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Seewölfe 230 1
Ralph Malorny 1.
Jedem, der in diesem Augenblick die „Isabella VIII.“ gesehen hätte, wäre das Herz aufgegangen. Denn die Dreimastgaleone fuhr unter rollen Segeln. Es herrschte ein leichter, beständiger Wind, der fast achterlich einfiel. Der Rahsegler steuerte Westkurs, wollte in den nächsten Tagen die Südspitze Afrikas runden und lief gute Fahrt. Die Männer an Deck konnten das eigene Schiff natürlich nicht sehen, und selbst wenn sie die Schönheit dieses Bildes ahnten – sie hatten im Augenblick andere Sorgen. „Mister Ballie, du Blindfisch!“ brüllte Profos Edwin Carberry mit einer Stimme, die Tote erwecken konnte. „Paß auf, daß du Kurs hältst, zum Teufel!“ Er meinte damit, daß Pete Ballie darauf achten solle, die „Isabella“ nicht aus dem Ruder laufen zu lassen. Pete Ballie riß die grauen Augen auf. Zu lange schon stand er in mörderischer Hitze im Ruderhaus. Der trockene Wintermonsun des Jahres 1590, vor dem sie herliefen, dörrte einen aus und ließ die Kehle rauh werden wie ein Reibeisen. „Der verdammte Kahn ist am Geigen“, erklärte er wütend, und seine Fäuste — groß wie Ankerklüsen —packten fester zu. Damit aber hatte er dem Profos das Stichwort gegeben. Alle an Bord waren gereizt, und gerade der bullige Kerl mit dem Rammkinn und dem zernarbten Gesicht, der sich für die Disziplin verantwortlich fühlte, ging sofort in die Luft, wenn er auch nur das geringste Anzeichen für ein Nachlassen des Respektes witterte. Und wenn jemand die „Isabella“ verächtlich als Kahn titulierte, so war das schon zuviel. „Sprichst du etwa von unserer ‚Isabella’, was, wie?“ fragte Carberry grollend. Philip Hasard Killigrew, der auf dem Achterdeck stand, über seine Roteiros gebeugt, schaute auf und ermahnte die Männer, Frieden zu halten. Er wußte nur zu genau, daß nach allen Strapazen des langen Törns durch den Indischen Ozean
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jeder einzelne am Ende seiner Kraft war. Da genügte ein einziger Funke, um alles in die Luft zu jagen. „Aye, aye, Sir“, brummte Edwin Carberry und widmete sich wieder mit Hingabe seiner Aufgabe. Er mußte die Mannschaft auf Trab halten, weil Arbeit ablenkte, und er wußte für jeden eine Beschäftigung, ausgenommen Arwenack, den Bordschimpansen, und Sir John, den Papagei, der frei herumflatterte. Kaum war das eine erledigt, mußte das nächste getan werden, und wenn es möglich gewesen wäre, hätte Carberry sie außenbords gescheucht, damit sie die Schiffsbohrwürmer fingen, die vielleicht gerade dabei waren, die „Isabellaanzuknabbern. Der Kutscher dagegen hatte mehr Arbeit als Feldscher denn als Koch. Weil es nämlich um die Vorräte nicht zum besten stand und das Trinkwasser in diesen Breiten zu schnell verdarb, trat der erste Fall von Scharbock auf, der Böses ahnen ließ. Blacky mußte sich verarzten lassen, weil auf seinem Körper merkwürdige farbige Flächen entstanden. Zudem waren seine Beine leicht geschwollen, und eine außerordentliche Müdigkeit hatte ihn gepackt, über die niemand mehr scherzen mochte. Denn zuletzt hatte der Kerl mit den harten Fäusten selbst der Donnerstimme des Profos’ mühelos widerstanden, war dauernd eingenickt und zitterte trotz der Affenhitze wie ein junger frierender Hund. Jetzt wurde ihm der Saft einer Tropenfrucht eingeflößt, weil es schon lange kein Sauerkraut mehr an Bord gab, das man gewöhnlich bei dieser von allen Seefahrern gefürchteten Krankheit anwendete, um das Schlimmste zu verhüten. „Wenn das so weitergeht, werden wir alle krank oder verrückt“. meinte Ben Brighton, der neben dem Seewolf auf dem Achterdeck stand und sich auf die Schmuckbalustrade stützte, während er sorgenvoll die Kuhl überblickte, auf der Carberry rumorte und die Männer hart rannahm.
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„Ich könnte gut auf die ewige Tropensonne verzichten und freue mich schon auf die ‚Brüllenden Vierziger’ „, stimmte ihm Hasard zu. „Einmal wieder Schnee und Eis sehen und nicht nur diesen stahlblauen Himmel.“ Seine Söhne, meist unzertrennlich, hatten sich ganz unterschiedlichen Beschäftigungen zugewandt. Hasard junior stand neben der Hecklaterne und angelte im Kielwasser, wobei er dauernd schattenhafte Bewegungen im wirbelnden Sog bemerkte, aber das Glück ihm die kalte Schulter Zeigte. Philip junior dagegen saß rittlings auf dem Bugspriet und bewunderte die Pracht der querschiffs getrimmten Segel. Manchmal schloß der Junge die Augen und genoß die sanften Bewegungen des Schiffes. Das Gesicht hielt er dabei dem Fockmast zugewandt. Arwenack, der Schimpanse, turnte keckernd auf dem Beiboot herum. Die Jolle war auf der Kuhl festgezurrt. Dem Affen behagte das Klima, und er quoll über vor Lebensfreude. Seine Stimmung stand ganz im Gegensatz zu der üblen Laune, von der die anderen Mitglieder der Besatzung geplagt wurden. Al Conroy brummte denn auch: „Wenn er nicht bald zu palavern aufhört, stopfe ich das verdammte Vieh bei nächster Gelegenheit in ein Kanonenrohr und schieße es pfundweise zu einem Spanier hinüber.“ Al Conroy war der Stückmeister der „Isabella“ und als solcher für die Schiffsartillerie zuständig. Jede Culverine und Drehbasse war längst auf Hochglanz poliert, das Zubehör überprüft und in Schuß, und selbst mit der Ladeschaufel zum Abmessen des Pulvers hätte man getrost Proviant ausgeben können. Jetzt bedauerte der Schwarzhaarige, daß er keine Gelegenheit fand, seine hervorragende Pflegearbeit auch im Gefecht unter Beweis zu stellen. Aber es schien, als wage es nur die „Isabella“, allein, den Indischen Ozean auf diesem Kurs von Nordost nach Südwest zu bezwingen, weitab von Madagaskar und
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der geschützten Straße von Mozambique, die von den Handelsschiffen bevorzugt wurde, die nach Indien wollten oder mit Gewürzen beladen heimkehrten. „Wenn du auch nur daran denken solltest, Arwenack ein Haar zu krümmen“, erklärte Matt Davies und hob drohend die Hakenprothese, die ihm die fehlende rechte Hand ersetzte, „ziehe ich dir damit einen neuen Scheitel. Hast du verstanden?“ Batuti, der schwarze Herkules aus Gambia, der mit gekreuzten Beinen an Deck hockte, grinste von einem Ohr zum anderen. Er setzte Taklings auf ausgefranste Tampen und sah aus, als sei er geteert und gefedert worden, denn überall auf seinem schweißglänzenden Körper klebten Fäden und Fusseln. „Du armseliges Produkt einer unbekannten Seekuh“, erwiderte Al Conroy, „brauchst deine lieben Verwandten gar nicht zu verteidigen. Da du die menschliche Sprache kaum verstehst, geschweige denn beherrschst, ist es natürlich Musik in deinen lausigen Ohren, wenn der Affe loslegt. Aber ein vernünftiger Mann wie ich kann das auf die Dauer nicht mehr hören.“ Der Profos war mit zwei schnellen Schritten bei den Streithähnen, ehe die Quengelei in Handgreiflichkeiten ausarten konnte, und brüllte: „Muß ich erst den einen nehmen und den anderen damit zur Vernunft zurückprügeln? Was glaubt ihr Heringsbändiger eigentlich, was Disziplin ist? Ihr denkt, ein paar Monate auf See und etliche tausend Seemeilen genügen, damit ihr euch benehmt wie verlauste Schnapphähne, was, wie? Lieber nagele ich euch am Großmast fest und gebe euch jeden Tag die neunschwänzige Katze, ihr gestreiften Affen ...“ Carberry unterbrach seinen Redeschwall und lauschte ungläubig. Hatte ihn da eine wesentlich sanftere Stimme unterbrochen? Hatte er richtig gehört? „Segelschiffe voraus!“ meldete Gary Andrews aus dem Ausguck. „Drei Spanier, wenn mich nicht alles täuscht.“ Der Seewolf griff zum Spektiv.
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Tatsächlich entdeckte er an der Kimm spanische Galeonen, die mit scharf angebraßten Rahen so nahe wie möglich am Wind segelten. * Je mehr sich die „Isabella“ dem spanischen Verband näherte, desto unangenehmere Einzelheiten wurden deutlich. Zunächst stellte Gary Andrews fest, daß die drei Galeonen von zwei Karacken unterstützt wurden. Dann nahmen die Schiffe eine ziemlich ungewohnte Formation ein. Sie bildeten eine Art Treiberkette, weit auseinandergezogen. Die „Isabella“ hätte weit ausholen müssen, um diese Sperre zu umgehen. Dann feuerte das Flaggschiff; die „Eusebio“, der „Isabella“ einen Schuß vor den Bug, um sie zum Beidrehen zu zwingen. Während die Besatzung längst unter Aufsicht Ben Brightons das Schiff klar zum Gefecht machte, befahl Hasard dem Rudergänger: „Recht so.“ Das bedeutete nichts anderes, als daß Pete Ballie den Kurs beibehalten solle. Wenn sich der Seewolf auch nicht der Hoffnung hingab, die überlegenen Spanier würden ihr Vorgehen begründen. lief er doch an das Flaggschiff heran und rief hinüber, warum und mit welcher Berechtigung sein Schiff auf dem freien Meer aufgebracht werden solle. „Befehl des Vizekönigs. Wir haben Nachricht erhalten. daß sich in diesen Gewässern britische Freibeuter zeigen. Wir wollen Ihr Schiff durchsuchen.“ „Das könnte denen so passen, diesen lausigen Dons. Jetzt wollen sie noch die Seewege nach Indien kontrollieren und allen anderen Schiffen die Passage verwehren-, wetterte Al Conroy. zornrot im Gesicht. „Feuer frei, Sir?“ Die Gefechtsposition. die anlag, sah nicht günstig aus für die „Isabella“. Die Spanier würden sie in die Zange nehmen, wenn sie weiterlief, und ihr aus Luv wie aus Lee eine Breitseite verpassen, während die
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Karacken in der Mitte ihre Drehbassen sprechen lassen würden. „Ruder hart Steuerbord“. befahl Hasard. „Feuer frei, Al!“ Der ranke Segler schwang mit dem Bug herum und glitt elegant auf Kabellänge am Bugspriet des äußeren Spaniers, einer Galeone. vorbei, brachte sie so in Lee und verpaßte ihr in rauschender Vorbeifahrt eine volle Breitseite, die mit verheerender Wirkung auf dem Mitteldeck einschlug. Die spanische Galeone erhielt von Al Conroy noch zum Abschied einen Treffer aus der Drehbasse. Dann war bereits die Karacke heran, die „Infierno“ hieß. Ihr Kapitän ließ sich offenbar durch die Überrumpelung des ersten spanischen Schiffes nicht ins Bockshorn jagen. Die Geschütze wummerten los. Die Salve lag zu kurz bis auf einen Schuß, der die „Isabella“ erwischte und zwei Löcher in die beiden Schanzkleider an Backbord und Steuerbord stanzte. Die Backbordgeschütze der „Isabella“ antworteten. Der Schaden auf dem feindlichen Schiff hielt sich in Grenzen. Der Spanier ging über Stag, um die Verfolgung aufzunehmen. Natürlich verlor er viel Zeit. Vom Flaggschiff wurde wild zu der Karacke signalisiert, die offenbar eigenmächtig handelte. Aber die „Infierno“ scherte sich keinen Deut darum, sondern hielt Kurs. Der Seewolf lächelte nur. Die Karacke hatte keine Chance gegen die „Isabella“, weder was die Kampfkraft betraf noch die Geschwindigkeit. Wenn der spanische Kapitän dennoch nicht aufgab, war er entweder ein Narr oder vom Ehrgeiz zerfressen. Der Seewolf befahl, wieder auf den alten Kurs zu gehen. Die Culverinen wurden zurückgerollt, die Stückpforten geschlossen und die Brooktaue festgezurrt. Die plumpen Räder der Geschütze rumpelten über die Decksplanken. Die Mannschaft nahm ihre alte Arbeit wieder auf. Die Spannung löste sich.
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Immerhin gab es endlich neuen Gesprächsstoff. Das kurze, aber heftige Scharmützel erregte sicher noch für eine Weile die Gemüter, und jeder betonte, was Hasard geschicktes Segelmanöver zum Sieg beigetragen hatte. Der Seewolf aber widmete sich bereits einer neuen Aufgabe. Ben Brighton hatte ihn darauf hingewiesen. daß die Wolken sich turmartig aufzubauen begannen, ein sicheres Zeichen für Gewitter und Böen. Ben Brighton bestimmte mit dem Astrolabium die Schiffsposition. Ferris Tucker, der Schiffszimmermann, beseitigte die Schäden, die der Spanier angerichtet hatte. Hasard ließ die Blinde und die Marssegel bergen und jagte dazu einen Teil der Crew in die Wanten. Der Wind frischte auf. Die See wurde kabbelig. * Carberry war in seinem Element. Er ließ die Luken mit Blenden, Keilen und Latten verschalken. Manntaue wurden gespannt. Dann wurden die Sturmsegel gesetzt. Der jetzt steife Nordwestwind pfiff durch Wanten und Pardunen und steigerte sich noch. Die „Isabella“ lag bei halbem Wind auf Südwestkurs. Sie lief nur noch mit der Sturmfock und dem Besan. Die Wellenberge erhoben sich immer höher und rollten gischtend über das Vorschiff, daß die „Isabella“ erzitterte. Der Wind erhob sich zum Sturm. Der See schien zu kochen. Die Sonne, hinter Wolkenschleiern, wirkte wie aus Kupfer. Bei jedem Schlag schien es, als werde die „Isabella“ sich nie wieder erheben und ihre Masten würden unter Wasser gedrückt. Die Verständigung an Bord wurde schwierig. Die Männer hatten sich vorsorglich festgelascht und verkrallten sich an den Manntauen, wenn die Brecher über die Decks donnerten. Hasard zog sich ins Ruderhaus zurück und sorgte dafür, daß der eisenharte Big Old Shane, Schmied von Arwenack, den
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erschöpften Pete Ballie ablöste. Aber auch dieser gewaltige Kerl mit den riesigen Pranken kriegte Schwierigkeiten. Kopfschüttelnd legte er sich ins Ruder. und versuchte Kurs zu halten. Mal richtete sich der Bug der „Isabella“ himmelwärts, als wolle die Galeone in die Wolken steigen, dann wieder kippte der Rahsegler ab, eine endlose sausende Talfahrt begann, als wolle er sich geradewegs in das Herz der Erde bohren. Die Masten ächzten und knirschten. „Hol’s der Teufel!“ knurrte der Graubart. „Wir sollten vor den Wind gehen.“ Hasard konnte sich nicht erinnern, jemals Bedenken in den Augen seines treuesten Gefolgsmannes gesehen zu haben, aber diesmal schien es soweit. Wenngleich auch natürlich eine gute Portion Sorge um das Schicksal der anderen, insbesondere das der beiden Söhne des Seewolfes, mitspielte. „Ich gebe nicht gern auf“, sagte Hasard. „Aber wenn es sein muß. Wahrscheinlich hast du recht.“ Der Schmied nickte nur. Es wurde ein Alle-Mann-Manöver, um die beiden lächerlichen Segel vorn und achtern auf die Höllenfahrt vor dem Sturm her zu trimmen. Die „Isabella“ fiel ab, bis sie vor dem Sturm auf Südostkurs lag. Ein unendlicher Seeraum breitete sich vor ihr aus, was den Vorteil hatte, nicht auf Legerwall zu geraten. Dennoch war Hasard keineswegs zufrieden. „Wenn das so weiterbläst“, stöhnte er, „segeln wir über den Rand meiner letzten Roteiro hinaus und geraten in unbekanntes südliches Gebiet. Das ist das letzte, was ich mir wünsche. Ich wollte nur die Südspitze von Afrika runden und dann Kurs auf Südamerika und die Karibik nehmen. Ich habe keine Lust, vorher den Walfischen und Robben einen Besuch abzustatten.“ Das Wetter wird sich beruhigen, und wir holen alles wieder herein“, beschwichtigte ihn Big Old Shane. Die Sturzseen begruben immer wieder das Achterdeck unter sich, und die Brecher nahmen sich das Ruderhaus vor. Sie
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rüttelten wie wild an Zapfen und Bolzen, und manchmal glaubte Hasard, er werde samt dieser Erfindung des geschickten Ferris Tucker über Bord gespült. Von dem Verfolger war weit und breit nichts mehr zu sehen. Wahrscheinlich hatte der Spanier längst das Weite gesucht und war irgendwo untergekrochen oder bereits in Seenot. Irgendwann tauchte Edwin Carberry auf und flog mehr über das Deck, als daß er ging. „Wenn wir schon absaufen“, brüllte er, Und keiner konnte sagen, wie er es geschafft hatte, das Ruderhaus zu erreichen, ohne über Bord gerissen zu werden, „will ich wenigstens sehenden Auges in die Hölle segeln und nicht unter Deck ertränkt werden wie eine verdammte Schiffsratte!“ * Mehr als vierzehn Stunden tobte der Orkan. Dann flaute er ab. Die Stille danach wirkte unheimlich. Der Profos war froh, wieder seine eigene Stimme hören zu können. Er stampfte aus dem Ruderhaus, mit roten, müden Augen, und brüllte: „Alle Mann an Deck!“ Natürlich gab es genug für jeden zu tun. Die „Isabella“ war nicht ganz ungerupft aus dem Chaos wieder aufgetaucht, und der Schiffszimmermann war für die nächsten Tage der gefragteste Mann. Aber auch die anderen Hände wurden gebraucht, um das Deck aufzuklaren und die Segel zu wechseln. Die Seewölfe wollten einen neuen Anlauf nehmen, um die südliche Spitze Afrikas zu runden. Wo sie sich im Augenblick befanden, das wußte niemand zu sagen. Irgendwann würde Hasard es schon bekanntgeben, nachdem er die genaue Position der „Isabella“ herausgefunden hatte. Wozu verstand er soviel von Navigation? Die Männer waren willig und fleißig, froh, der Ungewißheit und Höllenfahrt entronnen zu sein. Auch der Kutscher drängte sich zur Arbeit, nachdem er seinen
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Patienten versorgt hatte. Er war eben ein Mann für alles, der ehemalige überzeugte Nichtseemann, der längst seinen festen Platz in der Crew erobert hatte. Er war der erste, der aufmerkte. Da er wie die anderen unter der Hitze der Tropen gelitten hatte, stellte er erleichtert fest: „Es ist erfreulich frisch!“ Batuti sah ganz, grau aus im Gesicht. Ihm war es entschieden zu kalt. Er schnatterte mit den Zähnen und konnte sich gar nicht warm genug anziehen. Er plünderte sein Schapp, das er mit zwei anderen teilte, bis aufs letzte Hemd und sah aus wie ein großer schwarzer Bär. Die See war leicht bewegt, die Wellen also noch klein, aber mit weißen Schaumköpfen. Die Sicht verschlechterte sich schnell. Nebel kam immer stärker auf. Der Profos reckte das Rammkinn in die kalte Luft und murmelte: „Ich kann das Eis direkt riechen. Weiß der Teufel, wohin es uns verschlagen hat. Man sollte eben einem Schmied das Ruder überlassen.“ Big Old Shane war viel zu müde, um sich zu streiten. Ungewohnt friedfertig stolperte er den Niedergang hinunter, querte die Kuhl und verschwand im Vorschiff, um sich in die Koje zu rollen und den Schlaf nachzuholen. „Als ob einer von uns eine Mütze Schlaf gekriegt hätte!“ wetterte der Profos. „Kein Auge konnte ich bei diesem verdammten Sturm schließen. Nehmt euch ja kein Beispiel an diesem schlappen Kerl, der besser bei nächster Gelegenheit abmustert.“ Alle wußten, wie gut sich der Profos und Big Old Shane verstanden, und grinsten daher. Das wiederum brachte Carberry in Fahrt. Er scheuchte die Mannschaft in die Wanten und brüllte seine Befehle mit ein wenig mehr als üblicher Lautstärke - bis er feststellte, daß der Atem wie ein weißer Federbusch vor seinem weit aufgerissenen Mund stand. Da schielte er erschrocken zum Achterdeck, um von Hasard zu erfahren, wie es um die Schiffsposition stand.
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Die Zwillinge tauchten auf und gesellten sich zu ihrem Vater, während Sir John und Arwenack, der Schimpanse, es vorzogen, im warmen Mief des Vorschiffs zu bleiben. Die Stimmung der Crew sank mit den Temperaturen. Jeder dachte an den Proviant und diese übelriechende Brühe, die als Trinkwasser ausgegeben wurde. „Wenigstens das Problem ist gelöst, wenn wir auf den ersten Eisberg stoßen“, verkündete der Profos. „Dann schlagen wir uns ein gehöriges Stück ab und tauen es auf. Das gibt ein paar Gallonen erstklassigen Trinkwassers.“ „Und vor den Maden in der Verpflegung braucht ihr euch auch nicht mehr zu ekeln“, mischte sich der Kutscher ein. „Für die armen Tropentierchen ist Kälte der sofortige Tod.“ „Die dickste Made in deiner verfluchten vergammelten Kombüse bist du selbst“, wetterte der Profos. „Bei allen Schutzheiligen - geht denn auf diesem Törn alles schief?“ Er wirbelte herum, weil Ben Brighton etwas lauter als nötig den Seewolf auf eine Gefahr hinwies, die von achtern anrückte, lautlos, stumm, riesig. Aus dem Nebel kristallisierte sich immer deutlicher ein gewaltiger Eisberg heraus. Langsam driftete er an der Steuerbordseite vorbei, eine Viertelkabellänge entfernt, mehr nicht. Und irgendetwas scheuerte denn auch prompt über die Außenhaut der „Isabella“, ein fürchterliches schabendes Geräusch, als werde sie so abgeschmirgelt, daß die Planken zum Teufel gingen. Glücklicherweise gab die Galeone dem Druck der Eismassen nach, die unter Wasser weiter zu reichen -schienen als darüber. „Jetzt wird’s aber Zeit, daß wir verschwinden“, meinte der Erste Offizier. Der Profos brüllte seine Segelkommandos. „Die „Isabella“ lag über Backbordbug und kreuzte gegen einen leichten Westwind. Zwei Mann am Bugspriet hielten Ausschau nach weiteren Eisbergen, während der Rahsegler sich wie blind durch die Nebelsuppe schob.
