw. die Informationsverarbeitung von Nervensystemen zu modellieren (SCHNEIDMAN et al. 2003) oder die Komplexität der Mensch-Maschine-Interaktion zu analysieren (KANG u. SEONG 2001; SCHLICK 2004; SCHLICK et al. 2006). Insbesondere komplexitätstheoretische Beiträge zur Modellierung und Bewertung der menschlichen Informationsverarbeitung stützen sich intensiv auf die im vorherigen Abschnitt dargestellten Basisgrö-
308
Arbeitswissenschaft
ßen der Informationstheorie und erweitern die Betrachtung um sog. dynamische Entropien (siehe BIALEK et al. 2001). 3.3.1.2.3 3.3.1.2.3.1
Regelungstechnische Modelle Mensch als Regler
Betrachtet man im Sinne des in Kapitel 3.3.1.1.1.3 dargestellten RasmussenModells menschlicher Informationsverarbeitung lediglich die fertigkeitsbasierte Ebene, so lassen sich vielfältige regelungstechnische Modelle entwickeln, die menschliches Verhalten gut zu beschreiben vermögen. In allgemeiner Form wird ein Regelkreis mit dem Menschen als Regler und dem zu führenden Arbeitsmittel bzw. der zu führenden Maschine als Regelstrecke aufgebaut (Abb. 3.57). Regler „Mensch“
Maschine Zentralnervensystem
Störgröße z
(ZNS) w
e Sinnes-
organ
Sensorische Verarbeitung
höhere Zentren
niedere Zentren
Motorische Nerven
Muskulatur
Ausgangs- y organ
Steuer- Regel- x element strecke
x
Spindelrezeptoren Sehnenrezeptoren Hautafferenzen
Abb. 3.57: Regelkreis mit dem Menschen als Regler nach MARIENFELD (1970)
Die Führungsgröße w wird hierbei vorgegeben, z.B. das Halten eines vorgegebenen Abstands zum Fahrbahnrand bei der Fahrzeugführung. Die Aufgabe des Regelkreises besteht nun darin, die Regelgröße x des Gesamtsystems möglichst genau an die Führungsgröße w anzupassen. Da das Systemverhalten aufgrund von Störgrößen z nicht immer genau vorherzusagen ist, z.B. aufgrund von spontanen seitlichen Windkräften bei der Fahrzeugführung, muss die Möglichkeit bestehen, Führungsgröße und Regelgröße dynamisch miteinander zu vergleichen und aus der resultierenden Regelabweichung e Reaktionen abzuleiten. Es entsteht ein adaptives System für unterschiedliche Aufgabenstellungen und Störeinflüsse. Der Mensch als Regler erfasst also die Regeldifferenz e als Differenz zwischen Führungs- und Regelgröße. Diese wird umgesetzt in eine Stellgröße y, die zugleich die Eingangsgröße für das Arbeitsmittel ist und durch die er Einfluss nimmt. Die Maschine verarbeitet diese dann zur bekannten Regelgröße x. Alle Größen sind dabei im Zeitverlauf zu betrachten. Hierbei bedient man sich der bewährten Methodik der Regelungstechnik, die komplexe Mensch-MaschineSysteme aus Teilsystemen mit sog. Proportional-, Differential-, Integral-, Totzeitgliedern o.ä. synthetisiert. Deren Verhalten lässt sich im Zeitbereich mit Differen-
Arbeitsformen
309
tialgleichungen präzise beschreiben. Wie Abb. 3.57 zeigt, weist der „Regler Mensch“ neben der äußeren Rückführung über den gesamten Regelkreis noch zwei innere Rückführungen auf, die über Sehnen- und Spindelrezeptoren die Kraft und Länge der Muskeln und damit die Lage von Arm und Hand an die Verarbeitungszentren melden. Dieser innere Regelkreis hat aufgrund der kürzeren Verarbeitungswege ein wesentlich schnelleres Reaktionsverhalten als der äußere Kreis, erreicht jedoch nicht dessen Genauigkeit. Aufgrund der zwangsläufigen Verzögerungen der Reaktion von Mensch und Maschine kann die Regeldifferenz nicht beliebig schnell ausgeregelt werden, so dass grundsätzlich mit einer Abweichung zwischen Führungs- und Regelgröße zu rechnen ist. Die unvermeidbaren Reaktionsverzögerungen können jedoch bis zu einem gewissen Grad kompensiert werden, wenn der zukünftige Verlauf der Führungsgröße und das dynamische Regelkreisverhalten bekannt oder wenigstens gut antizipierbar ist. Durch eine sog. Vorhaltbildung reagiert der Mensch als Regler typischerweise auf Veränderungen der Regelgröße viel stärker als auf deren absolute Größe, so dass Abweichungen schneller ausgeregelt werden können. Eine zu starke Vorhaltbildung kann jedoch zu einer Instabilität des Systems führen. In einem solchen Fall reagiert der Regelkreis so stark auf jede Abweichung, dass er in Eigenschwingungen gerät (z.B. Schleudergefahr bei einem überladenen Kraftfahrzeug). Der Mensch ist in der Lage, sein Verhalten je nach Aufgabenstellung in relativ weiten Grenzen zu verändern und ausreichend eingeübte Reaktionsweisen zu speichern. Dennoch haben die Eigenschaften der Regelstrecke einen erheblichen Einfluss. Es zeigte sich, dass gut an menschliche Fähigkeiten adaptierte Systeme auch von ungeübten Personen besser beherrschbar sind als schlecht angepasste Systeme von Spezialisten. Die Lernfähigkeit des Menschen kann die reine Parameteroptimierung noch übertreffen: Durch den Vergleich von äußerer Wahrnehmung und den im Gehirn gespeicherten Konzepten wird ein mentales Modell aufgebaut, das eine adäquate Repräsentation der äußeren Welt mit ihren Gesetzmäßigkeiten darstellt. Es ist dann nicht mehr notwendig, Aktionen tatsächlich durchzuführen, um ihre Konsequenzen festzustellen, sondern das innere Modell kann den Verlauf der Dinge selbst antizipieren. Es liefert nach Vorgabe der Anfangs- und Randbedingungen das wahrscheinlich zukünftige Ergebnis. Diese Lernfähigkeit ermöglicht es, das Verhalten des Reglers „Mensch“ im Laufe der Zeit und innerhalb der Grenzen seiner Leistungsfähigkeit für den gesamten Regelkreis zu optimieren (Übung) und sich so den Eigenschaften der Regelstrecke (Maschine) anzupassen. Bei einer unbekannten Regelstrecke oder bei plötzlicher Änderung ihres Antwortverhaltens kann sich der Mensch als Regler somit auf die neuen Gegebenheiten einstellen (sog. Selbsteinstellung, MARIENFELD 1970). Dieser Vorgang lässt sich in vier Abschnitte gliedern: (1) Erkennen der Änderung in der Regelstrecke, (2) Ermitteln deren neuer Eigenschaften, (3) Neubildung bzw. Änderung der Struktur und Parameter zur Erzielung einer stabilen Regelung, (4) Optimierung der Reglerparameter. „Einfache“ Regelstrecken vermag der Mensch sofort stabil zu regeln. „Schwierige“ Regelstrecken kann der Mensch zunächst nicht stabilisie-
310
Arbeitswissenschaft
ren, er ist jedoch nach einer Lernphase dazu fähig und kann sich aufgrund der Kenntnis der Dynamik der Regelstrecke sogar auf ein möglichst optimales Ausregelverhalten einstellen (Beispiel: Kranführer). Bei ständigem Wiederholen der motorischen Prozesse kommt es allmählich zu einer festen Speicherung von Mustern (sog. fixed action patterns), wodurch die Zugriffszeiten erheblich verkürzt werden und somit die Ausführungs- und Reaktionsgeschwindigkeiten steigen. 3.3.1.2.3.2
Modellierung des Regelungsverhaltens
Da das Regelungsverhalten des Menschen stark mit der Aufgabenstellung, der Charakteristik der Regelstrecke und dem Grad der Übung variiert, lassen sich Modelle nur in relativ allgemeiner Form formulieren. Wie üblich wird das Systemverhalten im Laplace-Bereich durch Übertragungsfunktionen G(s) beschrieben. Obwohl innere und äußere Größen oft nichtlinear und zeitlich veränderlich sein werden, wird im Folgenden davon ausgegangen, dass die zeitliche Veränderung keine wesentliche Rolle spielt und dass nichtlineare Zusammenhänge hinreichend genau durch lineare Ausdrücke angenähert werden können. So kann die Übertragungsfunktion GH(s) des Menschen als Regler einfach durch den Quotienten von Ausgangsgröße Y(s) und Eingangsgröße U(s) gebildet werden: GH ( s )
Y (s) U (s)
(3.11)
Durch die komplexe Laplace-Variable s = V + jZ werden Amplituden- und Phasenfrequenzgang berücksichtigt. Eine Übertragungsfunktion für den Regler „Mensch“ wurde erstmals von TUSTIN (1944) entwickelt und später von MCRUER u. KRENDEL (1959) zu einem sog. quasilinearen Modell erweitert: GH ( s )
1 sTD Tt s K e 1 sTN 1 sTI
(3.12)
Der Verstärkungsfaktor K wird auf optimales Verhalten des Regelkreises eingestellt. Änderungen im Verstärkungsfaktor der Regelstrecke werden dadurch nahezu kompensiert, so dass die Verstärkung des gesamten Regelkreises (Mensch und Regelstrecke) in etwa konstant bleibt. Die Totzeit Tt ist die Reaktionszeit, die durch die Verzögerung bei der Informationsverarbeitung verursacht wird. Die Totzeit erhöht sich, wenn der Verlauf der Führungsgröße w(t) vom Menschen nicht vorhergesagt werden kann und somit im Zentralnervensystem kein Programm für das Bewegungsmuster im Voraus eingerichtet werden kann. Andernfalls kann die Führungsgröße antizipiert und somit die Totzeit bis zu einem gewissen Grad kompensiert werden. Die neuromuskuläre Zeitkonstante TN entsteht durch die Verzögerung der Ausgabe durch die motorischen Nerven und Muskeln. Der Kompensationsausdruck (1+sTD ) / (1+sTI) dient zur Bildung von Vorhalt- (TD) und Verzögerungsverhalten (TI). Die Parameter werden vom Menschen als Regler laufend optimiert. Als wesentliches Kriterium wird hierbei das mittlere Fehlerquadrat herangezogen (SCHWEIZER 1970). Tabelle 3.10 zeigt Wer-
Arbeitsformen
311
te, die zur Beschreibung des menschlichen Regelungsverhaltens angenommen werden können. Tabelle 3.10: Empirisch festgestellte Wertebereiche und Extremwerte in Bezug auf die Regelungscharakteristik des Menschen Parameter
Zeichen
Wertebereich
gemessene Extremwerte
Totzeit
Tt
ca. 0,2 s
0,1 - 0,3 s
Zeitkonstante des
TN
0,1 - 0,16 s
0,1 - 1 s
neuromuskulären Systems Verstärkungsfaktor
K
1 - 100
1 - 100
Vorhalt
TD
0,1 - 5 s
0 - 25 s
Verzögerung
TI
0,01 - 0,5 s
0 - 20 s
Die große Variabilität von K, TD und TI ergibt sich aus der Anpassungsfähigkeit des Menschen an verschiedene Regelstrecken. Trotz umfangreicher theoretischer Analysen und Experimentalreihen war den ersten regelungstechnischen Ansätzen, die darauf abzielten, Regler-MenschModelle unabhängig vom zu regelnden System zu entwerfen, nur ein vergleichsweise geringerer Erfolg beschieden. Aufgrund der starken Abhängigkeit des menschlichen Verhaltens von der Regelstrecke entwickelten MCRUER et al. (1967) einen einfachen, aber sehr wirkungsvollen symbiotischen Ansatz. Symbiotisch bedeutet, dass Mensch und Maschine als kybernetische Einheit beschrieben werden und nicht der Mensch allein. Das korrespondierende Schnittfrequenz-Modell (crossover model; siehe SHERIDAN 1992; JÜRGENSOHN 1997) stützt sich auf die Feststellung, dass der Betrag der Kreisübertragungsfunktion des offenen Regelkreises L(s) = GH(s) GS(s) mit einem Menschen GH(s) als Regler auch bei unterschiedlichen Strecken GS(s) in einer Dekadenumgebung des Schnittpunkts mit der Verstärkung 1 (sog. Crossover-Frequenz Zc) in etwa den Verlauf eines Integrierers (a1/s) hat und weiterhin der Phasengang Mc Werte zwischen S/2 und S annimmt. Der lineare Ansatz mit Totzeit bei minimaler Parameterzahl lautet:
GH ( s ) Gs ( s ) mit Tt
Zc s
e Tt s
(3.13)
Mc S / 2 Im( s ) und 0, 2 5 Zc Zc
Interessanterweise sind die interindividuellen Unterschiede des Frequenzgangs in der Nähe der Crossover-Frequenz Zc am geringsten. Da dieser Bereich das dynamische Verhalten des geschlossenen Kreises dominiert, kann gefolgert werden, dass trotz potentiell unterschiedlicher Regelstrategien des Menschen das Ergebnis immer recht ähnlich ist. In Tt sind die Totzeiten des Menschen und der Maschine sowie andere phasendrehende Eigenschaften repräsentiert. Die Crossover-Frequenz Zc sinkt mit steigender Ordnung der zu regelnden Strecke, wohin-
312
Arbeitswissenschaft
gegen die Totzeit Tt wächst. Vergleicht man das Crossover-Modell mit dem quasilinearen Modell aus Gleichung (3.12), so wird deutlich, dass lediglich zwei statt fünf unbekannte Parameter geschätzt werden müssen. Zwar hängen auch Zc und Tt von der Strecke und der Eingangfunktion ab, die Streuung ist jedoch vergleichsweise gering. In den Folgejahren wurden umfangreiche Kataloge für unterschiedliche Kombinationen von Strecken und Eingangsgrößen erhoben, so dass das Modell erfolgreich zur Auslegung von Flugzeugen und Automobilen verwendet werden konnte. Beispiele für die Anpassung des Reglers Mensch an verschiedene Strecken, wie Positions-, Geschwindigkeits- und Beschleunigungssysteme, finden sich in Abb. 3.58. Auch zeitliche Grenzen der Anpassung im Sinne maximaler Ausdauer sowie der Wirkung von Erholung auf menschliche Beanspruchung und Ermüdung wurden untersucht (LUCZAK 1978). Später wurden noch optimaltheoretische Modelle sowie Schalt- und Hybridmodelle entwickelt. Ausführliche Darstellungen dieser Modelle finden sich in SHERIDAN (1992) und JÜRGENSOHN (1997).
Abb. 3.58: Bode-Diagramme des Reglers Mensch bei Positions-, Geschwindigkeits- und Beschleunigungssystemen (A(jZ): Amplitudenverstärkung in dB, M(Z): Phasenverschiebung in Grad, nach JAGACINSKI u. FLACH (2002)
Arbeitsformen
3.3.2 3.3.2.1
313
Phasen der menschlichen Informationsverarbeitung EntdeckenĆ(früheĆProzesse)Ć
Die Wahrnehmung ist die erste Phase des Informationsumsatzes und dient der Aufnahme von Information. Diese Aufnahme erfolgt über die Sinnesorgane. Umgangssprachlich ist von fünf Sinnen die Rede, tatsächlich sind es einige mehr. Jedes dieser Sinnesorgane ist auf eine ganz bestimmte Wahrnehmungsart – die sog. Modalität – spezialisiert, d.h. es kann bestimmte Reize in einem bestimmten Intensitätsbereich in Empfindungen umsetzen. Die Sensibilität der Sinnesorgane ist auf spezifische (physikalische) Signalarten, d.h. Reizformen, ausgerichtet, aber keinesfalls beschränkt. Z.B. weisen die Sensoren im Hörorgan zwar eine besondere Empfindlichkeit für akustische Signale auf, können aber auch durch mechanische Reize stimuliert werden. Die Gliederung der sensorischen Modalitäten – auch sensorische Systeme genannt – kann nach Wahrnehmungssinnen für die Umwelt (auch Exterozeptoren, von lat. exterior - äußerlich) und Wahrnehmungssinne für den eigenen Körper (Propriozeptoren, von lat. proprium - eigen) erfolgen. Eine genaue Abgrenzung bereitet Schwierigkeiten. SCHÖNPFLUG und SCHÖNPFLUG (1997) z.B. gehen von neun Modalitäten aus, die rund ein Dutzend unterschiedlicher Empfindungen hervorrufen (Tabelle 3.11). Jede Modalität ist bestimmten Beschränkungen unterworfen, welche die Qualität und Quantität der wahrgenommenen Eingangsinformationen und damit auch aller nachfolgenden Prozesse bestimmt. Das Wissen um diese Beschränkungen ist unerlässlich bei der Gestaltung von Arbeitssystemen. So beeinflussen z.B. die charakteristischen Eigenschaften der Zapfen und Stäbchen in der Netzhaut des Auges nachhaltig den Einsatz von Farben als Informationsträger auf einem Bildschirm. Trotz des reizspezifischen Charakters der Modalitäten gibt es bestimmte Gesetzmäßigkeiten, die für alle gleichermaßen gelten. 3.3.2.1.1 Übergeordnete Gesetzmäßigkeiten Die jeweiligen Sinnessysteme erstrecken sich von den Sinnesorganen bis zur Hirnrinde (Cortex) und sind hierarchisch gegliedert. Die Rezeptoren (von lat. recipere aufnehmen) sprechen im Wesentlichen auf Reizintensitäten an, in beschränktem Umfang auch auf Muster. Bis zum bewussten Wahrnehmungserlebnis, welches in der Hirnrinde gebildet wird, wird die Information in verschiedenen Stufen verdichtet und aggregiert. Alle Rezeptoren reagieren nur in der Modalität, für die sie vorgesehen sind. Das heißt aber nicht, dass sie nur von einer Reizart zu einer Reaktion veranlasst werden können. So führt ein Druck auf das Auge zu Farbwahrnehmungen und ein mechanischer Reiz des Ohres wird in eine entsprechende auditive Erregung gewandelt. Fast alle Rezeptoren lassen sich auch elektrisch stimulieren.
314
Arbeitswissenschaft
Tabelle 3.11: Übersicht über die sensorischen Modalitäten (aus SCHÖNPFLUG u. SCHÖNPFLUG 1997) Modalität visuell auditiv
vestibulär
olfaktorisch
gustatorisch
taktil
Reiz elektromagn. Strahlung periodische Luftdruckschwankungen
Rezeptoren Zapfen und Auge Stäbchen Haarzellen des Frequenzen von Innenohr Corti’schen 20 Hz - 20 kHz Organs Vestibularappar Haarzellen im Flüssigkeitsverat im Mittelohr Sacculus, schiebungen (Bogengänge Utriculus und in und Statolithen und Statolithen- den (Schwerkraft) Organe) Bogengängen abhängig von SchleimhautMoleküle in Sinneszellen mit der Stoffart; stück im oberen Gasen Geißeln ab 1 Molekül Nasenraum Moleküle in Flüssigkeiten
Verformungen der Haut
Dehnungen der kinetisch / Muskeln und propriozepziv Bänder, Gelenkbewegungen
thermisch
Temperatur
Schmerzwahrnehmung
Verletzung und Belastung
Bereich Wellenlänge 400-720 nm
abhängig von der Stoffart
Organ
Zungenoberflä- Geschmacksche papillen
Haut
VaterPacinische Lamelle und Meißnersche Tastkörper
Empfindung Farbe, Helligkeit Tonhöhe und Lautstärke Lineare und Winkelbeschleunigungen Geruch Geschmack; süß, sauer, salzig, bitter Druck, Berührung, Vibration
Stellung der Muskelspindel, Körperteile unterschiedliche Bereich der zueinander, Gelenke und in Arten Körperden Bändern bewegungen Kälte: Krauswarm-kalt; esche Endkolbei hohen und Haut ben; Wärme: niedrigen Temp. Ruffinische Endauch Schmerz organe Nozizeptoren (meist freie Nervenenden unspezifisch mechanischer, Schmerz chemischer oder thermischer Sensoren)
Arbeitsformen
315
Generell führt die Stimulation eines Rezeptors zu einer entsprechenden Empfindungsstärke E beim Menschen. Jedes Sinnesorgan transformiert eine Reizintensität R jedoch erst ab einer bestimmten energetischen Einwirkung oder chemischen Konzentration, der sog. Reizschwellenintensität R0. Die Reizschwellenintensität ist innerhalb einer Modalität nicht konstant, im auditiven System ist sie z.B. von der Frequenz des dargebotenen Tones abhängig. Bereits 1834 erkannte der Physiologe Ernst Heinrich Weber die Gesetzmäßigkeit, dass ein Sinnesorgan erst ab einer bestimmten Intensitätsdifferenz eine Veränderung registriert (differentielle Wahrnehmbarkeitsschwelle, just noticeable difference), die als Unterschied ǻR zum vorangehenden Reiz R in einem bestimmten, gleich bleibenden Verhältnis k zu diesem steht. Beim Helligkeitssehen beträgt z.B. der erforderliche relative Unterschied ǻR/R nach Webers Versuchen ca. 1 bis 2% der Lichtstärke. Der Physiker Gustav Theodor Fechner erweiterte das Weber´sche Gesetz 1860 formal durch eine entsprechende Integration. Hierbei wurde angenommen, dass c konstant und unabhängig von R ist. Das Weber-Fechner´sche Gesetz lautet:
E
c ln
R R0
(3.14)
R0 ist eine Integrationskonstante, die sich auf die Reizschwellenintensität bezieht. Das Weber-Fechner´sche Gesetz besagt also, dass bei einem linearen Anstieg der relativen Reizstärke die Empfindungsstärke nur logarithmisch anwächst. Die Proportionalitätsgröße c ist von der Art des Reizes abhängig. Spätere Untersuchungen des Funktionsverhaltens von Sinnessystemen ergaben jedoch, dass die logarithmische Beziehung für visuelle, auditive oder olfaktorische Modalitäten nur in einem kleinen Intensitätsbereich gilt. Eine entsprechende Erweiterung des Weber-Fechner´schen Gesetzes ist die Stevens´sche Potenzfunktion, die nach dem US-amerikanischen Psychologen Stanley Smith Stevens benannt wurde. Sie lautet wie folgt:
E
k ( R R0 ) n
(3.15)
Die Proportionalkonstante k und der Exponent n sind rezeptorspezifisch. Abb. 3.59 zeigt die Beziehungen zwischen relativer Reizintensität und Empfindungsintensität bei unterschiedlichen Reizarten in einem doppellogarithmischen Koordinatensystem. Übersteigt die Reizintensität bestimmte Grenzwerte, können die Rezeptoren zerstört werden. Der wichtigste Unterschied zwischen dem WeberFechner´schen Gesetz und der Stevens´schen Potenzfunktion besteht in der Methodik. Statt der Angabe der differentiellen Wahrnehmbarkeitsschwelle verwendete Stevens eine einfache subjektive und objektive Verhältnisschätzung nach vorgegebenen Standardreizen, die auch für komplexe Empfindungen anwendbar sind.
316
Arbeitswissenschaft
100
50
A
B
C
D
E F G
relative Empfindungsstärke
30 20
10
A elektrischer Schmerzreiz (60Hz) B Schmerzsinn
5,0
C Drucksinn D Vibrationssinn (60Hz)
3,0
E Rauschen
2,0
F 1000 Hz-Ton G weißes Licht 10 1
10 2
10 3
10 4
10 5
10 6
relative Reizstärke
Abb. 3.59: Beziehungen zwischen relativer Reizstärke und relativer Empfindungsstärke bei unterschiedlichen Reizarten aus LUCZAK (1989)
Die zeitliche Charakteristik der Reiztransformation ist in regelungstechnischer Bezeichnung üblicherweise die eines PD-Glieds. Die Empfindungsgröße ändert sich in Abhängigkeit von der absoluten Reizintensität R und deren Änderungsrate dR / dt: E
dR · § f ¨ K1 R K 2 ¸ dt ¹ ©
(3.16)
Sinnesorgane reagieren also bevorzugt auf Veränderungen, da bei konstanter Erregung die Nervenzellen auf den Reiz adaptieren und die Reizempfindung schwindet. Die Anpassungsbreite der Sinnesorgane von der Schwellenreizstärke bis zur Schmerzgrenze umfasst normalerweise mehrere Zehnerpotenzen physikalischer Einheiten. Die Anpassungsgeschwindigkeit schwankt von Sekunden, z.B. Helladaptation des Auges, bis zu Tagen, z.B. Kompensation einer zeitweiligen Hörschwellenverschiebung des Ohrs. Jede der sensorischen Modalitäten scheint mit einem zentralen Mechanismus gekoppelt zu sein, der nach dem physikalischen Verschwinden des Stimulus die Empfindung des Reizes für kurze Zeit verlängert. Dieser Kurzzeitspeicher (short term sensory store, STSS) erlaubt es, bei Abwenden der Aufmerksamkeit in eine andere Richtung die Umgebungsinformation für kurze Zeit zu speichern und ggf. später zu verwenden (WICKENS u. HOLLANDS 1999). Besondere Bedeutung bei den Hautsinnen (Temperatur, Druck, Schmerz) hat die räumliche Auflösung. Abb. 3.60 zeigt die an den Fingerspitzen am besten ausgeprägte Fähigkeit, zwei eng benachbarte Reize auch als solche wahrzunehmen.
Arbeitsformen
317
Abb. 3.60: Links: Räumliche Auflösung für die Fähigkeit, zwei eng benachbarte Reize auch als solche wahrzunehmen, für verschiedene Bereiche der Hand. Rechts: Dichte von Neuronen nach VALLBO u. JOHANSSON (1978)
3.3.2.1.2 3.3.2.1.2.1
Sinnesorgane des Menschen Visuelles Wahrnehmungssystem
Um in Arbeitssystemen die sichere Erkennung von Schriftzeichen, Symbolen, Zahlen, Zeigern, Graphiken o.ä. zu gewährleisten, muss man wissen, wie sie wahrgenommen werden. Deshalb sollen im Folgenden einige Grundlagen der visuellen Wahrnehmung erläutert werden. Aufbau des menschlichen Auges
Das Auge (Abb. 3.61) ist die erste Station bei der Verarbeitung visueller Reize. Das in das Auge eintretende Licht durchquert zuerst eine äußere Schutzschicht, die Hornhaut (lat. cornea), passiert dann eine Öffnung in der Regenbogenhaut (Iris), die Pupille, bevor es durch Linse und Glaskörper auf die Netzhaut trifft. Auf der Netzhaut wird das wahrgenommene Objekt auf dem Kopf stehend abgebildet. Ziliarkörper Bindehaut Hornhaut
Zonulafasern Linse Gelber Fleck Blinder Fleck
Pupille Regenbogenhaut (Iris)
Sehnerv
Glaskörper
Abb. 3.61: Querschnitt durch das menschliche Auge
Netzhaut
318
Arbeitswissenschaft
Die Pupille dient zur Regulierung des Lichtstroms und beeinflusst die Tiefenschärfe. Durch sie kann die ins Auge einfallende Lichtmenge auf etwa 1/16 reduziert werden. Zu bedenken ist aber, dass das Auge Lichtintensitäten von 12 Zehnerpotenzen verarbeiten kann. Es sind also noch weitere Anpassungsvorgänge notwendig. Zusammengenommen werden diese als Adaptation bezeichnet. Die Größenänderung der Pupille erfolgt recht langsam: Beim Dunkel-Hell-Übergang braucht die Pupille etwa 1,5 s, um sich von der vollständigen Dilatation (Erweiterung) auf 2/3 zu verengen und 5 s, um sich vollständig zu kontrahieren. Beim Hell-Dunkel-Übergang dagegen erfordert die Erweiterung auf 2/3 des Durchmessers 10 s und bis zur vollständigen Dilatation gar 5 min. Das nächste Element, das vom Licht passiert wird, ist die Linse. Sie fokussiert den Lichtstrahl auf die lichtempfindlichen Rezeptoren der Netzhaut. Die optische Qualität der Linse ist nicht sonderlich gut, sie verzerrt vor allem in den Randbereichen sehr stark. Auch Farben werden unterschiedlich stark gebrochen (sog. chromatische Aberration). Zur Einstellung auf unterschiedliche Sehentfernungen, genannt Akkommodation, wird von den Ciliarmuskeln die Dicke der Linse und damit ihre Brennweite verändert. Beim Anspannen der Muskeln wird die Linse dicker und ermöglicht das Nahsehen. Diese Muskelarbeit wird bei einer altersbedingten Verhärtung der Linse zunehmend erschwert. Das Entspannen der Muskeln verdünnt die Linse und ermöglicht das Fernsehen. Die Akkommodation unterliegt bei häufigem Wechsel Ermüdungserscheinungen. Mit der Akkommodation einher geht die Konvergenz. Schaut der Mensch auf ein sehr weit entferntes Objekt, sind die beiden Augachsen annähernd parallel. Schaut er auf ein nahes Objekt, müssen sich die Augachsen zueinander bewegen, damit die Bilder des Objekts in beiden Augen auf korrespondierenden Netzhautstellen abgebildet werden können. Nachdem das Licht durch die Cornea, die Linse und durch den Glaskörper (eine gallertartige Substanz im Inneren des Auges) gegangen ist, trifft es auf die Netzhaut (Retina). Auf der Netzhaut befinden sich zwei Arten von Photorezeptoren: Die etwa 120 Millionen Stäbchen sind sehr lichtempfindlich, können aber keine Farben wahrnehmen. Rund 500-mal weniger lichtempfindlich, aber farbtauglich, sind die rund sechs Millionen Zapfen. Stäbchen und Zapfen sind netzartig auf der Rückseite des Augapfels angeordnet, daher auch der Name Retina (von lat. Rete Netz). Die Verteilung von Stäbchen und Zapfen auf der Netzhaut ist nicht gleichmäßig (siehe Abb. 3.62). Die größte Dichte der Zapfen befindet sich in einem kleinen Gebiet mit einem Durchmesser von ungefähr einem halben Millimeter, dem gelben Fleck (fovea centralis). Die etwa 0,25 mm dicke Netzhaut ist schichtweise aufgebaut. Über den Photorezeptoren befinden sich eine Reihe von Neuronen. Horizontale Zellen und Amacrine Zellen verbinden benachbarte Netzhautbereiche, sorgen also für einen horizontalen Informationsaustausch. Die bipolaren Zellen und die Ganglienzellen stellen die vertikale Organisation der Netzhaut dar. Die Axone der Ganglienzellen bilden zusammen den Sehnerv. Dieser Aufbau der Netzhaut ermöglicht, dass bereits dort die erste Verarbeitung visueller Information stattfinden kann, z.B. die Erkennung von Kontrasten und Bewegungswahrnehmung. Die differenzierenden Eigenschaften des visuellen
Arbeitsformen
319
Systems lassen sich schon aus der Reduzierung von rund 130 Millionen Photorezeptoren auf „lediglich“ 1,6 Millionen Nervenfasern des optischen Nervs ableiten. Diese treten gebündelt durch die Netzhaut aus. Die Austrittsstelle ist nicht lichtempfindlich und wird daher blinder Fleck genannt.
180 000 blinder Fleck Anzahl der Rezeptoren pro Quadratmillimeter
160 000 140 000 Stäbchen
Stäbchen
120 000 100 000 80 000 60 000 40 000 20 000
Zapfen
Zapfen
0 70° 60° 50° 40° 30° 20° 10° 0° 10° 20° 30° 40° 50° 60° 70° 80° Winkel [Grad]
Abb. 3.62: Verteilung von Stäbchen und Zapfen über die Netzhaut (aus BECKER-CARUS 2004)
Reizleitung im visuellen System
Nach der Stimulation der Photorezeptoren des Auges führt der weitere Weg der Reizleitung über mehrere Schaltstationen bis zu einem Gebiet der Hirnrinde am Hinterkopf, dem primären visuellen Cortex. Hier erfolgt eine Reorganisation der visuellen Reize. Bspw. werden die Nervenfasern, welche die Information aus den linken Hälften der Netzhäute beinhalten, in die linke Gehirnhälfte weitergeleitet, die Information der rechten Netzhauthälften in die rechte Gehirnhälfte. Im primären visuellen Cortex endet die Sehbahn. Hier findet die Transformation der visuellen Information in effektive Parameter statt (Gibt es einen Umriss? Wie ist die Raumlage? Findet eine Richtungsänderung statt?). Das eigentliche Erkennen eines Objekts wird jedoch erst in anderen Hirnteilen durchgeführt. Die Abbildung der Information ist in der Sehbahn retinotopisch organisiert. Dies bedeutet, dass die Projektion jeder Struktur auf ihren Nachfolger systematisch erfolgt. Es handelt sich also um eine Abbildung ähnlich einer Landkarte: das, was sich z.B. auf der Retina an einer bestimmten Stelle befindet, ist auch in den höheren Gehirnregionen örtlich ähnlich abgebildet. Allerdings kommt es entsprechend der Zahl der Nervenfasern zu Verzerrungen. So ist z.B. in einer der Schaltebenen das zentrale (foveale) Gebiet viel stärker vertreten als die peripheren Bereiche. Dadurch erfolgt eine Priorisierung, d.h. eine erste „Lenkung“ von Verarbeitung, bereits auf dieser Ebene. Eine solche topographische Organisation wird auch bei den anderen Wahrnehmungssystemen gefunden. Durch die Anpassungsfähigkeit des optischen Systems ist der Mensch in der Lage, sowohl Gegenstände in einer Entfernung von nur 10 cm als auch weit entfernte Objekte scharf zu sehen. Da die Informationsaufnahme und Weiterleitung in den Rezeptoren durch unterschiedliche chemische Reaktionen ausgelöst wer-
320
Arbeitswissenschaft
den, deren Geschwindigkeit von der Rezeptorart abhängt, kommt es dazu, dass eine Folge von Einzelbildern je nach Beleuchtungsverhältnissen ab einer Bilderneuerungsrate von 20 Hz (bei Dunkelheit) bis 50 Hz (bei Helligkeit) den Eindruck einer kontinuierlichen Sequenz erweckt. Die genannte Darstellungsrate entspricht dann der Flimmerverschmelzungsfrequenz. Sie wird auch von der mentalen Beanspruchung des Menschen beeinflusst (siehe Kap. 3.3.3.2.1.4). Helligkeitswahrnehmung
Die Aufgaben des visuellen Wahrnehmungssystems sind, obwohl der Mensch sie i.Allg. auf einem niedrigen Niveau mentaler Beanspruchung erledigt, sehr komplex. Das Bild, welches reduziert auf Intensitätsunterschiede verarbeitet wird, muss interpretiert werden. Auf einer relativ simplen Stufe muss entschieden werden, ob Intensitätsunterschiede auf die (1) Geometrie des Sehobjekts, (2) Reflexionen von der sichtbaren Oberfläche, (3) die Beleuchtung oder (4) den Blickpunkt des Betrachters zurückgeführt werden müssen. Meist sind aber alle vier Faktoren am Zustandekommen der Intensitätsverteilung beteiligt. MARR (1982) hat gezeigt, dass diese Aufgabe durch eine Addition verschiedener Filterfunktionen erreicht werden kann. Die relativ einfache Funktion der Entdeckung von Helligkeitsunterschieden wird im Folgenden kurz erläutert. Durch die horizontale, auch lateral genannte, Verknüpfung der Photorezeptoren mit den Ganglienzellen werden Gruppen von Photorezeptoren zu rezeptiven Feldern zusammengefasst. Die Fläche eines rezeptiven Felds beträgt nur etwa einen Quadratmillimeter. Prinzipiell können Neuronen ihre Information an andere Neuronen so weitergeben, dass diese erregt (exzitiert) werden, oder dass eine Erregung verhindert (inhibiert) wird. Dies hat zur Folge, dass Photorezeptoren je nach Verschaltung eine Erregung der Ganglienzellen erreichen können, wenn Licht auf sie fällt (eine On-Reaktion), aber auch dann, wenn das Licht ausgeschaltet wird (eine Off-Reaktion). Auf der Netzhaut sind die rezeptiven Felder auf zwei Arten verschaltet: Es gibt rezeptive Felder mit einem On-Zentrum, umgeben mit einem ringförmigen Off-Umfeld und solche mit einem Off-Zentrum und einem On-Umfeld. Ein On-Zentrum-Feld reagiert mit einer Entladung der dazugehörigen Ganglienzellen, wenn ein Lichtfleck auf das Zentrum des rezeptiven Felds fällt und hemmt die Aktivität der Rezeptoren im Umfeld. Bei Off-Zentrum-Feldern ist die Reaktion genau umgekehrt: sie reagieren, wenn der Lichtfleck im Zentrum ausgeschaltet wird. Benachbarte rezeptive Felder überlappen sich gewöhnlich. Ein einziger Photorezeptor kann hunderte oder tausende von Ganglienzellen beeinflussen. Für manche Zellen gehört er zum Zentrum des jeweiligen Felds, für andere zum Umfeld. Diese Verschaltung unterstützt die Wahrnehmung von Hell-DunkelUnterschieden, hat aber auch einige Wahrnehmungsphänomene zur Folge. Eines sind die nach ihrem Entdecker benannten Mach'schen Bänder (Abb. 3.63a). Wenn man die Grenze zwischen dem hellen und dem dunklen Gebiet betrachtet, wird links von der Grenze ein (relativ zum hellen Hintergrund) heller Streifen gesehen, während auf der rechten Seite ein dunkler Streifen erkennbar ist. In Wirklichkeit
Arbeitsformen
321
jedoch gibt es keine Intensitätsunterschiede. In Abb. 3.63b sind die physikalischen Kontraste und ihre Verstärkung in der Wahrnehmung graphisch dargestellt. Im Zusammenhang mit Anzeigen gilt es, bei Farben und Graustufen gleiche Umgebungskontraste zu wählen. a)
b)
Intensität
Licht
Wahrnehmung
Abb. 3.63: a) Die Mach‘schen Bänder; b) physikalischen Kontraste und ihre Verstärkung in der Wahrnehmung der Mach‘schen Bänder. Aus ENGELKAMP u. ZIMMER (2006)
Die Wahrnehmung beruht auf Unterschieden in der neuralen Aktivität der entsprechenden Ganglienzellen. Das Phänomen, das in diesem Beispiel sichtbar gemacht wurde, heißt laterale Inhibition (Hemmung). Durch die laterale Hemmung der Aktivität benachbarter Zonen wird eine Kontrastverstärkung induziert, wenn es eine plötzliche Veränderung in der Lichtintensität gibt. Ähnlich der Verschaltung zur Detektion von Helligkeitsunterschieden gibt es auch solche zur Kantendetektion und zur richtungsspezifischen Bewegungsdetektion. Bei der Gestaltung von Anzeigen ist es vorteilhafter, Zeiger statt Digitalanzeigen einzusetzen, da die richtungsspezifische Bewegung des Zeigers schon in einer sehr frühen Verarbeitungsphase erkannt wird. Farbwahrnehmung
Wie bereits erwähnt, gibt es in der Netzhaut zwei Arten von Rezeptoren: Stäbchen und Zapfen. Die wichtigsten Unterschiede zwischen beiden Arten sind in Tabelle 3.12 aufgelistet. Es können drei Arten von Zapfen unterschieden werden, die durch spezifische Pigmente für Licht unterschiedlicher Wellenlänge besonders empfindlich sind (445-450 nm – blau, 525-535 nm – grün, 555-570 nm – rot).
322
Arbeitswissenschaft
Tabelle 3.12: Eigenschaften der Stäbchen und Zapfen Eigenschaften
Zapfen
Stäbchen
Form der äußeren Segmente
kegelförmig
stabförmig
Anzahl (pro Retina)
6 Mio.
120 Mio.
Verteilung
Fovea und Peripherie
nur Peripherie
Dunkeladaption
schnell
langsam
Höchste spektrale Empfindlichkeit bei
rund 560 nm
rund 500 nm
Dunkeladaptierte Empfindlichkeit
niedrig
hoch
Schärfe
hoch
niedrig
In Abb. 3.64 sind die Absorptionsgrade dieser drei Farbrezeptoren als Funktion der Wellenlänge dargestellt. Aus den Zapfenempfindlichkeiten lassen sich die bekannten Farbmischungen erklären. Der Farbkreis gibt an, dass eine Mischung von Grün (520 nm) und Rot (620 nm) ein Gelb (570 nm) ergibt. Dies korrespondiert mit der Stelle im Absorptionsspektrum (Abb. 3.64), an der grün- und rotempfindliche Zäpfchen gleich stark und die blauempfindlichen Zapfen nicht mehr absorbieren. Bei konstanter Lichtintensität können zwischen 380 und 700 nm Wellenlänge des Lichts etwa 150 Farben unterschieden werden. Diese Zahl lässt sich durch zwei Faktoren erhöhen: Durch Veränderung der Lichtintensität wird in der Regel die Helligkeit verändert. Durch Hinzufügen von weißem Licht verringert sich die Sättigung. Eine andere Methode, um die Anzahl unterscheidbarer Farben zu erforschen, erfolgt durch das Zählen von Farbnamen. Einige Untersucher haben bis zu 7500 Farbnamen gefunden.
Abb. 3.64: Absorptionsfunktionen der drei Zäpfchenarten: A – grün, B – blau, C – rot, aus WALD (1964)
Arbeitsformen
323
Genau wie beim Schwarzweißsehen wird auch beim Farbensehen die Wahrnehmung eines Punkts durch die Umgebung beeinflusst. Durch laterale Inhibition kommt eine Kontrastverstärkung zustande. Diese Kontrastverstärkung funktioniert nur zwischen komplementären Farben, also Farben, die sich auf dem Farbkreis gegenüberliegen. Wenn man z.B. auf Rot sieht, so erhöht sich die Empfindlichkeit in der Umgebung für Grün, wenn man auf Blau sieht, so wird die Gelbempfindlichkeit in der Umgebung erhöht. Diese Kontrastwirkung wird räumlicher oder induzierter Kontrast genannt. Als Sukzessivkontrast wird folgendes Phänomen bezeichnet: Wird mehrere Sekunden auf ein weißes Blatt mit einem farbigen Punkt und danach auf eine weiße Fläche geschaut, entsteht der Eindruck, einen Punkt in der Komplementärfarbe zu sehen. Bei Anzeigen sollte man daher Farbkontraständerungen vermeiden, um diesen Effekt auszuschließen. Gesichtsfeld
Damit Lichtreize wahrgenommen werden können, müssen sie in das Gesichtsoder Blickfeld emittiert werden. Als Gesichtsfeld (Abb. 3.65) wird die Gesamtheit aller Gegenstände bezeichnet, die bei ruhenden Augen gleichzeitig in bestimmter räumlicher Anordnung wahrgenommen werden können.
0° 340
90
20°
80 320
40
70 60 50
300
60
40 30 20
280
80
10
linkes Auge
0 260
100
240
rechtes Auge
120
220
140 200
160 180
Abb. 3.65: Gesichtsfeld für unbunte Reize aus SCHOBER (1950)
Das Gesichtsfeld des Menschen erstreckt sich über einen Winkelbereich horizontal von 200°, vertikal nach oben von 55° und vertikal nach unten von 76°. Binokular sind Gegenstände in einem horizontalen Bereich von 120° mit Ausnahme der Nasenschatten wahrnehmbar. Vorgenannte Bereiche des Gesichtsfelds
324
Arbeitswissenschaft
beziehen sich auf weiße Lichtreize. Bei farbigen Reizen sind die Bereiche von der Wellenlänge des Lichts abhängig. Das Blickfeld ergibt sich als Summe einzelner Gesichtsfelder bei unterschiedlichen Augenpositionen. Sehschärfe
Für die Darstellung von Objekten ist es wichtig zu wissen, bis zu welchem Minimalabstand zwei Sehobjekte noch getrennt wahrgenommen werden können. Dieses Auflösungsvermögen des Sehapparats wird als Sehschärfe V (Visus) bezeichnet und als Kehrwert des korrespondierenden Gesichtsfeldwinkels D (gemessen in Bogenminuten) angegeben: V
1
D
(3.17)
Neben den physikalischen Eigenschaften des Auges wird die Sehschärfe durch zentralnervöse Faktoren beeinflusst. So hat insbesondere die Formwahrnehmung erheblichen Einfluss auf die Erkennungsleistung. Die Sehschärfe ist nicht nur vom anatomischen Auflösungsraster der Netzhaut abhängig; sie lässt sich auch nicht allein anhand des Durchmessers der Rezeptoren berechnen. Die wesentlichen Einflussfaktoren der Sehschärfe sind x x x x
das betrachtete Objekt, der Ort der Abbildung auf der Netzhaut, die Gesichtsfeldleuchtdichte und der Leuchtdichtequotient.
Abhängigkeit vom betrachteten Objekt
Die Ortsschwelle des Auges (sog. Punktsehschärfe) ist definiert als der Grenzwinkel, unter dem zwei benachbarte Punkte noch als getrennt wahrgenommen werden. Die normale Sehschärfe wird mit 60“ (Bogensekunden) in einem etwa 1° großen Bereich um die fovea centralis angegeben. Dies entspricht einem klinischen Visus von 1. Bei kontrastreichen Strichmustern wird bei mäßiger Leuchtdichte im fovealen Bereich ein Grenzwinkel von 50“ (V = 1,2), bei sehr hoher Leuchtdichte von bis zu 28“ (V = 2,1) erreicht. Zur Berechnung der Noniussehschärfe wird der Grenzwinkel ermittelt, unter dem zwei gegeneinander verschobene Kanten noch als zwei Objekte wahrgenommen werden. Da bei diesem Verfahren erheblich mehr Zapfen erregt werden, kann es schon bei einer sehr geringen Änderung der Kantenverschiebung zu einem starken Sinneseindruck kommen. Die so ermittelte Sehschärfe ist deshalb bis zu einem Faktor 6 höher als die Punktsehschärfe. Sie wird im Mittel mit 10“ (V = 6) angegeben. Abhängigkeit vom Ort der Abbildung auf der Netzhaut
Aufgrund der Anatomie der Netzhaut kommt es im peripheren Bereich zu einer starken Abnahme der Sehschärfe. Die dort vorhandenen Stäbchen sind zur Erhöhung der Empfindlichkeit zu Gruppen zusammengefasst. Das sich so ergebene
Arbeitsformen
325
funktionale Auflösungsraster ist dadurch erheblich größer als das der Zapfen in der fovea centralis. Die im peripheren Bereich erzielbare Sehschärfe wird mit 1/40 bis 1/20 der maximalen Sehschärfe in der Netzhautgrube angegeben. Die Sehschärfe V beträgt bei 5° Abstand von der fovea centralis noch 1/3, bei 10° 1/5 und bei 45° 1 /20 der fovealen Sehschärfe (Abb. 3.66). 1,0 0,9 0,8 photopisches Sehen
0,7 0,6 0,5 0,4
skotopisches Sehen
0,3
Blinder Fleck
0,2 0,1 0,05 0,025
70° 60° 50° 40° 30° 20° 10° Nasal
0
10° 20° 30° 40° 50° Temporal
Fovea
Abb. 3.66: Sehschärfe in Abhängigkeit vom Ort der Netzhautabbildung beim photopischen und skotopischen Sehen nach EYSEL u. GRÜSSER-CORNEHLS (2005) Abhängigkeit von der Gesichtsfeldleuchtdichte
Beim dunkeladaptierten Auge ist die foveale Sehschärfe gleich Null, da nur die Stäbchen erregt werden. Dadurch ergibt sich bei derartigen Beleuchtungsverhältnissen die zentrale Blindheit. Die Sehschärfe steigt dabei von der Fovea zur Peripherie von 0 auf etwa 1/20 der normalen Sehschärfe an. Da ausgehend von der Dunkeladaption bei Steigerung der Leuchtdichte über die Zapfenschwelle bei ca. 32 cd/m² hinaus der Übergang vom skotopischen (Stäbchen~) zum photopischen (Zapfen-) Sehen erfolgt und damit das Auflösungsraster stark verfeinert wird, wird dabei die Sehschärfe erhöht. Die Sehschärfe steigt bis zu einer Leuchtdichte von etwa 1591 cd/m² an. Bei weiterer Erhöhung der Leuchtdichte findet keine weitere Sehschärfenverbesserung statt. Im Gegenteil kann bei zu starker Leuchtdichte der Zustand der Blendung eintreten, der zu einer Reduktion der Sehschärfe führt. Abhängigkeit vom Leuchdichtequotienten
Zwei Sehobjekte unterschiedlicher Leuchtdichte können nur dann vom Auge als getrennt wahrgenommen werden, wenn der Leuchtdichteunterschied einen Mindestwert, die Leuchtdichteunterschiedsschwelle, überschreitet. Das gleiche gilt für die Sichtbarkeit gegenüber dem Umfeld. Der Leuchtdichteunterschied (Kontrast) zwischen Sehobjekt und Umfeld wird mit dem Leuchtdichtequotienten beschrieben. Er errechnet sich als Verhältnis der Infeld- zur Umfeldleuchtdichte. Die Seh-
326
Arbeitswissenschaft
schärfe steigt nach Abb. 3.67 sowohl mit der Umgebungsleuchtdichte als auch mit dem Leuchtdichteunterschied zwischen Infeld und Umfeld. Es wird aber auch deutlich, dass schon bei geringer Umfeldleuchtdichte sehr kleine Leuchtdichteunterschiede zum Anwachsen der Sehschärfe ausreichen. Die Abhängigkeit der Sehschärfe vom Leuchtdichtequotienten ist besonders wichtig, wenn der Bereich nahe der Leuchtdichteunterschiedsschwelle und der Auflösungsschwelle betrachtet wird. Allgemein lässt sich feststellen, dass die Sehschärfe bei negativem Kontrast (dunkles Sehobjekt im hellen Umfeld) höher ist als bei positivem Kontrast. Der Eindruck von räumlicher Tiefe kann durch verschiedene Tiefenkriterien hervorgerufen werden: x x x x
Monokulare Tiefenkriterien Okulomotorische Tiefenkriterien Binokulare Tiefenkriterien Bewegungsinduzierte Tiefenkriterien. 100
relative Sehschärfe [%]
80
60
40
20 10 asb 100 asb 1000 asb 0 0
20
40
60
80
100
relativer Leuchtdichteunterschied [%]
Abb. 3.67: Sehschärfe in Abhängigkeit vom Leuchtdichteunterschied bei verschiedenen Umfeldleuchtdichten nach SCHOBER (1954) (1 asb = 1/ư cd/m2) Monokulare Tiefenkriterien
Monokulare Tiefenkriterien liefern auch beim einäugigen Sehen Tiefeninformationen. Es werden Objektgrößen-Differenzen, Verdeckungen, Schattierungen und die Perspektive unterschieden. Objektgrößen-DifferenzenĆ
Grundlage für die Entfernungsschätzung mittels der Auswertung der Objektgröße ist die Tatsache, daß ein Objekt bekannter Größe auf der Netzhaut in Abhängigkeit von der Entfernung in einer entsprechenden Größe, der Sehgröße, abgebildet wird. Die Sehgröße eines Objekts ist dabei umso größer, je näher das Objekt zum Beobachter positioniert ist. Sind mehrere bekannte Objekte im Raum vorhanden,
Arbeitsformen
327
so kann aus den Sehgrößen-Differenzen zwischen deren Abbildungen auf der Netzhaut ein Eindruck von den Objektentfernungen gewonnen werden. Die auf diese Weise erfolgenden Entfernungsschätzungen können zu Fehlern führen, wenn ein gesehenes Objekt oder dessen tatsächliche Größe falsch beurteilt wird. Wird einem Objekt bspw. eine Größe zugeordnet, die erheblich kleiner ist als die tatsächliche Größe, so erfolgt eine Überschätzung des Objektabstands. VerdeckungenĆ Die Verdeckung von entfernten Objekten durch Teile eines näheren Objekts vermittelt einen Eindruck von der Anordnung der Objekte im Raum. Dieser Eindruck wird durch Veränderung der Parallaxe aufgrund von Objekt- oder Beobachterbewegungen verstärkt. SchattierungenĆ
Aus der Anordnung von Lichtquellen und Schatten entstehen Eindrücke von den räumlichen Verhältnissen und der Oberflächenstruktur von Objekten. Diese Eindrücke können leicht durch Täuschungen verfälscht werden, bspw. bei falscher Annahme des Orts der Lichtquelle. Die Beleuchtungsart hat großen Einfluß auf die Schattenverteilung. Bei streng direkter Beleuchtung entstehen harte und weiche Schatten der Objekte, die das räumliche Sehen und das Wahrnehmen von Oberflächenstrukturen erleichtern. Jedoch ist bei direkter Beleuchtung aufgrund der ungleichmäßigen Leuchtdichteverteilung mit Blendung und Adaptionsstörungen zu rechnen. Eine ausschließlich indirekte Beleuchtung führt auf der anderen Seite zu keinerlei Schattenbildungen und lässt somit keinen räumlichen Eindruck entstehen. Um eine ausreichende Schattenverteilung bei gleichzeitig homogener Leuchtdichteverteilung zu erzielen, sollten stets direkte und indirekte Beleuchtungsmittel kombiniert eingesetzt werden. PerspektiveĆ Eine geometrische Projektion des Raums auf eine Ebene wird als Perspektive bezeichnet. Diese ermöglicht die zweidimensionale Wiedergabe eines dreidimensionalen Objekts. Zwei verschiedene Arten der perspektivischen Wiedergabe sind zu unterscheiden: Parallelperspektive
Bei dieser, vorwiegend bei technischen Zeichnungen anzutreffenden Darstellungsart, bleiben die im Raum parallelen Linien in der perspektivischen Ansicht parallel. Dabei besitzen alle zur Bildebene parallelen Ebenen den gleichen Größenmaßstab, so daß es auch nach längerer Betrachtung nicht erkennbar ist, welche Ebene vorne oder hinten liegt. Vielfach werden durch Veränderung oder Entfernen tatsächlich verdeckter Linien perspektivisch bedingte Verdeckungen angedeutet (Abb. 3.68).
328
Arbeitswissenschaft
Abb. 3.68: Einfache Parallelperspektive (links) und Andeutung verdeckter Linien (rechts) Zentralperspektive
Bei dieser Darstellungsart (Abb. 3.69) besitzen alle geraden und parallelen Linien, die nicht in der Bild- oder zu dieser parallelen Ebene verlaufen, einen gemeinsamen Fluchtpunkt (O). Kurven und geometrische Figuren werden in der Zentralperspektive verzerrt dargestellt. Gleiche Objekte, die auf zueinander parallelen, aber unterschiedlich entfernten Ebenen liegen, werden in Abhängigkeit von der Entfernung zur Bildebene verkleinert. Um einen räumlichen Eindruck zu gewährleisten, muss bei der Darstellung in der Zentralperspektive darauf geachtet werden, dass der Abstand des Beobachters von der Bildebene geeignet gewählt wird. Da es am Rande des Gesichtsfelds zu Verzerrungen gerader Linien kommen kann, soll die Darstellung innerhalb eines Gesichtswinkels von 28° bis 30° liegen.
Abb. 3.69: Zentralperspektive nach SCHOBER (1954)
Arbeitsformen
329
Okulomotorische Tiefenkriterien: Konvergenz und Akkommodation
Die Rückmeldung der Konvergenzlage der beiden Augen (siehe Abb. 3.70a) und die (Un)schärfe und Beanspruchung durch die Akkommodation der Linsen (siehe Abb. 3.70b) liefern dem Gehirn ebenfalls Informationen über die Entfernung von Sehobjekten. Konvergenz- und Akkommodationsrückmeldung gelten hier zwar als physiologische Hinweise auf Tiefe, die Bedeutung dieser Signale muss jedoch durch nicht-visuelle Erfahrungen gelernt werden.
a
b
c
Abb. 3.70: Veränderung des Konvergenzwinkels und der Linsendicke in Abhängigkeit von der Objektentfernung bei einem (a) nahen Fixationspunkt, bei (b) mittlerer und (c) weiter Entfernung, aus ENGELKAMP u. ZIMMER (2006)
Bei der Behandlung der Funktionen, die zum räumlichen Sehen führen, muss zwischen der Schätzung einer absoluten Entfernung (Sehferne) und der Differenzierung zweier unterschiedlich entfernter Objekte (Sehtiefe) unterschieden werden. In Abb. 3.71 ist der geometrische Zusammenhang dargestellt, der beim beidäugigen Sehen zur Entfernungsschätzung ausgenutzt wird. Bei der Entfernungsschätzung sind sowohl die unterschiedliche Position der beiden Netzhautabbildungen im linken und rechten Auge als auch die Amplitude der Konvergenzbewegung, d.h. der Konvergenzwinkel, von Bedeutung. Aus Abb. 3.71 wird deutlich, dass der Konvergenzwinkel İ aufgrund des Augenabstands a und der Sehentfernung e wie folgt berechnet werden kann:
H
2 arctan
D 2e
(3.18)
Bei konstanter Entfernung zum betrachteten Gegenstand hängt der Konvergenzwinkel somit lediglich vom Augenabstand a des Beobachters ab. Ein hoher Augenabstand führt demnach zu einer Erhöhung des Konvergenzwinkels und
330
Arbeitswissenschaft
dadurch zu einer Verbesserung der Schätzleistung. Die Möglichkeit zur Entfernungsschätzung besteht bis zu einer Entfernung von etwa 10 m, danach wird der Konvergenzwinkel zu klein.
Abb. 3.71: Konvergente Augenstellung nach SCHOBER (1954)
Die alleinige Auswertung des Konvergenzwinkels zur Entfernungsabschätzung reicht allerdings oftmals nicht aus. In der Regel werden durch die Bezugnahme auf das Umfeld und die Hinzuziehung von Objekteigenschaften des Gegenstandes relative Entfernungsschätzungen durchgeführt. Binokulare Tiefenkriterien: Disparation und Parallaxe
Um die dritte Dimension wahrzunehmen, steht beim beidäugigen Sehen zusätzlich zum Konvergenzwinkel der beiden Augen die Disparität oder laterale Verschiebung der beiden Netzhautbilder als Tiefeninformation zur Verfügung. Für das Entstehen von beidäugigen Einfachbildern müssen die Abbildungen eines Gegenstands auf korrespondierenden Netzhautstellen liegen. Die laterale Positionsdifferenz zweier Netzhautabbildungen, die sog. Querdisparation (Abb. 3.72), ist für die relative Entfernungsschätzung, d.h. für das Herstellen von Beziehungen wie „vor“ und „hinter“ zwischen zwei Gegenständen, von großer Bedeutung (Satz von Wheatstone). Dagegen hat eine vertikale Disparation (Längsdisparation) keine Bedeutung für das räumliche Sehen. Es ist erkennbar, dass beim Anvisieren der beiden Gegenstände durch beide Augen ein Winkel į überstrichen wird, der die Querdisparation der Abbildungen A‘ und B‘ der Sehobjekte A und B auf der Netzhaut beschreibt. Durch die Lage der Querdisparation kann die Zuweisung „vor“/„hinter“ durchgeführt werden.
Arbeitsformen
331
Abb. 3.72: Querdisparation nach SCHOBER (1954)
Die Auswertung der Querdisparation eines Auges reicht für eine quantitative Aussage über die Entfernungsdifferenz zweier Sehobjekte jedoch noch nicht aus. Hierzu werden die Querdisparationen beider Augen miteinander verglichen. Da die Differenz nicht direkt gemessen werden kann, bedient man sich einer Hilfskonstruktion von Helmholtz, die die gleichbedeutende stereoskopische Parallaxe beschreibt (Abb. 3.73). Es sei P ein beidäugig anvisierter Gegenstandspunkt, dessen Abstand e von der Augenverbindungslinie geschätzt werden soll. Die Hilfsebene E wird von den beiden Gesichtslinien im Abstand p geschnitten. Im imaginären Mittelauge werden die Endpunkte der Strecke p mit einer Querdisparation į (auch Stereowinkel genannt) wahrgenommen. Die Länge der Strecke p lässt sich durch p
a
a b e
(3.19)
beschreiben. Bei sehr großer Entfernung, d.h. wenn e gegen strebt, ist p = a. Die Strecke ist dann also gleich dem Augenabstand, so dass keine Querdisparation mehr auftritt.
332
Arbeitswissenschaft
Abb. 3.73: Stereoskopische Parallaxe nach SCHOBER (1954)
Alle im gleichen senkrechten Abstand e liegenden Gegenstandspunkte bilden Strecken p gleicher Länge. Werden nun zwei um die Strecke d unterschiedlich weit entfernte Gegenstandspunkte P1 und P2 anvisiert, so entstehen die Strecken p1 und p2. Ihre Differenz ǻ wird als stereoskopische Parallaxe bezeichnet. Die Tiefenwahrnehmung zweier unterschiedlich entfernter Gegenstandspunkte wächst somit proportional zum Augenabstand a und der Tiefendifferenz d der beiden Punkte. Sie verhält sich umgekehrt proportional zum Quadrat des mittleren Tiefenabstands e der Punkte. Für das beidäugige Sehen darf ein Mindestwert (Tiefensehschärfe) der Parallaxe ǻ nicht unterschritten werden; dieser beträgt etwa 5´´ bis 10´´. Theoretische und beobachtete Werte der Tiefensehschärfe finden sich in Tabelle 3.13. Die Berechnung der Disparität ist ein Prozess, der in der Kette der Informationsverarbeitung sehr früh erfolgt. Ein entscheidendes Experiment, das diese Theorie stützt, wurde von JULESZ (1971) durchgeführt. Er erzeugte mit Hilfe eines Computers ein sog. Random-Dot Stereogramm (siehe Abb. 3.74). Ungefähr in der Mitte beider Bilder befindet sich ein „L“, das für beide Bilder eine identische Pixelanordnung hat. Dieses „L“ ist in einem der Bilder um einige Pixel nach innen (nasal) verschoben. Die dadurch in diesem Bild entstehende leere Spalte wurde mit Random Dots aufgefüllt. Bei einäugiger Betrachtung ist in den Bildern kein Objekt zu erkennen. Durch ein Stereoskop dargeboten wird in der Mitte ein etwas oberhalb der Bildfläche schwebendes Quadrat wahrgenommen. Die monokuläre Erkennbarkeit eines Objekts und die Fusion der Konturen spielen also keine Rolle bei der Tiefenwahrnehmung auf der Basis von Disparität. Dies spricht für eine relativ frühe Phase im Verarbeitungsprozess. Mit der Methode des „Schielens“ oder „Durchguckens“ ist dieser Effekt in zahlreichen „Magischen Bildern“ auch ohne Stereoskop zu erleben.
Arbeitsformen
333
Tabelle 3.13: Vergleich der theoretischen mit der beobachteten Tiefensehschärfe bei einem Grenzwinkel 5‘‘ (nach SCHOBER 1954; KEIDEL 1971) E
theoretische
beobachtete Tiefenschärfe bei
Tiefenschärfe
guten
mittleren
Aufgaben bei schlechten
Keidel
Beleuchtungsverhältnissen 20
cm
0,02
50
cm
0,1
mm
0,4
mm
4,0
cm
3,5
m
275,0
m
1
0,37
mm
0,4
mm
10
m
3,8
cm
4,0
cm
100
m
4,15
m
3,7
m
1000
m
274,0
m
1300,0
m
äußerste Grenze gegen
0,6
mm
7,0
m
240,0 1310,0
m
Unendlich
1,0
m 90,0
450,0
mm
mm
m
m
Abb. 3.74: Eigene Darstellung eines Random Dot Stereogrammes nach JULESZ (1971) Bewegungsinduzierte Tiefenkriterien
BewegungsparallaxeĆ Im vorangegangenen Abschnitt wurde die Tiefenwahrnehmung durch beidäugiges Sehen behandelt. Dabei wurde deutlich, dass die Entfernungsdifferenz zweier in großer Ferne positionierter Gegenstände durch die Funktion des beidäugigen Sehens nur unzureichend wahrgenommen werden kann. Tatsächlich kann aber auch bei großen Entfernungen von Objekten eine Differenzierung hinsichtlich ihres Abstands vom Beobachter und untereinander vorgenommen werden. Diese Fähigkeit wird durch die sog. Bewegungsparallaxe (Abb. 3.75) begründet. Werden zwei in großer Entfernung zum Beobachter befindliche, ruhende Gegenstandspunkte P und F, welche eine geringe Entfernungsdifferenz untereinander aufweisen, ange-
334
Arbeitswissenschaft
sehen, so liegen diese zunächst auf einer Gesichtslinie, d.h. scheinbar in einer Ebene. Bewegt der Beobachter nun aber seinen Kopf oder Körper um eine Strecke L zur Seite, so liegen die beiden Punkte nicht mehr auf einer Gesichtslinie, sondern auf zwei Linien, die einen Winkel ș aufspannen. Die gleiche Parallaxenänderung kann auch dadurch entstehen, dass sich zwei Objekte bei ruhendem Auge quer zum Beobachter bewegen.
Abb. 3.75: Bewegungsparallaxe nach KALAWSKY (1993)
Die durch die Kopfbewegung entstehende Parallaxenänderung wird beschrieben durch: 'D (3.20) D2 Die Geschwindigkeit, mit der diese Bewegung ausgeführt wird, kann mit
T
L
Arbeitsformen
335
Z
dT dt
(3.21)
berechnet werden. Sie muss innerhalb gewisser Grenzen liegen, damit die Bewegung durch die Augen wahrgenommen werden kann. VisuelleĆWahrnehmungĆvonĆBewegungenĆ
Für die Wahrnehmung von Objekt-Bewegungen bei ruhendem Auge ist nicht die foveale, sondern die periphere Netzhautabbildung von besonderer Bedeutung. Dabei werden die Lokaladaption, der Kontrast und die entstehenden Nachbilder für die Wahrnehmung hinzugezogen. Die Auffälligkeit von bewegten Objekten ist im peripheren höher als im fovealen Netzhautbereich. Deshalb kann der bewegte Beobachter aus der Auswertung der peripheren Lichtreize Geschwindigkeitsinformationen gewinnen. Dagegen steigt die Wahrnehmungsschwelle zur Peripherie an. Die Geschwindigkeit eines bewegten Objekts muss innerhalb eines definierten Bereichs liegen, damit eine Bewegung wahrgenommen werden kann. Da die Wahrnehmung unter Bezugnahme auf stationäre Referenzmarken ausgelöst wird, beträgt die Mindestgeschwindigkeit eines bewegten Objekts gegenüber der Umgebung im fovealen Bereich etwa 1‘-2‘/s (Bogenminuten pro Zeitsekunde). Fehlen in der Umgebung des bewegten Objekts Bezugsobjekte, so erhöht sich die Wahrnehmungsschwelle auf 15‘-20‘/s. Andererseits müssen die Sehrezeptoren für eine Mindestzeit stimuliert werden, um Lichtreize überhaupt aufnehmen zu können. Bewegt sich ein Objekt so schnell durch das Gesichtsfeld, daß diese Bedingung nicht erfüllt wird, kann das Objekt nicht wahrgenommen werden (bspw. ein vorbeifliegendes Geschoß). Als maximale Geschwindigkeit wird ein Bereich von 150‘-155‘/s angegeben. Darüber hinaus muss das bewegte Objekt einen Mindestverschiebungsweg quer zum Beobachter zurückgelegen. Er beträgt bei ruhendem Fixierpunkt mindestens 20“, bei fehlendem Fixierpunkt mindestens 80“. Die oben genannten Zusammenhänge sind vor allem dann relevant, wenn sich ein Beobachter durch einen mit Objekten versehenen Raum bewegt. Da sich die Abbildungen der Objekte durch die Bewegungsparallaxe verschieben, vermitteln diese einen sehr guten Eindruck von der Bewegungsgeschwindigkeit und der Höhe des Beobachters über dem Grund. Die Bewegung der Abbildungen der Raumobjekte auf der Netzhaut werden oft als „optischer Fluss“ bezeichnet. Die Trajektorien der auf der Netzhaut abgebildeten Objekte scheinen dabei aus einem Fluchtpunkt zu entspringen und laufen je nach lateraler Ablage vom Beobachter und dessen Höhe auf die Bildebene zu (Abb. 3.76).
336
Arbeitswissenschaft
Abb. 3.76: Optischer Fluss eines Piloten bei konstanter Flughöhe (aus JOHANSSON 1978)
Objekterkennung
In den vorhergehenden Abschnitten wurde zwar analysiert, wie der Mensch Helligkeitsunterschiede, Farben, Bewegungen usw. wahrnimmt, es muss aber noch eine Bedeutung zugeordnet werden, die mit verschiedenen Modellen erklärt werden kann. Der Prozess der Objekterkennung ist zwar streng genommen den zentralen Prozessen zuzuordnen, die erst im folgenden Abschnitt analysiert werden, er wird jedoch zum besseren Verständnis des Gesamtsystems direkt nach der eben erläuterten visuellen Wahrnehmung behandelt. Schablonenmodelle
Die Verwendung einer Schablone ist das einfachste Verfahren zur Klassifizierung und Wiedererkennung von Mustern. Um eine Schablone zu verwenden, bedarf es einer genauen Repräsentation eines jeden Musters, das erkannt werden soll. Das Erkennen wird durch den Vergleich des externen Signals mit den intern vorliegenden Schablonen ermöglicht. Die Schablone, die am besten passt, identifiziert das Muster. Bevor der Vergleich stattfindet, muss unter Umständen das externe Signal sowohl in der Raumlage als auch in der Größe den Schablonen angepasst werden. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass menschliches Muster-Erkennen ausschließlich mit Schablonen vor sich geht. Das Modell wäre nur dann anwendbar, wenn die Grundmenge der zu erkennenden Muster in irgendeiner Weise beschränkt werden kann (wie z.B. beim Erkennen von Buchstaben). Pandämonium von Selfridge
Ein anderes Modell beschreibt das Erkennen von Mustern mittels Merkmalsextraktion. Es gibt Nervenzellen im Cortex, die in der Lage sind, auf bestimmte Raumlagen, Winkel, Lichtkontraste, Bewegungen und Farben zu reagieren. Die interne Repräsentation der zu erkennenden Muster besteht aus einer Aufzählung solcher Merkmale. Der Buchstabe „R“ z.B. wird durch eine vertikale Linie, zwei horizontale Linien, eine schräge Linie, drei rechte Winkel und einen unterbroche-
Arbeitsformen
337
nen Bogen definiert. Löst das zu erkennende Signal bei entsprechenden Nervengruppen eine Reaktion aus, die mit der internen Repräsentation übereinstimmt, wird das Muster bzw. der Buchstabe „erkannt“. In Abb. 3.77 ist dieser Vorgang graphisch dargestellt. Die kognitiven Dämonen reagieren sehr unterschiedlich auf die Merkmalsangaben. Der Buchstabe „R“ reagiert am deutlichsten und wird daher auch vom Entscheidungsdämon erkannt. Die Buchstaben „P“ und „D“ wären die nächst wahrscheinlichsten Muster mit vier bzw. drei Übereinstimmungen in den Merkmalsblöcken. Dieses Modell fordert, dass Stimuli durch möglichst viele differenzierende Merkmale gekennzeichnet sein sollten, wenn diese schnell und eindeutig erkannt werden sollen. Obwohl recht flexibel, erklärt dieses Modell nur einen Teil des Erkennungsvorgangs. Sicherlich wäre es denkbar, dass auch viel komplexere Objekte durch Verknüpfungen mehrerer Merkmalsdetektoren erkannt werden könnten. Aber gibt es für alles, was wir wahrnehmen, einen Detektor? Dies ist vermutlich nicht der Fall.
Abb. 3.77: Merkmalsextraktion nach Selfridge – das Pandämonium (aus LINDSAY u. NORMAN 1981)
338
3.3.2.1.2.2
Arbeitswissenschaft
Auditives Wahrnehmungssystem
Auditive Signale werden in Arbeitssystemen häufig zur Informationsübertragung verwendet und sind darüber hinaus oft wichtige Indikatoren bei der manuellen Prozessführung und -überwachung, bspw. von Produktionsmaschinen. Deshalb sollen einige Grundlagen des auditiven Wahrnehmungssystems erläutert werden. Aufbau des menschlichen Ohrs
Das menschliche Ohr (Abb. 3.78) wird in drei Bereiche eingeteilt und zwar in das Außenohr (Muschel und Gehörgang), das Mittelohr mit Trommelfell und Übertragungsknöchelchen (Hammer, Amboss u. Steigbügel) sowie das flüssigkeitsgefüllte Innenohr in Form einer Schnecke. Das Innenohr ist vom Mittelohr durch die Membranen in dem sog. ovalen und dem runden Fenster abgetrennt. Das Innenohr wird weiterhin durch die Basilarmembran geteilt. Am Ende des Innenohrs sind die so getrennten Kammern durch eine Öffnung verbunden. Auf der Basilarmembran befinden sich Haarzellen, die in der Lage sind, Druckschwankungen in elektrische Signale umzuwandeln. Bei einem Schallereignis wird das Trommelfell ausgelenkt. Diese Auslenkung wird mechanisch über die Gehörknöchelchen-Kette auf die Membran des ovalen Fensters übertragen, mit dem Ziel, eine Verstärkung zu bewirken. Diese Membran erzeugt durch ihre Auslenkung Druckwellen in der Flüssigkeit der Schnecke. Diese Druckwellen laufen entlang der Basilarmembran bis an das Ende der Schnecke, werden dort reflektiert und laufen auf deren Rückseite in Richtung des runden Fensters zurück. Die elastische Basilarmembran verformt sich bei Druckunterschieden zwischen Vorder- und Rückseite. Infolge der Frequenzabhängigkeit der Wellenlänge von Schallwellen kommt es zu Verformungen der Membran, deren Ort ebenfalls frequenzabhängig ist. Aufgrund dieses Effekts und der Weiterverarbeitung der Impulse in der zentralen Hörbahn ist das menschliche Ohr in der Lage, frequenzabhängig zu hören. A
Ohrmuschel
äußeres Ohr
Mittelohr
Innenohr
Gehörknöchelchen
Bogengänge Cochlea
B
Amboss Steigbügel ovales Fenster
Hörnerv Trommelfell äußerer Gehörgang äußerer Gehörgang
Hammer
Drehpunkt Scala: vestibuli media
Trommelfell rundes Fenster
tympani ovales Fenster (unter der Steigbügelfußplatte) Tuba eustachii
Abb. 3.78: Aufbau des menschlichen Ohres aus BECKER-CARUS (2004)
rundes Fenster
Arbeitsformen
339
Reizleitung im auditiven System
Die Umwandlung von Druckwellen in elektrische Impulse findet durch die Haarzellen statt, die sich zwischen einer Deckmembran und der Basilarmembran befinden. Von BÉKÉSY (1947) war der Erste, der die Ausbreitung einer Druckwelle über die Basilarmembran sichtbar machte. Vom visuellen System ist bekannt, dass es Neuronen gibt, die auf ganz bestimmte Reize reagieren: die Merkmalsdetektoren. Die Frage stellt sich, ob solche auch im auditiven System existieren. Obgleich das auditive System in vielerlei Hinsicht ähnlich reagiert wie das visuelle System, ist es sehr viel schwieriger festzulegen, was die kritischen Merkmale eines akustischen Reizes sein könnten. Zumindest kann man sagen, dass für Intensität und Frequenz detektorähnliche Mechanismen des Hörsinns vorhanden sein müssen (siehe weiter unten). Hinzu kommt, dass die Struktur des auditiven Systems wesentlich komplexer ist als die des visuellen Systems. Auf cortikaler Ebene finden wahrscheinlich die komplexeren Analysen statt, die über eine Analyse von Frequenz und Intensität hinausgehen. Viele cortikale Neuronen reagieren z.B. überhaupt nicht auf reine Töne. Während sich auf den niedrigeren Ebenen des auditiven Systems, wie auch im visuellen System, eine tonotopische (eine dem Ort der Reizung auf der Basilarmembran entsprechende Abbildung) Organisation nachweisen lässt, ist nicht sicher, ob dies auch auf cortikaler Ebene zutrifft.
1 2 Basis 3
Laufrichtung der Welle
A
Helicotrema Amplitude
M
Hüllkurve
M
B
He lico trem a
sis Ba
Abb. 3.79: A) Die unmittelbare Verformung der Basilarmembran zu drei aufeinanderfolgenden Zeitpunkten. Die Welle bewegt sich von links nach rechts, wächst langsam an und fällt schnell ab, sobald sie den Punkt maximaler Auslenkung (M) erreicht hat. B) Perspektivische Darstellung der Wanderwelle in den cochleären Membranen. Aus BECKERCARUS (2004)
Tonhöhenwahrnehmung und Lautstärkewahrnehmung
Das menschliche Ohr ist in der Lage, sehr geringe Frequenzunterschiede wahrzunehmen. Ein Ton von 1000 Hz kann von einem 1003 Hz Ton unterschieden werden – ein Unterschied von lediglich 0,3%. Dies ist durch folgende drei Mechanismen möglich:
340
Arbeitswissenschaft
(1) Genaue Frequenzabbildung auf der Basilarmembran (Abb. 3.79): Eine bestimmte Frequenz erzeugt eine maximale Auslenkung der Cochlea immer an der gleichen Stelle. Allerdings gilt das nur für den höheren Frequenzbereich. Bei Frequenzen unter 1000 Hz gibt es immer stärkere Überlappungen bei der örtlichen Abbildung der Frequenzen, bis die ganze Membran in Schwingung gerät, wodurch dieser als Ortstheorie bekannte Mechanismus nicht mehr wirkt. (2) Empfindlichkeit bestimmter Haarzellen für bestimmte Frequenzen: Platziert man Elektroden an verschiedenen Stellen der Cochlea, so erreicht man eine frequenzbezogene, tonotope Karte (Abb. 3.80). In der Karte sind die maximalen Erregungen der Frequenzen entlang der Basilarmenbran dargestellt. Es wird ersichtlich, dass die Haarzellen vor allem an den Orten des jeweiligen Schwingungsmaximums erregt werden. (3) Phasenkopplung („phase-locking“) der von den Hörnerven abgegebenen Impulse mit einer bestimmten Phase der Reizwelle: Die Nervenzelle gibt mit der Frequenz des Stimulus ihre Impulse an die nächste Verarbeitungsstufe weiter. Dieser Mechanismus wirkt vor allem im niederen Frequenzbereich, versagt aber ab Frequenzen von 4000-5000 Hz, da Neuronen eine begrenzte zeitliche Kapazität haben. Über Phasenkopplung funktioniert auch die Wahrnehmung von Taktmustern. Hierbei werden mehrere Frequenzen überlagert (z.B. 1000, 1200, 1400, 1600 Hz etc.), zu hören ist aber ein anderer Ton (z.B. 200 Hz). Es lässt sich nachweisen, dass die Ortstheorie hier nicht greift. Die hieraus abgeleitete Periodentheorie besagt, dass der gesamte Impulsverlauf im Hörnerv entsprechend dem Taktmuster des Schalls entsteht. Es gibt also Unterstützung sowohl für die Ortstheorie als auch für die Periodentheorie. Gegenwärtig geht man davon aus, dass beide Mechanismen wirksam sind. Im Bereich bis 1000 Hz ist nur die Periodenkodierung wirksam, zwischen 1000 und 5000 Hz sind Perioden- und Ortskodierung wirksam und über 5000 Hz ist ausschließlich die Ortskodierung wirksam. Man nimmt an, dass die Form der Kurven gleicher Lautstärke (siehe Kap. 9.1) zumindest zum Teil durch den Einsatz dieser zwei Mechanismen erklärt wird. Wenn sowohl die Lautstärke als auch die Tonhöhe durch die Anzahl neuraler Impulse pro Zeiteinheit kodiert werden, so ist anzunehmen, dass in dem Frequenzbereich, in dem dies der Fall ist, eine Beziehung zwischen wahrgenommener Lautstärke und wahrgenommener Tonhöhe existiert. Für die Gestaltung von Arbeitssystemen lässt sich bspw. ableiten, dass man Überlagerungen von äquidistanten Frequenzen vermeiden sollte, da nicht mehr die einzelnen Frequenzen wahrgenommen werden, sondern das hierbei entstehende Taktmuster. Diese Frequenz ist außerdem gut dazu geeignet, das Signal-RauschVerhältnis zu optimieren.
Arbeitsformen
341
y6000 y2000
y5000
y7000
y700 y600
y200
y2500
y800 y60 y4000 y500 y150 y75 75 y250 250 y1500 y3000 y125 y100 y400 y3500
y300 y1000
Ende der Cochlea (am Steigbügel)
Abb. 3.80: Frequenzbezogene, tonotope Karte der Cochlea aus BECKER-CARUS (2004). Die Zahlen bezeichnen die Frequenz und den Ort ihrer maximalen elektro-physiologischen Antwort.
Je höher die Schallintensität, desto breiter das Frequenzband, auf das ein Hörnerv anspricht. Diese Charakteristik der Hörnerven führt bei höheren Schallintensitäten und gleichbleibender Frequenz zum Ansprechen von immer mehr benachbarten Hörnerven. Die Schallintensität ist also durch die Anzahl der Impulse pro Zeiteinheit kodiert. Untersuchungen haben gezeigt, dass die Vibration der Basilarmembran nicht linear ist. Durch diese Nonlinearität wird der Gipfel bei hohen Schallniveaus abgeflacht. Zu hohe Schallintensitäten schädigen allerdings das Ohr (siehe Kap. 9.1). Bezogen auf die Gestaltungsrelevanz dient die Lautstärke zwar zur Verbesserung des Signal-Rausch-Verhältnisses, die Möglichkeiten sind aber durch die Nachteile des gehörgefährdenden Lärms, der dabei entstehen kann, beschränkt. Raumwahrnehmung
Die Raumwahrnehmung basiert auf der Lokalisierung bzw. Ortung des Schalls. Die Ortung beruht auf zwei Mechanismen: (1) Bei niederen Frequenzen zählt der Zeitunterschied, mit dem eine Schallwelle beide Ohren erreicht, bzw. ihre Phasenunterschiede: Wenn die Schallquelle rechts vom Hörer ist, müssen sich die Schallwellen um den Kopf biegen, um das linke Ohr zu erreichen, wodurch der Weg länger wird. Allerdings wird es ab Frequenzen von 1300 Hz und höher schwierig: Zweideutigkeiten gibt es dann, wenn die Wellenlänge der Töne in etwa mit dem halben Abstand der beiden Ohren vergleichbar ist. Ein Ton von etwa 750 Hz wird in diesem Fall mit entgegengesetzten Phasen in beiden Ohren eintreffen (Phasenunterschied = 180°). Vom Standpunkt des Beobachters aus kann dies bedeuten, dass der Ton in dem einen Ohr entweder einen halben Zyklus vor oder einen halben Zyklus hinter dem im anderen Ohr liegt, sich die Schallquelle also links oder rechts von ihm befindet. Die Ortsbestimmung auf Grund des Phasenunter-
342
Arbeitswissenschaft
schieds wird mehrdeutig. Kopfbewegungen oder Bewegungen der Schallquelle lösen in der Regel diese Mehrdeutigkeiten, erklären aber noch nicht die gute Ortung bei höheren Frequenzen. Hier tritt ein zweiter Mechanismus in Kraft: (2) Bei kurzen Wellenlängen, d.h. hohen Frequenzen, entsteht durch den Kopf ein Schallschatten (Abb. 3.81), und Töne erreichen die Ohren mit deutlich unterscheidbaren Intensitäten.
Abb. 3.81: Töne direkt von vorne erreichen beide Ohren gleichzeitig. Kommen Töne z.B. von der linken Seite, so erreichen sie erst das linke und nach kurzer Verzögerung das rechte Ohr. Bei Frequenzen über 500-1000 Hz treten „Schallschatten“ auf. Aus BECKER-CARUS (2004)
Die Ortung erfolgt also bei niederen Frequenzen auf Grund von Zeit-, bei hohen Frequenzen auf Grund von Intensitätsunterschieden. Im Bereich zwischen 1000 und 5000 Hz wird zwischen beiden Mechanismen umgeschaltet, hier kommt es auch zu den meisten Lokalisationsirrtümern. In einer normalen Umgebung erreicht uns ein Ton nicht nur auf dem direktesten Weg, sondern auch noch über eine Vielzahl von reflektierten Wegen. Diese Effekte können so stark sein, dass die gesamte Schallenergie aus Reflexionen (Echo) größer ist als die, die auf direktem Wege ins Ohr trifft. Töne, die räumlich lokalisiert werden müssen, sollten demnach keine Frequenzen zwischen 1000 und 5000 Hz aufweisen. Wie kann eine Schallquelle noch lokalisiert werden? WALLACH et al. (1949) kamen zu folgenden beiden Aussagen: (1) Wenn zwei Klicks (Klick = weißes Rauschen sehr kurzer Dauer) die Ohren kurz nacheinander erreichen, werden diese als ein Geräusch wahrgenommen, wenn der Zeitunterschied ausreichend klein ist: kleiner 5 ms für Klicks, jedoch bis zu 40 ms für Sprache oder Musik. (2) Wenn zwei Geräusche als ein Geräusch gehört werden, wird die Position vom Gesamtgeräusch vorwiegend von der Position des ersten
Arbeitsformen
343
Geräuschs bestimmt (dem Geräusch, das auf direktem Wege das Ohr erreicht hat). Dieser Effekt wird Präzedenzeffekt genannt. Er ermöglicht es jedoch nur dann eine Geräuschquelle zu lokalisieren, wenn der Schall einen vorübergehenden Charakter hat. Kontinuierliche Geräusche (gleiche Frequenz und Intensität über längere Zeit) sind viel schwieriger zu lokalisieren. Binaurales (beidohriges) Hören und Raumwahrnehmung helfen nicht nur bei der Ortung von Schallquellen, sie erlauben auch eine selektive Wahrnehmung. Ein gutes Beispiel für selektive Wahrnehmung ist die berühmte Cocktailparty. Wenn wir uns in einem Raum mit vielen Menschen befinden, übertrifft das Hintergrundrauschen häufig den Schallpegel des Gesprächs, das wir gerade zu führen versuchen. Obwohl wir den Eindruck erwecken können, einem Gespräch zu folgen, können wir beliebig auf ein benachbartes Gespräch umschalten und wieder zurück. Wenn der Gesamtschall jedoch auf einem Tonband aufgenommen und wieder abgespielt wird, ist dies oft kaum noch möglich. Alles weist darauf hin, dass der Filterungsprozess ein aktiver, willentlich gesteuerter Prozess ist, der dazu dient, das Signal-Rausch-Verhältnis zu verbessern. Soll ein akustisches Signal die Aufmerksamkeit auf etwas richten, so ist es nicht unbedingt vorteilhaft, einen besonders großen Schalldruckpegel zu erzeugen. Das Signal könnte schnell als Lärm empfunden werden (siehe Kapitel 9.1). Die Fähigkeit zur selektiven Wahrnehmung gibt dem Ingenieur die Möglichkeit, ganz andere Lösungen zu entwickeln, z.B. Signale, die zum Hörenden persönlichen Bezug haben. Der zu vermittelnden Information könnte der Rufname vorangestellt werden. So wird die Nachricht einem bestimmten Empfänger zugeordnet, indem durch die Äußerung seines Rufnamens die Aufmerksamkeit auf die sich anschließende Nachricht gerichtet wird (siehe WICKENS u. HOLLANDS 1999). Auch die Ohrmuscheln helfen beim Lokalisieren von Geräuschen. Wenn die Unregelmäßigkeiten in der Oberfläche der Muschel durch verschiedene Aufsätze geglättet werden, wird es zunehmend schwieriger, Geräusche zu lokalisieren (GARDNER u. GARDNER 1973). Binaurales Hören sollte also immer ermöglicht werden, um die besonderen Mechanismen Ortung und selektive Wahrnehmung einsetzen zu können. Klassifizierung von auditiven Reizen
Im täglichen Leben erreichen meistens mehrere unterschiedliche Schallquellen gleichzeitig das Ohr. Normalerweise ist das auditive System gut in der Lage, eine (grammatikalische) Analyse des Gehörten so durchzuführen, dass die Komponenten jeder einzelnen Schallquelle gruppiert werden und einen einzelnen perzeptuellen Strom bilden. Jede Schallquelle hat ein eigenes Timbre, eine eigene Lautheit und Position, und manchmal ist eine Schallquelle als bekannt zu identifizieren. Um eine perzeptuelle Trennung zu erreichen, können viele physikalische Eigenschaften des Reizes benutzt werden (siehe auch oben). Diese Hinweise sind (u.A.) unterschiedliche Hauptbestandteile, Anfangszeitdifferenzen, Kontrast zum vorherigen Schall, Veränderungen in Frequenz und Intensität sowie Schallquellenposition. Keiner der Hinweise allein ist in allen Fällen effektiv, zusammen bilden sie
344
Arbeitswissenschaft
jedoch eine exzellente Grundlage für die Identifizierung akustischer Informationen. Verschiedene Gestaltgesetze der Wahrnehmung scheinen bei der Erkennung akustischer Objekte ihre Gültigkeit zu beweisen. Diese Fähigkeit des auditiven Systems, akustische Signale parallel verarbeiten zu können, macht man sich zunutze. Man kann einem Objekt im Arbeitssystem mehrere akustische Dimensionen zuweisen und dadurch bei wichtigen Informationen Redundanzen erzeugen oder jede akustische Dimension für sich nutzen und dadurch eine höhere Transinformation erzeugen. Ein prägnantes Anwendungsbeispiel zur gleichzeitigen Darstellung von Entfernungsinformationen bei der Führung von zwei voneinander unabhängigen mobilen Robotersystemen durch einen Operateur findet sich in TROUVAIN u. SCHLICK (2006, 2007). Hierbei wurde eine binaurale Darstellung auditiver Reize verwendet, die Entfernungsinformationen des ersten Roboters auf dem linken Ohr anzeigt, wohingegen Informationen des zweiten Roboters auf dem rechten Ohr dargeboten werden. Für beide Ohren wurde eine Kodierung in Form einer Pulsdauer- und Pulsfrequenzmodulation gewählt, die man auch von Einparkhilfen im Kraftfahrzeug kennt. Die Ergebnisse von Laborstudien belegen positive Leistungs- und Beanspruchungseffekte der binauralen Informationsdarstellung. Visuelle und auditive Darbietung von Information
Bei der Gestaltung von Mitteln zur Informationsübertragung ist die Wahl der Modalität oft zwangsläufig vorgegeben (Straßenschilder – visuell, Durchsage auf dem Flughafen – auditiv, etc.). Manchmal ist aber auch die Wahl zwischen verschiedenen Modalitäten möglich. Tabelle 3.14 bietet einige Auswahlkriterien zwischen auditivem und visuellem System. Grundsätzlich gilt: Während das auditive System mehr selektierenden Charakter hat, hat das visuelle System gewöhnlich eher gerichteten Charakter, also die Aufgabe, das Selektierte näher zu untersuchen. Wie akustische und visuelle Signale zusammenwirken könnten, liefert ein Beispiel: Das Autofahren erfordert eine auf die Straße gerichtete visuelle Aufmerksamkeit, obwohl gleichzeitig andere visuelle Stimuli durch die Instrumente der Aufmerksamkeit bedürfen. In solchen und vergleichbaren Situationen kann das auditive System für Unterstützung sorgen, indem Informationen, die bisher Instrumenten vorbehalten waren, akustisch kodiert werden. Das visuelle System hat einen gewissen filternden oder direktionalen Charakter, da die Wahrnehmung stark von der Blickrichtung abhängt. Das auditive System empfängt von allen Seiten Informationen und ist auch fähig, diese parallel zu verarbeiten. Die Darbietung von Information aus verschiedenen Richtungen erlaubt somit über die Raumwahrnehmungsmechanismen des auditiven Systems die Verarbeitung einer sehr hohen Informationsdichte, ohne die gerichtete (z.B. visuelle) Aufmerksamkeit zu beeinträchtigen.
Arbeitsformen
345
Tabelle 3.14: Auswahlhilfe für (SANDERS u. McCORMICK 1993) bevorzugt auditiv
auditive
gegenüber
visueller
Modalität
bevorzugt visuell
einfache Nachrichten
komplexe Nachrichten
kurze Nachrichten
lange Nachrichten
keine spätere Bezugnahme
spätere Bezugnahme
auf Informationen
auf Informationen
die zeitliche Folge in der
Informationen über räumliche
Information ist wichtig
Anforderungen ist relevant
die Nachricht erfordert
die Nachricht erfordert
sofortige Handlung
keine sofortige Handlung
das visuelle System ist
das auditive System ist
bereits überfordert
bereits überfordert
die Umgebung ist zu hell oder zu dunkel
die Umgebung ist zu laut
(Adaption ist erforderlich) die Arbeit bedingt ständige
die Arbeit erlaubt es, an einen
Ortsveränderung
Ort gebunden zu sein
3.3.2.1.2.3
Wahrnehmung von Beschleunigung und Lage
Das Vestibulärsystem ermöglicht uns die Orientierung im Raum, löst u.a. die Stellreflexe zur Normalhaltung des Kopfs und der Augen aus und liefert die zur Erhaltung des Gleichgewichts notwendige Information. Der Vestibulärapparat liegt im Innenohr und ist direkt mit dem Schneckenhaus des auditiven Systems verbunden (Abb. 3.78). Es ist aufgebaut aus drei Bogengängen und zwei Hohlräumen (Utriculus und Sacculus oder auch Statolithen-Organe). Die drei Bogengänge liegen in den drei orthogonalen Ebenen des Raums. Auf einer gallertartigen Erhöhung befinden sich Sinneshärchen, die durch Änderung einer Drehgeschwindigkeit von der die Härchen umgebenden Flüssigkeit in Bewegung gesetzt werden. Je nach Richtung werden entsprechende Nervenimpulse abgegeben. Die Sinnesfelder im Utriculus und im Sacculus sprechen auf Änderungen einer in gerader Linie verlaufenden Geschwindigkeit an. Die Statolithen (kleine sandähnliche Körnchen) reizen dabei die Rezeptoren durch ihre Trägheit. Sehr langsame Bewegungsänderungen werden nicht wahrgenommen, wodurch die innere Repräsentation der Bewegung und der Lage im Raum von der tatsächlichen abweichen kann, oder aber entweder nur über die Bogengänge oder nur über die Statolithischen Organe wahrgenommen, was zu Interpretationsschwierigkeiten der Reize führt. Als Folge können Kinetosen auftreten (z.B. Seekrankheit).
346
Arbeitswissenschaft
3.3.2.1.2.4
Oberflächen- und Tiefensinn
Unter dem Begriff der Somatosensorik (auch somatische Sensibilität) werden Rezeptorinformationen zusammengefasst, die von der Hautoberfläche des Körpers (Oberflächensensibilität) und den Skelettmuskeln, Sehnen und Gelenken (Tiefensensibilität) geliefert werden. Für die Aufnahme von Reizen sind vier Rezeptortypen, die durch verschiedenartige Reize stimuliert werden, von Bedeutung: x Mechanosensoren: Druck, Berührung, Vibration, Spannung, Dehnung x Thermosensoren: Abkühlung, Erwärmung x Chemosensoren: Metabolite, pH-Wert, Partialdrücke von O2 und CO2, Glukose x Nozizeptoren: Gewebeschädigungen, Hitze, Quetschen.
Für die Somatosensorik haben die Chemorezeptoren eine geringere Bedeutung. Aus den anderen genannten Rezeptortypen ergeben sich verschiedene Sinnesmodalitäten, die jedoch innerhalb der Somatosensorik untereinander in Zusammenhang stehen: x x x x
Mechanorezeption (Tastsinn) Propriorezeption (Tiefen- oder kinästhetische Sensibilität) Thermorezeption (Temperatursinn) Nozizeption (Schmerzsinn).
Tastsinn
Der Tastsinn wird durch das haptische Wahrnehmungssystem gewährleistet. Haptisch bedeutet nach ZETKIN u. SCHALDACH (1978) „tastend, Leistungen beim Greifen, bei denen im wesentlichen eine Zusammenarbeit von Druck- und Kraftsinn in Frage kommt“. Für die Wahrnehmung der Umwelt hat der Tastsinn eine große Bedeutung. Mechanorezeptoren der Haut ergänzen die Empfindungen des visuellen Systems, indem sie dem zentralen Nervensystem Informationen über Oberflächeneigenschaften durch Ertasten liefern. Die Hautsinnesorgane vermitteln durch das Erkennen von Druck, Berührung und Vibrationen einen plastischen Eindruck über die Beschaffenheit von Arbeitsobjekten. Blinde sind mittels des Tastsinns in der Lage, die kodierten Zeichen der Blindenschrift mit ähnlicher Qualität und Geschwindigkeit zu entschlüsseln, wie es das visuelle System für Schriftzeichen vermag. Die taktile Empfindung wird durch die Meissner-Tastkörperchen und durch die Nervennetze um die Haarzwiebeln und Haarwurzeln vermittelt. Als Rezeptoren für Tiefensensibilität dienen die Vater-Pacini-Lamellenkörperchen. Sie passen sich sehr schnell an Druckunterschiede an. Vibrationsempfindung wird durch rhythmische Erregung der Sensoren für Oberflächen- und Tiefensensibilität hervorgerufen.
Arbeitsformen
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Die Mechanosensoren lassen sich anhand ihrer Adaptionszeit in drei Typen einteilen: (1) Langsam adaptierende (SA-) Sensoren erzeugen bei Vorlage einer örtlich konstanten Hautdeformation kontinuierlich elektrische Signale, deren Frequenz proportional zur Druckamplitude ist. Demnach werden diese auch als Druck- oder Intensitätssensoren bezeichnet. Da die Entladung solange anhält, wie der Druckreiz aufgebracht wird, liefert der Sensor auch eine Aussage über die Dauer des Reizes. SA I-Sensoren reagieren lediglich auf senkrecht zur Hautoberfläche einwirkende Reize, während SA II-Sensoren bei Dehnung der Haut stimuliert werden. (2) Die mittelschnell adaptierenden (RA-) Sensoren sprechen auf die Geschwindigkeit einer Hautdeformation an. Ihre Erregungsfrequenz ist proportional zur Geschwindigkeit der Reizbewegung. Sie können demnach als Berührungs- oder Geschwindigkeitssensoren bezeichnet werden. (3) Sehr schnell adaptierende (PC-) Sensoren reagieren auf Beschleunigungen der mechanischen Hautdeformation. Bei einem unter konstanter Geschwindigkeit ablaufenden Druckreiz erzeugen sie jeweils zu Beginn und Ende der Bewegung, also bei Änderung der Geschwindigkeit, einen Impuls. Sie sind dadurch insbesondere leicht durch Vibrationen zu stimulieren. Ihrem Antwortverhalten nach werden sie deshalb als Vibrations- oder Beschleunigungssensoren bezeichnet. Die Körperoberfläche verfügt über rund 500.000 Meissnerkörperchen. Die örtliche Dichte von Mechanosensoren in der Haut, d.h. das räumliche Auflösungsvermögen für Reize, ist in den einzelnen Körperteilen des Menschen sehr unterschiedlich. Beim Neugeborenen ist die Tastempfindlichkeit an Lippen und Zunge am Größten, beim Erwachsenen an den Fingerspitzen. Es bestehen zudem starke interindividuelle Varianzen, z.B. abhängig vom Geschlecht oder dem Alter. Zur Beurteilung der Fähigkeit räumliche Details von Tastreizen wahrzunehmen, wird die Zweipunktschwelle (Abb. 3.82) herangezogen. Diese gibt an, bis zu welchem Abstand die simultanen Druckreize der zwei Spitzen eines Tastzirkels als örtlich getrennte Reize wahrgenommen werden. Die Zweipunktschwelle variiert bei Erwachsenen zwischen Werten von 70 mm im Bereich der Extremitäten, insbesondere der Oberschenkel und Oberarme, bis zu 1 mm an den Fingerkuppen und dem Mund. Es zeigt sich allerdings, daß bei sukzessiver Darbietung der Reize bis zu viermal so niedrige Zweipunktschwellen ermittelt werden können. Die minimale Erregungsschwelle der Mechanosensoren wird mittels eines elektronischen Reizgeräts gemessen. Die kleinste wahrnehmbare Eindringtiefe eines Reizstößels beträgt 0,01 mm. Die Erregungsschwelle ist im Bereich der Fingerkuppen erheblich geringer als an anderen Orten der Handinnenflächen. Bei Reizung durch Vibrationen genügt bei 200 Hz schon eine Amplitude von 0,1 Pm, um eine Empfindung auszulösen.
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Arbeitswissenschaft 50 45
Schwellenmittelwerte (mm)
40 35
30 25 20
15 10 5
Brust
Oberlippe
Stirn
Daumen
Bauch
Unterarm
Rücken
Oberschenkel Wade
Schulter Oberarm
Fußsohle Großzehe
Nase Wange
0 Finger 1 2 3 4
Handf läche
Abb. 3.82: Messung und Werte der Zweipunktschwelle aus BIRBAUMER u. SCHMIDT (2006)
Tiefensinn
Unter dem Tiefensinn (Propriosensibilität) werden Wahrnehmungen zusammengefasst, die die Stellung von Körperteilen und deren Bewegungen betreffen. Dazu sind in den Gelenken, Muskeln, Sehnen sowie der Haut und im Vestibularapparat entsprechende Sensoren vorhanden. Der Tiefensinn wird, wie in Abb. 3.83 dargestellt, weiter unterteilt in einen Stellungssinn, der die Stellung der Gelenke wahrnimmt, einen Bewegungssinn, welcher in Abhängigkeit von den Winkelgeschwindigkeiten der Gelenke deren Winkeländerung aufnimmt und zwar bei proximalen Gelenken unter einer niedrigeren Erregungsschwelle als bei distalen Gelenken, und einen Kraftsinn, in den die Reize der Muskelsensoren in Abhängigkeit von der Muskelkraft einfließen. Weil dem Menschen auch direkt nach dem Aufwachen die Stellung seiner Gliedmaße bekannt ist, kann angenommen werden, dass eine Adaption der Sensoren nicht erfolgt. Zusammen mit ergänzenden Informationen aus dem Vestibularorgan und den Sensoren der Haut, insbesondere über Hautdehnung, werden diese Reize im zentralen Nervensystem zur Wahrnehmung der Körperstellung und –bewegung integriert.
Arbeitsformen
349 Zentrale motorische Befehle Efferenzkopie Muskelspindeln Propriozeption: Sehnenorgane
Gelenkposition Gelenksensoren
zentrale somatosensorische Integration
Wahrnehmungen über: Bewegung Stellung Kraft Lage
Hautsensoren
Körperlage
Vestibularorgan
zerebelläre Verarbeitung
Abb. 3.83: Propriorezeption aus ZIMMERMANN (2005) Sehnen- und Muskelsensoren
In den Sehnen der Skelettmuskeln befinden sich dehnungsempfindliche Sensoren, die sowohl bei passiver als auch bei aktiver Dehnung Signale abgeben. Sehnensensoren geben also Informationen über die Spannung im Muskel weiter und können somit als Spannungsdetektoren betrachtet werden. Bei starker Reizung können sie die Muskelaktivität hemmen, so dass eine zu starke Kontraktion vermieden wird. Diese Sensoren haben im Durchschnitt eine höhere Reizschwelle als die Muskelspindeln. Diese sind in Bau und Funktion etwas komplexer als die Sehnensensoren. Sie befinden sich in den Muskeln selber und sind zwischen 2 und 10 mm lang. Aufgrund ihrer Bauart werden sie Spindeln genannt, da sie aus zwei Arten modifizierter Muskelfasern mit einer spulenförmigen Kapselung bestehen. Auffällig ist, dass die Muskelfasern nicht nur afferent (zum Gehirn leitend), sondern auch efferent (vom Gehirn aus) innerviert werden. Die afferent-sensiblen Fasern können Erregungen aufnehmen, sowohl bei passiver Dehnung der Spindeln durch Zerrung am Muskel, wie auch bei aktiver Kontraktion ihrer eigenen Muskelfasern. In der reflektorischen Anpassung der Gesamtmuskelspannung spielt dies eine wichtige Rolle, indem ungewollte Längenänderungen des Muskels über die afferenten Fasern und eine direkte Kopplung im Zentralnervensystem durch Innervierung mit den efferenten Fasern wieder ausgeglichen werden. Dies erzeugt eine gewisse Stabilität und ermöglicht eine Bewegungskontrolle, deren Steuerung durch das Zentralnervensystem höhere zentrale Verarbeitungsstufen entlastet. Gelenksensoren
In den Gelenkkapseln sind unterschiedliche Typen von Sensoren anzutreffen, nämlich die paciniformen und die ruffiniformen Sensoren (häufigste Vertreter) als auch freie Nervenenden. Die Entladungsfrequenz der Neuronen verändert sich im Prinzip als Funktion der Gelenkstellung und der Veränderungsgeschwindigkeit (nimmt jedoch bei gleichbleibender Gelenkstellung ab und verbleibt dann auf einer etwas niedrigeren Frequenz). Hierdurch ist es möglich, sowohl über den Stand als auch über die Veränderungsrate Informationen zu erhalten.
350
Arbeitswissenschaft
Temperatursinn
Die Temperaturempfindung kann nicht funktionell einheitlich betrachtet werden, weshalb eine Unterteilung des Temperatursinns in einen Kälte- und einen Wärmesinn erfolgt. Jedem dieser beiden Sinne stehen eigene Kalt- bzw. Warmsensoren in der Haut zur Verfügung (Krause-Körperchen), wobei die örtliche Dichte der Kältepunkte auf der Handfläche 1-5/cm2 gegenüber 0,4/cm2 für Wärmepunkte beträgt. Insgesamt besitzt der Mensch etwa 30.000 Wärme- und 250.000 Kältepunkte. Die meisten Warm- und Kaltsensoren finden sich im Gesichtsbereich, wodurch sich die hohe Temperaturempfindlichkeit dieser Region erklärt. Subjektive bewusste Temperaturempfindungen und ihre vegetativen Reaktionen können sowohl als wohltuend (wohlige Wärme) als auch als unangenehm (Frieren, Schwitzen) bewertet werden. Temperaturempfindungen werden jedoch auch unterbewusst im Zusammenhang mit der Thermoregulation weiterverarbeitet. Bei der Temperaturempfindung ist zwischen der statischen und dynamischen Temperaturempfindung zu unterscheiden. Die statische Temperaturempfindung erfolgt bei konstanter Temperatur eines Umweltreizes, bspw. beim Einstieg in ein Wannenbad von 33°C. Im Moment des Einstiegs kommt es zunächst zu einer Wärmeempfindung. Nach einiger Zeit jedoch verblasst diese Wärmeempfindung, und die Wassertemperatur wird als neutral empfunden. Der Temperaturbereich, in dem es durch eine Adaption der Thermosensoren von einer Warm- oder Kalt- zu einer Neutralempfindung kommt, wird als Zone der Indifferenztemperatur bezeichnet. Sie liegt für eine Hautfläche von 15 cm2 zwischen 31°C und 36°C. Liegt die Reiztemperatur außerhalb dieser Indifferenzzone, so kommt es nicht zu einer Adaption an den Reiz und die Warm- bzw. Kaltempfindung bleibt bestehen. Bei besonders großen (45°C) bzw. kleinen (17°C) Temperaturen erfolgt ein Übergang von der Wärme- zur schmerzhaften Hitzeempfindung bzw. der Kälteempfindung zum Kälteschmerz. Die dynamische Temperaturempfindung beschreibt das Antwortverhalten der Thermosensoren bei variierenden Reiztemperaturen. Die Wärme- und KälteEmpfindungsschwellen hängen von der Ausgangstemperatur der Haut, der Änderungsgeschwindigkeit und der Größe der gereizten Hautfläche ab. Bei einer niedrigen Hauttemperatur (28°C) wird eine Abkühlung schneller empfunden als eine Erwärmung. Bei hoher Hauttemperatur (38°C) verhält es sich genau umgekehrt. Die Warm- und Kaltschwelle steigt bei sinkender Änderungsgeschwindigkeit, d.h. die Empfindlichkeit nimmt ab. Daher ist es möglich, daß großflächige langsame Abkühlungen nicht wahrgenommen werden. Schmerz
Schmerz wird meistens indirekt über sich im Gewebe anhäufende Schmerzmediatoren hervorgerufen, welche die freien Nervenenden reizen. Zu den Mediatoren zählen Kinine, Prostaglandine, Azetylcholin, Serotonin und Histamin. Eine Unterbrechung der Nervenleitung verhindert die Schmerzempfindung. Ein körpereigener Mechanismus zur Schmerzverminderung ist durch Endorphine (körpereigene morphinähnliche Stoffe) gegeben. Die Endorphine besetzen die synaptischen
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Rezeptorstellen in den spinalen Ganglien, die für die Weiterleitung von Schmerz an das Gehirn verantwortlich sind. Dieser Mechanismus kann durch Naloxone außer Kraft gesetzt werden. 3.3.2.1.2.5
Geschmacks- und Geruchssinn
Die Empfindung von Geschmack und Geruch ist schon einfachen Lebewesen möglich; somit zählen diese beiden chemischen Sinnessysteme zu den entwicklungsgeschichtlich ältesten Sinnen. Die beiden Systeme lassen sich nach verschiedenen Kriterien unterscheiden: Es sind physiologische Unterschiede hinsichtlich der Sensortypen, ihrer Lage im Körper, ihrer Innervierung und der Verarbeitung im zentralen Nervensystem festzustellen. Im folgenden wird eine Unterscheidung hinsichtlich der Reizbarkeit vorgenommen. Der Geschmackssinn kann durch organische und anorganische Moleküle von in der Regel nicht flüchtigen Stoffen gereizt werden. Die Konzentration eines Stoffs in einer Lösung muss mindestens 1016 Moleküle/ml betragen. Die Reizquelle muss sich dazu in unmittelbarer Nähe oder im Kontakt mit dem Sinnesorgan befinden. Aus diesem Grunde wird der Geschmackssinn auch als Nahsinn klassifiziert. Seine Hauptaufgabe besteht in der Kontrolle aufzunehmender Nahrung und der Steuerung der Nahrungsaufnahme und -verarbeitung, bspw. durch Auslösen des Speichelreflexes. Dazu können die vier Reize süß, salzig, sauer und bitter differenziert werden. Der Geruchssinn wird durch gasförmige Moleküle organischer Verbindungen, die erst am Rezeptor verflüssigt werden, gereizt. Die Reizquelle kann sich deshalb in größerer Entfernung befinden, weshalb der Geruchssinn sowohl als Nah- als auch als Fernsinn dient. Die zur Wahrnehmung erforderliche Konzentration eines Stoffs in Luft ist von der Art des Stoffs abhängig; die Empfindlichkeit des menschlichen Geruchssinns kann für einige Stoffe sehr hoch sein und bei 107 Molekülen/cm3 Luft beginnen. Durch die Empfindung von Gerüchen wird zum einen die Umwelt hinsichtlich des Vorhandenseins gefährlicher Stoffe als auch die Nahrung kontrolliert. Der Geruchssinn ist in der Lage, mehrere Tausend Reizquellen (Gerüche) voneinander zu unterscheiden und zu klassifizieren. Der Geruch führt im hohen Maße zu einer emotionalen Bewertung einer Umgebung. Die Empfindung von Geschmack und Geruch ist beim Menschen eng miteinander verbunden, wobei der Geruch als dominant einzuschätzen ist, da ohne Geruchsempfindung, bspw. bei starkem Schnupfen, nur eine Differenzierung zwischen den vier Grundqualitäten süß, salzig, sauer und bitter möglich ist. Geruchssinn
Der Geruchssinn wird vom olfaktorischen System erzeugt. Die Rezeptoren befinden sich in der olfaktorischen Region und bestehen aus einer Schleimhautfläche, die direkt unterhalb des Siebbeins (ein gelöcherter Knochen zwischen Nasenhöhle und Gehirn) liegt. Die Rezeptoren liegen in der Schleimhautfläche und sind durch Nervenfasern, die durch das Siebbein verlaufen, mit dem Riechkolben (bulbus olfactorius) verbunden. Die Wahrnehmung von Gerüchen über die Riechzellen
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Arbeitswissenschaft
wird ergänzt durch die Reizung freier Nervenenden in der Nasenschleimhaut und im Mundrachenraum. Diese reagieren insbesondere auf hochkonzentrierte Verbindungen, die die Empfindung „stechend – beißend“ (Salzsäure, Ammoniak, Chlor) im nasalen oder „brennendscharf“ (Piperidin, Capsaicin) im oralen Bereich auslösen. Der Mensch besitzt rund 10 Mio. Rezeptorzellen (zum Vergleich: ein Hund hat etwa 1000 Mio. Rezeptorzellen). Die vermeintlich geringe Empfindlichkeit des menschlichen Riechorgans ist also auf die geringe Anzahl von Rezeptoren zurückzuführen. Die Empfindlichkeit ist im Prinzip sehr groß, nach DE VRIES u. STUIVER (1961) reicht ein Molekül eines Riechstoffs aus, um einen Rezeptor zu erregen. Bei der Definition von Schwellwerten muss unterschieden werden zwischen der Wahrnehmungsschwelle, bei der eine unspezifische Geruchsempfindung ausgelöst wird, und der Erkennungsschwelle, bei der eine Identifizierung des Dufts erfolgen kann. Die Konzentration der Erkennungsschwelle ist etwa 10-mal höher als die der Wahrnehmungsschwelle. Besonders empfindlich ist der Geruchssinn für Stoffe, die die Lufthygiene beeinträchtigen, so z.B. für das nach Fäkalien riechende Skatol, für dessen Erkennung schon eine Konzentration von 107 Molekülen/cm3 ausreicht (BOENCK 1972). Die Schwellen sind von zahlreichen Faktoren abhängig, insbesondere der Lufttemperatur und -feuchtigkeit. Nach einer ausgiebigen Mahlzeit steigen die Schwellen an, bei Hungergefühl nehmen sie drastisch ab. Des Weiteren ist bei Rauchern sowie Menschen, die hormonellen Veränderungen unterliegen, bspw. Frauen während der Schwangerschaft, eine Verschlechterung des Riechvermögens festzustellen. Empfundene Gerüche lösen bisweilen genetisch bedingte, starke emotionale Reaktionen (Wohlbefinden/Ekel) aus, wobei vor allem Naturdüfte positiv und bspw. faules Fleisch negativ bewertet werden. Ebenfalls wirken sowohl Geschmacks- als auch Geruchsreize stark konditionierend. Als Beispiel dafür sei die Zunahme des Speichelflusses bei der Erkennung von Speisegerüchen angeführt. Wie oben angedeutet, ist die Wahrnehmungsstärke nicht nur von der Konzentration, sondern auch von der Art des Stoffs abhängig. Kohlenmonoxyd wird z.B. überhaupt nicht wahrgenommen. Methylmercaptan wird dagegen in einer Konzentration von 1:25.000.000.000 wahrgenommen und deshalb als Warnsignal dem Erdgas beigemischt. Auf ähnliche Weise wird Methylalkohol (Brennspiritus) ungenießbar gemacht. Olfaktorische Sensoren werden auf diese Weise also zur Informationseingabe genutzt.
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Geschmackssinn
Die Sensoren des Geschmackssinns sind in 30-70 μm hohen und 25-40 μm dicken Geschmacksknospen angeordnet. Jede der beim Menschen vorhandenen 30004000 Knospen enthält 10-50 Sinneszellen. Die Sinneszellen liegen in einem kleinen Trichter, der mit einer von Spüldrüsen produzierten Flüssigkeit gefüllt ist. Die Geschmacksknospen wiederum liegen in den Gräben und Wänden der Geschmackspapillen. Bei diesen unterscheidet man zwischen den Pilzpapillen, die in einer Anzahl von 200-400 über die ganze Zungenoberfläche verteilt sind, den Blätterpapillen (15-40), die am hinteren Seitenrand der Zunge liegen, und den größeren Wallpapillen, die in einer geringen Zahl (7-12) an der Grenze zum Zungengrund aufzufinden sind. Die Geschmacksqualitäten lassen sich entgegen der weitverbreiteten Ansicht spezifischen Empfindungszonen auf der Zunge nicht zuordnen: Die gesamte Zungenfläche ist durch alle vier Geschmacksqualitäten reizbar. Jedoch kann, wie in Abb. 3.84 dargestellt, den einzelnen Zungenbereichen eine Geschmacksqualität zugeordnet werden, die dort wahrscheinlich bevorzugt wahrgenommen wird. Ausgenommen davon ist der hintere Zungenbereich, der vornehmlich auf Bitterstoffe reagiert. Diese bevorzugte Wahrnehmbarkeit einer bestimmten Geschmacksqualität wird durch die unvollkommene oder relative Spezifität der einen Zungenbereich innervierenden afferenten Nervenfaser erreicht. Dadurch entstehen in den afferenten Nervenfasern für den gleichen Reizstoff unterschiedliche Erregungsmuster. Eine abgestufte Spezifizierung der afferenten Nervenfasern auf die einzelnen Qualitäten ist somit vorhanden. Für einzelne Geschmacksstoffe sind demnach spezifische Erregungsmuster oder Geschmacksprofile feststellbar. Die eigentliche Geschmacksempfindung kommt erst durch die Auswertung der Erregungsmuster aller beteiligten afferenten Nervenfasern im zentralen Nervensystem zustande. Durch bestimmte chemische Verbindungen werden jeweils bevorzugt folgende Empfindungen ausgelöst: Natürlich vorkommender Zucker löst „süß“Empfindungen aus, Kochsalz (NaCl) schmeckt salzig. Andere Salze, z.B. KCl, lösen sowohl salzige als auch bittere Empfindungen aus. Salz- und Zitronensäure führen zur Empfindung „sauer“. Reine „bittere“ Empfindungen werden durch Chinin und andere pflanzliche Alkaloide hervorgerufen. Da im täglichen Leben nicht nur diese bevorzugten Reizstoffe aufgenommen werden, lösen andere natürliche Geschmacksreize Mischempfindungen aus, bspw. schmeckt Orange süß und sauer und Pampelmuse sauer, süß und bitter.
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Arbeitswissenschaft
bitter
sauer
salzig
süß
Abb. 3.84: Bevorzugte Lokalisation der Geschmacksqualitäten auf der Zunge aus BECKER-CARUS (2004)
Die geschmackliche Wirkung eines Stoffs kann dennoch nicht festgelegt werden, da die Empfindungsqualität in hohem Maße von der Stoffkonzentration abhängt. Bei steigender Konzentration wird Kochsalz zunächst als „süß“ (bei 0,02 0,03 Mol/l) und erst später als „salzig“ (ab 0,04 Mol/l) empfunden. Im Gegensatz dazu werden bittere Stoffqualitäten schon bei niedrigeren Konzentrationen als solche wahrgenommen und lösen dann Reflexe aus, die die Nahrungsaufnahme verhindern. Der Grund hierfür ist die Erfahrung, daß diese Stoffe oft giftig sind. Wie bereits erwähnt, ist die Erregungsschwelle für bittere Geschmacksstoffe sehr niedrig; sie beträgt für Chininsulfat etwa 6 mg/l. Süße Stoffe führen ab 5,5 mg/l zu einer Erregung, wie z.B. der synthetische Süßstoff Saccharin. Natürlicher Zucker hingegen wirkt erst bei Konzentrationen ab 3,42 g/l (Rohrzucker) bzw. 14,41 g/l (Traubenzucker) stimulierend. Im ähnlichen Bereich liegen die Schwellen für saure (Essigsäure: 0,108 g/l) und salzige (Kochsalz: 0,585 g/l) Geschmacksstoffe. Es ist zu beachten, dass große interindividuelle Unterschiede bei den Erregungsschwellen vorhanden sind. Die Empfindungsstärke ist abhängig von der Stoffkonzentration, der Reizfläche und der Reizdauer, so dass verdünnte Stofflösungen unter Umständen noch empfunden werden können, wenn die Lösung längere Zeit die Zunge umspült. Allerdings tritt bei langandauernden Reizen eine Adaption an den Reiz ein, die sowohl neuronal als auch dadurch begründet ist, dass die Sinneszellen, wie oben erwähnt, mit Flüssigkeit umspült werden, was zur Verringerung der Stoffkonzentration führt. Auch die Temperatur der Stofflösung hat einen Einfluss auf die Schmeckempfindung. 3.3.2.1.3 Gestaltprinzipien der Wahrnehmung Die Wahrnehmung ist kein passiver Vorgang, bei dem ausschließlich der Stimulus bestimmt, was wahrgenommen wird. In vielen Fällen erfolgt die Wahrnehmung zwar mühelos und selbstverständlich, aber anhand von Abb. 3.85 wird verständlich, dass ständig Hypothesen über das gebildet und überprüft werden, was gesehen wird.
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Abb. 3.85: Der Necker-Würfel. Hier konkurrieren die Hypothesen, ob die schattierte Fläche vorne oder hinten ist.
Eine Gruppe von Psychologen, die sich um 1912 um Max Wertheimer bildete, fing an, die perzeptuelle Organisation systematisch zu untersuchen. Diese Richtung wurde bekannt unter dem Namen Gestaltpsychologie. Die Gestaltpsychologie verwarf die Idee, dass Wahrnehmungen nur aus den Sinneseindrücken entstehen. Anstelle dessen wuchs die Überzeugung, dass das Wahrgenommene aus mehr als nur der Summe der Sinnesreize aufgebaut wird (sog. Emergenz) und sich in Form von sog. Gestaltprinzipien charakterisieren lässt. Obwohl natürlich auch zentrale Prozesse hierbei eine wichtige Rolle spielen, sollen die Gestaltprinzipien bereits an dieser Stelle kurz erläutert werden und nicht erst im Kap. 3.3.2.2. Eines von Wertheimers Beispielen für die Emergenz-Hypothese ist wie folgt: Wenn zwei Lichter in den Positionen A und B kurz aufleuchten und danach zwei Lichter in den Positionen a und b aufleuchten, so entsteht der Eindruck, dass A sich in Richtung a, B sich in Richtung b bewegt hat (und nicht etwa A in Richtung b und B in Richtung a). Dieser Eindruck wird gewonnen, solange die Intervallzeit nicht zu klein und nicht zu groß ist (60 - 200 ms). Das zentrale Prinzip in der Gestaltpsychologie ist das der Prägnanz. Es besagt, dass jedes Reizmuster so wahrgenommen wird, dass das Ergebnis eine Struktur ist, die so einfach wie möglich aufgebaut ist. Dieses „Einfachheitsgesetz“ führt dazu, dass man in Abb. 3.86a ein Achteck und ein Dreieck wahrnimmt, im Gegensatz zu einer komplizierten 11-seitigen Figur. a)
c)
b)
d) C
A
B
D
Abb. 3.86: Vier Gestaltgesetze: a) Einfachheitsgesetz, b) Prinzip der Ähnlichkeit, c) Gesetz der Nähe, d) Prinzip der guten Fortsetzung
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Arbeitswissenschaft
Ein weiteres Prinzip ist das der Ähnlichkeit. Ähnliche Objekte scheinen eine Gruppe zu bilden, wie in in Abb. 3.86 b leicht ersehen kann. Das Gesetz der Nähe besagt, dass nahe beieinander liegende Reize bevorzugt als zusammengehörig gesehen werden. Die nah beieinander liegenden senkrechten Striche aus Abb. 3.86c werden demnach je als zusammenhängende Figur wahrgenommen. Das nächste Prinzip ist das der guten Fortsetzung. Punkte, die auf einer sanft gebogenen Linie liegen, werden so wahrgenommen, als würden sie zusammengehören. Ein Beispiel ist in Abb. 3.86d dargestellt. Die Punktereihe die bei A anfängt, fließt nach B und nicht mit einer abrupten Wendung nach C oder D. Ein ergänzendes Gestaltprinzip der Wahrnehmung ist das der gemeinsamen Bestimmung (common fate). Unterschiedliche Frequenzkomponenten einer natürlichen Schallquelle variieren in der Regel auf sehr kohärente Weise. Sie beginnen und enden gleichzeitig und verändern die Frequenz und Intensität gleichzeitig und in derselben Richtung. Dadurch fällt es uns einfach, die Zugehörigkeit einzelner Frequenzkomponenten zu bestimmen. Ein Abschluß (closure) tritt auf, wenn ein Signal für kurze Zeit unterbrochen wird. Ein kurzes Husten kann vorübergehend ein Gesprächssignal vollkommen überlagern. Das auditive System ist in der Lage, das Gesprächssignal zu „ergänzen“, so, als wurde es nicht unterbrochen. Das Gesetz der Vertrautheit (bzw. der Bedeutungshaltigkeit) postuliert, dass Dinge dann am ehesten eine Gruppe zu bilden scheinen, wenn die Gruppe vertraut oder bedeutsam erscheint. Die Gestaltprinzipien erscheinen intuitiv sehr wirksam. Obwohl sie nicht theoretisch begründet sind und nicht zur Erklärung der Wahrnehmungsphänomene herangezogen werden können, können sie sehr wohl als Grundlage für die Gestaltung von Mensch-Maschine-Systemen dienen, bspw. zum Entwurf von Anzeigen in Cockpits. 3.3.2.1.4 Vigilanz Vor dem Zweiten Weltkrieg beschäftigten sich nur einige Untersuchungen in unsystematischer Weise mit den Problemen der anhaltenden Aufmerksamkeit oder Vigilanz (engl. „sustained attention“ oder „vigilance“). Dabei handelt es sich hauptsächlich um Untersuchungen in der Qualitätssicherung. Während des Zweiten Weltkriegs wurden viele Untersuchungen zum menschlichen Leistungsvermögen durchgeführt, als sich herausstellte, dass Personen bei lang andauernder Durchführung von Radarüberwachungsaufgaben einen ernsthaften Leistungsabfall zeigten. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde begonnen, systematisch die Vigilanz zu erforschen. MACKWORTH (1950) hat als Erster die Implikationen systematisch beschrieben. In einem Experiment mit einer visuellen Entscheidungsaufgabe wurde gezeigt, dass der Vigilanzverlust in der ersten halben Stunde am größten ist. Er wiederholte diese Untersuchung mit auditivem Stimulus-Material, und das gleiche Phänomen trat auf. Dieses Phänomen der degressiven Abnahme der Leistung wird „vigilance decrement“, also Vigilanzabfall genannt. In Mackworth's Untersuchung (Abb. 3.87) wurde festgestellt, dass sich der Leistungsabfall bereits ab dem ersten
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357
mittlere Häufigkeit übersehener Signale in %
Signal zeigt. Seitdem wurde untersucht, welche Faktoren das absolute Vigilanzniveau beeinflussen. Kritische Faktoren bei jedem Vigilanzexperiment sind die Gesamtdauer der Aufgabe, die Anzahl der Ereignisse pro Zeiteinheit, die relative Anzahl kritischer Ereignisse und die Merkmale des Signals. Die meisten Vigilanzstudien scheinen wenig von einer Person zu verlangen: Es wird auf das Auftreten eines Signals gewartet und auf einen Knopf gedrückt, um dieses zu bestätigen. Wichtig bei diesen Aufgaben ist die Qualität der erbrachten Aufmerksamkeit, die zu einem beträchtlichen Maß von den StimulusEigenschaften abhängt. DEMBER u. WARM (1979) unterscheiden die StimulusFaktoren in Faktoren ersten und zweiten Grads. fehlerfreie Ausführung
0 5 10 15
.
c1
20
. . .
25
c2
30
c3
c4
35
30
60
90 120 Arbeitszeit in min
Abb. 3.87: Vigilanzabnahmefunktion: Der Vigilanzverlust ist in der ersten halben Stunde am größten. Die Versuchsperson bekommt eine Uhr ohne Markierungen zu sehen und soll den Zeiger beobachten. Jede Sekunde bewegt sich die Spitze des Zeigers um 0,3 Zoll. Ab und zu springt der Zeiger jedoch um das Doppelte, also um 0,6 Zoll. Dies ist das „kritische“ Ereignis, auf das die Versuchsperson mit einem Knopfdruck zu reagieren hat (nach MACKWORTH 1950).
Faktoren ersten Grades
Ein Grundbestandteil aller Vigilanzaufgaben ist die Transformation von Umgebungsstimuli in nervliche Ereignisse. Bevor ein Signal entdeckt werden kann, müssen Intensitätsschwankungen der zu beobachtenden Stimulusquelle in nervliche Ereignisse umgewandelt werden. Die Sinne haben je nach Modalität bekanntermaßen unterschiedliche Eigenschaften, so dass die Stimulusmodalität für die Vigilanzleistung bestimmend sein kann. In der Vigilanzforschung sind akustische, visuelle und taktile Stimuli untersucht worden. Die Dekrementfunktion für visuelle und taktile Stimuli ist i.Allg. steiler als für auditive Stimuli (COLQUHOUN 1975; CRAIG et al. 1976). Es hat sich herausgestellt, dass die Korrelation zwischen visu-
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ellen und auditiven Aufgaben nur rund 0,30 beträgt (d.h. die Leistung einer visuellen Vigilanzaufgabe sagt nur zu etwa 9% voraus, wie die Leistung bei einer auditiven Aufgabe sein wird, und umgekehrt). Berücksichtigt man die Körperhaltung der Versuchsperson, so wirkt sie sich bei auditiven Aufgaben nicht auf die Wahrnehmbarkeit der Stimuli aus. Bei visuellen Aufgaben ist die Wahrnehmbarkeit hingegen richtungsabhängig (HATFIELD u. LOEB 1968). Entsprechende Experimente ergaben Korrelationen zwischen r = 0,65 und r = 0,76. Obwohl es wahrscheinlich modalitätsspezifische Unterschiede gibt, gibt es einen gemeinsamen Faktor, der die sensorischen Modalitäten überlagert. Diese Hypothese wird dadurch gestützt, dass sich Vigilanzerfahrung in einer Modalität auf andere Modalitäten (GUNN u. LOEB 1967) überträgt. I.Allg. findet man in der Wahrnehmungsforschung, dass die Wahrnehmbarkeit des Stimulusmaterials in einem positiven Verhältnis zur Amplitude und Dauer des Signals steht. Geschwindigkeit und Genauigkeit, mit der reagiert wird, nehmen mit dem Signal-Rauschverhältnis der kritischen Signale zu. Beispiel dafür ist eine Studie von LOEB u. BINFORD (1963) (Abb. 3.88). Dieser Tatbestand kann theoretisch erklärt werden, weil eine Steigerung der Signalintensität Faktoren wie Arousal und Habituation kompensieren kann. Diese beiden Faktoren gelten als „Kandidaten“ für die Ursachen des Vigilanzverlusts. Von praktischer Relevanz ist er dadurch, dass man mit Hilfe von künstlichen Signalen die Leistung des Menschen verbessern kann. Zusätzlich wurde von CORCORAN et al. (1977) gefunden, dass dieses Phänomen der Vigilanzsteigerung sich auch dann ergibt, wenn nicht nur die kritischen (akustischen) Signale in der Amplitude verstärkt werden, sondern auch, wenn zusätzlich nichtkritische Signale verstärkt werden.
Mittlere Anzahl überhörter Signale
5
2,1 dB
4 3 2
3,6 dB
1 0
5,1 dB 1
2
3
4
5
20-Minuten Blöcke Abb. 3.88: Effekt der kritischen Signalintensität auf die Entdeckung von Zunahme des Schalldruckpegels bei einer auditiven Vigilanzaufgabe nach LOEB u. BINFORD (1963).
Arbeitsformen
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Die Hintergrundereignisse spielen eine wichtige Rolle bei Vigilanzaufgaben. Zwar wird vom Beobachter nicht verlangt, dass er auf nichtkritische Stimuli reagiert, aber sie lassen ihn keineswegs unberührt. JERISON (1963) (siehe Abb. 3.89) führte dazu ein Experiment durch, bei dem sowohl die Anzahl kritischer als auch nichtkritischer Ereignisse variiert wurde. Eine höhere Ereignishäufigkeit führt zu weniger Entdeckungen, unabhängig davon, ob es kritische oder nichtkritische Ereignisse sind.
Prozent Entdeckungen
100 80
5 pro Minute
60 40 20
30 pro Minute
0 0
60 40 20 Zeit (in Minuten)
80
Abb. 3.89: Ereignishäufigkeit und Vigilanzleistung: Eine höhere Ereignishäufigkeit sowohl kritischer als nichtkritischer Ereignisse führt zu weniger Entdeckungen nach JERISON (1963).
Faktoren zweiten Grades
Bisher wurden Faktoren besprochen, die sich auf Stimuli bezogen, die zeitlich und örtlich gewissermaßen bekannt waren. Oft ist aber a priori nur recht wenig bekannt über das Auftreten eines „kritischen“ Signals. Die zeitliche Unsicherheit resultiert u.a. aus Variationen der Rate kritischer Signale. Je häufiger ein Signal innerhalb eines begrenzten Zeitraums auftritt, desto größer ist die antizipierte Auftretenswahrscheinlichkeit und desto geringer ist die Unsicherheit des Beobachters (siehe Abb. 3.90). Die Wahrscheinlichkeit der Signalentdeckung nimmt entsprechend zu. Die räumliche Unsicherheit ist von der Ereignisrate zu unterscheiden. Es handelt sich hierbei um die Stimulusdichte im Raum, die unabhängig von der Hintergrundereignisrate einen Einfluss ausübt.
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Prozent Entdeckungen
90
A
80
B
C
70 60 50
D
40 30 20
10
100 500 Anzahl der Signale pro Stunde
Abb. 3.90: Prozentsatz entdeckter Signale als Funktion der logarithmierten kritischen Ereignisrate für vier verschiedene Experimente (verschiedene Aufgaben, zeitliche Variabilität in jedem Experiment zufällig gewählt) nach WARM (1984)
Auf einem Radarschirm zur Führung eines Schiffs gibt es z.B. Quadranten, in denen die Stimulus-Wahrscheinlichkeit größer ist als in anderen Quadranten. Es wurde festgestellt, dass in dem Quadranten, wo die kritischen Signale am häufigsten auftreten, die Entdeckungswahrscheinlichkeit auch am größten ist. Die Leistung bei Vigilanzaufgaben wird üblicherweise auf der Basis der Anzahl richtiger Signalentdeckungen innerhalb einer bestimmten Periode geschätzt. Verschiedene andere Leistungsmaße wie die False-Alarm-Rate und Reaktionszeiten werden auch angewandt. Aus der Perspektive der Entscheidungstheorie bietet die Entdeckungsrate jedoch kein eindeutiges Maß der Sensitivität, weil es zwischen „Entdeckbarkeit“ des Signals und dem vom Beobachter eingehaltenen Kriterium nicht differenziert. Bspw. kann ein Beobachter, der überhaupt nicht in der Lage ist, Signale von Rauschen zu unterscheiden, dennoch eine extrem hohe Entdeckungsrate erzielen, indem er ständig positive Responses abgibt. Auf der anderen Seite kann ein kompetenter Beobachter eine viel niedrigere Entdeckungsrate haben und auch weniger falsche Alarme erzeugen, weil er vorsichtiger reagiert. Es ist daher notwendig, sowohl die Entdeckungsrate als auch die False-Alarm-Rate zu berücksichtigen. 3.3.2.2
Erkennen,ĆEntscheidenĆundĆGedächtnisĆ(zentraleĆProzesse)Ć
Die zentralen Prozesse der menschlichen Informationsverarbeitung umfassen das Erkennen wahrgenommener Reize, das Erfassen und Vorhersagen der Eigen- und Umweltsituation durch die Assoziation und Verschmelzung erkannter Reize sowie die Auswahl ggf. erforderlicher Handlungen. Wie man sich den Ablauf des Erkennens prinzipiell vorstellen kann, wurde bereits in Kapitel 3.3.1.1 anhand der Phänomenologisch-empirischen Modelle menschlicher Informationsverarbeitung ausführlich beschrieben und soll hier nur hinsichtlich des daten- und konzeptgesteuerten Erkennens ergänzt werden. Darüber hinaus wird auf die
Arbeitsformen
361
Hypothesenbildung und Handlungsauswahl eingegangen. Natürlich benötigen Erkennungs- und Entscheidungsprozesse auch den Zugriff auf das Gedächtnis, dessen Struktur und Funktion nach Hypothesenbildung und Handlungsauswahl analysiert werden sollen. Zusätzlich werden mentale Modelle und das damit verbundene sog. Situationsbewußtsein behandelt sowie neuere Ansätze zu sog. externalisierten Repräsentationen erläutert, die für die ingenieurmäßige Auslegung und Bewertung von Arbeitssystemen wichtig sind. Schließlich sollen Phänomene der Unter- und Überforderung analysiert werden. 3.3.2.2.1 Daten- und konzeptgesteuertes Erkennen Die in Kapitel 3.3.1.1.1 eingeführten Stufen- und Regulationsebenenmodelle lassen sich auch als datengesteuert bezeichnen. Das heißt, dass ein Prozess durch ankommende Stimuli quasi automatisch in Gang gesetzt wird. In einem datengesteuerten System erfolgt keine Reaktion des Menschen, wenn nicht am Anfang Eingangsdaten vorliegen. Sind Daten eingegeben, verlaufen die Folgeoperationen quasi mechanistisch, bis schließlich eine Antwort erzeugt wird. Bei vielen Entdeckungsleistungen wird ein datengesteuertes System jedoch nicht funktionieren. Um bestimmte Objekte erkennen zu können, sind natürlich Vor- und Zusatzinformationen nötig, die im visuellen Abbild selbst nicht immer gegeben sind. Wenn Vorwissen oder ein Konzept von der möglichen Interpretation eines Gegenstands dabei hilft, ihn zu erkennen, spricht man von einem konzeptuell gesteuerten Prozess. Datengesteuerte und konzeptuell gesteuerte Prozesse sind miteinander eng verschränkt, so dass eine Organisation, Strukturierung und Abstraktion der Information entsteht. Viele optische Täuschungen basieren auf einer Mehrdeutigkeit der dargebotenen Bilder. Alle sensorischen Informationen werden dazu benutzt, eine in sich stimmige Interpretation der sichtbaren Welt zu konstruieren und möglichst genaue Vorhersagen über die zukünftige Entwicklung machen zu können. Mit anderen Worten extrahiert das sensorische System die sog. prädiktive Information aus den Informationsquellen im Arbeitssystem (siehe BIALEK et al. 2001). Während manche Erkennungsprozesse scheinbar ohne Mühe ablaufen, gibt es andere, die mit Anstrengung verbunden sind. Prozesse, die „keine Mühe kosten“, werden automatische Prozesse genannt (siehe Kapitel 3.3.1.1.2.2). Solche Prozesse haben die Eigenschaft, nur geringfügige Aufmerksamkeit zu erfordern und recht gut parallel mit anderen Prozessen ablaufen zu können. Demgegenüber stehen die „kontrollierten“ Prozesse. Diese bedingen ein nicht zu vernachlässigendes Niveau der Aufmerksamkeit und verlaufen unter Anstrengung eher seriell, d.h. es kann jeweils nur eine kontrollierte Verarbeitung der Information gleichzeitig ablaufen. Unter Umständen kann es passieren, dass automatische und kontrollierte Prozesse miteinander in Konflikt geraten. Wenn das Ergebnis der automatischen Verarbeitung entgegengesetzt zu dem der kontrollierten Verarbeitung ist, kommt es zu einem sog. Response-Konflikt. Offensichtlich ist der Mensch nicht in der Lage, parallel ablaufende, automatische Prozesse so zu unterdrücken, dass unerwünschte oder irrelevante Information von vollständiger Verarbeitung ausge-
362
Arbeitswissenschaft
schlossen bleibt. Dieses Phänomen wird „focused attention deficit“ genannt und in Kapitel 3.3.2.2.6 eingehend behandelt. Solche Prozesse werden offenbar durch Ereignisse in Gang gesetzt (datengesteuert) und laufen hochgradig automatisiert ab. So ist es bspw. fast unmöglich, die Aufmerksamkeit vollends auf einen von zwei visuellen Stimuli zu fokussieren, wenn sie nicht mehr als 1 Grad Sehwinkel voneinander entfernt sind (BROADBENT 1982). 3.3.2.2.2 Hypothesenbildung und Handlungsauswahl Aufbauend auf den Erkenntnisprozessen müssen in Arbeitssystemen häufig Entscheidungen unter Unsicherheit getroffen werden. Dabei ist oft sowohl der Nutzen oder Schaden eines Ereignisses abzuschätzen als auch die Wahrscheinlichkeit des Eintretens. Bei den Wahrscheinlichkeitsfaktoren ist oft die wahrgenommene Wahrscheinlichkeit eine andere als die objektive. Aufgrund der begrenzten Kapazität des Menschen bei der Aufnahme, Verarbeitung und Speicherung von Information sollte man auf eine Reduktion der Komplexität in unsicheren Entscheidungssituationen abzielen. Diese Komplexitätsreduktion kann durch Entscheidungsmodelle herbeigeführt werden. An dieser Stelle sollen lediglich zwei Klassen von Entscheidungsmodellen behandelt werden, nämlich normative und deskriptive Modelle. 3.3.2.2.2.1
Normative Modelle
Normative Modelle beruhen auf strengen Rationalitätsannahmen wie Nutzenmaximierung, Entscheidbarkeit zwischen Alternativen, Transitivität der Präferenzordnung und Irrelevanz identischer Konsequenzen (siehe EISENFÜHR u. WEBER 2007). Die Intention der normativen Modelle ist es, vorzugeben, wie Entscheidungen getroffen werden sollen. Das gebräuchlichste quantitative Modell ist das Expected-Utility-Modell, das auf den großen Mathematiker BERNOULLI (1738) zurückgeht. Die Grundzüge sind schnell erklärt (MACKAY 2003): Die „Welt“ befindet sich in einem Zustand x, der durch Handlungen des Menschen beeinflusst werden kann. Hierfür steht ein Repertoire von a unterschiedlichen Handlungen zur Verfügung. Das „unsichere“ Eintreten eines Zustands lässt sich durch eine bedingte Wahrscheinlichkeitsverteilung P(x | a) beschreiben. Weiterhin gibt es eine deterministische Nutzenfunktion U(x, a), die angibt, welchen Nutzen man aus einer Entscheidung a bei einem Zustand x ziehen kann. Gesucht ist die Handlung, die den erwarteten Nutzen E[U | a] maximiert. Der Erwartungswert lässt sich in allg. Form für eine K-dimensionale Zustandsvariable x wie folgt schreiben: E >U _ a @
³ U (x, a) P(x _ a)d
K
x
(3.22)
Anstelle der etwas unhandlichen Integralgleichung (3.22) können Nutzen und Auftretenswahrscheinlichkeiten wesentlich leichter verständlich in einer Entscheidungsmatrix dargestellt werden (Tabelle 3.15). Beispiel: Ist ein vorausfahrendes Fahrzeug wesentlich langsamer als das dahinter fahrende, überlegt der Fahrer des hinteren Fahrzeugs womöglich, ob er überholen soll. Dem Nutzen des schnelleren Fortkommens steht jedoch der Schaden eines möglichen Zusammenstoßes gegen-
Arbeitsformen
363
über. Es wird vereinfachend angenommen, dass das Schadensausmaß dem negativen Nutzen entspricht. Für zwei mögliche Fälle – der Fahrer hat es eilig oder nicht – können in Abhängigkeit der Schätzung des Fahrers bzgl. des Zustands seiner Umwelt (geringer oder dichter Verkehr, mit oder ohne Gegenverkehr) der Nutzwert bzw. Schadenswert der Varianten „Überholen“ und „Nicht überholen“ ermittelt werden. Der Autofahrer selbst jedoch wird kaum eine solche Matrix berechnen, obwohl dies gerade bei Entscheidungen, die nicht unter Zeitdruck getroffen werden müssen, eine brauchbare Strategie ist. Tabelle 3.15: Entscheidungsmatrix für das Überholen in Abhängigkeit von der Eile des Kraftfahrers und seiner Schätzung der Verkehrsdichte (nach SCHMIDTKE 1993).
Fahrer Fahrer
hat es nicht eilig
hat es eilig
Schätzwerte Handlungs-
persönl.
option
Nutzen
überholen
0,8
nicht überholen
0,2
überholen
0,8
nicht überholen
0,2
überholen
0,3
nicht überholen
0,7
überholen
0,3
nicht überholen
0,7
Zustände der Welt Verkehrs-
kein Gegen- Gegen-
dichte
verkehr
niedrig
hoch
niedrig
hoch
Saldo Entscheidung
verkehr
p=0,7
p=0,3
0,56
-0,24
0,32
0,14
0,06
0,20
p=0,6
p=0,4
0,48
-0,32
0,16
0,12
0,08
0,20
p=0,7
p=0,3
0,21
-0,09
0,12 0,70
0,49
0,21
p=0,6
p=0,4
0,18
-0,12
0,06
0,42
0,28
0,70
überholen
nicht überholen
nicht überholen
nicht überholen
Nachteilig am Expected-Utility-Modell ist, dass es keine Aussage über die durchzuführenden Schritte bei der Entscheidungsfindung trifft. Ein eher prozessorientiertes Entscheidungsmodell ist das sog. Entscheidungsleiter-Modell von RASMUSSEN et al. (1994) (siehe Abb. 3.91). Es ist jedoch rein qualitativ formuliert und wird deshalb häufig in frühen Entwicklungsphasen zur Festlegung der Funktionsteilung von Mensch und Maschine im Entscheidungszyklus verwendet sowie zur Konzeption von Entscheidungsunterstützungssystemen. Das Entscheidungsleiter-Modell ergänzt das bereits aus Kapitel. 3.3.1.1.1.3 bekannte DreiEbenenmodell. Eine hierarchisch geordnete „Entscheidungsleiter“ stellt dabei Zustände von Wissen über die Umgebung, über Handlungsbedarf, Ziele und Pläne als Resultat von Aktivitäten zur Informationsverarbeitung dar, womit der Entscheidungsprozess im Sinne eines Stufenmodells in diskrete Schritte unterteilt wird. Der linke „Leiterholm“ beschreibt die Situationsanalyse, der rechte die Handlungsplanung. Jede Aktivität auf dem Weg von unten zur wertenden Beurteilung am oberen Ende führt zu einem kognitiven Zustand mit höherem Informati-
364
Arbeitswissenschaft
onsgehalt. Dieses Modell liefert ein skizzenartiges Grundgerüst eines einzelnen Entscheidungsprozesses, das allgemeingültig und flexibel anwendbar ist. Wissensniveaus können auch übersprungen werden, der Entscheidungsprozess kann auf höheren Ebenen beginnen oder enden, muss also nicht die gesamte Hierarchie der Wissenszustände durchlaufen, und die Sequenzen können auch in umgekehrter Richtung durchquert werden. Die im Modell aufgeführten Entscheidungsschritte lassen sich insbesondere im Anwendungskontext der Prozessführung und -überwachung – bspw. bei verfahrens- oder kerntechnischen Anlagen – wiederfinden. Die Auslösung eines Handlungsbedarfs mit Hilfe von Alarmen und die Beobachtung von Daten und Informationen aus zahlreichen Quellen sind dabei typische Teilaufgaben. Hinzu kommt die zentrale Bedeutung der Identifikation des Prozesszustands als Grundlage einer Entscheidung über nötige Maßnahmen. Wesentlich von der persönlichen Erfahrung und Übung hängt es ab, ob man in Standardsituationen schnell mit regelbasierten Antworten reagieren kann oder mit abstrakterem logischen Denken unter Einbezug fundamentalen Wissens nach einer Lösung suchen muss. Bei der Vielzahl von Aufgaben bei der Prozessführung ist außerdem eine sorgfältige Planung der Handlungen nötig. Anhand des Entscheidungsleiter-Modells können so aufgabengerechte Konsequenzen für die ergonomische Gestaltung der MenschMaschine-Schnittstellen abgeleitet werden, wie z.B. in SCHMIDT u. LUCZAK (2006a) im Detail dargestellt wird. Welches Gesamtziel ist zu wählen? Mehrdeutigkeit
Evaluieren Ultimatives Ziel
Wie ist die Wirkung Wie ist der Zielzustand auf das Gesamtsystem? Interpretieren der Anlage charakterisiert? Zielzustand
Welche Ursachen Identifizieren sind möglich? Menge von Beobachtungen Welche Störung Beobachten liegt vor? Alarm
Definiere Aufgabe
Welche Bedingungen sind zu ändern?
Aufgabe
ng Planu
Analy se
Systemzustand
Wie ist bei der Formuliere Prozedur Behebung vorzugehen? Prozedur
Aktivierung
AktionsWie ist die Prozedur ausführung auszuführen?
Abb. 3.91: Entscheidungsleiter-Modell nach RASMUSSEN et al. (1994)
3.3.2.2.2.2
Deskriptive Modelle
Normative Modelle sind zu einer Beschreibung der menschlichen Entscheidungsprozesse in realen Entscheidungssituationen nur begrenzt geeignet, da sie die kognitiven Beschränkungen nicht berücksichtigen. Deskriptive Modelle stellen
Arbeitsformen
365
hingegen die Frage, wie Entscheidungen tatsächlich entstehen und sind daher in der Regel auch empirisch begründet. Ein häufig verwendetes deskriptives Modell ist das der „merkmalsvergleichenden Entscheidungen“ (Recognition Primed Decision Making) von KLEIN (1997), das als Alternative zur rationalen Entscheidungstheorie entwickelt wurde und auf komplexe Realsituationen abzielt. Es differenziert drei Ebenen, die in Abb. 3.92 dargestellt sind. In verschiedenen empirischen Untersuchungen, z.B. bei Brandeinsätzen oder der neonatalen Intensivpflege, wurde belegt, dass der Anteil merkmalsvergleichender Entscheidungen gegenüber normativ-rationalen einen Anteil von 42% - 80% einnimmt (KLEIN 1989). 1. Ebene:
2. Ebene:
3. Ebene:
Einfache Zuordnung
Situationsdiagnose
Handlungsschritte evaluieren
Situationserfahrung im dynamischen Kontext
Situationserfahrung im dynamischen Kontext
Situationserfahrung im dynamischen Kontext
Mehr Informationen
Nein
Als typisch empfunden (Analogie, prototypisch)
Diagnose: Ereignisse – Faktoren
Ist Situation typisch? (Analogie, prototypisch)
Als typisch empfunden (Analogie, prototypisch)
SchlussJa
Klären
folgern
Erkennen hat vier Aspekte Erwartungen
Erkennen hat vier Aspekte Erwartungen
Relevante
Ziele
Handlungen
Anomalie
Typische
Erkennen hat vier Aspekte Erwartungen
Relevante
Zeichen
Zeichen Plausible
Relevante
Zeichen
Plausible
Typische
Plausible
Typische
Ziele
Handlungen
Ziele
Handlungen
Evaluiere Handlungen
Ja, aber Modifizieren
Praktikabel? Nein Ja
Implementierte Handlungsfolgen
Implementierte Handlungsfolgen
Implementierte Handlungsfolgen
Abb. 3.92: Drei Ebenen des Modells merkmalsvergleichender Entscheidungen nach KLEIN (1997)
3.3.2.2.2.3
Subjektive Wahrscheinlichkeit
In die zuvor eingeführte Entscheidungsmatrix sind bereits subjektive Wahrscheinlichkeiten, z.B. über die Schätzung der Verkehrsdichte, eingeflossen. Bei der subjektiven Bewertung der Plausibilität von Ereignissen zeigt der Mensch häufig bestimmte Tendenzen, die einer „objektiven“ bzw. wahrscheinlichkeitstheoretisch richtigen Entscheidung im Wege stehen. Menschen erwarten bspw., dass sich die Welt repräsentativ verhält: Zum Beispiel erscheint bei einer Familie mit drei Jungen und drei Mädchen eine Reihenfolge von M-J-J-M-J-M als wahrscheinlicher gegenüber einer Folge von J-J-J-M-M-M. Je besser ein Mensch sich an etwas erinnert, desto wahrscheinlicher erscheint es ihm. Zum Beispiel erscheint es wahrscheinlicher, dass ein englisches Wort mit
366
Arbeitswissenschaft
„k“ beginnt, als dass es ein „k“ als dritten Buchstaben besitzt. Das letztere ist aber rund dreimal so oft der Fall. Menschen ordnen Wörter aber üblicherweise nach dem ersten und nicht nach dem dritten Buchstaben. Die subjektive Wahrscheinlichkeit richtet sich also nach der Repräsentativität des einzuschätzenden Phänomens und der Verfügbarkeit im Gedächtnis. Daraus lassen sich drei Regeln ableiten (LINDSAY u. NORMAN 1981): (1) Personen neigen dazu, das Auftreten von wenig wahrscheinlichen Ereignissen überzubewerten und das Auftreten von hoch wahrscheinlichen Ereignissen zu unterschätzen. (2) Personen neigen dazu, der Täuschung eines „Spielers“ zu erliegen und zu behaupten, dass ein seit langer Zeit nicht mehr aufgetretenes Ereignis in naher Zukunft sehr wahrscheinlich auftritt. (3) Personen neigen dazu, die Wahrscheinlichkeit von Ereignissen, die für sie günstig sind, überzubewerten und jene, die ungünstig sind, zu unterschätzen. Diese Neigungen treten insbesondere in Situationen hoher Belastung zutage. 3.3.2.2.3 Gedächtnis Das menschliche Gedächtnis weist bemerkenswerte Stärken und Schwächen auf. Auf der einen Seite ist das Gedächtnis ein sehr umfangreicher Speicher für Wortbedeutungen, allg. Kenntnisse, Fakten und Bilder. Andererseits sind gelegentliche Beschränkungen oft so schwerwiegend, dass sie sowohl im engeren Sinne der menschlichen Informationsverarbeitung als auch im weiteren Sinne der MenschMaschine-Interaktion den wichtigsten Engpass darstellen. So werden Nummern vergessen, falsche Bedienprozeduren ausgeführt oder Prozeduren in falscher Reihenfolge ausgeführt. 3.3.2.2.3.1
Struktur des Gedächtnisses
In Gedächtnismodellen wird oft zwischen primärem und sekundärem Gedächtnis unterschieden. Diese Dichotomie stammt bereits aus dem 19. Jahrhundert. Später definierte JAMES (1950) das primäre Gedächtnis als „die Breite der Zeit der bewussten Gegenwart“ und folgerte, dass „die Information im primären Gedächtnis nie die bewusste Gegenwart verlässt“. Dieses primäre Gedächtnis wird in neueren Theorien als Arbeitsspeicher bezeichnet, um die Bedeutung der Kurzzeitgedächtnissysteme bei der Informationsverarbeitung zu betonen. Der Arbeitsspeicher gilt als zeitlich und im Umfang deutlich beschränkt. Das sekundäre Gedächtnis wird heute Langzeitgedächtnis genannt und gilt im Umfang als praktisch unbegrenzt. Heutzutage unterscheiden Gedächtnismodelle mindestens drei Speichersysteme (siehe Abb. 3.93): das sensorische Register (SR), oft auch Ultrakurzzeitgedächtnis genannt, das Kurzzeitgedächtnis (KZG), das auch als Arbeitsspeicher bezeichnet wird sowie das Langzeitgedächtnis (LZG). Sensorischer Speicher
Der sensorische Speicher enthält ein genaues und vorhersageorientiertes Bild von der Welt, wie sie von den Sinnesorganen wahrgenommen wird. Die Dauer der Speicherung ist kurz, je nach Modalität zwischen ca. 0,1 und einigen Sekunden. Für den visuellen sensorischen Speicher kann man nach CARD et al. (1983) mit
Arbeitsformen
367
einer durchschnittlichen Verfallszeit von ca. 200 ms rechnen. Für den auditiven Speicher beträgt dieser Wert hingegen ca. 1500 ms. Der Verfallsprozess im sensorischen Speicher ist in etwa durch eine Exponentialfunktion beschreibbar. Nicht alle Informationen werden im Gehirn nach dem gleichen Format abgespeichert. Es kann zwischen verbalen und räumlichen Informationen sowie im Weiteren zwischen auditiven und visuellen Prozessen unterschieden werden. Wenn ein Stimulus verarbeitet wird und damit Transformationen durchgeführt werden, um eine Reaktion zu generieren, kann ein Stimulus, abhängig von seiner Art, auf fünf verschiedene Arten kodiert werden (siehe Abb. 3.94): Ikonische und echoische (sensorische) Codes sind die rohen Repräsentationen visueller bzw. auditiver Stimuli. Diese Codes verlängern die Darstellung der Stimuli eine kurze Zeit (ikonisch weniger als eine Sekunde, echoisch einige Sekunden). Dies geschieht unbewusst, d.h. erfordert keine Zuweisung beschränkter Ressourcen. Visuelle und auditive Codes sind weitgehend analog zu den entsprechenden Stimulus-Modalitäten (sowie zu den sensorischen Codes), können jedoch auch aus Stimuli der anderen Modalität generiert werden (z.B. ein auditives „Bild“ eines visuell dargebotenen Buchstabens). sensorische Reize
Aufmerksamkeit auf wichtige oder ungewöhnliche Reize
Codieren äußere Ereignisse
sensorisches Gedächtnis
Kurzzeitgedächtnis
Langzeitgedächtnis Wiedererinnern
Codieren Stilleben Flasche
Äpfel Speicherung Schale
Abb. 3.93: Gedächtnis-Systeme aus BECKER-CARUS (2004) Stimulus
auditiv
Codes sensorisch
Arbeitsspeicher
echoisch
phonetisch
Langzeitspeicher
semantisch visuell
ikonisch
visuell
Abb. 3.94: Fünf Codes des Gedächtnisses nach WICKENS (1984)
Kurzzeitgedächtnis
Die Rolle des KZG besteht nach DÖRNER (1987) im Wesentlichen in der situativen Bereitstellung von Informationen aus dem LZG für die höheren kognitiven
368
Arbeitswissenschaft
Prozesse. Um seine Bedeutung bei der Informationsverarbeitung zu betonen, wird es auch mit Arbeitsspeicher (working memory) bezeichnet. Die darin enthaltene Information ist nicht mehr ein subsymbolisches Abbild der Signale, die sensorisch aufgenommen wurden. Vielmehr wird eine symbolische Repräsentation von Ereignissen aufbewahrt. Der Arbeitsspeicher ist zeitlich und im Umfang deutlich beschränkt. Die schnelle Verfallsrate oder der Verlust der Verfügbarkeit der Informationen ist eine der größten Beschränkungen des Arbeitsspeichers. Durch eine modalitätsadäquate Präsentation von Informationen kann der Verfall im Kurzzeitgedächtnis verzögert werden. Der Verfall ist bspw. geringfügig langsamer, wenn verbale Informationen auditiv und nicht visuell präsentiert werden. Trotzdem ist die Verfallsrate sehr hoch, weswegen das Beobachten eines großen Displays mit sehr vielen Instrumenten als eine Aufgabe angesehen werden muss, für die der Mensch nur bedingt geeignet ist (MORAY 1980). Um etwas im Arbeitsspeicher zu behalten, sind Mechanismen erforderlich wie das Wiederholen (rehearsal). Dieses Wiederholen geschieht auf der Basis phonetischer oder visueller Codes und ist ein Prozess, der, wie bereits eingangs erläutert, auf der Basis beschränkter Ressourcen abläuft. Wenn das Wiederholen unmöglich gemacht wird (z.B. weil eine andere Aufgabe erledigt werden muss), fällt die Rate der behaltenen „Items“ bereits nach 20 Sekunden auf praktisch Null zurück (PETERSON u. PETERSON 1959). Andere Studien zeigen einen Abfall auf Null bereits nach 10-15 Sekunden (LOFTUS et al. 1979). Außerdem verläuft dieser Abfall umso schneller, je mehr Items behalten werden sollen. Die Menge an Informationen, die im Arbeitsspeicher behalten werden kann, wird oft mit Gedächtnisspanne (memory span) angedeutet. Die Anzahl von „Items“, die im Arbeitsspeicher behalten werden können, beträgt generell etwa 7 ± 2 (MILLER 1956). Unklar dabei ist oft, was genau „Items“ sind. Ein „Item“ wird in diesem Fall im angelsächsischen Sprachraum durch „Chunk“ ersetzt. Ein Chunk kann ein Buchstabe sein, eine Ziffer, ein Wort oder eine andere Einheit. Ob drei Buchstaben einen Chunk bilden oder nicht, hängt davon ab, wie ein solcher Satz von Buchstaben im Langzeitgedächtnis repräsentiert ist. So gelten die Buchstaben BRD für Manchen als ein Chunk, während sie für Andere drei Chunks darstellen. Es gibt verschiedene „Tricks“, um die Beschränkungen des Arbeitsspeichers zu „umgehen“. Das Zusammenfügen von Ziffern in Dreiergruppen (531 642 987 statt 531642987) oder eine Gruppierung nach Bedeutungen („Parsing“, z.B.: 1492, 08/15, 1945 statt 149208151945) sind einige der bekannteren Methoden. Ein Verlust von Informationen aus dem Arbeitsspeicher tritt dann auf, wenn eine andere Aufgabe Speicherplatz in Anspruch nimmt. Zwei Hauptursachen sind dafür verantwortlich: (1) Verfall: Das Gedächtnis „verblasst“, d.h. die Information wird weniger vorspringend (etwa so, wie die sensorischen Codes). (2) Verdrängung: Die neue Aktivität zerstört die Gedächtnisspur durch einen aktiven Prozess der Interferenz. Je stärker die neue Aktivität der vorigen ähnelt, desto stärker wird die Interferenz (KLATZKY 1980). Mit „ähnlich“ ist hier sowohl die
Arbeitsformen
369
Benutzung gleicher Codes und Verarbeitungsprozesse gemeint, wie auch die phonetische, visuelle und semantische Ähnlichkeit des Stimulus-Materials. Langzeitgedächtnis
Das LZG ist die zentrale und zugleich umfangreichste der Gedächtniskomponenten. Schwächen des Kurzzeitgedächtnisses sind nicht mehr relevant, wenn die Information verarbeitet und im Langzeitgedächtnis gespeichert ist. Dafür ist jedoch die Genauigkeit des Langzeitgedächtnisses geringer. Dies hängt damit zusammen, dass die Tiefe der Verarbeitung bestimmt, wie effizient Informationen im Langzeitgedächtnis abgespeichert werden (CRAIK u. LOCKHART 1972). Es gibt einen klaren Unterschied zwischen dem Gedächtnis für Ereignisse, die gerade stattgefunden haben, und dem Gedächtnis für Ereignisse, die lange zurückliegen. Ersteres ist direkt und sofort zugänglich, das andere langsam und nur unter Anstrengung. Um etwas aus dem Langzeitgedächtnis abzurufen, muss ein bestimmtes Aktivierungsmuster erzeugt werden. Wie etwas im Langzeitgedächtnis abgelegt ist, ist nicht mit Sicherheit bekannt. Konnektionistische Theorien gehen davon aus, dass die Information in der Assoziativität zwischen Nerven oder Nervengruppen enthalten ist. Mit Assoziativität ist die Wahrscheinlichkeit gleichzeitiger Aktivierung gemeint. Man kann das LZG in verschiedener Weise aufteilen. Es hängt dabei sehr stark von der Betrachtungsebene ab, wie die Organisation des Langzeitspeichers am besten beschrieben werden kann. Folgende wesentliche Betrachtungsweisen existieren: Das LZG lässt sich aufteilen in einen sensorischen und einen motorischen Teil. Die beiden Systeme sind eng miteinander verknüpft. Der sensorische Teil kann auch als Konvergenzhierarchie im Sinne einer Informationskomprimierung verstanden werden. Er stellt eine Verknüpfung sensorischer Schemata durch Teil-Ganzes-Relationen bzw. Konkret-Abstrakt-Relationen dar (Abb. 3.95). Auf diese Weise wird aus einem komplizierten Muster von Konturen und Linien im Verlauf des Wahrnehmungsprozesses durch Konvergenz eine einfache Kategorisierung (DÖRNER 1984). Der motorische Teil des LZG lässt sich analog hierzu als sog. Divergenzhierarchie beschreiben, welche zum Prozess der Informationsdilatation führt: aus einer einfachen Absicht wird ein kompliziertes sensumotorisches Muster. Weiterhin kann zwischen einem sprachlichen und einem ikonischen, nichtsprachlichen Bereich unterschieden werden. Bei diesem Ansatz scheinen den beiden Cortexhälften bedeutende Rollen zuzukommen: das ikonische Gedächtnis wird in der rechten Cortexhälfte lokalisiert, Träger des sprachlichen Gedächtnisses dagegen scheint die linke Cortexhälfte zu sein (LINDSAY u. NORMAN 1981).
370
Arbeitswissenschaft Verkehrsmittel
h h Speiche
Nabe
Rahmen
h
ie
Fahrrad
h h
ie
h Rad h
Felge
h
Auto h Karosserie
Abb. 3.95: Ausschnitt aus einer sensorischen Konvergenzhierarchie, gebildet aus TeilGanzes-Relationen (h = „hat“) und Konkret-Abstrakt-Relationen (ie = „ist ein“) Organisation der Wissensspeicherung
Eine der gebräuchlichsten Einteilungen bei der Organisation des LZG ist die der Unterteilung in ein episodisches und ein semantisches Gedächtnis. Das episodische Gedächtnis ist ein autobiographisches Gedächtnis, das Informationen über Episoden aus dem Leben enthält. Die Theorien, die sich mit dem episodischen Gedächtnis beschäftigen, konzentrieren sich i.Allg. entweder auf die Eigenschaften der Dekodierung der Information oder auf die Abrufmechanismen (retrieval). Eine bekannte Theorie (CRAIK u. LOCKHART 1972) unterstellt, dass eine der wichtigsten Determinanten für die Wahrscheinlichkeit, dass an eine gespeicherte Information erinnert wird, die Verarbeitung der Information zum Zeitpunkt der Speicherung ist. Ein „Item“ kann auf unterschiedlich tiefen Ebenen verarbeitet werden, und die Erinnerungswahrscheinlichkeit nimmt direkt mit der Verarbeitungstiefe zu. Die „Verarbeitungstiefe“ entspricht in diesem Zusammenhang eher der Anzahl der Bedeutungsverknüpfungen (Elaborieren) des zu Memorisierenden als der Anzahl der Analysen, die damit durchgeführt werden müssen. Die gebräuchlichste Art, die Gedächtnisorganisation zu modellieren, ist das semantische Netz. Wie alle Netzmodelle geht es davon aus, dass es im Gedächtnis Konzepte gibt, die als unabhängige Einheiten funktionieren und durch Relationen miteinander verknüpft sind. In der Regel wird ein semantisches Netz durch einen verallgemeinerten Graphen repräsentiert. Die Knoten des Graphen stellen dabei die Begriffe dar. Beziehungen zwischen den Begriffen werden durch die Kanten des Graphen abgebildet. Welche Beziehungen verwendet werden können, wird in unterschiedlichen Modellen sehr unterschiedlich festgelegt, die meisten Beziehungstypen drücken jedoch kognitive Abstraktionen aus, wie z.B. Beziehungen zwischen einem Ganzen und seinen Teilen (Abb. 3.96). Auf diese Weise entstehen Hierarchien von Konzepten bzw. Begriffen.
Arbeitsformen
371
Typische Größe von a hat den Wert b
< „Spatz“ > Be
<
ng nu ich ze
<
>
sensorische Vorstellung
< „Pinguin“ >
< Federn >
< zwei Flügel >
enthält-als-Teil
Typische Größe von a hat den Wert b
Typische Größe von a hat den Wert b
>
< zwei Beine >
Lebt auf Bäumen
<
enthält-als-Teil enthält-als-Teil
Grau
<
>
Bezeichnung
< „Strauss“ > Bezeichnung
singt
< <
>
sensorische Vorstellung
>
Lebt in Nordafrika
Lebt im Zoo
Kann fliegen Lange Beine
> Schwarzweiß
Lebt im Zoo
Kann schwimmen
Kann nicht fliegen
Lebt in der Antarktis
Langer Hals
Kann nicht fliegen
Abb. 3.96: Beispiele semantischer Verknüpfungen nach LINDSAY u. NORMAN (1981)
Es gibt jedoch verschiedene Probleme mit solchen hierarchischen Netzmodellen. Das Wichtigste ist wohl, dass die Modelle davon ausgehen, dass der Mensch eine Menge an strukturierten Kenntnissen besitzt. Ein Experiment hierzu testet das Format, in dem Informationen abgespeichert sind, indem die Latenzzeit gemessen wird, nach welcher die Versuchsperson eine Frage beantwortet. Diese wird mit der semantischen „Distanz“ zweier in dem Satz enthaltener Begriffe korreliert. Beispiel: Der Versuchsperson wird ein Satz präsentiert, wie „Ein Hund ist ein Säugetier“ und „Ein Hund ist ein Tier“. Die meisten Versuchspersonen bestätigen den zweiten Satz jedoch schneller als den ersten. Dies suggeriert, dass die Distanz zwischen „Hund“ und „Säugetier“ größer ist als die zwischen „Hund“ und „Tier“. Ein solches Ergebnis ist jedoch im Widerspruch zu den Modellen hierarchischer semantischer Netze. Vergessen
Um zu erläutern worauf Vergessen zurückzuführen ist, werden im Folgenden einige Theorien zur Erklärung des Informationsverlusts aus dem LZG vorgestellt: x Die Theorie des Spurenzerfalls: Je größer der zeitliche Abstand vom Zeitpunkt der Aneignung des Gedächtnismaterials ist, desto mehr wird die Gedächtniswirkung vermindert. x Die Theorie des Adressenverlusts: Zugangsmöglichkeiten zu Gedächtnisinhalten gehen verloren, die Inhalte selber bleiben jedoch unberührt. x Die Theorie der Verdrängung: Kognitive Vermeidung von Inhalten, die sich in der betreffenden Situation als unangenehm erwiesen haben. x Prozesse der Interferenz: Ersatz der Gedächtnisinhalte durch andere, ähnliche (vorher oder nachher gelernte).
372
Arbeitswissenschaft
Vergessen besitzt bei den meisten Menschen eine überwiegend negative Bedeutung, man sollte sich jedoch immer vergegenwärtigen, dass Vergessen unabdingbar für die Handlungsfähigkeit des Individuums und soziale Interaktion ist. Mnemotechniken
Unter Mnemotechniken (Gedächtniskunst) werden Verfahren verstanden, die das Memorieren von Elementen mittels Merkhilfen („Eselsbrücken“) erleichtern. Bei richtiger Anwendung funktionieren diese „Umwege“ überraschend gut. Drei Beispiele: (1) Reimen (z.B. In Wurzeln und in Summen kürzen nur die Dummen). (2) Bildliches Vorstellen „Auf welcher Seite war bei Ihrer vorletzten Wohnung der Türgriff der Eingangstür?“. (3) Die Loci-Methode (auch: peripathetische Methode): Man verwendet einige bekannte geographische Orte als Hinweisreize für den Abruf der memorierten Elemente (z.B. den Grundriss der eigenen Wohnung). Dies wirkt am besten, wenn während der Einprägung auch tatsächlich dieser Ort betrachtet und die zu memorierenden Elemente auf den jeweiligen Ort „projiziert“ werden. Bspw. mit den Elementen Hand, Fahrrad, Knopf, Tasche, Leiter: Man öffnet den Kühlschrank. Es liegt eine Hand darin. Man geht ins Badezimmer. Es steht ein Fahrrad in der Wanne. Man schaut in die Spüle. Es liegt ein Knopf in der Spüle. Auf dem Tisch liegt eine Tasche, und vor der Schlafzimmertür steht eine Leiter etc. 3.3.2.2.3.2
Hinweise für die Gestaltung
Einige gestaltungsrelevante Hinweise lassen sich aus der Struktur des Gedächtnisses direkt ableiten. Wenn die Aufgabe überwiegend auf Kurzzeitgedächtnisinhalte zugreift, gelten selbstverständlich andere Hinweise als für Aufgaben, die v.a. das Langzeitgedächtnis in Anspruch nehmen. Gestaltung langzeitgedächtnisrelevanter Aufgaben
Im Folgenden werden an Hand eines einfachen Beispiels zur Kodierung von Paketen bei einem Logistik-Unternehmen einige Gestaltungshinweise dargestellt. Vor der Verteilung der Pakete werden die Adressen so kodiert, dass die Pakete automatisch einer Zustellroute zugeordnet werden können. Die Codes bestehen aus drei Buchstaben. Ein Code könnte z.B. aus den ersten drei Buchstaben des Straßennamens gebildet werden oder aus den jeweils ersten Buchstaben der ersten drei Silben. Um eine fehlerfreie Kodierung zu ermöglichen, ist es notwendig, die Codes so zu gestalten, dass eine eineindeutige Beziehung zwischen der Adresse und dem Code besteht. Somit stellt das Erstellen der eindeutigen Codes ein wichtiges Optimierungspotential in der Arbeitsprozessgestaltung dar. In Bezug auf das Lernen von Dreibuchstabencodes ist es wichtig, zwischen Vorwärtsassoziation und Rückwärtsassoziation zu unterscheiden. Die Wahrscheinlichkeit, einen korrekten Code zu erzeugen (Vorwärtsassoziation), liegt durchschnittlich um ca. 50% niedriger als die Wahrscheinlichkeit des korrekten Wiedererkennens (WELFORD 1976). Bei der Paketkodierung ist jedoch nur die Vorwärtsassoziation gefordert.
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Einige gesicherte Erkenntnisse über Gedächtnisleistungen seien an dieser Stelle genannt. Diese Erkenntnisse basieren hauptsächlich auf dem sog. Paired-Associate Lernprinzip, d.h. dem Lernen von Zuordnungen mehr oder weniger willkürlicher Einheiten (Zahlen o.ä.) zu bedeutungsvollen Worten (Beispiel: Himmel-43, Fuß21 usw.). Dieses Paradigma erscheint im Kontext gut anwendbar: (1) Das Erlernen von Fakten basiert oft auf der Nutzung von Redundanz. Infolgedessen werden dem Abrufprozess mehrere Abrufwege zur Verfügung gestellt, die die Wahrscheinlichkeit, dass die Information korrekt reproduziert werden kann, erhöhen (ANDERSON 2007). (2) Reproduktionen sind oft das Ergebnis plausibler Schlussfolgerungen auf der Basis der Informationen, an die man sich noch erinnern kann. Hierdurch ist es auch möglich, sich an solche Dinge zu erinnern, die in der aktuellen Form gar nicht erlernt wurden (REDER 1982). (3) Das Gedächtnis für bestimmte Informationen lässt sich experimentell verbessern, wenn die Person durch bestimmte Manipulationen veranlasst wird, das Material zusätzlich zu bearbeiten (BOBROW u. BOWER 1969; HYDE u. JENKINS 1973).
(4) Die Absicht zu lernen, hat keinen Einfluss auf die Behaltensleistung. Wichtig ist die Art, wie die Informationen verarbeitet werden. In diesem Zusammenhang wird auch von „depth of processing“ gesprochen (CRAIK u. LOCKHART 1972). (5) Sowohl für die Bearbeitung von Material beim Lernen als auch für die Rekonstruktion des Gelernten beim späteren Abruf spielen Schemata eine wichtige Rolle. Durch Anpassungen an die Schemata kann es zu Verzerrungen bei der Reproduktion kommen (OWENS et al. 1979). (6) Je genauer der Abrufkontext dem Lernkontext entspricht, desto höher ist die Gedächtnisleistung. Dieser Effekt trifft sowohl auf äußere Kontexte als auch auf emotionale Kontexte zu (GODDEN u. BADDELEY 1975). (7) Je häufiger ein Gedächtnisinhalt abgerufen wird, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass er auch beim nächsten Abruf erfolgreich reproduziert wird. Aus diesem Tatbestand ergeben sich sowohl für das Bilden der Kürzel als auch für das Einweisen der Mitarbeiter einige Implikationen: Aus den Hinweisen 1 und 3 lässt sich ableiten, dass es wichtig ist, in der Lernphase ausreichend Redundanz zu bieten. Die Redundanz, die beim Erlernen von Kürzeln benutzt werden kann, ist in der zu kodierenden Adresse enthalten. Zum einen ist dies der Name der Straße, zum anderen kann es das Wissen um die geographische Lage der Straße sein. So empfiehlt es sich, wenn Überschneidungen (ein Code für mehreren Straßennamen) dazu Anlass geben, die Kürzelbildung von der Regel abweichen zu lassen, ein eindeutiges Kürzel auf der Basis vorhandener Informationen zu bilden: Der Adresse selbst, eventuell inklusive Zustellbezirk etc. Obwohl Kenntnisse der geographischen Lage einer Straße nicht bei allen Personen
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vorausgesetzt werden können, ist auch dies eine Quelle potentiell nutzbarer Redundanz. Der Mensch ist in der Lage, sich an Dinge zu erinnern, die ihm in der Form noch nicht begegnet sind, und auf der Basis von Plausibilität zu richtigen (und falschen) Schlussfolgerungen zu kommen (Hinweise 2 und 5). Dies führt zu der Konsequenz, dass es sinnvoll ist, eine gewisse Logik anstelle von willkürlichen Buchstabenkombinationen als Basis für die Kürzelbildung heranzuziehen. Am besten erscheint hier eine Hierarchie von Regeln (z.B. 3 Anfangsbuchstaben o Anfangsbuchstaben der Silben o Andere Regel). Je häufiger ein Gedächtnisinhalt abgerufen wird, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass er auch beim nächsten Abruf erfolgreich reproduziert werden kann (Hinweis 7). Die am häufigsten auftretenden Kürzel werden zuerst und am besten gelernt. Es wäre also sinnvoll, den Regelcode (den Höchsten in der Regelhierarchie) für die seltener auftretenden Fälle und den Sonderkode (den nächst Niedrigeren in der Regelhierarchie) für die häufiger auftretenden Fälle zu reservieren. Die Regeln, die bei der Kürzelbildung verwendet werden, sind nicht immer identisch mit dem, was der Lernende sich an „Regeln“ oder Schemata bildet. Deshalb ist es wichtig, dass der Mitarbeiter weiß, welche Regel wirklich zur Kürzelbildung geführt hat (Hinweis 2). Wenn bei der Bildung eines Kürzels eine Hierarchie von Regeln angewendet wurde, so ist es sinnvoll, dies dem Lernenden auch nachvollziehbar zu machen. Auf diese Art kann sich der Lernende mit dem Material besser auseinandersetzen. Je genauer der Abrufkontext dem Lernkontext entspricht, desto höher ist die Gedächtnisleistung (Hinweis 6). Dieser Effekt trifft sowohl auf äußere Kontexte als auch auf emotionale Kontexte zu. Es ist darum zu empfehlen, einen Großteil des Lernens vor Ort an der Anlage und mit echten Paketen stattfinden zu lassen. Das „Üben“ einer Liste von Kürzeln in einer isolierten Umgebung ist weniger sinnvoll. Der Mensch kann sich an bedeutungsvolle Informationen besser erinnern als an bedeutungslose. Wie bereits angedeutet wurde, ist die Reproduktionsleistung umso besser, je mehr Zugriffsmöglichkeiten es auf einen Gedächtnisinhalt gibt (Hinweise 1 bis 4). Das Vorhandensein von Zusatzinformation („ist eine Querstraße von der Hauptstraße“, „liegt im Bezirk X“, „die Firma Y ist dort angesiedelt“) kann sowohl die Einprägung des Kürzels erleichtern, als auch dessen Abruf. Welche Faktoren beeinflussen den Behaltensprozess? Voraussetzung für „behalten“ ist zunächst eine 10-30 minütige Konsolidierungsphase. Einen entscheidenden Einfluss auf die Behaltensleistung üben die Charakteristika des Lernprozesses aus: x Je öfter etwas wiederholt wird (Rehearsal), desto besser wird es behalten x „Verteiltes“ Lernen, d.h. Lernen mit zwischengeschobenen Phasen anderer Aktivitäten, ist effektiver als „massiertes“ Lernen
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x Behalten ist von emotionalen Faktoren abhängig: emotional positiv gefärbte Inhalte werden besser behalten als emotional negativ besetzte, diese wiederum eher als emotional neutrale x Mnemotechniken sind weitere Lernstrategien, die einen günstigen Einfluss auf die Behaltensleistung haben. Gestaltung kurzzeitgedächtnisrelevanter Aufgaben
Durch die Struktur und Funktion des Kurzzeitgedächtnisses sind für die Optimierung ganz andere Aspekte von Bedeutung. So ist der Zugriff auf Kurzzeitgedächtnisinhalte immer gewährleistet. Wenn der Zugriff keinen Erfolg hatte, bedeutet dies einfach, dass die Information dort nicht abgelegt war. Limitierende Faktoren sind hingegen die Speicherdauer und -auslastung. Das Optimierungspotential liegt hier also nicht im Erleichtern des Abrufs, sondern in der Optimierung der notwendigen Menge und erforderlichen Speicherdauer der im Kurzzeitgedächtnis zu behaltenden Informationen. Hierzu können folgende Maßnahmen beitragen: x Displays sollten so viel wie möglich aktuell benötigte Informationen darstellen und so wenig wie möglich irrelevante Informationen enthalten. x Bei visuellen Displays sollten alle darin enthaltenen Informationen parallel und auf „Hinblick“ verfügbar sein. Dadurch kann eine Interferenz von irrelevanten mit relevanten Informationen vermieden werden. x Bei akustischen Displays sind Informationen nur seriell verfügbar. Sie können jedoch eine Aufmerksamkeitsverschiebung erzwingen und sind somit für Fehlervorbeugung und Notfallsignalisierung gut geeignet. x Chunkingstrategien können beim Speichern nützlich sein, aber nur unter der Bedingung, dass das Anwenden der Strategien selber keine (wesentliche) Kurzzeitgedächtnisleistung abverlangt. x In der Regel sind Fehler des Kurzzeitgedächtnisses entweder auf ein Focused Attention Deficit (FAD) oder auf ein Divided Attention Deficit (DAD) zurückzuführen, siehe Kapitel 3.3.2.2.6. Möglichst wenige Informationen sollten deshalb möglichst kurz behalten werden müssen, um ein DAD zu vermeiden. Die Darbietung der Information sollte außerdem so gewählt werden, dass unerwünschte Assoziationen und dadurch aufgerufene automatisch ablaufende Verarbeitungsprozesse nicht auftreten, um ein FAD zu vermeiden. 3.3.2.2.4 Mentale Modelle und Situationsbewusstsein Mentale Modelle lassen sich definieren als ein stabiles Gefüge von Wissen, das der Benutzer bzgl. eines Realitätsausschnitts gebildet hat und auf ihn anwendet (SCHMIDT u. LUCZAK 2006b; SCHMIDT 2007b). Mentale Modelle sind somit transitorische Produkte der Vorstellung, die situationsabhängig gebildet werden, um erkannte Informationen in eine Systemanalyse zu transformieren und das System- und Umgebungsverhalten vorherzusagen. Aus Gründen der Speicherplatzökonomie ist nicht anzunehmen, dass mentale Modelle identisch mit den Einheiten der langzeitlichen Speicherung im Gedächtnis sind, sondern dass diese kognitive Repräsentation in einem interpretativen Prozess beim Aufruf aus dem Lang-
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zeitgedächtnis neu gebildet wird. Der Zusammenhang zwischen mentalen Modellen und der gedächtnismäßigen Organisation von Wissen ist eine Fragestellung, die in der Wissens-/Gedächtnispsychologie untersucht wird. Die Eigenschaften und Funktionen mentaler Modelle sind nur indirekt aus der Analyse menschlicher Informationsverarbeitung erschließbar. Wesentliche Funktionen sind das Verstehen von Sachverhalten der Umwelt und die Planung und Steuerung von Handlungen. Mentale Modelle zum Verstehen neuer Sachverhalte basieren häufig auf Analogien, bei denen die Relationen aus gespeichertem Wissen auf die Elemente eines neuen Gegenstandsbereichs übertragen werden. In einem solchen Modell können über gedankliches Probehandeln oder Durchspielen von Ereignisfolgen Sachverhalte der Umwelt dynamisch „simuliert“ werden. Eng verbunden mit mentalen Modellen ist das Konstrukt des sog. Situationsbewusstseins (situation awareness, SA) nach ENDSLEY (1995). Es beschreibt die Vollständigkeit und Korrektheit des mentalen Modells in Bezug auf eine Umgebungssituation (siehe Abb. 3.97). Im Idealfall ist der Mensch in der Lage, alle drei Ebenen des Konstrukts mental korrekt abzubilden, nämlich (1) die Objekte der Umwelt wahrzunehmen und zu erkennen, (2) aus den erkannten Objekten die gegenwärtige Situation richtig einzuschätzen und (3) auf der Grundlage erfahrungsbedingter Erwartungen die Entwicklung der Umgebungssituation zu projizieren. Das mentale Modell des Menschen bildet in diesem Zusammenhang den Ordnungsrahmen für die Kategorisierung eingehender Informationen, die Bildung logischer Verknüpfungen zwischen Informationen und Gedächtnisinhalten sowie die Vorhersage des Systemzustands auf Basis eines Verständnisses in Bezug auf die Systemdynamik.
Schema
Prototypische und erwartete x Objekte x Szenen x Ereignisabfolgen
Mentales Modell
Wahrnehmen Erkennen
Verstehen
Projizieren
Situationsbewusstsein Abb. 3.97: Phasen zur Entstehung von Situationsbewusstsein nach ENDSLEY (2000)
3.3.2.2.5 Externalisierte Repräsentationen zentraler Prozesse Externalisierte Repräsentationen zielen darauf ab, die zentralen Prozesse der menschlichen Informationsverarbeitung sowie die damit verbundenen mentalen Modelle „ingenieurmäßig“ zu beschreiben. Sie unterscheiden sich von den in
Arbeitsformen
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Kapitel 3.3.1.1 eingeführten Modellen menschlicher Informationsverarbeitung dadurch, dass sie auf eine konkrete Anwendungsdomäne bezogen werden. Sie sind deshalb z.B. für die kognitiv-ergonomische Gestaltung von Mensch-MaschineSchnittstellen in der Fahrzeug- und Prozessführung besonders interessant (siehe RASMUSSEN et al. 1994). Sie werden in den meisten Fällen qualitativ formuliert, bspw. in technisch optimierten Formen der zuvor erläuterten semantischen Netze, oder in Form von sog. Abstraktionshierarchien. Darüber hinaus sind insbesondere in der jüngeren Vergangenheit auch Ansätze zur quantitativen Beschreibung und Simulation zentraler Prozesse entwickelt worden, die als sog. Kognitive Architekturen bezeichnet werden. 3.3.2.2.5.1
Abstraktionshierarchien
Abstraktionshierarchien stützten sich auf die Konstruktionssystematik (siehe PAHL et al. 2007) und repräsentieren komplexe technische Systeme auf verschiedenen Abstraktions- und Aggregationsebenen (siehe RASMUSSEN et al. 1994). Häufig werden Abstraktionshierarchien mit fünf Ebenen verwendet: (1) Auf der untersten Ebene der physischen Form sind die körperlichen Eigenschaften der Systemkomponenten abgebildet, wie z.B. bei einem Computer die Form und Lage der Chips, Pinbelegungen o.ä., die bspw. für eine Fehlerdiagnose vom Menschen herangezogen werden können. (2) Auf der Ebene der physikalischen Funktion sind die jeweiligen elektrischen, mechanischen oder chemischen Eigenschaften der verschiedenen Subsysteme repräsentiert. Bei einem Computer würden z.B. die elektrischen Signalcharakteristika oder Temperaturverteilungen betrachtet. (3) Wird weiter abstrahiert, so werden auf der generellen Funktionsebene die physikalischen Implementierungsdetails vernachlässigt und lediglich generalisierte Systemmodule wie Spannungsversorgung, Zentralprozessor, Hauptspeicher etc. erörtert. (4) Auf der Ebene der abstrakten Funktion wird das System als kausales Geflecht von Informations-, Massen- oder Energieströmen betrachtet, die den beabsichtigten Systemzustand reflektieren. Bei einem Computer fallen hierunter die arithmetischen Operationen, Speichermanagement etc. (5) Schließlich ist auf der höchsten Ebene des funktionalen Zwecks der beabsichtigte funktionale Effekt des Gesamtsystems auf seine Umgebung abgebildet. Beim Computerbeispiel sind Zielkataloge bzw. Systemspezifikationen zu nennen. I.Allg. besitzen Abstraktionshierarchien folgende Merkmale: x Jede Schicht der Hierarchie beinhaltet das gleiche System, nur in einer anderen Beschreibungsweise. x Jede Schicht hat ihre eigenen Begriffe, Konzepte und Prinzipien. x Die Auswahl der Schichten zur Beschreibung eines bestimmten Systems hängt vom Beobachter, seinem Wissen und seinen Kenntnissen ab. Für viele Systeme gibt es jedoch einige Schichten, die als „natürlich“ und in der Sache liegend angesehen werden können. x Voraussetzung für das einwandfreie Funktionieren jeder Schicht ist die Einhaltung der Rahmenbedingungen (constraints) auf der darunter liegenden Ebene.
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x Das Verständnis für das System erhöht sich dadurch, dass man sich von einer Schicht zur anderen bewegt. Bewegt man sich in der Hierarchie aufwärts, erfährt man mehr über die Ziele des Systems, bewegt man sich abwärts, gewinnt man Kenntnisse darüber, wie das System funktioniert, um diese Ziele zu erreichen. Höhere Schichten enthalten weniger Einzelheiten als niedrigere Schichten. x Weiterhin ist die Hierarchie dadurch gekennzeichnet, dass die verschiedenen Schichten durch eine Ziel-Mittel-Beziehung verbunden sind. Ziel-MittelRelationen sind dadurch charakterisiert, dass mit dem System Ziele verfolgt werden, wozu die Mittel zur Verfügung gestellt werden. Die unteren Schichten stellen jeweils die Mittel bereit, um die Ziele der darüber liegenden Schichten zu erreichen. Zwischen den Abstraktionsebenen werden Ursachen für Fehlfunktionen vom Konkreten zum Abstrakten und Gründe für eine richtige Funktionalität vom Abstrakten zum Konkreten vom Menschen propagiert. Auf diese Weise wird herausgestellt, dass komplexe Mensch-Maschine-Systeme nicht alleinig kausal beschrieben werden können, sondern ebenso einen intentionalen Charakter besitzen. Hinsichtlich der Aggregation lassen sich auf jeder Abstraktionsebene – von Zielhierarchien bis Baustrukturen von physischen Komponenten – Subsysteme zu Systemen und Supersystemen zusammenfassen bzw. im Umkehrschluss in die jeweiligen Teile auflösen. Ein elaboriertes Beispiel einer Abstraktionshierarchie zur Repräsentation von Konstruktionswissen für einen Pkw-Anhänger findet sich in SCHMIDT (2004). Weitere Beispiele im Kontext der informatorischen Gestaltung von Arbeitssystemen sind in Kap. 10.1.2.3.2.1 wiedergegeben. 3.3.2.2.5.2
Kognitive Architekturen
In der Forschung sind nicht nur qualitative externalisierte Repräsentationen bekannt, sondern es gibt auch verschiedene quantitative Ansätze (computational models), die darauf abzielen, Gedächtnisstrukturen und kognitive Prozesse zur Symbolverarbeitung formal zu modellieren und auf einem Computer zu simulieren. Dies ist Gegenstand sog. Kognitiver Architekturen (cognitive architectures), die eine vom Individuum losgelöste Wissensrepräsentation ermöglichen. Bekannte Kognitive Architekturen sind ACT-R (Adaptive Control of Thought, Rational, ANDERSON et al. 2004) und SOAR (State, Operator And Result) (ROSENBLOOM et al. 1993), die jeweils auf Bedingungs-Aktions- bzw. Wenn-Dann-Paaren zur Symbolverarbeitung aufsetzen. Man spricht auch von Erzeugungssystemen (production systems). Bspw. besteht ACT-R aus fünf Modulen: (1) Zentrales Erzeugungssystem zur Wissensrepräsentation, (2) visuelles Modul für die Identifizierung von Objekten, (3) manuelles Modul für die motorische Koordination der „Hände“, (4) Ziel/Intention-Modul für die Informationen des aktuell verfolgten Ziels und (5) Fakten-Modul für die Gedächtniseinheiten. Der wichtigste Unterschied von ACT-R gegenüber SOAR ist seine subsymbolische Ebene. Sie erlaubt es, die stochastischen Eigenschaften vieler typischer Phä-
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nomene menschlicher Kognition zu modellieren. Zu diesen zählen z.B. das Abrufen von unpassenden Fakten aus dem Gedächtnis oder die Wahl suboptimaler Strategien beim Lösen eines Problems. Sowohl für ACT-R als auch für SOAR gibt es diverse Anwendungsbeispiele. ACT-R wird bspw. verwendet, um visuelle Suchprozesse mit elektronischen Karten zu modellieren (FU u. GRAY 2006) oder die visuell-räumliche Kognition bei der Mensch-Maschine-Interaktion zu simulieren (WINKELHOLZ 2006). Typische Anwendungen von SOAR sind die Luftraumüberwachung (TAYLOR et al. 2007). SOAR kann jedoch auch zur Planung von robotisch unterstützten Montagevorgängen genutzt werden (MAYER et al. 2009). Darüber hinaus gibt es erste stochastische Modelle zur Simulation des visuellräumlichen Gedächtnisses des Menschen bei der Interpretation von graphischen Darstellungen auf Bildschirmen (WINKELHOLZ 2006; WINKELHOLZ u. SCHLICK 2007). Diese Modelle können z.B. als visuelles Modul für ACT-R oder SOAR dienen. 3.3.2.2.6 Über- und Unterforderung beim Erkennen und Entscheiden Vieles spricht dafür, die zentralen Informationsverarbeitungsprozesse als einkanalig zu bezeichnen. Während bei den frühen Prozessen von massiver Parallelität ausgegangen werden kann und auch die Vorbereitung und Ausführung von simultanen Handlungsabläufen mit vergleichsweise geringer mentaler Beanspruchung durchgeführt werden kann, laufen die Prozesse, die in höherem Maße bewusstseinspflichtig sind, tendenziell seriell ab. Dies bedeutet, dass Fehler in der Verarbeitung häufig durch ein zu großes Informationsangebot oder zu geringe Verarbeitungsgeschwindigkeit provoziert werden. Die auftretenden Fehler lassen sich in zwei Arten unterteilen: (1) Focused Attention Deficit (FAD): Ein FAD ist das Unvermögen, die eigene Aufmerksamkeit zu bündeln und tritt dann auf, wenn ein automatisch ablaufender Prozess mit einem kontrolliert ablaufenden Prozess interagiert. Ein Beispiel dafür ist der Stroop-Test (sinngemäße Darstellung in Abb. 3.98): Dabei ist sehr schnell laut zu sagen, wie viele Items jedes Kästchen enthält. Für das erste Kästchen ist die richtige Antwort 3. Gelegentlich, insbesondere bei längeren Listen, tritt ein Konflikt auf zwischen dem automatisch ablaufenden Lesen der Zahl und dem kontrolliert ablaufenden Zählen der Items, der zu längeren Erkennungszeiten und -fehlern führt. 666 222
99
3 66
111 111 111
555
77
555
77
Abb. 3.98: Stroop-Test
(2) Divided Attention Deficit (DAD): Ein DAD besteht in dem Unvermögen, die eigene Aufmerksamkeit über das gesamte Informationsangebot zu verteilen und kann, wie erwähnt, sowohl durch ein Überangebot an Information als
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auch durch eine zu langsame Verarbeitung entstehen. Im ersten Fall spricht man von einem extrinsischen DAD, im zweiten von einem intrinsischen DAD (SHIFFRIN u. SCHNEIDER 1977). Als Beispiel genannt sei die Situation, in der ein Autofahrer sich während der Fahrt mit dem Beifahrer unterhält und plötzlich schweigt oder das Gespräch hapert, da er eine kritische Verkehrssituation bewältigen muss. Fehler in der zentralen Informationsverarbeitung treten jedoch nicht nur bei Überforderung auf. Aufgaben, die nur selten eine Handlung erfordern oder wenige kritische Ereignisse bieten, tendieren dazu, die Person in einen untererregten Zustand zu versetzen und somit Erkennungs- und Entscheidungsprozesse negativ zu beeinflussen. Elektroenzephalographische Untersuchungen haben gezeigt, dass bei Unterforderung häufig schlafähnliche Potentiale auftreten. Ein solcher Vigilanzverlust führt zu einer niedrigen Wahrnehmungsleistung. In Abb. 3.99 ist eine Typisierung der menschlichen Leistung als Funktion der angebotenen Informationsmenge zu sehen. Hierbei zeigt die 45°-Linie die Übereinstimmung zwischen verarbeiteter Informationsmenge und dem Signalangebot. Im mit „Unterforderung“ gekennzeichneten Gebiet ist die verarbeitete Signalmenge infolge der in Kapitel 3.3.2.1.4 dargestellten Vigilanzeffekte zurückgeblieben, während im Bereich „Überforderung“ der Informationsdurchsatz durch extrinsische DADs retardiert. Bei dieser Darstellung ist zu beachten, dass die 45°-Linie dem Idealfall bei Aufgaben entspricht, die ausschließlich lineare Signaltransformationen beinhalten. Signalverarbeitung (Empfänger)
Unterforderung
0
0
adäquate Anforderung
Überforderung
Signalangebot (Senderfunktion)
Abb. 3.99: Typisierung von Fällen der Signalverarbeitung/Informationsverarbeitung aus LUCZAK (1989)
Arbeitsformen
3.3.2.3
381
InformationsabgabeĆ(späteĆProzesse)Ć
Jede Art der menschlichen Informationsverarbeitung muss, wenn sie einen Einfluss auf die Umwelt nehmen soll, nach außen übertragen werden. Im Wesentlichen geschieht dies über die Bewegung von Körperteilen, zumeist des Hand-ArmSystems – emotional/inhaltlich auch vielfach mit Mimik und Gestik – sowie über akustische Ausgabe mittels der Sprache. 3.3.2.3.1 Organisation und Regelung von Bewegungen Im Gegensatz zu technischen Systemen realisiert der Mensch seine Bewegungen nicht mittels teleskopischer Elemente, sondern als Rotationen von längenkonstanten Hebeln (Knochen) im Raum. Da die Muskeln grundsätzlich nur bei einer Verkürzung Arbeit leisten können, sind für eine Hin- und Rückbewegung immer mindestens zwei Muskeln erforderlich, die entgegengesetzt aktiviert werden (Agonisten und Antagonisten). In der Regel sind an Bewegungen darüber hinaus fast immer mehrere Muskeln gleichartig beteiligt, die an den gleichen oder nahe benachbarten Knochenpunkten ansetzen und gemeinsam den Bewegungsablauf bestimmen. Man bezeichnet derartige Muskeln als Synergisten. Die von den einzelnen Muskeln aufgebrachten Kräfte werden zu einer erwünschten Gesamtkraft nach Betrag und Richtung zusammengeschaltet sowie räumlich und zeitlich gesteuert (LUCZAK 1983). Bereits sehr einfache Bewegungen, selbst das Umblättern dieser Seite, stellen, v.a. unter Berücksichtigung der begrenzten Bewegungsmöglichkeiten einzelner Gelenke, eine regelungstechnisch höchst anspruchsvolle Aufgabe dar. Beuge- und Streckmuskeln müssen wechselweise und so dosiert aktiviert werden, dass sich eine gewünschte Bewegung der Hand und des Arms als Resultat vieler Drehbewegungen in den beteiligten Gelenken ergibt. Aus den vielen Freiheitsgraden möglicher Bewegungen müssen einige wenige ausgewählt und durchgeführt werden. Die Notwendigkeit der simultanen und kontrollierten Aktivierung sehr vieler Muskeln bedeutet, dass selbst bei den einfachsten Bewegungen immer ein ganzes Ensemble von motorischen Elementen angesteuert werden muss. 3.3.2.3.1.1
Motorisches System
Die Steuerung jeglicher Bewegung geht von den motorischen Zentren des Zentralnervensystems (ZNS) aus, die sich über verschiedene Abschnitte von der Hirnrinde (Cortex) über den Hirnstamm bis zum Rückenmark erstrecken (Abb. 3.100). Die Innervierung einer Muskelzelle erfolgt über die sog. motorische Endplatte, die über eine Nervenleitung mit dem zuständigen Motoneuron (im Rückenmark) verbunden ist. Jedes Motoneuron innerviert i.Allg. mehrere Muskelfasern, wobei es mit seinen Muskelfasern eine motorische Einheit bildet. Die Anzahl der Muskelfasern einer motorischen Einheit kann von einer einzigen bis zu mehr als tausend variieren (siehe Kap. 3.2.4). Die Kontraktion einer Muskelfaser wird durch den Depolarisationsimpuls der Muskelzellmembran ausgelöst. Ein einzelnes Aktionspotential im Motoneuron
382
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führt zu einer Einzelzuckung in allen Muskelfasern der motorischen Einheit. Die Stärke einer Kontraktion wird durch die Frequenz der Aktionspotentiale (Entladungsrate des Motoneurons) gesteuert. Die Muskelspannung, die von einer motorischen Einheit erzeugt wird, lässt sich jedoch nur in bestimmten Bereichen durch Modulation der Frequenz regeln. Eine graduelle Erhöhung der Gesamtspannung des Muskels wird deshalb durch die kontrollierte Aktivierung verschiedener (und verschieden großer) motorischer Einheiten bewerkstelligt. Dieser Vorgang der Regelung der Muskelspannung durch die Erhöhung der Anzahl der jeweils aktivierten motorischen Einheiten wird als Rekrutierung bezeichnet. Eine schwache Muskelkontraktion wird typischerweise durch Motoneurone kontrolliert, die zu kleineren motorischen Einheiten gehören. Eine zunehmend stärkere Kontraktion wird durch das Hinzuschalten mehrerer oder größerer motorischen Einheiten erreicht. Die größten motorischen Einheiten werden nur bei stärksten Kontraktionen aktiviert. Das ist z.B. ein Grund für die Repetitive Strain Injury bei Tastatur und Mausbedienung. Die Organisationsstruktur der motorischen Systeme ist der der sensorischen Systeme ähnlich. In erster Instanz zeigt sich eine hierarchische Ordnung der beteiligten Zentren mit einem sequentiellen Aufbau der Kontrollvorgänge. Neben diesem Aufbau gibt es auch parallele Kanäle, über die eine übergeordnete Ebene in direkter und unabhängiger Weise auf jede untergeordnete Ebene einwirken kann. Höhere motorische Kontrollebenen können so direkt die Programmabläufe auf den untersten Ebenen beeinflussen, und zwar in befehlsgebender, modulierender oder verfeinernder Weise. Darüber hinaus können noch weitere Zentren, z.B. Kleinhirn (Cerebellum) und extrapyramidal-motorisches System, in paralleler Weise auf die verschiedenen Ebenen einwirken. Hiermit ist es möglich, einerseits Informationen von den hierarchisch niederen Zentren auf höhere zu übermitteln und andererseits zentrale Steuerungsmechanismen (z.B. das vegetative Nervensystem) in die motorische Steuerung einzubeziehen (SCHMIDT et al 2005; GÖBEL 1996). Höhere Organisationen im Gehirn planen und entscheiden Aktionsabläufe. Sie beeinflussen daraufhin intermediäre Ebenen, die dann ihrerseits die untersten Ebenen kontrollieren. Die neuronalen Netzwerke im Rückenmark können als unterste Ebene der motorischen Kontrolle betrachtet werden. Hier werden einfache stereotype Reaktionen erzeugt. Als oberste Ebene in der Zielmotorik können die prämotorischen cortikalen Areale angesehen werden (REICHERT 2000). Die Entscheidung für eine bestimmte Verhaltensreaktion erfolgt in den subcorticalen und corticalen Motivationsarealen, die Strategie und der Bewegungsentwurf werden dann im assoziativen und sensorischen Cortex entwickelt. Diese Areale sind mit dem prämotorischen Cortex verbunden, der für die Auswahl und Zusammenstellung der Bewegungsprogramme verantwortlich ist. Der prämotorische Cortex wiederum beeinflusst den motorischen Cortex. Dessen wichtigste Aufgabe liegt in der Auslösung von Bewegungsabläufen. Weiterhin ist dieser ein wichtiger Ausgangspunkt für vorverarbeitete absteigende motorische Befehle, die an das Rückenmark, an den Hirnstamm und an andere subcortikale Ebenen übertragen werden. Zusätzlich werden im motorischen Cortex die verhaltensrelevanten Ergebnis-
Arbeitsformen
383
se der Informationsverarbeitung aus anderen cortikalen Bereichen zusammengeführt. Der motorische Cortex stellt also eine Station für die Umsetzung von Bewegungsentwürfen in Bewegungsprogramme dar. Die nächste Ebene der motorischen Hierarchie bildet der Hirnstamm. Hier werden absteigende motorische Kommandosignale sowie aufsteigende sensorische Informationen weiterverarbeitet und weitergeleitet. Die Verschaltungen des Rückenmarks erzeugen dann automatisch ablaufende Verhaltenskomponenten, diese unterliegen dabei der deszendierenden Kontrolle über die Formatio Reticularis. Die unterste Ebene innerhalb des Rückenmarks ist die der Motoneurone (Abb. 3.100). Großhirn
Kleinhirn
höhere Zentren
Prämotorischer Cortex
Sensorischer Thalamus Pyramidenbahn
Formatio Reticularis
Motorischer Cortex Motorische Zentren des Hirnstammes Rückenmark
deszendierendes System
Ausführungsphase
aszendierendes System
Assoziativer und sensorischer Cortex
Assoziativer Thalamus Motorischer Thalamus
Vorbereitungsphase
Subcorticaleund corticale Motivationsareale
Extrapyramidalmotorisches System (EPMS)
Motorische Endplatte
Hautafferenzen
Muskelfaser
MuskelGelenkspindeln rezeptoren
Abb. 3.100: Informationsübertragung im motorischen System (vereinfacht)
In den höheren Ebenen werden relativ wenige komplexe Informationen und Entscheidungen verarbeitet, während in den niedrigeren Ebenen vorwiegend stereotype Reaktionen in großer Anzahl parallel erzeugt werden. Motorische Aktionen lassen sich so in eine Vorbereitungsphase und eine Ausführungsphase abgrenzen. Das Besondere an motorischen Systemen ist, dass die Gesamtheit an motorischer Informationsverarbeitung schließlich auf ein einziges Zielelement ausgerichtet ist, nämlich das Motoneuron. Alle Signale, gleich woher sie kommen, müssen über Motoneurone laufen, wenn sie einen Einfluss auf die Muskulatur haben sollen. Für unterschiedliche Extremitäten und Muskelgruppen ist der prinzipielle Steuerungsablauf zwar identisch, jedoch sind die beteiligten Mechanismen entsprechend ihren Aufgaben unterschiedlich stark ausgeprägt. So ist z.B. bei den Muskeln der oberen Extremitäten die Zahl der angeschlossenen Muskelzellen pro motorischer Endplatte relativ gering. Darüber hinaus ist in den für die Motoriksteuerung zuständigen Zentren überproportional mehr Areal für die oberen Extre-
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mitäten als für die Beine vorgesehen. Das Hand-Arm-System kann daher wesentlich gezielter und feinfühliger angesteuert werden (MÜLLER-LIMMROTH 1975). Die Leistungen des motorischen Systems können grob in drei Bereiche unterteilt werden (MÜLLER-LIMMROTH 1975): Die Spinalmotorik umfasst einen Vorrat elementarer Haltungs- und Bewegungsprogramme auf Rückenmarksebene. Mit Hilfe der Stützmotorik werden Haltung und Stellung des Körpers im Raum von Zentren im Hirnstamm kontrolliert. Schließlich wird die Zielmotorik, die sich als zielgerichtete Bewegung äußert, von Arealen der Hirnrinde und dem Kleinhirn entworfen und programmiert. 3.3.2.3.1.2
Regelung der Bewegungen
Sensorische Rückkopplung
Die motorische Aktivität kann nicht in streng stereotyper Weise ablaufen. Sie muss laufend durch sensorische Information an den aktuellen Verhaltenszustand und an variierende Umweltbedingungen angepasst werden. Dazu werden Informationen über den Anspannungszustand der Muskeln und die Gelenkwinkel sowie die Verhaltenskonsequenzen in die höheren Ebenen zurückgeführt und dort in passender Weise mit der motorischen Steuerung rekombiniert. Damit wird die Modifikation von motorischen Befehlen auf allen Ebenen durch sensorische Information ermöglicht, aus der ein adaptives Verhalten resultiert. Als Rezeptoren in diesem Sinne fungieren sowohl alle Sinneswahrnehmungen (Sehen, Fühlen, etc.) als auch nicht bewusstseinsfähige sensorische Signale (Muskel- und Gelenksensoren). Die Vielfalt an Rezeptoren und Verknüpfungen führt zu einer Vielfalt von vermaschten Regelkreisen. Reflexe
Die einfachste und am häufigsten angewandte Variante eines solchen Regelkreises ist die sog. Reflexverschaltung zwischen dem Rückenmark und den Muskeln (spinalmotorisches System). Ein Reflex ist eine einfache, weitgehend stereotype Reaktion, die durch einen Sinnesreiz ausgelöst wird. In den Muskeln sind neben den Muskelfasern (intrafusale und extrafusale Fasern über Ȗ- und Į-Motoneurone) noch sog. Muskelspindelrezeptoren (1a-Afferenzen) enthalten, die sensorische Informationen über den Dehnungszustand des Muskels liefern. Eine Dehnung des Muskels bewirkt eine Steigerung der Aktivität der Muskelspindelrezeptoren. Aufgrund dieser in das Rückenmark laufenden Signale wird eine vermehrte Erregung von Motoneuronen und damit eine ausgleichende Kontraktion der Muskelfasern bewirkt, während ebenfalls im Rückenmark für eine Hemmung des Antagonisten gesorgt wird. Diese Reflexverschaltung ist somit in der Lage, kleine Änderungen in der eingestellten Muskellänge zu detektieren und auszugleichen (Dehnungsreflex). Sie dient folglich dazu, selbständig eine gegebene Muskellänge konstant zu halten (und damit z.B. zur Erhaltung der Körperstellung beizutragen). Die Verteilung der Muskelaktivierung zwischen den intrafusalen und extrafusalen Fasern des Muskels erlaubt eine Wirkungsgradverstellung der Spindelrezeptoren. Auf diese Weise kann nicht nur die Empfindlichkeit, sondern v.a. die Übertragungseigen-
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schaft des Regelkreises variiert werden. Die Reflexe sind damit hinsichtlich ihrer Kraftentwicklung an wechselnde Umstände anpassungsfähig. Neben den Dehnungsreflexen gibt es eine Reihe von Reflexverschaltungen, die von sog. Golgi-Sehnenorganen (1b-Afferenzen) aktiviert werden. Diese sind mit den Muskelfasern in Serie geschaltet und eignen sich dazu, Muskelspannungen zu registrieren. Darüber hinaus gibt es Gelenkrezeptoren, die als Mechanorezeptoren über die Stellung der Gelenke Auskunft geben. Reflexe können automatisch ablaufen, d.h. ohne durch höhere Zentren initiiert zu werden. Damit wird bereits auf dieser niedrigen Ebene für eine optimale Anpassung der Muskelkontraktion an die Bewegung bzw. Belastung gesorgt, ohne dass höhere Zentren hierfür in Anspruch genommen werden. Die Verknüpfung sensorischer und effektorischer Signale in ein und demselben Muskel bezeichnet man als Eigenreflex, die Verknüpfung der Signale mehrerer Muskeln oder äußerer Reize als Fremdreflex. Bei der praktischen Bewegungsdurchführung erhalten die Motoneurone des Rückenmarks Erregungen von einer Vielzahl von Schichten des übergeordneten Zentralnervensystems (supraspinales System). Die Vielfalt der Rückmeldungen ermöglicht die Verwirklichung relativ komplexer, ineinander verschachtelter, adaptiver Regelsysteme, deren Leistungsfähigkeit die Aufgabe der einfachen Eigenreflexbögen weit übertrifft. Ausgelöst werden diese Erregungen durch rückläufige sensorische Bahnen, die von Hautrezeptoren und sonstigen Fühlern (Afferenzen) stammen, ebenso durch das Gleichgewichtsorgan, über das vegetative Nervensystem und natürlich v.a. von Seiten des Cortex (Hirnrinde) beim Einleiten von Willkürbewegungen. Zusätzlich empfangen die Motoneurone auch noch direkt Erregungen, die fortlaufend über die Afferenzen in das Rückenmark einlaufen und dort umgeschaltet werden. Koordinierte Bewegungen sind nur unter Einbeziehung dieser peripheren Reflexvorgänge möglich. Die augenblickliche Belastungssituation aller beteiligten Muskeln und auch die über zusätzliche Afferenzen einlaufende Information bzgl. der Umweltbeschaffenheit (fest, nachgiebig, rauh, glatt usw.) modifiziert im Rückenmark automatisch die von supraspinalen Zentren einlaufenden Befehle. Damit können die aus höheren Zentren stammenden Erregungsmuster ohne Rücksicht auf die augenblickliche Belastung schematisiert sein. Rhythmische Kontrolle von Bewegungen
Es gibt eine Vielzahl von motorischen Reaktionen, die aus rhythmisch wiederholten Aktionseinheiten aufgebaut sind. Wie werden solche Verhaltenseinheiten vom Nervensystem erzeugt? Eine Möglichkeit besteht in der gegensinnigen Reflexverschaltung der beteiligten Muskeln. Bei kontrollierten Bewegungen wird zunächst stets der Agonist kontrahiert und der Antagonist entspannt. Durch die Muskelspindeln im Antagonisten werden daraufhin Impulse ausgesendet, die über die zugehörigen Motoneurone dessen Kontraktion einleiten und zugleich den Agonisten hemmen (negative Rückkopplung). Es kommt zu einer (minimalen) konträren Bewegung, die wiederum eine negative Rückkopplung, diesmal in umgekehrter Richtung, auslöst. Ähnlich einer Kettenreaktion lösen so die ablaufen-
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den Reflexe jeweils die nachfolgenden aus. Das Wechselspiel der beiden konkurrierenden Muskeln läuft so schnell ab, dass die Bewegung äußerlich glatt erscheint. Die Innervation kann gegensinnig auf die Gegenseite des Körpers (kontralateral) übertragen werden, so dass die Beugemuskulatur gehemmt wird und die antagonistisch wirkende Streckmuskulatur einem fördernden Einfluss unterliegt. Diese zweiseitige reziproke Innervation stellt eine entscheidende Grundlage für das Zustandekommen von Fortbewegungsvorgängen dar. Die Stärke der durch sensorische Rückkopplung bewirkten Effekte kann für verschiedene Bewegungen stark variieren, z.B. kann bei stark umweltinteraktiven Verhaltensweisen wie dem Laufen der Einfluss der sensorischen Rückkopplung dominierend sein. Sie ist auch für den Übergang von einer Bewegungsphase zur nächsten entscheidend. Rhythmus und Frequenz von Gliederbewegungen bei komplizierten Bewegungen werden daher schon ganz peripher durch die Modifikation der Motoneurone beeinflußt. So verändert sich bspw. die Beschleunigungsphase durch Kontraktion der Agonisten von selbst, wenn die Eigenschwingung etwa der Beine durch schwere Stiefel verlangsamt oder die Geschwindigkeit durch Reibungswiderstände vermindert wird. Darüber hinaus gibt es die Möglichkeit, eine „rhythmische Aktivität“ durch zentrale Verschaltungen (zentrale Mustergeneratoren) zu erzeugen. Neuronale Programme
In den Netzwerken des Nervensystems sind eine Vielzahl räumlich und zeitlich strukturierter Verhaltensmuster vorprogrammiert. Die motorische Mustererzeugung wird im Wesentlichen durch zentralnervöse, quasi festverdrahtete Schaltungen abgewickelt. Ein angemessener Reiz kann die Aktivierung dieser Programme und damit die Expression des Verhaltensmusters auslösen. Die Auslösung der als „fixed action pattern“ bezeichneten motorischen Antwort kann einer einfachen Entscheidungsleistung gleichgesetzt werden. Als Folge dieser kommt es zu einer Aktivierung von motorischen Verschaltungen, die dann einen koordinierten Ablauf von neuromuskulärer Erregung ermöglichen. Je nach Art der „fixed action pattern“ kann die motorische Koordination sowohl unabhängig von weiteren sensorischen Reizen stattfinden (z.B. bei schnellen, ballistischen Greif- oder Fluchtreaktionen) als auch davon in hohem Maße beeinflusst werden. 3.3.2.3.1.3
Lernen und Üben von Bewegungen
Eine Vorstellung von der Komplexität bewegungsinformatorischer Vorgänge, die wir spielend leisten, bekommt man erst dann, wenn man einen Bewegungsvorgang auszuführen versucht, der einem selbst neu ist. Der unglücklich wirkende erste Versuch Schlittschuh zu laufen, gibt ein Bild von der informatorischen Schwierigkeit des Bewegungsablaufs. Diese Schwierigkeit wird erst dadurch beherrschbar, dass das Gehirn in der Lage ist, motorische Einzelaktionen und gesamte Bewegungsabläufe im Laufe der Zeit fest zu speichern und damit zunehmend automatisiert auszuführen, wodurch höhere Nervenzentren entlastet werden können (LUCZAK 1983).
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Die beobachtete Lernphase entspricht der Zeit, die zur geeigneten Zusammenstellung und zur Korrektur der Ablaufprogramme erforderlich ist. Im Rahmen des supraspinalen Teils werden Korrekturprogramme auf der Höhe des Kleinhirns, welche den Einfluss der Schwerkraft, Beschleunigung und Steuerkraft berücksichtigen, herangezogen. Bei ständigem Wiederholen gleicher oder ähnlicher Verarbeitungsprozesse werden die hierbei gebildeten Bewegungsmuster zunehmend als feste Engramme, die sich wiederum aus einer Kombination bereits vorhandener Bewegungsmuster zusammensetzen können, gespeichert. Dabei werden diejenigen Programmteile, die nur geringfügig veränderlich sind, an tiefer gelegene Systeme delegiert, so dass sie näher am Effektor und über kürzere und schnellere Bahnen Einfluss nehmen bzw. zugeschaltet werden können. Diese Engramme zeichnen sich durch extrem kurze Zugriffszeiten aus. Grundsätzlich kann gesagt werden, dass mit Übung der Umfang der vorgefertigten Teilprogramme und damit die Komplexität derjenigen Bewegungen, die unbewusst ausgeführt werden können, anwächst. Mit abnehmender Hierarchiestufe sinkt sowohl die Bewusstseinsfähigkeit als auch die Flexibilität der Ausführungsweise, andererseits steigt die Ausführungsgeschwindigkeit. „Übung läuft damit auf eine Spezialisierung hinaus“ (PAWLIK 1968), in deren Verlauf eine Entlastung der höheren Regulationsebenen stattfindet. Insbesondere ist es wichtig zu erwähnen, dass bestimmte motorische Aktionen zunächst willkürlich oder unwillkürlich ausgeführt werden, um vermehrt Informationen über die Eigenschaften der äußeren materiellen Substanzen bzw. des Steuersystems zu gewinnen. Derart intendierte Bewegungen schießen zu Beginn deshalb meist über das Ziel hinaus und laufen erst nach mehrmaliger Wiederholung gleichmäßig und schnell ab. Hierbei kommt kognitiven Antizipations- und Nachverarbeitungsprozessen (in Phasen der Vorbereitung und Interpretation) gegenüber der eigentlichen Realisationsphase entscheidende Bedeutung zu. In ihnen vollzieht sich der Aufbau eines „inneren Modells“ oder „operativen Abbilds“ der Tätigkeit (HACKER 2005). Mit zunehmender Übung werden bestimmte Abläufe mehr und mehr automatisiert, darüber hinaus laufen bereits während der Ausführung einer Handlung die Antizipationsprozesse für eine folgende Handlung ab (NITSCH 1976). Diese Regulationsvorgänge sind nicht sämtlich bewusstseinspflichtig und zum Teil nicht einmal bewusstseinsfähig. Bewusstseinspflicht kann bei Sonderbedingungen (etwa beim Erlernen), jedoch nicht im Normalfall vorliegen, das Bemühen um bewusste Erfassung stellt vielfach sogar selbst eine Störung der Bewegungsführung dar (HACKER 2005). Bei einer hochgeübten Tätigkeit im Sinne eines automatischen Ablaufs der gespeicherten Unterprogramme bleibt das Bewusstsein frei. Es steht gewissermaßen nur im Hintergrund, um in Notfällen eingreifen zu können, kann sich also mit anderen Dingen beschäftigen. Erst dann, wenn im peripheren Bereich Störungen auftreten, welche die Flexibilität der Unterprogramme übersteigen, sind Programmsprünge zur höheren Programmebene und später auch bewusste, visuell überwachte Eingriffe notwendig (Reafferenzprinzip). Man kann deshalb den Ablauf eines eingeschliffenen Bewe-
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gungskomplexes als Ergebnis der Aktivität eines äußeren, visuellen (telerezeptiven) Funktionskreises und eines inneren (propriozeptiven) Kreises betrachten. Generell ist festzustellen, dass alle Arten von Bewegungen nicht in erster Linie als efferent-effektorisches Phänomen betrachtet werden können, sondern als afferentsensorisches. Zielgerichtete Bewegungen sind an einen ständigen Zufluss sensorischer Afferenzen gebunden. Bzgl. des Behaltens bzw. Vergessens motorischer Lernleistungen kommt man übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass „Bewegungsfertigkeiten für Vergessen bemerkenswert resistent sind“ (ULICH u. TRIEBE 1989; CRATTY 1975). Es gibt Engramme, z.B. das Schreiben des eigenen Namens und andere Handfertigkeiten, die durch jahrelanges Üben praktisch nie mehr vergessen werden. CRATTY (1975) sieht als weitere Erklärung für das im Vergleich zu verbalen Erinnerungsleistungen auffallend gute Langzeitgedächtnis für die Ausführung von motorischen Leistungen, v.a. den „Rhythmus“ der meisten Bewegungsaufgaben. 3.3.2.3.2 3.3.2.3.2.1
Analyse des motorischen Verhaltens Reaktions- und Bewegungszeiten
Von Bedeutung für praktische Fragestellungen ist die Tatsache, dass aufgrund der geschilderten neuralen Steuerungs- und Regelungsprozesse bei der Bewegungskontrolle eine Reihe von Verzögerungen entstehen, die den Bewegungsablauf entscheidend beeinflussen. Zunächst spielen Signallaufzeiten eine Rolle, die im spinalmotorischen System bei Geschwindigkeiten von 70 bis 110 m/s in der Größenordnung von 6 - 25 ms für die Motoneurone des Rückenmarks liegen. Zusätzliche Verzögerungen treten in den Verbindungen der Motoneurone auf, wobei Zeiten von 1 - 5 ms beim Eigenreflex angesetzt werden müssen. Fasst man die einzelnen Verzögerungen zusammen, so lässt sich eine mittlere Zeit von 20 - 50 ms für das Einsetzen von Eigenreflexen und von 50 - 80 ms für Fremdreflexe abschätzen. Es dauert wesentlich länger, bis ein neuer Gleichgewichtszustand durch den „Halteregler“ des Eigenreflexes ausbalanciert ist (bis 100 ms). Unterschiede zwischen Reflextätigkeit im Arm- und Beinbereich finden sich in der Größenordnung 8 - 18 ms. Zusätzlich sind auch schnelle Eingriffe in das periphere motorische Geschehen über direkte Bahnen von kortikalen Arealen her möglich. Die kürzeste Signallaufzeit vom Rückenmark zu kortikalen Zentren beträgt etwa 4 ms, der schnellste Pfad vom motorischen Kortex zu den Motoneuronen benötigt etwa 3 ms. Werden für einfachste kortikale Verarbeitungsvorgänge 15 bis 20 ms addiert, dann resultieren Minimalreaktionszeiten innerhalb des motorischen Systems in der Größenordnung 45 bis 50 ms. Wird eine motorische Reaktion nicht über die dem motorischen System direkt zugeordneten Rezeptoren, sondern über sensorische Rezeptoren ausgelöst, so sind aufgrund der zusätzlichen Reizverarbeitungs- und -verknüpfungszeit wesentlich längere Reaktionszeiten zu erwarten. Diese liegen um 220 ms für optische Reize, 160 ms für akustische Reize und weniger als 100 ms für taktile Reize. Diese Werte sind jedoch nur erreichbar, solange keine qualitative oder quantitative Beurtei-
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lung des sensorischen Reizes gefordert wird. Andererseits können damit auch wesentlich komplexere Informationen aufgenommen und in die motorische Koordination einbezogen werden. Für die praktische Bewegungsausführung ist die unterschiedliche Laufzeit innerhalb des visuellen (bewussten) und des inneren (unbewussten) Regelkreises von entscheidender Bedeutung. Daraus wird ersichtlich, dass der Gewinn an Bewegungsgenauigkeit durch visuelle Kontrolle auf Kosten der Bewegungsgeschwindigkeit erkauft werden muss. Eingeübte und optimal schnelle Bewegungen zeichnen sich folgerichtig durch eine möglichst kurze visuelle Kontrollphase aus, die erst nahe am Zielpunkt einsetzt. Da bei einer Bewegung nicht nur die äußere Kraftaufbringung, sondern auch die Massenträgheitskräfte, die Dämpfungskräfte und die elastischen Kräfte des Sehnen-, Muskel- und Bänderapparats eine wesentliche Rolle spielen, führen verschiedene Bewegungsgeschwindigkeiten zu sehr unterschiedlichen Muskelund Koordinationsbeanspruchungen. In Experimenten fand PFAHL (1924) ein sog. optimales Elastizitätstempo für die Pendelschwingungen von Fingern (f = 6 Hz), Hand (f = 3 Hz) und Unterarm (f = 1 Hz). Sowohl bei den Bewegungen, die langsamer erfolgen, als auch bei den Bewegungen, die schneller erfolgen, wird der größte Teil der Muskelkraft nur zum Beschleunigen und Abbremsen aufgewendet. Bei den Bewegungen im Elastizitätstempo ist die aufzuwendende Muskelkraft dagegen minimal. Die zeitliche Regulation von Bewegungen wird nicht nur durch äußere Signale beeinflusst, sondern wesentliche Gesetzmäßigkeiten werden auch auf antizipierte Informationen über geforderte Resultate und Ausführungsbedingungen hin im Bewegungsentwurf und in der Bewegungsausführung wirksam. Gemeint ist hierbei das für gezielte und geführte Bewegungen nachgewiesene ZeitkonstanzPhänomen der Bewegung. Bei der Regulation wird durch integrative Verarbeitung antizipierter Daten über zu überbrückende Entfernungen und über die Zielgröße der Zeitaufwand für die Bewegung unabhängig von der Bewegungsweite relativ konstant gehalten (SCHMIDTKE 1960; THOMAS 1973). Für geführte Bewegungen gilt eine analoge Gesetzmäßigkeit, die DERWORT (1938) als „Regel der konstanten Figurzeit“ formulierte: Das Umfahren eines großen Kreises z.B. dauert nicht wesentlich länger als das eines kleinen. Die zeitlichen Parameter sind charakteristisch für die jeweilige Bewegungskonfiguration, aber nur wenig abhängig von deren Größe. Allen Invariabilitäten ist gemein die vorrangige Bestimmung der zeitlichen Bewegungsparameter aus den Regulationsbedingungen, nämlich der visuell vermittelten Vorwegnahme der Bewegungsbahn mit ihren Knick-, Umkehr- und Wendepunkten, nicht aber aus physikalischen oder anatomischen Ausführungsbedingungen. 3.3.2.3.2.2
Grenzen der menschlichen Leistungsfähigkeit
Die Informationsausgabe lässt sich regelungstechnisch gut beschreiben, wie bereits in Kapitel 3.3.1.2.3 dargelegt wurde. Die Betrachtung der Reglerfunktion des Menschen ist natürlich nur innerhalb des Rahmens seiner Leistungsfähigkeit mög-
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lich. Dies bezieht sich sowohl auf die spektrale Zusammensetzung des Führungssignals als auch auf das Verhalten der Regelstrecke. Die obere Grenzfrequenz wird bestimmt durch die minimale Reaktionszeit des Menschen. Geht man davon aus, dass zur optischen Wahrnehmung der Bewegung eines Punkts ca. 200 ms notwendig sind, und nimmt man für den Verlauf der Bewegung eine Sinushalbschwingung an, so ergibt sich für das Führungssignal eine obere Grenzfrequenz von max. 2,5 Hz (BUBB 1993). Die obere Grenzfrequenz der Ausgangsgröße kann jedoch, bedingt durch die Massenträgheit der bewegten Elemente, noch deutlich niedriger liegen. Für sehr langsam veränderliche Größen gibt es ebenso eine Grenze, unterhalb derer das menschliche Verhalten nicht ohne weiteres mit einem Reglerverhalten beschrieben werden kann. Sie wird bestimmt durch die Schwelle der Bewegungswahrnehmung. Legt man die von JOHANNSEN et al. (1975) angegebene absolute Bewegungsschwelle von 1'/s bis 2'/s und einen sinusförmigen Bewegungsverlauf zugrunde, so ergibt sich für das Führungssignal eine untere Frequenz fmin, die von der Bewegungsamplitude D (in Grad) wie folgt abhängt: f min
0, 017...0, 033 > Hz @ . 2S D
(3.23)
Darüber hinaus ist die zeitliche Vorhalt- bzw. Verzögerungsbildung des Menschen als Regler begrenzt. Daher kann eine sehr träge reagierende Regelstrecke nicht ohne weiteres im Sinne einer Regelung beherrscht werden. Dies ist bspw. bei der Steuerung von großen Schiffen mit ihrer enormen Trägheit von entscheidender Bedeutung. Der Mensch kann nur eingeschränkt ein „Gefühl“ für das Verhalten eines solchen Systems entwickeln, daher werden solche Maschinen bevorzugt mit Hilfe von Modellen gesteuert. 3.3.2.3.3 Sprache Sprache stellt das erfolgsreichste Kommunikationsmedium des Menschen dar. Sie verfügt über eine kurze Kodierung und ist deshalb gut speicherbar und übertragbar. Sprache besitzt jedoch den Nachteil, dass kleine Fehler in der Dekodierung, das heißt beim Sprachverstehen, zu großen Auswirkungen, also Missverständnissen zwischen Sender und Empfänger führen können. RECHENBERG (1994) bezeichnet Sprache bzgl. dieser Eigenschaft als „schwach kausal“. Bei der Kommunikation zwischen Menschen und (determinierte Befehle benötigenden) Maschinen besitzt die Sprache heute noch eine gegenüber anderen Formen der menschlichen Informationsabgabe geringere Bedeutung (siehe Kap. 10.1.2.4.5). Sprache dient nicht nur der Informationsübermittlung, sie ist auch notwendig, um über Begriffsbildung für bestimmte Tatbestände eine ökonomische Speicherung im Gedächtnis zu erreichen. Dies bedeutet, dass ein Begriff als ein sehr schneller und effektiver Zugang zu gespeicherten Informationen fungieren kann. Hier soll Sprache als gesprochene Informationsausgabe verstanden werden, im Gegensatz zu geschriebener Sprache, die nach der Schreibform (z.B. Handschrift
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oder Schreiben mit dem Computer) unter den Arten von Bewegungen eingeordnet werden kann. Zur Bildung von Sprache werden Stimmorgane genutzt. Dabei werden Stimmlaute prinzipiell wie bei einem Blasinstrument gebildet. Dazu sind ein „Luftraum“ oder Klangkörper (Trachea, Bronchien etc.) und ein Spalt mit schwingungsfähigen Bändern (Stimmbänder), von dem die Luft über ein „Ansatzrohr“ (Rachen, Mundund Nasenhöhle) in den Luftraum strömt, notwendig. Die Stimme kann in einer Vielzahl von Parametern variiert werden. Die Lautstärke wird über die Stärke des ausgestoßenen Luftstroms, der Grundton über die Spannung der Stimmlippen und die Weite der Stimmritze und die Klangfarbe über die Größe und Form des Luftraums verändert. Die Muskulatur des Kehlkopfes stellt Stimmritze und -bänder ein. Dabei existiert eine neuronale Rückkopplung von Kehlkopfmuskulatur zu den kortikalen Zentren der Sprachbildung, was für die Feinabstimmung der Sprache wichtig ist. Im Sprachkortex findet in einem primären Zentrum das Verständnis von Sprache statt, während ein sekundäres Zentrum die motorische Steuerung übernimmt. Die wesentlichen Informationen der menschlichen Sprache liegen in einem Frequenzbereich von ca. 100 Hz bis 3000 Hz und damit im Bereich größerer Sensibilität des auditiven Systems (siehe Kap. 9.1.2). Technische Systeme sollten jedoch auch einen weiteren Bereich übertragen. So gibt es Laute, z.B. Zischlaute, die in höheren Frequenzbereichen liegen und die Kommunikation deutlich verbessern. Stimmlaute werden durch einen Grundton und Klangfarben (Formanten) erzeugt. Um Stimmlaute zu Bedeutungseinheiten (Morpheme) zusammenzufassen, werden Vokale und Konsonanten benutzt. Vokale unterscheiden sich bei gleichem Grundton (-frequenz) in der Art der beigemischten Klangfarben, Konsonaten im Bildungsort (z.B. Lippen bei P, B, W, F, M) und der Bildungsart (z.B. Reibelaute bei F, W, S, Ch). Morpheme können Worte sein (z.B. Haus, Auto, aber), Suffixe (z.B. „s“ bei der Pluralbildung), Präfixe als Worterweiterungen (Un-, Anti- etc.), aber auch Laute, die nach sozialer Vereinbarung unter bestimmten Voraussetzungen notwendig werden können, wie z.B. „hm“ bei Sprechpausen, nach denen der Sprecher weitersprechen wird. Morpheme sind im Wesentlichen syntaktisch definiert, geben jedoch in ihrer Kombination nur eingeschränkt Sprache wieder. Neben der richtigen Bildung von Morphemen ist die richtige Kombination wichtig. So ist ein Satz, der über bestimmte Tatbestände Auskunft geben soll, durch bestimmte Regeln zu seiner Bildung charakterisiert, z.B. durch Subjekt-PrädikatObjekt Bildung. Wichtig für eine Interpretation bzw. semantische Deutung von Sprache ist dabei zusätzlich die Betonung einzelner Objekte des Satzes, z.B. durch Lautstärkenverschiebung, Tonhöhenverschiebung und leichte Veränderung der Morpheme (z.B. zeitliche Verzögerungen). Auch der Kontext, in dem Sprache stattfindet, bestimmt in gewissen Bereichen die Bedeutung eines Satzes. Sprache dient demnach, nicht zuletzt wegen der vielen verschiedenen Variationsformen und oft nur unzureichend und unscharf definierter Konventionen, in erster Linie zwischenmenschlicher Kommunikation. Aber auch hier sind, wie die Sprachübermittlung
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über weite Entfernungen z.B. per Telefon zeigt, verschiedene technische Gestaltungsaspekte zu berücksichtigen. Um beim Hörer keinen verfälschten Eindruck entstehen zu lassen, gilt grundsätzlich, Sprache möglichst wenig zu modifizieren (z.B. Frequenzveränderungen), und wenn, dann nur in den Fällen, wo ohne Veränderung keine korrekte Sprachwahrnehmung mehr möglich wäre (z.B. Lautstärkeänderungen). Welche Bedeutung Sprache in sozialer Interaktion hat, wird bereits in der Antike als „Rhetorik“ wissenschaftlich-philosophisch aufgegriffen, sowie gelehrt und gelernt. Um Sprache trotz ihrer großen Variationsbreite technisch verarbeiten zu können, existieren für verschiedene Anwendungsgebiete formalisierte Sprachen, die durch eine technische Sprachinterpretation einer gesprochenen Anweisung maschinelle Ausführungsvorschriften zuordnen (siehe Kap. 10.1.2.4.5). 3.3.2.3.4 Weitere Formen der Informationsabgabe Prinzipiell sind außer Bewegungen und Sprache noch andere Formen der Informationsabgabe bekannt. Diese werden jedoch bislang nicht technisch genutzt, sondern besitzen hauptsächlich Aspekte sozialer Kommunikation. Dazu gehören z.B. Stoffabsonderungen durch die Schweißdrüsen der Haut bzw. die bewusste Verfälschung von Körpergerüchen mittels Duftstoffen, mit denen eine Person bewusst oder unbewusst Informationen an die Umgebung abgibt. 3.3.3
Bewertung der menschlichen Informationsverarbeitung
Die Intensität der Informationsverarbeitungsprozesse des Menschen bei informatorischer Arbeit, die in modernen Produktions- und Dienstleistungssystemen stark an Bedeutung gewinnt, kann begrifflich vereinfacht als mentale Beanspruchung bezeichnet werden und soll nachfolgend analysiert werden. 3.3.3.1
KonzeptionelleĆGrundlagenĆ
Für den Begriff der Beanspruchung existiert eine Vielzahl von Definitionen. Einen arbeitswissenschaftlichen Ansatz stellt das in Kapitel 1.5.1.2 bereits ausführlich erläuterte Belastungs-Beanspruchungs-Konzept dar, das in diesem Kapitel lediglich mit Bezug auf die Bewertung der menschlichen Informationsverarbeitung ergänzt werden soll. Nach diesem Konzept ist Beanspruchung (workload, strain) die beim arbeitenden Menschen hervorgerufene physische und psychische Reaktion auf eine von außen wirkende physikalische und informatorische Belastung (input load, task demands, stressors). In welchem Maße der Mensch bei einer bestimmten Tätigkeit beansprucht wird, hängt sowohl von externen als auch von internen Faktoren ab. Die Belastung lässt sich als Summe der objektiven Anforderungen an den Menschen durch verschiedene messbare Belastungsgrößen und qualitativ beschreibbare Belastungsfaktoren bestimmen, die sich aus der Aufgabe, den Ausführungsbedingungen und den Umgebungsbedingungen ergeben und als
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externe Faktoren auf den Menschen einwirken. Unter dem Begriff der internen Faktoren werden die individuellen Eigenschaften des Menschen zusammengefasst. Diese Bedingungen können im Zeitraum der Aufgabendurchführung, der bspw. durch die Schichtdauer definiert ist, konstant oder variabel sein. Als konstante Einflussgrößen sind Ausbildung, Trainingszustand und Disposition anzusehen. Kondition und Motivation hingegen sind in diesem zeitlichen Rahmen als variabel anzunehmen. Es kann während der Tätigkeit zu einer Rückkopplung der Beanspruchung auf die zeitvariablen individuellen Faktoren kommen. Bei zu hoher Beanspruchung sinkt z.B. die Kondition. Unterforderung führt zu Monotonie und im Weiteren zu einer daraus resultierenden Motivationsminderung. Die Durchführung einer identischen Tätigkeit unter identischen externen Bedingungen, d.h. bei objektiv gleicher Belastung, kann durch die Variabilität der individuellen Faktoren sowohl bei einem Menschen an zwei unterschiedlichen Zeitpunkten eines beliebigen Zeitraums (intraindividuell) als auch bei zwei unterschiedlichen Personen an einem Zeitpunkt (interindividuell) Unterschiede hinsichtlich der resultierenden Beanspruchung aufweisen. Aus dieser Feststellung folgt, dass es für die Abschätzung der mit einer Aufgabendurchführung verbundenen Beanspruchung nicht ausreicht, die objektiv vorliegenden Belastungsfaktoren zu bewerten. Die Bewertung der informatorischen Belastung kann auf der Grundlage der in den vorherigen Abschnitten eingeführten Konzepte und Variablen der Signalentdeckungstheorie, Informationstheorie sowie Regelungstechnik erfolgen. Bspw. kann die informationstheoretische Entropie dazu verwendet werden, die Vielfalt der Handlungsalternativen bei Wahlreaktionsaufgaben zu quantifizieren und korrespondierende Informationsflüsse im Zeitbereich zu erfassen. Regelungstechnische Größen ermöglichen z.B. eine präzise Beschreibung von Schnitt- und Grenzfrequenzen. Die durch die Aufgabenbearbeitung entstehende Beanspruchung kann sich sowohl im körperlichen (physischen) Bereich als auch im geistig-seelischen (psychischen) Bereich einstellen. Physische Beanspruchung beschreibt die Auswirkungen von Belastungen des Muskel- und Kreislaufsystems. Infolge von körperlicher Belastung resultierende Beanspruchungsreaktionen äußern sich in messbaren Zustandsänderungen des menschlichen Körpers. Die damit verbundenen Aktivitätsänderungen des Herz-Kreislaufsystems können über physiologische Parameter wie Herzfrequenz, Atemfrequenz, Atemvolumen, Blutdruck, Körpertemperatur etc. erfasst oder subjektiv bewertet werden (siehe Kap. 3.2). An das Belastungs-Beanspruchungs-Konzept ist auch DIN EN ISO 10075 angelehnt. Nach dieser Norm bezeichnet der Begriff der psychischen Belastung „die Gesamtheit aller erfassbaren Einflüsse, die von außen auf den Menschen zukommen und psychisch auf ihn einwirken“. Die psychische Beanspruchung ist „die unmittelbare (nicht die langfristige) Auswirkung der psychischen Belastung im Individuum in Abhängigkeit von seinen jeweiligen überdauernden und augenblicklichen Voraussetzungen, einschließlich der individuellen Bewältigungsstrategien“. Die mentale Beanspruchung ist ein Faktor der psychischen Beanspruchung und bezeichnet den Anteil der Gesamtbeanspruchung, der durch Belastungen aus In-
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formationsaufnahme, -verarbeitung und -umsetzung hervorgerufen wird. Eine derartige informatorische Belastung liegt z.B. bei Überwachungs-, Kontroll- und Steuerungstätigkeiten vor. Auch die mentale Beanspruchung ergibt sich aus dem Zusammenwirken interner und externer Faktoren, wobei die externen Faktoren bei der Mensch-Maschine-Interaktion insbesondere durch Eigenschaften des technischen Systems bestimmt sind. In Abb. 3.101 wird der Einfluss technischer Systemeigenschaften durch die Begriffe Aufgabenanforderungen, Vorhandensein von Rückmeldungen oder Systemzuverlässigkeit verdeutlicht. Auch die Auswirkungen einer Fehlbeanspruchung sind hier skizziert.
• Fähig-/Fertigkeiten • Rückmeldung • Systemzuverlässigkeit
• Aufgabenanforderungen • Umweltanforderungen • Müdigkeit
6
zu niedrig
Fehler
mentale Beanspruchung mittel
zu hoch
Fehler
Sicherheit
Abb. 3.101: Einflussfaktoren der mentalen Beanspruchung nach KANTOWITZ u. CAMPBELL (1996)
Als weitere psychische Beanspruchungsart ist von der mentalen Beanspruchung die emotionale Beanspruchung abzugrenzen, die vorwiegend aus den Ausführungsbedingungen, wie Zeitdruck, Lärm, Klima oder zwischenmenschlichen Beziehungen, resultiert und als motivationale oder affektive Begleiterscheinung, bspw. als Langeweile, Angst, Hilflosigkeit, im Arbeitsprozess sichtbar wird (MANZEY 1998; SCHMIDTKE 1993). 3.3.3.2
ModelleĆundĆMethodenĆderĆBeanspruchungsskalierungĆ
Im Gegensatz zur physischen Beanspruchung, die anhand physiologischer Parameter gemessen werden kann und für die Grenzwerte wie bspw. die Dauerleistungsfähigkeit vergleichsweise leicht definiert werden können, besteht für die psychische mentale Beanspruchung keine verbindliche Definition, wie diese Beanspruchung gemessen oder ein Grenzwert festgelegt werden kann. Die im Belastungs-Beanspruchungs-Konzept für die verschiedenen Beanspruchungsarten verwandte Analogie in der Betrachtungsweise kann nur auf einer wie oben beschriebenen, allg. Ebene als gültig angesehen werden, welche die mentale Beanspruchung als eine aus dem Einfluss externer und individueller interner Faktoren resul-
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tierende Reaktion auf eine informatorische Belastung beschreibt. Kenntnisse darüber, wie und mit welcher Intensität im Rahmen der Aufgabendurchführung mentale Arbeit geleistet werden muss, können aber in vielerlei Hinsicht genutzt werden. Um die Erfüllung von Gestaltungszielen bei der Auslegung und Nutzung von Mensch-Maschine-Systemen bewerten zu können, werden diese Systeme häufig einer Bewertung auf der Grundlage eines breiten Instrumentariums an Methoden zugeführt. Insbesondere bei informatorischer Arbeit wird die mentale Beanspruchung als Kriterium verwandt, um die Anforderung einer „ergonomisch günstigen“ Beanspruchung ingenieurwissenschaftlich überprüfen zu können. Ein anderer ergonomischer Bewertungsaspekt ist bspw. die Überprüfung der Gebrauchstauglichkeit, die mit Methoden des Usability-Engineering vollzogen werden kann (siehe Kap. 10.2.1). Eine Verknüpfung zur Beanspruchungsbewertung ergibt sich durch die Bewertung des im Verlauf der Mensch-Maschine-Interaktion entstehenden Situationsbewusstseins (siehe Kap. 3.3.2.2.4). Inhaltlich werden hier vorrangig Fragen der Schnittstellen-, insbesondere der Anzeigengestaltung, behandelt, das Methodeninventar baut jedoch vielfach auf dem der Beanspruchungsbewertung auf (siehe GÄRTNER 1997; GRANDT u. GÄRTNER 2002). Neben der Anwendung in der ergonomischen Systembewertung erfährt die mentale Beanspruchung eine wachsende Beachtung bei der Konzeption neuartiger Fahrzeug- und Prozessführungssysteme, insbesondere in Hinblick auf die Anpassung des technischen Systems an den temporär und situativ variablen sowie interindividuell unterschiedlichen Benutzerzustand (operator functional state, siehe Kap. 10.1.2.5.3). Um einen Einblick in den von außen verborgenen Ablauf des Informationsverarbeitungsprozesses zu erhalten, wird im Rahmen der empirischen Bewertung der mentalen Beanspruchung der Versuch unternommen, Parameter zu identifizieren, die mittelbar durch die verschiedenen Verarbeitungsphasen beeinflusst werden. Hierzu wurden verschiedene empirische Methoden wie x psychophysiologische Verfahren (physiologische Beanspruchungsmodelle), x Leistungsmaße (Maße der Hauptaufgabe; behavioristische Beanspruchungsmodelle), x Zweifach-/Nebenaufgaben (behavioristische Beanspruchungsmodelle) und x subjektive Verfahren (psychophysikalische Beanspruchungsmodelle) entwickelt, die mit spezifischen Vor- und Nachteilen behaftet sind. DIN EN ISO 10075-3 nennt weitere Verfahren, bezieht sich jedoch auf die Erfassung sowohl der psychischen Belastung als auch der resultierenden Beanspruchung. In DIN EN ISO 10075-3 und in PFENDLER et al. (1995) sind Testgütekriterien für Verfahren aufgeführt, die zur Bewertung folgender, wesentlicher Eigenschaften der Verfahren herangezogen werden können: x Objektivität: Es soll sichergestellt sein, dass Messergebnisse durch das Verfahren, den Probanden und im Rahmen der Auswertung nicht subjektiv verfälscht werden können.
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x Validität: Ein Testverfahren soll die mentale Beanspruchung genau messen. Die Möglichkeit, verschiedene Belastungsstufen zu differenzieren, wird mit Sensitivität beschrieben. x Diagnostizität: Ein Testverfahren soll zwischen Beanspruchungsfaktoren (Anzahl) und ihren Anteilen (Wichtung) differenzieren. x Reliabilität: Im zeitlichen Abstand wiederholte Messungen sollen unter ansonsten gleichen Versuchsbedingungen zu gleichen (konsistenten) Ergebnissen führen. x Interferenzfreiheit: Ein Testverfahren darf die Durchführung der Aufgaben am zu bewertenden Arbeitsplatz nicht beeinflussen. x Augenscheinvalidität: Ein Testverfahren soll so gestaltet sein, dass es dem Probanden logisch erscheint, dass die Anwendung des Verfahrens zu den gewünschten Ergebnissen führt. x Praktikabilität: Ein Testverfahren soll in Echtsituationen anwendbar sein. Dies wird bspw. bestimmt durch Platzbedarf und Störanfälligkeit der Geräte, Störbarkeit der Methode, Kostenaufwand, Personalbedarf, Implementierung, Durchführung und Auswertung der Messung, Trainingsaufwand für Versuchsleiter und -personen. x Anwendungsbreite: Ein Testverfahren soll bei einem möglichst breiten Aufgabenspektrum anwendbar sein. Eine Bewertung der verschiedenen Verfahren hinsichtlich dieser Testgütekriterien findet sich bei KRAMER (1991) und PFENDLER et al. (1995). Die Realibilität der verschiedenen Verfahren kann durch die Anwendung der sogenannten Generalisierbarkeitstheorie (G-Theorie) bestimmt werden (SCHÜTTE 2009; NACHREINER u. SCHÜTTE 2002). Erfolgt die Untersuchung eines Messverfahrens auf Grundlage der G-Theorie, ist die Prüfung der Generalisierbarkeit im Rahmen experimenteller oder quasi-experimenteller Ansätze, mit einer Variation von Bedingungen, die die unterschiedlichen Anwendungsbereiche des Messverfahrens repräsentieren, vorzunehmen (DIN EN ISO 10075-3). 3.3.3.2.1 Psychophysiologische Beanspruchungsmessung In Kapitel 3.3.1.1.2 wurde bereits erläutert, dass Informationsverarbeitung „Kosten“ und Anstrengung verursacht, wie sich in der Veränderung physiologischer Größen zeigt. Dies macht man sich zu Nutze, um mentale Beanspruchung zu erforschen und Informationsverarbeitungstätigkeiten zu beurteilen. Die Bereitschaft des Gehirns, Informationen zu verarbeiten, ist unter ständiger Kontrolle des autonomen Nervensystems. Das autonome Nervensystem ist aus zwei Teilen aufgebaut: ein (ortho-)sympathisches Nervensystem und ein parasympathisches Nervensystem. Beide Systeme haben eine eigene, spezielle Funktion bei der Steuerung der vielen Stoffwechselprozesse im Körper. Das parasympathische Nervensystem stimuliert die anabolen (aufbauenden) Prozesse im Körper, während es die katabolen (Verbrennungs- und abbauenden) Prozesse hemmt. Das sympathische Nervensystem hat einen hemmenden Einfluss auf die anabolen Prozesse und einen stimulierenden auf die katabolen Prozesse. Beide Arten von Prozessen (anabole
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und katabole) sind notwendig für die Anpassung des Körpers an die Erfordernisse der Umwelt. Diese Anpassungen können sowohl kurzfristig als auch längerfristig erfolgen. Es wird deshalb unterschieden zwischen phasischen, tonischen und chronischen Veränderungen (i.Allg. pathologisch oder lebenszyklusbestimmt). Wenn Veränderungen des Informationsverarbeitungssystems eine Zeitspanne von Millisekunden bis wenige Sekunden umfassen, so spricht man von phasischen Veränderungen (Beispiel: Evozierte Potentiale im Elektroencephalogramm (EEG), siehe Kap. 3.3.3.2.1.2). Veränderungen im Bereich von Minuten werden als tonische Veränderungen bezeichnet (Beispiel: Muskeltonus, Epinephrinesekretion). Schließlich kann von chronischen Veränderungen gesprochen werden, wenn sich der Bereich physiologischer Parameter dauerhaft auf ein anderes Niveau (Beispiel: Managerkrankheit, der Cortisolspiegel steigt an, siehe Kap. 3.3.3.2.1.6 verlagert. Komplexe physiologische Reaktionen werden ausgelöst, wenn die automatische Aufmerksamkeitsreaktion oder Orientierungsreaktion auftritt. Sie ist eine autonome Reaktion des Körpers auf bedeutungsvolle Information. Sofort, nachdem die Information wahrgenommen wurde, setzt ein entgegengesetzter Mechanismus, die Habituation, ein: Wenn der Reiz wiederholt wird, tritt allmählich wieder der Normalzustand ein. Eine defensive Reaktion tritt während kontrollierter Informationsverarbeitung auf. Die Intensität einer defensiven Reaktion wird von der Schwierigkeit der Situation bestimmt. Die physiologische Anpassung des Körpers an die Anforderungen mentaler Tätigkeiten erfolgt also in zwei Schritten. Zuerst erfolgt eine generelle Aufmerksamkeitsreaktion (Orientierungsreaktion). Wenn die Information wichtig genug ist, um weitere, kontrollierte Informationsverarbeitung notwendig werden zu lassen, so wird der Organismus durch weitere Anpassungen (defensive Reaktion) in den dazu notwendigen Zustand gebracht. Die physiologischen Reaktionen des Organismus bei der Orientierungsreaktion und der defensiven Reaktion sind in Tabelle 3.16 aufgeführt. Aufgrund praktischer und ethischer Überlegungen bedient sich die Arbeitswissenschaft in aller Regel nur non-invasiver Methoden, d.h. Methoden, die den Körper nicht verletzen. Hierdurch gibt es eine Reihe von Beschränkungen bei der Auswahl der messbaren Parameter, die in folgenden Kapiteln aufgeführt sind. Als Vorteil psychophysiologischer Messverfahren gegenüber anderen Methoden ist nach GRANDT (2004) anzusehen, dass die meisten dieser Verfahren die Möglichkeit der kontinuierlichen Messwerterfassung bieten, sie nur gering mit der Aufgabendurchführung interferieren und als objektiv anzusehen sind, da die Ergebnisse nicht unbemerkt vom Probanden beeinflusst werden können. Physiologische Parameter reagieren sowohl auf unterschiedliche Formen der mentalen Beanspruchung, d.h. intraindividuell, als auch interindividuell auf unterschiedliche Weise. Diese Spezifität physiologischer Messverfahren und die bisher ausgebliebene Festlegung verbindlicher Standards zur Messwerterfassung und -auswertung führten in der Vergangenheit bei einer Vielzahl von Untersuchungen zu teilweise widersprüchlichen Ergebnissen. Als Utopie muss nach langjähriger Anstrengung der Forschung mittlerweile die Möglichkeit angesehen werden, men-
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tale Beanspruchung umfassend und situationsübergreifend anhand eines einzigen Indikators bewerten zu können (GRANDT 2004). Kombinationen physiologischer Parameter liefern jedoch plausible Zustandsdiagramme von Beanspruchung (LUCZAK 1987). Tabelle 3.16: Merkmale der Orientierungsreaktion und der Defensiven Reaktion (nach MULDER 1979) Orientierungsreaktion Phasische Reaktionen auf neue oder signifikante Informationen, d.h. eine automatische Aufmerksamkeitsreaktion
Defensive Reaktion Tonische und phasische Reaktion, die mit kontrollierter Informationsverarbeitung einhergeht (auch effort genannt)
Rezeptorenempfindlichkeit nimmt zu
Muskuläre Vasodilation
Körper dreht in Richtung des Reizes
Herzminutenvolumen steigt
Momentane Tätigkeit stockt
Blutdruck steigt
EMG-Aktivität nimmt zu
Myocardinale Kontraktionskraft steigt
Pupillenerweiterung
Herzschlagfrequenz steigt
Zerebrale Vasodilation
Herzschlagfrequenzvariabilität nimmt ab
Periphere Vasokonstruktion
Hautwiderstand sinkt
Hautwiderstand sinkt
Zunahme der Catecholaminabscheidung
Atemfrequenz sinkt
Blutglucosespiegel sinkt
Herzschlagfrequenz sinkt
Atemfrequenz steigt
Blutdruck sinkt Schnelle
Schnelle Aktivität niedriger Spannung im EEG
Aktivität
niedriger
Spannung
EEG
(Alpha-Block)
3.3.3.2.1.1
Herz-Kreislaufsystem
Das kardiovaskuläre System dient dazu, die ausreichende Versorgung der Körperorgane mit Stoffwechselsubstanzen und den Abtransport von Abbauprodukten sicherzustellen sowie Hormone, Enzyme und Wärme zu befördern. Diese Anforderungen setzen einen jeweils hinreichenden Blutdruck voraus, der lokal in den Körperorganen und zentral durch das Kreislaufzentrum reguliert wird. Die vom Kreislaufzentrum gesteuerte Regulation des Blutdrucks erfolgt – vereinfacht dargestellt – durch vier Stellgrößen: (1) Durch Regulation der venösen Dehnbarkeit (compliance), (2) durch Regulation des peripheren Widerstands der Arterien, (3) durch Regulation des Herzschlagvolumens sowie (4) durch Regulation der Herzrate über den Sinusknoten. Dabei wirkt auf die Herzrate sowohl das sympathische (aktivierende) als auch das parasympathische (hemmende) Nervensystem. Die anderen Stellglieder werden überwiegend durch Änderungen des Sympathikotonus beeinflusst. Der so eingestellte Blutdruck wird über Druckrezeptoren (Barorezeptoren) im Sinusknoten und dem Aortenbogen festgestellt. Die Barorezeptoren beeinflussen bei zu hohem Blutdruck über Nervenimpulse das Kreislaufzentrum und wirken so einer weiteren, vom sympathischen System initi-
Arbeitsformen
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ierten Blutdruckerhöhung entgegen. Diese Rückkopplung wird als Baroreflex bezeichnet. Die Elektrokardiografie ist die Registrierung der in der Regel von der Körperoberfläche abgeleiteten Aktionspotentiale des Herzmuskels. Für eine im arbeitswissenschaftlichen Bereich gebräuchliche MC5-Ableitung zwischen dem Medioclavicular und dem fünften linken Intercostalraum benötigt man drei Elektroden, die im Brustbereich des Probanden fixiert werden. Bei grafischer Darstellung der Messwerte ergibt sich ein Elektrokardiogramm (EKG), das durch mehrere Peaks gekennzeichnet ist (Abb. 3.102). Diese Maxima sind den Kontraktionen der einzelnen Herzkammern zuzuordnen und werden nach ihrer zeitlichen Folge als P, Q, R, S und T-Zacke bezeichnet. Die Kontraktion der linken Hauptkammer wird als höchster Peak sichtbar, der R-Zacke genannt wird.
Abb. 3.102: EKG-Signal im Verlauf eines Herzschlags. Zeitliche Abfolge der Peaks in [ms] aus VAN CAPELLE (1987)
Herzschlagfrequenz
Die Herzschlagfrequenz (HSF) ist die zentrale kardiovaskuläre Größe und reagiert auf verschiedene Belastungsarten. Dies sind insbesondere energetischeffektorische Arbeitsformen und thermische Einflüsse. Ein Einfluss informatorischer Arbeit ist erst bei größerer Aufgabenschwierigkeit oder Zeitdruck nachweisbar (LUCZAK 1987). Messtechnisch kann die HSF mit einer Reihe von Verfahren erfasst werden, die entweder auf der Messung der Erregung der Herzmuskulatur (elektrische Potentiale, Elektrokardiographie, EKG), durch die Herzaktivität verbundene Druckschwankungen im Gefäßsystem oder der Blutfüllung peripherer Gefäße beruhen. Aufgrund starker interindividueller Schwankungen wird in experimentellen Untersuchungen zur Bewertung von Arbeitstätigkeiten in der Regel die gemessene HSF auf einen Basiswert bezogen. Dieser wird im Liegen oder unter geringer konstanter Belastung (z.B. bei leichter Fahrradergometerarbeit) gemessen, was den Vorteil besitzt, dass diese so ermittelten Basiswerte intraindividuell weniger stark schwanken als die in Ruhe gemessenen. Eine tonische Erhöhung der HSF bei gleichbleibender körperlicher Aktivität weist auf eine kontrollierte Verarbeitung hin, also auf eine defensive Reaktion. Auch bei emotionaler Beanspruchung (Aufregung) nimmt die HSF zu. Eine phasische Abnahme
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Arbeitswissenschaft
der HSF ist ein Hinweis auf eine Orientierungsreaktion (ROHMERT u. LUCZAK 1973). Die HSF wird durch verschiedene Faktoren beeinflusst, die eine Anwendung als Beanspruchungsindikator einschränken (BÄRENZ et al. 1994): x Abhängigkeit von Lebensalter, Geschlecht und Konstitution: Die HSF beträgt beim Kind in Ruhe > 100 min-1, beim erwachsenen Mann etwa 72 min1 , bei der Frau etwa 75 min-1. x Abhängigkeit von körperlicher Anstrengung: Die HSF hängt von der Kondition und der Schwere der physischen Belastung ab. x Abhängigkeit von der Körperhaltung: Die HSF ist im Stehen mind. 10 min-1 höher als im Liegen. x Abhängigkeit von klimatischen Bedingungen: Der Blutkreislauf ist in die Thermoregulation des Körpers eingebunden und wird bei starker Hitzebelastung stärker aktiviert. Herzschlagfrequenzvariabilität
Als Maß für die Herzschlagfrequenzvariabilität (auch: Herzratenvarianz, HRV, oder Sinusarrhythmie) lassen sich z.B. der Arrhythmiequotient (ARQ) oder das Leistungsspektrum der HSF heranziehen. Der ARQ stellt dabei ein Maß für die Schwankung der HSF innerhalb eines Zeitintervalls dar. Diese Schwankungen nehmen bei informatorischer oder energetischer Belastung ab (MULDER u. MULDER 1981). Für eine Ermittlung der HRV gibt es eine Vielzahl verschiedener Verfahren, die in unterschiedlichem Umfang mentale Beanspruchungen widerspiegeln (LUCZAK u. LAURIG 1973). Mit Hilfe einer Spektralanalyse lässt sich das Leistungsspektrum der HSF ermitteln. Hierbei finden sich üblicherweise drei relative Maxima, die unterschiedlichen physiologischen Phänomenen zugeordnet werden können. Ein unteres Frequenzband (0,02 bis 0,06 Hz) spiegelt den Regulationsmechanismus der Körpertemperatur wider, das mittlere Frequenzband (0,07 bis 0,14 Hz) repräsentiert Mechanismen der kurzfristigen Blutdruckregulation und das obere Frequenzband (0,15 bis 0,50 Hz) Einflüsse der Atmung. Informatorische Belastungen führen zu einer Abnahme der Energie im mittleren Frequenzband, also der 0,10-Hz-Komponente. Eine tonische Abnahme der HRV wird bei kontrollierter Verarbeitung gefunden (LUCZAK 1987). Die Abnahme der HRV ist auf eine verringerte Empfindlichkeit der Blutdruckrezeptoren (Baro-Rezeptoren) zurückzuführen. Dadurch finden weniger Anpassungen der HSF an Veränderungen im Blutdruck statt, was zu einer Verringerung der HRV führt. Eine Abnahme der HRV ist also ein Indikator für eine defensive Reaktion. VELTMAN u. GAILLARD (1994) stellen fest, dass die HRV bei einfachen Aufgaben hohe Sensitivität für mentale Beanspruchung aufweist. Bei komplexen Aufgaben lässt die Sensitivität jedoch nach. Dies führen sie auf den Einfluss der Atmung zurück, die bei einfachen Aufgaben regelmäßiger ist als in komplexen Aufgabensituationen. Nach VELTMAN u. GAILLARD (1996) kann die Barorezeptor-Sensitivität (BRS) als Indikator für die Flexibilität des Kreislaufsystems bei Änderungen der mentalen Beanspruchung angesehen werden.
Arbeitsformen
401
Respirationsmaße
Respirationsmaße wie Atemfrequenz, Atemzugvolumen oder Sauerstoffsättigung sind in Zusammenhang mit mentaler Beanspruchung in verhältnismäßig wenigen Untersuchungen erhoben worden. Der Proband muss hierbei seine Atemluft einem Atemanschluss (Halbmaske) entnehmen, der mit entsprechenden Gebern ausgestattet ist. Die bei WILSON u. EGGEMEIER (1991) zitierten Arbeiten kommen einheitlich zu dem Ergebnis, dass sich eine Zunahme der Beanspruchung in einem Anstieg der Atemfrequenz widerspiegelt. Nach MANZEY (1998) beschreiben verschiedene Arbeiten neben der Erhöhung der Atemfrequenz auch eine erhöhte Regelmäßigkeit der Atemzüge sowie eine Verringerung des Atemzugvolumens bei mentaler Beanspruchung. Während einer Orientierungsreaktion nimmt die Atemfrequenz ab. Da die Respirationsmaße durch nichtphysiologische Vorgänge wie Sprechen mit beeinflusst werden, sind sie bei der empirischen Bewertung der Beanspruchung am Arbeitsplatz häufig nicht praktikabel. Blutdruck
Der Blutdruck lässt sich direkt blutig messen, indirekt nach Riva-Rocci oder indirekt mittels eines sog. Photoplethysmogramms. Bei der indirekten Methode nach Riva-Rocci werden in der Regel systolischer und diastolischer Druck durch charakteristische Geräuschphänomene bestimmt, die z.B. mit einem Stethoskop in der Ellenbeuge erfasst werden können. Die Erfassung des Photoplethysmogramms nach der Penaz-Methode basiert darauf, dass das Blutvolumen bei Ausübung eines externen Drucks auf eine Arterie konstant bleibt, wenn der externe Druck gleich dem arteriellen Blutdruck ist. Dies setzt voraus, dass der externe Druck dem arteriellen Druck verzögerungsfrei angepasst wird. Bei der Messung des Blutdrucks wird der Gedanke der Penaz-Methode umgekehrt: Es wird zunächst mittels einer aus einer Infrarot-Lichtquelle und einer Photozelle (Abb. 3.103) bestehenden Messstrecke das die Arterie durchfließende Blutvolumen, der sog. Blutvolumenwert oder Photoplethysmogramm, bei entlasteter Arterienwand erfasst. Dieses Blutvolumen stellt den Sollwert eines Servo-Schaltkreises dar. Bei Abweichung des Photoplethysmogramms vom Sollwert wird der über eine Druckmanschette auf die Arterie aufgebrachte externe Druck mittels eines Servoventils erhöht oder vermindert. Das Ziel des Servo-Schaltkreises ist es, den externen Druck zunächst gleich dem Arteriendruck zu halten. Diese Servo-Grundeinstellung des Solldrucks erfolgt bei Beginn der Messung. Während der Messung wird der Manschettendruck ausgehend vom Solldruck periodisch erhöht. Unter langsamer Steigerung des Drucks beginnt das Plethysmogramm bei Erreichen des diastolischen Blutdrucks zu pulsieren. Bei weiterer Steigerung des Manschettendrucks wird die Arterie bei Erreichen des systolischen Blutdrucks vollständig zusammengedrückt, so dass kein Blut mehr die Arterie durchfließt. An diesem Punkt spiegelt der Manschettendruck den arteriellen Blutdruck genau wider.
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Arbeitswissenschaft
Abb. 3.103: Funktionsweise der am Finger platzierten Druckmanschette nach OHMEDA (o.J.)
Eine tonische Zunahme des Blutdrucks bei gleichbleibender körperlicher Aktivität ist ein Indiz für kontrollierte Verarbeitung, also eine defensive Reaktion. Auch bei emotionaler Beanspruchung nimmt der Blutdruck zu. Unter Umständen können Blutdruck und HSF sympathische Reaktionen zeigen, während andere Indikatoren eine parasympatische Reaktion zeigen. Dieses Phänomen wird directional fractionation (LACEY 1967) genannt. Die Messung des Blutdrucks bspw. über den Verlauf eines ganzen Arbeitstages ist eine häufig eingesetzte Methode zur Ermittlung von Beanspruchungsverläufen bei Tätigkeiten mit erhöhten Anforderungen durch das Treffen von Entscheidungen mit hoher Veantwortung (z.B. Arzt, Manager, Pilot). 3.3.3.2.1.2
Gehirnaktivität
Die bioelektrische Tätigkeit des Gehirns kann mittels der Elektroencephalographie (EEG) registriert werden (siehe SCHMIDT 2005). Es handelt sich dabei um Makropotentiale, die die Aktivität großer subkortikaler Neuronenverbände darstellen. Die Potentialschwankungen werden in der Regel mit Elektroden von der Kopfhaut abgeleitet. Bei der EEG-Registrierung wird unterschieden zwischen spontaner und evozierter Aktivität. Bei spontaner Aktivität des Gehirns lassen sich eine Reihe unterschiedlicher Wellenformen oder Rhythmen unterscheiden: x Alpha-Wellen haben eine Frequenz von 8 - 13 Hz. Diese Aktivität entspricht dem normalen Ruhezustand des Gehirns bei gesunden Menschen mit geschlossenen Augen und ist am stärksten am Okzipitallappen. x Beta-Wellen haben eine Frequenz von 14 - 30 Hz. Die Amplitude ist wesentlich kleiner als die der Alpha-Wellen. Alpha-Wellen werden von BetaWellen bei Sinnesreizung oder bei geistiger Tätigkeit unterdrückt. Der Vorgang wird Alpha-Blockierung oder arousal reaction genannt. x Delta-Wellen haben eine Frequenz von 0,5 - 3 Hz und treten während des tiefen Schlafs auf. Gelegentlich können „Spikes“ mit sehr großer Amplitude identifiziert werden, die sog. sleep spindles.
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x Theta-Wellen haben eine Frequenz von 4 - 7 Hz und werden gelegentlich bei Ermüdung festgestellt. LYSAGHT et al. (1989) zweifeln die Praktizierbarkeit der Methode in Feldversuchen an. Die Aussagefähigkeit über Beanspruchung wird von ihnen jedoch anerkannt. O’DONNELL u. EGGEMEIER (1986); SCHMIDTKE (1993) und WIERWILLE (1979) beurteilen die Anwendungsmöglichkeiten des EEG zur Beanspruchungsmessung eher kritisch. Nach BARTELS (1991); KRAMER (1991); OFFENLOCH U. ZAHNER (1990); SKELLY et al. (1988); STERMAN et al. (1988, 1994) und WILSON u. EGGEMEIER (1991) können jedoch mit Hilfe des EEG zum einen Aussagen über die Aufmerksamkeit und Ermüdungserscheinungen und zum anderen über die Art der Hirnaktivität (Verarbeitung visueller/nonvisueller Informationen und motorische Aktivität) getroffen werden. Die mentale Beanspruchung wird häufig mit einer Verringerung der Alpha- und einer Erhöhung der Theta-Aktivität in Zusammenhang gebracht (KRAMER 1991; MANZEY 1998; WILSON u. EGGEMEIER 1991). Die noch unzureichende Validierung von Ergebnissen aus EEGUntersuchungen steht der Übertragbarkeit von Aussagen oft im Wege. Ferner bedingt die Komplexität der zerebralen Funktionen und die Einstreuung von motorisch bedingten Artefakten einen hohen zeitlichen Aufwand in der Analyse von Messwerten. Auch wenn davon ausgegangen wird, dass mit der Elektroenzephalografie ein objektives und sehr differenzierendes Messverfahren zur Verfügung steht, fehlt auch hier für die Anwendung ein allgemeingültiger Maßstab, der den Messergebnissen eindeutig und quantitativ Beanspruchungsintensitäten zuordnet. Wird die zerebrale Aktivität in Abhängigkeit von diskreten Reizen (ereigniskorrelierte Potentiale - EKP; event-related brain potential - ERP) mit VielkanalEEG-Messungen ermittelt, so lässt sich im Zeitbereich ein charakteristischer Potentialverlauf ermitteln, der nach Vorzeichen und Latenzzeit in mit N100 (negative Amplitude nach 100 ms, sog. contingent negative variation, kurz CNV, BRUNIA u. VAN BOXTEL 2001; WALTER et al. 1964) oder P300 (positive Amplitude nach 300 ms) bezeichnete Komponenten zerlegt werden kann. Die innerhalb der ersten 100 ms auftretenden Peaks werden physikalischen Eigenschaften des Reizes zugeordnet (exogene Komponenten); die Peaks innerhalb von 200 bis 300 ms nach Reizdarbietung spiegeln psychologische (endogene) Aspekte wider (KRAMER et al. 1983). Die Amplitude der CNV erhöht sich durch Zeitdruck, wohingegen sie durch Übung in der Regel sinkt (FALKENSTEIN et al. 1994a, 1999). Bei der Mensch-Maschine Interaktion ist sie größer bei Personen, die wenige Fehler machen im Vergleich zu Personen mit schlechten Leistungen (HOHNSBEIN et al. 1998). Der P300-Amplitude wird die größte Bedeutung als Indikator der Allokation von Verarbeitungs- und Aufmerksamkeitsressourcen eingeräumt (FALKENSTEIN et al. 1994b, POLICH 2007). KRAMER (1991) führt eine Vielzahl von Studien auf, die eine Minderung der P300-Amplitude bei steigender informatorischer Belastung beschreiben.
404
3.3.3.2.1.3
Arbeitswissenschaft
Bewegungsapparat
Eine motorische Einheit besteht aus einem Alpha-Motoneuron des Vorderhorns des Rückenmarks, seinen Ausläufern (Axonen) und allen von diesem Neuron innervierten Muskelfasern. Die Zahl der innervierten Muskelfasern und damit die Größe und das Territorium der motorischen Einheiten variiert entsprechend der notwendigen Präzision der Muskelaktion. Je kleiner die motorische Einheit, desto präzisere Bewegungen kann sie vermitteln. Die elektrische Aktivität, die an der Hautoberfläche gemessen werden kann, entspricht in der Regel der Aktivität mehrerer motorischer Einheiten. Tremoraktivität
Ein Tremor wird als eine schwingende, unwillkürliche Bewegung der Muskelaktivität um eine Gleichgewichtslage mit einer Frequenz von mehr als 0,5 Hz definiert. Als Indikator mentaler und emotionaler Beanspruchung ist der Tremor umstritten. Das Entstehen eines Tremors ist in der Regel pathologisch und deswegen für arbeitswissenschaftliche Fragestellungen weniger interessant, oder hat seinen Ursprung in der Ermüdung einzelner Muskeln und ist deswegen eine Folge eher körperlicher Tätigkeiten. Erst bei hohen Belastungen scheinen Veränderungen der Tremoraktivität signifikant zu sein (LUCZAK 1987). Die Amplitude eines Tremors nimmt unter affektiver Erregung zu, nicht aber die Frequenz. Ein Tremor, der Folge eines erhöhten Muskeltonus ist, kann bewusst reduziert werden. Elektromyografie
Die Idee, die Elektromyografie (EMG, siehe Kap. 3.2.9.2) als Indikator mentaler Arbeit heranzuziehen, basiert darauf, dass die Aktivität einer willkürlichen Muskelanspannung, die nicht für die Ausführung motorischer Tätigkeiten notwendig ist, den allg. Aktivierungszustand des zentralen Nervensystems widerspiegelt. Das Oberflächen-Elektromyogramm, das als Interferenzmuster von den Aktivitäten einzelner motorischer Einheiten aufzufassen ist, hat i.Allg. eine Frequenz im Bereich zwischen 40 und 1000 Hz (es existieren hier große interindividuelle Unterschiede) und eine Amplitude zwischen 1 und 500 ȝVolt (dies hängt u.a. von der exakten Position der Elektroden ab). Sowohl bei emotionaler als auch bei informatorischer Erregung ist eine erhöhte Aktivität „ruhender“ Muskeln feststellbar (ROHMERT u. LUCZAK 1973). Eine Korrelation zwischen Muskeltonus und informatorischer Tätigkeit ist in der Regel am besten über ein „time locked“Verfahren zu ermitteln, zusammen mit einer EEG-Aufzeichnung. Das EMG alleine ist für informatorische Tätigkeiten nur schwer zu interpretieren. Weitere Ausführungen finden sich in GÖBEL (1996). 3.3.3.2.1.4
Sehapparat
Da ein wichtiger Teil der Informationsaufnahme über das visuelle System erfolgt, liegt es nahe, die Reaktionen des visuellen Systems genauer zu untersuchen (RÖTTING 2001).
