Manuale psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen
Helmut Remschmidt Inge Kamp-Becker
AspergerSyndrom Mit 21...
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Manuale psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen
Helmut Remschmidt Inge Kamp-Becker
AspergerSyndrom Mit 21 Abbildungen, 31 Tabellen und Diagnostik-CD
1 23
1 2 3
Prof. Dr. Dr. Helmut Remschmidt Dipl.-Psych. Dr. Inge Kamp-Becker Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie der Philipps-Universität Hans-Sachs-Straße 6 35039 Marburg
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ISBN-10 ISBN-13
3-540-20945-X 978-3-540-20945-4
Springer Medizin Verlag Heidelberg Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag springer.com © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2006 Printed in Germany Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Renate Scheddin Projektmanagement: Renate Schulz Lektorat: Dr. Karen Strehlow, Berlin Design: deblik Berlin SPIN 10980866 Satz: medionet AG, Berlin Gedruckt auf säurefreiem Papier
2126 – 5 4 3 2 1 0
V
Vorwort Die 1944 von Hans Asperger als »autistische Psychopathie« beschriebene Störung wird heute zu den »tiefgreifenden Entwicklungsstörungen« gerechnet und hat unter der Bezeichnung »Asperger-Syndrom« inzwischen auch Eingang in die gängigen psychiatrischen Klassifikationssysteme ICD-10 der WHO und DSM-IV der American Psychiatric Association gefunden. Im deutschen Sprachraum war die autistische Psychopathie in Fachkreisen seit der Veröffentlichung Aspergers wohl bekannt und wurde auch nach den von ihm beschriebenen Kriterien diagnostiziert. Sie blieb aber, trotz Veröffentlichungen in englischer Sprache von van Krevelen (1963 u. 1971) und Bosch (1970) im angelsächsischen Sprachraum so gut wie unbekannt, bis Lorna Wing (1981) 34 Fälle mit der Überschrift »Asperger-Syndrom« publizierte. Diese Arbeit machte die Störung erst international bekannt und förderte das klinische und wissenschaftliche Interesse an dieser faszinierenden Variante des Menschseins in ungeahnter Weise. Historisch gesehen gebührt der russischen Kinderpsychiaterin Grunja Evimovna Ssucharewa (1891‒1981) das Verdienst, unter der Bezeichnung »die schizoiden Psychopathen des Kindesalters« wohl als erste auf ein Störungsbild hingewiesen zu haben, das viele, wenn nicht alle, Merkmale des Asperger-Syndroms umfasst. Dies hat Sula Wolff herausgearbeitet, die auch die Originalarbeit von Ssucharewa ins Englische übersetzt hat (Ssucharewa u. Wolff 1996). Es ist nicht bekannt, ob Hans Asperger diese Arbeit kannte. Der Wandel der Begriffsbildung »von der Psychopathie zur tiefgreifenden Entwicklungsstörung« spiegelt den Fortschritt der wissenschaftlichen Erkenntnisse wider, deren Befunde nahe legen, das Asperger-Syndrom als neurobiologische Entwicklungsstörung mit einem genetischen Hintergrund zu begreifen, die unter charakteristischer Symptomatik früh manifest wird, sich in ihrem klinischen Bild altersspezifisch wandelt, aber als Entwicklungsvariante mit Störungscharakter persistiert. In unserer Darstellung betrachten wir das AspergerSyndrom als tiefgreifende Entwicklungsstörung und ordnen es den Autismus-Spektrum-Störungen zu. Die Frage, ob sich Asperger-Syndrom und High-functioning-Autismus valide und reliabel unterscheiden lassen, muss nach derzeitigem Erkenntnisstand vorerst offen bleiben. Unser Buch behandelt in acht Kapiteln jene Fragestellungen und Problemkreise, die uns in unserer klinischen und wissenschaftlichen Arbeit immer wieder begegnet sind und die auch weltweit diskutiert werden. Die historische Einleitung (▶ Kap. 1) erscheint uns wichtig, weil alle neuen Erkenntnisse auf vorangehenden aufbauen und weil die historische Dimension oft vernachlässigt wird. Es folgen Abschnitte zur Klassifikation und Epidemiologie (▶ Kap. 2) und zur Ätiologie (▶ Kap. 3). Zur Ätiologie erscheinen uns die neuropsychologischen Konzepte (Theory of Mind, zentrale Kohärenz, exekutive Funktionen) am meisten zum Verständnis der Störung beizutragen. Deshalb wird diesen Konzepten auch in unserer Darstellung ein führender Platz eingeräumt. Der Exkurs zur Theory of Mind (▶ Kap. 3.7) vertieft die Betrachtungen zur Ätiologie und ist für jene Leser gedacht, die sich mit diesem Konzept intensiver befassen möchten. Der Text ist auch ohne diesen Abschnitt verständlich. Besonderen Wert haben wir auch auf die Diagnostik und Differenzialdiagnostik gelegt (▶ Kap. 4 u. 5). Das sechste Kapitel, über Interventionen, ist breit angelegt und konzentriert sich, wie auch die anderen Abschnitte, nicht ausschließlich auf das Asperger-Syndrom, da viele Behandlungsmethoden auch bei anderen Autismus-Spektrum-Störungen angewandt werden. Jeder, der sich mit dem Asperger-Syndrom oder mit Autismus-Spektrum-Störungen beschäftigt, möchte natürlich wissen, wie Langzeitverlauf und Prognose sich gestalten. In ▶ Kap. 7 geben wir einen Überblick über den derzeitigen Erkenntnisstand und im letzten Kapitel (▶ Kap. 8) werfen wir die aus unserer Sicht wichtigsten offenen Fragen auf.
VI
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Vorwort
Ferner haben wir dem Buch eine CD beigefügt, die neben der Marburger Beurteilungsskala zumAsperger-Syndrom auch die Originalarbeit von Hans Asperger (1944) enthält. Unser Buch ist aus einem wissenschaftlichen Projekt entstanden, das 1999 begann und dessen initiale Förderung durch den Max-Planck-Preis für internationale Kooperation ermöglicht wurde, den einer von uns (H.R.) im Jahre 1999 erhalten hat. Die andere Autorin (I.K.-B.) hat von Anfang an in diesem Projekt mitgearbeitet und hatte Gelegenheit, am Child Study Center der Yale University in New Haven die dortige Autismusforschung kennen zu lernen. Zu danken haben wir vielen, die unsere Arbeit, nicht nur zu diesem Buch, tatkräftig unterstützt haben: Der Max-Planck-Gesellschaft für die Anfangsförderung, den Kolleginnen und Kollegen der Yale University, die uns kompetent beraten haben (Donald Cohen, Fred Volkmar, Ami Klin und Sarah Sparrow) und unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im AspergerProjekt (Nikolaus Barth, Isabell Germerott, Mardjan Ghahreman, Eva Schenk, Judith Smidt). Dem Springer-Verlag, insbesondere der Programmplanerin Frau Renate Scheddin und der Projektmanagerin Frau Renate Schulz, danken wir für die hervorragende Zusammenarbeit und die zügige Umsetzung unseres Vorhabens. Ferner danken wir auch unserer Lektorin, Frau Dr. Karen Strehlow, nicht nur für die genaue Durchsicht des Manuskriptes, sondern auch für ihre Verbesserungsvorschläge. Nicht zuletzt aber bedanken wir uns sehr herzlich bei unseren Patienten und ihren Eltern, die uns die Gelegenheit gegeben haben, Erleben und Verhalten von Menschen mit AspergerSyndrom ausführlich kennen zu lernen und im Laufe der Zeit immer besser zu verstehen. Deshalb widmen wir dieses Buch auch unseren Patienten.
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Marburg, im Frühjahr 2006 Helmut Remschmidt Inge Kamp-Becker
VII
Inhaltsverzeichnis 1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.4.1 1.4.2 1.4.3 1.4.4
Ein Blick zurück: Zur Geschichte des Asperger-Syndroms . . . . . . . . . . . Historische Ansätze zur Einteilung von Psychopathien . . . . . . . . . . . . . . . . Gemeinsame Radikale historischer Einteilungsversuche . . . . . . . . . . . . Verschiedene historische Interpretationen des Psychopathiebegriffes . . . . Von der Psychopathie zur tiefgreifenden Entwicklungsstörung . . . . . . . . . . . . Der Begriff der Schizoidie – Ernst Kretschmer (1921) . . . . . . . . . . Die schizoiden Psychopathien im Kindesalter – G.E. Ssucharewa (1926) . . »Die autistischen Psychopathen« im Kindesalter – H. Asperger (1944) . . . . . Das Asperger-Syndrom als tiefgreifende Entwicklungsstörung . . . . . . . . . . . .
2
Worum es geht: Definition, Klassifikation und Epidemiologie . . . . . . . . . . .
2.1 2.2
Definition und Klassifikation . . . . . . . Charakteristische Symptomatik und Leitsymptome . . . . . . . . . . . . . . . . Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . .
2.3
3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.5.1 3.5.2 3.5.3 3.5.4 3.5.5 3.5.6
Was erklärbar ist: Ätiologie und Entwicklungspsychopathologie . . . Genetische Faktoren . . . . . . . . . . . Assoziierte körperliche Erkrankungen bzw. Syndrome . . . . . . . . . . . . . . . Komorbide psychopathologische Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hirnschädigungen und Hirnfunktionsstörungen . . . . . . . . . Neuropsychologische und kognitive Auffälligkeiten . . . . . . . . . . . . . . . Intelligenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufmerksamkeit . . . . . . . . . . . . . . Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exekutive Funktionen . . . . . . . . . . Zentrale Kohärenz . . . . . . . . . . . . . Theory of Mind . . . . . . . . . . . . . . .
1 2 3 4 6 6 7 9 11
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42 42 43 44 44 46 46
3.5.7 Ein neuropsychologisches Modell für Autismus-Spektrum-Störungen . . . . 3.6 Modellvorstellungen zur Ätiopathogenese . . . . . . . . . . . . . 3.7 Exkurs: Entwicklungspsychopathologie des Asperger-Syndroms unter dem besonderen Aspekt der Entwicklung der Theory of Mind . . . . 3.7.1 Begriffsbestimmung: Emotionserkennung, Empathie, sozial-kognitive Attribuierungen, affektive und kognitive Perspektivenübernahme . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7.2 Die Anfänge der Entwicklung einer »Theory of Mind« . . . . . . . . . . . . . 3.7.3 Der weitere Entwicklungsverlauf bei Kindern mit autistischen Störungen – insbesondere bei solchen mit Asperger-Syndrom . . . . . . . . . . . . 3.7.4 Zusammenhang zur Symptomatik . .
4
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51
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53
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59
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59
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63
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71 75
Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik . . .
83
4.1 Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Qualitative Beeinträchtigung der sozialen Interaktion . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Qualitative Beeinträchtigung der Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Begrenzte, repetitive und stereotype Verhaltensweisen, Interessen und Aktivitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.4 Sonstige auffällige Verhaltensweisen . 4.2 Störungsspezifische Entwicklungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Komorbidität und Begleiterscheinungen . . . . . . . . . . 4.4 Störungsrelevante Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Apparative, Labor- und Testdiagnostik 4.5.1 Apparative und Labordiagnostik . . . . 4.5.2 Screening-Verfahren . . . . . . . . . . . 4.5.3 Exploration der Bezugspersonen . . . 4.5.4 Exploration und Verhaltensbeobachtung des Betroffenen . . . . .
.
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. 95 . 101 . 102 . 105 . . . . .
106 107 107 108 113
. 114
VIII
1 2
4.5.5 Standardisierte Verfahren . . . . . . . . . 115 4.6 Weitergehende Diagnostik . . . . . . . . 126 4.7 Entbehrliche Diagnostik . . . . . . . . . . 127
5
3 4 5 6
Inhaltsverzeichnis
5.1 5.2 5.3 5.4
Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnostik und multiaxiale Bewertung . . . . . . . . . 137 Identifizierung von Leitsymptomen . Identifizierung weiterer Symptome und Belastungen . . . . . . . . . . . . . Differenzialdiagnose . . . . . . . . . . Interventionsrelevante Diagnostik unter multiaxialen Gesichtspunkten
. . 139
– – – –
Was zu tun ist: Interventionen . . . . 149
7 8
6.2.1
11 12 13 14
6.4 6.5 6.6 6.7
153 154 157 164 171 181 183 190 191 192 195 196
15
7
Der Blick voraus: Verlauf und Prognose . . . . . . . . . . 201
16
7.1
Die Symptomatik des Asperger-Syndroms bei Erwachsenen . 206 Prognosekriterien und Lebensbewährung (outcome) . . . . . . 209 Sind Menschen mit Asperger-Syndrom gefährlich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218
17
7.2 7.3
18 19 20
8
Was wir nicht wissen: Offene Fragen . 221
8.1
Offene Fragen zur Definition und Klassifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 Offene Fragen zur Ätiologie . . . . . . . . 224 Offene Fragen zur Diagnostik und Differenzialdiagnostik . . . . . . . . . . . 226
8.2 8.3
Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237
. . 143
Auswahl des Interventionssettings . . . Behandlungsprogramme und ihre Komponenten . . . . . . . . . . . . . . . . Krankheitsstadienbezogene Komponenten . . . . . . . . . . . . . . . . Psychoedukative Maßnahmen . . . . . . Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . Pharmakotherapie . . . . . . . . . . . . . Therapieprogramme . . . . . . . . . . . . Besonderheiten bei ambulanter Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besonderheiten bei teilstationärer und stationärer Behandlung . . . . . . . . . . Jugendhilfe und Rehabilitationsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . Entbehrliche Behandlungsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . Ethische Fragen . . . . . . . . . . . . . . .
10
Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
Marburger Beurteilungsskala zum Asperger-Syndrom (MBAS) . . . . . . . . . . 241
6.1 6.2
9
Offene Fragen zur Behandlung . . . . . 228 Welche Determinanten bestimmen den Verlauf? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230
. . 139 . . 140
6
6.2.2 6.2.3 6.2.4 6.2.5 6.3
8.4 8.5
Anleitung . . . . . . . Fragebogen . . . . . Auswertungsblatt. . Auswertungsfolien .
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242 244 250 251
Sachverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . 255
1 Ein Blick zurück: Zur Geschichte des Asperger-Syndroms 1.1
Historische Ansätze zur Einteilung von Psychopathien
1.2
Gemeinsame Radikale historischer Einteilungsversuche – 3
1.3
Verschiedene historische Interpretationen des Psychopathiebegriffes – 4
1.4
Von der Psychopathie zur tiefgreifenden Entwicklungsstörung – 6
1.4.1 1.4.2
Der Begriff der Schizoidie – Ernst Kretschmer (1921) – 6 Die schizoiden Psychopathien im Kindesalter – G.E. Ssucharewa (1926) – 7 »Die autistischen Psychopathen« im Kindesalter – H. Asperger (1944) – 9 Das Asperger-Syndrom als tiefgreifende Entwicklungsstörung
1.4.3 1.4.4
–2
– 11
2
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Kapitel 1 · Ein Blick zurück: Zur Geschichte des Asperger-Syndroms
Hans Asperger (1944) hat das später nach ihm benannte Syndrom »autistische Psychopathie« genannt. Seine erste Publikation über die Störung trägt den Titel »Die autistischen Psychopathen« im Kindesalter«. Damit hat er den Begriff der Psychopathie auf das Kindesalter angewandt. Die historische Betrachtung der Entwicklung des Psychopathiebegriffes (vgl. Aschoff 1968) zeigt, dass bereits in früheren Zeiten das Für und Wider dieser Bezeichnung heftig diskutiert wurde. Auch heute hat das Problem keineswegs an Aktualität verloren. Im Gegenteil zeigt die stets neue Beschäftigung mit dem Thema Psychopathie (in moderner Nomenklatur Persönlichkeitsstörung), dass hier ein fundamentales Problem der Psychopathologie wie des Menschseins überhaupt getroffen ist, nämlich die Frage nach dem Charakter und der Persönlichkeit. Derartige Fundamentalprobleme werden zu jeder Zeit erörtert und erfahren zu jeder Zeit auch epochal-typische Antworten. Bei einer Durchsicht der Literatur unter dem Aspekt der Wandlung des Psychopathiebegriffes und seiner Anwendung auf das Kindes- und Jugendalter haben wir nicht weniger als 24 verschiedene Einteilungsversuche mit insgesamt 50 Typen gefunden, von denen sich allerdings viele auf 10–15 Kerngruppen reduzieren ließen (Remschmidt 1978). Diese Vielfalt veranlasste uns seinerzeit, nach allgemeinen Maßstäben zu suchen, die geeignet sind, an jedes Einteilungs- oder Klassifikationsschema angelegt zu werden. Es sind dies folgende: 1. Der Persönlichkeitsbegriff bzw. das Persönlichkeitsmodell (z. B. Schichtmodell, dynamisches Modell, Strukturmodell, statistisches Modell), 2. Der Normbegriff (statistische Norm, ideale Norm), 3. Der Krankheitsbegriff (sogenanntes medizinisches Modell, Anerkennung psychischer Störungen als Krankheiten, Psychopathie als Normabweichung oder Krankheit etc.), 4. Die wissenschaftliche Betrachtungsweise (z. B. unter dem Aspekt der Entwicklung, unter dem Aspekt verschiedener Wissen-
schaften wie Psychopathologie, Sozialpsychologie, Psychoanalyse etc.) und 5. der Begriff oder das Konzept der Entwicklung. Auch diesbezüglich können verschiedene Entwicklungsmodelle zugrunde gelegt werden (z. B. Entwicklung als Stufenfolge, Entwicklung als Strukturierung und Differenzierung, Entwicklung als fortschreitende Sozialanpassung oder deren Fehlen etc.). Nach Maßgabe dieser fünf Kriterien unterscheiden sich die verschiedenen Theorien psychopathischer Persönlichkeiten. Wenn man sich bemüht, jedem »Psychopathie-Konzept« diese Kriterien in Form von Fragen zu stellen, so wird zugleich auch der implizit in jeder Theorie enthaltene theoretische oder weltanschauliche Hintergrund deutlich, der stets mit berücksichtigt werden muss.
1.1
Historische Ansätze zur Einteilung von Psychopathien
Überblickt man die historisch überlieferten Einteilungsgesichtspunkte der Psychopathien, so kann man systematische von unsystematischen Ansätzen unterscheiden. Erstere versuchen auch, auf der Grundlage vorgegebener Kategorien (meist Persönlichkeitseigenschaften) ein System von psychopathischen Typen abzuleiten. Die zugrunde liegenden Eigenschaften werden in der Regel unter übergeordneten Gesichtspunkten zusammengefasst und umfassen jeweils einander polar entgegengesetzte Eigenschaftspaare. Ein Beispiel für eine derartige systematische Typenlehre ist die von Gruhle (1922, 1940). Gruhle unterscheidet sieben Grundeigenschaften oder Bereiche, deren übermäßige oder unzureichende Ausprägung für verschiedene Typen psychopathischer Persönlichkeiten charakteristisch sein sollen. Diese sieben Bereiche sind: 1. Aktivität, 2. Grundstimmung,
3
1.2 Gemeinsame Radikale historischer Einteilungsversuche
3. 4. 5. 6. 7.
Affektansprechbarkeit, Willenssphäre, Eigenbeziehung, Umweltverarbeitung und Selbstgefühl.
Am zuletzt genannten Beispiel kann man einen Begriff dieses systematischen Ansatzes erfahren. Ein stark ausgeprägtes Selbstgefühl geht mit Selbstbewusstsein und Sicherheit einher, ein schwach ausgeprägtes mit Psychasthenie, ein unnatürlich gesteigertes ist für den hysterischen Charakter typisch. Weitere systematische Einteilungen stammen von Homburger (1926), Kahn (1928), Kretschmer (1955) und Ewald (1959). Unsystematische Ansätze gehen in der Regel davon aus, dass abnorme Persönlichkeiten durch ein starres Schema einander entgegengesetzter Eigenschaften nicht erfasst werden können und dass auf diese Weise artifizielle Typen zustande kommen, die in der Wirklichkeit kaum zu finden sind. Ein Beispiel für eine unsystematische Klassifikation ist das System von Kurt Schneider, der 10 Typen psychopathischer Persönlichkeiten unterscheidet. Typologien
Die meisten historischen Systeme zur Klassifikation der Psychopathien stützt sich auf Typologien. Typologische Ansätze dienen zunächst nur dazu, ein komplexes Problemfeld vorzustrukturieren. Sie können jedoch nicht als strenge wissenschaftliche Abgrenzungen angesehen werden. Denn sie gehen von einigen wenigen Eigenschaften aus, wählen diese als Schwerpunkt und verallgemeinern sie. Dadurch kommt es zu erheblichen Überschneidungen zwischen den verschiedenen Typen. Typologien gehen in der Regel von einer idealen Norm aus. In der Praxis sind jedoch die Mischtypen wesentlich häufiger als die sogenannten reinen Typen. Andererseits haben Typologien auch wiederum den Vorteil, dass sie bei Vorliegen einer gewissen Anzahl charakteristischer Merkmale den Schluss auf andere
1
Merkmale ermöglichen, die ebenfalls zum Typus gehören. Generell werden typologische Verfahren nur dort angewandt, wo das Merkmalsfeld noch zu komplex für exaktere Möglichkeiten der Erfassung ist. In dieser Auffassung sind sie vorläufige Schwerpunktbildungen mangels besserer Lösung. Dies gilt in besonderem Maße auch für das Problem der Persönlichkeitstypologien bzw. der Psychopathien.
1.2
Gemeinsame Radikale historischer Einteilungsversuche
Wenn man sich die Frage nach den Gemeinsamkeiten der verschiedenen Einteilungsversuche der Psychopathien stellt, so stößt man im Wesentlichen auf drei Gemeinsamkeiten, die van Krevelen (1970) in einer Arbeit zum gleichen Thema herausgestellt hat: 1. Qualitative Eigenschaften oder Ausdrucksmerkmale Es werden bestimmte qualitative Eigenschaften oder Ausdrucksmerkmale herausgestellt (z. B. Aktivität, Stimmung, Anpassungsfähigkeit usw.). 2. Der Gesichtspunkt der Reifung Der für das Kindes- und Jugendalter wichtige Gesichtspunkt der Reifung wurde schon von Kraepelin (1915) hervorgehoben, wenn er zwei verschiedene Formen der Psychopathien unterscheidet: Konstitutionelle Psychopathien und Psychopathien als Entwicklungshemmung. Letztere wurden von Oseretzky (1935) als psychologische Entwicklungen abgewandelt. 3. Der Gesichtspunkt der Regulation Damit ist gemeint, dass die qualitativen Merkmale im Falle einer normalen Entwicklung einer gewissen Regulation unterliegen müssen. Überregulation und Unterregulation führt zu Normabweichungen und damit zur Psycho-
4
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Kapitel 1 · Ein Blick zurück: Zur Geschichte des Asperger-Syndroms
pathie. Der Begriff der Regulation lässt jedoch offen, aus welchen Gründen eine Fehlregulation eintritt (z. B. durch eine entsprechende Anlage, durch früh erworbene organische Schädigungen oder durch Umwelteinflüsse). Van Krevelen (1970) hat versucht, unter diesen drei Gesichtspunkten verschiedene Typen von Psychopathien im Kindes- und Jugendalter voneinander abzugrenzen. Die erste Gruppe nennt er Psychopathien qualitativen Ausdrucks. »Es handelt sich um Individuen, die von der frühen Kindheit an Zeichen dieses oder jenen Defektes zeigen, d. h. dass der Defekt ein Defizit oder einen Überschuss bedeutet, eine örtliche Vertiefung oder eine lokale Schwellung der Persönlichkeit«. Hierzu rechnet er auch die autistische Psychopathie. Bei der zweiten Gruppe, den reifungsgestörten Psychopathen, tritt in der Regel ein Auseinanderklaffen von Intellekt und Willensanlagen zutage. Die Unreife lässt sich auch im Habitus, in den Gebärden und in der Motorik erkennen. Man muss sich fragen, ob bei dieser Gruppe von Psychopathen nicht auch organische Schädigungen beteiligt sein können. Bei der dritten Gruppe, bei der die regulierenden Kräfte fehlen oder insuffizient sind, stehen Unruhe, Labilität und Mangel an Beherrschung im Vordergrund.
1.3
Verschiedene historische Interpretationen des Psychopathiebegriffes
Die Vielzahl historischer Einteilungen der Psychopathien und der Interpretation des Psychopathiebegriffes kann hier nicht referiert werden. Es wird lediglich auf vier Systeme eingegangen, die von besonderer Bedeutung für das Kindesund Jugendalter sind. Diese sind in . Tab. 1.1 zusammengefasst. Das System von J.L.A. Koch, der den Begriff der Psychopathie geprägt und systematisch angewandt hat, unterscheidet drei Formen der »ange-
borenen, andauernden psychopathischen Minderwertigkeiten« und war Ausgangspunkt für viele Weiterentwicklungen. Emil Kraepelin (81915) betrachtet die psychopathischen Persönlichkeiten entweder als Vorstufen von Psychosen oder als umschriebene Entwicklungshemmungen. Damit wurde erstmalig der Entwicklungsbegriff in die Betrachtung psychopathischer Persönlichkeiten einbezogen. Das System von Kraepelin wurde durch Oseretzky (1935) weiterentwickelt, der insbesondere die Besonderheiten des Kindesalters berücksichtigt hat. Er zählt zu den von ihm so genannten »konstitutionellen Psychopathien« die schizoiden, zykloiden und die epileptoiden. Mit dem Begriff der Schizoiden ist die Brücke zu den späteren Arbeiten von Ssucharewa (1926) und Hans Asperger (1944) geschlagen. Unter den pathologischen Entwicklungen fasst Oseretzky folgende Persönlichkeitsstörungen zusammen: 5 hysteroide, 5 dystonische (passive und aktive), 5 expressive und 5 reaktiv-labile. Oseretzky vertrat bereits die Meinung, dass die konstitutionellen Psychopathien und die pathologischen Entwicklungen gänzlich verschieden seien und dass man bei jüngeren Kindern (auf jeden Fall im vorschulpflichtigen Alter) auf die Diagnose »konstitutionelle Psychopathie« überhaupt verzichten sollte. Er wies bereits darauf hin, dass auch bei der Diagnose der pathologischen Entwicklungen Vorsicht am Platze ist, vor allem, wenn sie bei verwahrlosten und obdachlosen Jugendlichen gestellt werden. Das System Oseretzkys stellt eine Weiterentwicklung der Position Kraepelins unter dem Aspekt der Entwicklung dar. Seine Gedanken sind zum Teil so modern, dass sie auch heute noch diskussionswürdig sind. Wie aus . Tab. 1.1 hervorgeht, unterscheidet August Homburger (1926) vier Gruppen von Persönlichkeitsanlagen und entsprechende »Abarten«. Homburger verwendet einen relativ starren
1.3 Verschiedene historische Interpretationen des Psychopathiebegriffes
5
1
. Tab. 1.1. Verschiedene historische Interpretationen des Psychopathiebegriffes bezogen auf das Kindes- und Jugendalter Autor
Einteilung/Interpretation
J.L.A. Koch (1888, 1891–1893)
Die »angegeborenen, andauernden psychopathischen Minderwertigkeiten« werden in 3 Formen eingeteilt: 5 Angeborene psychopathische Dispositionen (z. B. asthenische Psychopathie) 5 Angeborene psychische Belastung (z. B. Sonderlinge) 5 Psychopathische Degeneration (z. B. intellektuelle oder moralische Schwächezustände)
E. Kraepelin (81915) und Oseretzky (1935)
5 Psychopathische Persönlichkeiten als Vorstufen von Psychosen (konstitutionelle Psychopathien nach Oseretzky) 5 Psychopathien als »umschriebene Entwicklungshemmungen« (pathologische Entwicklungen nach Oseretzky)
A. Homburger (1926)
5 Abarten der einfachen formalen Persönlichkeitsanlagen: z. B. Hyperthymische, Depressive, Impulsive 5 Abarten der einfachen Ich-Umwelt-Beziehungen: z. B. Phantasten, Willensschwache, Haltlose 5 Abarten der komplexeren Ich-Umwelt-Beziehungen: z. B. Asthenische, ReizbarSchwache, Sensitive 5 Asoziale Sonderformen
M. Tramer (1931, 1949)
5 Auffälligkeiten der Stimmungsdisposition: (1) Hyperthymische (2) Depressive (3) Stimmungslabile (4) Triebmenschen 5 Auffälligkeiten der Affektdispositionen: (5) Hypothymische (6) Explosible (7) Misstrauisch-paranoide und gereizte Psychopathen 5 Auffälligkeiten der Willensdisposition: (8) Willensschwache und willenlose Psychopathen 5 Auffälligkeiten der Ich-Disposition: (9) Psychopathische Fanatiker (10) Passive psychopathische Fanatiker (11) Geltungsbedürftige (12) inzerte oder infirme Psychopathen (unsichere, mit Insuffizienzgefühlen beladene Menschen)
Persönlichkeits- und Normbegriff und der Entwicklungsaspekt steht nicht, wie bei Oseretzky, im Vordergrund. Schließlich hat Moritz Tramer (1949), der das erste allgemeine Lehrbuch der Kinder- und Jugendpsychiatrie verfasst hat, eine systematische Typologie der Persönlichkeitsstörungen entwickelt, wobei er vom Begriff der Disposition im Sinne von William Stern (1934, 1950) ausgeht. Er unterscheidet dabei die in . Tab. 1.1 angeführten vier Dispositionen, denen er entsprechende Auffälligkeiten zuordnet.
Fazit
In der Zusammenfassung des historischen Überblicks lassen sich folgende Aussagen treffen: 1. Die meisten Autoren gehen von statistischen Persönlichkeitskonzepten (Schichtenmodell, Strukturmodell) aus, dynamische Aspekte werden erst später, vor allem unter dem Einfluss der Psychoanalyse (Aichhorn 1925), sichtbar. 2. Der Normbegriff wird in der Regel im Sinne der statistischen Norm angewandt (z. B. bei Kurt Schneider), mitunter aber im Sinne
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Kapitel 1 · Ein Blick zurück: Zur Geschichte des Asperger-Syndroms
einer Idealtypologie (z. B. bei Ernst Kretschmer). Die Frage, ob Psychopathien Krankheiten sind, wird unterschiedlich beantwortet. Während Kraepelin ihnen Krankheitswert zuerkennt, lehnt Kurt Schneider dies ab. Neuerdings versucht man beide Aspekte zu vereinigen, indem man besondere Formen der Persönlichkeitsstörungen als »Persönlichkeitsstörungen mit Krankheitswert« bezeichnet. Der Entwicklungsaspekt taucht früh auf (schon bei Kraepelin). Er wird durch Oseretzky weiterentwickelt, von Homburger und Tramer aufgegriffen, ebenso von Aichhorn aus psychoanalytischer Sicht. Der Anlagebegriff, der zunächst für die Lehre von den Psychopathien konstitutiv war, wurde im Laufe der geschichtlichen Entwicklung zunehmend erweitert. Er tritt in den beiden letzten Jahrzehnten zunehmend mehr in den Hintergrund, da sich gezeigt hat, dass eine Abgrenzung von Anlage und Umwelteinflüssen nicht möglich ist. Die heutige Tendenz geht – unter dem Einfluss der angelsächsischen Auffassung – vorwiegend in Richtung einer Beschreibung des äußeren Verhaltens, dem eine Kombination verschiedener psychischer Eigenschaften zugrunde liegt. In positiver Umschreibung (schon bei van Krevelen 1970) ist Persönlichkeit eine in der Anlage gegebene Extremvariante, welche unter Umständen normwidriges Verhalten mit sich bringt. In negativer Umschreibung (Stutte 1961) läßt sich Psychopathie als Normvariante definieren, die nicht als Psychose, nicht als Schwachsinn aufgefasst werden kann und weder durch Organogenese noch ein Psychotrauma erklärbar ist.
Eine Abgrenzung der Psychopathien von Psychosen ist allgemein akzeptiert, ihre Abgrenzung von neurotischen Störungen ist je nach Auffassung strittig. Diejenigen, die den Begriff der Psychopathie ablehnen, zählen die schweren Per-
sönlichkeitsstörungen zu den Neurosen (Kernneurosen).
1.4
Von der Psychopathie zur tiefgreifenden Entwicklungsstörung
Für die Beschreibung des Asperger-Syndroms waren zwei Begriffe maßgeblich, die Hans Asperger auch in seiner Erstbeschreibung verwendete, der Begriff der Psychopathie, von dem bis jetzt die Rede war, und der Begriff der Schizoidie, auf den wir im Folgenden eingehen und der durch den Psychiater Ernst Kretschmer in die Literatur eingeführt wurde. Bereits 1908 hatte allerdings Eugen Bleuler die Bezeichnung »schizoid« zur Beschreibung von Menschen verwendet, deren charakteristisches Verhalten durch Insichgekehrtsein, Rückzug und Sensitivität gekennzeichnet war.
1.4.1 Der Begriff der Schizoidie –
Ernst Kretschmer (1921) In seinem Epoche machenden Werk »Körperbau und Charakter« (1921) prägte Ernst Kretschmer u. a. den Begriff des schizoiden Temperamentes, der eine rege Diskussion auslöste. Kretschmer wurde nicht zuletzt auch deshalb heftig angegriffen, weil er in seinen Arbeiten fließende Übergänge zwischen schizoiden Persönlichkeitsmerkmalen zur Schizophrenie postulierte und einen schizophrenen Prozess als eine Art Zuspitzung bestimmter konstitutioneller Temperamentseigenarten ansah. In späteren Arbeiten hat Kretschmer diesen Standpunkt revidiert. So hat er bereits in seiner Schrift »Das Konstitutionsproblem in der Psychiatrie« (1922) darauf hingewiesen, dass die Schizophrenie sich nicht aus einem Schizoid durch eine Kumulation schizoider Eigentümlichkeiten entwickelt, sondern dass im Falle des Überganges vom Schizoid in eine Schizophrenie ein Erbfaktor hinzukommen müsse. Die von Kretschmer postulierte schizoide
1.4 Von der Psychopathie zur tiefgreifenden Entwicklungsstörung
Psychopathie wurde jedoch zunehmend akzeptiert. Kretschmer selbst erklärte die symptomatische Ähnlichkeit zwischen bestimmten Merkmalen der schizoiden Psychopathie und der Schizophrenien dadurch, dass er gemeinsame Lokalisation in bestimmten Hirnsystemen annahm. Später stellte Kleist (1930) einen Zusammenhang zwischen den Denkstörungen schizophrener Patienten und einer Dysfunktion des Frontalhirns heraus und verglich diese mit den »frontalen Denkstörungen« Hirnverletzter, wobei er allerdings vermerkte, dass, im Gegensatz zu den Hirnverletzten, bei den Schizophrenen »in erster Linie die höheren Sprachgebiete und die verwickelteren Begriffsstrukturen geschädigt sind« (S. 854).
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insbesondere den psychotischen Erkrankungen sowie den Psychopathien. Im Gefolge der Arbeiten von Ernst Kretschmer beschrieb G.E. Ssucharewa (1926) 6 Kinder im Alter von 10½–12 Jahren, deren Persönlichkeitszüge sie unter dem Begriff der schizoiden Psychopathie zusammenfasste. Ungeachtet der Verschiedenheit des klinischen Bildes stellte sie die in nachfolgender Übersicht angefügten Gemeinsamkeiten heraus, die viele, wenn nicht alle Merkmale umfassen, welche für das Asperger-Syndrom typisch sind. Darauf hat Sula Wolff (1995), der wir eine bemerkenswerte Untersuchung über schizoide Kinder und ihren Lebensweg verdanken, hingewiesen. Sie hat auch die Studie von Ssucharewa ins Englische übersetzt und damit international bekannt gemacht (Ssucharewa u. Wolff 1996).
1.4.2 Die schizoiden Psychopathien
im Kindesalter – G.E. Ssucharewa (1926) Grunja Efimovna Ssucharewa (1891–1981) war im Zeitraum von 1917–1921 an der psychiatrischen Universitätsklinik in Kiew tätig. Von 1921 bis 1933 betätigte sie sich als Organisatorin psychiatrischer Einrichtungen in Moskau, um 1933 eine Professur am Lehrstuhl für Psychiatrie in Charkov zu übernehmen. 1938 wurde sie Leiterin der Klinik für Kinderpsychiatrie am Institut für Psychiatrie des Gesundheitsministeriums in Moskau und gleichzeitig Professorin am zentralen Institut für ärztliche Weiterbildung daselbst. Sie gehört zu den Begründern der Kinder- und Jugendpsychiatrie in der UdSSR und hat sich sowohl um die kinder- und jugendpsychiatrische Forschung als auch um die Versorgung sowie die Aus- und Weiterbildung sehr verdient gemacht. Hierzu hat auch ihr mehrfach aufgelegtes Buch »Klinische Vorlesungen für Kinder- und Jugendpsychiatrie« maßgeblich beigetragen. Ihr wissenschaftliches Interesse galt der Klassifikation psychischer Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter und
»Die schizoiden Psychopathien im Kindesalter« (Ssucharewa 1926)a I Ein eigenartiger Typus des Denkens 5 »Neigung zu Abstraktem und Schematischem (das Einführen des Konkreten erhöht nicht Denkprozesse, sondern erschwert sie)« 5 »Diese Besonderheit dieser Denkprozesse kombiniert sich oft mit einer Neigung zum Räsonieren und absurdem Grübeln«. II Autistische Einstellung »Alle Kinder dieser Gruppe halten sich abseits in dem Kindermilieu, passen sich nur schwer an dieses Milieu an und gehen in ihm niemals vollständig auf«. Sie werden oft zum Gespött der anderen Kinder. Zwei der fünf Fälle erhielten von den anderen Kindern den Spitznamen »Sprechmaschine«. a
Die in Anführungszeichen gesetzten Passagen sind wörtlich übernommen.
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Kapitel 1 · Ein Blick zurück: Zur Geschichte des Asperger-Syndroms
III Auffälligkeiten auf dem Gebiet der Thymopsyche »Abgeflachtheit und Oberflächlichkeit der Gefühle« (psychästhetische Proportion der Stimmung nach Kretschmer) IV Weitere Besonderheiten 5 »Die Neigung zum Automatismus, welche sich in dem Haften bei der angefangenen Arbeit, in der Steifheit der Psychose, die sich schwer an das Neue anpasst, äußert«. 5 »Die impulsiven absurden Handlungen«, 5 »das läppische Benehmen, die Neigung zum Reimen, zu stereotypen Wortneubildungen«. 5 Die »Neigung zu Zwangszuständen« und 5 »die erhöhe Suggestibilität«. V Ausgesprochene motorische Unzulänglichkeit »Ungeschicklichkeit, Plumpheit, Eckigkeit der Bewegungen, viele überflüssige Bewegungen, Synkinesien. Unzulänglichkeit der Mimik und der Ausdrucksbewegungen (Manieriertheit, schlaffe Haltung), sprachliche Eigentümlichkeiten, ungenügend modulierte Sprache«. VI Körperbau »Alle unsere Schizoiden sind dem Körperbau nach Astheniker«. Es erfolgt allerdings ein relativierender Hinweis hierzu mit Bezug auf das Vorpubertäts- und Pubertätsalter.
Beschrieben werden nicht nur die Eigenarten des Denkens und die autistische Einstellung, die soziale Ablehnung durch andere Kinder, die Besonderheiten der Gefühls- und Stimmungslage, sondern ebenso die Rigidität, die Neigung zu
zwanghaftem Verhalten und die ausgesprochene motorische Ungeschicklichkeit vereint mit einer »Unzulänglichkeit der Mimik und der Ausdrucksbewegungen ..., sprachlichen Eigentümlichkeiten« und einer »ungenügend modulierten Sprache« (Ssucharewa 1926, S. 256). Ssucharewa wies auch daraufhin, dass alle Kinder im Sinne von Kretschmer dem Körperbau nach Astheniker seien, wenngleich sie diesem Befund deshalb keine große Bedeutung beimisst, weil die Kinder sich im Vorpubertäts- und Pubertätsalter befanden, in dem »asthenisch dysplastische Typen prävalieren« (S. 256). Im Hinblick auf die Motorik führt sie aus: »Die Bewegungen sind ungeschickt, eckig, die Kinder lassen während dieser Zeit alles fallen und kippen alles um, stolpern oft usw.« (S. 258). Die Autorin grenzt die von ihr beschriebenen schizoiden Psychopathen klar von schizophrenen Erkrankungen ab, indem sie darauf hinweist, dass jegliche Progredienzmerkmale fehlen, dass die schizoiden Symptome stets ihren Anfang in der frühen Kindheit nahmen, dass im Verlauf keinerlei intellektuelle Einbußen zu beobachten waren und dass alle beobachteten Fälle während der Behandlung Fortschritte machten. Abschließend stellt Ssucharewa fest: »Die von uns beobachteten Fälle zwingen uns zu der Schlussfolgerung, dass eine Psychopathiengruppe existiert, deren klinisches Bild gewisse gemeinsame Züge mit der Schizophrenie aufweist, welche sich jedoch ihrer Pathogenese nach wesentlich von der Schizophrenie unterscheiden. Die Frage nach dem biologisch-pathogenetischen Substrat dieser Formen geht gegenwärtig nicht über einige Hypothesen hinaus. Den klinischen Tatsachen wird aber am meisten diejenige Vermutung gerecht, welche annimmt, dass die schizoiden Psychopathien auf dem Boden einer angeborenen Unzulänglichkeit derjenigen Systeme entstehen, welche auch bei der Schizophrenie (hier aber unter dem Einfluss anderer Faktoren) affiziert werden« (S. 260/261).
1.4 Von der Psychopathie zur tiefgreifenden Entwicklungsstörung
1.4.3 »Die autistischen Psychopathen«
im Kindesalter – H. Asperger (1944) Hans Asperger, der Erstbeschreiber der »autistischen Psychopathie« wurde am 18.2.1906 in Hausbrunn bei Wien geboren, wuchs in Wien auf, studierte auch dort, promovierte 1931 und trat anschließend als Assistent in die Wiener Universitäts-Kinderklinik ein. Dort übernahm er 1932 die heilpädagogische Abteilung der Kinderklinik, wurde 1957 nach Innsbruck als Vorstand der dortigen Universitäts-Kinderklinik berufen und übernahm 1962 den Lehrstuhl für Pädiatrie und die Leitung der Universitäts-Kinderklinik in Wien. 1944 beschrieb er unter dem Titel: »Die ›autistischen Psychopathen‹ im Kindesalter«, das später nach ihm benannte Syndrom. Hans Asperger gilt als einer der Pioniere der europäischen Kinder- und Jugendpsychiatrie. In seinem Lehrbuch »Heilpädagogik« stellte er die von der Kinderklinik ausgehende Sichtweise seelischer Erkrankungen im Kindesalter plastisch und eindrucksvoll dar. Hans Asperger starb am 21. Oktober 1980 im 75. Lebensjahr in Wien. Hans Asperger beschrieb 1944 vier Jungen im Alter von 6–8½ Jahren, die durch erhebliche Kontaktprobleme und Kommunikationsschwierigkeiten gekennzeichnet waren, eine eingeengte Beziehung zu ihrer Umwelt aufwiesen, Schwierigkeiten mit der sozialen Einordnung hatten und eine Reihe von Auffälligkeiten im Trieb und Gefühlsleben, in ihren sprachlichen Äußerungen und ihrer Motorik (ausgesprochene Ungeschicklichkeit) aufwiesen. Asperger geht zunächst auf typologische Ansätze ein, er setzt sich mit der Beschreibung kindlicher Charaktere und ihrer Abartigkeiten von Schröder (1931) auseinander und führt dann unter Hinweis auf Ludwig Klages (1936) aus: »Der Weg geht von der Intuition aus, von dem Versuch, das Aufbauprinzip der Persönlichkeit zu erfassen; wir suchen, die Züge aufzuzeichnen, von denen aus die zu beurteilende Persönlichkeit durch organisiert ist« (S. 82).
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Er weist darauf hin, dass die von ihm gewählte Beschreibung von den Ausdruckserscheinungen ausgehe und dass er bewusst darauf verzichte, ein von vornherein gegebenes System anzuwenden. In der zusammenfassenden Darstellung der Gemeinsamkeiten und des Typischen der vier Fälle beschreibt Asperger unter sechs Gesichtspunkten die Charakteristika der »autistischen Psychopathen«. Er geht dabei von den körperlichen Ausdruckserscheinungen aus, beschreibt dann die autistische Intelligenz, das Verhalten in der Gemeinschaft, das Trieb- und Gefühlsleben, Erbbiologisches und die soziale Wertigkeit sowie den Verlauf. Die sechs Kategorien unter denen Asperger die Symptomatik der Störung subsumiert sind in . Tab. 1.2 angeführt, wobei die zugehörigen Beschreibungen weitgehend aus dem Originaltext übernommen wurden. Typische Merkmale von Kindern mit autistischer Psychopathie Aus der Tabelle ergibt sich zusammenfassend folgendes Bild: Kinder mit autistischer Psychopathie haben sehr früh auffallende Kontakt- und Kommunikationsstörungen. In ihrer Motorik sind sie ungeschickt. Was die kognitiven Funktionen betrifft, so leiden sie an einer besonderen Art der Aufmerksamkeitsstörung, als seien sie von innen her abgelenkt. Zur Sprache haben sie vielfach ein besonders schöpferisches Verhältnis, was sich auch im unbekümmerten Erfinden neuer Wörter zeigt, die oft sehr zutreffend sind. Sehr auffällig ist auch ihr Verhalten in der Gemeinschaft. Auch im Gefühls- und Triebleben zeigen sie ein ausgesprochen egozentrisches Verhalten ohne Rücksicht auf andere. Der Verlauf der Störung hängt weitgehend von ihren intellektuellen Möglichkeiten ab und ist nicht ungünstig, wenn diese gut ausgeprägt sind. Im Hinblick auf die Ätiologie ist Asperger der Meinung, dass die Störung konstitutionell verankert und daher vererbbar ist. Am Ende seiner Epoche machenden Arbeit setzt sich Asperger nur sehr spärlich mit der Literatur auseinander. Er führt aus, dass die von ihm
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Kapitel 1 · Ein Blick zurück: Zur Geschichte des Asperger-Syndroms
1
. Tab. 1.2. Auszüge aus der Erstbeschreibung der autistischen Psychopathie (heute Asperger-Syndrom genannt) durch Hans Asperger (1944). Die kursiv gesetzten Textstellen sind aus dem Originaltext wörtlich übernommen
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»Körperliches und Ausdruckserscheinungen« Blickkontakt
»Man kann nie recht sagen, geht der Blick in eine weite Ferne oder nach innen« (S. 113) Das Kind schaut »auch den Sprechenden meist gar nicht an, sein Blick geht an ihm vorbei, streift ihn höchstens hie und da beiläufig« (S. 113)
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Mimik und Gestik
Autistische Kinder sind arm an Mimik und Gestik. Sie brauchen »ihre Mimik als kontaktschaffende Ausdruckserscheinung nicht« (S. 113)
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Sprache
»Die Sprache wirkt auch auf den naiven Zuhörer unnatürlich, wie eine Karikatur, zu Spott herausfordernd ... sie richtet sich nicht an einen Angesprochenen, sondern ist gleichsam in den leeren Raum hineingeredet« (S. 114)
Motorik
»Ungeschicklichkeit«
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»Autistische Intelligenz« »Störung der aktiven Aufmerksamkeit« (S. 119). Die Kinder werden »von innen her abgelenkt« (S. 119)
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»Diese Kinder können vor allem spontan produzieren, können nur originell sein, aber nur in herabgesetztem Maße lernen« (S. 114). Ihr Versagen wird erst offensichtlich, »wenn man an sie Lernanforderungen stellt« (S. 120)
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»Besonders schöpferisches Verhältnis zur Sprache« (S. 115); sie bilden »unbekümmert neue Wörter, die meist sehr treffend sind« (S. 115) »Kompensatorische Hypertrophie besonderer Fähigkeiten, als Ausgleich für beträchtliche Defekte« (S. 133)
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»Verhalten in der Gemeinschaft« Die Grundstörung ist »eine Einengung der Beziehungen zur Umwelt« (S. 120). Sie zeigen auch in der Familie »autistische Bosheitsakte« und »negativistische Reaktionen« (S. 121). Sie folgen »ihren eigenen Impulsen, gehen ihren eigenen Interessen nach, unbekümmert um die Anforderungen der Umwelt« (S. 122)
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»Trieb- und Gefühlsleben«
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Sehr unterschiedliches Sexualverhalten (von Desinteresse an Sexualität bis zu exzessiver Masturbation) (S. 124). Neigung zu »sadistischen Zügen« (S. 124). Ausgesprochen egozentrisches Verhalten »ohne Rücksicht auf Gebot oder Verbot von außen« (S. 125). Kein Gefühl für »persönliche Distanz« (S. 125). Humorlosigkeit, sie verstehen keinen Spaß. »Differenzierte Zu- und Abneigungen auf dem Gebiete des Geschmackssinnes« (S. 124). Häufig Sammelleidenschaft und Spezialinteresse.
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»Erbbiologisches« »Längst ist die Frage entschieden, dass auch psychopathische Zustände konstitutionell verankert und darum vererbbar sind« (S. 128) »Soziale Wertigkeit« und Verlauf Unzulängliche »soziale Einordnung«, wenn eine »ausgesprochene intellektuelle Minderwertigkeit« vorliegt (S. 132) »Anders aber ist es mit den intellektuell intakten, besonders natürlich mit den überdurchschnittlich gescheiten Autistischen Psychopathen« (S. 132)
1.4 Von der Psychopathie zur tiefgreifenden Entwicklungsstörung
beschriebenen Fälle gewisse Ähnlichkeiten mit den Schizothymen Kretschmers aufweisen sowie mit gewissen Formen »der Desintegrierten« von E. Jaensch (1929, 1938) und vor allem mit dem »introvertierten Denktypus« von Jung (1921). Vor allem der Begriff der Introversion scheint Hans Asperger auch für die von ihm beschriebenen Fälle zuzutreffen, denn die Introversion sei ja letztlich nichts anderes als eine Einengung auf das eigene Selbst (Autismus) bzw. eine Einschränkung der Beziehungen zur Umwelt. Eine Auseinandersetzung mit den genannten Autoren hielt Asperger deshalb nicht für fruchtbar, weil keiner von ihnen sage »wie sich die von ihm geschilderten Charaktere im Kindesalter verhalten« (S. 136). Dadurch fehle weitgehend das Vergleichbare und die Schilderungen lägen auf einer anderen Ebene als in seiner Darstellung. Die Auseinandersetzung mit Literatur werde zweifellos fruchtbarer, wenn man wisse, was aus den von ihm beschriebenen Kindern werde, wenn sie erwachsen sind. Interessant ist, dass Asperger auf die Arbeit von Ssucharewa (1926) nicht Bezug nimmt, obwohl die von dieser Autorin beschriebenen schizoiden Psychopathen auch Jungen waren, etwas älter als die von Asperger beschriebenen Fälle, und viele Gemeinsamkeiten aufweisen. Es ist unklar, ob Asperger diese Arbeit gekannt hat. Die von Asperger beschriebenen »autistischen Psychopathen« waren lange Zeit nur im deutschen Sprachraum bekannt, obwohl van Krevelen 1963 und 1971 Arbeiten in englischer Sprache zur Problematik des Zusammenhanges bzw. der Abgrenzung zwischen frühkindlichem Autismus (Kanner-Syndrom) und autistischer Psychopathie veröffentlichte. Erst durch die 1981 erschienene Arbeit von Lorna Wing über das Asperger-Syndrom anhand von 34 Fällen wurde die Störung im angelsächsischen Sprachraum bekannt, obwohl es bereits vorher englischsprachige Veröffentlichungen, sogar mit der Bezeichnung Asperger-Syndrom, gab (Bosch 1970). Die Störung wurde 1992 in die ICD-10 aufgenommen und 1994 in das DSM-IV der American Psychiatric Association (. Tab. 1.3).
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In . Tab. 1.3 ist auch eine Störung wiedergegeben, die ganz offensichtlich zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen zu rechnen ist, die aber noch nicht Eingang in die derzeit gebräuchlichen Klassifikationssysteme gefunden hat: die von Cohen et al. (1986) beschriebene »multiplex complex developmental disorder«. Diese Störung umfasst Kinder, deren Auffälligkeiten später beginnen (oder auch erst später diagnostizierbar werden) als bei solchen mit High-functioning-Autismus (HFA) und die auch weniger beeinträchtigt sind im Hinblick auf Stereotypien und fehlendes Einfühlungsvermögen. Sie sind nach Buitelaar und van der Gaag (1998) durch drei Merkmalskomplexe gekennzeichnet: 1. Beeinträchtigung der Affektregulation und Angstzustände, 2. Einschränkungen im Hinblick auf das Kommunikations- und Sozialverhalten und 3. Vorhandensein von Denkstörungen (Gaag et al. 2005). Das zuletzt genannte Merkmal rückt sie in die Nähe von schizophrenen Erkrankungen.
1.4.4 Das Asperger-Syndrom
als tiefgreifende Entwicklungsstörung Schon die Erstbeschreiber autistischer Störungen (Leo Kanner und Hans Asperger) haben erkannt, dass die Störungen als angeboren bzw. als in allerfrühester Kindheit entstanden angesehen werden müssen. Heute rechnet man das Asperger-Syndrom wie auch eine Reihe von anderen Störungen aus dem »autistischen Spektrum« zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen, die in der ICD-10 wie folgt definiert sind: »Eine Gruppe von Störungen, die durch qualitative Beeinträchtigungen in gegenseitigen Interaktionen und Kommunikationsmuster sowie durch ein eingeschränktes, stereotypes, sich wiederholendes Repertoire von Inter-
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Kapitel 1 · Ein Blick zurück: Zur Geschichte des Asperger-Syndroms
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. Tab. 1.3. Asperger-Syndrom und High-functioning-Autismus
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Jahr
Autor
Beschreibungen aus den entsprechenden Publikationen
1926
Ssucharewa GE
»Die schizoiden Psychopathen im Kindesalter« (6 Jungen)
1943
Kanner L
»Autistic disturbances of affective contact« (11 Kinder)
1944
Asperger H
»Die autistischen Psychopathen im Kindesalter« (4 Kinder)
1963
Krevelen DA van
»Early infantile autism and autistic psychopathy«
1971
Krevelen DA van
»Early infantile autism and autistic psychopathy«
1981
Wing L
»Asperger’s syndrome: A clinical account« (34 Fälle)
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Triade: 5 Soziale Einschränkungen 5 Kommunikative Einschränkungen 5 Imaginative Aktivitäten
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1986
Cohen DJ et al.
Gestörte Affektregulation
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»Multiplex Complex Developmental Disorders (MCDD)«
Beeinträchtigtes Sozialverhalten Denkstörungen 1992
ICD-10 (WHO)
Aufnahme des AS in das Klassifikationssystem
1994
DSM-IV (APA)
Aufnahme des AS in das Klassifikationssystem
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essen und Aktivitäten charakterisiert sind. Diese qualitativen Abweichungen sind in allen Situationen ein grundlegendes Funktionsmerkmal der betroffenen Person, variieren jedoch im Ausprägungsgrad. In den meisten Fällen besteht von der frühesten Kindheit an eine auffällige Entwicklung. Mit nur wenigen Ausnahmen sind die Störungen seit den ersten fünf Lebensjahren manifest. Meist besteht eine gewisse allgemeine kognitive Beeinträchtigung, die Störungen sind jedoch durch das Verhalten definiert, das nicht dem Intelligenzniveau des Individuums entspricht, sei dieses nun altersentsprechend oder nicht« (ICD-10, S. 265). In der ICD-10 wird ferner auf folgende Sachverhalte hingewiesen: 5 In einigen Fällen können die Störungen mit bestimmten körperlichen Krankheitsbildern
einhergehen und sind diesen möglicherwei-
se zuzuschreiben (z. B. frühkindliche Zerebralparese, Schädigung durch Rötelninfektion der Mutter in der Schwangerschaft, tuberöse Sklerose, Störungen des Fettstoffwechsels mit Gehirnbeteiligung und fragiles XSyndrom). 5 Die Störungen werden jedoch prinzipiell aufgrund des Verhaltens diagnostiziert, unabhängig vom Vorhandensein oder Fehlen einer begleitenden körperlichen Erkrankung. 5 Die Intelligenzminderung ist häufig, kommt aber nicht bei allen tiefgreifenden Entwicklungsstörungen vor. Im zweiten, häufig benutzten Klassifikationssystem der amerikanischen Psychiatriegesellschaft, dem DSM-IV, werden tiefgreifende Entwick-
1.4 Von der Psychopathie zur tiefgreifenden Entwicklungsstörung
lungsstörungen ganz ähnlich definiert. Es heißt dort: 5 »Charakteristisch für tiefgreifende Entwicklungsstörungen ist eine schwere und tiefgreifende Beeinträchtigung mehrerer Entwicklungsbereiche wie z. B. der sozialen Interaktion und der Kommunikation oder das Auftreten stereotyper Verhaltensweisen, Interessen und Aktivitäten. Die qualitativen Beeinträchtigungen sind bei diesen Störungen durch deutliche Abweichungen von der Entwicklungsstufe und vom Intelligenzalter einer Person gekennzeichnet« (DSMIV, deutsche Ausgabe, S. 102).
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5 In der Beschreibung nach DSM-IV wird ferner darauf hingewiesen, dass diese Störungen früher unter dem Begriff »Psychose« oder »Schizophrenien der Kindheit« beschrieben wurden. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass sich tiefgreifende Entwicklungsstörungen von Psychosen und schizophrenen Erkrankungen deutlich unterscheiden, wobei sich bei einigen tiefgreifenden Entwicklungsstörungen (z. B. beim Asperger-Syndrom) später eine schizophrene Erkrankung entwickeln kann. Für den frühkindlichen Autismus gilt dies nicht.
. Tab. 1.4. Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Persönlichkeitsstörungen und tiefgreifenden Entwicklungsstörungen Persönlichkeitsstörungen
Tiefgreifende Entwicklungsstörungen
Definition
»Tief verwurzelte, anhaltende Verhaltensmuster, die sich in starken Reaktionen auf unterschiedliche persönliche u. soziale Lebenslagen zeigen« (ICD-10, 2. Aufl., S. 225)
Charakterisiert durch »qualitative Beeinträchtigungen in gegenseitigen sozialen Interaktionen und Kommunikationsmustern sowie durch ein eingeschränktes, stereotypes, sich wiederholendes Repertoire von Interessen und Aktivitäten« (ICD-10, 2. Aufl., S. 281)
Beginn
Erste Anzeichen oft in der Kindheit, volle Manifestation erst im Jugend- u. frühen Erwachsenenalter
Immer im frühen Kindesalter
Symptomatik
Mehrere Persönlichkeitsbereiche sind betroffen. Deutliche quantitative Abweichungen gegenüber der Bevölkerungsmehrheit im Wahrnehmen, Denken, Fühlen und in den Beziehungen zu anderen
(1) Qualitative Auffälligkeiten in den gegenseitigen sozialen Interaktionen (2) Begrenzte, repetitive u. stereotype Verhaltensmuster, Interessen u. Aktivitäten (3) Qualitative Auffälligkeiten der Kommunikation (z. B. bei Autismus) u. häufig kognitive Beeinträchtigungen
Ätiologie
Vermutlich überwiegend konstitutionellgenetisch, jedoch auch durch Umweltfaktoren beeinflusst
Überwiegend genetisch, beim Autismus existieren bereits replizierte Kandidatenregionen
Therapie
Modifizierbar durch Verhaltenstherapie (VT), jedoch nicht grundsätzlich behebbar
Symptomatisch, auf Symptomminderung ausgerichtet, VT u. multimodale Programme in Grenzen erfolgreich, kein kausaler Therapieansatz verfügbar
Verlauf
Chronisch mit Intensitätsschwankungen und Abmilderungstendenz im Lebenslauf
Chronisch, ohne nennenswerte Remissionstendenz
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Kapitel 1 · Ein Blick zurück: Zur Geschichte des Asperger-Syndroms
Persönlichkeitsachse
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. Abb. 1.1. Das Asperger-Syndrom und verwandte Störungen, die gleichwohl voneinander abzugrenzen sind, was sich im Langzeitverlauf allerdings ändern kann
Schizophrenie
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Multiplex Complex Developmental Disorder (MCDD)
Asperger Syndrom
Schizoide Persönlichkeitsstörungen
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Schizotype Störung
10 11 Entwicklungsachse
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In . Tab. 1.4 sind die wichtigsten Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede zwischen Persönlichkeitsstörungen und tiefgreifenden Entwicklungsstörungen zusammengefasst. Man muss sich die Frage stellen, wieso es beim AspergerSyndrom zu einer Veränderung der klassifikatorischen Einordnung von der Persönlichkeitsstörung zur tiefgreifenden Entwicklungsstörung gekommen ist. Hierfür scheinen uns drei Gründe maßgeblich: 5 Zum einen hat sich in den letzten Jahrzehnten, nicht zuletzt durch die Erkenntnisfortschritte der Grundlagenwissenschaften, ein Wandel in der Auffassung psychischer Störungen ergeben, der der Entwicklungsperspektive einen hohen Stellenwert einräumt. Ausdruck dieses Wandels sind z. B. Disziplinen wie Entwicklungspsychopatho-
logie, Entwicklungspsychiatrie, Entwicklungsneurologie, Entwicklungspharmakologie etc. 5 Zum zweiten wurde erkannt, dass bei Persönlichkeitsstörungen die jeweiligen Verhaltensweisen der Betroffenen quantitative und nicht qualitative Veränderungen (wie bei den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen) gegenüber der Durchschnittsbevölkerung darstellen. Insofern werden Persönlichkeitsstörungen ja auch nicht als psychiatrische Erkrankungen betrachtet, sondern als Varianten der Persönlichkeitsausstattung. 5 Schließlich erscheint es auch angebracht, erst ab dem Jugendalter von Persönlichkeitsstörungen zu sprechen, da etwa in dieser Lebensphase die jeweiligen Persönlichkeitsmerkmale jenen Stabilitätsgrad erreicht
1.4 Von der Psychopathie zur tiefgreifenden Entwicklungsstörung
haben, der für eine Diagnose erforderlich ist. Hingegen lassen sich tiefgreifende Entwicklungsstörungen schon in den ersten 4–5 Lebensjahren vom kundigen Untersucher mit hohem Sicherheitsgrad diagnostizieren. In . Abb. 1.1 sind noch einmal die wichtigsten Störungen in ihrer Beziehung zum AspergerSyndrom schematisch wiedergegeben. Dabei wird eine horizontale Entwicklungsachse und eine vertikale Persönlichkeitsachse unterschieden. Zweifellos sind alle in der Abbildung enthaltenen Störungen (mit Ausnahme der Schizophrenie) noch relativ unscharf umschrieben, deshalb sind die in der Abbildung angegebenen Überlappungsbereiche nur als vorläufig anzusehen. Sie zeigen aber auf, dass es recht unterschiedliche Varianten im Erleben und Verhalten von jenen Kindern und Jugendlichen gibt, deren Hauptmerkmal die Beeinträchtigung sozialer Interaktionen mit anderen Menschen darstellt und die darüber hinaus noch zahlreiche andere Erlebens- und Verhaltensweisen zeigen, die nicht auf einen einheitlichen Nenner zu bringen sind. Am ehesten lassen sich vom Asperger-Syndrom noch schizophrene Störungen und schizotype Störungen abgrenzen, erstere am deutlichsten dadurch, dass beim Asperger-Syndrom die Kardinalsymptome der Schizophrenie nicht vorhanden sind. Andererseits ist aber bekannt, dass im Langzeitverlauf sowohl bei Patienten mit Asperger-Syndrom als auch bei solchen mit schizoiden Persönlichkeitsstörungen ein Übergang in schizophrene Erkrankungen gefunden wurde (Wolff 1995). Gleiches trifft auch für die multiplen komplexen Entwicklungsstörungen zu (MCDD) und (selten) auch für die schizotype Störung. Eigentlich sind alle in . Abb. 1.1 um das AspergerSyndrom herum gruppierten Störungen im diagnostischen Prozess vom Asperger-Syndrom abzugrenzen. So ist in der ICD-10 auch vermerkt, dass bei der Diagnose einer schizotypen Störung ein Asperger-Syndrom auszuschließen ist. Im Verlauf dieser Störungen kann sich aller-
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Kapitel 1 · Ein Blick zurück: Zur Geschichte des Asperger-Syndroms
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World Health Organization (1992) The ICD-10 classification of mental and behavioural disorders: clinical descriptions and diagnostic guidelines. WHO, Geneva
2 Worum es geht: Definition, Klassifikation und Epidemiologie 2.1
Definition und Klassifikation – 18
2.2
Charakteristische Symptomatik und Leitsymptome
2.3
Epidemiologie – 26
– 19
18
Kapitel 2 · Worum geht es: Definition, Klassifikation und Epidemiologie
1
2.1
Definition und Klassifikation
2
Beide derzeit gültigen Klassifikationssysteme (ICD-10 und DSM-IV) rechnen das AspergerSyndrom zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen. Neben den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen unterscheiden wir noch umschriebene Entwicklungsstörungen. Während erstere die betreffende Person in sehr umfassender Weise in ihrem gesamten Kommunikations- und Interaktionsverhalten beeinträchtigen, meist auch mit einer Intelligenzminderung einhergehen und in der Regel einen ausgeprägten Behinderungsgrad aufweisen, beziehen sich letztere lediglich auf Teilbereiche psychischer Funktionen (wie z. B. Sprechen und Sprache, schulische Fertigkeiten, motorische Funktionen), gehen in der Regel nicht mit einer Beeinträchtigung der intellektuellen Funktionen einher und weisen einen weitaus geringeren Grad der Beeinträchtigung auf als die tiefgreifenden Entwicklungsstörungen. Gleichwohl weisen beide Arten von Entwicklungsstörungen auch Gemeinsamkeiten auf: ICD-10: 5 Sie beginnen ausnahmslos im Kleinkindalter oder in der Kindheit.
3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
5 Die Einschränkungen oder Verzögerungen in der Entwicklung von Funktionen sind eng mit der biologischen Reifung des Zentralnervensystems verknüpft, und 5 Sie zeigen einen stetigen Verlauf, der nicht durch Remissionen oder Rezidive unterbrochen wird. 5 Bei einigen Störungen geht allerdings dem Störungsbeginn eine normale Phase der kindlichen Entwicklung voraus, und die Symptomatik wird erst später sichtbar. Dies trifft z. B. auf das Landau-Kleffner-Syndrom (erworbene Aphasie mit Epilepsie) zu sowie auf die desintegrative Störung des Kindesalters. In . Abb. 2.1 ist der hier geschilderte Sachverhalt schematisch wiedergegeben. Aus ihr wird ersichtlich, dass zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen, neben dem Asperger-Syndrom, auch eine Reihe anderer Störungsmuster gehören, unter denen insbesondere der frühkindliche Autismus und der atypische Autismus erwähnt werden müssen. Vor allem muss hier auf den frühkindlichen Autismus mit hohem Funktionsniveau (sog. High-functioning-Autismus/
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Entwicklungsstörungen • Beginn ausnahmslos im Kleinkind-/Kindesalter • Einschränkungen sind mit der biologischen Reifung des ZNS verknüpft • Stetiger Verlauf ohne Remission oder Rezidive
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Umschriebene Entwicklungsstörungen
Tiefgreifende Entwicklungsstörungen
• des Sprechens und der Sprache (z. B. Artikulationsstörung, expressive u. rezeptive Sprachstörung, Landau-Kleffner-Syndrom) (F80) • schulischer Fertigkeiten (z. B. Lese- u. Rechtschreibstörung, isolierte Rechtschreibstörung, Rechenstörung) (F81) • der motorischen Funktionen (F82) • kombinierte Entwicklungsstörungen (F83) • sonstige umschriebene Entwicklungsstörungen (F88)
• • • • •
Frühkindlicher Autismus (F84.0) Atypischer Autismus (F84.1) Rett-Syndrom (F84.2) Desintegrative Störung des Kindesalters (F84.3) Überaktive Störung mit Intelligenzminderung u. Bewegungsstereotypien (F84.4) • Asperger-Syndrom (F84.5) • Sonstige (F84.8)
. Abb. 2.1. Kernmerkmale und Einteilung von Entwicklungsstörungen
19
2.2 Charakteristische Symptomatik und Leitsymptome
2
. Tab. 2.1. Diagnostische Kriterien bzw. Leitlinien für das Asperger-Syndrom nach ICD-10 und DSM-IV (gekürzt und sinngemäß) ICD-10
DSM-IV
1. Fehlen einer Sprachentwicklungsverzögerung oder einer Verzögerung der kognitiven Entwicklung. Die Diagnose erfordert, dass einzelne Worte im 2. Lebensjahr oder früher benutzt werden.
1. Qualitative Beeinträchtigung der sozialen Interaktion in mehreren (mindestens 2) Bereichen: z. B. bei non-verbalem Verhalten, in der Beziehung zu Gleichaltrigen, in der emotionalen Resonanz.
2. Qualitative Beeinträchtigungen der gegenseitigen sozialen Interaktionen (entsprechend den Kriterien des frühkindlichen Autismus).
2. Beschränkte repetitive und stereotype Verhaltensmuster (z. B. in den Interessen, Gewohnheiten oder der Motorik).
3. Ungewöhnliche und sehr ausgeprägte umschriebene Interessen (ausgestanzte Sonderinteressen) und stereotype Verhaltensmuster.
3. Klinisch bedeutsame Beeinträchtigung in sozialen oder beruflichen Funktionsbereichen.
4. Die Störung ist nicht einer anderen tiefgreifenden Entwicklungsstörung zuzuordnen.
4. Kein klinisch bedeutsamer Sprachrückstand und keine klinisch bedeutsamen Verzögerungen der kognitiven Entwicklung. 5. Die Störung erfüllt nicht die Kriterien einer anderen tiefgreifenden Entwicklungsstörung.
HFA) hingewiesen werden, der häufig nicht sicher vom Asperger-Syndrom abgegrenzt werden kann, so dass sich die Frage erhebt, ob die beiden Störungen nicht Varianten einer gemeinsamen Grundstörung sind.
2.2
Charakteristische Symptomatik und Leitsymptome
Diagnostische Kriterien nach ICD-10 und DSM-IV Die für das Asperger-Syndrom charakteristische Symptomatik ist in Form der diagnostischen Kriterien nach ICD-10 und DSM-IV in . Tab. 2.1 wiedergegeben. Aus ihr wird ersichtlich, dass sich die beiden diagnostischen Systeme weitgehend gleichen. Die Kernmerkmale des AspergerSyndroms sind nach den beiden diagnostischen Systemen:
5 Qualitative Beeinträchtigung der sozialen Interaktion
Darunter versteht man, dass die betreffenden Kinder und Jugendlichen sowohl in ihrem nichtverbalen Verhalten (Gesten, Mienen, Gebärden, Blickkontakt) auffällig sind als auch durch ihre Unfähigkeit, zwanglose Beziehungen zu Gleichaltrigen oder Älteren herzustellen. Sie können auch nicht emotional mitreagieren und so mit an der Freude oder auch an Ärger und Wut anderer teilhaben. 5 Ungewöhnlich ausgeprägte und spezielle Interessen und stereotype Verhaltensmuster
Darunter ist z. B. die monomane Beschäftigung mit sehr umschriebenen Wissensgebieten zu verstehen, die meist nicht von allgemeinem Interesse sind, so z. B. besonderes Interesse für Schmelzpunkte von Metallen, für Dinosaurier, Kirchtürme, Biersorten oder Waschmaschinen. Dabei sind nicht nur die Interessen als solche außergewöhnlich, sondern auch das Ausmaß, mit dem sich die
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Kapitel 2 · Worum geht es: Definition, Klassifikation und Epidemiologie
Betreffenden ihnen widmen. Vor allem traktieren sie ihre Umgebung mit diesen Interessen dadurch, dass sie von nichts anderem mehr sprechen. Dies ruft bei anderen Menschen regelmäßig erhebliche Aversionen hervor. 5 Fehlen einer Sprachentwicklungsverzögerung oder einer Verzögerung der kognitiven Entwicklung
Im Gegensatz zum frühkindlichen Autismus fehlen beim Asperger-Syndrom die verzögerte Sprachentwicklung sowie auch die Einschränkungen der kognitiven Entwicklung. Vielmehr lernen die Kinder mit Asperger-Syndrom relativ früh und gut sprechen, vermögen sich manchmal sprachlich recht ungewöhnlich auszudrücken und bewegen sich auch in ihrer Intelligenz im Normbereich. Jedenfalls ist im Durchschnitt ihre Intelligenzausstattung wesentlich besser als bei Kindern und Jugendlichen mit frühkindlichem Autismus. Im DSM-IV wird als zusätzliches Merkmal auch angeführt, dass die Beeinträchtigung im sozialen oder beruflichen Funktionsbereich von klinischer Bedeutsamkeit sein muss. Beide diagnostischen Systeme weisen darauf hin, dass die Störung von allen anderen tiefgreifenden Entwicklungsstörungen abgrenzbar sein muss; sie darf also nicht die Kriterien einer anderen tiefgreifenden Entwicklungsstörung erfüllen. Im Vergleich zu Kindern und Jugendlichen mit frühkindlichem Autismus fällt bei jenen mit Asperger-Syndrom weniger die hochgradige Beziehungsstörung auf: Sie besitzen nicht selten eine gute bis überdurchschnittliche Intelligenz, sie werden später auffällig als Kinder mit frühkindlichem Autismus, und zwar bevorzugt dann, wenn besondere Anforderungen an ihre soziale Eingliederungsfähigkeit gestellt werden, also mit dem Besuch des Kindergartens oder spätestens dem der Schule. Der Ausprägungsgrad der Störung kann sehr unterschiedlich sein.
Sprachentwicklung. Die
Sprachentwicklung erfolgt frühzeitig, die Kinder beginnen häufig noch vor dem freien Laufen zu sprechen und gewinnen eine wandlungsfähige Sprache mit großem Wortschatz und z. T. originellen Wortschöpfungen. Ihre Sprache ist jedoch in einer anderen Weise in der kommunikativen Funktion gestört als bei Kindern mit frühkindlichem Autismus. Sie reden, wann sie wollen und ohne Anpassung an die Zuhörer (Spontanrede) und führen häufig Selbstgespräche. Niemals zeigen sie die charakteristischen Abweichungen in der Sprache, die für den frühkindlichen Autismus typisch sind wie Echolalie, Umkehr der Pronomina oder ausgeprägte Sprachentwicklungsverzögerungen. Dagegen sind bei ihnen aber häufig Auffälligkeiten in der Sprechstimme zu finden. Die Stimme wirkt oft monoton, blechern, eintönig und weist eine geringe Modulation auf. Bezüglich der frühzeitigen und unbeeinträchtigten Sprachentwicklung bei Kindern mit Asperger-Syndrom gibt es allerdings auch divergierende Auffassungen (Ehlers u. Gillberg 1993; Wolff 1995). Diese Autoren beschrieben einzelne Kinder, deren Störungen weitgehend den ICD10-Kriterien entsprachen, jedoch mit Ausnahme des Kriteriums »keine Sprachentwicklungsstörung«. Aufgrund dieses Sachverhaltes und des sorgfältigen Studiums ihrer eigenen Stichproben von Kindern mit schizoiden Störungen und mit Asperger-Syndrom, auch im Längsschnitt, schlägt S. Wolff (1995) eine Modifikation der ICD-10-Kriterien dahingehend vor, dass die Ausschlusskriterien für das Asperger-Syndrom »keine schizotype Störung« und »keine Sprachentwicklungsstörung« entfallen sollten. Ersteres deshalb, weil sie in ihrer katamnestischen Untersuchung (Katamneseintervall im Mittel 17 Jahre) festgestellt hatte, dass zahlreiche Patienten (24 von 32) zum Zeitpunkt der Nachuntersuchung schizotype Störungen aufwiesen. Darüber hinaus schlug sie vor, als weiteres diagnostisches Kriterium »ungewöhnliche Phantasien« aufzunehmen, weil dieses Kriterium ein-
2.2 Charakteristische Symptomatik und Leitsymptome
deutig zwischen der Gruppe der schizoiden Patienten (n = 32) und der Kontrollgruppe (ebenfalls Patienten aus der gleichen Klinik) differenzierte, sowohl im Kindesalter (damals im Mittel 10 Jahre alt) als auch im Erwachsenenalter (im Mittel 27 Jahre alt). Denkfähigkeit. Ihre Denkfähigkeit ist häufig
beeindruckend. Sie denken originell und verfügen über gute Fähigkeiten, logisch und abstrakt zu denken. Dagegen lassen sie ihre praxisfernen, eng umgrenzten Sonderinteressen im sozialen Kontext stets auffällig werden. Manchmal besteht auf bestimmten Wissensgebieten ein geradezu lexikalisches Wissen, das jedoch nicht angewandt werden kann; es überwiegt die reine Wissensspeicherung. Trotz ihrer guten Intelligenz sind sie oft schlechte Schüler, weil sie, ähnlich wie Kinder mit frühkindlichem Autismus, eine ausgeprägte Aufmerksamkeitsstörung haben, die dadurch entsteht, dass sie nicht von außen, sondern von innen abgelenkt werden, d. h., sie sind zu stark mit sich selbst und ihren Interessen beschäftigt. Motorische Ungeschicklichkeit. Hervorstechend
ist bei ihnen auch sehr häufig ihre motorische Ungeschicklichkeit. Man beobachtet bei ihnen oft dyspraktische Störungen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass ein Handlungsentwurf nur unzureichend in eine konkrete Handlung umgesetzt werden kann. Qualitativ andere Emotionalität. Kinder mit
Asperger-Syndrom können sich nur begrenzt auf Mitmenschen oder soziale Situationen einstellen und sind in der Durchsetzung ihrer Wünsche oft rücksichtslos. Sie freuen sich oft am Ärger anderer und haben kein Gefühl für persönliche Distanz, auch nicht für Humor. Sie sind in ihrer Emotionalität qualitativ anders: disharmonisch im Gemüt, oft voll überraschender Widersprüche, aber durchaus tiefer Gefühlsempfindungen fähig. Durch ihre Verhaltensauffälligkeiten werden sie in der Schule leicht zum Gespött, wo-
21
2
rauf sie wiederum sehr unangepasst reagieren, gelegentlich mit überschießenden aggressiven Handlungen. Durch dieses Verhalten erscheinen sie oft nicht schulfähig und werden zuweilen sogar der Schule verwiesen. Dabei wünschen sie sich durchaus soziale Kontakte, wissen aber nicht, wie sie diese eingehen sollen. In . Abb. 2.2 wird der Versuch unternommen, das Asperger-Syndrom, den frühkindlichen Autismus sowie einige andere Störungen den drei Dimensionen soziale Beeinträchtigung (qualitative Beeinträchtigung der gegenseitigen sozialen Interaktionen), der Beeinträchtigung in der Kommunikation (qualitative Auffälligkeiten in der Kommunikation) und begrenzten Interessen und repetitiven stereotypen Verhaltensmustern zuzuordnen. Wie aus . Abb. 2.2 hervorgeht, liegt beim
frühkindlichen Autismus (Kanner-Syndrom) eine Beeinträchtigung in allen drei Bereichen vor, während beim Asperger-Syndrom lediglich in zwei der drei Dimensionen (soziale Beeinträchtigung, Beeinträchtigung durch begrenzte Interessen und repetitive Verhaltensweisen) Einschränkungen festzustellen sind. Dabei muss allerdings erwähnt werden, dass die kommunikativen Beeinträchtigungen gemäß den diagnostischen Kriterien (sowohl ICD-10 als auch DSM-IV) sich ganz überwiegend auf die sprachliche Kommunikation erstrecken (z. B. verspätete Sprachentwicklung, Unfähigkeit, sprachlichen Kontakt zu beginnen). . Abb. 2.2 zeigt weiter, dass auch andere Störungen, wie z. B. die soziale Phobie oder die schizoide Persönlichkeitsstörung bzw. die schizotype Störung, in der Dimension soziale Beeinträchtigung Auffälligkeiten aufweisen, ebenso die Zwangsstörung im Bereich der begrenzten Interessen und repetitiven Verhaltensweisen. Charakteristisch für das Asperger-Syndrom und den frühkindlichen Autismus ist allerdings, dass sie, im Gegensatz zu diesen anderen Störungen, in mehreren Dimensionen Beeinträchtigungen aufweisen, die darüber hinaus auch noch vom Schweregrad her sehr ausgeprägt sind.
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Kapitel 2 · Worum geht es: Definition, Klassifikation und Epidemiologie
1
Soziale Phobie
2
Soziale Beeinträchtigung
3 4
Schizoide/ Schizotype Störung
Asperger Syndrom Autismus
5 6
. Abb. 2.2. Die drei Kerndimensionen von Autismus-Spektrum-Störungen und die Zuordnung des Asperger-Syndroms und des frühkindlichen Autismus (nach Hollander et al. 1998)
Kommunikative Beeinträchtigung
7
Zwangsstörung
Begrenzte Interessen & repetitive, stereotype Verhaltensmuster
8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
In . Abb. 2.2 ist der Begriff Autismus-Spektrum-Störung aufgetaucht; er bezeichnet eine bestimmte Auffassung zur Ätiologie autistischer Störungen, wonach sich diese auf einem kontinuierlichen Spektrum mit fließenden Übergängen bewegen und häufig nicht als eigene Entitäten voneinander abgegrenzt werden können. Auf diese und andere Konzepte des Asperger-Syndroms und anderer tiefgreifender Entwicklungsstörungen wird in 7 Kap. 3 näher eingegangen. Variationen diagnostischer Kriterien Eigene diagnostische Kriterien wurden neben Asperger selbst (1944), von Wing (1981), Gillberg und Gillberg (1989), Tantam (1988), Szatmari et al. (1989) und Klin et al. (2005) aufgestellt. Sehr unterschiedlich werden beispielsweise der Beginn der Störung (das »Onset-Kriterium«) gehandhabt, sowie die motorische Ungeschicklichkeit (»motor clumsiness«) und die speziellen Interessen (»all-absorbing interests«). Insbesondere ist strittig, inwieweit der sogenannte Highfunctioning-Autismus (frühkindlicher Autismus auf hohem Funktionsniveau) vom AspergerSyndrom abgegrenzt werden kann. Dies führt zu großen Unsicherheiten in der Diagnostik bzw. zu Eigenheiten im Umgang mit den Diagnosekrite-
rien. Leider führt dies auch dazu, dass viele Forschungsergebnisse nicht vergleichbar sind, da oftmals nicht die gleichen diagnostischen Kriterien angewendet wurden. Aus . Tab. 2.2 soll ersichtlich werden, wie unterschiedlich die verschiedenen diagnostischen Merkmale von verschiedenen Autoren behandelt werden. Einigkeit besteht lediglich darin, dass die qualitativen Auffälligkeiten in der Interaktion das Asperger-Syndrom kennzeichnen, bei den anderen Kriterien gibt es hingegen große Differenzen, insbesondere in der Abgrenzung zum frühkindlichen Autismus. Im Folgenden möchten wir einige der diagnostischen Kriterien näher erläutern (s.a. Bonus u. Assion 1997; Volkmar u. Klin 2000). Wing (1981) stellte keine eigenen diagnostischen Kriterien auf und sie unterschied auch nicht eindeutig zwischen frühkindlichem Autismus und Asperger-Syndrom. Bezüglich der Beschreibung von Asperger (1944, 1979) widersprach sie insbesondere in zwei entscheidenden Kriterien: 5 Sprachentwicklung: Eine Sprachentwicklungsverzögerung kann vorliegen. 5 Intelligenz: Eine leichte geistige Retardierung kann vorliegen.
23
2.2 Charakteristische Symptomatik und Leitsymptome
2
. Tab. 2.2. Vergleich von sieben Kriterien-Katalogena zur Definition des Asperger-Syndroms
a
Bereich
Zutreffende Kriterien
Qualitative Auffälligkeiten in der Interaktion
Alle 7
Im Bereich der Sprache/Kommunikation
5 von 7
Motorische Ungeschicklichkeit
5 von 7
Ausgestanzte Spezialinteressen
5 von 7
Ausschluss der Symptome des Kanner-Syndroms
3 von 7
1. Asperger (1944 ), 2. Wing (1981), 3. Gillberg und Gillberg (1989), 4. Tantam (1988), 5. Szatmari et al. (1989), 6: DSM-IV (APA 1994), 7. ICD-10 (WHO 1992)
Die diagnostischen Kriterien nach Gillberg (Gillberg u. Gillberg 1989; Gillberg 1991, 2002) sind in der nachfolgenden Übersicht abgebildet.
Diagnostische Kriterien nach Gillberg 1.
Soziale Beeinträchtigung (extreme Selbstbezogenheit) (mindestens zwei der folgenden Auffälligkeiten): a) Schwierigkeiten im Kontakt mit Gleichaltrigen b) Gleichgültigkeit im Kontakt mit Gleichaltrigen c) Schwierigkeiten in der Interpretation von sozialen Hinweisreizen d) Sozial und emotional unangemessenes Verhalten 2. Umschriebenes Interesse (mindestens eins der Folgenden): a) Ablehnung anderer Aktivitäten b) Repetitives Festhalten c) Mehr mechanisch, als bedeutungsvoll 3. Zwanghaftes Bedürfnis nach bekannten Routinen und Interessen (mindestens eins der Folgenden): a) Bezüglich aller Aspekte des alltäglichen Lebens b) Und anderer Menschen 6
4. Sprachauffälligkeiten (mindestens drei der Folgenden): a) Verzögerte Sprachentwicklung b) Oberflächlich perfekte expressive Sprache c) Formal pedantische Sprache d) Auffällige Prosodie, eigentümliche stimmliche Auffälligkeiten e) Einschränkungen im Sprachverständnis einschließlich Fehlinterpretation von wörtlichen/implizierten Bedeutungen 5. Probleme in der nonverbalen Kommunikation (mindestens eins der Folgenden): a) Eingeschränkter Gebrauch der Gestik, b) Ungeschickte/linkische Körpersprache c) Eingeschränkter mimischer Ausdruck d) Unangemessener mimischer Ausdruck e) Eigentümlicher, starrer Blick 6. Motorische Ungeschicklichkeit: a) Schlechte Leistungen bei Untersuchungen des neurologischen Entwicklungsstandes
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Kapitel 2 · Worum geht es: Definition, Klassifikation und Epidemiologie
Die Kriterien orientieren sich stark an der Darstellung von Asperger (s. Originalpublikation auf der beigefügten CD-Rom). Die Bedeutung der extremen Selbstbezogenheit und die wesentlichen Auffälligkeiten der sozialen Interaktion, die Sonderinteressen und motorische Ungeschicklichkeit werden betont. Für den Forschungskontext sollten zur Diagnose eines Asperger-Syndroms Symptome aus allen 6 Bereichen vorliegen (insgesamt 9 der 20 Symptombeschreibungen sollten erfüllt sein). Für eine klinische Diagnose sollten das erste Kriterium und 4 weitere erfüllt sein. Tantam (1988) stellt die guten Sprachfähigkeiten von Menschen mit Asperger-Syndrom heraus, betont aber ihre Unfähigkeit, sich an den jeweiligen sozialen Kontext anzupassen und sich auf die Bedürfnisse des Zuhörers einzustellen. Nonverbale Auffälligkeiten werden ebenfalls als Kriterium beschrieben (bzgl. Stimme, Gesichtsausdruck, Gesten, Blick und Haltung). Er stellt fest, dass durchaus der Wunsch nach einem sozialen Umgang besteht, aber dass Patienten mit Asperger-Syndrom gerade im Knüpfen von Beziehungen zu Gleichaltrigen scheitern. Des Weiteren betont er die motorische Ungeschicklichkeit und das Vorhandensein von Sonderinteressen. Sprachentwicklung und kognitive Fähigkeiten werden nicht als diagnostische Kriterien genannt. Die diagnostischen Kriterien nach Szatmari (Szatmari et al. 1989) sind ebenfalls in der nachfolgenden Übersicht aufgeführt.
Diagnostische Kriterien nach Szatmari 1.
Soziale Isolation (mindestens zwei der folgenden Auffälligkeiten): a) Keine engen Freunde b) Vermeidet Kontakt c) Kein Interesse, Freundschaften zu schließen d) Einzelgängertum 6
2. Eingeschränkte soziale Interaktion (mindestens eins der Folgenden): a) Geht nur aus eigenen Interessen/ Bedürfnissen auf andere zu b) Ungeschickte soziale Kontaktaufnahme c) Einseitige Reaktionen auf Gleichaltrigen d) Schwierigkeiten im Erkennen von Gefühlen bei anderen e) Desinteressen an den Gefühlen anderer. 3. Eingeschränkte nonverbale Kommunikation (mindestens eins der Folgenden): a) Eingeschränkte mimische Ausdrucksfähigkeit b) Emotionen können nicht am Gesichtsausdruck des Kindes erkannt werden c) Unfähigkeit mit den Augen zu kommunizieren d) Vermeidet es andere anzuschauen e) Kein Gebrauch der Hände, um den Ausdruck zu untermalen f ) Umfangreiche und ungeschickte Gesten g) Geht zu nah an andere Menschen heran 4. Sprachauffälligkeiten (mindestens vier der Folgenden): a) Auffällige Betonung b) Großer Sprachumfang c) Nicht-kommunikativer Gebrauch der Sprache d) Kein Zusammenhang zur Konversation e) Idiosynkratischer Gebrauch von Wörtern f ) Stereotyper Gebrauch von Sprache
Für die Diagnose eines Asperger-Syndrom sollten nach Szatmari et al. (1989) alle 4 Kriterien erfüllt sein (insgesamt 6 der 22 Symptome müssen gezeigt werden). Außerdem dürfen nicht
2.2 Charakteristische Symptomatik und Leitsymptome
die Kriterien für den frühkindlichen Autismus erfüllt sein. Klin et al. (2005) stellten ein neues diagnostisches System auf, das eng an den diagnostischen Beschreibungen durch Asperger (1944) anknüpft (s. folgende Übersicht). Diagnostische Kriterien nach Klin et al. (2005) 1.
2.
3.
4.
5.
6.
a
b
Störungen in der sozialen Interaktion in der frühen Kindheit (operationalisiert durch das Erreichen der Cut-Off-Werte im diagnostischen Interview ADI-Ra für den Bereich der sozialen Interaktion), Soziale Motivation ist vorhanden, eine wortreiche Ausdrucksweise und pragmatische Defizite, umschriebene (sozial beeinträchtigende) Sonderinteressen liegen vor, die das Ansammeln von Fakten und Informationen betreffen, Beginn der Störung: Versuche der Kontaktaufnahme, die aber ungeschickt sind; formale Sprache unauffällig oder frühzeitig einsetzend (»altkluge Sprache«), aber pragmatische Defizite; »So-tun-als-ob-Spiel« kommt vor, aber mit ungewöhnlichen Inhalten (z. B. eher Sonderinteressen), aktuelle Auffälligkeiten in der sozialen Interaktion (operationalisiert durch das Erreichen der Cut-Off-Werte in der Beobachtungsskala ADOSb), Präzedenz-Regel: Asperger-Syndrom über frühkindlichen Autismus, d. h. werden ebenfalls die diagnostischen Kriterien für den frühkindlichen Autismus erfüllt, so ist die Diagnose AspergerSyndrom zu stellen. Eine ausführliche Darstellung dieses diagnostischen Interviews 7 Kap. 4. Eine ausführliche Darstellung des diagnostischen Instruments ADOS 7 Kap. 4.
25
2
Die Sprachentwicklung sollte lediglich bezüglich der pragmatischen Aspekte auffällig sein, sie sollte altersentsprechend sein oder aber früh einsetzen und formal korrekt sein. Die Patienten mit Asperger-Syndrom reden viel und neigen zu Monologen (»verbosity«). Sonderinteressen, mit denen diese Menschen sehr viel Zeit verbringen und die sie von anderen Dingen abhalten, liegen vor. In der Konversation neigen sie dazu, das Gespräch auf diese Themen zu lenken. Ungewöhnliche sensorische Interessen und motorische Manierismen/Stereotypien kommen nicht vor. Die verschiedenen diagnostischen Kriterien unterscheiden sich zum Teil erheblich und führen zu einer verwirrenden Vielfalt in der Handhabung der diagnostischen Kriterien. Einige Autoren ändern beispielsweise die diagnostischen Kriterien von ICD-10 und DSM-IV ab (Klin et al. 1995; Ozonoff et al. 1991), verwenden die Begriffe Asperger-Syndrom und High-functioning-Autismus austauschbar (Gillberg et al. 2001; Howlin 2000) oder verwenden eigene Kriterien (Gillberg 1998). Die Forschungsergebnisse sind damit nicht mehr vergleichbar, weil unterschiedliche Stichproben untersucht wurden. In einigen Arbeiten werden verschiedene diagnostische Systeme miteinander verglichen (Ghaziuddin et al. 1992; Leekam et al. 2000; Klin et al. 2005). Es zeigte sich, dass die verschiedenen diagnostischen Kriterien nur zu einer geringen Übereinstimmung in der Diagnose der Patienten führten. In der Arbeit von Klin et al. (2005) wurden Patienten nach 3 verschiedenen Diagnosesystemen (DSM-IV, lediglich Sprachentwicklungsverzögerung, eigenes Diagnoseschema, s. o.) eingeteilt und deren Ergebnisse bezüglich Intelligenzprofil, komorbide Symptomatik und soziale und autismus-ähnliche Symptomatik in der Familie (»broader autism phenotype«) verglichen. Es konnte gezeigt werden, dass das neue Diagnosesystem von Klin et al. (2005) zu einer besseren Abgrenzung des Asperger-Syndroms von anderen autistischen Störungen führte. Die so diagnostizierten Patienten zeigten gegenü-
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Kapitel 2 · Worum geht es: Definition, Klassifikation und Epidemiologie
ber den Patienten mit frühkindlichem Autismus eine größere Diskrepanz zwischen Verbal- und Handlungs-IQ und in der Familie fand sich vermehrt eine soziale und autismus-ähnliche Symptomatik. Weitere Forschungsarbeit ist hier notwendig, um zu einer Klärung zu kommen, sowohl in Bezug auf die Validität des Asperger-Syndroms, als auch in der Entwicklung von entsprechenden diagnostischen Instrumenten. In . Tab. 2.3 sind die verschiedenen diagnostischen Kriterien nochmals vergleichend nebeneinander gestellt.
2.3
Epidemiologie
Trotz der Erstbeschreibung des Syndroms schon im Jahr 1944 gibt es nur sehr wenige Studien zur Epidemiologie des Asperger-Syndroms. Dies liegt daran, dass sowohl der Erstbeschreiber als auch jene Autoren, die in seiner Nachfolge die Störung beschrieben (in der Regel als »autistische Psychopathie«) mehr am klinischen Bild interessiert waren als an größeren epidemiologischen Untersuchungen, die erst in den 70er Jahren systematisch einsetzten. ! Das Haupthindernis für epidemiologische Untersuchungen lag aber darin, dass das Asperger-Syndrom erst 1992 in die ICD-10 aufgenommen wurde (die deutsche Ausgabe erschien bereits 1991) und erst 1994 in das DSM-IV. Erst dadurch wurde die Störung international bekannt und zum Gegenstand epidemiologischer Untersuchungen gemacht.
Bei allen epidemiologischen Studien ist zu bedenken, dass sich sowohl die Nomenklatur als auch die diagnostischen Kriterien für die Autismus Spektrum Störungen im Laufe der Zeit immer wieder geändert haben und dass für bestimmte Störungen aus diesem Spektrum, so auch für das Asperger-Syndrom, mehrere Kriterienkataloge existieren. In . Tab. 2.4 ist der Wandel
der Nomenklatur und z. T. auch die Änderung einiger formaler Kriterien wiedergegeben. Wie Fombonne und Tidmarsh (2003) in ihrer Übersicht feststellen, können epidemiologische Untersuchungen zum Asperger-Syndrom in zwei Kategorien eingeteilt werden: solche, die sich ausschließlich der Prävalenz des AspergerSyndroms zuwenden (diesbezüglich existiert nur eine einzige Studie in Schweden) und solche, die die Prävalenz des Asperger-Syndroms gemeinsam mit der Prävalenz anderer tiefgreifender Entwicklungsstörungen untersuchen. Untersuchung von Ehlers und Gillberg Die einzige Untersuchung, die sich ausschließlich auf die Prävalenz des Asperger-Syndroms konzentrierte, wurde in Schweden durchgeführt (Ehlers u. Gillberg, 1993) und bezog sich auf eine Stichprobe von 1519 Kindern im Alter von 7– 16 Jahren, die in einem zweiphasigen Untersuchungsansatz einbezogen wurden. In der ersten Phase erfolgte ein Screening mit Hilfe eines Fragebogens, der von den Lehrern ausgefüllt wurde; in der zweiten Phase erfolgte ein umfangreicher Untersuchungsansatz unter Einbeziehung von Interviews mit den Eltern, mit den Lehrern sowie einer direkten Untersuchung der Kinder und deren Beobachtung. Von den 14 Kindern, die zunächst als solche identifiziert wurden, bei denen der Verdacht auf ein Asperger-Syndrom bestand, erwiesen sich vier nach den Kriterien der ICD-10 als Asperger-Fälle, was einer Häufigkeit von 28,5 auf 10.000 Kinder entspricht. Obwohl den Autoren der Verdienst zukommt, die erste systematische epidemiologische Untersuchung zum Asperger-Syndrom durchgeführt zu haben, existieren eine Reihe von Kritikpunkten (kleine Stichprobe, Durchführung eines Screenings durch Lehrer, keine hinreichenden Daten hinsichtlich des Screening-Instruments, etc.), so dass die ermittelten Häufigkeitsangaben immer wieder in Zweifel gezogen wurden. Sie wurden meist als zu hoch eingeschätzt, möglicherweise infolge einer zu weit gefassten Definition der Störung.
Asperger (1944/68)
+
+
+
+
+
+
+
Kriterium
Störung der sozialen Interaktion
Eingeengte, stereotype, sich wiederholende Interessen
Störung der nonverbalen Kommunikation
Motorische Ungeschicklichkeit
Sprachauffälligkeiten
Sprache dient nicht der Kommunikation
Störung im Verständnis der Sprache
+
+
+
(+)
+
+
+
Wing (1981)
–
+
+
+
+
+
+
Tantam (1988)
+
–
+
+
+
+
+
Gillberg (1989/93)
+
+
+
–
+
+
+
Szatmari (1989)
. Tab. 2.3. Vergleich diagnostischer Kriterien zum Asperger-Syndrom (Mod. nach Bonus et al. 1997)
–
–
–
◆ ◆
◆
+
+
◆
◆ – + (kein notwendiges Kriterium)
+
+
Klin et al. (2005)
+
+
+
DSM-IV (1994)
+
+
+
+
ICD-10 (1994)
2.3 Epidemiologie 27
2
18
19
20
15 Hochentwickelte Persönlichkeit, hohe Intelligenz möglich
12
Leichte geistige Retardierung möglich
–
Leichte geistige Retardierung möglich
Verzögerung der Sprachentwicklung
10
Normal bis spät
Normal intelligent
Keine abweichende Sprachentwicklung
–
Selbsthilfefähigkeiten, adaptives Verhalten und Neugier an Umgebung sollten in ersten drei LJ normaler intellekt. Entw. entsprechen
Keine Verzögerung der Sprache
+ (oft, aber kein notwendiges Kriterium)
Keine klin. signifikante Verzögerung der kognit. Entw. oder der Entw. altersentsprechender Selbständ., Anpassungsverhalten, Neugier gegenüber Umwelt während Kindheit
–
Keine Verzögerung der Sprache
+
–
Nicht klin. signifikant verzögert
Klin et al. (2005)
DSM-IV (1994)
3
+ = als Kriterium bei diesem Autor/Klassifikationsschema vorhanden, ◆ = die Kriterien werden nicht differenziert aufgeführt, – = als Kriterium bei diesem Autor/Klassifikationsschema nicht erwähnt, ( ) = Wing nimmt zu diesem Kriterium nicht explizit Stellung, sondern stimmt in ihrer Veröffentlichung zu.
Normal bis hochintelligent
Intelligenz
17
Früh, oft vor dem Gehenlernen
14
Sprachbeginn/ Sprachentwicklung
9
–
ICD-10 (1994)
7
–
8
Szatmari (1989)
6
(+)
11 Gillberg (1989/93)
5
+
13
Tantam (1988)
4
Spezialinteressen
16
Wing (1981)
2
Asperger (1944/68)
1
Kriterium
. Tab. 2.3. Fortsetzung
28 Kapitel 2 · Worum geht es: Definition, Klassifikation und Epidemiologie
2
29
2.3 Epidemiologie
. Tab. 2.4. Änderungen der Nomenklatur und der diagnostischen Kriterien für Autismus und tiefgreifende Entwicklungsstörungen (Nach Blaxill 2004) Kanner u. Eisenberg
Rutter
DSM-III
DSM-III-R
ICD-10/ DSM-IV
Publikationsjahr
1956
1978
1980
1987
1992–1994
Breitere Kategorie
–
–
PDD
PDD
PDD
AutismusNomenklatur
Kindlicher Autismus; frühkindlicher Autismus
Kindlicher Autismus; Autismus
Kindlicher Autismus
Autistische Störung
Autistische Störung
Alter bei Auftreten der Symptomatik
Keine Angaben
30 Monate
30 Monate
Während des Kleinkindoder Kindesalters
36 Monate
Verwandte Störungen
–
Andere kindliche Psychosen
Kindlicher Autismus/ Residualstadium; atypische PDD
PDD-NOS
PDD-NOS; AspergerSyndrom; Rett-Syndrom; Desintegrative Störung des Kindesalters
PDD = pervasive developmental disorder (tiefgreifende Entwicklungsstörung) NOS = not otherwise specified (nicht anderweitig klassifiziert)
Untersuchungen zur Prävalenz von Asperger-Syndrom und Autismus Fombonne und Tidmarsh (2003) analysierten die bis zum Jahre 2003 vorliegenden sechs Untersuchungen, die gleichzeitig die Prävalenz autistischer Störungen und des Asperger-Syndroms in Bevölkerungsstichproben untersuchten. Das methodische Vorgehen in diesen Studien war unterschiedlich; benutzt wurden sowohl Fragebögen, Interviews mit Eltern und Lehrern, Registerdaten und spezielle Instrumente wie die Autism-Behavior-Checklist (ABC), das AutismDiagnostic-Interview in der revidierten Form (ADI-R) sowie die Kriterien nach ICD-10 und DSM-IV.
