Diesmal verbringen die Arnold-Kinder die Ferien im Landhaus von Larrys Vater. Dort erfahren sie, daß es in den umliegen...
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Diesmal verbringen die Arnold-Kinder die Ferien im Landhaus von Larrys Vater. Dort erfahren sie, daß es in den umliegenden Bergen eine Räuber bande geben soll, die reiche Urlauber ausplündert. Dieser Sache müssen die vier und Larry natürlich nachgehen – ein neues Abenteuer erwartet sie, das sie bravourös meistern
Die Arnoldkinder
auf heißer Spur
Eine spannende Geschichte für
Jungen und Mädchen
von Enid Blyton
BERTELSMANN JUGENDBUCHVERLAG
Englischer Originaltitel: The Secret of Killimooin Deutsche Bearbeitung von Ilse Winkler-Hoffmann
Alle Rechte für die deutschsprachige Ausgabe
bei der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH/
Bertelsmann Jugendbuchverlag, Gütersloh, München, Wien
Die englische Originalausgabe erschien bei
Darrell Waters, Ltd., London
Einband und Illustrationen
von Rolf und Margret Rettich
Gesamtherstellung Mohndruck Reinhard Mohn OHG, Gütersloh
Printed in Germany • ISBN 3 570 03369 4
I Ein erhebender Augenblick
»Fünf Minuten Verspätung hat der Zug jetzt schon« brummte Chris und sah auf seine Uhr, »Bummelei, so was!« Ben und Larry, die neben ihm auf dem Bahnsteig standen, stießen sich an und grinsten. »Dein Wecker geht nach dem Mond, das ist es«, lachte Ben. »Du solltest dich lieber nach der Bahn hofsuhr richten.« »Blödsinn«, murmelte Chris, nachdem er diesen guten Rat mit einem verstohlenen Blick in die an gegebene Richtung befolgte, »Blödsinn«, murmelte er und stellte möglichst unauffällig den kleinen goldenen Zeiger seiner Armbanduhr zurück, wäh rend er diese Aktion noch unauffälliger zu machen suchte, indem er das Interesse der anderen von neuem auf das lenkte, was sie alle im Augenblick am meisten beschäftigte. »Bin ich gespannt, was Lissy und Peggy zu der fantastischen Einladung sa gen. Ich kann es überhaupt nicht mehr erwarten, bis ich ihnen erzählen kann, daß …« 6
»Du?« unterbrach Ben ihn. »Wieso du? Wenn Larry uns einlädt, dann ist es schließlich auch seine Sache, es zu erzählen, du bist ja wirklich zu …« »Ist doch egal«, lachte Larry und fuhr sich mit einer schnellen Bewegung über seine braune Stop pelfrisur, »ist doch egal.« Und Chris murmelte: »Ja, ja, ja, ich halt’ schon den Mund. Spiel dich bloß nicht so auf, Ben.« 7
Die Befürchtungen Larrys, der ihm von der Seite aus schmalen Augen einen kurzen Blick zuwarf, daß nun die fröhliche Stimmung verdorben sein könnte, wurden durch das Auftauchen des Zuges in der Ferne zerstreut. »Da ist er, da kommt er!« schrie Chris und pack te Bens Arm. »Los, wir laufen nach hinten!« schrie er und zog ihn mit sich. »Los, wir lassen ihn an uns vorbeifahren. Sie stehen bestimmt am Fenster!« In diesem Augenblick fuhr der Zug donnernd in die Bahnhofshalle ein, fuhr langsamer und langsa mer und hielt. »Da sind sie, da sind sie!« schrie Chris, als sein Blick an der langen Wagenreihe entlangglitt. Die drei stürzten auf das Abteil zu, aus dessem Fenster sich die beiden Mädchen beugten, und eine Sekunde später flog die Tür auf, beide sprangen auf den Bahnsteig, und Lissy fiel ihrem Zwillings bruder Chris um den Hals, dem sie mit ihren blau en Augen und dem dunklen Haar verblüffend ähn lich sah, drückte gleichzeitig Bens Hand und gab Larry einen kleinen Rippenstoß. »Ein erhebender Augenblick, euch wiederzuse hen«, lachte sie, während Peggy, die wie gewöhnlich an einem ihrer blonden Zopfenden kaute, jammerte: »Helft mir doch, die Koffer ’rauszuholen.« »Das mach ich schon«, sagte Ben und hob das Gepäck herunter. 8
Die drei Geschwister hingen sehr an ihm, und als ihre Eltern ihn vor drei Jahren an Kindes statt an nahmen, waren sie restlos glücklich, und auch Lar ry, ein amerikanischer Millionärssohn, mit dem die Kinder eine feste Freundschaft verband und der mit den Jungen die gleiche Schule besuchte, mochte ihn besonders gern. »Ich glaube, du bist noch länger und noch dün ner geworden, Larry«, sagte Peggy und sah stau nend an ihm hoch, und Chris gab ihm einen Stoß in die Seite und drängte: »Schieß schon los mit deiner tollen Neuigkeit, wenn du nicht endlich anfängst, dann …« »Eine tolle Neuigkeit? Was für eine?« fragten die Mädchen wie aus einem Munde. »Ach, er übertreibt mal wieder maßlos«, wehrte Larry ein bißchen verlegen ab, »er …« »Wenn du nicht sofort anfängst, dann tu ich’s«, unterbrach ihn Chris und versetzte ihm von neuem einen Stoß in die Rippen. »Also, bequem dich.« Larry grinste. »Mach du nur, sonst platzt du ja noch. Außerdem würdest du mir sowieso dauernd dazwischenreden, und du würdest nur …« Wieder ließ Chris ihn nicht ausreden, und als er sich nun an seine beiden Schwestern wandte, über schlug sich seine Stimme förmlich vor Begeiste rung. »Stellt euch vor, Larry hat uns eingeladen, in ein Landhaus, das seinem Vater gehört, irgendwo 9
auf dem Festland im Südosten. Wir sollen die gan zen Ferien dort verleben.« »Nein«, schrie Lissy, »ist das wirklich wahr?« und Peggy seufzte: »Wunderbar!« »Und wir werden in einem weißen Haus am Meer wohnen«, fuhr Chris hastig fort. »Und das Land besteht fast nur aus hohen Bergen und riesi gen Wäldern.« »Und wie kommen wir hin?« fragte Peggy bei nahe flüsternd vor atemlosem Staunen. »Im Flugzeug, in Larrys. Er war mit seinen El tern schon ein paarmal da. Ranny und Mr. Potter kommen natürlich mit.« »Im Flugzeug?« stöhnte Peggy, und Ben lachte: »Wir reden und reden, und kein Gepäckträger ist mehr zu sehen. Jetzt müssen wir alles selber tragen.« »Ach wo«, sagte Lissy, »wir warten, bis einer zurückkommt. Und was sagen Vater und Mutter dazu?«
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»Die haben ihren Segen bereits gegeben«, sagte Chris. »Und morgen geht’s los.« »Morgen schon?« riefen die Mädchen. »Dann müssen wir ja sofort packen, wenn wir nach Hause kommen. Dort hinten ist übrigens ein Gepäckträ ger. He, hallo!« Der Mann kam auf sie zu, lud die Koffer auf seine Karre, und die Kinder folgten ihm zum Taxistand. Und dann fuhren sie hinaus zum Haus der El tern, das inmitten eines großen Gartens lag. Die Mutter stand schon an der Hecke und sah ihnen lächelnd entgegen. Nach der stürmischen Begrü ßung jagten die fünf durch die Diele ins Wohn zimmer, in dem sie ganz richtig den gedeckten Tee tisch vermuteten. Für gewöhnlich sprachen sie bei derartigen Gele genheiten von nichts anderem als von der Schule und davon, was sie im letzten Halbjahr erlebt hat ten. Heute aber war es anders, nichts interessierte sie noch außer der bevorstehenden Reise, und Lar ry mußte eine Unmenge Fragen beantworten. »Und sehr gut benehmen müßt ihr euch«, sagte er ernsthaft, »sonst zieht ihr euch Adams Zorn zu. Adam ist der Butler«, erklärte er nach einem Blick in die verständnislosen Gesichter der Mädchen, »er ist furchtbar vornehm.« »Als ob wir uns nicht immer gut benähmen«, riefen die anderen entrüstet. 11
»Nun, ich weiß nicht«, lächelte die Mutter. »Als ob Larry sich besser benähme«, murmelte Chris. »Seine schöne neue Jacke ist hin, er mußte nämlich unbedingt von einem Baum aus in die Brombeeren springen.« »In Gegenwart Adams benehme ich mich natür lich tadellos«, sagte Larry und verzog noch immer keine Miene. »Und euch wird leider auch nichts anderes übrigbleiben, das beste ist, ihr sitzt ’rum wie die Ölgötzen.« »Das meinst du doch nicht im Ernst?« fragte Chris entsetzt. »Doch, ihr müßt euch zum Beispiel jedesmal, wenn ihr an ihm vorbeigeht, tief verbeugen.« Larry kreuzte die Arme über der Brust und verneigte sich
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so, daß er beinahe mit dem Kopf gegen die. Tisch kante stieß. Die anderen sahen ihn entgeistert an, und dann begannen Lissy und Peggy zu kichern. »Muß gut aussehen, wenn Ben und Chris solche Verrenkungen machen«, kicherte Peggy. »Fangt nur gleich an zu üben, los, Chris, los.« »Haha, du bist witzig«, knurrte der und starrte mit gerunzelter Stirn auf seine Schuhspitzen. »Wenn es unbedingt sein muß, werde ich eine so lächerliche Verbeugung auch noch zustande bringen.« Frau Arnold lachte. »Nun, so schlimm wird es wohl nicht werden. Larry nimmt euch nur ein biß chen auf den Arm. Es hat jedenfalls den Anschein.« Diese beruhigenden Worte verfehlten ihre Wir kung nicht, und als Larry nun grinste: »Ihr könnt euch natürlich so benehmen wie immer, das war doch nur Spaß«, seufzte Chris erleichtert: »Dann ist ja alles in Ordnung, ich wäre mir ent setzlich albern vorgekommen.« Er griff nach einem Stück Kuchen und biß mit großem Appetit hinein. »Du wirst dir den Magen verderben«, warnte die Mutter. »Wenn ich mich nicht irre, ist dies das sechste Stück, das du nimmst.« »Jetzt müßte Betty dasein«, sagte Larry. »Betty?« fragte Lissy. »Wer ist denn das?« »Unsere Köchin, sie kocht wunderbar, und wenn man nicht genug ißt, schimpft sie.« 13
Frau Arnold lachte wieder. »Ich bin auch zufrie den, wenn es euch schmeckt, ihr müßt nur wissen, wieviel ihr euch zumuten könnt.« Sie muteten sich allerhand zu, und als sie auf standen, um ihre Koffer zu packen, sagte Larry mit einem Blick auf den geleerten Kuchenteller: »Betty wäre restlos glücklich.«
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II Ein langer Flug
Obwohl der anstrengende Reisetag hinter ihnen lag, waren die fünf am nächsten Morgen, als Frau Arnold sie weckte, sofort hellwach, denn die freu dige Erwartung vertrieb jegliche Müdigkeit mit ei nem Schlage. Schneller als gewöhnlich zogen sie sich an, und bald saßen sie am Frühstückstisch, denn um zehn Uhr schon sollten sie auf dem Flug platz sein, um Ranny und Mr. Potter zu treffen. »Ich glaube, Larrys Betty wäre sehr unzufrieden mit euch«, sagte die Mutter kopfschüttelnd, wäh rend sie einen Blick auf die unruhige Tafelrunde warf, »ihr habt ja kaum etwas gegessen.« »Wir sind zu aufgeregt«, erklärte Peggy bereit willig, »viel zu aufgeregt.« »Hm«, machte die Mutter, »aufgeregte Leute sollten lieber nicht verreisen, vor allen Dingen nicht mit leerem Magen, und deshalb schlage ich vor …« Ein einziger durchdringender Protestschrei un terbrach sie, doch gleich darauf wurde es wieder still, und sie sah lächelnd zu, wie der Brötchenkorb 15
sich in rasender Geschwindigkeit leerte. »Schlingt nur nicht so«, mahnte sie. Und eine Viertelstunde später hörten sie Moto rengeräusch in der Ferne, und Chris stürzte als er ster zum Fenster. »Der Wagen ist da!« schrie er. »Wir müssen los!« In dem Trubel, der nun entstand, konnte nie mand mehr sein eigenes Wort verstehen. Die Trep pe dröhnte unter den Schritten der fünf, Türen
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wurden geschlagen, ein Koffer fiel polternd die letzten Stufen hinunter, und Lissy rief in den Lärm hinein: »Wo habe ich nur meinen Fotoapparat? Weiß jemand, wo mein Fotoapparat ist?« Und endlich saßen sie lachend und atemlos in dem großen Wagen, und Ben murmelte: »Ein Glück, daß es so ein Riesending ist, sonst hätten Vater und Mut ter gar nicht mitgekonnt.« Herr Arnold, der neben Chris und dem Fahrer saß, drehte sich um und sagte, während er ein Au ge zukniff: »Na, auf unsere Begleitung hättet ihr ja schlimmstenfalls verzichten können.« Die Empörung, die diese Worte auslöste, war all gemein, und Peggy auf dem Schoß der Mutter seufz te: »Eigentlich schade, daß wir uns nun die ganzen Ferien nicht sehen.« »Vielleicht können wir es so einrichten, daß wir euch abholen.« »Und dann bleiben Sie ein paar Tage bei uns, ja?« bat Larry, der sich im Augenblick etwas ungemüt lich fühlte, weil er seine langen Beine nicht ausstrek ken konnte. »Wir haben bestimmt hundert drauf«, sagte Chris nach einer Weile anerkennend. Ja, der Wa gen fuhr mit hoher Geschwindigkeit, und die Bäume huschten wie Schatten vorüber. Endlich tauchte in der Ferne der Flugplatz auf, und wenige Minuten später rannte Larry auf Ranny und Mr. 17
Potter zu, die wartend und rauchend neben der Maschine standen. »Larry, Junge, bist du gewachsen!« »Kaum zu glauben!« »Man tut, was man kann«, lachte er verlegen und schüttelte erst Ranny und dann Mr. Potter die Hand. »Und da ist ja auch die übrige Räuberbande.« Ranny sah über Larrys Kopf hinweg den vieren entgegen, die auf sie zustürzten. Mr. Potter legte sein Gesicht in sorgenvolle Falten und stöhnte. »Na, dann steht uns ja noch was bevor. Wollen wir uns lieber aus dem Staube machen?« »Das könnte Ihnen so passen«, lachte Ben, und Ranny schüttelte ernsthaft den Kopf. »Ich glaube, das können wir ihnen nicht antun.« Es gab eine überaus herzliche Begrüßung, denn 18
die beiden kannten die Arnoldschen Kinder schon von einer abenteuerlichen Reise her. »Nun, dieses Mal wird es hoffentlich weniger aufregend zugehen«, sagte Frau Arnold. »Verspre chen Sie uns, dafür zu sorgen, daß die fünf nicht allzuviel anstellen?« »Ja, tun Sie das«, lachte Herr Arnold, »Sie ken nen sie ja und wissen, wie schnell und wie gern sie in irgendwelche Schwierigkeiten hineingeraten.« »Ach, Vater, jetzt übertreibst du, so schlimm ist es doch nie«, murmelte Chris, selber nicht ganz überzeugt von diesem Einwand. »Nun, uns genügt es«, sagte Herr Arnold ernst geworden. »Also, ihr dürft auf keinen Fall leicht sinnig sein.« Doch ehe Chris sich in Beteuerungen ergehen konnte, daß sie dieses Mal kein Wässer chen trüben würden, sagte Mr. Potter, während er das Ende seiner Zigarette austrat: »Machen Sie sich keine Sorgen. Wir haben An weisung von Mr. King, als Schutzengel zu fungieren und die Kinder nicht aus den Augen zu lassen. Seit der Geschichte in Spiggy Holes ist Larrys Vater sehr besorgt.« Herr Arnold nickte und dachte an die seltsame Begebenheit im Sommer vor zwei Jahren und dar an, daß die Freundschaft seiner vier mit Larry aus dieser Zeit stammte, als es ihnen gelang, ihn aus einer sehr gefährlichen Lage zu befreien. 19
»Ich denke, es wird Zeit, daß wir starten«, hörte er Mr. Potter in seine Gedanken hinein sagen. Die Kinder umarmten die Eltern, liefen die Gangway hinauf, und die Mutter rief ihnen nach: »Wir holen euch dann ab, macht’s gut!« Und gleich darauf be gannen die Motoren zu dröhnen. Mr. Potter hatte sich hinter das Steuer gescho ben, Ranny auf den Sitz neben ihn, und nun rollte die Maschine über das Feld und stieg langsam hö her und höher. Die Kinder starrten hinunter auf den kleiner und kleiner werdenden Flugplatz, auf dem die Eltern nur noch wie zwei kleine Punkte erschienen. Und dann flogen sie hoch über den Wolken, die sich wie ein in der Sonne funkelndes Schneefeld un 20