Arbeitsformen
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Zur Registrierung der Augenaktivität wurden verschiedene Verfahren entwickelt, von denen hier die drei gebräuchlichsten erläutert werden: Bei der Elektrookulografie (EOG), einem elektrophysiologischen Verfahren, werden Potentialdifferenzen zwischen Cornea und Retina, das sog. cornearetinale Potential in der Größenordnung von 0,4 bis 1 mV, mittels horizontal und vertikal um das Auge platzierter Elektroden abgeleitet und dadurch die Positionsänderung identifiziert. Zur alleinigen Bestimmung von Lidschlägen wird das EOG lediglich vertikal angewandt, so dass die durch die Lidbewegung hervorgerufenen Artefakte im EOG-Signal aufgezeichnet werden können. Die Corneareflexion Infrarotokularografie basiert auf der Erfassung von Lichtreflexionen auf der Hornhautoberfläche. Durch eine künstliche Lichtquelle wird Licht im nahen Infrarot in das Auge eingestrahlt. Durch die, bezogen auf den Augapfel, stärkere Krümmung der Hornhaut kommt es zur Entstehung des Cornea Reflexes, dessen Position relativ zur Pupille von der Augenstellung abhängt. Auf diese Weise lassen sich Blickbewegungen und Pupillendurchmesser auch gänzlich berührungslos durch eine stationäre, z.B. im Monitor integrierte Kamera registrieren. Die Videookulografie (VOG) ist ebenfalls ein optisches Verfahren, bei dem die über eine Kamera aufgenommenen Videobilder eines oder beider Augen hinsichtlich der Pupille und charakteristischer Merkmale der Irisstruktur ausgewertet werden. Der Vorteil gegenüber der Erfassung des Cornea Reflexes liegt darin, dass so auch torsionale Augenbewegungen erfasst werden können. Ein Überblick über die physiologischen Eigenschaften des Auges und okulografische Messmethoden findet sich bei SAUPE (1985). Pupillendurchmesser
Veränderungen des Pupillendurchmessers dienen der Regelung des Lichteinfalls in das Auge und werden durch die Regenbogenhaut (Iris) bewirkt. Eine Verengung erfolgt durch eine Ringmuskelschicht, eine Erweiterung durch eine strahlenförmig angeordnete Muskelschicht. Beide Muskelschichten bestehen aus glatter Muskulatur und werden vom autonomen Nervensystem innerviert, wobei der Parasympathikus auf den Ringmuskel und somit pupillenverengend (Konstriktion) wirkt. Eine Erhöhung des Sympathikotonus führt hingegen zu einer Pupillenerweiterung (Dilation) (BARTELS 1991). Die durch Aufgabenbearbeitung ausgelöste Pupillenreaktion wurde in den vergangenen Jahrzehnten bereits in vielen Arbeiten untersucht, so von BOFF u. LINCOLN (1988); KAHNEMAN u. BEATTY (1966); RÖßGER et al. (1993). Die Untersuchungen kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass sich bei einer höheren mentalen Beanspruchung ein größerer Pupillendurchmesser einstellt. KRAMER (1991) und MANZEY (1998) schränken jedoch ein, dass dieses Maß zwar Sensitivität, jedoch nur geringe Diagnostizität aufweist, weil es – wie zahlreiche Arbeiten belegen – gleichermaßen perzeptive, kognitive und reaktive Aspekte des Informationsverarbeitungsprozesses reflektiert. Es handelt sich also vielmehr um einen sensitiven, globalen Beanspruchungsindikator. GRANDT (2004) kommt zu dem
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Arbeitswissenschaft
Ergebnis, dass der Pupillendurchmesser anderen okulomotorischen Indikatoren in Bezug auf Validität und entsprechend auch Diagnostizität unterlegen ist. Lidschlussaktivität
Bei Lidschlussbewegungen ist zwischen unwillkürlichen, reflektorischen und willkürlichen Lidschlüssen zu unterscheiden. Unwillkürliche, spontane Lidschlüsse dienen in erster Linie dazu, die Hornhaut des Auges von Zeit zu Zeit mit Tränenflüssigkeit zu benetzen. Daneben haben sie HABERICH u. FISCHER (1958, zitiert in GALLEY 2001) zufolge die Funktion, bei großen Sakkaden auftretende Scheinverschiebungen zu verhindern. Durch reflektorische Lidschlüsse wird das Auge vor externen, bspw. mechanischen, thermischen, elektrischen, Reizen geschützt. Auch das Blinzeln, d.h. das unvollständige Schließen des Augenlids infolge von Blendung der Netzhaut, ist dieser Art von Lidschlüssen zuzuordnen (SCHOBER 1954; TRENDELENBURG 1961). Durch die Erfassung der Lidschlüsse können verschiedene Messwerte zur Bewertung herangezogen werden, wie Frequenz, Dauer und Latenzzeit zum Stimulus. Die Messung der Lidschlagverzögerung setzt analog zur Technik der ereigniskorrelierten Potentiale die diskrete Stimulation von Lidschlüssen voraus, was unter realen Arbeitsbedingungen außerhalb des Labors nur schwer zu realisieren ist. Von den genannten Maßen ist insbesondere die Frequenz spontaner, endogener Lidschlüsse zur Aufdeckung von mentalen Beanspruchungssituationen geeignet (HAIDER u. ROHMERT 1976; RÖßGER et al. 1993; SKELLY et al. 1988). WIERWILLE (1979) sowie WIERWILLE u. EGGEMEIER (1993) schränken dieses auf visuelle Belastungen ein. Auch die von MANZEY (1998) zitierten Arbeiten lassen den Schluss zu, dass eine Sensitivität der Lidschlussfrequenz nur bei Aufgaben mit visueller Belastung gegeben ist. O’DONNELL u. EGGEMEIER (1986) führen aus, dass die Lidschlussfrequenz ein sehr variables Maß darstellt und die Anwendung der Lidschlussfrequenz als Beanspruchungsmaß sehr gut kontrollierte Versuchsbedingungen voraussetzt. WILSON u. EGGEMEIER (1991) zufolge zeigt sich i.Allg. bei hoher perzeptiver Beanspruchung eine Abnahme der Lidschlussfrequenz. Über die Art des Zusammenhangs zwischen der Lidschlussfrequenz und der mentalen Beanspruchung gibt es nach KRAMER (1991) jedoch widersprüchliche Aussagen, deren Divergenz möglicherweise auf die Art der Belastung in den zugrunde liegenden Untersuchungen zurückzuführen ist. So kommen die von ihm zitierten Arbeiten von STERN u. SKELLY (1984) und SIREVAAG et al. (1988) ebenfalls zu dem Ergebnis, dass die Lidschlussfrequenz bei mentaler Beanspruchung abnimmt. Demgegenüber fanden WIERWILLE et al. (1985) eine Erhöhung der Lidschlussfrequenz bei steigender Aufgabenschwierigkeit einer Flugführungsaufgabe. GALLEY (2001) nimmt an, dass der Lidschlag bei erforderlicher visueller Informationsaufnahme einer Hemmung unterliegt, die bei fortgeschrittener Übung oder reduziertem Interesse, bspw. aufgrund von Ermüdung oder fehlender Relevanz der Information, nachlässt. WILSON u. EGGEMEIER (1991) führen die erhöhte Lidschlussfrequenz bei Piloten auf die Beobachtung von FOGARTY u. STERN (1989, zitiert in WILSON u.
Arbeitsformen
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EGGEMEIER, 1991) zurück, nach der tendenziell im Anschluss an die visuelle
Informationsaufnahme ein Lidschluss erfolgt. Dies ist insbesondere in einer unter visuellen Aspekten reichen Informationsumgebung wie im Flugzeug bedeutsam. Die Gestaltung des visuellen Umfelds beeinflusst also die Lidschlussfrequenz und schränkt insofern die Vergleichbarkeit verschiedener Systeme ein. KRAMER (1991) beurteilt die Lidschlussdauer und Lidschlagverzögerung (Zeitraum zwischen Stimulus und Lidschlag) als vielversprechender hinsichtlich ihrer Verwendbarkeit als Beanspruchungsmaß. Sowohl dort als auch bei WILSON u. EGGEMEIER (1991) sind zahlreiche Beispiele für Untersuchungen aufgeführt, bei denen die Lidschlussdauer und -verzögerung bei steigender Aufgabenschwierigkeit größer wurde. GRANDT (2004) zeigte, dass die Lidschlussdauer bei vorwiegend perzeptiver Belastung bei steigender Aufgabenschwierigkeit sinkt und die Lidöffnungsdauer ansteigt. Bei allg. Belastung hingegen reagieren beide Indikatoren in entgegengesetzter Weise. Er führt dies auf einen Regulationsmechanismus zurück, der die möglichst unterbrechungsfreie visuelle Informationsaufnahme gewährleistet. Augenbewegungen
Das Beobachtungsverhalten (instrument scan, point of regard) des arbeitenden Menschen kann über die Informationsaufnahme und den zeitlichen Verlauf der Verarbeitung Aufschluss geben. Die Auswertung des Fixationspunkts beruht auf der Annahme, dass der Mensch bei Fixation eines informationstragenden Objekts auch tatsächlich seine Aufmerksamkeit darauf lenkt und die enthaltene Information weiterverarbeitet. Die Motorik des Augapfels kennt einige unterschiedliche Bewegungsarten, als wichtigste die Folgebewegungen und die Sakkaden. Folgebewegungen: Um das Fixieren eines sich bzgl. des Auges bewegenden Blickobjekts zu ermöglichen, gibt es die Folgebewegungen. Folgebewegungen sind relativ langsame, gleitende Bewegungen des Auges und werden vollkommen autonom (unwillkürlich) gesteuert: Nur Bewegungen des Körpers und Bewegungen des Blickobjekts können solche Augenbewegungen auslösen. Eine Bewegung des Körpers (Kopfes) löst einen sog. Vestibulo-okulären Reflex (VOR) aus, wodurch die Augen eine entgegen der Kopfbewegung gerichtete gleitende Bewegung machen. Die Latenz dieses Reflexes ist sehr gering, so dass bei nicht allzu groben Bewegungen das Blickobjekt fixiert bleibt. Ein anderer Mechanismus der Optokinesis tritt auf, wenn sich ein Objekt bzgl. des Auges bewegt. Da hierfür höhere Verarbeitungszentren verantwortlich sind, ist es ein relativ langsam reagierender Mechanismus. Dies lässt sich auch mit Hilfe eines Experiments überprüfen: Eine Hand wird ausgestreckt in Augenhöhe gehalten; a) Wird sie jetzt schnell ein paar Mal hin und her bewegt, „verschmiert“ das Bild über der Netzhaut; b) Wird dagegen die Hand still gehalten und der Kopf öfter hin und her geschüttelt, bleibt das Abbild der Hand scharf. Sakkaden: Sakkaden sind schnelle, sprunghafte Bewegungen, um das Auge auf ein Blickobjekt zu richten. Sakkaden werden auch als ballistische Bewegungen
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Arbeitswissenschaft
bezeichnet, weil sie, wenn sie einmal in Gang gesetzt sind, nicht mehr unter bewusster Kontrolle stehen, bis das Auge an das vor der Sakkade anvisierte Ziel angelangt ist. Sakkaden sind die schnellsten Bewegungen, die vom menschlichen Körper ausgeführt werden können (bis zu rund 700°/s). Die Geschwindigkeit einer Sakkade ist nur von der Sprungweite abhängig. Ermüdungszustände haben auf die Sakkadengeschwindigkeit keinen Einfluss. Alkohol und Pharmaka können die Sakkadengeschwindigkeit senken. Durch Erhöhung der mentalen Beanspruchung kommt es zur Verringerung des Blickfelds (WILLIAMS 1982). Ein Anstieg der mentalen Beanspruchung zieht eine Verringerung der Sakkadenreichweite nach sich (MAY et al. 1990; MEYER-DELIUS u. LACKNER 1983). Fixationen: Die Fixationsdauer ist die Zeit, während der das Auge keinen Blickwechsel vornimmt. Bei Aufgaben, die vorwiegend zentrale Prozesse erfordern, ist eine Verlängerung der Fixationsdauer ein Hinweis auf größere Beanspruchung. Bei perzeptiven Aufgaben sind bei steigender Aufgabenschwierigkeit hingegen kürzere Fixationsdauern zu erwarten (GRANDT 2004). MEYER-DELIUS et al. (1981) ermittelten bei zunehmender Ermüdung eine Zunahme der Anzahl der Blicksprünge, also der Fixationsfrequenz. Übergangshäufigkeiten: Die Häufigkeit, mit der ein Blickobjekt fixiert wird, sowie die Reihenfolge von Fixationen auf verschiedenen Blickobjekten können Aufschluss darüber geben, welche Wahrnehmungsstrategie bei der Informationssuche vorliegt oder ob das Abtasten der visuellen Umgebung eher zufällig erfolgt, also ohne eine bedeutungsabhängige Verteilung der Fixationen (ELLIS u. SMITH 1985). Mit Hilfe von Hidden-Markov-Modellen oder dynamischen Bayes-Netzen können bspw. Wahrnehmungsstrategien klassifiziert und das Blickverhalten vorhergesagt werden (siehe SCHLICK 2004). Durch die Komplexität der Abtastmuster kann weiterhin die mentale Beanspruchung durch Zeitdruck bewertet werden und es lassen sich spontane kognitive Abstraktionsvorgänge bei der MenschMaschine-Interaktion identifizieren (SCHLICK et al. 2006). Flimmerverschmelzungsfrequenz
Die Flimmerverschmelzungsfrequenz (FVF) ist die Frequenz, bei der eine Folge von Lichtblitzen als ein kontinuierliches Licht wahrgenommen wird. Da der Messvorgang relativ einfach ist, wird die Verminderung der FVF zwischen einer Messung vor und nach der Durchführung als ein Maß für mentale Beanspruchung bzw. Ermüdung eingesetzt (SCHMIDTKE 1965; GRANDJEAN et al. 1988). 3.3.3.2.1.5
Elektrodermale Aktivität
Bei der Elektrodermatometrie wird die Änderung des Hautwiderstands zwischen zwei auf der Hautoberfläche fixierten Elektroden, über die eine Spannung von etwa 0,5 V angelegt ist, gemessen. Die Hautleitfähigkeit ändert sich in Abhängigkeit von der Aktivität der Schweißdrüsen. Die Schweißdrüsen werden durch das sympathische Nervensystem innerviert. In erster Linie leisten sie einen Beitrag zur Thermoregulation des Körpers: Steigt die Umgebungstemperatur über die thermische Neutralzone (für einen unbekleideten, ruhenden Erwachsenen liegt diese bei
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28-30°C, 50% relative Luftfeuchte, ruhende Luft), kommt es zur evaporativen Wärmeabgabe durch thermoregulatorisches Schwitzen. Davon zu unterscheiden ist das emotionale Schwitzen, das bspw. bei starker psychischer Anspannung an den Planarflächen von Händen und Füßen und an den apokrinen Schweißdrüsen u.a. der Achselhöhle einsetzt. Aufgrund einer eintretenden Gewöhnung an den Reiz können über die elektrodermale Aktivität (EDA) lediglich kurzzeitige Stimuli diagnostiziert werden. Die Analyse der zeitlichen, phasischen Änderungen der Hautleitfähigkeit (skin conductance response - SCR) ist deshalb gegenüber der Analyse der absoluten, tonischen Hautleitfähigkeit (skin conductance level - SCL) zu bevorzugen. Da für die Fixierung der Elektroden vorwiegend die Planarflächen von Händen und Füßen genutzt werden, wird dieses Messverfahren am Arbeitsplatz häufig als störend empfunden. Aufgrund der gleichzeitigen Durchführung von Körperbewegungen zeigen EDA-Maße eine erhöhte Anfälligkeit für Artefakte und sind in dieser Hinsicht den kardiovaskulären Maßen unterlegen (BOUCSEIN 1992). BOUCSEIN (1992) führt dennoch mehrere Studien aus dem Bereich der Straßen- und auch Luftverkehrsforschung auf, in denen wiederholt Zusammenhänge zwischen der durch eine Verkehrssituation hervorgerufenen Aufgabenschwierigkeit und der beim Operateur gemessenen Frequenz bzw. Amplitude der Hautleitfähigkeitsänderungen festgestellt wurden. Jedoch zeigte sich in einigen Untersuchungen, dass diese lediglich bei unerfahrenen Operateuren zu beobachten sind, was darauf hindeutet, dass diese Parameter eher die emotionale Beanspruchung widerspiegeln (FÈRE 1888; LUCZAK 1987). 3.3.3.2.1.6
Endokriner Apparat
Viele autonome Körperfunktionen werden durch Hormone gesteuert oder ausgelöst, so auch fast jede menschliche Aktivität, ob motorisch oder nicht. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass Veränderungen im Spiegel einiger Hormone als Indikatoren für mentale Vorgänge benutzt werden. Die Auswirkungen mentaler Beanspruchungen auf das hormonelle System, insbesondere die Katecholamine (Adrenalin, Noradrenalin), Glukokortikoide (Cortisol, Corticosteron) und Melatonin, wird durch die Endokrinologie untersucht. Dabei werden Blut-, Speichel- oder Urinproben verwendet. Die Anwendbarkeit im Rahmen der Systembewertung kann auch im Feldversuch angenommen werden (siehe VEJVODA 2001). Der Analyseaufwand ist jedoch nicht zu unterschätzen. Für die echtzeitfähige, automatisierte Bewertung des Benutzerzustands können Messverfahren endokriner Indikatoren hingegen nicht als geeignet angesehen werden. 3.3.3.2.2 Leistungsmaße Eine naheliegende Möglichkeit, etwas über die beim Arbeitsvollzug auftretende Beanspruchung zu erfahren, ist die Analyse der Qualität der Ausführung. Wenn ein plötzlicher Leistungsabfall auftritt, der sich bspw. in einer signifikant ansteigenden Fehlerhäufigkeit oder Ausführungszeit äußert, kann man unter Umständen
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Arbeitswissenschaft
Leistung
davon ausgehen, dass die Beanspruchung hoch war, als der Abfall stattfand. Dieser Effekt ist jedoch immer unter Berücksichtigung der jeweiligen Aufgabensituation zu interpretieren. Das einzige, was sicher gemessen wird, ist ein plötzlicher Leistungsabfall. Ob dies jedoch eine Folge zu hoher Belastung oder ein plötzlicher Motivationsverlust war, ist nicht sicher. Zusätzlich ist es ein Problem, dass die Leistung auch bei zunehmender Belastung sehr lange konstant gehalten werden kann, so dass ein Leistungsabfall nur beim Überschreiten einer Leistungsgrenze belegbar ist. Die Qualität der Ausführung ist demnach weder ein besonders sensibles Maß, noch von besonderem diagnostischen Wert (siehe dazu auch Kap. 2.4.2). Der Ansatz setzt überdies voraus, dass zwischen der mentalen Beanspruchung und der Leistung ein umgekehrt proportionaler Zusammenhang besteht. Dies ist jedoch i.Allg. nicht der Fall, wie in der Abb. 3.104 idealtypisch dargestellt ist. Eine geringe Leistung kann sowohl aus sehr geringer Beanspruchung als auch aus sehr hoher Beanspruchung resultieren. In beiden Zuständen besteht eine Differenz zwischen der für die Aufgabendurchführung benötigten und der dazu verfügbaren Zeit.
Abb. 3.104: Leistung und mentale Beanspruchung nach JOHANNSEN (1993)
Im ersten Fall wird von Unterforderung, im zweiten Fall von Überforderung gesprochen. Während die Leistung im Bereich der Unterforderung bei wachsender mentaler Beanspruchung ansteigt, kommt es im Bereich der Überforderung zu einem rapiden Leistungsabfall, wenn die Ressourcen für eine Verarbeitung der Informationen nicht mehr ausreichen. Im mittleren, in diesem Sinne „optimalen“ Bereich bleibt die Leistung bei wachsender mentaler Beanspruchung zunächst nahezu konstant. Dies resultiert aus der Anpassung der Anstrengung (effort) an die Aufgabenschwierigkeit (demands). Das Ansteigen der mentalen Beanspruchung ist folglich in diesem Bereich anhand der Leistung nicht erfassbar (GOPHER u. DONCHIN 1986).
Arbeitsformen
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Da die meisten technischen Systeme Möglichkeiten zur Aufzeichnung von Leistungsmaßen bieten, lässt sich diese Art der Beanspruchungsmessung meistens einfach implementieren. Für die Bewertung der Ergebnisse müssen jedoch die Einschränkungen aufgrund der geschilderten Nichtproportionalität beachtet werden. Bei Überwachungsaufgaben schränkt die damit verbundene geringe Bedienaktivität die Brauchbarkeit des Maßes zur Beanspruchungsermittlung weiter ein. Es kann jedoch insbesondere bei manueller Steuerung und Regelung sinnvoll sein, das Verhalten hinsichtlich Amplitude und Frequenz von Bedieneingaben zu analysieren. 3.3.3.2.2.1
Speed Accuracy Trade-Off
Eine besondere Form der Qualitätsveränderung, die nur bei Aufgaben unter Zeitdruck von Bedeutung ist, ist der sog. speed accuracy trade off, kurz SATO. Er spiegelt den aus dem Alltag bekannten Versatz von Geschwindigkeit und Genauigkeit beim Arbeitsvollzug wider. So können z.B. bei einfachen Reaktionszeitaufgaben über eine längere Zeit auch bei Ermüdung sehr wohl recht konstante Leistungen erzielt werden, wenn nur die Zeiten allein und nicht auch die Fehler analysiert werden. Eine geringe Veränderung im SATO kann jedoch zu sehr großen Unterschieden führen (Abb. 3.105). So ist eine Zunahme in der Fehlerhäufigkeit von 5% in den meisten Fällen ein ausreichender Grund, um die Reaktionszeit allein nicht mehr als valides Leistungsmaß zu betrachten. Das SATO-Konzept ist wichtig, wenn Arbeitsgeschwindigkeiten unter zwei experimentellen Bedingungen oder zwischen zwei Gestaltungsvarianten verglichen werden. Dabei sind zwei Punkte zu beachten: (1) Wenn die Gestaltungsvarianten A und B zu denselben Bearbeitungszeiten führen, muss der Untersucher sicher sein, dass die Fehlerraten auch identisch sind. (2) Wenn bei Gestaltungsvariante A eine bessere (=schnellere) Leistung gemessen wird als bei Gestaltungsvariante B, so muss der Untersucher sicher gehen, dass die Fehlerrate bei A kleiner oder gleich der Fehlerrate bei B ist. 100 Genauigkeit (% korrekt) Zufallsniveau Reaktionszeit
Abb. 3.105: Die Speed-Accuracy-Trade-Off Funktion nach WICKENS u. HOLLANDS (1999)
3.3.3.2.2.2
Expertenbeurteilung
Wenn objektive Kriterien für die Güte einer bestimmten Leistung nicht aufgestellt werden können, kann die Leistung durch Experten beurteilt werden. Viele Aufga-
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Arbeitswissenschaft
ben sind nicht oder nicht ausreichend mit objektiven Kriterien zu erfassen. So ist z.B. die Güte einer Leistung beim Konstruieren nur schwer zu objektivieren. Andere Leistungen sind, auch wenn keine Fehler in der Ausführung sichtbar sind, nicht anhand einer Fehlerbetrachtung adäquat beurteilbar. Z.B. werden Piloten in der Ausbildung oft von Experten beurteilt. Auch wenn der Pilot das Flugzeug fehlerfrei geflogen hat, kann ein Experte die Flugleistung für nicht ausreichend sicher halten. Die Objektivität wird in solchen Fällen der subjektiven Sicherheit untergeordnet, sie kann allerdings durch die Überprüfung der Beurteilerübereinstimmung kontrolliert werden. 3.3.3.2.3 Zweifachaufgaben/Nebenaufgaben Bei Zweifachaufgaben geht man davon aus, dass durch die Bearbeitung einer Aufgabe eine bestimmte mentale Kapazität gebunden wird. Unter der Annahme, dass die Kapazität begrenzt ist, kann die Restkapazität mit Hilfe einer zweiten Aufgabe abgeschätzt werden. In der Praxis hat der Mensch dann neben der eigentlichen Hauptaufgabe eine weitere konkurrierende Aufgabe zu bearbeiten, wobei die Leistung einer der beiden Aufgaben auf Kosten der anderen konstant gehalten werden soll. Bei der Anwendung von Zweifachaufgaben werden zwei Paradigmen unterschieden: Beim loading task paradigm wird die Person angewiesen, die zweite Aufgabe optimal zu erfüllen. Die zusätzlich zur Hauptaufgabe gestellte Aufgabe dient dazu, die Beanspruchung vom mittleren Bereich (Abb. 3.106) in den Bereich der Überforderung zu verschieben und einen Zustand der Ressourcenauslastung bzw. -überlastung zu erzielen. Leistungseinbußen der Hauptaufgabe können in diesem Bereich als Beanspruchungsindikator benutzt werden. Diese Leistungseinbußen korrelieren mit der Aufgabenschwierigkeit der Hauptaufgabe. Baseline-Leistung der Nebenaufgabe 'N: messbare Leistungsdifferenz der Nebenaufgabe Maximale Kapazitätsauslastung für uneingeschränkte Leistung 'H: nicht direkt messbare Differenz der Restkapazität Hauptaufgabe leicht
schwer
Kapazitätsauslastung
hoch
Nebenaufgabe Leistungseinbuße der Nebenaufgabe
niedrig
unterschiedliche Hauptaufgaben
Restkapazität
Abb. 3.106: Abschätzung der Kapazitätsauslastung mittels Nebenaufgaben nach O’DONNELL u. EGGEMEIER (1986)
Arbeitsformen
413
Beim subsidiary task paradigm (Abb. 3.106) hingegen wird die zusätzlich eingebrachte Aufgabe als sekundäre Nebenaufgabe betrachtet und der Operateur angewiesen, die Hauptaufgabe optimal zu bearbeiten. Mit der Nebenaufgabe soll geklärt werden, wie viel zusätzliche Belastung erzeugt werden kann, bevor die Leistung der Hauptaufgabe absinkt. Wiederum wird die Annahme getroffen, dass die zusätzliche Aufgabe zu einer Verlagerung der Beanspruchung führt; hier wird jedoch eine Leistungsverringerung der Nebenaufgabe erwartet. Ist die Leistungseinbuße in der untergeordneten Aufgabe niedrig, wird daraus geschlossen, dass beim Operateur eine hohe Restkapazität und folglich eine geringe mentale Beanspruchung vorhanden ist. Wird die Schwierigkeit der Hauptaufgabe langsam gesteigert, markiert die Aufgabenschwierigkeit, bei der die erste Leistungsreduktion der Nebenaufgabe eintritt, die maximal zulässige Kapazitätsauslastung für optimale Leistung. Wird die untergeordnete Aufgabe schlecht bearbeitet, ist eine geringere Restkapazität vorhanden, die mentale Beanspruchung ist demnach höher. Voraussetzung ist das Ermitteln der Aufgabenleistung bei alleiniger Durchführung der Nebenaufgabe (baseline). Variationen des aus Veränderungen der Hauptaufgabe resultierenden Beanspruchungsniveaus können jedoch ohne vorherige Ermittlung der baseline anhand von Variationen der Nebenaufgabenleistung festgestellt werden. Dem Paradigma liegen verschiedene Annahmen zugrunde, die jedoch hinterfragt werden müssen (O’DONNELL u. EGGEMEIER 1986): x Die maximale Kapazitätsauslastung für uneingeschränkte Leistung ist konstant über alle Aufgabenschwierigkeiten der Hauptaufgabe. x Die Nebenaufgabe interferiert nicht mit der Hauptaufgabe in der Weise, dass die Bearbeitung der Nebenaufgabe die Leistung der Hauptaufgabe negativ beeinflusst. x Die aufgabenbedingten Kapazitätsauslastungen addieren sich ohne Rücksicht auf die Quelle der Belastung. Dies widerspricht der Theorie der multiplen Ressourcen. Danach setzt die Verwendung einer Nebenaufgabe voraus, dass diese dieselben Ressourcen ausnützt, die auch von der betrachteten Hauptaufgabe belegt werden. Die verwendete Nebenaufgabe muss folglich der interessierenden Ressource angepasst werden. Nach der Art der dargebotenen Aufgabe wird eine Unterscheidung getroffen zwischen eingebetteten und externen Nebenaufgaben. Bei den erstgenannten handelt es sich um solche, die an dem Arbeitsplatz üblicherweise durchgeführt werden müssen, bspw. bei Durchführung einer Flugführungsaufgabe die gleichzeitige Durchführung des Sprechfunkverkehrs. Sie bieten den Vorteil, dass sie dem Menschen nicht als störend auffallen und somit nicht mit der Hauptaufgabe interferieren. Externe Nebenaufgaben haben demgegenüber keinen Bezug zur Hauptaufgabe, bspw. eine Rechenaufgabe, die neben der Hauptaufgabe bearbeitet werden soll. Solche Aufgaben können mit der Hauptaufgabe interferieren und ggf. störend wirken, in dem sich die Aufmerksamkeit des Probanden ungewollt primär auf die eigentlich untergeordnete Nebenaufgabe verlagert. Sie bieten jedoch gegenüber
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Arbeitswissenschaft
eingebetteten Nebenaufgaben den Vorteil, dass mit ihrer Hilfe spezifische Ressourcen gezielt angesprochen werden können. 3.3.3.2.4 Subjektive Methoden Die subjektive Evaluierung der Beanspruchung erfolgt mit Hilfe sog. Ratingskalen. Die Anwendung dieser Methode beruht auf der Annahme, dass das Vorliegen einer Beanspruchungsempfindung eine tatsächlich vorhandene Beanspruchung voraussetzt (JOHANNSEN et al. 1979). Es gibt zwar eine Vielzahl von Methoden zur Beurteilung der mentalen Beanspruchung (siehe LUCZAK 1987; LUCZAK et al. 1986; ROSCOE 1978; WICKENS u. KRAMER 1985), aber in den meisten Arbeitssystemen sind subjektbezogene Beurteilungen die am leichtesten anzuwendende Methode. Sie sind auch das Kriterium, mit dem andere Messungen bzw. Messverfahren verglichen werden und somit die Grundlage für die externe Validierung anderer Methoden (HART u. STAVELAND 1988). Die Zahl der Instrumente, die das subjektive Erleben der Auswirkungen menschlicher Arbeit auf die Arbeitsperson erheben, ist groß. SCHÜTTE (1986) vergleicht alleine 30 verschiedene Verfahren. Die Verfahren unterscheiden sich zum einen in der Art der verwendeten Dimensionen. Von Belastung (PLATH u. RICHTER 1978), Beanspruchung (PFENDLER 1982), Anstrengung (BORG 1978), Schwierigkeit (BRATFISCH et al. 1972) und Ermüdung (KÜNSTLER 1980) reichen diese bis zu Aktiviertheit (BARTENWERFER 1963), Eigenzustand (NITSCH 1976), Stimmung (HAMPEL 1977), Taskload (HART u. STAVELAND 1988) und Workload (SHERIDAN u. SIMPSON 1979). Zum anderen gibt es Unterschiede in der Anzahl der verwendeten Dimensionen: Kommt die von BARTENWERFER (1963) entwickelte Skala „Allgemeiner Zentraler Aktiviertheit“ mit einer Dimension aus, so haben BORG (1978) und BRATFISCH et al. (1972) zwei parallele Skalen für verschiedene Einsatzbereiche entwickelt: Rating of Perceived Exertion (Anstrengung) und Rating of Perceived Difficulty (Schwierigkeit). Des Weiteren bestehen Unterschiede im Anwendungsbereich der entwickelten Instrumentarien: Generelle Instrumentarien können die Auswirkung einer Vielzahl von Aufgaben erfassen, jedoch oft nicht fein genug zwischen verschiedenen Arten von Belastungen differenzieren. Spezielle Instrumentarien sind hingegen auf einen ganz spezifischen Belastungsbereich abgestimmt und sind dort relativ empfindlich. Ein Vergleich verschiedener Aufgabentypen ist jedoch nicht möglich. 3.3.3.2.4.1
Erhebungsverfahren für spezielle Anwendungsfälle
Die ursprüngliche Cooper-Harper Skala (COOPER u. HARPER 1969) wurde entworfen, um das „Handling“ von Flugzeugen zu bewerten. Dabei wurde von Entscheidungsbäumen mit mehrfachen Deskriptoren für die Bewertung des „pilot handling“ Gebrauch gemacht. Endergebnis war eine Note zwischen 1 und 10. In einer modifizierten Form wurde die Formulierung der Fragen dahingehend verändert, dass die kognitiven Aktivitäten bei der Flugführung im Vordergrund stehen. Untersuchungen von WIERWILLE u. CASALI (1983) zeigten, dass eine so modifi-
Arbeitsformen
415
zierte Cooper-Harper Skala valide und zuverlässige Aussagen über die mentale Beanspruchung von Piloten ermöglicht (Abb. 3.107). Ein weiterer, eher situationsbezogen ausgerichteter Anwendungsfall ist die für die Schiffsführungsaufgaben entwickelten psychophysikalische Skala, die auf Paarvergleichen von nautischen Situationen basiert (LUCZAK et al. 1986). Man kann annehmen, dass auch die Mehrzahl der „Handling“-Untersuchungen von z.B. Automobilen auf Basis standardisierter Expertenratings ablaufen, in denen die Experten situation und objektorientierte Urteile (Reifen, Bremsen) abgeben, die ihre entsprechenden psychischen Beanspruchungen repräsentieren. v ery easy , highly des irableo.m.e. is minimal and desired performanc e is eas ily attainable
1
eas y , desirableo.m.e. is low and des ired performanc e is attainable
2
fair, mild diffic ulty ac c eptable o.m.e. is required to attain adequates y stem performanc e
3
minor but annoying difficulty moderately high o.m.e. is required to attain adequate s y stemperformanc e
4
moderately objec tionable high o.m.e. is required to attain adequate diffic ulty sy s tem performanc e
5
v ery objec tionable but max imum o.m.e. is required to attain tolerable diffic ulty adequate s ys tem performanc e
6
major diffic ulty max imum o.m.e. is required to bring errors to moderate level
7
major diffic ulty max imum o.m.e. is required to av oid large or numerous errors
8
major diffic ulty intens e o.m.e. is required to acc omplish tas k, but frequent or numerous errors persis t
9
impos s ibleins truc ted tas k c annot be ac c omplis hed reliably
10
y es
is mental work load lev el ac c eptable?
no
mental work load is high and s hould bereduced
y es
are errors s mall and inc onsequential?
no
major defic ienc ies , s y s tem redes ign is s trongly recommended
yes
ev en though errors may be large or frequent, c an ins truc ted tas k be ac c omplis hed mos t of the time?
no
major defic iencies , s ys tem redes ign is mandatory
o.m.e. = operator mental effort
operator dec is ions
Abb. 3.107: Modifizierte Cooper-Harper Skala nach WIERWILLE u. CASALI (1983)
3.3.3.2.4.2
Erhebungsverfahren für allgemeine Anwendungsfälle
Die Eigenzustandsskala, auch EZ-Skala genannt, ist ein Verfahren zur hierarchisch-mehrdimensionalen Befindlichkeitsskalierung. In mehreren Schritten wurde sie zu der heutigen Form entwickelt (NITSCH 1976). Das Verfahren erfasst situationsgebundene Veränderungen in der Gesamtbefindlichkeit einer Person. Die Gesamtbefindlichkeit – hier als „Eigenzustand“ bezeichnet – wird dabei genauer bestimmt als das Insgesamt der subjektiven (erlebnismäßig repräsentierten) Gegebenheiten einer Person zu einem jeweils bestimmten Zeitpunkt. Der Eigenzustand entspricht damit dem situationsabhängig aktualisierten „Selbstmodell einer Person.“ (NITSCH 1976). Durch eine Binärstrukturanalyse gelangte man zu einer
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Arbeitswissenschaft
hierarchischen Struktur in der EZ-Skala. Versuchspersonen haben in einer Liste von 40 Adjektiven auf jeweils einer 6 stufigen Skala anzugeben, in welchem Grade eines dieser Merkmale auf ihren augenblicklichen Zustand zutrifft. Die Differenz der Einschätzung vor und nach Durchführung der Aufgabe spiegelt die Wirkung der Aufgabe auf den „Eigenzustand“ der Person wider. Die EZ-Skala wurde bisher zur Beurteilung von Beanspruchung in Prüfungssituationen, bei Busfahrern und vielen anderen Arbeitsformen angewendet. Von KÜNSTLER (1980) stammt der „Fragebogen zum Belastungsverlauf“ (BLV), der mit 46 Adjektiven die subjektiv erlebte Beanspruchung misst und zwar in den vier Dimensionen „Psychische Anspannung“ als Maß der eingebrachten Energie, „Momentane Leistungsfähigkeit“ als Grad der verfügbaren kognitiven Leistungspotentiale, „Aktuelle Leistungsmotivation“ als angestrebter Erfüllungsgrad des Leistungsziels und „Ermüdung“ als relativ unspezifisches Bedürfnis nach Erholung. Im Wesentlichen unterscheidet sich die EZ-Skala vom BLV dadurch, dass bei ersterer verstärkt soziale Aspekte der Beanspruchung (z.B. „soziale Anerkennung“) mit einbezogen wurden. Zur Verbesserung der Praktikabilität des BLV sind verschiedene verkürzte Fassungen entwickelt worden (z.B. BRONNER u. KARGER 1985). Arbeitsformen, in denen der BLV angewendet wird, sind Problemlösetätigkeiten wie Konstruieren oder Software-Entwicklung. Die Version des BLV von BRONNER u. KARGER wurde z.B. von PFENDLER et al. (2005) zur Bewertung der Beanspruchung bei der Durchführung einer Zielerkennungsaufgabe mit verschiedenen Displays verwendet. Der NASA Task Load Index (TLX) ist ein von der NASA entwickeltes Verfahren (HART u. STAVELAND 1988), das in der Praxis wohl am häufigsten angewendet wird. Es handelt sich um eine Skala zur Erfassung der erlebten Beanspruchung. Ergebnis ist ein Beanspruchungsmaß, das sich aus der gewichteten Bewertung von sechs Teilskalen ergibt: Geistige Anforderung (mental demand), Körperliche Anforderung (physical demand), Zeitliche Anforderung (temporal demand), Aufgabenerfüllung (performance), Anstrengung (effort) und Frustration (frustration). Der TLX besteht aus zwei Teilen: Im Paarvergleich aller sechs Teilskalen ist anzugeben, welche Teilbeanspruchung jeweils den wichtigeren Beitrag zur Gesamtbeanspruchung der Aufgabe geliefert hat. Bei der eigentlichen Beanspruchungsbewertung ist dann auf einer bipolar verankerten (gering/hoch bzw. gut/schlecht) Skala jede der sechs Teilbeanspruchungen der Aufgabe zu bewerten. Aus der Kombination beider Bewertungen wird dann das Beanspruchungsmaß errechnet. Der TLX wird z.B. für die Beurteilung der mentalen Beanspruchung von Piloten und Kraftfahrern eingesetzt. Weitere in diesen Bereichen angewendete Beanspruchungsmessmethoden sind die Subjective Workload Assessment Technique SWAT (REID u. NYGREN 1988; PFENDLER et al. 1994) mit den Skalen Time Load, Mental Effort Load und Psychological Stress Load, und die ZweiEbenen Intensitäts-Skala (ZEIS) (PITRELLA u. KÄPPLER 1988; PFENDLER et al. 1994), die die subjektiv wahrgenommene Aufgabenschwierigkeit erfasst. Ein umfassender Überblick über eine Vielzahl von Beanspruchungsmessmethoden findet sich in LYSAGHT et al. (1989) und in BAUA (2008).
Arbeitsformen
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4
Betriebs- und Arbeitsorganisation
4.1 4.1.1
Begriffliche Grundlagen Organisation
Eine Organisation ist ein komplexes System, in dem Arbeitspersonen, Arbeitsaufgaben, Arbeits- und Betriebsmittel sowie Arbeitsobjekte in vielschichtigen und dynamischen Wechselwirkungen stehen. Dieses System dient unterschiedlichen Zwecken, wie der Erfüllung von Marktaufgaben sowie der Qualifikations- und Kompetenzentwicklung der Organisationsmitglieder (siehe Kap. 2.3), und wird auf der Grundlage von objektiven und subjektiven Zielsystemen reguliert. Mit Bezug auf die Kerndefinition der Arbeitswissenschaft (LUCZAK u. VOLPERT 1987, siehe Kap. 1) sollte eine Organisation mit dem Ziel gestaltet werden, dass die Arbeitspersonen in produktiven und effizienten Arbeitsprozessen schädigungslose, ausführbare, erträgliche und beeinträchtigungsfreie Arbeitsbedingungen vorfinden, Standards sozialer Angemessenheit erfüllt sehen, Handlungsspielräume entfalten, Fähigkeiten erwerben und in Kooperation mit anderen ihre Persönlichkeit erhalten und entwickeln können. Aufgrund der inhärenten Komplexität einer Organisation haben sich in der Literatur unterschiedliche Begriffszusammenhänge herausgebildet, die jeweilige Aspekte in den Vordergrund stellen. So kann der Begriff der Organisation in einem funktionalen, konfigurativen oder institutionellen Sinne verwendet werden (SCHREYÖGG 2003). In der Tradition der vorherigen Auflagen werden in den folgenden Kapiteln organisatorische Modelle und Prinzipien behandelt, mit denen Betriebe strukturiert werden können. Öffentliche Haushalte sowie Privathaushalte stehen nicht im Vordergrund. Unter einem Betrieb wird in Anlehnung an GUTENBERG (1983) eine – zumindest teilweise – unabhängige „Wirtschaftseinheit“ verstanden, die der Fremdbedarfsdeckung dient. Hierunter lassen sich bspw. Unternehmen sowie öffentliche Betriebe und Verwaltungen fassen. Unter „Betrieb“ ist keinesfalls die Betriebsstätte im Sinne einer räumlichen Integration von Funktionen zu verstehen. Der Betriebsbegriff ist prinzipiell unabhängig von der Aggregationsebene der durch ihn beschriebenen Organisation und kann z.B. für Unternehmensnetzwerke, einzelne Unternehmen, Sparten, Werke o.ä. gleichermaßen gelten. Nach einer funktionalen Sichtweise wird ein Betrieb organisiert, nach einer konfigurativen Sichtweise hat ein Betrieb eine Organisation und nach einer institutionellen Sichtweise ist ein Betrieb eine Organisation (GOMEZ u. ZIMMERMANN 1999).
434
4.1.1.1
Arbeitswissenschaft
FunktionalerĆOrganisationsbegriffĆĆ
Organisation im funktionalen Sinne wird als eine essentielle Funktion der Betriebsführung angesehen und ist eine von mehreren Leitungsaufgaben, welche die Zweckerfüllung und die Substanzerhaltung sicherstellen sollen (SCHREYÖGG 2003). Insbesondere in der klassischen Managementlehre wird der Begriff der Organisation vielfach funktional verwendet. So ist Organisieren gemäß des klassischen Managementansatzes von FAYOL (1918, Dt. Übersetzung 1929) neben dem Verwalten, Vorausplanen, Aufträge erteilen, Zuordnen und Kontrollieren eine der zentralen Führungsaufgaben. Als bekanntester deutschsprachiger Vertreter der funktionalen Organisationslehre gilt GUTENBERG (1983). Organisation beinhaltet nach Gutenberg alle Regelungen, die im Zusammenhang mit der Realisierung eines Plans erlassen werden, unabhängig davon, ob diese Regelungen generell oder fallweise getroffen werden. 4.1.1.2
KonfigurativerĆOrganisationsbegriffĆĆ
Organisation im konfigurativen Sinne wird als eine langfristig gültige Strukturierung und Regelung von Arbeitsprozessen verstanden. KOSIOL (1976) sieht in der Marktaufgabe, dem sog. Sachziel eines Unternehmens, den Ausgangspunkt für eine Konfiguration, d.h. die Schaffung einer Organisationsstruktur, welche Art und Umfang der Arbeitsteilung festlegt. Diese Marktaufgabe wird in einem zumeist mehrstufigen Prozess der Aufgabenanalyse, zunächst in Teilaufgaben und im weiteren Fortgang bis hin zu Elementaraufgaben, zerlegt. Durch den Prozess der Synthese, die Zuordnung von Elementaraufgaben zu Stellen und das Zusammenfassen von Stellen zu Organisationseinheiten höherer Ordnung entsteht die Aufbauorganisation des Betriebs. Diese wird der Ablauforganisation, welche die prozedurale und zeitliche Ordnung des betrieblichen Geschehens regelt, gegenübergestellt. Funktionales und konfiguratives Organisationsverständnis sind eng miteinander verbunden und werden auch unter dem Oberbegriff der instrumentellen Organisation subsumiert. Beide Ansätze werden von dem Paradigma geleitet, Arbeitsabläufe mit Hilfe organisatorischer Regelungen zu rationalisieren (SCHREYÖGG 2003) und somit das Verhältnis von Aufwand und Ertrag zu optimieren. Während die funktionale Sichtweise die Managementfunktion des Organisierens und des kurzfristigen Disponierens betont, wird beim konfigurativen Organisationsverständnis die langfristig angelegte Organisationsstruktur fokussiert. So wird aus konfigurativer Sicht nur die generelle Regelung, nicht aber – wie bei Gutenberg – die fallweise Entscheidung als Organisation betrachtet. Organisation ist im konfigurativen Sinne daher der Disposition zeitlich vorgeordnet. Aus arbeitswissenschaftlicher Sicht ist anzumerken, dass Humanaspekte menschlicher Arbeit, wie z.B. die Persönlichkeitsentfaltung und Gesundheit, in den instrumentellen Organisationsmodellen weitgehend ausgeklammert werden.
Betriebs- und Arbeitsorganisation
4.1.1.3
435
InstitutionellerĆOrganisationsbegriffĆ
Der institutionellen Sichtweise auf die Organisation liegt ein verhaltenswissenschaftliches Organisationsverständnis zugrunde. Die Organisation wird als „kollektives“ Denk- und Handlungssystem verstanden. Sie zeichnet sich durch eine eigene Identität und Kultur aus, verfolgt Ziele und wirkt auf die Organisationsmitglieder sinnstiftend. Einen Meilenstein des institutionellen Organisationsverständnisses bilden die Studien des Londoner Tavistock Institute for Human Relations. In einer ersten Studie (TRIST u. BAMFORTH 1951) sollten in einer Kohlegrube die Ursachen für die geringe Arbeitsmotivation der Beschäftigten, hohe Fehl- und Fluktuationsraten sowie eine hohe Anzahl von Unfällen und Arbeitskämpfen ermittelt werden. Die Probleme entstanden mit der Einführung der „long wall method of coal getting“. Die Forscher fanden heraus, dass im Zuge der Einführung dieser mechanisierten Abbaumethode bestehende soziale Strukturen zerstört wurden. So wurde vor Einführung dieser Abbaumethode die vollständige Bergbautätigkeit – bestehend aus Abbau, Beladen der Lore und Transport – von kleinen, sich selbst regulierenden Gruppen durchgeführt. Diese schichtübergreifenden Gruppen teilten ihre Löhne im gleichen Verhältnis untereinander auf und waren auch für ihre Sicherheit selbst verantwortlich (TRIST u. BAMFORTH 1951). Mit Einführung der mechanisierten Abbaumethode wurden die Gruppen aufgelöst, die ganzheitliche Aufgabe in Teilaufgaben zerlegt und einzelnen Personen und Schichten übertragen. Trist und Bamforth konnten zeigen, dass diese Veränderungen sich nachteilig auf die Arbeitsmotivation auswirkten. Dabei betonten die Mitbegründer des soziotechnischen Systemansatzes die Abhängigkeit der individuellen, sozialen und strukturellen Aspekte einer Organisation von der eingesetzten Technik. Neben diesem soziotechnischen Systemansatz lassen sich weitere Theorien, wie bspw. die der lernenden Organisation, dem institutionellen Organisationsverständnis zuordnen. So gehen die Vertreter der Theorie der lernenden Organisation der Frage nach, wie Lernpotenziale auf allen Ebenen einer Organisation systematisch erschlossen werden können (z.B. SENGE 2001). 4.1.2
Betriebs- und Arbeitsorganisation
Der Organisationsbegriff kann sich auf verschiedene betriebliche Funktionsbereiche (z.B. Beschaffungsorganisation, Fertigungsorganisation, Vertriebsorganisation) beziehen. In der Arbeitswissenschaft ist die Organisation menschlicher Arbeit im Kontext des jeweiligen Funktionsbereichs von zentraler Bedeutung. Um den Begriff der Arbeitsorganisation von anderen Begriffen abzugrenzen und seine wesentlichen Merkmale herauszuarbeiten, wird auf das bereits in Kap. 1.5.1.1 eingeführte Konzept des Arbeitssystems zurückgegriffen (HEEG 1988; REFA 1990; ZÜLCH 1992; LUCZAK 1998). Die Arbeitsorganisation ist dabei als ein Teilgebiet der Arbeitssystemgestaltung anzusehen und umfasst die organisatorischen Aspekte der Planung und Gestaltung. Ferner ist die Arbeitsorganisation von der technischen Arbeitssystemgestaltung zu unterscheiden (MANN 1985; BULLINGER u.
436
Arbeitswissenschaft
NESPETA 1989), da sie Aspekte der Arbeitsteilung und Kooperation voranstellt und für die Systemgestaltung eigenen Kriteriensystemen unterwirft (siehe auch Kap. 5.4). Organisatorische und technische Arbeitssystemgestaltung beziehen sich auf die Makroebene eines Arbeitssystems, die ergonomische Gestaltung von Arbeitsplätzen ist hingegen Gegenstand der Mikro-Arbeitssystemgestaltung (ZÜLCH 1992). Während sich die Arbeitsorganisation auf die Planung und Gestaltung einzelner Arbeitssysteme bezieht, umfasst die Betriebsorganisation nach REFA (1985) die „Planung, Gestaltung und Steuerung von Arbeitssystemen einschließlich der erforderlichen Datenermittlung“. Neben dieser Art der Begriffsbestimmung liegen in der Literatur Definitionen vor, bei denen Begriffe durch unterschiedliche Gegenstandskataloge spezifiziert werden. So beziehen sich typische arbeitsorganisatorische Fragestellungen auf die Arbeitsteilung zwischen Mensch und Technik, die Aufbau- und Ablauforganisation im Arbeitssystem und dabei insbesondere die Form der Zusammenarbeit, die Arbeitsplanung und -steuerung, die Führung des Arbeitssystems sowie Arbeitszeit- und Anreizsysteme (HEEG 1988; GRAP 1992; HINRICHSEN et al. 2003). Übergeordnetes Ziel der Betriebs- und Arbeitsorganisation ist, wie bereits erwähnt, Arbeitssysteme produktiv, effizient und gleichzeitig menschengerecht zu planen, zu gestalten, zu steuern und fortlaufend zu verbessern. Zu den wirtschaftlichen Zielgrößen zählen z.B. Arbeitsproduktivität, Betriebsmittelauslastung oder Flexibilität, insbesondere in Bezug auf den Personaleinsatz. Zu den humanorientierten Zielen zählt z.B. die motivations- und gesundheitsfördernde Arbeitsgestaltung.
4.2 4.2.1
Aufbauorganisation Definitionen, Elemente und Beziehungen
Die Aufbauorganisation beschreibt die Gliederung eines Betriebs in ein System von arbeitsteiligen Organisationseinheiten und stellt deren Beziehungen zueinander dar. Hierbei werden Stellenhierarchie, Verantwortung für Aufgaben sowie Weisungs- und Entscheidungsrechte nach den Kriterien Funktion (z.B. Einkauf, Produktion, Absatz) oder Objekt (z.B. Kunden, regionale Vertriebsbereiche, Produktarten) gegliedert und geregelt (SCHMIDT 2000). Da die Marktaufgabe mit Ausnahme von Kleinunternehmen nicht von einer einzigen Person ausgeführt werden kann, bedarf es einer organisatorischen Differenzierung im Sinne einer Arbeitsteilung mit anschließender gezielter Zusammenführung der einzelnen Elemente (siehe Kap. 4.1.1.2). Es ist daher festzulegen, welche Teilaufgabe von welcher Arbeitsperson wahrzunehmen ist. Methodisch erfolgt die Zuordnung von Aufgaben zu einzelnen Organisationsmitgliedern über eine Aufgabenanalyse und -synthese (KOSIOL 1976). Durch die Zuordnung von Aufgaben und Sachmitteln auf einzelne Aufgabenträger entstehen sog. Stellen als kleinste zu definierende Organisationseinheiten.
Betriebs- und Arbeitsorganisation
437
Den Stellen sind solche Aufgaben zugeteilt, die von einem Menschen alleine ausführbar sowie personenneutral formulierbar sind. Man differenziert zwischen Linienstellen und Stabsstellen (siehe Kap. 4.2.4.3). Weiterhin unterscheidet man Leitungsstellen (sog. Instanzen) und Ausführungsstellen (Realisationsstellen). Leitungsstellen sind in der Regel mit Fremdentscheidungs-, Weisungs-, und Kontrollkompetenzen ausgestattet. Demgegenüber sind Ausführungsstellen mit Durchführungskompetenzen versehen. Durch Zusammenführung mehrerer Ausführungsstellen und je einer Leitungsstelle zu einer organisatorischen Einheit höherer Ordnung bilden sich Abteilungen und Arbeitsgruppen heraus. Zur formalisierten Darstellung einer betrieblichen Aufbauorganisation verwendet man Organigramme (siehe Kap. 4.2.3.3) 4.2.2
Aufgabenanalyse und -synthese
Aufgabenanalyse ist die systematische Durchleuchtung der zu verteilenden Aufgaben mit dem Ziel, diese in geordneter Weise erfüllen zu können (SCHREYÖGG 2003). Die Aufgabenanalyse geht von der Gesamtaufgabe eines Betriebs aus. Durch eine mehrstufige Analyse lässt sich diese nach bestimmten Kriterien in konkrete Teilaufgaben zergliedern, wodurch schließlich die Gesamtaufgabe mit einer größeren Exaktheit erfassbar wird. Die Aufgabenanalyse wird nach KOSIOL (1976) anhand der folgenden fünf Dimensionen konkretisiert: (1) Die Verrichtungsanalyse dient der Gewinnung von Teilaufgaben nach den damit verbundenen Verrichtungen (z.B. Sägen, Schleifen, Hämmern). Dabei ist jede Verrichtung solange zu zerlegen, bis die Ebene der Elementarverrichtung im Sinne einer Teilverrichtung niedrigster Ordnung erreicht ist. (2) Bei der Objektanalyse erstrecken sich die Verrichtungsvorgänge auf Objekte wie z.B. die zu bearbeitenden Produkte. (3) Ranganalyse bedeutet die Untergliederung der Aufgaben in Ausführungsund Entscheidungsaufgaben. Eine Entscheidungsaufgabe beschreibt in einem Produktionsprozess bspw. die Auftragserteilung; die Ausführung entspricht der Auftragsabwicklung. (4) Bei der Phasenanalyse werden Teilaufgaben nach den drei Phasen Planung, Realisation und Kontrolle gebildet. (5) Ziel der Zweckbeziehungsanalyse ist das Ordnen der Aufgaben nach ihrer Stellung im Leistungsprozess. Aufgaben sollen dahingehend unterschieden werden, ob sie direkter (unmittelbar wertschöpfend) oder indirekter Art (mittelbar wertschöpfend) sind (SCHREYÖGG 2003). Um die so gebildeten Teilaufgaben wieder zu aufgaben- und arbeitsteiligen Systemen zusammenzufassen, erfolgt im Anschluss an die Aufgabenanalyse, als eigentlicher organisatorischer Akt, die Aufgabensynthese. Diese Integration erfolgt typischerweise nach fünf Zusammenhängen: (1) Der Verteilungszusammenhang beinhaltet die Verteilung der Teilaufgaben auf zunächst personenunabhängige Stellen. Diese werden anhand der durch-
438
Arbeitswissenschaft
schnittlichen Leistungsfähigkeit eines Aufgabenträgers gebildet und mit permanenten Rechten und Pflichten, sog. Kompetenzen, ausgestattet, um eine angemessene Aufgabenerfüllung zu gewährleisten. (2) Im Leitungszusammenhang werden die anhand des Verteilungszusammenhangs gebildeten Stellen zu rangmäßigen Verteilungseinheiten verknüpft, aus deren Zusammenhang das Abteilungs- und Leitungssystem hervorgeht. So wird festgelegt, welche Stelle gegenüber einer bestimmten Gruppe von Stelleninhabern Weisungsbefugnisse besitzt. (3) Der Stabszusammenhang ergänzt den Leitungszusammenhang, indem Stäbe die klassischen Linienstellen beratend unterstützen und so für deren Entlastung sorgen. Diese ersten drei Zusammenhänge konstituieren ein geschlossenes, hierarchisches Gliederungssystem, das durch zwei zusätzliche Zusammenhänge weiter konkretisiert wird. (4) Der Arbeitszusammenhang gestaltet die Informations- und Kommunikationswege, die zwischen den arbeitsteiligen Organisationseinheiten bestehen. So kommt ein zusammenhängender Arbeitsprozess zustande. (5) Im Kollegienzusammenhang wird die Beziehung verschiedener Kollegien und Personen aus unterschiedlichen Stellen und Bereichen festgelegt. Er stellt einen Sonderfall des Informationssystems dar (FROST 2004). Aus diesen fünf Beziehungszusammenhängen entsteht der Gesamtzusammenhang der Aufbauorganisation, den FRESE (2000) als die „statische organisatorische Infrastruktur“ bezeichnet. Die so entstehenden Strukturen sind Koordinationsformen, die das Ordnungsprinzip der Organisation darstellen. 4.2.3
Strukturdimensionen
Um Organisationsstrukturen beschreiben zu können, müssen sie in geeignete Begriffe gefasst werden. PUGH et al. (1971) erweiterten dazu das klassische Bürokratiekonzept von Max Weber (1922), um zu folgenden fünf Strukturdimensionen zu gelangen. 4.2.3.1
SpezialisierungĆ
Die Spezialisierung der arbeitenden Menschen ist als ein grundlegendes arbeitsorganisatorisches Konzept zu verstehen, das seit Jahrhunderten die Entwicklung der Volkswirtschaften prägt und sich durch ihre Gesellschaftsformationen zieht. Anhaltende Produktivitätssteigerungen wären ohne Spezialisierungsvorteil und die damit verbundene Arbeitsteilung wohl nicht möglich gewesen und die fortlaufende industrielle Revolution wäre vermutlich in ihrer Nachhaltigkeit begrenzt. Angetrieben durch den Pionier der betrieblichen Arbeitsteilung, Frederick Winslow Taylor, der in seinem Konzept des „Scientific Management“ ein hohes Maß an Arbeitsteilung vorschlug, führte in den letzten 130 Jahren die Arbeitsteilung zu immer komplexeren Netzen gesellschaftlicher und aufgabenspezifischer Abhängigkeiten (KLOBES 2005). Eine räumliche Trennung und die immer weiter fort-
Betriebs- und Arbeitsorganisation
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schreitende Spezialisierung von Arbeitsplätzen bis hin zu Tätigkeiten, die mit wenigen Handgriffen erledigt werden können, führen zu einem erheblichen „Orchestrierungsbedarf“ innerhalb eines Betriebs. Aus der Arbeitsteilung geht also die Integration der Arbeit hervor, die sich durch die Organisation derselbigen manifestiert. Die Arbeitsteilung umfasst die Allokation von Aufgaben, die zur Erfüllung des Sachziels einer Unternehmung benötigt werden, auf mindestens zwei unterschiedlich abgrenzbare Aufgabenträger (Stellen, Abteilungen etc.). Je komplexer und umfangreicher die zum Aufgabenkomplex gehörenden Tätigkeiten sind, desto größer ist die Notwendigkeit einer Arbeitsteilung einzuschätzen, da der Kapazität der menschlichen Informationsverarbeitung enge Grenzen gesetzt sind (siehe Kap. 3.3.1.1.2). Es lassen sich zwei grundlegende Formen der Arbeitsteilung unterscheiden: (1) Die Mengenteilung beschreibt ein Konzept, bei dem verschiedenen Organisationseinheiten bezogen auf die Funktion gleichartige (Teil-) Aufgaben übertragen werden, die an unterschiedlichen Teilmengen durchgeführt werden. (2) Die Artteilung hingegen ordnet unterschiedlichen Organisationseinheiten von der Funktion her unterschiedliche Aufgaben zu und führt so zu einer Spezialisierung der betrieblichen Einheiten. Bei der Artteilung kann zusätzlich unterschieden werden, ob jeweils von ihrer Wertigkeit her gleiche Funktionen zusammengefasst werden. Es ergeben sich zwei Unterformen der Artteilung: o Die horizontale Spezialisierung weist verschiedene, aber als gleichwertig angesehene Funktionen unterschiedlichen Organisationseinheiten zu. So ergibt sich der Umfang der von einer Organisationseinheit wahrzunehmenden Aufgaben. Die horizontale Spezialisierung ist umso stärker, je geringer der Anteil der einer Organisationseinheit zugewiesenen Aufgaben an der Gesamtproblemlösung ist. Zugleich wird der Tätigkeitsspielraum des Aufgabenträgers im Sinne eines mengenmäßigen Aufgabenumfangs festgelegt. o Die vertikale Spezialisierung hingegen weist unterschiedliche und nicht als gleichwertig angesehene Aufgaben den unterschiedlichen Organisationseinheiten zu. Sie setzt etwa an Phase oder Rang einer Aufgabe an. Dadurch entsteht ein System hierarchischer Weisungsbeziehungen, welches den Entscheidungs- und Kontrollspielraum einzelner Organisationseinheiten festlegt (ALEWELL 2004). Allgemein gilt, dass eine zu hohe Spezialisierung und Aufgabenteilung Monotoniezustände hervorrufen und negativ auf die Arbeitszufriedenheit, die Identifizierung der Arbeitsperson mit dem Produkt und das Qualitätsbewusstsein wirken. Angestrebt werden sollten stattdessen ganzheitliche Aufgaben, die eine hohe Qualifikation des arbeitenden Menschen erfordern.
440
4.2.3.2
Arbeitswissenschaft
StandardisierungĆ
Die Standardisierung ist ein unpersönlicher Koordinationsmechanismus, da er – im Gegensatz zur hierarchischen Koordination oder der Selbstkoordination – nicht von Personen initiiert wird, sondern auf bestimmten Verhaltensregeln beruht. Die Standardisierung wird vor der Erbringung der Arbeitsleistung festgelegt, und kommt folglich ohne persönliche Weisung oder gegenseitige Abstimmung aus (MINTZBERG 1992). Zur Standardisierung gehören zwei zentrale Werkzeuge: (1) Sog. Programme legen verbindlich fest, auf welche Art und Weise bestimmte Aktivitäten auszuführen sind. In Verfahrensrichtlinien oder Handbüchern werden somit grundsätzliche Vorschriften erteilt, die den durch persönliche Weisungen oder Selbstabstimmung entstehenden Koordinationsaufwand reduzieren. Allerdings ist zu beachten, dass sich das Umfeld der Organisation im Zeitablauf ändert. Ergeben sich neue Problemstellungen, stehen unter Umständen keine adäquaten Programme zur Verfügung. Eine Lösung dieses Problems ist mittels flexibler Programme möglich, bei denen durch konditionale Verzweigungen alternative Handlungsanweisungen in Abhängigkeit der Rahmenbedingungen gegeben werden. (2) Pläne hingegen geben Ziele und Umsetzungsschritte zur Zielerreichung für eine bestimmte Periode, den Planungszeitraum, vor. Erforderlich sind deswegen regelmäßige Vergleiche von Plan- und Istwerten. Abweichungen des Istwerts müssen in einem Regelkreis festgestellt, analysiert und durch Steuerungsmaßnahmen in Richtung der Planwerte minimiert werden, um eine wirksame Koordination zu gewährleisten. Dabei hängt die Koordinationswirkung von Plänen davon ab, wie zuverlässig die zukünftigen Entwicklungen vorausgesagt werden können. Die Prognosegenauigkeit nimmt in der Regel mit zunehmender Länge des Planungszeitraums sowie steigender Volatilität der Rahmenbedingungen ab. Darauf ist bei der Umsetzung einer Koordinationsstrategie Rücksicht zu nehmen. Persönliche Weisungen und Maßnahmen der Selbstabstimmung sind als Ergänzung zu Plänen und Programmen weiterhin nötig (VAHS 2005). 4.2.3.3
FormalisierungĆ
Formalisierung bedeutet die schriftliche Fixierung von Programmen und Plänen. In der Strukturformalisierung zeigen Organigramme in Form von Graphen den hierarchischen Aufbau von Organisationen. Dabei werden die Stellen als institutionalisierte Teilaufgaben dargestellt sowie das Gefüge dieser Stellen zueinander und die horizontale Bildung von Abteilungen als übergeordnete Organisationseinheiten veranschaulicht. Darüber hinaus geht aus dem Organigramm die Rangordnung der Leitungsstellen, die Eingliederung der Stabsstellen und Gremien sowie das System der Informations- und Kommunikationswege hervor (SCHMIDT 2000). In Stellenbeschreibungen wird der Aufgaben- und Verantwortungsbereich sowie
Betriebs- und Arbeitsorganisation
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der Umfang der Leitungskompetenzen fixiert, über- und nachgeordnete Stellen werden festgelegt sowie Rechte und Pflichten der einzelnen Stelleninhaber erklärt. Richtlinien ergänzen schließlich die Strukturformalisierung, in dem schriftlich festgehaltene Programme die Abfolge bestimmter Aktivitäten regeln. Zusätzlich zur Formalisierung der Struktur kann der Informationsfluss formalisiert werden, wenn auf den Einzelfall bezogene schriftliche Delegationen (Dienstanweisungen etc.) einer Instanz statt mündlicher Absprachen existieren. Schließlich ist eine Leistungsdokumentation als Formalisierung zu verstehen, da hier alle Regelungen festgehalten werden, die eine schriftliche Erfassung und Beurteilung der Leistung vorschreiben (VAHS 2005). 4.2.3.4
KonfigurationĆĆ
Die Konfiguration (siehe Kap. 4.1.1.2) beschreibt die Systematik des äußeren Stellengefüges. Operationalisiert wird die Konfiguration durch die Leitungsspanne und die Leitungstiefe. Dabei beschreibt die Leitungsspanne die Anzahl der einer Leitungsstelle direkt unterstellten Stellen. Die Leitungstiefe hingegen gibt die Anzahl der hierarchischen Leitungsebenen an. Bei gegebener Stellenzahl wird die Leitungstiefe umso größer, d.h. es entstehen umso mehr Hierarchieebenen, je geringer die Leitungsspannen sind. Die Konfiguration des Stellengefüges wird in Abhängigkeit von der Leitungstiefe steiler oder flacher (siehe Abb. 4.1). Leitungsspanne = 2
Leitungsspanne = 4
Leitungstiefe = 4
Leitungstiefe = 2
(insgesamt 31 Stellen)
(insgesamt 21 Stellen)
steile Konfiguration
flache Konfiguration
Abb. 4.1: Zusammenhang zwischen Leitungsspanne und Leitungstiefe
Steile Konfigurationen gehen mit langen vertikalen Informationswegen einher, da die Hierarchieebenen den Fluss unterbrechen. Zudem steigt das Risiko, dass Informationen unvollständig oder verfälscht weitergegeben werden. Flache Konfigurationen ermöglichen demgegenüber einen schnellen und inhaltsbeständigen
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Arbeitswissenschaft
Informationsaustausch, so dass eine Beschleunigung der betrieblichen Kommunikations- und Entscheidungsprozesse möglich ist. Ein weiteres wichtiges Merkmal zur Beschreibung der Organisationsstruktur ist die Leitungsintensität. Sie stellt das Verhältnis zwischen Leitungsstellen und Ausführungsstellen dar (VAHS 2005). 4.2.3.5
DelegationĆ
Die Entscheidungsstruktur eines Betriebs wird durch die Verteilung der (Entscheidungs-)Aufgaben zwischen Leitungs- und Ausführungsstellen bestimmt. Durch wachsenden Umfang und Kontextsensitivität des notwendigen Wissens wird dieser Zwang zur Delegation und Dezentralisation von Entscheidungen ausgelöst. Man unterscheidet zwischen zentralen und dezentralen Entscheidungsstrukturen. In zentralen Strukturen sind die Entscheidungsbefugnisse auf die jeweils hierarchisch höchste Leitungsstelle konzentriert. In dezentralen Strukturen hingegen sind Entscheidungsbefugnisse per Delegation auf mehrere Stellen und Abteilungen verteilt. Zentrale Entscheidungen sind z.B. sinnvoll, wenn x Entscheidungen zur strategischen Sicherung und Entwicklung getroffen werden müssen, x die Einheitlichkeit von Entscheidungen erforderlich ist (z.B. beim Aufbau eines zertifizierbaren Qualitätsmanagementsystems oder bei der betrieblichen Altersversorgung), x eine Entscheidungsdelegation nicht möglich ist, weil die Stelleninhaber nicht hinreichend qualifiziert sind oder x rechtliche und per Geschäftsordnung oder Satzung festgelegte Regelungen die Delegation von Entscheidungen ausschließen (BÜHNER 2004). Voraussetzungen für zentrale Entscheidungen sind, dass die Leitungsstelle kapazitiv in der Lage ist, anstehende Entscheidungen zu treffen und über die erforderlichen Informationen verfügt. Sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, so bieten dezentrale Entscheidungsstrukturen folgende Vorteile (BÜHNER 2004): x Die Entscheidungen werden von Organisationseinheiten getroffen, die über die benötigten Informationen zur Beurteilung der Entscheidungskonsequenzen verfügen (Kommunikationsvorteil). x Durch die Delegation von Entscheidungsbefugnissen auf Mitarbeiter können diese motiviert werden (Motivationsvorteil). x Die Leitungsstellen werden inhaltlich und zeitlich entlastet (Entlastungsvorteil). In der Praxis muss ein „Kompromiss“ zwischen zentralen und dezentralen Entscheidungsstrukturen gefunden werden. Rein kostentheoretisch sollte ein solcher Kompromiss minimale Gesamtkosten verursachen und die Relation von Kosten für die Abstimmung zwischen Einzelentscheidungen (sog. Koordinationskosten) und Kosten für die Abweichung der schließlich getroffenen Entscheidung von der theoretisch erreichbaren Idealentscheidung (sog. Autonomiekosten) optimieren
Betriebs- und Arbeitsorganisation
443
(FRESE 1996). Abb. 4.2 zeigt qualitativ den Verlauf der Koordinations- und Autonomiekosten in Abhängigkeit vom Zentralisationsgrad. Der Zentralisationsgrad ZG ist das Verhältnis der Anzahl der Entscheidungen in der Betriebsführung zu der Anzahl aller Entscheidungen (BEUERMANN 1992). Die Koordinationskosten Kkoord(ZG) nehmen mit zunehmendem Zentralisationsgrad ab, da weniger Aufwand zur Abstimmung der Einzelentscheidungen benötigt wird. Andererseits ist anzunehmen, dass die Autonomiekosten Kaut(ZG) mit zunehmendem Zentralisationsgrad ansteigen. Die Überlagerung der beiden gegenläufigen Kostenfunktionen führt zum Gesamtkostenminimum beim Zentralisationsgrad ZG0 (siehe Abb. 4.2). Kosten Gesamtkostenfunktion
Kkoord
0
Kaut
ZG0
1 Zentralisationsgrad ZG
Abb. 4.2: Zusammenhang zwischen Zentralisationsgrad und Koordinations- und Autonomiekosten (nach BEUERMANN 1992)
Bei welchem Zentralisationsgrad dieses Optimum liegt, lässt sich in der Regel nicht berechnen, da weder die Koordinations- noch die Autonomiekostenfunktionen ermittelt werden können. Eine rein kostentheoretische Ableitung des Zentralisationsgrads ist auch nicht sinnvoll, da dabei personenbezogene Kriterien wie Entscheidungsspielräume o.ä. außer Acht gelassen werden. Statt eines analytischen Ansatzes sollen im Folgenden aufbauorganisatorische Grundformen unterschieden werden, die theoretisch begründet und häufig in der Praxis anzutreffen sind. 4.2.4
Formen der Aufbauorganisation
Durch Über- und Unterordnung von Organisationseinheiten entsteht ein organisatorisches Gerüst. Die gebildeten Stellen werden mittels sog. Linien verbunden, die von oben nach unten den Anordnungsweg und von unten nach oben den Mitteilungs- oder Meldeweg bilden. Werden alle permanent im Betrieb existierenden Stellen, Stäbe und Gremien verbunden, so ergibt sich eine Struktur, die Primärorganisation genannt wird. Sie ist aufgrund ihrer hierarchischen Struktur vor allem
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Arbeitswissenschaft
für die effektive Bewältigung des Kerngeschäfts sowie den Erhalt und Ausbau der Kernkompetenzen zuständig. Allgemein ist sie für die effiziente Bearbeitung von wiederkehrenden Aufgaben geeignet. Diese Struktur reicht jedoch oft nicht zur Bearbeitung komplexer Problemstellungen aus, da die Abhängigkeiten zwischen den Organisationseinheiten nur ungenügend berücksichtigt werden. Deswegen finden sich häufig ergänzende Strukturen, die die Primärorganisation überlagern und die als Sekundärorganisation bezeichnet werden (VAHS 2005). Die Sekundärorganisation dient z.B. dem Produkt- oder Projektmanagement. In der Folge ergibt sich eine große Anzahl unterschiedlicher Formen der Aufbauorganisation. Zur übersichtlichen und leicht verständlichen Darstellung werden nachfolgend für die Praxis relevante Grundformen und Spezialisierungen dargestellt. Grundsätzlich lassen sich funktionale und objektorientierte Organisationen unterscheiden. Eine funktionale Organisation sieht auf der zweiten Hierarchieebene eine Gliederung nach Sachfunktionen vor (z.B. Entwicklung, Produktion etc.), wodurch das ganze System eine funktionale Prägung erhält. Demgegenüber fasst eine objektorientierte Organisation Stellen- und Abteilungen für diejenigen Verrichtungen zusammen, die z.B. für die Entwicklung, Herstellung und Vermarktung eines bestimmten Objekts – häufig ein komplexes technisches Produkt – notwendig sind (SCHREYÖGG 2003). 4.2.4.1
EinlinienorganisationĆ
Die Einlinienorganisation (siehe Abb. 4.3) ist dadurch gekennzeichnet, dass jede Stelle und jede Organisationseinheit, entsprechend Fayols „Prinzip der Einheit der Auftragserteilung“, jeweils nur eine direkt übergeordnete Leitungsstelle hat. Die Mitarbeiter erhalten nur vom jeweiligen Vorgesetzten Aufgaben, Aufträge und Weisungen. Gegebenenfalls muss eine Weisung, Anordnung oder Information vertikal jeweils alle Abteilungen bzw. Stellen einer Linie durchlaufen. Möchten zwei gleichrangige Stellen aufgabenbezogen kommunizieren, müssen sie den Umweg über die nächst höhere und für beide zuständige Instanz nehmen. So kommt es häufig zu langen Kommunikationswegen, etwaige Abstimmungs- und Kommunikationsprozesse werden verzögert (REFA 2002). Instanz
disziplinarisches und fachliches Unterstellungsverhältnis
Stelle
Abb. 4.3: Einlinienorganisation
Betriebs- und Arbeitsorganisation
445
Neben der Beschreibung der Aufgaben müssen Regelungen über die Form der Zusammenarbeit, der Abstimmung sowie der Informations- und Direktionswege getroffen werden. Die Instanzen sind bei diesem Prinzip nur geringfügig spezialisiert, da jede Leitungsstelle den gesamten ihr unterstellten Aufgabenbereich überblicken muss, um entsprechend qualifizierte Arbeitsanweisungen geben zu können. Beispiele für eine Einlinienorganisation finden sich im militärischen und kirchlichen Bereich. 4.2.4.2
MehrlinienorganisationĆ
Bei der Mehrlinienorganisation (siehe Abb. 4.4) hat ein Mitarbeiter, in Anlehnung an das Funktionsmeistersystem von F. W. Taylor, für jedes fachliche Teilgebiet seiner Arbeit einen anderen Vorgesetzten. Ziele dieser Organisationsform sind die Spezialisierung der Leitungsstellen sowie eine Beschleunigung der Kommunikation durch kürzere Informations- und Direktionswege. Es kommt bei ihrer Anwendung zu einer Vielfachunterstellung des Mitarbeiters. Dieser kann sich mit seinen Problemen direkt an die jeweils spezialisierte Instanz wenden. Die Positionsmacht des Vorgesetzten rückt dabei im Vergleich zu seiner Fachkompetenz in den Hintergrund (VAHS 2005). Zu beachten ist jedoch, dass die Kompetenzen jeder Instanz genau beschrieben sein müssen. Jeder Vorgesetzte muss sich an die Grenzen seines Kompetenzbereichs halten, weil es sonst zu Kompetenzüberschneidungen und unklaren Verantwortungen kommen kann. Für die einzelne untergeordnete Stelle ergibt sich die Schwierigkeit der Priorisierung von Tätigkeiten, die sie von unterschiedlichen Vorgesetzten erhält. Zudem ist bei einem schlechten Arbeitsergebnis nicht immer eindeutig zu klären, welche Instanz hierfür verantwortlich ist. Um Koordinationsprobleme zu vermeiden, ist ein hoher Dokumentationsaufwand und damit ein hoher Grad an Formalisierung erforderlich und sinnvoll. Das Taylorsche Funktionsmeistersystem unterscheidet beispielsweise Zeit-, Qualitätsund Kostenmeister etc.
fachliche Unterstellung
Abb. 4.4: Mehrlinienorganisation
disziplinarische Unterstellung
446
Arbeitswissenschaft
4.2.4.3
Stab-Linien-OrganisationĆ
Die Stab-Linien-Organisation ist eine Erweiterung der Ein- bzw. Mehrlinienorganisation. Stäbe sind einzelnen Linieninstanzen zugeordnet und unterstützen diese, indem sie Entscheidungen vorbereiten (z.B. durch Sammlung und Aufbereitung von Informationen). Stäbe haben gegenüber den Stellen der Linienorganisation weder Entscheidungs- noch Weisungsbefugnisse, können aber selbst Teil einer hierarchischen Stabsorganisation sein (SCHANZ 1994). So können sie bspw. als Zentralstabsstellen, als Stäbe auf mehreren Ebenen oder als Stabshierarchie in eine Linienorganisation eingebettet sein und dann durchaus Entscheidungs- und Weisungsbefugnisse gegenüber Abteilungsstäben besitzen. Eine Stabshierarchie tritt dabei als geschlossenes „Untersystem“ neben die Linienstruktur (REFA 2002). Durch die Stäbe kann die weitgehend statische Struktur der Ein- bzw. Mehrlinienorganisation flexibilisiert werden. Zwar wird das Prinzip der einheitlichen Auftragserteilung beibehalten, durch die fachliche Unterstützung der Stäbe werden die Linienstellen aber gleichzeitig entlastet. Dort können Kapazitäten für die Bewältigung anderer Aufgaben (z.B. strategische Planung) freigesetzt werden. Ein Beispiel für eine funktional gegliederte Stab-Linien-Organisation ist in Abb. 4.5 dargestellt. Strategische Planung
Absatz
Unternehmensführung
Marktforschung
Produktion
Rechtsabteilung
Assistent
Kaufmännische Verwaltung
EDV
Abb. 4.5: Stab-Linien-Organisation
4.2.4.4
MatrixorganisationĆ
Die Matrixorganisation ist eine spezielle Form der Mehrlinienorganisation. Sie ist durch die gleichzeitige Anwendung von zwei Gliederungskriterien (z.B. Verrichtung in Verbindung mit Produkt oder Markt) gekennzeichnet. Abb. 4.6 zeigt ein Beispiel für eine nach Verrichtung und Produktgruppen gegliederte Matrixorganisation. Die Organisationseinheiten sind fachlich der jeweiligen Fachinstanz unterstellt. Gleichzeitig sind sie den Produktgruppen zugeordnet, die von verantwortlichen Produktmanagern geleitet werden. Mit Bezug auf die Produktgruppen unterstehen die Organisationseinheiten diesem Produktmanager und erfüllen produktbezogen Fachaufgaben. Es ist nachvollziehbar, dass die Überlagerung von zwei oder mehreren Gliederungskriterien klare Schnittstellenregelungen, insbesondere
Betriebs- und Arbeitsorganisation
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bei der Gestaltung von Leitungs- und Weisungsvorschriften, benötigt. In aller Regel erhalten objektorientierte Instanzen (z.B. Produktmanager) dann nur objektbezogene Weisungsrechte, während die funktionalen Instanzen die Verwaltungskompetenzen über die Kapazitäten und insbesondere die Disziplinarkompetenz über die Aufgabenträger behält. In der Praxis wird zunehmend auf eine organisatorisch bestimmte Dominanzlösung zugunsten des einen oder des anderen Gliederungskriteriums verzichtet. Mögliche Konflikte werden nicht mehr länger als Bedrohung für die Organisation, sondern als zusätzliches kreatives Element angesehen, das die Abstimmungsprobleme einer sinnvollen Problemlösung zuführen kann (STEINMANN u. SCHREYÖGG 2005). Matrixorganisationen können, je nachdem ob sie permanent oder temporär in die Struktur des Betriebs eingebettet sind, als Produkt-, Kunden-, Funktions- oder Projektmanagement auftreten (VAHS 2005). Ein Produktmanagement liegt vor, wenn Produkte oder Dienstleistungen als Daueraufgabe, also zeitlich unbegrenzt, „quer“ über alle Funktionsbereiche betreut werden. Vom Kundenmanagement spricht man, wenn die Organisation auf bestimmte Kundengruppen und damit verbundene Marktsegmente ausgerichtet wird, wie es z.B. im Anlagenbau üblich ist. Das Funktionsmanagement zielt auf die Harmonisierung der mitunter komplementären Zielsetzungen von Funktionsbereichen ab und zieht Querschnittsfunktionen ein, die übergreifende Planungs- und Steuerungsaufgaben wahrnehmen (z.B. Qualitätsmanagement). Ein Projektmanagement hingegen liegt vor, wenn Vorhaben, die im Wesentlichen durch die Einmaligkeit der Bedingungen in ihrer Gesamtheit gekennzeichnet sind, zeitlich begrenzt und simultan zu den Fachaufgaben geführt werden (siehe Kap. 4.2.5).
funktionsorientiert
Produktion
objektorientiert
Unternehmensleitung
Forschung und Entwicklung
Absatz
Finanz- und Rechnungswesen
Produktgruppe 1
Fertigungsplanung Produktgruppe 1
Entwicklung Produktgruppe 1
Marketing und Vertrieb Produktgruppe 1
Kalkulation und Finanzplanung Produktgruppe 1
Produktggruppe pp 2
Fertigungsplanung Produktgruppe 2
Entwicklung Produktgruppe 2
Marketing und Vertrieb Produktgruppe 2
Kalkulation und Finanzplanung Produktgruppe 2
Abb. 4.6: Matrixorganisation
4.2.4.5
ProzessorganisationĆ
Die Prozessorganisation definiert Stellen, Abteilungen und Bereiche auf Basis der innerhalb des Betriebs verrichteten Wertschöpfungsschritte und bezieht darüber hinaus die Input-Output-Beziehungen zu Kunden und Lieferanten ein. Sie gliedert
448
Arbeitswissenschaft
sich auf in zur Wertschöpfung beitragende Kernprozesse, wie z.B. Produktion, und die Wertschöpfung unterstützende Prozesse, sog. Supportprozesse, wie z.B. Beschaffung. Die Besonderheit liegt darin, dass alle Prozesse auf den Kunden ausgerichtet sind und sämtliche Aktivitäten über einen durchgängigen Informations- und Datenfluss miteinander verknüpft sind (siehe Abb. 4.7), wodurch die Schnittstellentransparenz erhöht und der Abstimmungsaufwand reduziert werden soll (WIENDAHL 2007). Unternehmensleitung
Standort A Personal
Standort B
Standort D
Innovationsprozess
Infrastruktur Entwicklung
Standort C
Produktionsprozess
Kunden
Auftragsabwicklungsprozess
Beschaffung
Vertriebsprozess
Abb. 4.7: Beispiel einer Prozessorganisation
Eine prozessorientierte Arbeitsteilung wird abgeleitet aus einer Dekomposition der Wertschöpfungsschritte und ihrer nachfolgenden Synthese zu einer sog. Wertschöpfungskette, die alle Aktivitäten umfasst, die notwendig sind (mittelbar oder unmittelbar), um die Transformation von Inputfaktoren in Outputfaktoren zu erreichen. Ein in der Literatur vielfach zitiertes Referenzmodell ist die sog. „Wertschöpfungskette nach Porter“ (PORTER 2000) (siehe Abb. 4.8). Sie beschreibt den Wertschöpfungsprozess auf der Ebene der gesamten Organisation. Dem Leitbild der Prozessorganisation folgend lassen sich die an der Wertschöpfung beteiligten Aktivitäten in zwei Klassen einteilen: Aktivitäten, die unmittelbar mit der Herstellung und dem Vertrieb von Produkten oder Dienstleistungen verbunden sind, werden als primäre Aktivitäten bezeichnet. Dieses sind die Eingangslogistik, Produktion, Marketing und Vertrieb, Ausgangslogistik sowie der Service. Von diesen primären Aktivitäten grenzen sich die sekundären ab, die lediglich der Unterstützung dienen. Im Einzelnen gehören hierzu die Beschaffung, Forschung und Entwicklung, Personalwirtschaft sowie die Unternehmensinfrastruktur. Die organisatorische Wertschöpfung muss im Hinblick auf die anzustrebende Arbeitsteilung sukzessive „Top-Down“ anhand von Geschäftsprozessen strukturiert werden (siehe Kap. 4.3.3.2). Im Anschluss können die gebildeten Prozesse nach den Kriterien Zwischenprodukt oder Dienstleistung und interne Kundengruppen weiter differenziert werden. In einem nächsten Schritt werden die immer noch recht komplexen Prozesse entweder horizontal nach ihrer Komplexität (Standardprozess, komplexer Fall) oder vertikal in weitere Teilprozesse zerlegt. Resultierende Teilaktivitäten der vertikalen Dekomposition können solange in weitere Teilprozesse zerlegt werden bis auf der letzten Ebene Elementarprozesse
Betriebs- und Arbeitsorganisation
449
Unternehmensinfrastruktur Personalwirtschaft
(Führung, Finanzmanagement etc.)
(Personalplanung, -beschaffung, -entwicklung etc.)
Technologieentwicklung
(F&E, IT- Systeme etc.)
äge Ertr
Sekundäre Aktivitäten
der Organisation feststehen. Ein Elementarprozess leistet gerade noch einen bewertbaren positiven Beitrag zur Wertschöpfung. Die erzeugten Prozesse werden einem Prozessverantwortlichen unterstellt, der für die Ergebnisse verantwortlich ist und die Koordination innerhalb des Prozesses und mit anderen übernimmt (JOST 2000). Wesentliche Vorteile dieser Organisationsform liegen in der Konzentration auf die wertschöpfenden Aktivitäten und dem funktionsübergreifenden Charakter. Nachteile können dadurch entstehen, dass bei fehlender Konzentration auf die Funktion Effizienzvorteile der Arbeitsteilung (siehe Kap. 4.2.3.1) verloren gehen.
Beschaffung (Rohstoffe, Betriebsmittel, Anlagen etc.)
Primäre Aktivitäten
• Wareneingang • Lagerung • etc.
Produktion Marketing (Operations) & Vertrieb • Fertigung • Montage • Verpackung • etc.
• Preise • Distribution • Werbung • Verkauf • etc.
Ausgangs Logistik
Service
• Lagerverwaltung • Lieferung • etc.
• Installation/ Konfiguration • Wartung • Zubehör • After-Sales • etc.
Erträg e
Eingangs logistik
Abb. 4.8: Wertschöpfungskette nach PORTER (2000)
4.2.4.6
Produkt-/MarktorientierteĆOrganisationĆ
Produktorientierte Organisationen gliedern ihre organisatorischen Einheiten nach Produkten, Produktgruppen oder Produktlinien. Analog gliedern marktorientierte Organisationen ihre Einheiten nach unterschiedlichen Marktsegmenten, die z.B. an Kundengruppen, Branchen oder regionale Absatzgebiete geknüpft sind. Beispiele sind in Abb. 4.9 bzw. Abb. 4.10 dargestellt. Es werden also alle Verrichtungen, die zu einem Bezugsobjekt gehören, als eigenständiger Geschäftsbereich geführt. In der Literatur spricht man auch von einer Spartenorganisation, divisionalen Organisation oder Geschäftsbereichsorganisation (FRESE 2000, VAHS 2005). Da produkt- bzw. marktorientierte Organisationen ihre hierarchische Struktur aus den Einlinien- sowie Stab-Linien-Organisationen ableiten, handelt es sich nicht um Grundformen der Aufbauorganisation, sondern lediglich um Spezialisierungen nach Objekten. Aufgrund der besonderen praktischen Bedeutung dieser Organisationsvarianten werden sie hier jedoch zusätzlich erläutert. Die wirtschaftliche Steuerung der Geschäftsbereiche erfolgt häufig nach dem Prinzip des sog. Profit-Centers. Als Profit-Center gelten solche organisatorischen Teilbereiche, für die ein gesonderter Erfolgsausweis vorgenommen wird. Wird etwa die klassische Gewinn- und Verlustrechnung als Erfolgsausweis herangezogen, dann sind den
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Arbeitswissenschaft
verschiedenen Teilbereichen ihre bereichsspezifischen Kosten und Erlöse zuzuordnen. Führt ein Automobilzulieferbetrieb seinen Kundendienst als Profit-Center, so wird der Erfolg der Kundendienstaktivitäten als Gewinn oder Verlust ausgewiesen. Dabei werden alle Leistungen und Kosten, die durch den Kundendienst entstanden sind, gesondert erfasst und in Form einer Erfolgsrechnung zusammengestellt (FRESE 2000). Im Profit-Center trägt folglich die Geschäftsbereichsleitung Kosten- und Erlösverantwortung. Sie hat jedoch keinen Einfluss auf das eingesetzte Kapital. Im sog. Investment-Center wird der Entscheidungsspielraum noch um den Kapitaleinsatz erweitert. Hier kann die Bereichsleitung selbst über Investitionen und Liquidationen entscheiden. VorstandsVorstandsvorsitzender vorsitzender
Branche BrancheAA
Branche BrancheBB
Produkt Produkt11
Meister Meister
Branche BrancheCC
Produkt Produkt22
Produkt Produkt33
Meister Meister
Meister Meister
Abb. 4.9: Produktorientierte Organisation (nach HODGE et al. 2003)
Direktion Direktion
Branche BrancheAA
Branche BrancheBB
Markt Markt11
Markt Markt22
AbteilungsAbteilungsleiter leiter
Branche BrancheCC
Markt Markt33
AbteilungsAbteilungsleiter leiter
Abb. 4.10: Marktorientierte Organisation (nach HODGE et al. 2003)
Betriebs- und Arbeitsorganisation
4.2.4.7
451
Vor-ĆundĆNachteileĆvonĆAufbauorganisationsformenĆ
Die vorgestellten Grundformen der Aufbauorganisation haben, bezogen auf den eigentlichen Zweck einer Organisation, wie die Sicherstellung der Aufgabenerfüllung über Verteilung der Kapazitäten, Koordination der Arbeitsprozesse, Herbeiführung von Entscheidungen etc., spezifische Vor- und Nachteile, die in Tabelle 4.1 gegenübergestellt sind. Tabelle 4.1: Vor- und Nachteile von Grundformen der Aufbauorganisation Geringe Kapazität der Vorgesetzten notwendig Nur für wiederkehrende Prozesse (wie administrative Vereinfachte Abstimmung durch Abbau von Schnittstellen Prozesse) anwendbar und geringere Arbeitsteilung Überschreitet schnell Komplexitätsgrenzen Intrinsische Motivation der Mitarbeiter steigt durch Gegenüber funktionaler Arbeitsteilung ProduktivitätsnachSteigerung der Verantwortung teile Orientierung der Mitarbeitervergütung an geeigneten Indikatoren (z.B. Prozesskosten) Entlastung der Leitungsspitze Direkte Wege Keine Belastung von Zwischeninstanzen Mehrdimensionale Koordination Übersichtliche, klare Leitungsorganisation Möglichkeit, Projekte als eigene Dimension zu integrieren Spezialisierung der Leitung nach Problemdimensionen Gleichwertige Berücksichtigung mehrer Dimensionen Ständige Teamarbeit der Leitung
Großer Bedarf an Leitungskräften Großer Kommunikationsbedarf Zwang zur Regelung sämtlicher Kreuzungen zwischen den Dimensionen Schwer nachvollziehbare Entscheidungsprozesse Keine Einheit der Leitung Gefahr zu vieler Kompromisse Gefahr großer Zeitverluste bis ein Gesamtentscheid zustande kommt
Entlastung der Leitungsspitze Verkürzung der Kommunikationswege Keine Belastung von Zwischeninstanzen Potentiell große Koordinationsfähigkeit Direkte, schnelle Kommunikation Job-Spezialisierung des Vorgesetzten Berücksichtigung spezifischer Eignung Rascher Erwerb von Wissen und Erfahrung
Großer Bedarf an Leitungskräften Großer Abstimmungsbedarf, deshalb hoher Kommunikationsaufwand Kompetenzkonflikte kaum vermeidbar Keine klaren Kompetenzabgrenzungen In großen Systemen ist die Komplexität kaum zu bewältigen Keine Einheit der Leitung fehlender Blick des Vorgesetzten für das Ganze Gefahr zu vieler Kompromisse Gefahr großer Zeitverluste bis ein Gesamtentscheid zustande kommt
Entlastung der Linieninstanzen Erhöhte Kapazität für sorgfältige Entscheidungsvorbereitung Erhöhte Koordinationsfähigkeit gegenüber LinienOrganisation Sinnvoller Ausgleich zwischen Spezialisten des Stabes und Überblick der Linie Fachkundige Entscheidungsvorbereitung
Gefahr der Entwicklung einer überdimensionierten Stabsstruktur Gefahr der Vernachlässigung der Leitungsorganisation (Stab als Vorwand für mangelnde Delegation) Konfliktmöglichkeiten zwischen Stab und Linie Transparenz der Entscheidungsprozesse geht verloren Gefahr, dass Stabsarbeit von der Linie nicht berücksichtigt wird Gefahr, dass Stabsmitarbeiter den Linienvorgesetzten dank seines fachlichen Wissens manipulieren kann
Einheit der Auftragserteilung reduziert Koordinations- und Entscheidungsprozesse Klare Kompetenzabgrenzung Klare Anordnungen Klare Kommunikationswege Einfache Kontrolle Einheitliche, zielorientierte Entscheidungen Alleinverantwortung bedeutet Anerkennung persönlicher Beiträge
Überlastung der Leitungsspitze Unterdimensioniertes Kommunikationssystem Lange Kommunikationswege Unnötige Belastung von Zwischeninstanzen Keine direkte Kommunikation zwischen hierarchisch gleichrangigen Instanzen und Stellen Gefahr der „Bürokratisierung“ Unvereinbarkeit mit dem Grundsatz des Spezialistentums Gefahr der Vernachlässigung einer systematischen Entscheidungsvorbereitung Starre, langsame Willensbildung
Linienorganisation
Stab-LinienOrganisation
Mehrlinienorganisation
Prozessorganisation
Nachteile
Matrixorganisation
Vorteile
Wie die Aufbauorganisation von Betrieben schließlich ausgeprägt ist, hängt von weiteren Faktoren ab, z.B. von der strategischen Ausrichtung, den langfristig
452
Arbeitswissenschaft
verfolgten Zielen oder den gesetzlichen Vorgaben. Damit wird auch deutlich, dass die Aufbauorganisation auf großen Zeitskalen nicht statisch sein kann, sondern sich zyklisch anpassen muss. Über die vorgestellten Organisationsformen hinaus haben sich in der Praxis weitere Strukturen bewährt, wie z.B. die Holdingstruktur auf Konzernebene (VAHS 2005) oder sog. Netzwerkorganisationen, in denen mehrere Unternehmen zur Verfolgung eines gemeinsamen Zieles kooperieren (KILLICH u. LUCZAK 2003). 4.2.5
Projektorganisation
Nach DIN 69901-5 (2009) ist ein Projekt „ein Vorhaben, das im Wesentlichen durch Einmaligkeit der Bedingungen in ihrer Gesamtheit gekennzeichnet ist, wie z.B. eine klare Zielvorgabe, eine zeitliche, finanzielle, personelle oder andere Begrenzung, Abgrenzung gegenüber anderen Vorhaben sowie eine [...] spezifische Organisation“. Aufgrund der Einmaligkeit der Bedingungen sind Projekte nur temporär in die Struktur des Betriebs integriert und erfordern spezifische Organisationsformen, die nicht zwangsweise Bestandteil der klassischen Aufbauorganisation sind. Häufig überschreiten Projekte in ihrem Umfang die Grenzen festgelegter Bereiche, haben eine wirtschaftlich besondere Bedeutung und sind mit besonderen Risiken versehen. Sie erfordern die flexible und dynamische Einbindung und Mitwirkung verschiedener Spezialisten und die gemeinsame Nutzung vorhandener Ressourcen. Die organisatorische Integration kann dabei nach BURGHARDT (2002) in Form der Einfluss-Projektorganisation, Matrix-Projektorganisation, Auftrags-Projektorganisation oder reinen Projektorganisation erfolgen. Bei der Einfluss-Projektorganisation gibt es lediglich einen Projektkoordinator, der – im Gegensatz zu einem „echten“ Projektleiter – nur eine lenkende und koordinierende Funktion besitzt und nur über geringe Entscheidungsbefugnisse verfügt. Er dient quasi als Informant der betrieblichen Linieninstanzen. Da die Entscheidungen weiterhin in der Linie getroffen werden, ist der Koordinator nicht für Erfolg oder Misserfolg des Projekts verantwortlich (siehe Abb. 4.11). Ein Beispiel für die Wahl einer Einfluss-Projektorganisation ist die Einführung eines neuen PPS/SCM/ERP Software-Systems. Die Matrix-Projektorganisation ist eine Matrixorganisation (siehe Kap. 4.2.4.4), die sich bzgl. des sekundären Gliederungskriteriums an Projekten orientiert. In der Matrix-Projektorganisation trägt der Projektleiter die gesamte Verantwortung für das Projekt. Er hat jedoch nicht die volle Anordnungsbefugnis für die am Projekt beteiligten Mitarbeiter. Diese werden aus verschiedenen Organisationseinheiten rekrutiert, sind zeitlich begrenzt in einer Projektgruppe zusammengefasst und unterliegen nur fachlich der Weisungsbefugnis des Projektleiters. Disziplinarisch unterstehen sie weiterhin dem Linienvorgesetzten. Die Matrix-Projektorganisation hat damit eine mehrdimensionale Weisungsstruktur, wodurch eine Kompetenzabgrenzung erschwert wird (siehe Abb. 4.12). Die Matrix-Projektorganisation ist beispielsweise für die Abwicklung von Großaufträgen in der Bauindustrie die geeignete Organisationsform.
Betriebs- und Arbeitsorganisation
453
Geschäftsleitung Geschäftsleitung
ProjektProjektkoordinator koordinator
Vertrieb Vertrieb
Entwicklung Entwicklung
Fertigung Fertigung
Kaufmännische Kaufmännische Leitung Leitung
Abb. 4.11: Einfluss-Projektorganisation, die in eine funktionale Einlinien-Organisation integriert ist (nach BURGHARDT 2002) Geschäftsleitung Geschäftsleitung
Vertrieb Vertrieb
Entwicklung Entwicklung
Fertigung Fertigung
Kaufmännische Kaufmännische Leitung Leitung
ProjektProjektLeiter Leiter AA ProjektProjektLeiter Leiter BB ProjektProjektLeiter Leiter C C Disziplinarische Verantwortung Projektbezogene, fachliche Kompetenz und Verantwortung
Abb. 4.12: Matrix-Projektorganisation (nach KIESER u. WALGENBACH 2007)
Die Auftrags-Projektorganisation ist ebenfalls matrixorientiert. Die Projektmitarbeiter sind allerdings nicht wie in der Matrix-Projektorganisation doppelt unterstellt. Projektleiter und Projektmitarbeiter bilden eine eigene Organisationseinheit „Projektmanagement“, die parallel zur Linienorganisation geführt wird. Das Projektmanagement hat hier also die organisatorische und fachliche Gesamtverantwortung für das Projekt. Es vergibt Aufträge an die Entwicklungs- und Ferti-
454
Arbeitswissenschaft
gungsabteilungen und nimmt gleichzeitig Aufträge des Vertriebs entgegen (siehe Abb. 4.13). Beispiele für Auftrags-Projektorganisationen sind der Schiff- und Flugzeugbau. Geschäftsleitung Geschäftsleitung
Vertrieb Vertrieb
Entwicklung Entwicklung
Kaufmännische Kaufmännische Leitung Leitung
Fertigung Fertigung
ProjektProjektmanagement management Projekt Projekt AA
Projekt Projekt BB
Projekt Projekt C C
Abb. 4.13: Auftrags-Projektorganisation (nach BURGHARDT 2002) Geschäftsleitung Geschäftsleitung
Vertrieb Vertrieb
Projektleiter Projektleiter
HW-Entwicklung HW-Entwicklung Mechanik Mechanik
HW-Entwicklung HW-Entwicklung Elektronik Elektronik
Entwicklung Entwicklung
HW-Entwicklung HW-Entwicklung Mechanik Mechanik
Fertigung Fertigung
Kaufmännische Kaufmännische Leitung Leitung
HW-Entwicklung HW-Entwicklung Elektronik Elektronik
SW-Entwicklung SW-Entwicklung
SW-Entwicklung SW-Entwicklung
Abb. 4.14: Reine Projektorganisation (nach BURGHARDT 2002)
Bei der reinen Projektorganisation sind alle an der Projektdurchführung beteiligten Mitarbeiter unter einem Projektleiter, der Autoritäten einer Linieninstanz besitzt, zusammengefasst. Der Projektleiter hat die gesamte Anordnungs- und Entscheidungsbefugnis. Er trägt damit die alleinige Verantwortung für das Projekt. Lediglich über die Bereitstellung des benötigten Personals und bei dessen
Betriebs- und Arbeitsorganisation
455
Wiedereingliederung nach Abschluss des Projekts entscheidet die Linienautorität und nicht der Projektleiter (siehe Abb. 4.14) (BURGHARDT 2002). Ein Beispiel für die Organisationsform der reinen Projektorganisation ist die in Automobilbetrieben anzutreffende Entwicklung von Fahrzeuglinien. 4.3 4.3.1
Ablauforganisation Definitionen, Elemente und Beziehungen
Die Ablauforganisation regelt das räumliche, zeitliche und inhaltliche Zusammenwirken von Arbeitspersonen, Arbeits- und Betriebsmitteln, Arbeitsobjekten und dem Input des Arbeitssystems. Sie umfasst die Planung, Gestaltung und Steuerung von Arbeitssystemen, einschließlich der dazu erforderlichen Datenermittlung, mit dem Ziel der Schaffung eines wirtschaftlichen und humanen Betriebsgeschehens (REFA 2002). Eine Abgrenzung der Ablauforganisation gegenüber der Aufbauorganisation ist in Tabelle 4.2 dargestellt. Tabelle 4.2: Abgrenzung der Aufbauorganisation und Ablauforganisation Aufbauorganisation Elemente:
x Stellen (Linien-, Stabs-, Leitungs-, Ausführungsstellen)
Ablauforganisation
x Aufgaben bzw. Aktivitäten
x Organisationseinheiten höherer Ordnung
Relationen:
x Unterstellungsverhältnisse im Sinne
von Weisungs- und Entscheidungsbefugnissen sowie Berichtswesen
x Vorgänger-Nachfolger-
Beziehungen im Sinne der Tätigkeit, oft ergänzt durch Informations- und Materialflüsse
Die strikte Zweiteilung von Aufbau- und Ablauforganisation stellt eine gedankliche Abstraktion dar, die die Auseinandersetzung mit organisatorischen Fragestellungen erleichtern kann. In der Praxis können die Aufgaben der Gestaltung von Aufbau- und Ablauforganisation jedoch nicht isoliert betrachtet werden (VAHS 2005). Vielmehr greifen sie ineinander, so dass eine getrennte Betrachtung und Optimierung von Aufbau- und Ablauforganisation nicht sinnvoll ist (SCHREYÖGG 2003). Während früher die Ablauforganisation der Aufbauorganisation in der Regel nachgeordnet war (siehe Kap. 4.2.4.5), ist im Rahmen der prozessorientierten Organisation eine Umkehr dieser Reihenfolge zu beobachten. So werden in vielen Betrieben zunächst die Abläufe festgelegt und die Aufbauorganisation wird zur Fortsetzung der Ablauforganisation (GAITANIDES 2004; VAHS 2005; OSTERLOH u. FROST 2006). In der Ablauforganisation ist die Reihenfolge der Tätigkeiten festgelegt, die zur Erfüllung der Arbeitsaufgaben durch Arbeitspersonen notwendig sind. Eine Auf-
456
Arbeitswissenschaft
gabe wird als die Zielsetzung zweckbezogener menschlicher Handlungen verstanden. Die Ablauforganisation regelt somit die Aktivitäten zur Aufgabendurchführung (FROST 2004). Damit werden gleichzeitig die Tätigkeitsinhalte, -umfänge und -anforderungen beschrieben. 4.3.2
Ziele und Einflussfaktoren
Gemäß der übergeordneten Zielsetzung der Betriebs- und Arbeitsorganisation ist das Ziel der Ablauforganisation, Arbeitsabläufe wirtschaftlich und gleichzeitig menschengerecht zu gestalten (siehe Kap. 1.2). Zu den wirtschaftlichen Zielkriterien zählen bspw. x x x x x x x x
eine Steigerung der Kapazitätsauslastung, die Erhöhung der Ausbringungsmenge, die Verbesserung der Termintreue, eine Verringerung von Durchlauf-, Warte-, Liege- und Transportzeiten, die Senkung der Rüstzeiten, eine Minimierung der Lager- und Transportkosten, die Reduktion der Kosten der Vorgangsbearbeitung sowie eine Qualitätssteigerung der Vorgangsbearbeitung.
Zu den humanorientierten Zielen zählen u.a. x eine motivations- und kompetenzfördernde Arbeitsgestaltung, x eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen und Arbeitsumgebung, x eine ergonomische Gestaltung der Arbeitsmittel und Arbeitsplätze sowie x die Verbesserung der Arbeitsplatzanordnung. Die oben genannten Ziele sind nicht unabhängig voneinander. So steht z.B. die Verbesserung der Termintreue häufig mit dem Ziel der Minimierung der Lagerund Transportkosten in Konflikt. Ein weiterer Zielkonflikt besteht in der Regel zwischen der Verringerung der Durchlaufzeit des Arbeitsobjekts und der Erhöhung der Auslastung des Arbeitssystems. Eine minimale Durchlaufzeit stellt sich ein, wenn alle für den Arbeitsprozess benötigten Mittel, wie Maschinen, Halbzeuge etc., ohne Zeitverzug zur Verfügung stehen. Bei steigender Auslastung kommt es zu zeitlichen Verzögerungen im Prozess durch Warteschlangenbildung, wodurch sich die Durchlaufzeit typischerweise überproportional erhöht. Durch die Bereitstellung von mehreren gleichen Betriebsmitteln kann bei einer Mengenteilung zwar die Auslastung gesteigert werden, der fundamentale Zielkonflikt bleibt jedoch bestehen. Dies ist in Abb. 4.15 am Beispiel eines einfachen Warteschlangenmodells dargestellt. Weitergehende Analysen in Form sog. Produktionskennlinien finden sich in NYHUIS u. WIENDAHL (2003). Die Ablauforganisation unterliegt weiterhin dem Einfluss interner Größen, wie der Aufbauorganisation, des Produktionsprogramms, der Fertigungsprinzipien, der Qualifikation der Mitarbeiter sowie des Informations- und Materialflusses.
Betriebs- und Arbeitsorganisation
457
Durchlaufzeit
Durchlaufzeit
m=1
DLZmin
m=2
m=10
DLZmin
0
0,1
0,2
0,3
0,4
0,5
0,6
0,7
0,8
0,9
1
0
0,1
0,2
0,3
0,4
0,5
0,6
Auslastung
Darstellung der erwarteten Durchlaufzeit abhängig von der Systemauslastung
0,7
0,8
0,9
1
Auslastung
Erweiterung um m parallele Systeme
Abb. 4.15: Zielkonflikt zwischen Verringerung der Durchlaufzeit und Erhöhung der Auslastung
4.3.3 4.3.3.1
Analyse und Modellierung der Ablauforganisation EinordnungĆinĆdasĆSieben-Ebenen-ModellĆ
Die Ablauforganisation stellt eine prozessuale Querschnittsfunktion dar, die sämtliche Hierarchieebenen umfassen kann. Die Abläufe sind in unterschiedlichen Detaillierungsebenen darstellbar. Ausgehend von der geringsten Detaillierungsebene, der Ablauforganisation auf Betriebsebene, lassen sich mit einer fortlaufenden Zerlegung der Aktivitäten über die Ablauforganisation auf Abteilungsebene schließlich durch die Ablauforganisation auf Individualebene die einzelnen Arbeitsschritte, die von Arbeitspersonen ausgeführt werden, beschreiben und darstellen. Hierbei lässt sich die Ablauforganisation in Abhängigkeit des Detaillierungsgrads in die Ebenen des Sieben-Ebenen-Modells der Arbeitswissenschaft (siehe Kap. 1.4.3) einordnen. Die Gestaltung der Ablauforganisation sollte die Ebenen möglichst umfassend abdecken. Auf der Betriebsebene umfasst die Ablauforganisation alle Bereiche und ist in die sechste Ebene (Betriebliche Arbeitsbeziehungen und Organisation) einzuordnen. Sie umfasst die gesamte Wertschöpfungskette vom Wareneingang am Beschaffungsmarkt über die einzelnen Produktionsbereiche bis zum Absatzmarkt. Ein Beispiel für einen Auftragsfertiger ist in Abb. 4.16 dargestellt: Vom Kunden am Absatzmarkt wird ein Auftrag an den Vertrieb erteilt. Der Vertriebsmitarbeiter leitet den Auftrag mit gewünschtem Artikel, Menge und Liefertermin an die Prozessteuerung weiter. Die Prozessteuerung plant die personalen, zeitlichen und finanziellen Ressourcen des Unternehmens und stellt einen Auftrag in die Projektund Fertigungsplanung ein. In der Produktentwicklung wird gemäß der Projektplanung und in intensivem Austausch mit dem Kunden das Design, die Funktionalitäten und die Geometrie des gewünschten Produkts neu entwickelt oder aus einem bestehenden Produkt abgeleitet (Variantenentwicklung). In der Prozessentwicklung werden für die Produktion die optimalen Bearbeitungsparameter, die
458
Arbeitswissenschaft
Werkstoffauswahl und die wirtschaftlichste Methode für die Bearbeitung ermittelt. Die Arbeitsvorbereitung unterteilt sich in Arbeitsplanung und Arbeitssteuerung. Zur Arbeitsplanung gehört das Erstellen von Arbeitsunterlagen wie Fertigungsstücklisten und Arbeitsplänen. Zu den Aufgaben der Arbeitssteuerung gehören die Materialdisposition, die Termin- und Kapazitätsplanung sowie die Werkstattsteuerung. In der Fertigung werden, nachdem die erforderlichen Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe sowie Zulieferteile über den Einkauf beschafft und über das Eingangslager in der Fertigungshalle angelangt sind, die Produkte gefertigt und montiert. Die Distribution ist für die Versendung der fertigen Produkte an den Kunden zuständig, der die Rechnung von der Kundenbetreuung erhält (siehe Abb. 4.16).
Beschaffungsmarkt
Unternehmensführung
Personal
Informationssysteme
Rechnungswesen Controlling
Marketing Programmstrategie
Qualitätsmanagement
Einkauf und Lager
Start
Prozessteuerung
Beschaffung Input: Roh-, Hilfs-, Betriebsstoffe…
Absatzmarkt
Planung
Vertrieb ProduktProzessArbeitsFertigung entwicklung entwicklung vorbereitung Montage
Recycling
Kundenbetreuung Distribution Output: Produkte, Dienstleistungen...
Logistik Instandhaltung
Ziel
Service
Abb. 4.16: Ablauforganisation auf Betriebsebene
Auf der Abteilungsebene umfasst die Ablauforganisation Regelungen zur Präzisierung der Aufgabenerfüllung und Priorisierung der Tätigkeiten. Sie ist in die fünfte und vierte Ebene des Sieben-Ebenen-Modells (Kooperationsformen in Arbeitsgruppen bzw. Personales Handeln und Arbeitsformen) einzuordnen. Zur Verdeutlichung der typischen Granularität von Aufgaben auf der Abteilungsebene ist in Abb. 4.17 beispielhaft ein in der Modellierungssprache eEPK (SCHEER 2001, siehe Kap. 4.3.3.2) modelliertes Prozessfragment zur Wareneingangskontrolle in einem Unternehmen dargestellt. Trifft neue Ware ein, so wird diese von den Mitarbeitern des Wareneingangs geprüft. Zur Überprüfung werden der Bestellschein und der Lieferschein verwendet und als Ergebnis des Prüfvorgangs ein Prüfprotokoll angefertigt. Anschließend können, je nach Prüfergebnis, drei weitere Vorgehen unterschieden werden: (1) Die Ware wird freigegeben und kann an die Fertigung weitergereicht werden; (2) die Ware wird zunächst gesperrt und einer weiteren Qualitätsprüfung unterzogen; (3) die Ware wird abgelehnt. Der Wareneingangsprozess endet in diesem Fall sofort.
Betriebs- und Arbeitsorganisation
459
Neue Ware eingetroffen Bestellschein
Wareneingang
Überprüfen der Ware
Lieferschein
Protokoll
XOR
Ware ist freigegeben
Ware ist gesperrt
Fertigung
Qualitätsprüfung
Ware ist abgelehnt
Abteilungsleiter Wareneingang
Prozess endet hier
Abb. 4.17: Modell der Ablauforganisation auf Abteilungsebene (BAUMGARTNER et al. 2001)
Auf der Individualebene umfasst die Ablauforganisation die detaillierte Gestaltung der Arbeitstätigkeiten der Arbeitspersonen (HOLLNAGEL 2006; LUCZAK 1997). Sie ist in die dritte und zweite Ebene des Sieben-Ebenen-Modells (Arbeitstätigkeit und Arbeitsplatz bzw. Operationen und Bewegungen mit Werkzeugen und an Maschinen) einzuordnen. In Abb. 4.18 ist eine genaue Zerlegung der manuellen Tätigkeiten eines Montagemitarbeiters mit Hilfe des Methods-TimeMeasurement Verfahrens (MTM) dargestellt (siehe Kap. 7.3.9). Hierbei wird die Arbeitsaufgabe einer Arbeitsperson in Bewegungselemente zerlegt (z.B. Hinlangen, Greifen, Bringen, Fügen und Loslassen). Zu diesen Elementen können aus Tabellen unter Berücksichtigung von Einflussfaktoren wie z.B. der Weglänge die Zeitwerte abgelesen werden. Durch die Summierung der Einzelzeitwerte ist der gesamte Zeitbedarf bestimmbar. Auf der ersten Ebene des Sieben-Ebenen-Modells können sequentielle Tätigkeitsstrukturen in Energetik- und Informatik-Modellen abgebildet werden, die im Ressourcenverzehr neben Zeitstrukturen auch Belastungs- und Beanspruchungsstrukturen (Stressoren) belegen (siehe Kap. 3) und grenzwertige Aufgabenelemente identifizieren.
460
Arbeitswissenschaft
Bewegungsablaufbeschreibung
Für Zeitzuordnung notwendige Informationen
Codierung
Zeitwert
Hinlangen zum Bolzen
• Bewegungslänge: 40 cm • Bolzen liegen vermischt mit anderen
R 40 C
16,8 TMU
Greifen des Bolzens
• Abmessungen: Ø 8 x 12 mm • Bolzen liegen vermischt mit anderen
G4B
9,1 TMU
M 40 C
18,5 TMU
Bringen des Bolzens zur Vorrichtung
• Bewegungslänge: 40 cm • Platzierungsgenauigkeit: genau
Fügen des Bolzens in Öffnung
• Fügetoleranz: eng • Symmetrie: vollsymmetrisch • Handhabung: einfach
P2SE
16,2 TMU
Loslassen des Bolzens
• Öffnen der Finger
RL 1
2,0 TMU
Gesamtzeitbedarf:
62,6 TMU | 2,25 s
Abb. 4.18: Beschreibung des Ablaufs von manuellen Tätigkeiten einer Arbeitsperson
4.3.3.2
MethodenĆzurĆModellierungĆderĆAblauforganisationĆ
Die Modellierung der Ablauforganisation mit ingenieurwissenschaftlichen Methoden setzt die Analyse der betrieblichen Vorgänge in Form von Geschäfts- und Arbeitsprozessen voraus. Unter einem Geschäftsprozess wird hierbei eine deskriptive (beschreibende) oder präskriptive (vorschreibende) Folge von Aufgaben verstanden, an deren Ende eine Leistung bzw. ein Produkt für bestimmte Kunden und Märkte entstanden ist. Ein Geschäftsprozess hat einen Beginn und ein Ende, klar definierte In- und Outputwerte und läuft – je nach betrieblicher Arbeitsteilung – durch mehrere Bereiche. Geschäftsprozesse lassen sich in Kernprozesse und Supportprozesse (Stützprozesse) unterteilen (PORTER 2000). Kernprozesse erzeugen Wettbewerbsvorteile und stiften einen wahrnehmbaren Kundennutzen. Sie sind durch eine Nicht-Imitierbarkeit und Nicht-Substituierbarkeit gekennzeichnet und betriebsspezifisch (OSTERLOH u. FROST 2006). Supportprozesse hingegen generieren keinen unmittelbar sichtbaren Kundennutzen, unterstützen jedoch die Kernprozesse durch Bereitstellen einer Infrastruktur und sichern so den reibungslosen Ablauf einer Geschäftstätigkeit (OSTERLOH u. FROST 2006). Im Rahmen von Rationalisierungsmaßnahmen wird beispielsweise untersucht, ob Supportprozesse als eigenständige Module von den Kernprozessen abgespalten werden können, um somit bessere Zuordnungen von Personen zu Prozessen zu ermöglichen und die Prozesse leichter via „Benchmarking“ (Maßstäbe setzen) mit den Prozessen externer Anbieter verglichen werden können. Arbeitsprozesse sind Geschäftsprozesse auf Mikroebene, die von den Arbeitspersonen geplant, vollzogen, koordiniert und optimiert werden. Ein Arbeitsprozess umfasst dabei vom Menschen ausführbare, schädigungslose, zumutbare und der Persönlichkeitsentfaltung dienende Aufgaben. Er dient der Umwandlung von Eingangs- in definierte Ausgangsgrößen durch zielgerichtete Aktivitäten. Aktivitä-
Betriebs- und Arbeitsorganisation
461
ten innerhalb des Arbeitsprozesses werden nach Arbeitsmethoden durch Arbeitspersonen in ihrer individuellen Arbeitsweise vollzogen. Mit einer Modellierung der Prozesse werden u.a. folgende Ziele verfolgt: x x x x x x x
Verkürzung der Durchlaufzeiten Verbesserung der Prozesstransparenz Verbesserung der Prozessqualität und Prozesssicherheit Reduktion von Fehlerbehebungs- und Fehlerfolgekosten Reduktion von Prozesskosten Förderung des organisationalen Lernens Verbesserung der Kundenzufriedenheit.
Die Modellierung der Geschäfts- und Arbeitsprozesse dient oftmals in einem ersten Schritt der Aufnahme der Ist-Situation. Anhand dieser Aufnahme können Verbesserungspotenziale ermittelt und ggfs. eine Standardisierung der Abläufe erreicht werden (siehe Kap. 4.2.3.2). Die graphische Modellierung der Ablauforganisation geht auf klassische Darstellungen von Fertigungsprozessen mit Hilfe von Zeitbanddiagrammen, den sog. Gantt-Charts (Henry L. Gantt, 1861-1919, siehe Abb. 4.19), zurück. Gantt-Charts geben in Form von horizontal orientierten Balken einen zeitlichen Verlauf von Aktivitäten wieder, wodurch Zeitendauern und zeitliche Abhängigkeiten leicht zu erkennen sind. Allerdings sind bei Gantt-Charts die logischen Abhängigkeiten kaum zu erfassen. Im Gegensatz zu den Gantt-Charts sind mit Hilfe von Netzplantechniken wie MPM (Metra-Potential-Methode) oder CPM (Critical Path Method) auch logische Abhängigkeiten zwischen Aktivitäten gut darzustellen. So können die Auswirkungen von Zeitänderungen oder Verschiebungen einzelner Aktivitäten auf den Gesamtverlauf durch die Berücksichtigung der gegenseitigen Abhängigkeiten aufgezeigt werden (DIN 69900:2009). Vorgangsname
Dauer
1
Marktstudie durchführen
90
2
Machbarkeitsstudie durchführen
80
3
Baugenehmigung einholen
90
4
Bauentwurf verfeinern
5
Fabrik errichten
6
Mitarbeiter rekrutieren
30
7
Fertigungsanlagen installieren
50
8
Mitarbeiter ausbilden
40
9
Test durchführen
25
Inbetriebnahme
2006 3
4
2007 1
2
3
2008 4
1
2
3
2009 4
1
2
3
2010 4
1
2
3
2011 4
1
2
3
4
90 180
01.12.2011
Abb. 4.19: Beispiel eines Gantt-Charts für die Planung und Errichtung einer Fabrik
Im Vergleich zu den klassischen Netzplantechniken ermöglichen moderne Prozessmodellierungssprachen durch die Berücksichtigung der begrenzten Verfügbarkeit von qualifizierten Arbeitspersonen, Arbeits- und Betriebsmitteln etc. eine
462
Arbeitswissenschaft
realitätsnähere Beschreibung der Ablauforganisation. Zudem sind sie aufgrund ihrer ergonomischen Darstellung der Prozessmodelle für eine partizipative Modellierung gut geeignet. Durch die gute softwaretechnische Unterstützung ist eine Weiterverarbeitung, z.B. in Form von Simulationen, einfach (siehe Kap. 4.3.4.4). Beispiele für Prozessmodellierungssprachen sind: x DIN 66001:1983 (Datenfluss- und Programmabläufe) Die ursprünglich aus der Informatik stammende DIN 66001 (1983) eignet sich auch zur Darstellung von Geschäfts- und Arbeitsprozessen. Die DIN 66001 (1983) normiert die Darstellung einzelner Elemente eines Ablaufdiagramms für ein Computerprogramm inklusive auftretender Datenströme. Während sie in der Softwareentwicklung heutzutage kaum noch eingesetzt wird, werden die eingeführten grafischen Repräsentationen der Ablaufelemente in der betrieblichen Praxis häufig verwendet. x erweiterte Ereignisgesteuerte Prozessketten (eEPK) Die eEPK dienen der Darstellung von Geschäfts- und Arbeitsprozessen aus Sicht der Wirtschaftsinformatik. Sie werden häufig zur Analyse von Abläufen auf Abteilungsebene sowie zur computergestützten Optimierung eingesetzt (SCHEER 2005). x Unified Modeling Language (UML) – Aktivitätsdiagramme Die UML ist eine standardisierte Sprache zur Modellierung von Softwaresystemen. Für die Modellierung von Geschäftsprozessen ist der Diagrammtyp der sog. Aktivitätsdiagramme vorgesehen. UML setzt sich aus unterschiedlichen Diagrammen zusammen, deren Zusammenspiel eine umfangreiche und detaillierte Abbildung der Prozesse eines Betriebs ermöglicht (GRÄSSLE et al. 2007). x Business Process Modeling Notation (BPMN) Die BPMN ist eine grafische Spezifikationssprache, die ihren Ursprung ebenso in der Wirtschaftsinformatik hat. Sie stellt eine leicht verständliche Notation zur Verfügung, mit denen Fach- und Software-Spezialisten Geschäfts- und Arbeitsprozesse modellieren können. Die BPMN wurde im Jahr 2002 erarbeitet und kontinuierlich weiterentwickelt. Seit 2006 ist sie ein offizieller Standard der sog. Object Management Group (OMG 2009). x K3 Speziell für die Modellierung kooperativer Arbeitsprozesse wurde die K3Methode entwickelt. Der Name K3 ergibt sich aus den Anfangsbuchstaben der Ziel-Begriffe Koordination, Kooperation und Kommunikation. Angelehnt an die Notation von UML-Aktivitätsdiagrammen, basiert K3 auf drei Grundelementen: Aktivität, Information und Werkzeug. Drei spezielle Elemente der K3-Modellierung sind das „Blob“-Element zur abstrakten Darstellung von Aktivitätszusammenhängen ohne zeitliche Abhängigkeiten, ein Element zur Beschreibung synchroner Kooperation und ein Element zur Beschreibung von Schwachstellen, d.h. planungsspezifischen Defiziten wie bspw. Engpasssituationen (KILLICH et al. 1999; STAHL u. LUCZAK 1997; KAUSCH et al. 2007; KAUSCH 2009).
Betriebs- und Arbeitsorganisation
463
x Petri-Netze Petri-Netze, 1960 von Carl Adam Petri entwickelt, stellen eine formale Methode zur mathematischen Modellierung von Systemen dar, in denen mehrere Prozesse simultan bzw. nebenläufig ablaufen können. Die Darstellung ist im Vergleich zu neueren Modellierungssprachen weniger anschaulich, jedoch eignet sich die formale Beschreibung sehr gut zur Simulation (siehe Kap. 4.3.4.4) von komplexen Arbeitsprozessen (SCHLICK et al. 2002; OBERWEIS 1996). x Design Structure Matrix Matrizenbasierte Modellierungstechniken stellen insbesondere für den Bereich der Modellierung von simultanen Arbeitsprozessen in der Produktentwicklung einen interessanten Ansatz dar. Sie basieren auf der sog. Design Structure Matrix und bieten die Möglichkeit, die Informationsabhängigkeiten einzelner Aufgaben numerisch zu beschreiben und mit quantitativen Angaben zur Prozessdynamik zu ergänzen (SMITH u. EPPINGER 1997; HUBERMAN u. WILKINSON 2006; SCHLICK et al. 2007; GÄRTNER et al. 2008). Eine ausführliche Darstellung von Methoden für die Aufgabenanalyse findet sich bei LUCZAK (1997). 4.3.3.3
FlussprinzipienĆfürĆdieĆAblaufmodellierungĆ
Die im vorherigen Kapitel behandelten Prozessmodellierungssprachen stützen sich auf grundlegende Flussprinzipien, die in Tabelle 4.3 aufgelistet sind. Die dargestellten Prozessfragmente sind quasi die „prozeduralen Moleküle“ einer Ablauforganisation aus denen beliebig komplexe Geschäfts- und Arbeitsprozesse synthetisiert werden können. 4.3.3.4
BeispielhafteĆModellierungĆeinesĆArbeitsprozessesĆ
In Abb. 4.20 ist beispielhaft ein modellierter Arbeitsprozess dargestellt. Die einzelnen an diesem Prozess beteiligten Personen bzw. organisatorischen Einheiten werden in sog. vertikalen „Swimlanes“ dargestellt, so dass eine direkte und einfache Zuordnung der einzelnen Aktivitäten, Verzweigungen und Dokumente zu den jeweilig Verantwortlichen möglich ist. Das Beispiel beschreibt eine schriftliche Kundenanfrage an den Vertrieb eines Unternehmens. Dieser überprüft die Anfrage auf Vollständigkeit und Richtigkeit, hält ggf. Rücksprache mit dem Kunden und gibt die Anfrage in eine Auftragsdatenbank ein. Die Prozesssteuerung holt sich anschließend Informationen über das bestellte Produkt ein und überprüft die Kundenanfrage auf ihre entwicklungs- und fertigungstechnische Durchführbarkeit. Hierbei ergibt sich, dass das bestellte Produkt die zwei Module A und B benötigt. Ist der Auftrag für das Unternehmen wirtschaftlich tragfähig und terminlich zu bewältigen, werden die Produktionskapazitäten vorgemerkt und in den Produktionsplan übernommen, der Vertrieb kalkuliert den Angebotspreis, schreibt ein Angebot und schickt dieses an den Kunden. Ist der Auftrag durch das Unterneh-
464
Arbeitswissenschaft
men nicht durchführbar, so hält der Vertrieb Rücksprache mit dem Kunden und steuert, wenn Änderungen am Auftrag möglich sind, den geänderten Auftrag in die Prozesssteuerung ein. Sind keine Änderungen mehr möglich, so wird die Angebotsphase beendet. Tabelle 4.3: Flussprinzipien für die Ablaufmodellierung Flussprinzip Sequenz
nebenläufig bzw. simultan
alternativ
Prozessbild Aktivität 1
…
Aktivität 2
Aktivität 2 Aktivität 1
Aktivität 4
…
sowohl bei Aufgaben als auch Aktivitäten
Aktivität 3
Aktivität 1
Aktivität 2
…
Aktivität 3
…
?
nur bei Aufgaben
Aktivität 1
gekoppelt bzw. reziprok
informatorische Kopplung Aktivität 2
UNDRückkopplung
…
Aktivität 2 Aktivität 1 Aktivität 3
… Iterationstypen
ODERRückkopplung
Ja
Aktivität 1
Aktivität 2
? Nein
Aktivität 3
…
Betriebs- und Arbeitsorganisation
465
Angebotserstellung Absatzmarkt (Kunde) schriftliche Anfrage verfassen
Beschaffung
Prozesssteuerung
Vertrieb
Lager
Lieferant Modul B
Informationen über Lagerbestand Modul A weitergeben
Informationen über Kosten für Modul B weitergeben
Anfrage g auf Vollständigkeit prüfen
Anfrage vollständig? Nein
Rücksprache mit Vertrieb
Ja
Rücksprache mit Kunden
Artikeldatei
Auftragsanfrage in Auftragsdatenbank erfassen
Informationen über Bestand Modul A und Kosten für Modul B einholen
Auftragsanfrage auf Durchführbarkeit (Kosten, Termine) prüfen
Rücksprache mit Vertrieb
Rücksprache mit Kunden
Nein
Auftrag durchführbar? Ja
Rückfrage erfolgreich?
Ja
Änderung in Auftragsdatenbank erfassen
Nein
Angebotsprozess beenden
Angebotspreis g p kalkulieren
fertiges Angebot
Angebot schreiben und an Kunden senden
Produktionskapazitäten vormerken
Produktionsplan
Abb. 4.20: Beispiel eines Arbeitsprozesses zur Angebotserstellung (nach GADATSCH 2005)
466
4.3.4
Arbeitswissenschaft
Prozessoptimierung
Die Optimierung von Geschäfts- und Arbeitsprozessen im Hinblick auf Arbeitspersonen, Kunden und Lieferanten ist ein wesentliches Ziel der Ablauforganisation. Unter dem Begriff der Optimierung werden in der betrieblichen Praxis alle systematischen Interventionen zusammengefasst, die eine qualitative und quantitative Verbesserung der Ablauforganisation mit Bezug auf die jeweiligen Zielgrößen zum Gegenstand haben und nicht nur die bekannten mathematische Methoden für eine analytische oder numerische Optimierung (siehe JARRE u. STOER 2004). Übergeordnete qualitative Ansätze zur Verbesserung von Prozessen stellen „Business Process Reengineering“ und der „Kontinuierliche Verbesserungsprozess“ dar. Auslöser für Prozessverbesserungsmaßnahmen können unerwartet bzw. unakzeptabel hohe Fehlerquoten, hohe Durchlaufzeiten, Überschreiten von Fertigstellungsterminen, hohe Prozesskosten, zu geringe Produktivität oder nicht vertretbare gesundheitliche Risiken der Arbeitspersonen sein. 4.3.4.1
BusinessĆProcessĆReengineeringĆ
Business Process Reengineering bezeichnet die grundlegende Neugestaltung und Optimierung der Geschäftsprozesse auf der Makroebene zur Erreichung der strategischen Geschäftsziele (HAMMER u. CHAMPY 2003). Hierbei werden die Abläufe im Betrieb in erster Linie an den Anforderungen der Kunden und nicht an den Anforderungen der Organisation ausgerichtet. Beim BPR werden nicht einzelne Geschäftsprozesse hinsichtlich ihres Optimierungspotenzials getrennt von den anderen Prozessen des Betriebs betrachtet, sondern es findet ein Überdenken der gesamten Prozessstruktur auf strategischer und taktischer Ebene statt (REFA 2002; OSTERLOH u. FROST 2006; HAMMER u. CHAMPY 2003). Als normatives Modell kann z.B. die in Kap. 4.2.4.5 eingeführte Wertkette nach PORTER (2000) dienen. 4.3.4.2
KontinuierlicherĆVerbesserungsprozessĆ
Das Konzept des Kontinuierlichen Verbesserungsprozesses (KVP) stammt ursprünglich aus Japan und ist Bestandteil der KAIZEN-Philosophie (KAI=Veränderung, ZEN=zum Besseren), die sämtliche Aggregationsebenen der Ablauforganisation umfassen soll. Als Richtschnur für die Umsetzung eines Kontinuierlichen Verbesserungsprozesses können die folgenden Leitgedanken gelten (IMAI 2002): (1) Prozessorientierung: Der KVP fördert das Denken in Konzepten und Modellen. Das Verbessern von Ergebnissen ist nur über eine Verbesserung der zugrunde liegenden Prozesse möglich. (2) Kundenorientierung: Der KVP stellt den Kunden in den Mittelpunkt allen Handelns. Alle Prozesse eines Betriebs sind an den Bedürfnissen der Kunden zu orientieren. (3) Mitarbeiterorientierung: Der KVP ist mitarbeiterorientiert. Im Unterschied zum Business Process Reenginieering sind die Arbeitspersonen in den KVP
Betriebs- und Arbeitsorganisation
467
einzubeziehen, da diese über das notwendige Prozessverständnis und damit auch über die größte Problemlösekompetenz verfügen. (4) Qualität hat im KVP Vorrang. Durch die Schaffung eines Qualitätsbewusstseins bei den Mitarbeitern ist die Einhaltung des durch den Kunden vorgegebenen Qualitätsmaßstabs sicherzustellen, bevor Maßnahmen zur Produktivitätssteigerung oder Senkung der Kosten durchgeführt werden. (5) Problemverständnis des KVP: Probleme bilden Chancen zur Verbesserung. Entgegen des häufig beobachteten Verhaltens, Probleme zu vertuschen und Schuldzuweisungen vorzunehmen, ist das Erkennen und Kommunizieren von Problemen die wichtigste Grundlage des Kontinuierlichen Verbesserungsprozesses. Somit kann die Voraussetzung für Verbesserungen geschaffen werden. Neben diesen Leitgedanken lassen sich folgende organisatorische Erfolgsfaktoren des KVP identifizieren (IMAI 2002; HINRICHSEN 2002): (1) Es sind interne Kunden-Lieferanten-Beziehungen zu bilden. (2) Interne Kunden und Lieferanten sind in die Verbesserungsaktivitäten einzubeziehen. (3) Jede KVP-Gruppe hat Verbesserungs-Workshops durchzuführen, die als Plattform des KVP fungieren. (4) Der KVP bedarf einer übergeordneten, koordinierenden Organisationseinheit. Er ist kein „Selbstläufer“. (5) KVP-Workshops haben regelmäßig stattzufinden. (6) Die erarbeiteten KVP-Maßnahmen sind möglichst schnell umzusetzen. (7) Verbesserungen sind mittels Standards abzusichern. (8) Der KVP ist Führungsaufgabe. (9) Es sind interne und externe Kundenzufriedenheitsanalysen durchzuführen. (10) Jede KVP-Gruppe hat einen sog. Problemspeicher anzulegen, in dem die zu behandelnden Probleme systematisch erfasst und bewertet werden. 4.3.4.3
HeuristischeĆProzessoptimierungĆ
Zur Konkretisierung der eher programmatischen Ansätze zum „Business Process Reengineering“ sowie „Kontinuierlichen Verbesserungsprozess“ sind Maßnahmen zur sog. heuristischen Optimierung auf der Basis von Prozessfragmenten entwickelt worden. Heuristisch bedeutet in diesem Zusammenhang, dass man mit begrenztem theoretischem Wissen über die Organisation und mit vergleichsweise geringem Aufwand für Arbeitsanalysen zu gestalterisch guten Lösungen kommen kann. Unabhängig von der Hierarchieebene wird eine partizipative Optimierung in einem Team mit Fach- und Methodenexperten empfohlen. Durch die fragmentarischen Eingriffe in die Prozessstruktur erschließen sich Optimierungsmöglichkeiten auf der Meso- und Mikroebene, die in Abb. 4.21 schematisch dargestellt sind. Hierbei werden horizontale „Swimlanes“ für die Zuordnung der einzelnen Aktivitäten zu organisatorischen Einheiten verwendet.
468
Arbeitswissenschaft
1. Reihenfolge von Aktivitäten ändern
5. Vereinfachen von Aktivitäten
Dauer vorher vorher
1
Dauer vorher
2
vorher
3
1
2
3
andere Aktivitäten
beschleunigt
beschleunigt nachher
nachher
1
2
1
2
3
3
6. Abbau von Schnittstellen
andere Aktivitäten
Dauer vorher
2. Eliminieren von Aktivitäten
vorher
1
4
Dauer vorher vorher
1
2
3
4
3
5
2
beschleunigt nachher
1
4
5
beschleunigt nachher
3. Zusammenfassen von Aktivitäten
1
2
3
4
Dauer vorher vorher
1
2
3
4
7. Parallelisieren von Aktivitäten
5
Dauer vorher
beschleunigt nachher
1+2
3+4
vorher
1
2
3
4
5
beschleunigt nachher
4. Auslagern von Aktivitäten
1
4
5
Dauer vorher vorher
1
3
2
4
5
beschleunigt nachher
1
extern
4
2
5
3
Abb. 4.21: Heuristiken zur Prozessoptimierung
2
3
5
Betriebs- und Arbeitsorganisation
469
Die Heuristiken zur Prozessoptimierung nach Abb. 4.21 sind: (1) Reihenfolge von Aktivitäten ändern Durch die veränderte Reihenfolge der Bearbeitung von Aufgaben kann der Prozess optimiert werden, da vom eigentlichen Prozess unabhängige Prozesse zeitlich verschoben werden. Für die Verschiebung der Aktivitäten können Prioritätsregeln gelten, z.B. dass eine Aktivität in dem kritischen Pfad höchste Priorität hat, ein bestimmter Prozess (und damit alle beinhalteten Aktivitäten) aufgrund der Wichtigkeit des Kunden per se höchst prioritär ist oder der Prozess mit dem frühesten zugesagten Endtermin vorrangig ist. (2) Eliminieren von Aktivitäten Beim Eliminieren von Aktivitäten ist zu überprüfen, ob einzelne Aktivitäten verzichtbar sind, ohne das Ziel des Prozesses zu verfehlen oder die Effizienz und Stabilität in Frage zu stellen. (3) Zusammenfassen von Aktivitäten Das Zusammenfassen von mehreren Aktivitäten zu einer neuen Aktivität kann zu einer Reduzierung von Schnittstellen zwischen den Aktivitäten führen und zudem geringere Einarbeitungsaufwände erzeugen. (4) Auslagern von Aktivitäten Die Stützprozesse sollten dahingehend überprüft werden, ob sie von einem externen Dienstleister effizienter bearbeitet werden können, als dieses dem Betrieb selbst möglich ist. Durch das Auslagern (Outsourcing) ist eine Beschleunigung der verbliebenen Aktivitäten möglich. (5) Vereinfachen von Aktivitäten Aktivitäten können durch eine Beschränkung auf das wesentliche Ziel vereinfacht werden. Dieses kann bspw. dadurch erreicht werden, dass nicht mehr so genau wie möglich, sondern nur noch so genau wie nötig gearbeitet wird (Occam’s Razor). Auch durch den Einsatz einer standardisierten Prozessanalyse (z.B. MTM, siehe Kap. 7.3.9) kann eine Vereinfachung erzielt werden. (6) Abbau von Schnittstellen Der Abbau von Schnittstellen zwischen den Aktivitäten ist eine weitere Möglichkeit zur Optimierung eines Prozesses. Hierbei können unterschiedliche Strategien verfolgt werden: o Process Owner: Eine einzige Arbeitsperson ist für den gesamten Prozess verantwortlich und fungiert als einziger Ansprechpartner für interne und externe Kunden. o Case-Team: Möglichst wenige Arbeitspersonen bearbeiten in einem „multifunktionalen“ Team den Prozess und verfügen über die notwendigen Kompetenzen und Ressourcen, um ihn eigenständig zu koordinieren. o Räumliche Zusammenführung aller Prozessbeteiligter: Durch die Zusammenführung sind direkte Kommunikationswege und ein einfacher Ressourcenaustausch möglich, die eine Optimierung des Prozesses begünstigen.
470
Arbeitswissenschaft
o Beseitigung von Puffern zwischen den einzelnen Prozessschritten. o Vermeidung von Medienbrüchen: Durch Medienbrüche, wie sie beispielweise beim Übergang von technischen Zeichnungen auf Papier zu CAD-Modellen auftreten, kann die Informationsverarbeitung verlangsamt und ggfs. die Qualität der Informationen beeinträchtigt werden. o Vertretungsregeln bei zeitkritischen Prozessen. (7) Parallelisieren von Aktivitäten Eine weitere heuristische Verbesserungsmöglichkeit eines Prozesses besteht in der Parallelisierung von Aktivitäten. Wie in Abb. 4.21 dargestellt, werden die Aktivitäten 2 und 3 durch eine andere Arbeitsperson parallel zu Aktivität 4 durchgeführt, wodurch u.U. eine deutliche Prozessverkürzung erzielt werden kann. Eine Parallelisierung ist jedoch nicht in jedem Fall zweckmäßig. Insbesondere sind hierbei die informatorischen Abhängigkeiten zu beachten, da bei abhängigen Aktivitäten mit einem steigenden Grad der Parallelisierung der Bedarf an Informationen zur gegenseitigen Abstimmung stetig zunimmt (siehe Tabelle 4.4). Der Zeitgewinn durch die Parallelisierung kann dann durch den Zeitbedarf der zusätzlichen Kommunikations-, Kooperations- und Koordinationsanforderungen aufgezehrt werden. Grundsätzlich können folgende Abhängigkeiten von Aktivitäten differenziert werden (Tabelle 4.4, siehe SCHMIDT 2008): x Leistungsorientierte Interdependenzen resultieren aus einseitigen oder wechselseitigen Ergebnisbeziehungen. Das Arbeitsergebnis einer Organisationseinheit wirkt als Auslöser für die Aktivitäten der folgenden Einheit. Die Qualität der nachgelagerten Arbeitsprozesse wird somit wesentlich durch die Vorleistungen der auslösenden Organisationseinheit bestimmt. Die zeitliche und sachlogische Aufgaben- bzw. Ergebnisverflechtung kann dabei sequentiell oder reziprok ausgeprägt sein (vgl. auch Tabelle 4.3). Eine sequentielle Verflechtung bezeichnet funktionale Verknüpfungen zwischen den Organisationseinheiten (MALONE et al. 1999). Diese sequentielle Abhängigkeit besteht bspw. bei einer Fertigungseinheit, die mit dem Fertigungsprozess erst dann beginnen kann, wenn das erforderliche Material durch die vorgelagerte Beschaffung beschafft wurde und bereit gestellt ist. Demgegenüber liegt eine reziproke Interdependenz bei gekoppelten Abhängigkeiten zwischen zwei oder gar mehr Einheiten vor. Hierbei bedingen sich die Ergebnisse der Organisationseinheiten gegenseitig, so dass sie nicht unabhängig voneinander erzielt werden können. Reziproke Leistungsbeziehungen, wie bspw. eine individuelle Entwicklungsleistung in Abstimmung mit dem Kunden, haben daher meist einen intensiven Kommunikationsbedarf zur Folge.
Betriebs- und Arbeitsorganisation
471
Tabelle 4.4: Abhängigkeiten zwischen Aktivitäten Abhängigkeit unabhängig
sequentiell bzw. funktional
reziprok bzw. gekoppelt
Prozessbild 1
2
1
2
1
2
ressourceninduziert
1 R 2
Beschreibung keine leistungs-, ressourcen- oder marktorientierten Abhängigkeiten
Vollzug
x serieller oder paralleler Vollzug möglich
Ergebnis von Aktivität 1 ist für Aktivität 2 erforderlich
x serieller Vollzug x paralleler Vollzug nur
Aktivität 1 und Aktivität 2 sind gegenseitig auf Ergebnisse angewiesen
x wechselseitig iterativer
Ressource R ist für Durchführung von Aktivität 1 und Aktivität 2 notwendig
x serieller Vollzug not-
möglich, wenn sinnvolle Teilergebnisse gebildet werden können, aber: erhöhter Abstimmungsbedarf, da bei Änderungen Iterationsschleifen durchgeführt werden müssen
Vollzug mit regelmäßiger Kommunikation notwendig, Gefahr von Oszillationen im Arbeitsfortschritt
x
wendig, wenn Zugriff auf Ressource durch Prioritäten oder Ausschluss koordiniert werden muss paralleler Vollzug möglich, wenn simultaner Zugang zu Ressource gewährleistet werden kann (z.B. durch rein lesenden Zugriff auf Produktdatenbank durch mehrere Personen)
472
Arbeitswissenschaft
x Ressourcenorientierte Interdependenzen entstehen, wenn mehrere Organisationseinheiten während ihres Arbeitsprozesses auf die gleichen Ressourcen zugreifen (MALONE et al. 1999). Dabei werden als Ressourcen alle zur Aufgabenausführung erforderlichen Objekte wie Arbeits- und Betriebsmittel, Dokumente o.ä. bezeichnet. Die Entscheidung einer Organisationseinheit über die Inanspruchnahme einer dieser Ressourcen schränkt u.U. gleichzeitig die für eine andere Einheit verfügbare Ressourcenkapazität ein. Beide Organisationseinheiten müssen sich demzufolge hinsichtlich der zeitlichen, qualitativen und quantitativen Allokation der Ressourcenbelastung abstimmen. Analoge Abhängigkeiten ergeben sich aus dem Personaleinsatz. x Marktorientierte Interdependenzen liegen vor, wenn die Absatzaktivitäten mehrerer Organisationseinheiten auf die gleichen kunden- oder produktspezifischen Marktsegmente ausgerichtet sind und sich gegenseitig beeinflussen. Derartige Marktinterdependenzen sind bspw. gegeben, wenn zwei Unternehmensbereiche mit ihren jeweiligen Produkten um die gleiche Käuferschicht konkurrieren. Verkaufsfördernde Maßnahmen der einen Einheit beeinflussen dann die Absatzbedingungen der anderen Einheit. Die Notwendigkeit der Koordination im Betrieb ergibt sich aus den zuvor beschriebenen Interdependenzen. Sie wird als adäquates Mittel verstanden, um negative Effekte der Arbeitsteilung innerhalb des Leistungserstellungsprozesses zu kompensieren. 4.3.4.4
SimulationsgestützteĆProzessoptimierungĆ
Der Begriff der Simulation wird in der VDI-Richtlinie 3633 definiert als ein „Verfahren zur Nachbildung eines Systems mit seinen dynamischen Prozessen in einem experimentierbaren Modell, um zu Erkenntnissen zu gelangen, die auf die Wirklichkeit übertragbar sind“. Mit einer Simulation können Arbeitsprozesse, z.B. in einer hochautomatisierten Produktionszelle, bereits vor der Umsetzung eines bestimmten Systementwurfs mit Bezug auf arbeitswissenschaftliche Kriterien bewertet, beurteilt und optimiert werden. Hierfür ist ein quantitatives Modell der Arbeitsprozesse notwendig. Ein wesentlicher Mehrwert der Simulation liegt darin, dass der Modellbenutzer nicht den im realen Arbeitssystem geltenden Einschränkungen unterliegt. So können Beobachtungszeiträume und Systemvarianten (z.B. Anzahl und Typ der zur Verfügung stehenden Werkzeugmaschinen) nahezu beliebig gewählt werden. Primärer Einsatzbereich ist die Prognose von Leistung, Belastung, Beanspruchung, Zuverlässigkeit o.ä. in Abhängigkeit verschiedener Einflussgrößen. Dies kann bereits in der Konzeptions- und Entwicklungsphase oder nachgelagert zur Optimierung eines bereits in Benutzung befindlichen Systems stattfinden. Die Simulation bietet sich immer dann an, wenn die Systemvarianten in der Realität nur mit unverhältnismäßig hohem Aufwand gebildet werden können und gewinnt daher als Unterstützungswerkzeug für die Planung, Steuerung und Optimierung von komplexen soziotechnischen Systemen ständig an Bedeutung. Ferner werden
Betriebs- und Arbeitsorganisation
473
simulationsgestützte Analysen von Arbeitssystemen durchgeführt, wenn reale Untersuchungen im Betrieb bzw. Experimente im Labor zu gefährlich für die beteiligten Personen sind oder Vorgänge sich nicht direkt beobachten lassen, wie z.B. kognitive Prozesse eines arbeitenden Menschen. Ein grundlegender Vorteil der mit der Simulation untrennbar verbundenen Modellbildung besteht darin, dass durch das Bewusstmachen der Wirklichkeit häufig tiefer gehende Erkenntnisse entstehen, die wiederum konzeptionelle Verbesserungen des realen Arbeitssystems nach sich ziehen. Die Vorgehensweise bei der Durchführung einer Simulationsstudie beinhaltet die ingenieurwissenschaftlich präzise Formulierung des zu untersuchenden Problems und die Festlegung der Ziele, die mit Hilfe der Simulation erreicht werden sollen. Die erwarteten Ergebnisse sollten in Form von Hypothesen formuliert werden. Darauf aufbauend erfolgt eine Analyse des Arbeitssystems, woran sich die eigentliche Modellbildung anschließt. Hierbei sind die Strukturgültigkeit – also eine Übereinstimmung der Modellstruktur mit der Wirklichkeit – und die Verhaltensgültigkeit – also die Übereinstimmung des Modellverhaltens mit der Realität bei Variation bestimmter Einflussgrößen – zu prüfen. Bei der Simulationsdurchführung wird auf computergestützte Verfahren zurückgegriffen, die das systematische Variieren der unabhängigen Variablen und den damit verbundenen Vergleich von Gestaltungsvarianten wesentlich erleichtern. Durch die Leistungszunahme der Computersysteme können immer komplexere Arbeitssysteme simuliert und optimiert werden. Die Durchführung einer Simulationsstudie ist in der Praxis ein iterativer Prozess, dessen Ablauf in Abb. 4.22 schematisch dargestellt ist. Die Simulation von Geschäfts- und Arbeitsprozessen wird hauptsächlich in betrieblichen Funktionsbereichen mit hochgradig standardisierten bzw. stark strukturierten Prozessen, wie sie in der Regel in der Stückgutproduktion und der innerbetrieblichen Logistik anzutreffen sind, eingesetzt. In diesen Gebieten stehen wissenschaftlich fundierte Modell- und Datenbasen zur Verfügung, so dass der Einsatz der Simulation schnell und realitätsnah möglich ist (SCHLICK et al. 2002; REUTH 2003; LUCZAK et al. 2003). Weiterhin gibt es vielfältige SoftwareWerkzeuge für die Simulation von Produktions- und Logistikprozessen im Rahmen der sog. Digitalen Fabrik (BANKS et al. 2001; KÜHN 2005) (siehe Kap. 10.2.3). Bei schwach strukturierten Arbeitsprozessen, wie sie bspw. in der Produktentwicklung häufig anzutreffen sind, ist der Einsatz von Simulationen hingegen nicht verbreitet. Schwach strukturierte Prozesse unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht von den stark strukturierten. Typische Unterschiede sind: x Funktionale Beziehungen und Abhängigkeiten von Aktivitäten können nur für wenige Prozessfragmente a priori vollständig, valide und generalisierbar beschrieben werden. x Die Anfangs- und Randbedingungen sowie die Prozessdynamik sind aufgrund vielfältiger, schwer zu antizipierender Einflüsse (z.B. sich schnell ändernde Kundenanforderungen oder neue Technologien) inhärent vage.
474
Arbeitswissenschaft
x Durch die Vielzahl kooperierender, jedoch mit unvollständigem Wissen ausgestatteter Akteure entstehen spontane Abhängigkeiten und Wechselwirkungen zwischen Aktivitäten, die zu erheblichen Prozessinstabilitäten und Oszillationen bei der Lösungssuche führen können. Problembeschreibung
Versuchsplanung
Zieldefinition und Aufstellen des Projektplans
Entwicklung des konzeptionellen Modells
Simulationsläufe und Auswertung
Datenerhebung Ja
Nein
Mehr Läufe erforderlich?
Modellintegration
Nein
Verifiziert?
Ergebnisdokumentation und Bericht
Ja
Ja Nein
Validiert?
Nein
Implementierung
Ja
Abb. 4.22: Vorgehensweise in einer Simulationsstudie (nach BANKS et al. 2001)
Klassische Ansätze zur Komplexitätsbeherrschung, wie Dekomposition von Funktionen, Modularisierung und Standardisierung, versagen bei schwach strukturierten Prozessen schnell, so dass ihre Koordination, Planung und Optimierung eine Reihe von ungelösten Problemen aufwirft. Daher sind nur wenige Simulationsmethoden bekannt, die sich für den Einsatz in der Produktentwicklung eignen. Die Simulation von Arbeitsprozessen in diesem Bereich bietet jedoch die Möglichkeit, bereits im Vorfeld der Durchführung von Vorhaben eine höhere Planungsgenauigkeit zu erreichen und Auswirkungen von zusätzlichen Aufgaben bzw. Aufträgen auf Arbeitspersonen, Gruppen und Teams abzuschätzen. Auch während der Durchführung lassen sich durch den Einsatz von Simulationen Schwachstellen frühzeitig erkennen, Gegenmaßnahmen bewerten und bedarfsgerecht einleiten. Somit ist die Simulation von Produktentwicklungsprozessen ein besonders vielversprechendes Forschungsfeld (siehe STEIDEL 1994; SCHLICK u. LICHT 2005; LICHT et al. 2007; LICHT 2008)
Betriebs- und Arbeitsorganisation
475
Sowohl für die Produktion als auch für die Produktentwicklung lassen sich verschiedene Simulationsansätze unterscheiden (VDI-Richtlinie 3633 Blatt 6): x Bei der sog. prozessorientierten Simulation stehen die Aufgaben im Mittelpunkt. Sie sind die aktiven Instanzen der Ablauforganisation, ziehen die notwendigen Ressourcen zur Bearbeitung heran und bestimmen somit das Systemverhalten. Zu den Ressourcen zählen hierbei auch die Arbeitspersonen, die für die Bearbeitung einer Aufgabe benötigt werden. Dieser Simulationsansatz ist somit gut zur formalen Analyse des Durchlaufs eines Arbeitsobjekts durch die involvierten Organisationseinheiten geeignet, ohne besondere Berücksichtigung der Fähigkeiten und Fertigkeiten des Menschen. x Personalintegrierte Simulationsmodelle bilden die Arbeitsprozesse unter einer stärkeren Berücksichtigung der besonderen Eigenschaften des Menschen wie z.B. Qualifikation und Kompetenz ab. Sie kommen für Personaleinsatzplanung (ZÜLCH et al. 2004, 2007, 2009), Aufgabenstrukturierung (ZÜLCH et al. 2002) oder bei zeitwirtschaftlichen Analysen für die Arbeitsplanung (ZÜLCH 2004) zum Einsatz. x Die sog. aktororientierte – auch personalorientiert genannte – Simulation verfolgt einen weitergehenden Ansatz. Hierbei stehen die Arbeitspersonen im Mittelpunkt des Modells und bestimmen somit das Systemverhalten. In der Realität entscheiden Personen, welche Aufgaben bearbeitet werden, sie unterscheiden sich individuell in ihren Arbeitsweisen und haben unterschiedliche Fähigkeiten und Fertigkeiten. Mit Hilfe der aktororientierten Simulation können somit Entscheidungsprozesse und Tätigkeiten individuell abgebildet werden. Während der Simulation können beim aktororientierten Simulationsansatz direkt Informationen über die Belastung der Arbeitspersonen erhoben werden. Dieses bietet insbesondere im Hinblick auf eine arbeitswissenschaftliche Beurteilung und Bewertung von Prozessen Vorteile (SCHLICK u. LICHT 2005; LICHT et al. 2007; LICHT 2008). Als ultimatives Ziel von Simulationen in der Produktion und Produktentwicklung (einschließlich der damit verbundenen Dienstleistungsentwicklung) ist die sog. „Parallelmodellierung“ des aktuellen Betriebsgeschehens aufzufassen. Wenn das Simulationsmodell den aktuellen Projektstatus oder Status in der Auftragsabwicklung zeitnah und präzise erfasst, sind Variationsrechnungen über alternative Planungs- und Steuerungsentscheidungen zielorientiert und wirkungsanalytisch möglich. Entscheidungsvarianten könnten antizipativ analysiert werden. Eine solche Vorgehensweise verspricht eine höhere Planungssicherheit sowie Verlässlichkeit im Personal- und Ressourceneinsatz. Das Ziel ist zwar klar, die Realisierung bedarf jedoch weiterer Forschungsanstrengungen.
476
4.4
Arbeitswissenschaft
Organisation der Produktion
4.4.1
Ablaufprinzipien in der Produktion
In einem produzierenden Betrieb müssen die vorgestellten Modelle der Aufbauund Ablauforganisation auf die Ebene der Werkstatt übertragen werden. Je nach Produktkomplexität, Fertigungstiefe und Fertigungsart (Großserie, Einzelteilfertigung, o.ä.) stehen mit der Werkstättenfertigung, der Reihenfertigung, der Fließfertigung und der Inselfertigung verschiedene Ablaufprinzipien zur Verfügung, bei denen ein Werkstück zur Bearbeitung von einer Bearbeitungsstation zur anderen bewegt wird und die in der Industrie weite Verbreitung gefunden haben. Zusätzlich wird mit dem sog. One-Piece-Flow am Beispiel der Montage ein aktuelles Prinzip vorgestellt. Die klassische Werkbankfertigung wird nicht betrachtet. 4.4.1.1
WerkstättenfertigungĆ
Bei dem klassischen Konzept der sog. Werkstättenfertigung (auch einfach Werkstattfertigung genannt) sind die Bearbeitungsstationen nach den zu verrichtenden Tätigkeiten angeordnet (WIEHNDAHL 2007). Dadurch entstehen organisatorische Einheiten höherer Ordnung von simultanen Arbeitssystemen mit gleicher Verrichtung (z.B. Dreherei, Bohrerei, Fräserei) (siehe Abb. 4.23).
Abb. 4.23: Werkstättenfertigung
Durch die räumliche Zusammenfassung der Arbeits- und Betriebsmittel ist ein enger Kontakt zwischen den Arbeitspersonen, die ähnliche Verrichtungen durchführen, gewährleistet. Bezogen auf einen Fertigungsabschnitt können Probleme im Auftragsdurchlauf schnell und gezielt behoben werden, z.B. indem die Bearbeitung von Werkstücken auf verschiedene Bearbeitungsmaschinen verteilt wird.
Betriebs- und Arbeitsorganisation
477
Die Bearbeitungsmaschinen sind aber nicht entsprechend einer typischen Bearbeitungsfolge angeordnet. Bei unterschiedlichen Folgen ergeben sich jeweils unterschiedliche Materialflüsse. Koordination, Lagerung und Transport der Werkstücke innerhalb und zwischen den Werkstätten führen dann zu erheblichem Zusatzaufwand. Außerdem entstehen dadurch vor und nach jeder Bearbeitung Wartezeiten, bis alle Teile des Loses bearbeitet sind. So kann es zu variierender Auslastung der Maschinen, langen Liegezeiten und ablaufbedingten Wartezeiten und Rückflüssen der Arbeitsobjekte zu vorhergehenden Bearbeitungsmaschinen kommen. In Abb. 4.23 ist eine Werkstättenfertigung schematisch dargestellt, in der das Rohmaterial aus dem Lager zunächst gefräst und anschließend gedreht wird. Für den nächsten Bearbeitungsschritt muss das Werkstück wieder zurück in die Fräserei, um dann abschließend im Bereich Bohren und Gewindeschneiden fertig gestellt zu werden. Es ergibt sich somit eine Durchlaufzeit T1 für ein Werkstück. 4.4.1.2
ReihenfertigungĆ
In der Reihenfertigung sind die Bearbeitungsstationen entlang der Vorgänge im Arbeitsplan angeordnet (siehe Abb. 4.24).
Abb. 4.24: Reihenfertigung
Nach dem Flussprinzip sind nur gleiche Arbeitsvorgangsfolgen zugelassen. Im Gegensatz zur Fließfertigung erfolgt der Arbeitsfortschritt jedoch ohne unmittelbar zeitliche Bindung, d.h. der Arbeitsablauf ist nicht getaktet. Im Vergleich zur Werkstättenfertigung kann die Durchlaufzeit eines bestimmten Werkstücks, das aufgrund des bereits eingeführten Arbeitsplans nach Abb. 4.24 gefertigt wird, aufgrund des optimierten Materialflusses auf T2 verkürzt werden (T2 < T1).
478
4.4.1.3
Arbeitswissenschaft
FließfertigungĆ
Bei der Fließfertigung sind die Arbeitsschritte zeitlich an einen Maschinentakt gebunden und die Bearbeitungsstationen sind durch selbsttätige Fördereinrichtungen verkettet. Der Durchlauf der Werkstücke ist idealerweise so aufeinander abgestimmt, dass zwischen den Stationen kein ablaufbedingtes Liegen der Werkstücke entsteht und man den Prozess als „ausgetaktet“ bezeichnen kann. Bei optimaler Taktung kann die Durchlaufzeit T3 im Vergleich zu den beiden vorherigen Ablaufprinzipien weiter verkürzt werden (T3 < T2 < T1). Damit ist ein kostengünstiges Fertigen bei Serien- und Massenproduktion möglich. Ein Beispiel für eine Fließfertigung zeigt Abb. 4.25.
Abb. 4.25: Fließfertigung
Sind die Bearbeitungsstationen über ein Fließband miteinander verbunden, spricht man von einer Fließbandfertigung. Dabei folgen die Bearbeitungsstationen unmittelbar aufeinander, während ein Fließband die Aufträge mit konstanter Geschwindigkeit an den Stationen entlang transportiert. Die Zeitspanne, die benötigt wird, um einen Auftrag mit dem Fließband vom Anfang bis zum Ende einer Station zu transportieren, wird als Takt- oder Zykluszeit bezeichnet. In der betrieblichen Praxis ist jedoch auch der Fall zu beobachten, dass die Bearbeitungszeit eines Auftrags die Taktzeit übersteigt. Es kommt zu einem sog. Überhang. Fließbänder können dahingehend unterschieden werden, ob sie einen positiven Überhang erlauben oder nicht. Es ist ein maximaler Überhang für jede Station zu bestimmen. In der Praxis sind Überhänge zwischen 0% (kein Überhang erlaubt) und maximal 50% der Taktzeit üblich. Kommen in der Fließfertigung fest installierte Maschinen zum Einsatz, sind Überhänge nicht zulässig. Dasselbe gilt für aufeinanderfolgende Arbeitsstationen, bei denen die dort zu verrichtenden Ar-
Betriebs- und Arbeitsorganisation
479
beitsgänge nicht simultan ausgeführt werden können. Es handelt sich um ausschließlich sequentiell ausführbare Arbeitsgänge, d.h. die Arbeitsgänge der Folgestation können erst begonnen werden, wenn die verspäteten Arbeitsgänge abgeschlossen sind. Sind Überhänge jedoch möglich und erlaubt, gibt es zu deren Verminderung mehrere Maßnahmen, die ergriffen werden können: x Vergrößerung der Taktzeit. Dabei verringert sich zwar der Output pro Zeiteinheit, gleichzeitig werden jedoch die Mitarbeiter entlastet x Steigerung der Produktivität und des Zeitgrads der Mitarbeiter, in dem sie die Arbeitsgänge schneller verrichten x Auslassen kompletter Arbeitsgänge, die jedoch, nachdem der Auftrag das Fließband verlassen hat, nachgeholt werden müssen x Einsatz von sog. Springern, die an allen Stationen bei Engpässen kurzfristig aushelfen. Reichen die genannten Maßnahmen zur Reduzierung von Überhängen nicht aus, so muss unter Umständen das Fließband angehalten werden. Diese Option wird allerdings nur in wenigen Fällen durchgeführt, da sie erhebliche Kosten verursacht (SCHNEEWEISS u. SÖHNER 1991). Bei der Fließfertigung sind die Freiheitsgrade der Arbeitspersonen hinsichtlich Arbeitsweise, Arbeitsgeschwindigkeit und Arbeitspausen deutlich eingeschränkt. Dadurch kann es zu monotonen Arbeitsprozessen kommen, da planende und kontrollierende Tätigkeiten meist außerhalb des Aufgabenbereichs der Arbeitspersonen liegen. Die Flexibilität der Fließfertigung hinsichtlich des bearbeitbaren Werkstückspektrums ist geringer als bei der Werkstättenfertigung. Der Umrüstaufwand bei Produktumstellungen ist in der Regel hoch (sog. Anlaufproblematik). 4.4.1.4
InselfertigungĆ
Der wissenschaftliche Ausschuss für Fertigung definiert das Konzept der Fertigungsinsel folgendermaßen (AWF 1984): „Die Fertigungsinsel hat die Aufgabe, aus gegebenem Ausgangsmaterial Produktteile oder Endprodukte möglichst vollständig zu fertigen“. Die benötigten Betriebsmittel sind räumlich und organisatorisch in der Fertigungsinsel zusammengefasst. Das Tätigkeitsfeld der dort beschäftigten Gruppe trägt folgende Kennzeichen: x Die weitgehende Selbststeuerung der Arbeits- und Kooperationsprozesse verbunden mit Planungs-, Entscheidungs- und Kontrollfunktionen innerhalb der vorgegebenen Rahmenbedingungen. x Der Verzicht auf eine starre Arbeitsteilung und demzufolge eine Erweiterung des Dispositionsspielraums für den Einzelnen. Die Fertigungsinsel ist somit organisatorische Grundform für später entwickelte zelluläre Produktionskonzepte auf Basis sog. Autonomer Produktionszellen (PFEIFER u. SCHMIDT 2006), die in der Lage sind, komplexe Produktionsprozesse mit einem maximalen Grad an Selbständigkeit über einen längeren Zeitraum zuverlässig und störungsfrei durchzuführen. Die Flexibilität dieser Produktionskon-
480
Arbeitswissenschaft
zepte beruht auf der Integration von Tätigkeitsfeldern aus indirekten Fertigungsbereichen, wie z.B. Arbeitsvorbereitung, Fertigungssteuerung, Qualitätswesen, Werkzeug- und Vorrichtungswesen, Instandhaltung und Logistik. Wesentliche Unterschiede zur Werkstätten- und Fließfertigung bestehen in der Zusammenfassung von Teilen, die mit gleichen Betriebsmitteln gefertigt werden können, zu Fertigungsfamilien. Dadurch kommt es zu einer Entzerrung des Informations- und Materialflusses, räumlichen und organisatorischen Zusammenfassung aller Maschinen und Betriebsmittel, die zur vollständigen Bearbeitung dieser Fertigungsfamilien benötigt werden und Zuweisung umfangreicher und anspruchsvoller Aufgaben (Planung, Steuerung, Qualitätsprüfung) für die Mitarbeiter der Fertigungsinsel. Der Hauptvorteil der Fertigungsinsel besteht in der hohen Flexibilität. Da ein komplettes Werkstückspektrum bearbeitet werden kann, kann die Fertigungsinsel an Produktumstellungen innerhalb dieses Werkstückspektrums schnell angepasst werden. Die Bündelung der Aufgaben in der Fertigungsinsel führt zudem zu kürzeren Reaktionszeiten, da Abstimmungsprozesse innerhalb der Insel schnell ablaufen können. Somit ergibt sich insgesamt eine kürzere Durchlaufzeit der Erzeugnisse. Nachteilig wirkt sich aus, dass es bei mehreren Fertigungsinseln zu kapitalintensiven Maschinenredundanzen kommen kann, weil die Realisierung der inselinternen Komplettbearbeitung die Anschaffung mehrerer gleichartiger Betriebsmittel erfordert, die aber unter Umständen nicht voll ausgelastet werden können. So wird vor allem bei kapitalintensiven Maschinen und Aggregaten die Forderung nach Redundanz unerfüllt bleiben, womit das Prinzip der inselinternen Komplettbearbeitung gelegentlich verletzt wird (MASSBERG 1993). Das Konzept der Fertigungsinsel umfasst über die Erweiterung der Arbeitsinhalte mit dispositiven Aufgaben sowohl technisch-ökonomische als auch humanorientierte Zielsetzungen. Dazu gehört etwa die Verminderung von Monotonie am Arbeitsplatz. Die Fertigungsinsel ist primär ein auf die Fertigung bezogenes Arbeitsorganisationskonzept. Bedingt durch die Verlagerung indirekter Aufgaben in die Insel, sind auch weitere betriebliche Abteilungen vom Aufbau von Fertigungsinseln betroffen. Damit stehen neben den Abstimmungs- und Kooperationsprozessen auch Fragen der einheitlichen Entlohnung und der einheitlichen Arbeitszeit zur Diskussion. Fertigungsinseln sind durch ihre konstituierenden Merkmale nur für bestimmte Aufgaben besonders geeignet. Charakteristika solcher Aufgaben sind (BÜHNER 2004): x x x x x x x
kleine Losgrößen geringe Technologievielfalt kurze Planungshorizonte kurze Bearbeitungszeiten geringe Fertigungstiefe Erteilung gleicher Aufträge in unregelmäßigen Zeitabständen hoher Automatisierungsgrad.
Betriebs- und Arbeitsorganisation
4.4.1.5
481
One-Piece-FlowĆ
Das Ablaufprinzip des One-Piece-Flow basiert auf dem Just-in-time Prinzip, dessen Ursprung im Toyota Produktionssystem (siehe Kap. 4.4.2) liegt. Es hat zum Ziel, ein Produkt mit der höchst möglichen Qualität, zu niedrigen Kosten, in möglichst kurzer Zeit zu produzieren. Im Idealfall können alle relevanten Zulieferer synchronisiert und sämtliche Lagerbestände im Produktionsprozess beseitigt werden. Hierfür bedarf es einer flexiblen Fertigung, um kleine Losgrößen zu ermöglichen. Beim One-Piece-Flow, der als Einzelstückfließfertigung übersetzt werden kann, gleicht die mehrstufige Bearbeitung eines Teils einem ununterbrochenen Fluss mit dem Ziel, einen Produktionsfortschritt mit geringer Varianz zu erreichen. Die durchzuführenden Arbeitsschritte folgen dabei direkt aufeinander, ohne dass eine Zwischenlagerung stattfindet. Ein Teil wird nach seiner Anlieferung in einem durchgehenden Produktionsfluss von einer Bearbeitungsstation zur nächsten befördert. Auf Puffer zwischen diesen Stationen wird verzichtet. Typischerweise sind die Arbeitsstationen in einem U-förmigen Layout angeordnet, so dass die Wege des Mitarbeiters zwischen der Anfangsstation und der Endstation der Fertigungsfolge minimiert werden. Leicht verständliche Beispiele für einen OnePiece-Flow lassen sich in der Montage finden. Ein Beispiel ist in Abb. 4.26 dargestellt. tv1
Arbeitsinhalt der g g Montageaufgabe
tv2
tv3
tv4
Arbeitsstation
tv5
T il füh Teilezuführung 1
2
3
4
5
One-Piece-Flow
Einzelplatzmontage p g
Klassische Montagelinie g
3 3 4 2 1 5
tv1
tv2
tv3
4
1
5
1
Station
1
2
tv4
tv5 Zeit
Station 5 4 3 2 tv1 1
tv5 tv4 tv3 tv2 Zeit
Abb. 4.26: One-Piece-Flow (SCHARF u. KISSING 2007)
Station 5 4 3 2 tv1 1
2
3
tv2 tv1
4
tv3 tv2 tv1
5
tv4 tv3 tv2 tv1 Zeit
tv5 tv4 tv3 tv2 tv1
482
Arbeitswissenschaft
Das One-Piece-Flow-Konzept hat gegenüber der traditionellen Einzelplatzmontage bzw. Montagelinie zwei wesentliche Vorteile: x Eine Nutzung für Produktvarianten ist möglich, wenn die eingesetzten Arbeitsstationen bzw. Maschinen so konstruiert sind, dass sie schnell umgerüstet werden können. x Sind umfangreiche manuelle Fertigungsvorgänge enthalten, so kann die Ausbringungsmenge flexibel anhand der Anzahl der eingesetzten Arbeitspersonen gesteuert werden. Idealtypisch ist eine Arbeitsperson innerhalb des One-Piece-Flows für alle Arbeitsschritte am Produkt zuständig. Dann entspricht der Takt der Ausbringung der Summe der Vorgangszeiten aller Bearbeitungsschritte, die das zu bearbeitende Objekt erfahren muss. Durch den Einsatz weiterer Mitarbeiter, die nacheinander das System durchlaufen, kann dieser Takt verkürzt und damit die Ausbringungsmenge gesteigert werden. Wichtige Voraussetzung für die Umsetzung eines solchen Systems ist eine umfassende Qualifizierung der Mitarbeiter, die sie dazu befähigt, alle Arbeiten an den Stationen ausführen zu können. Um die Anforderungen an die Arbeitspersonen zu verringern, wird in der Praxis jedoch nicht selten ein kompletter Umlauf in Abschnitte zerlegt, denen jeweils eine Person zugeteilt wird. Dabei ist darauf zu achten, dass der Tätigkeitsumfang der einzelnen gebildeten Bereiche möglichst gleich ist und nicht zu Dequalifizierung oder stark einseitigen Belastungen führt. Die Anordnung der Arbeitsstationen wird häufig so ausgelegt, dass die Mitarbeiter in ihren Arbeitsbereichen möglichst kurze Laufwege zurücklegen müssen (SCHARF u. KISSING 2007). Als einen Sonderfall des One-Piece-Flow lässt sich das Chaku-Chaku-Prinzip (jap. laden, laden) auffassen, bei dem alle Stationen weitgehend autonom fertigen und die Arbeitsperson lediglich den Transport der Teile zwischen den Stationen übernimmt (SPENGLER et al. 2005). Durch dieses Prinzip kann eine hohe Flexibilität bezüglich Varianten und Produktionsschwankungen bei gleichzeitiger Verringerung von Durchlaufzeiten sowie Platzbedarf erreicht werden. Allerdings ergibt sich neben hohen Anforderungen an die psychophysiologische Resistenz der Arbeitsperson unter Umständen zusätzlich ein erheblicher Automatisierungsaufwand innerhalb des Arbeitssystems. 4.4.2
Toyota Produktionssystem
Das Toyota Produktionssystem (kurz: TPS) ist ein für die Serienproduktion entwickeltes Makro-System. Ihm liegt als Ablaufprinzip ein One-Piece-Flow (siehe Kap. 4.4.1.5) zugrunde. Ein Produktionssystem ist definiert als eine technisch, organisatorisch (und kostenrechnerisch) selbständige Allokation von Potenzialfaktoren zu Produktionszwecken. Ein Produktionssystem besteht dabei aus elementaren Arbeitssystemen, die die kleinsten Leistungseinheiten darstellen und eine oder mehrere Klassen von Transformationen durchführen können (DANGELMAIER 2001). Eine weitestgehende Vermeidung von Verschwendung und eine dadurch
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erzielbare Kosten- und Zeitreduzierung bei hoher Produktqualität stehen im Zentrum dieses Systems. Unter Verschwendung sind hierbei hohe Lagerbestände, unnötige Transportwege, eine zu hohe, nicht marktgerechte Produktion, Stillstands-, Liege- und Wartezeiten, unnötige Bewegungsabläufe sowie Fehler bei der Herstellung zu verstehen. Das TPS ist nicht nur das organisatorische Referenzmodell für die japanischen Werke von Toyota, sondern für alle Toyota-Werke weltweit. Die vollständige Übernahme des TPS durch andere Betriebe gelingt, trotz recht großer Offenheit von Seiten Toyotas, nur selten (SPEAR u. BOWEN 1999). Die Struktur und die Grundsätze des TPS sind in Abb. 4.27 dargestellt.
Beste Qualität – niedrige Kosten – kürzest mögliche Durchlaufzeiten – größte Sicherheit – hohe Arbeitsmoral Verkürzung der Produktionszeit durch Eliminierung nicht werthaltiger Elemente
Just-In-Time Just In Time die richtige Teile in der richtigen Menge zur richtigen Zeit -
Menschen und Teamwork - Selektion - Entscheidungsfindung nach dem Ringi-System - gemeinsame Ziele - Crosstraining
kontinuierlicher Fluss
-
PULL-System
-
integrierte Logistik
(Prozessimmanente Qualität an jeder Arbeitsstation) macht Probleme deutlich
-
automatischer Produktionsstopp
-
Andon
Kontinuierliche Verbesserung g
-
Teilung zwischen Mensch und Maschine
Eliminierung nicht werthaltiger Elemente
-
selbstgesteuerte Fehlererkennung
-
Qualitätskontrolle an jeder Arbeitsstation
-
5W-Methode
Taktzeit
-
Jidoka
- genchi genbutsu - 5W-Methode (fünfmaliges Fragen nach dem Warum)
- Bewusstsein für Verschwendung - Problemlösung
Produktionsnivellierung (heijunka) Stabile und standardisierte Prozesse Visuelles Management Philosophie der Toyota-Methode
Abb. 4.27: Das Toyota-Produktionssystem (nach LIKER 2004) LIKER (2004) beschreibt 14 Grundprinzipien, die dem TPS zugrunde liegen und durch deren Einhaltung es erfolgreich eingeführt und betrieben werden kann: (1) Managemententscheidungen auf eine langfristige Philosophie gründen, selbst wenn es zu Lasten kurzfristiger Gewinne geht. (2) Fließende Prozesse schaffen, um Probleme zu Tage zu fördern. (3) Ein „ziehendes“ Produktionssystem (Pull-System) verwenden, um bedarfsgerecht zu produzieren und Überproduktion zu vermeiden. (4) Für eine gleichmäßige Arbeits- und Produktionsauslastung sorgen. (5) Die Produktion unterbrechen, wenn ein Qualitätsproblem auftritt, so dass die Qualität sofort wieder sichergestellt werden kann.
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Arbeitswissenschaft
(6) Die Arbeitsschritte für eine kontinuierliche Verbesserung und eine hohe Eigenverantwortlichkeit der Arbeitspersonen standardisieren. (7) Visualisierungstechniken für Produktivität, Fehler etc. nutzen, damit kein Problem verborgen bleibt. (8) Ausschließlich zuverlässige, sorgfältig getestete Technologien verwenden, die die Mitarbeiter und Prozesse unterstützen. (9) Führungspersonen heranziehen, die die Arbeitsinhalte verstehen, das Konzept „leben“ und es anderen vermitteln können. (10) Mitarbeiter und Teams entwickeln, die der Firmenphilosophie folgen. (11) Lieferanten und externe Partner respektieren, fordern und beim Verbesserungsprozess unterstützen. (12) Selbst ein Bild von der Situation machen, um sie umfassend zu verstehen. (13) Entscheidungen sorgfältig durch Konsenserzielung treffen und alle Optionen gründlich abwägen; Entscheidungen schnell umsetzen. (14) Betriebsweites Lernen durch konsequente Reflektion der Situation und kontinuierliche Verbesserung (sog. Kaizen, siehe Kap. 4.3.4.2). SPEAR u. BOWEN (1999) verdichten diese 14 Prinzipien zu vier Regeln, die nach Aussage der Autoren das „Erbgut“ (DNA) des TPS darstellen. Die vier Regeln sind wie folgt: x Regel 1: „Wie Menschen arbeiten“: Die gesamte Arbeit muss in einem hohen Detaillierungsgrad bzgl. des Inhalts, der Ausführungsreihenfolge, des Timings und des Resultats spezifiziert werden. x Regel 2: „Wie Menschen miteinander verbunden sind“: Jede Kunden-Lieferanten-Beziehung muss direkt sein und es muss ein eindeutiger Weg zum Senden von Anfragen und Empfangen von Antworten bestehen. x Regel 3: „Wie die Produktionslinie konstruiert ist“: Der Weg eines jeden Produkts und Services muss einfach und direkt sein. x Regel 4: „Wie man sich verbessert“: Jede Verbesserung muss in Übereinstimmung mit der Philosophie und Methodik unter Anleitung eines Lehrers stattfinden und bereits auf der niedrigsten möglichen Ebene innerhalb der Organisation beginnen. Die erste Regel definiert, dass jeder Arbeitsschritt exakt spezifiziert werden muss. Hiermit ist verbunden, dass die Arbeit in kurze Takte unterteilt wird, die von den Arbeitspersonen exakt eingehalten werden müssen. Jede Arbeitsperson durchläuft einen ausführlichen Trainingsprozess, bevor sie an der Produktionslinie zum Einsatz kommt. Aufgrund der sehr genauen Definition der einzelnen Arbeitsschritte sind Abweichungen vom Plan sofort erkennbar. Wenn ein Arbeitsschritt nicht in der dafür vorgesehenen Zeit abgeschlossen werden kann, so wird deutlich, dass die Hypothesen bzgl. des Arbeitsfortschritts falsch waren und entweder der Prozess neu gestaltet werden muss oder die Arbeitsperson besser oder intensiver geschult werden muss.
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Die zweite Regel stellt sicher, dass bei Problemen, Anfragen oder Bestellungen die Sender und Empfänger klar definiert sind, so dass direkte Kommunikationswege bestehen und Schnittstellenverluste minimiert werden. Hierbei ist die gesamte Kommunikationskette von der Arbeitsperson an der Produktionslinie bis hin zum Lieferanten definiert. Auch bei Störungen ist die Kette exakt vorbestimmt. Die Arbeitspersonen sind angehalten, jedes Produkt- oder Prozessproblem sofort nach der Entdeckung offen zu kommunizieren. Die für die Problemlösung verantwortliche Person ist angehalten, innerhalb einer Taktzeit für eine Lösung des Problems zu sorgen. Die dritte Regel beschreibt den Aufbau der Produktionslinie. Jede Produktionslinie ist so aufgebaut, dass jedes Produkt und jeder Service einen fest definierten Weg beschreitet, der nicht verändert werden darf. Der Weg ist hierbei möglichst einfach zu gestalten, Verzweigungen und Iterationen sind nicht vorgesehen. Die Empfänger der Produkte sind festgelegt, es findet keine Verteilung der Produkte an die nächste verfügbare Arbeitsperson oder Maschine statt, sondern an eine bestimmte Arbeitsperson bzw. Maschine. Jedes auftretende Problem zeigt, dass Veränderungen an der Produktionslinie durchzuführen sind. Ein weiterer Schlüssel für den Erfolg des TPS ist nach SPEAR u. BOWEN (1999) die Verbesserungsphilosophie. Jede Verbesserung muss in Übereinstimmung mit den Prinzipien und Regeln des Produktionssystems unter Anleitung eines erfahrenen Lehrers durchgeführt werden. Alle Arbeitspersonen werden in der Anwendung des Vorgehens zur Feststellung von Problemen und zur Lösung der Probleme unter Berücksichtigung der ersten drei Regeln geschult. Verbesserungsmaßnahmen werden von den direkt beteiligten Personen angeregt und durchgeführt. Aus arbeitswissenschaftlicher Sicht ist auf der einen Seite kritisch anzumerken, dass durch z. T. sehr kurze Taktzeiten eine große Monotonie und einseitige Belastung auftreten kann. Die Einflüsse der Arbeitspersonen auf Arbeitsmethode, Arbeitsweise, Arbeitsgeschwindigkeit und Arbeitspausen sind stark eingeschränkt und ermöglichen kaum Spielräume. Es kann auch zu rein ausführenden Arbeitsaufgaben kommen, da planende und kontrollierende Tätigkeiten meist außerhalb des Bereichs liegen. Auf der anderen Seite wird durch die hohe Verantwortung für Verbesserungsmaßnahmen die Identifikation mit der Arbeit gestärkt, und die Arbeitspersonen werden in betriebliche Entscheidungen und Verbesserungen eingebunden (siehe Kap. 5.5). 4.5
Organisation der Produkt- und Prozessentwicklung
Die Entwicklung neuer Produkte und die Gestaltung der notwendigen Prozesse sind Kernaufgaben von Betrieben. An die Organisation dieser Kernaufgaben werden hohe Anforderungen gestellt. So müssen Produkte und Produktionsprozesse höchsten Qualitätsansprüchen genügen, gleichzeitig kostengünstig sein sowie zügig entwickelt werden können, um eine frühe Markteinführung zu gewährleisten (KABEL 2001; BAUR et al. 1998; DWIVEDI u. SOBOLEWSKI 1990). Insbesondere in
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Arbeitswissenschaft
forschungs- und entwicklungsintensiven Branchen, wie z.B. der Automobilindustrie oder der Luft- und Raumfahrtindustrie, sind Konzepte entwickelt worden, mit denen die hohen Anforderungen gut erfüllt werden können. Charakteristisch für den Entwicklungsbereich ist eine als Projekt definierte, zeitlich begrenzte Aufgabenstellung und eine abteilungsübergreifende (sog. crossfunktionale) Teamzusammensetzung – stellenweise auch unter Einbeziehung von Kunden und Lieferanten. Stellvertretend für Organisationskonzepte, die entsprechende Strukturen vorsehen und speziell auf die Produkt- und Prozessgestaltung ausgerichtet sind, wird im Folgenden der Ansatz des Concurrent Engineering vorgestellt und diskutiert.1 Eine häufig verwendete Definition von Concurrent Engineering (CE) stammt vom Institute for Defense Analysis (IDA). Demnach handelt es sich um einen „systematic approach to the integrated, concurrent design of products and their related processes, including manufacture and support. This approach is intended to cause developers, from the outset, to consider all elements of the product life cycle from conception through disposal, including quality, cost, schedule, and user requirements” (WINNER et al. 1988). Seither wurde der CE-Ansatz von zahlreichen Autoren konkretisiert, um einzelne Aspekte ergänzt bzw. in seinem Integrationsanspruch erweitert (u.A. DWIVEDI u. SOBOLEWSKI 1990; CLEETUS 1992; SYAN u. MENON 1994; BULLINGER u. WARSCHAT 1996; PRASAD 1996; WANG 1997; YASSINE u. BRAHA 2003; EVERSHEIM u. SCHUH 2005).
CE beschreibt somit die integrierte und zeitparallele Durchführung der Aktivitäten der Produkt- und Prozessgestaltung unter Berücksichtigung der Anforderungen aller Phasen des Produktlebenszyklus, ausgehend von der ersten Produktidee, über die Produktkonzeption und -konkretisierung bis zur Markteinführung unter Berücksichtigung der daran beteiligten Personengruppen. Charakteristisch für die Umsetzung von CE sind die Bildung von multidisziplinären, crossfunktionalen Teams und der Einsatz von unterstützenden, größtenteils computergestützten Methoden und Werkzeuge (JO et al. 1993). Durch die Einführung von CE kann eine Reduzierung der Markteinführungszeit durch Verkürzung der Produktentwicklungszeiten und eine Senkung der Herstellkosten bei gleichzeitiger Verbesserung der Produktqualität erreicht werden (EVERSHEIM u. SCHUH 2005). Die Berücksichtigung gegenseitiger Anforderungen und Restriktionen sowie der Beginn von Aktivitäten und die Nutzung relevanter Informationen – jeweils zum effektivsten und effizientesten Zeitpunkt – sind Leitlinien zur Zielerreichung. Die zentralen Prinzipien von CE sind Integration und Parallelisierung. Ziel der Integration von Einzelaktivitäten zu einer Gesamtaktivität in der Produkt- und Prozessplanung ist die gemeinsame Berücksichtigung der gegenseitigen Restriktionen bei gleichzeitiger Reduktion des Kommunikations- und Koordinationsaufwands durch die Verminderung der Zahl der Schnittstellen. Der Integration sind allerdings Grenzen gesetzt, da die Komplexität der Ausführung der Aktivitäten 1
Im deutschsprachigen Raum werden – weitgehend synonym zur Bezeichnung Concurrent Engineering – auch die Bezeichnungen Simultaneous Engineering und Integrierte Produkt- und Prozessgestaltung verwendet.
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mit der Zahl der integrierten Aktivitäten steigt. Können Aktivitäten aufgrund der nicht mehr beherrschbaren Komplexität nicht integriert werden, sind sie im Sinne von CE zu parallelisieren. Da parallele Aktivitäten unter Informationsannahmen begonnen werden, sind diese regelmäßig zu synchronisieren (STAHL 1998). Sowohl bei der integrierten als auch bei der parallelisierten Ausführung von Aktivitäten können Zeitpotenziale gegenüber der sequentiellen Produkt- und Prozessplanung realisiert werden (siehe Abb. 4.28). 1. Konventionelle Produktentwicklung
Vertrieb
Entwicklung
Arbeitsv.
Fertigung
Koordinationsprobleme
Produktgestaltung Pflichtenheft
Vorentwicklung
Entwicklung
Konstruktion
Prozessgestaltung Test
Pflichtenheft
Grobplanung
Feinplanung
Arbeitsplanung
Personalplanung
Durchlaufzeit bei sequentieller Produkt- und Prozessgestaltung
2. Concurrent Engineering Entwicklung
Arbeitsv.
Vertrieb
Fertigung
Parallelisierung Produktgestaltung PflichtenPflichten heft
Vorent Vorentwicklung
Ent Entwicklung
Kon Konstruktion
Test
Integration Prozessgestaltung
PflichtenPfli ht heft
G b Grobplanung
F i Feinplanung
A b it Arbeitsplanung
PersonalP l planung
Verkürzung
Durchlaufzeit beim Concurrent Engineering
Abb. 4.28: Vergleich der konventionellen Produkt- und Prozessgestaltung mit dem Ansatz des Concurrent Engineering
Der Anwendungsbereich der genannten Prinzipien beschränkt sich nicht nur auf die reine Produktentwicklung und Konstruktion, sondern umfasst alle Aktivitäten der Prozessgestaltung und schließt dabei auch die Gestaltung des Produktionssystems mit ein (MÜTZE-NIEWÖHNER 2004; CLAUSING 1993). Durch die frühzeitige Berücksichtigung von Anforderungen aus den der Produktentwicklung nachgelagerten Phasen sollen zeit- und kostenintensive Produkt- und Prozessänderungen vermieden werden. Die daraus resultierenden Zeiteinsparungseffekte führen zu einer Verkürzung der gesamten Produktentstehungszeit. Neben Integration und Parallelisierung benennt LAUFENBERG (1996) als drittes Prinzip von CE die Kompetenzzusammenführung und betont damit stärker die organisatorische Umsetzung mit Hilfe funktionsübergreifend zusammengesetzter CE-Teams (siehe Kap. 5.6).
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Arbeitswissenschaft
Der konventionelle Produktentstehungsprozess ist durch eine sequentielle, stark arbeitsteilig organisierte Vorgehensweise geprägt. Jeder Organisationsbereich führt seine Aufgabe vollständig und detailliert zu Ende, bevor die Ergebnisse an den nächsten Bereich weitergeleitet werden. Wird in einer nachgelagerten Phase Änderungsbedarf festgestellt, muss iteriert und die Sequenz erneut durchlaufen werden, so dass oftmals ein hoher Zeitverlust und hohe Fehlerkosten die Folgen sind. Verschiedene Studien deuten auf erhebliche Effekte durch den Einsatz von CE hin (EVERSHEIM et al. 1995). So deutet bspw. die Auswertung einer Unternehmensbefragung auf deutliche Zeiteinsparungen bei der Produktentwicklung hin (LAY 1997). Betriebe, die ein weitreichendes CE-Konzept umsetzen, erzielten eine um bis zu 14% reduzierte Entwicklungszeit im Vergleich zu Betrieben, die CE nicht einsetzen. In anderen Quellen werden Entwicklungszeitverkürzungen von 25% bis 50% genannt (SEIBERT 2006). Häufig zitiert wird das Fallbeispiel von Motorola aus den 1980er Jahren (SEIBERT 2006). Bei der Entwicklung einer neuen Generation von Pagern (Funkrufempfängern) unter Anwendung von CE konnte die Entwicklungszeit von drei bis vier Jahren auf 18 Monate reduziert werden. Durch die Integration der Prozessgestaltung konnte gleichzeitig eine deutliche Qualitätsverbesserung erreicht werden, die durch eine deutliche Reduzierung der Ausschussrate in der Fertigung auf weniger als 0,3% deutlich wurde. Der Einsatz von Concurrent Engineering führt darüber hinaus oftmals zu einer deutlichen Reduzierung von Änderungen in späten Entwicklungsphasen. Durch die Berücksichtigung gegenseitiger Anforderungen in allen Phasen der Produktund Prozessgestaltung können sowohl die Produkte als auch die Prozesse verbessert und die Herstellkosten gesenkt werden. Durch das im Vergleich zur konventionellen Produkt- und Prozessgestaltung iterative Vorgehen erhöht sich durch das CE-Konzept der Kommunikations- und Koordinationsaufwand. Weiterhin ergeben sich kooperationstypische Probleme, wie mangelnde Zielidentität, Erfolgszuschreibung, Handlungskompatibilität usw. 4.6
Organisation im Dienstleistungs- und Servicebereich
Die Organisation im Dienstleistungs- und Servicebereich stellt einen weiteren arbeits- und betriebsorganisatorischen Gestaltungsschwerpunkt dar. Hierbei bestehen vielfältige Organisationsmodelle, die u.a. eine unterschiedlich stark ausgeprägte Autonomie des Dienstleistungs- und Servicebereichs innerhalb der Aufbauorganisation des Betriebs beschreiben. Aufgrund der Heterogenität der Organisation des Dienstleistungs- und Servicebereichs und der daraus resultierenden Vielfalt von Organisationsprinzipien muss auf eine ausführliche Darstellung verzichtet werden. Das vielschichtige Thema wird detailliert bei LUCZAK et. al. (2004), LUCZAK (1999), LAY u. NIPPA (2005), BULLINGER u. SCHEER (2005), SCHUH et. al. (2004) sowie SCHENK u. SCHLICK (2009) behandelt.
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5
Gruppen- und Teamarbeit
5.1 5.1.1
Begriffliche Grundlagen Merkmale von Gruppenarbeit
In der wissenschaftlichen Literatur finden sich zahlreiche Definitionen der Begriffe „Arbeitsgruppe“ und „Gruppenarbeit“ aus unterschiedlichen Disziplinen und Anwendungsfeldern, die über die Angabe von Merkmalen unterschiedliche Anforderungen an Arbeitsgruppen und Gruppenarbeit formulieren (siehe z.B. ANTONI 1996, 2007; COHEN u. BAILEY 1997; VAN DICK u. WEST 2005; EULER u. EULER 1997; GOHDE u. KÖTTER 1990; HACKER 1994; LECHNER 2001; LUCZAK et al. 1991; VON ROSENSTIEL 1993; SALAS et al. 1992; SEITZ 1993; THOMAS 1991; WEBER 1997; WEGGE 2004).
Blendet man zunächst einige, insbesondere aus psychologischer Sicht wesentliche Merkmale aus, bezeichnet Gruppenarbeit eine Form der Arbeitsorganisation, die dadurch gekennzeichnet ist, dass ein Arbeitsauftrag an mehr als zwei Arbeitspersonen übertragen wird, von diesen Arbeitspersonen als gemeinsame Arbeitsaufgabe (re-)definiert sowie interpretiert wird und schließlich in Kooperation, also gemeinschaftlich und eigenverantwortlich, bearbeitet wird. Mit dieser ersten Begriffsbestimmung wird Gruppenarbeit sowohl von reiner Einzelarbeit als auch implizit von anderen kooperativen Arbeitsformen abgegrenzt, die nicht Gegenstand der weiteren Betrachtung sind. Dies betrifft u.A. alle Formen von Kooperationen, die außerhalb von Organisationen stattfinden, die keinen konkreten Arbeitsbezug aufweisen, sondern lediglich zwei Personen mit einbeziehen (sog. Dyade, Tandem) oder sich zufällig ergeben, also nicht zielgerichtet und zweckgebunden herbeigeführt werden. Gruppenarbeit setzt einen Arbeitsauftrag voraus, der Kooperation erfordert bzw. ermöglicht. Gruppenarbeit liegt bspw. nicht vor, wenn Arbeitspersonen räumlich oder organisatorisch zu einer Einheit zusammengefasst sind, jedoch weitgehend voneinander unabhängige Einzelaufgaben erledigen (siehe HACKER 2005 „Arbeit im Raumverband“, Antoni 2000 „klassische Arbeitsgruppe“). Besteht die Kooperation zwischen Arbeitspersonen ausschließlich darin, sich über gemeinsam genutzte Arbeits- und Betriebsmittel oder andere Ressourcen abzustimmen (siehe ressourcenbezogene Abhängigkeit, Kap. 4.3.4), kann ebenfalls noch nicht von Gruppenarbeit gesprochen werden. Ist der Arbeitsauftrag in rein sequentiell abhängige Teilaufgaben gegliedert, sind die Möglichkeiten der auftragsbezogenen Kooperation eingeschränkt (siehe HACKER 2005 „Arbeit im Sukzessivverband“). Es sind aber durchaus Formen der Zusammenarbeit möglich, die als Gruppenarbeit bezeichnet werden können.
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Arbeitswissenschaft
Direkte, auftragsbezogene Kooperation im engeren Sinne von Gruppenarbeit liegt dann vor, wenn zwischen den Gruppenmitgliedern – zumindest zeitweise – ein reziproker Aufgabenzusammenhang besteht (Kap. 4.3.4). Als Beispiel kann die Produktentwicklung in einer Projektgruppe dienen: Der gemeinsame Entwicklungsauftrag ist in interdependente Teilaufgaben untergliedert, die gleichzeitig (parallel) bearbeitet werden. Der zeitliche Arbeitsfortschritt und die Qualität der Arbeitsergebnisse eines Gruppenmitglieds haben meist direkte Konsequenzen für den Arbeitsvollzug der anderen. Aufgrund der Interdependenzen zwischen den Baugruppen bzw. Subsystemen des zu entwickelnden Produkts sind fortlaufende gegenseitige Abstimmungen erforderlich (siehe SUSMAN 1976; ALIOTH 1980; GROTE 1997 sowie HACKER 2005 zur „Arbeit im Integrativverband“). Die Bedingung des Vorliegens eines Arbeitsauftrages, der kooperativ von einer Arbeitsgruppe bearbeitet werden kann, reicht allerdings nicht aus, um Gruppenarbeit differenziert zu beschreiben. Aus arbeitswissenschaftlicher Sicht sind weitere Anforderungen zu stellen, die insbesondere die Struktur der Gruppenaufgabe (z.B. in Bezug auf die daraus resultierenden Qualifikationsanforderungen) und den Grad der kollektiven Autonomie bzw. die Möglichkeiten zur Selbststeuerung der Arbeitsgruppe betreffen (Kap. 5.4.2). Im Kontext industrieller Produktion werden bspw. als konstituierende Merkmale von qualifizierter, teilautonomer Gruppenarbeit (Kap. 5.5), eine gemeinsame Kernaufgabe, die Planungs-, Organisations- und Kontrollaufgaben enthält, sowie eine weitgehende Selbststeuerung durch die Arbeitsgruppe gefordert (vgl. u.A. GOHDE u. KÖTTER 1990; SEITZ 1993; LUCZAK et al. 1991). In sozialpsychologisch geprägten Definitionen werden Anforderungen an die Arbeitsgruppe formuliert. So wird von einer „echten” Arbeitsgruppe bspw. verlangt, dass ihre Mitglieder über einen längeren Zeitraum in direkter Interaktion stehen, sich als zusammengehörig erleben („Wir-Gefühl“, Kohäsion) und von ihrem Umfeld als Gruppe wahrgenommen werden (siehe hierzu ANTONI 2000; MCGRATH 1984; VON ROSENSTIEL 1993; WEGGE 2004). In der betrieblichen Praxis werden die Begriffe „Gruppenarbeit“ und „Teamarbeit“ für unterschiedliche Formen kooperativer Arbeit verwendet, die nicht immer die genannten Anforderungen erfüllen und mit deren Einführung unterschiedliche Zielsetzungen verfolgt werden. Gruppenarbeit als Arbeitsorganisationskonzept (Kap. 5.1.3) ist immer im Kontext der betrieblichen Bedingungen und Gegebenheiten zu bewerten, zu gestalten und zu entwickeln. Wie WEGGE (2004) darlegt, ist eine „allseits anerkannte, einzig richtige Definition für das, was man Gruppenarbeit nennen sollte“, nicht zu finden. Es wird HACKER (1994) gefolgt, der im Sinne von Minimalanforderungen folgende arbeitsanalytisch wesentliche Merkmale von Gruppenarbeit formuliert: x Ein gemeinsamer, artteilig ausführbarer Auftrag für mehr als zwei Arbeitspersonen; dieser verlangt x eine gemeinsame Handlungsorganisation zur Auftragserfüllung und damit x gemeinsame Entscheidungen auf der Grundlage von zeitlichem und inhaltlichem Tätigkeitsspielraum für die Gruppe.
Gruppen- und Teamarbeit
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Für die Abstimmung und die Handlungsorganisation sind des Weiteren x Kommunikation und ein Mindestmaß gemeinsamer, geteilter Ziele und Kenntnisse – u.A. über den Arbeitsauftrag, zweckmäßige Vorgehensweisen, die Arbeitsobjekte, Arbeitsmittel und über das Arbeitsverhalten der Partner – erforderlich, die sog. geteilten oder gemeinsamen tätigkeitsleitenden Repräsentationen (shared mental models, siehe hierzu CANNON-BOWERS et al. 1993; CANNON-BOWERS u. SALAS 2001; TSCHAN u. SEMMER 2001). Mit Bezug auf die Ausführungen von ANTONI (2000), GUZZO u. DICKSON (1996), NERDINGER et al. (2008), STUMPF u. THOMAS (2003) und SUNDSTROM et al. (2000) werden die Begriffe „Gruppe“ und „Team“ im Weiteren synonym verwendet. Eine definitorische Unterscheidung der Begriffe „Gruppenarbeit“ und „Teamarbeit“ entfällt damit ebenfalls (vgl. STÜRZL 1992; KATZENBACH u. SMITH 1993). 5.1.2
Gruppenarbeit im Betriebsverfassungsgesetz
Im Jahre 2001 hat der Gesetzgeber das Betriebsverfassungsgesetz reformiert und dabei u.A. den folgenden Grundsatz für die Behandlung der Betriebsangehörigen in §75 ergänzt: „Arbeitgeber und Betriebsrat haben die freie Entfaltung der Persönlichkeit der im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer zu schützen und zu fördern. Sie haben die Selbständigkeit und Eigeninitiative der Arbeitnehmer und Arbeitsgruppen zu fördern.“ (§75 Abs. 2 BetrVG) Laut Gesetzesbegründung sollen Arbeitgeber und Betriebsrat einen Beitrag zu „mehr Demokratie im Betrieb“ leisten, und zwar vor allem durch eine Arbeitsgestaltung, die Freiräume für Entscheidungen, Eigenverantwortung und Kreativität der Arbeitnehmer und der Arbeitsgruppen schafft“ (BUNDESTAGSDRUCKSACHE 14/5741, 2001). Eine Möglichkeit, diesem Grundsatz nachzukommen, wird in der Einrichtung von teilautonomen Arbeitsgruppen gesehen. Mit dieser Gruppenarbeitsform sieht der Gesetzgeber allerdings die Gefahr verbunden, „dass der Gruppendruck zu einer ‚Selbstausbeutung’ der Gruppenmitglieder und zu einer Ausgrenzung leistungsschwächerer Arbeitnehmer“ führt (ebd.). Um dieser Gefahr vorzubeugen, wurde der Katalog der Mitbestimmungstatbestände in sozialen Angelegenheiten in §87 Abs. 1 BetrVG wie folgt erweitert: „Der Betriebsrat hat, soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht, in folgenden Angelegenheiten mitzubestimmen: [...] 13. Grundsätze über die Durchführung von Gruppenarbeit; Gruppenarbeit im Sinne dieser Vorschrift liegt vor, wenn im Rahmen des betrieblichen Arbeitsablaufs eine Gruppe von Arbeitnehmern eine ihr übertragene Gesamtaufgabe im Wesentlichen eigenverantwortlich erledigt.“ (§87 Abs. 1 BetrVG) Nach amtlicher Begründung besteht dieses Mitbestimmungsrecht ausschließlich bei teilautonomer Gruppenarbeit, so dass mit dem 2. Halbsatz des §87 Abs. 1
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Arbeitswissenschaft
Nr. 13 BetrVG erstmals eine Legaldefinition für teilautonome Gruppenarbeit zur Verfügung steht (LINDE 2004). „Arbeitsgruppen, die nur parallel zur Arbeitsorganisation bestehen, wie z.B. Projektgruppen oder Steuerungsgruppen“ werden damit explizit nicht erfasst (BUNDESTAGS-DRUCKSACHE 14/5741, 2001; siehe Kap. 5.9.2). 5.1.3
Gruppenarbeit als Arbeitsorganisationsform
In der eingangs vorgenommenen Definition wird Gruppenarbeit als eine Form der Arbeitsorganisation bezeichnet. Daraus ergibt sich, dass die Gestaltung von Gruppenarbeit dem in Kapitel 4.1 für die Arbeitsorganisation und ihre Teilfunktionen eingeführten Zielsystem unterliegt und folglich unter Beachtung ökonomischer und humanorientierter Zielkriterien erfolgen muss. Wie die Vergangenheit gezeigt hat, wurden an Gruppen- und Teamarbeitskonzepte in Produktionsbereichen oftmals überzogene Erwartungen gestellt: Sie sollten gleichzeitig und möglichst kurzfristig die Kosten senken, die Produktivität erhöhen, die Flexibilität steigern, die Qualität verbessern, Hierarchiestufen einsparen, die Kundenzufriedenheit erhöhen, Fehlzeiten und Fluktuation senken, die Arbeitsmotivation und die Arbeitszufriedenheit erhöhen, die Qualifikation fördern und das Management entlasten (siehe BUCK 2009). Gruppenarbeit wurde insbesondere in den 1990er Jahren häufig als Patentrezept für alle arbeits- und betriebsorganisatorischen Problemstellungen und Krisensituationen (miss-)verstanden (WIMMER 2002). Es gibt wohl kein Arbeitsorganisationskonzept, welches sich mit Erfolg an allen genannten Zielkriterien messen lassen könnte. Wenngleich sich in diversen Gruppenarbeitsprojekten sehr wohl positive Effekte in Bezug auf eine Vielzahl der genannten Zielkriterien einstellten (siehe z.B. LUCZAK et al. 1991; METZ 1997; JÖNS 2008a), muss festgehalten werden, dass der Entscheidung für die Nutzung nachhaltiger Formen von Gruppenarbeit grundsätzlich eine Phase der Analyse, Zieldefinition und Strategieentwicklung vorausgehen muss (Kap. 5.9). Im konfigurativen Sinne ist mit Gruppenarbeit (als Arbeitsorganisationsform) ein gewisser Anspruch auf eher langfristig angelegte, dauerhafte Strukturen und generelle Regelungen verbunden. Es geht also nicht um die kurzfristig zu treffende Entscheidung darüber, ob ein Auftrag einer einzelnen Arbeitsperson oder einer Mehrzahl mehrerer Arbeitspersonen zu übertragen ist, sondern um den Aufbau von Strukturen und Abläufen, die Gruppenarbeit nachhaltig ermöglichen und unterstützen (Kap. 5.4.3 sowie Kap. 5.9). Dieser Anspruch betrifft nicht nur fest installierte Arbeitsgruppen, sondern auch Unterstützungssysteme für „temporäre“ Projektgruppen, wenn diese regelmäßig zur Auftragsbearbeitung genutzt werden. Die Gestaltung und Einführung nachhaltiger Gruppenarbeitsstrukturen tangiert alle arbeitsorganisatorischen Fragestellungen und Gestaltungsfelder, von der Festlegung des Auftragsspektrums, der zu bearbeitenden Prozessschritte respektive der gemeinsamen Aufgabe der Arbeitsgruppe über die Klärung von Fragen der Zusammenarbeit und Führung, der Entscheidungsspielräume, der Ressourcennutzung und der Qualifizierung bis hin zu technologischen Gestaltungsaufgaben, die sich
Gruppen- und Teamarbeit
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aus einer veränderten Ablauforganisation oder im Hinblick auf notwendige Informations- und Kommunikationssysteme ergeben. Weitere Kernfragestellungen betreffen die Regelung der Arbeitszeiten (siehe LUCZAK et al. 1996a; sowie Kap. 6), die Vereinbarung von Leistungszielen und die Entgeltdifferenzierung (siehe BULLINGER et al. 2000; EYER u. HAUSSMANN 2005; SCHRÖTER 2008). Wenn auch im Weiteren nicht auf alle Teilaspekte eingegangen werden kann, sei an dieser Stelle die Notwendigkeit eines entsprechend integrierten, die technologischen, organisatorischen und personenbezogenen Gestaltungsaspekte einschließenden Vorgehens – sowohl im Planungs- und Einführungsprozess als auch bei der dauerhaften Unterstützung – betont. 5.2
Zur Verbreitung von Gruppenarbeit
Verschiedene Studien zur Verbreitung von Gruppenarbeit in einzelnen Branchen und Funktionsbereichen lassen darauf schließen, dass insgesamt immer mehr Unternehmen gruppenbasierte Arbeitsorganisationsformen einsetzen, in anderen europäischen Ländern sogar häufiger als in Deutschland (ANTONI 1995, 2007; ARMBRUSTER et al. 2005; KINKEL et al. 2007; LAY 1997; NEUHAUS 2008; WEGGE 2001).
Als weiterer Indikator können auch die Ergebnisse der vierten Europäischen Befragung über die Arbeitsbedingungen dienen (Erhebungsjahr 2005, 29.766 Interviews mit Beschäftigten in 31 Ländern, davon ca. 80% abhängig Beschäftigte). In dieser Erhebung gaben immerhin 60% der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an, ihre Arbeitsaufgaben vollständig oder teilweise in Teamarbeit zu erledigen (PARENT-THIRION et al. 2008). Die Werte aus Deutschland und Österreich liegen dabei nah am Durchschnittswert. In Norwegen, Finnland und den Niederlanden liegen die Werte sogar über 74%; die Schlusslichter bilden Spanien und Italien mit unter 50%. Ein kurzer Rückblick auf die jüngere Vergangenheit soll wesentliche Auslöser für die zunehmende Verbreitung von Gruppenarbeit aufzeigen (siehe hierzu ausführlicher KRINGS U. LUCZAK 1997, zur weiter zurückgehenden historischen Entwicklung von Gruppenarbeit siehe z.B. ANTONI 2000; FORSYTH u. BURNETTE 2005; HORNDASCH 1998; MOLDASCHL 1997; SUNDSTROM et al. 2000).
Unter dem Einfluss der internationalen Diskussion über die skandinavischen Humanisierungsprojekte – prominentestes Beispiel sind die schwedischen Experimente zur teilautonomen Gruppenarbeit bei Volvo und Saab (siehe EMERY u. THORSRUD 1982; BERGGREN 1991) – wurde 1974 in Deutschland das Programm zur „Humanisierung des Arbeitslebens“ gestartet. Während die in den folgenden Jahren durchgeführten Humanisierungsprojekte jedoch nur einen geringfügigen Beitrag zur nachhaltigen Verbreitung von Gruppenarbeit in deutschen Unternehmen leisten konnten, lösten programmatische, oft an erfolgreichen japanischen Konzepten orientierte Managementstrategien, welche Teamarbeitsstrukturen als integralen Bestandteil vorsehen, einen regelrechten „Boom“ aus. Dominante An-
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Arbeitswissenschaft
sätze waren in den 1980er Jahren das Total Quality Management mit dem darin enthaltenen Qualitätszirkelkonzept (siehe Kap. 5.8), in den 1990er Jahren das Lean Management bzw. die Lean Production (schlanke Produktion, IMAI 1992, MITStudie von WOMACK et al. 1990, 1992) mit den so genannten Lean-Gruppen oder Fertigungsteams (siehe Kap. 5.5) sowie der Ansatz des Kontinuierlichen Verbesserungsprozesses (KVP bzw. Kaizen, siehe Kap. 4.3.4.2) mit den gleichnamigen KVP-Gruppen (siehe Kap. 5.8.4). Die in diesen und weiteren Organisationskonzepten (siehe z.B. WARNECKE 1992 zur „Fraktalen Fabrik“; WILDEMANN 1988 zur Segmentierung; PICOT et al. 1996 zur Modularisierung; GOLDMANN u.A. 1995 zum „Agilen Unternehmen“; HAMMER u. CHAMPY 1995 zum Business Reengineering) postulierten Prinzipien, wie Objekt-
bzw. Prozessorientierung, „Verschlankung“ von Strukturen und Prozessen, Dezentralisierung/Segmentierung, kontinuierliche Verbesserung, Kundenorientierung usw., wurden (und werden z.T. auch heute noch) intensiv zur Optimierung von Produktionssystemen, produktionsnahen Dienstleistungsbereichen und der Auftragsabwicklung genutzt. Unter dem Stichwort „Neue Formen der Arbeitsorganisation“ fanden insbesondere in den 1990er Jahren zahlreiche Forschungs- und Industrieprojekte statt, die ökonomische und human- bzw. mitarbeiterorientierte Zielkriterien gleichermaßen zu berücksichtigen suchten und zu unterschiedlichen Realisierungsformen von Gruppenarbeit führten (siehe z.B. ANTONI 1997; KRINGS u. LUCZAK 1997; LUCZAK u. RUHNAU 1993; LUCZAK u. RUHNAU 1994; METZ 1997; OTZIPKA 1998; RUHNAU 1997; SCHEER u. BULLINGER 1998; ZINK 1995).
Parallel dazu haben sich in der Produktentwicklung abteilungsübergreifende Projektteams etabliert. So griff die Automobilindustrie in den 1980ern bspw. den aus der Luftfahrtindustrie bekannten Concurrent Engineering (CE)-Ansatz (siehe Kap. 4.5) auf und begann sog. CE-Teams (oder auch Simultaneous Engineering Teams bzw. SE-Teams, siehe Kap. 5.6) in der Produkt- und Prozessentwicklung einzusetzen. Kurze Innovationszyklen, hohe Produktkomplexität und die Notwendigkeit, auch über Standorte und Unternehmensgrenzen hinweg zu kooperieren, können als Treiber für diese und ähnliche Konzepte genannt werden (siehe PENNEL u. WINNER 1989 und EVERSHEIM u. SCHUH 2005 zu Concurrent Engineering; LUCZAK u. EVERSHEIM 1999 und LUCZAK et al. 2001 zu Telekooperation; KILLICH u. LUCZAK 2003 zu Unternehmenskooperation).
Projektgruppen wurden außerhalb des Entwicklungsbereichs auch schon früher genutzt, allerdings weniger unter dem Gesichtspunkt einer besseren Effizienz. So standen vielmehr Aspekte der Beteiligung und Akzeptanz im Vordergrund, wenn bspw. IT-Systeme eingeführt oder andere komplexe Reorganisationsvorhaben umgesetzt werden sollten. Im Hinblick auf die demografischen Entwicklungen in Deutschland (Kap. 2.2.2.1) erlangen der Erhalt der Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit bis zum Rentenalter und damit auch Fragen der gesundheitsfördernden Gestaltung von Arbeitssystemen und -bedingungen eine hohe Priorität. In Systemen zur Betrieblichen Gesundheitsförderung (Kap. 8.2) gehören gruppenorientierte Ansätze, insbesondere Gesundheitszirkel, zu den klassischen Instrumenten. Im Zusammen-
Gruppen- und Teamarbeit
501
hang mit der Sicherung von Wissensbeständen werden generationenübergreifende Lerngruppen oder vergleichbare Gruppenarbeitsformen – wenn auch bisher selten – genutzt. Eine zunehmende Verbreitung derartiger Formen von Gruppenarbeit ist zu vermuten. Das steigende Interesse an der Einführung von Produktionssystemen nach japanischem Vorbild lässt eine zunehmende Verbreitung der sog. Lean-Gruppen (Fertigungsteams, siehe Kap. 5.5.3) erwarten. Die genannten Konzepte und Prinzipien haben bis heute nicht an Relevanz für die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen verloren. Die Herausforderungen schnell wechselnder Umfeldbedingungen in globalisierten Käufermärkten erfordern mehr denn je flexible, wandlungsfähige Arbeitsorganisationen, die schnell auf Störungen und Schwankungen reagieren können. Diese Eigenschaften werden in einem turbulenten Umfeld insbesondere kleinen, selbstregulierten Einheiten zugeschrieben. Es bleibt abzuwarten, ob sich auch für teilautonome Arbeitsgruppen (Kap. 5.5) weitere Verbreitungsmöglichkeiten bieten und ob dabei insbesondere die Argumente, die aus humaner Sicht für Gruppenarbeit sprechen, wieder in den Vordergrund rücken. 5.3
Formen von Gruppenarbeit
In Anlehnung an einen Differenzierungsansatz von ANTONI (1990, 1994, 2000, 2007) – jedoch unter Verwendung der in Kapitel 4.2.4 eingeführten Terminologie – können Gruppenarbeitsformen nach der Art ihrer organisatorischen Verankerung grob in zwei Kategorien eingeteilt werden (Abb. 5.1): (1) Gruppenarbeitsformen, die in der Primärorganisation verankert sind und eine dauerhafte Zusammenarbeit vorsehen sowie (2) Gruppenarbeitsformen, die in einer Sekundärorganisation geführt werden und lediglich eine temporäre Zusammenarbeit erfordern. Typische Beispiele für die erste Kategorie sind (siehe ebd.; KRINGS u. LUCZAK 1997; METZ 1997; WAHREN 1994): x Teilautonome Arbeitsgruppen (TAG) und sog. „Inseln“ (z.B. Montage-, Fertigungs-, Planungs-, Vertriebsinsel), deren Mitglieder dauerhaft zusammenarbeiten, um ein komplettes Produkt bzw. Teilprodukt oder eine vollständige Dienstleistung weitgehend eigenverantwortlich zu erstellen. x Lean-Gruppen/-Teams oder Fertigungsteams, die dauerhaft im Fließverband zusammenarbeiten und i.d.R. für einen bestimmten Prozessabschnitt verantwortlich sind. Im Vergleich zu teilautonomen Arbeitsgruppen verfügen die stark durch Toyota geprägten Lean-Teams über geringere Handlungs- und Entscheidungsspielräume und sind in eine strenge Hierarchie eingebunden. Klassische Arbeitsgruppen, die funktions- und arbeitsteilig organisiert sind, werden ebenfalls dieser Kategorie zugeordnet. Die Gruppenmitglieder sind einem Vorgesetzten unterstellt und arbeiten nach seinen Anweisungen. Alle
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Arbeitswissenschaft
planenden, steuernden und kontrollierenden Funktionen erfolgen in zentralisierten Bereichen. Da die Gruppenmitglieder weitgehend unabhängige Einzelaufgaben ausführen, erfüllen klassische Arbeitsgruppen die Minimalanforderungen an Gruppenarbeit nicht (ANTONI 2000). Primärorganisation
Sekundärorganisation
Teilautonome Arbeitsgruppen
Lean-Gruppen/ Fertigungsteams
Qualitätszirkel
Gesundheitszirkel
Inselkonzepte
(Klassische Arbeitsgruppen)
KVP-Gruppen
Lernkonzepte
Vertriebsinsel Planungsinsel Fertigungsinsel Montageinsel Serviceinsel
Lerninsel Lernstatt
Projektteams Concurrent Engineering Teams
Entwicklungsteams
Klassische Projektgruppen
Management-/Entscheidungsteams Abb. 5.1: Gruppenarbeitsformen und ihre organisatorische Verankerung
In Sekundärorganisationen werden typischerweise neue, komplexe Aufgaben bearbeitet, die innerhalb der Primärorganisation nicht effizient, nicht effektiv oder schnell genug erbracht werden können. Auch Aufgaben zur Pflege, Weiterentwicklung, Optimierung oder Regulation der Gesamtorganisation bzw. einzelner Funktionsbereiche werden häufig in Sekundärorganisationen geführt, die die Primärorganisation ergänzen. Beispiele für Gruppenarbeitsformen der zweiten Kategorie sind: x Qualitätszirkel und KVP-Gruppen (siehe Kontinuierlicher Verbesserungsprozess „KVP“ in Kap. 4.3.4.2), die sich mit der Lösung von qualitätsbezogenen Problemen bzw. mit der Suche nach technischen oder prozessbezogenen Verbesserungspotenzialen befassen (siehe Kap. 5.8), x Gesundheitszirkel, in denen sich die Mitglieder mit Fragen der Gesundheit und der ergonomischen Arbeits(platz)gestaltung befassen (siehe betriebliche Gesundheitsförderung in Kap. 8.2), x Lerninseln, in denen bspw. Arbeitspersonen oder Auszubildende eines Bereichs als Lernende gemeinsam „reale“ (Teil-)Aufträge – unterstützt durch einen sog. Lerninselbegleiter - bearbeiten (siehe DEHNBOSTEL 2007, dort werden auch andere Lernformen, wie z.B. die Lernstatt, beschrieben) sowie insbesondere x Projektgruppen/-teams (siehe DIN 69901, siehe Kap. 4.2.5). Projektgruppen werden temporär zur Bearbeitung eher komplexer Aufgabenstellungen gebildet und sind meist aus Experten verschiedener Arbeitsbereiche zusammenge-
Gruppen- und Teamarbeit
503
setzt. Die zeitliche Dauer der Zusammenarbeit ist durch die Erreichung vorgegebener Ziele oder Zeitspannen befristet. Bei der Einordnung der Projektgruppen werden Unschärfen der vorgenommenen Kategorisierung deutlich. Projektgruppen können sowohl in einer parallelen Organisation geführt werden als auch – wie bspw. bei der reinen Projektorganisation (siehe Kap. 4.2.5) – als eigenständiger Projektbereich in die Primärorganisation integriert sein (siehe auch ANTONI 1994, 1995). Mit der Abkehr von hierarchie- und funktionsorientierten betrieblichen Organisationsmodellen werden die Übergänge zwischen den Kategorien fließender. Zu denken ist an Projektteams, die über eine Matrixorganisation in die Gesamtorganisation eingegliedert sind. Als Beispiel können Concurrent Engineering-Teams genannt werden, in denen Mitarbeiter aus unterschiedlichen Funktionsbereichen über einen längeren Zeitraum weitgehend eigenverantwortlich die Entwicklung eines bestimmten Produktes und die Gestaltung der zugehörigen Erstellungsprozesse übernehmen. Die Aufgabenstellung wird als Projekt definiert (Kap. 5.6). In der wissenschaftlichen Literatur finden sich weitere Formen von Gruppenarbeit, von denen angenommen wird, dass sie aufgrund einzelner, besonders charakteristischer Merkmale spezifische Analyseinstrumente und Gestaltungskonzepte oder zumindest eine explizite Berücksichtigung dieser Merkmale erfordern: x Managementteams, in denen die Mitglieder gemeinsam die Verantwortung für die Leistung eines Geschäfts- oder Unternehmensbereiches (oder der Gesamtorganisation: sog. Top-Managementteams) tragen. Managementteams entwickeln Strategien, treffen gemeinsam Entscheidungen, koordinieren und lenken die Wertschöpfungsprozesse in den ihnen unterstellten Einheiten (siehe COHEN u. BAILEY 1997). Managementteams und andere Formen von Entscheidungsteams (z.B. Lenkungsteams) können sowohl eine zeitlich befristete als auch eine kontinuierliche Zusammenarbeit vorsehen (siehe GEMÜNDEN u. HÖGL 2005). x Als „virtuelle“ Teams (die schließlich ebenfalls real sind) werden nach KONRADT u. HERTEL (2002) „flexible Arbeitsgruppen standortverteilter und ortsunabhängiger Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bezeichnet, die auf der Grundlage von gemeinsamen Zielen bzw. Arbeitsaufträgen ergebnisorientiert geschaffen werden und informationstechnisch vernetzt sind“. Kooperation und Kommunikation erfolgen unter Nutzung von analogen oder digitalen Medien (siehe LUCZAK u. EVERSHEIM 1999; LUCZAK et al. 2001; SPRINGER 2001). Virtuelle Teams können als spezielle Form von Projektgruppen der 2. Kategorie zugeordnet werden. Zur „groben“ Ordnung von Gruppenarbeitsformen respektive Gruppentypen liegen weitere ein- und mehrdimensionale Klassifizierungsansätze und Typologien vor, die allerdings alle angesichts der Komplexität und Unschärfe des Betrachtungsgegenstandes gewisse Schwächen aufweisen (siehe z.B. ANTONI 1994; FRIELING u. FREIBOTH 1997; GEMÜNDEN u. HÖGL 2005; KATZENBACH u. SMITH 1993; MCGRATH 1984; MCGRATH et al. 1996; MOHRMAN et al. 1995;
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Arbeitswissenschaft
SCHUMANN u. GERST 1997; STEINER 1972; STÜRZL 1992; SUNDSTROM et al. 1990 sowie Überblicke in WEGGE 2004 sowie NERDINGER et al. 2008, einen diesbzgl. bestehenden Forschungsbedarf konstatieren auch NIELSEN et al., 2005). In der obigen
Zusammenstellung finden sich die in anderen Quellen identifizierten bzw. differenzierten Gruppentypen, z.T. mit anderer Namensgebung, wieder (z.B. ANTONI 2000; COHEN u. BAILEY 1997; GEMÜNDEN u. HÖGL 2005; SUNDSTROM et al. 1990; WEGGE 2004). Ohne den Anspruch einer Typologisierung zu erheben, liefern LUCZAK u. WIMMER (2000) einen Ansatz zur Differenzierung von kooperativen Arbeitsfor-
men. In Anlehnung daran können Gruppenarbeitsformen auf einer höheren Abstraktionsebene aus einer zweckbezogenen Sichtweise hinsichtlich der primären Zielsetzung und des verfolgten Integrationsansatzes abgegrenzt werden sowie aus einer funktionsbezogenen Sichtweise hinsichtlich der durch sie abgedeckten betrieblichen Funktionen und der Funktionen der Mitglieder. In Tabelle 5.1 sind exemplarisch die Gruppenarbeitsformen charakterisiert, die an späterer Stelle ausführlich behandelt werden. Die Auswahl deckt dabei sowohl mehrere Funktionsbereiche von Unternehmen als auch verschiedene Arten der organisatorischen Verankerung ab. Tabelle 5.1: Exemplarische Beschreibung ausgewählter Gruppenarbeitsformen (in Anlehnung an LUCZAK u. WIMMER 2000) Gruppenarbeitsformen Teilautonome Arbeitsgruppe (Produktion)
Zweckbezug Zielpriorität Integrationsansatz (ökonomisch) Produktivitätser- „Produkt als Einheit“; höhung Integration produktions-/prozessnaher Funktionen
Lean-Gruppe
Kontinuierlicher Produktionsfluss
Prozessabschnitt; begrenzte Integration prozessnaher Funktionen Parallelisierung und Integration der Produkt- und Prozessgestaltung Integration von Angebots- und Auftragsplanung
Concurrent EngineeringTeam
Verkürzung der Produktentwicklungszeit
Planungsinsel
Verkürzung der Auftragsbearbeitungszeit
Qualitätszirkel/ KVP-Gruppe
Verbesserung Bereichs- oder der Produkt- und themenbezogene Prozessqualität Integration von Experten
Funktionsbezug Betriebliche Funktionen Funktionen der Mitglieder Produktion und Maschineneinrichtung, produktionsnahe Maschinenführung, Dienstleistungen Produktionsfeinplanung, Qualitätssicherung, Instandhaltung Produktion Maschinenführung, Störungsidentifikation und ggf. -behebung Produkt- und Prozessentwicklung Auftragsplanung und –steuerung (indirekte Bereiche) Produktion
Vertrieb, Einkauf, Entwicklung/Konstruktion, Arbeitsplanung, Produktionsplanung Vertrieb, Einkauf, Arbeitsplanung, Auftragssteuerung, Logistik, Konstruktion Produktionsmitarbeiter als Experten, Führungskräfte, Moderatoren, ggf. Experten anderer Funktionsbereiche
Gruppen- und Teamarbeit
5.4
505
Grundlagen der Arbeitsgestaltung für Gruppenarbeit
Die Arbeitsteilung gehört zum Gegenstandsbereich der organisatorischen Arbeitsgestaltung. Die Zerlegung von Aufgaben bzw. Aktivitäten und ihre anschließende Synthese werden in Kapitel 4 zur Arbeits- und Betriebsorganisation eher formalistisch, im Sinne eines systematischen Vorgehens beschrieben – weitgehend losgelöst von den späteren Aufgabenträgern. Eine Optimierung von Arbeitsprozessen und –strukturen allein unter ökonomischen und technischen, insbesondere zeitlichen Aspekten hieße wesentliche Erkenntnisse der Arbeitswissenschaft, insbesondere der Arbeits- und Organisationspsychologie auszublenden. In den folgenden Abschnitten werden wesentliche Grundlagen der Arbeitsgestaltung dargelegt, die für die Gestaltung von Gruppenarbeit Relevanz besitzen. In Kapitel 1.5.3.1 wurden bereits drei zentrale Prinzipien der Arbeitsgestaltung (ULICH 1978, 2005) genannt und erläutert: (1) Das Prinzip der flexiblen Arbeitsgestaltung (1) Das Prinzip der differentiellen Arbeitsgestaltung (2) Das Prinzip der dynamischen Arbeitsgestaltung . Die Anwendung der genannten Prinzipien führt keineswegs „automatisch“ zur Einführung von Gruppenarbeit. Sie beziehen sich generell auf die Gestaltung von Arbeit und müssen deshalb auch bei der Entwicklung von Gruppenarbeitskonzepten Berücksichtigung finden. Festzustellen ist allerdings, dass mit der Einführung von Gruppenarbeitsformen, welche den Arbeitsgruppen entsprechende Freiheitsgrade zugestehen, diese Prinzipien bzw. die zugrunde liegenden Anforderungen sehr gut umgesetzt bzw. erfüllt werden können. Im Zusammenhang mit der zunehmenden Forderung nach einer Standardisierung von Arbeitsprozessen bei sehr kurzen Taktzeiten (z.B. in der Endmontage von Kraftfahrzeugen) gewinnen die zugrunde liegenden empirischen Studien eine besondere Bedeutung (siehe auch BUCH 2006). Als ein weiteres Prinzip kann die partizipative Arbeitsgestaltung (DUELL 1983) benannt werden. Sie sieht vor, dass die Arbeitspersonen an Planungs- und Entscheidungsprozessen beteiligt werden. Wesentliche Ziele bestehen darin, das Expertenwissen der Beschäftigten (im Sinne der genauen Kenntnis der Arbeitssysteme etc.) einzubeziehen und zu besseren sowie „akzeptierteren“ Gestaltungslösungen zu gelangen. Durch die Beteiligung erhalten die Arbeitspersonen darüber hinaus die Möglichkeit, ihr Expertentum zu erkennen und sich in der Einbringung zu trainieren (ebd.; ein Überblick zur aktuellen Partizipationsforschung im Zusammenhang mit der Führung von Arbeitsgruppen findet sich in WEGGE 2004). Der Ansatz der partizipativen Arbeitsgestaltung wird im Zusammenhang mit der Einführung von industrieller Gruppenarbeit als besonders wichtiger Erfolgsfaktor betrachtet und hat in entsprechende Einführungsmodelle Eingang gefunden (Kap. 5.9).
506
5.4.1
Arbeitswissenschaft
Klassische Konzepte der Arbeitsstrukturierung
In der arbeitswissenschaftlichen Literatur findet sich der Begriff der teilautonomen Gruppenarbeit häufig unter den Maßnahmen und Konzepten der Arbeitsstrukturierung wieder (siehe HEEG 1988; LUCZAK 1993a; GRAP 1992; VOß et al. 2003). Nach GRAP (1992) umfasst die Arbeitsstrukturierung alle Maßnahmen zur Veränderung der Arbeitsorganisation und ist dem funktionellen Organisationsbegriff zuzuordnen (siehe GRAP 1992 sowie Kap. 4.1.1). Nach diesem Begriffsverständnis sind die Ziele und Gegenstandsbereiche der Arbeitsstrukturierung mit denen der Arbeitsorganisation (siehe Kap. 4.1) identisch. Historisch bedingt ist der Begriff der Arbeitsstrukturierung – im Vergleich zu den neutralen Begriffen der Arbeitsorganisation oder der organisatorischen Arbeitsgestaltung – jedoch enger mit der Überwindung tayloristischer, stark funktionsteiliger Arbeitsstrukturen unter besonderer Betonung der Kriterien menschengerechter Arbeit verbunden (siehe zur Humanisierung der Arbeit z.B. LATTMANN 1972; ROHMERT u. WEG 1976 sowie LUCZAK et al. 2006). Ein gewisser Fokus auf die korrigierende, also nachträglich „humanisierende“ Arbeitsgestaltung kommt in Definitionen, wie der folgenden, zum Ausdruck: „Gestaltung von Arbeitsstrukturen meint die Veränderung technischer, organisatorischer und sozialer Arbeitsbedingungen, mit dem Ziel, diese an die Leistungsvoraussetzungen der arbeitenden Menschen anzupassen, sodass sie der Entwicklung der Persönlichkeit und der Gesundheit der arbeitenden Menschen im Rahmen effizienter und produktiver Arbeitsprozesse dienen“ (DUNCKEL u. VOLPERT 1997 im Original enthaltene Kapitelverweise wurden weggelassen; RÜHL 1976). Zu den klassischen Arbeitsstrukturierungsmaßnahmen zählen Job Enlargement, Job Enrichment und Job Rotation (siehe HERZBERG 1959, 1968; RÜHL 1976; ROHMERT u. WEG 1976; ALIOTH 1980; HEEG 1988; GRAP 1992; LUCZAK u. RUHNAU 1994; WEINERT 1998; STAEHLE 1999; BECKER 2005; ULICH 2005; NERDINGER et al. 2008). Ausgangspunkt dieser Konzepte sind Arbeitsaufgaben,
die aufgrund einer hochgradigen Arbeitsteilung sehr kleine und streng abgegrenzte Arbeitsinhalte umfassen und den Beschäftigten kaum Freiheitsgrade bei der Aufgabenausführung bieten. Entsprechend eintönige und unvollständige Tätigkeiten (siehe Kap. 5.4.2.1) führen zu einseitiger Belastung, Monotonie, geringer Motivation und Dequalifizierung. Bei dem Konzept des Job Enlargement (horizontale Arbeitserweiterung) werden mehrere strukturell gleichartige, miteinander in Beziehung stehende Arbeitsfunktionen oder Arbeitsaufgaben zu einer Gesamtaufgabe zusammengefasst. Die Teilaufgaben liegen auf gleichem Qualifikationsniveau. Durch eine solche „quantitative“ oder horizontale Arbeitserweiterung kann einseitige physische Belastung vermieden werden (z.B. durch Wechsel zwischen sitzender und stehender Tätigkeit). Wechselnde mentale Anforderungen reduzieren die Gefahr des Auftretens von Ermüdung bzw. ermüdungsähnlichen Zuständen, wie Monotonie (siehe auch DIN EN ISO 10075-1 zur „psychischen Arbeitsbelastung“). Da die Beschäftigten innerhalb ihrer Tätigkeit meist nur zwischen wenig bedeutsamen
Gruppen- und Teamarbeit
507
Teiltätigkeiten mit geringen Anforderungen wechseln können, führt dieses Konzept allerdings nicht zu einer nachhaltigen Motivationssteigerung. Das Konzept des Job Enrichment (Arbeitsbereicherung oder vertikale Arbeitserweiterung) beinhaltet eine Erweiterung des Arbeitsinhalts durch die Hinzunahme von strukturell verschiedenen Aufgaben, die höhere Anforderungen an die Arbeitspersonen stellen. Dazu werden bspw. ausführende, planende, steuernde und kontrollierende Aufgaben zu vollständigen, ganzheitlichen Aufgaben integriert (Kap. 5.4.2.1). Die Arbeitspersonen erhalten auf diese Weise ein höheres Ausmaß an Autonomie. Zusätzlich zu den positiven Wirkungen der rein horizontalen Arbeitserweiterung, die hier in größerem Ausmaß zu erwarten sind, gelten als positive Effekte der „qualitativen“, vertikalen Arbeitserweiterung insbesondere eine höhere Arbeitsmotivation und eine bessere Nutzung der Leistungspotenziale der Beschäftigten, die in der Folge zu Produktivitätssteigerungen führen. Job Enrichment bedeutet nicht nur eine Änderung der Ablauf-, sondern auch der Aufbauorganisation. Die Ausführung von Aufgaben mit signifikant höheren Anforderungen setzt außerdem die Durchführung von Qualifizierungsmaßnahmen voraus. Bei Job Rotation (systematischer Arbeitsplatzwechsel) bleiben die Arbeitsinhalte des einzelnen Arbeitsplatzes unverändert. Die Arbeitserweiterung für die einzelne Arbeitsperson resultiert aus dem systematisch herbeigeführten Wechsel zwischen mehreren Arbeitsplätzen. Art und Ausmaß der zu erzielenden positiven Effekte hängen wesentlich vom Anforderungsprofil der in die Rotation eingeschlossenen Arbeitstätigkeiten oder Positionen ab (vertikaler oder horizontaler Positionenwechsel; in älteren Konzeptbeschreibungen wird ausschließlich der horizontale Wechsel zwischen anforderungsähnlichen Arbeitsplätzen betrachtet). In einer neuen Studie in Montagebereichen der Automobilindustrie konnten WEICHEL et al. (2010) positive Zusammenhänge zwischen der Anzahl der in die Rotation integrierten Arbeitsplätze und der subjektiven Beurteilung der Arbeitsleistung und der Gesundheit der Arbeitspersonen nachweisen. Ein häufigerer Arbeitsplatzwechsel korrelierte außerdem mit objektiv niedrigeren Fehlzeiten. Den potenziellen Vorteilen von Job Rotation im Hinblick auf Anforderungsvielfalt, Belastungswechsel, Kompetenzentwicklung, Arbeitsmotivation und Personalflexibilität stehen gegebenfalls erhöhte Aufwände für die Koordination und die Qualifizierung gegenüber. Bei vertikalem Posititionswechsel muss u.U. mit Motivationsverlusten gerechnet werden, z.B. auf Seiten der Arbeitspersonen, denen die anspruchs- oder verantwortungsvolleren Aufgaben zuvor dauerhaft zugeordnet waren. Die genannten Arbeitsstrukturierungsmaßnahmen sind auf die Erweiterung der Aufgaben des Individuums gerichtet. Im Konzept der teilautonomen Gruppenarbeit werden die Grundgedanken des Job Enlargement, des Job Enrichment und des Job Rotation im Sinne einer kollektiven Aufgabenerweiterung aufgegriffen und auf die Gruppensituation übertragen (ALIOTH 1980; ANTONI 1994; LUCZAK et al. 2006). Dabei werden unvollständige, anspruchslose Aufgaben zu vollständigen, geistig anregenden, motivierenden Gruppenaufgaben zusammengefasst. Damit ist das Konzept der teilautonomen Gruppenarbeit allerdings keinesfalls hinlänglich
508
Arbeitswissenschaft
beschrieben. Um Wiederholungen zu vermeiden, wird hier auf Kap. 5.5 verwiesen. Dort wird das Konzept der teilautonomen Gruppenarbeit im Kontext industrieller Produktion behandelt. Ein Beispiel für teilautonome Gruppenarbeit in dienstleistenden Bereichen wird in Kap. 5.7 beschrieben. 5.4.2
Anforderungen an die Gestaltung
Die arbeitswissenschaftliche Analyse, Bewertung und Gestaltung von Gruppenarbeit setzt die Formulierung und Operationalisierung von Kriterien im Sinne von Anforderungen voraus. Aus arbeitswissenschaftlicher Sicht sind bei der Formulierung von Anforderungen an Gruppen- und Teamarbeit sowohl ökonomische Kriterien als auch humane Kriterien zu berücksichtigen. Die durchaus unterschiedlichen Zielsetzungen einzelner gruppenbasierter Arbeitsorganisationskonzepte werden in den späteren Abschnitten detailliert dargestellt. Das Konstrukt der „Aufgabe“ wird in der Arbeitswissenschaft als Schnittstelle zwischen den technischen und organisatorischen Anforderungen und den menschlichen Fähigkeiten betrachtet (VOLPERT 1987). Die Gestaltung von Aufgaben bestimmt maßgeblich den Arbeitsinhalt und den Arbeitsablauf. Insofern kommt ihr „eine Schlüsselrolle für die Effektivität, die Belastung und die Persönlichkeitsentwicklung zu“ (DUNCKEL u. VOLPERT 1997; siehe auch „Primat der Aufgabe“ ULICH 2005). Die Art und Weise, in der Aufgaben kombiniert werden, die Freiheitsgrade, die Mitarbeiter und Führungskräfte erhalten und das Vorhandensein oder Fehlen von Arbeitsmitteln oder organisatorischen Unterstützungssystemen in einem Unternehmen haben einen direkten Einfluss auf Arbeitsmotivation und – leistung (LUCZAK et al. 2006; siehe Kap. 5.4.3). Gestaltungskriterien leiten sich aus den Beurteilungsebenen menschlicher Arbeit ab (siehe Kap. 1.4). Angebotene Arbeitsaufgaben sollen so gestaltet sein, dass sie ausführbar sind, schädigungslos und beeinträchtigungsfrei zu erledigen sind sowie Möglichkeiten zur persönlichen Entwicklung und Entfaltung bieten. Entsprechend gestaltete Aufgaben gelten als gesundheits- und lernfördernd – und dadurch motivierend und effizient bzw. produktiv (HACKER 1994; LUCZAK u. SCHMIDT 2009; siehe auch PATTERSON et al. 2004). 5.4.2.1
VollständigkeitĆ
Im Konzept der vollständigen Tätigkeit werden zentrale Merkmale benannt, die die Gestaltung von Aufgaben nach den obigen Kriterien erlauben (HACKER 2005). Danach kann eine Tätigkeit als sequentiell vollständig gelten, wenn sie folgende Funktionen umfasst: x Vorbereitungsfunktionen (das Aufstellen von Zielen, das Entwickeln von Vorgehensweisen, das Auswählen zweckmäßiger Vorgehensalternativen), x Ausführungsfunktionen, x Organisationsfunktionen (das Abstimmen der Aufgaben mit anderen Arbeitspersonen) und
Gruppen- und Teamarbeit
509
x Kontrollfunktionen, durch die sich die Arbeitsperson Rückmeldung über die Zielerreichung verschaffen kann. Aufgaben sind hierarchisch vollständig, indem sie Anforderungen auf verschiedenen, einander abwechselnden Ebenen der Tätigkeitsregulation stellen, also sowohl bewegungsregulatorische als auch intellektuelle Anforderungen (ebd.; siehe Kap. 1.5.1.3). Auch in internationalen Normen (DIN EN 29241-2; DIN EN 614-2) werden vollständige (ganzheitliche) Arbeitsaufgaben gefordert (HACKER 2005). ULICH (1998) spiegelt die Anforderungen an vollständige Aufgaben an den vorherrschenden betrieblichen Bedingungen und kommt zu dem Schluss, dass das Erleben ganzheitlicher Arbeit häufig nur möglich ist, wenn wechselseitig voneinander abhängige Teilaufgaben zu vollständigen Gruppenaufgaben zusammengefasst werden (siehe auch WILSON u. TRIST 1951 sowie RICE 1958). Neuere Studien im Forschungsgebiet „Lernen im Prozess der Arbeit“ stützen die Forderung nach Arbeitsaufgaben/-strukturen, die zur Entwicklung der Kompetenz und der Persönlichkeit von Arbeitspersonen in Organisationen beitragen (WARDANJAN et al. 2000; SONNTAG et al. 2005; SPIEß et al. 2007). BERGMANN et al. (2004) untersuchten bspw. den Zusammenhang zwischen der Lernhaltigkeit der Arbeitssituation und der Kompetenz Erwerbstätiger und kamen nach Auswertung ihrer empirischen Studien in unterschiedlichen Branchen u.A. zu folgendem Ergebnis: Arbeitende, deren Arbeitsaufgaben vielfältiger sind, die mehr Entscheidungsspielräume enthalten und die sich durch transparente Informationsflüsse auszeichnen, sodass die Einordnung der eigenen Arbeitsaufgabe in die Arbeitsgruppe gut durchschaubar ist und Informationen gut interpretiert werden können, zeigen höhere Ausprägungen bei verschiedenen Aspekten arbeitsorientierter Lernmotivation und schätzen ihr Wissen und ihre Fähigkeiten höher ein als Arbeitende, deren Arbeitsaufgaben die genannten Merkmale nicht aufweisen (ebd.). „Lernen in Tätigkeiten mit Lernpotenzialen kann nicht nur das Hinzulernen neuer Kenntnisse, Fertigkeiten, Fähigkeiten oder Einstellungen ermöglichen, sondern auch das Erhalten dieser Leistungsvoraussetzungen gegen ihren alterskorrelierten Verlust“ (HACKER 2004). 5.4.2.2
TätigkeitsspielraumĆundĆAutonomieĆ
In den Minimalanforderungen von Gruppenarbeit (siehe Kap. 5.1.1) ist die Forderung nach zeitlichen und inhaltlichen Tätigkeitsspielräumen enthalten. HACKER (2005) definiert den Tätigkeitsspielraum bzw. die Freiheitsgrade als Möglichkeiten zu unterschiedlichem auftragsbezogenen Handeln, welche wiederum zwingend Möglichkeiten zu selbständigen Entscheidungen einschließen. Freiheitsgrade für selbständige Zielsetzungen betreffen nur Entscheidungsmöglichkeiten mit sinnvollen für die eigene Tätigkeit bedeutsamen Vorgehensalternativen. Er unterscheidet fünf Stufen zur Beurteilung der Freiheitsgrade (ebd.): (1) Keine Freiheitsgrade für selbständige Zielstellungen oder Vorannahmen
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Arbeitswissenschaft
(2) Freiheitsgrade für Mengenvornahmen je Zeiteinheit (Tempo), allgemeiner für die zeitliche Selbstorganisation (zeitliche Freiheitsgrade) (3) Freiheitsgrade zusätzlich für Festlegungen zur Abfolge von Teiltätigkeiten (4) Freiheitsgrade zusätzlich für Festlegungen über Vorgehensweisen und/oder einzusetzende Mittel (5) Freiheitsgrade zusätzlich für Aufgaben-/Ergebniseigenschaften. Der Tätigkeitsspielraum ist nach ULICH (1984, 1988, 2005) ein mehrdimensionales Konstrukt, das sich aus dem Handlungs-, dem Gestaltungs- und dem Entscheidungsspielraum zusammensetzt. Den Handlungsspielraum definiert ULICH (2005) mit Bezug auf HACKER (1978) als die Summe der Freiheitsgrade, d.h. der Möglichkeiten zum unterschiedlichen aufgabenbezogenen Handeln in Bezug auf Verfahrenswahl, Mitteleinsatz und zeitliche Organisation von Aufgabenbestandteilen (Ausmaß an möglicher Flexibilität bei der Ausführung von Teiltätigkeiten). Der Gestaltungsspielraum wird durch die Möglichkeit zur selbständigen Gestaltung von Vorgehensweisen nach eigenen Zielsetzungen bestimmt (Ausmaß an Variabilität von Teiltätigkeiten). Der Entscheidungsspielraum kennzeichnet das Ausmaß an Entscheidungskompetenz (Autonomie) einer Person oder einer Gruppe von Personen zur Festlegung bzw. Abgrenzung von Teiltätigkeiten (ULICH 2005). Zur Beurteilung der kollektiven Autonomie (in Bezug auf den Umfang) definiert WEBER (1999) sieben gemeinsame Entscheidungsbereiche von teilautonomen Gruppen: (1) Gruppenübergreifende Produktionsplanung (2) Gruppeninterne Produktionsfeinplanung und –steuerung (3) Arbeitsverteilung und Personaleinsatzplanungen (4) gemeinsame Auftragsdurchführung (5) Lösungsvorschläge für technische-organisatorische Probleme entwickeln (6) Qualifizierungsplanung und Personalentwicklung (7) Entscheidungen zur Selbstverwaltung (z.B. Wahl des Gruppensprechers). Zur Beurteilung des Niveaus der gemeinsamen Entscheidungsprozesse wird das für die Bewertung kollektiver Regulationserfordernisse angepasste 10-StufenModell von LEITNER et al. (1993) eingesetzt (VERA-KHR, siehe WEBER 1997). Nach GROTE (1997) sind Autonomie (als das selbstbestimmte Setzen von Zielen und von Regeln für die Zielerreichung; vereinfachend als Freiheit von externer Kontrolle) und Kontrolle (als die Beeinflussung von Situationen zur Erreichung selbst- oder fremdbestimmter Ziele) zwei zentrale Zielkriterien menschengerechter Arbeit. Als Voraussetzungen für die sinnvolle Nutzung von Kontrolle benennt sie die Durchschaubarkeit und die Vorhersehbarkeit der Situation. Wenn Ziele selbst gesetzt sind, ist autonome Kontrolle (Selbstregulation) gegeben. In ihrem Rahmenkonzept zur individuellen und kollektiven Autonomie unterscheidet sie zwei Autonomiestufen (Abb 5.2). Sie differenziert außerdem nach dem „Ursprung“ der Autonomie: Autonomie kann entweder aus dem Arbeitsinhalt resultieren oder durch die Beteiligung an Entscheidungen.
Gruppen- und Teamarbeit
Bereiche der Autonomie
511
Autonomie erster Ordnung
Autonomie höherer Ordnung
Arbeitsinhalt
Kollektive vollständige Arbeitstätigkeit
Kollektive Entscheidungskompetenz hinsichtlich N t Nutzung und d Ei Einschränkung hä k der aus den Handlungsanforderungen erwachsenden individuellen/kollektiven Regulationsmöglichkeiten
Arbeitsbedingungen und organisationale Einbindung
Kollektive Entscheidungskompetenz hinsichtlich
Kollektive Entscheidungskompetenz hinsichtlich Nutzung und Einschränkung der individuellen/kollektiven Autonomie bei Koordination und Rand-/Rahmenbedingungen
• auftragsbezogener Koordination • technisch-organisatorischer Randbedingungen • übergeordneter organisatioorganisatio naler Rahmenbedingungen
Abb 5.2: Rahmenkonzept für kollektive Autonomie (Auszug aus GROTE 1997)
5.4.2.3
MotivationspsychologischeĆKriterienĆ
Für die Gestaltung von Gruppenarbeit werden darüber hinaus motivationspsychologisch begründete Kriterien herangezogen (zum Zusammenhang von Arbeitsgestaltung und Motivation siehe ausführlich LUCZAK et al. 2006). Die sog. „Prozesstheorien“ (z.B. VROOM 1964; LOCKE 1968; PORTER u. LAWLER 1968; siehe hierzu Kap. 2.4 sowie WEINERT 1998) weisen stärker auf den Weg zur Einführung und die Stabilisierung von Gruppenarbeit hin (siehe Kap. 5.4.3 und Kap. 5.9). Die sog. „Inhalt/Ursache-Motivationstheorien“ (z.B. HERZBERG et al. 1959; MCGREGOR 1960; ALDERFER 1972) liefern primär Hinweise für die Arbeitsgestaltung. Die Theorien benennen zentrale Bedürfnisse des Menschen, wie z.B. die Selbstverwirklichung (MASLOW 1943) und das Bedürfnis nach Autonomie (als wahrgenommene Selbstbestimmtheit des eigenen Handelns, DECI u. RYAN 1985; GAGNÉ u. DECI 2005). Aus der Selbstbestimmungstheorie lassen sich Gestaltungsempfehlungen ableiten, die über die Befriedigung der psychischen Grundbedürfnisse zu einer höheren intrinsischen Motivation führen. So kann bspw. das soziale Umfeld am Arbeitsplatz zu einer höheren Leistung und zu mehr Wohlbefinden beitragen, indem es Autonomie und Kompetenzerleben der Mitarbeiter fördert (GAGNÉ u. DECI 2005). Eine Auswertung der klassischen Motivationstheorien nimmt SCHUMANN (1995) im Zusammenhang mit der Entwicklung seines Systems zur modellbasierten Gruppengestaltung vor und formuliert folgende Anforderungen an die Gestaltung von Gruppenarbeit: x Anpassbare bzw. erweiterbare Arbeitsinhalte
512
x x x x x x x x
Arbeitswissenschaft
anpassbare bzw. erweiterbare Arbeitsumfänge Zielvereinbarungen, Beteiligung an Zieldefinitionen anspruchsvolle Ziele, Leistungsanforderungen Übernahme von Verantwortung Rückmeldung von Ergebnisleistungen Akzeptanz der Tätigkeit Akzeptanz der Leistungsbewertungsgrößen Beteiligung am Gestaltungsprozess.
WEGGE (2004) wertet die neuere Zielsetzungsforschung aus und findet insbesondere für individuelle Leistungssituationen die Grundaussage der Zielsetzungstheorie von LOCKE u. LATHAM (2002) bestätigt: schwierige, spezifische Ziele fördern die Leistung. Er formuliert folgende Anforderungen, die sich auf die Führung von Arbeitsgruppen beziehen (siehe Kap. 5.4.3):
x Anregung der Bildung schwieriger, spezifischer Gruppenziele (Ziele können nicht gesetzt oder verordnet werden) x günstige Bedingungen für Zielerreichung schaffen (z.B. hohe Zielbindung, Verfügbarkeit von Leistungsrückmeldungen). WEGGE (2004) betont allerdings, dass die Übertragung der Zielsetzungstheorie auf Gruppen aus wissenschaftlicher Sicht noch nicht als abgeschlossen gelten kann. 5.4.2.4
KerndimensionenĆderĆArbeitstätigkeitĆ
Wesentliche Hinweise auf Gestaltungsziele für Gruppenarbeit liefert das von HACKMAN u. OLDHAM (1975, 1976) entwickelte Job Characteristics Model (JCM), welches einen Zusammenhang zwischen Aspekten der Arbeitsaufgabe (sog. Kerndimensionen) und personalen Auswirkungen, wie der Arbeitsmotivation und der Arbeitszufriedenheit, herstellt (siehe Abb. 5.3). Danach ergeben sich hohe Arbeitsmotivation, hohe Arbeitsleistung, hohe Arbeitszufriedenheit sowie geringe Fluktuation und Fehlzeiten durch die erlebte Bedeutsamkeit der Arbeit, die übernommene Verantwortung und die Kenntnisse über das Arbeitsergebnis (HACKMAN u. OLDHAM 1975). Für das Erleben von Bedeutsamkeit ist es notwendig, dass der Arbeitsplatz Anforderungswechsel bietet, eine Identifikation mit den Aufgaben erfolgen kann und die Aufgaben als wichtig eingestuft werden. Verantwortung wird erlebbar, wenn die Arbeitsaufgabe Autonomie ermöglicht. Kenntnisse über Qualität und Quantität des Arbeitsergebnisses werden durch Rückmeldungen durch die Arbeit selbst vermittelt, bspw. infolge von arbeitsplatzspezifischen, geschlossenen „Regelkreisen“. Den durch die Kerndimensionen postulierten Anforderungen an eine motivationsfördernde Aufgabengestaltung kann mit Gruppenarbeitskonzepten sehr gut entsprochen werden (KLEINBECK 1997). Eine besondere Bedeutung kommt dabei dem Bedürfnis nach persönlicher Entfaltung (Moderatorvariable) zu, da diese ein Bindeglied zwischen Arbeitsplatzmerkmalen und deren Auswirkungen darstellt
Gruppen- und Teamarbeit
513
(siehe hierzu auch GRAP 1992). Voraussetzung für die positive Ergebnisausprägung ist die Akzeptanz der Merkmale, was sowohl für einen beteiligungsorientierten Ansatz zur Einführung als auch für die Nutzung von Zielvereinbarungen im Rahmen von Gruppenarbeit spricht (SCHUMANN 1995). HACKMAN u. OLDHAM (1980) haben das Modell später um Variablen erweitert (siehe ausführliche Darstellung in KAMRAD 2005). Insbesondere wurden als Moderatorvariablen die Qualifikation der Arbeitspersonen (Wissen und Fähigkeiten) sowie die sog. „Kontextsatisfaktoren“ Arbeitsplatzsicherheit, Bezahlung, soziales Klima und Vorgesetztenverhalten ergänzt. Kerndimensionen / Aufgabenmerkmale
Kritische, psychologische Erlebniszustände
Anforderungsvielfalt Aufgabenvollständigkeit Aufgabenbedeutsamkeit
Erfahrene Sinnhaftigkeit der Arbeit
Autonomie
Erfahrene Verantwortung für Arbeitsergebnisse
Rückmeldung
Kenntnis der Arbeitsergebnisse
Auswirkungen der Arbeit Hohe intrinsische Arbeitsmotivation Hohe Qualität der Arbeitsleistung Hohe Zufriedenheit mit der Arbeit Niedrige Abwesenheit und Fluktuation
Moderierende Variable Bedürfnis nach persönlicher Entfaltung
Abb. 5.3: Job Characteristics Model nach HACKMAN u. OLDHAM (1976)
Es sei darauf hingewiesen, dass das Modell von Hackman nicht unumstritten ist. Die Kritik bezieht sich u.A. auf die ursprüngliche Berechnungsformel für das Motivationspotenzial einer Tätigkeit und auf die im Modell enthaltenen Mediatoren (siehe z.B. FRIED u. FERRIS 1987; SIMS et al. 1976). In Meta-Analysen konnte zum Teil gezeigt werden, dass die Kerndimensionen nicht mediiert werden, sondern direkt auf die Ergebnisse wirken (siehe FRIED u. FERRIS 1987; ALGERA 1990). Hinsichtlich der moderierenden Wirkung der Variable „Bedürfnis nach persönlicher Entfaltung“ ist die Befundlage inkonsistent (KAMRAD 2005). MORGESON u. HUMPHREY (2008) haben jüngst ein Modell zur integrativen Arbeitsgestaltung („integrativ“ bedeutet für die Gestaltung von Tätigkeiten für Individuen und Gruppen) vorgelegt, in dem sich u.A. auch die Aufgabenmerkmale von HACKMAN u. OLDHAM wiederfinden. In seinem normativen Modell zur Gruppeneffektivität überträgt HACKMAN (1987) die Kerndimensionen ebenfalls auf die Gruppensituation (siehe Kap. 5.4.2.4). Aus der soziotechnischen Systemtheorie stammt der Begriff der Aufgabenorientierung („task orientation“, EMERY 1959; zum soziotechnischen Systemansatz, siehe
514
Arbeitswissenschaft
TRIST 1990; SYDOW 1985). Vereinfacht ausgedrückt sind damit die motivationalen Kräfte zur Aufgabendurchführung gemeint. ULICH (2005) fasst die Veröffentlichungen von EMERY u. EMERY (1974), CHERNS (1976) sowie EMERY u. THORSRUD (1976, 1982) zusammen und benennt folgende Merkmale von Arbeitsaufgaben, die das Entstehen von Aufgabenorientierung begünstigen: Ganzheitlichkeit, Anforderungsvielfalt, Möglichkeiten der sozialen Interaktion, Autonomie, Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten. Es ist offensichtlich, dass große Übereinstimmungen mit den von Hackman und Oldham ermittelten Merkmalen bestehen. Zusammenfassend können für eine motivations- und gesundheitsfördernde, der Persönlichkeitsentwicklung und -entfaltung dienende Gestaltung von Gruppenaufgaben die folgenden Kriterien (respektive Kriteriengruppen) identifiziert werden (siehe auch GRAP 1992; SCHUMANN 1995; SEITZ 1993; ULICH 2005; ULICH, BETSCHART u. BAITSCH 1989):
x die Vollständigkeit der Gruppenaufgabe mit den Teilaspekten der sequentiellen und der hierarchischen Vollständigkeit (durch Integration von Aufgaben, Funktionen, Prozessschritten) x die Autonomie, Kontrolle und Verantwortung der Gruppe (durch zeitliche und inhaltliche Freiheitsgrade bzw. Entscheidungsspielräume/-kompetenzen, z.B. in Bezug auf Aufgabeninhalt, -verteilung, Qualität, Qualifizierung, Arbeitszeit, Ziele) x die Möglichkeit zur Kommunikation und Kooperation innerhalb der Gruppe (durch arbeitsteilig auszuführende Aufgabe, räumliche Nähe) x die Vielfalt der Anforderungen, die durch die Gruppenaufgabe an sensorische, kognitive und motorische Systeme der Arbeitspersonen in der Gruppe gestellt werden (durch Job Enrichment, Job Rotation) x die Möglichkeiten zum Erhalt und zur Erweiterung der Qualifikationen und Kompetenzen der Gruppenmitglieder (durch individuelles und kooperatives Lernen im Prozess der Arbeit). Über die Aufgabengestaltung hinausgehende Anforderungen an die Gestaltung von Gruppenarbeit, z.B. im Hinblick auf eine Rückmeldung, die nicht durch die Aufgabe selbst, sondern bspw. durch Vorgesetzte oder Informationssysteme erfolgt, werden in Kap. 5.4.3 im Zusammenhang mit der Diskussion sog. Teameffektivitätsmodelle behandelt. 5.4.2.5
InstrumenteĆ zurĆ Analyse,Ć BewertungĆ undĆ GestaltungĆ vonĆ GruppenarbeitĆ
Mit dem Ziel Gruppenarbeitsformen zu analysieren, zu bewerten und zu vergleichen, wurden die oben genannten, als empirisch fundiert geltenden Konzepte, sowohl isoliert als auch in Kombination von verschiedenen Forschergruppen aufgegriffen und – soweit erforderlich – hinsichtlich ihres Gültigkeitsbereiches (von Einzelarbeit hin zu Gruppenarbeit) weiterentwickelt. Ergebnisse sind eher lose Kriteriensammlungen (siehe z.B. SEITZ 1993; EULER u. EULER 1997; GROB 1997)
Gruppen- und Teamarbeit
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sowie Kriteriensysteme, die in operationalisierter Form (Beschreibungsmerkmale, Skalen etc.) in Arbeitsanalyseverfahren oder anderen Bewertungssystemen zur Verfügung stehen. Zu nennen sind z.B. das Verfahren zur Analyse kollektiver Handlungsregulation VERA-KHR (siehe WEBER 1997), das modellbasierte System zur Gruppengestaltung von SCHUMANN (1995; siehe auch WIMMER u. LUCZAK 2000), das Verfahren zur komplementären Analyse und Gestaltung von Produktionsaufgaben in soziotechnischen Systemen KOMPASS von GROTE et al. (1999) und der Fragebogen zur Arbeit im Team (F-A-T) von KAUFFELD (2001). Es sei an dieser Stelle an die bereits im Zuge der begrifflichen Abgrenzung (Kap. 5.4.2) genannten Minimalanforderungen für Gruppenarbeit von HACKER (1994) erinnert. In der zitierten Quelle beschreibt Hacker dezidiert die Einsatzmöglichkeiten von Verfahren der TBS-Familie (TBS = Tätigkeitsbewertungssystem) zur prospektiven Gestaltung von Gruppenarbeit (aktuelle Verfahrensvariante als Software-Tool: ergoInstrument REBA 8.0, POHLANDT et al. 2008). Für die personen- und/oder bedingungsbezogene Arbeitsanalyse in bestehenden Arbeitssystemen, die Ableitung von (Um-)Gestaltungserfordernissen und die spätere Evaluation von umgesetzten Gestaltungsmaßnahmen – somit auch der Einführung von Gruppenarbeit (siehe Kap. 5.9) – stehen weitere Verfahren zur Verfügung, wie z.B. der Job Diagnostic Survey von HACKMAN u. OLDHAM (in der deutschen Übersetzung von SCHMIDT et al. 1985; siehe auch Kap. 5.4.2.4 sowie SCHMIDT u. KLEINBECK 1999; BRÜGGMANN et al. 1999), die unter der Bezeichnung Job Characteristics Inventory (JCI) publizierte weiterentwickelte Fassung von SIMS et al. (1976), der Job Descriptive Index (JDI) von SMITH et al. (1969, Revision siehe BALZER et al. 1997), die Fragebögen zur (salutogenetischen) subjektiven Arbeitsanalyse SAA bzw. SALSA von UDRIS u. ALIOTH (1980) bzw. RIMANN u. UDRIS (1997) oder der von DAUMENLANG u. MÜSKENS (2004) entwickelte Fragebogen zur Erfassung des Organisationsklimas (FEO). Überblicksdarstellungen finden sich in LUCZAK (1997), DUNCKEL (1999) sowie im Internet auf den Seiten der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. Spezifische Kriteriensysteme liegen z.B. für die Einführung von Gruppenarbeitsformen in der Produktion (METZ 1997, siehe Kap. 5.9.1), für die Gestaltung von qualitätsfördernden Planungsinseln in Servicebereichen (OTZIPKA 1998, siehe Kap. 5.7) und für die Teameffektivitätsanalyse in funktionsübergreifenden Projektteams (KABEL 2001; LUCZAK et al. 2003) vor. An einem Beispiel soll verdeutlicht werden, dass die Konkretisierung der Kriterien, ihre Operationalisierung durch skalierte Beschreibungsmerkmale, ihre Gewichtung sowie insbesondere die Festlegung von zu erreichenden Standards nicht unabhängig vom Einsatzkontext erfolgen kann. Der hohe Strukturierungsgrad von Aufgaben in Produktionsbereichen macht es relativ leicht, diese zu charakterisieren und die genannten Tätigkeitselemente zu identifizieren. Die Ausführungselemente einer Montage- oder Fertigungsgruppenaufgabe können i.d.R. eindeutig von Vorbereitungs-, Organisations- oder Kontrollelementen differenziert werden. Weitaus schwieriger ist dies bei schwach strukturierten Aufgaben, insbesondere bei solchen, deren Kernelemente bereits
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Arbeitswissenschaft
planenden oder organisierenden Charakter besitzen, wie es z.B. in Concurrent Engineering-Teams (siehe Kap. 5.6) der Fall ist. So schlägt bspw. KABEL (2001) vor, die Aufgabenvollständigkeit in Concurrent Engineering-Teams u.A. danach zu beurteilen, inwieweit alle Prozessschritte der Produkt- und Prozessgestaltung ins Team integriert sind. Mit Bezug auf die Beurteilungsebenen menschlicher Arbeit (Kap. 1.5.2.3) sei betont, dass die Gestaltung von Gruppenarbeit unter Anlegung der Kriterien der Sozialverträglichkeit und der Persönlichkeitsentfaltung die Erfüllung der Kriterien der Ausführbarkeit, Schädigungslosigkeit und Beeinträchtigungsfreiheit impliziert (Kap. 1.5.2.2). Angesichts der geforderten Freiheitsgrade bei der gruppeninternen Verteilung von Aufgaben ist aus arbeitswissenschaftlicher Sicht eine regelmäßige, systematische Analyse des realisierten Gruppenarbeitskonzepts auf kollektiver und individueller Ebene notwendig. Die Mehrzahl der bislang genannten Gestaltungskriterien findet sich in den nachfolgenden Modellen zur Teameffektivität wieder. 5.4.3
Modelle der Teameffektivität und Implikationen für das Management von Teams
Die Effektivität von Teams und Gruppen ist ein zentrales Thema in der Diskussion um Gruppen- und Teamarbeit. Mit dem Ziel einer systematischen Einflussnahme werden in der Gruppen- und Teamforschung kritische Einflussfaktoren identifiziert und in Beziehung gesetzt. Nach ihrer Struktur können Teameffektivitätsmodelle in Kaskadenmodelle ohne Rückkopplung (zweistufige Input-Output-Modelle, z.B. CAMPION et al. 1993; COHEN et al. 1996; ZIMOLONG u. WINDEL 1996. Dreistufige Input-Prozess-Output-Modelle, z.B. MCGRATH 1964; HACKMAN 1987; PINTO et al. 1993), Kaskadenmodelle mit Rückkopplung bzw. Regelkreismodelle, z.B. SHEA u. GUZZO 1987, TANNENBAUM et al. 1992, Input-Mediator-Output-InputModell von ILGEN et al. 2005 und Wirknetze, z.B. MCGRATH 1984, SCHOLL 2003 differenziert werden (vgl. LUCZAK u. WIMMER 2000; KABEL 2001). Die Vielfältigkeit der Modelle spiegelt sich in der Vielfalt von Definitionen des Begriffs Teameffektivität wider. Die Ergänzung von weiteren Ergebnisvariablen, z.B. der Effizienz, mündete häufig nicht in einer Anpassung der Modellbezeichnung; stattdessen wurde der Begriff der Effektivität neu und weiter definiert. So schließt bspw. die Teameffektivität nach SCHOLL (2003) neben dem Ausmaß der Zielerreichung auch die Qualität der Zielsetzung sowie die Effizienz der Aufgabendurchführung mit ein (siehe auch „overall effectiveness“ von DENISON et al. 1996). SUNDSTROM et al. (1990) betrachten „Leistung“ (performance) und „Lebensfähigkeit“ (viability) als Komponenten der Teameffektivität. In Anbetracht dessen, dass der Erfolg von Teamarbeit tatsächlich nicht nur an Effektivitätskriterien festgemacht werden kann, sind in der einschlägigen Literatur neuerdings auch schlichtere Bezeichnungen, wie z.B. „Teammodell“, zu finden. Auf der Ergebnisseite werden häufig aufgabenbezogene Ergebnisse (z.B. Leistung) und soziale Ergebnisse (z.B. Arbeitszufriedenheit, Fortbestand der Gruppe,
Gruppen- und Teamarbeit
517
Lernerfolg) unterschieden. So auch bei GEMÜNDEN u. HÖGL (2000), die die Leistung von Teams durch die Dimensionen Effektivität (Grad der Zielerreichung) und Effizienz (günstige Ausnutzung der eingesetzten Mittel) beschreiben. Das Input-Prozess-Output-Modell (IPO-Modell) zur Analyse von Gruppenverhalten und -leistung (group performance) von MCGRATH (1964) hat die Forschung zur Gruppeneffektivität stark beeinflusst und liegt auch heute noch vielen Studien zugrunde (NIELSEN et al. 2005). Die Grundannahme besteht darin, dass Inputfaktoren die in der Gruppe ablaufenden Interaktionsprozesse beeinflussen, welche dann wiederum die Gruppenergebnisse (Outputs bzw. Outcomes) beeinflussen. Inputfaktoren werden auf drei Ebenen unterschieden (MCGRATH 1964): (1) Individuelle Ebene, z.B. Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten, Einstellungen, Persönlichkeitsmerkmale der Gruppenmitglieder (2) Gruppenebene, z.B. Zusammensetzung, Gruppengröße, Gruppenkohäsion (3) Umgebungsebene, z.B. Charakteristik der Gruppenaufgabe, Belohnungssysteme, Belastung durch Umgebungseinflüsse („level of environmental stress“). Auf der Output-Seite werden leistungs- bzw. aufgabenbezogene Ergebnisse (Qualität, Geschwindigkeit, Fehlerhäufigkeit) und andere Ergebnisse („other outcomes“), wie z.B. Gruppenkohäsion, Arbeitszufriedenheit und Einstellungsänderungen differenziert. Eine viel beachtete Weiterentwicklung des Modells lieferte HACKMAN (1983, 1987) mit seinem normativen Modell der Gruppeneffektivität, in welchem er die Erkenntnisse der langjährigen Forschung zum „job design“ und zur Gruppengestaltung zusammenführt (siehe z.B. HACKMAN u. MORRIS 1975; HACKMAN u. OLDHAM 1980), siehe Abb. 5.4. In Hackmans Modell wird die Gruppeneffektivität aus der „Kunden“- (auch Führungskräfte, Management), der Gruppen- und der Perspektive der einzelnen Gruppenmitglieder beurteilt. Die Effektivität der Gruppe im Prozess der Aufgabendurchführung wird primär dadurch bestimmt, inwieweit sich die Gruppenmitglieder kollektiv anstrengen, welches Wissen und welche Fertigkeiten sie einbringen und wie angemessen die Strategien der Gruppe zur Aufgabenbearbeitung sind (ANTONI 2007). Diese Variablen werden durch Faktoren des organisatonalen Umfelds und der Gruppengestaltung (Inputfaktoren) beeinflusst. Die Gruppensynergie moderiert diesen Zusammenhang. Dabei liegt nach HACKMAN (1987) positive Gruppensynergie vor, wenn die Synergiegewinne durch die Gruppeninteraktion größer sind als die Prozessverluste. Positive Gruppensynergie kann der Gruppe bspw. helfen negative Umfeldbedingungen (z.B. Mängel in der Aufgabenstellung) zu überwinden.