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Die Männer froren erbärmlich.. Die Glieder wurden klamm und blaurot, wenn man sich zu lange diesem eisigen Wind aussetzte, der wie ein Todeshauch über die See strich und doch nicht stark genug war, um den Nebel zu zerstreuen und wegzublasen. Wahrscheinlich gab es zuviel von diesem wattigen Zeug, das sich wie ein Leichentuch über alles legte, wie der Kutscher formulierte, während er sich anschickte, Tee für die Männer zu kochen, dessen Zutaten er lieber niemandem verriet. Rum war jedenfalls nicht dabei. „Da müßt ihr warten, bis wir in der Karibik sind“, wimmelte er Neugierige ab. Philip Hasard Killigrew auf dem Achterdeck schlug fröstelnd den Kragen hoch und sagte zu Ben Brighton: „Das ist unsere Position, aber ich muß darum bitten, die Männer nicht einzuweihen. Es gibt lange Gesichter, wenn sie hören, wie weit uns der Sturm nach Süden verschlagen hat, genauer: nach Südosten. Keine Rede mehr von der Südspitze Afrikas. Wir werden Tage brauchen, um die verlorenen Meilen auszugleichen. Eigentlich müßten wir - wenn alles normal verlaufen wäre - längst im Atlantik sein. Ich kann nur hoffen, daß keiner durchdreht.“ „Das wäre das erste Mal“, verteidigte Ben Brighton die Crew, aber er tat es halbherzig. Auch er hatte nicht die Anzeichen schwelenden Bordkollers übersehen, die bereits vor Tagen aufgetreten waren. Und da waren sie noch den richtigen Kurs gefahren, und niemand hatte an einen Sturm von solchen Ausmaßen gedacht. „Wir sollten den ersten Fetzen Land, den wir sichten; anlaufen, vor Anker gehen und den Männern eine Pause gönnen“, schlug der Erste Offizier vor. Mit einem entschlossenen Lächeln schüttelte der Seewolf den Kopf. Er zögerte mit seiner Antwort, weil eben seine beiden Söhne das Achterdeck enterten. Er nahm sie in die Arme und drückte sie fest an sich, während er sagte: „Mit leerem Magen in tropischen Breiten zu segeln ist
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unangenehm, aber man kann es überleben. Hier, in subpolarer Gegend, ist mangelhafte Ernährung tödlich. Ich habe nicht die Absicht, Selbstmord zu begehen.“ „Wir könnten vielleicht einen Walfisch harpunieren“, meinte Philip junior unternehmungslustig. „Dann haben wir mehr Fett, Öl und Fleisch, als wir bewältigen können.“ „Dazu gehört mehr als Glück“, sagte der Seewolf. „Ganz abgesehen davon, daß eine Crew wie diese fast alles kann, aber der Walfang ist doch ein besonderes Geschäft. Dazu braucht man außer Mut sehr viel Erfahrung. Also wollen wir uns lieber nicht darauf verlassen. Statt im Jagdglück suchen wir lieber unser Heil in der Flucht nach vorn.“ Er strich dem Zehnjährigen über den Kopf. Dann wandte er sich an beide Söhne. „Vergeßt nicht. daß ihr den Schnabel zu halten habt. Alles, was ihr eben gehört habt, ist geheim und bleibt unter uns. Sonst sperre ich euch vierzehn Tage unter Deck ein, klar?“ „Aye, aye, Sir!“ riefen die beiden Burschen wie aus einem Munde und grinsten breit. „Kümmert euch jetzt lieber um Arwenack“, befahl der Vater. „Ihr könnt euch ja vorstellen wie sich ein Affe in der Kälte fühlt.“ Damit waren seine beiden Sprößlinge entlassen. Die „Isabella“ segelte hart am Wind. Ihr Kurs führte in Kreuzschlägen freundlicheren Gefilden entgegen. 2. Don Felipe de Almeida durfte mit knapp dreißig Jahren stolz darauf sein, ein Schiff zu kommandieren. Denn die Liste illustrer spanischer Seefahrer war lang, und jeder wollte zur See fahren und eine Crew befehligen. Die Tatsache, daß Felipes Vater einen Verband führte, nämlich jenen, der die Seeroute im Abschnitt querab von Madagaskar sichern sollte, hatte dem jungen Mann sicher nicht zum Nachteil
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gereicht. Wenn es auch nur eine Karacke war, auf der sein Wunsch Befehl war, hatte er doch einen Anfang gesetzt. Möglicherweise aber hatte seine Eigenmächtigkeit die Karriere vorzeitig beendet. Als er die Befehle des Flaggschiffes mißachtet und die Verfolgung der Galeone .aufgenommen hatte, hatte er noch gehofft, der Erfolg würde ihm recht geben. Der Sturm zerstörte grausam jede Aussicht auf Erfolg. Die Spanier kämpften ums nackte Überleben. Sie wurden ebenso heftig gebeutelt wie die Engländer, die ihnen bei anderem Wetter glatt davon gesegelt wären. In dem Durcheinander verloren sie völlig die Übersicht. Die Mannschaft, die das Toben der Elemente für eine gerechte Bestrafung des Ungehorsams hielt, begnügte sich zum Großteil während des Unwetters damit, die Jungfrau Maria und alle Schutzheiligen um Gnade und Beistand anzuflehen. Die seemännische Nummer eins, ein riesiger bärtiger Mischling namens Potoya, war den Tränen nahe, als niemand mehr seinen Befehlen Folge leisten mochte. Er traktierte die Kerle mit den Fäusten und versuchte, sie mit Fußtritten dazu zu bringen, alle Segel bis auf den Besan zu bergen. Aber zu spät — die Segel flogen in Fetzen davon. Wirklich kritisch wurde es, als der Kolderstock brach und die Karacke damit manövrierunfähig war. Die „Infierno“ wurde zum Spielball von Sturm und Meeresströmung und driftete vor Topp und Takel südwärts, ohne daß jemand an Bord es verhindern konnte. Eine Weile knallte und knatterte noch das Segeltuch des Besans und sah aus wie eine Fahne der endgültigen Niederlage, bis auch dieses Tuch von einer Bö abgefetzt wurde und verschwand. Selbst die dicht liegenden Latten für das Sonnendach, über das jetzt Netze gespannt waren, um einem Feind das Entern zu erschweren, splitterten unter den überkommenden Brechern wie morsches Holz.
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Die Hecklaterne, ein Schmuckstück der Handschmiedekunst, wurde aus ihren Halterungen gerissen, schepperte und klirrte gegen das Schanzkleid und verschwand in der tosenden See auf Nimmerwiedersehen. Ihr Abschiedsgesang hatte den Männern der Besatzung wie eine Totenglocke geklungen, und selbst der harte Potoya, abergläubisch wie die meisten Seeleute, wurde blaß um die Nase. Er küßte sein heidnisches Amulett und nahm im stillen Abschied von dieser Welt. Don Felipe de Almeida, mit dem Mut der Verzweiflung, zückte seine Radschloßpistole und richtete sie auf Potoya. „Bring die Kerle auf Trab, oder ich lege dich zuerst um!“ schrie der dunkeläugige Spanier, der wie von Sinnen schien. Niemand konnte sagen, für wen die Waffe eine Gefahr darstellte, denn das arbeitende Schiff und seine unkontrollierbaren Bewegungen ließen den Kapitän wanken und schwanken. Ständig mußte er sich irgendwo anklammern. Es hatte schon die ersten ernsthaften Verletzungen gegeben, aber keiner kümmerte sich um die gebrochenen Beine, die verrenkten Schultern und die eingestoßenen Köpfe, da niemand voraussagen konnte, ob er die nächste Stunde überlebte. Potoya senkte seinen Krauskopf und rammte ihn dem Kapitän vor die .Brust. Don Felipe de Almeida ging zu Boden. „Mach ihn fertig, diesen arroganten Hund!“ schrie der Fockgast Vasco Pereira. „Er ist an allem schuld. Er hat uns diese Suppe eingebrockt.“ Dabei kroch er auf allen vieren über den Boden, um die Waffe zu erreichen, die der Kapitän verloren hatte. Potoya erreichte den Meuterer mit einem Schritt. Er setzte ihm den Fuß auf die ausgestreckte Hand und verlagerte entsprechend sein Gewicht. „Der Kapitän hat recht. Dir vergeßt eure seemännischen Pflichten. Nur wollte ich nicht, daß er euch mit der Waffe bedroht. Das hat keinen Zweck und gibt nur Ärger, denn die Angst hat euch um den Verstand
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gebracht. Ich will, daß ihr auf eure Posten zurückgeht. Aber ihr werdet das freiwillig tun!“ „Du Narr!“ schrie Pereira und versuchte, die Hand zu befreien. „Wenn er seine Besinnung wiedererlangt hat, wird er dich einsperren und, sobald die See sich beruhigt hat, am nächsten Mast aufknüpfen lassen.“ „Darüber zerbrecht euch nicht den Kopf. Jetzt geht und lenzt und besetzt eure Stationen!“ Potoya stand hoch aufgerichtet vor der zitternden verzweifelten Mannschaft und sprach so ruhig, wie er konnte. Sein Beispiel wirkte ansteckend. Die ersten Besatzungsmitglieder schlichen sich davon. Der eine oder andere schämte sich wirklich seiner Feigheit. „So ein Wahnsinn. In dem Zustand, in dem sich die ,Infierno` befindet, kann sie keinem Gegner mehr gefährlich werden“, brummte Alfeiro, der Segelmacher. „Ich brauche Tage, um alles wieder in Ordnung zu bringen. Und der Zimmermann ebenso lange, wenn ich das richtig sehe.“ Potoya antwortete nicht. Er war froh, daß der Großteil der Crew sich besonnen hatte. Als das Wetter sich beruhigt hatte, wurden neue Unkenrufe laut. Denn die Karacke trieb manövrierunfähig in einer so dichten Nebelsuppe, daß die Sicht keine zehn Schritte betrug. Niemand konnte von einem Deck zum anderen schauen, und wer am Besan stand, vermochte nicht die Beflaggung im Großmasttopp zu erkennen. „Zuerst der Kolderstock!“ hatte Potoya befohlen. Der Schiffszimmermann ging mit seinen Gehilfen an die Arbeit, während die anderen erst einmal das Deck aufklarten und das stehende und laufende Gut überprüften. Potoya kümmerte sich um den Kapitän. Don Felipe verlor kein Wort über den Zwischenfall, nachdem er das Bewußtsein wiedererlangt hatte. Er sah, daß die Männer arbeiteten und die schlimmste Gefahr vorüber war, ohne daß sie alle ein kühles nasses Grab gefunden hatten. Nach und nach liefen die ersten Erfolgssmeldungen ein.
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Der Rudergast konnte bereits wieder seine Tätigkeit aufnehmen. Er fragte nach dem Kurs. Aber es war unmöglich, bei diesem Wetter auch nur annähernd die Position festzustellen. Nur die eisige, frostige Atmosphäre verriet, daß sie sehr weit abgetrieben worden waren. „Dem Engländer ist es nicht besser ergangen’’, sagte der Kapitän. Er hatte schwarzes lockiges Haar und einen Knebelbart. Sein Anzug war prunkvoller als der aller anderen an Bord. „Wir sollten die ‚Isabella’ vergessen“, mahnte Potoya, „und so schnell wie möglich zum Verband zurückkehren.“ „Nicht ohne Beute“, erklärte Don Felipe. „Wenn Sie darauf bestehen, daß wir Unter diesen Bedingungen nach dem Engländer suchen und vielleicht noch ein Gefecht wagen sollen, garantiere ich nicht mehr für die Disziplin an Bord“, sagte Potoya. „Mir kann keiner Feigheit vorwerfen, aber was nicht geht, das geht nicht.“ „Ich entscheide darüber. So einfach ist das!“ Don Felipe nahm seine Radschloßpistole wieder an sich. „Wer sich weigert, fliegt über Bord.“ Potoya schüttelte ernst den Kopf. „Lassen Sie die Crew auf der Kuhl antreten“, befahl Don Felipe. Er selbst enterte das Achterdeck, damit alle ihn sehen konnten. Dort stand bereits Hernando Moitado, der Erste Offizier, und versuchte, seine Uniform in Ordnung zu bringen. Potoya trommelte die Besatzung zusammen. Die treuesten Männer ließ der Kapitän unter Waffen aufmarschieren. Neben ihm standen zwei Musketen-träger mit Helmen auf den Köpfen, bereit, auf seinen Wink jeden Widerstand zu brechen. „Soldaten des Königs!“ donnerte Don Felipe. „Es ist unsere Pflicht und Schuldigkeit, den Engländer zu stellen! Wir werden nicht eher aufgeben, bis wir die Galeone ,Isabella` im Schlepp haben und unsere Flagge, die siegreiche Flagge Spaniens, von ihrem Mast weht. Es -wird keine Gefangenen geben. Jeder von euch
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wird so tapfer kämpfen, wie er es dem König geschworen hat. Ich verlasse mich auf euch.“ „Der Admiral auf dem Flaggschiff war anderer Meinung“, widersprach ein baumlanger Seemann mit roten Haaren, der gar nicht wie ein Südländer aussah. Tatsächlich war er ein Kettensträfling, der den Engländern davongelaufen war. „Wir hätten uns an den Befehl halten sollen, dann befänden wir uns nicht in dieser üblen Lage.“ „Auf diesem Schiff führe ich das Kommando“, sagte Don Felipe eisig. „Ich verbitte mir jede Kritik. Nehmt den Mann fest!“ Zwei Musketenträger nahmen den Widerspenstigen in ihre Mitte. Er wurde unter dumpfem Trommelwirbel auf das Achterdeck geführt, wo jetzt der Profos mit seinen Gesellen stand. Der Rothaarige konnte sich angesichts der Übermacht schlecht wehren. Fliehen konnte er auch nicht. Ein Sprung über die Reling in diese eisigen Fluten wäre der sichere Tod gewesen. Alle, mit denen er sich abgesprochen hatte und die ihn bestärkt hatten, das Wort zu ergreifen, senkten die Köpfe. „Hängt den Kerl auf!“ befahl Don Felipe. Priester und Profos bemühten sich gleichzeitig um den Delinquenten: Der eine kümmerte sich um das Seelenheil des Verurteilten, der andere um die technischen Details -der Exekution. Er knüpfte im Handumdrehen den passenden Knoten, der dem armen Kerl mit Sicherheit das Genick brechen würde, wenn er von der Großmastrah abglitt. Ein Helfer des Profos’ enterte bereits auf und seifte das Rundholz schwungvoll ein. Der Todeskandidat hatte auf diese Weise eine winzige Chance. Schaffte er es, die Rah von einem Ende zum anderen zu begehen, mit gefesselten Händen, dann war er frei. Das wurde als Gottesurteil betrachtet. Er durfte sogar seine Schuhe ausziehen.’ Der Rothaarige enterte zitternd auf. Zwar hatte die See sich beruhigt, die Karacke holte kaum über und trieb ruhig
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dahin, aber es gab nur wenige, die diese Prozedur überlebt hatten. Der Gehilfe des Profos erwartete den Verurteilten auf dem Großmars und, band ihm die Arme auf den Rücken, ließ ihm aber ein Spielraum. Das konnte vom Achterdeck aus niemand bemerken. Unter dumpfem Trommelwirbel balancierte der arme Kerl über das Rundholz, das sein heimlicher Bundesgenosse nur sehr unvollkommen, wenn auch mit viel Pomp eingeseift hatte. Zähneknirschend beobachteten die Freunde des Todeskandidaten jeden Schritt ihres Kameraden. Sie mochten keinen allgemeinen Aufruhr anzetteln. So etwas mußte exakt vorbereitet werden. Zuerst mußte man sich heimlich bewaffnen und dann überraschend losschlagen. Sonst war das Unternehmen von vornherein zum Scheitern verurteilt. Harry Webster, der Rothaarige, entwickelte ein fast artistisches Können. Seine Sohlen klebten regelrecht am Holz der Großrah. Geschickt pendelte er mit dem Körper aus, wenn er die Balance zu verlieren drohte. Zu seinem Glück fiel keine Bö ein. Sie hätte ihn aus luftiger Höhe geholt. Die ganze Zeit trug er um den Hals den Strick, der oben am Großmast befestigt war. „Wie ein Affe an der Leine!“ spottete der Profos, ein Mann mit einem groben Gesicht, dem der Säufer aus den Augen sah, und auch die Nase sprach beredt von der vorherrschenden Leidenschaft dieses Kerls. Webster legte eine winzige Pause auf halber Strecke ein und lehnte sich gegen den Großmast, ehe er Kraft fand, weiterzugehen, ganz langsam und behutsam. Schritt um Schritt tastete er sich weiter und war ängstlich darauf bedacht, nicht abzurutschen. Der Priester, ein bleicher, hagerer Mann, betete stumm für den Verurteilten, während er zu ihm aufschaute. Potoya ballte die Hand in der Tasche. Er mochte Webster, den er als erstklassigen Seemann und zuverlässigen Kameraden schätzte.
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Irgendwie schaffte es Harry Webster. Vorsichtig streifte er die Schlinge über den Kopf, während der Gehilfe des Profos’ ihn stützte, nachdem er ihm zuerst die Handfesseln abgenommen hatte. An Deck brachte die Mannschaft drei Hurras aus. Wie Hohn gellte der Schrei in den Ohren des Kapitäns. Da wußte Don Felipe, daß er schweren Zeiten entgegenging. * Wenn auch die Seewölfe den letzten Fetzen Tuch anzogen, den sie ergattern konnten, so vermochten sie sich doch nur unvollkommen gegen die nasse Kälte dieser Breiten zu schützen. Die Decksplanken waren glatt und schlüpfrig. Noch immer wogten und wallten Nebelschwaden um die „Isabella”. Hin und wieder tauchten schemenhaft Eisschollen und kleinere Eisberge auf, die zur Vorsicht mahnten. Hasard hütete sich, sämtliche Segel zu setzen. Ein Zusammenstoß mit den weißen Kolossen würde für die Galeone das Ende bedeuten. Niemand wußte, wann. endlich wieder der Weg frei sein würde. Der Kutscher hatte alle Hände voll zu tun, seinen besonderen Tee zu brauen. Bei jedem neuen Besucher, dem er das Getränk anbot, erlebte er eine weitere Enttäuschung. Jeder wußte seinen wärmespendenden Trank zu schätzen, aber jeder bemängelte den Geschmack. Die Kritik reichte von Brühe bis Gesöff. Und den Vogel schoß wie immer Edwin Carberry ab. Der Profos nahm den Becher entgegen, schob seine Nase über den dampfenden Inhalt und knurrte: „Stinkt wie dreimal gequirlte Affenjauche.“ Dann spitzte er die Lippen, blies den Dunst beiseite und beäugte die dunkle, undefinierbare Flüssigkeit. Er seufzte tief und nahm einen vorsichtigen Schluck. „Pfui Teufel!“ brüllte er und spuckte aus. „Willst du uns umbringen, Kutscher?“
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Der dunkelblonde Mann, der für Medizin und das leibliche Wohl auf der „Isabella“ verantwortlich war, zuckte mit den Schultern. „Du kannst durch die ganze Last kriechen und wirst schwerlich mehr entdecken als ein paar Krümel, die uns die Kakerlaken, Würmer, Holzböcke und was sonst noch in den Tropen ohne meine Erlaubnis an Bord gekommen ist, übriggelassen haben. Es steht wirklich schlimm. Das Kommando ,Backen und Banken’ kannst du in der nächsten Zeit nicht mehr brüllen, soviel steht schon jetzt fest.“ „Wahrscheinlich werden wir nie mehr bessere Zeiten erleben“, murmelte der Profos. „Das Ende wird so aussehen, daß wir aus Sir John eine Suppe kochen, was, wie? Ich habe mir die Pelze und Felle genau angesehen, die wir noch aus kälteren Tagen an Bord haben: Überall haben sich die Motten eingenistet. Das Zeug hat Luftlöcher. Es ist besser als gar nichts, aber es erfüllt seinen Zweck nicht mehr. Die beiden Ausgucks am Bugspriet, die uns vor Treibeis warnen sollen, haben das beste Zeug empfangen. Wir anderen werden eben unsere Alabasterkörper wärmen, indem wir besonders schnell mit. den Zähnen klappern. Aber ich weiß wirklich nicht, wie lange wir das ohne ein ordentliches Essen aushalten können.“ „Es wird Erfrierungen geben“, bestätigte der Medizinmann düster. „Hoffentlich weiß Hasard, daß wir so schnell wie möglich wieder nördlichere Breiten erreichen müssen.“ „Darüber zerbrich dir mal nicht den Kopf, Kutscher“, sagte der Profos, leerte brav seinen Becher und schüttelte sich. „Wenigstens wird es einem für eine Weile warm im Magen.“ Er stieß das Schott auf und zögerte unmerklich, ehe er in die klamme Kälte des Decks hinaustrat. Wer es vermeiden konnte, ließ sich nicht mehr hier draußen blicken, sondern verzog sich unter Deck, bibberte und träumte von tropischen Hitzegraden. Der Profos kontrollierte die beiden Männer am Bug, die mit vor Kälte tränenden
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Augen in die graue konturenlose Nebelmasse starrten, durch die sich die Galeone mit mäßiger Fahrt schob. „Daß ihr Stinte ja die Klüsen aufreißt“, grollte Edwin Carberry Gary Andrews und Donegal Daniel O’Flynn an, die frierend mit den Füßen stampften und immer wieder die Arme um die Schultern klatschten. „Wenn ihr nicht aufpaßt, werdet ihr Rübenschweine die sattsam bekannte und häufig genug angedrohte Prozedur erleiden.“ „Aye, aye, Sir!“ murmelten die beiden. „Wann werden wir abgelöst?“ fragte Gary Andrews und verkroch sich tiefer in den Pelz, dessen Kragen er hochgestellt hatte. „Ich spüre meine Zehen schon nicht mehr:“ „Sobald ihr gemeldet habt, daß die Sonne wieder zu sehen ist“, scherzte der Profos grimmig. Kopfschüttelnd drehte er sein breites Gesicht in jede Himmelsrichtung, ohne etwas anderes zu sehen als undurchdringlichen Nebel. Die Bugwelle der „Isabella“ fiel recht mäßig aus. Auf einmal stutzte der Profos und reckte sein Rammkinn weit vor. Er riß gewaltig die Augen auf, weil ein neuer Farbton ins Spiel gerückt war. Außer dem Grau und dem Weiß bemerkte er Steuerbord voraus ein bläuliches Leuchten und Flackern. Das sah aus, als sei dort ein Schiff, dessen Masten beleuchtet wurden. „Verdammt will ich sein, wenn das nicht ein Elmsfeuer ist!“ rief Dan O’Flynn. Weder ihn noch die anderen Augenzeugen beeindruckte das Schauspiel sehr, da sie diese Erscheinung bereits kannten. Und doch war es ein unheimliches Gefühl, das Geisterschiff so nahe zu sehen, ohne irgendeine andere Einzelheit erkennen zu können als gerade diese Büschel und Glimmentladung. „Achterdeck!“ brüllte der Profos, während er zu der Bugdrehbasse sprang. „Karacke Steuerbord voraus.“ Er wartete keinen Feuerbefehl ab, sondern schoß.
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Die Kanone schleuderte den Tod hinüber zu dem schemenhaften Schiff, das da durch den Nebel glitt. Niemand vermochte die Wirkung zu beurteilen. Immerhin brachte der Schuß die Besatzung der „Isabella“ auf die Beine. Alles stürzte an Deck. Und ohne daß jemand den Befehl dazu geben mußte, machte die Crew die Galeone gefechtsklar. Mit Ausnahme des kranken Blacky, der sich ruhelos in seiner Hängematte im Vorschiff wälzte, griff alles zu den Waffen. „Ruder hart Steuerbord!“ befahl Philip Hasard Killigrew. Der Rudergänger, Bob Grey, wiederholte gelassen. Der Seewolf schätzte die Entfernung zum Heck des fremden Schiffes auf eine knappe Kabellänge. Bald erkannte er Einzelheiten und gelangte genau wie Carberry zu dem Schluß, daß vor ihnen eine Karacke lief, die sich aber nicht im besten Zustand befand. Der Sturm hatte sie arg mitgenommen. Sie war kaum in der Lage, sich einem Seegefecht zu stellen. „Nicht mehr feuern!“ befahl daher der Seewolf. „Das ist die ,Infierno`, Sir!“ meldete Dan O’Flynn, der an Bord die schärfsten Augen hatte. Was die einmal registriert hatten, grub sich unauslöschlich in sein Gedächtnis ein. Drüben blitzte es rotorange im Nebel auf. Die Spanier schossen aus beiden Heckgeschützen und erzielten einen Treffer. Der Backbordniedergang zur Kuhl löste sich unter einem schmetternden Schlag in seine Bestandteile auf. Holzteile fetzten durch Nebel Und Rauch. Die Männer, die in der Nähe des Niedergangs gestanden hatten, lagen reaktionsschnell an Deck, während der Seewolf in aller Ruhe Bob Grey die notwendigen Ruderbefehle gab, um die „Isabella“ längsseit der Karacke zu steuern.