ter ihnen ausbreiteten, und aufatmend ließen sich die fünf in die Sitze fallen. »Fliegen ist das Herrlichste, was man sich vor stellen kann«, seufzte Ben und sprang schon wieder hoch. Die Wolkendecke zerriß plötzlich, und er rief: »Mr. Potter, sind wir schon über dem Kanal?« Ranny drehte sich um und nickte. »Ja, wir wol len ein bißchen schnell machen, damit wir mittags schon an Ort und Stelle sind.« »Zum Mittagessen?« fragte Peggy und griff nach einem ihrer Zopfenden, um es in den Mundwinkel zu stecken. »Ich habe nämlich furchtbaren Hunger.« Ranny lachte. »Na, komm her, von deinen Rat tenschwänzen wirst du ja nicht satt.« Er zog eine große Tafel Schokolade aus der Tasche. »Speziali tät aus dem Lande, das wir mit unserer Gegenwart beglücken wollen. Sie ist besonders gut, nicht wahr, Larry?« »Wunderbar«, sagte Larry. Und wenig später sahen sie wieder hinaus auf Städte, oft ganz in Rauch gehüllt, auf Berge und Wälder und flaches Land, durch das sich Flüsse schlängelten. Doch allmählich ermüdeten sie, Larry streckte seine langen Beine aus, gähnte, und Peggy seufzte, während sie sich zurücksinken ließ: »Wißt ihr, worauf ich mich am meisten freue? Auf das gute Essen, das Betty gekocht hat.« 21
Dieser Ausspruch veranlaßte nicht nur Chris ver ächtlich zu murmeln: »Wie kann man nur so ver fressen sein?« sondern auch Ranny mit bedauerndem Achselzucken zu sagen: »Da muß ich dich leider enttäuschen. Betty ist krank geworden, und so haben wir uns nach Ersatz umsehen müssen. Ob es ein voller Ersatz ist, weiß ich allerdings nicht, denn es ist sehr schwierig, jetzt mitten in der Saison jemanden zu finden. Aber das junge Mädchen, das aus einem Dorf in der Nähe stammt, wurde uns sehr empfohlen.« »Na, hoffen wir das Beste«, grinste Mr. Potter. »Soviel ich weiß, kochen die Einheimischen ziem lich scharf gewürzt, für einen harmlosen Mitteleu ropäer oft ungenießbar.« Peggy machte ein entsetztes Gesicht, und Ben lachte: »Da wird unsere Dicke abnehmen.« »Täte ihr ganz gut«, murmelte Chris, »täte ihr wirklich ganz gut.« Peggy warf beiden einen vernichtenden Blick zu und verkündete, daß sie, wenn sie nichts Ordentli ches zu essen bekäme, gleich wieder abreisen würde. »Du wirst schon satt werden«, beruhigte Ranny, »und wenn wir ins Gasthaus gehen müßten.« Eine ganze Weile schon flogen sie nun über hohe Berge, und plötzlich rief Larry: »Da ist ja das Meer!« Weiße Häuser zogen sich am Strand entlang und an den Hängen der Berge hinauf, die Maschine ging 23
weiter hinunter, und Larry zeigte auf ein Haus, das etwas abseits inmitten eines riesigen Gartens lag, der sich bis hinunter zum Strande erstreckte. »Oh, wie schön«, rief Peggy, und Mr. Potter murmelte, als sie wenige Minuten später zur Lan dung ansetzten: »So, das hätten wir mal wieder ge schafft!«
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III Adam, der Vornehme
Als sie wieder auf festem Boden standen, schlossen sie für einen Augenblick geblendet die Augen, denn die Helligkeit des in der glühenden Sonne schim mernden Sandes und des gleißenden, funkelnden Wassers überfiel sie zu plötzlich. »Wir werden bestimmt braun wie die Indianer«, sagte Chris, »und in der Schule werden sie Augen machen, wenn wir wieder aufkreuzen.« »Ja, diesmal schlagen wir jeden Rekord, das ist klar«, nickte Ben. »Ich komme mir vor wie im Paradies«, strahlte Lissy. »Und ich mir wie im Backofen«, seufzte Peggy und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Mehr als einen Badeanzug ziehe ich hier be stimmt nie an, das kann kein Mensch von mir verlangen.« »Ja, die Koffer hätten wir zu Hause lassen kön nen«, lachte Larry. »Kommt«, sagte Mr. Potter, »wenn ihr euch 25
noch länger in dieser Glut aufhaltet, kann ich euch nur als Dörrfische Adam vorführen.« Sie gingen das kurze Stück zum Hause im Schat ten der Bäume die Uferpromenade entlang. Und dann fing Larry plötzlich an zu rennen und zu win ken, und die Kinder entdeckten dort, wo der Gar ten an den Strand grenzte, mitten zwischen den leuchtenden Blumen eine lange, dünne, schwarzge kleidete Gestalt, sahen, wie der Schwarzgekleidete sich gemessen verbeugte und Larry dessen beide weißbehandschuhte Hände packte, sie unaufhör lich schüttelte und ihn anstrahlte. »Das ist Adam, der Vornehme«, flüsterte Chris, verlangsamte sein Tempo, legte sein Gesicht in würdevolle Falten und schritt unter unzähligen tie fen Verbeugungen auf ihn zu. Lissy und Peggy kicherten und liefen rot an, als sie Adams mißbilligende Blicke auf sich gerichtet fühlten. Krampfhaft versuchten sie sich zusammen zunehmen mit dem einzigen Erfolg, daß sie dem unterdrückten Lachreiz in einem plötzlichen explo sionsartigen Prusten freien Lauf lassen mußten. Auch Ben und Larry lachten, und Mr. Potter und Ranny grinsten breit, was nun auch ihnen einen mißbilligenden Blick Adams eintrug. Ohne ein Wort zu sagen setzte er sich nun an die Spitze der kleinen Kolonne und stieg würdevollen Schrittes vor ihnen her den Gartenweg hinauf. 26
»Er ist ein bißchen komisch«, erklärte Larry lei se, »aber man kommt trotzdem ganz gut mit ihm aus. Ich mag ihn sehr gerne und er mich auch, wenn er es sich auch nicht so anmerken läßt.« »Ja, bis auf den kleinen Vogel ist er ziemlich nor mal«, nickte Mr. Potter. »Völlig«, bestätigte Ranny, »es braucht ihm nur 27
eine Maus über den Weg zu laufen, dann benimmt er sich ganz wie ein normaler Mensch.« »Ich mich auch«, nickte Peggy eifrig. »Ich sprin ge dann auf einen Stuhl oder einen Tisch, oder …« »Auf einen Schrank«, ergänzte Ben und zog sie an einem ihrer Zöpfchen. Mr. Potter grinste. »Den Gefallen tut Adam dir leider nicht. In einem solchen Fall müßtest du also auf seine Gesellschaft verzichten.« Sogar Peggy, die gerade im Begriffe war, sich bei Ben mit einem kräftigen Stoß in die Rippen zu rä chen, mußte bei dieser Vorstellung lachen. Und noch immer lachend gingen sie über die breite Terrasse mit den Liegestühlen und den bun ten Sonnenschirmen hinein ins Haus. Voller Bewunderung sahen sie sich in der gemüt lichen Diele um. Durch die hohen Glastüren fiel das Sonnenlicht in den geräumigen, mit dicken Teppichen ausgelegten Raum. Vor dem Kamin an der Rückwand standen tiefe Sessel, und rechts und links führte eine Treppe hinauf. Auf der einen Seite schloß sich ein Wintergarten an und auf der ande ren ein Wohnzimmer, in das der Blick durch weit geöffnete Flügeltüren fiel. Eine Tür unter der Treppe schien in das Küchen reich zu führen, denn jetzt wurde sie einen Spalt breit geöffnet, ein junges Mädchen mit gerötetem Gesicht sagte ein paar Worte in der Landessprache, 28
während aus dem Hintergrund das Klappern von Geschirr zu hören war. »Es gibt gleich etwas zu essen«, übersetzte Ran ny zu Peggy gewandt, die in diesem Augenblick entsetzt aufschrie. Jemand war lautlos hinter sie getreten und griff nach der Jacke über ihrem Arm, und als sie sich umdrehte, sah sie in Adams langes, mit halbge schlossenen Augen vornehm unbewegtes Gesicht. »Ich werde das Kleidungsstück in die Garderobe tragen«, sagte er sehr leise und sehr langsam, ging gemessenen Schrittes auf einen Wandschrank zu, öffnete ihn und nahm einen Bügel heraus. »Hab ich mich erschrocken«, stöhnte sie, und Mr. Potter lachte: »Manchmal hat Adams Angewohnheit, plötzlich wie ein Geist aufzutauchen, auch ihre Schattensei ten. Übrigens haßt er Lärm in jeder Form. Ich glau be, es ist ihm schon ein Dorn im Auge, wenn je mand das Radio einschaltet. Aber ihr werdet euch schon an ihn gewöhnen. Die Frage bleibt nur, ob es im umgekehrten Falle auch so sein wird.« »Ach, man gewöhnt sich an alles«, sagte Ben. Doch bald darauf, als sie um den Tisch im Eßzim mer saßen, mußte er feststellen, daß er diese Be hauptung eben recht voreilig und leichtsinnig auf gestellt hatte. Das verlockend duftende Essen, das Adam nun 29
auftrug, war es, das ihm zu dieser Einsicht verhalf. Wie hatte Mr. Potter heute vormittag gesagt? ›Die Einheimischen kochen ziemlich scharf gewürzt.‹ Ziemlich scharf war im Hinblick auf das sonst aus gezeichnet zubereitete Essen sehr milde ausge drückt, und schon nach den ersten Löffeln Suppe griff Ben nach der Serviette, fing an zu husten und lief rot an, und wenige Sekunden später hatte er Gesellschaft bei dieser Tätigkeit gefunden. Peggy 30
stöhnte, rang nach Luft und sprang endlich, ihr kleines Taschentuch vor den Mund gepreßt, auf. »Oh«, stöhnte sie, »oh, oh!« Das aber trug ihr einen dermaßen vernichtenden Blick Adams ein, daß sie sich sofort wieder setzte. »Benimm dich«, sagte Chris grinsend, »sonst wirst du noch …« Ein krampfartiger Hustenanfall erstickte jedes weitere Wort, und niemand erfuhr, was er hatte sagen wollen. »Soll ich dir den Rücken klopfen?« erbot sich Lissy, doch im nächsten Augenblick mußte sie sel ber Larrys Hilfe in Anspruch nehmen. Er und die beiden Männer hielten sich übrigens verhältnismäßig tapfer, und Peggy japste endlich: »Ihr seid wohl schon daran gewöhnt?« Mr. Potter schüttelte den Kopf. »Wir haben sicher rauhere Kehlen.« Und dieser bemerkenswerte Satz wurde durch nur einen einzigen kleinen Hustenanfall unterbrochen. »Vielleicht ist das Huhn nicht so schlimm«, tröstete er, und ein schwacher HoffnungsSchimmer erhellte die Gesichter ringsum, als Adam nun den knusprig gebräunten Braten auftrug. Aber ach, auch diese Hoffnung wurde zunichte, denn die Füllung hatte es in sich, wie Ranny be dauernd feststellte, und Chris murmelte, während er Messer und Gabel aus der Hand legte: »Da ist mindestens ein Waggon Pfeffer ver braucht worden.« 31
»Mindestens«, nickte Ben stirnrunzelnd und gei stesabwesend, denn ihm war ein kaum merkliches Glitzern in Adams wie gewöhnlich halbgeschlosse nen Augen aufgefallen. Sollte der? Vielleicht war das alles Absicht? Vielleicht fürchtete er, sie wären zu laut, und er wollte sie auf diese Weise wieder loswerden? Aber das war doch gar nicht möglich! »Der Nachtisch bitte«, hörte er ihn jetzt dicht neben sich sagen, und da man auch hierzulande weder Salz noch Pfeffer an das Speiseeis zu tun pflegte, blieb er das einzige, an dem sie sich jetzt gütlich taten. »Richtig satt bin ich trotzdem nicht«, sagte Peg gy endlich, nachdem sie eine Unmenge davon mit großem Appetit vertilgt hatte. Und wieder meinte Ben das Glitzern in Adams Augen zu sehen und obendrein für den Bruchteil einer Sekunde ein bei nahe triumphierendes Lächeln um seine Mundwin kel. Sollte er doch? Aber im nächsten Augenblick wurde sein Ver dacht zerstreut und das Rätsel gelöst. Adam räus perte sich, verhalten und dezent, versteht sich, trat mit einer Verbeugung auf Mr. Potter zu und be gann mit folgender Rede: »Es ist äußerst bedauerlich«, begann er, »daß Tinas Kochkunst nicht Ihren Beifall findet und daß das von ihr zubereitete Essen Ihnen und vor allen Dingen den lieben Kleinen«, er zwang sich zu ei 32
nem süßsäuerlichen Lächeln, »nicht zuträglich zu sein scheint. Leider wird es geraume Zeit dauern, bis man dem Mädchen den übermäßigen Gebrauch von Gewürzen abgewöhnt hat, und so wären Sie, wie die Dinge nun leider einmal liegen, auf den Be such eines Gasthauses angewiesen, ein recht be dauernswerter Zustand, wenn ich mich so aus drücken darf.« Er schwieg, blickte ohne mit der Wimper zu zucken in die vielen neugierig auf sich gerichteten Augenpaare, räusperte sich von neuem und fuhr fort: »Sie wären also auf den Besuch eines Gasthauses angewiesen, falls Sie sich nicht viel leicht mit einem Vorschlag einverstanden erklärten, den ich Ihnen jetzt zu machen habe, hätte«, verbes serte er sich. »Bitte, Adam«, nickte Mr. Potter. »Wir sind gespannt«, sagte Ranny. Noch einmal verbeugte sich Adam und über raschte gleich darauf seine staunende Zuhörer schaft mit den Worten: »Kochen ist mein Hobby. Seit Kindesbeinen, möchte ich sagen, bin ich Koch aus Leidenschaft. Wenn Sie also mit meinen Dien sten vorliebnehmen wollten? Wenn ich also …?« »Prächtig, prächtig«, unterbrach ihn Mr. Potter unter den begeisterten Rufen der Kinder. »Wir nehmen Ihre Dienste als Koch selbstverständlich gerne und mit herzlichem Dank in Anspruch.« Und daraufhin entfernte sich Adam nach einer 33
nochmaligen Verbeugung glücklich lächelnd in Richtung Küche. »Ein verrückter Kerl«, murmelte Ben und sah ihm nach, bis er die Tür hinter sich schloß. Nachdem Rannys Anerbieten, doch noch in ein Gasthaus zu gehen, um das Versäumte nachzuho len, von den Kindern im Hinblick auf das in Aus sicht stehende Abendbrot einmütig abgelehnt wur de, das, wie Peggy meinte, bestimmt ganz toll wür de, beschlossen sie, sich etwas hinzulegen. So stiegen sie also die Treppe hinauf, fielen auf
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ihre Betten und schliefen in den durch die herabge lassenen Jalousien angenehm kühlen und dämmri gen Räumen sofort ein. Als sie endlich erwachten, mußte es schon ziemlich spät sein. »Den Tee haben wir verschlafen«, stellte Larry nach einem Blick auf seine Uhr fest. »Wollen wir noch ein bißchen an den Strand gehen?« Einer nach dem anderen liefen sie hinunter. Im Hause war es totenstill. In einem Sessel vor dem Kamin saß Adam und schlief, die Beine, wie Larry es so gerne tat, und was ihm jedesmal einen mißbil ligenden Blick Adams eintrug, weit von sich ge streckt, den Mund halb geöffnet und sanft schnar chend. »Koch aus Leidenschaft«, flüsterte Chris grinsend, »und in zwei Stunden muß es Abendbrot geben.« »Vielleicht kocht er ja im Traum«, kicherte Lissy. Aber Larry legte den Finger an den Mund. »Wenn er merkt, daß wir ihn so erwischt haben, ist es ihm nur peinlich, und …« »Es ist ja auch so heiß«, nickte Lissy. Sie schlichen hinaus und liefen durch den Garten zum Strand und weiter in den Badeort, dessen wei ße Häuser sich am Meer und an den Hängen der Berge entlangzogen. Sie entdeckten eine kleine Konditorei, deren Aus lagen ihnen, da sie nun alle Hunger verspürten, be sonders verlockend erschienen. Aber sie hatten 35
kein Geld mitgenommen und mußten sich damit begnügen, die ausgestellten Herrlichkeiten zu be trachten. »Die Mandeltorte sieht prima aus«, seufzte Peggy. »Wir müssen nach Hause«, sagte Larry, »Adam wird auf uns warten.« »Hoffentlich mit dem Abendbrot«, murmelte Chris, und Ben grinste: »Ja, wenn er ausgeschlafen hat.« In einer Reihe untergehakt liefen sie zurück. Hier und da blinkten schon ein paar Lichter auf. Sie lie fen über den leuchtendweißen, warmen Sand, hat ten die Schuhe ausgezogen, und Larry, der am äu ßersten Ende am Wasser ging, ließ sich die Füße von den Wellen bespülen. In der Diele trafen sie Adam vor dem Spiegel ste hend, und während er mit spitzen Fingern ein Stäubchen von seiner Jacke nahm, nickte er ihnen in dem blanken Glas hoheitsvoll zu, drehte sich um und sagte leise: »Es ist angerichtet.« Und als sie an ihm vorüberliefen, um sich zu wa schen, warf Chris ihm unter gesenkten Lidern einen mißtrauischen Blick zu. Mochte was Rechtes sein, was der zustande gebracht hatte! Als sie gingen, schlief er, und nun stand er vor dem Spiegel wie ei ne Primaballerina. Ha, mochte was Rechtes sein! Doch wenig später wurde er eines Besseren be lehrt. Adam servierte ihnen einen Traum von ei 36
nem Essen, wie Mr. Potter am Ende der Mahlzeit feststellte. Die Kinder aber blieben stumm, teils vor Staunen, teils weil sie so satt waren, daß sie beina he bewegungslos auf ihren Stühlen hingen, und Larry hatte die Beine weit unter den Tisch ausge streckt, blies die Backen auf und stöhnte: »Toll!« Adam aber war so glücklich, daß er dieses un ziemliche Benehmen gar nicht zu bemerken schien!