Ein Design, das kompetente Aufgabenbearbeitung anregt und unterstützt, via: Aufgabenstruktur Zusammensetzung der Gruppe Gruppennormen über Prozesse der Leistungserbringung/ Aufgabenerledigung
Gruppendesign
Ein Aufgabenkontext, der kompetente Aufgabenbearbeitung unterstützt und verstärkt, via: Belohnungssysteme Ausbildungssysteme Informationssysteme
Organisationaler Kontext
Input
Unterstützung der Gruppeninteraktion, um: Prozessverluste zu reduzieren synergetische Prozessgewinne zu erzeugen
Gruppensynergie
Ausmaß an Anstrengung zur Bewältigung der Gruppenaufgabe Menge an Wissen und Fähigkeiten, die angewandt wird Eignung/Angemessenheit der zur Aufgabenbearbeitung angewandten Strategien
Output
Output ist akzeptabel für diejenigen, die ihn empfangen oder bewerten Fähigkeit der Gruppenmitglieder zur zukünftigen Zusammenarbeit konnte erhalten oder gestärkt werden Bedürfnisse der Gruppenmitglieder sind durch Gruppenarbeit eher zufriedengestellt als enttäuscht
Gruppeneffektivität
Verfügbarkeit, der für die Aufgabenerledigung, notwendigen materiellen Ressourcen
Materielle Ressourcen
Prozesskriterien der Effektivität
Prozess
518 Arbeitswissenschaft
Abb. 5.4: Das normative Modell der Gruppeneffektivität von HACKMAN (1987, eigene Übersetzung)
Gruppen- und Teamarbeit
519
Die Modellentwicklung stand unter der Prämisse, solche Faktoren zu identifizieren, die „manipulierbar“ im Sinne von gestaltbar oder durch Interventionen beeinflussbar sind (HACKMAN 1987). Hackman sieht drei wesentliche Ansatzpunkte für die Förderung der Gruppeneffektivität durch das Management: (1) die Gestaltung der Gruppe („Design“), (2) die Schaffung eines günstigen organisatorischen Umfelds, in dem die Gruppe agiert; einschließlich der Bereitstellung ausreichender und aufgabenangemessener Ressourcen, wie Rohstoffe und Halbfertigprodukte, Arbeitsmittel, Personalkapazitäten, finanzielle Mittel usw. („Context“) sowie (3) die Unterstützung der Gruppenprozesse mit dem Ziel, Prozessverluste zu vermeiden und Prozessgewinne zu ermöglichen („Synergy“). Teamgestaltung Als Gestaltungskriterien für die Aufgabenstruktur, als eine wesentliche Variable des Gruppendesigns, führt Hackman (ebd.) erneut die Kerndimensionen des Job Characteristics Models (Anforderungsvielfalt, Aufgabenvollständigkeit und -bedeutsamkeit, Autonomie und Rückmeldung, siehe Kap. 5.4.2.4) an und überträgt diese damit auf den Gruppenkontext. Sowohl bei Hackman als auch in anderen Quellen finden sich nur vage Empfehlungen zur Gruppengröße („The group is just large enough to do the work“; ebd.). Als Untergrenze werden meist drei Personen angegeben, als Obergrenze für Produktionsgruppen bspw. 15 (siehe METZ 1997). Nach NERDINGER et al. (2008) laufen Kommunikations- und Abstimmungsprozesse am besten in Gruppen mit fünf bis sechs Mitgliedern ab. Es herrscht allerdings weitgehend Einigkeit darüber, dass die „optimale“ Gruppengröße letztlich von der Art der Aufgabe abhängt. Bezüglich der Auswirkungen von Homogenität bzw. Heterogenität eines Teams liegen bislang inkonsistente Ergebnisse vor (ANTONI 2007). In einer MetaAnalyse (93 Studien) fand STEWART (2006) keine nennenswerten Zusammenhänge zwischen der Heterogenität und der Teamleistung (dies gilt ebenso für die Gruppengröße). Er verweist jedoch auf weiteren Forschungsbedarf (siehe auch WEGGE 2003). ROTH et al. (2006) konnten in einer neueren Studie Leistungsvorteile altersheterogener Teams bei komplexen Aufgaben in der öffentlichen Verwaltung nachweisen. STEWART (2006) stellte in seiner Analyse insbesondere für folgende Variablen des Teamdesigns einen positiven Zusammenhang zur Teamleistung fest: x Personenmerkmale, dabei stärker für kognitive Fähigkeiten als für Expertise (inkonsistente Ergebnisse für Persönlichkeitsmerkmale) x Aufgabenmerkmale: o Autonomie, dabei (überraschend) stärker für Teams die vorwiegend geistige Arbeit (Wissensarbeit) leisten, als für Teams, die hauptsächlich Muskelarbeit bzw. ausführende Tätigkeiten erbringen, o teaminterne Koordination, dabei stärker für Wissensarbeit.
520
Arbeitswissenschaft
Die Ergebnisse zur Bedeutsamkeit als weiteres Aufgabenmerkmal waren hingegen inkonsistent. Organisationaler Kontext und Führung von Arbeitsgruppen Zur
Unterstützung
erfolgreicher,
selbstregulierter
Gruppenarbeit
fordert
HACKMAN (1990, zitiert in Anlehnung an ULICH 2005):
x Ein Belohnungssystem (im Sinne immaterieller und/oder materieller Be-bzw. Entlohnung), das nicht in erster Linie die individuellen Leistungen, sondern vor allem die Gruppenleistung zu identifizieren und zu honorieren erlaubt. HACKMAN (1987) betont in diesem Zusammenhang die Bedeutung von herausfordernden, transparenten Zielen als Leistungsanreiz. x Ein Ausbildungssystem, das – auf Anforderung der Gruppe – jegliche Ausbildung und technische Beratung bereitstellt, die die Mitglieder zur Ergänzung ihres Wissens und Sachverstandes benötigen. x Ein geeignetes Informationssystem, das die Gruppe mit allen Daten und Voraussagen, die sie zum proaktiven Management ihrer Arbeit benötigt, versorgt. Mit der Variable „Informationssystem“ greift HACKMAN (1987) Aspekte der Leistungsmessung und –rückmeldung (als Ergänzung zur aufgabenimmanenten Rückmeldung) auf. Auch in der aktuellen Forschung zur Führung von Arbeitsgruppen werden Zielvereinbarungen in Kombination mit geeigneten Systemen zur Leistungsrückmeldung als zentrale Stellgrößen für effektive Gruppenarbeit benannt (siehe WEGGE u. SCHMIDT 2007, ausführlicher in WEGGE 2004). Die positiven Auswirkungen dieser Variablen auf die Produktivität wurden vor allem in Zusammenhang mit der Einführung des kennzahlen- bzw. indikatorenbasierten Partizipativen Produktivitätsmanagements (PPM) nachgewiesen (siehe SCHMIDT 2004, BEYER et al. 2007 bzw. Productivity Measurement and Enhancement System nach PRITCHARD et al. 1993, wiederum basierend auf NAYLOR et al. 1980, Meta-Studie in PRITCHARD et al. 2008). Dabei werden gemeinsam mit der Gruppe Kennzahlen definiert, die
widerspiegeln, wie gut die Gruppe ihre jeweiligen Aufgaben und Pflichten erfüllt. Die Indikatoren können quantitative Größen (z.B. fehlerfrei gefertigte Teile oder fehlerfrei durchgeführte Wartungsarbeiten) und qualitative Informationen, wie z.B. standardisiert erhobene Kundenzufriedenheitsdaten, beinhalten. Mit Hilfe von Bewertungs-/Nutzenfunktionen wird die Beziehung zwischen den Ausprägungen eines Indikators und der Produktivität hergestellt. Die ermittelten Daten werden in Form von Feedbackberichten aufbereitet. BURKE et al. (2006) konnten mit Hilfe einer umfassenden Meta-Analyse (50 Studien, 6600 Teams) zur Führung von Arbeitsgruppen einen Zusammenhang zwischen dem Führungsverhalten (sowohl aufgaben- als auch personenorientiertes Verhalten) und den Gruppenergebnissen (Teameffektivität, Produktivität und Gruppenlernen) nachweisen. Das Gruppenlernen kann nach dieser Studie vor allem durch so genannte „Empowerment Behaviors“ positiv beeinflusst werden, wie z.B. Coaching, Feedback, Monitoring und Partizipation der Gruppenmitglie-
Gruppen- und Teamarbeit
521
der. Auch STEWART (2006) fand in der bereits oben zitierten Meta-Studie einen positiven Zusammenhang zur Teamleistung für die Variable Führungsverhalten, dabei insbesondere für transformationale Führung und „empowering leadership“ (letzteres im Sinne von „to lead others to lead themselves“, das Team zur Selbstregulation/Eigenverantwortlichkeit befähigen bzw. dabei zu unterstützen). Nach Auswertung eigener und fremder Studien benennt WEGGE (2004) eine ganze Reihe von potenziellen Prozessgewinnen und -verlusten als Ansatzpunkte für eine erfolgreiche, leistungsfördernde Führung von Arbeitsgruppen (unter „Führung“ versteht Wegge dabei ein komplexes Managementsystem und nicht ausschließlich eine einzelne gruppeninterne oder -externe Führungskraft). Prozessgewinne können als potenzielle Leistungsvorteile von Gruppenarbeitsprozessen gegenüber Einzelarbeitsprozessen (bei gleicher Anzahl von Personen) interpretiert werden, Prozessverluste entsprechend als potenzielle Leistungsnachteile. Nach WEGGE (2004) können Prozessgewinne insbesondere durch eine günstige Arbeitsteilung in Gruppen, durch eine höhere Arbeitsmotivation oder in Form von Synergieeffekten bei der Informationsverarbeitung entstehen. SCHULZ-HARDT et al. (2007), HERTEL u. BRODBECK (2007) differenzieren in motivations-, fertigkeitsund koordinationsbezogene Gruppenprozesse. Tabelle 5.2 fasst Beispiele aus beiden Ansätzen zusammen. SCHULZ-HARDT et al. (2007) formulieren drei Managementprinzipien zur Förderung von Gruppenleistung: (1) Gruppenzusammensetzung: Zusammensetzung der Gruppe in Abhängigkeit der Aufgabenstruktur (2) Gruppensynchronisierung: Maßnahmen, die die kollektive Generierung, Veränderung und Integration der individuellen Beiträge der Gruppenmitglieder fördern, z.B. zeitnahes Feedback über die Leistung der anderen Gruppenmitglieder im Vergleich zur eigenen Leistung (3) Gruppenlernen: Gruppen sollten über einen längeren Zeitraum hinweg strukturähnliche Aufgaben bearbeiten, damit gruppenbezogenes Lernen stattfinden kann. Sie betonen in ihrem Modell die Aufgabenstruktur als entscheidende Variable, die den Einfluss der genannten Prinzipien (im Sinne von Stellgrößen) auf die leistungsrelevanten Prozesse (individuelle Motivation in der Gruppe, individuelle Fertigkeiten in der Gruppe, Koordination in der Gruppe) moderiert (siehe ebd.). Sie stellen damit generelle Empfehlungen für die genannten Stellgrößen (bspw. im Sinne einer „optimalen“ Zusammensetzung für jede Art von Gruppenaufgabe) grundsätzlich in Frage. Verschiedene Varianten von Teameffektivitätsmodellen wurden auch von der Forschergruppe um Salas entwickelt (siehe SALAS et al. 1992), von denen eine in Abb. 5.5 visualisiert ist. Darin werden konkrete Variablen benannt, wobei die Entwickler explizit keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben (TANNENBAUM et al. 1992). Charakteristisch an diesem Modell sind die starke Betonung des Teamumfelds, die Berücksichtigung von nicht – zumindest nicht kurzfristig –
522
Arbeitswissenschaft
beeinflussbaren Merkmalen der Teammitglieder (indirekt beeinflussbar über Gruppenzusammensetzung) und die Hervorhebung der dynamischen Aspekte von Teamarbeit (insbesondere Feedbackschleife und Einfluss von Interventionen; siehe auch LUCZAK u. WIMMER 2000, ESSENS et al. 2005).
Motivationsbezogene Prozesse
Informationsverarbeitung / fertigkeitsbezogene Prozesse
Arbeitsteilung / Koordinationsprozesse
Tabelle 5.2: Beispiele für mögliche Prozessgewinne und –verluste (in Anlehnung an WEGGE 2004, ergänzt um einzelne Aspekte aus SCHULZ-HARDT et al. 2007) Prozessgewinne durch
Prozessverluste durch
günstige Arbeitsteilung simultane Addition der Einzelkräfte Reduktion von Anforderungen, Teilbelastungen durch Artteilung bei komplexen Aufgaben Nutzung unterschiedlicher Expertisen durch Rollenaufteilung
ungünstige Arbeitsteilung (z.B. jung-alt) unnötige Doppeltätigkeiten und Synchronisationsprobleme zusätzliche Anforderungen (z.B. Kommunikation) und Teilbelastungen (z.B. Lärm) Fehlereskalation aufgrund zu enger technischer Kopplung Produktionsblockaden (nur einer kann reden) nicht zielführende Kombination von Einzelbeiträgen Hohe Interaktionskomplexität in größeren Gruppen Missverständnisse Gruppenpolarisation (Neigung von Gruppen zu extremeren Entscheidungen, höheres Risiko oder größere Vorsicht) Gruppendenken „cognitive loafing“ Häufung von Urteilsfehlern sehr konsistente Nutzung suboptimaler Strategien späte Kommunikation ungeteilten Wissens kognitive Resignation (Hemmung zielführender Ressourcen oder Verhaltensweisen bzw. Anregung nicht zielführender) Zielkonflikte in Gruppen Machtmissbrauch affektive Konflikte sozialer Müßiggang (z.B. unbewusste Leistungsreduzierung des Einzelnen in der Gruppe) Trittbrettfahren (bewusste Leistungsreduzierung, weil eigener Beitrag als überflüssig betrachtet wird) „sucker“-Effekt („nicht länger der Dumme sein wollen“) soziale Angst (Motivationsverringerung bei Anwesenheit anderer) Soldatentum (bewusste Leistungs-reduktion als Protest gegen externe ungerechtfertigte Ansprüche an die Gruppe)
Synergieeffekte, z.B. durch gegenseitige Fehlerkorrektur, Nutzung verteilten Wissens, Beobachtungslernen höhere Informationsverarbeitungskapazität Fehlerausgleich durch Aggregation der Meinungen Bildung transaktiver Gedächtnisstrukturen, Aufbau von Gruppenwissen („Wer weiß/kann was?“) sorgfältigerer Umgang mit Feedbackinformationen, Lernen durch Feedback kognitive Konflikte kognitive Stimulation (Anregung von zielführenden Ressourcen und Verhaltensweisen bzw. Hemmung nicht zielführender) Erfüllung von Bedürfnissen nach Anschluss und Einfluss „social labouring“-Effekt (gemeinsam mit der Gruppe besser sein als andere) „social compensation“-Effekt (sich für eine schlechte Gruppe aufopfern) „mere presence“-Effekt (eine Motivationsförderung allein durch die Anwesenheit anderer) „Köhler“-Effekt (Ansteckungs- oder Aufschaukeleffekt durch individuelle Leistungsunterschiede)
Aufgabenbezogene/s Qualifikationen/Wissen Allgemeine Fähigkeiten Motivation Einstellungen Persönlichkeit Mentale Modelle
Individuelle Merkmale
Aufgabenorganisation Aufgabentyp Aufgabenkomplexität
Aufgabenmerkmale
Input
Belohnungssysteme Ressourcenknappheit
Rückmeldung
Machtverteilung Homogenität Teamressourcen Arbeitsklima im Team Zusammenhalt (Kohäsion)
Gruppenmerkmale
Arbeitsteilung/ Aufgabenzuordnung Teamnormen Kommunikationsstruktur
Arbeitsstruktur
Management-Kontrolle Belastungen/Stress
Indiv. Veränderungen Aufgabenbezogene/s Qualifikationen/Wissen Einstellungen Motivationen Mentale Modelle
Individuelles Training Teamtraining Teamentwicklung (Team-Building)
Qualität Quantität Zeit Fehler Kosten
Teamleistung
Neue Normen Neue Rollen Neue Kommunikationsmuster Neue Prozesse
Teamveränderungen
Output
Beziehungen zwischen Gruppen Ungewisse/unsichere Umgebung
Teaminterventionen
Koordination Kommunikation Konfliktlösung Entscheidungsfindung Problemlösung Abgrenzung
Teamprozesse
Throughput
Prozess
Organisationsklima Wettbewerb
Organisations- und situationsbezogene Merkmale
Gruppen- und Teamarbeit 523
Abb. 5.5: Teameffektivitätsmodell von TANNENBAUM et al. (1992, eigene Übersetzung)
524
Arbeitswissenschaft
Diese und ähnliche Modelle dienen als Bezugsrahmen für empirische Studien, die sich meist auf einen reduzierten Variablensatz beziehen (Modellübersichten und –auswertungen in Bezug auf bestimmte Einsatzkontexte finden sich u.A. in NIELSEN et al. 2005; ESSENS et al. 2005; HÖGL u. GEMÜNDEN 2005; KABEL 2001). Als ein empirisch überprüftes, spezifisches Modell soll das Modell von HÖGL (1998) vorgestellt werden, welches die Determinanten und Wirkungen der Teamarbeit in „innovativen Projekten“ beschreibt. In einer Studie von 145 Softwareentwicklungsteams (sog. „Innovationsteams“) wurden die Kausalannahmen pfadanalytisch getestet, siehe Abb. 5.6. Teamdesign
Teamarbeit
Ergebnisse
Teambesetzung Soziale Kompetenz Methodische Kompetenz Präferenz für Teamarbeit Homogenität, Wissensund Fähigkeitsstand
Teamführung Zielqualität Teamziel-Commitment Feedback Gleichberechtigung
Leistung Qualität der Teamarbeit Kommunikation Aufgabenkoordination Ausgewogenheit der Beiträge Gegenseitige Unterstützung Arbeitsnormen (Engagement) Kohäsion
Effektivität Effizienz
Potenzial für zukünftige Teamarbeit Arbeitszufriedenheit Lernerfolg
Abb. 5.6: Teammodell für „innovative Projekte“ nach HÖGL u. GEMÜNDEN (2000) eigene Darstellung
Wesentliche Ergebnisse dieser Studie sind nach HÖGL u. GEMÜNDEN (2000): (1) Die Qualität der Teamarbeit kann anhand der im Modell vorgeschlagenen Merkmale erfasst und empirisch durch einen Faktor dargestellt werden. (2) Die Qualität der Teamarbeit übt einen wesentlichen Einfluss auf die Leistung von Teams und das Potenzial der Teammitglieder für zukünftige Teamarbeit aus. (3) Die Qualität der Teamarbeit kann durch die Variablen der Teambesetzung und der Teamführung wesentlich beeinflusst werden. Die im Modell genannten Faktoren des Teamdesigns stellen somit von Managern beeinflussbare Steuerungsgrößen dar. HÖGL und GEMÜNDEN (ebd.) leiten u.A. folgende Handlungsempfehlungen für die betriebliche Praxis ab: Bei der Teambesetzung sollte vor allem darauf geachtet werden, dass die Teammitglieder über ausreichende soziale und methodische Fähigkeiten verfügen und bereit sind, im Team zu arbeiten. Der Teamführung empfehlen sie ein kollektiv verpflichtendes, transparentes, zeitlich überschaubares, inhaltlich realistisches und über die Zeit konstantes (ggf. auf Meilenstein-Ziele heruntergebrochenes) Ziel vorzugeben und regelmäßig zielbezogenes, konstrukti-
Gruppen- und Teamarbeit
525
ves Feedback zu geben. („kollektiv verpflichtend“ meint hier: keine Teilziele für einzelne Teammitglieder). Als Führungsmodell schlagen sie ein Modell der teaminternen Gleichberechtigung vor, in dem der Projektleiter Entscheidungsmacht teilt und die Teammitglieder sich aktiv an Entscheidungen beteiligen. Von KABEL (2001) wurde speziell für Concurrent Engineering-Teams ein Teammodell entwickelt, in einem Instrumenten-Set zur Teameffektivitätsanalyse operationalisiert und in 10 Entwicklungsprojekten erprobt. In einer Fallstudie wurden die erhobenen Daten zum Vergleich mit anderen Teams herangezogen und gezielt für die Ableitung von Verbesserungspotenzialen und leistungssteigernden Interventionen genutzt (siehe LUCZAK et al. 2003). Diskussion der Teameffektivitätsmodelle Die Leistung eines Teams ist das Ergebnis eines Wechselspiels verschiedener Einflussgrößen, die bei der Einführung eines Teams nur z.T. direkt gestaltbar sind. Teameffektivitätsmodelle, die zum Zwecke der Einflussnahme die Zusammenhänge zu erklären suchen, werden durchaus kritisch diskutiert. Die Kritik bezieht sich bspw. auf das Fehlen einzelner Variablen und Relationen für spezifische Kontexte, die unzureichende Erklärung des Zusammenwirkens verschiedener Variablen, den Detaillierungsgrad (als Voraussetzung für die Ableitung spezifischer Interventionsmaßnahmen) oder die mangelnde empirische Überprüfung (siehe z.B. SCHOLL 2003; WEBER 1997). SCHOLL (2003) selbst nimmt eine Synthese der Erkenntnisse zum Gruppenprozess in einem hypothesenbasierten Kausalmodell vor, auf das hier lediglich verwiesen werden soll, weil es sich einer vereinfachten Darstellung entzieht. Positive Wirkungen auf die gesamte Teamarbeit lassen sich nach SCHOLL (ebd.) durch partizipativ vereinbarte Zielvereinbarungen, eine professionelle Moderation sowie eine kontinuierliche Reflexion der erzielten Ergebnisse und der Arbeitsprozesse erzielen. Der Ansatz aus aufgabenspezifischen und produktionsstrukturellen Voraussetzungen Rückschlüsse auf die Effektivität der Team- und Gruppenarbeit zu ziehen, blendet aus soziologischer Sicht wichtige soziale Voraussetzungen der organisatorischen Veränderungsprozesse, wie organisationskulturelle Gegebenheiten, mikropolitische Handlungskonstellationen oder auch die eingelebten Arbeitsroutinen unter den Beschäftigten, aus (DURST 2002 mit Bezug auf MINSSEN 1999). KABEL (2001) fand im Rahmen seiner Analyse von mehr als 30 Teammodellen kein Modell, welches zentrale arbeitswissenschaftliche Bewertungskriterien angemessen berücksichtigt: Aspekte der Persönlichkeitsentfaltung werden zwar oft über Motivation und Qualifikation abgebildet, nicht jedoch über Anteile kreativer Arbeit; Aspekte der Beeinträchtigungsfreiheit (z.B. das Auftreten von hoher mentaler Beanspruchung) werden weitgehend ganz vernachlässigt. Angesichts der neueren Forschungsbefunde greifen nach WEGGE u. SCHMIDT (2007) allgemeingültige Modelle zur Teameffektivität zu kurz, weil sie bestimmte Aspekte ausblenden, die nur in einigen Organisationskontexten oder für bestimmte Gruppenarbeitsformen von Bedeutung sind (siehe auch LUCZAK et al. 2000). Sie
526
Arbeitswissenschaft
begrüßen deshalb, dass in den letzten Jahren die Formulierung und empirische Prüfung von spezifischen Teammodellen für bestimmte Gruppenarbeitsformen zugenommen hat. Aus arbeitswissenschaftlicher Sicht besteht insbesondere auch Bedarf nach einer stärkeren Berücksichtigung von Faktoren, die die Belastungssituation respektive die Beanspruchung von Teammitgliedern betreffen. So könnte als weitere Ergebnisdimension bspw. der Erhalt bzw. die Förderung der Gesundheit beurteilt werden. 5.5
Gruppenarbeit in der Produktion: Teilautonome Arbeitsgruppen und Lean-Gruppen
Gruppen- und teambasierte Arbeitsorganisationsformen haben als Instrumente zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen und zur Schaffung sozialverträglicher, menschengerechter Arbeitsbedingungen in der Produktion eine große Bedeutung erlangt (ANTONI 1994; LUCZAK u. RUHNAU 1994; SUNDSTROM et al. 2000). Einer aktuellen Erhebung zufolge nutzen heute nahezu 75% der deutschen Industrieunternehmen unterschiedliche Formen von Gruppenarbeit in der Produktion (Erhebung zur Modernisierung der Produktion 2006, 13.426 befragte Unternehmen, Rücklaufquote 12,4%, KINKEL et al. 2007). Im Folgenden werden mit den teilautonomen Arbeitsgruppen und den sog. Lean-Gruppen zwei Formen von Gruppenarbeit in der Produktion näher betrachtet, die einen gewissen Konzeptcharakter aufweisen. Lean-Gruppen sind auch unter anderen Bezeichnungen bekannt, wie z.B. Fertigungsteams oder LeanTeams. Im Weiteren wird der Begriff der Lean-Gruppe verwendet. 5.5.1
Ziele der Einführung
Aus Unternehmenssicht besteht das primäre Ziel der Einführung von Gruppenarbeit i.d.R. in der Erhöhung der Produktivität. Aus arbeitswissenschaftlicher Sicht stehen neben der Erschließung wirtschaftlicher Verbesserungspotenziale die Gestaltung anspruchsvoller und entwicklungsfördernder Aufgaben- und Kooperationsstrukturen im Vordergrund (siehe LUCZAK 1989). In der einschlägigen Literatur sowie in Betriebsvereinbarungen zu Gruppenarbeit werden weitere und spezifischere Zielsetzungen genannt, die sich grob in eher ökonomische und eher mitarbeiterorientierte Ziele unterscheiden lassen, siehe Tabelle 5.3 (siehe hierzu auch SCHUMANN 1995; ROHMERT u. WEG 1976; KÜHL u. KULLMANN 2002; WEGGE 2004). Unterschiedliche Zielpriorisierungen führen zu verschiedenen Ausprägungen von Gruppenarbeit (WEGGE 2004, siehe Kap. 5.9).
Gruppen- und Teamarbeit
527
Tabelle 5.3: Zusammenstellung ökonomischer und mitarbeiterorientierter Ziele bei der Einführung von Gruppenarbeit in der Produktion Ökonomische Ziele x x x x x x x x x x x x
Produktivitätserhöhung Verbesserung der Auslastung Qualitätsverbesserung Flexibilitätssteigerung Erhöhung der Lieferbereitschaft Senkung von Fehlzeiten und Fluktuation Ausschöpfung von Mitarbeiterpotenzialen Förderung von „Mitdenken“ und Eigenverantwortung Reduzierung von Beständen Reduzierung von Durchlaufzeiten Reduzierung der Störanfälligkeit Reduzierung des Planungs- und Dispositionsaufwands
5.5.2
Mitarbeiterorientierte Ziele x x x x x x x x x x x
Verbesserung der Arbeitsbedingungen Abbau einseitiger Belastung Erhöhung der Identifikation mit der Arbeit Verbesserung der Kommunikation und Zusammenarbeit Erhöhung der Arbeitszufriedenheit Erhöhung der Arbeitsmotivation Qualifikationserhalt/-entwicklung Vergrößerung der Handlungs- und Entscheidungsspielräume Persönlichkeitsentfaltung/-entwicklung Sicherung der Arbeitsplätze Förderung von Arbeitssicherheit
Merkmale teilautonomer Arbeitsgruppen
Unter teilautonomen Arbeitsgruppen werden Gruppen der regulären Arbeitsorganisation von etwa drei bis 15 Mitgliedern verstanden, die dauerhaft zusammenarbeiten, um ein komplettes (Teil-) Produkt oder eine vollständige Leistung weitgehend eigenverantwortlich zu erstellen (vgl. ALIOTH 1980; LATTMANN 1972). Dazu müssen einerseits operative Tätigkeiten so zusammengefasst werden, dass eine ganzheitliche Leistung oder ein (Teil-)Produkt möglichst vollständig von der Gruppe bearbeitet werden kann und andererseits Funktionen der Planung, Steuerung, Organisation und Kontrolle in den Tätigkeitsbereich der Gruppe integriert werden (LUCZAK et al. 1991, METZ 1997). Ein Kennzeichen teilautonomer Gruppen ist, dass sie sich in definierten Grenzen selbst regulieren können. Sie führen die Planung und Steuerung der übertragenen Aufgaben, wie die Arbeitsverteilung, die Materialdisposition und die Auftragsabfolge, eigenverantwortlich und gemeinsam durch (ROHMERT u. WEG 1976). Aus diesem Grunde werden teilautonome Gruppen auch häufig als selbstregulierende Gruppen bezeichnet (ANTONI 1994, vgl. Bedingungen für Selbstregulation von GROTE 1997). Innerhalb der Gruppen wird eine hohe Einsatzflexibilität angestrebt. Das heißt, das einzelne Gruppenmitglied soll zwischen verschiedenen Arbeitsplätzen wechseln und unterschiedliche Aufgaben übernehmen können (ANTONI 2000, siehe Kap. 5.4.1). Zur gemeinsamen Organisation werden regelmäßige Gruppensitzungen durchgeführt, in deren Rahmen bspw. auch „Qualitätsarbeit“ stattfindet (Erarbeitung und Umsetzung von Verbesserungsmaßnahmen zur Weiterentwick-
528
Arbeitswissenschaft
lung/Optimierung des Arbeitssystems, der Arbeitsprozesse, der Arbeitsergebnisse). Die interne Koordination sowie die Abstimmung mit Vorgesetzten wird häufig einem Gruppensprecher übertragen, der i.d.R. gewählt ist, teilweise aber auch vom Management bestimmt wird. Bezogen auf das Ausmaß an kollektiver Autonomie und Selbstregulation bestehen Gestaltungsspielräume. So können der Gruppe zusätzlich zur internen Koordination der Arbeitsprozesse bspw. Entscheidungskompetenzen hinsichtlich der Koordination mit anderen Arbeitsgruppen oder Teilsystemen (sog. Grenzregulation), der Wahl der Produktionsmethode, der Gestaltung der Arbeitszeit usw. übertragen werden. Von qualifizierter, teilautonomer Gruppenarbeit wird eine entsprechend weitreichende Selbststeuerung gefordert. Als weiteres konstituierendes Merkmal wird das Vorliegen einer gemeinsamen Kernaufgabe, die Planungs-, Organisations- und Kontrollaufgaben enthält, benannt (vgl. u.A. GOHDE u. KÖTTER 1990; SEITZ 1993; LUCZAK et al. 1991). Dieses Merkmal gilt für teilautonome Gruppen generell. Nach SEITZ (1992) ist qualifizierte Gruppenarbeit „gekennzeichnet durch eine (nahezu) vollständige Integration aller Aufgaben und der zuvor hierarchisch über die Werkstattebene angesiedelten indirekten Funktionen in einer Arbeitsgruppe. Innerhalb dieser Gruppe können Aufgaben selbstgesteuert im Rotationsprinzip gewechselt werden, ... , sodass eine weitgehend homogene Qualifikationsstruktur mit überdurchschnittlich hohem Anforderungsniveau und eine somit als „qualifiziert“ zu charakterisierende Arbeitsstruktur entsteht.“ Qualifizierte, teilautonome Gruppenarbeit kann als Maximalausprägung des Konzepts der teilautonomen Arbeitsgruppe betrachtet werden (METZ 1997) und bedeutet auch den Verzicht auf einen festen Vorgesetzten (ZIMOLONG u. SAURWEIN 1995). Sowohl aus ökonomischen Gründen (Qualifizierungsaufwand bei sehr anspruchsvollen Aufgaben) als auch im Hinblick auf die Integration von leistungsschwächeren/-gewandelten Arbeitspersonen muss die Forderung nach einer möglichst hohen Qualifikationshomogenität relativiert werden. Bei der Auswahl von Funktionen, die in das Rotationsverfahren für alle Mitarbeiter aufgenommen werden, müssen unterschiedliche Leistungsprofile und Entwicklungspotenziale berücksichtigt werden (ZIMOLONG u. SAURWEIN 1995, siehe hierzu aber auch WEICHEL et al. 2010 sowie Kap. 5.4.1). Das Konzept der teilautonomen Gruppe ist eng mit dem soziotechnischen Systemansatz verbunden (siehe EMERY 1959; EMERY u. THORSRUD 1982; TRIST 1990; SYDOW 1985). Nach diesem Ansatz werden Arbeitssysteme als soziotechnische Systeme betrachtet, in denen soziale und technische Teilsysteme wechselwirkend miteinander verknüpft sind. Arbeitssysteme sind des Weiteren als offene Systeme konzipiert und unterliegen aufgrund interner und umweltbedingter Veränderungen Systemschwankungen. Schwankungen und Störungen in Produktionssystemen können durch teilautonome Arbeitsgruppen mitarbeiterorientiert und effizient reguliert werden (WEBER 1999). Die Arbeitsgruppen können nur dann flexibel und effizient arbeiten, wenn das soziale und das technische Teilsystem gemeinsam optimiert werden. Die Ein-
Gruppen- und Teamarbeit
529
führung teilautonomer Gruppen erfordert daher nicht nur die Einrichtung selbstregulierender, relativ unabhängiger Arbeitsgruppen, sondern eine gleichzeitige Anpassung des technischen Systems (vgl. ROHMERT u. WEG 1976; ANTONI 1994; ULICH, CONRAD-BETSCHART u. BAITSCH 1989). Ziel ist die Erlangung von technischer und arbeitsorganisatorischer Teilautonomie. Dabei können teilautonome Gruppen mit unterschiedlichen Konfigurationen der Produktionstechnik realisiert werden, wobei aber die Abkehr von einer taktgebundenen Fließ(band)fertigung als konstituierendes Merkmal von teilautonomen Gruppen zu sehen ist. Typische technisch-organisatorische Gestaltungsvarianten der teilautonomen Gruppenarbeit sind Fertigungs- und Produktinseln (siehe Kap. 4.4.1.4). Als Beispiel für eine Montageinsel kann die Produktion des Audi R8 in Neckarsulm genannt werden (siehe AUDI GESCHÄFTSBERICHT 2006). Zur Illustration teilautonomer Arbeitsgruppen soll das nachfolgende Beispiel dienen (KRINGS u. LUCZAK 1997). Das Projekt wurde in einem Unternehmen der Vakuumtechnik durchgeführt. Vorrangige Ziele des Unternehmens waren die Verringerung der Durchlaufzeit und die Erhöhung der Produktqualität. Diese Ziele wurden durch Veränderungen in den folgenden Bereichen erreicht: Das Prinzip der Werkstättenfertigung wurde abgelöst durch die Einrichtung von Fertigungs- und Montageinseln. Das bedeutete u.A. umfassende Veränderungen der Betriebsmittelanordnung, der Materialflussgestaltung etc. Die bisherige starre Arbeitsteilung wurde aufgehoben. In die Inseln wurden Prüf-, Qualitätssicherungs-, Materialtransport- sowie Reparatur- und Instandhaltungsaufgaben integriert. Den Arbeitsgruppen in den Inseln wurden außerdem planende und steuernde Aufgaben übertragen. Die Gruppenmitglieder erhielten auf diese Weise attraktivere, abwechslungsreichere und anspruchsvollere Tätigkeiten mit erweiterten Handlungs- und Entscheidungsspielräumen. Die Aufgabenintegration ging mit einer Verflachung der betrieblichen Hierarchien einher. Umfangreiche Qualifizierungsmaßnahmen trugen zur Förderung der fachlichen, methodischen und sozialen Kompetenz der Mitarbeiter bei. Wesentliches Merkmal des Konzepts war die immanente Qualifizierung durch Beteiligung an der Projektarbeit (Kap. 5.9.1). Hier wurde mit motivations- und aktivitätsfördernden Methoden gearbeitet, die eine permanente Beteiligung der Mitarbeiter und Führungskräfte an betrieblichen Fragestellungen auch nach Beendigung des Projekts zum Ziel hatten. Als augenfälligstes Resultat konnte die ursprüngliche Gesamtdurchlaufzeit von 12 Wochen auf 14 Tage reduziert werden. Bei der Evaluation konnten positive Effekte in Bezug auf die Arbeitszufriedenheit und die intrinsische Arbeitsmotivation nachgewiesen werden. 5.5.3
Merkmale von Lean-Gruppen
Lean-Gruppen unterliegen den Zielsetzungen japanisch geprägter Produktionssysteme, die vor allem auf kurze Durchlaufzeiten, geringe Bestände und eine hohe Produktqualität ausgerichtet sind. Als weitere Ziele werden eine hohe Einsatzflexibilität der Teammitglieder und das Erreichen einer hohen Arbeitsmoral genannt
530
Arbeitswissenschaft
(siehe LIKER 2004). Es sei hier auf Kapitel 4.4.2 verwiesen, in dem die Prinzipien des Toyota Produktionssystem vorgestellt werden. Auch Lean-Gruppen sind auf eine dauerhafte Zusammenarbeit angelegt und als Organisationseinheit in die reguläre Arbeitsorganisation eingebunden. Wesentliches Kennzeichen ist allerdings – im Vergleich zur teilautonomen Gruppe – die Beibehaltung des Fließprinzips, oft verbunden mit geringen Taktzeiten, die sich an einem Schrittmacherprozess orientieren. Lean-Gruppen beschreiben damit eine Form der Gruppenarbeit im Sukzessivverband (siehe Kap. 5.1.1). Die Möglichkeiten zur auftragsbedingten Kooperation sind eingeschränkt. Lean-Gruppen verfügen darüber hinaus über geringere Entscheidungsspielräume (siehe KRINGS u. LUCZAK 1997; METZ 1997; ANTONI 2007). Sie sind verantwortlich für einen bestimmten Prozessabschnitt. Die Integration indirekter Funktionen beschränkt sich auf produktionsnahe Tätigkeiten (z.B. Qualitätssicherung und Störungsbehebung), ohne dispositive oder Vorgesetztenfunktionen einzubeziehen. Abb. 5.7 zeigt beispielhaft die Aufgabenprofile einer teilautonomen Arbeitsgruppe und einer Lean-Gruppe in indirekten Produktionsbereichen. Fertigungssteuerung
Führung Personalmanagement Personalein-
stellungen
Zielvereinbarung Feedback Koordination Arbeitseinteilung Urlaubsplanung
Mitsprache bei
Gruppenmitgliedern
Störbeseitigung Wartung
Instandhaltung Zentralwerkstatt
Instandhaltung
ProgrammP
planung
Ablaufplanung Feinplanung
Teilautonome Arbeitsgruppe Lean-Gruppe Materialumschlag Transport Disposition
Lager Logistikplanung
Logistik
ArbeitsArbeits vorbereitung
Qualitätsüber-
wachung
Audit Prüfplanung
Qualitäts Qualitätssicherung
KVP Prozess-
optimierung
Serienbetreuung Serien Serien-
optimierung
Neuplanung Serienplanung
Planung
Abb. 5.7: Beispielhafte Aufgabenprofile von teilautonomen Arbeitsgruppen und LeanGruppen (in Anlehnung an ANTONI 2000, modifiziert und ergänzt um Lean-Gruppe)
Die Arbeitsabläufe in den Gruppen werden von den jeweiligen unmittelbaren Vorgesetzten gesteuert (ANTONI 2000, mit Bezug auf BERGGREN 1991; JÜRGEN, MALSCH u. DOHSE 1989). Die Gruppengröße liegt meist zwischen 6 und 10 Mitarbeitern. Die Möglichkeiten der Selbstregulation sind in Lean-Gruppen weiterhin dadurch beschränkt, dass i.d.R. eine starke Abhängigkeit zu vor- und nachgelagerten Gruppen besteht. Aufgrund der rigiden Einhaltung von Arbeitsstandards entsteht ein hoher Leistungsdruck auf die Mitarbeiter, da selbst kleine Störungen die Arbeitsprozesse behindern. Die Unternehmensziele stehen im Vordergrund, wobei zwischen den
Gruppen- und Teamarbeit
531
Schichten, z.B. zwischen Früh- und Spätschicht, ein entsprechender Zeitpuffer gewährt wird, um bei Störungen das Tagesproduktionsziel zu schaffen (ANTONI 2000). In Tabelle 5.4 sind wesentliche Unterschiede zwischen den Konzepten zusammengestellt. Tabelle 5.4: Unterschiede zwischen dem Lean-Gruppen-Konzept und dem Konzept teilautonomer Arbeitsgruppen (siehe ANTONI 1994, 1996; KRINGS u. LUCZAK 1997; LIKER 2004; NERDINGER et al. 2008; ZINK 1995) Lean-Gruppe/Fertigungsteam (Toyota-Produktionssystem) Fließfertigung / Fließband Just in Time, Just in Sequence, Zeitpuffer aus Taktverlusten hohe prozedurale Abhängigkeit zwischen den Teams Arbeitsteilung Hohes Maß an Arbeitsstandardisierung Fremdsteuerung Vom Management bestimmter Teamleiter Teamleiter als Mentor und Unterstützer Unternehmensziele stehen im Vordergrund
5.5.4
Teilautonome Arbeitsgruppe Boxenfertigung / Fertigungsinseln Material-, Produktpuffer, Werkzeugpool geringe Abhängigkeit zwischen den Gruppen/Arbeitssystemen Arbeitsbereicherung (bzw. selbstbestimmte Arbeitsteilung) Individuelle und kollektive Freiheitsgrade Selbststeuerung Gewählter oder bestimmter Gruppensprecher Gruppensprecher arbeitet mit, Führungsaufgabe häufig unklar Ausgleich zwischen mitarbeiter- und unternehmensbezogenen Zielen
Diskussion
Verschiedene Studien sowie insbesondere Praxisberichte zeigen, dass mit der Einführung von Gruppenarbeit in der Produktion sowohl erhebliche ökonomische als auch mitarbeiterbezogene Verbesserungen erzielt werden können (siehe BASZENSKI 2002; BEEKUN 1989; FRIELING u. BUCH 1998; JÖNS 2008a; LAY et al. 1996; LUCZAK et al. 1991; SALM 2008; SCHUMANN u. GERST 1997; WEBER 1997, 1999; WINDEL u. ZIMOLONG 1998; siehe auch kritische Diskussion in ANTONI 1997). Dabei erwiesen sich in einigen Studien teilautonome Gruppenarbeitsformen den restriktiveren Gruppenarbeitsformen, zu denen die Lean-Gruppen gezählt werden, als überlegen (siehe z.B. WINDEL u. ZIMOLONG 1998; SCHUMANN u. GERST 1997). Nach DÖRICH (2008) weist auch eine neuere Studie des Instituts für angewandte Arbeitswissenschaft (IfaA) zur Nutzung und Umsetzung von (ganzheitlichen) Produktionssystemen (siehe NEUHAUS 2008, Befragung von 38 deutschen Unternehmen in den Jahren 2003-2005) darauf hin, dass mit Gruppenarbeit sowohl eine Verbesserung der Wirtschaftlichkeit als auch eine Steigerung der Zufriedenheit und der Motivation der Beschäftigten erzielt werden können. Eine Favorisierung eines der beiden Gruppenarbeitskonzepte lässt sich aus den Ergeb-
532
Arbeitswissenschaft
nissen dieser Studie allerdings nicht ableiten (DÖRICH 2008). Positive Zusammenhänge zwischen wirtschaftlichen Zielgrößen und einer fortgeschrittenen Aufgabenintegration - als Merkmal teilautonomer, qualifizierter Gruppenarbeit - konnten LAY u. MALOCA (2005) auf der Basis der Produktionsinnovationserhebung 2003 (1450 Unternehmen) des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung in Karlsruhe nachweisen: Die Integration der Qualitätssicherung in das Aufgabenspektrum der Produktionsmitarbeiter führte zu niedrigeren Ausschussquoten (im Vergleich zur Qualitätssicherung durch Einrichter, Meister oder zentralisierte Spezialisten), die Verlagerung der Auftragsfeindisposition auf die Werkerebene ging mit deutlich niedrigeren Auftragsdurchlaufzeiten einher (im Vergleich zur Feinplanung durch Einrichter, Meister oder zentralisierte Spezialisten). Angesichts der größeren Freiheitsgrade und Entscheidungskompetenzen sowie der vielfältigeren und anspruchsvolleren Aufgaben bietet die Arbeit in teilautonomen Gruppen größere Potenziale in Bezug auf die Erfüllung der Anforderungen, die an lern-, motivations- und gesundheitsfördernde Tätigkeiten gestellt werden (siehe Kap. 5.4.2.4). Weit entwickelte Formen von teilautonomer Gruppenarbeit sind in der Industrie relativ selten zu finden. So stellten KINKEL et al. (2008) fest, dass sich lediglich 12% der Gruppenarbeit nutzenden Unternehmen auf Konzepte stützen, die durch einen hohen Grad an Selbstverantwortung und polyvalenter Qualifikation der Mitarbeiter gekennzeichnet sind. KINKEL et al. (ebd.) sehen damit Verbesserungspotenziale im Hinblick auf Flexibilität und Wandlungsfähigkeit verschenkt. Die Einführung von Gruppenarbeit führt je nach Ausgangssituation zu großen Veränderungen und gerade zu Beginn zu hohen Aufwänden (z.B. bzgl. Fabriklayout, Materialfluss, Arbeitssystemgestaltung, Qualifizierung), die sich erst deutlich später amortisieren. Job Rotation und die zusätzlichen Weiterbildungen führen zu einer Höherqualifizierung der Beschäftigten, die sich in einem Anstieg der direkten Kosten niederschlagen kann. Dies sind Gründe, die Unternehmen ggf. zögern oder „auf halbem Wege“ stehen bleiben lassen, nämlich dann, wenn sie bei restriktiveren Formen angelangt sind (KRINGS u. LUCZAK 1997; WIMMER u. STAWOWY 1999). Für das Scheitern von Gruppenarbeitsprojekten werden in der einschlägigen Literatur zahlreiche weitere Gründe genannt (siehe Kap. 5.4.3 und Kap. 5.9.1). Ein Risiko der teilautonomen Gruppenarbeit tritt bspw. dann auf, wenn die für die Gruppe erforderlichen Rahmenbedingungen (z.B. Zeitfreiräume, Qualifizierung) zur Durchführung der indirekten und gruppenbezogenen Aufgaben nicht geschaffen werden. Es kann dann zu einer Überforderung der Arbeitsgruppe, erhöhtem Zeitdruck und in der Folge zu einer hohen Beanspruchung der Gruppenmitglieder kommen, die die Leistungsfähigkeit der Gruppe und die Zufriedenheit der Gruppenmitglieder vermindert. SPRINGER (1996) fordert am Beispiel der Automobilindustrie eine stärkere Berücksichtigung der produkt- und produktionstechnologischen Randbedingungen: Während (teil-)automatisierte Arbeitssysteme günstige Bedingungen für Gruppenarbeit bieten (z.B. zahlreiche anspruchsvolle Aufgaben im Produktionsumfeld, die integriert werden können),
Gruppen- und Teamarbeit
533
sind in manuellen bzw. höchstens mechanisierten Systemen die Erfolgschancen wesentlich geringer. Bei niedriger Variantenvielfalt der Produkte führen wirtschaftliche Verbesserungen meistens zu höherer Auslastung und Leistungsverdichtung. Dies kann die Motivation der Mitarbeiter senken, sich aktiv einzubringen und zusätzliche indirekte, noch dazu in diesem Umfeld wenig anspruchsvolle Aufgaben zu übernehmen. Bei hoher Teilevielfalt können Montageinseln Effizienzvorteile bieten, indem Taktverlustzeiten vermieden bzw. reduziert werden. In jüngerer Zeit ist das Konzept der teilautonomen Gruppenarbeit respektive die zugrunde liegenden arbeitsorganisatorischen Gestaltungskriterien Gegenstand kontroverser Diskussionen (siehe z.B. Beiträge in ADAMI et al. 2008; CLEMENT u. LACHER 2006; DECHMANN et al. 2007; DÖRICH 2008; KÖHLER 2007; SALM 2008), insbesondere zwischen Vertretern der Tarifvertragsparteien (siehe DETJE et al. 2006 und GRYGLEWSKI 2007). Eine zentrale Forderung, die von Seiten der Arbeitgebervertreter formuliert wird, betrifft die Führung von Arbeitsgruppen. Unter „Geführter Gruppenarbeit“ wird dabei ein Konzept verstanden, dass wie folgt charakterisiert ist (GRYGLEWSKI ebd., DÖRICH 2008): x Gruppen in prozessgebundenen Arbeitssystemen sind eng am Prozess geführt und nicht selbst organisiert x kleine Gruppengrößen von 6-10 Mitarbeitern x kleine Führungsspannen, 1 Gruppenleiter pro Gruppe x Rotation ist anzustreben, wird aber von der Führungskraft gesteuert x alle indirekten Tätigkeiten sind ausschließlich dem Teamleiter zugeordnet. Die Parallelen zu japanischen Produktionssystemen sind offensichtlich. Die Effekte in deutschen Unternehmen sind allerdings noch nicht hinreichend untersucht. Vertreter der Gewerkschaften befürchten u.A. eine starke Ausweitung des Niedriglohnbereichs und sehen die Chancen vernachlässigt, „Innovationsfähigkeit der Unternehmen durch die Einbeziehung qualifizierter Beschäftigter zu stärken und die Arbeitsbedingungen zu verbessern“ (DETJE et al. 2006). Angesichts des wachsenden Interesses an der Einführung von Produktionssystemen nach japanischem Vorbild ist mit einer zunehmenden Verbreitung von Lean-Gruppen zu rechnen. Zukünftige arbeitswissenschaftliche Studien, insbesondere Längsschnittstudien (siehe z.B. PARKER 2003), sollten u.A. darauf gerichtet sein, festzustellen, ob bzw. wie den negativen Folgen einer unzureichenden Erfüllung der Kriterien menschengerechter Arbeit im Hinblick auf den langfristigen Erhalt der Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit (Gesundheit, Lernfähigkeit und – bereitschaft etc.) wirkungsvoll entgegengewirkt werden kann. Ansatzpunkte für die Arbeitsgestaltung bilden in Lean-Gruppen insbesondere das Rotationsmodell sowie die Beteiligung der Gruppenmitglieder an der Gestaltung der Arbeitsmittel und -methoden, an der Definition von Standards und an der kontinuierlichen Verbesserung des Arbeitssystems und der Arbeitsprozesse im Rahmen von KVPGruppen und Qualitätszirkeln (siehe Kap. 5.8). Der Schwerpunkt arbeitswissenschaftlicher Forschung zur teilautonomen Gruppenarbeit lag bislang auf den produzierenden Bereichen von Unternehmen.
534
Arbeitswissenschaft
Das Konzept ist jedoch auch auf Verwaltungs- oder andere Dienstleistungsbereiche übertragbar. Ein Beispiel hierfür stellt das Planungsinselkonzept dar (siehe Kap. 5.7). 5.6
Gruppenarbeit CE-Teams
in
der
Produkt-
und
Prozessentwicklung:
Charakteristisch für Teams in der Entwicklung sind eine als Projekt definierte, zeitlich begrenzte Aufgabenstellung und eine abteilungs- bzw. funktionsübergreifende Teamzusammensetzung – stellenweise auch unter Einbeziehung von Kunden und Lieferanten. Stellvertretend für Organisationskonzepte, die entsprechende Teamstrukturen vorsehen und speziell auf die für die Produkt- und Prozessgestaltung geltenden Zielsetzungen ausgerichtet sind, wurde in Kapitel 4.5 das Konzept des Concurrent Engineering (CE) bereits eingeführt, auf welches hier Bezug genommen wird. 5.6.1
Ziele der Einführung
Die übergeordneten Ziele von CE sind die Reduzierung der Markteinführungszeit durch Verkürzung der Produktentwicklungs- bzw. -entstehungszeiten und die Senkung der Herstellkosten bei gleichzeitiger Verbesserung der Produktqualität (siehe PENNEL u. WINNER 1989; LUCZAK u. EVERSHEIM 1999; EVERSHEIM et al. 2005). Durch die frühzeitige Berücksichtigung von Anforderungen aus den der Produktentwicklung nachgelagerten Phasen des Produktlebenszyklus sollen zeitund kostenintensive Produkt- und Prozessänderungen in späten Phasen vermieden werden. Die daraus resultierenden Zeiteinsparungseffekte sollen zu einer Verkürzung der gesamten Produktentstehungszeit führen. Neben Integration und Parallelisierung von Aufgaben (PENNEL u. WINNER 1989) benennt LAUFENBERG (1996) als drittes Prinzip von CE die Kompetenzzusammenführung und betont damit stärker die organisatorische Umsetzung mit Hilfe funktionsübergreifend zusammengesetzter CE-Teams. 5.6.2
Merkmale von Concurrent Engineering-Teams
Arbeitsorganisatorisch lassen sich die Ziele des CE in Teams erreichen, in denen durch intensive Kooperationsbeziehungen eine Abstimmung und Synchronisation der parallelisierten Aktivitäten der Produkt- und Prozessgestaltung unter Konsens aller Beteiligten erfolgt (STAHL 1998; EVERSHEIM u. LUCZAK et al. 2005). Die frühzeitige Berücksichtigung wechselseitiger Anforderungen im Produktentstehungsprozess macht eine funktionsübergreifende, sog. crossfunktionale Zusammensetzung erforderlich. Nach SYAN (1994) besteht ein CE-Team i.d.R. mindestens aus je einem Mitarbeiter aus Entwicklung/Konstruktion, Arbeitsvorbereitung, Produktion, Vertrieb, Einkauf und Finanzen. Zusätzlich können, neben weiteren
Gruppen- und Teamarbeit
535
Personen aus diesen Abteilungen, diverse Spezialisten hinzugezogen werden. Sind Zulieferer beteiligt, so sind Mitarbeiter der dort betroffenen Abteilungen arbeitsorganisatorisch und nach Möglichkeit auch räumlich in das Team zu integrieren. In der betrieblichen Praxis finden sich CE-Teams mit z.T. über die Projektlaufzeit variierender Größe von 5 bis 15 Teammitgliedern. CE-Teams werden projektbezogen gebildet und bearbeiten bzw. koordinieren ein zeitlich und inhaltlich abgegrenztes Entwicklungsprojekt. Die Arbeit in CETeams weist einen (im Vergleich zu Gruppenarbeitsformen in der Produktion) hohen Autonomiegrad auf. Die Dauer ihrer Zusammenarbeit ist durch die Projektlaufzeit begrenzt, d.h. sind die Projektziele erreicht, wird das Team aufgelöst. CETeams sind üblicherweise über eine Matrixorganisation in die primäre Betriebsorganisation (temporär) integriert. CE-Teams unterscheiden sich damit in mehrfacher Hinsicht von Gruppenarbeitsformen in der Produktion, siehe Abb. 5.8. Teilautonome Gruppen (sowie Planungsinseln) sind permanent in die Organisation integriert und weisen feste organisatorische Grenzen auf. Abgesehen von Fluktuationen, die nicht aus der Aufgabe begründet sind (z.B. altersbedingtes Ausscheiden), ändert sich die personelle Zusammensetzung nicht. Es werden mehrere unterschiedliche (Teil-)Aufträge bearbeitet. Teilautonome Arbeitsgruppe
mehrere Aufträge
feste organisatorische Grenze
permanent
ein Projekt j
offene organisatorische g Grenze
temporär p
Zeit
Auflösung nach Projektende
CE-Team CE Team Auftrag/Projekt Mitarbeiter/in
Auftrags-/Projektende
Bewegung Beziehungen
Abb. 5.8: CE-Team im Vergleich zur teilautonomen Arbeitsgruppe
Neben den genannten strukturellen Unterschieden ist die Arbeit in CE-Teams im Vergleich zur Arbeit in Produktionsteams durch einen wesentlich höheren Anteil von Kommunikations-, Abstimmungs-, Planungs- und Entscheidungsprozessen charakterisiert. Die überwiegend kreativ-informatorische Arbeit in der Gestaltung von Produkten und Prozessen ist geprägt durch das Erzeugen und Vermitteln von Wissen (siehe Kap. 3.3). Aus der bestehenden Unsicherheit –
536
Arbeitswissenschaft
insbesondere in frühen Phasen der Produkt- und Prozessgestaltung – dem hohen Zielerreichungsdruck, der multidisziplinären und multifunktionalen Zusammensetzung sowie aus der organisatorischen Mehrfachzugehörigkeit aufgrund der Matrixorganisation resultieren hohe Anforderungen an die Leistungsfähigkeit und -bereitschaft sowie an die Belastbarkeit der Teammitglieder und -leiter. Bei der Übertragung von motivationspsychologischen Anforderungen an die Arbeitsgestaltung auf den vorliegenden Kontext sind zwei Aspekte zu beachten (KABEL 2001 mit Bezug auf MOHRMAN et al. 1995): Die Identifikation der Mitarbeiter mit ihrer Arbeit ist bei der Erstellung von nahezu immateriellen Leistungen („virtuellen Produkten“) schwieriger zu erreichen, als bei der Herstellung eines materiellen Gesamtproduktes in der Produktion. Aufgrund der Komplexität der (integrierten) Produkt- und Prozessgestaltung kann diese Aufgabe nicht von einer Arbeitsperson im Sinne eines ganzheitlichen, vollständigen Aufgabenzuschnitts bewältigt werden; die Notwendigkeit einer gemeinsamen Bearbeitung in einem Team aus verschiedenen Spezialisten ergibt sich direkt aus der Aufgabenstellung. Folgende Merkmale von CE-Teams tragen motivationspsychologischen Anforderungen an die Arbeitsgestaltung Rechnung: x Entwicklung und Gestaltung eines kompletten (virtuellen) Produktes oder einer Dienstleistung sowie der dazugehörigen Prozesse (vollständige Teamaufgabe) x Möglichkeit der Zusammenarbeit in enger gegenseitiger Abstimmung und regelmäßiger persönlicher Kommunikation x hoher Autonomiegrad, Ermöglichung des Selbstregulationsprinzips x gemeinsame Ergebnis- und Prozessverantwortung durch das Team. 5.6.3
Entwicklung komplexer Produkte in mehreren CE-Teams
In Abhängigkeit von der Komplexität des zu entwickelnden Produktes und der damit verbundenen Prozesse ist eine Aufteilung der Gesamtaufgabe auf mehrere Teams erforderlich (LUCZAK et al. 2003). Ein gutes Beispiel ist die Neuentwicklung eines Automobils. Dabei wird zwischen koordinierenden CE-Teams und ausführenden CE-Teams unterschieden (KABEL 2001, in Auswertung von BENKENSTEIN 1987; MCGRATH et al. 1992, SIMONSE u. VAN EIJNATEN 1996; SWINK et al. 1996; BERNDES u. STANKE 1996).
(1) Koordinierende Teams übernehmen die zeitliche Planung der Entwicklungsaktivitäten sowie die kapazitive und kostenbezogene Koordination des Gesamtprojektes respektive größerer Teilprojekte. In diesen Teams sind alle relevanten betrieblichen Funktionen vertreten. Entscheidungen hinsichtlich des langfristigen Projektverlaufs werden meist gemeinsam mit der Unternehmensleitung und dem (Gesamt-)Projektleiter getroffen. Grundlage bildet der Entwicklungsauftrag und die darin von der Unternehmensleitung definierten Ziele. In der Automobilindustrie sind derartige Teams bspw. für komplette
Gruppen- und Teamarbeit
537
Subsysteme, wie Exterieur, Interieur, Fahrwerk, Antrieb oder Elektrik/Elektronik, koordinierend tätig. Diese Teams werden auch als Systemintegrationsteams bezeichnet (siehe YASSINE u. BRAHA 2003). (2) Die eigentlichen Entwicklungsaufgaben, d.h. die Gestaltung von Modulen des Produkts und Teilen des Produktionsprozesses, werden von ausführenden CE-Teams übernommen. Sie besitzen meist einen verantwortlichen Teamleiter, der i.d.R. nicht von den Teammitgliedern gewählt, sondern vom Management bestimmt wird. Die Differenzierung mehrerer parallel bestehender Teams erfolgt über die Projektarbeitspakete (z.B. Team Scheinwerfer, Team Frontklappe). Als dritten Teamtyp benennt KABEL (2001) sog. „Task-Forces“, die allerdings nicht institutionalisiert sind, sondern temporär zum schnellen Lösen gravierender Probleme im Projektverlauf aus Mitgliedern der ausführenden Teams (z.T. unter Hinzuziehung von Spezialisten aus den Linienabteilungen) gebildet werden. Bei der Entwicklung sehr komplexer Produkte orientiert sich die Zerlegung der Gesamtaufgabe in Arbeitspakete meist an der Produktstruktur und wird im Ergebnis in einem Projektstrukturplan dargestellt. Der Projektstrukturplan determiniert neben der Teamstruktur auch die Kosten- bzw. Budget- und Controllingstruktur. Abb. 5.9 verdeutlicht an einem Beispiel aus der Automobilindustrie den Zusammenhang von Produktstruktur und Projektstruktur im CE (KABEL 2001).
Produktstruktur Projektstruktur Fahrzeug
Leitungsebene Front-End
Scheinwerfer
Aufgabe Team
Frontklappe
Antrieb
Stoßfänger
Team Management
Team Design
Getriebe
Koordinierende Teams
Team Front-End
Team Scheinwerfer
Team Frontklappe
Team Antrieb
Team Stoßfänger
Team Getriebe
Ausführende Teams
Abb. 5.9: Zusammenhang von Produktstruktur und Projektstruktur im CE (aus KABEL 2001)
538
5.6.4
Arbeitswissenschaft
Maßnahmen zur Unterstützung
Auf der Grundlage des Teameffektivitätsmodells von HÖGL (1998) (siehe auch Kap. 5.4.3) leitet HUNECKE (2002) u.A. Interventionsmaßnahmen zur Förderung von Innovation in der frühen Phase der Produktentwicklung ab. Er liefert somit einen Beitrag zur Ergänzung der stark technikzentrierten Unterstützungsansätze im CE, indem er neben der Gestaltungsdimension Technikentwicklung auch die Dimensionen Organisationsentwicklung und Personalentwicklung (inkl. Führung, Qualifizierung, Anreizsysteme) sowie als übergeordnete Dimensionen die Organisationskultur und die Mitarbeitermotivation betrachtet (siehe Kap. 5.4.3). Die sozialpsychologische Gruppenforschung legt den Fokus auf die Verbesserung der Zusammenarbeit in den Projektteams und liefert Methoden und Instrumente für die Durchführung von Teamtrainings und Teamentwicklungsmaßnahmen (STUMPF u. THOMAS 2003). Neben der fortlaufenden Bilanzierung der Aufgabenerledigung im Sinne eines Ergebnis-Controllings betonen ZEUTSCHEL u. STUMPF (2003) die Notwendigkeit eines Process-Controllings, das auf die regelmäßige Reflexion der Zusammenarbeit und der „Arbeitsatmosphäre“ gerichtet ist. Ein Teampate oder ein externer Teamcoach können helfen, die oft schwierige Balance zwischen stabilem Teamzusammenhalt (mit der Gefahr von Abschottung) und guter Einbindung in die umgebende Organisationsstruktur (mit der Gefahr von Diffusion) zu halten. (Ein Überblick über empirische Befunde aus der sozialwissenschaftlichen Forschung zum Erfolg von Projektgruppen findet sich z.B. in BECKER-BECK u. FISCH 2001.) Gerade bei kreativer Arbeit ist ein effektives Wissensmanagement erforderlich. IT-basierte Werkzeuge, wie PLM-Systeme, Data-Mining- und BusinessIntelligence-Systeme, Social Software etc., können ein kooperatives Wissensmanagement, auch über räumliche Distanzen hinweg, unterstützen (FOLTZ u. LUCZAK 2003; FOLTZ et al. 2008; LUCZAK et al. 2002; MÜHLFELDER et al. 2001; NAGL u. MARQUARDT 2008; WOLF et al. 2003). Zur Unterstützung des Multiprojektmanagements in der Produktentwicklung wurde von LICHT (2008) ein personenzentriertes Simulationsmodell entwickelt, mit dessen Hilfe der Arbeitsfortschritt in mehreren, eng miteinander interagierenden Entwicklungsprojekten vorhergesagt werden kann. Die Einführung von CE-Teams als organisatorische Maßnahme reicht nicht aus, um das CE-Konzept in der betrieblichen Praxis vollständig umzusetzen. Zur Unterstützung von CE sind in Anlehnung an PENNELL u. WINNER (1989) zudem infrastrukturelle und methodengestützte Maßnahmen umzusetzen. Während arbeitsorganisatorische Maßnahmen die Form der Zusammenarbeit der beteiligten Mitarbeiter verändern (z.B. CE-Team-Einführung oder Integration von Einzelaktivitäten durch Personalunion), zielen infrastrukturelle Maßnahmen im Wesentlichen auf die Verbesserung des Informationsflusses. Aus diesem Grund unterstützen viele Maßnahmen die CE-Philosophie, die zum Computer Aided Engineering gezählt werden, wie z.B. durchgehende IT-Unterstützung in allen an der Produktund Prozessplanung beteiligten Abteilungen und gemeinsame Datenmodelle
Gruppen- und Teamarbeit
539
(STAHL 1998). Zu den bekanntesten und verbreitesten methodengestützten Maßnahmen im CE-Kontext gehören Rapid Prototyping (GEBHARDT 2000; siehe Kap. 10.2.3) und Simulationssysteme. Zur Unterstützung des CE wurden weitere Methoden und Werkzeuge entwickelt (EVERSHEIM u. SCHUH 2005). Diese Methoden zeichnen sich insbesondere durch eine hohe Toleranz gegenüber unsicheren, unvollständigen Informationen und gegenüber einem zunehmenden Detaillierungsgrad aus. Als Beispiele können Methoden zur parametrischen Konstruktion (BRECHER et al. 2005), die Toleranzkosten-Sensitivitätsanalyse (MERGET 2003, basierend auf GERTH 1996), die Methode zur integrierten Arbeitsgestaltung und Personalplanung (STAHL 1998) sowie das System zur prospektiven Gestaltung und Bewertung von Produktionstätigkeiten (MÜTZE-NIEWÖHNER 2004) genannt werden. 5.6.5
Diskussion
Die Effizienzvorteile von Concurrent Engineering werden in Kapitel 4.5 diskutiert. Durch die CE-Teamstruktur kann die bereichsübergreifende Zusammenarbeit verbessert werden, das Know-how anderer Bereiche fließt früher in das Projekt ein und es treten weniger Informationsverluste bei der Übergabe von Arbeitsergebnissen zwischen den beteiligten Bereichen auf (SEIBERT 2006). Die enge Zusammenarbeit mit Anderen verlangt von den Teammitgliedern außer der fachlichen Kompetenz auch affektive Qualifikationen wie Sozialkompetenz, Kommunikationsfähigkeit usw. Die sequentielle Arbeitsweise ist dagegen leichter koordinierbar und verlangt im Wesentlichen eine hohe fachliche Kompetenz. Durch die Befriedigung individueller und sozialer Bedürfnisse der beteiligten Arbeitspersonen ermöglicht der Teamansatz im CE nicht nur die Erfüllung wirtschaftlicher, sondern auch personenorientierter Ziele (KABEL 2001, s. o.). Voraussetzung ist allerdings, dass bei der Gestaltung der Teamarbeit die Anforderungen an die menschengerechte Arbeitsgestaltung berücksichtigt und insbesondere die Einhaltung von Kriterien der Beeinträchtigungsfreiheit und der Persönlichkeitsentfaltung im Prozess überprüft wird. Die Auswirkungen von CE auf das Individuum wurden bislang kaum untersucht (siehe KABEL 2007). Fallstudien weisen darauf hin, dass Fehlbeanspruchung in CE-Projekten i.d.R. als Folge von Überforderung auftreten. Unterforderung spielt angesichts der meist knappen Personalressourcen im Entwicklungsbereich und der steigenden Produktkomplexität und Variantenvielfalt – wenn überhaupt eine untergeordnete Rolle (LUCZAK u. KABEL 2005). Psychische Belastungsfaktoren treten in CE-Projekten in Form von Zeitdruck, Unsicherheit, Konflikten u.v.m. auf und können sich u.U. negativ auf die Leistungsfähigkeit, die Motivation, die Arbeitszufriedenheit oder auf die Gesundheit auswirken. In Bezug auf die arbeitswissenschaftliche Analyse, Bewertung und Gestaltung von Teamarbeit in der Produkt- und Prozessentwicklung muss ein Forschungsbedarf festgestellt werden. Es herrscht nach wie vor ein Mangel an validen Instrumenten, die für diesen speziellen Einsatzkontext geeignet sind, respektive an entsprechenden Studien, die
540
Arbeitswissenschaft
die Ableitung arbeitswissenschaftlich gesicherter Gestaltungsempfehlungen erlauben (siehe KABEL 2001, 2007). Auch im weiter gefassten Bereich der Projektgruppenarbeit finden sich nur wenige Studien, die das Erreichen humaner Ziele untersuchen. Diese fallen allerdings oft positiv aus, weil viele Projektmitarbeiter diese Arbeitsform und die Resultate von Projektgruppenarbeit durchaus schätzen (WEGGE 2004). Bezüglich der Einflussgrößen auf den Projekterfolg wird hier auf Kap 5.4.3 verwiesen. 5.7
Gruppenarbeit in Servicebereichen: Planungsinsel
Planungsinseln sind das Bindeglied zwischen Markt und Produktion (FUHRBERGBAUMANN et al. 1992). Sie sind verantwortlich für eine Auftragsfamilie (Produkt, Produktgruppe, Absatzgebiet, Kunde, Kundengruppen, usw.) und sehen eine dauerhafte Zusammenarbeit der Mitglieder in einer festen Organisationseinheit vor. Das Planungsinselkonzept ist ein Beispiel für die Realisierung teilautonomer Gruppenarbeit in indirekten bzw. dienstleistenden Bereichen. 5.7.1
Ziele der Einführung
Ziele der Einführung von Planungsinseln sind eine verstärkte Kunden- und Marktorientierung infolge durchgängiger interner Kunden-Lieferantenbeziehungen sowie eine Optimierung der Qualität des betrieblichen Wertschöpfungsprozesses. Die Kundenwünsche sowie der Grad der Kundenzufriedenheit werden entweder direkt über integrierte Vertriebsfunktionen oder indirekt durch die Anbindung der Planungsinsel an vorgelagerte Vertriebseinheiten durchgängig bis in den Produktionsprozess hinein erfahrbar gemacht bzw. rückgekoppelt. Durch die Gestaltung objektorientierter Organisationseinheiten sollen die Anzahl der organisatorischen Schnittstellen verringert und die Qualität der Kommunikation und Kooperation im Prozess der Auftragsabwicklung verbessert werden. Primäres betriebswirtschaftliches Ziel ist somit, die mit arbeitsteiligen Formen der Zusammenarbeit verbundenen Verluste an Zeit, Kosten, Qualität und Flexibilität zu reduzieren und den Erfüllungsgrad der allgemeinen Unternehmensziele zu steigern (OTZIPKA 1998; KELLER et al. 1992, SCHEER u. BULLINGER 1998). Daneben werden auch humanorientierte Ziele verfolgt, indem die Transparenz der Prozesse erhöht, Rückkopplungen intensiviert, Handlungs- und Entscheidungsspielräume erweitert und somit Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten gegeben werden (LUCZAK 1993b). Die Einsatzflexibilität sowie Innovations- und Lernfähigkeit der Beteiligten werden als Träger dynamischer Organisationsstrukturen angesehen, die maßgeblich die Reaktions- und Innovationsfähigkeit von Planungsinseln bestimmen.
Gruppen- und Teamarbeit
5.7.2
541
Merkmale von Planungsinseln
Den Mitarbeitern einer Planungsinsel wird, bezogen auf die tagesaktuellen Aufgaben der Auftragsabwicklung, die Verantwortung für ganzheitliche Prozesse übertragen. Diese können sich von der Kundenanfrage bis zur Angebotserstellung und vom Auftragseingang bis zum Versand des fertigen Produktes erstrecken. Grundsätzlich können folgende Aufgaben der Auftragsabwicklung in Planungsinseln integriert werden (OTZIPKA 1998, siehe Abb. 5.10): x Vertriebsaufgaben, z.B. Anfragenerfassung, Anfragenbewertung, Angebotsbearbeitung, Auftragsklärung x Auftragsplanungsaufgaben, z.B. Auftragsterminplanung (langfristig auf Eckterminebene), Kostenkalkulation x Konstruktionsaufgaben, z.B. Anpassungs-/Variantenkonstruktion, Detaillierung, Zeichnungs- und Stücklistenerstellung x Beschaffungsaufgaben, z.B. Bedarfsermittlung, Bestandsprüfung, Lieferantenbestimmung und -auswahl, Beschaffungsabwicklung x Produktionsplanungs- und -steuerungsaufgaben, z.B. Ausgangsmaterialplanung, Grobablaufplanung, Kapazitätsplanung, Terminplanung (mittelfristig auf Meilensteinebene) x Versandaufgaben, z.B. Transportplanung x kaufmännische Auftragsabwicklung, z.B. Erfolgskontrolle, Nachkalkulation. Zentralabteilungen Vertrieb • Marketing • strategische Verkaufsf planung •…
Einkauf • Preisverhandlung • Vertragsgestaltung •…
Controlling
Entwicklung
• strategische Kontrolle • Kennzahlenaufbereitung •…
• Produktinnovation • Neukonstruktion •…
Normung • Standardsierung •…
Verkauf Planung
Personal • Personalentwicklung • Prozessbegleitung •…
Konstruktion
Beschaffung
• • • • • • • • • • • • •
Anfragenbewertung Angebotsbearbeitung Auftragsklärung Auftragsplanung Auftragskalkulation Angebotskonstruktion Bedarfsermittlung Lieferantenauswahl Produktionsplanung Auftragsüberwachung Versandabwicklung Erfolgskontrolle ...
Planungsinsel
Abb. 5.10: Mögliches Aufgabenspektrum von Planungsinseln (LUCZAK et al. 1997)
542
Arbeitswissenschaft
Hierbei sollen elementare Grundfunktionen von allen Planungsinselmitgliedern beherrscht, dispositive, den Erfolg der Planungsinsel wesentlich beeinflussende Kernaufgaben gemeinsam durchgeführt werden. Auf einer übergeordneten Ebene sind Qualitätsmanagementaufgaben (Qualitätsplanung, -kontrolle, -lenkung) mit diesen Aufgaben verbunden. Auf diese Weise wird den Planungsinselmitgliedern der Stellenwert jedes Aufgabenbereiches innerhalb der Gesamtaufgabe bewusst und die persönliche Leistung als Beitrag zum Gesamterfolg erkennbar. In den Zentralabteilungen verbleiben lediglich unregelmäßig auftretende oder spezifisches Fachwissen voraussetzende Aufgaben, wie z.B. Vertriebsfunktionen (Marketing, strategische Verkaufsplanung etc.), Einkaufsfunktionen (PreisNeuverhandlungen, Vertragsgestaltung etc.), Entwicklungsfunktionen (Vorentwicklung, Neukonstruktion etc.), Normierungs-, Buchhaltungs-, IT-, Controllingsowie Personalfunktionen. Typische Gestaltungsmerkmale von Planungsinseln sind (OTZIPKA et al. 1997): x x x x
Objektorientierung in der Aufbauorganisation dauerhafte Zusammenarbeit räumliche Zusammenfassung der Inselmitglieder prozessorientierte Aufgabenintegration in der Auftragsabwicklung (geschlossene Regelkreise, durchgehendes Qualitätsmanagement) x erweiterte Qualifikation in Verbindung mit Gruppenarbeit (vollständige Aufgaben, Job Rotation zum Aufbau und Erhalt von fachübergreifendem Routine- bzw. Grundwissen) x prozessorientierte Ziele und Entscheidungsregeln x dezentrale Verantwortungsbereiche (Planungs-, Entscheidungs- und Regelungsautonomie) x Kosten-/Nutzenverantwortung in Verbindung mit Selbstorganisationsautonomie (im Sinne der kontinuierlichen Weiterentwicklung des Arbeitssystems Planungsinsel incl. verbundener direkter Produktionsbereiche). Aus dem beschriebenen Aufgabenumfang von Planungsinseln wird deren besondere Stellung als strategische Organisationseinheit (Kostenentwicklung, Produktqualität, kontinuierliche Verbesserung hinsichtlich Produkt- und vor allem Prozessinnovation etc.) für die verbundenen direkten Produktionsbereiche innerhalb segmentierter Unternehmensstrukturen deutlich. Der Grad der Zielerreichung ist an folgende Bedingungen geknüpft: x Innerhalb des Unternehmens sind möglichst voneinander unabhängige, produktorientierte und jeweils den gesamten Prozess der Auftragsabwicklung umfassende Unternehmenssegmente einzurichten. x Die Leistungsanforderungen (Zielsetzung, Erfolgskontrollmechanismen) und Entfaltungsmöglichkeiten (Tätigkeits- und Entscheidungsspielräume, Budgetverantwortung, Selbstorganisationsautonomie) sollten aufeinander abgestimmt sein, um die Entstehung eines unternehmerischen Verantwortungsgefühls bei jedem einzelnen Mitglied einer Planungsinsel zu fördern (OTZIPKA 1998).
Gruppen- und Teamarbeit
543
x Flexible Wochen- und Jahresarbeitszeitmodelle sollten eine an die Belange des Produktionsprozesses (Mehrschichtbetrieb etc.), des Betriebes (Jahresabschluss etc.) sowie des Marktes (saisonale Schwankungen etc.) angepasste Verfügbarkeit von Planungsinselleistungen sicherstellen. x Die Kosten-/Nutzenverantwortung sollte für die Planungsinselmitglieder auch über leistungs- und gruppenbezogene Entgeltstrukturen erfahrbar sein. x Die kooperationsorientierte und fachübergreifende Aufgabenintegation sollte durch eine angepasste, d.h. gruppenarbeitstaugliche Informations- und Kommunikationssysteme unterstützt werden (siehe KRUSE u. SCHEER 1994). 5.7.3
Gestaltungsvarianten
Unternehmensspezifische Randbedingungen erfordern unterschiedliche Gestaltungsvarianten von Planungsinseln. In Abhängigkeit von Absatz- und Beschaffungsmarktsituation sowie der Komplexität des Produktes lassen sich verschiedene Planungsinselformen unterscheiden (siehe Abb. 5.11), wie bspw. die Projektierungsinsel, die Auftragsinsel, die Logistikinsel oder die Vertriebsinsel. Sie sind durch unterschiedliche Grade der funktionalen Integration geprägt.
Vertrieb
Projektierungsinsel Konstruktionsinsel
Auftragsinsel
Logistikinsel
Vertriebsinsel
Entwicklung und Konstruktion Beschaffung und Arbeitsplanung (grob) Arbeitssteuerung (grob) Teilefertigung und Montage Lager und Transport Qualitätssicherung und Instandhaltung V Versand d Abb. 5.11: Abgrenzung von Planungsinselvarianten (OTZIPKA 1998)
In Projektierungsinseln ist das Know-how des technischen Vertriebes sowie der Entwicklung und Konstruktion integriert. Ausgehend von einer Kundenanfrage wird eine entsprechende Problemlösung projektiert und als Angebot dem Kunden übermittelt (Projektführung). Die Einführung von Projektierungsinseln ist bspw. in Unternehmen des Anlagenbaus vielversprechend. Ein Umsetzungsbeispiel in der Bauprojektierung eines Chemiekonzerns wird von KABEL et al. (1999) beschrieben.
544
Arbeitswissenschaft
Die Verantwortung für die Auftragsführung kann Auftragsinseln übertragen werden. Sie legen nach Eingang des Kundenauftrages die erforderlichen Kapazitäten und Termine fest, übernehmen die Beschaffung und überwachen den Auftragsfortschritt. Auftragsinseln bieten sich für Unternehmen des Maschinen- und Anlagenbaus an, auch in Verbindung mit Projektierungsinseln oder Entwicklungsteams. Je nach Produktkomplexität oder für Produktreihen, die in Kleinstserien mit geringen konstruktiven Änderungen aufgelegt werden, kann auch eine Zusammenfassung von Aufgaben der Projekt- und der Auftragsführung sinnvoll sein. Für Maschinenreihen mit Seriencharakter, keinem oder nur geringem Änderungsaufwand und hohem Fremdfertigungsanteil bietet sich die Einführung von Logistikinseln an. Die Mitarbeiter von Logistikinseln sind verantwortlich für die Abstimmung von Beschaffungs- und Produktionslogistik. Für Produkte ohne eigenen Entwicklungs- und Konstruktionsanteil und gleichzeitig geforderter hoher Lieferbereitschaft sind Vertriebsinseln geeignet, in denen der gesamte Prozess der Auftragsabwicklung von der Kundenanfrage bis zur Angebotserstellung und vom Auftragseingang bis zum Versand der Produkte integriert ist. Unabhängig von diesen rein funktionalen Überlegungen sind jedoch gerade in Kleinunternehmen auch Aspekte wie die Unternehmenskultur, Personal- und Qualifikationsengpässe, informelle Machtstrukturen etc. für die schließlich realisierte Arbeitsorganisationsform entscheidend. 5.7.4
Diskussion
Die Vorteile des Planungsinselkonzeptes liegen in der durchgängigen Kundenorientierung, einem hohen und frühzeitigen Reaktionspotential infolge stark verbesserter Kommunikation, Kooperation und Transparenz und der Vermeidung von Schnittstellenverlusten (OTZIPKA 1998, FUHRBERG-BAUMANN et al. 1992). Infolge der hohen räumlichen Nähe durch ein gemeinsames „Insel-Büro“ können „Bürokratismen“ und „Egoismen“ durch dynamische Gruppeneffekte eingeschränkt werden (OTZIPKA 1998). Rückfragen lassen sich schneller und einfacher klären, während die Entstehung schwerwiegender Mißverständnisse bei gelebter Gruppenarbeit zurückgeht. Das Zusammenwirken unterschiedlicher Know-how-Träger verschiedener Fachdisziplinen ermöglicht Synergieeffekte. Durch ganzheitlich definierte Aufgaben- und Verantwortungsbereiche, können Engpässe im Prozess der Leistungserstellung erkannt und die kunden- und marktgerechte Ausgestaltung der Wertschöpfungskette forciert werden. Hiermit verbunden ist eine Minimierung und Vermeidung indirekter und nicht wertschöpfender Tätigkeiten sowie eine Verbesserung der Prozessbeherrschung und -sicherheit. Problematisch können eine ungleichmäßige Auslastung der Mitarbeiter der Planungsinsel bei heterogenem Qualifikationsprofil, Personal- und Know-howEngpässe in anderen Unternehmensbereichen bei geringer Gesamtpersonalstärke
Gruppen- und Teamarbeit
545
und eine nicht an die Belange der Team- und Prozessorientierung angepasste Unternehmensstrategie, Entscheidungs- und Kontrollmechanismen sein. Fehlende Privatsphäre und Rückzugsmöglichkeiten für konzentriertes Arbeiten infolge nicht ergonomischer Büroraumgestaltung können zu Beeinträchtigungen oder sozialen Spannungen innerhalb der Planungsinsel führen. Auch kann eine dem Sinn von Selbstorganisation zuwiderlaufende zentrale Leitstelle zur Koordination mehrerer Planungsinseln bei konkurrierendem Zugriff auf betriebliche Ressourcen (Fertigungs-, Montage-, Inbetriebnahmekapazitäten) erforderlich sein (OTZIPKA 1998). 5.8
Gruppenarbeit zur kontinuierlichen Verbesserung: Qualitätszirkel
Als Qualitätszirkel werden kleine moderierte Gruppen von Mitarbeitern eines Arbeitsbereiches bezeichnet, die sich regelmäßig auf freiwilliger Grundlage treffen, um arbeitsbezogene Problemstellungen zu bearbeiten und Lösungsverfahren zu entwickeln (siehe ZINK 1995; ANTONI 2000). Das Konzept stammt ursprünglich aus Japan und wird bspw. im Toyota-Produktionssystem – neben anderen Bausteinen des übergeordneten „Kaizen“-Ansatzes zur kontinuierlichen Verbesserung – als dauerhaftes Managementinstrument zur Erzielung von Produktivitäts- und Qualitätssteigerungen betrachtet und umgesetzt (LIKER u. MEIER 2007). 5.8.1
Ziele der Einführung
Die primäre Zielsetzung bezieht sich darauf, bestehende Qualitätsprobleme im Leistungserstellungsprozess zu lösen und die Qualität des Arbeitssystems und der Prozesse zu verbessern. Die Einrichtung von Qualitätszirkeln beruht vor allem auf der Idee, dass Probleme und Schwachstellen am ehesten dort erkannt und beseitigt werden können, wo sie auftreten (ZINK 1995). Weitere Ziele betreffen die Förderung der Zusammenarbeit im Team und die Kompetenzentwicklung der einzelnen Teammitglieder (z.B. im Hinblick auf die Fähigkeit zu methodenbasiertem, systematischem Problemlösen). 5.8.2
Merkmale von Qualitätszirkeln
Als charakteristische Merkmale von Qualitätszirkeln können folgende benannt werden (siehe ZINK 1995; SEGHEZZI 2003): x Die Mitarbeit ist freiwillig. x Die Gruppengröße ist meist auf 4 bis 10 Mitglieder begrenzt. x Üblicherweise werden Qualitätsthemen aus dem eigenen Arbeitsbereich bearbeitet; u.U. kann sich auch eine bereichsübergreifende Zirkelarbeit ergeben (entsprechende Gruppen werden aber i.d.R. als KVP-Gruppen bezeichnet, siehe Kap. 5.8.4).
546
Arbeitswissenschaft
x Die Gruppe ist für die gesamte Problembearbeitung zuständig, d.h. von der Identifizierung von Problemen und Schwachstellen, über die Erarbeitung von Lösungsansätzen bis hin zur Umsetzung im Rahmen ihrer Möglichkeiten. x Die Zirkelarbeit wird moderiert durch einen ausgebildeten Moderator; diese Rolle übernimmt häufig der direkte Vorgesetzte oder ein Teammitglied (z.T. auch im Wechsel). x Die Gruppensitzungen finden regelmäßig statt. x Qualitätszirkelsitzungen finden während der Arbeitszeit statt und werden normal vergütet; bei der Arbeit in Schichtsystemen handelt es sich allerdings häufig um eine bezahlte Überstunde, vor oder nach Schichtbeginn. Die gewählten Themenstellungen können sich z.B. auf die Arbeitsplatzgestaltung, die Arbeitsabläufe, die eingesetzten Arbeitsmittel, die Informations- oder die Kommunikationsqualität beziehen. Reicht das Fachwissen für sachgerechte Lösungsansätze nicht aus, so können die zuständigen Spezialisten aus den Fachabteilungen zu Rate gezogen werden. LIKER u. MEIER (2007) betonen neben den genannten Merkmalen folgende Aspekte der Qualitätszirkelarbeit im Toyota-Produktionssystem: x Der Qualitätszirkel ist verantwortlich für die Zielsetzung und die Zeitplanung der Sitzungen. x Der Zirkelleiter (Moderator) ist gegenüber dem Management für die Erzielung der angestrebten Ergebnisse, die Planung der Meetings, die Formulierung der Erwartungen an das Team und die Koordinierung der Aktivitäten mit anderen Teams (z.B. Technik und Wartung) verantwortlich; er berichtet einmal wöchentlich an den Gruppenleiter. x Der Gruppenleiter (nicht Zirkelmitglied, sondern Vorgesetzter eines Teamleiters) fungiert als Berater und gibt Anleitung und methodische Unterstützung. x Zum Abschluss einer Aktivität werden die Ziele und Ergebnisse dem Management präsentiert. x Jeder Vorschlag, der von dem Qualitätszirkel umgesetzt wird, fließt in das Vorschlagssystem ein und wird ggf. zusätzlich finanziell belohnt. x Die besten Qualitätszirkel-Projekte werden jedes Jahr ausgezeichnet. Während in Konzeptbeschreibungen aus dem deutschsprachigen Raum die Umsetzungsentscheidung häufig der Gruppe überlassen wird (z.B. ZINK 1995), liegt sie bei der eng an Toyota angelehnten, von LIKER u. MEIER (2007) beschriebenen Variante ausschließlich bei übergeordneten Instanzen. 5.8.3
Maßnahmen zur Unterstützung
Die systematische Anwendung von Qualitätstechniken und –methoden (z.B. Prozess-Fehler-Möglichkeits- und Einfluss-Analyse, siehe z.B. SEGHEZZI 2003; PFEIFER u. SCHMITT 2007) sowie die Moderation und Steuerung der Qualitätszirkelarbeit
setzt
eine
entsprechende
Qualifizierung
der
Beteiligten
voraus
(z.B.
Gruppen- und Teamarbeit
547
Moderatorentrainings, Teamtrainings, Trainings zur Vermittlung des zur Problemlösung notwendigen Fachwissens und Methodenrepertoires). Eine erfolgreiche und effiziente Qualitätszirkelarbeit erfordert darüber hinaus eine vom Management getragene, mit entsprechenden Ressourcen und Entscheidungsbefugnissen hinterlegte Organisation. Es handelt sich dabei um eine Sekundärorganisation, die die Primärorganisation ergänzt. Abb. 5.12 zeigt eine für größere, produzierende Unternehmen typische Qualitätszirkelorganisation mit folgenden exekutiven Organen (SCHULER 1993; BUNGARD u. WIENDECK 1986; ZINK u. ACKERMANN 1984): x Steuerungsteam, das sich als Lenkungsorgan mit strategischen Fragen der Qualitätszirkel-Einführung, den finanziellen, personellen und inhaltlichen Rahmenbedingungen sowie den Programmgrundsätzen befasst x Koordinatoren, die die organisatorische Betreuung der Qualitätszirkel und die Ausbildung der Moderatoren übernehmen x Moderatoren der Qualitätszirkel x Qualitätszirkelgruppen. Unternehmensorganisation
Qualitätszirkelorganisation
Unternehmensleitung
Steuerungsteam
Bereichsleitung
Koordinatoren
Abteilungsleitung
Moderatoren
Meister Mitarbeiter
QZ-Gruppen
Fachabteilung Ausbildung/Training
Abb. 5.12: Struktur einer Qualitätszirkel-Organisaton (nach SCHULER 1993)
Obliegt die Entscheidung über die Umsetzung von erarbeiteten Verbesserungsvorschlägen übergeordneten Gremien, ist von den Verantwortlichen sicherzustellen, dass die Bewertung zeitnah erfolgt und für die Beteiligten transparent und nachvollziehbar ist.
548
5.8.4
Arbeitswissenschaft
Diskussion
Qualitätszirkel haben sich trotz zahlreicher Anstrengungen im deutschsprachigen Wirtschaftsraum nicht im erwarteten Umfang durchgesetzt (nach SEGHEZZI 2003). Mögliche Ursachen sehen LIKER u. MEIER (2007) insbesondere in der unzureichenden Schulung der Beteiligten, in der fehlenden Unterstützung und Förderung durch das Management sowie in einer insgesamt mangelnden Kultur der kontinuierlichen Verbesserung in deutschen Unternehmen. Auch in amerikanischen Werken japanischer Hersteller scheint es noch gewisse Umsetzungsprobleme zu geben: So geben Liker und Meier für japanische Toyota-Werke eine Beteiligungsquote von ca. 80% an, für das amerikanische Werk Georgetown allerdings lediglich 22% (ungefähre Angaben für 2004, siehe ebd.). Qualitätsarbeit in Gruppen findet in deutschen Unternehmen auch unter anderen Bezeichnungen statt. Im Zusammenhang mit der Einführung von Programmen zur Kontinuierlichen Verbesserung (siehe Kap. 4.3.4.2) finden sich bspw. KVPGruppen oder Kaizen-Teams (ANTONI 2000). In einer europäischen Studie gaben 69% der deutschen Unternehmen an, ihre Mitarbeiter an Prozessverbesserungen im Rahmen des KVP zu beteiligen (European Manufacturing Survey 2003/2004, Befragung von 2.249 produzierenden Unternehmen aus 9 europäischen Ländern, ARMBRUSTER et al. 2005). Im Unterschied zu Qualitätszirkeln werden KVPGruppen meist über mehrere Bereiche oder Hierarchien hinweg gebildet. Sie befassen sich mit der Erarbeitung von Verbesserungsvorschlägen zu übergeordneten, bereichs- bzw. funktionsübergreifenden Themen oder Problemstellungen. Auch im Qualitätsmodell der European Foundation for Quality Management (EFQM) werden sowohl bereichsübergreifende Qualitätsgruppen als auch teambezogene Qualitätszirkel als Bausteine zur Entwicklung und Sicherung der Qualität von Produkten, Prozessen und Dienstleistungen gefordert (siehe WUNDERER 2000). Im Vergleich zu den bisher beschriebenen Formen von Gruppenarbeit bedeuten Qualitätszirkel keine Änderung der Funktions- und Arbeitsteilung und eröffnen – je nach Variante - nur in geringem Umfang kollektive Entscheidungsspielräume (siehe WEGGE 2004). Aus arbeitswissenschaftlicher Sicht stellen Qualitätszirkel oder vergleichbare Konzepte aber zumindest eine sinnvolle Ergänzung zu restriktiven Gruppenarbeitsformen bzw. generell zu unvollständigen Tätigkeiten dar, indem sie den Mitgliedern Gelegenheit zur Einbringung eigener Ideen, Möglichkeiten zur sozialen Interaktion und zur gemeinsamen Lösungs- und Entscheidungsfindung bieten. Zirkelarbeit fördert die Kompetenzentwicklung und die Fähigkeit zur Zusammenarbeit und kann in Verbindung mit KVP- und Qualifizierungsprogrammen zur Entwicklung von lernenden Organisationen beitragen (LUCZAK et al. 1998a, LUCZAK et al. 2006, siehe SENGE 2008 zur lernenden Organisation). Bereits etablierte Qualitätszirkelkonzepte können darüber hinaus die Einführung teilautonomer Gruppen begünstigen (siehe z.B. RUHNAU 1997). Das Qualitätszirkelkonzept wird auch mit Erfolg auf andere betriebliche Aufgabenstellungen übertragen. Populäres
Gruppen- und Teamarbeit
549
Beispiel sind Gesundheitszirkel im Rahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung (siehe Kap. 8.2). Als eine Modifikation der Qualitätszirkelarbeit kann das Verfahren des „Aufgabenbezogenen Informationsaustauschs“ betrachtet werden, bei dem in moderierter Kleingruppenarbeit Arbeitsplatzinformationen und Erfahrungswissen ausgetauscht und für die Arbeitsgestaltung bzw. für die Erarbeitung von Prozessverbesserungen genutzt werden (SCHAPER 2000; HACKER et al. 2005). Das Verfahren sieht als so genannte „hybride“ Arbeitsform einen Wechsel zwischen Einzel- und Gruppenarbeit vor, um insbesondere mögliche Prozessverluste bei der kooperativen Bearbeitung von Aufgaben des „Entwurfsproblemlösens“ zu vermeiden (HACKER 2008). 5.9
Einführung von Gruppenarbeit
Die Einführung von Gruppenarbeit bedingt einen – abhängig von der Ausgangssituation mehr oder weniger – weitreichenden und langfristigen Veränderungsprozess, der neben technologischen und technischen Anpassungen insbesondere die Entwicklung der Organisation, des Personals und – nach der Gruppenbildung – auch die der Gruppe(n) betrifft. Nach dem klassischen, weithin akzeptierten Modell von LEWIN (1947, siehe hierzu u.A. BURNES 2004 und SCHEIN 2004) laufen erfolgreiche Veränderungsprozesse i.d.R. in drei Phasen ab: (1) „Unfreezing“ (auftauen): Ist-Zustand der Organisation/Gruppe/Individuum durch gezielte Interventionen aus dem Gleichgewicht bringen und unerwünschte Routinen und Verhaltensweisen aufbrechen, um Widerstände abzubauen und Veränderungsmotivation zu erzeugen (z.B. durch Aufzeigen nicht erreichter Ziele oder bestehender Probleme, Erarbeitung möglicher negativer Konsequenzen des Verharrens). (2) „Moving“ (verändern/bewegen): Phase der eigentlichen Veränderung in Richtung des definierten Zielzustandes (z.B. Umsetzung von Gestaltungsmaßnahmen und Durchführung von Trainings). (3) „Refreezing“ (einfrieren): Stabilisierung des neuen, arbeitsorganisatorisch „höherwertigen“ Zustands (z.B. durch Aufzeigen erzielter Verbesserungen). Erprobte Methoden und Interventionen zur Unterstützung von Veränderungsprozessen finden sich in der Literatur zur Organisationsentwicklung (z.B. BECKER u. LANGOSCH 2002; SCHREYÖGG u. CONRAD 2000), zur Gruppenentwicklung (z.B. STUMPF u. THOMAS 2003) und zur Personalentwicklung (z.B. SONNTAG 2006; RYSCHKA et al. 2008). Zu nennen sind bspw. Diagnose- und Feedbackinstrumente, Coachings, Supervisionen, Rollenklärungen, moderierte Workshops, Seminare und Trainings. Die konkrete Gestaltung der Methoden und Instrumente hängt von der Interventionsebene („Individuum“, „Gruppe“ oder „Organisation“), der Prozessphase und der spezifischen Themenstellung bzw. Zielsetzung ab (z.B. Förderung der
550
Arbeitswissenschaft
Kommunikationsfähigkeit, Lösung von Problemen oder Konflikten, Verbesserung der Zusammenarbeit im Team). In der Managementliteratur hat sich mittlerweile der Begriff „Change Management“ etabliert (siehe z.B. KRAUS et al. 2006; SCHUH 2006). Unter diesem Titel publizierte Konzepte stützen sich – zumindest teilweise – auf das bekannte Methodenrepertoire der Organisationsentwicklung. Verschiedene Autoren weisen auf Unterschiede zwischen den Ansätzen hin; so wird dem Change Management bspw. eine stärkere Umfeldbetrachtung und Ausrichtung auf ökonomische Aspekte attestiert (siehe TREBESCH u. KULMER 2007; WIMMER 2004). Mit Hilfe von Projektmanagementmethoden werden die auf den verschiedenen Interventionsebenen angestoßenen Veränderungsprozesse koordiniert und gesteuert (Abb. 5.13). Abb. 5.13 vereinfacht die Zusammenhänge und vernachlässigt die in realen Veränderungsprozessen vorhandenen und notwendigen Iterationsschleifen, die – vor allem bei lang dauernden Prozessen, wovon bei der Einführung von Gruppenarbeit auszugehen ist – durchaus auch zu Modifikationen des Zielzustandes führen können.
Projektmanagement Planung
Ausgangssituation Beispiel: verrichtungsorientierte Arbeitsorganisation erweist sich als nicht flexibel und ineffizient
Steuerung Überwachung
Evaluation
Organisationsentwicklung Veränderung von Strukturen und Prozessen; Förderung einer teamorientierten Unternehmenskultur Gruppenbildung
Gruppenentwicklung Förderung einer effektiven und effizienten Zusammenarbeit
Personalentwicklung Sicherung des qualitativen Personalbedarfs und Förderung individueller Kompetenzen und Potenziale
Zielzustand Beispiel: objektorientierte Arbeitsorganisation mit selbstregulierten Arbeitsgruppen
Abb. 5.13: Zusammenhang von Projektmanagement, Organisations-, Gruppen- und Personalentwicklung bei der Einführung von Gruppenarbeit
5.9.1
Vorgehensmodell
Nach KRINGS u. LUCZAK (1997) und RUHNAU (1997) hat sich für die Einführung teilautonomer Gruppenarbeit die zeitlich versetzte Kombination einer Top-Down-
Gruppen- und Teamarbeit
551
und einer Bottom-Up-Strategie bewährt (sog. „Down-Up“-Ansatz nach SCHUH 2006). Dabei werden die Projektziele und der grobe Rahmen für die Gestaltung des Gruppenarbeitskonzepts Top-Down vom Management entwickelt und vorgegeben. Um die Vorteile einer Bottom-Up-Strategie zu nutzen, z.B. hinsichtlich der Akzeptanz der Gestaltungslösung und der Nutzung des Erfahrungswissens der Arbeitspersonen, werden im Verlauf des Einführungsprozesses weitere Hierarchieebenen über sog. Projekt- und Beteiligungsgruppen einbezogen (siehe Kap 5.4 sowie HEEG 2006). Die Einführung von Gruppenarbeit setzt allerdings zunächst eine Phase der Orientierung und Vorbereitung voraus. Die betrieblichen Entscheidungsträger müssen sich intensiv mit dem Thema Gruppenarbeit befassen und sich die dazu notwendigen Informationen beschaffen. Darüber hinaus sollten die grundsätzlichen betrieblichen Probleme und die Ausgangssituation hinreichend präzise analysiert und transparent sein (RUHNAU 1997). Im Rahmen von Strategieworkshops gilt es anschließend die strategischen Ziele, die mit der Einführung von Gruppenarbeit verfolgt werden sollen, zu definieren und mit der Gesamtstrategie abzugleichen. Ferner muss überprüft werden, ob Gruppenarbeit überhaupt geeignet ist, den betrieblichen Gegebenheiten und Herausforderungen gerecht zu werden, und wenn ja, wie ein entsprechendes Gruppenarbeitskonzept gestaltet sein kann (siehe KOEPPE u. GRAP 2000). Zur Überprüfung des potenziellen Nutzens eines Konzepts ist eine Machbarkeitsstudie durchzuführen, die im Idealfall sowohl Aspekte der Makroebene (das gesamte Unternehmen betreffend, z.B. Unternehmens/Führungskultur, Betriebsklima, Entgeltsysteme, Arbeitszeitmodelle, Informations-/Materialfluss, Technologien/Technisierungsgrad) als auch der Mikroebene (einzelne Organisationseinheiten oder Bereiche betreffend) berücksichtigt. METZ (1997) entwickelte ein Kriteriensystem für die Auswahl von Pilotbereichen zur Einführung von Gruppenarbeit in der Produktion. Danach können die im jeweils analysierten Bereich zu erzielenden humanitären und ökonomischen Effekte vor der Einführung anhand der folgenden sieben Kriterien abgeschätzt werden: (1) Gruppenreinheit (Menge des ein-/ausgeschleusten Materials, Transparenz der Abläufe) (2) Aufgabenvollständigkeit (integrierbare indirekte Aufgaben, wie Disposition, Instandsetzung, Maschine einrichten/einstellen, Qualitätssicherung, Wartung/Instandhaltung) (3) Planung/Steuerung (Planungshorizont, Planungsautonomie) (4) Kommunikationsmöglichkeiten (5) Personalkontinuität (6) Qualifikationshomogenität (7) Gruppengröße. Die zu realisierende Form der Gruppenarbeit (restriktiv oder teilautonom bzw. qualifiziert) wird primär durch die Ausprägungen der ersten drei Kriterien (AKriterien) bestimmt. Das System bietet nicht nur eine Entscheidungshilfe, es kann
552
Arbeitswissenschaft
Startphase
Projektplanung/ Pilotbereich -organisation
2
GrobGrob konzeption
Ist-Analyse Ist Analyse (Pilotbereich)
3
F i Feinkonzeption
Feinkonzept
4
U Umsetzung
„Start Start der Gruppenarbeit“
5
Evaluation
Feedback,, Reflexion
Information
Grobkonzept p ((Ablauf-, Aufbauorganisation, Technik/Layout, Entgelt-, Arbeitszeitsystem) GruppenG bildung Aufgabenverteilung in der Gruppe Zielerreichung, g, Lessons Learned
fachliche und überfachliche Qualifizierung, Teamschulung, Teamentwicklung Teamentwicklung, -betreuung
6
intern
1
Abgrenzung// Ab Rahmenvorgaben
Proz zessbeglleitung
Vorbereitung Orientierung Strategie Machbarkeit
Prozessbegleiterr-/ Führungskräfteg training
0
extern n
außerdem dazu beitragen, organisatorische Gestaltungsspielräume aufzuzeigen und ein Verhaften an eine technikzentrierte Sichtweise bei betrieblichen Restrukturierungsmaßnahmen zu vermeiden (METZ 1997). Ein alternatives Kriteriensystem für produktive Bereiche liegt von KOEPPE u. GRAP (2000) vor. Für indirekte Bereiche stellt OTZIPKA (1998) ein Kriteriensystem zur Verfügung, mit dessen Hilfe betriebliche Akteure alternative Formen der auftragsabwicklungsbezogenen Zusammenarbeit konzipieren und vergleichen können. Das System umfasst die folgenden neun Gestaltungskriterien: (1) Ressourcenorientierung (2) Zusammenarbeitsform (3) Raumstruktur (4) Prozessautarkie (5) Qualifikationsredundanzen (6) Personalflexibilität (7) strategische Autonomie (8) operative Autonomie (9) Innovationsautonomie. Steht am Ende dieser Orientierungsphase fest, dass Gruppenarbeit eingeführt werden soll, sind die groben Rahmenbedingungen festzulegen und ein Projektlenkungsausschuss zu bilden. Abb. 5.14 gibt einen Überblick über alle weiteren Phasen, die im Zuge der Einführung zu durchlaufen sind. Auch hier sind Iterationen vorgesehen, insbesondere zwischen den Phasen der Grob- und der Feinkonzeption.
Kontinuierliche Verbesserung
Abb. 5.14: Vorgehensweise bei der Einführung von Gruppenarbeit
Um Erfahrungen sammeln und zukünftige Einführungsprojekte besser planen zu können, ist es sinnvoll, die Einführung zunächst auf einen Pilotbereich zu be-
Gruppen- und Teamarbeit
553
grenzen. Über das Projekt und die Chancen und Risiken von Gruppenarbeit sollten jedoch alle Beschäftigten umfassend informiert werden. Möglichst frühzeitig sollte mit der Qualifizierung der Führungskräfte begonnen werden, um sie auf ihre Promotorenrolle im Einführungsprozess und ihre veränderten Rollen und Aufgaben nach der Einführung vorzubereiten. Auf der Grundlage einer Ist-Analyse (siehe hierzu Analyseinstrumente in Kap. 5.4.2.5) werden in der Phase der Grobkonzeption die Rahmenbedingungen für die zukünftige Ablauf- und Aufbauorganisation, den Handlungs- und Entscheidungsspielraum der Gruppe, die Anordnung der Betriebsmittel, die Schnittstellen zwischen Pilotbereich und Umfeld, und die Anforderungsprofile für die Gruppenmitglieder und den Gruppensprecher (Soll-Qualifikationsprofile) festgelegt. Darüber hinaus ist ein geeignetes Qualifizierungskonzept zu entwickeln, dessen Umsetzung vorzubereiten sowie eine ggf. notwendige Übergangsregelung für das Arbeitszeit-/Entgeltsystem zu erarbeiten. In der zeitlich versetzt anlaufenden Feinkonzeption gilt es unter Berücksichtigung der Rahmenvorgaben u.A. die Arbeitsaufgaben und -abläufe sowie die Arbeitsplätze zu gestalten, Fragen der Verantwortungsübernahme, der Autonomie zu klären und die konkrete Umsetzung im Detail zu planen. Die Konzeptionsphase kann durch objektivierende Methoden der Arbeitsgestaltung unterstützt werden (siehe LUCZAK u. SCHUMANN 1996; LUCZAK et al. 1996b; LUCZAK u. WIMMER 1996; WIMMER u. LUCZAK 2000; BECKER u. ZÜLCH 2005; ZÜLCH u. BECKER 2008). Das beteiligungsorientierte Vorgehen sieht vor, dass die Grobkonzeption von den Projektgruppen (vorwiegend Führungskräfte des mittleren Managements) erarbeitet wird, die Feinkonzeption hingegen von den Beteiligungsgruppen (vorwiegend Mitarbeiter aus den Pilotbereichen). Die verschiedenen Gremien sind überlappend besetzt (KRINGS 1997). Optimierungs- und Abstimmungsprozesse zwischen den unterschiedlichen Hierarchieebenen sind über die Projektorganisation im Einführungsprozess verankert (Abb. 5.15). Die getroffenen Vereinbarungen können in einer Betriebsvereinbarung festgehalten werden (siehe Kap. 5.9.2). Auszüge aus bereits abgeschlossenen Betriebsvereinbarungen sowie ein Gestaltungsraster finden sich z.B. in KAMP (1998). Der Reorganisationsprozess wird durch einen neutralen Prozessbegleiter unterstützt (verbreitet ist auch die Bezeichnung „change agent“, siehe z.B. RÜHL 1976; RUHNAU 1997; ELKE 2007). Er soll insbesondere die Selbstorganisationsprozesse in den Beteiligungsgruppen und den späteren Arbeitsgruppen anregen, sie beraten und sie bei der Lösung von Problemen oder Konflikten methodisch unterstützen. Die Prozessbegleitung kann zunächst durch einen externen Berater erfolgen, dieser sollte aber von einem entsprechend qualifizierten internen Begleiter (z.B. Führungskräfte der unteren bis mittleren Ebene, Mitarbeiter der Personalabteilung oder Inhaber neu geschaffener Stabsstellen) abgelöst werden (siehe KRINGS u. LUCZAK 1997; MÜTZE et al. 2000, FINK et al. 2008). Die letzte Phase des Einführungsprozesses umfasst die Evaluation. Sie dient neben der kritischen Reflexion insbesondere der Überprüfung der Zielerreichung, z.B. anhand bestimmter zuvor definierter Kennzahlen. Im Hinblick auf die Über-
554
Arbeitswissenschaft
prüfung personenbezogener Effekte bietet sich der Einsatz standardisierter Instrumente an, wie z.B. des Job Diagnostic Survey von HACKMAN u. OLDHAM (in der deutschen Übersetzung von SCHMIDT et al. 1985, siehe auch SCHMIDT u. KLEINBECK 1999; BRÜGGMANN et al. 1999; siehe Kap. 5.4.2.5). Top-Down
a Projektleiter a
mittlere Füh Führungskräfte, k äft Meister gewerbliche Mitarbeiter, Sachbearbeiter Bottom-Up
Mitglied in
Mitglied in Auftrag an
externer Begleiter Mitglied in
x interner xProzessxbegleiter Unterstützung & Anregung
Feinkonzept
oberes Management
Projektlenkungsxxx ausschuss xxx xxx Betriebsrat
xxx
a Sprecher a
x x x
Grobko onzept
Geschäftsleitung
a x Leiter x a x x Projektgruppe x x Organi- Technik Qualif./ sation xxx Entgelt
Betriebsrat externer Begleiter
Beteiligungsgruppe g g g pp (Schicht 1-3) externer Begleiter xxx
betriebsinterne Experten für
Abb. 5.15: Projektorganisation bei der Einführung von Gruppenarbeit (in Anlehnung an KRINGS 1997)
Die Feststellung von Effekten setzt allerdings eine zweimalige Durchführung voraus (Vorher-/Nachher-Vergleich). Verfahren zur erweiterten Wirtschaftlichkeitsrechnung (z.B. DESERNO et al. 1988, ZANGEMEISTER 2000) berücksichtigen sowohl unmittelbare Kosten und Erträge als auch mittelbar wirkende Kosten (z.B. Kosten durch Fluktuation). Über die Ermittlung eines humanen und eines strategischen Arbeitssystemwertes werden darüber hinaus nicht monetär quantifizierbare Größen in die Bewertung einbezogen (z.B. Belastung, Persönlichkeit, Arbeitssicherheit, Flexibilität). Entsprechende Verfahren sind auch im Rahmen der Vorbereitungsphase zur Machbarkeitsanalyse einsetzbar (siehe METZ 1997; LUCZAK u. METZ 1996). Die Ergebnisse der Evaluationsphase können für die kontinuierliche Optimierung des Systems sowie für die Ausdehnung des Gruppenarbeitskonzepts auf weitere Bereiche bzw. auf das gesamte Unternehmen genutzt werden. Das Vorgehensmodell berücksichtigt wesentliche Voraussetzungen und Erfolgsfaktoren selbstregulierter Gruppenarbeit, wie z.B. die ausreichende fachliche und überfachliche Qualifizierung aller Gruppenmitglieder und Führungskräfte, die Beteiligung bei der Gestaltung/Einführung und die Vermittler- und Unterstützerrolle des Prozessbegleiters bzw. der Führungskräfte (siehe ANTONI 2009; GERST 1999; HEILIGER et al. 1997; HERZOG 1999; JÖNS 2008b; LUCZAK et al. 1996; MÜTZE et al. 1998; THUNIG u. KNAUTH 2001; WIMMER 2002; WIMMER u. STAWOWY 1999). Als weitere Erfolgsfaktoren – insbesondere auch im Hinblick auf die nachhaltige Etablierung - werden von den genannten Autoren u.A. das Commitment und Engagement des oberen Managements und die regelmäßige Verfolgung der Ar-
Gruppen- und Teamarbeit
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beitsgruppenentwicklung angeführt. Letzteres kann z.B mit Hilfe von Gruppenaudits erfolgen (HEILIGER et al. 1997; WIMMER u. STAWOWY 1999; KOEPPE u. GRAP 1999). Bei der Entwicklung einer Auditmethode werden Bewertungskriterien festgelegt und operationalisiert. Die Auditierung sollte bei selbstgesteuerten Arbeitsgruppen möglichst von den Gruppen selbst durchgeführt werden (WIEDEMANN et al. 2001, HENNLEIN u. JÖNS 2008). Ergänzend können Fremdbewertungen seitens des Vorgesetzten oder des Prozessbegleiters sowie Kundenbefragungsergebnisse hinzugenommen werden. Ausgehend von den Ergebnissen des Gruppenaudits werden Verbesserungsmaßnahmen oder Maßnahmen zur Gruppenentwicklung abgeleitet. Eine Auswertung über mehrere Gruppen hinweg bietet die Möglichkeit, auch übergreifende Handlungsbedarfe zu identifizieren. Die Rückmeldung über die Leistung und das interpersonelle Verhalten sowie die gemeinsame Reflexion im Rahmen von Gruppenaudits oder Feedbackgesprächen sind notwendig, um Lern- und Entwicklungsprozesse in der Gruppe anzustoßen und ein „Stagnieren“ der Gruppenarbeit zu vermeiden (siehe BUNGARD 2005; FINK et al. 2008; HENNLEIN u. JÖNS 2008; KABEL u. VÖLKER 2000). Aus der Arbeits- und Organisationspsychologie liegen standardisierte Instrumente zur Teamdiagnose vor, wie z.B. das Teamklimainventar (TKI) von BRODBECK et al. (2000) als deutsche Fassung des Team Climate Inventory von ANDERSON u. WEST (1994), der Fragebogen zur Arbeit im Team von KAUFFELD (2001, 2004) und das internetgestützte Verfahren TeamPuls von WIEDEMANN et al. (2001). Als Führungsinstrument haben auch Zielvereinbarungen eine erhebliche Bedeutung in der Praxis erlangt (siehe z.B. HÖLZLE 2000 sowie Kap. 5.4.3). Sind Zielvereinbarungen noch nicht im Unternehmen etabliert, erfordert ihre Einführung allerdings einen gesonderten Einführungsprozess (siehe BEYER et al. 2007 als Beispiel für die Einführung eines kennzahlenbasierten Systems zum partizipativen Produktivitätsmanagement). Ausführliche Darstellungen der zu beachtenden Anforderungen
sowie der positiven Effekte von Zielvereinbarungen im Kontext von Gruppenarbeit finden sich z.B. in BUNGARD u. KOHNKE (2002), WEGGE (2004), ERKE u. JÖNS (2003), ERKE u. BUNGARD (2006). Das in Abb. 5.14 vorgestellte Einführungsmodell beschreibt - je nach Größe des Bereichs - einen Zeitraum von ca. 1 bis 2 Jahren (siehe KRINGS u. LUCZAK 1997; JÖNS 2008b). Der Projektabschluss markiert allerdings nur das Ende des formalen Einführungsprozesses (in einem Pilotbereich) – nicht hingegen das Ende des Organisationsentwicklungsprozesses hin zu einer teamorientierten Führungsund Unternehmenskultur. Von Unternehmen, die Gruppenarbeit praktizieren, werden für diesen „kulturellen Entwicklungsprozess“ Zeiträume von mehr als 5 Jahren angegeben (BUNGARD u. JÖNS 1997). In JÖNS (2008a) beschreiben sechs namhafte deutsche Unternehmen, die bereits Mitte der 1990er Jahren mit der Einführung von Gruppenarbeit begonnen haben, ihre positiven Erfahrungen mit dieser Arbeitsorganisationsform. Sie weisen aber auch auf Schwierigkeiten, Grenzen und Risiken bei der Einführung und Aufrechterhaltung von Gruppenarbeit hin und
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Arbeitswissenschaft
Aufgabenstruktur • Handlungs- und Entscheidungsspielräume in Arbeitsgruppen • verteilte Grenzregulation • Aufgabenwechsel
Ablaufprinzipien • prozessorientierte Produktionsorganisation • Kunden-LieferantenBeziehungen • entkoppelte Produktionsschritte
Informations- und Rückmeldesystem
• PlanungsPlanungs und DispositionsDispositions spielräume für Arbeitsgruppen • Abstimmung zwischen Arbeitsgruppe(n) und Arbeitssteuerung
Personalentwicklung
Gruppenentwicklung
• systematische Personalentwicklung von Gruppen, Führungskräften und unterstützenden Stellen (z.B. Prozessbegleiter)
• Verfolgung des Stands der Gruppenentwicklung • Förderung d. Gruppenentwicklung • Rückmeldung über Gruppenentwicklung
Ressourcen nd Anreize un
Management
Planung und Steuerung
Entw wicklung
A Aufgabenstru uktur Arbeitsproze A esse
bestätigen damit im Wesentlichen die Anforderungen, die in den obigen Ausführungen explizit oder implizit gestellt werden. Im Rahmen der Analyse von Konzepten organisatorischer Unterstützungssysteme für selbstregulierte Gruppenarbeit hat WIMMER (2002) die Elemente entsprechender Systeme in einer Art Maximalkatalog zusammengefasst, siehe Abb. 5.16
• Messung und Bewertung von Individual- und Gruppenleistung • regelmäßige Rückmeldung der Gruppenleistung und -entwicklung
Ressourcen • Planung von Zeit- und Kostenbudgets • Verfügbarkeit und Bereitstellung notwendiger t di R Ressourcen
Anreizsysteme • gruppenarbeitsorientiertes Entgeltsystem • flexibles Arbeitszeitsystem • potenzialorientiertes t i l i ti t P Personall management
Organisatorische Verankerung • Verteilung von Entscheidungsbefugnissen • gruppen-/ teamarbeitsorientierte Organisationsstruktur
Führungssystem • partizipatives Führungsprinzip • methodische und soziale Unterstützung der Arbeitsgruppen (Prozessgewinne erzeugen) • Mitarbeiter-/Gruppengespräche
Organisationsentwicklung • kontinuierliche Verbesserungsprozesse • Integration der Arbeitsgruppen in Organisationsentwicklung (Mitarbeiterbeteiligung)
Strategie • Existenz von Leitbildern • Verankerung von Gruppen- und Teamarbeit in Unternehmensstrategie t t i und d -planung l • transparentes Zielsystem
Abb. 5.16: Komponenten organisatorischer Unterstützungssysteme für selbstregulierte Gruppenarbeit (in Anlehnung an WIMMER 2002)
5.9.2
Mitbestimmungsrechte
Während die Entscheidung über die Einführung teilautonomer Gruppenarbeit (siehe Legaldefinition in Kap. 5.1.2, BUNDESTAGS-DRUCKSACHE 14/5741, 2001) mitbestimmungsfrei durch den Arbeitgeber getroffen werden kann, räumt das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG, in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. September 2001) den Betriebsräten in den weiteren Phasen vielfältige Beteiligungsrechte ein (siehe z.B. LINDE 2004). Bereits in der Planungsphase ist das Vorliegen verschiedener Mitbestimmungstatbestände zu überprüfen. Unterrichts- und Beratungsrechte können sich z.B. aus §111 (Betriebsänderungen) ergeben, wenn davon auszugehen ist, dass die Einführung von Gruppenarbeit den Tatbestand einer Betriebsänderung erfüllt (z.B. indem sie eine grundlegende Änderung der Betriebsorganisation bedeutet und/oder die Einführung grundlegend neuer Arbeitsmethoden und Fertigungsverfahren mit sich bringt). Weitere Unterrichtungsund Beratungsrechte können sich aufgrund der Neugestaltung der Arbeitsplätze,
Gruppen- und Teamarbeit
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des Arbeitsablaufs und der Arbeitsumgebung (§90 BetrVG) sowie aus der Personalplanung und den daraus folgenden Maßnahmen ergeben (§92 BetrVG). Die erstmalige Zuordnung eines Arbeitnehmers zu einer Arbeitsgruppe kann unter bestimmten Bedingungen eine zustimmungspflichtige Versetzung nach §99 BetrVG darstellen. Im Zusammenhang mit den notwendigen Qualifizierungsmaßnahmen sind die Beteiligungsrechte bzgl. der Planung und Durchführung von Maßnahmen der beruflichen Bildung (§§96ff. BetrVG) zu beachten. In der Umsetzungsphase sind vor allem die typischen Mitbestimmungsrechte in sozialen Angelegenheiten nach §87 BetrVG zu wahren (z.B. Arbeitszeit- und Urlaubsregelungen, Entgeltsysteme, betriebliches Vorschlagswesen) sowie insbesondere das seit der Reform des Gesetzes im Jahre 2001 bestehende gesonderte Mitbestimmungsrecht hinsichtlich der Grundsätze zur Durchführung teilautonomer Gruppenarbeit (Kap. 5.5). Laut amtlicher Begründung kann der Betriebsrat bspw. Regelungen zu folgenden Gestaltungsaspekten verlangen und diese mitgestalten (BUNDESTAGS-DRUCKSACHE 14/5741, 2001): x Wahl eines Gruppensprechers, dessen Stellung und Aufgaben x Abhalten von Gruppengesprächen zwecks Meinungsaustauschs und Meinungsbildung in der Gruppe x Zusammenarbeit in der Gruppe und mit anderen Gruppen x Berücksichtigung von leistungsschwächeren Arbeitnehmern x Konfliktlösungen in der Gruppe. Das im vorausgehenden Abschnitt vorgestellte Vorgehen zur Einführung von Gruppenarbeit sieht eine umfassende Beteiligung des Betriebsrats bereits in frühen Phasen vor, um sicherzustellen, dass die Rechte und Belange der Arbeitnehmer von vornherein angemessen berücksichtigt werden und nachträgliche, mit Kosten und Reibungsverlusten verbundene Korrekturen am Konzept vermieden werden. Ob dieses Vorgehen vom Gesetzgeber angedacht war, ist der bisherigen Rechtslage allerdings nicht eindeutig zu entnehmen (siehe hierzu BUSCH 2003). Bei der Gestaltung der Aufgaben und der Entscheidungsspielräume der Gruppe kommt die Anwendung des §28a BetrVG in Betracht. In Betrieben mit mehr als 100 Arbeitnehmern kann der Betriebsrat bestimmte Aufgaben auf Arbeitsgruppen übertragen. Grundlage für die Delegation ist eine zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat abzuschließende Rahmenvereinbarung. In der amtlichen Gesetzesbegründung heißt es dazu weiter: „Die Aufgaben, die übertragen werden sollen, müssen in einem inneren Zusammenhang mit den von der Arbeitsgruppe zu erledigenden Tätigkeiten stehen. Das ist bspw. bei Übertragung von Regelungsbefugnissen im Zusammenhang mit Arbeitszeitfragen, Pausenregelungen, Urlaubsplanung, Arbeitsgestaltung und ähnlichen tätigkeits- oder aufgabenbezogenen Sachverhalten der Fall. Unzulässig ist es dagegen, dass der Betriebsrat z.B. bei einer Betriebsänderung dem davon betroffenen Arbeitsbereich die Beteiligungsrechte nach den §§111ff. überträgt“ (BUNDESTAGS-DRUCKSACHE 14/5741, 2001). Die Anwendung von §28a BetrVG ist nicht auf teilautonome Gruppen beschränkt.
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Arbeitswissenschaft
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6 6.1
Arbeitszeit Begriffliche Grundlagen
Der Begriff der Arbeitszeit ist in §2 des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG) definiert. Danach gilt als Arbeitszeit die Zeit, die von „Beginn bis zum Ende der Arbeit ohne die Ruhepausen“ geleistet wird (Ausnahme: im Bergbau unter Tage zählen die Pausen zur Arbeitszeit). Falls die Arbeitnehmer bei mehreren Arbeitgebern tätig sind, müssen die Arbeitszeiten zusammengerechnet werden. §2 definiert weiterhin Arbeitnehmer als Arbeiter und Angestellte sowie zu ihrer Berufsbildung Beschäftigte. Die Nachtzeit ist lt. ArbZG festgelegt zwischen 23.00 und 6.00 Uhr, bei Bäckereien und Konditoreien zwischen 22.00 und 5.00 Uhr. Nachtarbeit ist Arbeit, die mit mehr als zwei Stunden innerhalb der Nachtzeit liegt. Als Nachtarbeitnehmer werden die Arbeitnehmer definiert, die normalerweise Nachtarbeit in Wechselschicht leisten oder mindestens an 48 Tagen im Kalenderjahr Nachtarbeit leisten. 6.2
Entwicklung der Arbeitszeit
Eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit war in der Vergangenheit Gegenstand vieler tarifrechtlicher Auseinandersetzungen. Die Einführung der 35-StundenWoche war z.B. mit der Diskussion verbunden, wie im Hinblick auf die Produktivitätsentwicklung die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, Sektoren und gesamten Volkswirtschaft erhalten werden kann. In der Vergangenheit konnte durch Rationalisierung die Wettbewerbsfähigkeit vieler Industrien gesichert werden. Nunmehr werden langfristige Konzepte auf ihre Wirksamkeit im Hinblick auf Beschäftigung und Wachstum überprüft. Die seit Beginn der industriellen Revolution durch gesetzliche und tarifrechtliche Rahmenbedingungen initiierte, kontinuierliche Abnahme der Arbeitszeit hat dazu geführt, dass es heute im internationalen Vergleich in Deutschland niedrigere Jahresarbeitszeiten, bezogen auf die tariflichen Jahresarbeitszeiten, vermindert um Fehlzeiten wie Krankheit, Kuren etc., gibt als in zahlreichen anderen Ländern. Dabei zeigt die Erhebung der tatsächlichen Arbeitszeit bei Vollzeitstellen auch, dass Deutschland auf einem der Plätze mit der höchsten Wochenarbeitszeit liegt (siehe Abb. 6.1).
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Arbeitswissenschaft
Abb. 6.1: Vergleich der Wochenarbeitsstunden europäischer Länder, 4. Quartal 2007 (Quelle: EUROFOUND 2008), bezogen auf die tatsächliche Wochenarbeitszeit bei Vollzeitbeschäftigten
Die Entwicklung der Arbeitszeiten in Deutschland seit 2003 ist als ungewöhnlich zu betrachten. Dass die effektiven Arbeitszeiten während Rezession oder Stagnation zurückgehen und bei wirtschaftlichem Aufschwung wieder verlängert werden, ist an vielen Beispielen aus EU-Ländern bekannt. In Deutschland jedoch fand bereits 2003, also noch in einer Phase der wirtschaftlichen Stagnation, eine Debatte über längere Arbeitszeiten statt (IAQ-REPORT 2009). Angeregt wurde diese Debatte von einigen Arbeitgeberverbänden der Privatwirtschaft. Aber auch die öffentlichen Arbeitgeber schlossen sich an. Mit dem beginnenden Aufschwung der Wirtschaft in 2004 stiegen dann die Arbeitszeiten real an. Die Unternehmen
Arbeitszeit
577
reagierten auf den Aufschwung erst einmal mit Arbeitszeitverlängerungen, um den Bedarf zu decken. Erst zwei Jahre später wurden vermehrt Beschäftigte, vorzugsweise Leiharbeiter und sog. „Minijobber“, eingestellt. Aber auch die steigende Anzahl an Beschäftigten führte nicht zu einem Ende der Arbeitszeitsteigerung. Die Wochenarbeitszeit für Vollzeitbeschäftigte stieg bis 2005 auf 40,3 Stunden (siehe Abb. 6.2).
Abb. 6.2: Wochenarbeitszeit abhängiger Vollzeitbeschäftigter in Deutschland (1984-2005) (Quelle: IAQ-REPORT 2009)
Um die Arbeitszeit an gesetzliche, tarifliche und marktbezogene Vorgaben anpassen zu können, ist die Flexibilisierung unumgänglich. Arbeitszeitflexibilisierung bedeutet in einem ersten Schritt die Aufhebung der starren Kopplung von Betriebszeit und Arbeitszeit (Abb. 6.3). Dies kann aus verschiedenen Gründen notwendig sein: Infolge des Wandels vom Anbieter- zum Käufermarkt sowie der Globalisierung werden kurze Lieferfristen und Termintreue neben dem Preis und der Produktqualität immer wichtiger. Zudem bedingen ständige technische Neuerungen und kürzere Produktlebenszyklen, dass Anlagen schnell veralten. Die dadurch erforderlichen kurzen Amortisationsfristen sind nur durch längere Betriebszeiten erreichbar. Zusätzliche Nachteile bei der starren Kopplung von Betriebsund Arbeitszeiten sind in verringerten Ansprechzeiten (z.B. im Vertrieb) und einem erhöhten Überstundenpensum zu sehen. Auch unregelmäßig über das Jahr verteilte Betriebs- und Arbeitszeiten können sinnvoll sein, um beispielsweise eine effiziente Just-in-Time-Produktion (siehe auch Kap. 4.4.2) bei saisonalen Auftragsschwankungen zu ermöglichen.
578
Arbeitswissenschaft
Neue Arbeitszeitwünsche: Wunsch nach • En-Bloc-Freizeiten, • Gleitzeit, • Zeitsouveränität
Neue Technologien: • Ausdehnung der Betriebsnutzungsdauer
Flexibilisierung der Betriebsnutzungsdauer wegen: • Anpassung an zeitlich schwankende Nachfrage • Individualisierung und kürzere Lebenszyklen der Produkte
Entkopplung von Betriebs- und Arbeitszeiten
Forderung nach Verfügbarkeit: • Freizeitdienstleistungen rundum-die-Uhr und um-die-Woche
Abb. 6.3: Gründe für (GARHAMMER 1994)
Strukturwandel der Arbeit: • Verschiebung auf Dienstleistungen
die
Entkopplung
Neue Produktions- und Logistikkonzepte: • lean production, • just-in-time
Öffnungszeiten von Kindergärten, Schule etc.
von
Betriebs-
und
Arbeitszeiten
Diese Flexibilisierungsnotwendigkeiten sind mit humanen Bedürfnissen nach Zeitsouveränität, Persönlichkeitsentfaltung, Arbeitsattraktivität, familiärer Zuwendung und allgemeiner Freizeitorientierung unter Berücksichtigung arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse in Übereinstimmung zu bringen. Eine zunehmend wichtige Rolle spielt auch die Dauer der Lebensarbeitszeit. Der bereits eingesetzte demografische Wandel lässt sowohl Zweifel an der zukünftigen Finanzierbarkeit des bestehenden sozialversicherungsrechtlichen Systems (Generationenvertrag) als auch an der Ausweitung des Arbeitspotenzials der Bundesrepublik Deutschland aufkommen: Das Angebot an Erwerbstätigen ist langfristig rückläufig und die Anzahl alter Menschen nimmt überproportional zu (siehe Kap. 2.2.2). Lange Ausbildungszeiten (Schule, Lehre, Studium) verhindern lange Erwerbszeiten und die gängige Praxis der Vorruhestandsregelungen untermauert diesen Umstand noch. Den in den Betrieben für die Organisation der Arbeitszeit zuständigen Fachleuten obliegt im Rahmen existierender Gestaltungseinschränkungen die Verantwortung für Bezugszeitraum, Lage und Dauer der Arbeitszeit. Gemeinsam mit dem Gesetzgeber und den Tarifparteien müssen sie vor dem Hintergrund der beschriebenen Entwicklungen auch die Frage nach der Dauer der Lebensarbeitszeit stellen. Der Bedeutung des Themengebiets „Arbeitszeit“ Rechnung tragend wurden im Juli 2006 vom Vorstand der DGAUM (Deutsche Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e.V.) Leitlinien zur Nacht- und Schichtarbeit verabschiedet (DGAUM 2009). Adressaten dieser Leitlinien sind Arbeitsmediziner und Ärzte aller anderen Fachrichtungen, aber auch Arbeitswissenschaftler, Praktiker in der Gefährdungsbeurteilung und Arbeitsgestaltung in Unternehmen sowie alle Institutionen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes. Die Leitlinien sollen wissenschaftlich begründete und praxisorientierte Handlungsempfehlungen und Orientierungshilfen geben. Entsprechend dieser Zielsetzung gehen die Leitlinien Nacht- und Schichtarbeit ein, auf die wichtigsten Rechtsnormen zur Schichtarbeit, die Defini-
Arbeitszeit
579
tion, die Wirkung von Schichtarbeit auf den Menschen und die Möglichkeiten, erhöhter Beanspruchung durch Schichtarbeit entgegenzuwirken. 6.3
Arbeitszeit und Produktivität
Der Zeitbegriff als wirtschaftlich-soziale Maß- und Wertvorstellung ist nicht sehr alt, und erst in den letzten Jahrhunderten wurde der Zeitbegriff für die menschliche Arbeit als Maßstab übernommen (GIESE 1930; SCHMID 1961). Bezeichnet man das mengenmäßige Verhältnis von Faktorertrag zu Faktoreinsatz als Produktivität, so ist mit einer Reduzierung von Arbeitsstunden nicht gleichsam ein Rückgang der Arbeitsproduktivität zu erwarten – auch dann nicht, wenn eine Verkürzung der Arbeitszeit auch zu kürzeren täglichen Arbeitszeiten führt (WÖHE 1984). Im Europa des vorindustriellen Zeitalters bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hinein herrschte die Auffassung, dass Arbeit eine erzieherische und sittlichkeitserhaltende Funktion haben sollte. Mit entsprechend langen Arbeitszeiten sollte das Volk frei gehalten werden von Müßiggang und schädigenden, politischen Einflüssen. Tägliche Arbeitszeiten von 12, 14 und 16 h waren durchaus üblich, und erst in der Folge wurden Arbeitszeitregelungen Gegenstand gesetzlicher Vorgaben und Verankerungen. Durch die aufkommende Industrialisierung und die damit verbundene Substitution von Arbeit durch Kapital wurde dann auch aus ökonomischen Erwägungen auf einen sinnvollen, effektiven Einsatz menschlicher Arbeit gedrängt. Einzelne englische Volkswirte des 18. Jahrhunderts, wie beispielsweise Adam Smith, hatten übrigens bereits die inneren Zusammenhänge zwischen der übermäßigen Arbeitsdauer und dem gelegentlichen Ausspannungsbedürfnis der Arbeiter, die ihre erschöpfte Arbeitsenergie an besonderen Mußetagen wieder auffrischen mussten, erkannt. Adam Smith, der Moralphilosoph unter den Nationalökonomen, hatte schon vor der weiteren Verbreitung des Fabriksystems die übermäßige zeitliche Arbeitsbeanspruchung der Arbeiter als Widersinn bezeichnet, da sie zu einer Untergrabung der Gesundheit der Arbeiter führen müsse, wenn diese sich nicht selber durch den „viel beklagten Müßiggang“ an einzelnen Zwischentagen halfen. „Derjenige, welcher in dem Maße arbeitet, dass er sein Werk ständig fortsetzen kann, bewahrt nicht nur seine Gesundheit am längsten, sondern bringt auch im Laufe des Jahres die größte Menge Arbeit zustande“ (GIESE 1930). Wurde der Zehnstundentag 1848 zuerst in England, 1904 in Frankreich und 1912 im Deutschen Reich eingeführt, so wurden schon 1883 in der Maschinenfabrik von Mather und Platt in Salford sowie von W. Allen in den Scotia Engine Works, Sunderland, die ersten Experimente zum Achtstundentag durchgeführt. Das Ergebnis war, dass eine wesentliche Reduzierung der Arbeitskosten erreicht werden konnte. Allgemein wurde mit dem Übergang vom Zehnstundentag auf den Achtstundentag auch eine Produktivitätssteigerung erwartet. Und schon 1883 ging das Arsenal von Woolwich, England, mit 16.000 Arbeitern zum Achtstundentag über (Vergleich: Gesetzliche Einführung des Achtstundentages in Deutschland 19.
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Arbeitswissenschaft
Nov. 1918, in England 1. Nov. 1919). Noch vor Ausbruch des 1. Weltkrieges konnte Ford in den USA durch Einführung des Achtstundentages gegenüber dem Neunstundentag nach eigenen Angaben eine „Mehrleistung“ von ca. 15 - 20% erzielen, womit gleichwohl eine Erhöhung der Produktion als auch der Produktivität verstanden werden soll (GIESE 1930). Den Zusammenhang zwischen Arbeitszeitverkürzung und Produktivitätssteigerung formulierte Brentano schon vor über hundert Jahren: „Tritt infolge Lohnerhöhung und Kürzung der Arbeitszeit eine Erhöhung der Arbeitsleistung ein, so treibt sie erfahrungsgemäß zu größerer Intensität der Arbeit, weil Menschen mit größeren Bedürfnissen bei kürzerer Arbeitszeit zu größerem Fleiße genötigt sind. Sie ermöglicht auch intensivere Arbeit, indem körperliche Ursachen und größere Arbeitsfreude ihnen den größeren Fleiß leichter machen als Arbeitern, welche wenige Bedürfnisse empfinden, schlecht genährt, müde und missmutig sind.“ (BRENTANO 1893, nach SCHMID 1961). Die in den Weltkriegen von 1914 und 1939 verlängerten Arbeitszeiten zur Mehrproduktion von Kriegs- und Versorgungsgütern sind Gegenstand vieler Untersuchungen gewesen. In englischen Munitionsfabriken erzielte man durch eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit von 66 auf 47,5 h eine erhebliche Produktivitätssteigerung, die zudem zu einer Produktionserhöhung führte, wenn das Arbeitstempo von Maschinenzeiten unabhängig gesteigert wurde (Tabelle 6.1). Tabelle 6.1: Wöchentliche Arbeitszeit, Produktion und Leistungsgrad. Das Drehen von Geschosskörpern als von Maschinenzeiten unabhängige, das Fräsen von Schraubengewinden als abhängige Arbeitsleistung (nach VERNON 1943, aus SCHMID 1961) Arbeitszeiten
Produktion
Leistungsgrad
Arbeit StundenĆ proĆWoche
StückeĆ proĆStunde
TotalĆ Stücke
relativeĆ Produktion
inĆ%
DrehenĆvonĆ Geschoß-Ć körpern
66,4Ć 54,4Ć 47,5
108Ć 131Ć 169
7178Ć 7126Ć 8028
100Ć ĆĆ99,4Ć 113
100Ć 120Ć 155
FräsenĆvonĆ Schrauben-Ć gewinden
64,9Ć 54,8Ć 48,1
100Ć 121Ć 133
6490Ć 6631Ć 6397
100Ć 102Ć ĆĆ99
100Ć 121Ć 133
VERNON (1943, zit. nach SCHMID 1961) untersuchte in England eine Gruppe von 115 Frauen in der mechanischen Fertigung, deren wöchentliche Arbeitszeiten im Kriegsjahr 1942 von 56 auf 69,5 h erhöht worden waren. Die durch die Mehrarbeit erzielte Produktionserhöhung betrug in Woche 1 +26%, Woche 2-4 +11%, Woche 5-8 +7% und in Woche 9-13 +/- 0%.
Arbeitszeit
581
Obwohl sich die Arbeitsproduktivität zunächst nach der Umstellung in der ersten Woche um 1,6% erhöhte, wurden schon in der zweiten Woche 10% und in den darauf folgenden Wochen 14% und schließlich 20% Produktivitätsrückgang gemessen. Dagegen wurde nach Wiedereinführung der alten Arbeitszeit eine zunächst proportional zur Arbeitszeitverkürzung zurückgehende Produktionsleistung beobachtet und zwar aufgrund des remanenten Arbeitstempos. Danach benötigten die Arbeiterinnen einen Anpassungsvorgang von ca. 3-4 Monaten, um zu einem höheren Arbeitstempo zu finden – mithin zu einer Kompensation der durch Arbeitszeitverlust eingetretenen Minderleistung (VERNON 1943, zit. nach SCHMID 1961). Wenngleich einer weiteren, ad infinitum zu betreibenden Ausnutzung von Produktivitätsreserven allein durch Arbeitszeitverkürzung ökonomisch-technische Grenzen gesetzt sind, so wurden in der Vergangenheit durch schrittweise Rückführung der Wochen- und Tagesarbeitszeiten eindeutige Ergebnisse erzielt, einhergehend mit Gestaltungsmaßnahmen in der Arbeitsorganisation und einer im Zuge der Mechanisierung und Automatisierung effektiveren Kombination der Produktionsfaktoren. In den USA wurde eine Arbeitszeitverkürzung von 48,6 auf 39,8 h Wochenarbeitszeit im Zeitraum von 1929 bis 1957 erreicht. Der dadurch verursachte Produktivitätszuwachs betrug gegenüber dem gleichfalls produktivitätssteigernden Faktor Kapital 100% (SCHETTKAT 1984). Die Frage, ob nicht bereits die heute üblichen täglichen Arbeitszeiten von 8 h für einzelne Arbeitsformen schon zu lang seien, wurde bereits von LEHMANN (1962) diskutiert. Unterstellt wurden hierbei mehrere Beziehungen zwischen Tagesleistung und täglicher Arbeitszeit. Die Analysen zeigen, dass eine Leistung in Abhängigkeit von der Arbeitsschwere schon weit vor Arbeitszeitende das Maximum der Stundenproduktivität erreicht haben kann. Mit anderen Worten: Wird die Arbeitszeit von 8 h auf 7 h verkürzt, so beträgt die Minderleistung weniger als ein Achtel. Zum anderen ist die Tagesleistung abhängig von der Leistungsbereitschaft und von der Summe der Rüst- und Nebenzeiten (LEHMANN 1962). Mit einer weiteren Reduzierung der täglichen Arbeitszeit werden – vordergründig betrachtet – die konstanten Anteile unproduktiver Nebenzeiten relativ zu den Produktionszeiten erhöht. Maschinelle Anlaufzeiten und physiologisch bedingte Einarbeitungszeiten fallen ebenso ins Gewicht. Dagegen ist ein linearer Produktionsabfall bei maschinenabhängiger Leistung zu erwarten. Einen Beleg liefert der Vergleich der durchschnittlichen tatsächlichen Arbeitszeiten in der EU und der damit verbundenen Arbeitsproduktivität (Abb. 6.4). Die Arbeitsproduktivität je geleisteter Arbeitsstunde fällt durchschnittlich in Abhängigkeit von der Anzahl der in der Woche zu leistenden Arbeitsstunden (bezogen auf Vollzeitarbeitnehmer). Dieser Schluss ist jedoch nur eingeschränkt zu ziehen, denn es gibt gerade zwischen den einzelnen EU-Ländern deutliche Unterschiede (Arbeitsgestaltung, sozialer Kontext, etc.), die für die Arbeitsproduktivität mit verantwortlich sein können. So ist die Produktivität beispielsweise im Vergleich
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Arbeitswissenschaft
zwischen Belgien und Polen sicherlich nicht ausschließlich durch die zu leistenden Wochenarbeitsstunden sinnvoll zu erklären.
Abb. 6.4: Durchschnittliche tatsächliche Arbeitszeiten und damit verbundene Arbeitsproduktivität von Vollzeit-Arbeitnehmern in der EU (2002), Quelle: Europäische Arbeitskräftestichprobe, Eurostat (nach LEHNDORFF 2005)
6.4
Flexibilisierungsparameter und Gestaltungsansätze
Die Arbeitszeit besitzt eine chronologische Dimension, welche die Verteilung und zeitliche Lage der Arbeitszeit angibt, und eine chronometrische, welche die Dauer der Arbeitszeit festlegt (BAUER 1999). Die Definitionen von flexibler Arbeitszeit sind in der Literatur unterschiedlich weit gefasst. WILDEMANN (1991) und LINNENKOHL u. RAUSCHENBERG (1996) beschreiben, dass Arbeitszeit als flexibel bezeichnet werden kann, wenn sowohl chronologische als auch chronometrische Dimensionen permanent veränderbar sind. Die Gestaltung der Arbeitszeit ist abhängig von den vorliegenden Arbeitsaufgaben und muss sich daran orientieren. Vor Einführung eines Arbeitszeitmodells ist eine fundierte qualitative und quantitative Analyse der Aufgabenfelder erforderlich. In Abb. 6.5 sind zwei komplementäre Strukturierungsprinzipien gegenübergestellt (FERREIRA 2001).
Arbeitszeit
Abb. 6.5: Gegenüberstellung von zwei (FERREIRA 2001 angelehnt an BÜGE 1993)
583
komplementären
Organisationssystemen
Mit dem starren Organisationssystem werden solche Tätigkeiten beschrieben, die unter anderem x standardisiert, x formalisierbar, x kontinuierlich, x häufig vorkommend, x wenig zeitkritisch, x verschiebbar, x planbar, x einfach und x wenig kommunikationsintensiv sind. Ein Arbeitszeitmodell könnte starr, mit wenigen flexibilisierenden Elementen ausgelegt sein.
584
Arbeitswissenschaft
Das flexible Organisationssystem umfasst Tätigkeiten, die x komplex x wenig formalisierbar x sporadisch bzw. einmalig x sehr zeitkritisch x nicht verschiebbar x kaum planbar sind und bei den Beteiligten einen hohen Informations- und Kommunikationsbedarf auslösen. Das Arbeitszeitmodell sollte sehr individuell und flexibel gestaltet sein und auf hohen Autonomie- und Freiheitsgraden sowie der Selbstkoordination der Mitarbeiter aufbauen. Das Arbeitszeitmanagement muss ökonomische und organisatorische Interessen des Betriebs und gleichermaßen persönliche Präferenzen, physiologische Dispositionen (siehe Kap. 2.2.5) und soziale Bedürfnisse der Mitarbeiter berücksichtigen. Hierfür stehen die folgenden Gestaltungsparameter zur Verfügung: x Die Arbeitszeitdauer bestimmt die mitarbeiterbezogenen Stunden pro Zeiteinheit (z.B.: Teilzeit mit 30 Stunden/Woche; Vollzeit mit 36 Stunden/Woche). x Die Arbeitszeitverteilung regelt sowohl die zeitliche Lage der Arbeitszeiten (z.B.: Zwei-Schicht-System mit definierten Anfangs- und Endzeiten) als auch eine mögliche Verteilung in Zeiträumen (z.B.: erstes Jahresquartal mit 32 Stunden/Woche; zweites Jahresquartal mit 40 Stunden/Woche). x Der Bezugszeitraum legt fest, wie lange eine Person arbeitet, angegeben in Stunden, Tagen, Wochen, Monaten oder Lebensarbeitszeit. x Die Arbeitsplatzbesetzung bestimmt, wie viele Mitarbeiter an einem Arbeitsplatz eingesetzt werden (beispielsweise Mehrfachbesetzungssystem). In der Arbeitsplatzbesetzung finden sich demzufolge auch Aspekte einer flexiblen Arbeitsorganisation wieder. Die Kombination dieser Parameter ermöglicht es, betriebsspezifische und mitarbeiterorientierte Arbeitszeiten bedarfsgerecht zu entwickeln. Die Möglichkeiten flexibler Lebensarbeitszeit haben nach HALL (1993) Auswirkungen auf den traditionellen Karrierebegriff und damit die Karrierekultur. Ein mehrmaliges Wechseln in andere Berufsfelder (Multifunktionskarriere) gehört ebenso dazu wie zeitlich befristete Beförderungen oder aber auch der stufenweise vollzogene Übergang in den Ruhestand (Abb. 6.6). Die Akzeptanz veränderter Karrieremodelle kann durch geeignete Personalentwicklungsmaßnahmen initiiert werden (Workshops, Seminare, etc.). HALL (1993) spricht in diesem Zusammenhang von einem „psychologischen Vertrag“ zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber mit den folgenden grundsätzlichen Elementen: x Kein Betrieb kann die Karriere eines Beschäftigten vollständig planen. x Daher müssen Arbeitnehmer mehr Verantwortung für das Management ihrer Karrieren übernehmen.
Arbeitszeit
585
x Die dafür erforderlichen Karriere-Kompetenzen sind im Wesentlichen: Anpassungsfähigkeit; Toleranz gegenüber Veränderungen; Selbsteinschätzung und Identitätsveränderung. x Der Betrieb muss mehr Entwicklungsmöglichkeit anbieten (hierarchisch: nach unten, quer, nach oben; Verlassen des Unternehmens). x Der Betrieb muss über günstige berufliche Chancen informieren und Unterstützung für Mobilität leisten. x Schließlich sollte Karriereentwicklung integrativer Bestandteil eines strategischen Managementsystems sein. Arbeitszeitvolumen
Arbeitszeitvolumen
t
t
Traditionell Arbeitszeitvolumen
Multifunktionskarriere Arbeitszeitvolumen
t
t
ZeitweiseĆBeförderung
StufenweiseĆPensionierung
Abb. 6.6: Arbeitszeitvolumen bei unterschiedlichen Karrieremodellen (HALL 1993)
Betriebszeitorganisation Für die effiziente, bedarfsgerechte Nutzung der Betriebsmittel existieren verschiedene Möglichkeiten der Betriebszeitflexibilisierung. Steigt der Absatz, bieten sich außer Mehrarbeit (oft unwirtschaftlich aufgrund hoher Zulagen) folgende Maßnahmen an (Abb. 6.7) (SCHWIENTEK 1993): x Ausdehnung der Schichtdauer durch Wahrnehmung von Optionen zur Betriebszeitverlängerung x Erhöhung der Anzahl der Schichten pro Tag x Zusatzschichten an noch nicht genutzten Wochentagen, z.B. Samstagen, ggf. als Mehrarbeit x organisatorischer oder technischer Pausendurchlauf x Erhöhung des Nutzungsgrades durch Verkürzung von Brachzeiten x Fremdvergabe von Aufträgen bzw. Verringerung der Fertigungstiefe. Neben der Flexibilisierung von Arbeit bietet die Einführung von Kurzarbeit die Möglichkeit auf kurz- bzw. mittelfristige Schwankungen im Auftragseingang zu reagieren und damit auch wirtschaftlich schwierige Phasen zu überstehen. Unter Kurzarbeit wird eine vorübergehende Reduzierung der Regelarbeitszeit zur Vermeidung von Kündigungen verstanden. In einem gewissen Ausmaß trägt der Staat den entstehenden Verdienstausfall. Laut Aussagen des Instituts für Arbeitsmarkt-
586
Arbeitswissenschaft
und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit (IAB) ist die Zahl der Kurzarbeiter im ersten Quartal 2009 (eine Phase des wirtschaftlichen Abschwungs) sprunghaft auf 950.000 angestiegen, wobei im Schnitt etwa ein Drittel der normalen Arbeitszeit ausgefallen ist. Dies könnte betriebsbedingte Kündigungen verhindert haben. In der Zeit von Januar bis März 2009 wurden durchschnittlich 354,8 Arbeitsstunden geleistet, berichtet das IAB weiter. Somit wurden 11,2 Stunden bzw. 3,1% weniger gearbeitet als in den Vergleichsmonaten im Jahr 2008. Auch die geleisteten bezahlten Überstunden nahmen ab und lagen bei 8,4 Stunden je Arbeitnehmer. Absatzschwierigkeiten kann (neben Kurzarbeit) folgendermaßen begegnet werden: x x x x x x
Verringerung der Schichtenanzahl personelles Ausdünnen einzelner Schichten Verlängerung unbezahlter Pausen Abbau von Mehrarbeit Freischichten Erhöhung der Fertigungstiefe.
Abb. 6.7: Nutzung der Betriebsmittel (SCHWIENTEK 1993)
Arbeitszeit
6.4.1
587
Gesetzliche Gestaltungsbedingungen
Das Arbeitszeitrecht fällt nach Art. 125 des Grundgesetzes (GG) in die Zuständigkeit des Bundesgesetzgebers. In der Handhabung erweisen sich die Ausführungsund Durchführungsbestimmungen des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG) als Richtlinien oder Verwaltungsvorschriften, die in den Zuständigkeitsbereich der auf Länderebene tätigen Landesarbeitsminister übergehen. Die Regelung der Arbeitszeit zum Zwecke des Arbeitsschutzes wird in verschiedenen Rechtsquellen angesprochen (Jugendarbeitsschutzgesetz, Mutterschutzgesetz, Ladenschlussgesetz, Tarifvertragsgesetz, Betriebsverfassungsgesetz etc.), von denen im Folgenden das Arbeitszeitgesetz als das wichtigste Arbeitsschutzgesetz in Grundzügen erläutert werden soll. Das ArbZG ist Bestandteil des umfassenderen, 1994 in Kraft getretenen Arbeitszeitrechtsgesetzes (ArbZRG), das alle Änderungen von bestehenden Gesetzen und Verordnungen mit arbeitszeitrechtlichen Belangen aufführt (bspw. ist die Regelung der Sonn- und Feiertagsruhe, für die bisher die Gewerbeordnung zuständig war, nun Bestandteil des ArbZG). Das ArbZRG hat nicht nur die seit 1938 rechtsgültige Arbeitszeitordnung (AZO) abgelöst, sondern auch 27 weitere Gesetze und Verordnungen zur Regelung der Arbeitszeit. Gestaltungsspielraum für eine flexible Verteilung der Arbeitszeit Die werktägliche Arbeitszeit (der Samstag wird als gewöhnlicher Werktag gesehen) darf 8 Stunden nicht überschreiten, kann aber auf bis zu 10 Stunden verlängert werden, wenn innerhalb von 6 Kalendermonaten oder 24 Wochen im Durchschnitt 8 Stunden täglich nicht überschritten werden (§3). Die Tarifvertragsparteien bzw. Betriebsparteien (wenn die Tarifverträge es zulassen) können andere Ausgleichszeiträume vereinbaren. Spielräume für die Tarifvertragsparteien bzw. Betriebsparteien (vom Arbeitszeitgesetz abweichende Regelungen sind im Rahmen eines Tarifvertrages oder einer Betriebsvereinbarung möglich): o Arbeitszeiten von mehr als 10 Stunden (für Tages- und Nachtarbeit); sind auch ohne Ausgleich möglich, wenn in die Arbeitszeit in erheblichem Umfang Arbeitsbereitschaft fällt (z.B. Rettungssanitäter, Feuerwehrleute) o Die Arbeitszeit kann an bis zu 60 Tagen/Jahr ohne Ausgleich auf bis zu 10 Stunden/Tag verlängert werden. Ruhezeiten, Pausen Pausenregelung (§4): 6-9 h Arbeit/Tag: mind. 30 Minuten; > 9 h/Tag: 45 Minuten; die evtl. Aufteilung der Gesamtpausenzeit entscheidet der Arbeitgeber in Absprache mit dem Betriebs- bzw. Personalrat. Die Ruhepausen können in Zeitabschnitte von jeweils 15 Minuten aufgeteilt werden. Nach 6 Stunden ununterbrochener Arbeit muss eine Ruhepause eingelegt werden.
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Arbeitswissenschaft
x Ruhezeit (§5): 11 Stunden Ruhezeit ohne Unterbrechung zwischen Feierabend und dem nächsten Arbeitsbeginn ist vorgeschrieben. Die Ruhezeit kann in einigen Bereichen zeitweise reduziert werden (z.B. Ärzte im Bereitschaftsdienst), es ist dann aber ein entsprechender Ausgleich erforderlich. Nachtarbeit x Nachtarbeit: Jede Arbeit zwischen 23 und 6 Uhr, die mehr als 2 Stunden dauert. x Nachtarbeitnehmer: Wer normalerweise Nachtarbeit in Wechselschicht oder an mindestens 48 Tagen im Kalenderjahr leistet, gilt als Nachtarbeitnehmer im Sinne des Gesetzes. Auch für Nachtarbeitnehmer gilt dabei der Grundsatz, dass die werktägliche Arbeitszeit acht Stunden täglich nicht überschreiten darf. Allerdings kann sie bis auf zehn Stunden verlängert werden, wenn innerhalb eines Kalendermonats oder innerhalb von vier Wochen im Durchschnitt acht Stunden nicht überschritten werden. x Der Beginn des 7-stündigen Nachtzeitraums kann zwischen 22 und 24 Uhr festgelegt werden (Spielraum für die Vertragsparteien). x Es besteht ein Anspruch auf regelmäßige arbeitsmedizinische Untersuchung: vor dem Beginn der Nachtarbeitsphase, anschließend alle 3 Jahre (Alter >50: Gesundheitscheck einmal pro Jahr) (§6, Abs. 3); die Kosten trägt der Arbeitgeber; bei ärztlich festgestellter gesundheitlicher Gefährdung kann der Arbeitnehmer verlangen, auf einen für ihn geeigneten Tagesarbeitsplatz umgesetzt zu werden (falls die betrieblichen Möglichkeiten es erlauben; Absprache zwischen Arbeitgeber und Personal-/Betriebsrat). x Eine besondere familiäre Situation des Nachtarbeiters muss berücksichtigt werden (z.B. schwerpflegebedürftige Angehörige). x Ausgleich für Nachtarbeit: Falls tarifvertraglich nicht festgelegt ist, in welcher Form ein Ausgleich für Nachtarbeit stattfindet, muss der Arbeitgeber seinem Mitarbeiter eine angemessene Zahl bezahlter freier Tage gewähren oder einen angemessenen Zuschlag auf das normale Bruttoarbeitsentgelt zahlen. Der Freizeitausgleich sollte im Sinne des Gesundheitsschutzes Vorrang haben vor einer finanziellen Abgeltung der besonderen Belastung bei Nachtarbeit. x 10 Stunden Arbeit in der Nacht sind möglich, aber der Ausgleichszeitraum gegenüber Tagarbeit ist kürzer: Innerhalb von 4 Wochen muss auf durchschnittlich 8h/Tag ausgeglichen werden.
Arbeitszeit
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Neu und von besonderem Interesse für Arbeitszeitgestalter ist die Forderung in §6(1) ArbZG, dass „die Arbeitszeit der Nacht- und Schichtarbeitnehmer [...] nach den gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen über die menschengerechte Gestaltung der Arbeit festzulegen [ist].“ Gesicherte arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse können beispielsweise nachgelesen werden bei KNAUTH u. HORNBERGER (1997) und sind für Schichtarbeit in Kap. 6.5.1 aufgeführt. Regelung der Sonn- und Feiertagsruhe Die Sonn- und Feiertagsruhe ist verfassungsmäßig festgelegt. Es gibt jedoch 16 Ausnahmen von der Regel in den Bereichen Daseinsvorsorge, Dienstleistungen, soziales Sicherungssystem, Freizeiteinrichtungen und in den Bereichen des Wirtschaftslebens, in denen auf Sonn- und Feiertagsarbeit nicht verzichtet werden kann (§10) (z.B. Krankenpflegeanstalten oder wenn die Produktion aus technischen Gründen nicht unterbrochen werden kann). Betriebe können bei den Gewerbeaufsichtsämtern eine Sondergenehmigung für Sonn- und Feiertagsarbeit beantragen, wenn (§13, Abs. 5): die gesetzlichen wöchentlichen Betriebszeiten von 144 Stunden ausgeschöpft sind (Produktion quasi von Montag bis Samstag rund um die Uhr) oder aufgrund noch längerer Arbeitszeiten der ausländischen Konkurrenz keine Konkurrenzfähigkeit möglich ist. Die Aufsichtsbehörden müssen dann die Sonn- und Feiertagsarbeit genehmigen. Der Betrieb muss nachweisen, dass die Betriebszeiten bereits 144 h/Woche betragen, dass die Konkurrenz noch länger produziert und dass er ohne Sonn- und Feiertagsarbeit nicht mehr konkurrenzfähig ist bzw. dass dann Arbeitsplätze verlorengehen. 15 Sonntage/Jahr müssen im Allgemeinen beschäftigungsfrei bleiben (Regelungen über Arbeitszeiten, Pausen, Ruhephasen und Ausgleichszeiträume gelten auch an Sonn- und Feiertagen). Die Tarifvertragsparteien/Betriebsparteien können hier jedoch andere Regelungen vereinbaren. In Schichtbetrieben kann die Arbeitszeit an Sonn- und Feiertagen auf bis zu zwölf Stunden verlängert werden (Ausgleich muss dann durch zusätzliche freie Schichten an Sonn- und Feiertagen erfolgen). Mehrschichtige Betriebe mit regelmäßiger Tag- und Nachtschicht dürfen Beginn oder Ende der Sonn- und Feiertagsruhe um bis zu 6 Stunden vor- oder zurückverlegen, wenn der Betrieb unmittelbar nach dem Beginn der Ruhezeit 24 Stunden ruht. Gleichbehandlung von Frauen Das Nachtarbeitsverbot für Frauen ist aufgehoben. Dadurch ist jetzt der Aufstieg zur Schichtführerin möglich. Die Höchstarbeitszeiten und Ruhepausen für Frauen sind denen der Männer angepasst.
590
Arbeitswissenschaft
6.4.2
Tarifliche Gestaltungsbedingungen
Die für die Bestimmung der Arbeitszeit maßgeblichen Regularien lassen sich in vier Ebenen darstellen (Abb. 6.8). Das Arbeitszeitgesetz setzt den grundsätzlichen Rahmen, der aus Gründen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes nicht überschritten werden darf. Die tatsächliche Arbeitszeit (Dauer und Lage) wird durch Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung und Einzelarbeitsvertrag festgelegt. Die Betriebs- bzw. Personalräte bestimmen mit, wann die tägliche Arbeitszeit einschließlich der Pausen beginnt bzw. endet und wie die Arbeitszeit auf die einzelnen Wochentage verteilt wird. Die Tarifverträge sind nach Tarifautonomien (Metall, Chemie, etc.) und Tarifgebieten aufgeschlüsselt. Sie eröffnen mit ihren ausgehandelten Flexibilisierungsund Differenzierungsmöglichkeiten das Feld für die Gestaltung der Arbeitszeitmodelle. Gesetze/ Verordnungen
Gesetzliche Regelungen legen den Rahmen fest, innerhalb dessen die Tarifvertragsparteien Dauer und Verteilungsräume der Arbeitszeit bestimmen können.
Tarifverträge
Tarifvertragsparteien bestimmen im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben Dauer und Verteilungsräume der Arbeitszeit.
Betriebsvereinbarungen
Betriebsvereinbarungen legen die konkrete (betriebliche) Lage der Arbeitszeit fest; Umsetzung durch Unternehmensleitung und Betriebs-/Personalrat.
Arbeitsvertrag
Die arbeitszeitlichen Regelungen (z.B. Teilzeit, Vollzeit) im individuellen Arbeitsvertrag müssen in Übereinstimmung mit den übergeordneten Vorgaben sein.
Abb. 6.8: Regelungsebenen der Arbeitszeit
Tabelle 6.2 veranschaulicht im Überblick tarifvertragliche Regelungen zur Dauer und Verteilung der Arbeitszeit. Neben Arbeitszeitgesetz und Tarifverträgen gibt es noch eine Reihe weiterer rechtlicher Rahmenbedingungen, welche die Flexibilisierung der Arbeitszeit moderieren. Hierzu gehören beispielsweise das
Ladenschlussgesetz (LSchlG), Jugendarbeitsschutzgesetz (JarbSchG), Mutterschutzgesetz (MuSchuG), Gesetz über arbeitsrechtliche Vorschriften zur Beschäftigungsförderung (BeschFG) sowie die bereits genannten Betriebsvereinbarungen und Arbeitsverträge.
Arbeitszeit
591
Tabelle 6.2: Tarifvertragliche Regelungen zur Dauer und Verteilung der Arbeitszeit Regelmäßige Wochenarbeitszeit
Differenzierung
Stunden je Tag Verteilung auf Wochentage
Ausgleichszeitraum
Tarifvertragliche Regelungen 34 h (Deutsche Telekom AG) - 40 h (Landwirtschaft, Bauhauptgewerbe)
Bemerkungen Durchschnitt 2008: 37,6 h
Einzelhandel: 37-39 h Groß-/Außenhandel: 38,5-39h Holz und Kunststoff: 35-40h Hotel- und Gaststättengewerbe: 3840h KFZ-Gewerbe: 36-37,5h Öffentlicher Dienst: 38,5-40,1h Privat Transport und Verkehr: 38-40h Maximal 10 h Beispiele: Banken Mo-Fr, Sa dienstfrei Chemische Industrie Mo-Fr, Sa bis 13 Uhr Eisen- und Stahlindustrie Mo-Fr (*) Beispiel: Banken 6 Monate Chemische Industrie 12 Monate Eisen- und Stahlindustrie mehrere Wochen (*)
nach Wirtschaftssektoren, Branchen, Betriebstypen
Gesetzliche Vorgabe 6 Tage x 8h = 48 h/Woche Regel 6 Tage x 10 h = 60 h/Woche (max. zul.) Bei grenzwertigen Arbeitsdauern: Minderung zum Erreichen Durchschnitt über Ausgleichszeiträume (s.o.)
Ausnahmen nur bei Bereitschaftsdienst Samstag als gesetzliTarif-vertragliche cher Werktag, SonnSonderstellung tagsarbeit verboten mit des Samstags Ausnahmen und Sondervergütung 6 Monate, VerlängeEntsprechend rung Tarifvertraglich Saison und aushandelbar „atmende Fabrik“
(*) Westdeutschland
6.5
Arbeitszeitsysteme und -modelle
Die Zusammenstellung von Arbeitszeitsystemen in der Literatur ist reichhaltig (LINNENKOHL u. RAUSCHENBERG 1996; MENTE 1998; HAMM 1999; BLUM u. ZAUGG 1999). Auffällig ist jedoch, dass häufig bereits vielfach bekannte Systeme ohne oder mit mangelhafter Struktur wiedergegeben werden und diese Ausführungen so lediglich einen informativen Charakter aufweisen. Im Folgenden wurde eine Unterteilung der Gestaltungsmöglichkeiten von Arbeitszeit gewählt (FERREIRA 2001), welche auf einer Hierarchie basiert (Abb. 6.9), die von einzelnen Elementen zur Beschreibung der flexiblen Arbeitszeit (flexibilisierende Elemente) ausgeht und über in der Praxis realisierte Erweiterungen (spezifische Erweiterungen) zu vollständigen Arbeitszeitregelungen (Arbeitszeitmodellen) und in den Betrieben angewandten Umsetzungen vielfältiger Regelungen (Arbeitszeitsysteme) gelangt.
592
Arbeitswissenschaft
Arbeitszeitsysteme Arbeitszeitmodelle Flexibilisierende Elemente
Erweiternde Modifikationen
Abb. 6.9: Hierarchie zur Unterteilung der Gestaltungsmöglichkeiten von Arbeitszeit
Es handelt sich hierbei um eine Hierarchie von Gestaltungsmöglichkeiten der Arbeitszeit. Arbeitszeitsysteme sind zusammengesetzt aus Arbeitszeitmodellen. Diese wiederum setzen sich aus flexibilisierenden Elementen und erweiternden Modifikationen zusammen, welche die Basis dieser Hierarchie darstellen. Im Einzelnen bedeuten x Arbeitszeitsysteme: Betrieblich angewandte Arbeitszeitmodelle in ihrer Gesamtheit, d.h., ein Betrieb arbeitet mit verschiedenen Arbeitszeitmodellen (zum Beispiel in der Produktion in Schichtarbeit, im Verwaltungsbereich mit Gleitzeit); die Gesamtheit der Modelle ist das Arbeitszeitsystem dieses Betriebes. x Arbeitszeitmodelle: Modelle, die vollständige Arbeitszeitregeln (wie beispielsweise Lage und Dauer der Arbeitszeit, Ruhepausen, Urlaubsanspruch) für einen vorbestimmten oder dauernden Arbeitszeitabschnitt enthalten. Hierunter fallen auch nicht flexible Arbeitszeitmodelle wie beispielsweise die Teilzeitarbeit. x Flexibilisierende Elemente: Als flexibilisierende Elemente werden solche Komponenten der Arbeitszeitgestaltung verstanden, durch die ein Arbeitszeitmodell oder -system an chronologischer und/oder chronometrischer Veränderbarkeit gewinnt. x Erweiternde Modifikationen: Diese Modifikationen sind Bestandteile zur Erweiterung flexibler Arbeitszeitmodelle, wie beispielsweise Arbeitszeitkonten. Die Bestimmungsfaktoren zur Abgrenzung und Definition der einzelnen Modelle sind in Tabelle 6.3 aufgeführt. In Tabelle 6.4 werden die wesentlichen Merkmale von zwölf unterschiedlichen Arbeitszeitmodellen dargestellt, die in Deutschland sowie in anderen Ländern Anwendung finden. Anschließend werden die zwei Modelle Gleitzeit und Schichtarbeit ausführlich beschrieben.
Arbeitszeit
593
Tabelle 6.3: Bestimmungsfaktoren von Arbeitszeitmodellen Bezeichnung (1) Variabilität der Lage
(1a)
Verfügbarkeit der Variabilität
(2)
Variabilität der Dauer (Stundenzahl)
(2a)
Verfügbarkeit der Variabilität
(3)
Üblicher Ausgleichszeitraum
(4)
Kernzeit
(5)
Arbeitszeitkorridor
(6)
Sonstige Vorgaben des Arbeitgebers Modell permanent flexibel (auch mit Vorlauf) Modell beschränkt flexibel (für Zeitraum festgelegt)
(7) (8)
x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x
Bestimmungsfaktoren Nicht gegeben Innerhalb eines Tages Innerhalb einer Woche Innerhalb eines Monats Innerhalb eines Jahres Innerhalb eines Jahrzehnts Innerhalb eines Arbeitslebens durch Arbeitnehmer durch Arbeitgeber durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber Nicht gegeben Innerhalb eines Tages Innerhalb einer Woche Innerhalb eines Monats Innerhalb eines Jahres Innerhalb eines Jahrzehnts Innerhalb eines Arbeitslebens durch Arbeitnehmer durch Arbeitgeber durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber 1 Tag 1 Tag bis d 7 Tage Tage bis d 1 Monat 1 Monat bis d ein Jahr 1 Jahr d 10 Jahre 10 Jahre (Arbeitsleben) Vorgegeben Nicht vorgegeben Vorgegeben Nicht vorgegeben Vorhanden Nicht vorhanden Ja Nein Ja Nein
594
Arbeitswissenschaft
Tabelle 6.4: Kurzbeschreibungen von zwölf unterschiedlichen Arbeitszeitmodellen Modellbezeichnung
Kurzbeschreibung
Besonderheiten
Schichtarbeit
Gegenüber der normalen Tagesarbeitszeit versetzte Arbeitszeit, um die Betriebszeit über 8 Stunden hinaus zu erhöhen, zum Teil auf 24 Stunden täglich. Häufig als 8-Stunden-Schicht zum Teil mit verlängerter Arbeitszeitdauer, so z.B. als 12-Stunden-Schicht, wie in der chemischen Industrie teilweise praktiziert
Wird u.A. aufgrund technischer und wirtschaftlicher Notwendigkeit praktiziert
Gleitzeit
Freie Wahl von Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit im Rahmen bestimmter Bandbreiten (Gleitzeit: z.B. zwischen 7 und 9 Uhr Arbeitsbeginn, zwischen 15.30 und 18.30 Uhr Arbeitsende). Bei der einfachen Gleitzeit liegt die Flexibilisierungsoption beim Arbeitnehmer.
In Verwaltungsbereichen weit verbreitet
KAPOVAZ (Kapazitätsorientierte variable Arbeitszeit)
Das Modell stellt das Gegenmodell zur qualifizierten Gleitzeit dar. Die monatliche Normalarbeitszeit ist nach Arbeitsanfall variabel einteilbar. Kurzfristige Verteilung der Arbeitszeit normalerweise durch den Arbeitgeber.
Umstritten, insbesondere wegen des vorher nicht exakt festgelegten Arbeitseinsatzes
Arbeitszeitkorridor
Bei dieser Regelung gibt es lediglich einen Arbeitszeitrahmen beispielsweise täglich von 6.30 bis 19.30 Uhr, in dem sich die individuelle Arbeitszeit des einzelnen bewegen muss. Es gibt weder Kernzeiten noch eine Mindestarbeitszeit pro Tag.
Die Arbeitswoche ist stundenmäßig nicht festgelegt, stattdessen liegt sie innerhalb einer Bandbreite. Die tatsächliche Arbeitszeit wird durch die Auftragslage vorgegeben
Variable Arbeitszeit
Der Arbeitnehmer kann den Beginn, das Ende und die Dauer der täglichen Arbeitszeit innerhalb einer definierten Rahmenarbeitszeit frei wählen. Es gibt keine Kernzeiten. Die variable Arbeitszeit kann als Weiterentwicklung der Gleitzeit verstanden werden.
Die betrieblichen Erfordernisse der Verfolgung von Unternehmenszielen werden mit der Vorstellung der Mitarbeiter von einer hohen Zeitsouveränität verbunden.
Amorphe Arbeitszeit
Bei der gestaltlosen Arbeitszeit wird ausschließlich das Volumen der vom Arbeitnehmer geschuldeten Arbeitszeit z.B. tarifvertraglich festgelegt. Die konkrete Lage und Dauer der Arbeitszeit werden hingegen offengelassen.
Die Bemessungszeiträume bei der amorphen Arbeitszeit liegen zwischen einem Jahr und einem ganzen (Arbeits-) Leben im Gegensatz zu den Bemessungsräumen bei der variablen Arbeitszeit.
Arbeitszeit
595
Tabelle 6.4 (Fortsetzung): Kurzbeschreibungen von zwölf unterschiedlichen Arbeitszeitmodellen Flexible Standardarbeitszeit
Es werden tägliche Standardarbeitszeiten auf der Basis der zu erwartenden Anforderungen in Verbindung mit den Wünschen der Arbeitnehmer im Voraus geplant und festgelegt.
Abweichungen können auftreten, allerdings ist die TagesStandardarbeitszeit so zu planen, dass sie ausreichen müsste, um die täglichen Anforderungen zu erfüllen.
Jahresarbeitszeit
Die Jahresarbeitszeit ist die flexible Standardarbeitszeit bezogen auf den Zeitraum eines Jahres. Ausgehend von der Sollarbeitszeit von 100% können vielfältige Abweichungsmöglichkeiten nach unten installiert werden. So können auch längere Freizeitblöcke entstehen.
Während des ganzen Jahres erhält man 1/12 des Jahresgehalts monatlich und ist außerdem im Sozialversicherungssystem eingebunden (BAILLOD 1986).
Mehrjahresarbeitszeit
Die flexible Standardarbeitszeit bezogen auf mehrere Jahre wird in Form von Mehrjahresarbeitszeit-Modellen z.B. bei der Firma Opel diskutiert, wobei sich die Arbeitszeitmodelle am „(…) ganzen Modellzyklus eines Autos sowohl in der Produktion als auch in den indirekten Bereichen über einen Ausgleichszeitraum von drei bis vier Jahren (…)“ orientieren sollen.
Baukastensystem
Ausgangspunkt ist die Arbeitswoche, die in Module unterteilt wird. Jedes Modul hat dabei zum Beispiel eine Länge von 4 Stunden. Die Vollzeit-Arbeitnehmer müssen dann wöchentlich etwa 10 Module ableisten. Die Zahl der Module pro Woche multipliziert mit der Anzahl der Mitarbeiter ergibt die Gesamtzahl der zu besetzenden Module pro Woche.
Die Mitarbeiter stimmen im Team eigenverantwortlich über die konkrete Besetzung der Arbeitsplätze ab, wobei sie sich an den Kundenfrequenzen orientieren.
Staffelarbeitszeit
Feststehende Arbeitszeiten werden hinsichtlich ihres Arbeitsbeginns bestaffelt. Die Mitarbeiter können sich innerhalb einer Zeitspanne für einen Arbeitsbeginn entscheiden. In der Regel ist diese Entscheidung dann für mindestens ein Quartal verbindlich.
Zu Beginn und am Ende jedes Arbeitstages kann ein Absinken der Besetzungsstärke eintreten.
Ergebnisorientierte Arbeitszeit (Vertrauensarbeitszeit)
Die Leistung der Mitarbeiter wird ausschließlich an den Ergebnissen ihrer Arbeit gemessen. Dies bedeutet die vollständige Abschaffung von Zeitkorridoren und Zeitkonten.
596
6.5.1
Arbeitswissenschaft
Schichtarbeit
Bei der Schichtarbeit handelt es sich um all jene Arbeitszeitformen „(...) bei denen Arbeit entweder zu wechselnder Zeit (z.B. Wechselschicht) oder zu konstanter, aber ungewöhnlicher Zeit (z.B. Dauer-Nachtschicht) ausgeführt werden muss“ (RUTENFRANZ et al. 1979). Dazu wird die betriebliche Arbeitszeit in mehrere Zeitabschnitte mit versetzten Anfangszeiten bzw. mit unterschiedlicher Lage und Dauer aufgeteilt. Die gleiche Tätigkeit wird also innerhalb dieser verschiedenen Abschnitte am gleichen Arbeitsplatz von verschiedenen Arbeitnehmern ausgeführt (RUTENFRANZ 1979). Bei der Schichtarbeit sind zahlreiche Variationen möglich. Bei der Schichtarbeit handelt es sich um beschränkt flexible Arbeitszeit, da die Lage und Dauer der Arbeitszeit meist nur einmalig veränderbar und danach wieder fixiert ist (LINNENKOHL u. RAUSCHENBERG 1996). Bestimmte Gründe sprechen für eine längere oder gar permanente (ununterbrochene) Benutzung eines Arbeitsplatzes. Schichtarbeit als Folge einer Arbeitsperson-Arbeitsplatz-Arbeitszeit-Regelung ist deshalb organisatorisch für meist mehrere Arbeitspersonen und Arbeitsplätze zu treffen. Schichtarbeit liegt in folgenden Ursachenkomplexen begründet (MIKL-HARKE 1980; KNAUTH u. HORNBERGER 1997): Aufgaben in institutionell-dienstleistenden Berufen In institutionell-dienstleistenden Berufen sind wichtige Funktionen durch permanente Arbeitsbereitschaften zu sichern. Hierzu zählen Dienste in der Gesundheitsversorgung und der öffentlichen Sicherheit sowie Aufgaben der Energieversorgung. Schichtarbeit ist zur Sicherstellung dieser Funktionen notwendig. Aufgaben ökonomisch-technischer Art Ökonomisch-technisch begründbare Ursachen der Schichtarbeit sind auf Fragen der Kapazität und Wirtschaftlichkeit sowie auf Markt- und Absatzerfordernisse zurückzuführen. Investitionsentscheidungen werden zur Sicherung der Rentabilität und aus Gründen eines beschleunigten Kapitalrückflusses getroffen, womit oftmals eine mehrschichtige Nutzung der eingesetzten Produktionsmittel schon für die längerfristige Produktionsweise in Aussicht gestellt wird. Aufgaben technologisch-verfahrenstechnischer Art Technologisch-verfahrensbedingte Gründe der Schichtarbeit liegen in kontinuierlichen bzw. quasi-kontinuierlichen Produktionsverfahren begründet. Insbesondere bei Chargenfertigung müssen vielfach Produktionsprozesse kontinuierlich fortgeführt werden (z.B. für Produktionsverfahren der Stahlerzeugung und der ChipFertigung). Hohe Anlaufverluste treten durch Produktionsunterbrechungen und Wiederaufnahme in der Lebensmittelindustrie auf, was besonders unter Entsorgungsaspekten (Rohstoff- und Energieverluste, Reinigungszyklen) zu berücksichtigen ist. Schichtarbeit dient der Aufrechterhaltung der kontinuierlichen Produktionsprozesse, der Verhinderung des Verderbens von Rohstoffen oder der Vermeidung eines unzumutbaren Misslingens von Arbeitserzeugnissen.
Arbeitszeit
597
Arbeitsphysiologische und soziale Kriterien zur Gestaltung von Schichtarbeit Schichtarbeit wird als Gegenpol zur Normalarbeitszeit verstanden. Periodische Vertauschungen von Arbeitszeit und Nicht-Arbeitszeit für Tage und Wochen bewirken, dass der Schichtarbeiter außerhalb der in der Gesellschaft manifestierten und tolerierten Zeiten für Arbeit und Freizeit seine sozialen Belange, Verpflichtungen, Ansprüche und Wünsche den Erfordernissen der Schichtarbeit unterordnen muss. Schichtarbeit wird immer auch im Zusammenhang mit den besonderen physiologischen Problemen thematisiert, die als Folge unzureichender Anpassungen an wechselnde Arbeits-, Entspannungs- und Schlafzeiten entstehen. Über längere Zeit ausgeübte Schichtarbeit, einschließlich Nachtarbeit, führt erwiesenermaßen zu einem ansteigenden Krankheitsrisiko, insbesondere der Herzgefäße und des Magen-Darmsystems. Frauen leiden zudem häufiger unter Regelstörungen, einer als symptomatisch anerkannten Folge der Schichtarbeit (z.B. FERREIRA 2009, KNAUTH u. HORNBERGER 1997). Gegenüber der Normalarbeitszeit als feste, zeitlich unveränderbare Tagesarbeitszeit lassen sich folgende Abweichungen als Schichtarbeitssysteme klassifizieren: x Vorkommen von Nachtarbeit x Vorkommen von Wochenendarbeit. Weitere Merkmale sind u.A. die Anzahl der Schichtbelegschaften, Länge der Arbeitszeit, wechselnde versus Dauerschichten, Form des Schichtwechsels (Rotationsdauer: kurz oder lang) und Richtung des Schichtwechsels (Rotationsrichtung: vorwärts oder rückwärts), die zusammengenommen mit den oben genannten Schichtarbeitssystemen bestimmte Belastungsformen bilden, die für die mit der Ausübung von Schichtarbeit Betroffenen zu berücksichtigen sind (FERREIRA 2009). Schichtarbeit schon in ihrer Ausprägung als Wechselschichtarbeit im 2Schichtbetrieb stellt eine Belastung dar, die zu physiologischen und sozialen Folgebeanspruchungen führt. Im Unterschied zur kontinuierlichen 3-SchichtArbeitsweise bleiben bei Wechselschicht die Nachtruhezeiten unangetastet, eine 6- bis 8-stündige Nachtruhe ist also unter Berücksichtigung der wöchentlichen Phasenverschiebungen möglich. Das Problem zeigt sich aber darin, dass auch die gemilderten Umstände der Wechselschicht – im Vergleich zu den Bedingungen der „normal“ Tageszeitbeschäftigten – im Ganzen genommen mit erheblichen Nachteilen verbunden sind (KNAUTH u. HORNBERGER 1997). Beispielsweise sind durch diskontinuierliche Freizeitblöcke regelmäßige Teilnahmen an Abendlehrgängen und Fortbildungskursen nicht möglich. Das gleiche gilt für private und familiäre Aufgaben, was im ungünstigen Fall durch Berufstätigkeit beider Ehepartner zudem mit weiteren Einschränkungen – beispielweise in der Kinderbetreuung – verbunden ist. Aber auch die Mitwirkungsmöglichkeiten der Betroffenen in Sport, Kultur und Politik unterliegen den besonderen Bedingungen der Schichtarbeit. Schichtarbeit schafft zudem besondere, bei Normalarbeitszeit nicht auftretende Arbeitssituationen (FERREIRA 2009). Insbesondere organisatorische
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Arbeitswissenschaft
Merkmale des Arbeitsablaufs wie Kooperation, Kontrolle und soziale Interaktion sind bestimmt durch Unregelmäßigkeiten, die bei identischer Arbeitsstruktur zu unterschiedlich wahrgenommenen Beanspruchungen führen (KNAUTH u. HORNBERGER 1997). Demgegenüber werden immer noch Schichtsysteme, die eine Dauer der Schichtform ohne Rotation oder Wechsel erlauben, wie Dauerfrüh-, Dauerspätund Dauernachtschicht, beispielsweise im Gesundheitswesen, bei der Post und auch in anderen Dienstleistungsgewerben, praktiziert. BEERMANN et al. (1990) haben die Auswirkungen der Dauerschichtform bei Postbediensteten untersucht und sind dabei zu folgenden Ergebnissen gekommen: x Die in Frühschicht (6.00-13.00h) arbeitenden Frauen klagten in der Hauptsache über Schlafdefizite. Zu erklären ist dieser Umstand mit dem frühen Arbeitsbeginn und einer als Folge von Freizeitbetätigungen am Abend und Betätigungen in der Familie verkürzten Nachtruhe. x Die geringsten Freizeitanteile fallen den Angaben der Betroffenen zufolge mit der Spätschicht (13.30-21.30h) zusammen. Als Grund dafür wird genannt, dass die zur Verfügung stehenden Freizeitanteile sowohl vor Schichtbeginn als auch nach Schichtende nicht in eine aktive Freizeitgestaltung umgesetzt werden können. x Circadiane Umstellungsprobleme und Einschlafstörungen sind kennzeichnend für Nachtschichtarbeiten (21.30-6.00h). Überdies ist bekannt, dass Nachtschichtarbeiter über Schlafdefizite klagen. Besonders wenn im Wechsel alle Schichtformen ausgeübt werden müssen, haben die in Nachtarbeit Beschäftigten mit einer unvollständigen Anpassung ihrer circadianen Rhythmik zu tun. So haben VERHAEGEN et al. (1987) festgestellt, dass Krankenschwestern in Dauernachtschicht – im Gegensatz zu ihren Kolleginnen im Wechseldienst mit regelmäßiger, aber nicht kontinuierlicher Nachtarbeit – ihre Arbeit insgesamt weniger belastend empfinden; sie wählen ihre Arbeitszeit freiwillig und können den Tagesrhythmus besser auf die Erfordernisse der Nachtarbeit abstimmen. Jedoch zeigen Untersuchungen von KNAUTH (2007) deutlich, dass auch bei mehreren hintereinanderliegenden Nachtschichten keine vollständige Anpassung (Reentrainment) erfolgt (Abb. 6.10). Somit können subjektiv geringer wahrgenommene Beanspruchungen lediglich aufgrund der verbesserten Vereinbarkeit von Beruf und Familie oder aufgrund der Schichtzulagen interpretiert werden, nicht jedoch auf eine faktisch geringere Belastung.
Arbeitszeit
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Abb. 6.10: Circadiane Rhythmen der Mundtemperatur von Schichtarbeitern während des freien Tages sowie während der 1., 2., 4., 5. und 7. Nachtschicht (KNAUTH 1983b) KNAUTH u. HORNBERGER (1997) führen eine unvollständige Anpassung unter anderem auf äußere Einflüsse zurück. Beispielsweise setzen sich Nachtarbeiter nach Schichtende dem Tageslicht aus; sie kommen bei Tageslicht nach Hause und bei Tageslicht halten sie im ungünstigen Fall auch ihren Schlaf. Im Experiment wurde nachgewiesen, dass bei extensiver Beleuchtung des Nachtarbeitsplatzes und ungestörtem Tagschlaf bei völliger Verdunkelung eine Invertierung bestimmter circadianer Rhythmen eintreten kann. Die Dauer der Schichtperiode stellt im Weiteren ein Kriterium für die Dauer der Anpassung und Rückanpassung dar. Nach der letzten Nachtschicht beansprucht die Rückanpassung an den normalen Tagesrhythmus eine längere Zeit als vorher zur Anpassung benötigt wurde. Werden dagegen die Nachtschichtperioden
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Arbeitswissenschaft
durch Freischichten unterbrochen, kommt es zu einem Rücksprung im Anpassungsprozess. Bei nur 2 oder 3 hintereinanderliegenden Nachtschichten kommt es nur zu unausgeprägten Anpassungserscheinungen; umso unproblematischer kann der anschließende Vorgang der Rückanpassung überwunden werden. Deshalb gibt man heute den kurzrotierenden Schichtsystemen den Vorzug. D.h., kurze Schichtperioden sind im Hinblick auf Störungen der circadianen Rhythmik physiologischer Funktionen günstiger zu beurteilen als langrotierende Systeme oder Dauerformen mit vielen hintereinanderliegenden Nachtschichten (KNAUTH 2007). Allerdings bestehen auch für diese Auffassung Unterschiede hinsichtlich der Berücksichtigung unterschiedlicher Circadianphasenlagen bei Morgen- und Abendmenschen. Abendmenschen können sich besser in langrotierende Schichtsysteme einpassen, haben aber Schwierigkeiten mit kurzrotierenden Systemen. Morgenmenschen dagegen können sich nicht an langsam rotierende Systeme adaptieren. Daraus wird geschlossen, dass langsam rotierende Schichtsysteme oder Dauernachtschichten für Abendmenschen akzeptabel sind, nicht dagegen für Morgenmenschen und Personen mit einer indifferenten Phasenlage. Je früher die Circadianphasenlage, desto schlechter die Adaption an Nachtschichten (MOOG 1987). Flexible und gleichsam unregelmäßige Arbeit-Freizeit-Intervalle haben für Schichtarbeiter und deren Familien zur Folge, dass deren gemeinsamer sozialer Aktionsraum erheblichen Einschränkungen unterliegt. Tagesfreizeiten am Vormittag sowie Arbeitszeiten in der Nacht oder an Wochenenden sind mit den Belangen der Familie in Einklang zu bringen. Darüber hinaus scheinen Blöcke von Freischichten und freien Tagen einen Gewinn von mehr Freizeit und Freizeitmöglichkeiten zu offenbaren – das Gegenteil kann der Fall sein, da ein erheblicher Teil der Freizeit für Anpassungsvorgänge (Reentrainment) und veränderte Zeitaufteilungen aufgebracht werden muss. Mit sogenannten „time budget studies“ (Beobachtung der Zeitaufteilung) ist der Zusammenhang zwischen Arbeitszeit, Schlafzeit und Freizeit darzustellen. KNAUTH et al. (1981) haben die tageszeitliche Lage verschiedener Zeitelemente bei Schichtarbeit untersucht (Abb. 6.11). Die Arbeits- und Schlafzeiten sind von unten nach oben, die echten Freizeiten von oben nach unten aufgetragen. Als echte Freizeit ist die Zeit zu verstehen, die tatsächlich nach den Wünschen der Schichtarbeiter aktiv gestaltet werden kann. Ergebnis dieser Untersuchung ist, dass die Schlafqualität und die echte Freizeit nicht von der Dauer, sondern von der tageszeitlichen Lage abhängen. Betrachtungen zur täglichen Arbeitszeit dürfen Aspekte der sogenannten sozial wirksamen Arbeitszeit nicht ausschließen. Die tägliche Arbeitszeit – 6, 8, oder 12 Stunden – besteht eben nicht nur aus Arbeitsstunden und Pausenzeiten. Hinzuzurechnen sind ebenfalls die Zeiten, die im Zusammenhang damit aufgewendet oder vorbereitet werden müssen: Wegezeiten und Zeiten für das Umkleiden, Essen und Waschen. Diese Anteile verhalten sich proportional zur Anzahl der Arbeitszeitintervalle und unproportional zur Arbeitszeitlänge (Klassisches Beispiel: Geteilter Dienst- mit Arbeitszeiten am Vormittag und am Abend). Die aus Schichtarbeit
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resultierenden Erholzeiten für Anpassungsvorgänge sind durchaus im Sinne der sozial wirksamen Arbeitszeiten zu interpretieren.
Abb. 6.11: Tageszeitliche Lage verschiedener Zeitelemente. Von (1) bis (6): an arbeitsfreien Tagen (85 Tagesverläufe), an Tagen mit Frühschicht (90 Tagesverläufe), an Tagen mit Spätschicht (127 Tagesverläufe), vor der ersten Nachtschicht (19 Tagesverläufe), zwischen zwei Nachtschichten (60 Tagesverläufe), an Tagen nach der letzten Nachschicht (17 Tagesverläufe) (aus KNAUTH et al. 1981)
Sicher ist, dass die Lage und Dauer der Schlaf- und Freizeiten durch Arbeitszeiten, im besonderen aber durch unterschiedliche Arbeits-Tages-Nachtzeiten, auch flexible Arbeitszeiten, entscheidend geprägt und darüber hinaus beeinflusst werden. Bei der Gestaltung von Freizeiten in Abhängigkeit der Arbeitszeiten ist zu berücksichtigen, dass nicht nur Dauer und Lage der Zeitelemente eine Rolle spielen, sondern auch die Einschätzung, also die Wertung, und die subjektive Nutzbarkeit von Zeit durch die Betroffenen selbst. Mit Abb. 6.12 ist die subjektive Nutzbarkeit für einzelne Tageselemente aufgezeigt. Ein Freizeitverlust durch Wochenendarbeit kann durchaus mit freien Wochentagen kompensiert werden, mehr noch können durch eine auch zu erreichende Flexibilisierung der Freizeit
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Arbeitswissenschaft
neue Formen der Freizeitentwicklung wahrgenommen werden, soweit sich der Rahmen familiärer Freizeitgestaltung einbringen lassen kann.
Abb. 6.12: Nutzbarkeit der Freizeit von Montag bis Donnerstag (oben) sowie an Samstagen (unten) (aus KNAUTH U. HORNBERGER 1997)
Gestaltungempfehlungen Da jedes Schichtsystem spezifische Vor- und Nachteile besitzt, gibt es keinen Schichtplan, der alle arbeitsphysiologischen und sozialen Bedingungen erfüllt. Um den Zielen menschengerechter Arbeitsgestaltung Rechnung zu tragen, müssen aber bestimmte Gestaltungskriterien berücksichtigt werden, die nach Möglichkeit übergeordnete Aspekte wie Ausführbarkeit, Erträglichkeit, Zumutbarkeit und Zufriedenheit in die Schichtarbeit einbinden. Das Arbeitszeitgesetz (§6, Abs. 1)
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schreibt vor, dass die „Arbeitszeit der Nacht- und Schichtarbeitnehmer nach den gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen über die menschengerechte Gestaltung der Arbeit festzulegen ist“. KNAUTH (2002) beschreibt die Kriterien und zugehörigen Gestaltungsempfehlungen aufgrund von Untersuchungen, wie in Tabelle 6.5 dargestellt.
Schichtplanmerkmal „Aufeinanderfolge der Schichten“
Tabelle 6.5: Arbeitswissenschaftliche Empfehlungen zur Schichtplangestaltung (nach KNAUTH 2002) Kriterien maximale Anzahl hintereinanderliegender gleicher Schichten
Rotationsschichten spezielle Schichten
maximale Anzahl hintereinanderliegender Arbeitstage
Dauer und Verteilung der Arbeitszeit
Schichtdauer
Empfehlungen möglichst wenige hintereinanderliegende Nachtschichten (maximal 3) Dauernachtschicht vermeiden möglichst wenige hintereinanderliegende Frühschichten (maximal 3) möglichst wenige hintereinanderliegende Spätschichten (maximal 3) Vorwärtswechsel mindestens 2 freie Tage nach der letzten Nachtschicht (N – F) Schichtkombination N – N vermeiden einzelne Arbeitstage zwischen freien Tagen vermeiden (- F -; - S -; - N -) maximal fünf bis sieben Arbeitstage
lange Arbeitsschichten (> 8 Stunden) sind nur dann akzeptabel, wenn: x die Arbeitsinhalte und die Arbeitsbelastungen eine längere Schicht zulassen x ausreichend Pausen vorhanden sind x das Schichtsystem so angelegt ist, dass eine zusätzliche Ermüdungsanhäufung vermieden werden kann x die Personalstärke zur Abdeckung von Fehlzeiten ausreicht x keine Überstunden hinzugefügt werden x die Einwirkung gesundheitsgefährdender Arbeitsstoffe begrenzt ist x eine vollständige Erholung nach der Arbeitszeit möglich ist Ruhezeit zwischen zwei Schich- Die Dauer der Ruhezeit sollte mindestens 11 Stunden ten betragen
604
Arbeitswissenschaft
Tabelle 6.5 (Fortsetzung): Arbeitswissenschaftliche Empfehlungen zur Schichtplangestaltung (nach KNAUTH 2002)
Kurzfristige Abweichungen vom Soll-Plan
Lage der Arbeitszeit
Frühschichtbeginn Spätschichtende
Nachtschichtende Wochenendarbeit durch Arbeitgeber veranlasst
auf Wunsch des Mitarbeiters
nicht zu früh (d.h. 6.30 Uhr besser als 6.00 Uhr; 6.00 Uhr besser als 5.30 Uhr usw.). nicht zu spät (d.h. 22.00 besser als 23.00 Uhr; 23.00 besser als 24.00 Uhr usw.) in Sonderfällen frühes Ende (z.B. 18.00 Uhr am Wochenende) so früh wie möglich Wochenendarbeit vermeiden geblockte freie Wochenenden Kurzfristige Abweichungen vermeiden Spielregeln in Bezug auf Vorankündigungsfrist und Ausgleich festlegen Mitarbeiter bestimmen selbst die Arbeitszeit und übernehmen Verantwortung für die fristgerechte Erledigung der Aufgaben (zeitautonome Arbeitsgruppen) Flexibilität ermöglichen (z.B. flexible Schichtwechselzeiten, Schichttausch, Zeitfenster, zeitautonome Arbeitsgruppen)
Das Gestaltungsproblem für Schichtpläne kann als ein Zuordnungspolylemma unter kapazitiven und arbeitszeitrechtlichen Nebenbedingungen diskutiert werden. Folgende Variablen sind zu berücksichtigen: Uhrzeit Schichtbeginn, Uhrzeit Schichtende, Pausen, Schichtdauer, Anzahl der Schichten, Anzahl der Schichtbelegschaften, Springerschichten, Sonn- und Feiertage, Wochenendarbeitszeiten, Urlaubszeiten. Tarifrechtliche Gestaltungsbedingungen Da die gesetzlichen Randbedingungen nicht oder nur in besonderen Ausnahmefällen zur Disposition stehen, werden die tariflichen Wochenarbeitszeiten für die Gestaltung von Schichtplänen herangezogen und zwar für die Berechnung der Mindestanzahl der Schichtbelegschaften. Aus der maximalen Wochenarbeitszeit und der tariflichen Arbeitszeit errechnet sich die Anzahl der Schichtbelegschaften wie folgt:
Anzahl Schichtbelegschaften
maximaleWochenarbeitszeit tariflicheWochenarbeitszeit
Mit einer maximalen Wochenarbeitszeit von 168 h und einer tariflichen Wochenarbeitszeit von 40 h erhält man somit 4,2 Schichtbelegschaften. Für die Umsetzung lassen sich folgende Ansätze unterscheiden (KNAUTH 1983b):
Arbeitszeit
605
(1) Erweiterung der tariflichen Wochenarbeitszeit um den Betrag, der für eine ganzzahlige Schichtbelegung notwendig wird. Beispiel: 42 Stunden-Woche bei nur 4 Schichtbelegschaften. Um dennoch die 40 Stunden-Woche zu halten, werden als Kompensationsmaßnahme über das Jahr 13 Freischichten pro Schichtarbeiter eingesetzt. (2) Springerschichten oder zusätzliche Freischichten bei nicht ganzzahligen Schichtbelegschaften (Beispiel: 4,2 Schichtbelegschaften). (3) Erweiterung der Schichtbelegschaften. Beispiel: Für 5 Schichtbelegschaften werden zusätzlich 4 Tagschichten in 5 Wochen gefahren, damit jedes Mitglied einer Schichtbelegschaft die Wochenarbeitszeit von durchschnittlich 40 h erreicht. Aus der Kombination möglicher Schichtplanmodelle ergeben sich die in Tabelle 6.6 dargestellten Beispiele. Ansätze zur rein mathematischen Auslegung von Schichtplänen berücksichtigen x die durchschnittliche tägliche Arbeitszeit > 8 h und < 12 h, x die Anzahl der freien Tage pro Jahr (> 104 Tage) und x die freien Wochenenden bzw. die paarweise freien Tage. Eine Darstellung der Möglichkeiten zur Anpassung an unterschiedliche Wochenarbeitszeiten in kontinuierlichen Schichtsystemen zeigt Abb. 6.13. Tabelle 6.6: Beispiele der Schichtplangestaltung für kontinuierliche Arbeitsweise (Knauth 1983b), Schichtfolge ist auf Arbeitstage bezogen Schichtsystem (Ar beitstage/ ĆfreieĆTage)
lfd. Nr .
SchichtfolgeĆ(8-Stunden-Systeme) (F,ĆS,ĆNĆ=ĆFrüh-,ĆSpät-Ćbzw. ĆNachtschi cht,Ć- Ć=Ćdienstfrei)
Zyklusdauer (W ochen)
AnzahlĆderĆfreien Wochenenden (Sa+So)Ćpr oĆZyklus
21/7
1 2 3
N-FSN-- -FSN---FFFSN- FSSSN-FSNN FSN-F--SN-FSSSN-FSNNN-FSN- FF FFSSNNN--FFSSSNN--FFFSSNN---
6/2
4
FFSSNN--
9/3
5
FFSSNN--FSN-
12/4
6
FSSSNN- -FFFSNN--
16
2
15/5
7
FFSNN--FFSNN- -FSSSN-
20
2
18/6
8
FFSSNN--FFFSNN--FSSSNN--
24
3
Schichtsystem (Arbeitstage/ ĆfreieĆTage)
lfd. Nr .
SchichtfolgeĆ(12-Stunden-Systeme) (T,ĆNĆ=ĆTag-Ćbzw.ĆNachtschi cht, Ć-Ć=Ćdienstfr ei)
4 4 4
1 1 1
8
1
12
1
Zyklusdauer (W ochen)
AnzahlĆderĆfreien Wochenenden (Sa+So)Ćpr oĆZyklus
2/2
9
TN--
4
1
4/4
10
TT--NN- -
8
2
6/6
11
TN--TT--NN--
12
3
606
Arbeitswissenschaft
Abb. 6.13: Rollierendes Zweischichtsystem
Wird eine Betriebszeiterweiterung ohne die Einführung zusätzlicher Schichten angestrebt, d. h. der zusätzliche Betriebszeitbedarf rechtfertigt keine zusätzliche Schicht, bietet sich der Einsatz sogenannter „n+“ Systeme an (Mehrfachbesetzungssysteme). (n) Arbeitsplätze werden dabei von (n+1) Arbeitnehmern besetzt. Auf diese Weise lässt sich die Betriebszeit bedarfsgerecht um Bruchteile einer vollen Schicht erhöhen. Für den Arbeitnehmer variieren dabei Lage und Länge der Arbeits- und Freizeitblöcke („rollieren“). Dabei kann die Länge der täglichen Arbeitsdauer 8 Stunden überschreiten und der Samstag teilweise als regelmäßige Arbeitszeit miteinbezogen werden. Die tägliche Mehrarbeit kann durch eine Reduktion der Anzahl der Arbeitstage/Woche und/oder durch periodisch wiederkehrende größere Freizeitblöcke abgegolten werden. Abb. 6.14 zeigt ein mehrfachbesetztes Zweischichtsystem. Ein Beispiel zur Gestaltung eines Einsatzplanes mit minimalem Gesamtpersonalbedarf auf der Grundlage von Operations-Research-Methoden wird bei DOMSCHKE u. DREXL (2007) dargestellt. Vorgegeben sind 8-Stunden-Schichten für jeden eingesetzten Mitarbeiter. Die Schichten beginnen um 0.00 Uhr, 4.00 Uhr, 8.00 Uhr, 12.00 Uhr, 16.00 Uhr oder 20.00 Uhr. Aufgrund betrieblicher Notwendigkeiten ergibt sich der folgende Mindestbedarf an Personal: Von 0.00 bis 4.00 Uhr 3 Personen Von 4.00 bis 8.00 Uhr 8 Personen Von 8.00 bis 12.00 Uhr 10 Personen Von 12.00 bis 16.00 Uhr 8 Personen Von 16.00 bis 20.00 Uhr 14 Personen Von 20.00 bis 24.00 Uhr 5 Personen
Arbeitszeit
607
Abb. 6.14: Schichtpläne für fünf Schichtbelegschaften, kontinuierliche Arbeitsweise und Wochenarbeitszeiten (in Anlehnung an KNAUTH u. RUTENFRANZ 1983)
Im Folgenden werden die Schichtanfänge (0, 4, 8, 12, 16, 20 Uhr) mit i=1,…, 6 und die zu jedem Zeitpunkt beginnende Anzahl an Mitarbeitern mit xi (i=1,…, 6) gekennzeichnet. Mit Hilfe der ganzzahligen Linearen Programmierung (DOMSCHKE et al. 2007) soll die Gesamtanzahl der Mitarbeiter minimiert werden, die zu den verschiedenen Zeitpunkten beginnen. Zu berücksichtigen ist hier, dass jede Schicht aus zwei aufeinanderfolgenden 4-Stunden-Zeiträumen besteht, somit also immer die Mitarbeiter aus zwei unterschiedlichen Schichten gleichzeitig tätig sind (8-Stunden-Schichten). Somit lautet die Anforderung: Minimiere F(x1,…, x6) = x1 + x2 + x3 + x4 + x5 + x6 Hierbei sind die folgenden Nebenbedingungen zu berücksichtigen: x1 + x2 8
608
Arbeitswissenschaft
x2 + x3 10 x3 + x4 8 x4 + x5 14 x5 + x6 5 x1 + x6 3 wobei x1, …, x6 0 und ganzzahlig sein müssen. Unter Zuhilfenahme einer Standardsoftware lässt sich ein optimaler Zielfunktionswert F(x*) = 27 errechnen (27 benötigte Mitarbeiter). DOMSCHKE et al. (2007) geben mehrere Lösungen an, die eine minimale Mitarbeiteranzahl erlauben, nämlich: x1* = (0, 8, 2, 6, 8, 3) oder x2* = (0, 10, 0, 12, 2, 3). Die Möglichkeit, einen VierStunden-Abschnitt mit 0 Mitarbeitern zu besetzen ergibt sich aufgrund des Überlaufs an Mitarbeitern aus dem vorherigen Vier-Stunden-Abschnitt. 6.5.2
Gleitzeitarbeit
Das erste in Deutschland bekannte Modell der Gleitzeit wurde von der Firma Bölkow in Ottbrunn 1967 aufgrund massiver Verkehrsprobleme eingeführt; da die Mitarbeiter alle gleichzeitig die einzige Zufahrtsstraße zum Werk befuhren, gab es tägliche Staus (HAMM 1999). Gleitende Arbeitszeit ermöglicht den Beschäftigten im Rahmen von zumeist betrieblich vereinbarten Regelungen, den Beginn und das Ende ihrer täglichen Arbeitszeit zu variieren. Dabei lassen sich Gleitzeitvereinbarungen in qualifizierte und eingeschränkte Gleitzeitmodelle differenzieren (LINNENKOHL u. RAUSCHENBERG 1996): Während eingeschränkte Gleitzeitmodelle lediglich eine Variation der Lage der täglichen Arbeitszeit bei gleicher Dauer erlauben, ermöglichen qualifizierte Gleitzeitmodelle den Beschäftigten eine Variation sowohl der Lage als auch der Dauer ihrer täglichen Arbeitszeit (FERREIRA 2001). Die meisten praktizierten Gleitzeitsysteme – häufigster Einsatzbereich sind Verwaltungs- und Dienstleistungsbereiche – sehen eine Kernarbeitszeit von fünf bis sieben Stunden (Anwesenheitspflicht) sowie ein- bis zweistündige Ein- und Ausgleitspannen vor (Abb. 6.15).
Eingleitspanne
Kernarbeitszeit
Ausgleitspanne
Rahmenarbeitszeit Abb. 6.15: Gleitzeitmodell
Gleitzeitbeschäftigung ist eine Form der flexiblen Arbeitszeit, die sich in den alten Bundesländern seit den siebziger Jahren durch stetigen Zuwachs auszeichnet
Arbeitszeit
609
(BAUER et al. 1994, 1996). Während 1972 nur 6% der abhängig Beschäftigten gleitzeitbeschäftigt waren, betrug der Anteil 1987 schon 14%; 1993 waren es bereits 22% und 1995 28%. Im Jahr 2004 hatte sich der Anteil abhängig Beschäftigter mit Gleitzeitbeschäftigung in den alten Bundesländern auf 31% erhöht. Für Gesamtdeutschland lag der Anteil in 2004 bei 30%. Es lassen sich drei Grundmodelle von Gleitzeit unterscheiden: (1) Gleitzeit mit gleichmäßiger Verteilung der Arbeitszeit: Der Mitarbeiter hat die Möglichkeit, die Lage seiner Arbeitszeit innerhalb einer festgelegten Gleitspanne täglich neu zu wählen. Es gibt keine Möglichkeit, Zeitguthaben oder Zeitschulden anzusammeln. (2) Gleitzeit mit ungleichmäßiger Verteilung der Arbeitszeit: Die vereinbarte Dauer der täglichen Arbeitszeit muss nicht starr eingehalten werden. Beginn und Ende der Arbeitszeit können im Rahmen der Eingleit- und Ausgleitspanne variiert werden. Ausgleich der Zeitschuld bzw. des Zeitguthabens innerhalb eines vereinbarten Zeitraumes (Woche, Monat, Quartal; stundenweise unter Einhaltung der Kernzeit bzw. Freizeit an halben oder ganzen Tagen). (3) Gleitzeit mit täglich variabler Arbeitszeit ohne Einschränkung durch Kernzeit: Es gilt das gleiche wie unter 2, jedoch gibt es keine Mindestanwesenheitszeit. Die Gestaltungsmöglichkeiten veranschaulicht Abb. 6.16. Gleitzeit mit gleichmäßiger Verteilung der Arbeitszeit
Gleitzeit mit ungleichmäßiger Verteilung der Arbeitszeit
Gleitzeit ohne Kernzeit
Dispositionsspielraum
Länge des Gleitrahmens
Verhältnis von Kernzeit zur Gleitspanne
Mitbestimmung d. Arbeitnehmer bei d. Arbeitszeit
Organisation der Gleitzeit
Ausgleichszeitraum für Zeitguthaben
Ausgleichsmöglichkeiten für Zeitguthaben
9 Std
7 Std / 9 Std
Arbeitszeit vom Mitarbeiter selbstbestimmt
täglich
stundenweise
10 Std
5 Std / 10 Std
Arbeitszeit vom Vorgesetzten festlegbar
wöchentlich
halbtagsweise
Arbeitszeit wird in Absprache festgelegt
monatlich
tageweise
Auf Lebensarbeitszeit bezogen
…
…
2 Std / 10 Std
…
Kombiniert mit versetzten Arbeitszeiten Kombiniert mit Schichtarbeit Kombiniert mit Teilzeit
Abb. 6.16: Grundmodelle der Gleitzeit und deren Gestaltungsmöglichkeiten (nach KLEIN u. GROSSMANN 1992)
Die verschiedenen Gestaltungsmöglichkeiten führen zu den in Tabelle 6.7 näher beschriebenen Gleitzeitmodellen (FERREIRA 2001).
610
Arbeitswissenschaft
Tabelle 6.7: Gleitzeitmodelle Modell Einfache Gleitzeit
Qualifizierte Gleitzeit
Gleitzeit mit Funktionszeit
Gleitende Arbeitswoche/ Gleitender Arbeitsmonat
Vertrauensgleitzeit
Kurzbeschreibung Freie Wahl von Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit im Rahmen bestimmter Bandbreiten (Gleitzeit: z.B. zwischen 7 und 9 Uhr Arbeitsbeginn, zwischen 15.30 und 18.30 Uhr Arbeitsende). Bei der einfachen Gleitzeit liegt die Flexibilisierungsoption beim Arbeitnehmer. Der Arbeitnehmer kann sowohl über die Lage als auch über die Dauer seiner täglichen Arbeitszeit entscheiden. Zur Gewährleistung der innerbetrieblichen Kommunikation werden Kernzeiten vorgeschrieben, innerhalb derer der Arbeitnehmer anwesend sein muss. Außerhalb der Kernzeiten kann er jedoch seine Arbeitszeit frei auf verschiedene Arbeitstage verteilen und den Ausgleich beispielsweise durch Überarbeit innerhalb bestimmter Zeiträume erreichen. Das Arbeitsmodell soll die ausschließlich zeitlich gesetzten Kernzeiten im Gleitzeitmodell ersetzen. Funktionszeit definiert die Zeit, in der eine Organisationseinheit eine qualitativ und quantitativ ausreichende Besetzungszeit für externe und interne Kunden bieten soll. In der Funktionszeit muss jede Organisationseinheit erreichbar sein. Es ist nicht mehr erforderlich, dass jeder einzelne Beschäftigte während dieser Zeit, wie bei der Kernzeit, am Arbeitsplatz anwesend ist.
Besonderheiten Inzwischen in den Verwaltungsbereichen weitverbreitet.
Die gleitende Arbeitswoche bzw. der gleitende Monat sind die auf eine Woche bzw. einen Monat bezogenen Modelle der Gleitzeit. So gibt es in beiden Fällen Kernund Gleittage, wobei – wie bei der einfachen Gleitzeit – an den Kerntagen Anwesenheitspflicht herrscht, während der Arbeitnehmer an den Gleittagen die Zeitsouveränität besitzt. Mit nahezu allen Gleitzeitvarianten ist die Pflicht verbunden, jedes Kommen und Gehen entweder an Zeiterfassungsgeräten oder durch An- und Abmelden beim Vorgesetzten zu dokumentieren. Vertrauensgleitzeit verzichtet weitgehend auf die Zeiterfassung bzw. überlässt sie den Mitarbeitern. Vertrauensgleitzeit ist eine Subkategorie zur Vertrauensarbeitszeit.
Wochen- und Monatsschwankungen im Kapazitätsbedarf werden ausgeregelt
Das Flexibilisierungspotenzial ist von der Festlegung der Kernzeiten abhängig. Da die Flexibilisierungsoption allein dem Arbeitnehmer zusteht, kann er berufliche und private Interessen bestmöglich koordinieren.
Vor Einführung muss auf Grund von Erfahrungen und Erhebungen eine Arbeitszeitplanung vorgenommen werden.
Erfolgreiche Vertrauensgleitzeit bedarf eines Führungsverhaltens, das auf Zielerreichen und Eigenverantwortlichkeit statt auf Überwachung und Kontrolle setzt. Die Eigenverantwortlichkeit darf nicht zu unabgestimmten Abwesenheiten und fehlenden Abstimmungsprozessen führen.
Arbeitszeit
611
Wenn der Gleitzeitarbeitsplatz in eine Gruppe oder Abteilung eingebunden ist, sind Mitarbeiterabsprachen bei der Wahl der Gleitspannen unabdingbar, um Mehrfachbesetzungen bzw. Unterbesetzungen zu vermeiden. Vorteile der Gleitzeitarbeit für die Arbeitnehmer liegen in der größeren persönlichen Freiheit, der Möglichkeit zur Eigenverantwortlichkeit, der Erarbeitung von Zeitguthaben, dem Abbau von Zeitzwängen, der Möglichkeit zur Anpassung der Arbeitszeit an die individuelle Lebensrhythmik, aber auch in der besseren Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr. Nachteil ist der Wegfall von bezahlten Überstunden. Der Betrieb hat über die Einführung von Gleitzeit die Möglichkeit der Betriebszeiterweiterung. Als weitere Vorteile können motiviertere Mitarbeiter, eine bessere Kapazitätsauslastung, Kostensenkung durch verminderte Überstunden und eine Auffangmöglichkeit für Arbeitszeitverkürzungen und -verlängerungen verbucht werden. Nachteilig sind der Umorganisationsaufwand bei der Einführung, verringerte Transparenz für Vorgesetzte, evtl. Ansprech- und Informationsflusslücken außerhalb der Kernzeit und evtl. Engpässe bei der Beschaffung verantwortungsvoller Mitarbeiter. 6.6
Erweiternde Modifikationen
Als erweiternde Modifikationen sind solche Bestandteile der Arbeitszeitmodelle zu bezeichnen, die zur Erweiterung der Flexibilität beitragen können. Im Folgenden werden sieben Ansätze vorgestellt (basierend auf FERREIRA 2001). Altersteilzeit Im Gegensatz zur flexiblen Altersgrenze ist die Altersteilzeit ein starres System. Altersteilzeit unterscheidet sich von nicht-altersbezogener Teilzeit durch die Bezuschussung der Vergütung durch die Bundesagentur für Arbeit (HAMM 1999). Ab der Vollendung des 55. Lebensjahres besteht für den Arbeitnehmer die Möglichkeit für Altersteilzeit. Allerdings wird in der Praxis auch weiterhin das Blockmodell bevorzugt, in dem Altersteilzeit wie der bisherige Vorruhestand gehandhabt wird. Flexible Altersgrenze und der gleitende Übergang in den Ruhestand Das Modell der flexiblen Altersgrenze sieht vor, dass die Ruhestandsgrenzen nicht mehr vom Alter bestimmt werden. Stattdessen wird ein zeitlicher Rahmen vorgegeben, in dem der Arbeitnehmer eigenverantwortlich bestimmen kann, wann er die erwerbswirtschaftliche Arbeit einstellen will. Bei diesem Arbeitszeitmodell soll der Austritt aus dem Erwerbsleben nicht abrupt und unvorbereitet, sondern gleitend, also schrittweise, erfolgen. Dieser schrittweise Ausstieg aus dem Erwerbsleben soll dem sogenannten „Pensionierungsschock“ vorbeugen.
612
Arbeitswissenschaft
Besonderheiten Soweit der Arbeitnehmer über einen längeren Zeitraum hinweg die Arbeitszeit in Stufen mehrfach verkürzen kann, besteht für ihn die Möglichkeit, die Dauer der Arbeitszeit ständig zu verändern. Dadurch werden eine flexible Altersgrenze und ein gleitender Übergang in den Ruhestand erreicht. Somit ist mit dieser Arbeitszeitform ein hohes Flexibilisierungspotential vorhanden. Sabbatical (flexibler Langzeiturlaub) Sabbatical ist eine geplante Phase der Nichtarbeit, die zwischen drei Monaten und einem Jahr dauert und die Rückkehr in das Berufsleben (meist in denselben Betrieb) vorsieht (GLOGER 1999). Das Sabbatical oder auch Sabbatjahr eröffnet die Möglichkeit, zum Beispiel durch Ansparen eines Teils des jährlichen Urlaubes einen längeren Urlaub bei vollem oder reduziertem Gehalt zu nehmen. In der Regel erfolgt die Gestaltung des Sabbaticals (z.B. Zeitpunkt und Länge des Ausstiegs, finanzielle Konditionen) in Abstimmung zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Es können mehrere Möglichkeiten zur Ansparung des Sabbaticals genannt werden (GLOGER 1999): (1) Unbezahlter Urlaub: Der Arbeitnehmer finanziert den Langzeiturlaub aufgrund seines eigenen privaten Vermögens. (2) Ansparung von Sonderzahlungen: Der Arbeitnehmer lässt Sonderzahlungen, wie beispielsweise das 13. Gehalt, Weihnachtsgeld, Urlaubsgeld usw. in Arbeitszeit umrechnen und seinem Urlaubskonto gutschreiben. (3) Ansparung von Arbeitslohn: Der Arbeitnehmer lässt einen Teil seines Gehaltes als Sparguthaben beim Arbeitgeber ansammeln und erhält aus diesem Guthaben während des Sabbaticals ein reduziertes Gehalt. (4) Ansparung von Mehrarbeit: Auf einem Langzeit-Konto werden Über- und Mehrarbeitsstunden gutgeschrieben. Die Ansparungen von Sonderzahlungen, Arbeitslohn und Mehrarbeit können zu einer verstärkten Mitarbeiterbindung an den Betrieb führen. Familienphase Neben dem gesetzlichen Erziehungsurlaub von drei Jahren besteht die Möglichkeit, die Familienphase zu verlängern und gleichzeitig die Rückkehr des Arbeitnehmers bzw. der Arbeitnehmerin in den betrieblichen Ablauf zu ermöglichen. Freischicht (Tarifvertragliche) Arbeitszeitverkürzungen werden bis zu einem vollen Tag angesammelt und dann als Freischicht abgegolten. Das Freischicht-Modell oder auch Brückentage-Modell stellt eine Möglichkeit dar, Arbeitszeitverkürzungen in Form von freien Tagen umzusetzen.
Arbeitszeit
613
Besonderheiten Das Freischicht-Modell kann bei zunehmender Arbeitszeitverkürzung zu erheblichen organisatorischen Schwierigkeiten für das Arbeitszeitmanagement führen. Arbeitszeitkonten Es lassen sich zwei Grundtypen von Arbeitszeitkonten unterscheiden: (1) Kurzzeitkonto: Dieses Konto dient der Verlagerung des herkömmlichen Bezuges der Arbeitsstunden auf die Wochenfrist hin zur Jahresfrist. Ziel ist eine flexible Verteilung der Arbeitszeit. (2) Langzeitkonto: Das Langzeitkonto dient dem regelmäßigen Ansparen von Zeitguthaben. Erreicht wird dieses Zeitguthaben durch über die Regelarbeitszeit hinaus geleistete Arbeitsstunden. Ziel ist ein zeitweiliger oder vorzeitiger Ausstieg aus dem Berufsleben. Arbeitszeitkonten erfordern einen relativ hohen organisatorischen Aufwand oder aber einen Einsatz von geeigneter Technologie zur Erfassung der Anwesenheitszeiten. Bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses sind Arbeitgeber verpflichtet, die erbrachten Vorleistungen zu vergüten. Durch das Gesetz zur sozialrechtlichen Absicherung flexibler Arbeitszeitregelungen vom 1. Januar 1998 wurde der Sozialversicherungsschutz bei Vereinbarungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zur Ansparung von Arbeitszeitguthaben geregelt. Ziel war, das geltende Recht für die bestehenden Arbeitszeitsysteme zu erweitern und für neue Modelle offen zu halten. So wurde hier eine Rechtslücke geschlossen, die der Einführung von Langzeitkonten entgegenwirkte (BUCZKO 1999). Weiterhin problematisch jedoch bleibt die Regelung der Arbeitszeitkonten bei Konkurs des Arbeitgebers. Die geltende Sozialgesetzgebung überlässt es hier den Tarifpartnern, eine Insolvenzsicherung zu vereinbaren. Arbeitszeit wird stundenweise einem Mitarbeiterkonto gutgeschrieben. Entweder werden die Stunden genutzt, um ein Guthaben aufzubauen oder aber um ein Defizit abzubauen (HAMM 1999). Die Rahmenbedingungen für Arbeitszeitkonten werden in Betriebsvereinbarungen festgelegt. Zeit-Lohn-Option Bei der Zeit-Lohn-Option hat der Arbeitnehmer die individuelle Wahl zwischen Lohnerhöhungen, Prämien usw. oder einer entsprechend kürzeren Arbeitszeit. Interessant ist dieses Modell vor allem auch für Schichtarbeiter, die ihren Schichtzuschlag in Form einer Arbeitszeitverkürzung erhalten können. Der Arbeitgeber kann den Arbeitnehmern aber auch anbieten, für einen Verzicht auf Lohnzuschüsse eine Woche länger Ferien zu gewähren (BAILLOD 1986).
614
6.7
Arbeitswissenschaft
Flexibilisierende Elemente
Die Anwendbarkeit von flexiblen Elementen ist abhängig von den Gegebenheiten im Betrieb. Deshalb wird hier zwischen folgenden Vorgaben unterschieden: x Es gibt kurzfristig zu deckende Arbeitsspitzen x Die Arbeit kann auf mehrere Arbeitspersonen verteilt werden x Eine Trennung zwischen Arbeitsort und Betriebsstätte ist möglich x Es kann mit reduzierter oder erhöhter Arbeitszeit gearbeitet werden. Der Aspekt der Trennung zwischen Arbeitsort und Betriebsstätte ist genaugenommen kein Merkmal der Arbeitszeitorganisation, jedoch muss er aufgenommen werden, um eine weitreichende Flexibilisierung der Arbeitszeit sicherstellen zu können, da die Arbeitsortflexibilität umfassende Auswirkungen auf die Arbeitszeitflexibilität in sich birgt. Dieses Potenzial soll erschlossen werden. Im Folgenden werden flexibilisierende Elemente bezogen auf Vorgaben des Betriebs vorgestellt. Anschließend werden die Elemente Über(stunden)arbeit und Mehrarbeit sowie Teilzeitarbeit näher beschrieben. 6.7.1
Kurzfristig zu deckende Arbeitsspitzen
Abrufarbeit Die Abrufarbeit stellt für den Arbeitgeber eine flexible Möglichkeit dar, den Zeitpunkt des Einsatzes seiner Mitarbeiter zu bestimmen. So ist eine Anpassung zum Beispiel an schwankende Kundenfrequenzen oder Auftragslagen durchführbar. Für die Abrufarbeit gilt nach §4 BeschFG, dass das zu leistende Arbeitsvolumen vertraglich festgelegt werden muss. Des Weiteren muss eine Abruffrist von mindestens 4 Tagen eingehalten werden sowie eine Mindestdauer von drei Stunden pro Arbeitseinsatz. Rufbereitschaft (Stand-by-Pool) Der Stand-by-Pool bzw. die Rufbereitschaft ist eine Spezifizierung der Abrufarbeit. Hier ist die Vorlaufzeit deutlich kürzer als vier Tage. So kann beispielsweise vereinbart werden, dass Mitarbeiter, die sich in einer Freischicht befinden, während der ersten Stunden dieser Schicht telefonisch erreichbar sein müssen und im Notfall sofort einspringen. Flexible Einsatzgruppe Bei der flexiblen Einsatzgruppe sind die Mitarbeiter zur vorgesehenen Zeit (z.B. Schichtzeit) am Arbeitsplatz. Ihr Einsatzort ist jedoch flexibel und die Arbeitsmittel sind veränderlich. Über(stunden)arbeit und Mehrarbeit Als Über(stunden)arbeit werden Arbeitsstunden definiert, die über die tariflich vereinbarte Arbeitszeit hinaus geleistet werden (BAUER et al. 1996; HAMM 1999).
Arbeitszeit
615
Der Umfang der zulässigen Mehrarbeitszeit wird in den Arbeitsschutzgesetzen, insbesondere im Arbeitszeitgesetz (ArbZG) und im Jugendarbeitschutzgesetz (JarbSchG), geregelt. Der Umfang der Überarbeit sowie die Zahlung von Zuschlägen ergibt sich aus dem jeweiligen Arbeits- bzw. Tarifvertrag. Unter Mehrarbeit verstehen LINNENKOHL u. RAUSCHENBERG (1996) die Arbeit, die über die gesetzliche Höchstarbeitszeit hinausgeht. Diese Definition ist nicht unstrittig. Im Manteltarifvertrag vom 17. Juni / 05. August 1997 für die gewerblichen Arbeitnehmer des metallverarbeitenden Handwerks in SchleswigHolstein zwischen dem Fachverband Sanitär-Heizung-Klima Schleswig-Holstein und der Industriegewerkschaft Metall Bezirksleitung Hamburg Bezirk Küste (gültig ab 1. Januar 1998) wird Mehrarbeit beispielsweise definiert als die angeordnete Überschreitung der individuellen regelmäßigen täglichen Arbeitszeit (§3, Absatz 1). Besonderheiten Bei der Über- bzw. Mehrarbeit hängt das Flexibilisierungspotential entscheidend von der Länge des Ausgleichszeitraums ab. Je länger dieser ist, desto größer ist auch das Flexibilisierungspotential (Näheres siehe Kap. 6.5). 6.7.2
Verteilung auf mehrere Arbeitnehmer
Gruppenarbeitszeit (Group Jobs, zeitautonome Arbeitsgruppen) Bei der Gruppenarbeitszeit wird nicht die Arbeitszeit jedes einzelnen Arbeitnehmers in einer Gruppe festgehalten, sondern die der gesamten Gruppe (siehe Kap. 5). Dies ermöglicht individuelle Absprachen und den Tausch mit Kollegen aus der Gruppe. Die Verantwortung für die Erfüllung der Arbeit tragen die Arbeitnehmer selbst (BAILLOD 1986). Krankheitsbedingte Abwesenheit oder Urlaub haben keinen Einfluss auf die Arbeitsleistung und -qualität, da die Gruppe selbst für adäquaten Ersatz sorgt. Besonderheiten Der Organisationsaufwand für den Betrieb wird geringer, da die Gruppe eigenverantwortlich die Koordination von Arbeit, Zeit und Mitarbeitern vornimmt. Job Sharing (Job Splitting, Partner-Teilzeit) Unter Job Sharing oder auch Job Splitting bzw. Partner-Teilzeit versteht man die Aufteilung eines Vollzeitarbeitsplatzes auf zwei Personen. Job Sharing ist ein Sonderfall der Gruppenarbeitszeit. Die beteiligten Arbeitnehmer erledigen ihre Aufgabe zeitlich und inhaltlich nach Absprache untereinander und sind für die Erfüllung der Aufgabe gemeinsam verantwortlich. Fällt eine Person aus, sind andere Arbeitspersonen verpflichtet, die Arbeitsaufgaben zu übernehmen.
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Arbeitswissenschaft
Besonderheiten Job Sharing weist ein hohes Flexibilisierungspotential auf (LINNENKOHL u. RAUSCHENBERG 1996). Das Problem liegt in der unbedingten Verpflichtung, die Arbeitsaufgabe zu übernehmen, wenn der Partner ausfällt. HAMM (1999) weist darauf hin, dass die Arbeitnehmer gezwungen sein könnten, in Vollzeit zu arbeiten, obwohl eventuell familiäre Gegebenheiten dem entgegenstehen. Rollierendes System Im Unterschied zum Job Sharing teilen sich im rollierenden System nicht nur zwei Arbeitnehmer einen Arbeitsplatz im Wechsel. Beim rollierenden System besetzen vielmehr mehrere Arbeitnehmer eine bestimmte Anzahl von Arbeitsplätzen, beispielsweise fünf Mitarbeiter vier Arbeitsplätze. Die Arbeitsplätze bleiben immer besetzt, obwohl jeder Mitarbeiter einen zusätzlichen wechselnden freien Tag in der Woche erhält (BAILLOD 1986). Zeitfenster-System In Zeitfenster-Systemen erfolgt die Vorgabe einer bestimmten Anzahl von Schichten mit jeweils einem individuellen freien Tag im zu belegenden Zeitfenster. (WEIDINGER et al. 1992). Bei einem 5:4-Mehrfachbesetzungssystem (fünf Mitarbeiter besetzen gemeinsam vier Arbeitsplätze) im Einschichtbetrieb ergeben sich fünf Zeitfenster pro Woche, da die Zahl der Zeitfenster der Zahl der eingeteilten Mitarbeiter entspricht. Differenzierte Einsatzpläne Einheitlich lange Schichtdauern werden im Rolliersystem entsprechend dem Kundenaufkommen bzw. dem Arbeitsanfall festgelegt. Jeder Mitarbeiter durchläuft das gesamte Arbeitszeitsystem. 6.7.3
Trennung zwischen Arbeitsort und Betriebsstätte
Freie Mitarbeit Bei der freien Mitarbeit besteht keine persönliche Abhängigkeit vom Auftraggeber. Der freie Mitarbeiter ist somit auch kein Arbeitnehmer. Besonderheiten Der freie Mitarbeiter verrichtet seine Arbeit völlig autonom. Im Gegensatz zum Telearbeiter hat er kein vorgegebenes Zeitkontingent und steht auch in keiner permanenten telekommunikativen Verbindung zum Betrieb. Telearbeit Die Telearbeit gehört zu den flexiblen Elementen, die auf einer Trennung von Betriebs- und Arbeitsstätte basieren. Bei der Telearbeit im eigentlichen Sinne
Arbeitszeit
617
leistet der Arbeitnehmer seine Arbeit unter räumlicher Abspaltung vom Betrieb, wobei er mit dem Arbeitgeber in ständiger telekommunikativer Verbindung steht. Besonderheiten Allein die Online-Verbindung zum Betrieb schränkt den Arbeitnehmer ein. Allerdings gibt es immer weniger Kontrolle der Telearbeiter durch die log-on-Zeiten am PC. Vielmehr wird sie ersetzt durch ergebnisorientierte Zielvereinbarungen. Heimarbeitsplatz Beim Heimarbeitsplatz wird die Arbeitsleistung wie bei der Telearbeit räumlich außerhalb des Betriebes geleistet. Im Gegensatz zum freien Mitarbeiter ist der Arbeiter am Heimarbeitsplatz auch weiterhin Arbeitnehmer. Der Unterschied zur Telearbeit besteht vor allem in der Tatsache, dass zwar am PC gearbeitet wird, dass aber keine permanente telekommunikative Verbindung zum Betrieb besteht. Alternierende Telearbeit Bei der alternierenden Telearbeit arbeitet der Arbeitnehmer meist zu Hause, ist aber auch ein oder zwei Tage pro Woche im Betrieb anwesend. Alternierender Heimarbeitsplatz Beim alternierenden Heimarbeitsplatz arbeitet der Arbeitnehmer – vergleichbar mit der alternierenden Telearbeit – meist zu Hause, ist aber auch zusätzlich im Betrieb anwesend. 6.7.4
Arbeiten mit reduzierter oder erhöhter Arbeitszeit
Teilzeitarbeit Bei der Teilzeitarbeit handelt es sich um keine Form der flexiblen Arbeitszeitgestaltung, da weder Lage noch Dauer der Arbeitszeit einseitig veränderbar sind, sondern um eine „Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich“ (LINNENKOHL u. RAUSCHENBERG 1996). Gemäß §2 Abs. 2 Satz Beschäftigungsförderungsgesetz (BeschFG) sind Arbeitnehmer teilzeitbeschäftigt, wenn deren regelmäßige Wochenarbeitszeit kürzer ist als die regelmäßige Wochenarbeitszeit vergleichbarer vollzeitbeschäftigter Arbeitnehmer. Besonderheiten Teilzeitarbeit wird mit einer steigenden Tendenz von Frauen geleistet. Ein besonderes Flexibilisierungspotential ist mit der Teilzeitarbeit dann verbunden, wenn sie in Zusammenhang mit anderen Arbeitszeitformen, wie z.B. der Gleitzeit, kombiniert wird und damit von der traditionellen starren und vollzeitigen Arbeitszeit abweicht (näheres siehe Kap. 6.7.5).
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Arbeitswissenschaft
Bandbreiten-Modell Beim Bandbreiten-Modell oder auch Wahlarbeitszeit-Modell kann der Arbeitnehmer seine Arbeitszeit und damit auch sein Einkommen innerhalb gewisser Bandbreiten wählen, also beispielsweise zwischen 30 und 40 Stunden pro Woche. Dies geschieht in bestimmten Rhythmen, z.B. alle 12 Monate verbindlich für einen vorher vereinbarten Zeitraum. Über tägliche Dauer und Lage der Arbeitszeit ist damit noch nicht entscheiden. Systeme alternierender Arbeitszeiten Bei Systemen mit alternierenden Arbeitszeiten kann beispielsweise eine Woche gearbeitet werden, die nächste Woche ist dann frei. Oder man arbeitet 10 Tage und hat die nächsten 10 Tage dann frei. Anders als bei der Jahresarbeitszeit ist die Flexibilität hinsichtlich freier Tage bei Systemen alternierender Arbeitszeit beschränkter. Die Aufteilung der freien Tage ist gleichmäßig und findet in regelmäßigem Wechsel mit der Arbeitszeit statt. Eine achtmonatige Arbeitszeit mit darauffolgender viermonatiger Pause ist in diesen Systemen also nicht möglich. Komprimierte Arbeitswoche Die komprimierte Arbeitswoche kann beispielsweise in einer 4 ½-Tage-, 4-Tageoder 3 ½-Tage-Woche bestehen; oder aus einer 2-Tage-Wochenendarbeitszeit mit einer regelmäßigen samstäglichen und sonntäglichen Arbeitszeit von 12 Stunden. Wird dieses Konzept noch mit der wahlweisen Verteilung der Wochenarbeitszeit auf die Wochentage verbunden, begünstigt dies auch eine Ausweitung der Betriebszeiten. Besonderheiten Um die Ausweitung der Betriebszeiten zu erreichen, muss die komprimierte Arbeitswoche mit einem Mehrfachbesetzungsplan kombiniert werden, d. h. mindestens zwei Arbeitnehmer müssen sich den Arbeitsplatz teilen und diesen überschneidend oder im Wechsel besetzen. 6.7.5
Über(stunden)arbeit und Mehrarbeit
Im Praxisgebrauch scheinen sich Über(stunden)arbeit und Mehrarbeit als Synonyme durchgesetzt zu haben. Im Jahr 2007 wurden insgesamt 1.428,8 Mio. Überstunden geleistet (Abb. 6.17). Die Anzahl an Überstunden je Arbeitsperson liegt bei jährlich 49,9 h (hierbei wurden Daten von Arbeitnehmern in Vollzeit erhoben). Die geleisteten Überstunden haben über die Jahre kontinuierlich abgenommen. So betrug das Überstundenvolumen von 2000 noch 1.688,5 Mio. h (entspricht 58,8 h je Arbeitsperson jährlich) (Abb. 6.18).
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Abb. 6.17: Überstundenvolumen in Millionen Stunden in Deutschland von 2000 bis 2007 (BACH et al. 2008)
Ein Trend zur Verringerung kann ebenfalls bei den bezahlten Überstunden verzeichnet werden. Hier wurden im Jahr 2003 55,9 Überstunden pro Jahr bezahlt, bei einem Überstundenvolumen von 1560 Mio. h im Jahr 2007 waren es hingegen lediglich 46,6 Überstunden pro Jahr, das Überstundenvolumen betrug 1429 Mio. bezahlte Überstunden.
Abb. 6.18: Volumen der bezahlten Überstunden in Deutschland von 2003 bis 2007 (IAB 2008)
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Teilzeitarbeit Die Bandbreite der Teilzeitarbeitsdauer liegt zwischen wenigen Stunden pro Woche bis zur Fast-Vollzeitarbeit. Gründe für die Einführung von Teilzeitarbeit können wie folgt sein: x Arbeitsanfallorientierte Stellenbesetzung: das Arbeitsvolumen reicht für einen Vollzeitbeschäftigten nicht aus x Eignungsorientierte Stellenbesetzung: Teilzeitaufgaben werden aus einer Vollzeittätigkeit ausgegliedert x Arbeitsmarktorientierte Stellenbesetzung: Auf dem Arbeitsmarkt besteht ein Mangel an Vollzeitkräften x Belastungsorientierte Stellenbesetzung: Belastung eines Arbeitsplatzes ist für einen Vollzeitbeschäftigten zu groß (BAILLOD 1986). Ein besonderes Flexibilisierungspotential ist dann mit der Teilzeitarbeit verbunden, wenn sie in Zusammenhang mit anderen Arbeitszeitformen, wie z.B. der Gleitzeit, kombiniert wird und damit von der traditionellen starren und vollzeitigen Arbeitszeit abweicht (FERREIRA 2001). Es bieten sich verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten in den jeweiligen Vereinbarungszeiträumen (Tag, Woche, Monat, Jahr) an (HEGNER et al. 1992): x Teilzeit mit gleichmäßiger Verteilung der Arbeitszeit: Dazu zählt Halbtagsarbeit, deren Lage starr an den Vormittag bzw. Nachmittag gekoppelt ist. x Teilzeit mit ungleichmäßiger Verteilung der Arbeitszeit: Das vereinbarte Arbeitszeitvolumen wird unterschiedlich auf einzelne Tage oder Wochen verteilt. Dadurch kann es zum Aufbau von Zeitguthaben kommen, die dann in längeren Freizeitblöcken abgebaut werden können. x Teilzeitarbeit mit längerfristiger Planung des Volumens und der Verteilung: Das Arbeitszeitvolumen wird auf Monate, ein Halbjahr oder ein Jahr verteilt. Für den Arbeitgeber bietet sich hier die Möglichkeit des bedarfsgerechten Personaleinsatzes, wenn er die tage- oder wochenweise Verteilung der Arbeitszeit jeweils für ein Vierteljahr oder einen Monat im Voraus festlegen kann. Zum Schutz des Arbeitnehmers sind hier aber Ankündigungszeiten zu berücksichtigen (z.B. zwei bis drei Wochen bei starken monatlichen Schwankungen). x Arbeitsplatzteilung (Job-sharing): Zwei oder mehr Arbeitnehmer teilen sich einen Vollarbeitsplatz. Bei entsprechender Absprache ergibt sich hier ein Dispositionsspielraum bzgl. Lage und Verteilung der individuellen Arbeitszeit x Teilzeit in Schichtsystemen: Es können sowohl Teilzeitschichten miteinander kombiniert als auch Kombinationen von Vollzeit- und Teilzeitschichten eingesetzt werden. Der Betrieb kann auf diese Weise leichter Arbeitskräfte beschaffen (attraktive Arbeitsmöglichkeiten für Frauen oder Männer mit Familienaufgaben), die dann in den Bereichen mit ausgedehnter Betriebszeit eingesetzt werden können.
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Nach Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit, Nürnberg, waren 2007 33,5% der 35.291.000 Arbeitnehmer in Teilzeit beschäftigt. Teilzeitarbeit wird vermehrt von Frauen geleistet (in 2007 75% der in Teilzeit beschäftigten Arbeitnehmer) mit einer steigenden Tendenz. Teilzeitarbeit kann auch als Instrument gegen Arbeitslosigkeit verstanden werden. Nach Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft lag im Jahr 1995: die gewünschte durchschnittliche Wochenarbeitsdauer aller Vollzeitbeschäftigten 4 Stunden unter der tatsächlichen Dauer. Durch eine konsequente Ausnutzung dieses Ausgleichspotentials hätten 2,6 Millionen Menschen zusätzlich in den Arbeitsprozess integriert werden können (HOF 1995). Hinsichtlich der Barrieren der Teilzeitarbeit sind es oftmals die Vorstellungen zur Arbeit seitens der Mitarbeiter und Vorgesetzten, die eine weitere Teilzeit-Einführung erschweren. So sind die vorrangigen Hindernisgründe bei den Mitarbeitern die zu erwartenden Einkommenseinbußen sowie Nachteile in der Sozialversicherung (KNAUTH u. HORNBERGER 1997). Außerdem befürchten viele einen „Karriereknick“ in der beruflichen Entwicklung. Widerstände gegenüber Teilzeitarbeit bestehen vor allem auf den unteren und mittleren Führungsebenen aufgrund von Fehleinschätzungen bzgl. der Vor- und Nachteile von Teilzeitarbeit (Vorurteile, unzureichender Wissensstand). Die Einrichtung von Teilzeitarbeitsplätzen in kleinen und mittleren Unternehmen führt aufgrund der Vielzahl von Gestaltungsmöglichkeiten und der Existenz der genannten Hemmnisse häufig zu externem Beratungsbedarf. Vorteile für den Betrieb liegen in der Ausweitung der Betriebsnutzungszeit, motivierteren und leistungsfähigeren Mitarbeitern, geringerem Krankenstand (Teilzeitbeschäftigte fallen seltener durch Krankheit aus), flexiblerer Anpassung an Anforderungsspitzen, höherer Qualität, Produktivität und Arbeitsleistung im Vergleich zur Vollzeitbeschäftigung. Nachteilig sind im Wesentlichen der höhere organisatorische Aufwand für das Unternehmen (Entgeltfindung, Personalverwaltung) und eventuelle Probleme in Bezug auf die Teilbarkeit von Arbeitsaufgaben (je komplexer die Tätigkeit, desto größer ist der Organisations- und Koordinationsaufwand). Ein zentrales Argument sind Kostensteigerungen durch Einarbeitung zusätzlicher Arbeitskräfte sowie durch personenzahlabhängige Personalfixkosten, wie beispielsweise Einmalzahlungen oder Weiterbildungskosten (SEIFERT 2000). Teilzeitarbeit ermöglicht eine bessere Anpassung an den individuellen Lebensrhythmus, an die Bedürfnisse des Familienlebens und an die Freizeitgestaltung. Nachteilig für die Beschäftigten sind geringere Einkommen und Nachteile für den Bezug der Rente, Arbeitslosengeld und betrieblichen Sozialleistungen. Zudem können Teilzeitarbeitnehmer in Positionen abgedrängt werden, die unterhalb ihrer Qualifikation liegen: es besteht (noch) ein betriebliches Akzeptanzproblem, insbesondere für qualifizierte Arbeitsplätze und Führungspositionen. Um diese Barrieren weitestgehend abzubauen, ist vor allem eine verstärkte Kommunikation zur Teilzeit im Rahmen flexibler Arbeitszeitgestaltung zwischen
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Vorgesetzten und Mitarbeitern notwendig (FERREIRA 2001). Zusätzlich wirken Weiterentwicklungen der Arbeitsorganisation in Richtung teilautonomer Gruppenarbeit begünstigend. Ist nämlich Arbeit so organisiert, dass personengebundene Spezialisierung und hohe Arbeitsteiligkeit vermieden werden, lässt sich das Arbeitsvolumen relativ einfach auf eine größere Zahl von Teilzeitmitarbeitern verteilen (SCHIERENBECK 1993). Probleme, wie notwendige Präsenz oder Vertretung in Abwesenheit, lassen sich leichter lösen. Hinsichtlich der Regelungen zur Teilzeit gibt es im Betrieb vorwiegend drei Einsatzfelder. Das ist erstens der gleitende Einstieg in das und zweitens der gleitende Ausstieg aus dem Berufsleben. Während der Phase im Berufsleben dient Teilzeit drittens zur Anpassung an spezielle Mitarbeiterwünsche oder zum Ausgleich von Beschäftigungsproblemen. Teilzeitarbeit ist weder von vornherein mit Produktivitätsnachteilen behaftet, noch führt sie automatisch zu höherer Arbeitsproduktivität, wie vereinzelt angenommen wird. Teilzeit bietet allerdings Produktivitätspotenziale, die durch flexible Gestaltung erschlossen werden müssen. Die stärkere Ausrichtung am Kunden verlangt, schneller auf veränderte Anforderungen reagieren zu können. Teilzeitarbeit schafft diesen größeren Spielraum, da sie nicht so schnell an tarifliche oder gesetzliche Obergrenzen der Arbeitszeit stößt. In auftragsschwachen Zeiten helfen flexible Teilzeitmodelle, das Risiko von Personalanpassungsmaßnahmen zu mindern. 6.8
Unterstützung der Arbeitszeitorganisation durch Software
Die Anpassung der Arbeitszeit an rechtliche Vorschriften, arbeitswissenschaftliche Empfehlungen, betriebliche Belange und Mitarbeiterwünsche ist, vor Allem in größeren Betrieben, aufwendig und häufig auch sehr schwierig. Zur Unterstützung der Organisation und Disposition gibt es Softwareapplikationen, die in der Regel direkt auf den einsetzenden Betrieb angepasst werden. Exemplarisch wird an dieser Stelle die Software BASS 4 (Bedarfsorientiertes Arbeitswissenschaftliches System zur Schichtplangestaltung) vorgestellt (NACHREINER et al. 2005), die Betriebe bei der Schichtplangestaltung unterstützt und im Auftrag des BMBF entwickelt wurde. BASS 4 ermöglicht es, bedarfs- und personenorientierte Arbeitszeitsysteme zu planen und zu evaluieren. BASS 4 eignet sich x für die detaillierte Bewertung der Einhaltung gesetzlicher (ArbZG) oder tariflicher Vorgaben, z.B. die Berechnung von Ausgleichszeiträumen x für die ausführliche Bewertung der Arbeitszeit bei Nacht- und Schichtarbeit nach gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen (§6 (1) ArbZG) x für die einfache Eingabe, Bewertung und Optimierung bereits bestehender Arbeitszeitsysteme
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x für die Einschätzung der Belastung am Arbeitsplatz mit Hilfe eines validierten Verfahrens (EBA). Es ermöglicht ein belastungsbezogenes Zuschneiden der Lage und Dauer von Schichten x für die detaillierte Eingabe und Berechnung ökonomischer Faktoren (z.B. Zuschläge und Zulagen), um die Kosten ergonomischer Gestaltungslösungen transparent zu machen x für die Berechnung von statistischen Kennwerten, z.B. Überdeckung beim Personaleinsatz x als Werkzeug für die flexible Gestaltung: Eingabe oder Import hochflexibler (individueller), nicht an feste Schichten gebundene Arbeitszeiten bis zu einem Jahr und deren Bewertung anhand sämtlicher BASS Bewertungskriterien. Die mit BASS erstellten Schichtpläne können in den „BASS 4-Kalender“ exportiert werden. Als Tool zur ergonomischen Arbeitszeitgestaltung und Gefährdungsbeurteilung ist BASS 4 besonders interessant für: x x x x x
Arbeitszeitplaner Führungskräfte Betriebsräte Fachkräfte für Arbeitssicherheit Aufsichtspersonen des Arbeitsschutzes.
Ergebnisse x einfache Schichtplangestaltung nach ergonomischen Kriterien x mehr Rechtssicherheit für die Betriebe bei der Aufstellung von Schichtplänen x weniger Belastungen für die Beschäftigten durch die Optimierung der Schichtpläne. Es hat sich gezeigt, dass BASS 4 die Anforderungen des Arbeitszeitgesetzes wie z.B. Ausgleichszeiträume oder Bewertung der Arbeitszeit in vollem Umfang erfüllt und eine Schichtplangestaltung unter Berücksichtigung von Belastungsfaktoren ermöglicht. Weiterführende Informationen zu BASS 4 finden sich in NACHREINER et al. (2005).
6.9
Akzeptanz von Arbeitszeitsystemen und -modellen
Wie auch in anderen Bereichen unternehmerischen Handelns verlangt die Gestaltung von Arbeitszeitregelungen eine ausgewogene Berücksichtigung von betrieblichen Erfordernissen und Mitarbeiterinteressen. Die Qualität dieses Interessenaustausches bestimmt wesentlich die Akzeptanz von Arbeitszeitregelungen durch Vorgesetzte, Mitarbeiter und Betriebsräte.
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Zu einer positiven Akzeptanzbewertung können beitragen (FERREIRA 2001): x x x x x x x
Betriebliche Notwendigkeit sachgerecht erläutern Mitarbeiter an Entscheidungsvorbereitungen beteiligen Mehrere Arbeitszeitmodelle zur Wahl stellen Entstehende Nachteile durch z.B. Freizeitblöcke oder Zulagen kompensieren Vorhaltung spezieller Infrastruktur für Schichtarbeiter (Verpflegung usw.) Gewährung vereinbarter Dispositionsspielräume durch den Vorgesetzten Abweichungen vom Arbeitsmodell werden transparent dargestellt.
Zu einer negativen Akzeptanzbewertung können beitragen: x x x x
Nur betriebliche Erfordernisse werden berücksichtigt Vorschläge der Mitarbeiter werden ohne Begründung nicht berücksichtigt Zugesagte Tauschmöglichkeiten werden nicht gewährt Vergleichbare Arbeitszeiten am gleichen Standort werden mit unterschiedlichen Konditionen ausgestattet x Mangelnde Synchronisierung der Arbeitszeiten mit anderen Organisationen bzw. Firmen.
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7
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7.1 7.1.1
Einführung Begriff und Gegenstand der Arbeitswirtschaft
Die Umsetzung arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse in konkrete Gestaltungslösungen wird in der betrieblichen Praxis in unterschiedlichen Funktionsbereichen vorgenommen. Die einzelnen Bereiche gehen mit verschiedenen Zielsystemen und Interessenlagen an ihre Gestaltungsaufgabe heran. Folgt man im Hinblick auf die Systematisierung von derartigen Interessen den Vorstellungen von FÜRSTENBERG (1983), so sind aus arbeitspersonenbezogener Sicht ein Erhaltungsinteresse, ein Gestaltungsinteresse und ein Verwertungsinteresse menschlicher Arbeit zu unterscheiden. Die wirtschaftliche Verwertung menschlicher Arbeit wird auch als Arbeitswirtschaft bezeichnet. Gegenstand der Arbeitswirtschaft ist es, Arbeitssysteme mit Hilfe von arbeitswissenschaftlichen Methoden so zu gestalten, dass menschliche Arbeit unter Berücksichtigung humanitärer, sozialer und arbeitsrechtlicher Aspekte möglichst effektiv und effizient eingesetzt wird (STIELER-LORENZ 1997; HINRICHSEN u. KOPRIWA 2007). Wesentliche Stellgrößen zur Verbesserung der Wirtschaftlichkeit der Arbeit liegen entsprechend den einzelnen Bestandteilen eines Arbeitssystems (siehe Kap. 1.5.1) in der Qualifizierung von Arbeitspersonen, der Weiterentwicklung von Arbeits-/Betriebsmitteln, Arbeitsobjekten und Arbeitsabläufen sowie der Gestaltung von Entgeltsystemen, die einen unmittelbaren Einfluss auf die Struktur und Höhe der Personalkosten haben. 7.1.2
Prinzipien der Arbeitswirtschaft
Mit der Arbeitsstandardisierung, der Arbeitsqualifizierung und -motivation, der Arbeitselimination, der Arbeitssubstitution, der Arbeitsdelegation, der Arbeitsteilung bzw. -integration, der Arbeitsdisposition und der Arbeitspolitik lassen sich acht Prinzipien der Arbeitswirtschaft unterscheiden (HINRICHSEN 2007). Diese Prinzipien berücksichtigen in erster Linie das betriebliche Interesse, menschliche Arbeit wirtschaftlich zu verwerten. (1) Das Prinzip der Arbeitsstandardisierung beinhaltet die Entwicklung kombinierter Arbeits- und Zeitstandards. Durch Anwendung dieses Prinzips werden Arbeitsinhalte und Arbeitspensum transparent, so dass mögliche Handlungsunsicherheiten der Arbeitspersonen sowie Qualitätsschwankungen in Bezug auf das Arbeitsergebnis reduziert werden. Die Gestaltung dieser kombinierten Arbeits- und Zeitstandards bildet eine Grundvoraussetzung für die Umsetzung einer Reihe weiterer Rationalisierungsprinzipien, da zur Durch-
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führung von Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen stets der bestehende Standard mit alternativen Standards zu vergleichen ist. Der zu wählende Standardisierungsgrad eines Arbeitsprozesses ist von der Aufgabe, dem Sachziel des Prozesses und ihrer Wiederholhäufigkeit abhängig. Das Prinzip der Arbeitsqualifizierung und -motivation ist – ebenso wie das Prinzip der Arbeitsstandardisierung – als ein grundlegender arbeitswirtschaftlicher Ansatz anzusehen, da qualifizierte, kompetente und motivierte Beschäftigte eine Grundvoraussetzung für den rationellen Ablauf von Arbeitsprozessen bilden. Als Instrumente zur Unterstützung dieses Prinzips lassen sich beispielhaft Qualifizierungsmatrizen, Kompetenzbedarfsanalysen, Zielvereinbarungs- und Personalentwicklungsprozesse anführen. Das arbeitswirtschaftliche Prinzip der Arbeitselimination beinhaltet die Veränderung eines Arbeitsstandards derart, dass einzelne Ablaufabschnitte nicht mehr von Beschäftigten des Betriebs wahrgenommen werden und die Reduktion der Arbeitsumfänge nicht durch eine Delegation der Arbeit an Kunden, Lieferanten oder Kooperationspartner oder durch Veränderung anderer Betriebsfaktoren kompensiert wird, d.h. mit der Umsetzung des Prinzips der Arbeitselimination fällt ein Arbeitsablauf ohne Kompensation weg. Das Prinzip der Arbeitssubstitution beinhaltet die partielle oder vollständige Substitution der menschlichen Arbeitsleistung durch Veränderung einer oder mehrerer Ausprägungen der Arbeitsobjekte oder der Arbeits-/Betriebsmittel, so dass im Ergebnis die Wirtschaftlichkeit des Betriebs verbessert wird. Diese Verbesserung der Wirtschaftlichkeit kann bspw. in einer verkürzten Durchlaufzeit eines Arbeitsobjekts, in einer höheren Qualität des Arbeitsergebnisses oder in einer verringerten Auftretenshäufigkeit eines Arbeitsprozesses bzw. einer Arbeitsaufgabe zum Ausdruck kommen. Das Prinzip der Arbeitsdelegation hat die Übertragung einzelner Aufgaben an Betriebsexterne (Kunden, Lieferanten, Kooperationspartner) zum Gegenstand. Bei diesem arbeitswirtschaftlichen Prinzip wird der Frage nachgegangen, ob es wirtschaftlicher ist, eine Aufgabe von Beschäftigten des eigenen Betriebs ausführen zu lassen oder an Betriebsexterne zu übertragen (Outsourcing). Bei der Umsetzung des Prinzips der Arbeitsteilung bzw. -integration wird der Frage nachgegangen, welcher Grad der Arbeitsteilung am wirtschaftlichsten ist. Die Arbeitsintegration bezeichnet dabei die Umkehrung des Prinzips der Arbeitsteilung. Bei der Anwendung dieses Prinzips ist zwischen den Vorund Nachteilen der Arbeitsteilung abzuwägen. Auf der einen Seite lassen sich durch eine Arbeitsteilung nach dem Verrichtungsprinzip Spezialisierungsvorteile erzielen. Auf der anderen Seite steigen mit zunehmender Arbeitsteilung aber auch die Koordinationsaufwände. Zudem können mit steigendem Grad der Arbeitsteilung Monotonie und einseitige Beanspruchung zunehmen und die Motivationspotenziale der Arbeit abnehmen (siehe Kap. 4.2.3.1).
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(7) Das Prinzip der Arbeitsdisposition beinhaltet die qualitative und quantitative Ausrichtung des Personaleinsatzes an die im Zeitverlauf variierende Arbeitsmenge. Unter qualitativen Gesichtspunkten erfolgt die Zuordnung von Beschäftigten auf Arbeitsstellen durch einen Vergleich des Anforderungsprofils einzelner Arbeitsplätze mit dem Qualifikationsprofil der Beschäftigten unter Berücksichtigung ihrer Entwicklungswünsche, Neigungen und Interessen. Im Rahmen des quantitativen Personaleinsatzes wird festgelegt, wie viele Mitarbeiter mit welcher Qualifikation zu welchem Einsatzzeitpunkt und für welche Dauer an einem bestimmten Arbeitsplatz tätig sein sollen. Während der Personaleinsatz unter qualitativen Gesichtspunkten eine anforderungsgerechte Bearbeitung der Arbeitsaufgaben an einem Arbeitsplatz sicherstellen soll, hat der quantitative Personaleinsatz zum Ziel, eine personelle Über- bzw. Unterdeckung zu vermeiden (JUNG 2003). Ein bedarfsgerechter Personaleinsatz ist eine komplexe Aufgabe, da zahlreiche Parameter zu berücksichtigen sind. So ist zur Ermittlung des kurz-, mittel- und langfristigen Personalbedarfs einerseits die erwartete Menge einer Arbeit direkt (z.B. über die Anzahl der Aufträge) oder indirekt (z.B. über den Umsatz) für unterschiedliche Zeiträume zu prognostizieren. Außerdem sind Soll-Zeiten für einzelne Arbeiten zu definieren, so dass mittels dieses Zeit- und Mengengerüsts der künftige kurz-, mittel- und langfristige Personalbedarf geschätzt werden kann. Andererseits sind die voraussichtlich verfügbaren Personalkapazitäten für einzelne Zeiträume zu ermitteln und mit dem jeweils prognostizierten Personalbedarf zu vergleichen. Dabei sind eine Reihe von Planungsrestriktionen zu beachten. Diese ergeben sich vor allem aus der Arbeitszeitgesetzgebung, dem gültigen Arbeitszeitsystem (siehe Kap. 6.5), den Neigungen, Interessen und Qualifikationen der Beschäftigten sowie arbeitsvertraglichen Regelungen. Sind personelle Über- oder Unterdeckungen zu erwarten, besteht einerseits die Möglichkeit, die personellen Kapazitäten entsprechend den Planungen anzupassen. Andererseits lassen sich einzelne Planungsrestriktionen (z.B. Arbeitszeitregelungen) beeinflussen, so dass in der Folge Kapazitätsengpässe durch einen flexibleren Einsatz des Personals vermieden werden können. (8) Da das Entgelt der Arbeitsperson im Hinblick auf die Personalkosten aus einer Mengen- und einer Preiskomponente besteht, bezieht sich ein Ansatz zur Reduzierung der Kosten auf die Preiskomponente (MÜLLERHAGEDORN 1998). Da diese Preiskomponente in der Regel nicht das ausschließliche Ergebnis von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt, sondern von tarif- und betriebspolitischen Auseinandersetzungen ist (siehe Kap. 7.2), wird der Ansatz zur Bestimmung der Höhe der Lohnkostensätze als Arbeitspolitik bezeichnet. Vordergründig müsste aus Sicht der Betriebe das Ziel bestehen, möglichst niedrige Preise für den Faktor Arbeit zu bezahlen, um das Verhältnis von Gewinn zu Personalkosten zu verbessern. Wird allerdings seitens eines Betriebs ein im Marktvergleich unterdurchschnittlich hohes Entgelt bezahlt, ist davon auszugehen, dass die Fluktuationsrate im
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Vergleich zu anderen Betrieben überdurchschnittlich hoch ist. Wenn gleichzeitig die Effektivität und Effizienz dieser unterdurchschnittlich entlohnten Tätigkeiten in hohem Maße von den Erfahrungen und dem Wissen der Beschäftigten abhängig ist, wirkt eine solche Arbeitspolitik kontraproduktiv, da sich die häufig auftretenden Einarbeitungszeiten negativ auf die Arbeitsproduktivität und -qualität auswirken. Dementsprechend ist es Gegenstand des arbeitswirtschaftlichen Ansatzes der Arbeitspolitik, eine Entgelthöhe zu wählen bzw. im Aushandlungsprozess anzustreben, welcher neben den Kosten auch motivationale Aspekte umfassend berücksichtigt, so dass im Ergebnis die Voraussetzungen für eine möglichst hohe Arbeitsproduktivität geschaffen werden. Im weiteren Verlauf des Kapitels werden zwei zentrale Elemente der Arbeitswirtschaft eingehender betrachtet, nämlich das Arbeitsentgelt (siehe Kap. 7.2) und die sog. Zeitwirtschaft (siehe Kap. 7.3). Das Arbeitsentgelt stellt sowohl auf Seiten der Arbeitspersonen (Motivation, wirtschaftliche Sicherheit und Unabhängigkeit, relative Gerechtigkeit etc.) als auch auf Seiten der Betriebe (Kostenfaktor etc.) einen wichtigen Faktor dar. Die Zeitwirtschaft hingegen stellt Methoden zur Verfügung, die zur Planung, Optimierung und Wirtschaftlichkeitsbewertung von Arbeitsprozessen dienen und repräsentiert somit eine wichtige Voraussetzung für die Umsetzung betriebs- und arbeitsorganisatorischer Prinzipien. 7.2 7.2.1
Arbeitsentgelt Begriffsverständnis und Grundlagen
Der Begriff des Arbeitsentgelts umfasst alle monetären bzw. monetär bewertbaren Zuwendungen, die ein Arbeitgeber einem Arbeitnehmer im Austausch für seine Arbeitsleistung gewährt. Im Unterschied zu „Einkünften aus selbständiger Arbeit“ oder „Besitzeinkommen“ definiert das Arbeitsentgelt somit alle Einkünfte, die einem Arbeitnehmer aus nicht-selbständiger Arbeit – d.h. aus einem Arbeitsverhältnis – zufließen. Derzeit sind in der Bundesrepublik Deutschland mehr als 87% aller Erwerbstätigen abhängig Beschäftigte, d.h. ein Großteil der Bevölkerung erhält ihr Einkommen im Wesentlichen oder vollständig aufgrund eines Arbeitsverhältnisses (EHLSCHEID et al. 2006). Die Rechtsgrundlage für den Austausch von Arbeitsleistung und Arbeitsentgelt ist der Arbeitsvertrag. Das durch einen Arbeitsvertrag begründete Arbeitsverhältnis bedingt als Hauptpflicht des Arbeitnehmers die Erbringung einer vertraglich geschuldeten Arbeitsleistung. Die Hauptpflicht des Arbeitgebers besteht darin, eine Vergütung als Gegenleistung für die versprochene Arbeitsleistung des Arbeitnehmers zu zahlen (§611 BGB – Das Wesen des Dienstvertrages). In Abhängigkeit davon, ob die arbeitsvertraglich vereinbarte Vergütung einen tarifvertraglichen Bezug aufweist oder auf einer rein einzelvertraglichen Regelung
Arbeitswirtschaft
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beruht, unterscheidet man zwischen tariflich und außertariflich bezahlten Beschäftigten sowie zwischen tariflichen und außer- bzw. übertariflichen Entgeltbestandteilen. Je nach Beschäftigtengruppe oder Branche sind unterschiedliche Bezeichnungen für das Arbeitsentgelt gebräuchlich: Unter Lohn versteht man traditionell das Entgelt für Beschäftigte, die gewerbliche Arbeit verrichten. Das für Angestelltentätigkeiten gezahlte Entgelt wird zumeist als Gehalt bezeichnet. Bedeutende Branchen in der Bundesrepublik – z.B. die chemische Industrie und die Metall- und Elektroindustrie – haben die nicht mehr zeitgemäße Trennung zwischen gewerblicher Arbeit und Angestelltentätigkeit aufgehoben und einheitliche Entgelttarifverträge für gewerbliche Arbeitnehmer und Angestellte abgeschlossen. Der jahrzehntelang verwendete Lohn- und Gehaltsbegriff wurde hierbei durch den neutralen Begriff »Entgelt« ersetzt. Weitere Bezeichnungen für das Arbeitsentgelt sind z.B. die Bezüge für Beamte, die Gage für Künstler, die Heuer für Seeleute oder der Sold für Soldaten. Eine weitere Differenzierung des Arbeitsentgelts ergibt sich aus der unterschiedlichen Position der am Austauschverhältnis „Arbeit gegen Entgelt“ beteiligten Vertragspartner: So verursacht das Arbeitsentgelt aus der Sicht eines Arbeitgebers (Personal-)Kosten, die potentiell den Gewinn schmälern. Diese Kosten umfassen neben dem unmittelbar zu zahlenden Arbeitsentgelt noch weitere Leistungen. Zu nennen sind hierbei die vom Arbeitgeber zu tragenden Pflichtbeiträge zur Arbeitslosen-, Renten-, Kranken-, Pflege- und Unfallversicherung sowie die Leistungen zur betrieblichen Altersversorgung und zur Förderung der Vermögensbildung des Arbeitnehmers. Aus der Perspektive eines Arbeitnehmers stellt das Arbeitsentgelt hingegen ein Einkommen dar, das der Befriedigung individueller Bedürfnisse dient. Die Frage, welches Arbeitsentgelt für welche Arbeitsleistung zu zahlen ist, ist somit sowohl für den Arbeitgeber als auch für den Arbeitnehmer von großer Bedeutung. Obwohl das allgemeine Verständnis von Arbeitsentgelt auch besondere Vergütungsformen umfasst, die nicht in Geld erfolgen – z.B. vereinbaren viele Unternehmen als Gegenleistung für eine zu erbringende Arbeit u.A. auch geldwerte Sachbezüge, wie Firmenrabatte oder privat nutzbare Dienstfahrzeuge – beschränken sich die nachfolgenden Darstellungen nur auf solche Vergütungsformen, die eine direkte Geldzahlung an den Arbeitnehmer vorsehen. Zudem wird im Folgenden auf berufsgruppen- bzw. branchenspezifische Entgeltbezeichnungen verzichtet und Arbeitsentgelt bzw. Entgelt als Oberbegriff für alle Zahlungen verwendet, die ein Arbeitgeber im Austausch für eine arbeitsvertraglich geschuldete Arbeitsleistung vornimmt. 7.2.2
Aufbau des Arbeitsentgelts
Eine wesentliche Anforderung an die Gestaltung des Arbeitsentgelts ist die Gewährleistung relativer Entgeltgerechtigkeit. Relative Entgeltgerechtigkeit entsteht, wenn das von einem Arbeitnehmer wahrgenommene Verhältnis zwischen eigenem
634
Arbeitswissenschaft
Aufwand (=Arbeitsleistung) und Ertrag (=Arbeitsentgelt) als angemessen empfunden wird und mit dem übereinstimmt, was dieser bei vergleichbaren Bezugspersonen bzw. -gruppen beobachtet (RÖSLER u. HINRICHSEN 2004). Voraussetzung hierfür ist, dass gleiche Aufwendungen zu vergleichbaren Erträgen führen und höhere bzw. niedrigere Erträge auf entsprechend höhere bzw. niedrigere Aufwände zurückzuführen sind. Zur Umsetzung relativer Entgeltgerechtigkeit sind im Rahmen der Entgeltgestaltung fünf verschiedene Prinzipien zu berücksichtigen (nach SCHETTGEN 1996): (1) Anforderungsgerechtigkeit: Das Arbeitsentgelt sollte den Anforderungen entsprechen, die eine Arbeitsaufgabe an den arbeitenden Menschen stellt. Ein als anforderungsgerecht empfundenes Entgelt bringt somit die Schwere und Schwierigkeit einer Arbeit angemessen zum Ausdruck. (2) Leistungsgerechtigkeit: Das Arbeitsentgelt sollte die Leistung des arbeitenden Menschen berücksichtigen, d.h. das Ausmaß der individuellen Leistung bei der Bewältigung der übertragenen Arbeitsaufgabe sollte sich in der Höhe des Entgelts niederschlagen. (3) Soziale Gerechtigkeit/Bedarfsgerechtigkeit: Das Arbeitsentgelt sollte auch auf soziale Aspekte, wie z.B. die Dauer der Betriebszugehörigkeit oder die persönlichen Lebensumstände (z.B. Familienstatus) eingehen, um den unterschiedlichen Bedürfnissen der arbeitenden Menschen gerecht zu werden. (4) Marktgerechtigkeit: Das Arbeitsentgelt sollte sich nach dem aktuellen „Marktwert“ der verwerteten Arbeitsleistung richten, d.h. ein Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage auf dem inner- und außerbetrieblichen Arbeitsmarkt adäquat abbilden. (5) Qualifikationsgerechtigkeit: Das Arbeitsentgelt sollte die Qualifikation der Arbeitsperson berücksichtigen. Die Qualifikationsgerechtigkeit spielt insbesondere in der summerischen Arbeitsbewertung eine Rolle. So ist bspw. ein Facharbeiter, der die Funktionsweise einer Maschine kennt, besser in der Lage, Fehler und Optimierungspotenziale zu erkennen, als eine Arbeitsperson, die die Maschine lediglich bedienen kann. Die höhere Qualifikation kommt somit – auch wenn sie nicht permanent abgefordert wird – dem Betrieb zugute. Ein weiteres Beispiel für Qualifikationsgerechtigkeit ist die qualifikationsabhängige Einstufung von Arbeitspersonen im öffentlichen Dienst. Um den genannten Prinzipien zu entsprechen, setzt sich das Arbeitsentgelt in der Regel aus mehreren Entgeltbestandteilen zusammen. Die sinnvolle Ordnung von verschiedenen Entgeltbestandteilen wird als Entgeltsystem bezeichnet. Die in einem Entgeltsystem aufeinander bezogenen und zielgerichtet zusammenwirkenden Entgeltbestandteile bedingen in ihrer Gesamtheit Eigenschaften, die den einzelnen Systemelementen bei einer isolierten Betrachtung nicht zukommen. Abb. 7.1 zeigt ein Entgeltsystem mit einer in der betrieblichen Praxis weit verbreiteten dreigliedrigen Struktur. Das Entgeltsystem gliedert sich hier in ein fixes Grundentgelt, das sich an den Anforderungen der übertragenen Arbeit bemisst.
Arbeitswirtschaft
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Der leistungsabhängige variable Entgeltbestandteil – dieser kann wiederum mehrere Entgeltkomponenten umfassen – orientiert sich hingegen an den Ausprägungen von beeinflussbaren Leistungs- oder Erfolgsgrößen, die auf individueller oder kollektiver Ebene gemessen bzw. beurteilt werden. Ergänzt werden beide Entgeltbestandteile um Zulagen, die an die sozialen Bedürfnisse des Arbeitnehmers anknüpfen oder den aktuellen „Marktwert“ der verwerteten Arbeitsleistung widerspiegeln. Grundlagen: Wer? sozioökonomische Variablen wie z.B. Betriebszugehörigkeit, Arbeitsmarktlage Wie? Leistung / Erfolg auf individueller oder kollektiver Ebene
Was? Anforderungen der übertragenen Arbeitsaufgabe
tarifliche oder einzelvertragliche Regelungen
Zulagen
personenbezogene Bewertung von Leistung g und/oder Erfolg anforderungsbezogene Arbeitsbewertung
Variabler Entgeltbestandteil
Fixes Grundentgelt
E1
E2
E3
En
Entgeltgruppen (E1 – E n)
Abb. 7.1: Entgeltsystem mit anforderungsabhängig fixem Grundentgelt
Ein Entgeltsystem mit variabel gestaltetem Grundentgelt zeigt Abb. 7.2. Im Gegensatz zum in Abb. 7.1 skizzierten Entgeltaufbau, bewegt sich das anforderungsabhängige Grundentgelt hier innerhalb einer definierten Spannweite, die in Form eines Entgeltbandes grafisch dargestellt werden kann. Realisiert wird diese Struktur in der Regel durch eine leistungsabhängige Differenzierung des Grundentgelts, d.h. Anforderungs- und Leistungsbezug werden gleichzeitig in einem Entgeltbestandteil umgesetzt. Die Zuordnung eines Mitarbeiters zu einem der definierten (Grund-) Entgeltbänder erfolgt auf der Grundlage einer Arbeitsbewertung. Innerhalb eines Entgeltbandes orientiert sich die Zuordnung zumeist am Ergebnis einer Leistungsbeurteilung oder am Zielerreichungsgrad, der im Rahmen eines Zielvereinbarungssystems ermittelt wird. Im Einzelfall kann die Zuordnung bzw. Bewegung im Band auch noch von anderen Faktoren – bspw. von der Dauer der Ausübung einer Tätigkeit – abhängen. Entgeltsysteme mit leistungsabhängig differenzierten Grundentgelten kommen vorzugsweise für außertariflich Beschäftigte sowie für leitende Angestellte zur Anwendung. Die Geldbeträge, die den verschiedenen Entgeltbändern eines solchen Entgeltsystems zugeordnet sind, werden häufig auf der Basis aktueller Marktvergleiche festgesetzt. Hierzu wird das Entgeltniveau, das konkurrierende
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Arbeitswissenschaft
Organisationen für typische Positionen eines Entgeltbandes zahlen, durch spezialisierte Personal- und Unternehmensberatungen in regelmäßig durchgeführten Vergütungsstudien erhoben und als betriebliche Orientierungshilfe für eine marktgerechte Entgeltfestsetzung genutzt. Höhe des Entgelts
E6
Position im Entgeltband abh. vom individuellen Leistungsniveau
E5 E4 E3 E2 E1
Marktlinie
Anforderungs- und Leistungskriterien nach Art und Höhe der Ausprägung
Abb. 7.2: Entgeltsystem mit variabel gestaltetem Grundentgelt und sich überlappenden Entgeltbändern
7.2.3
Anforderungsabhängiges Grundentgelt
Der anforderungsabhängige Entgeltbestandteil stellt innerhalb der Systematik des Arbeitsentgelts in der Regel den größten Anteil dar und bildet als Grundentgelt die Basis eines Entgeltsystems. Typische Begrifflichkeiten, die in der betrieblichen Praxis diesen anforderungsabhängigen Anteil am Arbeitsentgelt umschreiben, sind: x x x x x x
Zeitlohn, Grund- oder Basislohn bei gewerblichen Mitarbeitern Gehalt, Grund- oder Basisgehalt bei Angestellten Zeitentgelt, Ausgangs-, Basis- oder Sockelentgelt, Grundvergütung Prämienausgangslohn oder -entgelt beim Entgeltgrundsatz Prämie Akkordgrundlohn oder -entgelt beim Entgeltgrundsatz Akkord Fixum bei Mitarbeitern, die auf Provisionsbasis tätig sind.
Die Höhe des anforderungsabhängigen Grundentgelts ergibt sich aus einer tarifvertraglich oder betrieblich geregelten Entgeltgruppe oder einem Entgeltband. Der aus einer Entgeltgruppe/-band resultierende Geldbetrag wird für eine bestimmte Zeiteinheit (z.B. Stunde, Tag, Woche, Monat) gezahlt.