In . Tab. 2.5 ist das Ergebnis dieser Studien wiedergegeben, wobei sowohl die Prävalenzdaten für Autismus als auch für das AspergerSyndrom in der Tabelle erscheinen. Wie aus ihr ersichtlich, schwanken sowohl die Prävalenzzahlen für Autismus (von 4,9–72,6 auf 10.000) erheblich als auch die für das Asperger-Syndrom (von 0,3–48,4 auf 10.000). In der letzten Spalte der Tabelle ist die Relation von Autismus zu Asperger-Syndrom wiedergegeben, und auch diesbezüglich gibt es erhebliche Unterschiede (zwischen 2 auf 10.000 und 16 auf 10.000). In der Zusammenfassung der Prävalenzraten für Autismus und Asperger-Syndrom über alle Studien kommt man schließlich zu einem Verhältnis von
30
Kapitel 2 · Worum geht es: Definition, Klassifikation und Epidemiologie
1
. Tab. 2.5. Prävalenzraten für das Asperger-Syndrom und Autismus in epidemiologischen Studien (Mod. nach Fombonne u. Tidmarsh 2003)
2
Autoren
Stichprobe
Alter
3 4 5 6 7
Autismus Prävalenz pro 10.000
Asperger-Syndrom N
Prävalenz pro 10.000
N
Autismus/ AS Relation
Sponheim u. Skjeldal (1998)
65.688
5
4,9
32
0,3
2
16/0
Taylor et al. (1999)
490.000
7
8,7
427
1,4
71
6/0
826
8
72,6
6
48,4
4
1/5
Kadesjö et al. (1999)
8
Powell et al. (2000)
25.377
8
–
54
–
16
3/4
9
Baird et al. (2000)
16.237
7
27,7
45
3,1
5
9/0
Chakrabarti u. Fombonne (2000)
15.500
5
16,8
26
8,4
13
2/0
10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Gesamt
590:111 Kinder, was einer Relation von Autismus zu Asperger-Syndrom von 5,3 entspricht. Wenn man die Zahlen in . Tab. 2.5 betrachtet, so fällt auf, dass die Studie von Kadesjö et al. (1999) sowohl hinsichtlich der Prävalenz des Autismus als auch hinsichtlich der Prävalenz des Asperger-Syndrom aus dem Rahmen fällt. Möglicherweise wurden hier sehr weit gefasste Kriterien für Autismus und das Asperger-Syndrom zugrunde gelegt. Lässt man die Ergebnisse dieser Untersuchung außer acht und berechnet den Mittelwert der Prävalenzraten der verbleibenden Studien, so ergibt sich für Autismus eine Prävalenzrate von 14,5 auf 10.000 und für das AspergerSyndrom eine solche von 3,3 auf 10.000 Kinder. Fombonne und Tidmarsh (2003) gehen in ihrer zusammenfassenden Einschätzung der Daten noch konservativer vor und nehmen als Prä-
590
111
5/3
valenzrate für Autismus 10 auf 10.000 Kinder und für das Asperger-Syndrom 2 auf 10.000 Kinder als derzeit realistische epidemiologische Daten an. Zunahme autistischer Störungen? Derzeit wird immer wieder diskutiert, ob autistische Störungen (Störungen des autistischen Spektrums) in den letzten zehn Jahren zugenommen haben oder nicht. In einer umfassenden Literaturübersicht und Metaanalyse, in der 45 epidemiologische Studien über Autismus-SpektrumStörungen und verwandte Störungen analysiert wurden, kommt Blaxill (2004) zu dem Schluss, dass sowohl in den USA als auch in England eine Zunahme zu verzeichnen sei. Danach seien die Prävalenzraten für Störungen des autistischen Spektrums in den USA von 3 auf 10.000 Kinder in den 70er Jahren auf 30 auf 10.000 Kinder in
2.3 Epidemiologie
den 90er Jahren gestiegen, was eine Zunahme um das Zehnfache bedeutet. Auch in Großbritannien seien die Prävalenzraten für Störungen, die dem autistischen Spektrum angehören, von 10 auf 10.000 in den 80er Jahren auf rund 30 auf 10.000 Kinder in den 90er Jahren angestiegen. Der Autor kommt nach seiner sorgfältigen Analyse zu dem Schluss, dass diese Zunahme nicht durch methodische Unterschiede in der Vorgehensweise der Untersuchungen oder durch extrem unterschiedliche Definitionen bzw. diagnostische Kriterien erklärt werden könne. Literatur Asperger H (1944) Die »autistischen Psychopathen« im Kindesalter. Arch Psychiat Nerven 117: 76–136 Baird G, Charman T, Baron-Cohen S et al. (2000) A screening instrument for autism at 18 months of age: A six-year follow-up study. J Am Acad Child Psy 39: 694–702 Blaxill MF (2004) What’s going on? The question of timetrends in autism. Public Health Rep 119: 536–551 Bonus B, Assion HJ (1997) Asperger-Syndrom – eine Übersicht der diagnostischen Kriterien. Fortschr Neurol Psyc 65: 41–8 Chakrabarti S, Fombonne E (2001) Pervasive developmental disorders in preschool children. J Amer Med Assoc 285: 3093–3099 Ehlers S, Gillberg C (1993) The epidemiology of Asperger syndrome. A total population study. J Child Psychol Psyc 34: 327–350 Fombonne E, Tidmarsh L (2003) Epidemiologic data on Asperger disorder. Child AdolesPsychiat Clin North Am 12: 15–21 Ghaziuddin M, Tsai L, Ghaziuddin, N (1992) Brief report: a comparison of the diagnostic criteria for Asperger syndrome. J Autism Dev Disord 22: 643–649 Gillberg C (1991) Clinical and neurobiological aspects of Asperger-syndrome in six familiy studies. Universtity Press, Cambridge Gillberg C (1998) Asperger syndrome and high-functioning autism. Brit J Psychiat 172: 200–209 Gillberg C (2002) A Guide to Asperger Syndrome. University Press, Cambrigde Gillberg C, Gillberg IC, Rastam M, Wentz E (2001) The Asperger syndrome (and high-functioning autism) Diagnostic Interview (ASDI): a preliminary study of a new structured clinical interview. Autism 5: 57–66 Gillberg IC, Gillberg C (1989) Asperger syndrome – some epidemiological considerations: a research note. J Child Psychol Psyc 30: 631–638
31
2
Hollander E, Cartwright C, Wong CM et al. (1998) A dimensional approach to autism spectrum. CNS Spectrums, 3: 22–39 Howlin P (2000) Outcome in adult life for more able individuals with autism or Asperger syndrome. Autism 4: 63–83 Kadesjö B, Gillberg C, Hagberg B (1999) Brief report: Autism and Asperger syndrome in seven-year-old children: A total population study. J Autism Dev Disord 29: 327– 331 Kanner L, Eisenberg L (1956) Early infantile autism, 1943– 1955. Am J Orthopsychiat 26: 55–65 Klin A, Volkmar FR, Sparrow SS et al. (1995) Validity and neuropsychological characterization of Asperger syndrome. J Child Psychol Psyc 36: 1127–1140 Klin A, Pauls D, Schultz R, Volkmar F (2005) Three Diagnostic Approaches to Asperger Syndrome: Implications for Research. J Autism Dev Disord 35: 221–234 Leekam S, Libby S, Wing L et al. (2000) Comparison of ICD-10 and Gillberg´s criteria for Asperger syndrome. Autism 4: 11–28 Ozonoff S, Rogers SJ, Penninton BF (1991) Asperger´s Syndrome: Evidence of an Empirical Distinction form High-Functioning Autism. J Child Psychol Psyc 32: 1107–1122 Powell J, Edwards A, Edwards M et al. (2000) Changes in the incidence of childhood autism and other autistic spectrum disorders in preschool children from two areas in West-Midlands, UK. Dev Med Child Neurol 42: 624–628 Rutter M (1978) Diagnosis and definition. In: Rutter M, Schopler E (eds) Autism: a reppraisal of concepts and treatments. Plenum Press, New York Sponheim E, Skjeldal O (1998) Autism and related disorders: Epidemiological findings in a Norwegian study using ICD-10 diagnostic criteria. J Autism Dev Disord 28: 217–227 Szatmari P, Bartolucci G, Bremner R (1989) Asperger’s syndrome and autism: Comparison of early history and outcome. Dev Med Child Neurol 31: 709–720 Tantam D (1988) Asperger’s syndrome. J Child Psychol Psyc 29: 245–255 Taylor B, Miller E, Farrington C et al. (1999) Autism and measles, mumps, and rubella vaccine: No epidemiological evidence for a causal association. Lancet 353: 2026–2029 Volkmar FR, Klin A (2000) Diagnostic Issues in Asperger Syndrome. In: Klin A, Volkmar FR, Sparrow SS (eds) Asperger Syndrome. The Guilford Press, New York Wing L (1981) Asperger´s syndrome: A clinical account. Psychol Med 11: 115–129 Wolff S (1995) Loners. The life path of unusual children. Routledge, London New York
3 Was erklärbar ist: Ätiologie und Entwicklungspsychopathologie 3.1
Genetische Faktoren
3.2
Assoziierte körperliche Erkrankungen bzw. Syndrome
3.3
Komorbide psychopathologische Störungen – 36
3.4
Hirnschädigungen und Hirnfunktionsstörungen
3.5
Neuropsychologische und kognitive Auffälligkeiten – 42 Intelligenz – 42 Aufmerksamkeit – 43 Sprache – 44 Exekutive Funktionen – 44 Zentrale Kohärenz – 46 Theory of mind – 46
3.5.1 3.5.2 3.5.3 3.5.4 3.5.5 3.5.6 3.5.7
– 34 – 35
– 39
Ein neuropsychologisches Modell für Autismus-Spektrum-Störungen – 51
3.6
Modellvorstellungen zur Ätiopathogenese
3.7
Exkurs: Entwicklungspsychopathologie des Asperger-Syndroms unter dem besonderen Aspekt der Entwicklung der Theory of Mind – 59
3.7.1
Begriffsbestimmung: Emotionserkennung, Empathie, sozial-kognitive Attribuierungen, affektive und kognitive Perspektivenübernahme – 59 Die Anfänge der Entwicklung einer »Theory of Mind« – 63 Der weitere Entwicklungsverlauf bei Kindern mit autistischen Störungen – insbesondere bei solchen mit Asperger-Syndrom – 71 Zusammenhang zur Symptomatik – 75
3.7.2 3.7.3 3.7.4
– 53
34
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 3 · Was erklärbar ist: Ätiologie und Entwicklungspsychopathologie
Unter den Klinikern und Forschern, die sich in den letzten Jahrzehnten mit dem Asperger-Syndrom beschäftigt haben, herrscht inzwischen Einigkeit darüber, dass es sich bei dieser Störung um eine tiefgreifende Entwicklungsstörung handelt, die sich nicht durch eine Ursache erklären lässt, sondern einen mehrdimensionalen Hintergrund hat. Die Datenlage ist allerdings im Hinblick auf das Asperger-Syndrom weitaus spärlicher als beim frühkindlichen Autismus. Dies mag daran liegen, dass die Störung, trotz vorangehender Publikationen in englischer Sprache (z. B. Krevelen 1963, 1971) erst 1981 durch die Arbeit von Lorna Wing international zur Kenntnis genommen wurde und erst in den Jahren 1992 und 1994 in die gängigen Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-IV Eingang gefunden hat. Die bislang vorliegenden Untersuchungen sprechen für die Beteiligung folgender Faktoren an der Ätiologie und Pathogenese des AspergerSyndroms, wobei sie in gleichem Maße auch zur Erklärung des frühkindlichen Autismus und des atypischen Autismus herangezogen werden: 5 Genetische Faktoren, 5 assoziierte körperliche Erkrankungen, 5 komorbide psychopathologische Störungen, 5 Hirnschädigungen bzw. Hirnfunktionsstörungen, 5 biochemische Anomalien, 5 neuropsychologische und kognitive Auffälligkeiten, 5 emotionale Störungen und Störungen der Theory of Mind/Empathie. Auf diese Faktoren soll im Folgenden eingegangen werden.
3.1
Genetische Faktoren
Bereits in der Erstbeschreibung wies Hans Asperger darauf hin, dass die von ihm beschriebene »autistische Psychopathie« einen genetischen Hintergrund hat. Dies kommt in dem Zitat zum Ausdruck: »Längst ist die Frage entschieden, dass
auch psychopathische Zustände konstitutionell verankert und darum vererbbar sind« (S. 128). Während zum frühkindlichen Autismus inzwischen eine ganze Reihe von Familien- und Zwillingsstudien vorliegen, ist dies beim AspergerSyndrom nicht der Fall. Unseres Wissens gibt es zwar Familienstudien, die recht eindeutig (und auch dies wurde von Hans Asperger bereits beobachtet) auf eine familiäre Häufung des Syndroms hinweisen (Volkmar et al. 1997; Volkmar u. Klin 2000), jedoch existieren keine Zwillingsstudien. Auch im Hinblick auf molekulargenetische Studien ist die Datenlage sehr unterschiedlich: Mit Probanden, die an frühkindlichem Autismus leiden, wurden bislang mindestens 8 Genomscans durchgeführt (Auranen et al. 2002), mit Asperger-Probanden erst einer (Ylisaukko-oja 2004). Frühkindlicher Autismus (Kanner-Syndrom).
Beim frühkindlichen Autismus wurden Suszeptibilitätsloci auf verschiedenen Chromosomen gefunden. Im Vordergrund stehen derzeit die Regionen 2q, 7q und 13q (Veenstra-Vandenweele u. Cook 2003). Es wurden aber in Kopplungsstudien auch in anderen Regionen mögliche Suszeptibilitätsloci identifiziert, so in der Region 1q21–22, 3q25–27, 15q11–13, 16q13, und solche auf zahlreichen anderen Chromosomen. Da die Befunde inkonsistent sind und ständig neue Genloci beschrieben werden, die dann häufig auch nicht repliziert werden können, verzichten wir auf detailliertere Ausführungen. Es wird mittlerweile angenommen, dass bis zu 20 Gene an der Verursachung von AutismusSpektrum-Störungen beteiligt sind. Insofern steht man, trotz weltweiter Bemühungen um die genetische Aufklärung dieser Störungen, immer noch am Anfang. Asperger-Syndrom. Bezüglich des Asperger-
Syndroms existiert erst ein Genomscan (Ylisaukko-oja et al. 2004) an 17 finnischen Mehrgenerationenfamilien mit insgesamt 119 Individuen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Studien wur-
35
3.2 Assoziierte körperliche Erkrankungen bzw. Syndrome
de hier von einer eng definierten Asperger-Stichprobe ausgegangen, die keine Probanden mit anderen Störungen aus dem Autismus-Spektrum enthielt. Es wurden Suszeptibilitätsgenorte auf den Chromosomen 1q21–22, 3p14–24 und 13q31– 33 festgestellt, die sich mit bereits beschriebenen Suszeptibilitätsgenorten für den frühkindlichen Autismus überlappen, wobei die Genorte 1q21– 22 und 13q31–33 sich mit bereits beschriebenen Suszeptibilitätsloci für Schizophrenie überlappen. Dieses bislang nicht replizierte Ergebnis ist insofern interessant, als Patienten mit Asperger-Syndrom einerseits eine Vielzahl von Symptomen aufweisen, die mit dem frühkindlichen Autismus identisch sind, zum anderen aber auch »schizophrenienahe« Symptome berichtet wurden sowie auch ein Übergang in 5 % der Fälle in eine schizophrene Erkrankung (7 Kap. 4.3). Ausgehend von diesen Ergebnissen wäre es durchaus denkbar, dass zur Pathogenese des AspergerSyndroms sowohl genetische Komponenten aus dem Spektrum schizophrener Erkrankungen als auch aus dem Spektrum autistischer Störungen beitragen. In einer weiteren Untersuchung derselben finnischen Arbeitsgruppe wurde ein Genomscan bei Probanden aus 38 finnischen Familien mit Autismus-Spektrum-Störungen durchgeführt, und es wurde ein Suszeptibilitätsgenort auf Chromosom 3q25–27 gefunden. Diese Stichprobe umfasste sowohl Probanden mit frühkindlichem Autismus, mit Asperger-Syndrom als auch mit anderen tiefgreifenden Entwicklungsstörungen. Darüber hinaus wurden weitere Suszeptibilitätsgenorte auf den Chromosomen 1q21– 22 und 7q identifiziert. Genetische Untersuchungen beim AspergerSyndrom haben mit mehreren Schwierigkeiten zu kämpfen: 1. Die inzwischen weit verbreitete Auffassung, wonach das Asperger-Syndrom, der frühkindliche Autismus und noch andere Störungen unter der Bezeichnung AutismusSpektrum-Störungen zusammengefasst werden, hat dazu geführt, dass die Stichpro-
3
ben für genetische Analysen sehr heterogen sind und Probanden bzw. Familien mit sehr unterschiedlichen Störungen und in unterschiedlicher Häufigkeit einbeziehen (sogenannter breiter Phänotyp). Dies hat zur Folge, dass auch die Ergebnisse für AutismusSpektrum-Störungen gelten und nicht für eine einzelne Störung (z. B. das AspergerSyndrom) spezifisch sind. 2. Die diagnostischen Kriterien für das Asperger-Syndrom sind uneinheitlich. Die verschiedenen Varianten wurden in Kapitel 2 dargestellt. Auch dieser Umstand erschwert die genetische Forschung beim AspergerSyndrom, und nicht nur diese. Nach der Auffassung von Gillberg (Gillberg u. Gillberg 1989) entsprechen im Übrigen die von Asperger beschriebenen Fälle nicht den ICD- bzw. DSM-IV-Kriterien. 3. Beim eng definierten Phänotyp ergeben sich Stichprobenprobleme aufgrund der bislang ungeklärten Frage, ob das Asperger-Syndrom und der HFA eigenständige und voneinander abgrenzbare Störungen sind oder lediglich Varianten eines Spektrums mit mehr Gemeinsamkeiten als Unterschieden.
3.2
Assoziierte körperliche Erkrankungen bzw. Syndrome
Während beim frühkindlichen Autismus mittlerweile über 40 körperliche Erkrankungen überzufällig häufig assoziiert sind (u. a. tuberöse Sklerose, Neurofibromatose, fragiles X-Syndrom, fetales Alkoholsyndrom etc.), sind derartige Assoziationen beim Asperger-Syndrom selten bzw. gar nicht zu beobachten, eher noch beim High-functioning-Autismus (HFA), obwohl derzeit immer noch unklar ist, ob es gut definierbare Unterschiede zwischen High-functioningAutismus und Asperger-Syndrom überhaupt gibt. Da eine Vielzahl dieser Erkrankungen und Syndrome mit geistiger Behinderung assoziiert sind und geistige Behinderung in bis zu 80 % der
36
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 3 · Was erklärbar ist: Ätiologie und Entwicklungspsychopathologie
Fälle von frühkindlichem Autismus vorkommt, stellt sich die Frage, inwieweit für diese ebenfalls meist genetisch determinierten Syndrome nicht die geistige Behinderung führend ist und möglicherweise dazu beiträgt, dass für den Autismus relevante Gene aktiviert werden, so dass es zusätzlich zur Manifestation einer autistischen Störung kommt. Da das Asperger-Syndrom in der Regel mit einer normalen bis überdurchschnittlichen Intelligenz einhergeht, während die meisten der mit dem frühkindlichen Autismus assoziierten Syndrome mit geistiger Behinderung einhergehen, ist es verständlich, dass diese Syndrome beim Asperger-Syndrom in der Regel nicht vorkommen.
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Am häufigsten ist die Aufmerksamkeits-
defizit-/Hyperaktivitätsstörung, die sich beim frühkindlichen Autismus stärker in der Hypermotorik, beim Asperger-Syndrom eher in der Aufmerksamkeitsstörung äußert. Interessanterweise sind die neuropsychologischen Profile von Patienten mit Asperger-Syndrom und solchen mit Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen sehr ähnlich (Ehlers et al. 1997). Tics und Tourette-Syndrom. Auch Tics und
das Tourette-Syndrom kommen gehäuft bei allen drei Autismus-Spektrum-Störungen vor, am häufigsten aber wohl beim Asperger-Syndrom, in bis zu 20 % der Fälle (Ehlers u. Gillberg 1993). Störungen der Motorik. Vielfältig sind auch die
3.3
Komorbide psychopathologische Störungen
Hingegen sind mit dem Asperger-Syndrom eine Vielzahl von psychopathologischen Störungen überzufällig häufig assoziiert, was sowohl für die Diagnostik und die Therapie wichtig ist (7 Kap. 4.3) als auch für Ätiologie und Pathogenese, um die es hier geht. In . Tab. 3.1 ist eine Übersicht sowohl über die somatischen Erkrankungen und Syndrome als auch über die psychopathologischen Störungen wiedergegeben, die gehäuft sowohl beim Autismus, beim High-functioning-Autismus und beim Asperger-Syndrom vorkommen. Betrachtet man die Liste der psychopathologischen Störungen, so sind sie über alle drei Syndrome verteilt, wobei sich nur bei einigen dieser Störungen Häufigkeitsunterschiede feststellen lassen. Was ihre Häufigkeit generell beim Asperger-Syndrom betrifft, so kann davon ausgegangen werden, dass etwa zwei Drittel der Patienten mit Asperger-Syndrom an mindestens einer weiteren psychopathologischen Störung leiden (Ghaziuddin et al. 1998).
Störungen der Motorik. Es ist aus verschiedenen Studien und klinischen Beobachtungen bekannt, dass beim Asperger-Syndrom Koordinationsstörungen, eine wenig flüssige Motorik, motorische Ungeschicklichkeit und Entwicklungsstörungen der Motorik vorkommen. Dadurch wirken die Patienten oft schon vom Gangbild her ungelenk und hölzern. Es ist auch diskutiert worden, ob diese Symptome nicht in die Kriterien zur Definition des Asperger-Syndroms aufgenommen werden sollten. Derartige Störungen sind beim frühkindlichen Autismus weniger ausgeprägt, wenn er nicht mit anderen Syndromen kombiniert ist, die die Motorik beeinträchtigen. Zwangssymptome, affektive Störungen. Auch
Zwangssymptome sind bei allen drei AutismusSpektrum-Störungen häufig, wenngleich beim frühkindlichen Autismus, infolge der oft fehlenden sprachlichen Kommunikation, eine Abgrenzung zu motorischen Stereotypien schwierig ist. Beim Asperger-Syndrom sind Zwangssymptome in über 20 % der Fälle festzustellen, affektive Störungen (Depressionen, bipolare Erkrankungen, Dysthymie) sind weitaus häufiger als bei den anderen beiden Autismus-Spektrum-Störungen. Dies wird, neben einer mög-
37
3.3 Komorbide psychopathologische Störungen
3
. Tab. 3.1. Komorbidität bei Autismus, High-functioning-Autismus und Asperger-Syndrom (nach Gillberg u. Billstedt 2000; Ghaziuddin et al. 1998) Somatische Erkrankungen und Syndrome
Autismus
High-functioningAutismus
Asperger-Syndrom
Geistige Behinderung
×××× (bis 80 %)
–
–
kein Spracherwerb/ Sprachstörungen
×××
–
–
Sinnesmängel (Hörstörungen, Sehstörungen)
×××
×
–
Tuberöse Sklerose
×
(×)
–
Neurofibromatose
×
(×)
–
Fragiles X-Syndrom
×
(×)
–
Andere Chromosomenstörung
×
(×)
–
Rett-Syndrom
×
(×)
–
Fetales Alkoholsyndrom
×
(×)
–
Röteln-Embryopathie etc.
×
(×)
–
ADHS
×××
×××
×××
Tics / Tourette-Syndrom
××
××
××
Störungen der Motorik
××
××
×××
Zwangssymptome
×××
×××
×××
Affektive Störungen
××
××
×××
Essstörungen
×××
××
××
Mutismus
××
××
××
Schizophrenie
–
–
×
Persönlichkeitsstörungen
–
×××
×××
Aggressives Verhalten
×××
×××
×××
Selbstverletzendes Verhalten
×××
××
××
Schlafstörungen
×××
×××
×××
Psychopathologische Störungen
× = überzufällig assoziiert; ×× = >10 %; ××× = >20 %; ×××× = >50 %
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1
Kapitel 3 · Was erklärbar ist: Ätiologie und Entwicklungspsychopathologie
3
lichen genetischen Belastung, darauf zurückgeführt, dass diese Patienten, gerade um die Pubertät ihrer Defizite stärker gewahr werden und auch aufgrund ihrer non-verbalen Lernstörung, die sie verschiedentlich anecken lässt, zu einem sozialen Rückzug neigen (Ghaziuddin 2002).
4
Essstörungen. Auch Essstörungen kommen ge-
2
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häuft vor. Einerseits fanden sich in einer repräsentativen Stichprobe von Patientinnen mit Anorexia nervosa in 18 % Störungen aus dem Autismus-Spektrum, darunter in 6 % ein AspergerSyndrom, und zwar sowohl zu Beginn der Essstörung als auch 5 und 10 Jahre später (Wentz et al. 1999), andererseits konnte bei Patienten mit Asperger-Syndrom und schizoider Persönlichkeitsstörung ein unterdurchschnittliches Körpergewicht bzw. ein unterdurchschnittlicher BMI festgestellt werden (Hebebrand et al. 1997). Mutismus, Schizophrenie. Was das Vorkom-
men von Mutismus betrifft, so existieren Hinweise bei allen drei Autismus-Spektrum-Störungen, wobei unklar ist, ob es bezüglich der Häufigkeit Unterschiede zwischen den drei Autismus-Spektrum-Störungen gibt. Während die ältere Literatur von einem Zusammenhang zwischen Schizophrenie und Autismus ausgeht, haben Nachuntersuchungen recht klar ergeben, dass ein solcher Zusammenhang nicht existiert, es sei denn durch eine zufällige Kombination. Hingegen ist beim Asperger-Syndrom bzw. der schizoiden Persönlichkeitsstörung, unter die das AspergerSyndrom noch in der ICD-9 subsumiert war, ein Übergang in eine schizophrene Erkrankung in etwa 5 % der Fälle bekannt (Wolff 1995). Persönlichkeitsstörungen. Auch
Persönlichkeitsstörungen wurden beim Asperger-Syndrom wiederholt beschrieben. Dabei sollte man sich daran erinnern, dass der Erstbeschreiber Hans Asperger die Störung ursprünglich »autistische Psychopathie« nannte. Psychopathie war die damals gültige Bezeichnung für Persönlichkeitsstörung. Die von Asperger beschriebenen vier
Fälle in seiner Originalarbeit wurden alle wegen überwiegend externalisierender Verhaltensweisen (oppositionelles Verhalten, Respektlosigkeit, Regelverstöße, Distanzlosigkeit etc.) stationär aufgenommen. Dies sind Verhaltensweisen, die, wenn sie dauerhaft beobachtet werden, den Persönlichkeitsstörungen zugeordnet werden können, z. B. einer dissozialen Persönlichkeitsstörung, insbesondere wenn sie mit aggressiven Verhaltensweisen kombiniert sind, oder, bei anderer Symptomkombination, einer schizoiden Persönlichkeitsstörung. Aggressivers Verhalten. Aggressives Verhalten
wurde häufig im Zusammenhang mit dem Asperger-Syndrom berichtet. So ergab eine Untersuchung aller Patienten an einer Klinik für forensische Psychiatrie in England, dass die Häufigkeit von Patienten mit Asperger-Syndrom deutlich höher war als in der allgemeinen Bevölkerung (Scragg u. Sha 1994). Daraus sollte nicht geschlossen werden, dass Patienten mit AspergerSyndrom eine Neigung zur Kriminalität haben. Vielmehr kommen aggressive Akte und auch andere Straftaten häufig dadurch zustande, dass sie sich aus ihren ausgeprägten Spezialinteressen ergeben (z. B. Entwendung von Gegenständen, die sie sammeln) oder aus dem Missverständnis von Situationen, die sie nicht adäquat erfassen können. Beispiel So reagierte beispielsweise der 14-jährige K. auf das »kumpelhafte Schulterklopfen« eines Mitschülers mit deutlich aggressivem Verhalten, weil er dies als »Angriff« verstand.
Schließlich können Menschen mit AspergerSyndrom auch aufgrund komorbider anderer psychiatrischer Erkrankungen aggressives oder auch selbstverletzendes Verhalten zeigen, wenn sie beispielsweise gleichzeitig an einer depressiven Störung leiden.
39
3.4 Hirnschädigungen und Hirnfunktionsstörungen
Schlafstörungen. Schließlich wurde auch über
Schlafstörungen wiederholt in der Literatur berichtet. Hierbei muss immer geprüft werden, ob die Schlafstörungen nicht ein Symptom einer zusätzlichen anderen psychiatrischen Störung ist, z. B. einer Depression. Andererseits kann aber auch vermutet werden, dass Schlafstörungen, zumindest bei einem Teil der Aspergerpatienten zum Symptomspektrum gehören. So ergab sich in einer Untersuchung von Godbout et al. (2000) an acht Aspergerpatienten, die mit acht Kontrollpersonen verglichen wurden, eine Reihe von Auffälligkeiten in der Schlafcharakteristik wie Reduktion der Schlafzeit im ersten Drittel der Nacht, vermehrtes Auftreten von REMPhasen, die zugleich häufiger unterbrochen wurden. Daraus schlossen die Autoren, dass bei Patienten mit Asperger-Syndrom möglicherweise der Schlafrhythmus und die Schlafarchitektur gestört sind. Fazit
Aus dem überzufälligen bzw. gehäuften Vorkommen dieser psychopathologischen Störungsmuster beim Asperger-Syndrom lassen sich für die Ätiologie folgende Schlussfolgerungen ziehen (Gillberg u. Bilstedt 2000): 1. Häufigkeit und Ausmaß der Komorbidität des Asperger-Syndroms mit anderen Störungen weisen darauf hin, dass eine einheitliche Pathogenese der Störung sehr unwahrscheinlich ist. Vielmehr muss von multiplen Faktoren ausgegangen werden, die mit Mechanismen oder Faktoren, wie sie bei anderen Störungen wirksam sind, zusammenhängen. 2. Die Komorbidität mit Symptomen von ADHS und dem Tourette-Syndrom weist darauf hin, dass das dopaminerge System auch beim Asperger-Syndrom involviert sein dürfte. 3. Die Komorbidität mit Zwangssymptomen bzw. Zwangsstörungen spricht für eine Involvierung des serotoninergen Systems, was u. a. auch daraus hervorgeht, dass Serotonin-
3
Wiederaufnahmehemmer die Zwangssymptome positiv beeinflussen. Im Übrigen ist auch darauf hinzuweisen, dass der zuverlässigste und am häufigsten replizierte biochemische Befund beim Autismus eine Hyperserotoninämie in einem Drittel der Fälle ist. Inwieweit dies auch auf das Asperger-Syndrom zutrifft, ist allerdings unklar.
3.4
Hirnschädigungen und Hirnfunktionsstörungen
Die Bedeutung von Hirnschädigungen und Hirnfunktionsstörungen für das Verursachen autistischer Störungen basiert auf dem Nachweis verschiedener neurologischer Veränderungen und Erkrankungen. Hieraus wurden Theorien über das »autistische Defizit« abgeleitet wie etwa eine Funktionsstörung der linken Hirnhälfte beim frühkindlichen Autismus (Fein et al. 1984), eine Funktionsstörung der rechten Hirnhälfte beim Asperger-Syndrom (McKelvey et al. 1995, s. a. Schultz et al. 2000). Beim frühkindlichen Autismus wurde ferner nachgewiesen: abnorme Stammhirnveränderungen im Zusammenhang mit Aufmerksamkeitsstörungen (Fein et al. 1981), abnorme sensorische Reiz- und Signalverarbeitung (sensorische Modulation; Ornitz 1978, 1983), abnorme Reifungsstörungen des Gehirns (Bauman u. Kemper 1985) und einige spezifischere Auffälligkeiten wie die Unterentwicklung des Kleinhirnwurmes (Courchesne et al. 1988). Von den zuletzt genannten Beobachtungen führen bestimmte Zusammenhänge zu anderen, gleichzeitig reifenden Hirnsystemen, die nachweislich mit dem Gedächtnis und dem emotionalen Verhalten zu tun haben. Ferner gibt es Spekulationen darüber, inwiefern die Unterentwicklung des Kleinhirnwurms mit kognitiven und motorischen Funktionsstörungen verbunden ist und ob Verbindungen zu anderen Strukturen des Gehirns bestehen, die für die Regulation der Aufmerksamkeit und der sensorischen Modulation verantwortlich sind. Diese Ergeb-
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Kapitel 3 · Was erklärbar ist: Ätiologie und Entwicklungspsychopathologie
nisse beziehen sich überwiegend auf den frühkindlichen Autismus. Da aber das »SpektrumKonzept« auch den High-functioning-Autismus und das Asperger-Syndrom umfasst, gehen die Anhänger dieses Konzepts davon aus, dass viele dieser Befunde auch für das Asperger-Syndrom gelten müssten, wiewohl die Datenlage hier deutlich ungünstiger ist als für den frühkindlichen Autismus. Was den Entstehungszeitpunkt von AutismusSpektrum-Störungen betrifft, so fanden Piven et al. (1990) bei 54 % ihrer autistischen Stichprobe, aber bei keiner der nicht-autistischen Kontrollgruppe, abnorme Veränderungen der Hirnrinde, die ihren Ursprung vor dem 6. Schwangerschaftsmonat haben sollen. Dieses Ergebnis und auch die anderen Beobachtungen zur Hirnpathologie bei autistischen Patienten unterstreichen die Bedeutung der Entwicklungsperspektive, und zwar nicht nur für das Verhalten, sondern auch für die Differenzierung des Gehirns und seine Funktionen. Die Ergebnisse zeigen aber zugleich auch die Verschiedenartigkeit der Hirnfunktionsstörungen und die Schwierigkeit, sie in eine umfassende Theorie zu integrieren. Wiewohl diese Befunde sich erneut überwiegend auf den frühkindlichen Autismus beziehen, ist auch für verschiedene Auffälligkeiten, die sich beim Asperger-Syndrom nachweisen lassen, an eine pränatale Genese zu denken. Über diese überwiegend für den frühkindlichen Autismus gültigen Befunde, die gleichwohl, wenn man vom »Spektrum-Ansatz« ausgeht, auch für das Asperger-Syndrom bedeutsam sind, wurden in den letzten Jahren einige interessante Befunde an Patienten mit Asperger-Syndrom gewonnen, die für dieses Syndrom charakteristisch sind, ohne dass man ihnen Spezifität oder gar Ausschließlichkeit für das AspergerSyndrom zuschreiben kann. Eine Auswahl dieser Befunde ist in . Tab. 3.2 dargestellt. Wie . Tab. 3.2 zeigt, wurden eine Reihe von Auffälligkeiten bei Patienten mit Asperger-Syndrom objektiviert, die bislang lediglich als Mosaik-Steine eines noch zu erstellenden ätiolo-
gischen Mosaikgebildes gelten können. Sie können aber bereits jetzt folgendes verdeutlichen: 5 Aus der Vielzahl der Befunde wird deutlich, dass das Asperger-Syndrom eine Störung ist, die ein zerebrales Korrelat hat, wenngleich die einzelnen Befunde sich noch nicht schlüssig miteinander in Verbindung bringen lassen. 5 Es finden sich sowohl strukturelle Auffälligkeiten in bestimmten Hirnregionen als auch funktionelle Auffälligkeiten. Beide dürften sich auch mit entsprechenden Verhaltensweisen in Verbindung bringen lassen wie z. B. die metabolischen Veränderungen im präfrontalen Kortex mit zwanghaftem Verhalten oder die Anomalien im peptidergen System mit repetitivem Verhalten. 5 Die reduzierte Fähigkeit bezüglich des Unterscheidnes von Gerüchen wirft die Frage auf, ob nicht hier eine zusätzliche Einschränkung in der Sinneswahrnehmung vorliegt, die eine weitere Facette der gestörten Informationsverarbeitung bei Patienten mit Asperger-Syndrom darstellt. 5 Die geringere Aktivierung in einer PETUntersuchung der Strukturen, die mit dem Mentalisierungsnetzwerk in Verbindung gebracht werden, ist ein erster neurobiologischer Hinweis auf ein Verständnis der Störung der Theory of Mind (s. u.). Hier scheint insbesondere die Amygdala und die »fusiform face area« eine besondere Bedeutung zu haben (Schultz 2005). 5 Schließlich deutet die im vorherigen Abschnitt beschriebene Komorbidität mit ADHS und Zwangsstörungen auf Fehlfunktionen im dopaminergen und serotoninergen Transmittersystem hin. Weitere Ergebnisse, die insbesondere die gestörten bzw. andersartigen Hirnfunktionen in bestimmten neuropsychologisch relevanten Bereichen aufgreifen, werden im nächsten Abschnitt dargestellt.
41
3.4 Hirnschädigungen und Hirnfunktionsstörungen
3
. Tab. 3.2. Neurologische Auffälligkeiten und Funktionsstörungen beim Asperger-Syndrom Auffälligkeit
Funktionsstörung
Autoren
Kopfumfang (Makrozephalus)
Gehäuftes Vorkommen bei AS bereits bei Geburt. Betrifft nicht alle Pat. mit AS, aber eine bedeutsame Subgruppe
Gillberg u. de Souza (2002) Cederlund u. Gillberg (2004)
Motorische Störungen
Häufig umschriebene Entwicklungsstörung motorischer Funktionen
Green et al. (2002)
Non-verbale Lernstörung
Charakteristische Defizite b. visuell-räumlichen Aufgaben u. bimanuellen motorischen Tätigkeiten; Hinweis auf Störung der interhemisphärischen Kommunikation
Gunter et al. (2002)
Hirnanatomische, neurophysiologische und biochemische Veränderungen
5 Größeres Hirnvolumen im Vergleich zu Kontrollen 5 Reduktion der grauen Substanz im frontostriatalen Bereich u. im Kleinhirn 5 Metabolische Veränderungen im präfrontalen Kortex. Diese korrelieren mit zwanghaftem Verhalten
McAlonan et al. (2002)
5 Abweichungen in der Anordnung (Struktur) d. Zellsäulen in 3 Hirnregionen
Casanova et al. (2001)
5 Geringere Aktivierung (PET) im Vergleich zu einer normalen Kontrollgruppe in den Strukturen des Mentalisierungsnetzwerks (v. a. medialer präfrontaler Kortex, Sulcus temporalis superior, basale Temporalregion, temporo-parietale Bahnen) während einer sozialen Attribuierungsaufgabe
Castelli et al. (2002)
5 Anomalien im peptidergen System (speziell im Oxytocin-System). Oxytocin reduziert repetitives Verhalten
Hollander et al. (2003)
5 Reduzierte Fähigkeit bezüglich der Unterscheidung von Gerüchen
Suzuki et al. (2003)
5 Geringere rechtshemisphärische Aktivierung im Bereich des Gyrus fusiformis bei der Verarbeitung von Gesichtern, hingegen erhöhte rechtshemisphärische neuronale Aktivität im Bereich des Gyrus temporalis inferior, die bei nicht-autistischen Menschen eher bei der Objekterkennung aktiviert wird 5 Geringere Aktivierung der Amygdala bei den autistischen Probanden
Schulz et al. (2000) Schultz et al. (2003) Pierce et al. (2001) Hubl et al. (2003) Baron-Cohen et al. (1999) Critchley et al. (2000) Pierce et al. (2001)
Murphy et al. (2002)
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Kapitel 3 · Was erklärbar ist: Ätiologie und Entwicklungspsychopathologie
3.5
Neuropsychologische und kognitive Auffälligkeiten
Die Neuropsychologie beschäftigt sich mit der Objektivierung der zerebralen Korrelate des Verhaltens und Erlebens. Alle Verhaltens- und Erlebnisweisen lassen sich letztlich auf Vorgänge in unserem Gehirn zurückführen, die aufgrund der modernen Forschungs- und Untersuchungsmethodik immer mehr einer Messung zugänglich werden. Die Neuropsychologie bedient sich einer Vielzahl von Untersuchungsmethoden, mit deren Hilfe psychische und körperliche Funktionen wie Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Denken, Sprache, Motorik, Koordination etc. erfasst und zerebralen Funktionen zugeordnet werden können. In den letzten Jahren lassen sich folgende Trends der neuropsychologischen Forschung ausmachen: 5 Von der traditionellen Testdiagnostik zur apparativen und computergestützten Diagnostik. 5 Von der strukturellen Diagnostik zur funktionellen Diagnostik. Immer mehr widmen sich neuropsychologische Untersuchungen der Überprüfung relevanter Funktionen während des in Frage stehenden Vorganges, z. B. während einer Wahrnehmungs- oder Konzentrationsaufgabe. 5 Von der eindimensionalen psychologischen Diagnostik zur mehrdimensionalen interdisziplinären Diagnostik unter Einbeziehung der Neurophysiologie und der Bildgebung. 5 Von der Lokalisationsdiagnostik zur Netzwerkdiagnostik, mit deren Hilfe man versucht, das Zusammenspiel verschiedener Hirnregionen im Rahmen eines Netzwerkes zu ergründen. Derartige Netzwerke, wie z. B. das limbische System, welches bei der Regulation von Emotionen von großer Bedeutung ist, lassen sich mit Hilfe der modernen bildgebenden Diagnostik im aktuellen Funktionszustand erfassen und erlauben daher mehr Einblicke in die Hirnfunktionen
als die frühere, auf ein bestimmtes Hirnzentrum konzentrierte Lokalisationsdiagnostik.
3.5.1 Intelligenz In . Tab. 3.3 sind die wichtigsten Besonderheiten der intellektuellen Funktionen bei Autismus-Spektrum-Störungen dargestellt, wobei zwischen Autismus (A), High-functioningAutismus (HFA) und Asperger-Syndrom (AS) unterschieden wird. Ging man bisher davon aus, dass lediglich ein Viertel der Kinder und Jugendlichen mit autistischen Störungen eine Intelligenz zeigen, die im Durchschnittsbereich bzw. darüber liegt, so zeigen neuere Untersuchungen (Baird et al. 2000; Chakrabarti u. Fombonne 2001) dass lediglich zwischen 25 und 50 % der Kinder und Jugendlichen eine Intelligenzminderung aufweisen. In einer Überblicksarbeit (Fombonne 2003) zur Epidemiologie der autistischen Störungen konnte aufgezeigt werden, dass 40 % der Betroffenen eine deutliche geistige Behinderung zeigen, 30 % eine milde bis moderate Beeinträchtigung der Intelligenz zeigen, und 30 % verfügen über eine durchschnittliche Intelligenz. Während in vielen intellektuellen Funktionsbereichen Defizite bei den meisten AutismusSpektrum-Störungen nachzuweisen sind (am geringsten beim Asperger-Syndrom), sind Menschen mit autistischen Störungen bei verschiedenen Aufgaben nicht-autistischen Menschen in mancher Hinsicht überlegen. Dies trifft z. B. bei einfachen visuellen Aufgaben zu und bei der Erkennung von Details. So findet sich beispielsweise im Wechsler-Intelligenztest eine Tendenz zu guten Leistungen bei Subskalen zur Messung visuell-räumlicher Fähigkeiten (Mosaiktest, Figurenlegen) und mechanischer Gedächtnisfunktionen (Zahlennachsprechen) (Dennis et al. 1999) bei Menschen mit frühkindlichem Autismus. Beim Asperger-Syndrom hingegen findet sich insgesamt ein höheres Intelligenzniveau als
3
43
3.5 Neuropsychologische und kognitive Auffälligkeiten
. Tab. 3.3. Neuropsychologische Befunde zur Intelligenz [Autismus (A), High-functioning-Autismus (HFA), Asperger-Syndrom (AS)] Befunde zur Intelligenz
A
HFA
AS
Intelligenzminderung
häufig
nein
nein
Defizite im sprachlichen Bereich
häufig
häufig
nein
Detailorientierung der Wahrnehmung
ja
ja
–
Schwierigkeiten, Beziehungen zwischen Objekten, aber auch zwischen Personen zu erfassen
ja
ja
ja
Schwierigkeiten des Unterscheidens zwischen relevanten und irrelevanten Informationen
ja
ja
ja
Überlegenheit bei einfachen visuellen Aufgaben, z. B. Erkennung von Details
ja
ja
–
Gute Auge-Hand-Koordination
ja
ja
–
aber
beim frühkindlichen Autismus. Dabei zeigt sich, dass insbesondere der Verbal-IQ meist deutlich höher ausfällt als der Handlungs-IQ.
3.5.2 Aufmerksamkeit Auch hinsichtlich der Aufmerksamkeitsfunktionen bestehen Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen mit frühkindlichem Autismus. Ihre Hauptschwierigkeit besteht darin, dass sie eine überfokussierte Aufmerksamkeit zu Details aufweisen und Schwierigkeiten haben, ihre Aufmerksamkeit von einem Objekt oder einem Detail auf ein anderes zu richten (Courchesne et al. 1994; Allen u. Courchesne 2001). Dieses Muster der Aufmerksamkeitsstörung unterscheidet Kinder mit frühkindlichem Autismus von solchen mit einem Aufmerksamkeits-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS), die gerade dadurch gekennzeichnet sind, dass sie ihre Aufmerksamkeit rasch auf andere Objekte oder Situationen richten können, während sie in der Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit (Daueraufmerk-
samkeit) die allergrößten Schwierigkeiten haben (Konrad u. Herpertz-Dahlmann 2004). Die Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit (»sustained attention«) wiederum ist bei Menschen mit frühkindlichem Autismus gut ausgeprägt und richtet sich meist auf irgendein Detail. Es wird angenommen, dass diese Schwierigkeiten im Aufmerksamkeitsbereich auch dafür verantwortlich sind, dass diese Kinder sozial nicht Fuß fassen können: einerseits, weil sich die Aufmerksamkeit überfokussiert auf Details richtet und zum anderen, weil sie deswegen soziale Reize (z. B. Situationen) nicht erfassen (Klin et al. 2002). ! Patienten mit Asperger-Syndrom haben in hohem Maße Aufmerksamkeitsstörungen; sie unterscheiden sich aber von Patienten mit frühkindlichem Autismus dadurch, dass ihre Aufmerksamkeit nicht in gleichem Maße detailorientiert ist.
44
Kapitel 3 · Was erklärbar ist: Ätiologie und Entwicklungspsychopathologie
1
3.5.3 Sprache
2
Kinder mit Asperger-Syndrom lernen in der Regel sehr früh sprechen, entwickeln rasch eine sehr elaborierte Sprache mit einem großen Wortschatz und benutzen häufig eine gestelzte, eher erwachsenentypische Sprechweise. Kennzeichnend ist, dass sie in der Regel sehr viel sprechen, ohne Rücksicht auf ihre Umgebung zu nehmen, insbesondere dann, wenn es um ihre Spezialinteressen geht. Häufig bestehen auch Auffälligkeiten der stimmlichen Qualität der Sprache wie unmoduliertes und monotones Sprechen, das mechanisch wie eine Computersprache klingt, mit stakkatoartig abgehackten Sprachsequenzen, die mit einer abweichenden Stimmlage (blechern klingende Stimme) geäußert werden. Bezüglich der Sprachauffälligkeiten existiert eine hohe individuelle Variabilität. Ein durchgängiges Kennzeichen der Sprache ist jedoch das Fehlen oder die Einschränkung ihrer sozial-kommunikativen Funktion. Oft sind die Sprachfunktionen formal sehr gut entwickelt, aber dennoch kann die Sprache sozial-kommunikativ nur sehr unzureichend eingesetzt werden. Ob das Vorhandensein von Sprachentwicklungsstörungen allerdings als Ausschlusskriterium für die Diagnose eines Asperger-Syndroms gelten kann, wird von einigen Autoren bezweifelt (Ehlers u. Gillberg 1993; Wolff 1995).
3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
3.5.4 Exekutive Funktionen Definition Exekutive Funktionen stellen Denkprozesse höherer Ordnung dar, die für die Verhaltensplanung, -steuerung und -kontrolle entscheidend sind. Sie umfassen: Handlungsplanung, Impulskontrolle, Kontrolle der Aufmerksamkeit und der motorischen Funktionen, Wiederstand gegen Störungen, die Unterdrückung (Inhibition) drängender, aber den Handlungsablauf störender Reaktionen sowie Zielgerichtetheit, organisierte Suche und Flexibili-
tät in Denken und Handeln (im Sinne von Generierung neuer Lösungsmöglichkeiten).
Mit der Bezeichnung »exekutive Funktionen« umschreibt man eine Vielzahl von Vorgängen, die mit Planungsprozessen, Vorausschau und zielgerechtem, problemorientierten Handeln verbunden sind (Cramon u. Cramon 2000). Derartige Planungsprozesse sind im alltäglichen Leben von großer Bedeutung und ermöglichen uns, zielgerecht zu handeln und Probleme des Alltags konstruktiv zu lösen. Schwierigkeiten bei derartigen Planungsprozessen, die man den davon betroffenen Personen (im Gegensatz zu körperlichen Behinderungen) nicht ansehen kann, stellen oft eine schwerwiegende seelische Behinderung dar, die die Betreffenden bei einfachen Vorgängen (z. B. beim Finden eines Weges durch die Stadt, bei der Organisation einer Reise oder bei der Verfertigung einer Mahlzeit) erheblich behindern, was für die Umgebung unverständlich ist, da sie ja ganz normal aussehen und keinerlei körperliche Einschränkungen aufweisen. Sie sind aber dennoch erheblich behindert, weil sie einfache und im Alltag notwendige Planungsprozesse nicht vollziehen können. Eine Übersicht hierzu ist in . Tab. 3.4 wiedergegeben. In der letzten Zeile der Tabelle ist die Frage aufgeworfen, wie spezifisch diese Auffälligkeiten für autistische Menschen sind. Man hat nämlich festgestellt, dass auch bei andersartigen Störungen, z. B. bei der Schizophrenie, Störungen der exekutiven Funktionen nachzuweisen sind (Corcoran 2000). Letztlich kommt es darauf an, wie ausgeprägt diese Störungen sind, wenn man eine Aussage über die alltägliche Lebensbewältigung machen will. Es existieren zahlreiche neuropsychologische Methoden zur Prüfung der exekutiven Funktionen. Eine der bekanntesten ist der »Turm von Hanoi«. Bei dieser Aufgabe kommt es darauf an, einen Turm, der aus verschiedenen Bestandteilen besteht, an anderer Stelle genauso aufzubauen, wobei planerische Zwischenschritte notwendig sind. Diese Aufgabe ist in . Abb. 3.1 gezeigt.
45
3.5 Neuropsychologische und kognitive Auffälligkeiten
3
. Tab. 3.4. Neuropsychologische Befunde zu den exekutiven Funktionen [Autismus (A), High-functioning Autismus (HFA), Asperger-Syndrom (AS)] Befunde zu den exekutiven Funktionen
A
HFA
AS
Schwierigkeiten bei allen Planungsprozessen, insbesondere zielgerichtet und problemorientiert zu handeln
ja
ja
etwas besser, aber auffällig
Schwierigkeiten, Strategien zur Problemlösung zu entwickeln (z. B. Turm von Hanoi)
ja
ja
etwas besser, aber auffällig
Schwierigkeiten bei der Umstellung von einem Lösungsweg auf den anderen (z. B. bei Labyrinthaufgaben)
ja
ja
etwas besser, aber auffällig
Perseveratorisches Verharren bei einer einmal eingeschlagenen Strategie (geringe kognitive Flexibilität)
ja
ja
etwas besser, aber auffällig
aber: Frage der Spezifizität der Auffälligkeiten
Autistische Kinder und Jugendliche, aber auch Erwachsene, haben Schwierigkeiten diese Aufgabe zu lösen (Hughes et al. 1994; Szatmari et al. 1990; Ozonoff et al. 1991; Berthier 1995; Manjiviona u. Prior 1999). Sie können die Lösung natürlich durchaus erlernen, was umso eher gelingt, je intelligenter sie sind. Der »Turm von Hanoi« ist eine sehr einfache Aufgabe, es gibt aber auch komplexere, die dann auch jenen Personen mit Autismus Schwierigkeiten machen, die über eine gute intellektuelle Grundausstattung verfügen.
Einschränkungen in den exekutiven Funktionen führen zu Schwierigkeiten im Umschalten der Aufmerksamkeit (von einer Aufgabe auf eine andere), in der Hemmung unangebrachten Verhaltens, im rechtzeitigen Vorausplanen und auch in der Initiierung neuer Verhaltensweisen. Exekutive Funktionen werden vom Frontalhirn aus gesteuert und Schwierigkeiten in den exekutiven Funktionen sind mit Frontallappenschädigungen assoziiert (Carper u. Courchesne 2000).
Turm von Hanoi Instruktion: Du musst den Turm in der selben Reihenfolge auf der linken oder rechten Seite wieder aufbauen. Du darfst keine größere Scheibe auf eine kleinere legen! Und du darfst natürlich immer nur eine Scheibe bewegen.
. Abb. 3.1. Turm von Hanoi
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Kapitel 3 · Was erklärbar ist: Ätiologie und Entwicklungspsychopathologie
1
3.5.5 Zentrale Kohärenz
2
Definition Zentrale Kohärenz wird definiert als natürliche Tendenz, vorhandene Stimuli global und im Kontext zu verarbeiten, wobei Informationen zusammengefügt werden, um die höherwertige Bedeutung zu erfassen (Noens u. Berckelaer-Onnes 2005, S. 125). Uta Frith (1989) formulierte die Theorie der schwachen zentralen Kohärenz, die ihre Wurzeln in der Gestaltpsychologie und der kognitionspsychologischen Theorie der Feldabhängigkeit – Feldunabhängigkeit hat. Diese Theorie besagt, dass Wahrnehmung und Denken bei nicht-autistischen Menschen durch eine zentrale Kohärenz geprägt ist, d. h. Reize werden stets in ihrem Bezugssystem zu anderen Reizen und Informationen gesehen. Menschen, Objekte und Situationen werden unwillkürlich kontextgebunden und im Sinne einer kohärenten Gestalt wahrgenommen.
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Bei Menschen mit autistischen Störungen ist die zentrale Kohärenz in der Regel schwach ausgeprägt (Frith 1989; Frith u. Happé 1994; s. Happé 1999, 2000). Dies bedeutet, dass sie weniger den Kontext und die Zusammenhänge von Gegenständen und Objekten beachten, sondern ihre Wahrnehmung auf einzelne oder auch isolierte Details richten. Dies ermöglicht ihnen gute Leistungen beim schnellen Auffinden von versteckten Figuren, gute Leistungen im Mosaik-Test (Nachlegen eines Mosaiks nach einem Modell) und beim Behalten von zufälligen Wörtern, die nicht in einem besonderen sprachlichen Kontext stehen. Das gute Abschneiden im Mosaik-Test der Wechsler-Skalen ist demnach dadurch zu erklären, dass die autistischen Menschen die optisch geschlossene Reizvorlage visuell segmentieren – was für die Lösung der Aufgabe von Vorteil ist (Shah u. Frith 1993). Obwohl die schwache zentrale Kohärenz bei einigen Aufgaben zur Lösung beitragen kann, stellt sie bei der Interpretation von sozialen Situationen eine erhebliche Behinderung dar, denn dazu ist eine ganzheitliche,
kontextgebundene Wahrnehmung erforderlich (Norbury u. Bishop 2002; Berger et al. 2003). Bei Menschen mit Asperger-Syndron scheint die Fähigkeit zur zentralen Kohärenz nicht ganz so stark beeinträchtigt zu sein, wie beim frühkindlichen Autismus (Jolliffe u. Baron-Cohen 1999, 2000, 2001).
3.5.6 Theory of Mind Definition Mit dem Begriff »Theory of Mind« ist die Fähigkeit gemeint, psychische Zustände (Gefühle und Gedanken) anderen Personen und sich selbst zuzuschreiben, also die Fähigkeit, die eigenen Gedanken, Gefühle, Wünsche, Absichten und Vorstellungen und diejenigen anderer zu erkennen, zu verstehen und vorherzusagen.
Der Begriff »Theory of Mind« geht zurück auf eine Untersuchung von Premack vor 25 Jahren (Premack u. Woodruff 1978) an Schimpansen. Premack fragte sich, ob Schimpansen ihren Interaktionspartnern Bewusstseinsvorgänge unterstellen oder nicht. Diese Untersuchung gab gleichsam die Initialzündung für eine Reihe von Untersuchungen, weniger zwar in der Primatologie, um so mehr aber in der Entwicklungspsychologie, die entsprechende Fähigkeiten bei Vorschulkindern zum Gegenstand haben (für einen Überblick s. Astington et al. 1988; Astington u. Gopnik 1991; Frye u. Moore 1991; Lewis u. Mitchell 1994; Sodian 2002, 2003). Die Theory of Mind wird auch als die fundamentale Fähigkeit des Menschen zu Intersubjektivität verstanden. Die Fähigkeit, anderen Personen Bewusstseinszustände mit bestimmten Absichten zuzuschreiben, wird als Theory of Mind bezeichnet, da sie eine Annahme über die Existenz eines gedanklichen Zustandes anderer Personen enthält, hierdurch kann man das Verhalten anderer vorhersagen und erklären. Dieses Konzept ist jedoch nicht spezifisch oder universell für autistische Störungen, son-
3.5 Neuropsychologische und kognitive Auffälligkeiten
dern findet sich auch bei anderen Störungen, wie beispielsweise der Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) (Sodian et al. 2003; Buitelaar et al. 1999), bei schizophrenen Störungen (Frith 2004; Schiffmann et al. 2004; Brüne 2005), bei affektiven Erkrankungen (Doody et al. 1998; Kerr et al. 2001) findet dieses Konzept zunehmend Beachtung (s. Bruning et al. 2005). Dabei ist die Theory of Mind keine »Neuentdeckung«, sondern ist in der Literatur schon in den verschiedensten Zusammenhängen und unter verschiedenen Begrifflichkeiten beschrieben worden. Beispielsweise hat sie einen zentralen Stellenwert in der neueren Bindungsforschung (Fonagy et al. 2004) und wird dort als Fähigkeit zum »Mentalisieren« beschrieben. Piaget (1969) spricht von der Überwindung des Egozentrismus (sozialer Perspektivenwechsel); Mead (1969) und Selman (1984) sprechen von Perspektivenübernahme (s. Keller 1976); Trevarthen (1977) von der Fähigkeit zur Intersubjektivität; Flavell (1975) und Moreno (1959) sprechen von der Fähigkeit zum Rollentausch; in der Alltagssprache spricht man von Einfühlungsvermögen, von Sensibilität, von der Alltagspsychologie (»folk psychology«). Gemeinsam ist allen diesen Ansätzen, dass es um das unmittelbare Verstehen des Verhaltens anderer Menschen und des eigenen Verhaltens geht. Häufig wird Theory of Mind auch mit Empathie gleichgesetzt. Mit Empathie ist jedoch der Prozess der Identifizierung mit einer anderen Person gemeint (s. u.). Bei der Empathie handelt es sich um eine primär emotionale Reaktion, bei der die Erkenntnis durch die Qualität des mitempfundenen Gefühls vermittelt wird (Bischof-Köhler 2000). Um empathisch zu reagieren, muss man sich nicht bewusst vorstellen, wie man sich fühlen würde, wenn man anstelle einer Person wäre, die beispielsweise Kummer ausdrückt. Der empathisch mitvollzogene Kummer hat den Charakter eines unmittelbar angetroffenen Gefühls, das durch die Identifikation mit der betroffenen Person miterlebt wird. Die
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empathisch mitfühlende Person geht dabei von der impliziten Annahme aus, dass die andere Person genauso fühlt, wie er/sie selbst, wäre er/ sie in der Situation. Die im zweiten Lebensjahr einsetzende Fähigkeit zur Empathie ermöglicht die identifikatorische Teilhabe an der subjektiven Verfassung einer anderen Person. Diese Identifikation ist aber nur möglich, sobald das Selbst als bewusstes Ich erkannt wird, wenn ein Kind sich selbst im Spiegel erkennen kann, d. h. wenn das Kind ein – zunächst rein auf körperliche Merkmale bezogenes – Selbstbild entwickelt hat. Kinder im Alter von drei Jahren – naive Realisten Kinder vor dem Alter von etwa dreieinhalb Jahren sind naive Realisten. Sie halten die Weise, wie die Welt ihnen erscheint, unhinterfragt für wahr und für öffentlich. Sie verstehen also nicht, dass ihre Überzeugungen nur Annahmen sind, die einen realen Tatbestand treffen oder auch verfehlen können. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit gehen sie davon aus, dass auch andere Personen in der gleichen Realität leben, also das Gleiche wahrnehmen und wissen wie sie selbst. Sie begreifen noch nicht, dass andere zum gleichen Sachverhalt eine andere Meinung haben können. Es gibt für sie also nur eine einzige phänomenale Welt, an der sie und andere gleichermaßen teilhaben. Beispiel Zeigt man beispielsweise einem 3-jährigen Kind eine Schachtel, in der üblicherweise Smarties enthalten sind, und fragt dieses Kind, was wohl in der Schachtel ist, so wird das Kind antworten »Smarties«. Nachdem dem Kind nun gezeigt wird, was in Wirklichkeit in der Schachtel ist, nämlich beispielsweise ein Bleistift, wird die Schachtel wieder geschlossen. Nun wird das Kind gefragt, was denn ein anderes Kind, dass nicht in die Schachtel schauen konnte, wohl glauben (bzw. sagen) wird, was darin sei. Ein 3-jähriges Kind wird aller Voraussicht nach antworten, dass dieses andere Kind sagen wird, es sei ein Bleistift in der Schachtel (Hogrefe et al. 1986). Das 3-jährige Kind ist noch nicht
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in der Lage zu berücksichtigen, dass das andere Kind nicht die Information über den Inhalt der Schachtel erhalten hat. Es berücksichtigt nicht die Perspektive des anderen Kindes und überprüft seine eigenen Ansichten nicht dahingehend, ob sie richtig oder falsch sind.
Das vierte Lebenjahr: Die Anfänge einer Theory of Mind Mit dem Einsetzen einer Theory of Mind im vierten Lebensjahr ändert sich das! Die Kinder fangen nun an zu verstehen, dass ihre Bewusstseinsinhalte das Ergebnis von Denkvorgängen und Wahrnehmungen sind. Das naiv für wahr Gehaltene relativiert sich dadurch zur Meinung, zur Ansicht. Diese Meinung kann stimmen oder auch nicht, man kann sich auch täuschen. ! In der Unterscheidung zwischen richtigen und falschen Annahmen sehen Wimmer und Perner (1983) das eigentliche Kriterium für eine Theory of Mind.
Parallel zu den Grundfunktionen der Sprache/ des Sprechens erwirbt ein gesundes Kind allmählich die Fähigkeit, sich in die Erwartungen und Möglichkeiten der anderen Menschen hinein zu denken und deren Verhalten vorherzusagen. Eine differenzierte Darstellung der Entwicklung der Fähigkeit zur Theory of Mind findet sich in Abschnitt zur Entwicklungspsychopathologie (7 Kap. 3.7). Theoretische Erklärungen der Theory of Mind Wie »lernt« ein Kind eine Theory of Mind, wie entwickelt sich eine Theory of Mind? Zu dieser Fragestellung liegen zwei theoretische Erklärungsmodelle vor, die die vorhandenen Entwicklungsfortschritte erklären: Simulationstheorie. Die grundlegende Überle-
gung dieser theoretischen Position heißt: Man wird sich erst seiner selbst bewusst und schließt dann per Analogie, wie das Bewusstsein bei an-
deren Menschen beschaffen ist. Zunächst entwickeln sich beim Kind empathische Reaktionen, indem das Kind in sich selbst die Emotionen auslöst, die es bei einer anderen Person wahrnimmt und so »mit-fühlt«. Indem die Perspektive der anderen Person eingenommen und simuliert wird, was man selbst in der entsprechenden Situation denken, glauben, fühlen oder beabsichtigen würde, gelangt man zu einer Theory of Mind (Harris 1992). Theory of Mind ist demnach die Empathiefähigkeit, die sich allmählich durch Erfahrungen in der sozialen Interaktion in die anspruchsvollere Form der Perspektivenübernahme verwandelt (Harris 1996). Eine wesentliche Rolle spielen in diesem Ansatz die Imitation und die Introspektion: Einsichten über mentale Vorgänge bei anderen, beruhen auf der Fähigkeit, sich in der Vorstellung in sie hineinzuversetzen und ihren Zustand aufgrund des eigenen zu simulieren bzw. zu imitieren, also stellvertretend nachzuvollziehen. Durch die eigene Introspektionsfähigkeit gelangt das Kind so zum Wissen über mentale Zustände bei anderen Menschen. Durch die zunehmende Differenzierung zwischen dem Selbst und anderen lernt das Kind die dabei erfahrenen mentalen Zustände auf den Anderen zu beziehen. Begrenzt ist diese Art der Erkenntnisgewinnung durch die eigene Erlebnisfähigkeit. Als neuronale Basis wird das »mirror neuron system« angesehen (Gallese et al. 2004) (auf diesen Aspekt wird in 7 Kap. 3.7 näher eingegangen). Theorie-Theorie. Der grundlegende Ansatz lau-
tet: Das Kind bildet sich je nach Entwicklungsstand seine Theorien über mentales Verhalten bei anderen Menschen (Gopnik u. Wellmann 1994). Vorhandenes Wissen wird getestet, modifiziert und reorganisiert, wobei Theorien, die sich als ungültig erwiesen haben, auch durch neue Erklärungsprinzipien ersetzt werden können. Dabei handelt es sich um bereichsspezifische Theorien, sie beziehen sich z. B. auf Vorstellungen über biologische, physikalische oder eben auch auf mentale Sachverhalte. Die Differenziertheit
3.5 Neuropsychologische und kognitive Auffälligkeiten
dieser Theorien richtet sich nach dem allgemeinen Entwicklungsstand. Die empirische Evidenz beider TheorieAnsätze ist bis heute unklar. Die Entdeckung der Spiegelneuronen (7 Kap. 3.7) wird als Beleg für die Simulationstheorie angesehen, einige entwicklungspsychologische Befunde hingegen werden als Beleg für die Theorie-Theorie angesehen (Gopnik u. Wellman 1994). Die hirnphysiologische Basis einer Theory of Mind Erste Studien zur hirnphysiologischen Basis der Theory of Mind ergeben Hinweise auf die spezifische Aktivierung des linken medialen präfrontalen Kortex (Brodmanns-Areal 8) (Frith u. Frith 1999; Frith 2001). In einigen Studien mit der Methode der funktionellen Kernspintomographie konnte gezeigt werden, dass die medial frontale Region des Gehirns eine besondere Rolle spielt. Die Aktivität in dieser Region steigt an, wenn eine Person gebeten wird, etwas über ihren eigenen »mental state« zu berichten. In einigen Studien, die an älteren Kindern, Adoleszenten und Erwachsenen mit autistischen Störungen durchgeführt wurden, konnte konsistent gezeigt werden, dass diese eine reduzierte Aktivität in der rechten Hemisphäre aufwiesen, die normalerweise beim Betrachten von Gesichtern aktiviert werden (»fusiform face area«) (Critchley et al. 2000; Pierce et al. 2001; Schultz et al. 2000, 2003; Hubl et al. 2003; Shaw et al. 2004). Insbesondere zeigte sich eine Hypoaktivität in der Amygdala (linkshemisphärisch) während der Beurteilung von Gesichtern und Gesichtsausdrücken (Baron-Cohen et al. 1999; Critchley et al. 2000; Pierce et al. 2001). Die Art der Fehler, die hier gemacht wurden, wird darauf zurückgeführt, dass keine ganzheitliche Wahrnehmungsstrategie angewendet wurde (Grelotti et al. 2005). Schultz (2005) kommt in einer aktuellen Übersichtsarbeit, in der die relevante Literatur zur Gesichtserkennung und Emotionserkennung berücksichtigt wird, zu dem Schluss, dass man von einer frühen Fehlentwicklung der
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Amygdala bei Menschen mit autistischer Störung ausgehen kann (Adolphs et al. 2001; Pelphrey et al. 2004). Den Amygdala kommt bei der sozialen Wahrnehmung und den sozialen Kognitionen eine wesentliche Rolle zu. Sie sind insbesondere für das schnelle Erkennen von emotional relevanten Stimuli zuständig, was einen Signalcharakter für andere Hirnregionen hat. Die Aktivierung der Amygdala erfolgt automatisch und Stimulus-gesteuert. Die frühe Fehlentwicklung der Amygdala bei autistischen Menschen führt nach Ansicht von Schultz (2005) zu einem kaskadenförmigen Einfluss auf die Entwicklung anderer Hirnregionen, die die soziale Wahrnehmung im visuellen Bereich steuern, insbesondere in der sogenannten »fusiform face area« des ventralen Temporallappens. Neuere Untersuchungen zeigen, dass diese Areale ebenfalls an der Repräsentation von semantischem Wissen über Menschen beteiligt sind, daher beeinflussen sie nicht nur die soziale Wahrnehmung, sondern auch das soziale Verstehen. Schultz (2005) schlussfolgert, dass die frühe Fehlentwicklung der Amygdala einen ursächlichen Einfluss auf die weitere Entwicklung der sozialen Kompetenzen hat und somit die autistische Symptomatik hervorruft. Wie lässt sich nun aber feststellen, ob ein Kind eine Theory of Mind besitzt? Für die Untersuchung der Theory of Mind bzw. des »Mentalisierens« existieren eine Reihe von Aufgaben, mit deren Hilfe bei autistischen Syndromen, aber auch bei anderen Störungen (z. B. der Schizophrenie), »Mentalisierungs-Defizite« festgestellt wurden. Auch hier stellt sich die Frage, wie spezifisch diese für autistische Syndrome sind. Die Unterscheidung zwischen richtigen und falschen Annahmen ist ein wichtiger Bestandteil einer Theory of Mind. Wenn Kinder im vierten Lebensjahr zu verstehen beginnen, dass andere Personen eine andere »Perspektive« haben als sie selbst, und sich vorstellen, wie diese andere Perspektive beschaffen sein könnte, dann haben sie ihrem eigenen Bezugssystem das der anderen
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Kapitel 3 · Was erklärbar ist: Ätiologie und Entwicklungspsychopathologie
Person überlagert (Bischof-Köhler 2000). Damit relativiert sich zugleich ihre eigene Perspektive: Sie können nun einsehen, dass ihre Gedankeninhalte nur Annahmen und Meinungen sind. Damit entwickeln sie eine Vorstellung, dass die eigene Meinung zunächst einmal nur innerhalb des eigenen Bezugssystems gilt und dass deren Wahrheitsgehalt nicht absolut ist. Andere Menschen können eine Situation anders wahrnehmen, anderes denken und fühlen. Als zentrales Kriterium für eine Theory of Mind gilt für viele Autoren der Nachweis, dass Kinder Fehlannahmen (false beliefs) verstehen. Diese Fehlannahmen sollen überprüft werden, wie beispielsweise in dem inzwischen schon klassischen »Maxi-Versuchsparadigma« von Wimmer und Perner (1983). Leicht abgewandelt findet sich dieses in vielen Untersuchungen angewandte Paradigma: Die Versuchsperson bekommt mit Puppen eine Situation vorgespielt, in der ein Protagonist (»Maxi«) einen Ball in einen Korb legt und danach den Raum verlässt. Während der Abwesenheit von Maxi wird der Ball von einer anderen Person in eine andere Schachtel gelegt. Die Versuchsperson wird gefragt, wo Maxi nach dem Ball schauen wird, wenn er zurückkommt. Die meisten Dreijährigen sagen voraus, dass Maxi an dem Ort nachsehen wird, wo der Ball tatsächlich liegt. Sie können also noch nicht berücksichtigen, dass Maxi im entscheidenden Moment abwesend war und deshalb bei ihrer Handlung von einer unzutreffenden Meinung (»false belief«) ausgehen wird. Erst Dreieinhalb- bis Vierjährige sind in der Lage, das Informationsdefizit bei ihrer Voraussage zu berücksichtigen: Sie geben an, dass Maxi in dem Korb nachschaut, in den er den Ball selbst gelegt hatte. Andere Untersuchungsansätze, die insbesondere auch bei autistischen Menschen angewendet werden, testen die Fähigkeit zur Theory of Mind, indem die Probanden Emotionen in Gesichtern richtig zuordnen müssen (Baron-Cohen et al. 2001) oder indem soziale Bedeutungen von mehrdeutigen visuellen Stimuli abgefragt wer-
den (Klin 2000). Man unterscheidet hier noch zwischen Theory-of-Mind-Aufgaben erster Ordnung (First order false belief tasks), d. h. Aufgaben zur Repräsentation einer Überzeugung über einen Zustand der Welt, und Aufgaben zweiter Ordnung (second order attribution tasks), d. h. solchen Aufgaben, die die Repräsentation einer Überzeugung einer Person A über eine Überzeugung einer Person B erfordern. An den vorhandenen Instrumenten gibt es folgende Kritikpunkte zu erwähnen (Klin 2000): 5 Die vorhandenen Messmethoden sind verbaler Art. In vielen Untersuchungen konnte aber gezeigt werden, dass die Aufgaben zur Theory of Mind mit verbalen Fähigkeiten korreliert sind. Daher messen die Instrumente eher verbale Fähigkeiten als eine Theory of Mind. 5 Die Theory-of-Mind-Aufgaben sind eher Problemlöseaufgaben experimenteller Art als natürliche Situationen. 5 Die Aufgaben sind im Gegensatz zu natürlichen sozialen Situationen dichotom, d. h. die Aufgaben sind nach dem Prinzip »entweder – oder«, »ja – nein« aufgebaut. Natürliche Situationen hingegen sind vielschichtig und häufig durch Ambivalenzen gekennzeichnet. Das Problem ist hier, möglichst lebensnahe aber doch valide Messinstrumente zu entwickeln, die einen Bezug zur Symptomatik von autistischen Menschen haben. Das mangelhafte Verständnis für soziale Situationen, welches ja mit dem Konzept der Theory of Mind verbunden ist, lässt sich auch durch das typische Blickverhalten autistischer und nichtautistischer Menschen aufzeigen. In einer Untersuchung von Klin et al. (2002) wurde beispielsweise untersucht, wohin genau Menschen schauen, wenn sie einen emotional bewegenden Film schauen. Anhand einer ausgefeilten Technik war es möglich, die exakte Blickrichtung der Zuschauer zu ermitteln. Dabei wurde beispielsweise ausgewertet, wohin sie blicken,
3.5 Neuropsychologische und kognitive Auffälligkeiten
während sie eine Szene sahen, in der die Art und Weise, wie zwei Menschen miteinander kommunizieren, wichtiger ist als der Inhalt ihrer Konversation – in dieser Situation ist die Beobachtung der Akteure des Films und insbesondere der gesamte Kontext entscheidend für ein Verständnis der Situation. Autistische Probanden betrachten dabei hauptsächlich die Mundbewegungen der miteinander sprechenden Personen des Films. Die nicht-autistischen Probanden hingegen schauen den Akteuren des Films in die Augen und variieren ihre Blickrichtung mehr. Die autistischen Menschen können so nicht den sozialen Kontext der Situation verstehen. Auf die Entwicklung der Theory of Mind, die Zusammenhänge zum Konzept der zentralen Kohärenz, zu den exekutiven Funktionen und zur Symptomatik wird in 7 Kap. 3.7 unter dem Aspekt der Entwicklungspsychopathologie ausführlich eingegangen.
3.5.7 Ein neuropsychologisches
Modell für Autismus-SpektrumStörungen Versucht man nun, die verschiedenen neuropsychologischen Auffälligkeiten autistischer Menschen in ein System zu bringen, so kann man etwa von den Verhältnissen, wie sie in . Abb. 3.2 dargestellt sind, ausgehen. Die . Abb. 3.2 zeigt drei wichtige neuropsychologische Theorien, die Theory of Mind, die Theorie der exekutiven Funktionen und die Theorie der zentralen Kohärenz mit jeweils vier für diese Theorien konstituierenden Auffälligkeiten bzw. Problemkreisen. Wir sind nun berechtigt zu der Annahme, dass die durch die jeweiligen Theorien verkörperten und erklärten Auffälligkeiten miteinander zusammenhängen und dass alle im Gehirn entsprechende Korrelate haben. So ist (wie bereits erwähnt) bekannt, dass die exekutiven Funktionen in der Frontalregion verankert sind (Cramon u. Cramon 2000) und dass das Mentalisierungssystem als Netzwerk funk-
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tioniert, in das Strukturen der Temporalregion, der Parietalregion und die Amygdala eingebunden sind (Baron-Cohen et al. 2000; Frith 2001). Im Hinblick auf die zentrale Kohärenz sind die anatomischen Strukturen noch unklar (Ring et al. 1999), weshalb in der Abbildung ein Fragezeichen vermerkt ist. Versucht man nun, gesamthaft die verschiedenen neuropsychologischen Auffälligkeiten autistischer Menschen in ein System zu bringen, so kann man in etwa von den Verhältnissen ausgehen, wie sie in . Abb. 3.3 wiedergegeben sind. Diese Abbildung zeigt auf der linken Seite mehr oder weniger elementare Funktionen (Sinnesfunktionen, Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis). Diese sind bestimmten umfassenderen und komplexeren Funktionssystemen zugeordnet, nämlich dem kognitiven Funktionssystem, dem affektiven Funktionssystem und dem sozialen Funktionssystem. Bei nichtautistischen und auch ansonsten unauffälligen Menschen sind diese Systeme nun gut integriert, d. h. sie spielen gut zusammen und sind eng miteinander verknüpft, was durch die dicken Pfeile in der . Abb. 3.3 ausgedrückt wird. Ebenso kann man davon ausgehen, dass die psychischen Vorgänge, die durch die drei Theorien (exekutive Funktionen, Theory of Mind und zentrale Kohärenz) verkörpert werden, eng miteinander verknüpft sind und gut »zusammenspielen«. Mit anderen Worten, bei nichtautistischen Menschen können wir von einem »gut integrierten« Gehirn ausgehen, welches die Gewähr dafür bietet, dass die psychischen Abläufe geordnet, der jeweiligen Entwicklungsstufe angemessen und situationsadäquat ablaufen. Genau dies ist aber bei autistischen Menschen nicht oder nur unzureichend der Fall, dies ist in . Abb. 3.4 dargestellt. Wir können davon ausgehen, dass autistische Menschen über ein nicht hinreichend integriertes Gehirn verfügen, so dass die einzelnen psychischen Funktionen unzureichend aufeinander abgestimmt und weder entwicklungsangemessen noch situationsangemessen koordiniert sind.
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Kapitel 3 · Was erklärbar ist: Ätiologie und Entwicklungspsychopathologie
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. Abb. 3.2. Theoretische Konzepte und Hirnfunktionen bei autistischen Störungen
Theoretische Konzepte und Hirnfunktionen bei autistischen Störungen Theory of Mind • Mentalisierungsschwäche • Empathieschwäche • Verständnisschwäche für Metaphorik (Ironie, Witze) • Verständnisschwäche für soziale Situationen
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Mentalisierungssystem Exekutive Funktionen • Defizit im Vorausplanen • Defizit im zeitlichen Strukturieren • Flexibilitätseinschränkung • Initiierungsschwäche
Zentrale Kohärenz • Bruchstückhafte Inform.verarbeitung • Detailorientierung • Kontexterfassungsschwäche • Sinnerfassungsschwäche
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Frontales System
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Elementare Funktionen
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Theorien
Sinnesfunktionen Kognitives Funktionssystem
Exekutive Funktionen
Affektives Funktionssystem
Theory of Mind
Soziales Funktionssystem
Zentrale Kohärenz
Wahrnehmung
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Komplexe Funktionssysteme
Aufmerksamkeit
Gedächtnis Ein neuropsychologisches Modell zur Erklärung von Autismus-Spektrum-Störungen: Gute Integration von Funktionen beim Gesunden (symbolisiert durch durchgezogene Linien)
. Abb. 3.3. Gut integriertes Gehirn
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3.6 Modellvorstellungen zur Ätiopathogenese
Elementare Funktionen
Komplexe Funktionssysteme
Theorien
3
. Abb. 3.4. Nicht hinreichend integriertes Gehirn
Sinnesfunktionen Kognitives Funktionssystem
Exekutive Funktionen
Affektives Funktionssystem
Theory of Mind
Soziales Funktionssystem
Zentrale Kohärenz
Wahrnehmung
Aufmerksamkeit
Gedächtnis Ein neuropsychologisches Modell zur Erklärung von Autismus-Spektrum-Störungen: Zerebrales Integrationsdefizit von Funktionen beim Asperger-Syndrom (symbolisiert durch gepunktete Linien)
! Mit anderen Worten, wir können von einem Integrationsdefizit zerebraler Funktionen bei autistischen Menschen ausgehen, welches durch Übungsbehandlungen zwar verbessert, aber nicht grundsätzlich verändert werden kann.
einander zu stehen scheinen, die sich aber so in einen verständlichen Kontext bringen lassen.
Auf die Gründe sind wir im vorangehenden Abschnitt eingegangen. Für dieses Integrationsdefizit gibt es Hinweise auf der zellulären Ebene, der Ebene anatomischer Strukturen (z. B. Strukturveränderungen im Bereich des Kleinhirns), auf der elektrophysiologischen Ebene und auf der Verhaltensebene. Dabei erreichen die Veränderungen der Hirnstruktur und der Hirnfunktion nicht das Ausmaß von Hirnverletzungen oder von Folgezuständen nach Entzündungen des Gehirns. Sie sind viel subtiler und zeigen sich in ihren Auswirkungen vorwiegend darin, dass verschiedene Hirnfunktionen nicht hinreichend miteinander abgestimmt und somit nicht angemessen integriert sind. Die Erklärung autistischer Störungen als Folge von Integrationsdefiziten des Gehirns kann zu einem besseren Verständnis autistischer Störungen führen und vermag den Zusammenhang zwischen einzelnen Symptomen und Verhaltensweisen herzustellen, die zunächst isoliert und ohne Beziehung neben-
Die bislang beschriebenen Komponenten, die sich aufgrund verschiedener empirischer Untersuchungen für die Ätiopathogenese autistischer Störungen als bedeutsam erwiesen haben, stehen vorerst noch unvermittelt nebeneinander und lassen sich noch nicht in ein geschlossenes ätiologisches Modell integrieren. In . Abb. 3.5 wird der Versuch unternommen, wenigstens einige Zusammenhänge herzustellen, wohl wissend, dass derzeit ein einheitlicher und umfassender Erklärungsansatz noch nicht möglich ist. . Abb. 3.5 zeigt zunächst, dass genetische Faktoren sowie ihr bislang ungeklärtes Wechselspiel mit Umweltfaktoren für die Ätiopathogenese von Autismus-Spektrum-Störungen von großer Bedeutung sind. Dabei bleibt vorerst noch unklar, auf welchem Wege die genetische Disposition, direkt oder indirekt, zu der für Autismus-Spektrum-Störungen typischen Symptomatik führt. Möglicherweise spielen dabei als Zwi-
3.6
Modellvorstellungen zur Ätiopathogenese
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genetische Faktoren/Umweltfaktoren assoziierte körperliche Erkrankungen anatomische Anomalien, Hirnschädigungen, Hirnfunktionsstörungen
biochemische Anomalien (Hyperserotoninämie, Funktionsstörungen anderer Transmittersysteme)
Spezifische Symptomatik für das Asperger-Syndrom: • Interaktionsstörung • Stereotype Verhaltensmuster • Empathiestörung
Neuropsychologische und kognitive Störungen: • Exekutive Funktionen • Theory of Mind • Zentrale Kohärenz
Störung der affektiven Entwicklung
Neurobiologische Auffälligkeiten
Neuropsychologische Auffälligkeiten
. Abb. 3.5. Modellvorstellungen zur Ätiopathogenese des Asperger-Syndroms
schenglieder die anderen genannten Komponenten wie assoziierte körperliche Erkrankungen, anatomische Anomalien, biochemische Anomalien auf der einen Seite und neuropsychologische bzw. kognitive Störungen sowie emotionale Störungen auf der anderen Seite eine Rolle. Viele oder gar die meisten der in der Abbildung aufgeführten Störungen sind vermutlich genetisch determiniert oder auch durch Umwelteinflüsse früh (vermutlich intrauterin) beeinflusst. Sie können in verschiedener Weise an der Symptomvermittlung beteiligt sein, z. B. über das dopaminerge System hinsichtlich der Vermittlung stereotyper Handlungsabläufe, über das serotoninerge System im Hinblick auf Zwangssymptome oder auch über die bislang noch nicht exakt lokalisierbaren Störungen der exekutiven Funktionen, der Theory of mind und der zentralen Kohärenz. Ebenfalls kann das Zusammenspiel der in der . Abb. 3.5 aufgelisteten ursächlichen Komponenten uns einem Verständnis der Ätiopathogenese des Asperger-Syndroms und anderer Autismus-Spektrum-Störungen näherbringen, ohne dass eine Gewichtung der einzelnen Komponenten derzeit möglich erscheint.
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3.6 Modellvorstellungen zur Ätiopathogenese
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Kapitel 3 · Was erklärbar ist: Ätiologie und Entwicklungspsychopathologie
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Kapitel 3 · Was erklärbar ist: Ätiologie und Entwicklungspsychopathologie
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3.7 Entwicklungspsychopathologie des Asperger-Syndroms
3
Exkurs 3.7
Entwicklungspsychopathologie des Asperger-Syndroms unter dem besonderen Aspekt der Entwicklung der Theory of Mind
Die Entwicklungspsychopathologie studiert die Entwicklungsbedingungen psychischer Störungen, ihre Form und Häufigkeit aus einer entwicklungspsychologischen Perspektive (Sroufe u. Rutter 1984; Rutter u. Sroufe 2000). Sie widmet sich der Erforschung biopsychosozialer Mechanismen, die sowohl der abweichenden als auch der normalen Entwicklung zugrunde liegen. Sie beschränkt sich nicht auf die bloße Beschreibung abweichenden Verhaltens in einem bestimmten Alter, sondern untersucht das dynamische Wechselspiel von biopsychosozialen Risiko- und Schutzbedingungen in der Entwicklung über die ganze Lebensspanne. Es werden somit angepasste und fehlangepasste Entwicklungsverläufe miteinander verglichen, um so Erkenntnisse über Mechanismen und Gesetzmäßigkeiten kindlicher Entwicklung herleiten zu können (Cicchetti 1999). ! Autismus Spektrum Störungen gelten als Entwicklungsstörungen des zentralen Nervensystems (»neurodevelopmental disorders«, Lord u. Bailey 2002, Klin et al. 2002), d. h. dem Entwicklungsaspekt kommt ein großer Stellenwert zu. Die abweichende Entwicklung resultiert aus einer abnormalen Hirnentwicklung und diese hat Einfluss auf die weitere Funktion und Organisation des Gehirns und die psychischen Funktionen. Dieser Entwicklungsaspekt soll im Folgenden ausführlicher dargestellt werden.
Ins Zentrum der theoretischen und empirischen Bemühungen ist dabei das Konzept der »Theory of Mind« getreten, welches als ein wesentliches
Erklärungsmodell (s. o.) für autistische Störungen angesehen wird (und eng mit anderen neuropsychologischen Auffälligkeiten verknüpft ist). Die Fähigkeit des Menschen, psychische Zustände (Gefühle und Gedanken) anderen Personen und sich selbst zuzuschreiben – also eine Theorie darüber zu entwickeln, was ein anderer Mensch oder auch man selbst, denkt, fühlt, beabsichtigt usw., wird als eine fundamentale Fähigkeit des Menschen angesehen.
3.7.1 Begriffsbestimmung:
Emotionserkennung, Empathie, sozial-kognitive Attribuierungen, affektive und kognitive Perspektivenübernahme Hinter dem Begriff »Theory of Mind« verbergen sich sehr unterschiedliche Konzeptionen und Untersuchungsansätze. Im Folgenden möchten wir die verschiedenen Aspekte, die mit Theory of Mind in Verbindung stehen, definieren und voneinander abgrenzen. Im nachfolgenden Abschnitt werden die hier definierten Konzepte entwicklungspsychologisch erläutert. Emotionserkennung Unter Emotionserkennung versteht man die richtige Zuordnung von sprachlichen Benennungen zu emotionalen Entäußerungen, die sich am eindringlichsten in verschiedenen Gesichtsausdrücken äußern. Man unterscheidet zwischen dem Erkennen von primären Emotionen, die typischen angeborenen Reaktionsmustern entsprechen, und sekundären Emotionen, welche kognitive Leistungen voraussetzen und daher erst später in der Entwicklung möglich sind.
Bei der Emotionserkennung – insbesondere von primären Emotionen – können empathische Prozesse (s. u.) beteiligt sein. Zwischen der Emoti-
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Kapitel 3 · Was erklärbar ist: Ätiologie und Entwicklungspsychopathologie
onserkennung und Empathie ist nur schwer eine klare Trennungslinie zu ziehen. Bei der Emotionserkennung von sekundären Emotionen sind – insbesondere in komplexeren Situationen – sozial-kognitive Attribuierungen und auch die Perspektivenübernahme notwendig, um die emotionale Verfassung einer anderen Person einschätzen zu können. Dies wird als affektive Perspektivenübernahme (s. u.) bezeichnet. Die Emotionserkennung ist der erste Schritt in Richtung eines Emotionsverständnisses (bzw. Emotionswissen), welches die subjektiven Konzepte bzw. Skripte meint, die das gesammelte Wissen über unterschiedliche Emotionen beinhalten.
fühlt, denkt oder handelt durch die Zuschreibung von Gleichartigkeit (Simultanität). Dieser Aspekt der Theory of Mind ist insbesondere für das implizite Verständnis von Empfindungen und Emotionen bei anderen relevant. Sozial-kognitive Attribuierungen sind Problemlösefähigkeiten im sozialen Bereich, die mittels kognitiver Strategien angewandt werden können. Sie setzen ein Wissen um die Subjektivität der Perspektiven voraus: Menschen denken unterschiedlich, weil sie sich in unterschiedlichen Situationen befinden. Ein Sachverhalt kann in unterschiedlicher, auch widersprechender Weise mental repräsentiert sein.
Empathie Bei der Empathie handelt es sich um eine primär emotionale Reaktion, bei der die Erkenntnis durch die Qualität des mitempfundenen Gefühls vermittelt wird (Bischof-Köhler 2000). Um empathisch zu reagieren, muss man sich nicht bewusst vorstellen, wie man sich fühlen würde, wenn man anstelle einer anderen Person wäre. Die Beobachtung oder Vorstellung von einer anderen Person in einem bestimmten emotionalen Zustand aktiviert automatisch eine Repräsentation dieses Zustandes im Selbst, mit den begleitenden automatischen und somatischen Antworten. Automatisch bedeutet, dass hierfür nicht ein Bewusstsein oder kognitive Prozesse nötig sind, diese können jedoch den Prozess hemmen oder kontrollieren (Preston u. de Waal 2002).
Empathische Reaktionen entwickeln sich in der Mitte des zweiten Lebensjahres schubhaft. Es handelt sich um einen qualitativ anderen Entwicklungsprozess als bei sozial-kognitiven Attriburierungen und bei der Perspektivenübernahme, welche sozial-kognitive Kompetenzen darstellen, wohingegen empathische Reaktionen vornehmlich emotionale Prozesse umfassen (Bischof-Köhler 1989, 2000). Empathie oder auch »Einfühlung« ist eine Form der Wahrnehmung durch Analogie: Der Andere wird wahrgenommen als jemand, der ähnlich wie man selbst
Bei der Entwicklung der Theory of Mind ist dies der zentrale Schritt: Wissen bedeutet, Annahmen über die Realität zu machen. Das Kind lernt, dass es verschiedene Sichtweisen auf ein und denselben Sachverhalt geben kann. Andere Menschen haben andere Vorstellungen, Gedanken, Bewertungen, Motive, Wünsche usw. als die eigenen. Diese anderen mentalen Repräsentationen können kognitiv erschlossen werden, ohne dass dabei eine Perspektivenübernahme erfolgt. Dabei wird auf gelerntes Wissen zurückgegriffen. Perspektivenübernahme Sie bezieht sich auf das Verständnis für psychische Zustände und Prozesse wie Denken, Fühlen oder Wollen einer anderen Person aus deren Perspektive heraus, indem die Situationsgebundenheit des Handelns erkannt und entsprechende Schlussfolgerungen gezogen werden (Silbereisen u. Ahnert 2002).
Der wesentliche Punkt ist hier, dass die Perspektivenübernahme den Interaktionskontext berücksichtigt. Perspektivenübernahme erfolgt stets im Kontext von Situationen, beispielsweise Interaktionen. Das Verständnis entsteht unter Berücksichtigung der Perspektive der anderen Person und deren Situation. Es basiert evtl. auch auf
3.7 Entwicklungspsychopathologie des Asperger-Syndroms
dem Wissen über diese Person aus der Vergangenheit bzw. auf gelerntem Wissen. Als affektive Perspektivenübernahme wird das Verstehen von Emotionen aufgrund der Lage bezeichnet, in der sich ein anderer Mensch befindet. Die Gefühle des anderen werden dabei nicht nachempfunden, sondern gedanklich erschlossen (Silbereisen u. Ahnert 2002). Bei der kognitiven Perspektivenübernahme wird dem Gegenüber nicht das eigene Wissen unterstellt, sondern die Situation des Gegenübers wird aus dessen Sichtweise angesichts der jeweiligen Situation betrachtet und so auf dessen Wissen geschlossen. Diese unterschiedlichen Aspekte der Theory of Mind sind eng miteinander verflochten und nehmen Einfluss aufeinander. Gute empathische Fähigkeiten unterstützen das Emotionsverständnis genauso wie die Perspektivenübernahme. Die Emotionserkennung beeinflusst die sozial-kognitiven Attribuierungen, welche wiederum die Perspektivenübernahme beeinflussen. (Einfache Formen der) Emotionserkennung und Empathie stellen Entwicklungsprozesse dar, die – ohne die Komponenten der sozial-kognitiven Attribuierung bzw. Perspektivenübernahme – noch keine Theory of Mind im engeren Sinne darstellen, wenn das eigene »Wissen« unüberprüft als »wahr« angenommen wird und es zu keiner Differenzierung zwischen den eigenen Bezugssystemen und denjenigen anderer Personen kommt. Zwischen den verschiedenen Aspekten der Theory of Mind gibt es Überschneidungen: Hier erfolgt eine Integration der emotionalen und kognitiven Aspekte. Anhand der Emotionserkennung werden beispielsweise die Emotionen des Gegenübers erfasst, durch empathisches Einfühlen können diese emotional nachvollzogen werden. Anhand der sozial-kognitiven Attribuierung wird überprüft, ob die so empathisch nachvollzogene Emotionserkennung angemessen ist und durch die Perspektivenübernahme gelingt es, unter Berücksichtigung des Interaktionskontextes, sich empathisch in die andere Person hineinzuversetzen und ein
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Verständnis für die Lage des Gegenübers zu erlangen. Neben diesen Überschneidungen bestehen aber auch deutliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Komponenten der Theory of Mind: Bei der Empathie findet ein Rückbezug auf die eigenen emotionalen und kognitiven Empfindungen statt: »Wie würde ich empfinden?«, es wird eine Analogie zwischen den eigenen und den Empfindungen anderer angenommen. Die Emotionen und Kognitionen des anderen werden im Selbst simuliert und so interpretiert. Dies geschieht in der Regel automatisch und unbewusst (Gallese 2003b). Bei der sozial-kognitiven Attribuierung erfolgt die Zuschreibung der zugrunde liegenden Emotionen, Motiven o. ä. ohne sich das spezifische Bezugssystem dieser Person vor Augen zu halten, sondern aufgrund von grundlegendem Wissen und Erfahrung. Der Unterschied zur Perspektivenübernahme besteht darin, dass bei diesen Prozessen nicht die Perspektive der anderen Person in Betracht gezogen wird. Bei der Perspektivenübernahme wird die Situation aus der Sicht des anderen bewusst wahrgenommen (»Mit den Augen des Gegenübers«), um ein Wissen darüber zu erlangen, wie der Andere die Situation mental repräsentiert. Zustände werden nicht nur simuliert, sondern es wird berücksichtigt, welche Informationen dem Anderen zur Verfügung stehen, welche Emotionen, die beispielsweise für das Selbst nicht zugänglich sind, den anderen prägen könnten. Die subjektive Verfassung des anderen, die durchaus nicht mit der eigenen übereinstimmen muss, wird bei der Perspektivenübernahme erschlossen. Ein Beispiel ist das Erfassen von Motiven bei einer anderen Person: Durch Empathie wird ein Rückschluss auf die eigenen Motive möglich (Wenn ich selbst gerne Süßigkeiten esse, gehe ich davon aus, dass auch der Andere Süßigkeiten mag). Durch sozialkognitive Attribuierung kann man erschließen, dass nicht alle Menschen so empfinden oder denken wie man selbst (Nicht alle Menschen mögen Süßigkeiten!) und somit ein Verhalten auslösen, dass die eigene Sichtweise bei Anderen überprüft.
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Kapitel 3 · Was erklärbar ist: Ätiologie und Entwicklungspsychopathologie
Die Perspektivenübernahme berücksichtigt die besondere Lage der anderen Person und schließt aus dieser auf die Motive der anderen Person (Wenn ich mich in die andere Person hinein versetze, kann ich erkennen, dass die andere Person vielleicht schon Süßigkeiten mag, aber aus Diätgründen zur Zeit keine essen wird). Die Perspektivenübernahme erfolgt unter Berücksichtigung der Bezugssysteme des Anderen, während der Empathie die eigenen Bezugssysteme zugrunde liegen. Während für die Empathie demzufolge eher die Simulationstheorie als Erklärung herangezogen werden kann, dient die Theorie-Theorie (7 Kap. 3.5.6) als Erklärungsansatz für die Perspektivenübernahme. In . Abb. 3.6 sind die dargestellten Zusammenhänge nochmals bildhaft dargestellt.
sen Gedanken, Gefühle, Absichten etc. erschlossen werden, sie sind abhängig von der Sichtweise des Menschen (z. B. davon, wie eine Situation mental repräsentiert wird). Damit ist ein wesentlicher Zweck der Theory of Mind beschrieben: Verständnis und Vorhersage des Handelns anderer Menschen. Eine wechselseitige, andauernde Beziehung ist nur möglich, wenn beide Partner über diese Fähigkeit verfügen. Die Fähigkeit zur Intersubjektivität (d. h. zur adäquaten Bezugnahme aufeinander) ist eine wichtige Funktion der Theory of Mind. ! Um sich im alltäglichen Leben sozial kompetent und emotional angemessen verhalten zu können, benötigen Menschen zumindest grundlegende Kenntnisse im Bereich der Theory of Mind. Diese bildet das sozial-kognitive Fundament für die weitere Entwicklung. Dabei handelt es sich um ein universelles Merkmal der normalen menschlichen Entwicklung, da es in sehr unterschiedlichen Kulturen in annähernd gleichem Alter auftritt (Avis u. Harris 1991).
Die Funktion einer Theory of Mind Sich darüber Gedanken zu machen, was eine andere Person denkt, fühlt oder beabsichtigt, dient zunächst einmal dazu, Verhalten vorhersehbar und erklärbar zu machen. Menschen handeln aber nicht wie physikalische Objekte! Das, was ein Kind über die physikalische Welt lernt, ist nur bedingt übertragbar auf das Wissen über Menschen. Denn bei Menschen müs-
Die mentalen Repräsentationen der Theory of Mind bilden sich in Interaktionen und prägen diese, sie sind handlungsleitend (s. a. Klin et al.
14 Vorläufer einer Theory of Mind
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Empathie
Emotionserkennung
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Perspektivenübernahme
Sozial-kognitive Attribuierungen
Theory of Mind
. Abb. 3.6. Zusammenhänge zwischen den Aspekten der Theory of Mind (die waagerechte Linie kennzeichnet den Übergang von Vorläufern der Theory of Mind zu der eigentlichen Theory of Mind)
3.7 Entwicklungspsychopathologie des Asperger-Syndroms
2003 zum Konzept »enactive mind« im Gegensatz zu »computational models of social cognitions«). Die soziale Wahrnehmung steuert das soziale Verhalten und sozial-kognitive Prozesse entstehen durch wiederkehrende sensomotorische Erfahrungsmuster, die die Handlung wahrnehmend lenken. In diesem Sinne entstehen »verkörperte Kognitionen« (»embodied cognitions«, Klin et al. 2003). Wichtig ist in diesem Zusammenhang jedoch auch der Aspekt, dass eine Theory of Mind sich natürlich auch auf sich selbst anwenden lässt, d. h. das eigene Empfinden, Denken usw. betrifft. Hierbei hat die Theory of Mind einen deutlich positiven Einfluss auf die emotionalen Schlüsselfertigkeiten, wie beispielsweise Selbstreflexion und Emotionsregulation (Frith u. Happé 1999). Dieser Zusammenhang wird insbesondere von der neueren psychoanalytischen Bindungstheorie aufgegriffen (Fonagy et al. 2004).
3.7.2 Die Anfänge der Entwicklung
einer »Theory of Mind« Im Folgenden wollen wir die Entwicklung der Theory of Mind skizzieren, indem wir zunächst kurz auf die »nicht-autistische Entwicklung« und dann etwas ausführlicher auf die Entwicklung bei autistischen Kindern eingehen. Präferenz für soziale Reize Gesunde Kinder sind von Geburt an dazu prädestiniert, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten. Sie sind von Geburt an soziale, interaktive Wesen (Dornes 1994; Stern 1992). Bereits Säuglinge präferieren beispielsweise Gesichter, sie schauen sich Gesichter länger an als irgendwelche Objekte (Dawson et al. 2002; Haan u. Nelson 1997, 1999). Weitere Belege gibt es für die menschliche Stimme: Die menschliche Stimme scheint einer der frühesten und effektivsten Stimuli zu sein, welche eine soziale Bindung auslösen (Klin et al. 2003).
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3
Inwieweit Säuglinge, die später als autistisch diagnostiziert wurden, Gesichter präferierten, bleibt unklar, da sie in diesem jungen Alter noch nicht als solche diagnostiziert werden können. Es konnte aber gezeigt werden (Dawson et al. 2002), dass bei den autistischen Kindern im Alter von 3–4 Jahren (durchschnittliches Alter 44 Monate) die elektrophysiologischen Korrelate (ERPs) beim Betrachten von Gesichtern sich von denen der nicht-autistischen Kinder unterscheiden. Bei den autistischen Kindern fand sich kein Unterschied in den ERPs beim Betrachten von bekannten und unbekannten Gesichtern, lediglich in der Unterscheidung zwischen bekannten und unbekannten Objekten fand sich ein Unterschied in den ERPs. Klin (1991) und Klin et al. (2003 ) konnten feststellen, dass junge autistische Kinder (durchschnittliches Alter 64 Monate) beim Hören keine Präferenz für die Stimme der eigenen Mutter zeigten, nicht-autistische Kinder hingegen präferierten deutlich die Stimme der Mutter gegenüber anderen akustischen Reizen. Bereits dargestellt (7 Kap. 3.5) wurden die Ergebnisse zu Untersuchungen der Blickrichtung (Klin et al. 2002): Es zeigte sich, dass die autistischen Probanden doppelt so lang ihren Blick auf die Mundregion eines Filmdarstellers richteten, 2½-mal weniger lang die Augenregion beachteten und 2½-mal länger ihren Blick auf den Körper oder Objekte richteten als gesunde Kontrollpersonen. Das heißt sie beachteten eher sozial irrelevante Stimuli. Geteilte Aufmerksamkeit Bei nicht-autistischen Kindern entwickelt sich im Alter von 6–12 Monaten die Fähigkeit zur geteilten Aufmerksamkeit (»joint attention«), d. h. die triadische Koordination von Aufmerksamkeit zwischen dem Kind, einer anderen Person und einem Gegenstand oder Ereignis. Die geteilte Aufmerksamkeit spielt in der gesamten weiteren Entwicklung eine wesentliche Rolle, insbesondere auch beim sozialen Lernen (Baldwin 1995). »Demnach kann die geteilte Aufmerksamkeit als
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Kapitel 3 · Was erklärbar ist: Ätiologie und Entwicklungspsychopathologie
eine sich früh entwickelnde Fähigkeit, sich selbst zu organisieren, angesehen werden, welche entscheidend ist für die weitere soziale und kognitive Entwicklung« (Mundy 2003, S. 795, Übersetzung durch die Autoren). Zum Aspekt der »geteilten Aufmerksamkeit« liegen einige Studien vor, die zeigen, dass das Ausmaß, in dem ein Kind die Aufmerksamkeit einer anderen Person teilt und/oder sich darum bemüht, diese auf ein Objekt oder Ereignis zu lenken, das Ausmaß der Symptomatik des frühkindlichen Autismus mitbestimmt (Mundy et al. 1994; Phillips et al. 1995; Charman 1998; 2003). Die Unfähigkeit, eine geteilte Aufmerksamkeit herzustellen, gilt als eines der Frühsymptome des frühkindlichen Autismus (Charman 2003). Es gibt bisher keine Untersuchungen, die diese Beeinträchtigung bei Kindern mit AspergerSyndrom direkt beobachten konnten, was damit zusammenhängen könnte, das diese Kinder erst später diagnostiziert werden. In einer Studie von Gilchrist et al. (2001) zeigt sich, dass die Kinder mit frühkindlichem Autismus in Bezug auf die geteilte Aufmerksamkeit mehr Auffälligkeiten zeigten als Kinder mit Asperger-Syndrom. Einschränkend ist aber zu sagen, dass dieses Ergebnis auf der Befragung der Eltern beruht, deren autistische Kinder zum Zeitpunkt der Untersuchung zwischen 11 und 19 Jahre alt waren. Imitation Säuglinge imitieren schon im Alter von 2– 3 Wochen einfache mimische Gesten (Mund öffnen, Lippen schürzen) (s. Meltzoff u. Moore, 1997). Dieses Imitieren ist eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung der Theory of Mind, denn durch das Imitieren kann – im weiteren Entwicklungsverlauf – die zugrundeliegende emotionale Aussage eines Gesichtsausdruckes erschlossen werden. Es konnte auch nachgewiesen werden, dass 14 Monate alte Kinder mehr Aufmerksamkeit und Lächeln einer Person zuwenden, die sie imitiert (Meltzoff 1990). Bereits 4 Monate alte Säuglinge orientieren sich in unbekannten Situationen durch Blickzuwen-
dung an den Signalen der Mutter und imitieren ihr mimisches Verhalten (Papousĕk u. Papousĕk 1999). Die Entdeckung der sogenannten »Spiegelneuronen« bzw. des sogenannten »mirror neuron system« (Nishitani et al. 2004; Iacoboni et al. 2005) hat eine hohe Relevanz für den biologischen Mechanismus, der der Imitation zugrunde liegt. Diese Neuronen sind sowohl aktiviert, wenn z. B. ein Affe eine bestimmte Handlung selbst durchführt, als auch, wenn ein anderer Affe die gleiche Tätigkeit durchführt und diese beobachtet wird. D. h. beim Beobachten einer bestimmten Handlung sind dieselben Neuronen aktiviert, die auch bei der Durchführung der Handlung aktiviert sind. Ein weiterer Mechanismus hemmt dabei die Durchführung der Aktion. Diese Ergebnisse wurden zunächst bei Affen ermittelt, ließen sich aber auch bei Menschen (indirekt) nachweisen. Bei der Imitation spielen diese Neuronen eine wichtige Rolle: Die Lokalisation dieser Neuronen liegt in der BrocaRegion (Iacoboni et al. 1999) und es wird angenommen, dass das Verstehen von kommunikativen Gesten, Bewegungen und Sprache mit der Aktivität dieser Neuronen in Zusammenhang zu bringen ist. Bei der menschlichen Imitation sind folgende Hirnbereiche beteiligt: Die Broca-Region im linken inferioren frontalen Kortex und der motorische Kortex (rechter parietaler Kortex) (Hari et al. 1998, 2000). In einer neueren Übersichtsarbeit von Rizolatti u. Craighero (2004) wird der Stand der Forschung beim Menschen so zusammengefasst: »Eine große Anzahl von Studien zeigte auf, dass die Beobachtung von Tätigkeiten bei Anderen im Menschen ein komplexes Netzwerk, gebildet aus okzipitalen, temporalen und parietalen visuellen Gebieten, aktiviert und zwei kortikale Regionen, mit grundlegend oder überwiegend motorischer Funktion [....]. Diese letzten beiden Regionen sind der kraniale Teil des Lobus parietalis inferior, der untere Teil des präzentralen Gyrus und der hintere Teil des inferioren frontalen Gyrus (IFG). Diese Regionen bilden den Kern des menschlichen Spiegelneuro-
3.7 Entwicklungspsychopathologie des Asperger-Syndroms
nensystems (S. 176, Übersetzung durch die Autoren). Das Netzwerk aus Spiegelneuronen bildet die neuronale Basis für die Verbindung zwischen dem Sender einer Botschaft und dem Empfänger. Erst dadurch werden Handlungen anderer Menschen zu Botschaften, die vom Beobachter verstanden werden können. Die Autoren entwickeln die Theorie, dass dieses Netzwerk aus Spiegelneuronen den neurophysiologischen Mechanismus darstellt, aus dem sich die Sprache entwickelt hat. Dabei gehen sie davon aus, dass sich Sprache im Laufe der Evolution aus der Kommunikation mit Gesten entwickelt hat (Rizzolatti u. Arbib 1998). Das Entscheidende ist hierbei, dass die Spiegelneuronen einen neurophysiologischen Mechanismus darstellen, der einen Bedeutungszusammenhang zwischen kommunizierenden Menschen herstellt, welcher auf gleichwertigen Anforderungen beruht und nicht beliebig ist. Bei dem, der mit einer Geste (z. B. auf etwas deuten/Arm ausstrecken) etwas ausdrückt und beim Beobachter, »spiegelt« sich im Gehirn Gleichwertiges ab. Die Spiegelneuronen werden als die biologische Basis für die Entwicklung der Theory of Mind angesehen und gelten als Evidenz für die Validität der Simulationstheorie (s. o.) (Gallese u. Goldmann 1998). Sie stellen den neuronalen Mechanismus dar, der das implizite Verstehen von Handlungen ermöglicht (Gallese 2003b). Bei autistischen Kindern ist die Fähigkeit zur Imitation deutlich beeinträchtigt. Probleme in der Fähigkeit zur Imitation unterscheiden schon im Alter von 2 Jahren autistische Kinder von Kindern mit anderen Entwicklungsstörungen (Charman et al. 1997). Es existieren zahlreiche Studien zum Aspekt der Imitation bei autistischen Menschen, die nachweisen konnten, dass autistische Menschen bei der Imitation deutliche Defizite aufweisen (Williams et al. 2001, s. a. Rogers u. Pennington 1991). Die Defizite in der Fähigkeit zur Imitation zählen zu den am engsten mit den frühen Störungen verknüpften Symptomen der autistischen Störungen. Als verursachender Faktor wird angenommen, dass es zu einem Ausfall
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oder einer Störung in der Entwicklung des Spiegelneuronen-Netzwerkes kommt. Dies könnte genetische oder andere endogene Gründe haben, durch Umwelteinflüsse bedingt sein oder durch eine Kombination dieser Faktoren ausgelöst werden (Williams et al. 2001). Dabei können alle Bereiche des neuronalen Netzwerkes betroffen sein, oder aber nur einige, wobei ein kompletter Ausfall mit einer verzögerten oder unvollständigen Entwicklung einhergehen könnte. Rogers und Pennington (1991) bezeichnen die gestörte Entwicklung/Koordination der Ich-Du-Repräsentation als die grundlegende Symptomatik der autistischen Störungen, die sich in einer mangelnden Fähigkeit zur Imitation, gefolgt von einer Reihe von Einschränkungen im emotional-sozialen Bereich, wie geteilte Aufmerksamkeit, Phantasie-Spiel und der Theory of Mind, äußert. Die zugrundeliegende neurophysiologische Basis hierfür könnte das SpiegelneuronenNetzwerk darstellen. Bisher liegen allerdings noch nicht ausreichend Forschungsarbeiten zu diesen Annahmen vor. Neuere Befunde zeigen jedoch, dass mit einer Störung des Spiegelneuronen-Netzwerkes insbesondere die Einschränkungen der Imitation (Williams et al. 2004) und der geteilten Aufmerksamkeit (Charman 2003) einhergehen. Auch bei Patienten mit Asperger-Syndrom (Nishitani et al. 2004; Théoret et al. 2005) fand man in ersten Untersuchungen Befunde, die die Annahme einer abnormalen kortikalen Aktivität bei der Imitation bestätigen. ! Damit sollte deutlich geworden sein, dass diese Forschung einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der autistischen Störungen besitzt: Es wird angenommen, dass bei autistischen Menschen eine Dysfunktion dieses neuronalen Netzes vorliegt (Gallese et al. 2003a; Williams et al. 2001; Villalobus et al. 2005).