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Der Profos, der die Situation wieder im Griff hatte, brüllte mit donnernder Stimme: „Klar zum Entern!“ Und wie ein Donnerhall antwortete ihm der Schlachtruf der Besatzung: „Arwenack! Arwenack!“ Der Anblick des ramponierten spanischen Schiffes stärkte die Zuversicht der Seewölfe, wenngleich sie schnell feststellen mußten, daß die spanische Crew keineswegs gewillt war, sich kampflos zu ergeben. Zwar waren die Netze, die gegen das Entern schützen sollten und besonders über die Kuhl gespannt waren, fast alle zerrissen, aber mit den hohen Vor- und Achterkastellen glaubten sich die Burschen im Vorteil. Hier überragte die Karacke deutlich die „Isabella“. Mit Geschrei setzten Hasard und seine Männer über. Ferris Tucker gelang es, rechtzeitig eine Laufplanke zu verkeilen, auf der blitzschnell einer nach dem anderen der Mannschaft das andere Schiff erreichte. Hitzköpfe wie Edwin Carberry schwangen sich inzwischen an Tauen an Bord der Karacke, erspähten eine passende Lücke im Netzwerk und ließen sich auf die Decksplanken des Spaniers fallen. Wie die Katzen waren sie sofort wieder hoch und griffen die Verteidiger, die am Schanzkleid den Feind erwarteten, aus dem Rücken an. Batuti erhöhte die Verwirrung des Gegners, indem er die Spanier auf dem Achterkastell mit Brandpfeilen beschoß. Sie hatten nicht einmal mehr die Zeit, ihre Musketen abzufeuern. Als erst der Kampf Mann gegen Mann begann und Feind und Freund nicht mehr zu unterscheiden waren, wagte niemand mehr, den wütenden Befehl Don Felipes zu befolgen. Die Gelegenheit war verpaßt. Der Profos räumte gewaltig auf. Schnell erhielt er Verstärkung. Die Spanier gerieten in Bedrängnis. Und als sie merkten, daß ihre Sache nicht mehr zum besten stand, streckten sie die Waffen. Sie hatten nur wissen wollen, ob etwa Don Felipe als Sieger aus dem Gefecht hervorgehen und sie anschließend
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womöglich zur Rechenschaft ziehen würde, weil sie die Sache Spaniens nicht tapfer genug vertreten hatten. Am Ende blieb eine kleine Schar auf dem Achterkastell übrig, die sich um ihren Kapitän, Don Felipe, scharte. Hasard näherte sich dem Niedergang und bot dem spanischen Kapitän an, sich zu ergeben. „Niemals!“ schrie der Kapitän der Karacke. Tatsächlich hatte er keine Wahl. Diese Niederlage konnte ihn den Kopf kosten, wenn er überhaupt jemals zu seinem Verband zurückkehrte. Auch der Admiral würde in Madrid Rede und Antwort stehen müssen. Philipp II. mochte keine Seeleute, die ihre Schiffe an Engländer verloren. Der Seewolf wies auf die Gefangenen. „Noch haben keine drei Mann ihr Leben verloren, Senor“, sagte er ruhig. „Warum sollen wir das ändern? Ich schlage vor, wir beide tragen die Sache aus.“ Don Felipe, ein glänzender Fechter, horchte auf. „Was erhält der Gewinner?“ fragte er sofort. „Freien Abzug“, erwiderte Hasard. „Das heißt, Sie haben eine Menge zu gewinnen. Schließlich waren Sie es, der mich angegriffen und verfolgt hat, bis wir uns gezwungen sahen, Sie anzugreifen, um endlich Ruhe vor der ,Infierno’ zu haben.“ „Und wenn ich verliere?“ fragte der Spanier. Die Seewölfe brachen in ein höhnisches Gelächter aus. Sie mochten keine Kapitäne, die nicht an den eigenen Sieg glaubten. „Geben Sie uns die Hälfte Ihres Proviants und alle Waffen. Dann können Sie weitersegeln.“ „Einverstanden!“ sagte Don Felipe. Die ewigen Rückschläge hatten ihn zermürbt. Mittlerweile konnte er schon froh sein, wenn er lebend zurückkehrte. „Rückt zur Seite, Leute“, befahl der Profos und sorgte dafür, daß die Kuhl geräumt wurde. Aber Don Felipe dachte gar nicht daran, den entscheidenden Vorteil so einfach aus
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der Hand zu geben. Er stand oben am Niedergang und damit wesentlich höher als Hasard. Er hatte es leicht, den anstürmenden Seewolf zu bekämpfen. Hasard durchkreuzte die Taktik des Gegners. Ein blitzschneller Satz brachte ihn vom Niedergang weg zur Balustrade, die das Achterdeck zur Kuhl hin abschloß. Ein blitzschneller Klimmzug, und Hasard hatte es geschafft. Er stand in der Flanke des Gegners. Don Felipe schwang herum. In der Rechten hatte er den Degen, in der Linken einen etwa unterarmlangen italienischen Dolch, den er mit der Spitze nach oben hielt. Diese Waffe hatte eine geschlitzte Klinge und diente dazu, den Degen des Gegners einzufangen und mit einer schnellen Drehbewegung zu zerbrechen. Dann konnte man ihm in Ruhe fehl: Garaus bereiten. Die Gegner belauerten sich und umkreisten einander, während atemlose Stille eintrat. Die Klingen ruckten vor und zurück. Jeder beließ es zunächst beim Fintieren und bei gelegentlichen Ausfällen. Stahl klirrte auf Stahl. Dann attackierte Don Felipe. Er war ein meisterlicher Fechter. Hasard geriet tatsächlich in Bedrängnis. Mit Mühe parierte er die wütenden Angriffe des Spaniers und mußte sich ein wenig zurückziehen, bis die beiden Fuß bei Fuß standen und sich gegeneinander stemmten. Für Hasard war entscheidend, dem Dolch in der Linken des Kontrahenten. zu entgehen. Deshalb zog er es vor, sich schnell zu lösen. Und der Dolchstoß Don Felipes ging ins Leere. Der Schwung trug den Spanier zu weit herum. Eine Sekunde war er offen wie ein Scheunentor. Hasard federte in einem gewaltigen Ausfallschritt heran. Sein Degen zuckte vor. Die Spitze erwischte Don Felipe an der Schulter. Mit einem häßlichen Geräusch zerriß der Stoff. Die Seewölfe brüllten triumphierend.
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Denn hatte sich der Spanier wieder gefangen. Und jetzt erzielte er einen Pluspunkt. Tatsächlich gelang es ihm, den Degen Hasards mit dem Dolch zu fangen. Verbissen kämpften die beiden Männer um die Entscheidung. Mit zusammengebissenen Zähnen versuchte Don Felipe, den Degen Hasards zerbrechen, der geschickt mitging und noch stärker in die Defensive geriet. Aber wenigstens blieb die Klinge heil, auch wenn er sie nicht zurückziehen konnte. Da setzte der Spanier zu dem alles entscheidenden Stoß an. Erst riß er Hasard heran, dann zielte er mit der Degenklinge wie ein Matador. Der Seewolf hob den Gegner aus und schleuderte ihn über seinen Kopf, so daß er auf die Decksplanken krachte. Don Felipe nahm Hasards Degen gleich mit. Er sprang auf und lächelte triumphierend. Ferris Tucker wollte eingreifen, aber der Profos hielt ihn zurück. „Immer fair bleiben!“ knurrte Carberry. Don Felipe ließ sich Zeit. Er wollte Hasard in die Ecke drängen, der vor der zitternden Klinge des Gegners auswich. Dann packte Hasard ein Tau, das herumlag. Als er sich bückte, glaubte Don Felipe den richtigen Zeitpunkt erwischt zu haben und stieß zu. Hasard warf sich zur Seite. Als Don Felipe an ihm vorbeiflog, schlug Hasard zu. Der dicke Knoten am Tampen traf den Spanier mitten auf den Kopf, daß ihm Hören und Sehen verging. Selbst die Spanier brüllten Beifall, weil sie zum ersten Male das Schauspiel genießen konnten, daß ihr Kapitän mit einem Tampen durchgeprügelt wurde. Hasard schwang seine ungewöhnliche Waffe und lehrte Don Felipe das Fürchten, während er immer wieder aufmerksam den wütenden Stößen auswich. Der Degen ging ins Leere. Und als sie sich zweimal gedreht hatten, konnte Hasard sogar seine Waffe wieder an sich reißen, die noch auf den
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Decksplanken lag. Er ging zum Gegenangriff über. Blitzschnell drängte er den verwirrten Don Felipe zurück, nagelte ihn an der Schmuckbalustrade fest und kippte ihn hinunter auf die Kuhl. Krachend schlug der Spanier auf. Don Felipe mußte sich geschlagen geben. Sein Degen war beim Sturz beschädigt worden, alle Knochen schmerzten ihn, und er wurde den zermürbenden Verdacht nicht los, daß Hasard nur mit ihm gespielt hatte. Der Seewolf ließ Gnade vor Recht ergehen. Seine Leute demontierten die Armierung der Karacke und kippten die Waffen über Bord. Der Kutscher durchstöberte die Vorräte des Spaniers und mußte zu seinem Entsetzen feststellen, daß der Sieg nicht gelohnt hatte. Außer etwas gepökeltem Ziegenfleisch gab es nichts zu teilen. „Tut mir leid.“ Don Felipe grinste. „Ich wußte selbst nicht, daß mein Einsatz so gering ausfallen würde.“ Hasard nickte nur. Er und seine Mannschaft kehrten an Bord der „Isabella“ zurück. Die Leinen wurden losgeworfen. Die beiden Schiffe trennten sich. Die „Isabella“ nahm Fahrt auf, und sehr bald hatte der Nebel den Havaristen verschluckt. Hasard wußte, daß er den hartnäckigen Verfolger endlich losgeworden war, aber es gab noch genügend Sorgen, die ihn quälten. Er mußte sich Proviant und Trinkwasser besorgen. Sonst würden sie ihr Ziel nie erreichen. * Irgendwann lichtete sich der Nebel. Es lohnte sich, einen Mann aufentern zu lassen, der Ausguck hielt. Diese Aufgabe fiel Smoky zu, denn Donegal Daniel O’Flynn war bei dem Kampf an Bord der Karacke leicht verletzt worden. Eine Degenklinge hatte ihm den Unterarm aufgeschlitzt, und er trug ihn in der Schlinge. Der Kutscher hatte in Windeseile die Blessuren seiner Kameraden verarztet und
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eine Menge zu tun gehabt. Aber keiner der Seewölfe hatte ernstlich Schaden davongetragen. Die „Isabella“ kreuzte wieder gegen den Wind, der beständig aus Westen blies. Auch die Meeresströmung stand gegen das Schiff, daher würde das Etmal nicht gerade berauschend ausfallen. Sie gewannen nur wenig Luv. Und dann meldete Smoky: „Land in Sicht! Steuerbord voraus!“ Smoky schrie, als habe er einen neu en Kontinent entdeckt. Wahrscheinlich ließ ihn die Aussicht auf frisches Wasser und eine herzhafte Mahlzeit vor Freude tanzen. Hasard trat ein wenig skeptisch ans Schanzkleid und richtete den Kieker voraus. Er sah aus dem Dunst des Meeres einen dunklen Körper aufragen, dessen Linien gezackt waren. Wahrscheinlich eine winzige Felseninsel, die nicht einmal bewohnt war. „Näher heran!“ befahl er. Die Besatzung drängte sich am Schanzkleid. Die Aussicht, einmal wieder festes Land unter die Füße zu kriegen, ließ die Seewölfe närrisch werden. „Eins steht fest: So leckere Mädchen wie in der Südsee finden wir hier nicht“, sagte Jeff Bowie grinsend. „Du würdest das doch nicht so genau nehmen, du alter Ziegenbock“, sagte Sam Roskill. Jeff Bowie gab sich empört. „Ich bin Engländer und stamme aus Liverpool, und niemand nennt mich einen alten Ziegenbock, verstanden?“ „Habt ihr immer noch nicht genug gerauft?“ mischte sich der Profos ein und hob seine klobige Faust, bereit, die beiden Streithähne zur Vernunft zu bringen. Sie zogen dann auch die Köpfe ein, denn niemand mochte mit diesen Vorschlaghämmern Bekanntschaft schließen, wenn es sich irgend vermeiden ließ. Inzwischen hatte sich die „Isabella“ der Insel auf eine Viertelmeile genähert. Die Sicht hatte sich zunehmend gebessert. Aber der Anblick dieses Landfetzens war nicht erfreulicher geworden. Offensichtlich
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handelte es sich um eine baumlose Steininsel vulkanischen Ursprungs, die, öde und leer, umgeben von einer beachtlichen Brandung, einem Segler wie der „Isabella“ keinen Ankerplatz bot. Es schien gefährlich, zu dicht unter Land zu geraten, weil es sicher eine Menge Unterwasserriffe gab, die der Galeone glatt den Rumpf aufgeschlitzt hätten. „Das genügt“, sagte Hasard. Er wollte kein Risiko eingehen. Während er die Position bestimmte, bieß Ben Brighton die Segel aufgeien. Wenig später lag die „Isabella“ dümpelnd vor der Insel. Der Profos ließ das Beiboot fieren. Er bestimmte Bob Grey, Jeff Bowie, Luke Morgan, Stenmark, Willi Thorne und Sam Roskill als Rudergasten. Sie nahmen ein paar leere Fässer an Bord, weil sie auf trinkbares Wasser hofften. Seevögel kreisten jetzt schreiend über der Galeone. Wahrscheinlich brüteten die Tiere auf diesem gottverlassenen Flecken Erde, und Besuch erhielten sie selten oder nie. Jedenfalls zeigten sie keine Scheu vor Menschen, und nur die Neugier und die Aussicht, etwas Eßbares zu erbeuten, lockten sie an. Edwin Carberry meldete die Jolle bei Hasard ab. Dazu mußte er aufs Achterdeck, und gerade als er den Niedergang enterte, hörte er den Seewolf zu Sen Brighton sagen: „Position bei 46 38’ südlicher Breite und 37° 55’ östlicher Länge. Trage bitte die Insel in die Seekarte ein.“ Der Profos schluckte. Er hatte es die ganze Zeit befürchtet, aber jetzt war es klar: Sie schipperten in einer Gegend herum, in der sich Pinguin und See-Elefant gute Nacht sagten, und waren mächtig vom ursprünglichen Kurs abgekommen. „Habe ich richtig gehört?“ Er schob sein Rammkinn vor und schaute Hasard irritiert an. Der Seewolf musterte den Profos ernst. „Das behalten wir lieber für uns, Ed“, sagte er.
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Carberry streckte sich und murmelte: „Aye, aye, Sir.“ Dann meldete er die Jolle klar. „Du übernimmst sie, Ed.. Und riskiert nichts.“ „Versteht sich von selbst.“ Der Profos nickte und kehrte zur Kuhl zurück. Wenig später saß er in der Plicht der Jolle und röhrte: „Ruder an!“ Das Beiboot löste sich von der Bordwand und nahm Kurs auf einen wenig vertrauenerweckenden Felseinschnitt. Dort stob die weiße Gischt himmelwärts. Die Brandung tobte wie wild, als wolle sie die Insel in Stücke fetzen. Aber der Profos hatte keine Wahl. Dort gab es wenigstens eine geringe Aussicht, an Land zu gehen. Überall sonst erkannte er nur steile Klippen. die unbezwingbar waren. Außerdem durfte man sich nicht einmal in die Nähe wagen. Der Wellengang hätte sie gegen die Felsen geschmettert; Die Crew legte sich mächtig in die Riemen. Mißtrauisch schaute sich Carberry um: Die „Isabella“ lag noch auf Position. Der Profos grinste gequält. Einen Augenblick waren ihm Bedenken aufgestiegen. Er hatte daran denken müssen, was es bedeutete, wenn das Unglück wollte, daß er hier in dieser windigen Einsamkeit zurückbleiben mußte. „Pullt, ihr schlappen Figuren, damit wir diesen Mist hinter uns bringen!“ brüllte der Profos. „Glaubt ihr, ich will auf dieser verdammten Insel überwintern? Habt ihr denn keinen Mumm mehr in den Knochen?“ „Bei der Verpflegung?“ spottete Stenmark. „Mein Magengrollen ist auch schon lauter als die Brandung“, erklärte Carberry. „Aber ehe ich das spanische Ziegenfleisch anrühre, verhungere ich lieber. Ich hoffe nur, es gibt hier was zu knabbern. Ich denke an Vogeleier und Beeren oder so.“ „Oder ein paar Kokosnüsse!“ Luke Morgan grinste. „Ich gebe dir gleich was auf deine Kokosnuß“, drohte der Profos. „Pullt,
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Leute. Legt euch in die Riemen, sonst schaffen wir es nie!“ Die „Isabella“ blieb zurück, geriet aber keine Sekunde außer Sichtweite. Immer deutlicher erkannte die Besatzung der Jolle, welche unwirtliche Insel sie anliefen. Hier gab es nur Moos und Steine. Nicht einmal ein jämmerlicher Busch wuchs zwischen den tiefgrauen Felsen, die zerklüftet und nahe am Wasser von einer schleimigen grünen Algenschicht überzogen waren. In jeder Höhle, auf jedem Felsvorsprung nistete eine Kolonie von Seevögeln, streng nach Arten getrennt, aber meist nicht weit voneinander, weil Platz gespart werden mußte. Die Landung erwies sich als ausgesprochen schwierig. Eine Welle hob die Jolle und trug sie voraus, in rasender Geschwindigkeit. Dann verlor sie an Kraft. Der Profos sah schon das Ende nahen, weil durch die Gischt schartige Steine durchschimmerten. Wenn sie aufliefen, wurde die Jolle zerfetzt und in tausend Stücke zerlegt. Zur rechten Zeit folgte die nächste Woge, die Gefahr war gebannt, das Ufer rückte rasend schnell näher. Die dritte Brandungswelle schließlich schwemmte die Jolle, die reichlich Wasser übergenommen hatte, dorthin, wohin sie sollte. Kaum knirschten Kiesel unter dem Kiel, da sprangen die Seewölfe heraus und brachten das Boot in Sicherheit. Sie schoben es weiter an Land und vertäuten die Vorleine an einem Lavabrocken. Dann retteten sie sich auf das höher gelegene Terrain. Der Profos schüttelte den Kopf. „Das versuche ich nicht noch einmal“, gelobte er. „Wozu auch? Wenn wir an die Vogelnester heran wollen, brechen wir uns mit Sicherheit das Genick. Und daß es hier eine Quelle gibt, bezweifle ich stark.“ Carberry widmete sich hemmungslos seinen düsteren Prophezeiungen, bis Jeff Bowie listig vorschlug, sie sollten sich doch erst einmal umschauen, ehe sie ein Urteil über das Eiland fällten. Damit brachte er aber Carberry nur in Wut.
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„Ich weiß, was ich sage, du Stint, denn ich habe schon in einer Hängematte gelegen, als du noch in den Windeln mit Hochwasser gekämpft hast mein Junge!“ Der Profos kratzte sich am Kinn und betrachtete den steilen Weg, der auf das erste Plateau führte. Bis in den. Himmel erhoben sich schroffe nackte Lavaberge, die sich übereinander türmten. „Jetzt werden wir uns also von ehrlichen Seeleuten in eine Art von Bergziegen verwandeln“, brummte Carberry und machte den Anfang. Denn hier unten war es zu ungemütlich. Dauernd stob Gischt über die Männer, die dicht gedrängt am Fuß der steilen Klippe standen. „Luke, du bleibst hier und sicherst die Jolle. Wenn ich zurückkehre, will ich das Boot intakt sehen, sonst verfüttere ich dich an die Seemöwen und Albatrosse!“ Aus Carberrys Worten sprach die Sorge, für immer auf der Insel bleiben zu müssen. Denn wenn das Beiboot verlorenging, saßen sie in der Patsche. Unmöglich, daß die „Isabella“ ihnen hier helfen konnte. Das Beiboot hatte es knapp geschafft. Dies war kein Ankerplatz für eine Galeone. Die Insel hatte überhaupt keinen natürlichen Hafen. Es gab nur steiles Ufer. Die Insel wuchs fast senkrecht aus dem kochenden, brodelnden Meer. Die Männer mit den leeren Wasserfässern hatten es besonders schwer. Sie hatten sich die Dinger auf dem Rücken festgezurrt und bewegten sich auf allen vieren, schwerfällig wie Krabben, die Schräge hinauf. Unangenehm scharf war die erstarrte Lava, und wer sich nicht in acht nahm, schlitzte sich die Hände oder die Knie auf. Carberry schnaufte wie ein Walroß, bis er es geschafft hatte. Er schob als erster sein Rammkinn über den Rand des Steilhanges. Verblüfft riß er die Augen auf Dann schien es. als wolle er zurückweichen. Aber die nachdrängenden Begleiter hielten ihn zurück. „Ich werde verrückt“, murmelte der Profos erschüttert, und so knapp und milde hatte er sich lange nicht mehr geäußert. Da
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mußte allerlei passieren, bis es Edwin Carberry einmal die Sprache verschlug. 3. Die „Isabella“ schwoite am Treibanker, den sie über den Bug ausgebracht hatten. Die Segel hingen im Gei. Die Männer an Bord standen fast ausnahmslos am Schanzkleid und starrten zu der schwarzen Insel hinüber, auf der Edwin Carberry mit seiner Bootscrew gerade gelandet war. Der Seewolf suchte mit dem Spektiv die höher gelegenen Partien ab. Plötzlich hielt er inne und fingerte an der Optik herum, um genauer das erkennen zu können, was ihm aufgefallen war. Zwischen zwei Bergspitzen, ziemlich weit oben, versuchte jemand ein Feuer in Gang zu bringen. Woher er das Holz dazu hatte, mochte der Kuckuck wissen, jedenfalls nicht von der Insel selbst. Vielleicht hatte er die kümmerlichen Überreste seines leckgeschlagenen Bootes dort hinaufgeschleppt. Deutlich loderten jetzt hin und wieder Flammen auf, aber im übrigen entwickelte sich nur schmutzig-weißer Rauch, der im Wind schnell zerfaserte. „Da gibt einer Signal - kein Zweifel“, bestätigte Ben Brighton, der neben Hasard stand. Auch die Crew hatte jetzt die dünne Rauchfahne bemerkt. Die Zwillinge enterten sogar auf, um eine bessere Sicht zu haben, mußten aber schnell feststellen, daß der Dunst auf dem nackten Bergrücken ihre Bemühungen vereitelte. „Jedenfalls steht fest, daß die Insel keineswegs so menschenleer ist, wie wir angenommen haben. Wir sollten den Profos warnen. Wer weiß, welche Horde von Kerlen dort Zuflucht gefunden hat“, warnte der Erste Offizier der „Isabella“. Hasard winkte ab. „Hier hält es kein Mensch länger als ein paar Monate aus, natürlich vorausgesetzt, er hat genügend Proviant dabei. Ich tippe daher eher auf einen oder Mehrere Schiffbrüchige. Sie
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haben sich von einem Walfänger auf die Insel gerettet und einen Teil ihrer Ausrüstung mitschleppen können, sonst wären sie wohl längst inzwischen verhungert oder erfroren.“ „Ich werde eine Rakete abfeuern lassen, damit Carberry sich umdreht“, schlug Ben Brighton vor und gab das entsprechende Kommando, das sofort ausgeführt wurde. Schon zischte der Feuerwerkskörper in den bleigrauen Himmel. Tatsächlich wurde das Landkommando aufmerksam. Sie winkten mit den Armen. Ben Brighton ließ Flaggensignale geben. „Ist der Profos blind?“ knurrte der Seewolf. „Er kümmert sich einen Dreck um uns.“ „Was hat ihn denn hypnotisiert?“ fragte Ben Brighton und langte zum Spektiv. „Ich werde verrückt“, murmelte er. Hasard griff ebenfalls zum Kieker. Verblüfft hielt er den Atem an. Da bewegte sich etwas, das wie ein großer Vogel aussah. Jedenfalls hatte das Wesen Federn. Im übrigen galt wohl eher die Bezeichnung Mensch, denn deutlich sah man Arme, Beine und einen Kopf ohne Schnabel. Die Erscheinung wedelte wild mit den Armen, während sie den steilen Abhang hinunterstolperte, schlitterte, kugelte, als säße ihr der Teufel im Nacken. „Das wird der Knabe sein, der auch das Feuer angezündet hat, um auf sich aufmerksam zu machen“, vermutete Ben Brighton. „Also nur einer?“ Hasard konnte es nicht glauben. Hatte etwa eine Crew gemeutert und den armen Teufel von Kapitän dem sicheren Tod ausgeliefert? Ohne den Sturm wäre auch die „Isabella“ niemals in diese ungemütlichen Breiten vorgestoßen, und sicher war sie das erste Schiff seit endloser Zeit, das hier auftauchte. Wie hatte der Bursche das nur so lange ausgehalten? Die Zwillinge kehrten vom Ausguck zurück und waren ganz aufgedreht. „Hast du den Mann mit den Vogelfedern gesehen?“ fragte Philip junior. „Warum hat er sich so komisch gekleidet?“ wollte Hasard junior wissen.