Arbeitswirtschaft
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In vielen Unternehmen werden die Grundentgelte mittlerweile als gleichmäßiges Monatsentgelt ausgewiesen. Ein Arbeitnehmer erhält dabei für jeden Monat – unabhängig von der Anzahl der tatsächlich geleisteten Arbeitstage bzw. -stunden – einen gleichbleibenden anforderungsabhängigen Entgeltbetrag. Sehen tarifvertragliche Regelungen oder betriebliche Vereinbarungen hingegen eine zeitabhängig variable Zahlung der anforderungsabhängigen Entgelte vor, so erhält der Arbeitnehmer sein Grundentgelt für die Stunden, in der er seine Arbeitsleistung dem Arbeitgeber zur Verfügung gestellt hat. Als Methode zur anforderungsabhängigen Differenzierung der Grundentgelte in Entgeltgruppen bzw. Entgeltbändern dient die Arbeitsbewertung. Ziel der anforderungsabhängigen Entgeltdifferenzierung ist es, dass Personen, die in einem Arbeitssystem mit höheren Anforderungen arbeiten, ein höheres Grundentgelt erhalten, als Personen, die in einem Arbeitssystem mit geringeren Anforderungen tätig sind (REFA 1991a). Bei einem rein anforderungsabhängig ermittelten Grundentgelt besteht kein direkter Zusammenhang zwischen der Entgelthöhe, die für eine bestimmte Zeiteinheit festgelegt wurde, und der Leistung, die ein Arbeitnehmer innerhalb dieser Zeiteinheit erbringt. Ein Arbeitgeber wird aber i.Allg. den individuellen Arbeitseinsatz bei der Ausübung einer übertragenen Tätigkeit an einer zu erbringenden Normal- oder Bezugsleistung bemessen. Ein Arbeitsentgelt, das sich ausschließlich an den Anforderungen der übertragenen Arbeitsaufgabe bemisst, wird überall dort gezahlt, wo x die Arbeitskosten im Verhältnis zu anderen Kosten sehr gering sind, x die Arbeitsperson die Ausbringungsmenge und das Arbeitstempo wenig beeinflussen kann, x die Leistung nicht messbar bzw. die Messung mit zu hohen Kosten verbunden ist (z.B. bei häufig wechselnden und unregelmäßig anfallenden Tätigkeiten wie Lager- und Instandhaltungsarbeiten), x für die Arbeitsperson während der Arbeitszeit hauptsächlich eine Einsatzbereitschaft besteht (z.B. bei Pförtnern, Werkschutzkräften oder Operateuren in einer Leitwarte), x der Arbeitsperson vornehmlich geistige Tätigkeiten abverlangt werden, deren Ergebnisse sich nicht unmittelbar beobachten oder messen lassen und x die Arbeitsperson mit erhöhter Arbeitsgeschwindigkeit (z.B. Fahrpersonal) einer erhöhten Unfallgefahr ausgesetzt ist. Die Vorteile eines rein anforderungsabhängigen Arbeitsentgelts liegen in x einer leicht durchschaubaren Entgeltabrechnung für die Arbeitsperson, x einem pro Zeiteinheit konstanten Entgelt für die Arbeitsperson und x einer pro Zeiteinheit konstanten Entgeltsumme für den Betrieb. Die Nachteile des rein anforderungsabhängigen Arbeitsentgelts sind darin zu sehen, dass x ein Anreiz für individuelle Mehrleistungen fehlt,
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Arbeitswissenschaft
x die Mehrleistungen einer Arbeitsperson nicht honoriert und Minderleistungen erst bei Auffälligkeit sanktioniert (Kündigungsdrohung, Abmahnung) werden, x die Lohnkosten pro Stück bzw. Leistungseinheit variabel sind und damit die Kostenrechnung für den Betrieb mit Unsicherheiten verbunden ist. Soll die individuelle Leistung im Arbeitsentgelt besonders berücksichtigt werden, so wird zusätzlich zum anforderungsabhängigen Grundentgelt ein leistungsabhängig variabler Entgeltbestandteil gezahlt, der Leistungsbeobachtungen bzw. -messungen voraussetzt. Arbeitsbewertung Die Anforderungen, die ein Arbeitssystem an den Menschen stellt, können im Hinblick auf Schwere und Schwierigkeit variieren und werden im Wesentlichen durch die Art der Arbeitsaufgaben bestimmt. Die übergeordnete Arbeitsaufgabe – diese beschreibt den Zweck eines Arbeitssystems – wird einer Arbeitsperson übertragen und kann von dieser oft nur in vergleichsweise geringem Maße beeinflusst werden. Die Beschreibung von Arbeitssystemen sowie die Analyse und Quantifizierung ihrer objektiven Anforderungen an den arbeitenden Menschen ist Gegenstand der Anforderungsermittlung. Eine Anforderungsermittlung zum Zweck der Entgeltdifferenzierung wird zumeist Arbeitsbewertung genannt (REFA 1991a). Die Anforderungsermittlung bzw. Arbeitsbewertung erfasst, so das Ziel, die Anforderungen unabhängig von der jeweiligen Arbeitsperson. Hierbei wird davon ausgegangen, dass den Anforderungen eines Arbeitssystems ein entsprechendes Leistungsangebot auf Seiten des arbeitenden Menschen – z.B. in Bezug auf die geforderte Ausbildung oder die Übernahme von Verantwortung – gegenübersteht (REFA 1991a). Die Abstimmung von Art und Höhe der gestellten Arbeitsanforderungen mit der Höhe des Arbeitsentgelts erfolgt durch das Grundentgelt bzw. durch verschiedene Entgeltgruppen/-bänder. 7.2.3.1
VorgehenĆbeiĆderĆArbeitsbewertungĆ
Eine Arbeitsbewertung zur anforderungsabhängigen Entgeltdifferenzierung umfasst i.Allg. drei Schritte: (1) Beschreibung der Arbeit (2) Ableitung des Anforderungsbildes durch Ermittlung qualitativer und quantitativer Daten (3) Quantitative Bewertung der Anforderungshöhe und Zuordnung zu einer Entgeltgruppe bzw. einem Entgeltband. Die Arbeitsbeschreibung – auch Aufgaben-, Funktions- oder Stellenbeschreibung genannt – besteht in einer systematischen Beschreibung von Arbeitssystemen und ggf. deren Organisationsbeziehungen. Anhand der Arbeitsbeschreibung
Arbeitswirtschaft
639
lassen sich die Anforderungen ableiten, die ein Arbeitssystem an den arbeitenden Menschen stellt. In Abhängigkeit von den Anforderungsmerkmalen, die nach dem tarifvertraglich oder betrieblich vereinbarten Verfahren der Arbeitsbewertung betrachtet werden, erfasst die Arbeitsbeschreibung nur anforderungsprägende, d.h. eingruppierungsrelevante Elemente. In einer Arbeitsbeschreibung werden daher nur die (Teil-) Aufgaben dokumentiert und beschrieben, die das Anforderungsniveau der übertragenen Arbeit bestimmen. Nicht bewertungsprägende Elemente innerhalb einer Gesamtarbeitsaufgabe – z.B. das Kopieren und Ablegen von Dokumenten im Rahmen einer schwierigen sachbearbeitenden Aufgabe – werden in der Arbeitsbeschreibung vernachlässigt. Kennzeichnend für eine Arbeitsbeschreibung ist zudem, dass der im Arbeitssystem tätige Mensch nicht erfasst wird. Der arbeitende Mensch ist vielmehr der Bezugspunkt, auf den die Anforderungen, die aus den jeweils betrachteten Systemelementen resultieren, einwirken (REFA 1991a). Zur Ableitung des Anforderungsbildes – bei REFA „Anforderungsanalyse“ genannt – werden Daten für die einzelnen Anforderungsmerkmale ermittelt, um daraus die Anforderungen bzw. die Schwierigkeit einer Arbeit quantifizieren zu können. Quantitative Daten werden gemessen, gezählt oder geschätzt und durch einen Zahlenwert ausgewiesen. Qualitative Daten werden unter Verwendung vorgegebener Klassen oder durch allgemeines Beschreiben beurteilt (REFA 1991a). Beim Quantifizieren bzw. Bewerten wird die Arbeit einer Entgeltgruppe bzw. einem Entgeltband zugeordnet. Diese Zuordnung kann durch einen pauschalen Vergleich der ermittelten Arbeitsanforderungen mit vorgegebenen Entgeltgruppendefinitionen erfolgen. Alternativ werden einzelne Anforderungsarten zunächst in Anforderungswerte umgesetzt, welche die Art, Höhe und ggf. Dauer der jeweiligen Anforderung zahlenmäßig abbilden (Rangieren). Die so ermittelten Anforderungswerte werden zu einem zumeist gewichteten Summenwert (Gewichten) zusammengefasst und abschließend einer Entgeltgruppe bzw. einem Entgeltband zugewiesen (Tarifieren). 7.2.3.2
SystematisierungĆderĆArbeitsbewertungsverfahrenĆ
Die in der betrieblichen Praxis angewandten Methoden zur anforderungsabhängigen Entgeltdifferenzierung werden grundsätzlich in analytische und summarische Arbeitsbewertungsverfahren unterteilt. Innerhalb dieser beiden Verfahrensklassen erfolgt die quantitative Bewertung der Arbeitsanforderungen nach dem Prinzip der Reihung oder Stufung. Eine Systematik der daraus resultierenden Bewertungsverfahren zeigt Tabelle 7.1. Unabhängig davon, ob die Arbeitsbewertung analytisch oder summarisch erfolgt, werden ausschließlich die Anforderungen der Arbeit bewertet, nicht die Arbeitsperson selbst.
640
Arbeitswissenschaft
Tabelle 7.1: Systematik der Arbeitsbewertungsverfahren Methode der qualitativen Analyse des Anforderungsbildes
Prinzipien der Quantifizierung der Anforderungshöhe
Analytische Betrachtung
(Auflösung in Anforderungsarten)
Summarische Betrachtung
Rangreihenverfahren
Reihung
(mit getrennter oder gebundener Gewichtung)
Stufung
(mit getrennter oder gebundener Gewichtung)
Rangfolgeverfahren
Stufenwertzahlverfahren
Katalogverfahren
Der prinzipielle Ablauf der analytischen und summarischen Arbeitsbewertung ist in Abb. 7.3 dargestellt. 3
Bewerten
Zuordnen
und ... des Anforderungsbildes
... des Arbeitswertes zu einer ...
Summarisches Bewerten 1
2
Beschreiben
Ableiten
... der Arbeit
... des Anforderungsbildes
3.1
3.2
3.3
Ermitteln
Gewichten
Zuordnen
... der Anforderungshöhe je Merkmal (Anf.-profil)
... der Arbeitswerte (Anf.-höhe Wichtigkeit)
... des (Gesamt-) Arbeitswertes zu einer …
Entgeltgruppe oder Entgeltband
Analytisches Bewerten
Abb. 7.3: Schrittweiser Ablauf der summarischen und analytischen Arbeitsbewertung
7.2.3.3
AnalytischeĆVerfahrenĆderĆArbeitsbewertungĆ
Bei der analytischen Arbeitsbewertung werden die Anforderungen eines Arbeitssystems an den Menschen nach einzelnen Anforderungsarten differenziert. Im Ergebnis der analytischen Arbeitsbewertung wird eine Wertzahlsumme ausgewiesen, die das Niveau der an die Arbeitsperson gestellten Anforderungen quantitativ charakterisiert. Diese Wertzahlsumme – teilweise auch Arbeitswert- oder Punktwertsumme genannt – wird abschließend einer Entgeltgruppe bzw. einem Entgeltband zugeordnet (REFA 1991b).
Arbeitswirtschaft
641
Die analytische Arbeitsbewertung erfolgt in drei Schritten: (1) Rangieren bzw. Stufen: Einordnen bzw. Einstufen der zu bewertenden Anforderungsarten in eine Rangreihe bzw. Stufe. (2) Gewichten: Berücksichtigen der unterschiedlichen Bedeutungen der einzelnen Anforderungsarten für die Gesamtanforderung. (3) Tarifieren: Zuordnen der ermittelten Wertzahlsumme zu einer Entgeltgruppe bzw. einem Entgeltband. Jede Arbeitsbewertung – unabhängig ob analytisch oder summarisch – setzt voraus, dass im Vorfeld bestimmte Anforderungsmerkmale als Kriterien für die Einstufung der Arbeit und die Eingruppierung eines Beschäftigten festgelegt werden. Die in der betrieblichen Praxis bewerteten Anforderungsmerkmale lassen sich i.Allg. auf eine Gliederung von Anforderungsarten zurückführen, die bereits 1950 auf einer internationalen Konferenz für Arbeitsbewertung in Genf vorgeschlagen wurde. Dem vielfach adaptierten „Genfer Schema“ (siehe Tabelle 7.2) liegen die beiden Oberbegriffe Können und Belastung zugrunde, aus deren Kombination sich insgesamt sechs verschiedene Anforderungsarten ergeben (REFA 1991a). Tabelle 7.2: Anforderungsarten nach dem Genfer Schema Können
Belastung
1. Geistige Anforderungen
×
×
2. Körperliche Anforderungen
×
×
3. Verantwortung
–
×
4. Arbeitsbedingungen
–
×
Die im Genfer Schema aufgeführten Anforderungsarten berücksichtigen alle Aspekte, die einen Einfluss auf die Schwere und Schwierigkeit einer Arbeit haben können. Durch eine weitere Aufspaltung dieser sechs Anforderungsarten sind mittlerweile eine große Anzahl von Anforderungskatalogen entstanden, die den jeweiligen betrieblichen Gegebenheiten Rechnung tragen. Bei der analytischen Arbeitsbewertung wird den getrennt erfassten Anforderungsarten ein unterschiedliches Gewicht zugewiesen. Die Gewichtung ist der zahlenmäßige Ausdruck für die unterschiedliche Bedeutung der einzelnen Anforderungsarten zueinander. Gleichzeitig werden durch die Gewichtung gewichtsneutrale Rangplätze bzw. Stufenzahlen in anforderungsspezifisch gewichtete Wertzahlen umgesetzt. Der Gewichtungsschlüssel wird von den Tarifvertragsparteien ausgehandelt. Die „Richtigkeit“ der Höhe der Gewichtungsfaktoren lässt sich arbeitswissenschaftlich kaum nachweisen, vielmehr spielen pragmatische Gesichtspunkte eine Rolle wie z.B.
642
Arbeitswissenschaft
x Verfahrensunterschiede (unterschiedlich viele Anforderungsarten), x gesellschaftliche Wertungen, x technologische Veränderungen und x arbeitsmarkt- und sozialpolitische Notwendigkeiten. Bei einer analytischen Arbeitsbewertung mit getrennter Gewichtung ist der Gewichtungsfaktor nicht in den Rangreihen bzw. Stufen zur Bewertung der einzelnen Anforderungsarten enthalten, sondern muss noch mit der Rangplatznummer oder der Stufenzahl multipliziert werden. Die getrennte Gewichtung ist somit durch Rangreihen bzw. Stufenzahlen gekennzeichnet, die für alle Anforderungsarten gleich sind (z.B. reichen die Rangreihen bei REFA durchweg von 0 bis 100). Bei einer analytischen Arbeitsbewertung mit gebundener Gewichtung ist der Gewichtungsfaktor hingegen in den Rangreihen bzw. Stufen bereits enthalten. Die Anforderungswerte reichen hier von 0 bis zu einer Zahl, die von Anforderungsart zu Anforderungsart unterschiedlich sein kann. Der maximal mögliche Anforderungswert drückt dabei die Gewichtung der einzelnen Anforderungsarten zueinander aus. Rangreihenverfahren (Prinzip der Reihung) Beim Rangreihenverfahren gibt es für jede Anforderungsart eine Bewertungstafel (siehe Tabelle 7.3), in der verschiedene Richtbeispiele (bei REFA „Brückenbeispiele“ genannt) nach ihrer Anforderungshöhe geordnet sind. Die entlang einer Skala angeordneten und mit einem Rangplatz bzw. einem Anforderungswert hinterlegten Richtbeispiele werden als Rangreihe bezeichnet. Zur Arbeitsbewertung werden die ermittelten Anforderungen eines Arbeitssystems mit den Richtbeispielen der vorgegebenen Bewertungstafeln verglichen und entsprechend ihrer Anforderungshöhe in eine Rangreihe eingeordnet. Beim Rangreihenverfahren mit getrennter Gewichtung werden die aus den Bewertungstafeln abgelesenen Rangplatznummern – diese ergeben sich aus der Einordnung der einzelnen Anforderungsarten in die Rangreihen – mit festgelegten Gewichtungsfaktoren multipliziert. Addiert man die so ermittelten Anforderungswerte zu einer Wertzahlsumme (Synthese), erhält man einen zahlenmäßigen Ausdruck, der die Gesamtanforderungen des betrachteten Arbeitssystems abbildet. Beim Rangreihenverfahren mit gebundener Gewichtung ist der Gewichtungsfaktor bereits in den Rangreihen enthalten. Einer Bewertungstafel kann somit statt der gewichtsneutralen Rangplatznummer unmittelbar der Anforderungswert entnommen werden. Die Ermittlung der Wertzahlsumme erfolgt wie beim Rangreihenverfahren mit getrennter Gewichtung durch das Aufaddieren der einzelnen Anforderungswerte. In Abb. 7.4 ist beispielhaft das Vorgehen nach dem Rangreihenverfahren mit getrennter Gewichtung dargestellt.
Arbeitswirtschaft Tabelle 7.3: REFA-Bewertungstafel für geistige Belastungen (REFA 1991a)
643
644
Arbeitswissenschaft
1
Beschreiben der Arbeit
2
Rangieren
Ermitteln der Anforderungshöhe
3
Arbeitskenntnisse geistige Belastung Geschicklichkeit Muskelbelastung Verantwortung Umgebungseinflüsse
20 20 35 70 20 70
Rangplatz in der REFA-Rangreihe (Rangreihe 0…100)
Rangplatz
Gewichten Arbeitskenntnisse geistige Belastung Geschicklichkeit Muskelbelastung Verantwortung Umgebungseinflüsse
Gewichtungsschlüssel (angenommen)
20 20 35 70 20 70
Gew.Fakt.
x x x x x x
1 0,8 0,9 0,8 0,8 0,3
Arbeitswert 4
Tarifieren
Wertzahl
= = = = = =
20 16 32 56 16 21 161 Pkt.
Arbeitswert: 161 Pkt. Arbeitswert (in Pkt.)
€
30
E1
60
E2
90
E3
120
E4
150
E5
180
E6
210
E7
240
E8
Abb. 7.4: Bestimmen der Wertzahlsumme und Ermitteln der Entgeltgruppe nach dem Rangreihenverfahren mit getrennter Gewichtung
Stufenwertzahlverfahren (Prinzip der Stufung) Beim Stufenwertzahlverfahren, das teilweise auch Stufen-, Wertzahl- oder Punktbewertungsverfahren genannt wird, werden für jede Anforderungsart mehrere Anforderungsstufen festgelegt, denen gewichtete Wertzahlen oder gewichtsneutrale Stufenzahlen zugeordnet sind. Um die Anforderungen der zu bewertenden Arbeit sachgerecht einstufen zu können, sind die einzelnen Stufen zudem verbal oder durch quantitative Daten beschrieben und teilweise durch konkrete Arbeitsbeispiele ergänzt.
Arbeitswirtschaft
645
Zur Bewertung der einzelnen Anforderungsarten werden die für eine Arbeitsaufgabe ermittelten Anforderungen mit den vorliegenden Stufenbeschreibungen verglichen und der Zahlenwert der passenden Stufe abgelesen. Bei einer gebundenen Gewichtung charakterisiert dieser Zahlenwert unmittelbar das Anforderungsniveau der jeweiligen Stufe. Bei einer getrennten Gewichtung ergibt sich aus der Stufenzahl, erst nach Multiplikation mit einem Gewichtungsfaktor, der Anforderungswert der jeweiligen Anforderungsstufe. Addiert man die so erhobenen Wertzahlen für alle Anforderungsarten, erhält man den Arbeitswert der Arbeitsaufgabe. Das Vorgehen bei der Einstufung einer Arbeitsaufgabe nach dem Stufenwertzahlverfahren mit gebundener Gewichtung soll am Beispiel des Entgeltrahmenabkommens (ERA) für die Metall- und Elektroindustrie des Landes NordrheinWestfalen verdeutlicht werden. Grundlage der Einstufung einer Arbeitsaufgabe sind hier die folgenden tarifvertraglich festgelegten Anforderungsmerkmale: (1) Können (Arbeitskenntnisse sowie Fachkenntnisse und Berufserfahrungen) (2) Handlungs- und Entscheidungsspielraum (3) Kooperation (4) Mitarbeiterführung. Für jedes Anforderungsmerkmal werden Bewertungsstufen vorgegeben, denen wiederum gewichtete Punktwerte zugeordnet sind. Die unterschiedliche Gewichtung der einzelnen Anforderungsmerkmale zueinander wird durch die Anzahl der maximal erreichbaren Punktwerte bestimmt. Tabelle 7.4 zeigt eine Bewertungstafel am Beispiel des Anforderungsmerkmals „Handlungs- und Entscheidungsspielraum“. Tabelle 7.4: Bewertungstafel für das Punktbewertungsverfahren aus dem Entgeltrahmenabkommen (ERA) für die Metall- und Elektroindustrie des Landes Nordrhein-Westfalen Handlungs- und Entscheidungsspielraum Stufe
Beschreibung
Punkte
1
Die Erfüllung der Arbeitsaufgabe ist im Einzelnen vorgegeben.
2
2
Die Erfüllung der Arbeitsaufgabe ist weitgehend vorgegeben.
10
3
Die Erfüllung der Arbeitsaufgaben ist teilweise vorgegeben.
18
4
Die Erfüllung der Arbeitsaufgaben erfolgt überwiegend ohne Vorgaben weitgehend selbständig.
30
5
Die Erfüllung der Arbeitsaufgaben erfolgt weitgehend ohne Vorgaben selbständig.
40
646
Arbeitswissenschaft
Der Gesamtpunktwert der betrachteten Arbeitsaufgabe ergibt sich aus der Addition der Punktwerte der jeweils zutreffenden Bewertungsstufen. Die Zuordnung des so ermittelten Gesamtpunktwertes zu einer der 14 tarifvertraglich gebildeten Entgeltgruppen richtet sich nach Tabelle 7.5. Tabelle 7.5: Entgeltgruppen und zugeordnete Gesamtpunktspannen aus dem Entgeltrahmenabkommen (ERA) für die Metall- und Elektroindustrie des Landes NordrheinWestfalen
7.2.3.4
Entgeltgruppe (EG)
Gesamtpunktspanne
1
10 - 15
2
16 - 21
3
22 - 28
4
29 - 35
5
36 - 43
6
44 - 54
7
55 - 68
8
69 - 77
9
78 - 88
10
89 - 101
11
102 - 112
12
113 - 128
13
129 - 142
14
143 - 170
SummarischeĆVerfahrenĆderĆArbeitsbewertungĆ
Bei der summarischen Arbeitsbewertung werden die Anforderungen eines Arbeitssystems an den Menschen als Ganzes erfasst und bewertet. Einzelne Anforderungen werden dabei nicht getrennt voneinander betrachtet, sondern eher ganzheitlich erfasst. Das Ergebnis einer summarischen Arbeitsbewertung wird als Entgeltgruppe bzw. Entgeltband ausgewiesen (REFA 1991b). Rangfolgeverfahren (Prinzip der Reihung) Beim Rangfolgeverfahren werden alle Arbeitsaufgaben innerhalb eines Betriebs oder einer Organisationseinheit entsprechend ihrem Anforderungsniveau in eine Rangfolge gebracht und danach einer Entgeltgruppe bzw. einem Entgeltband zugeordnet. Zur systematischen Erstellung einer Rangfolge wird häufig die Methode des paarweisen Vergleichs genutzt. Hierbei wird die Anforderungshöhe eines jeden
Arbeitswirtschaft
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Arbeitsplatzes mit allen anderen Arbeitsplätzen verglichen und die jeweils ermittelten Bewertungsergebnisse anhand unterschiedlicher Punktwerte quantifiziert: Stellt der betrachtete Arbeitsplatz im Vergleich höhere Anforderungen an die Arbeitsperson, erhält er dafür zwei Punkte. Weist der Arbeitsplatz in Relation ein vergleichbares Anforderungsniveau auf, wird ein Punkt vergeben. Werden die Anforderungen des betrachteten Arbeitsplatzes im Ergebnis eines Paarvergleichs als geringer eingeschätzt, erhält er dafür keinen Punkt. Sind alle Arbeitsplätze miteinander verglichen, werden die Bewertungspunkte pro Arbeitsplatz aufsummiert und die einzelnen Arbeitsplätze entsprechend ihres Gesamtpunktwertes in eine Rangfolge gebracht. Die Position eines Arbeitsplatzes innerhalb der so gebildeten Rangfolge spiegelt das Niveau der jeweiligen Gesamtanforderung in Relation zu allen anderen Arbeitsplätzen wider. Den in dieser Rangfolge geordneten Arbeitsplätzen werden abschließend Entgeltgruppen bzw. -bänder zugewiesen. Niedrige Anforderungen führen dabei zu einem niedrigen Entgelt, höhere Anforderungen zu einem entsprechend höheren Entgelt (siehe Abb. 7.5). Arbeitsplatz mit höchsten Anforderungen
Entgeltgruppe bzw. -band mit höchstem Entgelt
n
m
…
…
…
…
4
E4
3
E3
2
E2
1
E1
Arbeitsplatz mit niedrigsten Anforderungen
Entgeltgruppe bzw. -band mit geringstem Entgelt
Rangfolge nach der summarisch bewerteten Anforderungshöhe
Paarvergleiche =
n (n-1)
Entgeltgruppen bzw. -bänder
2
Abb. 7.5: Summarische Arbeitsbewertung nach dem Prinzip der Reihung
Die Vorteile des so praktizierten Rangfolgeverfahrens liegen in seiner Einfachheit, seiner leichten Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit. Der Nachteil dieses Vorgehens liegt hingegen darin, dass es schwierig ist, eine ausreichende Anzahl von Bewertern zu finden, die alle Arbeiten innerhalb eines Betriebs mit hinreichender Genauigkeit beurteilen können. Zudem ist der subjektive Einfluss – aufgrund der fehlenden objektiven Beurteilungsmaßstäbe – relativ groß und das Verfahren bei einer hohen Zahl von unterschiedlichen Arbeitsplätzen sehr aufwendig. So ist der paarweise Vergleich nur für kleinere Betriebe oder Organisationseinhei-
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Arbeitswissenschaft
ten geeignet, ergeben sich doch bei n Arbeitsplätzen insgesamt n(n-1)/2 Paarvergleiche. Erleichtert werden kann die Anwendung des Rangfolgeverfahrens durch überbetriebliche Aufgabenkataloge, die bereits mehrere fertige Rangfolgen für verschiedene Funktionsbereiche im Unternehmen enthalten. Die darin geordneten Arbeitsaufgaben sind in der Regel bereits mit einer Entgeltgruppe bzw. einem Entgeltband versehen. Zur Arbeitsbewertung werden alle zur Bewertung anstehenden Arbeitsplätze zunächst als Ganzes mit den Referenzbeispielen und deren Eingruppierung im Aufgabenkatalog verglichen. Anschließend wird jeder Arbeitsplatz einer Entgeltgruppe zugewiesen, der dem Anforderungsniveau des jeweils „passenden“ Referenzbeispiels entspricht. Katalogverfahren (Prinzip der Stufung) Das Katalogverfahren, das teilweise auch Entgeltgruppenverfahren genannt wird, basiert auf einem meist tarifvertraglich vorgegebenen Entgeltgruppenkatalog, der eine bestimmte Anzahl von Entgeltgruppen (= Anforderungsstufen) umfasst. Die im Entgeltgruppenkatalog aufgeführten und nach ihrem Anforderungsniveau gestuften Entgeltgruppen fassen jeweils die Anforderungen gleichwertiger Arbeitsaufgaben zusammen und legen diese in einer Entgeltgruppendefinition fest. Die in den Definitionen beschriebenen Anforderungsmerkmale verweisen zumeist auf das Können, das für eine sachgerechte Arbeitsausführung erforderlich ist. Die Anforderungen einer Arbeit an das Können bzw. die Qualifikation einer Arbeitsperson werden dabei anhand von unterschiedlichen Anlernzeiten, Ausbildungsniveaus und/oder Berufserfahrungen operationalisiert. Teilweise beziehen sich die Stufendefinitionen auch auf Belastungen, die aus besonderen Arbeitsumgebungsbedingungen (z.B. Hitze, Lärm) oder hohen körperlichen Anforderungen (z.B. durch schwere dynamische Muskelarbeit) resultieren. Moderne tarifliche Entgeltsysteme – bspw. die meisten regionalen Entgeltrahmenabkommen in der Metallund Elektroindustrie – gehen jedoch davon aus, dass die mit der Erfüllung einer Arbeitsaufgabe verbundenen Erschwernisse bzw. Belastungen nicht in die Bemessung des anforderungsabhängigen Grundentgelts einfließen. Vielmehr werden nicht vermeidbare Belastungen, die deutlich über das normale bzw. mittlere Maß hinausgehen, durch eine getrennt ausgewiesene Erschwerniszulage abgegolten. Den einzelnen Entgeltgruppen sind zumeist noch Prozentzahlen zugeordnet, mit der die Werterelation der jeweiligen Gruppe zu einer ausgewählten Bezugsgruppe angegeben wird. Diese Bezugsgruppe – auch Eckentgeltgruppe genannt – entspricht einem Entgeltschlüssel von 100% und charakterisiert erstmals die Anforderungen, die sachbearbeitende Aufgaben und/oder Facharbeiten an eine Arbeitsperson stellen. Legt man den Geldbetrag für die Eckentgeltgruppe fest, lassen sich anhand des vorgegebenen Entgeltschlüssels die Geldbeträge für alle anderen Entgeltgruppen ermitteln. Ein Beispiel für einen tarifvertraglich festgelegten Entgeltgruppenkatalog, der nicht mehr zwischen gewerblicher Arbeit und Angestelltentätigkeit unterscheidet, zeigt Tabelle 7.6.
Arbeitswirtschaft
649
Tabelle 7.6: Entgeltgruppenkatalog aus dem Entgeltrahmenabkommen (ERA) für die Metall- und Elektroindustrie des Landes Hessen Gruppe 1
2
3
4
5
6
7
8
9
Entgeltgruppendefinition Einfache Tätigkeiten, die nach einer zweckgerichteten Einarbeitung und Übung von bis zu 4 Wochen verrichtet werden können. Es ist keine berufliche Vorbildung erforderlich. Tätigkeiten, deren Ablauf und Ausführung weitgehend festgelegt sind. Erforderlich sind Kenntnisse und Fertigkeiten, wie sie in der Regel durch ein systematisches Anlernen von bis zu 6 Monaten erworben werden. Tätigkeiten, deren Ablauf und Ausführung überwiegend festgelegt sind. Erforderlich sind Kenntnisse und Fertigkeiten, wie sie in der Regel durch ein systematisches Anlernen von mehr als 6 Monaten erworben werden. Tätigkeiten, deren Ablauf und Ausführung teilweise festgelegt sind. Erforderlich sind Kenntnisse und Fertigkeiten, wie sie in der Regel durch eine mindestens 2-jährige fachspezifische Ausbildung erworben werden. Sachbearbeitende Aufgaben und / oder Facharbeiten, deren Erledigung weitgehend festgelegt ist. Erforderlich sind Kenntnisse und Fertigkeiten, wie sie in der Regel durch eine abgeschlossene mindestens 3-jährige fachspezifische Berufsausbildung erworben werden. Schwierige sachbearbeitende Aufgaben und / oder schwierige Facharbeiten, deren Erledigung überwiegend festgelegt ist. Erforderlich sind Kenntnisse und Fertigkeiten, wie sie in der Regel durch eine abgeschlossene mindestens 3-jährige fachspezifische Berufsausbildung und mehrjährige Berufserfahrung erworben werden. Umfassende sachbearbeitende Aufgaben und / oder besonders schwierige und hochwertige Facharbeiten, deren Erledigung teilweise festgelegt sind. Erforderlich sind Kenntnisse und Fertigkeiten, wie sie in der Regel durch eine abgeschlossene mindestens 3-jährige fachspezifische Berufsausbildung und eine mindestens 2-jährige Fachausbildung oder zusätzliche Kenntnisse und Fertigkeiten, die durch langjährige Berufserfahrung erworben werden. Ein Aufgabengebiet, das im Rahmen von bestimmten Richtlinien erledigt wird oder hochwertigste Facharbeiten, die hohes Dispositionsvermögen und umfassende Verantwortung erfordern. Erforderlich sind Kenntnisse und Fertigkeiten, wie sie in der Regel durch eine abgeschlossene mindestens 3jährige fachspezifische Berufsausbildung und eine mindestens 2-jährige Fachausbildung erworben werden sowie zusätzliche Kenntnisse und Fertigkeiten, die durch langjährige Berufserfahrung erworben werden. Ein erweitertes Aufgabengebiet, das im Rahmen von Richtlinien erledigt wird. Erforderlich sind Kenntnisse und Fertigkeiten, wie sie durch den Abschluss einer mindestens 4-jährigen Hochschulausbildung erworben werden. Diese Kenntnisse und Fertigkeiten können auch durch eine abgeschlossene mindestens 3-jährige fachspezifische Berufsausbildung und eine mindestens 2-jährige Fachausbildung und eine langjährige Berufserfahrung sowie eine zusätzliche spezielle Weiterbildung oder auf einem anderen Weg erworben werden.
Entgeltschlüssel 84%
86%
89%
94%
100%
110%
122%
137%
155%
650
Arbeitswissenschaft
Tabelle 7.6 (Fortsetzung): Entgeltgruppenkatalog aus dem Entgeltrahmenabkommen (ERA) für die Metall- und Elektroindustrie des Landes Hessen Gruppe
10
11
Entgeltschlüssel
Entgeltgruppendefinition Ein Aufgabenbereich, der im Rahmen von allg. Richtlinien erledigt wird. Erforderlich sind Kenntnisse und Fertigkeiten, wie sie durch den Abschluss einer mindestens 4-jährigen Hochschulausbildung erworben werden und Fachkenntnisse durch mehrjährige spezifische Berufserfahrung. Diese Kenntnisse und Fertigkeiten können auch auf einem anderen Weg erworben werden. Ein erweiterter Aufgabenbereich, der teilweise im Rahmen von allg. Richtlinien erledigt wird. Erforderlich sind Kenntnisse und Fertigkeiten, wie sie durch den Abschluss einer mindestens 4-jährigen Hochschulausbildung erworben werden sowie Fachkenntnisse und langjährige spezifische Berufserfahrung. Diese Kenntnisse und Fertigkeiten können auch auf einem anderen Weg erworben werden.
170%
185%
Häufig werden die Entgeltgruppen durch sog. Niveau- oder Richtbeispiele ergänzt, in denen typische Arbeitsaufgaben der jeweiligen Anforderungsstufe beschrieben sind. Ein tarifliches Niveaubeispiel, das der Entgeltgruppe E 1 aus dem hessischen Entgeltrahmenabkommen zugeordnet ist, ist in Abb. 7.6 dargestellt. Zur Arbeitsbewertung werden die Anforderungen der zu bewertenden Arbeitsaufgabe in ihrer Gesamtheit mit den Anforderungsmerkmalen der Entgeltgruppendefinitionen verglichen und im Ergebnis einer dieser Entgeltgruppen zugeordnet. Als zusätzliche Informations-, Orientierungs- und Entscheidungshilfe bei der Bewertung und Zuordnung der Arbeitsaufgabe zu einer Entgeltgruppe dienen die Niveau- bzw. Richtbeispiele. ERA Niveaubeispiel Kennziffer: 05.01.01.03 Arbeitsaufgabe:
Tätigkeit im Empfang/Poststelle Arbeitsbeschreibung:
Annehmen und Weiterleiten von Telefonaten. Besucher registrieren. Einfache Kopierarbeiten ausführen. Ausgehende Post kuvertieren, etikettieren und freimachen. Eingehende Post sortieren und zuteilen. Einfachste Schreibarbeiten nach Vorlage erledigen. Ausbildung und Erfahrung:
Kurze Einweisung; keine Vorkenntnisse erforderlich. Entgeltgruppe: E1
Vereinbart am 28.11.2008
Abb. 7.6: Tarifliches Niveaubeispiel aus dem Entgeltrahmenabkommen (ERA) für die Metall- und Elektroindustrie des Landes Hessen
Arbeitswirtschaft
7.2.4
651
Leistungsabhängiges Entgelt
In der betrieblichen Praxis finden sich eine Vielzahl von Entgeltsystemen, die mit unterschiedlich gestalteten leistungsabhängig variablen Entgeltbestandteilen versuchen, gezielt Anreize für hohe Mitarbeiterleistungen zu setzen. Der leistungsabhängig variable Entgeltbestandteil kann sich aus mehreren Komponenten zusammensetzen. So können mit der betrieblichen Einführung eines variabel gestalteten Leistungsentgelts bspw. Ziele auf individueller und kollektiver Ebene verbunden sein, die sich nicht durch eine einzelne Entgeltkomponente realisieren lassen. Trotz der Vielzahl der unternehmensspezifischen Gestaltungslösungen lässt sich das betriebliche Vorgehen zur Ermittlung des leistungsabhängigen Entgelts auf drei grundlegende Methoden zurückführen: Kennzahlenvergleich, Leistungsbeurteilung und Zielvereinbarung. Diese Methoden zur leistungsabhängigen Differenzierung des Entgelts werden in Abhängigkeit von der konkreten betrieblichen Ausgestaltung des variablen Leistungsentgelts einzeln oder in Kombination angewandt. Die wesentlichen Unterschiede der drei Methoden zeigt Tabelle 7.7. Tabelle 7.7: Methoden zur leistungsabhängigen Entgeltdifferenzierung
Methode zur Bestimmung der Leistungsbasis (Bezugsleistung) Methode zur leistungsabhängigen Differenzierung des Entgelts
Kennzahlenvergleich
Leistungsg beurteilung
Zielvereinbarung
Vorgabe von Kennzahlen
Vorgabe von qualitativen Leistungsmerkmalen
Vereinbarung von quantitativen und/oder qualitativen Zielen
Kennzahlenvergleich
Beurteilen
Kennzahlenvergleich oder Beurteilen
Welche Methode zur Ermittlung des leistungsabhängigen Entgelts zur Anwendung kommt, wird im Wesentlichen durch unternehmensspezifische Zielstellungen und Rahmenbedingungen bestimmt. Leistungsbewertung Die aus einer Arbeitsaufgabe resultierenden Anforderungen an eine Arbeitsperson sind als relativ konstant anzusehen. Mit der Ausführung einer Arbeitsaufgabe sind jedoch immer auch bestimmte Freiheitsgrade und Spielräume verbunden, die bei der Bewältigung der gestellten Anforderungen individuelle Leistungsvariationen ermöglichen (SCHETTGEN 1996). Bei einer Leistungsbewertung wird – im Gegensatz zur personenunabhängigen Arbeitsbewertung – der individuelle Leistungsbeitrag von Arbeitspersonen ermittelt und quantifiziert. Bei einer Leistungsbewertung wird somit nicht bewertet,
652
Arbeitswissenschaft
was für Anforderungen eine Arbeitsaufgabe stellt, sondern wie Arbeitspersonen diese bewältigen (= personenabhängige Bewertung). Die Abstimmung der bewerteten Leistung mit der Höhe des Arbeitsentgelts erfolgt durch den leistungsabhängigen Entgeltbestandteil. 7.2.4.1
KennzahlenvergleichĆ
Beim Kennzahlenvergleich wird das durch den oder die Beschäftigten erbrachte Leistungsergebnis durch eine oder mehrere Kennzahlen erfasst und anhand von Soll-Ist-Vergleichen bewertet. Das anhand von Kennzahlen operationalisierte Leistungsergebnis bestimmt dabei über eine festgelegte Leistungs-EntgeltRelation die Höhe des leistungsabhängigen Mehrverdienstes. Die dem Kennzahlenvergleich zugrunde liegende Kennzahl wird durch den Arbeitgeber vorgegeben und muss in ihrer Ausprägung – eine entsprechende Anstrengung des Beschäftigten vorausgesetzt – ganz oder teilweise beeinflussbar sein. Die Soll-Vorgaben für eine Kennzahl beziehen sich auf ein Arbeitssystem, dessen Leistungsbedingungen im Vorfeld klar zu definieren sind. Der Beschäftigte ist vor der Aufnahme seiner Arbeit über diese Leistungsbedingungen zu informieren. Bei technischen oder organisatorischen Änderungen im Arbeitssystem sowie bei veränderten Arbeitsabläufen oder -inhalten werden die Kennzahlen neu festgelegt bzw. die den Kennzahlen zugrunde liegenden Daten berichtigt. Die für einen Kennzahlenvergleich erforderlichen Daten können durch unterschiedliche Methoden ermittelt werden. Welche Methode zur Datenermittlung angewandt wird – z.B. Messen, Zählen, Rechnen, Schätzen, Vergleichen, Zusammensetzen, Interpolieren usw. – ist durch den Arbeitgeber festzulegen bzw. mit dem Betriebs- oder Personalrat zu vereinbaren. Leistungs-Entgelt-Relation Die Abhängigkeiten, die zwischen der Höhe des leistungsabhängigen Entgelts und den Ausprägungen der jeweiligen Kennzahl bestehen, lassen sich grafisch in Form von Entgeltlinien darstellen (siehe Abb. 7.7). Die Ausgangsleistung (AL) entspricht einer Soll-Leistung, die durch ein vorab definiertes Leistungsergebnis – z.B. durch eine bestimmte Mengenausbringung oder einen Nutzungsgrad – dargestellt wird. Liegt das betrieblich ermittelte Leistungsergebnis oberhalb dieser Ausgangsleistung, so ergibt sich ein Mehrverdienst entsprechend der festgelegten Entgeltlinie. Das der Ausgangsleistung zugeordnete Ausgangsentgelt (AE) entspricht zumeist dem anforderungsabhängigen Grundentgelt. Die Endleistung (EL) charakterisiert die obere Leistungsgrenze, die bei einer entsprechenden Leistung noch erreichbar sein muss und bis zu der ein leistungsabhängiger Mehrverdienst gezahlt wird. Der für die Endleistung festgelegte Geldbetrag wird als Endentgelt (EE) bezeichnet.
Arbeitswirtschaft
653
Der zwischen Ausgangsleistung und Endleistung liegende Bereich heißt Leistungsspanne. Die Leistungsspanne definiert den Leistungsbereich, der mit einem Mehrverdienst honoriert werden soll. Die Entgeltspanne umfasst den Bereich zwischen Ausgangs- und Endentgelt. Die Höhe dieser Mehrverdienstspanne sollte einen angemessenen Anreiz bieten, die betrieblich erwünschte Mehrleistung zu erbringen. Entgelt
EE
Entgeltspanne
Entgeltlinie
AE Grundentgelt
AE EE AL EL
= = = =
Ausgangsentgelt Endentgelt Ausgangsleistung Endleistung
Ausprägung der Kennzahl
AL
EL Leistungsspanne
Abb. 7.7: Leistungs-Entgelt-Relation in Form einer Entgeltlinie
Neben der absolut erreichbaren Höhe des leistungsabhängigen Mehrverdienstes wird die Anreizwirkung durch den Verlauf der Entgeltlinie gesteuert. Eine Auswahl typischer Entgeltlinienverläufe zeigt Abb. 7.8. Proportionaler Verlauf: Beim proportionalen Verlauf steigt das Entgelt proportional mit dem zugrunde liegenden Leistungsergebnis. Degressiver Verlauf: Beim degressiven Verlauf steigt das Entgelt im unteren Leistungsbereich stark an und nimmt mit zunehmender Leistung ab. Der Entgeltverlauf setzt somit für hohe Leistungen, die über ein bestimmtes Maß hinausgehen, nur geringe Anreize. Eine Überlastung von Mensch und Betriebsmittel, aber auch Qualitätseinbußen am Arbeitsobjekt, lassen sich auf diesem Wege vermeiden. Progressiver Verlauf: Beim progressiven Verlauf nimmt der Anstieg des Entgelts mit zunehmender Leistung zu. Ergebnisse im obersten Leistungsbereich werden äußerst gut honoriert. Angewandt wird dieser Entgeltverlauf zumeist als Anreiz für eine hohe Betriebsmittelnutzung. Progressiv-degressiver Verlauf: Beim progressiv-degressiven Verlauf werden Leistungen im untersten sowie im obersten Bereich wenig betont. Leistungsunter-
654
Arbeitswissenschaft
schiede im mittleren Bereich werden hingegen deutlich hervorgehoben. Eine Entgeltlinie mit progressiv-degressivem Verlauf kommt zum Einsatz, wenn betrieblich ein stabiles Ergebnis im mittleren Leistungsbereich angestrebt werden soll. Degressiv-progressiver Verlauf: Beim degressiv-progressiven Verlauf steigt das Entgelt im untersten und obersten Leistungsbereich stark an. Im mittleren Leistungsbereich setzt der Entgeltverlauf hingegen nur geringe Anreize für Leistungssteigerungen: Vermeidung von Geringleistungen, Belohnen von Höchstleistungen. Gestufter Verlauf: Beim gestuften Verlauf steigt und fällt das Entgelt beim Erreichen festgelegter Stufenpunkte. Die Anreizwirkung der Entgeltlinie wird durch die Höhe und Breite der einzelnen Stufen bestimmt. Leistungsstreuungen innerhalb einer Stufe werden nicht entgeltwirksam. 1. proportional
2. degressiv
€
3. progressiv
€
K
4. progressiv-degressiv
€
€
K
K
5. degressiv-progressiv
€
K
6. gestuft
€
K
K
Abb. 7.8: Typische Entgeltlinienverläufe (K: Ausprägung der zugrunde liegenden Kennzahl)
Bezugseinheiten der Leistungsbemessung Kennzahlen zur Bemessung des leistungsabhängigen Entgelts können das Leistungsergebnis eines einzelnen Beschäftigten oder einer Gruppe von Beschäftigten abbilden. Auch lassen sich Kennzahlen auf individueller und kollektiver Ebene zur Bestimmung des Entgelts miteinander kombinieren. Kennzahlen auf individueller Ebene setzen für den einzelnen Mitarbeiter einen hohen Leistungsanreiz, indem sie die individuelle Leistungserbringung unmittelbar an die Höhe des eigenen Mehrverdienstes koppeln. Voraussetzungen hierfür sind eine klare individuelle Beeinflussbarkeit der Kennzahlen durch die Arbeits-
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655
person, individuelle Vorgaben durch den Arbeitgeber sowie eine eindeutige individuelle Messbarkeit und Zuordenbarkeit der Leistungsergebnisse. Besteht aufgrund der betrieblichen Gegebenheiten ein starker Zusammenhang zwischen den Leistungen der einzelnen Mitarbeiter, wird das anhand von Kennzahlen ermittelte Leistungsergebnis zumeist auf kollektiver Ebene – z.B. für eine Gruppe, eine Abteilung oder ein Segment – erhoben. Eine kollektive Leistungsbewertung anhand von Kennzahlen ist zudem angezeigt, wenn die Leistungsbeiträge der einzelnen Mitarbeiter nicht oder nur mit hohem Aufwand bestimmbar sind oder der kennzahlengebundene Mehrverdienst gezielt Anreize für eine hohe Gruppenleistung setzen soll. Verteilung kollektiv ermittelter Mehrverdienste Die Verteilung eines kollektiv ermittelten Mehrverdienstes auf die einzelnen Mitarbeiter kann grundsätzlich auf drei verschiedene Arten erfolgen (FREMMER 1996): (1) Durch absolut gleiche Verteilung (2) Durch relativ gleiche Verteilung (3) Durch Verteilung nach der individuellen Leistung. Bei der absolut gleichen Verteilung erhalten alle Mitarbeiter unabhängig von ihrer Entgeltgruppe den gleichen absoluten Teil am kollektiv erwirtschafteten Mehrverdienst. Angewandt wird diese Verteilungsform zumeist in Bereichen, in denen die Unterschiede beim anforderungsabhängigen Grundentgelt der Gruppenmitglieder relativ gering sind. Die relativ gleiche Verteilung sieht vor, dass die Mitarbeiter entsprechend der Höhe ihres anforderungsabhängigen Grundentgelts am kollektiven Mehrverdienst beteiligt werden. Alle anspruchsberechtigten Mitarbeiter erhalten dabei den gleichen Prozentsatz auf ihr individuelles Grundentgelt. Diese Art der Verteilung ist insbesondere dann sinnvoll, wenn sich aufgrund der übertragenen Arbeitsaufgaben die Leistungsbeiträge der einzelnen Mitarbeiter am Gruppenergebnis stark unterscheiden und damit das Grundentgelt innerhalb einer Gruppe stark schwankt. Orientiert sich der leistungsabhängige variable Entgeltbestandteil nur am kollektiv ermittelten Leistungsergebnis, kann es zweckmäßig sein, durch die individuelle leistungsabhängige Verteilung des Mehrverdienstes einen Anreiz für einen hohen individuellen Leistungsbeitrag am Gruppenergebnis zu setzen. Die Verteilung des kollektiven Mehrverdienstes nach der individuellen Leistung erfolgt zumeist durch eine methodische Leistungsbeurteilung (siehe Kap. 7.2.4.2). Die drei skizzierten Verteilungsformen – hier am Beispiel einer Gruppe mit vier unterschiedlich eingruppierten Mitarbeitern – sind in Abb. 7.9 exemplarisch dargestellt.
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individuell nach Leistung
relativ gleich
kollektiv ermittelter Mehrverdienst
x% • E3
x% • E4
x% • E4
x% • E5
1/4
1/4
1/4
1/4
E3
E4
E4
E5
absolut gleich
Anforderungsabhängiges Grundentgelt
Verteilungsschlüssel bei Gruppenvergütung
Abb. 7.9: Grundsätzliche Formen zur Verteilung eines kollektiv ermittelten Mehrverdienstes
Akkord und Prämie als Formen des Kennzahlenvergleichs Die Methode des Kennzahlenvergleichs findet sich in vielen Tarifverträgen in zwei klassischen Entgeltgrundsätzen, dem Akkord und der Prämie. Praktiziert wurden beide Entgeltgrundsätze bislang fast ausschließlich für gewerbliche Arbeitnehmer (sog. „Leistungslöhner“). Moderne Tarifverträge, die von einem einheitlichen Arbeitnehmerstatus ausgehen und einheitliche Regelungen zur Entgeltgestaltung aufweisen – bspw. die Entgeltrahmenabkommen in der Metall- und Elektroindustrie – bieten bei entsprechenden betrieblichen Voraussetzungen diese Formen des Kennzahlenvergleichs nunmehr für alle tariflich Beschäftigten an. Einige regionale Entgeltrahmenabkommen haben in diesem Zusammenhang ganz auf die von gewerblicher Arbeit geprägten Begriffe Akkord und Prämie verzichtet und verwenden nur noch den neutralen Begriff »Kennzahlenvergleich«. Der Akkord bzw. die entsprechende Form des Kennzahlenvergleichs wird aufgrund der nachfolgend beschriebenen Spezifika jedoch auch zukünftig wohl nur für eine vergleichsweise kleine Gruppe von Beschäftigten in direkten Bereichen zum Einsatz kommen. Der Akkord hat in der industriellen Produktion zwar eine lange Tradition, er verliert in der betrieblichen Praxis jedoch zunehmend an Bedeutung. Als Kennzahl für den Soll-Ist-Vergleich dient beim Akkord ausschließlich die von der Arbeitsperson beeinflussbare Mengenleistung bzw. der daraus abgeleitete Zeitgrad (REFA 1991b). Die erbrachte Leistung und der erzielte Mehrverdienst verhalten sich beim Akkord immer proportional. Für eine Mengenleistung, die bspw. 30% über der Normalleistung liegt, ist somit ein um 30% gegenüber dem Ausgangsentgelt erhöhter Mehrverdienst zu zahlen.
Arbeitswirtschaft
657
Die proportional ansteigende Entgeltlinie weist nach oben keine Begrenzung auf. Allerdings geben exzessive Mehrverdienste (Zeitgrade) Anlass zu erneuten Zeitstudien zur Ermittlung der Auftragszeit. Eine weitere Besonderheit beim Akkord stellt der in vielen Tarifverträgen geregelte Akkordrichtsatz dar. Der Akkordrichtsatz bildet die Basis für den leistungsabhängigen Akkordmehrverdienst und setzt sich aus dem anforderungsabhängigen Grundentgelt und einem prozentualen Akkordzuschlag zusammen. Der Verdienst eines Mitarbeiters im Akkord – eine tarifvertragliche Festlegung zum Akkordrichtsatz vorausgesetzt – ist somit bereits bei Normalleistung grundsätzlich höher als beim anforderungsabhängigen Grundentgelt für vergleichbare Arbeiten. Die Zahlung des erhöhten Akkordrichtsatzes geht von der Annahme aus, dass Akkordarbeiter im Vergleich zu Beschäftigten im reinen Grundentgelt eine i.Allg. höhere Arbeitsintensität erbringen. Der Akkord kann als Zeitakkord oder als Geld- bzw. Stückakkord auftreten, wobei der Geldakkord nur noch selten angewandt wird. Beim Zeitakkord erhält die Arbeitsperson je Mengeneinheit oder je Auftrag eine Vorgabezeit, deren Unterschreitung zu einer Erhöhung des Akkordverdienstes führt. In Abhängigkeit von der Personenzahl, für die eine Vorgabezeit festgesetzt wird, unterscheidet man zwischen Einzel- und Gruppenakkord. Der Zeitgrad als Kennzahl für den Zeitakkord errechnet sich bezogen auf einen Auftrag wie folgt: Zeitgrad
Sollauftragszeit Istauftragszeit
(7.1)
Beim Geld- oder Stückakkord erhält die Arbeitsperson für jede gefertigte Mengeneinheit einen vereinbarten Festbetrag. In der betrieblichen Praxis ist jedoch überwiegend – wenn Akkord überhaupt noch Anwendung findet – der Zeitakkord üblich, da bei Tarifänderungen nur der Geldfaktor angepasst werden muss. Beim Geldakkord müssten hingegen die Geldbeträge für alle Arbeiten an allen Produkten verändert werden. Die Anwendung des Akkords ist an bestimmte Voraussetzungen gebunden: Eine Arbeitsaufgabe ist akkordfähig, wenn der Zeitbedarf bzw. das Mengenergebnis mess- und beeinflussbar ist. Gleichzeitig muss der Arbeitsumfang und Arbeitsablauf im Voraus bekannt und reproduzierbar sein. Eine Arbeitsaufgabe ist akkordreif, wenn der Arbeitsablauf keine störenden Einflüsse aufweist und die Arbeitsperson für die Arbeitsaufgabe geeignet und eingearbeitet ist. Akkordreife setzt zudem einen möglichst geringen Anteil an unbeeinflussbaren Zeiten voraus. Im Gegensatz zum Akkord, bei dem nur das Erreichen einer maximalen Mengenleistung im Vordergrund steht, kann sich eine Prämie auf die unterschiedlichsten Leistungsmerkmale beziehen (REFA 1991b). Eine Prämie ist zudem dadurch gekennzeichnet, dass die nach oben zumeist begrenzte Entgeltlinie – je nach betrieblich erwünschter Anreizwirkung – unterschiedliche Verläufe annehmen kann, die bereits in Abb. 7.8 skizziert wurden.
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In Abhängigkeit von den zugrunde liegenden Leistungsmerkmalen werden gewöhnlich die folgenden Prämien unterschieden: (1) Mengenprämie zur Sicherstellung bzw. Erhöhung der gefertigten Menge pro Zeiteinheit (2) Nutzungsprämie zur Erhöhung des Nutzungsgrades von Betriebsmitteln (3) Qualitätsprämie zur Sicherstellung bzw. Erhöhung der Güte und Genauigkeit von Arbeitsergebnissen (4) Ersparnisprämie zur Verringerung des Verbrauchs von Material, Energie, Hilfs- und Betriebsstoffen. Vielfach werden in einer Prämie auch mehrere Leistungsmerkmale bzw. Kennzahlen miteinander kombiniert. 7.2.4.2
LeistungsbeurteilungĆ
Eine Leistungsbeurteilung ist ein multifunktionales Führungsmittel, das für eine Vielzahl von Verwendungszwecken genutzt werden kann. So können die Ergebnisse einer Leistungsbeurteilung sowohl zur Ermittlung eines leistungsabhängigen Entgeltbestandteils herangezogen werden als auch als Basis und Entscheidungsgrundlage für personalpolitische Maßnahmen – z.B. im Bereich der Personalführung und -entwicklung, der Nachwuchsplanung etc. – dienen (LATTMANN 1994). Leistungsbeurteilungen mit Entgeltbezug werden vor allem in Bereichen angewandt, in denen sich Leistungsdaten nicht unmittelbar messen lassen, d.h. keine quantitativen Daten zur Leistungsbemessung vorliegen oder diese nur mit unverhältnismäßig hohem Aufwand erhoben werden können. Eine Leistungsbeurteilung erfolgt in der Regel durch den Arbeitgeber oder durch einen Beauftragten des Arbeitgebers. Da eine Leistungsbeurteilung den unmittelbaren Einblick in die Aufgabenerfüllung des zu beurteilenden Mitarbeiters erfordert, wird zumeist der direkte Vorgesetzte mit der Durchführung der Beurteilung betraut. Im Rahmen einer Beurteilung werden die Leistungen eines Mitarbeiters betrachtet, die dieser innerhalb eines bestimmten Zeitabschnittes erbracht hat. Eine Beurteilungsperiode kann unterschiedlich lang sein. In der betrieblichen Praxis beziehen sich die periodisch wiederkehrenden Beurteilungen der individuellen Leistung zumeist auf ein Jahr. Ein wesentlicher Bestandteil der Leistungsbeurteilung ist in vielen Unternehmen das Mitarbeitergespräch. Es dient zur Erörterung der erzielten Beurteilungsergebnisse und zur Ableitung von Aktivitäten für die jeweils anstehende Beurteilungsperiode. In Tarifverträgen, in denen die Leistungsbeurteilung als Methode zur leistungsabhängigen Entgeltdifferenzierung geregelt ist, wird der auf Basis einer Beurteilung ermittelte Entgeltbestandteil zumeist als Leistungszulage bezeichnet. Bei der Leistungsbeurteilung ist allgemein zwischen einer summarischen und einer analytischen Vorgehensweise zu unterscheiden. Bei einer summarischen Beurteilung der Leistung wird das Leistungsbild eines Mitarbeiters ganzheitlich
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betrachtet und in seiner Gesamtheit bewertet. Dieses pauschale, im Ergebnis wenig begründbare und nicht leicht zu reproduzierende Vorgehen wurde in der betrieblichen Praxis fast vollständig durch analytische Verfahren der Leistungsbeurteilung verdrängt. Bei der analytischen Beurteilung wird das Leistungsbild eines Mitarbeiters in einzelne Leistungsmerkmale zerlegt, die getrennt voneinander zu bewerten sind. Die verschiedenen Einzelurteile werden in der Regel rechnerisch zusammengefasst und als Gesamturteil über eine Leistung ausgewiesen. Unterscheiden sich die betrachteten Leistungsmerkmale in ihrer Bedeutung zueinander, so kann diesem Umstand – analog zur analytischen Arbeitsbewertung – durch eine unterschiedliche Gewichtung der Merkmale Rechnung getragen werden (ZANDER 1990). Bei einer Leistungsbeurteilung werden sowohl Leistungsergebnisse (z.B. Menge, Qualität, Termintreue) als auch leistungsrelevante Verhaltensweisen (z.B. fachliche Zusammenarbeit) eines Mitarbeiters erfasst und vor dem Hintergrund betrieblicher Leistungserwartungen bewertet. Dient die Beurteilung – wie im vorliegenden Abschnitt – der leistungsabhängigen Entgeltdifferenzierung, so kommen hierfür fast ausschließlich standardisierte Beurteilungsverfahren zum Einsatz. Standardisierte Verfahren legen sowohl einzelne Beurteilungsmerkmale als auch einzelne Skalen zur Leistungsbewertung fest. Zur Bewertung der vorgegebenen Beurteilungsmerkmale werden die bei einem Mitarbeiter beobachteten Leistungsausprägungen einer passenden Stufe zugeordnet und der Zahlenwert der jeweiligen Stufe abgelesen. Abschließend werden die so für jedes Beurteilungsmerkmal ermittelten Leistungswerte zu einem Gesamtpunktwert verdichtet. Die Höhe des Gesamtpunktwertes bestimmt dabei über festgelegte Regeln oder Berechnungsvorschriften die Höhe des leistungsabhängigen Entgelts (RÖSLER u. SCHADE 2007). Beurteilungsverfahren zur leistungsabhängigen Entgeltdifferenzierung weisen in der betrieblichen Praxis ein vielfältiges Erscheinungsbild auf. Ein Beispiel für ein tarifvertraglich festgelegtes Beurteilungsverfahren zur analytischen Leistungsbeurteilung mit gebundener Gewichtung zeigt Tabelle 7.8. Das tarifliche Verfahren definiert für die Einstufung der Leistung fünf Beurteilungsmerkmale sowie eine merkmalseinheitliche Skala, die durch eine verbale Umschreibung der verschiedenen Merkmalsausprägungen gekennzeichnet ist. Die Einstufung der vorgegebenen Merkmale erfolgt durch Ankreuzen der entsprechenden Merkmalausprägungen, wobei jeder Skalenstufe ein fester Punktwert zugeordnet ist. Die unterschiedliche Gewichtung der einzelnen Merkmale zueinander wird durch eine gebundene Gewichtung realisiert, die in den Punktwerten der einzelnen Merkmalsstufen enthalten ist. Um anhand des in Tabelle 7.8 dargestellten tariflichen Verfahrens die Leistungszulage eines Beschäftigten zu ermitteln, werden die Punktwerte, die aus der Bewertung der fünf Einzelmerkmale resultieren, zu einer Gesamtpunktzahl addiert. Die so ermittelte Gesamtpunktzahl wird abschließend mit Hilfe einer tariflichen Berechnungsvorschrift in eine individuelle Leistungszulage umgewandelt. Ein Beispiel ist in Tabelle 7.9 dargestellt.
660
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Tabelle 7.8: Tarifliches Beurteilungsverfahren zur Ermittlung individueller Leistungszulagen aus dem Entgeltrahmenabkommen (ERA) des Landes Hessen Merkmal
Beurteilungsstufe
Einzelmerkmal
1
A
B
C
D
E
Das Leistungsergebnis entspricht dem Ausgangsniveau der Arbeitsaufgabe
Das Leistungsergebnis entspricht im allgemeinen den Erwartungen
Das Leistungsergebnis entspricht in vollem Umfang den Erwartungen
Das Leistungsergebnis liegt über den Erwartungen
Das Leistungsergebnis liegt weit über den Erwartungen
0
2
4
6
8
0
2
4
6
8
0
1
2
3
4
0
1
2
3
4
0
1
2
3
4
Effizienz wirksame Arbeitsausführung; termingerechte Arbeitsergebnisse; rationelle Durchführung
2
Qualität sorgfältige Durchführung von Aufgaben; Häufigkeit von Fehlern, Mängeln; Einhaltung von Zusagen, Absprachen; Ideenvielfalt
3
Flexibilität Erledigung wechselnder Aufgaben; Bewältigung veränderter Arbeitsbedingungen
4
Verantwortliches Handeln Zielorientierung; Umgang mit Ressourcen; Selbständigkeit; Übernahme von Verantwortung; Sauberkeit in der Arbeitsumgebung; Förderung von Arbeits- und Gesundheitsschutz
5
Kooperation / Führungsverhalten Zusammenarbeit bei gemeinsamer Erledigung von Arbeitsaufgaben; Zusammenarbeit mit anderen Stellen / Bereichen innerhalb der Arbeitsaufgabe; Weitergabe von Erfahrungen und Informationen zur Aufgabenerfüllung; Delegation, Integration, Motivation; Personalentwicklung
Gesamtpunktzahl: Kenntnisnahme: Datum, Unterschrift Beschäftigte/r
Datum, Unterschrift Vorgesetzte/r
Tabelle 7.9: Tarifliche Berechnungsvorschrift zur Ermittlung individueller Leistungszulagen aus dem Entgeltrahmenabkommen (ERA) des Landes Hessen Name
EntgeltGruppe
Entgeltgruppenschlüssel
Individuelle Bewertungspunkte
Individuell gewichtete Wertepunkte = S3 x S4
Individuelle Leistungszulage = S5 x Geldwert je gewichtetem Punkt
Individuelle Leistungszulage bezogen auf das Grundgehalt
S1
S2
S3
S4
S5
S6
MA1
E9
155%
18
27,90
392,72 €
11,96%
MA2
E4
94%
14
13,16
185,24 €
9,30%
MA3
E5
100%
3
3,00
42,23 €
1,99%
MA4
E7
122%
22
26,84
377,80 €
14,62%
57
70,90
998,00 €
10,00%
Tarifwert der Entgeltgruppe E5 Grundentgelt-Summe x 10% 998 € / 70,90 Wertepunkte
2119 € (Tarifstand Juni 2007) 9980 € x 10% = 998 € Æ betriebliches Leistungszulagenvolumen 14,08 € Æ Geldwert je gewichtetem Wertepunkt
S7
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661
Die in Tabelle 7.9 dargestellte Berechnungsvorschrift sieht in einem ersten Schritt vor, die individuell erzielte Gesamtpunktzahl mit dem Entgeltgruppenschlüssel zu multiplizieren, der sich aus der Eingruppierung des betreffenden Mitarbeiters ergibt. Aus dieser Berechnung resultiert ein individuell gewichteter Wertpunkt der Leitungsbeurteilung. Im nächsten Schritt ist zu errechnen, welcher Geldbetrag für einen gewichteten Wertpunkt als Leistungszulage zu zahlen ist. Hierzu wird das Budget, das für einen ganzen Betrieb oder eine Organisationseinheit zur leistungsabhängigen Verteilung zur Verfügung steht – hier 10% bezogen auf die Summe der gezahlten tariflichen Grundentgelte – durch die Anzahl aller gewichteten Wertpunkte geteilt. Zur Ermittlung der individuellen Leistungszulagen ist in einem letzten Schritt der so errechnete Geldwert je Wertpunkt mit den gewichteten Bewertungspunkten eines jeden Mitarbeiters zu multiplizieren. 7.2.4.3
ZielvereinbarungĆ
Zielvereinbarungen werden in vielen Unternehmen seit langem als Führungs- und Managementinstrument ohne Entgeltbezug eingesetzt. Zunehmend finden Zielvereinbarungen jedoch auch als Methode zur leistungsabhängigen Entgeltdifferenzierung ihre betriebliche Anwendung. Zielvereinbarungssysteme sind bereits in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts durch das Führungskonzept »Management by Objectives« (MbO) populär geworden. Das MbO sieht vor, strategische Unternehmensziele, die von der Geschäftsführung festgelegt wurden, in einem Kaskadierungsprozess bis auf untergeordnete Organisationseinheiten „herunterzubrechen“. Innerhalb der Zielhierarchie eines Unternehmens nehmen die so festgelegten Ziele nach unten hin an Detaillierung, Präzision und Operationalisierung zu. Im Hinblick auf die Festlegung der konkreten Mitarbeiterziele lassen sich im MbO zwei unterschiedliche Ansätze erkennen: Bei der Zielvorgabe legt der Vorgesetzte die Ziele für die ihn unterstellten Mitarbeiter allein fest und gibt diese als verbindliche Orientierungspunkte vor. Bei der eigentlichen Zielvereinbarung erfolgt die Festlegung der Ziele hingegen in einem Verhandlungsprozess zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern. Im Vergleich zur fremdbestimmten Zielvorgabe bewirkt die aktive Beteiligung an der Zielfestlegung eine höhere Identifikation der Mitarbeiter mit den Zielen sowie ein stärkeres Verantwortungsbewusstsein bei der Realisation der Ziele (BREISIG 2003). Für eine hohe Leistung ist die Existenz von Zielen nicht ausreichend. Die psychologische Zielsetzungstheorie (LOCKE u. LATHAM 1990) postuliert vielmehr eine Reihe von empirisch überprüften Aussagen, die als wissenschaftliche Basis für Zielvereinbarungskonzepte in der Praxis – ob mit oder ohne Entgeltbezug – anzusehen sind. So gelten im Hinblick auf die Arbeitsleistung folgende Erkenntnisse:
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Arbeitswissenschaft
x Je schwieriger (im Sinne von herausfordernder) ein angestrebtes Ziel ist, desto höher sind die motivations- und leistungsfördernden Effekte und damit die erbrachte Leistung. x Spezifisch und klar formulierte Ziele führen zu einer höheren Leistung als allgemein formulierte Ziele („do your best“). Als Rahmenbedingung dieser zentralen Aussagen gilt, dass Ziele im Hinblick auf die Leistungsvoraussetzungen der jeweils handelnden Person realistisch und erreichbar formuliert sein müssen. Innerhalb der Zielsetzungstheorie wurden weiterhin eine Reihe von Variablen untersucht, die einen Einfluss auf den Zusammenhang zwischen Zielsetzungen und Leistung haben können und als Moderatoren und Mediatoren bezeichnet werden (siehe Abb. 7.10). Moderatoren: Fähigkeit Zielbindung Rückmeldung Aufgabenstruktur Persönlichkeitsmerkmale
Ziele
Leistung
Mediatoren: Verhaltensrichtung Anstrengung Ausdauer Aufmerksamkeit
Abb. 7.10: Die Determinanten von Zielen auf die Leistung (nach KLEINBECK 1996)
Moderatorvariablen beeinflussen in Abhängigkeit von ihren Ausprägungen die Wirkung von Zielen auf die Leistung. Mediatorvariablen sind hingegen Wirkmechanismen in einer Person, mit deren Hilfe die motivierende Wirkung von Zielen auf das individuelle Leistungsverhalten erklärt werden kann. Zielvereinbarungen zur Ermittlung des Leistungsentgelts schließt der Arbeitgeber oder dessen Beauftragter mit einzelnen Beschäftigten oder Gruppen von Beschäftigten einvernehmlich ab. Der entscheidende Unterschied zwischen einer Zielvereinbarung mit Entgeltbezug und den bislang dargestellten Methoden zur Ermittlung des leistungsabhängigen Entgelts liegt somit im Vorgehen bei der Festlegung der entgeltrelevanten Parameter (»Vorgabe durch den Arbeitgeber« vs. »gemeinsame Festlegung im gegenseitigen Einvernehmen«). Bei der Auswahl der zu vereinbarenden Ziele ist darauf zu achten, dass diese einen konkreten Bezug zur Arbeitssituation des Mitarbeiters aufweisen und in
Arbeitswirtschaft
663
ihrer Ausprägung – eine entsprechende Anstrengung vorausgesetzt – ganz oder teilweise zu beeinflussen sind. Grundlegende Anforderungen an die sachgerechte Formulierung von Zielen finden sich in der sog. »SMART-Formel« (siehe Abb. 7.11), die in der betrieblichen Praxis mittlerweile einen hohen Bekanntheitsgrad erreicht hat.
S
Spezifisch, d.h. präzise, konkret, und eindeutig formuliert
M
Messbar, um Zielerreichungsgrad überprüfen zu können
A
Anspruchsvoll, d.h. Ziele sollen eine Herausforderung darstellen
R
Realistisch, d.h. zwar hochgesteckt, aber immer noch erreichbar
T
Terminiert, d.h. auf einen konkreten, festen Zeitraum bezogen SMART - Formel
9
Abb. 7.11: Anforderungen an die Formulierung von Zielen
Die in einer Zielvereinbarung festgelegten Ziele können sowohl quantitativer als auch qualitativer Art sein. Quantitative Ziele – z.B. »Erhöhung der Betriebsmittelnutzung um x% im Monat« oder »Steigerung des Marktanteils für ein Produkt auf y%« – basieren auf mess- bzw. zählbaren Kenngrößen. Qualitative Ziele – z.B. die Verbesserung der Ordnung und Sauberkeit im Arbeitsbereich – lassen sich hingegen nicht oder nicht sinnvoll in Form von Kennzahlen quantifizieren. Der Zielerreichungsgrad kann daher nur durch Beurteilen und Schätzen festgestellt werden. Die zwischen Vorgesetzten und Mitarbeiter bzw. Team vereinbarten Ziele sind schriftlich in einem Zielvereinbarungsbogen zu dokumentieren. Ein betriebliches Beispiel hierfür zeigt Abb. 7.12. Zielvereinbarungen werden im Rahmen eines Zielvereinbarungsgesprächs für einen bestimmten Zeitabschnitt – die Zielvereinbarungsperiode – abgeschlossen. Die Zielvereinbarungsperiode sollte bei einer Kopplung des Zielerreichungsgrads an das Leistungsentgelt möglichst kurz sein. Insbesondere bei längeren Laufzeiten der Zielvereinbarung – z.B. bei einem halben bis ganzen Jahr – empfiehlt es sich, regelmäßige Zwischengespräche durchzuführen, in denen sich beide Vereinbarungspartner über den aktuellen Stand der Zielerreichung austauschen und ggf. Zielanpassungen vornehmen können.
664
Arbeitswissenschaft
Mitarbeiter(in) Name, Vorname: Funktionsbezeichnung: Ziel-Nr.:
Vorgesetzte(r) Name, Vorname: Funktionsbezeichnung:
Zielvereinbarungsbogen 2008
Ziel-Titel:
Zielerreichungskriterien
Soll-Termine
Voraussetzungen Beteiligte
Status
Das vereinbarte Ziel wird übertroffen, wenn …
Das vereinbarte Ziel wird erreicht, wenn …
Das vereinbarte Ziel wird teilweise erreicht, wenn …
Das vereinbarte Ziel wird nicht erreicht, wenn …
Ziel-Check-Up:
erledigt = Realisierung ist erfolgt
kritisch = Realisierung derzeit kritisch
offen = Ziel noch nicht erreicht, Realisierung unkritisch
Abb. 7.12: Zielvereinbarungsbogen (betriebliches Beispiel)
Am Ende einer Zielvereinbarungsperiode werden die Leistungsergebnisse in einem sog. Zielerfüllungsgespräch bewertet. Bei quantitativen Zielen erfolgt die Bewertung wie beim Kennzahlenvergleich durch Soll-Ist-Vergleiche, die sich auf die vorab vereinbarten (Soll) und die tatsächlich erreichten Leistungsergebnisse (Ist) beziehen. Die so für jedes Ziel ermittelten Zielerreichungsgrade werden abschließend zumeist zu einem Gesamt-Zielerreichungsgrad verrechnet. Alternativ kann der Zielerreichungsgrad für quantitative Ziele auch mit Hilfe von vorab festgelegten Beurteilungsstufen bewertet werden. Bei qualitativen Zielen wird das Leistungsergebnis, wie bei einer Leistungsbeurteilung, ausschließlich anhand von Beurteilungsstufen einer vorgegebenen Skala bewertet. Ist hierbei die Ermittlung eines Gesamt-Zielerreichungsgrades vorgesehen, werden die Bewertungspunkte aus den verschiedenen Einzelurteilen rechnerisch zusammengefasst. Der für eine abgeschlossene Zielvereinbarungsperiode ermittelte GesamtZielerreichungsgrad bestimmt über eine festgelegte Leistungs-Entgelt-Relation die Höhe des leistungsabhängigen Entgelts. Hierbei sind grundsätzlich alle Entgeltlinienverläufe denkbar, die bereits beim Kennzahlenvergleich dargestellt wurden (siehe Abb. 7.8). 7.3 7.3.1
Zeitwirtschaft Begriff und Gegenstand der Zeitwirtschaft
Der Zeitwirtschaft kommt im Zusammenhang mit der Ökonomisierung von Arbeitssystemen, der Arbeitswirtschaft, eine besondere Bedeutung zu, da Zeitdaten über Beginn, Dauer und Ende eines Arbeitsvollzugs wesentliche Kriterien zur
Arbeitswirtschaft
665
Gestaltung, Organisation, Wirtschaftlichkeitsbeurteilung und termingerechten Erledigung einer Arbeit darstellen und somit Voraussetzung für die Umsetzung der arbeitswirtschaftlichen Prinzipien (siehe Kap. 7.1.2) sind. Unter Zeitwirtschaft wird dabei die Bewirtschaftung aller im Unternehmen benötigten Zeiten für Arbeitspersonen, Arbeits-/Betriebsmittel und Arbeitsobjekte verstanden. Die Aufgaben der Zeitwirtschaft reichen von der Zeitdatenermittlung für einzelne Arbeitsgänge über die Fristen- und Terminplanung bis zur Terminsteuerung und Terminkontrolle. Letztgenannte vergleicht die geplanten SollZeiten mit den tatsächlich anfallenden Ist-Zeiten und greift bei Bedarf korrigierend in den Fertigungsablauf bzw. die Terminplanung ein. Bewirtschaften von Zeiten bedeutet, die Datenerhebung zu planen und durchzuführen sowie die erhobenen Daten auszuwerten, aufzubereiten, zu verwenden und zu pflegen. Zu den wesentlichen Aufgaben der Planung der Datenerhebung zählen die Festlegung des Verwendungszwecks der Zeitdaten (Kap. 7.3.2), die Beschreibung der Arbeitsbedingungen (Kap. 7.3.3) und Zeitarten (Kap. 7.3.4), die Auswahl der Datenermittlungsmethode (Kap. 7.3.5) und die Information der Beschäftigten (REFA 1997). Die Ausführungen in den Kapiteln 7.3.2 bis 7.3.10 lehnen sich an HINRICHSEN (2007) an. 7.3.2
Verwendungszwecke von Zeitdaten
In Abhängigkeit vom jeweiligen betrieblichen Funktionsbereich lassen sich verschiedene betriebliche Verwendungszwecke von Zeitdaten unterscheiden. Grundsätzlich können im industriellen Kontext mit einem produkt-, einem auftrags-, einem mitarbeiterbezogenem und einem führungsrelevanten Verwendungsbereich vier wesentliche Verwendungsbereiche von Zeitdaten unterschieden werden (siehe Abb. 7.13). Dabei muss es Ziel der betrieblichen Planung sein, Zeitdaten nach Möglichkeit mehrfach unterschiedlichen Verwendungszwecken zuzuführen, um ein günstiges Verhältnis von Kosten der Datenermittlung zu dem Nutzen der Zeitdaten zu schaffen (BRITZKE 1996). Im Hinblick auf den produktbezogenen Verwendungsbereich werden Zeitdaten als Planungs- und Entscheidungsgrundlage in der Kalkulation und Angebotserstellung von Neuprodukten, in der Entwicklung und Konstruktion dieser Produkte sowie in der Fertigungs- und Qualitätsplanung verwendet. So bilden valide SollZeitdaten für Arbeitspersonen und Betriebsmittel eine wesentliche Basis für eine wirklichkeitsgerechte Kalkulation der Herstellkosten eines geplanten Neuproduktes. Durch eine solche Kalkulation wird der Vertrieb in die Lage versetzt, ein selbstinitiiertes Produktentwicklungsvorhaben im Hinblick auf seine Vermarktungschancen zu bewerten oder einem Kunden einen realistischen Preis für eine Leistung mitzuteilen. Liegen in diesem, der Produktentwicklung vorgelagerten Prozess, keine validen Zeitdaten vor, gehen insbesondere von Kundenverträgen mit hohem Volumen und langen Laufzeiten erhebliche Risiken für den Betrieb aus (BISHOP 2001). Einerseits läuft der Betrieb Gefahr, die Kosten bzw. Preise zu hoch anzusetzen und damit den Auftrag an einen Wettbewerber zu verlieren. An-
666
Arbeitswissenschaft
dererseits geht der Betrieb das Risiko ein, Arbeitszeiten und damit Arbeitskosten zu niedrig einzuschätzen, so dass das Unternehmen zwar durch einen niedrig angesetzten Preis mit der Leistungserbringung beauftragt wird, aber in der Folge erhebliche Verluste realisiert. Darüber hinaus sind Zeitdaten erforderlich, um die Auswirkungen von Entscheidungen in der Entwicklung, Konstruktion und Fertigungsplanung auf die Herstellkosten eines Produkts ermitteln zu können.
führungsbezogen
mitarbeiterbezogen
produktbezogen
Anreizsystem
techn. Vertrieb (Kalkulation, Angebotserst.)
Entwicklung
Betriebsleitung (Investitionsplanung, Personalbedarfsplanung; Absatzplanung etc.)
ZEITDATEN Konstruktion
Fertigungs-/ Qualitäts planung
produktionsbezogen Auftragseingang
Produktionsprogrammplanung
Ablaufplanung (Menge, Termine, Kapazitäten)
Auftragsveranlassung
Fertigung
Auftragsüberwachung
Versand
Abb. 7.13: Verwendungszwecke von Zeitdaten im produzierenden Betrieb (in Anlehnung an BRITZKE 1996)
In Bezug auf Produkte, die zum bestehenden Leistungsspektrum eines Betriebs zählen, unterstützen Zeitdaten den kompletten Prozess der Auftragsabwicklung (produktionsbezogener Anwendungsbereich), in dem sie Eingang in die Produktionsplanung und -steuerung finden (LUCZAK u. EVERSHEIM 1999). Eine Schnittstelle zwischen dem produkt- und produktionsbezogenen Verwendungsbereich von Zeitdaten bildet der Fristenplan. In diesem Plan wird unabhängig von einem Auftrag für jedes einzelne Bauteil des zu fertigenden Produkts bzw. der Baugruppen des zu montierenden Produkts die Durchlaufzeit durch die Teilefertigung bzw. Montage gemäß dem Erzeugnisaufbau dargestellt. Die Grundlage eines Fristenplans bilden Soll-Zeitdaten für Menschen und Betriebsmittel. Zweck des Fristenplans ist es, auf seiner Basis auftragsbezogene Terminpläne zu erstellen. Diese beziehen sich, im Unterschied zum Fristenplan, auf eine bestimmte Stückzahl und enthalten kalendarische Daten. Neben den planungsbezogenen Soll-Zeitdaten sind über den gesamten Prozess der Auftragsabwicklung Ist-Zeitdaten erforderlich, um im Rahmen der Auftragsüberwachung Soll-Ist-Abweichungen zu erkennen und entsprechende kurzfristige Umplanungen vornehmen zu können. Der mitarbeiterbezogene Anwendungsbereich von Zeitdaten bezieht sich auf die Gestaltung von Anreizsystemen. Vorgabezeiten werden in diesen Systemen zur Festlegung einer Bezugsleistung verwendet. Diese kann motivierend und leistungsfördernd wirken, wenn der Beschäftigte eine regelmäßige Rückmeldung zu
Arbeitswirtschaft
667
seinem Leistungsstand erhält (LOCKE u. LATHAM 1990) und die Vorgabezeiten ein faires und realistisches Arbeitspensum abbilden. Durch Rückmeldungen erkennt eine Person Abweichungen auf dem Weg zum angestrebten Soll-Zustand und kann ihr Verhalten kontinuierlich am Ziel, dem Erreichen der Bezugsleistung, ausrichten (RÖSLER u. HINRICHSEN 2004). Monetäre Anreize im Rahmen einer leistungsbezogenen Entgeltkomponente (siehe Kap. 7.2) können die leistungsfördernde Wirkung dieser Bezugsleistung verstärken. Darüber hinaus bilden Zeitdaten einen wesentlichen Input von Managementinformationssystemen und können daher als führungsrelevante Daten angesehen werden. So sind Zeitdaten erforderlich, um den Bedarf an Personal, Betriebsmitteln und Material zu ermitteln, alternative Planungen über Verfahren der Investitionsrechnung zu bewerten, eine Produktionsplanung und -steuerung (PPS) vorzunehmen oder Systeme der Kosten- und Leistungsrechnung zu verwenden. 7.3.3
Beschreibung der Arbeitsbedingungen
Unter Arbeitsbedingungen werden die auf die Arbeitszeit wirkenden, aber im betrachteten Arbeitssystem als konstant angenommenen Einflussgrößen verstanden. Durch ihre Festschreibung wird eine wesentliche Voraussetzung für die Reproduzierbarkeit und damit Wiederverwendbarkeit von Zeitdaten geschaffen. Eine Beschreibung der Arbeitsbedingungen erfolgt über Arbeitsablaufbeschreibungen. Diese beinhalten die „räumliche und zeitliche Abfolge des Zusammenwirkens von Arbeitenden/Benutzern, Arbeitsmitteln, Materialien, Energie und Information innerhalb eines Arbeitssystems“ (DIN EN ISO 6385). Eine Veränderung des Arbeitsablaufs wirkt sich in aller Regel auf die Dauer der Ausführung einer Tätigkeit aus, so dass eine Beibehaltung des Arbeitsablaufs eine wesentliche Bedingung für die Gültigkeit der ermittelten Zeitdaten darstellt. So weist bereits POPPELREUTER (1929) darauf hin, dass einer Zeitstudie stets eine Arbeitsstudie vorauszugehen hat. Letztgenannte kennzeichnet die objektiven Arbeitsbedingungen und die Arbeitsindividualität. Ferner zeigt eine Arbeitsstudie die „Möglichkeiten der Zeitersparnis und der Verbesserung des Arbeitsprozesses“ auf. Zur Analyse und Beschreibung eines Arbeitsablaufs wird dieser mittels einer Arbeitsablaufanalyse, auch Arbeitsablaufstudie genannt, in Ablaufabschnitte gegliedert. Die Gliederung erfolgt dabei in der Regel nach verrichtungs- oder objektbezogenen Kriterien. Ablaufabschnitte lassen sich in eine Hierarchie bringen (HAMMER 1997). Der Gesamtablauf lässt sich in Teilabläufe gliedern. Hierzu können die in Kapitel 4.3.3.2 dargestellten Methoden zur Modellierung der Ablauforganisation dienen. Ein Teilablauf besteht aus Ablaufstufen, die sich wiederum in Arbeitsvorgänge unterteilen lassen. Arbeitsvorgänge umfassen mehrere Teilvorgänge, die wiederum in Vorgangsstufen differenziert werden können. Eine Vorgangsstufe setzt sich aus einer Mehrzahl von Vorgangselementen zusammen. Eine weitere Gliederungssystematik von Arbeitsabläufen wird von MANSCH (1980) vorgeschlagen. Nach dieser Systematik (siehe Abb. 7.14) wird eine Arbeitsaufgabe zumeist durch einen Arbeitsgang an einem Arbeitsplatz ausgeführt.
668
Superierungsebene
Arbeitswissenschaft
Struktur
zugehöriger räumlicher Bereich
Beispiel
Arbeitsprozess
Arbeitsbereich
Teileherstellung in einem Meisterbereich
Arbeitsgang
Arbeitsplatz
Fräsen eines Zahnrades am Maschinenarbeitsplatz
Arbeitsverrichtung (Aktionskombination)
Arbeitsstelle
Aufspannen eines Werkstückes auf den Frästisch
Bewegungsfolge (Aktionsfolge)
Bedienstelle (Aktionsraum)
Festspannen mittels Spannhebel
Bewegungselement (Aktion)
Aktionsstelle
Greifen des Spannhebels
Abb. 7.14: Gliederungssystematik von Arbeitsabläufen (in Anlehnung an MANSCH 1980)
Dieser Arbeitsgang ist Teil eines Arbeitsprozesses, der sich in einem Arbeitsbereich vollzieht. Ein Arbeitsgang kann in einzelne Arbeitsverrichtungen untergliedert werden. Diese werden an einer Arbeitsstelle ausgeführt. Arbeitsverrichtungen werden wiederum in Bewegungsfolgen unterteilt. Eine Bewegungsfolge ist räumlich einer Bedienstelle zuzuordnen und kann über Systeme vorbestimmter Zeiten (siehe Kap. 7.3.9) in Bewegungselemente zerlegt werden. Wird der Gesamtablauf für den Menschen, das Betriebsmittel oder das Arbeitsobjekt so in Ablaufabschnitte unterteilt, dass jedem Ablaufabschnitt ein Zweck eindeutig zugeordnet werden kann, so werden die Ablaufabschnitte als Ablaufarten bezeichnet. Dabei wird zwischen Ablaufarten des Menschen, des Betriebsmittels und des Arbeitsobjektes unterschieden. Da die Arbeitswirtschaft die rationelle Gestaltung menschlicher Arbeit zum Gegenstand hat, soll im folgenden nur auf die Ablaufarten des Menschen eingegangen werden. Diese sind in Abb. 7.15 dargestellt (REFA 1997). Nach dem Kriterium der Vorausbestimmbarkeit kann zwischen planmäßig und nicht planmäßig auftretenden Ablaufarten unterschieden werden. Zu den planmäßig vorkommenden Ablaufarten des Menschen zählen „Haupttätigkeit“, „Nebentätigkeit“ und „ablaufbedingtes Unterbrechen“. Unter Haupttätigkeit wird eine unmittelbar der Erfüllung der Arbeitsaufgabe dienende Tätigkeit verstanden. Eine Nebentätigkeit ist eine mittelbar der Erfüllung der Arbeitsaufgabe dienende Tätigkeit. Beim ablaufbedingten Unterbrechen wartet die Arbeitsperson auf das Ende eines Ablaufabschnitts, welcher beim Betriebsmittel oder Arbeitsobjekt selbstständig abläuft. Zu den nicht planmäßig auftretenden Ablaufarten gehören „zusätzliche Tätigkeiten“, „störungsbedingtes Unterbrechen der Tätigkeit“ und „per-
Arbeitswirtschaft
669
sönlich bedingtes Unterbrechen der Tätigkeit“. Eine zusätzliche Tätigkeit liegt vor, wenn deren Vorkommen oder Ablauf nicht im Voraus bestimmt werden kann. Beim störungsbedingten Unterbrechen einer Tätigkeit wartet die Arbeitsperson infolge von technischen und organisatorischen Störungen sowie Mangel an Informationen. Beim persönlich bedingten Unterbrechen der Tätigkeit unterbricht die Arbeitsperson ihre Tätigkeit aus persönlichen Gründen. Erholen liegt vor, wenn die Arbeitsperson ihre Tätigkeit unterbricht, um ihre tätigkeitsbedingt aufgetretene Arbeitsermüdung abzubauen.
Tätigkeit
im Einsatz
MI
außer Einsatz ML Mensch
MT
M
Unterbrechen der Tätigkeit
MK
Haupttätigkeit
MH
Nebentätigkeit
MN
zusätzliche Tätigkeit
MZ
ablaufbedingtes Unterbrechen
MA
störungsbedingtes Unterbrechen
MS
Erholen (erholungs-
bedingtes Unterbrechen)
Betriebsruhe
MR
persönlich bedingtes Unterbrechen nicht erkennbar
ME MP MX
Abb. 7.15: Ablaufgliederung für den Menschen (REFA 1997)
7.3.4
Zeitgliederung
Durch Anwendung von Methoden der Zeitdatenermittlung können den einzelnen, mittels einer Arbeitsablaufanalyse identifizieren Ablaufarten Zeiten zugeordnet werden. Diese werden Zeitarten (z.B. Haupttätigkeitszeit) genannt. Zu den Zeitarten können sowohl Ist-Zeiten als auch Soll-Zeiten ermittelt werden. Ist-Zeiten sind die tatsächlich von Menschen und Betriebsmitteln für die Ausführung bestimmter Ablaufabschnitte benötigten Zeiten. Soll-Zeiten sind Zeiten, die Menschen und Betriebsmittel planmäßig für die Ausführung bestimmter Ablaufabschnitte benötigen. Soll-Zeiten basieren in Abhängigkeit von der Methode der Datenermittlung direkt (z.B. REFA-Zeitaufnahme) oder indirekt (z.B. Systeme vorbestimmter Zeiten) auf Ist-Zeiten. Die Summe der Soll-Zeiten zu den Ablaufarten Haupttätigkeit und Nebentätigkeit wird als Tätigkeitszeit bezeichnet. Soll-Zeiten beziehen sich auf eine festgelegte Bezugsleistung der Arbeitsperson, die als Normalleistung (REFA 1997) oder Normleistung (DEUTSCHE MTM-VEREINIGUNG 2003) bezeichnet wird. Die REFA-Normalleistung entspricht einem Leistungsgrad von 100% (REFA 1997). Die MTM-Normleistung ist die den MTM-Bewegungselementen zugrunde liegende Leistung. Sie wird beschrieben als „Leistung eines mittelgut
670
Arbeitswissenschaft
geübten Menschen (..), der diese Leistung ohne Arbeitsermüdung auf Dauer erbringen kann“ (DEUTSCHE MTM-VEREINIGUNG 2003). Untersuchungen des Instituts für angewandte Arbeitswissenschaft (IfaA 1970) zur Vergleichbarkeit von MTM-Normleistung und REFA-Normalleistung haben ergeben, dass die mit dem MTM-Grundverfahren ermittelten Tätigkeitszeiten mit dem Faktor 1,05 zu multiplizieren sind, damit die normierten REFA-Zeiten mit den MTM-Zeiten übereinstimmen. Die Summe aus der Tätigkeitszeit und der Soll-Zeit für das ablaufbedingte Unterbrechen, die Wartezeit heißt, wird Grundzeit genannt. In die Grundzeiten gehen demnach die Soll-Zeiten für die planmäßige Ausführung von Abläufen ein (REFA 1997). Die sachlichen Verteilzeiten ergeben sich aus der Summe der Soll-Zeiten für störungsbedingtes Unterbrechen der Tätigkeit und zusätzliche Tätigkeiten. Soll-Zeiten für persönlich bedingtes Unterbrechen werden als persönliche Verteilzeit bezeichnet. Die Summe von sachlicher und persönlicher Verteilzeit wird Verteilzeit genannt. Verteilzeiten folgen einer statistischen Verteilungsfunktion und treten während des Ablaufs ungeplant mit unterschiedlicher Dauer und Häufigkeit auf. Soll-Zeiten für erholungsbedingtes Unterbrechen heißen Erholungszeit. Vorgabezeiten nach REFA (1997) sind Soll-Zeiten für von Menschen und Betriebsmitteln ausgeführte Arbeitsabläufe, die für den Menschen Grundzeiten tg, Erholungszeiten ter und Verteilzeiten tv sowie für das Betriebsmittel Grundzeiten und Verteilzeiten enthalten. Die Vorgabezeit für die Arbeitsperson heißt Auftragszeit und die Vorgabezeit für das Betriebsmittel Belegungszeit. Die Zeitgliederung für die Auftragszeit T ist in Abb. 7.16 dargestellt. Auftragszeit T
(Vorgabezeit für den Menschen)
Rüstzeit tr
Ausführungszeit ta = m te
Zeit je Einheit te
Grundzeit trg
Erholungszeit trer
Verteilzeit trv
Grundzeit tg
Erholungszeit ter
Verteilzeit tv
Tätigkeitszeit tt
Wartezeit tw
sachliche Verteilzeit ts
persönliche Verteilzeit tp
weitere Gliederung möglich
Abb. 7.16: Zeitgliederung für die Auftragszeit (REFA 1997)
Bei dieser Zeitgliederung wird davon ausgegangen, dass zur Bearbeitung eines Auftrags ein Rüsten und Ausführen erforderlich ist und dass das Ausführen aus m Wiederholungen des gleichen Vorgangs besteht. Dieser Vorgang bezieht sich auf
Arbeitswirtschaft
671
die Erstellung einer Einheit. Die Zeit je Einheit wird mit te abgekürzt. Für die Auftragszeit T gilt: T
t r m te
(7.2)
Werden Soll-Zeiten für einzelne, wiederkehrende Ablaufabschnitte zusammengefasst und beschrieben, so werden diese aggregierten Zeitwerte als Planzeiten bezeichnet. Planzeiten können sich prinzipiell auf alle Ebenen von Ablaufarten (siehe Kap. 7.3.3) beziehen (JOHN 1987; CONNORS 2001). Sie zeichnen sich dadurch aus, dass die diesen zugrunde liegenden Arbeitsinhalte genau beschrieben sind, Angaben zu den Arbeitsbedingungen, unter denen sie gültig sind, gemacht werden und diejenigen Einflussgrößen, von denen sie abhängen, aufgeführt werden (siehe Kap. 7.3.3). Die Ermittlung von Planzeiten ist vor allem dann wirtschaftlich, wenn die Häufigkeit ihrer Wiederverwendung hoch ist. 7.3.5
Methoden der Zeitdatenermittlung im Überblick
Zur Ermittlung von Zeitdaten wurde eine Reihe von Methoden entwickelt, die sich nach unterschiedlichen Kriterien systematisieren lassen (HALLER-WEDEL 1969; KAMINSKY 1979; HEINZ u. OLBRICH 1994; AFT 2001). Wird von einigen Sonderformen der Zeitdatenermittlung (z.B. Befragen, Vergleichen und Schätzen) abgesehen, so lassen sich Arbeitszeitdaten über kontinuierliche Beobachtungen, Stichprobenbeobachtungen und rechnerisch-analytische Verfahren ermitteln. Zu den Verfahren der kontinuierlichen Beobachtung zählen die manuelle Zeitaufnahme (siehe Kap. 7.3.6) und die selbsttätige Zeitmessung über Geräte. Stichprobenbeobachtungen werden mit dem Multimomentverfahren (siehe Kap. 7.3.7 und 7.3.8) vorgenommen. Zu den rechnerisch-analytischen Verfahren zählen die Systeme vorbestimmter Zeiten (siehe Kap. 7.3.9). Die Zeitdatenermittlung über eine Regressionsanalyse (siehe Kap. 7.3.10) stellt eine Kombination zwischen der Zeitaufnahme mittels kontinuierlicher Beobachtung und einem rechnerisch-analytischen Verfahren dar. Zeitdatenermittlungen über Systeme vorbestimmter Zeiten oder Regressionsanalysen sind sehr wirtschaftlich, wenn Planzeiten (siehe Kap. 7.3.4) ermittelt werden sollen. Denn Veränderungen an einzelnen Zeiteinflussgrößen – bspw. aufgrund von Weiterentwicklungen am Produkt oder Arbeitsplatz – können mit geringen Anpassungen an den Daten vorgenommen werden. Nach der Art der Daten, die mit einer Methode ermittelt werden können, kann zwischen Methoden der Ist-Zeitdatenermittlung und der Soll-Zeitdatenermittlung unterschieden werden. Ist-Zeitdaten lassen sich mit dem Verfahren der Zeitmessung und dem Multimomentverfahren erheben. Werden die über Zeitmessungen ermittelten Ist-Zeitdaten über eine Leistungsgradbeurteilung (siehe Kap. 7.3.4) normiert, entstehen Soll-Zeiten. Systeme vorbestimmter Zeiten liefern Soll-Zeiten für planmäßige, vorwiegend manuelle Tätigkeiten, ohne im Anwendungsfall zunächst Ist-Zeitdaten erheben zu müssen.
672
7.3.6 7.3.6.1
Arbeitswissenschaft
Zeitaufnahme DefinitionĆundĆBedeutungĆ
Die Zeitaufnahme ist ein statistisches Verfahren der Soll-Zeitdatenermittlung, welches auf einer Messung und Auswertung von Ist-Zeiten für einzelne Ablaufabschnitte basiert. Der Zeitmessung geht eine Beschreibung des Arbeitssystems, insbesondere der Arbeitsmethode und der Arbeitsbedingungen, voraus (siehe Kap. 7.3.3). Die Ermittlung der Ist-Zeiten erfolgt über ein Zeitmessgerät in Fremdaufschreibung. Zu diesen Ist-Zeiten wird der jeweilige Leistungsgrad beurteilt (siehe Kap. 7.3.4). Soll-Zeiten werden über eine Multiplikation der Ist-Zeiten mit dem Leistungsfaktor gebildet. Im englischsprachigen Raum wird die Methode als „stopwatch time study“ (KONZ 2001) oder einfach als „time study“ (MATIAS 2001) bezeichnet. Die Zeitaufnahme nach REFA (1997) ist gemäß einer Umfrage des Instituts für angewandte Arbeitswissenschaft e.V. (BASZENSKI 2003) die mit Abstand meist angewandte Methode der Zeitdatenermittlung. 50% der befragten Unternehmen (n = 58) gaben an, Zeitdaten vorrangig mit dieser Methode zu ermitteln. Die Bedeutung der Methode liegt vor allem darin begründet, dass sie flexibel einsetzbar, verhältnismäßig einfach zu erlernen ist und die intensive Beobachtung bestehender Arbeitsabläufe das Erkennen von Verbesserungspotenzialen erleichtert (MATIAS 2001). 7.3.6.2
AnwendungĆ
Das REFA-Standardprogramm „Zeitaufnahme“ gliedert sich gemäß Abb. 7.17 in acht Schritte (REFA 1997). Der erste Schritt umfasst die Festlegung des Verwendungszwecks der Zeitdaten (siehe Kap. 7.3.2). Ferner ist im Rahmen dieses Schritts zu überprüfen, ob die Voraussetzungen für eine Zeitaufnahme gegeben sind. So sollte der zu untersuchende Arbeitsablauf möglichst so gestaltet sein, dass die diesem zugrunde liegende Arbeitsmethode auch zukünftig unter gleichen o.Ä. Arbeitsbedingungen zur Anwendung kommen kann. Der zweite Schritt beinhaltet die Vorbereitung der Zeitaufnahme. Dazu zählt insbesondere, die von der Zeitstudie betroffenen Beschäftigten zu informieren. Die Schritte 3 bis 6 haben ebenfalls vorbereitenden Charakter. Im Rahmen des dritten Schrittes ist zwischen Fortschritts- und Einzelzeitmessung zu wählen. Bei der Einzelzeitmessung wird jeder Ablaufabschnitt gesondert gemessen und notiert, während bei Fortschrittszeiten jeweils die aggregierten Zeitwerte aufgeführt werden. Letztgenanntes Verfahren hat den Vorteil der Fehlerkompensation. Der vierte Schritt beinhaltet die Auswahl des zu verwendenden Zeitmessgeräts. Während früher hauptsächlich Stoppuhren zum Einsatz kamen, werden heute überwiegend mobile, elektronische Zeitdatenerfassungssysteme in Kombination mit Softwareprodukten für eine Datenauswertung am PC verwendet. Der fünfte Schritt sieht die Auswahl des Zeitaufnahmebogens vor. Diese richtet sich nach der Folge und Zahl der zu messenden Ablaufabschnitte.
Arbeitswirtschaft
673
Der sechste Schritt hat die Beschreibung der Arbeitsbedingungen zum Gegenstand (siehe Kap. 7.3.3). Dazu sind vor allem Informationen zur Arbeitsaufgabe, Auftragsnummer, Auftragsmenge, Arbeitsmethode, zum Arbeitsobjekt, Mensch, Betriebsmittel und zu den Umgebungseinflüssen in den Zeitaufnahmebogen einzutragen. Der Arbeitsablauf ist in Ablaufabschnitte zu gliedern und zu beschreiben. Beginn und Ende eines Ablaufabschnitts werden durch einen Zeitmesspunkt festgelegt. Ferner werden Bezugsmengen und Einflussgrößen erfasst. 1.
Verwendungszweck der Zeitaufnahme festlegen
2.
Zeitaufnahme vorbereiten
3.
Zwischen Fortschrittsund Einzelzeitmessung wählen Wird ein selbsttätig registrierendes Zeitmessgerät eingesetzt?
ja
7.
Zeitaufnahme nach Art des Zeitmessgerätes durchführen
nein 4.
Zeitmessgerät auswählen
5.
Gemäß Ablauffolge Zeitaufnahmebogen auswählen
6.
Arbeitsaufgabe, -verfahren, -methode und -bedingungen beschreiben
zyklische Ablauffolge 6a)
Ablauf in Abschnitte gliedern und beschreiben unter Berücksichtigung des Verwendungszweckes der Zeitaufnahme; Messpunkte festlegen
6b)
Bezugsmengen und Zeiteinflussgrößen erfassen
7.
Zeitaufnahme durchführen
ja
Liegt zyklische Ablauffolge vor?
8.
nicht-zyklische Ablauffolge nein
7.
Zeitaufnahme durchführen: Ablauf in Abschnitte gliedern und beschreiben unter Berücksichtigung des Verwendungszweckes der Zeitaufnahme; Messpunkte festlegen; Bezugsmengen und Einflussgrößen erfassen; Ist-Zeiten messen und Leistungsgrade beurteilen
Zeitaufnahme auswerten
Abb. 7.17: REFA-Standardprogramm „Zeitaufnahme“ (REFA 1997)
Während der Durchführung der Zeitaufnahme (Schritt 7) wird für jeden Ablaufabschnitt die Ist-Zeit gemessen. Der dieser Ist-Zeit zugrunde liegende Leis-
674
Arbeitswissenschaft
tungsgrad wird auf Basis der beobachteten Intensität und Wirksamkeit der Arbeit beurteilt und dokumentiert (siehe Kap. 7.3.4), um individuelle Leistungsausprägungen bei der Übertragung auf „Kollektive“ zu normalisieren. Die Dauer eines Ablaufabschnitts sollte mindestens 25 Hundertstelminuten (HM) betragen, um Intensität und Wirksamkeit sicher beurteilen und notieren zu können (REFA 1997). Sind die Ablaufabschnitte kleiner als 25 HM, so kann der Leistungsgrad einmalig für einen Ablaufabschnitt oder für einen Zyklus gebildet werden. Schritt 8 beinhaltet die Auswertung der ermittelten Daten. Für diesen letzten Schritt der Zeitaufnahme existiert ein eigenes REFA-Standardprogramm „Auswertung von Zeitaufnahmen“, das sich in sechs Schritte untergliedert. Im Rahmen der Datenauswertung werden die Ergebnisse auf Richtigkeit und Vollständigkeit kontrolliert (Schritt 1), die Ist-Einzelzeiten berechnet (Schritt 2), eine statistische Auswertung vorgenommen (Schritt 3), Soll-Zeiten über den Leistungsgrad berechnet (Schritt 4) und zur Grundzeit tg zusammengefasst (Schritt 5), um abschließend die Zeit je Einheit te zu bestimmen (Schritt 6). Eine statistische Auswertung der Zeitdaten in Schritt 3 ist erforderlich, da die Zeitdaten als Stichprobeninformation aufzufassen sind. Diese Information ist auf ihre Übereinstimmung mit der Grundgesamtheit zu untersuchen. Die Güte der Übereinstimmung hängt von der Anzahl und Streuung der Einzelzeiten ab. Für die statistische Auswertung bietet REFA (1997) mit dem Streuzahlverfahren und dem Variationszahlverfahren zwei Standardprogramme an. Im Ergebnis beider Verfahren wird, ausgehend von einer Irrtumswahrscheinlichkeit von 5%, die absolute oder relative Genauigkeit des Mittelwerts einer Einzel- bzw. Zykluszeit errechnet. 7.3.6.3
Vor-ĆundĆNachteileĆ
Mit der Anwendung der Methodik der Zeitaufnahme sind eine Reihe von Vor- und Nachteilen verbunden (SELLIE 2001; MATIAS 2001). Folgende Vorteile lassen sich anführen: x Die Methode der Zeitaufnahme ist im Vergleich zu Systemen vorbestimmter Zeiten relativ einfach zu erlernen, d.h. der Qualifizierungsaufwand ist vergleichsweise gering. x Die Methode der Zeitaufnahme liefert neben Soll-Zeitdaten auch IstZeitdaten als Zwischenergebnis, so dass nach einer Methodenanwendung stets auch Aussagen zum tatsächlichen Leistungsstand gemacht werden können. x Die Methode der Zeitaufnahme ist sehr flexibel einsetzbar. Es ist erstens möglich, ausschließlich Zeitmessungen ohne Leistungsgradbeurteilungen durchzuführen, um sich in kurzer Zeit ein Bild von der Ausgangssituation machen und erste Verbesserungspotenziale identifizieren zu können. Zweitens sind die Zeitmessungen nicht auf Tätigkeiten der Arbeitsperson beschränkt, sondern können sich auch auf Betriebsmittel und Arbeitsgegenstände beziehen.
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x Die intensive Beobachtung bestehender Arbeitsabläufe, die mit Zeitaufnahmen einhergeht, erleichtert das Erkennen von Verbesserungspotenzialen. x Die über eine Zeitaufnahme generierten Soll-Zeiten basieren auf dem tatsächlich beobachteten Arbeitsablauf. Den genannten Vorteilen steht eine Reihe von Nachteilen gegenüber: x Das Beurteilen des Leistungsgrades führt insbesondere dann zu Diskussionen und Konflikten zwischen Beschäftigten und der Arbeitsvorbereitung bzw. zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern, wenn die ermittelten Soll-Zeitdaten in die Berechnung eines leistungsbezogenen Entgeltbestandteils eingehen. x Die Beurteilung des Leistungsgrades ist nicht objektiv. Inter- und intrapersonelle Schwankungen bei der Leistungsgradbeurteilung sind nicht auszuschließen. SELLIE (2001) sieht als gewöhnlichen Maßstab für eine gute Leistungsgradbeurteilung eine Übereinstimmung von ± 5%. Demgegenüber wirkt eine hochpräzise Zeitmessung in HM mit zum Teil einer Nachkommastelle als scheingenau. x Im Vergleich zu den Systemen vorbestimmter Zeiten können Zeitaufnahmen nur durchgeführt werden, wenn die entsprechenden Arbeitssysteme real existieren. Vor dem Hintergrund einer steigenden Innovationsdynamik, die sich in verkürzenden Entwicklungs- und Time-to-Market-Zeiten widerspiegelt, erweist sich die Abhängigkeit der Methode von einem bestehenden Arbeitssystem zunehmend als Nachteil. x Änderungen am Arbeitssystem machen eine erneute Zeitaufnahme erforderlich, während bei Systemen vorbestimmter Zeiten lediglich einzelne Prozessbausteine oder Zeiteinflussgrößen zu modifizieren sind. Daher werden Soll-Zeiten aus Zeitstudien vielfach in Planzeit-Bausteine überführt, um ihre Wiederverwendbarkeit zu verbessern. x Im Vergleich zum Multimomentverfahren, mit dem sich recht wirtschaftlich ein repräsentatives Bild zu der Ist-Situation in einem Bereich erzielen lässt, wird bei der Zeitaufnahme üblicherweise nur ein Arbeitsablauf im Detail analysiert. 7.3.7 7.3.7.1
Multimomentverfahren Definition,ĆEntwicklungĆundĆArtenĆ
Das Multimomentverfahren ist ein statistisches Verfahren der Ist-Zeitdatenermittlung (siehe Kap. 7.3.5), das auf Basis von Stichproben „Aussagen über die prozentuale Häufigkeit bzw. über die Dauer von vorwiegend unregelmäßig auftretenden Vorgängen und Größen beliebiger Art für eine frei wählbare Genauigkeit bei einer statistischen Sicherheit von 95% gibt“ (HALLER-WEDEL 1969). Der Begriff „Multimoment“ geht auf das lateinische „multum“, d.h. „viele“ und
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„momentum“, d.h. „Augenblick“, zurück. Im englischsprachigen Raum wird die Methode überwiegend als „work sampling“ bezeichnet. Grundlagen zur Entwicklung des Multimomentverfahrens gehen auf Studien zur Ermittlung von Qualitätsschwankungen gezogener Drähte (KOHLWEILER 1931) und von Stillstandszeiten an Webstühlen (TIPPETT 1935) zurück. Es folgten eine Reihe weiterer Untersuchungen an industriellen Arbeitsplätzen, welche die Basis für die Methode der Multimomentaufnahme legten (HALLER-WEDEL 1969). Seit den sechziger Jahren wird im deutschsprachigen Raum zwischen dem Multimoment-Häufigkeits-Zählverfahren (MMH-Verfahren) und dem MultimomentZeit-Messverfahren (MMZ-Verfahren) unterschieden (ebd. 1969). Bei dem MMHVerfahren wird durch ein Zählen von Ablaufarten an zufällig bestimmten Zeitpunkten unter Angabe einer gesicherten statistischen Genauigkeit Auskunft über die absolute oder prozentuale Häufigkeit von Vorgängen gegeben. Bei dem MMZVerfahren werden durch ein zufallsbestimmtes Festlegen von Zeitmesspunkten entsprechende Zeitwerte in Minuten oder Stunden ermittelt. Ihre Genauigkeit ist ebenfalls statistisch gesichert. Bilden Arbeitspersonen den Untersuchungsgegenstand des Multimomentverfahrens, so kann prinzipiell zwischen einer Fremd- und einer Selbstaufschreibung unterschieden werden (TOLO 2001; ALBRECHT 2005). Ergänzend zum MMH- und MMZ-Verfahren wurde in den USA die Methode des „performance sampling“ entwickelt (BARNES 1957). Kurzzeitbeobachtungen werden bei dieser Methode dazu genutzt, Leistungsgrade zu beurteilen und zu notieren. Aus diesen Einzelwerten wird der durchschnittliche Leistungsgrad berechnet. Dieser geht in die Bestimmung der Vorgabezeit ein, so dass die Methode des „performance sampling“ nur ergänzend zur Zeitmessung oder zum MMH- bzw. MMZ-Verfahren eingesetzt werden kann. Darüber hinaus wurde das MMHVerfahren hinsichtlich spezieller Anwendungszwecke – wie die Untersuchung von Warteschlangen (BARNES 1957; HALLER-WEDEL 1969) oder die Analyse der Mehrstellenarbeit (HALLER-WEDEL 1969) – adaptiert. 7.3.7.2
BedeutungĆ
Das auch als „fact-finding tool“ (BARNES 1957) bezeichnete Multimomentverfahren bietet – wie keine andere Methode der Ist-Zeitdatenermittlung – vielfältige Anwendungsmöglichkeiten. Es überrascht daher nicht, dass sich in der Literatur eine sehr große Anzahl an veröffentlichten Fallbeispielen zur Multimomentaufnahme findet. Diese stammen zu einem großen Teil aus dem industriellen Sektor und dabei insbesondere aus der pharmazeutischen Industrie. Weiterhin liegen eine große Anzahl an Veröffentlichungen aus dem Gesundheits- und Krankenhausbereich vor (HINRICHSEN et al. 2005). Auch wenn einzelne betriebliche Anwendungsmöglichkeiten der Methode (z.B. Rüstzeitstudien, Ermittlung von Störzeiten an Maschinen) infolge des zunehmenden Einsatzes von Betriebsdatenerfassungs-Systemen in der Produktion nicht mehr in dem Maße wie vor Einführung dieser Systeme genutzt werden, gehört die Methode in vielen Unternehmen weiterhin zum zeitwirtschaftlichen Standardrepertoire.
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In der betrieblichen Praxis dominiert eindeutig die Anwendung des MMHVerfahrens. Die „performance sampling“-Methode wird in Deutschland nicht angewendet, da ihre Validität angezweifelt wird. Die Multimomentaufnahme per Selbstaufschreibung ist in der betrieblichen Praxis bisher deutlich weniger verbreitet als die der Fremdaufschreibung, da die Methodik das Risiko von Ergebnismanipulationen erhöht. Zudem führen Signale, die von elektronischen Signalgebern an Zufallszeitpunkten abgegeben werden, zur Beeinträchtigung der Arbeit der teilnehmenden Personen, da diese für einen kurzen Moment ihre Arbeit zwecks Notierung der zum Signalzeitpunkt durchgeführten Tätigkeit unterbrechen müssen. Ein wesentlicher Vorteil des Verfahrens besteht aber darin, dass auch Ablaufarten, die bei einer Fremdbeobachtung nicht sofort oder zweifelsfrei ersichtlich sind, eindeutig erfasst werden können. Daher wird das Verfahren seit einigen Jahren vor allem in indirekten Bereichen von produzierenden Unternehmen sowie Betrieben der Handels- und Dienstleistungsbranchen angewendet (TOLO 2001; ALBRECHT 2005). Angesichts der wachsenden volkswirtschaftlichen Bedeutung dieser Branchen auf der einen Seite und der bisher eingeschränkten zeitwirtschaftlichen Untersuchungsmöglichkeiten von schwach-strukturierten Arbeitsprozessen auf der anderen Seite gibt es Anzeichen dafür, dass das MMH-Verfahren per Selbstaufschreibung zukünftig an Bedeutung gewinnen wird. Die Anwendung des MMZ-Verfahrens ist deutlich eingeschränkt, da zur Ermittlung der Dauer einzelner Arbeitsvorgänge eine hohe Rundgangsdichte erforderlich ist bzw. die Verfahrensanwendung auf langzyklische Arbeitsvorgänge beschränkt ist. Je geringer die Dauer des kürzesten Vorgangs ist, desto mehr Rundgänge sind innerhalb des Untersuchungszeitraums durchzuführen und desto mehr geht die MMZ-Studie in eine kontinuierliche Zeitaufnahme über (HALLERWEDEL 1969). Neben den im Vergleich zum MMH-Verfahren deutlich erhöhten Aufwänden bei der Methodenanwendung, besteht ein weiteres Problem der Methode darin, dass die ungefähre Dauer des kürzesten Vorgangs bereits vor Beginn der Untersuchung bekannt sein muss, da dieser die mittlere Ablaufzeit bestimmt. Aufgrund dieser Schwierigkeiten und Anwendungsbegrenzungen ist das MMZVerfahren im Vergleich zum MMH-Verfahren nur von geringer praktischer Bedeutung. 7.3.7.3
AnwendungsmöglichkeitenĆ
Das Multimomentverfahren zeichnet sich dadurch aus, dass seine Anwendung nicht auf Arbeitspersonen beschränkt ist, sondern sich auch auf Arbeitsobjekte und Arbeits- bzw. Betriebsmittel beziehen kann. Die erhobenen Zeitdaten unterstützen die Analyse und Bewertung der Ausgangssituation, dienen der Überprüfung der Wirksamkeit von umgesetzten Maßnahmen innerhalb des betrachteten Arbeitssystems und werden zudem als eine Grundlage für die Bestimmung des Entgelts verwendet. Zur Analyse und Bewertung der Ausgangssituation werden die Wahrscheinlichkeiten durch die relativen Häufigkeiten bzw. die zeitliche Dauer einzelner
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Ablaufarten für den ausgewählten Untersuchungsgegenstand (Arbeitspersonen, Arbeits-/Betriebsmittel oder Arbeitsobjekte) geschätzt. Die Ablaufarten können sich dabei an den jeweiligen Ablaufgliederungen für Mensch, Betriebsmittel und Arbeitsobjekt (siehe Kap. 7.3.3) orientieren. Ausgehend von den Ergebnissen der Methodenanwendung (z.B. Brachzeit des Betriebsmittels, Zeitanteil der Nebentätigkeit der Beschäftigten, Zeitanteil des Liegens eines Arbeitsobjekts) sind Maßnahmen zur Problembehebung zu formulieren, zu priorisieren und umzusetzen. Zur Überprüfung der Wirksamkeit eingeleiteter Maßnahmen (z.B. weiterentwickelte Methodik des Montierens eines Produkts; zusätzlicher Kauf einer Maschine zur Behebung von Engpässen) kann wiederum eine Multimomentstudie durchgeführt werden. Ferner kann die Anwendung des Multimomentverfahrens bei der Analyse der Belastungen einzelner Beschäftigter oder Gruppen von Beschäftigten hilfreich sein, indem die Zeitanteile bzw. Zeiten der als kritisch bewerteten Belastungssituationen (z.B. Heben und Tragen von schweren Behältern, Arbeit unter Hitzeeinwirkung) ermittelt werden. Darüber hinaus kann auf Basis der mit dem Multimomentverfahren ermittelten relativen Häufigkeiten bzw. Zeiten einzelner Ablaufarten eine Arbeitsbewertung und damit eine Einstufung der Beschäftigten in Entgeltgruppen vorgenommen werden. Eine in der betrieblichen Praxis häufig vorkommende Anwendung der Methode besteht in der Durchführung von Verteilzeitstudien, um die für die Vorgabezeitbestimmung benötigten Verteilzeitzuschläge zu ermitteln (siehe Kap. 7.3.4). 7.3.7.4
TheoretischeĆGrundlagenĆdesĆMMH-VerfahrensĆ
Die theoretischen Grundlagen des Multimomentverfahrens basieren auf Wahrscheinlichkeitsgesetzen (HALLER-WEDEL 1967; MATIAS 2001). Nach dem „Gesetz der großen Zahl“ nähert sich die relative Häufigkeit eines Zufallsergebnisses immer weiter an dessen Wahrscheinlichkeit an, je öfter das Zufallsexperiment durchgeführt wird. Folglich gilt auch für die relative Häufigkeit T eines diskreten Ereignisses, dass sie sich mit zunehmendem Stichprobenumfang der realen, aber unbekannten Grundwahrscheinlichkeit p nähert (HALLER-WEDEL 1967). Dieser Wert T wird durch den Gegenwert q ergänzt, so dass folgender Zusammenhang gilt: (T q) n
1 mit q 1 T
(7.3)
T relative Häufigkeit eines Ereignisses q relative Häufigkeit des Gegenereignisses n Anzahl der Beobachtungen Aufgabe der mathematischen Statistik ist es, gegebene Häufigkeitsverteilungen analytisch und grafisch darzustellen und sie mit theoretisch begründeten Wahrscheinlichkeitsverteilungen, d.h. mathematischen Modellen, zu vergleichen. Die Normalverteilung ist eine stetige theoretische Verteilung, die in der betrieblichen Praxis häufig auftritt, wenn die Bedingungen des „Zentralen Grenzwertsatzes“
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erfüllt sind. Nach diesem können Zufallsvariablen, die aus dem additiven Zusammenwirken vieler unabhängiger Einflussgrößen resultieren, als normalverteilt angesehen werden (BAMBERG u. BAUR 1996; HALLER-WEDEL 1967). Wird der zentrale Grenzwertsatz auf das Multimomentverfahren übertragen, so lassen sich die an den beobachteten Einzelvorgängen festgestellten Merkmale als annähernd normalverteilt auffassen, wenn sie sowohl in ausreichender Häufigkeit auftreten als auch voneinander unabhängig beobachtet werden (HALLER-WEDEL 1969). Um diese unabhängige Beobachtung zu gewährleisten und damit systematische Fehler bei der Durchführung der MMH-Studie auszuschließen, sind die Zeitpunkte von Beobachtungen über den gesamten Beobachtungszeitraum zufällig auszuwählen, damit jedes Ereignis die gleiche Chance hat, vom Beobachter erfasst zu werden. Darüber hinaus sollte beachtet werden, dass die Rundgangszeiten nicht angekündigt werden, damit aus Sicht der beobachteten Beschäftigten vorteilhafte Ereignisse (z.B. zusätzliche Tätigkeiten, um die sachlichen Verteilzeiten bei einer Verteilzeitaufnahme zu erhöhen) nicht manipulativ herbeigeführt werden können. Ferner muss bei der Festlegung des Durchführungszeitraums einer Multimomentstudie berücksichtigt werden, dass die zu ziehende Stichprobe von Ereignissen aus einer umfassenden, möglichst stabilen statistischen Grundgesamtheit entstammt (ebd. 1969), d.h. der Zeitraum muss „repräsentativ“ sein, um über diesen hinaus zu allgemeingültigen Ergebnissen zu gelangen. Die Normalverteilung zeichnet sich dadurch aus, dass Verteilungsunterschiede auf lediglich zwei Parameter, den Erwartungswert P und die Varianz V2 zurückzuführen sind. Die Varianz V2 ist ein Maß für die Streuung der oben eingeführten Werte T, q von diskreten Ereignissen um die Grundwahrscheinlichkeit p:
V2
T q
T (1 T )
n
n
(7.4)
Ausgehend vom Erwartungswert P der Normalverteilung sind im Intervall [P - V; P + V] ca. 68% der Ereignisse zu erwarten. Im doppelten Intervall [P - 2V; P + 2V] liegen bereits etwa 95,5% der Ereignisse. Die (Irrtums-) Wahrscheinlichkeit D, dass Ereignisse außerhalb dieses Zwei-Sigma-Intervalls liegen, beträgt lediglich 4,5%. Die Wahrscheinlichkeit (1-D), die auch als statistische Sicherheit bezeichnet wird, beträgt im Intervall [P - 1,96V ; P + 1,96V] genau 95%. Übliche Maße für die statistische Sicherheit (1-D) liegen bei 90% (zD/2 = 1,645), 95% (zD/2 = 1,96), 98% (zD/2 = 2,326) und 99% (zD/2 = 2,576). Im deutschsprachigen Raum wird bei Anwendung des Multimomentverfahrens in der Regel eine statistische Sicherheit von 95% gewählt (HALLER-WEDEL 1969; REFA 1997), so dass der mit zD/2 abgekürzte Faktor von V den Wert 1,96 annimmt. Unter Verwendung von Gleichung (7.4) gilt für das Streumaß fi der Ablaufart i bei einer statistischen Sicherheit von 95% der in Gleichung (7.5) Zusammenhang:
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fi
r zD / 2 V
r1,96
Ti (1 Ti ) n
(7.5)
(nach den ersten Rundgängen) n Gesamtzahl der aufgenommenen Notierungen Ti aufgrund der rel. Häufigkeit geschätzter Wert der Ablaufart i fi berechnete absolute Genauigkeit von Ti Als Maß für die Genauigkeit wird das Konfidenzintervall [Ti - fi;Ti + fi] verwendet. Das Sigma-Intervall [Ti - zD/2 V ; Ti + zD/2 V] sagt aus, dass mit einer bestimmten statistischen Sicherheit (1-D) der wahre, aber unbekannte Wert pi der relativen Häufigkeit Ti einer Ablaufart i innerhalb der Intervallgrenzen liegt. Aus einer Umformung der Gleichung (7.5) resultiert die sog. MMHHauptformel, die vor Beginn des ersten Rundgangs bzw. nach den ersten Rundgängen (zwecks einer Zwischenauswertung) verwendet wird: 3,84 Tic(1 Tic) nc (7.6) f c2 (vor dem ersten Rundgang) n
3,84 T i (1 T i ) f c2
(7.7)
(nach den ersten Rundgängen) n´ Gesamtzahl der erforderlichen Notierungen (vor dem ersten Rundgang) n Gesamtzahl der erforderlichen Notierungen (nach den ersten Rundgängen) Ti aufgrund der relativen Häufigkeit geschätzter Wert der Ablaufart i Ti´ vor dem ersten Rundgang geschätzte relative Häufigkeit der Ablaufart i f´ gewünschte absolute Genauigkeit von Ti bzw. Ti´ Aus der Gleichung (7.6) geht hervor, dass die Anzahl der erforderlichen Notierungen n´ mit zunehmender Genauigkeit f´ ansteigt. Ferner nimmt der Wert Ti´ Einfluss auf die Anzahl der notwendigen Notierungen. Um vor Beginn der Durchführung einer MMH-Studie die voraussichtliche Anzahl an Beobachtungen n´ mittels der MMH-Hauptformel ermitteln zu können, sind Schätzungen der Ergebnisanteile der relevanten Ablaufarten Ti´ vorzunehmen bzw. Werte aus vorhergehenden zeitwirtschaftlichen Untersuchungen zu verwenden. Darüber hinaus ist die gewünschte absolute Genauigkeit f´ festzulegen. Gleichung (7.7) wird verwendet, wenn bereits Ergebnisse aus Multimomentaufnahmen vorliegen, d.h. die Ergebnisanteile Ti berechnet wurden.
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Neben der absoluten Genauigkeit fi des Ergebnisanteils Ti kann ebenso die relative Genauigkeit Hi, auch als Genauigkeitsgrad bezeichnet, als Streuungsparameter herangezogen werden. Dabei wird die absolute Genauigkeit fi einer Ablaufart i ins Verhältnis zum Ergebnisanteil dieser Ablaufart gesetzt:
fi
Hi
(7.8)
Ti
Die Anzahl der erforderlichen Rundgänge R´ kann berechnet werden, indem die Anzahl der erforderlichen Notierungen n´ in das Verhältnis zur Anzahl der zu beobachtenden Arbeitspersonen, Arbeits-/Betriebsmittel oder Arbeitsobjekte, die als Untersuchungspersonen bzw. -einheiten U bezeichnet werden sollen, gesetzt wird:
Rc
nc U
(7.9)
Die täglich auszuführende Anzahl an Rundgängen R´Tag errechnet sich über den Quotienten aus der Anzahl der erforderlichen Rundgänge R´ und dem Untersuchungszeitraum D in Tagen:
Rc D
c RTag
(7.10)
ș300 + f300
Vertrauensbereich von ș300 ș1200 + f1200
obere Vertrauensgrenze
ș [%]
f
73
ș300
max
p zD / 2
p (1 p) n
ș2400 + f2400
ș600 + f600
72
ș1800 + f1800
ș1200
71
ș2400
70 69 68
ș600
ș300 - f300
p
ș1800
ș1200 – f1200
ș2400 – f2400 ș1800 – f1800
67
untere Vertrauensgrenze
66
f
ș600 – f600
300
600
900
1200
1500
1800
min
p zD / 2
2100
p (1 p ) n
2400
2700
n
Abb. 7.18: Darstellung der Vertrauensbereiche einer MMH-Aufnahme (die Indizes geben die Anzahl von Beobachtungen an)
Die Beziehungen zwischen der Gesamtzahl der vorgenommenen Notierungen n, dem während der MMH-Aufnahme festgestellten Ergebnisanteil T für eine bestimmte Ablaufart und dem Streumaß f werden exemplarisch in Abb. 7.18 dar-
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gestellt. Unter der Voraussetzung einer bekannten Grundwahrscheinlichkeit p (0,7 in Abb. 7.18) lassen sich der positive und negative Flügel eines trichterförmigen Vertrauensbereichs, die obere und untere Vertrauensgrenze, berechnen (HALLER-WEDEL 1969). Der dargestellte Kurvenverlauf zeigt, dass die auf Basis der Beobachtungen berechneten Ergebnisanteile T mit fortschreitender Anzahl an Notierungen n sich immer mehr der Grundwahrscheinlichkeit p nähern und gleichzeitig die Genauigkeit f zunimmt. 7.3.7.5
UntersuchungsartenĆ
Grundsätzlich kann zwischen einer Informativ-, Standard- und Spezialuntersuchung differenziert werden (HALLER-WEDEL 1969). Mit Hilfe einer Informativuntersuchung lässt sich ein schneller Überblick hinsichtlich der ungefähren Zeitanteile weniger Ablaufstufen oder Arbeitsvorgänge erzielen. Es wird allerdings empfohlen, mindestens n = 300 Notierungen vorzunehmen. Einer Standarduntersuchung liegen etwa 1.600 Notierungen zugrunde, so dass gemäß Multimomenthauptformel bei jedem Ergebnisanteil das Streumaß fmax = r 2,5% nicht überschritten wird. Als Spezialuntersuchungen gelten solche Multimomentaufnahmen, bei denen bereits in der Vorbereitung der Studie von mehr als 10.000 Notierungen ausgegangen wird, so dass für die absoluten Genauigkeiten beliebiger Ablaufarten fmax = r 1,0% gilt. Ferner kann zwischen einer Multimomenteinzelaufnahme und einer -gruppenaufnahme unterschieden werden (REFA 1997). Bei einer Einzelaufnahme wird im Unterschied zu der üblicherweise angewendeten Gruppenaufnahme jede Notierung einem Arbeitsplatz zugeordnet, so dass Auswertungen nach einzelnen Arbeitsplätzen möglich sind. Einzelaufnahmen sind von ihrem Umfang her in der Regel als Spezialuntersuchungen zu planen. Darüber hinaus kann zwischen einfachem, mehrfach gestuftem, geschichtetem und inhomogenem Untersuchungsdesign unterschieden werden (HALLER-WEDEL 1969). Dabei ist es hilfreich, Arbeitsablaufabschnitte in eine Hierarchie zu bringen und insbesondere zwischen Arbeitsgängen und Arbeitsverrichtungen zu unterscheiden (siehe Kap. 7.3.3). Ein einfaches Untersuchungsdesign liegt vor, wenn die beobachteten Arbeitsgänge nur einmal notiert werden. Bei einer mehrfach gestuften Studie ist der Multimomentaufnahmebogen so gestaltet, dass in einer ersten Stufe der Beobachtung zwischen wenigen Arbeitsgängen unterschieden wird und eine „Grobnotierung“ vorgenommen wird. In einer zweiten Stufe wird jeder Arbeitsgang weiter spezifiziert und die entsprechende Arbeitsverrichtung dieses Arbeitsgangs notiert („Feinnotierung“). Die Summe der relativen Häufigkeiten der Arbeitsverrichtungen muss mit dem jeweiligen Ergebnisanteil des Arbeitsgangs übereinstimmen. Als Vorteil eines mehrfach gestuften Untersuchungsdesigns gegenüber einem einfachen Untersuchungsdesign wird angeführt, dass bei einer großen Anzahl an Ablaufarten die Übersichtlichkeit gewahrt wird (ebd. 1969). Da bei einfachen Untersuchungen in der Auswertungsphase ebenso Arbeitsverrichtungen zu Arbeitsgängen zusammengefasst werden können, unter-
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scheiden sich beide Untersuchungsdesigns lediglich hinsichtlich der Gestaltung des MMH-Aufnahmebogens und der Vorgehensweise bei der Aufnahme und Auswertung. Ein geschichtetes Untersuchungsdesign liegt vor, wenn den Ablaufarten eine weitere Dimension zugeordnet wird (z.B. zeitliche Abschnitte eines Tages), so dass in der Auswertung bspw. die Entwicklung des Ergebnisanteils einer Ablaufart im Zeitverlauf eines Tages dargestellt werden kann. Multimomenteinzelaufnahmen sind folglich ebenso geschichtete Aufnahmen. Da geschichtete Untersuchungen mit einer hohen Anzahl an Notierungen einhergehen, sind sie in die Kategorie „Spezialuntersuchungen“ einzuordnen. Von einem inhomogenen Untersuchungsdesign wird gesprochen, wenn Ergebnisanteile verschiedener Untersuchungsgegenstände (z.B. Mensch und Betriebsmittel) im Rahmen einer Studie ermittelt werden. Die Auswertung erfolgt getrennt nach Untersuchungsgegenständen. Inhomogene Untersuchungen verursachen im Vergleich zu separat durchgeführten Studien geringere Kosten. Da der Beobachter von einem Beobachtungspunkt aus zwei oder mehr Sachverhalte (z.B. „Was macht die Maschine?“ und „Was macht die Arbeitsperson?“) in kurzer Zeit erfassen muss, wird als Nachteil angeführt, dass die Aufmerksamkeitsleistung des Beobachters nachlassen kann und somit die Gefahr einer geringen Validität der Ergebnisse gegeben ist (ebd. 1969). 7.3.7.6
AnwendungĆdesĆMMH-VerfahrensĆ
Zur Anwendung des MMH-Verfahrens liegt eine Reihe von strukturierten Vorgehensbeschreibungen vor. Diesen ist gemeinsam, dass sich die beschriebenen Schritte einer Vorbereitungs-, Durchführungs- und Auswertungsphase zuordnen lassen. Darüber hinaus basieren alle Beschreibungen des MMH-Verfahrens auf denselben statistischen Grundlagen. Um den Stand der Forschung und Praxis der Methode wiederzugeben, soll ein Vorgehensmodell (siehe Abb. 7.19) dargestellt werden, welches wesentliche, aus der Literatur (BARNES 1957; HALLER-WEDEL 1969; REFA 1997; BRISLEY 2001; MATIAS 2001) stammende Gestaltungshinweise berücksichtigt. Das Vorgehensmodell gliedert sich in elf Schritte. 1. Formulieren der Zielsetzung der Studie, Beschreiben des Arbeitssystems, Festlegen des Untersuchungszeitraums und Überprüfen der Eignung des MMHVerfahrens In einem ersten Schritt sind die Zielsetzung, der Untersuchungsbereich und Zeitraum der geplanten Multimomentstudie festzulegen. Bei der Festlegung von Zielsetzung und Untersuchungsbereich sollte berücksichtigt werden, dass mit einer MMH-Studie auch mehrere Zielsetzungen verfolgt werden können, so dass durch einen Verzicht separater Studien erhebliche Synergien erzielt werden können (REFA 1997). Der Untersuchungsbereich sollte mit Hilfe des Arbeitssystemansatzes beschrieben werden. Bei der Festlegung des Untersuchungszeitraums T ist zu berücksichtigen, dass dieser als repräsentativ für einen über den Untersuchungszeitraum hinausgehenden Zeitraum angesehen werden kann. Dieser interessieren-
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de Zeitraum und der Untersuchungszeitraum sind aufeinander abzustimmen. MATIAS (2001) schlägt für Standarduntersuchungen einen Zeitraum von zwei bis vier Wochen vor. Maßgeblich für eine Auswahl des Zeitraums sind Art, Anzahl und Periodizität der Schwankungen des Arbeitsanfalls in einem Arbeitssystem. 1. Formulieren der Zielsetzung der Studie, Beschreiben des Arbeitssystems, Festlegen des Untersuchungszeitraumes und Überprüfen der Eignung des MMH-Verfahrens 2. Festlegen des groben Untersuchungsdesigns 3. Festlegen und Spezifizieren der Arbeitsablaufarten 4. Erstellen eines Rundgangsplans 5. Auswählen und Gestalten der Hilfsmittel 6. Verifizieren der Ablaufarten, des Rundgangsplans und der Hilfsmittel 7. Festlegen der Rundgangshäufigkeiten und -zeiten 8. Informieren des in die Studie involvierten Personals 9. Schulen der Beobachter 10. Durchführen und Aufzeichnen der Beobachtungen sowie Zwischenauswerten der Ergebnisse 11. Auswerten und Aufbereiten der Beobachtungsergebnisse
Abb. 7.19: Vorgehensmodell zur Zählverfahrens (HINRICHSEN 2007)
Anwendung
des
Multimoment-Häufigkeits-
Bevor mit dem Schritt 2 des Vorgehensmodells begonnen wird, ist ausgehend von den formulierten Zielsetzungen der Studie und den vorgenommenen Arbeitssystembeschreibungen kritisch zu hinterfragen, ob eine Anwendung des MMHVerfahrens möglich und zweckmäßig ist (MATIAS 2001). Voraussetzung für die Anwendbarkeit der Methodik ist die Beobachtbarkeit der Ablaufarten, d.h. die Ablaufarten müssen durch Kurzzeitbeobachtungen eindeutig erkannt werden können. Außerdem müssen die zu beobachtenden Ablaufarten in ausreichender Häufigkeit und voneinander unabhängig beobachtet werden können (HALLER-WEDEL 1969). 2. Festlegen des groben Untersuchungsdesigns Ausgehend von der Zielsetzung einer Studie ist in einem zweiten Schritt zu entscheiden, ob eine Informativ-, Standard- oder Spezialuntersuchung durchgeführt
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werden soll. Ferner ist zwischen einem einfachen, mehrfach gestuften, geschichteten und inhomogenen Untersuchungsdesign auszuwählen (siehe Kap. 7.3.7.5). Darüber hinaus ist festzulegen, ob die Datenerhebung über eine Selbst- oder Fremdaufschreibung vorgenommen werden soll (siehe Kap. 7.3.7.2). 3. Festlegen und Spezifizieren der Arbeitsablaufarten In einem dritten Schritt sind unter Beachtung der Zielsetzungen der Studie die Ablaufarten zu identifizieren, begrifflich zu bestimmen und eindeutig voneinander abzugrenzen (HALLER-WEDEL 1969; MATIAS 2001). Um Ablaufarten zweifelsfrei durch Kurzzeitbeobachtungen erkennen zu können, sollten zusätzlich zu einer Beschreibung der Ablaufarten Erkennungsmerkmale dokumentiert werden (REFA 1997). Anzahl und Gliederungstiefe der Ablaufarten ergeben sich aus den Zielsetzungen der Studie. Es sollten nicht mehr als etwa 25 Ablaufarten gebildet werden, um Verwechselungen während der Aufnahme zu vermeiden (HALLER-WEDEL 1969). Bilden Arbeitspersonen den Untersuchungsgegenstand, sollte die Ablaufart „Anwesenheit ungeklärt“ berücksichtigt werden. 4. Erstellen eines Rundgangsplans In einem vierten Schritt ist ein Rundgangsplan zu erstellen. Unter diesem wird die skizzenmäßige Darstellung der Beobachtungsstandpunkte und -folgen verstanden (REFA 1997). Zur Wahrung des Zufallsprinzips sind mehrere mögliche Beobachtungsfolgen festzulegen. Vor jedem Rundgang ist eine dieser Varianten zufallsmäßig auszuwählen. Ein Rundgangsplan soll gewährleisten, dass alle Arbeitspersonen bzw. Untersuchungsobjekte bei einem Rundgang erfasst werden (HALLERWEDEL 1969). 5. Auswählen und Gestalten der Hilfsmittel Ausgehend von dem in Schritt 2 gewählten Untersuchungsdesign und den in Schritt 3 festgelegten Ablaufarten sind die Hilfsmittel für die Multimomentaufnahme in einem fünften Schritt auszuwählen bzw. zu gestalten. Dabei ist zwischen elektronischen und konventionellen Hilfsmitteln zu unterscheiden. Als elektronische Hilfsmittel zur Durchführung einer Multimomentaufnahme eignen sich vor allem Personal Digital Assistants (PDA), die mit einem Programm zur Unterstützung der Durchführung einer MMH-Studie ausgestattet sind. Darüber hinaus können elektronische Hilfsmittel – ausgehend von einer festgelegten Anzahl an Rundgängen und einem definierten Durchführungszeitraum – Zufallszeitpunkte auswählen und den Mitarbeiter aus der Zeitwirtschaft über einen Signalton über den Rundgangsbeginn informieren (BRISLEY 2001). Zu den konventionellen Hilfsmitteln zählen Klemmbrett, Stift und MMH-Beobachtungsbogen. In der Literatur liegt eine Reihe von Standard-MMH-Beobachtungsbögen vor (HALLER-WEDEL 1969; REFA 1997; MATIAS 2001). Diese sind für unterschiedliche Untersuchungsdesigns (siehe Schritt 2) gestaltet worden und können als Vorlage verwendet werden.
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6. Verifizieren der Ablaufarten, des Rundgangsplans und der Hilfsmittel Um sicherzustellen, dass der Ablaufartenkatalog vollständig ist, alle Ablaufarten zweifelsfrei erkannt werden können, der Rundgangsplan zweckmäßig ist und die gewählten Hilfsmittel den Anforderungen entsprechen, sind in einem sechsten Schritt Proberundgänge durchzuführen (HALLER-WEDEL 1969; REFA 1997; MATIAS 2001). Sollten dabei Probleme identifiziert werden, sind die entsprechenden vorhergehenden Schritte erneut zu durchlaufen. 7. Festlegen der Rundgangshäufigkeiten und -zeiten In einem siebten Schritt sind die Rundgangshäufigkeiten und -zeiten zu planen. Zur Ermittlung der ungefähren Anzahl der erforderlichen Notierungen n´ bzw. der Rundgangshäufigkeiten R´ sind die relativen Häufigkeiten Ti´ für diejenigen Ablaufarten, die in der Studie von Relevanz sind, abzuschätzen. Darüber hinaus sind für eine Ermittlung des voraussichtlichen Stichprobenumfangs n´ die Konfidenzintervalle [Ti´ - f´; Ti´ + f´] festzulegen. HALLER-WEDEL (1969) empfiehlt, das Streumaß fmax = r 2,5% nicht zu überschreiten. Sofern die absoluten Genauigkeitsanforderungen für alle Ablaufarten gleich sind, ist neben dem angestrebten Wert für f´ derjenige Wert și´ in der Gleichung (7.7) (Kap. 7.3.7.4) zu berücksichtigen, der die geringste Differenz zu 50% aufweist. Mit Hilfe der Gleichung kann dann die voraussichtliche Anzahl von Notierungen ermittelt werden. Unterscheiden sich die Genauigkeitsanforderungen in Abhängigkeit von der jeweiligen Ablaufart, sind für alle relevanten Ablaufarten die jeweiligen Genauigkeitsanforderungen f´ festzulegen, die relativen Häufigkeiten Ti´ der jeweiligen Ablaufarten abzuschätzen und die voraussichtlichen Beobachtungsumfänge n´ je relevanter Ablaufart über die MMH-Hauptformel zu berechnen. Bei diesem Vorgehen ist der größte Wert für n´ bei den Rundgangsplanungen zu berücksichtigen. Mit Hilfe der Gleichungen (7.9) und (7.10) (siehe Kap. 7.3.7.4) lassen sich unter Verwendung des im ersten Schritt festgelegten Untersuchungszeitraums T die Anzahl der täglich auszuführenden Rundgänge R´Tag berechnen. Ausgehend von dieser Zahl wird der Beginn jedes einzelnen Rundgangs unter Verwendung einer Zufallszahlentafel für Stunden und Minuten determiniert (HALLER-WEDEL 1969; REFA 1997), sofern kein elektronischer Signalgeber verwendet wird. Die zufällig ausgewählten Zeitpunkte für einen Rundgangsbeginn sind in einem Zeitplan zu dokumentieren. 8. Informieren des in die Studie involvierten Personals Bilden Arbeitspersonen den Untersuchungsgegenstand der Multimomentstudie, sind die von der Studie betroffenen Mitarbeiter zu informieren (HALLER-WEDEL 1969; REFA 1997; MATIAS 2001). Den Mitarbeitern sind die Zielsetzung und Untersuchungsmethode zu erläutern, um Widerstände und Konflikte zu vermeiden. Auch wenn Betriebsmittel oder das Material Gegenstand einer Multimomentstudie bilden, sollten die Mitarbeiter in den entsprechenden Unternehmensbereichen informiert werden, um möglicherweise aufkommende Unsicherheiten und Ängste zu vermeiden. Ebenso ist nach dem Betriebsverfassungsgesetz eine Infor-
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mation des Betriebsrates erforderlich, da sich die Ergebnisse einer Multimomentstudie zur Leistungsüberwachung eignen (§87 BETRVG). 9. Schulen der Beobachter Die Validität der Ergebnisse einer Multimomentstudie hängt in hohem Maße davon ab, ob die Beobachter in der Lage sind, jede Beobachtung der richtigen Ablaufart zuzuordnen (HALLER-WEDEL 1969). Im Mittelpunkt der Beobachterschulung sollte daher der Ablaufartenkatalog stehen (siehe Schritt 3). Eine Vor-OrtSchulung im Untersuchungsbereich ist hilfreich. Darüber hinaus sollten die Beobachter am Ende der Schulung mit den Rundgangsplänen (siehe Schritt 4), Hilfsmitteln (siehe Schritt 5) und dem Zeitplan (siehe Schritt 7) vertraut sein sowie Untersuchungszweck und -methode kennen. 10. Durchführen und Aufzeichnen der Beobachtungen einschließlich einer Zwischenauswertung der Ergebnisse Die Durchführung und Aufzeichnung der Beobachtungen erfolgt entsprechend den Rundgangs- und Zeitplänen unter Verwendung der ausgewählten bzw. gestalteten Hilfsmittel. Der Beobachter sucht entsprechend der räumlich-zeitlichen Vorgaben die Beobachtungsstandpunkte auf und nimmt die Ablaufart in dem Moment auf, in dem er sich vor dem Gegenstand seiner Beobachtung befindet. Um dem Zufallsprinzip Rechnung zu tragen, ist es wichtig, dass der erste Moment der Beobachtung maßgeblich für die Bestimmung der Ablaufart ist. Die Aufzeichnung erfolgt über eine Notierung auf dem Aufnahmebogen bzw. über eine Eingabe bei Verwendung eines Aufnahmegeräts. Um statistisch gesicherte Ergebnisse zu erzielen, sollten solche Ereignisse und Bedingungen von den Beobachtern vermerkt werden, die nicht den Regelfall darstellen und die Untersuchungsergebnisse beeinflussen können. Ferner ist zu überprüfen, ob stets alle beobachteten Tätigkeiten eindeutig den definierten Ablaufarten zuzuordnen sind (HALLER-WEDEL 1969; REFA 1997). Während der Durchführungsphase ist im Regelfall eine Zwischenauswertung vorzunehmen, um zu überprüfen, ob die in Schritt 7 auf Basis von anfänglichen Schätzwerten für Ti´ ermittelte Anzahl von erforderlichen Beobachtungen zutreffend war oder bei den vorgenommenen Schätzungen für die relativen Häufigkeiten einzelner Ablaufarten Ti´ ein Schätzfehler unterlaufen ist. Außerdem kann festgestellt werden, ob die gewünschte absolute Genauigkeit fi´ bereits erreicht wurde. REFA (1997) schlägt vor, diese Zwischenauswertung nach etwa 500 Notierungen vorzunehmen. Dazu werden in einem ersten Schritt die je Ablaufart i vorgenommenen Notierungen xi ausgezählt und in einem zweiten Schritt die relativen Häufigkeiten Ti berechnet, indem jeweils der Quotient aus der Anzahl der Notierungen xi einer Ablaufart i und der Gesamtzahl der Notierungen n gebildet wird. Über die Gleichung (7.5) wird für die besonders interessierenden Ablaufarten i die erreichte absolute Genauigkeit fi ermittelt. Ist die erreichte absolute Genauigkeit fi größer als die gewünschte Genauigkeit fi´, so sind die Multimomentaufnahmen fortzusetzen. Andernfalls (fi fi´) können die Multimomentaufnahmen abge-
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schlossen werden, sofern der Untersuchungszeitraum als repräsentativ angesehen werden kann (siehe Kap. 7.3.7.4). Tritt der erstgenannte Fall (fi > fi´) auf, ist die Anzahl der insgesamt erforderlichen Notierungen n´ mittels der Gleichung (7.7) zu berechnen. Bis zum Erreichen dieser Anzahl an Notierungen sind die Multimomentaufnahmen fortzusetzen. 11. Auswerten und Aufbereiten der Beobachtungsergebnisse Zur Auswertung der Multimomentaufnahmen sind analog zur Zwischenauswertung in einem ersten Schritt die Anzahl der Notierungen xi je Ablaufart zu zählen. In einem zweiten Schritt sind die relativen Häufigkeiten Ti zu berechnen, indem jeweils der Quotient aus der Anzahl der Notierungen xi einer Ablaufart i und der Gesamtzahl der Notierungen n gebildet wird. Mittels der Gleichung (7.5) wird die absolute Genauigkeit fi für jede Ablaufart i berechnet und grafisch über ein Balken- oder Kreisdiagramm aufbereitet. 7.3.7.7
Vor-ĆundĆNachteileĆdesĆMMH-VerfahrensĆ
Mit der Anwendung des MMH-Verfahrens sind eine Reihe von Vor- und Nachteilen verbunden (z.B. BARNES 1957; HALLER-WEDEL 1969). Diese gelten zum Teil auch für das MMZ-Verfahren und die „Performance Sampling“-Methode. Wesentliche Vorteile sind nachfolgend aufgeführt. x Bei einem Rundgang können (von einem Beobachter) eine größere Anzahl von Arbeitsplätzen berücksichtigt werden, so dass mit – im Vergleich zu Stoppuhr-Studien – geringem Aufwand repräsentative Aussagen zum betrieblichen Ist-Zustand möglich sind. x Die gewünschte Genauigkeit der Untersuchungsergebnisse kann (bei einer im deutschsprachigen Raum verwendeten statistischen Sicherheit von 95%) frei gewählt werden. x Die Multimomentaufnahmen können von angelernten Aushilfskräften durchgeführt werden; für die Vorbereitung und Auswertung der Studie sind jedoch zeitwirtschaftliche Grundkenntnisse zwingend erforderlich. x Multimomentstudien können unterbrochen und zu einem späteren Zeitpunkt fortgesetzt werden, sofern der Zeitraum der Untersuchung dann noch als repräsentativ angesehen werden kann. Den Vorteilen der Methode stehen folgende Nachteile gegenüber: x Eine MMH-Studie dokumentiert lediglich einen Ist-Zustand. Zu den Ursachen des Ist-Zustands und zu den Zeiteinflussgrößen einzelner Tätigkeiten können nach Abschluss einer Multimomentstudie allenfalls eingeschränkte Aussagen gemacht werden. x Das MMH-Verfahren (über eine Fremdbeobachtung) kann nur angewendet werden, wenn die relevanten Ablaufarten während der kurzen Beobachtung eindeutig erkannt werden können. x Jede Notierung ist ein einmaliger, nicht wiederkehrender Vorgang, der sich einer nachträglichen Überprüfung entzieht.
Arbeitswirtschaft
689
x Mit dem MMH-Verfahren können (mit Ausnahme des „performance sampling“ und im Unterschied zu den Systemen vorbestimmter Zeiten und der REFA-Zeitaufnahme) keine Vorgabezeiten ermittelt werden, da der Leistungsgrad der Arbeitspersonen nicht berücksichtigt wird. Dadurch wird die Interpretation der Daten erschwert. x Mit dem MMH-Verfahren lassen sich nur relative Häufigkeiten zu einzelnen Ablaufarten schätzen. In Bezug auf Arbeitspersonen kann damit zwar die Arbeitszeit, die für einzelne Tätigkeiten aufgebracht wird, einfach errechnet werden, die Dauer einzelner Vorgänge bleibt aber (im Unterschied zum MMZ-Verfahren sowie zur Zeitaufnahme und den Systemen vorbestimmter Zeiten) unbekannt. x Absichtliche Beeinflussungen der Ergebnisse einer Multimomentstudie durch die beobachteten Arbeitspersonen sind schwieriger zu erkennen als bei einer kontinuierlichen Beobachtung, wie sie bei einer Zeitaufnahme erfolgt. Üblicherweise erkennt man Interventionen daran, dass Mittelwerte und Streumaße in Abhängigkeit von der Stichprobengröße nicht konvergieren, sondern aus dem Trichtermodell „herauslaufen“ (siehe Abb. 7.18). x Das mehrstufige, zyklische Vorgehen bei der Durchführung von Multimomentaufnahmen hat den Nachteil, dass während der Datenerhebung keine Informationen zu den Streumaßen vorliegen und daher eine Entscheidung für eine Fortsetzung der Multimomentaufnahmen nur im Rahmen der Zwischenauswertungen erfolgen kann. Zudem ist es möglich, dass der im REFAStandardprogramm geforderte Mindeststichprobenumfang von n | 500 Notierungen das erforderliche Maß für sog. MMH-Informativuntersuchungen, mit denen ein schneller Überblick zu den ungefähren Zeitanteilen weniger Ablaufarten geschaffen werden soll, überschreitet. x Ein weiteres Problem des Verfahrens besteht darin, dass dieses für den betrieblichen Praktiker oft schwer nachvollziehbar ist. Daher werden Iterationen zwischen den Planungs-, Durchführungs- und Auswertungsphasen bei der Anwendung des MMH-Verfahrens vielfach umgangen, indem entweder bereits in der Planung von dem größtmöglichen Beobachtungsumfang, also einem Zeitanteil von 50%, ausgegangen oder auf Zwischenauswertungen verzichtet wird (SCHLICK u. HINRICHSEN 2006). Im erstgenannten Fall besteht die Gefahr, unnötig große Stichproben zu erheben. Im zweitgenannten Fall können Schätzfehler bzw. Streuungen in der Schätzung der relativen Häufigkeiten zu erheblichen Abweichungen in der Stichprobengröße führen, so dass möglicherweise der geforderte Vertrauensbereich nicht eingehalten oder wiederum ein unnötig großer Erhebungsaufwand betrieben wird.
690
7.3.8
7.3.8.1
Arbeitswissenschaft
Weiterentwickeltes Multimomentverfahren in Bezug auf die Schätzung der relativen Häufigkeiten von Ablaufarten AusgangssituationĆundĆZielsetzungĆ
Die Durchführung einer Multimomentstudie gliedert sich, wie zuvor erläutert, grob in eine Planungs-, Durchführungs- und Auswertungsphase. Zwischen diesen Phasen sind in den einzelnen Vorgehensbeschreibungen Iterationen vorgesehen. Bspw. wird beim REFA-Standardprogramm „Multimomentaufnahme“ (REFA 1997) nach n | 500 Beobachtungen eine Zwischenauswertung vorgenommen. Im Rahmen dieser Auswertung werden die je Ablaufart i vorgenommenen Notierungen xi ausgezählt und anschließend die Wahrscheinlichkeit Ti geschätzt, indem jeweils der Quotient aus der Anzahl der Notierungen xi einer Ablaufart i und der Gesamtzahl der Notierungen n gebildet wird. Über die sog. MultimomentHauptformel (siehe Kap. 7.3.7.4) wird anschließend (ausgehend von einer Irrtumswahrscheinlichkeit D = 0,05) für die besonders interessierenden Ablaufarten i die erreichte absolute Genauigkeit fi ermittelt. Ist der Wert für fi größer als derjenige für die gewünschte Genauigkeit fi´, kann die Multimomentstudie noch nicht abgeschlossen werden. Es wird wiederum der voraussichtlich erforderliche Beobachtungsumfang n´ neu berechnet, da in die ursprüngliche, vor Beginn der Rundgänge vorgenommene Berechnung der Anzahl der Beobachtungen nur Erfahrungswerte oder grobe Schätzungen für Ti´ eingehen konnten. Anschließend werden die Beobachtungen bis zum Erreichen von n´ fortgesetzt. Es schließt sich wiederum eine (Zwischen-) Auswertung an und ggf. sind weitere Beobachtungen vorzunehmen, bis die Streumaße fi einen gewünschten Wert fi´ erreichen bzw. unterschreiten (fi fi´). Wie bereits zuvor erwähnt, hat dieses mehrstufige, zyklische Vorgehen den Nachteil, dass während der Datenerhebung keine Informationen zu den Streumaßen vorliegen und daher eine Entscheidung für eine Fortsetzung der Multimomentaufnahmen nur im Rahmen der Zwischenauswertungen erfolgen kann. Zudem ist es möglich, dass der im REFA-Standardprogramm geforderte Mindeststichprobenumfang von n | 500 Notierungen das erforderliche Maß für sog. MMH-Informativuntersuchungen, mit denen ein schneller Überblick zu den ungefähren Zeitanteilen weniger Ablaufarten geschaffen werden soll (siehe Kap. 7.3.7.5), überschreitet. SCHLICK u. HINRICHSEN (2006) entwickelten daher ein auf der Bayes-Statistik beruhendes neues Schätzverfahren, das die oben genannten methodischen Schwächen nicht aufweist und über eine Visualisierung von Wahrscheinlichkeitsverteilungen eine zusätzliche Entscheidungsunterstützung für den Arbeitsplaner im Unternehmen zur Verfügung stellt. 7.3.8.2
TheoretischeĆGrundzügeĆdesĆneuenĆSchätzverfahrensĆ
Bei dem klassischen MMH-Verfahren wird aufgrund der vorgenommenen Notierungen die relative Häufigkeit T einer Ablaufart i geschätzt und ein Vertrauensin-
Arbeitswirtschaft
691
tervall angegeben, in dem Ti mit der Vertrauenswahrscheinlichkeit (1-D) liegt. Bei dem neu entwickelten Schätzverfahren werden hingegen auf Basis der nach jedem Rundgang vorliegenden Stichprobeninformationen Wahrscheinlichkeitsverteilungen für einzelne Ablaufarten i, bei denen es sich genau genommen um Wahrscheinlichkeitsdichtefunktionen p(T) handelt, gebildet (SCHLICK u. HINRICHSEN 2006). Die möglichen Werte des unbekannten Parameters T liegen dabei zwischen Null und Eins. Die Funktion gibt an, wie die stets zu Eins normierte Wahrscheinlichkeitsmasse über das Intervall [0,1] des unbekannten Parameters T verteilt ist. Es gilt: 1
³ p(T )dT
1
(7.11)
0
Wird ein Arbeitsprozess betrachtet, der lediglich aus zwei Ablaufarten (Kodierung 0 oder 1) besteht, ohne dass bekannt ist, welche Ablaufart zu einem bestimmten Zeitpunkt auftreten wird, dann kann der Vorgang als Ziehen der Zahlen 0 oder 1 aus einer Urne betrachtet werden (HINRICHSEN u. SCHLICK 2006). Ist bekannt, dass der Prozess zu einem Anteil T den Zustand 1 und zu einem Anteil (1-T) den Zustand 0 annehmen wird, so wird die Wahrscheinlichkeit, bei n-maliger Beobachtung des Prozesses y mal den Zustand 1 wahrzunehmen, als bedingte Wahrscheinlichkeit p(y|T) geschrieben. Diese stützt sich auf die Binomialverteilung: p( y T )
§n· y n y ¨ ¸ T (1 T ) y © ¹
(7.12)
In der betrieblichen Praxis ist der Parameter T aber in der Regel unbekannt, während die Ausprägung des Parameters y durch n Beobachtungen ermittelt werden kann. Gesucht wird daher die „logisch umgekehrte“ bedingte Wahrscheinlichkeit p(T|y) als Verteilungsfunktion der Wahrscheinlichkeitsmasse. Diese inverse Wahrscheinlichkeit lässt sich anhand des Bayes-Theorems für Verteilungen berechnen:
p (T y )
p(T ) p( y T ) 1
³ p(T ) p( y T ) dT
(7.13)
0
p(T) wird dabei als sog. Prioriverteilung bezeichnet und gibt an, welche Plausibilität den möglichen Werten der zu schätzenden Variable T vor der Beobachtung des Arbeitsprozesses und seiner Zustände, den Ablaufarten (siehe Kap. 7.3.3), zukommt. Im Normalfall ist der zeitliche Anteil einzelner Ablaufarten a priori unbekannt, so dass von einer Gleichverteilung des Zeitanteils T der betrachteten Ablaufart ausgegangen wird: p (T ) 1 T [0,1] (7.14)
692
Arbeitswissenschaft
Werden die binomiale Stichprobenverteilung aus Gleichung (7.12) und die Prioriverteilung aus Gleichung (7.14) in das Bayes-Theorem der Gleichung (7.13) eingesetzt, so gilt für die Posterioriverteilung:
p (T y )
§n· 1 ¨ ¸ T y (1 T ) n y © y¹ 1 §n· y n y ³0 1 ¨© y ¸¹T (1 T ) dT
T y (1 T ) n y 1
y n y ³ T (1 T ) dT
(7.15)
0
Die Lösung des Integrals im Nenner der Gleichung (7.15) findet sich bspw. in BRONSTEIN et al. (1993) und lautet wie folgt: 1
³T
y
(1 T ) n y dT
0
*( y 1) *(n y 1) *(n 2)
(7.16)
Dabei bezeichnet *(.) die Gammafunktion, die für natürlichzahlige Elemente aגԳ wie folgt definiert ist: *( a ) { ( a 1)!
(7.17)
Unter Verwendung von Gleichung (7.17) ergibt sich folgende Lösung für das Integral aus Gleichung (7.16): 1
³T
y
(1 T ) n y dT
0
*( y 1) *(n y 1) *(n 2)
y !(n y )! (n 1)!
(7.18)
Wird die Lösung des Integrals aus Gleichung (7.18) in Gleichung (7.15) eingesetzt, so erhält man die gesuchte Posterioriverteilung: p (T y )
(n 1)! y T (1 T ) n y y !(n y )!
(7.19)
Aufgrund der Streuungen der Wahrscheinlichkeitsmasse ist es analog zum konventionellen Verfahren sinnvoll, ein Vertrauensintervall [Tunten , Toben] im Sinne einer oberen bzw. unteren Fehlerschranke anzugeben, in dem der gesuchte Parameter T mit einer vordefinierten Vertrauenswahrscheinlichkeit (1-D) liegt. Es wird auch von einer Intervallschätzung gesprochen. Für das Vertrauensintervall mit 0 < Tunten < Toben < 1 muss gelten: Toben
³
p (T ) dT
1D
(7.20)
Tunten
Die in Gleichung (7.19) angegebene Posterioriverteilung kann auch als sog. Betaverteilung mit den Hyperparametern (a,b) dargestellt werden: B (T a, b) {
* (a b) a 1 T (1 T )b 1 *(a ) * (b)
mit a = y +1 und b = n – y + 1
(7.21)
Arbeitswirtschaft
693
Mit Hilfe der sog. inversen Betaverteilung lässt sich das Konfidenzintervall [Tunten , Toben] bestimmen. Für eine Vertrauenswahrscheinlichkeit (1-D) muss gelten: Toben
³
B(T y 1, n y 1)dT
1D
(7.22)
Tunten
7.3.8.3
ErgebnisseĆeinerĆFallstudieĆ
Zum besseren Verständnis des neuen MMH-Schätzverfahrens soll dieses anhand eines realen Fallbeispiels aus dem Einzelhandel für die Gruppe der Verkaufsmitarbeiter anhand der Haupttätigkeit „Interaktion mit Kunden“ erläutert werden (SCHLICK u. HINRICHSEN 2006). Die Ausgangssituation vor Beginn des ersten Rundgangs war entsprechend Abb. 7.20 durch eine uninformative Prioriverteilung B(T |1,1) = 1 gekennzeichnet, d.h. es lagen keine Informationen bzgl. der relativen Häufigkeit der Haupttätigkeit vor. Nach drei Rundgängen lagen insgesamt n = 21 Notierungen vor. Davon entfielen y = 5 auf die Ablaufart „Interaktion mit Kunden“. Werden diese Werte in Gleichung (7.19) eingesetzt, erhält man folgende Wahrscheinlichkeitsdichtefunktion: p (T y )
(n 1)! y T (1 T ) n y y !(n y )! (21 1)! 5 T (1 T )16 5!(21 5)!
(7.23)
Mit Hilfe der sog. inversen Betafunktion (sensu Gleichung (7.22)) ergibt sich mit einer Vertrauenswahrscheinlichkeit von (1-D) = 95%, dass nach 21 Beobachtungen der wahre, aber unbekannte Wert für die relative Häufigkeit der Ablaufart „Interaktion mit Kunden“ zwischen 10,7% und 45,4% liegt. Mit zunehmender Anzahl an Rundgängen bzw. Beobachtungen n ändert sich gemäß Abb. 7.20 der Graph der Wahrscheinlichkeitsdichtefunktion derart, dass die Streuung um den wahren Tätigkeitsanteil T abnimmt und damit die Wahrscheinlichkeitsdichtefunktion p(T) „gestaucht“ wird. Die Entwicklung der Konfidenzintervalle zeigt, dass die Studie für eine reine Informativuntersuchung am Montagabend nach 34 Rundgängen bzw. 387 Beobachtungen hätte abgebrochen werden können. Das neue Schätzverfahren schafft über eine Visualisierung der Wahrscheinlichkeitsdichtefunktion ein besseres Verständnis für die statistischen Grundlagen des MMH-Verfahrens. Gleichzeitig kann das Verfahren auch bei kleinen Stichprobenumfängen angewendet werden. Es ist folglich keine minimale Stichprobengröße – wie sie im REFA-Standardprogramm vorgesehen ist – notwendig, um statistisch abgesicherte Aussagen treffen zu können. Stattdessen kann der Arbeitsplaner die Rundgänge abbrechen, wenn ihm das Vertrauensintervall hinreichend klein für seine Entscheidungszwecke erscheint.
694 p(ș)
Arbeitswissenschaft p(ș) 10
2
1.75 1.5 1.25
vor Beginn der Studie y=0 n=0
6
1 4
0.75 0.5
p(ș) 10
Montag Rundgang 3 y=5 n = 21 șunten = 0,107 șoben = 0,454 ǻș = 0,346
8
2
6 4 2
0.25 0.2
p(ș)
0.4
0.6
0.8
ș
1
p(ș)
50
Montag Rundgang 34 y = 123 n = 387 șunten = 0,273 șoben = 0,366 ǻș = 0,092
40 30 20 10
0.2
0.4
0.6
0.8
0.2
0.4
ș
1
Mittwoch Rundgang 113 y = 361 n = 1243 șunten = 0,266 șoben = 0,316 ǻș = 0,050
30 20 10
1
0.8
p(ș)
50 40
ș
0.6
0.2
0.4
0.6
0.8
Montag Rundgang 6 y = 14 n = 54 șunten = 0,161 șoben = 0,390 ǻș = 0,229
8
0.2
0.4
50
30 20 10
1
0.8
ș
1
ș
1
Samstag Rundgang 218 y = 752 n = 2638 șunten = 0,268 șoben = 0,303 ǻș = 0,034
40
ș
0.6
0.2
0.4
0.6
0.8
Abb. 7.20: Wahrscheinlichkeitsdichtefunktionen zur Ablaufart „Interaktion mit Kunden“ in Abhängigkeit von der Anzahl der Rundgänge
Ein wesentlicher Nachteil des neuen Schätzverfahrens ist, dass es nur in Verbindung mit einem elektronischen Datenerfassungsgerät und einer Auswertungssoftware, die nach jedem Rundgang die Wahrscheinlichkeitsdichtefunktionen ausgewählter Ablaufarten visualisiert und die Vertrauensintervalle anzeigt, praktisch anwendbar ist. Ansonsten würden sich – analog zum REFAStandardprogramm – zusätzliche Iterationen zwischen der Planungs-, Durchführungs- und Auswertungsphase ergeben. 7.3.8.4
SoftwareentwicklungĆ
Als technische Voraussetzung für eine praktische Anwendung des neuen Schätzverfahrens wurde eine Software für einen Taschencomputer, einen sog. PDA, entwickelt, mit der die Notierungen für einzelne Ablaufarten erfasst und nach jedem Rundgang Visualisierungen der Wahrscheinlichkeitsdichtefunktionen sowie statistische Kennzahlen für einzelne Ablaufarten auf dem PDA angezeigt werden können. Die MMH-Studie wird zuvor am PC über eine eigens entwickelte Software angelegt. In der Vorbereitungsphase der Studie sind die Ablaufarten festzulegen. Ebenso werden die zu beobachtenden Mitarbeiter tabellarisch notiert. Zu jedem Mitarbeiter können die individuellen Arbeitszeiten im vorgesehenen Untersuchungszeitraum sowie die Abteilungszugehörigkeit angegeben werden (siehe Abb. 7.21). Durch namentliche Berücksichtigung der Mitarbeiter und ihrer jeweiligen Arbeitszeiten kann sichergestellt werden, dass alle planmäßig anwesenden Mitarbeiter bei einem Rundgang erfasst und Mehrfach-Notierungen eines Mitarbeiters während eines Rundganges vermieden werden. Die Kenntnis der Abteilungszugehörigkeit hilft dem Beobachter dabei, Mitarbeiter während des Rundgangs zu finden. Dadurch werden insbesondere die handelsspezifischen Anforderungen an eine MMH-Software berücksichtigt (HINRICHSEN 2007).
Arbeitswirtschaft
695
Abb. 7.21: Berücksichtigung der planmäßigen Anwesenheitszeiten einzelner Mitarbeiter
Ist die Vorbereitungsphase der MMH-Studie abgeschlossen, werden die Daten auf den PDA überspielt. Mit Beginn der Durchführungsphase sind Beobachtungen vorzunehmen, die jeweiligen Beobachtungen einer Ablaufart zuzuordnen und auf dem PDA zu erfassen. Ferner sind die Notierungen auf dem PDA den entsprechenden Mitarbeitern zuzuordnen. Dazu werden die während des Rundgangs noch nicht beobachteten und planmäßig anwesenden Mitarbeiter einschließlich ihrer Abteilungszugehörigkeit auf dem PDA aufgelistet. Nach jedem abgeschlossenen Rundgang kann eine Zwischenauswertung erfolgen. Diese kann helfen, den optimalen Zeitpunkt für eine Beendigung der Datenerfassung zu finden. Nach Abschluss der Datenermittlung werden die Daten vom mobilen Erfassungsgerät auf den PC überspielt, so dass mit der MMH-Software am PC eine Reihe von Spezialauswertungen vorgenommen werden können. Entsprechend Abb. 7.22 lassen sich für einzelne Ablaufarten Auswertungen nach Wochentagen, Tagesabschnitten, Rundgängen und Abteilungen durchführen, indem einzelne Filter gesetzt werden. Dabei wird die Wahrscheinlichkeitsdichtefunktion visualisiert und die Ausprägung der relevanten statistischen Kennzahlen angezeigt. Zu den Kennzahlen zählen die Anzahl der Beobachtungen n, die Anzahl der Beobachtungen der ausgewählten Ablaufart y, der Erwartungswert von T und das Konfidenzintervall 'T = Toben-Tunten. Eine Anwendung des neu entwickelten Schätzverfahrens in Kombination mit der dargestellten Software hat gezeigt, dass sich die Vorbereitungsaufwände für eine MMH-Studie im Vergleich zum konventionellen Vorgehen erheblich reduzieren lassen. Ebenso wird die Datenauswertung durch die beschriebenen Filterfunktionen deutlich vereinfacht. Insbesondere Informativuntersuchungen (siehe
696
Arbeitswissenschaft
Kap. 7.3.7.5) können mit dem neuen softwaregestützten MMH-Verfahren sehr wirtschaftlich durchgeführt werden.
Abb. 7.22: Möglichkeiten von speziellen Auswertungen über die MMH-Software
7.3.9 7.3.9.1
Systeme vorbestimmter Zeiten Definition,ĆEntwicklungĆundĆArtenĆ
Systeme vorbestimmter Zeiten (SvZ) sind analytisch-rechnerische Verfahren der Zeitdatenermittlung, mit denen unter Berücksichtigung von Zeiteinflussgrößen und methodenspezifischen Anwendungsregeln vorwiegend manuelle Arbeitsabläufe durch Zusammensetzen von Bewegungselementen beschrieben und Tätigkeitszeiten dieser Arbeitsabläufe durch Addition der zu den Elementen gehörenden Soll-Zeiten berechnet werden können. Der Begriff „Systeme vorbestimmter Zeiten“ (engl.: predetermined time systems/predetermined-motion-time systems) kommt dadurch zustande, dass Tätigkeitszeiten von Bewegungsabläufen bereits in der Planungsphase eines Arbeitssystems „vorbestimmt“ werden können. Frank Bunker Gilbreth gilt als Begründer des Bewegungsstudiums. Mit Hilfe von Filmaufnahmen und Photozyklogrammen, welche die Bewegungsspur kleiner, an Armen und Beinen von Versuchspersonen angebrachter Lämpchen auf einer photografischen Platte wiedergaben (GILBRETH 1919), fand Gilbreth heraus, dass 17 verschiedene Vorgangselemente genügen, um damit alle menschlichen Bewegungen beschreiben zu können. Diese Vorgangselemente nannte er in Umkehrung seines Namens „Therbligs“ (RÜHL 1980). Wichtige Ergebnisse der Forschungstätigkeiten wurden u.A. in seinem Werk „Applied Motion Study“ veröffentlicht. Auf Basis der von Gilbreth entdeckten Vorgangselemente und einer von ihm geschaffenen Symbolsprache gelang es Asa B. Segur, einem Mitarbeiter von Gilbreth, nach jahrelangen Untersuchungen, diesen Vorgangselementen Zeitwerte
Arbeitswirtschaft
697
zuzuordnen und damit das erste System vorbestimmter Zeiten zu entwickeln (DEUTSCHE MTM-VEREINIGUNG o. J). Dieses System wurde 1926 unter dem Titel „Motion Time Analysis“ (MTA) veröffentlicht. In Deutschland war es R. THUN (1925), der ausgehend von den Arbeiten Gilbreth mit Hilfe der Filmtechnik insgesamt 44 Grundbewegungen identifizierte. Diese Grundbewegungen teilte Thun in sieben Gruppen ein. Jeder Grundbewegung ist eine „Mindestzeit“ für deren Ausführung, die von Thun auch als „Normalzeit“ bezeichnet wird, zugeordnet. Außerdem kann der für das Ausführen einer Grundbewegung erforderliche Energieverbrauch in Gramm-Kalorien einer Tabelle entnommen werden. Um dieses System weiterzuentwickeln, war es nach Ansicht von Thun erforderlich, „Massenversuche“ in verschiedenen Werken durchzuführen. Ein Defizit des Systems ist vor allem darin zu sehen, dass die „Normalzeiten“ nicht in Abhängigkeit von Zeiteinflussgrößen gesetzt werden, so dass das von Thun geschaffene System nur als ein Vorläufer der Systeme vorbestimmter Zeiten angesehen werden kann. In der Folgezeit entstanden neben dem MTA-System eine Reihe weiterer Systeme vorbestimmter Zeiten. Eine Chronologie der Entwicklung von Systemen vorbestimmter Zeiten findet sich bei MATIAS (2001). Diese ist aber nicht vollständig, da bspw. das von SCHLAICH (1967) entwickelte Analysiersystem nicht aufgeführt ist. Außerdem werden Entwicklungen – wie sie sich bspw. in der DDR mit den Systemen SNPP und GMA (BRITZKE et al. 1989) vollzogen haben – in der Chronologie nicht berücksichtigt. Heute sind das MTM-Verfahren (Methods-Time Measurement), das WF-Verfahren (Work-Factor) und das auf MTM basierende Verfahren MOST (Maynard Operation Sequence Technique) von praktischer Bedeutung. Das WF-Verfahren wurde unter der Leitung von Joseph H. Quick entwickelt. Mit den Forschungsarbeiten begannen die US-Amerikaner 1934 in Philadelphia (Pennsylvania). 1945 wurde das Verfahren veröffentlicht (QUICK et al. 1962). Das MTM-Verfahren entstand im Auftrag der Firma Westinghouse Electric Corporation. Den Entwicklungsauftrag für ein System vorbestimmter Zeiten erhielt Harold B. Maynard im Jahr 1940 vom Methods Engineering Council. Zusammen mit John L. Schwab und Gustave J. Stegemerten entwickelte Maynard das MTMVerfahren, das 1948 erstmals veröffentlicht wurde (DEUTSCHE MTMVEREINIGUNG o. J.). Das MTM-Verfahren unterscheidet sich vom WF-Verfahren vor allem durch die Art der Berücksichtigung der Zeiteinflussgrößen bei einer Bewegungsablaufanalyse. Während beim WF-Verfahren nur quantitative Einflussgrößen vorkommen, werden beim MTM-Verfahren auch qualitative Einflussgrößen berücksichtigt. Zur Bestimmung ihrer jeweiligen Ausprägungen bedarf es einer Beurteilung. Das MTM- und WF-Verfahren wurden – zumindest partiell – unter den Bedingungen der industriellen Massenfertigung entwickelt und später als Grundverfahren bzw. bei MTM seit neuestem als Grundsystem bezeichnet. Eine Anwendung dieser Verfahren ist daher im Wesentlichen auf die Massenfertigung mit ihren kurzzyklischen Arbeitsabläufen beschränkt.
698
Arbeitswissenschaft
Um auch Tätigkeiten in der Serien- und Einzelteilfertigung sowie in administrativen Bereichen mit Systemen vorbestimmter Zeiten abbilden zu können, wurden eine Reihe verdichteter Analysiersysteme entwickelt. Bei der Datenverdichtung kamen zwei Prinzipien zum Tragen. Das Prinzip der horizontalen Datenverdichtung beinhaltet eine stufenweise Datenverdichtung über eine Addition von Zeitwerten bzw. eine statistische Datenzusammenfassung (DEUTSCHE MTMVEREINIGUNG 2003). Die ausschließliche Anwendung dieses Prinzips führt zu sehr großen, kaum überschaubaren Datenmengen. Daher wird ergänzend dem Prinzip der vertikalen Datenverdichtung gefolgt. Nach diesem werden über statistische Verfahren die Anzahl der Bewegungselemente, die Anzahl ihrer Zeiteinflussgrößen und Ausprägungen reduziert (ebd. 2003). Damit geht auch eine Verringerung der Anwendungsregeln einher. Das WF-Grundverfahren wurde um das WF-Kurzverfahren, das WFSchnellverfahren und das WF-Blockverfahren ergänzt. Darüber hinaus wurde unabhängig vom WF-Grundverfahren das System WF-Mento entwickelt. Mit diesem Verfahren lassen sich einfache geistige Vorgänge, wie Prüf- und Kontrolltätigkeiten, analysieren. Zum MTM-Grundsystem, das auch als MTM-1 bezeichnet wird, wurden eine Reihe verdichteter Analysiersysteme entwickelt. Zu diesen zählen bspw. die MTM-Standarddaten, MTM-2, MTM-3, MTM-V, MTM-C, MTM-UAS und MTM-MEK (MATIAS 2001). Im deutschsprachigen Raum sind vor allem die MTM-Standarddaten, MTM-UAS (Universelles Analysiersystem) und MTMMEK (MTM für die Einzel- und Kleinserienfertigung) von praktischer Relevanz. Das System MOST wurde auf Basis des MTM-Grundsystems entwickelt und wird in erster Linie im US-amerikanischen Raum angewendet. Die Analyse von Arbeitsabläufen erfolgt bei MOST – im Unterschied zu den MTM- und WFAnalysiersystemen – mit Hilfe standardisierter Bewegungssequenzmodelle. Die Ausprägung einer Zeiteinflussgröße wird jeweils über eine Indexierung einzelner Modellparameter berücksichtigt. Die Entwickler von MOST führen als Vorteil ihrer Methode die vergleichsweise hohe Analysiergeschwindigkeit an (ZANDIN 2003). Zum MOST-Verfahren liegen ebenfalls Analysiersysteme für unterschiedliche Anwendungszwecke vor (ebd. 2003). Systeme vorbestimmter Zeiten basieren auf einer Additivitätshypothese. Diese wird in der Literatur auch als Frage nach der Summierbarkeit von Elementarzeiten bezeichnet (SANFLEBER 1968). Die Hypothese besagt, dass durch Addition der aus der Arbeitsmethode und den Arbeitsbedingungen resultierenden Elementarzeiten valide Werte für die Tätigkeitszeit eines Arbeitsablaufs ermittelt werden können. SANFLEBER (1968) kommt bei der Überprüfung der Additivitätshypothese zu dem Ergebnis, „dass sich selbst bei größeren Ungenauigkeiten der Elementarzeiten in der Regel hinreichend zutreffende Gesamtzeiten ergeben können“. Daher liegt den Analysiersystemen implizit die Annahme zugrunde, dass sich die Ungenauigkeiten einzelner Elementarzeiten mit zunehmender Anzahl an Bewegungselementen tendenziell ausgleichen. Weitere wichtige Untersuchungen zur Validität der Grundverfahren von MTM und WF hat SCHLAICH (1967) durchgeführt. Dabei
Arbeitswirtschaft
699
hat er u.A. festgestellt, dass das WF-Verfahren „übermäßig kompliziert und zum Teil sehr ungenau ist“. Er hat zudem ein eigenes Verfahren vorbestimmter Zeiten entwickelt. Forschungsarbeiten von Luczak und Samli beinhalten eine Validitätsprüfung von WF-Mento (LUCZAK u. SAMLI 1986). Sie kommen zu dem Ergebnis, dass das Mento-Verfahren für Prüftätigkeiten hochgenaue Vorhersagen des Zeitbedarfs für Prüfintervalle ermöglicht. Weiterentwicklungen hat es in der jüngeren Vergangenheit vor allem dahingehend gegeben, dass mit dem auf dem MTM-Verfahren basierenden Werkzeug MTM-Prokon der manuelle Montageaufwand von Produkten bereits in der Konstruktionsphase bewertet werden kann (SANZENBACHER 2003). Ferner werden die den MTM-Prozessbausteinen zugrunde liegenden Informationen mit der Methode MTM-Ergo dahingehend genutzt, ergonomische Verbesserungspotenziale zu identifizieren. Ein umfassender Überblick zum MTM-Verfahren findet sich bei BOKRANZ u. LANDAU (2006). Weiterentwicklungspotenziale von Systemen vorbestimmter Zeiten bestehen vor allem darin, einzelne Bewegungselemente, Prozessbausteine bzw. das System insgesamt mit weiteren Informationen zu versehen. Bspw. wären aus Sicht der Arbeitsplanung – wie von F. Stier bereits 1965 angeregt – Informationen zu den Anlernzeiten, die sich für einzelne Prozesse im Serienanlauf voraussichtlich ergeben werden, von Relevanz (STIER 1965). Mit Hilfe dieser Informationen könnten frühzeitig gesonderte Schulungen hinsichtlich derjenigen Arbeitsprozesse geplant werden, die zuvor als vergleichsweise schwer erlernbar identifiziert wurden. Auch wären aus arbeitsgestalterischer Sicht Aussagen zur Ermüdung von Arbeitspersonen hilfreich, um gezielt organisatorische oder technische Maßnahmen zur Ermüdungsvermeidung ableiten zu können. Darüber hinaus könnten insbesondere im Hinblick auf die verdichteten Analysiersysteme Schätzungen zur Streuung der analytisch ermittelten Tätigkeitszeiten dazu beitragen, die Genauigkeit der ermittelten Zeitdaten bewerten zu können. 7.3.9.2
BedeutungĆundĆAnwendungĆ
Der Vorteil von Systemen vorbestimmter Zeiten in der industriellen Praxis begründet sich durch die kombinierte Standardisierung von Arbeitsablauf und Tätigkeitszeit (siehe Kap. 7.3.2). Diese ist methodenimmanent, d.h. Arbeitsablauf und Tätigkeitszeit sind nicht voneinander zu trennen. Darüber hinaus sind Systeme vorbestimmter Zeiten von hoher praktischer Relevanz, da diese bereits in der Planungsphase eines Arbeitssystems angewendet werden können. Lediglich die Bedingungen, unter denen ein Arbeitsprozess voraussichtlich auszuführen ist (siehe Kap. 7.3.3), müssen für eine Methodenanwendung feststehen. In der Folge können bspw. Mitarbeiterschulungen auf Basis der Prozessmodellierungen bereits vor einer Arbeitssystemrealisierung vorgenommen werden. Ferner eignen sich Systeme vorbestimmter Zeiten für den Aufbau eines betriebsspezifischen Planzeitsystems, so dass Änderungen an der Arbeitsmethode oder den Arbeitsbedingungen nur zu geringen Aufwänden bei der Adaption der Prozessbausteine führen. Als weiterer Grund für die Bedeutung der Methodik lässt sich anführen, dass sich aus
700
Arbeitswissenschaft
ihrer Anwendung Hinweise für eine Verbesserung der Arbeitsmethode sowie der Arbeitsbedingungen (Arbeitsplatz, Arbeitsmittel, Arbeitsobjekt) ableiten lassen. Die Arbeitsgestaltung geht dabei über eine einfache Kasuistik hinaus, da sich aus den Systemen vorbestimmter Zeiten allgemeingültige arbeitsgestalterische Leitsätze und Bewegungsprinzipien ableiten lassen (LUCZAK 1986). Das Vorgehen bei der Anwendung von Systemen vorbestimmter Zeiten gliedert sich in drei Phasen (DEUTSCHE MTM-VEREINIGUNG 2003). In der Vorbereitungsphase werden die Beschäftigten informiert und die Arbeitsbedingungen (siehe Kap. 7.3.3) beschrieben. Im Rahmen der Phase der Ablaufanalyse wird der Arbeitsprozess in Ablaufabschnitte gegliedert. Darüber hinaus wird jeder Ablaufabschnitt mit Hilfe der Grundbewegungssymbole beschrieben. Zu den einzelnen Bewegungselementen werden die Ausprägungen der Zeiteinflussgrößen identifiziert. Die Phase der Zeitanalyse beinhaltet die Zuordnung von Zeitwerten zu den einzelnen Elementen sowie die Addition der Einzelzeiten zur Tätigkeits- bzw. Grundzeit. Als Ergebnis dieses Vorgehens liegt ein Soll-Arbeitsablauf inklusive einer Tätigkeits- bzw. Grundzeit vor. Tabelle 7.10 zeigt mit dem Fügen eines Bolzens in eine Vorrichtung ein einfaches Beispiel für einen mittels MTM-1 modellierten Bewegungsvorgang. Tabelle 7.10: Beispiel einer Bewegungsablaufbeschreibung mittels MTM-1 Bewegungsablaufbeschreibung
Für Zeitzuordnung notwendige Informationen
Codierung
Zeitwert
Hinlangen zum Bolzen (Reach)
• Bewegungslänge: 40 cm • Bolzen liegt vermischt mit anderen
R 40 C
16,8 TMU
Greifen des Bolzens (Grasp)
• Abmessungen: 8 x 12 mm • Bolzen liegt vermischt mit anderen
G4 B
9,1 TMU
• Bewegungslänge: 40 cm • Platziergenauigkeit: genau
M 40 C
18,5 TMU
• Fügetoleranz: eng • Symmetrie: vollsymmetrisch • Handhabung: einfach
P2SE
16,2 TMU
• Öffnen der Finger
RL 1
2,0 TMU
Bringen des Bolzens zur Vorrichtung (Move) Fügen des Bolzens in Öffnung (Position) Loslassen des Bolzens (Release)
Gesamtvorgangsdauer
62,6 TMU | 2,25 s
Der Vorgang umfasst die fünf MTM-1-Grundbewegungselemente des Finger-, Hand- und Armsystems. Er beginnt mit dem Hinlangen zum Bolzen und endet mit
Arbeitswirtschaft
701
dem Loslassen des Bolzens. Gemäß den vorliegenden Informationen zu den Zeiteinflussgrößen der einzelnen Bewegungselemente werden die entsprechenden Codes und Zeitwerte für die einzelnen Elemente aus der MTM-Normzeitwertkarte entnommen. So ist bspw. der Zeitwert für das Hinlangen, abgekürzt mit R für Reach, einerseits von der Bewegungslänge (im Beispiel: 40 cm) und andererseits vom Bewegungsfall (im Beispiel: Fall C – Hinlangen zu einem Gegenstand, der mit gleichen o.Ä. Gegenständen so vermischt ist, dass er ausgewählt werden muss) abhängig. Der Zeitwert für R40C beträgt 16,8 TMU. Wie in Tabelle 7.10 dargestellt, werden abschließend die einzelnen Zeitwerte zur Gesamtvorgangsdauer addiert. 7.3.9.3
Vor-ĆundĆNachteileĆ
Mit der Anwendung von Systemen vorbestimmter Zeiten sind die nachfolgend aufgeführten Vorteile verbunden: x Die Anwendung von Systemen vorbestimmter Zeiten geht mit einer detaillierten Analyse des Arbeitsprozesses einher, so dass ergonomische Verbesserungsmaßnahmen und arbeitswirtschaftliche Optimierungspotenziale leicht identifiziert und quantifiziert werden können. Ferner liegt als Ergebnis der Methodenanwendung ein dokumentiertes Verfahren zur Arbeitsausführung vor. x Mit Systemen vorbestimmter Zeiten lassen sich betriebsspezifische Planzeitsysteme aufbauen. Diese haben den Vorteil, dass sie mit geringem Aufwand an veränderte Arbeitsbedingungen (z.B. neue Produktvariante) angepasst werden können. x Im Unterschied zur Zeitaufnahme beinhalten Systeme vorbestimmter Zeiten keine Leistungsgradbeurteilung, so dass Diskussionen und Konflikte um den „richtigen“ Leistungsgrad vermieden werden. x Systeme vorbestimmter Zeiten ermöglichen bereits in der Planungsphase eines Arbeitssystems die Festlegung eines kombinierten Arbeits- und Zeitstandards. Den dargestellten Vorteilen stehen vor allem folgende Nachteile gegenüber: x Die Grenzen der Verfahren liegen darin, dass ihre Anwendung im Wesentlichen auf manuell-körperliche Tätigkeiten beschränkt ist. Lediglich einfache Prüf- und Kontrolltätigkeiten können über Systeme vorbestimmter Zeiten modelliert werden. Ferner sind Zeiten, die durch den technischen Prozess determiniert werden, zu messen und als sog. Prozesszeiten in der Analyse zu berücksichtigen. x Den einzelnen Analysiersystemen liegt ein umfassendes Regelwerk zugrunde. Zur sicheren Anwendung dieser Systeme bedarf es daher einer intensiven, zeitaufwendigen Schulung der Methodenanwender. x Die analytische Vorgehensweise, die den Systemen vorbestimmter Zeiten zugrunde liegt, wird vor allem unter arbeitspsychologischen Aspekten dahin-
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Arbeitswissenschaft
gehend kritisiert, dass der ganzheitliche Charakter der menschlichen Arbeit – bestehend aus planenden, ausführenden, steuernden und kontrollierenden Tätigkeiten – unberücksichtigt bleibe. Ebenso werden arbeitsphysiologische Erkenntnisse zur einseitig dynamischen Muskelarbeit (LAURIG et al. 1974) als Kritik an den Grundverfahren angeführt. x Darüber hinaus werden zum Teil methodenspezifische Nachteile, die in der Entwicklung eines Systems begründet liegen, angeführt. So sind bspw. bei der Entwicklung des WF-Grundverfahrens Prozesse mit unterschiedlichem Methodenniveau analysiert worden (SCHLAICH 1967). 7.3.10 Planzeitermittlung mittels Regressionsanalyse 7.3.10.1 DefinitionĆundĆArtenĆ
Werden Soll-Zeiten für einzelne, wiederkehrende Ablaufabschnitte zusammengefasst und beschrieben, so werden diese aggregierten Zeitwerte als Planzeiten bezeichnet (siehe Kap. 7.3.4). Planzeiten können mit Hilfe der Regressionsanalyse, die begrifflich auf das lateinische Wort „regressus“ (Rückkehr) zurückzuführen ist, ermittelt werden. Die Regressionsanalyse ist eine Methode der induktiven Statistik, mit welcher der funktionale Zusammenhang zwischen einer quantitativen Zielgröße und einer oder mehrerer unabhängiger Einflussgrößen formelmäßig beschrieben werden kann (FRICKE 2005). Im zeitwirtschaftlichen Kontext stellt diese abhängige Zielgröße die Planzeit dar. Die auf diese Variable einwirkenden Größen werden als Zeiteinflussgrößen bezeichnet (siehe Kap. 7.3.3). Nach der Art der Einflussgrößen kann zwischen quantitativen und qualitativen Einflussgrößen unterschieden werden. Die Ausprägungen quantitativer Einflussgrößen können durch Messen oder Zählen bestimmt werden (FRICKE 2005). Nach der Anzahl der in einer Analyse berücksichtigten Einflussgrößen wird zwischen einer einfachen und einer mehrfachen Regression unterschieden (HALLER-WEDEL 1973). Darüber hinaus kann nach der Art des funktionalen Zusammenhangs zwischen einer linearen und einer nicht-linearen Regression differenziert werden. Den einfachsten Fall einer Regressionsrechnung stellt die einfache, lineare Regression dar. Sie berücksichtigt eine Einflussgröße und geht davon aus, dass sich Einflussgröße und Zielgröße proportional zueinander verändern. Bei einer einfachen, nicht-linearen Regression werden die Werte der Einflussgröße hingegen zunächst über Umkehrfunktionen (z.B. Potenzfunktion, Logarithmusfunktion) so transformiert, dass eine lineare Regression durchgeführt werden kann. 7.3.10.2 BedeutungĆ
Die Ermittlung von Planzeiten über eine Regressionsanalyse hat den Vorteil, dass bei Änderungen der Arbeitsbedingungen die erforderlich werdenden Planzeitenanpassungen mit vergleichsweise geringen Aufwänden vorgenommen werden
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können. Die Methode ist daher von praktischer Bedeutung und wird insbesondere im industriellen Kontext für standardisierte Tätigkeiten angewendet. Sie bietet aber auch erhebliche Potenziale für eine Anwendung in indirekten Bereichen und Dienstleistungsunternehmen. Diese werden bisher aber nur ansatzweise genutzt. Anwendung findet die mathematische Methode der Regressionsrechnung mittlerweile in Bezug auf die Kostenschätzung von Konstruktionsprojekten (CHAN et al. 2001; TROST u. OBERLENDER 2003; CHAN u. PARK 2005) sowie in Bezug auf die Schätzung von Arbeitszeiten in komplexen Planungsprojekten (HINRICHSEN et al. 2007; HINRICHSEN et al. 2008). Dabei werden für abgeschlossene Projekte funktionale Zusammenhänge zwischen den Kosten- bzw. Zeiteinflussgrößen und den Projektkosten bzw. Arbeitszeiten gebildet, so dass auf Basis der so ermittelten Daten Kosten- bzw. Arbeitszeitschätzungen für geplante Projekte vorgenommen werden können. 7.3.10.3 MathematischeĆGrundlagenĆ
Eine wichtige Grundlage der Regressionsrechnung bildet die mathematische Methode der kleinsten Quadrate (HALLER-WEDEL 1973). Nach dieser Methode wird eine Ausgleichsgerade derart durch die in einem Diagramm eingezeichneten Messwerte gelegt, dass die Quadratsumme der Residuen, welche die senkrechten Abweichungen der Messpunkte von der Ausgleichsgeraden darstellen, minimiert wird. Diese Ausgleichsgerade spiegelt den Gesamttrend aller Messwerte am besten wider und wird als Regressionsgerade bezeichnet. Wird x als unabhängige Einflussgröße und y als die von x abhängige Zielgröße bezeichnet, so nimmt die Regressionsgerade die folgende allg. Form einer Geradengleichung an: ˆ y ( x ) aˆ bx (7.24) Dabei wird aˆ als Regressionskonstante und bˆ als Regressionsfaktor bezeichnet (HALLER-WEDEL 1973). Der Regressionsgeraden liegen jeweils n Werte xi für die Einflussgröße und yi für die Zielgröße zugrunde. Zur Berechnung von Regressionskonstante aˆ und Regressionsfaktor bˆ werden die Gleichungen (7.25) und (7.26) verwendet. ˆ aˆ y bx (7.25) n
bˆ
¦ (x y ) n x y i
i
i 1
n
¦ x ² n x²
(7.26)
i
i 1
Die über die Gleichungen (7.24), (7.25) und (7.26) ermittelte Regressionsgerade entspricht dem Prinzip der kleinsten Quadrate, lässt aber keine Aussage über die Güte der Anpassung der Geraden an die Punktwolke zu. Um eine solche Aussage vornehmen zu können, wird einerseits der Korrelationskoeffizient und andererseits das Bestimmtheitsmaß gebildet (FRICKE 2005).
704
Arbeitswissenschaft
Der Korrelationskoeffizient rxy, auch als Bravais-Pearson-Korrelationskoeffizient bezeichnet, und das Bestimmtheitsmaß B werden wie folgt berechnet: n
¦ ( x x )( y i
rxy
n
¦ ( xi x )² i 1
B
i
y)
i 1
(7.27)
n
¦ ( yi y )² i 1
2 sT2 sREG sT2
(7.28)
In das Bestimmtheitsmaß B gehen die quadratischen Abweichungen vom Mit2 telwert sT² und die quadratischen Abweichungen von der Regressionsgeraden sREG ein: sT2 2 sREG
1 n ¦ ( yi y )² n 1 i 1
(7.29)
1 n ¦ ( yi yˆ ( xi ))² n 1 i 1
(7.30)
Die Werte für den Korrelationskoeffizienten liegen jeweils zwischen -1 und +1. Je weiter die Werte von der 0 entfernt liegen, desto besser passt sich die Regressionsgerade an die Messwerte an. Da auch der Zusammenhang B = rxy² gilt, liegen die Werte für B zwischen 0 und 1. Darüber hinaus lässt sich das (1-D)-Konfidenzintervall für die gesamte Regressionsfunktion unter Berücksichtigung der t-Verteilung mit Hilfe der Funktionen für die untere Vertrauensschranke u(x) und die obere Vertrauensschranke o(x) darstellen (HARTUNG et al. 1998). Diese Funktionen gelten für eine lineare Regression:
u ( x)
1 ( x x )² n n ¦ ( xi x )²
(7.31)
1 ( x x )² ˆ t aˆ bx n n 2;1D / 2 sREG n ¦ ( xi x )²
(7.32)
ˆ t aˆ bx n 2;1D / 2 sREG
i 1
o( x )
i 1
Dabei kennzeichnet tn-2;1-Į/2 die entsprechenden Quantile der t-Verteilung mit n-2 Freiheitsgraden. Zur Durchführung der nicht-linearen Regression sind die Werte der Einflussgröße xi über mathematische Funktionen so zu transformieren, dass Bestimmtheitsmaß und Korrelationskoeffizient möglichst groß sind. Nach dieser Transformation ist wiederum eine lineare Regression vorzunehmen. Der Graph der Regressionsfunktion kann als Gerade dargestellt werden, indem die transformierten xi-Werte auf der Abszisse aufgetragen werden. Es ist aber auch
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705
möglich, den nicht-linearen Kurvenverlauf abzubilden, indem einerseits die nichttransformierten xi-Werte auf der Abszisse und andererseits die auf Basis der transformierten xi-Werte ermittelten Schätzwerte für y aufgetragen werden. In der Praxis liegen in der Regel keine monokausalen Beziehungen vor, sondern die Zielgröße wird von zahlreichen Größen beeinflusst, so dass eine mehrfache Regressionsanalyse durchzuführen ist. Eine Darstellung der mathematischen Grundlagen zur mehrfachen Regressionsanalyse findet sich bspw. in BACKHAUS et al. (2006). Darüber hinaus tritt in der Praxis vielfach das Problem auf, dass die Einflussgrößen nicht nur mit der Zielgröße, sondern auch untereinander korrelieren, so dass bei Anwendung einer mehrfachen Regressionsanalyse redundante Modelle entstehen. Um dieses Problem der Multikollinearität zu lösen, wird die Methode der schrittweisen, multiplen Regressionsanalyse angewendet (siehe Kap. 7.3.10.5). 7.3.10.4 MethodeĆnachĆdemĆREFA-StandardprogrammĆ
Das REFA-Standardprogramm „Planzeitermittlung“ sieht sieben Schritte vor (REFA 1997). Der erste Schritt beinhaltet die Festlegung des Verwendungszwecks der Zeitdaten (siehe Kap. 7.3.2) und die Abgrenzung des Planzeitbereichs. Ein Planzeitbereich stellt eine Zusammenfassung von Arbeitssystemen dar, deren Arbeitsbedingungen und Arbeitsprozesse ähnlich sind. Der zweite Schritt sieht eine Beschreibung der Arbeitssysteme im Planzeitbereich vor. Darüber hinaus soll ausgehend von den Arbeitssystembeschreibungen überprüft werden, ob der Aufbau von Planzeiten zweckmäßig ist. Der dritte Schritt umfasst eine Gliederung der Arbeitsabläufe in Ablaufabschnitte (siehe Kap. 7.3.3) sowie die Erfassung von Bezugsmengen und Zeiteinflussgrößen (siehe Kap. 7.3.4). Der vierte Schritt sieht die Planung und der fünfte Schritt die Durchführung von Zeitaufnahmen vor (siehe Kap. 7.3.6). In einem sechsten Schritt wird ermittelt, ob funktionale Zusammenhänge zwischen der Zeit und ihren Einflussgrößen vorliegen und sich diese Zusammenhänge als Funktion darstellen lassen. REFA schlägt vor, zunächst die Korrelation zwischen Zeit und Einflussgrößen zu ermitteln und im Falle eines nicht „befriedigenden“ Korrelationsmaßes weitere Einflussgrößen heranzuziehen und die geprüften Größen ggf. zu verwerfen (ebd. 1997). Alternativ zu den Schritten 4 bis 6 können Zeitdaten über Systeme vorbestimmter Zeiten, Vergleichen und Schätzen oder über die Berechnung von Prozesszeiten ermittelt werden. In einem siebten Schritt des REFA-Standardprogramms werden die Ergebnisse der Regressionsrechnung grafisch, tabellarisch oder als Planzeitformel dargestellt. 7.3.10.5 MethodeĆzurĆErmittlungĆvonĆPlanzeitenĆfürĆkomplexeĆProjekteĆ
Die REFA-Methode Planzeitermittlung zielt in erster Linie auf die Ermittlung von Planzeiten für Arbeitsabläufe ab, die in hohem Maße standardisiert sind. Auf die Bestimmung von Planzeiten für schwach-strukturierte Tätigkeiten, wie sie in Projekten überwiegend auftreten, wird nicht eingegangen. Die Schätzung der Anzahl der in einem Projekt voraussichtlich zu leistenden Arbeitsstunden wird in der
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Arbeitswissenschaft
Praxis vielfach auf Basis einfacher Äquivalenzbetrachtungen vorgenommen. Diese erfahrungsbasierte Schätzung hat aber den Nachteil, dass sie in hohem Maße mit Unsicherheit behaftet ist. Daher wurde von HINRICHSEN et al. (2007) eine Methode entwickelt, mit der ein betriebsspezifisches Prognosemodell erstellt werden kann, welches die wesentlichen, auf die Arbeitszeit wirkenden Einflussgrößen beinhaltet und durch empirische Daten aus abgeschlossenen Projekten fundiert ist. Die Methode zur Vorhersage der in einem Projekt voraussichtlich benötigten Personalkapazitäten besteht gemäß Tabelle 7.11 aus elf Schritten (HINRICHSEN et al. 2007). In Schritt 1 ist der Geltungsbereich des Planzeitsystems festzulegen, indem bspw. der zu berücksichtigende Projekttyp und die interessierenden Projektleistungsphasen ausgewählt werden. Ferner wird in diesem Schritt die Machbarkeit der Prognosemodellentwicklung geklärt, indem die Verfügbarkeit von Zeitdaten aus abgeschlossenen Projekten geprüft wird. In einem zweiten Schritt werden Ursachen für unterschiedliche Arbeitsausführungszeiten in abgeschlossenen Projekten bzw. Projektleistungsphasen identifiziert, d.h. es werden Zeiteinflussgrößen, sog. Prädiktorvariablen, – z.B. über Interviews mit Experten – ermittelt. Wenn im Ergebnis von Schritt 2 eine große Anzahl von Einflussgrößen vorliegen sollte, kann es aus Gründen der Untersuchungsökonomie ratsam sein, eine Vorauswahl von Einflussgrößen zu treffen (Schritt 3). Dazu kann die Methode des Paarvergleichs (ROTH u. HOLLING 1999) bei einer Mehrzahl von Experten angewendet werden. Im Ergebnis von Schritt 3 liegen Einflussgrößen vor, von denen die Mehrzahl der Experten annimmt, dass sie sich auf die Arbeitsausführungszeit in einem Projekt oder einer Projektleistungsphase deutlich auswirken. In Schritt 4 werden die vorselektierten Einflussgrößen operationalisiert, indem ggf. Indikatoren zur Messung einzelner Größen bestimmt und Messvorschriften – unter Beachtung des für die Korrelations- und Regressionsanalyse erforderlichen Skalenniveaus – für einzelne Größen bzw. Indikatoren formuliert werden. In Schritt 5 wird kritisch hinterfragt, ob die Ausprägung der einzelnen Einflussgrößen bzw. Indikatoren bereits vor Beginn eines Projekts bzw. einer Projektleistungsphase geschätzt werden kann. Zudem wird geprüft, ob Daten aus abgeschlossenen Projekten zu den Ausprägungen der Einflussgrößen vorliegen. Im Ergebnis des fünften Schritts sind eine Mehrzahl von Einflussgrößen, die in die statistische Untersuchung eingehen werden, ausgewählt worden. In einem sechsten Schritt wird die Grundgesamtheit der auszuwertenden Projekte festgelegt, der optimale Stichprobenumfang (BORTZ 1999) berechnet und die Datenermittlung durchgeführt. Bei der Festlegung der Grundgesamtheit sollte beachtet werden, dass sich im Zeitverlauf wichtige Rahmenbedingungen, die auf die Arbeitsproduktivität in Projekten wirken, ändern (z.B. durch Einführung einer CAD-Software). Da die abgeschlossenen Projekte die Basis für die Prognose der Arbeitsausführungszeit eines neuen Projekts bilden, sollten nur solche Projekte in die Grundgesamtheit aufgenommen werden, die unter vergleichbaren Rahmenbedingungen durchgeführt wurden. Entsprechend sind Kriterien aufzustellen, um die Grundgesamtheit zu bestimmen (z.B. sind nur solche Projekte in die Grundgesamtheit aufzunehmen, die nach Einführung der neuen Projektmanagementsoftware begonnen haben). Auf Grund-
Arbeitswirtschaft
707
lage der definierten Grundgesamtheit und der optimalen Stichprobengröße erfolgt die Datenermittlung, d.h. zu abgeschlossenen Projekten bzw. Projektleistungsphasen werden jeweils die geleisteten Arbeitsstunden sowie die Ausprägung der ausgewählten Einflussgrößen ermittelt. Tabelle 7.11: Schritte zur Prognosemodellentwicklung im Überblick (HINRICHSEN et al. 2007) Schritt 1
Festlegen der Ziele und Klären der Machbarkeit
Schritt 2
Identifikation möglicher Ursachen für unterschiedliche Arbeitsausführungszeiten in Projekten
Schritt 3
Vorauswahl der Zeiteinflussgrößen
Schritt 4
Operationalisierung der Zeiteinflussgrößen
Schritt 5
Auswahl der Zeiteinflussgrößen
Schritt 6
Stichprobenplanung und Datenermittlung
Schritt 7
Auswertung der Daten über eine schrittweise multiple Regressionsanalyse
Schritt 8
Überprüfung des Modells über eine Kreuzvalidierung
Schritt 9
Anwendung des Prognosemodells
Schritt 10
Vergrößerung der Datenbasis zur Verbesserung der Modellvalidität
Schritt 11
Anpassen und Überprüfen des Prognosemodells
Schritt 7 hat die Auswertung der Daten zum Gegenstand. Dabei besteht generell das Problem, dass einzelne Prädiktorvariablen, die Zeiteinflussgrößen xi mit i = 1,..., n, nicht nur mit der Kriteriumsvariable, der Arbeitsausführungszeit ta, korrelieren, sondern auch untereinander, so dass sich in einem Satz von „k Prädiktorvariablen eine Teilmenge von q Prädiktorvariablen befindet, deren Vorhersagepotenzial kaum über das Vorhersagepotenzial der k - q Prädiktorvariablen hinausgeht und die damit redundant sind“ (BORTZ 1999). Dieses Problem der Multikollinearität lässt sich über das statistische Verfahren der multiplen, schrittweisen Regressionsanalyse lösen, indem nicht signifikante Prädiktoren aus dem Modell ausgeschlossen und stark interkorrelierende Prädiktoren weitgehend vermieden werden. Im Ergebnis von Schritt 7 liegt eine Gleichung der nachfolgenden Form vor, in der bˆi die geschätzten Regressionskoeffizienten und aˆ eine Konstante sind: t aˆ bˆ x bˆ x ... bˆ x (7.33) a
1
1
2
2
n
n
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Schritt 8 sieht eine Überprüfung des Prognosemodells über eine Kreuzvalidierung vor, indem die in Schritt 7 gewonnene regressionsanalytische Lösung an einer zweiten Stichprobe derselben Grundgesamtheit erprobt wird. Der neunte Schritt beinhaltet die Anwendung des Prognosemodells. Der zehnte und elfte Schritt haben die Weiterentwicklung des Modells zum Gegenstand. Eine Fallstudie zur Anwendung und weiteren Erläuterungen der Methode findet sich in HINRICHSEN et al. (2007). 7.3.10.6 Vor-ĆundĆNachteileĆ
Mit der Entwicklung von Planzeiten mittels einer Regressionsanalyse gehen eine Reihe von Vor- und Nachteilen einher. Folgende Vorteile dieser Methode der Zeitdatenermittlung lassen sich anführen: x Die Entwicklung von Planzeiten über eine Regressionsanalyse hat gegenüber den Systemen vorbestimmter Zeiten den Vorteil, dass, auf den konkreten Anwendungsfall bezogen, Aussagen zur Datenqualität bzw. zu Fehlergrößen gemacht werden können. x Im Vergleich zu Systemen vorbestimmter Zeiten, deren Anwendung auf vorwiegend manuelle Tätigkeiten beschränkt ist, lässt sich die Regressionsanalyse, wie gezeigt wurde, prinzipiell auch für schwach strukturierte Arbeitsprozesse (z.B. in der Projektarbeit) anwenden. Den dargestellten Vorteilen stehen vor allem folgende Nachteile gegenüber: x Im Vergleich zu Systemen vorbestimmter Zeiten kann die Ermittlung von Planzeiten für manuelle Tätigkeiten mittels Regressionsrechnung mit höheren Zeitaufwänden verbunden sein. x Über eine Regressionsrechnung erstellte Planzeiten können zwar mit geringen Aufwänden an neue Arbeitsbedingungen angepasst werden. Im Unterschied zu den Systemen vorbestimmter Zeiten ist es aber nicht möglich, mittels der Methode Planzeiten für in der Neuplanung befindliche Arbeitssysteme zu entwickeln, da keine Zeitaufnahmen durchgeführt werden können. x Die Anwendung der Methode erfordert statistische Kenntnisse, so dass ihre Einführung in einem Betrieb möglicherweise mit einem Qualifizierungsaufwand verbunden ist.
Arbeitswirtschaft
7.4
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Literatur
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Arbeitswissenschaft
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Normen, Richtlinien und gesetzliche Vorschriften Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) i.d.F. (Bundesgesetzblatt I, S.2518) vom 25.09.2001, das durch Artikel 9 des Gesetzes vom 29.07.2009 (Bundesgesetzblatt I, S.2424) geändert worden ist Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) (2008) Deutscher Taschenbuch Verlag, München DIN EN ISO 6385 (2004) Grundsätze der Ergonomie für die Gestaltung von Arbeitssystemen. Beuth, Berlin
8
Arbeitsschutz und betriebliche Gesundheitsförderung
8.1
Arbeitsschutz
Arbeitsschutz betrifft Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit und umfasst alle Maßnahmen zur Verhütung von Unfällen und von arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren einschließlich Maßnahmen der menschengerechten Gestaltung der Arbeit. 8.1.1
Historische Entwicklung des Arbeitsschutzsystems
Eine explizite Arbeitsschutzregelung findet sich bereits in der Bibel (5. Buch Moses, 22,8): „Baust du ein neues Haus, so bringe an deinem Dach eine Brüstung an. Du würdest Blutschuld auf dein Haus laden, wenn jemand hinunter fällt.“ Auch im Codex Hammurabi (1728 -1686 v. Chr., König von Babylon), einer der ältesten Gesetzessammlungen der Welt, finden sich Strafen bei Unfällen durch Fremdverschulden nach dem Prinzip Auge um Auge. Macht man einen Zeitsprung, so stellt sich zu Beginn der industriellen Revolution die Lage der Arbeiter wie folgt dar: Eine Arbeitsschutz- und Sozialgesetzgebung gab es nicht, und damit auch keine Begrenzung der Arbeitszeit. Die tägliche Arbeitszeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts betrug 11 bis 12 Stunden, im Extrem sogar bis zu 17 Stunden für Erwachsene. Kinder mussten täglich 6 bis 14 Stunden arbeiten (PETERS u. MEYNA 1985, DEPPE et al. 1978). Durch den mangelnden Unfallschutz und die extrem schlechten Arbeitsbedingungen muss davon ausgegangen werden, dass jedes Jahr einer von tausend männlichen Fabrikarbeitern einen tödlichen Arbeitsunfall erlitt (PETERS u. MEYNA 1985). Heute verunglückt pro Jahr einer von ca. 50000 Beschäftigten tödlich (HVBG 2007). Eine erste Arbeitsschutzregelung wurde in Preußen 1839 getroffen. Preußischen Generälen war aufgefallen, „dass immer mehr junge Männer aus Industriegebieten durch die medizinischen Musterungskommissionen ausgemustert wurden aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen, die infolge zu schwerer Arbeit und zu negativer Arbeitsbedingungen während der Kindheit aufgetreten waren“ (LUCZAK u. ROHMERT 1984). Daraufhin wurde das Preußische Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken und Bergwerken erlassen: „Kinder sollen künftig in Fabriken und Bergwerken nur dann regelmäßig beschäftigt werden, wenn sie das reife Alter von neun Jahren erreicht haben; Nachtarbeit, Sonntags- und Feiertagsarbeit sind verboten. Bis zum Alter von 16 Jahren ist der Arbeitstag auf zehn Stunden begrenzt; jedoch liegt es in der Hand der Ortspolizei, für jeweils vier Wochen eine Verlängerung des Arbeitstages um eine Stunde zu gestatten“ (KUCZYNSKI 1961).
714
Arbeitswissenschaft
1853 wurde die Kinderschutzgesetzgebung in Preußen reformiert: x Kinder unter zwölf Jahren sollten nicht mehr regelmäßig in Fabriken arbeiten x die 12- bis 14-jährigen nur noch bis zu sechs Stunden pro Tag x die 14- bis 16-jährigen nur zehn Stunden pro Tag x Nachtarbeit war verboten. Zugleich wurde die Kontrolle über die Einhaltung der Kinderschutzbestimmungen verbessert. 1861 wurde in Sachsen ebenfalls ein Kinderschutzgesetz erlassen. 1854 wurden, nach englischem Vorbild und zunächst nur auf fakultativer Grundlage, Fabrikinspektionen eingerichtet. Die sehr ausführlichen „Instruktionen“ der Fabrikinspektoren enthalten einige Anweisungen zum technischen Arbeitsschutz der Kinder und Jugendlichen. Bewegte Maschinenteile und Transmissionen sollten, soweit sie in Reichweite der Kinder und Jugendlichen liegen, und „soweit es sich thun läßt, bedeckt oder verwahrt werden“ (KUCZYNSKI 1962; PETERS u. MEYNA 1985). Die Verpflichtung zu sicherheitstechnischen Maßnahmen wurde erstmalig 1869 in der Gewerbeordnung (GewO 1869) des Norddeutschen Bundes verbindlich vorgeschrieben. Der Unternehmer wurde durch eine sicherheitstechnische Generalklausel verpflichtet, Einrichtungen zu schaffen, die „zur tunlichsten Sicherung der Arbeiter gegen Gefahr für Leben und Gesundheit notwendig sind“. Ab 1878 galt die Gewerbeordnung in allen deutschen Staaten mit einer Festlegung über Fabrikinspektoren, die die Einhaltung arbeitsrechtlicher Vorschriften zu überwachen hatten. Die Gewerbeordnung gilt noch heute, die Arbeitsschutzvorschriften sind heute wesentlich erweitert und in eigenständigen rechtlichen Vorschriften festgelegt. Eine besondere Haftpflicht des Unternehmers gegenüber seinen Beschäftigten bestand im 19. Jahrhundert zunächst nicht. Bei Betriebsunfällen musste der Geschädigte ein Verschulden des Unternehmers nachweisen, was in der Praxis kaum möglich war. Das reichseinheitliche Haftpflichtgesetz von 1871 machte zwar den Unternehmer auch für die Fehlhandlungen seiner Führungskräfte verantwortlich, beließ es aber ansonsten bei der Beweislast des Geschädigten. Das heißt, der Geschädigte musste vor Gericht ein ursächliches Verschulden des Verantwortlichen und einen Verstoß gegen die sicherheitstechnische Generalklausel der Gewerbeordnung nachweisen. In seiner praktischen Auswirkung blieb das Haftpflichtgesetz jedoch unzureichend. Spezielle Haftpflicht-Versicherungsgesellschaften, bei denen die Unternehmer sich rückversicherten, wurden gegründet. Zahlreiche, für beide Seiten unbefriedigende Prozesse belasteten zunehmend die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Auch die „bürgerliche Nationalökonomie“, vor allem der 1873 gegründete und bald sehr einflussreiche „Verein für Socialpolitik“, nahm sich der Sache an. Regierungen, Arbeitgeber und Intellektuelle waren sich einig, dass die Industriegesellschaft neue Formen der sozialen Absicherung entwickeln müsse. Das später in
Arbeitsschutz und betriebliche Gesundheitsförderung
715
die Reichsversicherungsordnung eingeflossene Unfallversicherungsgesetz von 1884 stellt das Ergebnis eines mehrjährigen politischen Diskussionsprozesses dar. Träger der Versicherung wurden die zunächst nach Industrie- oder Gewerbezweig gegliederten Berufsgenossenschaften unter Oberaufsicht eines Reichsversicherungsamtes. Mitglieder der Berufsgenossenschaften sind die Unternehmer bzw. die Betriebe, die auch die Mittel für die zu leistenden Entschädigungen und die Verwaltungskosten ihrer Berufsgenossenschaften aufzubringen haben. Den Berufsgenossenschaften wird die Befugnis zum Erlass von Vorschriften über „von den Mitgliedern zur Verhütung von Unfällen in ihren Betrieben zu treffende Einrichtungen“ sowie „über das in den Betrieben von den Versicherten zur Verhütung von Unfällen zu beachtende Verhalten“ eingeräumt. Sie erhalten ferner die Befugnis, die Einhaltung dieser Vorschriften in den Betrieben zu überwachen (PETERS u. MEYNA 1985). In den folgenden Jahren wurde vor allem Erfahrungswissen über die negativen Auswirkungen der Arbeit auf die Gesundheit der Beschäftigten mittels Gesetzen umgesetzt. Das nach mehr als zwanzigjährigen Vorarbeiten am 1.1.1900 in Kraft getretene Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) behandelte in den §§611-630 (von insgesamt 2385 Paragraphen) den „Dienstvertrag“. Wobei unter „Dienstvertrag“ in erster Linie die Rechtsbeziehungen zwischen einem Bürger und dem für ihn in Selbständigkeit Tätigen gemeint ist. Auf den weitaus häufigeren Arbeitsvertrag finden die entsprechenden Paragraphen nur analoge Anwendung. Der erst im Reichstag hinzugefügte §618 bestimmt die Fürsorgepflicht des „Dienstberechtigten“ (Arbeitgebers) und enthält Regelungen zum Gesundheits- und Sittlichkeitsschutz des „Dienstverpflichteten“ (Arbeitnehmers) (KITTNER 1992). Die am 1.1.1912 in Kraft getretene Reichsversicherungsordnung (RVO) enthielt Regelungen zur Unfallverhütung, zur Ersten Hilfe und zur Medizinischen Betreuung. Die RVO stellte eine Zusammenfassung der Gesetze über die Kranken-, Unfall-, Alters- und Invaliditätsversicherung dar. Diese Gesetze gehen zurück auf die von Bismarck veranlasste „Kaiserliche Botschaft von 1881“ über die Einführung der Sozialversicherung. Ihr Ziel war es, der organisierten Arbeiterbewegung und deren Selbsthilfeeinrichtungen durch die „positive Förderung des Wohles der Arbeiter“ die Unterstützung der Mitglieder zu entziehen, wodurch sie jedoch auch die Stärke der Bewegung dokumentieren (KITTNER 1992). Mit der Verabschiedung des Sozialgesetzbuches (SGB) 1996 wurden die bis dahin in der RVO geregelten Belange weitestgehend in das SGB VII übertragen. Schon seit Beginn der Industrialisierung waren Dauer und Verteilung der Arbeitszeit ein zentraler Aspekt des gewerkschaftlichen Bemühens. In zahlreichen Statuten und Kongressbeschlüssen deutscher Gewerkschaften gegen Ende des 19. Jahrhunderts heißt es, dass Arbeitsniederlegungen, deren Zweck die Verkürzung der Arbeitszeit ist, den Vorrang vor anderen zu erhalten habe. Die bedeutendsten deutschen Arbeitskämpfe jener Zeit galten in erster Linie einer Verkürzung der Arbeitszeit.
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Arbeitswissenschaft
Im Statut des Deutschen Metallarbeiterverbandes von 1891 wird sogar der Verbandszweck durch folgenden, an erster Stelle stehenden Passus konkretisiert: „Möglichste Beschränkung der Arbeitszeit, Beseitigung der Sonntagsarbeit, der Überstunden und der Akkordarbeit, unter Zugrundelegung eines Lohnes, welcher für die Befriedigung der Bedürfnisse der Arbeiter und deren Familien ausreichend ist“. Während des Kaiserreichs wurden auf Drängen der Sozialdemokraten nach und nach für einzelne Beschäftigungsgruppen Arbeitszeitbegrenzungen eingeführt, bevor dann 1918/19 der Achtstundentag durch die Demobilisierungsverordnung für alle Beschäftigten festgelegt wurde. In der Wirtschaftskrise des Jahres 1923 wurde dieser Grundsatz durch die Zulassung zahlreicher Ausnahmen so durchlöchert, dass bald der Achtstundentag die Ausnahme und der Zehnstundentag die Regel wurde (KITTNER 1992). 1934 hatte das nationalsozialistische Regime die vorgefundenen Bestimmungen über die werktägliche Arbeitszeit der männlichen, weiblichen und jugendlichen Arbeiter in einer Arbeitszeitordnung (AZO) zusammengefasst und damit alle Mitwirkungsrechte der Betriebsvertretungen beseitigt. Die AZO von 1938 brachte demgegenüber keine wesentlichen inhaltlichen Veränderungen. Nachdem die meisten der Arbeitszeit-Schutzvorschriften im 2. Weltkrieg außer Kraft gesetzt worden waren, wurde der Vorkriegszustand auf Anordnung der Besatzungsmächte wieder hergestellt (KITTNER 1992). Ebenfalls 1938 wurde ein Jugendarbeitsschutzgesetz (JArbSchG) in Kraft gesetzt, im darauffolgenden Jahr das Heimarbeitergesetz (HAG). Die erste gesetzliche Regelung des Mutterschutzes brachte die Novelle zur Gewerbeordnung von 1878, auf welcher aufbauend noch im Kaiserreich zahlreiche weitere Vorschriften erlassen wurden. Es folgte 1927 das Gesetz über die Beschäftigung vor und nach der Niederkunft und das unter dem Nationalsozialismus mitten im Krieg erlassene Gesetz zum Schutz der erwerbstätigen Frau (Mutterschutzgesetz MuSchG) von 1942. Dieses Gesetz, das wegen des wachsenden Bedarfs an Frauen für die Kriegswirtschaft notwendig wurde, hatte das Ziel, „die im Erwerbsleben stehende Frau vor Gefahren für ihre Mutterschaftsleistung zu schützen, einen ungestörten Schwangerschafts- und Geburtenverlauf sicherzustellen sowie Stillen und Pflegen des Kindes zu gewährleisten“ (amtl. Begründung) (KITTNER 1992). Es beinhaltete Beschäftigungsverbote und Beschränkungen bei besonderen Arbeitsformen und Umgebungsbedingungen. 1994 trat das neue Arbeitszeitgesetz (ArbZG) in Kraft. Mit diesem Gesetz wurden die Arbeitszeitordnung aus dem Jahr 1938, die Vorschriften zur Sonn- und Feiertagsbeschäftigung in der Gewerbeordnung sowie weitere 26 Nebengesetze aufgehoben. Der Bedarf für ein neues Arbeitszeitgesetz entstand aus dem im Einigungsvertrag festgelegten Auftrag, das öffentlich-rechtliche Arbeitszeitrecht möglichst bald einheitlich zu regeln. Im §1 ArbZG wird der Zweck des Gesetzes, „die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer bei der Arbeitszeitgestaltung zu gewährleisten, die Rahmenbedingungen für flexible Arbeitszeiten zu ver-
Arbeitsschutz und betriebliche Gesundheitsförderung
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bessern sowie den Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung der Arbeitnehmer zu schützen“ (RING u. TITZE 1997). Die Zweckbestimmung bedeutet zugleich eine Absage an Versuche, das Arbeitszeitrecht für arbeitsmarktpolitische Ziele einzusetzen (DOBBERAHN 1994). Auf der Basis der zentralen EU-Vorschrift zum Arbeits- und Gesundheitsschutz (89/391/EWG, siehe Abb. 8.1) wurde 1996 das Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) verabschiedet. Das ArbSchG legt sowohl die Pflichten der Arbeitgeber (§3 ArbSchG) als auch die der Arbeitnehmer (§15 ArbSchG) bezüglich der Arbeitssicherheit fest. Vertrag von Nizza mit den Artikeln 100a (neu 95) und 118a (neu 137)
z.B. Maschinen-Richtlinie 2006/42/EG (98/37/EG)
• Wendet sich ausschließlich an den Konstrukteur / Hersteller von Maschinen • Führt zu gleichen Regelungen in allen Mitgliedstaaten
Rahmen-Richtlinie 89/391/EWG • Wendet sich an Arbeitgeber und Arbeitnehmer • Definiert ergonomische Mindest-anforderungen • Kann zu unterschiedlichen Regelungen in den Mitgliedstaaten führen
Abb. 8.1: Umsetzung der EU-Richtlinien
Der Arbeitgeber wird verpflichtet, eine Arbeitsplatzanalyse durchzuführen. Diese Analyse kann mit Hilfe von Checklisten erfolgen. Der REFA-Fachverband bietet eine eigens entwickelte Software, die sich aus vier Modulen, der Allgemeinen Gefährdungsanalyse (§5 ArbSchG), Persönlichen Schutzausrüstung (PSA-BV), Lastenhandhabung (LastenhandhabV) und Bildschirmarbeit (BildschArbV) zusammensetzt, an, um den „EU-Check“ durchzuführen. Dabei sollen Gefahren für die Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer beurteilt werden, um anschließend Arbeitsplatzgestaltungsmaßnahmen umzusetzen, die diese ausschließen. Für den Arbeitgeber besteht die Pflicht, die Ergebnisse dieser Analyse sowie deren Beurteilung und die Gestaltungsmaßnahmen zu dokumentieren und die Beschäftigten auf ihr Recht auf ärztliche Untersuchung hinzuweisen. Die Arbeitnehmer werden durch das ArbSchG verpflichtet, die entsprechenden Anweisungen des Arbeitgebers zu befolgen und Arbeits- bzw. Betriebsmittel, gefährliche Stoffe und persönliche Schutzausrüstung in richtiger Weise zu benut-
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Arbeitswissenschaft
zen sowie jede von ihnen festgestellte Gefahr zu melden und mit dem Arbeitgeber im Interesse der Sicherheit zusammenzuarbeiten. Eine Übersicht der Struktur des technischen Arbeitsschutzes ist in Abb. 8.2 wiedergegeben. Im Bereich der präventiven Gesundheitsfürsorge hat sich eine Veränderung der Aufgaben der gesetzlichen Krankenkassen seit 1997 durch das Gesetz zur Entlastung der Beiträge in der gesetzlichen Krankenversicherung (BeitrEntlG) ergeben. Die Krankenkassen konnten vor 1997 aktiv die Verhütung arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren in den Betrieben gestalten. Praktisch wurden z.B. Gesundheitszirkel und Bewegungsschulungen direkt in den Unternehmen angeboten, die arbeitsbedingten Erkrankungen vorbeugen sollten. Mit der Änderung des §20 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch ist die Arbeit der Krankenkassen darauf beschränkt, bei der Verhütung arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren mit den Trägern der gesetzlichen Unfallversicherung zusammenzuarbeiten und diese über die Erkenntnisse, die sie über Zusammenhänge zwischen Erkrankungen und Arbeitsbedingungen gewonnen haben, zu informieren. Weitere Maßnahmen zur Prävention arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren werden von den zuständigen Berufsgenossenschaften durchgeführt. Hierzu zählen die Schulung der Beschäftigten, sowie die Durchführung von Aufklärungskampagnen über Gesundheitsgefährdungen. Den gesetzlichen Krankenkassen verbleibt die Möglichkeit, bei einigen bestimmten Krankheiten den präventiven Gesundheitsschutz und die Rehabilitation finanziell zu unterstützen. Die Spitzenverbände der Krankenkassen beschließen im Interesse einer einheitlichen Rechtsanwendung gemeinsam und einheitlich ein Verzeichnis der Krankheitsbilder, bei deren Prävention oder Rehabilitation eine Förderung zulässig ist; sie haben dabei die Kassenärztliche Bundesvereinigung zu beteiligen (BeitrEntlG §20 Abs. 3). 8.1.2 8.1.2.1
Institutionen des Arbeitsschutzes und deren Leistungen BundesanstaltĆfürĆArbeitsschutzĆundĆArbeitsmedizinĆ
Im Jahr 1996 entstand aus der Fusion der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und der Bundesanstalt für Arbeitsmedizin die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA). Sie ist eine unmittelbar dem Bundesminister für Arbeit und Soziales unterstehende Anstalt des öffentlichen Rechts. Die BAuA unterstützt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales in allen Fragen des Arbeitsschutzes, einschließlich des medizinischen Arbeitsschutzes. Dabei arbeitet sie x mit den für den Arbeitsschutz zuständigen Behörden der Länder, x mit den Trägern der gesetzlichen Unfallversicherung sowie x mit allen nationalen und internationalen Institutionen und Personen, die mit der Aufgabe der Arbeitssicherheit, der Arbeitsmedizin, der Ermittlung und Verhinderung von arbeitsbedingten Erkrankungen und der menschgerechten Gestaltung der Arbeitsbedingungen befasst sind, eng zusammen.
3.
2.
1.
Allgemeine Verwaltungsvorschriften, Richtlinien und technische Regeln. Gesicherte Erkenntnisse der Arbeitswissenschaft und anderer Disziplinen
Ebene
Rechtsverordnungen und UVV
Ebene
Gesetze mit Generalklauseln und allgemeinen AnspruchsGrundlagen
Ebene
Ebene
0.
System des Vorschriftenwerkes des technischen Arbeitsschutzes
Technische Regeln für Arbeitsstätten
Pers. SchutzausrüstungsbenutzungsVO, LasthandhabungsbenutzungsVO, ArbeitsmittelbenutzungsVO, BildschirmarbeitsVO
ArbSchG Arbeitsschutzgesetz
ArbstättV Arbeitsstättenverordnung (nach BGBI. I Nr. 44)
DruckluftVO, ArbeitsschutzanforderungsVO, bei Arbeiten im Freien
GewO Gewerbeordnung
Technische Regeln TRGS MAK TRK Gesicherte Erkenntnisse über GefStoffG
GefStoffV Gefahrstoffverordnung (nach§ 3a ChemG)
ChemG Chemikaliengesetz
Techn. Regeln TRD TRG TRA TRAC TRbF
Allgemeine Verwaltungsvorschriften
Verordnung über überwachungs bedürftige Anlagen (nach § 11 GPSG)
Inhalt der Verzeichnisse A und B A: DIN, VDE, DVGW, VDI B: UVV, Durchführungsregeln der UVV, Richtlinien, Regeln der Sicherheitstechnik
Allgemeine Verwaltungsvorschriften incl. Teil A und B
Verordnung zum Inverkehrbringen von Geräten und Anlagen (nach § 11 GPSG)
GPSG Geräte- und Produktsicherheitsgesetz
(Unversehrtheit, Gleichheit, Persönlichkeitsentfaltung, …)
Nach außen gewandter Schutz
Innerbetrieblicher Schutz
Technischer Arbeitsschutz
Weitere Vorschriften zum technischen Arbeitsschutz sind auch enthalten in: Bundes-ImmissionsschutzG, AtomG, BergG, GentechnikG, MedizinprodukteG
Gesicherte Erkenntnisse über § 1 Nr. 2 ASiG
Konkretisiert durch UVV Unfallverhütungsvorschriften (über § 1 ASiG)
ASiG Arbeitssicherheitsgesetz
Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland
Personenbezogener Arbeitsschutz
Gesicherte Erkenntnisse über BGV A1
Richtlinien, Sicherheitstechnik, Regeln, Grundsätze und Merkblätter
Durchführungsanweisungen der UVV
UVV Unfallverhütungsvorschriften (gemäß §21 SGB VII)
SGB VII Sozialgesetzbuch
Satzungsrecht der Berufsgenossenschaften
Arbeitsschutz und betriebliche Gesundheitsförderung 719
Abb. 8.2: Struktur des technischen Arbeitsschutzes (in Anlehnung an Auskunft des BMAS Referat für Rechtsfragen des Arbeitsschutzes im August 1997, aktualisiert 2009)
720
Arbeitswissenschaft
Die BAuA beobachtet und analysiert die Gesundheitssituation und die Arbeitsbedingungen in Betrieben und Verwaltungen. Sie entwickelt Problemlösungen unter Anwendung sicherheitstechnischer, ergonomischer und sonstiger arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse. Die BAuA leitet aus den Ergebnissen dieser Arbeit Beiträge für die präventive Gestaltung von Arbeitsbedingungen, für die Bekämpfung arbeitsbedingter Erkrankungen einschließlich Berufskrankheiten und für die arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchungen ab. Aufgabe der BAuA ist die Anwendung der gewonnen Erkenntnisse, Grundsätze und Lösungsvorschläge in der Praxis zu fördern. Dies wird erreicht durch: x Veröffentlichung von Informationsmaterialien und Berichten, x Mitarbeit bei der Regelsetzung, x Entwicklung von Aus- und Fortbildungsmaterialien, modellhafte Durchführung von Aus- und Fortbildungsveranstaltungen für Fachkräfte für Arbeitssicherheit sowie von Fortbildungsmaterialien für die modellhafte Durchführung von Fortbildungsmaßnahmen für Betriebsärzte und arbeitsmedizinisches Fachpersonal, x modellhafte Beratung, x Ausstellungen, insbesondere die Deutsche Arbeitsschutzausstellung (DASA), x Fachveranstaltungen. Die BAuA unterhält für ihre Aufgaben Laboratorien, eine öffentliche Fachbibliothek sowie Dokumentationseinrichtungen. 8.1.2.2
GewerbeaufsichtĆ
Die Gewerbeaufsicht ist die zweite wichtige Institution des außerbetrieblichen Arbeitsschutzes. Neben dem technischen Arbeitsschutz ist die Gewerbeaufsicht auch für den sozialen Arbeitsschutz zuständig. Grundlage für das Wirken der Gewerbeaufsicht ist das Arbeitsschutzgesetz. Neben den Vorschriften des Arbeitsschutzgesetzes bzw. (noch) einigen geltenden Vorschriften der Gewerbeordnung werden u.a. auch die Vorschriften des Geräte- und Produktsicherheitsgesetzes (GPSG), der Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV) und des Ladenschlussgesetzes (LadschlG) überwacht. Die mit der Überwachung betrauten Gewerbeaufsichtsbeamten und Gewerbeärzte haben alle amtlichen Befugnisse der Ortspolizeibehörde, insbesondere das Recht zur jederzeitigen Besichtigung und Prüfung der Anlagen eines Unternehmens (§139b GewO). Zuständigkeitsregelungen, Organisation und Tätigkeit der Gewerbeaufsicht fallen in die Kompetenz der Länder, wobei der Verwaltungsaufbau der Gewerbeaufsicht in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich ist. Im Gegensatz zu den früheren Ämtern für Arbeitsschutz sind viele Gewerbeaufsichten heute in andere Behörden integriert. Die der Gewerbeaufsicht zur Verfügung stehenden rechtlichen Mittel zur Durchsetzung von Anforderungen auf dem Gebiet des Arbeitsschutzes sind x Revisions- und Besichtigungsschreiben,
Arbeitsschutz und betriebliche Gesundheitsförderung
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x Anordnungen und x Zwangsmaßnahmen. Am häufigsten folgt auf eine Betriebsbesichtigung das Revisions- oder Besichtigungsschreiben, das eine Niederschrift über die Betriebsbesichtigung ist. Es enthält, rechtlich noch unverbindlich, die Bezeichnung der vom Unternehmer zu ergreifenden Arbeitsschutzmaßnahmen, verbunden mit dem Ersuchen, diese innerhalb einer bestimmten Frist durchzuführen. Erst wenn der Unternehmer diese Frist und eine evtl. Nachfrist ungenutzt verstreichen lässt, ergeht eine Anordnung. Dieses Vorgehen ist nur möglich, solange von den im Betrieb festgestellten Mängeln keine unmittelbare Gefahr für Leben und Gesundheit der Beschäftigten ausgeht. Ist dies jedoch der Fall, kann durch den Gewerbeaufsichtsbeamten sogar eine Sofortmaßnahme zur Einstellung einer Tätigkeit oder Stilllegung eines Arbeitsplatzes angeordnet werden. 8.1.2.3
BerufsgenossenschaftenĆ
Die Berufsgenossenschaften stellen als gesetzliche Unfallversicherung, neben der Gewerbeaufsicht, die wichtigste außerbetriebliche Institution des Arbeitsschutzes dar. Die ihnen in §1 SGB VII zugewiesenen Aufgabengebiete sind Prävention, Rehabilitation und Entschädigung. §14 SGB VII verpflichtet die Berufsgenossenschaften „mit allen geeigneten Mitteln“ für die Verhütung von Arbeitsunfällen und eine wirksame Erste Hilfe zu sorgen. In diesem Aufgabengebiet arbeiten die Unfallversicherungsträger mit den Krankenkassen zusammen. Das wesentliche Mittel zur Verminderung von Unfallgefahren ist der Erlass der berufsgenossenschaftlichen Unfallverhütungsvorschriften (UVV). Es gibt in der Bundesrepublik zurzeit 23 gewerbliche Berufsgenossenschaften und 31 Unfallkassen der öffentlichen Hand, zusammengeschlossen in der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung. Ein Entwurf der Bundesregierung für ein Reformgesetz sieht Folgendes vor: Bis 2012 soll die Zahl der Berufsgenossenschaften auf neun sinken, die Zahl der Unfallkassen auf einen Träger pro Bundesland und einen bundesunmittelbaren Träger. Die grundlegenden Organisationsprinzipien – Branchengliederung im gewerblichen Bereich, regionale Gliederung im öffentlichen Bereich – bleiben dabei erhalten. Zum Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften gehört das Berufsgenossenschaftliche Institut für Arbeitsschutz (BGIA), welches sich mit den Sachgebieten Forschung, Untersuchung, Entwicklung, betriebliche Messungen und Beratungen, Prüfung und Zertifizierung, Mitwirkung in der Normung sowie Bereitstellung von Fachinformationen auseinandersetzt (BGIA 2006). Im Jahre 2006 waren bei den gewerblichen Berufsgenossenschaften ca. 3 Mio. Unternehmen versichert mit einem Umlagesoll von ca. 9 Mrd. Euro. Die seit 1977 gültigen Berufsgenossenschaftlichen Unfallverhütungsvorschriften und Merkblätter VBG und ZH1 wurden im Zuge der europäischen Harmonisierung überarbeitet und neu bewertet. Eine Übersicht über die aktuellen Berufsgenossenschaftlichen Vorschriften, Regeln, Informationen und Grundsätze sowie
722
Arbeitswissenschaft
dem BGVR-Verzeichnis findet sich in Tabelle 8.1. Anstehende gesetzliche Ergänzungen können beim BMJ eingesehen werden. 8.1.2.4
InnerbetrieblicheĆAkteureĆdesĆArbeitsschutzesĆ
Der „Unternehmer“ ist für den Arbeitsschutz im Unternehmen verantwortlich (u.a. §618 BGB, §§3 bis 14 ArbSchG, §62 Handelsgesetzbuch (HGB), §120 b GewO, §21 SGB VII, §2 BGV A1). Er hat die notwendigen Grundsatzentscheidungen zur Herstellung der Arbeitssicherheit und Durchführung der Unfallverhütung zu treffen, die Aufbau- und Ablauforganisation des Unternehmens entsprechend zu gestalten und die zur Durchführung von Maßnahmen erforderlichen Finanzmittel zur Verfügung zu stellen. Um seine Aufgaben angemessen zu erfüllen, kann der Arbeitgeber „zuverlässige und fachkundige Personen schriftlich damit beauftragen, ihm obliegende Aufgaben nach diesem Gesetz in eigener Verantwortung wahrzunehmen“ (§13 Abs. 2 ArbSchG). Neben dem Unternehmer sind auch die Arbeitnehmer für den Arbeitsschutz und die Arbeitssicherheit an ihrem Arbeitsplatz und ihr eigenes sicherheitsgerechtes Verhalten verantwortlich (§15 ArbSchG). Die in §1 ASiG angesprochenen Ziele, also die sachverständige Anwendung der Arbeitsschutz- und Unfallverhütungsvorschriften, die sachverständige Anwendung arbeitsmedizinischer und arbeitstechnischer Erkenntnisse und der effiziente Einsatz der vorhandenen Mittel im Interesse des Arbeitsschutzes und der Unfallverhütung sind in enger Zusammenarbeit mit dem Betriebsrat zu verwirklichen. So muss z.B. der Betriebsrat bei der Einstellung von Betriebsärzten und Fachkräften gehört werden (§9 ASiG). Aus dem Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) bzw. dem Personalvertretungsgesetz (PersVG) für den Bereich des öffentlichen Dienstes ergibt sich die Verpflichtung des Betriebsrates bzw. Personalrates (§§80, 87, 89 BetrVG und §§68, 75, 81 PersVG) x über die Einhaltung der zugunsten der Arbeitnehmer geltenden Gesetze, Verordnungen, Unfallverhütungsvorschriften, Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen zu wachen, x über Regelungen zur Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten sowie über den Gesundheitsschutz mitzubestimmen und x bei der Bekämpfung von Unfall- und Gesundheitsgefahren die zuständigen Institutionen zu unterstützen. Das Arbeitssicherheitsgesetz ist als eine rahmengesetzliche Regelung zu verstehen, die durch Einzelmaßnahmen und spezifizierte Regelungen in Form von Rechtsverordnungen und Unfallverhütungsvorschriften ausgefüllt werden kann. Für den Einsatz der vorhandenen Mittel sollen Betriebsärzte und Sicherheitsfachkräfte sorgen.
Arbeitsschutz und betriebliche Gesundheitsförderung
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Tabelle 8.1: Berufsgenossenschaftliche Vorschriften, Regeln, Informationen, Grundsätze und neues Verzeichnis (BGHW 2009) Bezeichnung
Beschreibung
BGV Berufsgenossenschaftliche Vorschriften
Diese benennen Schutzziele sowie branchen- oder verfahrensspezifische Forderungen an den Arbeits- und Gesundheitsschutz. Sie haben, wie bisher die Unfallverhütungsvorschriften, rechtsverbindlichen Charakter und werden von der Vertreterversammlung der Berufsgenossenschaft beschlossen. Die Vorschriften werden in die Kategorien x A (Allgemeine Vorschriften/Betriebliche Arbeitsschutzorganisation) x B (Einwirkungen) x C (Betriebsart/Tätigkeiten) und x D (Arbeitsplatz/Arbeitsverfahren) eingeteilt. Sie sind Unfallverhütungsvorschriften im Sinne des § 15 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) ohne Durchführungsanweisungen mit Begründung BG-Regeln dienen der Konkretisierung und Erläuterung von BG-Vorschriften und staatlichen Arbeitsschutzvorschriften. Sie enthalten selbst keine neuen Anforderungen sondern das, was früher in Durchführungsanweisungen aufgenommen wurde sowie zusätzliches berufsgenossenschaftliches Erfahrungsgut, wie beispielhafte Lösungsansätze, Erläuterungen, Bezüge zu staatlichen Vorschriften, Technische Regeln und Normen. BG-Regeln beinhalten somit allgemein anerkannte Regeln für Sicherheit und Gesundheitsschutz. In dieser Ebene werden spezielle Veröffentlichungen für bestimmte Branchen, Tätigkeiten, Arbeitsmittel, Zielgruppen etc. zusammengefasst. Während die Schriften der ersten beiden Ebenen von berufsgenossenschaftlichen Fachausschüssen erarbeitet werden, sind für die BG-Informationen die Einzelberufsgenossenschaften zuständig. Nicht zu den BG-Regeln oder BG-Informationen gehören Grundsätze für die Prüfung von technischen Arbeitsmitteln oder arbeitsmedizinische Grundsätze, deshalb werden BG-Grundsätze (BGG) besonders bezeichnet.
BGR Berufsgenossenschaftliche Regeln
BGI Berufsgenossenschaftliche Informationen BGG Berufsgenossenschaftliche Grundsätze BGVR Neues Verzeichnis
Die beiden bisher bestehenden Verzeichnisse "VBG" und "ZH 1" werden in einem neuen BGVR-Verzeichnis (BG-Vorschriften und -Regeln) zusammengefasst. Für eine Übergangszeit werden die neuen und alten Nummerierungen parallel erkennbar sein, alle Veröffentlichungen sind im Übergangszeitraum auch unter der bisherigen Bestellnummer erhältlich.
Betriebsärzte sollen den Arbeitgeber bei sämtlicher Planung, Ausführung und Unterhaltung der Arbeitsstätten, Arbeitsmittel, Arbeitsverfahren und Arbeitsstoffe, die in Zusammenhang mit arbeitsmedizinischen Belangen stehen, beraten. In diesem Zusammenhang werden in §3 ASiG insbesondere arbeitsphysiologische, arbeitspsychologische, ergonomische und arbeitshygienische Fragen angesprochen. Neben den vorgenannten objektbezogenen Aufgaben sollen die Betriebsärzte Arbeitnehmer untersuchen, medizinisch beurteilen, die Ergebnisse erfassen und auswerten, d.h. den subjektbezogenen Gesundheitsstatus dokumentieren und ggf. positiv beeinflussen. Nicht zu den Aufgaben der Betriebsärzte gehört die medizinische Betreuung der Arbeitnehmer.
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Arbeitswissenschaft
Die Aufgaben der Fachkräfte für Arbeitssicherheit sind im §6 ASiG geregelt. Diese Fachkräfte haben Beratungsrecht in allen Fragen der Arbeitssicherheit einschließlich der menschengerechten Gestaltung der Arbeit, im einzelnen bei der Planung, der Ausführung und Unterhaltung von Arbeitsstätten, beim Einsatz von Arbeitsstoffen und weiteren Fragen der Ergonomie. Desweiteren sollen die Fachkräfte auf die Beseitigung festgestellter objektbezogener Mängel hinwirken und auf eine positive Verhaltensänderung der Arbeitnehmer hinsichtlich der Anforderungen des Arbeitsschutzes einwirken (HVBG 1995, ArbSchG). Die Bestellung von Betriebsärzten und Sicherheitsfachkräften richtet sich nach der Betriebsart und der damit für den Arbeitnehmer verbundenen Unfall- und Gesundheitsgefahr, nach der Zahl der beschäftigten Arbeitnehmer, der Zusammensetzung der Arbeitnehmerschaft und der Betriebsorganisation, insbesondere im Hinblick auf die Zahl und die Art der für den Arbeitsschutz und die Unfallverhütung verantwortlichen Personen. Diese, in §2 bzw. §5 ASiG noch unbestimmt formulierten Kriterien sind von den Berufsgenossenschaften durch einheitliche Unfallverhütungsvorschriften näher ausgeführt worden (BGV A6 für Sicherheitsfachkräfte und BGV A7 für Betriebsärzte). 8.1.2.5
LeistungenĆderĆVersicherungenĆ
In der Gesetzlichen Unfallversicherung gibt es die Versicherungsfälle Arbeitsunfall, Wegeunfall und Berufskrankheit. Voraussetzung für die Leistungspflicht der Berufsgenossenschaften ist, dass der Verletzte oder Erkrankte zum Kreis der versicherten Personen gehört und dass ein Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit vorliegt. Ein Unfall ist ein von außen auf den Menschen einwirkendes, körperlich schädigendes, zeitlich begrenztes Ereignis. Ein Arbeitsunfall ist ein Unfall, den ein Versicherter bei der Arbeit erleidet, ein Wegeunfall ist ein Unfall auf dem Weg zu oder von dem Ort der Arbeit (§8 SGB VII). Berufskrankheiten sind solche Krankheiten, „die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind“ (§9 SGB VII). Die Bundesregierung legt in der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung fest, welche Krankheiten als Berufskrankheit anerkannt werden können (derzeit 67 Krankheiten). Im Gegensatz zu anderen Krankheiten wird die Klassifizierung der Berufskrankheiten anhand des Auslösers und nicht anhand der Symptome vorgenommen. Tabelle 8.2 gibt einen Überblick über die Zahl der Arbeitsunfälle, Wegeunfälle und Berufskrankheiten im Bereich der gewerblichen Berufsgenossenschaften seit 1950.
Arbeitsschutz und betriebliche Gesundheitsförderung
725
Tabelle 8.2: Arbeitsunfälle, Wegeunfälle und Berufskrankheiten im Bereich der gewerblichen Berufsgenossenschaften seit 1950 (HVBG 2007) 1950
1960
1970
1980
1990
2000
2006
Meldepflichtige Arbeitsunfälle
879.146
2.262.929
2.010.395
1.541.214
1.331.395
1.144.262
833.502
Meldepflichtige Wegeunfälle
69.141
248.474
215.692
161.292
155.817
177.347
158.769
Meldepflichtige Unfälle insgesamt
948.287
2.511.403
2.226.087
1.702.506
1.487.212
1.321.609
992.271
Anzeigen-auf-Verdacht einer Berufskrankheit
35.262
31.502
23.160
40.866
51.105
71.172
53.955
Erstmals entschädigte Arbeitsunfälle
45.257
57.490
51.496
40.051
30.142
22.678
16.874
Erstmals entschädigte Wegeunfälle
5.386
15.545
14.773
10.418
7.233
6.929
6.146
Erstmals entschädigte Berufskrankheiten
9.622
7.445
4.494
5.613
4.008
4.901
4.549
Erstmals entschädigte Fälle insg.
60.265
80.480
70.763
56.082
41.383
34.508
27.569
Tödliche Arbeitsunfälle
3.564
3.021
2.696
1.807
1.086
825
642
Tödliche Wegeunfälle
696
1.536
1.608
1.048
627
722
475
Tödliche Unfälle insgesamt
4.260
4.557
4.304
2.855
1.713
1.547
1.117
Die Anzahl und Schwere der meldepflichtigen Arbeitsunfälle hängt stark von der Branche ab. Als Kenngrößen für die Anzahl der meldepflichtigen Arbeitsunfälle werden sowohl die Unfallhäufigkeit pro eine Million geleisteter Arbeitsstunden herangezogen, wie auch die Unfallhäufigkeit pro 1000 Vollarbeiter. Ein Arbeitsunfall wird dann meldepflichtig, wenn der Arbeitnehmer so schwer verletzt wird, dass eine Arbeitsunfähigkeit von mehr als 3 Werktagen folgt oder der Arbeitnehmer gar getötet wurde. 8.1.3 8.1.3.1
Rechtsquellen des Arbeitsschutzes EinführungĆ
Die Organisation des Arbeitsschutzes (Abb. 8.3) ist historisch gewachsen. Zum einen findet die Durchführung und Überwachung des Arbeitsschutzes von staatlicher Seite durch die damit beauftragten Institutionen statt (z.B. Überwachung durch die Staatlichen Ämter für Arbeitsschutz / Gewerbeaufsichtsämter – die Namen für diese Institutionen sind länderspezifisch). Zum anderen existieren im selbstverwalteten Bereich die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung: Die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung mit dem x Hauptverband der gewerblichen Unfallversicherung und den x Berufsgenossenschaften in fachlich produktionssystematischer Gliederung und der x Unfallversicherung der öffentlichen Hand sowie x Landwirtschaftliche Berufsgenossenschaften.
726
Arbeitswissenschaft
Selbstverwaltung
privaterBereich
gesetzlicher Rechtsträger
Bundesministerfür Arbeit
StaatlicherBereich– BundundLänder Arbeitsministerund SenatorenfürArbeit
Trägergesetzliche Unfallversicherung
Eingetragene Vereine
Nachgeordnete Fachbehörde
Bundesanstaltfür Arbeitsschutzund Arbeitsmedizin
Ämterfür Arbeitsschutz
Unfallversicherung: • Gewerblich • ÖffentlicheHand • Landwirtschaft
Technische Überwachungsvereine VDI,VDE,DIN Fachverband Arbeitssicherheit
Staatl.Gewerbeärzte Techn.Überw.Ämter
Aufgabenbereich
• Erlassenvon Gesetzen, Verordnungenund technischenRegeln • Fachaufsichtüber BerufsgenossenͲ schaften • GenehmigungUVV
• Durchführungund Überwachungdes Arbeitsschutzes • Fachaufsichtüber BerufsgenossenͲ schaften
• Unfallverhütung • Erlassenvon UnfallverhütungsͲ vorschriften • Leistungendendem Versicherungsgesetz
• Überwachung • Prüfung • Beratung • Normung
Abb. 8.3: Organisation des Arbeitsschutzes
Eine Aufteilung der zurzeit gültigen Rechtsquellen zum Arbeitsschutz kann durch die Unterscheidung der Ziele der verschiedenen Bestimmungen erreicht werden: x Arbeitsschutzbestimmungen mit überwiegend personenbezogenem Charakter o Arbeitszeitschutz o Frauenarbeits-/Mutterschutz o Jugendarbeitsschutz o Schutz Schwerbehinderter o Schutz von Heimarbeitern o Schutz älterer Arbeitnehmer. x Arbeitsschutzbestimmungen mit personenbezogenem und technischem Charakter o Unfallverhütungsvorschriften der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung (über SGB VII) o Verordnung von Fachpersonal an Betriebe (über Arbeitssicherheitsgesetz). x Arbeitsschutzbestimmungen mit überwiegend technischem Charakter o o o o o o 8.1.3.2
Arbeitsschutzgesetz Arbeitsstättenverordnung Betriebssicherheitsverordnung Geräte- und Produktsicherheitsgesetz Chemikaliengesetz Gefahrstoffverordnung. EU-RegelungenĆ
8.1.3.2.1 Gesundheitsschutz und Produktsicherheit Im Jahre 1986 wurde die sog. Einheitliche Europäische Akte verabschiedet. Sie trat am 1. Juli 1987 in Kraft. Hierdurch wurde der Vorbereitung von gemein-
Arbeitsschutz und betriebliche Gesundheitsförderung
727
schaftlichen Maßnahmen im Bereich Gesundheitsschutz und Sicherheit bei der Arbeit ein neuer Anstoß verliehen. Damit wurden zum ersten Mal die Bereiche Gesundheitsschutz und Sicherheit am Arbeitsplatz unmittelbar in den EWGVertrag von 1957 aufgenommen, und zwar durch Einfügen des Artikels 118a der römischen Verträge (neu Artikel 137 des Vertrags von Nizza), der die Verabschiedung von Maßnahmen beschleunigte. Von besonderer Bedeutung für das Schutzniveau in den Mitgliedstaaten ist die Tatsache, dass in den im Rahmen von Artikel 118a (neu 137) verabschiedeten Richtlinien Mindestvorschriften für Gesundheitsschutz und Sicherheit am Arbeitsplatz niedergelegt wurden. Gemäß diesem Grundsatz müssen Mitgliedstaaten ihr Schutzniveau anheben, wenn es niedriger ist als in den festgelegten Mindestvorschriften vorgesehen. Darüber hinaus sind die Mitgliedstaaten befugt, Schutzmaßnahmen einzuführen oder beizubehalten, die strenger sind als diejenigen, die in den Richtlinien vorgeschrieben sind.
Vertrag von Nizza mit den Artikeln 100a (neu 95) und 118a (neu 137)
Binnenmarkt mit einem freien Verkehr von:
Soziale Angelegenheiten
• Personen • Waren • Kapital • Dienstleistungen
Abb. 8.4: EU-Richtlinien
Mit Artikel 100a (neu 95), der ebenfalls durch die Einheitliche Akte eingeführt wurde, wurde die Angleichung der Rechtsvorschriften in den Mitgliedstaaten beabsichtigt. Ziele sind die Beseitigung aller Beschränkungen des Handels im einheitlichen Markt und der grenzüberschreitende freie Güter- und Personenverkehr. Grundsätzlich ist den Mitgliedstaaten durch Artikel 95 nicht gestattet, für ihre Erzeugnisse höhere Standards festzulegen als die in den Richtlinien festgelegten. Artikel 95 und 137 tragen zu einer Verbesserung der Arbeitsumweltbedingungen in den Mitgliedstaaten sowie zu einem gleichwertigen und verbesserten
728
Arbeitswissenschaft
Schutz der Arbeitnehmer bei. Mit Richtlinien im Rahmen von Artikel 95 soll gewährleistet werden, dass sichere Erzeugnisse auf den Markt gebracht werden; mit Richtlinien im Rahmen von Artikel 137 soll sichergestellt werden, dass diese Erzeugnisse gesundheitsverträglich und sicher am Arbeitsplatz verwendet werden. Abb. 8.4 gibt einen Überblick über Verantwortlichkeiten und Implementierungsmodi von relevanten EU-Richtlinien. 8.1.3.3
DeutscheĆRegelungenĆ
Die Richtlinien und Rahmenrichtlinien mit zugehörigen Einzelrichtlinien die durch die Europäische Union erlassen werden, müssen innerhalb einer bestimmten Frist in deutsches Recht umgesetzt werden. Aus den europäischen Richtlinien bzw. Rahmenrichtlinien können z.B. deutsche Gesetze oder auch Verordnungen werden. Die Einzelrichtlinien die zur Konkretisierung der Rahmenrichtlinien erlassen werden, werden in deutschem Recht als Verordnungen umgesetzt. Verordnungen sind Konkretisierungen der deutschen Gesetze. Sowohl Gesetze wie auch Verordnungen sind verbindlich für die Praxis. Als Unterstufe zu Gesetzen und Verordnungen gibt es das sog. „untergesetzliche Regelwerk“. Hierunter fallen u.a. Technische Regeln und Richtlinien. Z.B. sollen die Technischen Regeln für Arbeitsstätten die heute noch gültigen Arbeitsstätten-Richtlinien bis zum Jahr 2010 ersetzen. Neben der Aktualität unterscheiden sich die beiden Formen noch in einem weiteren Punkt: obwohl weder die Technischen Regeln noch Richtlinien rechtswirksam – und damit für die Praxis verbindlich – sind, erfüllen die Technischen Regeln die Vermutungswirkung. Für den Arbeitgeber bedeutet das, dass ein Handeln nach den Technischen Regeln wie ein antizipiertes Rechtsgutachten wirkt und er davon ausgehen kann, dass damit die entsprechende Verordnung passend umgesetzt wird. Im Streitfall ist der Arbeitgeber durch Einhaltung der Technischen Regeln entsprechend rechtlich geschützt. Neben den von staatlicher Seite erlassenen Technischen Regeln gibt es z.B. die Normen. In Deutschland werden z.B. „DIN“ Normen vom „DIN Deutsches Institut für Normung e.V.“, einer nichtstaatlichen Einrichtung, erlassen. Normen, egal ob DIN, EN oder ISO, sind grundsätzlich nicht verbindlich für die Umsetzung und bilden nur einen Leitfaden für die Praxis. DIN-Normen werden verbindlich durch Bezugnahme, z.B. in einem Vertrag zwischen privaten Einrichtungen oder in Gesetzten und Verordnungen. Letzteres geschieht z.B., wenn europäische Normen auf der Grundlage einer EU-Richtlinie durch das europäische Amtsblatt harmonisiert – bekannt gemacht – wurden. Dann ist die Umsetzung in eine deutsche Norm innerhalb einer Frist verpflichtend. Ebenso der Charakter der entsprechenden Norm. Diese verbindlichen Normen erfüllen dann, wie Technische Regeln, die Vermutungswirkung. Eine Übersicht über die Rechtshierarchie bietet Abb. 8.5.
Arbeitsschutz und betriebliche Gesundheitsförderung
729
Rahmenrichtlinie (EU)
Einzelrichtlinie ((EU)) Gesetze (D) Verordnungen (D)
Untergesetzliches Regelwerk (D) Technische Regeln Richtlinien ((bis 2010)) Normen (DIN, EN, ISO)
Abb. 8.5: Rechtshierarchie für die Regelungen zum Arbeitsschutz
In einigen Fällen kann es vorkommen, dass gleichzeitig mehrere Rechtsvorschriften greifen. „Wird eine Maßnahme von mehreren Rechtsvorschriften geregelt, so gilt der Grundsatz der Einhaltung des höheren Schutzniveaus für die Beschäftigten“ (BMAS 2008). 8.1.3.3.1 Regelungen zum Gesundheitsschutz Am 12. Juni 1989 wurde die Rahmenrichtlinie 89/391/EWG gemäß Artikel 118a der römischen Verträge in Kraft gesetzt. Sie betrifft die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeit. Sie verfolgt den Grundsatz, dass der Arbeitgeber verpflichtet ist, für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer in Bezug auf alle Aspekte, welche die Arbeit betreffen, zu sorgen. Die Beschäftigen sind verpflichtet, nach ihren Möglichkeiten mitzuwirken und für ihre Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit selbst Sorge zu tragen. Alle Mitgliedsstaaten der EU waren und sind verpflichtet, die Richtlinie in nationales Recht umzusetzen. 8.1.3.3.2 Regelungen zum Arbeitsschutz Am 21. August 1996 trat das deutsche Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG 1996) in Kraft. Hiermit wurde die Rahmen-Richtlinie 89/391/EWG in nationales Recht umgesetzt. Das Gesetz gilt für alle privaten und öffentlichen Tätigkeitsbereiche, ausgenommen die Hausangestellten und einige wenige weitere Tätigkeitsbereiche, für die entsprechende Rechtsvorschriften bestehen. Im Gesetz wird ein weiter Rahmen
730
Arbeitswissenschaft
gesteckt, in dem sich der Schutz der Beschäftigten auf faktisch alle Tätigkeitsbereiche erstreckt und alle Aspekte einbezieht, die die Arbeit betreffen. Der ganzheitliche Ansatz des Arbeitsschutzgesetzes basiert auf fünf Grundsätzen: (1) Prävention (2) Betriebsorientierung (3) Anpassung an den Stand der Technik (4) aktive Rolle der Beschäftigten (5) Kooperationsprinzip. Die dem Arbeitgeber zugewiesene Verantwortung ist weit gefasst und erstreckt sich auf alle Maßnahmen der Organisation, Durchführung und Verbesserung des betrieblichen Arbeitsschutzes. Bei der konkreten Ausgestaltung des betrieblichen Arbeitsschutzes haben Präventionsstrategien Vorrang, die aufgrund einer vorausschauenden Risikoabschätzung helfen, Unfälle, Berufskrankheiten sowie arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren zu vermeiden (LEHMANN 2007). Wesentlich im Arbeitsschutzgesetz ist die Festlegung, dass „bei Maßnahmen der Stand von Technik, Arbeitsmedizin und Hygiene sowie sonstige gesicherte arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse zu berücksichtigen“ sind. Es ist eine Gefährdungsbeurteilung vorzunehmen, die zu dokumentieren ist. In Abb. 8.6 ist ein Auszug aus dem Arbeitsschutzgesetz dargestellt.
Abb. 8.6: Auszug aus dem Arbeitsschutzgesetz
Arbeitsschutz und betriebliche Gesundheitsförderung
731
8.1.3.3.3 Produktsicherheit Die EU-Maschinenrichtlinie (89/392/EWG) wurde durch die neunte Verordnung zum Gerätesicherheitsgesetz vom 12.5.1993 in nationales Recht umgesetzt. Ab dem 29.12. 2009 tritt die novellierte Maschinenrichtlinie 2006/42/EG in Kraft, die bis zum 29. Juni 2008 von den EU-Mitgliedstaaten in nationales Recht umzusetzen ist. Die Ausgestaltung der Richtlinie durch technische Details erfolgt mit Hilfe europäischer (CEN) Normen auf Basis des Artikels 95 des Vertrages von Nizza. Dabei kann auf vorhandene nationale (z.B. DIN) und internationale (ISO) Normen zurückgegriffen werden. Im Gegensatz zur Umsetzung der Richtlinien im Rahmen des Artikels 137 des Vertrages von Nizza die in allen Mitgliedstaaten unterschiedlich gestaltet sein können und die es gestatten, in den einzelnen Ländern ein höheres Schutzniveau vorzuschreiben, dürfen nationale Normen im Hinblick auf etwaige Handelshemmnisse keine höheren Sicherheitsanforderungen festlegen, als die in den relevanten CEN-Normen genannten. Europäische Normen sind stets in gleichlautende nationale Normen umzusetzen. Widersprechende nationale Normen müssen zurückgezogen werden. In einer Übereinkunft verpflichten sich CEN und ISO darüber hinaus, keine widersprechenden Normen zu verabschieden und wann immer möglich, bestehende Normen der anderen Institution zu übernehmen. Die im Rahmen der nach Artikel 100a der römischen Verträge erstellten bzw. entstehenden CEN-Normen (insbesondere EN 1005 „Sicherheit von Maschinen – Menschliche körperliche Leistung“) beinhalten Analysemethoden für physische Arbeitsbelastungen und stellen ein wesentliches Methodeninventar dar. Sie wenden sich an den Konstrukteur von Maschinen und sollen dem Maschinenbenutzer ein Mindestmaß an Gesundheitsschutz und Sicherheit garantieren. CEN-Normen im Rahmen der Maschinenrichtlinie x x x x x
sind harmonisierte Normen gemäß Artikel 100a der römischen Verträge, sind hierarchisch in einem dreistufigen System gegliedert, wenden sich an den Konstrukteur (nicht an die Tarifvertragsparteien), zielen auf eine beabsichtigte Benutzerpopulation ab, berücksichtigen den beabsichtigten Gebrauch der Maschine (einschließlich des vorhersehbaren Missbrauchs) und x sollen eine Risikoanalyse auf der Basis eines Drei-Zonen-Modells ermöglichen. Sicherheitsnormen werden gemäß CEN GUIDE 414 in drei Hierarchieebenen eingeteilt (Abb. 8.7 und Tabelle 8.3) und fordern vom Konstrukteur eine Risikobewertung als „umfassende Einschätzung der Wahrscheinlichkeit und des Schweregrades der möglichen Verletzung oder Gesundheitsschädigung in einer Gefährdungssituation, um so geeignete Sicherheitsmaßnahmen auszuwählen“.
732
Arbeitswissenschaft
Typ A Sicherheitsgrundnormen • Grundbegriffe • Gestaltungsleitsätze • (für alle Maschinen) Typ B Sicherheitsgruppennormen Typ B1 S Spezielle i ll Si Sicherheitsaspekte h h i k Typ B2 Sicherheits-Einrichtungen Typ C Maschinensicherheitsnormen Spezielle Maschinen - Maschinengruppen
Abb. 8.7: Hierarchiestufen der Sicherheitsnormen nach CEN GUIDE 414 Tabelle 8.3: Sicherheitsgrund- und -gruppennormen
Sicherheitsgrundnormen (Typ A) DIN EN ISO 12100 EN ISO 14121
Sicherheitsgruppennormen (Typ B) DIN EN 547 DIN EN 1005 DIN EN 614 DIN EN 894
Die Risikobewertung bezieht sich auf die Konstruktion einer Maschine, wobei alle Phasen der Produktlebensdauer von der Herstellung bis zur Entsorgung berücksichtigt werden. Das sind Bau, Transport, Aufbau, Installation, Einstellung, Programmierung, Inbetriebnahme, Gebrauch, Verfahrensänderung, Umrüsten, Reinigung, Fehlersuche, Instandhaltung, Außerbetriebnahme, Abbau, Demontage und, sofern die Sicherheit betroffen ist, auch Entsorgung. Die Risikobewertung schließt den Entwurf von Anleitungen bezüglich aller oben erwähnten Phasen der Maschine ein. Dabei ist die bestimmungsgemäße Verwendung einer Maschine – inklusive vorhersehbaren Missbrauchs – zu berücksichtigen. Das „Risiko“ (bezogen auf die betrachtete Gefährdung) ist dabei eine Funktion des Ausmaßes des möglichen Schadens (durch die betrachtete Gefährdung) und der Wahrscheinlichkeit des Eintritts dieses Schadens (Häufigkeit und Dauer der Gefährdungsexposition, Eintrittswahrscheinlichkeit des Gefährdungsereignisses, Möglichkeit zur Vermeidung oder Begrenzung des Schadens). Das Ergebnis einer Risikoanalyse ist die Bewertung der vorgefundenen Arbeitssituation auf Basis des Ampelschemas: grün - gelb - rot (siehe DIN EN 614).
Arbeitsschutz und betriebliche Gesundheitsförderung
733
Identifizierung der Gefährdungen Risikoeinschätzung Risikobewertung
Risikobeurteilung g
Bestimmungen der Maschinengrenzen
Risikoan nalyse
Abb. 8.8 gibt eine Übersicht der Begriffe zur Risikobeurteilung in CENNormen.