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Kapitel 3 · Was erklärbar ist: Ätiologie und Entwicklungspsychopathologie
Zentrale Kohärenz Schon Neugeborene fixieren in der Regel die näher zu ihnen liegende Figur und betrachten den Hintergrund kaum. Kleinkinder können Details aus einer komplexen Figur kaum herauslösen, und auch Grundschülern fällt es noch schwer, Teilfiguren aus dem Zusammenhang herauszulösen und etwa Umkehrfiguren richtig einzuordnen. Im Alter vom 5.–7. Lebensjahr gelingt es Kindern zunehmend schneller, ein Detail aus einer komplexen Figur herauszufinden. Da die Auffälligkeiten bei autistischen Störungen in Bezug auf die Fähigkeit zur zentralen Kohärenz bereits weiter oben dargestellt wurden (7 Kap. 3.5.5), soll an dieser Stelle lediglich die Bedeutung für die weitere Entwicklung, insbesondere für die Entwicklung der Theory of Mind herausgearbeitet werden. Noens u. Berckelaer-Onnes (2005) haben darauf aufmerksam gemacht, welche Bedeutung das Konzept der zentralen Kohärenz für die Kommunikationsfähigkeit hat. Zentrale Kohärenz ermöglicht es, Sinnzusammenhänge, Strukturen und Bedeutungen zu erfassen. Einzelne Details verlieren an Bedeutung, indem sie in einen größeren Sinnzusammenhang gesetzt werden. Spielverhalten Die Fähigkeit, imaginierte Ereignisse zu produzieren, Objekten, Umgebungen und Personen (einschließlich des Selbst) eine alternative Identität zuzusprechen, ist eine einzigartige menschliche Kompetenz, die ein hohes Maß an kognitiver Flexibilität erfordert. Ihren Ursprung hat diese Fähigkeit im sog. »So-tun-als-ob-Spiel«, welches bei gesunden Kindern im Alter zwischen 9 und 24 Monaten einsetzt. Spielen beinhaltet häufig die Konstruktion von sprachlichen Narrativen, die Handlungsplanung, Sequenzierung und Organisation verlangen und gute Sprachfähigkeiten voraussetzen. Das Spielen entwickelt sich vom realistischen einfachen »So-tun-alsob« zum zunehmend elaborierten Phantasiespiel
bis zum erweiterten planerischen Phantasiespiel (Nicolich 1977). Jordan (2003) betont, dass im Spielverhalten zwei »Entwicklungsstränge« zusammenlaufen: Auf der einen Seite die sozial-emotionale Entwicklung, auf der anderen Seite die kognitive Entwicklung. Dabei entwickelt sich das Spielverhalten von einer sozialen »Isolation« hin zur Sozialisation: Zunächst spielt das Kind mit sich selbst und erforscht seinen Körper, es entwickelt ein Verständnis für Wirkungen und Intentionen, es lernt Ursachen und Wirkungen zu begreifen. Im weiteren Verlauf beginnt es, das Spiel anderer zu beobachten, auf die Annäherungsversuche anderer einzugehen, an deren Spiel teilzunehmen und die Beeinflussungen durch andere zu akzeptieren. Das gemeinsame Spiel wird komplexer und beinhaltet sowohl kooperative als auch konkurrierende Spielkomponenten. Schließlich ist das Kind in der Lage, Spielhandlungen zu planen und mit dem Spielpartner ausgehandelte kooperative soziale Rollenspiele zu spielen. »Spielen ist ein vitaler Teil der Entwicklung für jedes Kind und das soziale Spielen insbesondere ist entscheidend für kognitive, soziale und kulturelle Kompetenzen« (Jordan 2003, S. 351, Übersetzung durch die Autoren). Spielen stellt eine zentrale Entwicklungsaufgabe und -möglichkeit dar, Spielen ist »Lebensbewältigung« auf spielerische Art. Das Kind nimmt seine spätere Entwicklung bzw. seine Entwicklungsmöglichkeiten im Spiel vorweg, indem es in die Rollen anderer Personen hineinschlüpft und deren Motive, Wünsche und Ziele zu verstehen versucht. Es trainiert im Spiel seine Theory of Mind: Es lernt, zwischen der eigenen und der Wahrnehmung von Anderen zu unterscheiden und sich in andere Menschen hineinzuversetzen und deren Wünsche, Motive und Gedanken zu erfassen. Gleichzeitig trainiert das Kind im Spiel auch viele andere kognitive Fähigkeiten: logisches Denken, Gedächtnisfunktionen, planerisches Denken und kognitive Flexibilität werden im Spiel gefordert und auch gefördert.
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3.7 Entwicklungspsychopathologie des Asperger-Syndroms
Spielen entwickelt sich in Abhängigkeit vom Alter, vom kognitiven Entwicklungsstand und vom Sprachentwicklungsstand eines Kindes. Echtes Symbolspiel ist nur bei Kindern, die einen geistigen Entwicklungsstand von mehr als 20 Monaten erreicht haben, zu erwarten. Soziales Spielen wird erst dadurch möglich, dass ein Kind die Fähigkeit besitzt, sich gemeinsam mit einem Interaktionspartner auf einen Gegenstand (ein Spielzeug, einen Spielrahmen, ein Spielthema) zu beziehen. Entwicklungspsychologisch etwas später ist nicht mehr nur der gemeinsame Gegenstandsbezug nötig, sondern auch die sogenannte Metakommunikation, d. h. die Vereinbarung darüber, was gespielt werden soll. Diese Metakommunikation kann nonverbal oder durch explizite sprachliche Vereinbarung (»Jetzt spielen wir ...«) erfolgen. Die Fähigkeit zur Metakommunikation taucht gewöhnlich erst mit dreieinhalb Jahren auf. Diese Form der Metakommunikation braucht, damit sie problemlos funktioniert, zwei sozial kompetente Spielteilnehmer. Bevor es zum koordinierten Sozialspiel kommt, kann man als häufige Form eine Zwischenform
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zwischen Einzelspiel und Sozialspiel beobachten: das Parallelspiel. Kinder spielen nebeneinander her, häufig hat jedes ein ähnliches Spielzeug, und häufig beobachten sie einander beim Spiel. Schauen wir uns den Entwicklungsablauf noch einmal genauer an (. Abb. 3.7). Dabei ist wichtig zu beachten, dass vorausgehende Entwicklungsschritte nicht durch nachfolgende abgelöst werden, sondern hier lediglich der Entwicklungsverlauf der verschiedenen Spielformen dargestellt wird. Zum Spielverhalten autistischer Kinder kann zusammenfassend festgestellt werden, dass sie deutliche Beeinträchtigungen im Spielverhalten zeigen (Jarrold et al. 1993). Dies betrifft sowohl die sozialen Komponenten des Spiels: Geteilte Aufmerksamkeit, Theory of Mind, Emotionsregulierung, soziale Kompetenzen usw., als auch die kognitiven Komponenten: Komplexität und Flexibilität, Handlungsplanung usw.. Jordan (2003) betont den zirkulären Charakter dieses Defizits: Die Defizite im Spielverhalten führen dazu, dass das autistische Kind auch in der wei-
Parallelspiel ohne wechselseitige Beachtung
Parallelspiel mit wechselseitigem Augenkontakt
einfaches Sozialspiel: Die Kinder sprechen miteinander und bieten sich Gegenstände an
komplementäres und reziprokes Spiel: Die Kinder nehmen einfache handlungsdeterminierende, wechselseitig abhängige Rollen ein, wie Jagen und Verfolgen, Suchen und Verstecken
kooperatives soziales Fiktions-/Illusionsspiel: Die Kinder spielen verschiedene Rollen in einem fiktiven Rollenspiel, z. B. Vater, Mutter und Kind
komplexes soziales Fiktionsspiel: Die Kinder spielen soziale Rollen unter Einsatz von Metakommunikation
. Abb. 3.7. Entwicklung des Spielverhaltens
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Kapitel 3 · Was erklärbar ist: Ätiologie und Entwicklungspsychopathologie
teren Entwicklung nicht von den »Lerneffekten« des Spielens in sozialer, emotionaler und kognitiver Hinsicht profitieren kann, was die Teilnahme am sozialen Leben weiter erschwert. Es konnte auch gezeigt werden, dass autistische Kinder deutlich weniger neue »So-tunals-ob« Spielhandlungen ausführten als nichtautistische Kinder (Charman u. Baron-Cohen 1997; Jarrold et al. 1996; Lewis u. Boucher 1995). Jarrold (2003) kommt zu dem Schluss, dass die vorliegenden Ergebnisse zum Spielverhalten autistischer Kinder folgendermaßen zusammengefasst werden können: »Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass autistische Kinder einige Verhaltensweisen zeigen, die unter Umständen wie ein ›So-tun-als-ob-Spiel‹ aussehen, aber sie haben Schwierigkeiten im fließenden, flexiblen und kreativen ›So-tun-als-ob-Spiel‹« (S. 384, Übersetzung durch die Autoren). Weitere wichtige Voraussetzungen bzw. Einflussfaktoren für die Fähigkeit zur Theory of Mind sind die Sprachfähigkeit und die Intelligenz: 5 Sprache: Erst die Fähigkeit zur Sprache macht die weiteren Entwicklungsschritte (s. u.) möglich. In vielen Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass die Fähigkeit zur Theory of Mind mit verbalen Fähigkeiten positiv korreliert. 5 Kognitive Fähigkeiten beeinflussen die Entwicklung einer Theory of Mind ebenfalls, allerdings fand man heraus, dass auch geistig behinderte Kinder in der Lage sind, einfache Theory-of-Mind-Aufgaben zu
lösen, d. h. kognitive Fähigkeiten sind nicht ursächlich mit der Entwicklung einer Theory of Mind verbunden, beeinflussen aber deren Entwicklung und Niveau (s. a. Yirmiya et al. 1998). Emotionserkennung Einen besonderen Stellenwert in der Entwicklung der Theory of Mind hat die Entwicklung des Emotionsverständnisses. Der erste Schritt in diese Richtung ist das Erkennen von Emotionen, welches für soziale Situationen entscheidend ist, denn Emotionen haben eine wesentlichen Einfluss auf die soziale Situation (Initiierung, Aufrechterhaltung und Beendigung der sozialen Interaktion) und haben eine kommunikative Funktion (Otto et al. 2000). Für Beziehungen zwischen Menschen spielt der Emotionsausdruck und die Emotionserkennung eine wesentliche Rolle. Störungen in der Emotionswahrnehmung können zwischenmenschliche Interaktionen erheblich erschweren. Emotionsausdrücke stellen ein soziales Signal dar (Fridlund 1991), welches vom Interaktionspartner erkannt und verstanden werden sollte, damit die Interaktion reibungslos vonstatten geht. Damasio (1997) unterscheidet zwischen primären und sekundären Emotionen, sie sind in . Tab. 3.5 dargestellt. Primäre Emotionen entsprechen typischen angeborenen Reaktionsmustern, es handelt sich um universale Emotionsausdrücke, die auch in verschiedenen Kulturen erkannt werden (Ekman 1993, 1994). Das Auftreten und Erkennen sekun-
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. Tab. 3.5. Primäre und sekundäre Emotionen Primäre Emotionen
Sekundäre Emotionen
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Überraschung, Freude, Ärger, Traurigkeit, Furcht, Ekel
Verachtung, Schüchternheit, Reue, Verlegenheit, Schadenfreude, Scham, Schuld usw.
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Universaler Emotionsausdruck
Variabler Emotionsausdruck
Angeborene Reaktionsmuster
Setzt kognitive Leistungen voraus
3.7 Entwicklungspsychopathologie des Asperger-Syndroms
därer Emotionen setzt kognitive Leistungen, wie z. B. Vergleiche mit anderen, aber auch die Wahrnehmung aus der Perspektive einer anderen Person voraus (»Andere halten mich für einen Angsthasen«...). Ein weiteres Bespiel ist Scham: Das Empfinden von Scham setzt voraus, dass die Person sich vorstellt, wie andere das eigene Verhalten beurteilen würden. Sekundäre Emotionen sind häufig erst aus dem sozialen Kontext heraus, in dem sie gezeigt werden, verstehbar. Schon mit ca. 4 Monaten beginnen Säuglinge, fröhliche von traurigen Gesichtern zu unterscheiden und bis zu ihrem 9. Lebensmonat lernen sie, diesen Gesichtern Stimmen mit entsprechender emotionaler Färbung zuzuordnen. Im Verlauf des 1. Lebensjahres lernen Kinder, die bei anderen Menschen beobachteten Emotionen zunehmend besser zu unterscheiden (Saarni 1999). Ab dem Alter von 3 Jahren findet sich bis zum Alter von 6 Jahren ein relativ stabiles Verständnis der primären Emotionen. Sekundäre Emotionen werden erst später, zum Teil erst nach Einsetzen der Theory of Mind, verstanden. Emotionale Skripte. Im Verlauf der Entwicklung
bilden Kinder subjektive Konzepte beziehungsweise Skripte, die das gesammelte Wissen über unterschiedliche Emotionen beinhalten. Diese emotionalen Skripte entwickeln sich, indem sie mit anderen Personen interagieren, wiederholt auf den emotionalen Ausdruck Anderer reagieren sowie Reaktionen auf ihr eigenes Ausdrucksverhalten erleben und sich dabei typische Abläufe und Merkmale emotionaler Ereignisse merken. Das Erleben unterschiedlichster Emotionen ist somit die Bedingung für den Erwerb von Emotionsskripten (Denham 1998), die sich im Entwicklungsverlauf herausbilden und differenzieren (Saarni et al. 1998). Das Erkennen von Emotionen ist somit der erste Schritt für das Verständnis von Emotionen, was einem umfassenden Entwicklungsprozess darstellt, der nach Banerjee (1997) in drei Phasen verläuft:
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1. Zunächst bildet sich ein grundlegendes Verständnis von mimischem Emotionsausdruck und Emotionswörtern aus, 2. danach folgt ein kognitives Verständnis von Emotionen als internalen Zuständen und schließlich 3. entwickelt sich die Fähigkeit, dieses kognitive Emotionsverständnis im Alltag anzuwenden. Interessanterweise fand sich bei der Emotionserkennung ebenfalls eine Beteiligung des Spiegelneuronen-Netzwerkes: Genau der gleiche Abschnitt innerhalb der vorderen Inselregion war aktiviert bei der Beobachtung des mimischen Ausdrucks von Ekel bei anderen, wie bei der Erzeugung von Ekel durch entsprechende Düfte (Gallese et al. 2004) bei den Versuchspersonen. Empathie Ab dem Alter von ca. 18 Monaten entwickeln sich bei Kindern empathische Fähigkeiten (BischofKöhler 1989, 2000). Empathie ist ein Prozess, bei dem das Kind sich mit einer anderen Person identifiziert, deren Gefühlszustand es bei sich selbst wahrnimmt und annimmt, dass die andere Person genau so empfindet. So weint beispielsweise ein 1-jähriges Kind, das ein weinendes Kind sieht, mit (»emotionale Ansteckung«, Eisenberg u. Strayer 1989). Diese Reaktion ist für Kinder im ersten Lebensjahr charakteristisch. Im zweiten Lebensjahr können Kinder schon ansatzweise einschätzen, welche Bedingungen bestimmten Emotionen vorausgehen und sie sind auch in der Lage, negativen Emotionen entgegenzuwirken. Sie zeigen »mitfühlende Reaktionen« (Eisenberg u. Strayer 1989), indem sie beispielsweise jemandem, der weint, ein Spielzeug holen oder vorschlagen etwas Fröhliches zu tun. Empathische Fähigkeiten sind demnach vornehmlich emotionale Reaktionen, die nicht unbedingt kognitiv gesteuert bzw. bewusst sind. Als neuronale Basis für empathische Reaktionen werden die Spiegelneuronen (Gallese
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2003a; Meltzoff u. Decety 2003) angesehen. So konnte beispielsweise gezeigt werden, dass die empathische Reaktion auf Schmerz im Beobachter nicht die gesamte »Schmerz-Matrix« im Gehirn aktiviert, lediglich die affektiven, aber nicht die sensorischen Regionen sind beteiligt (Singer et al. 2004; Jackson et al. 2004). Weitere wichtige Entwicklungsschritte 5 Imitation von Handlungen: Im Alter von ca. 18 Monaten sind Kinder in der Lage, Handlungen zu imitieren, auch wenn sie den gesamten Handlungsablauf nicht gesehen haben, d. h. sie erkennen die Handlungsintention und können die Handlung durchführen, ohne sie ganz beobachtet zu haben (Repräsentation der Handlungsintention, Meltzoff 1995). 5 Fähigkeit, zwischen sich und anderen zu unterscheiden: Ab dem Alter von ca. 18
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Kapitel 3 · Was erklärbar ist: Ätiologie und Entwicklungspsychopathologie
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Monaten sind gesunde Kinder in der Lage, zwischen eigenen und fremden Wünschen zu unterscheiden. Selbstbild: Die Entwicklung eines – zunächst auf körperliche Merkmale bezogenen – Selbstbildes (Ich-Bewusstsein) setzt ein. Am Ende des 2. Lebensjahres erkennen sich gesunde Kinder im Spiegel wieder, was als ein erster Schritt zur Entwicklung eines Selbstbildes angesehen wird. Selbstwirksamkeit: Da das Kind nun ein erstes Ich-Bewußtsein hat, kann es selbstbewirkte Handlungen auf sich selbst als Verursacher beziehen – und damit Selbstwirksamkeit erleben. Beginn der Symbolisierungsfähigkeit: Etwa in der Mitte des zweiten Lebensjahres setzt die Symbolisierungsfähigkeit (Bischof-Köhler 2000) ein. Das Kind kann nun Problemlösungen in der Phantasie simulieren, Ziele und den Weg zu ihrer Erreichung kognitiv vergegenwärtigen. Damit ist der erste Schritt zur rationalen Handlungsplanung vollzogen. Verwendung des Konjunktivs: Ab ca. 4 Jahren lernen Kinder die Verwendung des
Konjunktivs (»Ich wär jetzt mal der Astronaut und du wärst jetzt der Rennfahrer ...«) (Bischof-Köhler 2000, S. 35). 5 Differenzierung zwischen Schein/Phantasie und Realität: Diese Unterscheidung entwi-
ckelt sich im Altersbereich zwischen 3 und 4 Jahren (Flavell et al. 1986). Dabei handelt es sich um einen Prozess, der zu diesem Zeitpunkt lediglich beginnt, und eine sichere Unterscheidung hängt sehr stark von der Art der Aufgabe ab. Die Forschungsergebnisse zeigen, dass Kinder ca. ab 4 Jahren anfangen fähig zu sein, einfache Unterscheidungen zwischen Realität und Phantasie zu treffen, eine Fähigkeit, die im Altersbereich von 4–10 Jahren zunimmt (Sluzenski et al. 2004). 5 Episodisches Gedächtnis: Es bestehen Zusammenhänge mit der Entwicklung des episodischen Gedächtnisses, welches sich ebenfalls zwischen 3 und 4 Jahren entwickelt. 5 Zeitverständnis: Im vierten Lebensjahr entwickelt sich das Zeitverständnis. Kinder im Alter von 4 Jahren sind nun in der Lage, auf eine »mentale Zeitreise« zu gehen (BischofKöhler 2000, S. 236). 5 Selbstkontrolle: Die Kinder sind nun zum Belohnungsaufschub in der Lage und auch Selbstkontrolle wird möglich (s. u.). Es entwickelt sich die Fähigkeit, aus vielen möglichen Verhaltensweisen diejenigen auszuwählen, die zu Problemlösungen führen, die auch das Erreichen langfristiger Ziele ermöglichen. Das Kind ist nicht mehr nur durch seine unmittelbaren Bedürfnisse gesteuert, sondern kann seine Bedürfnisse zurückstellen, um etwas längerfristige Ziele zu erreichen. Einflussfaktoren Die Fähigkeit zur Theory of Mind entwickelt sich in Abhängigkeit von oder gemeinsam mit anderen Faktoren. So konnten beispielsweise in zahlreichen Untersuchungen positive Korrelationen
3.7 Entwicklungspsychopathologie des Asperger-Syndroms
zwischen der Fähigkeit zur Theory of Mind und folgenden Faktoren gefunden werden: 5 Sprachfähigkeiten (s. a. Lohmann u. Tomasello 2003, Hughes et al. 2005, Hale u. TagerFlusberg 2005), 5 Gebrauch »mentalistischer« Sprache im Elternhaus und zwischen Freunden (s. a. Dunn et al. 1991; Hughes u. Dunn 1998: Ruffmann et al. 2002), 5 Vorhandensein von älteren Geschwistern (s. a. Ruffman et al. 1998), 5 Fähigkeit der Mutter zur Theory of Mind (»mind-mindedness« Meins et al. 2002), 5 einem autoritären Erziehungsstil der Eltern (im Sinne einer negativen Beeinflussung, s. a. Pears u. Moses 2003; Ruffmann et al. 1999), 5 dem »So-tun-als-ob-Spiel« (s. a. Asthington u. Jenkins 1995; Taylor u. Carlson 1997), 5 den exekutiven Funktionen (exekutive Kontrolle) (s. a. Perner u. Lang 1999; Perner et al. 2002; Carlson et al. 2004).
3.7.3 Der weitere Entwicklungsverlauf
bei Kindern mit autistischen Störungen – insbesondere bei solchen mit Asperger-Syndrom Es existiert eine große Anzahl von Studien, die die mangelnde Fähigkeit zur Theory of Mind bei Kindern, Jugendlichen und auch Erwachsenen Menschen mit autistischen Störungen belegen (s. a. Yirmiya et al. 1998; Shaked u. Yirmiya 2004). Dabei wurden jedoch meist Probanden untersucht, die die diagnostischen Kriterien des frühkindlichen Autismus erfüllten und überwiegend eine intellektuelle Behinderung aufwiesen. Neuere Studien untersuchten insbesondere auch Menschen mit Asperger-Syndrom bzw. mit High-functioning-Autismus (einige Arbeiten differenzieren nicht zwischen den Störungen) und deren Fähigkeiten bei Mentalisierungsaufgaben in Bezug auf ihre Leistungsfähigkeit hierbei und den beteiligten Hirnregionen.
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Den dabei verwendeten Mentalisierungsaufgaben liegt meist kein klares Konzept von Theory of Mind zugrunde. Die meisten Untersuchungsmethoden konzentrieren sich lediglich auf die Emotionserkennung oder sozial-kognitive Attribuierungen, häufig wird der Interaktionskontext nicht beachtet. Auch die Unterscheidung, ob sich die Theory of Mind auf hypothetische Situationen bzw. Gedanken bezieht oder auf konkrete Handlungen, wird nicht berücksichtigt. Oder es werden vor allen Dingen sprachliche Aspekte, die eine Perspektivenübernahme implizieren sollen, berücksichtigt (Verständnis von sprachlichen Äußerungen/einfache Geschichten, z. B. Strange Stories Test, Jolliffe u. Baron-Cohen 1999; Happe 1994a). In neuerer Zeit hat das Konzept der Perspektivenübernahme jedoch wieder zu einigen Forschungsbemühungen geführt. So untersuchten beispielsweise Vogeley et al. (2001) die neuronalen Mechanismen von Theory of Mind und der Selbst-Perspektive. Im Folgenden möchten wir den derzeitigen Forschungsstand gerafft darstellen (s. a. BaronCohen et al. 1999, 2000; Tager-Flusberg 2001; Frith u. Frith 2003; Frith 2004). Emotionserkennung Dadurch, dass bereits Säuglinge eine angeborene Präferenz für Gesichter zeigen, kommt es bei gesunden Kindern zu einem verstärkten Lernen und einer großen Erfahrung im Zusammenhang mit dem emotionalen Ausdruck von Gesichtern (Schultz 2005). Beeinflusst wird dies durch verschiedene Hirnregionen, insbesondere die Amygdala (Shaw et al. 2004). Dies bildet die Grundlage für das Erlernen einer »Sprache« von Gesichtern, wobei hier die »fusiform face area« (FFA) eine besondere Rolle spielt. Dieses ist wiederum notwendig, um soziale Fähigkeiten zu entwickeln. Bei autistischen Kindern wird dieser Entwicklungsprozess gestört und soziale Fähigkeiten können sich nur unzureichend entwickeln. Im weiteren Verlauf führt die beschriebene Fehlentwicklung bei Menschen mit autistischen Störungen dazu, dass sie sich eher
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Objekten als Menschen zuwenden (Klin et al. 2002; Klin et al. 2003). Da die sozialen Kompetenzen und sozialen Kognitionen fehlen, interessieren sie sich mehr für spezifische nicht-soziale Dinge und weniger für Begegnungen mit anderen Menschen – es kommt zur Bildung von Sonderinteressen. Eine neuere interessante Studie zu diesem Zusammenhang stammt von Grelotti et al. (2005). Es konnte gezeigt werden, dass die o. g. Hirnregionen (Amygdala und FFA) bei einem Jungen mit High-functioning-Autismus durchaus funktionsfähig sind (im Zusammenhang mit seinen Spezialinteressen), aber bei Aufgaben zur Emotionserkennung nicht aktiviert wurden. Es bedarf weiterer Forschung, um diese Zusammenhänge zu klären. Es gibt allerdings auch einige Untersuchungen, die widerlegen, dass Menschen mit Asperger-Syndrom Defizite in der Emotionserkennung zeigen (Ozonoff et al. 1990; Prior et al. 1990; Baron-Cohen et al. 1997) und Blair (2003) schlussfolgert, dass insbesondere das Erkennen von komplexen Emotionen bei Menschen mit Asperger-Syndrom beeinträchtigt ist. In einer neueren Untersuchung zeigte sich, dass autistische Probanden beim Betrachten von vertrauten Gesichtern annähernd »normale« Hirnaktivitäten zeigten, d. h. es ließen sich nicht verminderte Aktivitäten in der »fusiform face area« nachweisen. Beim Betrachten von unbekannten Gesichtern hingegen fanden die Autoren allerdings die beschriebenen Beeinträchtigungen (Pierce et al. 2004). Unter »Laborbedingungen« (Darbietung einzelner Reize unter strukturierten Bedingungen) – wenn beispielsweise der Proband ein einzelnes unbewegtes Gesicht oder auch nur die Augenpartie eines Gesichts hinsichtlich des emotionales Ausdrucks einschätzen soll (Baron-Cohen et al. 2001) – zeigen Menschen mit AspergerSyndrom zwar insgesamt ein schlechteres Ergebnis als die gesunde Kontrollgruppe, dennoch scheiterten sie bei diesen Aufgaben nicht immer (durchschnittlich 61 % der Aufgaben wurden in
der Untersuchung von Baron-Cohen et al. (2001) richtig gemeistert). Das Ergebnis, dass ein Training der Emotionserkennung (welches mit statischen Gesichtausdrücken arbeitet), trotz verbesserter Leistungen in diesen Aufgaben im Training, leider wenig Generalisierungseffekte für das alltägliche Leben erbringt (Bölte et al. 2002), lässt sich dahingehend interpretieren, dass Menschen mit Asperger-Syndrom bei diesen Aufgaben aufgrund ihrer kognitiven Fähigkeiten gut abschneiden. Da es aber nicht zu einer Verbesserung der Integration der kognitiven Aspekte mit den emotionalen und anderen Aspekten führt, werden leider keine grundlegenden Verhaltensbesserungen erreicht. In der alltäglichen Lebenswelt werden Reize meist nur kurz, schnell hintereinander, uneindeutig und in einem relevanten Kontext dargeboten. Hier bleibt nicht genug Zeit für kognitive Verarbeitungsstile, sondern ein intuitives, auf implizites Wissen (welches kognitive und emotionale Aspekte integriert) beruhendes Vorgehen ist gefragt. Beim Erkennen von Emotionen anhand von stimmlichen Äußerungen zeigten Menschen mit High-functioning-Autismus ebenfalls deutlich schlechtere Leistungen als die gesunde Kontrollgruppe (Kleimann et al. 2001). Auch beim Erkennen und Benennen der eigenen Emotionen zeigten Menschen mit Asperger-Syndrom eine deutliche Beeinträchtigung (Hill et al. 2004), außerdem fanden sich bei den untersuchten erwachsenen Patienten deutliche depressive Symptome. Sie hatten Schwierigkeiten im Erkennen und Beschreiben der eigenen Gefühle und zeigten eine konkretistische Denkweise. Empathie In den meisten Untersuchungen wird Empathie und Theory of Mind nicht differenziert – die Begriffe werden synonym verwandt (Lawrence et al. 2004; Baron-Cohen 2004). In einigen Studien wird Empathie auch mit der Emotionserkennung gleichgesetzt (Baron-Cohen et al. 2001), indem Aufgaben zur Erkennung des emotionalen Zustandes anhand von Ausschnit-
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ten des Gesichts (Augenpartie) gestellt werden. Dabei wird theoretisch angenommen, dass das Erkennen der Emotionen über empathische Prozesse geschieht. In einer Untersuchung (Shamay-Tsoori et al. 2002) an zwei Adoleszenten mit Asperger-Syndrom zeigte sich, dass diese deutliche Defizite in ihren empathischen Fähigkeiten aufwiesen, hingegen aber keine in der Emotionserkennung und in der Fähigkeit, das Wissen einer anderen Person mental zu repräsentieren. Allerdings konnten sie den emotionalen Inhalt nicht in die mentalen Repräsentationen integrieren und daraus die emotionale Lage der anderen Person erschließen. Die Autoren folgern daraus, dass Menschen mit Asperger-Syndrom die Fähigkeit fehlt, die kognitiven und emotionalen Aspekte der mentalen Lage einer anderen Person zu integrieren. Frith (2004) meint, dass die Einschränkungen im Bereich der Mentalisierungsfähigkeit beim Asperger-Syndrom nicht weniger ausgeprägt sind als beim frühkindlichen Autismus, die Einschränkungen seien jedoch lediglich »besser getarnt«. Aufgrund ihrer Intelligenz könnten sie viele Aufgaben aus dem Bereich der Theory of Mind durch logische Schlussfolgerungen erschließen. Aber eine »explizite Theory of Mind beinhaltet nicht notwendigerweise eine intuitive Mentalisierungsfähigkeit« (Frith 2004, S. 678; Übersetzung durch die Autoren). Eine ähnliche Unterscheidung trifft Tager-Flusberg (2001), indem sie eine soziale Wahrnehmung und eine soziale Kognition der Theory of Mind unterscheidet. Beim Asperger-Syndrom sei lediglich die soziale Wahrnehmung und nicht die kognitive Komponente der Theory of Mind beeinträchtigt, während beim frühkindlichen Autismus beide Komponenten beeinträchtigt seien. Wir folgen dieser Argumentation, indem wir postulieren, dass beim Asperger-Syndrom zwar die kognitiven Komponenten der Theory-ofMind-Aufgaben in gut strukturierten Situationen durchaus bewältigt werden können (Menschen mit Asperger-Syndrom können beispielsweise kognitiv lernen, was verschiedene mimische
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Ausdrücke bedeuten), aber die Integration mit den emotionalen Aspekten, eine Koordination verschiedener Perspektiven gelingt nicht. Diese Annahme bedarf weiterer empirischer Erforschung. Sozial-kognitive Attribuierungen Menschen mit Asperger-Syndrom meistern sogenannte Theory of Mind-Aufgaben erster Ordnung (»First order false belief task«) durchaus. Dies sind Aufgaben, die das Erkennen einer falschen Ansicht (false belief) testen (z. B. das »Maxi-Paradigma, 7 Kap. 3.5.6). Menschen mit Asperger-Syndrom scheitern auch nicht durchgängig an Aufgaben zweiter Ordnung (secondorder attribution task) (»Peter denkt, dass Anne denkt, dass ... .«) (Baumiger u. Kasari 1999; Bowler 1992; Dahlgreen u. Trillingsgaard 1996; Happe 1994a; Ozonoff u. McEvoy 1994; Ozonoff et al. 1991). Solche Aufgaben lösen normal entwickelte Kinder im Alter von ungefähr sechs Jahren (Perner u. Wimmer 1985; Sullivan et al. 1994). Bei einigen erwachsenen Menschen mit autistischen Störungen wurde eine Kompetenz in Theoryof-Mind-Aufgaben zweiter Ordnung gefunden, diese scheiterten jedoch in komplexeren Aufgaben zur Rekonstruktion mentaler Zustände, wie der Interpretation von Doppeltäuschungsmanövern (Happe 1994a). Bei diesen Aufgaben geht es darum, dass die Versuchspersonen angeben sollen, was eine andere Person über die Gedanken einer anderen denkt, vor allem wenn sie glaubt, die andere Person würde davon ausgehen, dass sie lügt (beispielsweise geht es um eine Frau, die sich lobend über das neue Kleid einer Freundin auslässt, obwohl sie es in Wirklichkeit grauenhaft findet). Ausgewertet werden die Antworten auf die Frage nach der Motivation dieser Menschen, inwieweit angemessen auf innere Vorgänge Bezug genommen wird. In anderen Untersuchungen wurden Aufgaben (sog. »social attribution tasks«) vorgegeben, die das Zuschreiben von psychischen Eigenschaften bei Menschen mit Asperger-Syndrom und High-functioning-Autismus überprüfen
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(Klin 2000; Abell et al. 2000). Der Grundgedanke dieser Aufgaben ist, Personen mit einer Szene zu konfrontieren, die augenscheinlich keine sozialen und kommunikativen Begebenheiten darstellen, aber einen deutlichen Aufforderungscharakter besitzen, sozial gedeutet zu werden. Dazu wird den Probanden ein kleiner Film gezeigt, der aus der Sozialpsychologie zur sozialen Attribution von Heider und Simmel (1944) stammt. In diesem Film ist zu sehen, dass sich verschiedene Objekte (ein kleiner Kreis, ein kleines Dreieck, ein großes Dreieck sowie Linien) bewegen und eine kleine »Szene« aufführen. Die Probanden wurden dann zu ihren Interpretationen der Szene befragt. Es konnte gezeigt werden (Castelli et al. 2002; Klin 2000; Abell et al. 2000), dass die Probanden mit High-functioning-Autismus und mit Asperger-Syndrom die Szene weitaus weniger im Sinne einer sozialen Handlung interpretierten als die nicht-autistischen Kontrollpersonen. Für einen autistischen Probanden zeigt der Film lediglich geometrische Figuren, die zusammenstoßen, sich umeinander bewegen, herumhüpfen usw.. Ein gesunder Proband sieht zwei Freunde, die zusammen spielen und von einer dritten (dem großen Dreieck) gestört werden. Er sieht Freunde und Feinde, sieht ein SichFreuen, Angst-Haben usw. und nicht nur Kreise und Dreiecke. In der Untersuchung von Castelli et al. (2002) zeigt sich zudem, dass die erwachsenen Probanden mit Asperger-Syndrom deutlich weniger Aktivivierung in den Hirnregionen zeigten, die als Mentalisierungs-Netzwerk identifiziert werden konnten. Perspektivenübernahme Eine interessante Untersuchung stammt von Yirmiya et al. (1992), die nachwiesen, dass Probanden mit High-functioning-Autismus relativ gute Leistungen in den Empathie-Aufgaben zeigten, wenngleich diese immer noch schlechter waren als jene von nicht-autistischen Probanden. Deutlich niedrigere Werte erreichten die autistischen Probanden in der Benennung von Emotionen anderer sowie hierauf bezogener empathischer
Reaktionen und der Perspektivenübernahme. Bei den autistischen Probanden fand sich ein bedeutsamer größerer Zusammenhang zwischen diesen Merkmalen und den kognitiven Fähigkeiten als bei den nicht-autistischen Probanden. Dies wird dahingehend interpretiert, dass das relativ »gute« Abschneiden bei den sozial-kognitiven Aufgaben durch kognitive Strategien zustande kam und nicht durch ein »affektives Verstehen«. Neuere Untersuchungen, die sich darum bemühten, Theory-of-Mind-Fähigkeiten in einem natürlicheren Kontext zu untersuchen – den Probanden werden lebensnahe Videofilme gezeigt, in denen beispielsweise zwei Personen in ein Gespräch verwickelt sind – zeigen, dass Menschen mit Asperger-Syndrom ein signifikant schlechteres Ergebnis erbrachten als die Kontrollgruppe, während dieser Unterschied bei Aufgaben, die nicht mit einem Interaktionskontext verbunden waren, nicht gefunden wurde (Heavey et al. 2000; Roeyers et al. 2001, Ponnet et al. 2004). Bedeutsam ist, dass bei Aufgaben, die einen Interaktionskontext herstellten, kein Zusammenhang zwischen der Fähigkeit zur Theory of Mind und den verbalen Fähigkeiten der Probanden gefunden wurde! Dagegen findet sich bei den Aufgaben, die den Situationskontext vernachlässigen, dieser Zusammenhang in vielen Untersuchungen (Leekam u. Perner 1991; Happe 1994b; Yirmija et al. 1998; s. a. Bruning et al. 2005). Ein weiterer Untersuchungsansatz besteht darin, die Theory of Mind mit der Vorlage von Geschichten zu testen, in denen alltägliche Situationen dargestellt werden, worin Personen Dinge sagen, die sie nicht wörtlich meinen. Es zeigte sich, dass Menschen mit Asperger-Syndrom – die zuvor Theory-of-Mind-Aufgaben zweiter Ordnung bewältigt hatten – bei diesen Aufgaben Schwierigkeiten hatten, die richtigen kontextabhängig angemessenen Antworten zu geben (Jolliffe u. Baron-Cohen 1999; Kaland et al. 2002; 2005).
3.7 Entwicklungspsychopathologie des Asperger-Syndroms
3.7.4 Zusammenhang zur
Symptomatik Bei Menschen mit Asperger-Syndrom ist die Fähigkeit, die Handlungsintentionen anderer Personen zu erkennen, beeinträchtigt. Sie erkennen nicht, oder nur unzureichend, was andere Menschen gerade wollen oder beabsichtigen. Sie merken nicht, dass ihr Gegenüber kein Interesse an ihren Sonderinteressen hat, dass ihr Gegenüber es eilig hat, selbst etwas sagen möchte usw.. Sie verfügen über einen großen Wortschatz, können diesen aber in sozialen und emotionalen Bereichen nicht angemessen anwenden. Sie haben ein großes Interesse und eine sehr gute Wahrnehmungsfähigkeit für Details. Bei der Emotionserkennung und in sozialen Situationen fokussieren sie auf Details, was jedoch einer ganzheitlichen und angemessenen Wahrnehmung nicht zuträglich ist. Emotionen lassen sich nicht über Details und auch nur schwer aus der Summe von Details erkennen (z. B. kann das Detail »Mund offen« sehr unterschiedliche Bedeutungen haben). Häufig fällt es Menschen mit Asperger-Syndrom schwer, physikalische Vorgänge von psychischen Vorgängen zu unterscheiden und sie haben große Schwierigkeiten in der sprachlichen Bezeichnung von psychischen Vorgängen, auch wenn sie andere Dinge sehr gut benennen können (z. B. können sie evtl. 50 verschiedene Dinosaurier unterscheiden, können aber kaum beschreiben, was »glücklich, traurig oder ängstlich« bedeutet). Sie verstehen und benennen meist lediglich die Extreme von Emotionen und vermeiden Ambivalenzen oder Uneindeutigkeiten im sozial-emotionalen Bereich und in der Sprache. ! Durch die mangelnde Fähigkeit, verschiedene Perspektiven einzunehmen, Bezugssysteme flexibel zu wechseln, kommt es zu deutlichen Auffälligkeiten im semantischen Sprachverständnis: Sie können sprachliche Äußerungen nicht in verschiedene Bezugssysteme setzen, für sie ist nur das eine Bezugssystem – das Lexika-
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lische – von Bedeutung und sie haben Schwierigkeiten, sprachliche Äußerungen auch in andere Bezugssysteme (z. B. bildhaft, ironisch ...) zu setzen, d. h. die Sprache erscheint konkretistisch.
Damit kommt es insgesamt zu einem deutlichen »Schwarz-Weiß-Denken«, zu einem Denken in Extremen. Etwas ist entweder gut oder böse, jemand ist freundlich oder feindlich, man selbst ist glücklich oder todtraurig usw.. Ambivalente Gefühle sind unerträglich, sprachlich nicht benennbar, können nicht erkannt werden und es kann nicht adäquat damit umgegangen werden. Die empathischen Fähigkeiten sind deutlich beeinträchtigt: Menschen mit Asperger-Syndrom nehmen nicht wahr und/oder verstehen nicht, wenn jemand beispielsweise weint. Dies verwirrt sie und sie können nicht adäquat darauf reagieren. Es ergeben sich massive Probleme im Zusammensein mit anderen Menschen, was zu einer deutlichen Kontaktstörung führt, obwohl der Wunsch nach Kontakt durchaus vorhanden sein kann. Da sie das Verhalten anderer schlecht vorhersagen können, können sie häufig nicht richtig einschätzen, ob Ereignisse zufällig eintreten oder absichtlich herbeigeführt wurden. So kommt es evtl. zu einer Kontaktvermeidung und einer vermehrten Hinwendung zu spezifischen, nicht-sozialen Themen oder Dingen. Im Zusammenhang mit diesen Themen kann eine Selbstbestätigung und -aufwertung erlebt werden. In sozial-emotionalen Zusammenhängen hingegen kommt es häufig zur Selbstabwertung. Da die mangelnde Fähigkeit zur Theory of Mind sich auch auf die eigene Person bezieht, haben sie häufig ein unklares Selbstbild. Das heterogene Leistungsprofil, die guten kognitiven, aber ungenügenden sozialen Fertigkeiten und die als verwirrend erlebte eigene Emotionalität lassen sich nur sehr schwer in ein Selbstbild integrieren. Dies führt häufig auch zu einer unsicheren Ich-Du-Repräsentation, d. h. die Grenzen des eigenen Ichs werden nicht klar wahrgenommen, die Unterscheidung zwischen Phan-
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Kapitel 3 · Was erklärbar ist: Ätiologie und Entwicklungspsychopathologie
tasie und Realität ist gelockert. Aufgrund der Defizite in den exekutiven Funktionen ergeben sich deutliche Probleme in der Handlungsplanung, der Impulskontrolle, bei der Unterdrückung drängender, aber den Handlungsablauf störender Reaktionen, sowie in der Zielgerichtetheit, der organisierten Suche und in der Flexibilität im Denken und Handeln. Damit einher geht eine deutliche Unfähigkeit in der Emotionsregulation: Emotionen werden unter Umständen als verwirrend, nicht verstehbar, nicht handhabbar und überwältigend erlebt und es kommt zu impulshaften Durchbrüchen, die wenig steuerbar durch die Person selbst sind. Menschen mit Asperger-Syndrom richten sich in ihrem Verhalten und in ihrer äußeren Erscheinung nicht nach gegenwärtigen Trends oder Moden. Da sie sich nicht fragen, was andere Menschen denken, wie andere Menschen sie selbst wahrnehmen, erscheinen sie gegenüber anderen gleichgültig, egozentrisch, bizarr. Zwar nehmen einige die erfahrene Ablehnung durch andere durchaus wahr (im Sinne des oben beschriebenen Schwarz-Weiß-Denkens), aber ihre Reaktionen darauf sind eigentümlich, wenig nachvollziehbar und häufig unangemessen. ! Menschen mit Asperger-Syndrom sind, aufgrund der beschriebenen Entwicklung, aber auch sehr loyal anderen gegenüber, sie lügen oder täuschen andere Menschen nicht. Sie sind zuverlässig und halten sich auch verlässlich an einmal akzeptierte Regeln. Sie sind unvoreingenommen anderen Menschen gegenüber und betrachten andere Menschen ohne Vorurteile. Sie machen sich nicht abhängig von Moden oder Meinungen anderer und sagen offen und ohne Scheu, was sie denken. Dabei sprechen sie in einer eindeutigen, unzweideutigen Sprache und verfügen in vielen Bereichen über einen großen Wortschatz. Sie haben Spaß an ungewöhnlichen Wortbildungen und Wortspielen. In speziellen Wissensbereichen verfügen sie über ein bewundernswertes Wissen, dass sie gerne und ausführlich preisgeben.
Abschließend ist in der . Abb. 3.8 die Entwicklung einer Theory of Mind bei Kindern mit Asperger-Syndrom zusammenfassend dargestellt. In der oberen Zeile sind wichtige biologische Voraussetzungen (Präferenz für Gesichter/ soziale Reize, Fähigkeit zur geteilten Aufmerksamkeit, Imitation) und wichtige Einflussfaktoren (Fähigkeit zur zentralen Kohärenz, kognitive und sprachliche Fähigkeiten) dargestellt. Auf der sozial-kognitiven Ebene wird der Entwicklungsverlauf der Theory of Mind beschrieben, parallel dazu zeigt sich auf der Verhaltensebene die entsprechende Entwicklung im Spielverhalten. Dabei werden die untereinander aufgelisteten Entwicklungsschritte als ein hierarchisches Modell aufgefasst, d. h. die entwicklungspsychologischen Aufgaben bauen aufeinander auf, wobei die vorher erreichten Aufgaben bzw. Fähigkeiten beibehalten werden. Beim Asperger-Syndrom besteht ein herausragendes Merkmal darin, dass die kognitive Entwicklung in den überwiegenden Aspekten normal verläuft, wohingegen die soziale und emotionale Entwicklung deutlich retardiert bleibt. Durch die guten kognitiven Kompetenzen können einige Aspekte der sozial-emotionalen Entwicklung kompensiert werden, jedoch werden die verschiedenen Aspekte nicht integriert. Auch die kognitive Entwicklung bleibt nicht völlig unbeeinträchtigt, sie ist in den Aspekten der Selbstkontrolle (exekutive Kontrolle), wie bereits beschrieben, deutlich reduziert. In . Abb. 3.8 ist der Entwicklungsverlauf bei Kindern mit Asperger-Syndrom dargestellt.
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3.7 Entwicklungspsychopathologie des Asperger-Syndroms
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Präferenz für Gesichter/soziale Reize Geteilte Aufmerksamkeit
kognitive Fähigkeiten
Imitation Sprache
Kognitive Ebene
Sozial-emotionale Ebene
soziale Wahrnehmung beeinträchtigt eingeschränkte Fähigkeit, die HandlungsIntentionen anderer Personen zu erkennen
Verhaltensebene sensomotorisches Spiel
Schwierigkeiten in der Emotionserkennung funktionales Spiel eingeschränkte Symbolisierungsfähigkeit unklares Selbstbild Interesse an Details
symbolisches („So-tun-als-ob“) Spiel eingeschränkt stereotypes Spielen Interesse an Details
eingeschränkte empathische Fähigkeiten Unfähigkeit, physikalische Vorgänge von psychischen Vorgängen zu unterscheiden
Schwierigkeiten in der sprachlichen Bezeichnung psychischer Vorgänge, Vermeidung von Ambivalenz
unklares Selbstbild
eingeschränkte Fähigkeit zu unterscheiden, ob Ereignisse zufällig eingetreten sind oder absichtlich herbeigeführt wurden
keine sichere Ich-Du-Repräsentation
eingeschränkte Selbstkontrolle (exekutive Kontrolle)
unflexibles Denken
Parallelspiel ohne wechselseitige Beachtung Einschränkungen im intuitiven Verständnis für psychische Vorgänge, soziale und emotionale Situationen Vermeidung von Ambivalenz
ausgeprägte Kontaktstörung (Bei Wunsch nach Kontakt)
kein komplementäres und reziprokes Spiel/ Interessen fokussiert/Präferenz für Routinen, Stereotypien
eingeschränktes Verständnis metaphorischer Bedeutungen (z. B. Ironie, Witze)
impulsive Verhaltensweisen
Unfähigkeit, die Intentionen anderer Personen zu erkennen „Erschaffung eigener Welten“/Kontaktvermeidung
kein komplexes soziales Fiktionsspiel/ Sonderinteressen zwanghafte Verhaltensweisen
Emotionsregulation beeinträchtigt einseitige Kommunikation
Unterscheidung zwischen Wissen und Annahmen gelingt nur unzureichend, kognitive Perspektivenübernahme ist nur über explizites Lernen möglich und erfolgt nicht intuitiv
kein kooperatives soziales Fiktions-/ Illusionsspiel, dominantes Spielverhalten, bizarr und exzentrisch
keine affektive Perspektivenübernahme
wörtliches Verständnis der Sprache
keine sichere Unterscheidung zwischen Phantasie und Realität
kein einfaches Sozialspiel, einzelgängerisch, eigenwilliges, imaginatives Spiel
Monologe Selbstabwertung
Austausch von Informationen ist unbeeinträchtigt Selbstaufwertung erfolgt über kognitive Leistungen
. Abb. 3.8. Entwicklungsverlauf bei Kindern mit Asperger-Syndrom
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Kapitel 3 · Was erklärbar ist: Ätiologie und Entwicklungspsychopathologie
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Kapitel 3 · Was erklärbar ist: Ätiologie und Entwicklungspsychopathologie
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3.7 Entwicklungspsychopathologie des Asperger-Syndroms
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4 Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik 4.1
Symptomatik – 87
4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4
Qualitative Beeinträchtigung der sozialen Interaktion – 88 Qualitative Beeinträchtigung der Kommunikation – 91 Begrenzte, repetitive und stereotype Verhaltensweisen, Interessen und Aktivitäten – 95 Sonstige auffällige Verhaltensweisen – 101
4.2
Störungsspezifische Entwicklungsgeschichte
4.3
Komorbidität und Begleiterscheinungen
4.4
Störungsrelevante Rahmenbedingungen – 106
– 102
– 105
4.5
Apparative, Labor- und Testdiagnostik – 107
4.5.1 4.5.2 4.5.3 4.5.4 4.5.5
Apparative und Labordiagnostik – 107 Screening-Verfahren – 108 Exploration der Bezugspersonen – 113 Exploration und Verhaltensbeobachtung des Betroffenen – 114 Standardisierte Verfahren – 115
4.6
Weitergehende Diagnostik – 126
4.7
Entbehrliche Diagnostik – 127
84
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik
Bis heute gibt es keinen biologischen/genetischen Marker für Autismus-Spektrum-Störungen und es existiert auch kein gesicherter, spezifischer neuropsychologischer Test, der ein eindeutiges Ergebnis im Sinne von Asperger-Syndrom Ja/ Nein erbringt. Zwar liegen mittlerweile hochinteressante Befunde aufgrund von bildgebenden Verfahren (funktionelle Magnetresonanztomographie – fMRT, 7 Kap. 3) vor, aber wir sind immer noch weit davon entfernt, aufgrund dieser Ergebnisse zu einem biologisch begründeten Testverfahren zu gelangen (Schultz 2005). Nach wie vor sind wir auf 5 beobachtbares Verhalten, 5 auf die Angaben der Eltern über die frühkindliche Entwicklung, 5 auf die Interpretation von Testergebnissen 5 und neuropsychologischen Daten angewiesen. Auch wenn wir mittlerweile genau wissen, worauf wir achten müssen, welches Verhalten diagnoserelevant ist, die Triade der Symptombereiche (s. u.) im Kopf haben, so müssen wir uns doch vor Augen halten, dass Verhalten stets in vielfältigen Ausformungen vorliegt. Es unterliegt deutlichen Einflüssen durch die Umwelt, durch biologische Komponenten und durch die Interaktion zwischen beiden. Verhalten wird beeinflusst durch situative Faktoren, Verhaltensdefizite werden kompensiert und überlagert. Relevante Einflussgrößen sind Intelligenz, Sprachfähigkeit, Temperament, Persönlichkeit usw. auf Seiten des Patienten, auf der anderen Seite sind Förderung, Erziehung, Therapie, Lebensereignisse und -umstände usw. bei der Verhaltenseinschätzung zu berücksichtigen. Jedes/r Kind/ Jugendliche/Erwachsene mit einer autistischen Störung ist einzigartig und besonders! Leider führt die Vielfalt der Symptomatik auf der einen Seite und die noch immer vorliegende Uneindeutigkeit in der Literatur zu den Diagnosekriterien (7 Kap. 2) dazu, dass die Diagnose Asperger-Syndrom bis heute immer noch in relativ willkürlicher Art und Weise vergeben wird.
Seit der Erstbeschreibung durch Hans Asperger (1944) ist viel Zeit vergangen, aber bedauernswerter Weise ist nicht sehr viel klarer geworden, was diese Störung impliziert und was nicht. Zum einen wird die Diagnose Asperger-Syndrom mittlerweile assoziiert mit Begabung, Hochbegabung oder genialer Begabung, mit Besonderheit – vielleicht auch etwas bizarr, aber eben genial – und hat somit eine deutlich positive Konnotation. (High-functioning-)Autismus jedoch ist assoziiert mit Behinderung, mit Abkapselung von der Umwelt, sogenannte Muschelkinder, die über einige Fähigkeiten verfügen, jedoch im Gesamtbild deutlich behindert erscheinen. Demnach hat diese Störung eine deutlich negativere Konnotation. Die Abgrenzung dieser beiden Störungsbilder ist weiter umstritten. Häufig wird die Diagnose »Asperger-Syndrom« aber auch in solchen Fällen vergeben, in denen ein Kind oder Jugendlicher einige autistische Merkmale zeigt, aber nicht alle diagnoserelevanten, oder in denen ein untypischer Verlauf vorliegt. Die Situation ist alles andere als zufriedenstellend und bietet einen großen Graubereich der Interpretationsmöglichkeiten, der in sehr unterschiedlichem Maße gefüllt wird. Die Darstellung in den diagnostischen Manualen (ICD-10, DSMIV) kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch nicht alle Unsicherheiten/Unklarheiten beseitigen, es bleibt abzuwarten, welchen diagnostischen Fortschritt neure Revisionen erbringen. ! Jedoch besteht bei aller Unklarheit über einen Punkt Einigkeit: Das Asperger-Syndrom zählt zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen und zu den Autismus-Spektrum-Störungen. Es geht mit guten sprachlichen Fähigkeiten einher, Kinder mit dieser Störung lernen zeitgerecht sprechen, sie zeigen weder rezeptive noch expressive Sprachentwicklungsverzögerungen und ihre kognitiven Fähigkeiten liegen mindestens im Durchschnittsbereich.
Diese Differenzierung ist immer noch nicht ohne Probleme, denn die Sprachentwicklung wird
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Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik
in den meisten Fällen retrospektiv erfragt und beruht damit nicht auf objektivierbaren Daten. Auch gibt es unklare Fälle (beispielsweise: Medizinische Probleme, Zweisprachigkeit oder Ähnliches), die eine eindeutige Aussage über die Sprachentwicklung erschweren. Die Sprachentwicklung muss nicht in allen Aspekten normal verlaufen: So zeigt sich beispielsweise, dass die Sprache von Kindern mit Asperger-Syndrom häufig eher akzeleriert erscheint, die Kinder verwenden eine kinder-untypische, erwachsenenhafte Sprache. Die Bedeutung von Wörtern wird missverstanden im Sinne eines wörtlichen Verständnisses (s. u.). Dennoch ist dieses Unterscheidungsmerkmal zwischen dem Asperger-Syndrom und anderen autistischen Störungen das zum gegenwärtigen Zeitpunkt am besten empirisch belegte und auch praktikabelste. Wir hoffen, dass wir im Folgenden verdeutlichen können, was unter der Diagnose Asperger-Syndrom zu verstehen ist und auf welcher Grundlage diese Diagnose gestellt werden
kann. Besonders liegt uns am Herzen, deutlich zu machen, wie die Symptomatik – so vielfältig sie auch ist – dieser Störung erscheint und diese möglichst »lebendig«, d. h. mit vielen Bespielen darzustellen (dabei sind die in Anführungszeichen gesetzten Fallbeispiele Berichte von Eltern oder Betroffenen selbst, alle Namen wurden geändert). Auch wenn die Diagnose »Asperger-Syndrom« eine weitaus akzeptablere zu sein scheint, als die Diagnose »Autismus«, so möchten wir doch klarstellen, dass diese Diagnose ebenso zu den autistischen Störungen zählt, welche mit großen sozialen Schwierigkeiten, mangelnden kommunikativen Fähigkeiten, zahlreichen Ängsten und Nöten verbunden sind, was wir im Folgenden deutlich machen wollen. Die Diagnostik und Differenzialdiagnostik von Autismus-Spektrum-Störungen lässt sich zusammenfassend in sechs Schritten darstellen (. Tab. 4.1). Auf die spezifischen einzelnen Schritte zur Diagnostik und Differenzialdiagnos-
. Tab. 4.1. Sechs Schritte in der Diagnostik, Differenzialdiagnostik und Behandlungsindikation von AutismusSpektrum-Störungen 1. Verdacht ➞
2. Screening ➞
3. Umfassende Untersuchungen ➞
5 5 5 5
5 5 5 5 5
5 5 5 5 5
Eltern Familienmitglieder Freunde Betreuer
4
Beobachtung Checklisten Skalen Video-Beobachtung Heim-Videos
Klinische Syndrom-Diagnose Komorbidität Neurobiologische Untersuchung Psychologische Untersuchung Untersuchung mit bildgebenden Verfahren 5 Einbeziehung des Umfeldes
4. Differentialdiagnose ➞
5. Multiaxiale Diagnostik ➞
6. Behandlungsindikation ➞
5 Tiefgreifende Entwicklungsstörungen 5 Umschriebene Entwicklungsstörung 5 Andere psychopathologische Störungen 5 Komorbide körperliche Erkrankungen
5 5 5 5 5
5 5 5 5 5 5 5
Psychiatrisches Syndrom Entwicklungsstörungen Intelligenzniveau Körperliche Symptomatik Abnorme psychosoziale Umstände 5 Globalbeurteilung der psycho-sozialen Anpassung
Aufklärung und Psychoedukation Frühförderung Verhaltenstherapie Körperbezogene Verfahren Pädagogische Programme Krisenintervention Medikation
86
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik
tik des Asperger-Syndroms werden wir dann im Folgenden ausführlich eingehen. Die Diagnose eines Asperger-Syndroms wird gestellt aufgrund der Vorgeschichte und der Beobachtung des Kindes in verschiedenen Situationen. Hierzu liegen mittlerweile eine Reihe von Interviews, Skalen und Beobachtungsverfahren vor (s. u.). Neben der spezifischen psychiatrischen Klassifizierung (nach ICD-10, DSMIV) sollten folgende Bereiche diagnostisch abgeklärt werden: komorbide Störungen, Einschätzung des allgemeinen Entwicklungsstandes, der kognitiven Fähigkeiten und des adaptiven Verhaltens, der neuropsychologischen Funktionen, körperliche/neurologische Untersuchung. Früherkennung Zur Früherkennung von autistischen Störungen liegen mittlerweile einige Untersuchungen vor, die sich jedoch in der Regel auf die Früherkennung des frühkindlichen Autismus beziehen. Zur Früherkennung des Asperger-Syndroms gibt es bis heute leider noch sehr wenige Arbeiten. Einige der wesentlichen Befunde sollen im Folgenden dargestellt werden. In Untersuchungen (s. Maestro et al. 2005), die private Videoaufzeichnungen von Eltern, deren Kinder später als autistisch diagnostiziert wurden, auswerteten, zeigen, dass insbesondere eine reduzierte Aufmerksamkeit für soziale Reize und eine vermehrte Hinwendung zu Objekten die autistischen Kinder von den nichtautistischen unterscheidet. Insgesamt erscheinen die frühen Symptome jedoch eher relativ unspezifisch zu sein, wie beispielsweise häufiges Weinen (»Schreibaby«), Schlafstörungen, Unruhe, Störungen der Nahrungsaufnahme usw.. Folgende Symptome (Filipek et al. 1999; Maestro et al. 2005, Baird et al. 2003; Wetherby et al. 2004) sollten jedoch als Indikatoren für eine weitergehende Diagnostik angesehen werden: 5 Wenig affektive Modulation, geringe Eigeninitiative, 5 geringe soziale Interaktion, keine geteilte Aufmerksamkeit,
5 Ignorieren von Menschen, kein soziales Lächeln, kein Blickkontakt, 5 kein Brabbeln, kein Zeigen mit dem Finger oder andere Gestik mit 12 Monaten, 5 keine sozial-kommunikativen Gesten (z. B. Zeigen, Winken usw.) mit 12 Monaten, 5 keine Reaktion auf den eigenen Namen, 5 ungewöhnliche Prosodie, 5 Sprachentwicklungsverzögerung. Eine sichere Diagnose ist bei Störungen des autistischen Spektrums nicht vor dem 2. oder 3. Lebensjahr möglich. So zeigte sich, dass mit einem Screening Verfahren (Checklist for Autism in Toddlers, CHAT) für den Altersbereich zwischen 18 Monaten und 3 Jahren zwar eine hohe Spezifität (98 %) erreicht wurde, die Sensitivität hingegen sehr gering ausfiel (<40 %) (Baird et al. 2000). Anhand einer differenzierten klinischen Diagnostik lässt sich jedoch eine gute Stabilität für die Diagnose des frühkindlichen Autismus konstatieren (Filipek et al. 1999; Lord 1995; Stone et al. 1999; Cox et al. 1999). Beim Asperger-Syndrom werden die spezifischen Symptome erst im Alter von 4–5 Jahren deutlich. Dies ist dadurch erklärbar, dass erst in diesem Alter die sozial-kommunikativen Verhaltensweisen auch bei nicht-autistischen Kindern so weit entwickelt sind, dass Auffälligkeiten im Spielverhalten, in der sozialen Interaktion usw. sichtbar werden können. Folgende Auffälligkeiten im Alter von 4–5 Jahren sollten zur Abklärung eines Asperger-Syndroms führen: 5 Kommunikation: ungewöhnlicher Gebrauch der Sprache, wörtliches Verständnis, Monologisieren, kein kommunikativer Gebrauch der Sprache, Gestik und Mimik wird nicht kommunikativ eingesetzt, auffällige Intonation. 5 Soziale Interaktion: Fehlendes Imitieren (z. B. spielerisches Nachahmen von Handlungen), inadäquate oder fehlende Kontaktaufnahme zu anderen Menschen, fehlende Reaktion auf die Gefühle bei anderen Menschen, eingeschränkte Vielfalt im Spielver-
87
4.1 Symptomatik
halten, Unvermögen zum gemeinsamen interaktiven Spiel mit Gleichaltrigen, Bevorzugen von einzelgängerischen Beschäftigungen. 5 Einschränkungen in den Interessen, Aktivitäten und Verhaltensweisen: Fokussierung auf wenige Interessen und Aktivitäten, deutliche Veränderungsängste, zwanghafte Verhaltensweisen, auffällige Motorik. Beispiel Der fünfjährige Thomas fiel im Kindergarten dadurch auf, dass er anderen Kindern gerne und ausgiebig über Naturkatastrophen berichtete und gleichzeitig nicht in der Lage war, sich an alterstypischen Spielen zu beteiligen. Häufig stand er mitten im Raum und redete vor sich an, ohne darauf zu achten, was die anderen Kinder machten. Seine Sprache war außergewöhnlich elaboriert und die Intonation erschien monoton. ! Autismus-Spektrum-Störungen können nicht vor dem 18. Lebensmonat diagnostiziert werden, da die ersten Symptome zu unspezifisch sind. Die Diagnose eines Asperger-Syndroms wird z. Z. leider noch sehr spät gestellt und es kommt zu häufigen Fehldiagnosen (z. B. ADHS, hier ist zu beachten, dass ADHS häufig eine komorbide Störung ist. So kann es sein, dass
4
die ADHS-Symptomatik überwiegt und insofern stärker ins Auge springt). Die sichere Diagnose ist erst ab einem Alter von 4–5 Jahren möglich. Der Untersucher/die Untersucherin sollte differenzierte Kenntnisse über die Merkmale einer »unauffälligen, normalen« Entwicklung – insbesondere auch der frühkindlichen Entwicklung – besitzen, um beispielsweise einschätzen zu können, ob die Kontaktfähigkeit, die Sprachentwicklung und kommunikative Fähigkeiten eines Kleinkindes als auffällig zu beschreiben sind oder nicht.
In . Tab. 4.2 sind die Symptombereiche, die diagnostisch untersucht werden sollten, aufgelistet.
4.1
Symptomatik
Im Folgenden soll die Symptomatologie eingehender beschrieben werden. Es werden auch relevante Fragen angegeben, mit denen die Symptomatik erfasst werden kann (diese sind gesondert in Kästen aufgeführt). Dabei wird die Formulierung »er« verwendet, da meist Jungen betroffen sind (s. o.). Diese Fragen beziehen sich sowohl auf das aktuelle Alter eines Kindes/ Jugendlichen, aber auch auf die frühkindliche Entwicklung etwa im Alter von 4–5 Jahren.
. Tab. 4.2. Symptombereiche des Asperger-Syndroms Soziale Interaktion
Kommunikation
Begrenzte, repetitive und stereotype Verhaltensweisen, Interessen und Aktivitäten
Kontaktverhalten, soziale Motivation
Intonation, Sprechweise
Sonderinteressen
Theory of Mind/Empathie
Sprachverständnis
Veränderungsängste/Zwänge/ Rituale
Mangel an geteilter Freude/sozioemotionaler Gegenseitigkeit
Verständnis sozialer Regeln der Kommunikation
Motorik
Nonverbales Verhalten (Blickkontakt, Mimik, Gestik)
Spielverhalten
88
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik
4.1.1 Qualitative Beeinträchtigung der
sozialen Interaktion In diesem Bereich finden sich die auffälligsten Charakteristika der Störung. Hierunter versteht man eine große Vielfalt an Verhaltensmerkmalen und -auffälligkeiten, daher wird versucht, diesen Bereich nochmals zu untergliedern und zu strukturieren. Kontaktverhalten und soziale Motivation Die Betroffenen finden keinen Kontakt zu anderen Menschen, insbesondere das Knüpfen von Kontakten zu Gleichaltrigen ist schwierig. Dies liegt jedoch nicht zwingend am Wunsch der Betroffenen nach sozialem Rückzug, sondern vielmehr an der Unfähigkeit, die ungeschriebenen Regeln des sozialen Miteinanders zu verstehen und sich entsprechend zu verhalten. Viele Kinder/Jugendliche mit Asperger-Syndrom haben den Wunsch nach Kontakt, nach Freunden und nach Anerkennung durch Andere. Sie werden aber oft durch ihre sozialen Schwierigkeiten tief frustriert und enttäuscht. Sie verfügen nicht über die entsprechenden Fertigkeiten, um Freundschaften aufzubauen und aufrecht zu erhalten (Volkmar u. Klin 2000; Eisenmajer et al. 1996). Beispiel Auf die Frage: »Was ist ein Freund?« antwortete beispielsweise der 12-jährige Bastian: »Weiß ich nicht! Brauch keine Freunde!« Auf weiteres Fragen, warum denn Leute sich mögen, oder sogar heiraten, antwortete er: »Wenn man heiratet, gehört dem anderen die Hälfte des Geldes, das finde ich blöd! Dann hab ich weniger Geld für Nintendo-Spiele.«. Beispiel »Dieter liebt es, wenn sich eine erwachsene Person ausschließlich mit ihm beschäftigt. Diese Person mag er dann sehr. Sein Interesse an dieser Person schwindet aber ganz schnell, wenn sie keine Zeit hat.« ... »Dieter will im Kindergarten immer wieder in den Heizraum gehen und den Brenner genau betrach-
ten. Seine Integrationshilfe muss ihm dann vorlesen, was überall geschrieben steht. Einmal auf dem Weg in den Heizraum fragt er sie: Hast du die Heizung eigentlich auch so gern?« ... »Er hat häufig seine Garten- und Eisenbahnkataloge mit in den Kindergarten genommen und wollte sie ausgiebig anschauen und die Technik der Pumpen und Weichen besprechen.« (Bericht der Mutter eines 6-jährigen Sohnes).
Fragen zum Kontaktverhalten und zur sozialen Motivation 5 Zeigt er Interesse an anderen Kindern/ Menschen? 5 Schien er als kleines Kind interessiert an anderen Kindern seiner Altersgruppe, die er nicht kannte? 5 Hat er Freunde ? 5 Hat er den Wunsch, Freunde zu haben, aber große Schwierigkeiten, Freunde zu finden?
Empathie – Theory of Mind Schon Lorna Wing (1981) beschrieb als ein wesentliches Merkmal des Asperger-Syndroms den »Mangel an Empathie«. Gillberg (2002) bezeichnet die autistischen Störungen als Empathiestörungen und weist damit auf den zentralen Stellenwert dieser Fähigkeiten hin. Gemeint ist die Unfähigkeit, die Gefühle anderer zu erspüren, emotional mitzuschwingen. Diese Schwierigkeit wird häufig auch als »Störung der Empathie« bezeichnet oder auch als mangelnde Theory of Mind (Mentalisierungsfähigkeit) und meint die Unfähigkeit, die Bedürfnisse und Sichtweisen eines anderen Menschen zu erkennen und entsprechend darauf zu reagieren. Menschen mit Asperger-Syndrom erkennen nicht, wenn ihr Gegenüber gelangweilt ist und kein Interesse an dem sehr speziellen Thema hat, von dem der Betroffene nun schon seit einiger Zeit sehr ausführlich berichtet. Sie bekommen nicht mit, dass der andere in Eile ist, ungeduldig wird und non-
4.1 Symptomatik
verbal zum Ausdruck bringt, dass er/sie dieses »Gerede« ziemlich bizarr und eigentümlich findet. Gestik oder Mimik wird nicht beachtet bzw. nicht verstanden oder auch missverstanden. Werden Emotionen hingegen eindeutig und sehr deutlich ausgedrückt, dann sind diese Menschen durchaus in der Lage, diese richtig zu erkennen und darauf zu reagieren, ein echtes Mitempfinden (s. u.) bleibt aber schwierig. Obwohl sie also durchaus in der Lage sein können, die Emotionen und Absichten Anderer sowie soziale Konventionen auf eine formal-kognitive Art zu beschreiben, können sie sich doch nicht intuitiv entsprechend diesem Wissen verhalten (Klin u. Volkmar 1997). Kleinere, uneindeutigere Signale der Kommunikation werden nicht wahrgenommen, in manchen Fällen werden auch deutlichere Signale und verbale Äußerungen nicht richtig interpretiert und es kommt zu zahlreichen »Missverständnissen« in der Interaktion mit anderen Menschen. Die Wirkung ihrer Mimik/Gestik und Worte auf ihr Gegenüber wird von Menschen mit Asperger-Syndrom nicht beachtet, was dazu führt, dass sie einen sehr bizarren, sonderbaren Eindruck hinterlassen. Sie sagen Dinge, die den anderen verletzen, schockieren oder unverständlich sind, weil sie nicht darauf achten, welche Informationen der Andere braucht, um sie zu verstehen. Diese Auffälligkeiten lassen sich als extreme Selbstbezogenheit beschreiben, wobei die beim frühkindlichen Autismus meist damit einhergehende extreme Abkapselung von der Umwelt beim Asperger-Syndrom deutlich weniger im Vordergrund steht. Menschen mit Asperger-Syndrom nehmen vielfältig, aber unangemessen mit der Umwelt Kontakt auf. Sie sprechen gerne und viel mit anderen Menschen, reden ausführlich und weitschweifig von ihren Interessen, achten aber nicht darauf, ob ihr Verhalten der Situation angemessen ist bzw. wie ihr Gegenüber darauf reagiert. Das Verständnis subtiler sozialer Vorgänge wie Stimmungen, Lügen, Täuschungen, Anekdoten, Witze, Ironie und Sarkasmus ist beim Asperger-Syndrom deutlich beeinträchtigt.
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Ambivalenzen verwirren diese Menschen, Situationen werden nicht sozial interpretiert, sondern auf eine rein sachliche Art und Weise.
Fragen zur Theory of Mind/Empathie 5 Versucht er Sie zu trösten, wenn Sie traurig oder verletzt sind? 5 Haben Sie den Eindruck, dass er mitbekommt, was andere Menschen denken, beabsichtigen oder sich vorstellen? 5 Hat er Schwierigkeiten, die Gefühle anderer zu verstehen?
Beispiel Auf diese Fragen antwortete eine Mutter einmal: »Mir ist es einmal passiert, dass mir in der Küche eine Flasche Sirup auf den Küchenboden gefallen ist, ich hatte wirklich einen schlimmen Tag und das war einfach zu viel. Ich saß auf dem Küchenboden, mitten zwischen den Scherben und heulte, da kommt mein Sohn heran und fragt: ›Mama, was ist denn?‹ Das fragt er mich sonst nie, ich war so erstaunt und gleichzeitig auch glücklich, dass er endlich einmal mitbekommen hat, dass etwas mit mir nicht stimmt«. Beispiel Der 8-jährige Markus kann bis heute nicht »Verstecken« spielen, er kann sich nicht so verstecken, dass Andere ihn nicht finden, da er sich nicht vorstellen kann, wie die anderen Kinder die Situation wahrnehmen. Er versteckt sich beispielsweise vor dem Baum oder wählt Verstecke, die die anderen Kinder bereits sehr gut kennen. Beispiel »Was mir sehr unangenehm ist, ist dass mein Sohn ständig einfach sagt, was er denkt. Das ist ja manchmal gut und schön, aber oft sehr peinlich und unangemessen. Er sagt Dinge, die andere verletzen, z. B. »Du stinkst!« oder ähnliches, ihm ist das überhaupt nicht peinlich, er merkt gar nicht, dass seine Worte verletzend sein könnten. Auf dem letzten Familienfest hat er z. B. laut und deutlich darüber gesprochen, dass
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doch Herr ... eigentlich ein blöder Kerl sei, langweilig und arrogant, das hätten doch ... auch schon gesagt usw. Er bedenkt gar nicht, was seine Worte auslösen«. Beispiel »Als wir neulich im Schwimmbad waren, wollte mein Sohn über die Leiter ins Wasser steigen, aber da wollte gerade ein etwas korpulenter Herr heraussteigen und mein Sohn musste einen Augenblick warten. Mein Sohn sagte in völlig unbeteiligtem Ton: ›Wenn du nicht so dick wärst, würde es auch schneller gehen‹ «. Beispiel »Auf der Beerdigung von einem Onkel fing Peter in einer Situation, die sehr andächtig und getragen war, plötzlich an zu lachen, weil ihm irgend etwas eingefallen war, was er sehr witzig fand.«
Die zuvor genannten Störungsmerkmale hängen eng mit dem Folgenden zusammen: Mangel an geteilter Freude/ sozioemotionaler Gegenseitigkeit Hiermit ist gemeint, dass das »Gemeinsame« in der Beziehung fehlt, die Wechselseitigkeit ist nicht gegeben, die Beziehung bleibt einseitig. So kommt beispielsweise ein Gespräch durchaus zustande, aber meist lediglich in der Form, dass über die Interessensgebiete des Menschen mit Asperger-Syndrom gesprochen wird. Freude oder Spaß an etwas wird nicht mit dem Gegenüber gemeinsam erlebt, sondern bleibt bezogen auf die eigenen Handlungen bzw. Objekte. Es fehlt der Bezug zur anderen Person, was sich beispielsweise darin zeigt, dass auf die Gesprächsinhalte des Gegenüber nicht eingegangen wird und keine diesbezüglichen Fragen gestellt werden. Ein ausgiebiger Einsatz verbaler oder nonverbaler Verhaltensweisen im Sinne eines sozialen Austausches (d. h. Geplauder, Kommentare und Bemerkungen oder nonverbaler Verhaltensweisen, die eine Gegenseitigkeit ausdrücken) fehlt oder ist deutlich reduziert.
Beispiel Der 14-jährige Paul lernte mit viel Mühe Skifahren. Am Ende eines Skikurses gewann er den 1. Platz beim Wettlauf, er konnte die Freude seiner Eltern darüber nicht verstehen, ihm war das Ganze eher egal. Auch wenn er mal eine gute Note in der Schule bekam, teilte er dies seinen Eltern nicht mit, diese erfuhren davon meist eher durch Zufall.
Fragen zur sozioemotionaler Gegenseitigkeit 5 Ist er daran interessiert, dass Sie an seiner Freude teilnehmen (z. B. wenn ihm etwas gut gelungen ist)? 5 Erscheint er interessiert an den Kommentaren und Bemerkungen des Gesprächspartners? 5 Fragt er nach oder nimmt Stellung zu Gedanken oder Einstellungen des Gesprächspartners?
Nonverbales Verhalten (Mimik, Gestik, Blickkontakt) Der mimische Ausdruck ist bei Menschen mit Asperger-Syndrom deutlich reduziert. Das Spektrum von Gesichtsausdrücken ist deutlich eingeschränkt und/oder erscheint eigentümlich. Der mimische Ausdruck ist wenig sozial gerichtet, d. h. der Gesichtsausdruck des Menschen ist nicht auf sein Gegenüber gerichtet, um einen Gefühlszustand zu vermitteln oder zu kommunizieren, sondern beispielsweise auf ein Objekt. Es geht hier insbesondere um das Mienenspiel, das eine Person im Kontakt mit Anderen zeigt und nicht nur um den Gesichtsausdruck im Zusammenhang mit Gefühlsäußerungen. Eine normale Skala von Gefühlsausdrücken kann schon bei einem sehr jungen Kind beobachtet werden (Holodynski u. Oerter 2002) einschließlich verschiedener, subtilerer Formen der Mimik. Menschen mit einem Asperger-Syndrom hingegen zeigen meist nur die extremen Ausformungen von Gefühlen, wie beispielsweise Zorn, Ärger oder Verzweif-
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4.1 Symptomatik
lung. Gefühlsäußerungen wie Überraschung, Schuld, Ekel, Neugier, Vergnügen oder Verlegenheit hingegen werden nicht nonverbal kommuniziert, sind im Gesichtsausdruck nicht zu erkennen. Häufig kommt es auch vor, dass der Gesichtsausdruck nicht passend zu aktuellen Situation erscheint, beispielsweise ein Lachen, wenn sich jemand verletzt hat. Manchmal sind die Gesichtsausdrücke auch einfach nicht nachvollziehbar. Das »soziale Lächeln« fehlt bzw. es fehlt der reziproke Bezug zur anderen Person. Unter »sozialem Lächeln« wird das spontane Lächeln verstanden, das auf eine Person gerichtet wird, von der man angelächelt wird. Der Blickkontakt ist auffällig, wobei hier weniger die Frage im Vordergrund steht, ob Blickkontakt aufgenommen wird oder nicht, sondern entscheidend ist, ob der Blickkontakt sozial moduliert ist. Der Blickkontakt wird in der Kommunikation nicht als Ausdrucksmöglichkeit und zur Wahrnehmung des Gegenübers genutzt. So kann der Blickkontakt zwar vorkommen, ist aber nur flüchtig. Es kommt aber auch ein starrer Blickkontakt vor, der unangenehm durchdringend erscheint.
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Fragen zum nonverbalen Verhalten 5 Kann er beispielsweise Freude, Trauer, Wut und Furcht mimisch ausdrücken? 5 Ist sein Gesichtsausdruck gewöhnlich passend zu der jeweiligen Situation? 5 Sind seine Gefühlsäußerungen der jeweiligen Situation angemessen? 5 Hat er als kleines Kind zurück gelächelt, wenn er von jemandem angelächelt wurde? 5 Schaut er seinen Gesprächspartnern direkt ins Gesicht? 5 Verwendet er auffällig wenig oder auch viel Gestik, um seine verbalen Äußerungen zu unterstreichen? 5 Hat er als Kind auf Dinge um ihn herum gezeigt, einfach um Sie auf etwas aufmerksam zu machen (nicht weil er etwas haben wollte)? Z. B. »Schau mal!«, »Guck’ mal da!«
4.1.2 Qualitative Beeinträchtigung der Beispiel Andreas nimmt sehr wohl Blickkontakt auf, wobei dies weniger als »Kontakt« erscheint, er starrt sein Gegenüber durchdringend an und nimmt dabei den Gefühlausdruck des anderen nicht wahr.
Auffällig ist auch die Gestik: Beschreibende Gesten, mit denen ein Objekt oder ein Ereignis erklärt oder dargestellt werden soll, fehlen. Der Einsatz konventioneller Gesten (z. B. in die Hände klatschen, wenn etwas gut gelungen ist) oder instrumenteller Gesten (z. B. auf etwas Deuten, Bitten, Schulterzucken, Nicken oder Kopfschütteln) sind deutlich eingeschränkt. Der kommunikative Aspekt der Gestik – etwas für den anderen verdeutlichen, betonen, untermalen – fehlt. Es kommt allerdings auch vor, dass Gestik übertrieben und ausgesprochen eigentümlich angewendet wird.
Kommunikation Die Auffälligkeiten in der Kommunikation werden in der ICD-10 nicht erwähnt, sie stellen aber eine bedeutsame Beeinträchtigung dar und werden nicht durch die gute Sprachfähigkeit kompensiert. Dass die qualitativen Auffälligkeiten im Bereich der Kommunikation in der ICD-10 nicht als Diagnosekriterium genannt werden, bedeutet im Umkehrschluss aber nicht, dass Menschen mit Asperger-Syndrom hier keine Auffälligkeiten zeigen dürfen, um die Diagnose Asperger-Syndrom zu erhalten (s. zu dieser Diskussion: Landa 2000; Dickerson-Mayes et al. 2001). Im Gegenteil: Menschen mit einem Asperger-Syndrom entwickeln früh einen umfangreichen Wortschatz und eine formell korrekte Sprache. Sie zeigen jedoch eine deutliche Beeinträchtigung in der Prosodie (metrisch-rhythmische Aspekte der Sprache) und Pragmatik (sozialer Gebrauch und soziales Ver-
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ständnis der Sprache). Die Pragmatik der Sprache regelt den kommunikativen Gebrauch von Grammatik, Semantik usw. in verschiedenen Kontexten. Nur wenn diese Regeln verstanden und innerhalb einer Kultur angewendet oder gebrochen werden, können wir verstehen, dass jemand stichelt, einen Hintergedanken hat, höflich, humorvoll, sarkastisch und so weiter sein möchte. Als Beispiel möchten wir im Folgenden ein Gedicht von einem Patienten wiedergeben, das die sprachlichen Begabungen und gleichzeitig die Fokussierung auf besondere Interessen und Themen (in diesem Falle besonderes Interesse an Geschichte, Tod, Sterben, Gewalt und Schach) illustriert:
Prosodie: Intonation/Sprechweise Das Sprechvolumen, die Intonation, Modulation usw. der Sprache sind ungewöhnlich. Die Stimme ist meist durchgängig zu laut oder zu leise, monoton und ohne emotionale Betonungen. Manchmal klingt die Sprache übergenau und pedantisch. Das Sprechvolumen ist häufig deutlich erhöht, d. h. diese Personen reden meist zu viel und ohne Rücksicht auf die Situation. Manchmal ist das Sprechvolumen aber auch nur in Bezug auf die Spezialinteressen deutlich erhöht, während diese Personen in anderen Situationen eher wortkarg erscheinen.
»So wie ich sah« von S.H. (15 Jahre) So wie ich sah die Zukunft wie Worte ohne Name nicht Bilder ohne Sinn.
So wie ich sah kein andres Welten seien gewesen oder werden geseiet.
Möge kommen Friede Liebe, Ehre ohne Geld und ander Teufelswaren
So wie ich sah die Sonne sterben für ein neues Licht so war die Geschicht.
So wie ich sah Religiöse Führer Martin Luther King Mahatma Gandhi
So wie ich sah Wahrheit und Lüge. Kann es sein, wie ich schrieb muß nicht wahre Zukunft sein.
So wie ich sah Kinder des Aussatzes Tod der Pesten Feuer ohne Hitze.
So wie ich sah nichts als Worte nicht anders ich kann beschreiben ich sie nicht wirklich sah.
So wie ich sah die Staaten sterben Heil Hitler Satans Herrschaft.
So wie ich sah wie wird sein wird nicht sein so sah ich es!
So wie ich sah was kann sein nicht kann sein was nicht ist.
Möge kommen Gott richten über alle Himmel oder Hölle Engel oder Qualen.
Vielleicht wird kommen eine fremde Macht und lachen über uns und die Evolutionstheorie. Sie sagen über Welten nicht geben mir Sänge wohl Träume die starben an Hochmut wie alle Menschen.
4.1 Symptomatik
Beispiel Sehr häufig bekommen die Eltern im Kindergartenalter die Rückmeldung »Ihr Kind redet wie ein kleiner Professor, die anderen Kinder verstehen ihn gar nicht«.
Fragen zur Prosodie 5 Ist seine Sprachmelodie sehr monoton, hat er eine sehr hohe Stimme oder ähnliches? 5 Ist seine Sprache übergenau oder pedantisch? 5 Spricht er förmlich oder wie ein wandelndes Wörterbuch?
Pragmatik: Sprachverständnis Das Sprachverständnis bei Menschen mit Asperger-Syndrom tendiert zum Konkreten. Indirekte Formulierungen werden nicht verstanden. Menschen mit Asperger-Syndrom haben immer dann Schwierigkeiten, wenn es nicht um die lexikalische Bedeutung von Wörtern und Sätzen geht. Oft können sie die Konnotation (die Grundbedeutung eines Wortes begleitende, zusätzliche emotionale, expressive oder stilistische Vorstellung) von Wörtern nur schwer erkennen. Die assoziative oder emotionale (Neben-) Bedeutung wird nicht verstanden, in manchen Fällen aber auch sehr eigen und bizarr angewendet. So sind beispielsweise Sprichwörter oder Redensarten für sie schwer zu verstehen (»Mit dem ist nicht gut Kirschen essen«). Dieser auffällige Aspekt des Sprachverständnisses resultiert aus der Unfähigkeit von Menschen mit Asperger-Syndrom zur Theory of Mind: Sie können sprachliche Äußerungen nicht in verschiedene Bezugssysteme setzen, für sie ist nur das eine Bezugssystem – das Lexikalische – von Bedeutung und sie haben Schwierigkeiten, sprachliche Äußerungen auch in andere Bezugssysteme (z. B. bildhaft, ironisch ...) zu setzen (7 Kap. 3.7). Daher kann es zu vielen Missverständnissen und Verwirrungen kommen, wenn ein Mensch mit Asperger-Syndrom beispielsweise gefragt wird, ob er Stimmen
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höre, antwortet dieser womöglich mit »Ja«, da er ja die Stimme des Fragenden hört! Beispiel »In der Schule (1. Klasse) wurde der Buchstabe »U verabschiedet«, bevor die Kinder einen neuen Buchstaben lernen sollten. Manuel hat dann in seinen Hausaufgaben sich lange geweigert, den Buchstaben »U« zu schreiben, weil ›der verabschiedet wurde und nie mehr gebraucht wird‹!«
Häufig bieten diese Menschen aber durch ihr »naives« Sprachverständnis in der Schule den anderen Kindern und Jugendlichen viel Anlass, um sich lustig zu machen usw. Beispiel Marvin ist 16 Jahre alt und in seiner Schulklasse das Opfer massiver Hänseleien, Kränkungen usw. geworden. Die Mutter brachte zur Untersuchung ein Video mit, das die Schüler seiner Klasse erstellt hatten. Die anderen Schüler hatten Marvin erzählt, dass er nun fürs Fernsehen aufgenommen wird und während sie sich über ihn lustig machten, anzügliche Späße mit ihm veranstalteten usw. wurde Marvin dabei gefilmt. Während der ganzen Zeit nahm er von diesen Verspottungen nichts wahr, sondern blickte nervös in die Kamera und versuchte, sehr sachlich und korrekt die ihm gestellten Fragen zu beantworten.
Fragen zum Sprachverständnis 5 Nimmt er alles sehr wörtlich? 5 Hat er Schwierigkeiten zu verstehen, wenn er verspottet oder gedemütigt wird oder wenn man sich über ihn lustig macht?
Pragmatik: Verständnis von sozialen Regeln Die Regeln der Pragmatik werden meist stillschweigend innerhalb einer Kultur vorausgesetzt, einige werden aber auch explizit gelehrt. So kommentieren Eltern das Verhalten von Kin-
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dern z. B. als »nicht-höflich«, wenn ein Kind zu freizügig über einige Dinge redet (beispielsweise über das Gewicht oder die äußere Erscheinung von anderen Menschen). Bei kleineren Kindern entschuldigt man dieses Verhalten noch als »Naivität«, aber ab dem Grundschulalter wird erwartet, dass ein Kind die pragmatischen Regeln der Kommunikation mehr und mehr erfasst und sich entsprechend verhält. Die Entwicklung eines solchen Verständnisses hängt natürlich eng mit der Entwicklung einer Theory of Mind (7 Kap. 3.7) zusammen. Bei Menschen mit Asperger-Syndrom ist zu beobachten, dass sie solche Regeln der Kommunikation häufig missachten: Sie reden viel und gerne, auch in Situationen, die hierfür nicht passend sind. Sie machen Kommentare oder Bemerkungen, die völlig unpassend zur Situation sind. Sie haben aber auch Schwierigkeiten, sich auf eine oberflächliche Konversation (»small talk«) einzulassen, da sie nicht auf das Gesagte des anderen reagieren, wenn dieses nicht ihrem Interesse entspricht. Beispiel Stefan (15 Jahre alt) verhielt sich während der Untersuchung in unserer Klinik sehr auffällig: Er lief über den Flur, redete vor sich hin, sprach jeden an, der in seine Nähe kam und kommentierte beispielsweise die Bilder, die dort aufgehängt waren, in einer sehr abwertenden Weise. Seine sonstigen Äußerungen hatten keinerlei Bezug zu der Situation und Stefan schien in keiner Weise wahrzunehmen, dass sein Verhalten unpassend war. Beispiel Klaus kann mit großer Begeisterung und Freude von seinen Filmen, die er selber produziert, erzählen. Er berichtet hier sehr ausführlich und genau von Einzelheiten und Schwierigkeiten in diesem Zusammenhang. Dass sein Gegenüber aber nach einiger Zeit kein Interesse mehr daran hat bzw. an anderen Dingen interessiert wäre, bekommt er nicht mit. Er reagiert auf ein demonstratives Gähnen und zur Uhr Schauen nicht.
Beispiel André fragt nach kurzer Zeit jeden Gesprächspartner: »Welches Auto fahren Sie eigentlich?« und versucht so, das Gespräch auf sein Interesse zu lenken.
Fragen zum Verständnis sozialer Regeln der Kommunikation 5 Hat er Schwierigkeiten, eine Konversation zu beginnen und weiterzuführen? 5 Redet er exzessiv über Lieblingsthemen, die bei anderen Personen nur von begrenztem Interesse sind?
Spielverhalten Auf die Auffälligkeiten im Spielverhalten autistischer Kinder wurde bereits in 7 Kap. 3.7 ausführlich eingegangen. In Bezug auf das Asperger-Syndrom kann zusammenfassend Folgendes gesagt werden: Kinder mit Asperger-Syndrom sind zum komplexen sozialen Fiktionsspiel aufgrund ihrer Störung nicht in der Lage. Ein Parallelspiel hingegen kommt durchaus vor. Sie können auch ein einfaches Sozialspiel spielen, allerdings unter der Voraussetzung, dass sich die anderen Kinder ihren Vorgaben anpassen. Das komplementäre und reziproke Spiel ist möglich, wenn die Rollen und die Regeln von einer außenstehenden erwachsenen Person klar festgelegt werden. In spontaner und unstrukturierter Weise ist diese Art von Spiel jedoch nicht möglich.
Gerade Kinder im Alter von fünf oder sechs Jahren spielen mit wenigen Gegenständen in einer imaginären Welt, die für einen außenstehenden Betrachter nicht sichtbar ist. Gesunde Kinder verstehen es sehr gut, sich hier untereinander abzustimmen, ihr Spiel aufeinander einzustellen (»Ich wär jetzt mal ... und du wärst ...«). Dies geht vielleicht nicht völlig ohne Konflikte oder 6
4.1 Symptomatik
Streitpunkte, aber für die Kinder entsteht im Spiel eine Fantasiewelt, die sie mit dem anderen Kind zusammen entwickeln. Dieses Spielverhalten zeigt sich bei einem Kind mit Asperger-Syndrom in dieser Weise nicht. Es bleibt im Spiel allein für sich. Bei vielen Kindern mit einem Asperger-Syndrom sind dies die ersten deutlichen Auffälligkeiten bzw. Schwierigkeiten in der Entwicklung, die meist im Kindergartenalter evident werden, da diese Verhaltensweisen in genau diesem Alter erwartet und gefordert werden.
Beispiel Der siebenjährige Anton sitzt in der durchgeführten Spielsituation vor dem Spielmaterial und untersucht dieses zunächst einmal ausführlich. Auf die Aufforderung, doch etwas damit zu spielen, reagiert er unwillig und fängt statt dessen ein Gespräch über Feuerwerkskörper an. Er erzählt sehr ausführlich und detailgetreu, wie er diese konstruiert, welche Materialien er dazu benötigt und welche »Effekte« er damit erzeugen kann. Die Untersucherin beginnt dann von sich aus, mit den Spielmaterialien zu spielen. Ihren Aufforderungen kommt Anton dabei nach und er bewegt auch die Spielpuppen entsprechend dazu, doch eigene Spielimpulse bringt er nicht ein. Beispiel Der 11-jährige Lutz ist sehr damit beschäftigt, die Spielmaterialen auseinander zu nehmen und genau zu untersuchen. Der Aufforderung, doch damit eine kleine Szene zu spielen, kommt er nicht nach. Er meint: »Damit kann man doch nicht spielen!«. Die Mutter berichtet, dass er fast nur mit »Lego« spiele, er konstruiere damit komplexe Maschinen und baue Szenen auf, ohne damit jedoch im Sinne eines fantasievollen Rollenspiels zu spielen. Beispiel »Manuel (7 Jahre) beschäftigt sich den ganzen Tag mit Lego. Hier ist es weniger das fantasievolle Spiel,
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sondern die Beschäftigung mit den Bauplänen, Katalognummern und dem System der ›Legowelten‹. Außerdem liebt Manuel das ›Theaterspielen‹. Dabei ist es mehr der Aufbau von Bühnen mit Decken und Tüchern. Ein eigentliches Theaterstück spielt er nur mit kurzer Dauer und sinnlosen Inhalten. Wenn seine Geschwister in Rollen schlüpfen, spielt Manuel lieber Gegenstände. Neulich saß er auf dem Tisch und drehte sich. Er spielte ›Ventilator‹.«
Fragen zum Spielverhalten 5 Spielte er im Alter von 4–5 Jahren irgendwelche vorgegebenen oder imaginären Spiele für sich allein oder mit anderen Kindern (im Sinne von »So tun als ob«)? 5 Hat er sich im Alter von 4–5 Jahren spontan an Gruppenspielen mit anderen Kindern beteiligt?
4.1.3 Begrenzte, repetitive und
stereotype Verhaltensweisen, Interessen und Aktivitäten Hierunter fallen vor allem die Sonderinteressen – die ausgedehnte Beschäftigung mit eng begrenzten Spezialinteressen (s. u.). Stereotype und repetitive motorische Manierismen (Drehen oder Flackern der Finger vor den Augen, Schaukeln, Auf- und Ab-Hüpfen) kommen beim Asperger-Syndrom kaum vor, sondern sind eher ein Merkmal des frühkindlichen Autismus, ebenso wie die Beschäftigung mit Teilobjekten oder nichtfunktionellen Elementen von Gegenständen (ungewöhnliches Interesse an sensorischen Teilaspekten wie am Anblick, Berühren, an Geräuschen, am Geschmack oder Geruch von Dingen oder Menschen). Daher werden im Folgenden ausführlicher die Sonderinteressen beschrieben, aber auch auf das zwanghafte Verhalten und die Veränderungsängste wird eingegangen. Abschließend möchten wir noch auf die
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motorische Ungeschicklichkeit beim AspergerSyndrom eingehen, auch wenn diese kein notwendiges diagnostisches Kriterium darstellt. Sonderinteressen Schon Asperger (1944) hat beschrieben, dass die von ihm beobachteten Kinder sehr spezielle Interessen hatten, die so viel Zeit und Energie in Anspruch nahmen, dass sie den Erwerb von anderen Fertigkeiten behinderten. Auch Kanner (1943) beschreibt, dass die von ihm dargestellten Kinder besondere Fähigkeiten zeigten, wie beispielsweise Kinder, die besonders gut puzzeln oder zeichnen konnten. Sie verfügten über sehr gute Gedächtnis-Fähigkeiten oder auch musikalische Fähigkeiten. Diese Leistungen stehen im Kontrast zu den anderen kognitiven Fähigkeiten, die deutlich unterdurchschnittlich ausgeprägt sind. Dies führte unter anderem zu einer regen Diskussion der »Savant«-Fähigkeiten von Menschen mit frühkindlichem Autismus, wie sie beispielsweise auch in dem Film »Rainman« akzentuiert dargestellt wurden. Unter »Savant«-Fähigkeiten versteht man außergewöhnliche Begabungen, die sich meist auf einen der folgenden Bereiche beziehen: Musik, zeichnerische Begabungen, Mathematik (Primfaktorzerlegung riesiger Zahlen, Multiplikationen), Kalender-Gedächtnis (in sehr kurzer Zeit wird der Wochentag zu einem bestimmten Datum genannt). Diese Fähigkeiten sind meist auf besondere Gedächtnisleistungen zurückzuführen. Sie sind jedoch äußerst selten, Saloviita et al. (2000) geben sie mit 0,14 % unter Personen mit geistiger Behinderung an. Häufiger kommen »splinter abilities« (Inselbegabungen) vor, d. h. bei Personen mit frühkindlichem Autismus findet sich eine große Diskrepanz im Intelligenzprofil, einige Untertests ragen aus dem insgesamt eher niedrigen Leistungsprofil deutlich heraus. Hiervon unterscheiden sich die Sonderinteressen beim Asperger-Syndrom sehr klar: Diese Fähigkeiten stehen zwar in manchen Fällen deutlich im Vordergrund, aber es handelt sich nicht um eine »Insel«-Begabung, da die intellek-
tuellen Fähigkeiten dieser Personen insgesamt gut sind. »Es scheint im Allgemeinen so zu sein, dass besondere Interessen beim frühkindlichen Autismus überwiegend Objekt-Manipulationen, räumlich-visuelle Fähigkeiten, Musik oder ungewöhnliche Savant-Fähigkeiten umfassen, während beim Asperger-Syndrom der Fokus mehr in der Ansammlung von großen Mengen an faktischen Informationen im Hinblick auf die speziellen Interessen des Kindes liegt« (Volkmar u. Klin 2000, S. 37; übersetzt durch die Autoren). Diese Sonderinteressen lassen Menschen mit einem Asperger-Syndrom häufig so faszinierend und eigentümlich erscheinen. Sie zeigen beispielsweise ein wie besessen wirkendes Interesse an Bereichen wie Mathematik, wissenschaftlichen Teilbereichen, Lesen (einige Kinder haben eine Vorgeschichte mit Hyperlexie) oder Teilbereichen aus der Geschichte oder Geographie. Dabei geht es allerdings um Wissensansammlungen im Sinne von Datensammeln, Speichern von Faktenwissen usw. und nicht um eine spielerische Auseinandersetzung mit diesen Dingen. Diese Sonderinteressen treten meist vor oder während des Schulalters auf. Die Kinder wollen alles über diese Themen wissen und tendieren dazu, das Gespräch darauf zu lenken oder sie bei Gesprächen oder beim Spielen beizubehalten, unabhängig davon, ob dies die Gesprächsteilnehmer interessiert oder nicht. Häufig versuchen diese Kinder oder Jugendlichen auch, über diese Sonderinteressen Kontakt zu anderen Menschen aufzunehmen, indem sie beispielsweise wildfremde Menschen auf diese Themen ansprechen. Manchmal sind die Sonderinteressen auch einfach Übertreibungen verbreiteter Interessen, wie z. B. Pokemon, Dinosaurier oder Computer. Die Interessensgebiete wechseln durchaus, dominieren aber das alltägliche Leben dieser Personen (und häufig auch der Familie insgesamt) sowohl in der zeitlichen Beanspruchung, als auch in der darauf verwendeten Energie und Konzentration. Sie halten diese Menschen deutlich davon ab, eine Interaktion mit anderen aufzunehmen!