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Ben Brighton übernahm es, diese schwierigen Fragen zu beantworten, weil der Seewolf gespannt beobachtete, wie die überraschende Begegnung verlief. Längst hatte Al Conroy eine Drehbasse feuerbereit. Er rechnete offenbar damit, eingreifen zu müssen. Gespannt wartete er auf das geringste Anzeichen einer feindseligen Handlung, um das Feuer zu eröffnen. Er ging nämlich davon aus, daß schiffbrüchige Walfänger auf der Insel hausten und ihnen jeder Trick recht war, um sich Wieder in den Besitz eines Schiffes zu bringen. Tatsächlich erklang ein Musketenschuß. 25 Aber das Landkommando traf keine Anstalten, sich zur Wehr zu Niemand schoß zurück. Also hatte der Insulaner wahrscheinlich nur vor lauter Freude in die Luft geschossen und seiner inneren Anspannung ein Ventil geöffnet. Das war in seiner Lage verständlich. Die brütenden Seevögel aber nahmen den ungewohnten Knall übel. In weißen Wolken stiegen sie auf und kreisten über ihren Nistplätzen, schreiend und aufgeregt umherflatternd. Einige flogen richtige Angriffe, und der Profos mußte wiederholt den Kopf herunternehmen, wobei er fast gestürzt wäre. Hasard beobachtete das durch sein Spektiv. Der Vogelmensch hatte inzwischen Carberry erreicht. Er fiel ihm um den Hals und tanzte dann wie ein Derwisch ekstatisch herum. Sein Federgewand flatterte im frischen Den holen wir uns mal an Bord“, entschied der Seewolf. „Ich bin sicher, er hat uns eine interessante Geschichte zu erzählen. Ich möchte wissen, wer er ist und wie lange er hier schon dahinvegetiert. Dafür würde ich meine letzte Flasche Rum Ben Brighton ließ die entsprechen Signale geben. Aber es dauerte eine Weile, bis das Landkommando davon Kenntnis nahm. Alle waren zu sehr mit dem Fremden beschäftigt, der wild gestikulierend am
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Rande .des Steilhanges stand und pausenlos redete. Er sah aus wie ein Prediger auf der Kanzel. Der Profos gelangte sichtlich nicht zu Wort, und das geschah selten genug. Außerdem schien ihm der Fremde unheimlich zu sein, denn Carberry bemühte sich schleunigst um einen festeren Stand, um sich notfalls mit dem Entermesser gegen den Mann verteidigen zu können, den er wohl für verrückt hielt. Es war der Inselbewohner, der den Profos darauf hinwies, daß von der „Isabella“ Signale gegeben wurden. Jetzt erst drehte sich Carberry um. Unverzüglich ging er an den Abstieg. Dabei bereitete ihm der Steilhang sichtlich Schwierigkeiten, während der Vogelmensch unbekümmert und geübt den Weg nahm. Bald hatten sich wieder alle bei der Jolle versammelt und schoben sie ins Wasser. Das Beiboot legte ab. * Die Männer legten sich gehörig in die Riemen, um ihren seltsamen Gast schnell zur „Isabella“ zu pullen. Edwin Carberry, der auf der Achterducht hockte und das Ruder führte, schaute sich den seltsamen Tropf ausgiebig an und konnte nicht umhin, immer wieder den Kopf zu schütteln. Der Mann hieß Pedro Seroya und war ein portugiesischer Kapitän, den seine Mannschaft hier ausgesetzt hatte. Der Erste Offizier selbst hatte die Meuterei angeführt und das Kommando an Bord des Kauffahrteischiffes übernommen. Jetzt verunsicherte die „Regina Maris“ die Handelswege nach Indien. Da sie ständig unter falscher Flagge segelte, auch bei jeder Reise den Namen wechselte und nicht selten die englische Flagge zeigte, hatten die Dons eine erklärliche Abneigung gegen englische Schiffe, die in den Gewässern südlich von Afrika auftauchten. Darauf waren übrigens auch die Begegnung der Seewölfe mit dem spanischen Verband und die
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Verfolgungsjagd durch die „Infierno“ zurückzuführen. Der spanische Hof hatte eine gehörige Prämie dem versprochen, der das Kaperschiff aufbrachte. Die Dons hatten sich in ihrer Verzweiflung inzwischen darauf verlegt, einfach alles zu stoppen und zu durchsuchen, was sich im Bereich der südafrikanischen Küste zeigte. Seroya, der seit mehr als drei Jahren auf der Vulkaninsel kümmerlich genug sein Leben fristete, hatte seine Kleidung, die ihn häufig genug nicht genügend wärmte, mit viel Phantasie durch einen kunstvoll angefertigten Umhang aus Vogelfedern ergänzt. Diese Arbeit, Frucht pausenloser Bemühungen von gut drei Monaten, hielt ihn geschützt vor den Unbilden des rauhen Klimas und hatte ihm, wie er mehrfach behauptete, das Leben gerettet. Mehr als tausend Seevögel hatten dafür ihr Leben gelassen. Die Erscheinung des Portugiesen, der durch die lange Einsamkeit zermürbt worden war, hatte durch dieses merkwürdige Kleidungsstück nicht gerade an Eleganz gewonnen und sah eher abstoßend und absonderlich aus, zumal er insgesamt ungepflegt wirkte, einen wuchernden Vollbart trug und verarbeitete Hände hatte, die aussahen, als hätte er pausenlos im steinigen Boden der Insel gewühlt. Die Fingernägel waren gesplittert und zeigten einen schwarzen Trauerrand. Tatsächlich suchte Seroya, wie er dem Profos anvertraute, in jeder freien Minute nach den Schätzen, die von den Meuterern der „Regina Maris“ versteckt worden waren. Zweimal in der vergangenen Zeit hatten die Freibeuter auf der abgeschiedenen Insel angelegt und jedesmal unter umfangreichen Sicherheitsvorkehrungen ihre Schatzkammer aufgesucht. „Ich habe sie bis heute nicht entdeckt, obwohl ich mich sehr darum bemüht habe“, erklärte der Portugiese. „Ich verstehe nur nicht, warum diese Himmelhunde solchen Aufwand veranstalten.“ Carberry schüttelte den Kopf. „In der Nähe von Madagaskar etwa gibt es genug abgelegene Plätze, an denen
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sie ihre Beute genauso gut deponieren könnten.“ „Schon recht.“ Der Portugiese lächelte wehmütig. „Nur hat Christobal Loguedo so heißt mein Erster Offizier - meine Tochter Gloria an Bord. Er träumt davon. sie zu heiraten und nach einer Serie erfolgreicher Kaperfahrten nach Portugal zurückzukehren. Da kann er schlecht seinen Schwiegervater hier zurücklassen. Da ich gegen die Heirat bin, hofft er, ich würde langsam mürbe.“ „Wie denkt Ihre Tochter darüber?“ „Sie haßt diesen Schurken.“ „Und er gibt trotzdem nicht auf?“ „Sobald ich aufstecke und meine Einwilligung gebe. hat er auch die Zustimmung meiner folgsamen Tochter. Das weiß er nur zu genau.“ Die Jolle hatte sich der „Isabella“ bis auf eine Kabellänge genähert. Die Männer drängten sich am Schanzkleid, um den merkwürdigen Vogelmenschen zu betrachten. Niemand brauchte mehr mit einem Zwischenfall zu rechnen. Sie hatten die gefährliche Brandung längst überwunden. Die Dünung ging hoch, aber sie war nicht direkt gefährlich. Mit einer guten Crew konnte sich die Jolle mühelos behaupten. Da entdeckte der Profos in unmittelbarer Nähe einen langgestreckten, dunklen Schatten dicht unter der Wasseroberfläche Und ehe er ein Kommando geben konnte, ratschte der Kiel der Jolle über das Neugeborene. Die Walfischmütter brachten ihre Babys zuerst an die Wasseroberfläche, damit sie genügend Luft tanken konnten. Die Berührung mit dem Beiboot der „Isabella“ fiel nicht gerade sanft aus. Wahrscheinlich quiekte der junge Wal vor Schmerz und Angst. Jedenfalls attackierte die Mutter sofort. Sie schoß wie ein Schiff unter vollen Segeln heran und rammte die Jolle nur einmal. Holz splitterte. Das Beiboot wurde angelüftet und schlug um. Die Besatzung lag im Wasser und paddelte hilflos umher. Ein längeres Bad in diesem eisigen Meer mußte den sicheren Tod bedeuten.
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Wohl dem, der sich in der Nähe der gekenterten Jolle befand. Der Profos schaffte es als erster. Er zog sich hinauf und saß rittlings auf dem Kiel, die Beine hochgezogen, damit er nicht hinunterglitt. Er half allen, die zu ihm schwammen, und bald versammelten sich alle Rudergasten hinter ihm. Nur der Portugiese fehlte. Hatte sein selbstgefertigtes Gewand ihn etwa unter Wasser gezogen, und war er ertrunken? Zu diesem bangen Gedanken gesellte sich die Überlegung, die wütende Walmutter könne noch einmal angreifen. Aber das war glücklicherweise nicht der Fall. Der Riesenfisch tauchte nicht wieder auf. Und die Sache mit Seroya klärte sich auch schnell. Er war nämlich unter das gekenterte Boot geraten und schaffte es im dritten Anlauf, aufzutauchen. Inzwischen hatte die „Isabella“ auf Hasards Befehl den Treibanker aufgehievt und sich weiter in die Buchtgewagt, um den bedrängten Kameraden zu helfen. Die Wellen spielten der Jolle übel mit und trieben sie wieder an Land zurück, auf die schreckliche Brandung zu. Dabei war das Boot nicht mehr zu steuern, und sämtliche Riemen waren verlorengegangen. Es vergingen ein paar bange Minuten, bis die „Isabella“ nahe genug war. Leinen flogen außenbords. Carberry ergriff eine davon und zog die Jolle damit an die Galeone heran. Nacheinander und halb erfroren kletterten die Schiffbrüchigen über die Jakobsleiter an Bord und wurden sofort versorgt. Carberry, eine Decke umgeworfen, stand vor dem Seewolf und sagte: „Sieht so aus, als werde uns dieser komische Vogel kein Glück bringen.“ Er berichtete von dem, was ihm der Portugiese erzählt hatte. Da einige Besatzungsmitglieder, die in der Nähe standen, Teile des Gespräches aufschnappten, lief bald das Gerücht um, auf der Insel gebe es einen wertvollen Schatz zu bergen.
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Dieser Gedanke versöhnte manchen mit der Irrfahrt und dem schlechten Klima, mit Kälte und Hunger. Keiner verfiel auf den Gedanken, der Portugiese könne gelogen haben und wolle aus sehr durchsichtigen Gründen erreichen, daß der Rahsegler seine Reise unterbrach. Hasard ließ den Gast in die Kapitänskammer führen und kümmerte sich persönlich um ihn. Pedro Seroya schien erst jetzt, als er sich in fast gewohnter Umgebung aufhielt, zu begreifen, daß seine schreckliche einsame Gefangenschaft auf der Insel beendet war, und brach in Tränen aus. Der Seewolf wartete geduldig, bis sein Gast sich gefaßt hatte, und stellte erst dann Fragen nach dem angeblichen Schatz Seroya erging sich in allgemeinen, wenn auch interessanten Andeutungen, schilderte seinen Ersten Offizier als einen zwar fähigen, aber auch skrupellosen Mann und behauptete, die „Regina Maris“ habe gleich beim ersten Versuch Glück gehabt und allein Perlen im Werte von vielen tausend Moidor erbeutet. „Und das alles liegt auf der Insel?“ Ungläubig schaute Hasard den Portugiesen an. „Das alles und noch viele Dinge, die einen zum reichen Mann werden lassen könnten. Deshalb schlage ich vor, Sie lassen das Beiboot wieder aussetzen und fahren mit mir zurück auf die Insel. Ich habe gerade in der letzten Zeit vielversprechende Spuren gefunden. Aber ein Mann allein, ohne die richtigen Hilfsmittel, wird wohl niemals die versteckten Schätze heben können. Wir beide aber werden das schaffen und redlich teilen.“ Nachdenklich betrachtete der Seewolf die Spitzen seiner langschäftigen Stiefel. „Und anschließend?“ erkundigte er sich vorsichtig. „Setzen Sie mich in der nächsten portugiesischen Faktorei an der afrikanischen Küste ab. Ich werde ein neues Schiff ausrüsten und die Suche nach dem Schuft Loguedo beginnen. Schließlich hat er meine Tochter in seiner Gewalt.“
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„Eben darüber zerbreche ich mir den Kopf“, sagte der Seewolf. „Nach allem, was ich von diesem Menschen gehört habe, ist er nicht gerade zimperlich. Warum legt er so viel Wert darauf, daß Sie in die Heirat einwilligen? Er könnte Ihre Tochter dazu zwingen und Sie einfach Ihrem Schicksal überlassen. Er braucht Sie nicht.“ Erstens muß er mit der Furcht leben, daß ich doch irgendwann gerettet werde und Rechenschaft fordere - falls er mich nicht einfach umbringen läßt. Und das wiederum wäre nicht förderlich für seine Beziehungen zu meiner Tochter“, erläuterte der Portugiese. „Zweitens liebt er meine Tochter wirklich und legt Wert darauf, daß sie freiwillig seine Frau wird andere weibliche Wesen kann er in jedem Hafen haben. Und drittens trägt er sich mit dem Gedanken. der Seefahrt Lebewohl zu sagen und als vornehmer Mann in der Heimat zu leben. Das kann er aber nicht, wenn er befürchten muß, daß entweder ich wieder auftauche oder seine Frau Gelegenheit nimmt, ihn an die Justiz zu verraten, um mich zu rächen. Sie sehen. er sitzt gewissermaßen in der Klemme. Um alle Probleme unter einen Hut zu kriegen, muß er seine ganze Schläue und eine gehörige Portion Geduld aufbieten. Ich denke. er hat beides. Inzwischen sammelt er ein, was er erwischen kann, bringt das geraubte Zeug auf diese abgelegene Insel und wartet, bis ich resigniere. Nach einer gültigen Eheschließung. davon kann er in der Tat ausgehen. werde ich wohl kaum noch etwas gegen ihn unternehmen, um nicht meine Tochter ins Unglück zu stürzen.“ Der Portugiese schwieg erschrocken, weil eine Reihe gotteslästerlicher Flüche ertönten. Hasard lächelte. „Das ist Sir John. unser Papagei“, erklärte er. „Das arme Tier hat einen sehr einseitigen Wortschatz erworben, wie es an Bord eines Schiffes nun einmal unvermeidlich ist.“ Der Seewolf mußte auch das anschließende Keckern und Kreischen erklären.
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„Wahrscheinlich liegt der Vogel mit Arwenack, dem Schimpansen, im Streit. „Ich habe zwei Kinder gesehen, als ich an Bord ging“, sagte der Portugiese wißbegierig. „Das sind meine Söhne Philip und’ Hasard. Meine Frau lebt leider nicht mehr“, erklärte der Seewolf bereitwillig. „Umso wichtiger ist es, den Schatz zu heben“, sagte Seroya listig. „Die armen Halbwaisen wären für alle Zeiten versorgt und könnten die beste Ausbildung genießen, die England zu bieten hat. Wenn Sie mich fragen: Wir sollten unverzüglich die Suche aufnehmen, Sir.“ Hasard nickte. „Wenn wir das wirklich versuchen wollen, sollten wir es nicht auf die lange Bank schieben. Unser Proviant ist mehr als knapp. Wir haben zwar wieder genug Wasser, aber nichts zu beißen, und meine Crew ist nicht mehr gerade taufrisch.“ „Ich habe noch etwas Proviant in meiner Felshöhle, in der ich gehaust habe. Ich habe nämlich darauf verzichtet nur am Feuer zu hocken und von meinen Vorräten zu zehren. Ich konnte hin und wieder Fische angeln oder eine Robbe schießen und habe manchen Tag damit verbracht, Vogelnester zu plündern,. Das wäre eine Aufgabe für ein paar geschickte Männer Ihrer Besatzung. Der Speisezettel damit bereichert.“ „Ich werde entsprechende Befehle erteilen“, sagte der Seewolf. „Aber dringender scheint mir, die Jolle auszusetzen und mit der systematischen Suche zu beginnen.“ * Luke Morgan, Will Thorne und Big Old Shane gehörten zu den Männern, die Hasard auf dem zweiten Landgang begleiten durften. Wie selbstverständlich übernahm der Portugiese einen der Riemen. Stenmark hockte neben ihm auf der Ducht. Ben Brighton. der an Bord zurückblieb, hatte das Kommando auf der „Isabella“ übernommen.
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In einer Abstimmung hatten sich die Seewölfe geeinigt, den Versuch zu wagen, und sich als Ziel gesetzt, den Schatz innerhalb von drei Tagen zu finden oder eben Mit leeren Händen weiterzusegeln. Sie, die so lange unter der Tropen- sonne gelitten hatten. empfanden die Kälte doppelt und sehnten sich nach etwas Wärme. Der Gedanke, hier unnötig vor Anker zu liegen, stimmte sie wütend. Nur die Aussicht auf die reiche Beute ließ sie die Unterbrechung der Fahrt ertragen. Der Seewolf, vorgewarnt durch die Abenteuer seines Profos’, meisterte die Brandung vortrefflich. Er wartete ruhig ab, bis die dritte Welle sich auftürmte, nach der es schien, als hole die See Atem, um sich für die drei nächsten Anläufe zu stärken. Auf Anhieb wurden sie weit auf den Kiesstrand getragen und hatten das Boot vertäut, bevor die nächste Welle mit Brachialgewalt auf den winzigen Flecken Land zutobte. Kaum war die Gischt verweht, da begaben sie sich an den beschwerlichen Aufstieg. Diesmal gelangten sie ohne Unterbrechung auf das höher gelegene Plateau. Nach einem langen Fußmarsch erreichten sie die Höhle, in der Seroya so lange gehaust hatte. Sie fanden die Grotte feudal ausgestattet und genossen die Vorräte, die sich dort stapelten. Der Portugiese vermochte sogar einen guten Schluck anzubieten. Offenbar wollte ihn sein unwillkommener Schwiegersohn wohl in die Knie zwingen, aber keineswegs umbringen. „Ich kann kaum beschreiben, was man empfindet, wenn das einzige Segel, das man seit Monaten sieht, wieder langsam im Dunst an der Kimm verschwindet“, sagte der Portugiese. „Ich weiß, ich hätte nicht mehr lange durchgehalten. Sie können sich also vorstellen, was es für mich bedeutete, als ich erkannte, daß diesmal nicht die ,Regina Maris’ die Insel ansteuerte. Ich war froh, daß immer ein Signalfeuer bereitgehalten wurde, und zündete sofort den Stapel Holz an, den ich für diese Zwecke aufgespart hatte.“
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Er deutete auf einen heruntergebrannten Holzstoß vor dem Eingang der verräucherten Höhle. Hasard erfuhr auf seine drängenden Fragen, daß sie die Insel in südöstlicher Richtung durchstreifen muß ten. „Ich durfte die Höhle zwar nie verlassen, wenn Loguedo mit seinen Leuten hier war und neue Beute verstecken wollte, und wurde scharf bewacht, aber das eine oder andere konnte ich eben doch in Erfahrung bringen. Zum Beispiel hatten die Leute, wenn sie zurückkehrten, stets rötlichen Schmutz an den Stiefeln. Eine entsprechende Stelle habe ich trotz aller Mühen auf dieser Insel nicht finden können. Dabei erinnere ich mich genau, daß der Dreck an den Stiefeln noch nicht einmal getrocknet war. Die Burschen können also nicht weit gegangen sein.“ „Es wird uns nichts anderes übrigbleiben, als uns auf die Suche zu begeben“, entschied Hasard. Sie verließen die Höhle. Sofort waren sie wieder dem beißend kalten Wind ausgesetzt. Manchmal marschierten sie durch nasse grüne Moosflechten, meist aber balancierten sie über scharfkantige Lavafelder. Die höchsten Gipfel der Vulkaninsel erreichten etwa tausendsechshundert Yards. Sie suchten Stunde um Stunde. Es gab viele denkbare Verstecke, aber keine eindeutigen Spuren. Bald zählten sie nicht mehr die Höhlen, in die sie sich hineinzwängten. Sie versuchten, keinen Einschlupf zu übersehen. Aber jedesmal endete die Jagd mit einer Enttäuschung. Sie gelangten nicht einmal in die Nähe eines Bodens, der die Stiefel rot färben konnte. Alles schien wahrscheinlicher als das, denn es gab auf der felsigen Insel kaum Humusboden. Seroya beteiligte sich ziemlich lustlos. Er trottete bald erschöpft hinter den Seewölfen her. Die Männer murrten. Hasard beruhigte sie immer wie- der. Aber bald sah er keinen Sinn mehr darin, sich so mutwillig den Unbilden des Wetters auszusetzen und über scharfe Grate zu
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stolpern, die einem die Stiefel zerschlitzten. Kaum einer von der Mannschaft, der nicht lädierte Schienbeine und zerschundene Hände hatte. „Den Rest unseres Lebens können wir durch diese verdammten Lavafelder stolpern“, meinte Big Old Shane. „Wie werden nichts finden –weil es hier nämlich gar keine Schatzhöhle gibt.“ Der bärenstarke Schmied packte sich den Portugiesen und schüttelte ihn, während er ihn anfauchte: „Sag die Wahrheit, du verdammter Schwätzer: Du hast dir alles ausgedacht. Du willst uns hier festhalten. Aber warum? Warum, frage ich!“ Der Portugiese versuchte, sich zu befreien. Natürlich konnte er gegen die Kräfte des Riesen nicht das geringste ausrichten. Hasard beruhigte Big Old Shane. „Wenn wir nichts finden, beweist das noch lange nicht, daß uns Kapitän Seroya belogen hat, oder?“ „Ach Was“, brummte Big Old Shane. „Einen Kapitän, der so liederlich der Wahrheit umgeht, hätte ich auch ausgesetzt.“ „Jetzt ist es aber genug!“ Hasard sprach gefährlich leise. Der Schmied senkte den mächtigen Kopf. „Ich bin keine verdammte Bergziege. Diese Insel schmeckt mir nicht, und wenn hier die Schätze Salomons verborgen wären – ich glaube, wir würden sie nicht finden.“ „Vielleicht lassen wir uns einen guten Fang aus der Nase gehen“, gab Luke Morgan zu bedenken. „Eine Weile sollten wir noch weitersuchen. Dahinten ist noch eine vielversprechende Ecke. Ehe ich die nicht gesehen habe, kehre ich nicht um. Ich meine, die Sache ist eine weitere Anstrengung wert.“ Hasard schaute seine Leute an. „Wer für eine Fortsetzung ist, hebe die rechte Hand. Wir sollten darüber abstimmen.“ Hasard zählte die Jastimmen, und Big Old Shane war der Verlierer. Er brummte zwar, aber er fügte sich, wie es Brauch war unter den Seewölfen, und holte mächtig aus, um den anderen zu beweisen, daß er bereit war, sein Bestes zu geben.