Risikominderung falls erforderlich Abb. 8.8: Risikobeurteilung nach DIN EN ISO 14121-1
Nach DIN EN ISO 14121-1 wird das Risiko wie folgt gezeigt definiert: R
f ( S , EG , EE , EM )
(8.1)
Hierbei steht die abhängige Variable R für das Risiko bezogen auf die betrachtete Gefährdung. R hängt von folgenden Größen ab: S dem Schadensausmaß, welches aus der betrachteten Gefährdung verursacht werden kann EG der Eintrittswahrscheinlichkeit des Schadens bezüglich der Gefährdungsexposition von Personen EE der Eintrittswahrscheinlichkeit des Schadens bezüglich des Eintritts des Gefährdungsereignisses EM der Eintrittswahrscheinlichkeit des Schadens bezüglich der Möglichkeiten zur Vermeidung oder Begrenzung des Schadens. Das Ausmaß und die Eintrittswahrscheinlichkeit des Schadens kann nach dieser Risikodefinition durch folgende Kriterien eingeschätzt werden: x Ausmaß des möglichen Schadens durch die betrachtete Gefährdung o Art des zu schützenden Gutes (Personen, Sachen, Umwelt) o Ausmaß der Verletzung / Schädigung: leicht (reversibel), schwer (irreversibel), tödlich o Schadensumfang (eine oder mehrere Personen betroffen) x Häufigkeit & Dauer der Gefährdungsexposition o Notwendigkeit, Art & Häufigkeit des Zugangs
734
Arbeitswissenschaft
o Verweilzeit im Gefahrenbereich o Anzahl der Personen pro Zugang x Eintrittswahrscheinlichkeit eines Gefährdungsereignisses o Zuverlässigkeits- und andere statistische Daten, Daten über Gesundheitsschädigungen o Unfallgeschichte, Risikovergleiche o technisch oder menschlich bedingt x Möglichkeit zur Vermeidung oder Begrenzung des Schadens o Art der Maschinenbedienung o Eintretensgeschwindigkeit des Ereignisses o Risikobewusstsein, menschliche Möglichkeiten zur Schadensvermeidung oder Begrenzung, Praktische Erfahrungen und Kenntnisse. 8.1.3.4
PersonenbezogenerĆArbeitsschutzĆ
8.1.3.4.1 Fürsorgepflicht Die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers ist eine übergeordnete, den Arbeitsschutz betreffende Pflicht (§618 BGB): „Der Dienstberechtigte hat Räume, Vorrichtungen oder Gerätschaften, die er zur Verrichtung der Dienste zu beschaffen hat, so einzurichten und zu unterhalten und Dienstleistungen, die unter seiner Anordnung oder seiner Leitung vorzunehmen sind, so zu regeln, dass der Verpflichtete gegen Gefahr für Leben und Gesundheit soweit geschützt ist, als die Natur der Dienstleistung es gestattet.“ Im Arbeitsschutzgesetz (§§3 bis 14) werden die Pflichten des Arbeitgebers detailliert beschrieben. Weitere Hinweise finden sich in der GewO. 8.1.3.4.2
Arbeitszeitschutz Das Arbeitszeitgesetz (ArbZG) stellt den Gesundheitsschutz der Beschäftigten durch die Arbeitszeitgestaltung sicher (siehe auch Kap. 6). Es dient dazu, die Rahmenbedingungen für flexible Arbeitszeiten zu verbessern und begrenzt die tägliche Höchstarbeitszeit. Die Grenze für die Höchstarbeitszeit ist auf acht Stunden festgelegt, wobei Ausnahmen für Beschäftigte in der Landwirtschaft, Behandlung, Betreuung und Pflege von Personen, sowie für alle Beschäftigten im öffentlichen Dienst gelten. Im Arbeitszeitgesetz sind Mindestruhepausen während der Arbeit und Mindestruhezeiten nach Arbeitsende festgelegt. Für Beschäftigte in Schicht- und Nachtarbeit ist „die Arbeitszeit der Nacht- und Schichtarbeitnehmer nach den gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen über die menschengerechte Gestaltung der Arbeit festzulegen.“ Beschäftigungseinschränkungen für nicht schwangere Frauen sind weggefallen. Die Sonn- und Feiertagsruhe wird durch ein grundsätzliches Beschäftigungsverbot geschützt. Ausnahmen sind detailliert aufgeführt nach dem Prinzip „sofern die Arbeiten nicht an Werktagen vorgenommen werden können“, wie z.B. Feuer-
Arbeitsschutz und betriebliche Gesundheitsförderung
735
wehr, Krankenhäuser, Gaststätten, Verkehrsbetriebe und andere. Für Arbeit an Sonn- und Feiertagen steht den Beschäftigten i.A. ein Ersatzruhetag zu. 8.1.3.4.3 Mutterschutz Das Gesetz zum Schutz der erwerbstätigen Mutter (MuSchG) gilt für werdende und stillende Mütter und verbietet „schwere körperliche Arbeiten und Arbeiten, bei denen sie schädlichen Einwirkungen von gesundheitsgefährdenden Stoffen oder Strahlen von Staub, Gasen oder Dämpfen, von Hitze, Kälte oder Nässe, von Erschütterungen oder Lärm ausgesetzt sind.“ Regelmäßiges Handhaben von Lasten von mehr als fünf kg Masse oder gelegentliches Handhaben von mehr als zehn kg Masse sind nicht zulässig. Es gilt ein Verbot von Mehrarbeit, Nachtarbeit, Akkordarbeit und Sonntagsarbeit. Nachtarbeit ist bei werdenden Müttern als Zeit zwischen 20 Uhr und 6 Uhr definiert. Zusätzlich gilt ein Beschäftigungsverbot für werdende Mütter in den letzten sechs Wochen vor der Geburt. Dieses Beschäftigungsverbot kommt nicht zur Anwendung, wenn sich die werdende Mutter ausdrücklich dazu bereiterklärt weiter zu arbeiten. Diese Erklärung kann jedoch jederzeit zurückgezogen werden. Neben den schädlichen Einwirkungen, wird durch das MuSchG auch die Körperhaltung bei Schwangeren geregelt. Ein Beschäftigungsverbot besteht für Arbeiten, bei denen die werdende Mutter (nach dem 5. Monat) mehr als vier Stunden pro Tag stehen muss, sich ständig strecken oder beugen muss. Nach der Entbindung besteht ein Beschäftigungsverbot von acht Wochen. Dieses Beschäftigungsverbot verlängert sich auf zwölf Wochen bei Zwillings- und Mehrlingsgeburten. Stillt eine Mutter ihr Kind, so stehen ihr Stillpausen von zweimal 30 Minuten bzw. einmal 60 Minuten pro Tag zu. Diese Stillpausen dürfen nicht zu Entgeltverlust führen. Das MuSchG beinhaltet einen Kündigungsschutz für werdende Mütter und Mütter bis zu vier Monate nach der Entbindung, sofern dem Arbeitgeber die Schwangerschaft zum Zeitpunkt der Entlassung bekannt war. Zusätzlich sind Versorgungsleistungen wie Mutterschaftsgeld geregelt. 8.1.3.4.4 Kinder- und Jugendarbeitsschutz Die Begriffe „Kinder“ und „Jugendliche“ werden im Jugendarbeitsschutzgesetz (JArbSchG) zeitlich abgegrenzt: x Kind ist, wer noch nicht 15 Jahre alt ist oder vollzeitschulpflichtig ist x Jugendlicher ist, wer 15, aber noch nicht 18 Jahre alt ist. Kinderarbeit ist generell verboten, wobei Ausnahmen lediglich zum Zweck der Beschäftigungs- und Arbeitstherapie und im Rahmen eines Betriebspraktikums zulässig sind. Weiterhin bestehen unter bestimmten Voraussetzungen Ausnahmen für kulturelle Veranstaltungen (z.B. Theateraufführungen, Rundfunk-, Foto- und Filmaufnahmen). Für Jugendliche gelten Einschränkungen des Arbeitszeitgesetzes über Dauer der Arbeitszeit, Pausen, Verbot von Nachtarbeit, Samstags-, Sonntagsund Feiertagsarbeit mit restriktiven Ausnahmen, Verbot von gefährlichen Arbeiten
736
Arbeitswissenschaft
und Verbot von Akkordarbeit. Das Verbot von Nachtarbeit bezieht sich auf die Arbeitszeit von 20 Uhr bis 6 Uhr. Ausnahmen gibt es für Schichtbetriebe, Gaststätten, landwirtschaftliche Betriebe etc. Die Ausführung gefährlicher Arbeiten und die Akkordarbeit kann Jugendlichen gewährt werden, wenn dadurch ein Ausbildungsziel erreicht wird und die Aufsicht durch eine fachkundige Person gewährleistet ist. Im JArbSchG ist geregelt, wie die Arbeitszeiten bei Auszubildenden zu gestalten sind. Als Höchstarbeitszeit werden acht Stunden pro Tag genannt. Eingeschränkt wird die Arbeitszeit durch Unterricht an Berufsschulen, der die wöchentliche Arbeitszeit nicht verlängert und an deren Stelle tritt. Eine weitere Ausnahme von der acht Stunden Arbeitszeit stellen die Schichtzeiten dar. Schichtzeit ist die tägliche Arbeitszeit unter Hinzurechnung der Ruhepausen. Hierunter fallen Beschäftigungen im Bergbau unter Tage (acht Stunden) und für die Beschäftigung in Gaststätten, in der Tierhaltung etc. elf Stunden pro Schicht. Die Beschäftigung der Jugendlichen ist auf fünf Tage pro Woche begrenzt. Die zwei Ruhetage sollen nach Möglichkeit nacheinander folgen. Die Beschäftigung an Sams- und Sonntagen ist nur in ausgewählten Bereichen erlaubt (z.B. Gaststättengewerbe). Dabei ist zu beachten, dass mindestens zwei Sonntage pro Monat beschäftigungsfrei sein müssen. 8.1.3.4.5 Schwerbehinderte Das Schwerbehindertengesetz ist per 01.10.2001 in das Sozialgesetzbuch IX (SGB IX), Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen, eingestellt worden. Die wesentlichen Einzelvorschriften gelten unverändert. „Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist“ (SGB IX). Schwerbehinderte im Sinne des Gesetzes sind Personen, die körperlich, geistig oder seelisch behindert und infolge ihrer Behinderung in ihrer Erwerbsfähigkeit nicht nur vorübergehend um wenigstens 50% gemindert sind. Für diesen Personenkreis besteht eine Beschäftigungspflicht. Arbeitgeber, die über mindestens 20 Arbeitsplätze verfügen, haben auf wenigstens 5% davon Schwerbehinderte zu beschäftigen. Für jeden unbesetzten Pflichtplatz ist monatlich eine Ausgleichsabgabe zu entrichten. Die Ausgleichsabgabe je unbesetzten Arbeitsplatz ist umso höher, je geringer der Prozentsatz der angebotenen Arbeitsplätze ist. Die Arbeitsplätze sind individuell zu gestalten, orientiert an der jeweiligen Behinderung eines jeden Einzelnen. Es besteht die Möglichkeit von Zuschüssen für die Einrichtung oder Umgestaltung von Arbeitsplätzen. 8.1.3.4.6 Heimarbeiter Das Heimarbeitsgesetz (HAG) verfolgt im Wesentlichen das Ziel, Heimarbeiter, Hausgewerbetreibende und ihnen gleichgestellte Personen (z.B. mithelfende Familienangehörige) einen den sonstigen Arbeitnehmern entsprechenden Status zu
Arbeitsschutz und betriebliche Gesundheitsförderung
737
verschaffen. Daraus ergeben sich eine Reihe von Pflichten für den Auftraggeber und Rechte für die in Heimarbeit Beschäftigten. Neben Regelungen über Entgelt, Kündigungsfristen und anderes ist wesentlich, dass „Werkzeuge und Geräte so beschaffen, eingerichtet und unterhalten werden und die Arbeiten so ausgeführt werden, dass keine Gefahren für Leben und Gesundheit der Beschäftigten und ihrer Mitarbeiter entstehen.“ 8.1.3.5
GestaltungĆvonĆArbeitsstätten,ĆArbeitsumgebungĆundĆArbeitsmittelnĆ
Grundlage für die Gestaltung von Arbeitsstätten, Arbeitsumgebung und Arbeitsmitteln ist das Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG, siehe 8.4.3) mit den damit verbundenen Verordnungen: x x x x x x x
Arbeitsstättenverordnung (ArbstättV), Lastenhandhabungsverordnung (LasthandhabV), PSA-Benutzungsverordnung (PSA-BV) (Persönl. Schutzausrüstungen), Arbeitsmittelbenutzungsverordnung (AMBV), Bildschirmarbeitsverordnung (BildscharbV), Baustellenverordnung (BaustellV), Betriebssicherheitsverordnung (BetrSichV).
8.1.3.5.1 Arbeitsstättenverordnung Die Neufassung der Arbeitsstättenverordnung vom 25. August 2004 löst die Arbeitsstättenverordnung vom 20. März 1975 ab. Ziel der Reform ist die Modernisierung des Arbeitsstättenrechts. Anstelle starrer Vorgaben sind die Anforderungen allgemeiner formuliert, um unterschiedlichen betrieblichen Anforderungen flexibler gerecht zu werden. Aus der neuen Struktur ergeben sich keine Änderungen der Rechtslage. Ein Vorschriftentext enthält Rahmenbestimmungen, die durch spezielle Vorgaben in einem Anhang konkretisiert werden, und Verfahrensvorschriften. Es besteht ein Ausschuss für Arbeitsstätten, der technische Regeln für Arbeitsstätten ermittelt, die die früheren Arbeitsstättenrichtlinien ablösen. Die Technischen Regeln werden dann vom Bundesministerium für Arbeit bekannt gemacht (TAEGER et al. 2004). Technische Regeln für Arbeitsstätten betreffen Räumlichkeiten, Klima, Beleuchtung, Lärm, sanitäre Einrichtungen. In den genannten Bereichen gibt es zurzeit noch keine technischen Regeln sondern nur Richtlinien. Diese Richtlinien werden jedoch in absehbarer Zeit durch neuere technische Regeln ersetzt werden. Als Hilfe für die Umsetzung der Regelungen zum jetzigen Zeitpunkt sind sog. Handlungshilfen im Umlauf, die durch den Länderausschuss für Arbeitsschutz und Sicherheitstechnik herausgegeben werden. Diese Handlungshilfen stellen eine Übersicht über geltende Regelungen dar und geben konkrete Richtwerte an, die bei der Planung von Arbeitsstätten herangezogen werden können. In der LV 41 „Beleuchtung“ wird z.B. der empfohlene Prozentsatz an Tageslicht bei der Raumgestaltung angeben.
738
Arbeitswissenschaft
8.1.3.5.2 Lastenhandhabungsverordnung Die Lastenhandhabungsverordnung ist die Grundlage für die Beurteilung von Tätigkeiten mit physischer Belastung und enthält allgemeine Hinweise über die „Merkmale, aus denen sich eine Gefährdung von Sicherheit und Gesundheit, insbesondere der Lendenwirbelsäule, der Beschäftigten ergeben kann.“ 8.1.3.5.3 Bildschirmarbeitsverordnung Die Bildschirmarbeitsverordnung regelt, welche Arbeitsplätze in die Gruppe der Bildschirmarbeitsplätze gehören. Unterpunkte der Bildschirmarbeitsverordnung sind Anforderungen zur Beurteilung der Arbeitsbedingungen, der Arbeitsorganisation, zur Untersuchung der Augen und des Sehvermögens sowie die ergonomische Gestaltung von Arbeitsmitteln, Arbeitsumgebung und das Zusammenwirken von Mensch und Arbeitsmitteln. So verlangt die Bildschirmarbeitsverordnung die Verwendung von nicht blendenden Arbeitsmitteln und Flächen, die Nutzung strahlungsarmer Bildschirmgeräte und die ergonomische Gestaltung der Arbeitsmittel. 8.1.3.5.4 Baustellenverordnung Die Baustellenverordnung berücksichtigt die besonderen Bedingungen bei der Arbeit auf Baustellen. Diese Verordnung dient der wesentlichen Verbesserung von Sicherheit und Gesundheitsschutz der Beschäftigten auf Baustellen. 8.1.3.5.5 Betriebssicherheitsverordnung Die Betriebssicherheitsverordnung regelt die Bereitstellung von Arbeitsmitteln durch den Arbeitgeber sowie die Benutzung von Arbeitsmitteln, von denen eine besondere Gefährdung ausgehen kann, deren regelmäßige Prüfung und Überwachung. Bei Arbeitsmitteln handelt es sich u.a. um Druckbehälter und Druckleitungen, Aufzugsanlagen, explosionsgefährdete Bereiche und elektrische Anlagen. Die Betriebssicherheitsverordnung regelt die Einbeziehung der Arbeitsmittel in die Gefährdungsbeurteilung unter Berücksichtigung deren Wechselwirkungen mit anderen Arbeitsmitteln, Arbeitsstoffen und der Arbeitsumgebung. Zusätzlich verpflichtet sie den Arbeitgeber den Arbeitnehmer ausreichend über durch Arbeitsmittel verursachte Gefährdungen zu informieren und, soweit erforderlich, Betriebsanweisungen zur Verfügung zu stellen. 8.1.3.6
ProduktsicherheitĆ
Das Geräte- und Produktsicherheitsgesetz (GPSG) löste am 01. Mai 2004 das Produktsicherheitsgesetz und das Gerätesicherheitsgesetz ab. Damit wurde eine entsprechende europäische Richtlinie in deutsches Recht umgesetzt. Das Gesetz richtet sich an den Konstrukteur und den Hersteller mit der Verpflichtung, nur solche Produkte in den Verkehr zu bringen, die so beschaffen sind, „dass bei bestimmungsgemäßer Verwendung oder vorhersehbarer Fehlanwendung Sicherheit und Gesundheit von Verwendern oder Dritten nicht gefährdet werden.“ Zum Geräte- und Produktsicherheitsgesetz sind weitere detaillierte Verordnungen erlassen worden über die speziellen Sicherheitsanforderungen beim Inverkehr-
Arbeitsschutz und betriebliche Gesundheitsförderung
739
bringen bestimmter Produktgruppen. Insgesamt gibt es elf zusätzliche Verordnungen, die sich mit speziellen Geräte- und Produktgruppen befassen. Beispielhaft sollen hier die Verordnung über das Inverkehrbringen von Sportbooten und die Verordnung zum Inverkehrbringen von Spielzeug genannt werden. 8.1.3.7
GefahrstoffeĆ
Das Chemikaliengesetz (ChemG) dient dazu, Menschen und Umwelt „vor schädlichen Einwirkungen gefährlicher Stoffe und Zubereitungen zu schützen, insbesondere sie erkennbar zu machen, sie abzuwenden und ihrem Entstehen vorzubeugen“ (ChemG). Im Chemikaliengesetz ist geregelt, was einen Stoff ausmacht und wie er zu einem gefährlichen Stoff wird. So werden alle Stoffe die z.B. explosionsgefährlich, giftig oder ätzend sind, als gefährliche Stoffe bezeichnet. Insgesamt werden 15 Eigenschaften aufgeführt, die einen Stoff gefährlich machen können, ausgenommen der gefährlichen Eigenschaften ionisierender Strahlungen. Tabelle 8.4 gibt eine Übersicht über die Eigenschaften. Mit der Einführung des GHS (siehe unten) werden jedoch andere gefährliche Eigenschaften festgelegt. Diese Eigenschaften ergänzen oder ersetzen die heutigen Eigenschaften. Gefahrstoffe sind nicht nur die Stoffe und Zubereitungen, die selbst gefährliche Eigenschaften besitzen, sondern auch jene, die Gefahrstoffe freisetzen oder aus denen Gefahrstoffe beim Umgang entstehen. Im Chemikaliengesetz ist weiterhin die Zuständigkeit einzelner Behörden geregelt, die Kennzeichnung gefährlicher Stoffe sowie die Zulassung neuer Biozidprodukte. Einen weiteren wichtigen Teil des Chemikaliengesetzes stellen Abschnitte zum Schutz der Umwelt und der Beschäftigten dar. Tabelle 8.4: Gefährliche Stoffe und gefährliche Zubereitungen Eigenschaften 1. explosionsgefährlich 2. brandfördernd 3. hochentzündlich 4. leicht entzündlich 5. entzündlich 6. sehr giftig 7. giftig 8. gesundheitsschädlich 9. ätzend 10. reizend 11. sensibilisierend 12. krebserzeugend 13. fortpflanzungsgefährdend 14. erbgutverändernd 15. umweltgefährlich
In der am 1. Oktober 1986 in Kraft getretenen und 1993 überarbeiteten Gefahrstoffverordnung (Verordnung zum Schutz vor gefährlichen Stoffen GefStoffV)
740
Arbeitswissenschaft
wurden Regelungen, die bisher in der Arbeitsstoffverordnung und den Giftverordnungen der Länder verteilt waren, zusammengefasst. Rechtsgrundlage der Gefahrstoffverordnung sind vor allem das Chemikaliengesetz, das Jugendarbeitsschutzgesetz, das Mutterschutzgesetz und das Heimarbeitergesetz. Die Gefahrstoffverordnung wird durch weitere spezifische staatliche Vorschriften, z. B. über explosionsgefährliche und radioaktive Stoffe sowie durch Unfallverhütungsvorschriften ergänzt. Die Gefahrstoffverordnung (GefStoffV) vom 23. Dezember 2004 löst die Verordnung von 1986 ab. Sie gilt „für das Inverkehrbringen von Stoffen, Zubereitungen und Erzeugnissen, zum Schutz der Beschäftigten und anderer Personen vor Gefährdungen ihrer Gesundheit und Sicherheit durch Gefahrstoffe und zum Schutz der Umwelt vor stoffbedingten Schädigungen.“ Die Gefahrstoffverordnung legt die konkreten Pflichten aus dem Chemikaliengesetz und dem Arbeitsschutzgesetz fest. Sie definiert, wann ein Stoff als explosionsgefährlich, giftig, ätzend etc. einzustufen ist und wie dann eine Kennzeichnung stattzufinden hat. Es werden Schutzstufen definiert, die sich nach der Gefährlichkeit der vorhandenen Stoffe richten und entsprechende Schutzmaßnahmen festgelegt. Alle Gefahrstoffe sind zu kennzeichnen. Es besteht die Verpflichtung, vor Verwendung eines jeden Gefahrstoffes zu prüfen, ob ein nicht kennzeichnungspflichtiger Stoff verwendet werden kann. Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es Bestrebungen die Kennzeichnung von Gefahrstoffen weltweit einheitlich zu gestalten. Am 20. Januar 2009 trat das “Globally Harmonized System of Classification and Labelling of Chemicals” (GHS) in Kraft. Bis zum 1. Dezember 2010 ist die Kennzeichnung für Gefahrstoffe nach den neuen Regelungen umzusetzen. Ab dem Jahr 2015 gilt GHS dann auch für Gemische verbindlich. Abb. 8.9 zeigt eine Übersicht über die neuen Kennzeichnungssymbole für Gefahrstoffe. Weitere Informationen über Wirkungen von gefährlichen Arbeitsstoffen finden sich in Kapitel 9.6.2.
Abb. 8.9: Neue Symbole nach dem „Globally Harmonized System of Classification and Labelling of Chemicals” zur Kennzeichnung von Gefahrstoffen.
Arbeitsschutz und betriebliche Gesundheitsförderung
8.1.4
741
Sicherheitstechnische Arbeitsgestaltung
Die sicherheitstechnische Arbeitsgestaltung hat das Ziel, im Rahmen gesetzlicher und betrieblicher Richtlinien Arbeitsabläufe und Produkte so zu planen und zu gestalten, dass Unfälle ausgeschlossen oder soweit wie irgend möglich vermieden werden: Unter Unfallverhütung versteht man „die Gesamtheit aller planmäßigen, zweckgerichteten Maßnahmen zum Verhindern von Unfallfolgen durch Vermeiden von Gefahren, durch Unterdrückung von Gefährdungen, durch Auslösen oder wenigstens teilweises Unterbrechen von Wirkungsketten zwischen Gefährlichkeiten und Schädlichkeiten, so dass Personen und/oder Sachen gar nicht oder höchstens möglichst wenig geschädigt werden“ (ROHMERT 1989). 8.1.4.1
ProduktsicherheitĆ
Der erste und wesentliche Schritt zur sicherheitstechnischen Arbeitsgestaltung ist die Produktsicherheit. Angaben hierzu wurden bereits in Kapitel 8.1.3.6 gemacht. Als Beispiel soll DIN 31001 dienen (Abb. 8.10 bis Abb. 8.12), in der Sicherheitsabstände definiert sind. Anzumerken ist hierbei, dass die zugrundezulegenden Normen und Vorschriften teilweise größere Gestaltungsspielräume gestatten. Das gilt z.B. in den Fällen, wo ablaufbedingt eine Zugriffsmöglichkeit in den Gefahrenbereich der Maschine notwendig ist und dann zwischen einer zu öffnenden Schutztür oder einer Abschrankung mit Sicherheits-Abschaltung gewählt werden kann.
Abb. 8.10: Sicherheitsabstände 1 nach DIN 31001
742
Arbeitswissenschaft
Abb. 8.11: Sicherheitsabstände 2 nach DIN 31001
Abb. 8.12: Sicherheitsabstände 3 nach DIN 31001
Der im November 1982 erschienene Entwurf DIN 31004-1, ersetzt durch DIN VDE 31000-2, definiert die Sicherheitsbegriffe wie nachfolgend angegeben. Die DIN ISO 12100-1 fasst die Begriffe etwas allgemeiner. Die Begriffsanalyse macht deutlich, dass es eine absolute Sicherheit im Sinne einer völligen Gefahrenfreiheit der arbeitenden Menschen nicht gibt.
Arbeitsschutz und betriebliche Gesundheitsförderung
743
Zentrale Sicherheitsbegriffe sind wie folgt: x Sicherheit ist eine Sachlage, bei der das Risiko kleiner als das Grenzrisiko ist. x Grenzrisiko ist das größte noch vertretbare, anlagenspezifische Risiko eines bestimmten technischen Vorganges oder Zustandes. x Risiko wird durch Häufigkeit (Wahrscheinlichkeit) und durch den zu erwartenden Schadensumfang (Tragweite) beschrieben. x Schutz ist die Verringerung des Risikos durch geeignete Vorkehrungen, die entweder die Eintrittshäufigkeit oder den Umfang des Schadens oder beides verringern. 8.1.4.2
DreistufigesĆVorgehenĆ
Bei der sicherheitstechnischen Gestaltung eines Produktes werden die technischen Lösungen wie folgt gegliedert: x Unmittelbare Sicherheitstechnik x Mittelbare Sicherheitstechnik x Hinweisende Sicherheitstechnik. Grundsätzlich ist anzustreben, die Forderung nach Sicherheit durch unmittelbare Sicherheitstechnik zu erfüllen, d.h. eine Lösung zu wählen, die eine Gefährdung von vornherein ausschließt. Ziel ist die Arbeit so zu gestalten, dass weder bei sicherheitsgerechter, noch bei sicherheitswidriger Arbeitsweise Gefährdungen für den Arbeitnehmer auftreten (NEUDÖRFER 2005). Wenn ein solcher Zustand nicht realisiert werden kann, kommt die mittelbare Sicherheitstechnik zur Anwendung, es werden Schutzeinrichtungen vorgesehen. Hierbei müssen die drei folgenden Grundforderungen erfüllt sein. Die Schutzeinrichtungen müssen (1) zuverlässig wirken, (2) zwangsläufig wirksam sein und dürfen (3) nicht umgehbar sein (PAHL u. BEITZ 2005). Die mittelbare Sicherheitstechnik arbeitet z.B. mit Absperrungen, Lichtschranken etc. Vor allem der Forderung, dass mittelbare Sicherheitstechnik nicht umgehbar sein darf, kommt ein großes Gewicht zu, da auch gut durchdachte Sicherheitstechnik, z.B. eine Presse mit Zweihandbedienung, durch Manipulation – z.B. Festklemmen eines Handgriffes – umgangen werden kann. Eine hinweisende Sicherheitstechnik, die nur noch vor Gefahren warnen kann und durch Hinweise auf die Gefahrenstelle aufmerksam macht, soll nur als letzte Möglichkeit angesehen werden, wenn unmittelbare oder mittelbare Lösungen aus technischen oder wirtschaftlichen Gründen ausscheiden. Folgende übergeordnete Grundsätze sicherheitskritischer Konstruktion sind zu berücksichtigen: x Funktionssicherheit x Gestaltungssicherheit
744
Arbeitswissenschaft
x Umweltsicherheit. Hierbei ist zu bemerken, dass integrierte Sicherheitskonstruktionen den Vorrang vor additiven Sicherheitskonstruktionen haben. Folgende sicherheitstechnische Lösungsansätze sind zu unterscheiden: x Technische Gefahren konstruktiv ausschließen (unmittelbare Sicherheitstechnik) x Technische Gefahren konstruktiv abschirmen (mittelbare Sicherheitstechnik). Die folgenden wesentlichen Gesichtspunkte zur Funktionssicherheit im Hinblick auf Arbeitssicherheit sollten bei der Konstruktion berücksichtigt werden: x Werkstoffe und Betriebsstoffe müssen sicherheitsgerecht sein: o Geeigneter Werkstoff o Schutz vor physikalischen und chemischen Beanspruchungen o Leicht brennbare durch feuerfeste Stoffe ersetzen. x Es muss nachgewiesen sein, dass die Konstruktion den zu erwartenden Belastungen gewachsen ist: o Qualitätsüberprüfung der Konstruktion o Steuervorgänge sicherheitsgerecht o Antriebsenergien sicherheitsgerecht o Gefahren durch sich bewegende Teile vermeiden. 8.1.4.3
SicherheitĆeinesĆArbeitssystemsĆ
Für die Sicherheit eines Arbeitssystems sind nach dem TOP-Ansatz die folgenden Voraussetzungen von Bedeutung: T : Technische Voraussetzungen = konstruktiv sind technische Lösungen vorgesehen O : Organisatorische Voraussetzungen = es sind störungsfreie Zustände und Abläufe geplant P : Persönliche Voraussetzungen = der arbeitende Mensch trägt aktiv oder passiv, direkt oder indirekt für sich selbst oder für andere zur Sicherheit bei. Gefährdungen des arbeitenden Menschen sollen mit Mitteln höchster Zuverlässigkeit und Wirksamkeit ausgeschaltet bzw. minimiert werden. Die technischen Voraussetzungen (T) wurden bereits in Kapitel 8.1.4.2 beschrieben. Soweit technische Lösungen nicht möglich oder nicht ausreichend sind, müssen organisatorische Maßnahmen getroffen werden, bei denen z.B. geregelt ist, dass während eines Herstellungsprozesses Personen nicht in den Gefahrenbereich kommen (PIEPER u. VORATH 2005). In Abb. 8.13 ist in einem Ablaufschema dargestellt, wie ein sicherer Zustand eines Arbeitssystems herzustellen ist. Wenn die Gefahr nicht auszuschließen ist, ist eine räumlich-zeitliche Trennung von Mensch und Gefahr vorzunehmen. Dies
Arbeitsschutz und betriebliche Gesundheitsförderung
745
kann durch Schutzeinrichtungen oder Sicherheitsschaltungen erfolgen. Organisatorische Regelungen sind erst der nächste Schritt. Ergänzend dazu werden dann Hinweise und Anleitungen gegeben, die den arbeitenden Menschen in seinem persönlichen Mittun unterstützen. A nfang
1 Mögliche Gefährdungen feststellen 2 Gefahr ausschließen G efahr noch vorhanden?
nein
ja
G efährliches Zusamm entreffen noch m öglich?
nein
ja räum liche oder räum lich-zeitliche Trennung 4 von Mensch und G efahr durch S chutzeinrichtungen oder S icherheits- oder G efahrschaltungen schaffen 5 V oraussetzungen für aktive Sicherheit schaffen 6 Hinweise und Anleitungen vorsehen 7 Rettungseinrichtungen, E rste H ilfe vorsehen
ja nach Art der nicht erfüllten A nforderungen
Unbedingt wirksame (räum liche oder räum lich3 zeitliche) Trennung von Menschen und Gefahr schaffen
8 E rgebnis überprüfen - wie 1 ausreichende S icherheit vorhanden? ja
nein
E nde
Abb. 8.13: Vorgehen bei sicherheitsgerechter Konstruktion (KIRCHNER u. BAUM 1986)
746
Arbeitswissenschaft
8.1.4.4
GefährdungenĆ/ĆRichtlinienĆ
Ursachen für Gefährdungen am Arbeitsplatz und für Unfälle sind vielfältig. Beispiele sind in Abb. 8.14 dargestellt.
Abb. 8.14: Beispielhafte Gefährdungen
Ursachen für Arbeitsunfälle können auf folgende Umstände zurückzuführen sein: x Sicherheitswiedrige Zustände o Technische Mängel: o Schutzvorrichtungen und Sicherheitseinrichtungen o Betriebsmittel o Betriebsanlagen und Einrichtungen o Organisatorische Mängel: o Personaleinsatz o Aufsichts- und Informationsmängel x Sicherheitswidriges Verhalten o Sicherheitswidrige Handlungen o Sicherheitswidrige Unterlassungen x Höhere Gewalt.
Arbeitsschutz und betriebliche Gesundheitsförderung
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8.1.4.4.1 Technische Mängel Technische Mängel können entstehen durch Beschädigungen an vorhandenen Schutzvorrichtungen, wodurch der ursprünglich vorhandene Schutz nicht mehr gewährleistet ist. Hier ist eine regelmäßige Überprüfung notwendig. Für besondere Gefahrenstellen gibt es gesetzliche oder betriebliche Prüfvorschriften, die den Umfang der Überprüfungen und die Zeitintervalle festlegen, in denen Überprüfungen erfolgen müssen, teilweise verbunden mit einer Pflicht zur Dokumentation. Details sind z.B. in der Betriebssicherheitsverordnung für Druckbehälter und elektrische Geräte zu finden. Die gleichen Gefahrenstellen können entstehen durch Manipulation an Schutzvorrichtungen, die vorgenommen werden, weil sie von den Beschäftigten als störend und hinderlich angesehen werden und vermeintlich den Arbeitsablauf verlängern. In diesen Fällen ist eine Belehrung der Beschäftigten über die Notwendigkeit der Schutzmaßnahmen und die mit einer Manipulation verbundenen Gefährdungen notwendig. Anzustreben ist jedoch immer, bei der konstruktiven Gestaltung von vornherein solche Schutzvorrichtungen vorzusehen, die sicheren Schutz gewähren und keine vermeidbare Behinderung bringen. Dann werden die Beschäftigten gar nicht verleitet, Änderungen vorzunehmen. Dies gilt auch, wenn die realisierte Lösung einen konstruktiven und finanziellen Mehraufwand bedeutet. 8.1.4.4.2 Organisatorische Mängel In allen Fällen, in denen technische Lösungen eine Gefährdung nicht vertretbar ausschließen, sind organisatorische Maßnahmen notwendig. Dies gilt insbesondere bei der Personalauswahl, bei der notwendigen Schulung zum richtigen Verhalten in sicherheitsrelevanten Situationen und bei der Überwachung und regelmäßigen Überprüfung der festgelegten Abläufe. Bei der Personalwahl ist auf eine ausreichende Qualifikation des Mitarbeiters zu achten, so dass dieser nicht unwissentlich gegen bestehende Schutzmaßnahmen verstößt. 8.1.4.4.3 Sicherheitswidriges Verhalten Bei sicherheitswidrigem Verhalten unterscheidet man x sicherheitswidrige Handlungen und x sicherheitswidrige Unterlassungen. Sicherheitswidrige Handlungen sind z.B. Manipulationen an Sicherheitseinrichtungen (siehe Kap. 8.1.4.2). Sicherheitswidrige Unterlassungen sind gegeben, wenn vorgeschriebene Überprüfungen sicherheitsrelevanter Einrichtungen nicht im festgelegten Umfang und in den festgelegten Zeitabschnitten erfolgen. Bei den Ursachen für sicherheitswidriges Verhalten wird nach vier Grundprinzipien unterschieden. Je nach dem zu welchem Prinzip ein Verhalten zugeordnet wird, ändert sich auch die entsprechende Maßnahme, die zur Beseitigung des Sicherheitsproblems zu ergreifen ist. Es wird unterschieden nach: x nicht wissen
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Arbeitswissenschaft
x nicht können x nicht wollen x nicht müssen/ dürfen. Unter „nicht wissen“ fallen alle sicherheitswidrigen Verhaltensweisen, die auf Basis mangelnder Information der Arbeitsperson zustande kommen. Hierunter fällt z.B. die Nicht-Beachtung von Betriebsanweisungen. Als Gegenmaßnahme steht hier die Qualifizierung zur Verfügung. Dies kann über Einweisung bei Neuangestellten, erneute Unterweisung bei allen anderen Beschäftigten sowie über Plakate und anderes Informationsmaterial geschehen. Auch Schulungen und Seminare z.B. durch die Berufsgenossenschaften ausgerichtet, können zur Informationsvermittlung beitragen. Es ist durch den Arbeitgeber sicherzustellen, dass alle Beschäftigten Zugang zu den nötigen Informationen für sicherheitsgerechtes Verhalten haben. Manchmal kommt es vor, dass ein Mitarbeiter sich nicht sicherheitsgerecht verhalten konnte, da ihm die nötigen Fähigkeiten fehlen. Hierzu zählen z.B. die richtige Bedienung einer Maschine oder das Einhalten bestimmter Arbeitsabläufe. Um das Können der Mitarbeiter zu fördern ist die Durchführung praktischer Schulungen und Trainings geeignet. Wenn sich zeigt, dass der Beschäftigte auch nach eingehender Schulung nicht das Können im sicherheitsgerechten Umgang mit den Maschinen oder Arbeitsabläufen zeigt, so ist es die Aufgabe des Arbeitgebers, eine geeignete Personalmaßnahme zu treffen. Diese kann in einem anderen Personaleinsatz bestehen. Als Regeln gilt: die richtige Person am richtigen Platz. Im Gegensatz zu den Bereichen „nicht wissen“ und „nicht können“ fällt es schwer im Bereich „nicht wollen“ konkrete Handlungsanweisungen zu geben. Fehler, die durch nicht wollen der Beschäftigten entstehen, sind sozusagen durch mangelnde Motivation verursacht. Hierzu zählt z.B. das Arbeiten ohne persönliche Schutzausrüstung aus Bequemlichkeit. Motivationsmangel kann durch persönliche Betroffenheit abgeschwächt werden. Wichtig ist es den Beschäftigten klar zu machen, warum die geltenden Regeln wichtig sind. Die Wichtigkeit der Regeln ist hierbei für die persönlichen Interessen des Beschäftigten herauszustellen und zusätzlich, aber nicht ausschließlich, für die Interessen des Unternehmens. Den Beschäftigten soll klargemacht werden, welche persönlichen Vorteile sie haben, sich an die geltenden Regeln zu halten bzw. welche persönlichen Nachteile mit einem Regelverstoß einhergehen. Der Punkt „nicht müssen“ bzw. „nicht dürfen“ spricht die Sicherheitskultur im Unternehmen an. Hier geht es darum, wie hoch die Stellung von Sicherheit und Arbeitsschutz im Betrieb ist. Bei nicht müssen wird dem Arbeitsschutz keine große Rolle im betrieblichen Alltag beigemessen. Der Arbeitgeber legt keinen Wert darauf, dass sicherheitsgerecht gearbeitet wird und verhält sich selbst nicht sicherheitsgerecht. Sicherheitswidriges Verhalten der Beschäftigten wird nicht bemängelt. Nicht dürfen geht noch einen Schritt weiter: hier erleiden Beschäftigte sogar Nachteile, wenn sie sich an die Regeln halten und werden vom Vorgesetzten z.B. für langsameres Arbeiten getadelt. In beiden Fällen hilft als Maßnahme nur die Änderung der Sicherheitskultur. Damit Arbeitsschutz bei den Beschäftigten
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749
konsequent durchgesetzt wird, muss der Arbeitgeber selbst den Stellenwert des Arbeitsschutzes für seine Beschäftigten deutlich machen. Erst durch die konsequente Umsetzung aller vier Stufen, also die Information, Schulung, Motivation und Sicherheitskultur, ist eine Einstellungsveränderung bei den Beschäftigten zu erwarten. Diese Veränderung führt zu einer Weiterentwicklung des Arbeitsschutzes, bei dem auch Beschäftigte unter Kollegen für sicherheitsgerechtes Verhalten einstehen. 8.1.4.4.4 Höhere Gewalt Fälle von höherer Gewalt, die zu Unfällen führen, sind nicht auszuschließen, kommen aber glücklicherweise selten vor. Unter höherer Gewalt wird im deutschen Recht ein von außen kommendes, außergewöhnliches und unvorhersehbares Ereignis, das auch durch äußerste Sorgfalt des Betroffenen nicht verhindert werden kann, verstanden. Im industriellen Sinn kann das z.B. ein Maschinenschaden sein. 8.1.4.5
FolgenĆ vonĆ sicherheitsgerechtemĆ /Ć sicherheitswidrigemĆ VerhaltenĆ
Bei der Beurteilung von menschlichem Verhalten und den Konsequenzen daraus im Hinblick auf Arbeitssicherheit ist in erster Linie davon auszugehen, dass nach sachbezogener Schulung und Hinweisen auf Gefahrensituationen die Beschäftigten die Vorschriften beachten und sich situationsgerecht verhalten. Das Verhalten wird jedoch sehr stark beeinflusst durch persönliche Erfahrungen mit unterschiedlichen Arbeitsplatzsituationen. Wenn sich als Folge von sicherheitsgerechtem Verhalten am Arbeitsplatz ein Gefühl der Sicherheit ergibt, sind z.B. Einzugsstellen und Klemmstellen sichtbar, aber nicht erreichbar, ergibt sich eine Tendenz zur Wiederholung und es bildet sich eine sichere Gewohnheit für diese Tätigkeit. Genauso positiv kann das Verhalten durch Einwirkungen von Kollegen und Vorgesetzen geformt werden, wenn diese Bestätigung für das sicherheitsgerechte Verhalten zeigen z.B. Lob für das konsequente Tragen der persönlichen Schutzausrüstung. Es ist jedoch auch möglich, dass ein sicherheitsgerechtes Verhalten keine sichtbare oder subjektive Bestätigung bringt. Es folgt keine Tendenz zur Wiederholung, eine Gewohnheitsbildung bleibt aus. Der problematische Fall ist dann gegeben, wenn mit sicherheitsgerechtem Verhalten Anstrengung und vor allem Zeitverlust verbunden sind. Es bildet sich ein Gefühl des Misserfolges mit einer Änderung des Verhaltens, nämlich nicht sicherheitsgerecht zu arbeiten. Der dann folgende Zeitgewinn wird als Erfolg angesehen, und es bildet sich eine sicherheitswidrige Gewohnheit (Abb. 8.15). Dieses Problem wird noch verschärft, wenn zusätzlich zu dem – subjektiven – Zeitgewinn die Bestätigung von außen kommt. Dies kann z.B. der Vorgesetzte sein, der den Beschäftigten für sein besonders schnelles Arbeiten lobt.
750
Arbeitswissenschaft
Als Folgerung daraus ergibt sich die Notwendigkeit, bei allen sicherheitsrelevanten Maßnahmen diese so zu gestalten, dass sie als notwendige und in sicherheitstechnischer Hinsicht sinnvolle Hilfe angesehen werden und keinen Zeitverlust und zusätzliche Anstrengung bei der Handhabung erfordern. Was ist die Folge von sicherheitsgerechtem Verhalten ?
Gefühl der Sicherheit
„Nichts“
Anstrengung, Zeitverlust, Verärgerung
Bestätigung des Verhaltens
Keine Bestätigung des Verhaltens
Misserfolg
Tendenz zur Wiederholung
Keine Tendenz zur Wiederholung
Änderung des Verhaltens
Bildung sicherer Gewohnheit
Keine Tendenz zur Gewohnheitsbildung
Erfolg, Bestätigung Festigung des sicherheitswidrigen Verhaltens Bildung einer sicherheitswidrigen Gewohnheit
Abb. 8.15: Folgen von sicherheitsgerechtem Verhalten, z.B. Tragen von persönlicher Schutzausrüstung.
Vor allen die Verwendung von persönlicher Schutzausrüstung führt bei den Beschäftigten öfters zu Widerstand, ebenso die Änderung von lange eingeübten Arbeitsabläufen zur Erhöhung der Sicherheit. Für größere Akzeptanz sorgt das Einbeziehen der Beschäftigten in die arbeitsrelevanten Entscheidungen. Dies kann z.B. über die gemeinsame Planung der neuen Arbeitsabläufe erfolgen. Bei der Anschaffung neuer Schutzausrüstung ist auf eine größere Auswahl zu achten, so dass diese nach eigenen Vorlieben gewählt werden kann. Die Situation bei sicherheitswidrigem Verhalten ist – umgekehrt – vergleichbar (Abb. 8.16). Ein Unfall oder Beinahe-Unfall bringt die erlebte Erfahrung, die zur
Arbeitsschutz und betriebliche Gesundheitsförderung
751
Änderung des Verhaltens und zu einer Tendenz zur sicheren Gewohnheit führt. Ohne eine solche Erfahrung bliebe das sicherheitswidrige Verhalten bestehen. Bei einem Zeitgewinn oder einem anderen Erfolg ergibt sich sogar eine Bestätigung und eine Tendenz zur Wiederholung des sicherheitswidrigen Verhaltens, bis ein Unfall oder Beinahe-Unfall zur Überprüfung des Verhaltens zwingt. Als Beispiel kann das Verwenden eines Bürostuhls als Leiterersatz herangezogen werden. Wird der Bürostuhl benutzt um Akten aus einem oberen Schrank zu erreichen und gelingt dies ohne Probleme, so wird das Verhalten bei nächster Gelegenheit wiederholt. Wird dabei das Verhalten durch Kollegen gelobt – Zeitersparnis –, so fühlt sich der Beschäftigte zusätzlich bestätigt und lässt das sicherheitswidrige Verhalten zur Gewohnheit werden. Wenn beim ersten oder einem weiteren Mal jedoch der Drehstuhl wegrutscht und der Beschäftigte einen Unfall oder Beinahe-Unfall erlebt, so stellt sich das Bewusstsein von Gefahr ein. Beim nächsten Mal wird er sein Verhalten an die Sicherheitsregeln anpassen und – wenn er dafür bestätigt wird – eine sichere Gewohnheit ausbilden. Was ist die Folge von sicherheitswidrigem Verhalten ? Unfall, BeinaheUnfall, Bewusstsein von Gefahr
„Nichts“
Bequemlichkeit, Zeitgewinn, Achtungserfolg
Misserfolg
Kein Misserfolg
Bestätigung des Verhaltens
Änderung des Verhaltens
Keine Änderung des Verhaltens
Tendenz zur Wiederholung des sicherheitswidrigem Verhaltens
Tendenz zur sicheren Gewohnheit
Weiter sicherheitswidriges Verhalten
Unfall, BeinaheUnfall, Bewusstsein von Gefahr
Abb. 8.16: Folgen von sicherheitswidrigem Verhalten, z.B. Verwenden eines Drehstuhls als Leiterersatz.
8.1.4.6
GefahrenhinweiseĆ/ĆGeboteĆ
Auf Gefahren wird mit Verboten, Geboten, Warnungen und Hinweisen hingewiesen (Abb. 8.17). Die Farbschemata sind wie folgt:
752
Arbeitswissenschaft
x Verbote haben als dominierende Farbe rot. Piktogramme, Zeichen, Zahlen und Symbole sind schwarz auf weißem Untergrund. Verbote sind streng zu beachten. x Gebote haben als dominierende Farbe blau. Piktogramme, Zeichen, Zahlen und Symbole sind weiß. Gebote sind ebenfalls streng zu beachten. x Warnungen haben als dominierende Farbe gelb. Piktogramme, Zeichen und Symbole sind schwarz. Warnungen weisen auf Gefahrenstellen hin. x Hinweise haben als dominierende Farbe grün. Piktogramme, Zeichen und Symbole sind weiß. Hinweise unterstützen und helfen in besonderen Situationen, sie zeigen Fluchtwege, Erste-Hilfe-Stellen und anderes.
Abb. 8.17: Gefahrenhinweise / Gebote
8.1.4.7
WirtschaftlichkeitĆ
Wenn bei der Produktgestaltung technische Maßnahmen nicht funktionsbedingt sind, sondern gesetzliche oder betriebliche sicherheitstechnische Gestaltungsrichtlinien erfüllen müssen, wird vielfach die Frage nach der Wirtschaftlichkeit gestellt. Insbesondere dann, wenn ohne diese zusätzlichen Funktionen eine Kostenreduktion oder eine nutzerfreundlichere Lösung der Konstruktionsaufgabe möglich wäre. In manchen Fällen kommt bei der Nutzung des Produktes sogar noch eine Prozesszeitverlängerung hinzu, weil der Nutzer Sicherheitseinrichtungen betätigen muss, die den Arbeitsablauf unterbrechen oder verlängern (BÜCHNER u. RENTEL 2003).
Arbeitsschutz und betriebliche Gesundheitsförderung
753
Die Kosten, die für – zusätzliche – sicherheitstechnische Maßnahmen aufzuwenden sind, sind in der Regel einfach und schnell zu ermitteln. Der Nutzen in eingesparten Kosten ist jedoch nur sehr grob zu schätzen. Dies gilt umso mehr, je größer die Möglichkeit eines Fehlverhaltens ist, das wesentlich von der Einstellung jedes einzelnen Benutzers abhängt. Eintrittswahrscheinlichkeit und Schwere eines Unfalls und die damit verbundenen Folgekosten können nur mit einer gewissen Prognoseunsicherheit anhand von Vergangenheitsdaten geschätzt werden. In vielen Fällen werden bei der Funktionsgestaltung die erwarteten Zusatzkosten für sicherheitstechnische Maßnahmen zum Anlass genommen, eine geänderte Funktionslösung zu suchen, die alle sicherheitstechnischen Auflagen erfüllt und keine Mehrkosten verursacht. Hier werden oft Lösungen gefunden, die sogar eine Einsparung an Herstellungskosten des Produktes oder Betriebskosten bei der Nutzung des Produktes, vor allem durch Reduzierung der Prozesszeiten bringen. In diesen und ähnlichen Fällen ist eine traditionelle Wirtschaftlichkeitsrechnung problemlos möglich. 8.2
Betriebliche Gesundheitsförderung
8.2.1
Grundlagen und Handlungsbedingungen
Betriebliches Gesundheitsmanagement gewinnt sowohl in der Industrie als auch im Dienstleistungsbereich stetig an Bedeutung. Das gesteigerte Interesse an diesem Themengebiet begründet sich u.a. durch die erhöhten Anforderungen an die Mitarbeiter und die hohen Kosten bedingt durch Arbeitsausfälle (ULICH 2001 zitiert nach ULICH u. WÜLSER 2005). Das Konzept des betrieblichen Gesundheitsmanagements hat die Verminderung psychosozialer Belastungen, die Verbesserung der Motivation und der Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiter, die Förderung der Identifikation mit dem Betrieb und somit schließlich auch die Unterstützung von Produktivität und Wertschöpfung zum Ziel (BADURA u. HELLMANN 2003; ULICH u. WÜLSER 2005). Diese Zielsetzung steht im Spannungsfeld von ökonomischem Vorgehen auf der einen und humanem Handeln auf der anderen Seite. Um die Ansätze des betrieblichen Gesundheitsmanagements wirksam umsetzen zu können, werden Erkenntnisse der Arbeitswissenschaft sowie der Wirtschaftswissenschaften einbezogen und miteinander verknüpft. 8.2.1.1
Leitlinien:ĆDieĆOttawa-ChartaĆ
Leitlinien bilden neben anderen Quellen die Basis für die Ausbildung von Maßnahmen zur Gesundheitsförderung. Als eine wichtige Grundlage wird die OttawaCharta anerkannt, welche das Ergebnis der Ersten Internationalen Konferenz zur Gesundheitsförderung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von 1986 ist. Laut Ottawa-Charta wird Gesundheitsförderung folgendermaßen definiert: „Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an
754
Arbeitswissenschaft
Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen“ (WHO 1986). Somit entfernt sich die Betrachtung von Gesundheit von der medizinisch-naturwissenschaftlichen Defizitperspektive, welche Gesundheit als bloße Abwesenheit von Krankheit definiert (KLOTTER 1997). Arbeit soll in Anlehnung an Antonovsky einen „gesundheitsförderlichen Aspekt enthalten“ (ANTONOVSKY u. FRANKE 1997). Gesundheitsförderung wird im Rahmen des betrieblichen Gesundheitsmanagements als positives Gestaltungskonzept gesehen, welches über die Vorbeugung von Krankheiten hinausgeht und sich nicht nur auf physische Aspekte von Gesundheit bezieht, sondern auch psychische und soziale Dimensionen betrachtet (BAMBERG et al. 1998). Das Rahmenkonzept der WHO weist der betrieblichen Gesundheitsförderung eine wichtige Rolle zu, indem betont wird, dass „die Art und Weise, wie eine Gesellschaft die Arbeit, die Arbeitsbedingungen organisiert, […] eine Quelle der Gesundheit und nicht der Krankheit“ sein sollte (WHO 1986). Die Bedeutung der Arbeit und der Arbeitsbedingungen für die Gesundheit ist unumstritten (BAMBERG et al. 1998). Hierbei sollten jedoch nicht nur die potenziellen Risiken betrachtet werden, sondern auch die Möglichkeiten, die sich einer Arbeitsperson aus positiv gestalteten Arbeitsbedingungen eröffnen. Arbeit sollte optimalerweise nicht nur einen Risikofaktor darstellen, sondern auch Möglichkeiten zur Entfaltung der Persönlichkeit bieten (siehe Kap. 1.5.2). Letztendlich gilt es, das Wohlbefinden des Mitarbeiters über die Dauer hinweg aufrechtzuerhalten und zu fördern (BAMBERG et al. 1998). Dass die Ansätze der Ottawa-Charta unter dem bestehenden Kostendruck im Bereich der Arbeitsgestaltung schwer umzusetzen sind und auch für die Zukunft Handlungsbedarf besteht, betont ROSENBROOK (1998) in seiner Analyse der Umsetzung der Ottawa-Charta in Deutschland. Als besonders kritisch in Bezug auf die Umsetzung der Leitsätze der Ottawa-Charta wird die Rolle der Krankenkassen gesehen. Diesen wurde Kraft dem §20 des fünften Sozialgesetzbuches (SGB V) der als relativ weitläufig anzusehende Bereich der Verhaltensprävention zugewiesen. Ob die Verhaltensprävention bei den Krankenversicherungen in den richtigen Händen ist, wird angezweifelt (KLOTTER 1997). Außerdem besteht die Kritik an dem aktuellen Vorgehen der Krankenkassen darin, dass sich hinter der Kennzeichnung „Gesundheitsförderung“ eher Marketing zugunsten der Krankenkassen verberge, der Fokus also eher auf Kundenwerbung als auf klassischer Gesundheitsförderung liege. Die durch die Krankenkassen organisierte Verhaltensprävention sieht den Patienten eher als Kunden, der gesundheitsförderliche Grundgedanke muss dem Dienstleistungsgedanken weichen. Nach KLOTTER (1997) „gerät Gesundheitsförderung somit zur Animation“. Die Angebote, wie z.B. „PowerWalking“ und Fitnesstrainings, werden aus Kostengründen ohne vorherige Indikationsstellung für alle Klienten angeboten. Die hier zu erkennenden Problematiken aus dem Spannungsfeld Kostendruck, Effektivität, Zugänglichkeit für alle Versicherte und Eigeninteressen der Krankenkassen sind auch von Seiten des Betriebs zu beobachten. Wie in der späteren Darstellung aufgezeigt wird, kann eine betriebliche Gesundheitsförderung mit bedin-
Arbeitsschutz und betriebliche Gesundheitsförderung
755
gungsbezogenen Interventionen am besten wirksam werden, wenn zusätzlich eine angemessene personenbezogene und somit verhaltensorientierte Intervention gewährleistet werden kann. Die Einflussmöglichkeiten betrieblichen Gesundheitsmanagements sind also nicht nur von den betrieblichen Bedingungen und Bemühungen abhängig, sondern auch durch rechtliche Gegebenheiten eingeschränkt. Dieses gilt es bei der Ableitung von Richtlinien betrieblicher Gesundheitsförderung zu beachten. 8.2.1.2
ImplikationenĆfürĆbetrieblicheĆGesundheitsförderungĆ
Aus den Leitsätzen der Ottawa-Charta lassen sich Ansätze für die Gestaltung betrieblicher Gesundheitsförderung ziehen. Konkret gehen BAMBERG, et al. (1998) ebenso wie BADURA u. HELLMANN (2003) von unterschiedlichen Konsequenzen für die betriebliche Gesundheitsförderung aus: x Der Fokus betrieblicher Gesundheitsförderung sollte sich nicht ausschließlich auf somatische, sondern auch auf psychosoziale Aspekte beziehen. x Positive Merkmale von Arbeit sollen identifiziert und gefördert werden, sodass das Wohlbefinden und die Handlungsfähigkeit der Mitarbeiter gefördert und erhalten werden kann. x Betriebliche Gesundheitsförderung hat einen qualifizierenden Charakter, d.h. die Kompetenzen der Beschäftigten sollen erweitert werden, so dass diese ein höheres Maß an Selbstbestimmung erfahren. x Gesundheitsförderung sollte nicht nur personen-, sondern auch situationsorientiert sein. x Nicht nur verhaltensändernde, auf den Mitarbeiter zugeschnittene Maßnahmen sind notwendig, sondern auch verhältnisbezogene Maßnahmen sind erforderlich. x Alle Beschäftigten eines Unternehmens sollen bei der betrieblichen Gesundheitsförderung berücksichtigt und mit einbezogen werden, der Fokus sollte sich nicht nur auf Risikogruppen liegen. x Die Mitbestimmung wird als wesentlicher Punkt für eine erfolgreiche betriebliche Gesundheitsförderung benannt. Leitlinien, die die Basis dieser Aspekte bilden, sind nicht als im Detail zu erfüllende Standards zu sehen, sondern vielmehr als Prinzipien, an die eine Annäherung angestrebt wird (BAMBERG et al. 1998). Somit sollte eine Gewichtung der Teilaspekte stattfinden, um zu erkennen, welche Elemente für die Erarbeitung von Konzepten zum betrieblichen Gesundheitsmanagement besonders wichtig sind. Hierzu wird im Folgenden vertiefend auf die Aspekte der Verhaltens- und Verhältnisorientierung sowie auf die Mitbestimmung eingegangen. In aktuellen Diskussionen wird immer wieder die Bedeutung bedingungsbezogener Interventionen betont. Allerdings lässt sich verbreitet feststellen, dass die meisten Konzepte zur betrieblichen Gesundheitsförderung den Schwerpunkt auf personenbezogene Interventionen legen (BREUCKER 2000 zitiert nach ULICH u. WÜLSER 2005). Dieses Vorgehen ist kritisch zu betrachten, wenn man bedenkt,
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dass ein erheblicher Anteil arbeitsbedingter Erkrankungen nachweisbar auf die Arbeitsbedingungen zurückzuführen sind (ULICH u. WÜLSER 2005). Als ein Beispiel hierfür lassen sich insbesondere Muskel- und Skeletterkrankungen nennen. Diese Erkrankungsform steht in Deutschland laut Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) an erster Stelle der Ursachen für krankheitsbedingte Fehltage. An diesem Beispiel arbeitsbedingter Erkrankungen lässt sich erkennen, dass verhaltens- und verhältnisorientierte Maßnahmen zur Gesundheitsförderung nicht isoliert voneinander betrachtet werden können. Eine Rückenschule beispielsweise, welche als individuumsorientierte Maßnahme anzuerkennen ist, kann langfristig nur wirksam werden, wenn in diesem Zusammenhang auch Veränderungen am Arbeitsplatz des Mitarbeiters stattfinden. Wobei ULICH u. WÜLSER (2005 zitiert nach LENHARDT et al. 1997) davon ausgehen, dass sich besonders durch verhältnisbezogene betriebliche Interventionsansätze enorme präventive Möglichkeiten ergeben, um Rückenschmerzen und allgemein Erkrankungen des Bewegungs- und Stützapparates entgegenzuwirken. Eine Darstellung möglicher Maßnahmen und Wirkungen von Verhaltens- und Verhältnisprävention findet sich in Tabelle 8.5. Bei der Betrachtung dieser möglichen Ansatzpunkte für das betriebliche Gesundheitsmanagement ist zu beachten, dass sich Verhaltens- und Verhältnisorientierung in manchen Punkten überschneiden und grundsätzlich eine Interaktion zwischen den Komponenten besteht (GREINER 1998 zitiert nach ULICH u. WÜLSER 2005, BADURA et al. 2001). Die Mitbestimmung und Teilnahme der Arbeitsperson in Bezug auf die betriebliche Gesundheitsförderung ist ein vielfach diskutiertes Element von Gesundheitsmanagementkonzepten. Häufig bleibt jedoch unklar, was mit dieser Forderung gemeint ist. Nach BAMBERG et al. (1998) sind die Forderungen nach Beteiligung und die Vorschläge hierfür vielfältig – sie reichen von der Teilnahme der Mitarbeiter bei verschiedenen Workshops bis hin zur Tätigkeit im Betriebsrat – zumeist jedoch wenig konkret. Um der Frage, wie genau eigentlich Mitbestimmung und Beteiligung des Mitarbeiters zu definieren ist, nachzugehen, lassen sich verschiedene Formen der Beteiligung betrachten: Informationsfluss, Beratung und Mitentscheidung (BAMBERG et al. 1998). Der Aspekt des Informationsflusses kann z.B. realisiert werden, indem Arbeitspersonen ausreichend über Maßnahmen der Gesundheitsförderung informiert werden. Dieses kann in Form von Beratungsgesprächen und Konsultationen möglich sein. Die Mitbestimmung wird möglich, wenn vor der Umsetzung eines vom Management entwickelten Konzepts zur Gesundheitsförderung ergänzende Vorschläge der Belegschaft eingebracht werden können. Eine Beteiligung kann erst dann als Maßnahme der Mitbestimmung bezeichnet werden, wenn der Mitarbeit Information und Beratung über die Themengebiete vorausgehen (BAMBERG et al. 1998). Hier ist es entscheidend zu erkennen, dass die Selbstbestimmung und Einbringung der Arbeitsperson nur dann sinnvoll ist, wenn dieser auch über den nötigen Kenntnisstand verfügt. Nur so kann das Konzept eines höheren Maßes an Selbstbestimmung wie es die Ottawa-Charta vorschlägt, gelingen.
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Tabelle 8.5: Betriebliche Gesundheitsförderung: Personenbezogene und bedingungsbezogene Interventionen (ULICH 2001 zitiert nach ULICH u. WÜLSER 2005)
Grundsätzlich ist die Mitbestimmung ein Ziel, welches in den verschiedenen Phasen der Gesundheitsförderung zum Tragen kommen sollte. Der Arbeitsperson obliegt die Entscheidung für eine Intervention, die Analyse dieser und schließlich auch die Umsetzung des Konzeptes für sich selbst und in ihrem Arbeitsumfeld. Interessenlage und Beweggründe für betriebliche Gesundheitsförderung Das Streben nach einem umsetzbaren, langfristigen und ökonomisch lohnenswerten betrieblichen Gesundheitsmanagement lässt sich aus verschiedenen Perspektiven begründen. Nicht nur für die einzelnen Unternehmen und deren Mitarbeiter ist die betriebliche Gesundheitsförderung eine wichtige Zielsetzung, auch die Auswirkungen auf die Volkswirtschaft sind erheblich. Die Kosten für krankheitsbedingte Ausfälle der Beschäftigten sind enorm. Dieser Kostenfaktor bildet für Arbeitgeber häufig einen Anreiz für die Einführung und Durchführung betrieblicher Gesundheitsförderungsmaßnahmen. Berechnungen der BAuA zeigen den volks-
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wirtschaftlichen Schaden, welcher durch Krankheitsstände verursacht wird. Mit einer durchschnittlichen Arbeitsunfähigkeitsrate von 12,2 Tagen je Arbeitsnehmer ergeben sich laut Berechnungen für das Jahr 2005 insgesamt 420,5 Millionen Arbeitsunfähigkeitstage und somit ein volkwirtschaftlicher Produktionsausfall von insgesamt 38 Milliarden Euro. Diese Schätzungen ergeben sich auf der Basis von rund 30 Millionen Pflicht- und freiwillig Versicherten. Aus Sicht der Unternehmen besteht der Anreiz einer betrieblichen Gesundheitsförderung also in der Hoffnung, dass diese eine Senkung des Krankheitsstandes mit sich bringt. Meist wird der Fokus auf die Betrachtung des Verlustes durch Erkrankungen für die Begründung betrieblicher Gesundheitsförderung gesehen. Nicht zu unterschätzen ist jedoch der Gewinn, welcher durch erlangte Gesundheit der Mitarbeiter erreicht werden kann. Nach BAMBERG et al. (1998) wird jeder in die Gesundheitsförderung investierter Dollar mit einem Gewinn von 1,42 Dollar durch eine Reduktion der Krankheitszeiten belohnt. Auch der immaterielle Gewinn durch die Förderung und Erhaltung der Gesundheit der Arbeitnehmer ist erheblich und zeigt sich u.a. in einer erhöhten Identifikation mit dem Unternehmen und einer erhöhten Arbeitsmotivation der Arbeitsperson (BAMBERG et al. 1998). Hier schließt sich der Kreis: Eine betriebliche Gesundheitsförderung, welche die Leistungsmotivation als zunächst immateriellen Faktor stärkt, macht sich schließlich materiell in einer erhöhten Leistung des Mitarbeiters bemerkbar. Um eine betriebliche Gesundheitsförderung in der Realität umzusetzen und somit von den beschriebenen positiven Effekten profitieren zu können, bedarf es des Konsensus von Arbeitergeber und Arbeitnehmer. Nach den bisherigen Ausführungen wäre davon auszugehen, dass das gemeinsame Interesse an einer gesunden und leistungsfähigen Belegschaft die Zusammenarbeit und die Verknüpfung der Interessen des Arbeitgebers und Arbeitsnehmers erleichtert. Jedoch steht diese Konsensfindung im Kontext zahlreicher Spannungsfelder. Die Vorteile einer effektiven Gesundheitsförderung liegen für den Arbeitgeber in der Verringerung der Fehlzeiten und somit in einem monetären Gewinn durch eine verbesserte Kostenstruktur des Unternehmens. Jedoch wird häufig die Investition in die betriebliche Gesundheitsförderung, die nur auf die lange Frist angelegt sein kann, hinter diesen kurzfristigen Effektivitätsbetrachtungen zurückgestellt (BAMBERG et al. 1998). Die Arbeitnehmer sehen sich aufgrund der aktuellen Arbeitsmarktlage in der unterlegenen Verhandlungsposition. Die Bedürfnisse des Arbeitnehmers beziehen sich sowohl auf die aktuelle Lebensqualität, als auch auf den langfristigen Erhalt seiner Arbeitsfähigkeit. Somit stehen die Interessenschwerpunkte des Arbeitsgebers und des Arbeitsnehmers im Kontrast zueinander. Liegt der Interessenschwerpunkt des Arbeitsgebers eher im Bereich der kurzen Frist und bezieht sich auf die Effektivität seines Unternehmens, bezieht sich die Interessenlage des Arbeitsnehmers im Allgemeinen auf die lange Frist. BAMBERG et al. (1998) geben jedoch auch zu bedenken, dass die Handlungsweisen der Arbeitsnehmer nicht homogen sind. So wird der kurzfristige, materielle Gewinn durch Schichtarbeit oder einen Zweitjob von vielen Arbeitnehmern in der Präferenz über den möglichen langfristigen Verlust an potenzieller Arbeitsfähigkeit angesiedelt.
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Diese verschiedenen Betrachtungspunkte in Bezug auf Nutzen und Kosten betrieblicher Gesundheitsförderung erschweren die Konsensfindung und somit die Durchführung betrieblicher Gesundheitsförderung. Dieses schadet letztendlich nicht nur dem Unternehmer und dem einzelnen Mitarbeiter, sondern hat auch negative Einflüsse auf die Volkswirtschaft und die gesamte Bevölkerung. Hier lässt sich letztendlich erkennen, dass nicht nur über theoretische Konzepte des Gesundheitsmanagements reflektiert werden muss, sondern auch Möglichkeiten der Umsetzung geschaffen werden müssen. Es gilt, Erkenntnisse aus verschiedenen wissenschaftlichen Bereichen zu aggregieren und diese auf Anwendbarkeit zu überprüfen. 8.2.2
Interventionsansätze des betrieblichen Gesundheitsmanagements
Die Gestaltung von gesundheitsförderlicher Arbeit bezieht sich auf Arbeitssysteme (siehe Kap. 1.5.1.1). Um ein solches Arbeitssystem zu gestalten, bedient man sich präventiver, korrektiver und prospektiver Maßnahmen (ULICH u. WÜLSER 2005, siehe Kap. 1.5.3.2). Präventive Strategien haben zum Ziel, gesundheitliche oder psychosoziale Beeinträchtigungen vorwegzunehmen. Somit werden arbeitswissenschaftliche Konzepte bereits während des Entwurfs eines Arbeitssystems berücksichtigt und in die Planung einbezogen. Es ist jedoch zu beachten, dass gesundheitliche Beeinträchtigungen, die durch die Gestaltung eines Arbeitssystems entstehen, nicht immer vorausschauend erkannt werden können. Aus diesem Grund ist eine weitere Strategie der Arbeitsgestaltung korrektiv ausgerichtet. Ihr Ziel ist die Korrektur erkannter Mängel. Dies wird durch die Adaptation und Veränderung bereits bestehender Arbeitssysteme erreicht. Beispielhaft für eine korrektive Gestaltungsmaßnahme ließe sich die Einführung kleingruppenorientierter Sicherheitsarbeit im Unternehmen nennen. Hier arbeitet eine kleine Gruppe eines Arbeitsbereichs zusammen, um erkannte Sicherheitsprobleme zu lösen (RITTER u. ZINK 1992). Das Ziel prospektiver Arbeitsgestaltung hingegen ist die Schaffung von Möglichkeiten der Gesundheits- und Persönlichkeitsentwicklung für jeden Mitarbeiter eines Unternehmens. Dies kann erreicht werden, indem man wählbare Arbeitsstrukturen für Beschäftigte schafft. Als Beispiel lassen sich Softwaresysteme nennen, welche die Benutzer ihren Bedürfnissen und Qualifikationen entsprechend anpassen können (ULICH 2001 zitiert nach ULICH u. WÜLSER 2005). Der im Folgenden skizzierte soziotechnische Systemansatz greift im Wesentlichen den Ansatz der prospektiven Arbeitsgestaltung auf, um es den Beschäftigten zu ermöglichen die Arbeit ihren individuellen Bedürfnissen anzupassen. Der soziotechnische Ansatz geht davon aus, dass eine zu lösende Aufgabe im Zentrum der Betrachtung liegt. Mensch, Technik und Organisation sind die Rahmenbedingungen für diese Aufgabe. Dieses Teilsystem wird von dem weiteren Teilsystem „Markt“ umgeben. Das ganze System ist von einer natürlichen und sozialen Umwelt umgeben. Betriebliches Gesundheitsmanagement umfasst nach dem soziotechnischen Systemansatz die Subsysteme Mensch, Technik und Orga-
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nisation. Ziel ist es, die Teilsysteme gemeinsam zu optimieren, damit eine Balance zwischen wirtschaftlichen und humanen Interessen geschaffen werden kann. Generell kann man betriebliche Gesundheitsförderung nicht unabhängig von ökonomischen Faktoren betrachten. Maßnahmen des betrieblichen Gesundheitsmanagements müssen auch immer den Ansprüchen eines produktiven Unternehmens genügen. Daraus ergeben sich Spannungsfelder, die es zu überwinden gilt (ULICH u. WÜLSER 2005). Der soziotechnische Systemansatz liefert die Möglichkeiten beide Sichtweisen zu vereinbaren. Der Vorteil, den dieser Ansatz liefert, ist die Tatsache, dass Interventionen des betrieblichen Gesundheitsmanagements an allen drei Subsystemen angesetzt werden können. Die Rechtfertigung der soziotechnischen Betrachtungsweise im Hinblick auf betriebliche Gesundheitsförderung ergibt sich daraus, dass gesundheitsgerechte Arbeitsgestaltung nie einen einzelnen Arbeitsplatz, sondern mindestens eine betriebliche Abteilung umfasst. Zudem hat eine Verbesserung der Gesundheit der Beschäftigten auch meist eine Produktivitätserhöhung zu Folge (OESTERREICH 1999 zitiert nach ULICH u. WÜLSER 2005). Es lassen sich drei Prinzipien der soziotechnischen Systemgestaltung unterscheiden (DUELL et al. 1986 zitiert nach ULICH u. WÜLSER 2005): (1) Bildung relativ unabhängiger Organisationseinheiten. Umsetzbar in der Praxis beispielsweise durch das Übertragen von ganzheitlichen Aufgaben an Mehrpersonenstellen oder durch Produktionsprozesse mit relativ unabhängigen Teilprozessen, die modulartig vernetzt sind. (2) Zusammenhang der Aufgaben in der Organisationseinheit. Umsetzbar in der Praxis beispielsweise durch den inhaltlichen Zusammenhang der Arbeitstätigkeiten einer Organisationseinheit. (3) Einheit von Produkt und Organisation. Umsetzbar in der Praxis beispielsweise durch die Möglichkeit, das Arbeitsergebnis sowohl qualitativ als auch quantitativ auf die Organisationseinheit zurückführen zu können. Eine Möglichkeit, um betriebliche Gesundheitsförderung im Rahmen des soziotechnischen Systemansatzes zu betreiben, ist die Gestaltung der Arbeitsaufgabe. Durch diese sind die Subsysteme Mensch, Technik und Organisation des gesamten Arbeitssystems miteinander verknüpft. Wird also die Arbeitsaufgabe im Rahmen des betrieblichen Gesundheitsmanagements umstrukturiert, hat dies Auswirkungen auf alle Teilsysteme. Es gilt diese Auswirkungen vorherzusehen und in die Gestaltungsmaßnahmen einzubeziehen. Beispielsweise kann es erhebliche Konsequenzen haben, wenn man im Zuge von Job Enrichment (Erweiterung bestehender Realisationsaufgaben um zugehörige Entscheidungs- und Kontrollaufgaben, siehe Kap. 5.4.1) einem Sachbearbeiter im Einkauf die Befugnis erteilt, den Lieferanten selbstständig auszuwählen und eventuelle Mängel zu reklamieren (SCHULTEZURHAUSEN 2005). Dies bedeutet zwar, dass der Sachbearbeiter eine ganzheitliche Aufgabe erfüllen kann, er könnte jedoch mit der Aufgabe überfordert sein, da ihm notwendige Qualifikationen fehlen. Möglicherweise hätte die neue Belastung eine starke mentale Beanspruchung durch Überforderung zur Folge, so dass er der
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Arbeit fernbleiben könnte. Für das Teilsystem Mensch hieße dies, dass andere Mitarbeiter seinen Ausfall kompensieren müssten, was wiederum zu erhöhter Belastung und Beanspruchung führen könnte. Man spricht auch von der sogenannten Absenzfalle. Trotz dieser möglichen Auswirkungen auf die Teilsysteme des Arbeitssystems ist es notwendig, die Arbeitsaufgabe präventiv, korrektiv und prospektiv zu gestalten. Dabei orientiert man sich an einem Katalog von Merkmalen, welche Arbeitsaufgaben aufweisen sollten. Die Arbeitsaufgabe sollte ganzheitlich, vielfältig in ihrer Anforderung, die soziale Interaktion begünstigend, autonom, lern- und entwicklungsfördernd, stressfrei regulierbar, sowie sinnhaft sein (EMERY u. THORSRUD 1982 zitiert nach ULICH u. WÜLSER 2005). Die Wichtigkeit dieser Merkmale im Rahmen betrieblicher Gesundheitsförderung zeigte HACKER (1991 zitiert nach ULICH u. WÜLSER 2005) auf. So kann eine nicht ganzheitlich gestaltete Arbeitsaufgabe Unzufriedenheit und psychische Sättigung zur Folge haben. Ist die Aufgabe nicht stressfrei regulierbar, kann ein angstbetontes Stresserleben zu einem erhöhten Suchtpotenzial oder depressiven Tendenzen bei den Beschäftigten führen. Dies kann erheblich erhöhte Fehlzeiten und eine Erhöhung der Fluktuationsrate zur Folge haben. Aus eben diesen Gründen ergeben sich für das Unternehmen Einbußen in der Produktivität und ein Anstieg offener Kosten, wie z.B. Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall. Aufgrund der skizzierten Probleme ist eine Gestaltung der Arbeitsaufgabe nach den oben genannten Kriterien unumgänglich. Sie bieten Raum für konkrete Interventionsansätze wie beispielsweise eine angemessene Anforderungsvielfalt, die den Einsatz unterschiedlicher Fähigkeiten der Mitarbeiter ermöglicht und eine einseitige Belastung vermeidet. Die arbeitswissenschaftliche Gestaltung der Arbeitsaufgabe kann die Motivation und Gesundheit der Mitarbeiter erhöhen, deren fachliche und soziale Kompetenz fördern, sowie ihre Selbstwirksamkeit und Flexibilität erhöhen (ULICH u. WÜLSER 2005). In einer Untersuchung von DEGENER (2004) in 28 IT- Unternehmen konnte der Zusammenhang der Merkmale mit ökonomischen und gesundheitlichen Gesichtspunkten gezeigt werden. So führt eine ganzheitliche Aufgabengestaltung zu einer erhöhten Produktivität (r= 0,80) und einem reduzierten Krankenstand (r= -0.82). Neben der Gestaltung der Arbeitsaufgabe, welche die Subsysteme Mensch, Technik und Organisation miteinander verbindet, können Interventionen des betrieblichen Gesundheitsmanagements auch an einem der Teilsysteme ansetzen. Im Folgenden soll beleuchtet werden, inwiefern eine Umstrukturierung der Organisation die Gesundheit der Beschäftigten fördert, ohne dabei wirtschaftliche Aspekte zu vernachlässigen. Zunächst stellt sich die Frage, was unter Organisationsgestaltung im Rahmen des soziotechnischen Systemansatzes zu verstehen ist. Prinzipiell bedeutet Organisationsgestaltung Schaffung von Strukturen (SCHULTEZURHAUSEN 2005). Die Organisationsstruktur eines Unternehmens umfasst formelle Regeln, welche die Arbeitsteilung, die Steuerung der betrieblichen Prozesse und das Verhalten der beteiligten Menschen festlegen (siehe Kap. 4). Die Organisation ist also ein wichtiges Teilsystem eines Arbeitssystems. Da es eine große
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Vielfalt an Möglichkeiten der Organisationsgestaltung gibt, wird in der vorliegenden Ausarbeitung ein spezieller Fall näher betrachtet, nämlich die Veränderung struktureller Untersysteme einer Organisation, wie z.B. Abteilungen oder Gruppen. Eine Möglichkeit, um Organisationseinheiten zu verändern, ist die Einführung teilautonomer Gruppenarbeit (siehe Kap. 5.5). Dabei werden interdependente Teilaufgaben zur gemeinsamen Aufgabe einer Gruppe zusammengefasst (siehe Kap. 5). Unter dem gesundheitsförderlichen Aspekt lassen sich einige Forschungsresultate nennen, die einen Zusammenhang zwischen verbessertem Wohlbefinden und der Einführung teilautonomer Gruppenarbeit belegen. So verbessert sich das individuelle Wohlbefinden der Mitarbeiter, wenn Gruppenarbeit bei gutem Teamklima und hoher Gruppenkohäsion verrichtet wird (CARTER u. WEST 1999 zitiert nach ULICH u. WÜLSER 2005). WALL u. CLEGG (1981) fanden einen signifikanten Zusammenhang zwischen der Einführung teilautonomer Arbeitsgruppen, vermindertem emotionalem Stress, erhöhter Mitarbeitermotivation, Arbeitszufriedenheit und einer Leistungssteigerung. Anscheinend kann auch das Risiko für Muskelund Skeletterkrankungen verringert werden, wenn Personen statt in arbeitsteiligen Strukturen in teilautonomen Arbeitsgruppen arbeiten (LUNDBERG 1996 zitiert nach ULICH u. WÜLSER 2005).
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Arbeitsschutz und betriebliche Gesundheitsförderung
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Handelsgesetzbuch (HGB) in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 41001, veröffentlichten bereinigten Fassung, zuletzt geändert durch Artikel 6a des Gesetzes vom 31.07.2009 (Bundesgesetzblatt I, S. 2512) Heimarbeitsgesetz in der im Bundesgesetzblatt (HAG) Teil III, Gliederungsnummer 804-1, veröffentlichten bereinigten Fassung zuletzt geändert durch Artikel 225 der Verordnung vom 31.10.2006 (Bundesgesetzblatt I, S. 2407) Jugendarbeitsschutzgesetz (JArbSchG) vom 12.04.1976. zuletzt geändert am 31.10.2008 Lastenhandhabungsverordnung (LasthandhabV) Verordnung über Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der manuellen Handhabung von Lasten bei der Arbeit vom 04.12.1996 (Bundesgesetzblatt I, S. 1842) vom 31.10.2006, (Bundesgesetzblatt I, S. 2407) Mutterschutzgesetz (MuSchuG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 20.06.2002 (Bundesgesetzblatt I, S. 2318) zuletzt geändert durch Artikel 14 vom 17.03.2009 (Bundesgesetzblatt I, S. 550) PSA-Benutzungsverordnung (PSA-BV) Verordnung über Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Benutzung persönlicher Schutzausrüstungen bei der Arbeit (PSABenutzungsverordnung - PSA-BV) vom 04.12.1996 (Bundesgesetzblatt I, S. 1841) SGB V (2004) Sozialgesetzbuch Fünftes Buch. Gesetzliche Krankenversicherung. In der Fassung des Gesetzes zur Sicherung der nachhaltigen Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung (RV-Nachhaltigkeitsgesetz) vom 21.07.2004 (Bundesgesetzblatt I, S. 1791) SGB VII (1996) Sozialgesetzbuch VII. vom 07. August 1996 (Bundesgesetzblatt I, S. 1254) zuletzt geändert am 20.04.2007 (Bundesgesetzblatt I, S. 554) SGB IX (2007) Sozialgesetzbuch IX. Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen. zuletzt geändert am 18.12.2007
9
Arbeitsumgebung
Nach DIN EN ISO 6385 kann die Arbeitsumgebung eines Arbeitssystems1 beschrieben werden als „physikalische, chemische, biologische, organisatorische, soziale und kulturelle Faktoren, die einen Arbeitenden/Benutzer umgeben“. In den folgenden Kapiteln findet eine Beschränkung auf die physikalischen Arbeitsumgebungseinflüsse statt (unter teilweiser Berücksichtigung chemischer Einflüsse, z.B. bei Arbeitsstoffen), während die organisatorischen und sozialen Einflussfaktoren im Zusammenhang mit der Betriebs- und Arbeitsorganisation (siehe Kap. 4) sowie der Gruppen- und Teamarbeit (siehe Kap. 5) behandelt werden. Die physikalischen Arbeitsumgebungseinflüsse werden differenziert nach Einflüssen durch x Lärm bzw. Schall, x mechanische Schwingungen, x Strahlung, x Klima, x Beleuchtung und x Arbeitsstoffe. Die Beschreibung von Analyse und Gestaltung der Arbeitsumgebung hinsichtlich der oben genannten Faktoren erfolgt jeweils nach folgendem Schema: x x x x x
Naturwissenschaftliche Grundlagen Messung Bewertung Beurteilung Gestaltungshinweise.
Naturwissenschaftliche Grundlagen Die Analyse der Arbeitsumgebungseinflüsse erfordert zunächst eine Kenntnis der zugrundeliegenden physikalischen, chemischen und physiologischen Größen und Begriffsbildungen sowie wesentlicher Gesetzmäßigkeiten. Messung Die Kenntnis der naturwissenschaftlichen Größen und Gesetzmäßigkeiten ist die Voraussetzung zur Messung von Belastungshöhe und -dauer hinsichtlich der Arbeitsumgebungsfaktoren. Zur praktischen Ermittlung der Belastungssituation kommen jeweils spezifische Messverfahren und -geräte im Betrieb zum Einsatz.
1
Zum Begriff des Arbeitssystems siehe Kapitel 1.5.1.1
770
Arbeitswissenschaft
Bewertung Sind die Umgebungsfaktoren konzeptionell durchdrungen und können gemessen werden, so stellt sich im nächsten Schritt die Frage, welche Wirkungen unterschiedliche Belastungsstärken einer Umgebungsgröße auf den Menschen haben. Wirkungen können die Schädigung der Arbeitsperson sein, die Beeinflussung physiologischer Kenngrößen, aber auch die Beeinflussung der Befindenslage oder des Arbeitsverhaltens (z.B. Fehlerhäufigkeit, nachlassende Konzentration, soziales Verhalten). Ferner ist anzugeben, von welchen Faktoren (z.B. Dauer, Intensität, Richtung) die Wirkungen abhängen sowie von welchen individuellen Merkmalen der Arbeitsperson (z.B. Empfindlichkeit, Belastbarkeit, Alter). Im Sinne des Belastungs-Beanspruchungs-Konzeptes (siehe Kap. 1.5.1.2) ist das Ziel dieses Schrittes, die mit der Umgebungsbelastung verbundene Beanspruchung bzw. Schädigung abzuschätzen. Wichtig für die Bewertung der schädigenden Wirkungen einer Umgebungsbelastung ist, ob für die Schadenswirkung Schwellenwerte existieren. Insbesondere für karzinogene Wirkungen (z.B. durch Arbeitsstoffe oder Strahlung) können aufgrund der bekannten Ursache-Wirkungs-Mechanismen keine ungefährlichen Belastungsstärken angegeben werden, da die Schadenswirkung wesentlich von der Effektivität körpereigener Mechanismen abhängt. Die Schadenswirkung ist stochastisch und es müssen statt Schwellenwerten Risikowerte angegeben werden, die eine Relation zu anderen Schadenswahrscheinlichkeiten (z.B. natürlichen) und -wirkungen herstellen. Für die Bewertung von Umgebungsbelastungen mit zeitlich veränderlichen Wirkungen dient das Konzept der Dosis, das die über eine Zeitspanne integrierte Belastungshöhe widerspiegelt. Dieses Konzept findet vor allem Anwendung bei der Bewertung von Schall- und UV-Strahlungsbelastungen. Dabei ist zu beachten, dass die Wirkung von Belastungsspitzen leicht unterschätzt werden kann. Beurteilung Steht genügend Wissen zur Verfügung, um die Gefährdungen und Beanspruchungen durch die Umgebungsbelastungen einzuschätzen, so können auf dieser Grundlage Soll- oder Grenzwerte für die Umgebungsgrößen abgeleitet werden. Diesen liegen jeweils Gestaltungsziele zugrunde, die in den geltenden Regelungen zur Beschränkung von Umgebungsbelastungen in unterschiedlicher Weise zur Anwendung kommen (siehe z.B. Kap. 8.1.3.7). Anerkannt sind die Ziele Schädigungslosigkeit und Risikovermeidung für alle Arten von Umgebungsbelastungen (siehe Kapitel 1.5.2.1). Eine Vermeidung von Belästigung gilt dagegen bei Belastungen durch Arbeitsstoffe (Schmutz, Geruch), Schall (Lärm) sowie elektrische und magnetische Felder nur für die Allgemeinbevölkerung als erforderlich, während für Arbeitspersonen oftmals auch erhebliche Belästigungen als tolerierbar gelten, wenn die betrieblichen Bedürfnisse es erfordern und eine Reduzierung der Belästigung erheblichen Aufwand erfordert. Bei starken mechanischen Schwingungen (z.B. Presslufthammer) steht neben der
Arbeitsumgebung
771
Schädigungslosigkeit die Aufrechterhaltung von Körperfunktionen im Vordergrund und damit die Ausführbarkeit der Tätigkeit. Dies gilt ebenso bei der Gestaltung der Beleuchtung (z. B. zur Erfüllung der Sehaufgaben bei der Montage kleiner Teile). Schließlich spielt bei der Beurteilung von Beleuchtung und Schall deren psychische Wirkungen eine wichtige Rolle, die sich jedoch oft einer Analyse mit quantitativen Methoden entzieht. Je nach Wahl der Gestaltungsziele unterscheiden sich die daran orientierten Werte zur Beurteilung von Umgebungsbelastungen erheblich. Zudem haben sie, wie erwähnt, eine unterschiedliche Verbindlichkeit und belassen dadurch mehr oder minder große Handlungsspielräume. Die angegebenen Soll- und Grenzwerte sind deshalb nicht nur vom (per se unvollständigen) empirischen Wissen abhängig, sondern entspringen normativen Akten, denen sowohl das Wertesystem der setzenden Instanzen als auch vielfältige Abwägungen von Nutzen, Kosten und Risiken zugrunde liegen. Dies drückt sich auch in den unterschiedlichen Bezeichnungen aus: Grenzwerte, Sollwerte, Richtwerte, Zielwerte, Anhaltswerte, Orientierungswerte, Unbedenklichkeitswerte, Interventionswerte etc. Gestaltungshinweise Für Maßnahmen, die der Einhaltung von Grenzwerten oder generell der Verringerung von physikalischen Umgebungsbelastungen dienen, lässt sich anhand folgender Fragen eine Rangordnung erstellen, die an das TOP-Modell des Arbeitsschutzes (siehe Kap. 8.1.4.3) angelehnt ist: x Ist es möglich und sinnvoll, die Umgebungsbelastung durch Wahl einer anderen Technologie oder anderer Verfahren vollständig oder weitgehend zu vermeiden? x Ist es mit vertretbarem Aufwand möglich, die Belastungen durch technische Maßnahmen an den Anlagen und Maschinen (z.B. durch Abschirmung) zu vermindern? x Ist es möglich, durch organisatorische Maßnahmen (z.B. Zugangsbeschränkungen, Erholungspausen) die Beanspruchungen zu reduzieren? x Ist es möglich, durch persönliche, technische Maßnahmen (z.B. Schutzkleidung) die Belastung zu vermindern, ohne dadurch unverhältnismäßig große zusätzliche Arbeitsbelastungen zu verursachen? x Welche Verhaltensanforderungen sind an die Arbeitspersonen zur Vermeidung unerwünschter Beanspruchungsstärken zu stellen?
772
9.1
Arbeitswissenschaft
Lärm
Lärm wird als unerwünschtes, belästigendes oder schließlich gehörschädigendes Schallereignis definiert (SZADKOWSKI 1983). Eine solche Definition beinhaltet mehrere Aspekte der Empfindung und der Wirkung von Schall: Schallempfinden ist subjektiv und situationsabhängig, d.h. gleiche akustische Signale werden von Personen in Abhängigkeit vom Arbeitskontext unterschiedlich beurteilt. Um diese Aussage zu verdeutlichen, soll das Beispiel einer Metallwerkstatt betrachtet werden, in der ein Arbeiter mit einem Winkelschleifer arbeitet. Für diesen Arbeiter ist das Schleifgeräusch zu seinem Arbeitsprozess gehörig. Er wird es nicht als belästigend empfinden, da es zur Erfüllung seiner Arbeitsaufgabe notwendig ist. Einen Arbeiter an einem benachbarten Arbeitsplatz, welcher z.B. Schweißarbeiten ausführt, wird dieses Geräusch jedoch belästigen, weil es nicht zur Erfüllung seiner Aufgabe beiträgt. Unabhängig von dem subjektiven Schallempfinden kann das Geräusch des Winkelschleifers bei beiden Arbeitspersonen zu einer Gehörschädigung führen. Die Bedeutung von Lärm als Arbeitsumgebungsfaktor lässt sich daran erkennen, dass seit 1995 stets 35-40% der jährlich anerkannten und entschädigten Berufskrankheitsfälle der Lärmschwerhörigkeit (Berufskrankheit Nr. 2301) zuzurechnen sind. Absolut wurden im Berichtsjahr 2005 des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales 5962 Fälle von Lärmschwerhörigkeit anerkannt und 550 Personen Anspruch auf Rentenzahlungen zugesprochen (BMAS 2007). Grenzwerte für die Lärmbelastung von Arbeitspersonen sowie die Bereitstellungs- und Tragepflicht persönlicher Schutzmittel regeln vor allem die Lärm- und Vibrations-Arbeitsschutzverordnung und die Arbeitsstättenverordnung. 9.1.1
Physikalische Grundlagen
Als Schall werden mechanische Schwingungen in elastischen Medien bezeichnet (SCHAEFER 1993). Der für das menschliche Ohr wahrnehmbare Bereich liegt ungefähr zwischen den Frequenzen 20 Hz und 20 kHz (FASTL u. ZWICKER 2007) und wird als Hörschall bezeichnet. Schwingungen niedrigerer Frequenz nennt man Infraschall, während man oberhalb des Hörbereichs vom Ultraschall spricht. Schall breitet sich in elastischen Medien angenähert in Kugelwellen aus, wobei die Ausbreitungsgeschwindigkeit c von der Dichte des jeweiligen Mediums abhängt (c beträgt in Luft ca. 340 m/s, in Wasser ca. 1500 m/s, in Stahl ca. 5000 m/s). Von der Schallgeschwindigkeit ist die Schallschnelle v als die Geschwindigkeit zu unterscheiden, mit der die Materieteilchen im Schallfeld oszillieren. Bei der Ausbreitung in festen Körpern spricht man im Gegensatz zum Luftschall vom Körperschall. Der Körperschall muss für den Bereich des Lärmschutzes besonders beachtet werden, da schwingende Festkörper an ihrer Oberfläche
Arbeitsumgebung
773
die Umgebungsluft anregen und es zu örtlichen Resonanzerscheinungen aufgrund emittierten Luftschalls kommen kann. Sinusförmige Schallsignale werden als Ton bezeichnet und lassen sich durch die Angabe von Druckamplitude und Frequenz beschreiben. Der Schalldruck wird in Pascal (1 Pa = 1 N/m2) gemessen und bezieht sich immer auf Abweichungen vom Umgebungsdruck, also auf den dynamischen Anteil des Luftdrucks. Zur Kompensation meteorologischer und höhendifferenter Luftdrücke wird per Eustatischer Röhre ein Druckausgleich an der Membran hergestellt. Sind mehrere Frequenzen zu einem Tongemisch kombiniert, spricht man von Klängen, wenn die einzelnen Frequenzkomponenten in definierten Verhältnissen zueinander stehen. Ändern sich die Frequenzverhältnisse jedoch stochastisch, wird das Schallereignis allg. als Geräusch bezeichnet und durch zeitabhängige Fourierspektren beschrieben (SCHAEFER 1993). Aus Gründen der energetischen Betrachtung verwendet man allg. als Kenngröße den effektiven Schalldruck peff, der über die Integrationszeit T wie folgt definiert ist: peff
1 T
T
³p
2
(t ) dt
> Pa @
(9.1)
0
In der Regel wird das Adjektiv „effektiv“ weggelassen und nur noch vom Schalldruck gesprochen. Für sinusförmige Schalldruckverläufe ist der effektive Schalldruck das 1/¥2 -fache der Druckamplitude, wenn die Integrationszeit T einem Vielfachen der Periodendauer entspricht. Durch Schallwellen findet ein Energietransport vom Sender zum Empfänger statt. Die mittlere Schallleistung P (großes P!) einer Schallquelle ist bei ebener Wellenausbreitung proportional dem Quadrat des Effektivschalldruckes:
P(t ) ~ peff 2 (t )
>W@
(9.2)
Bezieht man die Leistung auf eine bestimmte Wirkfläche A, die z.B. die Fläche des Gehörganges sein kann, so spricht man von der Schallintensität I: I (t )
P (t ) A
ªWº « m2 » ¬ ¼
(9.3)
Das menschliche Ohr empfindet in grober Näherung akustische Reize logarithmisch, wie durch das Weber-Fechnersche-Gesetz beschrieben (siehe Kap. 3.3.2.1.1). Die Hörschwelle liegt in Bezug auf den effektiven Schalldruck bei einer Frequenz von 1000 Hz bei ca. 20 μPa. Die Schmerzgrenze befindet sich ungefähr sechs Zehnerpotenzen darüber. Um diesen weiten Bereich abdecken zu können, werden in der Schallmessung logarithmische Maße, sog. akustische Pegel, verwendet. Sie sind in DIN EN ISO 1683 genormt und geben physikalische Leistungsverhältnisse an. Davon ausgehend wird der Schalldruckpegel oder kurz Schallpegel Lp als logarithmisches Verhältnis des Quadrates des zu bezeichnenden Druckes peff zum Quadrat des Bezugschalldruckes p0 definiert:
774
Arbeitswissenschaft
Lp
log
peff 2 p0
peff
2 log
2
p0
> B@
(9.4)
Dabei bezeichnet log( ) den dekadischen Logarithmus. Der Bezugsschalldruck entspricht ungefähr der Hörschwelle und wurde per Konvention auf 20 μPa festgelegt. Als Pseudoeinheit für logarithmische Pegel wird das Bel (B) verwendet. Üblicherweise werden Schalldruckpegel jedoch in zehntel Bel (Dezibel oder dB) angegeben, so dass sich für Lp ergibt: Lp
20 log
peff
>dB@ ;
p0
p0
20 ȝPa
(9.5)
Einige typische Schalldruckpegel sind in Abb. 9.1 aufgeführt. Sofortige Gehörschäden Schmerzgrenze 120
Düsenflugzeug (300 m Abstand) Motor-Rasenmäher (2 m Abstand) 80 LKW (15 m Abstand) PKW (15 m Abstand) 60 Gespräch (2 m Abstand) 40 Blätterrauschen Hörschwelle
160
140
100
20
0
Abb. 9.1: Typische Schalldruckpegel (nach CROCKER 1982)
Analog zum Schalldruckpegel werden Schallleistungspegel LP und Schallintensitätspegel LI definiert: LP
10 log
P P0
>dB@ ;
P0
1012 W
(9.6a)
LI
10 log
I I0
>dB@ ;
I0
10 12
W m2
(9.6b)
Schallintensitätspegel, Schallleistungspegel und Schalldruckpegel sind bei ebener Wellenausbreitung oder bei Kugelwellen im Fernfeld gleich. Existieren n Schallquellen, die unkorreliert sind, so sind zur Berechnung des gesamten bzw. wirksamen Schalldruckpegels Lpges im Fernfeld die einzelnen Schallleistungen (nicht Pegel!) zu addieren. Werden die einzelnen Schallpegel mit Lpi bezeichnet, so gilt für Lpges: L pges
n
10 log ¦ 10 i 1
Lpi /10
>dB@
(9.7)
Arbeitsumgebung
775
Erzeugen einzelne unkorrelierte Schallquellen gleiche Schalldrücke, d.h. Lpi = Lp für alle i, so ist z.B.
Lpges
Lp 10 log n
>dB@
(9.8)
Betrachtet man den Zuschlag ¨Lpges = Lpges - Lp vom Einzel- zum Gesamtpegel, so wird deutlich, dass mit der Anzahl der Schallquellen die Zuschläge immer schwächer wachsen. Infolgedessen ist das menschliche Ohr kaum in der Lage zu entscheiden, ob z.B. neun oder zehn gleichartige Maschinen in Betrieb sind. Eine für praktische Zwecke wichtige Abschätzung ist hierbei, dass eine Verdopplung der Schalleistung zu einem Pegelzuwachs von ca. 3 dB führt. Betrachtet man hingegen zwei unkorrelierte Schallquellen unterschiedlicher Pegel Lp1 bzw. Lp2, wobei Lp1 die um ¨Lp Dezibel stärkere Quelle bezeichnet, so ergibt sich ein Gesamtpegel von L pges
L p1 10 log(1 10
'L p /10
)
>dB@
(9.9)
Betrachtet man den Zuschlag ¨Lpges = Lpges - Lp1 vom höheren Einzel- zum Gesamtpegel, so wird dieser um so kleiner, je mehr sich die Schalldrücke beider Quellen unterscheiden. Aus dieser rein physikalischen Betrachtung lassen sich bereits zwei Gestaltungsmaßnahmen zur effektiven Lärmbekämpfung ableiten: x Bei einer größeren Anzahl gleichartiger Lärmquellen sollten möglichst alle gemeinsam gemindert werden. x Schutzmaßnahmen sollten bei unterschiedlich starken Quellen stets bei der stärksten ansetzen (Entspannungsprinzip). In den bisherigen energetischen Betrachtungen wurde der Frequenzverlauf der Schallwellen vernachlässigt. Um Schallpegel in ihrer Frequenzverteilung zu untersuchen, werden Spektralanalysen durchgeführt. Bei Lärmuntersuchungen werden Spektralanalysen in Terz- oder Oktavschritten vorgenommen, weil das Ohr, wie bereits aus Kapitel 3.3.2.1.2.2 bekannt ist, auch im Frequenzbereich eine angenähert logarithmische Empfindlichkeit aufweist. Eine Oktave ist ein Frequenzbereich, dessen Anfangs- und Endfrequenz im Verhältnis 1:2 stehen, wie z.B. 25 Hz : 50 Hz. Eine Terz ist der Bereich einer Dritteloktave, d.h. das Frequenzverhältnis beträgt 1:21/3. 9.1.2
Physiologische Grundlagen
Die genaue Wirkungsweise des menschlichen Ohrs als auditives Rezeptororgan ist in Kapitel 3.3.2.1.2.2 beschrieben und wird nur kurz wiederholt: Ein Schallereignis lenkt das Trommelfell aus. Über die mechanische Kette der Gehörknöchelchen wird die Membran im ovalen Fenster der flüssigkeitsgefüllten Cochlea (Schnecke) ausgelenkt. Die so entstehenden Druckwellen werden in die Schnecke eingeleitet. Bedingt durch Ausbreitungsmechanismen der Wellen in der Gehörschnecke werden die Haarzellen auf der Basiliarmembran frequenzabhängig in charakteristischer Art und Weise erregt. Das menschliche Ohr ist also im Stan-
776
Arbeitswissenschaft
de, verschiedene Tonhöhen zu identifizieren, wobei die Empfindlichkeit abhängig von der spektralen Lage ist. In Abb. 9.2 sind die sog. „Kurven gleicher Lautstärke” aufgetragen, die in DIN ISO 226 genormt sind und die spektrale Empfindlichkeit des menschlichen Ohrs dokumentieren. Die Kurven kommen zustande, indem Versuchspersonen abwechselnd ein Ton der Frequenz 1000 Hz mit definiertem Schallpegel und ein Ton der zu untersuchenden Frequenz dargeboten werden. Der Proband hat nun die Aufgabe, den Schallpegel des zweiten Tons so einzustellen, dass er ihn gleich laut empfindet wie den Referenzton bei 1000 Hz.
100 phon 90 80 70 Hauptsprachbereich
60 50
40 30 20 10
Abb. 9.2: Kurven gleicher Lautstärke (Phonlinien) und Hauptsprachbereich (Daten nach DIN ISO 226, FASTL 2007)
Aus Abb. 9.2 wird deutlich, dass die Empfindlichkeit des menschlichen Ohrs in Frequenzbereichen besonders hoch ist, in denen die menschliche Sprache übertragen wird. Dies steht im Einklang mit der Hauptaufgabe des Ohrs, nämlich verbale Kommunikation zu ermöglichen. Die individuelle Lautstärkeempfindung kann von den Kurven gleicher Lautstärke abweichen, da die Sensibilität des menschlichen Gehörsinns sowohl interindividuell als auch intraindividuell große Schwankungen aufweist. Auf der Grundlage der Kurven gleicher Lautstärke wird in DIN ISO 226 der Lautstärkepegel LS abgeleitet. Diese Größe wird als subjektives Maß bezeichnet, da sie die Wahrnehmungscharakteristik des menschlichen Ohrs berücksichtigt. Der Lautstärkepegel wird in phon gemessen. Der Lautstärkepegel eines Schalls beträgt n phon, wenn dieser von normalhörenden Personen als gleich laut beurteilt
Arbeitsumgebung
777
wird wie ein Sinuston der Frequenz 1000 Hz und dem Schallpegel n dB. Bei reinen Tönen kann LS folglich direkt aus Abb. 9.2 abgelesen werden. Bei Geräuschen lässt er sich mit dem Verfahren nach Zwicker (DIN 45631) aus dem Terzspektrum schätzen. Neben der immanenten Frequenzcharakteristik besitzt das menschliche Gehör auch temporär wirkende Adaptionsmechanismen, die seine Empfindlichkeit verändern. Eine Muskelgruppe im Mittelohr ist bspw. in der Lage, die Gehörknöchelchenkette durch Kontraktion zu versteifen. Dadurch wird die Übertragung von Schall mit Frequenzen unter 200 Hz vermindert. Diese Schutzfunktion hat allerdings eine Latenzzeit von 100-150 ms. Ein Schutz des Innenohrs bei explosionsartigen Druckanstiegen ist damit nicht gegeben. Eine weitere Adaption des Gehörs findet in den Haarzellen statt, die Druckschwankungen in nervliche Impulse wandeln. Bei mehrstündiger intensiver Beschallung kommt es zu Mangelerscheinungen in der Sauerstoffversorgung dieser Zellen und somit zu einem Absinken der Empfindlichkeit. Die Hörschwelle wird zeitlich begrenzt verschoben – ein Effekt, der auch mit der englischen Abkürzung TTS (Temporary Threshold Shift) bezeichnet wird (CROCKER 1997). Diese temporäre Hörschwellenverschiebung bildet sich nach etwa 12-14 Stunden Ruhe wieder zurück. 9.1.3
Wirkung von Lärm auf den Menschen
Bei langanhaltender Lärmexposition oder bei zu intensiver Beschallung kann Lärm gesundheitsschädigend wirken. Doch auch der Bereich unterhalb der Schädigungsgrenze ist von Bedeutung im Hinblick auf das Wohlbefinden, die Leistungsfähigkeit und die Arbeitssicherheit von Personen. Hierbei haben auch Effekte einen Einfluss, die schallmesstechnisch nicht erfassbar sind. 9.1.3.1
BeeinträchtigungĆderĆArbeitssicherheitĆdurchĆLärmĆ
Lärm kann Warnsignale oder Geräusche überdecken, die einen Hinweis auf eine Gefährdung geben. Akustische Gefahrenanzeigen sind jedoch von besonderer praktischer Bedeutung, da deren Signale unabhängig von der räumlichen Ausrichtung des Gehörsinns wahrgenommen werden. Sie können somit den arbeitenden Menschen jederzeit erreichen. Bei der Gestaltung von Warnsignalen muss deshalb darauf geachtet werden, dass sie andere Frequenzbereiche belegen als die Umgebungsgeräusche (DIN 33404-3). Jedoch ist dafür Sorge zu tragen, dass neben der gewünschten Reaktion kein Fehlverhalten durch eine Schreckreaktion aufgrund des unerwarteten Warnsignals entsteht (DIN EN ISO 7731). Lärm behindert weiterhin die Sprachverständigung (DIN EN ISO 9921). Als Faustregel gilt, dass der Sprachschalldruckpegel 15 dB über dem Umgebungsgeräusch liegen muss, damit eine hinreichende Verständigung möglich ist. Zum Verstehen einer Fremdsprache ist sogar eine Pegeldifferenz von 20 dB notwendig, ein Umstand, der bei der Beschäftigung nicht muttersprachlicher Arbeitspersonen von Bedeutung sein kann.
778
9.1.3.2
Arbeitswissenschaft
PhysiologischeĆ Reaktionen,Ć BeeinflussungĆ desĆ WohlbefindensĆ undĆderĆLeistungsfähigkeitĆ
In Bezug auf die Störwirkung von Geräuschen und die physiologischen Reaktionen auf Schallereignisse gibt es verschiedene Modelle. SZADKOWSKI (1983) versucht dies durch Wirkung von sog. Moderatoren bei der zentralen Verarbeitung von Schallereignissen zu erklären. Solche Moderatoren einer Person sind z.B. x die Situation (ob man z.B. selbst den Lärm „produziert“), x ihre Persönlichkeitsstruktur (Sensibilität), x ihre Einstellung zur Tätigkeit (Motivation), x ihr gesundheitlicher Zustand und x der soziale Kontext, in dem sie sich befindet. Die quantitative Berücksichtigung solcher Größen in einem BelastungsBelästigungs-Konzept war bereits in der Vergangenheit Gegenstand arbeitswissenschaftlicher Diskussion (KRUEGER 1990). Bisher wurde jedoch noch kein Konzept in Form einer Vorschrift oder Norm umgesetzt, obwohl bekannt ist, dass gängige Bewertungsverfahren gewisse Gefahren bergen (STRASSER 2005). Die individuelle Konstitution hat einen besonderen Einfluss auf die Lärmempfindlichkeit. Durch Versuche zur temporären Verschiebung der Hörschwelle (TTS) kam man zu einer Klassifikation, nach der etwa 5% der untersuchten Personen „schallallergisch“, 90% „normalempfindlich“ und 5% „schallresistent“ waren (BÜRCK 1981). Vorwiegend geistige Arbeit unter Geräuscheinwirkung erfordert von den Arbeitspersonen eine höhere Konzentration und führt zur schnelleren Willensermüdung. Eine anhaltende Störung der Sprachverständigung durch Lärm kann zu einer negativen Einstellung gegenüber der Geräuschquelle führen. Außerdem sind Engpässe beim Sprachorgan möglich, z.B. Heiserkeit. Umgekehrt wurde festgestellt, dass beim Arbeiten im Büro bei sehr niedrigen Schallpegeln (40-45 dB) informationshaltige Geräusche (wie z.B. Gespräche anderer Personen) mehr störten, als ein angehobener Schalldruckpegel der Hintergrundgeräusche. Bei leisen, kontinuierlichen Hintergrundgeräuschen (wie z.B. dem Rauschen einer Klimaanlage) findet eine Adaption statt, d.h. sie werden im Zeitverlauf nicht mehr wahrgenommen. Ebenso wenig eindeutig wie das Empfinden von Geräuschen sind die psychophysiologischen Reaktionen auf Lärm: Es konnten u.a. Veränderungen der Atemfrequenz, der Herzschlagfrequenz, des Hautwiderstandes, der Magenperistaltik und der elektrischen Hirnaktivität nachgewiesen werden. Ein generalisierbares Reiz-Reaktions-Muster ist jedoch nicht belegbar. Vielmehr ist auch hier die Situation, in der die Person dem Geräusch ausgesetzt ist, entscheidend für die resultierenden physiologischen Reaktionen. Neben den beschriebenen Wirkungen von Lärm am Arbeitsplatz ist auch die Geräuschsituation in der Freizeit für die Leistungsfähigkeit und das Wohlbefinden einer Person von Bedeutung: So wurde z.B. nachgewiesen, dass bereits Schallintensitäten von 45-55 dB und mehr Schlafstörungen hervorrufen (GROLL-KNAPP
Arbeitsumgebung
779
1980). Auch hier spielt die Zusammensetzung des Geräusches und der Informati-
onsgehalt eine Rolle. Eintönige Geräusche (z.B. beim Fahren mit dem Zug) können trotz hoher Schallintensitäten einschläfernd wirken. 9.1.3.3
SchädigungĆ
Bei der Schädigung durch Lärm lassen sich akute und chronische Lärmschäden unterscheiden. Diese Schäden betreffen ausschließlich das Gehör. Akute Schädigungen, sog. Knalltraumata, treten vor allem bei explosionsartigen Druckanstiegen mit Schalldruckpegeln von 140-200 dB auf. Der Schutzreflex der Muskeln zur Versteifung der Übertragungskette im Mittelohr ist in diesem Fall nicht ausreichend schnell. Reparabel sind Schäden am Trommelfell (Zerreißungen) oder an den Gehörknöchelchen. Dagegen sind Innenohrschäden, wie z.B. eine geplatzte Basilarmembran, irreparabel. Anzeichen eines Knalltraumas sind ein stechender Schmerz, die Vertaubung des Ohrs und Ohrgeräusche. Von wesentlich größerer Bedeutung in der Praxis sind chronische Lärmschäden. Wie bereits erwähnt, kann eine längere Lärmeinwirkung eine zeitlich beschränkte Hörschwellenverschiebung (TTS) bewirken. Wird das menschliche Ohr tagtäglich derart hohen Schallintensitäten ausgesetzt, so ist eine Regenerierung der sauerstoffunterversorgten Haarzellen nicht mehr möglich. Die Haarzellen degenerieren und stellen ihre Funktion letztlich ganz ein; eine bleibende Hörschwellenverschiebung (engl.: Permanent Threshold Shift, PTS) ist die Folge (CROCKER 1997). Das Vorhandensein der zeitlich beschränkten Hörschwellenverschiebung ist also Voraussetzung für eine Gefährdung im Hinblick auf eine dauerhafte Lärmschwerhörigkeit. Umgekehrt kann ausgeschlossen werden, dass eine Lärmbelastung gehörschädigend wirkt, wenn keine TTS festgestellt werden kann. Auch in Bezug auf die Schädigungswirkung von Lärm bestehen deutliche interindividuelle Unterschiede (siehe ISO 1999), so dass Grenzwerte nur als Schätzgrößen für schädigungsfreie Bereiche angegeben werden können. Relativ unbestritten ist jedoch aufgrund der Schädigungsmechanismen die sog. Dosis-WirkungsBeziehung. Die Dosis ergibt sich in diesem Fall als Produkt aus Schallleistung und Einwirkdauer, die Wirkung entspricht der Schädigung. Ist eine Person einem Schalldruckpegel ausgesetzt, der 3 dB über einem Vergleichspegel liegt (doppelte Schallleistung), so wird ein vergleichbarer Schädigungsgrad bereits nach der Hälfte der Expositionsdauer erreicht. Dies gilt jedoch nicht für den Kurzzeitbereich. Lärmschwerhörigkeit zeigt sich am deutlichsten durch Hörverlust im Frequenzbereich um 4000 Hz (die sog. C-5 Senke), wie in Abb. 9.3 ersichtlich. Bei dieser Abbildung handelt es sich um ein Audiogramm einer altersschwerhörigen und einer lärmschwerhörigen Person. Durch Audiogramme wird die Verschiebung der Hörschwelle einer Person gegenüber der Normalschwelle in Abhängigkeit der Frequenz dargestellt. Das Messen von Audiogrammen bezeichnet man als Audiometrie, die in ähnlicher Weise wie die Messung der Kurven gleicher Lautstärke erfolgt.
780
Arbeitswissenschaft
Der Hörverlust einer lärmgeschädigten Person wird sich bei fortschreitender Schädigung noch weiter zu den niedrigen Frequenzen hin ausweiten und somit den Hauptsprachbereich (siehe Abb. 9.2) erreichen. Mit Hilfe der Audiometrie können demnach beginnende Lärmschädigungen bereits nachgewiesen werden, ehe sie von den Betroffenen wahrgenommen werden, da ihre Fähigkeit zum Sprachverständnis in diesem Stadium noch nicht eingeschränkt ist. Bei der Prüfung angezeigter Berufskrankheiten dient die Audiometrie zur Unterscheidung von Effekten des Alterns und der Lärmschwerhörigkeit.
Abb. 9.3: Hörschwellenverschiebung bei Lärmschwerhörigkeit und Altersschwerhörigkeit
9.1.4
Messung
Charakteristische Größe zur Beschreibung von Geräuschen ist der Schalldruckpegel in seiner spektralen Verteilung. Der Schalldruckpegel wird mit Schallpegelmessern nach DIN EN 61672-1 gemessen, die bei verschiedenen Lärmanalysen Anwendung finden. Ein Schallpegelmesser besteht i.Allg. aus einem Mikrophon, einem Verstärkungs- und Verarbeitungsteil mit Frequenzbewertungsfiltern und Zeitbewertungskomponenten sowie einem Anzeigeteil (SCHAEFER 1993). Die Frequenzbewertung hat dabei die Aufgabe, die spektrale Empfindlichkeit des menschlichen Ohrs technisch nachzubilden. Die Zeitbewertung ermöglicht es, temporäre Adaptionsmechanismen zu berücksichtigen. 9.1.4.1
SchallintensitätsmessungenĆ
Bei Schallintensitätsmessungen wird der örtliche Schalldruckpegel ermittelt. Eine Frequenzbewertung findet nicht statt, so dass vom unbewerteten Schalldruckpegel
Arbeitsumgebung
781
gesprochen wird. Das Messergebnis ist der effektive Schalldruckpegel in dB im jeweiligen Integrationsintervall der Effektivwertbildung. Als Intervalle werden Impulse (35 ms), Fast (150 ms) und Slow (1000 ms) unterschieden. Bei über größeren Zeiträumen schwankenden Schalldruckpegeln bieten komfortable Schallpegelmesser die Möglichkeit, das Signal langzeitlich zu integrieren. Am Ende der Integrationszeit wird dann der energieäquivalente Dauerschalldruckpegel Leq angezeigt. Da die Messergebnisse von der Wahl des Messorts abhängig sind, wurden in einer Reihe von DIN-Normen Messvorschriften erarbeitet (z.B. in DIN 45645-2). 9.1.4.2
BewerteterĆSchalldruckpegelĆĆ
Lärmmessungen haben in der Regel zum Ziel, Aussagen über mögliche Gehörschädigungen bzw. über die Lästigkeit von Geräuschen zu treffen. Aus diesem Grund wird mittels der Frequenzbewertung versucht, dem Messgerät eine dem menschlichen Ohr ähnliche Charakteristik zu verleihen. Hierfür verwendet man den sog. A-Filter nach DIN EN 61672-1. Dessen Kennlinie ist in Abb. 9.4 dargestellt. Ein mit Hilfe des A-Filters frequenzbewerteter Schalldruckpegel wird mit LA bezeichnet und zusätzlich durch die Pseudoeinheit dB(A) gekennzeichnet.
Abb. 9.4: Betragsfrequenzgang des A- und C-Filters nach DIN EN 61672-1 (A- bzw. CFrequenzbewertungskurve)
In ihrem qualitativen Verlauf ist die A-Kennlinie invers zu den Kurven gleicher Lautstärke in Abb. 9.2. Dies hat im praktischen Einsatz zur Folge, dass der Schallpegelmesser bei Verwendung des A-Filters den Schalldruckpegel von Geräuschen mit beträchtlichen niedrig- bzw. hochfrequenten Leistungsanteilen als geringer ausweist, als bei einer Messung ohne Filter. Sind umgekehrt die Leistungsanteile im Spektralbereich von 4000 Hz zentriert, so liegt der A-bewertete
782
Arbeitswissenschaft
Schalldruckpegel über dem Unbewerteten (in diesem Bereich befindet sich die Kennlinie oberhalb des Verstärkungsfaktors 1 gleich 0 dB). In Abb. 9.4 ist zusätzlich die C-Kennlinie dargestellt, die bei energiereichen kurzzeitigen Schallimpulsen Verwendung findet. 9.1.4.3
FrequenzanalysenĆĆ
Wie bereits angedeutet, ermöglichen Frequenzanalysen eine detaillierte Suche nach Lärmursachen. So kann z.B. eine defekte Lagerung einer Maschinenwelle nachgewiesen werden, wenn das Maschinengeräusch hohe Schalldruckpegel in Frequenzen aufweist, die einem ganzzahligen Vielfachen der Wellendrehzahl entsprechen. Prinzipiell lassen sich Spektren sowohl offline als auch online messen. Bei der Online-Methode werden meist digitale Filterbänke einer Anzeige oder einem Speichermedium vorgeschaltet, wobei die Durchlassbreite der entsprechenden Bandpassfilter gemäß DIN EN ISO 266 genormt ist. Bei der Offline-Methode wird das ungefilterte Messsignal zunächst gespeichert und im Anschluss an die Messung entsprechend nachbearbeitet. Aufgrund der Leistungsfähigkeit heutiger digitaler Messgeräte erfolgen Frequenzanalysen meist derart, dass das ungefilterte Signal aufgezeichnet und für die Anzeige das Signal parallel über eine Filterbank aufbereitet wird. Die Grenze zwischen reiner Online- bzw. reiner Offlinemessung existiert in diesem Fall nicht mehr eindeutig. 9.1.5
Bewertung und Beurteilung
Auf Basis der vom Europäischen Parlament 2003 erlassenen Richtlinie 2003/10/EG existieren Arbeitsschutzverordnungen, die inzwischen im gesamten Bereich der Europäischen Union harmonisiert wurden. Die Umsetzung dieser Richtlinie erfolgte in Deutschland für die gewerbliche Wirtschaft in der Lärm- und VibrationsArbeitsschutzverordnung (LärmVibrationsArbSchV) sowie in der Gesundheitsschutz-Bergverordnung (GesBergV) für den Geltungsbereich des Bundesberggesetzes. Darin wird der Beurteilungspegelgrenzwert für das Vermeiden bleibender Hörminderungen auf LpAeq,8h 85 dB(A) und für energiereiche, kurzzeitige Schallimpulse auf 137 dB(C) festgesetzt. Um auch tatsächlich die Möglichkeit zu schaffen, lärmgeminderte Arbeitsmittel auszuwählen, wurden die Maschinenhersteller durch die dritte Verordnung zum Geräte- und Produktsicherheitsgesetz verpflichtet, bei Überschreitung gewisser Grenzwerte Geräuschemissionskennwerte anzugeben. Im Einzelnen sind dies der arbeitsplatzbezogene Emissionswert für Werte größer als 70 dB(A) und, darüber hinaus, sofern sogar 85 dB(A) überschritten werden, der Schallleistungspegel. Bei Maschinen mit sehr großen Abmessungen kann auch der Schalldruckpegel bestimmter Positionen angegeben werden. Weiter muss der Höchstwert des momentanen C-bewerteten Schalldruckpegels angegeben werden, wenn dieser 130 dB(C) überschreitet.
Arbeitsumgebung
783
Lärmmessungen werden durchgeführt, um eine Aussage über die Belastung von Arbeitspersonen durch die Schalleinwirkung während eines Arbeitstages zu treffen. In den wenigsten Fällen wird jedoch der Schalldruckpegel über der Arbeitszeit konstant sein. Mehrere Messungen mit anschließender Mittelung oder eine integrierende Messung zur Ermittlung des energieäquivalenten Schalldruckpegels sind also erforderlich, um einen Kennwert für die Lärmbelastung zu erhalten. Für die Mittelung von n einzelnen A-bewerteten Schallpegelmessungen LpAeq,ti über die gesamte Beurteilungszeit T ist in DIN EN ISO 9612 der Mittelungspegel LpAeq,T,m definiert: /10 · L §1 n L pAeq ,T , m (T ) 10 log ¨ ¦ ti 10 pAeq ,ti ¸ ©T i 1 ¹
>dB(A)@
(9.10)
Die Zeitintervalle ti in denen die Einzelmessungen stattfinden, sind entsprechend dem Verlauf des A-bewerteten Schalldruckpegels LA(t) zu wählen. Abb. 9.5 gibt hierfür ein Beispiel. Mittelungsdauer T Teildauer 1
Teildauer 2
Teildauer 3
LA(t)
Messdauer 1
Messdauer 2
Messdauer 3
Abb. 9.5: Schalldruckpegelverlauf mit Teilzeiten ti und Messzeiten für gleichbleibenden Schalldruckpegel, periodische Pegelverläufe und stochastisch veränderliche Schallereignisse (nach DIN 45641)
Wird eine solche Messung über den Beurteilungszeitraum eines Arbeitstages (8 h) durchgeführt, so spricht man vom Tages-Lärmexpositionspegel LEX,8h am Arbeitsplatz:
784
Arbeitswissenschaft
LEX ,8h
LpAeq ,Te (Te
8h)
>dB(A)@
(9.11)
In DIN 45645 ist ergänzend vorgesehen, dem Beurteilungspegel Zuschläge für Impuls- und Tonhaltigkeit eines Geräusches hinzuzufügen. Allerdings sind die Regeln zum Bestimmen der Zuschläge einfach gehalten, so dass komplexe spektrale Zusammenhänge unberücksichtigt bleiben. Dieser ergänzte Beurteilungspegel LEX,8h bildet die Grundlage für die Beurteilung der Lärmbelastung von Arbeitspersonen nach der VDI Richtlinie 2058 Bl. 2 (Gehörgefährdung) und Bl. 3 (Lärm und ausgeübte Tätigkeit). 9.1.5.1
BeurteilungĆimĆHinblickĆaufĆGehörgefährdungĆ
Nach VDI 2058 Bl. 2 besteht die Gefahr der Gehörschädigung ab Beurteilungspegeln von 85 dB(A). Für LEX,8h > 90 dB(A) nimmt die Wahrscheinlichkeit der Schädigung deutlich zu. Diese Kennwerte sind auch in die Lärm- und VibrationsArbeitsschutzverordnung (LärmVibrationsArbSchV) eingegangen. Entsprechend der angenäherten Dosis-Wirkungs-Beziehung werden für ohrgesunde Personen lärmbedingte Gehörschäden statistisch ausgeschlossen, wenn x LEX,8h < 90 dB(A) und die Expositionsdauer <= 6 Jahre, x LEX,8h < 87 dB(A) und die Expositionsdauer <= 10 Jahre oder x LEX,8h < 85 dB(A) und die Expositionsdauer <= 15 Jahre ist. Als Kriterium für die Lärmschwerhörigkeit wird hier ein Hörverlust von mehr als 40 dB bei einer Testfrequenz von 3000 Hz im Audiogramm verwendet. Die in der Richtlinie vorgestellten Grenzwerte werden mit der Einschränkung angegeben, dass in der Erholungszeit der bewertete Schalldruckpegel LA kleiner als 70 dB(A) ist und die tägliche Erholungszeit größer als 10h ist. Hieraus ist ersichtlich, dass auch die Lärmbelastung in der Freizeit von großer Bedeutung ist. 9.1.5.2
BeurteilungĆimĆHinblickĆaufĆdieĆausgeübteĆTätigkeitĆ
In VDI 2058 Bl. 3 werden Schallereignisse im Hinblick auf die ausgeübte Tätigkeit beurteilt. Zwar sind eine Reihe von Einflussgrößen wie bspw. x akustisch messbare Größen, x geräuschbezogene Größen (z.B. Auffälligkeit, Informationshaltigkeit usw.), x tätigkeitsbezogene Anforderungen an die Arbeitspersonen wie Aufmerksamkeit und Konzentration und x personenbezogene Einflussgrößen aufgeführt, in die Beurteilung der Geräuschimmission im Hinblick auf Zumutbarkeit gehen direkt aber nur der gemessene Beurteilungspegel und die Art der Tätigkeit ein. Nicht zu überschreitende Beurteilungspegel sind nach DIN EN ISO 11690-1 x 35-45 dB(A) für überwiegend geistige Tätigkeiten,
Arbeitsumgebung
785
x 45-55 dB(A) für einfache oder überwiegend mechanisierte Bürotätigkeiten und vergleichbare Tätigkeiten, x 75-80 dB(A) für sonstige Tätigkeiten. 9.1.6
Gestaltungshinweise
Maßnahmen zur Minderung der Lärmbelastung lassen sich hierarchisch nach dem TOP Modell des Arbeitsschutzes (vgl. Kap. 8.1.4.3) gliedern. Begleitend sind arbeitsmedizinische Maßnahmen wirksam. Lärmschutz sollte bereits bei der Neugestaltung von Arbeitssystemen ansetzen (siehe DIN EN ISO 11690-2). Durch den Einkauf von lärmarmen Maschinen bzw. Betriebsmitteln und die Wahl geeigneter Arbeitsverfahren lassen sich bereits erhebliche Belastungsminderungen erzielen. Korrektive Gestaltungsmaßnahmen, wie eine nachträgliche Lärmdämmung oder -dämpfung, sind dagegen aufwendig bzw. oft nicht möglich, ohne den Arbeitsprozess zu behindern. Grundsätzlich sollten zunächst die Möglichkeiten des technischen Lärmschutzes ausgeschöpft werden, ehe der organisatorische oder persönliche Lärmschutz Anwendung findet. Technischer Lärmschutz Der Technische Lärmschutz lässt sich gliedern in x x x x
die Auswahl lärmarmer Arbeitsverfahren, Maßnahmen zur Minderung der Lärmentstehung, Maßnahmen zur Minderung der Lärmausbreitung (Schalldämmung) und Maßnahmen zur Umwandlung von Schallenergie in Wärme (Schalldämpfung). Lärm entsteht in Anlehnung an VDI 3720 Bl. 2 einerseits durch die Luftschallabstrahlung von schwingenden Maschinenteilen, andererseits durch turbulente Druckausgleichsvorgänge in strömenden Gasen (z.B. Ansauggeräusch eines Kompressors). Für die Schwingungsanregung von Maschinenteilen sind x Massenkräfte (z.B. Unwucht einer rotierenden Welle), x mechanische Wechselwirkungen zwischen festen Körpern bzw. Werkzeug und Werkstück (z.B. Zusammenstoßen, Gleitreibung, Zerspanen), x ungleichförmige Kraftübertragung (z.B. Verformen) und x turbulente Strömungen von in der Maschine eingeschlossenen Medien (z.B. bei Hydrauliksystemen) verantwortlich. Darüber hinaus werden die mechanischen Schwingungen (der sog. Körperschall) an umgebene Festkörper weitergeleitet. Bei einer Maschine werden das Fundament und der Hallenboden zu Schwingungen angeregt, die wiederum an ihrer Oberfläche Luftschall abstrahlen. Zur Begrenzung der Schwingungsentstehung sollten Massenkräfte, z.B. durch das Auswuchten von Wellen, kleingehalten werden (siehe Kap. 9.2.6). Bei Gleitvorgängen ist auf eine spielarme Führung und die Absenkung der Kräfte durch ausreichende Schmierung zu achten. Spannungsspitzen beim impulsartigen Zu-
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Arbeitswissenschaft
sammenstoßen von Maschinenteilen sollten durch zeitliche Dehnung des Vorgangs abgebaut werden. Ein Beispiel hierfür ist der Schrägschnitt anstelle des Geradschnitts bei Stanzwerkzeugen (Abb. 9.6). Aus diesen Forderungen folgt auch die Notwendigkeit der ausreichenden Wartung von Maschinen. Z.B. treten bei abgenutzten Schneidkanten an Werkzeugen wesentlich höhere Schneidkräfte auf, so dass höhere Schallleistungen abgestrahlt werden. Bei strömenden Medien sollten Turbulenzen vermieden werden. Dies ist durch die Absenkung der Strömungsgeschwindigkeit (größerer Rohrquerschnitt) oder durch eine strömungsgünstige Gestaltung der Wände möglich.
Keilleistenwelle
Drallmesserwelle
schlecht
besser
Abb. 9.6: Beispiele zur Lärmminderung durch den Abbau von Spannungsspitzen mittels zeitlicher Dehnung von Vorgängen: Drallmesserwelle bei einer Hobelmaschine anstelle einer geraden Keilleistenwelle (VDI 3720 Bl. 2)
Die Übertragung von Körperschall an die Umgebung kann durch eine schwingungsisolierte Aufstellung der Maschine vermindert werden (aktive Schwingungsisolation, Kap. 9.2.6). Schallbrücken, wie z.B. Rohrleitungen zur Maschine, sollten ebenfalls dämmend gestaltet werden, so dass eine Körperschallübertragung gemindert ist. Zur Verminderung der Ausbreitung von Luftschall werden Maschinen gekapselt (siehe DIN EN ISO 15667), d.h. von einem schalldichten Gehäuse umgeben. Bei dieser Schalldämmungsmaßnahme ist darauf zu achten, dass selbst bei kleinen Öffnungen hohe Anteile des Luftschalls nach außen gelangen und somit die Wirkung einschränken. Kapseln sollten so gestaltet werden, dass sie nicht für regelmäßige Wartungsarbeiten oder die Materialzuführung oder -abführung geöffnet werden müssen und den Arbeitsprozess nicht behindern. Die Praxis hat gezeigt, dass Kapseln, die nicht nach diesen Grundsätzen gestaltet wurden, häufig während des Betriebs der Maschine offen stehen. Die Maßnahmen zur Schalldämpfung beruhen auf der Umwandlung von Schallenergie in Reibungswärme. Zur Schalldämpfung eignen sich offenporige, luftdurchlässige Stoffe wie z.B. Steinwolle, Glaswolle oder offenporige Kunststoffschäume. Nicht in jedem Fall ist die Verwendung von Steinwolle oder offenporigen Schäumen als schalltechnisch optimaler Lösungsweg möglich, da die mechanische Belastbarkeit dieser Werkstoffe begrenzt ist. Eine Lösung für solche
Arbeitsumgebung
787
Anwendungsfälle stellt eine Lochplatte vor einer festen Wand zur Resonanzdämpfung dar. Die Dämpfung basiert auf dem Prinzip des Helmholtz’schen Resonators, bei welchem durch die Elastizität des Luftvolumens im Inneren in Kombination mit der trägen Masse der in der Öffnung befindlichen Luft ein mechanisches Masse-Feder-System mit einer ausgeprägten Eigenresonanz entsteht. Luftmassen, die an festen Körpern entlangstreichen, werden so zu Resonanzschwingungen angeregt, die dem Schall einen Teil seiner kinetischen Energie entziehen. Beispiele hierfür sind auch Schalldämpfer (Auspufftöpfe) von Verbrennungskraftmaschinen. Die Schalldämpfung spielt eine besondere Rolle bei der Gestaltung von Arbeitsräumen, da Schall an den Wänden und der Decke reflektiert wird. Vor einer Wand kann sich die Schallintensität bei vollständiger Reflektion verdoppeln, so dass der Schallpegel um 3 dB zunimmt. Eine schallabsorbierende Auskleidung der Decke oder einzelner Wände schafft hier Abhilfe. Organisatorischer Lärmschutz Maßnahmen des organisatorischen Lärmschutzes können dazu beitragen, dass nur eine geringere Anzahl von Arbeitspersonen Lärm ausgesetzt ist, bspw. durch eine räumliche Trennung der lärmintensiven von den lärmarmen Arbeitsplätzen. Eine Absenkung des Beurteilungspegels als Maß der Lärmdosis für einzelne Arbeitspersonen ist auch möglich, indem sie während einer Schicht den Arbeitsplatz wechseln (sog. job rotation, siehe Kap. 5.4.1) und somit nur eine begrenzte Zeit an einem lärmintensiven Arbeitsplatz arbeiten. Hierbei muss die Restitutionszeit der TTS berücksichtigt werden (Abb. 9.7).
Abb. 9.7: Temporary Threshold Shift (TTS) als Funktion der Expositionsdauer (links) und Restitutionsverlauf TTS(t) nach Belastung durch Lärm (rechts)
Persönlicher Gehörschutz Lässt sich trotz technischer und organisatorischer Maßnahmen der Beurteilungspegel nicht unter 85 dB(A) senken, so sind persönliche Gehörschutzmittel bereit-
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Arbeitswissenschaft
zustellen. Ab LEX,8h = 85 dB(A) besteht laut Lärm- und VibrationsArbeitsschutzverordnung die Tragepflicht für persönliche Gehörschutzmittel, eine Kennzeichnungspflicht des Lärmbereichs sowie die Pflicht, arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen entsprechend der UVV „Arbeitsmedizinische Vorsorge“ durchzuführen. In Anlehnung an VDI 2560 und DIN EN 458 lassen sich persönliche Gehörschutzmittel wie folgt unterteilen: x Gehörschutzstöpsel sind meist Knetmassen bzw. Formstücke aus Schaumstoff zum Tragen im Gehörgang. Bei im Gehörgang getragenen Mitteln kann es zu Infektionen oder dem Auftreten von Ekzemen kommen, weshalb sich in diesem Bereich Einwegprodukte aus Kunststoff weitgehend durchgesetzt haben. Man unterscheidet hierbei zwischen bereits fertig geformten, vor Gebrauch zu formenden und individuell an den jeweiligen Gehörgang angepassten Gehörschutzstöpseln. x Kapselgehörschützer schützen das Gehör durch Kapseln, die über die Ohren gesetzt werden. Je nach Ausführung liegen sie als bügelbasierte Kapselgehörschützer oder als an einem Schutzhelm befestigte Kapselgehörschützer vor. Mit Gehörschutzmitteln wie Gehörschutzstöpseln oder Gehörschutzkapseln sind Verminderungen des Schalldruckpegels im Gehörgang um 20-30 dB möglich. Sie werden für A-bewertete Schalldruckpegel kleiner 105 dB(A) eingesetzt. In Abb. 9.8 ist die Dämmwirkung verschiedener solcher Gehörschutzmittel aufgetragen. Deutlich wird hierbei, dass diese Mittel im Bereich schädlicher und lästiger Frequenzen besonders wirksam sind. Für höhere Schallpegel müssen umfassendere Schutzmaßnahmen getroffen werden, da hier der alleinige Schutz vor direkter Schalleinwirkung auf das Ohr nicht mehr ausreichend ist: x Gehörschutzhelme bzw. Schallschutzhelme sind in der Lage, die Übertragung des Schalls auf die Schädeldecke zu mindern, da für sehr hohe Schalldruckpegel (LEX,8h > 120 dB(A)) auch die Knochenleitung über die Schädeldecke als Schädigungsmechanismus von Bedeutung ist. x Schallschutzanzüge müssen bei extremen Belastungen getragen werden (LEX,8h > 130 dB(A)), um innere Organe vor mechanischen Einwirkungen zu schützen. Zusätzliche können Gehörschutzmittel je nach Ausführung Funktionsmodi enthalten (DIN EN 458): Gehörschützer mit pegelabhängiger Geräuschdämmung, Gehörschützer mit frequenzunabhängiger Dämmcharakteristik sowie Kapselgehörschützer mit Kommunikationseinrichtung ermöglichen dem Benutzer eine verbesserte Kommunikation oder erleichtern diese im Vergleich zu passiven Systemen. Bei monotonen tieffrequenten Geräuschquellen (50 - 500 Hz) können Gehörschützer mit aktiver Geräuschkompensation (ANR) eingesetzt werden (siehe MÖSER 2007). Durch digitale Signalverarbeitung wird bei diesen Systemen der
Arbeitsumgebung
789
auftreffende Schall teilweise durch das Prinzip der Interferenz ausgelöscht, um so die Schutzwirkung für den Benutzer zu erhöhen. Für impulshaltige Geräusche ist dieses System nur bedingt geeignet. Problematisch ist bei allen persönlichen Gehörschutzmitteln der Tragekomfort. Da jede Art von persönlicher Lärmschutzausrüstung von Arbeitspersonen i.Allg. als hinderlich angesehen wird, kommt es häufig vor, dass sie nicht getragen wird. Die Arbeitspersonen fühlen sich sonst akustisch isoliert und haben das Gefühl, akustische Rückmeldungen über den Betriebszustand des Arbeitsmittels nicht zu erfassen oder in der Kommunikationsfähigkeit eingeschränkt zu sein. Dieser Umstand begründet die Verwendung von persönlichen Schutzmitteln als letzte Möglichkeit des Lärmschutzes nach den technischen und organisatorischen Maßnahmen.
Abb. 9.8: Schalldämmung verschiedener Gehörschutzmittel (zusammengestellt nach Herstellerangaben)
Arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen Die Lärm- und Vibrations-Arbeitsschutzverordnung (LärmVibrationsArbSchV) schreibt eine Vorsorgeuntersuchung für Beschäftigte in Lärmbereichen (Bereiche mit LEX,8h größer 85 dB(A) oder bewerteten Impulsschalldruckpegeln LAI > 137 dB(C)) vor, weiter unterliegen diese Bereiche einer Kennzeichnungspflicht. Bei „dauernden gesundheitlichen Bedenken“ (wie z.B. durch bereits vorhandene Gehörschäden) kann der Arbeitsmediziner die Genehmigung zur Beschäftigung in einem Lärmbereich verweigern. Bei Nachfolgeuntersuchungen hat der Arzt die Möglichkeit, bei gesundheitlichen Bedenken eine Beschäftigung in Lärmbereichen zu untersagen oder Auflagen (z.B. Tragen eines persönlichen Gehörschutzes, Begrenzung der Einwirkdauer) zu machen.
790
9.2
Arbeitswissenschaft
Mechanische Schwingungen
Mechanische Schwingungen sind als Umgebungseinflussfaktor sowohl bei beweglichen Arbeitsplätzen, z.B. beim Führen von Kraftfahrzeugen, als auch beim Arbeiten mit angetriebenen Handwerkzeugen, beispielsweise einer Motorsäge, von besonderer Bedeutung. Bei beweglichen Arbeitsplätzen spricht man von Ganzkörperschwingungen, bei angetriebenen Handwerkzeugen hingegen von Hand-ArmSchwingungen. Neben der Beeinträchtigung der menschlichen Leistung und des Wohlbefindens durch eine Schwingungsbelastung treten bei längeren Expositionszeiten Schädigungen im Bereich der Wirbelsäule sowie im Hand-Arm-Bereich auf. 9.2.1
Physikalische Grundlagen
Mechanische Schwingungen sind translatorische oder rotatorische, zeitveränderliche Bewegungen von Festkörpern um eine Ruhelage (DUPUIS 1993). Dabei wird entsprechend des Zeitverlaufs der Auslenkung zwischen sinusförmigen (z.B. bei Anregung durch eine drehende Welle mit Unwucht), periodischen, (z.B. bei Überlagerung der Unwuchtschwingungen mehrerer Wellen mit unterschiedlichen Drehzahlen) und stochastischen Schwingungen (z.B. Fahrzeug auf unebener Fahrbahn) unterschieden. Messgrößen Messgrößen sind der Weg s(t), als Auslenkung aus der Ruhelage, die Geschwindigkeit v(t) und die Beschleunigung a(t) in ihrem zeitlichen Verlauf. Die drei Größen sind bekanntermaßen in folgender Weise verknüpft: a(t )
dv(t ) dt
d 2 s (t ) dt 2
ªmº «¬ s 2 »¼
(9.12)
Charakteristische Größen zur Beschreibung einer Sinusschwingung sind die Amplitude als die größte Auslenkung und die Schwingungsfrequenz. Bei nicht periodischer Bewegung wird eine Schwingung allgemein durch ihr Fourierspektrum beschrieben. Aus Gründen der summarischen Betrachtung werden in Analogie zur Schallmessung jedoch die zeitveränderlichen Größen Weg, Geschwindigkeit und Beschleunigung durch ihre Effektivwerte (siehe Kap. 9.2.5) charakterisiert. Um die Stoßhaltigkeit einer Schwingung zu kennzeichnen, kann der Crest-Faktor bzw. Scheitelfaktor verwendet werden. Er ist definiert als das Verhältnis des Spitzenwertes der Beschleunigung zu ihrem Effektivwert. Einleitungsort und Einleitungsrichtung Mechanische Schwingungen werden in den menschlichen Körper beim Stehen über die Füße, beim Sitzen zusätzlich über das Gesäß und beim Führen von ange-
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triebenen Werkzeugen über die Hände eingeleitet. Entsprechend der Einleitungsstelle wird zwischen Ganzkörperschwingungen und Hand-Arm-Schwingungen unterschieden. Üblicherweise werden die drei Messgrößen Weg, Geschwindigkeit und Beschleunigung in menschbezogenen Koordinatensystemen angegeben (siehe Abb. 9.9), die in der VDI-RICHTLINIE 2057 Bl.1 und Bl.2 genormt sind.
Abb. 9.9: Koordinatensysteme für Schwingungsrichtungen (nach VDI 2057, Bl.1 u. Bl.2)
Beim Messen wird häufig für die jeweilige Koordinatenrichtung ein eigener Beschleunigungsaufnehmer verwendet. Messorte sind die Stellen der Schwingungsübertragung. Mit einer solchen Anordnung können prinzipiell nur translatorische Schwingungen erfasst werden. Üblicherweise liegt jedoch der Drehpunkt rotatorischer Schwingungen so weit vom Bestimmungsort entfernt, dass rotatorische Anteile translatorisch bewertet werden können. Da das Koordinatensystem einer anthropozentrischen Schwingungsmessung situationsabhängig ist, wird bei Messergebnissen von Ganzkörperschwingungen die Lage des Körpers, z.B. liegend, stehend, sitzend mit angegeben. 9.2.2
Physiologische Grundlagen
Der menschliche Körper wird durch die Einleitung mechanischer Schwingungen selbst zum Schwingen angeregt. Weil die einzelnen Körperteile nicht starr miteinander verbunden sind, liegt es nahe, das Schwingungsverhalten des Menschen durch Feder-Masse-Dämpfer Modelle nachzubilden. Je nach gewünschter Detaillierung der Nachbildung ergeben sich unterschiedlich komplexe Modelle. Drei recht einfache Ersatzmodelle sind in Abb. 9.10 dargestellt.
792
Arbeitswissenschaft
Abb. 9.10: Feder-Masse-Dämpfer Modelle des menschlichen Körpers (nach SCHEIBE u. SCHWARZLOSE 1983): A = 1-Masse-1 Feder-System mit Dämpfer; B = 2-Masse-2Feder-System mit Dämpfer; C = 7-Masse-7-Feder-System mit Dämpfer
Bei solchen Ersatzmodellen ist einschränkend zu beachten, dass der Mensch einer Schwingungseinwirkung nicht passiv sondern aktiv gegenübersteht. Das aktive Verhalten beruht auf Ausgleichsmechanismen wie der Kontraktion von Muskelgruppen (z.B. beim Aufenthalt auf Schiffen bei großem Seegang), der Muskulaturermüdung bei längerer Schwingungsexposition sowie auf der Grundmuskelspannung, die von der mentalen Beanspruchung des Menschen abhängig ist. Weiterhin verändert sich im Tagesverlauf der Füllzustand der Hohlorgane und somit auch ihre Massen. Infolgedessen können die Zahlenwerte für die Resonanzbereiche von Organen und Körperteilen in Tabelle 9.1 nur als Anhaltspunkte dienen.
Arbeitsumgebung
793
Tabelle 9.1: Resonanzfrequenzen des menschlichen Körpers (nach RENTZSCH 1983)
Das Schwingungsverhalten des Hand-Arm-Systems ist neben der Körperhaltung und der Schwingungswirkrichtung auch von der Andruckkraft abhängig. Die Eigenfrequenz des Hand-Arm-Systems liegt im Bereich von 12 - 20 Hz (Abb. 9.11).
Abb. 9.11: Schwingungsverhalten des Hand-Arm-Systems (nach DUPUIS et al. 1976), azh: Effektivbeschleunigung der anregenden Schwingung an der Einleitungsstelle
794
9.2.3 9.2.3.1
Arbeitswissenschaft
Wirkung mechanischer Schwingungen auf den Menschen PhysiologischeĆReaktionenĆ
Bedingt durch das Schwingungsverhalten der einzelnen Körperteile und Organe treten zahlreiche Reaktionen des Körpers in Abhängigkeit von Frequenz und Amplitude der erregenden Schwingung auf. Der menschliche Körper versucht durch Muskelkontraktion Resonanzerscheinungen abzubauen. Dieser Effekt kann mit Hilfe der Elektromyographie nachgewiesen werden und ist vor allem bei Ganzkörperschwingungen von Bedeutung. So ist bei Anregung mit einem periodischen Beschleunigungsverlauf ein ebenfalls periodischer Verlauf des Elektromyogramms zu beobachten (Abb. 9.12). Als weitere physiologische Reaktionen auf Ganzkörperschwingungen können Veränderungen des Atemvolumens, Verminderung von Reflexen, Verdauungsstörungen sowie die Verminderung der Durchblutung der Gliedmaßen nachgewiesen werden.
Abb. 9.12: Elektromyogramme der Lendenmuskulatur und zugehörige Beschleunigungssignale am Sitz und im Bereich der Lendenwirbel bei stochastischen und periodischen Schwingungen (aus DUPUIS et al. 1972)
Rotationsschwingungen im Bereich von 0,5 Hz führen häufig zu Kinetosen wie z.B. Seekrankheit. Die Mechanismen dieser Bewegungskrankheiten sind nicht vollständig geklärt. Es wird jedoch vermutet, dass das Gleichgewichtsorgan eine wesentliche Rolle spielt: Bei Drehschwingungen in diesem Frequenzbereich stimmen die von den Augen aufgenommenen Informationen und die Informationen über die Bewegung des Körpers, die von den Bogengängen des Gleichgewichtsorgans gegeben werden, nicht überein. Folge der Irritation sind Übelkeit, Blutdruckabfall und Schweißausbruch. Im Bereich der Resonanzfrequenz der Augen wird die Sehschärfe herabgesetzt. Die Flimmerverschmelzungsfrequenz, dass heißt die Fähigkeit des menschlichen Auges aufeinanderfolgende Lichtblitze zu unterscheiden, nimmt im Resonanzbereich der Augäpfel ab.
Arbeitsumgebung
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Bei Hand-Arm-Schwingungen wird die Durchblutung der Finger herabgesetzt. Dieser Effekt ist durch die Absenkung der dortigen Hauttemperatur direkt nachweisbar (Abb. 9.13).
Abb. 9.13: Abnahme der Hauttemperatur unter Schwingungsbelastung (nach DUPUIS u. WEICHENRIEDER 1977)
9.2.3.2
SchädigungĆ
Eine langanhaltende Belastung durch mechanische Schwingungen führt in Abhängigkeit der täglichen Expositionszeit, der Intensität und dem Einleitungsort zu Schädigungen. Bei Hand-Arm-Schwingungen, verursacht durch Arbeitsmittel niedriger Schwingfrequenzen mit großen Amplituden wie z.B. Presslufthämmer, treten Knochen- und Gelenkdegenerationen auf (Berufskrankheit Nr. 2103: „Erkrankungen durch Erschütterungen bei Arbeit mit Druckluftwerkzeugen oder gleichartig wirkenden Werkzeugen oder Maschinen“). Arbeitsmittel, die Schwingungen von 40 - 60 Hz erzeugen wie z.B. Handschleifmaschinen oder Kettensägen, führen nach mehrjähriger Expositionszeit zu chronischen Durchblutungsstörungen der Finger (Berufskrankheit 2104: „Vibrationsbedingte Durchblutungsstörungen an den Händen …“, auch vasospastisches Syndrom, Weißfingerkrankheit genannt). Niedrige Umgebungstemperaturen fördern die Durchblutungsstörungen. Diese Tatsache ist vor allem beim Arbeiten mit Kettensägen im Freien von Bedeutung. Die Folge ist ein häufiges Einschlafen und Kribbeln der Finger verbunden mit Schmerzen. Die feinmotorische Koordination wird eingeschränkt (DUPUIS 1982). Langfristige Belastungen durch Ganzkörperschwingungen können zu irreparablen Schäden, hauptsächlich an der Wirbelsäule, führen (DUPUIS 1982) (Berufskrankheit Nr. 2110: „Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjährige, vorwiegend vertikale Einwirkung von Ganzkörperschwingungen im Sitzen)“.
796
9.2.4
Arbeitswissenschaft
Messung
Theoretisch können die Auslenkungen von Festkörpern mit Wegaufnehmern gemessen werden. Dazu benötigt man allerdings eine ortsfeste Aufhängung. Da diese Vorgehensweise z.B. bei Schwingungsmessungen an handgeführten Maschinen nicht möglich ist, werden häufig Beschleunigungsaufnehmer verwendet, die auf dem seismischen Prinzip beruhen. In diesen Sensoren ist eine Masse gefedert und gedämpft gelagert. Bei Schwingungsanregung kommt es zu Trägheitskräften an der Masse, die sie aus der Ruhelage auslenken. Die Auslenkung kann nach verschiedenen Prinzipien in elektrische Signale umgewandelt werden, Abb. 9.14 zeigt einige Beispiele: x Die Masse ist an einer Blattfeder befestigt und die Auslenkung wird relativ zum Gehäuse durch Dehnungsmessstreifen (DMS) aufgenommen, die auf der Blattfeder angebracht sind (Abb. 9.14a). x Durch Ausnutzung des piezoelektrischen Effekts werden elektrische Ladungen verschoben, die der Trägheitskraft der Masse proportional sind (Abb. 9.14b). x Die Masse befindet sich in einer Spule, deren Impedanz sich bei Massenauslenkung relativ zum Aufnehmergehäuse verändert (Abb. 9.14c). Alternativ kann bei miniaturisierter Bauform des Sensors kapazitiv gemessen werden. Diese in den letzten Jahren umfangreich erforschten und mittlerweile auch recht weit verbreiteten mikro-elektro-mechanischen Systeme (MEMS, siehe auch CHANG 2006) besitzen sowohl Federn als auch Massen aus Silizium, die nur wenige μm breit sind. Der Messbereich der Aufnehmer ist von der Eigenfrequenz ihres FederDämpfer-Masse-Systems abhängig. Üblicherweise kann im Bereich bis zur Hälfte der Eigenfrequenz gemessen werden. Die elektrischen Signale werden entsprechend dem Wirkprinzip des Aufnehmers so vorverarbeitet, dass am Ausgang eine beschleunigungsproportionale Spannung anliegt. Bildet man deren Effektivwert, so erhält man mit der Effektivbeschleunigung ein energetisches Maß der Schwingungsbelastung. Dabei ist die Frequenzlage mit zu berücksichtigen. Ist der Signalverlauf periodisch, lassen sich die Frequenzanteile schrittweise analysieren, indem Terz- und Oktavfilter sukzessiv dem Effektivglied vorgeschaltet werden. Bei stochastischen Signalen hingegen kann das Beschleunigungsspektrum mit Echtzeit-Frequenz-Analysatoren ermittelt werden. Die Anbringung der Beschleunigungsaufnehmer erfolgt direkt an der Einleitungsstelle in den menschlichen Körper. Es wird in den drei Koordinatenachsen gemäß VDI 2057, Bl.1 gemessen. Ist eine direkte Messung nicht möglich, sind die Messergebnisse durch eine Koordinatentransformation vektoriell umzurechnen.
Arbeitsumgebung
797
Abb. 9.14: Beschleunigungsaufnehmer nach dem seismischen Prinzip; a. mit Dehnungsmessstreifen, b. mit druckempfindlichem piezoelektrischen Element, c. mit Messspule nach dem induktiven Prinzip
9.2.5
Bewertung und Beurteilung
Die Umsetzung neuer Schutzziele erfolgte in Deutschland mit der am 09. März 2007 in Kraft getretenen Lärm- und Vibrations-Arbeitsschutzverordnung (LärmVibrationsArb-SchV). Während vor Inkrafttreten der LärmVibrationsArbSchV ein wesentliches Kriterium zur Bewertung von mechanischen Schwingungen die sog. „bewertete Schwingstärke K“ (kurz K-Wert) darstellte, wurden mit der neuen Verordnung neue Werte eingeführt, der sog. Tages-Vibrationsexpositionswert, der Auslösewert, oder der Expositionsgrenzwert. Obwohl sich das Risiko gegenüber Vibrationen per se nicht geändert hat, sollen durch die neuen Auslöse- und Expositionsgrenzwerte das bisherige Schutzniveau verbessert werden, da vom Arbeitsgeber einige Maßnahmen bereits unterhalb der bisherigen Grenz- und Richtwerte zu treffen sind (MILDE u. PONTO 2008). Der Tages-Vibrationsexpositionswert, Variable A(8), ist der über die Zeit gemittelte Vibrationsexpositionswert bezogen auf eine Achtstundenschicht. Bei Hand-Arm-Vibrationen wird der auf acht Stunden normierte TagesVibrationsexpositionswert ausgedrückt als die Quadratwurzel aus der Summe der
798
Arbeitswissenschaft
Quadrate der Effektivwerte der frequenzbewerteten Beschleunigungen in den drei orthogonalen Koordinatenrichtungen ahwx, ahwy, ahwz , also ahv
2 2 2 ahwx ahwy ahwz
(9.13)
mit dem jeweiligen Effektivwert ahw über der Integrationszeit T: T
ahw
1 2 aw (t )dt T ³0
(9.14)
Bei Ganzkörper-Vibrationen erfolgt die Bewertung durch die äquivalente Dauerbeschleunigung für einen Zeitraum von acht Stunden, berechnet als die maximal gemessenen Werte der Effektivwerte der frequenzbewerteten Beschleunigungen in den drei orthogonalen Richtungen (1,4·awx, 1,4·awy, awz) für einen sitzenden oder stehenden Beschäftigten. Während bisher die Schwingbeschleunigungen gemessen und durch festgelegte Verfahren auf Basis der nationalen Normung auf K-Werte umgerechnet wurden, werden im Rahmen der Lärm- und Vibrations-Arbeitsschutzverordnung nun die gemessenen frequenzbewerteten Beschleunigungen verwendet. Zur Umrechnung von K-Werten müssen daher die Frequenzbewertungen nach VDI 2057 (2002) verwendet werden (siehe Abb. 9.15).
Frequenzbewertung/frequency weightings in dB
5
-5
-15
-25
-35
-45
-55
-65
-75
Wf
-85
0.016
0.0315
0.063
0.125
Wk 0.25
0.5
1
Wd 2
4
8
16
Wm 31.5
63
125
250
Frequenz/frequency f in Hz
Abb. 9.15: Frequenzbewertungskurven nach VDI 2057
Beachtet werden muss hierbei, dass bei Hand-Arm-Vibrationen eine vektorielle Zusammenfassung der Beschleunigungen in allen drei Raumrichtungen zu einem Schwingungsgesamtwert erforderlich ist (siehe Gl. (9.13)). Bei Ganzkörper-
Arbeitsumgebung
799
Vibrationen ergibt sich dagegen wie erwähnt der A(8)-Wert als Maximalwert aus 1,4·awx, 1,4·awy und awz. Hinweise zur Bewertung von Vibrationen findet man in den vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales herausgegebenen Handbüchern (2007a und 2007b). Die Vorgehensweise zur Ermittlung des Tagesexpositionswertes A(8) besteht für Ganzkörpervibrationen aus drei Schritten: (1) Ermitteln der drei Effektivwerte der frequenzbewerteten Beschleunigung awx, awy und awz anhand von Messungen, Herstellerangaben oder sonstigen Quellen. Die Frequenzbewertungen sind in VDI 2057 normiert. (2) Bestimmen der Tagesexposition in den drei Raumrichtungen x, y und z durch
Ai
1, 4 awi
Az
awz
Texp T0
i
x, y
(9.15a)
Texp
(9.15b)
T0
mit Texp als tägliche Dauer der Schwingungsexposition und T0 als Referenzdauer von acht Stunden. (3) Der höchste Wert, bzw. derjenige Wert von Ax(8), Ay(8) und Az(8) aus dem die geringste zulässige Expositionszeit folgt, ist die Tagesexposition gegenüber Schwingungen: A(8)
max ^ Ax (8), Ay (8), Az (8)`
(9.16)
Eine vereinfachte grafische Methode zur Ermittlung der Tagesexpositionen zeigt Abb. 9.16. Die auf acht Stunden bezogenen Tagesexpositionswerte werden durch den Vergleich mit den Auslöse- und Expositionsgrenzwerten beurteilt und lösen bei Erreichen bzw. Überschreiten der Auslösewerte bzw. Expositionsgrenzwerte bestimmte Maßnahmen aus. Die Auslöse- und Expositionsgrenzwerte für Hand-Arm-Vibrationen bzw. Ganzkörper-Vibrationen zeigt Tabelle 9.2. Tabelle 9.2: Auslöse- und Expositionsgrenzwerte Hand-Arm-Vibrationen
Ganzkörper-Vibrationen z-Richtung
Auslösewert
2,5 m/s2
Expositionsgrenzwert
5,0 m/s2
x- und y-Richtung 0,5 m/s2
0,8 m/s2
1,15 m/s2
800
Arbeitswissenschaft
4 3,8 3,6 3,4 3,2 3 2,8
rot
2,6
(ka w )max (m/s²)
2,4 2,2 2 1,8
A(8)=2.0m/s²
1,6
A(8)=1.8m/s²
1,4
A(8)=1.6m/s²
orange
A(8)=1.4m/s²
1,2
A(8)=1.2m/s² A(8)=1.15m/s²
gelb
1
A(8)=1.0m/s² 0,8 A(8)=0.8m/s²
grün
0,6
A(8)=0.6m/s² A(8)=0.5m/s² A(8)=0.4m/s²
0,4 Beispiel: Beispiel: 1.2m/s² 1.2m/s²für für44Stunden Stunden 30min.ergibt ergibtA(8)=0.9m/s² A(8)=0.9m/s² 30min.
0,2 0 0:0 0
0:3 0
1:0 0
1:3 2:0 0 0
2:3 0
A(8)=0.2m/s² 3:0 0
3:3 0
4:0 4:3 0 0
5:0 0
5:3 0
6:0 0
6:3 7:0 0 0
7:3 0
8:0 0
8:3 0
9:0 9:3 0 0
10: 00
Abb. 9.16: Grafische Ermittlung der Tagesexposition anhand der Expositionszeit sowie des Tagesexpositionswertes A(8) (aus Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2007a)
Arbeitsumgebung
801
Die Auslösewerte haben hierbei eher präventiven Charakter, um das Entstehen von vibrationsbedingten Erkrankungen zu vermeiden. Die Expositionsgrenzwerte kennzeichnen die Vibrationsbelastungen, oberhalb derer bei langjähriger Einwirkung mit deutlichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen gerechnet werden muss. Der Bereich links unten (mittlere Graustufe) in Abb. 9.16 zeigt die Exposition an, die unter dem Auslösewert (siehe Tabelle 9.2) liegt. Diese Exposition darf jedoch nicht als „sicher“ gelten. Bei einer Exposition unterhalb des Auslösewertes kann ein Risiko einer Schädigung durch Ganzkörper-Schwingungen bestehen; in manchen Fällen, insbesondere nach vielen Jahren der Exposition, kann eine derartige Exposition bei einigen Arbeitnehmern zu einer Schädigung durch Schwingungen führen. Nach dem Ampelschema entsprechen die unterschiedlichen Grauabstufungen in Abb. 9.16 den Farben grün (Bereich links unten), rot (rechts oben) und gelb (in verschiedenen Abstufungen im dazwischen liegenden Bereich). Analoge Vorgehensweisen zur Bewertung und Beurteilung von Hand-ArmVibrationen findet man in dem bereits zitierten Handbuch, das vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales herausgegeben wurde (2007b). Die Maßnahmen, die bei Erreichen bzw. Überschreiten der Grenzwerte ergriffen werden müssen, zeigt Tabelle 9.3. Tabelle 9.3: Zu ergreifende Maßnahmen (G46 ist der Berufsgenossenschaftliche Grundsatz zur Untersuchung von Beschäftigten bei Belastungen des Muskel- und Skelettsystems)
Maßnahmen zur Verminderung der Vibrationen können von alternativen Arbeitsverfahren über die Auswahl passender Arbeitsmittel oder die Bereitstellung von Zusatzausrüstungen bis zur Begrenzung der Belastungsdauer durch entsprechende Personaleinsatzpläne im Rahmen der organisatorischen Arbeitsgestaltung reichen (siehe Kap. 9.2.6).
802
Arbeitswissenschaft
9.2.6
Gestaltungshinweise
Die Begrenzung der Einwirkung von Schwingungen auf den Menschen kann durch verschiedene Schutzmaßnahmen erreicht werden. In der VDI-Richtlinie 3831 werden die Maßnahmenbereiche x x x x
Technischer Schwingungsschutz, Arbeitsorganisatorischer Schwingungsschutz, Persönlicher Schwingungsschutz und Arbeitsmedizinischer Schwingungsschutz
angeführt. Technischer Schwingungsschutz
Unter technischem Schwingungsschutz sind Maßnahmen zu verstehen, die der Entstehung und Übertragung mechanischer Schwingungen entgegenwirken. Mechanische Schwingungen werden an Maschinen vor allem durch Unwucht an Wellen bzw. durch oszillierende Massen erzeugt (GASCH et al. 2006). Die Unwucht von Wellen kann durch Auswuchten vermindert werden. Ein in der Praxis angewendetes Verfahren zum automatischen Auswuchten der Welle angetriebener Handwerkzeuge nach LINDELL (1993) ist in Abb. 9.17 skizziert.
Abb. 9.17: In der industriellen Praxis angewendetes Verfahren zum automatischen Auswuchten der Welle angetriebener Handwerkzeuge durch zwei bewegliche Kugeln nach Lindell (1993): a. Beim Lauf mit superkritischer Drehzahl rotiert das Werkzeug um den Massenschwerpunkt, so dass Schwingungen induziert werden. b. Durch die auftretenden Zentrifugalkräfte bewegen sich die beiden Kugeln entlang der Kontur und verändern dadurch die Lage des Massenschwerpunktes, bis dieser auf der Rotationsachse liegt (siehe c.). Eine deutliche Minderung der Schwingungsbelastung des Hand-Arm-Systems ist die Folge. Änderungen der Drehzahl werden schnell ausgeregelt.
Arbeitsumgebung
803
Bei schwingenden Massen besteht weiterhin die Möglichkeit, durch einen gegenläufigen Mechanismus Kräfte zu tilgen. Ein Beispiel hierfür ist das Prinzip des Gegenschlaghammers anstelle des Fallhammers in der Umformtechnik. Generell erhöht sich die Schwingungsbelastung durch Maschinen mit zunehmendem Verschleiß bzw. bei mangelnder Wartung. Eine geeignete Wahl des Arbeitsverfahrens, wie z.B. die Verwendung kraftgebundener Pressen anstelle energiegebundener Pressen, die Verwendung des Scherschnitts statt des Schlagschnitts bei Abkantbänken oder der Verzicht auf Rüttelförderer bei der Zuführung von Werkstücken mindert die Schwingungsbelastung. Diese Maßnahmen führen üblicherweise auch zu einer Lärmminderung. Lässt sich die Entstehung von Schwingungen nicht ausreichend vermeiden, so ist eine Schwingungsisolation zwischen Schwingungsquelle und dem exponierten Menschen vorzusehen. Dabei wird die aktive Schwingungsisolation, die einen Teil der Maschine darstellt und die Ausbreitung mechanischer Schwingungen vermindert, von der passiven Isolation unterschieden, die eine Einwirkung der Schwingungen auf den Menschen vermindern soll. Eine aktive Schwingungsisolation ist z.B. ein federndes und dämpfendes Fundament einer Maschine. Eine passive Schwingungsisolation liegt im Fall einer federnd und gedämpft gelagerten Leitwerte oder Steuerstand vor. Solche Schwingungsisolationen führen zum Abbau von Beschleunigungsspitzen (Federn) und wandeln mechanische Energie in Wärmeenergie um (Dämpfer). In den Abb. 9.18 und Abb. 9.19 sind technische Lösungen zur Schwingungsisolation dargestellt.
eingefasst
eingeknöpft
eingepresst
Abb. 9.18: Gummielemente zur Lagerung von Maschinen (VDI 2062, Bl.2)
Organisatorischer Schwingungsschutz
Werden die Expositionsgrenzwerte bzw. Auslösewerte bei einer täglichen Expositionszeit von acht Stunden trotz der Maßnahmen im Bereich des technischen Schwingungsschutzes überschritten, so ist durch arbeitsorganisatorische Maßnahmen, wie dem Wechsel des Arbeitsplatzes während der Schicht, die Expositionsdauer zu verringern. Die in Bezug auf die Gesundheit höchste zumutbare Expositionsdauer kann bekanntlich Abb. 9.16 entnommen werden.
804
Arbeitswissenschaft
Abb. 9.19: Fahrersitz für landwirtschaftliche Zugmaschinen (DUPUIS 1981), Beispiel für eine passive Schwingungsisolation. Die Schwingungsverminderung wird durch optimierte Sitzfederung und Dämpfung realisiert (vertikale Beschleunigungsmessungen am Sitzfuß und auf der mit einem Fahrer belasteten Sitzfläche). Die Vorspannung der Feder lässt sich einstellen, so dass der Sitz an Personen mit verschiedenem Körpergewicht angepasst werden kann.
Persönlicher Schwingungsschutz
Persönliche Schutzausrüstungen für den Schwingungsschutz sind z.B. Vibrationsschutzhandschuhe, die beim Führen von handgetriebenen Arbeitsgeräten Anwendung finden. Diese Handschuhe haben auf der Grifffläche ein Luftpolster. Zum genauen Führen von Werkzeugen ist hierdurch allerdings eine erhöhte Greifkraft notwendig, die eine Isolationswirkung im niederfrequenten Bereich einschränkt. Arbeitsmedizinischer Schwingungsschutz
Als Maßnahmen des arbeitsmedizinischen Schwingungsschutzes sind Einstellungsuntersuchungen und Nachuntersuchungen vorzunehmen, so dass schwingungsgefährdete Personen erkannt werden können und im Fall einer beginnenden Schädigung eine weitere Exposition verhindert werden kann.
Arbeitsumgebung
9.3
805
Strahlung
Der Begriff Strahlung bezeichnet in der Physik die freie, ungeleitete Ausbreitung von Energie in Form von Teilchen oder Wellen. Die Differenzierung ist historisch bedingt und wird trotz des bekannten Welle-Teilchen-Dualismus der Quantenmechanik in der wissenschaftlichen Diskussion weiterhin aufrecht erhalten. Die Charakterisierung und Beschreibung der Eigenschaften von Strahlung erfolgt durch radiometrische Größen: x Die Strahlungsenergie E bzw. Qe (in der Photometrie) ist die Gesamtenergie einer Teilchenmenge oder einer Welle; Einheit: Joule [J] x Die Strahlungsleistung P einer Strahlungsquelle ist ein Maß für die Strahlungsenergie, die pro Zeiteinheit von einer Quelle emittiert wird; Einheit: Watt [W] x Die Bestrahlung oder Energiedichte H beschreibt die gesamte Strahlungsenergie, die auf eine Objektoberfläche trifft, bezogen auf die Größe der Fläche; Einheit: [J/m2] x Die Leistungsflussdichte S charakterisiert die Energieausbreitung für jeden Raum- und Zeitpunkt. Diese in Vektorschreibweise dargestellte Größe ist definiert als Energie, die pro Zeiteinheit eine Fläche senkrecht zur Ausbreitungsrichtung der Welle oder der Teilchen durchströmt; Einheit: [W/m2]. Physikalisch lassen sich die verschiedenen Arten von Strahlung nach dem Übertragungsmedium für die Energieausbreitung differenzieren. Hierbei werden elastische Medien und die Ausbreitung im Vakuum differenziert. In diesem Kapitel sollen ausschließlich die wichtigsten, nicht an ein Medium gebundenen Strahlungsarten behandelt werden, nämlich die elektromagnetische Strahlung sowie die von radioaktiven Elementen ausgesandten Korpuskularstrahlungen (Alpha-, Beta-, Gammastrahlung). In der physikalischen Feldtheorie wird die räumliche Fortpflanzung von Strahlung als Ausbreitung von Wellen interpretiert. Eine einzelne Welle wird dabei charakterisiert durch die Amplitude, die Wellenlänge bzw. Frequenz sowie die Phase. Bei der Wechselwirkung mit Materie, z.B. Absorption (lat. absorbere = einsaugen) und Emission (lat. emittere = aussenden), verhält sich Strahlung wie eine Menge identischer, kleiner, massebehafteter Teilchen, die den Raum durchfliegen und somit kinetische Energie und Impuls tragen. Wichtiger als die physikalische Natur der Teilchen ist bei der Analyse verschiedener Strahlungsarten hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf den Menschen die kinetische Energie der Teilchen. Diese wird zumeist nicht in der SI-Einheit für Energie in Joule [J] angegeben, sondern in der physikalischen Einheit Elektronenvolt [eV] bzw. einem Vielfachen davon: [keV], [MeV], [GeV]. Ein Elektronenvolt (1 eV) ist dabei definiert als die Bewegungsenergie, die eine Einheitsladung beim Durchlaufen eines elektrischen Spannungsgefälles von 1 Volt gewinnt.
806
Arbeitswissenschaft
Führt die Bewegungsenergie der Teilchen bei einer absorbierenden Materie zur Erzeugung von Ionen, d.h. mindestens ein Elektron aus der Atomhülle des absorbierenden Atoms wird befreit, so wird die Strahlung als ionisierende Strahlung bezeichnet. Da die Ionisierungsenergie für verschiedene Atome bzw. Moleküle eine hohe Varianz aufweist, ist die Grenze zwischen ionisierender und nichtionisierender Strahlung unscharf. Für Atome nimmt die Ionisierungsenergie i.Allg. mit wachsender Kernladung zu und mit wachsendem Atomradius ab. 9.3.1
Physikalische Grundlagen
Arbeitswissenschaftliche Aspekte von Strahlung sind ohne die physikalischen Größen, deren Beziehungen zueinander sowie die Klassifizierung von Strahlung nur schwer zu vermitteln. Im Folgenden werden daher die entsprechenden physikalischen Zusammenhänge kurz eingeführt und der physikalische Prozess der Strahlungserzeugung umrissen. Eine ausführliche Darstellung findet sich z.B. in PAUS (2007), DEMTRÖDER (2004), NOLTING (2007). 9.3.1.1
KorpuskularstrahlungenĆ
Als Korpuskularstrahlen werden mit hoher Geschwindigkeit den Raum durchfliegende kleinste Teilchen bezeichnet, die eine Ruhemasse besitzen, d.h. auch in Ruhelage existieren (VOGT u. SCHULTZ 2007). Die wichtigsten materiellen Strahlungsteilchen sind die Bestandteile der Atome. Die Wechselwirkung mit Materie wird neben der kinetischen Energie vor allem durch die Masse und die elektrische Ladung der Strahlungsteilchen bestimmt. Der Begriff Teilchenstrahl umfasst dabei einen Strom von Teilchen mit einheitlicher, d.h. gerichteter Flugbahn. Die erste bekannte Teilchenstrahlung war die künstlich hergestellte Kathodenstrahlung. Erst später wurden beim radioaktiven Zerfall von Materie die natürlichen Teilchenstrahlungen in Form von Alpha- und Betastrahlung entdeckt. Alpha-Strahlung (D) besteht aus Strahlungsteilchen, die aus je zwei Protonen und Neutronen zusammengesetzt sind. Sie tragen eine positive elektrische Ladung von 2e. D-Teilchen sind physikalisch identisch mit Helium-4-Kernen. Ihre Ruheenergie ist mDʖc02 = 3727,2 MeV. Beta-Strahlung (E) besteht aus Elektronen oder ihren Antiteilchen, den Positronen. Die Strahlungsteilchen tragen eine elektrische Ladung von -e (E-) oder +e (E+). Ihre mittlere Ruheenergie ist meʖc02 = 0,511 MeV. Neutronenstrahlung (n) besteht aus einzelnen Neutronen. Die Strahlungsteilchen sind elektrisch neutral und haben eine mittlere Ruheenergie von mnʖc02 = 939,6 MeV. Protonenstrahlung (p) (Ladung: +e, Masse: meʖc02 = 938,3 MeV) und Strahlungen seltener Teilchen (z.B. Mesonen) haben ebenso wie Schwerionenstrahlung nach dem derzeitigen Kenntnistand nur geringe arbeitsphysiologische Bedeutung.
Arbeitsumgebung
9.3.1.2
807
ElektromagnetischeĆStrahlungĆ
Mit Wechselspannung betriebene Geräte können in Abhängigkeit von ihrer Struktur, ihrer Gestalt und ihrem Verhalten elektromagnetische Strahlung abstrahlen. Die Beschreibung der verschiedenen Ausprägungen elektromagnetischer Strahlung erfolgt durch physikalische Größen, die im Folgenden kurz vorgestellt werden. Elektromagnetisches Feld
Ein physikalisches Feld beschreibt Eigenschaften eines Raumes durch die Zuordnung von physikalischen Größen zu einzelnen Raumpunkten. Analog zu dieser Spezifikation beschreibt ein elektromagnetisches Feld die gerichtete Kraftwirkung für einen Raum- und Zeitpunkt, die auf einen elektrisch geladenen Körper ausgeübt wird. Diese ist charakterisiert durch die vier vektoriellen Größen: x x x x
elektrische Feldstärke E elektrische Flussdichte D magnetische Feldstärke H magnetische Flussdichte B
[V/m] [As/m2] [A/m] [Vs/m2]
Die vektoriellen Größen lassen sich durch vier Vektorfeldern abbilden, die ortsund zeitabhängig sind. Ihre räumliche Verteilung lässt sich durch Feldlinien darstellen. Die elektrische Feldstärke ist definiert durch die Kraft Fe, die auf ruhende und bewegte elektrisch geladene Körper wirkt. Die Einheit der elektrischen Ladung Q ist Coulomb [C]. Die (positiven oder negativen) elektrischen Ladungen sind die Quellen des Feldes E. Fe Q E (9.17) Die Bestimmung der Feldstärke für jeden Raumpunkt ist in der Praxis oftmals sehr aufwändig. Aus diesem Grund wird statt der elektrischen Feldstärke E die elektrische Spannung U gemessen, die über den Radius r proportional zur Feldstärke ist: U ³ E dr (9.18) In elektrisch leitfähigen Materialien, wie bspw. organischem Gewebe, setzen elektrische Felder Ladungsträger in Bewegung und induzieren so einen elektrischen Strom. Dieser Strom wird beschrieben durch den elektrischen Stromdichtevektor j, dessen Größe durch die Ladungsmenge [Coulomb C] gegeben ist, die pro Zeiteinheit durch eine orthogonal zum Stromdichtevektor ausgerichtete Einheitsfläche fließt [C/m2s]. Die Gesamtheit der Ladungsmenge pro Zeiteinheit, die durch einen Leiter fließt, wird durch die elektrische Stromstärke [A] repräsentiert. Die magnetische Flussdichte B [T] beschreibt die Stärke eines durch ein Flächenelement hindurchtretenden magnetischen Flusses. Sie wird beschrieben durch die Kraft F, die ein vom Strom durchflossener Leiter erfährt, geteilt durch die Stromstärke I und die Leiterlänge l (Gleichung (9.19)).
808
Arbeitswissenschaft
B
F I l
(9.19)
Der Einfluss der Materie auf das Verhalten von elektromagnetischen Feldern wird durch die vektoriellen Größen D und H beschrieben. Für viele Materialien gelten die linearen Zusammenhänge: D Hr H0 E (9.20) B
Pr P0 H
(9.21)
Die Permittivität Hund die Permeabilität Pbeschreiben die Durchlässigkeit von Materie für elektrische Felder bzw. für magnetische Felder2. Die Permittivität ist das Produkt aus der Permittivität des Vakuums H0und der relativen Permittivität Hr. Analog zur Permittivität wird die Permeabilität beschrieben durch das Produkt der Permeabilität des Vakuums P0 und der relativen Permeabilität Pr. Beide Größen beschreiben die elektrischen und magnetischen Eigenschaften der Materie (siehe Tabelle 9.4) und sind von der Temperatur und, bei sich periodisch ändernden elektrischen und magnetischen Feldern, von der Frequenz der Felder abhängig (siehe Abb. 9.20). Tabelle 9.4: Permittivität Hrund die Permeabilität Prsiehe HIPPEL 1995
Vakuum Luft (Normalbedingungen) Wasser
Hr
Pr
1,0 1,00059 80,1
1,0 1 + 1ā10í6 1 + 9.10-6
In nicht ferromagnetischen Materialien weicht Pr nur marginal vom Vakuumwert 1 ab, so dass sich B und H nur durch die Proportionalitätskonstante P0 unterscheiden. Zu beachten ist, dass elektrische und magnetische Felder aber nicht unabhängig voneinander sind. Der Zusammenhang wird klassisch durch die Maxwell-Gleichungen beschrieben:
x Ein sich zeitlich änderndes elektrisches Feld induziert ein magnetisches Wirbelfeld. x Ein sich zeitlich änderndes magnetisches Feld induziert ein elektrisches Wirbelfeld. Die Kopplung der elektrischen und magnetischen Felder zum elektromagnetischen Feld ist bei periodisch veränderlichen Feldern proportional zur Frequenz. Für eine Gleichspannung (Frequenz 0 Hz) besteht diese Kopplung nicht. Elektrische und magnetische Felder sind unabhängig voneinander. In einem solchen Fall ist die elektrische Feldstärke E proportional zur Spannung der Quelle 2
Es werden isotrope Materialien vorausgesetzt, d.h. das Verhalten ist in allen Raumrichtungen gleich. B und H haben dann die gleiche Richtung, ebenso D und E. Bei Anisotropie müssen H und P als Tensoren angesetzt werden.
Arbeitsumgebung
809
und die magnetische Feldstärke H weist ein proportionales Verhältnis zum fließenden Strom auf.
Abb. 9.20: Relative Permittivität Hr und spezifische Leitfähigkeit Vr von stark wasserhaltigem Gewebe (z.B. Muskeln, Haut) in Abhängigkeit von der Frequenz (HAUBRICH 1990)
Elektromagnetische Wellen
Sobald sich elektrische Ströme und Spannungen ändern, verändern sich auch die elektrischen und magnetischen Felder. Diese Feldänderungen breiten sich durch eine wechselseitige Induktion im Raum aus. Es entsteht eine elektromagnetische Welle. Die Ausbreitungsgeschwindigkeit ist vom Ausbreitungsmedium abhängig:
v
1
H r H 0 P r P0
(9.22)
Im Vakuum gilt v = c0= 1 / H 0 P0 = 2,99.108 m/s. Es werden die Bereiche Fernfeldbereich und Nahfeldbereich unterschieden (DIN VDE 0848-1):
Fernfeldbereich Ist die Entfernung von der Quelle sehr groß gegenüber der Ausdehnung der Quelle, so können die Wellen durch Frequenzzerlegung, unabhängig von ihrem tatsächlichen zeitlichen Verlauf, als Überlagerung von Wellen mit räumlich und zeitlich konstanter Schwingungsperiode interpretiert werden. Diese ebenen Wellen werden charakterisiert durch die Wellenlänge O [m] sowie die Schwingungsfrequenz f [Hz] und weisen folgende Eigenschaften auf (siehe Abb. 9.21):
810
Arbeitswissenschaft
x Die Beträge der elektrischen und magnetischen Feldstärke sind umgekehrt proportional zur Entfernung von der Strahlungsquelle. x Die Welle ist eine Transversalwelle, d.h. die Moleküle schwingen senkrecht zur Ausbreitungsrichtung der Welle und induzieren ein Feld, bei dem die elektrische Feldstärke E und die magnetische Feldstärke H senkrecht zur Ausbreitungsrichtung der Welle stehen. x Die elektrische Feldstärke E und die magnetische Feldstärke H stehen senkrecht aufeinander und schwingen in Phase. x Der Wellenwiderstand beschreibt die Eigenschaften eines Mediums, in dem sich eine physikalische Welle ausbreitet. In der Elektrodynamik wird weiterhin zwischen Leitungswellenwiderstand und Feldwellenwiderstand unterschieden. Im Folgenden soll ausschließlich der Feldwellenwiderstand Zw betrachtet werden, der das Verhältnis zwischen elektrischem und magnetischem Feldanteil einer sich transversal ausbreitenden elektromagnetischen Welle kennzeichnet:
P r P0 HrH0
ZW
Pr Z0 Hr
(9.23)
Der Wellenwiderstand der Luft ist praktisch dem des Vakuums identisch: Z0 | 376.73 :. x Die Welle transportiert Energie in Richtung ihrer Ausbreitung. Für die Beschreibung der Energie wird die Leistungsflussdichte verwendet. Die Leistungsflussdichte ist definiert durch die Energie pro Zeiteinheit, die senkrecht zur Ausbreitungsrichtung auf eine Fläche trifft:
S
E2 ZW
S
EuH
ªWº « m2 » ¬ ¼
SvH vE 2 0
(9.24) (9.25)
2 0
(9.26)
Im Fernfeld – elektrische und magnetische Feldstärken sind in Phase – nimmt die elektrische Feldstärke reziprok mit dem Abstand zum Sender ab. Wenn sich der Abstand zum Sender verzehnfacht, beträgt die elektrische Feldstärke nur noch ein Zehntel des ursprünglichen Werts. Die Leistungsflussdichte folgt hingegen einer reziprok-quadratischen Entfernungsabhängigkeit. Im zehnfachen Abstand zum Sender ist die Leistungsflussdichte bereits auf ein Hundertstel des Ausgangswerts gefallen. x Da Wellenlänge, Frequenz und Ausbreitungsgeschwindigkeit über die Beziehung
O
v f
(9.27)
Arbeitsumgebung
811
zusammenhängen, ändert sich mit der Ausbreitungsgeschwindigkeit auch die Wellenlänge elektromagnetischer Strahlung in Materie. Dieser Geschwindigkeitsdifferenz liegt die Brechzahl n zu Grunde. Die Ausbreitungsgeschwindigkeit ist für elektromagnetische Wellen die Lichtgeschwindigkeit in Vakuum, die dann um den entsprechenden Faktor reduziert wird: v
c n
(9.28)
So ist die Wellenlänge niederfrequenter Strahlung im wasserreichen menschlichen Körper etwa um den Faktor 8 bis 9 kleiner als in Luft. Nahfeldbereich In der unmittelbaren Umgebung einer Strahlungsquelle ist die elektrische und magnetische Feldstärke von der Geometrie der Quelle abhängig. Die Felder sind nicht in Phase und ihr Verhältnis zueinander ist variabel. Die Leistungsdichte kann hier nicht durch das Produkt der Feldstärken beschrieben werden. Üblicherweise wird für die elektrische und magnetische Feldstärke eine separate äquivalente Leistungsdichte ermittelt.
Abb. 9.21: Eine ebene, elektromagnetische Welle setzt sich aus einer elektrischen (E) und einer magnetischen (H) Komponente zusammen, die senkrecht aufeinander stehen. Beim Eindringen der Welle in den menschlichen Körper ändern sich die Parameter der Welle durch die gegenüber Luft veränderten dielektrischen Eigenschaften. Die größere Dielektrizitätszahl führt zu einer Verringerung der Wellenlänge Oi und einer kleineren Ausbreitungsgeschwindigkeit vi. Durch die größere Leitfähigkeit Vi wird ein Teil der von der Welle transportierten Leistung P im Körper absorbiert und in Wärme umgewandelt. Dadurch wird die Welle wesentlich stärker gedämpft als in Luft (SILNY 1990).
812
Arbeitswissenschaft
Die Interpretation elektromagnetischer Strahlung als Welle ist am besten geeignet, die Ausbreitung einer Strahlung zu charakterisieren. Die Deutung von Emissions- und Absorptionsphänomenen erfordert dagegen die Interpretation von elektromagnetischer Strahlung als eine Anzahl von Teilchen, den Photonen3. So kann bspw. eine elektromagnetische Welle mit der Frequenz f nicht mit beliebigen Energiemengen emittiert oder absorbiert werden, sondern nur in Energiepaketen der Größe: E
h f
hv
O
(9.29)
Diese „Quantisierung“ der Energie wird verstanden als Emission und Absorption von Photonen mit der Geschwindigkeit v. Die Plancksche Konstante h (h = 6,6261.10-34 Js) beschreibt den Zusammenhang zwischen der enthaltenen Energie und der Frequenz eines Photons (Photon = Lichtquant). Je höher die Frequenz der Strahlung ist, desto höher ist die von einem Photon übertragene Energie. Elektromagnetisches Spektrum
Das Spektrum der in der Umwelt auftretenden, elektromagnetischen Strahlungen aus natürlichen und künstlichen Strahlungsquellen umfasst einen Frequenz- und Wellenlängenbereich von 21 Größenordnungen. Da sowohl die Kopplung von elektrischen und magnetischen Feldern als auch die Wechselwirkung mit Materie frequenzabhängig ist, weisen elektromagnetische Strahlungen mit stark unterschiedlicher Frequenz hinsichtlich Erzeugung, Anwendung und biologischer Wirkung verschiedene Eigenschaften auf. Für die Darstellung dieser Eigenschaften in den folgenden Kapiteln werden elektromagnetische Strahlungen klassifiziert in: x Niederfrequente Strahlung, elektromagnetische Wechselfelder mit Frequenzen bis zu 100 kHz (SSK 2001). x Hochfrequente Strahlung, elektromagnetische Wellen mit Frequenzen von 100 kHz bis etwa 300 GHz (SSK 2001). x Optische Strahlung, bis etwa 3000 THz. Von den Mikrowellen nicht scharf abgegrenzt, folgt der Bereich der Infrarot- oder Wärmestrahlung (Wellenlängen über 780 μm), an den sich das sichtbare Licht (bis 380 μm) und die ultraviolette Strahlung (bis etwa 100 μm) anschließt. x Ionisierende Strahlung. Bereits kurzwellige UV-Strahlung kann ionisierend wirken, so dass optische und ionisierende Strahlung nicht scharf zu trennen sind. 9.3.1.2.1 Niederfrequente Strahlung Die Erzeugung, der Transport und der Verbrauch von elektrischer Energie bewirkt das Auftreten von elektrischen und magnetischen Streufeldern. Weisen diese Streufelder eine Frequenz bis zu 100 kHz bzw. eine Wellenlänge von maximal 3
Den mathematisch einheitlichen Rahmen beider Interpretationsmodelle gibt die Quantenelektrodynamik.
Arbeitsumgebung
813
3 km auf, werden diese als niederfrequente elektrische und magnetische Felder bzw. als Niederfrequente Strahlung bezeichnet (BFS 2008a). Im Alltag ergibt sich die Exposition der Bevölkerung hauptsächlich durch die elektrischen und magnetischen Felder, die durch die Stromversorgung mit 50 Hz und die elektrifizierten Verkehrssysteme wie Eisenbahnen mit 162/3 Hz entstehen. Der Transport von elektrischer Energie erfolgt mittels Hochspannungsleitungen, in deren Umgebung niederfrequente elektrische und magnetische Felder auftreten. Dabei ist zu beachten, dass Objekte, wie bspw. Häuser, Erhebungen im Terrain oder Bäume zu einer Verzerrung des elektrischen Feldes führen. Die elektrische wie auch die magnetische Feldstärke nimmt dabei mit zunehmendem Abstand von der Hochspannungsleitung ab. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass die Hauswände und das Baumaterial bis zu 90% des elektrischen Felds absorbieren, während eine Abschirmung des Magnetfelds im Inneren eines Gebäudes nicht ohne größeren Aufwand möglich ist (BFS 2008a). Feldstärken von etwa 20 kV/m (Übertragungsspannung von bis zu 500 kV) treten dagegen unter Hochspannungs-Gleichspannungs-Übertragungsleitungen (HGÜ) auf. Die elektrischen Felder der HGÜ-Leitungen unterscheiden sich von den Feldern der Wechselstrom- Hochspannungsleitungen. So kommt es direkt an den HGÜ-Leitungen aufgrund der hohen Feldstärken zur Ionisation der Umgebungsluft. Im Gegensatz zu Wechselspannungsleitungen wird dieser Vorgang nicht durch die darauffolgende Schwingungshalbwelle umgekehrt, sondern es bilden sich um die HGÜ-Leitungen Raumladungswolken. Diese führen zu einer höheren Feldstärke unterhalb dieser Leitungen als dies anhand der Leitergeometrie zu erwarten wäre. Die sich bildenden Raumladungswolken können durch Wind über größere Entfernungen transportiert werden, so dass die elektrische Feldstärke mit zunehmender Entfernung in einem geringeren Umfang abnimmt, als dies bei einer Wechselspannungsleitung der Fall ist. Niederfrequente elektrische und magnetische Felder werden auch durch Haushaltsgeräte und Elektroinstallationen in Gebäuden erzeugt. In vielen elektrischen und elektronischen Geräten wird die Frequenz der angelegten Spannung gewandelt, so dass in deren Umgebung Felder in einem breiten Frequenzbereich und mit unterschiedlichen Stärken erzeugt werden (TFT-Computer-Monitore, tragbare Computer, Radios, CRT-Fernsehgeräte etc.). Zu beachten ist, dass elektrische Felder vorhanden sind, sobald elektrische Energie bereit gestellt wird. Magnetische Felder entstehen dagegen nur, wenn ein Strom fließt, sich also Ladungsträger bewegen. Bei leitungsgebundenen Feldern handelt es sich stets um Nahfelder. Da in der Industrie überwiegend Anlagen und Geräte mit 380 V (Drehstrom, drei Phasen, Phasenverschiebung: 120°) bzw. 230 V (Wechselstrom, einphasig) betrieben werden, sind die Werte der elektrischen Felder oftmals nicht höher als in privat genutzten Gebäuden. Erhöhte Werte treten nur in der Umgebung von Maschinen mit einer hohen Leistungsaufnahme auf, wie bspw. bei Schweißautomaten oder Hochleistungselektromotoren. Hohe magnetische Wechselfelder werden in Arbeitssystemen von Betriebsmitteln abgestrahlt, wenn magnetische Wechselfelder zur gezielten Erwärmung von leitfähigen Werkstücken (Elektroöfen zur
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Arbeitswissenschaft
gleichmäßigen Erwärmung von Metallen im Rahmen von Ur- und Umformprozessen) eingesetzt werden sowie beim Fließen hoher Wechselströme (z.B. Drehstromantriebe von Elektroloks). Elektrische Gleichfelder entstehen insbesondere durch elektrostatische Aufladungen, z.B. wenn bei Ladungstrennvorgängen mindestens ein schlecht leitender Stoff beteiligt ist. Ein statisches elektrisches Feld übt Kräfte auf elektrische Ladungen aus und führt damit zu einer Ladungsumverteilung an der Körperoberfläche. Dadurch bewirkte Bewegungen von Körperhaaren oder Mikroentladungen treten bei elektrischen Feldstärken ab 20 kV/m auf. Unangenehme Empfindungen beim Menschen entstehen ab 25 kV/m (UBA 2008). Statische elektrische Felder können zu elektrischen Aufladungen von nicht geerdeten Gegenständen führen. Als indirekte Wirkung kommt es beim Berühren des menschlichen Körpers mit einem solchen Gegenstand zu Ausgleichströmen. In Feldern oberhalb von 5 bis 7 kV/m können solche Phänomene Schreckreaktionen durch Funkenentladungen auslösen. Im beruflichen Alltag sind vor allem elektrostatische Aufladungen für Funkenentladungen verantwortlich und nicht elektrische Gleichfelder von Gleichspannungsanlagen. Dies erklärt, weshalb keine Grenzwertregelungen für elektrische Gleichfelder vorliegen. In Produktionsbetrieben entstehen hohe statische Feldstärken z.B. bei der Verarbeitung von Kunststofffolien, im Rotationsdruck, bei Förderbändern, Zerkleinerungs- und Mahlvorgängen, beim pneumatischen Fördern in Rohrleitungen, bei der Herstellung, Durchmischung und dem Transport von Mineralölprodukten und anderen schlecht leitenden Flüssigkeiten. Magnetostatische Felder spielen in der Umwelt, im Vergleich zu anderen Feldern, eine eher untergeordnete Rolle. Von Permanentmagneten abgesehen, entstehen sie beim Fließen elektrischer Gleichströme, treten somit nur auf, wenn Energie verbraucht wird, und unterliegen daher auch starken Schwankungen. In Arbeitssystemen überschreiten die technisch erzeugten magnetostatischen Felder die Größenordnung des Erdmagnetfelds i.Allg. nicht. Lediglich in speziellen Arbeitssystemen von Industrieunternehmen, die aufgrund der eingesetzten Fertigungstechnologien und Betriebsmittel hohe Gleichströme nutzen (z.B. bei der Oberflächenbeschichtung von Metallen), aber auch in der Medizintechnik, kann das auftretende magnetostatische Feld deutlich die Größenordnung des statischen Magnetfelds von etwa 40 ȝT überschreiten. 9.3.1.2.2 Hochfrequente Strahlung Die hochfrequente Strahlung wird im elektromagnetischen Spektrum im Frequenzbereich zwischen etwa 100 kHz und 300 GHz eingeordnet. Die Wellenlänge der hochfrequenten elektromagnetischen Felder (HF-EMF) liegt zwischen 3 km und 1 mm (BfS 2008c). Das elektrische und das magnetische Feld sind bei den HF-EMF eng miteinander gekoppelt. Daher kann man die Wirkung dieser Strahlung nur bedingt auf eine der beiden Komponenten zurückführen. Hochfrequente Strahlung wird i.Allg. von einer Antenne abgestrahlt und ermöglicht die Energieübertragung über große Entfernungen. Diese Eigenschaft wird besonders für Kommunikationssysteme genutzt, z.B. für Rundfunk, Fernse-
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hen, Mobilfunk sowie für schnurlose Telefone, Wireless-LAN und Bluetooth. Der Mensch ist somit umgeben von einer Vielzahl verschiedener Sendeeinrichtungen, die mit unterschiedlicher Sendeleistung und Frequenz arbeiten. Es existieren aber auch Haushaltsgeräte, die hochfrequente Strahlung nutzen. HF-Strahlung mit einer Frequenz von 2,45 GHz wird bspw. in Mikrowellenherden verwendet. 9.3.1.2.3 Optische Strahlung Die optische Strahlung umfasst den Wellenlängenbereich von 100 nm bis 1 mm und gliedert sich in ultraviolette, sichtbare und infrarote Strahlung (BGI 5006):
x Ultraviolette Strahlung (UV-Strahlung) ist die optische Strahlung im Wellenlängenbereich von 100 nm bis 400 nm. Dieser Bereich kann weiter unterteilt werden in die Bereiche UV-C (100 - 280 nm), UV-B (280 - 315 nm) und UV-A (315 - 400 nm). x Sichtbare Strahlung (VIS-Strahlung) ist eine Strahlung, die im menschlichen Auge einen visuellen Reiz hervorrufen kann. Dies trifft auf Strahlungen mit Wellenlängen von 380 nm bis 780 nm zu. x Infrarote Strahlung (IR-Strahlung) ist die optische Strahlung im Wellenlängenbereich von 780 nm bis 1 mm. Sie kann bspw. Wärmeempfindungen auf der Haut hervorrufen. Der überwiegende Teil der in der Umwelt vorkommenden optischen Strahler sind Temperaturstrahler. Jeder Temperatur eines Körpers entspricht ein spezifisches Emissionsspektrum, das weitgehend unabhängig von den Materialeigenschaften ist (Schwarzkörperstrahlung) und in alle Richtungen gleichmäßig abgestrahlt wird. Technische Quellen, welche in Arbeitssystemen Einsatz finden, sind z.B. Infrarotöfen zur Erwärmung und Trocknung, IR- und UV-Bestrahlungslampen und Laser. Beim Auftreten von hohen Temperaturen an der Quelle ist zudem die emittierte UV-Strahlung zu berücksichtigen. Dieses gilt insbesondere für Arbeitsplätze in der Nähe von Schmelzöfen oder beim Lichtbogen- und Schutzgasschweißen. Ein weit verbreitetes Arbeitsmittel, dass eine Strahlung in allen Wellenlängenbereichen der optischen Strahlung emittiert, ist der Laser (LASER = Light Amplification by Stimulated Emission of Radiation). Lasergeräte werden entsprechend der schädlichen biologischen Wirkung von Laserstrahlung nach der DIN EN 60825-1/11.01 klassifiziert. Die Klassifizierung eines Lasers in die Klassen 1, 1M, 2, 2M, 3R, 3B und 4 basiert auf der Wellenlänge, der Einwirkdauer bis es zu einer Gefährdung des Auges kommt sowie dem Einsatz von optischen Geräten. Zu beachten ist, dass Laser keine Temperaturstrahler sind und deshalb eine besondere Berücksichtigung hinsichtlich folgender Faktoren erfordern: x Die ausgesendete Strahlung ist monochromatisch, d.h. die gesamte Leistung wird in einem sehr kleinen Wellenlängenbereich übertragen. Trifft diese Strahlung auf einen Absorber, der in diesem Bereich seine Resonanzfrequenz hat, so kann es zu einer starken Energiekonzentration kommen.
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x Die Strahlung ist stark gebündelt. Selbst in großen Entfernungen von der Strahlungsquelle können noch sehr intensive Bestrahlungen erreicht werden. x Eine für die Beschreibung von Lasern wichtige Größe ist die Impulsdauer. Es gibt Laser, die kontinuierlich (Dauerstrich-Laser, englische Abkürzung CW = continuous wave) Photonen emittieren und solche, die mit sehr kurzen Impulsdauern (bis zu 180 fs) arbeiten. Anwendung finden Laser bei verschiedenen Verfahren der Materialbearbeitung, der Messtechnik, der Nachrichtenübertragung und der Medizin. 9.3.1.2.4 Ionisierende Strahlung Zu den ionisierenden Strahlen zählen u.a. Röntgenstrahlung, die aus Atomkernen radioaktiver Stoffe ausgesandten Strahlen und die Höhenstrahlung. Die ionisierende Strahlung ist dadurch gekennzeichnet, dass sie genügend Energie besitzt, um Atome und Moleküle zu ionisieren, d.h. Elektronen aus einem neutralen Atom oder Molekül herauszulösen. Beim Durchgang durch Materie – z.B. durch eine Zelle des menschlichen Körpers – gibt die ionisierende Strahlung Energie ab. 9.3.1.2.4.1
Röntgenstrahlung
Röntgenstrahlung entsteht durch hochenergetische Elektronenprozesse. Diese Prozesse ermöglichen ein Spektrum der Röntgenstrahlung, welches unterhalb der extremen UV-Strahlung bei einer Wellenlänge von 10 nm (weiche Röntgenstrahlung) beginnt und bis ungefähr 5 pm reicht (harte Röntgenstrahlung). Das in Röntgenröhren technisch erzeugte Strahlungsspektrum entsteht durch eine Überlagerung eines kontinuierlichen Spektrums mit einem diskreten Spektrum. Die Lage des Maximums hängt von der Betriebsspannung der Röhre ab. Röntgenphotonen weisen eine Energie von etwa 1 keV bis 250 keV auf, bei einer Frequenz von etwa 2,5·1017 Hz bis 6·1019 Hz. Im kurzwelligen Bereich findet sich in der Literatur keine einheitliche Definition der Grenzwellenlänge. Allerdings sind einer Reduzierung der Wellenlänge technische Grenzen gesetzt. Röntgenstrahlung kann durch zwei verschiedene Vorgänge entstehen: x Durch eine starke Beschleunigung geladener Teilchen, die zu einer Bremsstrahlung mit einem kontinuierlichen Spektrum führt, oder x durch hochenergetische Übergänge in den Elektronenhüllen von Atomen oder Molekülen. Dies ist die charakteristische Röntgenstrahlung. Sie weist stets ein Linienspektrum auf. Röntgenstrahlung kann Materie durchdringen. Sie wird dabei je nach Stoffart unterschiedlich stark geschwächt. Die Schwächung der Röntgenstrahlen ist der wichtigste Faktor bei der radiologischen Bilderzeugung. Die Intensität des Röntgenstrahls nimmt mit der im Material zurückgelegten Weglänge d exponentiell ab (I = I0·e-kd), der Koeffizient k ist dabei materialabhängig und etwa proportional zu Ordnungszahl und Wellenlänge.
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Anwendung findet die Röntgenstrahlung in der medizinischen Diagnostik und Therapie, zur Materialprüfung und zur Strukturanalyse von Kristallen und Molekülen. 9.3.1.2.4.2
Radioaktive Strahlung
Radioaktive Strahlungsquellen sind Substanzen, in denen infolge spontaner Kernprozesse aus einzelnen Atomkernen Photonen und massebehaftete Teilchen emittiert werden. Die Häufigkeit der Kernprozesse in einer radioaktiven Strahlungsquelle wird als Aktivität bezeichnet. Die Einheit ist das Becquerel (1 Bq = 1 Kernprozess pro Sekunde). Die Atomkerne wandeln sich bei den Kernprozessen entweder unter Aussendung von D- oder E-Strahlung in Kerne anderer Elemente um oder sie gehen von einem metastabilen Zustand in einen energieärmeren über, wobei sie Gammaquanten (sehr selten auch Neutronen) emittieren. J-Strahlung tritt stets in der Folge von Kernumwandlungen auf. Die Energie der ausgesandten Strahlungsteilchen ist für den jeweiligen Kernprozess spezifisch. Dabei sind Kernprozesse spontan und erfolgen gemäß einer Exponentialverteilung stochastisch. In gleichen Zeiträumen wandelt sich deshalb stets der gleiche Anteil der vorhandenen Kerne um. Der Zeitraum, in dem sich jeweils die Hälfte der Kerne umwandelt, wird Halbwertzeit genannt. Die Halbwertzeiten umfassen Größenordnungen von 4,5 Mrd. Jahren für Uran-238 bis zu 0,164 ms bei Polonium-2144. 9.3.1.2.4.3
Höhenstrahlung
Unter dem Begriff kosmische Strahlung oder auch Höhenstrahlung werden hochenergetische Strahlungen zusammengefasst, die von Außen auf die Erde einwirken. Dabei handelt es sich um Protonen (ca. 86%), Alpha-Teilchen (ca. 12,5%) und andere Atomkerne (ca. 1,5%) mit Energien im Bereich von 108 bis über 1020 eV (Teilchenbeschleuniger erzeugen Energien im Bereich von 1012 eV). Das Magnetfeld der Erde bietet einen Schutz vor dieser Strahlung. So werden durch das Wirken der Lorentz-Kraft5 die Teilchen in Abhängigkeit von ihrem Energieniveau in Radien von einigen 100 m bis zu einigen Kilometern spiralförmig entlang der Feldlinien bewegt. Bedingt durch diesen Effekt dringt die kosmische Strahlung nicht überall gleichstark in die Erdatmosphäre ein. So ist die Strahlenbelastung im Bereich des Äquators am niedrigsten und an den Polen am höchsten6. Abb. 9.22 zeigt den Verlauf der Dosisleistung in Abhängigkeit von der Höhe (BfS 2008b). 4 5
6
Die nachgestellten Ziffern in Cs-137, U-238 etc. bezeichnen die Anzahl der Protonen und Neutronen, aus denen der Kern zusammengesetzt ist. Die Lorentzkraft F [N] ist die Kraft, die auf bewegte Ladungen in elektromagnetischen Feldern wirkt. Sie lenkt die Ladungsträger ab, ohne den Betrag ihrer Geschwindigkeit v zu ändern. Mathematische Beschreibung: Fm Q Q u B In Verkehrsflugzeugen, die in Höhen von 10 km bis 15 km fliegen, ist die Strahlenbelastung (7 bis 15 PSv/h) fast 500 mal höher als durchschnittlich auf Meereshöhe (0,3 mSv/h) (BfS 2008b).
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Abb. 9.22: Dosisleistung in unterschiedlichen Höhen (BfS 2008b)
9.3.2
Wirkung von Strahlung auf den Menschen
Elektromagnetische Felder können unter bestimmten Umständen zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder sogar Schädigungen beim Menschen führen. Ein Ereignis oder die Abfolge von Ereignissen, die eine gesundheitliche Beeinträchtigung hervorrufen können, werden in der Literatur mit den Begriffen physikalische Einwirkung, Effekt und biologische Reaktion beschrieben. Dabei wird nicht zwischen Effekten unterschieden, die nach einer kurzzeitigen oder einer andauernden (chronischen) Exposition unmittelbar auftreten oder Effekten, die erst mit einer gewissen Verzögerung zu beobachten sind (SSK 2001). Bei der Beurteilung der Wirkung von Strahlung ist zu berücksichtigen, dass ein menschlicher Körper unterschiedlich auf Strahlung reagiert, ohne dass dies stets zu einer gesundheitlichen Beeinträchtigung führen muss. So lassen sich bspw. Effekte und Reaktionen beobachten, die keine Gesundheitsbeeinträchtigungen zur Folge haben. Es ist daher zu prüfen, ob es bei der Einwirkung von Strahlung zu biologischen Reaktionen kommt, die nach dem aktuellen Stand der Forschung nicht zwangsläufig im Zusammenhang mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen stehen. Die Strahlenschutzkommission (SSK) als unabhängiges, das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit beratendes Gremium,
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unterscheidet drei Kategorien bzgl. des Zusammenhangs von Strahlung und der Gesundheitsbeeinträchtigung des Menschen (SSK 2001): x Wissenschaftlich nachgewiesen ist ein Zusammenhang zwischen einer Gesundheitsbeeinträchtigung und elektromagnetischen Feldern, wenn wissenschaftliche Studien voneinander unabhängiger Forschungsgruppen diese Beziehung reproduzierbar zeigen und das wissenschaftliche Gesamtbild das Vorliegen eines kausalen Zusammenhangs stützt. x Ein wissenschaftlich begründeter Verdacht auf einen Zusammenhang zwischen einer Gesundheitsbeeinträchtigung und elektromagnetischen Feldern liegt vor, wenn die Ergebnisse bestätigter wissenschaftlicher Untersuchungen einen Zusammenhang zeigen, aber die Gesamtheit der wissenschaftlichen Untersuchungen das Vorliegen eines kausalen Zusammenhangs nicht ausreichend stützt. Das Ausmaß des wissenschaftlichen Verdachts richtet sich nach der Anzahl und der Konsistenz der vorliegenden wissenschaftlichen Arbeiten. x Wissenschaftliche Hinweise liegen vor, wenn einzelne Untersuchungen, die auf einen Zusammenhang zwischen einer Gesundheitsbeeinträchtigung und elektromagnetischen Feldern hinweisen, nicht durch voneinander unabhängige Untersuchungen bestätigt sind und durch das wissenschaftliche Gesamtbild nicht gestützt werden. Es ist nachgewiesen worden, dass elektromagnetische Felder, die auf den Menschen einwirken, zu Kräften führen, die im menschlichen Körper eine Bewegung von Ladungsträgern hervorrufen. Daraus resultieren Ströme, die bei hohen Frequenzen zu einem Temperaturanstieg oder einer Veränderung der elektrischen Spannung über einer Zellmembran führen. Diese physikalischen Effekte können eine aktive biologische Reaktion des menschlichen Körpers hervorrufen, welche die Voraussetzung für eine gesundheitliche Beeinträchtigung bildet. Die nächsten Abschnitte bieten einen Überblick über die physikalischen und biologischen Effekte. 9.3.2.1
StörungenĆelektro-physiologischerĆVorgängeĆ
Elektrische und magnetische Wechselfelder erzeugen im menschlichen Körper Ströme, die z.B. der nervlichen Informationsübertragung dienen. Die Ströme werden durch zahlreiche Erregungs- und Fortleitungsvorgänge in Muskel- und Nervenzellen erzeugt und durch den Körper geleitet. Die mit dem Stromfluss einhergehenden Spannungen können an der Hautoberfläche durch Elektrokardiografie (EKG), Elektro-Myographie (EMG) oder Elektroenzephalografie (EEG) abgeleited werden (siehe Abb. 9.23a). Es ist dann abzuschätzen, ob die durch elektromagnetische Felder erzeugten Ströme physiologische Vorgänge beeinflussen (siehe Kap. 3.3.3.2.1). In Laborversuchen werden daher die maßgeblichen Einflussfaktoren, die Frequenz und die induzierten Stromdichten (Strom I pro Fläche F) [mA/m2] systematisch variiert und erfasst.
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Abb. 9.23: (a) Frequenzspektrum und maximale Amplituden einiger Biosignale. (b) und (c) Wirkungen durch von außen in den Körper eingeprägte Stromdichten in Abhängigkeit von der Frequenz. (b) Reizwirkungen, (c) schädigende thermische Wirkungen (SILNY 1990)
Für eine Stromdichte unterhalb von 1 mA/m2 sind keine wissenschaftlich abgesicherten biologischen Wirkungen für den Menschen bekannt. Solche Stromdichten können im Organismus durch elektrische Felder von mehr als etwa 2 kV/m oder durch magnetische Wechselfelder von über 50 A/m erzeugt werden. Laborversuche mit Zellkulturen wie auch mit Nagetieren haben gezeigt, dass bei Stromdichten oberhalb von 1 mA/m² zellbiologische Effekte temporär auftreten können (SSK 1991). Entsprechende Beobachtungen beziehen sich auf zumeist marginale Veränderungen von Zellproliferation, Nukleinsäuresynthese, Membranfunktionen, Ionenverteilungen oder Hormonspiegeln. Für den Gesamtorganismus liegen keine Hinweise auf langfristige Wirkungen vor. Weitere Versuche mit Freiwilligen, die zwischen drei Stunden und einer Woche elektrischen Feldern bis zu 20 kV/m ausgesetzt wurden, erbrachten ebenfalls keine Hinweise auf statistisch gesicherte Wirkungen (SSK 1991). Untersucht wurden dabei Reaktionszeiten auf akustische und optische Reize, psychologische Faktoren, EEG, EKG, Blutdruck, Pulsfrequenz, Körpertemperatur, hämatologische Parameter, biochemische Eigenschaften des Harns sowie Enzymfunktionen und Stoffwechselfaktoren. Im Vergleich zu elektrischen Feldern dringen magnetische Felder hingegen ungehindert in Zellen und Gewebe ein und induzieren dort elektrische Wirbelströme (SILNY 1990). Eine Frequenzanalyse zeigt die größten Amplituden für den Menschen im Bereich zwischen 10 und 1000 Hz. Um eine gegenseitige Erregung von benachbarten Nerven- und Muskelfasern zu verhindern, sind diese durch Schichten mit geringer
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elektrischer Leitfähigkeit getrennt. Die „externe“ Anregung von Nerven und Muskeln durch einen von außen im Körper induzierten Strom erfolgt erst bei Überschreiten einer Grenzschwelle. Diese liegt ungefähr bei einer Stromdichte von zirka 1 PA/cm2 und ist zudem frequenzabhängig (siehe Abb. 9.23b). Im Inneren einer Zelle werden die Stromdichten durch die Zellmembran zusätzlich stark gedämpft, so dass die Ströme um die Zelle geleitet werden. Bei höheren Stromdichten und längerer Einwirkungsdauer sprechen die Schmerzrezeptoren in der Haut an. Stromdichten ab 10 PA/cm2 führen zu Muskelversteifungen und -verkrampfungen. Wird die Stromdichte weiter erhöht, kommt es im Bereich zwischen 80-100 PA/cm2 zu lebensbedrohendem Herzkammerflimmern, Schockwirkungen und einer akuten Gefährdung des Gehirns. Bereits Stromdichten bis zu 1 PA/cm2 können das Membranruhepotential beeinflussen und dadurch die Erregbarkeit von Zellen verändern (LEITGEB 1990). Die genannten Reizwirkungen auf die Nerven- und Muskelzellen entstehen durch eine gewisse Änderungsgeschwindigkeit des Felds sowie einer Mindesteinwirkzeit. Ihre Stärke ist deshalb außer von der Reizstärke auch von der Frequenz der einwirkenden Felder abhängig (siehe Abb. 9.23). 9.3.2.2
WärmeentwicklungĆ
Die Energie einer im Körper absorbierten Strahlung wird in Wärme umgesetzt. Als Belastungsfaktor ist sie arbeitswissenschaftlich insbesondere für die elektromagnetische Strahlung relevant, da schädigende thermische Wirkungen von ionisierender Strahlung erst bei letalen Dosen auftreten. Die Erwärmung biologischer Materie durch Absorption elektromagnetischer Felder hat drei Ursachen: (1) Ionische Leitung Der Stromfluss im Körper ist mit der Bewegung von Ionen und ladungsbehafteten Molekülen verbunden. Dabei auftretende Reibungsverluste der Ionen verursachen eine Erwärmung des Gewebes. Die Absorption nimmt mit der Leitfähigkeit zu und ist bis zu Frequenzen von einigen MHz frequenzunabhängig. (2) Orientierungspolarisation Das menschliche Gewebe besteht teilweise aus permanenten Dipolen – große Eiweißmoleküle mit positiven bzw. negativen Überschussladungen an den Enden. Auf diese Moleküle wird durch das Feld ein Drehmoment ausgeübt, und die Dipole richten sich parallel zum elektrischen Feld aus. Je höher die Frequenz des Wechselfelds, umso unvollständiger wird die Ausrichtung; es kommt zum Hin- und Herschwingen der Dipole. Durch die Drehschwingungen wird Reibungsarbeit an benachbarten Molekülen geleistet, die zu einer Wärmeabstrahlung führt. Für Radio- und Mikrowellen ist dies in organischem Gewebe der wichtigste Vorgang (VpT 2008). (3) Rotations- und Schwingungsspektren Moleküle können durch Wechselwirkung ihrer elektrischen und magnetischen Dipolmomente mit dem elektromagnetischen Feld zu Rotationen und
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inneren Schwingungen angeregt werden. Da es sich hierbei um einen quantenmechanischen Effekt handelt, ist die Anregung, anders als bei der Orientierungspolarisation, resonanzartig. Sie tritt vornehmlich im Mikrowellenbereich auf. Die Rotationsenergie wird bei Stößen mit anderen Molekülen in Translationsenergie umgewandelt, wodurch eine Temperaturerhöhung in der Umgebung des angeregten Moleküls verursacht wird. Bei großen Molekülen (Kohlenwasserstoffe, Proteine) müssen in der Regel n geringere Energien aufgewendet werden als bei kleinen Molekülen. Wird die in Wärme umgewandelte Strahlungsenergie auf die Masse des betrachteten Körpers bezogen, so erhält man die spezifische Absorptionsrate SAR, die in Watt pro Kilogramm [W/kg] angegeben wird. Die bei einer Bestrahlung hervorgerufene Erwärmung stört die Temperaturregulation des Organismus. Bleibt die zugeführte spezifische Leistung unter dem Wärmegrundumsatz von etwa 1 W/kg, ist der gesunde Körper in der Lage, dies über die Blutzirkulation sowie durch Schwitzen, Atmen, Konvektion und Abstrahlung auszugleichen (siehe Kap. 9.4). Versagt jedoch die Thermoregulation, kommt es zu einem Anstieg der Körperkerntemperatur und in der Folge x ab etwa 40°C zu Kreislaufversagen (Hitzekollaps), x ab etwa 41°C zu Gehirnschädigung und x über 42,6°C zu Tod durch Denaturierung von Proteinen bzw. Enzymen. Eine Schädigung von Gewebe tritt bereits bei einer lokalen Erwärmung auf 41°C auf. In Abhängigkeit von der Stromdichte und der Einwirkungsdauer kann es über die Wahrnehmung der Erwärmung und dem daraus resultierenden Schmerzempfinden zu reversiblen Schädigungen bis hin zu einer totalen Zerstörung des Gewebes kommen. Die Exposition ruhender Menschen führt durch hochfrequente elektromagnetische Felder zu einer Erhöhung der Körpertemperatur von weniger als 1°C bis zum Erreichen des thermoregulatorischen Gleichgewichts, wenn die Ganzkörper-SAR unter 4 W/kg liegt (SSK 2001). Bei einer Exposition des menschlichen Körpers durch Felder, die SAR-Werte von über 4 W/kg erzeugen, kann es zu einer Überforderung der Thermoregulation des Körpers kommen. Dies hat eine schädliche Gewebeerwärmung zur Folge. Durch eine Vielzahl von Laborversuchen an Nagetieren und Primaten konnte eine große Spannweite von Gewebeschädigungen aufgrund einer Teil- oder Ganzkörpererwärmung um mehr als 1-2°C nachgewiesen werden. Die Empfindlichkeit verschiedener Gewebearten hinsichtlich einer thermischen Schädigung ist dabei sehr unterschiedlich. Besonders gefährdet sind gering durchblutete Gewebe, wie die Augenlinse und die Hoden, die eine schlechte Wärmeabfuhr besitzen. Es besteht die Gefahr der Linsentrübung (Katarakt) bzw. Unfruchtbarkeit. Zum Schutz der Menschen hat die EUKommission eine Ratsempfehlung zur Begrenzung von elektromagnetischen Feldern für die Öffentlichkeit herausgegeben. Die grundlegenden Beschränkungen für eine örtlich begrenzte SAR zwischen 100 kHz und 10 GHz liegen demnach bei 2 W/kg für „Kopf und Rumpf“ und bei 4 W/kg für „Gliedmaße“ (AIM 2000).
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9.3.2.3
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WirkungenĆniederfrequenterĆStrahlungĆ
Während ein elektrisches Feld von jeder Leitung ausgeht, die an das Stromnetz angeschlossen ist, entstehen magnetische Felder nur, wenn ein Strom fließt, d.h. wenn elektrische Energie umgesetzt wird. Elektrische Felder
Ist der Mensch einem elektrischen Wechselfeld ausgesetzt, so erfolgt eine dynamische Ladungsverteilung im menschlichen Körper. Die Folgen sind eine mit der Frequenz wechselnde Ausrichtung von Ladungsträgern an der Körperoberfläche und elektrische Ströme innerhalb des Körpers (SSK 1991). Der menschliche Körper hat gegenüber Luft eine um den Faktor 1012 größere Leitfähigkeit und bildet daher einen annähernd idealen Leiter (NELLES u. TUTTAS 1998). Den stärksten elektrischen 50 Hz-Feldern ist der Mensch unter Hochspannungsleitungen mit bis zu 10 kV/m ausgesetzt. Die 26. BImSchV schreibt für ortsfeste Stromversorgungsanlagen im niederfrequenten Bereich einen Grenzwert von 5 kV/m vor (BfS 2008a). In der Regel liegen die unter einer Hochspannungsleitung auftretenden elektrischen Felder in Deutschland bei 3-8 kV/m und die magnetischen Felder bei einigen ȝTesla (IaU 2008). Im homogenen Feld ist die Feldstärke zunächst überall gleich. Nach Betreten des Felds bewirkt die Leitfähigkeit des Körpers eine Feldverzerrung. Das bewirkt eine Feldstärkeerhöhung am Kopf um das 15- bis 20fache. Im inhomogenen Feld nimmt die Feldstärke mit zunehmender Entfernung von der Quelle rasch ab, so dass es auch im menschlichen Körper zu einer starken Verringerung des elektrischen Felds kommt. Beim Vergleich von inhomogenen und homogenen Feldern im Hinblick auf ihre biologischen Wirkungen sind daher die Unterschiede entsprechend zu berücksichtigen. Bei hinreichend hohen Feldstärken führen Oberflächenladungen zu wahrnehmbaren Oberflächeneffekten wie Bewegung von Körperhaaren oder Bildung von Funken zwischen Haut und Kleidung. Die Schwellenwerte der Wahrnehmung können interindividuell verschieden sein. So haben bei einer Feldstärke von 1 kV/m 1 bis 3% der Versuchspersonen infolge von Vibrationen der Körperhaare das elektrische Feld wahrgenommen. Bei einer Zufuhr von 10 kV/m erhöhte sich der Wert auf etwa 20 bis 55% der Versuchspersonen (SSK 1991). Die Wahrnehmung elektrischer Felder durch Bewegung von Körperhaaren, Funkenentladungen und Spüren von Entladeströmen sowie von Magnetfeldern durch visuelle Flimmererscheinungen wird gelegentlich als Belästigung und Beeinträchtigung des Wohlbefindens empfunden. Die von elektrischen Haushaltsgeräten ausgehenden elektrischen Feldstärken sind für Oberflächeneffekte viel zu schwach. Das Bundesamt für Strahlenschutz hat Feldstärken, wie sie bei der Nutzung von Haushaltsgeräten in 30 cm Entfernung von der Quelle auftreten, gemessen und für den Anwender zusammengestellt (BfS 1995). Tabelle 9.5 zeigt, dass praktisch alle Haushaltsgeräte in einer Entfernung von 30 cm den Grenzwert nach BImSchV für 50 Hz-Felder deutlich unterschreiten.
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Tabelle 9.5: Elektrische Feldstärken repräsentativer Alltagsgeräte, in einer Entfernung von 30 cm.
Gerät Boiler Bügeleisen Handmixer Haarfön Farbfernseher Energiesparlampen Grenzwert (26. BImSchV)
Feldstärke [V/m] 260 120 100 80 60 10 - 60 5000
Der kapazitive Strom des Wechselfelds tritt i.Allg. über den oberen Körperbereich ein und fließt durch die niederohmigen Blutbahnen und Körperflüssigkeiten zur Erde ab. Bedingt durch den Fluss der Körperströme entstehen an Körperstellen mit einem sehr geringen Querschnitt, wie bspw. im Bereich der Fußknöchel, Stromdichten mit einem Wert von bis zu 40 n$/cm2. Diese sind um den Faktor 10 kleiner als die natürlichen, elektrophysiologischen Stromdichten. Daher ist von ihnen keine Wirkung hinsichtlich der gesundheitlichen Beeinträchtigung zu erwarten. Die gut gesicherten Erkenntnisse bei der Durchströmung des Körpers durch Berührung spannungsführender Teile können zur Abschätzung der Wirkungen niederfrequenter elektrischer Felder herangezogen werden. Hierzu sind die Ströme in Stromdichten und diese weiter in die äußeren Feldstärken umzurechnen. Abb. 9.24 zeigt eine Übersicht. Indirekte Wirkungen des elektrischen Felds auf den Menschen sind die Störung lebenswichtiger Geräte wie Herzschrittmacher oder Geräte zur Überwachung von Intensivpatienten zu nennen. Magnetische Felder Die auf den Menschen wirkenden magnetischen Felder haben im Vergleich zu den elektrischen Felder keine „natürliche“ Obergrenze und durchdringen den Körper wie alle nichtpermeablen Stoffe nahezu ungedämpft. Magnetische Wechselfelder induzieren deshalb auch in hochohmig isolierten intrazellulären Räumen elektrische Wirbelströme. Bei einem den ganzen Körper durchsetzenden Feld sind die Stromdichten im Rumpf wegen der größeren Querschnitte geringer als in anderen Körperteilen. Die Wirkungen und Schwellenwerte der Wirbelströme entsprechen denen in Abb. 9.24.
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Abb. 9.24: Biologische Wirkung von elektrischen Stromdichten im Körperinneren in Abhängigkeit von der Frequenz. Doppelt-logarithmische Darstellung, S = im Körper vorhandene Stromdichte, E = verursachende Feldstärke für eine freistehende Person, W = Wahrnehmungsschwelle, L = Loslassschwelle und Verkrampfung, F = Flimmerschwelle der Herzkammer, P = Elektrophosphene: elektrisch verursachte Sehphänomene, Du = Grenze der Durchschlagfestigkeit der Luft (aus LEITGEB 1990).
Da die Ströme nicht, wie im Falle elektrischer Felder, die hochohmige Haut durchfließen müssen, sprechen die Schmerzrezeptoren der Haut nicht an. Abb. 9.25 zeigt die maximalen Feldstärken in der Umgebung unterschiedlicher Quellen und die möglichen Wirkungen. Die zur Reizung von Nerven und Muskeln erforderliche Stromdichte wird erst bei magnetischen Feldstärken von etwa 0,5 T erreicht. Bereits den ganzen Kopf durchsetzende Felder von über 60 mT führen nach einer mehr als 15-minütigen Exposition zu Kopfschmerzen und Unwohlsein. Die genauen Wirkmechanismen sind bisher nicht bekannt. Im Frequenzbereich von etwa 10 - 100 Hz kommt es ab einer magnetischen Induktion von etwa 2 mT (bei 15 bis 20 Hz) zu sog. Magnetophosphenen. Dies sind scheinbare Seheindrücke, die als Flimmern und Leuchterscheinungen wahrgenommen werden, und durch Reizung der Rezeptoren der Netzhaut verursacht werden.
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Abb. 9.25: Maximale Magnetfeldstärken in der unmittelbaren Umgebung einiger Quellen und die Schwellenkurven verschiedener Wirkungen im niederfrequenten sinusförmigen magnetischen Feld (n = 1 bedeutet eine Belastungszeit von einer Schwingungsperiode, n = eine sehr viel längere Belastungszeit). Die Ergebnisse der In-vivo-Untersuchungen, überwiegend an Probanden, zeigen bei Feldstärken über 1 mT einen klaren DosisWirkungs-Zusammenhang. Unterhalb dieser Feldstärke belegen einige In-vitroUntersuchungen signifikante Effekte. Sie stützen aber bisher nicht den in retrospektiven epidemiologischen Studien aufgestellten Zusammenhang zwischen den Feldstärken im Haushalt und dem Krebsgeschehen (aus SILNY 1990) (VEP = visual evoked potentials, ereigniskorrelierte Potentialschwankungen im Gehirn).
Zu beachten ist zudem, dass Magnetfelder Häuserwände oder Maschinenkapselungen recht leicht durchdringen können. Die folgende Tabelle 9.6 zeigt typische Werte magnetischer Flussdichten von Haushaltsgeräten im Abstand von 30 cm (BfS 1995).
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Tabelle 9.6: Repräsentative Werte magnetischer Flussdichten gemessen im Abstand von 30cm. Gerät Haartrockner Dosenöffner Bohrmaschine Staubsauger Handrührgerät Küchenherd Waschmaschine Bügeleisen Grenzwert (26. BImSchV)
Magnetische Flussdichte [PT] 0,01 – 7 3,5 – 30 2 - 3.5 2 – 20 0,6 – 10 0,15 - 0,5 0,15 – 3 0,12 - 0,3 100
Elektromagnetische Felder
Wirkungen bei der Exposition durch niederfrequente elektromagnetische Felder können auf bekannte physikalische und physiologische Zusammenhänge zurückgeführt werden. Ob daneben weitere Wirkungsmechanismen existieren, die zu qualitativ anderen Reaktionen und gesundheitlichen Beeinflussungen führen, ist Gegenstand der laufenden wissenschaftlichen Diskussion. Für die Identifizierung von Risiken für den Menschen sind epidemiologische Studien von besonderer Bedeutung. Epidemiologische Studien7 zeigen, ob eine statistische Korrelation zwischen dem Auftreten einer Krankheit und bspw. einer bestimmten Exposition eines elektromagnetischen Felds besteht. Ein kausaler Zusammenhang wird durch die Auswertung epidemiologischer Daten allein nicht begründet. Daher ist die Interpretation der epidemiologischen Daten durch entsprechende Laborexperimente zu unterstützen. Die erste epidemiologische Studie, deren Ergebnisse auf einen möglichen Zusammenhang zwischen der Nähe von Stromleitungen und der Entstehung kindlicher Leukämie schließen ließ, wurde von WERTHEIMER u. LEEPER (1979) veröffentlicht. Seitdem wurde eine Vielzahl von epidemiologischen Studien durchgeführt, um die Vermutung zu prüfen, ob eine lang anhaltende Exposition mit schwachen Magnetfeldern die Krebserkrankung fördert. Dabei wurden insbesondere die Zusammenhänge zwischen elektromagnetischen Feldern und Leukämie, Gehirntumoren sowie Brustkrebs untersucht. Die Vermutung, dass niederfrequente Magnetfelder das Wachstum von Hirntumoren fördern, konnte an einem Tiermodell nicht bestätigt werden (MANDEVILLE et al. 1997). Weitere neuere Studien wurden anhand von Tiermodellen für Lymphome bei Intensitäten von 1 P – 1000 PT durchgeführt, ohne einen entsprechenden Zusammenhang zeigen zu können (MCCORMICK et al. 1998; HARRIS et al. 1998). Zudem konnten SASSER 7
Die Epidemiologie ist jene wissenschaftliche Disziplin, die sich mit den Ursachen und Folgen sowie der Verbreitung von gesundheitsbezogenen Zuständen und Ereignissen in Populationen beschäftigt.
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et al. (1998) keinen signifikanten Zusammenhang zwischen der Bestrahlung mit niederfrequenten elektromagnetischen Feldern (bei einer Magnetfeld-Exposition von 2 mT, 6 h pro Tag) und der Bildung von Hautkrebs identifizieren. Zu beachten ist bei der Interpretation der Ergebnisse neuerer epidemiologischer Studien zu der Entstehung von Krebs bei Erwachsenen und insbesondere der Auswirkung der Exposition mit niederfrequenter Strahlung am Arbeitsplatz, dass verschiedene methodische Einschränkungen die Aussagekraft der Ergebnisse begrenzen (SSK 2001). Zu den methodischen Einschränkungen zählen insbesondere die bei allen Studien sehr problematische Expositionserfassung und die ungenügende Berücksichtigung der Exposition von anderen gesundheitsgefährdenden Stoffen. Diese Kritik gilt auch für die neueren Studien, bei denen für Non-Hodgkin Lymphome und Leukämie zwar kein statistisch signifikanter Zusammenhang mit der Magnetfeldexposition, aber mit dem elektrischen Feld besteht (SSK 2001; VILLENEUVE et al. 2000). In den vergangenen Jahren wurden verschiedene Studien zur Identifizierung möglicher gesundheitlicher Beeinträchtigungen durch niederfrequente Felder durchgeführt, die nicht im Zusammenhang mit Krebs stehen. Tabelle 9.7 zeigt eine vereinfachte Darstellung über mögliche Reaktionen und Gesundheitsbeeinträchtigungen unterhalb der Referenzwerte der EU-Ratsempfehlung (EU Empfehlung 1999/519/EG). und ihre Einordnung in die Kategorien Nachweis, Verdacht und Hinweis. Tabelle 9.7: Vereinfachte Darstellung über mögliche Reaktionen und Gesundheitsbeeinträchtigungen durch niederfrequente elektrische und magnetische Felder unterhalb der Referenzwerte der EU-Ratsempfehlung und ihre Einordnung in die Kategorien Nachweis (N), Verdacht (V) und Hinweis (H).
Reaktionen bzw. Gesundheitsbeeinträchtigungen 1) Krebs Tierexperimentelle Studien Epidemiologische Studien; Leukämie bei Kindern Epidemiologische Studien; Erwachsene 2) Andere Reaktionen bzw. gesundheitliche Beeinträchtigungen Epidemiologische Studien; neurodegenerative Erkrankungen Reproduktion; teratogene Reaktionen Kardiovaskuläres System Melatonin (Mensch) Melatonin (Tier) ZNS und kognitive Funktionen Schlaf Psychische Beeinflussungen Elektrosensibilität
N
V
H X
X X X X X X X X
Arbeitsumgebung
829
Zur Erstellung der Tabelle wurden von der Strahlenschutzkommission neuere wissenschaftliche Publikationen ab 1998 ausgewertet und bewertet (SSK 2001). 9.3.2.4
HochfrequenteĆStrahlungĆĆĆĆĆ
Nachfolgend werden die wissenschaftlichen Erkenntnisse unter dem Gesichtspunkt der gesundheitlichen Beeinträchtigungen durch hochfrequente Strahlung betrachtet. Die Darstellung der Auswirkungen konzentriert sich aus diesem Grund auf Frequenzen, die technisch genutzt werden und zudem in der Gesellschaft in einem größeren Umfang auftreten. Die Energie hochfrequenter elektromagnetischer Strahlung wird vom menschlichen Körper absorbiert. Der Absorptionsgrad ist sowohl von der Strahlung (Frequenz, Intensität) als auch von den Eigenschaften des absorbierenden Gewebes abhängig. Hochfrequente Strahlung hat dabei sowohl eine thermische als auch eine nicht-thermische Wirkung (siehe Kapitel 9.3.2.2). Die absorbierte Leistung ist in elektrisch gut leitendem Gewebe wie Muskelgewebe oder Körperflüssigkeiten höher als in der Haut, den Knochen oder dem Fettgewebe. Die Umsetzung der Energie hochfrequenter Strahlung in Wärme ist von der Feldverteilung innerhalb des organischen Gewebes und damit von dessen Eigenschaften abhängig. Insbesondere durch Reflexion und Brechung an Grenzflächen zwischen Geweben mit unterschiedlichen Dielektrizitätskonstanten kommt es zu stehenden Wellen und damit zu einer stark schwankenden Dichte der absorbierten Leistung (sog. „hot spots“). Quantitativ kann die Intensität einer hochfrequenten Strahlung durch die sog. Eindringtiefe beschrieben werden. Die Eindringtiefe beschreibt definitionsgemäß den Abstand, bei dem die Intensität der Strahlung auf den Wert 1/e (entsprechend 37%) abgenommen hat (RÖÖSLI u. RAPP 2003). Mit zunehmender Frequenz reduziert sich die Eindringtiefe, so dass es ab einer Frequenz von ca. 10 GHz zu einer vollständigen Absorption der Strahlung an der Körperoberfläche kommt. Die Eindringtiefe der Strahlung in den menschlichen Körper beträgt bei einer Frequenz von 30 MHz etwa 12 cm und bei 1 GHz ungefähr 4 cm (BUCHBERGER 1983). Untersuchungen an zellulären Strukturen z.B. an Zellmembranen oder Flüssen biologisch bedeutender Ionen, wie bspw. Kalzium, dienen zur Aufklärung von Wirkmechanismen, besonders unter dem Aspekt von biologischen Reaktionen auf Hochfrequenzfelder bei nichtthermisch wirkenden Intensitäten. Kalziumionen kommen zur Anwendung bei intrazellulären Prozessen und bei der Weiterleitung von Informationen in Form von Aktionspotentialen im neuronalen Gewebe. Bereits in den 1980er Jahren konnte eine Forschergruppe zeigen, dass es bei Auftreten bestimmter hochfrequenter Felder zu einer Instabilität des Kalziumgleichgewichts kommt (UNEP 1993). Eine Überprüfung der Auswirkungen der technisch verwendeten GSM-Pulsfrequenz von Mobilfunkgeräten auf den Kalziumionentransport an kultivierten Nervenzellen ergab keine feldbedingten Veränderungen (MEYER et al. 1998). Untersuchungen im Bereich der Mobilfunkkommunikation unterstützen daher nicht die Hypothese, dass es bei niedrigen Feldstärken zu Reak-
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Arbeitswissenschaft
tionen im menschlichen Körper kommt, die eine gesundheitliche Beeinträchtigung darstellen (STEWART REPORT 2000). Eindeutige biologische Reaktionen konnten dagegen nachgewiesen werden, wenn die Absorptionsrate um Größenordnungen über dem Grenzwert lag und zudem bekannte Mechanismen wie z.B. thermisch bedingte Reaktionen vorlagen. Die Gesamtheit an Versuchsergebnissen spricht nach Ansicht der Strahlenschutzkommission nicht für einen wissenschaftlich begründeten Verdacht (SSK 2001). Untersuchungen an Probanden schließen aber auch nicht aus, dass bei Einhaltung des Basisgrenzwerts nach BImSchV von 2 W/kg für Teilkörperexposition das menschliche Gehirn in seinen physiologischen Reaktionen beeinflusst wird (SSK 2001; KLITZING 1995). Während das spontane Elektronenzephalogramm eines Menschen oder reizkorrelierte Hirnpotentiale durch das hochfrequente Feld nicht beeinflusst werden, zeigen sich Wirkungen bei Aufmerksamkeitstests (KRAUSE et al. 2000). Die erhobenen Daten ermöglichen jedoch keine wissenschaftlich generalisierbare Aussage, ob die Nutzung von Mobiltelefonen zu einer gesundheitlichen Beeinträchtigung beim Menschen führen kann. So liegen die gefundenen Veränderungen im Bereich der normalen biologischen Schwankungen und werden in Studien mit einer lokalen und geringfügigen Erwärmung und besseren Durchblutung erklärt, wobei der zugrunde liegende Wirkungsmechanismus nicht bekannt ist (SSK 2001). Zu beachten ist bei der Untersuchung von hochfrequenten elektromagnetischen Feldern, dass diese in Abhängigkeit von der Frequenz unterschiedlich tief in das biologische Gewebe eindringen. Für Frequenzen, wie sie bei der Nutzung von Mobilfunkgeräten auftreten, sind dies wenige Zentimeter. Beim Telefonieren – geringe räumliche Distanz zwischen Gerät und Kopf – erfolgt die Exposition im Nahfeldbereich, d.h. die im Kopf absorbierte Hochfrequenzenergie wird innerhalb eines kleinen Volumens in Wärme umgesetzt. Die lokal induzierte Wärme wird durch die Blutzirkulation abgeleitet. Bei der Untersuchung der Auswirkungen einer Exposition ist es daher erforderlich, die absorbierte Energie für kleine lokale Volumina zu betrachten. Untersuchungen haben ergeben, dass ein lokaler Wärmeeintrag von 20 W/kg, gemittelt über 10 g Gewebemasse, eine Temperaturerhöhung von weniger als 1°C verursacht (SSK 2001). Dennoch haben die vorhandenen Studien keine statistisch nachweisbare Korrelation zwischen Krebs im Kopfbereich und Nutzung eines Mobiltelefons gezeigt (SSK 2001). Eine zusammenfassende Bewertung der wissenschaftlichen Publikationen über mögliche Reaktionen und Gesundheitsbeeinträchtigungen durch hochfrequente elektromagnetische Felder unterhalb der Basisgrenzwerte (Ganzkörperwert 0,08 W/kg [=G], bzw. Teilkörperwert 2 W/kg [=T]) bzw. Referenzwerte der EURatsempfehlung (1999/519/EG) und ihre Einordnung in die entsprechenden Kategorien zeigt Tabelle 9.8.
Arbeitsumgebung
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Tabelle 9.8: Vereinfachte Darstellung über mögliche Reaktionen und Gesundheitsbeeinträchtigungen durch hochfrequente elektrische und magnetische Felder unterhalb der Basisgrenzwerte (Ganzkörperwert 0,08 W/kg [=G], Teilkörperwert 2W/kg [=T]) bzw. Referenzwerte der EU-Ratsempfehlung und ihre Einordnung in die Kategorien Nachweis (N), Verdacht (V) und Hinweis (H)).
Reaktionen bzw. Gesundheitsbeeinträchtigungen 1) Interaktion mit Zellen und subzellulären Strukturen Moleküle und Membrane Kalzium 2) Einfluss auf Menschen und Tiere Verhalten bei Tieren EEG beim Menschen, Schlaf Kognitive Funktionen Blut-Hirn-Schranke bei Ratten Melatonin bei Tieren und Menschen Blutparameter und Immunsystem Reproduktion und Entwicklung 3) Krebs Krebsrelevante Modelle (in vitro) Entstehung und Förderung (in vivo) Lymphom Modell Epidemiologische Studien (Mobilfunk) 9.3.2.5
N
V
H T T T T T T G
T T
OptischeĆStrahlungĆ
Die kritischen Organe für die Einwirkung optischer Strahlung auf den Menschen sind die Augen und die Haut. Die Strahlen dringen abhängig von der jeweiligen Wellenlänge unterschiedlich tief in das Gewebe ein, ohne dass dies zu einer Schädigung der inneren Organe führen muss. Während kurzwellige UV-Strahlen und langwellige IR-Strahlen bereits an der Oberfläche absorbiert werden, dringt Strahlung im sichtbaren und nahen infraroten Bereich tiefer in das Gewebe ein. Daraus folgt, dass die Auswirkungen im Auge und in der Haut, die aus einer Bestrahlung resultieren, von der absorbierten Wellenlänge abhängen. Zudem sind die Art und die Schwere eines durch optische Strahlung hervorgerufenen Effekts von der Intensität der Strahlung und von ihrer Dosis abhängig. Es kann sowohl zu positiven als auch zu negativen Wirkungen kommen (BGI 5006). Die Haut ist aus mehreren Schichten aufgebaut, die eine unterschiedliche Durchlässigkeit für Strahlen unterschiedlicher Wellenlängen aufweisen. Die Oberhaut (Epidermis) besteht ihrerseits aus mehreren Schichten. Oberste und widerstandsfähigste Schicht ist die Hornhaut, in der untersten Schicht der Oberhaut befinden sich die Thermorezeptoren und die den Hautton bestimmenden Pigmente. Unter der Oberhaut liegt die für Elastizität und Reißfestigkeit verantwortliche Lederhaut (Dermis), die auch Haarwurzeln und Nerven enthält. Die Unterhaut
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Arbeitswissenschaft
(Subcutis) stellt die Verbindung zu, aber auch Beweglichkeit gegenüber dem darunterliegenden Gewebe her. Infrarotstrahlung mit Intensitäten ab 35 W/m2 ist durch den Menschen wahrnehmbar, ab etwa 500 W/m2 wird sie als „warm“ und ab ca. 1000 W/m2 als „heiß“ empfunden. Intensitäten ab etwa 1500 W/m2 führen bei über 10-minütiger Bestrahlung zu Schmerzempfindungen. Danach kommt es zu „Sonnenbrand“ (Erythem) und anschließend zu Geschwüren und Verkohlung der Haut. Intensive Bestrahlung erhöht das Hautkrebsrisiko. UV-Strahlungsquanten können zu einem Sonnenbrand oder Verkohlung der Haut führen, weisen zudem aber genügend Energie auf, um photobiologische Effekte hervorzurufen. Dies kann dazu führen, dass Moleküle angeregt, chemische Reaktionen ausgelöst, in ihrem Verlauf verändert oder gar chemische Bindungen aufgebrochen werden. In Verbindung mit zahlreichen chemischen Substanzen verursacht UV-Strahlung phototoxische und photoallergische Reaktionen, die zu Dermatosen führen (SCHREIBER u. OTT 1985). In Abhängigkeit von der akkumulierten UV-Strahlendosis steigt somit das Risiko einer Hautkrebserkrankung. Das menschliche Auge ist durch Infrarotstrahlung besonders gefährdet, da diese nicht wahrnehmbar ist und somit die Schutzreflexe (Lidschluss, Abwenden) nicht zum Tragen kommen. In Abhängigkeit von der Wellenlänge (siehe Abb. 9.26) wird die Strahlung in der Hornhaut (Cornea) teilweise absorbiert. Bei infraroter Strahlung findet die Absorption nicht statt, so dass bei Vordringen bis zur Netzhaut eine Schädigung dieser auftreten kann. Langandauernde Einwirkung von Wärmestrahlung kann dabei zu einer Trübung der Augenlinse (Katarakt, Grauer Star) führen. Diese schreitet langsam voran und wird von einem Menschen oftmals erst nach einem längeren Zeitraum (10 - 15 Jahre) wahrgenommen. Diese Eintrübung ist bei Arbeitern in der Eisen- und Glasindustrie als Berufskrankheit Nr. 2401 anerkannt. Anders als bei infraroter Strahlung gefährdet die UV-Strahlung wegen der geringen Eindringtiefe vor allem die Horn- und Bindehaut des Auges (siehe Abb. 9.26). Die Netzhaut ist durch die vorgelagerten Bereiche geschützt. Bei Schweißarbeiten ohne Augenschutz kann es daher zu Entzündungen der Horn- und Bindehaut (Photokeratitis bzw. Photokonjunktivitis) verbunden mit starken Kopfschmerzen kommen, dem sog. „Verblitzen“. Zu beachten ist, dass ein Verblitzen nicht nur durch direkte, sondern auch durch reflektierte UV-Strahlung verursacht werden kann (Gletscherskilauf). Bei Laserstrahlung hängen die Wirkungen stark von den Bestrahlungsparametern ab. Bei kurzen Strahlungsimpulsen wird dem Gewebe rasch Wärme zugeführt, die flüssigen Bestandteile in den Zellen können bei einer hohen Energieintensität explosionsartig verdampfen und dabei das umliegende Gewebe zerreißen. Durch Scherkräfte kann auch von dem Absorptionsbereich weiter entferntes Gewebe geschädigt werden. Durch die starke optische Bündelung von Laserstrahlen, die zudem noch durch Hornhaut und die Augenlinse verstärkt wird, besteht die Gefahr von Netzhautschädigungen. Das Einbrennen kleiner Löcher in die Netzhaut wird meist nicht bemerkt, Häufungen führen jedoch zu Gesichts-
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feldausfällen. Besonders schwerwiegend ist die Verletzung der nur 1 mm2 großen Fovea centralis. Zu Ausfällen ganzer Netzhautbereiche (Skotome) oder gar vollständiger Erblindung führt die Verletzung des „blinden Fleckes“, dem Ort der Einmündung des Sehnervs in die Netzhaut.
Abb. 9.26: Zusammenfassende Darstellung über das Eindringen von Strahlung ins Auge. (a) Mikrowellen und Röntgenstrahlung, (b) fernes Ultraviolett und fernes Infrarot, (c) nahes Ultraviolett, (d) sichtbares Licht und nahes Infrarot (aus EICHLER 1992)
9.3.2.6
IonisierendeĆStrahlungĆ
Energiereiche Strahlungsteilchen treten bei ihrer Absorption in Körpergewebe in direkte Wechselwirkung mit den Hüllenelektronen und Kernen der Atome bzw. Moleküle. Dabei kann es zu folgenden Primärreaktionen kommen: x Direkte Ionisation: Die auftretende Strahlung schlägt Elektronen aus Atomhüllen und es entstehen positiv geladene Ionen. Die freien Elektronen lagern sich, wenn sie eine geringe Energie aufweisen (z.B. bei Ionisierung durch Teilchen- oder Röntgenstrahlung), an ein neutrales Atom oder Molekül an und erzeugen negativ geladene Ionen. Bei der Bestrahlung mit GammaStrahlung wird den Elektronen eine ausreichend große Energie zugeführt, die zu weiteren Ionisationsvorgängen bei anderen Atomen und Molekülen führen kann. x Indirekte Ionisation: Gammaquanten mit einer Energie über 1,2 MeV können in Materie Elektron-Positron-Paare bilden, die ihrerseits ionisierend wirken. Beim Auftreffen von Strahlungsteilchen auf Atomkerne entstehen energiereiche Alpha-, Beta-, Protonen- und Neutronen- sowie Röntgen- bzw. Gamma-Strahlung. Diese Sekundärstrahlung wirkt ihrerseits auf die Materie ein.
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Arbeitswissenschaft
Bei der Streuung von Elektronen in Materie entsteht zudem eine elektromagnetische Bremsstrahlung. x Anregung: Bei dem Vorgang der Anregung werden die Hüllenelektronen nicht aus der Atomhülle entfernt, sondern in ein energetisch höheres Niveau versetzt. Von diesem höheren Energieniveau können sie unter Aussendung von Röntgenstrahlung in den Ausgangszustand zurückkehren (Fluoreszenzstrahlung), oder es entstehen chemisch angeregte Atome, Moleküle und Molekülbruchstücke (freie Radikale). Durch diese physikalischen Vorgänge werden Molekülverbände und größere Strukturen im menschlichen Körper in ihrem Aufbau verändert oder in Bruchstücke zerlegt, so dass ihre Funktionsfähigkeit gestört wird oder gänzlich verloren geht. Auf die physikalischen Primäreffekte folgt eine Fülle von chemischen Reaktionen (siehe Abb. 9.27). Die freien Radikale und Molekülbruchstücke können neue Verbindungen erzeugen, die gesundheitsschädlich sind und somit die physikalischen Primärschaden sekundär verstärken. Zu nennen ist hier bspw. die Bildung von Wasserstoffperoxid aufgrund der Radiolyse des Zellwassers. Gefährlich sind auch Mutationen der DNS-Moleküle, die zu Krebserkrankungen oder, falls Keimzellen betroffen sind, zur Schädigung des Erbguts und entsprechenden genetisch bedingten Defekten der Folgegeneration führen können. Die induzierten molekularen Strukturschäden können oft durch sehr wirkungsvolle, körpereigene Reparaturmechanismen behoben werden. Ferner ist es dem menschlichen Körper möglich, mutierte Zellen zu erkennen und mit Hilfe des Immunsystems zu eliminieren. Unterschieden werden x somatische Strahlenschäden und x genetische Strahlenschäden. Diese zwei Klassen von Strahlenschäden werden zudem hinsichtlich des Zeitraums ihrer Wirkung unterschieden. Frühschäden zeigen sich nur nach relativ hohen Strahleneinwirkungen und äußern sich spätestens einige Wochen nach der Strahleneinwirkung. Wirkungen hoher Strahlendosen sind zumeist deterministisch (Strahlenkrankheit). Die Wirkung geringer Mengen ionisierender Strahlung ist stochastisch: So kann mit einer sehr geringen Wahrscheinlichkeit schon ein einzelnes Strahlungsquant eine Zellveränderung im menschlichen Körper bewirken, die mit einer weiteren – wenn auch sehr geringen – Wahrscheinlichkeit nicht repariert werden kann. Die Wahrscheinlichkeit einer solchen irreversiblen Veränderung steigt mit der Zahl der absorbierten Strahlungsquanten. Es lassen sich aufgrund der von einer Person aufgenommenen Strahlungsdosis nur Wahrscheinlichkeiten eines Erkrankungsrisikos berechnen. Zu den stochastischen Wirkungen sind insbesondere Krebs und Leukämie zu zählen. Statistisch gesichert ist dagegen eine Verzögerung zwischen Einwirkungszeitpunkt und Ausbruch der Erkrankung in Abhängigkeit von der Dosis. Diese Latenzzeit kann sehr viel länger sein als die statistische Lebenserwartung einer der Strahlung ausgesetzten Person. Aussagen über die Wahrscheinlichkeit einer Strah-
Arbeitsumgebung
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lenschädigung beziehen sich auf Alters- oder Berufsgruppen, eine konkrete Aussage über ein voraussichtliches Auftreten einer Krankheit für bestimmte Einzelpersonen ist aufgrund bestimmter Arbeitsbedingungen jedoch nicht möglich. Zeit
Phase der Strahlenleistung
Vorgang Unbeschädigter Organismus
10-16s bis 10-13s
10-13s bis 10-11s
Physikalische Phase
Absorption der Strahlenenergie Ionisierte und angeregte Moleküle im bestrahlten Organismus Herstellung des thermodynamischen Gleichgewichts intra- und intermolekulare Energiewanderung
Reaktion der Radikale des Wassers als indirekte Strahlenwirkung
10-11s bis 10-2s
Intramolekulare Energiewanderung (für biologische Systeme)
Radikale körpereigene Moleküle
Physikalischchemische Phase
Physikalischchemische und chemische Phase
Intramolekulare Umlagerung Manifestierte molekulare Veränderungen
Sekunden bis Stunden
Frühe physiologische Effekte (gewöhnlich reversibel)
Minuten bis Tage
Genetische Veränderung (Mutation)
Minuten bis Jahre
Spätschäden (Blutveränderungen, Lebenszeitverkürzung, Katarakt, Krebs, Gefäßverengung, Sterilität)
Stoffwechsel mit geschädigten Molekülen Biochem. Veränderung Morphologische Veränderung
Biologische Phase
Zelltod Tod des Organismus
Abb. 9.27: Zeitlicher Ablauf der biologischen Wirkung ionisierender Strahlung (aus SAUTER 1983, nach LEITGEB 1990).
Bei der Wirkung radioaktiver Strahlung muss zudem zwischen äußerer und innerer Bestrahlung unterschieden werden. Äußere Bestrahlung ist die Einwirkung von Strahlung auf den Menschen durch eine außerhalb des Körpers befindliche Quelle. Eine innere Bestrahlung entsteht durch eingeatmete, über die Haut aufgenommene oder verschluckte Radionuklide. Die inkorporierten Elemente lagern sich überwiegend in bestimmten Organen ab, z.B. Kalium-40 in der Muskulatur, Jod-131 in der Schilddrüse, Radium-226 in den Knochen, Uran-238 in den Nieren sowie Knochen und weitere radioaktive Elemente in Magen und Darm
836
Arbeitswissenschaft
(VOLKMER 2007). Die einzelnen Organe und Gewebe des Menschen sind unterschiedlich strahlenempfindlich – bei der Bewertung der Strahlung werden daher spezifische Wichtungsfaktoren benutzt. Tabelle 9.9 gibt einen Überblick über die durchschnittliche Belastung durch ionisierende Strahlung in Deutschland. Tabelle 9.9: Bewertung der mittleren effektiven Dosis in der Bundesrepublik Deutschland (VOGT u. SCHULTZ 2004)
9.3.3
Messung
Allgemeine Anforderungen zu Messverfahren finden sich in der DIN VDE 0848-1. Danach müssen die Eigenschaften der Messeinrichtungen hinsichtlich des Messwertaufnehmers, des Messprinzips und der Art der Messwertanzeige hinreichend bekannt sein. Im Folgenden werden daher die Anforderungen an Messverfahren, Messwertaufnehmer und Messgeräte näher aufgeführt.
Arbeitsumgebung
9.3.3.1
837
NiederfrequenteĆStrahlungĆ
Definitionen der Feldgrößen sowie Mess- und Berechnungsverfahren zur Beurteilung der Sicherheit in elektrischen, magnetischen und elektromagnetischen Feldern enthält die Norm DIN VDE 0848 (DIN VDE 0848-1; DIN VDE 0848-3-1; DIN VDE 0848-5). Messverfahren
Für eine exakte Erfassung eines elektromagnetischen Felds muss dem Einfluss auf den Messwert durch das tatsächlich vorhandene Frequenzspektrum (z.B. Modulation, Harmonische, mehrere Frequenzen) Rechnung getragen werden (DIN VDE 0848-1). Die mit der Messung betraute Person hat demnach zu entscheiden, ob eine elektromagnetische Strahlung selektiv oder breitbandig gemessen werden kann. Weiterhin ist basierend auf dem Ziel der Messung festzulegen, ob Spitzen- oder Effektivwerte zu ermitteln sind. Zwei Verfahren sind zu unterscheiden: x Bei der Erfassung von Spitzenwerten und Effektivwerten bei mehreren Frequenzen können diese direkt gemessen werden, wenn breitbandige und unabhängig von der Signalform messende Geräte verwendet werden und zudem die zulässigen Grenzwerte im zu betrachtenden Frequenzbereich gleich sind (DIN VDE 0848-1). Eine derartige Messung ist nur zulässig, wenn die Messbandbreite und die Beobachtungszeit ausreichend groß gewählt wird, um die Erfassung aller relevanten Frequenzen bzw. Spitzenwerte sicherzustellen. x Sind die zulässigen Werte im zu betrachtenden Frequenzbereich heterogen, so sind bewertende oder frequenzselektierende Messeinrichtungen zu nutzen (DIN VDE 0848-1). Bei der Verwendung letzterer ist die Frequenzauflösung so zu wählen, dass die Bewertung bzgl. der zulässigen Werte ermöglicht wird. Bei der Analyse eines elektromagnetischen Felds ist zu beachten, dass oftmals kein mathematisch einfach zu beschreibender Zusammenhang zwischen der elektrischen und der magnetischen Komponente besteht. Umrechnungen von der einen auf die andere Größe durch die Formel E = Z0 · H sind in einem solchen Fall nicht zulässig. Elektrische und magnetische Feldstärken sind separat zu messen. Für inhomogene niederfrequente elektrische Felder, wie sie in der betrieblichen Praxis oftmals anzutreffen sind, wird als Messgröße der Gesamtkörperableitstrom verwendet, der auftritt, wenn eine Körpernachbildung oder eine Versuchsperson sich in dem zu messenden Feld befindet. Die Messung sollte dabei unter realen, d.h. betrieblichen Bedingungen mit wechselnden Parametern erfolgen, um die Erkenntnisse auf das zu untersuchende Arbeitssystem übertragen zu können. Der für den Körperableitstrom erfasste Wert wird anschließend mit einem Proportionalitätsfaktor multipliziert, der sich aus der Messung des Gesamtkörperableitstroms in einem bekannten homogenen Feld ergibt (DIN VDE 0848-1). Das exakte Messverfahren für niederfrequente elektromagnetische Strahlung, für Frequenzen bis zu 100 Hz kann der DIN VDE 0848-1 entnommen werden.
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Arbeitswissenschaft
Die magnetische Feldstärke eines zeitlich konstanten homogenen Magnetfelds kann mit einer Hallsonde bestimmt werden. Ist hingegen das elektromagnetische Feld inhomogen, so kann die Ausprägung der magnetischen Feldstärke in einer Raumrichtung durch einen Messwertaufnehmer erfasst werden, der nach dem Induktionsprinzip arbeitet. Bei diesem Verfahren bildet eine durch das magnetische Feld induzierte Spannung das Maß für die Komponente der magnetischen Feldstärke senkrecht zur Spulen- und Rahmenebene. Um die Leistungsflussdichte im Nahfeld zu bestimmen, ist die elektrische als auch die magnetische Feldstärke in drei zueinander senkrechten Raumrichtungen nach Betrag und Phase zu messen. Aus den erfassten Werten lässt sich die Leistungsflussdichte bestimmen. Messgeräte
Die verwendeten Messgeräte müssen die zu messenden Größen im Hinblick auf die festgelegten zulässigen Werte und die ihnen zugrundeliegenden Bedingungen in geeigneter Weise erfassen. Sie müssen zudem einen für den Anwendungsfall geeigneten Mess- und Frequenzbereich aufweisen (DIN VDE 0848-1). Geräte zur Messung der elektrischen Feldstärke haben zweckmäßigerweise eine Anzeige in V/m, während Messgeräte für die Bestimmung der magnetischen Feldstärke eine Anzeige in A/m oder T besitzen. Feldstärkemessungen zur Beurteilung der Sicherheit in elektromagnetischen Feldern erfolgen vielfach unter besonderen Bedingungen. Die Messunsicherheit bei der Beurteilung der Einhaltung der zulässigen Werte ist dabei zu berücksichtigen. Zu beachten ist, dass die Messergebnisse beeinflusst werden durch x Umwelteinflüsse auf die Messgeräte und den Messwertaufnehmer, z.B. Temperatur, Luftfeuchte, x Messaufbau, x Störungen des Felds, z.B. durch die messende Person während der Ablesung des Messergebnisses, x Ungenügende Störfestigkeit des Geräts sowie die x Entkopplung der Anschlussleitungen. Messwertaufnehmer
Wird die Identifizierung von Feldinhomogenitäten gefordert, so müssen die Abmessungen des Messwertaufnehmers klein gegenüber den entsprechend dem Schutzkonzept betrachteten räumlichen Ausdehnungen sein. Eine Feldinhomogenität ist daran zu erkennen, dass sich die Anzeige bei räumlicher Verschiebung des Messwertaufnehmers im relevanten Untersuchungsraum nennenswert ändert. Messwertaufnehmer zur Bestimmung einer Komponente der magnetischen Feldstärke in einer Raumrichtung arbeiten üblicherweise nach dem Induktionsprinzip (Induktionsspule, Rahmenantenne).
Arbeitsumgebung
9.3.3.2
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HochfrequenteĆStrahlungĆ
Das Vorgehen bei der Messung der elektrischen und magnetischen Feldstärke erfolgt bei hochfrequenter Strahlung im Wesentlichen analog zur Erfassung niederfrequenter Strahlung. Besonders zu beachten ist, dass die Länge der Antenne kurz gegenüber der zu erfassenden Wellenlänge ist (DIN VDE 0848-1). Zur Messung von Mikrowellen existieren spezielle Messgeräte, die für eine gefahrlose Messung meist über einen von der Anzeige getrennten Tastkopf verfügen. Die meisten Geräte besitzen einen Tastkopf aus zwei aufeinander senkrecht stehenden Dipolen, zwischen denen Thermoelemente, Dioden oder Thermistoren geschaltet sind. Bei Anliegen eines hochfrequenten Felds entsteht zwischen den Dipolen proportional zur Strahlungsdichte eine Gleichspannung oder eine thermisch erzeugte Widerstandsänderung (GROLL 1989). Ist nicht die Erfassung der Charakteristik des elektromagnetischen Feldes das Ziel, sondern die Beurteilung des direkten Einflusses von hochfrequenten elektromagnetischen Feldern auf das menschliche Gehirn, so kann dies durch die Erfassung der elektrischen Hirnaktivitäten erfolgen. Zu beachten ist, dass nur akute neuronale Reaktionen vom Messwertaufnehmer erfasst werden können. Dies führt dazu, dass die erfassten Reaktionen keine detaillierte Aussage zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen ermöglichen. So weist bspw. die Aufnahme des Ruhe-EEG – die überwachte Person befindet sich in einem wachen Zustand und hat die Augen geschlossen – zu verschiedenen Zeitpunkten bereits eine hohe Variabilität auf (SSK 2001). 9.3.3.3
OptischeĆStrahlungĆ
Die Messung von optischer Strahlung erfolgt entsprechend den Normen der International Electrotechnical Commission (IEC), der International Commission Illumination (CIE), der European Committee for Standardisation (CEN) oder, falls keine Normen vorliegen, entsprechend den nationalen oder internationalen Leitlinien. Die folgenden Berechnungsvorschriften für die Bestimmung der Expositionsgrenzwerte basieren auf Größen, die durch entsprechende Messverfahren und -geräte zu ermitteln sind (BGI 5006). Die effektive Bestrahlungsstärke Eeff ergibt sich im Wellenlängenbereich von Ȝ1 bis Ȝ2 aus den spektralen Bestrahlungsstärken EȜ(Ȝ) und den relativen spektralen Wirksamkeiten S(Ȝ) (BGI 5006) durch: O2
Eeff
³ EO ( O ) S ( O ) d O
(9.30)
O1
Die effektive Bestrahlung Heff ergibt sich aus der effektiven Bestrahlungsstärke Eeff und der Einwirkungsdauer T zu: H eff
³E
eff
T
dt
(9.31)
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Arbeitswissenschaft
Die effektive Strahldichte LR für die Bestimmung der thermischen Netzhautgefährdung berechnet sich aus der spektralen Strahldichte LȜ(Ȝ) und der relativen spektralen Wirksamkeit für thermische Netzhautgefährdung R(Ȝ) zu: O2 1400 nm
LR
³
LO (O ) R (O ) d O
(9.32)
O1 380 nm
In Abhängigkeit vom Gefährdungspotential ist die Strahldichte bzw. die Bestrahlungsstärke entweder spektral aufgelöst oder integral für einen Wellenlängenbereich zu messen. Bei einem Wellenlängenbereich von 300 nm bis 1400 nm ist die spektrale Strahldichte der Quelle zu bestimmen. Daher werden für diese Spektralbereiche Messgeräte benötigt, die spektral aufgelöst messen, sog. Spektroradiometer. Integral messende Systeme können ebenfalls Anwendung finden, da diese die jeweiligen Bewertungsfunktionen mit Filtern nachbilden. Für die Beurteilung von chronischen IR-Expositionen der Augen im Wellenlängenbereich 780 nm bis 3000 nm sind integral messende Messgeräte für die Bestrahlungsstärke erforderlich (BROSE et al. 2005). Die Geräte müssen eine konstante spektrale Empfindlichkeit aufweisen, d. h. sie müssen unselektiv sein. Die Begrenzung des Wellenlängenbereichs wird durch eine Kombination mit geeigneten optischen Filtern erreicht. Strahldichtemessungen zur Bestimmung der Netzhautgefährdung sind sehr aufwendig und meist mit hohen Messungenauigkeiten behaftet. Daher wird in der Praxis oftmals die Bestrahlungsstärke gemessen und der Strahldichtegrenzwert in einen Bestrahlungsstärkegrenzwert umgerechnet. Wird dieser Grenzwert unterschritten, so kann auf die Strahldichtemessung verzichtet werden (BROSE et al. 2005). 9.3.3.4
IonisierendeĆStrahlungĆ
Wesentliche Aufgaben des Strahlenschutzes sind die Durchführung präventiver Maßnahmen, die Kontrolle von Routinetätigkeiten und das schnelle Eingreifen bei Stör- und Unfällen im Zusammenhang mit natürlich vorkommender und künstlich erzeugter ionisierender Strahlung. Zu diesem Zweck wurden eine Vielzahl unterschiedlicher Nachweis- und Messverfahren entwickelt. Tabelle 9.10 gibt einen Überblick über die Maßeinheiten, die zur Beschreibung von ionisierender Strahlung verwendet werden. Neben physikalischen Einheiten enthält die Tabelle auch Größen, die das Schädigungspotential der einzelnen Strahlungsarten berücksichtigen (Äquivalentdosis, effektive Äquivalentdosis) sowie zusätzlich die Gefährdung verschiedener Personengruppen beschreiben (genetisch signifikante Dosis). Die Messwerte zur Charakterisierung eines Strahlenfelds können für eine räumliche Umgebung durch ein Isodosenfeld dargestellt werden. Eine sog. Isodose bzw. Isodosenlinie beschreibt dabei die Raumpunkte, die eine gleiche Dosierung aufweisen.
Arbeitsumgebung
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Tabelle 9.10: Ausgewählte Dosisbegriffe zur Bewertung ionisierender Strahlung Ionendosis
Durch ionisierende Strahlung pro Masseeinheit erzeugte Ladung Einheit: Coulomb pro Kilogramm (C/kg) Energiedosis Pro Masseeinheit absorbierte Strahlungsenergie Einheit: Gray (Gy) 1Gy = 1J/kg Äquivalentdosis Auf gleiche biologische Wirkung normierte Dosis. Die Energiedosis wird multipliziert mit einem Bewertungsfaktor q, der die relative biologische Wirksamkeit der verschiedenen Strahlenarten berücksichtigt. Einheit: Sievert (Sv) Effektive Äquivalent- Summe aller entsprechend den Organempfindlichkeiten gewichteten dosis Teilkörperdosen. Sie repräsentiert das genetische und somatische Gesamtrisiko für Strahlenspätschäden. Einheit: Sievert (Sv) Dosisleistung Verteilung einer Dosis über einen gegebenen Zeitraum, Dosis pro Zeiteinheit Gebräuchliche Einheiten: Gy/h, Sv/h Genetisch Mittelwert der entsprechend des Alters, des Geschlechts und der Kindersignifikante Dosis erwartung gewichteten individuellen Keimdrüsendosen eines Kollektivs Einheit: Sievert Sv Kollektivdosis Summe aller Individualdosen eines Kollektivs Einheit: Sievert ʘSv
Die Zielsetzung einer Strahlenmessung kann differenziert werden nach: x Ortsdosimetrie umfasst die Messung von Ortsdosen zur Grenzwertüberprüfung, zur Bewertung der Wirksamkeit von Strahlenschutzvorrichtungen und zur Ermittlung von Aufenthaltszeiten im Strahlenfeld. Bei der Ortsdosimetrie wird die Ortsdosis H bzw. Ortsdosisleistung H dH / dt in der Umgebung von Strahlenquellen gemessen. Die Aufnahme der Messwerte durch entsprechende Messwertaufnehmer erfolgt „frei im Raum“. Aus diesen Messwerten kann unter Berücksichtigung der messtechnisch bedingten Unsicherheiten die Ganzköperdosis einer Person ermittelt und mit den Grenzwerten abgeglichen werden. x Personendosimetrie beschreibt die Messung von Personendosen mit dem Ziel, die von einer Person tatsächlich aufgenommene Expositionsdosis zu bestimmen. Zur Ermittlung einer Ganzkörper- oder Teilkörperdosis müssen jeweils geeignete Dosimeter an den richtigen (repräsentativen) Stellen des Körpers getragen werden. x Kontaminationskontrolle umfasst das Aufspüren von Kontaminationen im Arbeitsbereich. Eine Kontamination beschreibt eine radioaktive Verunreinigung durch unerwünschte Anwesenheit oder Zuführung von Radionukliden. Kontaminationsmessungen sind insbesondere beim Umgang mit offenen radioaktiven Stoffen durchzuführen. In einem solchen Fall ist die flächenbezo-
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Arbeitswissenschaft
gene Aktivität AF von Arbeitsflächen, Kleidung und Haut oder die volumenbezogene Aktivität AV von radioaktivem Abwasser oder radioaktiver Abluft zu messen. x Inkorporationskontrolle beschreibt die Ermittlung von inkorporierten Aktivitäten. Problematisch bei der Durchführung einer Inkorporationskontrolle ist die Bestimmung der Organ- und Personendosen resultierend aus den durchgeführten Aktivitäten und die dadurch bedingte Verteilung im Organismus. Für den Nachweis von Strahlung bzw. zur Ermittlung der Dosis verschiedener Strahlenarten und -energien kommen unterschiedliche Strahlendetektoren zum Einsatz. Je nach Strahlenart, Art des Radionuklids und Ziel der Messung sind diese Detektoren für unterschiedliche Messverfahren geeignet. Die Dosis wird dabei durch die physikalische Wirkung der Strahlung mit einer entsprechend ausgewählten Materie erfasst. Diese Wirkungen sind im Wesentlichen optische Effekte (Absorption und Lumineszenz), elektrische Effekte (Leitfähigkeitsänderungen im umgebenden Medium durch Ionisation) sowie thermische Effekte (Erwärmung). Das Medium, in dem die ionisierende Strahlung den Effekt erzeugt, der zum Nachweis (qualitativ oder quantitativ) dient, wird als Detektor bezeichnet. Detektoren können gasförmige, flüssige oder feste Medien sein, je nach Messproblem große oder kleine Volumina aufweisen bzw. auch aus Filmen oder dünnen Schichten bestehen. Zur Messung ionisierender Strahlung werden drei Typen von Dosimetern unterschieden: x Optisches Dosimeter: Häufig angewandte optische Effekte, durch die ionisierende Strahlung nachgewiesen werden kann, sind Filmschwärzung, Lumineszenz und Kernspurbildung. Die Schwärzung lichtempfindlicher Filmemulsionen durch ionisierende Strahlung ist eine der ältesten Nachweisverfahren. Besonders bei der Personendosimetrie im Strahlenschutz, in der medizinischen Röntgendiagnostik und in der technischen Radiographie kommen solche Filme zum Einsatz. Geeignete Filme können aber nur als Dosimeter dienen, wenn es einen linearen Bereich gibt, indem der Schwärzungsgrad mit der Dosis zunimmt. Eines der bekanntesten optischen Dosimeter ist das Geiger-Müller-Zählrohr. x Festkörperanregungs-/Festkörperionisations-Dosimeter: Zu den Festkörperdetektoren zählen Szintillationszähler (aufgebaut aus homogenen Kristallen), die auf dem Prinzip der Festkörperanregung basieren. Bei Wechselwirkung zwischen den sog. Szintillatorkristallen und der ionisierenden Strahlung kommt es zu einer Anregung bestimmter Energiezustände in den Kristallen. Dabei entstehen im strahlungsempfindlichen Bereich des Detektors Lichtblitze – Szintillationen – die der absorbierten Energie direkt proportional sind. Ein weiterer Typus der Festkörperionisations-Dosimeter sind verschiedene Ausführungen von Halbleiterdetektoren (aufgebaut aus Halbleitermaterialien), in denen bei Strahlungseintritt Festkörperionisationen stattfinden. D.h. bei Strahlungseinfall kommt es durch die absorbierte Energie zu einer
Arbeitsumgebung
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Bildung von Elektronen-Lochpaaren im Halbleitermaterial. Die Anzahl der gebildeten Elektronen-Loch-Paare ist direkt proportional zur Energie der erfassten Gamma-Strahlung. Detektoren dieses Typus werden zur Bewertung der absorbierten Energien eingesetzt und eignen sich zudem zur Analyse einer Kontamination. x Elektrometrische Dosimeter: Bei dieser Art von Dosimetern handelt es sich um Elektrometer (aufgeladene Kondensatoranordnungen), die durch eine ionisierende Strahlung entladen werden. Der Entladungsvorgang verläuft proportional zur Strahlungsintensität ab. 9.3.4 9.3.4.1
Bewertung und Beurteilung NiederfrequenteĆStrahlungĆ
Die Beurteilung von Gesundheitsbeeinträchtigungen oder Gefährdungen durch die Exposition mit elektromagnetischen Feldern ist Gegenstand intensiver wissenschaftlicher Diskussionen. Da diese Fragestellung sehr komplex ist und das Wissen aus vielen verschiedenen Domänen wie Ingenieurwissenschaften, Medizin, Physik, Biologie, Epidemiologie, Psychologie und Statistik benötigt wird, wurden übergeordnete Fachgremien von staatlicher Seite damit beauftragt. Zu diesen Gremien gehören bspw. die deutsche Strahlenschutzkommission (SSK), der niederländische Gezondheidsraad, die britische Independent Expert Group on Mobil Phones und die kanadische Royal Society of Canada. Ein Reihe von staatlichen Institutionen beschäftigen sich ebenfalls mit dieser Fragestellung. Dieses sind u.a. das deutsche Bundesamt für Strahlenschutz (BfS), die deutsche Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA), die amerikanische Environmental Protection Agency (EPA), das britische National Radiological Protection Board (NRPB) und das schweizerische Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft. Zudem verfügt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) über eine Arbeitsgruppe, die sich mit der Fragestellung der Beurteilung und des Schutzes vor elektromagnetischer Strahlung beschäftigt. Ergänzend zu den Arbeiten der nationalen Institutionen wurde für die Untersuchung und Beurteilung der Wirkungen elektromagnetischer Strahlung von der renommierten internationalen Strahlenschutzorganisation (IRPA) eine spezielle Kommission gegründet: die International Commission on Non-Ionizing Radiation Protection (ICNIRP). Die Festlegung neuer bzw. die Modifikation vorhandener Grenzwerte durch die internationalen und nationalen Gremien erfolgt dann, wenn neue Erkenntnisse als gesichert angesehen werden. Wird eine biologisch relevante Wirkung einer Strahlenexposition, die mit einer potentiellen Schädigung, Beeinflussung oder Beeinträchtigung beim Menschen verbunden ist, festgestellt, so werden die jeweiligen Grenzwertvorschläge unter Berücksichtigung von Sicherheitsabständen, unterhalb der letzten als relevant angesehenen Wirkung festgelegt. Dieser Abstand ist so gewählt, dass er bei allen Frequenzen mindestens den Faktor 10 für beruflich Beschäftigte und mindestens den Faktor 50 für die Allgemeinbevölkerung beträgt
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Arbeitswissenschaft
(BMVIT 2006). Auf der Grundlage der zur Bewertung herangezogenen Effekte und
Wirkungen wurden für die einzelnen Frequenzbereiche unterschiedliche biologisch relevante Größen, sog. Basiswerte (BGV B11) (elektrische Stromdichte [A/m²], spezifische Absorption SA [J/kg], spezifische Absorptionsrate SAR [W/kg] und Leistungsflussdichte S [W/m²]) festgelegt, die ein Maß für die jeweiligen direkten Wirkungen auf den Organismus darstellen. Ein Beispiel dafür sind bspw. die Werte der ICNIRP für niederfrequente und hochfrequente elektromagnetische Strahlung (siehe Tabelle 9.11). Tabelle 9.11: Basisgrenzwerte für zeitlich veränderliche elektrische und magnetische Felder bei Frequenzen bis zu 10 GHz (SSK 1999) A rt d er Exp os itio n
Frequ en zbereich
Stro md ich te für Ko p f Du rch s ch n ittlich er Gan zkö rp er-SA R u nd Ru mp f -2
Beru fliche Exp o s ition
bis 1 Hz 1-4 Hz 4 Hz-1 kHz 1-100 kHz 100 kHz-10M Hz 10M Hz-10GHz
(mA m ) (Effektivwerte) 40 40/f 10 f/100 f/100 ----
Exp o s ition d er Bevö lkerun g
bis 1 Hz 1-4 Hz 4 Hz-1 kHz 1-100 kHz 100 kHz-10M Hz 10M Hz-10GHz
8 8/f 2 f/500 f/500 ----
-1
(W kg )
Lo kale SA R (Ko pf u n d Ru mp f) -1
(W kg )
Lokale SA R (Glied maß en) -1
(W kg )
0,4 0,4
10 10
20 20
0,08 0,08
2 2
4 4
Aus den Basisgrenzwerten, die sich einer messtechnischen Überprüfung in der Praxis weitgehend entziehen, werden abgeleitete Grenzwerte in den messtechnisch zugänglichen Größen: elektrische Feldstärke E [V/m], magnetische Feldstärke H [A/m], magnetische Flussdichte B [T] und Leistungsdichte S [W/m²] festgelegt (BGV B11). Die abgeleiteten Grenzwerte wurden so definiert, dass auch unter den ungünstigsten Expositionsbedingungen eine Einhaltung der Basisgrenzwerte gewährleistet ist. Ein Beispiel sind die Werte der ICNIRP in Tabelle 9.12. In der 26. Bundes-Immissionsschutzverordnung (26. BImSchV) sind Grenzwerte für die elektrische Feldstärke und die magnetische Flussdichte von ortsfesten Stromversorgungsanlagen und Bahnstromanlagen festgelegt (siehe Tabelle 9.13). Es existieren weitere Konzepte und Grenzwerte zum Schutz unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen, deren Anwendung im Wesentlichen von den nationalen Bestimmungen determiniert wird. So verwendet die ICNIRP die Unterteilung in Allgemeinbevölkerung und beruflich exponierte Personen, die amerikanische Normungsorganisation ANSI klassifiziert Personen in kontrollierte und unkontrollierte Bereiche und die deutsche Unfallverhütungsvorschrift BGV B11 verwendet Expositionsbereiche zur Differenzierung. Insbesondere die berufsgenossenschaftlichen Vorschriften und Regeln (BGV B11; BGR B11) finden in der Praxis Anwendung, da diese grundlegende Regelungen, Werte zur Bewertung von Expositionen sowie Mess- und Bewertungsverfahren enthalten (BGV B11).