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Die Interessen haben selten soziale Motive und wenig Bedeutung für das praktische Leben. Beispiel Seit seinem 5. Lebensjahr interessiert sich Ludwig für Rasenmäher und Rasenmähen: »Er mäht zu Hause, bei den Großeltern, bei Freunden und Nachbarn den Rasen. Auch, wenn er irgendwo einen Rasenmäher hört, geht er hin und schaut zu.« Beispiel So interessiert sich beispielsweise der siebenjährige Anton sehr intensiv für Elektrizität und sitzt am liebsten den ganzen Tag in seinem Zimmer und baut und bastelt an elektrischen Geräten herum. Bereits mit 4 Jahren baute er für seine Mutter ein Glühbirnentestgerät. Seit Neuestem interessiert sich Anton auch für Feuer und Feuerwerkskörper und experimentiert damit herum. Bisher ohne Zwischenfälle! Beispiel »Seit seinem 5. Lebensjahr zeichnet Paul jahrelang die gleichen Motive bis zur Perfektion, sehr ordentlich und detailliert. Er schreibt seit Jahren nur in Druckschrift. Er erfindet Strategiespiele, hat ein großes Interesse an Soldatentum, Schlachten und insgesamt am 18. Jahrhundert. Er erfindet Phantasiesprachen und Phantasielandkarten (. Abb. 4.1) und schreibt an einem Phantasiebuch.« Beispiel Marvin malt seit früher Kindheit intensiv und zeigt zeichnerisch eine gute Begabung. Er hält in seinen Comic-Bildern (. Abb. 4.2, 4.3) zum Teil eigene Erlebnisse oder Phantasie fest. In seinem Terrarium hält er Weinbergschnecken und meint dazu »das sind Einzelgänger, die wollen kein geselliges Leben«. Leider ist es bisher so, dass er (inzwischen 18-jährig und mit abgeschlossener Schulausbildung) es nicht geschafft hat, seine Begabung im Zeichnen in einen zukünftigen Beruf einzubauen. »Ein Praktikum als Schildermacher ergab ein klares Defizit an Flexibilität und der Fähigkeit, sich schnell auf neue Herausforderungen umzustellen«.
. Abb. 4.1. Fiktive Landkarte, gemalt von Paul im Alter von ca. 14 Jahren
. Abb. 4.2. Cartoon von Marvin, im Alter von 16 Jahren
Beispiel Der 16-jährige Matthias interessierte sich in seiner Kindheit sehr für Tiere aller Art, er wusste das durchschnittliche Gewicht aller möglichen Tierarten genau und war stets sehr darauf erpicht, ein Gespräch darüber zu führen.
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. Abb. 4.3. Cartoon von M., gemalt von Marvin im Alter von 16 Jahren
Beispiel Klaus (14 Jahre) bekam im Alter von fünf Jahren einen Kassettenrekorder zum Geburtstag geschenkt. Er entdeckte, dass man mit diesem Kassettenrekorder auch Geräusche aufnehmen konnte. Zu seinem siebten Geburtstag wünschte er sich ein spezielleres Aufnahmegerät, fortan beschäftigte er sich stundenlang damit, Dinge aufzunehmen. Mit 11 Jahren zeigte er eine deutliche Fixierung auf seinen Kassettenrekorder, nahm diesen überall mit hin und machte zwanghaft Aufnahmen. Dann entdeckte er im Alter von 14 Jahren die Vorzüge einer Videoanlage. Seitdem beschäftigt er sich täglich mindestens vier bis sechs Stunden damit, Szenen zu entwickeln, aufzuschreiben, auszuarbeiten und aufzunehmen. In der Schule zeigt er deutliche Konzentrationsprobleme, da er sich gedanklich ständig mit seinen Videoaufnahmen beschäftigt. Bei diesen Aufnahmen stehen die filmerischen Effekte deutlich im Vordergrund, die Handlung der Spielfiguren (Kuscheltiere, Playmobil-Figuren) ist wenig nachvoll-
ziehbar, die Geschichten zeigen keinen emotionalen Inhalt, die »Witze« sind sprachliche Spielereien, die wenig verständlich sind. Beispiel »Boris hatte im Alter von 6–7 Jahren eine ›Comic-Phase‹. Er verarbeitete serienweise Papier zu Bildergeschichten und ganz typisch dabei: Null-Handlung der Charaktere, aber ausgefüllte Landschaftsskizzen mit Plan-/Landkartencharakter.« Beispiel »Tobias liebt es, bei starkem Regen nach draußen zu gehen und Gullys zu untersuchen und zu öffnen. Er fertigt Zeichnungen von Gullys an. Als Kleinkind ging er öfters mit einem mehrere Meter langen Wasserschlauch spazieren.«
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In einer von uns untersuchten Stichprobe von 34 Patienten mit Asperger-Syndrom (Alter zwischen 6 und 24 Jahren), die in einem ausführlichen und standardisierten Vorgehen diese Diagnose erhielten, gaben die Mütter für die Vergangenheit und Gegenwart folgende Spezialinteressen an (ohne Anspruch auf Vollständigkeit): Bestimmte Tiere (14 Patienten) davon Dinosaurier (5); (Edel-)Steine und Mineralien (9); Natur (einzelne Aspekte, wie z. B. Pilze, Vulkane) (9); Astronomie (7); Computer (7); Pokemon (4); Game-boy (4); Mathematik (4); Musik (4); Geschichte (4); Elektrotechnik (3); Sammeln (3); Basteln (3); Chemie (2); Harry Potter (2); Schach (2); Lego-Konstruktionen (2); Modellbau; Comics; Pyramiden; Trägerkonstruktionen; Sachbücher; Chronik des 20. Jahrhunderts; Tabellen; Landkarten; Eisenbahn; Flugzeuge; Feuerwerke; Verkehrsschilder; Geografie; Farben; Gesundheit; U-Bahnen; Autos; Evolution; Zukunft; Okkultismus; Boxen und Gewichtheben; Politik; Welthunger; Grundwasserhöhen; Reparaturen technischer Geräte; Baumaschinen; Filme aufnehmen, Filmeffekte konstruieren; Warsteiner-Tulpen; Sanitärobjekte: Rohre, Gullys, Dichtungen, alles, wo Wasser durchfließt; LÜK-Kästen; Malen; HorrorGeschichten; Quiz-Shows; verschiedene Schriftarten; Kunst; Rasenmäher.
Die Interessen (beispielsweise Dinosaurier) der jüngeren Kinder erscheinen ihrem Entwicklungsalter noch eher angemessen, aber im weiteren Verlauf werden diese doch auch immer bizarrer und das Wissen in diesem Themenbereich erreicht ein beträchtliches Ausmaß. Ein Spezialinteresse zeichnet sich aus durch: 5 Seine Intensität. Zwar ist das Spezialinteresse inhaltlich nicht absonderlich, aber die Intensität, mit der sich das Kind oder der Jugend-
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liche damit beschäftigt, erscheint deutlich überdurchschnittlich. 5 Die enge Umgrenzung: Zwar können diese Menschen einen hohen Grad an Expertentum in Bezug auf ihr Interesse entwickeln, dieses bleibt aber auf ein umschriebenes Gebiet begrenzt und ein eng fixiertes Wissen, das sich nicht zu einem breiteren Wissenszusammenhang entwickelt. Man spricht auch von »ausgestanzten Sonderinteressen«. 5 Seine fehlende soziale Qualität, d. h. dass dieses Interesse nicht mit anderen geteilt wird zum Zweck einer gemeinsamen Aktivität, sondern lediglich in Sinne eines Nebeneinanders. 5 Die relative Stagnation über einen längeren Zeitraum. Nach solch einer Stagnation kann das Interesse auf ein neues Thema übergehen. Manchmal kann so ein Spezialinteresse aber auch die Ausgangsbasis für eine berufliche Orientierung sein.
Fragen zu Sonderinteressen 5 Beschäftigt er sich mit speziellen Gebieten oder Dingen in einer auffälligen Intensität oder Akzentsetzung? 5 Zeigt er ein überdurchschnittliches Wissen oder Fähigkeiten in einem speziellen Gebiet? 5 Liest er Bücher vorrangig zur Information, wie beispielsweise Lexika oder Sachbücher, ist aber wenig an altersgemäßen Abenteuergeschichten interessiert?
Veränderungsängste/Zwänge Rigide, sich wiederholende (repetitive), pedantische, perfektionistische, ritualisierte und zwanghafte Verhaltensweisen finden sich bei allen autistischen Störungen, einschließlich dem Asperger-Syndrom. Zwanghafte Verhaltensweisen sind häufig Teil der autistischen Symptomatik des Asperger-Syndroms. In manchen Fällen können diese Verhaltensweisen derart aus-
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Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik
geprägt sein, dass sich die Frage stellt, ob eine Zwangsstörung differentialdiagnostisch erwogen werden muss oder als komorbide Störung (s. u.) angesehen werden kann. Das zwanghafte Einhalten von Routinen und Ritualen unterschiedlicher Art beeinträchtigt die Lebensqualität dieser Menschen in beträchtlichem Ausmaß. In manchen Fällen sind die zwanghaften Verhaltensweisen verbunden mit den Spezialinteressen, in anderen Fällen betreffen sie andere Dinge wie beispielsweise: Sich anziehen, essen, Verkehrswege oder die persönliche Hygiene. Die anderen Familienmitglieder müssen sich meist diesen Ritualen unterordnen, sie werden mit in die zwanghaften Rituale einbezogen, egal wie absurd diese auch sein mögen. Beispiel Der 16-jährige Matthias zeigt seit Jahren ein zwanghaft-ritualisiertes »Spiel«-Verhalten: Er besitzt sehr viele Kuscheltiere, die in seinem Zimmer ihren festen Platz haben. Er »spielt« mit diesen immer wieder die gleichen Spielabläufe durch, wobei die Mutter einbezogen wird, indem sie aus der Rolle der Kuscheltiere sprechen muss. Bei diesen ritualisierten Spielen reagiert Matthias emotional sehr ungehalten, wenn die Mutter sich nicht in immer wieder genau der gleichen Art und Weise verhält. Beispiel Eine andere Mutter schildert über ihren Sohn: »Ebenfalls im Kindergartenalter tauchte erstmals die Eigenart auf, dass er – bevor er aus dem Hause gehen ›konnte‹ – alle Schuhe im Flur nochmals ganz genau in Reih und Glied aufstellen ›musste‹. Wir gewöhnten uns deshalb an, unsere Schuhe stets in einen Schuhschrank zu räumen, sonst wäre diese Zeremonie endlos geworden. Das Ordnen der Schuhe ist ein Ritual, das er sich nie ganz abgewöhnt hat und das phasenweise immer wieder auftritt. Ihm ist dabei egal, ob ›Zeitdruck‹ herrscht oder nicht. ... Ein weiteres Problem in der Schule ist, dass er die Wörter in normgerechter Form schreiben will und daher extrem langsam schreibt. Jeder einzelne Buchstabe muss genau der Norm entsprechen, darf in keiner Weise davon abweichen.«
Beispiel »Bevor ich das Haus verließ, musste ich mich bei meinem Sohn abmelden, mit genauen Zeitangaben, wann ich wieder nach Hause kommen würde. Diese Angaben mussten minutiös eingehalten werden, sonst verfiel Stefan in Ängste, die soweit führten, dass er sogar schon die Polizei angerufen hat, weil ich zehn Minuten zu spät war. Ebenso ließ er grundsätzlich niemand Fremden ins Haus, wenn er allein war. Eines Tages wollte ich eine Freundin besuchen und verabschiedete mich von meinem Sohn mit den Worten: ›Ich fahre jetzt zu einer Freundin und komme in zwei Stunden wieder zurück‹. Stefan schaute auf die Uhr und bemerkte: ›Das wäre dann um siebzehn Uhr zweiunddreißig – in Ordnung. Ade‹ Ich ging also in unserem Zweifamilienhaus die Treppe hinunter, zur Tür hinaus, schlug diese hinter mir zu und bemerkte, dass ich meinen Schlüsselbund vergessen hatte. Also klingelte ich. Ich hörte das Geräusch der Wohnungstür und die Stimme meines Sohnes: ›Wer da?‹. ›Ich bin’s – mach bitte die Tür auf.‹ ›Wer ist ich?‹ ›Deine Mutter‹. ›Meine Mutter ist nicht zu Hause‹. Zuerst fand ich das ja noch komisch und war auch etwas stolz, dass mein Sohn das Versprechen, die Tür niemand Fremdem zu öffnen, so ernst nahm. Ich versuchte es weiter: ›Mach bitte die Tür auf!‹ ›Wer da?‹ ›Ich bin’s, deine Mutter!‹ ›Ich habe ihnen gerade eben schon gesagt, meine Mutter ist nicht zu Hause. Sie kommt erst in zwei Stunden wieder, also um siebzehn Uhr zweiunddreißig.‹ Langsam wurde ich ungeduldig. ›Bitte mach jetzt endlich die Tür auf. Ich bin doch noch gar nicht weggefahren. Ich habe meinen Schlüssel vergessen!‹ … Ohne Erfolg, mein Sohn machte die Tür nicht auf!«
Fragen zu Veränderungsängsten/ Zwängen 5 Gab es Dinge, die er in einer speziellen Weise oder Reihenfolge ausführen musste, oder Rituale, die Sie für ihn ausführen mussten? 5 Zeigt er eine starke Reaktion auf Veränderungen in seinem gewohnten alltäglichen Ablauf?
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4.1 Symptomatik
Motorik Die motorische Ungeschicklichkeit ist ein meist auffälliges, aber nicht unbedingt notwendiges Symptom des Asperger-Syndroms (siehe ICD10-Kriterien). Die empirischen Befunde in diesem Bereich sind sehr widersprüchlich und methodisch strittig. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt bleibt unklar, ob »clumsiness« ein für das Asperger-Syndrom und nicht für den frühkindlichen Autismus kennzeichnendes Merkmal ist.
1989 fand Gillberg mehr motorische Defizite in der Gruppe der Personen mit einem Asperger-Syndrom, als in einer Gruppe von Menschen mit High-functioning-Autismus, während Szatmari et al. (1990) zu keinem eindeutigen Ergebnis kamen. Bei einem Vergleich zwischen Personen mit einem Asperger-Syndrom und einer gesunden Kontrollgruppe, fanden sich deutliche Hinweise auf eine Störung der propriozeptiven Wahrnehmung bei den Personen mit Asperger-Syndrom (Weimer et al. 2001).
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Auffälliges Essverhalten Beispiel »Leon isst immer alles auf, was ihm vorgesetzt wird. Eines Tages habe ich zehn belegte Brote gemacht, weil ich fälschlicherweise glaubte, sein Freund sei noch bei ihm. Nach einiger Zeit kam er mit dem leeren Teller und meinte: ,War heute doch ein bisschen viel, Mama!’« Beispiel Der inzwischen 18-jährige Mirko trinkt Getränke stets in einem Zug vollständig aus, egal ob es sich dabei um eine Flasche Wasser oder auch ein Glas Wein handelt. Beispiel »Wenn Tobias etwas zum Essen vorgesetzt wird, was er zwar sehr gerne gegessen hatte, aber längere Zeit nicht mehr gegessen hat, isst er es nicht. Er sagt dazu, dass seine Erinnerung an dieses gute Essen nach längerer Zeit nicht mehr vorhanden sei und er sich deshalb nicht traue, es jetzt zu essen.« Beispiel »Geriebener Käse auf Teigwaren, eine der Lieblingsspeisen unseres Sohnes, wird nur gegessen, wenn die geriebenen Stücke eine bestimmte Form haben.«
Frage zur Motorik 5 Zeigt er ungeschickte und unkoordinierte motorische Bewegungen?
4.1.4 Sonstige auffällige
Verhaltensweisen Es treten vielfältige sonstige auffällige Verhaltensweisen auf, von denen wir im Folgenden einige beispielhaft aufzählen möchten. Diese sind jedoch nicht diagnoseleitend, sondern treten als zusätzliche Auffälligkeiten auf.
Abrupte Stimmungswechsel Beispiel »Carsten zeigt zu Hause sehr unterschiedliche Verhaltensweisen. Wenn Aktivitäten nach seinen Spezialinteressen gemacht werden, ist er immer guter Laune (Flohmarkt, Fahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln, alte elektrische Geräte zerlegen, stundenlange Besuche von Elektrofachmärkten). Alle anderen Tätigkeiten lehnt er ab. Aussagen wie langweilig, keine Lust sind meistens an der Tagesordnung. Carsten hat dann immer schlechte Laune, mit Geschrei, Beleidigungen und manchmal mit Ausrastern begleitet. Es ist oft schwierig, ihm klar zu machen, dass es im Leben wichtige Dinge gibt, wie Erledigungen, Einkaufen, Putzen, Aufräumen oder auch sonstige Dinge des Alltags. Carsten steht auf dem Standpunkt: Wenn ich zu Hause bin, hat alles nach meiner Nase zu tanzen.
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Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik
Bei Carsten muss man enge Grenzen setzen und diese ohne ›Wenn und Aber‹ durchziehen … Seine Stimmungslage kann von einem zum anderen Augenblick völlig wechseln. Durch Kleinigkeiten z. B. eine Frage stellen, kann er vom ›lieben Verhalten‹ schlagartig in ›aggressives Verhalten‹ wechseln, auch umgekehrt.«
Sensorische Überempfindlichkeit Häufig sind sensorische Empfindlichkeiten im Bereich der auditiven Wahrnehmung (z. B. Lärm, insbesondere durch Menschen hervorgerufen) oder sensible Wahrnehmung bei bestimmten haptischen Qualitäten (z. B. keine Wolle auf der Haut), beim Geschmack oder bei olfaktorischen Reizen (bestimmten Gerüchen). Häufig sind aber gleichzeitig auch Unempfindlichkeiten in Bezug auf bestimmte Wahrnehmungsbereiche (z. B. gegenüber eigenen Körpergerüchen oder gegenüber Temperatur oder Schmerz). Fazit
Zusammenfassend kann zur Symptomatik beim Asperger-Syndrom gesagt werden, dass bei diesen Menschen eine massive Differenz zwischen ihren kognitiven und ihren sozial-emotionalen Fertigkeiten vorliegt. Einerseits erfassen sie Lerninhalte gut und schnell, sie sind sprachlich sehr gewandt und haben in manchen Dingen ein bewundernswertes Wissen. Manche sind in der Schule kognitiv sogar unterfordert. Andererseits bleibt ihnen die soziale Welt fremd, in emotionalen Dingen, im empathischen Umgang miteinander sind sie sehr häufig deutlich überfordert. Mit diesem Kontrast müssen sie täglich leben, sich der Welt stellen und diesen Kontrast in ihr Selbstbild integrieren.
4.2
Störungsspezifische Entwicklungsgeschichte
Im Folgenden soll die Entwicklungsgeschichte des Asperger-Syndroms und dessen Auffälligkeiten in »charakteristischer« und lebensnaher Weise dargestellt werden.
Vorschulalter Das Kind mit Asperger-Syndrom erscheint den Eltern und der Umgebung zunächst unauffällig, ja in einigen Bereichen zeigt das Kind sogar erfreuliche Entwicklungen. Es fängt früh an zu sprechen, dabei spricht es ausgesprochen gut und gewählt. Im motorischen Bereich hingegen ist es ungeschickt, tapsig und unbeholfen. Es scheint im Zusammensein mit anderen kleinen Kindern mehr an den Objekten der Umgebung interessiert zu sein als an den anderen Kindern. Nach und nach erweckt es die Besorgnis bei den Eltern. Merkwürdige Angewohnheiten, sinnlose Forderungen an die Umgebung und Wutanfälle bei kleineren Änderungen in der täglichen Routine fallen auf. Ist noch ein älteres Geschwisterkind in der Familie, fällt den Eltern oft schon früh auf, dass »etwas anders ist«. Insbesondere in Spielgruppen und dann im Kindergarten fällt auf, dass das Kind sich lieber allein beschäftigt, sich absondert und sich kaum an gemeinsamen Aktivitäten beteiligt. Es hat nur wenige Interessen gemeinsam mit Gleichaltrigen und verhält sich zunehmend anders als erwartet. Das Kind scheint nicht zu verstehen, dass es anderen wehtut, wenn diese an den Haaren gezogen oder geärgert werden. Das Spiel ist sehr begrenzt, wenig spontan oder flexibel. Es spielt keine »So-tun-als-ob-Spiele« oder »Rollenspiele« mit anderen Kindern. Das Spiel ist geprägt von Wiederholungen und wirkt wenig sozial. Das Kind variiert den Gesichtsausdruck nur wenig, hat eher Kontakt zu Erwachsenen als zu Kindern, einige wirken altklug – mit umständlicher, korrekter Sprache. Beispiel Als Beispiel hier der Brief einer Mutter: »Ich wende mich an Sie in der Hoffnung, dass Sie mir vielleicht behilflich sein könnten, was meinen Sohn betrifft, denn ich bin ziemlich verzweifelt. Zur Zeit befindet er sich in einer diagnostischen Klinik. Die Therapeuten befinden sich an ihren Grenzen, sprechen von bizarren Verhaltensweisen, irgendwie stagniert die Diagnostik. Er ist fünf Jahre alt und hat bereits drei geschei-
4.2 Störungsspezifische Entwicklungsgeschichte
terte Eingliederungsversuche in die Kita hinter sich. Er findet keine Beziehung zu Kindern, spielt allein, redet wie ein Erwachsener, beteiligt sich nie an Gesellschaftsspielen, hat Angst an lauten Plätzen, hat wenig Schmerzempfinden, beschimpft Leute, hat wenig Einfühlungsvermögen, ist in Drucksituationen aggressiv und hyperaktiv, er läuft auch weg ohne Angst zu empfinden, andererseits ist er sehr intelligent, aber nicht hochbegabt (getestet), hat ein ausgeprägtes Gedächtnis für Details, merkt sich schnell Nummernschilder, Tierarten etc., mit 22 Monaten kann er viele Buchstaben, mit 3,5 Jahren lernte er selbst lesen, sozial und emotional ist er aber zurück geblieben, er kann nicht allein essen, sich anziehen, Kontakte zu Kindern aufnehmen, er hat keine Freunde, beleidigt Kinder, kann nicht um Hilfe bitten etc. Er hat ein Prinzip: Es kann nicht sein, was nicht sein darf, z. B. sagt er, er trinke keine Milch, weil sie ihm nicht schmeckt, trinkt aber dann drei Gläser und wundert sich darüber, oder er mag nur roten Saft, weil gelber nicht schmeckt. ADHS und Autismus als Diagnose wurden verworfen, er hat aber autistische Züge. Das logopädische Gutachten ergab, dass er seinen Wortschatz anders gebraucht (erwachsener) als andere Kinder. Da seine Unruhe und Aggressivität in der Klinik in depressive Verstimmungen umschlägt, mache ich mir große Sorgen und weiß nicht mehr, wie ich mich verhalten soll.«
Schulalter Dem Lehrer fällt auf, dass das Kind sich »sonderbar« verhält, dass es Schwierigkeiten hat, sich in die Schulnormen einzuordnen. Es besteht oft ein Missverhältnis zwischen umfassenden Kenntnissen auf einzelnen Gebieten und vollständigem Fehlen normalerweise einfacher sozialer Fertigkeiten. Die kognitiven Leistungen sind dabei gut. Im Sport fallen einige Kinder durch eine große Ungeschicklichkeit auf. Die Sprache ist gut entwickelt, jedoch kann sie naiv und unpassend oder übertrieben pedantisch und formell wirken. Lange Monologe oder ständig sich wiederholende Fragen und Diskussionen über unwesentliche Details können der Umgebung auf die Nerven gehen.
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Nehmen die Spezialinteressen im Alltag sehr viel Raum ein, so kann sich dies hemmend auf das soziale Leben auswirken. Andererseits sind die Spezialinteressen für einige Kinder die einzige Möglichkeit, zu anderen Kindern Kontakt aufzubauen, z. B. durch besondere Fertigkeiten im Umgang mit Computern. Beispiel »Leons Sonderinteresse während seiner ganzen Kindheit war der Löwe. Er besaß und besitzt Dutzende Stofftiere, Filme, Hörspielkassetten, Bücher etc. zu diesem Thema. Selbstverständlich weiß er auch heute noch von jedem dieser Objekte die Herkunft (Kauf, Geschenk) und normalerweise auch den Preis!...Leon weiß Hunderte von Werbespots aus dem Fernsehen auswendig, sowie Wahlsprüche der Parteien von mehreren Bundestags- und Bürgerschaftswahlen in... Er weiß exakt, in welchem Jahr wir an welchem Ort in Urlaub waren und kann diese Orte alle beschreiben... Leon gilt in der Schule als wandelndes Lexikon.«
Die Fähigkeit Kontakte herzustellen, ist nur sehr gering ausgeprägt, das Kind ist viel für sich allein. Versuche, Freundschaften zu knüpfen, missglücken oft nach kurzer Zeit, weil das Kind verlangt, dass alles nach seinem Wunsch geschehen soll und Abweichungen davon nicht toleriert. Das mangelnde Verständnis für die Gefühle und Bedürfnisse anderer Menschen kann dazu führen, dass das Kind als ungezogen und verhaltensschwierig angesehen wird. Es kann verletzende Bemerkungen über andere machen, ist aber gleichzeitig selbst oft Opfer von Hänseleien. Mit anderen Kindern in ungezwungener, unstrukturierter Atmosphäre zusammen zu sein, stellt das Kind vor die größten Probleme. Im Gespräch mit einem Erwachsenen, z. B. in Verbindung mit einem Test oder Interview, bei dem Fragen und Aufgaben klar erkennbar sind, zeigen sich die sozialen und kommunikativen Schwierigkeiten nicht so deutlich. Häufig werden zunächst andere Diagnosen (z. B. ADHS, Verhaltensprobleme unklarer Genese usw.) gestellt, die
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Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik
aber stets nicht alle Symptome erklären können und damit zumindest unvollständig bleiben. Adoleszenz Die Pubertät stellt für alle Jugendlichen eine Krisenzeit dar, über die Hinwendung zur Peergroup gelingt die Abgrenzung von den Eltern, die Verselbständigung setzt ein, die Sexualität erwacht. Für einen Menschen mit Asperger-Syndrom ist diese Zeit häufig besonders schwierig. Denn in diesem Alter erkennt er seine »Andersartigkeit«, er hat große Schwierigkeiten ein »akzeptables« Selbstbild zu entwickeln. Der Wunsch nach sexuellen Kontakten wird als sehr verwirrend und belastend erlebt. Sehr häufig wird der Jugendliche depressiv, zeigt massiv zwanghaftes Verhalten, auch Suizidgedanken können auftreten. Beispiel Der 16-jährige Marius schaffte auf einer Schule für Erziehungshilfe seinen Realschulabschluss, war aber bezüglich seiner weiteren beruflichen Entwicklung orientierungslos. Nach einer Maßnahme zur Berufsfindung, war die Aufnahme in einem Berufsbildungswerk und entsprechende Maßnahmen der beruflichen Ausbildung (im Bereich Bürokaufmann) geplant. Marius hatte schon seit ca. seinem 13. Lebensjahr immer wieder depressive Phasen durchgemacht, in denen er auch suizidale Gedanken geäußert hatte. Im Laufe der letzten Jahre verschlimmerten sich diese depressiven Zustände schleichend, Marius zog sich immer häufiger zurück, wirkte in sich gekehrt und verträumt. Er verbrachte viel Zeit damit, sich mit seiner Störung, seiner Andersartigkeit auseinander zu setzen und war schließlich von dem Gedanken, dass er seiner Familie eine Last sei, nicht mehr abzubringen. Kurz vor Beginn der Rehabilitationsmaßnahme warf er sich auf dem Nachhauseweg, nachdem er sich zuvor völlig unauffällig von seiner Schulklasse verabschiedet hatte, vor einen Zug und verstarb. Seiner Familie hinterließ er einen Abschiedsbrief, in dem er ihnen seinen Entschluss darlegte und sich verabschiedete.
Erwachsenenalter Auch der Erwachsene mit Asperger-Syndrom hat Probleme, Freundschaften zu schließen und aufrecht zu erhalten – in der Regel bei gleichzeitigem Wunsch, Kontakt zu bekommen. »Small-talk«-Gespräche sind für ihn sehr schwierig, besonders wenn viel Witz und Ironie darin vorkommen. Gewöhnliche Floskeln und Gesprächseinleitungen wie »Wie geht es dir?« oder »Wie war dein Wochenende?« können ganz fehlen. Einige können auf derartige Fragen gar nicht antworten. Variationsbreite und Ausdruck von Körperhaltung, Gesten und Stimme sind gering ausgeprägt. Die Betroffenen haben auch Schwierigkeiten, entsprechende Signale bei anderen zu erfassen. Soziale Andeutungen und Rückmeldungen über das eigene Benehmen werden nur in geringem Maße verstanden. Einige haben einen starren, durchdringenden Blick. Das Verhalten wirkt oft unpassend und unbeholfen, weil viele der ungeschriebenen sozialen Regeln nicht verstanden werden. Gedanken und Handlungen sind oft wenig flexibel. Zukunftsorientierung und Selbstreflexion können fehlen. Die Schwierigkeiten, richtige Entscheidungen zu treffen, werden besonders groß, wenn mehrere Eindrücke gleichzeitig verarbeitet werden müssen. Die Interessen können höchst ungewöhnlich sein. So werden Dinge gesammelt oder Kenntnisse über Spezialthemen erworben, z. B. über Astronomie, Edelsteine, bestimmte Tiere, Kriege, Geschichte, Musik, Computer usw. (s. o.). Die Interessen sind selten relevant für das praktische Leben, und selbst gewöhnliche Interessen können auf ungewöhnliche Weise interessant werden. Einige beschäftigen sich am liebsten alleine. Sie sind schüchtern und wortkarg. Andere zwingen auf langatmige und anstrengende Weise ihrer Umgebung ihre oft besonders einseitigen Routinen und Interessen auf.
4.3 Komorbidität und Begleiterscheinungen
4.3
Komorbidität und Begleiterscheinungen
Bereits in 7 Kap. 3.3 wurden die komorbiden psychopathologischen Störungen im Zusammenhang mit der Ätiologie des Asperger-Syndroms behandelt. Daher wird im Folgenden nur kurz und ergänzend auf diese Thematik eingegangen. Es finden sich Hinweise darauf, dass Personen mit Asperger-Syndrom ein erhöhtes Risiko für eine schizophrene Erkrankung (Wolff 1995; Klin u. Volkmar 1997; Clarke et al. 1989; Tantam 1988a, b, 1991; Nagy u. Szatmari 1986; Ghaziuddin et al. 1995), aber auch für Depressionen und bipolare Störungen (Gillberg 1985) zeigen. Wing u. Shah (2000) beschreiben katatone Symptome bei Patienten mit Störungen aus dem autistischen Spektrum. Die untersuchte Stichprobe mit katatonen Symptomen bestand mehrheitlich aus Patienten mit Asperger-Syndrom, wobei die Diagnosekriterien nicht den ICD-10Kriterien entsprachen. Die katatonen Symptome (verlangsamte Bewegungen, Bewegungsstarre, Abbruch in der Bewegung, aber auch Episoden der Erregtheit und plötzlicher impulsiver Handlungen) traten vornehmlich in der Alterspanne zwischen 15 und 19 Jahren auf, wobei kein eindeutiger Stressor gefunden werden konnte. Anscheinend ist die Pubertät hier der auslösende Faktor (auslösende Faktoren, die ausgemacht werden konnten, waren: Trauerfall, Leistungsdruck in der Schule, Verlust von Struktur nach Beendigung der Schule und fehlende Berufstätigkeit). In manchen Fällen ist die Differenzialdiagnose zwischen Schizophrenie und Asperger-Syndrom schwierig, da einige Menschen mit Asperger-Syndrom auch psychotisch anmutende Symptome zeigen. Beispiel Mathias ist 16 Jahre, er verfügt über eine durchschnittliche Intelligenz und zeigt einige psychotisch anmutende Symptome: Er ist davon überzeugt, dass seine Kuscheltiere ein Eigenleben haben, sie sind für ihn lebendig. Darauf angesprochen, fängt er eine »philo-
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sophische Diskussion« darüber an, dass es doch eine Frage der Perspektive sei zu bestimmen, was lebendig ist und was nicht. Er erzählt, dass er sich in Tiere verwandeln könne und in diese so weit »eintauchen« könne, dass er sich selber nicht mehr erkennen würde und sich seiner selbst kaum noch bewusst sei. Auch höre er innere Stimmen, die mit ihm reden. Eine Stimme bezeichnete er als »inneren Peiniger«, der alles schlecht reden würde und ständig negativistisch sei. Seit einiger Zeit höre er auch die Stimme des »Finstermolchs«, der versuche, gegen den »inneren Peiniger« anzutreten. Dabei ist Mathias aber orientiert und bewusstseinsklar, darauf angesprochen, kann er dies klar als »innere Stimmen« oder Gedanken erkennen. Dennoch erscheint sein Bezug zur Realität deutlich gelockert. Beispiel Mirko, 18 Jahre: In Mirkos Zimmer müssen immer die Jalousien vor den Fenstern geschlossen sein, da seiner Meinung nach jemand in das Zimmer schauen könnte. Blickdichte, aber lichtdurchlässige Gardinen lehnt Mirko strikt ab, was dazu führt, dass tagsüber immer das Licht in seinem Zimmer eingeschaltet ist. Mirko erlaubt keinerlei Unterhaltung mit ihm, wenn andere Personen sich in der Umgebung aufhalten, sei dies im Wartezimmer, im Supermarkt oder auch wenn völlig fremde Menschen in 100 m Entfernung auf dem Bürgersteig gehen, da diese hören könnten, was geredet wird. Öfters berichtet Mirko fest überzeugt von Geschehnissen, die offenkundig jedoch nicht passiert sind: z. B. konnte er auf einer Zugreise seinen Ausweis nicht mehr finden und berichtete daraufhin seinem Vater, dass er genau bemerkt hätte, wie ihm jemand auf der Bahnhofstoilette den Ausweis aus der Hosentasche geklaut habe. Der Ausweis tauchte jedoch nach kurzer Suche wieder auf: Der Vater hatte ihn in seiner Jacke verwahrt. Beispiel Der 24-jährige Andi entwickelt im Verlauf der letzten Jahre einige paranoid anmutende Verhaltensweisen: Er schaut sich bei Unterhaltungen stets um, ob jemand zuhört und hat große Sorge, dass andere Menschen die Unterhaltung mithören. Daher flüstert
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Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik
er nur und überprüft seine Umgebung, auf der Suche nach »verdächtigen« Zuhörern.
Zwangsstörungen (Thomsen 1994) sowie das Tourette-Syndrom (Gillberg u. Rastam 1992; Kerbeshian u. Burd 1986; Littlejohns et al. 1990; Marriage et al. 1993; Kadesjö u. Gillberg 2000) sind ebenfalls häufig auftretende komorbide Störungen. Eine gleichfalls häufig vorkommende Begleiterkrankung ist die Aufmerksamkeitsstörung, die über eine autistisch gestörte Aufmerksamkeit hinausgeht und zu zusätzlichen Probleme führt. In einer Untersuchung von Ghaziuddin et al. (1998) an 35 Patienten mit Asperger-Syndrom wurden bei 23 Patienten (65 %) Symptome einer zusätzlichen psychiatrischen Erkrankung gefunden: Bei Kindern fand sich vermehrt eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), während sich bei den Jugendlichen und Erwachsenen eher die Symptome einer Depression fanden. Insbesondere in der Adoleszenz und im frühen Erwachsenenalter ist die Depression die bedeutendste Begleiterkrankung des Asperger-Syndroms (Gillberg 2002; Ghaziuddin et al. 1998). In dieser Zeit nimmt der Vergleich mit anderen Jugendlichen beträchtlich zu, die Identitätssuche bzw. -findung setzt ein und die hormonelle Umstellung bzw. psychosexuelle Entwicklung beginnt, was insgesamt häufig zu Krisen führt. Der Jugendliche mit Asperger-Syndrom wird sich seiner Andersartigkeit bewusst, der Wunsch nach sozialem Kontakt und die Anzahl von begleitenden Frustrationen nimmt zu. Konnten Ängste und Niedergeschlagenheit in der Vergangenheit noch durch stereotypes Verhalten und eine Konzentration auf spezielle Interessen in Schach gehalten werden, ist dies in der Pubertät häufig nicht mehr so möglich und Depressionen und Angststörungen nehmen zu (Ghadziuddin et al. 2002). Auch die Suizidgefahr steigt in dieser Zeit (Wolff 1995)! Wichtig ist es, hier zu differenzieren, denn der reduzierte emotionale Ausdruck im Gesicht, der Mangel an Kon-
takt, die eingeschränkten Interessen und nicht zuletzt auch die motorische Ungeschicklichkeit lassen diese Menschen häufig depressiv erscheinen. Die typischen Symptome einer Depression finden sich in einer deutlich veränderten Stimmungslage, Selbstabwertung, reduziertem Appetit, Schlafstörungen, manchmal aber auch in einer Zunahme von zwanghaftem Verhalten usw. Es finden sich Hinweise darauf, dass bei denjenigen Menschen mit Autismus-SpektrumStörungen, die eine zusätzliche Depression entwickeln, Depressionen in der Familienanamnese gehäuft vorkommen (Ghaziuddin u. Greden 1998).
4.4
Störungsrelevante Rahmenbedingungen
Die störungsrelevanten Rahmenbedingungen werden durch folgende Komponenten bestimmt: 5 Störungsspezifische Symptomatik, 5 familiäre Ressourcen, 5 Ressourcen in Schule bzw. anderen Institutionen, 5 finanzielle Ressourcen, 5 örtliche und räumliche Begebenheiten, 5 Medikation. Ein Beispiel für Rahmenbedingungen, die durch die störungsspezifische Symptomatik gegeben sind, sind die Veränderungsängste von Menschen mit Asperger-Syndrom. Sind diese sehr ausgeprägt und von massiven Ängsten begleitet, so kann dies bedeuten, dass die Umwelt sich zunächst einmal darauf einstellen sollte und die Umgebung entsprechend gestalten bzw. strukturieren sollte. Dies kann bedeuten, dass beispielsweise der Schulweg in immer gleicher Weise gegangen wird, das Zimmer des Patienten in einer bestimmten Ordnung gehalten wird usw. Im Rahmen der Therapie (7 Kap. 6) kann dann ein spezifisches Therapieziel sein, diese Veränderungsängste abzubauen und mehr Flexibilität zu erlangen.
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4.5 Apparative, Labor- und Testdiagnostik
Häufig, aber nicht immer, stellt ein Kind mit Asperger-Syndrom eine gewaltige Überforderung der Bezugspersonen dar, die dann beispielsweise eine eigene depressive Symptomatik entwickeln. Nicht zu unterschätzen ist auch die Belastung durch Schuldzuweisungen innerhalb der Familie oder auch durch andere Personen. Die Frage: »Bin ich als Mutter/Vater schuld?« geistert lange und einflussvoll in den Köpfen der Beteiligten herum und führt zu einer großen Belastung und Beeinträchtigung nicht nur der Eltern selbst, sondern auch für das Kind bzw. den Jugendlichen. Die große Diskrepanz zwischen den kognitiven und sozial-emotionalen Fähigkeiten des betroffenen Kindes führt häufig zu einer überprotektiven Schutzhaltung in der einen oder anderen Art. Entweder wird erwartet, dass sich die Umwelt komplett auf dieses »besondere« Kind einstellt und Rücksicht nimmt, oder aber das Kind wird von der Umwelt ferngehalten und »geschützt««. In diesem konfliktträchtigen Spannungsfeld zerbrechen manche Ehen und Familien. Psychische Probleme und/ oder Erkrankungen anderer Familienmitglieder müssen genauso beachtet werden wie zeitliche, finanzielle, strukturelle oder andere Ressourcen der Familie. Die personellen und materiellen Möglichkeiten in Schule bzw. anderen Institutionen begrenzen den Handlungs- und Interventionsspielraum. Schule ist bei den allermeisten Kindern oder Jugendlichen mit Asperger-Syndrom ein großer Problembereich (7 Kap. 6.2.1). Die Rahmenbedingungen werden bestimmt durch: Klassengröße, Raumpotential, personelle Ressourcen, Motivation des Lehrpersonals und der Mitschüler, Möglichkeiten der Nachteilsausgleiche, Möglichkeiten der Inanspruchnahme von Hilfsnahmen (z. B. Integrationshilfe) u.v.a. Die örtlichen und räumlichen Begebenheiten sind ebenso relevant: Welche wohnlichen Voraussetzungen bestehen, hat das Kind bzw. der Jugendliche mit Asperger-Syndrom ein eigenes Zimmer bzw. andere Rückzugsmöglichkeiten? Eine Familie, die sehr beengt wohnt, hat
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mit zusätzlichen Problemen zu tun, die durch diese Rahmenbedingungen gegeben sind. Ebenso verhält es sich mit den finanziellen Ressourcen: Ist die Familie darauf angewiesen, dass beide Elternteile arbeiten gehen oder nicht? Ist mobile Flexibilität gegeben (Auto, öffentliches Verkehrsnetz usw.)? Häufig hängen die Rahmenbedingungen auch von örtlichen Verhältnissen ab, so sind beispielsweise in städtischen Regionen andere Rahmenbedingungen gegeben als in ländlichen. Welche schulischen und therapeutischen Möglichkeiten bestehen vor Ort bzw. sind erreichbar? Die Möglichkeiten der medikamentösen Einflussnahme auf die Symptomatik bestimmen ebenfalls die Rahmenbedingungen und können beispielsweise die weiteren therapeutischen Maßnehmen positiv beeinflussen.
4.5
Apparative, Labor- und Testdiagnostik
4.5.1 Apparative und Labordiagnostik Autismus-Spektrum-Störungen sind definiert auf der Basis von Verhaltensweisen. Es gibt bislang keinen spezifischen Labortest, keinen biologischen Marker, um eine autistische Störung zu diagnostizieren. Weder auf der Basis von genetischen Untersuchungen noch durch bildgebende Verfahren lassen sich Autismus-Spektrum-Störungen eindeutig identifizieren. Zwar geht man heute davon aus, dass Autismus-Spektrum-Störungen eine biologische Ursache haben, aber genauso klar ist, dass nicht nur ein biologischer Faktor ursächlich für alle autistischen Störungen ist. Daher ist die Diagnose zum gegenwärtigen Zeitpunkt aufgrund von beobachtbaren Verhaltensweisen zu stellen. Im Verlauf sollte mindestens einmalig ein Elektroenzophalogramm (EEG) durchgeführt werden, da insbesondere der frühkindliche Autismus häufig mit einer Epilepsie einhergeht.
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Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik
Beim Asperger-Syndrom stellt die Epilepsie zwar keine häufig komorbide Erkrankung dar, dennoch erscheint die Ableitung eines EEGs in den meisten Fällen sinnvoll. Routinemäßige Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren (CT, MRT, SPECT etc.) sind nicht notwendig und sollten nur im begründeten Einzelfall durchgeführt werden.
4.5.2 Screening-Verfahren Zuverlässige Screening-Instrumente zur ökonomischen Generierung von Autismus-Verdachtsdiagnosen liegen nur wenige im deutschen Sprachraum vor. Dabei betonen Filipek et al. (1999) in ihrem Übersichtsartikel, der dazu dienen soll, Leitlinien zu erstellen für die Diagnostik (»Screening and Diagnosis«) von autistischen Störungen, dass das Screening – die frühzeitige und schnelle Identifizierung von autistischen Symptomen – große Bedeutung hat. Es hat sich gezeigt, dass eine frühe Identifikation und damit einsetzende intensive Förderung die besten Fortschritte in der Entwicklung dieser Kinder bringt (Rogers 1996, 1998; Tsatsanis 2003). Insbesondere für autistische Störungen auf hohem Funktionsniveau (Asperger-Syndrom und High-functioning-Autismus) bedeutet dies, dass das Ziel sein muss, das Alter, in dem die richtige Diagnose gestellt wird, deutlich zu reduzieren (Howlin u. Asgharian 1999). Atwood (2000) entwickelte eine Skala, die zu einer sehr groben Orientierung für Kinder im Grundschulalter verwendet werden kann. Ein empirisch ermittelter Grenzwert zur Einordnung des Ergebnisses fehlt jedoch. Es findet sich lediglich die Angabe: »Wenn die Mehrheit der Fragen mit ja beantwortet wird ...« (Atwood 2000, S. 20). Eine Unterscheidung zwischen verschiedenen autistischen Störungen ist mit diesem Fragebogen nicht möglich. Der »Fragebogen über Verhalten und soziale Kommunikation« (Bölte et al. 2000) wurde an einer Stichprobe mit vornehmlich geistig behin-
derten Probanden validiert: 54 von 83 untersuchten Probanden mit einer autistischen Störung zeigten »eine Leistungsfähigkeit im Bereich der geistigen Behinderung (IQ< 70)« (Bölte et al. 2000; S. 150), 28 dieser Probanden zeigten zudem keine Sprachfähigkeit. Bei den vorhandenen Screening-Verfahren zum frühkindlichen Autismus besteht das Problem, dass mildere Varianten der Störung bzw. solche ohne eine deutliche Sprachentwicklungsverzögerung unentdeckt bleiben (Filipek et al. 1999). Häufig zeigt sich eine geringere Sensitivität für autistische Probanden mit guten kognitiven Fähigkeiten und eine geringere Spezifität für Menschen auf niedrigem Funktionsniveau (Lord et al. 1997) Im englischsprachigen Raum finden sich zwei Verfahren, die spezifisch für das Asperger-Syndrom sein sollen: die »Gilliams Asperger’s Disorder Scale« (Gilliam 2001) sowie die »Asperger Syndrome Diagnostic Scale« (Myles et al. 2001). Allerdings wurde an diesen Verfahren kritisiert, dass sie nicht zwischen verschiedenen autistischen Störungen differenzieren können (vgl. Goldstein 2002). Marburger Beurteilungsskala zum Asperger-Syndrom
MBAS 5 Anwendungsbereich: Altersbereich 6– 24 Jahre, durchschnittliche Intelligenz, 5 Durchführungsdauer: ca. 20 min, 5 Verdachts-Diagnose: Asperger-Syndrom bzw. High-functioning-Autismus, 5 Reliabilität und Validität: Gut geeignet zum Screening.
Die »Marburger Beurteilungsskala zum Asperger-Syndrom (MBAS)« ist ein Fragebogen zum Screening von autistischen Störungen auf einem hohen Funktionsniveau bei Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen 6 und 24 Jahren
4.5 Apparative, Labor- und Testdiagnostik
mit durchschnittlichen kognitiven Fähigkeiten. Die »MBAS« erwies sich in ersten empirischen Untersuchungen (Kamp-Becker et al. 2005) als reliabel und diagnostisch valide. Zum Zwecke der Präselektion oder Generierung von Verdachtsdiagnosen des Autismus auf hohem Funktionsniveau ist sie daher gut geeignet. Sie bietet einen Cut-Off-Wert, der nach diesen ersten empirischen Ergebnissen gut zwischen autistischen und nicht-autistischen Gruppen diskriminiert. Inhaltlich deckt die MBAS eine Vielzahl von Symptomen ab und orientiert sich an den diagnostischen Kriterien der aktuellen Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-IV. Die MBAS erfasst die folgenden Symptombereiche: 5 Qualitative Beeinträchtigung – Soziale Interaktion: – Kontaktverhalten, soziale Motivation – Theory of Mind – Nonverbales Verhalten – Mangel an geteilter Freude/sozioemotionaler Gegenseitigkeit 5 Qualitative Beeinträchtigung – Kommunikation: – Intonation, Sprechweise – Sprachverständnis – Verständnis sozialer Regeln – Spielverhalten 5 Begrenzte, repetitive und stereotype Verhaltensweisen, Interessen und Aktivitäten: – Sonderinteressen – Veränderungsängste/ Zwänge – Motorik – Manierismen – sensorische Interessen
Eine enge Bezugsperson schätzt die Symptomatik auf einer 5-stufigen Rating-Skala ein (Items 1–51). Die Fragen beziehen sich zum Teil auf den aktuellen Zustand (Item 1 bis 37), zum Teil auf die Symptomatik des 4.–5. Lebensjahres (Items
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38–51). Da auch das Asperger-Syndrom zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen gehört, ist es erforderlich zu überprüfen, ob der Beginn der Störung schon in der Kindheit liegt. Zur weiteren Differenzierung der autistischen Symptomatik werden noch dichotom skalierte Fragen (Items 52–57) zum Sprachbeginn und zu Sprachauffälligkeiten gestellt (Zusatzfragen). Diese dienen als erste Orientierung der Unterscheidung zwischen Asperger-Syndrom und High-functioning-Autismus (Kriterium Sprachentwicklungsverzögerung). Eine weitere Auswertung dieser zusätzlichen Fragen erfolgt nicht. Der Fragebogen ist für Probanden zwischen 6 und 24 Jahren, die über durchschnittliche kognitive Fähigkeiten verfügen, konzipiert. Für eine inhaltlich gleiche Ausrichtung müssen vor der Auswertung etwa die Hälfte der Items umgepolt werden. Für die Items 1–51 wird dann ein Summenwert der positiv beantworteten Items (Gesamtscore) gebildet. Je höher dieser Wert, desto ausgeprägter ist die autistische Symptomatik. Es wurde empirisch (s. u.) ein Cut-Off-Wert für den Gesamtscore ermittelt, der bei 103 Wertpunkten liegt. Dieser Cut-OffWert gibt an, ob die Verdachtsdiagnose einer autistischen Störung berechtigt ist (oder nicht) und damit eine weitere autismusspezifische Diagnostik notwendig erscheint. Zusätzlich bietet die Auswertung auch Cut-Off-Werte für die faktorenanalytisch ermittelten 4 Subskalen an, die jedoch lediglich Hinweischarakter haben und inhaltlich interessant sind (erreicht beispielsweise ein Proband den Cut-Off lediglich in einem Bereich nicht, so sollte in der weiterführenden Diagnostik in diesem Bereich differenziert nachgefragt werden, um zu klären, ob alle Diagnosekriterien erfüllt sind oder nicht. Umgekehrt kann bei einem Probanden, der den Gesamt-Cut-OffWert nur knapp nicht erreicht, anhand der Subskalen ermittelt werden, in welchem Bereich wenig Auffälligkeiten bestehen und diese dann ebenfalls in der weiteren Diagnostik differenziert eingeschätzt werden).
110
1 2 3 4
Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik
. Tab. 4.3. Übersicht über Stichprobengröße, Alter und IQ AS
HFA
nicht-autistisch
N
36 (1 Mädchen)
32 (1 Mädchen)
72
Alter (mean)
12 Jahre
13 Jahre
11 Jahre
Gesamt IQ (mean)
107
90
103
Abkürzungen: AS = Asperger-Syndrom; HFA = High-functioning-Autismus
5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Zusätzliche Spezifität (insbesondere auch in der Abgrenzung zu ADHS) erlangt der Fragebogen, wenn zu dem Gesamtscore noch die Ergebnisse bezüglich der Subskala 1 (Theory of Mind, Kontakt- und Spielverhalten) in Betracht gezogen werden (s. u.). Dieser Fragebogen befindet sich – nebst den Auswertehinweisen – im Anhang und auf der beiliegenden CD. Im Folgenden soll noch etwas ausführlicher über die Gütekriterien dieses Verfahrens berichtet werden. Marburger Beurteilungsskala zum AspergerSyndrom: Eine Studie zur Abklärung der psychometrischen und diagnostischen Eigenschaften Fragestellung. Die Gütekriterien dieses Frage-
bogens sollten empirisch abgesichert werden.
Zur Untersuchung der diagnostischen Validität, Sensitivität und Spezifität des Fragebogens wurden die gebildeten Gruppen (s. o.) verglichen. Um die Klassifikation der Vergleichsgruppen beurteilen zu können, wurde eine klassische Diskriminanzanalyse (vgl. hierzu etwa Fahrmeir et al. 1996, S. 357ff ) durchgeführt. Stichprobe. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt lie-
gen die Daten von 141 Patienten vor. 36 Patienten erhielten die Diagnose AS, 33 die Diagnose HFA, bei der Kontrollgruppe (alle männlich) handelt es sich um folgende Diagnosen: ADHS (31), Legasthenie (10), hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens (6), Störung des Sozialverhaltens (4), emotionale Störung des Kindesalters (6), schizoide Persönlichkeitsstörung (3), andere (8), keine psychiatrische Diagnose (4). . Tab. 4.3 gibt einen Überblick über Stichprobengröße, Alter und IQ.
Methodik. Verglichen wurden die Ergebnisse
von folgenden Vergleichsgruppen: 5 Patienten, die nach standardisierten Methoden in einem sehr ausführlichen diagnostischen Prozess die Diagnose eines AspergerSyndrom oder eines frühkindlichen Autismus auf hohem Funktionsniveau (HFA) erhalten haben (Gruppe »autistisch«). 5 Patienten, die keine Autismus-Diagnose erhalten haben (Gruppe »nicht autistisch«).
Ergebnisse. Signifikante Unterschiede zwischen
den Vergleichsgruppen (ANOVA mit posthocTest) fanden sich lediglich in Bezug auf die Intelligenz1 [HFA hatten einen signifikant geringeren Gesamt-IQ als die beiden anderen Gruppen (p<.001); AS hatten einen signifikant höheren Verbal-IQ als die beiden anderen Grup-
1
Außerdem wurden zur Differenzierung der autistischen Störungen Vergleiche zwischen den Patienten mit Asperger-Syndrom und HFA angestellt.
Bei der testpsychologischen Einschätzung der Intelligenz kamen folgende Verfahren zur Anwendung: HAWIK-III, HAWIE-R; bei der Kontrollgruppe in einigen Fällen: CFT-1, CFT-20, K-ABC
4
111
4.5 Apparative, Labor- und Testdiagnostik
pen (p<.001); HFA hatten einen signifikant geringeren Handlungs-IQ als AS (p<.001)].
ROC-Kurve
1,0
Itemkennwert. Einige Items der ersten Versi0,8
on zeigten eine zu geringe Trennschärfe und wurden herausgenommen (Kamp-Becker et al. 2005). Die Trennschärfen der aktuellen Items liegen zwischen r = .49 bis zu r = .83.
Es zeigte sich, dass alle 4 Faktoren signifikant zwischen der autistischen und der nicht-autistischen Gruppe unterscheiden (p<.001). Es ergaben sich folgende Effektstärken2 [Effektstärken (ES) via t-Test für unabhängige Stichproben] für
2
Bewertung der Effektstärke(»ES«, oder auch »d« genannt) (Konvention nach Bortz u. Döring 1995): ES = bis 0,2 ~ klein; ES = bis 0,5 ~ mittel; ES = ab 0,8 ~ groß. Die Effektstärke gibt an, wie viele Standardabweichungen die Mittelwerte der Gruppen auseinander liegen, gibt also die praktische Bedeutsamkeit des experimentellen Effekts an bzw. die Relevanz der Unterschiede. Bsp.: ES = 1,00 die Gruppenmittelwerte liegen eine Standardabweichung auseinander; ES = 0,5 die Gruppenmittelwerte liegen eine halbe Standardabweichung auseinander; ES = 2,00 die Gruppenmittelwerte liegen 2 Standardabweichungen auseinander.
Sensitivität
Validität. Eine Faktorenanalyse erbrachte ein 4 Faktoren umfassendes Ergebnis, welches insgesamt 58 % der Varianz erklärt. 5 1. Faktor: Theory of Mind, Kontakt- und Spielverhalten (Items 2, 3, 1, 50, 48, 8, 5, 49, 4, 17, 7, 16, 25, 23, 39, 6, 38; sortiert nach Höhe der Faktorladungen) 5 2. Faktor: geteilte Aufmerksamkeit & Freude, Mimik, Gestik (Items 43, 41, 46, 10, 42, 44, 47, 45, 15, 12, 22, 13, 11) 5 3. Faktor: stereotypes und situationsinadäquates Verhalten (Items 31, 32, 35, 37, 14, 40, 36, 24, 30, 9, 51, 26) 5 4. Faktor: auffälliger Sprachstil, Sonderinteressen, Motorik (Items 19, 28, 20, 27, 29, 18, 34, 21, 33)
0,5
0,3
0,0 0,0
0,3
0,5
0,8
1,0
1 – Spezifität . Abb. 4.4. ROC-Kurve für den Gesamtwert
die einzelnen Skalen, die als sehr gut zu bezeichnen sind:
Gesamt-Summe: ES = 2,75 5 Skala 1: ES = 2,41 5 Skala 2: ES = 2,19 5 Skala 3: ES = 1,69 5 Skala 4: ES = 2,39
Anhand von ROC-Kurven3 konnte ein Cut-Off Wert von 103 für den Gesamt-Score ermittelt werden, der eine Sensitivität von 94 % und eine Spezifität von 89 % aufweist (. Abb. 4.4)
3
Die in . Abb. 4.4 dargestellte Receiver-OperatingCharacteristics-Kurve (ROC-Kurve) wird im Bereich der Medizin für die Auswertung von durch Rating-Verfahren erhobenen Daten angewandt, mit denen Diagnoseverfahren überprüft werden. Sie gibt einen Überblick über Sensitivität und Spezifität der MBAS, da für jede in Betracht gezogene Spezifität des Tests – der Schwellenwert (Cut-Off-Wert) durchläuft hierbei den gesamten Bereich möglicher Testwerte – die erreichbare Sensitivität angegeben wird.
112
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik
. Abb. 4.4 zeigt, dass der Fragebogen eine
sehr gute Trennschärfe aufweist, da sich die Kurve deutlich von der Diagonalen (»Zufallsentscheidung«) unterscheidet. Die Fläche unter der ROC (AUC: aerea under curve) – ein dimensionsloses Maß mit Werten zwischen 0.5 und 1.0 – beträgt .956, was für eine hohe Güte des entwickelten Fragebogens spricht. Falsch positiv wurden 8 Patienten beurteilt, hierbei lagen folgende Diagnosen vor: 5 Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) (4), 5 Verdacht auf schizoide Persönlichkeitsstörung (3) und 5 reaktive Bindungsstörung (1). Falsch negativ wurden 3 Patienten mit AspergerSyndrom (zwei im Alter von 7 Jahren und ein Patient im Alter von 18 Jahren) und ein Patient mit High-functioning-Autismus (22 Jahre alt). Zur weiteren deskriptiven Analyse der Ergebnisse wurden für die 4 Subskalen ebenfalls CutOff-Werte errechnet:
12 13 14 15 16 17 18
Es ergibt sich die Möglichkeit, den Cut-Off-Wert der Skala 1 zusätzlich zu dem Gesamt-Cut-OffWert als Kriterium mit einzubeziehen, dadurch ergibt sich eine größere Spezifität der Beurteilungsskala. In . Tab. 4.4 sind die Ergebnisse für Kriterium 1 (nur Gesamt-Cut-Off ) und Kriterium 2 (Gesamt-Cut-Off und zusätzlich Cut-Off der Skala 1) dargestellt. Durch das zusätzliche Kriterium (Gesamtscore plus Skala 1 über Cut-Offs) gewinnt die MBAS an Spezifität, 3 Patienten mit ADHS konnten durch dieses Kriterium zusätzlich richtig klassifiziert werden. Dieses Vorgehen ist daher bei der Differentialdiagnose ADHS bzw. Asperger-Syndrom sinnvoll und nützlich. Bei dieser Handhabung liegt die Sensitivität der MBAS bei 93 % und die Spezifität bei 93 %. Die Cut-Off Werte der anderen Subskalen dienen lediglich inhaltlich als Orientierung für die weitere Diagnostik.
. Tab. 4.4. Kreuztabelle – Verteilung der Probanden nach MBAS Diagnose versus klinischer Klassifikation Diagnose MBAS-Diagnose
Autistisch
Nicht-autistisch
(Krit1/Krit2)
(Krit1/Krit2)
Autistisch
65/64
8/5
Nicht-autistisch
4/5
64/69
19 20
5 Skala 1 = 38 (Sensitivität = 94 %, Spezifität = 86 %, Fläche unter Kurve = 0,937) 5 Skala 2 = 21 (Sensitivität = 93 %, Spezifität = 83 %, Fläche unter Kurve = 0,926) 5 Skala 3 = 20 (Sensitivität = 87 %, Spezifität = 78 %, Fläche unter Kurve = 0,874) 5 Skala 4 = 16 (Sensitivität = 93 %, Spezifität = 81 %, Fläche unter Kurve = 0,942)
Krit1 = Gesamtscore-Cut-Off 103 erfüllt; Krit2 = Gesamtscore-Cut-Off 103 plus Skala 1 Cut-Off 38 erfüllt
4.5 Apparative, Labor- und Testdiagnostik
Um die konvergente Validität des Fragebogens und der Ergebnisse aus dem ADI-R zu ermitteln, wurden der Gesamtscore der MBAS (Summe der Items 1–58) mit dem Summenwert der entsprechenden Fragen aus dem »Autism Diagnostic Interview-Revised« (ADI-R, Lord et al. 1994) korreliert. Der Validitätskoeffizient (Korrelation nach Pearson) beträgt r = .64 (p = .001). Nach dem Kriterium von Campell und Fiske (1959) liegt damit konvergente Validität vor. Reliabilität. Die interne Konsistenz (Cronbach’s
alpha) für die 4 Faktoren und für den GesamtScore liegt zwischen α = .89 und α = .97. und ist damit als hoch zu bewerten. Die Test-RetestReliabilität (Produkt-Moment Korrelation nach 6 – 12 Monaten, 20 AS and 19 HFA) liegt zwischen r = .59 und r = .75. Die geringen Werte lassen sich durch aktuelle Veränderungen/Fortschritte in der Entwicklung erklären. Daher wurde die Reliabilität für den Bereich der Symptomatik des 4. bis 5. Lebensjahres ermittelt, welche deutlich höher ausfällt (r = .83). Um die Klassifikation der Vergleichsgruppen beurteilen zu können, wurde eine klassische Diskriminanzanalyse durchgeführt. Es wird eine gute Modellgüte erzielt, so beträgt Wilks Lambda 0.250 (p<.001), was auf eine gute Trennung zwischen den Gruppen und damit einen hohen Erklärungsgehalt des gesamten Modells hinweist. Die drei Vergleichsgruppen ließen sich gut voneinander trennen. 74 % der kreuzvalidierten gruppierten Fälle wurden korrekt klassifiziert. Falsch positiv wurden lediglich einige Fälle diagnostiziert, die eine dem AspergerSyndrom sehr ähnliche Symptomatik aufweisen [Schizoide Persönlichkeitsstörung (3), ADHS (4), hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens (1), reaktive Bindungsstörung (1)]. Fazit
Insgesamt konnte gezeigt werden, dass die MBAS sich als reliabel und diagnostisch valide erweist. Zum Zwecke der Präselektion oder Generierung
113
4
von Verdachtsdiagnosen des Asperger-Syndroms und autistischen Störungen auf hohem Funktionsniveau ist sie gut geeignet. Sie bietet einen CutOff-Wert, der nach diesen ersten empirischen Untersuchungen gut zwischen autistischen und nicht-autistischen Gruppen diskriminiert.
4.5.3 Exploration der Bezugspersonen Besondere Bedeutung hat natürlich die ausführliche Anamnese zur gesamten Entwicklung, wobei auch beim Asperger-Syndrom die frühkindliche Entwicklung einen besonderen Schwerpunkt einnehmen sollte. Denn auch das Asperger-Syndrom ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, deren Beginn in der frühen Kindheit liegt, d. h. die Symptomatologie sollte sowohl für die frühe Kindheit als auch für den derzeitigen Lebensabschnitt erfragt werden. ! Der Untersucher/die Untersucherin sollte differenzierte Kenntnisse über die Merkmale einer »unauffälligen, normalen« Entwicklung, insbesondere auch der frühkindlichen Entwicklung, besitzen, um beispielsweise einschätzen zu können, ob die Kontaktfähigkeit, die Sprachentwicklung und kommunikative Fähigkeiten eines Kleinkindes als auffällig zu beschreiben sind oder nicht.
Die Anamnese sollte auch folgende Bereiche umfassen: 5 Schwangerschaft, Geburt, frühkindliche Entwicklung (»Meilensteine« der Entwicklung) 5 Entwicklung der Symptomatologie 5 Wann bemerkten die Eltern erstmalig, dass etwas nicht stimmt in der Entwicklung ihres Kindes? 5 Gibt es bei anderen Familienmitgliedern Entwicklungsstörungen oder autistische Wesensmerkmale? 6
114
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Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik
5 Familiäre und psychosoziale Faktoren 5 Welche bisherigen (therapeutischen/ medikamentösen) Maßnahmen wurden – mit welchem Erfolg – ergriffen?
Die Symptomatik sollte umfassend und in allen relevanten Aspekten erfragt werden (7 Kap. 4.1), wobei sehr wichtig ist, sich Beispiele geben zu lassen und zu erfragen, ob die geschilderte Symptomatik situationsübergreifend auftritt oder nur in bestimmten Situationen. Die Fragen sollten zunächst sehr offen gestellt werden (Welche Auffälligkeiten haben sie in der Vergangenheit, beispielsweise im Kindergartenalter, bei ihrem Kind beobachtet? Was wurde von den Kindergärtnern zurück gemeldet?...). Erst später sollten speziellere Fragen gestellt werden, die gezielt einzelne Symptome abfragen (sogenannte Trichter-Technik). Die Häufigkeit und die Intensität der beobachteten Auffälligkeiten sollte erfragt werden, auch hierfür sind Beispiele wichtig. Die gesamte Symptomatik muss sowohl für das aktuelle Verhalten, als auch für vergangenes Verhalten, insbesondere das frühkindliche Alter, erfragt werden, um einschätzen zu können, ob die Symptomatik als eine tiefgreifende Entwicklungsstörung anzusehen ist. Dies bedeutet, dass das auffällige Verhalten situationsübergreifendes und grundlegendes Funktionsmerkmal der gesamten Entwicklung ist und nicht an bestimmte Situationen (z. B. nur außerhalb der Familie) gebunden ist oder durch kritische Lebensereignisse (z. B. Trennung der Eltern) ausgelöst wurde. ! Aus allen drei Störungsbereichen (Störung der sozialen Interaktion, der Kommunikation und stereotypes, repetitives Verhalten) müssen Auffälligkeiten konsistent und stringent durch die gesamte Entwicklung vorzufinden sein.
Die Angaben der Bezugspersonen müssen durch weitere Einschätzungen ergänzt werden. Hilfreich sind Berichte aus dem Kindergarten, aus
der Schule, sowie Vorbefunde zu ambulanten oder stationären Abklärungen bzw. Behandlungen. Das Vorsorgeuntersuchungsheft des Kinderarztes kann hier ebenso hilfreich sein, wie Berichte über bisher stattgefundene Maßnahmen. Die von den Eltern berichteten Auffälligkeiten sollten durch weitere Dokumente, Verhaltensbeobachtungen und standardisierten Testungen des Kindes/Jungendlichen belegt werden.
4.5.4 Exploration und Verhaltens-
beobachtung des Betroffenen Zur Einschätzung der aktuellen Beeinträchtigung sollte eine Exploration sowie eine Verhaltensbeobachtung des Kindes/Jugendlichen durchgeführt werden. Hier sind auch private Videoaufzeichnungen aus der Familie sehr hilfreich. Die klinische Verhaltensbeobachtung des Kindes/ Jugendlichen ist die bedeutendste Informationsquelle, anhand derer die Aussagen aus dem Umfeld des Betroffenen geprüft werden können. 5 Die Beobachtung sollte in verschiedenen Situationen erfolgen: in strukturierten und unstrukturierten, bekannten und neuen Situationen. 5 Die Kenntnis der Interaktionen innerhalb der Familie sind auch für die Interventionsplanung wichtig. 5 Die charakteristischen Symptome in der sozialen Interaktion, im Spielverhalten, bei den Interessen und in der Kommunikation sollten in Relation zum Entwicklungsstand des Kindes/Jugendlichen gesetzt werden. 5 Zeigen sich weitere Problembereiche, die für die Behandlung von Relevanz sind? Beispielsweise aggressives oder zwanghaftes Verhalten, Tic-Störung, Ängste usw.
115
4.5 Apparative, Labor- und Testdiagnostik
4
. Tab. 4.5. Beobachtungsschema zur Diagnostik des Asperger-Syndroms Situation
Relevante Verhaltensaspekte
Small-talk-Gespräch, Konversation Z. B.: Gespräch über ein belangloses Thema, das aber normalerweise für Kinder, Jugendliche dieses Alters von Interesse ist; aber auch Ansprechen auf Sonderinteressen: »Hast du ein Hobby, was machst du besonders gerne?«; Gesprächspausen einbauen!
Turn-taking (wechselseitige vs. einseitige Unterhaltung)?; Anknüpfen an die Äußerungen des Gegenübers?, Nachvollziehbares Erzählen?; Stellt der Proband Fragen?; Sprachauffälligkeiten (Intonation, Lautstärke, Geschwindigkeit); Monologe zu speziellen Themen?; Sprachverständnis?; Pedantischer Sprachstil?; Angemessener Sprachumfang?; Blickkontakt, Mimik und Gestik?
Spielsituation Spielmaterial sollte zur Verfügung gestellt werden. Man beobachtet zunächst das Spiel des Kindes/ Jugendlichen allein, dann das gemeinsame Spiel
Kommt ein »So-tun-als-ob-Spiel« vor? Wird das Spielmaterial über die unmittelbare Funktion hinaus benutzt? Werden menschliche Figuren im Spiel eingesetzt? Ist das Spiel interaktiv? Werden eigene Spielimpulse eingebracht und wird auf die Spielimpulse des Untersuchers eingegangen?
Fragen zu sozialem Verständnis Z. B. Hattest du schon mal Schwierigkeiten in der Schule? Sind manchmal andere von dir genervt? Warum? ...
Wahrnehmung sozialer Schwierigkeiten?; Verständnis sozialer Situationen?, Theory of Mind?; Einfühlungsvermögen in andere?; Verständnis von Freundschaft?
Fragen zu emotionalen Verständnis Z. B. Warst du schon mal traurig, wütend, ängstlich, glücklich? Wie fühlt sich das an? ...
Können verschiedene Gefühlsqualitäten beschrieben werden? In welchen Zusammenhängen stehen die Gefühle? Theory of Mind?
Verständnis von Humor/Redewendungen Z. B. witzige Bemerkung einfließen lassen, Witz erzählen ...
Verständnis von Humor?, Pragmatik der Sprache? Konkretistisches Verständnis?; Geteilte Freude?
Nonverbales Verhalten Z. B. pantomimisch etwas darstellen lassen, nach Dingen fragen, die Gestik provozieren »Wie groß ...?«; deutliche nonverbale Verhaltensweisen durch den Untersucher im Gespräch.
Einsatz von Gestik vorhanden und angemessen?; Aber auch: Reaktion auf nonverbale Verhaltensweisen des Untersuchers?
In der nachfolgenden Tabelle (. Tab. 4.5) sind die für die Beobachtung relevanten Situationen und Verhaltensaspekte aufgelistet. Wichtig ist es, die dargestellten Situationen auf das Entwicklungsalter des Patienten abzustimmen und die Verhaltensaspekte altersabhängig zu beurteilen (z. B. ist das zu erwartende Emotionsverständnis eines 6-jährigen Kindes ein anderes als das eines 16-jährigen Jugendlichen). Hilfreich ist es, diese Verhaltensbeobachtung auf Video aufzunehmen, so dass auch eine videogestützte Aus-
wertung durch einen weiteren Beurteiler möglich ist.
4.5.5 Standardisierte Verfahren Erfassung der autistischen Symptomatik Zu den testtheoretisch am besten abgeklärten Instrumenten zur diagnostischen Einschätzung und Charakterisierung zählen das »Autism Diagnostic Interview – Revised« (ADI-R, Lord et al. 1994; Rühl et al. 1995) und die »Autism Diagnos-
116
1
Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik
. Tab. 4.6. Untersuchungen zur Reliabilität und Validität von ADOS und ADI (Abkürzungen: PDD-NOS = pervasive developmental disorder not otherwise specified; AS = Asperger-Syndrom)
2
Frühkindlicher Autismus N
PDD-NOS bzw. autistisches Spektrum (davon AS)
Lord et al. 2000: ADOS
98 (von low functioning bis durchschnittlich begabt)
69 (AS?)
66
5
Bölte u. Poustka, 2004: ADOS
137 (keine Angaben zu IQ)
39 (AS 16)
13
6
LeCouteur et al. 1989: ADI
16 (geistig behindert)
–
16
Lord et al. 1994: ADI-R
10 (geistig behindert)
–
10
Lord et al. 1997: ADI und ADI-R
319 davon 107 nonverbal 152 low functioning 60 high functioning
9 (AS?) diese wurden aber der Kontrollgruppe zugerechnet!
Poustka et al 1996: ADI-R
18 Mean IQ 62.45 (SD29.29)
–
4
Bölte u. Poustka 2001: ADI-R
211 Mean IQ 77.1 (SD 27.3)
51 (AS 0)
–
3 4
7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
tic Observation Schedule – Generic« (ADOS-G, Lord et al. 2000; Rühl et al. 2004), die beide auch in deutscher Sprache vorliegen. Diese Verfahren sind jedoch nicht gezielt dazu konzipiert und validiert worden, um das Asperger-Syndrom zu erfassen, erheben allerdings den Anspruch, für das gesamte autistische Spektrum geeignet zu sein. In der nachfolgenden Tabelle (. Tab. 4.6) sind die relevanten Untersuchungen zur Reliabilität und Validität aufgelistet und dargestellt, wie viele der untersuchten Stichproben Probanden mit Asperger-Syndrom enthielten. Es wird deutlich, dass in den meisten Untersuchungen der Schwerpunkt auf die Diagnostik des frühkindlichen Autismus gelegt wurde. Es konnte gezeigt werden, dass sowohl der ADI-R als auch das ADOS gute und reliable Instrumente für die Diagnostik des frühkindlichen Autismus
Nicht autistisch
113
sind, insbesondere in den »klassischen« Fällen. In der Untersuchung von Lord et al. (1997) wurden beispielsweise »grenzwertige« Fälle aus der Analyse ausgeschlossen. »Daher war die Stichprobe der Studie insgesamt nicht repräsentativ für eine typische Population in Kliniken« (S. 504, Übersetzung durch die Autoren). In der Studie von Lord et al. (1997) wurde der Frage nachgegangen, ob unterschiedliche Kriterien im ADI notwendig sind zur Diagnostik von sprachfähigen Menschen mit frühkindlichem Autismus auf hohem Funktionsniveau und geistig behinderten, nicht-sprachfähigen Menschen mit frühkindlichem Autismus. Zwar zeigte sich eine geringere Sensitivität für autistische Probanden mit guten kognitiven Fähigkeiten und eine geringere Spezifität für Menschen auf niedrigem Funktionsniveau, dennoch kommen die
117
4.5 Apparative, Labor- und Testdiagnostik
4
. Tab. 4.7. Anwendungsbereiche und Durchführung des ADOS Anwendungsbereich; Durchführung Modul 1
Vorsprachlich; spielerisch; Entwicklungsalter ca. 3 Jahre; 10 Aktivitäten mit 29 Beurteilungen
Modul 2
Sprache in Sätzen; spielerisch; expressives Sprachniveau mind. eines 4-jährigen Kindes; 14 Aktivitäten mit 28 Beurteilungen
Modul 3
Fließend sprechende Kinder, Jugendliche; spielerisch und Interview; 13 Aktivitäten mit 29 Beurteilungen
Modul 4
Fließend sprechende Jugendliche, Erwachsene; Gespräch, Interview; 15 Aktivitäten mit 30 Beurteilungen
Autoren zu der Entscheidung, dass unterschiedliche Kriterien nicht notwendig sind. Ein spezielles Training in diesen diagnostischen Verfahren sowie eine umfangreiche Erfahrung in der Diagnostik autistischer Störungen ist unabdingbar, insbesondere deshalb, weil das ADOS leider zu wenig spezifisch ist, d. h. es erfasst gut und genau Auffälligkeiten in der kindlichen Entwicklung; die Zuordnung, ob es sich dabei im Wesentlichen um Merkmale einer autistischen Störung handelt, ist mit diesen Verfahren nicht sicher möglich. So wurden in der Untersuchung von Bölte u. Poustka (2004) von den 13 Probanden4, bei denen keine autistische Störung vorlag, 6 durch das ADOS falsch klassifiziert. Von den 39 Probanden, die zum autistischen Spektrum (aber nicht frühkindlicher Autismus) gerechnet wurden (hiervon 16 mit der Diagnose Asperger-Syndrom) erreichten 14 den Cut-Off- Wert für den frühkindlichen Autismus und 7 wurden als nicht autistisch klassifiziert. In der Regel erreichen Patienten mit Asperger-Syndrom im ADOS die Cut-Off-Werte für die Diagnose »Autismus«. Dies zeigte sich auch in unseren eigenen Untersuchungen: 52 % der untersuchten Patienten mit Asperger-Syndrom (N = 13) erreichten im ADOS den Cut-Off-Wert
4
Diagnosen: Intelligenzminderung ohne tiefgreifende Entwicklungsstörung (4), Persönlichkeitsstörung (3), hyperkinetische Störung (2)
für Autismus (Kamp-Becker 2004), in der Untersuchung durch Lord et al. (2000) waren es 54 %. Dies ist insofern problematisch, weil insbesondere im DSM-IV folgende Präzedenzregel gilt: Werden die Kriterien für den frühkindlichen Autismus erfüllt, so ist die Diagnose »Frühkindlicher Autismus« zu stellen. D. h. bevor die Diagnose des Asperger-Syndroms gestellt werden kann, muss der frühkindliche Autismus ausgeschlossen werden. Autism Diagnostic Observation Schedule – Generic (ADOS-G)
ADOS-G 5 Anwendungsbereich: Kinder bis Erwachsene 5 Durchführungsdauer: 45–60 min 5 Diagnose: Autismus – autistisches Spektrum – kein Autismus 5 Reliabilität: Gut; Validität: Im Bereich der Differenzialdiagnosen eingeschränkt 5 Erfordert gezielte Einweisung bzw. Training
Die Autism Diagnostic Observation Schedule – Generic (ADOS-G) ist ein halbstrukturiertes Instrument zur Erfassung von Kommunikation, sozialer Interaktion und Spielverhalten
118
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Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik
oder Phantasiespiel mit Gegenständen bei Probanden, bei denen eine autistische Störung vermutet wird. Es werden gezielt soziale Situationen erzeugt, in denen eine bestimmte Verhaltensweise mit großer Wahrscheinlichkeit auftritt. Durch die Kombination von strukturierten Aktivitäten und Materialien mit weniger strukturierten Interaktionen und Interviewelementen kann so ein standardisierter Untersuchungsrahmen für die Beobachtung der sozialen, kommunikativen und sonstigen Verhaltensweisen vorgegeben werden. Das Beobachtungsinventar besteht aus 4 Modulen, jedes geeignet für Kinder und Erwachsene unterschiedlicher Entwicklungsniveaus und unterschiedlicher sprachlicher Entwicklungsstufen. Die Durchführungsdauer beträgt zwischen ca. 45 und 60 min. Für die Diagnostik des Asperger-Syndrom sind relevant: Modul 3: fließend sprechende Kinder und Jugendliche, Modul 4: fließend sprechende Jugendliche und Erwachsene. Die Durchführung beansprucht ca. 30 bis 45 min. Im Unterschied zu vielen anderen Testverfahren muss sich der Untersucher beim ADOS nicht neutral oder standardisiert verhalten, sondern die diagnostische Situation nach festgelegten Vorgaben bewusst gestalten und gezielt soziale Situationen erzeugen (z. B. ein »small-talk« Gespräch), in denen das Verhalten des Probanden beobachtet und eingeschätzt werden kann. Es stellt ein komplexes und aufwendiges Verfahren dar, das ein gezieltes Training erfordert. Beispiel für eine Kodierung aus ADOS, Modul 3: Konversation: Der Schwerpunkt dieses Items liegt auf dem wechselseitigen Austausch von Wörtern und Sätzen im Rahmen einer sozialen Konversation. Kodiert wird in Relation zum expressiven Sprachniveau. 0 = zeigt eine flüssige Konversation, die sich im Dialog mit dem Untersucher entwickelt. Für diese Kodierung ist erforderlich, dass ein Großteil der sprachlichen Äußerungen des Probanden sowohl eine Reak-
tion auf das von dem Untersucher Gesagte darstellt als auch ein Gesprächselement (nicht notwendigerweise eine Frage), das an das soeben Gesagte anknüpft, und das eine Reaktion des Untersuchers ermöglich (d. h., es müssen aus mindestens vier Elementen bestehende Sequenzen vorhanden sein: Untersucher eröffnet, Proband antwortet darauf, Untersucher reagiert und Proband reagiert wiederum auf diese Reaktion). 1 = das vom Probanden Gesagte enthält entweder einige spontane Ausgestaltungen eigener Antworten zur Verdeutlichung für den Untersucher oder Anhaltspunkte, an die der Untersucher anknüpfen kann; jedoch im Umfang geringer als gemäß dem expressiven Sprachniveau zu erwarten wäre, oder von eingeschränkter Flexibilität. 2 = der Proband unterhält wenig wechselseitige Konversation; er folgt eher den eigenen Gedanken als am Austausch teilzunehmen; einige spontane Informationsangebote oder Kommentare können vorhanden sein, jedoch weniger im Sinne eines gegenseitigen Austausches. Beispiel für einen Ergebnisbericht (ADOS 4) Stefan (15 Jahre) nahm bereitwillig und kooperativ an den verschiedenen Aktivitäten der Untersuchungen teil. Er stellte sehr selten und dann auch nur sehr flüchtigen Blickkontakt her. Die Mimik und Gestik erschien deutlich eingeschränkt. Der eigentliche Sprachklang war unauffällig, wobei er immer wieder seine Stimme verstellte und in einen »Comic-Stil« verfiel. Auffällig war auch ein der Situation unangemessenes, permanentes Lächeln oder Lachen. In seinen Bemerkungen war Stefan häufig etwas distanzlos. Auch waren gewisse stereotyp anmutende Redewendungen zu beobachten. Z. B. äußerte er immer wieder: »Sie wissen ja, wie das so ist mit dem Staat«. Er ging auf die Fragen der Untersucherin ein und beantwortete diese auch adäquat, wobei er in seiner Sprechweise eher ausschweifig war und Schwierigkeiten hatte, ein Thema zu beenden. Sogar auf eindeutige Unterbrechungen der Untersucherin reagierte er häufig damit, dass er einfach das begonnene Thema fortsetzte. An einem gegenseitigen Austausch schien er wenig Interesse zu haben, da er die Äuße-
4.5 Apparative, Labor- und Testdiagnostik
rungen der Untersucherin sehr selten und dann auch auf eine sozial eher unpassende Art und Weise kommentierte. Z. B. äußerte er auf die Bemerkung der Untersucherin, welche Geschmacksrichtung sie beim Essen bevorzuge, mit »das ist ihr Problem«. Stefan fiel es schwer, ein reales Erlebnis, z. B. einen Ausflug in eine Tropfsteinhöhle, in nachvollziehbarer Weise zu erzählen. Seine Erzählung beschränkte sich auf einige Fakten, wie z. B. »Wir haben Taschenlampen mitgenommen.« Für das Verständnis des weiteren Herganges waren viele Fragen seitens der Untersucherin notwendig. Auffälligkeiten waren auch im sozio-emotionalen Bereich zu beobachten. Stefan berichtete über viele soziale Schwierigkeiten, z. B. von mehreren Schulen geflogen zu sein und von Mitschülern gehänselt worden zu sein. Seine eigene Rolle in der Entstehung dieser Probleme nimmt er jedoch nicht wahr.: »Ich bin von der Schule geflogen, Sie wissen ja, wie der Staat so ist. Und wir müssen immer die Steuern zahlen.« In Bezug auf andere war eine deutlich aggressive Einstellung zu beobachten. Zum Konzept und der Natur sozialer Beziehungen konnte Stefan auf theoretischer Basis einige Angaben machen, die jedoch eher etwas mechanisch und eingeschränkt wirkten. Z. B. äußerte er, das Schöne am Heiraten sei, dass man füreinander da sei. Das Schwierige sei jedoch, dass die Frau und die Kinder dann immer Geld einfordern würden. Situationen, in denen er Emotionen wie Freude, Angst, Trauer und Wut empfindet, kann er zwar benennen, z. T. sind diese Situationen auch sozialer Natur (»Trauer habe ich empfunden, als meine Großmutter gestorben ist. Wut habe ich, wenn ich geärgert werde«). Beschreiben kann er diese Gefühlsqualitäten aber nicht näher. Einfühlungsvermögen in die Gefühle anderer zeigt er nur in extrem eingeschränkter Weise. Stefan ist sehr auf Details fixiert. Dies zeigte sich im Betrachten eines Bilderbuches und eines Bildes, wo er eine sehr detaillierte Beschreibung der Einzelheiten vornahm und somit auch zunächst den sozialen Kontext und den Zusammenhang nicht wahrnehmen konnte. Insgesamt zeigt Stefan im Kommunikationsverhalten sowie in der sozialen Interaktion Auffälligkeiten, die für die Diagnose einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung sprechen.
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Das ADOS ist ein gutes Verfahren, um eine autistische Problematik zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu erfassen. Allerdings werden in dem Algorithmus des ADOS nicht stereotypes, repetitives Verhalten berücksichtigt und eine Differenzierung innerhalb des Spektrums autistischer Störungen ist nicht möglich. ! Die Ergebnisse des ADOS reichen für die Diagnosestellung daher niemals aus, es fehlen anamnestische Daten und es ist nicht möglich, das gesamte Verhaltensspektrum zu beobachten, welches diagnoserelevant ist. Es besteht ein hohes Risiko für Fehlklassifikationen, wenn alleine anhand des ADOS diagnostiziert wird. Das ADOS ist explizit als Kombinationsdiagnostikum konzipiert und muss durch anamnestische Daten ergänzt werden.
Die Verhaltensweisen werden auf einer drei- bis vierstufigen Skala eingeschätzt. Lediglich eine Auswahl der kodierten Verhaltensweisen wird dann in einen diagnostischen Algorithmus verrechnet. Cut-Off-Werte liegen für die Einschätzungen »Autismus«, »autistisches Spektrum« oder »unauffällig« vor. In einer von uns durchgeführten Untersuchung zeigte sich, dass sich die Patienten mit Asperger-Syndrom insbesondere auch bei der Einschätzung des Items »Einfühlungsvermögen, Bemerkungen über die Gefühle anderer« (dieses Item geht nicht in den Algorithmus ein!) und bei der Einschätzung des Items »Allgemeine Beurteilung der Qualität des Rapports« durch deutlichere Auffälligkeiten von den Patienten abgrenzen ließen, bei denen keine autistische Störung vorlag (Kamp-Becker 2004). Eine Unterscheidung zwischen High-functioning-Autismus und Asperger-Syndrom anhand des ADOS ist nicht möglich. So hat eine Untersuchung von Gilchrist et al. (2001) gezeigt, dass sich diese beiden Vergleichsgruppen beim ADOS nicht unterscheiden. Die Asperger-Syndrom-Gruppe zeigte lediglich in der Kategorie »andere auffällige Verhaltensweisen (Hyperaktivität, Wutausbrüche, Aggressionen oder stö-
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Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik
rendes Verhalten, Ängstlichkeit)« mehr Auffälligkeiten als die High-functioning-AutismusGruppe.
Von den 111 Items gehen 42 in den diagnostischen Algorithmus ein. Die Durchführungsdauer beträgt ca. 1,5–2 h.
Autism Diagnostic Interview – Revised
Beispiel für die Kodierung im ADI-R: Phantasievolles Spiel Spielt(e) er/sie (als Kind) irgendwelche Phantasiespiele? Spielt(e) er/sie zum Beispiel mit Spielzeuggeschirr oder Puppen oder anderen Figuren oder Autos?..... 0 = vielgestaltiges Phantasiespiel, wobei Puppen/ Tiere/Spielzeug auch als selbständig handelnde Akteure benutzt werden. 1 = zeigt gewisse Phantasiespiele, die auch beinhalten, dass Puppen oder Autos usw. bestimmte Handlungen ausführen, dies ist aber eingeschränkt in Bezug auf Abwechslungsreichtum und/oder Häufigkeit. 2 = gelegentliche, spontane Spiel-Handlungen und/ oder hochgradig repetitives Phantasiespiel (das aber häufig vorkommen kann) und/oder spielt nur ein Spiel, das ihm andere beigebracht haben. 3 = Phantasiespiel kommt nicht vor
ADI-R 5 Anwendungsbereich: Kinder bis Jugendliche/junge Erwachsene 5 Wird durchgeführt mit den Eltern bzw. einer engen Bezugsperson, die Auskunft über die frühkindliche Entwicklung machen kann 5 Durchführungsdauer: 90–120 min 5 Diagnose: Autismus – kein Autismus 5 Reliabilität: Gut; Validität: Gut, aber Sensitivität bei guten kognitiven Fähigkeiten etwas eingeschränkt
Zur Diagnostik des Asperger-Syndrom und insbesondere auch zum Ausschluss eines frühkindlichen Autismus ist daher das Interview ADI-R als Kombinationsdiagnostikum sinnvoll. Die frühkindliche Entwicklung muss zur Diagnosestellung auch bei Erwachsenen, bei denen ein Asperger-Syndrom abgeklärt werden soll, unbedingt beachtet werden. Das ADI-R ist ein hoch spezifisches Interview mit einer engen Bezugsperson des Betroffenen, das der Beschreibung derjenigen Verhaltensweisen dient, die für die Differenzialdiagnose einer »Tiefgreifenden Entwicklungsstörung« und speziell für die Diagnose des »Frühkindlicher Autismus« erforderlich sind. Es bezieht sich auf charakteristische Merkmale einer Entwicklungsverzögerung oder -abweichung in den zentralen Bereichen: 5 Wechselseitige soziale Interaktion, 5 Kommunikation und Sprache, 5 eingeschränkte, stereotype, repetitive Handlungsweisen und Interessen.
4.5 Apparative, Labor- und Testdiagnostik
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Exkurs Wie sieht nun aber ein »typisches« AspergerErgebnis-Profil beim ADI aus? Hierzu gibt es bisher nur wenige Ergebnisse, einige sollen hier erwähnt werden.
Fragestellung. In einer Untersuchung von
Gilchrist et al. (2001) wurde der Fragestellung nachgegangen, ob sich die Symptomatik des Asperger-Syndroms von der des High-functioning-Autismus unterscheidet. Methodik. Die Ergebnisse aus dem ADI
und ADOS von Menschen mit AspergerSyndrom – diagnostiziert nach ICD-10-Kriterien – wurden mit denen von Menschen mit High-functioning-Autismus und mit einer Störung des Sozialverhaltens verglichen. Ergebnisse. Die Gruppe der Personen mit
einer Störung des Sozialverhaltens konnte anhand dieser Messmethoden klar von den anderen beiden Vergleichsgruppen unterschieden werden. 80 % der Gruppe mit Asperger-Syndrom erreichte die Kriterien für den frühkindlichen Autismus entsprechend dem Algorithmus des ADI. Zwischen den Vergleichsgruppen High-functioningAutismus und Asperger-Syndrom zeigten sich folgende Unterschiede: 5 Wechselseitige soziale Interaktion: Die Gruppe der Probanden mit Asperger-Syndrom waren weniger auffällig in den Bereichen: »imitierendes soziales Spiel«; »Entgegenstrecken der Arme, um hochgenommen zu werden«; »sich trösten lassen«; »reduzierte gemeinsame Aufmerksamkeit«; »Begrüßung«. Bei allen anderen Skalen im Bereich der sozialen Interaktion ergaben sich keine signifikanten Unterschiede. Die Asperger-Syndrom-Gruppe ist aber nicht weniger auffällig beim Item »phantasievolles Spiel«.
5 Im Bereich Kommunikation und Sprache: Die Asperger-Syndrom-Gruppe zeigte signifikant weniger Auffälligkeiten als die Gruppe »High-functioning-Autismus« im »kommunikativen Gebrauch der Sprache im Alter von 5 Jahren«; »Sorgen um das Hörvermögen«; »unmittelbare Echolalie«; »pronominale Umkehr«. Im Gegensatz dazu trennten die Bereiche: »verbale Rituale«, »stereotype Äußerungen und unangepasste Fragen« – nicht die beiden Vergleichsgruppen. »Konventionelle Gesten« waren in der Asperger-Syndrom Gruppe signifikant weniger auffällig. Stereotypes Verhalten Die Asperger-Syndrom-Gruppe zeigte signifikant weniger »repetitive Gebrauch von Objekten oder Interesse an Teilen von Objekten«, »ungewöhnliche sensorische Interessen«, »abnorme ideosynkratische Reaktionen auf spezifische sensorische Reize«, »Jaktationen« oder »Zwänge/Rituale«. Die anderen Skalen waren gleich auffällig. Schlussfolgerung. Die Patienten mit Asperger-Syndrom zeigten in der frühkindlichen Entwicklung eine mildere Symptomatik als die Patienten mit High-functioning-Autismus und hatten weniger Sprachauffälligkeiten. Für den gegenwärtigen Zeitpunkt – Adoleszenz und frühes Erwachsenenalter – bestand dieser Unterschied nicht mehr. Einschränkungen in Bezug auf diese Aussage ergeben sich dadurch, dass diese Ergebnisse aufgrund von retrospektiven Aussagen der Eltern erhoben wurden und nicht aufgrund von Längsschnittuntersuchungen verschiedener Altersgruppen.
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Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik
Kritische Einschätzung des klinischen Nutzens von ADOS und ADI für die Diagnostik des Asperger-Syndroms Beide Verfahren ADI-R und ADOS wurden nicht explizit konzipiert und validiert, um das Asperger-Syndrom zu erfassen, sondern sind in erster Linie für die Diagnostik des frühkindlichen Autismus gedacht (Howlin 2000). Im Forschungskontext hat sich die Kombination beider Verfahren (ADI-R und ADOS-G) als »goldener Standard der strukturierten Diagnosestellung« (Bölte u. Poustka 2001, S. 223) durchgesetzt. Dem können wir uns in dieser Weise nicht anschließen. Beide Instrumente verfügen über einen Algorithmus, der streng die diagnostischen Richtlinien von ICD-10 und DSM-IV für den Autismus operationalisiert. Die im Folgenden dargestellten Probleme in der Anwendung dieser Verfahren in der Diagnostik des Asperger-Syndrom beruhen u. a. auch darauf, dass diese diagnostischen Kriterien ungenau und zu wenig spezifisch für das Asperger-Syndrom sind (Howlin 2000; Klin et al. 2005). Daher ist von diagnostischen Instrumenten, die auf diesen Kriterien aufbauen, nicht zu erwarten, dass diesbezügliche Probleme gelöst werden können (Volkmar 2005). Untersuchungen zur Reliabilität und Validität der englischen Originalversion (ADI-R) weisen eine hohe Interraterreliabilität und diagnostische Validität aus (LeCouteur et al. 1989; Lord et al. 1994, 1997; Poustka et al. 1996; Bölte u. Poustka 2001). Die Reliabilität der deutschen Fassung erwies sich ebenfalls als hoch (Poustka et al. 1996). Allerdings liegt die Spezifität insbesondere des deutschsprachigen ADOS im Zufallsbereich (48,1 % für die deutschsprachige Version, Bölte u. Poustka 2004). Für die englischsprachige Version ergeben sich etwas bessere Werte (68– 79 %). Verschiedene Autismus-Spektrum-Störungen lassen sich anhand des ADOS nicht voneinander unterscheiden und auch bei differentialdiagnostischen Fragestellungen im Zusammenhang mit dem Asperger-Syndrom (s. o.) ist eine sichere diagnostische Zuordnung aufgrund der ermittelten Werte des ADOS schwierig. »Das
ADOS stellt hohe Anforderungen an den Untersucher, erfordert supervidierte Einweisung und ausreichend klinische Erfahrung mit dem Spektrum autistischer Störungen, um einen erfolgreichen und pragmatischen Einsatz zu gewährleisten« (Bölte u. Poustka 2004, S. 49). Die Kosten-Nutzen-Abwägung im klinischen Alltag ist daher nicht nur positiv für dieses Verfahren einzuschätzen (Filipek et al. 1999). Allerdings zeigt eine Untersuchung von Noterdaeme et al. (1999), dass die – häufig doch auch schwierige differentialdiagnostische Abgrenzung zwischen Kindern mit einem frühkindlichen Autismus und Kindern mit einer umschriebenen rezeptiven Sprachentwicklungsstörung anhand des ADOS möglich ist. Jedoch ergänzten die Autoren die Kodierungen des ADOS um ein für diese Fragestellung relevantes Item und der Algorithmus für die Bewertung wurde abgewandelt. Für das ADI ist eine geringere Sensitivität für autistische Probanden mit guten kognitiven Fähigkeiten festgestellt worden (Yirmiya et al. 1994; Lord et al. 1997). Die Spezifität des ADOS ist gering (s. o.). In allen Untersuchungen zeigte sich, dass die Mehrzahl der Menschen mit Asperger-Syndrom die Cut-Off-Werte für den frühkindlichen Autismus erreicht. Die Unterscheidung zwischen »Autismus« und »autistisches Spektrum« erscheint demnach nicht eindeutig und eher irreführend. Es ist dringend notwendig, sowohl für den ADI als auch für das ADOS spezifische Module zu entwickeln, die auf die charakteristische Symptomatik des Asperger-Syndroms abzielen (Klin et al. 2005). Die diagnostischen Kriterien (ICD-10 und DSM-IV) müssen spezifiziert werden und ein für das Asperger-Syndrom spezifischer Algorithmus für die diagnostischen Instrumente entwickelt werden. Dass dies möglich ist, zeigen neuere Untersuchungen (Klin et al. 2005). Klin et al. (2005) schlagen folgende Spezifizierungen vor: 5 Beginn der Störung (»onset criteria«): Unterscheiden sollte man Kinder, die Kontakt vermeiden (typischer für den frühkind-
4.5 Apparative, Labor- und Testdiagnostik
lichen Autismus) und Kindern, die zwar Kontakt suchen (manchmal sogar ständig), aber in einer sozial unangemessenen Art und Weise (typischer für das Asperger-Syndrom). 5 Sprache: Unterscheiden sollte man Kinder mit einer Sprachentwicklungsverzögerung, deren Sprache zu Beginn echolalisch ist und stereotyp (typischer für den frühkindlichen Autismus) und Kinder, deren Sprachentwicklung altersentsprechend oder sogar frühzeitig erfolgt, die aber deutliche Auffälligkeiten im kommunikativen Gebrauch der Sprache zeigen (z. B. Pragmatik der Sprache) (typischer für das Asperger-Syndrom). 5 Monologisieren (»one-sided verbosity«) als ein notwendiges Kriterium der Kommunikation beim Asperger-Syndrom. 5 Eng umschriebene Sonderinteressen, die sich störend auf die generelle Lernfähigkeit und die wechselseitige soziale Kommunikation auswirken (typischer für das AspergerSyndrom). Weitere Forschung und die Entwicklung spezifischerer diagnostischer Verfahren ist notwendig (Howlin 2000; Volkmar u. Klin 2000; Bishop 2000; Klin et al. 2005). Jenseits der Diskussion um die eigenständige Validität des Asperger-Syndroms (7 Kap. 2) erscheint es uns notwendig und sinnvoll, differenzierte diagnostische Verfahren zu entwickeln, die auch für Menschen mit Asperger-Syndrom genügend spezifisch und sensitiv sind. Das Spektrum autistischer Störungen umfasst eine vielfältige Symptomatik, eine große Bandbreite an Verhaltensauffälligkeiten und -fähigkeiten. Das Spektrum reicht von nicht-sprechend bis verbal kompetent, von geistig behindert bis hochbegabt. Unsere diagnostischen Verfahren sollten dieser Vielfältigkeit gerecht werden und sie differenziert erfassen können. Daher bleibt es auch weiterhin ein schwieriges und mit viel Fingerspitzengefühl verbundenes Unterfangen, das Asperger-Syndrom zu
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diagnostizieren, was meist nur anhand weitreichender klinischer Erfahrung möglich ist. Es fehlen bisher reliable und valide standardisierte diagnostische Verfahren, die speziell zur Erfassung der Symptomatik des Asperger-Syndroms konzipiert worden sind. Weitere Verfahren Ein weiteres standardisiertes diagnostisches Eltern-Interview – welches leider nicht in deutscher Sprache vorliegt – ist das »Diagnostic Interview for Social and Communication Disorders (DISCO)« (Wing et al. 2002; Leekam et al.
2002), welches explizit das gesamte autistische Spektrum zu erfassen sucht, allerdings wird von den Autoren dieses Spektrum weiter gefasst, als dies in der ICD-10 festgelegt wird. Es erfragt ein großes Repertoire von Verhaltensweisen und entwicklungsabhängigen Fähigkeiten und ist für jede Altersgruppe und jedes Entwicklungsniveau gedacht. Das Verfahren orientiert sich nicht an den diagnostischen Kategorien von ICD-10 und DSM-IV. Ziel ist es, Informationen zu erfassen, die relevant für das gesamte Spektrum der autistischen Störungen sind und die ein Urteil über den individuellen Entwicklungsstand – unter Einschluss von dessen Auffälligkeiten und spezifischen Bedürfnissen – in verschiedenen Bereichen erlauben. Erfragt wird die medizinische Vorgeschichte und die Entwicklungsgeschichte in folgenden Bereichen: 5 Entwicklung: allgemeine Entwicklungsaspekte, motorische Entwicklung, Selbständigkeit (Ernährung, Ankleiden, persönliche Hygiene, Haushaltstätigkeiten, Unabhängigkeit); 5 Kommunikation: rezeptive und expressive Sprache, nonverbale Kommunikation; 5 Soziale Interaktion: mit Erwachsenen, mit Gleichaltrigen, Spielverhalten; 5 Imitation; 5 Imagination; 5 vorhandene Fähigkeiten und Begabungen (z. B. visuell-räumliche Wahrnehmung); 5 Andere: Reaktion auf sensorische Reize, motorische und vokale Stereotypien, repe-
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Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik
titive Verhaltensweisen und Widerstand gegen Veränderungen, Emotionen, Beschäftigungen (z. B. auch Hyperaktivität und Aufmerksamkeit), fehlangepasste Verhaltensweisen, Schlafverhalten, katatone Merkmale; 5 Qualität der sozialen Interaktion. Während das ADI sich als explizites Diagnoseinstrument versteht, handelt es sich bei dem DISCO um ein Instrument zur Entwicklungsdiagnostik: Die gesamte Entwicklung, von der Geburt an, soll erfasst werden und der gegenwärtige Entwicklungsstand beschrieben werden können. Daher umfasst das DISCO ein weites Spektrum an Verhaltensweisen, die unter dem Entwicklungsaspekt erfasst werden. Ferner existieren noch das »Asperger-Syndrome and High-functioning Autism Diagnostic Interview (ASDI)« (Gillberg et al. 2001; Gillberg 2002), welchem aber nicht die ICD-10 oder DSM-IV zugrunde liegen, sondern von den Autoren selbst festgelegte Kriterien (7 Kap. 2.1), die sehr weit gefasst sind (Leekam et al. 2000). Dieses Interview ist explizit für den klinischen Gebrauch gedacht und dient als Hilfsmittel für eine erste diagnostische Orientierung (Gillberg et al. 2001, S. 63) Es fragt folgende Bereiche ab: 5 Schwerwiegende Einschränkungen in der wechselseitigen sozialen Interaktion (4 Fragen, wenn 2 oder mehr mit Ja beantwortet werden, ist das Kriterium erfüllt); 5 Umfassende, eng umgrenzte Interessen (3 Fragen, wenn 1 oder mehr mit Ja beantwortet werden, ist das Kriterium erfüllt); 5 Auferlegung von Routinen, Ritualen und Interessen (2 Fragen, wenn 1 oder beide mit Ja beantwortet werden, ist das Kriterium erfüllt); 5 Sprache und Sprachauffälligkeiten (5 Fragen, wenn 3 oder mehr mit Ja beantwortet werden, ist das Kriterium erfüllt), 5 Auffälligkeiten in der nonverbalen Kommunikation (5 Fragen, wenn 1 oder mehr mit Ja beantwortet werden, ist das Kriterium erfüllt);
5 Motorische Ungeschicklichkeit (1 Frage, wenn mit Ja beantwortet, ist das Kriterium erfüllt). Insgesamt müssen 5 der 6 Kriterien erfüllt sein, damit die Diagnose eines Asperger-Syndroms bzw. High-functioning-Autismus erfüllt ist. Eine Übersichtsarbeit zu den diagnostischen Verfahren zur Erfassung autistischer Störungen findet sich bei Bölte und Poustka (2005). Intelligenzuntersuchung Unerlässlich ist die Untersuchung der Intelligenz anhand gängiger standardisierter Verfahren. Eine exakte Einschätzung der intellektuellen Fähigkeiten ist für die Prognose und die Interventionsplanung von großem Nutzen. Die Intelligenz sollte mindestens im Durchschnittsbereich liegen. In vielen Untersuchungen (Lincoln et al. 1995; Lincoln et al. 1998) hat sich gezeigt, dass im HAWIK-Profil Kinder/ Jugendliche mit Asperger-Syndrom häufig im Verbal-Teil des Tests deutlich besser abschneiden als im Handlungsteil. Dieser Unterschied kann im Einzelfall bis zu 60 IQ-Punkte betragen! In der nachfolgenden Abbildung sind die Ergebnisse von 32 Patienten mit Asperger-Syndrom und von 34 Patienten mit High-functioning-Autismus dargestellt. Wie aus . Abb. 4.5 zu ersehen ist, erreichen die Patienten mit Asperger-Syndrom, außer im Untertest »Zahlennachsprechen«, durchweg höhere Werte als Patienten mit High-functioning-Autismus. Ihre Leistungsstärken liegen im verbalen Bereich, insbesondere im sprachlichen Verständnis. Die Untertests »Allgemeines Wissen« und »Gemeinsamkeitenfinden« sind Leistungsstärken, wohingegen relative Defizite in den Untertests »Bilderordnen« und »Zahlen-Symbol-Test« zu finden sind. Insgesamt fällt der Handlungs-IQ deutlich niedriger aus als der Verbal-IQ. Der Untertest »Zahlennachsprechen« ist bei den Patienten mit High-functioning-Autismus eine relative Leistungsstärke, was beim Asperger-Syndrom offenbar nicht der Fall ist. Die Differenzen zwischen den beiden Ver-
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4.5 Apparative, Labor- und Testdiagnostik
gleichsgruppen sind bis auf den Untertest »Zahlennachsprechen« alle signifikant (p< .01). Adaptive Fähigkeiten/Funktionsniveau Definition Mit adaptiven Fähigkeiten ist die Fähigkeit eines Menschen gemeint, sich in psychosozialer, emotionaler, schulischer, beruflicher oder anderer Weise an seine Umwelt anzupassen. Es geht also darum, wie gut bzw. schlecht es einer Person gelingt, eine altersentsprechende, selbständige Lebensführung und soziale Integration zu leisten.