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Sie suchten einen weiteren Steilhang mit vielen Höhlen und Auswaschungen ab und entdeckten nicht die geringste Spur. Selbst Seroya mußte eingestehen, daß er nur einmal hier in der Nähe gewesen war und diesem wildesten Teil der vergessenen Insel dabei aber nicht die geringste Aufmerksamkeit gewidmet hatte. Er zeigte sich ratlos. Plötzlich blieben alle wie angewurzelt stehen. Donnernd rollte das dumpfe Wummern eines Schiffsgeschützes über die bergige Insel, brach sich an vielen Steilhängen und echote. Der Schuß war nicht von der „Isabella“ abgefeuert worden. Soviel stand sofort fest. Sie alle kannten die „Stimmlage“ ihrer Geschütze, die so manches Seegefecht zu ihren Gunsten entschieden hatten. Dieser Klang war ihnen fremd. „Was hat das zu bedeuten?“ Selbst Will Thorne, der Graukopf, ein besonnener Mann, zeigte Anzeichen von Nervosität. „Das kann nur heißen, daß die ‚Isabella’ angegriffen wird“, erwiderte Luke Morgan, der kleine gewitzte und pfiffige Mann mit der Messernarbe über der Stirn. Seine blauen Augen schauten erschrocken, denn wie alle anderen wußte er sehr wohl, was es bedeutete, wenn ein Schiff vor Anker liegend überraschend angegriffen wurde. Da lag man wie eine Zielscheibe an der Trosse. Völlig bewegungslos und manövrierunfähig. „Das verdanken wir diesem portugiesischen Edelmann“, grollte Big Old Shane und schnappte sich schon wieder mit seinen gewaltigen Fäusten den armen Seroya, der sich kaum zu verteidigen wagte. „Diese Ratte hat uns von der ‚Isabella’ weggelockt, und seine Kumpane greifen inzwischen unser Schiff an, das nur noch eine halbe Besatzung hat.“ „Das reicht oft gegen eine ganze andere Crew. Das haben wir schon häufiger bewiesen“, sagte Hasard kaltblütig. „Niemand ist unentbehrlich. Ich vertraue Ben Brighton und könnte mir keinen besseren Vertreter wünschen. Er wird
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genauso handeln wie ich in dieser Situation. Er ist durch meine Schule gegangen.“ „Trotzdem sollten wir unsere Keulen schwingen und zusehen, daß wir zurückkehren“, schlug der Segelmacher vor. „Ich habe nur Angst, daß die ‚Isabella’ den Anker lichtet, in See geht, um sich des Angreifers besser zu entledigen, und durch einen neuen Sturm verschlagen wird. Diesmal aber nicht weiter nach Süden, sondern in Richtung Südspitze Afrika nach Norden. Und das würde bedeuten ...“ „Mann, sprich das ja nicht aus“, murmelte Pete Ballie verdrossen. „Ich hasse es. wenn jemand den Teufel an die Wand malt. Das bringt kein Glück.“ Er schlug dreimal hastig das Kreuzzeichen und spuckte über die linke Schulter. „Wenn das dein Plan war, mein Freund“, sagte Big Old Shane drohend und pflanzte sich vor dem Portugiesen auf, „kann ich dir nur verraten: Du hast in der nächsten Zeit viele Leidensgenossen, aber wenig Freude an meiner Gesellschaft. Wenn ich auf dieser dreimal verdammten Insel, die den Robben und Sturmvögeln gehört, hängenbleibe, stirbst du jeden Tag ein bißchen.“ „Sehen wir uns doch erst einmal an, was los ist“, schlug der Seewolf vor. „Ich habe wohlweislich meinen Kieker bei mir. Wenn wir uns beeilen, erreichen wir schnell die Felsnadel dort. Von dort habe ich einen guten Blick auf die Bucht, in der die ‚Isabella’ ankert.“ „Ich weiß schon, was du siehst, Sir“, erklärte Big Old Shane. „Du wirst eine zerfetzte ‚Isabella’ sehen und diese verdammte spanische Karacke, diese ,Infierno`. Der Kerl hat die Segel notdürftig geflickt, die gröbsten Schäden beseitigt und versucht uns jetzt zu den Fischen zu schicken.“ „Du vergißt, daß dem Don nicht einmal mehr eine Culverine zur Verfügung steht. Wir haben alles außenbords gekippt. Als wir den Spanier verlassen haben, hatte er nicht einmal mehr ein paar Gramm Schießpulver an Bord. In solchen Sachen
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bin ich peinlich genau“, widersprach Luke Morgan. Hasard nickte, während sie nebeneinander über das unwegsame Lavafeld hasteten. um einen Ausguck zu besetzen. von dem aus sie sich Klarheit verschaffen konnten. „Das ist wahr. Es muß sich also um ein drittes Schiff handeln.“ „Ich möchte mir bei allem Respekt am liebsten an die Stirn tippen“, sagte Big Old Shane. „Ein solches Stelldichein an diesem entlegenen Punkt der Erde kann es gar nicht geben.“ „Wieso eigentlich nicht?“ Der Portugiese verteidigte Hasards Theorie. „Ihr vergeßt die .Regina Maris’, die sehr wohl einen Grund hat. diese Insel zu besuchen. Wenn sie auch dauernd die Flagge und den Namen wechselt, die Bewaffnung, die nicht von schlechten Eltern ist, bleibt dieselbe. Da gibt es nichts zu verbessern, selbst eure Galeone hätte Mühe, mein Schiff zu bezwingen. Betet also, daß nicht etwa die ‚Regina Maris’ zurückgekehrt ist - noch dazu überraschend. Denn die Kerle. die nichts mehr zu verlieren haben und denen in jedem spanischen Hafen wegen Meuterei der Galgen droht. werden nicht zögern. den Kampf und die Entscheidung zu suchen. Sie haben keine Wahl.. Sie möchten nicht aufgebrüht werden und fühlen sich sicher verfolgt, wenn sie ein fremdes Schiff in der Bucht entdecken. Sie müssen damit rechnen. daß die Besatzung mit mir Kontakt aufgenommen hat und um das Verbrechen weiß, das zu einem Kommandowechsel auf der ,Regina Maris’ geführt hat“. haspelte der Portugiese herunter und schwieg erschöpft, weil ihm nach dieser langen Rede die Luft fehlte. Schließlich mußte er sich bemühen, Anschluß zu halten. Das Tempo der Seewölfe war schneller geworden, nachdem noch zweimal mindestens ein Zwölfpfünder losgebrüllt hatte, da unten, auf dem Meer, das von hier aus nicht einzusehen war. Endlich erreichten sie die Felsnadel, die sich steil in den Wolkenverhangenen Himmel reckte. Der Fels war glatt und schlüpfrig. Hasard hatte Mühe, den
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Ausguck zu erklimmen. Aber alle halfen ihm, um möglichst schnell aus der Ungewißheit, die an ihren Nerven zerrte, erlöst zu werden. Alle schauten zum Seewolf hinauf, der sich an der Spitze der bizarren Felsformation festklammerte und den Kieker richtete. Er schaute hindurch. „Was siehst du. Sir?“ fragte Big Old Shane gespannt. ,.Rede endlich. Wir sterben vor Sorge um unsere ,Isabella`.“ „Kaum zu glauben, was da passiert“, murmelte Hasard. 4. Don Felipe de Almeida wurde nicht gerade vom Glück begünstigt, seit er eigenmächtig den spanischen Verband verlassen hatte, um die „Isabella“ zu stellen. War schon das erste Gefecht mit den Seewölfen zu seinen Ungunsten ausgegangen, so drohte ihm jetzt eine vernichtende Niederlage. Zunächst war er froh gewesen, als an Steuerbord die Segel eines schwerbewaffneten Kauffahrers auftauchten. Der Ausguck hatte freudig ein spanisches Schiff gemeldet, und zwar die „Vasco da Gama“. Don Felipe, in der Hoffnung, Hilfe zu erhalten, hatte auf sich aufmerksam gemacht und prompt einen Warnschuß vor den Bug kassiert. Das harmlose Handelsschiff, schwer bestückt, entpuppte sich schnell als besonders übler Pirat und forderte die angeschlagene Karacke zur Übergabe auf. Statt also Hilfe zu empfangen, hatte Don Felipe jeden Fetzen Tuch setzen lassen, um dem Verfolger zu entwischen. Dabei schien der Ausgang des Rennens alles andere als zweifelhaft. Schließlich hatte die „Infierno“ keine Waffen mehr an Bord außer ein paar Entermessern, Degen und zwei Musketen. die den forschenden Augen der Seewölfe irgendwie entgangen waren. Damit konnte man sich nicht einmal gegen eine Schaluppe verteidigen, geschweige denn gegen diesen Dreimaster.
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Die „Infierno“ segelte bei raumem Wind über Backbordbug, und die Mannschaft bot ihr ganzes seemännisches Können auf, ohne verhindern zu können, daß die Distanz schmolz. Der verfolgende Kauffahrer, der tief im Wasser lag und schwer beladen schien, hielt sich im Kielwasser des Opfers und spielte Katz und Maus. Er versuchte mehrmals, einen sogenannten Jagdschuß anzubringen, also einen Schuß in Kielrichtung nach vorn. Zweimal donnerte das Buggeschütz der „Vasco“ los, ohne allerdings einen Treffer zu verbuchen. Beide Schiffe liefen auf eine Insel zu, die knapp zwei Seemeilen entfernt lag. Denn Don Felipe hoffte, sich wenigstens in eine Bucht retten zu können. Notfalls war er bereit, die Karacke aufzugeben und sich mit der Besatzung an Land zu retten, wenngleich er nicht sagen konnte, ob es möglich war, in dieser Einöde zu verleben. Aber alles schien besser als der Tod. Zumal Potoya Stein und Bein schwor, diese „Vasco“ sei nichts anderes¬ als die „Regina Maris“, die sie einmal gesucht hatten und die eins der übelsten Schiffe in diesen Brei- ten sei. Die Crew der „Regina Maris“ stand allerdings in dem Ruf besonderer Grausamkeit, und nur wenige hatten eine Begegnung mit ihr überlebt. Sie suchte sich ihre Opfer unter den Ostindienfahrern und schreckte vor keinem Gegner zurück. Sie verunsicherte seit mehr als drei Jahren die Handelswege nach Indien und wurde von spanischen Kriegsschiffen ständig gesucht. Don Felipes Verband hatte aus genau diesem Grund jedes Schiff gestoppt, das querab von Madagaskar aufgetaucht war. Die „Vasco“ spielte jetzt ihre größere Schnelligkeit aus. Hatte es eben noch so ausgesehen, aus ob die Karacke noch die Insel erreichen¬ könne, auf die beide Schiffe zuliefen, so welkte schnell die kleinste Hoffnung. Händeringend mußte die Crew der „Infierno“ mit ansehen, wie die „Vasco“ aufholte, nachdem sie jeden Fetzen Tuch
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gesetzt hatte. Die Buglinie schäumte hoch auf. Das Schiff rauschte heran. Langsam schob sich die „Vasco“ längsseits, nur ein paar Kabellängen¬ von der „Infierno“ entfernt. Drohend glotzten die Mündungen der Kanonen aus den Stückpforten. Panik brach an Bord der Karacke aus. Wenn sie nämlich wieder eine Breitseite kassierte, ging sie unweigerlich mit Mann und Maus auf Tiefe. Ganz zu schweigen von der Tatsache, daß sie sich nicht einmal gebührend verabschieden konnte. Es gab keine weittragenden Waffen mehr an Bord der „Infierno“. Mancher brave Seemann verlegte sich aufs Beten. Potoya versuchte das Beste aus der Situation herauszuholen. Erließ die Segel streichen und gab zu erkennen, daß sich die „Infierno“ nicht wehren wollte und konnte. Vorsichtig näherte sich das Piratenschiff und ging endgültig längsseits. Die „Vasco“ warf Enterhaken. Laufplanken wurden herübergeschoben. Und zuerst setzte ein Trupp verwegen aussehender Burschen über, die bis an die Zähne bewaffnet waren. Die Kerle jagten die Crew der „Infierno“ auf das Mitteldeck, über dem die Enternetze zerrissen im Wind schaukelten. Nachdem sich die Eroberer überzeugt hatten, daß keine Gegenwehr zu erwarten war, kümmerten sie sich um die Beute, mußten aber enttäuscht feststellen, daß es wirklich nichts zu holen gab. Da kannte ihre Wut keine Grenzen. Sie schickten sich an, die „Infierno“ anzubohren, um sie auf Grund zu schicken, und es bestand gar kein Zweifel daran, daß sie nicht die Absicht hatten, die Besatzung zu schonen. Da trat Christobal Loguedo auf, in einer prächtigen Phantasieuniform. Gegen ihn wirkte Don Felipe fast armselig, soviel Gold und Silber schmückte die Epauletten und den Hut des Piraten. Er stolzierte über die Laufplanke und musterte stumm und verächtlich das verlorene Häüflein seiner Gegner, die ihm auf Gnade und Ungnade ausgeliefert waren.
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Schließlich blieb sein Blick an Don Felipe de Almeida hängen. Der spanische Kapitän trug noch seinen Degen. Don Felipe begriff, auf was der Seeräuber abzielte. „Beeilen Sie sich, Senor. Wir sollten den Halsabschneider mit allen Mitteln gnädig stimmen, sonst sind wir verloren“, zischte denn auch Potoya, der nicht wegen der Kälte schlotterte. Langsam nahm Don Felipe seine Waffe ab. Hocherhobenen Kopfes marschierte er auf den Sieger zu und wollte ihm den Degen wie eine Morgengabe überreichen. „Auf die Knie, du Wicht!“ verlangte Loguedo höhnisch. Er war ein großer schlanker Mann, schwarzbärtig, mit blitzenden dunklen Augen und so eitel wie ein Pfau. Seine Erfolge waren ihm zu Kopf gestiegen. Er befehligte eine Crew, deren Ruf legendär war, nachdem sie auch einen überlegenen Feind geschlagen hatte und sich nicht einmal mehr scheute, hin und wieder eine bewaffnete Faktorei anzugreifen und dem Erdboden gleichzumachen. Don Felipe schluckte. „Das tue ich nur vor Ihrer Allerchristlichsten Majestät“, erklärte er standhaft. Da trat bereits ein finsterer Geselle von hinten an ihn heran, trat ihm in die Kniekehlen und brachte ihn so zu Fall. Der graubärtige Kerl hob ein Beil und traf Anstalten, den Überraschten zu köpfen, der lang ausgestreckt zu seinen Füßen lag. Mit einer Handbewegung gebot Loguedo Einhalt. „Ich möchte erst einmal wissen, mit wem ich es zu tun habe“, sagte er und ließ sich den Namen des Unterlegenen nennen. „Dein Vater ist Admiral, nicht wahr?“ Loguedo beugte sich gespannt vor. Er half Don Felipe auf die Beine. „Es hätte keinen Zweck, das zu leugnen“, sagte Don Felipe. Loguedo wiegte den Kopf. „Das ist fast soviel wert wie eine anständige Beute, Leute. Er kennt sich aus und kann uns
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wertvolle Tipps geben. Ich denke, wir werden gut zusammenarbeiten.“ „Heißt das ...?“ erkundigte sich Don Felipe vorsichtig. „Das gilt natürlich nur für dich. Ich habe eine Dame an Bord, die gute Gesellschaft zu schätzen weiß. Deine Crew kann ich nicht mit durchfüttern. Die Kerle lasse ich über die Klinge springen. Das steht fest.“ „Aber warum sollten sie nicht mit der ,Infierno` ...“, stammelte Don Felipe, bleich. wie die Wand. „Du mußt dir gleich eins merken: Mein Wille ist Gesetz. Ich hasse Widerspruch. Und nun zu deinem Problemchen: Ich brauche Brennholz. Dafür ist die ‘Infierno’ noch gut. Folglich kann ich sie nicht deinen Leuten überlassen. Natürlich dürfen sie schwimmen, wenn sie wollen. Aber ich fürchte, sie gelangen nicht weit.“ Loguedo lachte schallend. Seine Mannschaft stimmte ein. „Gehen wir an Bord meines Schiffes“, sagte Loguedo. „Von dort können wir am besten sehen, wie sich meine Leute mit deiner Crew amüsieren. Sie haben da gewisse Spielchen ausgeheckt. Ich denke, wir sollten unsere neue Partnerschaft mit einem guten Schluck Wein besiegeln.“ „Ich bleibe bei meinen Leuten!“ sagte Don Felipe entschlossen und trat zurück in die Reihe. Christobal Loguedo schickte einen Blick zum Himmel. „Er hat immer noch nicht verstanden“, sagte er seufzend. „Hassan, gib ihm eine Lektion!“ Die letzten Worte waren an einen Araber gerichtet, der sofort auf Don Felipe losstürzte und ihn mit einer Peitsche traktierte. Potoya rettete seinen Kapitän, indem er Hassan mit einem Fausthieb zu Boden schickte. Dafür kriegte er die ganze Wut der aufgebrachten johlenden Piraten zu spüren. Potoya, in Gefahr, von den Messern aufgeschlitzt zu werden, durchbrach den Belagerungsring und flüchtete sich in die Wanten. Behände enterte er auf. „Überlaßt ihn mir“, befahl Loguedo.
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Denn natürlich schickte sich ein Trupp an, den Flüchtenden zu verfolgen und wieder einzufangen. Loguedo aber hob die Pistole und zielte sorgfältig. * Ben Brighton wurde durch Kanonenschüsse alarmiert, deren harter Schall sich an den steil aufragenden Klippen der Bucht brach. Und er wußte sofort, daß Gefahr drohte. Mit Donnerstimme scheuchte er die restliche Crew in die Wanten, damit sie die Segel setzte. Er selbst stemmte sich in die Spaken des Spills, um mit den anderen Helfern schleunigst die Ankertrosse aufzuhieven. In Windeseile war. die „Isabella“ manövrierfähig und verließ die Bucht. Es gab nichts Unangenehmeres für ein Schiff, als vor Anker liegend vom Feind überrascht zu werden. „Schiff klar zum Gefecht!“ befahl Ben Brighton. Er selbst stand breitbeinig auf dem Achterdeck und schaute durch den Kieker. Er sah zwei Schiffe. In dem einen erkannte er mühelos die „Infierno“. Die Karacke war offenbar geentert worden. Die Galeone, die längsseits lag, führte eine spanische Flagge. Aber das hatte wohl nicht viel zu bedeuten. „Das sind die ,Infierno` und die ,Vasco da Gama’„, meldete Dan O’Flynn. „Enter lieber ab, Dan, ehe dich ein verdammter Spanier aus dem Mars schießt“, mahnte Ferris Tucker, der rothaarige Schiffszimmermann. Die „Isabella“ kreuzte gegen den Wind. Ben Brighton konnte beobachten, wie an Bord der beiden miteinander vertäuten Schiffe hektische Betriebsamkeit entfaltet wurde. Ein Teil der Leute, die sich auf der „Infierno“ befanden, zog sich schleunigst auf die „Vasco“ zurück. Nur ein paar Bewaffnete blieben zurück, die offenbar die Crew der Karacke bewachen sollten. Und eine Gestalt hangelte an der Nockgording entlang,
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einem Tau, das in der Mitte des Seitenlieks eines Rahsegels angeschlagen ist und von dort an der Vorderseite des Segels entlang durch einen Block an der Rah zum Großmast führt. Der Erste Offizier der „Isabella“ erkannte Potoya. Niemand kümmerte sich mehr um den Mischling. Die „Vasco“ löste sich von der „Infierno“, nachdem alle Leinen kurzerhand gekappt worden waren. Die Karacke trieb hilflos auf dem Wasser. Der Kauffahrer aber versuchte sofort, die „Isabella“ auszumanövrieren und in die bessere Schußposition zu gelangen. Ben Brighton lächelte nur. Seine Anweisungen an Rudergänger und Crew erfolgten kurz und knapp. Im Handumdrehen hatte er die Luvseite gewonnen. Batuti jagte die ersten Brandpfeile zu dem feindlichen Schiff hinüber. Kraftvoll schnellte er die Pfeile von der Bogensehne und beobachtete gespannt die gestreckte Flugbahn der brennenden Geschosse. Die ersten beiden gingen an Deck nieder und beunruhigten die Leute an Bord der „Vasco“ kaum, aber die nächsten drei schlugen wie beabsichtigt in die Fock ein. Zuerst zeigte sich nur ein kleines schwarzes Loch, bis die Flammen hell aufloderten. Von beiden Seiten wurden Drehbassen eingesetzt. Al Conroy gab dem Gegner Zunder. Da plötzlich gab der Kapitän der „Vasco“ zu verstehen, daß er die Feindseligkeiten einzustellen wünsche. Ben Brighton war es zufrieden. Er hatte keine Lust, die „Isabella“ unnötig einer Gefahr auszusetzen. Vielmehr brannte er darauf, diese ungastlichen Gefilde schnell hinter sich zu bringen. Die Aussicht, ein paar Tage mehr vor Anker liegen und etwaige Schäden reparieren zu müssen, während die Verwundeten nicht richtig versorgt werden konnten, bereitete ihm Kopfzerbrechen. Er hatte nur die Bucht verlassen, um gegen jeden Zwischenfall gewappnet zu sein. Es war der Spanier
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gewesen, der zuerst durch sein Verhalten gezeigt hatte, daß er Böses im Schilde führte. Ben Brighton erklärte sich einverstanden und ließ aufgeien. Noch herrschte Mißtrauen zwischen den beiden Kontrahenten. Die Kanonen blieben in den Stückpforten. Als sich der Kapitän der „Vasco“ vorstellte, begriff Ben Brighton, wen er vor sich hatte und warum noch ein Segler so weit im Süden aufgekreuzt war Den Namen Loguedo kannte er aus den Erzählungen des unglücklichen Seroya. „Kommen Sie an Bord, Kapitän“, sagte Ben Brighton. „Gern“, erwiderte Christobal Loguedo. „Schließlich kämpfen wir gegen denselben Feind. nicht wahr?“ „Die Spanier sind nicht unbedingt unsere Feinde. meist wehren wir uns lediglich unserer Haut - was man von Ihnen wirklich nicht behaupten kann, Senhor Loguedo“, antwortete der Erste Offizier der „Isabella“. Knapp eine Kabellänge trennte jetzt noch die beiden Segler. Die „Vasco“ fierte ein Beiboot ah. Kapitän Loguedo in seiner lächerlichen Uniform ging von Bord und ließ sich zur „Isabella“ hinüberpullen. Die Segel der „Isabella“ flappten im Gei. Wanten und Pardunen ächzten und knarrten. Das waren die einzigen Geräusche an Bord. Jedermann wartete gespannt auf den ungewöhnlichen Besuch. Die Seewölfe hielten ihre Waffen bereit. Loguedo enterte an der Jakobsleiter auf und bat höflich um Erlaubnis, an Bord kommen zu dürfen. Artig grüßte er die Flagge. ehe er auf Ben Brighton zutrat und ihm herzlich die Hand schüttelte. „Ich bin froh, daß ich Sie nicht zum Gegner habe“, sagte der Portugiese. „Wir werden uns einigen und unnötiges Blutvergießen vermeiden.“ „Wir werden sehen, erwiderte Ben Brighton vorsichtig und bat den Besucher in die Kapitänskammer. Er brauchte der Crew nicht zu sagen, daß sie wachsam sein mußte. Kampferprobte
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Männer, die sie waren, trauten sie keinem, ehe sie ihn nicht besiegt hatten. Auch die Leute auf der „Vasco“ blieben auf ihren Gefechtsstationen. Die Stückpforten waren hochgeklappt. Die Geräte zum Laden und Auswischen der Geschützrohre waren senkrecht gestellt und ragten über das Schanzkleid. Sie waren mit bloßem Auge zu erkennen. Die Bedienung kniete neben den Kanonen. Die Munition lag in Halterungen bereit, Und auch die Lunten glimmten, sorgsam gehütet. Beide Seiten konnten in Sekundenschnelle eine Breitseite abfeuern, wenn es sein mußte. Die Luft knisterte vor Spannung. Niemand riß sich darum, das Leben zu riskieren, aber jeder war bereit, es zu tun, wenn er keine Wahl hatte. Und es bestand kein Zweifel, daß diese Männer an Bord der „Vasco“ zu kämpfen verstanden. Sie waren ganz andere Gegner als die Crew des Don Felipe. Unter Deck wurden zähe Verhandlungen geführt. Loguedo erwies sich als charmanter Mann, der zäh und klug seine Positionen verteidigte. „Ich schätze, daß an Bord der ,Isabella` keine Reichtümer sind, die meine Begehrlichkeit wecken könnten. Andererseits habe ich nichts geladen, was Ihnen zum Vorteil gereichen würde. Die Beute war mager. .Die Ostindienfahrer schließen sich immer häufiger zu Konvois zusammen und segeln unter schwerem Geleitschutz, nachdem die spanische Krone in diesen Gewässern ¬empfindliche Verluste erlitten hat“, erklärte Loguedo. „Mit anderen Worten, Sie sind ein Freibeuter“, erwiderte Ben Brighton. „Dabei segeln Sie unter der spanischen Flagge.“ „Irgendeine muß ich ja führen. Und Spanier bin ich keineswegs. Ich bin Portugiese.“ „Portugal wird vom spanischen König regiert.“ „Nicht mit meiner Genehmigung.“ Loguedo hielt das für einen guten Witz und lachte schallend. „Ihr Seewölfe seid auch
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nicht gerade zimperlich mit den Dons umgesprungen, deshalb ziehe ich es vor, mit euch zu sprechen, statt euch zu bekämpfen. Ich nehme an, der Sturm hat euch so weit nach Süden verschlagen.“ Loguedo warf seinem Gegenüber einen forschenden Blick zu. „Ganz recht“, bestätigte Ben Brighton. „Ihr habt die Insel schon inspiziert?“ „Wir tun es in diesem Augenblick. Ein Landkommando hat vor vier Stunden die ‚Isabella’ verlassen“, gab Ben Brighton bereitwillig Auskunft. „Das erklärt die schwache Besatzung“, meinte der Portugiese. „Ich fürchtete schon, ihr hättet Verluste gehabt, als ihr die ,Infierno` geentert habt.“ „Wir hatten keine Schwierigkeiten mit der Karacke.“ „Wir auch nicht.“ Loguedo lachte wieder übermütig, aber seine Augen waren nicht beteiligt. Sie verrieten, daß er ein kalter Rechner war, der den Gegner studierte. „Aber das ist kein Wunder. Dieser Don Felipe de Almeida ist nicht gerade das Paradestück eines Kapitäns, und seine Mannschaft hat nicht genügend Disziplin, weil er jede Führereigenschaft vermissen läßt. Sein einziger Wert besteht darin, daß er als Sohn eines Admirals eine wertvolle Geisel ist. Sonst würde er längst von einer Rah baumeln. Ich mag die Dons nicht. Seine Mannschaft jedenfalls schicke ich zum Teufel.“ Loguedo schwieg und wartete auf eine Antwort. Er hoffte, der Engländer werde keinen Widerspruch anmelden. Aber Ben Brighton sagte entschlossen: „Dazu kann ich meine Einwilligung nicht geben. Den Leuten von der ,Infierno` sollte man kein Haar krümmen. Lassen Sie sie in Ruhe.“ „Bis auf Don Felipe. Den brauche ich noch - für den Fall, daß wir wirklich einmal Ärger mit den Spaniern kriegen“, erklärte Christobal Loguedo. Sein welliges Haar glänzte. Er strich sich automatisch über den Knebelbart, während er diskutierte. „Das ist Ihre Entscheidung. Mir ging es lediglich darum, unnötiges Blutvergießen zu vermeiden“, sagte Ben Brighton.