Arbeitsumgebung
845
Tabelle 9.12: Referenzwerte für die berufliche Exposition durch zeitlich veränderliche elektrische und magnetische Felder (ungestörte Effektivwerte) (SSK 1999) Frequenzbereich
Elektrische Feldstärke -1
(Vm )
Magnetische Feldstärke (Am-1)
B-Feld ( T)
Äquivalente Leistungsdichte bei ebenen Wellen -2
S eq (Wm ) 5
bis 1 Hz 1-8 Hz
5
1,63 x 10 20000
5
2 x 10 2
5
1,63 x 10 /f
4
8-25 Hz
20000
2 x 104/f
0,025-0,82 kHz
500/f
20/f
25/f
610
24,4
30,7
0,82-65 kHz 0,065-1 MHz 1-10 MHz 10-400 MHz
2
2 x 10 /f
2,5 x 10 /f
610
1,6/f
2,0/f
610/f
1,6/f
2,0/f
61
0,16
0,2 1/2
10
400-2000 MHz
3f
1/2
0,008f
0,01f
1/2
2-300 GHz
137
0,36
0,45
f/40 50
Tabelle 9.13: Grenzwerte der 26. BImSchV für den niederfrequenten Bereich Frequenz f [Hz] 50 16 2/3
Elektrische Feldstärke E (Effektivwerte) [kV/m] 5 10
Magnetische Flussdichte [PT] 100 300
Als zulässige Werte werden Basiswerte und abgeleitete Werte für die verschiedenen Expositionsbereiche angegeben. x Der Expositionsbereich 1 umfasst kontrollierte Bereiche sowie Bereiche, in denen aufgrund der Betriebsweise oder aufgrund der Aufenthaltsdauer sichergestellt ist, dass eine Exposition oberhalb der zulässigen Werte von Expositionsbereich 2 nur vorübergehend erfolgt (siehe Abb. 9.28 und Abb. 9.29). x Der Expositionsbereich 2 umfasst die Bereiche des Unternehmens, die nicht dem Expositionsbereich 1, den Bereichen erhöhter Exposition oder dem Gefahrbereich zuzuordnen sind. Zu diesem Bereich gehören bspw. Arbeitsstätten auf dem Betriebsgelände ohne spezielle Zugangsregelungen, in denen Mitarbeiter sich zur Durchführung ihrer Tätigkeit regelmäßig aufhalten. x Bei den Bereichen erhöhter Exposition handelt es sich um kontrollierte Bereiche, in denen die Werte des Expositionsbereichs 1 überschritten werden und daher nur ein zeitlich begrenzter Aufenthalt befugter Personen gestattet ist. Die abgeleiteten Werte für niederfrequente, wie auch hochfrequente elektromagnetische Felder (siehe Tabelle 9.12) sind dabei grundsätzlich einzuhalten (BGV B11). Eine Ausnahme besteht dann, wenn nachgewiesen ist, dass eine Verletzung dieser Grenzwerte nicht zu einem Überschreiten der Basiswerte in
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Arbeitswissenschaft
Tabelle 9.11 führt. Die zulässigen Werte der elektrischen Feldstärke und der magnetischen Feldstärke für eine Ganzkörperexposition (aus den Basisgrößen abgeleitete Werte) sind Abb. 9.28 und Abb. 9.29 zu entnehmen. Diese gelten ausschließlich für sinusförmige Signale einer definierten Frequenz. Für gepulste elektromagnetische Felder finden sich in der BGV B11 entsprechende Grenzwerte, auf die aber an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden soll.
Abb. 9.28: Zulässige Werte der elektrischen Feldstärke in den Expositionsbereichen 1 und 2 sowie im Bereich erhöhter Exposition (BGR B11)
Abb. 9.29: Zulässige Werte der magnetischen Flussdichte in den Expositionsbereichen 1 und 2 sowie im Bereich erhöhter Exposition (BGR B11)
Arbeitsumgebung
9.3.4.2
847
HochfrequenteĆStrahlungĆ
In der Bundesrepublik ist der Schutz der Bevölkerung vor hochfrequenten elektromagnetischen Feldern in der 26. Verordnung nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz (26. BImSchV) geregelt. Die Festlegungen der Grenzwerte entsprechen den Empfehlungen der IRPA/INIRC von 1988. Tabelle 9.14: Immissionsgrenzwerte für Hochfrequenzanlagen der 26. BImSchV. Die festgelegten Grenzwerte gelten im Hochfrequenzbereich für ortsfeste Sendeanlagen und sind gemittelt über Intervalle von 6 Minuten. Frequenz f [MHz] 10 – 400 400 – 2.000 2000 – 300.000
Elektrische Feldstärke E [V/m] 27,5 1,375 ā f 61
Magnetische Feldstärke H [A/m] 0,073 0,0037 ā f 0,16
Die im Jahr 1999 vom Rat der Europäischen Union verabschiedeten Empfehlungen zum Schutz der Bevölkerung vor elektromagnetischen Feldern (1999/519/EG) stimmen hinsichtlich des abgedeckten Bereichs und der Grenzwerte mit der 26. BImSchV überein (siehe Tabelle 9.14). Im Bereich des Mobilfunks sind die geltenden Grenzwerte frequenzabhängig. Für die verschiedenen Mobilfunknetze ergeben sich die in Tabelle 9.15 angegeben Grenzwerte. Tabelle 9.15: Grenzwerte der 26. BImSchV für die Mobilfunknetze Mobilfunknetz f [Hz]
D-Netz (ca. 900 MHz) E-Netz (ca. 1800 MHz) UMTS-Netz (ca. 2 GHz)
Elektrische Feldstärke E [V/m] 41 58 61
Magnetische Feldstärke H [A/m] 0,11 0,16 0,16
Leistungsflussdichte S [W/m²] 4,5 9,2 10
Die im Bundesimmissionsschutzgesetz (26. BImSchG) formulierten Anforderungen gelten für den Betreiber einer Anlage, die gewerblichen Zwecken dient oder im Rahmen wirtschaftlicher Unternehmungen Verwendung findet. Anlagen im Sinne der Verordnung sind insbesondere Hochfrequenzanlagen mit einer Sendeleistung von mindestens 10 Watt EIRP, die elektromagnetische Felder im Frequenzbereich 10 MHz - 300 GHz erzeugen. Zu beachten ist, dass alle Anlagen die Immissionsgrenzwerte auch unter der höchsten betrieblichen Anlagenauslastung einhalten müssen und alle anderen hochfrequenten Immissionen, die an dem betrachteten Punkt einwirken können, zu berücksichtigen sind. Deshalb werden zur Überprüfung der Einhaltung der Grenzwerte i.Allg. konservative Rechnungen eingesetzt. Für den Bereich des Arbeitsschutzes wurde im Juni 2001 die Unfallverhütungsvorschrift BGV B11 erlassen. Diese Unfallverhütungsvorschrift verwendet dieselben Basisgrenzwerte wie die ICNIRP, aber bei den abgeleiteten Grenzwer-
848
Arbeitswissenschaft
ten werden teilweise geringere Reduktionsfaktoren verwendet. Des Weiteren enthält die BGV B11 ein neues Grenzwertkonzept für nicht sinusförmige Signale. Zur Unterstützung der Umsetzung dieser Vorschrift wurde die zugehörige berufsgenossenschaftliche Regel BGR B11 erarbeitet. Arbeitsplätze, die keinen direkten Bezug zur Feldquelle aufweisen, sind ggf. den Festlegungen der 26. BimSchV unterworfen. Neben der graphischen Darstellung der abgeleiteten Werte für niederfrequente und hochfrequente elektromagnetische Felder (siehe Abb. 9.28 und Abb. 9.29) sind in der BGV B11 Grenzwerte für den Frequenzbereich 91 kHz bis 300 GHz detailliert aufgeführt. 9.3.4.3
OptischeĆStrahlungĆ
Grenzwerte für optische Strahlung sind in den berufsgenossenschaftlichen Informationen für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit sowie in weiteren deutschen und europäischen Normen festgelegt (BGI 5006). Zu nennen sind insbesondere DIN EN 60825-1, DIN EN 12254 und DIN EN 207. Darin enthaltene Vorschriften über Expositionsgrenzwerte künstlicher optischer Strahlung bilden einen Teilbereich ab, auf den im Folgenden aufgrund der arbeitswissenschaftlichen Relevanz eingegangen wird. Bei Anwendung der Expositionsgrenzwerte für künstliche optische Strahlung nach BGI 5006 ist zu unterscheiden, ob eine Einwirkung auf Augen oder Haut vorliegt. Zudem ist zu bewerten, ob es zu einer dauerhaften Einwirkung der optischen Strahlung (wiederkehrend über das Jahr) kommt. Für künstliche optische Strahlung ergeben sich nach BGI 5006 folgende Tagesexpositionsgrenzwerte: x Wellenlängenbereich 100 - 180 nm: Die Berechnung der effektiven Bestrahlungsstärke Heff für diesen Wellenlängenbereich basiert auf der Gleichung (9.31) und dem Wert 0,0120 für S(O). x Wellenlängenbereich 180 - 400 nm: Der Tagesexpositionsgrenzwert für Einwirkungen auf die Haut beträgt bei einmaliger oder wiederholter Bestrahlung während einer Arbeitszeit von 8 Stunden Heff(GW) = 30 Jm-2. Die Jahresexpositionsgrenzwerte zur Begrenzung des Risikos von langfristigen Schädigungen der Haut, wie bspw. Hautalterung oder Hautkrebs, und der Augen beträgt: Heff(JGW)= 4000 Jm-2. x Wellenlängenbereich 380 - 1400 nm: Als Expositionsgrenzwerte zum Schutz vor der thermischen Netzhautgefährdung wird die effektive Strahldichte einer Quelle nach Gleichung (9.31) bestimmt. Der wellenlängenspezifische Wert für R(O) kann der BGI 5006 entnommen werden. Der Expositionsgrenzwert der effektiven Strahldichte LR(GW) beträgt für die Einwirkungsdauer t: 2,8 104 LR (GW ) W m2 sr 1 t > 10 s o CD
Arbeitsumgebung
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18 Ps < t 10 s
o
LR (GW )
5 104 W m2 sr 1 CD t 0,25
t < 18 Ps
o
LR ( GW )
41, 2 W m 2 sr 1 0,9 CD t
Bei dem Wert für CD handelt es sich um den Korrekturfaktor in rad. Der Korrekturfaktor berücksichtigt, dass es im Wellenlängenbereich zwischen 380 nm und 1400 nm zu einer Fokussierung der Strahlung auf der Netzhaut kommen kann. Die zulässige Bestrahlungsstärke hängt somit von der Größe des erzeugten Netzhautbilds ab. x Wellenlängenbereich 780 - 3000 nm: Der Grenzwert für die Bestrahlungsstärke EIR(GW) zum Schutz der Augen vor thermischen Schäden bei einer Einwirkungszeit bis 1000 s (innerhalb einer 8-stündigen Periode) beträgt EIR(GW)=18000·t-0,75 Wm-2. Der Grenzwert für die Bestrahlung H für den gleichen Zeitraum durch IR-Strahleneinwirkungen der Augen beträgt HIR(GW)= 3·106 Jm-2. x Wellenlängenbereich 380 - 106 nm: Der Grenzwert der Bestrahlung HIR(GW) im sichtbaren wie im IR-Spektralbereich beträgt für Einwirkungen auf die Haut HIR(GW)= 18000·t0,25 Jm-2. Dieser Expositionsgrenzwert bezieht sich auf die einmalige oder wiederholte Einwirkung von IR-Strahlung während einer täglichen Arbeitszeit von 8 Stunden oder für Strahleneinwirkungen mit Einwirkungsdauern bis 10 Sekunden bei variierender Bestrahlungsstärke. Einen Sonderfall bei der Beurteilung von künstlich erzeugten optischen Strahlen stellen Laserquellen dar. So werden Laser und Lasereinrichtungen in Abhängigkeit vom Gefährdungspotential in Klassen von 1 bis 4 eingeteilt (DIN EN 608251): x Klasse 1: Die zugängliche Laserstrahlung ist, einen bestimmungsgemäßen Betrieb vorausgesetzt, ungefährlich. Der Grenzwert zur Klassifizierung eines Lasers nach DIN EN 60825-1 ist für eine Zeitbasis zwischen 100 s und 30000 s gleich, weshalb bei Langzeitwirkungen Beeinträchtigungen nicht auszuschließen sind. x Klasse 1M: Die zugängliche Laserstrahlung liegt im Wellenlängenbereich von 302,5 nm bis 4000 nm. Sie ist für das Auge ungefährlich, solange der Querschnitt nicht durch optisch sammelnde Instrumente, wie bspw. Lupen oder Linsen, verkleinert wird. x Klasse 2: Die zugängliche Laserstrahlung liegt nur im sichtbaren Spektralbereich (400 nm bis 700 nm). Sie ist bei kurzzeitiger Bestrahlungsdauer (bis 0,25 s) für das Auge ungefährlich. Lasereinrichtungen der Klasse 2 dürfen deshalb ohne weitere Schutzmaßnahmen eingesetzt werden, wenn ein absichtliches Hineinschauen von mehr als 0,25 s Dauer oder ein wiederholtes Hineinschauen in die Laserstrahlung bzw. eine spiegelnd reflektierte Laserstrahlung ausgeschlossen ist.
850
Arbeitswissenschaft
x Klasse 2M: Die zugängliche Laserstrahlung liegt im sichtbaren Spektralbereich von 400 nm bis 700 nm und ist bei kurzzeitiger Einwirkdauer bis 0,25 s für das Auge ungefährlich, solange der Querschnitt nicht durch optische Instrumente verkleinert wird. x Klasse 3R: Die zugängliche Laserstrahlung liegt im Wellenlängenbereich von 302,5 nm bis 106 nm und ist gefährlich für das Auge. Die Leistung beträgt maximal das Fünffache des Grenzwerts der zugänglichen Strahlung der Klasse 2 im Wellenlängenbereich von 400 nm bis 700 nm und das Fünffache des Grenzwerts der Klasse 1 für andere Wellenlängen. x Klasse 3B: Die zugängliche Laserstrahlung ist gefährlich für das Auge und in besonderen Fällen auch für die Haut. x Klasse 4: Die zugängliche Laserstrahlung ist sehr gefährlich für das Auge und gefährlich für die Haut. Auch diffus gestreute Strahlung kann unmittelbar zu einer Schädigung führen. Zudem kann durch den Betrieb eines Lasers dieser Klasse eine Brand- oder Explosionsgefahr entstehen. Die Laserstrahlung von Lasereinrichtungen der Klasse 4 ist so intensiv, dass bei jeglicher Art von Exposition der Augen oder der Haut mit Schädigungen zu rechnen ist. Beim Betrieb von Lasern ist zu prüfen, ob die Werte für die maximal zulässige Bestrahlung (MZB) überschritten werden. Die MZB-Werte hängen basierend auf einer komplexen Beziehung von der Bestrahlungsstärke und der Wellenlänge ab. Eine abstrahierte aber sehr anschauliche Darstellung der Wirkzusammenhänge liefert die Abb. 9.30 – basierend auf der BGV B2 der Berufsgenossenschaft der Feinmechanik und Elektrotechnik in der Fassung vom 1. Januar 1997. Sind optische Strahler hinsichtlich ihrer Gefährdung nicht klassifiziert, wie dies bspw. für LED (Light Emitting Diode) zutrifft, so können durch eine entsprechende Umrechnung der Strahldichtegrenzwerte restriktive Strahl- und Lichtstärken ermittelt werden. Bei einer absichtlichen Langzeitexposition im Bereich fotochemischer Gefährdung (blue light hazard) schlägt die BGI 5006 zudem eine Ermittlung der Grenzwerte auf Basis der konkreten Einwirkungsdauer vor. Abb. 9.31 enthält zur Orientierung die maximal zulässige Lichtstärke für einen Arbeitstag, angesetzt mit 30000 s, in Abhängigkeit von der Wellenlänge und dem Sehwinkel. Das Diagramm weist eine Korrelation zwischen der Größe einer Quelle, gemessen als Sehwinkel in mrad, und der Lichtstärke bzw. der Strahlstärke auf. So kann durch den Einsatz von Streuscheiben, Diffusoren o.ä. Maßnahmen die Strahlenbelastung reduziert werden.
Arbeitsumgebung
851
Abb. 9.30: Maximal zulässige Bestrahlung der Hornhaut des Auges für einige ausgewählte Wellenlängen nach DIN EN 60825-1 (BGV B2) 10000 60 mrad
1000
80 mrad
40 mrad 20 mrad 11 mrad 7 mrad 5 mrad 3 mrad
100 10
Lichtstärke [cd]
100 mrad
1
1,5 mrad
0,1 0,01 0,001 0,0001 , 0,00001
Purpurblau (430 nm)
Weiss
Dunkelgrün (520 nm)
Hellgrün (565 nm)
LED Typ (Peakwellenlänge nm)
Abb. 9.31: Lichtstärkegrenzwerte bei extremer Langzeitexposition
Orange (610 nm)
852
9.3.4.4
Arbeitswissenschaft
IonisierendeĆStrahlungĆĆ
Die im Folgenden eingeführten Grenzwerte für ionisierende Strahlung bilden nicht die Obergrenze des Zulässigen, sondern die Untergrenze des nicht mehr Akzeptablen, auch wenn die tatsächlichen Gefahrengrenzen aufgrund der den Grenzwerten zugrundeliegenden Modelle in Wirklichkeit möglicherweise viel höher liegen (VEITH 2007). Kernstück der Bewertung und Beurteilung ionisierender Strahlung in Deutschland ist die Verordnung über den Schutz vor Schäden durch ionisierende Strahlen (Strahlenschutzverordnung StrlSchV). Ihr Ziel ist die Regelung der Grundsätze und Anforderungen für Vorsorge- und Schutzmaßnahmen zum Schutz des Menschen und der Umwelt vor den schädlichen Wirkungen ionisierender Strahlung. Dies umfasst Tätigkeiten, die einen Umgang mit künstlich erzeugten oder natürlich vorkommenden radioaktiven Stoffen erfordern (§ 2 StrLSchV). Bei Grenzwerten für ionisierende Strahlung wird zwischen Werten für die Bevölkerung und solchen für beruflich strahlenexponierte Personen unterschieden. Der Grenzwert der effektiven Dosis bei der Ausführung von Tätigkeiten beträgt für Einzelpersonen der Bevölkerung ein 1 mSv im Kalenderjahr (§ 46 Abs. 1 StrlSchV). Für den gleichen Personenkreis gelten unabhängig von diesem Wert eine Organdosis für die Augenlinse von 15 mSv im Kalenderjahr und für die Haut ein Wert von 50 mSv. Personen, die durch entsprechende Tätigkeiten einer beruflichen Strahlenexposition ausgesetzt sind, sind zum Zweck der Kontrolle und arbeitsmedizinischen Vorsorge den folgenden zwei Kategorien zuzuordnen (§ 54 StrlSchV): x Kategorie A: Diese Kategorie umfasst alle Personen, die einer beruflichen Strahlenexposition ausgesetzt sind, die im Kalenderjahr zu einer effektiven Dosis von mehr als 6 mSv, einer höheren Organdosis als 45 mSv für die Augenlinse oder einer höheren Organdosis als 150 mSv für die Haut, die Hände, die Unterarme, die Füße oder Knöchel führen kann. x Kategorie B: Personen, die einer beruflichen Strahlenexposition ausgesetzt sind, die im Kalenderjahr zu einer effektiven Dosis von mehr als 1 mSv, einer höheren Organdosis als 15 mSv für die Augenlinse oder einer höheren Organdosis als 50 mSv für die Haut, die Hände, die Unterarme, die Füße oder Knöchel führen kann. Zudem existiert ein Grenzwert für beruflich strahlenexponierte Personen, der nur in Ausnahmefällen und insbesondere nach Genehmigung durch die zuständige Behörde überschritten werden darf. Dieser Grenzwert für die effektive Dosis beträgt 20 mSv im Kalenderjahr. Des Weiteren werden in der Strahlenschutzverordnung Grenzwerte für die jeweiligen Organe des Menschen, die sich aus einer beruflichen Strahlenexposition ergeben, bezogen auf ein Kalenderjahr aufgeführt (§ 55 Abs. 2 StrlSchV): (1) Augenlinse: 150 mSv (2) Haut, Hände, Unterarme, Füße und Knöchel: jeweils 500 mSv (3) Keimdrüsen, Gebärmutter und Knochenmark (rot): jeweils 50 mSv
Arbeitsumgebung
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(4) Schilddrüse und Knochenoberfläche: jeweils 300 mSv (5) Dickdarm, Lunge, Magen, Blase, Brust, Leber, Speiseröhre, andere Organe oder Gewebe: jeweils 150 mSv. Diese Grenzwerte finden bei bestimmten Personengruppen keine Anwendung, z.B. bei Personen unter 18 Jahren, gebärfähigen Frauen und Schwangeren. Grenzwerte für diesen Personenkreis liegen deutlich unter den oben aufgeführten Werten und sind § 55 Abs. 3 der StrlSchV zu entnehmen. Neben Grenzwerten bezogen auf ein Kalenderjahr schreibt der Gesetzgeber Werte für die Summe der in allen Kalenderjahren ermittelten effektiven Dosen beruflich strahlenexponierter Personen, der sog. Berufslebensdosis vor. Dieser Wert beträgt 400 mSv. Weiterhin existieren Vorschriften für die Planung, die Errichtung, den Betrieb und die Stilllegung von Anlagen, die radioaktive Stoffe über die Luft oder das Wasser ableiten können. Es gelten folgende Grenzwerte je Kalenderjahr und Einzelperson (§ 47 Abs. 1 StrlSchV): (1) Effektive Dosis: 0,3 mSv (2) Organdosis für Keimdrüsen, Gebärmutter, Knochenmark (rot): 0,3 mSv (3) Organdosis für Dickdarm, Lunge, Magen, Blase, Brust, Leber, Speiseröhre, Schilddrüse etc.: 0,9 mSv (4) Organdosis für Knochenoberflächen, Haut: 1,8 mSv. 9.3.5
Gestaltungshinweise
Die vollständige Darstellung aller Schutzmaßnahmen für den gesamten, sehr inhomogenen Strahlenschutzbereich ist an dieser Stelle nicht möglich. Daher werden die folgenden Abschnitte auf die Einführung von allg. Gestaltungshinweisen zur Bekämpfung von Strahlung sowie auf die Vorstellung ausgewählter Maßnahmen beschränkt und an entsprechenden Stellen auf die weiterführende Literatur verwiesen (KRIEGER 2004; KRIEGER 2005; STOLZ 2005). Eine wesentliche Voraussetzung für eine sichere Arbeit ist, dass die eingesetzten Bauteile, Geräte, Maschinen und Komponenten bzw. Anlagen im Sinne des Strahlenschutzes sicher sind. Dies kann durch genormte sicherheitstechnische Anforderungen an die Arbeits- und Betriebsmittel und die Produkte gewährleistet werden, die zu entsprechenden Eigenschaften der Geräte führen. Ist trotz einer entsprechenden Objektstruktur und -gestaltung eine Einhaltung der Grenzwerte nicht möglich, so sind die Abstände zur Quelle zu vergrößern, die Einsatzzeiten zu verkürzen und ggf. persönliche Schutzausrüstungen (Schutzkleidung, Schutzbrillen) anzuwenden. Konkretisiert werden Arbeitsmittel betreffende Arbeitsschutzmaßnahmen in der DIN EN 12198-1. Um eine Einschätzung der Gefährdung in einem Arbeitssystem zu erhalten, existieren in der Literatur Klasseneinteilungen, denen abgestufte sicherheitstechnische und betriebsorganisatorische Maßnahmen zugeordnet werden. Ergänzend zu der Klassifizierung und Kennzeichnung von Betriebsmitteln wird für
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Arbeitswissenschaft
Arbeitsbereiche eine Zutrittsbeschränkung von Räumen bei Auftritt einer intensiven Strahlung gefordert. Niederfrequente Strahlung
In der Richtlinie 2004/40/EG des Europäischen Parlaments und des Rats sind Maßnahmen zum Schutz vor elektromagnetischen Feldern aufgeführt. Zu beachten ist, dass Langzeitwirkungen, für die kein schlüssiger wissenschaftlicher Beleg für einen Kausalzusammenhang vorliegt, in der Richtlinie nicht enthalten sind. Die beschriebenen Maßnahmen beinhalten einen Mindestschutz für alle Arbeitnehmer der Union und überlassen es den Mitgliedstaaten, vorteilhaftere Vorschriften über das Datum der geforderten nationalen Umsetzung der Richtlinie im April 2012 zu erlassen. Zudem verweist die Richtlinie darauf, dass die Umsetzung nicht als Begründung für eine Einschränkung evtl. vorteilhafterer Vorschriften dienen darf, die vor Inkrafttreten der Richtlinie in den einzelnen Mitgliedstaaten maßgebend waren (2004/40/EG § 6). Aus der Richtlinie ergeben sich verschiedene Arten von Pflichten für den Arbeitgeber (2004/40/EG § 6): x Ermittlung der Exposition und Bewertung der Risiken: In regelmäßigen Zeitabständen sind Bewertungen, Messungen und Berechnungen der elektromagnetischen Felder, denen die Arbeitnehmer ausgesetzt sind, durchzuführen. Zudem sind die Bewertungsergebnisse auf einem beständigen Datenträger aufzubewahren, um eine spätere Einsichtnahme zu ermöglichen. Für eine Risikobewertung müssen neben der Feldstärke, dem Frequenzspektrum, der Dauer und der Art der Exposition auch die indirekten Wirkungen und die Interferenzen mit elektronischen medizinischen Geräten berücksichtigt werden. x Maßnahmen zur Vermeidung oder Verringerung der Risiken: Werden die Grenzwerte für elektromagnetische Strahlung an Arbeitsplätzen überschritten, so hat der Arbeitgeber technische und organisatorische Maßnahmen zur Einhaltung der Grenzwerte zu identifizieren und umzusetzen. Zu nennen sind insbesondere die Änderung der eingesetzten Arbeitsverfahren, die Auswahl geeigneter Arbeitsmittel oder die bessere Gestaltung der Arbeitsplätze. Dazu ist er allerdings nicht verpflichtet, wenn er nachweist, dass Gesundheitsrisiken für die Arbeitnehmer durch die bisherigen Maßnahmen ausgeschlossen sind. x Unterrichtung und Unterweisung der Arbeitnehmer: Die einer Emission ausgesetzten Mitarbeiter erhalten vom Arbeitgeber alle erforderlichen Informationen und Unterweisungen, besonders im Zusammenhang mit den Ergebnissen der Risikobewertung, den vom Arbeitgeber ergriffenen Maßnahmen zur Erkennung gesundheitsschädlicher Auswirkungen und der Voraussetzungen, unter denen Arbeitnehmer Anspruch auf eine Gesundheitsüberwachung haben. Eine Minimierung der Exposition am Arbeitsplatz, wie auch im privaten Umfeld, lässt sich durch verschiedene Maßnahmen erreichen, für deren Umsetzung die Behörden als Überwachungsinstanz, Bauherren und Gerätehersteller, aber
Arbeitsumgebung
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auch jeder einzelne Anwender verantwortlich ist. Zu diesen Maßnahmen zählen (BfS 2008a): x Bei der Planung und Genehmigung von Gebäuden sollte auf einen ausreichenden Abstand zu Hochspannungsleitungen und anderen Anlagen der Stromversorgung geachtet werden. x Durch eine optimierte Leitungsführung von Elektroinstallationen in Gebäuden kann die Exposition der Bewohner oder Nutzer reduziert werden. x Gerätehersteller und Anlagenbauer können durch eine entsprechende technische Auslegung möglichst niedrige Feldstärken in der Umgebung der Geräte und Anlagen erreichen. x Anwender können eine Feldexposition durch einen möglichst großen Abstand zu den Feldquellen oder durch eine Verkleinerung der Expositionsdauer reduzieren. Die vom Bundesamt für Strahlenschutz vorgeschlagenen Maßnahmen berücksichtigen, dass elektrische Felder sich leicht durch leitfähige Objekte abschirmen lassen. Allerdings sind gefährliche Belastungen durch direkte Feldeinwirkung unwahrscheinlich. Eine Gefährdung von Personen geht bei niederfrequenten elektrischen Wechselfeldern weniger von den Feldern selbst, als vielmehr von größeren Objekten aus, die sich durch elektromagnetische Felder aufladen und bei Berührung über die Person entladen. Hochfrequente Strahlung
Maßnahmen für den Schutz vor hochfrequenten elektromagnetischen Felder sind in der DIN 32780-100 „Schutzausrüstungen“ vom November 1999 aufgeführt. Die wichtigsten Maßnahmen sind die Abschirmung der Strahlungsquelle nach dem Prinzip des Faradayschen Käfigs, die Verminderung der HF-Leistung, das Abschalten der HF-Quelle, die Absperrung und Sicherung der Gefahrenzone, die ständige Personenüberwachung durch Messung und persönliche Schutzausrüstung. Bei Mikrowellenanlagen sind undichte Stellen an Abschirmgehäusen, Kabelmänteln, verschmutzte oder oxidierte Oberflächen von Koaxialsteckern oder Hohlleiterflanschen unerwünschte und potentiell gefährliche Strahlungsquellen. Die Anlagen dürfen daher nur in einwandfreiem Zustand in Betrieb gesetzt werden. Zum Schutz von Personen, die sich im Bereich starker Mikrowellenstrahler aufhalten müssen, sind Abschirmmaßnahmen zu treffen. Einblicks- und andere Öffnungen sind nach dem Prinzip der Hohlleiterdämpfung unterhalb der Grenzfrequenz aufzubauen; derartige Öffnungen müssen mit einem metallischen rohrförmigen Ansatz versehen sein, dessen Durchmesser d < Omin / 6 H r ist und der eine genügende Länge zur Dämpfung besitzt (GROLL 1989; MEINKE u. LANGE 1992). Bei freistehenden Abschirmblechen besteht die Gefahr, dass diese in Resonanz geraten und nach hinten abstrahlen. Zur Abschirmung des ganzen Körpers sind Abschirmanzüge aus metallisiertem Nylon erhältlich. Zum Schutz der Augen
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Arbeitswissenschaft
gibt es Brillen aus dichtem Metalldrahtgewebe und solche mit aufgedampfter Metallstruktur (GROLL 1989). Optische Strahlung
Die nationale Umsetzung der EU RICHTLINIE 2006/25/EG bis spätestens April 2010 soll die Exposition durch künstliche optische Strahlung für die Arbeitsperson reduzieren. Ziel ist, die Gefahren bereits am Entstehungsort zu verringern. Der Arbeitgeber ist daher in der Pflicht, entsprechende Maßnahmen zum Strahlenschutz zu ergreifen (2006/25/EG): x Bewertung des Ausmaßes der Strahlung: Der Arbeitgeber hat zur Verringerung der künstlichen optischen Strahlung am Arbeitsplatz eine Bewertung oder Messung des Ausmaßes der optischen Strahlung vorzunehmen, falls die in der Richtlinie aufgeführten Grenzwerte überschritten werden. Die Messung erfolgt entsprechend den Normen der internationalen Normierungsgremien IEC, CIE, CEN oder, falls keine Normen vorliegen, entsprechend den nationalen oder internationalen wissenschaftlich untermauerten Leitlinien. x Verringerung der Risiken: Falls bei einer Risikobewertung festgestellt wird, dass die Expositionsgrenzwerte möglicherweise überschritten werden, muss der Arbeitgeber das Ausmaß der optischen Strahlung verringern, indem er andere Arbeitsmittel auswählt oder die Dauer der Exposition begrenzt. x Unterrichtung und Unterweisung der Arbeitnehmer: Die Arbeitnehmer oder ihre Vertreter erhalten alle erforderlichen Informationen oder Unterweisungen – bspw. sachgerechte Verwendung von Schutzausrüstung. x Anhörung und Beteiligung der Arbeitnehmer: Die Arbeitgeber müssen die Arbeitnehmer bzw. deren Vertreter bei Fragen, die die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer betreffen, im Voraus anhören. Die Arbeitnehmervertreter können Maßnahmen zur Verbesserung des Gesundheitsschutzes vorschlagen und haben das Recht, sich an die zuständigen Behörden zu wenden, wenn sie der Auffassung sind, dass der Arbeitgeber keine ausreichende Sicherheit gewährleistet (gemäß Rahmenrichtlinie 89/391/EWG). x Überwachung der Gesundheit der Arbeitnehmer: Die Überwachung der Gesundheit der Arbeitnehmer erfolgt entsprechend den nationalen Rechtsvorschriften durch einen Arzt. Ziel ist, das Risiko aufgrund der Exposition gegenüber optischer Strahlung zu vermeiden. Für jeden Arbeitnehmer sind dabei persönliche Gesundheitsakten zu führen und anlässlich jeder Gesundheitsüberwachung zu aktualisieren. Im Fall einer Überschreitung der geltenden Grenzwerte oder bei der Identifizierung von gesundheitsschädlichen Auswirkungen für Arbeitnehmer sind folgende Maßnahmen zu ergreifen: x Der Arbeitnehmer wird vom Arzt oder einer anderen entsprechend qualifizierten Person über die ihn persönlich betreffenden Ergebnisse und über alle wichtigen Erkenntnisse unterrichtet.
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x Der Arbeitgeber überprüft die vorgenommene Risikobewertung und die erarbeiteten Strahlenschutzmaßnahmen, setzt die empfohlenen Maßnahmen zum Strahlenschutz um und trifft Vorkehrungen für eine kontinuierliche Gesundheitsüberwachung. Schutzmaßnahmen beim Betrieb von Lasereinrichtungen werden in der BGV B2 und in der DIN EN 60825-1 näher spezifiziert. Folgende Maßnahmen sind vom Arbeitgeber und Arbeitnehmer in Anlehnung an §8 BGV B2 zu ergreifen: (1) Der Arbeitgeber ist verpflichtet durch technische oder organisatorische Maßnahmen dafür zu sorgen, dass eine Bestrahlung oberhalb der maximal zulässigen Grenzwerte, auch durch reflektierte oder gestreute Laserstrahlung, verhindert wird. (2) Ist in Bereichen von Lasereinrichtungen der Klasse 3B oder 4 ein Überschreiten der Grenzwerte nicht zu vermeiden, so hat der Arbeitgeber zum Schutz der Augen oder der Haut geeignete Augenschutzgeräte, Schutzkleidung oder Schutzhandschuhe zur Verfügung zu stellen. (3) Der Arbeitgeber hat dafür zu sorgen, dass Mitarbeiter, die Lasereinrichtungen der Klassen 2 bis 4 anwenden oder sich in Laserbereichen von Lasereinrichtungen der Klassen 3B oder 4 aufhalten, bzgl. der Gefahren und eines angemessenen Verhaltens unterwiesen wurden. (4) Die für einen sicheren Betrieb erforderlichen Schutzeinrichtungen und die persönlichen Schutzausrüstungen sind von den Mitarbeitern zu nutzen. Zudem muss das Typenschild jedes Lasers die Gefahrenklasse und bei den Typen 2 bis 4 Gefahrenhinweise enthalten. Zum Schutz vor Strahlung sind, abhängig von der Gefahrenklasse, Laser in Gehäuse einzubauen, elektrische Schutzschaltungen, z.B. mit Tür- oder Schlüsselkontakten, Fernbedienungen usw., vorzusehen sowie die Umgebung für die entsprechende Wellenlänge reflexionsarm zu gestalten. Bereiche, in denen Laser verwendet werden und in denen die ungefährliche Bestrahlung für das Auge überschritten wird, sind als Laserbereiche zu kennzeichnen (BGV B2). Die Bedienung von Lasern der Klassen 2 bis 4 sollte nur durch geschultes Personal erfolgen. Schutzkleidung, insbesondere auf die Wellenlänge abgestimmte Brillen, sind dann vorzusehen, wenn technische und organisatorische Regelungen nicht ausreichen. Ionisierende Strahlung
Die Richtlinie 96/29/ EURATOM des Rates vom 13. Mai 1996 zur Festlegung der Grundnormen für den Gesundheitsschutz der Bevölkerung und der Arbeitskräfte gegen die Gefahren ionisierender Strahlung gilt für jede mit einer Gefährdung durch ionisierende Strahlung aus einer künstlichen oder natürlichen Strahlenquelle verbundene Tätigkeit, sofern die natürlichen Radionuklide aufgrund ihrer radioaktiven, Spalt- oder Bruteigenschaften genutzt werden. Die Richtlinie schreibt Maßnahmen zur Expositionsbegrenzung vor, die von den Mitgliedsstaaten der EU umzusetzen sind (Richtlinie 96/29/ EURATOM). Für die Bundesrepublik Deutschland ist mit dem Inkrafttreten der neuen Strahlenschutzverordnung (StrlSchV) der
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Arbeitswissenschaft
Schutz von Mensch und Umwelt vor radioaktiver Strahlung auf eine neue Grundlage gestellt worden. Im Zuge des umfangreichen Novellierungsvorhabens wurden in erster Linie die europäischen Vorgaben der Richtlinie 96/29/EURATOM in deutsches Recht umgesetzt. Die StrlSchV richtet sich primär an diejenigen, in deren Verantwortung Strahlenschutz atomrechtlich relevante Tätigkeiten oder Arbeiten ausführt werden. Der Anwendungsbereich der StrlSchV unterliegt dabei der staatlichen Aufsicht (§19 ATOMGESETZ). Den Aufsichtsbehörden werden im Atomgesetz und in der StrlSchV entsprechende Befugnisse (z.B. Zutritt, Information, Eingriff) und Sanktionsmöglichkeiten eingeräumt. Die StrlSchV basiert auf folgenden Strahlenschutzgrundsätzen: x Rechtfertigung: Unter Abwägung ihres wirtschaftlichen, sozialen oder sonstigen Nutzens, müssen atomrechtlich relevante Tätigkeiten gegenüber der möglicherweise von ihnen ausgehenden gesundheitlichen Beeinträchtigung zu rechtfertigen sein. x Dosisbegrenzung: Für bestimmte Schutzgrößen und Personengruppen sind Grenzwerte festgelegt. So beträgt die effektive Dosis von Einzelpersonen einen Wert von 1 mSv p.a. bei beruflich strahlenexponierten Personen erhöht sich der Grenzwert auf 20 mSv p.a. x Optimierung: Es besteht die generelle Pflicht, Strahlenexpositionen oder Kontaminationen so gering wie möglich zu halten. Zur Gewährleistung dieser Grundsätze sind der Umgang mit radioaktiven Stoffen und Anlagen zur Erzeugung ionisierender Strahlung unter einen behördlichen Genehmigungsvorbehalt gestellt. Die Modalitäten der Genehmigungsverfahren, Genehmigungsvoraussetzungen, Antragsunterlagen etc. sind in der StrlSchV festgelegt (StrlSchV §7 - §14). Des Weiteren werden spezielle Anforderungen an die Qualifikation des Personals, die betriebliche Organisation (Strahlenschutzverantwortliche und -beauftragte), den Schutz von Personen in Strahlenschutzbereichen (physikalische Strahlenschutzkontrolle, Begrenzung der Strahlenexposition bei der Berufsausübung, arbeitsmedizinische Vorsorge), die Lagerung, Sicherung und Kennzeichnung radioaktiver Stoffe, die Verwendung geeigneter Messgeräte, die Buchführung über radioaktive Stoffe, die Behandlung und Abgabe radioaktiver Stoffe und ionisierender Strahlung gestellt. Bei genehmigungs- und anzeigebedürftigen Tätigkeiten, die durch die StrlSchV definiert sind (StrlSchV § 2), wird je nach Höhe der Strahlenexposition zwischen Überwachungsbereichen, Kontrollbereichen und Sperrbereichen, letztere als Teile der Kontrollbereiche, unterschieden. Dabei ist zwischen äußerer und innerer Strahlenexposition zu differenzieren: (1) Überwachungsbereiche sind nicht zum Kontrollbereich gehörende betriebliche Bereiche, in denen Personen im Kalenderjahr eine effektive Dosis von mehr als 1 mSv oder höhere Organdosen als 15 mSv für das Auge oder 50 mSv für die Haut, die Hände, die Unterarme, die Füße und Knöchel erhalten können,
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(2) Kontrollbereiche sind Bereiche, in denen Personen im Kalenderjahr eine effektive Dosis von mehr als 6 mSv oder höhere Organdosen als 45 mSv für die Augenlinse oder 150 mSv für die Haut, die Hände, die Unterarme, die Füße und Knöchel erhalten können, (3) Sperrbereiche sind Bereiche des Kontrollbereichs, in denen die Ortsdosisleistung höher als 3 mSv je Stunde sein kann. Sperrbereiche sind abzugrenzen und zu kennzeichnen und gegen unkontrolliertes Hineingelangen von Personen, auch mit einzelnen Körperteilen, zu sichern. Der Aufenthalt in Sperrbereichen ist grundsätzlich verboten und nur ausnahmsweise für notwendige Betriebsvorgänge oder aus zwingenden betrieblichen Gründen unter besonderen Vorsichtsmaßnahmen erlaubt. Der Zutritt darf den im Kontrollbereich zugelassenen Personen nur unter Kontrolle eines Strahlenschutzbeauftragen oder einer von ihm beauftragten fachkundigen Person gestattet werden. Maßgebend bei der Festlegung der Grenze von Kontrollbereich oder Überwachungsbereich ist eine Aufenthaltszeit von 40 Stunden je Woche und 50 Wochen im Kalenderjahr, soweit keine anderen begründeten Angaben über die Aufenthaltszeit vorliegen. Zudem sind Kontrollbereiche und Sperrbereiche voneinander abzugrenzen und deutlich sichtbar mit dem Zusatz „Kontrollbereich“ oder „Sperrbereich – Kein Zutritt“ zu kennzeichnen. Zum Schutz vor einer Strahlungsbelastung kann die zuständige Behörde zusätzlich den Strahlenschutzverantwortlichen eines Unternehmens verpflichten, eine Strahlenschutzanweisung zu erlassen, in der die entsprechenden Strahlenschutzmaßnahmen aufgeführt sind. Zu diesen Maßnahmen gehören in der Regel (RöV § 15A):
(1) das Aufstellen eines Plans für die Organisation des Strahlenschutzes, ggf. mit der Bestimmung, dass ein oder mehrere Strahlenschutzbeauftragte bei einer genehmigungspflichtigen Tätigkeit ständig anwesend oder sofort erreichbar sein müssen, (2) die Regelung eines für den Strahlenschutz wesentlichen Betriebsablaufs, (3) die für die Ermittlung der Körperdosis vorgesehenen Messungen und Maßnahmen, (4) die Führung eines Betriebsbuchs, in das die für den Strahlenschutz wesentlichen Betriebsvorgänge einzutragen sind, (5) die regelmäßige Funktionsprüfung und Wartung von Röntgeneinrichtungen oder Störstrahlern einschließlich der Ausrüstungen und Vorrichtungen, die für den Strahlenschutz wesentlich sind sowie die Führung von Aufzeichnungen über Funktionsprüfungen und Wartungen und (6) die Regelung des Schutzes gegen Störmaßnahmen oder sonstige Einwirkungen Dritter oder gegen das unerlaubte Inbetriebsetzen einer Röntgeneinrichtung oder eines Störstrahlers. Für alle beruflich strahlenexponierten Personen muss in der Regel die erhaltene Körperdosis ermittelt werden. Es besteht zudem ein zentrales Strahlen-
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Arbeitswissenschaft
schutzregister, in dem die aufgenommene, personenbezogene Dosis und weitere Angaben gespeichert werden. Das Strahlenschutzregister ist die zentrale Einrichtung des Bundes zur Überwachung der Einhaltung von Grenzwerten für die zulässigen Jahresdosen und die Berufslebensdosis sowie die Ausgabe von Strahlenpässen. In Deutschland gibt es aktuell 350.000 Personen, die als beruflich strahlenexponiert gelten (BfS 2008a). Zwei Drittel dieses Personenkreises arbeitet im medizinischen Bereich. Seit August 2003 wird zudem das fliegende Personal strahlenschutzüberwacht und somit im Strahlenschutzregister geführt.
Arbeitsumgebung
9.4
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Klima
Unter den Umgebungsfaktoren, denen der Mensch am Arbeitsplatz (und nicht nur dort) ausgesetzt ist, spielt das Klima eine wesentliche Rolle. Unter Klima ist auf den Menschen bezogen das Zusammenwirken der folgenden vier Klimafaktoren zu verstehen: (1) Lufttemperatur (2) Luftfeuchtigkeit (3) Windgeschwindigkeit (4) Wärmestrahlung. Diese Klimafaktoren haben sowohl physiologische als auch psychologische Wirkungen. Die Arbeit unter besonderen Luftdrücken (besonders hoch in Caisson/Taucherglocken, besonders niedrig im Bergbau in den Anden in mehr als 4000 m Höhe) wird hier als Sonderproblem ausgeklammert. Es sei u.a. auf die Luftfahrt- und Tauchphysiologie verwiesen (STEGEMANN 1984). Die Bedeutung des Klimas ergibt sich aus der Abhängigkeit der Funktionsweise des menschlichen Organismus von bestimmten Klimazuständen. So ist der Mensch nur bei einer Körpertemperatur von ca. 35-40°C arbeitsfähig, wobei die Normaltemperatur bekanntermaßen bei 37°C liegt. Mit Hilfe der Wärmeregulationsmechanismen des menschlichen Organismus muss ein Gleichgewicht zwischen der körpereigenen Wärmeproduktion und den externen Klimaeinflüssen hergestellt werden. Eine sich einstellende klimatische Behaglichkeit, die eine Bedingung für das Wohlbefinden des Menschen und seine Leistungsfähigkeit ist, kann folglich als ein Zustand mit minimalen Regulationserfordernissen charakterisiert werden. Behagliche Klimazustände werden jedoch individuell sehr unterschiedlich empfunden, wie Abb. 9.32 zeigt. Daraus folgt, dass ein bestimmtes Klima von einer Gruppe von Personen als behaglich empfunden wird, gleichzeitig aber dieses Klima von anderen Personen als zu warm bzw. als zu kalt eingeschätzt wird. In der Praxis bleibt dann nur die Möglichkeit der individuellen Anpassung durch entsprechende Wahl der Kleidung. Dieser Umstand zeigt, dass es praktisch unmöglich ist, ein für alle Personen „optimales“ Klima am Arbeitsplatz einzustellen. Dennoch lassen sich aus der Analyse des Klimas Rückschlüsse auf die Gestaltung einzelner Klimafaktoren ziehen bzw. können damit auch Toleranzgrenzen (beispielsweise für Hitze- oder Kältearbeit) festgelegt werden, um die Beanspruchung des Menschen durch das Klima in einem nicht gesundheitsgefährdenden und erträglichen Rahmen zu halten.
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Arbeitswissenschaft
Abb. 9.32: Individuelle Unterschiede thermischer Empfindungen. Beurteilung verschiedener Umgebungstemperaturen durch 1296 leicht bekleidete, sitzende Personen bei 50% relativer Luftfeuchtigkeit, 0,1 m/s Windgeschwindigkeit und gleicher Wärmestrahlung (nach FANGER 1972, aus SCHMIDTKE 1981)
9.4.1
Physikalische Grundlagen
Unter Klima versteht man die physikalischen Bedingungen am Arbeitsplatz, die durch die genannten vier Klimafaktoren Lufttemperatur, Luftfeuchtigkeit, Luftgeschwindigkeit und Wärmestrahlung repräsentiert werden. Lufttemperatur bezeichnet die Temperatur des umgebenden Mediums Luft. Sie wird in °C gemessen. Die Luftfeuchtigkeit beschreibt den Wasserdampfgehalt der Luft. Bei der Angabe „relative Feuchte (r. F.) in %“ wird der Grad der Sättigung der Luft mit Wasserdampf erfasst. Die absolute Feuchtigkeit gibt die Wasserdampfmasse pro Luftmenge an. Sie wird in g/m3 Luft gemessen. Der Wasserdampfdruck in kPa kann ebenfalls als Maß für die Sättigung der Luft mit Wasserdampf verwendet werden. Alternativ kann die relative Feuchte mit der Feuchttemperatur ausgedrückt werden. Diese ergibt sich durch den Wärmeverlust, der beim Vorbeistreichen von Luft an einem befeuchteten Thermometer durch Verdunstung entsteht. Als Luftgeschwindigkeit bezeichnet man die Strömungsgeschwindigkeit der Luft. Sie wird in m/s gemessen. Der Begriff Wärmestrahlung beschreibt den Wärmeübergang durch Strahlung zwischen zwei Körpern unterschiedlicher Temperatur (siehe Kapitel 10.3). Dabei wird stets thermische Strahlungsenergie vom höheren zum niedrigeren Potential (kälterer Körper) übertragen. Die Intensität der Strahlung wird als Wärmestromdichte oder als Wärmestrahlung in W/m2 ausgedrückt. 9.4.2
Physiologische Grundlagen
Der Mensch ist als homoiothermes (warmblütiges) Lebewesen darauf angewiesen, einen stabilen und ausgeglichenen Wärmehaushalt zu haben. Dabei muss im Kör-
Arbeitsumgebung
863
perkern (Körperstamm, einschließlich Kopf) eine weitgehend gleich bleibende Temperatur von 37°C ± 0,8°C eingehalten werden, wobei kurzzeitige Schwankungen (Fieber, Überhitzung, Unterkühlung) vertretbar sind. Die peripheren Organe (Haut, Extremitäten) besitzen in der Regel eine niedrigere Temperatur. Die notwendige Wärmeproduktion wird durch die metabolischen Prozesse in den inneren Organen und durch die Muskeltätigkeit gewährleistet. Dem steht ein Wärmeaustausch mit der Umgebung gegenüber, der auf unterschiedliche Weise geschehen kann: x Wärmeleitung (auch an Festkörper) und Konvektion an die den Menschen umhüllende Luft – hierfür ist ein Temperaturunterschied erforderlich. Ist die Umgebung kälter, so kommt es zu einer Abkühlung des Körpers. Wenn die Umgebung wärmer ist (befindet sich z.B. in der Umgebung ein Ofen), so ist eine zusätzliche Erwärmung des Körpers zu beobachten. Für den Wärmeaustausch pro Zeiteinheit über die Fläche AL gilt bei Wärmeleitung das Gesetz von Fourier (BAEHR u. STEFAN 2006): QL
D (tO t L ) AL
(9.33)
D: Wärmeübergangskoeffizient tO: Oberflächentemperatur des Körpers tL: Temperatur der umgebenden Luft Der Wärmeübergangskoeffizient D hängt von der Geschwindigkeit des Mediums ab, das einen Körper überströmt. Da exakte Formeln zur Berechnung des Wärmeübergangs an überströmten Körpern nur für wenige einfache Fälle vorliegen, werden in der Regel empirisch ermittelte Funktionen verwendet (siehe hierzu BAEHR u. STEFAN 2006). x Strahlung – auch hier ist eine Temperaturdifferenz zur Wärmeabgabe bzw. -aufnahme Voraussetzung. Eine Wärmeaufnahme ist z.B. bei Hitzearbeitsplätzen oder in der Sonne der Fall, eine Wärmeabgabe ist stets unter so genannten Normalklima-Bedingungen zu verzeichnen. Für den Wärmeaustausch pro Zeiteinheit durch Strahlung über eine am Strahlungsaustausch beteiligte Körperoberfläche AS gilt: QS
V H TO4 TU4 AS
(9.34)
V Strahlungskonstante H Strahlungszahl (wellenlängen- bzw. personenabhängig) TO: Oberflächentemperatur, Körper TU: Oberflächentemperatur, umgebende Flächen x Durch Verdunstung (Schweißsekretion oder Wasserdampfabgabe über die Lunge) kann nur Wärme abgegeben werden. Besonders durch Schwitzen kann eine wirksame Wärmeabgabe erfolgen, allerdings nur unter der Voraus-
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Arbeitswissenschaft
setzung, dass die umgebende Luft Wasserdampf aufnehmen kann. Dabei ist darauf zu achten, dass kein Schweiß abtropft, da in diesem Fall keine Verdunstungskälte entstehen kann. Es ist also nur die unmerkliche Schweißabsonderung (perspiratio insensibilis) im Sinne einer Wärmeabgabe effektiv. Für den Wärmeübergang pro Zeiteinheit bei Verdunstung über eine Körperoberfläche AV gilt: QV
E PO PL AV
(9.35)
E = Verdunstungszahl PO = Dampfdruck, Körperoberfläche PL = Dampfdruck, umgebende Luft Für den Transport der Wärme vom Entstehungsort (Muskulatur, Körperinneres) zum Ort des Wärmeaustauschs (Hautoberfläche, Lunge) ist der Blutkreislauf verantwortlich. Abb. 9.33 zeigt schematisch den Wärmeaustausch des Menschen mit der Umgebung. Ziel der Wärmeregulation (auch Thermoregulation) des Menschen ist es, eine ausgeglichene Wärmebilanz des Körpers zur Aufrechterhaltung der Körpertemperatur zu erreichen. Die gebildete Wärme muss also der durch Leitung, Konvektion, Strahlung und Verdunstung abgegebenen Wärme entsprechen. In begrenztem Maße ist zur Erhaltung der Wärmebilanz eine Wärmespeicherung im Körper (Erhöhung der Kerntemperatur und Ausdehnung der Bereiche höherer Temperatur vom Körperkern in die Körperschale) möglich. Die Wärmebilanz des Menschen kann in Form einer Gleichung wie folgt dargestellt werden (EISSING 1988): S
M W r C r K r R E
S: Wärmespeicherung M: Metabolische Wärmeproduktion W: Abgegebene Nutzarbeit C: Konvektiver Wärmetausch K: Konduktiver Wärmetausch R: Wärmeaustausch durch Strahlung E: Wärmeabgabe durch Schweißverdunstung í Abgabe + Aufnahme
(9.36)
Arbeitsumgebung
865
Abb. 9.33: Wärmeabgabe an die Umgebung (aus BGI 523: Mensch und Arbeit 2005)
Zu Abweichungen des Sollwerts der Körperkerntemperatur kann es kommen, wenn der Mensch besonders kalten oder warmen Klimazuständen ausgesetzt ist oder seine Wärmeproduktion durch Muskelarbeit steigt (siehe Abb. 9.34). Zur Thermoregulation können verschiedene Mechanismen herangezogen werden: Bei drohender Abkühlung kann ein wärmerer Ort aufgesucht werden, oder es können wärmere Kleider (Erhöhung der Bekleidungsisolation) getragen werden. Es kann
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Arbeitswissenschaft
aber auch die interne Wärmeproduktion gesteigert werden, z.B. durch aktive Betätigung der Muskulatur oder durch (unbewusstes) Kältezittern. Die Drosselung der Hautdurchblutung bewirkt eine Senkung der Hauttemperatur und damit ebenfalls eine verminderte Wärmeabgabe.
Abb. 9.34: Gegenüberstellung der Wärmeproduktion, der Wärmeaufnahme und der Wärmeabgabe bei einer bestimmten Tätigkeit in Abhängigkeit von der Raumtemperatur (nach WENZEL 1961)
Ein Anstieg der Körpertemperatur kann dagegen durch folgende Maßnahmen verhindert werden: Eine verstärkte Durchblutung der Extremitäten erhöht zum einen die Wärmespeicherkapazität des Körpers und ermöglicht andererseits durch das höhere Temperaturgefälle eine erhöhte Wärmeabgabe durch Leitung und Konvektion sowie durch Strahlung. Wenn die Temperatur der Umgebung die der Haut erreicht, kann eine Wärmeabgabe nur noch über Verdunstung erfolgen, die durch eine erhöhte Schweißbildung ermöglicht wird. Eine stärkere Luftbewegung
Arbeitsumgebung
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unterstützt diesen Effekt. Schließlich kann der Mensch auch durch Ablegen von Kleidung (Verringerung der Bekleidungsisolation) oder durch Aufsuchen einer kälteren Umgebung eine Überhitzung vermeiden. Die beschriebenen Effekte können natürlich auch durch externe Maßnahmen unterstützt werden, z.B. durch eine geeignete Klimatisierung, durch entsprechende Arbeitspausen etc. 9.4.3 9.4.3.1
Menschbezogene Modellierung von Klimafaktoren EmpfindensbezogeneĆModellierungĆ
Wie eingangs geschildert, ist das Empfinden eines bestimmten Klimazustandes im Wesentlichen von den vier Klimafaktoren abhängig. Selbst bei einer einzigen Kombination der vier Klimafaktoren ist die Wirkung des Klimas auf den Menschen durchaus unterschiedlich. Zudem hängt z.B. die empfundene Temperatur in hohem Maße von der körperlichen Aktivität und von der Bekleidung ab. Zur Charakterisierung der Bekleidung wird deren Isolation herangezogen. Der Isolationswert von Bekleidung wird in der Pseudoeinheit [clo] („clothing“) angegeben. Es gilt folgende Beziehung: 1 clo = 0,043 °C · m² · h/kJ. Die Bekleidung mit dem Isolationswert von 1 clo lässt eine Wärmemenge von 23 kJ/h pro m² bei 1 °C Temperaturdifferenz zwischen Innen- und Außenfläche der Bekleidung entweichen. Der Einfluss der Art der Kleidung auf den thermischen Widerstand ist in Tab. 10.16 dargestellt. Daraus ergibt sich, dass eine hinreichende Beschreibung des Zustands thermischer Behaglichkeit nur durch die vier Klimafaktoren in Verbindung mit den Angaben zur Arbeitsschwere und zur Bekleidung möglich ist (siehe Abb. 9.35). FANGER (1972) bildet aus diesen Faktoren eine „Komfort-Gleichung“, die ein Klimasummenmaß für den Behaglichkeitsbereich darstellt. Mit dieser KomfortGleichung lässt sich errechnen, ob ein Zustand der Behaglichkeit erreicht werden kann, bzw. wie groß die Abweichung von diesem Zustand ist. Darüber hinaus lassen sich, ausgehend von dem Behaglichkeitsbereich, die einzelnen Klimafaktoren gezielt bestimmen. Damit ist es möglich, unterschiedliche Variationen der Klimafaktoren miteinander zu vergleichen. Zunächst wird ein so genannter PMVIndex (Predicted Mean Vote) bestimmt, der dem vorhergesagten Durchschnittswert der thermischen Beurteilung auf einer psycho-physiologischen Skala (von -3,0 = kalt bis +3,0 = heiß) entspricht. Hier gehen die vier Klimafaktoren, der Metabolismus als Maß für das Aktivitätsniveau der körperlichen Arbeit und die Isolation der Bekleidung ein (genaue Formel siehe z.B. OLESEN 1986).
868 Tabelle 9.16: Thermischer Widerstand (nach FANGER 1972 und FRANK 1975)
Arbeitswissenschaft unterschiedlicher
Bekleidung
Unbekleidet Shorts Tropenkleidung: offenes, kurzes Hemd, kurze Hose, leichte Socken, Sandalen Leichte Sommerkleidung: offenes, kurzes Hemd, leichte Hose, leichte Socken, Schuhe Leichte Arbeitskleidung: kurze Unterhose, offenes Arbeitshemd oder leichte Jacke, Arbeitshose, Wollsocken, Schuhe Leichte Außensportkleidung: kurzes Unterzeug, Trainingsjacke, -hose, Socken, Turnschuhe Feste Arbeitskleidung: lange Unterwäsche, einteiliger Arbeitsanzug, Socken, feste Schuhe Leichter Straßenanzug: kurze Unterwäsche, geschlossenes Oberhemd, leichte Jacke, lange Hose, Socken, Schuhe Leichter Straßenanzug mit leichtem Mantel Fester Straßenanzug: lange Unterwäsche, geschlossenes Oberhemd, feste Jacke und Hose, Weste aus Tuch oder Wolle, Wollsocken, Schuhe Kleidung für nass-kaltes Wetter: lange Unterwäsche, geschlossenes langes Oberhemd, feste Jacke und Hose, Pullover, Wollmantel, Wollsocken, feste Schuhe Polarkleidung
in
clo
0 0,1 0,3-0,4 0,5 0,6 0,9 1,0 1,0 1,5 1,5 1,5-2,0
ab 3,0
Weiterhin sind bei der Berechnung verschiedene Randbedingungen zu beachten wie beispielsweise eine thermische Isolation der Kleidung zwischen 0 und 2 clo, eine Lufttemperatur zwischen 10°C oder 30°C oder Luftgeschwindigkeit kleiner als 1 m/s. Die Berechnung selbst ist häufig direkt in Messgeräte integriert, die als Ergebnis einer Klimamessung den PMV bestimmen. Mit Hilfe des PMV kann der PPD (Predicted Percentage of Dissatisfied) bestimmt werden, der den Anteil „Klimaunzufriedener“ angibt. So sind beispielsweise schon bei einem PMV von 1,0 (=„etwas kühl“) annähernd 30 % der Personen mit der Klimasituation nicht zufrieden. Eine überwiegend akzeptierte thermische Umgebung wird durch PMVWerte zwischen -0,5 und +0,5 erreicht, was einem PPD von unter 10 % entspricht. Die Indizes PMV und PPD sind in der Norm ISO 7730 übernommen und zur Beurteilung gemäßigter thermischer Umgebung empfohlen worden. Andere Klimasummenmaße gehen von festen Randbedingungen aus und sind damit wesentlich leichter zu berechnen, gelten aber auch nur für den jeweils konkreten Fall. Dazu zählen die Effektivtemperaturen, deren Prinzip darauf beruht, dass verschiedene Kombinationen der drei Grundgrößen Lufttemperatur, Feuchttemperatur und Luftgeschwindigkeit ein gleiches subjektives Klimaempfinden bewirken. Als Beispiel sei die Normaleffektivtemperatur (NET) nach YAGLOU u. MINARD 1957 (siehe WENZEL u. PIEKARSKI 1982) genannt, bei der als Variablen die Tro-
Arbeitsumgebung
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ckentemperatur (bzw. bei Vorhandensein einer Wärmestrahlung die Globetemperatur, welche zusätzlich zur Trockentemperatur auch einen Wärmestrahlungseinfluss berücksichtigt und damit einen integrierten Wert aus Trockentemperatur, Luftgeschwindigkeit und Strahlungstemperatur darstellt), die Feuchttemperatur und die Luftgeschwindigkeit eingesetzt werden können (Abb. 9.36). Die Normaleffektivtemperatur gilt für den normal bekleideten Menschen bei geringer körperlicher Aktivität. Eine Variation, die Basiseffektivtemperatur (BET), bezieht sich auf den Menschen mit unbekleidetem Oberkörper und eignet sich als Ausgangswert für die Berücksichtigung unterschiedlicher zusätzlicher Bekleidung.
Abb. 9.35: Abhängigkeit der Behaglichkeitstemperatur von der Arbeitsschwere und von der Bekleidung (nach FANGER 1972 aus WENZEL u. PIEKARSKI 1982)
Über diese beiden Klimasummenmaßen hinaus wurden zahlreiche weitere, die häufig nur für spezielle Anwendungsfälle gültig sind, entwickelt. Es sei, als Beispiel, der HSI (Heat-Stress-Index) nach BELDING u. HATCH (1955) genannt, der den Energieumsatz einbezieht und für Hitzearbeit angewendet wird. Beim HSI wird, ausgehend von einer Berechnung der Wärmebilanz des Menschen, die zur Aufrechterhaltung der Wärmebilanz abzuführende Wärme durch Schweißverdunstung ins Verhältnis gesetzt zur maximal möglichen Verdunstung bei den vorliegenden Klimabedingungen. Der HSI kann Werte von 0 (keine thermische Belastung) bis über 100 (maximale Klimabelastung, die nur von überdurchschnittlich leistungsfähigen, hitzeakklimatisierten jungen Männern täglich ertragen werden kann) annehmen; eine Einschätzung erfolgt mit einer Tabelle, die die Wirkung auf den arbeitenden Menschen bei 8-stündiger Belastung in Abhängigkeit von HSI-Werten beschreibt (z. B. in WENZEL u. PIEKARSKI 1982).
870
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Abb. 9.36: Nomogramm zur Ermittlung der Normaleffektivtemperatur NET nach YAGLOU u. MINARD 1957 (aus WENZEL u. PIEKARSKI 1982)
9.4.3.2
PhysiologischeĆModellierungĆ
Auch der P4 SR-Index (Predicted-Four-Hour-Sweat-Rate-Index) von McARDLE et al. (1947) ist für die Anwendung bei Hitzearbeit konzipiert und erlaubt die Bestimmung von Toleranzgrenzen bei Hitzearbeit über die Vorhersage der zu erwar-
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tenden Schweißrate bei vierstündiger Exposition sowie den Vergleich mit Grenzwerten. Im Gegensatz zum HSI, der aus der Wärmebilanzgleichung des Menschen abgeleitet wurde, basiert der P4 SR-Index auf zahlreichen Messungen (WENZEL u. PIERKARSKI 1982 geben die Zahl von über 700 an), bei denen die Schweißabgabe bei vierstündiger Exposition bestimmt wurde. Der WBGT-Index (Wet Bulb-Globe Temperature Index) nach YAGLOU u. MINARD (1957) ist ebenso für Hitzearbeitsplätze entwickelt worden und hat sich vor allem in den USA als Klimasummenmaß etabliert. Eine umfassende Darstellung verschiedener Klimasummenmaße, sowie eine Einschätzung deren Eignung, findet sich bspw. bei WENZEL u. PIEKARSKI (1982) sowie bei EISSING (1988). 9.4.3.3
RezeptorenĆ
Die Möglichkeiten des Menschen, ohne Hilfsmittel den Zustand des Umgebungsklimas zu erfassen, sind begrenzt. Im Grunde genommen stehen ihm nur die Thermorezeptoren der Haut und die des Blutkreislaufs zur Verfügung. Damit kann eine Aussage über „warm“ oder „kalt“ getroffen werden. Die Luftgeschwindigkeit und die Wärmestrahlung lassen sich nur indirekt erfassen. Beide Faktoren bewirken in der Regel eine Veränderung der Hauttemperatur und diese kann dann durch die entsprechenden Rezeptoren registriert werden. Eine direkte Aussage über die Luftfeuchtigkeit ist ebenfalls nicht möglich. Hier ist der Mensch auf die Reaktion des Körpers angewiesen. So ist z.B. als Folge zu niedriger Luftfeuchtigkeit ein Austrocknen der Schleimhäute festzustellen, die wiederum direkt spürbar wird. Aus diesem Grunde wird es auch verständlich, dass der Mensch eigentlich nur bei der Lufttemperatur zu quantitativen Aussagen in begrenztem Maße in der Lage ist. Beim Vorhandensein von beispielsweise trocken-heißen oder von feuchtwarmen Klimazuständen versagt in der Regel auch die Fähigkeit des Menschen, die Temperatur realistisch einzuschätzen. An dieser Stelle wird auch deutlich, dass es nicht sinnvoll ist, einzelne Klimafaktoren isoliert zu betrachten. Dennoch ist es in der Regel erforderlich, die vier Faktoren zunächst einzeln zu erfassen. 9.4.4
Wirkung anormaler Klimabedingungen auf den Menschen
Die Auswirkungen anormaler Klimabedingungen sind vielfältig. Beim Menschen werden folgende Reaktionen auf anormale Klimabedingungen beobachtet: x Minderung des Denkvermögens, der Aufmerksamkeit und des Reaktionsvermögens sowie der Arbeitsfreude x Beeinträchtigung des Sicherheitsverhaltens x Höhere Arbeitsanstrengung x Häufigere Erkrankungen x evtl. Dauerschäden. Die Folgen anormaler Klimabedingungen für den Betrieb resultieren aus den Wirkungen auf die Mitarbeiter. Aus den o.g. Reaktionen können sich im Betrieb folgende Probleme einstellen:
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x x x x
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Minderung der Leistung nach Qualität und Quantität Höhere Erholungszuschläge Höhere Arbeitswerte Mehr Fehlzeiten und Unfälle.
9.4.5 9.4.5.1
Messung LufttemperaturĆ
Bei der Messung der Lufttemperatur wird in der Regel die sog. Trockentemperatur, d.h. die Temperatur der umgebenden Luft, bestimmt. Als Messgerät sind Infrarot- oder Flüssigkeitsthermometer, Widerstandsthermometer oder Thermoelemente gebräuchlich. Bei den Flüssigkeitsthermometern wird die Volumenänderung in Abhängigkeit von der Temperatur als Messgröße herangezogen. Sie sind im Aufbau einfach und universell einsetzbar. Da jedoch stets die Temperatur des Messfühlers gemessen wird, muss darauf geachtet werden, dass dieser auch die zu messende Temperatur der Luft annimmt. Dies gilt natürlich auch für die anderen beschriebenen Messgeräte. Deshalb ist eine gewisse Einstellzeit zu beachten. Ferner muss vermieden werden, dass der Fühler durch andere Klimafaktoren eine Temperaturänderung erfährt (z.B. durch Wärmestrahlung). Aus diesem Grund sollte eine Abschirmung angebracht werden. Bei den Widerstandsthermometern wird ein zur Temperatur proportionaler elektrischer Widerstand registriert. Es können Halbleiter- und Metallwiderstände verwendet werden. Vorteilhaft sind die geringe Einstellzeit, die durch die sehr kleinen Fühler erreicht wird, sowie der große Messbereich. Bei der Temperaturmessung mit Thermoelementen wird die Spannungsdifferenz zwischen zwei verlöteten unterschiedlichen Metallen ausgenutzt, die temperaturabhängig ist. Die Vorteile ähneln denen der Widerstandsthermometer. Beide elektrischen Thermometer eignen sich zur automatisierten kontinuierlichen Temperaturüberwachung und steuerung. Neben den dargestellten Messprinzipien werden oft auch noch Thermometer verwendet, die auf dem Prinzip der temperaturabhängigen Formänderung eines Bimetallstreifens basieren. 9.4.5.2
LuftfeuchtigkeitĆ
Bei der Messung der Luftfeuchtigkeit können verschiedene Messprinzipien angewendet werden. Beim klassischen Haarhygrometer wird die Längenänderung von Haaren unter Feuchtigkeitseinfluss zur direkten Anzeige der relativen Feuchtigkeit ausgenutzt. Diese Messgeräte sind im Verhältnis zu neueren Entwicklungen ungenau, jedoch reicht ihre Genauigkeit für eine orientierende Messung. Auch bei den elektrolytischen Feuchtemessgeräten wird die Eigenschaft eines hygroskopischen Materials, seine elektrische Leitfähigkeit in Abhängigkeit von der Luftfeuchte zu ändern, als Messprinzip genutzt. Diese Geräte sind weitgehend wartungsfrei, müssen jedoch von Zeit zu Zeit nachkalibriert werden.
Arbeitsumgebung
873
Bei kapazitiven Messwertaufnehmern werden ebenfalls die feuchtigkeitsabhängigen Eigenschaften eines Dielektrikums zur Messwerterfassung ausgenutzt. Als klassisches Messgerät zur Erfassung der Luftfeuchte kann das Assmann‘sche Aspirations-Psychrometer angesehen werden. Bei diesem psychrometrischen Prinzip wird die Luftfeuchte indirekt bestimmt; als Messgröße dient die Feuchttemperatur, wobei die Differenz zur Trockentemperatur zur Berechnung der relativen Feuchte herangezogen wird. Im Gerät befinden sich zwei Temperaturfühler. Ein Fühler misst die Trockentemperatur, der zweite Fühler ist mit einem befeuchteten Gewebestrumpf umhüllt und wird kontinuierlich ventiliert; damit wird die sich einstellende Feuchttemperatur gemessen. Die vorbeiströmende Luft nimmt dabei Feuchtigkeit auf und entzieht dem Fühler Wärme (Verdunstungskälte). Je trockener die Luft ist, desto mehr Feuchtigkeit kann sie aufnehmen. Es wird sich also auf Grund der größeren Verdunstungskälte eine niedrigere Feuchttemperatur ergeben. Bei 100 % r. F. kann keine Verdunstung stattfinden; Trocken- und Feuchttemperatur sind in diesem Fall gleich. Mit Hilfe des hinsichtlich der Beziehung zwischen Feucht- und Trockentemperatur modifizierten h,x-Diagramms, siehe Abb. 9.37, lässt sich die relative Luftfeuchte ermitteln. Bei neueren Systemen geschieht dies durch einen Mikroprozessor im Messgerät.
Abb. 9.37: Ableitung von Luftfeuchtigkeitswerten – Wasserdampfdruck und rel. Feuchte – aus Trockentemperatur und Feuchttemperatur
9.4.5.3
WärmestrahlungĆ
Die Erfassung der Wärmestrahlung kann nach dem Prinzip des Globethermometers erfolgen (Abb. 9.38). Dabei ist ein Flüssigkeitsthermometer im unteren Bereich (Messfühler) mit einer matt geschwärzten Hohlkugel umge-
874
Arbeitswissenschaft
ben. Durch den hohen Absorptionsgrad findet ein Strahlungswärmeaustausch mit den umgebenden Flächen statt. Bei vorliegender Wärmestrahlung wird die Kugel erwärmt und das Flüssigkeitsthermometer zeigt eine erhöhte Temperatur, die Globetemperatur, an. Geräte dieser Art eignen sich für eine orientierende Messung. Nachteilig wirkt sich die lange Einstellzeit aus. Des Weiteren ist zu bemerken, dass die Globetemperatur bei Vorliegen einer Luftbewegung nicht mehr der Strahlungstemperatur entspricht, da die Hohlkugel zusätzlich abgekühlt wird. In diesem Fall ist der Wert der Strahlungstemperatur mit Nomogrammen zu ermitteln.
Abb. 9.38: Globethermometer, schematisch, aus WENZEL u. PIEKARSKI (1982)
Mit dem Steradiometer kann der auf den Menschen bezogene Strahlungswärmeaustausch erfasst werden. Da aufgrund unzureichender Kalibrierung und ungenügender konvektiver Abschirmung der Empfängerflächen Messfehler auftreten können, wurde ein verbessertes Wärmeabstrahlungs-Messgerät zur Erfassung der mittleren Strahlungstemperatur ts und der effektiven Bestrahlungsstärke Eeff entwickelt. Dieses Messgerät arbeitet nach dem gleichen Prinzip, hat jedoch zur Erfassung der Wärmestrahlung zwei thermische Sensoren: Ein Sensor ist hoch absorbierend beschichtet, und der andere ist hoch reflektierend beschichtet. Aus der sich (bei Vorliegen einer Wärmestrahlung) einstellenden Temperaturdifferenz der Sensoren kann sowohl die Wärmestrahlung als auch die Temperatur der angepeilten Fläche ermittelt werden. Dieses Gerät ist wahlweise für den unidirektionalen Betrieb (also in einer Richtung) oder für die Messung der sechs Raumachsen einsetzbar.
Arbeitsumgebung
875
Da die Sensoren stets einen bestimmten Raumwinkel erfassen, ist somit auch der gesamte umschließende Raum einbezogen. 9.4.5.4
ErmittlungĆvonĆKlimasummenmaßenĆ
Die Ermittlung von Klimasummenmaßen kann nicht nur rechnerisch erfolgen, sondern auch mit sog. Raumklima-Analysatoren. Dabei werden in der Regel sowohl die Klimafaktoren einzeln erfasst und angezeigt als auch ein oder mehrere Klimasummenmaße errechnet. So wird häufig der Index „Thermal Comfort“ nach FANGER 1972 bestimmt. Die Einstellung der geschätzten oder gemessenen muskulären Belastung, der Bekleidungsisolation und des Wasserdampfdruckes ermöglicht die direkte Anzeige der Abweichung von der vorhergesagten mittleren Behaglichkeitstemperatur (PMV). Der Messfühler ist so konstruiert, dass er den Wärmeaustausch des Menschen mit der Umgebung realistisch erfassen kann. Andere Geräte weisen als Klimasummenmaße die empfundene Temperatur, die Indices NET oder BET, den WBGT-Index oder den HSI aus. Bei der Verwendung von integrierenden Klimamessgeräten ist stets darauf zu achten, dass die Randbedingungen dem verwendeten Klimasummenmaß entsprechen, da bestimmte Klimasummenmaße z.B. nur für heiße Klimazustände, nur für leichte körperliche Arbeit oder ähnlich begrenzte Einsatzfelder gelten. Dennoch ist deren Einsatz oft dann sinnvoll, wenn als Toleranzgrenzwert ein bestimmtes Klimasummenmaß vorgegeben ist, welches aus Einzelmessungen häufig nur schwer bestimmt werden kann. 9.4.6
Bewertung und Beurteilung
Bei der Bewertung des Einflusses eines bestimmten Umgebungsklimas werden die Klimasummenmaße herangezogen, denn sie ermöglichen die Einschätzung eines Klimazustandes mit nur einer Zustandsgröße. Der Vergleich dieser Größe mit einer Sollgröße dient der Beurteilung. Geringe Abweichungen von dieser Sollgröße können zu einem klimatischen Unbehagen führen, welches jedoch noch keinen Einfluss auf den Gesundheitszustand oder auf die Arbeitsleistung haben muss. Eine Intervention sollte dennoch angestrebt werden. Andererseits können geringe Abweichungen auch einen positiven Effekt bewirken. Dies ist dann der Fall, wenn damit eine sog. KlimaMonotonie vermieden werden kann (ein wichtiges Problem bei klimatisierten Räumen). Ein Beispiel dazu: Der Sollwert einer Raumklimatisation sollte immer in Abhängigkeit vom „Außenklima“ eingestellt werden, d.h., dass z.B. an einem heißen Sommertag die Raumlufttemperatur von 26°C noch als angenehm kühl empfunden wird, die gleiche Temperatur würde jedoch an einem Wintertag als zu warm eingestuft. Damit wird nicht nur dem Temperaturempfinden des Menschen Rechnung getragen, sondern auch den Kleidungsgewohnheiten. Bei stärkeren Abweichungen von diesem Sollwert sind dagegen durchaus schon Beeinträchtigungen gesundheitlicher Art und auch der Arbeitsleistung zu erwar-
876
Arbeitswissenschaft
ten. Dies wird dann der Fall sein, wenn z.B. durch zu hohe Temperaturen ein konzentriertes Arbeiten nicht mehr möglich ist oder wenn auf Grund zu niedriger Temperaturen die Fingerbeweglichkeit eingeschränkt ist. Auch die Gefahr von Erkältungskrankheiten als Folge dieses ungünstigen Klimazustandes sollte beachtet werden. Es ist deshalb erforderlich, das Klima entsprechend zu ändern. Starke Abweichungen von einem Sollwert bewirken dagegen Ausfälle bei der Ausführung der Arbeitsaufgabe. Eine gesundheitliche Schädigung ist wahrscheinlich. Dazu zählt z. B. die Gefahr von Erfrierungen, insbesondere in Ruhe, da dann die endogene Wärmeproduktion durch Arbeit entfällt, oder ein drohender Hitzekollaps als Folge eines Wärmestaus. Die zur Verfügung stehende Blutmenge ist in diesem Fall nicht mehr in der Lage, die notwendige Wärmeregulation zu gewährleisten und die Mechanismen der Wärmeabgabe sind in ihrer Kapazität überfordert. Bei einer extremen thermischen Überlastung des Organismus ist schließlich ein Hitzschlag nicht auszuschließen, der wegen des oft tödlichen Ausgangs unter allen Umständen zu vermeiden ist. Bei den genannten Fällen ist die klimatische Belastung durch entsprechende Maßnahmen unbedingt und unverzüglich zu verringern. Ausgehend von der Erkenntnis, dass die Bewertung eines Klimazustandes nicht allein nach den Kriterien „Grenzwert überschritten bzw. nicht überschritten“ geschehen kann, haben HETTINGER et al. (1984) ein differenziertes Bewertungsverfahren zur Klimabewertung vorgestellt. Ausgangspunkt ist die Normal-EffektivTemperatur (NET) nach YAGLOU u. MINARD (1957). Tabelle 9.17 zeigt diese Bewertungsmatrix. Die Stufen des Arbeitsenergieumsatzes werden aus den in Tabelle 9.18 aufgeführten Werten ermittelt. Bei diesem Bewertungsverfahren sind zunächst zwei Variablen nicht berücksichtigt: Die Bekleidung und die Wärmestrahlung. Bei der Bekleidung kann man davon ausgehen, dass an den entsprechenden Arbeitsplätzen Schutzkleidung getragen wird, deren clo-Wert von Kleidung zu Kleidung ähnlich sein wird. Dieser Einfluss kann deshalb als Konstante angenommen werden. Beim Tragen von spezieller Hitzeschutzkleidung ist im Falle einer Wärmestrahlungsexposition, trotz der zusätzlichen Belastung, insgesamt jedoch von einer Beanspruchungsreduzierung auszugehen (siehe HETTINGER et al. 1984), so dass die Bewertung nach vorgenanntem Schema eher eine niedrigere Einstufung erwarten lässt; man ist also auf der „sicheren Seite“. Der Einfluss der Wärmestrahlung lässt sich durch das Einsetzen der Globetemperatur anstelle der Trockentemperatur bei der Ermittlung der Normaleffektivtemperatur berücksichtigen. Man spricht dann von der korrigierten Normaleffektivtemperatur (CNET). Da dieses Verfahren jedoch bei sehr hohen Bestrahlungsstärken Mängel aufweist, sollte eine getrennte Bewertungsskala verwendet werden (siehe Tabelle 9.19).
Arbeitsumgebung
877
Tabelle 9.17: Klimabewertung (Effektivtemperatur NET) in Abhängigkeit vom Arbeitsenergieumsatz; Bereich der Wärmebelastung (nach HETTINGER et al. 1984, aus EISSING 1988) Bewertungsstufe VII 40
36
33
30
28
26
25 VI
37
33
29
26
23
21
19
33
31
27
23
19
15
11
31
29
25
21
17
13
9
25
22
19
16
14
11
8
V
Belastungsintensität Überbelastung
Stufengrenzen °C NET
IV
19 I
17 II
15
13
11
9
III IV V VI Arbeitsumsatzstufe
sehr wahrscheinlich wahrscheinlich möglich Grenzbereich
III
belastend
II
gering belastend
I
sehr gering belastend
7 VII
Tabelle 9.18: Bewertungsstufen für den Arbeitsenergieumsatz AU (nach HETTINGER et al. 1984, aus EISSING 1988) Stufengrenzen kJ min–1
Bewertungsstufe
25 < AU
VII
23 < AU 25
VI
20 < AU 23
V
16 < AU 20
IV
12 < AU 16
III
belastend
8 < AU 12
II
gering belastend
AU 8
I
sehr gering belastend
Überbelastung
Belastungsintensität sehr wahrscheinlich wahrscheinlich möglich Grenzbereich
878
Arbeitswissenschaft
Tabelle 9.19: Bewertungsstufen für die effektive Bestrahlungsstärke (nach HETTINGER et al. 1984, aus EISSING 1988) Stufengrenzen Wm–2
Bewertungsstufe
300 < Eeff
VII
260 < Eeff 300
VI
220 < Eeff 260
V
160 < Eeff 220
IV
95 < Eeff 160
III
belastend
35 < Eeff 95
II
gering belastend
Eeff 35
I
sehr gering belastend
Überbelastung
Belastungsintensität sehr wahrscheinlich wahrscheinlich möglich Grenzbereich
Dieses Verfahren gibt bei hinreichender Genauigkeit durch seine problemlose Anwendbarkeit auch dem Nicht-Fachmann die Möglichkeit, eine Klimasituation am Arbeitsplatz einzuschätzen und zu bewerten. Dadurch können Überlastungen schon sehr früh erkannt und Maßnahmen zur Abhilfe eingeleitet werden. Bei längeren Expositionszeiten steht nicht die Bewertung der Klimasituation im Vordergrund, sondern die Verhinderung von negativen Folgen für den Hitzeexponierten. Hierbei wird mit der Angabe einer Toleranzzeit eine zeitliche Begrenzung der Arbeit unter Wärmestrahlungsexposition gegeben. Abb. 9.39 zeigt ein Beispiel unter Verwendung des WBGT-Index. Diese Verfahren haben sich besonders bei extremen Klimabelastungen bewährt, bei denen in der Regel nicht nur die Wärmebelastung des Gesamtorganismus die limitierende Größe darstellt, sondern die mögliche Überhitzung des Hautgewebes (Wärmeschmerzen) als Engpass zu berücksichtigen ist. Weitere Verfahren (siehe WENZEL u. PIEKARSKI 1982) beziehen beispielsweise die erforderliche Schweißabgabe als limitierenden Faktor in die Ermittlung der Toleranzzeit ein. Insgesamt zeigt sich jedoch, dass die Berechnung von Grenzwerten nach verschiedenen Verfahren durchaus zu sehr ähnlichen Ergebnissen führt. Untersuchungsergebnisse dieser Art dienen beispielsweise zur Ermittlung und Festlegung von maximal zulässigen täglichen Arbeitszeiten in Bergbaubetrieben.
Arbeitsumgebung
879
Abb. 9.39: Toleranzzeiten bei extremen Klimabelastungen mit dem WBGT-Index als Klimasummenmaß (nach DASLER 1974, aus WENZEL u. PIEKARSKI 1982)
Akklimatisation
Bei Exposition gegenüber Kälte oder Wärme kommen verschiedene kurzfristige Regulationsmechanismen zum Tragen. Bei Kälteexposition reagiert das HerzKreislaufsystem mit einer Kontraktion der peripheren Gefäße und nachfolgend mit einem Blutdruckanstieg. Die Hauttemperatur, die üblicherweise bei 30°C liegt, nimmt ab. Eine Kälteempfindung an Händen oder Füßen tritt erst bei einer Hauttemperaturdifferenz von > 4°C auf. Bei einem Absinken der Körperkerntemperatur auf 35°C tritt Kältezittern auf, bei 33°C findet sich eine starke Verminderung der Reaktionsfähigkeit, bei 30°C tritt Bewusstlosigkeit ein. Bei Wärmeexposition reagiert ebenfalls das Herzkreislaufsystem, indem es durch erhöhte Blutzirkulation (Blutdruckanstieg, Anstieg der Herzschlagfrequenz) und Weitstellung der Gefäße den Wärmetransport zur Körperoberfläche erhöht. Durch einen kurzfristigen Anstieg der Schweißmenge entsteht Verdunstungskälte an der Körperoberfläche. Bei wiederholtem Aufenthalt in kalter bzw. warmer Umgebung kann der Körper sich thermoregulatorisch immer besser auf eine Belastung einstellen. Diese als Akklimatisation bezeichnete langfristige Anpassung ist von erheblicher praktischer Bedeutung, weil sich damit die Erträglichkeit erhöht. Kälteakklimatisation
Bislang wurde festgestellt, dass sich im Rahmen der Anpassung des Menschen an Kälte Energieumsatz und damit Wärmebildung erhöhen (PENZKOFER et al. 2008). Die bei einer ersten Kälteexposition erheblichen Senkungen der Hauttemperatur, besonders an den Extremitäten, werden dabei geringer. Eine Zunahme der Kälteto-
880
Arbeitswissenschaft
leranz beruht u.a. auch auf einem geübteren Umgang mit der Belastung, z.B. hinsichtlich des Kälteschutzes durch Bekleidung. Hitzeakklimatisation
Besonders eingehend sind die Veränderungen bei wiederholten Hitzebelastungen des Menschen untersucht worden. Abb. 9.40 enthält Ergebnisse von Arbeitsversuchen, bei denen ein Mann mehrere Wochen lang täglich mit Ausnahme der Wochenenden eine mehrstündige Körperarbeit bei 45°C Raumtemperatur leistete. Das untere Diagramm zeigt, dass die Schweißabgabe (Mittelwerte über Arbeitszeit) von Tag zu Tag zunahm. Am Schluss der Untersuchung lag die Schweißabgabe ca. 30% höher als zu Beginn. Aus anderen Untersuchungen ist bekannt, dass im Verlauf einer Akklimatisation Steigerungen der Schweißabgabe auf das Doppelte möglich sind.
Abb. 9.40: Akklimatisation bei wiederholter Hitzearbeit (Gehen mit v = 3,5km/h (3h), t = 45°C, r.F = 45%, 0,1clo) (in Anlehnung an WENZEL 1961)
Die mit der Verdunstung größerer Schweißmengen verbundene stärkere Kühlung der Haut führt dazu, dass die Hauttemperatur von einer Hitzebelastung zur
Arbeitsumgebung
881
nächsten weniger stark ansteigt. Entsprechend wird die Erhöhung der Körperkerntemperatur im Verlauf der Akklimatisationstage kleiner. Die dargestellten Werte der Herzfrequenz weisen auf eine gleichzeitige Entlastung des Blutkreislaufes hin. Die Herzfrequenz stieg zunächst auf etwa 115 Schläge/min an und erreichte am Schluss der Untersuchungsreihe nur noch etwa 95 Schläge/min. Zu weiteren Veränderungen im Verlauf der Hitzeakklimatisation gehört insbesondere, dass der Kochsalzgehalt des vermehrt gebildeten Schweißes abnimmt. Dadurch wird Salz eingespart und eine erhöhte Salzzufuhr ist bei akklimatisierten Personen nicht nötig. Alle diese Veränderungen haben zur Folge, dass im akklimatisierten Zustand eine gegebene Belastung besser erträglich ist. Eine Arbeit vorgegebener Schwere wird subjektiv leichter empfunden, es können höhere Leistungen bei einem belastenden Klima erbracht, schwerere Klimabelastungen ertragen bzw. längere Toleranzzeiten erreicht werden. Es gehört zu den gesicherten Erkenntnissen, dass die dargestellten unmittelbaren thermoregulatorischen Umstellungen wie auch die langfristigen Anpassungsprozesse der Akklimatisation bei fast allen gesunden Menschen im Prinzip gleichartig, wenn auch quantitativ verschieden, ablaufen. 9.4.7
Gestaltungshinweise
Zum Schutz der Arbeitspersonen gibt es zahlreiche Vorschriften, in denen die Gestaltung der Klimabedingungen beschrieben ist. Da das Klima am Arbeitsplatz in der Regel von vielen exogenen Faktoren abhängig ist, vermeidet man oft eine quantitative Angabe und beschränkt sich auf Gestaltungshinweise qualitativer Art. Die Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV) galt zwar nur bis 2004, aber für eine Übergangsfrist von 6 Jahren (bis 2010) sollen die darin enthaltenen Vorgaben weiterhin als gültig behandelt werden. Darin heißt es unter anderem in §6 Raumtemperaturen: „(1) In Arbeitsräumen muss während der Arbeitszeit eine unter Berücksichtigung der Arbeitsverfahren und der körperlichen Beanspruchung der Arbeitnehmer gesundheitlich zuträgliche Raumtemperatur vorhanden sein. Satz 1 gilt auch für Bereiche von Arbeitsplätzen in Lager-, Maschinen- und Nebenräumen. (2) Es muss sichergestellt sein, dass die Arbeitnehmer durch Heizeinrichtungen keinen unzuträglichen Temperaturverhältnissen ausgesetzt sind. (3) In Pausen-, Bereitschafts-, Liege-, Sanitär- und Sanitätsräumen muss mindestens eine Raumtemperatur von 21°C erreichbar sein. (4) Bereiche von Arbeitsplätzen, die unter starker Hitzeeinwirkung stehen, müssen im Rahmen des betrieblich möglichen auf eine zuträgliche Temperatur gekühlt werden.“ In den Erläuterungen sind diese Angaben in Abhängigkeit verschiedener Randbedingungen (z. B. Arbeitsschwere, Außentemperaturen) präzisiert und lassen sich mit Eckdaten zusammenfassen (Tabelle 9.20). Die maximal zulässigen Arbeitszeiten bei Hitzearbeit sind in Tabelle 9.21wiedergegeben.
882
Arbeitswissenschaft
Tabelle 9.20: Optimale Klimabedingungen (Auszug aus der ArbStättV, §6, Abs.1, Erläuterungen) Arbeitsform Temperatur [°C] rel. Feuchte [%] Luftgeschwindigkeit [m/s] Mindesttemperatur [°C]
überwiegend sitzende Tätigkeit 20 - 23 40 - 60 max. 0,15 19
schwere körperliche Arbeit 14 - 16 40 - 70 max. 0,15 12
Tabelle 9.21: Maximal zulässige Arbeitszeiten bei Hitzearbeit (Auszug aus ArbStättV, §6, Abs.4, Erläuterungen) Effektivtemperatur [°C] 27-29 29-31 31-35
max. Arbeitszeit [h] 6 4 nur Notfallarbeiten
Die weiterhin in Tabelle 9.22 genannten Pausen sind Mindestzeiten, die im klimaneutralen Bereich gewährt werden müssen. Bei ungünstigeren Bedingungen sind diese Pausen entsprechend zu verlängern, wie z. B. Thermoregulationsmodelle indizieren (LUCZAK 1978). Tabelle 9.22: Zusätzliche Pausen für eine Arbeitsschicht bei Hitzearbeit (Auszug aus der ArbStättV, § 6, Abs.1, Erläuterungen) Klima feuchtheiß trockenheiß
Effektivtemp. [°C] 29-30 über 30 37-46 über 46
zusätzl. Pausen [min] 10 20 15 30
Die vorstehend genannten Vorschriften zur Einhaltung der Klimawerte bzw. zur Begrenzung der Expositionszeit müssen am Arbeitsplatz durch flankierende Maßnahmen unterstützt werden. Ausgewählte Schutzmaßnahmen sind in Tabelle 9.23 dargestellt. Im klimaneutralen Bereich versteht man darunter beispielsweise eine entsprechende Auslegung der Raumklimatisierung oder die Verhinderung direkter Sonneneinstrahlung bei sehr großen Glasflächen. Bei Kältearbeitsplätzen (KLUTH et al. 2008) wird die größte Schutzwirkung durch eine entsprechende Kälteschutzkleidung mit einem hohen clo-Wert zu erreichen sein. Falls dies nicht ausreichend ist, können sogar beheizte Schutzkleidungen eingesetzt werden. Zum Schutz der Haut gegen Erfrierungen im Gesicht ist die Applikation entsprechender Salben zur Prävention angeraten. Schließlich ist auch die Gestaltung der Pausenräume für die notwendigen Aufwärmungspausen sehr wichtig. Bei Hitzearbeitsplätzen sind zahlreiche Gestaltungsmaßnahmen zur
Arbeitsumgebung
883
Reduzierung der Beanspruchung notwendig (vgl. unter Anderem LUCZAK et al. 1984, WENZEL u. PIEKARSKI 1982). An erster Stelle sollten arbeitsplatzbezogene Maßnahmen realisiert werden. Dazu zählt die Trennung von Arbeitsperson und belastender Arbeitsumgebung. Da dies oft aus technologischen oder wirtschaftlichen Gründen nur schwer durchzuführen ist, müssen weitere Maßnahmen zum Schutz der Arbeitspersonen zum Einsatz kommen. Dazu gehören z. B. Schutzschilde gegen Wärmestrahlung in Form von Sandwich-Platten, als Kettenvorhänge oder als „Wasservorhänge“ (berieselte Flächen oder Drahtnetze). Weitere Schutzmaßnahmen dienen dem direkten Schutz der exponierten Personen. Tabelle 9.23: Schutz gegen belastende Klimawirkungen bei der Arbeit Art der Schutzmaßnahme Natürliches Verhalten
Bewusste Anpassung der Arbeitstechnik an das Klima
Technische Beeinflussung des ArbeitsKlimas (Makro- und Mikroklima)
in der Hitze
Bewertung
Nutzung des natürlichen Schutzes (Schatten, Waldkühle) Eingeschränkte Nahrungsaufnahme in der Tageshitze Kühlende Nahrung und Getränke Sparende Arbeitsbewegungen Akklimatisation + Senkung der Arbeitsschwere Kühlpausen Richtige Flüssigkeits- und Salzaufnahme Luftkühlung
+
in der Kälte
Bewertung
Nutzung des natürlichen Schutzes (Sonne, Windschutz) Verstärkte Nahrungsaufnahme Wärmende Nahrung und Getränke Ausgiebige Arbeitsbewegungen Akklimatisation
+
Erhöhung der Arbeitsschwere Wärmepausen
+
++
Luftwärmung
++
Luftbewegung
+
Abstellen von Luftzug
+
Senkung der Strahlungstemperatur (Abschirmungen) Lufttrocknung Leichtere Kleidung Entkleidung Spezialkleidung (belüftet, reflektierend)
++
Erhöhung der Strahlungstemperatur
++
+ + + +
Luftbefeuchtung Wärmere Kleidung Beheizte Kleidung
+ + +
+ +
+
Einen beträchtlichen Effekt verspricht der Einsatz von Schutzkleidungen, die beispielsweise zur Reflexion der Wärmestrahlung oberflächenbeschichtet (alumi-
884
Arbeitswissenschaft
niumkaschiert) ausgerüstet sind. Bei längerer Exposition haben sich zudem Kühlwesten und Ganzkörperkühlanzüge (zur Reduzierung des Anstiegs der Körpertemperatur) bewährt. Zum Schutz des Kopfes eignen sich Schutzhelme mit zusätzlichen Gesichtsmasken aus feinmaschigem Drahtgewebe oder aus reflektierend beschichtetem Kunststoff. Bei all diesen Kleidungsstücken ist das häufig nicht unerhebliche Eigengewicht zu berücksichtigen, welches zu einer entsprechenden Erhöhung des Energieumsatzes führt. Hinzu kommt u.U. eine Einschränkung des Bewegungsraums und des Sichtfeldes für den Träger der Schutzkleidung. Bei den geschilderten Schutzausrüstungen ist darauf zu achten, dass eine Aufheizung der Schilde, Kleidungsstücke etc. vermieden wird, damit diese ihrerseits nicht selbst zum Strahler werden. Neben den genannten Beispielen sind auch persönliche Schutzmaßnahmen erforderlich. Dazu zählt eine medizinische Eignungsuntersuchung (Arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen gemäß Berufsgenossenschaftlichem Grundsatz G21 Kältearbeit und G30 Hitzearbeit) vor der Hitzeexposition und die laufende Überwachung. Ausschließende Bedingungen für Hitzearbeit sind z.B. Herz-KreislaufErkrankungen, Hautkrankheiten, Alkoholismus, Über- oder Untergewicht, Alter über 45 Jahre, u.a. auch eine systematische Hitzeakklimatisation vermag die Beanspruchung am Arbeitsplatz wirksam zu reduzieren. Zur Prävention von Mangelerscheinungen während der Arbeit ist ein entsprechendes Trinkregime mit geeigneten Getränken unerlässlich. Damit wird der Verlust von Wasser und Mineralien ausgeglichen. Da der Flüssigkeitsbedarf mehrere Liter pro Schicht erreichen kann, sollten die Getränke nach Bedarf und in kleineren Mengen konsumiert werden. Schließlich ist noch darauf zu achten, dass auch die Nahrungsaufnahme den Gegebenheiten der Hitzearbeit angepasst werden muss. So sind fette und schwerverdauliche Speisen zu vermeiden. Eine zusätzliche Salzaufnahme ist in der Regel nicht erforderlich.
Arbeitsumgebung
9.5
885
Beleuchtung
Das Auge als das wichtigste Organ zur Informationsaufnahme übermittelt ca. 8090% aller Reize aus der Arbeitsumgebung (siehe Kap. 3.3.2.1.2.1). Voraussetzung dafür ist eine ausreichende Beleuchtung bzw. Helligkeit der Objekte. Da die visuelle Informationsaufnahme und -verarbeitung in Arbeitssystemen immer wichtiger wird, gewinnt auch die Gestaltung der Arbeitsbedingungen unter beleuchtungstechnischen Aspekten an Bedeutung. 9.5.1
Physikalische Grundlagen und lichttechnische Größen
Objekte, die das Auge sehen soll, müssen entweder selbst leuchten oder Licht aus der Umgebung reflektieren. Wie bereits in Kapitel 9.3 dargestellt wurde, ist Licht eine elektromagnetische Strahlung im Wellenlängenbereich von ca. 380 bis 780 nm, die im Auge zu visuellen Reizen führt. In Abb. 9.41 sind das Spektrum elektromagnetischer Strahlung und der relative Helligkeitsempfindlichkeitsgrad des Auges sowohl für Tag- als auch Nachtsehen dargestellt.
Abb. 9.41: Spektrum der elektromagnetischen Strahlung und relative Helligkeitsempfindlichkeitsgrade V(O (Tagsehen) bzw. V‘(O (Nachtsehen) des menschlichen Auges (nach SCHIERZ u. KRUEGER 1996 und RIS 2008)
886
Arbeitswissenschaft
Strahler, die wenigstens teilweise in dem genannten Spektralbereich Energie aussenden, werden daher als Lichtquellen bezeichnet. Licht setzt sich aus unterschiedlichen Farben zusammen, die wiederum bestimmten Wellenlängen zuzuordnen sind. Dabei ist das Auge nicht für alle Farben gleich empfindlich. Die größte Empfindlichkeit liegt für Tagsehen im gelb/grünen Farbbereich bei ca. 550 nm Wellenlänge, wie man anhand des spektralen Helligkeitsempfindlichkeitsgrades V(O) ablesen kann, der in Abb. 9.41 dargestellt ist. Um Licht messen, bewerten und beurteilen zu können, bedarf es definierter physikalischer Größen, die im Folgenden näher erläutert werden sollen. Lichtstrom
Die gesamte von einer Lichtquelle abgegebene sichtbare Strahlung wird als Lichtstrom ĭ bezeichnet. Grundsätzlich kann die abgegebene Strahlungsleistung in Watt gemessen werden, hierbei wird jedoch die spektrale Empfindlichkeit des Auges nicht mitberücksichtigt. Stattdessen ist die Größe des Lichtstroms mit der Einheit „Lumen“ [lm] eingeführt worden, die über die Beziehung )
K m ³ V (O ) ) e (O ) d O
(9.37)
mit der spektralen Licht-Leistungsdichte ĭe(Ȝ) [W/nm] einer Lichtquelle in Relation steht. Die Konstante Km [lm/W] ist das photometrische Strahlungsäquivalent (Tag: 683 lm/W; Dämmerung: 683-1699 lm/W; Nacht: 1699 lm/W). Der spektrale Helligkeitsempfindlichkeitsgrad V(Ȝ) kann, wie erwähnt, auf der Ordinate des in Abb. 9.41 dargestellten Diagramms abgelesen werden. V(Ȝ) nimmt in Abhängigkeit der Wellenlänge der Lichtanteile Werte zwischen 0 und 1 an und hat für 555 bzw. 507 nm den Maximalwert 1 (höchste Empfindlichkeit des menschlichen Auges bei Hell- bzw. Dunkeladaption). V(Ȝ) entspricht also einem Frequenzbewertungsfilter, wie er z.B. auch in der Akustik zur Berücksichtigung der menschlichen Hörempfindlichkeit verwendet wird. Darüber hinaus charakterisiert die sogenannte Lichtausbeute Ș die Effizienz einer Lampe durch das Verhältnis von abgestrahltem Lichtstrom ĭ und elektrischer Eingangsleistung Pel einer Lichtquelle. Ein großer Teil der zugeführten elektrischen Energie wird bei elektrischen Lampen in Wärme umgesetzt. In Tabelle 9.24 sind typische Werte für verschiedene Lampenarten dargestellt. Tabelle 9.24: Beispiele für typische elektrische Leistungen, Lichtströme und Lichtausbeuten verschiedener Lichtquellen (aus BÖGE 2007 und RIS 2008) Lampenart Glühlampe Moderne energiesparende Leuchtstofflampe Halogen-Metalldampf
Pel 15 - 2000 W 10 - 75 W 20 - 18000 W
ĭ 120 - 38000 lm 400 - 4000 lm 6500 lm
Ș=ĭ/Pel 8 - 20 lm/W 30 - 75 lm/W 80 - 110 lm/W
Arbeitsumgebung
887
Lichtstärke
Der Lichtstrom einer Lichtquelle wird im Allgemeinen nicht gleichmäßig in alle Raumrichtungen abgestrahlt. Die von einer Lichtquelle in eine bestimmte Raumrichtung ɸ abgegebene sichtbare Strahlung ) bezogen auf den dabei durchfluteten Raumwinkel wird Lichtstärke I genannt. Die Einheit ist Candela [cd=lm/sr] (Abb. 9.42). :
A / r2
)
IH
r
A r
ȍ
)H / :
ɸ
Iİ ɏ A
Abb. 9.42: Raumwinkel (links) und Zusammenhang zwischen Lichtstärke und Raumwinkel (rechts, nach HARTMANN 1993) bei ellipsenförmiger Lichtstärkeverteilung der Lichtquelle
Raumwinkel
Ein von einem Punkt im Raum ausgehendes Strahlenbüschel bildet einen Raumwinkel ȍ gemäß dem Zusammenhang ȍ = A/r², wobei A das Oberflächenstück ist, das der Raumwinkel aus einer Kugel mit dem Radius r vom Ursprung des Strahlenbüschels ausschneidet. Aus der Betrachtung der Einheitskugel (r = 1) ergibt sich der volle Raumwinkel zu ȍvoll = 4ߨ [sr]. Die Einheit [sr] ist der „Steradiant“ (BRONSTEIN et al. 2001). Diese Beschreibung eines Raumanteils mittels eines Flächenanteils des Einheitskugelmantels stellt das dreidimensionale Äquivalent zur Beschreibung eines ebenen Winkels über die Länge eines Einheitskreisbogenstücks in [rad] dar. Beleuchtungsstärke
Die am häufigsten gebrauchte lichttechnische Größe ist die Beleuchtungsstärke E. Sie entspricht dem auf eine Fläche A treffenden Lichtstrom ): ) (9.38) A Ihre Einheit ist Lux [lx=lm/m2]. Die nach dieser Flächenbeleuchtungsformel errechnete Beleuchtungsstärke ist als Mittelwert aufzufassen, da im Allgemeinen der Lichtstrom nicht gleichmäßig über die Fläche verteilt ist. Die Beleuchtungsstärke E kann für große Verhältnisse von r² zu A auch aus der Lichtstärke I und dem E
888
Arbeitswissenschaft
Abstand r zwischen Lichtquelle und beleuchtetem Punkt berechnet werden. Wenn das Verhältnis von Abstand zur Lichtquelle zur Ausdehnung der Lichtquelle größer 5 ist, gilt folgende Näherung: I (9.39) r2 Oftmals steht die beleuchtete Fläche nicht senkrecht unter der Lichtquelle (siehe Abb. 9.43). In diesem Fall ist die resultierende Leuchtstärke E´ abhängig vom Winkel ɸ der betrachteten Fläche zur Lichtquelle und der Anbringungshöhe r (Abb. 9.43): E
Ec
I cos3 H r2
(9.40)
r´ r
r
I
İ
E
E
E
I r2
I
Ec
E’
I cos 3 H r2
Abb. 9.43: Beleuchtungsstärke für senkrechten und schrägen Lichteinfall (nach RIS 2008)
Reflexion
Licht wird an Grenz- bzw. Oberflächen entsprechend deren Eigenschaften transmittiert (z.B. Glas), absorbiert (z.B. schwarzer Stoff) und reflektiert (z.B. Spiegel), wobei unterschiedliche Reflexionseigenschaften von Flächen im Wesentlichen deren Sichtbarkeit und Erkennbarkeit aufgrund von Kontrasten ermöglichen. Der Reflexionsgrad ȡ quantifiziert dieses Phänoment durch das Verhältnis des reflektierten Lichtstroms ĭr zum auftreffenden Lichtstrom ĭ0:
U
)r )0
(9.41)
Man unterscheidet gerichtete, gestreute und gemischte Reflexion, die in Abb. 9.44 schematisch dargestellt sind.
Arbeitsumgebung
889
Lichtausbreitung nach gerichteter Reflexion
Lichtausbreitung nach gestreuter Reflexion
Lichtausbreitung nach gemischter Reflexion
Abb. 9.44: Arten der Reflexion nach SCHIERZ u. KRUEGER (1996); Spiegel (links), Lambertstrahler (mitte), Glanz (rechts)
Prinzipiell gilt: Je heller und glatter eine Oberfläche ist, umso größer ist der Reflexionsgrad. Tabelle 9.25 gibt einige Beispiele für Reflexionsgrade. Tabelle 9.25: Reflexionsgrade U ausgewählter Oberflächen (aus BENZ et al. 1983) Metallspiegel
95 – 99%
Silber hochpoliert
90 – 92%
Fensterglas
6 – 8%
für gestreute Reflexionen Udiff : Papier
weiß hellgrau dunkelgrau
70 – 85% 40 – 60% 10 – 15%
Holz
hell dunkel
30 – 50% 10 – 25%
Samt
schwarz
0,5 – 4%
Leuchtdichte Die Energie, die als sichtbares Licht in das Auge dringt, wird durch die Leuchtdichte L beschrieben und in der Einheit [cd/m2] gemessen. Die Leuchtdichte stellt die objektive physikalische Größe dar, die ein subjektiven Helligkeitsempfindens hervorruft. Sie resultiert aus der Reflexion einer beleuchteten Fläche oder aus der Lichtstärke eines selbstleuchtenden Körpers und ist definiert als Lichtstärke I(ș) bezogen auf den senkrecht zur Betrachtungsrichtung projizierten Teil A(ș) der betrachteten Fläche A0: L(T )
I (T ) A(T )
(9.42)
Mit Ausnahme des sog. Lambertstrahlers ist die Leuchtdichte vom Betrachtungswinkel abhängig. Der Lambertstrahler stellt den Idealfall konstanter Leuchtdichte über dem Raumwinkel dar. Das Verhältnis aus richtungsabhängiger Lichtstärke Iref (ș) und projizierter Fläche A(ș) (senkrecht zum Lichtstärkevektor)
890
Arbeitswissenschaft
ist für alle Richtungen gleich. Die Lichtstärkeverteilung Iref (ș)=Iref,0 cos ș eines Lambertstrahlers bzw. einer Lambertfläche ist in Abb. 9.45 links wiedergegeben (für A(ș)=A0 cos ș folgt L(ș)=const). ș
ș I0
I0
Iref Iref,0 Iref A0
A0
Abb. 9.45: Lichtstärkeverteilung des Lambertstrahlers/-fläche (links) im Vergleich zu einer beliebigen Lichtstärkeverteilung (rechts)
Die Leuchtdichte der Raumoberfläche lässt sich für vollkommen gestreut reflektierende Oberflächen (Näherung Lambertstrahler) mit Hilfe der Beleuchtungsstärke E, dem Reflexionsgrad ʌ, dem Abstand r zwischen Auge und beleuchteter Fläche und der beleuchteten Fläche A berechnen (siehe Abb. 9.46).
Lichtquelle mit Lichtstrom
Ԅ
Auge Lichtstärke I
auftreffender / reflektierter Lichtstrom Ԅ
ref
Lref
Ԅ0 Vollkommen gestreut reflektierende ȡ Oberfläche
Leuchtdichte des reflektierten Lichtes
ȍ
Raumwinkel
r A
E
Abb. 9.46: Leuchtdichte für vollkommen gestreut reflektierende (matte) Oberflächen
Grundsätzlich ist die Leuchtdichte der Beleuchtungsstärke E proportional. Für einen nicht gestreut reflektierenden Körper ist der Reflexionsgrad jedoch vom Abstrahlwinkel, der Abstrahlebene sowie dem Einfallswinkel abhängig.
Arbeitsumgebung
9.5.2
891
Messung von Beleuchtung
Die Messung lichttechnischer Größen dient zur Quantifizierung und objektiven Überprüfung der Beleuchtungssituation. Die wichtigsten zurzeit auf dem Markt erhältlichen Messgeräte dienen zur Ermittlung der Beleuchtungsstärke („Luxmeter“) bzw. der Leuchtdichte (Leuchtdichtemessgerät). Sie erfassen prinzipiell nur den Helligkeitsempfindlichkeitsgrad der Strahlung und nicht das Farbspektrum. Zur Angleichung an die V(ʄ)-Kurve müssen Filter benutzt werden. Messung der Beleuchtungsstärke und Leuchtdichte
Sowohl das Luxmeter als auch der Leuchtdichtemesser sind fotometrische Messgeräte und arbeiten mit einem Sensor, der auftreffende Lichtquanten mittels eines Kristalls in einen elektrischen Stromfluss umwandelt (fotoelektrischer Effekt). Die Beleuchtungsstärke E und der gemessene elektrische Strom IF stehen hierbei in einem proportionalen Zusammenhang. Um die spektrale Empfindlichkeit des Sensors an die V(ʄ)-Kurve anzugleichen, sind bei der heutzutage verwendeten SiTechnologie Filter nötig. Die früher verwendete Selenzelle hat zwar eine dem menschlichen Auge ähnliche spektrale Empfindlichkeit, ist jedoch deutlich kurzlebiger. Der Leuchtdichtemesser bewertet die Lichtstärke des reflektierten Lichtes einer Fläche in einem abgegrenzten Feld. Meist geschieht dies um die örtliche Leuchtdichte bei Blendungsmessungen zu bestimmen oder um Angaben über die Gleichmäßigkeit der Leuchtdichteverteilung zu erhalten. Für diese Messaufgabe werden typischerweise Öffnungswinkel von 1° bis 5° verwendet. Gemäß dem physikalischen Zusammenhang zwischen Leuchtdichte und Beleuchtungsstärke gibt es Luxmeter, die mittels eines Leuchtdichtevorsatzes die Leuchtdichte messen. Der Vorsatz entspricht im Wesentlichen einer Raumwinkelbegrenzung für den einfallenden Lichtstrom. Messung des Reflexionsgrades
Der Reflexionsgrad wird mittels einer sog. Ulbrichtkugel gemessen. Hierbei ermittelt sich der unbekannte Reflexionsgrad ȡ einer Probe durch den Vergleich der gemessenen Beleuchtungsstärke Ex dieser Probe an einer definierten Stelle innerhalb der Ulbrichtkugel mit der gemessenen Beleuchtungsstärke EN einer Probe, deren Reflexionsgrad ȡN bekannt ist:
Ux
9.5.3
UN
Ex EN
(9.43)
Lichttechnik
Am Arbeitsplatz muss die Beleuchtung ausreichend sein, um Gefahren für Mensch und Betriebsmittel abzuwenden und die Möglichkeit einer Leistungser-
892
Arbeitswissenschaft
bringung auf einem angemessenen Beanspruchungsniveau zu sichern. Dazu ist ein ausreichendes allgemeines Beleuchtungsniveau erforderlich und möglicherweise zusätzlich eine Arbeitsplatzbeleuchtung. Das erforderliche Beleuchtungsniveau ist genormt. Die Norm enthält Angaben über Nennbeleuchtungsstärken, die in einer Höhe von 85 cm über dem Boden eingehalten werden müssen (Tabelle 9.26). Bei der Planung von lichttechnischen Anlagen sind diese mit einem Faktor von 1,25 zu multiplizieren (Alterung, Verschmutzung o.ä.). Das Beleuchtungsniveau wird außer von der direkten Beleuchtung auch von den Reflexionsgraden der Decke, der Wände, des Bodens und des Mobiliars stark beeinflusst. Darüber hinaus spielt auch die Farbwiedergabeeigenschaft der Beleuchtung am Arbeitsplatz eine Rolle, wenn je nach Arbeitsaufgabe differenziertes Farbsehen notwendig ist. Tabelle 9.26: Nennbeleuchtungsstärken für ausgewählte Sehaufgaben; nw = neutralweiß, ww = warmweiß, tw = tageslichtweiß (nach DIN EN 12464-1) Nennbeleuchtungsstärke E in Lux
Art des Innenraumes bzw. der Tätigkeit
Lichtfarbe
Farbwiedergabeindex Ra
200 300
Lagerräume (mit Leseaufgabe) Grobe und mittlere Maschinenarbeiten; zulässige Abweichung > 0,1 mm Montage (mittelfein)
nw, ww nw, ww
20 60
nw, ww
80
500
Feine Maschinenarbeiten; zulässige Abweichungen 0,1 mm Büroräume
nw, ww
60
nw, ww
80
750
Anreiß-, Kontroll-, u. Messplätze, Technisches Zeichnen
nw, ww nw, ww
60 80
1000
Werkzeug-, Lehren- u. Vorrichtungsbau, Feinmechanik Optiker- und Uhrmacherwerkstatt Sonderfälle z.B. Operationsfeldbeleuchtung
nw, ww, tw
80
nw, ww, tw je nach Anwendung
80 je nach Anwendung
1500 5000 und mehr
Farbwiedergabe
Die Farbwiedergabeeigenschaft einer Lichtquelle beschreibt wie natürlich und unverfälscht das ausgestrahlte Licht in Relation zum natürlichen Sonnenlicht ist. Aufgrund der unterschiedlichen Verteilung von Spektralfarben der von Lichtquellen ausgesendeten Strahlung, können Spektralbereiche fehlen und die Qualität der Farbwiedergabeeigenschaft gemindert sein. Angestrahlte Objekte, welche jene Farben besitzen, die im Spektrum des bestrahlenden Lichtes fehlen, werden dann als grau wahrgenommen. Ihre tatsächliche Farbe ist nicht erkennbar. Im Allgemeinen wird die Farbwiedergabe mit dem Farbwiedergabeindex Ra beschrieben, der bereits in Tabelle 9.26 für verschiedene Lichtquellen dargestellt wurde. Ra
Arbeitsumgebung
893
wird für eine bestimmte Lichtquelle (Lampe) bezogen auf einen Bezugsstrahler (meist Sonnenlicht) mithilfe von acht Testfarben ermittelt. Je höher der Farbwiedergabeindex ist, desto besser ist die Farbwiedergabe. Nach DIN 12464-1 wird die Farbwiedergabe in sechs Gütestufen unterteilt (Tabelle 9.27). Allgemein gilt, dass Farbwiedergabe Ra und Lichtausbeute Ș aus physikalischen Gründen in einem Zielkonflikt stehen (siehe Abb. 9.41 und Gl. (9.37)). Tabelle 9.27: Farbwiedergabestufen nach DIN 12464-1 Stufe Ra
1A
1B
2A
2B
3
4
100 bis 90
89 bis 80
79 bis 70
69 bis 60
59 bis 40
39 bis 20
Farbmessung
Durch Mischung der drei Grund-/Primärfarben kann prinzipiell jede Farbe erzeugt werden. Durch die Angabe der Anteile (X, Y, Z) der drei Grundfarben (rot, gelb, blau) an einer Farbe ist es möglich, diese zu charakterisieren und in einem x-y-z-Koordinatensystem darzustellen. Unter der Normierungsvoraussetzung x+y+z=1 genügt die Angabe von zwei Werten, die in einem ebenen Schaubild, dem sog. Farbdreieck, dargestellt werden können (Abb. 9.47). Das Farbempfinden des menschlichen Auges lässt sich über drei Kriterien der Farbeigenschaften beschreiben und nach DIN 6164 folgenden Maßzahlen zuordnen: T x Buntton: Bunttonzahl x Sättigung: Sättigungsstufe S D x Helligkeit: Dunkelstufe Buntton und die Sättigung sind ebenso im Farbdreieck (Abb. 9.47) dargestellt. Die Spektralfarben von 380 bis 700 nm sind auf einer Kurve im Farbdreieck aufgetragen. Die Koordinate x=y=z=0,333 wird „Unbuntpunkt“ (weiß) genannt, was auf die additive Farbmischung zurückzuführen ist. Von diesem Punkt aus ziehen sich Geraden gleichen Bunttons, die mit zunehmendem Abstand zum Unbuntpunkt zunehmende Sättigungsbereiche der Farbe durchlaufen. Farben gleicher Sättigungsstufe aber unterschiedlichen Farbtons erscheinen dem Beobachter als gleich gesättigt oder gleich weißlich. Die Dunkelstufe D als Maß für die Helligkeit einer Farbempfindung ist nach einem empirischen Ansatz in zehn empfindungsgemäß äquidistante Stufen eingeteilt. Die hellste Körperfarbe (Optimalfarbe) eines bestimmten Bunttones ist D=0, während D=10 die dem idealen Schwarz zugeordnete Dunkelstufe ist. Die Helligkeit als dritte Dimension zur Beschreibung des Farbempfindens ist in der zweidimensionalen Darstellung der Farbnormtafel nicht möglich. Farben lassen sich unter Berücksichtigung menschlicher Wahrnehmung messen, indem drei zu einer Farbvalenz gehörende Farbmaßzahlen ermittelt werden. Die Farbvalenz ist die Bewertung eines Farbreizes durch die drei Empfindlichkeitsfunktionen des Auges und kann als Ortsvektor im dreidimensionalen Farbenraum dargestellt werden. Der Farbenraum wird durch die x-, y- und z-Koordinaten
894
Arbeitswissenschaft
aufgespannt, mit denen als Grundfarben jede andere Farbe durch Summation beschrieben und erzeugt werden kann. Die Koordinaten selbst sind Funktionen der Farbreizung des Auges ijȜ, der wellenlängenabhängigen Normspektralwertfunktionen für blau X , rot Y und gelb/grün Z sowie einer Reflexions-/ Transmissionskonstanten ț.
Abb. 9.47: Farbdreieck aus GRÜNWALD u. GUTSCHMIDT (1959), nach DIN 6164
Zur Farbmessung stehen drei Verfahren zur Verfügung: (1) Beim Spektralverfahren besteht die Messung zunächst aus der spektralen Ermittlung der Farbreizfunktion ijȜ. Darauf aufbauend werden die gemessenen Werte mit den Spektralwerten der Normspektralwertfunktionen rechnerisch weiterverarbeitet. (2) Das Gleichheitsverfahren basiert auf der Fähigkeit des Farbtüchtigen, einer angebotenen Farbvalenz eine gleichaussehende Vergleichsvalenz aus einer Sammlung oder durch Einstellung an einem Messgerät gegenüber zu stellen. (3) Das gebräuchlichste Verfahren zur Farbmessung ist das Dreibereichsverfahren. Hierbei werden die drei Anteile des Lichtes mithilfe vorgesetzter Farb-
Arbeitsumgebung
895
wert-Messfilter photometrisch bestimmt, die die Empfindlichkeit des Photometers an die spektralen Bewertungsfunktionen anpassen. 9.5.3.1
LampenĆ
Als Lampen werden nur die eigentlichen Lichtquellen (Glühlampen, Leuchtstofflampen, Dampflampen) bezeichnet. Lampen werden nach ihrer Lichtfarbe, Farbwiedergabeeigenschaften, Lichterzeugung und Lichtausbeute eingeteilt. Die Lichtfarbe einer Lichtquelle wird entweder durch ihren Farbort in der Farbtafel angegeben oder durch die ähnlichste Farbtemperatur. Die ähnlichste Farbtemperatur ist die fiktive Temperatur eines Temperaturstrahlers, bei der dieser die beste Annäherung an die Farbe des betrachteten Objektes erreicht. Nur bei Glühlampen kann man die Farbtemperatur genau angeben, da diese Temperaturstrahler sind. Ihre Lichtfarbe und die sonstiger Quellen mit ähnlich niedriger Farbtemperatur bis 3000 K wird als warmweiß (ww) bezeichnet. Lichtquellen, deren Farbtemperatur etwa der der Sonne entspricht (ca. 6500 K), werden als tageslichtweiß (tw), die im Bereich von 4000 K als neutralweiß (nw) bezeichnet (Tabelle 9.28). Tabelle 9.28: Lichttemperatur und Farbwiedergabe verschiedener Lampen (aus BÖCKER 1981 und RIS 2008, nach DIN EN 12464) Farbwiedergabestufe
Lampenart
1
Glühlampe Halogenglühlampen Leuchtstofflampen „Warmweiß“ (ww) „Neutralweiß“ (nw) „Tageslichtweiß“ (tw) Tageslichtlampe Halogenmetalldampflampe
2
Leuchtstofflampe „universalweiß“
3 4
ähnlichste Farbtemperatur ca. 2800 K 3100 … 3400K 2800 …8000 K < 3300 K 3300 … 5300 K >5300K 6000K 3000…6000 K
Farbwiedergabeindex Ra >90
4000 K
70 bis 79
Leuchtstofflampe „hellweiß“ Quecksilberdampf-Hochdrucklampe
5100 K 2900 … 4200 K
60 bis 69 40 bis 59
Natriumdampf-Hochdrucklampe
2000 … 2200 K
20 bis 39
Die Einteilung der Lampen nach Art der Energieumwandlung führt zu der Unterscheidung in Temperaturstrahler, Entladungsstrahler und Halbleiter (z.B. Leuchtdioden). Bei Temperaturstrahlern entsteht das Licht durch Erhitzung eines Leuchtfadens. Mit steigender Temperatur in dem Leuchtfaden geht die Lichtfarbe von rot (1500 K) über gelb und weiß (6500 K) in blau über. Auch die Lichtfarben von Entladungslampen werden als Temperaturgrößen unter der Annahme angegeben, dass die abgegebene Strahlung den gleichen Eindruck wie ein Temperaturstrahler vermittelt.
896
Arbeitswissenschaft
Temperaturstrahler
Wichtigste Vertreter dieser Gruppe sind die bekannten Glühlampen mit einer Farbtemperatur von ca. 2000 K, stark rotem Lichtanteil, einer Verlustwärme von 95%, einer geringen Lichtausbeute von 8-20 lm/W, einer geringen Lebensdauer von 1000 – 1500 h und einer recht hohen Leuchtdichte im Glühfaden mit entsprechender Blendgefahr. Im industriellen Bereich werden diese wegen ihrer warmweißen Farbe und ihrer geringen Lichtausbeute kaum noch eingesetzt. Demgegenüber haben Halogen-Glühlampen eine höhere Lichtausbeute und längere Lebensdauer. In einem Kreisprozess verdampfen Wolframatome aus dem Glühfaden und bilden mit dem Halogen-Füllgas (meist Jod- oder Bromverbindung) reversibel eine wolframhaltige Atmosphäre. Diese nicht-stabile Verbindung zerfällt am heißen Glühdraht wieder in ihre Elemente. Die Wolframatome lagern sich ausschließlich wieder auf dem Glühdraht ab. Eine Schwärzung des Glaskolbens der Lampe findet im Gegensatz zur Vakuum-Glühlampe nicht statt, somit bleibt auch der Lichtstrom dieser Lampe über die gesamte Lebensdauer annähernd unverändert. Die Lichtausbeute liegt bei 16-25 lm/W, die Lebensdauer bei ca. 2000 h. Anwendung finden Halogenlampen zur Beleuchtung von Baustellen, im Handel (Verkaufsflächen), im Bühnen- und Studiobereich und in Fahrzeugen aller Art. Einer der Gründe für die starke Verbreitung dieser Lampen ist deren punktförmige Ausdehnung, die eine Lichtrichtung mit einfachen Optiken erlaubt. Entladungsstrahler
Bei Entladungsstrahlern bringen elektrische Entladungen feste, flüssige oder gasförmige Stoffe mittelbar oder unmittelbar zum Leuchten. Entladungslampen benötigen als Zusatzgeräte einen Starter, einen Kondensator und eine Drossel zur Strombegrenzung. Nach dem Fülldruck unterscheidet man Nieder- oder Hochdrucklampen. Wichtigste Vertreter der Entladungslampen sind die auch im privaten Bereich angewandte Niederdruckentladungslampe (Leuchtstoffröhre), die Quecksilberdampf-Hochdrucklampe, die Halogen-Metalldampflampe sowie die Natriumdampfhochdruck- und -niederdrucklampe. Da die Energien der Entladungen in Leuchtstofflampen vorwiegend im ultravioletten Bereich liegen, wird zur Lichterzeugung eine Leuchtstoffschicht benötigt, die die absorbierte Strahlung in sichtbare Strahlung umwandelt. Durch verschiedenartige Zusammensetzung der Leuchtstoffe können verschiedene Lichtfarben gewählt werden. Leuchtstofflampen werden universell im industriellen Bereich eingesetzt. Da ihre Lichtausbeute größer ist als bei Glühlampen und außerdem geringe Kosten bei der Beschaffung entstehen, sind sie eine gut geeignete Lichtquelle für allgemeine Beleuchtung. Für besondere Einsatzfälle werden weitere Entladungslampen benutzt: x Ein monochromatisches Licht im gelb/orange-Bereich (589 nm) wird von der Natriumdampf-Niederdrucklampe abgegeben. Wegen des großen Wertes von V(Ȝ) für den gelben Lichtanteil (Abb. 9.41) und ihres schmalen Spektrums erreicht diese Lampe die höchste Lichtausbeute (175 lm/W), bietet gute
Arbeitsumgebung
897
Durchdringungseigenschaften bei Dunst und Staub aber gleichzeitig sehr schlechte Farbwiedergabeeigenschaften (nur gelb). x Natriumdampf-Hochdrucklampen haben eine etwas bessere Farbwiedergabeeigenschaft (Stufe 4, Ra > 20), besitzen jedoch eine etwas geringere Lichtausbeute (bis max. 150 lm/W). Sie sind für Innenraumbeleuchtung kaum geeignet und werden deswegen vor allem zur Außenbeleuchtung eingesetzt. x Quecksilberdampf-Hochdrucklampen müssen ähnlich wie die Leuchtstofflampen mit einem Leuchtstoff beschichtet werden, weil die Entladungsstrahlen in erster Linie bläulich-grünes Licht und UV-Strahlen verbreiten. Lichtausbeute (32 bis 58 lm/W) und Farbwiedergabe sind mäßig, ihre lange Lebensdauer macht diese Lampe jedoch wirtschaftlich. x Halogen-Metalldampflampen besitzen eine gute Farbwiedergabeeigenschaft (Stufe 1 bis 2) und weisen wegen ihrer hohen Lichtausbeute (54 - 120 lm/W) eine hohe Wirtschaftlichkeit bei der Beleuchtung von Industrie- und Ausstellungshallen auf. Die großen Leistungsstufen prädestinieren diesen Lampentyp in erster Linie für die Sportstättenbeleuchtung, zumal sie ein fernsehgerechtes Flutlicht durch ihr quasi kontinuierliches Spektrum liefern. Allerdings gilt hier wie bei Quecksilberdampf-Hochdrucklampen und Natriumdampflampen, dass sie nach dem Ausschalten mehrere Minuten Abkühlzeit vor dem erneuten Wiedereinschalten benötigen. Leuchtdioden
Eine Leuchtdiode (LED = light emitting diode bzw. lichtemittierende Diode) ist ein elektronisches Halbleiter-Bauelement, das bei Stromfluss in Durchlassrichtung Licht, Infrarotstrahlung oder auch Ultraviolettstrahlung abstrahlt. Die Wellenlänge ist dabei abhängig vom Halbleitermaterial. Anders als Glühlampen sind Leuchtdioden keine Temperaturstrahler. Sie emittieren Licht in einem begrenzten Spektralbereich. Somit sind Farbwiedergabe und Lichtausbeute je nach Spektralanteil des LED-Lichtes eingeschränkt. Durch die gezielte Auswahl der Halbleitermaterialien lassen sich die Eigenschaften des erzeugten Lichtes variieren. Mögliche Einsatzbereiche sind: x Statusanzeigen, beispielsweise Betriebsbereitschaft bei Geräten aller Art x Infrarot-LED in Fernbedienungen, vor allem im Bereich der Unterhaltungselektronik x LED-Bündel in Verkehrsampeln x Mobile Beleuchtung wie Taschenlampen, Fahrradbeleuchtung, Stirnlampen, zunehmend auch im Automobilbereich x als Teil von Bewegungs- und Abstandssensoren, beispielsweise bei der optischen Computermaus oder für Lichtschranken x als Fassadenbeleuchtung von Gebäuden.
898
Arbeitswissenschaft
Lichtausbeute
Ein großer Teil der zugeführten elektrischen Energie wird bei Temperatur- und Entladungsstrahlern in Wärme umgesetzt. Aus einer hohen Lichtausbeute kann in der Regel allerdings nicht auf eine gute Farbwiedergabe der Lampe geschlossen werden. Denn eine hohe Lichtausbeute kann (siehe Gl. (9.37)) nur erreicht werden, wenn das Lichtspektrum und somit die Lichtleistungsdichte im gelbgrünen Bereich konzentriert ist. Tabelle 9.29 zeigt verschiedene Lampentypen und deren Lichtausbeutewerte. Tabelle 9.29: Lichtausbeute verschiedener Lampenarten in Abhängigkeit von ihrer elektrischen Leistungsaufnahme P (aus BÖGE 2007) Kategorie Verbrennung Glühlampen
Leuchtstofflampen
Halogen-Dampflampen
Typ
Lichtausbeute in lm/W
Kerze
0,3
Starklichtlampe
5
15 W
8
40 W
10
100 W
13,8
500 W
16,5
2000 W
19,2
Glas-Halogen
16
Quarz-Halogen
20 - 25
Hochtemperatur-Glühlampe
35
Ohne Drossel, 10 - 65 W
30 - 41
Mit Drossel, 13 - 75 W
34 - 53
Mit elektronischem Vorschaltgerät
80 -110
125 W
44
2000 W
62
Leuchtdioden
Weiße LED
20 - 100
Bogenlampen
Xenon-Bogenlampe
30 - 50
Quecksilber-Xenon-Bogenlampe
20 - 53
Natriumdampf-Hochdrucklampe
100 -150
Natriumdampf-Niederdrucklampe
61 - 175
Schwefellampe
bis 150
Gasentladungslampen
9.5.3.2
LeuchtenĆ
Leuchten sind Geräte, die einer zweckmäßigen Verteilung des Lichtes, der Begrenzung von Leuchtdichten, der Unterbringung der Halterung, der Wärmeabfuhr und ggf. weiterer Vorschalteinrichtungen dienen. Lampen sind die Lichtquellen, Leuchten die äußere Umhüllung. Leuchten schränken den Abstrahlwinkel der Lampen ein, die in Lichtstärkeverteilungskurven dargestellt werden. Deswegen ist
Arbeitsumgebung
899
das Hauptunterscheidungsmerkmal von Leuchten die Hauptrichtung des Lichtstrahls. Es können fünf Hauptgruppen von Leuchten unterschieden werden: (1) direkt strahlende (2) vorwiegend direkt strahlende (3) gleichförmig strahlende (4) vorwiegend indirekt strahlend (5) indirekt strahlende Leuchten. Für die Auslegung und Berechnung von Beleuchtungsanlagen sind neben der Lichtausbeute auch der Leuchten- und der Raumwirkungsgrad von Bedeutung. Der Leuchtenwirkungsgrad KL ist definiert als Verhältnis des aus der Leuchte austretenden Lichtstroms ĭL zum gesamten Lampenlichtstrom ĭ. Der Raumwirkungsgrad KR hängt ab von x der Anordnung der Leuchten im Raum, x der Lichtstromverteilung der Leuchten, x den Raumabmessungen und x den Reflexionsgraden der Raumbegrenzungsflächen. Der Raumwirkungsgrad ist definiert als das Verhältnis aus dem Lichtstrom auf der Arbeitsfläche ĭ4 zum gesamten Leuchtenlichtstrom ĭL. Der Index 4 steht für einen 85 cm Abstand zwischen Lampe und beleuchteter Fläche. Typische qualitative Lichtstärkeverteilungen sind in Abb. 9.48 dargestellt. Die dargestellten Verteilungskurven sind vereinfachend nur für eine Ebene gezeigt, es handelt sich tatsächlich aber um dreidimensionale Gebilde.
direkt
vorwiegend direkt
gleichförmig
vorwiegend indirekt
indirekt
Abb. 9.48: Hauptgruppen der Leuchteneinteilung mit den dazugehörigen Lichtstärkeverteilungskurven (aus BÖCKER 1981)
900
9.5.4
Arbeitswissenschaft
Wirkung des Lichts
Leistung / Errmüdung [%]
Neben emotionalen Wirkungen die Licht auf den menschlichen Körper hat und dem damit verbundenen Einfluss auf den Gesundheitszustand des Menschen, sind im arbeitswissenschaftlichen Kontext die funktionalen Zusammenhänge zwischen Beleuchtung und Leistung, Ermüdung sowie menschlicher Zuverlässig von zentraler Bedeutung. Der Zusammenhang von Leistung bzw. relativer Ermüdung und der Beleuchtungsstärke beim Aufziehen von Holzperlen auf Draht wird in Abb. 9.49 deutlich. Man kann allerdings davon ausgehen, dass die Sehaufgabe nur geringe Anforderungen stellte, da bereits bei 30 lx eine hundertprozentige Leistung erzielt wurde. Bezüglich des Anstiegs der relativen Ermüdung bei Beleuchtungsstärken über 1000 lx (Abb. 9.49) lässt sich mit Bezug auf HARTMANN (1993) anmerken, dass der Versuch mit Glühlampen durchgeführt wurde. Dies führt bei hohen Beleuchtungsstärken zu einer enormen Erwärmung. Vor allem dadurch ist der Anstieg der Ermüdung zu erklären. 111 110 109 108 107 106 105 104 103 102 101 100
Leistung Relative Ermüdung
30
100
200 300
1.000
2.000
Beleuchtungsstärke [lx]
Abb. 9.49: Wirkung der Beleuchtungsstärke auf Leistung und Ermüdung (aus HARTMANN 1993)
Eine detaillierte Untersuchung der Beleuchtungsstärke und ihr Einfluss auf die menschliche Leistung sowie Zuverlässigkeit für Werkstatttätigkeiten findet sich in GALL u. VÖLKER (1996). Abb. 9.50 stellt die Steigerung der Leistung für die Tätigkeiten „Stanzen“, „Abisolieren“, „Bohren“, „Sägen“ und „Zuschneiden“ in Abhängigkeit der Beleuchtungsstärke dar. Die Leistungssteigerung durch eine Erhöhung der Beleuchtungsstäke ist demnach auch von der auszuführenden Tätigkeit abhängig. Eine ähnliche Aussage lässt sich für den in Abb. 9.51 gezeigten Zusammenhang zwischen Beleuchtungsstärke und menschlicher Zuverlässigkeit für die gleichen Tätigkeiten treffen.
Arbeitsumgebung
901
Abb. 9.50: Wirkung der Beleuchtungsstärke auf die menschliche Leistung bei industriellen Tätigkeiten (aus GALL u. VÖLKER 1996)
Abb. 9.51: Wirkung der Beleuchtungsstärke auf die menschliche Zuverlässigkeit bei industriellen Tätigkeiten (aus GALL u. VÖLKER 1996)
902
9.5.5
Arbeitswissenschaft
Gestaltungshinweise
Die Gestaltung einer guten Beleuchtung ist von vielen Faktoren abhängig. In erster Linie ist die Tätigkeit bzw. der Zweck dem ein Arbeitsraum im Arbeitssystem dienen soll zu berücksichtigen. So stellt die Beleuchtungsauslegung für eine Autolackierwerkstatt andere Anforderungen als für einen Operationssaal. In diesem Abschnitt können daher nur allgemeine Angaben gemacht werden, die an Beispielen erklärt werden, sich aber nicht ohne weiteres auf einen anderen Kontext übertragen lassen. Für eine detailierte Betrachtung der Auslegung von Innenraumanlagen sei auf RIS (2008) verwiesen. Unabhängig von der Tätigkeit müssen folgende Grundanforderungen erfüllt sein: x Details müssen einen Mindestkontrast gegen die unmittelbare Umgebung aufweisen x Details brauchen eine Mindestgröße x Für Details und Umgebung ist eine Mindestleuchtdichte erforderlich x Details müssen eine Mindestzeit erkennbar sein x Das Auge muss an die Lichtbedingungen adaptiert sein x Die Körperlichkeit der Gegenstände ist zu betonen, so dass unterschiedliche Flächen eines Körpers selbst bei gleichen Reflexionsgraden unterschiedliche Leuchtdichten aufweisen x Ein Schlagschatten, der Konturen vortäuscht, die nicht vorhanden sind, ist zu vermeiden x Blendung ist durch entsprechende Gestaltung der Arbeitsflächen, der Leuchten selbst, der Platzierung der Leuchten und der Abschirmungen zu vermeiden. Künstliche Beleuchtung sollte sich an der Helligkeitsverteilung orientieren, die durch die Tageslichtbeleuchtung hervorgerufen wird, damit eine Umkehrung der Lichtrichtung und Schattenwirkung bei rein künstlicher Beleuchtung verhindert wird. Deshalb sollte das Beleuchtungsmaximum des künstlichen Lichts in Fensternähe liegen (Abb. 9.52).
Abb. 9.52: Beleuchtungsstärkeverteilung bei Tageslicht (links) und bei künstlichem Licht (rechts), bei der eine Umkehrung der Schattenwirkung vermieden wird (aus HARTMANN 1993)
Arbeitsumgebung
903
In Abb. 9.53 werden die Unterschiede von diffuser, teilweise indirekter Beleuchtung und direkter Beleuchtung für die Körperlichkeit von Gegenständen und Flächen deutlich. Die rein diffuse Beleuchtung erbringt eine gleichmäßige Beleuchtung aller Flächen, so dass die Krümmung der Fläche nur am Rande erkennbar wird (Abb. 9.53 links). Mit dem Blick von oben ginge der räumliche Eindruck verloren. Die gerichtete Beleuchtung (Abb. 9.53 rechts) lässt einen guten Raumeindruck entstehen, jedoch mit der Gefahr der Bildung von Schlagschatten. Sinnvoll ist die teilweise indirekte Beleuchtung, die in der Mitte erkennbar ist.
Abb. 9.53: Rein diffuse (links), teilweise indirekte (mitte) und gerichtete Beleuchtung (rechts) mit entsprechender Schattenbildung (aus HARTMANN 1993) KROEMER u. GRANDJEAN (1997) haben für die Verteilung der Leuchtdichten größerer Flächen im Gesichtsfeld folgende Prinzipien formuliert (siehe auch Abb. 9.54):
x Die Leuchtdichten (Flächenhelligkeiten) aller größeren Flächen und Gegenstände im Gesichtsfeld sollen möglichst gleicher Größenordnung sein x In den mittleren Partien des Gesichtsfeldes (Mittelfeld) sollen die Kontraste der Flächenhelligkeiten ein Verhältnis von 3:1 nicht überschreiten x Zwischen der Mitte und den Randpartien (Umfeld) oder innerhalb der Randpartien des Gesichtsfeldes sollen die Kontraste ein Verhältnis 10:1 nicht überschreiten x Am Arbeitsplatz sollen in der Mitte des Gesichtsfeldes die helleren und außen die dunkleren Flächen liegen x Kontraste stören mehr in den seitlichen und unteren Partien des Gesichtsfeldes als in den oberen x Lichtquellen sollten im Verhältnis zum Hintergrund einen Kontrast von 20:1 nicht überschreiten x Das maximal erlaubte Kontrastverhältnis im gesamten Raum beträgt 40:1.
904
Arbeitswissenschaft
Abb. 9.54: Die zulässigen Kontraste der Flächenhelligkeit im Gesichtsfeld. Im Mittelfeld 1:3, im Umfeld 1:10, vom Mittel- zum Umfeld 1:10 (aus KROEMER u. GRANDJEAN 1997).
Bei der Beleuchtungsauslegung sind die konkreten räumlichen Bedingungen und die Arbeitssituation zu berücksichtigen. Die in Abb. 9.55 bis Abb. 9.60 aufgezeigten Gestaltungslösungen dienen dazu, in erster Linie x ein ausreichend hohes allgemeines aufgabenbezogenes Beleuchtungsniveau zu sichern (Abb. 9.55), x Blendung durch Reflexe oder Lichtquellen zu vermeiden (Abb. 9.56), x die richtige Beleuchtungsart für Räume mit verschiedenen Sehstandorten (z.B. Treppenhäuser) zu wählen (Abb. 9.57), x den Einfluss der Leuchtenanordnung bei verschiedenen Sehaufgaben und Blendung deutlich zu machen (Abb. 9.58), x Kontrast und Helligkeit der Sehaufgabe anzupassen (Abb. 9.59) sowie x den gezielten Einsatz unterschiedlicher Lampen und Leuchten für verschiedene Arbeitssituationen sicherzustellen (Abb. 9.60). Weitere Beispiele guter Praxis finden sich in RIS (2008).
Abb. 9.55: Hohe Beleuchtungsgüte durch eine aufgabenbezogene Beleuchtungsstärkeverteilung am Beispiel von Büroarbeitsplätzen (aus NEUMANN 2007)
Arbeitsumgebung
905
Abb. 9.56: Vermeidung von Blendung durch Leuchten und andere Blendquellen (aus RIS 2008) (1. Reflexblendung im Bildschirm durch nicht abgeschirmte Leuchte, 2. Reflexblendung im Bildschirm durch Fenster im Hintergrund, 3. Direktblendung durch Fenster im Vordergrund, 4. störender Glanz auf Tastatur und Belegen, 5. Direktblendung durch nicht abgeschirmte Leuchten)
Abb. 9.57: Treppenbeleuchtung ohne störenden Schlagschatten durch zwei seitlich angebrachte Wandleuchten (links) und mit störendem Schlagschatten bei einer Deckenleuchte (rechts)
keine Reflexblendung
Reflexblendung möglich
Abb. 9.58: Beispiele für Reflexblendung und ihre Vermeidung durch richtige Anordnung der Leuchten am Arbeitsplatz (BÖCKER 1981)
906
Arbeitswissenschaft
Abb. 9.59: Anpassung von Kontrast und Helligkeit an die Sehaufgabe durch korrekte Anordnung der Leuchten zum Erkennen kleiner Details eines Arbeitsobjektes auf einer definiert reflektierenden Unterlage. Aus Sicht des Prüfers erscheint das zu prüfende Feinblech schwarz, weil die abschirmende Wand keine Reflexion der Stahlerleuchten des Lichts in Richtung des Prüfers zulässt. Die Fehlstelle „Kratzer“ hebt sich als helles Sehobjekt vom dunklen Hintergrund ab, da sie das Licht von den Strahlerleuchten auch in Richtung des Prüfers reflektiert (aus SCHIERZ 2007).
Abb. 9.60: Spezielle Leuchtanordnung in der Fertigung. Links: Arbeitsplatzbeleuchtung an einer Drehbank. Zusätzlich zur Allgemeinbeleuchtung ist meist eine Einzelplatzbeleuchtung einzurichten, wobei das Licht von oben rechts kommend das Werkstück von der Bearbeitungsseite her aufhellt, ohne dass Schlagschatten entstehen. Mitte: Tätigkeiten an senkrechten Arbeitsflächen. Ist die Arbeitsfläche überwiegend senkrecht ausgerichtet, sind zusätzliche Leuchten für die vertikale Beleuchtungsstärke vorzusehen. Rechts: Arbeiten an großen waagrechten Flächen (z.B. Blechtafeln). Eine angemessene Beleuchtung lässt sich in der Regel mit einer arbeitsplatzorientierten Allgemeinbeleuchtung sicherstellen, deren Lichtrichtung vorwiegend von oben links kommen sollte (nach RIS 2008).
Arbeitsumgebung
9.6
907
Arbeitsstoffe
Materialien und Stoffe sind notwendiger Bestandteil jedweder Güterproduktion. Sie werden in verfahrenstechnischen Prozessen mechanisch, thermisch, biologisch, chemisch etc. erzeugt und anschließend urformend, umformend und mit Hilfe von anderen Fertigungstechnologien zu Vor- oder Endprodukten verarbeitet. Aus Sicht der Arbeitswissenschaft wird von Arbeitsstoffen gesprochen, mit denen Arbeitspersonen umgehen. In den Staaten der Europäischen Union werden zurzeit rund 100.000 Substanzen in über einer Millionen Zubereitungen verwendet. Jedes Jahr kommen tausende neue Zubereitungen hinzu. Mit vielen dieser Substanzen und Zubereitungen sind an Arbeitsplätzen Gefährdungen verbunden. Arbeitspersonen können mit ihnen in Kontakt kommen und dadurch möglicherweise belästigt oder geschädigt werden. Schadstoffe am Arbeitsplatz können feste, flüssige oder in der Luft schwebende Stoffe oder Zubereitungen sein. Das Chemikaliengesetz (ChemG) definiert Stoffe und Zubereitungen folgendermaßen: x Ein Stoff ist ein chemisches Element und seine Verbindungen in natürlicher Form oder gewonnen durch ein Herstellungsverfahren, einschließlich der zur Wahrung seiner Stabilität notwendigen Zusatzstoffe und der durch das angewandte Verfahren bedingten Verunreinigungen, aber mit Ausnahme von Lösungsmitteln, die von dem Stoff ohne Beeinträchtigung seiner Stabilität und ohne Änderung seiner Zusammensetzung abgetrennt werden können. x Zubereitungen sind aus zwei oder mehreren Stoffen bestehende Gemenge, Gemische oder Lösungen. Die in der Luft schwebenden Stoffe und Zubereitungen unterteilen sich weiter in Stäube, Rauche, Nebel, Gase und Dämpfe (Abb. 9.61): x Stäube sind disperse Verteilungen (Aerosole) fester Stoffe in Gasen, entstanden durch mechanische Prozesse (z.B. durch Zerkleinern) oder durch Aufwirbelung. Staub kann pflanzlicher, tierischer, metallischer oder mineralischer Herkunft sein und daher organische (z.B. Samen, Pollen, Sporen, Härchen, Textilfasern, Mehl) und anorganische Bestandteile (z.B. Sand, Kohle, Kalk, Zement, Metalle) enthalten. Bei der Analyse der Stäube hinsichtlich ihrer gefährdenden Eigenschaften sind z.B. neben der Einwirkdauer auch die Partikelgröße relevant. x Rauche sind disperse Verteilungen feinster fester Stoffe in einem Gas, insbesondere Luft. Sie entstehen durch thermische und/oder chemische Prozesse. Thermische Prozesse erzeugen Rauche auf zweifache Weise: o durch Kondensation aus der Dampfphase, teilweise verbunden mit chemischen Reaktionen, z.B. Schweißrauch, Metall(-oxid)-rauch oder o durch unvollständige Verbrennung organischer Materialien (Ruß) und der hierin enthaltenen anorganischen Verunreinigungen (Flugasche).
908
Arbeitswissenschaft
Chemische Prozesse können ebenfalls zur Rauchbildung führen (z.B. Reaktion von Ammoniak mit Chlorwasserstoff). Die Primärteilchen von Rauchen besitzen in der Regel einen Diffusions-Äquivalentdurchmesser dD < 0,5 Pm. Bei Rauchen muss, im Gegensatz zu den meisten Stäuben, auch die chemisch-irritative oder chemisch-toxische Wirkung beachtet werden (DFG 1991). x Als Nebel werden feinverteilte flüssige Stoffe (flüssige Aerosole) in Gasen, insbesondere Luft, bezeichnet. Als Beispiel sei hier Ölnebel genannt. x Gase sind elementare oder molekulare Stoffe, die bei normalen Raumluftbedingungen weit von ihrem Taupunkt entfernt sind und daher nicht als Feststoff oder Flüssigkeit vorliegen. Die Hauptbestandteile der Luft, nämlich Stickstoff (ca. 78%) und Sauerstoff (ca. 21%), sind bekannte Gase. x Dämpfe sind gasförmige Stoffe, die durch Verdunsten oder Verdampfen entstehen und mit ihrer flüssigen oder festen Phase im Gleichgewicht stehen. Zusätzlich müssen noch Krankheitserreger betrachtet werden, die schädliche Wirkung auf den Menschen haben können. Krankheitserreger sind Bakterien oder Viren, die beim Menschen Krankheiten verursachen können. Besonders gefährdet durch Krankheitserreger am Arbeitsplatz sind medizinisches Personal, Personal im Labor, Reinigungspersonal und Personal bei der Abfallbeseitigung. Krankheitserreger werden als Tröpfcheninfektion beim Kontakt mit Patienten (z.B. Masern, Grippe, Diphtherie, Scharlach, Tbc), beim Umgang mit Untersuchungsmaterial (z.B. Blut, Ausscheidungen), durch Kontakt als Folge der Inkorporation nach Verletzungen oder durch Schmierinfektionen über den Mund-, Rachen- oder Darmweg übertragen (RECK 1982). In den meisten Fällen reicht die Kenntnis der in einem Arbeitsverfahren eingesetzten Stoffe und Zubereitungen zur Beurteilung der Gefährdung nicht aus, da es beim Zusammentreffen mit einem weiteren Stoff (z.B. Verunreinigungen) oder der Zuführung von Energie zu chemischen Reaktionen mit der Bildung zusätzlicher Stoffe kommen kann. So entsteht z.B. beim Schweißen von mit Trichlorethylen entfetteten Blechen das äußerst toxisch wirkende Phosgen, bei der thermischen Behandlung von mit Polyurethanen lackierten Oberflächen bilden sich Isocyanate, und aus Aminen und Nitrit bilden sich krebserzeugende Nitrosamine, z.B. wenn die in Kühlschmierstoffen enthaltenen Amine (bspw. aus Lebensmittelresten) mit dem in der Luft enthaltenen Stickstoff oder im Körper reagieren (siehe LEHDER u. SKIBA 2005; TRGS 611). Bei der weiteren Behandlung der gefährlichen Arbeitsstoffe sind zwei Kategorien gefährlicher Stoffeigenschaften zu unterscheiden. Zum einen sind dies Eigenschaften der Stoffe, die bei unbeabsichtigter oder unkontrollierter Entfaltung innerhalb relativ kurzer Zeit zu Schäden führen. Genannt seien hier z.B. die Fähigkeit zur Explosion, die Eigenschaft, den Verbrennungsprozess anderer Stoffe zu fördern, akute Vergiftungen sowie Reiz- und Ätzwirkung der Substanzen. Die Maßnahmen zur Verhinderung von Explosionen und Bränden sind Gegenstand des Brand- und Explosionsschutzes und sollen daher hier nicht weiter erläutert werden.
Arbeitsumgebung
909
Schadstoffe
feste Schadstoffe
in der Luft schwebende Schadstoffe
flüssige Schadstoffe Aerosole feste Schwebstoffe Stäube
Rauche
gasförmige Schwebstoffe Nebel
flüssige Schwebstoffe Dämpfe
Gase
Abb. 9.61: Gliederung der Schadstoffe am Arbeitsplatz (nach SCHMIDT 89, S. 239)
Zum anderen haben Stoffe toxische Eigenschaften, die erst nach relativ langer Exposition des Menschen klinisch beobachtbare Schäden zur Folge haben. Bei genetischen Schäden zeigen sich diese, wenn man von aufwendigen Genomanalysen absieht, gar erst in der folgenden Generation. Erschwerend kommt hinzu, dass durch den langen Zeitraum zwischen erstmaliger Exposition und Feststellung des Schadens bisweilen Jahre oder Jahrzehnte liegen und es daher, z.B. bei neuen Stoffen, lange keine Indizien der Schädlichkeit beim Menschen gibt. Das Chemikaliengesetz (ChemG) nennt Stoffe und Zubereitungen gefährlich, wenn sie x explosionsgefährlich, x brandfördernd, x hochentzündlich, leichtentzündlich oder entzündlich, x sehr giftig oder giftig, x gesundheitsschädlich, x ätzend oder reizend, x sensibilisierend, x krebserzeugend, x fortpflanzungsgefährdend oder erbgutverändernd oder x umweltgefährlich sind. Ausgenommen sind gefährliche Eigenschaften ionisierender Strahlen (siehe Kap. 9.3). Abb. 9.62 zeigt einige Gefahrensymbole, die sich an dieser geschlossenen Eigenschaftsliste orientieren.
910
Arbeitswissenschaft Xi
Xi
Xn
Xn
C
+ geringe verwendete Stoffmenge + nach Höhe und Dauer niedrige E Exposition iti + Maßnahmen nach § 8 Abs. 1-8 ausreichend
Schutzstufe 1
C
Schutzstufe 2 T
T+
Schutzstufe 3
Krebserzeugend, erbgutverändernd, fruchtbarkeitsgefährdend (Kategorie 1, 2) + AGW nicht eingehalten
Schutzstufe 4
Abb. 9.62: Gefahrensymbole und Gefahrenbezeichnungen
Das Gefahrenpotential von Schadstoffen spiegelt sich auch in der Statistik der Deutschen Unfallversicherung, die die Risiken am Arbeitsplatz für Arbeitspersonen und Arbeitsgeräte versichern, wider: Etwa 1% aller meldepflichtigen Arbeitsunfälle (ca. 9.400 Unfälle) stehen in Zusammenhang mit gefährlichen Stoffen. Hierbei muss jedoch nicht immer die gefährliche Eigenschaft des Stoffes unfallbestimmend gewesen sein. 53% dieser Unfälle sind auf Verbrennungen, Verbrühen, Verätzungen u.ä. und unter 10% auf Vergiftungen und Infektionen zurückzuführen (siehe HVBG 2005). Die Berufskrankheiten (BK), die den Arbeitsunfällen in Bezug auf die Versicherungsleistung (Renten) gleichgestellt sind und die aufgrund des hohen finanziellen Risikos (Rentenhöhe Lebenserwartung) in einer geschlossenen Liste (63 BK) geführt werden, werden nach dem Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften in sechs Kategorien unterschieden: (1) durch chemische Einwirkungen verursachte Krankheiten (2) durch physikalische Einwirkungen verursachte Krankheiten (3) durch Infektionserreger oder Parasiten verursachte Krankheiten sowie Tropenkrankheiten (4) Erkrankungen der Atemwege und der Lungen, des Rippenfells und des Bauchfells (5) Hautkrankheiten (6) Krankheiten sonstiger Ursachen. Von den etwa 22.000 bestätigten Berufskrankheiten im Jahr 2006 stehen etwa 70% in Verbindung zu den Wirkungen gefährlicher Arbeitsstoffe (Gruppen 1, 3, 4, 5). Die Hautkrankheiten in Gruppe 5 bilden davon mit rund 56,3% die größte Gruppe (39% bezogen auf Gesamtzahl BK). Weiterhin bildet die Zahl der Erkrankungen der Atemwege und der Lunge, des Rippenfells und des Bauchfells (Gruppe 4) mit rund 37,6% (26,6% bezogen auf Gesamtzahl BK) einen weiteren Schwerpunkt (HVBG 2008).
Arbeitsumgebung
9.6.1 9.6.1.1
911
Physikalische, chemische und physiologische Grundlagen DieĆWirkungĆbeeinflussendeĆGrößenĆ
Die Wirkung von gefährlichen Arbeitsstoffen ist abhängig von der x Art des Stoffes, bei Stäuben zusätzlich von der Partikelgröße, x Konzentration der Stoffe, x Art und Weise der Einwirkung, x Einwirkungsdauer, x individuellen Konstitution der Person, x Tätigkeit und schließlich von der Mischung mit anderen Arbeitsstoffen und Genussmitteln (gleichzeitig oder aufeinander folgend). Zusätzlich spielt die Superposition mit anderen Einflüssen der Arbeitsumgebung eine Rolle (Kap. 9.7). Zu beachten ist auch, dass viele gefährliche Arbeitsstoffe nicht nur eine gefährliche Eigenschaft haben, sondern mehrere: so ist z.B. Benzol nicht nur leicht entzündlich, sondern das Dampf-Luftgemisch ist explosionsfähig und die Dämpfe sind hochgiftig. 9.6.1.2
ArtĆdesĆStoffesĆ
Im folgenden Abschnitt werden die Schadstoffe zunächst nach ihrem Aggregatzustand unterschieden. Allgemein zur Beschreibung der physikalischen Stoffeigenschaften dienen x der Schmelzpunkt des Stoffes, angegeben in K oder °C bei Normalluftdruck (1013 hPa). Der Schmelzpunkt ist die Temperatur, bei der der Stoff von der festen in die flüssige Phase wechselt. x der Siedepunkt des Stoffes, angegeben in K oder °C bei Normal-Luftdruck (1013 hPa). Der Siedepunkt ist die Temperatur, bei der der Stoff von der flüssigen in die gasförmige Phase wechselt. x der Dampfdruck des Stoffes, angegeben in hPa bei 20 °C. Der Dampfdruck ist ein Maß für die Flüchtigkeit eines Stoffes; je höher der Dampfdruck, desto flüchtiger ist der Stoff. Übersteigt der Dampfdruck den Umgebungsdruck, siedet der Stoff und dissipiert in die Umgebung. Die Aufnahme von Schadstoffen in den Körper erfolgt vorwiegend über die Atmung. Funktionsbestimmende Größe für Transport und Ablagerung des Staubes in den Atemwegen ist der aerodynamische Durchmesser eines Teilchens (dae). Als aerodynamischer Durchmesser eines Teilchens beliebiger Form und Dichte wird der Durchmesser einer Kugel mit der Dichte 1,0 g/cm3 bezeichnet, welche die gleiche Sinkgeschwindigkeit in ruhender oder laminar strömender Luft besitzt. Diese Definition gilt auch für faserförmige Teilchen. Als Fasern werden Partikel mit einer Länge > 5 Pm und einem Durchmesser < 3 Pm bei einem Verhältnis Länge zu Durchmesser von mindestens 3:1 angesehen. Der aerodynamische
912
Arbeitswissenschaft
Durchmesser von Fasern wird wesentlich durch den geometrischen Faserdurchmesser, weniger stark durch die Faserlänge bestimmt (LEHDER u. SKIBA 2005).
Sammelleffizienz (%)
100 nicht einatembar
NasenRachenKehlkopfstaub
TracheoBronchialstaub t b
50 alveolengängig
einatembar
thoraxgängig 10 2
5
10
20
50
100
Aerodynamischer Partikeldurchmesser dae [ȝm]
Abb. 9.63: Staubanteil und staubtechnische Festlegung in Abhängigkeit vom aerodynamischen Durchmesser nach dem Filtermodell (angelehnt an DIN EN 481)
Gesundheitsschädliche Stäube und Rauche verursachen verschiedene Erkrankungen im Bereich des Atemtraktes. Der Wirkungsort der Erkrankung wird von dem Ablagerungsort der Teilchen im Atemtrakt bestimmt. Die Abb. 9.63 zeigt die Wahrscheinlichkeit der Ablagerung in den verschiedenen Teilen des Atemtraktes in Abhängigkeit von der Teilchengröße. Messtechnisch wird zwischen Gesamtund Feinstaub unterschieden. Gesamtstaub ist der Anteil des Staubes, der vom Menschen eingeatmet wird. Maßgeblich sind dabei die Ansauggeschwindigkeit im Bereich von Nase und Mund sowie die Umströmungsbedingungen des Kopfes. Messtechnisch gilt als Gesamtstaub der Anteil des Staubes, der durch das Probenahmegerät (siehe Kap. 9.6.3) bei einer Ansauggeschwindigkeit von 1,25 m/s (±10%) erfasst wird. Feinstaub ist der Anteil des Staubes, der sich in den Alveolen sowie im Bereich der Bronchiolen ablagert und sowohl über den Tracheo-Bronchialbaum in den Verdauungstrakt als auch in das Zwischengewebe der Lunge eintreten kann (siehe Abb. 9.64). Hierbei wird die mukoziliare Reinigung, d.h. Reinigung über Flimmerhärchen und Schleimtransport nicht betrachtet. Messtechnisch definiert ist Feinstaub in der DIN EN 481 von 1993. Nach der Jonnisberger Konvention von 1959 ist Feinstaub der Teil des Staubes, der ein Abscheidesystem passiert, das in seiner Wirkung der theoretischen Trennfunktion eines Sedimentabscheiders entspricht, der Teilchen mit einem aerodynamischen Durchmesser von 5 Pm zu 50% abscheidet. Der Durchlassgrad eines solchen Vorabscheiders beträgt für Staubteilchen der Dichte 1 g/cm3 mit einem Durchmesser von 1,5 Pm 95%, 3,5 Pm 75%, 5,0 Pm 50% und 7,1 Pm 0%. Faserförmige Teilchen mit Längen bis zu etwa 100 Pm können in den Alveolarbereich (Bereich des Gasaustausches in der Lunge) gelangen, wenn der geometrische Faserdurchmesser unter 3 Pm liegt, und die Dichte der Fasern derjenigen von Mineralien entspricht (vgl. LEHDER u. SKIBA 2005).
Arbeitsumgebung
913
Aufnahme durch: EINATMEN Gase, Dämpfe, Stäube, Aerosole VERSCHLUCKEN Stäube und Flüssigkeiten HAUTRESORPTION Stäube und Flüssigkeiten
Abb. 9.64: Aufnahmewege für Chemikalien in den menschlichen Körper (in Anlehnung an MENCHE 2007)
9.6.1.3
KonzentrationĆ
Die Konzentration von Gasen, Dämpfen und flüchtigen Schwebstoffen wird in ml/m3 (Milliliter pro Kubikmeter), entspricht ppm (parts per million, d.h. Teile pro 1 Million Teile), oder in mg/m3 (Milligramm pro Kubikmeter) angegeben. Die Angabe in ml/m3 bzw. ppm ist von Temperatur und Luftdruck unabhängig, während sich die in mg/m3 angegebenen Werte auf eine Temperatur von 20 °C und einen Luftdruck von 1013 hPa beziehen. Die Konzentrationsangabe für nichtflüchtige Schwebstoffe (Staub, Rauch, Nebel) erfolgt in mg/m3 (Milligramm des Stoffes je Kubikmeter Luft) oder für Asbest auch in Fasern/m3. Werden Proben bei anderen Umgebungsbedingungen als 20 °C und einem Luftdruck von 1013 hPa genommen, sind die Messwerte umzurechnen. Grundlage hierfür ist das ideale Gasgesetz: p V
p: V:
n R T
m R T G
Druck [Pa] Volumen [m3]
(9.44)
914
Arbeitswissenschaft
n: Stoffmenge [mol] R: Gaskonstante (R = 8,314 J/K/mol) T: Temperatur in K (0°C = 273,16 K) m: Masse [kg ] G: Molekulargewicht [kg/mol] Daraus ergibt sich die folgende Formel zur Umrechnung der bei anderen Zustandsbedingungen erhaltenen Konzentrationen: Ca
§ mx · ¨ V ¸ , Cn © ¹a
pn Ta Ca Tn pa
(9.45)
Ca: Konzentration bei Umgebungs- bzw. Ausgangsbedingungen Konzentration bei Normbedingungen Cn: Masse des zu messenden Stoffes in der Probe m x: V: Gasvolumen der Probe p: Druck T: Temperatur a: Ausgangsbedingungen n: Normbedingungen, T = 20 °C, p = 1013 hPa Abb. 9.65 zeigt die für die Messung und Beurteilung relevanten Stoffkonzentrationen in Zahl und vergleichendem Bild. Beispiel: Der Gehalt eines Zuckerwürfels aufgelöst in
1 Prozent ist 1 Teil von Hundert Teilen
10 Gramm pro Kilogramm
10 g/kg
1 Promille ist 1 Teil von Tausend Teilen
1 Gramm pro Kilogramm
1 g/kg
1 ppm (part per million) ist 1 Teil von 1 Million Teilen
1 Milligramm pro Kilogramm
0,001 0 001 g/kg (10-3)
1 ppb b ((part per billion) billi ) ist i 1 Teil von 1 Milliarde Teilen
1 Mikrogramm ik pro Kilogramm
0,000 001 g/kg /k (10-6)
1 Nanogramm pro Kilogramm
0,000 000 001 g/kg (10-9)
(b = billion, engl. für Milliarde)
1 ppt (part per trillion) ist 1 Teil von 1 Billion Teilen (t = trillion, engl. für Billion)
0,27 Litern
Tassen
2,7 Litern
Flaschen
2700 Litern
Tankzug
2,7 Millionen Liter
Tanker Himmelmert
2,7 Milliarden Liter
Brenscheid Östertalsperre Im Ebbe
Talsperre Östertal im Sauerland
Abb. 9.65: Die für die Messung und Beurteilung von Schadstoffen relevanten Stoffkonzentrationen in Zahl und vergleichendem Bild (nach VALENTIN et al. 1985)
9.6.1.4
ArtĆderĆEinwirkungĆ
Gefährliche Arbeitsstoffe können über mehrere Wege in den Körper gelangen (siehe Abb. 9.64, KATALYSE et al. 1987).
Arbeitsumgebung
915
Einatmen: Beim Einatmen können sich staubförmige Stoffe und Fasern, je nach Teilchengröße, in den oberen Atemwegen (Nasen-Rachenraum), den Bronchien oder in der Lunge ablagern. Auf dem gleichen Weg gelangen Gase, Dämpfe und Nebel in den Körper. Verschlucken: Nebeltröpfchen oder Stäube gelangen mit dem Speichel in den Magen- und Darmbereich und können dort Schäden hervorrufen. Auch schon im Atemtrakt deponierte Stäube können durch die Reinigungsmechanismen des Atemtraktes in den Verdauungstrakt übertreten und dort resorbiert und biologisch wirksam werden. Vermehrtes Schlucken durch Kaugummikauen und Essen am Arbeitsplatz erhöhen die Menge der gefährlichen Arbeitsstoffe, die durch Verschlucken in den Körper gelangen. Hautkontakt: Über verunreinigte Hände oder Flüssigkeitsspritzer auf der Haut können manche Stoffe in den Körper gelangen. Über die Haut werden besonders fettlösende Stoffe in den Organismus aufgenommen. Nicht immer wirkt der Stoff direkt an der Stelle, wo er mit dem Körper zum ersten Mal in Berührung kommt (z.B. Verätzung der Haut durch eine starke Lauge). Der Schaden kann auch erst dann entstehen, wenn der Stoff in ein bestimmtes Organ im Körper transportiert wird oder wenn sich die Substanz im Stoffwechselprozess verändert hat, z.B. Leber- und Nierenschäden durch eingeatmete Lösemittel. Eine Substanz kann auch durch andauernde Einwirkung geringer Dosen, die scheinbar harmlos sind, schädigen. Wiederholter Kontakt mit bestimmten Stoffen kann zu allergenen Reaktionen führen. Zwischen den Stoffeinwirkungen können größere Zeiträume liegen. Hat eine Sensibilisierung des Organismus stattgefunden, genügen schon geringe Mengen, um allergische Reaktionen hervorzurufen. 9.6.1.5
EinwirkungsdauerĆ
Bei der Einwirkungsdauer müssen die Dauer und Häufigkeit der Exposition beachtet werden. Während bei vielen Stoffen davon ausgegangen wird, dass die durch den Stoff verursachten Wirkungen reversibel sind, sich also in der Freizeit der Person zurückbilden, ist dies bei anderen Stoffen – hierzu gehören vor allem die krebserzeugenden Stoffe – nicht der Fall. 9.6.1.6
IndividuelleĆKonstitutionĆ
Die angegebenen Grenzwerte beziehen sich normalerweise auf gesunde erwachsene Personen. Abhängig von der individuellen Konstitution der Person können aber auch stärkere Wirkungen der Schadstoffe auftreten. Für bestimmte Stoffe wird ein besonderer Schutz für Jugendliche sowie schwangere, stillende oder im gebärfähigen Alter befindliche Frauen vorgeschrieben.
916
9.6.1.7
Arbeitswissenschaft
TätigkeitĆ
Eine schwere körperliche Tätigkeit erhöht z.B. das Atemvolumen. Es werden mit dem erhöhten Luftumsatz auch mehr Schadstoffe aufgenommen. 9.6.1.8
SuperpositionĆ
Eine Superposition kann u.a. mit x anderen Umgebungsfaktoren, wie z.B. dem Klima, vorliegen. Es ist eine genauere Betrachtung der Wirkungsmechanismen notwendig, um zu beurteilen, ob es in einem oder mehreren organismischen Systemen zu einer Addition oder Potenzierung der Wirkungen kommt. x anderen Arbeitsstoffen vorliegen, den so bezeichneten GiftstoffSynergismen. x Genussmitteln wie Alkohol und Zigaretten auftreten. Dabei kann es zu einer Verstärkung der Wirkung kommen. So muss beachtet werden, dass bei Zusammenwirken von Tabakrauch und einigen industriell anfallenden Gasen, Rauchen und Stäuben, z.B. von Zement oder beim Schweißen, Summationsoder Potenzwirkungen der Schädigung auftreten. 9.6.2 9.6.2.1
Wirkung von gefährlichen Arbeitsstoffen ArtenĆderĆSchädigungĆ
Gefährliche Arbeitsstoffe können akut schädigen, d.h. durch die Stoffe können Arbeitsunfälle verursacht werden (Verbrennungen, Verbrühungen, Verätzungen, Vergiftungen, Infektionen, usw.). Es kann auch eine chronische Schädigung beim Menschen auftreten (allergische Erkrankung, Krebserkrankung, Silikose bzw. Staublunge, usw.), die dann ggf. als Berufskrankheit anerkannt wird. Gefährliche Arbeitsstoffe sind oft perzeptiv nicht festzustellen, d.h. der Mensch besitzt keinen Rezeptor bzw. kein Organ, das ihn vor dem Stoff warnt. Andererseits tritt bei wahrnehmbaren Stoffen oft auch eine Gewöhnung ein, der Geruch des Arbeitsstoffes wird dann nicht mehr wahrgenommen und verliert seine Warnwirkung. Im Folgenden werden für einige ausgewählte Stoffe, geordnet nach dem Aggregatzustand, beispielhaft die Wirkungsmechanismen erläutert (nach LEHDER u. SKIBA 2005). 9.6.2.2
StäubeĆ
Staub, der vorwiegend Schädigungen durch Gewebeänderungen verursacht, wird als fibrogener Staub bezeichnet. Da in der Vergangenheit fast ein Drittel aller erstmals entschädigten Berufskrankheiten durch Stäube verursacht wurden, sind besonders zu beachten:
Arbeitsumgebung
917
x Feinstaub aus freier kristalliner Kieselsäure (SiO2-Modifikationen, Quarz, Cristobalit und Tridymit), der Silikose und Siliko-Tuberkulose (mit Tuberkulose einhergehende Silikose) bewirkt (5,7% der anerkannten BK im Jahr 2006, die in Verbindung mit Arbeitsstoffen stehen). x Asbesthaltiger Feinstaub, d.h. faserförmiger Serpentinasbest (Chrysotil, am meisten benutzt) und faserförmiger Amphiboasbest (Amosit, Anthophyllit, Tremolit, Aktinolith, Krokydolith), der Asbestose, Lungenkrebs oder bösartige Tumore (Mesotheliome) des Rippen- oder Bauchfells verursacht (24,1% der anerkannten BK im Jahr 2006, die in Verbindung mit Arbeitsstoffen stehen). Der zum Teil in den Alveolbereich der Lunge gelangende Feinstaub reagiert mit dem Lungengewebe unter Neubildung von Bindegewebe, welches das atemfähige Gewebe verdrängt und so zu einer Einschränkung der Lungenfunktion führt. x Kanzerogener Staub wirkt krebserzeugend (z.B. Arsen, Beryllium, 6-wertige Chromate, Nickel). x Toxischer Staub schädigt durch Giftwirkung auf Körperorgane (z.B. Blei, Zink, Cadmium, Mangan, Vanadium). Zur Beurteilung wird überwiegend die Gesamtstaubkonzentration herangezogen. x Ätzender Staub schädigt durch die Bildung von Basen und Säuren, die das Gewebe zerstören (z.B. Kalk, Chrom). x Radioaktive Stäube schädigen durch ionisierende Strahlung. Der Schädigungsmechanismus wird in Kapitel 9.3.4.4 erläutert. x Allergisierende Stäube schädigen durch akute und chronische Entzündung der Atemorgane oder der Haut. Genannt seien beispielhaft allergisches Bronchialasthma und Hautentzündungen durch Chromate (z.B. in Zementstaub), Nickelverbindungen, Mehlstaub und Stäube tropischer Hölzer. x Inerte Stäube sind die Stäube, die weder toxisch noch fibrogen sind und auch keine anderen spezifischen Gesundheitsschäden hervorrufen (z.B. Eisenoxid, Magnesiumoxid). Für diese Stäube gilt der „Allgemeine Staubgrenzwert“, der eine maximale Feinstaubkonzentration für die alveolengängige Fraktion von 6 mg/m3 festschreibt, da diese Stäube die Lungenfunktion durch Verstopfung von Alveolen beeinträchtigen können. 9.6.2.3
RaucheĆ
Für Rauche gilt sinngemäß das gleiche wie für Stäube. Besonders zu beachten ist, dass der beim Schweißen von lackierten Teilen entstehende Rauch u.a. Blei, Zink, Chromoxide und Phosphorverbindungen und der beim Löten gebildete Rauch Schwermetalle enthält. 9.6.2.4
NebelĆ
Zu beachten ist vor allem der bei der Metallverarbeitung entstehende Ölnebel. Nach dem Stand der Forschung kann nicht eindeutig belegt werden, ob die in den
918
Arbeitswissenschaft
Werkstätten üblichen Konzentrationen schädlich oder nicht schädlich sind. Fest steht, dass bei der Metallverarbeitung in den Ölnebeln krebserzeugende Nitrosamine gefunden und allergische Hautreaktionen beobachtet worden sind. Eine Gefährdung kann jedoch durch eine Verschlechterung der Sichtverhältnisse und durch eine Erhöhung der Rutschgefahr auftreten. 9.6.2.5
DämpfeĆ
Einen niedrigen Siedepunkt haben die organischen Lösungsmittel, die daher häufig als Dämpfe zu finden sind. Besonders leicht bilden die verwandten Chlorkohlenwasserstoffe, wie Tetra(chlormethan) CCl4, Tri(chlorethan) CCl2-CHCl, Tetrachlorethen (andere Bezeichnung Per(chloräthylen)) CCl2-CCl2, 1,1,1Trichlorethan CCl3-CCl3 und Dichlormethan (Methylenchlorid) CH2Cl2, schwere Dämpfe und verursachen Schwindel, Benommenheit und Rausch. Chronische Folgen sind Konzentrationsschwäche, Alkoholunverträglichkeit und schwere Leber- und Nierenschäden. Halogenkohlenwasserstoffe wirken in flüssiger Form als Kontaktgifte und sind, oral aufgenommen, sehr giftig. Benzol ist mit einem Siedepunkt von 80 °C Bestandteil vieler Lösemittel und von Motorbenzin. Die Dämpfe schädigen beim Einatmen die blutbildenden Zentren und sind krebserzeugend. Bei Berührung verursacht Benzol Hautschäden. Unter den Metalldämpfen ist u.a. das flüssige, leicht verdampfende Quecksilber sehr gefährlich. Es verursacht Übelkeit, Haarausfall und chronische Störungen des Zentralnervensystems. 9.6.2.6
GaseĆ
Gase können giftig, ätzend und erstickend wirken. Häufig bilden sie auch mit der Luft explosionsfähige Atmosphären. Am häufigsten treten folgende Gase auf: x Kohlenmonoxid (CO) ist farb-, geruch- und geschmacklos. Es entsteht bei unvollständiger Verbrennung und ist daher in Rauch, Auspuffgasen, Stadtgas etc. enthalten. Es lagert sich 300 mal fester an den Blutfarbstoff Hämoglobin an als Sauerstoff und führt so zur Erstickung. x Kohlendioxid (CO2) ist ein schweres, farb- und geruchloses Gas. Es tritt besonders in Bergwerken aus und führt zu Erstickungen. x Nitrose Gase sind das farb- und geruchlose NO, das bei höheren Konzentrationen in das ab 200 ppm rötlich-braun sichtbare NO2 übergeht, und andere Gase, deren wesentlicher Bestandteil NO2 ist. In der Lunge kommt es zu schweren Schäden, da sich aus den nitrosen Gasen Salpetersäure (HNO3) bildet. x Ozon (O3) ist ein typisch riechendes, sehr giftiges Reizgas, das sich bei elektrischen Ladungen in der Luft und bei UV-Bestrahlung bildet. Es tritt daher beim Schweißen, Röntgen usw., in geringer Konzentration auch bei Druckern, auf.
Arbeitsumgebung
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x Schwefeldioxid (SO2) wird bei chemischen Prozessen und der Verbrennung von Heizmaterialien frei und bildet mit Wasser schweflige Säure HSO3 und Schwefelsäure H2SO4. Es wirkt stark ätzend. x Schwefelwasserstoff (H2S) tritt in chemischen Prozessen, im Erdgas und als Fäulnisprodukt auf. Ab etwa 1 ppm ist das farblose Gas durch den Geruch nach faulen Eiern wahrnehmbar. Bei hohen Konzentrationen werden die Geruchsnerven gelähmt, es kommt weiterhin zu Bindehautentzündungen und Reizung der Atemwege. x Formaldehyd (CH2O) ist ein farbloses, stechend riechendes Gas, das brennbar und mit Luft explosibel ist. Es wird meist als wässrige Lösung oder als fester Stoff gehandhabt. Es bewirkt Schleimhautentzündungen, Unwohlsein und allergene Reaktion. Es besteht der begründete Verdacht auf krebserzeugendes Potential. x Phosgen (Carbonylchlorid, COCl2) ist ein farbloses, charakteristisch riechendes Gas, das u.a. ungewollt bei der thermischen Zersetzung von Chlorkohlenwasserstoffen (z.B. beim Schweißen) entsteht. Es wirkt auf die Lunge durch Säurebildung, führt zu Atembeschwerden und Husten und wirkt schon bei geringen Konzentrationen tödlich. 9.6.3 9.6.3.1
Messung Ermittlungs-ĆundĆÜberwachungspflichtĆ
Die Gefahrstoffverordnung (GefStoffV) weist dem Arbeitgeber Ermittlung- und Überwachungspflichten zu: x Der Arbeitgeber hat festzustellen, ob die Beschäftigten Tätigkeiten mit Gefahrstoffen durchführen oder ob Gefahrstoffe bei diesen Tätigkeiten entstehen oder freigesetzt werden. (§7 (1) GefStoffV). x Bevor der Arbeitgeber Arbeitnehmer beim Umgang mit Gefahrstoffen beschäftigt, hat er zur Feststellung der erforderlichen Maßnahmen die mit dem Umgang verbundenen Gefahren zu ermitteln und zu beurteilen. Welche Schutzmaßnahmen zur Abwehr der Gefahren zu treffen sind, die beim Umgang mit Gefahrstoffen entstehen können, hat der Arbeitgeber zu regeln, bevor er mit dem Gefahrstoff umgeht (§7 (1) GefStoffV). x Ist das Auftreten eines oder verschiedener gefährlicher Stoffe in der Luft am Arbeitsplatz nicht sicher auszuschließen, so hat der Arbeitgeber zu ermitteln, ob die Arbeitsplatzgrenzwerte eingehalten sind (§9 (4) GefStoffV). Außerdem ist die Gesamtwirkung verschiedener gefährlicher Stoffe in der Luft am Arbeitsplatz zu beurteilen. Die TRGS 400 „Gefährdungsbeurteilung für Tätigkeiten mit Gefahrstoffen“ beschreibt die Vorgehensweisen zur Informationsermittlung und Gefährdungsbeurteilungen nach §7 der Gefahrstoffverordnung (GefStoffV). So besteht eine Gefährdungsbeurteilung grundsätzlich aus den Schritten: 1) Ermittlung und Bewer-
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Arbeitswissenschaft
tung der inhalativen Exposition, 2) Dokumentation, 3) Festlegungen zur Befundsicherung und Wirksamkeitskontrollen und 4) Überprüfung / Optimierung der Schutzmaßnahmen. In der Technischen Regel für Gefahrstoffe (TRGS) 402 wird das „Ermitteln und Beurteilen der Gefährdung bei Tätigkeiten mit Gefahrstoffen“ bei inhalativer Exposition näher ausgeführt. Die Ermittlung der inhalativen Exposition erfolgt in drei Schritten: (1) Erfassung und Beschreibung der Tätigkeiten und Festlegung des Arbeitsbereichs, für den die Beurteilung erfolgen soll (2) Erfassung der Gefahrstoffe (siehe TRGS 400 Nummer 4.7) (3) Ermittlung der Exposition. Die Gefahrstoffverordnung in Verbindung mit der TRGS 402 verpflichtet also zur Feststellung, mit welchen Stoffen und Zubereitungen im Arbeitsbereich umgegangen wird. Dabei ist zu beachten, dass aus Stoffen und Zubereitungen weitere Stoffe freigesetzt werden bzw. beim Umgang entstehen. Besondere Vorsicht ist immer dann geboten, wenn Energie im Arbeitsprozess zugeführt und die Reaktionsfreudigkeit der eingesetzten Stoffe und Zubereitungen erhöht wird. Zur Überprüfung, ob die an dem Arbeitsplatz verwandten bzw. entstehenden Stoffe gefährlich sind, ist eine Beurteilung der Gefährdung notwendig. In vielen Fällen ist dies nur durch Messungen zu erreichen. Die Messung selbst besteht grundsätzlich aus vier Schritten: (1) Probenahme; sie teilt sich in die strategische Probenahme (Auswahl des Ortes, des Zeitpunktes und der Zeitdauer der Probenahme) und die eigentliche, technische Probenahme (2) Probeaufbereitung für die Analyse (3) Analytische Bestimmung einschließlich notwendiger Berechnungen (4) Beurteilung; z.B. der Vergleich der Messergebnisse mit einem Grenzwert oder der arbeitsmedizinische Befund. Die vier Verfahrensschritte können unmittelbar zeitlich aufeinanderfolgen, am Messort oder auch zeitlich und räumlich getrennt durchgeführt werden. 9.6.3.2
ProbenahmeĆ
Strategische Probenahme
Das Ziel einer Messung bestimmt die Art und Weise einer Probenahme. Neben den gesetzlich geforderten Messungen können auch zur technischen Gestaltung des Arbeitsplatzes Messungen hilfreich sein. Um z.B. Hinweise für die Auslegung einer Absauganlage zu erhalten, spielen das Wissen über den Entstehungsort und das zeitliche Auftreten einer Schadstoffkonzentration eine Rolle; in diesem Falle erfolgt die Probenahme sicherlich anders, als wenn es um die Beurteilung einer auf die Arbeitsperson einwirkenden Schadstoffbelastung geht. Im Folgenden soll aber nur näher auf den letzteren Fall eingegangen werden.
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Die kontinuierliche, d.h. dauernde Messung der gefährlichen Arbeitsstoffe am Arbeitsort der Arbeitsperson gibt das genaueste Abbild der einwirkenden Schadstoffbelastung. Ist der Arbeitsort der Person jedoch veränderlich, bedeutet dies einen sehr hohen technischen Aufwand, und zudem ist das dauernde Tragen der Messapparatur für die Betroffenen meist nicht zumutbar. Für einige Stoffe gibt es jedoch auf dem Diffusionsprinzip beruhende Monitore, die, ähnlich einem Dosimeter, an der Kleidung getragen werden können. Arbeitsplätze, an denen in der Luft mit Stoffen mit akut toxischer Wirkung oder mit irreversibler Wirkung bei Überschreitung bestimmter Konzentrationen gerechnet werden muss, sollten mit kontinuierlich arbeitenden Geräten überwacht werden (WOLF u. BLOME 1980). Die dort eingesetzten, meist stationären, Messgeräte nehmen und analysieren die Probe automatisch und warnen die Arbeitnehmer durch optische und akustische Signale, ggf. lösen sie auch Schutzmaßnahmen aus. Der Normalfall ist die stichprobenartige Messung von gefährlichen Arbeitsstoffen. Es muss, wie bei allen Stichproben, auf die Repräsentativität geachtet werden. Die Ergebnisse der Messungen bleiben allerdings immer mit einer mehr oder minder großen statistischen Unsicherheit behaftet, die bei der Beurteilung des Arbeitsplatzes entsprechend zu berücksichtigen ist. Von der Arbeitsperson mitgeführte Probenahmeapparaturen haben gegenüber stationären Aufbauten den großen Vorteil, dass sie am genauesten die von der Person eingeatmete Schadstoffbelastung erfassen. Bei stationären Aufbauten muss evtl. das Ergebnis mehrerer Messungen an verschiedenen Orten des Arbeitsbereiches gemittelt werden. Gerade bei gerichteten Schadstoffströmen (z.B. durch Absauganlagen) können an Orten, die vielleicht einen halben Meter auseinander liegen, ganz unterschiedliche Schadstoffkonzentrationen vorliegen. Stationäre Aufbauten sollten allerdings bevorzugt werden, wenn die Probenahmeapparatur die Arbeitsperson durch Größe, Gewicht u.a. gefährdet, behindert oder zu stark belästigt. Der stationäre Aufbau ist möglichst nahe bei der Arbeitsperson in Höhe des Atembereichs aufzustellen. Bewegt sich die Person während der Arbeit, so sind ggf. mehrere Messungen an den verschiedenen Orten durchzuführen, um ein repräsentatives Messergebnis zu erhalten. Der Zeitpunkt und die Dauer der Probenahme sollten alle vorkommenden Betriebsverhältnisse erfassen. Je kürzer die Probenahmedauer, desto mehr Messungen müssen durchgeführt werden. Die TRGS 402 gibt dafür eine Mindestprobenzahl an (Tabelle 9.30). Tabelle 9.30: Mindestprobenzahl (nach TRGS 402) Mittelungsdauer (Probenaufnahmedauer) 10 sek 1 min 5 min 15 min 30 min 1 h t2 h
Probenzahl t 30 t 20 t 12 t 4 t 3 t 2 t 1
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Arbeitswissenschaft
Technische Probenahme
Der zu messende gefährliche Arbeitsstoff liegt in der Luft als Staub, Rauch, Nebel, Dampf oder Gas vor. Eine Möglichkeit der Probenahme ist das Einschließen eines bestimmten Luftvolumens mit den darin enthaltenen gefährlichen Arbeitsstoffen, z.B. in einem vorher evakuierten Glasrohr oder in einem Kunststoffbehälter. Die Gasprobe wird dann der Analyse zugeführt. Oftmals werden jedoch die in der Probe enthaltenen gefährlichen Arbeitsstoffe für eine Analyse nicht ausreichen. Bei den folgenden Verfahren werden die gefährlichen Stoffe in einer sog. Sammelphase angereichert und fixiert. Der Messaufbau entspricht fast immer dem in Abb. 9.66 dargestellten. Oftmals werden auch mehrere Sammelphasen hintereinander geschaltet. Die erste Sammelphase bindet Stoffe, die zu Querempfindlichkeiten bei der eigentlichen Analyse führen würden. Gasmengenzähler und Regelventil sind meist in der Pumpe integriert. Barometer Probeluft Thermometer
Sammelphase
Regelventil Pumpe Uhr Gasmengenzähler
Abb. 9.66: Prinzipieller Messaufbau zur Messung gefährlicher Arbeitsstoffe
Nach den Anforderungen der Messung und der Art des gefährlichen Arbeitsstoffes wird die Sammelphase ausgewählt. Für Stäube, Rauche und Fasern sind dies Glasfaser- oder Membranfilter. Für Nebel, Dämpfe und Gase werden Absorptionsverfahren (absorbieren: aufsaugen, in sich aufnehmen) mit Flüssigkeiten und Adsorptionsverfahren (adsorbieren: Gase oder gelöste Stoffe an der Oberfläche eines festen Stoffes anlagern) mit einer Festkörpermatrix als Sammelphase eingesetzt. Die Flüssigkeit hält den Stoff entweder auf Grund der reinen Löslichkeit oder auf Grund einer chemischen Reaktion in einem Mehrkomponentengemisch zurück. Als Flüssigkeiten finden z.B. destilliertes Wasser, verdünnte Mineralsäuren für basische Gase und Dämpfe, verdünnte Natronlauge für saure Gase und Dämpfe, Perhydrollösungen für Schwefeloxid und Bisulfitlösungen für Aldehyde Verwendung (HÖNIG 1982). Die Absorptionsverfahren mit zum Teil zwei Waschflaschen sind in der Regel nicht für eine personengebundene Messung geeignet. Bei den Adsorptionsverfahren wird der Schadstoff physikalisch an der Festkörpermatrix gebunden. Gebräuchlich sind Matrizen aus Silicagel für organische Verbindungen und Aktivkohleröhrchen für organische Gase und Dämpfe. Die Adsorptionsverfahren sind meist in relativ kompakten Bauformen realisierbar und können daher von der Person mitgeführt werden.
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9.6.3.3
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AnalyseverfahrenĆ
Der apparative Aufwand für die Analyse wird i.Allg. größer als der Aufwand für die Probenahme sein. In vielen Fällen werden gerade in kleinen und mittelständischen Unternehmen die für die Analyse notwendigen Geräte nicht zur Verfügung stehen. Ist die Probenahme und Analyse nicht möglich, so findet sich auf den Internetseiten des Bundesverbandes der Messstellen für Umwelt- und Arbeitsschutz ein Verzeichnis für nach der Gefahrstoffverordnung (GefStoffV §9 Abs. 6) akkreditierte Messstellen und Prüflaboratorien. In vielen Fällen bereitet jedoch nur die innerbetriebliche Analyse Probleme. In diesen Fällen ist das vom Berufsgenossenschaftlichen Institut für Arbeitssicherheit (BIA) vorgelegte Konzept „Dezentrale Probenahme - Zentrale Auswertung“ zu verfolgen (vgl. WOLF u. BLOME 1982, BIA 1983). Die Probenahmebedingungen für die Messung gas-, dampf- und staubförmiger Schadstoffe sind vom BIA aufgelistet worden. Die so gezogenen Proben können nun an ein geeignetes Labor zur Auswertung gesandt werden. 9.6.3.4
MessverfahrenĆundĆ-geräteĆ
Im Folgenden wird eine Auswahl von verschiedenen Messverfahren und -geräten für die Messung von Stäuben sowie Gasen und Dämpfen vorgestellt. Weitergehende Darstellungen finden sich in BGIA (2009). Messung von Stäuben
Bei der Messung von Stäuben richtet sich die Auswahl des Messverfahrens nach dem Ziel der Messung. Zur Bestimmung der Staubkonzentration dient die Staubabscheidung auf Filtern, ggf. mit einer Feinstaubabscheidung. Häufig werden für stationäre Messungen das unter Lizenz vom BIA hergestellte Gravikon VC 25 oder das mobile Gravikon PM 4 eingesetzt (siehe Abb. 9.67a). Die Ansauggeschwindigkeit des Gravikon VC 25 beträgt 1,25 m/s ± 10%, das entspricht in etwa der Einatemgeschwindigkeit des Menschen. Es werden standardmäßig 22,5 m3 Luft pro Stunde angesaugt und das Mindestprobeluftvolumen beträgt 5 m3. Stäube mit einem aerodynamischen Durchmesser von 10 Pm werden etwa zu 80%, 20 Pm etwa zu 70% und 50 Pm 55% erfasst. Zur Bestimmung des Gesamtstaubs wird das Gravikon VC 25 mit dem Gesamtstaubmesskopf verwandt. Eine Auswertung erfolgt mittels Wiegung des getrockneten Filtermaterials vor und nach der Messung. Bei der Bestimmung des Feinstaubs wird das Gerät mit dem Feinstaubmesskopf benutzt. Die mit großer Geschwindigkeit auf das Zentrum des Filters treffenden Partikel werden aufgrund fehlender Hafteigenschaften und der Elastizität des Filters wieder in den Luftstrom zurückgeschleudert und von diesem radialsymmetrisch über den ganzen Filter verteilt. Da größere Partikel eine größere Rücksprunghöhe haben, werden sie weiter nach außen getragen als die kleineren Partikel. Der Feinstaub wird also auf einer ringförmigen Fläche des Filters abgeschieden (Abb. 9.67b). Eine andere, allerdings relativ ungenaue, Methode der Bestim-
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mung der Feinstaubkonzentration besteht in der Wiegung des mit dem Feinstaub beaufschlagten Filtersegments. Dazu wird der entsprechende Teil des Filters ausgestanzt und das Gewicht mit dem durchschnittlichen „Leergewicht“ mehrerer unbeaufschlagter Filtersegmente verglichen. Die folgend beschriebene Methode der Auswertung ist genauer, kann aber nur von entsprechend ausgerüsteten Labors vorgenommen werden. Der mit Feinstaub belegte Filterbereich wird mit ȕStrahlen durchstrahlt. Die Absorption von ȕ-Teilchen ist dann ein Maß für die Feinstaubmenge (FÖDISCH 2004). Das Probenahmegerät Gravikon PM 4 arbeitet mit einem Volumenstrom von 4 m³/h. Im Gegensatz zum Gravikon VC 25 ist dieses Gerät aufgrund des geringeren Volumenstroms insbesondere in kleinen Räumen einsetzbar, ohne dass die Schadstoffkonzentration durch den Einsatz des Gerätes beeinflusst wird. angesaugte Luft
angesaugte Luft
Feinstaub
•
•
• Großstaub Prallplatte
Abb. 9.67: a) Staubmessgerät; b) Prinzip der Trennung von Fein- und Grobstaub
Für die Messung der Gesamtstaubkonzentration an der Person kann ein ebenfalls vom BIA entwickelter Gesamtstaubmesskopf in Verbindung mit einer von der Person zu tragenden Messpumpe verwandt werden. An dieser Stelle seien die gegenüber Standardverfahren abgesicherten Systeme GSP und der Absorber B 70 genannt. Die Ansauggeschwindigkeit des GSP beträgt ebenfalls 1,25 m/s, der Luftdurchsatz liegt allerdings nur bei 3,5 l/min (GSP 3,5) bzw. 10 l/min (GSP 10), dementsprechend länger dauern die Messzeiten. Die Auswertung erfolgt mittels Wiegung. Der Absorber B 70 weist ebenfalls eine Ansauggeschwindigkeit von 1,25 m/s auf bei einer Ansaugrate von 70 l/h. Zur Bestimmung der Staubart dient eine chemische Analyse der gesammelten Probe. Messung von Gasen und Dämpfen
Eine der einfachsten Möglichkeiten Gase und Dämpfe zu messen und (fast) gleichzeitig zu analysieren, ist die Messung mittels Prüfröhrchen. Mit Hilfe einer meist handbetriebenen Pumpe wird durch die Röhrchen eine definierte Menge Luft gesaugt. In den Röhrchen befindet sich ein Reagenz, das sich je nach der Konzentration des zu prüfenden Stoffes mehr oder weniger stark verfärbt. An
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Hand einer Skala oder einer Vergleichsfarbtafel kann die Konzentration des Stoffes vom Röhrchen abgelesen werden. Es gibt Röhrchen für Kurzzeitmessungen, die z.B. zur Erfassung des Konzentrationsverlaufes eingesetzt werden können, und solche für Langzeitmessungen, die bis zu acht Stunden die Durchschnittskonzentration bestimmen. Spezielle Röhrchen für Unfallsituationen ermöglichen rasch eine Eingrenzung der ausgetretenen Stoffe. Die Vorteile von Prüfröhrchen sind: x relativ einfache Handhabung x schnelle Ergebnisse, da Probenahme und Analyse zeitlich zusammenfallen x Wirtschaftlichkeit. Als Nachteile stehen dem gegenüber: x Querempfindlichkeitsprobleme, die immer dann hinderlich sind, wenn viele Stoffe gleichzeitig vorhanden sind x relative Abweichungen von bis zu 30%, x große Messunsicherheiten im Neu- und Altzustand. Die Messunsicherheit verschlechtert sich im Altzustand, im schlimmsten Fall wird gar keinen Gefahrstoff mehr angezeigt. Aus diesen Punkten ergibt sich, dass Prüfröhrchen für orientierende Messungen zur Erlangung von Vorwissen am günstigsten eingesetzt werden können. Je näher ein Messwert dem Grenzwert kommt, desto notwendiger ist die Wiederholung der Messung mit einem spezifischeren oder empfindlicheren Verfahren (QUELLMALZ 1988; WOLF 1977). Positiv lässt sich aber auch feststellen, dass eine Schadstoffkonzentration nicht vorliegt, wenn ein entsprechendes Röhrchen keine Reaktion zeigt. Für genauere Messungen sind von verschiedenen Herstellern mikroprozessorgesteuerte, explosionsgeschützte tragbare Messpumpen erhältlich. Diese saugen mit einstellbarem Volumen Luft aus dem Atembereich der Person durch die Sammelphase ein. Für die unterschiedlichen Stoffe gibt es z.B. bei GREIM (2006) Analysevorschriften, die Probenahmebedingungen, Sammelphase und Analyse beschreiben. Für bestimmte Gase gibt es Warngeräte, die bei Überschreiten der festgelegten Konzentration einen Alarm geben. 9.6.3.5
HautresorptionĆ
Im Gegensatz zur inhalativen Exposition steht keine geeignete Größe zur Quantifizierung der Aufnahme von gefährlichen Stoffen durch die Haut zur Verfügung. Neben einer lokalen Wirkung sind auch Wirkungen an anderen Stellen des Organismus zu beachten. Die Fähigkeit eines Stoffs die Haut zu durchdringen, wird mit der Penetrationsrate beschrieben. Diese ist allerdings experimentell nur sehr aufwendig zu ermitteln, daher wird häufig auf die Fettlöslichkeit des Stoffes als Maßstab der Penetration zurückgegriffen.
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9.6.4
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Bewertung und Beurteilung
Nach der Gefahrstoffverordnung ist ein Schutzstufenkonzept zur Gefährdungsbeurteilung bei Tätigkeiten mit Stoffen und Zubereitungen erforderlich. Anhand der Zuordnung der Stoffe und Zubereitungen zu einer Schutzstufe sind Sicherheitsmaßnahmen deklariert, die im Betrieb bei entsprechendem Umgang damit umgesetzt werden müssen. Eine höhere Stufe beinhaltet ebenfalls die Maßnahmen aus den niedrigeren Stufen: x Schutzstufe 1 gilt für Tätigkeiten mit geringer Gefährdung. Der Gebrauch gesundheitsschädlicher Korrekturflüssigkeit im Büro oder die maschinelle Instrumentendesinfektion in einer Arztpraxis sind Beispiele für Tätigkeiten mit geringer Gefährdung. In diesem Fall reichen Maßnahmen nach TRGS 500 „Schutzmaßnahmen“ (4.2 Schutzmaßnahmen bei Tätigkeiten mit geringer Gefährdung) aus. x Schutzstufe 2 gilt für Tätigkeiten mit ätzenden, reizenden und gesundheitsschädlichen Stoffen und Zubereitungen. Im Umgang mit Arbeitsstoffen der Schutzstufe 2 hat der Arbeitgeber vorrangig – sofern möglich – eine Substitution durchzuführen. Lässt sich die Gefährdung durch Substitution nicht verringern, so muss er nach dem Stand der Technik für geeignete technische Schutzmaßnahmen wie bspw. eine angemessene Be- und Entlüftung sorgen. Neben der Führung eines Gefahrstoffverzeichnisses, der Erarbeitung und Umsetzung von Betriebsanweisungen und Unterweisungen, sind zusätzlich noch die sachgerechte Aufbewahrung und die räumlich Trennung von Arbeits- und Schutzkleidung zu gewährleisten. x Schutzstufe 3 gilt für Tätigkeiten mit giftigen und sehr giftigen Stoffen und Zubereitungen. Beispiele hierfür sind 25%ige Formaldehyd-Lösungen und Zubereitungen mit 10% Methanol. Zunächst ist die Aufgabe hierbei zu überprüfen, inwieweit die Gefahrstoffe durch andere ersetzt werden können. Ist dies nicht möglich, müssen neben den bereits bekannten Schutzmaßnahmen von Schutzstufe 1 und 2 noch weitere Maßnahmen ergriffen werden. So ist die Gefährdung nach dem Stand der Technik soweit wie möglich zu verringern. Zur Kontrolle muss die Einhaltung der Arbeitsplatzgrenzwerte mittels Messungen dokumentiert werden. x Schutzstufe 4 gilt für Tätigkeiten mit krebserzeugenden, erbgutverändernden und fruchtbarkeitsgefährdenden Stoffen und Zubereitungen. Hier sind als Beispiel krebserzeugende Arzneimittel oder Eichenholzstaub zu nennen. Auch hier sind die Zeiten, in denen die Beschäftigten diesen Stoffen ausgesetzt sind, auf ein Minimum zu reduzieren. Und es ist Sorge dafür zu tragen, dass mit der abgesaugten Luft andere Mitarbeiter nicht in Berührung kommen. Eine Ausnahme bilden Stoffe, die ausschließlich als fruchtschädigend eingestuft werden, bspw. Halothan. Diese Stoffe werden als giftige Stoffe eingestuft und somit der Schutzstufe 3 zugeordnet.
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9.6.4.1
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SystematikĆderĆGrenzwerteĆ
Zur Beurteilung von gefährlichen Arbeitsstoffen gibt es verschiedene Schwellen, ab denen Maßnahmen ergriffen werden müssen, und Grenzwerte, die nicht überschritten werden dürfen. Dies ist zu allererst die Auslöseschwelle, die durch verschiedene Grenzwertkonzepte konkretisiert wird. Bei den Grenzwerten von Stoffen in der Luft am Arbeitsplatz wird zwischen zwei Gruppen von Stoffen unterschieden. Es gibt eine Kategorie von Stoffen, für die toxikologisch eine Schwellendosis bestimmbar ist, unterhalb derer durchschnittlich gesunde Menschen nicht mit einem Gesundheitsschaden rechnen müssen. Eine zweite Kategorie von Stoffen umfasst vor allem die krebserzeugenden und erbgutverändernden Stoffe, für die ein solcher Schwellwert nicht existiert bzw. nicht bestimmbar ist (BUNDESANSTALT 1986). Für diese beiden Gruppen von Stoffen werden gesundheitsbasierte AGW (Arbeitsplatzgrenzwerte) aufgestellt, die in ihrer Bedeutung den bisherigen Werten für eine sog. Maximale-Arbeitsplatz-Konzentration (MAK) entsprechen. Ebenso existieren Grenzwerte für absolute Quantitäten eines Arbeitsstoffes bzw. die Auswirkung des Arbeitsstoffes im biologischen Material des Menschen (z.B. Blut, Harn). Es wird wieder zwischen krebserzeugenden und erbgutverändernden Stoffen sowie anderen Stoffen unterschieden. Der biologische Grenzwert gilt für letztere Gruppe. 9.6.4.2
ArbeitsplatzgrenzwertĆ
Nach der Gefahrstoffverordnung ist der Arbeitsplatzgrenzwert ein Grenzwert für die zeitlich gewichtete durchschnittliche Konzentration eines Stoffes in der Luft am Arbeitsplatz in Bezug auf einen gegebenen Referenzzeitraum. Er gibt an, bei welcher Konzentration eines Stoffes akut oder chronisch schädliche Auswirkungen auf die Gesundheit i.Allg. nicht zu erwarten sind (§3 Abs. 6 GefStoffV). Neben den Wirkungscharakteristika der Stoffe werden bei der Aufstellung – sofern dies möglich ist – die praktischen Gegebenheiten der Arbeitsprozesse bzw. der durch diese bestimmten Expositionsmuster mit berücksichtigt. Die bis zur Einführung von AGW geltenden MAK-Werte bilden heute noch vielfach die Grundlage. Die Grenzwerte sind historisch als Schichtmittelwert konzipiert (8 h Exposition an 5 Tagen pro Woche während der Lebensarbeitszeit). In der Realität unterliegen die auftretenden Werte allerdings großen Schwankungen, so können etwa z.B. kurzzeitige Expositionsspitzen auftreten. Aus diesem Grund sind diese Abweichungen des Mittelwertes nach oben begrenzt, um Gesundheitsschäden zu verhüten. Die Wirkungen der Stoffe sind recht unterschiedlich, deshalb bedarf es auch verschiedener Grenzwerte für die zulässigen Expositionsspitzen. Bei der Festlegung von Expositionsspitzen werden die Stoffe gemäß ihrer toxikologischen Wirkung in folgende zwei Kategorien eingeteilt (TRGS 900): x Kategorie ,Stoffe bei denen die lokale Wirkung grenzwertbestimmend ist oder atemwegssensibilisierende Stoffe (Beispiele: Chlorwasserstoff, Brom)
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x Kategorie ,,Resorptiv wirksame Stoffe (Beispiele: Lösemittel, zahlreiche Organika). Da die AGW für gesunde Menschen im erwerbsfähigen Alter aufgestellt werden, dürfen sie nicht zur Bewertung der Exposition von Kindern, älteren oder kranken Menschen sowie von schwangeren Mitarbeiterinnen (hier in Bezug auf das ungeborenen Kind) herangezogen werden. Ebenso ist die Anwendbarkeit bei längeren Expositionen (über 8 h pro Tag) insbesondere bei kontinuierlicher (Raumluft-) Belastung stark eingeschränkt. Im Falle von sensibilisierenden Stoffen (wie Chromverbindungen, Acrylharze, Formaldehyd, Mehlstäube) kann auch bei Einhaltung der AGW eine Sensibilisierung nicht ausgeschlossen werden. 9.6.4.3
BiologischerĆGrenzwertĆ
Seit 1. Januar 2005 werden in der neuen Gefahrstoffverordnung die alten Biologische-Arbeitsplatztoleranz-Werte (BAT-Werte) durch sog. biologische Grenzwerte (BGW) ersetzt. Die alten BAT-Werte können und sollen jedoch bis zur vollständigen Umsetzung der Verordnung als Richt- und Orientierungsgrößen weiter verwendet werden. Der biologische Grenzwert ist ein „Grenzwert für die toxologischarbeitsmedizinisch abgeleitete Konzentration eines Stoffes, seines Metaboliten oder eines Beanspruchungsindikators im entsprechenden biologischen Material, bei dem im Allgemeinen die Gesundheit eines Beschäftigten nicht beeinträchtigt wird“ (§3 Abs. 7 GefStoffV). Biologische Grenzwerte können als Konzentrationen, Bildungs- oder Ausscheidungsraten (Menge/Zeiteinheit) definiert sein. Wie bei den Arbeitsplatzgrenzwerten (AGW) wird in der Regel eine Stoffbelastung von maximal 8 Stunden täglich und 40 Stunden wöchentlich zugrunde gelegt. Biologische Grenzwerte sind als Höchstwerte für gesunde Einzelpersonen konzipiert. Sie werden unter Berücksichtigung der Wirkungscharakteristika der Stoffe in der Regel für Blut oder Urin aufgestellt. Maßgebend sind dabei arbeitsmedizinisch-toxikologisch fundierte Kriterien des Gesundheitsschutzes. Biologische Grenzwerte gelten in der Regel für eine Belastung mit Einzelstoffen (TRGS 903). 9.6.4.4
MaximaleĆArbeitsplatz-KonzentrationĆ(MAK-Wert)Ć
Die klassischen MAK-Werte (Maximale Arbeitsplatz-Konzentration) sind heute formaljuristisch nicht mehr relevant. Da sich aber momentan die Arbeitsplatzgrenzwerte noch an den MAK-Werten orientieren, seien diese im Folgenden nochmals kurz erläutert. Der MAK-Wert beschreibt die höchstzulässige Konzentration eines Arbeitsstoffes als Gas, Dampf oder Schwebstoff in der Luft am Arbeitsplatz, die nach dem gegenwärtigen Stand der Kenntnis auch bei wiederholter und langfristiger, in der Regel täglich 8-stündiger Exposition, jedoch bei Einhaltung einer durchschnittlichen Wochenarbeitszeit von 40 Stunden (im Vierschichtbetrieb 42 Stunden je Woche im Durchschnitt von vier aufeinanderfolgenden Wochen) i.Allg. die Gesundheit der Beschäftigten nicht beeinträchtigt und diese
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nicht unangemessen belästigt. In der Regel wird der MAK-Wert als Durchschnittswert über Zeiträume bis zu einem Arbeitstag oder einer Arbeitsschicht integriert. Die MAK-Werte berücksichtigen nach Möglichkeit – aber nicht immer – die unterschiedliche Empfindlichkeit des arbeitsfähigen Menschen, soweit sie durch Alter, Konstitution, Ernährungszustand, Klima und andere Faktoren bedingt ist. Die Einhaltung der MAK-Werte gibt allerdings keine Sicherheit gegen das Auftreten von allergischen Krankheiten bei Personen, die zu solchen neigen. Ebenso ist kein sicherer Schutz des ungeborenen Kindes vor teratogenen (von der Norm abweichenden) Wirkungen gewährleistet. Die Lästigkeit einer Einwirkung (z.B. ekelerregender Geruch, kurzfristiger Augenreiz usw.) ist in den MAK-Werten nach Möglichkeit dem Stand der gesundheitspolitischen Wertung entsprechend berücksichtigt (LEHDER u. SKIBA 2005). Die Liste der MAK-Werte/AGW wird jährlich neu von der Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe der Deutschen Forschungsgemeinschaft überarbeitet und an verschiedenen Stellen veröffentlicht (z.B. als TRGS 900). 9.6.4.5
StoffgemischeĆ
Die vorgenannten Grenzwerte gelten in der Regel nur für die Exposition eines reinen Stoffes, an Arbeitsplätzen treten aber in der Regel Stoffgemische auf. Die gleichzeitige oder nacheinander erfolgende Exposition gegenüber verschiedenen Stoffen kann die gesundheitsschädliche Wirkung erheblich verstärken, ggf. auch vermindern. So ist in der TRGS 402 gefordert, dass eine „Beurteilung der Gemischexposition vorzunehmen“ ist, wenn „mehrerer Stoffe gleichzeitig oder nacheinander während einer Schicht zur Exposition beitragen“, sofern für die einzeln auftretenden Stoffe „verbindliche Grenzwerte“ (bspw, die Arbeitsplatzgrenzwerte in TRGS 900) vorliegen, wird für das Gemisch folgendes Verfahren angewendet. Es wird ein Stoffindex I aus der Division des Schichtmittelwertes C des Einzelstoffes mit dem Grenzwert GW des Stoffes gebildet: I
C GW
(9.46)
Der Bewertungsindex BI für Stoffgemische bildet sich dann aus der Summe der Stoffindizes für die Stoffe mit einem Arbeitsplatzgrenzwert AGWi: BI AGW
¦I i
i
Cn C1 C2 ... AGW1 AGW2 AGWn
(9.47)
Solange die berechneten Bewertungsindizes kleiner oder gleich 1 sind, gelten die Grenzwerte als eingehalten. Damit ergibt sich jedoch ein messtechnisch-zeitliches Problem, wenn an einem Arbeitsplatz eine größere Anzahl von Gefahrstoffen auftritt. An Abgießstrecken
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einer Leichtmetallgießerei, an der mit unterschiedlichen Verfahren hergestellte Kerne verarbeitet werden, sind ca. 15 unterschiedliche gefährliche Arbeitsstoffe zu erwarten. Die Messung aller Schadstoffe an einem solchen Arbeitsplatz würde mehrere Wochen in Anspruch nehmen: Allein die Messung eines gefährlichen Arbeitsstoffes an einem Messpunkt nimmt mit Auswertung und Darstellung der Ergebnisse etwa 4 bis 24 Stunden in Anspruch (HAHNE et al. 1988). Einen Ausweg bietet hier die von SCHÜTZ u. WOLF (1980) und in der TRGS 402 vorgeschlagene Messung von Leitkomponenten. Eine Leitkomponenten eines Stoffgemisches in der Luft ist ein Stoff, der stellvertretend für alle Stoffe oder eine Gruppe von Stoffen erfasst und beurteilt wird. Die Expositionsbeurteilung an Hand einer Leitkomponente ist möglich, wenn die Konzentrationsverhältnisse der Komponenten in der Luft untereinander langfristig gleich bleibend sind. Die Beurteilung erfolgt nur noch auf der Grundlage der für diese Leitkomponenten festgestellten Konzentration und der hierfür geltenden Grenzwerte, allerdings wird für die Leitkomponenten formal die Summenformel nach dem Verfahren für Gemische herangezogen, die offensichtlich überadditive Wirkungen nach dem Muster von Giftstoff-Synergismen nicht berücksichtigt. Sollte es keine verbindlichen Grenzwerte für die Einzelstoffe vorliegen, müssen zur Bewertung der Exposition andere Beurteilungsmaßstäbe herangezogen werden. Da in diesem Fall kein allgemeingültiges Beurteilungsschema angegeben werden kann, obliegt es dem Arbeitgeber, eine Beurteilung der inhalativen Exposition eigenverantwortlich bspw. auf der Basis einer bestehenden stoff- oder tätigkeitsspezifischen TRGS durchzuführen. Dabei dienen ihm dann die in der TRGS 402 genannten Hilfen zur Erhebung des Befundes. 9.6.4.6
HautresorptionĆ
Bei Stoffen, welche die äußere Haut leicht zu durchdringen vermögen, kann über diesen Weg in der Praxis eine höhere Vergiftungsgefahr bestehen als durch die Aufnahme über das Einatmen. So können z.B. durch Anilin, Nitrobenzol, Ethylenglykoldinitrat, Phenole und verschiedene Pflanzenschutzgifte lebensgefährliche Vergiftungen entstehen. In der Grenzwert-Liste sind solche Stoffe speziell gekennzeichnet. 9.6.4.7
BeschäftigungsbeschränkungenĆ gruppenĆ
fürĆ
besondereĆ
Personen-
Bis 1997 enthielt die Gefahrstoffverordnung (GefStoffV) Beschäftigungsverbote für bestimmte Personengruppen im Umgang mit Gefahrstoffen. Nach der Neustrukturierung sind diese Regelungen in die Verordnungen zum Schutz der Mütter am Arbeitsplatz (MuSchG) und das Jugendarbeitsschutzgesetz (JarbSchG) überführt und erweitert worden.
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9.6.4.7.1 Schwangerschaft und Mutterschutz Erstmals in der MAK-Werte-Liste von 1988 fanden sich Aussagen zu der Anwendung von Grenzwerten während der Schwangerschaft. In der TRGS 900 sind mittlerweile die Stoffe in Bezug auf die Gefahr der Fruchtschädigung gekennzeichnet. Es werden drei Kategorien unterschieden: (1) Stoffe, bei denen ein Risiko der Fruchtschädigung bei Einhaltung des Arbeitsplatzgrenzwertes und des biologischen Grenzwertes nicht befürchtet zu werden braucht, werden mit der Bemerkung „Y“ gekennzeichnet (2) Stoffe, bei denen ein Risiko der Fruchtschädigung auch bei Einhaltung von AGW und des BGW nicht ausgeschlossen werden kann, werden mit der Bemerkung „Z“ gekennzeichnet. (3) Stoffe, bei denen noch keine Einstufung möglich ist, erhalten keine Bemerkung. Das Mutterschutzgesetz (MuSchG) regelt Beschäftigungsbeschränkungen für werdende und stillende Mütter. So dürfen werdende und stillende Mütter nicht mit Arbeiten beschäftigt werden, bei denen sie infolge ihrer Schwangerschaft oder in der Stillzeit in besonderem Maße der Gefahr, an einer Berufskrankheit zu erkranken, ausgesetzt sind oder bei denen durch das Risiko der Entstehung einer Berufskrankheit eine erhöhte Gefährdung für Mutter und Kind besteht (z.B. beim Schälen von Holz). 9.6.4.7.2 Jugendschutz Jugendliche dürfen nach dem Gesetz zum Schutz der arbeitenden Jugend (JarbSchG) nicht beschäftigt werden
x mit Arbeiten, bei denen sie schädliche Einwirkungen von Gefahrstoffen im Sinne des Chemikaliengesetzes ausgesetzt sind, x mit Arbeiten, bei denen sie schädlichen Einwirkungen von biologischen Arbeitsstoffen im Sinne der Richtlinie 90/679/EWG des Rates vom 16. November 1990 zum Schutze der Arbeitnehmer gegen Gefährdung durch biologische Arbeitsstoffe bei der Arbeit ausgesetzt sind. Die Beschränkungen gelten nicht, soweit dies zur Erreichung ihres Ausbildungszieles erforderlich ist, ihr Schutz durch die Aufsicht eines Fachkundigen gewährleistet ist und der Luftgrenzwert bei gefährlichen Stoffen unterschritten wird. 9.6.5
Gestaltungshinweise
Wie bereits in Kapitel 9.6.4 beschrieben, werden die Gefahrstoffe nach der Gefahrstoffverordnung vier unterschiedlichen Schutzstufen zugeordnet, die bezogen auf die zu treffenden Schutzmaßnahmen aufeinander aufbauen. Das bedeutet, dass jede höhere Schutzstufe die Maßnahmen der vorherigen beinhaltet.
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Nachfolgend werden einige Schutzmaßnahmen dargestellt und zu den Schutzstufen zugeordnet: Schutzstufe 1: Grundsätze für die Verhütung von Gefährdungen bei Tätigkeiten mit geringer Gefährdung Neben der grundsätzlichen Gestaltung des Arbeitsplatzes und der Arbeitsorganisation, der Bereitstellung geeigneter Arbeitsmittel für die Tätigkeiten mit Gefahrstoffen und die Begrenzung der Dauer und des Ausmaßes der Exposition sei hier darauf hingewiesen, dass insbesondere gefordert wird, dass nur die erforderliche Menge des Gefahrstoffes am Arbeitsplatz vorhanden sein soll. Außerdem müssen alle vorhandenen Gefahrstoffe gekennzeichnet sein. Die Gefahrstoffe müssen in eindeutig gekennzeichneten Behältnissen gelagert werden, so dass keine Verwechslung – insbesondere mit Lebensmitteln – auftreten kann. Schutzstufe 2: Grundmaßnahmen zum Schutz der Beschäftigten Wie bei allen Umgebungsfaktoren gilt bei der Bekämpfung der gefährlichen Arbeitsstoffe die Reihenfolge: Vermeidung bzw. Substitution, technische Maßnahmen, organisatorische Maßnahmen und erst als letzte vorzusehende Möglichkeit persönliche Schutzmaßnahmen und Verhaltensanweisungen bzw. -anforderungen. Gefährliche Arbeitsstoffe sollen demnach durch Stoffe substituiert werden, die für die Gesundheit und die Sicherheit des Beschäftigten nicht oder zumindest weniger gefährlich sind. Vermeidung bzw. Substitution kann bspw. durch ein anderes Arbeitsverfahren erfolgen (z.B. Tauchlackierung statt Spritzlackierung vermeidet Farbnebel) oder durch Ersatz des gefährlichen Stoffes durch einen ungefährlichen oder zumindest weniger gefährlichen Stoff (z.B. Ersatzstoffe für Asbest, Verwendung von Lacken auf Wasserbasis). Kann die Gefährdung durch Substitution nicht deutlich verringert werden, müssen technische Maßnahmen durch Gestaltung geeigneter Verfahren und technischer Steuerungseinrichtungen ergriffen werden. Eine Mittelstellung zwischen Vermeidung und technischen Maßnahmen ist die Verwendung staubarmer Formulierungen für feste, pulverförmige Stoffe z.B. in Form von Granulaten, Pellets und Pasten (BUNDESANSTALT 1986). Im Allgemeinen gilt, dass mit wachsender Entfernung der technischen oder organisatorischen Maßnahme von der Schadstoffquelle auch die Komplexität der zu treffenden Maßnahme wächst; es steigt die Anforderung an die Instandhaltung und Funktionskontrolle bei fallender Effektivität (BUNDESANSTALT 1986). Sind persönliche Schutzmaßnahmen erforderlich, sind die Schutzausrüstungen vom Arbeitgeber zur Verfügung zu stellen und in ordnungsgemäßem Zustand zu halten. Dies sind z.B. Schutzcremes, Schutzhandschuhe, Schutzanzüge, Atemschutzfilter und Sauerstoffgeräte. Schutzstufe 3: Ergänzende Schutzmaßnahmen bei Tätigkeiten mit hoher Gefährdung Sofern eine Substitution des gefährlichen Stoffes, der Zubereitung oder der Erzeugnisse oder der Verfahren nicht möglich ist, so muss die Herstellung bzw. die
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Verwendung des Gefahrstoffes in einem geschlossenen System stattfinden. Darüber hinaus muss der Arbeitgeber sicherstellen, dass die Grenzwerte eingehalten werden. Dies muss er ggf. durch Messung überprüfen, insbesondere dann, wenn sich die (Arbeits-) Bedingungen ändern. Bei Stoffen der Schutzstufe 3 ist außerdem zu gewährleisten, dass nur die Arbeitnehmer Zugang haben, die zur Ausübung ihrer Arbeit mit dem Gefahrstoff umgehen müssen. Bei der Lagerung ist darauf zu achten, dass nur fachkundige Personen Zugang haben. Schutzstufe 4: Ergänzende Schutzmaßnahmen bei Tätigkeiten mit krebserzeugenden, erbgutverändernden und fruchtbarkeitsgefährdenden Gefahrstoffen Beim Umgang mit krebserzeugenden, erbgutverändernden und fruchtbarkeitsgefährdenden Gefahrstoffen, für die ausnahmsweise ein Arbeitsplatzgrenzwert festgelegt ist, oder bei Tätigkeiten, für die verfahrens- und stoffspezifische Kriterien existieren, gelten die bisher genannten Maßnahmen. Sofern dies nicht der Fall ist, hat der Arbeitgeber Messungen der Stoffe durchzuführen, um infolge unvorhersehbarer Ereignisse oder eines Unfalles erhöhte Expositionen frühzeitig zu ermitteln. Entsprechende Gefahrenbereiche müssen abgesperrt und kenntlich gemacht werden. Den Beschäftigten, die bei erhöhten Expositionen Tätigkeiten mit diesen Stoffen ausüben, müssen Atemschutzgeräte und Schutzkleidung zur Verfügung gestellt werden. Bei Absauganlagen und Raumluftanlagen ist die Luft so zu führen, dass keine Schadstoffe in den Atembereich der Beschäftigten gelangen (Abb. 9.68). Es sei denn, die Luft ist nach behördlichen oder berufsgenossenschaftlich anerkannten Verfahren gereinigt worden. Werden Arbeitsplatzgrenzwerte oder biologische Grenzwerte nicht unterschritten und hilft weiter der Arbeitgeber der diesbezüglich erhobenen oder veranlassten Beschwerde des Arbeitnehmers oder dessen Betriebs- oder Personalrats nicht unverzüglich ab, so kann sich der einzelne Arbeitnehmer nach Ausschöpfung der innerbetrieblichen Möglichkeiten unmittelbar an die für die Überwachung zuständigen Stellen wenden. Besteht durch die Überschreitung eine unmittelbare Gefahr für Leben oder Gesundheit, hat der einzelne Arbeitnehmer das Recht, die Arbeit zu verweigern. Dadurch dürfen ihm keine Nachteile entstehen (LEHDER u. SKIBA 2005). Der Arbeitgeber hat den Inhalt der im Betrieb anzuwendenden Vorschriften der Gefahrstoffverordnung (§ 18) in einer für den Arbeitnehmer verständlichen Form und Sprache in einer Betriebsanweisung darzustellen und diese auszulegen oder auszuhändigen. Die Arbeitnehmer müssen über die Gefahren beim Umgang mit gefährlichen Stoffen vor Arbeitsbeginn und danach mindestens jährlich unterwiesen werden (LEHDER u. SKIBA 2005; TRGS 555). Seit 1982 enthält das Chemikaliengesetz (ChemG) die Verpflichtung zur Prüfung und Anmeldung von Stoffen und zur Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung gefährlicher Stoffe und Zubereitungen. Dies hat die Arbeit in der betrieblichen Praxis vereinfacht. Während es vorher oft unmöglich war, von einem Liefe-
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ranten die Zusammensetzung seines Produktes zu erfahren, besteht nun ein Anspruch auf die Bekanntgabe der chemischen Zusammensetzung, soweit gefährliche Stoffe enthalten sind. Im eigentlichen Sinne keine Bekämpfung der Gefahrstoffe, sondern der Versuch, frühzeitig Veränderungen zu erkennen, sind die verschiedentlich (z.B. in der BGV A 4) geforderten Vorsorgeuntersuchungen. Diese müssen von staatlich ermächtigten Ärzten durchgeführt werden, über deren Ergebnisse ist Kartei zu führen, und die Arbeitnehmer sind auf Verlangen über den Untersuchungsbefund zu unterrichten.
Prinzip der freien Lüftung
Prinzip der maschinellen Lüftung
Prinzip einer Absaugung
Prinzip einer raumlufttechnischen Anlage
Abb. 9.68: Unterschiedlich gestaltete Luft Zu- und Abführungen
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9.7
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Superposition von Arbeitsumgebungseinflüssen
Ausgehend von der Tatsache, dass die Arbeitsumgebungsfaktoren in praktischen Arbeitsprozessen quasi nie isoliert auftreten, sondern stets eine Kombination vorliegen dürfte, ist an sich auch eine Wirkungsbetrachtung nur für die Gesamtheit aller einwirkenden Umgebungsfaktoren in Verbindung mit den arbeitsspezifischen Belastungsarten zulässig. Diese Wirkungszusammenhänge sind jedoch trotz einzelner Bewertungsansätze bislang noch kaum erforscht, so dass in der Praxis nach wie vor zunächst eine Wirkungsbetrachtung für jede einzelne Belastungsgröße angebracht erscheint. In einem nächsten Schritt ist die spezifische Wirkung der Arbeitsumgebungsfaktoren auf bestimmte organismische Systeme zu identifizieren und, bei der Inanspruchnahme gleicher Systeme, einer Engpassbetrachtung zuzuführen. Dieses Verfahren bewährt sich z.B. beim Vorliegen belastender Klimafaktoren im Zusammenhang mit einer hohen energetischen Belastung des Menschen, sog. Hitzearbeit. Beide Belastungsgrößen führen hier zu einer erhöhten Inanspruchnahme des Herz-Kreislauf-Systems, welches in diesem Fall als Engpasssystem zu betrachten ist (u.a. LUCZAK 1979; WENZEL u. PIEKARSKI 1980). Eine andere Situation ist bspw. bei der Kombination von Lärm und energetischen oder klimatischen Belastungen gegeben. Eine Wirkung des Lärms auf das Gefäßsystem des Menschen ist die periphere Vasokonstriktion (Gefäßverengung). Energetische oder klimatische Belastungen bewirken dagegen eine Gefäßerweiterung (Vasodilatation). Bei einer Kombination beider Belastungen kommt es somit, allerdings nur unterhalb bestimmter Schwellwerte, zu einer teilweisen Aufhebung der Lärmwirkung bezogen auf das Gefäßsystem des Menschen (DUPUIS 1979; JANSEN 1964). Allein diese beiden Beispiele zeigen, dass die unterschiedlichen Wirkungszusammenhänge einer systematischen Betrachtung bedürfen, die unter dem Begriff „Belastungssuperposition“ zusammengefasst werden kann. Nach LUCZAK (1982) unterscheidet man bei der Kombination von verschiedenen Belastungsarten folgende Prinzipien: Kompensationseffekt, der dann eintritt, wenn die Wirkung einer Belastung der Wirkung einer (oder mehrerer) weiteren Belastung(en) derart überlagert ist, dass sich eine insgesamt niedrigere Beanspruchung einstellen wird, als bei Vorliegen nur einer Belastung. Dies ist z.B. dann zu beobachten, wenn die Reaktion des Organismus auf eine Belastungsart von der Reaktion der weiteren Belastungsart quasi verdeckt wird. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Das Beanspruchungsverhalten bei der Belastungsart „kaltes Klima“ ist nicht nur mit einer verstärkten Herz-Kreislauf-Aktivität verbunden, sondern, natürlich damit eng verknüpft, auch mit einer erhöhten Wärmeproduktion (Kältezittern). Bei einer überlagerten Belastungsart „dynamische Arbeit“ ist, als eine Beanspruchungsreaktion, dagegen ebenfalls eine erhöhte Wärmeproduktion zu erwarten. Für sich genommen, stellt jede erhöhte Wärmeproduktion eine Beanspruchungserhöhung dar. Im vorliegenden
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Fall dient jedoch die „Abfallwärme“ durch die dynamische Arbeit der Wärmeregulation, die durch das kalte Klima erforderlich ist. Insgesamt wird damit eine geringere Beanspruchung zu verzeichnen sein, als wenn jede Belastungsart einzeln betrachtet wird. DIESTEL (1983) bezeichnet den kompensatorischen Effekt folgerichtig auch als Wirkungsabschwächung. Indifferenzeffekt beschreibt den Umstand, dass durchaus mehrere Belastungsarten vorliegen können, die keinen wechselseitigen Einfluss auf den Organismus in Form von Beanspruchungsreaktionen, die über die Beanspruchung aufgrund nur einer Belastungsart hinausgehen, bewirken. Die unterschiedlichen Belastungsarten werden dabei in der Regel unterschiedliche Organsysteme beanspruchen, die jeweils für sich genommen in der Lage sind, die Einzelbelastung im Rahmen ihrer Kapazität ohne Rückwirkungen auf andere Organsysteme zu verarbeiten. Voraussetzung ist dabei, dass die angesprochene Kapazitätsgrenze nicht überschritten wird, da in diesem Fall regelmäßig mit der Inanspruchnahme weiterer Organsysteme zu rechnen ist. Auch hier soll ein Beispiel diesen Zusammenhang verdeutlichen: Bei der Kombination der Belastungsarten „dynamische Arbeit“ und „unterschiedliche Beleuchtungsstärken“ (als situative Belastungsart) kann ein gegenseitiger Einfluss ausgeschlossen werden, da das Herz-Kreislauf-System und das Organsystem „Auge“ mit den nachgeschalteten Verarbeitungsmechanismen, also die beanspruchten Organsysteme, als weitgehend unabhängig voneinander funktionierend betrachtet werden können. Voraussetzung ist hier, wie geschildert, dass keines der beanspruchten Organsysteme „überfordert“ wird. Der Indifferenzeffekt wird auch mit dem Begriff „Wirkungsgleichheit“ beschrieben. Kumulationseffekt bedeutet, dass die resultierende Beanspruchungsreaktion des Organismus höher ist, als die Beanspruchungsreaktionen einzelner Belastungsarten bei isolierter Betrachtung. Dieser Effekt wird naturgemäß dann zu beobachten sein, wenn durch verschiedene Belastungsarten ein und dasselbe Organsystem beansprucht wird. Ein Beispiel für den Kumulationseffekt ist das Zusammentreffen der Belastungsarten „dynamische Arbeit“ und „warme Klimazustände“. Dabei wirken beide Belastungen auf das gleiche Organsystem, nämlich das HerzKreislauf-System: Bei der Belastungsart „dynamische Arbeit“ wird das HerzKreislauf-System für die Versorgung der Muskulatur in Anspruch genommen, und bei der thermischen Belastung hat das Herz-Kreislauf-System die Funktion der Thermoregulation zu erfüllen (vgl. u.a. LUCZAK et al. 1984). Beide Funktionen sind dabei eng gekoppelt und wirken gleichermaßen beanspruchungserhöhend. Die Höhe der resultierenden Beanspruchung ist somit in jedem Falle höher als eine der Teilbeanspruchungen, die sich bei der isolierten Untersuchung jeweils einer Belastungsart ergeben würde. Die tatsächliche Höhe der Beanspruchung lässt sich indes nicht einfach aus der Summe der Teilbeanspruchungen ermitteln: Je nach Ausprägung (Belastungshöhe) der Teilbelastungen ist auch ein unter- oder überadditives Ergebnis als Beanspruchungsgröße zu erwarten. Diesen Effekt bezeichnet DIESTEL (1983) als Wirkungsverstärkung. Im Bereich der stofflichen Arbeitsumgebungsfaktoren wird das Problem der Überlagerung der Wirkungen verschiedener Stoffe u. a. mit dem Begriff „Gift-
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stoffsynergismus“ bezeichnet (NORPOTH 1982). Gerade hier erweist sich eine Abschätzung der zu erwartenden Wirkung als äußerst problematisch, da die große Zahl chemischer Stoffe, die in der Regel nicht allein am Arbeitsplatz vorliegen, zu unüberschaubaren Kombinationsmöglichkeiten führen. So sind in der Praxis bislang auch erst wenige Kombinationen, die durch häufiges Auftreten besonders wichtig sind, bezüglich ihrer Wirkung eingehender untersucht worden (z.B. Lösungsmittel – wie Trichlorethylen oder Tetrachlor-Kohlenstoff – in Verbindung mit anderen Stoffen). Stark vereinfachend kann eine addtive Wirkung unterstellt werden, wie sie bspw. dem Bewertungsindex BI für Stoffgemische nach Gleichung (9.47) zugrunde liegt.
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10 Ergonomische Gestaltung Die früheste historisch nachweisbare Verwendung des Begriffs Ergonomie erfolgte, wie zuvor in Kapitel 1.2.1 dargestellt, bereits 1857 durch den polnischen Wissenschaftler Jastrzebowski (JASTRZEBOWSKI 1857). Er verwendet das Kunstwort Ergonomie (aus dem griech. ergon = Arbeit, Werk und nomos = Gesetz) synonym zu dem Begriff der Arbeitswissenschaft. Wie in MÜLLER (2001) ausführlich analysiert, finden sich in der Literatur unterschiedliche Auslegungen des Begriffs: Diese reichen nach SCHULTE et al. (1974) von der Berücksichtigung der rein menschlichen Seite über die Gleichsetzung von Ergonomie und Arbeitswissenschaft bis hin zur Betrachtung der Ergonomie als Teilgebiet der Arbeitswissenschaft. Weitere Analysen finden sich bspw. in GÖBEL (2009), STRASSER (2009) und ZINK (2009). Eine im August 2000 durch die International Ergonomics Association (IEA) verabschiedete Definition beschreibt Ergonomics als „... the scientific discipline concerned with the understanding of interactions among humans and other elements of a system, and the profession that applies theory, principles, data and methods to design in order to optimize human well-being and overall system performance” (IEA 2000). Den letztgenannten Auslegungen folgend wird Ergonomie als Teilgebiet der Arbeitswissenschaft verstanden (sensu LAURIG 1990) und in den Folgekapiteln hinsichtlich der Gestaltung im Detail behandelt. Die ergonomische Gestaltung beinhaltet die Gestaltung von Arbeitssystemen, -plätzen, -mitteln, Produkten und Prozessen nach Kriterien, die durch die physiologischen Leistungen und psychologischen Bedingungen des Menschen sowie dessen Abmessungen bestimmt werden. Die ergonomische Gestaltung ist mit der Aufzählung dieser Gesichtspunkte allerdings nur unzureichend zu erklären, deckt sie doch eine Reihe weiterer Themengebiete wie bspw. die Arbeitsumgebung (Kap. 9) sowie Gruppen- und Teamarbeit (Kap. 5) ab (sensu LAURIG 1997) und führt sie unter Berücksichtigung der Fähigkeiten und Fertigkeiten des Menschen zu wissenschaftlich abgesicherten Gestaltungslösungen. Am Anfang dieses Kapitels stehen zunächst die energetischen, informatorischen und anthropometrischen Prinzipien, die sich mit der Gestaltung der Schnittstelle zwischen dem Menschen und technischen Elementen, die für eine zielgerichtete Interaktion im Arbeitssystem notwendig sind, befassen (sog. MenschMaschine-Schnittstelle). Anschließend wird am Beispiel des sog. „Usability Engineering“ ein eher pragmatischer Ansatz zur benutzerzentrierten Auslegung und Bewertung von Produkten in einem bestimmten Nutzungskontext behandelt. Im Weiteren wird mit der Softwareergonomie ein im Anwendungszusammenhang der Mensch-Computer-Interaktion wichtiges Teilgebiet der ergonomischen Gestaltung
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eingeführt. Schließlich werden innovative Technologien und Werkzeuge zum „Prototyping“ von Arbeitsmitteln und -objekten vorgestellt, die im Rahmen der virtuellen Produktentwicklung sowie Prozess- und Fabrikplanung eingesetzt werden. In Bezug auf eine umfassende Gestaltungslösung unter Beachtung und Anwendung der genannten Prinzipien und Aspekte führt dieses Kapitel die Erkenntnisse schließlich zu einem ganzheitlichen Gestaltungsansatz zusammen, der sowohl in der Produktergonomie als auch in der Produktionsergonomie (BRUDER et al. 2009) seine Anwendung findet. Somit wird dem Ziel der ergonomischen Arbeitsgestaltung, die menschzentrierte Auslegung technischer Systeme, Rechnung getragen, welches sich am besten erreichen lässt, wenn bereits in der Planungsphase eines Arbeitssystems ergonomische Erkenntnisse angewendet werden (SCHLICK 2009). Man spricht in diesem Fall von „prospektiver Ergonomie“ (siehe Kap. 1.5.3.2). Eine Nachbesserung vorhandener Systeme („korrektive Ergonomie“) ist dagegen in der Regel nur unter Kompromissen bezüglich der für die Arbeitsperson erzielbaren Ergebnisse und der wirtschaftlichen Aspekte möglich. Wenn jedoch keine andere Möglichkeit besteht, sollte dennoch mit korrektiven Maßnahmen versucht werden, unzulängliche Arbeitsbedingungen zu verbessern (LAURIG 1990). 10.1 Gestaltungsprinzipien 10.1.1 Energetisch-effektorisch Höchste Priorität bei der Gestaltung energetisch-effektorischer Arbeit hat der Schutz der Gesundheit der Arbeitsperson (siehe auch Kap. 1.5.2). Hierbei ist zu prüfen, ob eine Gesundheitsgefährdung möglich bzw. wahrscheinlich ist. In diesem Falle sind akute Maßnahmen einzuleiten, die sich auf die technischphysiologische Gestaltung der Arbeitsprozesse oder der Arbeitsmittel beziehen können. Auch wenn keine Gesundheitsgefährdung zu befürchten ist, bieten sich eine Reihe von Potenzialen, die Arbeitstätigkeit effizienter und einfacher zu gestalten. Hierzu zählt zunächst die Minimierung der zu leistenden physikalischen Arbeit im Sinne einer Reduktion der energetischen Belastung in Relation zum bewirkten Arbeitsergebnis. Weitere Schritte beziehen sich auf die Optimierung des Wirkungsgrades hinsichtlich einer Minimierung der Beanspruchung im Verhältnis zur Belastung. Im Kontext des Arbeitsprozesses können schließlich Ansätze zur Optimierung der Beanspruchungswirkungen im Sinne von geeigneten Arbeitsmethoden, Arbeitsabfolge- und Pausenregimen beitragen.
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10.1.1.1 SchutzĆderĆGesundheitĆ Eine Gesundheitsgefährdung bei energetisch-effektorischen Arbeitsformen tritt vor allem beim Handhaben von Lasten auf. Den Konsequenzen möglicher Schädigungen Rechnung tragend, wurde 1993 die Liste der Berufskrankheiten um die bandscheibenbedingten Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten (BK 2108) und um Erkrankungen der Halswirbelsäule durch langjähriges Tragen von Lasten auf der Schulter (BK 2109) erweitert (siehe auch BOLM-AUDORFF 1993). Darüber hinaus fordert die EU-RICHTLINIE 269/90 bezüglich der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes bei der manuellen Handhabung von Lasten: „präventive Maßnahmen zur Vermeidung einer Gefährdung durch das Handhaben von Lasten zu ergreifen und Arbeitsplätze, die mit der Handhabung von Lasten verbunden sind, bezüglich ihrer Gefährdung für den Mitarbeiter zu bewerten". Hierzu können vier Kriterien herangezogen werden (z.B. MITAL et al. 1993; STEINBERG et al. 2000): (1) Epidemiologisches Kriterium: Tätigkeitspezifischer Risikofaktor (LAURIG et al. 1985) (2) Physiologisches Kriterium: Physiologische Grenzwerte (3) Biomechanisches Kriterium: Abschätzung der mechanischen Belastung des Skeletts, der Muskulatur oder der Bandscheibe über biomechanische Modelle (4) Psychophysikalisches Kriterium: Subjektive Einschätzung eines Menschen über die Erträglichkeit und Zumutbarkeit der Durchführung einer Tätigkeit. Die Anwendung eines einzigen der genannten Kriterien erweist sich jedoch als wenig praktikabel, da dann entweder keine präzisen Aussagen für den Einzelfall möglich sind (z.B. bei 1.) oder ein unverhältnismäßiger Überprüfungsaufwand entstehen würde (bei 3.). Darüber hinaus ist mit unterschiedlichen Grenzwerten bei den verschiedenen Ansätzen zu rechnen. Grundsätzlich ist an Verfahren zur Beurteilung der Belastung die Anforderung der einfachen Durchführbarkeit im Betrieb zu stellen. Da damit eine Ermittlung der Beanspruchung nur näherungsweise möglich ist, werden solche Abschätzungen zunächst konservativ angelegt, d.h. es erfolgt eine Prüfung auf mögliche Überbelastung. Zur Abschätzung des Interventionsbedarfes bezüglich der Körperhaltungen und mit Einschränkungen bezüglich der bewegten Lasten kann z.B. die OWASMethode (OVAKO WORKING POSTURE ANALYSING SYSTEM) zur Körperhaltungsanalyse herangezogen werden (KARHU et al. 1977, STOFFERT 1985). Für die spezifische Problematik der Lastenbewegung stellt sich nach Kenntnis der Druckbelastbarkeit (siehe Kap. 3.2.11) die praktische Frage nach dem Zusammenhang zwischen den Beschreibungsgrößen der Arbeitsaufgabe und der dabei zu erwartenden mechanischen Belastung der Wirbelsäule. Da nicht für jeden Einzelfall eine biomechanische Analyse durchgeführt werden kann, erweist sich eine Abschätzung nach der BAuA-Leitmerkmalmethode (STEINBERG u. WINDBERG 1997; CAFFIER et al. 1999; STEINBERG et al. 2000, 2007) als nützlich.
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Die Leitmerkmalmethode stellt eine Methode zur Beurteilung der Gesundheitsgefährdung dar und stützt sich auf eine Bewertung der Arbeitsbedingungen bei der manuellen Handhabung von Lasten anhand der vier Merkmale 1) Lastgewicht, 2) Zeitdauer, 3) Körperhaltung und 4) Ausführungsbedingungen. Bei der Anwendung der Leitmerkmalmethode stehen Arbeitsblätter zur Verfügung, die über Piktogramme, Beschreibungen und Rangzahlen eine Bewertung und Beurteilung einer manuellen Lastenhandhabung erlauben. Die Bewertung eines manuellen Lastenhandhabungsprozesses erfolgt anhand von Risikobereichen, die die Höhe einer potenziellen Schädigungsgefahr für die Wirbelsäule repräsentieren und ggf. auf die Erfordernis von Gestaltungsmaßnahmen hinweisen. Neben der Leitmerkmalmethode wurde eine Vielzahl von Methoden zur Beurteilung der Belastung des Muskel-Skelett-Systems bei der manuellen Lastenhandhabung entwickelt, denen verschiedene Belastungs-Beanspruchungsmodelle zugrunde liegen. Weit verbreitet ist z.B. das NIOSH-Verfahren, ein vom National Institute for Occupational Safety and Health (NIOSH) in den USA entwickeltes Verfahren zur Abschätzung der Maximallast. Es handelt sich hierbei um eine Methode zur sicherheitstechnisch-betriebsärztlichen Betreuung auf Basis der Lastenhandhabungsverordnung (Screening Verfahren). Als Belastungsgrenzwert wird hierbei unter optimalen Handhabungsbedingungen eine Druckkraft von maximal 3,4 kN auf den Lenden-Kreuzbein-Übergang (L5-S1) als tolerabel angesehen. Das NIOSH-Verfahren basiert auf der Berechnung des Recommended Weight Limit (RWL). Das RWL ist für ein bestimmtes Set an Arbeitsbedingungen definiert als das Gewicht einer Last, das nahezu alle gesunden Arbeitspersonen über eine bestimmte Zeit (z.B. die Dauer einer 8-Stunden-Schicht) ohne erhöhte Gefahr von Rückenverletzungen bewältigen können. Die Bestimmung der Maximallast erfolgt anhand der multiplikativen Verknüpfung einer Lastkonstanten mit den sechs Faktoren 1) Kopplungsfaktor Hand-Last, 2) horizontaler Abstand Wirbelsäule-Last, 3) vertikaler Abstand Hand-Boden, 4) vertikal zu überbrückende Hebedistanz, 5) Asymmetrie-Faktor zur Berücksichtigung von Verdrehungen des Körpers bei der Lastenhandhabung sowie 6) Häufigkeit, d.h. die Frequenz der Lastenhandhabung. Zur Bestimmung der einzelnen Faktoren stehen Tabellen und Formeln zur Verfügung (NIOSH 1981; NTIS 1991; WATERS et al. 1993). Eine Weiterentwicklung des NIOSH-Verfahrens, welche auch Konstitutions- und Dispositionsmerkmale der Arbeitspersonen (Geschlecht und Alter) berücksichtigt, stellt der Ansatz nach JÄGER (1996, 2001) dar. Zur Abschätzung der Zumutbarkeit der Krafterzeugung kann das SiemensBurandt-Verfahren angewendet werden (in modifizierter Form auch als BurandtSchultetus-Verfahren bekannt, BURANDT 1978, SCHULTETUS 1987), welches wegen seiner vergleichsweise einfachen Handhabbarkeit häufig auch in Industrieunternehmen eingesetzt wird (siehe auch VDI 1980, REFA 1987). Dieses Verfahren basiert zunächst auf einer tabellarischen Auflistung von Maximalkräften in Abhängigkeit der Kraftangriffspunkte und -richtungen sowie der Körpergrundhaltungen. Aus den so ermittelten Maximalkräften für einen bestimmten Arbeitsvorgang werden mit Hilfe von Multiplikatoren zur Berücksichtigung des Geschlechts und
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des Alters der Person, der Ausübungsdauer und der Ausübungsart (statisch, dynamisch) die im Einzelfall zulässigen Kräfte abgeschätzt (siehe Kap. 3.2.8). Ein ähnliches Verfahren wird in der DIN EN 1005-3 dargestellt. Die einfache Durchführbarkeit dieses Verfahrens und die prinzipielle Anwendbarkeit für nahezu alle Tätigkeiten bedingen, dass die situativen Faktoren nur verhältnismäßig grob gestuft berücksichtigt werden. Die mit einem solchen Verfahren ermittelten Ergebnisse sind daher nicht als exakte Grenzwerte zu verstehen, sondern eher als Anhaltspunkte, ob kritische Grenzen möglicherweise erreicht werden.
Abb. 10.1: Grenzlasten als Funktion der Griffentfernung (links) und als Funktion der Hebefrequenz bei verschiedenen Ermittlungsverfahren (aus VEDDER u. LAURIG 1994)
Vergleicht man die ermittelten Grenzwerte verschiedener Verfahren, so werden die unterschiedlichen Ansätze deutlich (Abb. 10.1). Das Siemens-BurandtVerfahren kommt bei Zugrundelegung gleicher Arbeitsbedingungen zu höheren Grenzlasten – da auf die Maximalkräfte bezogen – als die an der Wirbelsäulenbelastbarkeit orientierten NIOSH-Methoden. Für die Lastenhandhabung sind grundsätzlich folgende Gestaltungsregeln zu beachten (siehe auch Abb. 10.2): x Körpernahe Handhabung der Last x Heben durch Beinarbeit bei möglichst geradem Rücken x beidhändig symmetrische Handhabung x Vermeidung der Torsion des Oberkörpers x Gleichmäßiger, nicht ruckartiger Bewegungsverlauf. Der umfassenden Unterweisung der Arbeitspersonen zur Befolgung solcher Handlungsrichtlinien kommt deswegen große Bedeutung zu, da das Heben „aus dem Rücken heraus“ energetisch ökonomischer und damit subjektiv leichter erscheint, da die mechanische Belastung der Wirbelsäule normalerweise nicht direkt wahrnehmbar ist. Daher muss mit einer beständigen Tendenz zum „Rückfall" gerechnet werden, wenn – wie in der Regel der Fall – das richtige Verhalten durch
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die Gestaltung der Arbeitsaufgabe bzw. des Arbeitsplatzes selbst nicht vorgegeben werden kann.
Abb. 10.2: Bewegungsabfolge beim Heben einer Stange und beim Heben und Absetzen einer Kiste (aus ROHMERT 1983a)
Neben der Gestaltung der Arbeitsaufgaben und der geeigneten Ausführungsweise spielt auch die Ausführungshäufigkeit und -dauer eine erhebliche Rolle. Durch die Wahl der Arbeitsabfolge und die Abwechslung mit anderweitigen Belastungen, je nach Beanspruchungsengpass durchaus auch andere energetischeffektorische Tätigkeiten, kann die Schädigungsgefahr weiterhin über arbeitsorganisatorische Maßnahmen verringert werden. Die Ausführung energetisch-effektorischer Arbeit kann jedoch nicht uneingeschränkt allen potenziell geeigneten Personen zugemutet werden. Je nach persönlicher Konstitution und Disposition (ggf. bereits beeinträchtigt durch in früheren Jahren ausgeführte Tätigkeiten) ist mit Einschränkungen bezüglich der schädigungslosen Zumutbarkeit solcher Arbeitsformen zu rechnen. Daher sind alle Arbeitspersonen vor der Tätigkeitsausführung bei hohen Belastungen in ihrem eigenen Interesse auf die körperliche Eignung hin zu überprüfen und regelmäßig zu überwachen.
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10.1.1.2 MinimierungĆderĆzuĆleistendenĆArbeitĆ Vor der Optimierung von Arbeitsbewegungen stellt sich zunächst die Frage, ob nicht die zu leistende physikalische Arbeit insgesamt verringert werden kann. Diese Überlegung stützt sich auf die Tatsache, dass menschliche Arbeit immer positiv gerichtet ist, d.h. einwirkende Kräfte nicht wie bei mechanischen oder elektro-mechanischen Systemen in Energie zurückgewandelt werden können, und dass sich physiologische Arbeit entgegen der klassischen Mechanik aus dem Produkt von Kraft und Zeit bemisst (siehe Kap. 3.2.5.1). Beispielsweise lässt sich der menschliche Energiebedarf in erheblichem Maße durch die Verringerung der Hubhöhe beim Be- und Entladen von Lasten verringern. Ein unverändertes Gewicht der Objekte vorausgesetzt, wäre in diesem Fall die physikalisch erbrachte Gesamtleistung stets gleich Null. In Bezug auf die menschliche Arbeit ist jedoch eine positiv gerichtete Arbeit beim Heben der Werkstücke und eine negativ gerichtete Arbeit beim Absenken der Werkstücke zu leisten. Im Beispiel aus Abb. 10.3 führt die Verringerung der Hubhöhe in Lösung II gegenüber Lösung I zu einer erheblichen Verringerung des Arbeitsenergieumsatzes und infolgedessen zur Beanspruchung des Herz-Kreislauf-Systems, bei gleichzeitig leicht gesteigerter Arbeitsleistung, hier im Wesentlichen mit dem kürzeren Bewegungsweg zu begründen. Die Anordnung auf etwa gleicher Höhe (Lösung III) führt zu einer nochmals geringfügig niedrigeren Beanspruchung, geht aber mit einer erheblichen Leistungssteigerung einher.
Abb. 10.3: Beschickung eines Durchlaufofens; Einfluss der Betriebsmittelgestaltung auf Leistung und biologische Parameter (nach SCHULTE und LARUSCHKAT 1980)
Bei Betrachtung der zu leistenden Arbeit ist dabei nicht nur die äußere Masse, sondern die gesamte bewegte oder zu haltende Masse zu berücksichtigen. Dies ist insbesondere bei – im Vergleich zum mitbenutzten Körperteilgewicht – kleinen Lasten von Bedeutung. So ist es unerheblich, ob eine Person ein Blatt oder zwan-
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zig Blätter Papier bewegt, da das Gewicht des eigenes Arms ein Vielfaches der äußeren Last beträgt und bei Auf- und Abwärtsbewegungen positiv und negativ gerichtete Arbeit ebenso für die Körperteilgewichte zu leisten ist (siehe auch Abb. 10.4). Die unvermeidlichen Schwerkräfte können unterstützend wirken, wenn die auszuübenden Kräfte (wenigstens teilweise) nach unten gerichtet sind. Dies macht man sich zum Beispiel bei der Pedalbetätigung zu Nutze, bei der das Beingewicht den Druck auf das Pedal auf natürliche Weise unterstützt und somit zu einer gleichmäßigeren Kraftaufbringung beigetragen wird (Abb. 10.5).
Abb. 10.4: Stark vereinfachte Darstellung des unterschiedlichen energetischen Aufwands für gleiche Arbeit infolge des Mittransports des eigenen Körpergewichts (aus HETTINGER und WOBBE 1993)
Abb. 10.5: Rechts: Kräftespiel beim Betätigen eines Pedals im Sitzen durch die Wirkung der Eigengewichte (nach JENIK 1979); links: Durchschnittliche maximale Tretkraft eines Beines im Sitzen in verschiedene Wirkrichtungen bei unterschiedlichen Distanzen der Sitzebene zur Krafteinleitungsstelle und bei Vorhandensein einer Rückenlehne (aus HETTINGER u. WOBBE 1993)
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An dem Beispiel der Pedalkräfte wird weiterhin deutlich, dass bei der Aufbringung von großen Kräften die entsprechenden Abstützungsmöglichkeiten (hier: Rückenlehne) von großer Bedeutung sind, da sonst zusätzliche innere Arbeit zur Schwerpunktverlagerung und zur Aufrechterhaltung der notwendigen Körperposition („Versteifung“) zu leisten ist. Durch die Abstützungswirkung der Rückenlehne verschiebt sich die Maximalkraft erheblich nach oben, allerdings in einer wenig bequemen Körperhaltung. In der Praxis sollten Pedale daher etwas niedriger, ca. 30° nach unten positioniert werden. Wie bereits in Kap. 3.2.5.1 aufgeführt, ist der physiologisch sinnvolle Arbeitsbegriff durch das Produkt von Kraft und Zeit gekennzeichnet. Weiterhin ist die Bewegungsmuskulatur des Menschen für statische Kraftaufbringung außerordentlich ermüdungsempfindlich. Im Gestaltungskontext bedeutet dies, dass jegliche Art von statischer Muskelarbeit möglichst zu vermeiden ist. Dabei spielt es nur eine untergeordnete Rolle, ob Haltearbeit, Haltungsarbeit oder statische Kontraktionsarbeit zu verrichten ist. Wenn das Halten von Objekten unvermeidlich ist, so sollte dies körpernah erfolgen (kleine Momentwirkung), und die Körperteile sollten gleichsinnig zur Schwerkraft gerichtet sein (Zugbelastung). In Bezug auf die kräftemäßige Belastung des Menschen muss natürlich berücksichtigt werden, dass die angreifenden Kräfte nicht grundsätzlich identisch mit den durch die Last hervorgerufenen Kräften sind, sondern – entsprechend der klassischen Mechanik – ein vektorielles Kräftegleichgewicht besteht. Wenn die Angriffsrichtungen der äußeren Last und die der aufgebrachten Kraft nicht entgegengesetzt, sondern spitzwinklig zueinander gerichtet sind, entsteht eine weitere Kraftkomponente senkrecht zur Angriffsrichtung der äußeren Kraft. Bei symmetrisch beidhändiger Arbeit sind diese Komponenten genau entgegen gesetzt, weswegen keine zusätzliche Kraft auf den Rumpf einwirkt (Abb. 10.6).
Abb. 10.6: Günstige und ungünstige Armhaltung beim Tragen einer gleich schweren Last mit unterschiedlichem biologischen Kraftaufwand je nach Spreizwinkel der Arme (HETTINGER u. WOBBE 1993)
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Allerdings steigt die in Richtung der Kraftaufbringung notwendige Kraft mit dem Kehrwert des Kosinus des Winkelversatzes an. Infolgedessen nehmen die Zugkräfte in den Armen und die Haltekräfte an den Händen mit größerem Spreizwinkel stark zu. Aus physiologischer Sicht ist daher eine möglichst senkrechte Armhaltung beim Heben von Gewichtslasten anzustreben (Abb. 10.6 und Abb. 10.7). Noch günstiger wären im gezeigten Fall der Abb. 10.7 Jochkonstruktionen, die die eingesetzte Muskelmasse verringern und die Krafteinleitung auf die Wirbelsäule vertikal gestalten.
Abb. 10.7: Einfluss von zwei gleichen Lasten auf die statische Beanspruchung des Trägers bei Verwendung von Normaleimern und innen abgeflachten Eimern (aus HETTINGER u. WOBBE 1993)
Bei asymmetrischer Kraftausübung beider Hände wird dadurch eine Kraft und ein Moment auf den Rumpf erzeugt, denen durch Stabilisierungskräfte zur Aufrechterhaltung der Körperposition entgegengewirkt werden muss (Abb. 10.8 und Abb. 10.9).
Abb. 10.8: Addition der einzelnen Kraftwirkungen bei beidhändiger gleichzeitiger Betätigung einer ungünstig gestalteten Vorrichtung. (in Anlehnung an STIER u. MEYER 1957 aus SCHMIDTKE 1989)
Diese Gesetzmäßigkeiten gelten in analoger Weise auch für die Kraftübertragung mittels der Hand (Abb. 10.10). Ist die Angriffsrichtung der äußeren Kraft ge-
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genüber dem Unterarm versetzt, so entsteht auch bei gleicher Kraftrichtung ein Drehmoment im Handgelenk, welches über eine zusätzliche Muskelanspannung stabilisiert werden muss.
Abb. 10.9: Der Kraftfluss bei der einhändigen Betätigung eines asymmetrisch angeordneten Hebels und bei der beidhändigen Betätigung zweier symmetrisch angeordneter Hebel (nach STIER 1957)
Abb. 10.10: Pistolengriff für geradlinigen Kraftfluss vom Unterarm über eine normale Handhaltung auf die Arbeitsseite von Werkzeugen bei Vermeidung von Kippmomenten (oben und unten) sowie zum Abfangen von auf das Handgelenk wirkenden rotatorischen Drehmomenten bei Versatz der Griffposition (Mitte, aus HETTINGER u. WOBBE 1993)
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10.1.1.3 OptimierungĆdesĆWirkungsgradesĆ Wie in Kap. 3.2.10.2.3 bereits deutlich wurde, hängt der Wirkungsgrad der mechanischen Energieerzeugung in starkem Maße vom „Arbeitspunkt“ der beteiligten Muskeln ab. Dies betrifft die Länge des Muskels (von außen: die Gelenkstellung), die mechanische Last und die Bewegungsgeschwindigkeit. Die beiden letztgenannten Größen werden darüber hinaus durch die Massenträgheitskräfte der bewegten Körperteile und Objekte mit beeinflusst. In Bezug auf geeignete Körperstellungen ist nahezu grundsätzlich eine Lage im mittleren Bereich des Bewegungsbereiches anzustreben, da die Effizienz der muskulären Krafterzeugung bei großer und bei kleiner Muskellänge abnimmt. Darüber hinaus stellt sich die Frage nach der Wahl der eingesetzten Muskelgruppen. Größere Muskelgruppen ermüden weniger schnell, bringen aber größere Massenbewegungen mit sich, wofür u.U. zusätzlicher energetischer Aufwand benötigt wird. Die Komplexität der Zusammenhänge und die teilweise entgegengesetzten Wirkungen bezüglich der verschiedenen Zielgrößen erlauben es nicht ohne weiteres, einen relativ optimalen Wirkungsgrad für eine bestimmte Arbeitsaufgabe über biomechanische Modelle herzuleiten. Auf experimentellem Wege kann allerdings über die Messung des Energieumsatzes oder die der Kreislaufbeanspruchung (siehe Kap. 3.2.10.2.1 und 3.2.10.3) eine – zumindest vergleichende – Bewertung und Beurteilung verschiedener Gestaltungslösungen vorgenommen werden. Da der Mensch zur Optimierung seiner Gesamtleistung bestrebt ist Ermüdungserscheinungen durch Anpassung der Arbeitsleistung – wenn möglich – zu verhindern, kann in manchen Fällen auch die Leistungserbringung Aufschluss über die Effizienz der Tätigkeitsausführung geben. Wie die Abb. 10.11 und Abb. 10.12 zeigen, wirkt sich eine günstige Körperstellung erheblich auf die erbrachte Arbeitsleistung aus. Neben einer geeigneten Körperstellung haben weiterhin die mechanische Last und die Arbeitsgeschwindigkeit einen Einfluss auf die energetische Effizienz. Die physikalisch erbrachte Leistung ist proportional zum Produkt beider Faktoren, weswegen die Arbeitsgeschwindigkeit bei einem größeren mechanischen Arbeitswiderstand theoretisch im gleichen Verhältnis verringert werden kann, ohne dass die erzeugte Leistung sich verändert.
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Abb. 10.11: Auswirkungen des seitlichen Abspreizwinkels der Oberarme auf Energieverbrauch und Leistung bei repetitiven manuellen Tätigkeiten (nach GRANDJEAN 1991)
Abb. 10.12: Leistung (L) beim Feilen in Abhängigkeit von der Arbeitshöhe (H) in cm für kleine und große Personen (nach LYSINSKI 1926; SCHMIDTKE 1989)
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Aus physiologischer Sicht hat dagegen eine Reihe von Faktoren einen Einfluss auf den Wirkungsgrad: (1) Die Bewegung von Massen ist mit sog. Blindleistungen verbunden. Beim Beschleunigen muss Energie zur Überwindung der Massenträgheit aufgewendet werden, welche beim Verringern der Geschwindigkeit durch aktive Gegenkräfte neutralisiert werden muss. Darüber hinaus haben Muskeln, Sehnen und Bänder eine elastische Charakteristik (Federwirkung). Je nach Geschwindigkeit sind mehr oder minder große Blindleistungen zunächst aufzubringen und anschließend durch entsprechende Gegenkräfte wieder zu neutralisieren. (2) Im Bereich von „mittleren“ Geschwindigkeiten (je nach Zusammensetzung der Impedanzen) ergibt sich in der Regel ein Minimum solchermaßen verlustiger Energieaufwendung (PFAHL 1924; ROHMERT u. RUTENFRANZ 1983) (siehe auch Abb. 10.13). Eine Steigerung der Arbeitsgeschwindigkeit über diesen Bereich hinaus muss mit einer erhöhten Erzeugung und Vernichtung von Blindleistung und folglich mit einer geringeren Effizienz erkauft werden.
Abb. 10.13: Arbeitsenergieumsatz pro m beim Gehen in der Ebene in Abhängigkeit der Schrittlänge und der Schrittgeschwindigkeit (Veranschaulichung der Punkte 1. und 2.; Diagramm nach ATZLER u. HERBST, aus LEHMANN 1962)
(3) Die zu erzeugende Energie zur Kompensation von Schwerkräften bzw. zum Erzeugen von isometrischen Kräften hängt neben der Größe der Last von der Dauer der Ausübung ab. Daraus leitet sich ein zeitbezogener Anteil ab, weswegen ein besonders langsames Arbeiten zunehmend ineffizient wird (Abb. 10.14). Dieser Effekt ist anschaulich zu belegen beim Tragen von Lasten, bei dem eine Verlangsamung des Arbeitsvorgangs die Gesamtbelastung für eine bestimmte Wegstrecke noch erhöht.
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Arbeitsh herzschlagfreque enz [1/min]
25 20 15 10 5 0 -5 -10 0,15
0,20
0,25
schneller
0,30
0,35
0,40
0,45
relative Umsetzzeit
0,50
0,55
0,60
0,65
langsamer
Abb. 10.14: Arbeitsherzschlagfrequenz beim Umsetzen verschiedener Steingewichte abhängig von der relativen Umsetzzeit (aus KLIMMER u. KYLIAN 1995)
(4) Wesentlich für die umgesetzte Energie ist auch die technische Gestaltung der Arbeitsmittel, nachfolgend am Beispiel Leiter, Treppe und schiefe Ebene zur Überwindung von Höhendifferenzen dargestellt. Abb. 10.15 gibt eine vergleichende Darstellung des menschlichen Energieumsatzes je mkp Arbeit für Leiter, Treppe und schiefe Ebene in Abhängigkeit von Steigung, Auftritt und Neigungswinkel wieder (ROHMERT u. RUTENFRANZ, 1983). In den Schnittpunkten der untersuchten Kombinationen von Steigung und Neigungswinkel sind die gefundenen cal/mkp – Werte (1 cal/mkp = 0,427 J/Nm) eingetragen. Die Punkte gleichen Energieumsatzes sind zu Kurven verbunden. Die Gerade „MN“ in Abb. 10.15 stellt Gleichung (10.1) und die Gerade „AZ“ die Gleichung (10.2) dar. Längs der gestrichelten Geraden beträgt der Auftritt konstant 24 cm. Auftritt Steigung 12 cm
(10.1)
2 Steigung Auftritt
(10.2)
63cm
(5) Die innere Reibung bei Veränderung der Muskellänge vertilgt einen Teil der erzeugten Kraft bereits im Muskel, welcher in etwa proportional zum zurückgelegten Weg ist. Beim Arbeiten mit geringer äußerer Last (und hoher Geschwindigkeit) ist dieser Anteil dementsprechend größer als bei hoher Last (und niedriger Geschwindigkeit).
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Abb. 10.15: Vergleichende Darstellung des Energieumsatzes je mkp (1 mkp = 9,807 Nm) für Leiter, Treppe und schiefe Ebene in Abhängigkeit von Steigung, Auftritt und Neigungswinkel (in Anlehnung an ROHMERT u. RUTENFRANZ 1983)
Die hinter diesen Einflüssen steckende Gesetzmäßigkeit wird nach dem Entdecker des Prinzips als Johannson'sche Regel bezeichnet: Misst man bei verschieden großem Arbeitswiderstand den notwendigen Energieumsatz pro Arbeitseinheit (dicke Linie in Abb. 10.16), so findet sich im mittleren Lastbereich ein linearer Anstieg (Punkte A, B und C auf der Kurve). Dieser ist auf einfache Weise durch die mit steigendem Arbeitswiderstand vergrößerte Arbeitsleistung zu erklären. Bei einem Arbeitswiderstand von Null ist trotzdem ein positiver Energieumsatz zu leisten (E0), welcher aus den Leerbewegungen resultiert. Bei sehr großem Arbeitswiderstand (oberhalb des Punktes G nach Abb. 10.16) steigt die Funktion nicht mehr linear, sondern exponentiell. Dies liegt daran, dass die Muskeln zur Ausführung der Bewegung zu hoch beansprucht werden, woraus eine weniger ökonomische Arbeitsweise aufgrund von Muskelermüdung oder der ergänzenden Inanspruchnahme weniger ökonomisch wirkender Muskeln resultiert. Auch bei konstantem Wirkungsgrad der Muskeln und des Herz-KreislaufSystems sinkt der Gesamtwirkungsgrad aufgrund der immer zusätzlich zu leistenden Leerarbeit mit kleiner werdendem Arbeitswiderstand linear ab. Oberhalb der Grenzlast G wirkt dem der fallende Arbeitswirkungsgrad entgegen.
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Wirkungsgrad von Muskeln und Herz-Kreislaufsystem G C A
B
E0
Wirkungsgrad
Energieumsatz / Arbeitsseinheit E
Aus arbeitsgestalterischer Sicht ist daher zunächst ein verhältnismäßig hoher Arbeitswiderstand mit entsprechend verringerter Lastzahl und ein möglichst geringer Aufwand für die Leerbewegung (z.B. durch kleine bewegte Körpermassen) anzustreben.
G Gesamter Wirkungsgrad
Arbeitswiderstand
Abb. 10.16: Johannson'sche Regel: Abhängigkeit des Wirkungsgrades vom Arbeitswiderstand, Einfluss der Leerbewegung bei geringem Arbeitswiderstand
10.1.1.4 ArbeitsabfolgeĆundĆPausenregimeĆ Wie aus dem vorangehenden Abschnitt deutlich wurde, ist es energetisch nicht sinnvoll, durch eine geringe Belastung (Arbeitswiderstand und Arbeitsgeschwindigkeit) zu einer Verminderung der Beanspruchung beizutragen. Im Gegenteil ist es sogar insgesamt effizienter, die Leistungsfähigkeit des Menschen weitgehend auszuschöpfen. Dabei muss allerdings berücksichtigt werden, dass hohe Leistungen wegen der Erschöpfung der Energiespeicher nicht unbegrenzt lange erbracht werden können. Der zeitlichen Verteilung der Belastung im Sinne einer ergonomischen Arbeitsabfolge kommt daher eine große Bedeutung für eine ökonomische Ausführungsweise und Aufrechterhaltung der Leistungsfähigkeit zu. Grundsätzlich findet sich – wie bei statischer Arbeit, Kurbelergometerarbeit sowie Umsetzen von Gewichten in Abb. 10.17 zu ersehen – oberhalb der Dauerleistungsgrenze ein hyperbolischer Zusammenhang zwischen der Höhe der Leistung und der maximalen Arbeitszeit bis zum Eintreten der Erschöpfung. Für verschiedene Ausführungsbedingungen unterscheiden sich die Zusammenhänge in ihrem Verlauf, nicht aber in ihrer typischen Charakteristik (siehe Kap. 3.2).
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Statische Haltearbeit: NDLG = 0.15 Maximalkraft
150
Kurbelergometerarbeit:
Maxximale Arbeitszeit [min]]
60 und 72 U/min 45 und 90 U/min Umsetzen von Gewichten mit gestrecktem Arm:
100
60 Wdh/min 90 Wdh/min 50
0 0,5
1,0
1,5
2,0
2,5
3,0
ª N eff º Eff kti L Effektive Leistung i t (Neff) in i Vielfachen Vi lf h der d D Dauerleistung l i t (NDLG) « » ¬ N DLG ¼
Abb. 10.17: Grenzen der Ausdauer bei Muskelarbeit (aus ROHMERT 1962)
Beim Arbeiten oberhalb der Dauerleistungsgrenze müssen also rechtzeitige Erholungspausen vorgesehen werden. Wegen des nichtlinearen Charakters der Ermüdungs- und Erholungsphasen (siehe auch LUCZAK 1983b) ist es allerdings nicht zweckmäßig, bis zum Eintreten der Erschöpfung zu arbeiten, da dann unverhältnismäßig lange Erholungsphasen notwendig sind. Vielmehr erweist es sich als physiologisch und ökonomisch günstiger, kurzzyklische Arbeits- und Erholungsphasen vorzusehen (Abb. 10.18). Die Bemessung von notwendigen Erholzeiten (siehe auch Kap. 2.4.3) orientiert sich an der Rekonstitution des Körpers, welche üblicherweise bei körperlichen Arbeitsformen über die Rückkehr der Herzschlagfrequenz auf das Ruheniveau nachgewiesen wird, da das Herz-Kreislauf-System wegen seiner integralen Stabilisationsfunktion die Gesamtheit des Erholungsprozesses weitgehend widerspiegelt (siehe Abb. 10.19). Die erforderlichen Erholzeiten wurden – ähnlich wie die Ausdauer – in aufwendigen Untersuchungen für statische und dynamische Arbeitsformen ermittelt (ROHMERT 1960 und 1962, Abb. 10.20). Die zugrundeliegende Gesetzmäßigkeit hinsichtlich des Ermüdungszustandes wurde bereits in Kapitel 2.4.3 erläutert.
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Abb. 10.18: Verhalten der Herzschlagfrequenz während und nach der Arbeit mit kurzen und längeren Pausen bei gleichem Verhältnis zwischen Arbeitsphase und Pause (aus REFA 1993)
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Abb. 10.19: Rückkehr von Herzfrequenz, Blutdruck, Atmung, Sauerstoffverbrauch und CO2-Ausscheidung nach anstrengender Arbeit (aus LEHMANN 1962)
Mit Bezug auf Abb. 10.20 wird deutlich, dass der Erholungsbedarf mit zunehmender Länge der Arbeitsphasen in Form einer Potenzfunktion überproportional zunimmt. Weiterhin wurde festgestellt, dass die Erholung nach statischer Arbeit erheblich mehr Zeit beansprucht als nach dynamischer Arbeit. Für die praktische Prozessgestaltung ergeben sich aus diesen Gesetzmäßigkeiten von Ermüdung und Erholung zwei wichtige Konsequenzen: (1) Die dem Körpergefühl folgende Handlungsweise des Arbeitens bis zur offensichtlichen Ermüdung ist, wegen des dann unverhältnismäßig langen Erholungszeitraums, nicht sinnvoll, vielmehr sollten die Arbeitspersonen zu früheren Arbeitspausen angehalten werden. (2) Die Erholung von energetisch-effektorischer Arbeit bezieht sich primär auf die über die Dauerleistungsgrenze beanspruchten Organe. Insofern können während der Erholungsphase dieser Organe durchaus andere Tätigkeiten ausgeführt werden, z.B. durch den Wechsel auf andere Muskelgruppen, sofern keine schwere Arbeitsform mit primärem Beanspruchungsengpass im Herz-Kreislauf-System vorliegt. Die Rekonstitution des Stoffwechsels im Muskel bedingt jedoch eine möglichst ungehinderte Durchblutung zum Abtransport der Stoffwechselprodukte und zur Wiederherstellung der lokalen Energievorräte. Bereits eine geringe Muskelanspannung verzögert diesen Prozess in erheblichem Maße, abgesehen vom dadurch unmittelbar verlangsamten Rekonstitutionsverlauf durch den gleichzeitigen Verbrauch von Energiestoffen. Daher muss darauf geachtet werden, dass die erholungsbedürftigen Muskeln auch wirklich völlig erschlaffen.