Um die – meist deutlich reduzierte – Fähigkeit, im alltäglichen Leben zurecht zu kommen, deutlich zu machen, sollte das Entwicklungsniveau für die adaptiven Fähigkeiten des Kindes/Jugendlichen bestimmt werden. Da diese Personen über gute, manchmal sogar sehr gute kognitive Fähigkeiten verfügen, ist es für Außenstehende meist nicht einleuchtend, dass sie im Alltag dennoch mit vielfältigen Problemen zu kämpfen haben
und die Selbstständigkeit deutlich hinter ihre theoretischen Fähigkeiten zurückfällt. Zwar verfügen Menschen mit einem Asperger-Syndrom über gute sprachliche Fähigkeiten (abgesehen von der Prosodie and pragmatischen Fähigkeiten), nichtsdestoweniger zeigen sie aber erhebliche soziale Beeinträchtigungen. Diese liegt oft mehr als 2 Standardabweichungen unter ihren kognitiven Fähigkeiten (Klin et al. 2002). Um den Bedarf an Therapie und Unterstützung in der Schule oder auch zu Hause deutlich zu machen, erscheint es notwendig, die adaptiven Fähigkeiten des Betroffenen einzuschätzen und zu dokumentieren. Dies kann beispielsweise anhand der deutschen Fassung der »child behaviour checklist« (CBCL, Döpfner et al. 1994), anhand der Achse VI der ICD-10 oder mit den Vineland Adaptive Behavior Scales (leider z. Z. nur in englischer Sprache) (Sparrow et al. 1984) erfolgen. Beispielhaft sind in . Tab. 4.8 die abgefragten Bereiche der Vineland Adaptive Behavior Scales aufgeführt.
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WERTPUNK TE
14 12 10 8 6 4 2 0 AW
GF
RD
WT
Verbal-IQ
AV
ZN
BE
ZS
BO
MT
FL
Handlungs-IQ
. Abb. 4.5. Durchschnittliche Werte der Subtests des Hamburg-Wechsler-Intelligenztest von 32 Patienten mit Asperger-Syndrom und von 34 Patienten mit High-functioning-Autismus (Altersbereich: 6–24 Jahre) Abkürzungen: 8= Asperger-Syndrom; ■ = High-functioning-Autismus; AW = Allgemeines Wissen; GF = Gemeinsamkeiten finden; RD = Rechnerisches Denken; WT = Wortschatz-Test; AV = Allgemeines Verständnis; ZN= Zahlen nachsprechen; BE = Bild ergänzen; ZS = Zahlen-Symbol-Test; BO = Bilder ordnen; MT = Mosaik-Test; FL= Figuren legen
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Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik
1
. Tab. 4.8. Abgefragte Bereiche der Vineland Adaptive Behavior Scales (Sparrow et al. 1984)
2
Kommunikation
3 Lebenspraktische Fähigkeiten
4 5 6
Sozialisation
7 8
Rezeptive
Was das Kind versteht.
Expressive
Was das Kind sagt.
Lesen/Schreiben
Was das Kind liest und schreibt.
Persönliches
Wie das Kind isst, sich ankleidet und praktische persönliche Hygiene.
Haushalt/Wohnung
Welche Haushaltstätigkeiten das Kind ausübt.
Gemeinschaftliches Leben
Wie das Kind mit Zeit, Geld, Telefon, Straßenverkehr usw. umgeht.
Zwischenmenschliche Beziehungen
Wie das Kind mit anderen zurechtkommt.
Spielen und Freizeit
Wie das Kind spielt und seine Freizeit nutzt.
Coping-Fähigkeiten
Wie das Kind Verantwortlichkeit und Sensibilität gegenüber anderen zeigt.
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Körperlich-neurologische Untersuchung Notwendig ist eine standardisierte neurologische Untersuchung (Prüfung von Reflexen, Fein- und Grobmotorik, grobe Einschätzung des Visus und der Hörfähigkeit, Lateralität, Sensibilität usw.). Sinnvoll ist sicher auch die zumindest einmalige Durchführung eines Elektroenzephalogramms (EEG). Weitere bildgebende Verfahren des Gehirns sind zur Diagnostik des Asperger-Syndroms nur bei speziellen Fragestellungen indiziert.
4.6
Weitergehende Diagnostik
Neuropsychologische Untersuchung Eine ausführliche neuropsychologische Untersuchung ist im Rahmen einer Routinediagnostik nicht zwingend notwendig, aber dennoch sehr hilfreich. Zwar sind die meisten gängigen neuropsychologischen Tests nicht spezifisch und sensitiv für das Asperger-Syndrom bzw. für Autismus-Spektrum-Störungen im Allgemeinen, dennoch sind sie aber in der Lage, spezifische kogni-
tive Probleme zu identifizieren, die für den Alltag der Betroffenen und auch die Planung von Interventionen von Relevanz sind. Folgende Bereiche sollten dabei betrachtet werden: 5 Sensomotorische Fähigkeit (z. B. Finger Tap-
ping, normiert ab 5 Jahre, candit.com5), 5 motorische Geschicklichkeit, [z. B. neurologische Untersuchung; Körper-Koordinations-Test für Kinder, normiert für 5–14 Jahre (Kiphard et al. 1974), Paper Clips normiert ab 5 Jahre, candit.com], 5 visuell-motorische Koordination, [z. B. Frostig-Entwicklungstest der visuellen Wahrnehmung, normiert für 4–9 Jahre (Frostig 2000); Göttinger Formreproduktions-Test,
5
Bei candit.com (computer assisted neuropsychological diagnostic and therapy) gmbh, handelt es sich um eine Firma, die neuropsychologische Software für Diagnostik und Therapie entwickelt und vertreibt, welche in Zusammenarbeit mit dem Neuropsychologischen Institut NPI Zürich entwickelt wurde. Weitere Informationen finden sich unter www.candit.com.
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4.6 Weitergehende Diagnostik
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5
5
5
5
5
normiert für 6–15 Jahre, Schlange et al. 1977], zentrale Kohärenz [z. B. Embedded Figure Test (Witkin et al. 1971); oder nicht normiert: Suchbilder: Bilder, in denen Details »versteckt sind«], räumliche Wahrnehmung (z. B. Mosaik-Test der Wechsler Intelligenzskalen, normiert ab 6 Jahre; Mental Rotation Test, normiert ab 5 Jahre, candit.com), Gesichtserkennung (auch zum Ausschluss einer Prosopagnosie) [z. B. Facial Recognition, keine Normen für Kinder (Benton et al. 1978); Incidental Memory Faces, candit. com], Theory of Mind [z. B. False-Belief-Tests, keine Normierung ; Social Attribution Task, keine Normierung (Klin 2000); Facial Emotion Matching, normiert ab 5 Jahre, bietet auch die Möglichkeit Detailfehler normiert festzustellen, candit.com; Frankfurter Test und Training des Erkennens von fazialem Affekt (Bölte et al. 2002)], Exekutive Funktionen [z. B. Computergestütztes Kartensortierverfahren, normiert für Erwachsene (Drühe-Wienholt u. Wienholt 1998); Cart-Sorting Test, normiert ab 5 Jahre, candit.com; Category Test, normiert ab 5 Jahre, candit.com; Cognitive Bias Test, normiert ab 6 Jahre, candit.com; Turm von London normiert von 5–15 Jahren und ab 18 Jahre, Tucha u. Lange 2004; FarbeWort-Interferenztest, normiert ab 10 Jahre (Bäumler 1985); Behavioral Assessment of the Dysexecutive Syndrome for Children (BADS-C), alltagsnahe Erfassung von Störungen der exekutiven Funktionen, normiert von 8–15 Jahre und Erwachsene (Emslie et al. 2003; Wilson et al. 2000)], sowie die Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit [z. B. Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung (TAP), normiert ab 6 Jahre (Zimmermann u. Fimm 2001); Testreihe zur Prüfung der Konzentrationsfähigkeit (TPK)
4
(Kurth u. Büttner 1999); diverse Aufmerksamkeitstest bei candit.com)]. In . Tab. 4.9 sind die wichtigsten neuropsychologischen Befunde und die verwendeten diagnostischen Verfahren beim Asperger-Syndrom aufgelistet. Ziel der neuropsychologischen Diagnostik sollte es sein, ein differenziertes Profil der Stärken und Schwächen des jeweiligen Patienten zu erhalten, um das Entwicklungsniveau des Patienten genau bestimmen zu können. Besondere Bedeutung hat dabei die Diagnostik des Entwicklungsniveaus der Theory of Mind (7 Kap. 3.7). Eine darauf aufbauende Behandlung kann dann gezielt an den so festgestellten Defiziten arbeiten und die weitere Entwicklung fördern. Für die Behandlungsmöglichkeiten ist relevant, ob beispielsweise die zentrale Kohärenz so gering ist, dass eine soziale Wahrnehmung (die ja erheblich von der gestalthaften, ganzheitlichen Wahrnehmung der gesamten Situation abhängt) fast unmöglich ist oder nicht. In diesem Falle müsste zunächst an einfachem Material die Wahrnehmungsfähigkeit trainiert werden, um darauf aufbauend die Wahrnehmung komplexerer Situationen zu üben.
4.7
Entbehrliche Diagnostik
Weiterführende Blutanalysen und Stoffwechseluntersuchungen sind nicht notwendig und empfehlenswert. Eine psychodynamische Untersuchung, die zum Ziel hat, ursächliche Erziehungseinflüsse, Bindungen, Traumata zu ermitteln und in diesem Sinne schnell zu Schuldzuweisungen führt, schadet nur allen Beteiligten und ist in keiner Weise förderlich.
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Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik
1
. Tab. 4.9. Neuropsychologische Befunde und die verwendeten diagnostischen Verfahren beim AspergerSyndrom
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Autor(en)
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Intelligenz
4
Untersuchungsgegenstand
Untersuchungsmethode
Ergebnisse
Szatmari et al. 1990; Ozonoff et al. 1991
Vergleich des Intelligenzprofils bei Patienten mit AS, HFA und Normalstichprobe
WISC-R
Keine Unterschiede, aber Trend dahingehend, dass die räumliche Wahrnehmung (»block-design« Untertest) bei HFA relative Stärke und bei AS relative Schwäche
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Klin et al. 1995; Lincoln et al. 1998
HFA und AS
WISC-R; Metaanalyse
AS: VIQ > HIQ HFA: VIQ< HIQ
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Manjiviona u. Prior 1999
Vergleich des Intelligenzprofils bei Patienten mit AS, HFA. Verschiedene Diagnosekriterien werden differenziert
WISC-R bzw. WAIS-R
Unterschiede fanden sich in Abhängigkeit von der Diagnose: die klinisch diagnostizierten Patienten mit AS wiesen einen höheren Gesamt-IQ auf, insbesondere verfügten sie über größere verbale Fähigkeiten
Miller u. Ozonoff 2000
Vergleich des Intelligenzprofils bei Patienten mit AS, HFA
WISC-R bzw. WAIS-R
Die AS Gruppe zeigte lediglich einen höheren VIQ und Gesamt-IQ, eine größere Diskrepanz zwischen VIQ und HIQ und signifikant bessere Leistungen in der visuellen Wahrnehmung
Nyden et al. 2001
Untersucht wurde die Stabilität von neuropsychologischen Merkmalen beim AS, ADHS und Teilleistungsstörungen
WISC-III und KaufmanABC-Messungen wurden nach 1–2 Jahren wiederholt
Intelligenzmaße zeigten sich stabil, lediglich in der Gruppe der Patienten mit AS verschlechterte sich die Fähigkeit zum logischen Denken etwas
Vergleich der »shiftingattention« bei HFA und AS
Experimentelle Erfassung (global, lokal) der »shifting-attention«
Lediglich bei den Patienten mit HFA fand sich ein Defizit im Wechsel des Aufmerksamkeitsfokus von lokal nach global
5 6
9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Aufmerksamkeit Rinehart et al. 2001
129
4.6 Weitergehende Diagnostik
4
. Tab. 4.9. (Fortsetzung) Autor(en)
Untersuchungsgegenstand
Untersuchungsmethode
Ergebnisse
Ozonoff et al. 1991
Vergleich von neuropsychologischen Profilen: AS und HFA
Verbales Lernen und Gedächtnis innerhalb einer neuropsychologischen Testbatterie
Unterschiede lediglich im Bereich verbales Gedächtnis: HFA zeigen hier Defizite
Klin et al. 1995
Vergleich von neuropsychologischen Profilen: AS und HFA
Visuelles und verbales Gedächtnis durch klinische Beobachtung erhoben
AS: Defizite im Bereich des visuellen Gedächtnisses. HFA: Defizite im Bereich des verbalen Gedächtnisses
Gillberg 1989; Klin et al. 1995
Vergleich AS und HFA
Durch klinische Beobachtung erfasst
Mehr motorische Defizite in der Gruppe der AS
Ghaziuddin et al. 1994
Vergleich AS und HFA
Bruininks-Oseretsky Test
Weder motorische Einschränkungen noch Ungeschicklichkeit differenziert die Vergleichsgruppen
Manjiviona u. Prior 1995
Vergleich von AS und HFA
»Test of Motor Impairment-Henderson Revision«
Keine Unterschiede.
Ghaziuddin u. Butler 1998
Vergleich von AS, HFA und PDDNOS
Bruininks-Oseretsky Test
Wurden die Vergleichsgruppen in Bezug auf den IQ angeglichen, fanden sich keine Unterschiede
Weimer et al. 2001
Vergleich von AS mit Kontrollgruppe ohne neurologische Störungen
Breite motorische Testbatterie
Es finden sich Hinweise auf eine Störung der propriozeptiven Wahrnehmung bei Patienten mit AS
Rinehart et al. 2001
Vergleich von AS und HFA: Vorbereitung und Durchführung von motorischen Aufgaben
»motor reprogramming task«
Es fand sich bei den AS ein Defizit bei der »motor preparation«, während bei den HFA die Vorbereitung der Bewegung durch einen Mangel an Antizipation gekennzeichnet war
Gedächtnis
Motorik
130
Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik
1
. Tab. 4.9. (Fortsetzung)
2
Autor(en)
3
Exekutive Funktionen
4
Untersuchungsgegenstand
Untersuchungsmethode
Ergebnisse
Szatmari et al. 1990; Ozonoff et al. 1991; Berthier 1995
Vergleich von AS, HFA und Normalstichprobe
»Wisconsin Card Sorting Test«, »Tower of Hanoi«, »Road Map Test«
Zwar fanden sich signifikant schlechtere Leistungen im Vergleich mit einer Normalstichprobe, HFA und AS unterschieden sich aber nicht
Manjiviona u. Prior 1999
Vergleich der neuropsychologischen Profile bei Patienten mit AS, HFA. Verschiedene Diagnosekriterien werden differenziert
»Tower of London«, »Controlled Oral WordAssociation Test«, »ReyOsterrieth Complex Figure Test«
Es wurden keine Unterschiede in den neuropsychologischen Profilen gefunden.
Fragebögen zur Empathie: »Interpersonal Reactivity Index«, »Questionnaire of Emotional Empathy«
Deutliche Defizite in den empathischen Fähigkeiten, hingegen aber keine in der Emotionserkennung und in der Fähigkeit, das Wissen einer anderen Person mental zu repräsentieren. Aber: die emotionalen Inhalte wurden nicht mit den mentalen Repräsentationen integriert
5 6 7 8 9 10
Theory of Mind (ToM): Empathie Shamay-Tsoori et al. 2002
Zwei junge Männer mit AS
11 12 13 14 15
Theory of Mind (ToM): Emotionserkennung Baron-Cohen et al. 1997, 2001
Vergleich von Erwachsenen mit AS, HFA , Patienten mit Tourette-Syndrom, gesunde Kontrollgruppe
Anhand eines Ausschnitts des Gesichts: Augentest; Kontrollaufgabe
Deutliche Beeinträchtigung in der ToM bei AS und HFA.
Critchley et al. 2000; Pierce et al 2001; Schultz et al. 2000, 2003; Hubl et al. 2003; Shaw 2004
AS/HFA und gesunde Kontrollgruppe
Emotionale Gesichter erkennen MRT-Studien
Es konnte konsistent gezeigt werden, dass die autistischen Probanden eine reduzierte Aktivität in der Gehirnregion der rechten Hemisphäre (Gyrus fusiformis) aufwiesen, die normalerweise beim Betrachten von Gesichtern aktiviert wird (»fusiform face area«)
16 17 18 19 20
131
4.6 Weitergehende Diagnostik
4
. Tab. 4.9. (Fortsetzung) Autor(en)
Untersuchungsgegenstand
Untersuchungsmethode
Ergebnisse
Hill et al. 2004
Vergleich Erwachsene mit HFA, deren Verwandte und Kontrollgruppe
»Toronto Alexithymia Scale«, »Beck Depression Inventory«
Beim Erkennen und Benennen der eigenen Emotionen zeigen Menschen mit AspergerSyndrom eine deutliche Beeinträchtigung
Ozonoff et al. u. 1991
Vergleich HFA, AS und Normalstichprobe
First order false belief task
AS zeigten signifikant bessere Leistungen in den ToM-Aufgaben als HFA. Kein signifikanter Unterschied zur Normalstichprobe
Berthier 1995
Vergleich AS und nichtpsychiatrische Kontrollgruppe
First order false belief task
Keine Unterschiede zwischen AS u. HFA
Dahlgreen u. Trillingsgaard 1996
Vergleich AS und HFA
Theory of Mind (ToM): Sozial-kognitive Attibuierungen Klin 2000; Abell et al. 2000
Vergleich AS, HFA und Normalstichprobe
»Social Attribution Task«
Deutliche Beeinträchtigung in der ToM bei AS und HFA
Bowler 1992; Baumiger u. Kasari 1999; Dahlgreen u. Trillingsgaard 1996; Happé 1994a; Ozonoff u. McEvoy 1994; Ozonoff et al. 1991
Vergleich zwischen AS, HFA und weiteren Kontrollgruppen
Second order attribution task (»Peter denkt, dass Anne denkt, dass ...«)
Ergebnisse unklar, in vielen Studien zeigten Probanden mit AS und HFA deutlich schlechtere Leistungen als die Kontrollgruppe. Aber auch gutes Abschneiden bei diesen Aufgaben
Happé 1994a
Verglichen wurden die Leistungen von Probanden mit HFA, low-functioning und Normalstichprobe
Second order attribution task (Doppeltäuschungsmanöver)
Kompetenz in ToM-Aufgaben zweiter Ordnung bei HFA, aber Scheitern in komplexeren Aufgaben zur Rekonstruktion mentaler Zustände, wie der Interpretation von Doppeltäuschungsmanövern
132
Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik
1
. Tab. 4.9. (Fortsetzung)
2
Autor(en)
Untersuchungsgegenstand
Untersuchungsmethode
Ergebnisse
3
Baron-Cohen et al. 1997
Vergleich von Erwachsenen mit AS, HFA , Patienten mit Tourette-Syndrom, gesunde Kontrollgruppe
Second order attribution task
Deutliche Beeinträchtigung in der ToM bei AS und HFA.
4 5 6
Theory of Mind (ToM): Perspektivenübernahme Yirmiya et al. 1992
Autistische Kinder wurden mit nicht-autistischen verglichen.
Aufgaben zur Diskriminierung verschiedener emotionaler Zustände, Perspektivenübernahme bezüglich emotionaler Zustände, der angemessenen Reaktion auf die emotionalen Zustände und dem Verständnis einer Konversation
Bei den autistischen Probanden fand sich ein bedeutsamer größerer Zusammenhang zwischen diesen Merkmalen und den kognitiven Fähigkeiten als bei den nicht-autistischen Probanden
Heavey et al. 2000
Vergleich von Erwachsenen mit AS, HFA und gesunder Kontrollgruppe
Lebensnahe Videofilme
Deutliche Beeinträchtigung in der ToM bei AS und HFA
Ponnet et al. 2004; Roeyers et al. 2001
AS/HFA und nicht autistische Erwachsene
Vergleich zwischen statischen Aufgaben (Bilder) und »lebendigen Aufgaben« (Videos)
Menschen mit AspergerSyndrom zeigten ein signifikant schlechteres Ergebnis als die Kontrollgruppe, während dieser Unterschied bei statischen Aufgaben nicht gefunden wurde
Jolliffe u. BaronCohen 1999; Kaland et al. 2002, 2005
AS/HFA und nicht autistische Kontrollgruppe (Kinder und Erwachsene)
Vorlage von Geschichten, in denen alltägliche Situationen dargestellt werden, worin Personen Dinge sagen, die sie nicht wörtlich meinen
Es zeigte sich, dass Menschen mit Asperger-Syndrom, die zuvor ToM-Aufgaben 2. Ordnung bewältigt hatten, bei diesen Aufgaben Schwierigkeiten hatten, die richtigen kontextabhängig angemessenen Antworten zu geben
7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
AS = Asperger-Syndrom; HFA = High-functioning-Autismus; Gesamt-IQ = Gesamtintelligenzquotient; HIQ = Handlungs-Intelligenzquotient; Kaufmann ABC = Kaufmann Battery for Children; ToM = Theory of Mind; VIQ = Verbal-Intelligenzquotient; WAISR = Wechsler Adult Intelligence Scale-Revised, WISC-R = Wechsler Intelligence Scale for Children-Revised; ADHS = Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung
4.7 Entbehrliche Diagnostik
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Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik
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Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik
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5 Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnostik und multiaxiale Bewertung 5.1
Identifizierung von Leitsymptomen
– 139
5.2
Identifizierung weiterer Symptome und Belastungen
5.3
Differenzialdiagnose – 140
5.4
Interventionsrelevante Diagnostik unter multiaxialen Gesichtspunkten – 143
– 139
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Kapitel 5 · Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnostik und multiaxiale Bewertung
Hinter den Begriffen »Autismus«, »autistisches Spektrum« und »autistische Störungen« verbergen sich eine Vielzahl an Symptomen, ein weites Spektrum an klinischen Manifestationen und eine große Variationsbreite von Ausprägungsgraden, die eine genaue Diagnostizierung oft erschweren. Trotz dieser Vielfalt gilt der frühkindliche Autismus schon lange als eine der zuverlässigsten Diagnosen innerhalb der Kinderund Jugendpsychiatrie (Bölte et al. 2000). Dies gilt jedoch nicht für das Asperger-Syndrom! Bis heute ist es leider noch immer so, dass Menschen mit dieser Störung häufig und lange fehldiagnostiziert werden. Wichtigstes Ziel einer differenzierten Diagnostik ist es daher, das Asperger-Syndrom möglichst früh zu diagnostizieren und Fehldiagnosen zu vermeiden! Die nachfolgende Übersicht gibt einen Überblick über eine Untersuchung zur Diagnosefindung von Howlin und Asgharin.
Erfahrungen zur Diagnosefindung beim Asperger-Syndrom 5 Fragestellung: Ist es für Familien mit einem Kind mit Asperger-Syndrom schwieriger, zu einer richtigen Diagnosestellung zu kommen, als für Familien mit einem Kind mit frühkindlichem Autismus? 5 Methodik und Stichprobe: In einer Untersuchung von Howlin und Asgharian (1999) wurden 770 Familien mit einem autistischen Kind über ihre Erfahrungen bei der Diagnosefindung befragt. 156 dieser Familien hatten ein Kind oder einen Jugendlichen mit Asperger-Syndrom. 5 Ergebnisse: Obwohl das Alter der Kinder zum Zeitpunkt der Untersuchung in beiden Vergleichsgruppen (Asperger-Syndrom– frühkindlicher Autismus) sehr ähnlich war, zeigte sich, dass die 6
Familien mit einem Kind mit Asperger-Syndrom sehr viel längere Verzögerungen in der Diagnosestellung erleben mussten und dies als sehr frustrierend empfanden. In der »Autismus«Vergleichsgruppe lag das durchschnittliche Alter, in dem die korrekte Diagnose gestellt wurde, bei 5,5 Jahren, in der Asperger-Syndrom-Gruppe bei 11 Jahren. Das bedeutet, dass die Familien mit einem Kind mit Asperger-Syndrom 8 Jahre »allein« gelassen wurden bzw. lange Irrwege mit vielen verschiedenen Diagnosen und Frustrationen erleben mussten, bis ihr Kind die korrekte Diagnose und damit eine geeignete Therapie bekommen konnte. Auch zeigte sich, dass in der Gruppe der Personen mit Asperger-Syndrom zuvor sehr viele andere Diagnosen gestellt worden waren: ADHS, Störung des Sozialverhaltens, emotionale Störung, minimale zerebrale Dysfunktion oder auch einfach »don´t worry«.
! Die qualitative Beeinträchtigung in den sozialen Interaktionen sowie die eingeschränkten, sich wiederholenden, stereotypen Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten müssen zur Stellung der Diagnose seit früher Kindheit an bestehen. Es darf keine eindeutige sprachliche oder kognitive Entwicklungsverzögerung vorliegen, d. h. eine eindeutige Sprachentwicklungsverzögerung und eine kognitive Leistungsfähigkeit, die nicht im Durchschnittsbereich liegt, schließen die Diagnose AspergerSyndrom aus.
139
5.2 Identifizierung weiterer Symptome und Belastungen
5.1
Identifizierung von Leitsymptomen
In der nachfolgenden Übersicht sind die Leitsymptome nochmals übersichtlich aufgeführt.
Leitsymptome des Asgerper-Syndroms 5 Qualitative Beeinträchtigung der sozialen Interaktion – Auffälliges Kontaktverhalten und soziale Motivation – Wenig Empathie – Theory of Mind – Mangel an geteilter Freude/sozioemotionaler Gegenseitigkeit – Auffälliges nonverbales Verhalten (Mimik, Gestik, Blickkontakt) 5 Auffälligkeiten in der Kommunikation – Auffällige Prosodie: Intonation/ Sprechweise – Mangelnde Pragmatik: Sprachverständnis – Auffälliges Spielverhalten 5 Begrenzte, repetitive und stereotype Verhaltensweisen, Interessen und Aktivitäten – Sonderinteressen – Veränderungsängste/Zwänge – Motorik: motorische Ungeschicklichkeit häufig, motorische Manierismen selten – Besonderes Beschäftigtsein mit Teilobjekten oder mit nicht-funktionalen Elementen von Spielmaterial ist selten 5 Fehlen einer Verzögerung der Sprachentwicklung und der kognitiven Entwicklung – Einzelne Wörter mit spätestens 2 Jahren, erste Sätze mit 3 Jahren – Mindestens durchschnittliche Intelligenz – Unauffällige Entwicklung in den ersten 3 Lebensjahren
5
Zwar ist die Symptomatik in der Intensität bei einzelnen Symptomen sehr unterschiedlich ausgeprägt, dennoch sollten aus allen Bereichen der Leitsymptome Auffälligkeiten vorhanden sein.
5.2
Identifizierung weiterer Symptome und Belastungen
Menschen mit Asperger-Syndrom zeigen eine vielfältige Symptomatik, häufig sind neben den »Leitsymptomen« viele andere Verhaltensauffälligkeiten zu bemerken: Aufmerksamkeitsprobleme, zwanghaftes Verhalten, affektive Störungen, Tic-Störungen usw. Diskutiert wird, ob diese Symptome eine zusätzliche Diagnose rechtfertigen oder nicht. So ist beispielsweise das zwanghafte Verhalten in den Diagnosekriterien für das Asperger-Syndrom bereits benannt, es gibt aber durchaus Personen, bei denen es derart massiv auftritt, dass insbesondere diese Verhaltensauffälligkeit zu einer deutlichen Beeinträchtigung im Alltag führt. Jenseits dieser Diskussion sollten diese begleitenden Symptome jedoch sehr aufmerksam beobachtet und diagnostiziert werden, da sie für die Behandlung und den weiteren Verlauf von großer Bedeutung sind. So ist beispielsweise die persönliche Hygiene bei vielen adoleszenten Menschen mit Asperger-Syndrom ein häufiges Problem. Beispiel Bei dem 15-jährigen Stefan stellte die persönliche Hygiene ein massives Problem dar: Er war nicht bereit, sich täglich zu waschen. Nur wenn er zum Schach-Club ging, duschte er sich einmal wöchentlich. Dieses Verhalten hatte er ritualisiert, wenn jedoch der Schachclub nicht stattfand, dann duschte er auch nicht. Ihm war auch nicht verständlich zu machen, dass andere Leute sich durch seinen Körpergeruch gestört fühlen könnten. Es war ihm egal, was andere Menschen über seine doch sehr »unkonventionelle« Kleidung denken, auch für die Kleidung hatte er ein festes Ritual, wann diese gewaschen werden durfte. Insgesamt führte dieses Verhalten dazu, dass er schon
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Kapitel 5 · Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnostik und multiaxiale Bewertung
wegen seines Körpergeruchs bzw. Gestanks von anderen deutlich abgelehnt wurde.
5 »Realitätsverlust« 5 Probleme in alltäglichen lebenspraktischen Tätigkeiten (z. B. persönliche Hygiene, Umgang mit Geld) 5 Essverhalten 5 Mangelndes Selbstwertgefühl, -vertrauen 5 Suizidgedanken/Identitätskrisen 5 Familienkonflikte 5 Schulprobleme
Wird dieser Problembereich bei der Diagnosestellung nicht beachtet, so hat dies einen erheblichen Einfluss auf den weiteren Verlauf, weil er einer Verselbständigung im Wege steht. Daher muss der diagnostische Prozess möglichst umfassend sein und auch Problembereiche enthalten, die nicht unbedingt diagnoserelevant sind. Im Folgenden werden die begleitenden Symptome und Belastungen übersichtlich aufgeführt. ! Diese begleitenden Symptome müssen unbedingt beachtet und richtig eingeordnet werden, da es sonst zu Fehldiagnosen kommen kann.
So führen beispielsweise die Aufmerksamkeitsprobleme sehr häufig zu der Fehldiagnose einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Die Verkennungen der Realität werden, wenn beispielsweise der Patient angibt, innere Stimmen zu hören, als psychotische Symptome gedeutet. Die »Eigenartigkeit« und Besonderheit der Menschen mit Asperger-Syndrom, ihr rigides, einseitiges, naives und »egozentrisches« Interaktionsverhalten wird unter Umständen als ein Symptom der Schizophrenie gedeutet. Die nachfolgende Übersicht gibt weitere Symptome und Belastungen des Asperger-Syndroms an.
Weitere Symptome und Belastungen des Asperger-Syndroms 5 Aufmerksamkeits- und Konzentrationsprobleme 5 Hyperaktivität/Impulsivität 5 Aggressionen 5 Zwanghaftes Verhalten 5 Tics 5 Ängste, depressive Verstimmungen 5 Panikreaktionen 6
5.3
Differenzialdiagnose
Differenzialdiagnose innerhalb des autistischen Spektrums Zunächst gilt es das Asperger-Syndrom von anderen tiefgreifenden Entwicklungsstörungen abzugrenzen. Hier bereitet insbesondere die Abgrenzung zum frühkindlichen Autismus auf hohem Funktionsniveau (High-functioningAutismus, F84.0) häufig Probleme (7 Kap. 2) . In der DSM-IV und auch in der ICD-10 finden sich hierzu klare Regeln für die Diagnosestellung: Bevor die Diagnose des Asperger-Syndroms gestellt werden kann, muss der Autismus ausgeschlossen werden. Sollte das derzeitige klinische Bild uneindeutig sein, muss auf die frühkindliche Entwicklung zurückgegriffen werden. Liegt eine eindeutige allgemeine Verzögerung der gesprochenen oder rezeptiven Sprache oder der kognitiven Entwicklung vor, so ist ein frühkindlicher Autismus zu diagnostizieren. ! Die wichtigsten und empirisch am besten abgeklärten Unterscheidungsmerkmale sind die guten sprachlichen Fähigkeiten der Patienten mit Asperger-Syndrom (keine rezeptive oder expressive Sprachentwicklungsverzögerung), die kognitiven Fähigkeiten liegen mindestens im Durchschnittsbereich.
5.3 Differenzialdiagnose
Die Differenzierung erfolgt durch eine möglichst umfassende anamnestische Erhebung der frühkindlichen Entwicklung. Hierzu sollten die Eltern ausführlich befragt werden und zusätzlich weitere Dokumente (Berichte aus dem Kindergarten, Vorsorgeuntersuchungsheft des Kinderarztes usw.) eingesehen werden. Anhand standardisierter Intelligenztest werden die kognitiven Fähigkeiten überprüft. Diagnosen aus dem schizophrenen Formenkreis In der ICD-10 wird gefordert, dass das AspergerSyndrom von der schizotypen Störung und einer Schizophrenia simplex abzugrenzen sei. Schizotype Störung. Damit ist eine Störung mit
exzentrischem Verhalten und Anomalien des Denkens und der Stimmung gemeint, die schizophren wirken, obwohl nie eindeutige und charakteristische schizophrene Symptome aufgetreten sind. Die Störung zeigt einen chronischen Verlauf mit unterschiedlicher Intensität, gelegentlich entwickelt sich eine eindeutige Schizophrenie. Man nimmt an, dass sie einen Teil des genetischen »Spektrums« der Schizophrenie verkörpert. Da diese Störung sehr schwer von der Schizophrenia simplex und von anderen Persönlichkeitsstörungen (schizoide, paranoide) abzugrenzen ist, wird diese diagnostische Kategorie in der ICD-10 nicht zum Gebrauch empfohlen. Schizophrenia simplex. Bezeichnet ein seltenes
Zustandsbild mit schleichender Progredienz. Die psychotischen Symptome sind weniger offensichtlich als bei den anderen schizophrenen Erkrankungen. Zu den frühkindlichen schizophrene Psychosen ist zu sagen, dass schizophrene Psychosen nur in sehr seltenen Fällen in der Kindheit auf treten. Den »Kern« dieser Diagnosen bilden schizophrenietypische Symptome und nicht die autistische Symptomatik: Bei den schizophrenen
141
5
Störungen treten meist positive Symptome auf (Wahn, Halluzinationen), die für das AspergerSyndrom untypisch sind. Negative Symptome (Trägheit, Eigensinnigkeit, flacher Affekt) hingegen lassen sich bei Jugendlichen und Erwachsenen mit Asperger-Syndrom nicht immer ausschließen. Wichtiges Unterscheidungsmerkmal ist der Verlauf: Schizophrenen Psychosen geht eine Phase normalen Entwicklungsverlaufs voraus, auch die Prodromalstadien umfassen lediglich einige Wochen oder Monate, aber nicht die gesamte frühkindliche Entwicklung. Die bei einer schizophrenen Psychose auftretenden Wahnsymptome, Halluzinationen oder die Verschlechterung des erlangten kognitiven Niveaus fehlen beim Asperger-Syndrom. Im Erwachsenenalter ist die Differentialdiagnose schwierig zu stellen, da Menschen mit Asperger-Syndrom äußerst bizarr erscheinen können und in manchen Fällen einzelne Symptome zeigen, die psychotisch anmuten. Anhand einer ausführlichen anamnestischen Erhebung lassen sich die Störungen jedoch in der Regel gut voneinander differenzieren, hier ist der Störungsverlauf von großer Bedeutung. Persönlichkeitsstörungen Persönlichkeitsstörungen erfassen für das Individuum typische stabile und beherrschende (pervasive) Verhaltensweisen, die sich als rigide Reaktionsmuster in unterschiedlichsten Lebenssituationen manifestieren und mit persönlichen Funktionseinbußen und/oder sozialem Leid einhergehen. Sie beginnen in der Kindheit und Jugend, nehmen eine lebenslange Entwicklung und manifestieren sich in typischer Form auf Dauer im Jugendalter und frühen Erwachsenenalter. Diese Definition beinhaltet, dass die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung in der Adoleszenz aufgrund der noch vorhandenen Entwicklungspotenziale zurückhaltend gestellt werden sollte. Schizoide Persönlichkeitsstörung. Die
schizoide Persönlichkeitsstörung ist gekennzeich-
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Kapitel 5 · Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnostik und multiaxiale Bewertung
net durch einen Rückzug von affektiven, sozialen und anderen Kontakten, mit übermäßiger Vorliebe für Phantasie, einzelgängerisches Verhalten, in sich gekehrte Zurückhaltung. Es besteht ein Unvermögen, Gefühle auszudrücken und Freude zu erleben. Es fehlt der Wunsch nach engen Freunden oder vertrauensvollen Beziehungen, aber die Fähigkeit zur wechselseitigen Interaktion ist vorhanden. Dennoch besteht eine deutlich mangelnde Sensibilität im Erkennen und Befolgen von gesellschaftlichen Regeln. Die Differenzialdiagnose gegenüber dem Asperger-Syndrom ist schwierig, eine weit in die frühe Kindheit zurückführende klare Anamnese mit Auffälligkeiten entsprechend den Leitlinien autistischer Störungen schließt eine Persönlichkeitsstörung aus. Dennoch werden wohl viele erwachsene Menschen mit Asperger-Syndrom in der Erwachsenenpsychiatrie diese Diagnose erhalten. Die meisten Menschen mit AspergerSyndrom zeigen einen deutlichen Leidensdruck bezüglich ihrer Unfähigkeit, stabile Sozialkontakte herzustellen und sehen in ihrer »Andersartigkeit« den Grund für ihre Probleme. Dies ist bei Menschen mit einer schizoiden Persönlichkeitsstörung seltener anzutreffen. Die Differenzierung erfolgt über die Anamnese; eine neuropsychologische Untersuchung erweist sich ebenfalls als hilfreich (7 Kap. 4.6). Persönlichkeitsstörung. Gefühle der persönlichen Unsicherheit und Zweifel kennzeichnen diese Störung. Damit verbunden sind übertriebene Gewissenhaftigkeit, ständige Kontrollen, Halsstarrigkeit, Vorsicht und Starrheit. Es können beharrliche und unerwünschte Gedanken oder Impulse auftreten, die nicht die Schwere einer Zwangsstörung erreichen. Häufig findet sich ein Perfektionismus, gewissenhafte Genauigkeit und ein Bedürfnis zu wiederholtem Überprüfen. Ein unbegründetes Bestehen auf der Unterordnung anderer unter eigene Gewohnheiten liegt vor. Auch hier ist die Abgrenzung manchmal schwierig, da es Überlappungen zwischen
Zwanghafte
den Störungsbildern gibt. Eine weit in die frühe Kindheit zurückführende klare Anamnese mit Auffälligkeiten entsprechend den Kriterien für das Asperger-Syndrom schließt die Diagnose einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung aus: Bei der zwanghaften Persönlichkeitsstörung stehen – genauso wie bei der Zwangsstörung – die Zwangssymptome im Vordergrund, die Personen leiden an dieser Symptomatik und empfinden sie als ich-dyston, als etwas Fremdes. Die qualitativen Auffälligkeiten der Interaktion, die kennzeichnend sind für das Asperger-Syndrom, fehlen hier. Anhand einer ausführlichen Anamnese und einer Verhaltensbeobachtung des Patienten gelingt die Differenzialdiagnose in der Regel gut. Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) Wie bereits beschrieben (7 Kap. 4.3), treten diese Störungen auch häufig als komorbide Störungen beim Asperger-Syndrom auf. Dennoch ist auch die Differenzialdiagnose zu diesen Störungen wichtig, denn sehr häufig wird ein Asperger-Syndrom zunächst als ADHS verkannt. Die Kardinalsymptome der hyperkinetischen Störung sind eine beeinträchtigte Aufmerksamkeit, Überaktivität und Impulsivität. Zwar kommt es in Folge dieser Symptome auch zu Interaktionsstörungen, jedoch werden die Kriterien für das Asperger-Syndrom nicht erfüllt. Anhand einer ausführlichen und differenzierten Diagnostik in der o.g. Weise lassen sich die beiden Störungsbilder gut voneinander abgrenzen (Gilchrist et al. 2001). Folgende Unterschiede sind unserer Erfahrung nach besonders relevant: 5 Spielverhalten: Zwar ist das Spielverhalten bei Kindern ADHS durch die mangelnde Aufmerksamkeit und Hyperaktivität auffällig, sie sind aber zu einem phantasievollen und kreativen Spiel fähig. Auch ein kooperatives und interaktives Spiel gelingt, wenn-
5.4 Interventionsrelevante Diagnostik unter multiaxialen Gesichtspunkten
gleich dieses durch die mangelnde Aufmerksamkeit und Hyperaktivität geprägt ist. 5 Theory of Mind: Kinder mit ADHS zeigen keine grundlegende Beeinträchtigung in der Fähigkeit zur Theory of Mind. Der Störungsschwerpunkt bei Kindern mit ADHS liegt in der Aufmerksamkeit und in impulsiven Reaktionen. Dies kann im Alltag zu einer Beeinträchtigung auch in der Fähigkeit führen, mitzubekommen, was andere Menschen denken, fühlen usw.. Ursächlich dafür ist jedoch die mangelnde Aufmerksamkeit und nicht eine Unfähigkeit im Verständnis sozialer Inhalte. Wie in 7 Kap. 3.7 ausführlich beschrieben, besteht jedoch ein Zusammenhang zwischen Theory of Mind und der Selbstkontrolle. Während bei Kindern mit einem Asperger-Syndrom in der Regel beide Bereiche (mehr oder weniger) beeinträchtigt sind, finden sich bei Kindern mit ADHS vor allem Beeinträchtigungen in der Selbstkontrolle (insbesondere die Aspekte Aufmerksamkeit, Handlungsplanung usw.) und weniger bzw. keine in der Fähigkeit zur Theory of Mind (Sodian et al. 2003). 5 Nonverbales Verhalten: Kinder mit ADHS zeigen deutliches und kommunikatives nonverbales Verhalten, Kinder mit AspergerSyndrom zeigen dies nicht bzw. nicht sozial angemessen. 5 Kinder mit ADHS zeigen nicht alle für die Diagnose Asperger-Syndrom relevanten Symptome (7 Kap. 5.1), sondern nur einige, die sich auch durch eine Aufmerksamkeits-/ Hyperaktivitätsstörung erklären lassen. So zeigen Kinder mit ADHS in der Regel keine Veränderungsängste oder zwanghaftes Verhalten. In . Tab. 5.1 sind die Unterschiede nochmals differenziert aufgeführt. Weitere Differenzialdiagnosen Die reaktive Bindungsstörung wird in der ICD10 ebenfalls als Ausschlussdiagnose genannt.
143
5
Kinder mit Deprivationssyndromen zeigen nach einigen Monaten in adäquatem Umfeld eine deutlichere und schnellere Besserung der Symptomatik, als dies bei Kindern mit AspergerSyndrom zu erwarten wäre. In . Abb. 5.1 ist ein diagnostischer Entscheidungsbaum (Mod. nach den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder und Jugendpsychiatrie) bei dem Verdacht auf ein AspergerSyndrom abgebildet, der die Differenzialdiagnosen und die Hierarchie des diagnostischen und therapeutischen Vorgehens erläutert.
5.4
Interventionsrelevante Diagnostik unter multiaxialen Gesichtspunkten
Zur Planung von Interventionsmaßnahmen oder Förderung sollten die bereits dargestellten diagnostischen Methoden ergänzt werden durch 5 eine ausführliche Verhaltensanalyse; 5 eine spezifische Analyse des Entwicklungsstandes in den relevanten Zielbereichen. Die Verhaltensanalyse umfasst eine genaue Beschreibung der Verhaltensprobleme, die möglichst konkret sein sollte. Dies bedeutet, dass das benannte Verhalten gut operationalisiert werden sollte (z. B. reicht »aggressives Verhalten« als Verhaltensbeschreibung nicht aus, sondern es sollte konkret benannt werden, worin sich dieses äußert, z. B. in verbalen oder körperlichen Angriffen, Aggressionen gegen Objekte oder Menschen usw.). Außerdem sollte genau analysiert werden, wie häufig das problematische Verhalten auftritt. Hierzu sind differenzierte Beobachtungen notwendig, die hinsichtlich der Häufigkeit, der Dauer und der Intensität des Verhaltens protokolliert werden sollten. Die auslösenden Situationen und sich daraus ergebenden Konsequenzen (aus der Sicht des Patienten) müssen erkannt und benannt werden. Häufig auftretendes problematisches Verhalten (wie z. B. Wutanfälle, Selbstverletzungen
144
1
Kapitel 5 · Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnostik und multiaxiale Bewertung
. Tab. 5.1. Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Asperger-Syndrom und ADHS Asperger-Syndrom
ADHS
Sprachentwicklung
Normal oder früh
Unterschiedlich
Motorik
Oft ungeschickt
Unterschiedlich
4
Körperkontakt
Vermindert oder nur selbstbestimmt
Unauffällig
5
Blickkontakt
Kaum, nicht sozial moduliert
Unauffällig oder flüchtig, rasch abgelenkt
6
Nonverbale Kommunikation
Deutlich eingeschränkt
Unauffällig
Sprachstil
7
Pedantisch, auffällige Modulation der Stimme
Schnell sprechend, rasche Themenwechsel ...
Kommunikation
8
Einseitig, Monologe, wenig Bezug zum anderen
Wechselseitig, bezugnehmend auf die Äußerungen des Gegenübers
Interaktion
Keine geteilte Freude, gestörter Kontakt, keine Freundschaften, geringe sozio-emotionale Gegenseitigkeit
Geteilte Freude vorhanden, Kontakt u. U. schwierig, aber vorhanden, wechselhafte Freundschaften, sozio-emotionale Gegenseitigkeit u. U. sekundär gestört
Theory of Mind
Deutlich eingeschränkt
Keine grundlegende Einschränkung
Exekutive Funktionen
Eingeschränkt
Eingeschränkt
Zentrale Kohärenz
Gering
Unauffällig
Aufmerksamkeit
Fokussierung auf Details, Schwierigkeiten im schnellen Aufmerksamkeitswechsel
Schwierigkeiten in der Daueraufmerksamkeit, Impulssteuerung
Spielverhalten
Kein kooperatives, interaktives und phantasievolles Spielen
Hyperaktiv und impulsiv, aber durchaus phantasievoll
Stereotypes, repetitives Verhalten
Sonderinteressen, zwanghaft, Veränderungsängste
Unauffällig
Betroffene Lebensbereiche
Durchgängig alle, tiefgreifend
Vor allem Anforderungssituationen, nicht alle Diagnosekriterien für tiefgreifende Entwicklungsstörungen erfüllt
2 3
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oder Zwänge) muss genau analysiert werden, um die verhaltensauslösenden und verhaltensverstärkenden Merkmale einer Situation zu erfassen. Eventuell müssen dann auch Situationen gemieden werden, die bedrohlich oder überfordernd sind. Mögliche positive oder negative
Verstärkungen des problematischen Verhaltens müssen erkannt und verhindert werden. Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt – der sich aus unseren Erläuterungen zur Theory of Mind (7 Kap. 3.7) ergibt, ist, dass die jeweiligen kognitiven, aber auch affektiven Repräsen-
145
5.4 Interventionsrelevante Diagnostik unter multiaxialen Gesichtspunkten
5
Qualitative Beeinträchtigung der sozialen Interaktion Begrenzte, repetitive und stereotype Verhaltensweisen, Interessen und Aktivitäten Auffälligkeiten in der Kommunikation JA expressive und/oder rezeptive Sprachentwicklungsverzögerung? Deutliche Sprachauffälligkeiten: Pronominale Umkehr, ausgeprägte Echolalie?
JA
NEIN Frühkindlicher Autismus (F84.0)
Intelligenzminderung? NEIN
JA
Ausgeprägte motorische Manierismen, Beschäftigtsein mit Teilobjekten oder mit nichtfunktionalen Elementen von Spielmaterial, sensorischen Interessen, autistische Symptome bereits vor dem 3. Lebensjahr sehr ausgeprägt?
JA
NEIN Andere Symptomatik im Vordergrund, autistische Symptome eher sekundär?
JA
Zwangsstörung, Störung aus dem schizophrenen Formenkreis. Tic-Störung, Depression o. ä.
JA
Verdacht auf Persönlichkeitsstörung (schizoide, zwanghafte o. ä.)
NEIN Beginn der Symptomatik eindeutig nach der frühen Kindheit? NEIN AspergerSyndrom (F84.5)
Zusätzliche Diagnosen?
u. U. begleitete Symptomatik: Aufmerksamkeits- und Konzentrationsprobleme, Hyperaktivität/Imulsivität, Aggressionen, zwanghaftes Verhalten, Tics, Ängste, depressive Verstimmungen, Panikreaktionen, „Realitätsverlust“, Probleme in alltäglichen lebenspraktischen Tätigkeiten (z. B. persönliche Hygiene, Umgang mit Geld), Essverhalten, mangelndes Selbstwertgefühl, Suizidgedanken/Identitätskrisen, Familienkonflikte, Schulprobleme usw.
. Abb. 5.1 Diagnostischer Entscheidungsbaum (Mod. nach den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder und Jugendpsychiatrie)
tationen der Situation sowohl für den Patienten selbst, als auch für die Interaktionspartner eingeschätzt bzw. erfragt werden müssen. Viele Verhaltensweisen werden erst verständlich, wenn auch dieser Aspekt beachtet wird. Beispielsweise ist das aggressive Verhalten (»wild um sich schlagen«) eines Jungen gegenüber einem Mitschüler erst dadurch nachvollziehbar, wenn man berücksichtigt, dass der Junge die vorausgegangene kör-
perliche Berührung (auf die Schulter Klopfen) des Mitschülers affektiv und kognitiv als Bedrohung auffasst, während der Mitschüler dies als kameradschaftliche Geste empfindet. Daher sollte die klassische Verhaltensanalyse (Auslöser, Beobachtbares Verhalten, C(K)onsequenz) um diese Aspekte ergänzt werden.
146
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Kapitel 5 · Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnostik und multiaxiale Bewertung
! Um eine Verhaltensmodifikation in allen relevanten Bereichen der Störung zu erreichen, ist es notwendig, neben dem offenen Verhalten auch kognitive und emotionale Komponenten desselben zu erfassen. Theory of Mind spielt sich nicht nur in den Köpfen ab, sondern hat einen direkten Bezug zum Verhalten und sollte bei einer Verhaltensanalyse differenziert mit erfasst werden.
Die . Tab. 5.2 gibt Beispiele für eine Verhaltensanalyse. Die spezifische Analyse des Entwicklungsstandes kann in einigen Bereichen weitere diagnostische Schritte notwendig machen. Hier gilt es die vorhandenen Fähigkeiten genau zu analysieren und das Zielverhalten zu bestimmen. Während die störungsspezifische Diagnostik (7 Kap. 4) vor allem die Defizite in den störungsspezifischen Aspekten fokussiert, sollten auch die Fähigkeiten differenziert betrachtet werden, um die Interventionen daran auszurichten. Folgende
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Hier können die bereits dargestellten Untersu-
chungsmethoden angewandt werden, aber auch weitere Verfahren wie beispielsweise die »Social Skill Assessment« Skala von Boswell et al. (1996, deutsche Übersetzung in Häusler et al. 2003). Der »Fragebogen zur Beobachtung von Spielen« (Beyer u. Gammeltoft 2002) kann bei der Beobachtung von Kindern beim freien Spielen oder in einer Spielsituation mit Erwachsenen hilfreich sein, um den Entwicklungsstand in diesem
. Tab. 5.2. Beispiele für eine Verhaltensanalyse Auslöser
Beobachtbares Verhalten
Repräsentation des Patienten
Repräsentation des/der Interaktionspartner/s
Konsequenz
Geschichtsunterricht in der Schule behandelt ein besonderes Interesse des Patienten
Patient redet ohne Unterlass, reagiert nicht auf Versuche, ihn zu unterbrechen.
»Das ist spannend, interessant!« Keine Wahrnehmung der nonverbalen Gesten des Gegenübers.
»Das nervt, der spinnt.« Unverständnis, Ungeduld, aber aus Höflichkeit kein deutliches Signal.
Situation wird nicht unterbrochen.
Hausaufgabensituation: Mathematik-Textaufgabe
Aggressives Verhalten in Form von verbalen Attacken gegen die Mutter
»Ich kann das nicht, immer versage ich, warum bin ich so anders als die anderen? Ich will jetzt lieber was anderes machen.«
Mutter: »Er kann doch sonst gut rechnen. Ist heute wieder was in der Schule gewesen, ist er wieder geärgert worden? Mein armer Junge.«
Abbruch der Hausaufgabensituation
14 15
Bereiche sollte in dieser Hinsicht näher analysiert werden: 5 Soziale und kommunikative Fertigkeiten, Spielverhalten, 5 Theory of Mind: Fähigkeit zur Emotionserkennung, zu empathischen Reaktionen, zur sozialen Attribuierung und zur Perspektivenübernahme, 5 Selbstreflexive Fähigkeiten, Selbstbild, Identität, 5 Lebenspraktische Fertigkeiten, 5 Schulische Fertigkeiten.
5.4 Interventionsrelevante Diagnostik unter multiaxialen Gesichtspunkten
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Bereich einzuschätzen. Hilfreich sind hier auch Videoaufnahmen von alltäglichen Situationen, die dann analysiert werden können. Die diagnostischen Untersuchungen und Ergebnisse sollten in daraus abgeleiteten therapeutischen Maßnahmen bzw. Empfehlungen münden, sie sollten aber auch in geeigneter Form zusammengefasst und dokumentiert werden. Dies dient zum einen zu Informationszwecken für weitere Behandler, Therapeuten, Berater usw., aber auch als Entscheidungsgrundlage für Kostenträger. Diese Dokumentation sollte nach multiaxialen Gesichtspunkten erfolgen, um den individuellen Aspekten der Person und der Situation gerecht zu werden (s. hierzu Remschmidt et al. 2001).
Hier wird beispielsweise eine ausgeprägte motorische Ungeschicklichkeit kodiert, wenn diese ein erhebliches Ausmaß hat und zu einer deutlichen Beeinträchtigung im Alltag (Schule, alltägliche Tätigkeiten) führt. Diese sollte in einem standardisierten Test einen Wert erreichen, der zwei Standardabweichungen unterhalb des Wertes liegt, welcher für das Alter zu erwarten wäre.
1. Achse des Multiaxialen Klassifikationsschemas: Klinisch-psychiatrisches Syndrom
4. Achse des Multiaxialen Klassifikationsschemas: Körperliche Symptomatik
Hier ist an erster Stelle die Diagnose des Asperger-Syndroms zu stellen. Menschen mit einem Asperger-Syndrom zeigen aber meist neben der autistischen Kernsymptomatik noch weitere psychische Störungen, die den Verlauf und die Behandlung komplizieren können. Diese sollten als komorbide Diagnose eingeordnet werden, wenn sie ein beträchtliches Ausmaß erreicht haben und zu massiven Beeinträchtigungen des Alltags führen. Auch zur vollständigen Beschreibung ist es sinnvoll, dass nicht alle weiteren psychopathologischen Auffälligkeiten unter der »Hauptdiagnose« Asperger-Syndrom subsumiert werden. So erhält beispielsweise ein Patient, bei dem ein Asperger-Syndrom (F 84.5) vorliegt, zusätzlich die Diagnose einer Zwangsstörung (F 42), wenn diese Symptomatik über das für ein Asperger-Syndrom typische Maß hinausgeht und infolgedessen eine erhebliche zusätzliche Beeinträchtigung vorliegt.
Diese Achse ist vorgesehen zur Kodierung von nicht-psychiatrischen Krankheitssymptomen oder -syndromen. Die Verschlüsselung bezieht sich auf die augenblickliche Situation. Beispielsweise werden hier Allergien, Neurodermitis, Asthma usw., aber auch selbstverletzendes Verhalten, kodiert.
2. Achse des Multiaxialen Klassifikationsschemes: Umschriebene Entwicklungsstörung
Auf der zweiten Achse ist zu klären, ob eine umschriebene Entwicklungsstörung vorliegt.
3. Achse des Multiaxialen Klassifikationsschemas: Intelligenzniveau
Für die Diagnose eines Asperger-Syndroms ist erforderlich, dass auf der dritten Achse keine intellektuelle Behinderung vorliegt. Die Intelligenz sollte im Durchschnittsbereich oder darüber liegen.
5. Achse des Multiaxialen Klassifikationsschemas: Assoziierte abnorme psychosoziale Umstände
Die fünfte Achse bietet die Möglichkeit, abnorme psychosoziale Situationen, die insbesondere auch für die Therapieplanung relevant sind, zu kodieren. Hier werden beispielsweise psychische Störungen der Eltern oder auch chronische zwischenmenschliche Belastungen im Zusammenhang mit Schule oder Arbeit dokumentiert. So kann beispielsweise kodiert werden, wenn ein Kind/ Jugendlicher in der Schule wiederholt gequält oder schikaniert wird und hier ein deutlicher Handlungsbedarf besteht (Kodierung: Streitbeziehungen mit Schülern). Therapierelevant sind ebenfalls die Einschätzung von abnormen Erziehungsbedingungen, wenn beispielsweise Eltern ihr Kind mit Asperger-Syndrom deutlich unan-
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Kapitel 5 · Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnostik und multiaxiale Bewertung
. Tab. 5.3. Beispiel einer multiaxialen Klassifikation nach ICD-10 einer Person mit Asperger-Syndrom Achse I
Asperger-Syndrom (F84.5); Zwangsstörung, vorwiegend Zwangshandlungen (F42.1)
Achse II
Umschriebene Störung der motorischen Funktionen (F82)
Achse III
Durchschnittliche Intelligenz
Achse IV
Keine Kodierung
Achse V
Streitbeziehungen mit Schülern
Achse VI
Ernsthafte und durchgängige soziale Beeinträchtigung in den meisten Bereichen
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gemessen überfürsorglich behandeln, und die Einschätzung einer abnormen unmittelbaren Umgebung, wenn beispielsweise die Familie sich aufgrund der autistischen Störung ihres Kindes oder aus anderen Gründen deutlich isoliert hat. 6. Achse des Multiaxialen Klassifikationsschemas
Hier sollte die psychische, soziale und schulische bzw. berufliche Leistungsfähigkeit des Patienten eingeschätzt werden. Das Funktionsniveau des Patienten und die sich aus dem Störungsbild ergebenden Beeinträchtigungen werden erfasst. Die adaptiven Fähigkeiten in folgenden Bereichen dienen als Grundlage für die Einschätzung: 5 Soziale Beziehungen 5 Altersangemessene Selbständigkeit bezüglich persönlicher Hygiene, Haushaltstätigkeiten 5 Schulische Anforderungen unter Berücksichtigung der kognitiven Fähigkeiten 5 Altersangemessenes Freizeitverhalten 5 evtl. berufliche Anforderungen. Diese Einschätzung ist für Menschen mit Asperger-Syndrom besonders wichtig, um die deutliche Diskrepanz zwischen den guten kognitiven Fähigkeiten und den großen sozialen und lebenspraktischen Defiziten aufzuzeigen. . Tab. 5.3 zeigt ein exemplarisches Beispiel für die multiaxiale Klassifikation bei einem Menschen mit Asperger-Syndrom.
Literatur Beyer J, Gammeltoft L (2002) Autismus und Spielen. Kompensatorische Spiele für Kinder mit Autismus. Beltz, Weinheim Bölte S, Crecelius K, Poustka F (2000) Der Fragebogen über Verhalten und soziale Kommunikation (VSK): Psychometrische Eigenschaften eines Autismus-ScreeningInstruments für Forschung und Praxis. Diagnostica 46: 149–155 Gilchrist A, Green J, Cox A, Burton D, Rutter M, Le Courteur A (2001) Developmental and Current Functioning in Adolescent with Asperger Syndrome: A Comparative Study. J Child Psychol Psyc 42: 227–40 Häußler A, Happel C, Tuckermann A et al. (2003) SOKO Autismus. Gruppenangebote zur Förderung sozialer Kompetenzen bei Menschen mit Autismus – Erfahrungsbericht und Praxishilfen. Verlag modernes Lernen, Dortmund Howlin, P, Asgharian A (1999) The diagnosis of autism and Asperger syndrome: findings from a survey of 770 families. Dev Med Child Neurol 41: 834–839 Remschmidt H, Schmidt MH, Poustka F (2001) Multiaxiales Klassifikationsschema für Störungen des Kindesund Jugendalters nach der ICD-10 der WHO, 4. Auflage. Huber, Bern Sodian B, Hülsken C, Thoermer C (2003) The self and action in theory of mind research. Consciousness and Cogn 12: 777–782
6 Was zu tun ist: Interventionen 6.1
Auswahl des Interventionssettings
– 153
6.2
Behandlungsprogramme und ihre Komponenten Krankheitsstadienbezogene Komponenten – 157 Psychoedukative Maßnahmen – 164 Psychotherapie – 171
– 154
6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.2.4 6.2.5
Pharmakotherapie – 181 Therapieprogramme – 183
6.3
Besonderheiten bei ambulanter Behandlung – 190
6.4
Besonderheiten bei teilstationärer und stationärer Behandlung – 191
6.5
Jugendhilfe und Rehabilitationsmaßnahmen
6.6
Entbehrliche Behandlungsmaßnahmen
6.7
Ethische Fragen
– 196
– 195
– 192
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Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
Die Therapie des Asperger-Syndroms bedeutet Therapie im Entwicklungskontext, d. h. sie orientiert sich an dem aktuellen Entwicklungsstand des Kindes/Jugendlichen und die Ziele der therapeutischen Maßnahmen müssen im Entwicklungskontext des Kindes/des Jugendlichen klar bestimmt werden. In diesem Sinne bedeutet Therapie stets entwicklungsorientierte Psychotherapie (Mattejat 2004). Diese ist multifaktoriell und multimodal orientiert: Die verschiedenen Interventionsebenen (bio-psycho-soziales Modell) werden berücksichtigt und die ganze Bandbreite der als wirksam erwiesenen Methoden (die aus unterschiedlichen Therapietraditionen stammen können) wird genutzt. Die Interventionen sind störungsspezifisch und beruhen auf einem vertieften Verständnis und einer umfangreichen klinischen Erfahrung im Umgang mit diesen Menschen und dem Störungsbild. Voraussetzung für die Therapie ist eine umfangreiche und differenzierte Diagnostik, um zu einer genauen Einschätzung des Entwicklungsstandes des Kindes/Jungendlichen bezüglich der behandlungsrelevanten Aspekte zu gelangen. Die sozial-emotionalen Defizite, die kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten des zu Behandelnden sollten differenziert beurteilt werden, genauso wie die lebenspraktischen/ adaptiven Fähigkeiten bzw. Defizite. Behandlungsprogramme sollten maximal individualisiert werden, um den spezifischen Bedürfnissen und Fähigkeiten des jeweiligen Kindes/Jugendlichen gerecht zu werden. In . Abb. 6.1 sind die grundlegenden Prinzipien der Interventionen abgebildet.
Generell kommt es darauf an, in der Behandlung einen ganzheitlichen Therapie- und Förderansatz zu verfolgen, der die Gesamtentwicklung des Menschen mit Asperger-Syndrom zum Ziel hat. Dieser Ansatz impliziert eine deutliche Entwicklungsorientierung unter Berücksichtigung des Lebensumfeldes (Eltern, Bezugspersonen, Kindergarten, Schule etc.). Die Behandlungs- und Fördermethoden sollten entsprechend den Fähigkeiten, Defiziten und dem Entwicklungsstand des Kindes, Jugendlichen oder Erwachsenen ausgewählt werden. Die Interventionen sollten als Entwicklungsprozess strukturiert und organisiert werden. Nach der diagnostischen Einschätzung einzelner Verhaltensweisen bezüglich des aktuellen Entwicklungsstandes in diesem Bereich (z. B. Emotionsverständnis) erfolgt die Auswahl der Interventionsmethode (z. B. Training des Erkennens von Emotionen). Sind in diesem Bereich beispielsweise grundlegende Defizite, dann müssen die Interventionsmethoden entwicklungsorientiert entsprechend angepasst werden (z. B. indem zunächst das Erkennen von primären Emotionen geübt wird, um dann bei entsprechendem Therapieerfolg zu den sekundären Emotionen überzugehen). Zeigen sich keine Therapieerfolge, sollten – nach eingehender Analyse des Entwicklungsstandes – zunächst entwicklungspsychologisch einfachere Aufgaben gewählt werden [beispielsweise reduzierte Gesichter wie Smiley-Gesichter (s. Howlin et al. 1999) oder Training des Blickkontaktes]. Erst dann können entwicklungspsychologisch »höhere« Aufgaben geübt werden (wie beispiels-
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Ganzheitliche Therapie und Fördereinsatz: • Entwicklungsorientiert und • unter Berücksichtigung des Umfeldes
Behandlungs- und Fördermethoden • z. B. Verhaltenstherapie
Fähigkeiten und Defizite, Entwicklungsstand in Teilaspekten: • Bestimmung des Zielverhaltens
Wirksame Komponenten: • z. B. strukturiertes Vorgehen
. Abb. 6.1. Prinzipien der Behandlung
Was ist zu tun: Interventionen
weise das Erkennen von Emotionen in einem Situationskontext). ! Einen besonderen Stellenwert haben in dem ganzheitlichen Ansatz, neben den zu modifizierenden Verhaltensweisen, die kognitiven und affektiven Erlebnisweisen des Menschen mit Asperger-Syndrom, die es zu erweitern gilt. Die mangelnde Fähigkeit zur Theory of Mind ist hier angesprochen. Die Fähigkeiten in diesem Bereich sollten entwicklungsorientiert gefördert und die vorhandenen Defizite durch Kompensation überbrückt werden.
Der Stellenwert bestimmter Symptome oder Verhaltensauffälligkeiten kann bei einzelnen Menschen jedoch sehr unterschiedlich sein. Symptome haben durchaus oft eine ganz individuell unterschiedliche Bedeutung für den Einzelnen und können in ihrem Stellenwert nur durch eine sorgfältige Analyse richtig eingeschätzt werden. Damit ist ein sehr wichtiger Punkt angesprochen, der in der Behandlung von Menschen mit Asperger-Syndrom unbedingt beachtet werden sollte: die Therapiemotivation. Während in der Behandlung von Kindern mit frühkindlichem Autismus dies meist nicht explizit thematisiert wird (vgl. Poustka et al. 2004; BernardOpitz 2005; Aarons u. Gittens 2005), ist dies in der Therapie von Menschen mit Asperger-Syndrom ein Thema, das ausdrücklich angesprochen werden muss. Zwar sind sich häufig Eltern, Lehrer, Erzieher usw. einig darin, dass das Verhalten des Menschen mit Asperger-Syndrom problematisch, auffällig, unangemessen o. ä. ist, der Patient selbst jedoch kann dies durchaus auch anders empfinden. Aufgrund ihrer guten kognitiven Fähigkeiten nehmen Menschen mit Asperger-Syndrom durchaus wahr, dass etwas »anders« bei ihnen ist, aber insbesondere bei jüngeren Kindern wird diese »Andersartigkeit« häufig als unklares, diffuses Etwas erlebt, das unter Umständen bedrohlich sein kann. Aufgrund ihrer mangelnden Fähigkeit zur Theory of Mind (7 Kap. 3.7), die sich auch auf die eige-
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6
ne Person bezieht, haben sie ein deutlich eingeschränktes Verständnis auch für sich selbst. Die Aufforderung zur Therapie (meist durch Eltern, Erzieher oder andere Bezugspersonen indiziert) kann dann auch erlebt werden als Abwertung, Schuldzuweisung oder Stigmatisierung. Häufig kommt es durch Äußerungen wie: »Ich bin doch nicht behindert!« zu einer radikalen Abwehr eines Störungskonzepts. Oder – was in letzter Zeit stark zugenommen hat – es kommt zu einer Abwehr des Leids: Die emotionale, soziale Belastung für die eigene Person und für das soziale Umfeld wird abgewehrt. Die »Vorzüge« der Störung werden in den Vordergrund gestellt (Loyalität, Zuverlässigkeit; Unvoreingenommenheit, Enthusiasmus für einzigartige Interessen und Themen, Wertschätzung von Details, Neigung ›ritualistischen Small Talk‹ oder sozial triviale Bemerkungen und oberflächliche Konversation zu vermeiden, Konversation frei von versteckten Bedeutungen oder Andeutungen, enzyklopädisches, oder ›CD-ROM‹-Wissen über ein oder mehrere Themen ...). Zahlreiche Beispiele hierzu finden sich im Internet (unter dem Stichwort »aspie«, wie sich Betroffene dort selbst bezeichnen): Beispiel »Wenn ich also eine Weile darüber nachdenke – will ich wirklich so sein wie die anderen? – dann erkenne ich, dass das Asperger-Syndrom auch seine Vorzüge hat. Sicher, die Vorzüge sind erstens nicht so schnell zu entdecken (vor allem nicht, wenn die Umwelt einem nur einen Negativspiegel vorhält) und zweitens auch nicht immer mit Bewunderung durch die Umwelt verbunden. Doch wer bestimmt, ob die Umwelt recht hat? Wer sagt, dass Kommunikation über Mimik und Gestik laufen muss, dass dazu Floskeln und oberflächlicher Small Talk gehören? Ist es nicht eine Mehrheit, die das kann, die es bestimmt? Doch ist diese Form von menschlichem Miteinander objektiv gesehen die einzig richtige und alles andere krank und behindert? Es ist nicht die Sache an sich, die bestimmt, sondern die Zuschreibungen unserer Umwelt. Doch diese müssen weder richtig noch wahr sein. Wenn wir unse-
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Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
re Flora und Fauna anschauen, dann können wir nur staunen. All die vielen verschiedenen Pflanzen und Tiere, die es gibt. Da gibt es schöne, bunte tropische Fische, mehr unscheinbare Fische in unseren Breitengraden, Lebewesen, die in den Tiefen des Meeres leben, wo fast oder gar kein Licht mehr hindringt – man könnte die Liste noch lange fortsetzen. Viele Menschen finden die bunten, tropischen ganz toll, andere mögen es eher unscheinbar. Doch keine dieser Fischarten ist in sich besser oder schlechter als andere. Die Geschmäcker und Zuschreibungen von uns Menschen machen den Unterschied. Ich persönlich bin überzeugt: das Wesen, das die Erde mit all ihrer Vielfalt ins Leben gerufen hat, mag alle Geschöpfe genau gleich viel. Die bunten wie die unscheinbaren, die in der Tiefe des Meeres genauso wie die in unseren Binnengewässern. Jedes hat seine eigene Aufgabe, und jedes ist wichtig. Wie schade wäre es, wenn alle sich sehr ähnlich oder gar gleich wären! Menschen mit Asperger Syndrom sind nicht weniger wert oder »schlechter« als Menschen ohne autistische Behinderung. Wenn die Umwelt uns glauben machen will oder solche Eindrücke vermittelt, dass wir »komisch«, »unnütz«, »behindert« und was auch immer sind: es stimmt nicht. Wir sind nur anders. Wir sind nicht dieselbe Sorte Fisch, doch das müssen wir auch gar nicht sein. Was wäre die Welt ohne uns? Langweilig!« (www.aspergia.de).
An anderen Stellen: Beispiel »Geniale Autisten bestimmen die Hightech-Welt: Sie fühlen sich oft als Außerirdische auf fremden Planeten, empfinden Blickkontakt und Körpersprache anderer als bedrohlich und gelten als exzentrische Spinner, pedantische Stoffel oder realitätsfremde Einzelgänger -- Menschen mit dem Asperger-Syndrom, einer leichten Form des Autismus, Aspies, wie sie sich selbst nennen, verfügen meist über eine gute Sprachbegabung, sind überdurchschnittlich intelligent und gehen häufig technischen Interessen nach – und das in obsessiver Weise ... .« (www.heise-medien.de/presseinfo.php/ tp,02,03_26_a/41)
»Seit langem schon leben Außerirdische auf dieser Erde, und gegenwärtig treffen sie Vorbereitungen, die Macht zu übernehmen. Sie sind eher bleich als grün und ihre Antennen bleiben für die Anderen meist unsichtbar. Oft werden sie, wenn sie aus ihren Höhlen kommen, als unbeholfen verlacht. Obwohl ein paar von ihnen Köpfe auf den Schultern tragen, die das Leben auf der Erde vollkommen verändert haben und noch mehr verändern werden. William Blake, der die Schönheit der Welt in einem Sandkorn entdecken konnte, Ludwig Wittgenstein, der mit zehn Jahren eine Nähmaschine baute und über den seine Mitschüler sagten, er sei »wie aus einer anderen Welt herbeigeschneit«, Albert Einstein, der sich selbst als »einsamen Besucher« auf der Erde bezeichnete, der ebenfalls nobelpreisgeschmückte John Nash, Vincent van Gogh, Glenn Gould, Isaac Newton, Emily Dickinson, Paul Klee, Wassily Kandinsky, Anton Bruckner, Bela Bartok, Steven Spielberg, um nur einige zu nennen und nicht zuletzt Bill Gates, der alte Rocker - gehören sie alle einer besonderen Spezies an, einer Spezies mit Eigenheiten, die im weitgespannten Regenbogen des autistischen Spektrums leuchten?« (www.autismus. brainsborough.de)
Es findet sich im Internet eine lockere Assoziation von Asperger-Syndrom mit Hochbegabung, ADHS und »berühmten Persönlichkeiten«. Auch existieren hier eine Vielzahl von diversen Selbsttests, die jedoch in der Regel keinerlei wissenschaftlichen Kriterien genügen. Diese Darstellung ist u. E. äußerst zwiespältig, einerseits nachvollziehbar und gut (»Menschen mit AspergerSyndrom sind nicht weniger wert oder ›schlechter‹ als Menschen ohne autistische Behinderung«!), andererseits wecken diese Assoziationen falsche Erwartungen und lassen ein einseitiges und unvollständiges Bild entstehen, das einer erfolgreichen Therapie nicht zugänglich ist. Geführt wird in diesem Zusammenhang auch eine Diskussion darüber, ob das autistische Spektrum nicht bis in die Normalität hineinreicht (Baron-Cohen 2000). Ist das Asperger-Syndrom eine pathologische Störung, die behandlungsbe-
6.1 Auswahl des Interventionssettings
dürftig ist? Ein dimensionales Modell der autistischen Störungen impliziert Verhaltenskontinuität, welches von normal bis zu »abnormal« verläuft. Doch was ist normal und was ist abnormal, können wir autistisch, etwas autistisch (autistische Züge) und nicht-autistisch unterscheiden? »Es ist unklar, wo ›normales‹Verhalten aufhört und Autismus beginnt. ›Rainman‹, im Film verkörpert durch Dustin Hoffman, erscheint als Querschnitt all dessen, was sich die Öffentlichkeit unter einem Autisten vorstellt: ein tapsigrührender Mensch zwischen Abkapselung und Hochbegabung« (Die Zeit, 28.06.2004). Angereichert wird diese Diskussion durch die mehr hypothetische, aber populäre These, autistische Störungen als eine Extremform des typisch männlichen Gehirns (Baron-Cohen 2004b) anzusehen bzw. zu erklären. Wir möchten uns dieser Diskussion nicht weiter anschließen, wollen aber darauf aufmerksam machen, dass in der Regel insbesondere Jugendliche mit Asperger-Syndrom, aber auch Eltern, sich mit diesen »Informationsquellen« und Thesen auseinandersetzen und dies die Diagnostik und die Therapie beeinflussen kann. ! Deutlich sollte werden, dass eine Auseinandersetzung mit dem Störungskonzept einen zentralen Stellenwert in der Therapie dieser Menschen hat und die Therapiemotivation nicht als selbstverständlich vorauszusetzen ist, sondern in vielen Fällen der erste Interventionsschritt ist.
6.1
Auswahl des Interventionssettings
In den meisten Fällen werden Kinder mit Asperger-Syndrom im Kindergarten oder in der Grundschule auffällig. Ihre mangelnde Kontaktfähigkeit, ihre Unfähigkeit, die Gefühle, Gedanken anderer Menschen angemessen zu erfassen, die Unfähigkeit, ein gemeinsames Spiel mit anderen Kindern einzugehen, die auffällige Sprechweise/Sprachverständnis, die Unfähigkeit, sich
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6
in der Kommunikation angemessen zu verhalten usw. erschwert bzw. macht eine Integration in die Gruppe unmöglich. Die Erzieher, Lehrer, die meist kaum Kenntnisse über diese Störung haben, wissen nicht mehr weiter. Es folgen u. U. Schuldzuweisungen an die Eltern, welche wiederum selbst nicht wissen »was mit ihrem Kind los ist«. Die Einschulung naht und die Eltern stellen sich die Frage: »Welche Schule ist richtig?« Aufgrund der guten kognitiven Fähigkeiten und der massiven sozialen Defizite stellt sich spätestens bei der Einschulung die Frage: Was hat das Kind und was kann man tun? Häufig kommt es zu einer Spirale aus Hilflosigkeit, Überforderung, Unwissenheit, Schuldzuweisungen usw., die nach unten führt. Die Auswahl des Interventionssettings wird einerseits durch den Schweregrad der Störung bestimmt, zum anderen durch die Möglichkeiten, die sich im Umfeld des Patienten finden. Ist die oben beschriebene »Spirale der Hilflosigkeit« schon sehr weit fortgeschritten, dann müssen die Maßnahmen entsprechend einschneidend und wirkungsvoll gestaltet werden, um die Abwärtsbewegung zu stoppen und neue Entwicklungsmöglichkeiten aufzuzeigen. In diesen Fällen kann eine teilstationäre oder stationäre Therapie angezeigt und sinnvoll sein, um das Umfeld zu entlasten und einen intensiven Einstieg in die Therapie zu ermöglichen. Auch um eine umfassende diagnostische Einschätzung (im o. beschriebenen Sinne) der Fähigkeiten und Defizite zu gewährleisten, kann eine teilstationäre bzw. stationäre Intervention sinnvoll sein, an die sich eine intensive Planung der weiteren Handlungsschritte anschließt. In . Tab. 6.1 sind die Indikationen für eine teilstationäre bzw. stationäre Intervention auf Seiten des Patienten und des Umfeldes aufgeführt. Die Dauer einer teil- oder vollstationären Intervention beläuft sich in der Regel auf einige Wochen bis Monate. An eine langfristige institutionelle Betreuung sollte gedacht werden, wenn sich die Symptomatik auch nach wiederholten teil- oder vollstationären Therapien nicht deut-
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Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
1
. Tab. 6.1. Indikationen für teilstationäres bzw. stationäres Interventionssetting
2
Patient
Umfeld
Schweres Ausmaß der Symptomatik
Massive Überlastung
Nicht mehr beschulbar, nicht gruppenfähig
Integration nicht möglich
4
Komorbide Störungen, die den Verlauf erheblich beeinträchtigen
Massive Überlastung
5
Krisen (z. B. Suizidalität, Selbstgefährdung)
Krisen im Umfeld (Fremdgefährdung, Eheprobleme, Scheidung, psychische Erkrankung eines Elternteils usw.)
6
Angst, Unruhe- und Erregungszustände
Ursachen nicht kontrollierbar (z. B. Umgebungsänderung) oder nicht ersichtlich
7
Aggressivität, Impulsivität
Nicht mehr steuerbar
Psychotische Zustandsbilder
Massive Überlastung
Keine ambulanten Therapieerfolge
Keine ambulanten Therapieerfolge
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lich bessert und eine massive Beeinträchtigung durch eine ausgeprägte Symptomatik die Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen im familiären oder schulischen Umfeld gefährdet. Autismusspezifische Therapie findet beim Asperger-Syndrom in der Regel jedoch im ambulanten Setting statt, da es sich aufgrund des Verlaufs der Störung immer um eine Langzeittherapie handelt. Auch nach einer teil- oder vollstationären Therapie ist es wichtig, die erzielten Therapieerfolge durch ambulante Interventionen zu stabilisieren und auszubauen. Die Wirklichkeit der tatsächlich verfügbaren ambulanten Therapieplätze ist leider ernüchternd: zum einen wegen regionaler »Löcher« im autismusspezifischen Versorgungssystem, zum anderen wegen der enorm langen Wartezeiten auf einen Therapieplatz oder gar einen Wohnheimplatz oder auf berufliche Maßnahmen für erwachsene Menschen mit Asperger-Syndrom, die meist ein Jahr oder länger betragen.
6.2
Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
Aufgrund der vermutlich genetisch bedingten hirnorganischen, jedoch bis heute noch nicht eindeutig benennbaren Ursachen autistischer Störungen und somit auch des Asperger-Syndroms sind bisher keine kausalen Behandlungsansätze vorhanden. Die Störung ist also bis heute ursächlich nicht behandelbar. Ziele einer angemessenen Intervention können daher nur sein: 5 Minderung oder Modifikation der Symptomatik, 5 Abbau störender und den Patienten in seiner Entwicklung beeinträchtigender Verhaltenweisen, 5 Aufbau konstruktiven, adaptiven Verhaltens unter Berücksichtigung angemessener Bewältigungsstrategien, 5 Einbeziehung der Familie und des sozialen Umfeldes in alle Behandlungsmaßnahmen. Ziel einer wie auch immer gearteten Intervention kann nur die Abschwächung der Symptome und der Auf- und Ausbau von Fähigkeiten sein,
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
um dem Patienten ein so weit wie möglich eigenständiges Leben mit größtmöglicher sozialer Integration und Lebenszufriedenheit zu ermöglichen. ! Die Interventionen sollten nicht primär mit dem Ziel durchgeführt werden, soziale Anpassung zu erreichen bzw. Individualität und Einzigartigkeit zu beseitigen, sondern die Anzahl möglicher Verhaltensweisen zu erhöhen, so dass der Betroffene Verhaltensalternativen hat. Es geht darum, die Chance zu haben aus einer Vielzahl von möglichen Verhaltensweisen, diejenigen auszuwählen, die der Person selbst, der Situation und den beteiligten Interaktionspartnern gerecht wird. Dies beinhaltet die Möglichkeit der Verhaltensflexibilität, im Gegensatz zu Verhaltensrigidität, die dann anzutreffen ist, wenn keine Verhaltensalternativen vorhanden sind.
Das Ausmaß der Symptome, der Defizite und der vorhandenen Fähigkeiten ist jedoch bei jedem Patienten unterschiedlich ausgeprägt, so dass (nach einer sorgfältigen Diagnostik!) immer ein individueller Therapieplan aufgestellt werden muss, angepasst an die Bedürfnisse des jeweiligen Patienten und dessen Familie. Dabei ist die Beachtung von Fähigkeiten, Stärken und Ressourcen besonders wichtig. Der Trend geht eindeutig dahin, verschiedene Methoden in einem multimodalen Therapieplan zu einem ganzheitlichen Behandlungsansatz individuell miteinander zu kombinieren (sofern sich diese Methoden nicht in ihren Grundprinzipien widersprechen). Das Repertoire umfasst, neben verhaltenstherapeutischen Maßnahmen, pädagogischen Programmen, Frühförderung, medikamentöse Therapie, Elternberatung, schulische und berufliche Förderung sowie körperbezogene Verfahren (z. B. Ergo- oder Physiotherapie). Wenn beispielsweise motorische oder visuellmotorische Defizite festgestellt werden, sollten diese durch Psychomotorik, motopädische Therapie oder Ergotherapie gefördert werden. Dabei
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6
sollten diese therapeutischen Maßnahmen in enger Kooperation mit den anderen Behandlern durchgeführt werden. Um die neu erlernten Fertigkeiten und Fähigkeiten kontinuierlich einzuüben und vor allem, um einen Transfer auf reale Situationen zu ermöglichen (Generalisierung), sind die Eltern als Ko-Therapeuten für eine erfolgreiche Therapie (im Sinne von Verbesserung der Symptomatik) unverzichtbar: Sie müssen umfassend über das individuelle Störungsbild ihres Kindes aufgeklärt und in der Anwendung der Interventionstechniken ausreichend geschult werden. Selbsthilfeorganisationen und Elternvereinigungen unterstützen und entlasten die Eltern bei dieser sehr aufwändigen und beanspruchenden Aufgabe. ! Eine autismusspezifische Therapie ist immer eine Langzeittherapie (zwei Jahre und mehr), da zum einen der Aufbau von Basis-Fähigkeiten wie z. B. der Theory of Mind, die sich bei normal entwickelten Kindern eher intuitiv und »nebenbei« entwickelt, bei Menschen mit einer autistischen Erkrankung sehr langer und geduldiger, expliziter Anleitung bedarf und aufgrund der mangelnden Fähigkeit zur Generalisierung in vielen verschiedenen realen Situationen geübt werden muss. Zum anderen ist eine phasenweise intensive Begleitung über die Entwicklung wichtig, da Entwicklungsschritte wie z. B. die Pubertät, die schon für gesunde Kinder oftmals Krisensituationen darstellen, autistische Menschen vor noch größere Probleme stellen.
Generell gilt für jedwede Form der Förderung und Therapie: Ein möglichst früher Beginn der therapeutischen Schritte ist von allergrößter Bedeutung für deren Erfolgsaussichten (was unter anderem auch in der Hirnentwicklung begründet ist). Das Dilemma dabei ist allerdings, dass die Diagnose eines Asperger-Syndroms in den meisten Fällen erst relativ spät (im Durchschnitt mit ca. 11 Jahren) gestellt wird. Es ist nicht möglich, in diesem Kapitel alle therapeutischen Interventionen, die zum Asper-
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Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
ger-Syndrom entwickelt oder daran angepasst wurden, aufzuführen. Es werden vielmehr jene vorgestellt, die häufig zum Einsatz kommen und nach Möglichkeit in wissenschaftlichen Studien auf ihre Wirksamkeit hin überprüft wurden. Dennoch lassen sich allgemeine Therapieinhalte ausmachen, die in der folgenden Übersicht dargestellt sind:
Behandlungskomponenten: 5 Psychoedukation des Patienten und seiner Bezugspersonen 5 Training sozialer und kommunikativer Kompetenzen – Theory of Mind 5 Förderung der Identitätsfindung 5 Förderung lebenspraktischer Fähigkeiten 5 Bearbeitung sekundärer Verhaltensprobleme 5 Schulische und berufliche Förderung 5 Einbeziehung der Eltern als Ko-Therapeuten
Wie wir (7 Kap. 3.7) bereits deutlich gemacht haben, hat die mangelnde Theory of Mind in der Symptomatik des Asperger-Syndroms einen besonderen Stellenwert. Hier ist insbesondere das implizite und schnelle Erfassen der emotionalen Komponenten und deren Integration zu den kognitiven Aspekten der Theory of Mind deutlich eingeschränkt bzw. nicht möglich. Menschen mit Asperger- Syndrom haben Defizite in der Emotionserkennung, in empathischen Reaktionsweisen, in der Fähigkeit, adäquate sozial-kognitive Attributionen zu bilden und in der Fähigkeit zur affektiven und kognitiven Perspektivenübername. Diese Defizite sind interindividuell sehr unterschiedlich ausgeprägt und müssen zunächst differenziert eingeschätzt werden. In der Therapie dieser Menschen geht es nun darum, diese Defizite für den Menschen mit Asperger-Syndrom selbst (und für seine Bezugspersonen!) erst einmal verständlich
zu machen (7 Kap. 6.2.2) und geeignete Interventionsschritte auszuwählen (7 Kap. 6.2.3 und 6.2.4). Die mangelnde Fähigkeit zur Theory of Mind, sowohl bezogen auf die eigene Person, als auch bezogen auf andere, macht es erforderlich, dass die Menschen aus der Umgebung (Eltern, Therapeuten, Lehrer, Mitschüler...) diese Funktion zunächst einmal »doppelt« übernehmen: Sie müssen sich in die Welt des Menschen mit Asperger-Syndrom einfühlen, aber auch bedenken, was beteiligte Interaktionspartner denken und fühlen und was von dem Patienten in einer bestimmten Situation erwartet wird. Zwischen diesen »Welten« zu vermitteln und sie einander näher zu bringen, ist eine zentrale Aufgabe aller Beteiligten. Um diese Aufgabe entwicklungsorientiert gestalten zu können, sollte man sich nochmals (7 Kap. 3.7) vor Augen führen, was für die Entwicklung der Theory of Mind förderlich ist: 5 Gute Sprachfähigkeiten – auch in emotionalen Bereichen! 5 Der Gebrauch »mentalistischer« Sprache durch die Eltern, d. h. Verbalisation von Gedanken, Gefühlen, Wünsche, Ansichten, Intentionen usw. Dies jedoch in einer Intensität, die das Kind/der Jugendliche erfassen kann, die nicht überfordernd ist (klare, eindeutige und gezielte Aussagen, statt indifferente, ambivalente, widersprüchliche und zu viele Aussagen). 5 Kontakt zu nicht-autistischen Kinder/ Jugendlichen, die über das Störungsbild aufgeklärt sind und das Kind/den Jugendlichen in seiner besonderen Art akzeptieren. 5 Gute Theory-of-Mind-Fähigkeiten des Umfeldes, d. h. einfühlsames Verstehen aus der Perspektive des Betroffenen heraus und Ableitung angemessener Verhaltenserwartungen und förderlicher Maßnahmen. 5 Hohe erzieherische Kompetenzen, die weder autoritär und rigide, noch gewährend und »alles entschuldigend« gestaltet sind. 5 Entwicklungsförderndes Spielen: »So-tunals-ob-Spiel« entsprechend dem Entwick-
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
lungsstandes des Patienten (vom einfachen Sozialspiel, bis zum kooperativen sozialen Fiktions-/Illusionsspiel in verschiedenen Rollen). Aus dieser Auflistung wird auch deutlich, dass diese Komponenten nicht (nur) in einer zeitlich begrenzten Therapie umsetzbar sind. Das gesamte Umfeld des Patienten (Familie, Schule ...) sollte mit einbezogen werden. Durchgeführt werden autismusspezifische Therapien meist ambulant, zur Zeit hauptsächlich von speziellen Einrichtungen wie Autismusambulanzen oder Autismustherapieinstituten (z. B. vom Bundesverband »Hilfe für das autistische Kind«), die deutschlandweit existieren und in denen Psychologen/-innen, Pädagogen/-innen sowie Heil-, Sozial- und Sonderpädagogen/-innen das ganzheitliche Behandlungskonzept umsetzen. Mit dem Krankheitsbild vollständig vertraute, niedergelassene verhaltenstherapeutische Psychotherapeuten/-innen oder Psychiater/-innen gibt es in Deutschland leider noch viel zu wenige. Wohnstätten für Menschen mit Asperger-Syndrom sind ebenfalls sehr rar und die wenigen Plätze sind meist schon langfristig vergeben. Kontinuierliche Interventionsarbeit wird auch vom Elternhaus sowie von Kindergarten oder Schule erwartet.
6.2.1 Krankheitsstadienbezogene
Komponenten Die Symptomatik einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung bleibt über die Entwicklung gesehen relativ stabil, Veränderungen in die eine oder andere Richtung sind meist eher moderater Art. Eine Verbesserung ist in der Regel nur durch intensive Förderung möglich, wodurch die Schwierigkeiten im späteren Jugend- oder Erwachsenenalter weniger deutlich auffallen, jedoch nie völlig verschwinden. Zu einer Verschlimmerung der Symptomatik kommt es größtenteils durch bedeutende Veränderungen
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im Umfeld des Patienten (z. B. Einschulung oder Schulwechsel, Umzug, Scheidung der Eltern, ...), durch kommunikative Missverständnisse, durch Entwicklungs- und Reifungsphasen (z. B. Pubertät) oder durch Veränderungen in den Bedingungen und im Verlauf evtl. vorhandener anderer Grunderkrankungen. Daher sollen im Folgenden als »Krankheitsstadien« Lebensabschnitte, ihre Problematik und die relevanten Interventionen dargestellt werden. Kindergarten Schon im Kindergarten fallen Kinder mit Asperger-Syndrom durch ihre mangelnde Integrationsfähigkeit auf. Sinnvoll ist daher ein Kindergarten, der integrative Gruppen anbietet, die durch eine kleinere Gruppengröße und durch die Betreuung von fachlich geschultem Personal gekennzeichnet sind. Die betreuenden Personen sollten über das Störungsbild genau informiert sein und in Absprache mit dem behandelnden Therapeuten gezielt die Entwicklung des Kindes fördern. Der Tagesablauf im Kindergarten sollte klar strukturiert sein und die bestehenden Regeln eindeutig und klar formuliert werden. Diese sollten auch visualisiert werden (durch eindeutige Symbole) und jederzeit zugänglich sein. Das Kind benötigt im Sozial- und Spielverhalten viel Unterstützung und Förderung. Diesbezügliche Fähigkeiten können nicht vorausgesetzt werden, sondern müssen systematisch geübt werden (s. u.). Der Übertritt in die Grundschule sollte gut geplant und vorbereitet werden. Schule Erfahrungsgemäß gestaltet sich die schulische Laufbahn, wenn ein gutes »Funktionieren« verlangt wird, bei den allermeisten Patienten extrem schwierig: Vor allem nach der Grundschule kommt es in den weiterführenden Schulen in den meisten Fällen zu einer Zuspitzung der Lage: Der Leistungsdruck steigt deutlich an; auf die Förderung einzelner »schlechter« Schüler wird immer weniger eingegangen; es wird erwartet, dass das Kind/der Jugendliche gelernt
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Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
hat, sich sozial angemessen zu verhalten und es werden Fähigkeiten gefordert, die gerade Menschen mit Asperger-Syndrom Probleme bereiten (z. B. in Gruppen zusammenarbeiten, sich bei der Lösung von Aufgaben generell selbst organisieren können, planerisches Denken bei mathematischen Aufgaben, Aufsätze schreiben ...). So eine Zuspitzung kann von milderen bis (leider in den meisten Fällen) massiven Verhaltensauf-
fälligkeiten und bis hin zu eingeschränkter oder nicht mehr möglichen Beschulbarkeit reichen. Die Kultusministerkonferenz aller Bundesländer hat in einer gemeinsamen Konferenz am 16.06.2000 »Empfehlungen zu Erziehung und Unterricht von Kindern und Jugendlichen mit autistischem Verhalten« herausgegeben (im Internet zu finden unter www.kmk.org). Hier heißt es:
Exkurs »Die Förderung von Kindern und Jugendlichen mit autistischem Verhalten erfordert eine Erziehung und einen Unterricht, die sich auf alle Entwicklungsbereiche beziehen. Für eine aktive Lebensbewältigung in größtmöglicher sozialer Integration und für ein Leben in weitgehender Selbstständigkeit und Selbstbestimmung sind spezielle Eingliederungs- und Lernangebote erforderlich. Sonderpädagogische Förderung hilft Kindern und Jugendlichen mit autistischem Verhalten bei ihrer Bewältigung von Schul- und Alltagssituationen und strebt als Bestandteil von umfassenden Eingliederungsmaßnahmen an, dass sie Zurückgezogenheit überwinden und Bildungsangebote nutzen können... Sonderpädagogische Förderung unterstützt und begleitet Kinder und Jugendliche mit autistischem Verhalten, die in ihrer geistigen Entwicklung schwer beeinträchtigt, aber auch hochbegabt sein können. Ihre Förderung ist Aufgabe aller Schulformen. Die Unterschiedlichkeit der Ausprägung der autistischen Verhaltensweisen erfordert eine individuelle Ausrichtung der pädagogischen Maßnahmen. Erziehungsziele, unterrichtliche Inhalte und Methoden müssen an der Individualität und an den pädagogischen Bedürfnissen des einzelnen Kindes oder Jugendlichen anknüpfen. ... Auf Grund ihrer veränderten Entwicklungs- und Lerngegebenheiten bedürfen Kinder und Jugendliche mit autistischem Verhalten im Unterricht besonderer pädagogischer Unterstützung. Unterricht wird dem besonderen Förderbedarf entsprechend
eigens bestimmt und angepasst. ... Bei den meisten Kindern und Jugendlichen mit autistischem Verhalten besteht sonderpädagogischer Förderbedarf. ... Es sind deshalb medizinisch-therapeutische, psychologische, pädagogische, soziale sowie pflegerische und technische Hilfen notwendig, ggf. mit der Unterstützung durch außerschulische Maßnahmeträger. ... Hierbei ist eine Abstimmung der verschiedenen Maßnahmen und Hilfen erforderlich, die es in ein pädagogisches Förderkonzept einzuarbeiten gilt. ... Die Anforderungen des Unterrichts sind differenziert und überschaubar auf den Entwicklungsstand zu beziehen, Unterforderung ist ebenso wie Überforderung zu vermeiden. ... Mündliche, schriftliche und praktische Aufgaben können wechselseitig ersetzt, die Bearbeitungszeit kann verlängert werden. Unterschiedliche Formen unterstützender Kommunikation können notwendig werden, um Nachteile aus Art und Schwere der Beeinträchtigung auszugleichen. Hierbei können Hilfen anderer Maßnahmeträger erforderlich sein. ... Unterricht und Erziehung für Kinder und Jugendliche mit autistischem Verhalten verlangen spezifische Kompetenzen der Lehrkräfte. ... Der Unterricht für Kinder und Jugendliche mit autistischem Verhalten ist grundsätzlich Aufgabe der Lehrkräfte aller Schulen ... . Regelmäßige Teilnahme an – ggf. auch länderübergreifenden – Fortbildungsveranstaltungen ist notwendig (S. 2–20, Hervorhebungen durch die Autoren).
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
Bei den Hilfen anderer Maßnahmenträger handelt es sich meist um sogenannte Schulbegleiter bzw. Integrationshelfer. Dabei handelt es sich um spezifisch für das autistische Kind eingestellte Sonderpädagogen (auch Heilpädagogen, Vertrauenslehrer der Schule, Sozialarbeiter, aber leider auch um fachlich nicht ausgebildete Kräfte), die dem Kind/dem Jugendlichen während des Schulbesuchs zur Seite stehen. Dies kann lediglich stundenweise erforderlich sein, kann aber auch den gesamten Schulbesuch abdecken. Die Einstellung eines Schulbegleiters wird von den Eltern bei den Maßnahmeträgern (Jugendamt bzw. Sozialamt) beantragt und in Absprache mit der Schule geplant und eingesetzt. In einigen Bundesländern gibt es spezielle Beratungslehrer bzw. Ansprechpartner für Kinder mit autistischen Störungen in der Schule.
Fragestellung. K. Köllner (2004) be-
schäftigte sich mit der Frage, welche Bedingungen geschaffen werden müssen, um ein Kind oder einen Jugendlichen mit Asperger-Syndrom in die Schule integrieren zu können. Anhand von Fragebögen wurden 26 Familien mit einem Kind/ Jugendlichen mit Asperger-Syndrom bzw. High-functioning-Autismus befragt. Ergänzt wurden diese Daten durch Literatur- und Internetrecherche und Gesprächen mit betroffenen Familien.
Methode.
Ergebnisse. Von den 26 befragten Pro-
banden besuchten 20 eine Grund- oder Regelschule bzw. Gymnasium, 6 eine Förderschule. Lediglich die Hälfte der Lehrer haben sich über das Asperger-Syndrom informiert bzw. weitergebildet und 10 Probanden wurden von einem Schulbegleiter betreut. 19 der Befragten nahmen einen Nachteilsausgleich in Anspruch,
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der folgende Maßnahmen umfasste: Zeitverlängerung für Klassenarbeiten, Befreiung von Schulfesten, Einzelsitzplatz, Referate zum Ausgleich für verpatzte Klassenarbeiten, Befreiung vom Chorsingen, kein Schwimmen, größere Exaktheitstoleranz in Geometrie (spezielles Lineal), Verlassen des Klassenraumes erlaubt (Auszeiten), Hofpause im Klassenzimmer, Befreiung von Textilunterricht, Schreiben von Klassenarbeiten in separatem Raum, Erledigung von Projektaufgaben in Einzelarbeit (statt in Gruppen),vergrößerte Arbeitsblätter. Frau Köllner resümiert, dass folgende Faktoren ausschlaggebend für das Gelingen der Integration sind: 5 kleine Klassen und übersichtliche Schulen, 5 ein gutes Verhältnis zu den Lehrpersonen, 5 Lehrer, die sich (freiwillig) über das Asperger-Syndrom informieren und fortbilden, 5 gut aufgeklärte und verständnisvolle Mitschüler, 5 Stärkung der sozialen Kompetenzen aller Schüler, 5 konstante Schulbegleitung, 5 Nachteilsausgleiche, 5 so wenig Lehrerwechsel wie möglich, 5 Rückzugsmöglichkeiten für den Schüler usw. »Was sich für die Eltern als überaus schwierig gestaltet, ist der Umgang mit Ämtern zwecks Erstreiten einer zustehenden Schulbegleitung. Auch auf den Schulämtern muss viel Überzeugungsarbeit geleistet werden, dass ein Kind mit Asperger-Störung noch lange nicht Schüler einer Förderschule sein muss, sondern dass es mit entsprechender Hilfe an Grund-, Regelschule oder Gymnasium gut bestehen kann« (S. 71).
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Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
Die Frage nach der »richtigen« Schule »Asperger-Autisten sitzen schulisch zwischen allen Stühlen. Im Gegensatz zu den mehrfachbehinderten und/oder intellektuell gravierend beeinträchtigten Autisten ist bei ihnen nichts eindeutig ... . Hinsichtlich der schulischen Eingliederung sind sie eine große Problemgruppe. Sie können zugleich zu wenig und zu viel, um eindeutig einer Schulform zugeordnet zu werden. Deutlich ist nur das, was sie brauchen: Förderung und Schutz.« (Oelsner 2000, S. 123). Auf die Frage nach der richtigen Schule gibt es keine generelle Antwort. Hingegen erscheint folgender Fragenkatalog (Oelsner 2000) sinnvoll: 5 Wo ist Schutz gewährleistet? 5 Wo sind Förderung und Forderung gewährleistet? 5 Wie belastbar erscheint die Klasse? Die Beantwortung dieser Fragen hängt ab vom: 5 Schulprogramm, 5 Bedingungsumfeld der Klasse (z. B. räumliche Möglichkeiten, Rückzugsmöglichkeit, reizarme Umgebung), 5 Stundenplanorganisation (Klassenlehrerprinzip oder Fachlehrersystem), 5 Sozialisationsstatus der Klasse, 5 Bereitschaft zur Kooperation mit dem Integrationshelfer, 5 Bereitschaft zur Kooperation mit den behandelnden Therapeuten. Es wird deutlich, dass die Suche nach der richtigen Schule vor allem von personellen und situativen Konstellationen abhängt und weniger von der Frage der grundlegenden Schulform. Die Frage nach der geeigneten Klassengröße ist ebenfalls nicht pauschal beantwortbar. Von »geschützten« kleineren Klassen mit ca. 6–15 Schülern profitieren sehr viele Kinder/Jugendliche mit Asperger-Syndrom. In normalen Klassengrößen ist ein gutes Funktionieren unter Umständen möglich, wenn die Lehrer bereit sind, sich auf die störungsspezi-
fischen Eigenheiten einzulassen und den Patienten diesbezüglich zu fördern. Dabei ist es kaum von Bedeutung, ob dies eine private oder staatliche Schule ist. Von privatem Einzelunterricht ist jedoch (außer in übergangsweisen Phasen der Nicht-Beschulbarkeit) abzuraten, da die Modellfunktion anderer Gleichaltriger für das Erlernen adäquater sozialer Verhaltensweisen auch für Menschen mit Asperger-Syndrom von großem Nutzen ist. ! Generell gilt: Nur wenn die Lehrer – gleichgültig welcher Schulart – bereit sind, sich auf das Störungsbild einzulassen, ist eine erfolgreiche Beschulung und Integration möglich. (Gleiches gilt für Arbeitgeber).