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Loguedo lehnte sich entspannt zurück. „Dann sind wir uns ja einig.“ Er hob sein Glas, und sie tranken sich zu. „Übrigens, Sie als Kapitän hätten doch das Recht, mich zu trauen. Ich habe meine Verlobte an Bord. Ich denke, ihr Vater, den ich ein wenig unter Druck setzen mußte, hat sich inzwischen anders besonnen. Sie haben doch Senor Seroya kennengelernt?“ Ben Brighton nickte. „Ich bin nicht der Kapitän dieses Schiffes. Der Kapitän der ‚Isabella’ heißt Philip Hasard Killigrew.“ Loguedo lehnte sich zurück. „Ich habe von dem Seewolf gehört. Aber niemand ist unsterblich. Ich dachte, daß Sie - ein ehrgeiziger, tatendurstiger Mann vielleicht die Befehlsgewalt an sich gerissen hätten. Das soll passieren.“ „Ich bin mit meinem Kapitän mehr als zufrieden.“ „Aber er ist an Land. Sie brauchen nur ein Wort zu sagen, und wir drehen beide ab, segeln nach Norden und werden eine sehr einträgliche Zeit in der Gegend um Madagaskar verbringen.“ Brighton erhob sich wütend. Ich mag Ihre Vorschlage nicht. Warten Sie, bis der Seewolf zurück ist. Dann können Sie ihm Ihre Bitte wegen der Trauung vortragen. Wenn Sie gestatten, werde ich Sie an Deck geleiten.“ Loguedo erhob sich ebenfalls und strich seinen Uniformrock glatt. Er lächelte spöttisch. „Ihr Kerle habt keinen Ehrgeiz mehr. Ich wollte ein Schiff, egal wie, und ich habe es, ohne Heuer auf Heuer zu legen oder einem alten miesen Reeder den Kopf verdrehen zu müssen, damit er mir ein Schiff anvertraut. Ich habe es geschafft und bereue nichts.“ „Die Ansichten sind verschieden.“ Sie gingen an Deck. Loguedo wies auf die ausgerannten Culverinen. „Wollen wir das nicht abblasen’?“ schlug er friedfertig vor. „Einverstanden“. erwiderte Ben Brighton. Dann gaben sie die entsprechenden Befehle, und die Besatzungen beider Schiffe brachten ein Hurra aus. Sie waren nicht wild darauf, sich die Köpfe
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einzuschlagen. Die Spannung legte sich augenblicklich. „Ich erwarte den Seewolf an Bord meines Schiffes“, sagte Christobal Loguedo eindringlich „Nach den Regeln des Anstandes ist schließlich ein Gegenbesuch fällig.“ Er grüßte korrekt, ehe er sich über das Schanzkleid schwang und die Jakobsleiter hinunterhangelte. Er sprang in das Beiboot. „Ruder an!“ erklang sein Kommando. Die Jolle löste sich von der Bordwand der „Isabella“ und hielt auf die „Vasco“ zu. Nachdenklich schaute Ben Brighton seinem Gast nach. * Hasard und seine Männer erreichten im Eiltempo die Anlegestelle und sprangen in die Jolle. Sie wußten, daß sie zu spät dran waren, denn sie hatten gesehen. daß die „Isabella“ ankerauf gegangen war und die weite Bucht verlassen hatte, um in die Querelen zwischen der „Infierno“ und der „Vasco“ einzugreifen. „Hinterher!“ knirschte Big Old Shane. Auch die anderen plagten sich mit der Vorstellung, länger, als ihnen lieb sein konnte. auf dieser öden Insel bleiben zu müssen. Nur Pedro Seroya sprach sich gegen das gewagte Unternehmen aus. „Ich möchte nicht so kurz vor einem Wiedersehen mit meiner Tochter Gloria ertrinken“, jammerte er. „Das Risiko, mit einer solchen Nußschale auf das offene Meer zu pullen, ist viel zu groß. Seid ihr lebensmüde?“ „Keineswegs.“ Stenmark lachte. „Wir wissen, was wir uns zutrauen können. Die schlappe Seemeile schaffen wir allemal.“ Hasard ließ ablegen. Die Crew pullte, als hänge aller Leben davon ab. Sie brauchte nicht einmal angefeuert zu werden. Kaum verließ die Jolle die einigermaßen geschützte Bucht, da wurde sie zum Spielball der Wellen. In einer Berg-undTal-Fahrt kämpfte sie sich durch die lange Dünung.
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Die Männer auf den Duchten schauten sich immer wieder besorgt. Jeder fürchtete den Zusammenstoß mit einem Wal, wie er dem Profos und seiner Bootscrew fast zum Verhängnis geworden war. Diesmal konnte niemand von der „Isabella“ helfend eingreifen, soviel stand fest. Die Galeone war mit dem zweiten Spanier beschäftigt, der sich bereits der „Infierno“ bemächtigt hatte. Hasard, der auf der Achterducht saß und das Ruder führte, schaute immer wieder besorgt zu den beiden Schiffen hinüber, und erst als Ben Brighton der „Vasco“ die Luvseite abgewann, atmete er auf. Seroya drehte fast durch, als die Drehbassen der beiden Segler loshackten. Er fürchtete, bei einem Gefecht zwischen die Fronten zu geraten. Als dann noch neben ihm der Ruf erklang: „Da bläst einer!“ schloß er mit seinem Leben ab. Einen Steinwurf entfernt stieg eine Wassersäule senkrecht in die Luft. Es wurden noch mehr, und der arme Seroya, dessen Nerven bei dem langen einsamen Aufenthalt auf der Insel offenbar arg strapaziert worden waren, zitterte wie Espenlaub, als er schließlich ein Dutzend Wale zählte. Sie mußten mit dem Beiboot mitten durch die Versammlung hindurch. und jeden Augenblick konnte einer der Meeresriesen die Jolle angreifen. „Wale sind unberechenbar“, stammelte der Portugiese. „Menschen auch“, sagte Hasard kalt. Langsam ging das Wehklagen des Portugiesen allen auf die Nerven. Big Old Shane spielte bereits mit dem Gedanken, den Burschen für eine Weile außenbords unter Wasser zu halten, damit er aufhörte. Er änderte nichts, er verbesserte nichts –er ließ sich nur von seiner Furcht beherrschen. Als sie die gefährlichen Walgründe hinter sich gebracht hatten, fand Seroya einen neuen Grund zum Klagen. Inzwischen hatten offenbar Christobal Loguedo und Ben Brighton diplomatische Beziehungen aufgenommen und beschlossen, sich nicht
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bis aufs Messer zu bekämpfen —zum gegenseitigen Vorteil. Jetzt meinte Pedro Seroya, dieser Schuft Loguedo werde seinen Verhandlungspartner einwickeln und die beiden würden sich am Ende auf seine, Seroyas, Kosten einigen. „Solange ich das Kommando führe, erhält jeder, was er verdient hat“; erklärte Hasard ärgerlich. „Und das ist so gut wie ein Vertrag“, bekräftigte Big Old Shane, der neben Seroya auf der Ducht saß, und gab ihm einen so kräftigen Rippenstoß, daß der Portugiese fast über Bord gekippt wäre. „Und jetzt würde ich mir überlegen, was der verdient, der seinen Begleitern dauernd auf die Nerven geht und jammert wie ein alter Waschlappen.“ Hasard spähte voraus. Die Distanz zur „Isabella“ schrumpfte. Gerade legte das Beiboot der „Vasco“ wieder ab, und Loguedo kehrte an Bord seines Schiffes zurück. Seroya geriet alsbald wieder in eine begreifliche Erregung, als er seinen Peiniger erkannte, dem er die furchtbare Zeit auf der Insel zu verdanken hatte. „Der Mann wird Ihnen nichts mehr anhaben können“, sagte Hasard. „Ben Brighton hat niemanden verraten. Er wird Loguedo in seine Schranken verwiesen haben, was immer der Kerl vorzuschlagen hatte.“ „Man kann dem Burschen nicht über den Weg trauen“, sagte Seroya. „Er hat mich hereingelegt, er kämpft gegen seine eigenen Landsleute, er hat vor nichts Achtung und ist unzuverlässig.“ Hasard erwiderte nichts mehr, denn er mußte die Jolle längsseits bringen. Er zog es vor, auf der Seite der „Isabella“ anzulegen, die von der „Vasco“ abgewandt war, denn er sah zu viele Musketenträger auf dem Deck. Hasard enterte als erster auf. Seine Männer umringten ihn und begrüßten ihn freudig. „Tut mir leid, daß ich euch nicht entgegensegeln konnte“, sagte Ben Brighton. „Aber ich war zu sehr mit
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diesem Loguedo beschäftigt, dem ich nicht über den Weg traue. Eins steht fest: Wenn man ihm den Rücken zuwendet, schießt er einen kaltblütig nieder. Er hat schon den richtigen Job: Schnapphahn zur See.“ Der Erste Offizier weihte den Seewolf in die merkwürdigen Vorschläge des Portugiesen ein. Hasard grinste. „Ich bin grundsätzlich bereit, alles zu tun, was nicht gerade unehrenhaft ist, um den Frieden zu bewahren. Schließlich hat niemand von uns Lust, hier in wilde Scharmützel verwickelt zu werden. Wir hätten kaum eine Chance. die .Vasco’ auf Anhieb zu bezwingen, und jeder feindliche Treffer erhöht unser Risiko, für immer und ewig in diesen eisigen Gewässern zu bleiben: Ben Brighton nickte bei diesen Worten des Seewolfs. „Also geht die Trauung über die Bühne?“ „Wenn Seroya einverstanden ist und seine Tochter ebenfalls — warum nicht?“ Seroya, der inzwischen an Bord gelangt war, stand neben den beiden und hörte aufmerksam zu. „Wenn Sie ein Mann von Ehre sind, werden Sie das nicht tun“, mischte sich der Portugiese ein. „Befreien Sie meine Tochter von diesem Ekel, und bestrafen Sie den Schuldigen.“ „Es ist nett, daß Sie mich für allmächtig halten, aber die Klugheit gebietet uns, jede Auseinandersetzung zu vermeiden“, erwiderte Hasard. „Sobald ich natürlich merke, daß Loguedo mit unfairen Mitteln sein Ziel erreichen will, werde ich ihm eine passende Antwort erteilen.“ Hasard trat an die Reling und rief die „Vasco“ an. Sofort erschien Loguedo an Deck. „Ich habe von Ihren Wünschen gehört, Senor !“ rief der Seewolf, der die Hände trichterförmig vor den Mund hielt. „Wenn alles seine Ordnung hat und ich mit der jungen Lady gesprochen habe, bin ich bereit, die Trauung zu vollziehen.“ „Ist Pedro Seroya denn einverstanden?“ fragte Loguedo und schien verblüfft zu sein. Sein Mißtrauen zwang ihn, alle
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möglichen Finten des Gegners blitzschnell zu berechnen. „Welche Wahl hat er? Er kann nicht mit uns segeln. Und Sie würden ihn kaum aufnehmen, solange er seinen Dickkopf behält, oder? Er hat seine Einwilligung erklärt.“ Bei dieser Eröffnung schwieg Loguedo überrascht. Dann meldete er sich wieder zu Wort: „Ich freue mich, daß Senor Seroya ein Einsehen hat. Ich habe lange genug darauf gewartet. Kommen Sie nur herüber. Ich freue mich auf Ihren Besuch.“ „Gehen wir“, sagte Hasard zu Seroya. Er selbst lieh dem Portugiesen ein paar Kleider, damit dieser seine lächerliche Ausstattung ablegen konnte: Dann ließen sie sich übersetzen. Seroya wurde immer stiller, je mehr sie sich der „Vasco“ näherten. Er hatte sichtlich Angst vor der Begegnung mit dem Mann, der ihm das Kommando mit Gewalt abgenommen und ihn auf der einsamen Insel ausgesetzt hatte. Dieses Gefühl stritt mit der Sehnsucht, endlich seine Tochter wiederzusehen, von der er so lange getrennt gewesen war. Auch Hasard war gespannt auf den Anblick jener Frau, die einen Mann wie Loguedo in ihren Bann geschlagen hatte. Nach dem, was er von Seroya gehört hatte, war Loguedo nicht gerade ein Mann, der seine Ziele mit Takt und Bescheidenheit ansteuerte. In diesem Fall aber hatte er sehr viel Geduld und Zurückhaltung bewiesen, jedenfalls, was die Auserwählte seines Herzens betraf. Seroya schien da nicht so sicher zu sein. „Wenn er Gloria auch nur ein Haar gekrümmt hat, bringe ich ihn um“, knirschte der Portugiese. Sie enterten an Bord des Kauffahrteischiffes. Wie nicht anders zu erwarten, sah es an Deck aus wie in den Reihen der Besatzung: Nachlässigkeit und Schlamperei führten das Regiment. Die zusammengewürfelte Crew bestand aus Halsabschneidern aller Länder und Völker.
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Christobal Loguedo begrüßte Hasard mit Herzlichkeit, und niemand konnte sagen, ob er heuchelte. „Ich freue mich, daß unsere Begegnung nicht den Verlauf genommen hat, den sie erst zu nehmen schien“, sagte der Kapitän der „Vasco“. „Die Vernunft hat gesiegt. Und so soll es bleiben, nicht wahr?“ „Dagegen ist nichts einzuwenden“, erwiderte Hasard trocken. Loguedo wandte sich seinem zukünftigen Schwiegervater zu und umarmte ihn so freudig und schwungvoll, wie es unter Verwandten üblich ist. Seroya dagegen rührte keinen Finger und stand steif wie ein Ladestock an Deck des Schiffes, das er einmal als Kapitän kommandiert hatte. Er schluckte vor Rührung. Die Mannschaft schien nicht gerade begeistert zu sein, den alten Kapitän wiederzusehen. Wie Hasard aus den Andeutungen der Kerle entnahm, hatte sich Seroya allenfalls durch reichlichen Alkoholgenuß und mangelnde Entschlußkraft ausgezeichnet. „Das Schiff ist nicht in dem Zustand, in dem ich es übergeben habe“, stellte Pedro Seroya fest. „Es ist ja auch einer anderen Verwendung zugeführt worden“, erwiderte Loguedo diplomatisch. „Ich beschäftige keine Putzkolonne, sondern eine Mannschaft harter Burschen, die nicht zögern, wenn es gilt, einem fremden Schiff die Schätze mit Gewalt abzunehmen. Ich bin daher zufrieden. Seit ich mit eiserner Hand meine Leute führe, haben sich unsere Beutezüge gelohnt. Sie mögen mich hassen, solange sie mich nur fürchten. Mit dieser Devise bin ich immer gut gefahren.“ „Wir sollten Senhorita Seroya begrüßen“, schlug Hasard vor, ehe der Disput in einen handfesten Streit auszuufern drohte. Damit erinnerte er den Portugiesen an den Zweck ihres Besuches. Loguedo nickte verständnisvoll und führte seine Gäste zum Achterdeck, wo die Kapitänskammer lag. Seroya stürmte in den feudal eingerichteten Raum und breitete die Arme aus, als er die zarte weiße Gestalt sah, die sich bei seinem
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Anblick aus einem kunstvoll geschnitzten Stuhl erhob. Das Mädchen mochte etwa neunzehn Jahre alt sein und war eine ausgesprochene Schönheit, wie Hasard feststellte. Gloria Seroya lief ihrem Vater entgegen und warf sich ihm an den Hals. Sie erdrückte ihn fast. Die beiden Wachen, die Anstalten zeigten, sie zurückzuhalten, wurden durch einen Wink Loguedos daran gehindert Vater und Tochter schluchzten um die Wette. Solange die schöne Portugiesin ihr Gesicht an der Brust Pedro Seroyas barg, mußte sich Hasard darauf beschränken, ihren Schwanenhals, das üppige blauschwarze Haar, das zu kunstvollen Zöpfen geflochten war, und die schlanken Hände zu bewundern. Die Finger insbesondere verrieten, daß sie noch nie mit körperlicher Arbeit beschäftigt gewesen waren. Tatsächlich handelte es sich um ein Luxusgeschöpf. Als aber Seroya sich endlich befreite und seine Tochter Hasard vorstellte, verstand dieser die Bemühungen und die Ausdauer Loguedos. Ein solches Wesen bezwang man nicht mit roher Gewalt. Wer noch einen Funken Anstand hatte, warb Gloria Seroya und gab niemals die Hoffnung auf. Hasard hatte nie eine schönere Frau gesehen. Blaue Augen, die je nach Stimmung heller leuchteten oder dunkel und verheißungsvoll schimmerten. beherrschten das zarte, in allen Einzelheiten perfekt geformte Gesicht. Gloria Seroya hatte eine angenehme Stimme. Hasard hielt die kühle, weiche Hand länger als notwendig, und Loguedo räusperte sich deutlich und zeigte Anzeichen von Eifersucht. Er wollte so schnell wie möglich .über die Einzelheiten der Trauung sprechen. Gloria Seroya erfuhr so zum ersten Male, daß ihr Vater nachgegeben hatte, aber sie beherrschte sich meisterhaft. Hasard hatte diesen Augenblick gefürchtet, denn es lag auf der Hand, daß auch Seroya
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auf seine Art in die Tochter vernarrt war. Hätte es auch nur ein kleines Zeichen gegeben, daß sie nicht einverstanden war, wäre er zu seinem alten Standpunkt zurückgekehrt, der ihm bereits einmal drei Jahre Aufenthalt auf der abgelegenen Vulkaninsel verschafft hatte. Und Christobal Loguedo, der Schönling, hätte nicht gezögert, den Seroyas abermals eine Lektion zu erteilen. Das hätte Hasard und seine Leute in eine schwierige Lage gebracht und den Kampf aufflammen lassen, den alle vermeiden wollten. „Wenn du es wünschst, Vater“, sagte Gloria Seroya leise. Sie hatte begriffen. Loguedo strahlte und übersah ganz, daß seine Auserwählte nicht ihn anschaute. Ihr Blick hing an Hasard. 5. Christobal Loguedo erwies sich als hartnäckiger Verhandlungspartner. Er feilschte um jede kleine Vergünstigung. Aber er zeigte Respekt vor dem Seewolf. So stimmten sie endlich überein, daß die Trauung zwar an Bord der „Isabella“, die eigentlichen Feierlichkeiten aber auf der „Vasco“¬ stattfinden sollten. Außerdem durften die Männer der „Infierno“ teilnehmen, Don Felipe de Almeida sogar als geladener Gast. „Ich muß allerdings auf einer Fortsetzung bestehen. Denn wenn Sie versuchen sollten, mich hereinzulegen, habe ich wenigstens ein Druckmittel, um Sie zur Vernunft zu bringen“, erklärte der Portugiese Hasard runzelte die Stirn. „Wenn Sie uns nicht trauen, Loguedo, lassen wir das Ganze besser“, mischte sich Seroya ein. „Laß nur, Vater“, beschwichtigte Gloria Seroya. „Ich meine“, fuhr Loguedo fort, „daß Sie von Ihrer Besatzung fünf Mann stellen, die mit ihrem Leben dafür bürgen, daß alles seine Ordnung hat. Ich denke da an diesen
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narbigen Riesen, Ihren Profos. Die vier anderen mögen Sie bestimmen.“ „Ich habe noch niemals meine Männer als Faustpfänder eingesetzt“, sagte Hasard kalt. Christobal Loguedo saß kerzengerade in seinem Stuhl mit der hohen geschnitzten Rückenlehne. „Sie sollten dieses Mal davon absehen“, sagte er. „Eher hätten wir wohl Grund, Ihnen zu mißtrauen“, erklärte Pedro Seroya. „Vergessen Sie das nicht.“ „Ich vergesse niemals etwas“, knurrte der Kapitän der „Vasco“. „Ich übersehe auch nichts. Ich habe bemerkt, daß meine Braut diesem Senor schöne Augen zuwirft. Das kränkt mich und läßt mich an der Aufrichtigkeit ihrer Gefühle mir gegenüber zweifeln. Ich bin in einer sehr schwierigen Lage und habe genug Zurückhaltung gewahrt, finde ich.“ Hasard hob beschwichtigend die Hände. „In diesem Fall sehen auch wir uns gezwungen, weitere Forderungen zu erheben“, entschied er. „Ich schlage vor, alle drei Schiffe verholen in die Bucht. Die ,Infierno` wird zwischen der ,Vasco` und der ‚Isabella’ liegen, gewissermaßen als Puffer, falls doch jemand auf den Gedanken verfallen sollte, den anderen zu übertölpeln.“ „Einverstanden, wenn ich die fünf Geiseln erhalte“, sagte Loguedo. Er biß sich nervös auf die Unterlippe. Der Seewolf nickte. Daraufhin erhoben sich alle Beteiligten, reichten sich die Hände und trennten sich in einer brüchigen Freundschaft, die bei dem geringsten Anlaß in Feindschaft umschlagen mußte. Es war ein trügerischer Friede, der erzielt worden war. Der Seewolf kehrte an Bord seines Schiffes zurück, während die Spanier von der „Infierno“ an Bord der „Vasco“ gebracht wurden, die das Beuteschiff in Schlepp nahm. Die drei Segler liefen in die weite Bucht ein. Sie vertäuten in der besprochenen Ordnung.