320
969 10 7 5 3
1,4
§ N · EZ 1,9 tarb 0,145 ¨ eff 1¸ 100 © N DLG ¹
280
1
240 200 160 120
Dauer der Arbeeitsabschnitte in min
Erholu ungszuschlag EZ in % der Arbeitszeit
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80 40 0 100
120
140
160
180
200 ª N eff º Effektive Leistung in % der Dauerleistung « » 100 ¬ N DLG ¼
220
Abb. 10.20: Erholungszuschläge bei dynamischer Muskelarbeit am Fahrradergometer (nach ROHMERT 1962)
10.1.2 Informatorisch-mental Bei der Steuerung, Regelung oder Überwachung von technischen Systemen besteht die Aufgabe des Menschen darin, auf der Grundlage unmittelbar oder mittelbar übertragender Information den Zustand der Maschine zu erfassen, die zukünftige Entwicklung der essentiellen Variablen zu antizipieren und erforderlichenfalls durch Handlungen eine Zustandsänderung zu bewirken. Unter informatorischer (auch informationstechnischer) Gestaltung versteht man allg. die Gestaltung von Komponenten der Mensch-Maschine-Schnittstelle (auch Benutzungsschnittstelle, engl. human-machine interface), die den Informationsaustausch zwischen Mensch und Maschine in einem Arbeitssystem gewährleisten sollen. Grundanforderung für eine ergonomische Gestaltung der Mensch-MaschineInteraktion ist die Anpassung der technischen Subsysteme an die Fähigkeiten und Fertigkeiten des Menschen. Bei der informationstechnischen Gestaltung müssen demzufolge zum einen die Merkmale und Anforderungen der Arbeitsaufgabe, zum anderen die Fähigkeiten und Grenzen des Menschen in physiologischer und psychologischer Hinsicht und seine Eigenschaften bei der Informationsverarbeitung (siehe. Kap. 3.3) berücksichtigt werden. Dieses von einigen Autoren wie bspw. RASMUSSEN et. al. (1994) in Hinblick auf die zentralen Prozesse menschlicher Informationsverarbeitung auch als Cognitive Engineering bezeichnete Arbeitsfeld der Ergonomie betrifft somit alle arbeitstechnischen und -organisatorischen Elemente, die der aufgaben- und benutzergerechten Kommunikation zwischen Mensch und Maschine dienen.
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Arbeitswissenschaft
Die Vorgehensweise bei der benutzerzentrierten Gestaltung von MenschMaschine-Systemen ist in DIN EN ISO 13407 festgelegt und sieht auf Grundlage des Nutzungskontextes einen iterativen Prozess von Anforderungsermittlung, Gestaltungsentwurf und Systembewertung vor. Allerdings macht sie verständlicherweise keine Vorgaben, wie Systeme im Detail zu gestalten sind. Eine formale Beschreibung des Gestaltungsprozesses findet sich in Kapitel 10.3.1.2. Mögliche Gestaltungsdimensionen ergeben sich aus dem Verständnis der psychophysiologischen Mechanismen, die beim Menschen bei der Informationsverarbeitung ablaufen. Dementsprechend sind die von der Arbeitsperson (bzw. Operateur) für die Aufgabendurchführung erforderlichen Informationen so darzustellen, dass die schnelle und einfache Wahrnehmung der Information und die Extraktion der wesentlichen Merkmale sichergestellt sind. Ergonomisch gestaltete Anzeigesysteme sollen zudem die kognitive Weiterverarbeitung erleichtern, d.h. eine schnelle und zuverlässige Informationsverarbeitung unter geringem Bedarf mentaler Ressourcen ermöglichen. Im Weiteren gilt es, die Umsetzung der menschlichen Entscheidungen in das System durch Interaktionsverfahren zu gewährleisten, die vom Operateur als „intuitiv“ beurteilt werden, indem sie z.B. adäquat an sein natürliches Verhalten angepasst oder unmittelbar verständlich sind. Aufgrund der je nach Anwendungskontext zum Teil immensen Informationsquantität sind darüber hinaus Verfahren für eine benutzergerechte Automation zu realisieren, die eine Einbindung des Menschen in den Prozess sicherstellen. Prinzipiell soll also durch eine ergonomische Gestaltung der MenschMaschine-Schnittstelle der Informationsverarbeitungsprozess des Menschen in den in Kapitel 3.3.2 beschriebenen Phasen Entdecken, Erkennen, Entscheiden und Informationsabgabe unterstützt werden. Zur gerichteten Informationsübertragung von einer technischen Einrichtung zum Menschen werden Anzeigen eingesetzt, die Hinweise auf die Zustände des technischen Systems, Arbeitsobjekts oder Prozesses geben (siehe Abb. 10.21). Darüber hinaus nimmt der Mensch andere, direkt vermittelte Informationen (z.B. Maschinengeräusche, -schwingungen und -gerüche) über seine Sinnesorgane wahr. Die Informationsübertragung vom Menschen zur Maschine erfolgt durch Eingabegeräte der Mensch-Maschine-Schnittstelle, die der Mensch durch gezielte Handlungen oder sein natürliches Verhalten, z.B. Bewegungen, benutzt. Die Gestaltung beider Komponenten sowie ihr Zusammenwirken im Aufgabenkontext hat großen Einfluss auf die schnelle und fehlerfreie Mensch-Maschine-Interaktion. Mensch-Maschine-Schnittstellen beeinflussen durch ihre Gestaltung den Informationsverarbeitungsprozess des Menschen in all seinen Phasen. Mit welchen Methoden und Technologien hier eine Unterstützung erzielt werden kann, wird in den folgenden Abschnitten beschrieben. Zuvor soll allerdings auf Gestaltungsansätze eingegangen werden, die dieser Vorgehensweise übergeordnet sind.
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Maschine
unmittelbare Informationsübertragung
kinästhetisch
olfaktorisch
Mensch-Maschine-Schnittstelle Informationsausgabe
Informationseingabe
Anzeigen
Eingabegeräte
optisch akustisch
visuell
auditiv
taktil
Stellteile / Bedienelemente
Spracheingabe
Gestenerkennung
Trackingsystem
haptisch
manuell
verbal
gestikulär
Bewegung
Informationsaufnahme
Mensch
Informationsabgabe Erkennen / Entscheiden
Abb. 10.21: Informationsübertragung in Mensch-Maschine-Systemen
10.1.2.1 ÜbergeordneteĆGestaltungsansätzeĆĆ 10.1.2.1.1 Kompatibilität von System und Benutzungsschnittstelle In seiner allg. Form besagt das Kompatibilitätsprinzip, dass Information in einer Form zu vermitteln ist, die möglichst weitgehend dem zur Bewältigung der Arbeitsaufgabe gebildeten mentalen Modell (siehe Kap. 3.3.2.2.4) des Menschen entspricht, um einen sonst notwendigen Transformationsaufwand zu vermeiden. Informationstheoretischer Hintergrund dieses Prinzips ist, dass die Transinformation genau dann maximal ist, wenn die Menge an zu rekodierender Information für das Individuum am geringsten ist (WILLIGES et al. 1987). Es wird also im Umkehrschluss davon ausgegangen, dass je geringer die Inanspruchnahme mentaler Ressourcen für Umstellungs- oder Umkodierungsoperationen ist, die Arbeitsaufgabe selbst um so effizienter bearbeitet werden kann (HACKER 2005). Die Anwendung dieses Prinzips bei der Gestaltung von Mensch-Maschine-Systemen bedeutet, dass die Schnittstelle mit der menschlichen Wahrnehmung, dem Gedächtnis, der Problemlösungsfähigkeit, dem menschlichen Handeln sowie den menschlichen Kommunikationsarten und Möglichkeiten kompatibel gestaltet werden muss. In der häufigsten Form bezieht sich die Kompatibilität auf die räumliche, die Bewegungs- und die konzeptuelle Übereinstimmung von Stimulus und Response, die SR-Kompatibilität. Entscheidend sind oft aber auch Stimulus-Stimulus- und Response-Response-Kompatibilitäten. Eine Stimulus-Stimulus-Inkompatibilität ist in jedem Kraftfahrzeug gegeben. Eine wichtige Information ist der Bremsweg des Fahrzeugs. Angezeigt wird jedoch die Geschwindigkeit. Daher sollte ständig aus der gefahrenen Geschwindigkeit, der Reaktionszeit und der Bremsverzögerung unter Berücksichtigung des Straßenzustands (trocken, nass, glatt) der Bremsweg berechnet werden. Technisch realisieren lässt sich eine Bremsweganzeige z.B. durch ein sog. „Head-Up
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Display“, das einen Balken in die Windschutzscheibe einblendet. Dieser erscheint dem Fahrer dann an der Stelle der Straße, wo das Fahrzeug zum Stehen kommen würde (siehe SCHMIDTKE 1993). Ein ähnliches Beispiel aus der Flugführung zeigt Abb. 10.22, bei der die gegenwärtigen translatorischen und rotatorischen Beschleunigungen eines Flugzeugs in eine zukünftige Position und Lage verrechnet werden, die im Head-Up Display angezeigt wird.
Abb. 10.22: Integrierte Flugführungsanzeige im Head-Up Display. Der in Bildmitte erkennbare rautenförmige Prädiktor zeigt die vorausberechnete Position und Lage des Flugzeugs (GRANDT 2004a)
Eine Response-Response-Inkompatibilität erleben häufig Segelanfänger. Vom Fahrrad ist bekannt, dass bei einer Rechtsbewegung des Lenkers bzw. des Vorderrads das Rad auch nach rechts fährt. Wird hingegen die Pinne des Segelbootes nach rechts bewegt, segelt die Jolle nach links. 10.1.2.1.2 Multimodale Schnittstellen Auch heute noch wird die Mehrzahl von Mensch-Maschine-Schnittstellen unimodal konzipiert, d.h. ein spezifischer Kanal zur Informationsaufnahme, meist der visuelle, und ein weiterer zur Informationsabgabe, in der Regel der manuelle, bereitgestellt. Während dies bei einfach strukturierten Aufgaben ausreichend ist, führt diese Auslegung bei der Benutzung komplexer Systeme, die häufig mit simultan auszuführenden Mehrfachtätigkeiten einhergeht, zu Schwierigkeiten. Die gleichzeitige Ausführung ähnlich strukturierter Aufgaben auf demselben Informationsverarbeitungskanal kann zu Interferenzeffekten und damit verbundenen Leistungseinbußen führen. Das Modell der multiplen Ressourcen (siehe Kap. 3.3.1.1.2.3) impliziert die Mehrkanaligkeit der menschlichen Informations-
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verarbeitung. Dem Modell folgend kann z.B. eine perzeptiv-kognitive Aufgabe, bei der räumlich kodierte Informationen vom Benutzer auditiv aufgenommen und verbal abgegeben werden, besser mit einer reaktiven Tätigkeit, bei der sprachlich kodierte Informationen visuell aufzunehmen und manuell abzugeben sind, kombiniert werden als mit einer gleichartigen Aufgabe. Das Prinzip der Stimulus-Kognition-Reaktions Kompatibilität (S-C-R Kompatibilität) (WICKENS u. HOLLANDS 1999) wird durch dieses Modell der multiplen Ressourcen unterstützt. Danach werden räumliche Informationen am besten visuell wahrgenommen und aus der Informationsverarbeitung resultierende Handlungen manuell durchgeführt. Für verbal kodierte Informationen hingegen ist die auditive Wahrnehmung in Verbindung mit einer sprachlichen Reaktion am besten geeignet (TSANG u. VIDULICH 1989). Für die informationstechnische Gestaltung ergibt sich demzufolge die Forderung nach einer Anpassung der bereitgestellten Anzeige- und Eingabeelemente an die Art der zu übermittelnden und vom Menschen zu verarbeitenden Information. In komplexen Systemen folgt daraus der Ansatz der multimodalen Schnittstellen, welche die Vielfalt der bereitgestellten Information durch die Bereitstellung unterschiedlicher Anzeige- und Eingabeelemente berücksichtigen (siehe GÄRTNER 2000; TROUVAIN u. SCHLICK 2007). Auch für einfachere Systeme sind multimodale Schnittstellen bedeutsam, wenn ein barrierefreier Zugang zu Informationen auch für behinderte Arbeitspersonen gewährleistet werden muss. 10.1.2.1.3 Virtuelle Umgebungen In der jüngeren Literatur wurden zunehmend „intuitiv“ benutzbare Technologien der Mensch-Maschine-Interaktion wie Virtual Reality (VR, dt. Virtuelle Realität) und Augmented Reality (AR, dt. Erweiterte Realität) als aussichtsreiche Unterstützungsverfahren für Arbeitsprozesse betrachtet (KISSNER u. RICHTER 2005; KLINKER et al. 1999; REICHWALD 2003; REUSE u. GOERDELER 2003). Augmented Reality besitzt hinsichtlich einer anzustrebenden software-ergonomischen Gestaltung von Mensch-Maschine-Schnittstellen das Potenzial, bspw. durch multimodale Interaktionstechniken wie Sprachverarbeitung oder Gestikerkennung (FRIEDRICH u. WOHLGEMUTH 2004), eine besonders erwartungskonforme und aufgabenangemessene Mensch-Maschine-Kommunikation zu ermöglichen. Während VR eine vollständig computergenerierte Welt bezeichnet, die der Betrachter mit seinen sensorischen Modalitäten wahrnimmt und mit der er in Echtzeit interagieren kann (BULLINGER et al. 1997; BURDEA u. COIFFET 1994; ELLIS et al. 1997; KUHLEN 2003; SCHOOR et al. 2005), nutzt AR die reale Arbeitsumgebung und reichert diese mit zusätzlichen computergenerierten Informationen an, die situationsgerecht und mit Kontextbezug zur betrachteten Realität direkt in das Sichtfeld des Betrachters eingeblendet werden (AZUMA 1997; AZUMA et al. 2001; BEU et al. 2002; KLINKER et al. 1997;FRIEDRICH 2004; MILGRAM u. COLQUHOUN 1999; NORMAND et al. 1997; RENKEWITZ u. CONRADI 2005).
Die Unterschiede zwischen Erweiterter und Virtueller Realität und ihr Verschmelzen zur sog. Mixed Reality werden bei MILGRAM u. KISHINO (1994) erläu-
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Arbeitswissenschaft
tert. Der Grad der Einbindung des Menschen in eine Virtuelle Umgebung wird als Immersion bezeichnet. Gegenüber physischen Prototypen (Mock-Ups) oder der klassischen 3DBilddarstellung in Form von Animation bieten VR-/AR-Systeme besonders vielfältige Möglichkeiten der Informationsdarstellung und (im Unterschied zu Animationen) der Mensch-Maschine-Interaktion, wie z.B. die Interaktion des Benutzers mit virtuellen Objekten im dreidimensionalen virtuellen bzw. realen Raum oder eine die natürlichen Umweltinformationen ergänzende Visualisierung abstrakter Daten (siehe auch HACKER u. LINDEMANN 2002; ALEXANDER u. GOLDBERG 2007; ODENTHAL et al. 2009, SCHLICK et al. 2009). 10.1.2.1.3.1 Virtuelle Realität
Durch eine umfassende künstliche Nachbildung synthetischer Umgebungsreize und die Verwendung auf möglichst natürliche Weise vom Menschen ansprechbarer Interaktionsverfahren soll der Benutzer vollständig in eine virtuelle Realität eintauchen. Typische Anwendungen dieser Technologie ergeben sich im Design, z.B. von Fahrzeugen, in der Architektur oder im Bereich des simulationsgestützten Trainings (siehe Kap. 10.2.3). Bei der Virtuellen Realität soll ein möglichst hoher Immersionsgrad erzielt werden. Ob dies gelingt, hängt im Wesentlichen davon ab, wie naturgetreu die virtuelle Umgebung durch Anzeigesysteme dargestellt werden kann und in welchem Maße der Benutzer auf diese Weise von der realen Umgebung entkoppelt wird. In Bezug auf Anzeigesysteme sind für die Darstellung visueller, akustischer und auch haptischer Reize entsprechende Systeme am Markt verfügbar. Die Nutzung olfaktorischer (Geruchs-) und auch thermaler Reize zur Informationsübermittlung wird erforscht (RENKEWITZ u. ALEXANDER 2007; LINDNER 2006). Zur Informationsausgabe vom Benutzer an die Virtuelle Umgebung werden häufig dreidimensionale Eingabegeräte, Verfahren zur Gestenerkennung oder Spracheingabe benutzt. Wichtig für das Erreichen der Immersion ist ferner die örtliche und zeitliche Synchronisation von Körperhaltungen und -bewegungen des Benutzers mit der Darstellung visueller Umgebungsinformation, insbesondere die Wiedergabe einer korrekten Perspektive. 10.1.2.1.3.2 Erweiterte Realität
Um in Anwendungen der erweiterten Realität einen realitätsnahen Eindruck zu gewinnen, müssen die der realen Szene überlagerten Informationen für den Betrachter leicht wahrnehmbar sein und auch bei Kopfbewegungen an der richtigen Position eingeblendet werden. Für die ortsreferenzierte und perspektivisch korrekte Einblendung der Zusatzinformationen ist bei uneingeschränkter Beweglichkeit des Benutzers ggf. die Registrierung der Kopfposition sowie der Position und Lage von Objekten im Umfeld mittels unterschiedlicher Trackingverfahren und Bildverarbeitungsverfahren erforderlich (ALEXANDER et al. 1999; RENKEWITZ u. CONRADI 2005).
Ergonomische Gestaltung
975
Arbeitswissenschaftlich interessante Anwendungsbereiche für AR ergeben sich insbesondere dann, wenn der Mensch zur Durchführung von Aufgaben situiert auf Hintergrundinformationen zurückgreifen muss. Exemplarisch sind hier zu nennen: x Fertigung: Visualisierung der jeweils folgenden Arbeitsschritte bei der manuellen Montage oder von Prozessparametern beim Lichtbogenschweißen x Wartung und Instandhaltung/-setzung: Einblendung von Reparaturanleitungen zur Erleichterung der Fehlersuche und -behebung x Logistik: Leichteres Auffinden von Artikeln bei der Kommissionierung x Fahrzeug- und Flugführung: Anzeige von Navigationsinformationen, Streckengeboten/-verboten, sensoriell festgestellten Hindernissen etc. (Abb. 10.23) x Architektur / Städtebau: Überlagerung von Gebäude- oder Gestaltungsentwürfen in die natürliche Außensicht x Medizin: Überlagerung der realen Sicht auf den Operationssitus mit computerbasierten Patienteninformationen bei operativen Eingriffen x Militär: Einblendung von georeferenzierten Lageinformationen in die Außensicht des operierenden Infanteristen. Weitere Beispiele finden sich in OEHME 2004; PARK 2007; SCHMIDT 2005; WIEDENMAIER et al. 2003.
Abb. 10.23: Darstellung von wichtigen Informationen für den Pkw-Fahrer in der Außensicht (Quelle: VDO Automotive AG)
Obwohl die Nutzung von AR-Technologien in komplexen Arbeitsprozessen ein großes Potenzial zur Erhöhung der Arbeitsleistung und Systemsicherheit sowie zur Verminderung der mentalen Beanspruchung aufweist und auch für Ausbildungs- und Trainingszwecke sinnvoll erscheint, werden AR-Systeme in industriel-
976
Arbeitswissenschaft
len Anwendungen u.A. aufgrund bestehender ergonomischer Gestaltungsmängel bislang hauptsächlich im Rahmen von Forschungs- und Vorentwicklungsprojekten prototypisch eingesetzt. Weitere Anwendungsbeispiele für VR/AR im Rahmen des sog. Prototyping finden sich in Kapitel 10.2.3. 10.1.2.2 UnterstützungĆderĆInformationsaufnahmeĆ Die von der Informationstechnik zur Verfügung gestellten Möglichkeiten zur Informationsdarstellung sind nahezu unbegrenzt. Die Aufgabe des Systemgestalters besteht u.A. darin, die Information im Aufgabenkontext so auszuwählen und darzustellen, dass die Schnittstelle der menschlichen Informationsverarbeitung angepasst ist und dadurch zu einer möglichst hohen Systemleistung beiträgt. Es geht also um die Gestaltung der für den Operateur über die Schnittstelle dargebotenen Information im Hinblick auf die Merkmale und Grenzen der Wahrnehmung und zentralen Informationsverarbeitung des Menschen (BOFF u. LINCOLN 1988). Obwohl die weitaus größte Informationsmenge optisch wahrgenommen wird, spielen auch andere Anzeigeformen eine bedeutende Rolle, bspw. x um in Bezug auf bestimmte Informationen (z.B. Warnhinweise) besondere Aufmerksamkeit zu erzielen und somit die Voraussetzungen für Situationsbewusstsein (situation awareness) zu schaffen, x um mittels multimodaler Schnittstellen eine Redundanz bei der Wahrnehmung von Informationen sicherzustellen und, dem Modell multipler Ressourcen folgend, andere Informationsverarbeitungsressourcen zu nutzen, x den visuellen Kanal bei der Informationswahrnehmung zu entlasten oder x die Manipulation eines Objekts zu erleichtern. Informationen werden demzufolge in technischen Systemen vorrangig durch Sichtanzeigen sowie durch akustische Signale (Warnsignale, Sprachübermittlung) und haptische Merkmale (Position von Stellteilen, Merkmale an Bedienelementen, Kraftrückmeldung etc.) vermittelt. Die Reproduktion olfaktorischer, gustatorischer und thermischer Merkmale zum Zwecke der mittelbaren Informationsübermittlung erfolgt im Rahmen des „affective design“ der Mensch-System- bzw. MenschUmwelt-Kommunikation (siehe KHALID 2006, HELANDER u. KHALID 2006) (siehe Kap. 10.1.2.2.5). Weitere sensorisch erfassbare Informationen (z.B. Gerüche bei Überlastung von Maschinen, Beschleunigungen, Schwingungen) werden häufig unmittelbar von den technischen Systemkomponenten an den Menschen übertragen. 10.1.2.2.1 Gestaltungsrichtlinien für Anzeigen Die enorme Anzahl von Freiheitsgraden, die bei der Anzeigengestaltung zur Verfügung steht, zeigt die von WICKENS et al. (2004) aufgestellte, im Folgenden beschriebene Zusammenstellung von ergonomischen Gestaltungsrichtlinien für Anzeigen. Daneben existiert eine Vielzahl von Normen (bspw. im Rahmen der DIN EN ISO 9241), auf die zurückgegriffen werden kann, um bei spezifischen Gestaltungsproblemen Lösungshinweise zu erhalten.
Ergonomische Gestaltung
977
10.1.2.2.1.1 Unterstützung der Wahrnehmung
Für die Wahrnehmbarkeit von Signalen ist neben dem Signal-Rausch-Abstand eine Vielzahl weiterer Faktoren von Bedeutung, insbesondere aber das Wiedererkennen von Referenzinformationen aus dem Gedächtnis. Die hierbei ablaufenden Mechanismen und die mit ihnen verbundenen Leistungsgrößen beschreibt die Signalentdeckungstheorie (GREEN u. SWETS 1966) (siehe auch Kap. 3.3.1.2.1). Folgende Aspekte der Systemgestaltung sollten grundsätzlich Beachtung finden: Vermeidung von Überforderungen bei der absoluten Bewertung: Der Operateur sollte nicht gezwungen sein, den Ausprägungsgrad einer dargestellten Variablen anhand einer einzigen sensorischen Variablen wie der Farbe, Größe oder Lautstärke zu bewerten, die mehr als fünf Stufen umfasst („magical number 7 ± 2“, MILLER 1956). Rolle von Erfahrungen und Erwartungen: Signale werden auf der Basis vergangener Wahrnehmungen und den daraus resultierenden Erwartungen wahrgenommen und interpretiert. Wenn ein Signal auftritt, das den Erwartungen widerspricht, wie z.B. eine Warnung vor einem Ereignis mit geringer Auftrittswahrscheinlichkeit, müssen zusätzliche Hinweise dargeboten werden, um sicherzustellen, dass es richtig interpretiert wird (siehe Kap. 3.3.1.2.2). Gewinn durch Redundanz: Wenn dieselbe Information zur gleichen Zeit mehrfach dargeboten wird, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass sie richtig interpretiert wird. Dies gilt besonders, wenn die Information in alternativen Signalformen dargeboten wird (z.B. Tonhöhe und Lautstärke, Farbe und Form usw.). Dadurch erhöht sich auch die Wahrscheinlichkeit, dass diese trotz Störungen in einem Wahrnehmungsbereich (z.B. durch Geräusche überlagerte Stimmwarnung) im anderen Bereich (alphanumerischer Text) noch richtig wahrgenommen wird. Diskriminierbarkeit: Ähnlich erscheinende Signale werden leicht verwechselt, entweder direkt bei der Wahrnehmung, besonders aber, wenn die Information zunächst im Arbeitsgedächtnis gespeichert und wieder abgerufen werden muss. Die Ähnlichkeit zweier Signale entspricht dem Verhältnis der ähnlichen Merkmale zu den Unterschieden. 10.1.2.2.1.2 Berücksichtigung mentaler Modelle
Prinzip des bildlichen Realismus: Eine Anzeige sollte der Variablen entsprechen, die sie repräsentiert. Bspw. sollte ein Thermometer, das hohe und niedrige Temperaturen anzeigen kann, vertikal angeordnet sein. Wenn eine Anzeige mehrere Elemente umfasst, können diese entsprechend der Anordnung beim Echtsystem dargestellt werden (z.B. schematische Darstellung der Systemkomponenten, wie Behälter, Pumpen, Ventile, Reaktoren und die sie verbindenden Rohrleitungen einer verfahrenstechnischen Anlage). Prinzip des bewegten Teils: Der bewegliche Teil einer Anzeige für dynamische Information sollte eine Bewegung so darstellen, dass diese sich mit dem mentalen Modell des Benutzers von dieser Bewegung deckt. So sollte sich der bewegliche Teil eines Höhenmessers beim Steigflug nach oben bewegen. Kritik: das mentale
978
Arbeitswissenschaft
Modell des Benutzers kann falsch sein, d.h. von den wahren physikalischen Verhältnissen abweichen. Ökologische Schnittstellengestaltung: Wenn man sowohl das Prinzip des bildlichen Realismus als auch das Prinzip des bewegten Teils anwendet, kann man Anzeigen gestalten, die eine enge Übereinstimmung mit der Umgebung besitzen, die sie abbilden. Schnittstellen, bei denen dieser Ansatz angewendet wird, werden auch als ökologische Schnittstellen bezeichnet (siehe auch Kap. 10.1.2.3.2). 10.1.2.2.1.3 Aufmerksamkeitsprinzipien
Bei der Verarbeitung von Information aus komplexen mehrteiligen Anzeigen sind drei Aspekte der Aufmerksamkeit beteiligt: x Die selektive Aufmerksamkeit ist bei der Auswahl der Information beteiligt, die für eine Aufgabe benötigt wird. x Die fokussierte Aufmerksamkeit erlaubt die gebündelte Wahrnehmung von Information ohne Ablenkung durch andere Information. x Die verteilte Aufmerksamkeit erlaubt die gleichzeitige parallele Verarbeitung von zwei oder mehreren Informationen. Minimierung der Informationszugangskosten: Informationszugangskosten beschreiben die mit der Informationssuche und -dekodierung verbundene Anstrengung des Menschen, die sich bspw. in Form mentaler Beanspruchung äußern kann. Sie entstehen z.B. beim Durchsuchen eines Menüs auf einem Bildschirm, aber auch bei Verlagerung der Aufmerksamkeit von einer Aufgabe auf eine andere. Eine gute Anzeigengestaltung minimiert die Informationszugangskosten, indem sie häufig aufgenommene Information so darbietet, dass nur geringe Augenbewegungen erforderlich und für die Integration benötigte Informationen ähnlich kodiert sind. Kompatibilitätsprinzip der Nähe: Die Benutzungsschnittstelle soll zu den Aufgaben kompatible Anzeigen aufweisen. Näheres hierzu in Kapitel 10.1.2.3.1. Nutzung multipler Ressourcen: Das Verarbeiten von großen Informationsmengen kann dadurch erleichtert werden, dass man diese Informationen auf verschiedene Ressourcen aufteilt. Informationen, x die verbale Reaktion erfordern, sollten akustisch, x solche, die manuelle Reaktion erfordern, sollten visuell dargeboten werden. 10.1.2.2.1.4 Gedächtnisprinzipien
Unterstützung bei der Vorhersage: Der Mensch kann in komplexen, hochdynamischen Systemen auf Grund seiner begrenzten Informationsverarbeitungskapazität nur schwer zukünftige Ereignisse vorhersagen. Zum großen Teil rühren diese Einschränkungen daher, dass die Vorhersage stark vom Arbeitsgedächtnis abhängt. Zur Vorhersage ist es erforderlich, die gegenwärtigen sowie möglichen zukünftigen Zustände zu bedenken und die Regeln zu finden, die es ermöglichen, aus der gegenwärtigen Situation die zukünftigen Bedingungen zu prognostizieren.
Ergonomische Gestaltung
979
Bei hoher Arbeitsbelastung und in zeitkritischen Situationen versagt die Vorhersage, weil proaktives Verhalten, das erlaubt, antizipativ auf zukünftige Ereignisse zu reagieren, gegenüber reaktivem Verhalten in den Hintergrund tritt. Anzeigen, die explizit eine Vorhersage treffen, unterstützen das proaktive Verhalten und beeinflussen die Leistung positiv (SACHS u. SPERL 2000; SACHS et al. 2003; GRANDT 2004a; siehe auch Abb. 10.22). Durch eine Voranzeige wird die kognitiv anspruchsvolle Aufgabe, die gegenwärtige Situation in die Zukunft zu projizieren, durch eine einfache Wahrnehmungsaufgabe ersetzt. Gedächtniswissen und Systemwissen: Nach NORMAN (1988) unterstützen zwei Arten von Wissen die Interaktion mit Maschinen: (1) Wissen, das im Gedächtnis des Benutzers gespeichert ist und bei der Entscheidungsfindung abgerufen wird, und (2) System- oder Umweltwissen (Wissen in der Welt). System- oder Umweltwissen kann dem Operateur visuell vermittelt werden. Geschieht dies zum richtigen Zeitpunkt an der richtigen Stelle, kann so ein situativ geeignetes Verhalten aktiviert werden. Wenn jedoch zu viele Informationen dargestellt werden, kann dies zu einer Überfrachtung der Anzeige (clutter) führen; das vom System angebotene Wissen muss deshalb an den Informationsbedarf des Benutzers angepasst werden. Bei Computerdialogen, die dem Benutzer bei jedem Schritt eine Liste der momentan möglichen Optionen liefern, können die geeigneten Handlungsschritte leicht erkannt werden. Um die Konsistenz solcher Dialoge zu gewährleisten, sollten die inaktiven Optionen allerdings nicht entfernt, sondern z.B. ausgegraut dargestellt werden. Systeme, die sich vermehrt auf Wissen im Gedächtnis abstützen, sind jedoch nicht notwendigerweise schlecht: Geübte Benutzer bevorzugen z.B. bei Computersystemen für den Datenzugriff die direkte Kommandosprache (Gedächtniswissen) gegenüber Rechnermenüs (Wissen in der Welt). Eine gute Schnittstellengestaltung muss beide Handlungspräferenzen in ausgewogenem Maße berücksichtigen. Konsistenz: Aufgrund von Training oder Erfahrung gewöhnt sich der Benutzer relativ schnell an wiederkehrende Situationen, in denen dann bestimmte Verhaltensmuster aktiviert werden. Dies sollte bei der Schnittstellengestaltung beachtet werden, indem Anzeigen (aber auch die zugrunde liegenden Bedienprozesse) konsistent zu anderen gestaltet werden, die ein Operateur gleichzeitig oder zeitnah benutzt (z.B. bei Benutzung mehrerer Rechnersysteme oder bei Übergang von einem Fahrzeug- oder Flugzeugmuster auf ein anderes). Somit findet ein positiver Transfer von der alten auf die neue Anzeige statt, der die Informationsverarbeitung bei der neuen Anzeige unterstützt. Auch die Farbkodierung sollte bei verschiedenen Anzeigen konsistent sein, wobei bestimmte Farben immer dieselbe Bedeutung haben sollten (siehe Kap. 10.1.2.2.2.5). 10.1.2.2.2 Sichtanzeigen Bei der Gestaltung von Anzeigen steht zunächst die visuelle Informationsübertragung (Sichtanzeigen) im Vordergrund, da diese für Systeme im störungsfreien Normalbetrieb die mit Abstand größte Kanalkapazität besitzt.
980
Arbeitswissenschaft
Sichtanzeigen sind optisch wahrnehmbare Gestaltungselemente zur Informationsübertragung, die durch ihre Kodierung eine verbindliche Zuordnung des dargestellten Zeichens (Zahl, Buchstabe, Zeigerstellung) zum Zustand der angezeigten Größe ermöglichen. Bei den Sichtanzeigen unterscheidet man prinzipiell zwischen analogen und digitalen Anzeigeformen, die spezifische Vor- und Nachteile aufweisen. Eine erste Übersicht zeigt Tabelle 10.1. Tabelle 10.1: Anwendungsbereiche für Analog- und Digital-Anzeigen (nach BERNOTAT 1993) Anwendung
Digitalanzeige
Analoganzeige bewegte Skala
bewegter Zeiger
Gut
Mäßig
Mäßig
Qualitative
Ungünstig
Ungünstig
Gut
Ablesung
Zahlen müssen abgelesen
Richtung und Größe der
Richtung und Größe auf-
werden
Abweichung sind ohne
grund der Zeigerposition
Änderungen schlecht
Ablesen der Skalenwerte
leicht erkennbar
bemerkbar
nicht erkennbar
Einstellen von
Gut
Mäßig
Werten
Sehr genau, aber bei
Bei schnellen Einstellungen Schnell einstellbar, gute
schnellen Einstellungen
schwer ablesbar
Kontrolle durch Zeigerstel-
schwer ablesbar
Beziehung zwischen
lung.
Beziehung zwischen
Stellteil und Anzeige even- Eindeutige Beziehung
Quantitative Ablesung
Stellteil und Anzeige unklar tuell missverständlich
Gut
zwischen Stellteil und Anzeige
Überwachen und
Ungünstig
Mäßig
Gut
Regeln
Änderungen schlecht
Änderungen schlecht
Zeigerstellung ist leicht zu
bemerkbar
bemerkbar
überwachen und zu regeln
Bei schnellen Änderungen
Bei schnellen Änderungen
Leicht verständliche Bezie-
kaum ablesbar
kaum ablesbar
hung zwischen Stellteile
Beziehung zwischen
Beziehung zwischen
und Anzeige
Stellteil und Anzeige unklar Stellteil und Anzeige eventuell missverständlich
Ergonomische Gestaltung
981
10.1.2.2.2.1 Analoganzeigen
Unter einer analogen Anzeige versteht man eine Einrichtung mit der quantitative Größen stufenlos, d.h. kontinuierlich abgebildet werden. Normalerweise werden dazu Instrumente mit bewegtem Zeiger (Abb. 10.24) oder mit bewegter Skala (Abb. 10.25) verwendet. Analoganzeigen eignen sich für kontinuierlich ablaufende Vorgänge. Sie erlauben neben dem Messwert auch dessen Veränderung zu erfassen. Neben der qualitativen Darstellung von Messwerten eignen sich Analoganzeigen deshalb auch zum Regeln von Betriebszuständen. Obwohl der technische Unterschied zwischen Instrumenten mit bewegtem Zeiger und Instrumenten mit bewegter Skala marginal erscheint, bestehen erhebliche Differenzen bzgl. der Ableseeigenschaften. Der sich bewegende Zeiger erlaubt eine schnelle und sichere Orientierung, benötigt jedoch eine größere Fläche. Bei der bewegten Skala ist die Ablesegenauigkeit in der Regel besser, die Größenordnung des Ablesewerts ist mangels Orientierung jedoch schlechter zu erfassen Abhilfe kann hier bspw. eine farblich verschieden unterlegte Skala bieten. Kreisskala 140
60
100
100
40
Zunahme
120
80
120
Abnahme
Zunahme
20
140
80
160
0
Abnahme
60
40 20
40
60
80
100
120
140
20
Abnahme Längsskala
Zunahme Querskala
Abb. 10.24: Zuordnung von Zeigerbewegung zu Funktionsänderung bei Anzeigen mit fester Skala und bewegtem Zeiger (nach BERNOTAT 1993; SCHMIDTKE 1993)
982
Arbeitswissenschaft Kreisskala 140
60 Abnahme
120
80
100
40
120
Zunahme
100
Abnahme
140
20
Zunahme
80
160
0
60
Zunahme
40 20
40
60
Abnahme 80
100
120
140
20
Längsskala
Querskala
Abb. 10.25: Zuordnung von Zeigerbewegung zu Funktionsänderung bei Anzeigen mit bewegter Skala und festem Zeiger (nach BERNOTAT 1993; SCHMIDTKE 1993)
Ein genereller Nachteil der Analoganzeigen besteht in der Notwendigkeit, Zwischenwerte zu schätzen (Interpolation). Die Ausprägung der Skalen richtet sich nach der zu erfassenden Größe. Bei kontinuierlich ablaufenden Vorgängen (z.B. Uhrzeit) kommt eine Rundskala zur Anwendung. Bei Messwerten mit einem definierten Anfangs- und Endzustand (z.B. Fahrzeuggeschwindigkeit) bedient man sich einer Sektorskala (Abb. 10.26). Quadrantenskala
Sektorskala
10 0
Abnahme
20
20
Zunahme
30 Zunahme
30
10 40 0
Abnahme
Abb. 10.26: Weitere Skalenformen: Sektor- und Quadrantenskala (nach BERNOTAT 1993)
Langfeldskalen können für beide genannten Anzeigearten ausgelegt werden, wobei die Ausführung mit bewegter Skala äußerlich nahezu identisch mit Rundskalen ist. Langfeldskalen mit bewegtem Zeiger sind jedoch Rundskalen bei der schnellen Grobeinschätzung unterlegen, da die Information über die Winkelstel-
Ergonomische Gestaltung
983
lung des Zeigers fehlt (bei der Rundskala bleibt der Bezugspunkt des Zeigers fest, wohingegen der Zeiger bei der Langfeldskala zu suchen bleibt). Bei Analoganzeigen ist besonders auf eine sinnvolle Skalengestaltung (Teilstriche, Beschriftung) sowie auf eine ablesefreundliche Gestaltung des Zeigers zu achten. Dabei soll die dargestellte Information (z.B. Anzahl der Teilstriche) in einem günstigen Verhältnis zur Fähigkeit des Menschen, feine Unterscheidungen noch zu erkennen, stehen. Der Zeiger soll eine klar erkennbare Spitze haben, damit der Ablesende nicht gezwungen wird, den Messwert zu schätzen (wie es z.B. bei breiten Zeigern erforderlich wäre). Der Zeiger darf zudem nicht, wie in Abb. 10.27 links dargestellt, die Ziffern der Beschriftung verdecken und sollte mit seiner Spitze bis zu den Teilstrichen reichen. Ein Beispiel für eine gute Gestaltung ist in Abb. 10.27 rechts gezeigt. Der Abstand zwischen Zeiger und Skala muss zur Vermeidung von Ablesefehlern (Parallaxe) gering sein. Weitere Angaben finden sich dazu in DIN EN 894-2, DIN 43790 und DIN 43802. 40 40 30
30
50
60
60
20
70
10
80 0
50
20
70
10
80
90 0
90
Abb. 10.27: Skalenbeschriftung von Analoganzeigeinstrumenten. Links: Verdeckungseffekt durch schlechte Abstimmung von Zeigerform und Innenbeschriftung. Rechts: gut gestaltete Zeigerform und Beschriftung. (nach SCHMIDTKE 1993)
10.1.2.2.2.2 Digitalanzeigen
Mit Digitalanzeigen werden diskrete (d.h. gestufte) Informationen übermittelt. Die wesentlichen Ausführungsformen sind die binäre Anzeige mit nur zwei Zuständen (z.B. über Kontrollleuchten) und alphanumerische Anzeigen mit Ziffern für Zahlen und Buchstaben. Die binäre Anzeigeform findet vielfältige Anwendung als Zustandsanzeige, z.B. als Ein-Aus-Kontrollleuchte bei nahezu allen elektrischen Geräten. Eine solche Anzeige kann jedoch nur über eine geeignete Dekodierung richtig interpretiert werden. Hierzu kann man sich festgelegter Konventionen bedienen (Farbkodierung, z.B. bei Verkehrsampeln mit Rot = halt, Gelb = Achtung und Grün = freie Fahrt; Symbolkodierungen, z.B. an Verkehrszeichen angelehnte Begriffe oder Symbole), andernfalls ist eine dem Benutzer verständliche Erklärung anzubringen. Häufig erweist es sich als hilfreich, wenn die Bedeutung der Anzeigeeinrichtung auch im inaktiven Zustand erkennbar ist (z.B. bei auf dem Leuchtfeld angebrach-
984
Arbeitswissenschaft
ten Symbolen). Insbesondere bei Warnsignalen kann der Benutzer so auf direktem Wege die Bedeutung verstehen, ohne dass der Warnzustand eintreten muss. Problematisch ist die Verwendung von einfachen Kontrollleuchten, wenn sie in großer Zahl räumlich eng beieinander positioniert sind (z.B. in Leitwarten) oder komplexere Informationen durch die Zusammenschaltung mehrerer Kontrollleuchten übermittelt werden sollen. Die Anzeige von Zahlenwerten mit Digitalanzeigen (Abb. 10.28) eignet sich zur Ablesung quantitativ genau zu erfassender Messgrößen. Die Anzeigegenauigkeit (-auflösung) kann durch die Erhöhung der Ziffernzahl prinzipiell beliebig gesteigert werden. Im Unterschied zu Analoganzeigen sind Werteveränderungen allerdings nur schlecht zu erfassen. Dies gilt sowohl für die Richtung der Veränderung als auch für den Gradienten. Sich schnell ändernde Größen sind in der Regel überhaupt nicht zu erkennen. Die Ablesesicherheit ist wiederum, eine ausreichende Darbietungszeit vorausgesetzt, hoch. Digitalanzeigen finden vorzugsweise dort Anwendung, wo ein Endwert zweifelsfrei und mit hoher Genauigkeit abgelesen werden soll, z.B. bei Mengenzählern (z.B. bei Zapfsäulen, Waagen und Stoppuhren). Ein häufiger auslegungstechnischer Fehler bei digitalen Messwertanzeigen ist die Wahl einer zu großen Auflösung. Die genaue Darstellung suggeriert beim Betrachter eine Messgenauigkeit, die, bedingt durch die Toleranz der Messvorrichtung, möglicherweise nicht vorhanden oder durch Störgrößen konfundiert ist (z.B. bei einer Außentemperaturanzeige im Fahrzeug, die durch den Fahrtwind und die Wärmeproduktion im Fahrzeug gestört wird). Eine zu kleine Auflösung dagegen verhindert das Ablesen von geringen Veränderungen der Anzeigegröße. Daher spielt die sachgerechte Interpretation der Zahlenwerte, unter Berücksichtigung der Eigenschaften der vorgelagerten technischen Systeme, eine wichtige Rolle beim exakten Ablesen von Digitalanzeigen. Eine sinnfällige Zuordnung von Stellrichtung und Anzeige ist bei Digitalanzeigen nicht möglich. Bei der Gestaltung von Digitalanzeigen muss besonders auf eine entsprechende anguläre Zifferngröße sowie auf ein ausreichendes Kontrastverhältnis zwischen Zeichen und Untergrund geachtet werden. Die Ziffern sollten mit gut lesbaren Zeichen dargestellt werden. Bei Anzeigen mit mehreren Ziffern sollten diese in 2er oder 3er-Gruppen angeordnet werden. 10.1.2.2.2.3 Hybridanzeigen
Diese Anzeigeart versucht die Vorteile der Analog- und der Digitalanzeige zu verbinden, indem die absolute Anzeigegröße und deren Veränderung mit zwei getrennten Elementen dargestellt werden. Im Allgemeinen wird erstere über eine Digitalanzeige und zweitere über eine Analoganzeige abgebildet. Hybridanzeigen finden vorzugsweise beim Erfassen großer Messbereiche Anwendung, deren Veränderung trotzdem schnell und einfach zu erfassen ist (Tachometer mit Kilometerzähler, Strom- und Wasserzähler).
Ergonomische Gestaltung
985
digital 7
9
60
hybrid
2
1
7
9
7 6 5 4
Abnahme
1
Zunahme
2
hybrid
40 20 0
1
80 7
5
100 6 5
120 140 160
Abb. 10.28: Analog-, Digital- und Hybrid-Anzeigen (nach BERNOTAT 1993)
10.1.2.2.2.4 Bildschirmanzeigen
Heutige Mensch-Maschine-Systeme, seien es Fahrzeuge oder Prozessleitstände, kommen nicht mehr ohne den Einsatz von Computersystemen aus, die im Hintergrund Operationen zur Erfassung, Aufbereitung und Übermittlung von Zustandsund Prozessdaten durchführen. Durch die softwaregestützte Realisierung von Anzeige- und Bedienelementen lassen sich vielfältige Funktionen der MenschMaschine-Schnittstelle verhältnismäßig schnell und kostengünstig realisieren und z.B. bei Überarbeitungen des Systems modifizieren bzw. bei Nachfolgemodellen zumindest teilweise wiederverwenden. Zur Informationsdarstellung werden demzufolge vielfach Bildschirmanzeigen verwendet, mit deren Hilfe die oben beschriebenen Analog- und Digitalanzeigen computergestützt dargestellt werden. Für die Gestaltung der Anzeigeelemente gelten die oben beschriebenen Gestaltungshinweise. Bildschirmanzeigen erlauben die Erzeugung unterschiedlicher Anzeigearten und eignen sich deshalb für die Darstellung komplexer Sachverhalte in Form von Grafiken, Flussbildern oder Diagrammen (Abb. 10.29). Ein wesentlicher Vorteil ist die große Variabilität der Informationsdarstellung, die eine zustandsabhängige Darstellung situativ relevanter Informationen mittels sog. konfigurierbarer Anzeigen ermöglicht. Enthält die Bildschirmanzeige neben den Anzeigekomponenten interaktive Elemente wie Schaltflächen (buttons), mit denen der Benutzer Informationen auswählen oder andere Systemfunktionen auslösen kann, spricht man von einer grafischen Benutzungsschnittstelle (graphical user interface – GUI). Bei Bildschirmanzeigen ist eine ausreichend feine optische Auflösung anzustreben. Bei der Zeichendarstellung ist zu beachten, dass das Punktraster zur Abbildung der Buchstaben ausreichend fein aufgelöst ist. Eine Punkt-Matrix- oder 7Segment-Anzeige entspricht zwar dem Stand der Technik, nicht jedoch immer den Bedingungen nach guter Lesbarkeit (z.B. Verwechslungsgefahr zwischen 5, 6 und 8, 7 und 1).
986
Arbeitswissenschaft
Abb. 10.29: Bildschirmanzeige als Ersatz für eine Vielzahl von Kontrollleuchten am Fahrerplatz eines Linienbusses. Je nach Betriebszustand werden die anfallenden Informationen in einfach verständlicher Form und an einem festen Ort dargestellt (GÖBEL u. LUCZAK 2000)
Ebenfalls ist auf ein ausreichendes Kontrastverhältnis zwischen Zeichen und Hintergrund zu achten (> 1:200 bis 1:500). Elementare Anforderungen finden sich in DIN EN ISO 9241. Zur räumlichen Anordnung von Bildschirmanzeigen siehe auch DIN EN ISO 11064-4. Für den Einsatz von Bildschirmanzeigen in Fahrzeugen siehe auch DIN EN ISO 15008. Bei Verwendung von Bildschirmanzeigen muss auf eine ausreichend hohe Bildwiederholfrequenz zur Vermeidung von Flimmererscheinungen, insbesondere bei hellem Untergrund, geachtet werden. Ab 60 bis 70 Hz (d.h. Bildwechsel pro Sekunde) kann i.Allg. eine zufrieden stellende Abbildung erreicht werden. Im Zusammenhang mit Beleuchtungseinrichtungen, deren Helligkeit üblicherweise mit der Netzfrequenz schwankt, ist zu beachten, dass hierbei Interferenzerscheinungen auftreten können. Dabei entstehen Frequenzanteile, die der Differenz beider Wechselfrequenzen entsprechen und somit unter Umständen in einem Bereich hoher Wahrnehmungsempfindlichkeit liegen (10-15 Hz). Hierbei können Leuchtdichteschwankungen von weniger als 1% deutlich wahrgenommen werden. Bei Flüssigkristall-Displaysystemen (LCD-Displays) ist dieses Problem wegen der Trägheit der Kristalle nicht gegeben. In Anwendungsbereichen von Bildschirmanzeigen werden heute noch zum Teil Kathodenstrahlröhren (cathode ray tubes, CRT) und daneben zunehmend Flüssigkristallanzeigen (liquid crystal displays, LCD) verwendet. Die wichtigsten Vorund Nachteile von LCDs gegenüber CRTs sind in Tabelle 10.2 aufgeführt.
Ergonomische Gestaltung
987
Tabelle 10.2: Vor- und Nachteile von Flüssigkristallanzeigen (LCDs) (nach BGI 650) Vorteile
Nachteile
•
geringer Platzbedarf durch geringe Bautiefe
•
etwas höherer Preis
•
hohe Leuchtdichte (LCD: 200 cd/m²; CRT:
•
je nach LCD-Typ Farben, Leuchtdichte und
80-140 cd/m²)
Kontrast abhängig von Sehrichtung
•
keine Geometrie- und Konvergenzfehler
•
scharfes, flimmerfreies Bild; hoher Kontrast
•
sehr gute Entspiegelung (Reflexionsklasse I
•
optimale Darstellung bei Ansteuerung in der physikalischen Bildschirmauflösung
•
nach DIN EN ISO 13406-2)
Darstellungsqualität abhängig von Auflösung;
ggf. hohe Bildaufbauzeiten; führt bei dynamischen Bildern zum Verschwimmen der Bild-
•
niedriger Energieverbrauch
•
geringe Wärmeabgabe
•
Unempfindlichkeit gegen elektrische und
inhalte
magnetische Felder
•
geringe elektromagnetische Abstrahlung (Erfüllung TCO-Norm)
Je nach verwendeter Technologie können sich Leuchtdichte, Kontrast und Farbe bei LCD-Bildschirmen in Abhängigkeit von der Sehrichtung ändern (siehe Tabelle 10.3). DIN EN ISO 13406-2 definiert deshalb zur Unterscheidung von LCDs vier sog. Sehrichtungs-Bereichsklassen (Tabelle 10.4). Werden auf dem Bildschirm häufig vertrauliche Informationen angezeigt (z.B. am Geldausgabeautomaten) kann die Verwendung eines Displays der Klasse IV sinnvoll sein. Tabelle 10.3: Unterschiede zwischen LCD-Technologien (nach BGI 650) Twisted Nematic
(Super) In-Plane Switching
Multi Domain / Pattern Vertical Alignment
Lichttransmission
hoch
niedrig
mittel
Kontrast
mittel bis hoch
mittel bis hoch
mittel bis hoch
Winkelabhängigkeit
mittel bis hoch
niedrig
niedrig
Schaltzeiten
niedrig
hoch
niedrig
Leistungsaufnahme
niedrig
hoch
mittel
988
Arbeitswissenschaft
Tabelle 10.4: Sehrichtungs-Bereichsklassen nach DIN EN ISO 13406-2 Klasse I
Beschreibung
•
Erlaubt einer Vielzahl von Benutzern, die gesamte Bildschirmfläche beim vorgesehenen Sehabstand aus allen Richtungen innerhalb eines 80°-Sehkegels ohne Abnahme der visuellen Leistung zu betrachten.
•
Bietet Gleichmäßigkeit über die gesamte Bildschirmfläche; Kopfbewegungen sind möglich.
II
•
Nicht geeignet für Aufgaben, die einen geringen Sehkegel erfordern.
•
Erlaubt einem einzelnen Benutzer, die gesamte Bildschirmfläche beim vorgesehenen Sehabstand aus allen Richtungen vor dem Bildschirm ohne Abnahme der visuellen Leistung zu betrachten.
•
Bietet Gleichmäßigkeit über die gesamte Bildschirmfläche; Kopfbewegungen sind möglich.
III
•
Nicht geeignet für Aufgaben, die einen geringen Sehkegel erfordern.
•
Erlaubt einem einzelnen Benutzer, die gesamte Bildschirmfläche beim vorgesehenen Sehabstand von einer flexiblen Position (d.h. vorgesehener Sehabstand, vorgesehene Sehrichtung vor der Mitte des Bildschirms) ohne Abnahme der visuellen Leistung zu betrachten.
•
Bietet Gleichmäßigkeit über die gesamte Bildschirmfläche; Kopfbewegungen sind nicht möglich.
IV
•
Geeignet für Aufgaben, die einen geringen Sehkegel erfordern.
•
Erlaubt einem einzelnen Benutzer, die Mitte der Bildschirmfläche beim vorgesehenen Sehabstand von einer fixierten Position (d.h. vorgesehener Sehabstand, vorgesehene Sehrichtung vor der Mitte des Bildschirms) ohne Abnahme der visuellen Leistung zu betrachten.
•
Erfordert Kippen und Drehen des Bildschirms, um eine gleichmäßige Erscheinung der Bilddarstellung zu erreichen; Kopfbewegungen sind nicht möglich.
•
Sehr gut geeignet für Aufgaben, die einen geringen Sehkegel erfordern.
10.1.2.2.2.5 Verwendung von Farben
Die Darstellung von dunklen Zeichen auf hellem Untergrund (Positivdarstellung) ist vorzuziehen (siehe BGI 650). Beim Einsatz von Farben als Kodierungsmittel sollten nur gut zu unterscheidende Farben in moderater Anzahl (3-5) verwendet werden. Dabei sind nach DIN EN 981 für bestimmte Informationen die Farben Rot, Gelb, Blau und Grün vorgesehen (siehe Tabelle 10.5).
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Tabelle 10.5: Wesentliche Bedeutungen von Farbkodierungen bei Sichtanzeigen gemäß DIN EN 981 Farbe
Bedeutung
Zweck
Rot
Gefahr
Notfall, Alarm, Halt, Ausfall, Verbot
Gelb
Vorsicht
Eingriff, Aufmerksamkeit, Zustandsänderung
Blau
Handeln
Gebot, Handlung erforderlich, Schutz
Grün
Normalzustand
Weitermachen, normaler Ablauf oder Zustand
Hinzuweisen ist darauf, dass zwischen 8-9% der männlichen, jedoch nur 1% der weiblichen Bevölkerung bestimmte Farben nicht wahrnehmen können (Farbfehlsichtigkeit, Rot-Grün-Schwäche). Davon zu unterscheiden ist die Farbenblindheit, die bewirkt, dass farbige Informationen als Graustufen wahrgenommen werden. Um die Wahrnehmbarkeit wichtiger Informationen zu gewährleisten, sollte neben der Farbinformation eine dazu redundante Information dargeboten werden, z.B. durch Formkodierung von Symbolen. In Bezug auf die Farbkombinationen von Zeichen und Hintergrund sollte eine nach BGI 650 oder DIN EN ISO 15008 als „sehr gut“ eingestufte Kombination gewählt werden. Eine differenzierte Betrachtung erlaubt DIN EN ISO 9241-8. 10.1.2.2.2.6 Sichtanzeigen für Virtuelle Umgebungen
Um Informationen in Virtuellen Umgebungen räumlich wahrnehmen zu können, benötigt der Mensch eine stereoskopische Darstellung, bei der dem linken und rechten Auge ein jeweils um die stereoskopische Parallaxe verschobenes Bild dargeboten wird. Stationäre Anzeigesysteme
Die Darstellung Virtueller Umgebungen auf großformatigen, meist horizontal angeordneten Projektionsflächen (sog. Workbench) oder in Projektionsräumen (sog. CAVE, Abb. 10.30) ermöglicht es, mehrere Benutzer in eine Virtuelle Umgebung einzubinden. Die Möglichkeiten zur Gruppenarbeit bleiben dabei bestehen, weshalb diese Verfahren insbesondere dort geeignet erscheinen. Um das stereoskopisch auf der/den Projektionsfläche(n) projizierte Bild räumlich wahrnehmen zu können, müssen die Benutzer in der Regel sog. ShutterBrillen bzw. Polarisationsbrillen tragen. Die in der Brille eingebauten Filter decken wechselweise das linke und rechte Auge synchron zur Erneuerungsfrequenz der um die stereoskopische Parallaxe verschobenen projizierten Bilder ab. Auf diese Weise sieht der Benutzer mit dem rechten Auge das für das rechte Auge gerechnete Bild, mit dem linken Auge entsprechend dasjenige für das linke Auge und es kommt zur Entstehung eines Raumeindrucks. Um die Perspektive korrekt wiederzugeben, wird die Kopfposition des Benutzers mit einem Tracking-System verfolgt. Dies ist in der Regel nur für einen Benutzer möglich, alle anderen sehen ein je nach Abstand vom getrackten Benutzer mehr oder weniger verzerrtes Bild.
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Arbeitswissenschaft
Abb. 10.30: Technischer Aufbau und Benutzung einer CAVE (Quelle: Rechenzentrum der RWTH Aachen 2008)
Die Arbeitsflächen-Projektionen (Workbench) erlauben lediglich eine semiimmersive Einbindung des Benutzers in die Virtuelle Umgebung, da die Sicht auf die natürliche Umgebung vorhanden bleibt. Bei verbleibender Sicht auf die reale Umgebung wird mit solchen Sichtgeräten ein geringerer Immersionsgrad erzielt als bei der Benutzung sog. Head-Mounted Displays, die auf dem Kopf getragen werden. Autostereoskopische Displays
Autostereoskopische Displays ermöglichen echte binokulare Darstellungen auf einem Monitor, ohne den Benutzer mit zusätzlichen Geräten (Shutter-Brille, Polarisationsbrille) zu belasten. Dabei unterscheidet man projektive, volumetrische und holographische Verfahren (EGGERATH 2004). Projektive Verfahren diskretisieren den Betrachtungsraum in mehrere Raumzonen (two-view, multi-view), die jeweils mit Perspektivbildern ausgeleuchtet werden. Zur diskreten Ausleuchtung dieser Zonen wird räumliches Multiplexing, zeitliches Multiplexing oder die direkte Kopplung mehrerer Projektoren oder Monitore eingesetzt. Der Sichtbereich wird entweder durch Verfolgung der Ausrichtung und Position der Augen (two-view) oder durch permanente Projektion parallaktischer Teilbilder (multi-view) diskretisiert (DODGSON 1997). Volumetrische Verfahren unterscheiden sich von projektiven Verfahren durch die Art der Adressierung der Lichtpunkte im Raum. Während projektive Displays vorausberechnete Perspektivbilder in den Raum projizieren, wird bei volumetrischen Verfahren jeder Rasterpunkt innerhalb eines Raumvolumens in seiner Leuchtintensität (und Farbe) direkt bestimmt. Die darzustellenden Punkte scheinen also direkt im physikalischen Raum zu leuchten. Dies lässt sich z.B. durch
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eine sich schnell bewegende Projektionsfläche wie eine rotierende Helix (ACTUALITYSYSTEMS 2007) oder einen Schwingspiegel erreichen oder mit einer Aufschichtung mehrerer hintereinander liegender, durchsichtiger LCD-Panels (LST 2007) realisieren. In holographischen Displays werden Interferenzmuster aus vorgegebenen 3DDaten berechnet, welche dann zur Modulation (Beugung) einer ausfallenden Laserlichtwellenfront eingesetzt werden. Im Display wird also die Rekonstruktionsphase eines Weißlichthologramms nachgebildet. Die Anforderungen an Hard- und Software sind hoch; es sind aber bereits schnelle, auf dem Raytracing-Prinzip beruhende Verfahren verfügbar, um softwareseitig aus einer gegebenen 3DRepräsentation die zugehörigen Interferenzmuster zu berechnen (LUCENTE u. GALYEAN 1995). Mobile Sichtanzeigen
Bei Virtuellen Umgebungen werden als Sichtgeräte häufig Head- oder HelmetMounted Displays sowie auch handgeführte Sichtanzeigen eingesetzt. Sie sind teilweise so ausgeführt, dass der Benutzer über keine Außensicht verfügt und somit visuell einen hohen Immersionsgrad erreicht, sog. immersive oder videosee-through HMDs. Zur Generierung der Bilder werden meist Flüssigkristallanzeigen verwendet. Es sind auch Geräte verfügbar, bei denen rechnergestützt generierte Darstellungen über halbdurchlässige Spiegel in die natürliche Außensicht des Benutzers eingeblendet werden, sog. optical-see-through-HMDs. Um die Blickrichtung des Benutzers festzustellen, werden Tracking-Systeme (siehe Kap. 10.1.2.4.6) verwendet, für deren Integration die meisten der genannten Geräte vorbereitet sind. Bei einigen Geräten ist darüber hinaus ein Akustiksystem integriert, das dem Benutzer über einen Kopfhörer akustische Reize darstellt. Bei binokularen Geräten soll der Abstand der Austrittspupillen im Bereich 5668 mm verstellbar sein, um eine Anpassung an den Pupillenabstand zu ermöglichen. Bei Vorhandensein einer Skala für die Einstellungsvorrichtung können die Einstellungen auf diese Weise reproduziert werden. Da der Benutzerkreis in der Regel auch aus Personen mit Sehhilfen besteht, sollte das Gerät mit Sehhilfen benutzbar sein bzw. für jedes Auge ein Linsensystem zur Sehkorrektur vorweisen. Um das Einwirken von Streulicht bei Geräten ohne Außensicht zu verhindern, sollten beide Okulare mit ausreichend großen Okularmuscheln bzw. das Gerät mit einem Lichtschutztubus ausgestattet sein (SCHMIDTKE u. ZÜLCH 1995). Bei der Auswahl von Head- oder Helmet-Mounted Displays ist auf ein geringes Gerätegewicht, homogene Druckverteilung der Gewichtskräfte auf dem Kopf und eine gute Belüftung der bedeckten Kopfoberfläche zu achten. Große Gewichte, inhomogene Druckverteilung und Temperaturstau unterhalb der Kopfbefestigungen führen zu Unbehaglichkeit bei der Benutzung. Die meisten Geräte verfügen ähnlich wie Arbeitsschutzhelme über eine Kopfschale mit einem in Stirnhöhe rundum und einem weiteren, in der Frontalebene quer über den Kopf verlaufenden Band. Die homogene Druckverteilung auf dem Kopf sollte durch geeignete Einstellvorrichtungen erreicht werden können; das Anbringen von zusätzlichen Pols-
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terungen in der Helmschale kann zu einer weiteren Verbesserung der Druckverteilung führen. Sind Kabelverbindungen vom Sichtgerät zum Computer vorhanden, ist zu berücksichtigen, dass unter Umständen senkrecht nach unten gerichtete Zugkräfte über das Kabel am Kopf aufgebracht werden, was zum einen die Bewegungsfreiheit einschränkt zum anderen bei längerer Benutzung lästig ist. Es sollte dann die Möglichkeit einer günstigeren Kabelführung, bspw. von oben, oder das Abfangen der Kräfte über eine Schlaufe am Oberkörper in Erwägung gezogen werden. Zu handgeführten Geräten ist grundsätzlich anzumerken, dass ein hohes Gerätegewicht eine erhebliche statische Haltearbeit erfordert und ein ruhiges sowie beanspruchungsarmes Halten der Geräte erschwert. Verschiebungen zwischen Augenpupille und der sog. Austrittspupille des Geräts behindern dann ein kontinuierliches Betrachten der Szene. Es ist deshalb bei diesen Geräten auf ein niedriges Gewicht bzw. die Möglichkeit zur Abstützung des Geräts auf einem Stativ o.Ä. zu achten. 10.1.2.2.3 Akustische Anzeigen Akustische Signale werden eingesetzt, um besondere Betriebszustände (z.B. Warnsignale bei laufenden Kranarbeiten etc.) hervorzuheben, insbesondere dann, wenn Signale auch ohne gerichtete Aufmerksamkeit wahrgenommen werden sollen oder die Aufmerksamkeit auf bestimmte visuelle Anzeigen gelenkt werden soll. Dabei ist zu beachten, dass diese Informationen auch bei der am Arbeitsplatz bzw. in der Umwelt üblichen Geräuschkulisse wahrnehmbar sind und nicht durch Gehörschutz o.Ä. unterdrückt werden (siehe Kap. 9.1). Zur deutlichen Unterscheidung können Lautstärke, Tonhöhe und Tonfolge dienen. Die übertragbare Informationsmenge ist jedoch eingeschränkt, da der Mensch nur eine begrenzte Differenzierungsmöglichkeit besitzt. Aufgrund der menschlichen Fähigkeit zur Richtungslokalisation beim beidohrigen (binauralen) Hören (auch Richtungshören) kann es sinnvoll sein, ortsreferenzierte Informationen als dreidimensionale Schallereignisse an den Benutzer rückzumelden (BORYS 2003), z.B. um in der Flugführung eine Kollisionswarnung zu geben. Da bei der Raumwahrnehmung nicht nur Laufzeitdifferenzen, sondern auch Hall- und Resonanzeffekte eine Rolle spielen, muss das raumbezogene Audiosignal softwaregestützt „spatialisiert“ werden. Zur Wiedergabe des Schallsignals werden aus mehreren Lautsprechern bestehende Systeme (sog. Surround-Sound) eingesetzt. Um in Virtuellen Umgebungen durch Nutzung des auditiven Kanals die Immersion zu erhöhen, ist es erforderlich, die direkt am Ohr erzeugten Schallreize so zu generieren, dass der Position des Hörers in Relation zum virtuellen schallerzeugenden Objekt Rechnung getragen wird. Möglichkeiten hierzu beschreiben LEHNERT u. GIRON (1995). Es soll auch auf die Möglichkeit der Sprachausgabe hingewiesen werden. Hierbei muss jedoch beachtet werden, dass diese Informationen von Unbeteiligten unter Umständen als unerwünscht oder störend wahrgenommen werden.
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10.1.2.2.4 Taktile Anzeigen Auch haptisch (fühlbar) erfassbare Merkmale können der Übertragung von Informationen im Arbeitsprozess dienen, da derartige Perzeptionen schnell und erwartungskonform auf die Bewegungssteuerung einwirken können (siehe Kap. 3.3.2.1.2.4 und 3.3.2.3.2; LUCZAK 1994; LUCZAK et al. 1994). Bspw. sind durch besondere Merkmale an Werkstücken Rückschlüsse auf deren Lage oder Beschaffenheit möglich (z.B. beim Zusammenbau zweier Gehäusehälften). Taktile Anzeigen (tactile displays) können zu einer erheblichen Entlastung der visuellen Wahrnehmung beitragen. Z.B. kann bei der Flugführung über eine vibro-taktile Weste die Anzeige von Navigations- oder anderer ortsreferenzierter Informationen erfolgen (VAN VEEN u. VAN ERP 2000). TROUVAIN u. SCHLICK (2007) konnten die Wirksamkeit zweier am rechten und linken Handgelenk positionierter taktiler Anzeigen als Annäherungsanzeige bei der Überwachung eines teilautonomen Mehr-Robotersystems nachweisen. Taktile Anzeigen finden auch dort Verwendung, wo Eingabegeräte per se keine ausreichende Rückmeldung geben können. So werden beim Lenken eines Fahrzeugs wichtige Informationen über die am Rad wirkenden Kräfte übermittelt, die bei einer starken Servo-Unterstützung fehlen und damit das Steuern des Fahrzeugs erheblich erschweren. Wenn diese unmittelbare Rückkopplung aufgrund der mechanischen Trennung von Stellteil und Aktuator fehlt, ist es von großem Nutzen, solche Informationen ebenfalls zu übermitteln oder gar künstlich nachzubilden. Bei den in der Luftfahrt heute gebräuchlichen computergestützten Flugführungssystemen (fly-by-wire) werden hierzu Bedienelemente mit künstlicher Kraftrückmeldung eingesetzt (sog. Force-Feedback, siehe Kapitel 10.1.2.4.3), die den Luftwiderstand an den Steuerflächen widerspiegeln. Im Falle drohender Strömungsabrisse wird auch das typische Vibrieren der Steuerflächen über den sog. Shaker künstlich nachgebildet. Von GÖBEL et al. (1995) konnte gezeigt werden, dass die Benutzung einer Computermaus um etwa 25% schneller erfolgt, wenn die Annäherung oder Berührung von Objekten auf dem Bildschirm zusätzlich auf taktilem Wege – direkt an der Maus – dargeboten wird. Weiterführende Informationen zur technischen Gestaltung derartiger Anzeigesysteme finden sich bei RENKEWITZ u. ALEXANDER (2007). 10.1.2.2.5 Olfaktorische, gustatorische und thermische Anzeigen Die Anzeige olfaktorischer oder gustatorischer Merkmale ist derzeit nur sehr eingeschränkt möglich. Zur Darstellung von Warnhinweisen bedient man sich allerdings der menschlichen Sensitivität für Geruchsreize, indem z.B. gasförmigen Gefahrstoffen Geruchsstoffe beigemischt werden, um deren unbeabsichtigtes Entweichen aus Rohrleitungen oder Behältern anzuzeigen. Gleichsam werden gesundheitsschädlichen Stoffzubereitungen, wie z.B. Ködern oder Reinigungsmitteln, Bitterstoffe beigemengt, um durch die resultierende Empfindung eines schlechten oder ekelerregenden Geschmacks ein versehentliches Verschlucken zu verhindern. Andererseits wird in der Markenkommunikation versucht, durch die „Anzeige“ von olfaktorischen oder thermischen Merkmalen positive Emotionen zu wecken
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oder ein bestimmtes Markenbild zu erzeugen (affective design). Beispiele hierfür sind das Verbreiten von Aromen (REMPEL 2006), z.B. dem Geruch frisch gemahlenen Kaffees oder frisch gebackenen Brots, um in Lebensmittelgeschäften die Kaufbereitschaft für entsprechende Produkte zu erhöhen. In der Herstellung kostengünstige Kunststoffoberflächen in PKW-Innenräumen sollen bei bestimmten Käufergruppen ein sportliches oder hochwertiges Ambiente vermitteln, indem sie optisch, haptisch und thermisch mit entsprechenden Attributen behafteten Werkstoffen (z.B. Aluminium oder Edelstahl) ähneln. 10.1.2.3 UnterstützungĆderĆInformationsverarbeitungĆ Bei der Anwendung von Sichtanzeigen spielt nicht nur die richtige Auswahl, sondern vor allem auch ihre aufgabengerechte Gestaltung eine große Rolle. Sollen Informationen nicht lediglich angezeigt, sondern in einer für den Benutzer leicht erkennbaren und verständlichen Form an diesen übermittelt werden, spricht man auch von Visualisierung. Nach CARD et al. (1999) beinhaltet die Visualisierung insbesondere „the use of computer-supported, interactive, visual representations of abstract data to amplify cognition“. In diesem Zusammenhang meint z.B. VICENTE (1999) unter Bezug auf die Schnittstelle, die zu einem wesentlichen Teil zur Informationsdarbietung dient: „The adequacy of the human-computer interface can either make or break the system“. Die Visualisierung kann die zentrale Informationsverarbeitung durch eine Verlagerung von kognitiven hin zu Wahrnehmungsprozessen entlasten, z.B. indem Informationen leichter erkannt werden, Tendenzen oder Muster im Informationsstrom sichtbar werden und die besonderen Leistungsmerkmale der visuellen Aufmerksamkeit bei Überwachungsaufgaben berücksichtigt werden. Während sich die Visualisierung mehr mit der Übermittlung der Information zwischen Maschine und Mensch beschäftigt, behandeln die übergeordneten Gestaltungskonzepte die Anordnung und Integration von Anzeigen und die Repräsentation von Betriebsbedingungen des Systems in der Benutzerschnittstelle. 10.1.2.3.1 Kompatibilitätsprinzip der Nähe Das Kompatibilitätsprinzip der Nähe (WICKENS u. CARSWELL 1995; engl. proximity compatibilty principle – PCP) ist als eine Richtlinie anzusehen, die bei der Beantwortung der Frage hilfreich sein kann, wo eine Anzeige im Hinblick auf andere Anzeigen angeordnet und wie sie gestaltet werden soll. So sollten die Wahrnehmungsmerkmale von Anzeigen so gestaltet sein, dass sie mit den kognitiven Prozessen kompatibel sind, die sich beim Operateur bei der Durchführung einer Aufgabe entfalten. Wenn ein Operateur z.B. zwei Informationsquellen zur Durchführung einer Aufgabe benötigt, so sollte die Anzeige diese Daten auf irgendeine Weise integrieren. Wenn der Operateur sich dagegen auf eine einzige Informationsquelle konzentriert, um eine Aufgabe durchzuführen, so sollten die Daten für diese Aufgabe getrennt von anderen dargeboten werden (VICENTE 1997).
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Zur aufgabenbezogenen Informationsdarstellung müssen die Aspekte Wahrnehmungsnähe und Aufgabennähe aufeinander abgestimmt werden. Zur Reduktion von Informationszugangskosten sollen die zur Integration von Einzelinformation notwendigen Anzeigen örtlich nah beieinander zu finden sein, wobei eine Objektintegration, d.h. die Integration verschiedener Informationselemente zu einem grafischen Objekt, anzustreben ist. Ferner wird die Nutzung sich aus der in Kapitel 3.3.2.1.3 erläuterten Gestaltpsychologie ergebender sog. emergent features, also vom Menschen leicht wahrnehmbarer Formreize, zur Visualisierung von besonderen Prozesszuständen, z.B. im Störungsfall, empfohlen. 10.1.2.3.1.1 Wahrnehmungsnähe (Anzeigennähe)
Die Wahrnehmungsnähe ist definiert als der Abstand, in dem zwei Anzeigenkanäle, die aufgabenbezogene Information übertragen, im mehrdimensionalen Wahrnehmungsraum des Benutzers auseinander liegen. Die Wahrnehmungsnähe kann über zwei Dimensionen variiert werden. Über physikalische Variablen wie die räumliche Nähe oder die chromatische Nähe und über die geometrische Form (Objektanzeige vs. getrennte Anzeigen). Das Prinzip der Gliederung der Anzeige in Funktionsgruppen ist eine seit langem bekannte Möglichkeit, über die die Wahrnehmungsnähe variiert werden kann. Das PCP geht jedoch in mehrerer Hinsicht über diesen konventionellen Rahmen hinaus, da es nicht nur die räumliche Nähe berücksichtigt, sondern den gesamten Wahrnehmungsraum mit einbezieht. 10.1.2.3.1.2 Aufgabennähe
Eine Ähnlichkeit von Aufgaben kann z.B. in Bezug auf folgende Merkmale vorliegen (Tabelle 10.6): x Metrische Ähnlichkeit: Information, die in derselben Einheit dargestellt wird, z.B. der Druck in zwei verschiedenen Tanks. x Statistische Ähnlichkeit oder Kovarianz: Ausmaß des Wirkzusammenhangs zweier Werte. x Verarbeitungsähnlichkeit: Eine Ähnlichkeit von zwei Aufgaben in Bezug auf die Informationsverarbeitung. Größere Verarbeitungsähnlichkeit liegt z.B. bei zwei Regelaufgaben mit gleicher Ansteuerung der Strecke vor (in beiden Fällen Geschwindigkeitssystem), als bei Regelaufgaben mit unterschiedlicher Ansteuerung (Geschwindigkeitssystem und Beschleunigungssystem). Die einzelnen Ähnlichkeitsmerkmale und das Ausmaß, in dem Informationen integriert werden müssen, kennzeichnen die resultierende Aufgabennähe: x Große Aufgabennähe liegt vor, wenn im Rahmen der Aufgabendurchführung Informationen verschiedener Quellen mental zusammengefasst und integriert weiterverwendet werden müssen, z.B. die Auswertung des Temperaturverlaufs innerhalb eines Hochofens. x Eine geringere Aufgabennähe liegt beim nichtintegrativen Verarbeiten ähnlicher Aufgaben vor, z.B. bei der Überwachung der Drehzahlen mehrerer Triebwerke.
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x Nichtintegratives Verarbeiten unterschiedlicher Informationsquellen (unabhängige Informationsverarbeitung): Dieser niedrigste Grad der Aufgabennähe liegt vor, wenn keine Ähnlichkeit oder Interaktion zwischen den Informationsquellen oder den Verarbeitungsmechanismen der beiden Aufgaben vorliegt. Tabelle 10.6: Merkmale der Aufgabennähe Ähnlichkeitsmerkmal
Hohe Aufgabennähe
Geringe Aufgabennähe
Metrische Ähnlichkeit
Informationen mit gleicher physikalischer Einheit
Informationen mit unterschiedlicher physikalischer Einheit
Statistische Ähnlichkeit / Kovarianz
Informationen stehen miteinander in Wechselwirkung
Keine Korrelation zwischen Informationen
Verarbeitungsähnlichkeit
(Zeitgleiche) Nutzung gleicher Verarbeitungsmechanismen
Nutzung verschiedener Verarbeitungsmechanismen
Inhaltliche Nähe
Mehrere Informationen werden integriert: Vergleich von Soll-Wert mit Ist-Wert Bestimmung der Fluglage aus Position, Kurs sowie horizontaler und vertikaler Geschwindigkeit Weiterverwendung von Information
Informationen werden unabhängig voneinander verarbeitet.
10.1.2.3.1.3 Manipulation der Anzeigennähe
Basierend auf den gestaltpsychologischen Theorien über die Organisation des Wahrnehmungsfeldes (z.B. POMERANTZ u. KUBOVY 1986) wurden verschiedene Möglichkeiten gefunden, die Wahrnehmungsnähe zwischen zwei oder mehr angezeigten Informationsquellen zu variieren und so an die Aufgabennähe anzupassen. Dazu gehören z.B. das Gesetz der Nähe, der Ähnlichkeit, der Geschlossenheit, der guten Fortsetzung usw.. Über folgende Faktoren kann die Anzeigennähe manipuliert werden: x Räumliche Entfernung von Anzeigen x Linien, die Informationsquellen verbinden oder umranden x Kodierung der Qualität und Quantität einer Variablen: Die Anzeigennähe kann durch unterschiedliche Kodierungen reduziert werden, indem man die Kodierung für die Information mischt, also z.B. einmal binär kodiert, das andere mal analog. Bei homogen kodierten Anzeigen benutzt man immer denselben Kode (z.B. Balkenlänge) und erreicht damit eine große Anzeigennähe.
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Man muss zwischen der Kodierung der Quantität und der Qualität unterscheiden. Z.B. kann die Temperatur durch die rot/blaue Färbung eines Balkens gekennzeichnet werden (Kodierung der Qualität), während die Länge des Balkens (Kodierung der Quantität) die gemessene Temperatur angibt. x Objektintegration: Mehrere Informationen werden so angeordnet, dass sie dem Benutzer als Teil eines einzigen Objekts erscheinen (z.B. Anzeige von Atemvolumen und -frequenz eines Patienten über die Länge der Seiten eines Rechtecks). Dies kann über verschiedene Methoden erreicht werden. Eine Methode besteht darin, den räumlichen Abstand zwischen den Informationsquellen zu reduzieren. Bei einer anderen Methode, z.B. der Darstellung von Messwerten in Form von Balken, fügt man eine Kontur hinzu, die die oberen Kanten der Balken verbindet. Eine weitere Methode besteht in einer extremen räumlichen Integration, so dass z.B. ein Punkt in einem kartesischen Koordinatensystem zwei Dimensionen repräsentiert. x Konfiguration: Diese Methode ist durch drei Aspekte gekennzeichnet: Durch die enge räumliche Nähe, die Verwendung homogener Kodes und die Anordnung der Informationsquellen in einer Weise, dass sie ein neues Muster konfiguriert. Am Beispiel der in der Flugführung üblichen Anordnung von CockpitAnzeigen wird das Prinzip der Anzeigennähe gut verdeutlicht: Die für die Durchführung der Flugführungsaufgabe wesentlichen Informationen über Geschwindigkeit, Fluglage, Höhe und Flugrichtung werden immer in Form eines „T“ dargestellt (Abb. 10.31). Auf diese Weise können alle relevanten Anzeigen schnell überblickt und die Informationen integriert werden. Zudem erleichtert die stets identische Anordnung den Wechsel der Piloten zwischen verschiedenen Flugzeugmustern.
Abb. 10.31: Sog. „Basic-T“ einer Cockpitinstrumentierung; Geschwindigkeitsanzeige, künstlicher Horizont, Höhenmesser und Kurskreisel sind in Flugzeugcockpits als „T“ zueinander angeordnet
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10.1.2.3.1.4 Informationszugangskosten
Alle Ansätze, die dazu dienen, die Anzeigennähe zu erhöhen, erleichtern den Vergleich von Informationsquellen und deren Integration, da die Informationszugangskosten reduziert werden. Informationszugangskosten kommen durch die notwendigen Augen- und Kopfbewegungen, die visuelle Suche und durch Änderungen in der Aufmerksamkeitszuwendung zustande. Änderungen der Aufmerksamkeitszuwendung bei geringer Anzeigennähe (d.h. großem Abstand!) tragen besonders dann zu den Informationszugangskosten bei, wenn die Suche unter starkem „visuellem clutter“ (Störungen, Ablenkungen durch andere Anzeigenelemente) abläuft. Bei hoher Aufgabennähe erhöhen sich die Informationszugangskosten mit abnehmender Anzeigennähe stärker als bei niedriger Aufgabennähe, da die Information länger im Arbeitsgedächtnis zwischengespeichert werden muss. 10.1.2.3.1.5 Emergent features
Emergent features bei Anzeigen können durch die spezifische Konstellation mehrerer einzelner Anzeigen zueinander herbeigeführt werden. Solche Merkmale sind z.B. Symmetrie, Ausrichtung oder Parallelität: Merkmale also, die die einzelnen Anzeigen alleine nicht besitzen. Bei vier Messgrößen kann ein Normalzustand z.B. durch Parallelität jeweils zweier Seiten eines Quadrats und insgesamt resultierende Symmetrie angezeigt werden. Abweichungen vom Normalzustand werden entsprechend durch Abweichungen von der Symmetrie, Parallelität usw. angezeigt. Eine komplexe mentale Integration der einzelnen Daten erübrigt sich bei Vorliegen dieser emergent features, weil komplexe kognitive Aktivitäten durch Wahrnehmungen ersetzt werden. Andererseits sind die einzelnen Daten, falls erforderlich, auch immer noch einzeln ablesbar. Während bei einer getrennten Darstellung der Information Verrechnungen oder Vergleiche von individuellen Anzeigenwerten erforderlich sind, können aus emergent features, d.h. der resultierenden Formgebung, direkt Hinweise (cues) für die Aufgabe abgeleitet werden. Ein Beispiel stellt das in Abb. 10.32 gezeigte Polardisplay dar: Im Normalfall (links) sind alle sechs Speichen des Polardisplays gleich lang, die resultierende Figur ist symmetrisch. Bei Abweichungen vom Normalfall (rechts) verändern die Speichen ihre Längen, was zur Symmetriebrechung führt, die vom Menschen leicht wahrgenommen werden kann. Aus den spezifischen Veränderungen, d.h. dem daraus entstehenden Muster, lassen sich zudem Schlussfolgerungen über den vorliegenden Systemzustand ableiten. Ein weiteres Beispiel für eine solche Anzeige wären drei parallele Balkenanzeigen mit – bei Normalzustand – gleichem Niveau. Bei mehreren z.B. horizontal angeordneten Rundinstrumenten können emergent features auch dadurch hervorgerufen werden, dass die Zeiger im Normalfall alle horizontal ausgerichtet sind (scanline, siehe Abb. 10.33). Ggf. kann das Verbinden der Zeiger durch Linien diesen Effekt zusätzlich unterstützen. Abweichungen von diesem Zustand sind dann mit einem Blick erkennbar.
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Abb. 10.32: Polardisplay zur integrierten Anzeige von Sensorinformationen bei der Luftraumüberwachung (nach GRANDT u. LEY 2008). Symmetrie kennzeichnet ein normales Informationsmuster (links) und dient somit als emergent feature. Ein ungewöhnliches Datenmuster führt zu einer visuell leicht wahrnehmbaren Symmetriebrechung (rechts)
Emergent features sollten allerdings nur bei Variablen eingesetzt werden, die von wesentlicher Bedeutung für die Systemführung sind. Eine Gefahr von emergent features – besonders, wenn sie stark hervortreten – ist nämlich, dass die Aufmerksamkeit ungewollt auf die einzelnen Elemente fokussiert wird.
Abb. 10.33: Im Normalzustand (links) ist die durch die einheitliche Zeigerstellung entstehende imaginäre Linie ein leicht wahrnehmbares Emergent Feature. Rechts: Die Abweichung eines Anzeigewerts führt unmittelbar zur Unterbrechung der geraden Verbindungslinie der Zeiger (nach WICKENS 1992)
10.1.2.3.1.6 Objektintegration
Homogene Codes können auch zu einem einzigen Objekt integriert werden, z.B. die Fläche und Form eines Rechtecks, die durch Höhe und Breite der parallelen Seiten gebildet werden. Weitere Beispiele: x ein einzelner Punkt, dessen Position in einem kartesischen oder polaren Koordinatensystem festliegt. x eine Linie, die mehrere Punkte in einem Diagramm miteinander verbindet. Der Verlauf der Linie gibt direkt Hinweise auf die Unterschiede zwischen den Punkten der Trends wahrnehmen lässt und somit komplexe Integrationsprozesse erübrigt. Als Beispiel kann auch hier das in Abb. 10.32 gezeigte Polardisplay dienen. Die Kombination von homogenen oder heterogenen Codes für quantitative Merkmale in einem Objekt kann unabhängig vom Grade der Aufgabennähe einen wesentlichen Vorteil haben: alle unterscheidbaren Attribute eines Objekts können parallel verarbeitet werden (object file theory der Aufmerksamkeit, WICKENS
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1992). Objektanzeigen können demnach Vorteile bei Integrationsaufgaben bieten
und gleichzeitig Nachteile für fokussierte Aufgaben vermeiden. 10.1.2.3.1.7 Visuelles Moment
Wie bereits erläutert, können in gewissem Maße kognitive Transformationen durch Wahrnehmungen ersetzt werden. Durch Nutzung des visuellen Moments wird der kognitive Übergang zwischen zwei Ansichten derselben Informationsdomäne so leicht wie möglich gemacht, so dass der Beobachter versteht, welcher Zusammenhang zwischen der in zwei Anzeigen enthaltenen Information besteht. Dieses Prinzip wurde z.B. von ARETZ (1991) bei elektronischen Landkarten angewendet. Es fällt schwer, die Perspektive bei weltfesten (nordstabilen) Karten mit der Perspektive in der Außensicht in Übereinstimmung zu bringen, da die Blickrichtung in der Karte und der Sicht nicht miteinander übereinstimmen (Abb. 10.34). Dies gilt vor allem bei südlicher Bewegungsrichtung. Durch eine Darstellung des Sichtwinkels in der weltfesten elektronischen Karte kann diese Aufgabe erheblich erleichtert werden.
Vergleich
N Außensicht
N
Anzeige des Sichtwinkels
N
Weltfeste Karte
Mensch
Abb. 10.34: Anzeige des von der Flugrichtung abhängigen Sichtwinkels beim weltfesten (nordstabilen) Kartendisplay als visuelles Moment zur Vermeidung kognitiver Transformationen (hier durch mentale Rotation einer Landkarte) (nach WICKENS 1992)
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10.1.2.3.2 Ökologische Schnittstellengestaltung Der Ansatz zur ökologischen Schnittstellengestaltung (VICENTE u. RASMUSSEN 1992; engl. ecological interface design – EID) gründet auf der Annahme, dass Störungen und Unfälle beim Betrieb von Mensch-Maschine-Systemen häufig aus einer Überschreitung der im Systemdesign festgelegten Betriebs- und Randbedingungen herrühren. Bei einem einwandfrei funktionierenden System bestehen feste Beziehungen zwischen den Systemeigenschaften und -parametern, die bestimmten Funktionen unterliegen. Diese Betriebs- und Randbedingungen repräsentieren daher Regeln, bei deren Einhaltung das System fehlerfrei funktioniert (rules of rightness). In Fehlersituationen hingegen werden eine oder mehrere dieser Rahmenbedingungen verletzt. Die Autoren verweisen darauf, dass sich nach einer Studie von 29 Zwischenfällen in Kernkraftwerken und in der Luftfahrt zeigte, dass die Operateure mit Fehlersituationen konfrontiert waren, die von den Systementwicklern nicht vorhergesehen worden waren oder nicht vorhergesehen werden konnten. Folglich sei das Hauptaugenmerk bei der Verbesserung der Systemsicherheit darauf zu richten, die Operateure bei der Bewältigung von ungewöhnlichen und unvorhergesehenen Ereignissen zu unterstützen. Beim Entwurf der Schnittstelle ist die Gesamtheit der zielrelevanten Rahmenbedingungen des Systems so darzustellen, dass das Überschreiten von Toleranzbereichen festgestellt und Fehler direkt diagnostiziert werden können. Das EID zielt darauf ab, dem Benutzer den aktuellen Systemzustand in Bezug auf die Gesetzmäßigkeiten des Systems (invariants) und die Randbedingungen des Systembetriebs (constraints) zu verdeutlichen sowie die daraus resultierenden Handlungsmöglichkeiten als Aufforderungen (affordances) anzuzeigen. So soll erreicht werden, dass x die Tendenz zum Eintreten in einen unsicheren Systemzustand frühzeitig feststellbar ist und x die Fehlersuche und -kompensation nach Eintritt eines unsicheren Systemzustands erleichtert wird. Voraussetzungen hierfür sind die Kompatibilitäten x der Mensch-Maschine-Schnittstelle zu den Bedingungen in deren Umwelt (ökologische Kompatibilität), x des Systemmodells zum mentalen Modell des Benutzers von diesem System (kognitive Kompatibilität). Die ökologische Schnittstellengestaltung stützt sich im Wesentlichen auf zwei theoretische Konzepte ab, die im Folgenden kurz dargestellt werden. 10.1.2.3.2.1 Abstraktionshierarchien
Abstraktionshierarchien bestehen aus mehreren Schichten, die sich jeweils durch den Grad der Detaillierung in Bezug auf die Realisierung einer Funktion voneinander unterscheiden (siehe auch Kap. 3.3.2.2.5.1). Je höher das Abstraktionsniveau, desto geringer die Auflösung in Bezug auf Einzelheiten. Ein System wird
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auf einem definierten Abstraktionsniveau in Form der Komponenten und ihrer Beziehung zueinander beschrieben, welche wiederum auf einem niedrigeren Abstraktionsniveau in ihre konstituierenden Komponenten aufgelöst werden können (Abb. 10.35). Gesamt-Teil-Relation Aggregation
Mittel-Zweck-Relation Konkretisierung Abstraktion
Gesamtsystem
Subsystem
Funktionaler Zweck Abstrakte Funktion Generalisierte Funktion Physikalische Funktion Physische Form
Dekomposition
Funktionale Einheit
Baugruppe
Komponente
A ist Grund für B
A B dient dem Zweck A
B ist verbunden mit C (kausal etc.)
B
C
D besteht aus E und F
E F
D
E und F sind Teile von D
Abb. 10.35: Betrachtungsebenen einer Abstraktionshierarchie
In der Prozessführung werden üblicherweise fünf Schichten unterschieden: x Funktioneller Zweck: Der Zweck, für den das System entworfen wurde. x Abstrakte Funktion: Die vorgesehene Kausalstruktur des Prozesses in Bezug auf Masse, Energie, Information oder „Wertefluss“. x Generalisierte Funktion: Die Grundfunktionen, zu deren Durchführung die Anlage entworfen wurde. x Physikalische Funktion: Die Merkmale der Komponenten und deren Verbindungen untereinander. x Physikalische Form: Die äußere Erscheinung und die Lage der Komponenten. Nach VICENTE u. RASMUSSEN (1992) besitzen Abstraktionshierarchien als Repräsentationen eines Arbeitsbereichs zwei Vorteile: Sie liefern dem Operateur eine Operationsbasis zur Bewältigung von unvorhergesehenen Ereignissen und dienen als Grundlage für den Aufbau mentaler Modelle, folglich validen Repräsentationen von Systemen. Die Abstraktionshierarchie liefert die Basis für die Rahmenbedingungen, die in einem Arbeitsbereich herrschen. Jede Schicht in der Hierarchie repräsentiert eine andere Klasse von Rahmenbedingungen. Höhere Schichten sind weniger detail-
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liert abgebildet als niedrigere Schichten, so dass ein System auf einem höheren Abstraktionsniveau einfacher aussieht als auf einem niedrigeren. Dies ermöglicht es, die Komplexität des Systems zu bewältigen. Die Systemdiagnose wird durch die Zielgerichtetheit der Abstraktionshierarchie stark vereinfacht und beschleunigt. Da die verschiedenen Abstraktionsniveaus durch Mittel-Ziel-Beziehungen verbunden sind, kann die Fehlersuche auf einem relativ hohen Abstraktionsniveau beginnen und sich dann auf die Verzweigung der Hierarchie konzentrieren, die mit dem fehlerhaften Teilsystem verbunden ist. Bei der Fehlersuche bei einem Fernseher könnte man z.B. bei der Stromversorgung beginnen und dann in der darunter liegende Ebene nur die Teile berücksichtigen, die mit der Stromversorgung zusammenhängen. In Abb. 10.36 ist beispielhaft ein anhand der Abstraktionshierarchie abgeleitetes Modell eines zur Luftraumüberwachung eingesetzten Radarsystems dargestellt. Solche Systeme haben den (funktionalen) Zweck, für die Erstellung eines aktuellen, vollständigen und korrekten Lagebildes in vorgegebenen Überwachungsbereichen auch bei Störung durch Radarstörsysteme (jammer) Informationen bereitzustellen (WITT u. PIORO 2008). Weitere Beispiele, in denen Abstraktionshierarchien erfolgreich zur strukturierten Darstellung komplexer Systeme genutzt wurden, finden sich z.B. bei WITT et al. (2007) sowie FOLTZ (2009).
Abb. 10.36: Abstraktionshierarchie eines Radarsystems (aus WITT u. PIORO 2008)
10.1.2.3.2.2 Anpassung an die Taxonomie des menschlichen Verhaltens
Menschliches Verhalten kann in Bezug auf die Mechanismen, die bei der Informationsverarbeitung ablaufen, verschiedenen Ebenen zugeordnet werden. Das bereits in Kap. 3.3.1.1.1.3 beschriebene Modell von RASMUSSEN (1983) unterscheidet z.B. die drei Ebenen des fertigkeits-, regel- und wissensbasierten Verhaltens.
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VICENTE u. RASMUSSEN (1992) belegen mit zahlreichen Beispielen, dass die Wahrnehmung und Verarbeitung von Signalen und Zeichen (fertigkeits- und regelbasiertes Verhalten) dem analytischen Denken (wissensbasiertes Verhalten) zeitlich in der Regel deutlich überlegen ist und z.B. bei Schätzaufgaben bevorzugt wird. Besondere Bedeutung besitzt das wiedererkennende Entscheidungsverhalten (recognitional decision making), das vorwiegend auf der Wahrnehmung bekannter Signale und Parametermuster beruht. Auch KLEIN (1989) konnte zeigen, dass Fachleute aufgrund ihrer großen Erfahrung in kritischen Fehlersituationen dieses Entscheidungsverhalten bevorzugen und nicht analytisch vorgehen. Die ökologische Schnittstellengestaltung berücksichtigt dies und verbindet die Invarianten der Arbeitsdomäne isomorph mit Wahrnehmungsinvarianten, um so die Aufmerksamkeit der Operateure auf die wesentlichen Merkmale des Problems zu lenken. Auf diese Weise werden zeit- und ressourcenaufwändige sowie potenziell unzuverlässige Denkprozesse durch schnelle und konvergente Wahrnehmungsprozesse ersetzt (Abb. 10.37). Auf der Ebene des fertigkeitsbasierten Verhaltens werden Informationen als Signale interpretiert. Fertigkeitsbasiertes Verhalten kann nur aktiviert werden, wenn die Information in Form von dynamisch im Raum manipulierbaren Objekten dargeboten wird. Um die Interaktion über räumlich-zeitliche Signale zu unterstützen, sollte der Operateur die auf dem Bildschirm dargestellten Objekte des Systems mit einem Eingabegerät direkt manipulieren können. Weiterhin sollte eine „Chunkbildung“ im Bereich der Wahrnehmung und der Handlung möglich sein. Dies geschieht durch Berücksichtigung entsprechender Prinzipien der Wahrnehmungsorganisation, wobei Information auf höherer Ebene als eine Aggregation von Information auf niedrigerer Ebene dargestellt wird. Dies lässt sich z.B. über Objektanzeigen oder emergent features bewerkstelligen. Auf der Ebene des regelbasierten Verhaltens verfolgt die ökologische Schnittstellengestaltung das Ziel, über die Schnittstelle eine konsistente Abbildung (mapping) zwischen den Rahmenbedingungen (constraints) der Arbeitsdomäne und den Hinweisreizen (cues) oder Zeichen (signs) darzubieten. Bei konventionellen Benutzungsschnittstellen besteht häufig keine konsistente Beziehung zwischen den von der Benutzungsschnittstelle gelieferten Hinweisreizen und den Rahmenbedingungen, denen der Prozess unterliegt. Die Hinweisreize, auf die sich die Operateure verlassen, um das System zu führen, sind also nur unvollkommen mit dem tatsächlichen Systemzustand korreliert. Zudem sind die Hinweisreize, die die Operateure lernen, für vertraute oder erwartungsgemäße Situationen optimiert. Da sie aber nicht auf den grundlegenden Prozessmerkmalen beruhen, sind sie für die Bewältigung seltener Ereignisse ungeeignet. Eine definierte Konstellation von Hinweisreizen und Rahmenbedingungen soll es bei der ökologischen Schnittstellengestaltung erlauben, eindeutig auf einen definierten Systemzustand zu schließen.
Ergonomische Gestaltung
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Abb. 10.37: Ökologische Schnittstelle zur Beurteilung von Objekten im Luftraum. Bei der Darstellung von entscheidungsrelevanten Parametern wie Entfernung und Geschwindigkeit wird a priori Wissen als Toleranzbereich integriert. Abweichungen vom Toleranzbereich sind leicht wahrnehmbar; die Spannweite bisheriger Beobachtungen wird zur Entlastung des Arbeitsgedächtnis angezeigt. Die Anzeige leistet eine Vorklassifikation bestimmter Information durch Farbkodierung (blau = freundlich, grün = neutral, orange = kritisch, rot = feindlich). In der kreisförmigen Anzeige unten werden Ergebnisse eines Entscheidungsunterstützungssystems in einer an die dem Bewertungsprozess zugrunde liegenden Entscheidungsregeln angepassten Weise visualisiert. (aus GRANDT u. LEY 2008)
In Bezug auf die wissensbasierte Informationsverarbeitung zielt die ökologische Schnittstellengestaltung darauf ab, die Arbeitsdomäne in Form einer Abstraktionshierarchie abzubilden, die quasi als „externalisiertes mentales Modell“ das wissensbasierte Problemlösen unterstützen soll und auch die Koordination im Team erleichtert (siehe FOLTZ 2009). 10.1.2.3.2.3 Gestaltungsmöglichkeiten
Ziel der ökologischen Schnittstellengestaltung ist es, die benutzerrelevante Information über den Zustand der Arbeitsumgebung entsprechend deren invarianten Eigenschaften strukturiert darzubieten. Diese invarianten Eigenschaften einer Arbeitsumgebung resultieren aus den kausalen, funktionalen und intentionalen Faktoren und bilden die Rahmenbedingungen (constraints) des Systembetriebs. Sie sollten die Darstellung des Systems bei der Schnittstellengestaltung ganz entscheidend prägen. PEJTERSEN u. RASMUSSEN (1997) geben vier Arten von Invarianten an: x Beziehungen zwischen den Systemkomponenten: z.B. kausal, intentional, empirisch, organisatorisch x Grenzen des Systembetriebs: z.B. physikalisch, intentional, formal, legal, ressourcenbezogen
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Arbeitswissenschaft
x vorgegebene zeitliche oder räumliche Reihenfolgen der Systemprozesse x Verhaltensvorschriften: z.B. Kennlinien von Systemkomponenten, Schritte einer Strategie. Invarianten können als Informationen über den aktuellen Systemzustand vor dem Hintergrund des angestrebten Zustands dargestellt werden: x Darstellung als „gute“ Konfiguration: Nutzung von Linearität, Symmetrie, Balance, Ausrichtung; die „gute“ Konfiguration sollte neben der Darstellung der „nicht guten“ Abweichung des Ist-Zustands vom Sollzustand beibehalten werden, um deren Wahrnehmbarkeit und Differenzierbarkeit zu verbessern. Siehe hierzu auch Abb. 10.32 und Abb. 10.33. x Darstellung als graphische Abbildung (Skalar): Falls möglich und relevant unter Einbeziehung einer vergleichenden Kodierung („ist“ vs. „soll“, „ist“ vs. „war“, „und“ vs. „oder“, „ist“ vs. „wird sein“). x Darstellung als graphisches Symbol, d.h. als Nachbildung oder Analogie: Nutzung der Position, Größe, Fläche, des Umrisses und der Textur mit oder ohne Text, um diskret oder dynamisch den Zustand, das Ergebnis oder die Folgen darzustellen. x Darstellung der Verbindungen zwischen den Elementen: als geometrische Linien, Schnittpunkte und Übereinstimmungen, unter Benutzung der Strichstärke, Textur und Richtung, um die Art der Beziehung zu kodieren. Die Darstellung der für den sicheren Systembetrieb maßgeblichen Rahmenbedingungen kann auf folgende Weise erfolgen: x Grenzen und Bereiche im Hintergrund darstellen x Bei Textaussagen Größe, Umrandung, Textur usw. benutzen, um Art und Dringlichkeit hervorzuheben. Die zweite wichtige Gruppe von „ökologischen Parametern“ bilden die Handlungsaufforderungen (affordances), die von einem Objekt, System oder Ereignis ausgehen. Sie weisen den Benutzer situationsabhängig auf Handlungsmöglichkeiten oder -notwendigkeiten hin. Darstellungsmöglichkeiten sind: x Handlungsaufforderungen zum Einstellen, Drehen, Hochheben, Bewegen, Verbinden usw., die über eine direkte Manipulation der dargestellten Objekte durchführbar sind, können als Folgespur, Muster oder in Form anderer geometrischer Figuren angezeigt werden. x Handlungsaufforderungen zur Auswahl (Operation, Manipulation) können in Form von Alternativen angegeben werden. Die Alternativen können als Text, ikonische (icons) oder geometrische Darstellungen abgebildet und wahlweise nur nach den Umständen sichtbar und verfügbar sein. 10.1.2.4 UnterstützungĆderĆInformationsabgabeĆ Dem Modell der multiplen Ressourcen (WICKENS u. HOLLANDS 1999) zufolge können je nach Wahl der Eingabemedien Einschränkungen in der Informationsverarbeitung auftreten, die zu Verlängerungen der Bearbeitungszeiten und zu
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Fehlern bei der Dateneingabe führen können. Die ergonomische Auslegung von Interaktionsverfahren soll eine erwartungskonforme und konsistente Interaktion mit dem Mensch-Maschine-System ermöglichen. Hinsichtlich der Interaktionsverfahren ist es deshalb erforderlich, dem Benutzer eine an seine Fähig- und Fertigkeiten angepasste Informationsabgabe zu ermöglichen. Während in der Vergangenheit Eingaben über mechanisch wirkende Stellteile erfolgten (Handrad, Hebel; z.B. im Stellwerk), werden heute hauptsächlich Eingaben und Steuerungen über Tasten bzw. Tastaturen mit leichtgängigen Bedienelementen (z.B. Drucktastenstellwerk) oder über vollständig softwarebasierte Benutzungsschnittstellen (z.B. digitalisierte Stellwerke, Prozessleitwarten) vorgenommen. Bei der Auswahl der richtigen Eingabetechnologie sind vielfältige technische Ansätze möglich, die von der manuellen Eingabe der Daten mit Maus oder Rollball, über die Spracheingabe bis hin zur Nutzung der bereits zuvor dargestellten Technologien der Erweiterten oder Virtuellen Umgebungen reichen. Darüber hinaus werden derzeit weitere Verfahren entwickelt, die eine intuitive Interaktion zwischen Mensch und Maschine ermöglichen sollen oder bei Einschränkungen der motorischen Möglichkeiten des Benutzers zum Tragen kommen können, bspw. die Steuerung von Computerdialogen mit Blickbewegungen (RÖTTING u. SEIFERT 2000; SCHNEIDER et al. 2008). 10.1.2.4.1 Stellteile Je nach Gestaltung der Stellteile werden verschiedene Griffarten unterschieden (Kontaktgriff, Zufassungsgriff, Umfassungsgriff; siehe SCHMIDTKE 1993). Weiterhin können Stellteile entweder rotatorisch oder translatorisch betätigt werden, darüber hinaus spielt die Betätigungsrichtung in Bezug zum menschlichen Körper eine Rolle (Anordnung in horizontaler oder vertikaler Ebene, translatorische Elemente in Längs- oder Querrichtung zu Körper). Die Gestaltung von Stellteilen ist außerdem vom Stellwiderstand, d.h. den aufzubringenden Kräften und Wegen und deren Charakteristik (Feder, Masse, Dämpfung, Linearität), deren Größe und dem Betätigungsweg bzw. -winkel abhängig. Alle diese Faktoren besitzen einen Einfluss auf die Erreichbarkeit, Geschwindigkeit und Genauigkeit der Betätigung. Hinweise zur aufgabenbezogenen Auswahl von Stellteilen gibt DIN EN 894-3. Die Stellteile sind gut erreichbar, d.h. im Greifraum der Arme bzw. im nahen Fußraum anzuordnen. Die Anordnung ist von der Häufigkeit, der Wichtigkeit und vom Kraftaufwand der Betätigung abhängig, d.h. häufig zu betätigende Elemente müssen im (für kleine und große Personen) günstigen Griffbereich positioniert werden. Die Größe der Elemente muss sich an der Größe der Finger und der Hand orientieren (Angaben zur Auslegung finden sich z.B. in SCHMIDTKE 1989). Auch bei nur geringen aufzubringenden Kräften muss bei länger andauernder oder häufiger Benutzung die statische Muskelbelastung zur Aufrechterhaltung der Fuß- und Bein- bzw. Hand- und Armposition berücksichtigt werden. In diesem Fall sind Abstützungsmöglichkeiten vorzusehen.
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Bei der Gestaltung ist zu beachten, dass die Stellteile in ihrem Betätigungssinn dem erwarteten Funktionseffekt entsprechen (Beispiel: Bewegen des Vorschubhebels einer Bohrmaschine nach unten = Werkzeugbewegung nach unten). Diese Bewegungs-Effekt-Stereotypien folgen eingespielten Konventionen, sind aber nicht frei von Unsicherheiten. In DIN EN 60447 sind deshalb die Zusammenhänge von Funktion und Bewegungsrichtung festgelegt (Tabelle 10.7). Ähnliche Regelungen finden sich zudem in DIN 1410. Diese Festlegungen sind, nicht zuletzt aus Sicherheitsgründen, einzuhalten. Wenn diese Sinnfälligkeit nicht eindeutig zu erkennen ist, sind zusätzliche Hinweise oder gestalterische Maßnahmen erforderlich. Als Beispiel sei auf den Zusammenhang „Ventil öffnen = Bewegungssinn entgegen dem Uhrzeigersinn“ hingewiesen. Wenn für den Menschen nicht zweifelsfrei erkennbar ist, dass sich hinter dem Stellteil ein Ventil befindet (oder z.B. wie bei Elektroherden eine entsprechende Analogie angenommen wird), muss durch zusätzliche Maßnahmen kenntlich gemacht werden, bei welcher Betätigungsrichtung eine Zunahme oder Abnahme erwartet werden kann. Tabelle 10.7: Betätigungssinn und Anordnung von Stellteilen (nach DIN EN 60447) einschließlich Erweiterung Resultierende Endzustände Zustandsänderung Gruppe 1
Gruppe 2
Änderung einer physikalischen Größe (Spannung, Stromstärke, Leistung, Geschwindigkeit, Frequenz, Temperatur, Beleuch-
Zunahme
Abnahme
einschalten
ausschalten
starten
stoppen
beschleunigen
bremsen
Stromkreis
Stromkreis
schließen
öffnen
entzünden
auslöschen
aufwärts
abwärts
nach rechts
nach links
vorwärts
rückwärts
vom Bediener
auf den Bediener
weg
zu
tungsstärke, Durchflussmenge usw.)
Änderung der Bedingung
Bewegung eines Objekts oder Fahrzeugs
Bewegung in Bezug zum Bediener
Ergonomische Gestaltung
1009
Tabelle 10.7 (Fortsetzung): Betätigungssinn und Anordnung von Stellteilen (nach DIN EN 60447) einschließlich Erweiterung Art des Bedienteils Handrad, Kurbel, Knopf
Art der Handlung im
entgegen dem
Uhrzeigersinn
Uhrzeigersinn
zur Regelung von Durch-
entgegen dem
im
flussmengen
Uhrzeigersinn
Uhrzeigersinn
von unten
von oben
nach oben
nach unten
nach rechts
nach links
vom Bediener
auf den Bediener
Drehbewegunga) a)
vertikale Bewegung rechtslinks
Griff, Hebel, mit linearer Bewegung
Druck-Zug-Knopf
Richtung der Handlung
horizontale
vorwärts-
Bewegung
rückwärtsb) weg
zu
b)
heben-
auf den Bediener
vom Bediener
senken
zu
weg
Bewegung in Bezug zur
vom Gehäuse
auf das Gehäuse
Oberfläche des Stellteilge-
weg, ziehen
zu, drücken
häuses Art und Anordnung der Bedienteilgruppe
Art der Handlung
Gruppe von Griffen, unterDrucktasten, He-
lichem Effekt
lung an der oberen
an der unteren
Einrichtung
Einrichtung
neben-
an der rechten
an der linken
einander
Einrichtung
Einrichtung
einander Druck, Zug, usw.
beln, Zugseilen usw. mit gegensätz-
Punkt für die Ausübung der Hand-
Für die Gestaltung und Funktionsweise von Stellteilen zum (Not-)Ausschalten von Systemen gelten besondere Anforderungen (DIN EN 60447). Neben der Anordnung sind die Größe (Lesbarkeit sowie Wichtigkeit, z.B. bei NOT-AUS), die Form (Wiedererkennung, z.B. von Schaltstellungen) sowie die Beschriftung und die Farbe (z.B. „NOT-AUS“ in Rot) wichtige Kriterien bei der Gestaltung von Stellteilen. Für die Sicherheit bei der Bedienung sind ferner die Oberflächenstruktur (gegen Abrutschen) sowie der Abstand der Stellteile untereinander (Zugang und Verwechslungsgefahr) maßgebend. Zusammenwirken von Anzeigen und Stellteilen Bei der Verwendung von Stellteilen kann in der Regel nicht unmittelbar die Wirkung der Verstellung beobachtet werden. In diesem Fall geben entsprechende Anzeigen Informationen über die erfolgte Betätigung. Dabei ist zu beachten, dass Bedienteil und Anzeige kompatibel gestaltet werden, also einer Hebel- oder Dreh-
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bewegung nach rechts bspw. auch ein Zeigerausschlag nach rechts folgt (Prinzip des funktionellen Zusammenhangs, DIN EN 894-1). Stellteil und zugehörige Anzeige sollten räumlich eng positioniert werden, so dass ihre Beziehung zueinander dem Benutzer offensichtlich wird (DIN EN 894-1). Dies entspricht zum einen der Erwartungshaltung des Benutzers und zum anderen wird die Transformation bzw. Dekodierung einfacher und damit schneller und sicherer. Abb. 10.38 zeigt die sinnfällige Zuordnung von Bedienteil und Anzeige.
Abb. 10.38: Kompatibilität bei der Anordnung von Stellteil und Anzeige in verschiedenen Ebenen. Die Anordnung in der Mitte weist die höchste Eindeutigkeit zwischen Stellteilbewegung (schwarz) und Reaktion der Anzeige (grau) auf. Weniger günstig ist die Zuordnung links. Bei der Darstellung rechts mit Drehknopf und Langfeldskala in versetzten Ebenen können bereits Unsicherheiten in der Zuordnung von Ursache und Wirkung auftreten (nach GRANDJEAN 1988)
Eine Abweichung, bspw. aus konstruktiven Gründen, wird durch den hohen Grad der Automatisierung von Bewegungen und durch die Erwartungshaltung des Benutzers (Bewegungs-Effekt-Stereotypien) zwangsläufig zu einer höheren Fehlerhäufigkeit führen. Neben der Kompatibilität zwischen Bedienungsrichtung und Anzeige muss auch die Anzeige den erwarteten Effekt sinnfällig zeigen. Hierbei gelten die gleichen Gesetzmäßigkeiten wie bei Stellteilen (Tabelle 1.7). Bei der Verwendung von Stellteilen in Form von Tastaturen ist der SignalReaktions-Kompatibilität besondere Aufmerksamkeit zu schenken, da bei der Eingabe in der Regel kein Betätigungssinn erkennbar ist. Hier kann man bspw. durch die Lage und Anordnung der Tasten (obere Taste = aufwärts, untere Taste = abwärts) eindeutige Funktionszusammenhänge herstellen. In vielen Anwendungszusammenhängen werden eine Reihe von verschiedenen Anzeigeeinrichtungen und Stellteilen räumlich eng beieinander angeordnet. Ihre symmetrische und damit häufig als ästhetisch ansprechend empfundene Anordnung erweist sich jedoch nicht selten als unzweckmäßig. Grundsätzlich eignen sich zur Festlegung der Anordnung von Anzeigen und Stellteilen bestimmte Ordnungsprinzipien. Allerdings entsteht i.Allg. die Schwierigkeit, dass diese zum Teil einander widersprechen. Ein „Kompromiss“, bei dem
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verschiedene Prinzipien vermischt angewendet werden, ist jedoch in der Regel nicht sinnvoll. Im Folgenden sind in der ergonomischen Praxis bedeutsame Ordnungsprinzipien aufgeführt: x Anordnung nach räumlicher Kompatibilität (Abb. 10.39 und Abb. 10.40) x Anordnung nach Funktionsstruktur (z.B. entsprechend den Stoffströmen in einer chemischen Anlage oder der physikalischen Gestalt des zu bedienenden Systems, wie in Abb. 10.41 dargestellt) x Anordnung nach Abfolge und Häufigkeit der Benutzung (siehe Abb. 10.31) x Anordnung nach sicherheitstechnischer Relevanz.
Abb. 10.39: Funktionelle Gruppierung des Anzeigefeldes im Flugzeug. Links der Bereich mit Anzeigen für den Piloten, rechts die identische Anzeigengruppe für den Copiloten. In der Mitte die Anzeigeinstrumente zur Überwachung der (hier vier) Triebwerke
Abb. 10.40: Räumliche Gruppierung von Anzeigeelementen auf einem alternativen Radarbildschirm, bei dem – anstelle der Höhenangabe in numerischer Form – die Objekte mittels eines stereoskopischen Bildschirms in ihrer realen Raumstruktur abgebildet werden (GÖBEL et al. 1995)
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M
1
2
Abb. 10.41: Gestaltung einer Bedienungsvorrichtung für die Sitzverstellung anhand der miniaturisierten Form des Sitzes. Sitzfläche und Sitzlehne lassen sich entsprechend der gegebenen Verstellmöglichkeiten bewegen. Um z.B. die Sitzvorderkante höher zu stellen, hebt man den vorderen Teil des Sitzflächen-Hebels
Insbesondere bei hoch repetitiven Abläufen ist, eine entsprechende Übungsmöglichkeit vorausgesetzt, die Ordnung nach Abfolge und Häufigkeit der Benutzung am effizientesten, obwohl die funktionale Struktur dabei in der Regel „verloren geht“. Hilfreich in Bezug auf einzugehende Kompromisse sind nebengelagerte Strukturierungshilfen, z.B. in Form von optischen Orientierungshilfen, die übrigens auch nachträglich anzubringen sind und somit eine Möglichkeit der korrektiven Ergonomie darstellen. Neben der räumlichen Strukturierung besteht weiterhin die Möglichkeit (im eigentlichen Sinne die Notwendigkeit!), verschiedene Funktionen auch in verschiedenen Formen darzustellen. Aus diesen Zusammenhängen ergibt sich, dass eine ergonomische Anordnung und Ausführung von Anzeigen und Stellteilen fast immer mit einer gewissen optischen Irregularität einhergeht. Die Vermutung, dass eine nach den Regeln der Gestaltpsychologie im Sinne von optischer Symmetrie, Gleichartigkeit etc. „schöne Gestalt“, eine ergonomische Gestaltung impliziert, ist deshalb häufig nicht wissenschaftlich belegbar. 10.1.2.4.2 Tastaturen Im Zuge der fortschreitenden technischen Entwicklung werden die unmittelbar mechanisch wirkenden Stellteile zunehmend von abstrakteren Mitteln zur Informationseingabe verdrängt. Beispielsweise werden Tastaturen in den unterschiedlichen Konfigurationen angewendet. Man unterscheidet zwischen numerischen Tastaturen zur Eingabe von Zahlen und Alpha-Tastaturen zur Eingabe von Buchstaben, Worten oder Texten. Häufig sind beide zu alphanumerischen Tastaturen zusammengefasst und besitzen zusätzliche Steuertasten zur Eingabe fester Befehle.
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Die Größe der Tasten richtet sich nach der Häufigkeit und Wichtigkeit der Eingabe. Häufig zu betätigende Tasten (z.B. Zehner-Tastaturen von Tischrechnern) müssen so dimensioniert werden, dass ein dynamisches Arbeiten ohne ständige Sichtkontrolle möglich ist. Dies gilt ebenso für Schreibmaschinentastaturen. Hier wählt man einen Abstand von Tastenmitte zu Tastenmitte von 19 mm (SCHMIDTKE et al. 1989; NORMENREIHE DIN 2137). Bei seltener zu betätigenden Tasten, die in der Regel nur mit einem Finger bedient werden, ist eine geringere Tastengröße möglich, z.B. bei Taschenrechnern (DIN 32758). Dabei ist zu beachten, dass zu kleine Tasten zu häufigeren Fehlbedienungen führen. Nach dem bereits in Kap. 3.3.1.2.2.2 erwähnten Fitts’schen Gesetz (FITTS 1954) hängt der für eine Zielbewegung erforderliche Zeitbedarf (movement time, MT) von der Entfernung des Stellteils und seiner, in Bezug zur Bewegungsrichtung gegebenen Breite ab:
MT
a b ID
(10.3)
In Gl. (10.3) sind a und b empirisch gewonnene Konstanten und ID der sog. Schwierigkeitsgrad (index of difficulty). Dieser ergibt sich zu: ID
§ 2A · log 2 ¨ ¸ ©W ¹
(10.4)
Bei der Definition des Schwierigkeitsgrades nach Gl. (10.4) gibt A die Entfernung zwischen Start- und Zielpunkt an und W die Breite des Ziels längs der Bewegung. Für kleine ID-Werte schlägt MACKENZIE (1992) eine Bestimmung nach Gl. (10.5) vor. ID
§ A · log 2 ¨ 1¸ ©W ¹
(10.5)
Bei Tastaturen in zeitkritischen Prozess- oder Fahrzeugführungssystemen können deshalb in Abhängigkeit von der räumlichen Anordnung eine deutlich größere Dimensionierung der Tasten und eine Vergrößerung des Tastenmittenabstands erforderlich sein. Eine interessante Erweiterung des Fitts’schen Gesetzes in Hinblick auf die Informationseingabe mit tragbaren Computern, die bei unterschiedlichen Gehgeschwindigkeiten benutzt werden, findet sich bei ALEXANDER et al. (2007). Die Anordnung der Tasten richtet sich nach dem Verwendungszweck und ist an Konventionen gebunden, die in der Regel in den oben zitierten Normen festgeschrieben sind. Als Beispiel sei die Anordnung der Buchstaben auf der Schreibmaschinentastatur genannt. Differenzen gibt es bei der Anordnung der Tasten bei Zehnertastaturen: Rechnertastaturen sind nach dem Schema 7-8-9 / 4-5-6 / 1-2-3 / 0 aufgebaut; die Tasten der Telefone sind dagegen nach dem Schema 1-2-3 / 4-5-6 / 7-8-9 / 0 angeordnet. Eingeübte Benutzer werden bei beiden Anordnungen keine Leistungsunterschiede feststellen. Generell sollte jedoch die Bezifferung der Tasten im üblichen Lesesinn erfolgen (Telefon), um auch ungeübten Benutzern eine möglichst problemlose Benutzung zu ermöglichen.
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Die Ausführung der Tasten in technischer Hinsicht sollte dem Benutzer eine Rückmeldung über die erfolgte Eingabe geben. Dies kann akustisch geschehen („piep“) oder taktil erfolgen (mechanischer Druckpunkt). Die akustische Rückmeldung findet man vorzugsweise bei den technisch weniger aufwendigen Folientastaturen, sie ist jedoch aus ergonomischer Sicht ungünstiger zu bewerten. Die taktile Rückmeldung erfordert einen Betätigungsweg beim Drücken einer Taste. Die Beschriftung der Tasten kann durch Buchstaben, Zahlen, feste Begriffe oder eindeutige Symbole erfolgen. Bedienungserleichterungen erreicht man mit einer sinnfälligen Gruppierung der Tasten (siehe Kap. 0). Bei der Anordnung von Tastaturfeldern, die über längere Zeit bzw. mit hoher Frequenz bedient werden, ist weiterhin auf eine günstige Arm-, Hand- und Fingerposition zu achten. Dies kann durch ergonomische Armabstützungsmöglichkeiten unterstützt werden. Insbesondere bei Computertastaturen entspricht die von der Schreibmaschine übernommene Tastenanordnung nicht den Erfordernissen des Menschen, da hierbei die Unterarme einwärts und die Hände nach außen gedreht werden müssen (siehe Abb. 10.42). Diese Zwangshaltung des Hand-ArmSystems bei der Bildschirmarbeit begründet das sog. Repetitive Strain Injury (RSI) (siehe auch VAN TULDER et al. 2007), eine mit Taubheitsgefühlen oder Schmerzen einhergehende Belastungsfolge, die sich zum RSI-Syndrom weiterentwickeln kann.
Abb. 10.42: Stellung des Hand-Arm-Systems bei Nutzung einer konventionellen Tastatur
Die schon seit den siebziger Jahren immer wieder unternommenen Versuche der Einführung ergonomisch gestalteter Tastaturen (Abb. 10.43), deren Herstellungsaufwand nur unbedeutend größer ist, scheitert bis dato im Wesentlichen an der Gewohnheit der Benutzer, mit traditionellen Bauformen zu arbeiten, und der damit verbundenen Umlernerfordernis.
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Abb. 10.43: Ergonomisch gestaltete Tastatur, die eine natürliche Haltung des Hand-ArmSystems erlaubt (Quelle: Microsoft Deutschland GmbH)
10.1.2.4.3 Zeigergeräte und Steuerknüppel Insbesondere an Rechnerarbeitsplätzen im Büro werden Tastaturen in der Regel in Verbindung mit anderen Eingabegeräten benutzt, welche die Positionierung des Mauszeigers (cursors) auf dem Bildschirm und die Aktivierung von Funktionen der Computersoftware ermöglichen. Häufig Verwendung finden hier Computermäuse, Rollbälle, Grafiktabletts und Touchpads. Die in der Treibersoftware implementierte Transferfunktion dieser Peripheriegeräte erlaubt die Durchführung sowohl großer Bewegungsamplituden bei schneller Bewegung als auch das präzise Positionieren des Mauszeigers bei kleinen Bewegung des Eingabegeräts. Sowohl an Rechnerarbeitsplätzen als auch im Bereich der Fahrzeugführung und zur Bedienung von Maschinen und Anlagen werden Steuerknüppel (Joysticks) eingesetzt. Diese setzen entweder die manuell aufgebrachte Auslenkung (Wegcharakteristik, isotonisch) oder die aufgebrachte Kraft (isometrisch) in eine Auslenkung des Mauszeigers bzw. Bewegung des geführten Systems um. Im Bereich der Flugführung werden Steuerknüppel mittlerweile als sog. Sidesticks seitlich positioniert. Um der Cockpitbesatzung eine Rückmeldung über die an den Steuerflächen wirksamen Kräfte zu geben, werden aktive Sidesticks verwendet, die Gegenkräfte und Vibrationen (shaker beim Strömungsabriss) erzeugen können. Bei 2Mann Besatzungen können aktive Sidesticks gekoppelt werden, um die Eingaben gegenseitig rückzukoppeln (THURECHT 1998). Weitere Hinweise zur Auslegung von Zeigergeräten und Steuerknüppeln finden sich bei HINCKLEY (2007). 10.1.2.4.4 Berührempfindliche Bildschirme KO (2000) stellt fest, dass die Nutzung berührempfindlicher Bildschirmoberflächen (sog. Touch Input Displays) eine mindestens gleich schnelle oder sogar schnellere Informationseingabe als andere Eingabeelemente erlaubt. GRANDT et al. (2003) zeigen, dass berührempfindliche Bildschirme bei einer einfachen Auswahlaufgabe
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sowohl hinsichtlich der resultierenden Bearbeitungszeit als auch in Bezug auf die subjektiv wahrgenommene Aufgabenschwierigkeit Vorteile gegenüber Eingabegeräten wie Computermaus, Rollball und Trackball sowie der Spracheingabe aufweisen. Untersuchungen von SCHNEIDER et al. (2008) bestätigen dies und zeigen darüber hinaus, dass ältere Benutzer (Lebensalter > 60 Jahre) durch Verwendung eines Touchscreens altersbedingte sensumotorische Einschränkungen kompensieren und ähnliche Leistungen erzielen können, wie jüngere Benutzer mit der Computermaus. Eingaben werden bei berührempfindlichen Bildschirmen am besten über ausreichend dimensionierte Schaltflächen (buttons) vorgenommen. Der Abstand virtueller Tasten soll dabei mindestens 5 mm betragen und bei geringer Auflösung der berührempfindlichen Maske mindestens doppelt so groß sein wie die Auflösung der Eingabemaske (RÜHMANN u. GRONER 1989). Eine unbeabsichtigte Betätigung von Schaltflächen muss bei sicherheitskritischen Funktionen z.B. durch eine Zweihandbetätigung oder durch nochmaliges Bestätigen der Funktionsausführung verhindert werden (DIN EN 60447). Durch eine geeignete Positionierung des berührempfindlichen Bildschirms sollen Ermüdungseffekte des Hand-Arm-Systems vermieden werden. Der Bildschirm sollte folglich für längere Bearbeitungsdauern nicht vertikal, sondern gegenüber der Horizontalen leicht angewinkelt positioniert werden. Große Bewegungen des Hand-Arm-Systems sowie des Oberkörpers sollten ebenfalls vermieden werden. 10.1.2.4.5 Spracheingabe Die menschliche Sprache kann ebenfalls zur Eingabe von Informationen genutzt werden. Entsprechende Methoden der Signal- und Informationsverarbeitung stützen sich häufig auf die Bayes-Statistik und lassen sich dem „Maschinellen Lernen“ (machine learning) zuordnen. Spracherkennungssysteme wurden u.A. im Bereich der Flugsicherung (BIERWAGEN u. VIELHAUER 2000) und im Bereich der militärischen Flugführung (GUBANKA u. SANDL 2000) experimentell erfolgreich erprobt und dienen darüber hinaus in einer Vielzahl von Beispielen zur Realisierung sog. barrierefreier Benutzungsschnittstellen. Die verbale Informationseingabe wird bei geeigneter Auslegung des Eingabesystems im Vergleich zu klassischen Eingabeverfahren wie der Computermaus als beanspruchungsarm beurteilt (GRANDT et al. 2003; SCHNEIDER et al. 2008). Zur Zeit kann davon ausgegangen werden, dass schon die syntaktisch korrekte Identifikation eines Worts bzw. Synonyms aus empfangenen Spektrogrammen einen hohen Rechenaufwand erfordert und mit Unsicherheit behaftet ist (entsprechende Eingabegeräte sollen eine erwartungskonforme Interaktion ermöglichen, die Erkennung eines Worts muss deshalb quasi in Echtzeit erfolgen). Für den jeweiligen Anwendungsfall muss ein erheblicher, auch finanzieller, Aufwand betrieben werden, um eine für den sicheren Betrieb und zur Gewährleistung der Akzeptanz seitens der Benutzer erforderliche Erkennungsgüte zu erzielen. Dies betrifft insbesondere Bereiche, in denen fremdsprachliche Fachbegriffe verwendet werden oder hohe Störgeräuschpegel zu verzeichnen sind.
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Vorteilhafte Anwendungsmöglichkeiten der Spracheingabe liegen bspw.
x beim Schreiben von Texten (Geschwindigkeit, Tippfehler), x beim Eingeben von Befehlen bei gleichzeitiger Benutzung der Hände für andere Zwecke (parallele Bearbeitung möglich, z.B. im Kraftfahrzeug), x bei sehr komplexen System- oder Menüstrukturen, die mit Sprachbefehlen schnell übersprungen werden können und x bei der Eingabe komplexer Befehle unter sehr engen räumlichen Verhältnissen, die die Anwendung einer vollständigen alphanumerischen Tastatur nicht erlauben. Neben technischen Aspekten spielen auch die Fähigkeiten und Fertigkeiten des Menschen eine wichtige Rolle. Während die Benutzung von mechanischen Eingabevorrichtungen in aller Regel zunächst zu erlernen und zu üben ist (Bedeutung der Funktionen, schnelles Auffinden der benötigten Elemente), kann die Spracheingabe quasi sofort erfolgen (LUCZAK 1997). Es gibt jedoch auch eine Reihe von Schwierigkeiten, die auch bei sehr gut funktionierenden Spracheingabesystemen verbleiben: x Eine Reihe von Befehlen ist sprachlich wesentlich schwerer zu artikulieren, als über Körperbewegungen. Dies gilt insbesondere für jegliche Art von kontinuierlichen Steuersignalen (z.B. zum Lenken eines Fahrzeugs). x Die Umgebung kann durch das Sprechen mit dem Eingabesystem gestört werden (z.B. bei der Rechnerbenutzung in Großraumbüros). x Das Eingabesystem vermag nicht ohne weiteres zu unterscheiden, ob die Kommunikation an das System oder an andere Menschen gerichtet ist. x Die Stimme des Benutzers kann sich bei hoher Beanspruchung verändern (VLOEBERGHS et al. 2001). Bei Spracherkennungssystemen, die ein Training erfordern, sinkt dann die Erkennungsrate. In der Praxis anwendbare, höchst zuverlässige Spracheingabesysteme können derzeit nur mit einem vergleichsweise eng umrissenen, syntaktisch formalisierten Befehlsumfang (Kommandosprache) arbeiten. Verwendet der Benutzer andere als die parametrisierten Kommandos, so können die Funktionen nicht zuverlässig ausgeführt werden. Eine natürlich-sprachliche Spracheingabe erfordert die rechnergestützte Interpretation semantischer Zusammenhänge. Zu ihrer Realisierung werden neue Verfahren wie z.B. Ontologien erprobt, um den in der Realität zu erwartenden (sprachlichen) Zustandsraum computerbasiert repräsentieren und auswerten zu können (HECKING 2004). 10.1.2.4.6 Eingabetechnologien für Virtuelle Umgebungen 10.1.2.4.6.1 Tracking-Systeme
Tracking-Systeme kommen als Eingabegerät in Virtuellen Umgebungen zur Bestimmung der räumlichen Position und Orientierung einzelner Körperteile, meistens des Kopfs sowie einer Hand, sowie von Objekten, die in der realen Umgebung vorhanden sind, aber in der Virtuellen Umgebung visualisiert werden sollen,
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zum Einsatz. Die Positionsangaben des Kopfs sind für die Berechnung perspektivischer Bilder, die der Hand zur Navigation in der Virtuellen Umgebung notwendig. Folgende Technologien sind verbreitet:
x Elektromagnetische Tracking-Systeme: Sie bestehen aus einem ortsfesten Sender, der ein elektromagnetisches Feld erzeugt, und Empfängern, die an den zu detektierenden Objekten fixiert sind. Aus der am Empfänger vorliegenden Stärke und Richtung des elektromagnetischen Felds kann die Position und Lage des zugehörigen Körperteils bzw. Objekts errechnet werden. Die heute verfügbaren Geräte benutzen sowohl Gleich- als auch Wechselstromfelder. Gleichstromfelder besitzen den Nachteil, dass in der Umgebung befindliche, eisenhaltige Metalle magnetisiert werden, was die Messung verfälscht. Es ist dementsprechend die Verwendung anderer Werkstoffe (bspw. Holz, Kunststoff, NE-Metalle) in der Umgebung zu empfehlen. Dieses Problem tritt bei Wechselstromfeldern nicht auf, da das elektromagnetische Feld periodisch wechselt; der Aufbau von permanenten magnetischen Feldern in eisenhaltigen Metallen wird somit unterdrückt. x Optische Tracking-Systeme: Diese arbeiten mit Bildverarbeitungsalgorithmen, die auf dem Objekt fixierte Infrarot(IR)-Leuchtdioden detektieren und so die Position und Lage bestimmen. Neben diesen aktiven Systemen sind passive Systeme erhältlich, bei denen IR-reflektierende Marker am zu detektierenden Körper/Objekt fixiert und von einer oder mehreren IR-Strahlern beleuchtet werden. (siehe Abb. 10.44)
Abb. 10.44: Komponenten eines optischen Trackingsystems. Links: IR-Quelle und Kamera; Mitte: IR-reflektierende Marker an zu detektierenden Objekten; Rechts: Aktive Marker zur Verfolgung der Hand- und Fingerbewegungen (Quelle: ART – Advanced Realtime Tracking GmbH)
x Mechanische Tracker sind gelenkig mit dem zu detektierenden Objekt verbunden, so dass sich Objektbewegungen in Form von Kräften und Momenten auf den Tracker übertragen. Die Bewegungen der Trackergelenke werden mittels Sensoren gemessen. Tracker dieser Bauart sind meist in Verbindung mit einem Sichtgerät erhältlich.
Ergonomische Gestaltung
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x Ultraschall-Tracker arbeiten ähnlich wie elektromagnetische Tracker mit einem Sender und mehreren Empfängern, benutzten als Übertragungsmittel jedoch Schallwellen mit Frequenzen jenseits der Wahrnehmungsgrenze. x Inertial-Tracker messen über Beschleunigungssensoren die Winkelbeschleunigungen des detektierten Objekts und errechnen daraus die Lage. Über Koppelverfahren kann die Position ermittelt werden. Weitere Informationen findet der Leser z.B. bei ALEXANDER et al. (1999). 10.1.2.4.6.2 3D-Eingabegeräte
Eingabegeräte dienen in Virtuellen Umgebungen zunächst zur (meist menügestützten) Eingabe von Informationen durch das Betätigen von virtuellen Drucktasten (z.B. mit sog. Spacemouse für 3D-Navigation und Joystick) oder durch das Ausführen bestimmter Gesten (z.B. mit sog. Datenhandschuh). Ferner kann der Benutzer mit ihrer Hilfe in der Virtuellen Umgebung navigieren, d.h. seine Position, Lage und Blickrichtung verändern. Hierbei ist eine möglichst hohe Anzahl an Freiheitsgraden anzustreben. Eine Spacemouse bietet drei translatorische und rotatorische Freiheitsgrade. Beim Datenhandschuh kommen drei weitere für die Fingerbewegung hinzu. Nach dem Grad der Immersion kann zwischen hoch-immersiven und semiimmersiven Geräten unterschieden werden. Als semi-immersiv werden insbesondere solche Eingabegeräte verstanden, die wie eine Maus oder ein Joystick auf der Arbeitsfläche bewegt werden. Man bezeichnet die damit verbundene Technik auch als „Desktop VR“. Hoch-immersive Eingabegeräte wie der Datenhandschuh (Abb. 10.45) ermöglichen dem Benutzer die erwartungskonforme Interaktion mit der Virtuellen Umgebung mittels Gesten. Um den Immersionsgrad zu erhöhen, können durch Zusatzausrüstungen zum Datenhandschuh haptische Rückmeldungen für Benutzer erzeugt werden. Dadurch kann der Benutzer die Objekte in der Virtuellen Umgebung „anfassen“ und direkt mit ihnen interagieren.
Abb. 10.45: Datenhandschuh (Quelle: Fa. 5DT Fifth Dimension Technologies Ltd.)
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Basierend auf Bildverarbeitungsverfahren zur Positions- und Gestenerkennung der Hand wurden Eingabegeräte entwickelt, die dem Benutzer in einem definierten auswertbaren Volumen vor einer Kamera eine freie Beweglichkeit der Hand ermöglichen. 10.1.2.5 SystemergonomischeĆGesichtspunkteĆ Legt man das gestaltungsorientierte Informationsverarbeitungsmodell von WICKENS zugrunde (WICKENS 1992; WICKENS u. HOLLANDS 1999), wird die für den Menschen verfügbare Information in einem mehrstufigen Prozess verarbeitet (siehe Abb. 3.51). Ausgehend von einer Kurzzeitspeicherung des eingehenden Signals, dessen Stärke eine je nach Sinnesorgan und auch individuell begrenzt variierende Empfindungsschwelle überschreiten muss, um überhaupt wahrgenommen zu werden, erfolgt in der perzeptiven Phase unter Zuhilfenahme des Gedächtnisses eine Strukturierung der Reize. In der kognitiven Phase schließt sich die Extraktion des Informationsgehalts (Erkennen) und die Verarbeitung der wahrgenommenen Symbole an. Diese kann in Abhängigkeit von ihrer Eindeutigkeit und der Komplexität resultierender Aktionen nach dem Drei-Ebenenmodell von RASMUSSEN (1983) auf verschiedenen Niveaus eines Entscheidungs- oder Problemlösungsprozesses, nämlich fertigkeitsbasiert, regelbasiert oder wissensbasiert, erfolgen (SCHMIDT u. GRANDT 2008). Die in der kognitiven Phase situationsbezogen getroffenen Entscheidungen fließen in Handlungspläne und hierzu notwendige Aktionsfolgen ein, die in eine manuelle oder verbale Reaktionsausführung und somit in das von außen beobachtbare Verhalten des Menschen münden. Wesentliche Bedeutung in diesem Prozess haben die aus dem Arbeits- und Langzeitgedächtnis abrufbaren Informationen, die das Erkennen von Reizen und Situationen sowie das Einbeziehen von a priori vorhandenem Erfahrungswissen erst ermöglichen. Alle bei der Informationsverarbeitung beteiligten Funktionsbereiche konsumieren „Energie“, die durch Ressourcen bereitgestellt wird (zu den verschiedenen Ressourcenbegriffen siehe Kap. 3.3.1.1.2). Konstituierendes Merkmal der dem Prozess bereitgestellten Ressourcen ist, dass diese – unabhängig von der ihnen zugrunde gelegten Dimensionalität – begrenzt sind, die Ressourcenkapazität also endlich ist. Daraus folgt, dass die Leistungsfähigkeit des Informationsverarbeitungsprozesses sowohl hinsichtlich der Verarbeitungskapazität als auch in Bezug auf die Verarbeitungszeiten Grenzen aufweist, die u.A. in Abhängigkeit von der Disposition sowie der Fähigkeiten und Fertigkeiten intra- und interindividuell variieren. Das Ausmaß der Ressourcenauslastung kennzeichnet dabei die mentale Beanspruchung des Menschen. Wenn für die Informationsverarbeitung nur wenig Zeit zur Verfügung steht, resultiert je nach Disposition des Menschen eine hohe bis sehr hohe Beanspruchung, die sich – wenn der Operateur das hohe Arbeitsvolumen nicht mehr durch ein Steigerung der Aktivierung bewältigen kann – in einer erhöhten Fehlerrate und einer abrupten Reduktion der Leistung äußern kann (siehe Abb. 3.104). Dies
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kennzeichnet den Zustand der Überforderung. Ähnliche Symptome zeigen sich jedoch auch dann, wenn die zur Verfügung stehende Zeit viel größer ist, als die zur Aufgabendurchführung benötigte Zeit, d.h. bei der Unterforderung wie sie z.B. bei monotonen Aufgaben aufkommen kann. Ziel ist es, das für die Aufgabenbearbeitung verfügbare Zeitbudget so einzustellen, dass eine mittlere mentale Beanspruchung des Operateurs resultiert, bei der ein hohes Situationsbewusstsein erzielt werden kann. Nach ENDSLEY (1995) umfasst dies die Wahrnehmung der in der Umgebung vorhandenen Objekte, das Verstehen ihrer Bedeutung und somit das Erkennen der Situation sowie die korrekte Projektion der momentanen Veränderungen der Objekte und damit die Vorhersage eines zukünftigen Systemzustands. 10.1.2.5.1 Automatisierung Betrachtet man das hohe Informationsaufkommen in komplexen MenschMaschine-Systemen, z.B. in der Fahrzeug- und Prozessführung, auf der einen Seite und die begrenzte Informationsverarbeitungskapazität des Menschen auf der anderen, so kann die menschliche Informationsverarbeitung in der Gesamtstruktur des Arbeitssystems auch bei ergonomisch günstiger Gestaltung leicht einen ungewollten Engpass darstellen. Zudem weist der Mensch erhebliche intra- und interindividuelle Leistungsschwankungen sowie insbesondere unter Zeitdruck eine geringe Handlungszuverlässigkeit auf (SWAIN u. GUTMANN 1983). Aus diesen Gründen ist es erforderlich, den Menschen durch den Einsatz von Automatisierung zu unterstützen, nicht aber zu ersetzen. Denn insbesondere bei informatorischer Arbeit gilt, dass der Mensch der Maschine in Hinblick auf Flexibilität und Kreativität deutlich überlegen ist. Zur Bewältigung a priori nicht vorhersehbarer Situationen und Aufgaben benötigen automatisierte Systeme deshalb die Unterstützung, d.h. einen manuellen Eingriff, des menschlichen Operateurs. Aufgabe der systemergonomischen Gestaltung ist es, für das jeweilige System auf Grundlage der festgestellten Gestaltungsziele und einer umfassenden Funktionsanalyse einen adäquaten Automatisierungsgrad zu bestimmen und auf der Grundlage von Aufgaben- und Funktionsanalysen eine entsprechende Funktionszuweisung zwischen Mensch und Maschine (function allocation) festzulegen. Daran schließt sich im Weiteren die Spezifikation der Arbeitsaufgaben und ihre Zuweisung an die Operateure an (DIN EN 614). Zur Bestimmung einer zweckmäßigen Funktionsteilung zwischen Mensch und Maschine kann die klassische MABA-MABA-Liste („men are better at“ – „machines are better at“) von FITTS (1951) erste Anhaltspunkte bieten. Nach der in Tabelle 10.8 zu findenden Auflistung nach KRAISS u. SCHMIDTKE (2002) eignen sich Menschen demnach insbesondere für Aufgaben, welche die Verarbeitung komplexer, ggf. auch unvollständiger Informationen in unvorhergesehenen Situationen oder schwach strukturierten Prozessen und eine bestmögliche, flexible Verhaltensanpassung erfordern. Legt man die Taxonomie menschlichen Verhaltens nach RASMUSSEN (1983) zugrunde, ergibt sich eine besondere Eignung des Menschen für wissensbasierte Informationsverarbeitungsprozesse. Aufgrund ihres
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deterministischen Verhaltens und der großen Rechenkapazität sind Maschinen dem Menschen hingegen bei der simultanen und schnellen Verarbeitung von Datenströmen und der Ausführung repetitiver Aktivitäten weit überlegen. Hieraus ergibt sich eine besondere Eignung für fertigkeits- und regelbasierte Prozesse, allerdings nur, wenn diese a priori mathematisch modellierbar sind. Dies ist bei fertigkeitsbasierten Prozessen, die multiple Informationskanäle verwenden, jedoch oft nicht der Fall. Tabelle 10.8: MABA-MABA-Liste (nach KRAISS u. SCHMIDTKE 2002) Vorzüge des Menschen
•
Niedrige Wahrnehmungsschwelle und hohe
Vorzüge der Maschine
•
Empfindlichkeit der Sinnesorgane für visuel-
Empfindlichkeitsbereichs menschlicher Sin-
le, akustische oder chemische Reize
•
Erkennung visueller oder akustischer Muster
•
Lange Speicherung großer Informationsmengen und zeitgerechter Abruf relevanter Infor-
Empfindlichkeit für Reize außerhalb des nesorgane
•
Schnelle und präzise Durchführung komplexer Rechenoperationen
•
mationen
Speicherung und Abruf großer Datenmengen in kurzer Zeit
•
Urteilsbildung bei unvollständiger Information
•
Induktive Situationsanalyse
•
Lern- und Anpassungsfähigkeit und Originali-
•
Deduktive Situationsanalyse
tät
•
Unermüdliche, kontinuierliche, schnelle und
•
•
präzise Wiederholung von Aufgaben
•
Kurze Reaktionszeit auf Steuerungs- und Regelungssignale
Hohe motorische Präzision Leistungserbringung auch bei Überlast
Simultane Durchführung mehrerer Funktionen
Reaktionsfähigkeit auf unerwartete und unvorhersehbare Ereignisse
•
•
•
Vorsichtige und präzise Übertragung großer Kräfte
•
Unempfindlichkeit gegenüber extremen Umwelteinflüssen
Auch mit der heute verfügbaren Technologie und Technik ergeben sich jedoch auch in den Bereichen Grenzen der Automatisierung, für welche die Maschine eigentlich prädestiniert erscheint. KRAISS u. SCHMIDTKE (2002) nennen hierfür folgende Gründe:
x Beschränkungen der Situationserfassung: Fehlende oder unzuverlässige Sensorik und Sensordatenverarbeitung bei zugleich großer Variabilität von Zustandsgrößen, z.B. witterungsabhängige Einflüsse auf Sensorsysteme im Kraftfahrzeug verhindern die für den autonomen Systembetrieb erforderliche vollständige Erfassung und Projektion der Situation. x Fehlende Autonomie: Wegen der Unflexibilität von automatisierten Systemen können diese nicht mit unbekannten oder erheblich variierenden Situationen umgehen.
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1023
x Beschränkte Zuverlässigkeit: Hardware kann zwar durch Redundanz insgesamt ausfallsicher gemacht werden, bei komplexer Software können Fehler jedoch nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Aber auch der aus dem Vorgenannten möglicherweise gezogene Umkehrschluss, den Automatisierungsgrad am technisch Machbaren zu orientieren, ist keineswegs sinnvoll: In den 1960er und 1970er Jahren wurde vor dem Hintergrund der damaligen Fortschritte in der Automatisierungstechnik der Ansatz verfolgt, Mensch-Maschine-Systeme weitest möglich zu automatisieren, um die Schwächen des Menschen zu kompensieren oder den vermeintlich unzuverlässigen Menschen ganz aus den Systemen zu eliminieren (FABER 2004). In solchen hochautomatisierten Systemen wurden Operateure von Routineaufgaben entlastet und hatten fortan die Aufgabe, das automatisierte System zu überwachen (supervisory control, SHERIDAN 1997), um z.B. im Störungsfall die manuelle Führung und Lenkung übernehmen zu können und das System in einen sicheren Zustand zu überführen. Sheridan grenzt hierfür fünf typische Benutzeraufgaben voneinander ab, die in einem kaskadierenden Verhältnis zueinander stehen (siehe Abb. 10.46). Auftrag u t ag
Mensch planen HMI
mentales Modell
instruieren
Programm
überwachen
Prozess
intervenieren
lernen
Ablauf Information
Abb. 10.46: Supervisory Control nach SHERIDAN 1997 (erweiterterte Darstellung aus MAYER et al. 2008; HMI: human-machine interface)
Im Anschluss an das Planen, für welchen der Operator die Zusammenhänge der geführten Maschine sowie des geregelten physikalischen Prozesses verstehen und ein mentales Modell aufbauen muss, ist das System zu instruieren, d.h. der Operateur übersetzt Ziele und Aufgaben in Computerbefehle, so dass die Aufgabe (teil-) automatisiert ablaufen kann. Dieser Ablauf ist hinsichtlich seiner Prozess- und Ergebnisqualität zu überwachen. Nach Ausführung einzelner Teilaufgaben durch den Computer muss der Operateur intervenieren, seine Instruktionen aktualisieren bzw. manuell eingreifen. Schließlich muss der Operateur eine geeignete Archivierung der Prozessdaten bzw. eine kontinuierliche Anpassung der Modelle sicherstellen, wobei – einem Lernprozess ähnlich – vorliegende Prozessinformationen, Kennwerte oder Trendanalysen helfen, Anomalien zu vermeiden. Eine Anwen-
1024
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dung des Supervisory-Control-Modells für die automatisierte Produktion ist in Kap. 10.3.2.6 dargestellt. BAINBRIDGE (1987) kritisiert die beschriebene Rolle des Operateurs in ihrem berühmten Aufsatz zu „Ironies of Automation“: Der Mensch überwacht ein automatisches System, das ihn selbst ersetzt hat, weil er zu viele Fehler macht. Es zeigten sich z.B. in der Luftfahrt schon bald die zum Teil fatalen Konsequenzen: Bei Änderungen des Flugwegs oder im – seltenen – Störungsfall wurden den ansonsten mit monotonen Überwachungsaufgaben „beschäftigten“ Piloten, z.B. beim Umprogrammieren des Flight Management Systems, kurz vor dem Endanflug extrem zeitkritische Handlungen abverlangt („99% Langeweile – 1% Panik“; KRAISS 1994). Daraus resultierten zum einen bis dahin ungewöhnliche menschliche Fehlhandlungen, deren Ursachen in einer weitgehenden Entkopplung aus dem Regelkreis („operator out of the loop“-Problem, ENDSLEY u. KIRIS 1995) und einem stark verminderten Situationsbewusstsein (situation awareness), z.B. über die jeweiligen Systemzustände des Autopiloten (mode awareness), zu sehen sind. Zum anderen waren bei den Piloten erhebliche, aus ihrer zunehmenden Passivität herrührenden Verluste der fliegerischen Grundfähigkeiten (basic skills) sowie ein Übervertrauen in die Automation zu beobachten (WIENER 1988; GRANDT u. GÄRTNER 2002; GRANDT 2004b).
Bei der Automation von Funktionen in komplexen Mensch-MaschineSystemen ist es folglich wichtig,
x keinen zu geringen Automatisierungsgrad zu wählen, um Überforderung und damit verbundene Ermüdung zu vermeiden und x keinen zu hohen Automatisierungsgrad vorzusehen, um Monotonie, Übervertrauen in die Automation und Übungsmängel zu verhindern. Welcher Automatisierungsgrad in einzelnen Systemen nunmehr geeignet ist, hängt neben der Systemkomplexität und -dynamik von weiteren Faktoren, wie z.B. der Eintrittswahrscheinlichkeit unvorhersehbarer kritischer Ereignisse, der zu erzielenden Zuverlässigkeit des Gesamtsystems und der Qualifikation und Kompetenz der Operateure, ab. Die Klassifikation von Automatisierungsgraden von SHERIDAN (2002, Tabelle 10.9) gibt Hinweise auf mögliche Abstufungen bei der Systemgestaltung. Unter Zugrundelegung des menschlichen Informationsverarbeitungsprozesses können Automatisierungsfunktionalitäten und -grade auch den einzelnen Verarbeitungsstufen zugeordnet werden (Abb. 10.47). Obwohl der Operateur bei Systemen mit hohem Automatisierungsgrad eher überwachende Funktionen ausführt, bedeutet dies keinesfalls, dass diese Systeme geringere Ansprüche an die Gestaltung der Benutzungsschnittstelle stellen als solche mit einem höheren Anteil vom Menschen ausgeführter Funktionen. Ein hoher Automatisierungsgrad stellt den Operateur nämlich vor das Problem, den Überblick über den Systemzustand zu behalten (KRAISS u. SCHMIDTKE 2002). Deshalb ist gerade bei diesen Systemen insbesondere in Bezug auf Anzeigen und
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grafische Darstellungen auf eine an den Menschen angepasste Gestaltung zu achten. Wie erläutert, besteht eine weitere Gefahr von hochgradig automatisierten Systemen darin, dass die im Wesentlichen zur Systemüberwachung eingesetzten Operateure durch eine zu geringe Aktivität Übungsverluste erleiden und das System somit im Störungsfall nicht beherrschen können. Eine dynamische Funktionszuweisung zwischen Mensch und Maschine, also ein regelmäßiger Wechsel zwischen manuellem und automatisiertem Systembetrieb, kann einem Übungsverlust der Operateure vorbeugen. Soweit dies im Regelbetrieb nicht möglich ist, kann ein parallel stattfindendes Training, z.B. in Simulatoren, einen Trainingszustand gewährleisten, der ein für die Sicherheit erforderliches Mindestmaß der erforderlichen Fertigkeiten und Fähigkeiten umfasst. Tabelle 10.9: Automatisierungsgrade nach SHERIDAN (2002) Stufe
Beschreibung
1
Der Computer bietet keine Unterstützung; der Operateur erledigt alles.
2
Der Computer schlägt Alternativen zur Aufgabendurchführung vor.
3
Der Computer wählt eine Lösungsoption aus und
4
… führt diese nach Bestätigung des Operateurs aus.
5
… räumt dem Operateur vor der Ausführung eine bestimmte Zeit zum Einlegen eines Vetos ein.
6
… führt diese aus und informiert falls nötig den Operateur.
7
… führt diese aus und informiert auf Anfrage den Operateur.
8
Der Computer wählt die Lösungsoption aus, führt diese aus und ignoriert den Operateur.
hoch niedrig
Automattisierungsgrad
Informationen sammeln und auswerten Anteil von Funktionen zur • Steuerung der Aufmerksamkeit und zur • Hervorhebung, • Filterung, • Auswahl und • Aggregation von Informationen.
Problemlösen Automation wählt und initiiert Handlung
Aktionsausführung Operateur -/-
wählt und initiiert Handlung
kann Handlung ablehnen
wählt Handlung
initiiert Handlung
empfiehlt optimale Handlung
wählt und initiiert Handlung
empfiehlt Handlungsoptionen
wählt und initiiert Handlung analysiert Handlungsoptionen, wählt u. initiiert Handlung
-/-
Ausführung automatisiert
manuell
Abb. 10.47: Zuordnung von Automatisierungsgraden zu den Phasen der Informationsverarbeitung
1026
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10.1.2.5.2 Kooperative Automation Die alleinige Kompensation der menschlichen Erkennungs- und Entscheidungsfunktionen durch einen hohen Automatisierungsgrad technischer Systemkomponenten kann – wie oben erläutert – nicht zielführend sein, wenn der Mensch die Entscheidungskompetenz behalten soll. Statt konventioneller Automation erscheint es wegen der mit ihr verbundenen Risiken sinnvoll, einen auf die Fähigkeiten und Fertigkeiten der Operateure abgestimmten Ansatz zur benutzerzentrierten Automation (BILLINGS 1997) zu wählen und diesen zur sog. kooperativen Automation zu erweitern. Die Grundidee der kooperativen Automation besteht darin, dass sich Mensch und Technik nicht konträr gegenüberstehen, sondern im Team synergetisch wirken. Voraussetzung hierfür ist, dass beide Kooperationspartner hinreichend genau abschätzen können, welche Absichten sich hinter dem Verhalten des jeweils anderen verbergen, und dass die Maschine ähnliche Prozeduren verfolgt wie der menschliche Operateur. Diesen Ansatz bezeichnet SCHULTE (2002) als „kognitive Automation“. Ansätze für solche Systeme finden sich in der Luftfahrt in Bezug auf die Führung unbemannter Systeme (unmanned aerial vehicles – UAVs) (DONATH u. SCHULTE 2006; FREY 2005, PUTZER 2004), in der Produktionstechnik hinsichtlich kognitiver Steuerungssysteme für Montagezellen (MAYER et al. 2009a; ODENTHAL et al. 2009, SCHLICK et al. 2009) und im Bereich der militärischen Luftraumüberwachung (GRANDT u. LEY 2008) und Fahrzeugsteuerung (HAKULI et al 2009). Wenn die technische Komponente keine oder nur geringe Autonomie besitzt, sondern dem menschlichen Operateur lediglich beratend zur Seite steht, z.B. kritische Situationen und Gefahrenzustände identifiziert und die Aufmerksamkeit des Benutzers auf diese lenkt, kann auch von Assistenzsystemen gesprochen werden. Handelt es sich um Verfahren, die dem Benutzer eine Handlungsempfehlung offerieren, ist auch von Entscheidungsunterstützungssystemen die Rede. Insbesondere bei ihnen gilt es, die Eigenschaften des menschlichen Problemlösens zu berücksichtigen. So führen WICKENS u. HOLLANDS (1999) eine ganze Reihe von Schwächen bei der Informationssammlung, Hypothesenbildung, Hypothesenprüfung und Aktionsauswahl auf, denen der Mensch gerade unter Zeitdruck in unsicheren (sog. natürlichen) Situationen (ORASANU u. CONNOLLY 1993) unterliegt. Als Forderung kann daraus abgeleitet werden, dass Entscheidungsunterstützungssysteme stets auch (hinreichend begründete) Alternativhypothesen aufführen und die Hypothesen mit Argumenten unterlegen sollten, die den Vorschlag für den Benutzer nachvollziehbar machen. Unmittelbaren Einfluss haben diese Forderungen auch auf die Ergebnisdarstellung (GRANDT u. WITT 2004). 10.1.2.5.3 Adaptive Systeme Anders als eine Maschine verhält sich der Mensch aufgrund seiner variablen Disposition und seiner Anpassungsmerkmale nicht deterministisch. Deutlich wird dies daran, dass identische Aufgabensituationen, die nach dem BelastungsBeanspruchungs-Konzept von ROHMERT (1984) als Belastung anzusehen sind, sogar intraindividuell aufgrund der schon oben erwähnten Variabilität der dispo-
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nierbaren Ressourcen je nach „Tagesform“ zu unterschiedlicher Beanspruchung des Operateurs führen. Folglich erscheint es im Weiteren sinnvoll, die Auslastung der Verarbeitungsressourcen, also die mentale Beanspruchung, über eine Anpassung des (technischen) Systemverhaltens, d.h. eine dynamische Funktionsteilung zwischen Mensch und Maschine oder einen dynamischen Automatisierungsgrad, so zu modulieren, dass Über- und Unterforderungszustände weitestgehend vermieden werden. Systeme, die sich den zeitlich variablen Eigenschaften unterschiedlicher Benutzer anpassen können, um so bei adäquater mentaler Beanspruchung der menschlichen Operateure ein insgesamt kohärentes Systemverhalten zu erzielen, werden als adaptive Systeme bezeichnet. Eine frühe Beschreibung eines in diese Richtung weisenden Konzepts einer „intelligenten“ Mensch-Maschine-Schnittstelle findet sich bei ROUSE (1991). Vollständige Adaption setzt voraus, dass sich das System an variierende Situationen, Aufgaben und Benutzer(zustände) anpassen kann, um den Benutzer im Sinne der kognitiven Automation situationsgerecht zu unterstützen. Als Grundlage für eine an Situation, Aufgabe und Benutzerzustand adaptierte Unterstützung benötigt man Informationen über die Zustände und Zustandsgleichungen der im System eingebundenen Komponenten, also des technischen Systems, der Umwelt und des Benutzers. Der Zustand der technischen Systeme wird durch dessen mittels Sensoren erfassbaren Betriebszustand beschrieben, der Zustand der Umwelt kann als Umgebungssituation bezeichnet werden, die ebenfalls anhand von Sensoren zumindest geschätzt werden kann. Beide Zustandsinformationen zusammen können für eine Situationsanpassung des Systems herangezogen werden. Ein komplexeres Problemfeld ergibt sich aus der Adaption des Unterstützungssystems an den Operateur. Die Unterstützung soll entsprechend der momentan ausgeführten Aufgabe und der Höhe des für diese Aufgabe notwendigen Unterstützungsbedarfs erfolgen. Beide Aspekte werden durch den Benutzerzustand beschrieben. ROUSE (1991) sieht für die Gewinnung von Informationen über den Benutzerzustand die Implementierung eines (normativen) Benutzermodells in die „intelligente“ Schnittstelle vor. Durch die Analyse des Benutzerverhaltens soll unter Berücksichtigung der Missionsziele analytisch auf der Basis normativer Modelle abgeschätzt werden, welche Absicht der Benutzer verfolgt und welcher Ressourcenbedarf damit verbunden ist. SCHLICK et al. (2006) sprechen auch von antizipativen Benutzungsschnittstellen. Hierbei werden alle Eingaben (Tastenbetätigungen, Regeltätigkeiten etc.) erfasst, modelliert und vorhergesagt. Dies setzt allerdings voraus, dass die vom Benutzer durchgeführten Aufgaben solche Eingaben erforderlich machen. Ein Merkmal von Planungs- und Überwachungsaufgaben ist es jedoch, dass nur wenige oder gar keine Bedientätigkeiten erfolgen, die entsprechend analysiert werden können. In solchen Situationen kann die Absicht des Benutzers aus der Auswertung des äußerlich sichtbaren Verhaltens, bspw. von Blickbewegungen (FLEMISCH u. ONKEN 1997; FLEMISCH 1998; SCHLICK 2004), gewonnen werden. Die Abschätzung des Ressourcenbedarfs der Informationsverarbeitung bei der Prozessüberwachung erscheint schon wegen der großen inter-
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individuellen Unterschiede mit analytischen Verfahren kaum möglich. Die Online-Analyse der mentalen Beanspruchung kann in diesen Fällen die Informationslücke analytischer Verfahren schließen (GRANDT 2004a). Welche Indikatoren für eine Erfassung des Benutzerzustands (operator functional state) in Frage kommen, wird bei NATO-RTO (2004) erläutert. Allerdings ist für den gegenwärtigen Erkenntnisstand zu konstatieren, dass insbesondere in Hinblick auf die Erfassung der mentalen Beanspruchung in Echtzeit noch erheblicher Forschungsbedarf besteht. Die Realisierung einer solch weitgehenden Adaption von MenschMaschine-Systemen an den Benutzer ist folglich in näherer Zukunft nicht zu erwarten. 10.1.3 Anthropometrie und räumliche Gestaltung Die räumliche Gestaltung umfasst die ergonomische Auslegung und Anpassung von geometrisch definierten Beziehungen zwischen den arbeitenden Menschen und den Elementen des Arbeitssystems. Dies bedeutet, dass die Form, Gestalt, Abmessungen und relative Anordnung einzelner Elemente von Arbeitsplätzen bzw. -bereichen (z.B. Arbeitsflächen oder Arbeitsmittel) festgelegt werden. Nach MAINZER (1992) sind folgende Einflussgrößen bei der räumlichen Gestaltung zu berücksichtigen:
x Die Arbeitsaufgabe und daraus resultierenden räumlichen Anforderungen, z.B. an manuelle und visuelle Zugänglichkeit, an Körperhaltungen und -bewegungen x Die räumlichen Anforderungen, die sich aus energetisch-effektorischen sowie informatorischen Gestaltungsprinzipien ergeben (siehe Kap. 10.1.1 und 10.1.2) x Die Maße und Maßverhältnisse des menschlichen Körpers mit ihrer interindividuellen Variabilität. Die Anthropometrie (griechisch; Lehre von den Maßen, Maßverhältnissen und der Messung des menschlichen Körpers) bildet die wissenschaftliche Grundlage für die ergonomisch-räumliche Gestaltung von Arbeitssystemen. Der räumliche Gestaltungszustand eines Arbeitssystems muss in diesem Zusammenhang einer Vilezahl von Anforderungen Rechnung tragen, die bei den einzelnen Gestaltungsansätzen einen Bezug zum Arbeitsraum aufweisen. Ihre systematische Berücksichtigung und gezielte Umsetzung bei der räumlichen Gestaltung setzen eine integrative Vorgehensweise voraus, wobei hauptsächlich Maße, Massenverteilungen und Kräfte in Auflage- und Ausübungszusammenhang zu berücksichtigen sind. 10.1.3.1 KörpermaßeĆ Die Körpermaße bzw. geometrische Parameter können nach der Art ihres Ursprungs und ihrer Verwendung in zwei Gruppen aufgeteilt werden:
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(1) Räumliche Begrenzungsmaße des menschlichen Körpers, die aus den Skelett- und Umrissmaßen abgeleitet werden können (2) Funktionsmaße des menschlichen Körpers, z.B. Bewegungsbereiche, Reichweiten und Sichtmaße. Die Ermittlung der Maße des Menschen und die Erarbeitung von Gesetzmäßigkeiten der Proportionslehre werden bereits seit Jahrtausenden in der Kunst und Wissenschaft betrieben. So wurden menschliche Darstellungen schon in Ägypten nach diesen Gesetzmäßigkeiten aufgebaut (Abb. 10.48).
Abb. 10.48: Aus dem Achsenkreuz konstruierte Darstellung eines Grabträgers (BRAUNFELS et al. 1973)
Auch aus Indien und China sind umfangreiche Proportionsstudien bekannt (siehe RAU u. GAO 2009).
Dies rührt – neben dem wissenschaftlichen Interesse – vor allem daher, dass schon in vorindustrieller Zeit, in der praktisch alle Gegenstände nach individuellem Auftrag und Maß angefertigt wurden, Dinge, die für die Allgemeinheit bestimmt waren (z.B. öffentliche Anlagen und Häuser), auch nach allgemeinen Maßen auszulegen waren. Seit Beginn der industriellen Fertigung besteht nun die Notwendigkeit, praktisch alle solche Gegenstände ohne individuelle Kenntnis des späteren Benutzers und darüber hinaus mit nur einer oder möglichst wenigen Varianten zu dimensionieren und dennoch eine einwandfreie Benutzbarkeit zu ge-
1030
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währleisten. Dies setzt die Kenntnis der Größenverteilung des menschlichen Körpers und dessen Extremitäten voraus. Erste Ansätze einer wissenschaftlichen Anthropometrie, die sich auf exakte anthropologische Messpunkte des Körpers stützen, sind bereits aus dem 18. Jahrhundert bekannt. Dies wurde durch die Erforschung des Knochenbaus möglich und erlaubte eine Abkehr von den beispielsweise aufgrund der Verschiebbarkeit der Haut wenig exakten, äußerlichen Messpunkten. Damit waren die Grundlagen geschaffen, um die Maße des menschlichen Körpers zu erfassen, die uns heute in unterschiedlichen, sehr umfangreichen Tabellen vorliegen. Über die empirische Ermittlung der Abmessungen verschiedener Gliedmaßen und Körperteile hinaus befasst sich die Anthropometrie mit der Untersuchung der Einflussfaktoren auf die Körpermaße, wie z.B. Alter, Geschlecht oder Bevölkerungsgruppe. Die Körpergröße ist der wichtigste anthropometrische Parameter, von dem die anderen Körpermaße – unter der Voraussetzung der gesetzmäßigen Proportionalität – abgeleitet werden können. Für die Zwecke der ergonomischen Gestaltung hat der Begriff Körpergröße zwei Bedeutungen: Entweder im Sinne der individuellen Körpergröße, d.h. die Körpergröße eines konkreten Individuums oder im Sinne einer statistischen Größe, die sich auf bestimmte Gruppen von Menschen bezieht und deren Wert einer bestimmten Summenhäufigkeit bzw. der daraus geschätzten Wahrscheinlichkeitsverteilung unterworfen ist. Beide Begriffe – die individuelle und die statistische Körpergröße – sind streng voneinander zu unterscheiden. Der arithmetische Mittelwert von Körpermaßen, besonders die Körpergröße selbst, ist zeitlich und geographisch ein statistischer Parameter, der für die ergonomische Raumgestaltung alleine kaum von Bedeutung ist. Gemeinsam mit der Standardabweichung lässt sich aber die Wahrscheinlichkeitsverteilung eines Körpermaßes – unter der Annahme einer Normalverteilung – mathematisch präzise und ergonomisch sinnvoll beschreiben. Betrachtet man die Auftretenshäufigkeit einzelner Maße in der Bevölkerung, so findet sich aufgrund der Vielzahl von Einflussfaktoren, die additiv wirken in etwa eine Normalverteilung (Abb. 10.49).
Abb. 10.49: Körpergrößenverteilung von Männern (durchgezogene Linie: Stichprobe von 7144 Männern, gestrichelte Linie: gesamter Geburtsjahrgang, 356000 Männer; aus JÜRGENS 1989)
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Eine solche Verteilung wird für praktische Zwecke auch häufig als Verteilungsfunktion angegeben, die sich auf die Summenhäufigkeit bezieht und aus der sich leicht Körpergrößenklassen ableiten lassen (Abb. 10.50). Die angesichts der Variationsbreite (siehe Abb. 10.50 und Tabelle 10.11: Das Problem der „durchschnittlichen Gestalt“) scheinbar sinnvolle Entscheidung, den sog. „mittleren Menschen“ als Bezugsmaß zu wählen, erweist sich in vielen Fällen als ungeeignet.
Abb. 10.50: Summenhäufigkeit der Körperhöhe (einschließlich 30 mm für gebräuchliches Schuhwerk) sowie damit verbundene Körpergrößen-Klassen für Frauen und Männer (nach JENIK 1972, modifizierte Darstellung aus JENNER u. BERGER 1986)
Würde man bspw. die Höhe eines Stuhles nach der durchschnittlichen Unterschenkellänge einschließlich des Fußes bemessen, so könnte ungefähr die Hälfte der Benutzer ihre Füße nicht mehr bequem auf den Boden aufsetzen. Daraus wird deutlich, dass im Gestaltungsprozess weniger die mittleren Maße, als vielmehr die Extremwerte – bei Innenmaßen die der „kleinsten“ Person, bei Außenmaßen die der „größten“ Person – von entscheidender Bedeutung sind (siehe Kap. 10.1.3.3). Da eine Orientierung am kleinsten und am größten Menschen im Sinne einer allgemeingültigen Gestaltung zu unverhältnismäßigen Auslegungsanforderungen führen würde, werden Körpergrößenklassen gebildet und entsprechende Verteilungsbereiche ausgewählt. Die Grenzen der Verteilungsbereiche werden üblicherweise bei 5% und 95% festgelegt und als 5. Perzentil bzw. 95. Perzentil bezeichnet (siehe Abb. 10.50). Innerhalb dieser Grenzen liegen somit 90% der Bevölkerung bzw. der jeweiligen Bevölkerungsgruppe hinsichtlich des bezeichneten Bezugsmaßes. Wegen der deutlichen Differenzen zwischen Frauen und Männern werden diese normalerweise getrennt erfasst und als Grenzwerte die Maße einer Frau des 5. Perzentils und die eines Mannes des 95. Perzentils herangezogen. Damit sind ungefähr 95% der Bevölkerung berücksichtigt sowie der überwiegende Teil der Population im Rahmen eines technisch vertretbaren Maßintervalls.
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Arbeitswissenschaft
Bei der Festlegung von sicherheitsrelevanten Maßen reicht die Begrenzung beim 5. bzw. 95. Perzentil jedoch nicht aus, da sonst die Wirksamkeit einer Schutzmaßnahme für 5% der Bevölkerung nicht gewährleistet wäre. Hierfür ist das 1. bzw. das 99. Perzentil vorzuziehen. Für die Bevölkerung Deutschlands sind die wichtigsten Maße in der DIN 33 402 zusammenfasst (Abb. 10.51, Tabelle 10.10). Die Anwendung von Tabellenwerten der Körpermaße muss jedoch mit großer Vorsicht erfolgen: Im Laufe der Zeit ist, insbesondere in den Industrieländern, eine allgemeine Zunahme der Körpermaße zu verzeichnen. Diese als Akzeleration bezeichnete Erscheinung wird vor allem auf die Verbesserung der Lebensumstände (Hygiene, Ernährung, Arbeitsbedingungen) zurückgeführt und beträgt im Rückblick des letzten Jahrhunderts durchschnittlich etwa 1 mm pro Jahr (Abb. 10.52). Eine Extrapolation zur Angleichung älterer Tabellen oder zur Abschätzung zukünftiger Verhältnisse ist jedoch problematisch, da die Größenzunahme nicht kontinuierlich erfolgt und keine zuverlässige Prognose über ein mögliches Ende der Akzeleration vorliegt. Anwender sollten daher immer möglichst aktuelle Tabellen benutzen. Wegen des Aufwands zur Erstellung solcher Tabellen sind die Möglichkeiten jedoch begrenzt.
Abb. 10.51: Körpermaße nach DIN 33402-2 (in mm; Auszug, Mittelwerte der deutschen Bevölkerung von 18 bis 65 Jahren)
Ergonomische Gestaltung
1033
Tabelle 10.10: Tabellarische Körpermaße nach DIN 33 402, Teil 2 (in mm; Auszug, Mittelwerte der deutschen Bevölkerung von 18 bis 65 Jahren) Nr.
Maßbezeich-
Perzentilmaße
nung 3
Körperhöhe
4
Augenhöhe
F
Gestaltungsprinzipien
5.
50.
95.
1 535
1 625
1 720
Türöffnung
M
1 650
1 750
1 855
F
1 430
1 515
1 605
M
1 530
1 630
1 735
F
1 260
1 345
1 425
M
1 345
1 450
1 550
Schulterbreite
F
395
435
485
Seitlicher Abstand von
(bideltoid)
M
440
480
525
Kinositzen
Höhe der Hand
F
670
715
760
Koffer und Taschen
(Griffachse)
M
730
765
825
Reichweite
F
625
690
750
nach vorne
M
685
740
815
Körpersitzhöhe
F
810
860
910
(Stammlänge)
M
855
910
965
Augenhöhe
F
705
755
805
Sichtbedingung im Hörsaal mit anstei-
(sitzend)
M
740
795
855
genden Stuhlreihen
25
Ellenbogenhöhe
F
185
230
275
Auflagenabstützungshöhe
über Sitzfläche
M
210
240
285
27
Länge des
F
375
415
450
Unterschenkels
M
410
450
490
Gesäß-Knie-
F
435
485
530
Helen-Länge
M
450
495
540
Gesäß-
F
545
590
640
Knielänge
M
565
610
655
Breite über die
F
395
485
555
Ellenbogen
M
415
480
555
Hüftbreite
F
360
390
460
(sitzend)
M
350
375
420
5
11
19
21
22
23
29
30
33
34
Schulterhöhe
Verkaufsregale
Bedienteilausrichtung
Dachhöhe Pkw
Sitzbankhöhen
Sitzbanktiefe
Knieraum von Hörsaalsitzreihen
Schalthebelanordnung
Profilierter Fahrzeugsitz
1034
Arbeitswissenschaft
Der Einfluss des Alters muss ebenfalls berücksichtigt werden. Neben den speziellen Verhältnissen bei Kindern und Jugendlichen (für die spezielle Tabellen heranzuziehen sind), nimmt beispielsweise die Körpergröße Erwachsener mit zunehmendem Alter wieder ab. Dabei erhöht sich das Körpergewicht. Darüber hinaus sind Proportionsänderungen zu beachten.
177 176
Körpergröße [cm]
175 174 8,4 cm (4,9 %)
173 172 171 170 169 168 1880
1890
1900
1910
1920 1930 Jahr
1939
1949
1961
Abb. 10.52: Zunahme der Körperhöhe der Erwachsenen in Schweden im Verlauf von 80 Jahren (aus BRAUNFELS et al. 1973)
Neben der unterschiedlichen Körpergröße von Männern und Frauen sind weitere geschlechtsspezifische Unterschiede zu beachten, z.B. andere Körperproportionen (Becken- und Schulterbreite, Lage der Körperfettdepots). Die Körpermaße weisen schließlich ethnische bzw. regionale Unterschiede auf. So sind z.B. Norddeutsche durchschnittlich 2 cm größer als Süddeutsche, innerhalb des europäischen Kontinents sind die Schwankungen noch wesentlich größer. Insbesondere bei der Arbeitsplatzgestaltung für ausländische Mitarbeiter und bei international vertriebenen Produkten müssen daher weitergehende Daten herangezogen werden (z.B. internationaler anthropometrischer Datenatlas, JÜRGENS et al. 1989). Da sowohl die Körperproportionen als auch die Verteilungsbreiten unterschiedlich ausgeprägt sind, genügt es dabei nicht, eine vorhandene Tabelle einfach im Verhältnis der unterschiedlichen Durchschnittsgrößen umzurechnen:
x Die Art der Kleidung (Winterbekleidung, Arbeitsschutzkleidung o.Ä.) und des Schuhwerks muss mit entsprechenden Zuschlägen berücksichtigt werden.
Ergonomische Gestaltung
1035
x Auch der Ermüdungsgrad hat einen Einfluss auf die wichtigsten Körpermaße. Wichtig ist besonders der Unterschied zwischen zusammengesackter (ermüdeter) und aufrechter Sitzhaltung. x Die gebräuchlichen Tabellen berücksichtigen nur ungenügend die Korrelationen zwischen Körpermaßen, die wesentlich stärker schwanken können als es die Körperhöhe erwarten lässt. x Personen gleicher Körperhöhe können sehr unterschiedliche Proportionen besitzen (Abb. 10.53).
Abb. 10.53: Unterschiedliche (aus DIN 33 402-2)
Rumpfproportionen
bei
gleicher
Körperhöhe
DANIELS u. CHURCHILL (1953) versuchten hierzu z.B. zu ermitteln, wie viele Menschen innerhalb eines Kollektivs von 4063 Männern als Flugpersonal in Bezug auf zehn verschiedene Körperabmessungen als anthropometrisch ,,durchschnittlich“ betrachtet werden können. Um sich die Aufgabe zu erleichtern, haben die Autoren mit dem Begriff des ,,ungefähren Mittelwertes“ operiert, der dem Bereich einer Abweichung von plus minus 15% vom arithmetischen Mittelwert entsprechen sollte. Von den untersuchten 4063 Männern entsprachen diesem Bereich ,,ungefähr durchschnittlicher“ Körperhöhe nur noch 25,9% (siehe Tabelle 10.11), von diesen hatten dann den ,,ungefähr durchschnittlichen“ Brustumfang nur noch 7,4% und von diesen entsprachen in der Armlänge nur noch 3,5% dem Mittelwert. Für das zehnte Körpermaß blieb kein ,,ungefähr durchschnittlicher“ Mann übrig. Die relative Vorkommenshäufigkeit in Stichproben ist gleichzeitig ein Schätzwert der Wahrscheinlichkeit des Vorkommens eines konkreten Körpermaßes in der Population nach dem Maximum-Likelihood-Prinzip. Im diskutierten Beispiel handelt es sich um eine zusammengesetzte Wahrscheinlichkeit, die schon beim dritten Körpermaß unter der Annahme der statistischen Unabhängigkeit auf 0,33 = 2,7% sinkt und beim zehnten mit 0,310 (etwa 6·10-6) fast den Nullwert erreicht.
1036
Arbeitswissenschaft
Daraus ergibt sich, dass ein in allen Abmessungen ,,durchschnittlicher“ Mensch kaum existieren kann, und dass es deshalb wenig zweckmäßig ist, sich zu bemühen, für eine ,,durchschnittliche“ Gestalt einen Arbeitsplatz zu gestalten, da dieser nur diese und keine andere Gestalt maßlich und gestalterisch befriedigen kann. Tabelle 10.11: Das CHURCHILL 1953)
Maß Nr. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
Anzahl Personen1 4063 1055 302 143 73 28 12 6 3 2
Problem
der
davon 2 1055 302 143 73 28 12 6 3 2 0
„durchschnittlichen
berücksichtigtes Körpermaß Körperhöhe Schulterumfang Ärmellänge Hosenschritthöhe Brustumfang Hüftumfang Halsumfang Taillenumfang Oberschenkelumfang Hosenlänge
Gestalt“
(DANIELS
u.
Prozentwerte tatsächlich theoretisch 25,9 30 7,4 9 3,5 2,7 1,8 0,8 0,69 0,243 0,29 0,0729 0,14 0,02187 0,07 0,00656 0,04 0,00197 0,00 0,00590
1
Ausgangskollektiv: n = 4063 Männer
2
Durchschnitt (): entspricht dem Mittelwert mit einer beidseitigen Streuung von r15%
In diesem Zusammenhang besitzt eine Person mit der Körperhöhe des 5. Perzentils daher nicht zwangsläufig auch eine Armlänge entsprechend dem 5. Perzentil. Dies führt dazu, dass die einzelnen Messgrößen streng genommen weder direkt miteinander verrechnet noch gemeinsam betrachtet werden dürfen. Addiert man bspw. die Bein-, Rumpf- und Kopfhöhe der Werte des 95. Perzentils, so ist die auf diese Weise berechnete Körperhöhe deutlich größer als die tatsächliche Körperhöhe des 95. Perzentils. Die Addition von Einzelmaßen zur Bildung einer einzelnen Maßgröße ist jedoch dann zulässig, wenn sichergestellt ist, dass die dabei unvermeidlichen Fehler zu einer Verschiebung in Richtung der jeweiligen Extreme führen und die daraus resultierenden größeren Verteilungsbereiche konstruktiv tolerierbar sind. So dürfte beispielsweise die geschilderte Berechnung der Körperhöhe aus den Einzelgliedmaßen zur Dimensionierung einer Türhöhe herangezogen werden, da der Fehler zu einer gegenüber den tatsächlichen Erfordernissen höheren Tür führt. Zur Betrachtung eines konkreten Falls bleiben also jeweils die inneren Abhängigkeiten der verschiedenen Maßkombinationen zu berücksichtigen, die einer sog. Korrelationsmatrix der Körpermaße entnommen werden können. Eine hohe Korrelation (ȡ > 0,7) deutet dabei auf eine starke Abhängigkeit der Maße voneinander hin (mit einem moderaten Fehler bei der Verrechnung von Einzelmaßen), wohingegen eine kleine Korrelation (ȡ < 0,3) eine weitgehende Unabhängigkeit anzeigt. Obwohl die Körpermaße des Menschen nur eine individuelle Varianz im Vergleich zur zusätzlichen intraindividuellen Varianz bei vielen weiteren Attributen
Ergonomische Gestaltung
1037
aufweisen, kann die anthropometrische Gestaltung aus den genannten Gründen nicht als einfache Aufgabe bezeichnet werden. Ergonomisch richtig gestaltete Arbeitsplätze müssen deshalb an einen vorgegebenen Körpergrößenbereich angepasst werden und nicht an einen hypotetischen, in Wirklichkeit nicht existierenden „durchschnittlichen“ Menschen. Wenn keine Gründe für die Wahl eines besonderen Körpergrößenbereiches vorliegen, sind folgende Bereiche von Körpergrößen zu verwenden (ROHMERT 1994, vgl. hierzu Tabelle 10.10):
x für Männer der Bereich von 1630 mm bis 1900 mm x für Frauen der Bereich von 1500 mm bis 1760 mm x für Männer und Frauen der Bereich von 1500 mm bis 1900 mm. Die Körpergrößenangaben verstehen sich einschließlich gebräuchlichen Schuhwerks von 30 mm Höhe. 10.1.3.2 FunktionsräumeĆ Aufgrund der Komplexität der Zusammensetzung einer Bewegung aus mehreren Einzelbewegungen und zur Berücksichtigung der von der Gelenkstellung abhängigen (wirksamen) Gliedmaßenlänge – die menschlichen Gelenke besitzen keinen festen Drehpunkt – werden für die Raumauslegung meist Funktionsräume angewandt. Die wichtigsten Funktionsräume des menschlichen Körpers sind die Sicht-, Greif- und Bewegungsräume. Die Funktionsräume werden grundsätzlich bestimmt durch eine konkrete Tätigkeit mit ihren Randbedingungen sowie durch die anatomischen Gegebenheiten. Zum Beispiel ergibt sich die maximale Reichweite aus der räumlichen Anordnung der Arbeitsfläche relativ zur Arbeitsperson, aus der für die Ausführung der Tätigkeit erforderlichen Arm- bzw. Körperhaltung mit den jeweiligen Bewegungsmöglichkeiten sowie aus den variablen Körpergrößen. Daraus folgt, dass die in der Literatur zu findenden Angaben zu Funktionsräumen (z.B. Greifräume) in der Regel nur für eindeutig definierte Fälle gelten können. Abb. 10.54 stellt die Überdeckung der Funktionsräume (optimaler Greifraum, Beinraum und Sehraum) für Sitzen und Stehen für zwei Körperhöhen – 1500 mm und 1900 mm – dar. Es ist erkennbar, dass für Sitzen eine ausreichende Überdeckung der Funktionsräume vorliegt. Durch aufgabengerechte Anordnung von Arbeitsmitteln bzw. Arbeitsgegenständen innerhalb der gemeinsamen Bereiche können günstige räumliche Verhältnisse für alle Arbeitspersonen geschaffen werden. Hier müssen in der Höhe sowohl die Fußstütze als auch die Sitzfläche verstellbar sein. Für einen Steh-Arbeitsplatz kann man eine Überdeckung der Sichträume und der Manipulationsräume mit Hilfe einer verstellbaren Fußstütze erreichen. In der Abb. 10.55 wird beispielhaft für allgemeine Angaben ein Horizontalschnitt durch einen Greifraum nach VDI Handbuch (Arbeitsgestaltung und Arbeitsorganisation, VDI HANDBUCH 1980) wiedergegeben. Die einzelnen Flächen des Greifraumes werden im gegebenen Falle ansatzweise nach funktionalen Gesichtspunkten bewertet. Die Arbeitsfläche bzw. Schnittebene des Greifraumes
1038
Arbeitswissenschaft
entspricht derjenigen der Arbeitsfläche. Diese wurde mit etwa 80 cm Höhe im Sitzen – d.h. etwa in der Ellenbogenhöhe – angenommen. Diese Abbildung nimmt besonderen Bezug auf die Anordnung von Stellteilen.
Abb. 10.54: Funktionsräume (optimaler Greifraum, Beinraum und Sehraum) für Sitzen und Stehen für zwei Körperhöhen: 1500 mm und 1900 mm (ROHMERT 1994)
Abb. 10.55: Horizontalschnitt durch den Greif- und Sehraum nach VDI Handbuch (1980) (gilt für Stehen und Sitzen)
Ein weiterer Faktor ist die maximale Reichhöhe. Diese unterscheidet sich von den Angaben des Greifraumes dadurch, dass in der Regel ein Gegenstand von
Ergonomische Gestaltung
1039
einer höher gelegenen Ablagefläche zu ergreifen ist. Als konservatives Kriterium – freier Stand und aufgelegte Hand – kann für die maximale Reichhöhe das 1,25-fache der Körperhöhe angesetzt werden. Beim Transport von Gegenständen mit relevantem Eigengewicht oder häufiger bzw. länger andauernder Tätigkeitsausübung sind die so ermittelten Werte jedoch – unter Umständen erheblich – herabzusetzen. Bei der Handhabung von Gegenständen sowie von Handwerkzeugen ist besonderes Augenmerk auf die Bewegungsmöglichkeiten des Handgelenks zu legen (Abb. 10.56). Die jeweils „optimale“ Handgelenkstellung hängt in hohem Maße von den aufzubringenden bzw. einwirkenden Kräften und Kraftrichtungen ab. Im Normalfall sollten die in Abb. 10.56 angegebenen Bereiche nicht überschritten werden. Ohne Einwirkung einer nennenswerten Kraft ist eine entspannte Haltung im Bereich der Nulllage möglich. Normalerweise wirkt jedoch zumindest die Schwerkraft ein, so dass im Zusammenhang mit der elastischen Wirkung der Muskeln, Sehnen und Bänder eine – lageabhängig – davon abweichende Haltung zu bevorzugen ist.
Abb. 10.56: Bewegungsbereiche des Hand-Arm-Gelenks (HEEG et al. 1989)
In DIN 33414-1 werden geometrische Parameter des Sehraumes definiert. Im Einzelnen sind dies
x Sehachsen und x Sehbereiche (Gesichts-, Blick-, und Umblickfeld mit ihren Kombinationen und Maximal- sowie Optimalbereichen).
1040
Arbeitswissenschaft
Da nahezu jede Tätigkeitsausführung mit der visuellen Kontrolle des Tätigkeitsablaufes verbunden ist, müssen neben der Gewährleistung der Sichtmöglichkeit weiterhin die Kopfhaltung und die Augenlage berücksichtigt werden. Hierbei ist zu beachten, dass die kopfbezogene Sehachse (bei entspannter Mittellage der Augen) um 15-30° unterhalb der horizontalen Kopfachse liegt und eine entspannte Kopfhaltung bei einer Kopfneigung (nach vorne) von 0-15° im Stehen und von ca. 25° im Sitzen eingenommen werden kann (Abb. 10.57).
Abb. 10.57: Bequeme Blicklinien für stehende und sitzende Haltungen (HETTINGER u. WOBBE 1993)
Die mittlere Sehachse ist somit um 15-40° gegenüber der Horizontalen nach unten geneigt. Wegen der großen Flexibilität des Menschen in Bezug auf den Kopf- und Augenbewegungsbereich kann die Durchführbarkeit einer Tätigkeit zwar häufig auch bei deutlicher Abweichung davon gewährleistet werden, dies führt jedoch zu unter Umständen erheblichen zusätzlichen Beanspruchungen der Muskulatur. Insbesondere bei lang andauernder Tätigkeitsausübung in solch ungünstiger Körperposition (z.B. bei Arbeiten am PC) sind dann Verspannungserscheinungen der Nacken- und Schultermuskulatur sowie Ermüdungsphänomene die Folge. Für die praktische Anwendung können ausgewählte Angaben der DIN 33414-1 benutzt werden. Diese sind in Abb. 10.58 zusammengefasst (siehe. LANDAU u. STÜBLER 1992).
Ergonomische Gestaltung
1041
Abb. 10.58: Ausgewählte geometrische Parameter des Sehraumes mit ihren Werten nach DIN 33 414-1 (LANDAU u. STÜBLER 1992)
Nach Abb. 10.58 beschreibt das Gesichtsfeld die Eigenschaft des Auges, definierte Hellreize bis zu einem bestimmten Abweichungswinkel von der Sehachse wahrzunehmen. Sowohl horizontal als auch vertikal ist jeweils in einem Bereich von ca. ± 15° von der Sehachse das optimale Gesichtsfeld definiert, in dem auch die Unterscheidung von unterschiedlichen Farben der Hellreize gesichert ist. Die maximalen Winkelangaben für unterschiedliche Farbengesichtsfelder sowie für Hellreize sind in der DIN-Norm enthalten, für die Arbeitsgestaltung sind diese Angaben nur in spezifischen Fällen – z.B. für die informatorische Gestaltung von Anzeigen – von Bedeutung. Das Umblickfeld (siehe Abb. 10.58) umfasst die Gesamtheit aller Raumpunkte in der horizontalen und vertikalen Ebene, die (bei ruhendem Körper) durch Kopf-
1042
Arbeitswissenschaft
und Augenbewegungen fixiert werden können. Eine Erweiterung des Umblickfeldes zum Umblick-Gesichtsfeld ergibt sich, wenn die Fixierpunkte des Umblickfeldes als jeweilige Zentren des Gesichtsfeldes verwendet werden. Der schematische Ablauf zu räumlicher Gestaltung von Arbeitsplätzen ist in der Abb. 10.59 dargestellt. Die aufgabenbedingten Anforderungen bestimmen die Sichtgeometrie, analoges gilt für die Arm- bzw. Körperhaltung sowie die Greifräume. Die erforderliche Überschneidung der Seh- und Greifräume führt auch zu aufgabenspezifischen Haltungen bzw. Gestaltungskompromissen.
Abb. 10.59: Schematischer Ablauf räumlicher Gestaltung von Arbeitsplätzen
Ergonomische Gestaltung
1043
Für die Gesamtanordnung des Arbeitsplatzes erforderliche Stützflächen und ihre Verstellbarkeit ergeben sich aus den funktionellen und anatomischen / physiologischen Anforderungen. Sie sind nicht ohne weiteres allgemein übertragbar. Die räumliche Gestaltung orientiert sich an einer Gruppe von Arbeitspersonen mit definiertem Körpergrößenbereich (in gegebenem Falle Frauen). Die „auf dem Reißbrett“ entstandenen Entwürfe sind anhand von Arbeitsplatzprototypen unter praxisnahen Bedingungen zu überprüfen. Die räumlichen Gestaltungsmethoden sind ihrer Natur nach relativ ungenau und statisch, im „MikroBereich“ (z.B. Abstützung und Bewegungen der Finger und Hände) daher nur sehr begrenzt einsetzbar, die Gestaltungsforderungen anderer Gestaltungsbereiche (z.B. Bewegungsgestaltung, physiologische Gestaltung) sind häufig nur anhand von Prototypen abzustimmen. Die sinnvolle Nutzung der Anpassungsmöglichkeiten des Arbeitsplatzes als Ergebnis eines adäquaten Gestaltungsprozesses erfordert eine entsprechende Einweisung der Arbeitspersonen. Anhand der dargestellten Vorgehensweise sind für den gesamten zugrunde gelegten Körpergrößenbereich die erforderlichen räumlichen Gestaltungsmaßnahmen ableitbar.
10.1.3.3 AnthropometrischeĆArbeitsplatzgestaltungĆ Ein häufiges Problem bei der konstruktiven Festlegung von Abmessungen ist die Wahl des jeweils angemessenen Grenzwertes. So ist zum Beispiel die Bemessung der Stuhlbreite anhand des 95. Perzentils vorzunehmen, die der Stuhlhöhe jedoch anhand des 5. Perzentils. In vielen Fällen sind die Verhältnisse jedoch nicht so offenkundig wie im aufgeführten Beispiel, so dass auf diese Problematik eine besondere Aufmerksamkeit zu richten ist. Der häufig gemachte Fehler, bei der Gestaltung eines Arbeitsplatzes vom mittleren Menschen auszugehen, erweist sich bei genauerer Überlegung als fatal: wäre die Höhe eines Türdurchgangs nach dem 50. Perzentilmaß der Körperhöhe konzipiert, so hätte das zur Folge, dass sich 50% der Passanten recht heftig an dieser Tür den Kopf anschlagen würden. Dies ist natürlich keinesfalls akzeptabel. Hier wäre ein Entwurf angebracht, der sich an den größten Personen einer Benutzergruppe orientiert. Wäre hingegen ein Regalbrett in einer öffentlichen Bibliothek anzubringen, auf dem Bücher stehen sollen, so wäre es ebenfalls verhängnisvoll, wenn man sich am 50. Perzentil oder gar an der größten Person eines Benutzerkreises orientieren würde. Dort abgestellte Bücher könnten dann nur noch von den großen Menschen problemlos gelesen werden. In Bezug auf die anthropometrische Gestaltung sind zwischen inneren und äußeren Maßen des Arbeitsplatzes zu unterscheiden: Als Innenmaße werden die Abmessungen bezeichnet, die mindestens notwendig sind, um auch den größten Personen ein ungehindertes Arbeiten zu ermöglichen (z.B. Kniefreiheit zwischen Tisch und Stuhl, siehe Abb. 10.60). Als äußere Maße bezeichnet man Abmessungen, die eingehalten werden müssen, um auch den kleinsten zu berücksichtigenden
1044
Arbeitswissenschaft
Personen ein ungehindertes Arbeiten zu ermöglichen (z.B. Abstand zu Griffen, Werkzeugen, Vorratsbehältern). Bei der Gestaltung der Arbeitsplätze wird deutlich, dass ein Einhalten aller Forderungen, insbesondere im Hinblick auf die Bequemlichkeit der Körperhaltung, nur sehr selten ohne die individuelle Anpassung einzelner Arbeitsplatzelemente (z.B. verstellbare Stühle und Tische, Fußpodeste) möglich ist. Da die vollständige Realisierung solcher Verhältnisse in der Praxis auf große Schwierigkeiten stößt, wurden Kompromisslösungen für eine Vielzahl verbreiteter Fragestellungen erarbeitet, auf die zunächst zurückgegriffen werden kann (z.B. SCHMIDTKE 1993). So ergibt sich für die Anthropometrie die einfache Gestaltungsregel (Abb. 10.60):
x Innere Maße orientieren sich an der größten Person x Äußere Maße orientieren sich an der kleinsten Person.
Abb. 10.60: Vereinfache Darstellung der falschen (oben, für eine durchschnittliche Gestalt) und richtigen (unten, für die größte und kleinste Gestalt) Ableitung der inneren und äußeren Abmessungen eines Arbeitsplatzes (ROHMERT 1992; nachgezeichnet SCHAUB, 1988)
Ergonomische Gestaltung
1045
Nun stellt sich aber die Frage, was unter der kleinsten bzw. größten Person eines Benutzerkreises zu verstehen ist. Aus technischen Gründen ist es sicher nicht sinnvoll, die gesamte – in der Bevölkerung auftretende – Varianz zu berücksichtigen. Wollte der Konstrukteur nahezu 100% der Bevölkerung bei seiner Konstruktion beachten, so wäre für die Körperhöhe eine Differenz von 80 cm (210-130 cm) in Ansatz zu bringen. Eine Reduzierung der Bevölkerung auf das 1. bis 99. Perzentil würde die Variationsbreite bereits auf etwa 40 cm einschränken, eine Begrenzung auf das 5. bis 95. Perzentil gar auf etwa 30 cm. Nun hängt die Eingrenzung der Personengruppe sicherlich von der jeweiligen Anwendung der Konstruktion ab. Angesichts der großen Anzahl der in der Praxis vorkommenden Aufgaben für die räumliche Gestaltung wird im Folgenden an einem Beispiel die Bedeutung der Funktionsräume und ihr Zusammenhang bei der Lösung von Gestaltungsaufgaben verdeutlicht. Aus der nachfolgenden Abbildung (Abb. 10.61) geht eine vereinfachte, schrittweise Entwicklung eines idealisierten Näharbeitsplatzes hervor (siehe LANDAU u. STÜBLER 1992): (1) In der Seitenansicht der Nähmaschine wird der Verlauf der Blicklinien in der Körper-Symmetrieebene ermittelt (Abb. 10.61). Im gegebenen Fall wird eine erforderliche Entfernung von ca. 350 mm und ein Einfallwinkel der Blicklinie zur Horizontalen von ca. 45 Grad angenommen. Daraus ergibt sich in der Seitenansicht die räumliche Zuordnung des Augenpunktes (AP) relativ zum Arbeitsobjekt (Nadel), der hier gleichzeitig auch den Mittelpunkt des manuellen Arbeitsbereiches darstellt. (2) Im zweiten Gestaltungsschritt wird unter Zugrundelegung einer aufrechten, sitzenden Körperhaltung (Bezugspunkte: Augenpunkt und Nadel) und einer horizontalen Tischfläche die Grundanordnung des Arbeitsplatzes für die Körpergröße von 1500 mm (kleine Frau) abgeleitet. (3) Als zu berücksichtigender Körpergrößenbereich wird im gegebenen Fall der Körpergrößenbereich der Frauen von 1500 - 1760 mm angenommen und der Gestaltungsschritt 2 analog für die Körpergröße von 1760 mm nachvollzogen. Die Annahme ist, dass für beide extreme Körpergrößen die Fußbodenebene als gemeinsame Bezugsebene gewählt wurde. (4) Ausgehend aus der resultierenden Armhaltung (unter Annahme einer Armabstützung auf dem Arbeitstisch im Ellbogenbereich) können die Bewegungslinien auf dem Arbeitstisch konstruiert werden, die sich aus der Rotation der Unterarme ergeben (siehe Abb. 10.62 Linie RU in der Draufsicht). Darüber hinaus können auch die Grenzen der maximalen Greifräume bei ausgestreckten Armen abgeleitet werden (siehe Linie AA in der Draufsicht). (5) Die erforderlichen Arbeits- bzw. Stützflächen mit ihren Verstellbereichen gehen aus den Abbildungen hervor. Das Ergebnis ist ein höhenverstellbarer Arbeitstisch.
1046
Arbeitswissenschaft
Abb. 10.61: Körpergrößenbereiche für eine kleine und eine große Frau (LANDAU u. STÜBLER 1992)
Abb. 10.62: Draufsicht eines mit Greifräumen idealisierten Näharbeitsplatzes (LANDAU u. STÜBLER 1992)
Bei der Gestaltung von Arbeitsplätzen kann man zusammenfassend sagen, dass anhand eines skizzenhaften Layouts zunächst die Positionen und Greif- bzw. Funktionsräume für die kleinste und für die größte zu berücksichtigende Person bestimmt werden. Dabei erhält man Bereiche, die von beiden Personen erreicht werden können. Streng genommen dürften Arbeitsmittel, Stellteile etc. nur in diesem sog. Überdeckungsbereich platziert werden. Es ist zu beachten, dass zunächst rein geometrische Bereiche erarbeitet werden und diese noch keine endgültige Aussage über die Bequemlichkeit erlauben. Deshalb sind diese Bereiche jeweils anhand der konkreten Tätigkeit kritisch zu überprüfen.
Ergonomische Gestaltung
1047
10.1.3.3.1 Verstellbarkeit der Arbeitsplatzelemente Um die maßlichen Unterschiede zwischen den individuellen Körpermaßen und der räumlichen Anordnung der Stellteile und Anzeigegeräte auszugleichen bzw. um den Arbeitsplatz den individuellen anthropometrischen Anforderungen anzupassen, muss eine Verstellbarkeit der Arbeitsplatzelemente vorgesehen werden. Als ,,Arbeitsplatzelemente“ gelten alle konstruktiven Teile des Arbeitsplatzes, besonders die einzelnen Stützflächen des Körpers (Podeste beim Arbeitssitz, die Sitzfläche, Rückenlehne, Armlehne, Kopflehne, Fußstütze), ferner aber auch Kontaktteile der Stellteile (Handgriffe, Tretflächen) und andere Teile, die den gleichen Effekt der ,,Anpassung“ erzielen sollen, wie z.B. die Verstellbarkeit der Lenksäule in der Neigung und Länge. Erst auf diese Weise, d.h. durch Anwendung verschiedener Nachstellbarkeit, kann der Arbeitsplatz individuell anpassbar werden. Zu einem „Arbeitsplatz nach Maß“ kann der verstellbar konstruierte Arbeitslatz allerdings erst dann werden, wenn er individuell ausprobiert wird. Der bestkonstruierte Arbeitsplatz bringt kaum Nutzen, wenn er nicht richtig verwendet und individuell eingestellt wird. Aus diesen Tatsachen folgen besondere Anforderungen an die Ausführung und Anwendung der ,,Verstellbarkeit“, die häufig auch dann, wenn sie gegeben ist, in der Praxis nicht in jedem Fall auch richtig genutzt wird. Die elf wichtigsten Regeln für die Verstellbarkeit der Arbeitsplatzelemente können folgendermaßen formuliert werden: (1) Der Benutzer soll über Sinn und Vorteil der Verstellbarkeit informiert werden. Genügend instruktives Material (Abbildungen, Anleitung) muss zur Verfügung stehen. (2) Die Anwendung der verstellbaren Elemente soll vorgeführt und geübt werden. (3) So wie die oder der ,,Neue“ in seiner Arbeit eingewiesen werden soll, so sollen an sie oder ihn auch die verstellbaren Elemente angepasst werden. Dazu muss in Ruhe und sorgfältig getestet und die für ihn optimale Einstellung gefunden werden. (4) Die individuell gefundenen Einstellwerte sollten normiert, markiert und bezeichnet werden, damit die Arbeitsperson diese persönlichen Werte nicht vergisst und damit der Schichtarbeiter nicht jeden Tag von neuem seine Einstellung mühsam ausprobieren muss, sondern gleich seine Marken einstellen kann. (5) Die Verstellbereiche müssen aus einer gründlichen somatografischen Studie der in Frage kommenden Gruppe von Arbeitspersonen abgeleitet werden. (6) Die Verstellbarkeit muss konstruktiv einfach, absolut zuverlässig und funktionell sein. (7) Die Verstellung selbst darf keinen größeren Kraftaufwand verlangen. (8) Das Lösen und Anziehen der Verstellorgane muss einfach durchführbar sein, am besten ohne Schraubenschlüssel, direkt von der Hand mittels Flügelmutter, Sternhandgriff oder geriffelten Handrädchen. Alle derartigen Verstelltei-
1048
Arbeitswissenschaft
le müssen genügend groß sein, um unzulässige Pressungen an der Handfläche zu vermeiden. (9) Die Stellteile müssen in allen Stellungen bequem und leicht zugänglich und erfassbar sein (an Arbeitssitzen in sitzender Haltung). Genügend freier Raum in ihrer Nähe ist vorzusehen, um Verletzungen von Handknöcheln beim Anfassen oder beim Bewegungsablauf zu vermeiden. (10) Genügend große Passflächen sind zu wählen (Durchmesser, Gewinde möglichst in Trapezform), um vorzeitigen Verschleiß und Verklemmungen zu vermeiden. (11) Im ganzen Bereich der Verstellungen sind Skalen oder Markierungen anzubringen und der bewegliche Teil ist mit einem einfachen Zeiger zu versehen, der deutlich die eingestellte Lage erkennen lässt. Die sinnvolle Umsetzung der Verstellmöglichkeiten bedingt eine Bewertung der möglichen Körperhaltungen nach objektiven Kriterien. Die geometrischen Auslegungen der hier behandelten Körperunterstützungen müssen systematisch in eine Beziehung gebracht werden. Besondere Bedeutung hat das bei Arbeitsplätzen, an denen ein Wechsel zwischen Sitzen und Stehen möglich sein soll, so genannten Steh-Sitz-Arbeitsplätzen. Gängige Fachmeinung ist, einen häufigen Wechsel zwischen Stehen und Sitzen zu ermöglichen, weil auch durch Gewöhnung keine Anpassung des Menschen an dauerndes Stehen oder ungünstiges Sitzen möglich ist (STRÖDER 1991). Das praktische Problem bei SitzSteh-Arbeitsplätzen ist jedoch die Interdependenz zwischen Körpergröße, Arbeitsflächenhöhe und Arbeitssitzhöhe (STRÖDER, 1991). Dieses Trilemma ist nur lösbar, wenn die Arbeitsflächenhöhe für das Stehen ausgelegt wird und beim Sitzen die Arbeitssitzfläche in eine relativ hohe Sitzposition zu bringen ist (siehe DIN 68877). Deshalb ist neben dem Arbeitssitz auch die Arbeitsfläche zu betrachten. Weiterhin sind Entlastungsmöglichkeiten beim Stehen, Unterstützungen für die Füße, ggf. auch für die Arme und Hände zu berücksichtigen (siehe. Abb. 10.63). Körperunterstützung
Rücken, Gesäß, Oberschenkel
Arme, Hände
beim Sitzen
beim Stehen
Konsolsitze
starre Stehhilfe
Arbeitsflächen
Arbeitssitze
pendelnd gelagerte Stehhilfe
Arm- und Handstützen
Füße
Fußstützen
Kniesitze
Abb. 10.63: Übersicht zu den Körperunterstützungen (nach ROHMERT 1983b)
Ergonomische Gestaltung
1049
In den folgenden Abschnitten wird kurz erläutert, mit welchen Ausstattungsmitteln Körperunterstützungen zu erreichen sind. 10.1.3.3.2 Arbeitssitze
Sitzwinkel und Sitzstellung Bei sitzender Körperhaltung werden in der Literatur überwiegend drei Sitzgrundstellungen unterschieden: (1) nach vorn gebeugter Oberkörper (Schreibhaltung) (2) senkrecht aufrechter Oberkörper (3) nach hinten angelehnter Oberkörper. Je nach Sitzstellung entstehen andersartige Belastungen: x Bei entspannter, leicht nach vorn gebeugter Rumpfstellung wird die Rückenmuskulatur am geringsten belastet; der Bandscheibeninnendruck wird bei der dabei entstehenden Kyphosetendenz erhöht (siehe Abb. 10.64). x Bei aufrechter Rumpfstellung wird die Rückenmuskulatur höher belastet; der Bandscheibeninnendruck wird dabei reduziert.
0,3 0,1
Bandscheibeninnendruck EMG-Aktivität der Rückenmuskulatur
30
20
0 -0,1 10 -0,3 -0,5 0
EMG-Aktivität der Rücckenmuskulatur beim Th8 [ȝV]
Normalisierter Bandschheibeninnendruck beim L3/L4 [Mpa]
0,5
0
Abb. 10.64: Einfluss des Sitzwinkels auf den Bandscheibeninnendruck (gerasterte Säulen) und die EMG- Aktivität der Rückenmuskulatur (ungerasterte Säulen), nach NACHEMSON u. ELFSTRÖM (1970) und ANDERSON u. ÖRTENGREN (1974)
Die meisten Menschen entscheiden sich bei diesem Dilemma für eine möglichst häufige Einnahme der erstgenannten Sitzstellung, weil die Muskulaturbelastung schnell als unangenehm empfunden wird. Bandscheibenbelastungen werden dagegen häufig erst dann als unangenehm registriert, wenn es bereits zu Schädigungen gekommen ist. Für die Gestaltung und Auswahl von Sitzen ist es deshalb wichtig, dass ein dynamisches Sitzen möglich ist, d.h. ein häufiger Wechsel zwischen verschiedenen Sitzstellungen.
1050
Arbeitswissenschaft
In Studien von NACHEMSON u. ELFSTRÖM (1970) sowie ANDERSON u. ÖRTENGREN (1974) wurden nicht nur die Auswirkung verschiedener Körperhaltungen, sondern auch von verschiedenen Sitzstellungen auf den Bandscheibeninnendruck untersucht. Abb. 10.64 ist zu entnehmen, welchen Einfluss der Sitzwinkel (Winkel zwischen Rückenlehne und Sitzfläche) hat: Erstens auf den Bandscheibeninnendruck beim 3./4. Lendenwirbel und zweitens auf die elektrische Aktivität der Rückenmuskulatur in Höhe des 8. Brustwirbels. Der Bandscheibeninnendruck ist in den schwedischen Veröffentlichungen in MPa angegeben (1 MPa § 102 N/cm2). Der Referenzdruck von 0 wurde bei einem Sitzwinkel von 90° ermittelt und entspricht etwa 0,5 MPa bzw. 51 N/cm2. Abb. 10.65 zeigt den Einfluss verschiedener Rumpfstellungen und Armhaltungen auf den Bandscheibeninnendruck. Normalisierter Bandschheibeninnendruck beim L3/L4 [Mpa]
0,2
0,1
0
-0,1
Rücken entspannt
Schreibhaltung
hängende Arne
Maschinenschreiben
Gewicht halten
Abb. 10.65: Einfluss der Rumpfstellung und Armhaltung auf den Bandscheibeninnendruck, nach NACHEMSON u. ELFSTRÖM (1970) und ANDERSON u. ÖRTENGREN (1974)
Aus beiden Abbildungen ist zu schließen, dass
x durch Anlehnen des Rumpfes unter stumpfem Sitzwinkel an eine Rückenlehne die Bandscheiben um einen Teil des Oberkörper-Lastengewichts entlastet werden und x mit stumpfer werdendem Sitzwinkel und Nutzung einer Rückenlehne die Belastung der Rückenmuskulatur abnimmt. Deshalb kommt es bei sitzender Arbeitsweise darauf an, dass die konstruktive Auslegung des Arbeitssitzes eine nutzeradäquate Verwendung überhaupt zulässt und der Arbeitssitz seiner technischen Möglichkeit entsprechend zweckmäßig genutzt wird.
Ergonomische Gestaltung
1051
10.1.3.3.3 Ausstattungselemente von Arbeitssitzen
Sitzfläche Durch zweckmäßige Gestaltung der Sitzflächenform soll der Druck auf das Körpergewebe möglichst gering gehalten werden. Die beiden wichtigsten Maße der Sitzfläche sind Sitztiefe und Sitzbreite. Die quantitativen und qualitativen Angaben sind in DIN 1335-2 enthalten. Auch die Massenverteilung der Hinterbacken ist zur Minimierung der Flächenpressung zu berücksichtigen, was aus Sitzreliefstudien abzuleiten ist. Rückenlehne Bei vorderer Sitzstellung sind Rückenstützen nicht erforderlich. Bei hinterer Sitzstellung und in Ruhepausen, wenn der Rumpf zur Entspannung nach hinten gelehnt wird, dienen sie dazu, Kyphose und Beckenrückdrehung zu begrenzen und die Muskulatur zu entlasten. Für die Massenverteilung sind wiederum Lendenlordosenstützen empfohlen, um den Komfort zu steigern. Einige Stuhlmodelle verfügen über ergonomisch geformte Zonen auf der Rückenlehne, die mit unterschiedlichen Polsterhärten die Rückenmuskulatur stimulieren sollen. Auf dem Markt gibt es bspw. auch zweigeteilte Rückenlehnen, die sich durch Höhen- und Breiteneinstellung flexibel an den Benutzer oder die Benutzerin anpassen (siehe auch WITTIG-GOETZ 2004). Die vier wichtigsten Maße der Rückenlehne sind: (1) Rückenlehnenhöhe (DIN 1335-2: Abstand zwischen Ober- und Unterkante der Lehne, in der Mitte der Breite) (2) Rückenlehnenbreite (DIN 1335-2: größter waagrechter Abstand zwischen den Seitenkanten der Lehne) (3) Höhe des Abstützpunktes über dem Sitz (DIN 1335-2: senkrechter Abstand des Abstützpunktes der Rückenlehne von der Sitzfläche, gemessen am Schnittpunkt von Drehachse und Sitzfläche, bei der von einer halbkugelförmigen Gewichtslast von 600 N mit einem Durchmesser von 350 mm niedergedrückten Polsterung ausgegangen wird) (4) größte Ausladung der Rückenlehne (DIN 1335-2: horizontaler Abstand des Abstützpunktes der Rückenlehne von der Drehachse des Stuhles). Das Kippsicherheitsmaß (Abstand des Abstützpunktes der Rückenseite von der Drehachse des Stuhls) ist zu beachten, um beim Verlagern des Körperschwerpunktes nach hinten die Standsicherheit des Arbeitssitzes nicht zu gefährden. Armauflagen Armauflagen sollen eine zusätzliche Stützhilfe beim Sitzen sein, indem sie Schulter- und Oberarmmuskulatur von statischer Haltungsarbeit entlasten. Sie sollen die Bewegungsfreiheit der Arme und Hände nicht beeinträchtigen und beim Auflegen der Unterarme keine nennenswerte Flächenpressung bewirken. Die Armstützen sind oft von Nutzen bei Tätigkeiten, die Genauigkeit und eine ruhige Hand oder ungünstige Hand- und Armhaltungen erfordern (z.B. Montagearbeitsplätze, Büro-
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Arbeitswissenschaft
plätze). Je nach Anwendung und Arbeitsplatztyp werden sie überwiegend auf der Arbeitsfläche (siehe Abb. 10.66) oder am Sitz (siehe Tabelle 10.12) angebracht.
Abb. 10.66: Armauflage an der Arbeitsfläche; Armauflagen am Sitz
Armauflagen werden oft eher als hinderlich empfunden, weil zu einem hohen Zeitanteil in vorderer Sitzstellung gearbeitet wird oder sich mancher durch die Armauflagen eingeengt fühlt. Die wichtigsten Maße bei den Armauflagen sind in der DIN 1335-2 sowie BGI 650 enthalten. Tabelle 10.12: (nach BGI 650)
Gestaltungsanforderungen
für
Armstützen
am
Arbeitsstuhl
Merkmale
Qualitative / quantitative Anforderungen
Länge der Armauflagen
mindestens 200 mm
Breite der Armauflagen
mindestens 40 mm
Höhe der Armauflagen über dem Sitz
Fest; h=200 mm bis 250 mm Verstellbar: 200 mm bis 250 mm
Abstand der Armauflagen von der Vorderkante der Sitzfläche
mindestens 100 mm
Lichte Weite zwischen den Arm-auflagen
460 mm bis 510 mm
Stellteile des Arbeitsstuhls Die Stellteile bei Arbeitsstühlen dienen der individuellen Einstellung von: (1) Sitzhöhe (2) Sitzflächenneigung (3) Rückenstützenhöhe und -tiefe (4) Lendenbauschhöhe (5) Synchronmechanismus.
Ergonomische Gestaltung
1053
Die Stellteile sollen einfach, leicht, ohne Verletzungsgefahr, sinnfällig und im Sitzen zu handhaben sein. Sie sollten stufenlos verstellbar sein, um den Arbeitssitz genau an die individuellen Bedürfnisse der Benutzer anpassen zu können.
Untergestell Das Untergestell muss zwei Anforderungen erfüllen: (1) Standsicherheit des Arbeitssitzes (kein Kippen oder Wegrollen) gewährleisten (2) Wechsel des Standortes ermöglichen. Dabei sind vier konstruktive Elemente näher zu betrachten: Rollen und Gleiter, Fußkreuz, Stuhlsäule sowie Fußstütze. Die meisten heute angebotenen Arbeitssitze lassen wahlweise die Verwendung von Gleitern, z.B. wenn der Sitz gegen Verschieben zu sichern ist, oder Rollen zu. Das Fußkreuz soll so weit ausgelegt sein, dass ein Kippen vermieden wird, ohne durch eine zu weite Auslage zu einer erheblichen Stolpergefahr zu führen (siehe DIN 1335-2). Je nach Höhe der Arbeitsfläche ist es notwendig, anstelle des Fußbodens als Ersatz-Unterstützungsfläche eine Fußstütze zu benutzen. Am zweckmäßigsten sind am Arbeitstisch angebrachte, verstellbare Fußstützen. Lässt sich das nicht verwirklichen, ist eine am Arbeitssitz befestigte, horizontal, vertikal und im Neigungswinkel verstellbare Fußstütze zweckmäßig. Bei hohen Arbeitssitzen dient diese für kleine Personen auch als Aufstieghilfe. Die Fußstütze sollte zur Sitzfläche hin verstellbar (individuelle Grundeinstellung), aber auch parallel zu dieser zu verstellen sein. Wird sie nicht benötigt, sollte sie leicht hochzuklappen oder abzunehmen sein. Kniesitze Kniesitze (siehe Abb. 10.67), auch als Balancesitze bezeichnet, werden insbesondere von skandinavischen Entwicklern und Herstellern propagiert. Im Produktionsbereich werden sie gar nicht, im Bürobereich selten verwendet. Kniesitze sind durch zwei konstruktive Merkmale gekennzeichnet: (1) Eine nach vorn geneigte Sitzfläche (besser Abstützfläche) sorgt dafür, dass gegenüber dem Sitzen auf einer mehr oder weniger ebenen Sitzfläche keine Beckenrückdehnung und keine daraus resultierende Kyphose entsteht. (2) Die Körperlast wird mit den Knien abgefangen, was zu einer entsprechenden Flächenpressung im Kniebereich führt. Im Gegensatz zu den Stehhilfen wirkt das Körpergewicht nicht auf die Füße, sondern überwiegend auf die Knie. Neben dem Vermeiden einer Kyphose wird durch diese Sitzhaltung eine bessere Durchblutung der inneren Organe erreicht. Als Nachteil gelten neben dem relativ hohen Druck im Kniebereich eine erschwerte Durchblutung der Beine.
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Arbeitswissenschaft
Abb. 10.67: Kniesitz
Positive Erfahrungen aus dem Einsatz von Kniesitzen liegen bei Personen mit Bandscheibenvorfällen vor. Darüber hinaus scheint die derzeit überwiegende Meinung zu sein, dass Kniesitze im Bürobereich eine zeitweilige, jedoch keine vollständige Alternative zu Arbeitssitzen sind.
Stehhilfen Auch wenn an vielen Arbeitsplätzen ein Sitzen nicht möglich ist, lassen sich gelegentlich dennoch Körperunterstützungen verwenden, um die Bein- und Rückenmuskulatur zu entlasten. Diese werden als Stehhilfen (Stehsitze) bezeichnet. Eine Studie von WINDBERG et al. (1982) stellt zusammengefasste Erkenntnisse für Stehhilfen dar. In Abb. 10.68 sind zwei Beispiele für starre und ein Beispiel für eine pendelnd gelagerte Stehhilfe dargestellt.
Abb. 10.68: Beispiele für starre und pendelnd gelagerte Stehhilfen
Ergonomische Gestaltung
1055
Eine Rückenabstützung ist beim Einsatz von Stehhilfen nicht erforderlich. Die bei Stehhilfen sinnvolle Körperstellung erfordert nur eine Gesäßabstützung. Bereits WINDBERG et al. (1982) haben ermittelt, dass der Greifbereich bei pendelnd gelagerten Stehhilfen nicht größer als bei starren Stehhilfen ist. Da sie nach heutigem Erkenntnisstand eher zum Umkippen, Wegrutschen oder nur zu höherem Unsicherheitsgefühl führen, sollte man starre Stehhilfen bevorzugen. Beim Verwenden von Stehhilfen ist der Greifbereich, entgegen verbreiteter Auffassung, gegenüber dem Stehen nicht eingeschränkt, wenn ein ausreichender Bein- und Fußfreiraum vorhanden ist. Da der Körper durch schräg nach vorn gestellte Beine abgestützt wird, würde ohne diesen Freiraum der Abstand von der Arbeitsfläche so groß, dass der Greifraum auf der Arbeitsfläche tatsächlich kleiner als beim Stehen wird. Um ein Wegrutschen der Stehhilfe und der Füße der Benutzer zu verhindern, muss der Bodenbelag rutschfest sein.
Fußstützen Fußstützen sind seit langem als Mittel zum Ausgleich von Sitzfläche und Fußbodenebene bekannt. Eine Vorläuferin der heutigen Fußstützen war die Fußbank. Fußstützen werden eingesetzt, um: x bei gegebener Arbeitsflächenhöhe insbesondere kleinen Personen ein Abstützen der Füße zu ermöglichen und x auch kleinen Personen das Sitzen mit nach vorn ausgestreckten Unterschenkeln (stumpfer Winkel im Kniegelenk) und damit eine minimale Flächenpressung des Gesäßes zu ermöglichen. Ein Verzicht auf Fußstützen kann zu einer Zunahme des Beinvolumens, also zu einem reduzierten Kapillar-Innendruck in den Blutgefäßen der Beine führen. Abb. 10.69 ist zu entnehmen, dass mit zunehmender Arbeitshöhe auch der Anteil derjenigen zunimmt, die eine Fußstütze benötigen.
Abb. 10.69: Abhängigkeit des Anteils der Personen, die eine Fußstütze benötigen, von der Arbeitsflächenhöhe (nach PETERS 1976)
1056
Arbeitswissenschaft
In DIN 4556 sind Anforderungen an Fußstützen für Büroarbeitsplätze formuliert. In der Praxis werden Fußstützen leider häufig nicht genutzt.
Arm- und Handstützen Zweck von Armauflagen bei Arbeitssitzen ist die Entlastung der Arme bei hinterer Sitzstellung, z.B. bei Überwachungsaufgaben. Bei vorderer Sitzstellung können Armauflagen zweckmäßig sein, wenn die Unterarme bei feinmotorischen Tätigkeiten (z.B. Mikroskopierarbeiten) abgestützt werden, um den Handtremor auszugleichen oder die Belastung durch statische Haltearbeit zu reduzieren. Derartige Arm- und Handstützen werden im Allgemeinen auf der Arbeitsfläche angebracht. Arm- und Handstützen werden in der Praxis selten eingesetzt und haben vermutlich deshalb eine geringe Akzeptanz, weil sich die Benutzer dadurch mehr in ihrer Bewegungsfreiheit eingeengt als unterstützt fühlen. Arbeitsflächen Als Arbeitsflächen werden (Schreib-)Tische, Werkbänke, Konsolen, Pulte u. ä. bezeichnet, an denen in stehender, angelehnter oder sitzender Körperhaltung Arbeitsgegenstände manipuliert werden. Auch Arbeitsgegenstände können Arbeitsflächen sein, z.B. bei Montagen, wenn Werkstücke auf Werkstückträgereinrichtungen gefördert werden. Arbeitsflächen werden auch zum Auflegen von Armen und Händen benutzt und sind von daher Körperunterstützungen. Maßgebend für die Arbeitsflächenhöhe ist nicht die Tisch- oder Werkstückträgerhöhe, sondern die Einwirkungsstelle des Menschen am Arbeitsgegenstand. Beim Auslegen von Arbeitsflächen sind insbesondere folgende Aspekte zu beachten (siehe auch SCHMIDTKE 1989): x Körperhaltung (sitzend, stehend) und -stellung der Benutzer x maximaler und funktioneller Greifraum der Benutzer x Höhe der Vorrichtungen und darin fixierten Arbeitsgegenstände über der Arbeitsfläche x erforderlicher Bein- und Fußfreiraum x Oberflächeneigenschaften der Arbeitsfläche. Zusätzliche Probleme beim Festlegen von Arbeitsflächenhöhen ergeben sich wenn x im Stehen und Sitzen gearbeitet wird (Lösung: fürs Stehen auslegen), x verschiedene Personen, evtl. auch beiderlei Geschlechts, tätig sind (Lösung: nach größter Person auslegen) oder x die Abmessung zu bearbeitender Arbeitsgegenstände erheblich differieren (Lösung: nach den Abmessungen der am häufigsten bearbeiteten Teile auslegen). JÜRGENS et al. (1976) haben festgestellt, dass geschlechtsspezifische Differenzierungen von Arbeitsflächen- und Fußstützenhöhen zu keiner wesentlichen Reduzierung, eine Differenzierung nach fein- und grobmotorischen Arbeiten dage-
Ergonomische Gestaltung
1057
gen zu einer deutlichen Reduzierung der erforderlichen Verstellmöglichkeiten (Tabelle 10.13) führen. Die notwendige Höhe der Arbeitsfläche hängt ab von
x den Sehanforderungen (Sichtgeometrie), x der Art muskulärer Belastung (fein- oder grobmotorische Arbeit), x der Körperhaltung (sitzen oder stehen) und x der Höhe eventueller Vorrichtungen und Arbeitsgegenstände auf der Fläche. Bei Arbeitsplätzen, an denen im Sitzen gearbeitet wird, ist ein Höhenausgleich durch Anpassung der Sitzhöhe an die Arbeitsflächenhöhe möglich. Bei stehender Arbeit werden dagegen Anpassungen der Arbeitsflächen- oder Fußbodenhöhe um so eher erforderlich, je stärker die Körperhöhen der Benutzer streuen. Tabelle 10.13: Abhängigkeit der Arbeitsflächenhöhe bei sitzender Tätigkeit von der Benutzergruppe und der Art der Arbeit (nach Jürgens et al. 1976) Gestaltungs-
männliche Nutzer
weibliche Nutzer
parameter
(Maße in mm)
(Maße in mm)
Höhe der Arbeitsfläche Verstellbereich der Sitzfläche Verstellbereich der Fußstützen
undifferenziert
Fein-
Grob-
Grob-
Grob-
motorische
motorische
motorische
motorische
Arbeit
Arbeit
Arbeit
Arbeit
850
775
800
725
850
500-575
500-650
0-175
0-300
10.1.3.4 ĆHilfsmittelĆzurĆanthropometrischenĆGestaltungĆ Für die anthropometrische Gestaltung von Arbeitsplätzen existieren eine Reihe von sog. somatografischen Hilfsmitteln (Somatografie, griechisch: Körperzeichnen), die als
x Schablonen-Somatografie, x Video-Somatografie und x Computergestützte Somatografie bekannt sind (siehe auch ELIAS u. ISTANBULI o.J.). Schablonen wurden im Maßstab 1:10 von der Fa. Bosch (JENNER 1985) für vier markante Körperhöhen angeboten (Abb. 10.70). Sie zeigen die menschliche Gestalt in der Seitenansicht, in der Vorderansicht und in der Draufsicht. Die Angabe von Gelenkmittelpunkten erlaubt eine einfache Darstellung verschiedener Körperstellungen zur Überprüfung der maßlichen Gestaltung von Arbeitsplätzen. Genaueres Arbeiten ist mit den „Kieler Puppen“ im Maßstab 1:5 und 1:1 möglich (Abb. 10.71, DIN 33 408). Sie berücksichtigen Proportionsunterschiede von Männern und Frauen (deshalb sechs Schablonen für je drei markante Körperhöhen) und erlauben durch die detailliertere Ausarbeitung der Gelenke (Bahnkur-
1058
Arbeitswissenschaft
ven) wesentlich genauere Zeichnungen. Die Kieler Puppen werden hauptsächlich für die Anwendung bei Sitzarbeitsplätzen verwendet; Zusatzteile erlauben auch die Darstellung stehender Personen.
Abb. 10.70: Bosch-Schablone (links) und Jenik-Schablone (rechts) im Maßstab 1:10 für den 50.-Perzentil-Mann in Draufsicht, Frontalansicht und Seitenaufriss (nach JENIK 1974)
Abb. 10.71: Gelenkwinkel nach dem funktionstechnischen Maßsystem in Seitenansicht, Vorderansicht und Draufsicht (nach DIN 33 408 – „Kieler Puppen“)
Grundsätzliche Probleme bei der Anwendung von mechanischen Schablonenverfahren liegen in der
x Berücksichtigung unterschiedlicher Körperproportionen (z.B. „Sitzriesen“ und „Sitzzwerge“ mit gleicher Körperhöhe),
Ergonomische Gestaltung
1059
x Berücksichtigung der Gelenkstellung (da nur eine ebene Projektion der räumlichen Körperhaltung erzeugt wird) sowie x Abhängigkeit mehrerer Gelenkstellungen voneinander (z.B. zur Aufrechterhaltung des Körpergleichgewichts). Abb. 10.72 stellt das Beispiel einer somatografischen Analyse zur Überprüfung der räumlichen Bedingungen eines Montagearbeitsplatzes nach ROHMERT et al. (1976) dar.
Abb. 10.72 Beispiel einer somatografischen Analyse eines Montagearbeitsplatzes (nach ROHMERT et al. 1976)
Die genannten Verfahren erlauben zwar eine mehr oder weniger detaillierte maßliche Konzeption eines Arbeitsplatzes, beziehen jedoch keine realen Personen ein, die beispielsweise über die rein geometrischen Bewegungsbereiche hinaus Angaben über Bequemlichkeit oder Komfort einer Arbeitshaltung machen können. Darüber hinaus scheitert deren Anwendung bei normabweichenden persönlichen Verhältnissen, die zum Beispiel bei körperbehinderten Menschen vorliegen. Diese Nachteile können mit der Video-Somatografie (siehe Abb. 10.73) vermieden werden (MARTIN 1981). Hierbei wird das Videobild einer Versuchsperson dem einer Zeichnung oder eines Modells des geplanten Arbeitsplatzes maßstäblich überlagert. Über einen Kontrollmonitor kann die Versuchsperson dabei ihre Bewegungen koordinieren. Somit ist es möglich, die Gestaltung eines Arbeitsplatzes ohne die Anfertigung von realen Modellen durch einfache Verschiebung oder Veränderung der Zeichnung zu prüfen und zu optimieren.
1060
Arbeitswissenschaft
Abb. 10.73: Schematische Darstellung der Video-Somatografie (MARTIN 1981)
In einer computergestützten Variante kann anstelle des Videobildes mit der Zeichnung auch das CAD-Modell eines Arbeitsplatzes eingeblendet und dem Sichtfeld der Versuchsperson überlagert werden, womit eine computergestützte Konstruktion auf direktem Wege experimentell überprüft werden kann. Man spricht auch von sog. Erweiterter Realität, die in Kapitel 10.1.2.1.3.2 aus Sicht der informatorischen Gestaltung bereits erläutert wurde. Problematisch bei der Anwendung der Video-Somatografie ist bei Arbeitssystemen mit Arbeitsplatzwechsel die Bereitstellung eines repräsentativen Personenkollektivs sowie die fehlende Möglichkeit der Kraftausübung und -aufnahme. Eine repräsentative Analyse ist mit Hilfe der computergestützten Somatografie über die zwei- oder dreidimensionale Abbildung des Menschen als geometrisches Modell (Draht-, Flächen- oder Volumenmodell) möglich (Abb. 10.74). Durch entsprechende Funktionen lässt sich die Auflösung variieren (z.B. Bewegungen des gesamten Körpers oder Untersuchungen einzelner Finger), ebenso können Bewegungen simuliert werden. Ein für die Arbeitsplatzgestaltung sehr interessanter Ansatz liegt in der Kombination von digitalen Menschmodellen (digital human model) mit biomechanischen Modellen (z.B. zur Berechnung des Gleichgewichtszustandes, der Wirbelsäulenbelastung und des Drucks auf die inneren Organe) und Datenbanken zur Komfortabschätzung, für die, trotz erheblicher Schwierigkeiten
Ergonomische Gestaltung
1061
bezüglich der Integration und Extrapolation der gespeicherten Informationen, in der Forschung gegenwärtig mehrere Prototypen entwickelt werden.
Abb. 10.74: Einsatz des Menschmodells „ERGOMan“ in der Autoproduktion (aus LANDAU 1996)
Digitale Menschmodelle
Historische Entwicklung Digitale Menschmodelle sind dreidimensionale, modellhafte Abbilder des menschlichen Körpers. Seit den 1960er Jahren wurden im Laufe der Zeit viele Modelle entwickelt, die teilweise wieder eingestellt, teilweise zusammengeführt oder in andere Modelle integriert wurden. Es entstanden so Softwarelösungen historisch bedeutender Modelle wie Anthropos ErgoMAX, BoeMan, CombiMan, CyberMan, ERGOMan, Franky, HEINER, Safework, oder TEMPUS. Zu diesen und anderen Modellen sind zusammenfassende Beschreibungen und Darstellungen u.A. in SCHAUB (1988), GILL (1998), LANDAU et al. (1997), CHAFFIN (2001, 2005), MÜHLSTEDT et al. (2008) zu finden. Die industriell relevanten digitalen Menschmodelle haben vielfach gemeinsame Eigenschaften und Funktionen. Aufgebaut aus einem Skelettmodell und einer Hüllfläche, die Haut bzw. Kleidung darstellt, sind die Modelle durch Vorwärtskinematik, inverse Kinematik oder Zugriff auf eine Haltungs-Datenbank
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Arbeitswissenschaft
positionierbar. Ein Funktionsschema digitaler Menschmodelle ist in Abb. 10.75 dargestellt.
Abb. 10.75: Funktionsschema digitaler Menschmodelle (MÜHLSTEDT u. SPANNERULMER 2009)
Dabei sind entweder Im-/Export-Schnittstellen zum Austausch von CAD-Daten vorhanden oder das Menschmodell ist als „Plug-In“ bzw. Teil einer CADSoftware implementiert und kann so auf die gewöhnlichen CAD-Daten der Konstrukteure und Planer zurückgreifen (siehe Kap. 10.2.3). Die Zeitstruktur ist in den Modellen unterschiedlich berücksichtigt. Eingaben von Parametern (Perzentil, Akzeleration, usw.) werden über diverse Eingabemenüs realisiert. Menschmodelle kommen durch ihre Funktionalitäten in vielen Bereichen zur Anwendung. Neben dem klassischen Anwendungsgebiet in Entwicklung und Konstruktion, werden sie auch bei der Fertigungs- und Montageplanung, organisatorischen Simulationen oder Trainingsszenarien eingesetzt. Dabei ist der Fokus entweder auf der Prozess- oder der Produktgestaltung. Die wichtigsten Industriezweige, die digitale Menschmodelle einsetzen, sind die Automobilindustrie, das Militär sowie die Luft- und Raumfahrtindustrie. Aber auch in der Spezialfahrzeugindustrie, der Unterhaltungselektronik, im Schiffbau oder der Architektur werden sie zunehmend genutzt. Vier populäre Modelle sind in Abb. 10.76 dargestellt. Bei der Prozessgestaltung, die sich oft mit der Planung von Arbeitsplätzen auseinandersetzt, werden die Menschmodelle versatiler genutzt. Neben Sicht- und Erreichbarkeitsanalysen sind Tätigkeitssimulationen, Ergonomie-Analysen oder Analysen zur Lastenhandhabung wichtige Bestandteile der Gestaltung. Sowohl für die Produkt- als auch für die Prozessgestaltung ist die Visualisierung eines Sachverhaltes ein einfaches, aber auch sehr wirkungsvolles Ergebnis. Ein Bild oder eine Animation eines Menschmodells, das mit der Umgebung inter-
Ergonomische Gestaltung
1063
agiert, ist eine äußerst effektive Methode, um Probleme zu erkennen und Lösungsansätze entwickeln zu können. Human Builder (Dassault Systemes)
Jack (Siemens PLM)
RAMSIS (Human Solutions)
SANTOS (US Army)
Abb. 10.76: Häufig verwendete Menschmodelle (nach MÜHLSTEDT et al. 2008)
Neben den Hauptfunktionen werden mitunter bestimmte Spezialfunktionen als Zusatzpaket angeboten, z.B. zu bestimmten Analysen im Automobil, zur Anwendung in VR-Labors oder für individuelle Anpassungen der Anthropometriewerte. Die Softwareergonomie der Menschmodelle selbst ist sehr unterschiedlich. Teilweise werden bekannte und bewährte Konzepte aus anderen Softwarebereichen übernommen (z.B. beim Bewegen und Drehen der Modelle), teilweise kommen aber auch proprietäre Lösungen zur Anwendung, die u.U. eines nicht unerheblichen Einarbeitungsaufwandes bedürfen oder auch bei häufiger Anwendung nur zeitaufwendig zu benutzen sind. Der Datenaustausch der jeweiligen Programme mit anderen ist nur bedingt möglich. Zwar bieten diese meist Schnittstellen in Standard-Formaten an (dxf, stl, iges usw.), aber selbst wenn der Im- oder Export gelingt, gehen durch den Transfer meist wichtige Daten (Farben, Größen, …) oder gar Funktionalitäten verloren (Bewegungen, Kamerapositionen o.Ä.). Verbesserungswünsche aus der Praxis betreffen u.A. die Eingabemöglichkeiten. Es ist mitunter recht aufwendig, Haltungen oder Bewegungen zu erzeugen. Ebenso sind Verbesserungen der Analysemodule gefordert. Für verschiedene Haltungen, und besonders für Bewegungen und Analysen mit Beachtung der Zeitstruktur fehlen wissenschaftliche Modelle, die für eine Implementierung nötig wären, bzw. die vorhandenen Modelle wurden bislang nicht eingearbeitet. Auch bei der Bewertung der Analysen werden Unterstützungen gefordert, um bestimmte kritische Situationen, Haltungen, o.Ä. klarer identifizieren und schneller herausfiltern zu können und ebenso die Elemente aufgezeigt zu bekommen, durch die eine Verbesserung der Situation erreicht werden würde (siehe CHAFFIN 2001; CHAFFIN 2005).
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Arbeitswissenschaft
Derzeit werden Computersysteme zur Erzeugung sog. Virtueller Umgebungen mithilfe digitaler Menschmodelle (siehe Kap. 10.1.2.1.3) verstärkt auch in der Arbeitssystemgestaltung eingesetzt. Hierbei wird für die Arbeitsperson die Interaktion in einer digital simulierten Umgebung in Echtzeit möglich. 10.2 Ausgewählte Methoden zur Gestaltung und Bewertung 10.2.1 Usability Engineering 10.2.1.1 GrundlagenĆ Der Begriff „Usability“ stammt aus dem Englischen, wird jedoch mittlerweile im deutschen Sprachgebrauch synonym zu den Begriffen „Benutzerfreundlichkeit / Gebrauchstauglichkeit“ verwendet. Für den Begriff gibt es unterschiedliche Definitionen, die verdeutlichen, mit welchem fachlichen Hintergrund sie geschrieben wurden. Hierbei handelt es sich auf der einen Seite um Definitionen, die aus der Forschung stammen und auf der anderen Seite um Definitionen, die Normen voranstehen und ihren Fokus auf der praktischen Gestaltung und Überprüfbarkeit von Usability haben. SPINAS et al. (1990) definieren Benutzerfreundlichkeit und somit gleichsam den Begriff Usability mit den Worten: „…ein Dialogsystem ist dann als benutzerfreundlich zu bezeichnen, wenn es den Benutzer durch vielfältige Anwendungsmöglichkeiten von Routinearbeit entlastet und ihm – bei hoher Verfügbarkeit – in der Interaktion am Bildschirm seiner Erfahrung und Geübtheit angemessene Freiheitsgrade für unterschiedliche Vorgehensweisen gewährt, ohne ihm dadurch neue Routinearbeit und komplizierte Bedienungsoperationen aufzubürden.“ Dieser Zusammenhang ist in Abb. 10.77 in Form von Aspekten und Kriterien verdeutlicht. Benutzerfreundlichkeit Anwendungsmöglichkeiten (Funktionalität) Informationen; Verarbeitungsprozesse / Funktionen
AUFGABENANGEMESSENHEIT
Verfügbarkeit (Antwortzeit / Störungen) Beeinflussbarkeit
FLEXIBILITÄT / INDIVIDUALISIERBARKEIT
Kontrollmöglichkeiten (Handhabung) Orientierung
UNTERSTÜTZUNG
TRANSPARENZ KONSISTENZ KOMPATIBILITÄT FEEDBACK
Abb. 10.77: Aspekte und Kriterien der Benutzerfreundlichkeit (SPINAS et al. 1990)
Ergonomische Gestaltung
1065
In Erweiterung der vorwiegend auf Funktionalität orientierten Definition der Gebrauchstauglichkeit, werden in jüngster Zeit verstärkt auch Aspekte der Nutzerakzeptanz bei der Definition der Usability berücksichtigt. So wird in der DIN EN ISO 9241 Usability folgendermaßen definiert: „Usability ist das Ausmaß, in dem ein Produkt durch bestimmte Nutzer in einem bestimmten Nutzungskontext genutzt werden kann, um bestimmte Ziele effektiv, effizient und zufriedenstellend zu erreichen.“ Usability ist somit kein Produktattribut, sondern ein Attribut der Interaktion des Menschen mit einem Produkt in einem bestimmten Kontext (KARAT 1997). Der Kontext muss daher definiert werden, zusammen mit der Beschreibung der Benutzer, deren Zielen und Aufgaben und auch mit der physikalischen und sozialen Umgebung. Erst dann kann das Produkt anhand der drei Kriterien Effektivität, Effizienz und Zufriedenheit beurteilt werden. Effektivität bezeichnet die Akkuratheit und Vollständigkeit, mit denen ein Ziel erreicht werden kann. Die Effizienz beschreibt das Verhältnis vom Aufwand der Ressourcen zum Nutzen, die in Bezug auf die Zielerreichung notwendig sind. Die Zufriedenheit dagegen ist eine subjektive Komponente, die die Abwesenheit von Frustration, aber auch positive Einstellungen gegenüber dem Produkt beschreibt. Usability-Studien wurden zunächst im Bereich der Softwareergonomie durchgeführt (siehe Kap. 10.2.2). Allerdings ist eine Übertragung auf eine Vielzahl anderer Mensch-Maschine-Systeme sinnvoll und möglich. Durch die Berücksichtigung von Nutzer- und nutzungsbezogenen Kriterien können Mensch-MaschineSysteme so gestaltet werden, dass sie den menschlichen Anforderungen und Bedürfnissen genügen und schnell und einfach zu benutzen sind. Die Gestaltung von benutzerfreundlichen Produkten gewinnt immer mehr an Bedeutung. Durch unergonomische Software und benutzerunfreundliche Produkte und die daraus resultierenden Zeit- und Motivationsverluste entsteht ein volkswirtschaftlicher Schaden in Milliardenhöhe (SARODNICK u. BRAU 2006). Durch benutzerfreundlich gestaltete Produkte dagegen können für Unternehmen deutliche Wettbewerbsvorteile erzielt und Kosten eingespart werden (COY et al. 1993). Gebrauchstauglichkeit kann ebenfalls als Marketingfaktor beim Verkauf von Produkten (CHAPANIS 1991) eine Rolle spielen, da sich die Nutzer in aller Regel einfach zu bedienende Produkte wünschen. Hierdurch entstehen für sie Vorteile, wie beispielsweise eine verkürzte Zeit zum Erlernen der Funktionen des Systems und ein zufriedeneres Arbeiten (NIELSEN 1994a). Zur Veranschaulichung soll das Beispiel eines Online-Marktes dienen, bei dem durch gesteigerte Usability mehr Kunden die richtigen Produkte finden und somit zufriedener sind, es aber auch geringe Abbruchraten beim Kaufvorgang gibt und weniger Anrufe bei der Hotline eingehen, wodurch sich für das Unternehmen erhebliche wirtschaftliche Vorteile erschließen. In der Norm DIN EN ISO 13407 werden die Vorteile von benutzerfreundlichen Produkten wie folgt zusammengefasst:
x Sie sind einfacher zu verstehen und zu benutzen, wodurch Trainings- und Supportkosten reduziert werden.
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x Sie erhöhen die Zufriedenheit der Benutzer und reduzieren Stress im Sinne mentaler und körperlicher Beanspruchung bei der Benutzung. x Sie erhöhen die Produktivität der Nutzer und somit auch die Produktivität von Unternehmen. x Sie erhöhen die Produktqualität und können somit einen Wettbewerbsvorteil nach sich ziehen. Barrierefreiheit Als Besonderheit der Gebrauchstauglichkeit wird häufig die Barrierefreiheit von Produkten gefordert. Barrierefreiheit bezieht sich auf die Forderung, dass ausnahmslos alle Menschen, auch solche mit motorischen, perzeptiven, kognitiven, sprachlichen oder altersbedingten Einschränkungen ein bestimmtes Produkt benutzen können. Insbesondere im Zusammenhang mit dem Medium Internet erlangte der Begriff Barrierefreiheit in den letzten Jahren großes Interesse, im englischsprachigen Raum wird meist der Begriff „accessibility“ verwendet. Der Begriff der Barrierefreiheit wird in §4 des Gesetzes zur Gleichstellung behinderter Menschen (BGG) wie folgt festgeschrieben: „Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für behinderte Menschen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind.“ Bei Internetseiten kann dies beispielsweise dadurch umgesetzt werden, dass Schriftgrößen skalierbar sind, die Seiten gut strukturiert sind (damit sie durch sog. Screenreader auch für Blinde erfassbar sind), oder die Möglichkeit besteht auch über die Tastatur navigieren zu können (für Menschen, die die Maus nur schwer benutzen können). Eine aktuelle Übersicht zum Stand der Forschung sowie Normgebung hinsichtlich Accessibility findet sich in CAKIR (2009). 10.2.1.2 VorgehenĆbeimĆUsabilityĆEngineeringĆ Unter Usability Engineering wird der Prozess verstanden, der die spätere Gebrauchstauglichkeit eines Produktes zum Ziel hat und dieses Ziel während des gesamten Produktplanungs- und -entwicklungsprozesses konsequent verfolgt. Das Usability Engineering stellt systematisch Methoden zusammen, um eine Schnittstelle gestalten zu können, die leicht verstanden und schnell gelernt wird (BUTLER 1996). Zunächst entwickelte sich die Disziplin des Software-Engineering, um die Softwareentwicklung mit Modellen und Methoden zu unterstützen. In einer Erweiterung des ursprünglichen Anwendungsbereichs richten sich diese jedoch nicht nur auf die Technologie, sondern auf die gesamte Mensch-Rechner-Interaktion. ZÜHLKE (2004) spricht in dem Zusammenhang von Useware-Engineering. Useware steht als Sammelbegriff für alle Hardware- und Software-Komponenten, die der Benutzung eines Systems dienen und stellt „eine Fokussierung der Technikgestaltung auf menschliche Fähigkeiten und Bedürfnisse“ (ZÜHLKE 2004) dar.
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Dafür sind genaue Kenntnisse menschlicher Fähigkeiten und Fertigkeiten notwendig, die für die Informationsaufnahme, -verarbeitung und -abgabe nötig sind. Darunter fällt Wissen über
x die Sensorik und Wahrnehmung des Menschen (Entdecken von Informationen über die Sinneskanäle), x die Kognition (Erkennen und Interpretieren der aufgenommenen Information, Verarbeitung der Information und Entscheidungsfindung) und x die Motorik (Umsetzung in Handlungspläne, Ausführung der Pläne über verschiedene Modalitäten). In Kapitel 3.3.1 werden die genannten Phasen der menschlichen Informationsverarbeitung näher erläutert. Grundlegend für das Usability Engineering ist die Benutzereinbindung und eine iterative Vorgehensweise. Es ist wichtig, bereits in frühen Phasen der Entwicklung die Nutzer einzubinden und ihre Anforderungen zu kennen. Durch die direkte Einbindung von Benutzern in den Entwicklungsprozess können schwerwiegende Gestaltungsmängel, die bei einer späteren Entdeckung schwer zu beheben sind und zu hohen Kosten (Supportbedarf oder gar Rückruf) führen können, vermieden werden. Der Prozess ist dabei stets ein iterativer, d.h. bei jedem Gestaltungszyklus werden erneut die Benutzerfreundlichkeit und Übereinstimmung mit den Zielen der Nutzer überprüft. Bei Abweichungen werden vorangegangene Projektschritte entweder komplett wiederholt oder nachgebessert. Dieses Vorgehen steht im Gegensatz zu dem weit verbreiteten Vorgehen, bei dem die Evaluation des Systems nur am Ende der Entwicklung durchgeführt wird. Beim Usability Engineering (oder Useware Engineering) verläuft die Evaluation immer parallel zu allen Phasen der Entwicklung. Nach REUTHER (2003) und ZÜHLKE (2002) verläuft das Usability Engineering in insgesamt fünf Phasen: 1) Analyse In der ersten Phase, der Analyse, werden die Benutzeraufgaben und Benutzeranforderungen erhoben. Dies ist wichtig, da oft bei den Entwicklern ein nur unvollständiges Wissen darüber besteht welche verschiedenen Benutzergruppen es gibt und was diese ausmacht. Für diese Analyse werden unterschiedliche Methoden verwendet, um ein möglichst vollständiges Bild von der Benutzergruppe an sich, von deren typischen Aufgaben und deren Arbeitsumgebungen zu bekommen. Einige der häufig verwendeten Methoden, die in dieser Phase Verwendung finden, werden später in diesem Kapitel vorgestellt, wie beispielsweise die teilnehmende Beobachtung oder das Interview. 2) Strukturgestaltung In der zweiten Phase zur Strukturgestaltung werden die Ergebnisse der Nutzeranalyse in ein Benutzungsmodell überführt, dieses ist noch unabhängig von der Realisierung und stellt die Interaktion des Nutzers mit dem System abstrakt dar. Diese
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grundlegende Struktur für die Interaktion mit dem System, orientiert sich beispielsweise an elementaren Aufgaben, die in der Analysephase erhoben wurden. Das Benutzungsmodell ist aufgabenorientiert, jedoch noch plattformunabhängig, es basiert auf Benutzungsobjekten. Eine einfache Art und Weise zur Erarbeitung eines Benutzungsmodells sind Strukturlege-Techniken, es gibt jedoch auch Modellierungswerkzeuge wie die Useware Markup Language (ZÜHLKE 2004). 3) Bediensystemgestaltung In der dritten Phase, der sog. Bediensystemgestaltung wird das Benutzungsmodell konkretisiert. Das Benutzungsmodell wird auf eine Interaktionsplattform übertragen. Hier spielen ergonomische Kenntnisse eine große Rolle, da die Struktur des Systems und die Anordnung der Elemente einen großen Einfluss auf die Benutzbarkeit haben. In diese Phase fällt das Design der Schnittstelle (Auswahl der Plattform, Interaktionsform, Dialog und grafisches Layout). Erster Schritt ist die Auswahl der Bediensystemplattform (Tastenbedienung, Touchscreen etc.), auf deren Basis dann ein Layoutentwurf erstellt wird, beispielsweise mit einer ersten Aufteilung des Bildschirms. Im Feinkonzept werden dann erste Dialoge umgesetzt, die auch mit Benutzer getestet werden können. Weitere Informationen zur Bediensystemgestaltung und Bildschirmlayouts findet man bei ZÜHLKE (2004). 4) Realisierung In der vierten Phase, der sogenannten Realisierung, wird das Konzept umgesetzt. Diese Phase steht in enger Wechselwirkung mit der dritten Phase und erfolgt teilweise auch parallel. Die genauen Interaktionsobjekte und Inhalte des Bildschirms werden festgelegt und die Anbindung an die Maschinensteuerung, bzw. andere Elemente des Arbeitssystems vorgenommen. Ergebnis ist das fertige System. 5) Evaluation Als ein zusätzlicher Arbeitspunkt gilt die Evaluation. Die Evaluation soll während allen Phasen immer wieder durchgeführt werden auf Basis von ersten Skizzen, Prototypen und schließlich dem fertigen System. Diese entwicklungsbegleitende Evaluation stellt sicher, dass nicht erst zu einem späten Zeitpunkt ergonomische Mängel entdeckt werden, die dann kaum noch behoben werden können, sondern dass die Nutzerbedürfnisse in allen Phasen der Entwicklung berücksichtigt werden. Wichtiger Bestandteil des Usability Engineering ist der benutzerorientierte Gestaltungsprozess nach DIN EN ISO 13407 (siehe Abb. 10.98 in Kap. 10.3.1.2). 10.2.1.3 MethodenĆdesĆUsabilityĆEngineeringĆĆ Für den Prozess des Usability Engineering steht eine Vielzahl von Methoden zur Verfügung, die die obengenannten Phasen unterstützen und sowohl die subjektive als auch objektive Bewertung von Usability ermöglichen. Usability-Probleme können durch eine Evaluation identifiziert und entsprechende Lösungen entwickelt werden.
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Für die benutzerfreundliche Gestaltung eines Produktes, sei es ein Konsumgut oder die Mensch-Maschine-Schnittstelle einer Produktionsanlage, werden Kenntnisse über die menschliche Informationsverarbeitung, Benutzerverhalten sowie Interaktionstechnologien angewendet. Viele der Usability-Methoden haben ihren Ursprung in den wissenschaftlich zugeordneten Unterdisziplinen. 10.2.1.3.1 Entscheidungen vor Auswahl einer Usability-Methode Es existieren sehr unterschiedliche Usability-Methoden. Die Entscheidung welche Verfahren eingesetzt werden sollen oder können, hängt von Ziel und damit gewünschter Qualität, der verfügbaren Zeit, vom Budget und auch von der Phase im Produktgestaltungsprozess ab. Eine Reihe von grundsätzlichen Fragen müssen geklärt werden, bevor die Entscheidung für eine spezielle Methode getroffen werden kann. Es muss zunächst entschieden werden, an welchem Ort, mit welchen Aufgaben und mit welchen Teilnehmern ein Test durchgeführt werden soll. 10.2.1.3.1.1 Ort
Die Untersuchung kann entweder am konkreten Arbeitsplatz im Betrieb oder in einem speziellen Usability-Labor (siehe Abb. 10.78) durchgeführt werden. Abhängig von der Fragestellung kann ein Usability-Labor sinnvoll sein, um unter vergleichbaren Bedingungen die Benutzer beobachten und befragen zu können. Ein Usability-Labor stellt eine Umgebung dar, in der die Nutzer mit dem neuen Produkt interagieren und mittels Kameras oder Einwegspiegeln von einem Nebenraum aus beobachtet werden können. Oftmals werden neben der VideoAufzeichnung von Mimik, Gestik und Äußerungen auch Blickbewegungen aufgezeichnet und die Benutzer nach der Benutzung befragt (siehe Kap. 10.2.1.3.2.4).
Abb. 10.78: Beispiele für Usability Labore
10.2.1.3.1.2 Aufgaben
Bei Usability-Tests werden, sobald Prototypen entwickelt wurden, spätere Tätigkeiten mit dem interaktiven System nachgestellt. Dafür werden meist typische Aufgaben, die später mit dem Produkt durchgeführt werden sollen, ausgewählt und von Teilnehmern bearbeitet. Dabei ist die richtige Auswahl der Testaufgaben von entscheidender Bedeutung. Die Aufgaben sollen so repräsentativ wie möglich sein für die spätere Nutzung des Systems und die wichtigsten Funktionsbereiche
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des Produkts abdecken (NIELSEN 1993). Sie sind aus den typischen Arbeitsaufgaben der Anwender abgeleitet. Bei einem Usability-Test werden sie den Probanden nacheinander gestellt und werden unter Einsatz verschiedener Methoden (siehe Kap. 10.2.1.3.2.4) bearbeitet. 10.2.1.3.1.3 Teilnehmer
Usability-Tests können danach unterschieden werden, ob sie sich auf analytische oder empirische Methoden stützen (SARODNICK u. BRAU 2006). Bei den analytischen Usability-Tests werden Usability-Experten befragt, die ihre Erfahrungen und ihr Wissen einbringen (Experten-Evaluation). Bei den empirischen UsabilityTests werden dagegen Informationen direkt aus der Befragung und Beobachtung von späteren Nutzern gezogen (User-Evaluation). Da Usability ein multidimensionales Konzept ist, werden oft verschiedene Methoden miteinander kombiniert (KARAT 1997). Bei Experten-Tests begutachten erfahrene Usability-Experten eine MenschMaschine-Schnittstelle. Diese Usability-Methoden haben den Vorteil, dass keine Vorbereitungen zur Auswahl und Bezahlung von Probanden getroffen werden müssen. Sie können so sehr schnell angewendet werden, auch wenn noch keine funktionsfähigen Prototypen entwickelt wurden. Zumeist wird mehr als ein Experte ein System begutachten, da verschiedene Evaluatoren auch unterschiedliche Fehler finden. Zum Einsatz kommen insbesondere Gestaltungsrichtlinien, die heuristische Evaluation und der sog. Cognitive Walkthrough (SARODNICK u. BRAU 2006). Die Untersuchung von Produkten mit Hilfe der Beobachtung und Befragung von späteren Benutzern eröffnet Einblicke bei der Analyse von Problemen, die alleine durch die Expertenbefragungen nicht möglich wären. User-Tests werden bei fast allen Usability-Untersuchungen eingesetzt, oft in Verbindung mit Experten-Tests. Wichtig für die Durchführung von User-Tests ist die Auswahl der Probanden. Die Probandengruppe sollte sich aus Nutzern aus der zukünftigen Zielgruppe zusammensetzen. Nach RAUTERBERG et al. (1994) sollte eine heterogene Zusammensetzung in Bezug auf Vorerfahrung mit Informationstechnologien, Alter, Geschlecht, Ausbildung und Beruf gegeben sein. Oft ist jedoch besonders wichtig, dass aus jeder Nutzergruppe ein repräsentativer Querschnitt an potenziellen Kunden befragt wird. Die Anzahl der Probanden hängt von der gewählten Methode und der gewünschten Qualität ab. Bei Methoden, wie beispielsweise dem Interview, werden selten mehr als zehn Probanden befragt. Um jedoch statistisch gesicherte Ergebnisse bei einem Fragebogen zu erhalten, ist eine Untersuchung mit mindestens 20 Probanden zu empfehlen. 10.2.1.3.2 Einsatz von Usability-Methoden im Produktgestaltungsprozess In allen Phasen des benutzerorientierten Produktgestaltungsprozesses (siehe Kap. 10.3.1.2) spielt die Evaluation von Usability eine wichtige Rolle und sollte durch das Usability Engineering im Prozess verankert sein. In die Phasen zur
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Analyse, Strukturgestaltung, Bediensystemgestaltung und Realisierung sollen die Nutzer aktiv einbezogen werden. Im Folgenden sollen einige verbreitete Methoden herausgegriffen und dargestellt werden. Dabei werden sie den Phasen des Produktgestaltungsprozesses zugeteilt. Dies bedeutet jedoch nicht zwingend, dass sie nur in dieser Phase verwendet werden können, teilweise kann der Einsatz auch in anderen Phasen sinnvoll sein. Die meisten Methoden finden ihre Verwendung in der letzten Phase, der Bewertung von Gestaltungslösungen, da diese Phase die klassische formative Evaluation beschreibt. 10.2.1.3.2.1 Analyse und Identifikation des Nutzungskontextes
Feldbeobachtung Eine wichtige Methode bei der Identifikation des Nutzungskontextes stellt die Feldbeobachtung, auch teilnehmende Beobachtung genannt, dar (ROTH u. HOLLING 1999). Bei dieser Methode werden in der Umgebung der späteren Benutzung die Benutzer bei ihrer Tätigkeit mit dem System beobachtet. Anders als in einem Labor kann hier die konkrete Umgebung analysiert werden, in der ein Produkt später genutzt werden soll, beispielsweise wie der Arbeitsplatz bisher schon ausgestattet ist und welche behindernden oder fördernden Umstände es im Umfeld gibt. Die teilnehmende Beobachtung an sich dient dazu Verhaltensmuster von Benutzern in ihrer gewohnten Umgebung zu untersuchen. Dadurch kann ein Einblick in Arbeits- und Dialogabläufe gewonnen werden und Standardsituationen erfasst werden. Kritische oder selten auftretende Ereignisse dagegen können durch die Methode nur schlecht aufgedeckt werden. 10.2.1.3.2.2 Strukturgestaltung und Benutzeranforderungen festlegen
Fokusgruppen Fokusgruppen werden prinzipiell in jeder Phase eingesetzt. Häufig dienen sie jedoch dazu, Benutzeranforderungen (auch requirements genannt) an ein Produkt zu erfassen. Damit ist die Erhebung, Beschreibung und Dokumentation der Erwartungen und der Wünsche der Nutzer an das Produkt gemeint (NIELSEN 1993). Fokusgruppen setzen sich aus etwa fünf bis zehn Teilnehmern zusammen, wobei die Nutzer aus der potenziellen Zielgruppe stammen. Unter der Führung durch einen Leiter (aus dem Gestaltungsteam) wird die Gruppe zu Diskussionen über das Produkt angeregt. Fokusgruppen bieten die Möglichkeit Anforderungen zu erheben, und auch schon in frühen Entwicklungsphasen erste Konzepte evaluieren zu lassen. Sie ermöglichen die Erhebung von qualitativen Daten bezüglich Nutzerbedürfnissen und Nutzererwartungen.
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10.2.1.3.2.3 Bediensystemgestaltung und Entwurf von Gestaltungslösungen
Card Sorting Card Sorting stellt eine Methode dar, die eingesetzt wird, um Gestaltungslösungen zu entwickeln. Sie wird mit den zukünftigen Nutzern des Systems durchgeführt und kann helfen, die Wahrnehmung und Kognition der Nutzer zu verstehen und somit eine Struktur aufzubauen, die der gleichkommt, wie Benutzer Informationen gruppieren und verarbeiten. Dafür werden den Benutzern Karten ausgehändigt, auf denen Begriffe stehen (beispielsweise die Namen aller Seiten eines neuen Internetangebots). Zunächst sollen die Begriffe nach ihrem spontanen Verständnis erklärt werden. Dies gibt bereits einen Einblick, ob die richtigen Begriffe gewählt wurden oder ob diese zu verändern sind. Bei offenen Card Sortings sollen die Karten danach so angeordnet werden, dass Ähnliches gruppiert wird. Daraufhin soll erklärt werden, warum die Karten so verteilt wurden und den neu gebildeten Kategorien Namen gegeben werden. Diese Struktur und ihre Benennung geben Auskunft darüber, wie Nutzer Informationen gruppieren und wie demzufolge auch ein Internetangebot strukturiert sein könnte. Bei geschlossenen Card Sortings sind bereits Kategorien vorgegeben, denen die Karten zugeteilt werden sollen. Jedoch werden bei dem Entwurf von Gestaltungslösungen oftmals die offenen Card Sortings eingesetzt (TULLIS u. WOOD 2004; XU et al. 2007). 10.2.1.3.2.4 Realisierung und Bewertung von Gestaltungslösungen Experten-Evaluation
Im Folgenden sind mit Gestaltungsrichtlinien bzw. Leitfäden, heuristischer Evaluation und Cognitive Walkthrough drei typische Verfahren der ExpertenEvaluation näher erläutert. Gestaltungsrichtlinien und Leitfäden Gestaltungsrichtlinien sind ein basales Instrument zur Usability Evaluation. In Gestaltungsrichtlinien werden Listen von Prinzipien gesammelt, die befolgt werden sollten, um ein gebrauchstaugliches System zu entwickeln. Diese Gestaltungsrichtlinien können unterschiedlich formuliert sein. Eine Form von Gestaltungsrichtlinien sind beispielsweise Expertenleitfäden, die wie Checklisten verwendet werden können. Für Gestaltungsrichtlinien sei beispielhaft auf die sehr ausführliche Sammlung von SMITH u. MOSIER (1986) verwiesen. SMITH und MOSIER stellten 1986 eine Sammlung von fast 1000 Guidelines auf, die sich auf sechs Sektionen verteilen: 1) Data Entry, 2) Data Display, 3) Sequence Control, 4) User Guidance, 5) Data Transmission und 6) Data Protection. Expertenleitfäden konkretisieren demgegenüber die Durchführung von Evaluationen noch mehr. Ein bekannter Expertenleitfaden ist der EVADIS II von
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OPPERMANN et al. (1992) zur ergonomischen Evaluation von Software. Dieser Expertenleitfaden stellt eine Kombination von verschiedenen Methoden dar. Er setzt sich zusammen aus einer Prüffragensammlung zur Bewertung durch den Experten, einer Benutzerbefragung zur Erfassung von Benutzermerkmalen und einer Arbeitsanalyse durch ein Beobachtungsinterview. Das Resultat ist ein standardisierter Prüfbericht. Gestaltungsrichtlinien sind formal-analytische Verfahren und leicht anwendbar. Sie können bereits bei einfachen Prototypen eingesetzt werden, jedoch ist immer zu beachten, dass das Domänenwissen der Benutzer u.U. zu wenig berücksichtigt wird und sie in Ergänzung zu User-Tests durchgeführt werden sollten. Desweiteren bergen sie bei komplexen Aufgaben, insbesondere bei speziellen Benutzergruppen und komplexen Nutzungskontexten die Gefahr, nicht alle Probleme aufdecken zu können (WIDDEL u. MOTZ 2002).