Die Lehrer darüber aufzuklären, was ein Mensch mit Asperger-Syndrom störungsbedingt nicht kann, ist daher essenziell wichtig, um dies im Umgang mit ihm/ihr zu berücksichtigen. Dies bedeutet, dass die Ansprüche an den betreffenden Schüler im Gegensatz zu »normalen« Schülern in bestimmten Bereichen deutlich reduziert werden müssen bzw. auch Nachteilsausgleiche einzufordern – vor allem dort, wo soziale Interaktionen gefordert werden, wie z. B. bei Gruppenarbeit. Auch ist normalerweise ein hohes Maß an Struktur notwendig. Diese Aufklärungsarbeit sollte von dem behandelnden Therapeuten durchgeführt werden, um die zumeist schon belastete Beziehung zwischen Eltern und Lehrer nicht noch mehr zu strapazieren. Generell ist eine enge Zusammenarbeit zwischen betroffenem Kind/Jugendlichen, Eltern, Lehrern und Therapeuten sehr wichtig, um größere Probleme in der Schule zu beheben oder gar nicht erst auftreten zu lassen. Oft ist es auch ratsam, die Mitschüler über die Eigenheiten eines Menschen mit Asperger-Syndrom zu informieren, da die Patienten sehr oft Hänseleien und Schikanen ausgesetzt sind, derer sie sich nur selten (und wenn, dann unangemessen z. B. durch Aggression) erwehren können. Es existieren mittlerweile einige vorbereitete Unterrichtsein-
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6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
heiten, die zum besseren Verständnis unter Mitschülern beitragen können [»Der sechste Sinn«, ausgearbeitet von Carol Gray, ist für Schüler ab 8 Jahren geeignet, (Regionalverband Mittelfranken 2002); eine weitere Unterrichtseinheit mit dem Titel »Unterricht über das Asperger-Syndrom« ist geeignet für Realschüler ab ca. der 8. Klasse, (Riedel 2003)]. Für den Umgang mit Kindern mit Autismus und Intelligenzminderung gibt es inzwischen auch ein Gruppentraining für Lehrer (Probst 2005), was eine erfreuliche Entwicklung ist, die hoffentlich noch weiter geht, im Sinne einer Erweiterung für Kinder mit autistischen Störungen ohne Intelligenzminderung, da in diesen Fällen i. d. R. andere Lehrergruppen angesprochen werden müssten (s. a. Moyes 2001). Da aber ein Umdenken bei den Mitschülern vermutlich nicht in jedem Fall erreicht werden kann und nach einer Aufklärung über das Störungsbild sich die Lage in der Klasse evtl. noch verschlimmern könnte, ist die Frage der Aufklärung der Mitschüler vorher sorgsam abzuwägen Berufsfindung/Ausbildung Wurde die Schule (mehr oder weniger) erfolgreich abgeschlossen, beginnt der nächste für die meisten Patienten äußerst schwierige Lebensabschnitt: Der Beruf. Es gilt eine Nische zu finden, in der die vorhandenen Fähigkeiten angemessen eingesetzt werden können, aber auf die Defizite Rücksicht genommen wird. Häufig kommt es in dieser Lebensphase zu Krisen (s. u.) und auch zu komorbiden Störungen, beispielsweise Depressionen. Die beruflichen Integrationsmöglichkeiten hängen mit der Ausprägung der Symptomatik, dem Vorliegen komorbider Erkrankungen und den persönlichen Ressourcen ab. Ungeeignet sind meist Berufe und Tätigkeiten, die Gruppenoder Teamarbeit erfordern, die mit Publikumsverkehr oder schnell wechselnden Aufgaben verbunden sind. Günstig kann es sein, wenn Sonderinteressen auch im Hinblick auf die Berufswahl berücksichtigt werden können. Die finan-
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zielle Förderung der Teilnahme an berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen, der Berufsausbildung (Duales System) in Betrieben, RehaEinrichtungen oder sonstigen außerbetrieblichen Einrichtungen sowie die anschließende Eingliederung auf dem Arbeitsmarkt fällt nach dem SGB III (Drittes Buch des Sozialgesetzbuches) fast ausschließlich in die Zuständigkeit des Arbeitsamts (7 Kap. 6.5). Der Berufsvorbereitung und der Arbeitserprobung kommt besondere Bedeutung zu, diesen sollte ein erhöhter Zeitbedarf eingeräumt werden Krisenintervention Als eine Krise versteht man Situationen, Zustände oder eine Phase in der Entwicklung eines Menschen, die durch Probleme oder Verhaltensweisen gekennzeichnet sind, welche aus dem bisherigen Erlebens- und Verhaltenskontext herausfallen und für die keine greifbaren Lösungsstrategien vorliegen. Sie sind gekennzeichnet durch Zustände der Verzweiflung, der Ausweglosigkeit oder gar durch Suizidalität. Beim Asperger-Syndrom lassen sich folgende mögliche »Ursachen« bzw. Auslöser für krisenhafte Störungen ausmachen: 5 Diagnosestellung, 5 Umwelt- oder Umgebungsveränderungen (z. B. Schulwechsel, Umzug), 5 Kommunikative Missverständnisse, 5 Probleme in der Schule, 5 Identitätskrisen, 5 Sexualität, 5 Ausbildung/Beruf. Schon die Diagnosestellung kann eine Krise für die Betroffenen selbst oder auch für die Eltern darstellen. Die Mitteilung der Diagnose sollte daher in altersangemessener Weise behutsam vorgenommen werden. Vor allen Dingen sollte die Diagnose mit konkreten Hinweisen für Interventionsmöglichkeiten verbunden sein (s. u.). Umwelt-
oder
Umgebungsveränderungen
führen häufig zu Ängsten, Unruhe- und Erre-
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Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
gungszuständen und Schlafstörungen. Dabei sind die Kinder/Jugendlichen in der Regel nicht in der Lage, ihre Ängste adäquat zu verbalisieren, da ihnen dies aufgrund der Beeinträchtigung der Theory of Mind schwer fällt. Ambivalente, uneindeutige Gefühle zu erleben bzw. zu ertragen, ist für diese Menschen eine große Schwierigkeit, die sie meist kaum selbst lösen können. Wichtig ist es hier, die Zusammenhänge zu erkennen, zu verbalisieren und adäquat darauf zu reagieren. Dies kann z. B. dadurch geschehen, indem mit dem Kind/Jugendlichen zunächst die Gefühle angesprochen werden und vorsichtig und in verständlicher Weise erklärt werden. Dann wird ein Verhaltensplan entworfen, bei dem das Kind/der Jugendliche schrittweise an die neue Umgebung/Umwelt gewöhnt wird. Es können jedoch auch Situationen entstehen, in denen schlicht und ergreifend gehandelt werden muss, wenn beispielsweise akute Erregungszustände vorliegen. Beispiel Der knapp 8-jährige Lars hatte mühsam und mit viel Förderung und Unterstützung gelernt, sich selbstständig anzuziehen. Bei diesem Vorgang hielt er stets eine stereotype Reihenfolge der Kleidungsstücke ein, die nicht gestört werden durfte. Bei einem Schwimmausflug der Schulklasse hatte Lars die Schwimmstunde – die für ihn schon viel Stress bedeutete – ohne Zwischenfälle überstanden und sollte sich nun anziehen. Leider übersah er in seiner stereotypen Reihenfolge die nasse Badehose auszuziehen, bevor er die Unterhose anzog. Nun stand er da und hatte eine nasse Badehose und eine nasse Unterhose an. Er geriet in einen heftigen Erregungszustand, den die herbeieilende Lehrerin zunächst nicht verstand, auf Lars einredete, andere Kinder liefen herbei und die Erregung von Lars – sein Schreien und Toben – wurden immer heftiger. Erst die dazugerufene Mutter konnte die Situation beenden, indem sie Lars die nassen Hosen vom Leib zog, ihn abtrocknete, anzog und nach Hause brachte.
In kommunikative Missverständnisse sind Menschen mit Asperger-Syndrom meist tagtäglich verwickelt, da sie aufgrund ihres konkretistischen Sprachverständnisses viele kommunikative Phrasen usw. missverstehen. Die Missverständnisse können aber auch Ängste oder ein aggressives Verhalten auslösen. Beispiel Eine erwachsene junge Frau mit Asperger-Syndrom berichtete, dass sie auf einer beruflichen Fortbildung war und am Ende der Eingangsveranstaltung wurde den Teilnehmern scherzhaft gesagt, dass sie nun aber schnell in ihr Hotelzimmer zurückgehen sollten, denn um 18 Uhr würden hier »die Bürgersteige hochgeklappt«. Voller Sorge lief die Frau ins Hotelzimmer und beobachtete den Abend über gebannt und voller Angst die Bürgersteige.
Beispiel Während des Aufenthaltes in einem Internat, in dem der 13-jährige Klaus beschult wird, kommt es zu massiven Auseinandersetzungen mit anderen Schülern. Klaus fühlt sich durch das Verhalten seines Zimmergenossen bedroht, er deutet dessen Verhaltensweisen als Angriff auf ihn – tatsächlich jedoch macht sich dieser nur etwas lustig über ihn – und greift den Zimmergenossen tätlich an.
Die Schule ist insgesamt ein großer Problembereich (s. o.) und es kann hier immer wieder zu Krisen kommen. Dies betrifft insbesondere Kontaktschwierigkeiten mit Mitschülern auf der Seite des Menschen mit Asperger-Syndrom, die leider häufig zu Hänseleien und Schikanen auf Seiten der Mitschüler führen, aber auch Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen sowie Hyperaktivität, Angst-, Unruhe- und Erregungszustände auf Seiten der Patienten. Der verstärkte Leistungsdruck in Kombination mit dem (meist mit zunehmendem Alter) »raueren« Klima in den Schulklassen und die (wachsende) Unsicherheit sowohl der Lehrer, Eltern, des Betroffenen selbst im Umgang miteinander, führen häufig zu schleichend beginnenden Prozessen,
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6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
die sich schließlich in einer akuten Krise entladen. In manchen Fällen kann die Beschulbarkeit durch diese Faktoren in Frage gestellt sein, so dass hier Interventionen dringend notwendig sind. Im Verlauf der Entwicklung kommt es bei den meisten Menschen mit Asperger-Syndrom zu deutlichen Identitätskrisen, die unter Umständen mit Suizidalität einhergehen können. Die Pubertät ist generell eine krisenanfällige Zeit. Die damit einhergehenden körperlichen Veränderungen, sexuellen Bedürfnisse und die begleitenden affektiven Turbulenzen werden häufig als bedrohlich erlebt und können nicht alleine bewältigt werden. Hinzu kommt die schwierige Thematik der Ablösung vom Elternhaus und die schwierige Berufs- und Ausbildungssituation für Menschen mit Asperger-Syndrom. Depressionen, Zwangsstörungen und teilweise psychotische Zustandsbilder können sich in diesem Rahmen entwickeln. Auch aggressive Durchbrüche kommen gelegentlich bei jüngeren Kindern oder aber im Jugend- sowie jungen Erwachsenenalter vor, hier dann oft mit sexuellen Bedürfnissen zusammenhängend, denen autistische Menschen mangels adäquater Reaktionsmöglichkeiten recht hilflos gegenüberstehen. Sexualität ist insgesamt ein schwieriger Problembereich, da Menschen mit Asperger-Syndrom aufgrund ihrer deutlichen Kontaktstörung, ihres Defizits im angemessenen Verstehen und Interpretieren sowohl ihrer eigenen als auch der Gefühle und Bedürfnisse anderer Menschen und der damit einhergehenden Kommunikationsstörung alles andere als gute Voraussetzungen haben, in diesem Bereich ein zufriedenes und erfülltes Leben zu führen. Die Annäherungsversuche dem anderen Geschlecht gegenüber werden häufig auch missverstanden und führen seitens der Umgebung oft zu unbedachten Reaktionen bzw. kommunikativen Missverständnissen. Aufgrund der mangelnden Fähigkeit zur Theory of Mind fällt es auch Menschen mit Asperger-Syndrom – trotz ihrer guten verbalen Fähigkeiten – häufig schwer, sich insbesondere in kri-
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senhaften Zuständen bezüglich ihrer Befindlichkeit, der Ursachen und Zusammenhänge zu äußern und adäquat um Hilfe zu bitten. Indikatoren sind Unruhe- und Angstzustände, Aggressionen, plötzliche und unvorhersehbare Verhaltensänderungen bzw. Änderungen in der Symptomatik (beispielsweise Zwangshandlungen, die neu auftreten), Schlafstörungen, vermehrter Rückzug oder auch Distanzlosigkeit, Einnässen oder Einkoten, weitergehende Intensivierung der Sonderinteressen und Verkennen der Realität. In einer krisenhaften Zuspitzung sollte der Interventionsfokus vorrangig auf die aktuellen Probleme gerichtet werden. Ist das Ausmaß der Symptome so groß (geworden), dass der Patient dadurch in seinem Alltag massiv eingeschränkt ist, eine Selbst- oder Fremdgefährdung vorliegt oder eine Gemeinschaft daran zu zerbrechen droht, muss (durchaus auch pharmakologisch) interveniert werden. Alle Arten von Kriseninterventionen müssen schnell und gezielt durchgeführt werden, um den akuten, krisenhaften Zustand schnellstmöglich zu beenden. Hier sind vor allem medikamentöse (7 Kap. 6.2.4) und umgebungsbezogene Maßnahmen (Behebung der für die Krise ursächlichen Umgebungsänderungen und Wiederherstellung der unmittelbaren Umgebung zur Beruhigung) sowie familienbezogene Maßnahmen (Verhalten der Familie in der Krisensituation analysieren, aber auch Eltern zu weniger Nachgiebigkeit und konsequenterem Erziehungsverhalten anleiten) zu nennen. Gegebenenfalls muss auch eine vorübergehende stationäre Aufnahme eingeleitet werden. Beispiel Der damals 15-jährige Torsten entwickelte eine derart massive Zwangssymptomatik, dass er für drei Monate stationär aufgenommen werden musste: Er litt seit einem guten halben Jahr zunehmend vor allem bei den Hausaufgaben unter massiv zwanghaften und ritualisierten Verhaltensweisen. So verbrachte er zuletzt über 8 h täglich mit der Anfertigung der Haus-
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Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
aufgaben. Das Hauptproblem hierbei war Torstens ausgeprägte Ordentlichkeit und Korrektheit bei der Lösung der Aufgaben. Zuletzt kam er immer später ins Bett, schlief nur noch 4–5 h pro Nacht und es kam auch zum Teil zu körperlichen Auseinandersetzungen mit seinen Eltern, die versuchten, ihn bei den Hausaufgaben zu unterbrechen. Interveniert wurde multimodal: gezielte Verhaltenspläne zur Strukturierung der Hausaufgaben und des gesamten Tagesablaufs sowie eine medikamentöse Behandlung mit Risperdal® (die auch nach der Entlassung fortgesetzt wurde), wodurch sich insgesamt Torstens innere Gespanntheit, seine aggressiven Durchbrüche und seine Schwäche in der Strukturfindung deutlich besserten.
6.2.2 Psychoedukative Maßnahmen Wie weiter oben bereits dargestellt, ist ein zentraler Bestandteil der Therapie die Vermittlung eines angemessenen Störungskonzepts. ! Jede Therapie, jede Förderung muss eingebettet sein in ein Akzeptieren des Menschen mit Asperger-Syndrom als einmalige Persönlichkeit, ein Wissen um die entwicklungspsychologischen und -pathologischen Zusammenhänge sowie in ein therapeutisches und pädagogisches Gesamtkonzept.
Aufklärung über das Störungsbild und die damit assoziierten Beeinträchtigungen und Besonderheiten in der Betreuung ist außerordentlich zentral für alle beteiligten Personen: den Patienten selbst, dessen Eltern und Geschwister sowie weitere Verwandte, die Kindergartenerzieher, später die Lehrer und evtl. auch die Mitschüler, Vorgesetzte und Arbeitskollegen sowie andere Personen, die im Alltag des Patienten eine Rolle spielen. Dabei geht es – nicht nur – um eine reine Informationsvermittlung, sondern um die Auseinandersetzung mit einem realen Selbstbild und einem Wunschbild. Diese Auseinandersetzung ist begleitet von Wünschen, Gedanken, Emotionen sowohl auf Seiten des Patienten
als auch der Eltern und benötigt eine behutsame und sensible Unterstützung und Begleitung in der Therapie. Das Verstehen um die eigenen Besonderheiten, die Möglichkeiten und Begrenzungen, die Fähigkeiten und Defizite der eigenen Person ist aber sowohl Weg als auch Ziel der Therapie. Die Einbettung des Störungskonzepts in ein adäquates Selbstkonzept ist ein ständiger Wegbegleiter der Therapie, den man nicht aus den Augen verlieren sollte. Die Aufklärung über die Diagnose ist mit Bedacht und mit großer Sorgfalt altersgerecht zu gestalten. Es gibt keinen »richtigen« Zeitpunkt, zu dem dieses geschehen sollte, sondern die Aufklärung ist dann angezeigt, wenn das Kind entsprechende Fragen (»Was ist mit mir, warum bin ich anders?«) stellt oder wenn Situationen entstehen, die eine entsprechende Aufklärung erforderlich machen. Es sollten lediglich die Informationen gegeben werden, die zum augenblicklichen Zeitpunkt verarbeitet werden können. Menschen mit Asperger-Syndrom neigen in ihrem Sprachverständnis zum Konkreten, sie verstehen abstrakte Begrifflichkeiten häufig nicht. Die Diagnose selbst ist aber etwas zunächst sehr Abstraktes und wenig Konkretes. Auch neigen Menschen mit Asperger-Syndrom oft dazu, in Extremen zu denken (etwas ist entweder gut oder böse, schwarz oder weiß ...), daher werden selbst vorsichtig formulierte Aussagen in dieser Hinsicht interpretiert (Beispiel: Die Aussage »Belanglose Gespräche zu führen, fällt dir vielleicht schwer« könnte verstanden werden als »kannst du nicht, lass es!« oder als »Ich kann Gespräche über ... führen, das stimmt also nicht« ...). Endlose Diskussionen, Kalkulationen (»Wie viel, wie häufig« ...), Spekulationen usw. sollten vermieden werden. Manche Menschen mit Asperger-Syndrom neigen auch dazu, ihre Störung zu ihrem Sonderinteresse zu machen, was selten mit Annehmen und Integration des Störungskonzeptes gleichzusetzen ist. Die Integration von kognitiven und emotionalen Aspekten des Selbstbildes ist das Ziel der Ausein-
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andersetzung. Dass dies ein ungeheuer schwieriger und wichtiger Lernschritt ist, ergibt sich aus der unzureichenden Entwicklung der Theory of Mind (7 Kap. 3.7). Zu erfahren, dass er/sie bestimmte Dinge störungsbedingt nicht kann (und er/sie nicht etwa »blöd« ist), stellt oft schon eine gewisse Entlastung für den Patienten dar. Eine Verbesserung des häufig sehr schlechten Selbstwertgefühls bei Kindern/Jugendlichen mit Asperger-Syndrom kann allerdings nur langfristig im Rahmen einer Therapie geleistet werden. Die störungsbedingten Ursachen seiner Beeinträchtigungen zu betonen birgt jedoch auch die Gefahr, dass sich der Patient auf diesem Status »ausruht« und wenig motiviert ist, an seinem Verhalten zu arbeiten. Beispiel Dies führte in einem besonderen Fall dazu, dass ein junger Mann gegenüber seinen Eltern jegliche Berufsausbildung ablehnte, denn das sei nichts für einen »Aspie«.
Dem sollte unbedingt entgegengewirkt werden, indem man deutlich macht, dass »beeinträchtigt sein« nicht bedeutet, »beeinträchtigt zu bleiben«. Diese Reaktionen auf die Diagnose »Asperger-Syndrom« sind als Strategien zu verstehen, mit der Störung zurechtzukommen und daher weder abzuwerten noch überzubewerten. Menschen mit Asperger-Syndrom ringen – wie viele andere Menschen auch – um ein positives Selbstbild. Insbesondere in der schwierigen Phase der Pubertät bzw. Adoleszenz, in der viele Vergleiche mit anderen Jugendlichen angestellt werden, kann es im Rahmen der hier beschriebenen Auseinandersetzung zu deutlichen Krisen kommen, die nicht zu unterschätzen sind. Hilfreich sind in diesem Zusammenhang die Arbeitsmaterialien »Ich bin was Besonderes« von Vermeulen (2002). Diese Arbeitsmaterialien verstehen sich nicht als Behandlungs- oder Therapiemethode, sondern als Teil eines allgemeinen Beratungsplans bzw. als Instrument, welches
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mittels umfangreicher Unterstützung und Anleitung angewandt werden kann (ebd. S. 13). Es ist hilfreich, den Prozess der Auseinandersetzung und Identitätsfindung anzustoßen, kann aber niemals diesen vollständig abschließen. »›Ich bin was Besonderes‹ dient lediglich der Vermittlung von Informationen über Autismus und kann daher häufig nur als Beginn eines weitgefächerten Prozesses psychologischer und psychotherapeutischer Beratung verstanden werden. Vor der Anwendung dieses Arbeitsbuches sollte man sich über die weitere Vorgehensweise im Klaren sein« (ebd. S. 134). Behandelt werden folgende Themenbereiche: 5 Jeder Mensch ist einzigartig, etwas Besonderes, 5 Wissen über den Körper, insbesondere den eigenen Körper (äußerlich und innerlich), 5 Grundwissen über Funktionen und Abläufe des Gehirns, 5 die Begriffe »Krankheit«, »Störung« und »Beeinträchtigung« werden allgemein erklärt, 5 Autismus als eine spezielle Beeinträchtigung wird differenziert erläutert. Dabei wird den Aspekten der Selbstachtung und der Einbeziehung der Eltern besondere Bedeutung beigemessen. Angemessenes Störungskonzept für die Eltern Ebenso zentral wie für den Patienten selbst ist die Erarbeitung eines angemessenen Störungskonzepts auch für die Eltern. Die Eltern sollten intensiv in die Therapie ihrer Kinder/Jugendlichen einbezogen werden (s. u.). Sie benötigen eine klare und eindeutige Aufklärung über die Diagnose, Behandlungsmöglichkeiten und Aussagen über die Prognose. Diese sollte so realistisch wie möglich sein, um den Eltern keine unbegründeten Hoffnungen zu machen, sie aber auch nicht in Hoffnungslosigkeit zu versetzen. Auch hier geht es wiederum um die Darstellung aller Fähigkeiten und Defizite, um die Eltern in
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einer realitätsgerechten Wahrnehmung ihres Kindes zu unterstützen. Bezüglich der Prognose sollte man sich auf konkret begründbare Aussagen begrenzen, detaillierte und verheißungsvolle Äußerungen sollten gemieden werden (sowohl im positiven, wie im negativen Sinne). Wichtig erscheint uns auch, die Eltern in ihrer emotionalen Auseinandersetzung mit der Diagnose ihres Kindes nicht alleine zu lassen, sondern sie auch in dieser Hinsicht zu begleiten. Häufig ist diese Auseinandersetzung begleitet von Schuldgefühlen, Ängsten, Hoffnungslosigkeit oder Gefühlen der Unzulänglichkeit, was in Einzelfällen auch in einer depressiven Störung münden kann. Andererseits erleben wir auch häufig Eltern, die in einer bewundernswerten Weise den Alltag ihrer Kinder gestalten, Hilfen organisieren, Kämpfe mit Ämtern austragen, sich selbst organisieren usw. Auch diese Eltern brauchen einen Platz, wo sie ihren Ängsten, Sorgen, unerfüllten Wunschvorstellungen Raum geben dürfen. Gerade Mütter scheinen dazu zu neigen, ihrem Kind mit Asperger-Syndrom noch mehr Aufmerksamkeit, Zuwendung und Zeit (usw.) zu widmen und geraten in eine Zwickmühle, da noch andere Kinder sie beanspruchen und/oder sie selbst dabei deutlich zu kurz kommen. In Erziehungsfragen brauchen Eltern eines Kindes mit Asperger-Syndrom ebenfalls Unterstützung und Beratung. Diese Kinder stellen hohe Anforderungen an die erzieherischen Kompetenzen ihrer Eltern, zugleich an Geduld, Einfühlungsvermögen, Ausdauer, Selbstsicherheit, Klarheit und Eindeutigkeit. Die Strategien, die in diesem Zusammenhang häufig anzutreffen sind, reichen von »bedingungslosem Annehmen und Akzeptieren der Symptomatik« bis zu »Überstrukturierung und Training ohne Ende«. Beispiel Die Eltern des 8-jährigen David berichteten, dass ihr Sohn in für ihn schwierigen Situationen schnell »vollständig ausraste«. Dies passiere sowohl in der Schu-
le, als auch zu Hause. Da sie der Ansicht seien, dass ihr Sohn sich »auch mal austoben müsse«, würde es häufig vorkommen, dass sie von ihm gebissen oder getreten würden. Beide Eltern wiesen an den Unterarmen bereits deutliche Spuren dieser »Maßnahmen« auf.
Beispiel Die Mutter eines anderen 9-jährigen Jungen mit Asperger-Syndrom lehnte eine intensive Behandlung ihres Kindes ab, denn »da wolle man ihren Sohn ja nur umkrempeln«.
Diese Beispiele sollen nicht ein Verhalten anprangern, sondern lediglich deutlich machen, dass erzieherische Maßnahmen ein wichtiges Thema in der Behandlung von Menschen mit AspergerSyndrom sind. ! Förderung und Erziehung sind die bedeutsamste Möglichkeit, auf das Verhalten und die Symptomatologie Einfluss zu nehmen.
Kinder mit Asperger-Syndrom benötigen besonderes Verständnis und Einfühlungsvermögen, Überforderung sollte vermieden werden; aber diese Kinder haben ebenso ein Recht auf Erziehung wie andere Kinder auch. Kinder oder Jugendliche mit Asperger-Syndrom mögen noch so gute kognitive Fähigkeiten besitzen, wenn es versäumt wird, ihnen grundlegende Regeln des sozialen Umgangs nahe zu bringen, wird es für sie trotz aller Begabung kaum eine Chance geben, selbständig und unabhängig zu leben und eine angemessene Arbeitsstelle zu finden. Der wichtigste Grundsatz in der Erziehung, ebenso wie in der Betreuung und Behandlung von Menschen mit Asperger-Syndrom, ist Strukturierung: Eindeutigkeit, Klarheit und Struktur in der Umwelt, im Alltag und im sozialen Umgang. Bei jüngeren Kindern können dazu auch visuelle Hilfen unterstützend sein. Diese Strukturierung darf jedoch auch nicht dahingehend ausarten, dass keinerlei Neuerungen oder Veränderungen mehr möglich sind; schließlich muss auch ein Mensch mit Asperger-Syndrom
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auf Veränderungen im Leben vorbereitet werden. Wichtig ist dabei, dass die Eltern Unterstützung (z. B. in Elternselbsthilfegruppen) erfahren. Beispiel Aussagen von Eltern zu der Frage: Was hatte einen positiven Einfluss auf ihren Alltag?: 5 »Ich habe gelernt, dass Klarheit das Wichtigste ist. Je klarer ich in meinem Verhalten und meinen Aussagen bin, desto besser versteht mich mein autistisches Kind und kann mich als Vorbild annehmen.« 5 »Die festen Strukturen und starren Regeln, die wir im Alltag geschaffen haben, sind sehr hilfreich das Verhalten von M. zu steuern. Unser Familienalltag (3 Kinder) hat durch die festen Zeiten und gleichen Abläufe an Ruhe und ›Zeit miteinander‹ gewonnen. M. kann sich hervorragend an den Zeiten orientieren. Besuch von Verwandten, Bekannten und Freunden können wir nur empfangen, wenn wir M. lange und intensiv darauf vorbereiten. Bei unangekündigten Besuch reagiert M. mit Wutanfällen und Schrei-Wein-Krämpfen, die sehr lange anhalten.«
Wichtige Grundsätze im erzieherischen Kontext Im Folgenden möchten wir einige wichtige Grundsätze im erzieherischen Kontext darstellen, die jedoch nicht vollständig sind, sondern lediglich einige wichtige Aspekte hervorheben. Konsequenz. Schon in der Erziehung von nicht-
autistischen Kindern ist stete Konsequenz wichtig, anstrengend und manchmal schwierig umzusetzen. In der Erziehung eines Kindes mit Asperger-Syndrom ist Konsequenz jedoch zentral! Sie ist die Voraussetzung dafür, dass diese Kinder Regeln und Strukturen lernen und generalisieren können. Daher sollen stets nur solche Regeln und Strukturen eingesetzt werden, die auch tatsächlich durchgehalten werden können.
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Hierarchie der Problembereiche. Lernziele soll-
ten klar definiert und begrenzt sein, denn zu viel zu wollen, kann alle Beteiligten überfordern. Realistische Lernziele richten sich nach dem aktuellen Entwicklungstand des Kindes/Jugendlichen und sollten hierarchisch geordnet werden. Über- und Unterforderung. Eltern können
meist gut einschätzen, was ein Kind/Jugendlicher schon kann und was nicht. Anforderungen sollten so gestaltet sein, dass der Betroffene sie wahrscheinlich erfüllen kann und dann gesteigert werden. Entwicklung bedeutet fördern und fordern, d. h. es sollte die richtige Mischung aus Bestätigung und Anforderung gefunden werden. Verstärker. Als positive Verstärker bezeich-
net man alles, was bewirkt, dass ein Verhalten in Zukunft häufiger auftritt. Positive Verstärker können essbarer Natur sein (das was der Betroffene mag), materielle Dinge (z. B. begehrte Objekte), aber auch sprachlicher (z. B. Lob) oder auch sozialer Art (z. B. gemeinsame Aktivität). Negative Verstärker sind solche, die die Entfernung eines unangenehmen Stimulus implizieren, wodurch dieses Verhalten ebenfalls häufiger auftritt. Ein Beispiel: Ein Kind bittet in angemessener Form darum, einen Pullover, den es als sensorisch unangenehm erlebt, wieder ausziehen zu dürfen. Das angemessene Verhalten wird verstärkt, indem der unangenehme Reiz entfernt wird. Andererseits ist es aber auch eine negative Verstärkung des Verhaltens, wenn das Kind dieses durch einen Wutausbruch erreicht. Aus dieser Sicht ist auch die dauernde Beschäftigung mit den Sonderinteressen eine Verstärkung, da der Patient so für ihn schwierige beispielsweise soziale Situationen beendet. Ein Verstärker definiert sich stets aus der Sicht der Betroffenen. Ein Verstärker ist nicht das, was die Eltern als attraktiv und reizvoll ansehen, sondern das, was das Kind/der Jugendliche attraktiv und reizvoll findet. Es ist hilfreich, sich unter diesem Aspekt verschiedene Alltagssituationen
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Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
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zu betrachten und nach »versteckten« Verstärkern für problematisches Verhalten zu schauen und nach positiven Verstärkern Ausschau zu halten (s. a. Richman 2004).
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Hilfestellungen – Prompts. Um Menschen mit
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Asperger-Syndrom in ihrer Selbstständigkeit zu fördern, brauchen sie Hilfen, die dann langsam wieder ausgeblendet werden sollten. Dieses Ausblenden sollte so früh wie möglich und so spät wie nötig geschehen, auch wenn manche Verhaltensweisen (z. B. selber Anziehen) dadurch erheblich länger dauern oder anstrengender sind. Generalisierung. Sie bedeutet, dass ein gelern-
tes Verhalten auch in anderen Situationen und Kontexten als dem gelernten auftritt. Dieses ist bei Menschen mit Asperger-Syndrom häufig ein Problem. Aufgrund ihrer geringen zentralen Kohärenz, der am Detail orientierten Wahrnehmung sind für sie Situationen sehr unterschiedlich, erst eine ganzheitliche Wahrnehmung führt dazu, dass Situationen als ähnlich oder gleich eingeschätzt werden. Gelerntes Verhalten bleibt damit auf die spezifische Situation begrenzt, in der es gelernt wurde. Daher ist es notwendig, das Gelernte in möglichst vielen »verschiedenen« Situationen und Kontexten (zu Hause, in der Schule, mit unterschiedlichen Personen usw.) zu üben. Aufbau von Verhaltensweisen – Shaping. Kom-
plexe Verhaltensweisen werden in einzelne Lernschritte zerlegt und sukzessiv gelernt. Ein Beispiel: Um ein angemessenes Verhalten bei der Begrüßung von fremden Personen zu erlernen, wird zunächst geübt, sich der Person in angemessener Distanz zu nähern, dann wird das »Hand geben« geübt, dann die verbale Begrüßungen usw. Verkettung von Verhaltensweisen – Chaining. Zu lernendes Verhalten wird schrittwei-
se gelernt, indem auf bereits gelerntem Ver-
halten aufgebaut wird. Beispielsweise können Fertigkeiten im Rahmen von Sonderinteressen mit anderen – mehr sozialen Fertigkeiten – verkettet werden. Das besondere Interesse für Computer kann dazu genutzt werden, dass der Mensch mit Asperger-Syndrom andere Kinder hierin unterrichtet und dabei unterstützt wird, in angemessener Weise mit anderen Kindern umzugehen. Entwicklung einer Theory of Mind Die Entwicklung in diesem Bereich erfolgt nicht naturgemäß und unwillkürlich, sondern muss gefördert, geplant und bewusst gesteuert werden. Dazu gehört, dass Emotionen an- und ausgesprochen werden, sie müssen spielerisch geübt werden, damit sie erkannt und benannt werden können. Auch das Ausdrücken von Emotionen muss »erlernt« werden, um den Betroffenen in seiner Affektregulation zu unterstützen. Hier sind häufig auch Visualisierungen hilfreich, indem beispielsweise Emotionsbilder hergestellt werden, Maßeinheiten für Emotionen entworfen werden, Körpersprache dargestellt wird usw. Soziale Situationen müssen erklärt und genau besprochen werden, um das Verständnis zu fördern. Das, was emotional nicht verarbeitet werden kann, sollte durch kognitive Strategien kompensiert werden. Auch hier gilt das Prinzip der Generalisierung: Um einen möglichst großen Lernerfolg zu erzielen, müssen viele unterschiedliche Situationskontexte besprochen und geübt werden. Dabei sollten folgende Komponenten beachtet werden: 5 Wahrnehmung: Was nimmt der Betroffene wahr, was ist relevant? Lernziel: Wahrnehmung von sozial relevanten Hinweisreizen, Blickkontakt, Förderung der zentralen Kohärenz. Hilfreich: einfache Bilder, Wahrnehmungsspiele (z. B. »Ich sehe was, was du nicht siehst«), der Alltag mit seinen vielen Reizen. Dies ist der erste, aber auch der wichtigste Schritt in Richtung einer Theory of Mind, denn wenn dieser
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6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
Schritt nicht gut gelernt wurde, dann können die nachfolgenden nur unzureichend gelernt werden. Daher sollte dies stetig und in möglichst vielen Kontexten und verschiedenen Schwierigkeitsgeraden geübt werden. 5 Emotionserkennung: Wie fühlt sich der wahrgenommene Mensch? Wie fühle ich mich selber? Lernziel: Differenzierung verschiedener Emotionen. Sinnvoll ist ein abgestuftes Lernen: Zunächst primäre Emotionen, dann sekundäre Emotionen bei den folgenden Lernschritten. –
Erkennen von Emotionen in schematischen Darstellungen, z. B. Cartoons,
Smileys (s. z. B. kikt-thema.de). Hilfreich sind Smileys oder diverse Cartoons, Kinderbücher, bei denen man insbesondere auf emotional relevante Hinweisreize achten sollte. – Erkennen von Emotionen in Fotografien. Hilfreich sind Kinderbücher oder auch spezielle Lernprogramme (Baron-Cohen 2004a; Bölte et al. 2002). Im Internet (unter www.dotolearn.com/games/facialexpressions/face) findet man beispielsweise ein computeranimiertes Gesicht, welches verschiedene Emotionen darstellt. Der Clou dabei ist, dass dieses Gesicht per Mausklick variiert werden kann. So lassen sich verschiedene Emotionen variationsreich selbst gestalten. Im Internet (beispielsweise unter www. do2learn.com) finden sich weitere Emotionsspiele, zwar sind diese in englischer Sprache, aber sehr einfach gehalten, da sie für Kinder gedacht sind. – Erkennen von Emotionen in Situationen. Hilfreich ist es, möglichst alltägliche Situationen zu nutzen, um diese Fähigkeit zu üben. Aber auch hier sind wieder Geschichten, Bücher, Filme gut geeignet. Dabei kommt es jedoch darauf an, dieses Material gemeinsam anzuschauen und im Hinblick auf soziale The-
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men zu besprechen, ein Anschauen alleine ist nicht wirksam. Beispielsweise werden in England die Geschichten um »Thomas die Lokomotive« für Kinder mit autistischen Störungen angepriesen (www.myfavoritetoys.com/autism_thomas), da diese Figur in einfachen, kurzen Geschichten eine Vielzahl von Emotionen deutlich und variationsreich ausdrückt. 5 Spielverhalten fördern
Lernziel: Weiterentwicklung in Richtung komplementäres, reziprokes, kooperatives und soziales Spiel. Hilfreich: Verstärkung, Shaping und Chaining (s. o.), Spielverhalten vorbereiten und begleiten durch Eltern 5 Sozial-kognitive Attribuierungen fördern
Lernziel: »Bewusstsein« dafür fördern, dass Menschen unterschiedliche Perspektiven und unterschiedliche Bezugssysteme haben: – Menschen wissen verschiedene Dinge, – Menschen fühlen verschieden, – sie denken verschieden, – sie sind unterschiedlich motiviert, – sie wünschen sich verschiedene Dinge usw. Hilfreich sind Geschichten, Bücher, Filme, die einen sozialen Inhalt entwicklungsangemessen darstellen. Diese Inhalte müssen explizit besprochen werden, dies kann z. B. auch geschehen, indem das Erlebte in einfachen Zeichnungen dargestellt wird, um den Ablauf von Interaktionen zu verdeutlichen (sog. »Comic Strip Conversations«, Gray 1994). 5 Perspektivenübernahme fördern
Lernziel: Fähigkeit, Situationen aus der Perspektive anderer Menschen wahrzunehmen und empathisch nachzuvollziehen. Hilfreich: Rollenspiele, bei denen der Betroffene verschiedene Rollen körperlich, kognitiv und emotional einnimmt.
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Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
5 Pragmatische Regeln der Kommunikation einüben:
– Ist der Interaktionspartner bereit zuzuhören? – Welche körperliche Nähe/Distanz ist angemessen? – Was tut er/sie (auf Mimik und Gestik achten)? – Wie fühlt er/sie sich? – Möchte er/sie unterbrochen werden? – Was sind relevante Themen in dieser Situation? – Was für Informationen braucht er/sie um zu verstehen? – Wie viel Details sind relevant? Usw. 5 Förderung der exekutiven Kontrolle
Lernziel: planerisches Denken, kognitive Flexibilität usw. erhöhen, um die Fähigkeit zur Selbstkontrolle zu fördern. Hilfreich: alltägliche Tätigkeiten, bei denen der Betroffene sich zunehmend mehr selbst organisieren muss. 5 Selbstbewusstsein und Identität fördern
Lernziel: Sich selbst und die dazugehörige Störung akzeptieren und positiv zu bewerten. Hilfreich: liebevoller Umgang und Information. 5 Klare Unterscheidung zwischen Phantasie und Realität fördern
Lernziel: Etwa ab der Pubertät sollte von den Eltern eine klare Linie gezogen werden zwischen Phantasie und Realität und das Kind/ den Jugendlichen nicht in einem indifferenten Umgang bestärkt werden. ! Worauf es ankommt, ist die Integration dieser Aspekte, d. h. die Integration von kognitiven und emotionalen Perspektiven zu einem empathischen Verstehen, indem die Selbst- und Fremdwahrnehmung zu einem empathischen Mitempfinden und Verstehen des Interaktionspartners führt (7 Kap. 3.7).
5 Sonderinteressen begrenzen bzw. kultivie-
ren, d. h. in einen sozial angemessenen Rahmen stellen und als gezielte Verstärker einsetzen (s. o.). 5 Umgang mit impulsiven Verhaltensweisen – Wut, Ärger, Aggression, Angst. Diese stel-
len häufig ein großes Problem in den Familien dar. Häufig kommt es auch vor, dass ein Kind mit Asperger-Syndrom in der Schule sich relativ gut angemessen verhalten kann, zu Hause dann aber sehr emotionsgeladen und aggressiv reagiert. Hier gilt es, Verhaltensalternativen aufzubauen und klare Regeln aufzustellen, die dieses Verhalten angemessen kanalisieren (indem beispielsweise nach der Schule zunächst regelmäßig eine eindeutige Pause oder körperliche Aktivität vereinbart wird). Der wichtigste und manchmal vielleicht auch schwierigste Grundsatz in Situationen, in denen es zu einer Eskalation gekommen ist: Selber ruhig bleiben. Das Kind/der Jugendliche mit Asperger-Syndrom ist schon mit seinen eigenen Emotionen überfordert und daher ist es nicht hilfreich noch mehr Emotionen ins Spiel zu bringen. Zunächst einmal sollte der Betroffene beruhigt werden, in der Weise, die für ihn beruhigend ist, d. h. zum Beispiel nicht unbedingt Körperkontakt, sondern indem die emotionsauslösende Situation erkannt und beendet wird. Dies heißt jedoch nicht, dass eventuell vorhandene Anforderungen (wie z. B. Hausaufgaben oder ähnlich unangenehme Aufgaben) dem Betroffenen abgenommen oder nicht mehr gestellt werden. In der Situation selbst sollte nicht zu viel besprochen werden, da dies akut noch zu verwirrend sein kann. Hat sich das Kind/der Jugendliche beruhigt, dann sollte die Situation jedoch ausführlich besprochen werden, um zu klären, was passiert ist und warum. Dazu sind folgende Fragen hilfreich:
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6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
– Was ist passiert, wie wurde die Situation wahrgenommen? (Wahrnehmung des Betroffenen und Wahrnehmung der Interaktionspartner erfragen) – Mit welchen Emotionen hat der Betroffene reagiert? Diese sollten altersangemessen, klar und konkret verbalisiert werden. – Welcher Emotionsausdruck wäre angemessen? Kann die empfundene Emotion auch anders ausgedrückt werden? – Was für Verhaltensalternativen gibt es? – Wie könnte man diese umsetzen? Beispiel Die Mutter eines 8-jährigen Sohnes berichtete, dass ihr Sohn in vielen Situationen, die für ihn schwierig seien, davon sprechen würde, dass er sich umbringen wolle. So sei die Familie beispielsweise zu einem Ausflug zu einem Schloss unterwegs gewesen und das Schlossmuseum sei leider an diesem Tag geschlossen gewesen. Der Sohn habe sehr heftig reagiert, als sie dies feststellten und habe gesagt, dass er nun sterben wollen, er würde sich am liebsten von einer Brücke stürzen usw. Die Situation wurde von ihm sehr frustrierend empfunden, schließlich war der den ganzen Berg zu Fuß hochgelaufen. Er empfand Wut und Ärger, diese Gefühle konnte er aber nicht einordnen. Auf wen sollte er wütend sein, auf die Museumsbetreiber, auf seine Eltern, auf sich selbst? ! Die beschriebene Deeskalation umfasst folgende Verhaltensschritte: 5 Emotionsauslösende Situation beenden, 5 Emotionen herunterregulieren, 5 kognitive Strukturierung der Situation und der beteiligten Emotionen, 5 Verhaltensalternativen erarbeiten und einüben.
Oft werden die Patienten von ihrem Umfeld – vor allem sozial – massiv überfordert, da man ihnen ihre Beeinträchtigungen auf den ersten Blick nicht ansieht. Doch auch nahe Verwandte sind sich der teilweise enormen Diskrepanzen
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zwischen dem durchschnittlichen bis überdurchschnittlichen kognitiven Leistungsniveau und der stark beeinträchtigten Fähigkeit, dieses Wissen in Selbstständigkeit im Alltag umzusetzen, oft nicht bewusst. Daher ist es sinnvoll, auch diese mit in die Behandlung mit einzubeziehen bzw. aufzuklären. Insbesondere auch Geschwister brauchen eine altersangemessene Erklärung für die Verhaltensweisen und den Umgang mit dem betroffenen Geschwisterkind. Bei aller Sorge um das Kind/den Jugendlichen mit AspergerSyndrom sollten auch die Geschwister nicht vergessen werden, denn sie haben ein erhöhtes Risiko, selbst psychische Störungen zu entwickeln (Rutter et al. 1997).
6.2.3 Psychotherapie Noch bis in die 1980er Jahre wurde Autismus als eine emotionale Behinderung angesehen, die durch ein inadäquates Verhalten der Mutter ausgelöst wurde (sogenannte »Kühlschrankmütter«). Diese Annahmen über die Ursachen des Autismus führten zu unangemessenen Behandlungsmethoden nach psychoanalytischen Prinzipien, in denen z. B. als Konsequenz das Kind oftmals von der Mutter getrennt wurde (Bettelheim 1967). Empirische Beweise über die Wirksamkeit derartiger Behandlungen konnten jedoch eindeutig nicht erbracht werden. In der nachfolgenden Übersicht sind die gängigen Interventionstechniken hinsichtlich ihrer ermittelten empirischen Effektivität aufgelistet (s. a. Rogers 2000; Koegel et al. 2001; Weiß 2002; Bölte u. Poustka 2002; Poustka et al. 2004).
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Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
Einschätzung der Interventionstechniken in der Behandlung des AspergerSyndroms 1. Empirisch gut abgesicherte und allgemein anerkannte Verfahren: generell verhaltenstherapeutische Verfahren und Therapieprogramme [z. B. ABA-Ansatz (Lovaas 1987); TEACCH (Mesibov 1997)] 2. Empirisch mäßig abgesicherte, aber potenziell wirksame Verfahren: Trainings sozialer und kommunikativer Fähigkeiten: Theory-of-Mind-Trainings, Social Stories 3. Empirisch nicht abgesicherte, aber in bestimmten Fällen sicherlich hilfreiche Verfahren: Ergotherapie, Physiotherapie, sensorische Integration 4. Zweifelhafte Methoden: Festhaltetherapie, Diäten, Vitamin- und Mineralstofftherapien, Sekretin, auditives Integrationstraining 5. Weitere nach Elternberichten förderliche Verfahren: Reittherapie, aktive (ggf. unterstützte) Freizeitgestaltung (z. B. Sport, Musik, Schachverein usw.)
Die meisten heutigen Interventionen für autistische Menschen und deren Familien basieren auf pädagogischen und verhaltenstherapeutischen Ansätzen, die von einer hirnorganischen Ursache der Störung ausgehen. Dabei ist das Ziel, dem Patienten ein so weit wie möglich eigenständiges Leben zu ermöglichen, indem man Symptome reduziert und Fähigkeiten auf- und ausbaut. Geeignete Psychotherapieverfahren sind solche, die dieses im Sinne eines Trainings leisten können; vor allem sind hier verhaltenstherapeutische Verfahren zu nennen, die jedoch – spezifisch für das Asperger-Syndrom – um kognitiv-behaviorale Aspekte erweitert und ent-
wicklungsorientiert gestaltet sein sollten (s. u.). Dabei sollten die Interventionen hoch strukturiert sowie direktiver und konkreter als normal üblich sein. Auch wird es deutlich mehr Wiederholungen bedürfen, bis der Patient das Gelernte verinnerlicht hat. Die individuelle Behandlung in einer Einzeltherapiesituation kann den nötigen Rahmen aus Struktur, Anleitung, Information und Unterstützung geben, den ein Mensch mit Asperger-Syndrom braucht, um verschiedenste Fähigkeiten für ein Leben in unserer Gesellschaft zu erlernen. Allerdings muss angemerkt werden, dass aufgrund der hirnorganischen Einschränkungen nicht alle Fähigkeiten in dem Ausmaß gefördert werden können, wie dies nötig ist. Oft sind daher Anpassungen im Umfeld des Patienten (i. S. von Anpassung der Erwartungen an den Patienten) ebenfalls wichtige Bestandteile einer Intervention, um die teilweise stark unterentwickelten und schwer förderbaren Fähigkeiten weniger ins Gewicht fallen zu lassen. Einen wichtigen Stellenwert nehmen in der Therapie auch die Bearbeitung der emotionalen Problematik (z. B. wenig Zugang zu eigenen Gefühlen, impulsive Durchbrüche, Umgang mit Sexualität, aber auch ein in den meisten Fällen schlechtes Selbstwertgefühl), komorbider Störungen wie Depressionen, Zwangsstörungen oder Phobien sowie die Förderung der Identitätsfindung ein. Eine reine Gesprächstherapie ist aufgrund der meist geringen Fähigkeit zur Selbstreflexion nur bei einer geringen Anzahl von Menschen mit Asperger-Syndrom hilfreich. Keine Behandlungs- oder Fördermethode kann bislang für sich beanspruchen, das Asperger-Syndrom oder andere Autismus-SpektrumStörungen zu heilen. Dennoch gibt es immer wieder den Glauben an »Wundertherapien«, die in Einzelfällen (aus welchen Gründen auch immer) große Erfolge zu bringen scheinen, aber häufig wissenschaftlich nicht begründet sind und gewissen Modetrends unterliegen: Mal waren es die Vitamintherapien, die Gabe von Spurenelementen, Sekretin und bestimmte Diäten, dann
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
die gestützte Kommunikation (für nichtsprechende frühkindliche Autisten). Besondere Bedeutung hat auch beim Asperger-Syndrom die frühe Diagnostik und Behandlung. Auch wenn die Diagnose eines AspergerSyndroms meist erst relativ spät gestellt wird, so sollten Entwicklungsverzögerungen jeglicher Natur durch früh einsetzende Diagnostik und Behandlung erkannt und behandelt werden. Dazu sollte ein differenziertes Entwicklungsprofil des betroffenen Kindes erstellt werden und durch gezielte Übungsmaßnahmen die Entwicklung des Kindes gefördert werden. Solche Fördermaßnahmen sind bereits für den frühkindlichen Autismus evaluiert worden (Rogers 1996) und es zeigte sich bei diesen Kindern überwiegend eine signifikante Beschleunigung der Entwicklung. Allgemeine Interventionsstrategien ! Alle Interventionsstrategien – einschließlich Erziehung, Lern- und Unterrichtsmethoden, verhaltstherapeutische Interventionen, Strategien der Emotionsregulation, Training der sozialen und kommunikativen Kompetenzen – sollten in einer sorgfältig geplanten, konsequent durchgeführten (in verschiedenen Settings, Situationen und bei verschiedenen Personen) und individualisierten Weise konzipiert und implementiert werden (Klin u. Volkmar 2000).
Die folgenden grundlegenden Überlegungen (Klin u. Volkmar 2000b) sollten verstanden werden als Hinweise für eine »bestmögliche« Herangehensweise, die jedoch in großem Maße von den individuellen Besonderheiten des jeweiligen Patienten abhängig ist. Jeder Mensch mit Asperger-Syndrom hat seine besondere, individuelle Art des Sprachverständnisses, der Rigidität, der sozialen Ungeschicklichkeit, der Fähigkeiten zur Einsicht, der kommunikativen Besonderheiten usw., die stets beachtet werden sollte.
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Dogmatismus sollte vermieden werden und praxisnahen Gesichtspunkten Platz machen. 1. Die soziale Wahrnehmung sollte bei jeder sich bietenden Gelegenheit explizit geübt werden. Es gilt, die sozial relevanten Hinweisreize wahrzunehmen und relevante von irrelevanten Reizen unterscheiden zu lernen. Unterschiede in der Wahrnehmung bzw. Interpretation einer Situation durch den Menschen mit Asperger-Syndrom und die beteiligten Interaktionspartner sollten explizit besprochen werden. 2. Problemlösefähigkeiten allgemein, aber auch in Bezug auf alltägliche Routinen, sollten in einer möglichst expliziten und evtl. mechanisch geübten Weise erlernt werden (von einfachen zu komplexen Aufgaben übergehend). Durch gezielte und konkrete verbale Instruktionen, die wiederholt und eingeübt werden, werden die Verhaltenweisen Schritt für Schritt effektiv trainiert. Dazu sind häufig auch die Einführung von Routinen und Plänen (z. B. zur Tagesstrukturierung, Schulablauf, Hausaufgabenstrukturierung usw. hilfreich) sinnvoll. Allerdings sollte dabei stets Spielraum zur flexiblen Gestaltung und zur Veränderung bleiben. 3. Spezifische Problemlösefähigkeiten sollten für den Umgang mit problematischen Situationen eingeübt werden (z. B. Schulpause oder andere unstrukturierte Situationen). Das Erkennen von problematischen Situationen sollte ebenfalls trainiert werden. 4. Neue Situationen sollten zunächst intensiv geplant und besprochen werden. Der Mensch mit Asperger-Syndrom braucht hierfür klare Verhaltensinstruktionen, auf die er zurückgreifen kann. 5. Von größter Bedeutung ist es, die Fähigkeit zur Generalisierung des Patienten zu steigern. Dazu ist es notwendig, dass eine klare Absprache zwischen den an den verschiedenen Lebensbereichen des Patienten beteiligten Personen erfolgt (Absprache von Lernzielen, Interventionen, Lernfortschritte
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Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
usw.). Die Generalisierungsfähigkeit sollte ein explizit formuliertes Lernziel darstellen und es sollten entsprechende Überlegungen angestellt werden, wie dies erreicht werden kann. Es reicht nicht aus, wenn beispielsweise lediglich in der Therapiesituation bestimmte Lernziele (Emotionen erkennen anhand eines Computertrainings) erreicht wurden, sondern die Übertragung in den Lebensalltag ist der wichtige Lernschritt. 6. Die Identitätsbildung fördern. Der Mensch mit Asperger-Syndrom sollte dazu ermutigt werden, über sich selbst nachzudenken, jedoch in einer möglichst konkreten, auf alltäglichen Verhaltensweisen beruhenden Weise und nicht in grundlegend selbstreflexiver und bewertender Art, welche lediglich zu frustrierenden und abwertenden Ergebnissen führt. Das Bewusstsein für die eigenen Stärken und Schwächen sollte geschärft werden: Welche Situationen werden gut gemeistert, welche sind schwierig? Auch um den Menschen mit Asperger-Syndrom in seiner Wahrnehmung von problematischen Situationen und der Anwendung von gelernten Verhaltensstrategien zu schulen, ist dies bedeutsam. Das Ziel ist, eine realistische Einschätzung von sich selbst und ein gutes Selbstbewusstsein zu erreichen. 7. Fähigkeiten der Emotionsregulation fördern. Problematische, frustrierende oder angstauslösende Erfahrungen und die begleitenden Emotionen sollten ausführlich besprochen und eingeübt werden. Dies, sowohl grundsätzlich und bevor diese Erfahrungen stattgefunden haben, aber auch, wenn sie bereits erlebt wurden. Dies sollte konkret und als Ursache-WirkungsPrinzip erklärt werden, um die Einsichtsfähigkeit in Gefühle zu verbessern und die Regulation von Emotionen anzuleiten. Ein weiteres wichtiges Thema ist auch, welche Gefühle und Reaktionen der Betroffene in anderen auslöst.
8. Dem Training lebenspraktischer Fähigkeiten kommt ebenfalls eine große Bedeutung zu. Häufig ist es für Menschen mit AspergerSyndrom problematisch, sich selbst zu organisieren und zu strukturieren. Sie verfügen zwar über durchschnittliche bis überdurchschnittliche kognitive Fähigkeiten, können diese aber nur unzureichend in alltägliches Handeln umsetzen. Diese fehlende Selbstständigkeit führt zu großen Schwierigkeiten im Alltag, vor allem aber auch in der Schule, Ausbildung und Beruf. Für diese Defizite sollten klare Verhaltensstrategien erarbeitet und kontinuierlich eingeübt werden. 9. Ausgehend von den individuellen neuropsychologischen Stärken und Defiziten sollte differenziert überlegt werden, welche Hilfen der Betroffene braucht (z. B. Integrationshelfer für die Schule, technische Hilfsmittel wie z. B. Computer, Nachteilsausgleiche usw.) und welche Form der Unterstützung hilfreich ist. Liegen beispielsweise gravierende Mängel in der Feinmotorik, in der visuell-motorischen Koordination, in der räumlichen Wahrnehmung, im planerischen Denken oder in ähnlichen Funktionen vor, so sollten spezifische Behandlungsinterventionen unternommen werden, wie beispielsweise Ergotherapie, Physiotherapie usw. Dabei sollten auch diese Behandler mit dem Störungsbild vertraut sein und in Absprache mit den anderen Behandlern arbeiten, um auch hier soziale und kommunikative Lernprozesse zu beachten. Entwicklungsorientierte kognitivbehaviorale Verhaltenstherapie Unter dem Begriff entwicklungsorientierte kognitiv-behaviorale Verhaltenstherapie werden diejenigen Therapiemethoden zusammengefasst, die auf dem Erkenntnisstand der Entwicklungspsychologie, insbesondere der Entwicklungspsychopathologie, aufgebaut und entwickelt wurden. Sie berücksichtigen störungsspezifisches Wissen und zielen auf das gesamte
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6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
Lebensumfeld der Patienten ab. Als Methoden kommen neben behavioristisch-lerntheoretisch begründeten Methoden vor allem auch Methoden zum Einsatz, die Kognitionen Beachtung schenken und ihnen einen zentralen Stellenwert zumessen. Der Ausdruck kognitiv-behavioral heißt aber nicht, dass nur das Verhalten bzw. die Kognitionen Beachtung finden und das Erleben, die Emotionen, die Motivationen usw. ausgeklammert werden. Diesen kommt ebenfalls neben Verhaltens- und kognitiven Aspekten eine zentrale Bedeutung zu. Die Verhaltenstherapie berücksichtigt das gesamte Lebensumfeld des Betroffenen, welches sowohl das Verhalten, die Kognitionen, Emotionen, als auch Bezugspersonen (Familie, Lehrer, Erzieher, Mitschüler usw.) umfasst. Ausgangspunkt und Grundlage der Verhaltenstherapie bildet die Verhaltens- und Problemanalyse. Diese umfasst die in . Abb. 6.2 dargestellten Komponenten. Nach ausführlicher Verhaltens- und Problemanalyse wird für jeden Patienten ein individuell angepasster Interventionsplan entworfen, der sowohl den Patienten selbst, Eltern, Geschwister und das weitere Umfeld impliziert. Bei dem Betroffenen stehen meist Interventionen zum Erfassen, Trainieren und Umstrukturieren von Kognitionen, zur Integration von Kognitionen und Emotionen, zum Abbau von unerwünschtem und Aufbau von erwünschtem Verhalten im Mittelpunkt.
Problembeschreibung
Fähigkeiten, Ressourcen und Defizite
Aufrechterhaltende Bedingungen
Der Fokus dabei liegt auf dem Erlernen folgender Fertigkeiten: 5 Motivationsförderung; 5 Diskriminationstraining bzgl. der Unterscheidung zwischen wichtigen und unwichtigen Dingen, insbesondere in sozialen Zusammenhängen; 5 Training sozialer und kommunikativer Fähigkeiten; 5 Emotionsregulation, z. B. Angstbewältigung; 5 Generelle sowie spezifische (bzgl. besonderer, individuell kritischer Situationen) Problemlösestrategien im Sinne von CopingStrategien; 5 Selbstmanagement, Self-Monitoring (Analyse und Organisation der eigenen Denkprozesse, der Emotionen und Verhaltensweisen), Training der Selbstkontrolle; 5 Generalisierungsfähigkeit; 5 Förderung der lebenspraktischen Fähigkeiten (z. B. persönliche Hygiene, hauswirtschaftliche Fähigkeiten, Verhalten im Straßenverkehr, Umgang mit dem Telefon und Geld usw.). Bei den Interventionen können sämtliche lerntheoretische Methoden vom operanten Konditionieren, unter Nutzung von Verstärkern und aversiven Reizen, über Prompting (Hilfestellung geben), Shaping (Verhaltensformung) und Fading (schrittweise Rücknahme von Hilfestellungen) bis zu Imitation und Modelllernen zum Einsatz kommen. Ebenso relevant sind die Methoden der kognitiven Verhaltensthera-
Lebensumfeld
Verhaltens- und Problemanalyse
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Komorbide Störungen
Ursachen Entstehungsbedingungen
. Abb. 6.2. Verhaltens- und Problemanalyse als Ausgangspunkt der Verhaltenstherapie
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Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
pie (beispielsweise systematische Desensibilisierung, kognitives Umstrukturieren, Training sozialer Kompetenzen usw.) Dabei werden drei Gruppen von verhaltenstherapeutischen Strategien angewandt (Bregman u. Gerdtz 1997): 5 vorausgehende Interventionen zur präventiven Beeinflussung abweichenden Verhaltens, z. B.: – Umgebungsänderung, – visuelle Ablenkung, – Frühförderung, – Diskriminationstraining, – sportliche Aktivitäten. 5 nachfolgende Interventionen zur Beeinflussung bestimmten Zielverhaltens, z. B.: – Abbau stereotypen Verhaltens, – Beeinflussung hartnäckiger Schlafstörungen, – depressiver Verstimmungen sowie Angstzuständen. 5 sowie Interventionen zur Entwicklung von Fähigkeiten:
– Förderung der Kommunikationsfähigkeiten, – Training sozialer Fertigkeiten – Theory of Mind, – Selbstmanagementmaßnahmen, – Einüben lebenspraktischer Fähigkeiten. Problematisch bei der verhaltenstherapeutischen Behandlung von Menschen mit Asperger-Syndrom ist das meist nur geringe Bedürfnis nach sozialen oder Handlungsverstärkern. Daher liegt besonders bei Kindern und zu Beginn der Therapie der Schwerpunkt eher auf materiellen Verstärkern, die jedoch, wenn möglich, im Laufe der Zeit von sozialen oder Handlungsverstärkern abgelöst werden sollten. Wichtig ist dabei, dass das Kind/der Jugendliche die Belohnung auch tatsächlich als solche erlebt. Auch Verstärkerverträge und Verstärkersysteme (Token-Systeme) können bei Kindern/ Jugendlichen mit Asperger-Syndrom zur Anwendung kommen. In . Tab. 6.2 sind die relevanten Interventionstechniken nochmals aufgeführt. Eine allge-
meine und grundlegende Beschreibung der einzelnen Verfahren findet sich beispielsweise bei Margraf (1996). Einen zentralen Stellenwert in der Therapie hat die Förderung der emotionalen, sozialen und kommunikativen Fertigkeiten (Mesibov 1992; Prizant et al. 1997; Quill 1995; Klin u. Volkmar 2000b; Rogers 2000; Häußler et al. 2003; Aarons u. Gittens 2005). Es geht nicht darum, Menschen mit Asperger-Syndrom besser anzupassen, sie »salonfähiger« zu machen, sondern darum, ihnen Handlungsalternativen aufzuzeigen und ein besseres Verständnis von anderen Menschen und sich selbst zu ermöglichen. Sie sind in der Regel nicht freiwillige Einzelgänger, die mit sich und der Welt zufrieden sind. Sie nehmen relativ früh wahr, dass etwas mit ihnen anders ist, dass ihnen vieles (Emotionales, Soziales) unverständlich ist, spätestens in der Pubertät setzen Vergleiche mit anderen Jugendlichen ein, bei denen sie nicht immer gut abschneiden. Häufig anzutreffen sind in dieser Zeit Verzweiflung, Selbstabwertung und in manchen Fällen Depressionen. Um das Kind/den Jugendlichen zu schützen, ist es äußerst wichtig, ihm/ihr emotionale, soziale und kommunikative Kompetenzen und ein Verständnis für andere und sich selbst nahe zu bringen. Damit sie ihre Fähigkeiten und Begabungen einsetzen und umsetzen können, brauchen sie emotionale und soziale Kompetenzen, denn in aller Regel gibt es kaum einen Beruf, in dem man ohne diese auskommen kann (beispielsweise schon im Vorstellungsgespräch). Die nachfolgend genannten grundlegenden Aspekte, die hier nur theoretisch getrennt aufgelistet werden, sollten daher in der Therapie bewusst eingeübt werden. Förderung emotionaler Kompetenzen Im Bereich der emotionalen Kompetenzen (emotionale Schlüsselfertigkeiten, Saarni 1999): 5 Die Fähigkeit, sich der eigenen Emotionen bewusst zu sein. Dies schließt das Wissen ein, dass in einigen Situationen auch meh-
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6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
6
. Tab. 6.2. Übersicht über relevante therapeutische Interventionstechniken
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Techniken der Stimuluskontrolle
Techniken der Konsequenzkontrolle
Techniken des Modelllernens
5 Systematische Desensibilisierung (in sensu, in vivo) 5 Graduierte Löschung 5 Exposition (mit Vorsicht und Bedacht) und 5 Reaktionsverhinderung 5 Angstbewältigungstraining
5 Reaktionskontingente Verstärkung 5 Operante Löschung 5 Kontingenzmanagement 5 Token-Systeme 5 Verstärker-Entzug/ Responsecost 5 Time-out
5 Modelllernen in vivo 5 Verdecktes Modelllernen 5 Darbietung symbolischer Modelle (z. B. im Spiel) 5 Entwicklungsorientiertes Spiel
Techniken der Selbstkontrolle
Kognitive Verfahren
Körperorientierte Verfahren
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5 5 5 5 5
5 Entwicklungsorientiertes Spiel 5 Ergotherapie 5 Physiotherapie 5 Motopädische Ansätze 5 Psychomotorik 5 Entspannungstechniken
Selbstbeobachtung Stimuluskontrolle Kontingenzkontrolle Aufstellen von Verträgen Selbstmanagement-Techniken
Entwicklungsorientiertes Spiel Rollenspielmethoden Verdecktes Konditionieren Training in Problemlösen Training sozialer und kommunikativer Kompetenz (Theory of Mind) 5 Selbstinstruktionstraining 5 Stressimpfungstraining 5 Strategien der Umattribuierung
rere, widerstrebende Emotionen erlebt werden können. Die Fähigkeit, die Emotionen anderer wahrzunehmen und zu verstehen. Dies schließt die Interpretation von Hinweisen auf Emotionen, die sich aus der Situation oder aus dem Ausdrucksverhalten (s. u.) anderer Personen ergeben, ein. Die Fähigkeit, Emotionen zu kommunizieren. Dies schließt die Kenntnis eines gebräuchlichen Emotionsvokabulars und den Erwerb emotionaler Skripte (d. h. ein handlungsorientiertes Wissen darüber, wie man in bestimmten Situationen mit Emotionen umgeht) ein. Die Fähigkeit zur Empathie. Da ein echtes emotionales Mitfühlen in manchen Fällen kaum möglich ist, sollten diese Fähigkeiten durch kognitive Kompetenzen kompensiert werden. Die Fähigkeit zur Trennung von emotionalem Erleben und emotionalem Ausdruck.
Hierzu zählt die Erkenntnis, dass das emotionale Ausdrucksverhalten anderer Personen nicht mit ihrem erlebten Emotionen übereinstimmen muss und die Fähigkeit, den Einfluss des eigenen emotionalen Ausdrucksverhalten auf andere abschätzen zu können und ihn bei der Selbstpräsentation strategisch zu berücksichtigen. 5 Die Fähigkeit, mit negativen Emotionen und Stresssituationen umzugehen. Dies schließt beispielsweise den Einsatz von Selbstregulationsstrategien ein, mit denen die Dauer und Intensität negativer Emotionen verringert werden können. 5 Die Fähigkeit, sich der emotionalen Kommunikation in sozialen Beziehungen bewusst zu sein. Dies beinhaltet ein Wissen darüber, dass soziale Beziehungen von der Art und Weise geprägt sind, in der über Emotionen kommuniziert wird. Es beinhaltet ferner das Unterstreichen verschiedener Beziehungsformen und entsprechende Skripte.
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Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
5 Die Fähigkeit zur Selbstwirksamkeit. Diese ermöglichen es, in sozialen Interaktionen bei anderen Personen erwünschte Reaktionen hervorzurufen. Förderung sozialer und kommunikativer Kompetenzen Im Bereich der sozialen und kommunikativen Kompetenzen: Pragmatik und Konversationsregeln
5 Aufnahme und Gestaltung von Kontakt. Aufzeigen von Verhaltensmöglichkeiten der angemessenen Kontaktaufnahme. 5 Angemessene Reaktion auf Kontaktangebote anderer. 5 Die Auswahl eines für das Gegenüber angemessenen Gesprächsthemas sollte explizit besprochen werden. Z. B. sind Familienmitglieder an Themen interessiert, die für die Familie relevant sind, Gleichaltrige dagegen eher an aktuellen Filmen oder Spielen (und weniger an Spezialinteressen wie Weltraum oder Eisenbahnen). Um dem Kind/Jugendlichen die verschiedenen Interessensgebiete anderer Personen bewusst zu machen, kann es hilfreich sein, mit ihm/ihr eine Liste über bevorzugte und weniger bevorzugte Themen einer jeden Person zusammen zu stellen. 5 Auch der Wechsel des Gesprächsthemas sollte explizit besprochen werden: Wann ist ein Wechsel sinnvoll, wie bemerkt man, dass der Gesprächspartner nicht mehr interessiert ist an dem gewählten Gesprächsthema? 5 Auch die Fähigkeit, dem Zuhörer das richtige Maß an Hintergrundinformationen zu geben, kann über solche Listen vermittelt werden (Wie viel weiß das Gegenüber schon zu diesem Thema und wie viel will es wissen?). Konversationsregeln und generell soziale Regeln in einer Situation müssen direkt erarbeitet und benannt werden (z. B. »Bei einer Begrüßung schaut man dem Gegenüber in die Augen, lächelt, gibt ihm die Hand und sagt ›Guten Tag‹«, »durch
Fragen an das Gegenüber bleibt eine Konversation in Gang«, »ein Gespräch ist abwechselndes Reden und Zuhören«). Auch wenn solche expliziten Regeln nie perfekt sein können (z. B. das Gegenüber sich ausgefragt fühlt), so ist dies für eine Person mit Asperger-Syndrom auf jeden Fall die bessere Alternative, als eine soziale Situation völlig ohne Regeln meistern zu müssen. Zudem sind die erarbeiteten Regeln im Therapieprozess veränderbar. Entschlüsseln sozialer Hinweisreize
Das Entschlüsseln sozialer Hinweisreize sollte geübt werden. Dies ist z. B. wichtig, um sich den Situationsanforderungen anpassen zu können, um die Perspektive und Reaktionen des Gegenübers zu verstehen und um eine gewisse Reziprozität der Konversation aufrecht zu erhalten. Soziale Hinweisreize sind z. B. 5 der Blickkontakt, 5 der Gesichtsausdruck, 5 Mimik und Gestik, 5 körperliche Nähe oder Distanz, 5 Körperhaltung, 5 Tonfall, 5 Sprachstil (z. B. mehr oder weniger formal), 5 Lautstärke, 5 emotionale verbale und nonverbale Ausdrücke, 5 Sarkasmus und Ironie usw. Um das Entschlüsseln solcher meist komplexer Hinweisreize zu ermöglichen, müssen alle Elemente ähnlich dem Erlernen einer fremden Sprache explizit verbalisiert und wiederholt geübt werden, bis sich eine Art Routine etabliert hat. Videofeedback stellt dazu eine gute Option der Rückmeldung dar. Ebenso wie die Wahrnehmung von sozialen Hinweisreizen bei anderen sollte die Wirkung des eigenen Verhaltens auf andere und die Abstimmung des eigenen Verhaltens auf die Reaktionen des Gegenübers bewusst eingeübt werden. Eine weitere wichtige Komponente solcher Trainings ist das Einüben der Selbstüberwa-
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
chung in einer Konversation, also das selbststän-
dige Anpassen von eigenen sozialen Hinweisreizen und Anpassung an die Erfordernisse der jeweiligen Situation. Therapieansatz
Grundsätzlich ist die Behandlung im einzeltherapeutischen Setting oder in Form einer Gruppentherapie möglich. Die Gruppentherapie bietet den Vorteil, dass Interaktionen in einem natürlichen Kontext geübt werden können. In klar strukturierten Gruppensituationen können positive soziale Erfahrungen gemacht und trainiert und Fähigkeiten im Umgang mit anderen Menschen eingeübt werden (Häußler et al. 2003). Die Kombination aus beiden Ansätzen ist in der Regel sinnvoll. Eltern als Kotherapeuten Ein weiterer wichtiger Aspekt in der Behandlung von Kindern/Jugendlichen mit Asperger-Syndrom ist die Beratung von Eltern (7 Kap. 6.2.2) und ein Elterntraining. Eltern kommt in der Behandlung ihrer Kinder die soziale Rolle von »Kotherapeuten« und »Mediatoren« zu. Dies bedeutet, dass sie als aktive und informierte Partner der Therapeuten bei der Behandlung ihres Kindes mitwirken. Aufgrund der Vielschichtigkeit der Symptomatik, der Schwierigkeiten in der Fähigkeit zur Generalisierung (s. o.) und der Notwendigkeit einer umfassenden Entwicklungsförderung ergibt sich eine zentrale Rolle der Eltern für den Behandlungserfolg. Es ist empirisch hinreichend belegt, dass Eltern autistischer Kinder ein hohes und dauerhaftes Belastungsprofil aufweisen, das durch die Störung bedingt erscheint. Daraus entsteht häufig das Bedürfnis nach professioneller Unterstützung der Familie. Elterntraining und Elternberatung stellen zentrale Formen der Familienintervention dar (Lovaas 1981, Howlin u. Rutter 1987; Schreibmann u. Koegel 1996; Schopler 1997; Ozonoff et al. 2002; Probst 2003; Sofronoff et al. 2004).
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Elterntrainings Elterntrainings erstrecken sich dabei auf folgende Ziele: 5 Aufklärung über das Störungsbild, 5 Kognitive, auch emotionale Auseinandersetzung mit der Störung, 5 Verbesserung der Qualität der Eltern-KindBeziehung, 5 Sensibilisierung gegenüber den Bedürfnissen aller Familienmitglieder. Es soll z. B. der Fehlhaltung vorgebeugt werden, sich für das autistische Kind »aufzuopfern« und dabei die Bedürfnisse der restlichen Familienmitglieder zu vernachlässigen, 5 Stärkung der erzieherischen Kompetenzen, Vermittlung von »Schlüsselkompetenzen«, 5 Einbeziehung in die Behandlung: Abklärung von Lernzielen, Absprachen über Interventionsmöglichkeiten, Training im häuslichen Umfeld, Rückmeldung über Fortschritte. Methoden, die hier zum Einsatz kommen können, sind: 5 Vermittlung von Methoden zum Training der Theory of Mind (s. o.), 5 In-vivo-Eltern-Kind-Verhaltensübungen mit Verhaltensfeedback, 5 In-vivo-Modelltraining durch Beobachten der Therapeut-Kind-Interaktion, 5 Hausaufgaben an die Eltern (z. B. Erstellen und Handhaben eines Tagesplans), 5 Supervision der Eltern-Hausaufgabenprogramme, 5 Methoden der Problemanalyse und des Problemlösens. In einer Metaanalyse (Probst 2001) von 30 empirischen Gruppenstudien zu Konzepten und Ergebnissen von Elterntrainings im Rahmen der Rehabilitation autistischer Kinder kommt der Autor zu dem Ergebnis: »Die untersuchten Behandlungsansätze erbrachten beim Vergleich von experimenteller Behandlung mit Standardund Minimalbehandlung substanzielle und konsistente Effekte im mittleren und oberen Effekt-
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Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
stärkenbereich für die sechs psychosozialen Funktionsbereiche »Entwicklungsniveau und Intelligenz«, »Sprachentwicklung«, »Kind-Verhaltensanpassung«, »Eltern-Kind-Interaktion«, »Familiäre Adaptation« und »Beurteilung des Behandlungsprogramms durch die Eltern«. Die Ergebnisse aus den nichtkontrollierten Studien stimmten mit diesem Hauptergebnis hinreichend überein.« (ebd., S. 27). Elemente der entwicklungsorientierten kognitiv-behavioralen Verhaltenstherapie Zusammenfassend sind in . Abb. 6.3 die verschiedenen Elemente der entwicklungsorientierten kognitiv-behavioralen Verhaltenstherapie nochmals dargestellt. Zur Effektivität einer solcherart ausgerichteten Therapie gibt es eine Studie von Bauminger (2002), die das Ziel verfolgte, kognitiv behaviorale Interventionen bei einer Gruppe von 15 Kindern und Jugendlichen mit High-functioning-Autismus zu untersuchen. Es konnte gezeigt werden, dass die Behandlung zu Besserungen in den folgenden Bereichen führt: 5 Soziale Kognitionen, 5 soziale Problemlösefähigkeiten, 5 emotionales Verständnis und 5 soziale Interaktion. Leider existieren bis heute wenig empirische Studien, die speziell die Behandlung von Patienten mit Asperger-Syndrom zum Thema haben. Weitere Untersuchungen im Rahmen von Trainings sozial-kommunikativer Kompetenzen sind im Kapitel Therapieprogramme (7 Kap. 6.2.5) dargestellt.
Anamnese und Diagnose
Verhaltens- und Problemanalyse
Erarbeitung eines Behandlungsplans
Kind/ Jugendlicher
Eltern Geschwister
Einzeltherapie/ -training Förderung der sozialen Wahrnehmung, sozial-emotionaler und kommunikativer Kompetenzen ...
Eltern-Beratung Aufklärung über das Störungskonzept, erzieherische Kompetenzen stärken ...
Gruppentherapie/ -training Förderung der sozialen Interaktionsfähigkeit, Verständnis sozialer Regeln, pragmatische Regeln der Kommunikation ...
Eltern-Training Auseinandersetzung mit dem Störungsbild, Verbesserung der Eltern-Kind-Beziehung, Stärkung der erzieherischen Kompetenzen, Eltern als Ko-Therapeuten
Kooperation, Beratung, Fortbildung und Schulung Erzieher, Lehrer, Therapeuten (z. B. Ergotherapie, Physiotherapie, Reittherapie usw.), psychosoziale Dienste (z. B. Schulbegleiter, Familienhelfer, Sozialpädagogen usw.) . Abb. 6.3. Verschiedene Elemente der entwicklungsorientierten kognitiv-behavioralen Verhaltenstherapie
Fazit
Die Psychotherapie des Asperger-Syndroms sollte möglichst früh (Vorschulalter) beginnen, sie sollte intensiv durchgeführt werden (mindestens 2 Therapiesitzungen pro Woche), milieubezogen, rehabilitativ und präventiv sein, um sekundäre Störungen zu bessern oder ihnen vorzubeugen (Verlaufsspezifität). Sie umfasst die Förderung von Schlüsselfähigkeiten der sozialen
Wahrnehmung, Motivation, sozial-kognitiver und kommunikativer Kompetenzen, Selbstmanagement (Selbstkontrolle, Emotionskontrolle, Identität) und der lebenspraktischen Fertigkeiten (Störungsspezifität). Sie konzentriert sich insbesondere in der Kindheit (und auch Jugend) auf die Unterstützung der Eltern-Kind-Inter-
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
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aktion (Phasenspezifizät) und auf das gesamte Lebensumfeld des Patienten (Kontextspezifität).
dert«. Es liegen keine empirischen EvaluationsStudien vor.
Andere psychotherapeutische Verfahren
Lösungsorientierter systematischer Ansatz. Lö-
»Theraplay«. Es ist eine körpernahe interaktive Kurzzeit-Spieltherapie, die auch bei Kindern mit autistischen Störungen Anwendung findet. Durch spielerische Aktionen wird versucht, die Aufmerksamkeit des Kindes auf die Bezugsperson bzw. Therapeutin zu richten. Kind und Therapeutin spielen miteinander, wobei das Kind von einem Co-Therapeuten gehalten wird. Die Wahl der Spiele richtet sich dabei primär nach dem Entwicklungsstand des Kindes, wobei nur wenig Spielmaterial verwendet wird. Die Aufmerksamkeit soll nicht auf Material, sondern auf die Interaktionspartner gelenkt werden. Die Grundprinzipien liegen in eindeutiger Strukturierung der Handlungen, spielerischen Herausforderungen, Stimulation der sensorischen Wahrnehmung und Fürsorglichkeit in der Interaktion (Jernberg 1987). Erste Untersuchungen zur Effektivität der Methode bei autistischen Störungen liegen vor (Briegel et al. 2005). »Marte Meo«. Es ist eine videogestützte Bera-
tungsmethode, um Eltern beim Aufbau von Erziehungskompetenzen zu unterstützen (Aarts 2002). Als Methode sozialer Unterstützung beinhaltet Marte Meo differenzierte Anleitungen für eine präzise Informationsvermittlung an Eltern oder professionelle Betreuer/-innen. Sie basieren auf der Annahme, dass problembelasteten Eltern häufig das Wissen und die Erfahrungen fehlen, was sie genau tun können, um ein Kind in seiner Entwicklung zu fördern. Die Inhalte der vermittelten Informationen beziehen sich grundsätzlich auf die Fragen oder Anliegen der Eltern. Videoaufnahmen von Alltagssituationen werden genutzt, um Eltern anhand von Bildern nahe zu bringen, wo ihre Möglichkeiten zur Förderung des Kindes liegen. Unterstützung und Anleitung wird so für jede einzelne Familie »maßgeschnei-
sungsorientierte Therapie basiert darauf, dem Betroffenen bei der Konstruktion von Lösungen der vorgetragenen Probleme zu assistieren. Dazu stellt der Therapeut Fragen und verschreibt Aufgaben, die den Klienten dazu dienen sollen, auf ihre eigenen Definitionen ihrer therapeutischen Ziele zu fokussieren. Dabei wird betont, dass der Klient die eigenen existierenden und möglichen Ressourcen nutzen soll. Die Anwendung dieser Therapie in Bezug auf das Asperger-Syndrom basiert auf ähnlichen Grundsätzen wie bei der beschriebenen entwicklungsorientierten kognitiv-behavioralen Verhaltenstherapie (Spitczok von Brisinski et al. 1998). Es liegen keine empirischen Evaluationsstudien vor.
6.2.4 Pharmakotherapie Die Kernsymptomatik autistischer Störungen (mangelnde soziale Reaktivität und mangelnde Kommunikationsfähigkeit) ist medikamentös nicht zu behandeln. Die medikamentöse Behandlung kann jedoch eine wesentliche Komponente in der multimodalen Therapie darstellen, da stereotypes und repetitives Verhalten sowie verschiedene Begleitsymptomatiken wie aggressives und autoaggressives Verhalten, Hyperaktivität und Impulsivität, Ängste und Depressionen durch Psychopharmaka gebessert werden können und der Patient dadurch für andere Behandlungen zugänglicher gemacht und sozial besser integriert werden kann. Diese Zielsymptome können durch eine entsprechende Medikation mehr oder weniger spezifisch beeinflusst werden. Der theoretische und empirische Hintergrund ist in . Tab. 6.3 angegeben (Buitelaar u. Willemsen-Swinkels 2000). Generell ist anzumerken, dass die Forschung in diesen Bereichen zu widersprüchlichen Ergebnissen gekommen ist und eine therapeutische
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Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
1
. Tab. 6.3. Medikamentöse Behandlung autistischer Störungen nach Zielsymptomen
2
Zielsymptome
Medikation
Aggressives Verhalten und selbstverletzendes Verhalten
Atypische Neuroleptika Lithium Antikonvulsiva Clonidin
Stereotypien, Rituale
SSRIa Atypische Neuroleptika
Hyperaktivität, impulsives Verhalten
Stimulanzien Atypische Neuroleptika Clonidin Naltrexon
Angstzustände
Buspiron Atypische Neuroleptika Clonidin
Depressionen
Antidepressiva vom Typ des SSRIa
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a
SSRI »Selective Serotonin Reuptake Inhibitors«
Wirksamkeit der Medikamente immer nur bei einer Teilpopulation (»Responders«) zu beobachten ist. Auch sind die behandelten Auffälligkeiten oft nicht spezifisch für Autismus. Die aufgeführten Medikamente lassen sich den folgenden Medikamentengruppen zuordnen: Neuroleptika Diesbezüglich existieren eine Reihe von Studien, die die Wirksamkeit von Haloperidol in einer Dosierung von 0,25–4 mg/Tag überprüft haben. Unter dieser Medikation kam es zu einer signifikanten Reduktion der motorischen Stereotypien, hyperaktiven und negativistischen Verhaltens sowie der Rückzugsproblematik. Auch Pimozid (Orap®) wurde in Dosierungen von 0,25–4 mg/ Tag erfolgreich eingesetzt. Im Hinblick auf atypische Neuroleptika, die sowohl auf das dopaminerge als auch auf das serotoninerge System wirken, wurden mit Risperidon mit einer Dosierung bis zu 4 mg/Tag gute Erfahrungen gemacht. In einer plazebokontrollierten Studie an Erwachsenen (McDougle et al. 1998), in der eine Dosierung von 1,0–6,0 mg/Tag
angewandt wurde, erwies sich Risperidon gegenüber dem Plazebo überlegen in der Wirkung auf Irritabilität, Aggression, repetitives Verhalten sowie affektive Symptome. Antidepressiva Die wenigen bislang vorliegenden Untersuchungen zum Einsatz der selektiven SerotoninWiederaufnahme-Hemmer (SSRI) zeigen, dass mit ihrer Hilfe Stereotypien, Rituale und rigides Verhalten positiv beeinflusst werden können. Dies gilt sowohl für Fluvoxamin als auch für Fluoxetin und Sertralin. Jedoch sind die Ergebnisse bei Erwachsenen vielversprechender als bei Kindern und Jugendlichen, die offenbar empfindlicher auf Nebenwirkungen reagieren. Auch sind SSRIs in der EU für das Kindes- und Jugendalter meist nicht zugelassen und können deshalb nur im Rahmen eines individuellen Heilversuchs vom Arzt verschrieben werden. Aus den USA liegen aber einige Wirksamkeits- und Verträglichkeitstests auch für Kinder und Jugendliche für mehrere SSRI vor.
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
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Stimulanzien Methylphenidat kann angewandt werden, wenn autistische Kinder zusätzlich zu ihrer Kernsymptomatik durch impulsives Verhalten, Aufmerksamkeitsstörungen und Hyperaktivität gekennzeichnet sind. Auch diesbezüglich existieren Studien, nach denen sich Methylphenidat als signifikant wirksamer als Placebo im Hinblick auf die Reduktion hyperaktiven Verhaltens erwies (Handen et al. 2000). Jedoch wird die »autistische Kernsymptomatik« dadurch nicht beeinflusst. In einer Übersicht zur Pharmakotherapie hyperaktiven Verhaltens bei autistischen Kindern berichten Aman und Langworthy (2000), dass neben den Stimulanzien auch Antipsychotika und Naltrexon diese Symptomatik positiv beeinflussen.
Entwöhnungsmittel und Sekretin Der Einsatz des Opiatantagonisten Naltrexon erwies sich nach anfänglich positiven Meldungen nicht als wirksam im Hinblick auf die Beeinflussung autistischen Verhaltens. Ähnlich enttäuschend scheinen die Versuche mit dem Polypeptid Sekretin zu verlaufen, das bereits in mehreren Publikationen als neues »Wundermittel« gepriesen wurde. Eine bemerkenswerte Wirkung dieses Polypeptids konnte bislang nicht nachgewiesen werden (Sandler et al. 1999).
Anxiolytika Kasuistische Beobachtungen liegen auch vor im Hinblick auf eine positive Wirkung von Buspiron, einem Serotonin-5T1A-Rezeptor-Agonisten mit anxiolytischer Wirkung. In einer niederländischen Studie (Buitelaar et al. 1998) konnte ein positiver Effekt im Hinblick auf die Beeinflussung der affektiven Labilität, von Angstzuständen und Schlafproblemen erzielt werden.
Lithium Lithium wurde zur Behandlung von schweren aggressiven und selbstverletzenden Verhaltensweisen sowie (was selten vorkommt) bei zyklischen Stimmungsschwankungen im Verlauf autistischer Syndrome herangezogen.
Antihypertensiva Hier stehen zwei Substanzen im Vordergrund: Clonidin und der Betablocker Propranolol. Im Hinblick auf Clonidin liegen kontrollierte Studien vor, die zeigen, dass die Substanz hyperaktives Verhalten, Impulsivität und Irritierbarkeit kurzfristig deutlich reduzieren kann, jedoch treten häufig unangenehme Nebenwirkungen im Form von Müdigkeit, Antriebslosigkeit und Hypotonus auf. Propranolol wurde erfolgreich zur Behandlung aggressiven und selbstverletzenden Verhaltens sowie Impulsivität eingesetzt, in einer Dosierung von 20–30 mg/Tag, aufgeteilt in drei Dosen. Allerdings ist hier auf Herzund Kreislaufnebenwirkungen zu achten, wobei kardiovaskuläre Erkrankungen, Lungenerkrankungen und Diabetes mellitus eine Kontraindikation darstellen.
Applied Behavior Analysis (ABA) Als wesentliche Merkmale des von Lovaas entwickelten Therapieansatzes sind hervorzuheben: 5 Orientierung an verhaltenstherapeutischen Methoden, d. h. lerntheoretisch basierte Techniken der Verhaltensmodifikation, 5 Konzept der frühen (möglichst noch vor dem dritten Lebensjahr) und intensiven (zwischen 15 und 40 h pro Woche über mehrere Monate oder Jahre) verhaltensorientierten Behandlung im häuslichen Bereich (Lovaas 1993; Lovaas u. Smith 1988, s. a. Rogers 1998, Smith 1999; Koegel et al. 2001).
Antiepileptika Antiepileptika wie Carbamazepin wurden zur Beherrschung der oft mit Autismus assoziierten epileptischen Anfälle erfolgreich eingesetzt.
6.2.5 Therapieprogramme
Wichtige Therapieziele sind die Verbesserung von Sprachvorausläufer-Fähigkeiten (Aufmerksamkeit, Imitation), kommunikativen und sozialen Fähigkeiten sowie die Integration in eine
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Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
schulische Regeleinrichtung. Die dominierende Behandlungsmethode ist das »Diskrete Lernformat«. Hierbei erfolgt die Unterweisung des Kindes in einer Aufeinanderfolge von klar strukturierten und unterscheidbaren (»diskreten«) Lernschritten. Das ABA-Programm sollte so früh wie möglich in der Entwicklung des Kindes eingesetzt werden, es ist jedoch auch bis ins Erwachsenenalter anwendbar. Das ursprüngliche Programm nach Lovaas wird typischerweise durch geschultes Personal mit extrem zeitintensivem Aufwand im häuslichen Umfeld als Frühförderprogramm durchgeführt. Auch ist ein intensives Elterntraining in diesen Techniken notwendig. Lovaas bezeichnete die Eltern als »primäre Therapeuten« und die professionellen Therapeuten als Berater (»consultants«, Lovaas, 1981) der Eltern. Ob es tatsächlich einer solch zeitintensiven Intervention bedarf, ist umstritten (Lynch, 1998). Die von Lovaas erzielten Erfolge bzgl. verschiedener kognitiver und adaptiver Leistungen waren sehr groß (sogar von »Heilung« bei einer Gruppe frühkindlicher Autisten war die Rede), wie groß genau, kann aufgrund teilweise erheblicher methodischer Mängel seiner Studie (Lovaas 1987) jedoch nicht bewertet werden (Howlin 1997). Die grundsätzliche Wirksamkeit des ABA-Ansatzes bei autistischen Störungen ist dennoch unbestritten (z. B. Cordes u. Dzikowski 1991; Eikeseth et al. 2002; Sheinkopf u. Siegel 1998; Smith et al. 2000; Bölte u. Poustka 2002). Das Problem der Generalisierung besteht jedoch hier wie auch bei allen anderen Therapien mit autistischen Menschen: Versuche, die Therapiesituation der Lebenssituation möglichst anzugleichen, haben leider nicht immer den gewünschten Erfolg. In Deutschland werden die ABA-Therapien kaum angewandt. Dies hat zum einen berufspolitische Gründe, zum anderen sicher auch eine mangelnde Informiertheit und die Besorgnis mancher Eltern und Therapeuten, dass das Kind »dressiert« werden könnte.
TEACCH-Programm Das TEACCH-Programm (Treatment and Education of Autistic and related Communication-handicapped Children; Mesibov 1996) ist ein umfassendes Programm mit kombinierten pädagogischen und verhaltenstherapeutischen Maßnahmen und versteht sich als Ansatz des strukturierten Lehrens und Lernens für Menschen mit schwerwiegenden Problemen im perzeptiven, kommunikativen und interaktiven Bereich. TEACCH ist also nicht als Therapiemethode anzusehen, sondern als Rahmengerüst zur Förderung und Erziehung von autistischen Menschen. Das Ziel ist, eine möglichst individuell angepasste Umgebung zu schaffen, mit einem möglichst hohen Grad an Strukturierung und eine Minderung störender Einflüsse. Dadurch sollen die Stärken und Schwächen des Patienten in Einklang miteinander gebracht werden. Entwickelt wurde das TEACCH-Konzept in den 70er Jahren in den USA von Schopler und seinen Mitarbeitern. Es wird bis heute weiterentwickelt (Panerai et al. 1997) und in Deutschland seit Ende der 90er Jahre eingesetzt. Entwicklungsförderung und Strukturierung bilden die wesentlichen, eng miteinander verbundenen Kernpunkte des Programms: Zum einen wird der autistische Mensch durch spezielle Lern- und Übungsangebote in seiner Entwicklung gefördert. Zum anderen wird sein/ihr Umfeld so strukturiert, dass die bestehenden Schwierigkeiten darin aufgefangen werden können und er/sie ideale Bedingungen zum Lernen vorfindet. Dies erfolgt z. B. durch: 5 Organisation der materiellen Umgebung, 5 Aufstellen von Plänen und Arbeitssystemen, 5 Aufgliederung komplexer Handlungen in überschaubare Teilschritte, Formulierung klarer und eindeutiger Instruktionen und Erwartungen, 5 Visualisierung von Abläufen usw. Dabei arbeitet TEACCH (in sehr enger Kooperation mit den Eltern) mit Verfahren der lerntheoretischen Verhaltensmodifikation (Schop-
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
ler et al. 1990). Die Zielgruppe des Programms sind autistische Menschen aller Altersstufen und Funktionsniveaus. Vergleiche mit anderen Therapien stehen zwar noch aus, die Effektivität des TEACCH-Ansatzes wurde jedoch belegt (Mesibov 1997; Ozonoff u. Cathcart 1998; Panerai et al. 2002). Auch können die Eltern das Programm sinnvoll und erfolgreich anwenden (Marcus et al. 1978; Bristol u. Schopler 1983). Training sozialer und kommunikativer Fertigkeiten Da soziale und kommunikative Defizite zu den Kernsymptomen des Asperger-Syndroms zählen, stellt das Fördern dieser Fertigkeiten eine wichtige Komponente eines Interventionsprogrammes für Patienten mit Asperger-Syndrom dar. Ein normal entwickeltes Kind begreift soziale Erwartungen und Konventionen eher intuitiv, während dies für Menschen mit AspergerSyndrom explizit verständlich gemacht werden muss. Die grundlegenden sprachlichen Fähigkeiten von Menschen mit Asperger-Syndrom sind per definitionem zwar relativ gut (flüssiges Sprechen in ganzen Sätzen, kaum oder keine grammatikalischen Fehler), dies bedeutet aber nicht, dass die Sprache unauffällig ist. Vor allem bzgl. der Pragmatik der Sprache sind deutliche Schwierigkeiten vorhanden. Ein Training sozialer und kommunikativer Fertigkeiten hat daher zum Ziel, 5 den Patienten darin zu schulen, wie man erkennt, was andere von einer Interaktion erwarten und 5 wie man darauf angemessen reagiert, um ihn/sie somit besser in unsere interaktionsreiche Gesellschaft integrieren zu können. Im Vordergrund von Trainings der sozialen und kommunikativen Fertigkeiten stehen (Mod. nach Klin u. Volkmar 2000): 5 das Themen-Management (Auswahl adäquater Gesprächsthemen bzgl. Gesprächspartner und Umgebung, von anderen vorgegebene Themen passend weiterführen, The-
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menwechsel bemerken, Themen angemessen beenden), 5 Flexibilität in sozialen Interaktionen (Bemerken und Verwenden verschiedener verbaler und nonverbaler Methoden zum Interagieren, Diskutieren, Verhandeln, Überzeugen, Widersprechen etc.), 5 Entschlüsseln sozialer Hinweisreize (Blickkontakt, Mimik und Gestik, körperliche Nähe/Distanz, Körperhaltung, Tonfall, Sprachstil, Lautstärke, emotionale verbale und nonverbale Ausdrücke, Sarkasmus und Ironie usw.) 5 sowie Beurteilung sozialer Erwartungen in einer bestimmten Situation (sich bewusst machen, welche Implikationen es hat, mit wem und wo man sich befindet und der Situation angebrachte Verhaltensweisen ableiten). Alle diese Elemente müssen für Kinder/Jugendliche mit Asperger-Syndrom ähnlich wie beim Erlernen einer fremden Sprache explizit verbalisiert und wiederholt in Rollenspielen geübt werden, bis sich eine Art Routine etabliert hat. Videofeedback stellt dabei eine gute Rückmeldeoption dar. Trainings sozialer Fertigkeiten sind größtenteils auch für gut begabte Kinder/Jugendliche mit anderen sozialen Behinderungen geeignet. Aufgrund der generell mangelhaften Generalisierungsfähigkeit ist es aber gerade für Menschen mit Asperger-Syndrom sehr wichtig, neu erlernte soziale Fertigkeiten in möglichst vielen verschiedenen realen Situationen intensiv und wiederholt zu üben (s. o.). Dabei sollten die Interaktionspartner nicht nur der Therapeut, sondern vorzugsweise eine kleine Anzahl anderer Patienten, idealerweise jedoch eine kleine gemischte Gruppe mit autistischen sowie »normalen« Kindern/Jugendlichen etwa gleichen Alters sein, um ein Modelllernen sozialen Verhaltens zu ermöglichen (auch wenn solch eine Gruppe aus praktischen Gründen wohl nur in den seltensten Fällen möglich ist).
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Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
! Trainingsinhalte jeder Art müssen: 5 explizit so konkret wie möglich verbalisiert und 5 wiederholt geübt werden, bis sich eine Art Routine etabliert hat und 5 aufgrund der schlechten Generalisierungsfähigkeit in möglichst vielen verschiedenen realen Situation wiederholt angewendet werden.
Swettenham (2000) kommt in einer Übersichtsarbeit über die Effektivität dieser Trainings zu dem Schluss, dass die Probanden zwar nach einem solchen Training experimentelle Aufgaben zur Theory of Mind (beispielsweise False-belief-Aufgaben, oder Täuschungsaufgaben) besser lösten, dass jedoch die Generalisierung auf andere Verhaltensbereiche des Alltags nicht erfolgreich war (Ozonoff u. Miller 1995; Hadwin et al. 1997). Dies wird auch durch die relativ kurze Trainingsdauer begründet und macht nochmals deutlich, wie wichtig der Einbezug des Alltag des Patienten und seiner Bezugspersonen in die therapeutischen Lernziele und Interventionsmöglichkeiten ist. »Teaching children with autism to mindread« Ein konkretes Beispiel für die Förderung sozialer Fähigkeiten ist das Training der Theory of Mind. Dieses therapeutische Verfahren ist – entgegen der meisten anderen autismusspezifischen Interventionen – auf eine Theorie gestützt: die Theory of Mind. Die Arbeitsgruppe um Simon BaronCohen und Patricia Howlin entwickelten verschiedene Ansätze, um diese Fähigkeit zu fördern. Das Programm »Teaching children with autism to mind-read« (Howlin et al. 1999) ist in Form eines Handbuchs für Eltern und Lehrer erhältlich und für Kinder im Alter zwischen 4 und 13 Jahren mit einem Sprachentwicklungsniveau von mindestens 5 Jahren gedacht. Das Kind muss zu bildlich vorgegebenen Situationen Fragen über die mentalen Zustände (Gefühle, Überzeugungen, Ziele usw.) der dargestellten Per-
sonen beantworten. Ein hoher Grad an Strukturierung, kindgerechtes Material sowie konkrete Handlungsanweisungen für den Benutzer erleichtern die Arbeitsweise. Die Autoren selbst berichten, dass dieses Programm eine langfristig erfolgreiche Intervention darstellt. Computer-gestützte Programme Ebenfalls von dieser Arbeitsgruppe stammt das interaktive Computerprogramm »Mind Reading« (Baron-Cohen 2004a), das mit Bild- und Videosequenzen arbeitet und sich ebenfalls mit dem Erkennen und richtigen Zuordnen von Gefühlen, Gedanken und Zielen befasst. Sehr abwechslungsreiche Darstellungen und Aufgaben – inklusive kleiner Spiele – machen das Programm gerade für die meist computer-interessierten Kinder und Jugendliche mit AspergerSyndrom sehr ansprechend. Ein weiterer Vorteil ist, dass nicht nur primäre Emotionen dargestellt werden. In 24 verschiedenen Gruppen werden 412 Szenen unterschieden, die in vielfältiger Weise (Video-Clips, Audio-Clips, mit Anmerkungen und kurzen Geschichten ergänzt und nach Schwierigkeitsgraden geordnet) Emotionen auch in situativen Kontexten darstellen. In einer Emotions-Sammlung werden die verschiedenen Emotionen wiedergegeben, in einem Lern-Bereich kann geübt und zusätzlich in einem Spiel-Bereich spielerisch trainiert werden. Leider gibt es dieses Trainingsprogramm noch nicht in deutscher Sprache (Informationen unter www.jkp.com/mindreading). Das deutsche computergestützte Test- und Trainingsprogramm »Frankfurter Test und Training des Erkennens von fazialem Affekt« (Bölte et al. 2002) prüft und trainiert die Fähigkeit zum Erkennen von Gesichtsausdrücken mit emotionalem Gehalt auf Fotos. Dabei werden primäre Emotionen (Glück, Trauer, Angst, Wut, Ekel, Überraschung und ein neutraler Ausdruck) des Gesichtsausdrucks sowohl im ganzen Gesicht, als auch lediglich in der Augenpartie anhand von Fotografien dargestellt. Ergänzt wird die Darstel-
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6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
lung durch verbale Beschreibungen der Emotionen und durch Comic-Darstellungen. Zwar zeigten sich nach solchen Trainings Fortschritte, diese blieben jedoch auf das Lösen der Testaufgaben beschränkt (Silver u. Oakes 2001; Bölte et al. 2002) und zeigten kaum Effekte in den erhobenen Verhaltensmaßen, d. h. eine Generalisierung über die Testsituation hinaus fand nicht statt. Social Stories – Comic Strip Conversations Ein weiteres Beispiel eines Trainings sozialer Fähigkeiten sind die »Social Stories« von Carol Gray (Gray 2000). Zu diesem Konzept gehören auch die »Comic Strip Conversations« (Gray 1998). In den »Social Stories« werden bildliche und schriftliche Materialien und Techniken verwendet, die mit individuellen Alltagssituationen des Kindes arbeiten. Dazu schreibt der Therapeut eine für das Kind und sein individuelles Problemverhalten genau passende »social story«, in der angemessenes und unangemessenes Verhalten in kurzer Form exakt beschrieben und mit Fotos oder bildhaften Symbolen verdeutlicht werden. Auch sind Informationen, die normalerweise als implizites soziales Wissen aufgefasst werden, enthalten. Das Kind muss diese Kurzgeschichte im therapeutischen, schulischen oder häuslichen Umfeld täglich situationspassend (vor-)lesen oder sie wird ihm vorgelesen, wodurch die Ausbildung von Schemata über soziale Zusammenhänge ermöglicht werden soll. Dadurch soll sich die Auftretenshäufigkeit der Verhaltensweisen in dieser Situation verändern. Dieses Verfahren baut auf den Grundlagen der Verhaltenstherapie auf, wird von den Autoren aber weniger als eigenständig anzuwendende Intervention gesehen, vielmehr als Ergänzung zu anderen, traditionellen Trainingsmethoden. Da das Verfahren noch relativ neu ist – es wurde erst in den 90er Jahren entwickelt – gibt es bis dato nur wenige wissenschaftliche Arbeiten (zumeist Fallberichte) zur Effektivität der »social stories«; diese fallen jedoch positiv aus (Bledsoe et al. 2003; Hagiwara u. Myles 1999; Kuttler et al.