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Ed Carberry beschwerte sich bitter. „Bei allem Respekt will mir nicht -in den Kopf, daß wir auf den lausigen Portugiesen sollen. Wir sind doch keine Sauerkrautfässer, die man beliebig vertauscht.“ „Das ist höhere Diplomatie, du Salzhering“, antwortete Smoky wütend. „Hasard hat dir doch alles genau erklärt. Noch ist nicht aller Tage Abend. Du wirst sehen, wir werden die Sache schon schaukeln.“ „Wie redest du eigentlich mit mir, was, wie? Muß ich dir erst das Fell versohlen, du Rübenschwein?“ Der Profos verfiel in seinen gewohnt rauhen Ton. Das zeigte, daß er seine Seelenkrise überwunden hatte. Zwischen der „Vasco“ und der „Isabella“ gab es einen regen Pendelverkehr der jeweiligen Beiboote. Kaum waren der Profos, Smoky, Matt Davies, Old Donegal Daniel O’Flynn und Batuti den Portugiesen übergeben worden und die Leute der „Infierno“ an Bord der „Vasco“ gegangen, froh, daß die Piraten ihnen das Leben geschenkt hatten, da setzte Christobal Loguedo mit seiner Braut, Pedro Seroya und Don Felipe de Almeida über. Die Gesellschaft war so prächtig ausgestattet und das Mädchen so schön, daß die Seewölfe, die sich auf der Kuhl drängten, wie die Ölgötzen herumstanden und gafften. Erst als die schöne Portugiesin an Bord steigen wollte, geriet Leben in die rauhen Seebeine. Jeder wollte der Dame behilflich sein, und Hasard mußte mit einem Machtwort die Drängelei beenden, zumal Loguedo bereits wieder begann, eine finstere Miene aufzusetzen. Er konnte beim kleinsten Anlaß rasend werden vor Eifersucht und hatte Mühe, sich zu beherrschen. Hasard begrüßte die Gruppe an Bord der „Isabella“. Als aufmerksamer Gastgeber hatte er für die Getränke gesorgt. Der Kutscher war als Kellner ausstaffiert worden. Aber er zeigte sich seiner Aufgabe durchaus gewachsen.
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Als er den erstaunten Blick Pedro Seroyas bemerkte, sagte er grinsend: „So etwas lernt man eben bei Hofe.“ Christobal Loguedo verriet eine übergroße Nervosität. Er hatte lange genug auf diesen Augenblick gewartet und fürchtete, in letzter Sekunde könne noch etwas schiefgehen. Nur widerwillig unterzog er sich dem Zeremoniell an Bord. das ausgeklügelt war und von Hasard weidlich ausgenutzt wurde, um die leidige Amtshandlung so lange wie möglich hinauszuzögern. Die Kapitäne trugen prächtige Kleidung. Gloria Seroya hatte das Brautkleid angelegt, das Loguedo in seinem Schapp lange genug für sie aufbewahrt hatte. Sie tauschten Artigkeiten und Komplimente aus, und ein paar Seewölfe, die andächtig lauschten, schauten sich verblüfft an, weil dieser Ton so gar nicht zur Alltagssprache an Bord paßte. Selbst Philip und Hasard junior, die zum engeren Kreis der Hochzeitsgäste gehörten, zeigten, daß sie unter Ed Carberrys Fuchtel noch nicht alle Regeln der Etikette vergessen hatten, und machten ihrem Vater Ehre. Natürlich beschäftigte sich Gloria Seroya vorwiegend mit den beiden Jungen und nannte sie kleine Gentlemen. „Da schneide dir mal ‘ne Scheibe ab, du abgetakelte Seegurke“, zischte Jeff Bowie, der Mann aus Liverpool. Er stand mit Sam Roskill auf Horchposten. In der Kapitänskammer schien eitel Sonnenschein zu herrschen. Loguedo hatte sich herausgeputzt wie ein Pfau und trug an jedem seiner Finger einen kostbaren Ring, dessen Herkunft mehr als dunkel war — oder auch nicht. Je nachdem, was man von der Vergangenheit des Trägers wußte. Einige der Stücke hatten wohl vor noch nicht allzu langer Zeit die Hände irgendwelcher spanischer Höflinge oder reicher Kaufleute geschmückt, die ihre Passage nach Ostindien entweder nie mehr vergaßen oder bereits auf dem Grund des Meeres ruhten.
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Der Portugiese berichtete ungeniert von einigen seiner Kaperfahrten und vergaß nie zu betonen, welche glänzende Rolle er bei jedem Gefecht gespielt hatte. Don Felipe de Almeida mußte sich sehr beherrschen, um den Mann nicht schlicht einen Galgenvogel und Halsabschneider zu nennen. Gerade versuchte Christobal Loguedo, sich vorsichtig dem Ziel seiner Wünsche zu nähern und voller Ungeduld den Empfang zu verkürzen, um zum Kern der Dinge vorzustoßen, als in der Ferne ein dumpfes Grollen ertönte, dem ein harter Schlag folgte. An Deck entstand einige Verwirrung. Rufe ertönten, Füße trampelten über die Planken. Unwillkürlich griffen die Beteiligten der Hochzeitsfeier zu ihren Degen, glaubte doch jeder, der andere habe ihn betrogen und ein Enterkommando eingesetzt. Aber schnell klärte sich die Lage. Stenmark stürzte in die Kajüte und schrie: „Auf der Insel ist ein Vulkan ausgebrochen. Wir sollten schleunigst verholen!“ Hasard entschuldigte sich, froh über die willkommene Unterbrechung. Gefolgt von der ganzen Gesellschaft, stürzte er an Deck und starrte zur Insel. Einer der Gipfel schien lichterloh zu brennen. Man sah einzelne Felsbrocken und glühende Lava aus einem frisch aufgebrochenen Schlund schießen. So stark waren die Eruptionen, daß zentnerschwere Brocken leicht wie Federn in die Atmosphäre schossen und irgendwo auf der Vulkaninsel wie Granaten einschlugen. Was aber wirklich faszinierte, war das breite, glühende Band, das sich, alles verheerend, zum Ufer hinunterwälzte und irgendwann die Bucht erreichen mußte, in der die drei Schiffe ankerten. „Noch haben wir Zeit, Sir!“ rief Loguedo ärgerlich. „Wenn wir auf alle Floskeln verzichten, bin ich getraut, bevor wir wirklich gezwungen werden, ankerauf zu gehen.“ . „Senor, ich habe nicht vor, meine Tochter zu verramschen!“ schrie Pedro Seroya.
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Auch Hasard stellte sich auf seine Seite. Aber Christobal Loguedo bestand wütend auf Einhaltung der Absprache, sonst könne er für nichts garantieren. Der Seewolf verstand die unterschwellige Drohung des Portugiesen, blieb aber gelassen. Dieses Blatt, das ihm der Zufall in die Hand gespielt hatte, wollte er ausreizen. „Der Vulkan wird Ihnen die Antwort erteilen, Senor Loguedo“, sagte er gelassen. Alle an Bord starrten auf das faszinierende düstere Bild. Auch auf den beiden anderen Schiffen ließ man alles stehen und liegen. Kaum einer aus der Schar der Besatzung hatte ein solches Schauspiel jemals mit eigenen Augen gesehen. Da kümmerte es niemanden, als es heiße Asche zu regnen begann. Gleichzeitig lag ein ekelerregender Schwefelgestank in der Luft. „Ich bin der Ansicht, wir sollten die Anker hieven und die Bucht verlassen, ehe wir wirklich Ärger kriegen“, sagte Hasard. „Ich jedenfalls habe nicht vor, mein Schiff dieser Gefahr auszusetzen. Aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben.“ Belustigt stellte er fest, daß ihm Gloria Seroya einen Blick zuwarf, der Erleichterung verriet. Hasard gab seine Befehle. Die Crew eilte an die Fallen und setzte Segel. Der Anker wurde gelichtet. Da hatte Loguedo keine Wahl und gab seinen Männern ein Zeichen. Auch die „Vasco“ schickte sich an, zu verholen. Wie ernst die Lage wirklich war, zeigte sich, als unversehens, nach einem neuen feuerspeienden und grollenden Ausbruch, brandheiße Lavabrocken wie Geschosse in der Bucht niedergingen. Sie erwischten am schwersten die „Infierno“, die nicht ausreichend bemannt war. Die Löscharbeiten richteten nichts mehr aus. Die Crew rettete sich an Bord der „Vasco“. Einer der zurückgebliebenen Wachmannschaft ertrank bei dem Versuch, schwimmend überzusetzen. Das Durcheinander war perfekt. *
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Die brennende „Infierno“ war ein Anblick, den sich keiner an Bord der anderen Schiffe entgehen lassen wollte. Auch auf der „Vasco“ versammelte sich ein Großteil der Crew am Heck des Seglers und starrte in die hell auflodernden Flammen. Nur Ed Carberry und seine Leidensgenossen hockten im Kabelgatt, bewacht von zwei finsteren Gesellen, die Musketen bereithielten, falls die Seewölfe versuchen sollten, sich gewaltsam die Freiheit zurückzuholen. „Würdest du Nasenbär nicht wenigstens gestatten, daß wir die Köpfe aus diesem Verlies stecken können, um ein bißchen mehr von dem Brand zu sehen als nur Rauchwolken?“ erkundigte sich der Profos mißmutig. „Wir laufen euch schon nicht weg. Wohin sollten wir auch?„Ich habe keine Angst. daß ihr über Bord springt — bei dem kalten Wasser und eurer bekannten Abneigung gegen alle Flüssigkeiten, die äußerlich zur Anwendung gelangen“, entgegnete die Wache. „Aber es wäre gar nicht abwegig, wenn ihr die allgemeine Unaufmerksamkeit nutzen würdet, um auf das Achterdeck zu schleichen und euch Waffen zu besorgen. Habe ich recht?“ Die Männer aus Hasards Crew, im Halbdunkel ihres Gefängnisses, horchten auf und wechselten erstaunte Blicke. Das klang eigentlich verdächtig nach einem Tip. Der Profos räusperte sich. „Wenn wir das vorhätten, sollte es an Mumm nicht fehlen. Mit Verlaub gesagt, dieser Laffe Loguedo mit seinen Heiratsplänen und seiner goldstrotzenden Uniform stinkt mir gewaltig. Ich wäre gern bereit, ihm jeden erdenklichen Streich zu spielen, damit ihr wißt, wie der Hase läuft, ihr neunmalklugen geistigen Tieftaucher.“ „Wer mag Loguedo schon? Die meisten dieser Mannschaft hatten nie vor, Piraten und Halsabschneider zu werden. Aber sie wurden nicht gefragt, denn der harte Kern gehörte zu Loguedo, der alle gegen den sanften Kapitän Seroya aufgehetzt hatte. Seroya hat gewiß seine Fehler, aber er ist
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kein übler Kerl, während Loguedo ein kaltblütiger Mörder ist. Ich wünsche ihn in die tiefsten Tiefen der Hölle.“ „Wie heißt du, mein Sohn?“ „Gennaro Borreira, Profos. Ich stamme aus Faro.“ „Und dein Kumpel, der mit der Nase. die aussieht wie das Schwert eines Sägefisches?“ „Das ist Aquilo. Seinen Nachnamen will er nicht verraten. Er denkt genau wie ich.“ „Wir sollten uns zusammentun und diesem Spuk an Bord der ,Vasco` ein Ende bereiten, ehe diese schöne Lady den Kerl wirklich zum Mann kriegt“, sagte der Profos. „Soll das heißen, daß du eifersüchtig bist?“ „Mann, ich bin kein Jüngling mehr, sagte Carberry schnell. „Warum wirst du dann rot bis über Ohren?“ forschte Batuti, der neben dem Profos hockte. Unterdrücktes Gelächter ertönte. „Ich denke, wir sollten nicht zuviel t verlieren“, wandte sich der Profos wieder an die beiden Posten. „Wo die Pulverkammer? Und wer hat Schlüssel?“ „Wir führen euch schon hin. Denn mit von der Partie. Waffen finden wir in der Kapitänskammer und in der Waffenkammer darunter.“ „Warum tust du das alles wirklich?“ Mißtrauen klang aus der Stimme des Profos. Sicher gab es auf jedem Schiff Querköpfe und Leute, die der Schiffsführung nicht gerade Sympathie entgegenbrachten, aber Meuterei war ein besonderes Delikt. Das überlegte man sich zweimal, weil man sonst unweigerlich bei einem Scheitern an der nächsten Rah baumelte. „Ich möchte nicht, daß Loguedo euch auch noch hereinlegt. Ich habe .gehört, wie er lange mit dem Stückmeister flüsterte. Unser Feuerwerker ein gerissenes Kerlchen aus Shanghai, eine verschlagene Hafenratte, die voller übler Tricks steckt wie ein Hund voller Flöhe“, erwiderte Borreira. „Was hat das nun wieder zu bedeuten?“ brummte der Profos ärgerlich und schabte mit der Hand nachdenklich über die
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Bartstoppeln. Er hatte sich seit ein paar Tagen nicht mehr rasiert. „Das Schlitzauge hat eine Art Bombe erfunden, das Ding entzündet sich selbst. Man legt es irgendwo hin und ist schon längst über alle Berge. Bumm - geht die Ladung hoch!“ „Ich verstehe kein Wort.“ „Nun, er hat in den Deckel einer Pulvertonne ein Brennglas eingesetzt. Das Ganze stellt er dir so aufs Schiff, daß du es nicht so schnell findest, aber trotzdem Sonne einfallen kann. Das Pulver entzündet sich durch die im Brennglas zusammengefaßten Strahlen, und das Faß explodiert.“ „Teufel auch, was für eine höllische Konstruktion! Und diese schönen Überraschungen hat er mit an Bord unserer braven ‚Isabella’ genommen, um sich so für die Freundlichkeiten Hasards zu bedanken? Meinst du das?“ „So ist es!“ „Auf was warten wir dann noch? Wir müssen etwas unternehmen.“ „Warnen können wir eure Besatzung nicht. Das würden Loguedo und auch unsere Aufpasser an Bord merken. Die würden uns umbringen. Es gibt nur eine Möglichkeit: Wir müssen die ,Vasco` in unsere Gewalt bringen.“ „Von was rede ich denn die ganze Zeit, du Stint? Meinst du, ich will mit den Knaben eine Betstunde abhalten? Ich werde diese Höllenbrut durcheinanderwirbeln, daß jedem dieser Rübenschweine Hören und Sehen vergeht!“ schwor der Profos grimmig. „Ich kann den Zeitpunkt besser beurteilen“, erwiderte der Portugiese und bewies ausgezeichnete Nerven. „Gleich wird die feurige Lava das Meer erreichen.“ „Was hat das zu bedeuten?“ forschte Batuti. Carberry erteilte ihm die Antwort. „Strenge das an, was du sonst nutzlos in deiner Kokosnuß als Ballast fährst, du Wasserfloh“, knurrte Carberry und reckte unternehmungslustig das Rammkinn. „Sobald Feuer und Wasser aneinandergeraten, entwickelt sich mächtig
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viel Dampf, wie du dir denken kannst. Wir nutzen die allgemeine Verwirrung aus. Denn jeder wird sich das Schauspiel ansehen, und husch - husch sind wir in der Kapitänskammer.“ „Wenn wir Glück haben“, fügte der Wachtposten hinzu, „kriegen wir sogar hier noch ein bißchen Dampf ab. Die Neugierigen auf dem Achterkastell werden ein Dampfbad nehmen und schreiend die Flucht ergreifen.“ „Das hast du mir aus der Seele gesprochen, mein Sohn. Und du hast eine Begabung für schöne Worte. Ich sehe, du bist gebildet“, sagte der Profos aufgeräumt. „Nimm dir gefälligst ein Beispiel daran, Old Donegal. Du mit deinen haarsträubenden Geschichten von der ,Empress of Sea` solltest davon lernen. Denn wer schöne Worte spricht, dem lauscht man auch gern. Ist das klar?“ „Völlig“, sagte der alte O’Flynn sachlich. „Haltet euch bereit!“ sagte der Posten und öffnete das Kabelgatt. „Wenn ich das Zeichen gebe, stürmt ihr heraus, und wir flitzen zum Achterdeck. Ich habe ein Enterbeil und zwei Messer zu verschenken. Außerdem könnt ihr euch jede Menge Coffeynägel schnappen. Und dann auf sie!“ * Nachdem sich die Aufregung gelegt hatte und die Getränke zur Neige gingen, wurde Christobal Loguedo allmählich ungeduldig. Er hielt die ganze Zeit die Hand seiner Auserwählten. Sobald sich Gloria Seroya von ihm zurückzog, setzte der Portugiese nach sehr zum Mißvergnügen der Braut und aller Beteiligten, bis auf die natürlich, die zu der Mannschaft Loguedos gehörten. Und er hatte nur seine vertrautesten Freunde mitgenommen, auf die er sich verlassen konnte. Die auffälligste Erscheinung unter ihnen war zweifellos Lioa Phung, ein ewig lächelnder fetter Sohn des Reiches der Mitte. Er huschte wie eine große Ratte auf der „Isabella“ herum und versetzte die
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Mannschaft in Unruhe, weil es schwer war, ihn im Auge zu behalten. Andererseits konnte sich niemand vorstellen, daß ein einzelner Mann wirklich Schaden anzurichten vermochte, und so war es Phung gelungen, seine drei heimtückischen Geschenke an Bord zu verstecken. Wenn erst die Bewölkung aufriß und die Sonne sich zeigte, würde an Bord der Galeone die Hölle losbrechen. Der Alptraum eines jeden Seemanns würde sich erfüllen: Feuer an Bord. Phung kehrte in die Kapitänskammer zurück und meldete seinem Kapitän, daß alle Vorbereitungen getroffen seien, um die Hochzeit gebührend zu feiern. Der Chinese trug einen lackschwarzen Zopf, ein Seidenkäppchen und ein blaues Obergewand, in dessen weite Ärmel sich ständig seine Hände verkrochen, die er übereinander schob, während er sich mit breitem Grinsen ein ums andere Mal verneigte. „Wenn der so weiterspinnt, haue ich ihn in die Suppe“, raunte der Kutscher Hasard ins Ohr, während er ihm Wein nachfüllte. „Wir sollten jetzt wirklich beginnen“, drängte Loguedo. Hilfesuchend schaute Gloria Seroya auf den Seewolf, der mit den Schultern zuckte. Er konnte nichts unternehmen. Ihm waren die Hände gebunden. Er war weit genug gegangen, um einen selbstmörderischen Zweikampf mit der „Vasco“ zu verhindern. In einem solchen Kampf hätte es nur einen Pyrrhussieg geben können - für die eine oder die andere Seite. Aber wahrscheinlich wären beide Schiffe am Ende manövrierunfähig. Gewesen. Was das in diesen Breiten, bei diesem Klima, dem Treibeis und dem Mangel an Verpflegung bedeutete, konnte sich jeder unschwer ausmalen. Pedro Seroya wagte nicht aufzuschauen. Er starrte das Tischtuch an und glättete es mechanisch mit den Händen. Don Felipe de Almeida schämte sich sichtlich. Er war gezwungen, hier mit einem Feind Spaniens an einem Tisch zu sitzen - mit Loguedo, der ein übler Schnapphahn und Schlagetot war. Er hatte
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sein Schiff verloren und war erledigt. Eigentlich hatte er nichts mehr zu verlieren. Er spielte mit dem Gedanken, diesen herausgeputzten Strolch umzubringen, aber erstens gehörten drei schwerbewaffnete Begleiter zu Loguedo und zweitens war klar, was Hasard tun würde. Und vor dem Seewolf hatte Don Felipe besonderen Respekt. Ihn wünschte er sich nicht zum Gegner. „Ich habe meine Trauzeugen benannt, das Dokument ist aufgesetzt - auf was warten wir noch?“ erkundigte sich Loguedo ärgerlich. „Fast könnte man meinen, Sie wollten Zeit herausschinden und bereiteten etwas vor.“ Hasard nahm den Gedanken begeistert auf, gab er ihm doch Gelegenheit, eine lange und zeitraubende Verteidigungsrede zu halten. Er brachte eine rhetorische Meisterleistung, verwahrte sich zunächst gekränkt gegen den Vorwurf Loguedos und betonte dann die ausgezeichneten Beziehungen und die Möglichkeit, sie zum beiderseitigen Vorteil auszubauen. Pedro Seroya sperrte Mund und Ohren auf. Don Felipe lauschte schmunzelnd. Der Kutscher lehnte verträumt an der Wand, vergaß ganz seine Pflichten als Mundschenk und badete in Worten und formvollendeten Redewendungen. Gloria Seroya hörte hingerissen zu. Sie mochte diese Stimme und achtete keine Spur auf die Worte, die an ihr Ohr drangen. Sie bildete sich einen eigenen Text, und ihre Phantasie trieb dabei üppige Blüten. Sie träumte davon, diese Feier gelte ihr und dem Seewolf und nicht etwa Loguedo sei der Bewerber um ihre Hand, der mit List und Tücke fast sein Ziel erreicht hatte. Die drei Begleiter des Kapitäns der „Vasco“ rutschten unruhig auf ihren Sitzen herum. Ihnen war der Besuch unheimlich. Sie würden sich erst wieder wohlfühlen, wenn sie an Deck der „Vasco“ standen. Dies hier war Feindesland. Sie hatten es nie anders gesehen. Sie trauten niemandem — wie niemand Anlaß hatte, ihnen zu trauen. Sie waren Männer ohne Ehre und
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Grundsätze. Verträge galten nur so lange, wie es ihnen einfiel, sie zu halten. Ein einmal gegebenes Wort verpflichtete sie tatsächlich zu nichts. Deshalb rechneten sie jede Sekunde damit, daß die Seewölfe über sie herfielen und sie massakrierten —wie sie es im umgekehrten Fall mit Sicherheit getan hätten. Was das Schicksal der fünf gestellten Geiseln betraf, wären sie nicht von Skrupeln geplagt worden. Sie verrieten Freunde, wenn es ihnen so paßte, und wer ihnen keinen Vorteil brachte, war so nutzlos für sie wie eine Kakerlake in der Kombüse. Die drei Galgenvögel hielten heimlich ihre Waffen bereit. Sie fieberten dem Ende der Zusammenkunft entgegen. Das alles entging dem Seewolf nicht, und er spannte seine Zuhörer gehörig auf die Folter. Jede Unterbrechung, jeden Einwand wies er geschickt zurück, und als Loguedo ihn einmal zu hart bedrängte, fragte er geradeheraus: „Wollen Sie mich beleidigen, Senhor? Haben Sie, bitte, die Güte, mich wenigstens aussprechen zu lassen. Sie sind Gast an Bord meines Schiffes.“ Loguedo schluckte die bittere Medizin. Aber einmal mußte auch Hasard ein Ende finden. Geschickt versuchte er, Pedro Seroya, dem Vater der Braut, das Wort zu erteilen, aber das verhinderte Loguedo, indem er dem Alten unter dem Tisch gehörig gegen das Schienbein trat. Seroya hielt sich an diese Regieanweisung. „Nachdem Sie uns mit soviel Eleganz und Beredsamkeit auf unsere Pflichten und die Bedeutung der Eheschließung hingewiesen haben, Senor“, sagte Loguedo mit mühsam bewahrter Beherrschung und erhob sich zu voller Größe, „werden Sie jetzt die Güte haben, die eigentliche Trauung vorzunehmen. Und auf die Gefahr hin, daß ich Sie enttäusche: Die Trauringe habe ich nicht vergessen!“ Hasard nickte. Er ließ alle Anwesenden aufstehen und trat an seinen schweren Schreibtisch, auf dem sich 1 noch Seekarten stapelten. In der Mitte lag die Bibel aufgeschlagen.