Heuristische Evaluation Über Gestaltungsrichtlinien und Leitfäden hinaus wurden auf Grundlage umfangreicher empirischer Untersuchungen Heuristiken entwickelt, die für die ergonomische Produktgestaltung verwendet werden können. Besonders bekannt sind die zehn Heuristiken von NIELSEN (1994a). Darunter fallen zum Beispiel „Sichtbarkeit des Systemzustandes“, „Konsistenz und Standards“ und „Übereinstimmung zwischen System und realer Welt“. Bei der heuristischen Evaluation inspiziert eine kleine Zahl von Evaluatoren unabhängig voneinander, nach einer kurzen Übungsphase (Einführung in die Domäne), zunächst ein System. Im nächsten Schritt werden die Ergebnisse in einer Liste zusammengeführt und den Heuristiken zugeordnet. Die Evaluatoren bewerten die aufgezeichneten Probleme daraufhin auf einer Skala nach ihrer Notwendigkeit zur Behebung. Oft werden heuristische Evaluationen in frühen Phasen der Entwicklung eingesetzt. Cognitive Walkthrough Bei dieser Methode (LEWIS et al. 1990) liegt der Fokus auf dem „Ease of Learning“, also der Erlernbarkeit. Sie basiert auf der Theorie des Lernens durch Exploration und hat zum Ziel, alles, was exploratives Lernen verhindert, zu beseitigen. Bei dieser Methode sollen also die mentalen Prozesse des Benutzers analysiert und nicht das Interface an sich evaluiert werden. Dabei wird wie folgt vorgegangen: Experten identifizieren die „optimalen“ Problemlösungspfade für eine Aufgabe (beispielsweise das Auffinden eines spezifischen Produkts bei einer Shopping-Website). Danach wird beurteilt, wie ein normaler Nutzer zu diesem Ziel gefunden hätte. Im letzten Schritt wird bewertet, wie sehr diese beiden Wege voneinander abweichen und welche Gründe es für Abweichungen gibt. Alternativlösungen für Abweichungen können direkt von den Experten entwickelt werden. Eine Weiterentwicklung ist der Pluralistic Usability Walkthrough (BIAS 1994; HELANDER et al. 1997; SANDOM et al 2007), auf den hier nur kurz verwiesen sei,
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bei dem Nutzer, Usability-Experten und Entwickler gemeinsam ein Produkt beurteilen. Diese Verfahren stellt bereits eine Kombination aus Experten-Test und User-Test dar. User-Evaluation
Neben der Experten-Evaluation werden beim Usability Engineering natürlich auch Verfahren verwendet, die mit zukünftigen Benutzern des Produktes durchgeführt werden. Bei sog. User-Tests werden den Benutzern Aufgaben gestellt (siehe Kap. 10.2.1.3.1.2), die sie bearbeiten müssen. Dabei können während und nach der Bearbeitung eine Reihe von Methoden eingesetzt werden, um Informationen über die Effektivität, Effizienz und Zufriedenheit bei der Arbeit mit dem interaktiven System zu erhalten. Es gibt Methoden, die objektive Maße erfassen, wie beispielsweise Körperhaltung und Mimik (durch Videoaufnahmen), Eingabesequenzen (durch Logfiles), psychophysiologische Variablen (durch Biosignale), sowie Blickdauern und -häufigkeit (Blickbewegungsanalyse). Subjektive Maße dagegen werden durch die Aufzeichnung von „lautem Denken“, Befragungen und die Verwendung von standardisierten Fragebögen erhoben. Erhebungsmethoden für objektive Maße Bei den Untersuchungen in Usability-Laboren werden häufig Videoaufnahmen der Probanden angefertigt. Diese Videos dienen auf der einen Seite zur Aufzeichnungen von Handlungen und Handlungsdauern und auf der anderen Seite zur Auswertung von Mimik und Gestik. Mimik und Gestik etwa können Aufschluss darüber geben, wie die Stimmung (Beispiel: Frustration) bei den Teilnehmern ist oder informatorische Engpässe kennzeichnen. Videoaufnahmen können auch im Nachhinein mit dem Probanden angeschaut werden (sog. „Videokonfrontation“ bzw. „Videofeedback“). Dabei können bestimmte Situationen gemeinsam besprochen und die Probanden befragt werden, warum sie in den betreffenden Fällen so gehandelt oder was sie dabei gedacht und gefühlt haben. Wenn es sich bei dem zu evaluierenden Produkt um eine Software handelt, können direkt am Computer sogenannte Logfiles aufgezeichnet werden. Logfiles sind die Protokolle der Eingaben, die das System speichern kann. Hierbei kann die Zeit, aber auch die genaue Sequenz von Ereignissen aufgezeichnet werden, welche für die Auswertung relevant sein kann. Auch psychophysiologische Indikatoren können bei der Usability-Evaluation erhoben werden (siehe auch Kap. 3.3.3.2.1). Psychophysiologische Indikatoren lassen von Prozessen des zentralen und peripheren vegetativen Nervensystems auf das subjektive Erleben des Nutzers schließen (HÄCKER u. STAPF 1998). Durch Sensoren können beispielsweise die Herzschlagrate, die Herzschlagratenvariabilität und der Hautleitwert aufgezeichnet werden. Auch der Einsatz von biochemischen Größen, beispielsweise Adrenalin bei Erregung, ist möglich. Diese psychophysiologischen Größen können darüber Aufschluss geben, wie beanspruchend
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beispielsweise der Umgang mit einer neuen Software ist oder wie die NichtErfüllung von Aufgaben zu Frustration führt. Psychophysiologische Maße haben den Vorteil, dass sie auch nicht-bewusste, nicht zu verbalisierende Prozesse (KEMPTER u. BENTE 2004) aufzeichnen können. Als nachteilig sind die teilweise hohen Kosten und die aufwändige Datenauswertung zu nennen. Besonders in Form von „beanspruchungsinduzierter Videokonfrontation“ werden unbewusste Beanspruchungsmaxima ex post den Nutzern in Form einer ausgewählten parallel erhobenen Videosequenz präsentiert und zur Kommentierung aufgegeben. Damit werden auch im Unterbewusstsein wirksame Gestaltungsmängel identifizierbar (SPRINGER 1997). Die Blickbewegungsanalyse wird im Usability-Test oft als Methode verwendet (RÖTTING 2001). Dabei gibt es unterschiedliche Systeme, bei denen entweder durch einen Helm, den die Probanden tragen, oder über auf dem Tisch fixierte Kameras die Augenbewegungen, d.h. Fixationen (Blickpunkte) und Sakkaden (Sprünge von einem Fixationspunkt zum nächsten), aufgezeichnet werden. Die Fixationen können dabei Auskunft über die Aufmerksamkeitsverteilung und die Informationsverarbeitung bei der Arbeit mit einem System geben. Durch Sakkadenweiten kann bspw. auf die mentale Beanspruchung rückgeschlossen werden. Nachteilig sind bei diesem Verfahren jedoch die hohen Anschaffungskosten und auch die eingeschränkte Einsatzfähigkeit bei manchen Nutzergruppen wie beispielsweise bei Brillenträgern. Erhebungsmethoden für subjektive Maße
Methode des lauten Denkens Die Methode des lauten Denkens ist eine aus der Psychologie stammende Methode (DUNCKER 1935), die sehr häufig in Usability-Tests eingesetzt wird. Die Methode des Lauten Denkens macht es möglich, Auskunft über die während der Interaktion auftretenden kognitiven Prozesse und Emotionen zu bekommen. Dabei können qualitative Informationen gewonnen werden, die auch über die mentalen Modelle der Benutzer Auskunft geben. Bei dieser Methode werden den Probanden Aufgaben gestellt, die mit Hilfe des Systems bearbeitet werden sollen. Die Probanden werden während der Bearbeitung dazu aufgefordert, ihre Gedanken laut zu verbalisieren. Sollte ein Proband aufhören dies zu tun, wird er vom Versuchsleiter immer wieder erneut dazu aufgefordert, weiter zu sprechen. Das Ergebnis sind qualitative Informationen über das, was der Nutzer wahrnimmt, interpretiert und versteht und seine Probleme und Schwierigkeiten beim Erlernen der betreffenden Materie (KATO 1986). Allerdings ist das Verbalisieren zuweilen schwieriger als die Aufgabe selbst. Interviews Bei Interviews werden die Probanden vom einen Interviewer dazu befragt, wie sie mit dem betreffenden System gearbeitet haben. Dabei können LeitfadenInterviews mit einer vorgegebenen Struktur oder ganz freie Interviews durchgeführt werden (siehe auch Kap. 1.5.1.4). Interviews können aber auch nach der
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„Critical Incident Technique“ (FLANAGAN 1954) geführt werden, bei der besonders positive und besonders negative Erlebnisse bei der Interaktion genannt werden sollen. Standardisierte Fragebögen Fragebögen können relativ einfach und ohne großen Aufwand bei UsabilityUntersuchungen eingesetzt werden. Sie haben den Vorteil, dass sie bereits validiert sind und einfach ausgewertet werden können. Am bekanntesten dürfte der ISONORM-Fragebogen von PRÜMPER u. ANFT (1993) sein. Dieser Fragebogen orientiert sich direkt an der DIN EN ISO 9241-110. Zu jedem der sieben Gestaltungsgrundsätze, die in der ISO Norm beschrieben sind (Aufgabenangemessenheit, Selbstbeschreibungsfähigkeit, Fehlertoleranz, Lernunterstützung, Erwartungskonformität, Steuerbarkeit, Individualisierbarkeit, siehe Kap. 10.2.2.2), gibt es fünf Fragen. Jede der Fragen muss auf einer siebenstufigen Skala von „sehr negativ“ bis „sehr positiv“ beantwortet werden. Zu diesen insgesamt 35 Fragen kommen zusätzlich die Frage nach einen Gesamturteil sowie Kommentarfelder. Die Dauer zur Bearbeitung des Fragebogens liegt bei etwa 1520 Minuten. Durch die Bildung von Mittelwerten über die Gestaltungsgrundsätze wird deutlich, in welchem Bereich des Systems Schwachpunkte vom Nutzer wahrgenommen werden. Ein weiterer Fragebogen, der in der Praxis oft eingesetzt wird, ist der „Questionnaire for User Interaction Satisfaction“ von SHNEIDERMAN (1987). Er bezieht sich auf die Nutzerzufriedenheit und erfasst damit die subjektiven Erfahrungen mit einem System. In seiner ersten Version umfasst dieser Fragebogen insgesamt 90 Items, wobei es einen Teil für die generelle Bewertung der Zufriedenheit gibt und sich der restliche Teil auf weitere 20 Konstrukte bezieht. Der Fragebogen liegt auch in einer Kurzversion von 25 Fragen vor. Die Antworten werden auf einer zehnstufigen Skala zwischen einem positiven und einem negativen Item auf beiden Seiten (beispielsweise: verwirrend – klar) gegeben. Weitere Fragebögen sind das „Software Usability Measurement Inventory“ (PORTEOUS et al. 1993), „IsoMetrics“ (WILLUMEIT et al. 1996) oder AttrakDiff (HASSENZAHL et al. 2003). 10.2.2 Softwareergonomie Der Anteil der mit Computern arbeitenden Menschen hat in den letzten Jahren und Jahrzehnten ständig zugenommen. So arbeiteten laut Statistischem Bundesamt (STAT. BUNDESAMT 2005) im Mai 2000 ca. 52% der Erwerbstätigen in Deutschland beruflich mit einem Personal Computer (PC), wohingegen im März 2004 der Anteil bereits bei 59% lag. In Abhängigkeit von der Tätigkeit variiert der Anteil der Beschäftigten, die bei ihrer Arbeit einen PC nutzen, erheblich. Den höchsten Anteil an PC-Nutzern hat mit 94% der Beschäftigten die Gruppe der im (technischen) Büro sowie in Forschung und Entwicklung tätigen Personen. Aber auch im
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Freizeitbereich und in der Medienkommunikation wächst die Bedeutung von Software z.B. für Spielkonsolen, Multifunktionssysteme in Automobilen oder Mobiltelefone rasant. Software hat sich somit zu einem zentralen Arbeitsmittel entwickelt. Durchschnittlich bestehen nach klassischen Untersuchungen von LANDAUER (1995) aber bei jeder Benutzungsschnittstelle ca. 40 Fehler. Eine frühzeitige Vermeidung der daraus entstehenden ergonomischen Defizite kann die Produktivität der softwaregestützten Tätigkeit um bis zu 700% erhöhen. Laut einer britischen Feldstudie lassen sich 12% dieser Designfehler durch unübersichtliche Dialogelemente, 25% durch uneinheitliche Gestaltung der grafischen Benutzungsoberfläche und 60% durch nicht an den Arbeitsablauf angepasste Dialogfolgen begründen (SYSTEM CONCEPTS LTD. 2008). Die Folgen sind unnötig beanspruchte und in Extremfällen sogar frustrierte Mitarbeiter sowie unnötiger Verlust produktiver Arbeitszeit. Bei Online-Angeboten kommen Umsatzeinbußen durch unzufriedene Kunden sowie Imageverluste hinzu. Um diese Defizite bereits in der Entwicklung zu vermeiden, existieren Modelle, Methoden und Vorgehensweisen, die bei der ergonomischen Gestaltung von Software berücksichtigt werden sollten. Weiterhin bestehen Normen wie DIN EN ISO 9241, DIN EN ISO 14915, VDI 5005 sowie Gesetze und Verordnungen, hier sind die Bildschirmarbeitsverordnung (BildscharbV) und die Barrierefreie InformationstechnikVerordnung (BITV) zu nennen, die gesetzlich vorgeschriebene und daher im Prinzip „einklagbare“ Eigenschaften von Software angeben. 10.2.2.1 GrundlagenĆ Der Begriff der Software-Ergonomie fasst sämtliche Modelle, Methoden und Werkzeuge zusammen, die der ergonomischen Gestaltung der Mensch-RechnerInteraktion sowie der Analyse und der Evaluation der Benutzbarkeit interaktiver Softwaresysteme dienen. Ausgehend vom Ansatz des Arbeitssystems (siehe Kap. 1.5.1.1) sind dabei folgende Gestaltungsbereiche differenzierbar:
x Die in einem Arbeitssystem verwendeten Software-Applikationen im Sinne eines interaktiven Arbeitsmittels und die Schnittstelle zwischen Computer und Benutzer (z.B. Informationsdarstellung), werden gegenüber den technisch-physikalischen Elementen (z.B. Tastatur, Bildschirm), den sog. Anpassmitteln (Stuhl, Tisch etc.) und den Arbeitsumgebungsfaktoren (z.B. Licht, Lärm, Klima) durch den Bereich der ergonomischen Gestaltung der Hardware (Hardware-Ergonomie) abgegrenzt. Diese sind für die softwareergonomische Gestaltung nur von Bedeutung, wenn software-ergonomische Kriterien, wie z.B. die Individualisierbarkeit, davon beeinflusst werden. Software benötigt natürlich stets Hardwaresysteme zur Ein- und Ausgabe von Informationen. Jedoch ist die Frage, ob aufgrund von Platz- oder Sicherheitsaspekten eine Maus, ein Trackball, eine Tastatur oder ein Touchscreen zum Einsatz kommt, nur für die Anpassungen der Software an den Menschen relevant. Hierfür kann als Beispiel die individuelle Einstellung der Geschwindigkeitsrelationen zwischen Zeigerbewegung und Bewegung des Ein-
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gabe-Geräts angeführt werden. Diese ist im Falle eines Touchscreens durch den Benutzer direkt steuerbar, wohingegen bei der Verwendung einer Maus stets ein – wenn auch teilweise einstellbares – Übersetzungsverhältnis besteht. x Die mittels Softwaresystem zu verrichtenden Tätigkeiten (Arbeitsaufgaben, Anwendungsbereiche etc.) in Verbindung mit den individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie die Vorerfahrung der Benutzer oder Benutzergruppen. x Der organisatorische Kontext, in dem Informationen im Allgemeinen von verschiedenen Personen und Gruppen genutzt werden und in den Computersysteme für die Verarbeitung betrieblicher Daten integriert sind. Dies bezieht sich z.B. auf das Daten- und Austauschformat, die Form und den Umfang der Vernetzung (privates Netz, Firmennetz, Internet) oder auch auf die Eigenschaften und Dienstequalitäten (z.B. Übertragungsgeschwindigkeit). Dabei werden stets nur die Eigenschaften des Systems betrachtet, die für den Benutzer in Erscheinung treten. Ein Softwaresystem wird für bestimmte Einsatzgebiete (z.B. Konstruktion von Bauteilen, Textverarbeitung, Kalkulation, Zeichnungserstellung) konzipiert und in der Regel von einer großen, nicht homogenen Benutzergruppe genutzt. Die Mensch-Rechner-Schnittstelle ist in ein organisatorisches System eingebunden, welches Anforderungen an die Software-Architektur-Modelle für Benutzungsschnittstellen durch Kriterien darstellt, die entweder dem Anwendungszusammenhang oder Utilitätserwägungen entstammen. Hieraus lässt sich erkennen, dass die Softwareergonomie ein interdisziplinäres Feld darstellt, in welchem die Arbeitswissenschaft für die Analyse und Gestaltung der Arbeitsabläufe sowie für die ergonomische Gestaltung der Mensch-Rechner-Interaktion, die Soziologie und Psychologie für die Berücksichtigung der sozialen Aspekte und Wechselwirkungen sowie psychischen Eigenschaften und Funktionen des Menschen und die Informatik für die softwaretechnische Konzeption und Implementierung, das „Design“ für eine „visuell attraktive“ Oberfläche und schließlich der Anwender zur Definition neuer Anforderungen und Bedürfnisse sowie Bewertung der gewünschten Anwendungen verantwortlich ist. Semiotisches Modell der Mensch-Rechner-Interaktion Aus Sicht der Arbeitswissenschaft läuft die Interaktion zwischen Mensch und Rechner auf verschiedenen Abstraktionsebenen ab. Zur Beschreibung bietet sich das sog. semiotische Modell nach MORRIS (1946) an, welches eigentlich für die Mensch-Mensch-Kommunikation geschaffen wurde, sich jedoch sehr gut auf die Mensch-Rechner-Interaktion übertragen lässt. Dieses Modell unterscheidet vier Abstraktionsebenen (Abb. 10.79): (1) Auf der physikalischen Ebene, häufig auch als lexikalische Ebene bezeichnet, löst die Aktion des Benutzers ein Ereignis aus, das vom Input/Output (I/O)-Manager interpretiert und in eine entsprechende Antwort umgesetzt
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wird, z.B. bewirkt ein Tastendruck die Darstellung eines Zeichens auf dem Bildschirm. (2) Auf der syntaktischen Ebene wird das Regelwerk festgelegt, welches der Dialogstruktur zugrunde liegt. Ein Dialog-Manager verarbeitet die betreffenden Ereignisse und Zeichenketten in Abhängigkeit des Dialogzustandes, z.B. verlangt ein Eingabemenü die Eingabe von Daten in bestimmte Felder und evtl. auch in bestimmter Reihenfolge. (3) Auf der semantischen Ebene werden Objekte und Funktionen festgelegt, die das funktionale Modell einer Arbeitsaufgabe auf Funktionselemente einer Software abbilden und die notwendigen Werkzeuge zur Erfüllung der Funktionsstruktur auf Benutzerseite bereitstellen, z.B. das Format eines Datensatzes für die betriebliche Ressourcenplanung, dessen Bearbeitungsweise sowie Bedeutung. (4) Auf der pragmatischen Ebene wird die Aufgabenrepräsentation in ein Applikations- und Ablaufschema umgesetzt. Dieses setzt sich aus Objekten und Funktionen der unteren Ebenen zusammen. So lässt sich z.B. ein Algorithmus für eine kundenspezifische Suche von Datensätzen in einem sog. Enterprise Ressource Planning-System (ERP) vom Benutzer in Form eines sog. Makros selbst entwickeln. Das semiotische Interaktionsmodell wurde erstmals in den späten 70er Jahren für die Gestaltung von Benutzungsschnittstellen herangezogen (siehe FOLEY et. al. 2005) und besitzt eine unübersehbare Ähnlichkeit mit den in Kapitel 10.1.2.3.2.1 eingeführten Abstraktionshierarchien. Der Gestaltungsprozess erfolgt i.d.R. topdown, so dass die pragmatische Ebene des Anwendungsprogramms das mentale Benutzermodell widerspiegeln sollte. Hierbei werden benutzbare Objekte, Objekteigenschaften, Relationen zwischen Objekten und Operationen unterschieden, die i.d.R. in sog. Benutzungsmetaphern eingebettet sind.
Benutzer
Computer
Ziel- und Aufgabenrepräsentation
Pragmatische Ebene Konzepte, Modelle
Applikationsmanager
Funktionsrepräsentation
Semantische Ebene Funktionen und Objekte
Werkzeugmanager
Dialogarten
Syntaktische Ebene Dialogstruktur
Dialogmanager
Interaktionsausführung
Physikalische Ebene Dateneingabe und -ausgabe
Display- und I/O-Ebene
Abb. 10.79: Semiotisches Modell der Mensch-Rechner-Schnittstelle in Anlehnung an FOLEY et al. (2005)
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Arbeitswissenschaft
Bei der Gestaltung der physikalischen Ebene müssen neben ergonomischen Gestaltungsaspekten (im Sinne von Kap. 10.1) Möglichkeiten zur Kodierung von unterschiedlichen Informationen mittels Tastengestaltung (Input) und Anzeigegestaltung (Output) betrachtet werden. Dabei sollte die Software-Architektur eine multimodale Interaktion berücksichtigen, so dass verschiedene Ein- bzw. Ausgabekanäle des Menschen (visuell, auditiv, haptisch o.Ä.) für einen Informationsaustausch zur Verfügung stehen. Grundsätze der Dialoggestaltung Gemäß DIN EN ISO 9241-110 sollte sich die Gestaltung von Dialogen bei Tätigkeiten mit sog. Bildschirmgeräten im Sinne der Bildschirmarbeitsverordnung (BildscharbV) an gewissen ergonomischen Grundsätzen orientieren, die sich durch folgende sieben Kriterien beschreiben lassen: (1) Aufgabenangemessenheit Ein Softwaresystem ist aufgabenangemessen, wenn es den Benutzer unterstützt, seine Arbeitsaufgabe zu erledigen, d.h., wenn Funktionalität und Dialog auf den charakteristischen Eigenschaften der Arbeitsaufgabe basieren, anstatt sich lediglich auf die zur Aufgabenerledigung eingesetzten Technologie zu beziehen. (2) Selbstbeschreibungsfähigkeit (Transparenz) Ein Dialog ist in dem Maße selbstbeschreibungsfähig, in dem für den Benutzer zu jeder Zeit offensichtlich ist, in welchem Dialogzustand und an welcher Stelle im Dialog er sich befindet, welche Handlungen unternommen werden können und wie diese ausgeführt werden können. (3) Steuerbarkeit Ein Dialog ist steuerbar, wenn der Benutzer in der Lage ist, den Dialogablauf selbst zu starten sowie seine Richtung und Geschwindigkeit zu beeinflussen, bis das Ziel erreicht ist. (4) Erwartungskonformität (Konsistenz) Ein Dialog ist erwartungskonform, wenn er den aus dem Nutzungskontext heraus vorhersehbaren Benutzeranforderungen und -bedürfnissen sowie allgemein anerkannten Konventionen und Standards entspricht. (5) Fehlerrobustheit (Toleranz) Ein Dialog ist fehlerrobust, wenn das beabsichtigte Arbeitsergebnis trotz erkennbar fehlerhafter Eingaben entweder mit keinem oder mit minimalem Korrekturaufwand seitens des Benutzers erreicht werden kann. (6) Individualisierbarkeit Ein Dialog ist individualisierbar, wenn Benutzer die Mensch-SystemInteraktionen und die Darstellung von Informationen ändern können, um diese an ihre individuellen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Bedürfnisse anzupassen.
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(7) Lernförderlichkeit Ein Dialog ist lernförderlich, wenn er den Benutzer beim Erlernen der Benutzung des interaktiven Systems unterstützt, anleitet und den Wissens- und Kompetenzerwerb fördert. Grundsätzlich müssen diese Kriterien auf allen Ebenen des semiotischen Mensch-Rechner-Modells erfüllt sein. Eine differenzierte Darstellung dieser Kriterien auf den vier semiotischen Abstraktionsebenen findet sich in Abb. 10.80 Ebenen des semiotischen Systems
Gestaltungsgrundsätze Aufgabenangemessenheit
Selbstbeschreibungsfähigkeit
Steuerbarkeit
Erwartungskonformität
Fehlerrobustheit
Individualisierbarkeit
Lernförderlichkeit
Pragmatische Ebene (Modelle und Konzepte)
Genereller Bezug zur Arbeitsaufgabe
Informationen über Modelleigenschaften
Definition eigener Modelle
Übereinstimmung des rechnerinternen mit dem mentalen Modell
Änderung von Modelleigenschaften
Anpassung an individuelle Eigenschaften der Benutzer
Generierbarkeit eigener Ordnungskriterien und Merkregeln
Semantische Ebene (Funktionen und Objekte)
Ausführung von Funktionen dient der Zielerreichung
Verständlichkeit der Auswirkung von Funktionen
Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Funktionen
Funktionen in Analogie zu bisherigen Tätigkeiten
Reversibilität der fehlerhaften Ausführung einer Funktion
Individuelle Bezeichnung von Funktionen und Objekten
Unterstützung unterschiedlicher Lernstrategien
Syntaktische Ebene (Dialogstruktur)
Befehlsbezeichnung in Aufgabenvokabular
Befehlsbezeichnung verdeutlicht Funktion
Wahl zwischen Menüsteuerung oder Kommandoeingabe
Gleiche Bezeichnung gleicher Parameter
Vertauschen der Eingabereihenfolge von Parametern möglich
Präferenzen in der Auswahl von Dialogtechniken
Physikalische Ebene (Dateneingabe und -ausgabe)
Art/Form der Ein-/Ausgabe ist der Aufgabe angepaßt
Verständliche Tastenbezeichnung
Wahl zwischen Maus- oder Tabletteingabe
Einheitliche Tastenbelegung
Einfache Änderung von Tippfehlern
Modifizierbare Tastenbelegung
Wiederauffrischen von Gelerntem ermöglichen Verdeutlichung von Lern- vs. Aufgabeninhalten
Abb. 10.80: Semiotisches Modell und Grundsätze der Dialoggestaltung
10.2.2.1.1 Entwicklung software-ergonomischer LeitlinienĆund Standards Die Softwareergonomie hat sich erst Ende der 80er Jahre als eigenständiges Forschungsgebiet entwickelt. Während bis in die 60er Jahre in erster Linie die Entwickler mit den von ihnen gestalteten Softwaresystemen arbeiteten, erweiterte sich in den 70er und 80 Jahren der Kreis der Spezialisten auf benutzerorientierte Entwickler, es standen jedoch nach wie vor technische Aspekte im Vordergrund. Mit dem Aufkommen preiswerter grafisch-interaktiver Systeme durch die Weiterentwicklung von Hard- und Software rückte in den 90er Jahren der Fokus auf die Benutzerfreundlichkeit, die durch ergonomische Softwaregestaltung für die Mehrzahl von Mitarbeitern bspw. in kaufmännischen Bereichen oder in Entwicklungsabteilungen erreicht werden sollte. Spezialisten anderer Bereiche sollten die Software als „Hilfsmittel“ einsetzen können. Für den Begriff „Softwareergonomie“ wurden die in der DIN EN ISO 9241-110 beschriebenen Grundsätze der Dialoggestaltung ergänzt. Durch die zunehmende Forschung entwickelte sich der Begriff der Softwareergonomie (oder synonym der benutzergerechten Gestaltung der Mensch-Rechner- bzw. Mensch-Computer-Interaktion (MRI/MCI), der Benutzerfreundlichkeit, der Mensch-Rechner-Kommunikation oder Human-Computer Interaction – HCI) für das entstandene gemeinsame Arbeitsfeld der Arbeitswissenschaft, Psychologie und Informatik. Dementsprechend werden diese Perspektiven als Herangehensweise für ergonomische Softwaregestaltung gewählt. Inzwi-
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Arbeitswissenschaft
schen hat sich die Informationstechnologie in weite Bereiche des Berufs- und Privatlebens ausgedehnt. Als neue Leitbilder werden unter dem Begriff der „Software Usability“, der Gebrauchstauglichkeit von Software, die „Virtuellen Umgebungen“ (Virtual Reality, siehe Kap. 10.1.2.1.3.1) und die „Intelligenz von Alltagsgegenständen“ (Ambient Intelligence, WEBER et al. 2005) genannt. 10.2.2.1.2 Physikalische Ebene Für die Gestaltung der physikalischen Ebene der Mensch-Rechner-Interaktion sind im Kapitel 10.1.2.2.2 die wesentlichen Gestaltungsempfehlungen bereits gegeben worden. Die Gestaltung des Arbeitsplatzes bezogen auf Tisch, Stuhl, Ein- Ausgabegeräte, Arbeitsvorlagen (z.B. akustisch aufgenommene Texte, Vorlagenhalter für technische Zeichnungen), Beleuchtung und Klima beeinflusst ebenfalls die Arbeit mit Computersystemen, werden aber nicht zur Software-Ergonomie im engeren Sinne gezählt. Sie sind z.B. Gegenstand der DIN EN ISO 9241-5 und sollten die Benutzung des Bildschirms im Bereich des vorgesehenen Sehabstandes von mindestens 400 mm bei einer Beleuchtungsstärke zwischen 400 und 600 Lux erlauben. Für die ergonomische Gestaltung von Software sind folgende physikalische Aspekte relevant:
x Die Darstellung alphanumerischer Zeichen und graphischer Symbole, wobei Gestalt, Leuchtdichte, Farbe, Kontrast, Auflösung, Verzeichnungen oder Bildwiederholfrequenzen eine Rolle spielen (siehe SCHLICK et al. 2008), x die Darbietung und Anordnung von Daten auf dem Bildschirm, wie die Gruppierung zusammengehörender Informationen, Minimierung von Auswahlbewegungen in Bildschirmmenüs etc. sowie x die Kodierung von Informationen zur Ein- und Ausgabe. Üblicherweise werden aufgrund der visuellen Dominanz bevorzugt die Möglichkeiten einer visuellen Kodierung genutzt. Die Art der Zeichen, verschiedene Eigenschaften der Zeichen wie Größe, Farbe, Lage oder Richtung ist dabei ebenso zu gestalten wie die physikalischen Eigenschaften der Bildschirme. Hierfür bestehen unterschiedliche technische Lösungen, die von klassischen Kathodenstrahlröhren über elektronisches Papier bis hin zu holografischen Displays reichen (siehe SCHLICK et al. 2008). Aufgrund der unterschiedlichen physikalischen Wirkprinzipien und ihrer Größe unterscheiden sich die Displays in ihren physikalischen Eigenschaften, wie z.B. Kontrast, Auflösung, Verzeichnungen oder Bildwiederholfrequenzen und sind entsprechend der Anwendung auszuwählen und einzusetzen. Sie sollten entsprechend der erforderlichen Grenzen an das Wahrnehmungsvermögen und die sensomotorischen und geistigen Fähigkeiten, z.B. für ältere Computernutzer, deren Leistungsvermögen eventuell altersbedingt eingeschränkt ist, für sehbehinderte oder farbenfehlsichtige Benutzer, angepasst werden können. Dies betrifft im Wesentlichen die Darstellung der Schriftgröße (idealerweise zwischen 20 bis 22 Bogenminuten, entspricht bei einem Sehabstand von 400 mm etwa 2 mm), die Leuchtdichte, welche abhängig von der Umgebungshelligkeit möglichst 100 – 200 cd/m2 betragen sollte, die Bildwiederholfrequenz (mind. 80 Herz für eine flimmerfreie Darstellung) sowie das Leuchtdichte-
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Kontrastverhältnis welches mindestens 3:1 betragen sollte (DIN EN ISO 9241-303). So haben bspw. SCHNEIDER et al. (2007) in einer empirischen Studie die altersdifferenzierte Anpassung der Schriftgröße basierend auf dem Sehvermögen der Benutzer untersucht und festgestellt, dass die von Microsoft standardmäßig zur Verfügung gestellte Schriftgröße von 11 Punkten (pt) unter normalen räumlichen Verhältnissen nicht für alle Nutzer gleichermaßen geeignet ist, sondern eine an dem Sehvermögen der Benutzer adaptierte Schriftgröße verwendet werden sollte. Neben diesen Attributen auf dem optischen Kanal kann die zeitliche Variation der genannten Merkmale dem Benutzer zusätzlich Informationen vermitteln. Das Zeitverhalten lässt sich nach Variabilität und Dauer unterscheiden (SHNEIDERMAN 1987), wobei der Einfluss der Dauer gering ist, wenn der Benutzer das Systemverhalten interpretieren und erklären kann (z.B. werden komplexe Operationen als rechen(zeit)intensive Systemaktionen eingeschätzt). Längere Antwortzeiten können, wenn sie bekannt sind, bei komplexen Systemoperationen als Erholzeiten wirken und kreative Prozesse initiieren, während zu kurze Antwortzeiten als ständiger Druck zu neuen Benutzereingaben empfunden werden können (HACKER 1988, BOUCSEIN 2009). Grundsätzlich gilt jedoch, dass bei längeren Antwortzeiten eine Prozesszeitanzeige (z.B. 75% der Software installiert) vorgesehen werden muss. Das heißt es ist sinnvoll, die Zeit als dynamisches Merkmal einer Kodierung zu nutzen. Dies kann bspw. über zeitlich veränderliche Symbole wie einen rotierenden Zeiger, eine rotierende Sanduhr oder ein sich zunehmend füllender Statusbalken (zeitliche Veränderung der Position und Richtung einer Linie) geschehen. So lässt sich kennzeichnen, dass ein Prozess derzeit in Bearbeitung ist und somit weitere Eingaben nicht durchgeführt werden können. Eine umfassende Literaturanalyse zu Antwortzeiten bei der Mensch-RechnerInteraktion findet sich bei BOUCSEIN (2009). Weiterhin stehen auch akustische, haptische oder z.B. in aufwändigen Simulatoren – wie Fahr- oder Flugsimulatoren zu Trainingszwecken –, kinästhetische Arten der Kodierung von Ausgabeinformationen zur Verfügung. Unter dem Aspekt der Konsistenz ist dabei wichtig, Gestaltungsparameter konsequent in einer Software bzw. in verschiedenen Applikationen am Arbeitsplatz einzusetzen. Abb. 10.81 zeigt am Beispiel von verschiedenen Eingabefeldern, dass die verwendeten Gestaltungsparameter beim Benutzer Erwartungen initiieren, denen bei der Softwaregestaltung Rechnung getragen werden muss. Am Beispiel der Lage von Zeichen (siehe Abb. 10.82 oben) wird gezeigt, wie die Information über die logische Zusammengehörigkeit von Radiobuttons, deren Bedeutung (z.B. Links-Mitte-Rechts versus Oben-Mitte-Unten) und deren Lage selbstbeschreibungsfähig dargestellt werden kann. Die beiden im unteren Bereich der Abbildung dargestellten Lösungen bieten durch graphische Symbole (rechts) und die Berücksichtigung der Gestaltgesetze (links) eine bessere Unterstützung, die dem Benutzer signalisiert, was der jeweilige Befehl bewirkt und welche zusammengehörigen Auswahlmöglichkeiten bestehen. In Abb. 10.82 (links unten) ist die Funktion der jeweils für sich abgesehen von ihrem Zustand (ein- / ausgeschaltet) bedeutungsfreien Buttons durch ihre Lage eindeutig definiert.
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Abb. 10.81: (1) Radio-Buttons: nur eine Option kann eingeschaltet werden; (2) Buttons: ein Ereignis wird ausgelöst, wobei Erwartungen bestehen; (3) Checkbox: die Box kann einoder ausgeschaltet werden; (4) alphanumerische Parameter können eingetragen werden, die auch angezeigt werden; (5) alphanumerische Parameter können eingetragen werden, werden jedoch aus Sicherheitsgründen nur als Sternchen angezeigt Objekte ausrichten Linke Seite
L/R Mitte
Rechte Seite
Oben
O/U Mitte
Unten
Objekte ausrichten Links oben
Mitte oben
Rechts oben
Links Mitte
Mitte
Rechts Mitte
Links unten
Mitte unten
Rechts unten
Abb. 10.82: Kodierung durch horizontale Radio-Buttons (oben) oder matrixförmig angeordnet (links unten), grafische Illustration der Ausrichtoptionen, selbstbeschreibungsfähig (rechts unten)
Alternativ veranschaulicht Abb. 10.82 (rechts unten), wie eine platzsparende Visualisierung und Informationskodierung durch graphische Symbole dem Benutzer die Auswirkungen des Befehls in Form eines Menüs verdeutlicht. Dem gegenüber ist die Anordnung der Radiobuttons (oben) wenig transparent und nicht so selbstbeschreibend. Die überwiegende Anzahl von Informationen wird, abgesehen von einzelnen akustischen Warnmeldungen oder der Sprachausgabe, auf Bildschirmen visualisiert. Die Anordnung von Informationen auf dem Bildschirm in verschiedenen Fenstern (Fenstertechnik seit den 70er Jahren) mit der Möglichkeit des
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Übereinanderlegens eröffnet ein breites Spektrum an Gestaltungsmöglichkeiten, vor allem da in der Regel die Bildschirme zu klein für die simultane Darstellung aller Anwendungen sind. Einschränkend wirken sich Bildschirmgröße und -auflösung vor allem auf die Übersichtlichkeit und damit die gute Wahrnehmbarkeit von Informationen aus. Seit den 90er Jahren orientieren sich Benutzungskonzepte an der Metapher eines Schreibtisches, auf dem ebenfalls unterschiedliche Dokumente über- und nebeneinander liegen können. Die Metaphern sind aber kontextabhängig: So verwenden CAD-Systeme Analogien aus Konstruktionstätigkeiten und Konstruktionsarbeitsplätzen oder Enterprise-Resource-PlanningSysteme Zeitbanddarstellungen zum aufgabenbezogenen Einsatz von Menschen, Maschinen und Material. Hier sind in absehbarer Zeit keine wesentlichen Veränderungen zu erwarten. Bei Eingabe- wie auch Ausgabegeräten ist jedoch die Tendenz zu beobachten, die Geräte aufgabenspezifisch weiterzuentwickeln. Dies bietet sich insbesondere dort an, wo ohne Tastatur oder Maus mit alternativen handgeführten Eingabegeräten (z.B. stiftbasierte Systeme) gearbeitet wird. Ein Beispiel ist der Tablet-PC (siehe Abb. 10.83 links), eine Weiterentwicklung des „Notebooks“, der neben Tastatur und Maus über einen eingabefähigen Touchscreen verfügt, so dass Informationen per Stifteingabe manipuliert und in standardisierte Symbole (alphanumerische Zeichen, grafische Symbole) umgesetzt werden können. Hierbei werden Handschriften- und Handskizzenerkennung genutzt.
Abb. 10.83: Tablet PC der Fa. Fujitsu Siemens(links); CyberGlove II - Drahtloser Datenhandschuh von Immersion (rechts)
Bei der Entwicklung neuer Eingabegeräte spielt neben dem Anwendungsgebiet jedoch auch die Benutzergruppe eine wichtige Rolle. So hat sich gezeigt, dass vor allem ältere Benutzer mit den traditionellen Eingabegeräten, wie beispielsweise der Maus, Probleme haben (WALKER et al. 1996, SCHNEIDER et al. 2008). Eingabemedien, die eine direkte Manipulation ermöglichen, wie bspw. ein Touchscreen oder eine blickbasierte Eingabe sind für diese Nutzergruppe besser geeignet (SCHNEIDER et al. 2008).
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Auch im Bereich der klassischen Informationseingabe und -ausgabe werden neue Systeme entwickelt. Dies zeigen z.B. Produkte wie der „Datenhandschuh“, die 3D-Maus oder das Head-Mounted Display (CAKMAKCI u. ROLLAND 2006) zur Interaktion in einer „Virtuellen Realität“ (VR) (siehe Kap. 10.1.2.1.3.1). Besonders im Anwendungsfeld der Virtuellen Umgebungen werden zunehmend auch Tracking-Systeme oder Verfahren zur Gestikerkennung zur Eingabe von Daten und zur Steuerung der Systeme eingesetzt. Mit dem Einsatz von VR, deren Kombination mit realen Objekten auch als sog. Augmented Reality (AR, erweiterte Realität) bezeichnet wird, erschließen sich z.B. in der Konstruktion neue Möglichkeiten der Benutzerinteraktion. Dies erfolgt neben der pseudo-natürlichen Interaktion mit dem System mittels Gestenerkennung oder Spracheingabe auch auf Seiten der Datenausgabe. Die Leistungsfähigkeit der Computer ermöglicht es hier inzwischen beinahe real wirkende Umgebungen oder Objekte dreidimensional, z.B. in einer CAVE oder auf einer Workbench, darzustellen. Der Benutzer kann somit in eine nicht oder nur in Teilen reale Welt eintauchen. Dieses „Eintauchen“ wird auch als Immersion bezeichnet. Weitere Informationen finden sich in Kapitel 10.1.2.1.3. 10.2.2.1.3 Syntaktische Ebene Unter einem Dialogsystem wird im Sinne der Norm „Grundsätze ergonomischer Dialoggestaltung“ (DIN EN ISO 9241-110) ein Ablauf verstanden, „bei dem der Benutzer zur Abwicklung einer Arbeitsaufgabe […] Daten eingibt und jeweils Rückmeldung über die Verarbeitung dieser Daten erhält“. Ein Dialog ist im Einzelnen als die Interaktion zwischen einem Benutzer und einem Dialogsystem definiert. Ein Dialog ist selbstbeschreibungsfähig, wenn jeder einzelne Schritt verständlich ist oder zu jedem Zeitpunkt Erläuterungen über Programmschritte abrufbar sind. Die Anordnung und Bezeichnung der einzelnen Dialogschritte sollte dabei der Aufgabenstellung angepasst werden (Aufgabenangemessenheit). Das Respektieren gewohnter Arbeitsweisen durch Analogien in der Bedienung des Systems und ein einheitliches Dialogverhalten kennzeichnen ein erwartungskonformes Systemverhalten. So sollen z.B. ähnliche Parameter bei verschiedenen Funktionen gleich bezeichnet oder aus anderen Arbeitsbereichen übertragen werden (z.B. Befehlseingabe zur Bemaßung einer Nut durch fertigungsprozesstypische Bezeichnungen, siehe Abb. 10.84). Für Antwortzeiten des Systems sollen kalkulier- und absehbare Dauern und Ergebnisse angestrebt werden. Durch die eindeutige, dem gängigen Aufgabenvokabular folgende Bezeichnung von Befehlen bzw. die durchgängig gleiche Bezeichnung von Parametern wird nicht nur die Befehlsfunktion verdeutlicht sondern auch das Erlernen bzw. „Wiederauffrischen“ schon erlernter Operationen gefördert. Auch die Gestaltung von Symbolen, die inhaltliche Gruppierung bzw. Zusammenfassung von zusammenhängenden Befehlen und Parametern, die Reihenfolge (alphabetisch auf- oder absteigend sortiert, semantisch strukturiert, etc.), die Form der Schachtelung von Menüs wie auch die Anordnung von Menüs (pull
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down versus pull out), die Anordnung von Menüpunkten (als Liste oder im Kreis), die Platzierung der Menüs auf dem Bildschirm bzw. in Relation zu Fenstern, die Anzahl gleichzeitig dargestellter Menüs etc. sind Gestaltungsbereiche, die zu einem transparenten Dialog beitragen.
Abb. 10.84: Maßangaben zur Eingabe einer Nut in einem CAD-System
Art und Umfang von Ein- und Ausgaben, Auswahl und Reihenfolge von Arbeitsmitteln und die Geschwindigkeit des Ablaufs sollen im Sinne der Steuerbarkeit vom Benutzer beeinflusst werden können. Im Zuge der Weiterentwicklung von interaktiven Benutzeroberflächen, die auf selbstbeschreibungsfähigen Dialogen beruhen, werden zunehmend die sog. Techniken der direkten Manipulation eingesetzt. Alle Objekte von Interesse sind sichtbar und Operationen werden durch direkte manuelle Manipulation (SHNEIDERMAN u. PLAISANT 2004) der Objekte durchgeführt, z.B. das Löschen einer Datei durch Selektieren und Schieben in einen Papierkorb. Der Papierkorb selbst wiederum kann geöffnet werden (siehe Abb. 10.85), um beispielsweise versehentlich gelöschte Dateien wieder aus dem Papierkorb „herauszuholen“.
Abb. 10.85: Papierkorb leer (links) und mit gelöschten Dokumenten (rechts)
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Um dem Kriterium der Individualisierbarkeit gerecht zu werden, kann individuell zwischen dem benutzergeführten Dialog (Zugriff auf alle möglichen Befehle über z.B. Kommando- oder Tabletteingabe) und dem systemgeführten Dialog (Auswahl aus vom System dargebotenen Befehlen über z.B. ein dynamisches Bildschirmmenü) unterschieden werden. Ungeübte Benutzer tendieren dazu, eher aus einem Ordnungsschema (Menü) auszuwählen. Der Vorteil dieser Technik liegt darin, dass auf das „Eingeben von Befehlen“ weitestgehend verzichtet und damit die mentale Beanspruchung durch Analogiebildung stark vermindert werden kann. Demgegenüber bevorzugen geübte Benutzer eher die direkte Anwahl über das Eingeben eines Kommandos, wodurch einzelne Befehle zusammengefasst werden können und dadurch die Aufgabenbearbeitungszeit wesentlich reduziert werden kann. Direkt manipulative Systeme sind jedoch häufig mit Menüsystemen ausgestattet, so dass vom Benutzer zwischen beiden Dialogformen gewählt werden kann. Beide Arten haben je nach Qualifikation des Benutzers und Befehlsumfang des Programms ihre Berechtigung. Ein Wechsel zwischen beiden sollte, wie dies bei Mischformen, sog. hybriden Dialogtechniken der Fall ist, beliebig möglich sein. Beispielsweise bieten CAD-Systeme häufig die Möglichkeit sowohl über systemgeführte Dialoge als auch über Kommandozeilen Befehle entgegenzunehmen (siehe Abb. 10.86).
Abb. 10.86: Unterschiedliche Dialogarten zur direkten Manipulation oder in Form einer Kommandosprache bei einer CAD-Anwendung
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Die Fehlerrobustheit von Softwaresystemen ist abhängig von der Art des Fehlers. Es soll trotz einer fehlerhaften Eingabe das gewünschte Ziel mit minimalem oder ohne Korrekturaufwand erreicht werden, z.B. durch das Verändern einer Eingabe statt einer Neueingabe. Dies kann durch Kontrollfunktionen, wie einer Plausibilitätsprüfung (z.B. darf die Eingabe eines Bauteilmaßes keine Buchstaben enthalten) erfolgen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Eingabe auf den Fehler hinweist. Vermeintliche Fehler müssen darüber hinaus als Teil von Lernvorgängen (Exploration) und somit als lernförderliche Handlung bezogen auf eine verständliche Systemantwort (siehe auch Selbstbeschreibungsfähigkeit) akzeptiert werden. Dazu sollte die Reihenfolge der Parametereingabe sowie im Rahmen sinnvoller Grenzen auch der Befehle dem individuellen Arbeitsprozess angepasst werden können, um im Verlauf des Arbeitsprozesses entstandene und erst einige Arbeitsschritte später bemerkte Fehler gezielt korrigieren zu können, ohne korrekt durchgeführte Teile des Arbeitsprozesses wiederholen zu müssen (Korrigieren einzelner Maße in einer Eingabemaske). Ein unkontrolliertes Beenden des Programms muss ebenso vermieden werden wie der „Absturz“ des gesamten Betriebssystems. Dabei sollten unterschiedliche Arten menschlicher Fehler berücksichtigt werden. Fehler lassen sich nach ZAPF et al. (1999) nach Fehlleistungen und Fehlhandlungen unterscheiden, wobei die Intention der Person bezogen auf den verursachten Fehler im Vordergrund steht. Fehlleistungen entstehen, wenn der Benutzer die richtige Intention hatte, aber Probleme in der Entwicklung und Ausführung eines Handlungsplanes auftraten (z.B. Tippfehler). Fehlhandlungen dagegen setzen die Bildung einer falschen Intention voraus und sind insofern schwer interpretierbar (z.B. Konstruktion eines Bauteils und Verwechslung von Durchmesser und Radius). Aus formal richtigen Eingaben muss auf die Intention des Benutzers geschlossen werden, um Fehlhandlungen nachzuweisen. Dies ist aufgrund unvollständiger Fehlerkriterien oft nicht möglich. Bei Funktionen, deren Ausführung weitreichende Konsequenzen hat (z.B. Löschen von Dateien oder Eingaben), führt eine zusätzliche Bestätigungsanforderung zu einer erneuten Kontrolle durch den Benutzer. Somit kann eine vorhergegangene Fehlhandlung unter Umständen rückgängig gemacht werden. Solche Bestätigungen sollten jedoch nicht zu häufig angefordert werden, da diese sonst zur Routine werden, ungeprüft bestätigt oder verworfen werden und somit ihren kontrollierenden Charakter verlieren. Bei geringer Übung des Benutzers ist eine hohe mentale Beanspruchung im Umgang mit dem Softwaresystem zu erwarten und damit auch eine hohe Fehlerhäufigkeit. Der Einsatz eines systemgeführten Dialogs und die damit verbundenen Vorteile entlasten in diesem Fall dadurch, dass z.B. nur die Auswahl eines Befehls statt ständig alle Befehle, die aktuell aufrufbar sind, im Gedächtnis vorgehalten werden müssen. Die Gestaltung benutzereigener Menüs (Tablett- oder Bildschirmmenüs) entspricht einem durch den Benutzer gesteuerten systemgeführten Dialog und kann diese Vorteile nutzen. Das Modifizieren des Menüs muss leicht durchführbar sein, um Zusatzbelastungen durch Programmierarbeiten zu vermeiden. Ein Beispiel dafür ist die Menüauswahl „Erweiterte Optionen“, die zusätzli-
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che Schaltflächen zur Einstellung detaillierter Parameter einblendet. Das Zusammenfassen von Befehlen und die Definition benutzereigener Kurzbefehle bspw. in Form von Freihandsymbolen, einer weiteren Form transparenter Dialogtechnik, mit deren Hilfe Systeme gesteuert werden können, erweitert die Möglichkeiten zur Gestaltung individueller Dialogformen. Auch hier gilt, dass möglichst der Benutzer selbst durch eine entsprechende Softwaregestaltung in die Lage versetzt werden soll, die Software seinen individuellen und aufgabenspezifischen Bedürfnissen anzupassen. Das Dialogsystem sollte Techniken zur Anpassung an Sprache und andere kulturelle Eigenheiten des Benutzers zur Verfügung stellen. Auch sollte das Dialogsystem die Möglichkeit bieten, zwischen alternativen Formen der Darstellung zu wählen, um individuellem Arbeitsstil und Vorlieben des heterogenen Benutzers gerecht zu werden. So bieten moderne Betriebssysteme wie MAC OS X und Windows Vista durch „Aero-Optik“ transparente und dreidimensional gestaltete Fenster, die dynamisch Benutzervorlieben antizipieren. Oft sind die gewählten Konfigurationen allerdings ergonomisch nicht günstig sondern wirken lediglich ästhetisch. Hilfestellungen sollen aus einer aufeinander abgestimmten Kombination aus Benutzerhandbüchern und Informationen auf dem Bildschirm (Auswahl möglicher Systemantworten mit den entsprechenden Auswirkungen, HELP-Kommando, Online-Tutorial etc.) bestehen. Ein computergestütztes Hilfesystem muss kontextsensitiv sein, d.h. abhängig vom momentanen Bearbeitungsstatus, in dem eine Hilfe angefordert wird. Die Hilfestellung sollte direkt zu dem Bearbeitungsstatus erfolgen, ohne dass der Benutzer erst aufwendige Abfragen des Systems durchlaufen muss. Dies kann bspw. durch kontextabhängige „Tooltips“ erfolgen, die Informationen über einzelne Elemente der Benutzungsschnittstelle und deren Funktion liefern. Die Genauigkeit der Erklärungen hat einen Einfluss auf Nutzen und Anwendungshäufigkeit der Hilfen und muss an verschiedene Benutzergruppen angepasst werden können (MOLL u. SAUTER 1987). Sind die Hilfestellungen zu ausführlich, werden sie von qualifizierten Benutzern nicht genutzt und Detailinformationen verwirren den Anfänger. Eine Abhilfe hierfür bieten Hilfefunktionen, die unterschiedliche Detailierungsgrade und Beispiellösungen bieten, die durch den unerfahrenen Nutzer auf die bei ihm vorherrschende Fragestellung übertragen werden können. 10.2.2.1.4 Semantische Ebene Die Benutzung eines Softwaresystems als ein Werkzeug zur Lösung von Arbeitsaufgaben ist auf der semantischen Ebene repräsentiert. Daraus werden die im System implementierten Funktionen und die mit dem System definierbaren und manipulierbaren Objekte der Aufgabe angemessen gewählt und gestaltet. Der Leistungsumfang eines Systems setzt sich dabei zusammen aus Art und Umfang der Funktionen bezogen auf zu verrichtende Operationen und aus Art und Umfang der Objekte, mit deren Hilfe die Ziele und den Arbeitsaufgaben zugrundeliegenden Modelle abgebildet werden können. Softwareergonomische Defizite auf der semantischen Ebene liegen oft in der mangelhaften Übereinstimmung der Objekte
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und Funktionen des Anwendungssystems mit den im mentalen Modell des Benutzers repräsentierten Konstrukten. LUCZAK et al. (2006) nennen einige für die Gestaltung einer Benutzungsoberfläche von CAD-Systemen auf semantischer Ebene wesentliche Funktionen. So ist eine weitestgehende direkte Manipulation der Objekte mittels geeigneter Eingabegeräte zu gewährleisten. Dazu gehört neben der unkomplizierten Objekterzeugung auch deren geometrische Veränderung. Dabei ist bspw. aufgrund der notwendigen Exaktheit des Systems auch ein unmittelbares numerisches Feedback notwendig. Für einen ersten Entwurf, meist nicht bis in alle Details ausgearbeitet, sondern auf einen verhältnismäßig groben mentalen Modell begründet, sollte eine Handskizze erstellt werden können, über deren Transformation in exakte CAD-Elemente der Nutzer anschließend selbst entscheiden kann. Bei der Objekterzeugung in einem CAD-Programm ist es für den Benutzer von Vorteil, den chronologischen Ablauf der realen Fertigung eines Bauteils auch bei der Erzeugung in der CAD-Umgebung abzubilden, z.B. wird das nachträgliche Entfernen von Material an einem Objekt (das z.B. dem realen Fräsen oder Drehen entspricht) dem nachträglichen Hinzufügen vorgezogen. Die Software kann dieses Verfahren durch eine entsprechende Strukturierung der virtuellen Fertigungsschritte vorgeben. Funktionen Art und Umfang der implementierten Funktionen beeinflussen die Art der Arbeitsteilung zwischen Benutzer und Software, in dem Teilaufgaben auf die Software übertragen werden können (z.B. mittels Bemaßungsfunktion in CAD-Systemen). In CAD-Systemen wird dies häufig mit sog. „Toolbox“-Funktionen realisiert, die je nach Absicht des Anwenders automatisch eingeblendet werden. Ein Beispiel für solch eine von der Software bereitgestellte Funktion aus einer CAD-Anwendung ist die sog. „Assembly“-Funktion (siehe Abb. 10.87). Nachdem mehrere Bauteile erstellt wurden kann in den Montage-Modus gewechselt werden, der bspw. das parallele oder orthogonale Ausrichten von Flächen bei der Zusammenstellung von Baugruppen übernimmt. Die Gestaltung der Funktionen hat aber auch entscheidenden Einfluss auf das Dialogverhalten des Systems (z.B. Steuerbarkeit von Dialogen nur in den durch die Funktionen zugelassen Grenzen) und damit auf den Arbeitsablauf. So stellt die Software dem Anwender alle nötigen Werkzeuge zur Assemblierung bereit, die vom Benutzer zu erledigenden Tätigkeiten werden dadurch stark reduziert. Grundsätzlich sollte hierfür durch den Benutzer zwischen unterschiedlichen Funktionen gewählt werden oder innerhalb einer Funktion zwischen unterschiedlichen Lösungswegen gewechselt werden können. Je mehr Voraussetzungen und damit Regeln und Funktionen die zu manipulierenden Objekte selbst mit sich tragen und damit für das Benutzen einer Funktion existieren, desto geringer ist der Freiraum während der Ausführung der Funktion und desto mehr Vorarbeiten müssen durchgeführt werden. Auch bei der benutzerspezifischen Veränderung eines Systems muss beachtet werden, dass zusätzliche Funktionen ein Softwaresystem größer,
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komplexer und somit auch langsamer und fehleranfälliger machen können. Damit entstehen durch existierende Funktionen Beeinträchtigungen, die kritische Fehler und mangelnde Benutzbarkeit verursachen können. Hingegen hat der Benutzer so während der Funktionsausführung eine ständige Handlungskontrolle, da er selbst jederzeit über Reihenfolge, Art und Geschwindigkeit auszuführender Funktionen entscheiden kann.
Abb. 10.87: Assembly-Modus eines CAD-Programms: Die Software stellt dem Benutzer die nötigen Werkzeuge bereit, sobald vom Zeichnen- in den Assembly-Modus gewechselt wird. Die Box rechts stellt dabei alle bereits fertigen Teile bereit, die zu der Baugruppe gehören, die nun assembliert wird
Die direkte Manipulation von graphischen Objekten stellt in gewissen Grenzen einen benutzergeführten Dialog dar, wenn nur die für den jeweiligen Zeitpunkt relevanten Funktionen in Form von Objekten dargestellt werden. Nicht verfügbare Funktionen können ausgeblendet, „ausgegraut“ oder auf eine andere Weise gekennzeichnet werden. Zu empfehlen ist, Benutzungsoberflächen der jeweils gewünschten Funktion und den sonstigen Absichten des Anwenders anzupassen, sei es durch kontextsensitive Menügestaltung, interindividuelle, benutzerprofilabhängige Anpassungen oder eine durch Administratoren voreinstellbare Funktionsauswahl. Die Rücknahme der letzten Befehle bzw. Funktionsstufen durch UNDO-/ REDO-Funktionen und das ausreichend häufige Zwischenspeichern des Arbeits-
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ergebnisses verhindern, dass nur eine erneute Eingabe die Auswirkungen von Fehlhandlungen beseitigen kann. Objekte Die Art der Datenstruktur, die in einem Softwaresystem erzeugt, verwaltet und manipuliert werden kann, bestimmt zu wesentlichen Teilen die Bearbeitungsmöglichkeiten von Arbeitsaufgaben. Existiert bspw. in einem CAD-System die Möglichkeit, die Zusammengehörigkeit einzelner Bauteile zu einer Baugruppe zu definieren, so kann automatisch ein Überblick bspw. über Gewicht und Umfang des Gesamtproduktes erstellt und evtl. modifiziert werden. Dazu müssen bspw. alle Geometrieinformationen in eine homogene und konsistente Datenstruktur eingebunden werden. Nur so können Zusammenhänge zwischen einzelnen Objekten durch den Benutzer wohl definiert und durch das System automatisiert verwaltet werden. Im Beispiel des Assembly-Modus kann die Montage verschiedener Teile durch eine geeignete Datenstruktur stark vereinfacht werden, indem z.B. die Oberflächen unterschiedlicher Teile bei gegenseitiger Eignung automatisiert aneinandergefügt werden können und/oder eine Durchdringung von Teilen nicht erlaubt wird. Diese Datenstrukturen sollten darüber hinaus dafür genutzt werden, dem Nutzer auf Anfrage oder je nach Arbeitsschritt laufend aktuelle Informationen über Position und Geometrie der durch ihn erstellten Objekte bereitzustellen (LUCZAK et al. 2006). Andererseits müssen beim Fehlen einzelner Objekte in einer Datenstruktur, die zur Bearbeitung der Arbeitsaufgabe notwendig ist, unterschiedliche Datenträger (verschiedene Programme oder schriftliche Unterlagen etc.) parallel gehandhabt werden, was ebenfalls Auswirkungen auf die Tätigkeitsstruktur hat. 10.2.2.1.5 Pragmatische Ebene Welche Aufgaben in welcher Form mit einem Softwaresystem bearbeitet werden können, wird durch die Gestaltung des Softwaresystems auf der pragmatischen Ebene bestimmt. So besteht z.B. meist zu Beginn der Konstruktionsarbeit mit einem CAD-System bereits eine abstrakte Idee eines konstruktiven Lösungsansatzes im Kopf des jeweiligen Benutzers (SCHMIDT 2004). Diese sollte – der Aufgabe angemessen – zunächst schnell „zu Papier“ gebracht werden können. Die Gesamtheit der bereits in der Skizzenphase notwendigen Funktionen definiert die Struktur unterschiedlicher Objekte und die Modelle, mit denen ein Benutzer Arbeitsaufgaben löst. Zum Beispiel bilden die geometrischen Objekte eines CAD-Systems (Punkt, Linie, Kreis, etc.) in ihrer Gesamtheit das geometrische Modell eines Bauteils, mit dem der Benutzer operiert. Bei der Modellerstellung soll dem Benutzer z.B. auch die Möglichkeit gegeben werden, einige Modellinformationen (z.B. Geometrieinformationen) zunächst undefiniert zu belassen und diese mit zunehmender Konkretisierung des Modells erst später festzulegen. Hierbei können auch sog. Feature-Bibliotheken hilfreich sein, die basierend auf vorab festgelegten Logiken bestimmte funktionelle Zusammenhänge, wie z.B. den Verlauf einer Phase oder Modellelemente (z.B. die Geometrieverhältnisse einer Nut
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für genormte Passfedern), bereitstellen. Dabei bestimmen nicht nur die Eigenschaften des einzelnen Objektes die Arbeitstätigkeit, sondern auch die Verbindungen der Objekte untereinander und die Verknüpfung zu einem Gesamtmodell. Lassen sich z.B. Abhängigkeiten zwischen Objekten definieren (im Falle eines CAD-Systems z.B. zwischen einer Bemaßung und den dazugehörenden geometrischen Objekten), so wird damit sichergestellt, dass im Falle einer Veränderung eines Objektes andere Objekte ebenfalls z.B. aufgrund gegebener Abhängigkeiten verändert werden. Diese Änderung der Modelleigenschaften muss möglich sein, ohne gravierende Fehler oder gar Dateninkonsistenz zu provozieren. Neben der Erstellung eigener Modelle oder deren Änderungen sollten prozedurale Strukturen im Sinne von Konzepten definiert werden können, in denen Methoden zur Bearbeitung algorithmisch abgelegt werden (sog. Makros). Damit wird die Arbeitsperson zunehmend selbst zum Programmierer, da sie Programmiertätigkeiten (Erstellen von Anwendungsprogrammen, Subroutinen etc.) zusätzlich zur eigentlichen Arbeit ausführt. Dadurch wird ein Benutzer in die Lage versetzt, für definierte Teilaufgaben Lösungskonzepte auf den Rechner zu übertragen. Der Konstrukteur soll in die Lage versetzt werden, das systemeigene CAD-Modell mit wenig mentaler „Übersetzungsleistung“ modifizieren zu können. Daher sollte das interne Datenmodell an die beim Benutzer vorliegende Modellrepräsentation eng angelehnt sein (LUCZAK et al. 2006). 10.2.2.2 MethodenĆzurĆEvaluationĆvonĆSoftwareĆ Die Vielzahl an Gestaltungsdimensionen ist dafür verantwortlich, dass in frühen Phasen der Entwicklung nur selten eine ergonomisch „optimale“ Software gefunden werden kann. Eine empirische Analyse und Evaluation von Softwaresystemen ist daher trotz der zahlreichen genormten Gestaltungskriterien notwendig. Sie ist zwar meist aufwendig, ihr Aufwand kann sich aber bereits nach kurzer Zeit durch bessere Benutzbarkeit und damit effektivere und effizientere Nutzung sowie hierdurch zufriedenere Benutzer und Kunden amortisieren. Eine Evaluation ist nur möglich, wenn für spezifische Aufgaben Prüfkriterien mit nachprüfbaren Parametern hinterlegt werden können. Ohne einen zu hohen Anteil subjektiver Interpretationen des Bewerters muss entschieden werden können, ob bzw. in welchem Maße eine Anforderung erfüllt wird oder nicht. Dies bedeutet, dass nur in definierten Arbeitszusammenhängen und teilweise nur in Abhängigkeit von bestimmten Benutzertypen beurteilt werden kann, ob und in welcher Form eine Software ergonomisch gestaltet ist. Derartige Zusammenhänge werden auch als (Nutzungs-)Szenarien bezeichnet, mit deren Hilfe sowohl Anforderungskriterien definiert als auch Gestaltungszustände bewertet werden können. Folglich ist es sinnvoll, die Analyse der Benutzer bereits möglichst früh, evtl. auch im Rahmen der stetigen Benutzerpartizipation, in den Softwareerstellungsprozess mit einzubeziehen. Die Möglichkeiten der Klassifizierung von Methoden zur Evaluation von Softwaresystemen sind vielseitig, ein Ansatz ist in PIEPENBURG u. RÖDIGER (1989)
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dargestellt. Demnach können Evaluationsmethoden sowohl hinsichtlich ihrer Herangehensweise in formale und experimentelle Methoden, als auch hinsichtlich ihres Evaluationszeitpunktes in formative und summative Verfahren unterteilt werden. Dabei lässt sich die Art der Datengewinnung auf einem Kontinuum zwischen subjektiven und objektiven Evaluationsverfahren abbilden. Die Norm ISO/TR 16982 (Ergonomie der Mensch-System-Interaktion-Methoden zur Gewährleistung der Gebrauchstauglichkeit, die eine Benutzer-orientierte Gestaltung unterstützen) fasst zahlreiche ergonomische Bewertungsmethoden zu einem Überblick zusammen und hinterlegt die benutzerorientierte Gestaltung aus DIN EN ISO 13407 (siehe Kap. 10.3.1.2) mit zahlreichen Verfahren, wie u.A. der BenutzerBeobachtung, unterschiedlichen Fragebögen, Laborexperimenten, WalktroughEntwürfen, Experten-Gutachten und Laien-Befragungen für Entwickler und Projektleiter. Zur Entdeckung und Behebung von Gestaltungsmängeln oder zur Entwicklung von Gestaltungsalternativen im Entwicklungsprozess werden formative Verfahren eingesetzt. Maßgeblich lassen sich hierfür Verfahren der qualitativen Datenerhebung einsetzen. Insbesondere die Beobachtung sowie die Protokollierung des Verhaltens oder die Methode des lauten Denkens (VAN SOMEREN et al. 1994) haben sich dabei als wertvoll erwiesen. Weiterhin lassen sich auch Fragebögen wie bspw. IsometricsL (WILLUMEIT et al. 1996) in diesem frühen Stadium einsetzen. Durch die Einbeziehung erfahrener Usability-Experten können diese im Rahmen einer sog. Usability Inspection aufgrund ihrer Erfahrung wahrscheinliche Probleme der Endanwender vorhersagen, wodurch auch bereits früh ergonomische Probleme erkannt werden können. Nach NIELSEN (1994b) können dabei durch einen Gutachter bereits 38%, durch fünf Gutachter schon 70% und durch 10 Gutachter beinahe 90% der Usability-Probleme identifiziert werden. Zu den hierfür eingesetzten Verfahren gehört der Cognitive Walkthrough (WHARTON et al. 1994), das expertenbasierte „Thinking Aloud“ (BOREN u. RAMEY 2000) oder auch das „Verbal Protocol“ (NEWELL u. SIMON 1972). Sowohl bei der ergonomischen Gestaltung von Softwaresystemen als auch zur Evaluation noch nicht vollständig implementierter Softwarekonzepte können formale Methoden der Softwareevaluierung eingesetzt werden. Hierzu zählen Checklisten (z.B. Screenchecker für die Ausgabecharakteristika von Bildschirmen, TBS-Liste für Bildschirmarbeitsplätze (siehe POHLANDT et al. 1999) ebenso wie Fragebögen (z.B. IsoMetrics (siehe GEDIGA u. HAMBORG 1999) und Kataloge von Prüfkriterien (EVADIS II, siehe OPPERMANN et. al. 1992). Anforderungen an Software werden somit formal und mehr oder weniger losgelöst vom Anwendungs- und Benutzungskontext beschrieben und bewertet. Eine weitere Möglichkeit der Evaluation bietet die Simulation der MenschRechner-Interaktion. Hierdurch wird das Benutzerverhalten durch ein quantitatives Benutzermodell formalisiert beschrieben und der Interaktionsablauf mit einem Rechnersystem simuliert. Hierzu lassen sich unterschiedliche Verfahren aus der Familie der GOMS-Methoden einsetzen (z.B. das klassische GOMS-Modell (Goals, Operators, Methods and Selection Rules), das (N)GOMS(L)-Modell: (Na-
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tural) Goals, Operators, Methods und Selection Rules (Language) oder das KLM (Keystroke Level Model) (DIAPER et al. 2004). Wesentlicher Nachteil derartiger Simulatoren ist, dass bis heute nur determinierte Arbeitsabläufe beschrieben werden können. Dies ist bei einer Vielzahl von Arbeitsaufgaben nicht möglich, da beim Benutzer ein hohes Maß von Autonomie in der Aufgabenausführung vorliegt. Selbst „weich“ formulierte Benutzermodelle (z.B. FUZZY-GOMS, KARWOWSKI et al. 1990) bieten hier nach aktuellem Stand der Forschung nur wenig Abhilfe. Experimentelle Methoden versuchen dagegen, mit „realen“ Benutzern und „echten“ Aufgaben fertige Softwareprodukte oder -prototypen im Einsatz zu bewerten. Summative Verfahren dienen dabei der Feststellung und der Dokumentation eines Qualitätsstandards eines Prototypen oder eines fertigen Produktes am Ende eines Entwicklungsprozesses oder bei modularisierten Produkten für einzelne Softwareelemente an markanten Zwischenstufen. Jede größere Softwarefirma unterhält heutzutage eigens dafür aufgebaute „Usability Labs“. Mit zum Teil unterschiedlichem Aufwand an Versuchsmethodik (Beobachtung, Befragung, Messprotokolle wie Keystroke-Protokolle, Bildschirmmitschnitte etc.) wird versucht, das Benutzerverhalten bei der Aufgabenbearbeitung möglichst präzise zu erfassen, zu interpretieren und gegebenenfalls Rückschlüsse auf ergonomische Defizite in der Softwaregestaltung zu ziehen. Wesentliches Problem dabei ist, dass zwar die Eingabe und die Ausgabe von Informationen erfasst werden kann, aber auf die mentalen Leistungen des Benutzers nur schwer Rückschlüsse gezogen werden können. Methoden wie „lautes Denken“ der Probanden oder die nachträgliche Konfrontation des Benutzers mit aufgezeichnetem Videodokumentationsmaterial und eine entsprechende Befragung (Videoselbstkonfrontation) sind Methoden, die hier tiefere Erkenntnisse liefern sollen. Problematisch ist dabei häufig der anfallende Analyse- und Auswertaufwand, weshalb diese empirischen Evaluationsmethoden, deren Ergebnisse zwar valide sein können jedoch mit sehr hohem Aufwand verbunden sind, nur gezielt eingesetzt werden sollten. Eine detaillierte Darstellung von Methoden des sog. Usability-Engineerings, die auch zur ergonomischen Beurteilung von Software eingesetzt werden können, findet sich in Kapitel 10.2.1.3.2.4. Darüber hinaus können die bereits in Kapitel 3.3.3 ausführlich dargestellten Verfahren zur Bewertung der menschlichen Informationsverarbeitung genutzt werden, um informatorische Engpässe beim Softwarebenutzer zu identifizieren. 10.2.2.3 KommunikationĆzwischenĆBenutzerĆundĆEntwicklerĆ Die Arbeit mit Softwaresystemen sollte nicht durch die Sichtweise des Entwicklers sondern durch den Benutzer des Systems bestimmt werden. Gemäß einer Erhebung der Standish Group (STANDISH GROUP INTERNATIONAL 1999) ist diese Maßnahme mit einem Beitrag von 20% zum Projekterfolg die wichtigste. Eine frühzeitige Kommunikation von Entwickler und Benutzer erhöht die Akzeptanz und spart in der Regel Kosten, da schon vor der eigentlichen Entwicklungs-
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phase detaillierte Anforderungen an das Programm festgelegt werden können. In Kapitel 10.3.1.2 wird die prinzipielle iterative Vorgehensweise bei der softwareergonomischen Gestaltung ausführlich dargestellt. Die Projektorganisation bei einer iterativen Entwicklung erfordert Planungs- und Managementkompetenz und hohe kommunikative Fähigkeiten zur effektiven Zusammenarbeit der verschiedenen Fachleute. Nach Abb. 10.98 identifiziert die Analyse des Nutzungskontextes neben den Anforderungen der Arbeitsaufgabe die Eigenschaften der Arbeitsumgebung und der Beteiligten, die für das Softwaresystem relevant sind. Um dann die Anforderungen entwickeln und ableiten zu können, muss die Arbeitsaufgabe gut verstanden sein, um zu entscheiden, welche Aufgabenunterstützung sinnvoll ist und wie die Aufgabe technisch umsetzbar ist. Denn Benutzerfreundlichkeit hängt von der „richtigen“ Arbeitsaufgabe oft wesentlich stärker ab als von der physikalischen, syntaktischen oder semantischen Oberflächengestaltung. Die Entwicklung von Prototypen dient der Darstellung der Entwurfsidee mit dem Ziel ein gemeinsames Verständnis von Anwendern und Entwicklern zu erreichen. Diese Prototypen werden getestet und bewertet und führen entweder zum Projektabschluss oder zur Überarbeitung und Anpassung. Eine Beteiligung des Benutzers am Entwicklungsprozess kann auch dazu führen, dass Software so flexibel gestaltet wird, dass der Benutzer Merkmale des Softwareverhaltens nachträglich steuern bzw. ändern kann (siehe Steuerbarkeit). 10.2.3
Prototyping in der Systemkonzeption und -entwicklung
10.2.3.1 VirtuelleĆProduktentwicklungĆ Immer kürzer werdende Entwicklungsphasen erfordern neuartige Entwicklungsprozesse. Bereits während der Konstruktionsphase, d.h. weit vor ersten Versuchen mit realen Prototypen, müssen zuverlässige Erkenntnisse über die späteren Produkteigenschaften vorliegen. Durch die Verteilung von Kompetenzen und Spezialisierungen innerhalb des Produktentwicklungsprozesses ist es dabei notwendig, nicht nur unternehmensinterne, sondern auch unternehmensübergreifende räumliche und zeitliche Separationen und Distributionen zu überwinden (KUHN u. SCHLICK 2007). Die virtuelle Produktentwicklung ermöglicht es, auf der Basis von Simulationen die Eigenschaften eines Produkts oder einzelner Teile frühzeitig zu erkennen und zu bewerten, ohne auf ein reales Modell angewiesen zu sein. Sie ist ein integraler Bestandteil des Product Lifecycle Management (kurz: PLM) (ARNOLD et al. 2005). Unter einem PLM-System wird dabei in erster Linie ein informationstechnologischer Ansatz verstanden, bei dem alle Bereiche und Systeme eines Unternehmens, die mit dem oder den Produkt(en) in Berührung kommen, auf eine konsolidierte und konsistente Datenbasis zugreifen. In einem erweiterten Kontext ergibt sich daraus eine Unternehmensstrategie, die es einem global agierenden
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Unternehmen erlaubt, standortübergreifend zu kooperieren und damit quasi als eine geschlossene virtuelle Organisation zu operieren. Durch PLM soll ein Unternehmen in die Lage versetzt werden, in jeder Phase des Produktlebenszyklus nachvollziehbare, transparente und informationsgetriebene Entscheidungen treffen zu können sowie durch Innovation und kontrolliertes Wachstum die eigene Konkurrenzfähigkeit zu sichern. Basis bildet dabei das Produktdatenmanagement-System (kurz: PDM) (EIGNER u. STELZER 2004), das die kontinuierlich entstehenden Produkt- und Prozessdaten revisions- und variantenübergreifend verwaltet und ein unternehmensweites Rollen- und Berechtigungskonzept durchsetzt. In ihm werden Geometriedaten, Produktstrukturen, die für die Entwicklung relevanten Dokumente sowie alle während der Produktentwicklung, fertigung und -pflege zum Teil parallel ablaufenden Prozesse verwaltet. Dadurch wird es möglich, unternehmensweit auf eine konsolidierte Datenbasis zuzugreifen und Prozesse weitgehend zu vereinheitlichen. Alle mit PLM in Verbindung stehenden Software-Werkzeuge haben dabei einen großen Einfluss auf derzeitige und künftige Arbeitsprozesse in der Produktentwicklung und Produktion. Ihre Gebrauchstauglichkeit bzw. Benutzbarkeit wird einen wachsenden Einfluss auf ihre Akzeptanz und Verbreitung und damit auf die Produktivität innerhalb der meisten Hochlohnländer haben. 10.2.3.1.1 Computer Aided (Industrial) Design (CAD/CAID) Basis der virtuellen Produktentwicklung sind digitale Konstruktionsdaten, die aus entsprechenden computergestützten Werkzeugen des Computer Aided Design (CAD) hervorgehen. Ergebnis des Entwicklungs- und Konstruktionsprozesses sind geometrische, numerische und technologische Daten zu den Einzelteilen des konstruierten Produktes (Zeichnungen, Berechnungsergebnisse, Werkstoffe, Toleranzen usw.). Darüber hinaus ergeben sich Erzeugnisstrukturdaten (Stücklisten) sowie aus der Konstruktionsphase hervorgegangene experimentelle Ergebnisse (z.B. Messprotokolle) und ergänzende Textinformationen (z.B. Berichte, Bedienungs-, Wartungs-, Reparatur- und Montageanleitungen). Traditionell hat CAD im Anlagen- und Maschinenbau sowie im Automobil-, Schiffs- und Flugzeugbau und in der Architektur einen hohen Verbreitungsgrad, doch auch andere Bereiche, wie die Zahnmedizin und die Orthopädie, folgen diesem Trend. Ursprünglich waren nur 2D-Darstellungen üblich, die jedoch durch 2,5DDarstellungen (2D-Skizzen auf Flächen im Raum) bzw. 3D-Volumenmodelle verdrängt werden, da sie einen wesentlich plastischeren Eindruck des Produktentwurfs vermitteln. Bei 2D-CAD-Systemen wird die Konstruktion durch ein zweidimensionales (Daten)Modell im Rechner wiedergegeben. Die Vorgehensweise bei der Erstellung und das Aussehen des Modells entsprechen im Wesentlichen der manuellen Konstruktionsweise am Zeichenbrett. Mit einem 3D CAD-System besitzt der Konstrukteur ein Hilfsmittel, das vom Prinzip her eine vollständige geometrische Beschreibung seiner Arbeitsergebnisse erlaubt und dessen Leistungsumfang deutlich über das hinausgeht, was die klassischen Werkzeuge (Zeichenbrett, Zirkel und Stift) bieten können (siehe Abb. 10.88).
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CAD-Anwender, die einen konsequenten Übergang von der 2D zur 3DArbeitsweise vollführen, berichten häufig über spürbare Vorteile, die vor allem aus verkürzten Konstruktionszeiten, aus einer Verminderung der Konstruktionsfehler und aus einer verbesserten Fertigungs- und Montagegerechtheit der Konstruktionsergebnisse resultieren (LUCZAK et al. 2006). Neben einer Computermaus kommen an CAD-Arbeitsplätzen weitere Eingabegeräte mit einer gesteigerten Anzahl an Freiheitsgraden zum Einsatz, wie z.B. eine Spacemouse (ein „Puck“ aus Kunststoff, der sowohl translatorisch als auch rotatorisch beweglich gelagert ist) (siehe Kap. 10.1.2.4.3). Derartige Geräte ermöglichen eine erwartungskonforme und schnelle Navigation im dreidimensionalen Raum.
Abb. 10.88: CAD-Arbeitsplatz, simultaner Einsatz von Space Ball und Maus zur Geometriemodellierung (Quelle: SolidWorks, 2008)
Unternehmen mit hohen Anforderungen an das Design ihrer Produkte benötigen in ihren Entwicklungsabteilungen darüber hinaus eine Technologie, die über integrierte Werkzeuge verfügt, mit der Industriedesigner neue Produkte entwickeln können, während sie in einer Umgebung arbeiten, die die Zusammenarbeit mit den darauffolgenden Abteilungen (wie z.B. mechanische Konstruktion, Werkzeugkonstruktion und Fertigung) unterstützt (siehe Abb. 10.89). Im Idealfall gibt es eine gemeinsame Plattform für die Erzeugung der Geometrie, die sowohl ein CAID- (Computer Aided Industrial Design) als auch ein CAD-Programm unterstützt, denn beide Anwendungen sollten kooperativ die Formen definieren und
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dabei die gleichen Algorithmen verwenden, so dass die Übersetzung der Daten reibungslos verläuft. Kennzeichnend für CAID ist eine im Vergleich zu herkömmlichem CAD erweiterte Palette an Eingabegeräten, z.B. ein Grafiktablett. CAD-Rohdaten werden zur Weiterverarbeitung in Informationssystemen anderer Funktionsbereiche (CAE, CAM, CAPP) in der Regel entsprechend weiter aufbereitet, um Informationen zu extrahieren bzw. das Datenvolumen zu reduzieren. So werden bspw. Polygonflächen durch die sog. Tessellierung in eine große Anzahl von primitiven Flächen (z.B. Dreiecke oder Vierecke) zerlegt, da solche Flächen leichter zu handhaben sind als komplexe – insbesondere konkave – Polygone.
Abb. 10.89: CAID-Programm (Quelle: Siemens PLM Software 2008)
10.2.3.1.2 Computer Aided Engineering (CAE) Im fortgeschrittenen Stadium des Produktentwicklungsprozesses ermöglichen moderne Verfahren des Computer Aided Engineering eine weitgehende Verbesserung der Konstruktion. CAE steht dabei i. Allg. für alle Möglichkeiten der Computerunterstützung von Arbeitsprozessen der Ingenieure und erweitert somit den Begriff des Computer Aided Design um Analysen und Simulationen zur Absicherung des Arbeitsergebnisses. CAE lässt sich dabei in mehrere Teilgebiete mit unterschiedlicher Fokussierung unterscheiden. Zu den wichtigsten zählen das Digital Mock-Up, die Mehrkörpersimulation, die Simulation mechanischer und thermischer Bauteilbeanspruchung und Strömungssimulationen.
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10.2.3.1.2.1 Digital Mock-Up (DMU)
Ein Digital Mock-Up repräsentiert eine Baugruppe bzw. Produktstruktur unter Berücksichtigung der geometrischen Lagerichtigkeit der Einzelteile, d.h. ergänzend zur Stückliste verweist jede Einzelteilinstanz auf eine entsprechende Transformation, die es translatorisch und rotatorisch korrekt innerhalb der Baugruppe platziert (siehe Kofferraumdeckel in Abb. 10.90). Dies gilt sowohl für Produktteile als auch für Werkzeuge, das Vorhandensein entsprechender Geometriedaten vorausgesetzt. Bei hinreichender Genauigkeit der verwendeten Geometrien können Kollisionsbetrachtungen und virtuelle Einbauuntersuchungen durchgeführt werden, die den Aufbau eines entsprechenden realen Versuchsszenarios nahezu überflüssig machen. Dadurch kann bereits in einem frühen Entwicklungsstadium sowohl die Passgenauigkeit der Teile als auch die Sequenz der Montageschritte optimiert werden, es ergibt sich also ein maßgeblicher Einfluss auf die übergeordnete Prozessplanung (RUDOLF 2007). Schließlich kann ein Digital Mock-Up den Aufbau einer prototypischen Produktionslinie (Physical Mock-Up) bislang noch nicht vollständig ersetzen, jedoch kann der Aufwand hierzu auf besonders kritische Varianten reduziert werden.
Abb. 10.90: Digital Mock-Up inklusive Mensch-Modell (Quelle: Dassault Systèmes 2008)
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10.2.3.1.2.2 Mehrkörpersimulation (MKS)
In Mehrkörpersimulationen werden Systeme aus verschiedenen, massebehafteten starren oder elastischen Körpern beschrieben, die untereinander durch Verbindungen gekoppelt sind (WITTENBURG 2007). Die Verbindungen können dabei über klassische Kraftelemente (masselose Federn und Dämpfer, Stellglieder) erfolgen oder durch Gelenke realisiert sein. Unter Vorgabe von Anfangs- und Randbedingungen liefert eine MKS die Bewegungsabläufe und die dabei an den Körpern wirkenden Kräfte und Momente, so z.B. durch äußeren Einfluss auftretende Belastungen des menschlichen Bewegungsapparats (s. Abb. 10.91). Dazu werden die entsprechenden Differentialgleichungen aufgestellt und numerisch gelöst. Eine besondere Herausforderung stellt von daher die Echtzeit-Mehrkörpersimulation dar, da bei ihr ein Kompromiss aus hinreichender Genauigkeit und echtzeitfähiger Geschwindigkeit gefunden werden muss. MKS werden in verschiedensten Branchen weit verbreitet eingesetzt, wie z.B. in der Luft- und Raumfahrttechnik, bei der Simulation von Straßen- und Schienenfahrzeugen oder in der Automobilentwicklung.
Abb. 10.91: Biomedizinische Modellierung des Hals-Nacken-Bewegungsapparats (Quelle: Universität Tübingen, Institut für Astronomie und Astrophysik 2006)
10.2.3.1.2.3 Mechanische und thermische Beanspruchung
Mechanische und thermische Belastungen von Bauteilen lassen sich mit partiellen Differentialgleichungen mit Anfangs-, Rand- oder Übergangsbedingungen ma-
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thematisch formulieren. Zur Simulation und Visualisierung derartiger Beanspruchungen müssen diese Gleichungen gelöst werden. Da dies aufgrund der Komplexität auf analytischem Weg nur in Ausnahmefällen möglich ist, werden numerische Lösungsverfahren herangezogen. Unter diesen hat sich die Finite-ElementeMethode (kurz: FEM , siehe Abb. 10.92) besonders etabliert (MEIßNER u. MAURIAL 2008), bei der das zu analysierende Berechnungsgebiet in eine endliche (finite) Anzahl kleiner Teilgebiete aufgeteilt wird, für die entsprechende Ansatzfunktionen definiert werden, die zu einem linearen oder auch nichtlinearen Gleichungssystem führen. Dessen Lösung beschreibt dann eine numerische approximative Lösung des ursprünglichen Problems. Mittlerweile enthalten viele CADUmgebungen optionale FE-Module, mit denen direkt aus der konstruktiven Arbeit heraus physikalische Experimente vorweggenommen werden können, so z.B. ob ein Bauteil einer bestimmten Biegebeanspruchung Stand halten kann oder welche Oberfläche eine optimale Wärmeverteilung, z.B. bei Verbrennungsprozessen bietet.
Abb. 10.92: FEM-Simulation des Auslösevorgangs eines Seitenairbags (Quelle: Advea 2008)
10.2.3.1.2.4 Strömungssimulation
In Strömungssimulationen wird das physikalische Verhalten von Fluiden simuliert, wobei unter einem Fluid eine Substanz verstanden wird, die einer beliebigen Scherspannung keinen Widerstand entgegengesetzt, so z.B. Gase und Flüssigkeiten. Eine etablierte mathematische Herangehensweise zur Realisierung einer
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Strömungssimulation ist die numerische Strömungsmechanik (Computational Fluid Dynamics, kurz: CFD, siehe Abb. 10.93), die verschiedene numerische Methoden zur Ermittlung einer approximativen Lösung einsetzt (HERZINGER u. PERIC 2007). Dies ist vor allem aufgrund des nichtlinearen Charakters vieler strömungsmechanischer Probleme von Vorteil. Dennoch ist oftmals ein hoher Aufwand an Rechenleistung und -zeit notwendig, um zu hinreichend genauen Ergebnissen zu gelangen. Konnten in der Vergangenheit derartig hohe Rechenleistungen und Speicherkapazitäten nur von spezialisierten und sehr teuren Supercomputern bereit gestellt werden, so ist es mit parallelisierten Berechnungsverfahren möglich, diese enormen Rechenkapazitäten mit handelsüblichen Rechnerkomponenten preiswert und direkt am Arbeitsplatz des Ingenieurs bereitzustellen. Damit eröffnen sich völlig neue Möglichkeiten bei der Verfahrensentwicklung und -optimierung. Die Einsatzgebiete von Strömungssimulationen sind vielfältig und reichen von der Auslegung und Optimierung von Anlagen der Verfahrenstechnik bis hin zu industrienahen Anwendungen bei der Berechnung des Transports von Schüttgütern, der Abgasreinigung und Partikelabscheidung aus Gasen und Flüssigkeiten in Wäschern und Zyklonen.
Abb. 10.93: Strömungssimulation einer Baggerführerkabine (Quelle: Flomerics 2008)
10.2.3.1.3 Computer Aided Manufacturing (CAM) Beim Computer Aided Manufacturing (CAM) werden informationstechnische Arbeitsmittel zur Planung und Durchführung von Fertigungsprozessen eingesetzt (AMIROUCHE 2004). Als wesentlicher Bestandteil der Mensch-Computer Integrierten Produktion (H-CIM) ist CAM in Bezug zur direkten Steuerung von Produktionsanlagen sowie der dazugehörigen Transport- und Lagersysteme zu sehen
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(siehe Kap. 10.3.2.6). Wichtiges Merkmal ist dadurch ein weitgehender Verzicht auf herkömmliche papiergebundene Datenträger (Zeichnungen, gedruckte Fertigungsanweisungen etc.), um eine unmittelbare Kopplung an Maschinen und Anlagen zu erreichen. Zusätzlich zur Maschinensteuerung wird eine vorbereitende Unterstützung, z.B. bei der Verwaltung und Bereitstellung von Rohstoffen, Rohteilen und Hilfsstoffen sowie Einzelteilen angestrebt. Die Mitarbeiter in der Fertigung bekommen dadurch Fertigungspläne und Arbeitsschritte direkt am Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt und können verschiedene Statusinformationen wie (z.B. Verfügbarkeit und Bereitstellungszeitpunkte) von Verbrauchsmaterialien abrufen und Fertigungsmaschinen ggf. programmieren (siehe Abb. 10.94). Dann können Bearbeitungsschritte initiiert werden und Ergebnisse unmittelbar in angebundene Systeme, wie z.B. Produktionsplanung und -steuerung (kurz PPS) (SCHUH 2006), eingespeist oder für die rechnerunterstützte Qualitätssicherung (kurz CAQ) (PFEIFER u. THEIS 1995) bereitgestellt werden.
Abb. 10.94: CAM-Arbeitsplatz (Quelle: Verlyn Enterprises 2008)
10.2.3.1.4 Rapid Prototyping Um schon in einer frühen Phase des Entwicklungsprozesses einen realen, quasi „greifbaren“ Eindruck von der Konstruktion zu bekommen, empfiehlt sich der Einsatz des Rapid Prototyping, einem Verfahren zur schnellen Herstellung von Musterbauteilen, ausgehend von Konstruktionsdaten (siehe Abb. 10.95). Zielsetzung des Rapid Prototyping ist, vorhandene CAD-Daten möglichst ohne manuelle Arbeitsschritte oder Formenbau direkt aus den Daten heraus schnell in reale Werkstücke umzusetzen. Bei Rapid Prototyping erfolgt die Formgebung nicht wie beim Drehen oder Fräsen durch Abtragen, sondern das Bauteil entsteht durch Aneinanderfügen von Volumenelementen, in aller Regel von Schichten. Rapid
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Prototyping Verfahren werden deshalb auch „Generative Fertigungsverfahren“ (GEBHARDT 2007) genannt. Im industriellen Bereich unterscheidet man die Verfahren Stereolithographie, Lasersintern, Schicht- (Laminat-) Verfahren, Extrusions-Verfahren und das 3D-Printing (Pulver-Binder-Verfahren). Ergebnis ist ein haltbares maßstabsgetreues oder skaliertes Modell des geplanten Produktes. Aufgrund der hohen Anschaffungskosten eines entsprechenden Gerätes empfiehlt sich z.B. für mittelständische Unternehmen die Beauftragung eines auf Rapid Prototyping spezialisierten Dienstleisters.
Abb. 10.95: Rapid Prototyping in der Medizintechnik (Quelle: HFZ Basel 2008)
10.2.3.2 VirtuelleĆProzess-ĆundĆFabrikplanungĆ 10.2.3.2.1 Computer Aided Process Planning (CAPP) In der heutigen Fertigungsindustrie spielen die kritischen Erfolgsfaktoren Marktreife und Produktionsvolumen eine zentrale Rolle, da sich die Unternehmen, die leistungsfähige und flexible Produktionsprozesse in kürzester Zeit einführen können, einen besonderen Wettbewerbsvorteil sichern können. Eine gründliche und schnelle Prozessplanung ist Voraussetzung hierzu. Dies kann dadurch geschehen, dass mögliche Szenarien von Fertigungsprozessen und Montagesequenzen schnell vorab virtuell anschaulich definiert, beurteilt und verglichen werden. Dabei können gleichzeitig Fertigungslinien abgetaktet, bzgl. ihres Durchsatzes und ihrer
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Ressourcenauslastung optimiert und Fertigungskosten analysiert werden. In Zusammenhang mit menschlicher Arbeit (siehe Abb. 10.96) ergibt sich damit die Möglichkeit einer Kapazitätsplanung und -steuerung von teilautomatisierten Montagelinien und Stationen, in der auch ergonomische Kriterien berücksichtigt werden können.
Abb. 10.96: Digitale Prozessplanung mit integriertem Mensch-Modell (Quelle: Siemens PLM Software 2008)
Ziel ist ein Prozessplan, der eine genaue Beschreibung beinhaltet, wie ein Produkt hergestellt, montiert, geprüft und verpackt wird. Dieser Plan kann dann die Grundlage für eine Zusammenarbeit von Planungsteams, Unternehmen, Lieferanten und Fremdfirmen sein. 10.2.3.2.2 Computer Aided Plant Planning Die Planung einer modernen Fabrik inklusive aller Anlagen, Maschinen und Versorgungsleitungen ist eine komplexe Aufgabe. Dennoch sollten alle Details schon in der Planung möglichst optimal aufeinander abgestimmt sein. Jeder nachträgliche Umbau auch nur einer Maschine kann sich nachhaltig auf die Investitionssumme auswirken. Um einen optimalen Anlauf der Produktion und einen sicheren Betrieb gewährleisten zu können, nutzen Fabrikplaner deshalb zunehmend digitale Werkzeuge und virtuelle Methoden (s. Abb. 10.97). Dabei ist es aus arbeitswissenschaftlicher Sicht notwendig, auch menschliche Aspekte in das Produktionsmanagement zu integrieren (SCHLICK 1999; ZÜLCH et al. 2005). Mit Hilfe eines passenden Simulationsmodells können in Abhängigkeit der geplanten Ressourcen Kenngrößen wie Durchsatz, ausreichende Dimensionierungen, Durchlaufzeiten, Leistungsgrenzen, Störeinflüsse, Personalbedarf und sonstige Planungsparameter
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bestimmt werden. Zudem können verschiedene Alternativen bewertet und miteinander verglichen werden (siehe Kap. 4.3.4.4). Die virtuelle Fabrikplanung sollte Bestandteil eines kontinuierlichen Optimierungsprozesses sein, da stetig wachsende Anforderungen an die Flexibilität bestehender Produktionsstandorte ein häufiges Umplanen erfordert. Ein einmal erstelltes Simulationsmodell sollte daher begleitend zum laufenden Produktionsbetrieb gepflegt und aktualisiert werden, um auch kurzfristig zur Beurteilung veränderter Rahmenbedingungen herangezogen werden zu können.
Abb. 10.97: Virtuelle Fabrikplanung (Quelle: Enterprise Dynamics 2008)
10.3 Anwendungsgebiete und Schwerpunkte 10.3.1 Produktgestaltung 10.3.1.1 GrundlagenĆ Begriffe Die in diesem Kapitel verwendeten Begriffe werden im Folgenden kurz erläutert:
x Produkt: Ein Produkt soll hier verstanden werden als das Objekt, mit dem der Mensch (=Benutzer) interagiert, um ein Ziel zu erreichen. x Benutzer: Der Mensch, der mit einem Produkt arbeitet, wird als Benutzer bezeichnet.
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x Mensch-Maschine-Schnittstelle: Diese ermöglicht die informatorische, energetische und stoffliche Interaktion zwischen einem Menschen (=Benutzer) und einer Maschine bzw. einem Produkt (=Objekt). x Produktgestaltung: Unter Produktgestaltung wird hier der Prozess von der Produktidee bis zur Herstellung und Inbetriebnahme des entwickelten Produkts verstanden. Synonym werden die Begriffe Produktentwicklung und Gestaltungsprozess verwendet. x Interdisziplinärer Ansatz: Dieser beschreibt das Zusammenarbeiten mehrerer Wissenschaftsrichtungen. Beim Entwickeln von Produkten arbeiten in Abhängigkeit der Aufgabenstellung folgende Disziplinen zusammen: Naturund Ingenieurwissenschaften, Industrial Design, Informations- und Kommunikationswissenschaften, Wirtschafts- und Managementwissenschaften, Geistes- und Sozialwissenschaften (siehe PAHL et al. 2007). Gründe für die Berücksichtigung der Ergonomie bei der Produktentwicklung Seit Beginn der Menschheit wird mit der Entwicklung von Werkzeugen und Materialien (z.B. zum Jagen, Wohnen oder zur Herstellung von Kleidung) versucht, das Leben in einer bestimmten Umgebung einfacher und besser zu gestalten. Vor ca. 150 Jahren hat eine technische Revolution durch die Verwendung von neuen Energiequellen (Watt’sche Dampfmaschine) die stärker technisch-wissenschaftlich geprägte Entwicklung von Produkten angestoßen. Diese Revolution hat zum einen zu einer Beschleunigung von Entwicklungsprozessen geführt, und zum anderen zumindest eine partielle Ersetzung menschlicher Arbeit durch Maschinen bewirkt (siehe Kap. 10.1.2.5). Im Laufe der Zeit hat sich die Rolle des Menschen im Produktentwicklungsprozess verändert. Während früher zunächst die funktionell-produktorientierte und anschließend die menschorientierte Sicht die Gestaltung beherrschten, wird heute ein systemorientierter Ansatz favorisiert, der beide Perspektiven miteinander eng verzahnt. Generell lassen sich drei Perspektiven unterscheiden: (1) Produktorientierte Perspektive: Das Produkt wird anhand funktionaler, technologischer, technischer und finanzieller Kriterien entwickelt und der Benutzer wird durch Auswahl und Training daran angepasst. (2) Menschenorientierte Perspektive: Das Produkt wird durch eine energetischeffektorische, informatorische und anthropometrische Gestaltung an die Fähigkeiten und Fertigkeiten des Menschen angepasst. (3) Systemorientierte Perspektive: Bei der systemorientierten Produktentwicklung wird versucht, den Menschen und das Produkt iterativ aneinander anzupassen, um das mit der Benutzung des Produkts verfolgte Ziel möglichst effektiv und effizient zu erreichen. Dazu werden die Charakteristika des Menschen und des technischen Systems identifiziert und das Produkt so ausgelegt, dass diese Charakteristika jeweils möglichst kompatibel sind.
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Die Berücksichtigung des Menschen während des Produktentwicklungsprozesses wird häufig durch den Einsatz interdisziplinärer Teams erreicht, in dem auch die Ergonomie eine wichtige Rolle einnimmt. Zahlreiche Einflussfaktoren auf die Produktentwicklung, wie z.B. kurze Entwicklungszeit, technische Einschränkungen, Design, zur Verfügung stehende Entwicklungsbudgets sowie die Unterschätzung des von der Ergonomie ausgehenden Potenzials für die Produktentwicklung in Verbindung mit Schwierigkeiten der Kosten-Nutzen Zuordnung für ergonomische Maßnahmen können dazu führen, dass nicht alle vom Menschen als Benutzer ausgehenden Anforderungen an das Produkt berücksichtigt werden können. Die fehlende Berücksichtigung von Ergonomie im Produktentwicklungsprozess kann dazu führen, dass das neu entwickelte Produkt am Markt keinen Erfolg hat, obwohl es zwar funktionell exzellent gestaltet ist, der Benutzer aber die Komplexität der Funktionen nicht beherrschen kann. Auch hohe Nutzungskosten können durch eine Nichtberücksichtigung der Ergonomie entstehen, wenn bei komplexen Produkten und unterschiedlichen Kenntnisständen der Benutzer lange Lernphasen sowie gegebenenfalls Wiedererlernzeiten durch Verlernen benötigt werden. Treten bei der Benutzung eines Produktes Probleme auf, die auf eine nicht benutzergerechte Gestaltung zurückzuführen sind, muss das Produkt geändert werden. Änderungen am Produkt, die während der bereits laufenden Produktion eingeführt werden müssen, sind bedeutend teurer als die Berücksichtigung ergonomischer Erkenntnisse während der Produktentwicklung. Durch die Übertragung von ergonomischen Erkenntnissen und Erfahrungen auf ähnliche Produkte kann das Risiko nachträglich notwendiger Produktänderungen reduziert werden. In Bereichen, in denen die Sicherheit von Personen eine große Rolle spielt, dürfen keine folgenschweren Benutzungsfehler vorkommen (z.B. Flugsicherung). Ein Beitrag der Ergonomie muss es hier sein, Produkte und Systeme so zu gestalten, dass die Sicherheit für Mensch und Umwelt gewährleistet ist. Um Misserfolge am Markt aufgrund gravierender oder häufig vorkommender „Bedienfehler“ sowie die Entstehung indirekter Kosten durch die Bildung von Misstrauen und Kosten durch nachträgliche Korrekturen des Produkts zu vermeiden, muss die Ergonomie ein integraler Bestandteil des Produktentwicklungsprozesses sein. Den oben genannten Schwierigkeiten bei der Berücksichtigung der Ergonomie während des Produktentwicklungsprozesses kann durch die Einführung einer methodisch geleiteten Vorgehensweise begegnet werden. Diese ist gekennzeichnet durch
x eine frühzeitig Einführung der Ergonomie in den Produktgestaltungsprozess und deren Weiterverfolgung bis zum Ende des Prozesses, x die Einführung von standardisierten ergonomischen Analysen während des Entwicklungsprozesses und das Durchlaufen von mehreren iterativen Schleifen zur ergonomischen Gestaltung innerhalb einer Phase sowie x eine systemorientierte Betrachtung des zu entwickelnden Produkts, bei der die Wechselwirkungen und Zusammenhänge der unterschiedlichen Systemteile sowie mit dem Menschen berücksichtigt werden.
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Die ergonomische Gestaltung wird in verschiedenen Schritten durchgeführt. In Abhängigkeit des zu gestaltenden Systems können diese mit unterschiedlichem Schwerpunkt sowie in unterschiedlicher Reihenfolge bearbeitet werden. Für die Gestaltung von Arbeitsplätzen wird oft das klassische Schema von ROHMERT (1983b) verfolgt. Nach einer Analyse der Arbeitsplatzsituation werden Situationsparameter gemessen und beurteilt bevor die Gestaltung des Arbeitsplatzes stattfinden kann. Im Bereich der Produktergonomie werden ähnliche Prozesse durchlaufen, die von den Eigenschaften und der Komplexität des zu entwickelnden Produkts sowie der Entwicklungsphase des Produkts beeinflusst werden. Das Vorgehen bei der Produktentwicklung wird in den nächsten Kapiteln veranschaulicht. 10.3.1.2 BeschreibungĆdesĆProduktgestaltungsprozessesĆ Für die Durchführung der Produktgestaltung wurden unterschiedliche Ansätze entwickelt, die diesen Prozess formal und systematisch begleiten. Alle diese Ansätze verfolgen das Ziel, ein Produkt zu schaffen, das festgelegte Anforderungen erfüllt. Für sozio-ökonomisch-technische Prozesse sind die Methoden der Systemtechnik von besonderer Bedeutung (PAHL et al. 2007). Die Systemtechnik stellt Methoden, Verfahren und Hilfsmittel zur Verfügung, die die Analyse, Planung und Auswahl von Lösungen mit dem Ziel der optimalen Gestaltung komplexer Systeme unterstützen. Sie wurden bereits bei der Darstellung des Arbeitssystems in Kapitel 1.5.1.1 verdeutlicht. Im Folgenden werden zwei Vorgehensmodelle beschrieben, die die Produktgestaltung mit unterschiedlichen Schwerpunkten beschreiben – benutzerorientiert und technikorientiert. Benutzerorientierter Produktgestaltungsprozess Als Basis für die benutzerorientierte Betrachtung der Produktgestaltung dient das in der internationalen Norm DIN EN ISO 13407 beschriebene Vorgehen (Abb. 10.98). Dieses ist generell gut geeignet, um bei der ergonomischen Entwicklung von Produkten den Menschen als Benutzer zu berücksichtigen, obwohl in der Norm eigentlich nur die Vorgehensweise für die gebrauchstaugliche Gestaltung von Hard- und Softwarekomponenten interaktiver Systeme festgelegt wurde. Der benutzerorientierte Produktgestaltungsprozess ist eine interdisziplinäre Aktivität, die sowohl menschbezogene als auch technische Erkenntnisse berücksichtigt. Dabei wird dieser Gestaltungsprozess als Ergänzung zu anderen bestehenden Konzepten und Verfahren verstanden und dient vor allen Dingen der effektiven sowie rechtzeitigen Festlegung der benutzerorientierten Gestaltungsaktivitäten. Der benutzerorientierte Gestaltungsprozess zeichnet sich dadurch aus, dass die Benutzer aktiv beteiligt werden und ein klares Verständnis von Benutzer- und Aufgabenanforderungen vorliegt. Durch die Beteiligung von Benutzern und Experten wird Wissen über den Nutzungskontext und die zu erfüllenden Arbeitsaufgaben erlangt sowie Erkenntnisse darüber, wie die Benutzer mit dem zukünftigen Produkt arbeiten werden. Als Experten werden hier Personen verstanden, die sich
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im Unternehmen mit dem Produkt beschäftigen (z.B. Entwickler, Produktmanager). Im benutzerorientierten Gestaltungsprozess wird eine geeignete Funktionsaufteilung zwischen Benutzern und Technik angestrebt, so dass den Benutzern eine sinnvolle Menge und Folge von Funktionen zugeordnet werden kann. Die Gestaltungslösungen werden auf der Grundlage der Rückmeldungen von Benutzern iterativ verbessert, die eine äußerst wichtige Informationsquelle darstellen. Die Beteiligung interdisziplinärer Gruppen am Gestaltungsprozess stellt die Berücksichtigung menschlicher Aspekte sicher. Die folgenden vier Aktivitäten sind während der benutzerorientierten Produktgestaltung durchzuführen (Abb. 10.98): (1) Nutzungskontext identifizieren (2) Benutzeranforderungen festlegen (3) Gestaltungslösungen entwerfen (4) Gestaltungslösungen bewerten. 1
Nutzungskontext identifizieren:
0 Projektstart
Benutzeranforderungen festlegen
• Benutzer • Arbeitsaufgabe • Umgebung
nicht okay
5 Projektziel
Produkt erfüllt Benutzeranforderungen
2
4 okay
3
Gestaltungslösungen bewerten
Prototyp
Gestaltungslösungen entwerfen
Abb. 10.98: Benutzerorientierter Gestaltungsprozess nach DIN EN ISO 13407 (2000)
Der benutzerorientierte Gestaltungsprozess nach DIN EN ISO 13407 sollte bereits im Anfangsstadium des Entwicklungsprojektes begonnen und wiederholt durchlaufen werden, zumindest bis das entwickelte Produkt die festgelegten Anforderungen erfüllt, besser noch bis das Produkt am Markt eingeführt ist. Der Nutzungskontext (Aktivität 1) wird durch Merkmale der Benutzer, die vom Menschen mit dem Produkt auszuführenden Arbeitsaufgaben sowie die Arbeitsumgebung in der das zu entwickelnde Produkt genutzt wird, bestimmt. Die wesentlichen zu berücksichtigenden Merkmale der Benutzergruppe, die das Produkt verwenden werden, werden bestimmt durch deren Eigenschaften, Fähigkeiten, Fertigkeiten (z.B. Ausbildung, Kenntnisse und Erfahrungen) sowie ihre Motivation. Die Motivation des Benutzers wird bestimmt durch seine Einstellungen zur Technik, Markentreue/-bewusstsein, Umweltbewusstsein usw. Hier sind auch mögliche kulturelle Unterschiede der Benutzer sowie ihres Kontextes zu berück-
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sichtigen. Die Beschreibung der durchzuführenden Arbeitsaufgabe beinhaltet das Ziel, durchzuführende Teilaufgaben, eingesetzte Arbeitsweisen/-methoden, die Aufgabenteilung zwischen Mensch und technischem Produkt sowie Häufigkeit und Dauer der Aufgabendurchführung. Sind bereits ähnliche Produkte vorhanden, sind die gewonnen Erfahrungen aus der Nutzung dieser zu berücksichtigen. Die Arbeitsumgebung, in der das Produkt genutzt wird, wird im Wesentlichen bestimmt durch Beleuchtung, Klima, Lärm und mechanische Schwingungen (siehe Kap. 9), aber auch organisatorische und soziale Umgebungsfaktoren sind zu berücksichtigen. Oftmals wird diese Beschreibung des Nutzungskontextes im Laufe des Gestaltungsprozesses überarbeitet und erweitert. Bei der Festlegung von Benutzeranforderungen (Aktivität 2) werden Anforderungen, die sich aus den drei Bereichen Benutzer, Arbeitsaufgabe und -umgebung des identifizierten Nutzungskontexts (Aktivität 1) ergeben sowie funktionelle Anforderungen berücksichtigt. Des Weiteren sind Anforderungen, die sich aus relevanten Gesetzen und Vorschriften ergeben, Anforderungen, die die Gestaltung der Mensch-Maschine-Schnittstellen und des Arbeitsplatzes betreffen sowie Anforderungen, die auf gegebene Randbedingungen zurückzuführen sind, zu bestimmen. Das Entwerfen von Gestaltungslösungen (Aktivität 3) geschieht unter Berücksichtigung des Stands von Wissenschaft und Technik, der Erfahrungen und Erkenntnisse der Teilnehmer am Gestaltungsprozess und der Ergebnisse der Nutzungskontext-Analyse (Aktivität 1). Dabei werden folgende Teilaktivitäten ausgeführt: (3.1) Anwenden des vorhandenen Wissens, um Gestaltungsvorschläge mit interdisziplinärem Ansatz zu entwickeln, (3.2) Konkretisieren der Gestaltungslösungen durch Zeichnungen, Simulationen oder Modelle, (3.3) Diskussion der Gestaltungslösungen mit potenziellen Benutzern und (3.4) Änderung der Gestaltungslösungen entsprechend der Benutzerrückmeldungen. Die Teilaktivitäten 3.3 und 3.4 werden iterativ durchgeführt bis die benutzerorientierten Gestaltungsziele erfüllt sind, da es schwierig ist, bei dem ganzheitlichen Gestaltungsansatz alle Aspekte eines Produkts bereits von Anfang an zu berücksichtigen. Das Bewerten von Gestaltungslösungen (Aktivität 4) wird von potenziellen Benutzern des Produkts durchgeführt, ergänzend können auch Experten zu Rate gezogen werden. Grundlage für die Bewertung sind die festgelegten Benutzeranforderungen (Aktivität 2). Diese Beurteilungen können genutzt werden, um Rückmeldungen zu geben, die zur Verbesserung der Gestaltungslösung führen und um zu beurteilen, ob die Benutzerziele erreicht wurden. Für die Bewertung von Gestaltungslösungen werden in der Regel empirische Untersuchungen mit einer Gruppe von potenziellen Benutzern des Produkts durchgeführt. Diese Untersuchungen können mehr oder weniger gut geplant durchgeführt werden, so dass sie entweder nur den Charakter von Vortests haben oder einer statistisch auswertbaren Versuchsreihe entsprechen. Der Umfang der Untersuchung wird von dem verfolgtem Ziel, den angestrebten Untersuchungsergebnissen und dem zur Verfügung stehenden Kosten- und Zeitrahmen bestimmt.
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Die Aktivitäten (4.1) Untersuchungsziel klären, (4.2) Untersuchungskonzept erstellen, (4.3) Versuche durchführen, (4.4) erhobene Daten statistisch analysieren und (4.5) mögliche Gestaltungspotenziale ableiten sind für die Beurteilung von Gestaltungslösungen durchzuführen. Beim Klären des Untersuchungszieles ist festzulegen, welche Aussagen aus den erhobenen Daten abgeleitet werden sollen. Die Erstellung des Untersuchungskonzeptes beinhaltet die Festlegung der Untersuchungsumgebung (z.B. Simulation, Labor, reale Arbeitsumgebung, siehe BRUDER et al. 2007), die Auswahl der einzusetzenden Probanden und die Aufstellung eines statistischen Versuchsplans. Außerdem müssen die zu erhebenden Daten (z.B. Befragungen, Bewertung der Aufgabenerfüllung und des notwendigen Zeitaufwandes, Analyse der Blickbewegungen des Benutzers, z.B. GAWRON 2000, STANTON et al. 2005, siehe auch Kap. 3.3.3 sowie Kap. 10.2.1.3) spezifiziert werden sowie die Versuchsaufgabe für die Probanden und der Versuchsablauf festgelegt werden. Diese Aktivitäten führen dazu, dass der Versuchsablauf standardisiert ist und die Ergebnisse der Versuche unter vergleichbaren Bedingungen entstehen. Das entwickelte Untersuchungskonzept ist mit Vorversuchen zu evaluieren. Die anschließende Durchführung der Versuche erfolgt mit den ausgewählten Probanden entsprechend dem erstellten Untersuchungskonzept. Die erhobenen Daten müssen statistisch ausgewertet und interpretiert werden. Anhand der Ergebnisse wird festgestellt, ob die in Aktivität 2 festgelegten Benutzeranforderungen erfüllt sind oder weiteres Gestaltungspotenzial für das Produkt besteht, welches durch ein erneutes Durchlaufen des Gestaltungsprozesses bei der Produktentwicklung berücksichtigt wird. Technikorientierter Produktgestaltungsprozess Der im Maschinenbau entstandene Ablauf des Entwicklungs- und Konstruktionsprozesses nach PAHL et al. (2007) stellt das in der VDI Richtlinie 2221 festgelegte allgemeine, branchenunabhängige Vorgehen ausführlich dar. Der von PAHL et al. (2007) geprägte Prozess geht detailliert auf das Entwerfen von Gestaltungslösungen ein und ist daher eine geeignete Ergänzung des benutzerorientierten Gestaltungsprozesses nach DIN EN ISO 13407. Der Entwicklungs- und Konstruktionsprozess wird in die Hauptphasen (1) Planen und Klären der Aufgabe, (2) Konzipieren, (3) Entwerfen und (4) Ausarbeiten unterteilt, was einer Festlegung von Information, Prinzip, Gestaltung und Herstellung entspricht (Abb. 10.99). Eine scharfe Trennung der Phasen ist in der Praxis jedoch in der Regel nicht möglich. Die Hauptphasen werden jeweils mit einer Entscheidung abgeschlossen, die ein Arbeitsergebnis nach einer entsprechenden qualitativen Beurteilung definitiv abschließt und weitere erforderliche Hauptphasen oder Arbeitsschritte freigibt. Das Ergebnis eines Entscheidungsschrittes kann auch ein erneutes Durchlaufen einer Iterationsschleife sein, wenn das vorliegende
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Arbeitsergebnis noch nicht hinreichend ist. Auch in diesem Prozess kommt ein interdisziplinär zusammengesetztes Team zum Einsatz. In der VDI Richtlinie 2242 Bl.1 ist festgehalten, welche ergonomischen Aspekte in diesen vier Phasen zu berücksichtigen sind. Blatt 2 dieser Richtlinie gibt einen Überblick über relevante Literatur zu ergonomisch wichtigen Erkenntnissen, allerdings auf dem Stand von 1986. In der Phase Planung und Klärung der Aufgabenstellung werden Informationen über die Anforderungen, die an das Produkt im Einzelnen gestellt werden, und über die bestehenden Randbedingungen sowie deren Bedeutung beschafft. Als Ergebnis wird eine Anforderungsliste erstellt, die während des gesamten Entwicklungsprozesses aktualisiert werden muss. Das Konzipieren umfasst die prinzipielle Festlegung einer Lösung. Diese wird nach Klärung der Aufgabenstellung durch Abstrahieren auf die wesentlichen Probleme, Aufstellen von Funktionsstrukturen und durch Suche nach geeigneten Wirkprinzipien und deren Kombination in einer Wirkstruktur erreicht. Die Gesamtfunktion wird dabei in Teilfunktionen niedrigerer Komplexität aufgegliedert, für die jedoch nicht voneinander unabhängig Lösungen gesucht werden, die Verknüpfung der Teilfunktionen ergibt die Funktionsstruktur. Für die Teilfunktionen werden Wirkprinzipien gesucht, die später zu einer Wirkstruktur zusammengefügt werden und aus der bei weiterer Konkretisierung die prinzipielle Lösung entsteht. Das Wirkprinzip enthält den für die Erfüllung einer Funktion erforderlichen physikalischen Effekt sowie die geometrischen und stofflichen Merkmale. Die gefundenen Lösungsvarianten werden anhand der Kriterien aus der Anforderungsliste beurteilt und es wird entschieden, welche Varianten weiter verfolgt werden. Beim Entwerfen wird die Baustruktur erarbeitet, ausgehend von den eher qualitativen Konzepten wird die Gestaltung konstruktiv festgelegt. Oftmals werden mehrere Entwürfe angefertigt und bewertet. Dabei handelt es sich in der Regel um einen iterativen Prozess, in dem die Entwürfe auf Grundlage der Bewertungen sowie durch Teillösungen aus alternativen Entwürfen verbessert werden. Abschließend wird die Entscheidung für die Gestaltung des endgültigen Gesamtentwurfs gefällt. In der abschließenden Phase des Ausarbeitens werden herstellungstechnische Details der Baustruktur festgelegt. Der in Abb. 10.99 dargestellte technikorientierte Gestaltungsprozess umfasst per se nicht die Herstellung von Modellen und Prototypen, die für die Analyse und Bewertung der Mensch-Technik-Interaktion genutzt werden können. Diese sollten zur Informationsgewinnung immer dort eingesetzt werden, wo sie Entwicklungsentscheidungen verbessern und beschleunigen können, oftmals bereits in der Konzeptphase (siehe Kapitel 10.2.3).
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Abb. 10.99: Technikorientierter Gestaltungsprozess nach PAHL et al. (2007)
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Zusammenhänge zwischen beiden Ansätzen Die dargestellten normativen Prozesse zur Produktgestaltung haben gemeinsam, dass ihre Prozessschritte den Tätigkeiten Analysieren, Gestalten und Bewerten folgen (Abb. 10.100). Während beim benutzerorientierten Vorgehen, dem Analysieren mit den beiden Prozessschritten Nutzungskontext identifizieren und Benutzeranforderungen festlegen große Beachtung geschenkt wird, liegt beim technikorientierten Vorgehen der Fokus stärker auf dem Gestalten, wo jeder Prozessschritt auch eine Bewertung beinhaltet. Benutzerorientierter Gestaltungsprozess 1
Nutzungskontext identifizieren
Technikorientierter Gestaltungsprozess ANALYSIEREN
Planen und Klären der Aufgabe
1
GESTALTEN
Konzipieren
2
Entwerfen
3
Ausarbeiten
4
2 Benutzeranforderungen festlegen
3
4
Gestaltungslösungen entwerfen
Gestaltungslösungen bewerten
BEWERTEN
Abb. 10.100: Vergleich der Gestaltungsprozesse
Die beiden Gestaltungsprozesse unterscheiden sich im Wesentlichen dadurch, dass der technikorientierte Prozess eine Aufgliederung in Teilaufgaben durch Strukturbildung und Aufgliederung in Module vornimmt, während der benutzerorientierte Prozess eine Gesamtbetrachtung des Produkts vorsieht. Durch diese Aufgliederung im technikorientierten Prozess wird die Komplexität des Systems reduziert, der Entwicklungsprozess in kalkulierbare Teilschritte aufgegliedert und somit die Anwendung standardisierter Lösungsmethoden erleichtert (PAHL et al. 2007). Der benutzerorientierte Prozess ist eher ein Problemlösezyklus, in dem Gestaltungslösungen gesucht, durch potenzielle Benutzer bewertet und anhand der gegebenenfalls auch bei der Bewertung neu hinzukommenden Anforderungen präzisiert oder gegebenenfalls wieder verworfen werden. Der benutzerorientierte Prozess ist darauf ausgelegt, durch Variation und Kombination vorhandener Ansätze und Ideen neue oder präzisierte Varianten zu generieren. Dabei wird dieser Prozess so oft durchlaufen, bis eine den Anforderungen entsprechende Gestaltungslösung gefunden ist. Während beim technikorientierten Prozess die Gestal-
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tungslösung durch das Zusammenfügen von Teilmodulen gefunden wird, wird im benutzerorientierten Prozess eine ganzheitliche Lösung gesucht und schrittweise präzisiert (GÖBEL 2004). Die während des Entwicklungsprozesses durchgeführten Bewertungen haben aus ergonomischer Sicht das Ziel, notwendige Änderungen frühzeitig im Prozess im Sinne einer prospektiven Ergonomie umsetzen zu können. Nach Abschluss des Entwicklungsprozesses werden weitere Bewertungen des serienreifen Produkts durchgeführt, um die Nutzung des Produkts in einer realen Arbeitsumgebung bewerten zu können. Ziel der durchzuführenden Tests ist es, mögliche Defizite des entwickelten Produkts aufzudecken und dann im Sinne einer korrektiven Ergonomie in Produktüberarbeitungen einfließen zu lassen. 10.3.1.3 AnwendungĆdesĆProduktgestaltungsprozessesĆinĆderĆPraxisĆ Im Folgenden wird der benutzerorientierte Gestaltungsprozess aus ergonomischer Sicht anhand unterschiedlicher Beispiele veranschaulicht. Die ausgewählten Beispiele stammen aus den Anwendungsbereichen Medizintechnik und Fahrzeugtechnik, sie beziehen sich auf unterschiedliche Produktarten in unterschiedlichen Phasen des Entwicklungsprozesses (Neuentwicklung, Weiterentwicklung, Funktionserweiterung). Anhand dieser Beispiele wird gezeigt, dass der hier beschriebene Produktgestaltungsprozess für eine Vielfalt an Produkten gilt und somit in allen Phasen der Entwicklung bzw. der Weiterentwicklung bei einer erfolgreichen Berücksichtigung des Benutzers systematisch angewendet werden kann. Medizintechnik - Entwicklung einer Schnittstelle für Dental Röntgengeräte Bei der Benutzung eines bereits existierenden Röntgengeräts für Zahnärzte zur Anfertigung von Panoramabildern des gesamten Gebisses (Abb. 10.101) haben sich ergonomische Verbesserungs- und Erweiterungspotenziale insbesondere für die Benutzung durch ungeübte Personen gezeigt, die durch Einsatz eines Gestaltungsprozesses in einer überarbeiteten Produktgestaltung umgesetzt werden sollten.
Abb. 10.101: Beispiel eines Dental Röntgengerätes (Sirona)
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Die Entwicklung einer neuen Produktgeneration mit neuen Benutzungskonzepten wurde anhand der Vorgehensschritte des benutzerorientierten Gestaltungsprozesses durchgeführt.
(1) Nutzungskontext identifizieren Als Basis für die Identifikation des Nutzungskontexts, und noch wichtiger, für die Festlegung der Benutzeranforderungen bezüglich einer neuen und modernen Mensch-Maschine-Schnittstelle wurden Befragungen mit Fragebögen bzw. Interviews durchgeführt und Videos der Arbeitsabläufe aufgezeichnet. Für den Einsatz dieser Geräte haben sich zwei Nutzungskontexte ergeben: Zahnkliniken und Zahnarztpraxen. In Zahnkliniken wird dieses Röntgengerät mehrmals am Tag (ca. 30-mal pro Tag), abwechselnd von mehreren Personen benutzt. In Zahnarztpraxen wird dieses Gerät seltener und unregelmäßiger von nur 1 bzw. 2 Personen benutzt (3-4-mal am Tag). Die Ausbildung des Personals ist unabhängig von der Nutzungsumgebung. Die Benutzer in den Zahnkliniken sind jedoch durch die häufige und regelmäßige Benutzung routinierter und mit dem Röntgengerät bestens vertraut. (2) Benutzeranforderungen festlegen Die zwei unterschiedlichen Benutzergruppen wurden befragt, welche Anforderungen die Bedienelemente für ein Dental-Röntgengerät erfüllen sollten, um die Bedienung optimal durchführen zu können. Dabei wurden Kommentare zur IstSituation sowie Wünsche für ein verbessertes Bedienkonzept erhoben. Es hat sich gezeigt, dass sich die Anforderungen in Abhängigkeit des Nutzungskontextes unterscheiden: In Zahnarztpraxen wurde die Einfachheit (Bedienfehlerfreiheit) und die Intuitivität (sichere Bedienung ohne weitere Erklärungen) der Bedienung auch nach mehreren Tagen ohne Praxis als sehr wichtig beurteilt, wohingegen in Zahnkliniken die Sicherheit, die Qualität des Bildes und die Effizienz als am wichtigsten bewertet wurden. Für beide Benutzergruppen war die Position des Bedienelements ein zentrales Thema, da die mehr oder weniger gleichzeitigen Tätigkeiten Einrichten und Beruhigen des Patienten, Bedienen des Gerätes und Schutz der eigenen Person gegen die Strahlung mit einer fixierten Position des Bedienelements schwierig zu erfüllen sind. (3) Gestaltungslösungen entwerfen Anhand der festgelegten Benutzeranforderungen wurden mehrere Lösungsvorschläge entworfen. Dabei wurden eine klassische Schnittstelle mit Tasten, die mit abgekürzten Begriffen gekennzeichnet waren, und mehrere digitale Displays gekennzeichnet mit abgekürzten Begriffen sowie mit Symbolen betrachtet (Abb. 10.102). Außerdem wurden mehrere Lösungen für die Position des Bedienelements in Betracht gezogen: eine fixe Position, ein bewegliches Bedienelement mit langen Kabeln und eine kabellose Schnittstelle.
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Abb. 10.102: Lösungsvorschläge für das Bedienelement (Sirona)
(4) Gestaltungslösungen bewerten Die Gestaltungslösungen wurden in Form von Skizzen sowie mit einem in der Funktion ähnlichem Bedienelement, das mit einem Rapid-Prototyping-Tool (MUSSGNUG et al. 1999) auf dem Rechner simuliert wurde, von den potenziellen Benutzern (Personal aus Zahnarztpraxen und Zahnkliniken) mit Hilfe von Interviews und Fragebögen bewertet. Die Bewertungen sind analysiert und die Ergebnisse in Verbesserungsvorschläge umgesetzt worden. Anschließend wurden die entworfenen Gestaltungslösungen überarbeitet. Nach einer erneuten Überprüfung der Lösungen mit den Benutzern wurde ein Bedienelement ausgewählt und konstruktiv so ausgestaltet (Abb. 10.103), dass es produziert werden konnte.
Abb. 10.103: Beispiele von untersuchten Schnittstellen für Dental Röntgengeräte (Sirona)
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Medizintechnik - Entwicklung einer neuen ergonomischen Pipette Ein weiteres Beispiel für die Anwendung des benutzerorientierten Gestaltungsprozesses ist die Entwicklung einer Pipette, die an die natürliche Form der Hand sowie deren Bewegung angepasst werden sollte, um insbesondere bei Dauernutzung das Risiko muskuloskelettaler Erkrankungen zu reduzieren (Abb. 10.104). Hierbei handelt es sich um eine Neuentwicklung, bei der explizit die späteren Nutzer im Vordergrund standen.
Abb. 10.104: Einsatz einer Pipette in einem Forschungslabor
(1) Nutzungskontext identifizieren Zum Projektstart wurde zunächst der Nutzungskontext identifiziert. Hierzu wurde eine umfangreiche Feldstudie durchgeführt, um ein gutes Verständnis für die Abläufe, Unterschiede und Besonderheiten des Pipettierens zu gewinnen. Über 20 verschiedene Einrichtungen und Unternehmen, die mit Pipetten arbeiten, wurden besucht. Dort wurden die Arbeitsabläufe mit einer Kamera dokumentiert, die Arbeitspersonen wurden im Rahmen eines halbstrukturierten Interviews zu den Vor- und Nachteilen bestimmter Pipetten befragt. Aussagen bezüglich der Nutzerpopulationen wurden per Fragebogen erfasst. Neben persönlichen und arbeitsplatzbezogenen Daten wurden primär Pipettenkenntnisse und Präferenzen abgefragt, dazu kam die Erhebung körperlicher Beschwerden. Die Feldstudien haben gezeigt, dass der Arbeitsablauf beim Pipettieren durch die noch weiter untergliederbaren Teiltätigkeiten Aufnehmen der Pipette, Aufstecken der Spitze, Aufnahme, Transport und Abgabe der Flüssigkeit sowie dem anschließenden Abwurf der Spitze und dem Ablegen der Pipette beschrieben werden kann. Die Volumenverstellung ist optional und kann direkt vor oder unmittelbar nach dem Aufstecken der Spitze erfolgen. Die in den verschiedenen Anwendungsbereichen beobachteten Tätigkeiten können unterschiedlichen Kategorien zugeordnet werden. Eine für die Pipettengestaltung relevante Unterscheidung
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ergibt sich auch auf der Benutzerseite: Neben routinierten Vielbenutzern gibt es auch eine ganze Reihe an Gelegenheitsnutzern, für die das Pipettieren nur einen kleinen Teil ihres Aufgabenspektrums ausmacht. Ergänzend wurde die Pipettiertätigkeit mit 11 unterschiedlichen Pipetten im Labor mit ungeübten Probanden sowie Experten analysiert. Dabei wurden folgende Daten erhoben: Charakteristik der Benutzer (z.B. Abmessungen der Hand, Daumenkraft), Beschreibung der Pipette (z.B. Abmessungen, Kraft-Weg-Verlauf), Akzeptanz der Benutzer (z.B. Griff-Form, Bedien-/Hubweg), elektromyographischen Aktivität von für das Pipettieren relevanten Muskeln an der Hand und Bewegungstrajektorien der Finger. Anhand der Ergebnisse dieser Laborversuche konnten detaillierte Anforderungen an die Neuentwicklung abgeleitet werden. Die durchgeführten Analysen haben gezeigt, dass die Einsatzgebiete der Pipetten, Nutzungshäufigkeiten und -dauern sowie die Pipetten-Benutzer sehr unterschiedlich sind. Dementsprechend war zu prüfen, ob die sich daraus ergebenden Anforderungen alle mit einem Produkt abgedeckt werden können oder für unterschiedliche Anwendungsfälle auch verschiedene Pipettenkonzepte zu entwickeln sind. Für die Analyse der abzudeckenden Anwendungsfälle wurde das in Abb. 10.105 dargestellten Positionierungsmodell erstellt, in dem die Benutzergruppen und Anwendungsgebiete (Tabelle 10.14) in Zusammenhang gesetzt sind.
Allgemeingebrauch
akademisches Pipettieren
Wenigbenutzer
Abb. 10.105: Einordnung der ausgearbeiteten Einsatzgebiete
Massenbefü üllung
aufgabenorientiert
hochspezialisierte es Arbeiten
Vielbenutzer
handlungsorientiert
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Tabelle 10.14: Beschreibung der im Positionierungsmodell unterschiedenen Benutzergruppen und Anwendungsgebiete Benutzergruppen
Anwendungsgebiete
Vielbenutzer – Erfahrene Nutzer x z.B. Experten, ausgebildete Laborkräfte x tagtägliches Pipettieren x Hauptwerkzeug Pipette Wenigbenutzer – Unerfahrene Nutzer x z.B. Akademiker mit anderen Aufgabenschwerpunkten, Studenten, Novizen x gelegentliches Pipettieren
Aufgabenorientiert x hochpräzises Liquid-Handling x eingeschränktes oder hochspezialisiertes Arbeiten Handhabungsorientiert x weniger präzisionsbedürftiges Liquid Handling x hohe Arbeitsfrequenz
(2) Benutzeranforderungen festlegen Die Analyse des Nutzungskontextes von Pipetten hat gezeigt, dass für die unterschiedlichen Anwendungsfälle auch verschiedene Pipetten mit speziellen Eigenschaften zu entwickeln sind. Ganz allgemein können folgende Anforderungen für alle ergonomisch zu gestaltenden Pipetten abgeleitet werden (auf die speziellen Anforderungen für die einzelnen Anwendungsgebiete wird hier nicht weiter eingegangen): x Griffgestaltung: Größe, insbesondere Länge und Durchmesser an Handgrößen anpassen; Handanschlag an Form der Hand anpassen (häufig sind zu enge Innenradien am Handanschlag zu erkennen, und teilweise liegt gar kein ausgeprägter Handanschlag vor). x Länge der Pipette an die hohen visuellen Anforderungen des Pipettierens anpassen, so dass die Benutzer eine gute Körperhaltung einnehmen. x Optimierung der Bedienkräfte im Bereich zwischen Kraftgrenzen für repetitive Tätigkeiten (DIN EN 1005-5), muskulären Kraftgrenzen (DIN EN 1005-3) und sinnvollen Untergrenzen zur Vermeidung von Kraftspitzen am Anschlag. x Optimierung des Bedienknopfes – Höhe und Bedienweg: Aus ergonomischer Sicht müsste die Knopfhöhe nach dem sich einstellenden Daumenwinkel ausgelegt werden. Da dies aber aus Praktikabilitätsgründen nicht in Frage kommt, sollte zumindest ein Knopfhöhenbereich zwischen 22 und 28 mm über Zeigefingerniveau nicht verlassen werden. Zudem sollte die Behinderung des Daumens durch Stellteile und Gehäusevorsprünge minimiert werden, um dem Benutzer eine maximale Zugänglichkeit zu ermöglichen. (3) Gestaltungslösungen entwerfen Der Entwurf der Gestaltungslösungen wurde in 3 Phasen unterteilt. Zunächst wurden in Phase 1 mit Hilfe von Moodboards (großer Kartonbogen, auf den Fotos, Zeichnungen, Materialien, kurze Texte aufgebracht werden) die möglichen Einsatzgebiete, die formalen Gestaltungsmöglichkeiten des Produkts bzw. die Tätig-
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keitsbeschreibung visuell konkretisiert. Ergebnis der ersten Phase war eine verbale Konzeptformulierung, hier wurden vier unterschiedliche Pipettenkonzepte festgelegt. In der zweiten Phase wurden erste Modelle aufgrund der festgelegten Benutzeranforderungen entworfen, mit Experten diskutiert und einem Auswahlprozess unterworfen. Anschließend wurden drei Konzepte für eine Weiterentwicklung im Rahmen der finalen Entwurfsphase ausgewählt (Phase 3). Beispielhaft wird im Folgenden einer der endgültigen Entwürfe weiter betrachtet. Dieses Pipettenkonzept ist für Vielbenutzer, die Erfahrung im Umgang mit Pipetten haben und im Sitzen oder Stehen arbeiten, ausgelegt. Geeignet ist dieses Produkt insbesondere für das mehrkanalige Befüllen von Titerplatten. Folgende ergonomische Gestaltungsmerkmale wurden bei dieser Pipette realisiert:
x Griffform basierend auf Analysedaten x Vollsymmetrischer Griff und Funktionselemente erlauben rechts- und linkshändige Nutzung x Weicher Gel-Griff minimiert Druckstellen und Ermüdung an den Händen x Breiter, abgerundeter Pipettierknopf verhindert Druckstellen am Daumen x Erhöhter Handanschlag und Kuhle verkürzen Daumenweg x Entlastung des Daumens durch Kombination von Daumenknopf und Abwurfhebel x Individuelle Einstellbarkeit des Winkels, der Situation und persönlichen Neigung entsprechend. (4) Gestaltungslösungen bewerten Ziel dieses Bewertungsprozesses war es, erste Erfahrungen bei der Nutzung dieser neuartigen Pipetten zu sammeln und zu prüfen, ob sich die ergonomischen Gestaltungsdetails auch in der Praxis bewähren. Die Ergebnisse sollten Basis für eine Optimierung der Pipetten sein, bevor diese in Serie hergestellt werden. Dazu wurden die drei Pipettenkonzepte als Prototypen gebaut und im Rahmen von Versuchsreihen im Labor bewertet. Insgesamt wurden für jede Pipette 12 Probanden entsprechend dem definierten Nutzerkollektiv eingesetzt. Es wurden dieselben Daten wie bei dem zur Analyse des Nutzungskontextes durchgeführten Laborversuch erhoben. Somit konnten die in dieser Phase erhobenen Daten mit den Referenzdaten aus Phase 1 verglichen und der ergonomische Nutzen quantifiziert werden. Die Ergebnisse haben gezeigt, dass sich die drei Konzepte insgesamt sehr gut bewährt haben, kleinere Details der Gestaltung wurden nochmals überarbeitet. Fahrzeug - Funktionserweiterung und Schnittstelle eines Abstandregelsystems Ein Abstandsregelsystem, auch ACC (Adaptive Cruise Control) genannt, ist ein Fahrerassistenzsystem, welches die Beschleunigung und die Bremsvorgänge des Fahrzeugs anhand des Abstands zum vorausfahrenden Fahrzeug bzw. der Wunschgeschwindigkeit des Fahrers regeln kann (WEISSE et al. 2002). Bei der Einführung auf den Markt konnten diese Systeme nur ab einer Geschwindigkeit von ca. 30 km/h aktiviert werden, was eine Nutzung in einem städtischen Umfeld oder in Stausituationen ausschließt. Heute werden hingegen Systeme angeboten,
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die bis zum Stillstand des Fahrzeugs aktiv bleiben und unter bestimmten Randbedingungen auch wieder selbständig anfahren können. Mit dieser technischen Entwicklung ist es dem Fahrer möglich, mit einem aktiven ACC in „Stop and Go“ Situationen oder in der Stadt zu fahren. Die erweiterte Funktionalität wirft die Frage auf, ob die für den Geschwindigkeitsbereich über 30 km/h entwickelte Schnittstelle, insbesondere die angezeigten Informationen, auch für den Niedriggeschwindigkeitsbereich mit anderen Fahrumgebungen geeignet ist. Zur Klärung dieser Frage müssen die ersten zwei Aktivitäten des benutzerorientierten Gestaltungsprozesses (Klärung des Nutzungskontextes und der Benutzeranforderungen) durchgeführt werden (ABENDROTH et al. 2005; DIDIER et al. 2008). In Abhängigkeit der Ergebnisse der ersten Analysen wird dann entschieden, ob die nächsten zwei Aktivitäten des Entwicklungsprozesses, Entwerfen und Bewerten, durchgeführt werden müssen.
(1) Nutzungskontext identifizieren In dieser ersten Phase ist die Präzision der Analyse des Nutzungskontextes besonders wichtig. Auf den ersten Blick bewirkt die Funktionserweiterung von über 30 km/h auf unter 30 km/h für den Benutzer bzw. seine Tätigkeit keine großen Änderungen. Bei der Nutzungsumgebung sind die Modifikationen von größerer Bedeutung, weil das System unter bestimmten Randbedingungen das Fahrzeug selbständig wieder anfahren lässt. Damit wird die Hauptanforderung für das Fahren in Städten erfüllt. Dieses unterscheidet sich hinsichtlich der Bedingungen wesentlich von Autobahnfahrten, die bisher die Hauptnutzungsumgebung von ACCSystemen darstellten. Dadurch wird auch zum Teil die Tätigkeit des Fahrers modifiziert: Der Fahrer muss bei der Handlung „Wieder-Anfahren“ (z.B. an der Ampel) verstanden haben, ob die Randbedingungen des ACC-Systems für ein „autonomes Wieder-Anfahren“ (z.B. Stillstand des Fahrzeugs kürzer als 2 Sekunden) erfüllt sind oder nicht. Wenn nicht, muss der Fahrer die Handlung selbst übernehmen. Eine weitere wichtige Änderung des Nutzungskontexts ergibt sich aus der Komplexität der Fahrumgebung, insbesondere aus der Anzahl der für die Fahrtätigkeit relevanten visuellen Informationen. Die entsprechende Belastung des visuellen Kanals aufgrund der komplexen Verkehrsumgebung könnte die Aufnahme von ACC-Informationen auf einem Display im Tachobereich beeinflussen bzw. erschweren. (2) Benutzeranforderungen festlegen Die Benutzeranforderungen derart komplexer Systeme können nicht nur durch Befragungen erschlossen werden, da es speziell in diesem Bereich dem potenziellen Nutzer schwer fällt, sich theoretische Konstrukte vorzustellen. Zur Erhebung von realistischen Anforderungen wird empfohlen, Experten des Systems bzw. erfahrene Benutzer zu befragen und, wenn möglich, ähnliche Produkte zu testen. Die getesteten Produkte sind dann bei der Analyse als Referenz zu betrachten. Für die Ableitung von Benutzeranforderungen wurden zwei erweiterte ACC-Systeme durch Experten überprüft, dabei haben sich zwei Einflussfaktoren herausgestellt:
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1) Anzahl bzw. Relevanz der angezeigten Informationen in Abhängigkeit der jeweiligen Fahrsituationen; 2) Informationsaufnahme bezüglich des Ortes der Informationspräsentation bei Stadt-Fahrbedingungen. Der Fahrer benötigt z.B. folgende Informationen insbesondere im Stadtverkehr:
x „Das Zielfahrzeug wurde vom ACC-System erkannt“ x „Das ACC-System fährt nach Stillstand (z.B. Ampel) autonom wieder an“ Die Ergebnisse dieser ersten zwei Aktivitäten des Gestaltungsprozesses (Klärung des Nutzungskontextes und der Benutzeranforderungen) haben gezeigt, dass die Funktionsänderung einen wesentlichen Teil des Nutzungskontextes sowie der Benutzeranforderungen verändert. Ein benutzerorientierter Gestaltungsprozess unterstützt in diesem Fall den Entwurf von Lösungen (technisch, funktionell), die an die neuen Anforderungen angepasst werden sowie eine differenzierte Überprüfung der unterschiedlichen Lösungen. (3) Gestaltungslösungen entwerfen Ziel dieses Schrittes ist die Erstellung von Lösungen, die die Anforderungen, formuliert in Phase 1 und 2, erfüllen können. Am Anfang dieser Phase sollen Vorschläge ohne Berücksichtigung der Machbarkeit, der Kosten oder der Konflikte mit anderen Anforderungen formuliert werden. Basierend auf der Analyse der Anforderungen wurde die Schnittstellengestaltung unter mehreren Aspekten bearbeitet: Anzahl und Relevanz der ACC-Informationen, Darbietungsort der Informationen, Art der angezeigten Informationen usw. Im Folgenden wird der Fokus nur auf der Problematik der ACC-Informationsaufnahme bezüglich des Darbietungsorts gelegt. In der Stadt kann der Fahrer nur bedingt Information über das ACCSystem vom Tacho aufnehmen. Hauptursache dafür ist die Belastung des visuellen Kanals im Stadtverkehr, in welchem die Komplexität der Fahrsituationen stark variiert, von ruhigen Straßen ohne Verkehr, Fußgängern oder Kreuzungen bis zu mehrspurigen Straßen mit viel Verkehr, Fußgängern, Fahrrädern, Kreuzungen mit Vorfahrt und Ähnlichem. Eine erste Lösung besteht in der Verlagerung der ACCInformationen auf einen anderen Darbietungsort oder deren Vermittlung über einen anderen Sinneskanal. Bei der Verlagerung des Darbietungsortes sollen die ACC-Informationen direkt ins Blickfeld des Fahrers projiziert werden. Eine Projektion der Informationen in der Windschutzscheibe, z.B. mit Hilfe eines Head-Up Displays (siehe auch Kap. 10.1.2.1.1), soll die Informationsaufnahme von ACCInformationen vereinfachen: Der Fahrer kann seinen Blick sehr schnell mit geringerer Ablenkung zwischen Straße und Display bewegen. Ein weiterer innovativer Entwurf wäre die Nutzung des haptischen Kanals, um den Fahrer über den ACCStatus zu informieren. Haptische Informationen werden bisher hauptsächlich für Warninformationen eingesetzt, z.B. durch Vibrationen im Sitz oder Lenkrad. Für den Entwurf neuer Lösungen ergeben sich z.B. folgende Fragen: Ist der haptisch Kanal auch effizient für Informationen, die keine Reaktion fordern, sondern nur informativ sind? Können haptische Informationen über andere Körperteile intuitiv in die richtige Reaktion umgesetzt werden? Am Anfang der Phase „Entwurf von Gestaltungslösungen“ ist es wichtig, dass die Entwickler unabhängig von der
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technischen oder finanziellen Realisierbarkeit nach Lösungen suchen, um neue Wege zu explorieren. Natürlich werden diese Machbarkeitskriterien bei der Auswahl der Lösung berücksichtigt. Wenn ein Projekt finanziell oder zeitlich sehr begrenzt ist, können neue Technologieentwicklungen nicht innerhalb des Projekts umgesetzt werden, jedoch die Basis für ein neues Projekt sein.
(4) Gestaltungslösungen bewerten In dieser Phase sind zunächst das Ziel sowie der Umfang der durchzuführenden Bewertung in Abhängigkeit des Budgets, des Zeitrahmens sowie der verfügbaren Ressourcen zu definieren. Unter Anderem war ein Ziel die Feststellung des zu erwartenden Verbesserungspotenzials, das eine Änderung des Darbietungsortes mit sich bringen könnte. Eine Laborsimulation mit einer kleinen Anzahl von ACC-Benutzern konnte eine erste Tendenz zeigen. Es wurde entschieden, drei Darbietungsorte bzw. -arten (Head-Down, Head-Up, bzw. Kontakt Analog Display) zu betrachten (Abb. 10.106).
Abb. 10.106: Beispiele unterschiedlicher Darbietungsorte (links: Head-Down; Mitte: HeadUp; rechts: Kontakt Analog Display)
Bei der Bewertung der neuen Lösungen ist darauf zu achten, dass diese mit den „traditionellen“ und den a priori schlechteren Lösungen verglichen werden. Deshalb wurde ein klassischer Tacho (Head-Down) gegenüber zwei neuen Lösungen (Head-Up) getestet. Die Art der Information wurde ebenfalls untersucht. Abb. 10.107 zeigt Beispiele der getesteten Darbietungen.
Abb. 10.107: Beispiele unterschiedlicher Informationsdarbietung (links: Fahrzeug erfasst, rechts: Fahrrad erfasst)
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Die auszuwertenden Daten wurden mit Hilfe von Fragebogen und Interview erhoben, außerdem wurde eine qualitative Analyse durchgeführt. Die Ergebnisse haben bezüglich der Darbietungsorte (Abb. 10.108) bzw. -arten für viele der Anzeigenalternativen klare Präferenzen der Nutzer gezeigt, die als Anforderungen für die Entwicklung zukünftiger Niedriggeschwindigkeitsbereich-ACC-Systeme dienen können. Zunächst nicht verwertbare Ergebnisse sollen nach einer Überprüfung der Relevanz der Entwurfslösung, noch einmal überprüft werden, idealerweise im realen Verkehr. Mit der Umsetzung der Ergebnisse der Phase 4 „Bewertung“ in konkrete Anforderungen endet der Produktentwicklungsprozess.
Abb. 10.108: Von einem Probanden ausgewählte Darbietungsorte - ein Beispiel
Die exemplarischen Ergebnisse in Abb. 10.109 zeigen, dass die Funktion „Set Speed“ in Kurven sowie bei Kreuzungen mit Ampeln im Gegensatz zu AutobahnSituationen nicht als „wichtig“ beurteilt wird, „Erkennen Zielfahrzeug“ wird in allen drei Situation als eine wichtige Information bewertet. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der Mensch beim Fahren nur eine begrenzte Anzahl an Informationen zusätzlich aufnehmen kann, können solche Ergebnisse die Auswahl der anzuzeigenden Informationen unterstützen.
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Warnung Deaktiviert Verlust Zielfahrzeug Erkennen Zielfahrzeug Abstand Zielfahrzeug Geschwindigkeit System Status Wunschabstand Wunschgeschwindigkeit 1
2
3
4
Kurve
51
2
3
Ampel
4
51
2
3
4
5
Autobahn
Abb. 10.109: Frage: Wie wichtig sind die folgenden Informationen in diesen Fahrsituationen? [1= nicht wichtig bis 5=sehr wichtig] - Mittelwert über alle Probanden
Fazit Diese Beispiele zeigen, dass der Identifizierung des Nutzungskontextes eine große Bedeutung zukommt, da dieser sehr unterschiedlich sein kann und somit sich auch unterschiedliche Anforderungen der Benutzer ergeben können. In solchen Fällen muss geprüft werden, ob die Anforderungen unterschiedlicher Nutzer in einem Produkt umgesetzt werden können oder unterschiedliche Produkte bzw. Schnittstellen für die verschiedenen Nutzergruppen entwickelt werden sollten. Falls ein Produkt unterschiedliche bzw. widersprüchliche Anforderungen, z.B. für sehr unterschiedliche Nutzergruppen, erfüllen soll, ist es besonders wichtig, dass die Anforderungen gewichtet werden. Bei ergonomischer Gestaltung werden die Anforderungen aller Nutzer berücksichtigt; ist dies nicht möglich, haben die Anforderungen der „schwächsten“ Nutzer Priorität. 10.3.2 Produktionsgestaltung Belastungen vorwiegend körperlicher Arbeit und ihre Auswirkungen stellen weiterhin ein großes Problemfeld für produzierende Betriebe, die Volkswirtschaft und für die Arbeitspersonen selbst dar (LAWACZECK 2001), das durch die im Folgenden erläuterten Gestaltungsmethoden systematisch durchdrungen und einer produktionsergonomischen Lösung zugeführt werden kann. Zur methodisch geleiteten Gestaltung von Arbeitssystemen in der Produktion mit überwiegend informatorischer Arbeit sei generell auf Kapitel 10.1.2 verwiesen. Darüber hinaus finden sich einige ausgewählte Beispiele zur ergonomischen Gestaltung von MenschMaschine-Schnittstellen für die automatisierte Produktion in Kapitel 10.3.2.6.
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10.3.2.1 GrundlagenĆ Begriffe
x Produktentstehungsprozess (PEP): Umfasst alle zur Planung und Herstellung eines Produktes notwendigen Prozesse und Abläufe. x Produktionsgestaltung: Steht bei der Produktgestaltung (Kap. 10.3.1) die Gestaltung von menschzentrierten Produkten im Vordergrund, so wird innerhalb der Produktionsgestaltung vorrangig eine ergonomische Arbeitsprozessgestaltung angestrebt. x Prozess: Bezeichnet das zeitliche und räumliche Zusammenwirken von Menschen, Arbeitsobjekten sowie Arbeits-/Sachmittel, bei dem eine Transformation der Eingabe (Prozessinput) in die Ausgabe (Prozessoutput) vollzogen wird. x Quality Gate: Bezeichnet einen speziellen Meilenstein in einem Projekt, der sich zwischen einzelnen Prozessphasen, welche auf besondere Weise von den Ergebnissen der Vorphase abhängig sind, befindet. Jedes Gate beinhaltet eine qualitative bzw. quantitative Prüfung der Ergebnisse der vorhergehenden Phase innerhalb des Produktentstehungsprozesses. x Risikoanalyse und -bewertung: Umfassende Einschätzung der Wahrscheinlichkeit und des Schweregrades möglicher Verletzungen oder Gesundheitsschädigungen, um so geeignete Sicherheitsmaßnahmen auszuwählen (DIN EN 1005-1). x Gefährdungsbeurteilung: Gehört nach §5 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) zu den Pflichten des Arbeitgebers mit dem Ziel, die Arbeitsbedingungen in seinem Betrieb im Hinblick auf Gefährdungen für die Arbeitspersonen zu beurteilen und notwendige Maßnahmen des Arbeitsschutzes daraus abzuleiten. 10.3.2.2 ZieleĆundĆAnwendungsbereicheĆĆ Eine traditionelle Art der Klassifikation von Ergonomie ist die Unterscheidung in die Produktergonomie (siehe Kap. 10.3.1), welche die Benutzbarkeit von Produkten im Fokus hat und in die Produktionsergonomie, die sich dem ergonomiegerechten Herstellungsprozess von Produkten und Dienstleistungen widmet. Alle arbeitswissenschaftlichen Konzepte und Modelle, wie sie in den Grundlagenkapiteln beschrieben wurden, haben auch in der Produktionsergonomie ihre Gültigkeit. Ziel der Produktionsergonomie ist die humane und wirtschaftliche Gestaltung menschlicher Arbeit in der Fertigung und Montage. Angesichts eines steigenden Kostendrucks, hervorgerufen u.A. durch den globalen Wettbewerb und den demografischen Wandel in Europa, lässt sich eine wirtschaftliche Produktion nur noch durch eine effektive und effiziente Nutzung der „Ressourcen“ des Menschen erreichen. Nach jahrzehntelanger technischer Optimierung in der industriellen Fertigung reicht auch in der Produktionsergonomie eine korrektive
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Arbeitsgestaltung, z.B. im Rahmen eines kontinuierlichen Verbesserungsprozesses (KVP, siehe Kap. 4.3.4.2), hinsichtlich der ökonomischen und humanen Verbesserungspotenziale nicht mehr aus, um optimale Bedingungen zu schaffen. In immer stärkerem Maße muss im Rahmen des Produktentstehungsprozesses (PEP) eine kostengünstige konzeptive Ergonomie eine menschengerechte und wirtschaftliche Prozess- und Produktplanung ermöglichen (Abb. 10.110).
Abb. 10.110: Ergonomie und Wirtschaftlichkeit im Produktentstehungsprozess
Aus arbeitswissenschaftlicher Sicht ist von Interesse, welche Auswirkungen der Zusammenhang zwischen der Gestaltung eines Produktes und der daraus folgenden Produktivität bei der Herstellung des Produktes für die an der Produktentwicklung und der Produktion beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben kann. Für die Beteiligten am Produktentwicklungsprozess ist insbesondere von Bedeutung, wie die Auswirkungen einer Gestaltungsvariante auf den Produktionsprozess frühzeitig erkannt und bewertet werden können. Dies erfordert einen frühzeitigen und intensiven Austausch zwischen Experten in der Produktgestaltung sowie der Produktionsplanung. Zusätzlich müssen alle Beteiligten der Produktentwicklung die Auswirkungen der Produktgestaltung und der daraus folgenden Produktionsplanung auf die Arbeitsprozesse und damit auch auf die Leistungserbringung und die Beanspruchungsreaktion der an der Produktion beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einschätzen können. Für die Arbeitspersonen in der Produktion können sich durch die mit der Produktgestaltung in Verbindung stehende Prozessgestaltung folgende Anforderungen ergeben:
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x Eine zunehmende Variantenvielfalt von Produkten verstärkt die Notwendigkeit einer hohen Flexibilität der Arbeitsprozesse in der Fertigung. x Verbunden mit der Forderung nach Produktivitätssteigerungen kommt es aber auch zu einer zunehmenden Standardisierung von Produkten, Arbeitsmitteln und Arbeitsprozessen. Nachfolgend soll zunächst aufgezeigt werden, wie die Tätigkeit der am Produktentstehungsprozess Beteiligten so unterstützt werden kann, dass die gleichzeitige Erfüllung eines Zielsystems bestehend aus Kundenanforderungen, Produktivitätsanforderungen und Beschäftigtenanforderungen ermöglicht wird. 10.3.2.3 ErgonomieĆinnerhalbĆdesĆProduktentstehungsprozessesĆ Zieht man beispielhaft die Automobil- und Zulieferindustrie heran, so gibt es je nach Unternehmenskultur unterschiedliche Ausprägungen von sog. Ganzheitlichen Produktionssystemen, die sich mehr oder weniger an dem bekannten Toyota Produktionssystem (TPS) anlehnen (siehe Kap 4.4.2) z.B. das Mercedes-Benz-Produktionssystem (MPS), die Arbeits- und Prozessorganisation (APO) bei Volkswagen (IFAA 2008) oder das Bosch-Produktions-System (BPS) bei der Robert Bosch GmbH. Allen ist gemeinsam, dass bereits bei der Produktentwicklung der gesamte Wertschöpfungsprozess betrachtet wird. Die Entwicklung neuer Produkte ist dabei oftmals in einem festen Prozess niedergeschrieben. Im Produktentstehungsprozess werden die hierfür erforderlichen Schritte auf einer Zeitachse beschrieben. An definierten Quality Gates werden technische oder qualitative Erfüllungsgrade (Prozessziele) anhand von Checklisten überprüft und ggf. Verbesserungsmaßnahmen durchgeführt. Im ungünstigsten Fall einer „No-go“- Situation wird der Prozess angehalten, bis das vorliegende Problem einer befriedigenden Lösung zugeführt ist. Die frühzeitige Berücksichtigung ergonomischer Anforderungen im Prozess der Produktentwicklung ist nicht zuletzt aus wirtschaftlicher Sicht dringend geboten. Mittels frühzeitiger Vermeidung ungünstiger Arbeitsbedingungen lassen sich Kosten senken und Qualitätsverluste vermeiden (LANDAU et al. 2003). Durch die Berücksichtigung ergonomischer Forderungen für den Produktionsprozess bereits in der Produktentwicklung kann dem Wunsch nach einer konzeptiven anstelle einer korrektiven Ergonomie entsprochen werden. Zur kontinuierlichen und umfangreichen Berücksichtigung der Ergonomie im Produktentstehungsprozess wurde ein konzeptioneller Ansatz entwickelt, der sich aus vier Modulen zusammensetzt (BRUDER et al. 2008). Ergänzt wird das 4-Modul Konzept durch eine Bilanzierung und Steuerung der in den einzelnen Stufen durchgeführten Maßnahmen (siehe Abb. 10.111). Eine Grundvoraussetzung für die Berücksichtigung von ergonomischen Belangen ist die Nutzung von Methoden zur Bewertung der Belastungssituation an vorhandenen oder geplanten Arbeitsplätzen. In vielen Unternehmen liegen solche Werkzeuge vor, die aber häufig noch an geänderte Arbeitsbedingungen angepasst
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werden müssen (SCHAUB et al. 2008). In Kapitel 10.3.2.4 werden solche Werkzeuge vorgestellt.
Abb. 10.111: 4+1 Module zur Integration der Ergonomie in den Produktentstehungsprozess
Durch die Erweiterung des Werkzeug-Einsatzes (Modul 2) soll sichergestellt werden, dass die Erkenntnisse zur Belastungssituation an aktuellen und zukünftigen Arbeitsplätzen für vielfältige Anwendungen im Unternehmen zur Verfügung stehen. So sind die Ergebnisse von Belastungsanalysen für die technische Auslegung von Arbeitsplätzen (Arbeitsplatzgestaltung im engeren Sinn), aber auch für die organisatorische Planung von Arbeitssystemen nutzbar. Hier sei als Beispiel die Nutzung von Belastungsanalysen für die Auslegung von Maßnahmen des Job-Rotation hinsichtlich des Wechselregimes und der im Rotationsschema zu berücksichtigenden Arbeitsstationen genannt (BRUDER et al. 2009). Mit einem erweiterten Werkzeug-Einsatz soll auch verhindert werden, dass die teilweise aufwendige Erhebung von Belastungssituation mehrfach durchgeführt werden muss, bzw. dass auf eine Erhebung mit dem Hinweis auf den zusätzlichen Zeitaufwand der Erhebung gar verzichtet wird. Eine nächste logische Stufe in der Berücksichtigung der Ergonomie ist die Einführung von sogenannten ergonomischen „Quality gates“ (siehe Abb. 1.24 in Kap. 1.5.3.3). Mit solchen ergonomischen Quality Gates wird nachprüfbar festgelegt, zu welchem Zeitpunkt, von wem, mit welchen Verfahren eine Überprüfung der ergonomischen Güte der Arbeitsbedingungen in der Produktion durchgeführt werden muss. Es wird weiterhin festgelegt, welche Maßnahmen in Abhängigkeit von den erhaltenen Ergebnissen der Ergonomieanalysen zu treffen sind. In Kapitel 10.3.2.5 wird anhand eines Beispiels aus der Automobilindustrie gezeigt, wie das frühzeitige Aufzeigen von massiven ergonomischen Gestaltungsdefiziten für geplante Arbeitsstationen in der Montage zu einer Änderung des Fahrzeugdesigns führten.
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Aus Abb. 1.24 (Kap. 1.5.3.3) ist ebenfalls ersichtlich, dass die erhobenen ergonomischen Daten in den einzelnen Phasen des Produktentwicklungsprozesses nicht nur für den aktuellen Prozess (Model 1.0), sondern gerade auch für die Gestaltung zukünftiger Produkte (Model 1.x) genutzt werden können. Mit der Schließung von möglichen Datenlücken zwischen der Entwicklung von Produkten unterschiedlicher Generationen ergibt sich auch die Möglichkeit zur kontinuierlichen Verbesserung von Arbeitsprozessen und somit auch zur Verbesserung der Produktivität. In einem vierten Schritt der konzeptiven Einbindung der Ergonomie in den Produktentwicklungsprozess erfolgt die Verbindung von Anforderungen der Arbeitssituation mit den Fähigkeiten von Arbeitspersonen. Die Betrachtung der Fähigkeiten kann im Einzelfall notwendig sein, weil für eine Arbeitsperson im Rahmen einer Rehabilitationsmaßnahme (z.B. nach einem Arbeitsunfall) zu klären ist, welche Tätigkeiten von ihr noch ausgeführt werden können. Aber es kann auch sinnvoll sein, die aktuellen oder auch zukünftig vorhandenen Fähigkeiten von Populationen von Werkern in Bezug zu den aktuellen und zukünftig geplanten Anforderungen der Arbeitsplätze zu bringen. Dieser Vergleich zwischen den Arbeitsanforderungen eines neu gestalteten Produktionssystems und den vorherzusehenden Fähigkeiten des eigenen Personals in Zukunft wird zu einer wichtigen Aufgabe für Unternehmen im Rahmen der Herausforderungen durch den demographischen Wandel (RADEMACHER et al. 2008). 10.3.2.4 BelastungsanalysenĆalsĆBasisĆfürĆGestaltungsansätzeĆ Das Arbeitsschutzgesetz, aber auch die 9. Verordnung des Geräte- und Produktsicherheitsgesetzes (nationale Umsetzung der EU-MASCHINENRICHTLINIE 98/37/EG, ehemals 89/392/EWG, künftig 2006/42/EG) erfordern schnell einsetzbare und robuste Verfahren zur ergonomischen Gefährdungs- und Risikoanalyse, um „flächendeckende“ Analysen zu ermöglichen. Dies gilt insbesondere auch für die Aussagen der neuen MASCHINENRICHTLINIE 2006/42/EG, Anhang I, Ziffer 1.1.6, dass bei bestimmungsgemäßer Verwendung Belästigung, Ermüdung sowie körperliche und psychische Fehlbeanspruchung des Personals auf das mögliche Mindestmaß unter Berücksichtigung ergonomischer Prinzipien reduziert sein müssen. Gefährdungsund Risikoanalysen zeigen ergonomischen Handlungsbedarf in Bezug auf gesetzliche Vorgaben an und geben aufgrund der erkannten Engpässe Hinweise zu Gestaltungsansätzen. Auf der Basis verschiedener Methoden und Verfahren, wie z.B. der Leitmerkmalmethode Heben, Halten, Tragen (LMM-HHT) der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) (STEINBERG u. WINDBERG 1997; CAFFIER et al. 1999; STEINBERG et al. 2000, siehe auch Kap. 10.1.1.1), sind in den vergangenen Jahren eine Reihe von praxisorientierten Belastungsbewertungsverfahren entwickelt worden, die im Sprachgebrauch als „Screening-Verfahren“ bezeichnet werden. Diese Verfahren wurden eigens für den Einsatz in der
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Produktionsergonomie konzipiert und einige Beispiele werden nachfolgend kurz beschrieben. Für den Einsatz solcher Verfahren in der industriellen Praxis sind insbesondere eine kurze Einstufungsdauer und eine nachvollziehbare Ergebnisdarstellung von Bedeutung sowie eine Übereinstimmung mit bestehenden Verfahren zur Bewertung körperlicher Belastungen. Neu ist allerdings die Grundphilosophie der Belastungsbewertung dieser praxisorientierten Verfahren. Während „klassische“ deutsche Verfahren wie z.B. nach BURANDT u. SCHULTETUS (1978), REFA (1993) oder VDI (1980) mit ihren sog. Grenzkräften, -momenten und -gewichten ein Zweizonenmodell favorisierten (siehe Kap. 3.2.8 sowie Kap. 10.1.1.1), nutzen praxisorientierte Verfahren, ebenso wie die Leitmerkmalmethoden der BAuA, das von der EU-Maschinenrichtlinie vorgeschlagene Dreizonenmodell (Ampelschema gemäß DIN EN 614-1 Anhang A). Anders als die Leitmerkmalmethoden der BAuA oder die einschlägigen CEN (DIN EN 1005 Serie) und ISO (ISO 11226 und ISO 11228 Serie) Normen zur Bewertung körperlicher Belastungen, ermöglichen praxisorientierte Screening-Verfahren auch eine summarische Bewertung der Teilbelastungsarten Körperhaltungen, Aktionskräfte und Lastenhandhabungen. Die Screening-Verfahren haben in viele Unternehmen der Automobil- und Zulieferindustrie Eingang gefunden; sie werden aber auch in der Metall- und Elektroindustrie eingesetzt. Die Verfahren können auf mitarbeiterorientierte (z.B. Ellbogenhöhe) oder arbeitsplatzorientierte Koordinaten bezogen sein. Das Ziel der Verfahren besteht darin, belastende Arbeitssituationen zu dokumentieren, zu bewerten und ggf. Problemverfolgungssystemen zuzuführen. Darüber hinaus gilt es, bestehende Regeln zum Arbeitsschutz zu befolgen. Die Verfahren sprechen folgende Zielgruppen an:
x Konstrukteure und Fertigungsplaner im Entwicklungszentrum Sie sind daran interessiert, frühzeitig zu überprüfen, inwiefern ihre Vorgaben in der Fertigung zu besonderen Belastungen führen können, um frühzeitig durch geeignete Maßnahmen Abhilfe zu schaffen (Forderung der EUMaschinenrichtlinie, des Arbeitsschutzgesetzes und des Betriebsverfassungsgesetzes). x Fertigungsplanung der Werke In der Fertigungsplanung der Werke und in den Werksbereichen geht es darum, belastende Situationen zu erkennen und Vorschläge, Vorgaben oder Maßnahmen zur Verbesserung der Gestaltungssituation zu entwickeln (Forderungen gemäß Arbeitsschutzgesetz sowie Betriebsverfassungsgesetz). Darüber hinaus können die Verfahren als standardisiertes Kommunikationswerkzeug im Rahmen eines Ergonomieprozesses zwischen den Werken und dem Entwicklungszentrum eingesetzt werden und somit den Forderungen des dualen europäischen Systems zur Arbeitssicherheit nach ergonomischen Risikoanalysen entgegenkommen.
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Ähnlich wie die Leitmerkmalmethoden der BAuA vergeben die vom Institut für Arbeitswissenschaft Darmstadt (IAD) entwickelten Screening-Verfahren Belastungspunkte für ergonomisch ungünstige Belastungssituationen. Die Summe der Belastungspunkte erhöht sich mit zunehmender Belastungsdauer und -höhe. Alle Verfahren existieren als Papier- und Bleistiftverfahren. Einige Verfahren stehen auch rechnergestützt zur Verfügung. 10.3.2.4.1 Personenorientierte Verfahren Personenorientierte Verfahren wie die am Institut für Arbeitswissenschaft der TU Darmstadt entwickelten IAD-BkA (Bewertung-körperlicher-Arbeit) (SCHAUB 2002), NPW (New-Production-Worksheet) (SCHAUB u. STORZ 2003; SCHAUB u. KALTBEITZEL 2006) und AAWS (Automotive-Assembly-Worksheet) (SCHAUB 2004) berücksichtigen körperliche Belastungen in einer tätigkeitsorientierten Klassifikation in Form von:
x Körperhaltungen und -bewegungen mit geringem Kraftaufwand (< 30-40 N bzw. 3-4 kg) x Aktionskräfte in realen Körperhaltungen oder Greifarten (> 30-40 N) x Lastenhandhabungen in realen Körperhaltungen (> 3-4 kg). Diese Gliederungssystematik orientiert sich an den national und international verfügbaren Bewertungsverfahren. Die in den drei aufgelisteten Kategorien eingestuften Belastungspunkte werden zu einer Gesamtbewertung zusammengefasst. Dies ist die Basis für die anschließende Bewertung. Das European Assembly Worksheet (EAWS) (SCHAUB u. GHEZEL-AHMADI 2007) und das Verfahren zur Bewertung körperlicher Belastung (IAD-BkB) (GHEZEL-AHMADI et al. 2007) berücksichtigen zusätzlich repetitive / kurzzyklische Belastungen der oberen Extremitäten. In Abb. 10.112 ist ein Ausschnitt des EAWS dargestellt. 10.3.2.4.2 Arbeitsplatzorientierte Verfahren Arbeitsplatzorientierte Verfahren berücksichtigen in ihrem Gestaltungsansatz keine spezifischen anthropometrischen und biomechanischen Bevölkerungsperzentile, sondern berücksichtigen den für die ergonomische Gestaltung relevanten Perzentilbereich der beabsichtigten Nutzerpopulation. Als Beispiel für ein solches Verfahren wird im Folgenden der DesignCheck (DC) beschrieben (WINTER et al. 1999, SCHAUB u. WINTER 2002). Auf der Vorderseite des Bewertungsbogens findet sich ein Bewertungsdiagramm, dessen Ordinate die Arbeitshöhe in stehender und sitzender Körperstellung darstellt. Seine Abszisse enthält eine physiologisch-biomechanische Bewertungsskala dessen Punktwerte auf der Rückseite des Bogen ermittelt werden. Dabei werden Ganzkörperbelastungen, Belastungen der oberen Extremitäten sowie physisch relevante Belastungen aus der Arbeitsumgebung berücksichtigt (siehe Abb. 10.113).
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1137
Abb. 10.112: Ausschnitt aus der EAWS Bewertung „Körperhaltungen mit geringem Kraftaufwand“
1138
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DesignCheck steht in verschiedenen Modi zur Verfügung. Ursprünglich waren nur ganze Schichten einstufbar. Mittlerweile sind auch einzelne Takte oder Arbeitsvorgänge innerhalb eines Taktes bewertbar. Job rotation kann ebenso wie Mehrstellenarbeit bewertet werden. Auch ein Vergleich von Gestaltungsvarianten ist möglich. Legende
230
Gesamtwert für einen Takt mit drei Arbeitsvorgängen (AVo)
180
130
80
30
10
100
1000
Legend 'AVo'
Einzelplatz, Takt
'Gesamt'
Abb. 10.113: DesignCheck zur Bewertung eines Taktes an einem Arbeitsplatz. Die Rauten stellen die Bewertung einzelner Arbeitsvorgänge (AVo) dar; das Quadrat ihre zeitlich gewichtete Gesamtbewertung
DesignCheck baut auf den geschlechtsneutralen europäischen Körperhöhen auf. Die Ermittlung der physiologisch-biomechanischen Punkte auf der Rückseite erfolgt ebenfalls geschlechtsneutral. Es ist jedoch auch möglich die Werte nur auf ein Geschlecht zu beziehen. 10.3.2.4.3 Kombinationsverfahren Kombinationsverfahren verbinden die Ansätze von mitarbeiterorientierten mit denen von arbeitsplatzorientierten Verfahren. Als Beispiele werden im Folgenden MTMergonomics und das Ergonomische-Frühwarnsystem erläutert. MTMergonomics
MTMergonomics (SCHAUB et al. 2004a, 2004b, 2005) entstand in einem Kooperationsprojekt zwischen der deutschen MTM Vereinigung und dem IAD und ermöglicht ergonomische Risikoanalysen auf Basis von MTM-UAS oder MTMMEK Analysen (siehe Kap. 7.3.9). Ergonomierelevante Daten werden aus den MTM-Kodes übernommen; noch fehlende Informationen werden über den Ergonomiekodegenerator (siehe Abb. 10.114) interaktiv eingegeben.
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Abb. 10.114: MTMergonomics – Ergonomiekodegenerator Beschreibung von körperlicher Belastungen
1139
zur
detailgetreuen
Der Arbeitssystemplaner arbeitet dabei in einem arbeitsplatzbezogenen Koordinatensystem. Er definiert für seine durchzuführenden Risikoanalysen die Zielgruppe (5., 50. oder 95. Körperhöhenperzentil einer geschlechtlich nicht differenzierten europäischen Bevölkerung) und MTMergonomics leitet aus den Parametern
x 3D Lage der Wirkstelle, x Zugangsrichtung zur Wirkstelle und x Lage der Griffachse eine eindeutig definierte Körperhaltung ab, welche als Strichmännchen darstellbar ist und in Verbindung mit Gewichten oder Kräften als Körperhaltung mit geringer körperlicher Belastung, Lastenhandhabung, Aktionskraft oder kurzzyklische/ repetitive Belastung der oberen Extremitäten auszuwerten ist. Anschließend erfolgt eine Bewertung der gefundenen Belastungen auf Basis von AAWS (siehe Abb. 10.115), EAWS oder des Daimler Ergonomietools EAB (Ergonomische Arbeitssystem-Beurteilung) (KRÄMER 2007). MTMergonomics schlägt somit eine Brücke zwischen den arbeitsplatzbezogenen und den personenbezogenen Verfahren zur ergonomischen Gefährdungs-/Risikoanalyse.
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Abb. 10.115: Bewertung einer ergonomischen Risikoanalyse in MTMergonomics auf der Basis des AAWS
MTMergonomics gestattet es somit in der Produktionsphase, aber auch in einer frühen Phase des Produktentstehungsprozesses ergonomische Risikoanalysen durchzuführen, ergonomiebezogene Gefährdungen zu erkennen und Handlungspotenziale abzuleiten. Ergonomisches Frühwarnsystem (Ergo-FWS)
Kern des ergonomischen Frühwarnsystems (SINN-BEHRENDT et al. 2004) ist es, mit Hilfe eines Profilvergleiches von Arbeitsplatzanforderungen und Personenfähigkeiten einen fähigkeitsgerechten Mitarbeitereinsatz zu planen. Langfristiges Ziel ist es dabei nicht erst auf Erkrankungen oder gesundheitliche Einschränkungen zu reagieren, sondern frühzeitig arbeitsbezogene Befindlichkeitsstörungen zu erkennen und geeignete Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Individuelle Betrachtungsweisen (z.B. Wiedereingliederung von Leistungsgewandelten) sind dabei ebenso möglich wie statistische (z.B. alternsgerechte Gestaltung von Arbeitsplätzen). Im Profilvergleich werden nicht nur körperliche Belastungen berücksichtigt, auch Elemente der Gefährdungsanalyse (Arbeitsschutz) und „sonstige Anforderungen“ finden Berücksichtigung.
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10.3.2.5 FallbeispieleĆ zurĆ VerbesserungĆ derĆ ArbeitsbedingungenĆ undĆ ProduktivitätĆ Bei einem Automobilhersteller wurden insgesamt 14 Ergonomie-Workshops durchgeführt, um Vorschläge zu entwickeln, mit denen sich die Belastungssituation von Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Produktion verbessern lassen. Bei den Verbesserungsvorschlägen galt es zu beachten, dass bei diesem Automobilhersteller zugleich hohe Anforderungen an die Verbesserung der Produktivität bestehen (WINTER et al. 2007). Die Ergebnisse der Ergonomie-Workshops sind in Abb. 10.116 kurz dargestellt. Die einzelnen Vorschläge wurden hinsichtlich ihrer Umsetzbarkeit in die Kategorien „kurzfristig umsetzbar“ (bis zu 10 Wochen), „mittelfristig umsetzbar“ (bis zu 24 Wochen) und „langfristig umsetzbar“ (> 52 Wochen) eingeteilt. Zu den eher langfristig umsetzbaren Verbesserungsvorschlägen gehören dabei die Hinweise zur ergonomischen Optimierung von Produkten hinsichtlich der Produzierbarkeit. So bietet die Produktgestaltung mit immerhin 28% der gesamten Verbesserungsvorschläge ein großes Potenzial zur Verbesserung von Produktionsbedingungen.
Abb. 10.116: Ergebnisse aus Ergonomie Workshops (n=14) bei einem Automobilhersteller
Nachfolgend soll an einem ausgewählten Beispiel aufgezeigt werden, wie eine frühzeitige Visualisierung von Produktionsbedingungen, die sich aufgrund von Produktänderungen ergeben, zu einer Änderung der Vorschläge führen können. Es handelt sich im gewählten Beispiel um die Montage von Heckscheibenwischern. Vor der Durchführung der Änderung am Produkt wurden die Heckschei-
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benwischer von außen in einer gut zugänglichen Position montiert. Dabei erfolgte der Einbau der Wischermechanik durch eine Öffnung in der Karosserie. Als Ergebnis einer Änderung sollte die Öffnung der Karosserie vermieden werden und stattdessen eine kleine Öffnung in der Heckscheibe für die Verbindung von Wischermotor und Wischermechanik genutzt werden. Somit wurde der Einbau der Wischermechanik aus dem Fahrzeuginnern heraus notwendig. Die beschriebene Arbeitssituation ist in Abb. 10.117 dargestellt.
Abb. 10.117: Simulation der Positionierung und Fügen als Folge einer Designänderung (WINTER et al. 2007)
Eine Analyse der Arbeitssituation mit dem Verfahren Design Check (WINTER et al. 1999, SCHAUB u. WINTER 2002) ergab eine hohe, zu vermeidende Belastungssituation beim Einbau aus dem Fahrzeuginneren („rote Belastungssituation“ gemäß Ampelschema nach DIN EN 614-1). Nach Rücksprache mit der Produktentwicklung wurde eine Änderung der ursprünglich geplanten Lösung vorgenommen und die Öffnung der Heckscheibe wurde wieder entfernt. Als Ergebnis der Änderung konnte der Heckscheibenwischer-Motor von außen verbaut werden (siehe Abb. 10.118). Dies hat eine deutlich verbesserte Körperhaltung für die Arbeitsperson zur Folge („grüne Belastungssituation“ gemäß DIN EN 614-1). Zudem kann die Heckscheibe nach der Änderung automatisch gefügt werden, was zusätzlich eine Produktivitätsverbesserung zur Folge hat (siehe auch WINTER et al. 2008).
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Abb. 10.118: Auswirkung einer Produkt- und Prozessänderung auf die Körperhaltung des Mitarbeiters
Auch im zweiten Fallbeispiel war der Ausgangspunkt für ergonomische Interventionen eine Sensibilisierung der am Produktentwicklungsprozess beteiligten Spezialisten (SCHAUB et al. 2003). Auf der Grundlage von Belastungsanalysen in der Montage konnte dargestellt werden, welchen Einfluss die Produktentwicklung auf die ergonomische Güte von Arbeitsplätzen hat. So erzeugt eine Karosserienaht im Motorraum eine hoch belastende Arbeitssituation, da bei der Nahtabdichtung entweder Überkopfarbeit (Abdichtung von unten), oder stark gebeugte und verdrehte Rumpfhaltungen entstehen (Abdichtung von oben). In Abb. 10.119 ist der Anteil der ungünstigen Körperhaltungen dargestellt, die sich bei Montageprozessen in einzelnen Bereichen eines Fahrzeuges ergeben können.
Abb. 10.119: Anteil ungünstiger Körperhaltungen bei Montageprozessen in einzelnen Bereichen des Fahrzeugs
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Eine problematische Situation stellte der Einbau des Heckraumdeckels bei einer vorhandenen Montagelinie dar. Für die Montage des Heckraumdeckels sind hohe Fingerkräfte erforderlich, um die Schlauchfeder auf die Zugfeder zu pressen und hohe Armkräfte um die Zugfeder zum Einhängen zu dehnen. Wegen der notwendigen visuellen Kontrolle der Montagestelle mussten die Arbeitspersonen eine starke seitliche Rumpfbeugung in Verbindung mit starker Rumpftorsion einnehmen (siehe Abb. 10.120).
Abb. 10.120: Ehemalige Montage der Zugfeder mit hohen Finger- und Armkräften bei seitlich gebeugtem und gedrehtem Rumpf
Im Rahmen der Entwicklung einer neuen Produktvariante wurden anstelle der bisherigen Schlauch- und Zugfedern Gasdruckfedern eingesetzt. Die Montage dieser Gasdruckfedern kann nun mit deutlich geringerem Kraftaufwand bei nahezu aufrechter Körperhaltung und in kürzerer Zeit erfolgen (siehe Abb. 10.121). Die vorgestellten Fallbeispiele fokussieren auf den Zusammenhang zwischen der Produktgestaltung und den daraus folgenden Produktionsbedingungen. Weiterhin werden die körperlichen Engpässe bei der Gestaltung von Arbeitsplätzen in der Produktion in den Vordergrund gestellt. Aufgrund des noch immer vorhandenen hohen Anteils an Muskel- und Skeletterkrankungen an der Krankheitsartenstatistik auch im Produktionsbereich (BUNDESMINISTERIUM FÜR ARBEIT UND SOZIALES 2007) ist die Betrachtung der körperlichen Engpässe zwingend erforderlich. Allerdings sind gerade auch im Produktionsbereich die mentalen und emotionalen Belastungen von hoher Bedeutung. Dies gilt beispielsweise für die Führung von Werkzeugmaschinen, die Tätigkeiten an Transferstraßen oder in Planung von
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Produktionsprozessen unter Nutzung von virtuellen Technologien des Prototyping (siehe Kap. 10.1.2.1.3).
Abb. 10.121: Geändertes Dämpfungskonzept am Kofferraumdeckel
10.3.2.6 ErgonomischeĆ GestaltungĆ vonĆ Mensch-Maschine-SchnittstellenĆ fürĆdieĆautomatisierteĆProduktionĆ Die wachsende Komplexität der Arbeitssysteme in der Produktion sowie hohe Produktivitätsanforderungen bezüglich der Prozessfähigkeit von Maschinen und Anlagen erfordern im Zuge der technischen und organisationalen Entwicklung eines Betriebs den verstärkten Einsatz von computergestützten Führungs- und Planungsinformationssystemen sowie der damit verbundenen Automatisierungstechnik. Dies wurde bereits bei der Einführung des erweiterten Arbeitssystems in Kap. 1.5.1.1 deutlich zum Ausdruck gebracht (siehe Abb. 1.9) und gilt sowohl für die Fertigung als auch Montage. Durch computergestützte Führungs- und Planungsinformationssysteme kann der Mensch von Routineaufgaben zur Prozessplanung, -führung und -überwachung entlastet sowie bei gesundheitsgefährdenden bzw. stark physisch oder mental beanspruchenden Aufgaben vor Ort unterstützt werden. Ebenso können Konzepte zur Mehrmaschinenführung entwickelt und umgesetzt werden. Durch eine ergonomische Gestaltung der Mensch-MaschineSchnittstelle (MMS) von Führungs- und Planungsinformationssystemen für die automatisierte Produktion lassen sich die besonderen menschlichen Kenntnisse und Erfahrungen mit Bezug auf Werkstoff, Werkzeug, Bearbeitungsstrategie o.Ä. erhalten und weiterentwickeln, so dass durch eine effektive Mensch-Maschine-
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Interaktion auch komplexe Bearbeitungsprozesse mit einem hohen Grad an Selbstständigkeit über einen längeren Zeitraum störungsfrei durchgeführt werden können. Diese durch die Integration des Menschen besonders flexible Art der Automatisierung stellt beispielsweise ein herausragendes Leistungsmerkmal autonomer Produktionszellen dar (siehe PFEIFER u. SCHMITT 2006). Auf die Maschinen- und Anlagenführer (sog. Operateure) kommen damit veränderte Aufgaben zu, da sie einen erheblichen Teil der Prozess- und Maschineninformationen nicht mehr direkt wahrnehmen können sondern über (eingebettete) Computersysteme, welche die Signale des eigentlichen Prozesses mit Hilfe von Sensorsystemen messen, filtern und verdichten, technisch vermittelt bekommen. Dies geschieht häufig auf einer symbolischen Ebene in Form von diskreten Ereignissen bzw. Alarmen sowie asynchron zum eigentlichen Prozess. Hierdurch ändert sich die Rolle des Menschen in der Produktion sowie die Funktionsteilung zwischen Mensch und Maschine erheblich (siehe SCHLICK 1999, REUTH 2003). Darüber hinaus sind bei einer vollständigen Tätigkeit Kenntnisse von textuellen oder graphischen Programmiersprachen notwendig, um die Befehle für die Maschinen und Anlagen spezifizieren zu können. Bei einer weitgehend automatisierten Fertigungsaufgabe, wie bspw. dem 3DLaserschweißen, übernimmt der Operateur vermehrt die von SHERIDAN (1997) definierten Supervisory-Control-Funktionen, nämlich Planen, Instruieren, Überwachen, Intervenieren und Lernen (siehe Kap. 10.1.2.5.1). Konventionelle Aufgaben zur manuellen Lenkung und Steuerung treten nur selten auf. Daher sollte der Operateur bereits bei der ersten Funktion – der Prozess- und Betriebsmittelplanung – unterstützt werden, wofür die für ihn notwendigen Informationen durch die ergonomische Gestaltung der Mensch-Maschine-Schnittstelle aufgabenangemessen, selbstbeschreibungsfähig, erwartungskonform und lernförderlich darzustellen und in unterschiedliche Dialogarten einzubinden sind (siehe Kap. 10.2.2.1). Ein Beispiel für die Greif- und Spannplanung beim 3D-Laserschweißen ist in Abb. 10.122 wiedergegeben. Hierbei kommen auch automatisierte Greifsysteme zum Einsatz. Ein weiteres Beispiel für die Bahnplanung einschließlich der Parametrisierung von Sensorik und Aktorik findet sich in Abb. 10.123. Die der Planung nachfolgende Funktion des Instruierens (teach) lässt sich ebenso durch eine ergonomische Gestaltung der Mensch-Maschine-Schnittstelle wesentlich unterstützen. So sollte der Operateur die bei der Planung entwickelten Ziele, Pläne und Bearbeitungsstrategien in für ihn gewohnte Befehle für die numerische Steuerung (numerical control, kurz NC) der Produktionsmaschine übersetzen können, so dass die Fertigungsaufgabe (teil)automatisiert ablaufen kann, bis die Instruktionen aufgrund des Prozesszustands modifiziert werden müssen oder die Prozessführung durch den Menschen als Regler gar vollständig übernommen werden muss. Im gewählten Beispiel des 3D-Laserschweißens fällt unter das Instruieren die Erstellung bzw. Anpassung des NC-Programms in der Werkstatt sowie das sog. Einfahren (Programmprüfung und -optimierung bis zum ersten Los) des NC-Programms. Bei der Laserbearbeitung ist zudem eine werkstattorientierte Simulation des Fertigungsprozesses auf der Basis physikalischer Prozess-
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und Sensormodelle möglich, so dass eine Verifikation der Planung vor Ort erfolgen kann.
Abb. 10.122: Mensch-Maschine-Schnittstelle zur interaktiven Planung von Greifvorgängen beim automatisierten Schweißen mit Laserstrahlung (KÜNZER 2005)
Abb. 10.123: Mensch-Maschine-Schnittstelle zur Bahnplanung und Prozessparametrisierung beim automatisierten Schweißen mit Laserstrahlung (KÜNZER u. KITTEL 2004)
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Der automatisierte Fertigungsprozess, welchen die Maschinensteuerung im Normalfall aufgrund des NC-Programmes mit Hilfe der Sensorik und Aktorik selbständig durchführt, muss nun durch den Operateur überwacht werden, um bspw. im Fehler- oder Störungsfall eingreifen zu können oder eine Optimierung der Prozessparameter herbeizuführen. Hierbei werden die Fertigteile produziert und es findet kontinuierlich oder intermittierend eine Beurteilung der Prozessqualität anhand der technisch vermittelten Prozessindikatoren bzw. direkt wahrgenommenen Prozesssignale sowie der Sichtprüfung des gefertigten Bauteils statt. Die für diesen Zweck gestaltete Mensch-Maschine-Schnittstelle (siehe Abb. 10.124) stellt dem Operateur die wesentlichen Parameter für das Schweißen mit Laserstrahlung dar. Hierbei besteht die Möglichkeit, den Prozess in Echtzeit am Bildschirm aus demselben Blickwinkel zu betrachten, wie es den räumlichen Verhältnissen an der Anlage entspricht, oder mit unterschiedlicher Detaillierungstiefe und mit unterschiedlichem Fokus aufgabenspezifisch zu analysieren. Für eine ergonomische Prozessüberwachung können auch kopfbasierte Anzeigen (headmounted displays, siehe Kap. 10.1.2.2.2.6) benutzt werden, die eine Überlagerungen von Programmschritten und Messgrößen im Sichtfeld des Operateurs ermöglichen (siehe SCHLICK et al. 1997).
Abb. 10.124: Mensch-Maschine-Schnittstelle zur Überwachung des 3D-Schweißprozesses (KÜNZER 2005)
Treten während des Bearbeitungsvorgangs Fehler oder Störungen auf bzw. muss der Prozess aus ablaufbedingten Gründen unterbrochen werden, so nimmt der Operateur im Sinne der vorher beschriebenen Systematik die Funktion des Intervenierens (intervene) wahr. Je nach Art und Umfang der Störung muss der
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Operateur die Instruktionen modifizieren, aktualisieren oder sogar manuell in den Prozess eingreifen, um Schaden am Werkstück, Werkzeug, Greif-/Spannmittel oder der Maschine zu vermeiden und eine sichere Prozessdurchführung zu gewährleisten. Da es sich bei den geregelten Prozessen zum Teil um multivariate dynamische Systeme handelt, die nicht einfach punktuell gestoppt bzw. wieder angefahren werden können, ist womöglich eine „gleichmäßige“ Übernahme bzw. Wiederabgabe der Regelung notwendig, um Instabilitäten bzw. Qualitätsprobleme zu vermeiden. Beim 3D-Laserschweißen ist aufgrund der sehr hohen Verfahrgeschwindigkeit, der technologischen Komplexität sowie der gesundheitlichen Gefahren (Zerstörung der visuellen Rezeptoren o.Ä.) eine manuelle Übernahme der Regelung im Normalfall jedoch nicht möglich. Der Prozess kann lediglich vollständig unterbrochen und wieder angefahren werden. Nichtsdestotrotz kann der Operateur bei der systematischen Fehlersuche am aufgespannten Bauteil mit Hilfe von Prozessmodellen und -heuristiken, die in die Mensch-MaschineSchnittstelle integriert sind, unterstützt werden. Schließlich muss der Operateur sicherstellen, dass die Prozess- und Maschinendaten sowie Messergebnisse geeignet archiviert und die numerischen Modelle bezüglich gegenwärtiger Bedingungen aktualisiert werden. Historische Daten müssen im Hinblick auf Trends bzw. statistisch signifikante Abhängigkeiten analysiert werden, um Anomalien zu vermeiden bzw. zu kompensieren. Dieser gesamte Datenbestand sollte in leicht benutzbarer Weise für den zukünftigen Durchlauf der ersten vier Funktionen, ggf. auch für andere Personen im Rahmen von Crew-Konzepten, zur Verfügung stehen. Dies kann beim 3D-Laserschweißen beispielsweise durch eine sog. Erfahrungsdatenbank unterstützt werden, welche optimierte Konfigurationen beim Auftragsdurchlauf speichert und für zukünftige vergleichbare Situationen auf der Grundlage eines fallbasierten Schlußfolgerns dem Operateur für eine verbesserte Prozessplanung und -bearbeitung zur Verfügung stellt. Vertiefende Darstellungen zur ergonomischen Gestaltung von MenschMaschine-Schnittstellen für die automatisierte Produktion am Beispiel des 3DSchweißens mit Laserstrahlung ebenso wie auch Beispiele für die Fräsbearbeitung finden sich in SCHLICK (1999), REUTH (2003) sowie KÜNZER (2005). Die erzielten Forschungsergebnisse zur Mensch-Maschine-Interaktion flossen weiterhin in die Entwicklung eines ereignisdiskreten Simulationsmodell der Arbeitsprozesse ein (siehe SCHLICK 1999, SCHLICK et al. 2002, LUCZAK et al. 2004), welches durch REUTH (2003) hinsichtlich der Auswirkungen menschlicher Fehler ergänzt wurde. Dieses Simulationsmodell ermöglicht bereits in frühen Phasen der Prozessplanung die Analyse und Bewertung der Funktionsteilung zwischen Mensch und Maschine hinsichtlich Leistung und Zuverlässigkeit sowie die Ableitung von Empfehlungen für die aufgabenangemessene Gestaltung der Benutzungsschnittstellen. Darüber hinaus können durch organisatorische Simulationen (siehe Kap. 4.3.4.4) CrewKonzepte bewertet und beurteilt werden. Aktuelle Erweiterungen automatisierter Produktionssysteme um simulierte kognitive Funktionen führen zur sog. kognitiven Automation (SCHULTE 2002,
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siehe Kap. 10.1.2.5.2). Hierbei wird darauf abgezielt, dass sowohl Mensch als auch Maschine hinreichend genau abschätzen können, welche Absichten und Pläne sich hinter dem Verhalten des jeweils anderen verbergen, und dass die Maschine ähnliche Problemlösungsstrategien verfolgt wie der menschliche Operateur. So soll z.B. eine kognitive Maschinensteuerung aufgrund ihrer kognitiven Simulationsmodelle (kognitive Architektur auf der Basis von SOAR, siehe Kap. 3.3.2.2.5.2) und durch die Kooperation mit dem Operateur in die Lage versetzt werden, den Fertigungsablauf unter sich ändernden Randbedingungen sowie unvollständigen Informationen fein zu planen und ggf. zu optimieren (BRECHER et al. 2008). Hierfür werden u.A. Regelwerke in Form von Wenn-Dann-Konstrukten verwendet (production rules), die situativ miteinander verknüpft werden. Ein derartiges System wäre zunächst auf der höchsten Stufe der Automatisierung nach SHERIDAN (2002) (siehe Kap. 10.1.2.5.1) anzusiedeln, die jedoch keine Kooperation mit dem Menschen vorsieht (Abb. 10.46). Daher wurde eine Erweiterung des Supervisory-Control-Modells notwendig, die in Abb. 10.125 wiedergegeben ist. Durch die Modellerweiterung können u.A. (fein)planerische Funktionen auf die kognitive Maschinensteuerung übertragen werden. Der Mensch nimmt jedoch nach wie vor die Definition der Fertigungsziele, Randbedingungen (constraints) und Prioritäten vor, und ihm steht durch die ergonomische Gestaltung der Mensch-Maschine-Schnittstelle jederzeit die Möglichkeit zur (proaktiven) Intervention in den Fertigungsprozess offen (SCHLICK et al. 2009, siehe Abb. 10.125).
Auftrag Mensch
MMS
kognitive Steuerung
Aufgabe
planen i t i instruieren
mentales Modell
überwachen
Programm
planen
Prozess
überwachen
intervenieren
intervenieren nein
lernen
Prozesswissen
Ablauf Information
möglich? indirekt
direkt
lernen
Abb. 10.125: Aufgabenteilung zwischen Mensch und kognitiver Steuerung (nach MAYER et al. 2008, modifiziert; MMS: Mensch-Maschine-Schnittstelle)
Betrachtet man dabei die direkte Mensch-Maschine-Kooperation z.B. im Fall einer störungsbedingten Intervention so ist es einerseits schon bei der Entwicklung des Regelwerkes für eine kognitive Steuerung notwendig, die Erwartungskonformität der Regeln für den Operateur sicherzustellen und das Maschinenverhalten somit besser vorhersagbar zu machen. Das Verhalten des Gesamtsystems wird quasi dem mentalen Modell des Operateurs angeglichen (MAYER et al. 2009b). Andererseits ist es notwendig, den qualifizierten Facharbeiter entspre-
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chend der an ihn gerichteten Anforderungen hinsichtlich Zeit, Kosten und Qualität Hardware-ergonomisch zu unterstützen. Dazu muss der Operateur, der zumeist mehrere Fertigungsanlagen simultan zu überwachen hat, schnell und sicher in die Lage versetzt werden, Fehler am Bauteil oder an der Anlage zu identifizieren, um sie im nächsten Schritt beheben zu können. Hierbei können kopfbasierte Anzeigen die Fehleridentifikation und -klassifikation wesentlich erleichtern (ODENTHAL et al. 2009, SCHLICK et al. 2009). Ein exemplarisches Benutzungsbeispiel einer kopfbasierten Anzeige in einer Roboterzelle für die kognitiv-automatisierte Montage wird in Abb. 10.126 gezeigt.
Abb. 10.126: Benutzungsbeispiel einer kopfbasierten Anzeige (head-mounted display) zur Führung und Überwachung einer Roboterzelle zur kognitiv-automatisierten Montage
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Ergonomische Gestaltung
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Arbeitswissenschaft
DIN 33408-1 (2008) Körperumrissschablonen – Für Sitzplätze. Beuth, Berlin DIN 43790 (1991) Grundregeln für die Gestaltung von Strichskalen und Zeigern. Beuth, Berlin DIN 43802-2 (1991) Skalen und Zeiger für anzeigende elektrische Messinstrumente – Allgemeine Regeln. Beuth, Berlin DIN 43802-3 (1991) Skalen und Zeiger für anzeigende elektrische Messinstrumente – Ausführungen und Maße. Beuth, Berlin DIN 43802-4 (1991) Skalen und Zeiger für anzeigende elektrische Messinstrumente – Skaleneinteilungen und Bezifferungen. Beuth, Berlin DIN 68877 (1981) Arbeitsdrehstuhl – Sicherheitstechnische Anforderungen, Prüfung. Beuth, Berlin DIN EN 614-1 (2009) Sicherheit von Maschinen – Ergonomische Gestaltungsgrundsätze – Begriffe und allgemeine Leitsätze. Beuth, Berlin DIN EN 614-2 (2008) Sicherheit von Maschinen - Ergonomische Gestaltungsgrundsätze – Wechselwirkungen zwischen der Gestaltung von Maschinen und den Arbeitsaufgaben. Beuth, Berlin DIN EN 894-1 (2009) Sicherheit von Maschinen – Ergonomische Anforderungen an die Gestaltung von Anzeigen und Stellteilen – Allgemeine Leitsätze für BenutzerInteraktion mit Anzeigen und Stellteilen. Beuth, Berlin DIN EN 894-2 (2009) Sicherheit von Maschinen – Ergonomische Anforderungen an die Gestaltung von Anzeigen und Stellteilen – Anzeigen. Beuth, Berlin DIN EN 894-3 (2009) Sicherheit von Maschinen – Ergonomische Anforderungen an die Gestaltung von Anzeigen und Stellteilen – Stellteile. Beuth, Berlin DIN EN 981 (2009) Sicherheit von Maschinen - System akustischer und optischer Gefahrensignale und Informationssignale. Beuth, Berlin DIN EN 1005-1 (2009) Sicherheit von Maschinen – Menschliche körperliche Leistung – Begriffe. Beuth, Berlin DIN EN 1005-2 (2009) Sicherheit von Maschinen – Menschliche körperliche Leistung – Manuelle Handhabung von Gegenständen in Verbindung mit Maschinen und Maschinenteilen. Beuth, Berlin DIN EN 1005-3 (2009) Sicherheit von Maschinen – Menschliche körperliche Leistung – Empfohlene Kraftgrenzen bei Maschinenbetätigung. Beuth, Berlin DIN EN 1005-4 (2009) Sicherheit von Maschinen – Menschliche körperliche Leistung – Bewertung von Körperhaltungen und Bewegungen bei der Arbeit an Maschinen. Beuth, Berlin DIN EN 1005-5 (2007) Sicherheit von Maschinen – Menschliche körperliche Leistung – Risikobeurteilung für kurzzyklische Tätigkeiten bei hohen Handhabungsfrequenzen. Beuth, Berlin DIN EN 60447 (2004) Grund- und Sicherheitsregeln für die Mensch-MaschineSchnittstelle, Kennzeichnung- Bedienungsgrundsätze. Beuth, Berlin DIN EN ISO 9241 (2006) Ergonomische Anforderungen für Bürotätigkeiten mit Bildschirmgeräten. Beuth, Berlin DIN EN ISO 9241-5 (1999) Ergonomische Anforderungen für Bürotätigkeiten mit Bildschirmgeräten – Anforderungen an Arbeitsplatzgestaltung und Körperhaltung. Beuth, Berlin DIN EN ISO 9241-8 (1998) Ergonomie der Mensch-System-Interaktion – Anforderungen an Farbdarstellungen. Beuth, Berlin (alte Bezeichnung: „Ergonomische Anforderungen für Bürotätigkeiten mit Bildschirmgeräten“) DIN EN ISO 9241-110 (2008) Ergonomie der Mensch-System-Interaktion – Grundsätze der Dialoggestaltung. Beuth, Berlin
Ergonomische Gestaltung
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DIN EN ISO 9241-303 (2009) Ergonomie der Mensch-System-Interaktion – Anforderungen an elektronische optische Anzeigen. Beuth, Berlin DIN EN ISO 11064-1 (2001) Ergonomische Gestaltung von Leitzentralen – Grundsätze für die Gestaltung von Leitzentralen. Beuth, Berlin DIN EN ISO 11064-3 (2000) Ergonomische Gestaltung von Leitzentralen – Auslegung von Wartenräumen. Beuth, Berlin DIN EN ISO 11064-4 (2004) Ergonomische Gestaltung von Leitzentralen – Auslegung und Maße von Arbeitsplätzen. Beuth, Berlin DIN EN ISO 11064-5 (2008) Ergonomische Gestaltung von Leitzentralen – Anzeigen und Stellteile. Beuth, Berlin DIN EN ISO 11064-6 (2005) Ergonomische Gestaltung von Leitzentralen – Umgebungsbezogene Anforderungen an Leitzentralen. Beuth, Berlin DIN EN ISO 11064-7 (2006) Ergonomische Gestaltung von Leitzentralen – Grundsätze für die Bewertung von Leitzentralen. Beuth, Berlin DIN EN ISO 13406-2 (2003) Ergonomische Anforderungen für Tätigkeiten an optischen Anzeigeeinheiten in Flachbauweise – Ergonomische Anforderungen an Flachbildschirme. Beuth, Berlin DIN EN ISO 13407 (2000) Benutzer-orientierte Gestaltung interaktiver Systeme. Beuth, Berlin DIN EN ISO 14915-1 (2003) Software-Ergonomie für Multimedia-Benutzungsschnittstellen – Gestaltungsgrundsätze und Rahmenbedingungen. Beuth, Berlin DIN EN ISO 14915-2 (2003) Software-Ergonomie für Multimedia-Benutzungsschnittstellen – Multimedia-Navigation und. Beuth, Berlin DIN EN ISO 14915-3 (2003) Software-Ergonomie für Multimedia-Benutzungsschnittstellen – Auswahl und Kombination von Medien. Beuth, Berlin DIN EN ISO 15008 (Entwurf) (2008) Straßenfahrzeuge – Ergonomische Aspekte von Fahrerinformations- und Assistenzsystemen – Anforderungen und Bewertungsmethoden der visuellen Informationsdarstellung im Fahrzeug. Beuth, Berlin EU Richtlinie 90/269/EWG des Rates vom 29. Mai 1990 über die Mindestvorschriften bezüglich der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes bei der manuellen Handhabung von Lasten, die für die Arbeitnehmer insbesondere eine Gefährdung der Lendenwirbelsäule mit sich bringt. Vierte Einzelrichtlinie im Sinne von Artikel 16 Absatz 1 der Richtlinie 89/291/EWG EU-Richtlinie 2006/42/EG (Maschinenrichtlinie) des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Mai 2006 über Maschinen und zur Änderung der Richtlinie 95/16/EG (ehemals 89/392/EWG) EWG-Richtlinie 89/391/EWG über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutz es der Arbeitnehmer bei der Arbeit (ArbeitsschutzRahmenRL) Einzelrichtlinie Richtlinie des Rates vom 12. Juni 1989 (89/391/EWG) ABl. Nr. L 183 vom 29. Juni 1989, S 1 ISO 11226 (2000) Ergonomie – Evaluierung von Körperhaltungen bei der Arbeit ISO 11228-1 (2003) Ergonomie – Manuelles Handhaben von Lasten – Heben und Tragen ISO 11228-2 (2007) Ergonomie – Manuelle Handhabung – Ziehen und Schieben ISO 11228-3 (2007) Ergonomie – Manuelle Handhabung – Handhabung geringer Lasten bei hohen Bewegungsfrequenzen ISO/TR 16982 (2002-2006) Ergonomie der Mensch-System-Interaktion – Methoden zur Gewährleistung der Gebrauchstauglichkeit, die eine benutzerorientierte Gestaltung unterstützen. NIOSH (1981) Work practice guide for manual lifting. NIOSH technical report. Publication No 81–122, Cincinnatti OH VDI - Richtlinie 5005 (1990) Software-Ergonomie in der Bürokommunikation
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Arbeitswissenschaft
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Index
3D-Maus ......................................... 1086 3D-Eingabegeräte............................ 1019 3D-Volumenmodell......................... 1098 5. Perzentil ...................................... 1031 95. Perzentil .................................... 1031 Ablaufabschnitte ....... 630, 667, 668, 700 Ablaufarten ............... 668, 678, 683, 690 ablaufbedingtes Unterbrechen ........... 668 Ablaufmodellierung .......................... 463 Ablauforganisation .................... 434, 455 Ablaufprinzipien in der Produktion ... 476 Fließfertigung.............................. 478 Inselfertigung .............................. 479 One-Piece-Flow .......................... 481 Reihenfertigung .......................... 477 Werkstättenfertigung................... 476 Ablesegenauigkeit ............................. 981 Abrufarbeit ........................................ 614 Absorptionsgrad ................................ 322 Absorptionsverfahren ........................ 922 Abstraktionshierarchie ............ 377, 1001 Adaptation ................................. 123, 318 adaptives System ..................... 308, 1026 Additivitätshypothese ........................ 698 Adrenalin........................................... 409 Adsorptionsverfahren ........................ 922 AET ..................................................... 57 Afferenz ............................ 384, 385, 388 A-Filter.............................................. 781 Agonist .............................. 381, 385, 386 Akklimatisation ................. 879, 883, 884 Akkommodation................ 123, 318, 329 Akkord .............................................. 656 -fähig ........................................... 657 -reif ............................................. 657 Akkordrichtsatz ................................. 657 Aktionskräfte..................................... 251 Aktionspotential ........................ 382, 399 Aktiviertheit .............................. 293, 414 Aktivierung .............. 235, 265, 291, 369, 381, 386
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG)........................ 90, 109 Alkoholismus .................................... 164 alphanumerische Parameter ............ 1084 Alpha-Strahlung................................ 806 Alpha-Wellen ................................... 402 Alter ................ 88, 90, 92, 115, 116, 120, 123, 125, 127, 128, 146 ältere Arbeitspersonen ...................... 120 Altersmanagementkonzept................ 133 Altersmiose ....................................... 123 Altersschwerhörigkeit ............... 126, 784 Altersstruktur, -aufbau ...... 117, 132, 133 Altersteilzeit ..................................... 611 Ambient Intelligence ...................... 1082 Amplitude ......................................... 790 Analyse ......................7, 11, 32, 34, 1067 somatografische ........................ 1059 Anforderungsanalyse .......... 58, 151, 639 Anforderungsarten ............................ 640 Anforderungsermittlung ..... 57, 638, 970 Anforderungsgerechtigkeit ............... 634 Anforderungshöhe .....638, 640, 642, 646 Anforderungsmerkmale .... 639, 641, 645 Anforderungsniveau ......... 528, 639, 645 animal rationale .............................. 3, 25 Anpassungsmerkmale ................. 88, 182 Anreizsysteme .................. 436, 556, 666 Anspannung, psychische........... 409, 416 Anstrengung .................... 292, 293, 295, 296, 361, 369, 396, 410, 416 Antagonist......................... 381, 384, 385 Anthropometrie..................... 1028, 1030 anthropometrische Arbeitsplatzgestaltung ................................. 1043 Antworteigenschaft ........................... 302 Antwortzeiten ................................. 1083 Anzeigen akustische ................................... 992 alphanumerische ......................... 983 binäre .......................................... 983
1174 Gestaltungsrichtlinien für............ 976 gustatorische ............................... 993 olfaktorische ............................... 993 Sicht- ........................................... 979 taktile .......................................... 993 thermische ................................... 993 Anzeigegenauigkeit ........................... 984 Anzeigengestaltung ........................... 976 Anzeigennähe .................... 995, 996, 998 Arbeit allseitig dynamische .................... 230 Begriffe ..................................... 1, 14 diskriminatorische ....................... 227 dynamische ......................... 225, 230 einseitig dynamische ................... 230 energetisch-effektorische ........... 224, 228, 950 informatorisch-mentale ....... 286, 969 kombinatorische/ kombinative .................. 224, 227 kooperative ................................. 495 kreative ............................... 224, 227 mechanische ................................ 224 motorische................................... 224 signalisatorisch-motorische ......... 227 sensumotorische .......................... 228 reaktive ....................................... 224 schwere dynamische ................... 230 sensorische .................................. 227 statische............................... 224, 231 Arbeitsablauf ..... 629, 667, 672, 696, 698 Arbeitsablaufanalyse ................. 667, 669 Arbeitsablaufbeschreibung ................ 667 Arbeitsablaufstudie ........................... 667 Arbeitsablaufzeit ............................... 699 Arbeitsanalyseverfahren .............. 56, 515 Arbeitsaufgabe ....... 28, 35, 44, 437, 459, 495, 506, 508, 630, 631, 638, 645, 760 Arbeitsauftrag...................... 35, 496, 630 arbeitsbedingte Erkrankungen ... 718, 756 Arbeitsbedingungen ............. 3, 7, 27, 33, 43, 57,68, 70, 115, 132, 506, 526, 667, 672, 673, 698, 700, 713, 718, 754, 1132, 1141 subjektive Einschätzung von ....... 201 Arbeitsbegriffe .................................... 14 Arbeitsbereicherung .......................... 507 Arbeitsbereitschaft .................... 587, 596 Arbeitsbeschreibung .......... 191, 638, 650 Arbeitsbeschreibungsbogen (ABB) ... 191
Arbeitswissenschaft Arbeitsbewertung............. 635, 637, 638, 642, 651, 678 analytische .......................... 639, 640 summarische ....................... 639, 646 arbeitsbezogene Wissenschaften........ 11, 13, 27 Arbeitsdisposition, Prinzip der ......... 631 Arbeitsenergieumsatz ....... 269, 271, 275 Arbeitsentgelt ................................... 632 Arbeitsermüdung ...................... 194, 669 Arbeitserweiterung horizontale .................................. 506 vertikale ...................................... 507 Arbeitsflächen........902, 906, 1048, 1056 Arbeitsformen ................................... 223 allseitig dynamische Arbeit ........ 230 diskriminatorische Arbeit ........... 227 dynamische Arbeit .............. 225, 230 einseitig dynamische Arbeit ....... 230 energetisch-effektorische Arbeit ........................... 224, 228 informatorisch-mentale Arbeit ... 286 kombinatorische/ kombinative Arbeit....... 224, 227 kooperative ................................. 495 kreative Arbeit .................... 224, 227 mechanische Arbeit .................... 224 motorische Arbeit ....................... 224 signalisatorisch-motorische Arbeit ................................... 227 sensumotorische Arbeit .............. 228 reaktive Arbeit ............................ 224 schwere dynamische Arbeit ........ 230 sensorische Arbeit ...................... 227 statische Arbeit ................... 224, 231 Arbeitsgänge ............................. 668, 682 Arbeitsgeschwindigkeit .................... 965 Arbeitsgestaltung ....11, 69, 505, 700,759 differentielle ................................. 70 flexible.......................................... 70 dynamische ................................... 70 konzeptionelle .............................. 72 konzeptive .................................... 72 korrektive ............................. 71, 759 korrigierende ................................ 71 organisatorische .......................... 505 partizipative ................................ 505 Prinzipien der ....................... 69, 505 prospektive ........................... 72, 759 sicherheitstechnische .................. 741 Strategien der................................ 71
Index Arbeitsgestaltungsmaßnahmen ...... 65, 70 Arbeitsgruppen .......................... 495, 501 Führung von ........ 512, 520, 524, 533 mehrkulturelle ............................. 111 teilautonome ............... 497, 501, 762 Arbeits-Herzschlagfrequenz .............. 278 Arbeitskosten .................................... 666 Arbeitslehre ......................................... 18 Arbeitsmethode ................. 556, 672, 698 Arbeitsmigration ............................... 108 Arbeitsmittel.............................. 629, 630 Arbeitsmotivation............. 182, 183, 193, 435, 506, 508, 512, 511, 512, 521, 527, 531, 630, 735 Arbeitsobjekte ............. 34, 629, 630, 677 Arbeitsorganisation ................... 129, 435 Arbeitspensum .................................. 667 Arbeitsperson ................................ 41, 87 Anpassungsmerkmale ................. 182 Disposition .................................. 112 Kompetenz .................................. 170 Konstitution .................................. 89 Qualifikation ............................... 170 Arbeitsphysiologie .............................. 22 Arbeitsplanung .......... 436, 458, 475, 543 Arbeitsplatzbesetzung ....................... 584 Arbeitsplatzelemente ....................... 1047 Arbeitsplatzgrenzwerte (AGW) ........ 68, 928, 930, 932, 934 Arbeitsplatzwechsel .......................... 507 Arbeitspolitik ............................ 629, 631 Arbeitsproduktivität ............. 6, 436, 579, 632, 706 Arbeitsprozess .............. 7, 28, 30, 36, 66, 269, 275, 434, 438, 456, 460, 463, 466, 505, 521, 630, 667, 699, 1130 Arbeitsprozessgestaltung......... 463, 1130 Arbeitsrecht individuelles .................................. 20 kollektives ..................................... 20 Arbeitsschutz...... 12, 713, 729, 734, 847, 930, 1130, 1134, 1140 Normen ....................................... 728 Richtlinien................................... 728 sozialer ........................................ 720 technischer .................................. 720 Technische Regeln ...................... 728 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) ....... 717, 719, 726, 729, 734, 737, 1134 Arbeitssitze ..................................... 1049 Arbeitsspeicher.......................... 366, 368
1175 Arbeitsstättenverordnung .. 726, 737, 881 Arbeitsstandards ............... 530, 629, 630 Arbeitsstoffe ............................. 770, 908 Arbeitsstrukturierung ........................ 506 Arbeitsstudie ........................... 2, 24, 667 Arbeitssubstitution, Prinzip der ........ 630 Arbeitssystem ..... 11, 35, 43, 67, 69, 435, 473, 482, 528, 545, 629, 638, 639, 667, 672, 683, 705, 744, 949, 1129 erweitertes .................................... 36 Arbeitssystemgestaltung ........ 11, 34, 69, 71, 89, 287, 435, 629, 759, 949, 1129 Arbeitstechnologie .............................. 24 Arbeitsteilung .................... 96, 434, 438, 448, 505, 506, 521, 531, 630, 1091 Arbeitsunfähigkeitsrate ..................... 758 Arbeitsunfall ...... 152, 713, 724, 746, 910 Arbeitsverrichtungen ................ 668, 682 Arbeitsvertrag ....................... 2, 590, 632 Arbeitsvorgänge.......229, 667, 677, 1138 Arbeitswiderstand ............................. 965 Arbeitswirtschaft ................ 12, 629, 664 Arbeitswissenschaft .......................... 1, 7 Aspektwissenschaften................... 13 Aufgaben der ................................ 32 Gegenstand der ............................... 7 Kerndefinition der .................... 7, 32 Leitbilder der .................................. 5 Arbeitszeit......... 206, 269, 575, 667, 713, 734, 881, 965 Arbeitszeitdauer ................................ 584 Arbeitszeitgesetz ........575, 587, 716, 734 Arbeitszeitkonten .............................. 613 Arbeitszeitmodelle ............................ 591 Arbeitszeitsystem.............................. 591 Arbeitszeitverteilung......................... 584 Arbeitszufriedenheit .......... 65, 131, 182, 188, 193, 512, 516, 527, 753 Arbeitszufriedenheits-Kurzfragebogen (AZK) ......................................... 193 Armauflage ..................................... 1051 Armhaltung ..................................... 1050 Armlehne ........................................ 1047 Armstütze ....................................... 1056 Arousal ............................. 292, 293, 358 Assistenzsystem .............................. 1026 Atmung ......................224, 400, 911, 968 Audiometrie ...................................... 779 auditives System ........125, 315, 338, 391
1176 Aufbauorganisation ... 434, 436, 443, 455 Einlinienorganisation .................. 444 Matrixorganisation ...................... 446 Mehrlinienorganisation ............... 445 Produktorientierte Organisation .. 449 Prozessorganisation..................... 447 Stab-Linien-Organisation ............ 446 Aufenthaltsgesetz .............................. 109 Aufgabe ....................................... 34, 455 siehe Arbeitsaufgabe Aufgabenanalyse ................. 58, 434, 437 Aufgabenangemessenheit ...... 1064, 1080 Aufgabengestaltung... 508, 512, 514, 761 Aufgabennähe ................... 995, 996, 998 Aufgabenorientierung ....................... 513 Aufgabenstrukturierung .................... 475 Aufgabensynthese ............. 434, 437, 505 Aufgabenvollständigkeit ... 513, 519, 551 Aufmerksamkeit ....... 128, 151, 168, 188, 196, 292, 296, 298, 316, 343, 356, 361, 379, 403, 407, 413, 662, 871, 976, 978, 989, 992, 999, 1025, 1026, 1075 Aufmerksamkeitsreaktion ................. 397 Auftragsabwicklung .. 437, 475, 540, 666 Auftragsinsel ..................................... 543 Auftragszeit ....................... 657, 670, 671 Auge ................................. 298, 314, 317, 318, 323, 325, 329, 331, 334, 335, 345, 402, 405, 407, 815, 822, 832, 849, 885, 937 Augenbewegung............ 407, 1040, 1075 Augmented Reality.................. 973, 1086 Ausdauerdiagramm ........................... 199 Ausführbarkeit ........................ 42, 63, 66 Ausführungsdauer ............................. 954 Ausführungshäufigkeit ...................... 954 Ausgabeinformation ........................ 1083 Ausgleichsabgabe.............................. 165 Außenmaße ........................... 1031, 1043 Automation ..................................... 1024 kognitive ......................... 1026, 1149 kooperative ............................... 1026 Automatisierung ..................... 7, 24, 102, 159, 228, 286, 581, 1021, 1146 autonome Produktionszellen ... 479, 1146 Autonomie................ 442, 496, 507, 509, 512, 514, 519, 528, 535, 1022 autostereoskopische Displays ............ 990 Bandscheibeninnendruck ................ 1049 Barrierefreiheit ................................ 1066
Arbeitswissenschaft Basilarmembran ........................ 338, 340 Basiseffektivtemperatur .................... 869 BAuA-Leitmerkmalmethode .. 951, 1134 Baustellenverordnung ....................... 738 Beanspruchung ... 38, 230, 394, 777, 782, 794, 797, 818, 843, 871, 875, 900, 916, 926, 935 emotionale ... 394, 399, 402, 404, 409 mentale ....... 287, 291, 293, 294, 298, 320, 379, 392, 394, 396, 400, 403, 404, 408, 410, 413, 416, 1020, 1027 subjektiv erlebte ......................... 416 Beanspruchungsbewertung ....... 395, 416 Beanspruchungsmessung, psychophysiologische ............................ 396 Bedarfsgerechtigkeit ......................... 634 Bediensystemgestaltung ................. 1068 bedingungsbezogene Analyseverfahren ...................................... 57 bedingungsbezogene Intervention .... 755 Bedürfnispyramide ........................... 185 Beeinträchtigungsfreiheit ........ 59, 65, 67 Befragung .... 53, 57, 60, 671, 1074, 1096 Behinderung ................90, 147, 151, 736 geistige ............................... 155, 162 körperliche.......................... 153, 161 psychische (seelische) ........ 153, 162 Belastung ......................38, 41, 283, 772, 790, 806, 862, 885, 911, 935 energetische ...........41, 200, 228, 950 informatorische............. 41, 286, 394 physikalisch-chemische .............. 769 soziale......................................... 495 Belastungsabschnitt ............................ 40 Belastungs-BeanspruchungsKonzept .................38, 63, 392, 1026 Belastungsdauer ............40, 58, 201, 769, 935, 1136 Belastungshöhe .............40, 57, 201, 279, 283, 769, 935, 1136 Belastungssuperposition ................... 935 Belastungstyp ..................................... 40 Belegungszeit ................................... 670 Beleuchtung ...............125, 320, 327, 885 Beleuchtungsstärke .......... 124, 887, 891, 892, 900, 936 Benutzeranforderungen.. 73, 1067, 1071, 1080, 1112, 1117, 1118 Benutzeraufgaben ................. 1023, 1067 Benutzerfreundlichkeit ......... 1064, 1067 Benutzerzustand.................... 1027, 1028
Index Benutzungsmodell ........................... 1067 Benutzungsoberfläche ........... 1087, 1091 Benutzungsschnittstelle ............ 364, 377, 969, 971, 978, 1001, 1076 antizipative ................................ 1027 grafische...................................... 985 Beobachtung................. 51, 57, 671, 672, 678, 682, 690, 1071, 1096 Beobachtungsinterview ....... 57, 59, 1073 Berufsbildungsforschung .................... 18 Berufsbildungswerke (BBW) ............ 157 Berufsförderungswerke (BFW) ......... 158 Berufsgenossenschaften ............ 715, 721 Berufskrankheit ...... 4, 66, 152, 724, 772, 795, 832, 910, 916, 931, 951 Berufsspektrum ................................... 97 Berufswahl ........................................ 105 Beschäftigungsbeschränkungen ........ 931 Beschäftigungspflicht ........................ 165 Beschäftigungsquote schwerbehinderter Menschen .................................... 160 Beschleunigungsaufnehmer .............. 796 Beschleunigungssystem .................... 312 Bestimmtheitsmaß ............................. 704 Bestrahlung ....................................... 805 BET ................................................... 869 Beta-Strahlung .................................. 806 Beta-Wellen ...................................... 402 Beteiligung ........... 67, 73, 500, 505, 510, 512, 513, 529, 533, 548, 553, 556, 661, 756, 856, 1111 Beteiligungsgruppe ................... 551, 553 betriebliche Gesundheitsförderung... 134, 713, 753 Betriebsorganisation .................. 433, 435 Betriebsärzte.............................. 722, 723 Betriebsmittel ... 433, 455, 456, 472, 476, 479, 585, 629, 630, 665, 668, 670, 674, 677, 717, 785, 814, 853, 955 Betriebssicherheitsverordnung .......... 738 Betriebsvereinbarung ......... 20, 553, 587, 590, 613, 722 Betriebsverfassungsgesetz ........ 133, 497, 556, 587, 722, 1135 Betriebszeit ....... 577, 589, 606, 618, 620 Betriebszeitorganisation .................... 585 Beurteilung der Gefährdung .............. 921 Beurteilungsebenen ... 27, 64, 65, 75, 508 Beurteilungspegel.............. 782, 784, 787 Beurteilungsverfahren ....................... 659 Bewegungen, Regelung der....... 381, 384
1177 Bewegungen, Lernen von ................. 386 Bewegungsanalyse............................ 255 Bewegungsapparat ............................ 404 Bewegungsbereiche ........................ 1029 Bewegungselemente .......... 41, 177, 459, 668, 696, 698, 700 Bewegungsfolgen ............................. 668 Bewegungsparallaxe ......... 333, 334, 335 Bewegungsraum ..................... 243, 1037 Bewegungswahrnehmung ......... 318, 390 Bewegungszeit .................................. 388 Bewertungsebenen nach Rohmert und Kirchner ......... 63 nach Hacker .................................. 65 Bewertungsprinzipien ......................... 69 Bezugsleistung .................................. 669 Bezugszeitraum ................................ 584 Big Five ............................................ 115 bildlicher Realismus ......................... 977 Bildschirmarbeitsverordnung........... 738, 1077, 1080 Bildungsbeteiligung .......................... 104 Bildwiederholfrequenz ........... 986, 1082 binäre Entscheidung ........................... 68 biologische Arbeitsstoffe .................. 932 biologischer Grenzwert (BGW) ....... 928, 931, 933 Biorhythmus ..................................... 167 Blendung ..................125, 325, 327, 406, 902, 904 Blickbewegung ....................... 405, 1075 Blickbewegungsanalyse ........ 1074, 1075 Blickfeld ......................... 323, 324, 1039 Blindleistungen ................................. 962 Blutdruck ..... 55, 294, 393, 398, 401, 968 Brechung .......................................... 829 Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Medizin (BAuA)......................... 718 Business Process Modeling Notation (BPMN) ...................................... 462 Business Process Reengineering ....... 466 Button ........................... 985, 1016, 1083 Card Sorting.................................... 1072 CE-Team .......................... 500, 503, 534 CFD ................................................ 1104 Chaku-Chaku-Prinzip ....................... 482 Change Management ........................ 550 Checkbox ........................................ 1084 Chemikaliengesetz ........... 726, 739, 907, 909, 932, 934 chromatische Aberration ................... 318
1178 Cognitive Engineering ...................... 969 Cognitive Walkthrough .................. 1070, 1073, 1095 Computational Fluid Dynamics....... 1104 Computer Aided Design (CAD) ........................... 1098 Engineering (CAE) ................... 1100 Manufacturing (CAM) .............. 1104 Plant Planning ........................... 1107 Process Planning (CAPP).......... 1106 Quality (CAQ) .......................... 1105 Concurrent Engineering .... 486, 500, 534 Concurrent Engineering-Team ......... 500, 503, 534 Cooper-Harper Skala ......................... 414 Cornea ....................................... 317, 405 Cortex................ 313, 319, 336, 369, 381 Cortisol.............................................. 409 Crest-Faktor ...................................... 790 Dämpfe.............. 908, 913, 915, 918, 924 Datenhandschuh .............................. 1085 Datenträger ............................ 1093, 1105 Dauerleistungsgrenze ................. 93, 194, 199, 201, 202, 271, 280, 965, 968 defensive Reaktion ............ 397, 400, 402 Defizit-Modell........................... 120, 122 Dehnungsreflex ................................. 384 Delegation ................................. 442, 630 Delta-Wellen ..................................... 402 Demographische Entwicklung .......... 116 Design Structure Matrix (DSM) ........ 463 Destabilisierungstheorie .................... 198 Dialoggestaltung ............................. 1080 Dialogschritte .................................. 1086 Dialogsystem......................... 1064, 1090 Digital Mock-Up (DMU) ................ 1101 Digitale Menschmodelle ................. 1061 Dilatation........................................... 318 Diskriminierbarkeit ........................... 977 Diskriminierung .......................... 90, 109 Disparation/Disparität ....................... 330 Dispositionsmerkmale ................. 88, 115 Diversity .................................... 108, 110 Diversity-Management ...................... 111 Divided Attention Deficit .......... 375, 379 Doppeltätigkeit .......................... 294, 297 Dosimeter .................................. 841, 842 Dosis ................................................. 831 Dosisleistung ............................. 817, 841 Dreibereichsverfahren ....................... 895
Arbeitswissenschaft Durchlaufzeit ................... 456, 461, 466, 477, 478, 480, 482, 483, 487, 529, 532, 630, 666, 1107 durchschnittliche Gestalt ............... 1031, 1036, 1044 dynamische Arbeit .................... 225, 230 Ebenenmodell von Arbeitsprozessen .. 30 ecological interface design.............. 1001 EEG .......................................... 397, 402 Effektivbeschleunigung .................... 796 Effektivität .......................... 7, 286, 1065 Gesamt- .............................. 202, 207 Team- ......................................... 516 Effektor ............................................. 387 Effizienz ............................. 7, 286, 1065 energetische ........................ 275, 960 Team- ......................................... 517 Eigenreflex ............................... 385, 388 Eigenzustandsskala ..................... 53, 415 Einbauuntersuchung ....................... 1101 Eingruppierung ................................. 641 Einkommensunterschiede ................. 103 Einlinienorganisation ........................ 444 Einwirkungsdauer ............................... 23 Arbeitsstoffe ....................... 911, 915 Strahlung ..... 815, 821, 839, 848, 851 Einzelzeitmessung ............................ 672 EKG .................................................. 399 Elastizitätstempo ............................... 389 elektrische Feldstärke ....................... 807 elektrische Flussdichte ...................... 807 elektrodermale Aktivität ................... 408 Elektroencephalografie ..................... 402 Elektroencephalogramm ................... 397 Elektrokardiografie ........................... 399 Elektrokardiogramm ......................... 399 elektromagnetisches Spektrum ......... 812 Elektromyografie .............................. 404 Elektromyogramm .......... 260, 404, 1049 Elektrookulografie ............................ 405 Elementarzeiten ................................ 698 Elterngeld, -zeit ................................ 101 emergent feature ....................... 998, 999 EMG ............................... 260, 404, 1049 Empfindungsstärke ................... 315, 354 endokriner Apparat ........................... 409 energetisch-effektorische Arbeit ...... 224, 228, 950 Energieerzeugung, menschlich ......... 228 Energieumsatz .................................. 269 Engpassbetrachtung .................... 23, 936
Index Engramm ........................................... 387 Entfremdung........................................ 19 Entgelt ............... 182, 631, 632, 633, 677 anforderungsabhängiges.............. 636 leistungsabhängiges ............ 635, 651 Entgeltband ....... 635, 636, 638, 640, 646 Entgeltbestandteile ............................ 634 Entgeltdifferenzierung anforderungsabhängiges.............. 636 leistungsabhängiges .................... 651 Entgeltgerechtigkeit .......................... 633 Entgeltgruppe ........... 635, 636, 638, 640, 644, 646, 648, 655, 666, 678 Entgeltgruppendefinitionen ............... 649 Entgeltgruppenkatalog ...................... 648 Entgeltgruppenverfahren ................... 648 Entgeltlinie ........................................ 652 Entgeltrahmenabkommen (ERA) ..... 645, 649, 656, 660 Entgeltschlüssel ................................. 648 Entgeltsystem ............ 556, 557, 629, 634 Entladungslampen ............................. 897 Entscheidungskompetenz ......... 510, 511, 528, 532, 1026 Entscheidungsmatrix ................. 362, 365 Entscheidungsspielraum .................... 510 Entscheidungsunterstützungssystem1026 Entwicklungsprozess ....................... 1097 Epidermis .......................................... 831 Ergonomie ......................................... 949 korrektive .................................... 950 prospektive .................................. 950 konzeptive ................................. 1131 ergonomisch-räumlich..................... 1028 ergonomisches Frühwarnsystem (Ergo-FWS) .............................. 1140 Erholung.................... 195, 312, 603, 968 Erholungsbedarf ................................ 968 Erholungszeit .................... 670, 784, 966 Erkennen .......................... 286, 295, 309, 319, 336, 346, 360, 379 Erlernbarkeit.................................... 1073 Ermittlung maximaler isometrischer Muskelkräfte objektiv/direktes Verfahren......... 250 objektiv/indirektes Verfahren...... 250 subjektiv/direktes Verfahren ....... 248 subjektiv/indirektes Verfahren .... 249 Ermüdung .......................................... 194 Ermüdungsverlauf ............................. 197
1179 Erregung ...................235, 313, 320, 340, 346, 349,384, 399, 404 Erschöpfung ....... 195, 272, 275, 280, 965 Erträglichkeit .................. 42, 63, 66, 951 Erwartungskonformität ......... 1080, 1150 erweiterte Ereignisgesteuerte Prozessketten (eEPK) ............................. 462 Erwerbsbeteiligung ............................. 98 ethnische Herkunft ............................ 108 Evaluation ergonomische ............................... 73 experimentelle .......................... 1095 Experten- .................................. 1072 formale ..................................... 1095 formative .................................. 1095 heuristische ..................... 1070, 1073 objektive ................................... 1095 Software- .................................. 1094 subjektive ................................. 1095 summative ................................ 1095 User- ............................... 1070, 1074 evoziertes Potential ................... 397, 402 Expected-Utility-Modell ................... 362 Expertenverfahren .............................. 61 Expositionszeit/-dauer Klima .................................. 878, 882 Lärm ........................... 779, 784, 787 Schwingungen ............ 795, 799, 803 Exterozeptoren .................................. 313 Extraversion .............................. 112, 115 Extremalwerte..................................... 68 FAA .................................................... 58 Fabrikplanung, virtuelle ........ 1106, 1108 Farbfehlsichtigkeit ............................ 989 Farbkodierung................. 983, 989, 1005 Farbwahrnehmung .................... 123, 321 Farbwiedergabe ................................ 892 Feder-Masse-Dämpfer Modell .......... 791 Fehlerrobustheit .................... 1080, 1089 Fehlertoleranz ....................... 1076, 1080 Fehlhandlungen .....44, 1024, 1089, 1093 Fehlleistungen......................... 198, 1089 Fehlzeiten ......... 189, 507, 512, 575, 603, 758, 761 Feinstaub .................................. 913, 918 FEM ................................................ 1103 Fenstertechnik................................. 1084 fertigkeitsbasiertes Verhalten . 290, 1003 Fertigungsteam ......................... 501, 526 Fettgewebe........................................ 829 Figurzeit............................................ 389
1180 Finite-Elemente-Methode (FEM) .... 1103 Fitts‘sches Gesetz .................... 307, 1013 Fixationsdauer ................................... 408 fixed action pattern.................... 310, 386 Fließfertigung .................................... 478 Flimmerverschmelzungsfrequenz .... 320, 408 Fluktuation ........ 184, 189, 194, 512, 527 Fluktuationsrate ................. 435, 631, 761 Flüssigkristallanzeige ........................ 986 Flussprinzipien .................................. 463 Focused Attention Deficit ................ 362, 375, 379 Fokusgruppen .................................. 1071 Folgebewegung ................................. 407 Force-Feedback ................................. 993 Formalisierung .......................... 440, 445 Fort- und Weiterbildung ...... 19, 131, 171 Fortschrittszeiten ............................... 672 Fragebogen zum Belastungsverlauf .. 416 Fremdaufschreibung .................. 672, 677 Fremdreflex ....................................... 385 Frequenzanalyse ................................ 782 Frequenzbewertung ................... 780, 798 Frequenzunterschied ......................... 339 Fristenplanung........................... 665, 666 Führungs- und Planungsinformationssystem ....................................... 1145 Führungsgröße .................................. 308 Fundamentalprinzip............................. 27 Fundamentmodelle .............................. 27 Fünf-Faktoren-Modell ............... 112, 114 Funktionsmaße ................................ 1029 Funktionsräume ..................... 1037, 1045 Funktionsteilung.......... 1021, 1027, 1146 Funktionszuweisung .............. 1021, 1025 Fußstütze ............................... 1047, 1055 Ganzkörperschwingungen ................. 790 Gase .................................. 909, 919, 923 Gebrauchstauglichkeit ........... 1064, 1082 Gedächtnis......... 360, 366, 372, 379, 390 episodisch ................................... 370 semantisch................................... 370 Kurzzeit- ..................................... 367 Langzeit ...................................... 369 Gedächtnisprinzipien......................... 978 Gefährdungsbeurteilung ........... 623, 730, 919, 926, 1130 Gefahrenbezeichnungen .................... 910 Gefahrensymbole .............................. 909 Gefahrstoffe .............................. 739, 907
Arbeitswissenschaft Gefahrstoffverordnung .... 920, 921, 924, 927, 928, 929, 931, 932, 934 Geführte Gruppenarbeit .................... 533 Gehalt ............................................... 633 Gehirnaktivität .................................. 402 Gehörschädigung ...................... 772, 784 Gehörschutzmittel, persönliche ........ 787 Geldakkord ....................................... 657 Gelenkrezeptor.................................. 385 Gelenksensor ............................ 349, 384 Gender ................................................ 90 Gender Mainstreaming ....................... 95 Genfer Schema ................................. 641 Geräuschimmission .......................... 784 Geruchssinn ...................................... 351 Gesamtstaub ..................................... 913 Gesamtwirkungsgrad ........................ 964 Geschäftsprozess .............................. 460 Geschicklichkeit ............................... 174 Geschlecht .......................................... 89 biologisches .................................. 90 genetisches ................................... 89 genitales........................................ 89 gonadales ...................................... 89 Identitäts-...................................... 90 morphologisches ........................... 89 soziales ......................................... 90 geschlechtsbedingte Unterschiede ...... 93 Geschmackssinn ....................... 351, 353 Geschwindigkeitssystem................... 312 Gesetzliche Unfallversicherung ........ 724 Gesichtsfeld ...........323, 324, 1039, 1041 Gestaltprinzipien ....................... 354, 355 Gestaltung ........................................... 69 anthropometrische .................... 1028 energetisch-effektorische ............ 950 ergonomische ............................. 949 informatorisch-mentale............... 969 organisatorische .................. 433, 495 technisch-technologische ............ 963 Gestaltungsspielraum.................. 72, 510 Gestaltungsstrategien .......................... 71 Gestenerkennung ............................ 1086 Gesundheit ......... 146, 729, 753, 761, 951 Gesundheitsbeeinträchtigung ............ 819 Gesundheitsförderung ....... 134, 753, 754 Gesundheitsgefährdung ............ 950, 951 Gesundheitsmanagement .................. 753 Gesundheitsmanagementkonzepte .... 756 Gesundheitsschutz ............................ 729 Gesundheitszirkel ............. 502, 549, 718
Index Gewerbeaufsicht................................ 720 Gewissenhaftigkeit .................... 113, 115 Giftstoffsynergismus ......................... 938 Gleichheitsverfahren ......................... 895 Gleichstellung ......... 90, 95, 96, 100, 102 Gleitzeitarbeit .................................... 608 Glukokortikoide ................................ 409 Golgi-Sehnenorgan ........................... 385 GOMS ............................................. 1095 Grad der Behinderung ....................... 150 Grad der Schädigungsfolgen ............. 150 Grafiktablett .................................... 1100 Graphenbäume .................................... 47 Greifräume ...................................... 1037 Grenzfrequenz ........................... 390, 393 Grenzwerte .................................. 68, 928 Grundbewegungen ............................ 697 Grundentgelt...................................... 634 anforderungsabhängiges.............. 636 Grundzeit................................... 670, 674 Gruppenarbeit............................ 495, 497 Einführung von ........................... 549 qualifizierte ................................. 528 teilautonome ....... 497, 508, 540, 550 Gruppenarbeitsformen....................... 501 Gruppenarbeitszeit ............................ 615 Gruppenaudit..................................... 555 Gruppendesign .................................. 519 Gruppeneffektivität ........................... 517 Gruppenlernen........................... 520, 521 Gruppensynergie ............................... 517 Habituation ................................ 358, 397 Halogen-Glühlampen ........................ 897 Haltearbeit ................................. 225, 957 Haltungsarbeit ........................... 225, 957 Hamburg-Wechsler-Intelligenztest.... 136 Hand-Arm-Schwingungen ................ 790 Handhaben von Lasten ............. 230, 285, 952, 1136 Handlungsbereitschaft ....................... 182 Handlungsfähigkeit ........................... 183 Handlungsregulation hierarchisch-sequentielles Modell . 46 Oberflächenstruktur ...................... 47 Tiefenstruktur................................ 47 Handlungsregulationstheorie ......... 43, 58 Handlungsspielraum ........ 7, 72, 506, 510 Handschriftenerkennung ................. 1085 Handskizzenerkennung ................... 1085 Handstützen..................................... 1056 Haupttätigkeit .................................... 668
1181 Hautleitfähigkeit ............................... 408 Hautoberfläche.................. 346, 404, 408 Hautresorption .......................... 926, 931 Hautrezeptor ............................. 346, 385 Hautsinnesorgan ............................... 346 Hautwiderstand ................................. 408 Head-Mounted Display (HMD) ....... 991, 1086, 1148 Heat-Stress-Index (HSI) ................... 869 Heimarbeitsgesetz ............................. 736 Heimarbeitsplatz ............................... 617 alternierender .............................. 617 Helligkeitswahrnehmung .................. 320 Helmet-Mounted Display ................. 991 Herstellkosten ........................... 665, 666 Herz-Kreislauf-System ............. 267, 937 Herzschlagfrequenz .......... 278, 294, 399 Herzschlagfrequenzvariabilität ......... 400 heuristische Evaluation ......... 1070, 1073 Hick-Hyman‘sche Gesetz ................. 307 Hirnstamm ........................................ 381 Hitzeakklimatisation ......................... 880 Hitzearbeit ....................... 869, 870, 880, 881, 882, 885, 936, 937 homo faber ...................................... 3, 25 homo oeconomicus ............................. 15 Hormon ..................................... 398, 409 Hörschall .......................................... 772 Hörvermögen .................................... 125 HSI ................................................... 869 Human-Computer Interaction ......... 1081 Humanisierung ........................... 4, 7, 71 ICD-10 ...................................... 154, 155 ICF (Int. Classification of Functioning, Disability and Health)................. 147 ideales Gasgesetz .............................. 913 Immersion ................................. 974, 992 Indifferenzeffekt ............................... 937 Individualisierbarkeit ...1064, 1080, 1088 Informationsdarstellung ............ 344, 976 Informationstheorie .......................... 305 Informationsverarbeitung.......... 286, 969 Informationszugangskosten ............. 978, 995, 998 informatorisch-mentale Arbeit .. 286, 969 Innenmaße ............................ 1031, 1043 Innervierung, Innervation ........ 235, 349, 351, 381, 386 Input-Prozess-Output-Modell ........... 517 Inselfertigung .................................... 479 Inselkonzepte ............................ 501, 529
1182 Instanz ............................................... 444 Intelligenz ......................... 126, 134, 146 fluide ........................................... 143 kristalline .................................... 143 -modelle .............................. 138, 142 Intelligenzdefinitionen ...................... 138 Intelligenzleistung ..................... 127, 137 Interaktion Mensch-Computer- ......... 1077, 1081 Mensch-Maschine-...................... 969 Mensch-Rechner- ............ 1077, 1081 interkulturelle Zusammenarbeit ........ 110 International Ergonomics Association (IEA) ................... 9, 949 Investment-Center ............................. 450 Iris ............................................ 317, 405 Ist-Zeiten ........................... 665, 669, 672 Job Characteristics Inventory .............. 60 Job Characteristics Model ......... 512, 519 Job Descriptive Index (JDI) ............... 60, 192, 515 Job Diagnostic Survey (JDS) ............. 60, 515, 554 Job Enlargement ................................ 506 Job Enrichment ................. 506, 514, 760 Job Rotation ..................... 506, 514, 527, 532, 533, 1133 Johannson’sche Regel ....................... 964 Jugendarbeitsschutz........................... 735 Jugendarbeitsschutzgesetz .......... 118,931 Jugendliche ............... 118, 157, 713, 735 Just-in-Time ...................... 481, 483, 577 K3 .................................................... 462 Kaizen ....................................... 466, 545 Kälteakklimatisation ......................... 879 Kältearbeitsplätze .............................. 883 Kälteschmerz..................................... 350 Kapazitätsmodelle menschlicher Informationsverarbeitung .... 287, 291 aktivierungstheoretische Konzepte ............................... 291 aufmerksamkeitstheorethische Konzepte ............................... 294 multiple Ressourcenmodelle ....... 298 kardiovaskuläre Leistungsfähigkeit ... 130 Karriere-Kompetenzen ...................... 585 Kaskadenmodelle ...................... 289, 516 Katalogverfahren ....................... 640, 648 Katecholamine .................................. 409 Kathodenstrahlröhre .......................... 986 Kennzahlen ............................... 652, 654
Arbeitswissenschaft Kennzahlenvergleich ................ 651, 652 Kerndimensionen der Arbeitstätigkeit....................................... 512 Kernprozess ...................................... 460 Kieler Puppe ................................... 1057 Kinderarbeitsschutz .......................... 735 Kinetose ............................................ 794 Kippsicherheitsmaß ........................ 1051 Klassifikation kardinale ....................................... 68 nominale ....................................... 68 ordinale ......................................... 68 Klima ........................................ 936, 937 Klimabewertung ............................... 877 Klimafaktoren ................................... 861 Klimasummenmaß .....867, 871, 875, 879 KLM ............................................... 1096 Knalltraumata ................................... 779 Kniesitze ......................................... 1053 kognitive Architektur .............. 378, 1150 kognitive Maschinensteuerung ....... 1150 kognitives Simulationsmodell......... 1150 kollektive Autonomie ............... 510, 528 Kollisionsbetrachtung ..................... 1101 Kommando ..................................... 1088 Kommunikation ............... 390, 497, 514, 519, 527 Mensch-Computer- ......... 1078, 1081 Mensch-Maschine- ............. 969, 973 Mensch-Mensch- ...................... 1078 Mensch-Rechner- ........... 1078, 1081 Kommunikationswege ............. 438, 440, 451, 469, 485 Kompatibilität .......292, 971, 1001, 1010, 1011 Kompatibilitätsprinzip ...................... 971 der Nähe ............................. 978, 994 Kompensations-Modell............. 120, 122 Kompetenz...........87, 120, 170, 178, 514 -abgrenzung ........................ 451, 452 -ausprägung ................................ 180 -begriff................................ 170, 178 -dimensionen ...................... 179, 180 -entwicklung .........70, 180, 181, 507, 509, 529, 545 -messung .................................... 181 -niveau ........................................ 180 stellenbezogene .......... 438, 445, 755 -zusammenführung ............. 487, 534 Konfiguration (Organisation) ... 434, 441 konfigurierbare Anzeige ................... 985
Index Konkordanz ......................................... 57 Konsistenz ........... 979, 1064, 1073, 1080 Konstitutionsmerkmale ................. 87, 89 kontinuierlicher Verbesserungsprozess ... 466, 545 Kontrast .................... 123, 227, 318, 321, 325, 335, 343, 888, 902, 986, 1082 Kontrollleuchte.................................. 984 Konvektion ........................................ 863 Konvergenz ....................... 318, 329, 369 Konzentration (chem.)....... 315, 351, 913 Grenzwerte .................................. 927 Konzept der vollständigen Tätigkeit ...................................... 508 Kooperation............. 433, 436, 470, 495, 514, 526, 645 Mensch-Maschine-.......... 1026, 1150 kooperative Arbeitsformen ................ 495 Kopflehne ........................................ 1047 Körpergröße .............................. 94, 1030 Körpergrößenbereich....................... 1037 Körpergrößenverteilung .................. 1030 Körpermaße..................... 94, 1028, 1047 Körperproportionen ............... 1034, 1058 Körperschall .............................. 772, 785 Körperunterstützungen .................... 1048 Korpuskularstrahlen .......................... 806 Korrekturaufwand ................. 1080, 1089 Korrelationskoeffizient...................... 704 Kosten- und Leistungsrechnung ........ 667 Kraftausübung ........... 251, 254, 255, 952 asymmetrische ............................ 958 Krafterzeugung, menschliche ........... 228, 237, 256, 265, 266, 952, 960 Kräfte, zulässige ........................ 251, 953 Kräfteatlas ........................... 92, 252, 255 Krankheitserreger .............................. 908 Kreislaufregulation ............................ 276 Kumulationseffekt ............................. 937 Kurven gleicher Lautstärke ....... 340, 776 Kurzzeitgedächtnis .... 127, 228, 367, 375 KVP-Gruppen ........... 500, 502, 545, 548 Lampen ............................................. 895 Langfeldskala .................................... 982 Längsdisparation ............................... 330 Längsschnittstudien ........................... 122 Langzeitgedächtnis ........... 127, 295, 366, 369, 372, 376, 388 Lärm .................. 341, 343, 394, 772, 936 Lärmbereiche .................................... 789 Lärmexpositionspegel ............... 783, 784
1183 Lärmschäden..................................... 779 Lärmschutz ....................................... 785 Lärmschwerhörigkeit ........................ 772 Laser ................................................. 849 Lastenhandhabung ...230, 285, 952, 1136 Lastenhandhabungsverordnung ........ 738 laterale Inhibition .............................. 321 Laufbahnplanung .............................. 134 lautes Denken ........54, 1074, 1075, 1096 Lautstärke ..................314, 340, 391, 776 Lautstärkeempfindung ...................... 776 Lautstärkepegel................................. 776 Lautstärkewahrnehmung................... 339 Lean-Gruppe ...... 500, 501, 504, 526, 529 Lebenserwartung .............................. 116 Leistung, physikalisch erbrachte...... 955, 960 Leistungsabfall ................. 295, 356, 409 Leistungsbereitschaft ................. 87, 120, 131, 168, 183 Leistungsbeurteilung ................ 651, 658 Leistungsbewertung .......................... 651 Leistungs-Entgelt-Relation ............... 652 Leistungserbringung ................... 87, 654 Leistungsergebnis ............ 187, 652, 654, 655, 659, 664 Leistungsfähigkeit ......87, 120, 122, 131, 146, 309, 385, 389, 416 kardiopulmonale ........................... 92 Leistungsflussdichte ......................... 805 Leistungsgerechtigkeit ...................... 634 Leistungsgrad ............672, 674, 675, 676 Leistungsgradbeurteilung ......... 671, 675 Leistungsinterdependenz .................. 470 Leistungsmotiv ......................... 185, 758 Leistungswandlung ........................... 151 Leistungszulage ........................ 658, 659 Leitkomponenten .............................. 931 Leitmerkmalmethode .............. 951, 1134 Leittextmethode ........................ 177, 178 Lernen...................4, 131, 175, 181, 372, 386, 484, 509, 520, 522, 1023, 1150 Lernen im Prozess der Arbeit ... 509, 514 Lernförderlichkeit ................. 1081, 1089 lernfördernde Aufgaben .................... 508 Lerninsel ........................................... 502 Lernkurve ......................................... 175 Lernleistung motorische .................................. 388 Lernphase ......................... 310, 373, 387
1184 Lernprozess ................................ 88, 131, 170, 172, 175, 181, 374 Lernresultat ....................... 172, 175, 181 Lernvorgänge .................................. 1089 Leuchtdichte .................... 325, 889, 1082 Leuchtdichte-Kontrastverhältnis ..... 1083 Leuchtdiode....................................... 897 Leuchten............................................ 898 Leuchtstofflampen............................. 897 Lichtausbeute .................... 886, 895, 898 Lichtbedarf ........................................ 123 Lichtfarbe .................................. 892, 895 Lichtstärke......... 315, 850, 887, 889, 891 Lichtstärkeverteilungskurven ............ 899 Lichtstrom ......................................... 887 Lidschluss ................................. 406, 407 Linienstelle ........................................ 437 Linked Employer-Employee-Datensatz .. 132 Logfiles ........................................... 1074 Logistikinsel ...................................... 543 Lohn .................................................. 633 Lohnkosten ........................................ 631 Luftfeuchtigkeit ......... 861, 862, 871, 872 Luftgeschwindigkeit .......................... 862 Luftgrenzwert .................................... 932 Luftschall .......................................... 772 Lufttemperatur ................. 352, 861, 862, 871, 872 magnetische Feldstärke ..................... 807 magnetische Flussdichte.................... 807 Makros .................................. 1079, 1094 Management by Objectives (MbO) ... 661 Managementinformationssysteme ..... 667 Managementteam .............................. 503 Marktgerechtigkeit ............................ 634 Marktorientierte Organisation ........... 449 Maschinensteuerung ........................ 1105 Matrixorganisation .... 446, 451, 452, 503 maximale Sauerstoffaufnahme .. 118, 129 Maximaler Arbeitsplatz-KonzentrationsWert (MAK) ............... 928, 929, 932 Maximalkräfte .................... 91, 244, 246, 254, 285, 952 Mehrarbeit ........................ 166, 580, 585, 606, 612, 614, 618 Mehrkörpersimulation (MKS) ......... 1102 Mehrlinienorganisation ............. 445, 451 Mensch-Arbeits-Beziehung ................. 64 Mensch-Maschine Schnittstelle ........ 949, 969, 1145, 1148, 1149
Arbeitswissenschaft Menschenbild ........................ 14, 16, 18, 20, 21, 22, 23, 25 Menschengerechtheit .......................... 63 mentales Modell ......375, 971, 977, 1002 Menü.......... 979, 1079, 1081, 1084, 1086 Merkmalsextraktion .................. 290, 336 Messtechnik, physiologische .............. 55 Messung der Luftfeuchtigkeit .................... 872 der Lufttemperatur ...................... 872 von Dämpfen .............................. 925 von Gasen ................................... 925 von Lärm .................................... 796 von Stäuben ................................ 924 von Strahlung ............................. 836 Messverfahren chemische ............................. 56, 924 physikalische ............... 56, 780, 796, 836, 872, 892, 924 psychophysiologische ........... 56, 396 Methode des Lauten Denkens ... 54, 1075 Methoden zur leistungsabhängigen Entgeltdifferenzierung ................ 651 Methods-Time-Measurement............ 459 Migration .......................................... 108 Minimalreaktionszeit ........................ 388 Mitarbeitergespräch .......... 556, 658, 663 Mitbestimmung....31, 497, 556, 609, 755 Mittelungspegel ................................ 783 Mixed Reality ................................... 973 MKS ............................................... 1102 MMH-Verfahren ............................... 688 MMZ-Verfahren ............................... 689 Mnemotechniken .............................. 372 Modalität ........... 298, 313, 344, 357, 367 Modell der multiplen Ressourcen .... 298, 972, 1006 Modelle menschlicher Informationsverarbeitung................................ 286 Monotonie.................196, 293, 393, 439, 480, 485, 506, 630, 1024 montagespezifischer Kraftatlas ... 92, 255 MOST (Maynard Operation Sequence Technique).................................. 697 Motivation ..................88, 182, 183, 193, 393, 435, 506, 511, 512, 521, 529, 531, 536, 735, 761 Motivationstheorien .......................... 184 Bedürfnis-Motiv-Wert-Theorien 184 Inhaltstheorien ............................ 184 kognitive Theorien der Zielwahl 186
Index Prozesstheorien ........................... 184 volitionale Theorien der Zielrealisierung ........................... 187 Zielsetzungstheorie ..... 187, 512, 661 Motive ......... 87, 131, 182, 183, 184, 185 motorisches System................... 381, 407 MTM-Normleistung .......................... 669 MTM-Verfahren (Methods-Time Measurement) ............................. 697 MTMergonomics ............................ 1138 multimodale Schnittstelle .................. 972 Multimomentaufnahme ............. 676, 690 Multimoment-Häufigkeits-Zählverfahren (MMH-Verfahren) ...... 676 Multimoment-Hauptformel ............... 690 Multimomentstudie ................... 687, 690 Multimomentverfahren.............. 671, 675 Multimoment-Zeit-Messverfahren (MMZ-Verfahren) ....................... 676 Muskel ..................... 233, 309, 310, 318, 348, 381, 383, 384 Muskel- und Skeletterkrankungen..... 756 Muskelaktivität.................. 259, 349, 404 Muskelanatomie ........................ 233, 230 Muskelarbeit Ausdauer ............................. 200, 966 dynamische ......................... 225, 230 Erholungszuschläge ............ 249, 969 Formen von ................................. 226 schwere dynamische ................... 225 statische....................... 224, 230, 957 Muskelermüdung .............................. 259 Muskelenergetik ................................ 235 Muskelerregung ........................ 235, 260 Muskelfaser ....... 233, 349, 381, 384, 404 Muskelgewebe .................................. 829 Muskelkraft ........................ 91, 130, 151, 233,237, 240, 242, 389 Ermittlungsverfahren .. 248, 249, 250 maximale isometrische................ 248 Muskelspindelrezeptor ...................... 384 Muskelsystem.................................... 233 Muskelzelle ....................... 235, 381, 819 Muskulatur ........................ 233, 308, 937 Mutterschutz.............................. 735, 932 Mutterschutzgesetz............................ 931 NASA Task Load Index .................... 416 Nachtarbeit ........ 170, 575, 588, 597, 734 Nationalität ........................................ 108 Natriumdampf-Hochdrucklampen..... 898 Natriumdampf-Niederdrucklampe .... 897
1185 Nebel ................................ 909, 918, 923 Nebentätigkeit................................... 668 negative Rückkopplung .................... 385 Nerv .................................................. 820 Nervensystem parasympathisches ...................... 396 sympathisches............. 294, 396, 408 Nervenzelle ....................................... 819 NET .................................................. 868 Netzhaut..... 298, 317, 324, 326, 335, 406 neuronale Programme ....................... 384 Neurotizismus ........................... 112, 115 Neutronenstrahlung .......................... 806 Niveaubeispiel .................................. 650 Niveaustufe ............................... 172, 179 Noradrenalin ..................................... 409 Normaleffektivtemperatur ................ 868 Normalleistung ................................. 669 Normalverteilung .............................. 679 Numerical Control .......................... 1146 Nutzungskontext ...........970, 1065, 1071, 1112 Oberflächensinn ................................ 346 Objektgrößen-Differenzen ................ 326 Objektivität ......................................... 57 Offenheit ................................... 113, 115 Off-Zentrum ..................................... 320 Ohr ............................298, 313, 338, 341 Ohrmuschel....................................... 343 olfaktorisches System ............... 314, 351 One-Piece-Flow ........................ 481, 482 On-Zentrum ...................................... 320 Operative Abbildsysteme (OAS) 44, 387 optimale Handgelenkstellung ......... 1039 optimaler Beinraum ........................ 1038 optimaler Greifraum ....................... 1038 optimaler Sehraum .......................... 1038 Ordnungsmodelle................................ 27 Organigramm .................................... 437 Organisation ............................. 433, 495 der Produktion ............................ 476 der Produkt- und Prozessentwicklung .......................... 485 funktionaler Begriff .................... 434 im Dienstleistungs- und Servicebereich .................................. 488 institutioneller Begriff ................ 435 konfigurativer Begriff................. 434 Organisationsentwicklung ........ 111, 549 Organisationsstruktur........ 434, 438, 761 orientierende Verfahren ...................... 61
1186 Orientierungsreaktion ................ 397, 401 Ottawa-Charta ........................... 753, 755 Outsourcing ............................... 469, 630 P4 SR-Index ...................................... 870 paarweiser Vergleich ......................... 646 Pädagogik ............................................ 18 Arbeits- ......................................... 18 Pandämonium............................ 336, 337 PAQ .................................................... 58 Parallaxe............................................ 330 Parallelperspektive ............................ 327 Partizipation .................. 5, 147, 505, 520 Partizipatives Produktivitätsmanagement ................................ 520 Pausen ......... 66, 195, 202, 575, 587,603, 734, 881, 968 Pausenregelung ........................ 269, 557, 587, 592, 965 Pedalkräfte ........................................ 957 Performance Operating Characteristic .............................. 297 Performance Resource Function ....... 296 Periodentheorie ................................. 340 Permanent Threshold Shift ................ 779 Personalbedarf................................... 631 Personaleinsatz .................................. 631 Personaleinsatzplanung ..................... 475 Personalintegriertes Simulationsmodell ......................................... 475 Personalkapazität .............................. 631 personenbezogene AnalyseVerfahren ...................................... 60 personenbezogene Intervention ......... 755 persönlich bedingtes Unterbrechen der Tätigkeit ................................ 669 Persönlichkeit .................................... 112 Persönlichkeitsentfaltung ... 3, 59, 66, 72, 114, 514, 516, 527 Persönlichkeitsentwicklung .... 59, 70, 72, 115, 160, 514, 759 Persönlichkeitsförderlichkeit ............... 65 Perspektive ........................................ 327 Petri-Netze ........................................ 463 Photorezeptor .................................... 318 physikalische Ebene ........................ 1078 physikalische Stoffeigenschaften ...... 912 physiologische Arbeitskurve ............. 168 physiologische Größen ........................ 55 Planungsinsel .................................... 540 Planzeiten .................................. 671, 702 Planzeitermittlung ..................... 702, 705
Arbeitswissenschaft Planzeitsystem .................. 699, 701, 706 Pluralistic Usability Walkthrough... 1073 PMV-Index ....................................... 867 Podeste............................................ 1047 Polardisplay .............................. 998, 999 Positionssystem ................................ 312 Positivdarstellung ............................. 988 Power Law of Practice ...................... 175 PPD................................................... 868 pragmatische Ebene .............. 1079, 1093 Prämie ....................................... 656, 657 Prävention ......................... 133, 730, 754 Verhaltens- ................................. 754 Verhältnis- .................................. 756 praxeologische Ansätze ...................... 12 Predicted Mean Vote ........................ 867 Predicted Percentage of Dissatisfied . 868 Predicted-Four-Hour-Sweat-RateIndex........................................... 870 Prinzipien der Arbeitswirtschaft .................. 629 der Arbeitsgestaltung ............ 69, 505 der ergonomischen Gestaltung ... 950 Probenahme strategische ................................. 920 technische ........................... 920, 923 Product Lifecycle Management ...... 1097 Produktentstehungsprozess ................ 74, 488, 534, 1130, 1132 Produktentwicklung ........... 72, 458, 485, 665, 1109 virtuelle .................................... 1097 Produktentwicklungsprozess ..... 73, 474, 485, 1097, 1110 Produktgestaltung ........................... 1108 Produktgestaltungsprozess benutzerorientierter .................. 1111 technikorientierter .................... 1114 Produktionsergonomie .................... 1130 Produktionserhöhung ........................ 580 Produktionsgestaltung..................... 1129 Produktionsplanung .......................... 666 Produktionssteuerung ....................... 666 Produktionssystem ............................ 482 Produktivität .............2, 6, 117, 130, 132, 436, 438, 466, 479, 504, 507, 520, 526, 545, 579, 622, 632, 753, 761, 1077, 1131, 1141 Produktlebenszyklus ....................... 1098 Produktorientierte Organisation ........ 449 Produktsicherheit ...................... 731, 741
Index Profit-Center...................................... 449 Projekt ....................................... 452, 705 Projektgruppe ............................ 500, 502 Projektierungsinsel ............................ 543 Projektorganisation ........................... 452 Projektteam ....................... 500, 502, 515 Propriozeptor..................................... 313 Protonenstrahlung ............................. 806 Prototypen ....................................... 1073 Prototyping ...................................... 1097 Rapid ......................................... 1105 Prozessbegleiter ................................ 553 Prozessmodellierung ......................... 699 Prozessoptimierung ........................... 466 Business Process Reengineering . 466 heuristische ................................. 467 Kontinuierlicher Verbesserungsprozess .................................. 466 simulationsgestützte .................... 472 Prozessorganisation ................... 447, 451 Prozessplanung................................ 1101 Prozesszeitanzeige........................... 1083 Psychologie ......................................... 21 Arbeits- ......................................... 21 Organisations- ............................... 21 psychophysiologische Indikatoren ..... 56, 396, 1074 Pupille ............................................... 405 Pupillendurchmesser ......................... 405 Quadrantenskala ................................ 982 Qualifikation ......... 87, 88, 130, 170, 631 affektive ...................... 172, 173, 174 kognitive ..................... 172, 173, 174 sensumotorische .......... 172, 174, 175 soziale ......................................... 173 Qualifikationsdimensionen................ 172 Qualifikationsmerkmale .................... 173 Qualifikationsprofil ................... 553, 631 Qualifizierungsmaßnahmen ...... 176, 529 Qualifizierungsmatrizen .................... 630 Qualitätssicherung, rechnerunterstützte ................................ 1105 Qualitätszirkel ........... 500, 502, 533, 545 Quality Gate .................................... 1130 Quecksilberdampf-Hochdrucklampen ..... 898 Querdisparation ......................... 330, 331 Querschnittstudien ............................ 122 Radio-Button ................................... 1084 Rangfolgeverfahren ................... 640, 646 Rangreihenverfahren ................. 640, 642
1187 mit getrennter Gewichtung ......... 642 Rationalisierung ................................ 6, 7 Rationalisierungsprinzipien .............. 629 Rauche .......................908, 913, 918, 923 räumliche Gestaltung ...1028, 1030, 1043 Raumwahrnehmung .......................... 341 Raumwinkel ...................................... 888 Reafferenzprinzip ............................. 387 Reaktion.....................298, 313, 337, 367 ballistische .................................. 386 biologische ......................... 818, 829 defensive ............................ 397, 400 motorische .......................... 385, 388 physiologische ............ 397, 778, 794 psychische .................................. 392 stereotype ........................... 382, 384 vegetative ................................... 350 Reaktionsvermögen .......................... 174 Reaktionszeit ..... 128, 287, 310, 388, 411 REBA ................................................. 59 Receiver Operating Characteristic .... 304 rechnerisch-analytische Verfahren.... 671 Rechtswissenschaft ............................. 20 Redundanz ................................ 306, 977 REFA-Normalleistung ...................... 669 Reflex ....................................... 354, 384 Reflexion .................................. 829, 889 Reflexionsgrad .................................. 889 Regelabweichung.............................. 308 regelbasiertes Verhalten.......... 290, 1003 Regelkreis ......................... 308, 384, 389 Regelstrecke ..................... 308, 309, 390 Regelung der Bewegung ............................. 384 stabile ......................................... 309 regelungstechnische Menschmodelle 308 Regler ............................... 308, 312, 390 Mensch als .................................. 308 Regressionsanalyse ........... 671, 702, 706 Regulation Antriebs- ....................................... 87 Ausführungs- ................................ 87 automatisierte ............................... 49 intellektuelle ................................. 49 perzeptiv-begriffliche ................... 49 psychische ...................... 31, 43, 290 Regulationsebenen .............. 49, 290, 387 Regulationsebenenmodelle ....... 289, 361 Rehabilitation ................... 149, 156, 721 berufliche.................................... 156 Reichhöhe ....................................... 1038
1188 Reichweiten..................................... 1029 Reihenfertigung ................................. 477 Reihung ............................................. 639 Reizintensität..................................... 313 Reizschwellenintensität ..................... 315 Reizstärke .......................................... 315 Reiztransformation ............................ 316 Rekrutierung.............................. 235, 382 Reliabilität ........................................... 57 Renten ............................................... 117 Resistenz, psychophysiologische ........ 41 Respirationsmaß ................................ 401 Ressource multiple ....................... 298, 299, 413 räumliche .................................... 298 verbale ........................................ 298 Ressourcenmodelle, multiple ............ 298 Retina ........................................ 318, 405 Rezeptor .... 313, 318, 345, 351, 384, 388 RHIA ................................................... 59 rhythmische Kontrolle von Bewegungen ............................... 385 Rhythmus .................................. 300, 386 Richtbeispiele .................................... 642 Richtungshören ................................. 992 Risikobewertung ............................... 731 Röntgenstrahlung .............................. 816 Rückenlehne .......................... 1047, 1051 Breite ........................................ 1051 Höhe.......................................... 1051 Rückenmark ...................... 381, 384, 404 Rückkopplung .......... 291, 384, 385, 391, 393, 399, 464, 516, 993 Rufbereitschaft .................................. 614 Ruhestand .......................................... 120 Ruhezeit ............................................ 588 Rumpfstellung ................................. 1050 Rundgangshäufigkeiten ..................... 686 Rundgangsplan .................................. 685 Rundskala .......................................... 982 Rüst- und Nebenzeiten ...................... 581 Rüsten ............................................... 670 Rüstzeitstudien .................................. 676 Sabbatical .......................................... 612 Sakkade ............................................. 406 Salutogenese...................................... 133 Sammelphase .................................... 923 Sättigung ........................................... 322 SAZ ................................................... 190
Arbeitswissenschaft Schädigung ........................ 42, 148, 195, 207, 283, 733, 779, 795, 801, 822 akute ................................... 779, 916 chronische .......................... 779, 916 Schädigungslosigkeit ............ 65, 67, 770 Schadstoffbelastung .......................... 922 Schablonenmodelle ........................... 336 Schadstoffe ....................................... 910 Schall ................................................ 772 Schalldämmung ................................ 785 Schalldämpfung ................................ 785 Schalldruck ....................................... 773 effektiver .................................... 773 Schalldruckpegel .............................. 773 bewerteter ................................... 781 energieäquivalenter .................... 783 Schalleistungspegel .......................... 774 Schallintensität ................................. 773 Schallintensitätsmessung .................. 780 Schallintensitätspegel ....................... 774 Schallleistung ................................... 773 Schallpegel ....................................... 773 Schallpegelmesser ............................ 780 Schaltfläche ............................ 985, 1016 Schattierung ...................................... 327 Scheitelfaktor .................................... 790 Schichtarbeit ..................... 578, 594, 596 Schmerz .................................... 316, 350 -empfindung ....................... 207, 350 -grenze ........................ 316, 773, 774 -mediatoren................................. 350 -sinn .................................... 316, 346 -wahrnehmung ............................ 314 Schnittstellengestaltung, ökologische.... 978, 1001, 1004, 1005 Schriftgröße .................................... 1082 Schutzstufenkonzept ......................... 927 schwach strukturierte Prozesse ......... 473 Schwangerschaft ............................... 932 Schwerbehindertenquote................... 151 Schwerbehindertenrecht ................... 150 Schwerbehinderung .................. 150, 736 Schwingungen Ganzkörper-................................ 790 Hand-Arm- ................................. 790 mechanisch ................................. 790 Schwingungsfrequenz ....................... 790 Schwingungsisolation ....................... 803 aktive .......................................... 803 passive ........................................ 803
Index Schwingungsschutz ........................... 802 Screeningverfahren ............................. 61 Seattle-Längsschnittstudie ................. 130 Segmentmodelle .................................. 28 Sehachsen ........................................ 1039 Sehbereiche ..................................... 1039 Sehfähigkeit .............................. 123, 125 Sehrichtung ............................... 987, 988 Sehschärfe ................................. 324, 325 Sektorskala ........................................ 982 Selbstaufschreibung ............ 54, 676, 677 Selbstbeschreibungsfähigkeit ......... 1076, 1080 Selbsteinstellung ............................... 309 Selbstregulation ......... 510, 521, 528, 530 Selektion ........................................... 133 semantische Ebene ................ 1079, 1090 semiotisches Modell .... 1078, 1079, 1081 Sensibilisierung ......................... 915, 928 Sensibilität......................... 313, 346, 391 sensorische Modalitäten .................... 314 sensorische Rückkopplung ................ 384 sensorischer Speicher ................ 366, 367 sensumotorische Eigenschaften ......... 118 sequentielle Modelle menschlicher Informationsverarbeitung ............ 287 Kaskadenmodelle ........................ 289 Regulationsebenenmodelle ......... 289 Subtraktionsmethode................... 288 Shutterbrille............................... 989, 990 Sicherheitstechnik hinweisende ................................ 743 mittelbare .................................... 743 unmittelbare ................................ 743 Sichtanzeige ...................... 976, 979, 994 Analoganzeige .................... 980, 981 Bildschirmanzeige ...................... 985 Digitalanzeige ..................... 980, 983 für Virtuelle Umgebungen .......... 989 Hybridanzeige ............................. 984 mobile ......................................... 991 Sichtmaße ........................................ 1029 Sichträume ...................................... 1037 Signalentdeckungstheorie......... 300, 301, 302, 393, 977 Signal-Rauschverhältnis .................... 358 Simulation ......................................... 472 aktororientierte ............................ 475 personalorientierte....................... 475 prozessorientierte ........................ 475 Simulationsstudie .............................. 474
1189 Simultaneous Engineering .............. siehe Concurrent Engineering Sinnesorgan ..............224, 227, 292, 308, 313, 314, 317, 366, 970, 1020, 1022 Situationsbewusstsein .............. 375, 976, 1021, 1024 Sitzfläche .............................. 1047, 1051 Sitzstellung ..................................... 1049 Sitzwinkel ....................................... 1049 Skala bewegte .............................. 980, 981 feste .................................... 980, 981 Skelett- und Umrissmaße ................ 1029 Skelettsystem .................................... 281 SMART-Formel................................ 663 Software -ergonomie ..................... 1077, 1081 Evaluation von.......................... 1094 Funktionen................................ 1091 Objekte ..................................... 1093 Soll-Zeitdaten ................................... 666 Soll-Zeiten ........................ 665, 669, 696 Somatografie................................... 1057 computergestützte ........... 1057, 1060 Schablonen- .............................. 1057 Video-............................. 1057, 1059 Sonn- und Feiertagsruhe ................... 589 soziale Gerechtigkeit ........................ 634 Sozialverträglichkeit ........................... 67 Soziologie ........................................... 16 Arbeits- ......................................... 16 Berufs- .......................................... 17 Betriebs- ....................................... 16 Bildungs- ...................................... 17 Industrie- ...................................... 16 Organisations- .............................. 17 Technik- ....................................... 17 Wirtschafts- .................................. 18 soziotechnischer Systemansatz ........ 435, 513, 528, 759 Speed Accuracy Trade-Off ............... 411 Spektralverfahren.............................. 895 Spezialisierung ................................. 438 Spinalmotorik ................................... 384 Sprache ............................................. 390 Spracheingabe....................... 1016, 1086 Sprachschalldruckpegel .................... 777 S-R-Kompatibilität ........................... 971 Stäbchen ........................... 313, 318, 324 Stab-Linien-Organisation ......... 446, 451 Stabsstelle ......................................... 437
1190 Standardisierung....... 440, 505, 531, 630, 699 Stanford-Binet-Test ........................... 136 statische Arbeit .................................. 238 statische Haltearbeit .................. 225, 231 statische Haltungsarbeit............. 225, 231 statische Kontraktionsarbeit .............. 231 Staub ......................... 908, 913, 917, 923 allergisierende ............................. 918 ätzende ........................................ 918 inerte ........................................... 918 kanzerogene ................................ 918 radioaktive .................................. 918 toxische ....................................... 918 Staubanteil......................................... 913 Stehhilfen ........................................ 1054 Stelle ................................................. 436 Stellteile ...................... 1007, 1048, 1052 stereoskopische Darstellung .............. 989 stereoskopische Parallaxe .................. 332 Steuerbarkeit ......................... 1076, 1080 Steuerknüppel.................................. 1015 Stevens‘sche Potenzfunktion............. 315 Stillstandszeiten ................................ 676 Stimulus ............ 316, 340, 354, 367, 406 Stoffgemische............................ 929, 935 Stoffkonzentrationen ......................... 915 Stoffwechsel ...................................... 266 Strahlenexposition ............................. 852 Strahlenschäden genetische ................................... 834 somatische................................... 834 Strahlung ........................................... 863 elektromagnetische ..................... 807 hochfrequente.............................. 814 infrarote............................... 815, 832 ionisierende ................................. 816 kosmische ................................... 817 Laser- .......................................... 832 nichtionisierende ......................... 806 niederfrequente ........................... 812 optische ....................................... 815 radioaktive .................................. 817 ultraviolete .................................. 815 Strahlungsenergie .............................. 805 Strahlungsleistung ............................. 805 Streubreiten der Körpermaße .............. 94 Streuzahlverfahren ............................ 674 Strömungsmechanik numerische ................................ 1104 Strömungssimulation....................... 1103
Arbeitswissenschaft Strukturdimensionen der Organisation ............................... 438 Delegation .................................. 442 Formalisierung ........................... 440 Konfiguration ............................. 441 Spezialisierung ........................... 438 Standardisierung ......................... 440 Strukturebene ...................................... 28 Stückakkord ...................................... 657 Stufenmodelle menschlicher Informationsverarbeitung ................... 287 Stufenwertzahlverfahren ........... 640, 644 Stufung ............................................. 639 Stützmotorik ..................................... 384 subjektive Wahrscheinlichkeit .......... 365 Subtraktionsmethode ........................ 288 Superposition .................... 912, 917, 936 Supervisory Control ........................ 1023 erweitertes Modell .................... 1150 Funktionen................................ 1146 Supportprozess (Stützprozess) .......... 460 syntaktische Ebene ............... 1079, 1086 Systemantwort ................................ 1089 Systeme vorbestimmter Zeiten ........ 668, 671, 674, 696, 698 Systemkonzeption ........................... 1097 Tablet-PC........................................ 1085 TAI ..................................................... 58 Tarifvertrag ......................................... 20 Task-Forces ...................................... 537 Tastatur ........................................... 1012 Tastsinn ............................................ 346 Tätigkeitsbewertungssystem ............... 59 Tätigkeitsspielraum .......................... 509 Tätigkeitszeiten..........670, 696, 698, 699 TBS............................................. 59, 515 Teamarbeit ........................................ 495 Teamdiagnose ................................... 555 Teameffektivität................................ 516 Teameffektivitätsmodelle ................. 516 Teamführung ............................ 520, 524 Teamgestaltung................................. 519 Technische Regel für Gefahrenstoffe (TRGS) ............................... 921, 932 teilautonome Arbeitsgruppen ... 497, 501, 526, 527, 762 teilautonome Gruppenarbeit ..... 498, 762 Teilbeanspruchung.............................. 40 Teilbelastung ................................ 39, 40 Teilzeitarbeit ..................................... 617
Index Telearbeit .......................................... 616 alternierende ............................... 617 Temperaturempfindung ..................... 350 Temperaturregulation ........................ 822 Temperatursinn ......................... 346, 350 Temperaturstrahler .................... 896, 897 Temporary Threshold Shift ............... 777 Terminkontrolle ................................ 665 Terminplanung .................................. 665 Terminsteuerung ............................... 665 Tessellierung ................................... 1100 Theorie-Praxis-Verhältnis ................... 10 Thermischer Widerstand ................... 868 Thermoregulation ...................... 865, 937 Thermorezeptoren ..................... 831, 871 Theta-Wellen..................................... 403 Thinking Aloud ............................... 1095 Tiefensensibilität ............................... 346 Tiefensinn ................................. 346, 348 Toleranz .......................................... 1080 TOTE-Einheit...................................... 46 Totzeit ............................................... 310 Touchscreen .......................... 1015, 1085 toxische Eigenschaften ...................... 910 Toyota Produktionssystem ....... 482, 530, 545 Training ..................................... 129, 177 trait .................................................... 112 Transparenz ..................................... 1080 Tremor .............................................. 404 Überbaumodelle .................................. 27 Überforderung .................. 361, 379, 380, 410, 412, 977 Übermüdung.............................. 195, 207 Umblickfeld .................................... 1039 Umblickgesichtsfeld ........................ 1041 Umgebungseinflüsse ......................... 769 Umgebungseinflussfaktor.................. 790 Umgebungstheorie ............ 144, 145, 146 Unified Modeling Language (UML) . 462 Unterbrechung der Tätigkeit störungsbedingte ......................... 668 ablaufbedingte............................. 668 Unterforderung .......... 361, 379, 393, 410 Untergestell ..................................... 1053 Unterschiede, interindividuelle ........... 87 Unterstützungssystem ..................... 1027 Usability ................................ 1064, 1065 Engineering ..................... 1066, 1067 Inspection.................................. 1095 Labor ......................................... 1069
1191 Tests ......................................... 1069 User-Test .............................. 1070, 1074 Useware Engineering ...................... 1066 Validität .............................................. 57 Varianz ............................................. 679 Variationszahlverfahren .................... 674 VERA ................................................. 59 Veränderungsprozess ........................ 549 Verarbeitungskapazität ..................... 295 Verarbeitungsprozess perzeptueller ............................... 298 zentraler ...................................... 298 Verarbeitungsstufe ................... 287, 295, 297, 340, 349 Verdeckung............................... 327, 983 Verdunstung ..................................... 863 Vereinbarkeit von Familie und Beruf..................................... 96, 105 Vererbungstheorie ............................ 144 Verfahren nach Burandt / REFA / Schultetus ................................... 251 Vergessen ................................. 371, 388 Vergleichen....................................... 671 verhaltensorientierte Intervention ..... 757 verhältnisorientierte Intervention ...... 757 Verlaufsebene ..................................... 28 Verstellbarkeit der Arbeitsplatzelemente ................................... 1047 Verteilzeit ......................................... 670 Verteilzeitstudien .............................. 678 Verteilzeitzuschläge.......................... 678 Verträglichkeit .......................... 113, 115 Vertrauensbereich ............................. 682 Vertrieb ............................................. 665 Vertriebsinsel .................................... 543 Verzögerungsverhalten ..................... 310 Vestibulärsystem .............................. 345 Vibrationsbedingte Knochen- und Gelenkerkrankungen ....................... 795 Vibrationsschutzhandschuhe ............ 804 Videoaufnahmen ............................. 1074 Videookulografie (VOG) .................. 405 VIE-Modell....................................... 187 Vier-Stufen-Methode ........................ 177 Vigilanz ............................................ 356 Virtual Reality ................................ siehe Virtuelle Umgebung Virtuelle Umgebung ......................... 973 Erweiterte Realität ...................... 974 Virtuelle Realität .... 974, 1082, 1086 virtuelles Team ................................. 503
1192 Visualisierung ........................... 994, 995 visuelles Moment ............................ 1000 Volkswirtschaftslehre .......................... 14 Vollständigkeit .......... 508, 513, 514, 551 hierarchische ............................... 509 sequentielle ................................. 508 Vorgabezeitbestimmung.................... 678 Vorgabezeiten ................... 667, 670, 676 Vorgänge antriebsregulatorische ................... 49 ausführungsregulatorische ............ 49 Vorgangselemente ............................. 696 Wahlreaktionszeit.............................. 288 Wahrnehmung auditive ....................................... 338 Beschleunigungs- und Lage- ....... 345 Geschmacks- und Geruchs- ........ 351 haptische ..................................... 346 Lautstärke- .................................. 339 Oberflächen- und Tiefen- ............ 346 Tonhöhen- ................................... 339 visuelle ........................................ 317 Wahrnehmungsnähe .................. 995, 996 Wahrscheinlichkeitsdichtefunktion .. 693, 1030 Wärmeaustausch ....................... 863, 875 Wärmebilanz ..................................... 864 Wärmeentwicklung ........................... 821 Wärmeleitung .................................... 863 Wärmeregulation ............... 267, 864, 876 Wärmestrahlung ........................ 862, 873 Wärmeübergangskoeffizient ............. 863 Warnhinweis ............................. 976, 993 Warnsignal ................ 777, 976, 984, 992 Warnung .......................... 752, 977, 1129 Wartezeit ........................................... 670 WBGT-Index .................................... 878 Weber-Fechner‘sche Gesetz .............. 315 Weißfingerkrankheit ......................... 795 Weiterbildung..... 19, 104, 131, 134, 157, 171 Wellenlänge .............................. 322, 338 Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) ....................................... 158 Werkstättenfertigung ......................... 476 werktägliche Arbeitszeit.................... 587 Werkvertrag .......................................... 2 Wertschöpfungskette ......................... 448 WF-Verfahren (Work-Factor) ........... 697 Wirkung radioaktiver Strahlung ........ 835
Arbeitswissenschaft Wirkungsbetrachtung........................ 935 Wirkungsgleichheit ........................... 936 Wirkungsgrad ... 237, 248, 269, 275, 950, 960 Wirkungsverstärkung........................ 936 Wirtschaftlichkeitsprinzip..................... 6 Wirtschaftswissenschaften .................. 14 wissensbasiertes Verhalten ..... 290, 1003 Zapfen....................................... 313, 318 Zeiger....... 980, 981, 982, 983, 998, 1048 Zeigergeräte .................................... 1015 Zeitakkord......................................... 657 Zeitarten............................................ 669 Zeitaufnahme .................... 671, 672, 705 Zeitaufnahmebogen .......................... 672 Zeitbewertung ................................... 780 Zeitdaten ........................................... 665 Zeitdatenermittlung .......... 665, 669, 671 Zeiteinflussgrößen .................... 701, 707 Zeitfenster-System ............................ 616 Zeitgliederung................................... 670 Zeitgrad ............................................ 656 Zeitkonstante, neuromuskulär ........... 310 Zeitmessung ...................................... 672 Zeitstandards..................................... 629 Zeitstudie .......................... 657, 667, 672 Zeitwirtschaft .................................... 664 Zentraler Grenzwertsatz.................... 678 Zentralisationsgrad ........................... 443 Zentralnervensystem (ZNS) .............. 381 Zentralperspektive ............................ 328 Ziele .......................................... 187, 663 Zielmotorik ....................................... 382 Zielsetzungstheorie ........... 187, 512, 661 Zielvereinbarung .......512, 513, 520, 525, 555, 630, 651, 661 Zifferngröße ...................................... 984 Zirkadiane Rhythmik ........................ 167 Zubereitungen ............739, 907, 920, 926 Zufriedenheit .... 63, 67, 73, 88, 188, 512, 1065, 1074 Zugriffszeit ....................... 289, 310, 387 Zumutbarkeit ........................ 63, 67, 951 zusätzliche Tätigkeiten ..................... 668 Zusatzurlaub ..................................... 166 Zwei-Ebenen Intensitäts-Skala (ZEIS)......................................... 416 Zweifachaufgabe .............................. 412 Zweitaufgabe .................................... 297