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1998; Norris u. Dattilo 1999; Swaggart et al. 1995). Als Ergänzungsmaßnahme, auch zur Beeinflussung umschriebener, relativ einfacher Verhaltensweisen (wie z. B. Tischmanieren), erscheinen die »social stories« (Myles u. Simpson. 2001; Bledsoe et al. 2003) auch in der Behandlung von Menschen mit Asperger-Syndrom geeignet. Gruppentraining: SOKO Autismus Ein Gruppenangebot zur Förderung sozialer Kompetenzen bei Menschen mit Autismus vom Kindes- bis zum Erwachsenenalter stellt das SOKO Autismus dar (Häußler et al. 2003). Auf dem Hintergrund des TEACCH-Modells entwickelten die Autorinnen ein Konzept für gruppenpädagogische Angebote zur Förderung von sozialen und kommunikativen Fähigkeiten. Es handelt sich dabei nicht um ein standardisiertes Therapieprogramm, sondern um einen Vorschlag zur Gestaltung von Situationen in einer Weise, »dass sie bestimmte soziale Erfahrungen ermöglichen oder kommunikative Strategien erfordern. Während in der Kindergruppe gemeinsame Spiele und Aktivitäten im Vordergrund stehen, bieten wir bei den Erwachsenen auch spezielle Kleingruppen für gezielte Übungen und individuelle Themen an« (ebd., S. 7). In . Tab. 6.4 sind Ziele, Strategien und Aktivitäten des Gruppenprogramms aufgeführt. Die Autorinnen bieten eine Vielzahl von Anregungen, Ideen, sowie hilfreiches Material und konkrete Strukturierungshilfen, die für die therapeutische Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen wertvoll sind. Ergänzende Maßnahmen Therapien zur Förderung der sensorischen Wahrnehmung
Viele Kinder mit Asperger-Syndrom sind bzgl. verschiedener Sinneswahrnehmungen wie z. B. Geräuschen, Körperkontakt, Gerüchen und Geschmack überempfindlich, anderen, wie z. B. Schmerz und Kälte, gegenüber jedoch eher unempfindlich. Therapien, die diese gestörten sensorischen Wahrnehmungen zum
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Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
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. Tab. 6.4. Ziele, Strategien und Aktivitäten von SOKO Autismus
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Ziele
Strategien
Aktivitäten
5 Förderung der sozialen Interaktion
5 Individuelle Strukturierung der Gruppensituation
5 Spielen
5 Verständnis von sozialen Regeln
5 Routinen
5 Gemeinsame (Zwischen-) Mahlzeiten
5 Förderung der Aufmerksamkeit
5 Orientierung an individuellen Themen und Spezialinteressen der Teilnehmer
5 Gruppenangebote
5 Förderung der Kommunikation
5 Handlungsorientierte Aktivitäten statt Schwerpunkt auf Sprache
5 Gruppengespräche
5 Positive soziale Erfahrungen ermöglichen
5 Einbeziehung nicht-behinderter Altersgenossen
5 Übungen in Kleingruppen
5 Kognitive und verhaltenstherapeutische Methode
5 Witze erzählen
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5 Ausflüge
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Inhalt haben, finden sehr oft Anwendung, weshalb diese Interventionsmaßnahmen hier etwas genauer beleuchtet werden sollen. Die Sensorische Integration (SI) nach Ayres gehört bei der Behandlung dieser Symptome zu den beliebtesten und meistangewandten Autismustherapien in Deutschland und Amerika. Die Therapie der sensorisch-integrativen Dysfunktionen wurde von der Beschäftigungstherapeutin Ayres in den 70er Jahren in den USA allgemein für Kinder mit Lernproblemen entwickelt. Keine der theoretischen Annahmen von Ayres beruht jedoch auf wissenschaftlich abgesicherten Tatsachen. Eine sensorische Integrationsstörung sei dadurch gekennzeichnet, dass das Gehirn nicht in der Lage sei, den Zustrom sensorischer Impulse in einer Weise zu verarbeiten und zu ordnen, die dem betreffenden Individuum eine gute und genaue Information über sich selbst und seine Umwelt ermöglicht (Ayres 1979, 1992). Sensorische Integration kann als ein neurophysiologischer Prozess verstanden werden, bei dem Sinnesinformationen geordnet, kombiniert, interpretiert und so nutzbar für Handlungen gemacht werden (Weiß 2002). Dazu werden verschiedene
Körpersinne wie der Gleichgewichtssinn (vestibulär), der Berührungssinn (taktil) und der Stellungs-, Bewegungs- und Kraftsinn (propriozeptiv) verwendet. Durch eine bewusstere Aufnahme von mehr Sinneseindrücken sollen sich die sinnliche Wahrnehmungsverarbeitung, die Anpassungsreaktionen und das Verhalten verbessern (Janetzke 1993). Das Vorgehen lässt sich folgendermaßen beschreiben: Reize, die das Kind überfordern (die also nicht integriert werden können), werden vom Kind ferngehalten oder ihm/ihr in kleiner, leichter zu verarbeitender »Dosis« zugeführt. Sinnesreizen hingegen, die anscheinend zu schwach empfangen werden, wird das Kind vermehrt ausgesetzt, um Anpassungsreaktionen herbei zu führen. Zur Anwendung kommen dabei verschiedene Verfahren und Geräte: Rollbretter, Schwebeschaukeln, Bälle, Tücher, die »Deep Pressure Therapy« (Kind wird fest in Matten o. ä. eingewickelt) sowie verschiedene angenehme Düfte, Massagen, bunte Lichter etc. Anschaulich beschriebene Fälle, wie die sensorische Integration bei autistischen Kindern eingesetzt werden kann, finden sich bei Dzikowski und Vogel (1993). Ein großes Problem
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
ist jedoch, dass eine Störung der sensorischen Integration bei autistischen Kindern so gut wie nicht diagnostizierbar ist: Der von Ayres entwickelte Test zur Diagnose einer sensorischen Integrationsstörung (»Southern California Sensory Integration Tests«) stellte sich in der Praxis bei autistischen Kindern als nicht durchführbar heraus. Aufgrund der hohen Popularität dieser Maßnahme in den Autismusambulanzen besteht daher die Gefahr, dass die sensorische Integration recht unreflektiert und evtl. ohne Bezug zur tatsächlichen Notwendigkeit bei einem Kind eingesetzt wird. Wichtig bei der Anwendung ist, dass das Kind sich bei den Übungen wohl fühlt und vor allem versteht, was es da erlebt. Wird dies nicht erreicht, sind diese Angebote sinnlos für das Kind und können sogar zu einer verstärkten Angst führen (Augustin 1997). Zur Wirksamkeit der beschriebenen Techniken bei autistischen Kindern liegen nur wenige (meist methodisch mangelhafte) empirische Daten vor (Watling 1998). Die meisten verfügbaren Informationen zum Einsatz der sensorischen Integration bei autistischen Kindern sind anekdotischer Art. »Auditives Integrationstraining«
Das »Auditive Integrationstraining« (AIT, auditory integration training) widmet sich der gestörten auditiven Wahrnehmung und hat seine Wurzeln in den Arbeiten des Hals-Nasen-Ohrenarztes Dr. Guy Berard, die bereits in den 60er Jahren vorgelegt wurden. Die zu Grunde liegende Vorstellung ist, dass eine sensorische Dysfunktion im Sinne einer hypersensitiven Geräuschempfindlichkeit auf bestimmte Frequenzen diese Geräusche für die Person schmerzhaft macht (Heflin u. Simpson 1998). Einige autistische Verhaltensweisen sollen daher rühren, dass das Kind unter diesen Geräuschen leidet und sich daher nicht adäquat verhalten kann. Im Training werden in elektronisch modulierter Musik diese für das Kind kritischen Frequenzen herausgefiltert, wodurch es zu einer Verbesserung der Geräuschempfindlichkeit kommen soll, die
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sich auf kognitive sowie Verhaltensfunktionen ausweiten sollen. Das Training dauert typischerweise 10 Tage, an denen das Kind täglich 2-mal 30 min. diese Musik über Kopfhörer hört. Erklärungsversuche über die genaue Wirkweise des AIT gehen, trotz der relativ langen Existenz dieses Ansatzes, bis dato über sehr hypothetische Vermutungen nicht hinaus. Verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen (Bettison 1996; Gillberg et al. 1997; Rimland u. Edelson 1995) haben gezeigt, dass sich nach einer Behandlung entweder keine wesentlichen Verbesserungen in verschiedenen Verhaltensmaßen ergaben oder, bei einer eingetretenen Verbesserung, es unerheblich war, ob die Musik gefiltert wurde oder nicht (was den wesentlichen Kernpunkt des AIT darstellt!). Howlin (1997) resümiert, dass die aufgetretenen Veränderungen eher dadurch entstanden sind, dass das erforderliche Stillsitzen während des Hörens zu mehr Aufmerksamkeit und besserer Kooperationsbereitschaft beim Kind führt, wodurch evtl. neue Lernfortschritte und Verhaltensänderungen ermöglicht werden. Da das, was diese Therapie ausmachen soll (nämlich gefilterte Musik zu hören), offensichtlich nicht der für eine Verbesserung notwendige Faktor ist, erscheint der Einsatz des AIT wenig sinnvoll. Weitere ergänzende Maßnahmen
Wie bereits dargestellt, können ergänzende Maßnahmen in der Behandlung des Asperger-Syndroms sinnvoll sein. Dazu zählt die Ergotherapie zur Verbesserung der Feinmotorik und zur Förderung der Selbstständigkeit bei alltagspraktischem Tätigkeiten. Auch Physiotherapie bzw. Psychomotorik, Mototherapie zur Verbesserung von Grobmotorik, Koordination oder bestehender körperlicher Beeinträchtigungen können eine sinnvolle Ergänzung darstellen. Reittherapie und Musiktherapie haben nach Eltern- und Behandlerberichten ebenfalls auf viele Kinder eine positive motorische und emotionale Wirkung.
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Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
Ebenfalls sinnvoll und von Eltern als hilfreich beschrieben sind Maßnahmen, die das Freizeitverhalten des Betroffenen strukturieren, wie beispielsweise Sport-, Musik- oder sonstige Vereine (z. B. Schach). Hier können insbesondere zu Beginn der Maßnahmen unterstützende Hilfen notwendig sein, indem das Kind/der Jugendliche zunächst begleitet und in seinen sozialen Kompetenzen unterstützt wird. Obwohl die hier aufgeführten Maßnahmen nur selten wissenschaftlich auf ihre Wirksamkeit beim Asperger-Syndrom geprüft wurden, zeigt die Erfahrung, dass diese Verfahren für das Kind/den Jugendlichen, insbesondere in Bezug auf die Verselbstständigung, relevant sein und damit die Lebensqualität erhöhen können. Fazit
Generell gilt, dass kein einzelner Ansatz für sich allein der Heilsamste ist, weder für alle Patienten mit Asperger-Syndrom, noch im Längsschnitt für einen Patienten. Die Interventionen müssen für jeden Patienten individuell und entwicklungsabhängig in einem multimodalen Therapieplan kombiniert und unter Umständen im Therapieverlauf auch verändert werden. Bei der Auswahl aus den Therapieangeboten muss sorgfältig abgewogen werden, wie viel dem Kind/ Jugendlichen und auch dessen Familie zuzumuten ist. Begrenzte Freizeit, teilweise weite Anfahrtswege, die Gefahr der Überforderung mit zu vielen Interventionen sowie andere Faktoren lassen nur eine begrenzte Anzahl von Therapiemaßnahmen zu. Welche Interventionen sind also zu empfehlen? An erster Stelle sollten Verfahren stehen, die zu nachweisbaren, guten Therapieerfolgen führen und allgemein anerkannt sind. Weitere Interventionen sollten in den Therapieplan aufgenommen werden, wenn sie beim Patienten als sinnvolle Ergänzung des eben Genannten erscheinen. Wichtig ist, dass die Interventionsschritte in vielen verschiedenen Situationen, mit verschiedenen Interaktionspartnern und Settings (in der Therapie, in der Schule, zu Hause usw.) durchge-
führt werden, um eine Generalisierung der Therapieerfolge zu gewährleisten. Die Interventionen sollten individualisiert, strukturiert, direktiv und konkret sein. Dabei ist jedoch »Überstrukturierung« zu vermeiden, denn aufgrund der meist vorliegenden Zwanghaftigkeit, der Veränderungsängste, des konkretistischen Sprachverständnisses, der eingeschränkten Selbstkontrolle und der mangelnden Generalisierungsfähigkeit können die Lernerfolge nur schwer auf andere, insbesondere neue Situationen übertragen werden. Die Intervention sollte – neben Verhaltensaspekten – kognitive, emotionale, motivationale und körperliche Faktoren in gleichem Maße berücksichtigen, um dem Menschen mit Asperger-Syndrom in seiner Ganzheitlichkeit gerecht zu werden und ihn auf allen Ebenen zu fördern.
6.3
Besonderheiten bei ambulanter Behandlung
Ambulante Therapien des Asperger-Syndroms sind aufgrund des Verlaufs der Störung Langzeitbehandlungen, die mit hoher Intensität durchgeführt werden sollten. Sie umfassen Einzel- und/ oder Gruppentherapie, Elternberatung und/oder -training, Beratung des Umfeldes (Schule, Integrationshelfer, soziale Dienste) und die enge Kooperation mit allen beteiligten Fachkräften. In der Regel sind hierfür 80 Therapiestunden in einem Jahr zu veranschlagen, bei denen – je nach Bedarf – die genannten Interventionsstrategien zum Einsatz kommen. Dabei kann auch ein Üben im häuslichen oder in anderen Kontexten notwendig sein, d. h. die Therapiestunde findet in vivo statt.
6.4 Besonderheiten bei teilstationärer und stationärer Behandlung
6.4
Besonderheiten bei teilstationärer und stationärer Behandlung
Die Indikation für die teilstationäre und stationäre Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Asperger-Syndrom weist Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf. Die Gemeinsamkeiten der teilstationären und stationären Aufnahme liegen 5 in der Möglichkeit einer sorgfältigen und umfassenden Diagnostik der Störung und zusätzlicher Einflüsse aller Art, 5 in der Erarbeitung und Durchführung eines multimodalen und interdisziplinär gestalteten Therapieplans, 5 in der Erfassung und Erprobung schulischer Fertigkeiten und des Sozialverhaltens in der Schule, 5 in den besonderen Möglichkeiten der Beobachtung des Patienten in verschiedenen Situationen und im Umgang mit anderen Patienten sowie mit Personal. Der entscheidende Unterschied zwischen stationärem und ambulantem Bereich liegt in der Zuständigkeit des letzteren für Notfälle und Kriseninterventionen. Geläufige Notfalle beim Asperger-Syndrom sind: 5 Suizidversuche und rezidivierende Suizidalität, 5 Delinquenz, die oft aus Missverständnissen resultiert und die von der Umgebung (und auch der Polizei) in ihrem Zusammenhang nicht verstanden wird, 5 Schulverweis aufgrund unangepassten Verhaltens der Patienten, welches beim Patienten und in der Familie zu erheblichen Krisen führt, 5 Depressive Verstimmungen mit extremer Antriebsarmut bis zum Stupor, 5 Psychotische (schizophrene) Episoden, die zwar selten sind, aber stets eine stationäre Abklärung und Behandlung erfordern.
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Die teilstationäre und stationäre Behandlung bieten die Möglichkeit einer weitergehenden intensiven Diagnostik und Behandlung. Verhaltensbeobachtungen können über einen längeren Zeitraum und in natürlichen Situationen durchgeführt werden. Die Interventionen können individuell und auf den Entwicklungsstand des Patienten abgestimmt eingesetzt und direkt überprüft werden. Verschiedene therapeutische Herangehensweisen können miteinander kombiniert und auf ihre Effektivität hin überprüft werden. Dabei kommen, neben der entwicklungsorientierten kognitiv behavioralen Verhaltenstherapie im Einzelsetting, auch gruppentherapeutische Verfahren, heilpädagogische und funktionelle Übungsbehandlungen (spezielle Angebote für motorische Defizite, Wahrnehmungsstörungen usw.), Ergotherapie, Arbeitstherapie (einzeln und in Gruppen), Physiotherapie (Funktionstraining, Entspannungs- und Körperwahrnehmungsübung, Rhythmik) zur Anwendung. Aber auch die Strukturierung des Alltags, das Erlernen und Einüben von alltagspraktischen Verhaltensweisen kann in diesem Setting intensiv in einen Gesamtbehandlungsplan eingebaut werden. Der Behandlungsschwerpunkt liegt in einem sozial-kommunikativen Training in der Gruppe und durch die Gruppe: Durch gezielte Gruppenaktivitäten soll das Erlernen von sozialen Verhaltensweisen und die Integration in die Gruppe gefördert und gezielt trainiert werden. Ein weiterer Behandlungsschwerpunkt ist das Einbeziehen der Familie in die Behandlung. Dies kann in Form von Elternberatung, Elterntraining oder Familientherapie erfolgen. Daneben bietet eine teilstationäre oder stationäre Behandlung die besondere Möglichkeit, die Schule mit in den therapeutischen Prozess einzubinden. Die Patienten besuchen (solange sie schulpflichtig sind) die Klinikschule, die, in enger Absprache mit der Herkunftsschule, den Unterricht in kleinen Gruppen individualisiert durchführt. Besonders wichtig für Menschen mit Asperger-Syndrom ist eine gute Vorbereitung der Ent-
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lassung und eine gezielte Nachbetreuung. Dies erfolgt in enger Absprache mit dem Umfeld des Patienten und insbesondere mit den ambulanten Therapieeinrichtungen. Die teilstationäre und stationäre Behandlung bietet damit eine intensive und umfassende Behandlungsintervention, die als Initialbehandlung (die dann in ambulanter Form weitergeführt wird) und in Krisen sinnvoll und notwendig erscheint.
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Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
Jugendhilfe und Rehabilitationsmaßnahmen
Sozialrechtliche Einordnung autistischer Störungen1 Seit dem Inkrafttreten des neuen Kinder- und Jugendhilferechts ist die Eingliederungshilfe für seelisch behinderte oder von einer seelischen Behinderung bedrohte Kinder und Jugendliche ab dem 1. April 1993 nicht mehr Aufgabe der Behindertenhilfe, sondern der Jugendhilfe (§§ 10 und 35a KJHG). Für Aufgabe und Ziel der Hilfe, die Bestimmung des Personenkreises sowie die Art der Maßnahmen gelten aber weiterhin die entsprechenden Bedingungen und Bestimmungen des Bundessozialhilfegesetzes und der Eingliederungshilfeverordnung. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob für autistische Kinder und Jugendliche die Jugendhilfe oder die Sozialhilfe als Kostenträger in Frage kommen. Der Wissenschaftliche Beirat des Bundesverbandes »Hilfe für das autistische Kind e.V.« hat zu dieser Frage eine Stellungnahme ausgearbeitet, in der dargelegt wird, dass es bei der Beurteilung autistischer Störungen nicht möglich ist, vom Überwiegen einer Behinderungsart (körperlich, geistig oder seelisch) zu sprechen.
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Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die Situation in der Bundesrepublik Deutschland, die rechtlichen Bestimmungen in Österreich und der Schweiz konnten nicht berücksichtigt werden.
Daher müssen autistische Kinder und Jugendliche grundsätzlich als mehrfach behindert angesehen werden. Diese Einschätzung hat sich bislang aber noch nicht durchgesetzt. Sie würde im Grundsatz implizieren, dass Menschen mit einer Autismus- Spektrum-Störung, da es sich um eine chronische und lebenslang bestehende Behinderung handelt, in den Zuständigkeitsbereich der Sozialhilfe gehören würden. Denkbar wäre natürlich auch zunächst von einer Zuständigkeit des KJHG auszugehen und zum zeitlichen Ende von dessen Gültigkeit im Einzelfall eine Überführung in die Sozialhilfe vorzunehmen. Da eine eindeutige Zuordnung der Autismus-Spektrum-Störungen zum KJHG bzw. BSHG bislang nicht erfolgt ist, kommt es permanent zu Auseinandersetzungen über die Zuständigkeit und zu erheblichen Verunsicherungen von Eltern und Betreuern. Laut Urteil des Oberverwaltungsgerichtes Nordrhein-Westfalen vom 20.02.2002 sind die nach § 39 BSHG und die nach § 35a SGB VIII zu erbringenden Leistungen gleich zu beurteilen. Dieses Gericht stellte fest, dass die Leistungspflicht der Jugendhilfe gegenüber der Leistungspflicht der Sozialhilfe vorrangig ist. Der dem Urteil zu Grunde liegende Fall (atypischer Autismus) wird vom OVG im Urteil »als seelische Behinderung« qualifiziert. Dabei wird auf § 3 der Eingliederungshilfe vom 01.02.1975 Bezug genommen, in der der atypische Autismus unter die »körperlich nicht begründbaren Psychosen« gerechnet wird. Dies ist natürlich eine völlig antiquierte Auffassung, die sich wiederum auf die völlig antiquierte Eingliederungsverordnung bezieht. Diese Antiquiertheit wurde zwar vom OVG erkannt, jedoch werden diese aus heutiger Sicht unzutreffenden Begriffe »als Rechtsbegriffe« weiterhin auf die einzelnen Phänomene seelischer Störungen sinnentsprechend angewandt. Das Gericht argumentiert nun weiter, dass der Umstand, dass die Einordnung aus fachlicher Sicht überholt ist, nicht als Argument genutzt werden kann, um die Zuordnung des
6.5 Jugendhilfe und Rehabilitationsmaßnahmen
Autismus zum sozialrechtlichen Begriff der seelischen Störung gemäß § 3 der Eingliederungshilfe-VO in Frage zu stellen. Die Eingliederungs-VO aus dem Jahre 1975 entspricht nicht mehr dem heutigen Erkenntnisstand, sie müsste dringend revidiert werden. Sie unterscheidet körperlich wesentlich behinderte Menschen (§ 1), von geistig wesentlich behinderten Menschen (§ 2) und seelisch wesentlich behinderten Menschen (§ 3). Der Sachverhalt der Mehrfachbehinderung kommt in ihr gar nicht vor, ist aber in der Realität häufig zu finden. Im Rahmen einer längst fälligen Revision der Eingliederungshilfe-VO müsste eine neue Definition der Behinderungsarten gefunden werden, die auch den Sachverhalt der Mehrfachbehinderung umfasst. Die in der EingliederungsVO enthaltenen antiquierten Merkmale in allen drei Behinderungsarten, auch und besonders diejenigen der seelisch wesentlichen Behinderung müssten dem derzeitigen Stand des Wissens angepasst werden. Dies ist aber ein längerfristiger Prozess, der zunächst Überzeugungsarbeit erfordert, damit das Ganze in Angriff genommen wird, der darüber hinaus aber auch ein kompetentes Gremium von Sachverständigen erfordert, die die neuesten Erkenntnisse in die längst fällige Revision der EingliederungsVO einarbeiten. Schließlich ist es erforderlich, dass der Gesetzgeber von der Notwendigkeit einer solchen Revision überzeugt wird. Dieser Prozess wird Jahre dauern. So lange eine derartige Revision nicht erreicht wird, bleibt u. E. nur die Möglichkeit, im Rahmen einer Einzelfallbeurteilung die jeweils »führende Behinderung« herauszuarbeiten und dann die Kostenregelung fallweise über die Jugendhilfe (KJHG, § 35a) oder Sozialhilfe (§ 39 BSHG) herbeizuführen. Dies ist zwar unbefriedigend, wir sehen aber derzeit keine Möglichkeit, diesen Modus zu umgehen (außer über eine Revision der Eingliederungshilfe-VO). Was die Nachhaltigkeit der Hilfemaßnahmen betrifft, so sind sie nach dem KJHG im Prinzip bis zum 27. Lebensjahr möglich, nach dem
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BSHG natürlich, im Bedarfsfall, für die gesamte Lebensspanne. Es ist allerdings auch bei fortbestehender Störung (und dies wird ein häufiger Fall sein) ein Übergang von einer Jugendhilfemaßnahme gemäß § 35a KJHG in einer Sozialhilfemaßnahme gemäß § 39 BSHG möglich. Weitere rechtliche Bestimmungen Das Beantragen eines Behindertenausweises sollte bei Menschen mit Asperger-Syndrom aufgrund einer möglichen Stigmatisierung vorher gut überlegt werden. Das Gesetz zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft, kurz Schwerbehindertengesetz (SchwbG), stellt die Grundlage für die Feststellung von Gesundheitsstörungen dar. Die Anträge sind bei den Ämtern für Versorgung und Familienförderung zu stellen. Dort werden die Gesundheitsstörungen geprüft und unter Zuhilfenahme der »Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit«, herausgegeben vom Bundesarbeitsministerium, bewertet. Sofern eine Behinderung im Sinne des Gesetzes vorliegt, wird diese mit einem »Grad der Behinderung« (GdB) bewertet. Ab einem GdB von 20 werden einige Nachteilsausgleiche gewährt und ab einem GdB von 50 ist man als Schwerbehinderter anerkannt und erhält einen entsprechenden Ausweis. Schwerbehinderte genießen einen besonderen Kündigungsschutz und haben Anspruch auf 5 Tage zusätzlichen Urlaub. Ferner gibt es weitere individuelle Steuervergünstigungen und Nachteilsausgleiche. Je nach Pflegeaufwand kann Pflegegeld verschiedener Stufen beantragt werden. Dabei muss der Pflegeaufwand erheblich höher sein im Vergleich zum normalen Hilfebedarf eines Kindes. Bei der Zuordnung von Kindern in die Pflegestufen ist der zusätzliche Hilfebedarf gegenüber einem gesunden gleichaltrigen Kind maßgebend (§ 15 Abs, 2 SGB XI). Der Antrag auf Pflegegeld wird bei der Krankenkasse Abt. Pflegekasse gestellt. Die Pflegekassen lassen durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK)
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Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
prüfen, ob Pflegebedürftigkeit im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes vorliegt. Häufig ergibt sich auch die Frage einer gesetzlichen Betreuung. Für volljährige Menschen, die auf Grund von Alter, Krankheit oder Behinderung nicht in der Lage sind, ihre Angelegenheiten allein zu besorgen, wird vom Vormundschaftsgericht ein Betreuer bestellt. Die Betreuung hat die Aufgabe, krankheitsbedingte rechtliche Defizite auszugleichen. Es gilt daher die Frage zu beantworten, ob der betroffene Jugendliche bzw. junge Erwachsene die Fähigkeit hat, voll geschäftsfähig am Leben unserer Gesellschaft teilzunehmen oder er/sie in diesem Bereich deutlichen Gefahren ausgesetzt ist. Trotz
ihrer guten kognitiven Fähigkeiten erkennen die meisten Menschen mit Asperger-Syndrom die Tricks und Gefahren der rauen Wirklichkeit des Alltagslebens nicht und sind der Übervorteilung, Täuschung und Gaunerei ausgesetzt, bei der sie leicht Schaden nehmen können. Diese Frage sollte in einer längerfristigen spezifischen Therapie geklärt und mit allen Beteiligten vorsichtig und genau angesprochen werden. Auskünfte über den Verlauf des Verfahrens des Betreuungsgesetzes und die Rechte der Beteiligten erhält man bei den Rechtspflegern des zuständigen Amtsgerichts und bei den Betreuungsvereinen, die es bundesweit gibt. Es existiert ein entsprechender Ratgeber hierzu (Zimmermann 2004).
Exkurs Hierzu empfiehlt der Bundesverband »Hilfe für das autistische Kind«: »Da Menschen mit Autismus selbst bei sehr guter kognitiver Entwicklung in ihrem sozialen Verständnis meist stark eingeschränkt sind, brauchen sie den Schutz einer Betreuung vor allem beim Umgang mit Geldangelegenheiten und beim Abschluss von Verträgen, z. B. Arbeitsverträgen, Mietverträgen oder einem Heimvertrag. Sie sind sonst in der Gefahr, ausgenutzt zu werden. Ebenso ist es in der Regel sinnvoll und wünschenswert, eine Betreuung für die medizinische Versorgung anzuordnen. Menschen mit Autismus sind oft nicht gut in der Lage, Schmerzen oder Änderungen in ihrem Befinden zu äußern. Wenn die Betreuung nicht angeordnet ist, darf der Arzt aber infolge seiner Schweigepflicht nicht mit den Eltern oder anderen Betreuern sprechen, sie befragen oder ihnen z. B. die Behandlung erklären. Das Verfahren zur Einleitung der Betreuung sollte man am besten mindestens ein halbes Jahr vor Erreichen des 18. Geburtstages einleiten, und zwar beim Amtsgericht (Vormundschaftsgericht). Es ist dabei sinnvoll, bereits
bei der Antragstellung ein Gutachten des behandelnden Kinder- und Jugendpsychiaters beizulegen, in dem dieser die besondere Problematik dieses Menschen mit Autismus darlegt und Art und Umfang der Betreuung vorschlägt. In der Regel besucht dann ein Mitarbeiter des Vormundschaftsgerichts die Familie und stellt fest, ob die vorgeschlagenen Betreuer, also auch die Eltern, bereit sind, die Betreuung zu übernehmen. In jedem Fall ist der Richter verpflichtet, sich selbst durch eine Anhörung des Menschen mit Autismus ein Bild zu machen. Deshalb ist es wichtig, dass man rechtzeitig mit dem Menschen mit Autismus spricht und ihm erklärt, wozu diese Betreuung nützlich ist und dass man ihn durch diese Betreuung z. B. davor schützen will, dass er ausgenutzt wird. In vielen Fällen ist der komplizierte Gang zum Vormundschaftsgericht unnötig, wenn der Volljährige in der Lage ist, die Eltern für die entsprechenden Aufgabenbereiche zu bevollmächtigen. Eine derartige Vollmacht kann vom Notar beglaubigt werden und ersetzt dann die Betreuung.« (www.autismus.de/denkschrift/inhalt)
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6.6 Entbehrliche Behandlungsmaßnahmen
Rehabilitationsmaßnahmen Die finanzielle Förderung der Teilnahme an berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen, der Berufsausbildung (Duales System) in Betrieben, Reha-Einrichtungen oder sonstigen außerbetrieblichen Einrichtungen sowie die anschließende Eingliederung auf dem Arbeitsmarkt fällt nach dem SGB III (Drittes Buch des Sozialgesetzbuches) fast ausschließlich in die Zuständigkeit des Arbeitsamts. Der Berufsvorbereitung und der Arbeitserprobung kommt besondere Bedeutung zu, diesen sollte ein erhöhter Zeitbedarf eingeräumt werden. Berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen sind nach dem SGB III (§§ 59, 61–64, 66–73, 75) vorgesehen. Für die Förderung ist die Berufsberatung zuständig, wenn eine entsprechende Berufsvorbereitung durch die Schule nicht gewährleistet ist. Eine betriebliche Berufsausbildung kann gelingen, wenn diese Ausbildung durch ausbildungsbegleitende Hilfen unterstützt und begleitet wird. Ausbildungsbegleitende Hilfen (abH) dienen dazu, den Erfolg einer betrieblichen Berufsausbildung durch Stützunterricht und sozialpädagogische Begleitung zu sichern. Die finanzielle Förderung wird durch die §§ 235, 240–246 SGB III geregelt. Die Maßnahmekosten trägt das Arbeitsamt. Über die Teilnahme entscheidet die Berufsberatung. Im Rahmen der Rehabilitation muss durch den zuständigen Reha-Träger ein autismusspezifischer Gesamtplan erstellt werden, der alle Maßnahmen umfasst, die im Einzelfall erforderlich sind, um eine dauerhafte Eingliederung in Arbeit, Beruf und Gesellschaft zu erreichen. Die Ausbildung kann in einem Berufsbildungswerk oder in einer Rehabilitationseinrichtung für psychisch Kranke und Behinderte stattfinden. Diese sollten jedoch mit dem Störungsbild vertraut und erfahren sein. Die allgemeine Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt lässt es zunehmend schwierig erscheinen, für Menschen mit Asperger-Syndrom eine entsprechende Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu fin-
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den, selbst wenn sie über einen qualifizierten Bildungsabschluss oder eine abgeschlossene Berufsausbildung verfügen. Es sind verschiedene Modelle entwickelt worden, um die stufenweise Integration in öffentliche Arbeitsprozesse möglich zu machen. Dies betrifft eine nachgehende Betreuung beim Übergang von einer Ausbildung in Reha-Einrichtungen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt oder auch in Selbsthilfefirmen, die begleitende Betreuung durch psychosoziale Dienste oder Arbeitsassistenzen, flexible Formen der Probebeschäftigung.
6.6
Entbehrliche Behandlungsmaßnahmen
Logopädische Behandlung ist bei Patienten mit
Asperger-Syndrom aufgrund ihrer guten Sprachfähigkeiten nicht indiziert. Gleiches gilt für die »Gestützte Kommunikation«, die darüber hinaus jedoch auch sehr umstritten ist. Beide Verfahren sind aber leider bei Kindern mit Asperger-Syndrom unsinnigerweise schon eingesetzt worden. Von der viel diskutierten Festhaltetherapie (Welch 1988; Tinbergen u. Tinbergen 1983), in der das Kind gegen seinen Willen so lange körpernah festgehalten oder umklammert wird, bis es die Furcht vor Nähe ab- und »Urvertrauen« aufbaut, ist vor allem aus ethischen Gründen dringend abzuraten. Auch konnten keine wissenschaftlichen Belege über die Wirksamkeit dieser Methode erbracht werden (s. dazu Weiß 2002). Der Einsatz spezieller Diäten, um autistische Verhaltensauffälligkeiten zu reduzieren, erbrachte unzureichende, unschlüssige und widersprüchliche Ergebnisse und ist daher wissenschaftlich nicht eindeutig belegt (auch wenn dies für einzelne, auf bestimmte Nahrungsmittel allergische Kinder zutreffen mag; Howlin 1997). Gleiches gilt für Vitamin- und Mineralstofftherapien, in denen die Gabe hoher Dosen an Vitamin C oder Vitamin B6 proklamiert wird (Findling et al. 1997; Dolske et al. 1993). Die Behandlung autistischer Störungen mit Sekretin, einem gastrointestinalen
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Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
Hormon, erwies sich in mehreren Studien als wirkungslos (z. B. Owley et al. 2001).
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6.7
Ethische Fragen
Bei der Auswahl von Therapiemethoden (vor, aber auch während des gesamten Therapieprozesses) muss eine oftmals schwierige Balance zwischen aktuell nötigen Interventionen und den Kapazitäten des Patienten und dessen Familie gefunden werden. Eine »Überversorgung« mit Interventionen sollte genauso vermieden werden wie eine »Unterversorgung«. Auch die ethische Vertretbarkeit verschiedener Therapiemethoden sollte zum Schutz des Patienten beachtet werden; dies nicht nur vor Beginn der Behandlungen, sondern möglichst auch ständig während des Therapieverlaufs. Eltern sollten über mögliche Interventionen umfassend informiert werden: Sowohl über solche, die unseriös oder wenig effektiv sind, als auch über effektive und wissenschaftlich abgesicherte Verfahren. Vorrang sollten unbedingt therapeutische Maßnahmen haben, deren Effektivität empirisch belegt werden konnte. Intervention, die für sich beanspruchen, autistische Störungen zu heilen oder bei allen Patienten mit einer autistischen Erkrankung, welcher Symptomschwere auch immer, erfolgreich zu sein, sollten Fachleute und Eltern kritisch betrachten und abwägen, ob diese Maßnahmen sinnvoll und notwendig sind. Über allen Interventionsanstrengungen darf nicht vergessen werden, dass auch ein Mensch mit Asperger-Syndrom ein Recht auf seine eigene Persönlichkeit hat. Daher: Behandelt werden sollte, was behandelt werden muss und was behandelt werden kann. Literatur Aarons M, Gittens T (2005) Autismus kompensieren. Beltz, Weinheim Aarts M (2002) Marte Meo Handbuch. Aarts Production, Harderwijk Aman MG, Langworthy KS (2000) Pharmacotherapy for hyperactivity in children with autism and other per-
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6.7 Ethische Fragen
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Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
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6.7 Ethische Fragen
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7 Der Blick voraus: Verlauf und Prognose 7.1
Die Symptomatik des Asperger-Syndroms bei Erwachsenen – 206
7.2
Prognosekriterien und Lebensbewährung (outcome)
7.3
Sind Menschen mit Asperger-Syndrom gefährlich?
– 209 – 218
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Kapitel 7 · Der Blick voraus: Verlauf und Prognose
Aus den wenigen bislang vorliegenden Untersuchungen (Gilchrist et al. 2001; Starr et al. 2003; s. u.) ist bekannt, dass der Verlauf des Asperger-Syndroms ein anderer ist als beim frühkindlichen Autismus: Während bei Kindern mit einem frühkindlichen Autismus schon im 2. Lebensjahr autistische Symptome bemerkbar werden, sind die Symptome des Asperger-Syndroms erst etwa ab dem 3. Lebensjahr erkennbar. Zwar kommen auch vor dem 3. Lebensjahr schon einige unspezifische Symptome, wie beispielsweise Hyperaktivität, mangelnde Aufmerksamkeit, auffälliges Schlafverhalten oder auch Essverhalten usw. vor, die autistische Symptomatik im Sinne eines auffälligen Interaktionsverhalten ist zu dieser Zeit aber noch nicht beobachtbar, da der Aufbau von Beziehungen auch bei gesunden Kindern im Alter von 3 Jahren nicht leicht zu beurteilen ist. Die Sprachentwicklung der Kinder mit Asperger-Syndrom setzt früher oder altersentsprechend ein, so dass in dieser Beziehung für die Eltern im 2. Lebensjahr kein Grund zur Besorgnis besteht. Die guten sprachlichen und oft auch guten Gedächtnisfunktionen ihres Kindes sind für diese Eltern in den ersten Lebensjahren sogar eher ein Grund, stolz auf
ihr Kind zu sein, weil es früh und sehr gut sprechen lernt und in manchen Fällen beispielsweise ganze Geschichten auswendig aufsagen kann. Im Kindergartenalter setzen dann aber die Auffälligkeiten ein: Das Kind mit Asperger-Syndrom zeigt kein Interesse an den anderen Kindern, bzw. es ist unfähig altersangemessen, Kontakt zu diesen aufzunehmen, es fällt auf, dass das Kind kein Einfühlungsvermögen in die Gefühle anderer Menschen zeigt usw. Diese Verlaufsunterschiede sind nicht (nur) durch unterschiedliche kognitive Fähigkeiten erklärbar (Gilchrist et al. 2001; Starr et al. 2003; Kamp-Becker 2004; s. u.). In . Abb. 7.1 soll der – idealtypische und keineswegs zwingende – Verlauf des Asperger-Syndroms im Kontrast zum frühkindlichen Autismus dargestellt werden: Kinder mit einem frühkindlichen Autismus zeigen bereits sehr frühe und häufig auch deutliche Auffälligkeiten in der frühen Kindheit, diese nehmen dann – unterstützt durch eine erfolgreiche, autismusspezifische Behandlung und durch das zunehmende Verständnis und die Förderung der Eltern und der weiteren Umgebung – langsam ab, sicherlich verläuft diese »Besserung«
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Frühkindlicher Autismus
Stärke der Symptomatik
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AspergerSyndrom
Alter . Abb. 7.1. »Idealtypischer Verlauf« (Altersangaben wurden nicht angegeben, da diese interindividuell sehr verschieden sein können)
Der Blick voraus: Verlauf und Prognose
nicht kontinuierlich, sondern mit einigen Höhen und Tiefen, aber insgesamt kommt es doch – im Idealfall – zu einer kontinuierlichen Besserung der Symptomatik. Beim Asperger-Syndrom sind die Auffälligkeiten in den ersten Lebensjahren noch sehr unspezifisch und mild, im Laufe der Zeit nehmen aber die Anforderungen an die sozialen Fähigkeiten des Kindes stetig zu und das Kind mit Asperger-Syndrom kann diesen nicht mehr gerecht werden – die Symptomatik erfährt eine Steigerung. Gerade in der Pubertät kommt es dann zu einer deutlichen Zunahme der Problematik. Die nun gestellten Entwicklungsaufgaben können nur unter sehr großen Schwierigkeiten und mit sorgfältiger Unterstützung gemeistert werden. In dieser Zeit kommt es häufig zu zusätzlichen Symptomen, wie beispielsweise Zwängen, Depressionen, Suizidgedanken, aber auch, parallel dazu, zu einem stärkeren Hervortreten der autistischen Symptomatik. So nehmen bei vielen Patienten die Sonderinteressen zu, sie werden fast zwanghaft betrieben. Es entsteht in manchen Fällen der Eindruck, dass der Jugendliche/junge Erwachsene vor den gestellten Entwicklungsaufgaben »flieht« in eine Welt der Sonderinteressen, der ihm bekannten und vertrauten Themen und Welten. Mit Hilfe einer intensiven Therapie besteht die Möglichkeit der Besserung, wenn der Patient lernt, seine kognitiven, sprachlichen und sozialen Möglichkeiten gut zu nutzen und mit seinen Stärken und Schwächen zu leben (Kompensation der sozialen Defizite durch die kognitiven Stärken, 7 Kap. 6). Im Rahmen eines beispielhaften Verlaufs soll nun zunächst ein Patient selbst zu Wort kommen. Bei diesem Patienten handelt es sich um einen – inzwischen – jungen Erwachsenen, der rückblickend erzählt, wie er sich selbst und seine Erkrankung erlebt hat. Danach wollen wir auf die Symptomatik und Problematik des AspergerSyndroms bei Erwachsenen etwas näher eingehen.
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7
Beispiel – Meine Kindheit, Jugend und das beginnende Erwachsenenalter mit dem Asperger-Syndrom
A Frühe Kindheit bis Kindergartenalter »Nach den Berichten meiner Eltern und diverser Verwandter verlief meine früheste Kindheit ›ganz normal‹. Ich war das lang ersehnte erste Kind, meine Eltern und der komplette Tross der Verwandten und Bekannten waren voller Freude und auch ich entwickelte mich prächtig. Meine Sprachentwicklung setzte erstaunlich früh (ich möchte mich hier auf keine Altersangabe festlegen, laut meinen Eltern war es in jedem Fall ›erstaunlich früh‹!) und auch etwas seltsam ein. Meine Worte schienen immer besonders ›gewählt‹, elaboriert, aber auch ein bisschen weltfremd für ein kleines Kind zu klingen. Die motorische Entwicklung hingegen hinkte immer etwas hinterher. So verbrachte der kleine Thomas lange Zeit auf dem Rücken seines zum Reittier umfunktionierten Vaters bzw. später sich rutschenderweise fortbewegend, bis endlich die ersten wackeligen Schritte kamen. Ich war wohl immer sehr rational veranlagt. So wollte mich meine Oma (zu dieser Zeit war ich noch nicht im Kindergarten) auf einem dieser Schaukelpferd-Groschengräber reiten lassen. Der Ritt schien mich zu langweilen. Also entglitt ich ihr, rutschte unter das Gefährt und erklärte strahlend, ich wolle doch mal schauen, wie der Motor dieses Teils funktionierte... . Auch meinen Vater löcherte ich mit vielen Fragen: Was sei denn nun ein Gewitter, woher käme der Wind; er antwortete geduldig und bereitwillig. Ganz anders sah es hingegen im Umgang mit Gleichaltrigen aus. Erste Kontakte in dieser Hinsicht knüpfte ich in der Nachbarschaft. Es ist schwer zu beschreiben, wie sich das anfühlte, doch es war ein Gefühl der ... Unsicherheit. Es war in gewissen Situationen einfach schwierig, mit meiner peer group umzugehen. Solange ich nur einer Person gegenüberstand, war das Gespräch noch relativ einfach. Doch kamen mehrere Personen hinzu, oder bildete sich gar eine größere Gruppe, wurde die Unsicherheit zur Unruhe. Blicke ich heute wie ein neutraler Betrachter auf die Szenen von damals, wird mir schnell klar, wo das Problem lag: Ich konnte Emotionen schlicht und ergreifend nicht erkennen
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Kapitel 7 · Der Blick voraus: Verlauf und Prognose
... Lächelt diese Person da gerade ... Ist der hämisch ... schadenfroh ... oder einfach nur fröhlich? So erkannte ich z. B. ganz normale Späße und übliche Foppereien nicht und deutete diese als Boshaftigkeit der oder des Anderen mir gegenüber. Wenn ich mit solchen Aussagen wie ›Die Anderen sind alle böse zu mir‹ zu meinen Eltern kam, wussten diese viele Ratschläge, des Pudels Kern fanden wir aber nie; es blieb immer ein ungutes Gefühl zurück. So war ich im Kindergarten nie der Mensch für große Gruppen. Ich hatte einen guten Freund. Dass dieser mich nicht nach einem halben Jahr einfach erwürgte, ist dem Menschen, der ich heute bin, ein schieres Rätsel. Ich muss schon ein egoistisches Ekel in vieler Hinsicht gewesen sein. Natürlich beabsichtigte ich dies damals gar nicht ... ich wusste ja nicht mal von der Wirkungsweise meines Verhaltens auf meinen besten Freund. Dialoge mit meinem Freund waren zu etwa 60 Prozent Monologe meinerseits, häufig noch weit ausschweifend über all die tollen (viele-hundert-Mark-schweren) Lego-Piratenschiffe und Playmobil-Eisenbahnen die Ich ! doch hatte. Erst heute ist mir klar, wie viel Ruhe, Verständnis und Empathie mein Freund (wir stehen immer noch in Kontakt) in diese Beziehung investierte. Abgesehen von diesem einen Freund war ich im Kindergarten immer recht isoliert. Sobald Gruppenaktivitäten wie Basteln oder Kuchen backen anstanden, herrschte bei mir Unsicherheit. Die Übersichtlichkeit, welche Gespräche mit Einzelpersonen boten, war entschwunden. Ich konnte mich der Gruppendynamik nicht anpassen und fühlte mich schnell – auch durch Lappalien – beleidigt oder verängstigt. So mussten meine Eltern einmal einen im Adrenalinrausch zitternden und doch stolzen Thomas vom Kindergarten abholen, der stolz eine ganze Faust (das ist wirklich bedenklich viel ...) voller schwarzer, schulterlanger Haare triumphierend hochhielt und ausrief ›Dem blöden Subjekt habe er es aber gezeigt‹. Schon damals wurde meinen Eltern klar, dass etwas mit ihrem Sohn nicht stimmen konnte. Doch keine der Kindergärtnerinnen wusste Rat, abgesehen von einem lapidaren ›Das wächst sich schon aus‹. Insgesamt aber reagierten die anderen Kinder auf meine Absonderlichkeiten nur mit Entfremdung ... (noch) nicht mit Gewalt.«
B (Interludium) Das Verhältnis zu meinen Eltern »Ganz bewusst schiebe ich hier das Verhältnis zu meinen Eltern als zeitenübergreifendes Zwischenstück ein, da doch gerade das Verhältnis zu meinem Vater eine tragische Rolle in meiner Entwicklung spielte. Mein Vater leidet genau wie ich unter dem Asperger-Syndrom. Er hat nur einen entscheidenden Nachteil: Er hatte niemals die Chance auf eine Therapie. Heute ist er ein alter Mann, dessen starre Strukturen und Abläufe nur allzu häufig mit der Realität kollidieren. Das Verhalten meines Vaters innerhalb der Familie war häufig in sozialer Hinsicht einfach nur inakzeptabel. Er reagierte harsch, aufbrausend, aggressiv und manchmal mit vulgären Ausdrücken. Bei all dem wirkte er launisch. Worüber er sich nun wieder maßlos tobend aufregen würde, war vollkommen unabsehbar. Einmal schlich ich mich des Nachts während des Urlaubs aus dem Schlafzimmer und schaute fern. Ich bemerkte nicht, wie sich mein Vater von hinten anschlich ... bis er mir beidhändig eine schallende Ohrfeige verpasste. Ein anderes mal verprügelte er mich regelrecht mit einem Hausschuh, weil ich das Fernsehen umschalten wollte; ganz zu schweigen von den vulgären Schrei- und Schimpftiraden, die meine Mutter und ich über uns ergehen lassen mussten. Doch mein Vater war nicht nur böser Schuft ... er hatte auch ein ganz anderes Gesicht. Er konnte nett, fröhlich und fürsorglich sein. Wie gerne fuhr ich mit ihm ins nahegelegene Thermalbad; wir verbrachten herrliche Sonntagnachmittage mit Schwimmen, tiefsinnigen Gesprächen und ausgedehnten Spaziergängen im Kurpark. Doch unterbewusst färbte seine Launenhaftigkeit auf mich ab. Auf seine Aggressionen reagierte ich mit grenzenloser Wut; ich hätte platzen können. So wurde die Wanderohrfeige weitergegeben an das ›schwächste‹ Glied der Familienkette. Ich verprügelte meine Mutter regelrecht, so wie mein Vater mich verprügelte. Danach empfand ich immer grenzenlose Scham und Trauer, dass ich meiner wehrlosen Mutter so weh getan hatte. Doch wenn mein Vater die Hand erst wieder gegen mich erhob, schloss sich der Teufelskreis ... . Wie meine Mutter mir später erzählte, war auch mein Vater von Reuegefühlen geplagt. Diese versuchte er abzubauen, indem er seinem Sohn ›die Welt
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Der Blick voraus: Verlauf und Prognose
zu Füßen legte‹. Nichts war gut genug für seinen Sohn ... Ob nun der brandneue Supercomputer 4x86 DX für den Preis eines Kleinwagens oder das Playmobil Komplettsortiment. Diese Zeit stimmt mich sehr traurig, darum möchte ich nun auch das heutige Verhältnis zu meinen Eltern beschreiben: Ich wurde aus dem häuslichen Umfeld herausgerissen. Zunächst reagierte ich auf den Verlust der gewohnten Strukturen mit schierem Entsetzen ... Doch im Nachhinein war es das Beste, das mir jemals hätte passieren können. Ich lernte den sozialen Umgang (doch dazu später mehr), und heute sind die Geschehnisse von damals nicht mehr als ein dunkler, verarbeiteter Schatten. Jetzt, nach dem Abitur, vor dem Studium, habe ich ein erwachsenes, von Respekt und Würde geprägtes Verhältnis zu meiner Mutter und sehe meinen Vater als das, was er ist: Einen armen, alten Mann. Als er mich neulich lauthals ein A........ schimpfte, reagierte ich höflich und schwieg.«
C Grundschulalter bis Gymnasium und Zusammenbruch »Mit dem Wechsel in die Grundschule, und erst recht auf das nahe gelegene Gymnasium vollzog sich ein bedeutender Wandel: Bei uns allen begann langsam aber sicher die Pubertät. Dies hatte für mich katastrophale Folgen: Im Kindergarten waren meine ›Absonderheiten‹ noch weitgehend einfach toleriert worden. Nun in der Schule wurden meine Schulkameraden immer intoleranter; der Anpassungsdruck wurde immer größer. Ich war noch immer ein recht eigenbrötlerischer Sonderling. Auch auf dem Gymnasium hatte ich einen sehr guten Freund ... und entdeckte mein Sonderinteresse: Das Computerspielen. Ich lebte quasi in einer Welt zwischen Schule und der herrlichen Phantasiewelt der bunten Bildschirme. Um es kurz zu machen (Ich befürchte, ich könnte hier ausschweifen ...): Vom späten Grundschulalter bis zum Ende meiner Zeit am Gymnasium erlebte ich die komplette technische Entwicklung mit allen Finessen. Zu einer Zeit, als Computerspieler in der Öffentlichkeit noch als abgekapselte Soziopathen galten, geriet ich immer tiefer in den Strudel. Neun Videospielkonsolen frisch aus Japan importiert, über 100 Videospiele für 80 Mark pro Stück, 10 Varianten Game-Boys, den ersten
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PC im kompletten Freundeskreis (besagten 4x86er DX) und fast jährliche Aufrüstungen, welche Tausende verschlangen. An den Vergnügungen und Erfahrungen meiner Schulkameraden hingegen nahm ich kaum teil ... . Probeweise Rauchen, erste Erfahrungen mit Alkohol, Kontakte mit dem anderen Geschlecht... all dies schien den naiven Thomas nicht zu interessieren. Doch die kleine, heile Käseglocke, in welcher ich schwebte, drohte rissig zu werden: Meine Schulkameraden reagierten auf mich immer aggressiver; die Toleranz war verschwunden. Damit wurde mein Defizit natürlich in der Tat fatal: In großen Gruppen war ich natürlich immer noch unsicher. Doch wenn ich nun aus Angst aggressiv reagierte, konterten meine Mitschüler ebenso mit Aggression: Meine Brillen wurden zertreten, meine Ranzen zerstört, ich wurde gejagt, getreten, geschlagen, gehänselt. So zog ich mich immer weiter zurück. Schließlich kam der Zusammenbruch. Bis zu diesem Punkt war meine kleine Welt relativ stabil. Doch dann kamen zwei einschneidende Erlebnisse: Mein Vater hatte einen schweren Arbeitsunfall und war für mehr als ein Jahr quasi handlungsunfähig. Für mich war dies ein Schock. Hinzu kam, dass mein einziger Freund nicht versetzt wurde. Das war zu viel. Ich brach zusammen. Meine Eltern wussten absolut nicht, wie sie reagieren sollten. Ich ging nicht mehr zur Schule und baute mir zu Hause eine isolierte Welt auf. Über ein Jahr lang blieb ich zu Hause, verfiel der Angst vor der Außenwelt, den Neurosen und Zwangsritualen. Nach einem Irrweg über viele MöchtegernPsychologen und halbherzige Seelenklempner entschieden meine Eltern sich für das Richtige: Meine Einlieferung in die Psychiatrie. Zunächst war ich natürlich geschockt und entsetzt. Schlagartig löste sich meine isolierte Welt auf. Urplötzlich war ich mit der vollen Breitseite der Realität konfrontiert, doch ich sollte bald entscheidend dazulernen ...«
D Aufbruch und Aufstieg »In der Psychiatrie begann zunächst einmal die anstrengende Suche nach der richtigen Diagnose. Nun war das Asperger-Syndrom damals noch nicht so bekannt und die Psychiatrie war zwar bemüht, Spezialisten für dieses Themengebiet fehlten aber. Der
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Kapitel 7 · Der Blick voraus: Verlauf und Prognose
sehr ambitionierten Arbeit eines Stationsleiters und dem Zufall habe ich die korrekte Diagnose zu verdanken. Dann folgte Aufbauarbeit. Nach der Bekämpfung der Zwangsstörungen musste das soziale Verhalten quasi von der Pike auf gelernt werden. Mein großes Glück schon damals war, dass ich sehr gut reflektierend über mein Verhalten nachdenken konnte. So wurden immer wieder soziale Situationen nachbesprochen und erste Erfolge zeigten sich. Zunächst wurden klare soziale Regeln aufgestellt (z. B. ›Ein Dialog ist wie ein Ping-Pong-Spiel, immer kurz hin und her, nicht überlang auf einer Seite‹). Als ich meine Krankheit mehr und mehr verstand, wurde auch der Wunsch größer, wieder ins Leben zu finden und normal mit Menschen umgehen zu können. Doch dieser Weg war lang. Nach langer Therapie wurde schließlich der Schritt in die Schule gewagt. Von da an arbeitete ich mich hoch: Erst die Psychiatrieschule, dann die Sonderschule, dann eine Gesamtschule mit Integrationsklasse. Schließlich fanden meine Eltern über das Jugendamt ein Internat, welches bereit war, das Experiment meiner Aufnahme zu wagen. Erst dort begann mein soziales Leben in vollen Zügen. Am Anfang war mir immer noch etwas mulmig zumute, wenn ich den kleinen Schulhof, mit plaudernden Schülern gefüllt, betrat. Das Umfeld aber war ideal. Nur 130 Schüler, Klassen mit maximal 12 Personen und ein auf Individualismus ausgelegtes reformpädagogisches Konzept. Erst dort lernte ich das Leben kennen. Endlich war sozialer Kontakt ohne Angst möglich. Immer wieder gestützt von meinen Familienvätern (Lehrer, welche eine gewisse Anzahl von Internatsschülern als Familie betreuen), vom Jugendamt und von der Sozialpädagogin des Internats gewann ich über die Jahre immer mehr soziale Kompetenzen. Für mich war dies die schönste Zeit meines Lebens (es kommen natürlich noch viele andere schöne Zeiten). Es wurde mir immer besser möglich, Emotionen zu erkennen und irgendwann auch, ich weiß nicht wie, zu spüren. Am Anfang war es noch superschwierig zu unterscheiden, ob jemand nun lacht oder wütend schreit. Doch ich glaube zu wissen, wir mir der Durchbruch gelang. Nach beinahe jeder wichtigen sozialen Situationen, sei es nun ein Streit oder das familiäre Schicksal eines Internatskameraden, sprach ich
mit meinem Familienvater darüber und reflektierte. Aus diesem Reflektieren gewann ich Sozialregeln, wie auch schon in der Psychiatrie. Doch hier konnte ich diese Regeln noch unmittelbarer und ungezwungener anwenden; experimentieren wie in einem überschaubaren Sozialbaukasten. So prägten sich Schemen ein. Es gelang mir zusehends, dass empathische Defizit auszugleichen. Mir fehlt zwar dieses ›Bauchgefühl‹, wenn es um die Stimmungslage anderer Menschen geht, doch ich konnte wohl mein kognitives Potenzial dazu zweckentfremden. So analysierte ich zunächst jede soziale Situation wie ein Stratege und entwarf Reaktionen. Dies ging zunächst sehr langsam vonstatten und erforderte meine volle Aufmerksamkeit und Konzentration. Doch nach und nach wurde der Katalog der Reaktionen immer größer und feiner. Ich musste auch nicht mehr ständig darüber nachdenken. Viele Reaktionen kamen nun wie selbstständig aus dem Bauch heraus. Auch erkannte ich irgendwann immer schneller und besser, in welcher Gemütslage sich mein Gegenüber nun befand ... So etwas wie Empathie entwickelte sich. Auch fand ich nun mehrere gute Freunde. Allesamt ebenso Individualisten, aber trotzdem voll im Leben. So bin ich also immer gesellschaftsfähiger und schließlich ›salonfein‹ geworden. Mal schauen, was nun das Studium bringen wird (hoffentlich viele neue, interessante Menschen).«
7.1
Die Symptomatik des Asperger-Syndroms bei Erwachsenen
Die Symptomatik von Störungen aus dem autistischen Spektrum variiert von Individuum zu Individuum, aber auch über die Zeit. Reifungsprozesse, sowohl in biologischer als auch psychischer Hinsicht, beeinflussen den Verlauf, die Ausprägung und die Ausgestaltung der Symptomatik. Des Weiteren haben Förderung, Therapie, das familiäre Umfeld, medikamentöse Behandlungen usw. einen Einfluss auf die Ausprägung und die Art der Symptomatik.
7.1 Die Symptomatik des Asperger-Syndroms bei Erwachsenen
In vielen Studien konnte gezeigt werden, dass die Symptomatik (erfasst durch das ADI) im Erwachsenenalter im Vergleich zur frühen Kindheit signifikant geringer ausfällt (Piven et al. 1996; Bölte u. Poustka 2000; Gilchrist et al. 2001; Seltzer et al. 2003, 2004; McGovern u. Sigman 2005; Sigman u. McGovern 2005). Allerdings basieren diese Untersuchungen auf retrospektiven Befragungen der Eltern und nicht auf katamnestischen Untersuchungsergebnissen. Die meisten Probanden erfüllten aber auch im Erwachsenenalter noch die (ADI-)Kriterien für eine autistische Diagnose. ! Autistische Störungen werden als lebenslange Störungen angesehen, die sich im Laufe der Entwicklung eines Menschen wandeln können, deren Kernsymptomatik in ihrer qualitativen Abweichung jedoch erhalten bleibt.
Seltzer et al. (2003) fanden in einer umfangreichen retrospektiven Untersuchung (n = 405) anhand des ADI bei erwachsenen Menschen mit einer Störung aus dem autistischen Spektrum (ca. 40 % der untersuchten Probanden zeigten keine geistige Behinderung) und bei adoleszenten Patienten (Alter 10–21 Jahre) eine weniger ausgeprägte Symptomatik im Bereich der Kommunikation im Vergleich zu der Erwachsenengruppe (Alter 22 und älter). Dies betraf insbesondere die nonverbale Kommunikation, die wechselseitige Kommunikation und das Sprachniveau. Allerdings zeigten die Adoleszenten mehr Auffälligkeiten in Bezug auf unangemessene Äußerungen und die Erwachsenen zeigten ein deutlich verbessertes Sprachniveau. Im Bereich der wechselseitigen sozialen Interaktion waren die Adoleszenten deutlich weniger auffällig als die Erwachsenen. Dieses betraf insbesondere die Fähigkeit, soziale Interaktionen zu regulieren, Beziehungen zu anderen einzugehen, Freude mit anderen zu teilen, sozio-emotionale Wechselseitigkeit und Freundschaften einzugehen. Die Erwachsenen zeigten hingegen im Bereich der restriktiven, repetitiven Verhaltens-
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weisen und Interessen weniger Auffälligkeiten (insbesondere im Bereich der ungewöhnlichen Beschäftigungen und der komplexen Manierismen). Insgesamt ergaben sich für beide Vergleichsgruppen die größten Verbesserungen in den sprachlichen Fähigkeiten, die geringsten Verbesserungen zeigten sich in der Fähigkeit, Freundschaften einzugehen. Tantam (2000) nennt folgende Kernsymptome des Asperger-Syndroms, die bis ins Erwachsenenalter bestehen bleiben: 5 Auffälligkeiten in der nonverbalen Kommunikation, 5 Auffälligkeiten in der Semantik und Pragmatik der Sprache, 5 Eingeschränkte Fähigkeit zur Theory of Mind, 5 Idiosynkratische, stereotype, nicht-soziale Interessen und Aktivitäten, 5 Motorische Ungeschicklichkeit. Tantam (2000) sieht die Auffälligkeiten in der nonverbalen Kommunikation als eines der wichtigsten Kernsymptome des Asperger-Syndroms an. Diese können einzelne Bereiche (Blickkontakt, Mimik, Körperhaltung, Prosodie der Stimme, Gestik) oder mehrere betreffen und sie sind resistent bis ins hohe Erwachsenenalter. Auf der Verhaltensebene lassen sich folgende Auffälligkeiten von Erwachsenen mit AspergerSyndrom feststellen, die sich in einigen Untersuchungen als relativ valide Screeningvariablen gezeigt haben (Nylander u. Gillberg 2001; Ferriter et al. 2001): 5 Schwierigkeiten im Kontakt mit anderen (beispielsweise Freundschaften zu schließen, wechselseitige zufriedenstellende sexuelle Kontakte), 5 Erscheint seltsam, bizarr, egozentrisch, 5 Erscheint zwanghaft oder rigide, mit Ritualen, Routinen oder Regeln beschäftigt, 5 Auffälligkeiten in der äußeren Erscheinung (z. B. ungepflegt, ungewöhnlich, nicht an Moden ausgerichtet),
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Kapitel 7 · Der Blick voraus: Verlauf und Prognose
5 Sonderinteressen, die keinen Raum für andere Aktivitäten zulassen, über die der Patient repetitiv spricht, 5 Auffälligkeiten in der Sprache bezüglich Semantik und Pragmatik (z. B. pedantische Sprache, monotone Intonation, unangemessene Lautstärke, konkretistisches Sprachverständnis), 5 Auffälligkeiten in der nonverbalen Kommunikation, 5 Unfähigkeit, die Konsequenzen des eigenen Handelns oder von Gesagtem vorherzusehen oder zu verstehen, was wiederholt zu Schwierigkeiten führt oder andere in Schwierigkeiten bringt, 5 zeigt sehr uneinheitliche Fähigkeiten (in einigen Bereichen sehr gute Fähigkeiten, in anderen fehlen elementare Fähigkeiten), 5 als Kind/Jugendlicher schon Kontakt zur Kinder- und Jugendpsychiatrie bzw. anderen Einrichtungen. Wing (1997) unterscheidet im autistischen Spektrum 3 Untergruppen, die sie als 5 die »unnahbare« Gruppe (»aloof group«); 5 die passive Gruppe und 5 die aktive, aber merkwürdige Gruppe (»active but odd«) bezeichnet. Diese Unterteilung fand sich in einer Untersuchung an Adoleszenten und Erwachsenen bestätigt (Gillberg u. Steffenburg 1987; s. a. Nordin u. Gillberg 1998). Die »unnahbare« Gruppe beschreibt Menschen, deren Hauptmerkmal das »autistische Alleinsein« ist. Auch als Erwachsene wollen diese Menschen am liebsten alleine sein und sich alleine mit ausgewählten Dingen beschäftigen. Probleme entstehen meist erst dann, wenn Anforderungen von anderen an sie gestellt werden. Die »passive« Gruppe kann Annäherungen durch andere durchaus zulassen, reagiert freundlich, aber eher automatisiert. Diese stereotypen Reaktionsmuster lassen diese Menschen in einigen sozialen Situationen relativ unauffällig erscheinen, eine wech-
selseitige soziale Interaktion ist ihnen aber dennoch unmöglich. Abrupte Veränderungen sind für diese Menschen jedoch unerträglich und führen zu einer massiven Krise. In der »aktiven, aber merkwürdigen« Gruppe kommen problematische Verhaltensweisen häufig vor. Erwachsene Menschen dieser Untergruppe erscheinen gänzlich anders als die beiden anderen Untergruppen, dennoch liegt auch bei ihnen ein Mangel an Gegenseitigkeit in der Interaktion vor. Diese Menschen gehen ohne Scheu auf andere zu, scheinen eher distanzlos zu sein. Sie stellen stereotype Fragen, führen endlose Monologe und erscheinen in ihrem Verhalten äußerst bizarr. Die Anzahl von erwachsenen Menschen, die selbst oder durch andere angeregt auf die Vermutung stoßen, bei ihnen könnte diese Störung vorliegen, scheint zu wachsen. Dies erklärt sich auch dadurch, dass zu dem Zeitpunkt, als diese Erwachsenen Kinder waren, die Diagnose eines Asperger-Syndroms entweder noch nicht in den ICD-Katalog aufgenommen war oder wenig bis gar nicht bekannt war. Leider gibt es bis heute noch zu wenig Anlaufstellen für diese Patienten und in der Erwachsenenpsychiatrie ist das Störungsbild bisher wenig vertraut, jedoch scheint sich hier einiges zu tun (so existieren bereits an einigen Universitätskliniken AutismusSprechstunden für Erwachsene). Die Diagnose im Erwachsenalter erstmals zu stellen, ist ein schwieriges Unterfangen: Zum einen fehlt es an reliablen diagnostischen Verfahren, die auch für das Erwachsenenalter geeignet sind, zum anderen ist für die Diagnosestellung die Anamnese der frühkindlichen Entwicklung unerlässlich und darüber valide Informationen zu erhalten oftmals schwierig. Erschwert wird die Diagnosestellung auch durch das Vorhandensein von komorbiden Störungen, die im Erwachsenenalter häufig sind (7 Kap. 4.3): Depressionen und Angststörungen kommen im Erwachsenenalter am häufigsten als komorbide Erkrankung vor (Tantam 1991; Howlin 2000) und können die Symptomatik maskieren. Auch eine psychotische Symptomatik kann
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7.2 Prognosekriterien und Lebensbewährung (outcome)
bestehen (akustische Halluzinationen, paranoide Ideen oder wahnhaftes Denken) bzw. in manchen Fällen wird die Symptomatik des AspergerSyndroms auch als eine psychotische verkannt. Die bereits ausführlich beschriebenen Auffälligkeiten im Sprachverständnis, in der Pragmatik der Sprache, der konkretistischen Denkweise, die zwanghaften, ritualisierten Verhaltensweisen von Menschen mit Asperger-Syndrom, der in manchen Fällen auffällig gelockerte Bezug zur Realität bzw. die verminderte Unterscheidung zwischen Phantasie und Realität, erschweren die Diagnosestellung für Erwachsene deutlich.
7.2
Prognosekriterien und Lebensbewährung (outcome)
Aus empirischen Untersuchungen (Rutter 1983; Gillberg 1991; Howlin u. Goode 1998) zum frühkindlichen Autismus wissen wir, dass folgende Prädiktoren für die Prognose des frühkindlichen Autismus relevant sind: 5 Sprachniveau mit 5–6 Jahren: Ist zu diesem Zeitpunkt keine Sprachfähigkeit vorhanden, ist die Prognose deutlich schlechter, als wenn eine gute Sprachfähigkeit vorhanden ist. 5 Psychometrisch geschätzte Intelligenz: Ein IQ<50 geht mit einem sehr niedrigen sozialen Funktionsniveau im Erwachsenenalter einher. 5 Weitere Faktoren sind: Das Ausmaß der Störung (Schweregrad); die Dauer der Echolaliephase; der Entwicklungsstand des Spielverhaltens und der Schulerfolg. Patienten mit Asperger-Syndrom verfügen über gute Sprachfähigkeiten und mindestens durchschnittliche bis überdurchschnittliche kognitive Fähigkeiten – ist ihre Prognose demnach deutlich besser als beim frühkindlichen Autismus? Nur wenige Studien untersuchten bisher spezifisch den Verlauf des Asperger-Syndroms bzw. Patienten mit Asperger-Syndrom im Erwachse-
7
nenalter. Dies liegt zum einen daran, dass diese Diagnose eine »relativ« neue ist und ihr nosologischer Status (7 Kap. 2) noch unsicher (Tsatsanis 2003). Die wenigen vorhandenen Studien beruhen auf unterschiedlichen Definitionen (Diagnosekriterien) des Asperger-Syndroms und beziehen infolgedessen auch unterschiedliche Stichproben und unterschiedliche Schweregrade der Störung ein. Asperger selbst (1944) beschrieb zunächst einen positiven Verlauf der Symptomatik seiner Patienten und schätzte ihre Prognose als günstig ein. In späteren Jahren relativierte er diese anfängliche Einschätzung, beschrieb jedoch Funktionsverbesserungen während des Prozesses des Erwachsenwerdens bei einem generell stabilen klinischen Bild. Die relevanten Ergebnisse aus katamnestischen Untersuchungen sollen im Folgenden zunächst in . Tab. 7.1 und danach einige davon etwas ausführlicher dargestellt werden. Einzelne Studien Wing – 1981 Wing (1981) untersuchte und diagnostizierte 34 Patienten im Alter von 5–35 Jahren, von denen 18 älter als 16 Jahre waren. Als Diagnosekriterien legte sie Aspergers Originalbeschreibungen zugrunde. 19 Patienten, davon 15 männliche und 4 weibliche, entsprachen klinisch etwa den Kriterien Aspergers, und 15 Patienten, davon 13 männliche und 2 weibliche, zeigten zum Untersuchungszeitpunkt ebenfalls ein dem Asperger-Syndrom entsprechendes klinisches Bild, erfüllten jedoch nicht die charakteristischen »Onset-Kriterien«, sowie die typischen Merkmale des Kindesalters. Untersucht wurden die Patienten hinsichtlich der Merkmale »Ausbildung/Beruf« und »Komorbidität«. 5 Ausbildung/Beruf: Von den Patienten über 16 Jahren hatten 9 die Schule oder Berufsausbildung frühzeitig abgebrochen, von diesen hatten 3 eine Arbeitsstelle, 3 hatten einen
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1 2
Kapitel 7 · Der Blick voraus: Verlauf und Prognose
. Tab. 7.1. (Katamnestische) Untersuchungen bei Adoleszenten und/oder Erwachsenen mit Asperger-Syndrom und anderen tiefgreifenden Entwicklungsstörungen Autor(en) (Jahreszahl)
Stichprobe
Diagnosekriterien
Katamnese- bzw. Untersuchungszeit
Ergebnisse
Wing (1981)
34
Aspergers Originalbeschreibung und zusätzliche Kriterien
Untersuchung von Patienten im Alter von 5–35 Jahren, davon 18 älter als 16Jahre
– Frühzeitiger Schul-/ Berufsausbildungsabbruch von 9 der 18 Patienten über 16 J. (50 %) – Hohe Komorbidität: 11 der 18 Pat. über 16 J. (61 %) waren zusätzlich psychisch erkrankt
Rumsey et al. (1985)
9 männliche Probanden mit durchschnittlicher Intelligenz
DSM-III-Kriterien für Autismus
Untersuchung von Patienten, die teils von Kanner selbst diagnostiziert waren, Alter zwischen 18 und 39 Jahre
– 5 hatten einen Schulabschluss – 6 lebten noch bei den Eltern, lediglich ein Proband lebte allein – 4 gingen einer Arbeit nach – 6 zeigten Symptome einer Angststörung bzw. Depression
Szatmari et al. (1989)
16 normalbegabte Probanden
ICD-9-Kriterien
Follow-up-Untersuchung nach 11–27 Jahren
– Deutlich mehr Beeinträchtigungen in der nonverbalen als in der verbalen Kommunikation – 5 lebten allein – 10 lebten bei den Eltern – 4 zeigten Symptome einer Angststörung – 3 zeigten eine Zwangsstörung – 2 zeigten paranoide Symptome und/oder Halluzinationen – Ein Patient wurde wegen einer chronischen Schizophrenie behandelt – 4 zeigten einen guten Verlauf
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211
7.2 Prognosekriterien und Lebensbewährung (outcome)
7
. Tab. 7.1. (Fortsetzung) Autor(en) (Jahreszahl)
Stichprobe
Diagnosekriterien
Katamnese- bzw. Untersuchungszeit
Ergebnisse
Tantam (1991)
60, davon 46 Patienten mit »Autismus« oder »eine dem Autismus verwandte Störung wie das Asperger Syndrom«
Wings Kriterien; ICD-9
Untersuchung von Patienten zwischen 16 und 65 Jahren (durchschnittliches Alter 24 Jahre)
– Nur 2 Pat. lebten allein – Alle Patienten sozial schwer beeinträchtigt; fast 50 % zeigten antisoziales Verhalten – Psychiatrische Komorbidität 48 %
Venter et al. (1992); Lord u. Venter (1992)
58 Kinder mit High-functioning-Autismus
DSM-IV
Follow-Up-Untersuchung nach durchschnittlich 8 Jahren
– nur 5 % hatten einen Schulabschluss – 2 lebten allein, 6 mit minimaler Unterstützung
Wolff u. McGuire (1995)
32 männl. Patienten mit schizoider Persönlichkeit, AS oder MDD; 17 weibl. Patienten
Eigene Kriterien
17 Jahre
– 14 von 32 Pat. vollbeschäftigt – Risiko für Alkohol- und Drogenmissbrauch oder kriminelles Verhalten nicht erhöht – insbesondere bei Frauen: Störungen im Sozialverhalten
Larsen u. Mouridsen (1997)
18, davon 9 mit frühkindlichem Autismus und 9 mit AS
ICD-10
30 Jahre
Patienten mit AS waren selbständiger, hatten eine bessere Ausbildung und waren häufiger verheiratet als Patienten mit frühkindlichem Autismus
Szatmari et al. (2000)
66, davon 46 mit frühkindlichem Autismus und 20 mit AS
Daten aus ADI (Version von 1988) + Leiter-IQ >69, bzw. StanfordBinet >70; Diagnosekriterien ähnelten ICD-10 bzw. DSM-IV
2 Jahre
Patienten mit AS verfügten bei Katamnese über bessere soziale Fertigkeiten und weniger autistische Symptome, als Patienten mit frühkindlichem Autismus
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Kapitel 7 · Der Blick voraus: Verlauf und Prognose
1
. Tab. 7.1. (Fortsetzung)
2
Autor(en) (Jahreszahl)
Stichprobe
Diagnosekriterien
Katamnese- bzw. Untersuchungszeit
Ergebnisse
Green et al. (2000)
20 männliche Patienten mit AS und 20 Patienten mit Verhaltensstörung
ICD-10
Keine Katamnese, lediglich Untersuchung Jugendlicher zw. 11–19 J.
Innerhalb der AS-Gruppe schwere Beeinträchtigung im sozialen Umgang und Selbsthilfefähigkeiten; hohe psychiatrische Komorbidität
Szatmari et al. (2003)
47 Patienten mit Autismus und 21 mit AS; IQ >70
ICD-10
3 Messzeitpunkte: im Alter von 4–6 Jahren, von 6–8 und 10–13 Jahren
Prognosekriterien »Sprachfähigkeit und kognitive Fähigkeiten« haben eher Einfluss auf kommunikative und soziale Fertigkeiten als auf die autistische Symptomatik; Zusammenhang zwischen sprachlichem Vermögen und positivem Verlauf für den frühkindlichen Autismus größer als beim Asperger-Syndrom
Howlin et al. (2004)
61 männliche und 7 weibliche Patienten mit autistischen Störungen, IQ >50
Diagnosekriterien ähnelten ICD-10 bzw. DSM-IV
Im Mittel bei 22 Jahren
Obwohl bei den meisten Patienten deutliche Entwicklungsfortschritte festzustellen waren, waren viele noch nicht selbstständig
Sigman u. McGovern (2005); McGovern u. Sigman (2005)
42 männliche und 6 weibliche Patienten mit autistischen Störungen, Vergleiche zwischen low(IQ <70) und high-functioning (IQ >70)
ICD-10
Follow-Up in der mittleren Kindheit und Jugend bzw. als junge Erwachsene ; im Mittel Follow-up bei 16 Jahren
Die Patienten mit Highfunctioning-Autismus zeigten größere Fortschritte in der Entwicklung als die Patienten mit Low-functioningAutismus
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* Berücksichtigt wurden Arbeiten, die überwiegend Patienten mit einem IQ >70 untersuchten Abkürzungen: AS= Asperger-Syndrom, MDD = Multiplex Developmental Disorder
7.2 Prognosekriterien und Lebensbewährung (outcome)
Job in der Vergangenheit, diesen jedoch verloren, und 3 hatten keine Arbeitsstelle gefunden. 5 Komorbidität: 11 der 18 älteren Patienten waren psychiatrisch erkrankt, und 2 zeigten bizarre Verhaltensweisen ohne eine diagnostizierbare psychiatrische Erkrankung. Zwei hatten versucht, sich zu suizidieren, ein weiterer äußerte Suizidideen. Die restlichen waren überwiesen worden, da sie Schwierigkeiten hatten, die Ansprüche des Erwachsenenlebens zu erfüllen. In dieser Studie konnte gezeigt werden, dass insbesondere die Adoleszenz eine schwierige Entwicklungsphase darstellt, in der verstärkt Ängste und Depressionen auftreten. Es entsteht insbesondere in dieser Entwicklungsphase ein Bewusstsein von der »Andersartigkeit« und die soziale Isolation nimmt zu. Die anstehenden Entwicklungsaufgaben (Identitätsbildung, Ablösung von den Eltern, Berufstätigkeit) überfordert Menschen mit Asperger-Syndrom. Innerhalb der untersuchten Stichprobe lag eine hohe Komorbidität vor, was unter anderem dadurch erklärt werden kann, dass die Stichprobe klinisch gewonnen wurde und sich aus Patienten zusammensetzte, die wegen ihrer psychiatrischen Begleiterkrankungen Hilfe beanspruchten. Larsen und Mouridsen – 1997 Larsen u. Mouridsen (1997) führten eine Katamnese über einen Zeitraum von 30 Jahren durch. Die Stichprobe bestand aus ursprünglich insgesamt 322 Kindern, die zwischen 1949 und 1951 stationär aufgenommen wurden. Diese Kinder wurden in den siebziger Jahren auf das Risiko der Entwicklung einer manisch-depressiven Psychose hin untersucht. Nach den damals gebräuchlichen ICD-8-Kriterien hielt man 23 Patienten für entweder psychotisch (n = 17) oder für Borderline-Persönlichkeiten (n = 6). Diese 23 Patienten bildeten die Stichprobe. Gemäß ICD-10-Kriterien schloss Larsen 5 Patienten aus
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7
der eigentlichen Katamnese aus. Die restlichen 18 Patienten erhielten die Diagnose »tiefgreifende Persönlichkeitsstörung«, 9 davon erfüllten die Kriterien für frühkindlichen Autismus und 9 Patienten diejenigen des Asperger-Syndroms. Das Geschlechterverhältnis ist nicht typisch und eine Folge des oben beschriebenen Selektionsprozesses. Das Durchschnittsalter der Patienten mit Asperger-Syndrom betrug 39,1 Jahre, das der frühkindlichen Autisten 36,5 Jahre. Mit Ausnahme von 3 Patienten waren alle Patienten mit Asperger-Syndrom von normaler Intelligenz. Diese 3 Ausnahmen verfügten aber zumindest über IQ-Werte, die nur knapp unterhalb der Grenze zu normaler Intelligenz lagen. In der Gruppe mit frühkindlichem Autismus hatten 2 von 9 Patienten einen normalen IQ, die übrigen Patienten erreichten lediglich unterdurchschnittliche Testwerte. Man untersuchte die Patienten hinsichtlich Therapiebedürftigkeit, Bildung, Arbeitsplatz, Ehe, Kindern und Selbstständigkeit. Im Durchschnitt wurden die Patienten mit Asperger-Syndrom im Alter von 9,2 Jahren stationär aufgenommen, die Patienten mit frühkindlichem Autismus im Alter von 5,9 Jahren. 87 % der Kinder der Aspergergruppe hatten eine normale Schule besucht, lediglich einer wurde zu Hause unterrichtet. Kein Patient mit frühkindlichem Autismus war zu einem normalen Schulbesuch fähig. Aus beiden Gruppen erhielten 7 Patienten (78 %) im Erwachsenenalter eine Rente infolge ihrer Behinderung. 22 % der Aspergerpatienten waren verheiratet und hatten Kinder. Zwei weitere Aspergerpatienten waren verheiratet, ließen sich aber nach 15 bzw. 7 Jahren scheiden. Im Gegensatz hierzu war keiner der frühkindlichen Autisten verheiratet oder hatte Kinder. Howlin – 2000 Howlin (2000) kommt in einem Review-Artikel, der die zu diesen Zeitpunkt relevante Literatur zum Verlauf von High-functioning-Autismus und Asperger-Syndrom referiert, zu dem
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Kapitel 7 · Der Blick voraus: Verlauf und Prognose
Schluss, dass die Verläufe sehr heterogen ausfallen. Zwischen 5 und 44 % der untersuchten Patienten hatten Arbeit, zwischen 16 und 50 % lebten selbständig. Einen »guten« Verlauf nahmen zwischen 16 und 44 % der Patienten, die Rate der Komorbiditäten lag zwischen 11 und 67 %. Diese Heterogenität ist ihrer Ansicht nach auch durch geographische Unterschiede erklärbar, d. h. welche unterstützenden Einrichtungen erreichbar sind. Szatmari et al. – 2000 Eine Studie von Szatmari et al. (2000) schloss 46 Kinder mit Autismus oder dem AspergerSyndrom (n = 20) ein, die im Alter von 4–6 Jahren diagnostiziert worden waren. Sie wurden unter der Voraussetzung in die Studie aufgenommen, dass der IQ über 70 lag. Der Nachuntersuchungszeitraum betrug zwei Jahre. Die zugrunde gelegten Diagnosekriterien ähnelten, aber entsprachen nicht vollständig den ICD-10bzw. DSM-IV-Kriterien. Als Untersuchungsinstrumente wurden die »Vineland Socialization Domain«, sowie die »Autism Behavior Checklist (ABC)« verwendet. Untersuchte Variablen waren beispielsweise »soziale Kompetenz«, »Sprache«, »räumliches Sehen« und »motorische Fertigkeiten«. Die Bearbeitung der Autism Behavior Checklist ergab, dass Kinder mit dem AspergerSyndrom insgesamt weniger autistische Symptome zeigten. Des Weiteren zeigten sie in den Bereichen »Kommunikation« und »formale Sprache« bessere Leistungen. Keine Differenzen ergaben sich in den Bereichen des »räumlichen Sehens« oder der »motorischen Fähigkeiten«. Insgesamt erreichten die Kinder mit Asperger-Syndrom einen Wert, der ungefähr eine Standardabweichung über dem Wert der autistischen Kinder lag. Beide Gruppen lagen jedoch deutlich unter dem nationalen Gesamtdurchschnitt. Die Resultate dieser Studie zeigen, dass Kinder mit Asperger-Syndrom zwar beeinträchtigt, allerdings in den Kerndomänen weniger betroffen sind als Kinder mit der Autismusdiagno-
se, unabhängig davon, ob diese der Gruppe des High-functioning-Autismus zugeordnet werden konnten. Die gemessenen Ergebnisunterschiede bezüglich Adaptation und Verhalten bei der Nachuntersuchung entsprachen in etwa den bei Zusammenstellung der Stichprobe erhobenen Werten und können deshalb als stabil betrachtet werden. Darüber hinaus teilte man die Kinder mit Autismus in zwei Gruppen ein: 5 die eine Gruppe entsprach in ihren sprachlichen Fertigkeiten denjenigen der Kinder mit dem Asperger-Syndrom zu Beginn der Untersuchung, 5 die zweite Gruppe lag in ihren sprachlichen Fähigkeiten unter denjenigen der Kinder mit der Asperger-Diagnose. Bei der Nachuntersuchung erreichten die autistischen Kinder mit flüssiger Sprachproduktion die gleichen Werte auf der »Autism Behavior Checklist« sowie der »Vineland Socialization Skala« wie die Kinder mit Asperger-Syndrom. Hieraus leitete man ab, dass beide Gruppen eine parallele Entwicklung durchlaufen, deren Niveau anscheinend von der Sprachproduktion abhängig ist. In einer weiteren Untersuchung (Szatmari et al. 2003) zeigte sich, dass die Prognosekriterien »Sprachfähigkeit und kognitive Fähigkeiten« eher Einfluss auf kommunikative und soziale Fertigkeiten haben als auf die autistische Symptomatik. Die Varianzaufklärung betrug 60 % für die kommunikativen Fertigkeiten (anhand der Vineland-Skala erhoben) und 40 % für den Bereich der Sozialisation (ebenfalls erhoben durch die Vineland-Skala) und lediglich 22 % für die autistische Symptomatik (erhoben durch den ADI-R). Der Zusammenhang zwischen sprachlichem Vermögen und positivem Verlauf scheint beim frühkindlichen Autismus größer zu sein als beim Asperger-Syndrom. Die erhobenen nonverbalen Fertigkeiten (nonverbale Intelligenz, visuell-motorische Integration) sagten hingegen den Verlauf beim Asperger-Syndrom besser voraus. Damit
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7.2 Prognosekriterien und Lebensbewährung (outcome)
ergeben sich für das Asperger-Syndrom andere Vorhersagevariablen als beim High-functioningAutismus. Green et al – 2000 Green et al. (2000) untersuchte insgesamt 40 Adoleszenten: 20 mit einem Asperger-Syndrom und 20 mit einer Störung des Sozialverhaltens. Die Gruppen unterschieden sich weder in Hinsicht auf ihr Alter, noch in Bezug auf den IQ. Die Diagnose des Asperger-Syndroms wurde anhand der ICD-10-Kriterien gestellt. Als Untersuchungsinstrumente wurden standardisierte Interviews zur sozialen und emotionalen Funktionsbeurteilung verwendet und man befragte Eltern und Patienten. Die beiden Diagnosegruppen unterschieden sich hauptsächlich in ihren Fähigkeiten, Beziehungen einzugehen und unabhängig zu leben. Soziale Fertigkeiten. Zwar berichteten die El-
tern beider Gruppen, dass ihre Kinder unter signifikanten Schwierigkeiten im sozialen Bereich litten, jedoch zeigte lediglich die Aspergergruppe ein großes Defizit in der Fertigkeit, Freundschaften zu schließen und aufrecht zu erhalten. Während die meisten Patienten mit Verhaltensstörungen bereits einmal eine Freundin hatten und berichteten, diese auch geküsst oder umarmt zu haben, hatte keiner der Aspergerpatienten jemals einen Freund oder eine Freundin gehabt, mit dem oder der er Aktivitäten oder Gefühle geteilt hätte. Selbsthilfefertigkeiten. Des Weiteren waren al-
le bis auf einen Patienten der Gruppe mit Verhaltensstörung zu grundlegenden Selbsthilfefertigkeiten imstande, jedoch nur 50 % der Aspergergruppe. Lediglich ein Aspergerpatient konnte vollkommen selbständig seine tägliche Routine organisieren. Diese Fähigkeit, selbstständig zu leben, korrelierte nicht mit dem IQ, war jedoch in der Aspergergruppe mit dem Alter assoziiert, denn je älter die Jugendlichen wurden,
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desto eher waren sie in der Lage, selbständig zu agieren. Es zeigte sich, dass zwar beide Gruppen ein prinzipiell gleiches Verständnis von Einsamkeit, Freundschaft, Liebe und Heirat hatten, dass jedoch die Aspergergruppe dazu unproportional große Defizite im täglichen Verhalten und lebenspraktischen Fertigkeiten aufwies. Ausbildung/Beruf. Spezielle
Erziehungsangebote wurden von Zeit zu Zeit von den meisten Patienten beider Gruppen in Anspruch genommen, zum Untersuchungszeitpunkt befanden sich allerdings 50 % der Aspergerpatienten und nur 15 % der Patienten mit Verhaltensstörung in normalen Schulklassen. Ein Patient mit Asperger-Syndrom besuchte ein College. Alle lebten entweder zu Hause oder in einem Wohnheim. Von den verhaltensgestörten Jugendlichen hatten 11 zum Zeitpunkt der Untersuchung oder zu einem früheren Zeitpunkt zumindest einen Teilzeitjob, von den Jugendlichen mit AspergerSyndrom hingegen keiner. Komorbidität. Beide Gruppen nahmen psychi-
atrische Dienste stark in Anspruch, und in der Gruppe mit Asperger-Syndrom fand sich eine hohe psychiatrische Komorbidität mit u. a. generalisierten Angststörungen, Dysthymie und Zwangsstörungen. Klinikaufenthalte. Während nur 15 % der ver-
haltensgestörten Jugendlichen stationäre Aufenthalte in der Vergangenheit hatte, waren dies bei der Aspergergruppe 40 %. Kriminelle Taten in der Vergangenheit. Geset-
zesübertretungen fanden sich in der Gruppe mit Störungen des Sozialverhaltens bei 65 %, in der Aspergergruppe nur in 10 %, was der Theorie der »eher Opferrolle als Täterrolle« entspricht. Gilchrist et al. – 2001 In einer zweiten Studie (Gilchrist et al. 2001) wurden dieselben 40 Patienten mit 13 Patienten
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Kapitel 7 · Der Blick voraus: Verlauf und Prognose
mit High-functioning-Autismus verglichen (Darstellung der Studie 7 Kap. 4.5.4). Zur Erhebung früherer und aktueller Befunde wurde das »Autism Diagnostic Interview« (ADI) verwendet, das »Autism Diagnostic Observation Schedule« (ADOS) setzte man zur Beobachtung des aktuellen Zustandes ein. Insgesamt zeigte sich, dass die untersuchten Probanden mit einem Asperger-Syndrom in der frühen Entwicklung (4.–5. Lebensjahr) signifikant weniger auffällig sind als Kinder mit Highfunctioning-Autismus, in der weiteren Entwicklung verschwindet dieser Unterschied aber. In der Adoleszenz findet sich kein signifikanter Unterschied mehr im Schweregrad der Beeinträchtigung. Es wurde auch der Effekt der Intelligenz getestet: Sind die Kinder mit Asperger-Syndrom vielleicht deshalb weniger beeinträchtigt, weil sie intelligenter sind? Die Intelligenz wurde als Kovariante in die Varianzanalyse eingeführt, um den Effekt der Intelligenz beurteilen zu können: Obwohl der Effekt der Intelligenz bei dieser Analyse statistisch kontrolliert wurde, zeigt sich, dass die gefundenen Gruppenunterschiede dennoch bestehen blieben, d. h. die gefundenen Unterschiede sind nicht durch die unterschiedlichen kognitiven Fähigkeiten erklärbar. Die Patienten mit Asperger-Syndrom zeigten im Vergleich zum aktuellen Zeitpunkt in der frühkindlichen Entwicklung deutlich weniger Auffälligkeiten und es fand sich eine signifikante positive Korrelation zwischen der frühkindlichen Entwicklung und den gegenwärtigen Auffälligkeiten: Je auffälliger ein Kind in der frühkindlichen Entwicklung war, desto auffälliger war es auch in der Adoleszenz. Diese Korrelation zwischen frühkindlicher und gegenwärtiger Symptomatik fand sich bei der Gruppe Highfunctioning-Autismus nicht! Howlin et al. – 2004 In der neueren Untersuchung von Howlin et al. (2004) wurden die Patienten hinsichtlich ihrer kognitiven, sprachlichen, sozialen und kom-
munikativen Fähigkeiten bzw. Verhaltensprobleme untersucht. Zum Zeitpunkt der ersten diagnostischen Untersuchung waren die Patienten durchschnittlich 7 Jahre alt, zum Zeitpunkt der katamnestischen Nachuntersuchung waren sie durchschnittlich 29 Jahre alt. Ausbildung/Beruf. Viele der untersuchten Pa-
tienten hatten weder einen Schulabschluss noch eine Beschäftigung. Diejenigen, die eine bezahlte Arbeit gefunden hatten (in der Regel durch Kontakte der Eltern vermittelt), führten meist einfache Arbeiten aus. Die Mehrzahl der Patienten arbeitete in beschützten Werkstätten oder geförderten Berufsprogrammen. Unabhängigkeit. Mehr als ein Drittel der Un-
tersuchungsstichprobe lebte noch bei den Eltern, über die Hälfte lebte in stationären Einrichtungen. Freundschaft. Die Mehrzahl der Patienten hat-
te keine Freunde, lediglich drei Patienten waren verheiratet bzw. hatten vor zu heiraten. Outcome-Score. 12 % erreichten einen sehr gu-
ten Wert, 10 % wurden als gut eingeschätzt und 19 % als befriedigend. Die Mehrzahl jedoch erreichte lediglich einen Wert, der als schwach (46 %) bzw. sehr schwach (12 %) bezeichnet wurde. Intelligenz. Die Intelligenzwerte waren über die
Zeit stabil, Patienten mit einem (Handlungs-)IQ von mindestens 70 zeigten einen signifikant besseren Verlauf als Patienten mit einem IQ unter 70. Allerdings war der Entwicklungsverlauf innerhalb des durchschnittlichen IQ-Bereichs sehr unterschiedlich und weder der Verbal-, noch der Handlungs-IQ konnten zur prognostischen Vorhersage herangezogen werden. Prognosekriterien. Die Intelligenz und die
Sprachfähigkeit sind nicht die allein entscheidenden Kriterien. Einige Erwachsene mit einer
7.2 Prognosekriterien und Lebensbewährung (outcome)
autistischen Störung mit einem IQ über 100 zeigen einen deutlich geringeren Outcome-Score als die mit einem IQ von 70. Deutlich ritualisiertes, stereotypes Verhalten und massive Ängste beeinflussen den Verlauf bei einigen Patienten und können den positiven Effekt der Intelligenz so überlagern. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass die Fähigkeit, ein selbständiges, altersangemessenes Leben im Erwachsenenalter zu führen, ebenso von dem Grad an Unterstützung (durch die Familie, den Arbeitsplatz und sozialen Einrichtungen) abhängt wie von den kognitiven Fähigkeiten des Betroffenen (Howlin et al. 2004). Sigman und McGovern – 2005 Sigman u. McGovern (2005) untersuchten 48 Kinder mit einer autistischen Störung im Verlauf ihrer Entwicklung zu drei Messzeitpunkten (frühe Kindheit, mittlere Kindheit und im frühen Erwachsenenalter). Die Stabilität bzw. der Zugewinn an kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten und die Prädiktoren für eine positive Entwicklung in diesen Bereichen standen im Fokus des Interesses bei dieser Studie. Die sprachlichen bzw. kognitiven Fähigkeiten erwiesen sich von der frühen bis zur mittleren Kindheit als stabil, von der mittleren Kindheit bis zum frühen Erwachsenenalter zeigten jedoch 21 % (n = 8) eine Verminderung der kognitiven Fähigkeiten. Zwischen den sprachlichen und den kognitiven Fähigkeiten zeigte sich ein starker Zusammenhang. Als Prädiktoren für die sprachlichen Fortschritte in der Entwicklung erwiesen sich das funktionale Spielverhalten, die Fähigkeit zur geteilten Aufmerksamkeit und die Initiative bei auffordernden Verhaltensweisen (z. B. wenn ein Spielzeug nicht erreichbar war oder um Hilfe bitten). Des Weiteren wurde dieselbe Stichprobe anhand von ADOS, ADI und weiteren standardisierten Beobachtungen bezüglich der Kontinuität bzw. des Wandels in der Symptomatik untersucht (McGovern u. Sigman 2005). Die Patienten
217
7
erfüllten überwiegend auch im frühen Erwachsenenalter noch die Kriterien für die Diagnosen. Insbesondere die Patienten mit High-functioning-Autismus zeigten Entwicklungsfortschritte (Vergleich mittlere Kindheit zu frühes Erwachsenenalter) bezüglich der Symptomatik in den Bereichen der sozialen Interaktion, repetitiven/ stereotypen Verhaltensweisen, im adaptiven Verhalten und in der emotionalen Ansprechbarkeit (Wahrnehmung von Leid bei anderen). Keine Unterschiede fanden sich bei den Vergleichsgruppen bezüglich der nonverbalen Kommunikation, wenngleich beide Gruppen bezüglich dieser Fähigkeit leichte Fortschritte zeigten, aber immer noch deutlich auffällig erschienen. Der Umfang, in dem die Patienten sich in der mittleren Kindheit auf soziale Kontakte zu Gleichaltrigen einlassen konnten, sagte die adaptiven Fähigkeiten im frühen Erwachsenenalter voraus. Dieser Zusammenhang blieb bestehen, wenn die kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten statistisch herausgerechnet wurden. Dies macht deutlich, dass – neben der Förderung von kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten – die sozialen Erfahrungen eine positiven Einfluss auf die Entwicklung von autistischen Menschen haben. Bölte et al. – 2005 Bölte et al. (2005) untersuchten die Situation von Menschen mit einer autistischen Störung in Deutschland. Von den 85 untersuchten Probanden (Alter zwischen 7 und 16; 11 Jahren) mit einem IQ über 70 besuchten 38 eine Regelschule (ca. 45 %), 42 % hingegen verschiedene Sonderschultypen. Bei den über 17-jährigen hatten 19 % eine Anstellung gefunden, 14 % besuchten das Gymnasium bzw. studierten und 14 % waren in Werkstätten tätig.
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Kapitel 7 · Der Blick voraus: Verlauf und Prognose
Im Überblick lässt sich die Forschung in diesem Bereich (s. a. Nordin u. Gillberg 1998; Howlin 2000; Tsatsanis 2003; Tsatsanis et al. 2004) folgendermaßen zusammenfassen: 5 Gute kognitive und sprachliche Fähigkeiten haben eine positiven, aber nicht ungebremsten Einfluss auf den Verlauf der Störung. 5 Im Verlauf kommt es zu einer Verminderung der Symptomatik, wenngleich die meisten Patienten auch im Erwachsenenalter noch alle Diagnosekriterien erfüllen. 5 Frühe Diagnose und Interventionen – auch hinsichtlich der sozial-kognitiven Fähigkeiten – sind entscheidend. 5 Der Verlauf ist sehr variabel. 5 Zwar scheint die Prognose beim AspergerSyndrom besser zu sein als beim frühkindlichen Autismus, dennoch hängt der Verlauf nicht nur von guten kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten ab. 5 Das Auftreten von komorbiden Erkrankungen beeinträchtigt die Entwicklungsmöglichkeiten.
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7.3
Sind Menschen mit AspergerSyndrom gefährlich?
Häufig stellt sich die Frage, ob bei Menschen mit Asperger-Syndrom aufgrund ihrer Störung eine erhöhte Neigung zu kriminellen Taten vorliegt. Diese Sorge haben Menschen in der Umgebung (Arbeitgeber, Lehrer, Mitschüler usw.), aber auch Eltern selbst. Anlass zu dieser Sorge geben Menschen mit Asperger-Syndrom manchmal durch folgende Verhaltensweisen: 5 Sonderinteressen bzw. Faszination für Gewehre, Gewalt, Feuer, Chemie; 5 der Wunsch nach Kontakt, kombiniert mit der Unfähigkeit, Kontakt angemessen aufzunehmen; 5 ungewöhnliches, nicht an gängigen Modetrends orientiertes Erscheinungsbild;
5 außergewöhnliche Abneigungen/Empfindlichkeiten (z. B. bestimmte Geräusche); 5 problematische »sexuelle Verhaltensweisen«, die durch mangelndes soziales Verständnis charakterisiert sind (z. B. distanzloses Verhalten); 5 manchmal auftretende – von anderen nicht vorhersehbare – Aggressionen. Ghaziuddin et al. (1991) berücksichtigen in einer Überblicksarbeit 132 Fälle von Asperger-Syndrom und fanden lediglich drei Fälle, bei denen im Verlauf gewalttätiges Verhalten auftrat. Damit war die Rate der Kriminalität in dieser Stichprobe deutlich geringer als in einer Vergleichgruppe von nicht-autistischen Menschen. Menschen mit Asperger-Syndrom werden »eher Opfer als Täter« (Klin et al. 1997; Volkmar u. Klin 2000; Tantam 2000). Insbesondere in der Pubertät scheint es in der Schule häufig zu Hänseleien, Ausgrenzungen usw. zu kommen. Dennoch gibt es eine Reihe von Einzellfallbeschreibungen, die aufzeigen, dass Menschen mit Asperger-Syndrom durchaus mit dem Gesetz in Konflikt geraten können (Wing 1981; Mawson et al. 1985; Baron-Cohen 1988; Scragg u. Shah 1994). Zum gegenwärtigen Zeitpunkt gibt es noch nicht genügend epidemiologische Studien, um in Bezug auf die Rate von Straftaten von Menschen mit autistischen Störungen eine unzweifelhafte Aussage zu machen. Die meisten Autoren (Ghaziuddin et al. 1991; Klin et al. 1997; Volkmar u. Klin 2000; Howlin 2000; Tantam 2000; Little 2001; Howlin et al. 2004) kommen zu dem Schluss, dass Menschen mit autistischen Störungen in der Regel keine höhere Kriminalitätsrate zeigen als nicht autistische Menschen. Häufig neigen sie dazu, Regeln und Gesetze eher rigide anzuwenden und haben deutliche Probleme mit Ausnahmen von Regeln oder Gesetzüberschreitungen.
Fazit Ingesamt zeigt sich in diesen Untersuchungen, dass die Patienten mit Asperger-Syndrom in der Regel weniger Beeinträchtigungen zeigen als
219
7.3 Sind Menschen mit Asperger-Syndrom gefährlich?
Patienten mit frühkindlichem Autismus. Allerdings ist die Prognose dennoch weit schlechter als bei Kindern mit anderen psychiatrischen Erkrankungen (z. B. Störung des Sozialverhaltens). Die Symptomatik des Asperger-Syndroms variiert im Verlauf der Entwicklung jedoch interund intraindividuell sehr stark. Die Prognose ist abhängig von der Schwere der Symptomatik, den komorbiden Erkrankungen, den Betreuungsmöglichkeiten, dem familiären Umfeld und den therapeutischen Möglichkeiten/Maßnahmen. Damit ist die Prognose bei jedem einzelnen Individuum mit Asperger-Syndrom sehr unterschiedlich und schwierig zu stellen. Vorhersagen zu treffen ist nur sehr begrenzt möglich, übertrieben optimistische wie pessimistische Prognosen sind weder sinnvoll noch hilfreich. Viele Studien haben gezeigt, dass gute sprachliche Fähigkeiten auch für den sozialen Bereich prognostisch günstig sind und diese sprachlichen Fähigkeiten korrelieren stark mit der Intelligenz (Schonauer et al. 2001). Trotzdem kann das sprachliche Vermögen und die Intelligenz nicht die soziale Beeinträchtigung vorhersagen: Zwar verfügen Patienten mit einem Asperger-Syndrom über eine gute Intelligenz und über gute sprachliche Fähigkeiten (abgesehen von der Prosodie und pragmatischen Fähigkeiten), dennoch liegen bei diesen Menschen erhebliche soziale Beeinträchtigungen vor. Diese liegen oft mehr als zwei Standardabweichungen unter ihren kognitiven Fähigkeiten (Klin et al. 2000). So zeigten beispielsweise 40 untersuchte Adoleszente und Erwachsene mit einer autistischen Störung, die über eine durchschnittliche Intelligenz verfügten, einen Entwicklungsquotienten im sozialen Bereich von vier Jahren (Klin 2003). Der Zusammenhang zwischen sprachlichem Vermögen und positivem Verlauf scheint für den frühkindlichen Autismus größer zu sein als beim Asperger-Syndrom (Szatmari et al. 2003).
7
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Kapitel 7 · Der Blick voraus: Verlauf und Prognose
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8 Was wir nicht wissen: Offene Fragen 8.1
Offene Fragen zur Definition und Klassifikation – 222 1. Sind einheitliche diagnostische Kriterien für das Asperger-Syndrom zu erreichen? – 222 2. Sind Asperger-Syndrom und HFA unterschiedliche Störungen oder lediglich Varianten einer einheitlich beiden Varianten zugrundeliegenden Ursache? – 222 3. Ist das Konzept der Autismus-Spektrum-Störung weiterführend oder gibt es andere gut begründbare Alternativen? – 223
8.2
Offene Fragen zur Ätiologie
– 224
1. Welchen Beitrag kann die Genetik zur Aufklärung des AS bzw. der ASS beitragen? – 224 2. Welchen Beitrag zum Verständnis der Störung liefern neuropsychologische Befunde? – 224 3. Spielt die Umwelt keine Rolle? – 225 4. Wie lassen sich die bisherigen Erkenntnisse in eine Modellvorstellung integrieren? – 226
8.3
Offene Fragen zur Diagnostik und Differenzialdiagnostik – 226 1. Inwieweit lässt sich die Diagnostik verbessern? – 226 2. Wie können Fehldiagnosen vermieden werden? – 227
8.4
Offene Fragen zur Behandlung
– 228
1. Welches sind die größten Hindernisse für eine erfolgreiche Behandlung? – 228 2. Lassen sich wirksame Behandlungskomponenten ausmachen? – 228 3. Welchen Stellenwert hat die Familie in der Behandlung? – 229 4. Welchen Stellenwert haben Medikamente? – 229 5. Welche Bedeutung haben Selbsthilfegruppen? – 230
8.5
Welche Determinanten bestimmen den Verlauf? – 230 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Intelligenz – 231 Sprachliche Fähigkeiten – 231 Schulabschluss und erreichter Bildungsgrad – 231 Beschäftigungsprogramme bzw. Eingliederungsmaßnahmen Langfristige Betreuungsmöglichkeiten – 232 Schweregrad der Symptomatik – 232 Psychiatrische Komorbidität – 232
– 231
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Kapitel 8 · Was wir nicht wissen: Offene Fragen
Wenn man sich mit offenen Fragen im Zusammenhang mit Autismus-Spektrum-Störungen beschäftigt, insbesondere mit dem AspergerSyndrom, so besteht die Gefahr, dass man sich im Kreise dreht. Denn alles hängt mit allem irgendwie zusammen. Unterschiedliche Definitionen der Störungen führen naturgemäß häufig zu unterschiedlichen Ergebnissen, über die man dann streiten kann. Kleine Stichproben im klinischen Bereich führen zu Ergebnissen, die nicht repräsentativ sind und folglich für die Bevölkerung nicht gelten. Hat man charakteristische Befunde für eine Störung ermittelt, so ergibt sich die Frage, wie spezifisch sie für diese Störung sind und ob sie nicht auch bei anderen Störungen desselben Spektrums vorkommen oder auch ganz außerhalb derselben. Dies gilt z. B. für die Theory of Mind, die beim Autismus und AspergerSyndrom bedeutsam ist, aber auch (wenngleich im geringeren Ausmaß) auch bei schizophrenen Patienten (Corcoran 2000). Trotz dieser Schwierigkeiten, derer wir uns stets bewusst sind, halten wir es für angebracht, noch offene Fragen anzuschneiden, die wir im Wesentlichen nach den Hauptabschnitten des Buches gliedern.