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IV Nein, was Sie nicht sagen
Die beiden ersten Wochen vergingen wie im Fluge, mit strahlendem Sonnenschein und immer größer werdender Hitze. Die Kinder hielten sich fast nur noch am Strand auf, schwammen und ruderten, und Ben fischte manchmal. Sie hatten übrigens einen neuen Freund gefun den, auf den sie immer sehnsüchtig warteten, TöffTöff, den Eismann. Sie nannten ihn so, weil er, wenn er die Uferpromenade herunterkam, mit ei ner Autohupe seine Kundschaft auf sich und seine Ware aufmerksam zu machen pflegte. Die fünf zählten zu seinen besten Kunden, und manchmal saß er einen Augenblick bei ihnen, um sich mit ihnen zu unterhalten. Dieses Unternehmen gestaltete sich besonders im Anfang etwas schwie rig, denn er sprach nur ein paar Worte Englisch und Larry als einziger ein paar Worte der Landes sprache. So wurde die Unterhaltung mit lebhaften Gesten in Zeichensprache geführt, man verstand sich großartig. 38
Auch heute hörten sie die quäkende Hupe schon von weitem, und dann sahen sie den gro ßen, tiefbraungebrannten Mann mit der schwar zen, lockigen Haarmähne und dem Seehunds schnauzbart in weißem Turnhemd und weißen Hosen sein Wägelchen vor sich herschiebend auf sie zukommen. Er winkte, und die Kinder drängten sich um ihn, bekamen jedes eine dicke Eiswaffel und ließen sich wieder in den Sand fallen. Töff-Töff hatte sich mit gekreuzten Beinen ne ben sie gesetzt, zündete sich eine Zigarette an, zog eine Zeitung aus der Tasche und faltete sie lang sam auseinander. Und während die fünf, mit ihrem
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Eis beschäftigt, über die glitzernde Wasserfläche blinzelten, vertiefte sich Töff-Töff in die neuesten Nachrichten. Plötzlich tippte er Larry auf die Schulter, fuchtel te mit den Händen in der Luft herum, tippte dann auf die Zeitung und sagte »Räuber!«, wobei er nicht nur das R besonders stark, sondern auch sei ne großen, schwarzen Augen rollte. »Wie?« fragte Larry träge. »Wieso? Wo?« Töff-Töff fuhr mit dem ausgestreckten Arm in die Richtung der Berge. »Dort!« Larry richtete sich interessiert auf. »Ach nein, richtige Räuber?« Töff-Töff nickte eifrig. »Überfallen reiche Leute, die in Berge reiten mit Maultier.« »Ach, so was gibt’s heute doch nicht mehr.« »Doch, doch, hier, hier steht«, sagte der Eis mann und tippte von neuem auf das Blatt. »Ich weiter.« Er stand auf, winkte den Kindern zu und fuhr wieder am Strand zurück. »Habt ihr das gehört?« fragte Larry. »Nein, was?« murmelte Ben schläfrig. »In den Bergen gibt’s Räuber, irgendeine Bande, die reiche Kurgäste ausplündert.« »Mach keine Witze«, grinste Chris. »Das hört sich ja ziemlich abenteuerlich an, hat der gute TöffTöff wohl ein bißchen gesponnen, was?« »Nein, wirklich, es steht in der Zeitung.« 40
»Zustände sind das«, entrüstete sich Lissy. »Kümmert sich denn die Polizei nicht darum?« Larry zuckte die Schultern. »Weiß nicht, aber wird sie wohl.« Vom Hause her kam der Klang des Gongs, der zum Mittagessen rief. Die Kinder rafften ihre Sa chen zusammen und liefen den Strand entlang. »Sagt Ranny und Mr. Potter lieber nichts von der Sache«, sagte Larry plötzlich. »Keiner von den beiden liest Zeitung, und mir ist eben eingefallen, daß wir ja das Jagdhaus in den Bergen haben.« Chris sah ihn staunend an. »Davon hatten wir ja keine Ahnung! Ich kann mir übrigens denken, was du vorhast.« »Genau das«, nickte Larry, »eigentlich müßte ich es euch ja einmal zeigen, nicht wahr?« »Natürlich«, sagte Ben ernsthaft, »natürlich, das müssen wir unbedingt sehen.« Sie aßen, schliefen ein wenig und beschlossen nach dem Tee in die kleine Konditorei zu gehen. »Wir möchten in der Stadt gerne ein Eis essen, Adam«, sagte Larry in die Küche hinein. »Ich wünsche guten Appetit«, sagte Adam, um noch einige Grade kühler als gewöhnlich, »ich wünsche guten Appetit, obwohl es mir unbegreif lich ist, wie es euch nach diesem minderen Speiseeis gelüsten kann.« »Ach, es macht doch so viel Spaß, einmal woan 41
ders zu sitzen und so«, rief Peggy, und Adam nick te einigermaßen versöhnt: »Nun, dann viel Vergnügen!« Sie liefen davon, saßen bald an einem der klei nen, runden Marmortischchen und sprachen von dem Jagdhaus in den Bergen. »Ich werde Mr. Potter bitten, ein bißchen mit uns durch die Gegend zu fliegen«, sagte Larry, »und dabei zeige ich euch das Haus, und dann müßt ihr zu verstehen geben, daß ihr wahnsinnig gerne ein mal dorthin wollt, und dann …« »Sei mal eben still«, flüsterte Peggy plötzlich, die schon eine ganze Weile mit nur einem Ohr zuhörte
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und mit dem anderen auf das, was am Nebentisch gesprochen wurde. Sie nickte kaum merklich zu den beiden Frauen hinüber, die sich aufgeregt mit einander unterhielten. »Sämtlichen Schmuck haben sie ihr abgenom men«, hörten sie die Stimme der einen, »auch das Kollier. Es war Millionen wert! Die arme Dolores!« »Nein, was Sie nicht sagen!« entgegnete die an dere atemlos, wobei sie mit ungeheurer Geschwin digkeit ungeheure Mengen von Schlagsahne löffelte und sich weit vorbeugte. »Nein, was Sie nicht sa gen! Es ist also wirklich wahr? Ich dachte, es wäre lediglich ein Gerücht.« »Oh, nein«, widersprach die andere und lächelte mitleidig, »oh, nein! Es ist leider tatsächlich so. Die Leute tragen übrigens schwarze Masken und nie mand weiß, wie sie aussehen.« »Und die Polizei? Tut die denn gar nichts?« Dem Tonfall nach schienen es Amerikanerinnen zu sein und beide wohl sehr reich, denn sie waren mit Schmuck behängt und mit auffälliger Eleganz gekleidet. Die eine, sehr mager, trug eine Sonnen brille und rauchte hastig, während die andere aus schließlich mit den Herrlichkeiten auf ihrem Teller beschäftigt war. »Die Polizei tut, was sie kann. Sie haben die ganze Gegend abgesucht, die Wälder durchkämmt und …« 43
»Ja?« fragte die zweite und vergaß vor lauter Spannung, den Löffel in den Mund zu schieben. »Haben sie sie?« »Nein!« Die Magere lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und tat einen langen Zug aus ihrer Zigaret te. »Nein, sie verschwanden spurlos und sind nicht aufzufinden!« »Es ist beängstigend«, stöhnte ihr Gegenüber, »einfach beängstigend! Man wird sich entschließen müssen, von nun an nur noch Imitationen zu tra gen!« Nun war es die erste, die sich etwas vorbeugte. »Da tun Sie gut daran, meine Liebe. Im Vertrauen gesagt, ich halte es seit Jahren so.« »Ach, wie interessant!« »Übrigens, da fällt mir ein«, sagte die Magere langsam, »die liebe Dolores trug ein bezauberndes Kleid, als ihr das Mißgeschick mit dem Schmuck passierte. Sie kaufte es bei …« Diese Wendung, die die Unterhaltung nun zu nehmen schien, machte sie für die Kinder uninter essant, und Chris stieß Larry an. »Toll, was?« flüsterte er. »Ganz toll«, nickte Lissy. »Wollt ihr wirklich in die Berge?« fragte Peggy und kaute nervös auf einem ihrer Zopf enden. »Wenn Mr. Potter und Ranny einverstanden sind, auf alle Fälle«, sagte Larry. 44
Ben stand auf und rief nach der Kellnerin, um zu bezahlen. »Wir wollen lieber gehen, hier können wir doch nicht alles besprechen.« Sie schoben sich hintereinander zwischen den Ti schen hindurch und hörten noch, daß das Ge spräch der beiden Frauen sich jetzt um ›bezaubernde Hüte‹ drehte. »Die haben Nerven«, murmelte Chris. Auf dem Rückweg beschlossen die fünf, Mr. Pot ter schon heute abend zu bitten, am anderen Tage mit ihnen einen kleinen Ausflug im Flugzeug zu un
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ternehmen, obwohl es ihnen zweifelhaft erschien, daß er ihre Bitte so ohne weiteres erfüllen würde. Doch er und auch Ranny erklärten sich nicht nur sofort einverstanden, sie fanden den Gedanken so gar sehr gut. »Wollen Sie mitkommen, Adam?« fragte Larry, doch der wehrte hoheitsvoll ab. »Wer sollte sich unterdessen um das leibliche Wohl kümmern?« Nach dem Abendessen schlug Ben vor, noch ein mal zu baden, denn es war unerträglich heiß. Selbst im Haus, in dem jetzt fast den ganzen Tag die Ja lousien vor den Fenstern herabgelassen waren und in dem die Ventilatoren in jedem Zimmer summten. Mr. Potter, Ranny und auch Adam kamen mit. Allerdings blieb er, während die anderen hinaus schwammen, am Strand zurück, eine einsame, schwarzgekleidete Gestalt gegen den helleren Himmel. Nach einer Weile kehrten sie wieder um, und als sie Grund unter den Füßen spürten, schrie Chris: »Wer zuerst bei der Burg ist!« Es waren Ranny und Ben. Adam erhob sich, doch in diesem Augenblick gab der Sandwall unter ihm nach, und er griff hilfesuchend mit der einen Hand nach Ben und mit der anderen nach Ranny. Und nur ihm war es zu verdanken, daß er nicht hinterrücks in der Mulde verschwand. 46
Niemandem gelang es, ernst zu bleiben, doch Adam tat, als wäre nichts geschehen und verzog keine Miene. Er klopfte den Sand von den Hosen beinen, machte kehrt und ging gemessenen Schrit tes über den Strand und weiter den Gartenweg ins Haus. »Wäre Ranny nicht gewesen«, grinste Larry, »so hätten wir zum erstenmal in unserem Leben Adam aus der Fassung geraten sehen!«
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V Rauch zwischen den Bäumen
Am anderen Morgen jagten die fünf in einem der artigen Tempo die Treppen hinunter, daß es schien, als wollten sie geradewegs zur Haustür hin aus. Besonders Adam erschien es so, denn er ver trat ihnen den Weg und sagte langsam: »Ich halte diese Eile für äußerst unangebracht«, und dabei schob er Peggy vor sich her ins Eßzim mer, in dem Mr. Potter und Ranny schon am Früh stückstisch saßen. »Ach, wir dachten, Sie wären schon auf dem Flugplatz«, sagte Ben und kniff mit einem bedeu tungsvollen Blick auf Adam ein Auge zu. »Doch nicht nüchtern«, grinste Ranny. »Ihr wä
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ret des Todes mit einem verhungerten Piloten am Steuerknüppel.« Wie immer stand Adam unbeweglich in einiger Entfernung und verfolgte den Ablauf der Mahlzeit. Und unter seinen Blicken aus halbgeschlossenen Augen hätte keines der Kinder gewagt aufzustehen, ehe nicht aller Toast und alle Brötchen samt Beiga be restlos vertilgt waren. »Seht mal, was wir mitnehmen sollen«, lachte Mr. Potter, trank seinen Kaffee aus und zeigte auf einen großen Proviantkorb, der neben ihm auf ei nem Stuhl stand. »Uff«, stöhnte Chris, »das können wir doch nie bewältigen.« Doch Adam entgegnete ruhig und voller Würde: »Soweit ich die Lage beurteilen kann, wird es euch ein Leichtes sein. Außerdem handelt es sich bei dem Inhalt nur um ausgesuchte Dinge, Delikatessen, so zusagen.« »Prima«, rief Peggy, aber Ben warf einen zwei felnden Blick auf den riesigen Korb. »Damit reichen wir ja bis zum Nordpol und zu rück.« »Das täuscht«, sagte Adam ruhig und drückte ihn ihm in die Hand. Peggy aber, gerührt durch so viel Fürsorge und im Hinblick auf die kommenden Genüsse sanft ge stimmt, rief: »Zu schade, daß Sie nicht mitkom 49
men!« Und dieser Ausruf bewerkstelligte, daß Adams in würdevoll vornehme Falten gelegtes Ge sicht von einem plötzlichen Lächeln erhellt wurde. Und wenige Minuten später liefen sie alle den Strand hinunter am Wasser entlang bis zum nahen Rollfeld. Die Maschine stand schon startbereit, und ein paar Männer vom Personal kamen ihnen entge gen. »Prima Flugwetter«, sagten sie. »Hoffentlich ist es da oben kühler als hier unten.« »Eine Hitze ist das«, nickte der eine und fuhr sich mit dem Arm über die Stirn. »Man ist ja allerhand gewöhnt hier, aber dieses Jahr … so etwas habe ich noch nicht erlebt. Ich an Ihrer Stelle würde einen kleinen Ausflug nach Grönland machen.« Er tippte an seine Mütze und ging kopfschüttelnd weiter. »Dem hat’s wohl auch schon den Verstand ver wirrt«, lachte Larry. »Na, kommt.« Die Motoren dröhnten, und sie sprangen in die leise vibrierende Maschine. Sie rollte ein Stück, im mer schneller werdend, und stieg dann höher und höher. »Wir fliegen ein bißchen kreuz und quer durch die Gegend«, erklärte Ranny und drehte sich grin send zu den Kindern um. »Großartige Aussicht, was?« »Von oben sieht immer alles großartig aus«, murmelte Mr. Potter. 50
»Peggy scheint sich mehr für andere Aussichten zu interessieren«, stellte Ben mit einem Blick auf sie, die schon mit den Delikatessen aus dem Korb beschäftigt war, fest. Ranny lachte. »Anscheinend hat sie allerhand gefunden nach ihren dicken Backen zu urteilen. Ich glaube, ihr müßt euch ’ranhalten, wenn ihr noch etwas abhaben wollt.« »Danke, wie kann man nur so verfressen sein«, murmelte Chris, der auf die auf seinen Knien aus gebreitete Karte sah, um mit Larrys Hilfe das Jagd haus zu suchen. »Wir finden es nicht«, sagte er endlich. »Kom men Sie doch bitte einmal her, Ranny.« »Ihr müßt weiter nördlich suchen. Seht ihr das kleine Tal, das ganz von steilen Felsen eingeschlos sen ist? Dort in der Nähe liegt es.« »Wenn wir da sind, müssen Sie ganz tief ’runter 51