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Hasard ließ die kleine Gemeinde ein Gebet sprechen, zu dem er einen frei erfundenen Text gab, und er fiel entsprechend lang aus. Die Stimme des verliebten Portugiesen wurde merklich müder. Das Falsett des Chinesen, der mitplapperte, drang immer mehr durch. und die Zwillinge schwiegen längst erschöpft. Nur die helle, klare Stimme Glorias ertönte mit einer ungewöhnlichen Intensität. Ihren Vater hatte längs: die Rührung übermannt. Er sah nämlich keine Rettung mehr für seine Tochter. Das Verhängnis nahm meinen Lauf. Tatsächlich trat aber eine Wende ein, mit der niemand mehr gerechnet hatte. Selbst Hasard, der seinen Profos zur Genüge kannte, war unsicher geworden in seiner schwachen Hoffnung. Wahrscheinlich gab es an Bord der „Vasco“ nicht die geringste Chance, das Blatt zu wenden und den Spieß umzudrehen. Sonst hätte Carberry längst mit dem gewohnten e Schwung dreingeschlagen. Da er sich nicht rührte, konnte das nur bedeuten, daß er brav mit den anderen im Kabelgatt des Portugiesen hockte und mit seinem Schicksal haderte. Vielleicht war er auch beleidigt, weil Hasard ihn als Geisel bestimmt hatte. Denn es war keine Zeit gewesen, dem Profos zu sagen, welche Verantwortung das bedeutete. Das Trauungszeremoniell war bis zu jenem entscheidenden Punkt gediehen. da Hasard das Paar kraft seines Amtes zu Mann und Frau erklären mußte. Dann hatte die Eheschließung kirchengesetzliche Kraft. Eine Aufhebung ließ sich nur schwer und mit Genehmigung des Vatikans erreichen. Beide Ehepartner waren katholisch. Unter dem Druck der Umstände hatte Gloria Seroya ihr Jawort gegeben, mit einer fast trotzigen Stimme. Sie hatte wohl begriffen, daß sie dieses Opfer bringen mußte. Sie schaute Hasard fest an. Der Seewolf holte unter dem Einfluß dieser dunkelblauen großen Augen ein wenig schwer Atem und wollte gerade die
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verhängnisvolle Formel sprechen, da ertönte ein Geschrei aus rauhen Kehlen, das sehr dünn herüberdrang, aber an Bord der „Isabella“ sofort aufgenommen wurde und ein vielfältiges Echo fand: „Arwenack! Arwenack!“ Ein Strahlen lief über das wettergebräunte Gesicht des Seewolfs. Mit einem Schritt war er beim Bräutigam und schloß die feierliche Handlung auf sehr ungewöhnliche Weise ab: Seine Rechte krachte unter das Kinn des Portugiesen. Loguedo verdrehte die Augen und wirbelte einmal um die eigene Achse. Dann knickten ihm die Beine weg, und er fiel schwer zu Boden. Er landete auf dem Gesicht und hatte nicht einmal mehr die Kraft, den Sturz mit den Händen abzufangen. Der Kutscher aber, der es seit langem auf den Chinesen abgesehen hatte, drosch dem Chinamann einen Zinnkrug über den Schädel, daß der Überraschte sofort ins Reich der Träume ging. Die Begleiter des Portugiesen hatten noch Zeit, die Degen zu zücken, aber Hasard und Don Felipe handelten sofort. Sie zogen ebenfalls blank und stellten sich schützend vor Pedro Seroya und seine Tochter Gloria. Erbittert kreuzten die Gegner die Klingen. Mit klirrenden Schlägen trieb der Seewolf seinen Widersacher vor sich her, nagelte ihn am Schott fest, und der Kontrahent ergab sich. Don Felipe geriet zunächst in einige Bedrängnis. Der schlanke Bursche, mit dem er kämpfte, erwies sich als ein Meister der Fechtkunst. Er beschäftigte den spanischen Offizier pausenlos, spielte fast mit ihm und ritzte ihm lässig die Uniform, ehe er sich entschloß. aufs Ganze zu gehen. Ein paar Finten, eine verheerend Terz, und Don Felipe blutete am Kopf. Er wich verwirrt zurück. Da griff der Kutscher ein und setzte den übermütigen Angreifer außer Gefecht. Es gab einen hohlen, dumpfen Schlag – und der Pirat hockte verdutzt am Boden. Der Kutscher stellte sich auf dessen Degenhand und knurrte: „Wenn du jetzt
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nach deiner Pistole greifst, du Bastard, bist du erledigt.“ Er unterstrich seine Drohung mit einem Küchenmesser von imponierenden Ausmaßen, das er aus dem Ärmel gezogen hatte und stoßbereit in der Rechten hielt. Da gaben sich die Burschen geschlagen. Sie wurden gefesselt. Der Seewolf hatte es eilig, an Deck zu gelangen, denn noch immer knallten Schüsse auf der nahen „Vasco da Gama“. 6. Das Schott zum Kabelgatt flog auf. Ed Carberry stürmte als erster an Deck, das Rammkinn vorgeschoben, grimmige Entschlossenheit auf dem Narbengesicht. Er hatte sich nicht schlecht ausgerüstet in dem Verlies. Er schwang wie ein Wilder an kurzem Stropp eine Talje, die um seinen Kopf schwirrte. Er war bereit, damit alles niederzumähen. Seine Kameraden drängten nach, und die Wachen schlossen sich an. Alles näherte sich dem Achterdeck, das in eine weißblaue Qualmwolke gehüllt war, in der schemenhaft Menschen zu erkennen waren, die erschrocken zurückwichen. Die glühende Lava hatte sich ins kalte Meer ergossen. Der Wasserdampf erfüllte die gesamte Bucht. Das Zischen übertönte jedes Geräusch. Der Profos und seine Verbündeten hatten eigentlich leichtes Spiel. Sie stürmten durch den tarnenden Schleier, enterten das Achterdeck und stürzten auf das Schott der Kapitänskajüte zu. Wäre Ed Carberry dabei nicht gegen einen Bewaffneten geprallt, dann hätte man wahrscheinlich den Ausbruch der Geiseln viel zu spät bemerkt. So aber starrte der Pirat verwirrt auf den wüsten Riesen und riß sofort die Muskete hoch. Der Profos knallte dem Verdutzten den Block vierkant vor den Kopf und streckte den Burschen damit nieder. Aber im Fallen feuerte der Mann noch die Muskete ab. Die Kugel zischte harmlos himmelwärts, aber
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der Schuß alarmierte alles, was auf dem Achterdeck herumlungerte. Jeder war gewarnt und hielt die Waffe schußbereit. Wo immer ein feindlicher Schädel im Dunst auftauchte, schwirrten die Belegnägel durch die Luft. Meist trafen sie ihr Ziel. Borreira, der sich hier besser auskannte, führte jetzt den Stoßtrupp. Alle erreichten unversehrt das Ziel. Batuti knallte das Schott zu und verriegelte es. „Hier entlang“, drängte aufgeregt der hilfreiche Wachtposten. Sie erwischten in der Kapitänskajüte ein paar Pistolen nebst Pulver und Blei, aber den Schlüssel zur Waffenkammer fanden sie nicht. Indes hatten sich die Leute der „Vasco“ von ihrer ersten Überraschung erholt. Kugeln pfiffen durch das Schott. Dann erklangen Axthiebe. Der Profos gab kühl seine Kommandos. Ein Mann mit sämtlichen Feuerwaffen wurde vor Ort postiert. Er feuerte von Zeit zu Zeit durch das geschlossene Schott und hielt die Kerle da draußen davon ab, allzu emsig die Zimmermannsaxt zu schwingen. Inzwischen bearbeiteten Carberry und zwei Helfer mit Enterbeilen den Zugang zur Waffenkammer der Vasco“. Es hing davon ab, wer schneller ans Ziel gelangte. Und so legten die Seewölfe los, daß die Fetzen flogen. wenn sie sich nicht schleunigst gut armierten, wurden sie von den Kerlen der „Vasco“ überrannt. Die Piraten waren zweifellos in der Überzahl. Und die Männer der „Infierno“, soweit sie sich hatten auf den Portugiesen flüchten können, fielen aus. Sie lagen in Ketten in der Last. Da war der gerissene Don Loguedo kein Risiko eingegangen. Ihm genügten fünf Seewölfe an Bord, die nur in einem Kabelgatt gefangen gehalten wurden. Die Ereignisse hatten ja auch seinen Befürchtungen recht gegeben. Carberry wütete wie ein Berserker, als wolle er sich allein durch die Holzbohlen hacken. Die Späne flogen nur so.
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Beeilt euch!“ mahnte Old O’Flynn d feuerte wieder aus einer Radschloßpistole. „Lange kann ich die krummen Hunde nicht mehr aufhalten.“ Ein dumpfes Wummern verriet, dass die Kerle da draußen jetzt eine Art Rammbock einsetzten, um sich gang zu verschaffen. Das spornte Ed Carberry gehörig Der Riese warf sich ungestüm gegen das Schott. Er schaffte sich mehr Raum und nahm einen gehörigen Anlauf. Und schon landete er bäuchlings in der Waffenkammer. Aber er strahlte beim Anblick der blankgeputzten Waffen und der üppigen Vorräte an Pulver und Blei. Jeder schnappte sich schnell eine Muskete, stopfte sich ein paar Pistolen die Bauchschärpe und lud, so schnell er konnte: Es fiel kein Wort, während sie mit dem Pulver hantierten. „Los jetzt“, sagte der Profos und beeilte sich, Old O’Flynn zu unterstützen. „Mann, du sollst dich nicht ausruhen“, schnaufte der Alte, ein Kerl aus Granit und Eisen, und grinste über sein verwittertes Gesicht. „Ich dachte schon, du wärst eingeschlafen. Du wirst langsam alt, Mister Carberry!“ „Wann ich alt werde, sage ich dir noch, du Rübenferkel“, brummte der Profos und kniete sich mit schußbereiter Muskete hin, bereit, auf den ersten Eindringling zu feuern. Old Donegal Daniel O’Flynn aber stand aufrecht, weil er keine Wahl hatte. Er stützte sich schwer auf zwei Krücken. Und dann brach das Schott unter dem Ansturm der wütenden Piraten. Sie jagten blind vorwärts. Nur einer gelangte zum Schuß. Dann knallte die Salve der Gegenseite. Mittlerweile hatten alle Seewölfe und die beiden Portugiesen Stellung bezogen. Sie alle drückten gleichzeitig ab. Pulverqualm waberte durch den Gang. Die Ohren dröhnten. Aber dort, wo eben noch die Enterbeile geblitzt hatten, war es hell und leer. Sterbende lagen am Boden. Verwundete hinkten aus dem Schußbereich.
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Auch Old O’Flynn hatte es erwischt. Er saß am Boden und starrte wütend auf sein Holzbein, das einen sauberen Einschuß trug. „Teufel noch mal!“ stöhnte er. „Wenn die das andere Bein erwischt hätten!“ Die Seewölfe lachten rauh. Der Profos wagte sich weiter vor. Wer nachgeladen hatte, folgte ihm. Die nächste Salve räumte das Achterdeck von allem, was sich noch aus eigener Kraft bewegen konnte. Die Kerle flohen Hals über Kopf über die Kuhl und verschanzten sich irgendwo auf dem Vorschiff. Sie mußten sich erst einmal wieder sammeln. Noch gab sich keine Seite geschlagen. Der Kampf konnte lange dauern und verlustreich für beide Seiten enden. Es brachte wenig, wenn man sich auf Distanz beschoß. Wer die „Vasco“ für sich erobern wollte, mußte schon angreifen und riskieren, sich einen blutigen Kopf zu holen. Die Piraten erwiesen sich jedenfalls als rauhe und gefährliche Burschen, denen immer noch etwas einfiel, auch wenn sie schon mit dem Rücken zur Wand standen. Carberry kriegte das zu spüren. Er bat um Feuerschutz und wollte mit Batuti bis an die Schmuckbalustrade vorrücken, die das Achterdeck zur Kuhl hin abschloß. Dann wollten sie feuern, was die Rohre hergaben, und der Rest der Crew sollte folgen. Das hatte er sich gut ausgedacht, aber die Piraten zeigten, daß sie auf dem Posten waren. Sie hatten die Bugdrehbasse herumgeschwenkt und schossen, was das Zeug hielt. Gehacktes Blei spritzte dem Profos in solchen Mengen um den Kopf, daß er ihn schleunigst wieder einzog. „Verdammt, die haben es auf meine Schlappohren abgesehen!“ brüllte der Profos empört. Er spähte hinüber zu der Heckdrehbasse, die er gut gebrauchen konnte, um es den Burschen da vorn heimzuzahlen. Aber der Weg war zu weit. Niemand schaffte ihn. „Wir sitzen in der Falle“, stöhnte Borreira und wurde blaß um die Nase. Denn er
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konnte sich jetzt ausmalen, was geschehen würde: Sie wurden durch die Drehbasse im Achterdeck festgenagelt, während die Piraten im Schutz der Drehbasse ungehindert vorrücken würden. Ein paar Flaschenbomben - und der Aufruhr an Bord fiel in sich zusammen. Die Überlebenden wurden gehenkt, und die „Vasco“ wechselte nicht den Besitzer. „Ich versuche es“, sagte der Portugiese tapfer. „Mehr als sterben kann ich nicht. Ich schnappe mir unsere Drehbasse!“ Er wollte sich am Profos vorbeidrängen, aber die mächtige Pranke Carberrys krallte sich in sein Genick. „Es ist deine Sache, wenn du lebensmüde bist, Bürschchen“, grollte der Profos. „Aber für Ed Carberry braucht sich niemand zu opfern. Lieber gehe ich!“ Jedesmal wenn er versuchte, den Mann an der Drehbasse mit einem flinken Schuß auszuschalten, krachten drüben die Musketen. Versuchte er aber, das Achterdeck zu verlassen, hackte die Drehbasse los. Es war zum Verzweifeln. Die Rettung erfolgte von einer anderen Seite. Big Old Shane, der ehemalige Schmied von Arwenack, war mit seinem mannsgroßen Bogen aufgeentert. Er stand in den Wanten, und seine mächtigen Arme spannten die Sehne. Ein Pfeil war aufgelegt. Unmerklich verholte die „Isabella“ und rückte ein wenig näher an die „Vasco“ heran. Big Old Shane schoß und traf. Der Mann an der Drehbasse sackte zusammen. Dann begann die Drehbasse der „Isabella“ Sperrfeuer zu schießen Mittlerweile hatten sich alle an Bor der Galeone einen Überblick ver- schafft und konnten es wagen, in da Kampfgeschehen einzugreifen, ohne die eigenen Leute zu gefährden. „Das ist unsere Stunde!“ frohlockte der Profos. Er stürmte los, gefolgt von seinen Getreuen.
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„Arwenack! Arwenack!“ gellte ihr .Kampfruf über das Mitteldeck. Der Profos fiel über die Piraten her wie ein Orkan. Einzeln wurden die Burschen niedergekämpft, und am Ende blieben die Männer der „Isabella“ Sieger. Das Schicksal der „Vasco“ war besiegelt, nachdem die „Isabella“ längseits gegangen war und mehr und mehr Seewölfe übersetzten. Als der Widerstand der Besatzung sinnlos wurde und die Piraten die Waffen streckten, wurde ihnen Pardon gegeben, etwas, was sie nie gewährt hatten. Die Verwundeten wurden versorgt, die wenigen Gefallenen erhielten ein würdiges Begräbnis. Der Rest r Besatzung tauschte die Ketten mit denen, die von der „Infierno“ kamen. Spanier und Engländer verbrüdern sich. Einige der Männer von der „Infierno“ begannen im ersten Siegestaumel, die Vorräte der „Vasco“, die beträchtlich waren, zu plündern. Aber da schritt der Profos ein. Nach ersten Schwierigkeiten setzte er sich schnell durch. „Wenn ihr verdammten Dons glaubt, ihr könntet eure dreckigen Pfoten auf alles legen, was ein paar brave britische Seeleute mühsam erobert haben, dann täuscht ihr euch, und ich werde euch höchstpersönlich eure Affenärsche ...“, tobte der Pro„Genug, Ed“, mahnte der Seewolf, der neben Don Felipe an Deck der „Isabella“ stand. „Du solltest dich übrigens für eines der Schiffe entscheiden. Die ,Isabella’ segelt weiter. Oder möchtest du auf der ,Vasco’ bleiben?“ „Wie, was? Soll das ein Scherz sein? Wo, Sir, mit Verlaub und zum Teufel, gehöre ich wohl hin!“ Der Riese hatte es sehr eilig, überzusteigen, und wäre um ein Haar auf der glitschigen Laufplanke ausgerutscht. Batuti, der ihm auf dem Fuß folgte, konnte ihn gerade noch vor einem folgenschweren Sturz bewahren. Wer an Deck der „Isabella stand, grinste fröhlich.
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„Lacht nur, ihr ahnungslosen Idioten“, grollte der Profos. „Ihr denkt, ich flitze hier wie eine Musketenkugel herum, weil ihr meint, ich hätte Angst davor, nicht mehr an Bord der ‚Isabella’ zu kommen, ehe sie die Segel setzt, was wie?“ Er erntete neue Heiterkeitsausbrüche. Das Lachen trieb ihm die Zornröte ins Gesicht, und er schrie: „Ich will nämlich verhindern, daß ihr Blindfische eine Reise zum Mond antretet! Wenn mich nicht alles täuscht, hat dieser gelbe Halunke von einem Piraten euch ein paar kräftige Eier untergeschoben, an denen ihr nicht mehr lange brüten werdet, wenn ich mir die Sonne ansehe.“ Niemand verstand den Profos auf Anhieb, aber als er sich näher erklärte, begann eine hektische Suche. Tatsächlich hatte sich die Bewölkung gelichtet, und die fahle Sonne reichte vielleicht aus, um die Ladung zur Explosion zu bringen. Deshalb war jeder mit dabei, und das Schiff wurde gründlich durchsucht. Es fanden sich zwei kleine Fässer, die geschickt versteckt waren und für einiges Unheil gesorgt hätten. Das dritte blieb verschwunden. Der Chinese, der einem rauhen Verhör unterzogen wurde, zeigte sich selbst unangenehm überrascht, weil ihm niemand glauben mochte, daß die dritte Ladung verschwunden war. An dem Platz, an dem er sie selbst deponiert hatte, befand sie sich jedenfalls nicht mehr. „Du heiliges Kanonenrohr!“ stöhnte der Profos und kratzte sich ratlos den massigen Schädel. „Wenn das mein Urahne wüßte, daß ich so elendiglich und ruhmlos zur Hölle fahren soll, er würde sich im Grabe drehen.“ „Das habe ich kommen sehen, meinte der Blinde“, mischte sich Old Donegal ein. Unruhig stampfte er auf seinem zerschossenen Holzbein auf dem Mitteldeck herum. Erst der Kutscher brachte die Hilfe, die dringend notwendig war. Er hatte nämlich Geräusche in der Kombüse gehört. Empört darüber, daß es jemand wagte, in seinem Reich herumzuschnüffeln, war er
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hinzugeschlichen. Er hatte erwartet, die Zwillinge anzutreffen, die bekannt dafür waren, daß sie aus der Kombüse alle: stibitzten, was nicht niet- und nagelfest und im weitesten Sinne eßbar war. Zu seinem Erstaunen hatte der Kutscher aber Arwenack, den Schimpansen, entdeckt, der, halb verhungert und in letzter Zeit über Gebühr vernachlässigt, versuchte. auf eigene Faust Proviant zu besorgen. Er versuchte gerade, mit einen Marlspieker das glänzende „Auge“ eines kleinen handlichen Fasses auszustechen, um an den Inhalt zu gelangen. Er spitzte bereits die Lippen und hechelte vor Freßlust. „Gib mal her, mein Freund!“ hatte der Kutscher gerufen und sich vorsichtig genähert. Aber da war der Schimpanse ausgerissen. Keckernd war er aufgeentert und saß jetzt in den Wanten, das verhängnisvolle Faß immer noch unter dem Arm. Das verdammte Brennglas wies genau auf die Sonne. Ein halbes Dutzend Seewölfe bemühte sich um den störrischen Affen, drohte und bettelte. Vergeblich! Arwenack beharrte auf seiner Beute, in der er wohl irgendwelche Köstlichkeiten vermutete. Ungeduld brachte gar nichts. Sobald sich ein Verfolger näherte. zog sich der Affe sofort zurück und hangelte weiter. „Laßt ihn doch“, sagte Hasard, „sonst fällt ihm das Faß hinunter, schlägt aufs Deck und reißt ein Loch — wenn nicht noch Schlimmeres passiert. Bringt mir lieber Sir John!“ Philip junior begriff seinen Vater sofort. Er brachte den Papagei, und Hasard nahm ihn auf die Faust. „Hör zu, du Wunderkind der Tropen“, sagte der Seewolf. „Siehst du. da ist dein Freund Arwenack. Der hat dir dein Futter weggenommen.“ „Sir, ein verdammter Papagei ist doch kein Jagdfalke, was, wie?“ sagte der Profos atemlos, schwieg aber, als er merkte, wie der bunte Vogel den Kopf reckte und aus wachen Augen betrachtete, was der Schimpanse
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Der Papagei startete mit Vehemenz und kriegte so viel Wind unter die Flügel, daß es ihn abzutreiben drohte. Er mußte kräftig mit den Schwingen schlagen, um sein Ziel anzusteuern, während der Schimpanse bibbernd vor Kälte im Mast hockte und sich mit dem Faß abquälHasard verteilte seine Männer an Deck und schärfte ihnen ein, rechtzeitig die Arme auszubreiten, falls ein Unglück geschah und das Faß nicht wie vorgesehen außenbords ging. Mit einem mißtönenden Krächzen griff Sir John an, der seinem Bordgefährten das vermeintliche Futter abjagen wollte. Seine Krallen ritzten Arwenack am schnell eingezogenen Zopf. Der Affe setzte sich zähnefletschend zur Wehr, erbeutete auch eine Feder; aber auf Kosten des Fasses. Es entglitt ihm prompt, streifte so unglücklich eine Webleine, daß es aus der Richtung geriet, und sauste dort nieder, wo die Männer nicht bereitstanden — nämlich mit Kurs auf die Schmuckbalustrade. Dort befanden sich nur der Profos und Hasard. Carberry breitete automatisch die Arme aus, gab sogar in den Knien federnd nach und ging, ohne lange nachzudenken, ungewohnt sanft die gefährliche Fracht auf. Dann erst glitt sein Unterkiefer ich unten. Zart wie ein Baby, mit unbeschreiblichem Ausdruck auf seinem Narbengesicht, trug der Profos das Pulverfaß zum Heck der „Isabella“ und warf es ins Wasser. Unter Beifall kehrte er zurück. Er grinste stolz wie nie zuvor. * „Es ist Zeit, daß wir uns verabschieden“, sagte der Seewolf. Er schüttelte Pedro Seroya die Hand. Dann nickte er Gloria-betont kühl zu. Er war
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nicht der Mann, der falsche Hoffnungen erweckte. An Bord der „Isabella“ war kein Platz für eine Frau. Was für die Mannschaft galt, war auch für den Kapitän verbindlich, oder er verlor das Vertrauen seiner Männer. „Sie, Don Felipe, gehen eigentlich als Sieger aus dieser Begegnung hervor“, sagte Hasard lächelnd. „Sie haben zwar die ,Infierno` verloren, aber die ,Vasco’ gewonnen. Ihr Vater, der Admiral, wird Ihnen verzeihen, weil Sie den gefährlichsten Piraten aufgebracht haben, der die Gegend um Madagaskar verunsichert hat.“ Hasard schaute auf Loguedo, der nicht sehr zuversichtlich aussah. Er trug Ketten. Seine Träume waren zerstoben. „Sie sehen das alles bald von einer höheren Warte’’, sagte Hasard. „Ich bin sicher, die Spanier fackeln nicht lange und werden. Sie — zu Recht, möchte ich betonen — aufknüpfen!“ Alles, was nicht zur Crew der „Isabella“ gehörte, verließ die Galeone und setzte auf die „Vasco“ über. Hasard betrachtete die vertrauten Gesichter, die zurückblieben, und lächelte stolz, weil er wußte, daß er mit diesen Männern alle Meere der Welt bezwingen konnte. Er ließ ankerauf gehen. Die „Isabella“ nahm Fahrt auf, und bald blieb die Vulkaninsel zurück, die für geraume Zeit keines Menschen Fuß mehr betreten würde. Niemand bedauerte es, daß der dampfende, bisweilen noch feuerspeiende riesige Felsblock schnell außer Sicht geriet. Die „Isabella“ kreuzte gegen der. Westwind, um endgültig die Südspitze des Schwarzen Erdteils zu runden und endlich den Atlantik zu gewinnen. Die große Fahrt nahm ihren Verlauf...
ENDE