8.1
Offene Fragen zur Definition und Klassifikation
1. Sind einheitliche diagnostische Kriterien für das Asperger-Syndrom zu erreichen? Asperger (1944) und Ssucharewa (1926) haben erkannt, dass es in ihrem Kontakt- und Sozialverhalten auffällige Kinder gibt, die sie in ihren Eigenschaften und Verhalten kasuistisch sehr plastisch beschrieben haben. Mit dem Anwachsen der Untersuchungen über diese Kinder haben dann andere Autoren Kriterien hinzugefügt und die Störung hat schließlich Eingang in die diagnostischen Klassifikationsschemata (ICD10 und DSM-IV) gefunden. Verschiedene diagnostische Kriterien bestehen nun nebeneinander, wobei niemand entscheiden kann, welches die richtigen oder, besser gesagt, welches jene
sind, die am besten zutreffen. Da die Störungen aber nach den verschiedenen Kriterien definiert sind, ist diese Frage gar nicht entscheidbar. Ein Ausweg wäre, die Störungen an einer größeren Stichprobe von Patienten nach einheitlichen Kriterien zu definieren, um dann im Rahmen einer vergleichenden Studie alle anderen existenten Kriterien anzuwenden. Schließlich könnte man sich in einer Konsensuskonferenz auf einen einheitlichen Satz von (stets vorläufigen) Kriterien einigen. Immerhin würden dann jene Diskussionen wegfallen, die die diagnostischen Kriterien der ICD-10 und DSM-IV für unzutreffend halten (Leekam et al. 2000) und die auch darauf hinweisen, dass die ursprünglich von Asperger beschriebenen Fälle die derzeit gültigen diagnostischen Kriterien nicht erfüllen (Miller u. Ozonoff 1997). 2. Sind Asperger-Syndrom und Highfunctioning-Autismus unterschiedliche Störungen oder lediglich Varianten einer beiden Störungen zugrunde liegenden Ursache? Auch diese Frage können wir derzeit noch nicht schlüssig beantworten und es gibt hierzu unterschiedliche Auffassungen. Immerhin zeigt eine ganze Reihe von Untersuchungen, dass es zwischen beiden Störungen Unterschiede in der Sprachentwicklung und der Intelligenzentwicklung gibt, die stets auf einen frühen Sprechbeginn und eine eloquente Sprache sowie auf eine höhere verbale Intelligenz der Patienten mit Asperger-Syndrom (AS) hinauslaufen (Klin et al. 1995). Parallelisiert man jedoch Patienten mit HFA und AS nach Alter, nicht-verbalem IQ und Geschlecht, so ergeben sich zwischen beiden keine Unterschiede, weder hinsichtlich der verschiedenen Scores des Autism Diagnostic Interview in seiner revidierten Fassung (ADI-R) noch im Hinblick auf das Sozialverhalten. Auch bezüglich des Sprachverständnisses und der sprachlichen Ausdrucksweise waren die beiden Gruppen nicht unterscheidbar (Howlin 2003). Aus diesen Ergebnissen schließt die Auto-
8.1 Offene Fragen zur Definition und Klassifikation
rin, dass HFA und AS keine voneinander unterscheidbaren Störungen sind. Insbesondere wird dem Zeitpunkt des Spracherwerbs eine große Bedeutung beigemessen. Offensichtlich bringt das frühe Erlernen der Sprache erhebliche Vorteile auch in anderen Bereichen und führt zum Asperger-Typ der Störung, während die spätere Entwicklung der Sprache beim HFA ein Aufholen des sprachlichen Entwicklungsrückstandes gegenüber Asperger-Patienten nicht mehr möglich macht. Im Übrigen sei es unzutreffend, dass Asperger-Patienten keinerlei Auffälligkeiten im Hinblick auf eine Verzögerung in der Sprachentwicklung aufwiesen, wie dies die ICD-10- und DSM-IV-Kriterien suggerieren. Schließlich hätten auch Patienten mit Asperger-Syndrom dieselben Schwierigkeiten im täglichen Leben wie solche mit HFA (Abhängigkeit von der Familie, keine engeren Freunde, keine selbstständige Tätigkeit etc.). Ferner weist Howlin auch daraufhin, dass die möglichen Unterschiede zwischen den beiden Störungen (HFA und AS) mit zunehmendem Alter geringer würden. Auch andere Untersuchungen unterstützen diese These, so dass die Eigenständigkeit der beiden Störungsmuster nach wie vor als fragwürdig gelten muss (Szatmari et al. 1990; Gillberg 1998). 3. Ist das Konzept der Autismus-SpektrumStörung weiterführend oder gibt es andere gut begründbare Alternativen? Das Konzept der Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) geht davon aus, dass ein Kontinuum existiert, auf dem sehr unterschiedliche Störungen in jeweils unterschiedlicher Ausprägung abgebildet werden können. Dem Spektrum-Konzept liegt ein dimensionales Störungsmodell zugrunde, welches impliziert, dass die einzelnen Störungen hinsichtlich des Ausmaßes der Symptomatik variabel sind und sich allenfalls anhand bestimmter Untersuchungsinstrumente durch Cut-off-Werte voneinander unterscheiden lassen, die einer gewissen Übereinkunft unterliegen. Argumente für die Angemessenheit dieses Störungskonzeptes ergeben sich aus dem unter-
223
8
schiedlichen Schweregrad autistischer Störungen (Autismus, atypischer Autismus, High-functioning-Autismus, Asperger-Syndrom), die sowohl hinsichtlich ihrer Symptomatik als auch unter ätiologischen Therapie- und Verlaufsgesichtspunkten als verwandte Störungen angesehen werden können. Was ihren Schweregrad betrifft, so spielen beim Autismus und atypischen Autismus überzufällig häufig assoziierte körperliche Erkrankungen und Syndrome sowie Einschränkungen im kognitiven Bereich eine entscheidende Rolle, beim AS und beim HFA eher eine Komorbidität mit anderen psychiatrischen Störungen. Auch scheinen die genetischen Hintergründe sowie auch zerebrale Funktionsstörungen innerhalb dieses »im engeren Sinne autistischen Spektrums« Gemeinsamkeiten aufzuweisen. Hingegen sollten sowohl das Rett-Syndrom als auch die desintegrative Störung (Heller-Syndrom) aus dem Spektrum autistischer Störungen ausgeklammert werden. Für beide ist charakteristisch, dass nach einer Phase normaler Entwicklung ein Demenzprozess einsetzt, der mit dem Verlust erworbener Fähigkeiten beginnt und weiter voranschreitet. Eine solche Entwicklung ist bei den Autismus-Spektrum-Störungen nicht bekannt. Es ist auch zweifelhaft, ob man das Rett-Syndrom und das Heller-Syndrom weiterhin zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen zählen soll. Was eine mögliche Subklassifikation innerhalb der Autismus-Spektrum-Störung betrifft, so scheinen nach wie vor Spracherwerb und Intelligenz sich anzubieten sowie auch der Begriff der nonverbalen Lernstörung (Myklebust 1975), deren Existenz insbesondere für das AS charakteristisch zu sein scheint (Klin u. Volkmar 1997). Aus diesen Erörterungen sollte deutlich werden, dass das Konzept der Autismus-Spektrum-Störungen für den Autismus, den atypischen Autismus, den HFA und das AS so lange adäquat erscheint, als keine klar definierbaren Unterscheidungskriterien zwischen diesen Störungen formuliert werden können und vor allem auch keine Unterschiede hinsichtlich der Ätiologie
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Kapitel 8 · Was wir nicht wissen: Offene Fragen
nachweisbar sind. Im Sinne des Spektrum-Konzeptes ist auch Gillbergs Vermutung anzuführen, wonach beim selben Individuum in verschiedenen Altersstufen die jeweilige Störung einmal als HFA und ein andermal als AS imponiert (Gillberg 1998).
8.2
Offene Fragen zur Ätiologie
1. Welchen Beitrag kann die Genetik zur Aufklärung des AS bzw. der ASS beitragen? Nach bisherigen Erkenntnissen ist der Autismus zweifellos innerhalb der kinder- und jugendpsychiatrischen Krankheitsbilder dasjenige mit dem stärksten genetischen Hintergrund. Dies zeigen sowohl Familienuntersuchungen als auch Zwillingsuntersuchungen und die inzwischen zahlreichen molekulargenetischen Untersuchungen. Die Konkordanzraten bei eineiigen Zwillingen, die zwischen 80 und 90 % liegen, weisen aber auch darauf hin, dass der Autismus nicht gänzlich genetisch determiniert ist, sondern dass auch Umwelt- bzw. Umgebungsfaktoren eine gewisse Rolle spielen. So sind über 40 Erkrankungen bzw. Syndrome bekannt, die überzufällig häufig mit Autismus assoziiert sind und die vermutlich auch einen Beitrag zur Manifestation der Störung leisten (Gillberg u. Billstedt 2000). Zweifellos handelt es sich beim Autismus um eine komplexe Erkrankung, die durch eine größere Zahl von Genen verursacht wird (derzeit werden 8–12 diskutiert), wobei der Beitrag der einzelnen Gene an der Verursachung der Störung sehr unterschiedlich sein dürfte. Die Vielzahl der bislang aufgefundenen Gen-Orte, aber auch die Nicht-Replikation des einen oder anderen Befundes, zeigt, wie mühsam diese Untersuchungen sind und welch langen Atem man braucht, um eines Tages die relevanten Gene aufzufinden. Aber auch dann ist man noch nicht beim Verständnis der Störung angelangt, denn es müssen in der Folge erst Untersuchungen durchgeführt werden, die die Funktion der einzelnen Gene aufklären, um dann eines Tages daraus
therapeutische Konsequenzen ziehen zu können. Dies ist ein sehr langer Weg, aber er muss gegangen werden (Rutter 2000). Beim AS sind die molekulargenetischen Untersuchungen noch spärlich. Aber die bislang aufgefundenen Genorte decken sich zum Teil mit jenen beim Autismus (Ylisankko-oja et al. 2004). Daraus geht hervor, dass Autismus und AS durchaus verwandte Störungen sind und insofern ist dies auch ein weiteres Argument für das Spektrumkonzept. Somit kann die Frage nach dem genetischen Beitrag dahingehend beantwortet werden, dass aus diesen Untersuchungen wesentliche Aufschlüsse zur Ätiologie der ASS erwartet werden können, dass aber mit einer Aufklärung der Ätiologie und daraus resultierenden therapeutischen Konsequenzen so schnell nicht zu rechnen ist. 2. Welchen Beitrag zum Verständnis der Störung liefern neuropsychologische Befunde? Neuropsychologische Untersuchungen zur Intelligenzstruktur, zu nonverbalen Lernvorgängen sowie zu den bei allen ASS wichtigen Konzepten der exekutiven Funktionen, der Theory of Mind und der zentralen Kohärenz haben wesentlich zum Verständnis autistischer Störungen beigetragen (vgl. Remschmidt u. Kamp-Becker 2005). Man kann eigentlich sagen, dass dies die zentralen Konzepte sind, die bislang zur Erklärung von Erleben und Verhalten der Patienten mit ASS mehr beigetragen haben als alle anderen Ansätze. Jedoch müssen diese vom Erleben und Verhalten abgeleiteten Konzepte mit den zerebralen Funktionen in Verbindung gebracht werden, was in Ansätzen zum Teil schon gelungen ist. Es geht hierbei um die Fragen, was sich im Gehirn der Patienten abspielt, wenn sie Gesichter betrachten, in sozialen Situationen hilflos sind, Emotionen ausgesetzt sind, die sie nicht verstehen, oder wenn sie wegen kommunikativer Missverständnisse in ernsthafte Krisen geraten. Die Tatsache, dass die relativ typischen neuropsychologischen Defizite beim AS und anderen ASS auch
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8.2 Offene Fragen zur Ätiologie
im Ansatz bei anderen Störungsmustern (z. B. bei der Schizophrenie) gefunden werden, spricht nicht gegen deren Erklärungswert. Entscheidend für den Fortschritt wird sein, dass, neben der wichtigen Korrelation dieser Funktionsstörungen mit den entsprechenden Hirnfunktionen, auch der Zusammenhang zu genetischen Befunden hergestellt wird. In unserem hypothetischen Modell auf S. 52–53 haben wir diesen Zusammenhang in allgemeiner Form dargestellt. Die methodischen Fortschritte, insbesondere auf dem Gebiet der funktionellen Bildgebung sowie auch in der experimentellen Neuropsychologie und der Genetik lassen hier bedeutsame Fortschritte erwarten. 3. Spielt die Umwelt keine Rolle? Glücklicherweise sind die Zeiten vorbei, in denen die Eltern, insbesondere die Mütter, angeschuldigt wurden, Autismus bei ihren Kindern durch ihr Verhalten verursacht zu haben. In Wirklichkeit hatte sich ein problematisches Verhalten mancher Eltern (so weit es überhaupt auftrat) durch die Abnormität des kindlichen Verhaltens erst sekundär entwickelt. Oder ein Elternteil war im Sinne einer genetischen Belastung bereits vor der Geburt des autistischen Kindes auffällig. Es ist bemerkenswert, dass Leo Kanner bereits in seiner Erstbeschreibung von einer angeborenen Störung sprach. Aufgrund der genetischen Befunde und auch aufgrund der auf diesem Gebiet rasch voranschreitenden Entwicklung scheint der Umwelteinfluss ganz aus dem Blick geraten zu sein. Umwelteinfluss kann hier in zweifacher Weise definiert werden: 5 einmal als Einfluss der mitmenschlichen Umgebung, 5 zum anderen als Einfluss von Umweltnoxen infektiöser oder toxischer Art. Was den zuerst genannten Einfluss betrifft, so ist bekannt, das extreme Vernachlässigung und Deprivation zu Symptomen führen kann, die »autismus-nahe« wirken oder autistische Symptome vortäuschen. Bei rechtzeitigem Verbrin-
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gen der Kinder in eine fördernde Umgebung unterliegt diese Symptomatik jedoch rasch einer positiven Veränderung. Was infektiöse oder toxische Einflüsse betrifft, so ist nachgewiesen, dass zumindest beim Autismus Infektionen während der Schwangerschaft (z. B. Röteln) autistisches Verhalten triggern können (Chess et al. 1978). Gleiches gilt auch für die Thalidomid-Embryopathie, die überzufällig mit einer autistischen Symptomatik assoziiert ist (Strömland et al. 1994). Diskutiert wurde auch, ob die Masern-Mumps-Rötelnimpfung zur Manifestation autistischer Störungen beitragen kann, was mittlerweile durch epidemiologische Untersuchungen als widerlegt angesehen werden kann (Madsen et al. 2002; Taylor et al. 2002). Als weiterhin ungeklärt gilt die Frage, ob Geburtskomplikationen die Manifestation von AutismusSpektrum-Störungen begünstigen. Da in den bisher durchgeführten Studien keine klar definierte Geburtskomplikation (z. B. Apnoe, Blutungen während der Schwangerschaft) mit einer subsequenten Autismussymptomatik des Kindes assoziiert war, Geburtskomplikationen generell jedoch relativ häufig bei Autismus-SpektrumStörungen vorkamen, geht man heute davon aus, dass eine genetische Disposition für diese Störungen auch das Auftreten von Geburtskomplikationen begünstigt (Bolton et al. 1994). Fazit
Es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass bestimmte Infektionen bzw. toxische Ereignisse die Manifestation autistischer Störungen begünstigen können. Es ist aber in diesen Fällen im Prinzip davon auszugehen, dass eine genetische Disposition vorlag, die durch Umwelteinflüsse augenscheinlich zur Manifestation gebracht wurde. Für diesen Zusammenhang gibt es aber eher Hinweise aus Untersuchungen zum frühkindlichen Autismus und weniger aus solchen zum AS.
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Kapitel 8 · Was wir nicht wissen: Offene Fragen
4. Wie lassen sich die bisherigen Erkenntnisse in eine Modellvorstellung integrieren? Es ist sicher verfrüht, ein Modell zu entwerfen, welches die einzelnen, bislang mosaikartig verstreuten Erkenntnisse zur Ätiologie in ein geschlossenes System zu integrieren vermag. Es lassen sich aber hypothetische Modelle postulieren, deren Erklärungswert durch künftige Untersuchungen erhärtet, widerlegt oder auch modifiziert werden kann. Unstreitig sind genetische Faktoren, die die dominierende Rolle spielen, die jedoch auch mit Umwelteinflüssen interagieren. Genetische Einflüsse sind sowohl geeignet, häufige mit ASS assoziierte körperliche Erkrankungen oder Syndrome zu determinieren als auch Hirnstruktur und Hirnfunktion richtunggebend zu beeinflussen. Dabei ist die Umwelt nicht zu vernachlässigen, denn nur durch Umwelteinflüsse kann die genetische Prädisposition zur Geltung gebracht werden. Genetisch determinierbar sind aber auch psychologische bzw. neuropsychologische Funktionen, was sich u. a. dadurch nachweisen lässt, dass bei Familienangehörigen von Probanden mit ASS eine Reihe von typischen Symptomen subklinisch nachweisbar sind. Dies zeigen z. B. die Ergebnisse in Theory-of-Mind-Aufgaben bei Angehörigen von Probanden mit ASS (Baron-Cohen 2000; Baron-Cohen u. Hammer 1997). Insofern ist der Zusammenhang zwischen verschiedenen neuropsychologischen und anderen Auffälligkeiten nicht nur denkbar, sie lassen sich auch plausibel miteinander in Verbindung bringen. Auf welchem Wege aber die genetischen Einflüsse letztlich psychische Funktionen bzw. Defizite derselben determinieren, ist bislang die große offene Frage und diese Frage wird vermutlich auch noch längere Zeit offen bleiben. Immerhin können aber vorläufige Modellvorstellungen entwickelt werden, die die Integration von Einzelbefunden erlauben.
8.3
Offene Fragen zur Diagnostik und Differenzialdiagnostik
1. Inwieweit lässt sich die Diagnostik verbessern? Wenn es um die Verbesserung der Diagnostik geht, so bieten sich zwei Stichwörter an: Früher und besser. Früher heißt beim AS und auch bei anderen ASS: vor dem 3. Lebensjahr. Während beim frühkindlichen Autismus gezeigt wurde, dass er auch bereits mit 18 Monaten relativ sicher feststellbar ist (Filipek et al. 1999; Baird et al. 2000), ist dies beim AS bislang nicht überzeugend dargelegt worden. Es stellt sich auch die Frage, ob dies prinzipiell möglich ist Besser diagnostizieren heißt, die jeweiligen Diagnosen valide und reliabel zu stellen. Was die Validität betrifft, so ist von den derzeit gültigen Klassifikationssystemen auszugehen, wohl wissend, dass sie Mängel aufweisen. Aber eine andere Möglichkeit für den Kliniker gibt es derzeit nicht. Reliabel diagnostizieren heißt, dass bei einem Vorgehen nach den derzeit gültigen Kriterien bzw. bei der Anwendung entsprechender Untersuchungsinstrumente (z. B. ADIR, ADOS) und geschulten Untersuchern von einer akzeptablen Reliabilität ausgegangen werden kann. Besser und früher diagnostizieren bedeutet aber auch, dass sowohl die diagnostischen Kriterien als auch die angewandten Untersuchungsinstrumente kontinuierlich verbessert werden müssen. Auch wenn ADI-R und ADOS immer wieder als Gold-Standard gepriesen werden, so weisen sie doch auch einige Mängel auf, deren Beseitigung wünschenswert ist. Beide Verfahren sind zu wenig sensitiv und spezifisch für das Asperger-Syndrom. Die Entwicklung spezifischerer diagnostischer Verfahren erscheint dringend notwendig. Das Spektrum autistischer Störungen umfasst eine vielfältige Symptomatik, eine große Bandbreite an Verhaltensauffälligkeiten und -fähigkeiten. Die diagnostischen Verfahren sollten dieser Vielfältigkeit gerecht werden und sie differenziert erfassen können. (Siehe
8.3 Offene Fragen zur Diagnostik und Differenzialdiagnostik
hierzu auch die kritische Würdigung dieser Diagnoseinstrumente in 7 Kap. 4.5.4). 2. Wie können Fehldiagnosen vermieden werden? Diese Frage richtet sich in erster Linie an die diagnostizierenden Ärzte und Psychologen. Die Fähigkeit, ASS valide und zuverlässig zu diagnostizieren, erwirbt man nicht aus dem Lehrbuch, sondern in der klinischen Praxis, unterstützt durch eine qualifizierte Aus- und Weiterbildung in der Psychopathologie des Kindes- und Jugendalters und in den einschlägigen diagnostischen Verfahren. Zu dieser Aus- bzw. Weiterbildung gehört auch eine entsprechende Supervision und die Vermittlung der zugehörigen wissenschaftlichen Methodik. All dies ist nicht in einem Schnellkurs erlernbar, sondern erfordert, neben der intensiven Schulung, auch einen ausreichenden Erfahrungshintergrund. Fehldiagnosen ergeben sich auf den verschiedenen Alters- und Entwicklungsstufen in unterschiedlicher Weise. Im Säuglingsalter und in der früheren Kindheit wird das Anderssein von Kindern mit ASS häufig nicht erkannt, weil der Untersucher oft nicht genügend Kenntnisse über die Variationsbreite der kindlichen Entwicklung hat und daher abweichende Entwicklungen nicht sicher feststellen kann. Hierbei geht es vor allem um die Entwicklung der Motorik, der Sprache sowie des Kontakt- und Kommunikationsverhaltens. Im Kindergarten- und Vorschulalter wird, neben der sprachlichen und motorischen Entwicklung, das Sozialverhalten und der Umgang mit anderen Kindern wichtig. Es ist darauf zu achten, ob Rückzugstendenzen bestehen, ob ein gemeinsames Spiel möglich ist und ein gemeinsamer Aufmerksamkeitsfokus geteilt werden kann. Im Schulalter werden Freunde und Spielkameraden wichtig, es entwickeln sich Interessenschwerpunkte, die Eingliederung in eine Gruppe ist von Bedeutung. Im Schulalter kommt es häufig zum Ausschluss der Kinder mit Asperger-Syndrom aus der Gruppe der Gleichaltrigen.
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Gleichzeitig werden bei den Patienten auch die Spezialinteressen immer deutlicher. Wegen einer gewissen motorischen Unruhe und Unkonzentriertheit wird häufig die Diagnose hyperkinetisches Syndrom gestellt, aufgrund der Rückzugssymptomatik nicht selten die Diagnose einer Depression. Aufgrund der häufig in diesem Alter auch sichtbaren motorischen Ungeschicklichkeit kann die Diagnose einer motorischen Entwicklungsstörung gestellt werden. Diese Diagnosen können im Sinne einer Komorbidität durchaus zutreffend sein. Sie »überdecken« aber oft die eigentliche Kernsymptomatik des Asperger-Syndroms. Nach nahezu allen vorliegenden Studien stellt die Pubertät eine kritische Zäsur für Kinder mit Asperger-Syndrom dar. Es regen sich, wie auch bei allen gesunden und psychisch unauffälligen Kindern, sexuelle Empfindungen und Impulse, denen die Patienten mit Asperger-Syndrom mehr oder weniger hilflos ausgeliefert sind. Ein natürlicher Kontakt zum jeweils anderen Geschlecht fällt ihnen schwer, die Annäherungsversuche sind oft ungeschickt und inadäquat. Werden diese als zudringlich empfunden, so kann es zu heftigen Abwehrreaktionen der Angehörigen des anderen Geschlechtes kommen, die der Patient mit Asperger-Syndrom nicht versteht. Entmutigung und Rückzug lassen an eine depressive Episode denken, die ohnehin seit der Kindheit vorhandene Kontaktstörung kann sich zuspitzen, so dass die Diagnose einer schizoiden Persönlichkeitsstörung nicht unangemessen erscheint. Die Vielgestaltigkeit der Symptomatik, einschließlich der motorischen Entwicklungsverzögerungen, und die oft vorhandene realitätsferne Gedankenwelt lassen an eine multiple komplexe Entwicklungsstörung denken (Multiple Complex Developmental Disorder). Selten können auch psychotische Symptome auftreten, so dass an eine schizophrene Erkrankung gedacht werden muss. Treten diese Störungen bzw. deren konstituierende Symptomatik in den Vordergrund, so kann, wie auch in jüngeren Altersstufen, die Kernsymptomatik des autistischen Syn-
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Kapitel 8 · Was wir nicht wissen: Offene Fragen
droms verborgen bleiben. Um so wichtiger ist, dass eine umfassende Untersuchung durchgeführt wird (sorgfältige Anamnese mit den Eltern und umfangreiche Untersuchung des Patienten einschließlich Testpsychologie), die dann meist auf die richtige Spur führt.
8.4
Offene Fragen zur Behandlung
1. Welches sind die größten Hindernisse für eine erfolgreiche Behandlung? Zweifellos ist das größte Hindernis für die Behandlung von Autismus-Spektrum-Störungen im Allgemeinen und bei Patienten mit AspergerSyndrom im Besonderen, dass die eigentliche Ätiologie der Störung noch nicht vollständig geklärt ist. Es existiert eine Vielzahl von Erkenntnissen in den verschiedensten Bereichen, jedoch ist das Zusammmenwirken der einzelnen ätiologischen Komponenten noch unklar. So lange dies der Fall ist, kann logischerweise auch keine kausale Therapie durchgeführt werden. Die bislang erprobten und zum Teil mit viel Energie und Sachkompetenz durchgeführten Behandlungen stoßen immer wieder an Grenzen, die nicht zu überwinden sind. So ist bei allen Übungsbehandlungen (z. B. Einüben des Verständnisses sozialer Situationen oder Einüben des Erkennens von Emotionen) die fehlende Generalisierung ein großes Hindernis für den Erfolg. Dafür gibt es eine hirnphysiologische Erklärung, die darauf hinausläuft, dass eingeübte Verhaltensweisen über andere neuronale Bahnen vermittelt werden als Spontanverhalten; und die Vermittlung zwischen diesen beiden Funktionssystemen scheint nur begrenzt möglich. Ein zweites Hindernis in der Behandlung von Menschen mit Asperger-Syndrom ist die unzureichende Kenntnis der Störung bei Eltern, Lehrern und zum Teil auch beim ärztlichen und psychologischen Fachpersonal, was zweierlei Folgen hat: 5 Einerseits werden aufgrund der Verkennung der Diagnose unrealistische und unan-
gemessene Behandlungsmaßnahmen eingeleitet und 5 andererseits werden die existenten und in ihrer Wirksamkeit erprobten spezifischen Behandlungsmaßnahmen nicht angewandt. Weitere Hindernisse in der Behandlung sind eine unzureichende Anzahl von spezialisierten Einrichtungen, Unklarheiten in der sozialrechtlichen Zuordnung des Asperger-Syndroms, was für Eltern und Betroffene zu zahlreichen bürokratischen Hemmnissen führt, unzureichende Möglichkeiten zur adäquaten Beschulung und zur beruflichen Förderung von jungen Menschen mit Asperger-Syndrom, fehlende geschützte Arbeitsplätze und eine nicht ausreichende Zahl von betreuten Wohnmöglichkeiten für erwachsene Menschen mit Asperger-Syndrom, die ihnen ein weitgehend selbstständiges Leben ermöglichen, dennoch aber die oft notwendige Unterstützung bereit halten. 2. Lassen sich wirksame Behandlungskomponenten ausmachen? Obwohl die Ätiologie des Asperger-Syndroms noch nicht geklärt ist und von daher kausale Behandlungsmöglichkeiten vorerst nicht existieren, sind wirksame Behandlungskomponenten bekannt, die wir in 7 Kap. 6 ausführlich beschrieben haben. Sie stützen sich alle auf ein entwicklungsorientiertes und auf den einzelnen Patienten und seine Bedürfnisse abgestimmtes Vorgehen, wobei sich folgende Behandlungskomponenten als wirksam erwiesen haben: 5 Strukturierung des Tagesablaufs und aller Behandlungsmaßnahmen, 5 Psychoedukation des Patienten und dessen Bezugspersonen, 5 Training sozialer und kommunikativer Kompetenzen – Theory of Mind, 5 Förderung der Identitätsfindung, 5 Förderung lebenspraktischer Fähigkeiten, 5 Bearbeitung sekundärer Verhaltensprobleme, 5 schulische und berufliche Förderung,
8.4 Offene Fragen zur Behandlung
5 Einbeziehung der Eltern als Ko-Therapeuten. 3. Welchen Stellenwert hat die Familie in der Behandlung? Nachgewiesenermaßen ist die Familie für die Behandlung von ausschlaggebender Bedeutung. Denn viele Maßnahmen, die in der Therapie angewandt werden, müssen zu Hause eine angemessene Fortsetzung finden, wenn die Behandlung erfolgreich sein soll. Um dies zu gewährleisten, muss die Familie über die Natur der Störung und deren Verlauf genau informiert werden. Information allein genügt aber nicht. Vielmehr bedeutet ein Einbeziehen der Familie in die Behandlung auch, dass die Fortführung bestimmter Behandlungsmaßnahmen und die Einhaltung von Regeln auch mit der Familie exemplarisch eingeübt werden muss. Nicht unerwähnt bleiben darf aber, dass mit der Einbeziehung der Familie auch Schwierigkeiten verbunden sein können. Denn nicht selten hat ein Familienmitglied (meist der Vater) selbst ein Asperger-Syndrom oder zumindest eine Kontakt- oder Kommunikationsstörung. Dies erschwert natürlich die Einbeziehung in den Therapieprozess. Zuweilen wird die Störung des betroffenen Kindes aber auch als Hochbegabung interpretiert. Diese Auffassung resultiert meist aus der Beobachtung spezieller Fähigkeiten, die sich aus dem sonstigen Entwicklungsprofil der Kinder (auch im Vergleich zu Geschwistern) herausheben. Dabei wird oft übersehen, dass diese »isolierten Fähigkeiten« mit Defiziten in anderen Bereichen (z. B. im Sozialverhalten und in der Kommunikation mit Gleichaltrigen) verknüpft sind. Dennoch bleibt die Familie die wichtigste Instanz für die Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit Asperger-Syndrom, und die Vermittlung angemessener Informationen sowie Führung im Rahmen des psychoedukativen Ansatzes bleibt eine wichtige Aufgabe für alle Therapeuten.
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4. Welchen Stellenwert haben Medikamente? Wie an früherer Stelle bereits ausgeführt, können Medikamente die Kernsymptomatik des Asperger-Syndroms nicht beheben. Sie stellen aber eine wertvolle Hilfe dar, wenn es darum geht, das Ausmaß bestimmter Symptome (z. B. Stereotypien, Selbstverletzungen, aggressives Verhalten, hyperaktives Verhalten) abzumildern. Diesbezüglich nehmen sie oft eine Schlüsselstellung ein. Denn die signifikante Verminderung einer bestimmten Symptomatik (z. B. einer ausgeprägten Hyperaktivität oder impulsiven Verhaltens) entscheidet oft darüber, ob ein Kind oder ein Jugendlicher mit Asperger-Syndrom im Klassenverband verbleiben kann oder aus diesem ausgeschlossen wird. Der auf S. 203–206 abgedruckte Selbstbericht eines Patienten gibt hierfür ein anschauliches Beispiel. Dieser junge Mann konnte mit Hilfe einer kleinen Dosis eines atypischen Neuroleptikums im Internat und in seiner Schulklasse verbleiben, was ohne diese Hilfe kaum möglich gewesen wäre. Der Einsatz der Medikamente erfolgt nach den jeweiligen Zielsymptomen und richtet sich nach dem empirischen Wissen aus klinischen Studien und auch aus Einzelfallstudien. Die meisten eingesetzten Medikamente sind allerdings nicht für das Kindes- und Jugendalter zugelassen. Es ist aber erlaubt, sie im Rahmen eines individuellen Heilversuches einzusetzen. Immer wieder werden allerdings auch Medikamente, Vitamine, Hormone und andere Substanzen propagiert, die als »Wunderwaffe« die Symptomatik von Autismus-Spektrum-Störungen positiv beeinflussen oder gar beseitigen sollen. Vielfach geht die Propagierung derartiger Substanzen von der Anwendung in Einzelfällen aus, wobei oft gar nicht nachzuvollziehen ist, ob die betreffende Substanz oder andere Maßnahmen zur Besserung der Symptomatik geführt haben. Diesbezüglich ist eine kritische Haltung angebracht und ein empirischer Beweis der Wirksamkeit ist stets zu fordern. Freilich sind viele Eltern in ihrer Not bereit, Medika-
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Kapitel 8 · Was wir nicht wissen: Offene Fragen
mente und andere Methoden bei ihren Kindern anwenden zu lassen, auch wenn deren Wirksamkeit nicht erwiesen ist, und sie bringen hierfür oft große finanzielle Opfer. 5. Welche Bedeutung haben Selbsthilfegruppen? In vielen Ländern haben sich Selbsthilfegruppen gebildet, deren Gründung durchweg von Eltern mit einem autistischen Kind initiiert wurde. Ähnlich der Lebenshilfe, die 1958 von Eltern mit einem geistig behinderten Kind gegründet wurde und die mittlerweile eine große professionelle Organisation geworden ist, haben auch Eltern mit autistischen Kindern weltweit entsprechende Organisationen gegründet, die sich große Verdienste um die Versorgung von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen erworben haben. 1970 wurde der Bundesverband »hilfe für das autistische kind e.V.« gegründet, der sich darum bemüht, Ansprechpartner für betroffene Eltern zu sein, zwischen hilfesuchenden Familien, Fachleuten und Institutionen zu vermitteln und in Zusammenarbeit mit Sachverständigen verschiedener Disziplinen Therapie- und Hilfsangebote zu entwickeln. Ein wesentliches Ziel der Arbeit dieses Verbandes ist die pädagogische und therapeutische Förderung von Menschen mit Autismus, um eine Integration zu ermöglichen, d. h. diesen Menschen eine ihrer jeweiligen Persönlichkeit entsprechende Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen. Zu diesem Zweck wurden vom Autismusverband bzw. seinen Regionalverbänden spezialisierte Autismusambulanzen in ganz Deutschland eingerichtet. Daneben gibt es – oft auch über den Bundesverband – Selbsthilfegruppen für Betroffene und für Eltern (Elternstammtisch), die sich regional organisieren und treffen. Diese Selbsthilfegruppen stellen eine sinnvolle Ergänzung in der Behandlung dar und bieten den Betroffenen und ihren Angehörigen die Möglichkeit des Austausches und der Bildung von Ressourcen.
Im Internet gibt es mittlerweile ebenfalls eine breites Forum an Austausch- und Informationsmöglichkeiten über das Asperger-Syndrom: Mailinglisten (für Betroffene, Eltern, Geschwister, Fachleuten); Newsletter mit Informationen über aktuelle Tagungen, Literatur, Fernsehsendungen usw.; verschiedene Foren für Betroffene und Angehörige. Im Internet bezeichnen sich die Betroffenen selbst als »Aspies«, Autistische Störungen werden auch als »Oops... wrong planet –Syndrom« bezeichnet oder als Geek-Syndrom, nicht autistische Menschen nennt man »neurologisch Typische – NT«. Autistische Störungen werden mit einem Aufmerksamkeitstunnel – auch Monotropismus genannt – in Verbindung gebracht (was als begrenzte Bandbreite an Aufmerksamkeit und Interesse verstanden wird). Die Darstellungen autistischer Störungen im Internet sind vielfältig und sind nicht immer wissenschaftlich fundiert. Es findet sich eine riesige Bandbreite an Informationsmaterial, an Austauschmöglichkeiten (Foren, Chats usw.) und es ist nicht immer leicht, diese in ihrer Seriosität und Fundiertheit richtig einzuschätzen.
8.5
Welche Determinanten bestimmen den Verlauf?
Es scheint so zu sein, dass dieselben Determinanten für den Verlauf des Asperger-Syndroms von Bedeutung sind, die auch den Verlauf des frühkindlichen Autismus bestimmen. Generell erhebt sich hier die Frage, ob die beiden Autismus-Spektrum-Störungen voneinander unterschieden werden können, wenn man sie im Hinblick auf die Intelligenz parallelisiert. Nach den Ergebnissen der bislang vorliegenden Studien scheinen folgende Faktoren für den Verlauf bedeutsam zu sein: Intelligenz, sprachliche Fähigkeiten, Schulabschluss und Bildungsstand, Beschäftigungsprogramme bzw. Eingliederungsmaßnahmen, langfristige Wohn- und Betreuungsmöglichkeiten und psychiatrische Komorbidität.
8.5 Welche Determinanten bestimmen den Verlauf?
1. Intelligenz Zweifellos ist eine Intelligenz im Normbereich im Großen und Ganzen ein Indikator für eine gute Prognose. Dies gilt gleichermaßen für den frühkindlichen Autismus und für das Asperger-Syndrom. So konnten Howlin et al. (2004) zeigen, dass Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen, die im Kindesalter einen IQ von unter 70 hatten, in verschiedenen Maßen (z. B. kognitiven Fähigkeiten, Kommunikation, Lesen und Schreiben, beruflichem Status) stärker beeinträchtigt waren als jene mit einem Intelligenzquotienten über 70. Etwas auseinander gehen die Meinungen darüber, ob, bei Anwendung der Wechsler-Skalen, der im Kindesalter ermittelte Handlungs-IQ aussagekräftiger ist als der verbale IQ. Jedenfalls postulieren Lord und Bailey (2002), dass der im Kindesalter ermittelte verbale IQ ein besserer Prädiktor im Hinblick auf die künftige Lebensbewährung ist als der nonverbale IQ. Dieses Ergebnis steht im gewissen Widerspruch zur Studie von Howlin et al. (2004). Diese Autoren konnten in einer Subgruppe von Patienten mit Autismus-Spektrum-Störungen, die als Kinder im Hinblick auf ihre verbalen Fähigkeiten nahezu untestbar waren, einen relativ guten Verlauf im Erwachsenenalter mit einem dann ermittelten verbalen IQ von etwa 70 ermitteln. Trotz dieser Widersprüche im Hinblick auf den verbalen und Handlungs-IQ kann aber festgehalten werden, dass eine im Kindesalter ermittelte Intelligenzausstattung nahe dem Normalbereich eine wichtige Voraussetzung für einen günstigen Verlauf im Erwachsenenalter darstellt. 2. Sprachliche Fähigkeiten Es ist einleuchtend, dass gute sprachliche Fähigkeiten den Verlauf von Autismus-SpektrumStörungen positiv beeinflussen. Bei Menschen mit Asperger-Syndrom sind ja gute sprachliche Fähigkeiten konstituierend für die Diagnose und insofern per se als positive Determinante für den Verlauf vorhanden. Aber auch bei anderen Autismus-Spektrum-Störungen kommt der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit eine hohe pro-
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gnostische Bedeutung zu. In diesem Zusammenhang scheint aber auch relevant zu sein, in welchem Alter eine für die Verständigung geeignete Sprache erworben wurde. So weisen Lord und Bailey (2002) darauf hin, dass gute sprachliche Fähigkeiten bis zum Alter von fünf Jahren von hoher prädiktiver Bedeutung sind. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass die sprachlichen Fähigkeiten auch einen Schlüssel für positive Entwicklungen in anderen Bereichen darstellen (z. B. bezüglich aller schulischer Fertigkeiten) und dass, bei später Sprachentwicklung, versäumte alterstypische Entwicklungsgänge kaum mehr vollständig nachgeholt werden können. 3. Schulabschluss und erreichter Bildungsgrad Bereits Kanner (1973) wies in einer Nachuntersuchung von Patienten mit frühkindlichem Autismus darauf hin, dass eine inadäquate schulische Erziehung sich ungünstig auf den Verlauf auswirkt. Dies konnte auch in späteren Studien bestätigt werden, die herausfanden, dass eine positive Korrelation zwischen den Jahren der Beschulung und dem später festgestellten Rehabilitationserfolg bestand (Lockyer u. Rutter 1969, 1970). Diese überwiegend in Nachuntersuchungen von Patienten mit frühkindlichem Autismus gefundenen Zusammenhänge dürften in vollem Umfang auch auf Menschen mit Asperger-Syndrom zutreffen. Denn ein irgendwie gearteter Schulabschluss bzw. ein angemessener Bildungsgrad ist ja die Basis für jedwede berufliche Beschäftigung. 4. Beschäftigungsprogramme bzw. Eingliederungsmaßnahmen Ohne Zweifel stellt die Möglichkeit, an Beschäftigungsprogrammen bzw. Eingliederungsmaßnahmen teilzunehmen, eine wichtige Voraussetzung für eine günstige langfristige Entwicklung dar. Hier gilt im Prinzip dasselbe wie für eine angemessene Beschulung. Leider fehlen in nahezu allen Ländern Beschäftigungsprogramme
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Kapitel 8 · Was wir nicht wissen: Offene Fragen
bzw. geschützte Arbeitsplätze oder sogar Arbeitsplätze in der freien Wirtschaft, die den Besonderheiten von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen Rechnung tragen. Verschiedene Untersuchungen haben darauf hingewiesen, dass die besonderen Fähigkeiten oder Spezialinteressen von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen an besonders gestalteten Arbeitsplätzen auch genutzt werden können. Darauf hatte bereits Kanner hingewiesen. Hierzu ein Beispiel: Ein 30-jähriger Mann mit Asperger-Syndrom, der erhebliche Probleme in der Kommunikation mit anderen Menschen hatte und nur unter großen Schwierigkeiten einen geschützten Arbeitsplatz fand, hatte bemerkenswerte Fähigkeiten auf dem Computersektor. Er konnte als Teilzeitkraft in einer Universitätsabteilung beschäftigt werden, in der er für die Erstellung von graphischen Darstellungen für Vorträge und Präsentationen verantwortlich war. Allerdings benötigte er exakte Anweisungen für deren Herstellung, denn er neigte dazu, z. B. Power-Point-Präsentationen durch die Einfügung »dekorativer Elemente« zu verschönern. Er sah mit der Zeit ein, dass die dekorative Ausgestaltung von Power-Point-Folien mit Blümchen, Farbmustern oder kleinen Tieren nicht angemessen war. 5. Langfristige Wohnbetreuungsmöglichkeiten Nahezu alle Eltern von Kindern mit AutismusSpektrum-Störungen haben das nachvollziehbare Bestreben, ihre Kinder möglichst lange in der Familie zu behalten und ihnen alle schulischen und beruflichen Förderungsmöglichkeiten zuteil werden zu lassen. Wenn die Kinder aber erwachsen geworden sind und die Eltern aus Altersgründen nicht mehr für sie sorgen können, so stellt sich die Frage nach der Unterbringung in einem Wohnheim mit entsprechenden Betreuungsmöglichkeiten. Da die wenigsten in der Lage sind, selbstständig zu leben, müssen für sie entsprechende Wohnmöglichkeiten (z. B. Heime oder betreute Wohngruppen) gefunden
werden, die den Besonderheiten dieser Menschen Rechnung tragen. Diesbezüglich bestehen aber in Deutschland, wie auch in den meisten anderen europäischen und außereuropäischen Ländern, erhebliche Defizite. Deshalb haben Elternverbände und auch einzelne Familien die Initiative ergriffen und Wohn- bzw. Betreuungseinrichtungen für Menschen mit AutismusSpektrum-Störungen gegründet. Das Vorhandensein derartiger Einrichtungen und die Möglichkeit, in ihnen unterzukommen, ist bei vielen Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen entscheidend für eine gute Langzeitprognose. 6. Schweregrad der Symptomatik Es ist nachvollziehbar, dass Ausmaß und Schweregrad der Symptomatik den Langzeitverlauf bestimmen. Allerdings ist diese auf verschiedenen Alters- und Entwicklungsstufen nicht konstant. Nachuntersuchungen haben gezeigt, dass sich bei den meisten Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen die Symptomatik im Verlaufe der Entwicklung verändert und sich bei vielen auch in der Intensität abmildert. In der Literatur wird die Frage eines Zusammenhanges zwischen Schweregrad der autistischen Symptomatik in der Kindheit und der Langzeitprognose unterschiedlich gesehen. Während Lockyer und Rutter (1969, 1970) keinen Zusammenhang zwischen dem Schweregrad der autistischen Symptomatik und der Lebensbewährung im Erwachsenenalter fanden, wurde ein derartiger Zusammenhang von DeMyer et al. (1973) festgestellt. Bei all diesen Untersuchungen blieb allerdings die sprachliche Symptomatik ausgeklammert, denn ausgeprägte sprachliche Entwicklungsstörungen im Kindes- und Jugendalter sind zweifelsohne ein Indikator für eine ungünstige Prognose. Gleiches trifft auch für extrem ausgeprägte stereotype und repetitive Verhaltensweisen zu. 7. Psychiatrische Komorbidität Autismus-Spektrum-Störungen gehen häufig mit anderen psychiatrischen Erkrankungen einher.
8.5 Welche Determinanten bestimmen den Verlauf?
Nicht selten überdecken die Symptome dieser Störungen die autistische Symptomatik, so dass die komorbide Störung zur Hauptdiagnose wird. Mit dem Asperger-Syndrom bzw. dem Highfunctioning-Autismus am häufigsten assoziiert sind depressive Störungen (etwa 33 %), hyperkinetische Störungen (ebenfalls etwa 1/3 der Fälle), Angststörungen (bis zu 12 %), seltener TouretteSyndrom und Epilepsie. Diese Störungen komplizieren begreiflicherweise den Verlauf, insbesondere, wenn sie nicht adäquat behandelt werden. Deshalb ist es von allergrößter Bedeutung, die komorbiden Erkrankungen rechtzeitig festzustellen und medikamentös bzw. psychotherapeutisch zu behandeln. Literatur Asperger H (1944) Die autistischen Psychopathen im Kindesalter. Arch Psychiatr Nervenkr 117: 76–136 Baird G, Charman T, Baron-Cohen S et al. (2000) A screening instrument for autism at 18 month of age: a 6-year follow-up study. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 39: 694–702 Baron-Cohen S (2000) Autism: Deficits in folk psychology accessed along superiority in folk physics. In: Baron-Cohen S, Tager-Flusberg H, Cohen DJ (eds) Understanding other minds. Perspectives from developmental cognitive neuroscience, 2nd ed. Oxford University Press, Oxford, pp 71–82 Baron-Cohen S, Hammer J (1997) Parents of children with Asperger syndrome: What is the cognitive phenotype? J Cogn Neurosci 9: 548–554 Bolton P, MacDonald H, Pickles A et al. (1994) A case-control family history study of autism. J Child Psychol Psychiatry 35: 877–900 Chess S, Fernandez P, Korn S (1978) Behaviour consequences of congenital rubella. J Pediatr 93: 699–703 Corcoran R (2000) Theory of mind in other clinical conditions: Is a selective »theory of mind« deficit exclusive to autism? In: Baron-Cohen S, Tager-Flusberg H, Cohen DJ (eds) Understanding other minds. Perspectives from developmental cognitive neuroscience, 2nd edn. Oxford University Press, Oxford, pp 391–421 DeMyer MK, Barton S, DeMyer WE, Norton JA, Allan J, Steele R (1973) Prognosis in autism: A follow-up study. J Autism Child Schizophr 3: 199–246 Filipek PA, Accardo PJ, Brarnek GT et al. (1999) The Screening and Diagnosis of Autistic Spectrum Disorders. J Autism Dev Disord 29: 439–484
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8
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234
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 8 · Was wir nicht wissen: Offene Fragen
Strömland K, Nordin V, Miller M et al. (1994) Autism in tallidomide embryopathy: A population study. Dev Med Child Neurol 36: 351–356 Szatmari P, Tuff L, Finlayson MA, Bartolucci G (1990) Asperger’s syndrome and autism: Neurocognitive aspects. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 29: 130–136 Taylor B, Miller E, Lingam R et al. (2002) Measles, mumps, and rubella vaccination and bowel problems or developmental regression in children with autism: Population study. BMJ 324: 393–396 Ylisaukko-oja T, Nieminen-von Wendt T, Kempas E et al. (2004) Genome-wide scan for loci of Asperger syndrome. Mol Psychiatry 9: 161–168
Anhang Glossar
– 237
Marburger Beurteilungsskala zum Asperger-Syndrom (MBAS) – Anleitung – 242 – Fragebogen – 244 – Auswertungsblatt – 250 – Auswertungsfolien – 251
– 241
Glossar
238
Glossar
Adaptive Funktionen. Unter adaptiven Fähig-
Chaining. Zu lernendes Verhalten wird schritt-
keiten ist die Fähigkeit eines Menschen zu verstehen, sich in psychosozialer, emotionaler, schulischer, beruflicher oder anderer Weise an seine Umwelt anzupassen. Es geht also darum, wie gut bzw. schlecht es einer Person gelingt, eine altersentsprechende, selbstständige Lebensführung und soziale Integration zu realisieren.
weise gelernt, indem auf bereits gelerntem Verhalten aufgebaut wird. Geteilte Aufmerksamkeit. Die triadische Ko-
ADI. Das ADI-R (»Autism Diagnostic Inter-
Emotionserkennung. Unter
view-Revised«) ist ein hoch spezifisches Interview mit einer engen Bezugsperson des Betroffenen, das der Beschreibung derjenigen Verhaltensweisen dient, die für die Differenzialdiagnose einer »tiefgreifenden Entwicklungsstörung« und speziell für die Diagnose des »frühkindlichen Autismus« erforderlich sind. Es bezieht sich auf charakteristische Merkmale einer Entwicklungsverzögerung oder -abweichung in den diagnoserelevanten Bereichen.
ordination von Aufmerksamkeit zwischen dem Kind, einer anderen Person und einem Gegenstand oder Ereignis. Emotionserkennung versteht man die richtige Zuordnung von sprachlichen Benennungen zu emotionalen Entäußerungen, die sich am eindringlichsten in verschiedenen Gesichtsausdrücken äußern. Man unterscheidet zwischen dem Erkennen von primären Emotionen, die typischen angeborenen Reaktionsmustern entsprechen, und sekundären Emotionen, welche kognitive Leistungen voraussetzen und daher erst später in der Entwicklung möglich sind.
ADOS. Die »Autism Diagnostic Observation Scale-Generic« (ADOS-G) ist ein halbstrukturiertes Beobachtungsinstrument zur Erfassung der Kommunikation, sozialer Interaktion und dem Spielverhalten oder Phantasiespiel mit Gegenständen bei Probanden, bei denen eine autistische Störung vermutet wird.
Empathie. Bei der Empathie handelt es sich um
Affektive Perspektivenübernahme. Damit wird
Exekutive Funktionen. Sie stellen Denkprozesse
das Verstehen von Emotionen aufgrund der Lage bezeichnet, in der sich ein anderer Mensch befindet. Die Gefühle des anderen werden dabei nicht nachempfunden, sondern gedanklich erschlossen.
höherer Ordnung dar, die für die Verhaltensplanung, -steuerung und -kontrolle entscheidend sind. Sie umfassen: Handlungsplanung, Impulskontrolle, Kontrolle der Aufmerksamkeit und der motorischen Funktionen, Wiederstand gegen Störungen, die Unterdrückung (Inhibition) drängender, aber den Handlungsablauf störender Reaktionen sowie Zielgerichtetheit, organisierte Suche und Flexibilität in Denken und Handeln (im Sinne von Generierung neuer Lösungsmöglichkeiten).
Autismus-Spektrum-Störungen. Bezeichnet
eine bestimmte Auffassung zur Ätiologie autistischer Störungen, wonach sich diese auf einem kontinuierlichen Spektrum mit fließenden Übergängen bewegen und häufig nicht als eigene Entitäten voneinander abgegrenzt werden können. Bezugssystem. Vergleichsmaßstab, anhand des-
sen Eigenschaften eingeschätzt werden.
eine primär emotionale Reaktion, bei der die Erkenntnis durch die Qualität des mitempfundenen Gefühls vermittelt wird. Um empathisch zu reagieren, muss man sich nicht bewusst vorstellen, wie man sich fühlen würde, wenn man anstelle einer Person wäre.
Generalisierung. Sie bedeutet, dass ein gelerntes Verhalten auch in anderen Situationen und Kontexten als dem gelernten auftritt.
Glossar
239
High-functioning-Autismus. Als High-functio-
Shaping. Komplexe Verhaltensweisen werden
ning-Autismus wird der frühkindliche Autismus bezeichnet, bei dem keine wesentliche Intelligenzminderung und gute verbale Fähigkeiten vorliegen. Ansonsten werden aber alle diagnoserelevanten Merkmale des frühkindlichen Autismus nach Kanner erfüllt.
in einzelne Lernschritte zerlegt und aufbauend gelernt.
Kognitive Perspektivenübernahme. Dem Ge-
genüber wird nicht das eigene Wissen unterstellt, sondern die Situation des Gegenübers wird aus dessen Sichtweise angesichts der Situation betrachtet und so auf sein Wissen geschlossen. Perspektivenübernahme. Bezieht sich auf das
Verständnis für psychische Zustände und Prozesse wie Denken, Fühlen oder Wollen einer anderen Person aus deren Perspektive heraus, indem die Situationsgebundenheit des Handelns erkannt und entsprechende Schlussfolgerungen gezogen werden. Prompts. Jede Art von Hilfen (verbal, visuell), die dann langsam wieder ausgeblendet werden sollten. Simulationstheorie als Erklärungsansatz der Theory of Mind. Grundlegende Überlegung:
Man wird sich erst seiner selbst bewusst und schließt dann per Analogie, wie das Bewusstsein bei anderen Menschen beschaffen ist. Eine wesentliche Rolle spielt in diesem Ansatz die Imitation und die Introspektion: Einsichten über mentale Vorgänge bei anderen beruhen auf der Fähigkeit, sich in der Vorstellung in sie hinein zu versetzen und ihren Zustand aufgrund des eigenen zu simulieren bzw. zu imitieren, also stellvertretend nachzuvollziehen. Durch die eigene Introspektionsfähigkeit gelangt das Kind so zu Wissen über mentale Zustände bei anderen Menschen. Als neuronale Basis wird das »mirror neuron system« angesehen.
Sozial-kognitive Attribuierungen. Es sind Pro-
blemlösefähigkeiten im sozialen Bereich, die mittels kognitiver Fähigkeiten angewandt werden können. Dieses setzt ein Wissen um die Subjektivität der Perspektiven voraus: Menschen denken unterschiedlich, weil sie sich in unterschiedlichen Situationen befinden. Ein Sachverhalt kann in unterschiedlichen, auch widersprechender Weise mental repräsentiert sein. Theorie-Theorie als Erkärungsansatz der Theory of Mind. Das Kind bildet sich je nach Entwick-
lungsstand seine Theorien über mentales Verhalten bei anderen Menschen. Vorhandenes Wissen wird getestet, modifiziert und reorganisiert, wobei Theorien, die sich als ungültig erwiesen haben, auch durch neue Erklärungsprinzipien ersetzt werden können. Theory of Mind. Mit dem Begriff »Theory of
Mind« ist die Fähigkeit gemeint, psychische Zustände (Gefühle und Gedanken) anderen Personen und sich selbst zuzuschreiben, also die Fähigkeit, die eigenen Gedanken, Gefühle, Wünsche, Absichten und Vorstellungen und diejenigen anderer zu erkennen, zu verstehen und vorherzusagen. Theory-of-Mind-Aufgabe erster Ordnung (»first order false belief tasks«). Aufgaben, die das Er-
kennen einer falschen Ansicht (»false belief«) testen. Das »klassische« Experiment ist die »Sally & Ann«-Aufgabe: Die Versuchsperson bekommt mit Puppen eine Situation vorgespielt, in der ein Protagonist (Sally) einen Ball in einen Korb legt und danach den Raum verlässt. Während ihrer Abwesenheit wird der Ball von einer anderen Person (Anne) in eine Schachtel gelegt. Die Versuchsperson wird gefragt, wo Sally nach dem Ball schauen wird, wenn sie zurückkommt. Die meisten Dreijährigen sagen voraus, dass Sally an
240
Glossar
dem Ort nachsehen wird, wo der Ball tatsächlich liegt. Sie können also noch nicht berücksichtigen, dass Sally im entscheidenden Moment abwesend war und deshalb bei ihrer Handlung von einer unzutreffenden Meinung (»false belief«) ausgehen wird. Erst Dreieinhalb- bis Vierjährige sind in der Lage, das Informationsdefizit bei ihrer Voraussage zu berücksichtigen: Sie geben an, dass Sally in dem Korb nachschaut, in den sie den Ball selbst gelegt hatte. Theory-of-Mind-Aufgaben zweiter Ordnung (»second order attribution tasks«). Aufgaben,
die die Repräsentation einer Überzeugung einer Person A über eine Überzeugung einer Person B erfordern (»Peter denkt, dass Anne denkt, dass ...«). Verstärker. Als Verstärker bezeichnet man alles,
was bewirkt, dass ein Verhalten in Zukunft häufiger auftritt. Zentrale Kohärenz. Sie wird definiert als natür-
lich vorhandene Tendenz, vorhandene Stimuli global und im Kontext zu verarbeiten, wobei Informationen zusammengefügt werden, um die höherwertige Bedeutung zu erfassen.
Marburger Beurteilungsskala zum Asperger-Syndrom (MBAS)
242
Anhang
MBAS – Marburger Beurteilungsskala zum Asperger-Syndrom© Inge Kamp-Becker und Helmut Remschmidt
Anleitung Der Fragebogen, die Auswertefolien und das Ergebnisblatt sind auf der CD abgespeichert und müssen ausgedruckt werden, die Auswertefolien auf Folien ausdrucken. Einsatzbereich:
5 Screening autistischer Störungen auf hohem Funktionsniveau, insbesondere des Asperger-Syndroms 5 Altersbereich zwischen 6 und 24 Jahren 5 Mit durchschnittlichen kognitiven Fähigkeiten Testdurchführung:
5 Schriftlich als Fragebogen 5 Einschätzung von 37 Verhaltensbeschreibungen für das aktuelle Verhalten 5 14 Verhaltensbeschreibungen für 4. bis 5. Lebensjahr 5 Quantitative Einschätzung auf einer Skala von 0 (niemals) bis 4 (immer) 5 6 Fragen zu Sprachbeginn und Sprachauffälligkeiten (Ja/Nein-Einschätzungen) Auswertung:
5 Bildung der Gesamtsumme, Vergleich mit Gesamt-Cut-Off 5 Bildung von 4 Skalen-Summenwerten, Vergleich mit Skalen-Cut-Offs 5 2 verschiedene Beurteilungen möglich: Kriterium 1: Gesamtsumme über Cut-Off Kriterium 2: Gesamtsumme und Skala 1 über Cut-Offs 5 Beurteilung: – Verdachtsdiagnose Asperger-Syndrom, wenn über Cut-Off (Kriterium 1 oder 2) und keine Sprachentwicklungsver-
zögerung (Item 52 und 53 mit Nein beantwortet) – Verdachtsdiagnose High-functioningAutismus wenn über Cut-Off (Kriterium 1 oder 2) und Sprachentwicklungsverzögerung (Item 52 und 53 mit Ja beantwortet) – Verdachtsdiagnose Keine Autistische Störung wenn Gesamt-Cut-Off nicht erreicht Auswertungsanleitung:
5 Zur Auswertung dienen Schablonen aus durchsichtiger Folie 5 Die Schablonen so auf die jeweilige Seite des Fragebogens legen, dass die Einteilung mit der Einteilung der Antwort-Kästchen auf dem Fragebogen deckungsgleich ist 5 Bei den dunkel schraffierten Antwort-Kästchen, in denen Punktwerte angegeben sind, wurden die Items umgepolt! 5 Fehlende Antworten durch Einschätzung 2 ersetzen, ACHTUNG: Fehlen mehr als 2 Antworten, kann der Fragebogen nicht ausgewertet werden! 5 Rechts am Rande der Auswerteschablonen sind die Zuordnungen zu den einzelnen Skalen angegeben, summieren Sie alle Items einer Skala auf und tragen sie die Zwischensummen in die entsprechenden Kästchen am unteren Rand des Fragebogens für die Skala (1 – 4) ein. 5 Auf Seite 6 des Fragebogens werden die ermittelten Skalenwerte pro Skala addiert und für die Ermittlung der Gesamtsumme aller Skalenwerte aufaddiert. 5 Bitte die so ermittelten Werte auf dem Auswerteblatt eintragen und Beurteilung eintragen.
Marburger Beurteilungsskala zum Asperger-Syndrom (MBAS)
243
. Die 4 Skalen Skala
Anzahl der Fragen
Itemnummer
1
Theory of Mind, Kontakt- & Spielverhalten
17 Fragen
1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 16, 17, 23, 25, 38, 39, 48, 49, 50
2
Geteilte Aufmerksamkeit & Freude, Mimik, Gestik
13 Fragen
10, 11, 12, 13, 15, 22, 41, 42, 43, 44, 45, 46, 47
3
Stereotypes und situations-inadäquates Verhalten
12 Fragen
9, 14, 24, 26, 30, 31, 32, 35, 36, 37, 40, 51
4
Auffälliger Sprachstil, Sonderinteressen & Motorik
9 Fragen
18, 19, 20, 21, 27, 28, 29, 33, 34
244
Anhang
FRAGEBOGEN MBAS Marburger Beurteilungsskala zum Asperger-Syndrom © Inge Kamp-Becker & Helmut Remschmidt Die Marburger Beurteilungsskala zum Asperger-Syndrom ist ein Instrument für Personen zwischen 6 und 24 Jahren mit durchschnittlichen kognitiven Fähigkeiten, das helfen soll, Kinder und Jugendliche mit einem Asperger-Syndrom zu identifizieren. Es ist gedacht als ein Screeningverfahren und als Hilfsmittel zur Diagnostik, das auf gar keinen Fall eine genauere psychiatrisch-psychologische Diagnostik ersetzen kann. Der Fragebogen enthält eine Reihe von Beschreibungen, die durch eine Bezugsperson eingeschätzt werden sollen. Die einschätzende Bezugsperson sollte nach Möglichkeit täglich mit dem Kind/ Jugendlichen zusammen sein und mit dem üblichen Verhalten des Kindes/Jugendlichen vertraut sein. Der Aufbau und die Fragen dieses Instruments orientieren sich an den diagnostischen Kriterien für das Asperger-Syndrom, die durch die beiden gebräuchlichen Klassifikationssysteme (ICD-10 und DSM-IV) festgelegt sind1.
Name der Person, die den Fragebogen ausfüllt Beziehung zu der Person, über die der Fragebogen handelt (z.B. Mutter, Vater, Erzieherin/in) Name des Kindes/des Jugendlichen, über den der Fragebogen ausgefüllt wird
heutiges Datum:
Geburtsdatum des Kindes/Jugendlichen:
Lebensalter des Kindes/Jugendlichen:
1 Die Pronomen „er/ ihn“ werden hier vereinfachend benutzt, da die Mehrheit der Personen mit einem Asperger-Syndrom männlich sind und die Benutzung von männlichen und weiblichen Pronomen an jeder Stelle diesen Fragebogen unnötig verlängern würde. Fragebogen Seite 1 von 6 © Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Universität Marburg (August 2005)
245
Marburger Beurteilungsskala zum Asperger-Syndrom (MBAS)
Anweisung: Schätzen Sie jede Frage danach ein, wie häufig das umschriebene Verhalten bei der zu beurteilenden Person vorkommt. Nehmen Sie dabei Folgendes als Richtlinie: 0 1 2 3 4
niemals selten manchmal häufig immer
Kreuzen Sie die Zahl, die am besten Ihre Beobachtungen zu dem typischen Verhalten dieser Person unter normalen Umständen beschreibt, an (z.B. an vielen Plätzen, im Zusammensein mit bekannten Personen und bei alltäglichen Aktivitäten). Bitte lassen Sie keine Frage aus!
niemals
selten
manchmal
häufig
immer
Bitte beantworten Sie jede Frage und kreuzen Sie nur eine Antwortmöglichkeit pro Frage an. Sollten Sie sich nicht entscheiden können, lassen Sie die Frage nicht aus. Kreuzen Sie die Antwortmöglichkeit an, die Ihnen noch am ehesten zutreffend erscheint. Denken Sie bei der Beantwortung der folgenden Fragen vor allem an das letzte halbe Jahr.
1.
Zeigt er Interesse an anderen Kindern/Menschen?
0
1
2
3
4
2.
Hat er Freunde?
0
1
2
3
4
3.
Hat er irgendwelche besonderen Freunde, oder einen besten Freund?
0
1
2
3
4
4.
Zeigt er Interesse an dem, was andere sagen oder interessant finden?
0
1
2
3
4
5.
Versucht er Sie zu trösten, wenn Sie traurig oder verletzt sind?
0
1
2
3
4
6.
Haben Sie den Eindruck, dass er mitbekommt, was andere Menschen denken, beabsichtigen oder sich vorstellen?
0
1
2
3
4
7.
Hat er Schwierigkeiten, die Gefühle anderer zu verstehen?
0
1
2
3
4
8.
Nimmt er die Bedürfnisse von anderen nicht wahr und/ oder ist diesen gegenüber unempfindlich?
0
1
2
3
4
9.
Schaut er seinen Gesprächspartnern direkt ins Gesicht?
0
1
2
3
4
10. Kann er beispielsweise Freude, Trauer, Wut, Furcht mimisch ausdrücken?
0
1
2
3
4
11. Erkennt man an seinem Gesichtsausdruck wie es ihm geht?
0
1
2
3
4
Zwischensumme A
B
C
D
Fragebogen Seite 2 von 6 © Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Universität Marburg (August 2005)
selten
manchmal
häufig
immer
Anhang
niemals
246
12. Verwendet er auffällig wenig Gestik, um seine verbalen Äußerungen zu unterstreichen?
0
1
2
3
4
13. Ist sein Gesichtsausdruck gewöhnlich passend zu der jeweiligen Situation?
0
1
2
3
4
14. Sind seine Gefühlsäußerungen der jeweiligen Situation angemessen?
0
1
2
3
4
15. Ist er daran interessiert, dass Sie an seiner Freude teilnehmen (z.B. wenn ihm etwas gut gelungen ist)?
0
1
2
3
4
16. Erscheint er interessiert an den Kommentaren und Bemerkungen des Gesprächspartners?
0
1
2
3
4
17. Fragt er nach oder nimmt Stellung zu Gedanken oder Einstellungen des Gesprächspartners?
0
1
2
3
4
18. Ist seine Sprachmelodie sehr monoton, hat er eine sehr hohe Stimme oder ähnliches?
0
1
2
3
4
19. Ist seine Sprache übergenau oder pedantisch?
0
1
2
3
4
20. Spricht er förmlich oder wie ein wandelndes Wörterbuch?
0
1
2
3
4
21. Nimmt er alles sehr wörtlich?
0
1
2
3
4
22. Hat er Schwierigkeiten zu verstehen, wenn er verspottet oder gedemütigt wird oder wenn man sich über ihn lustig macht?
0
1
2
3
4
23. Hat er Schwierigkeiten, eine Konversation zu beginnen und weiterzuführen?
0
1
2
3
4
24. Stellt er häufig unangebrachte Fragen, die beispielsweise nicht zu der aktuellen Situation passen?
0
1
2
3
4
25. Redet er exzessiv über Lieblingsthemen, die bei anderen Personen nur von begrenztem Interesse sind?
0
1
2
3
4
26. Macht er unangemessene Bemerkungen, ohne sich bewusst zu sein, dass diese Bemerkungen verletzen könnten?
0
1
2
3
4
27. Beschäftigt er sich mit speziellen Gebieten oder Dingen in einer auffälligen Intensität oder Akzentsetzung?
0
1
2
3
4
28. Zeigt er ein überdurchschnittliches Wissen oder Fähigkeiten in einem speziellen Gebiet?
0
1
2
3
4
Zwischensumme A
B
C
D
Fragebogen Seite 3 von 6 © Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Universität Marburg (August 2005)
247
niemals
selten
manchmal
häufig
immer
Marburger Beurteilungsskala zum Asperger-Syndrom (MBAS)
29. Liest er Bücher vorrangig zur Information, wie beispielsweise Lexika oder Sachbücher, ist aber wenig an altersgemäßen Abenteuergeschichten, Romane interessiert?
0
1
2
3
4
30. Gab es Dinge, die er in einer speziellen Weise oder Reihenfolge ausführen musste, oder Rituale, die Sie für ihn ausführen mussten?
0
1
2
3
4
31. Zeigt er eine starke Reaktion auf Veränderungen in seinem gewohnten alltäglichen Ablauf?
0
1
2
3
4
32. Wird er ängstlich oder panisch, wenn außerplanmäßige Ereignisse auftreten?
0
1
2
3
4
33. Zeigt er ungeschickte und unkoordinierte motorische Bewegungen?
0
1
2
3
4
34. Hat er einen merkwürdigen, auffälligen Gang?
0
1
2
3
4
35. Flattert/e er auffällig mit den Händen z.B. bei Aufregung?
0
1
2
3
4
36. Zeigt/e er andere auffällige Bewegungen, z.B. drehende Bewegungen oder wiederholtes Auf- und Abspringen oder Schaukeln mit den Armen?
0
1
2
3
4
37. Scheint er ein besonderes Interesse am Anblick, am Berühren, an Geräuschen, dem Geschmack oder am Geruch von Dingen oder Menschen zu haben?
0
1
2
3
4
Zwischensumme A
B
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Fragebogen Seite 4 von 6 © Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Universität Marburg (August 2005)
248
Anhang
Für manche Verhaltensweisen ist es sehr hilfreich, sich auf die Zeitspanne zwischen dem 4. und 5. Lebensjahr zu konzentrieren. Sie können sich vielleicht besser erinnern, wie Ihr Kind sich zu dieser Zeit verhalten hat, wenn Sie diese Zeit in Zusammenhang mit Schlüsselerlebnissen wie Kindergarten, Umzug, Weihnachten oder anderen wichtigen Ereignissen, die besonders unvergesslich für Sie als Familie waren, bringen.
niemals
selten
manchmal
häufig
immer
Sollten Sie sich nicht entscheiden können, lassen Sie die Frage nicht aus. Kreuzen Sie die Antwortmöglichkeit an, die Ihnen noch am ehesten zutreffend erscheint.
38. Hat er im Alter von 4 bis 5 Jahren versucht, Sie zu trösten wenn Sie traurig oder verletzt waren?
0
1
2
3
4
39. Schien er im Alter von 4 bis 5 Jahren interessiert an anderen Kindern seiner Altersgruppe, die er nicht kannte?
0
1
2
3
4
40. Hat er im Alter von 4 bis 5 Jahren Ihnen gewöhnlich direkt in das Gesicht geschaut, wenn er etwas mit Ihnen gemacht oder mit Ihnen geredet hat?
0
1
2
3
4
41. Konnte er im Alter von 4 bis 5 Jahren Freude, Trauer, Wut, Furcht mimisch ausdrücken?
0
1
2
3
4
42. Konnte man im Gesicht erkennen wie es ihm ging, als er 4 bis 5 Jahre alt war?
0
1
2
3
4
43. Hat er im Alter von 4 bis 5 Jahren auf Dinge um ihn herum gezeigt, einfach um Sie auf etwas aufmerksam zu machen (nicht weil er etwas haben wollte)? Z.B. „Schau mal!“, „Guck´ mal da!“
0
1
2
3
4
44. Hat er im Alter von 4 bis 5 Jahren zurück gelächelt, wenn er von jemandem angelächelt wurde?
0
1
2
3
4
45. Hat er im Alter von 4 bis 5 Jahren Ihnen angeboten, Dinge mit Ihnen zu teilen (z.B. Essen oder Spielsachen)?
0
1
2
3
4
46. Schien er im Alter von 4 bis 5 Jahren daran interessiert, dass Sie an seiner Freude teilnehmen (z.B. wenn ihm etwas gut gelungen ist)?
0
1
2
3
4
47. Hat er im Alter von 4 bis 5 Jahren, Sie oder andere Personen spontan nachgeahmt (wie z.B. Kochen, Gartenarbeit, Sachen reparieren)?
0
1
2
3
4
48. Hat er sich im Alter von 4 bis 5 Jahren spontan an Gruppenspielen mit anderen Kindern beteiligt?
0
1
2
3
4
49. Spielte er im Alter von 4 bis 5 Jahren ausgedachte Spiele mit anderen Kindern im Sinne von imaginären Spielen („So tun als ob“) oder Rollenspielen (z.B. „Mutter-Vater-Kind“)?
0
1
2
3
4
50. Spielte er im Alter von 4 bis 5 Jahren kooperativ bei Spielen mit, bei denen man mit anderen Kindern eine Gruppe bilden muss, wie z.B. Verstecken oder Ballspiele?
0
1
2
3
4
51. Schien er im Alter von 4 bis 5 Jahren mehr an einem bestimmten Teil eines Spielzeugs interessiert (z.B. die Räder eines Autos drehen) oder eines Gegenstandes, als daran, das Objekt für seinen eigentlichen Zweck zu nutzen oder damit zu spielen?
0
1
2
3
4
Zwischensumme A
B
C
D
Fragebogen Seite 5 von 6 © Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Universität Marburg (August 2005)
249
Marburger Beurteilungsskala zum Asperger-Syndrom (MBAS)
Nein, trifft nicht zu
Ja, trifft zu 52. War Ihr Kind zwei Jahre oder älter als es die ersten Wörter gesprochen hat? 53. War er drei Jahre oder älter, als er anfing erste sinnhafte kleine Sätze (3 bis 4 Wörter) zu bilden? 54. Wiederholte er jemals häufig Wörter oder Sätze immer wieder, direkt nachdem er es gehört hatte (z.B. wie ein Echo das letzte Wort, das Sie gesagt haben)? 55. Wiederholt er zur Zeit und/oder wiederholte er als er jünger war häufig Wörter oder Sätze (echohaft) immer wieder, nachdem er sie irgendwann einmal gehört hatte? 56. Verwechselt er zur Zeit oder verwechselte er früher die persönlichen Fürworter, das heißt, „du“ oder „er“ zu sagen anstelle von „ich“? 57. Hat er jemals Wörter benutzt, die er selber erfunden hat, (z.B. „heißer Regen“ statt „Dampf“)
Bitte überprüfen Sie noch einmal, ob Sie alle Fragen beantwortet haben. Vielen Dank!
A
B
Zwischensumme Gesamt
Fragebogen Seite 6 von 6 © Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Universität Marburg (August 2005)
C
D
250
Anhang
AUSWERTUNGSBLATT MBAS Marburger Beurteilungsskala zum Asperger-Syndrom © Inge Kamp-Becker & Helmut Remschmidt Name
Lebensalter > 24 Jahre
Nein / Ja*
Alter
Lebensalter < 6 Jahre
Nein / Ja*
Datum
Durchschnittliche Intelligenz
Nein* / Ja
* Anwendbarkeit der MBAS nur unter Vorbehalt Wert
Cut-Off
Gesamtsumme
103
Werte (Skalen-Summe)
Skala
Cut-Offs (Skalen-Summe)
1. Theory of Mind, Kontakt- & Spielverhalten
38
2. geteilte Aufmerksamkeit & Freude, Mimik, Gestik
21
3. stereotypes und situationsinadäquates Verhalten
20
4. auffälliger Sprachstil, Sonderinteressen, Motorik
16
5. Sprachentwicklungsverzögerung
Ja / Nein
Kriterium 1: Gesamtsumme über Cut-Off Kriterium 2: Gesamtsumme und Skala 1 über Cut-Off Anzahl fehlender Antworten: „Verdachtsdiagnose“:
Auswertungsblatt Seite 1 von 1 © Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Universität Marburg (August 2005)
251
Marburger Beurteilungsskala zum Asperger-Syndrom (MBAS)
Anweisung: Schätzen Sie jede Frage danach ein, wie häufig das umschriebene Verhalten bei der zu beurteilenden Person vorkommt. Nehmen Sie dabei Folgendes als Richtlinie: 0 1 2 3 4
niemals selten manchmal häufig immer
AUSWERTUNGSFOLIEN MBAS
Marburger Beurteilungsskala zum Asperger-Syndrom © Inge Kamp-Becker & Helmut Remschmidt
Kreuzen Sie die Zahl, die am besten Ihre Beobachtungen zu dem typischen Verhalten dieser Person unter normalen Umständen (z.B. an vielen Plätzen, im Zusammensein mit Fürbeschreibt, Seite 2 desan MBAS-Fragebogens bekannten Personen und alltäglichen Aktivitäten). Bitte lassen Sie keine Frage aus! Bittebei so auflegen, dass die Item-Nummern übereinstimmen! Bitte beantworten Sie jede Frage und kreuzen Sie nur eine Antwortmöglichkeit pro Frage an. Sollten Sie sich nicht entscheiden können, lassen Sie die Frage nicht aus. Kreuzen Sie die Antwortmöglichkeit an, die Ihnen noch am ehesten zutreffend erscheint. Denken Sie bei der Beantwortung der folgenden Fragen vor allem an das letzte halbe Jahr.
Hat er Freunde?
3.
Hat er irgendwelche besonderen Freunde, oder einen besten Freund?
4.
Zeigt er Interesse an dem, was andere sagen oder interessant finden?
5.
Versucht er Sie zu trösten, wenn Sie traurig oder verletzt sind?
6.
Haben Sie den Eindruck, dass er mitbekommt, was andere Menschen denken, beabsichtigen oder sich vorstellen?
7.
Hat er Schwierigkeiten, die Gefühle anderer zu verstehen?
8.
Nimmt er die Bedürfnisse von anderen nicht wahr und/ oder ist diesen gegenüber unempfindlich?
9.
Schaut er seinen Gesprächspartnern direkt ins Gesicht?
10. Kann er beispielsweise Freude, Trauer, Wut, Furcht mimisch ausdrücken? 11. Erkennt man an seinem Gesichtsausdruck wie es ihm geht?
immer
2.
häufig
Zeigt er Interesse an anderen Kindern/Menschen?
manchmal
1.
Skala
selten
Punkte niemals
Itemnummer
4
3
2
1
0
4
3
2
1
0
4
3
2
1
0
4
3
2
1
0
4
3
2
1
0
4
3
2
1
0
0
1
2
3
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0
1
2
3
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4
3
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1
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2
1
0
4
3
2
1
0
Zwischensumme
Auswertungsfolien Seite 1 von 4 © Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Universität Marburg (August 2005)
A A A A A A A A C B B
252
Anhang
Für Seite 3 des MBAS-Fragebogens Bitte so auflegen, dass die Item-Nummern übereinstimmen!
manchmal
häufig
immer
Skala
selten
Punkte niemals
Itemnummer
0
1
2
3
4
4
3
2
1
0
4
3
2
1
0
15. Ist er daran interessiert, dass Sie an seiner Freude teilnehmen (z.B. wenn ihm etwas gut gelungen ist)?
4
3
2
1
0
16. Erscheint er interessiert an den Kommentaren und Bemerkungen des Gesprächspartners?
4
3
2
1
0
17. Fragt er nach oder nimmt Stellung zu Gedanken oder Einstellungen des Gesprächspartners?
4
3
2
1
0
18. Ist seine Sprachmelodie sehr monoton, hat er eine sehr hohe Stimme oder ähnliches?
0
1
2
3
4
0
1
2
3
4
0
1
2
3
4
0
1
2
3
4
0
1
2
3
4
0
1
2
3
4
24. Stellt er häufig unangebrachte Fragen, die beispielsweise nicht zu der aktuellen Situation passen?
0
1
2
3
4
25. Redet er exzessiv über Lieblingsthemen, die bei anderen Personen nur von begrenztem Interesse sind?
0
1
2
3
4
26. Macht er unangemessene Bemerkungen, ohne sich bewusst zu sein, dass diese Bemerkungen verletzen könnten?
0
1
2
3
4
27. Beschäftigt er sich mit speziellen Gebieten oder Dingen in einer auffälligen Intensität oder Akzentsetzung?
0
1
2
3
4
28. Zeigt er ein überdurchschnittliches Wissen oder Fähigkeiten in einem speziellen Gebiet?
0
1
2
3
4
12. Verwendet er auffällig wenig Gestik, um seine verbalen Äußerungen zu unterstreichen? 13. Ist sein Gesichtsausdruck gewöhnlich passend zu der jeweiligen Situation? 14. Sind seine Gefühlsäußerungen der jeweiligen Situation angemessen?
19. Ist seine Sprache übergenau oder pedantisch? 20. Spricht er förmlich oder wie ein wandelndes Wörterbuch? 21. Nimmt er alles sehr wörtlich? 22. Hat er Schwierigkeiten zu verstehen, wenn er verspottet oder gedemütigt wird oder wenn man sich über ihn lustig macht? 23. Hat er Schwierigkeiten, eine Konversation zu beginnen und weiterzuführen?
Zwischensumme
Auswertungsfolien Seite 2 von 4 © Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Universität Marburg (August 2005)
B B C B A A D D D D B A C A C D D
253
Marburger Beurteilungsskala zum Asperger-Syndrom (MBAS)
Für Seite 4 des MBAS-Fragebogens Bitte so auflegen, dass die Item-Nummern übereinstimmen!
immer
häufig
manchmal
Skala
selten
Punkte niemals
Itemnummer
29. Liest er Bücher vorrangig zur Information, wie beispielsweise Lexika oder Sachbücher, ist aber wenig an altersgemäßen Abenteuergeschichten interessiert?
0
1
2
3
4
30. Gab es Dinge, die er in einer speziellen Weise oder Reihenfolge ausführen musste, oder Rituale, die Sie für ihn ausführen mussten?
0
1
2
3
4
31. Zeigt er eine starke Reaktion auf Veränderungen in seinem gewohnten alltäglichen Ablauf?
0
1
2
3
4
32. Wird er ängstlich oder panisch, wenn außerplanmäßige Ereignisse auftreten?
0
1
2
3
4
0
1
2
3
4
0
1
2
3
4
0
1
2
3
4
36. Zeigt/e er andere auffällige Bewegungen, z.B. drehende Bewegungen oder wiederholtes Auf- und Abspringen oder Schaukeln mit den Armen?
0
1
2
3
4
37. Scheint er ein besonderes Interesse am Anblick, am Berühren, an Geräuschen, dem Geschmack oder am Geruch von Dingen oder Menschen zu haben?
0
1
2
3
4
33. Zeigt er ungeschickte und unkoordinierte motorische Bewegungen?
34. Hat er einen merkwürdigen, auffälligen Gang?
35. Flattert/e er auffällig mit den Händen z.B. bei Aufregung?
D
C
C
C
D
D
C
C
C
Zwischensumme
Auswertungsfolien Seite 3 von 4 © Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Universität Marburg (August 2005)
254
Anhang
Für manche Verhaltensweisen ist Für es sehr Seitehilfreich, 5 des MBAS-Fragebogens sich auf die Zeitspanne zwischen dem 4. und 5. Lebensjahr zu konzentrieren. Sie können sichItem-Nummern vielleicht besser erinnern, wie Ihr Kind sich zu Bitte so auflegen, dass die übereinstimmen! dieser Zeit verhalten hat, wenn Sie diese Zeit in Zusammenhang mit Schlüsselerlebnissen wie Kindergarten, Umzug, Weihnachten oder anderen wichtigen Ereignissen, die besonders unvergesslich für Sie als Familie waren, bringen. Sollten Sie sich nicht entscheiden können, lassen Sie die Frage nicht aus. Kreuzen Sie die Antwortmöglichkeit an, die Ihnen noch am ehesten zutreffend erscheint. manchmal
häufig
immer
Skala
selten
Punkte niemals
Itemnummer
38. Hat er im Alter von 4 bis 5 Jahren versucht, Sie zu trösten wenn Sie traurig oder verletzt waren?
4
3
2
1
0
39. Schien er im Alter von 4 bis 5 Jahren interessiert an anderen Kindern seiner Altersgruppe, die er nicht kannte?
4
3
2
1
0
40. Hat er im Alter von 4 bis 5 Jahren Ihnen gewöhnlich direkt in das Gesicht geschaut, wenn er etwas mit Ihnen gemacht oder mit Ihnen geredet hat?
4
3
2
1
0
41. Konnte er im Alter von 4 bis 5 Jahren Freude, Trauer, Wut, Furcht mimisch ausdrücken?
4
3
2
1
0
42. Konnte man im Gesicht erkennen wie es ihm ging, als er 4 bis 5 Jahre alt war?
4
3
2
1
0
43. Hat er im Alter von 4 bis 5 Jahren auf Dinge um ihn herum gezeigt, einfach um Sie auf etwas aufmerksam zu machen (nicht weil er etwas haben wollte)? Z.B. „Schau mal!“, „Guck´ mal da!“
4
3
2
1
0
44. Hat er im Alter von 4 bis 5 Jahren zurück gelächelt, wenn er von jemandem angelächelt wurde?
4
3
2
1
0
45. Hat er im Alter von 4 bis 5 Jahren Ihnen angeboten, Dinge mit Ihnen zu teilen (z.B. Essen oder Spielsachen)?
4
3
2
1
0
46. Schien er im Alter von 4 bis 5 Jahren daran interessiert, dass Sie an seiner Freude teilnehmen (z.B. wenn ihm etwas gut gelungen ist)?
4
3
2
1
0
47. Hat er im Alter von 4 bis 5 Jahren, Sie oder andere Personen spontan nachgeahmt (wie z.B. Kochen, Gartenarbeit, Sachen reparieren)?
4
3
2
1
0
48. Hat er sich im Alter von 4 bis 5 Jahren spontan an Gruppenspielen mit anderen Kindern beteiligt?
4
3
2
1
0
49. Spielte er im Alter von 4 bis 5 Jahren ausgedachte Spiele mit anderen Kindern im Sinne von imaginären Spielen („So tun als ob“) oder Rollenspielen (z.B. „Mutter-Vater-Kind“)?
4
3
2
1
0
50. Spielte er im Alter von 4 bis 5 Jahren kooperativ bei Spielen mit, bei denen man mit anderen Kindern eine Gruppe bilden muss, wie z.B. Verstecken oder Ballspiele?
4
3
2
1
0
51. Schien er im Alter von 4 bis 5 Jahren mehr an einem bestimmten Teil eines Spielzeugs interessiert (z.B. die Räder eines Autos drehen) oder eines Gegenstandes, als daran, das Objekt für seinen eigentlichen Zweck zu nutzen oder damit zu spielen?
A A C B B
B
B B B B A
A
A
C 0
1
2
3
Zwischensumme
Auswertungsfolien Seite 4 von 4 © Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Universität Marburg (August 2005)
4
255
Sachverzeichnis
Sachverzeichnis
A–C
256
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Sachverzeichnis
A adaptive Fähigkeiten 124-125 Aspie 151–152, 230 Ätiologie – ätiologisches Modell 53–54 – biochemische Befunde 34, 39, 41, 54 – Familienstudien 34–35, 224 – genetisch 13, 34–36, 53, 65, 84, 107, 141, 154, 224 -226 – Genomscan 34–35 – Pathogenese 8, 34–36, 39, 53–54 – Umweltfaktoren, Umwelteinflüsse 4, 6, 13, 54, 65, 85, 224–226 – Zwillingsstudien 34–35, 224 affektive Störungen 36, 37, 139 aggressives Verhalten/aggressive Handlungen 21, 38, 101, 114, 143-146, 154, 162–163, 181-183 – Impulskontrolle, impulsiv 5, 8, 44, 76–77, 105, 140, 142–144, 154, 181– 183, 229 – Kriminalität 38, 211, 215, 218 – Wut 19, 91, 102, 119 Amygdala 40–41, 49, 51, 71–72 Angst/Furcht 11, 68, 91, 154, 163, 170, 174–176, 182–183, 186, 189, 195, 208, 210, 215, 233 – Erregungszustände 154, 162–163 Applied Behavior Analysis (ABA) 172, 183–184 »Asperger-Syndrome and High-functioning Autism Diagnostic Interview« (ASDI) 124 »Asperger Syndrome Diagnostic Scale« 108 atypischer Autismus 18, 34, 192, 223 Aufmerksamkeit 10, 39, 42–43, 45, 51, 86, 123, 127–128 Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) 36, 37, 43, 47, 106, 140, 142–144, 183 Aufmerksamkeitsstörung 9, 21, 36, 39, 43, 106, 139, 163, 183 »Autism Diagnostic Interview-Revised« (ADI-R) 25, 29, 113, 115–116, 120– 123, 226 »Autism Diagnostic Observation Schedule-Generic« (ADOS) 25, 115–123, 226 autistische Psychopathie 2, 4,26, 34, 38
B Berufsausbildung, Ausbildung 161– 163, 174, 195, 209–216 Betreuung 157, 164 ff., 195 – Betreuungsmöglichkeiten 232
– gesetzliche 194 – institutionelle 153 Beziehungsstörung 20 bildgebende Verfahren 42, 84, 107, 125, 225 Blickkontakt/Blickverhalten 10, 19, 23, 24, 50, 63, 86, 87, 30–91, 104, 115, 139, 144, 151, 169, 178, 185, 207 »broader autism phenotype« 25
C Chaining 168, 169 »Comic Strip Conversations« 169, 187
D Denken, Eigenarten des Denkens 7, 8, 13, 21, 42 – Schwarz-weiß-Denken 76, 164 Depression 36, 39, 105–106, 161–162, 172, 176, 181–182, 203, 208, 210, 213 »Diagnostic Interview for Social and Communication Disorders« (DISCO) 123 Diagnostische Kriterien – nach DSM-IV 19–21, 27–28 – nach Gillberg 23 – nach ICD-10 19–21, 27–28 – nach Klin 25, 122 – Onset-Kriterium 22, 122 – nach Szatmari 24 – nach Tantam 24 – nach Wing 22 – Diskussion der diagnostischen Kriterien 35, 36, 84, 122, 222 Diäten 172, 195 diagnostische Verfahren – Gütekriterien 110 -112 – Reliabilität 108, 113, 116, 117, 120, 122, 226 – Sensitivität sensitiv, 86, 108, 110–112, 116, 120–123, 126, 226 – Spezifität spezifisch, 35, 39, 40, 45, 46, 49, 84, 86, 107, 108, 110–112, 116, 120–123, 126, 226, 228 – Validität 108, 110–113, 116, 117, 120, 122, 226
E Einfühlungsvermögen 11, 47, 115, 119, 116, 202 Eingliederung 20, 158, 160, 161, 193, 195, 227 – Eingliederungshilfe 192–193
– Eingliederungsmaßnahmen 158, 230–232 Elterntraining 179–180, 184, 190 Emotionen – Affektregulation 11–12, 168 – Ambivalenz 50, 75, 77, 89 – Emotionsregulation 42, 63, 67, 76– 77, 173–175 – emotionale Schlüsselfertigkeiten 63, 176 – emotionale Skripte 69, 177 – Emotionalität 21 – Emotionsverständnis 60–61, 68–69, 115, 150 – primäre, sekundäre Emotionen 59– 60, 68–69, 150, 169 »Empfehlungen zu Erziehung und Unterricht« 158–159 Entwicklung – frühkindliche Entwicklung 84, 87, 113, 120, 140–141 – Entwicklungsniveau 118, 123, 125, 127, 180 – Entwicklungsprofil 173, 229 – Entwicklungsverzögerung 20, 19, 22, 25, 84, 86, 108, 120, 122, 138, 140, 173, 227 Entwicklungspsychopathologie 14, 59, 174 Epidemiologie – Enpidemiologische Studien 26–31, 42, 218 – Prävalenz 29–31 – Zunahme 30–31 Epilepsie 18, 107, 233 Erwachsene mit Asperger-Syndrom 45, 49, 71–77, 104, 141–142, 163, 194, 206 ff., 230 ff. Erziehung 71, 84, 127, 147, 158–159, 164, 166–171, 181, 184, 215, 231 Essverhalten 101, 140, 202 – Essstörungen 37–38 – Störungen der Nahrungsaufnahme 86 Exekutive Funktionen – Handlungsplanung 44, 66–67, 70, 76, 143 – kognitive Flexibilität 45, 66, 170 – Turm von Hanoi 44–45, 127
F Fehldiagnose 87, 138, 140, 227 »Fragebogen zur Beobachtung von Spielen« 146 Förderung 84, 85, 108, 143, 155 ff. – emotionaler Kompetenzen 176 ff.
257
Sachverzeichnis
– sonderpädagogische Förderung 158–159 – sozialer und kommunikativer Kompetenzen 178 ff. Früherkennung,, 86–87 »fusiform face area«, 40–41, 49, 71, 130
G Geburtskomplikation 225 geteilte Aufmerksamkeit/»joint attention« 63–64, 65, 67, 76–77, 86, 111, 121, 217, 227 geteilte Freude 90, 109, 115, 139, 144 Generalisierung 72, 155, 168, 173, 75, 179, 184–187, 190, 228 Geschwister 71, 102, 164, 171, 175, 229–230 Gestik 10, 23, 86–91, 111, 115, 139, 178, 185, 207 »Gilliams Asperger´s Disorder Diagnostic Scale« 108 Gruppentraining 161, 187 – Gruppentherapie, 179, 190 Gyrus fusiformis 41, 130 Gyrus temporalis inferior 41
H Heller-Syndrom 223 Hirnfunktionsstörung 39 ff. – strukturelle Auff.älligkeiten 40 – funktionelle Auffälligkeiten 40 – Mentalisierungsnetzwerk 40–41, 51 Hygiene 100, 123, 126, 139–140, 148, 175
I Identität 146, 170, 180, 213 – Identitätsfindung 106, 156, 165, 172, 174, 228 – Identitätskrise 140, 162–163 Imitation 48, 64–65, 70, 76–77, 123, 175, 183 Integration 61, 72–73, 125, 153–165, 170, 175, 183, 191, 195, 230 – Integrationshelfer 107, 159 –160, 174, 190 – Integrationsmöglichkeiten 161 Integrationsdefizit 51- 53 Intelligenz 9–10, 12, 20–21, 28, 36, 42– 43, 68, 73, 84, 108, 124, 128, 139, 147, 209, 216, 218, 222–223, 231 – Denkfähigkeit 21 – Handlungs-IQ 43, 124–125, 128
– Intelligenzminderung 12, 18, 42–43, 161 – Intelligenzprofil 25, 96, 128 – Kognitive Entwicklung 64, 66, 76, 139 – Kognitive Fähigkeiten 24, 66, 68, 109, 125, 166, 174, 202, 209, 214 – Verbal-IQ 43, 124–125, 128 – Wechsler Intelligenztest 42, 124–125, 127, 128 Introversion 11
K Katamnese 2, 211–212, 213 Kernsymptomatik 147, 181, 189, 207, 227, 229 Kindergarten 20, 95, 102, 114, 141, 150, 157, 164, 202, 227 körperliche Erkrankungen 34–36, 54, 85, 223, 225 Komorbidität 36–40, 85, 105–106, 213, 223, 227, 232 Kontaktverhalten 87–88, 139 Kontaktstörung 75–77, 162, 227 Krise 104, 106, 155, 161 –165, 191, 224
L Leitsymptome 19 ff., 139 ff.
M Manierismen 25, 95, 139, 207 Masern-Mumps-Röteln-Impfung 225 medikamentöse Behandlung 181ff. – Antidepressiva 182 – Antiepileptika 183 – Antihypertensiva 183 – Anxiolytika 183 – Entwöhnungsmittel 183 – Neuroleptika 182 – Lithium 183 Mentalisierungsnetzwerk 74, 40–41 Mimik 8, 9–10, 86, 88, 90–91, 111, 115, 139, 170, 185, 207 Motivation 25, 73, 88, 139, 151–153, 175, 180 Motorik 4, 9–11, 42, 87, 101, 129, 139, 144 – motorische Ungeschicklichkeit, 8–11, 21–27, 95, 101, 106, 124, 207, 227 – »motor clumsiness« 22, 101 – Störungen der Motorik 36–37, 41
A–R
Mulitplex Complex Developmental Disorder/multiple komplexe Entwicklungsstörung (MCDD) 11–12, 15 Mutismus 37–38
N neuronales Netzwerk 42, 51–54, 65, 69 neuropsychologische Befunde 42–54, 224 – neuropsychologische Untersuchung 126–127, 142, 224 neuropsychologisches Modell 51–54 nonverbale Lernstörung 38, 41, 223
P Persönlichkeitsstörung 2–15, 37–38, 141–142 – schizoide Persönlichkeitsstörung 38, 141–142, 227 – zwanghafte Persönlichkeitsstörung 142 Phantasie 70, 142 – und Realität 70, 75–77, 170, 209 präfrontaler Kortex 40–41, 49 Pragmatik 91–94, 115, 123, 139, 178, 185, 207–209 Prompts 168, 175 Prognose 124, 166, 202 ff., 230 – Prognosekriterien 209 ff. Prosodie 23, 86, 91–93, 139, 207, 219 Psychopathie 2 15, 26, 38 Psychosen 4–6, 13, 29, 141, 192, 213 – psychotische Zustandsbilder 154, 163, 191 – psychotische Symptomatik 105, 140–141, 208, 227 Pubertät 38, 104–106, 155, 157, 163, 165, 170, 176,203, 218, 227 – Adoleszenz 104, 106, 121, 207–209, 213, 215–219
Q qualitative Beeinträchtigung 11, 138 – der sozialen Interaktion 88 ff. – der Kommunikation 91ff.
R reaktive Bindungsstörung 143 rechtliche Bestimmungen 192–195 Rehabilitationsmaßnahmen 161, 195 Reifung 3, 206
258
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Sachverzeichnis
– des zentralen Nervensystems 18, 39 Repräsentationen 49–50, 60, 62, 65, 73, 75–77, 144–146 Ressourcen 106–107, 153, 161, 175, 181, 230 Rett-Syndrom 18, 29, 37, 229 Rituale 99–100, 124, 182, 207–209, 217
S Schizophrenie 6–8, 11–15, 35–38, 44, 47, 49, 105, 140–141, 191, 222, 225, 227 – Denkstörungen 7, 11–12 – katatone Symptome 105, 123 – schizophrene Psychose 141 – Schizophrenia simplex 141 – schizotype Störung 15, 20–21, 141 Schlafstörungen 37, 39, 86, 106, 162, 176 Schule 20–21, 102–107, 114–115, 146, 153, 157–163, 168, 170, 174, 190– 191, 195, 209, 213, 21 – Beschulbarkeit 158, 160–162 – Nachteilsausgleich 107, 159–161, 174, 193 – Schulabschluss 210 ff., 231 – Schulbegleiter (o Integrationshelfer) 159–160 Screening 26, 85–86, 108ff., 207 – »Checklist for Autism in Toddlers« (CHAT) 86 – »Fragebogen über Verhalten und soziale Kommunikation« FSK, 108 – »Marburger Beurteilungsskala zum Asperger Syndrom« MBAS 108 ff. Sekretin 172, 183, 195 Selbst 11, 46–50, 59–77, 151–153, 174, 177 ff. – Selbstbezogenheit 23–24, 89 – Selbstbild 70, 77, 102, 104, 146, 164–165, 230 – Selbstkontrolle 70, 76– 77, 143, 170, 175, 177 – Selbstkonzept, 164–165 – Selbstreflexion 63, 104, 173 – selbstverletzendes Verhalten 37–38, 143, 147, 182–183, 229 – Selbstwertgefühl 140, 165, 172 Selbsthilfe 28, 209 ff. – Elternselbsthilfegruppen 155, 167 – Selbsthilfegruppen 155, 230 Selbständigkeit, 123–125, 213 ff. – adaptive Funktionen 86, 124–125, 148, 150, 154, 217 – lebenspraktische Fähigkeiten 126, 140, 146, 150, 156, 174–176, 215, 228 sensorische Interessen 25, 109, 121
– sensorische Empfindlichkeit 102 – sensorische Integration 188–189 Sexualität 10, 104, 106, 162–163, 172, 207, 218, 227 Shaping 168–169, 175 »Social Skill Assessment« 146 Sonderinteressen/Spezialinteressen 10, 19–28, 38, 44, 72, 75–77, 87, 95–99, 102, 104, 106, 109–111, 115, 120, 123, 139, 144, 161, 163, 167 ff., 178, 207–208, 218, 231–232 soziale Eingliederungsfähigkeit 20 soziale Hinweisreize 23, 169, 173, 178, 185 soziale Phobie 21 sozialrechtliche Einordnung 192 ff. soziales Lächeln 86 sozioemotionale Gegenseitigkeit 90, 109, 139 Spektrum-Konzept 40, 223–224 Spiegelneuronen 49, 64–65, 69–70 Spielverhalten 66–68, 76–77, 86–87, 94–95, 109–111, 115, 117, 123, 139, 142–144, 157, 169, 209, 217 – Fiktionsspiel 67, 77, 94 – Phantasiespiel 66–68, 120 – Parallelspiel 67, 77, 94 – Rollenspiele 66–67, 94, 102, 170, 177, 185 – »So tun als ob« 25, 66–68, 71, 77, 102, 119, 156 – Sozialspiel 67, 77, 94, 156 Sprache 8, 10, 44, 68, 75–77, 91–94, 121, 122, 207–209, 214, 231 – Echolalie 20, 120, 209 – expressive Sprache 23, 84, 140 – konkretistische Sprache 72, 75, 93, 115,162, 164, 190, 208–209 – Modulation 20, 86, 92 – rezeptive Sprache 84, 122, 140 – Sprachauff.älligkeiten 23, 24, 27, 44, 109, 115 – Sprachentwicklung 19–28, 66, 84– 86, 91, 113, 122, 138–139, 144, 202, 222 – Sprachverständnis 75, 93–94, 115, 139, 153, 173 – Umkehr der Pronomina 20,121 stereotype Verhaltensweisen 11–13, 19–22, 95 ff., 139 Störung des Sozialverhaltens 120– 121, 215 Störungskonzept 151, 153, 165 ff., 223– 224 Strukturierung 167–171, 184, 187, 191 Suizid 104, 106, 140, 154, 161–164, 191, 203, 213
T Theory of Mind 46ff., 59ff., 88ff., 168ff., – Bezugssystem 46, 49 ff., 61–62, 75, 93, 169 – Einflussfaktoren 68, 70–71, 76 – Emotionserkennung 49–50, 59–61, 68–69, 71–77, 150, 156, 169 – Empathie 47–48, 59–63, 69–77, 176ff. – hirnphysiologische Basis 49 – Intersubjektivität 46 ff., 62 ff. – Mentalisierungsaufgaben 71 – Mentalisierungsfähigkeit 73, 88 – Simulationstheorie 48, 62, 65 – sozial-kognitive Attribuierungen 59–77, 169 Theorie-Theorie, 48–49, 62 Theory-of-Mind-Aufgaben 49, 68 Training der Theory of Mind 186 TEACCH 172, 184, 187 Therapiemethoden 174, 196 – Effektivität 171–172, 179–181, 185– 187, 191, 196 – Wirksamkeit 156, 171, 182, 184, 189, 195, 228 ff. Therapiemotivation 151–153 Ticstörung 36–37, 114, 139–140 – Tourette-Syndrom, 36–39, 106, 233
U umschriebene Entwicklungsstörung 18, 41, 85, 147 Untergruppen (nach Wing) 208 Unterrichtseinheiten »Asperger-Syndrom« 161
V Validität des Asperger-Syndroms 26, 123, 222–224 Veränderungsängste 87, 95, 99–100, 106–107, 109, 139, 143–144, 190 Verhaltensalternativen 155, 170–171 Verhaltensanalyse 143–147, 173 Verhaltensbeobachtung 114–115, 142, 191 Verhaltensmodifikation 146, 183–185 Verhaltenstherapie 85, 174 ff., 187, 191 – kognitiv-behavioriale Verhaltenstherapie 174 ff. – verhaltenstherapeutische Verfahren 155, 157, 172, 183–185 Verstärker 167–170, 175–177
Sachverzeichnis
Vineland Adaptive Behavior Scales 124–126 Visualisierung 168, 184
W Wahrnehmung, 46, 48–49, 51–53, 60, 66, 68, 73, 75- 77, 90, 115, 146, 166, 168–174 – auditive Wahrnehmung 102, 189 – Emotionswahrnehmung 68 – propriozeptive Wahrnehmung 103, 129 – räumliche Wahrnehmung 127–128, 174 – sensorische Wahrnehmung 181, 187 ff. – Sinneswahrnehmung 40 – soziale Wahrnehmung 49, 62, 75, 127, 168–178 – visuelle Wahrnehmung 126–127 – Wahrnehmungsstrategie 48
Z zentrale Kohärenz 46, 49, 51–54, 76– 77, 126–127, 144, 168 ff., 224 Zwang 8, 23, 40–41, 99–100 – Zwangsstörung, 21, 39–41, 99–100, 106, 142, 163, 172, 210, 215 – Zwangssymptome, 36–40, 54, 77, 87, 99–100, 104, 106, 114, 139–140, 143– 144, 163, 207–208
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