gehen«, bat Chris, »damit wir es richtig sehen kön nen.« Sie flogen über weite grüne Täler, über Flüsse und Dörfer. Auf den Hängen weideten Kühe und Ziegen, und manchmal tauchte ein tiefblauer See auf. »Jetzt müßt ihr aufpassen«, sagte Ranny plötzlich. Und gleich darauf sahen sie es. Es lag sehr hoch, und von dort oben mußte man einen herrlichen Blick über Berge und Täler haben. Die Maschine war tief heruntergegangen, und sie konnten sogar die blitzenden Fensterscheiben in dem weißen Ge mäuer erkennen. »Hübsch«, sagte Lissy, »könnten wir nicht ein mal dahin? Das wäre doch prima.« »Ein Jammer, daß es immer so leer steht«, mein te Ben. »Es steht nicht leer«, erklärte Ranny. »Ein älte res Ehepaar, Einheimische, hält es in Ordnung.« »Wenn wir ein Hubschrauber wären, könnten wir landen und uns von den beiden zum Mittages sen einladen lassen«, lachte Lissy. »Das würde Adam uns aber sehr übel nehmen, er hat doch für uns gekocht und wartet auf uns«. Peggy war im Augenblick mehr für die sicheren Genüsse, die nach ihrer Rückkehr dank seiner Für sorge ihrer harrten. »Wir sind ja kein Hubschrauber«, grinste Chris. 52
»Es wird dir also nichts entgehen. Übrigens könn test du mal den Korb hergeben. Ich kriege allmäh lich Hunger.« »Und jetzt fliegen wir über das kleine Tal«, er klärte Ranny. »Es soll keinen Zugang zu ihm ge ben, seht nur, wie steil die Felsen sind.« »Wirklich?« staunte Ben. Ranny nickte. »Mr. King hat einmal mit einem Bergführer darüber gesprochen. An einen Abstieg ist da nicht zu denken.« Schweigend starrten die Kinder hinunter in das kleine, ganz mit dichtem Wald bestandene Tal. Die Maschine ging tiefer, kreiste ein paarmal darüber, und dann riß Mr. Potter sie plötzlich hoch, um eine Felsenbarriere zu überfliegen. Peggy, die gerade mit viel Appetit in ein Stück Kuchen beißen wollte, ließ sich jammernd zurück sinken und stöhnte: »Wie im Fahrstuhl, gräßlich!« Aber niemand kümmerte sich um sie, denn in diesem Augenblick zeigte Ben hinunter und rief: »Seht mal, sieht das da zwischen den Bäumen nicht wie Rauch aus?« »Wo?« fragten die anderen wie aus einem Mun de, aber sie sahen nichts mehr. Die Maschine war nun schon zu hoch, und in wenigen Sekunden lag das eingeschlossene Tal weit hinter ihnen. »Ranny«, sagte Larry, »Ben hat eben dort unten 53
Rauch gesehen. Ob vielleicht doch jemand dort hinuntergestiegen ist?« Ranny schüttelte den Kopf. »Ausgeschlossen, ihr werdet euch getäuscht haben, sicher waren es Wol ken.« »Mir war es unheimlich, da drüber zu fliegen«, ließ sich Peggy jetzt vernehmen. »Wenn wir nun gerade da Bruch gemacht hätten! Schrecklich! Wir hätten unten gesessen und wären nie wieder ’raus gekommen!« »Ideen hast du«, lachte Lissy. »Wenn du den Korb nicht schon halbleer ge macht hättest, würde ich solche Befürchtungen ja noch verstehen«, grinste Ben. »Sicher hätte Mr. Potter die Maschine dann gar nicht wieder hoch bekommen. Und zum Schluß wäre Adam an unse rem Unglück schuld gewesen.« »Laß Adam in Ruhe«, verteidigte Peggy ihn, »er meint es immer gut mit uns.« »War doch nur Spaß«, beruhigte Ben, »ich halte genausoviel von seiner Kochkunst wie du.« Sie flogen jetzt sehr hoch, eine dichte Wolken decke lag unter ihnen, und so unterhielten sie sich leise darüber, daß hier irgendwo in den Bergen die Bande ihr Versteck haben mußte, und darüber, ob sie Mr. Potter und Ranny wohl dazu bewegen könnten, für einige Zeit mit ihnen in das Jagdhaus zu ziehen. 54
»Wir fragen jetzt gleich«, sagte Larry kurz ent schlossen, ging zum Pilotensitz und begann eifrig auf die beiden Männer einzureden. Zuerst schien es so, als habe er keinen Erfolg. Doch er ließ sich nicht beirren, sprach beinahe be schwörend weiter, und endlich zuckte Mr. Potter die Schultern, sagte etwas und lachte. Und gleich darauf kam Larry zurück. »So gut wie abgemacht«, sagte er. »Prima!« schrien die anderen voller Begeisterung. »Kommt Adam auch mit?« erkundigte sich Peggy. »Eher kündigt er«, lachte Larry. »Das letzte Stück bis zum Jagdhaus müssen wir nämlich auf Maultieren reiten. Es gibt dann nur noch einen schmalen, steilen Pfad.« »Adam auf einem Maultier«, grinste Ben, »ewig schade, daß uns dieser Anblick versagt bleibt.« »Sei still«, kicherte Lissy, »ich verschlucke mich sonst noch.« Doch Peggy, die ihr Herz teils für Adam selber, teils für seine Kochkunst entdeckt hatte, sagte, indem sie die anderen mißbilligend betrachtete: »Macht euch nur nicht lustig über ihn. Ich jeden falls finde ihn sehr nett, und wer weiß, vielleicht schafft er es sogar noch, auf einem Maultier zu reiten. Es wäre doch zu schön, wenn er mitkä me.« »Ja«, nickte Ben ernsthaft. »Dir zuliebe schafft 55
er es sicher, und vielleicht reitet er nachher noch wie der Teufel!« Die Wolkendecke wurde dünner und dünner, als sie nun tiefer hinuntergingen. »Wir sind ja schon da!« rief Lissy. »Da ist ja der Strand, und das Meer und unser Haus!« »Und ich rieche schon Adams gutes Mittages sen«, sagte Chris mit einem Blick auf Peggy, ver drehte verzückt die Augen und starrte zur Decke hinauf. »Du bist blöde, richtig blöde«, fauchte sie. »Achtung, wir landen!« rief Mr. Potter. Und ei nen Augenblick später gab es einen sanften Ruck, die Maschine rollte ein Stück und stand. Sie sprangen hinaus, stürmten den Strand ent lang, den Gartenweg hinauf und ins Haus. »Bitte, Adam, Sie müssen mitkommen«, schrie Peggy, »bitte, kommen Sie mit!« Und Adam, der schon wartend neben dem ge deckten Tisch stand, versuchte vergeblich Fassung zu bewahren und starrte sie verständnislos an.
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VI Er reitet wirklich wie der Teufel
Es wurde ein turbulentes Mittagessen, denn Peggy hatte es sich nun einmal in den Kopf gesetzt, Adam zu bewegen, sie in die Berge zu begleiten, und es dauerte nicht lange, so war sie es nicht alleine, die auf ihn einredete und bat und bettelte. »Ruhe«, befahl Mr. Potter endlich, »man ver steht ja sein eigenes Wort nicht mehr.« Und Adam schüttelte schweigend den Kopf, bis es Peggy einfiel zu sagen: »Und wer soll für uns da oben kochen? Sollen wir etwa wieder zwanzig Pfund Pfeffer schlucken, oder sollen wir gleich ver hungern?« »Entsetzlich«, entgegnete Adam leise, »ein gera dezu entsetzlicher Gedanke! Wenn nur die Maul tiere nicht wären«, fügte er seufzend hinzu. »Ach, es wird schon gehen«, tröstete sie, »Sie müssen sich nur gut festhalten.« »Hm«, machte Adam, »ich weiß nicht.« »Gut, dann müssen wir eben verhungern!« Adam kämpfte, wie ihm deutlich anzusehen war, einen 57
schweren Kampf. Seine stets in so vornehmer Weise halbgeschlossenen Augen waren jetzt weit geöffnet und starr geradeaus gerichtet. Sah er sich vielleicht im Geiste auf einem dieser gräßlichen Tiere, neben sich den gähnenden Abgrund? Je länger er schwieg, desto größer wurde die Spannung, und es war so still geworden, daß man eine Stecknadel hätte zu Boden fallen hören kön nen. »Sie werden uns doch nicht im Stich lassen?« fragte Larry endlich in die Stille hinein, indem er ihm aufmunternd zulächelte. Und nun gab Adam sich einen Ruck. Seine eben noch wie in weite Ferne blickenden Augen schlossen sich wieder wie gewöhnlich halb, sein 58
Gesicht bekam von neuem den vornehm unbeweg ten Ausdruck, er räusperte sich und sagte langsam: »Es ist natürlich selbstverständlich, daß ich meine Pflicht erfülle!« Ein wahrer Begeisterungssturm erhob sich, und es hätte nicht viel gefehlt, so hätte Peggy ihn um armt, aber das wagte sie denn doch nicht. Und Ranny nickte ihr heimlich zu. »Man soll nichts übertreiben!« Es herrschte allgemein große Freude über die be vorstehende Reise, und als Mr. Potter meinte, sie sollten am besten gleich morgen früh fahren, holte Peggy das eben bei Adam Unterlassene nach und fiel ihm um den Hals. »Die Leute im Jagdhaus werden Augen machen, wenn wir alle so plötzlich kom men!« schrie sie und preßte ihn an sich. »Besonders, wenn sie Adam auf dem Maultier sehen«, murmelte Chris. Mr. Potter drückte seine Zigarette aus. »Anmel den können wir uns leider nicht, Telefon gibt’s da oben keins, aber Vorräte sind immer genügend vorhanden. Wir sehen uns noch einmal den Wagen an, also bis nachher.« »Und was wollen wir jetzt machen?« fragte Lissy mit einem staunenden Blick auf Adam, der eben in Begleitung Tinas, des Mädchens aus dem Dorfe, beide mit riesigen Henkelkörben bewaffnet, aus der Küche trat. 59
»Die Pflicht ruft«, erklärte er zu den Kindern gewandt. »Wir müssen einkaufen.« »Aber wir sind doch morgen gar nicht mehr hier«, sagte Lissy verwundert. »Eben«, meinte Adam. »Aber im Jagdhaus gibt es doch Vorräte.« »Eben«, sagte er wieder. »Das heißt«, verbesser te er sich, »man weiß nie genau, ob derartige Be hauptungen sich bewahrheiten. Es handelt sich also um eine Art Vorsichtsmaßnahme.« Die Kinder sahen den beiden lachend nach, wie sie den Gartenweg hinuntergingen, Adam gemessenen Schrittes voran, Tina ihm ehrfurchtsvoll folgend. »Er tut geradeso, als ob wir eine Weltreise ma chen wollten«, grinste Ben. »Gehen wir zum Strand?« Erst gegen Abend kamen die fünf zurück und fie len beinahe über Körbe und Taschen, die in der Diele auf dem Boden standen. »Adam besteht darauf, daß wir das ganze Zeug mitnehmen«, grinste Mr. Potter. »Habe nur noch keine Ahnung, wie wir alles unterbringen sollen.« »Wenn ich Ihnen dabei behilflich sein dürfte«, ließ sich Adam hinter seinem Rücken vernehmen. »Verteilung von Gepäck auf kleinstem Raum ist eine Spezialität von mir.« »Gut«, nickte Mr. Potter, »versuchen Sie Ihr Heil.« 60
An diesem Abend dauerte es lange, ehe die fünf einschliefen. Sie waren zu aufgeregt, und hinzu kam noch die unerträgliche Hitze, die sich nun allmählich im ganzen Hause eingenistet hatte. Und Mr. Potter stellte am anderen Morgen aufatmend fest, daß es wohl gar kein schlechter Gedanke wä re, bei dieser Glut in die Berge zu fahren. Adam verzog den Mund zu einem süßsäuerli chen Lächeln. Die Aussicht auf den nun bald be vorstehenden Ritt auf einem dieser störrischen Tie re erlaubte ihm kein anderes. »Der wird froh sein, wenn er endlich da ist und alles überstanden hat«, flüsterte Chris grinsend, und Lissy geriet dermaßen ins Kichern, daß Ranny ihr einen warnenden Blick zuwerfen mußte. Aber Adam war im Augenblick vollauf damit be schäftigt, die Taschen und Körbe mit den Lebens mitteln im Kofferraum zu verstauen, was ihm denn auch mit viel Geschicklichkeit und Geduld zur Ver
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wunderung aller gelang. Und endlich setzte sich Mr. Potter ans Steuer, neben sich Ranny und zwi schen den beiden Larry, weil er der Dünnste war. Im Fond thronte Adam in der Mitte, einen Korb auf den Knien, den er beim besten Willen nicht mehr hatte unterbringen können, zur einen Seite Lissy, zur anderen Peggy, und auf den Plätzen vor ihnen saßen Ben und Chris. »Gut, daß man das Verdeck ’runterlassen kann«, grinste Ben, »sonst wären wir bei dieser blödsinni gen Hitze halb geschmort da oben angekommen.« Es wurde eine herrliche Fahrt auf der glatten Straße, die in vielen Windungen höher und höher hinaufführte. Zu ihrer Linken ragten die Felsen steil empor, und zu ihrer Rechten dehnten sich sonnige Täler, in der Ferne von Bergketten abge schlossen. Der Fahrtwind ließ sie die Hitze kaum spüren, alle waren in bester Stimmung, bis auf Adam, der schweigend, den Blick auf die Tasche gerichtet, dasaß. Nach etwa zwei Stunden gelangten sie zu der Stelle, an der sie den Wagen verlassen mußten. Der Besitzer eines Gehöftes ganz in der Nähe hatte sich auf Maultiervermietung eingestellt und trat nun bei ihrer Ankunft aus dem Haus. Ja, er konnte ihnen so viele Maultiere geben, wie sie brauchten, ja, sie konnten den Wagen in der Garage unterstellen. Er führte zehn der hübschen Grautiere aus dem 62
Stall. Die Kinder waren entzückt, suchten sich je des eines aus und strichen ihnen über das Fell. Zwei der Tiere wurden mit den Taschen und Kör ben beladen, und dann half Ranny dem blaß ge wordenen Adam auf ein von dem freundlichen Mann als besonders sanft gepriesenes Tier. »Starrt ihn nicht so an«, flüsterte Mr. Potter den fünfen zu, »tut so, als sähet ihr ihn gar nicht, sonst gibt es noch ein Unglück.« Tatsächlich hing Adam völlig hilflos im Sattel, die langen Beine steif wie Stöcke seitwärts ge spreizt. »Nur Mut«, ermunterte Ranny, »und so lässig wie möglich, das ist die Hauptsache.« »Er müßte sich Knoten in die Beine machen«, flüsterte Lissy, hochrot vor unterdrücktem Lachen. Sonst aber hielten die Kinder sich tapfer. Sie be folgten Mr. Potters Rat, sahen angestrengt in eine Richtung, und wenn sie es wagten, einen Blick auf den unglückseligen Reiter zu werfen, so nur ver stohlen unter gesenkten Wimpern. Der hatte jetzt die Beine angezogen, und seine Knie ragten ein Stück über den Rücken des Tieres hinaus. Mit beiden Händen umklammerte er des sen Hals, so daß er, den Kopf weit vorgestreckt, beinahe einen spitzen Winkel bildete. »Er reitet wirklich wie der Teufel«, flüsterte Ben, »ich darf nur nicht hingucken.« 63
Chris ächzte: »Wenn wir nur erst da wären!« Sie alle hatten schnell begriffen, worauf es beim Reiten ankam, nur Peggy jammerte zuerst, bis der Mann, der sie führte, ihr erklärte, daß sie sich dem Tier anpassen müßte, um nicht so durchgeschüttelt zu werden. Nebenbei gesagt, schienen auch Ranny und Mr. Potter sich nicht sonderlich wohl zu füh len. Beide kamen sich auf den kleinen Tieren reich lich albern vor. Und wenn es sich irgend einrichten ließ, stiegen sie ab und führten sie am Zügel. Hin und wieder warf einer von ihnen einen bewundernden Blick auf Larry, von dem Ben eben behauptete, es wäre ein Cowboy an ihm verlorengegangen. Steil, schmal und steinig führte der Weg zur Hö he, an tiefen Abgründen vorüber, manchmal sahen sie einzelne Gehöfte und an den Hängen Ziegen herden. Doch dann gab es keine Bauernhöfe mehr, und endlich sahen sie in der Ferne das Jagdhaus. Es lag auf einer Wiese am Berge, und aus seinem Schorn stein stieg der Rauch kerzengerade in die stille, warme Luft. Alle atmeten auf, denn der Ritt war ziemlich an strengend gewesen, und Adam, dem Ranny herun terhalf, konnte sich nicht mehr beherrschen und stöhnte erleichtert. Ja, es war alles gut gegangen, hier stand er mit heilen Gliedern, aber hatte er sich nicht, während dieses entsetzlichen Unternehmens 65
ungezählte Male im Abgrund liegen sehen? Lieber hätte er es auf sich genommen, diesen beschwerli chen Weg zu Fuß zurückzulegen. Er betupfte sich mit einem großen, weißen Ta schentuch die Stirn und nach einem heimlichen Blick in die Runde, und nachdem er festgestellt hatte, daß niemand ihn beobachtete, tat er ein paar unbeholfene Schritte, ging vor und zurück und schüttelte einmal das eine seiner langen, steif ge wordenen Beine zur einen Seite und dann das an dere zur anderen. Zum zweitenmal seufzte er aus Herzensgrund. Er würde sie wohl wieder gebrau chen können! Und dann folgte er den übrigen lang sam mit zufriedenem Lächeln. An einem der Fenster des Hauses tauchte für ei
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nen Augenblick das Gesicht einer Frau auf, und gleich darauf öffnete sich die Tür, und ein Mann trat über die Schwelle. »Er sieht unserem Töff-Töff ähnlich«, flüsterte Lissy, »nur ein bißchen älter scheint er zu sein, sein Schnurrbart ist schon ganz grau.« Und Peggy nick te und sagte: »Hoffentlich ist er auch so nett wie Töff-Töff.« Die Frau, die aus dem Fenster gesehen hatte, er schien jetzt hinter ihm, und während er bedächti gen Schrittes auf sie zukam, lief sie ihnen eilig und erfreut entgegen. Sie war klein, schwarzhaarig, mit großen dunklen Augen, und das rote Muster ihres um die Schultern gelegten Tuches leuchtete in der Sonne. Ranny und Mr. Potter, die das Ehepaar schon von früheren Aufenthalten her kannten, be grüßten beide herzlich und schüttelten ihnen die Hände. Große Überraschung rief bei den Kindern die Tatsache hervor, daß sowohl der Mann als auch die Frau fließend Englisch sprachen. Bereitwillig lieferte die redselige Wirtin die Erklärung dafür, sie und ihr Mann waren mehrere Jahre in Amerika gewesen, er als Gärtner und sie als Köchin. »Köchin«, murmelte Adam und warf ihr unter halbgeschlossenen Lidern einen Blick voller Ver achtung zu. Und Ranny, der die Situation sofort erfaßte und 67
dem nichts Gutes schwante, überlegte fieberhaft, wie sie wohl noch zu retten sei. Alle lobten die schöne Diele mit den vielen gro ßen Fenstern, die sie jetzt betraten. Und beim An blick des riesigen Kamins und des weichen Eisbär felles davor seufzte Peggy: »Jetzt müßte es Winter sein, das wäre gemütlich!« Mr. Potter lachte. »Nun verlange nur nicht, daß wir jetzt einheizen.« Das Gelächter, das die beiden ernteten, war all gemein, nur Adam verzog keine Miene. »Hoho!« lachte Herr Sandros, der Töff-Töff so ähnlich sah. »Hoho!« lachte er, daß es dröhnte und die Kinder zusammenfuhren. »Ich dachte, ihr wäret im Augenblick mehr für Eis zu haben. Meine Frau versteht es ausgezeichnet zuzubereiten.« Bei dieser Ankündigung wurde Adam blaß, und es wirkte beinahe so, als schlösse er die Augen ganz. Eis, seine Spezialität! Doch das sahen die Kinder nicht, denn sie waren gerade damit beschäftigt, die vielen Geweihe an den Wänden ringsum zu bewundern, und Peggy, die fand, daß man das ebensogut im Sitzen tun konnte, ließ sich aufseufzend in einen der tiefen, buntgeblümten Sessel fallen. »Ich bin noch ganz lahm«, stöhnte sie, und Mr. Potter grinste: »Ja, ja, solch ein Eselsritt hat’s in sich.« 68
»Wenn ihr euch ausruhen wollt, zeige ich euch eu re Zimmer«, sagte die kleine Frau eifrig und machte eine einladende Handbewegung zur Treppe hinüber, die neben dem Kamin hinaufführte. Ein zartgrüner Läufer bedeckte die Stufen, und das weiße, kunstvoll durchbrochene Geländer glänzte matt. »Laß nur, Julia, das übernehme ich schon«, ließ sich Herr Sandros mit tiefer Stimme vernehmen. »Geh du lieber und kümmere dich ums Essen, und vergiß das Eis nicht!« Zum zweiten Male wurde Adam blaß. Wozu nur hatte er diese entsetzliche Reise unternommen? Der Anblick des ganz verloren in der Diele Ste hengebliebenen veranlaßte Ranny, das Problem so fort zu lösen.
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»Unser Adam ist auch ein ausgezeichneter Koch«, wandte er sich an Frau Sandros. »Wie wäre es, wenn Sie sich beide in der Sorge um unser leibliches Wohl abwechselten?« Und bei der erfreuten Antwort: »Aber sicher, ich bin froh, wenn ich mich einmal an den gedeckten Tisch setzen und Ferien machen kann«, kehrte Adams Farbe langsam zurück. Und in dem Gedan ken, diese, diese, wie hieß sie doch, ach ja, diese Frau Sandros mit seiner Kochkunst in Erstaunen zu setzen, stieg er gemessenen Schrittes hinter den an deren her die Treppe hinauf. »Da sind Sie ja endlich«, rief Peggy, »sehen Sie nur, was für wunderhübsche Zimmer wir haben!«
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VII Tino fürchtet sich vor nichts
Etwa eine Stunde später, nachdem sie sich gewaschen und ausgeruht hatten, saßen sie alle um den großen, runden Tisch in der Diele versammelt. Da Adam den Vorschlag Frau Sandros’, sofort mit der Hilfeleistung zu beginnen, hoheitsvoll nickend angenommen hatte und das Eis auf sein Konto ging, wagten sie es, das ausgezeichnete Essen der Wirtin zu loben. »Ich werde morgen gleich ins Dorf hinunter müssen«, sagte Herr Sandros nach einer Weile und betupfte sich den riesigen Schnurrbart mit seiner Serviette. »Ich muß neue Vorräte besorgen, man hat nämlich unseren …« »Ja, denken Sie«, unterbrach ihn seine Frau ha stig und aufgeregt, »stellen Sie sich vor, sie haben unseren Keller ausgeräumt!« »Wer?« fragte Mr. Potter verständnislos. »Ja, wissen Sie denn nichts davon? Sie haben doch schon mehrere Kurgäste in den Bergen hier überfallen, eine richtige Räuberbande mit schwar zen Masken, gräßliche Kerle!« 71
»So?« war die gedehnte Antwort. »Das ist das Neueste, was ich höre.« Die Kinder sahen einander verstohlen an, zogen es vor zu schweigen und überließen es Ranny, die nächste Frage zu stellen. »Kurgäste überfallen, sa gen Sie? Haben sie ihnen irgend etwas getan?« »Nein, man hat ihnen nur Geld und Schmuck abgenommen und sie dann laufen lassen«, sagte Herr Sandros. »Ziemlich gefährliche Gegend«, murmelte Mr. Potter und warf einen prüfenden Blick auf die fünf, die sich seltsamerweise so still verhielten. Sollten sie etwa von dieser Geschichte gewußt haben und deshalb so versessen darauf gewesen sein, hier her aufzukommen? Zuzutrauen wäre es ihnen schon. Die so unter die Lupe Genommenen bemühten sich sehr, diesem Blick standzuhalten und mög lichst harmlos zu wirken. Sie starrten krampfhaft aneinander vorbei, um sich nicht zu verraten, und Peggy wurde langsam rot. Mr. Potter wußte genug. Sie waren keine guten Schauspieler, die fünf. »Die Polizei hat schon alles abgesucht«, berich tete Herr Sandros weiter, »aber die Bande ist wie vom Erdboden verschwunden.« »Na, irgendwann wird man sie ja fassen«, sagte Mr. Potter, und zu den Kindern gewandt: »Ihr dürft euch auf keinen Fall allein vom Hause ent 72
fernen, nur in Rannys oder meiner Begleitung, ver standen?« Sie alle sahen sehr enttäuscht aus, wagten aber nicht zu widersprechen und nickten ergeben. »Ja, und nun werden das Abendbrot und das Frühstück und Mittagessen morgen nicht sehr reichhaltig ausfallen«, sagte Frau Sandros ent schuldigend und schüttelte bedauernd den Kopf. »Aber mein Mann kann heute nicht mehr ins Dorf, es würde zu spät werden. Und wir wußten ja nicht, daß Sie kommen würden.« Während dieser Ankündigung hatte Adam lautlos die Diele betreten, räusperte sich und sagte in das betretene Schweigen hinein, während er ein trium phierendes Lächeln nicht ganz verbergen konnte: »Wenn ich mir gestatten dürfte, an die Vorräte zu erinnern, die ich mitgenommen habe? Sie wür den uns über ein paar Tage hinweghelfen.« Der Beifall von Seiten des Ehepaares war ganz so, wie er ihn sich vorgestellt hatte, und Chris schrie: »Hurra, wir brauchen nicht zu verhungern!« Mr. Potter lachte. »Ja, Adam, da haben Sie in weiser Voraussicht gehandelt.« Doch dieses Lob wies er mit einer wegwerfenden Handbewegung zurück. »Es ist doch selbstverständ lich, daß man alle Eventualitäten in Betracht zieht.« »Even… Eventu…? Was ist denn das?« fragte Peggy, und obwohl sie ausnahmsweise keines ihrer 73
Zopfenden bearbeitete, war es ihr unmöglich, das schwierige Wort auszusprechen. »Paß auf«, erklärte Larry, »wenn du zum Bei spiel bei Sonnenschein einen Schirm mitnimmst, weil du denkst, es könnte vielleicht doch regnen, dann …« »Ach so«, sagte Peggy, und Chris grinste: »Quatsch, Adam kann hellsehen, das ist alles!« Alle lachten, nur Ben war noch immer in Ge danken mit der Bande beschäftigt. Wie war es nur möglich, daß sie jedesmal so spurlos verschwinden konnte? »Vielleicht verstecken sie sich in dem ko mischen Tal, in das man, wie es so schön heißt, nicht hinein kann«, sagte er plötzlich. »Wer?« fragte Lissy. »Ach so, du meinst die Räuber.« Herr Sandros schüttelte den Kopf und strich sich über seinen Schnurrbart. »Nein, nein, das ist un möglich, es gibt tatsächlich keinen Zugang.« »Fragt nur den Ziegenhirten, den Tino«, mischte sich Frau Sandros ein, als sie den zweifelnden Aus druck in Bens Gesicht sah. »Er haust dort oben mit seiner Herde, und er kann euch zu einer Stelle füh ren, von der aus ihr das Tal und die steilen Felsen rundherum sehen könnt. Keine Menschenseele würde sich da hinunterwagen, noch nicht einmal eine Gemse.« »Tino?« fragte Peggy. »Ist das ein Junge?« 74
»Ja, ja«, nickte Frau Sandros, »so alt wie dein Bruder vielleicht. Im Winter zieht er hinunter ins Dorf zu seinen Eltern, und den ganzen Sommer über lebt er da oben.« »Ganz allein?« fragte Lissy. »Ich würde mich fürchten.« Frau Sandros lachte. »Der Tino fürchtet sich vor nichts, der nicht. Der kennt sich da oben aus wie kein anderer, und außerdem hat er ja seine Ziegen.« Dieser Unterhaltung waren Mr. Potter und Ran ny mit steigendem Unbehagen gefolgt, denn sie wußten schon, was ihnen bevorstand, und daß aus der Mittagsruhe nicht viel werden würde. Und tat sächlich, sie hatten richtig vermutet, und Chris war der erste, der den Vorschlag machte, Tino noch heute zu besuchen. Etwa eine halbe Stunde später standen sie alle vor dem Haus, und Frau Sandros beschrieb ihnen zum soundsovielten Male den Weg. »Also, Sie müssen dort hinauf bis zu der großen Tanne, in die der Blitz eingeschlagen hat, Sie kön nen sie gar nicht übersehen. Dann weiter den schmalen Pfad, der links abbiegt. Er ist ziemlich steil, aber kurz. Dann gehen Sie bis zu der Quelle. Wenn Sie dort sind, pfeifen Sie am besten. Tino hat Ohren wie ein Luchs und hört das Gras wachsen.« Sie winkten ihrer Wirtin noch lange zu und er reichten nach einiger Zeit die Tanne. Der Blitz hat te ihren Stamm von oben bis unten gespalten und 75
geschwärzt. Die Sonne brannte heiß auf sie herab, als sie nun den schmalen, schattenlosen Felspfad bis zur Quelle hinaufstiegen. Aufatmend blieben sie stehen, und die Kinder riefen im Chor nach Tino. Das Trillern einer Blockflöte antwortete ihnen, und bald darauf sahen sie jemanden in großen Sprüngen auf sich zukommen. »Hallo«, sagten Mr. Potter und Ranny, »hallo, Tino.« Sie hatten erwartet, einen durch das einsame Le ben scheu gewordenen Jungen vorzufinden. Aber er lachte sie einen nach dem anderen freundlich an, und seine dunklen Augen in dem tiefbraungebrann ten Gesicht leuchteten vor Freude, während er so fort eifrig mit lebhaften Gesten auf sie einzureden begann.
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Mr. Potter, Ranny und Larry spielten abwech selnd den Dolmetscher, denn sie waren die einzi gen, die ihn ein wenig verstanden. Übrigens stand ein großer Geißbock neben ihm und starrte die Fremden mißtrauisch an. Tino hatte seinen Hals umfaßt und kraulte ihn zärtlich. »Er will uns sein Häuschen zeigen«, erklärte Larry, »al so los.« Sie stiegen hinter dem Jungen über die Felsen hinauf und bewunderten, mit welcher Sicherheit und Geschicklichkeit er vor ihnen herlief. »Genauso sicher wie der Geißbock«, flüsterte Lissy. »Wie er wohl heißt?« »Na, Tino«, kicherte Peggy, »das wissen wir doch.« »Quatsch, ich meine den Ziegenbock. Larry, frag ihn doch mal.« »Bulli«, sagte Larry gleich darauf, »er heißt Bul li.« Und die Mädchen kicherten wieder. Die Hütte bestand aus nur einem einzigen Raum mit einem gemauerten Herd, einem Tisch und ei nem schmalen Bett. Tino bot ihnen Milch und Ziegenkäse an, und die Kinder revanchierten sich, indem sie den von Frau Sandras und Adam in liebevoller Gemeinschaftsar beit mit den herrlichsten Dingen gefüllten Proviant korb auspackten, es schien, als habe Tino noch nie zuvor in seinem Leben etwas so Gutes gegessen. 77
Sie hockten auf den Stufen, und Bulli stand vor ihnen und sah interessiert zu, während Tino erzähl te, daß er ihn aufgezogen hatte, daß er nie von sei ner Seite wich und sein treuester Freund wäre. Doch plötzlich wurde er unterbrochen, denn Chris schrie: »Ein Adler! Donnerwetter, ein Adler!« Das große Tier kreiste ein paarmal nicht weit von ihnen entfernt und stieß dann herab. »Er hat irgend etwas in dem eingeschlossenen Tal entdeckt«, sagte Tino, und Chris grinste: »Ich wollte, ich wäre auch ein Adler und könnte irgend etwas in dem eingeschlossenen Tal entdek ken!«
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VIII Ein Büffel an der Wand
»Gar nicht schlecht«, murmelte Ben, der wieder an den Rauch denken mußte, den er damals hatte zwi schen den Bäumen aufsteigen sehen. Er war über zeugt davon, daß er sich nicht geirrt hatte. Viel leicht kannten doch ein paar Leute einen Zugang, vielleicht sogar diese Kerle. »Frag ihn doch, ob er uns zu der Stelle führen kann, von wo aus man das Tal sieht«, sagte er zu Larry gewandt. Ja, das konnte Tino, und er wollte es auch ger ne tun. Und ungefähr eine halbe Stunde später machten sie sich auf den Weg, er und Bulli an der Spitze. Es ging steil bergauf und manchmal an tiefen Abgründen vorüber. Peggy hielt sich krampfhaft an Rannys Hand fest, hatte die Augen geschlossen, und sie wagte es noch nicht einmal, eine lose Haarsträhne, die der Wind ihr ins Gesicht trieb, fortzustreichen. Sie fürchtete jede unnötige Bewe gung. 79
Doch die Jungen und auch Lissy kannten derar tige Gefühle nicht, und Mr. Potter mußte sie stän dig ermahnen, nicht zu unvorsichtig zu sein. Hier oben gab es nur kahles Gestein, und endlich gelangten sie zu der Stelle, an der der Felsen steil abfiel und an der Tino und Bulli schon auf sie war teten. Ranny nahm Ben und Chris beim Kragen, denn sie beugten sich neugierig weit vor. »Auf diese Weise würde ich nicht versuchen, mir die Gegend da unten anzusehen«, sagte er ärgerlich. »Und wenn ihr da gelandet seid, würdet ihr euch wohl kaum noch dafür interessieren.« Peggy starrte entsetzt auf die beiden, umklam merte zur Abwechslung Mr. Potters Hand und hielt gleichzeitig Ben am Arm fest. »Wie dicht der Wald da unten ist«, murmelte Larry. »Und sieht das da nicht wie Wasser aus? Die Bäume verdecken es beinahe, es muß ein Fluß sein.« In angemessener Entfernung starrten sie alle in die Tiefe, und plötzlich fragte Ranny: »Hast du schon einmal etwas von dieser Bande gesehen, Tino?« Tino schüttelte den Kopf. Nein, so weit kämen sie wohl nicht herauf, meinte er, und dann wüßten sie wahrscheinlich auch genau, daß er sich hier mit seiner Ziegenherde aufhielte, und sie wären sicher darauf bedacht, nicht entdeckt zu werden. 81
»Ob sie nicht vielleicht ihr Versteck da unten haben?« fragte Ben. Wieder schüttelte Tino den Kopf. Er hätte schon oft nach einem Weg gesucht, doch es gäbe keinen. »Kommt«, sagte Peggy ungeduldig, »ich mag das Tal nicht, und ich möchte auch gar nicht da hinun ter, es ist so dunkel und unheimlich.« »Ach du«, grinste Chris, »keine Spur von Unter nehmungsgeist, nur ’ne Menge Angst.« »Sie hat ganz recht«, sagte Ranny, »mir gefällt unser Jagdhaus auch besser«, und nach einem Blick auf seine Uhr: »Ich bin übrigens dafür, daß wir zu rückgehen, es ist höchste Zeit. Frau Sandros und Adam werden schon auf uns warten.« So machten sie sich also an den Abstieg, und nach einer Weile blieb Tino stehen, zeigte auf einen schmalen Pfad, der rechts abzweigte, und erklärte Mr. Potter und Ranny, daß man auch diesen Weg nehmen könnte und daß er viel kürzer wäre, nur etwas steiler. Und weil es schon spät war, befolgten sie seinen Rat und nach etwa einer Viertelstunde hörte die starke Steigung auf, der Weg wurde breiter, und dann sahen sie plötzlich vor sich eine große, dunkle Öffnung im Berge. Erstaunt blieben alle stehen. »Was ist denn das?« fragte Mr. Potter. 82
»Eine Höhle«, antwortete Tino. »In die Wände sind Tiere und Menschen gezeichnet.« »Das wollen wir uns doch noch ansehen«, sagte Ranny, zog eine Taschenlampe hervor und leuchte te in das finstere Innere. »Donnerwetter«, rief er, »kommt mal her!« Neugierig drängten sich die Kinder um ihn und sahen einen riesigen Büffel reliefartig aus der Fels wand gehauen. Das große Tier wirkte so lebendig im unruhigen Lichtschein, daß sie zuerst erschra ken. Der Strahl der Lampe huschte weiter, fiel auf an dere Tiere, auf Adler, Pferde, Ziegen und schließ lich auf ein paar Männergestalten. »Toll«, sagte Chris, »das Biest in der Mitte sieht aus, als ob es gerade auf uns zuspringen wollte.« Peggy griff nach Rannys Hand. »Ich möchte lie ber gehen, ich finde es unheimlich hier.« Chris grinste, und Tino, der merkte, daß sich das kleine Mädchen mit den blonden Zöpfen fürchtete, erzählte, daß Bulli, den er einmal mit in die Höhle nahm, beim Anblick des steinernen Tieres die Hör ner gesenkt hatte, um es anzugreifen. Alle lachten und bewunderten Bullis Mut, und Tino streichelte seinen alten Freund voller Stolz. »An dem solltest du dir ein Beispiel nehmen, Peggy«, sagte Ben ernsthaft. »Wirklich, wenn du auch keine Hörner hast, dann hast du doch deine 83
Rattenschwänze. Und Frau Sandros hat sie so fest geflochten, daß sie steif wie Spieße sind.« Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu, kehr te ihm den Rücken und lief hinaus in den Sonnen schein, während ihr die anderen, noch immer la chend, folgten. Und an der nächsten Biegung sahen sie endlich ein gutes Stück entfernt unter sich das Jagdhaus. »Seht mal, wie der Schornstein raucht«, schrie Peggy. »Bestimmt kochen Frau Sandros und Adam etwas Gutes für uns zum Abendbrot.«
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»So ein Freßsack!« stöhnte Chris. »Denkt nur ans Essen, und die wunderbare Aussicht sieht sie nicht.« Aber Lissy schlug sich auf ihre Seite: »Von der Aussicht allein wird man schließlich nicht satt«, lachte sie. »Mir knurrt der Magen üb rigens auch schon.« Doch diese Worte gingen unter im Trubel einer herzlichen Verabschiedung, denn Tino und Bulli trennten sich von ihnen an dieser Stelle, und die Kinder versprachen, bald wieder heraufzukommen. Sie sahen dem Hirtenjungen noch lange nach, wie er leichtfüßig neben dem Ziegenbock über die Fel sen zu seiner Herde zurücklief. »Schade, daß man sich nicht richtig mit ihm un terhalten kann«, sagte Ben bedauernd. »Haben Sie nicht vielleicht ein Wörterbuch, Mr. Potter? Dann könnten wir doch …« »Habe ich«, nickte er, »aber ich glaube, es ist besser, ihr nehmt ein bißchen Unterricht bei Herrn und Frau Sandros.« Nach einer halben Stunde erreichten sie von neu em die große Tanne, die der Blitz gespalten hatte, und die Kinder rannten das letzte Stück den Berg hinunter, stürmten ins Haus, und Adam, der gera de mit dem Tablett aus der Küche trat, wurde bei nahe umgeworfen. Kopfschüttelnd sah er den die Treppe Hinaufja genden nach, und ehe Ben im Badezimmer ver 85
schwand, drehte er sich um und rief: »Ich hoffe, Sie haben genug gekocht, wir führen nämlich eine Rie senheuschrecke namens Peggy mit uns.« Adam lächelte ein wenig. Er war auf einem Maultier geritten, sollte er sich nun vor der Gefrä ßigkeit einer Heuschrecke fürchten? Noch immer lächelnd ging er zum Tisch, um die Schüsseln und Platten mit all den Herrlichkeiten auf dem schneeweißen Leinentuch abzustellen. Das Abendessen wurde ein voller Erfolg für ihn, denn es ging ganz allein auf sein Konto. Frau San dros hatte dankbar seine Hilfe angenommen, denn sie wollte gerne noch ein paar Weißbrote backen. Über mangelndes Lob von Seiten der Kinder konn te er sich nicht beklagen, doch wenn sie ihrer Be geisterung auch weniger bereitwillig Ausdruck ver liehen hätten, so war die Tatsache, daß sämtliche Schüsseln sich in rasender Geschwindigkeit leerten, der beste Beweis dafür, daß er sich einmal wieder selbst übertroffen hatte. Am Ende lehnte sich Larry in seinem Stuhl zu rück und streckte die Beine weit von sich. »Ich kann mich nicht mehr rühren«, sagte er langsam. »Wenn Sie weiterkochen, werde ich Vater bitten, eine Rolltreppe einzubauen. Nach so einem tollen Essen hat man sie nötig.« Trotz Larrys wenig guten Benehmens wurden Adams Blicke keineswegs mißbilligend, man konnte 86
sie sogar eher als wohlwollend bezeichnen, und die Kinder stießen einander heimlich an und grinsten. »Er ist auch nur ein Mensch«, flüsterte Larry. Und Mr. Potter warf ihm einen schnellen Blick zu, zündete sich eine Zigarette an, und im Schein des aufflammenden Streichholzes sahen die Kinder, daß er ein Lachen kaum unterdrücken konnte.
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IX Mitten im dichten Nebel
Eine Woche ging vorüber mit strahlendem Sonnen schein, ein leichter Wind sorgte dafür, daß es nicht zu heiß wurde, und alle waren zufrieden, daß sie nicht unter der Hitze, die nun wohl noch in stärke rem Maße an der See herrschte, leiden mußten. Hin und wieder unternahmen die Kinder in Be gleitung Rannys und Mr. Potters einen Ausflug und richteten es beinahe jedesmal so ein, daß sie bei dieser Gelegenheit Tino einen Besuch abstatte ten. Einmal war sogar Adam mitgekommen, doch obwohl Herr Sandros ihm ein paar feste Stiefel ge liehen hatte, kehrte er mit schmerzenden Füßen zu rück. Von nun an verzichtete er darauf, sie zu be gleiten, nicht zuletzt deshalb, weil Bulli anschei nend wenig Sympathie für ihn aufbrachte und un entwegt mit den Hörnern nach ihm zu stoßen versuchte. In der übrigen Zeit faulenzten die fünf in Liege stühlen auf der Wiese, oder sie schossen mit Pfeil und Bogen nach der Scheibe, ein neuer Sport, den 88
sie mit Begeisterung betrieben, und zu dessen Aus übung Herr Sandros jedem einen Bogen angefertigt hatte. Übrigens waren inzwischen neue Vorräte aus dem Dorf besorgt worden, und Frau Sandros er zählte völlig außer sich, daß sie von neuen Überfäl len der Bande gehört hätte und daß man dort un ten von nichts anderem spräche. Einige Touristen, die eine mehrtägige Wande rung unternommen hatten und in einem Zelt über nachteten, waren restlos ausgeplündert worden. Uhren, wertvolle Kameras, Geld und sogar das Zelt hatte man ihnen gestohlen. »Und die Polizei kann und kann dieses Gesindel nicht auftreiben«, schloß sie kopfschüttelnd. 89
Neben dem Schießsport widmeten sich die fünf mit großer Ausdauer einem anderen Hobby, und zwar der Erlernung der neuen Sprache, wobei ih nen einerseits das Wörterbuch Mr. Potters und an dererseits die Bereitwilligkeit Frau Sandros’ zu Hil fe kamen, die sie aber hin und wieder doch mit ih ren unaufhörlichen Fragen zur Verzweiflung brach ten. Auch Mr. Potter und Ranny begannen sich un sichtbar zu machen, wenn sie merkten, daß die Kinder ein neues Opfer suchten. Nur bei den Mahlzeiten, die sich die fünf gern für die Erweite rung ihrer Kenntnisse aussuchten, konnten und wollten sie das nicht, denn dann hätten sie ja auf die Produkte der Kochkunst Adams und Frau San dras’ verzichten müssen. Die beiden arbeiteten in der Küche friedlich zusammen, sparten nicht mit gegenseitigem Lob, tauschten Rezepte aus und überboten sich täglich in der Zubereitung immer anderer Gerichte, und die Kinder, Mr. Potter und Ranny ließen es sich gern gefallen. Adam sonnte sich in seinem Ruhm und verlor mehr und mehr an feierlicher Gemessenheit, ob wohl sein Benehmen natürlich noch immer tadellos war. Nur verwirrte es ihn neuerdings etwas, wenn die Kinder ihn in einer fremden Sprache priesen, sein knuspriges, gefülltes Hähnchen zum Beispiel mit einem unverständlichen, unaussprechlichen 90
Namen bedachten und er genötigt war, die Dol metscherdienste Rannys oder Mr. Potters in An spruch zu nehmen. Manchmal kam es zu nicht en denwollendem Gelächter, wenn irgendeiner ein Wort falsch aussprach oder anwandte, und einmal geriet Larry dabei ein Bissen in die falsche Kehle, so daß es lange dauerte, bis er endlich wieder Luft bekam, nachdem die ganze Tafelrunde ihm den Rücken geklopft hatte. An diesem Nachmittag hatten sie sich vorge nommen, noch einmal zu der seltsamen Höhle mit dem Büffel hinaufzugehen. Gleich nach dem Essen brachen sie auf, wie im mer von Frau Sandros mit einem großen Proviant korb versorgt. Die Sonne brannte vom Himmel, und als sie end lich ihr Ziel erreichten, setzten sie sich aufatmend ins Gras, um zunächst etwas zu trinken, denn sie waren alle sehr durstig geworden. Erst als sie sich gestärkt hatten, gingen sie in die Höhle, um die riesigen Steinbilder von neuem zu bewundern. Doch Peggy, die sich genau wie beim ersten Ma le ungemütlich fühlte, lief bald wieder hinaus zu Ranny und Mr. Potter, die neben dem Eingang lehnten und eine Zigarette rauchten. Die Jungen und Lissy aber durchstöberten die Höhle von einem Ende bis zum anderen, und plötz 91
lich rief Ben, während er mit der Taschenlampe den Boden ableuchtete: »Seht mal hier, seht mal die Fußspuren, die stammen nicht von uns!« Wortlos starrten die anderen darauf. Es waren die Abdrücke von riesigen Stiefeln. »Vielleicht sind es die von Tino?« sagte Lissy endlich, selbst nicht ganz überzeugt. Larry schüttelte den Kopf. »Nein, Tino hat kleinere Füße, außerdem trägt er Sandalen.« »Ob sie vielleicht von dieser Bande stammen?« fragte Ben leise. »Du und deine Bande«, grinste Chris. »Die kom men nicht so hoch herauf. Die sind immer weiter unten, wo es was zu holen gibt, sozusagen fette Beute in Form von Touristen.« Die anderen lachten. Der Lichtkreis der Taschenlampe lag noch im mer auf der Spur, und noch immer starrte Ben dar auf. »Aber von wem sollen sie sonst sein, möchte ich wissen?« Larry zuckte die Schultern. »Es können ja auch andere Leute hierherkommen.« Peggy erschien im Eingang und rief: »Ranny sagt, es wird Nebel geben, wir müssen uns beeilen, damit wir vorher noch zu Hause sind.« Als die beiden Männer von Bens Entdeckung er 92
fuhren, zeigten sie sich nicht sehr beeindruckt. »Wahrscheinlich sind es Fußspuren von irgendwel chen Dörflern«, meinte Mr. Potter. »Vielleicht«, sagte Ben wenig überzeugt. »Und nun kommt«, drängte Ranny. »Seht euch das mal an, die weißen Schwaden dort unten, es sieht aus, als ob sie den Berg heraufkriechen.« Sie machten sich auf den Weg, und Ben, der plötzlich eine Stelle mit Walderdbeeren entdeckte, blieb ein wenig zurück. Er pflückte eine Handvoll, richtete sich auf und stand mitten im dichten Nebel. ›Verrückt‹, dachte er, ›eben war es doch noch ganz klar.‹ Er tastete sich zum Weg zurück, aber nach einer Weile verlor er die Orientierung und wußte nicht mehr, in welche Richtung er ging. Einen Augenblick lang blieb er ratlos stehen und tastete sich dann langsam Schritt für Schritt weiter. Und plötzlich sah er vor sich eine große schwar ze Öffnung. Er war also im Kreise gegangen und stand von neuem vor dem Eingang zur Höhle. ›Es hat keinen Zweck‹, dachte er, ›ich muß war ten, bis der Nebel sich verzogen hat.‹ Er ging in die Höhle und hockte sich in eine Ek ke, starrte auf die am Eingang vorüberziehenden Schwaden, gähnte und schloß die Augen. Er war müde und fröstelte in der Feuchtigkeit. ›Hoffent 93
lich sind Mr. Potter und Ranny nicht böse‹, dachte er. Und plötzlich fuhr er hoch. Er hörte Stimmen! Sollten die anderen schon zurückgekommen sein, um ihn zu suchen? Er richtete sich ein wenig auf, duckte sich aber augenblicklich wieder. Die Höhle war erfüllt von fremden Stimmen! Er sah die schattenhaften Gestalten einiger Män ner, und sein Herz begann wild zu schlagen. Ein Glück, daß er sich in diese dunkle Ecke verkrochen hatte. Um nichts in der Welt hätte er gewollt, daß die Fremden ihn entdeckten. Er konnte selbst nicht sagen warum. Er hätte gerne gewußt, wie sie aussahen, aber es war zu finster. Doch jetzt trat einer der Männer in den Eingang und starrte in den weißlichen Dunst. Der Mann war sehr groß, sehr schmal, und seine Füße waren naß und nackt. In der einen Hand hielt er ein paar schwere Stiefel, die er auf die Erde warf und dann anzog. »Der Nebel verzieht sich«, rief er den anderen über die Schulter zu, und Ben sah für den Bruchteil einer Sekunde sein hageres, tiefgebräuntes Gesicht. »Wir können gehen«, sagte der Mann, »hoffent lich lohnt sich’s heute.« Ben saß wie erstarrt. 94
Und als die letzte der schwarzhaarigen verwegen aussehenden Gestalten verschwunden war, lehnte er sich aufatmend gegen die Wand. Die Bande! Es war die Bande! Wie gut, daß sie sich ein bißchen mit der fremden Sprache beschäf tigt hatten. Er hatte verstanden, was der Mann sag te: ›Hoffentlich lohnt sich’s heute.‹ Er sprang auf. Aber woher waren sie gekom men?
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X Achtung, der Büffel
Ben schlich vorsichtig zum Eingang. Der Nebel hatte sich beinahe ganz aufgelöst, und von den Männern war nichts mehr zu entdecken. ›Ich muß mir die Höhle schnell noch einmal an sehen‹, dachte er, ›ich muß herausfinden, woher diese Kerle gekommen sind. Irgendwo an der Rückwand muß ein Eingang sein, vielleicht zu ei ner zweiten Höhle, wo sie das, was sie gestohlen haben, unterbringen. Die anderen werden Augen machen, wenn ich ihnen alles erzähle!‹ Aber ehe er noch seine Taschenlampe angeknipst hatte, hörte er lautes Rufen. »Ben, Ben! Wo bist du?« Es war Rannys Stimme, und Ben sah ihn ein Stück weiter unten auf dem Weg. »Hier bin ich, hier. Ich habe mich verlaufen.« »Beeil dich«, rief Ranny zurück, »ehe der Nebel wiederkommt.« »Warten Sie doch«, schrie Ben, »ich habe eine tolle Entdeckung gemacht!« 96
»Du kommst sofort«! rief Ranny ungeduldig. »Siehst du die dichten Schwaden da unten nicht? Diesmal verziehen sie sich nicht wieder so schnell, verlaß dich drauf!« Enttäuscht sprang Ben über die Felsen. Da war nichts zu machen, schade! Bei Ranny angelangt, begann er, noch ganz au ßer Atem, zu erzählen, aber der, unruhig und nur darauf bedacht, das Jagdhaus möglichst schnell zu erreichen, hörte gar nicht zu. Er hatte Bens Hand genommen und lief mit ihm den steilen Pfad hinunter. Ben schwieg, denn bei dem eiligen Abstieg konn te er beim besten Willen nicht mehr sprechen. Gerade noch zur rechten Zeit erreichten sie das Haus, gerade, als die dichten, grauen Nebelschwa den von allen Seiten heranzogen und jede Sicht nahmen.
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Ranny schlug die Tür zu und lehnte sich aufat mend dagegen. »Wie das passieren konnte, ist mir schleierhaft«, sagte er. »Das hätte verdammt schiefgehen können.« »Tut mir furchtbar leid. Aber ich habe nur ein paar Erdbeeren gepflückt und da stand ich plötz lich mittendrin in der Suppe.« »Trotzdem, das begreife ich nicht.« Ranny wandte sich zur Treppe, trat dann aber schnell ei nen Schritt zur Seite, denn in diesem Augenblick stürmten die Kinder, von oben kommend, an ihm vorbei. Er war müde und abgespannt von der aus gestandenen Angst und Aufregung. »Aber hören Sie doch, ich habe die Bande ent deckt!« rief Ben ihm nach. Ranny winkte ab. »Was für ein Unsinn! Ich muß mich übrigens erst einmal umziehen. Also, bis nachher.« »Na, dann nicht«, murmelte Ben. »Wo bist du nur gewesen?« rief Peggy. »Und was ist mit der Bande?« »Du hast sie doch nicht gesehen?« fragte Chris gespannt. »Ja«, sagte er, »ich habe etwas Tolles erlebt, et was ganz Tolles!« »Und was?« fragte Lissy ungeduldig. Alle drängten sich um ihn, und er begann. »Ich stand ganz plötzlich mitten im Nebel und bin im 98
Kreise gegangen. Und dann war ich auf einmal wieder vor der Höhle und bin hineingegangen, weil ich warten wollte, bis es wieder klar wurde. Und dann bin ich ein bißchen eingenickt, und dann hör te ich Stimmen, und die Höhle war voller Männer, und das war die Bande!« »Nein«, flüsterte Lissy, »nein, du spinnst!« »Es ist wahr, bestimmt«, beteuerte er. »Sie sind ins Gebirge gegangen, und ich habe gehört, wie der eine sagte: ›Hoffentlich lohnt sich’s heute.‹« »Vielleicht waren es Jäger«, sagte Peggy mit gro ßen Augen, eines ihrer Zopfenden im Mundwinkel. »Jäger? Nein! Niemals! Ihr hättet die Kerle se hen sollen! Und das Allertollste ist, ich glaube, ich habe ihr Versteck entdeckt. Sie waren plötzlich da, plötzlich kamen sie irgendwo aus dem Hintergrund der Höhle, es muß dort einen Zugang vom Berge her geben.« »Den müssen wir finden«, schrie Chris, »wir müssen sofort hin und suchen! Und was sagt Ran ny dazu?« »Ach, der«, entgegnete Ben wütend, »erstens glaubt er mir sowieso nicht, und zweitens hat er überhaupt nicht richtig hingehört.« »Ranny, Ranny!« riefen sie alle, als sie ihn nun die Treppe wieder herunterkommen sahen. »Ran ny, Ben hat das Versteck der Bande entdeckt! Er hat sie gesehen!« 99
Dieses Mal hörte er aufmerksam zu, und schon nach den ersten Sätzen winkte er Mr. Potter. »Es ist doch kaum zu glauben«, sagte der, als Ben endlich schwieg und die beiden Männer erwar tungsvoll ansah. »Geht dieser Bengel hier im Nebel verloren, nur, um eine solche Entdeckung zu ma chen. Und wir müssen ihm nach all der ausgestan denen Angst auch noch dankbar sein. Es ist doch kaum zu glauben!« Ranny nickte. »Er wird recht haben, wahr scheinlich sind es tatsächlich diese Leute gewesen, und wir müssen sofort nach dem Eingang suchen, am besten noch heute nacht.« »Und ich darf mit, ja?« fragte Ben hoffnungsvoll. »Wir gehen natürlich alle«, sagte Larry. Mr. Potter schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall, viel zu gefährlich!« »Aber ich habe doch alles entdeckt!« rief Ben empört. »Das ist gemein!« »Nimm doch Vernunft an«, redete Mr. Potter ihm zu. »Wir haben die Verantwortung für euch übernommen und müssen euch wieder heil und ganz abliefern. Außerdem erfahrt ihr alles schon noch früh genug.« »So eine Gemeinheit«, murmelte Ben und sah ihm finster nach, als er nun mit Ranny zusammen die Treppe hinaufstieg, »so eine Gemeinheit!« Die anderen versuchten ihn zu trösten, aber er 100
hockte mit angezogenen Beinen im Sessel, hatte die Stirn gerunzelt und dachte anscheinend angestrengt nach. »Und ich gehe doch mit«, sagte er plötzlich, sprang auf und grinste. »Nein«, rief Lissy, »das darfst du nicht! Wir ha ben doch versprochen, nie alleine fortzugehen!« »Tue ich auch nicht.« Er grinste noch mehr. »Ich schleiche den beiden einfach nach, und niemand
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wird dann behaupten können, ich wäre alleine un terwegs gewesen.« Die anderen lachten, und Peggy staunte: »Du hast Einfälle!« Und am Abend, als alle im Bett lagen, stand Ben an der einen Spalt breit geöffneten Tür des vom Licht des Mondes schwach erhellten Schlafzimmers und lauschte. Und plötzlich hörte er gedämpfte Stimmen, Ran ny und Mr. Potter kamen den Flur entlang und stiegen die Treppe hinunter. Er öffnete die Tür gerade so weit, daß er sich hindurchschieben konnte und winkte Chris zu, der aufrecht in seinem Bett saß und ihm leise nachrief: »Mach’s gut!« Lautlos schlich er hinter den beiden Männern her und blieb dann einen Augenblick im Schatten des Hauses, dicht an die Wand gepreßt, stehen, um sie ein Stück vorausgehen zu lassen. Nach einer Weile schlich er weiter, sich immer in einiger Entfernung haltend. Die beiden Männer gingen den Weg hinauf, und sie bemühten sich, genau wie Ben, so wenig Ge räusch wie möglich zu machen. »Wenn wir den Eingang finden«, sagte Ranny leise, »benachrichtigen wir sofort die Polizei, und sie kann die Kerle festnehmen, wenn sie die Höhle verlassen wollen.« 102
Mr. Potter nickte. Dann blieb er plötzlich stehen und legte die Hand auf Rannys Arm. »Was ist?« fragte der. »Nichts«, sagte Mr. Potter, nachdem er eine Weile angestrengt gelauscht hatte, »ich glaubte, etwas gehört zu haben.« Er hatte sich nicht getäuscht. Ein Stein war unter Bens Füßen ins Rollen geraten. Ben folgte den bei den so dicht er es wagen konnte und stand nun ge nauso unbeweglich wie die Männer vor ihm im Schatten eines Felsens. Nach etwa einer Stunde hatten sie die Höhle er reicht, und Ranny und Mr. Potter verschwanden in dem Eingang, der im hellen Licht des Mondes lag. »Nimm du die rechte Seite«, sagte Ranny und knipste die Taschenlampe an, »ich nehme die linke.« Eine große Wolke schob sich jetzt vor den Mond, und diesen Augenblick benutzte Ben, um in die Höhle zu schlüpfen und sich hinter einem Fels vorsprung zu verstecken. Er starrte auf den riesigen Büffel und dachte: ›Fantastisch und unheimlich!‹ Und dann weiteten sich seine Augen. Unter der breiten Brust des Tieres, zwischen des sen Beinen, bewegte sich langsam und stetig die Felswand. Wie von unsichtbaren Kräften wurde sie herausgeschoben, und dann erschien seitlich in dem entstandenen Spalt das Gesicht eines Mannes. 103
Ben stand wie erstarrt. Doch als der Mann sich nun geschmeidig durch den Spalt zwängte, schrie er: »Ranny, Mr. Potter, Achtung, der Büffel!« Die beiden fuhren herum. Aber in diesem Augen blick wurde der Stein vollends zurückgestoßen, und innerhalb weniger Sekunden waren sie von dunkel häutigen, schwarzhaarigen Gestalten umringt. Sie stürzten sich auf die beiden Männer und überwältigten sie, ehe die überhaupt begriffen, was vorging. Bleib, wo du bist, Ben, und benachrichtige die Polizei!« rief Mr. Potter, als er und Ranny durch die Öffnung gezerrt wurden. 104
Verstört sah Ben, wie sie alle in dem Eingang verschwanden und sich der große Stein langsam in seine alte Lage bewegte.
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XI Wohin führt der Gang?
›Ich muß hier sitzenbleiben und warten‹, dachte Ben. ›Ich muß hierbleiben und warten, vielleicht haben sie ja Verdacht geschöpft, daß noch jemand hier ist. Aber Mr. Potter hat Englisch gesprochen, und sie haben bestimmt nichts verstanden. Sie werden denken, daß er mit Ranny gesprochen hat, aber warten will ich trotzdem, wenigstens eine hal be Stunde.‹ Er hockte in dem finsteren Winkel und starrte auf die Leuchtziffern seiner Uhr. Der Zeiger schien zu schleichen, und nach zehn Minuten kam es ihm vor, als wären schon Stunden vergangen. Er hielt es nicht länger aus und schlich vorsichtig mit wild klopfendem Herzen zum Ausgang. Und dann begann er wie gehetzt den steilen, steinigen Weg hinunterzujagen, er fiel, war in Sekundenschnelle wieder auf den Beinen und jagte in großen Sprün gen weiter. Völlig außer Atem stand er endlich vor dem Haus, schloß mit zitternder Hand die Tür auf und schlich durch die Diele die Treppe hinauf in sein Zimmer. 106
Dort fand er alle auf Chris’ Bett hockend, dicht aneinander gelehnt und schlafend. Als er die Tür hinter sich zuzog, fuhren sie hoch und starrten ihn verwirrt an. Aber dann sprang Larry auf. »Wie siehst du denn aus? Ist was passiert? Wo sind Ranny und Mr. Potter?« »Gefangen!« sagte Ben und ließ sich auf sein Bett sinken. »Nein«, flüsterte Larry, »das ist doch nicht wahr!« »Doch«, sagte er und begann hastig die ganze unheimliche Geschichte zu erzählen. »Wir müssen sie befreien, sofort.« Larry stürzte in sein Zimmer, um sich anzuziehen.
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»Du bist verrückt«, rief Chris. »Was willst du denn gegen diese Kerle ausrichten?« »Egal, ich gehe.« Larry knöpfte sein Hemd zu. »Weckt ihr Herrn Sandros, er soll die Polizei be nachrichtigen.« »Macht ihr das«, sagte Ben zu den Mädchen gewandt, »Chris und ich gehen natürlich mit. Wir können ihn ja nicht allein lassen.« Er riß die Schranktür auf, holte ihre Rollkragen pullover heraus, und sie knoteten sie sich um die Schultern. In der feuchten, kalten Höhle würden sie etwas Wollenes gebrauchen können. Dann lie fen sie leise die Treppe hinunter, und Lissy und Peggy starrten ihnen wortlos und verstört nach. Die drei hasteten über die Wiese und weiter den steilen Weg hinauf, Ben nun schon zum drittenmal an diesem Tage. Die Füße taten ihm weh, und er konnte kaum noch mit den beiden anderen Schritt halten. Inzwischen hatte sich der Himmel bewölkt, und es wurde ein schwieriger Aufstieg in der Dunkel heit. Etwa eine Stunde war vergangen, als sie endlich in die Nähe der Höhle gelangten. Beinahe lautlos schlichen sie weiter, und plötzlich sah Ben hinter einem der Felsblöcke eine Gestalt auftauchen. Im Bruchteil einer Sekunde hatte er Chris und Larry ins Gebüsch gezogen, und sie hockten dort mit wild 108
klopfendem Herzen. War es einer von der Bande? Hatte er sie gesehen? Von neuem kam der Mond hinter einer Wolke hervor, und in seinem fahlen Licht erkannte Ben, daß die Gestalt dort drüben ein Junge war. »Tino«, rief er leise, »bist du es?« »Ja«, kam die Antwort. »Eine Ziege ist mir weg gelaufen, es ist immer dieselbe. Ich habe sie stun denlang gesucht. Aber was macht ihr hier mitten in der Nacht?« Und nachdem sie ihm in wenigen Worten alles erzählt hatten, pfiff er leise durch die Zähne. »Ich komme mit, aber ich an eurer Stelle würde lieber auf die Polizei warten«, sagte er, während er die Ziege an einer Tanne festband. »Wir können nicht warten«, sagte Larry. »Wer weiß, was sie mit Ranny und Mr. Potter vorhaben. Die Kerle sind ja in der Übermacht, und die beiden können sich überhaupt nicht wehren.« Sie gingen das letzte Stück bis zur Höhle hinauf, blieben einen Augenblick stehen und lauschten. »Es ist niemand drin«, sagte Tino leise. »Ich würde es hören, auf meine Ohren kann ich mich verlassen.« Trotzdem folgten sie ihm nur zögernd. Von neu em fiel das Licht des Mondes auf den steinernen Büffel, und Chris flüsterte: »Ein gräßliches Biest!« »Pst«, machte Ben, und dann ließen sie ihre Ta 109
schenlampen aufleuchten und begannen den Fels unter dem Tier abzutasten. Aber sie fanden nichts, womit sie ihn hätten be wegen können, nicht das Geringste. »Laßt mich mal sehen«, flüsterte Tino, und die anderen machten ihm Platz. Eine Weile dauerte es, dann pfiff er wieder leise durch die Zähne. »Hier ist ein Griff, hier oben, di rekt unter der Brust.« Ben hockte sich neben ihn und zog daran. »Warte«, sagte Tino und band ein Tau los, das er wie gewöhnlich um die Taille gebunden hatte, »ich knote es an dem Griff fest, dann können wir zusammen ziehen.« Und dann faßten sie alle an, und langsam be gann sich der Stein zu bewegen. Einen Augenblick lang hielten sie auf einen Wink Tinos inne, er preß te das Ohr gegen den schmalen Spalt und schüttelte den Kopf. »Nichts zu hören.« Von neuem begannen sie zu ziehen, und dann gähnte der dunkle Eingang ihnen entgegen. Sie leuchteten hinein, direkt in eine runde Öff nung im Boden. Aller Wahrscheinlichkeit nach führte von hier ein Schacht in eine tiefer gelegene Höhle. Wieder lauschten sie, aber kein Laut drang zu ihnen. 110
»Da hängt ja ein Seil von der Decke«, sagte Ben plötzlich. »Daran läßt man sich also herunter«, murmelte Larry und griff danach. »Laß mich zuerst.« Ben schob ihn zurück. »Und du, Tino, bleib oben. Es hat keinen Zweck, daß so viele gehen. Vielleicht kannst du uns auch so besser helfen, als wenn du mitgehst.« »Gut«, nickte Tino, »ich hole dann gleich Män ner aus dem Dorf.« Ben hielt das Tau umklammert und verschwand langsam in dem Schacht. Tiefer und tiefer ging es hinab, und er dachte verzweifelt: ›Nimmt dieses Ding denn niemals ein Ende?‹, denn allmählich wurden seine Arme lahm. Aber dann entdeckte er schmale in Abständen in die Wände geschlagene Stufen, auf denen seine Fü ße Halt fanden und auf denen er sich etwas ausru hen konnte. Und dann stand er endlich auf festem Boden, ließ erleichtert das Tau los und tastete um sich. Und da kein Laut zu hören war, wagte er es, die Taschenlampe anzuknipsen und sah, daß er sich in einer großen Höhle befand. ›Das kann auf keinen Fall das Versteck sein‹, dachte er, als er den Lichtschein über den nackten Boden und die kahlen Wände gleiten ließ.
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In diesem Augenblick sprang Chris neben ihn und gleich darauf Larry. »Hier sollen die sich verstecken?« sagte Larry nach einem schnellen Blick ringsum. »Nie und nimmer!« Chris schüttelte den Kopf. »Nein, aber wo sonst? Wo sind sie nur geblieben?« Von neuem leuchtete Ben in alle Winkel und Ek ken, ging über den felsigen Boden, und seine Schritte hallten in der Höhle wider. Langsam glitt der Lichtkegel über die Wände und erfaßte plötzlich auf halber Höhe eine schmale Öffnung. Schweigend starrten die drei hinauf, und nach einer Weile sagte Ben leise: »Los!« Sie sprangen auf ein schmales Sims, das an der Wand entlangführte, und sahen durch den Spalt in einen engen Gang. »Ich gehe als erster«, sagte Ben und begann sich hochzuziehen und durch den Spalt zu zwängen. Der schmale Tunnel war finster, uneben und schien in vielen Windungen zu verlaufen und steil in die Tiefe zu führen. Aber wohin?
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XII Der Fluß im Berg
Einer nach dem anderen begannen sie den engen Gang hinabzugehen, und nach einer Weile blieben sie plötzlich stehen. »Was ist denn das für ein ko misches Geräusch?« fragte Ben leise. Ein gurgelnder Laut, einmal stärker, dann wieder schwächer, drang aus einiger Entfernung zu ihnen. »Keine Ahnung«, sagte Chris endlich. »Kommt, wir werden es ja sehen. Aber seid vorsichtig.« Der gurgelnde Laut wurde stärker und stärker, schwoll zu einem Brausen an, und dann entdeckten sie, woher er kam. Es war Wasser, Wasser, das von oben herab in eine Höhle stürzte. Fassungslos standen die drei davor. Ein Wasser fall im Berge, das hätten sie nie für möglich gehal ten! Die Höhle war dumpf und feucht, von einem fei nen Sprühregen erfüllt und der Boden zu einer tie fen Mulde ausgehöhlt. Sie starrten in die Höhe, und Ben murmelte: »Wo das wohl herkommt?« 114
»Ich weiß es nicht«, sagte Larry, »aber eins weiß ich genau, nämlich, daß sie hier unten nicht hau sen.« »Der einzige Ausgang ist der Tunnel, in dem das Wasser abfließt«, überlegte Ben, ging näher heran und leuchtete hinein. »Ein richtiger Fluß, mitten im Berg«, murmelte er und starrte auf das schäumen de, mit ungeheurer Geschwindigkeit dahinströ mende Wasser. »Hier können sie doch nicht weitergekommen sein«, sagte Larry und lehnte sich entmutigt gegen die Felswand, während Ben den Strahl der Ta schenlampe am Rande des Flusses entlanggleiten ließ. »Da ist ja ein Sims!« schrie Chris. »Dann sind sie also doch hier weitergegangen!« In Larry kam augenblicklich wieder Leben. »Los, kommt!« Er rannte durch den Sprühregen und sprang hinüber auf die schlüpfrige Kante. »Paß auf!« schrie Ben. »Paß auf!« Auch er und Chris sprangen nun, leuchteten in den Tunnel und starrten schweigend auf das schäu mende, quirlende Wasser, das weit hinten in der Dunkelheit verschwand und dessen Rauschen und Gurgeln von den Wänden widerhallte. Vorsichtig machten sie sich auf den beschwerli chen Weg, neben sich in beängstigender Nähe das Wasser, das ihre Schuhe bald durchweicht hatte. 115
Ungefähr eine Stunde waren sie gegangen, als Larry plötzlich rief: »Hier wird es breiter, hier ist eine richtige Platt form!« Sie atmeten auf, als sie sie endlich erreichten und sich ein wenig ausruhen konnten. Und dann mach te Ben eine Entdeckung. Er fand eine tiefe Nische, in der Säcke auf dem Boden ausgebreitet lagen. Dicht aneinandergedrängt hockten sie sich dar auf, und Chris und Larry schliefen sofort ein. Auch Bens Kopf sank tiefer und tiefer, doch plötzlich fuhr er erschrocken hoch. Stimmen wurden laut, und ein unruhiger Licht schein bewegte sich am Ufer des Flusses entlang. Und dann erkannte er ein paar Männer, die sich am äußersten Rand der Plattform zu schaffen machten. Sie schienen etwas auf dem Wasser hinter sich herzuziehen, doch was es war, konnte er im Wech sel von Licht und Schatten nicht erkennen. Und gleich darauf verschwanden die Männer in dem Tunnel, aus dem die Jungen eben gekommen waren. Ben packte gleichzeitig Larry und Chris bei den Schultern. »Sie sind eben hiergewesen«, flüsterte er, »acht Mann. Wahrscheinlich gehen sie ’raus. Wir müssen sofort weiter.« Chris und Larry waren aufgesprungen. 116
»Schade«, sagte Larry, »sicher ist die Polizei noch nicht da, sonst hätten sie sie da oben gleich in Empfang nehmen können.« Sie liefen zum Wasser, um ihren Weg auf dem Sims entlang des Flusses fortzusetzen, als Ben wie angewurzelt stehen blieb. »Seht mal!« Der Schein seiner Taschenlampe Tag auf einem seltsamen Boot, das an einem Fel senvorsprung festgemacht war. Es war breit und flach und tanzte auf den Wellen. »Halb Kahn, halb Floß«, stellte Chris staunend fest. »Und wie kommt das Ding auf einmal hier her? Vorhin haben wir es doch nicht gesehen.« »Das haben sie extra für uns gegen die Strömung
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heraufgeschleppt, damit wir jetzt bequem weiter fahren können«, grinste Ben schwach. Larry lachte. »Und das Beste ist, daß wir die Bande nicht so schnell wieder auf dem Halse ha ben, wenn sie den ganzen Weg zurücklaufen müs sen. Übrigens, habt ihr auch solchen Hunger?« »Erinnere mich nur nicht daran«, stöhnte Chris. »Wir waren Idioten, daß wir uns nichts zu essen mitgenommen haben.« »Waren wir«, nickte Larry, fügte dann hinzu: »Also, ’rein ins Vergnügen!« und sprang als erster ins Boot. »Hat einer von euch ein Taschenmesser?« fragte Ben. »Ich«, sagte Larry, griff in seine Tasche und zog nicht nur das Gewünschte, sondern auch eine Tafel Schokolade hervor. »Ich wußte gar nicht, daß ich sie noch hatte«, lachte er und brach sie in drei glei che Teile. Und dann saßen sie auf den feuchten Holzplan ken, und nachdem sie die Schokolade gegessen hat ten, fühlten sie sich etwas gestärkt, und ihre Stim mung hatte sich ein wenig gehoben in dem Gedan ken daran, ihr Ziel schnell und bequem zu erreichen. Mit einem Schnitt machte Ben das Boot los. Es drehte sich wild um sich selbst und schoß dann in der Mitte der Strömung den Fluß hinab. Die Jungen klammerten sich aneinander, um 118
nicht hinausgeschleudert zu werden, und Chris stöhnte: »Daß es so schnell gehen würde, hätte ich nicht gedacht.« »Ich bin nur gespannt, wo wir ’rauskommen werden«, sagte Larry und kroch in sich zusammen, als das Boot sich jetzt von neuem mit rasender Ge schwindigkeit zu drehen begann. »Ich weiß es«, sagte Ben. »Und wo?« fragten Chris und Larry wie aus ei nem Munde. »Im eingeschlossenen Tal! Wo sonst?«
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XIII Stimmen im Wald
Im Augenblick konnten die beiden nichts entgeg nen, denn der Fahrtwind nahm ihnen den Atem. »Glaubst du wirklich?« fragte Chris endlich. Ben nickte. »Es muß ja so sein. Überleg doch mal, die Höhle mit dem Büffel ist in einem der Ber ge, die das Tal einschließen, und wir sind die ganze Zeit bergab gegangen.« »Klar«, sagte Larry, »er hat recht.« »Und wetten, daß das damals Rauch war zwi schen den Bäumen? Ich habe doch gewußt, daß ich mich nicht geirrt habe.« Mit unverminderter Geschwindigkeit, tanzend und schlingernd, jagte das Boot dahin. Oft berühr te es die Wände oder stieß an Felsvorsprünge, und nur manchmal, wenn das Gefälle für kurze Zeit aufhörte, schwamm es ruhig und langsam. Und dann sahen sie plötzlich vor sich noch weit entfernt helles Licht. Es war Tageslicht! Und bald würden sie den finsteren Tunnel hinter sich lassen! Und endlich schoß das Boot hinaus in den 120
Sonnenschein, und die drei schlossen geblendet die Augen. Als sie sie wieder öffneten, sahen sie, daß sie ge radewegs auf den Wald zufuhren, dessen dichtste hende Tannen hoch aufragten. »Hoffentlich entdecken wir Ranny und Mr. Pot ter überhaupt in dieser Wildnis«, sagte Larry und starrte auf die hohen Bäume und das dichte Unter holz. »Klar«, beruhigte Chris. »Wenn wir erst das La ger gefunden haben, finden wir die beiden auch. 121
Sie sind sicher irgendwo in der Nähe unterge bracht.« Sie hatten den Wald erreicht und waren plötzlich vom dämmernden Grün der Bäume umgeben. Nach einer Weile mündete der Fluß in einen klei nen See, den er auf der anderen Seite verließ, um dann von neuem im Dunkel des Waldes zu ver schwinden. Ben stieß die anderen an. Zwei Blockhäuser standen unweit des Ufers, und aus dem Schornstein des einen stieg blauer Rauch beinahe kerzengerade in die stille Luft. »Das Lager«, flüsterte Larry. Hastig dirigierte Ben das Boot dem Lande zu. Dann sprangen sie hinaus und warfen sich hinter dichtem Gebüsch auf den Boden. Hoffentlich wa ren sie nicht beobachtet worden! Eine Zeitlang lagen sie, ohne sich zu rühren, aber es zeigte sich niemand. »Glaubst du, daß sie alle fort sind?« fragte Chris endlich leise. Ben schüttelte den Kopf. »Dann hätten sie kein Feuer gemacht.« »Pst«, machte Larry. Ein Mann war aus der Tür getreten. Er gähnte, reckte sich, setzte sich dann auf die Schwelle in die Sonne, und es dauerte nicht lange und sein Kopf sank gegen die Wand. 122
»Wir warten noch ein bißchen, bis wir sicher sind, daß er eingeschlafen ist«, flüsterte Ben, »und dann schleichen wir uns hinter dem Haus durch und verschwinden. – Los«, flüsterte er nach einer Weile und wollte gerade aufstehen, als Larry seinen Arm packte. »Liegen bleiben, da ist noch einer!« Ein Mann kam einen kleinen Pfad entlang, der auf die Lichtung führte. Er ging auf den anderen zu und gab ihm einen Stoß mit dem Fuß. »Laß das!« knurrte der wütend. Der andere lachte. »Einen schönen Gruß von un seren Gefangenen. Ich war eben bei ihnen.« »Und deshalb weckst du mich, du Idiot?« »Deshalb, und weil wir jetzt essen wollen«, grin ste der andere, »komm.« »Jetzt sind sie weg, los«, flüsterte Ben, und die drei krochen hinter den Büschen entlang, bis sie den Wald erreichten und zwischen den Bäumen verschwanden. »Jetzt wissen wir wenigstens, in welche Richtung wir gehen müssen«, sagte Larry und richtete sich auf. Sie liefen zwischen den Bäumen hindurch, bis sie auf den Pfad stießen, den der Mann entlanggegan gen war. Schweigend liefen sie eine ganze Zeit, und end lich stöhnte Chris: »Hoffentlich ist es nicht mehr so weit.« 123
»Hoffentlich«, sagte Ben, und dann blieb er plötzlich stehen. »Ich habe etwas gehört!« Sie lauschten, und dann flüsterte Larry: »Mr. Potter!« Die anderen nickten. Auch sie hatten seine Stim me sofort erkannt. Sie rannten weiter, gelangten zu einer kleinen Lichtung, und nun hörten sie auch Ranny spre chen. In der Mitte der Lichtung war eine Grube, über die in schmalen Abständen dicke Baumstämme ge legt waren. »Ranny! Mr. Potter!« schrie Larry und stürzte als erster darauf zu. Einen Augenblick herrschte dort unten fassungs loses Schweigen, und dann riefen beide Männer beinahe gleichzeitig: »Larry! Wie kommst du denn hierher?« »Ben und Chris sind auch da«, sagte er, während sie schon begannen, die Stämme beiseite zu räu men. Es war eine schwierige Arbeit, und es gelang ih nen nur unter größter Kraftaufwendung, doch end lich konnten sich die Männer heraufziehen. Ein paar Sekunden lang saßen sie schweigend und außer Atem am Rande der Grube, aber dann sprangen sie auf, und Mr. Potter schlug Ben auf die Schulter. 124
»Wenn wir dich nicht gehabt hätten«, sagte er langsam. »Tatsache, diesmal war es gut, daß du nicht auf uns gehört hast, sonst säßen wir jetzt noch da unten.« »Stimmt«, nickte Ranny. »Und er hat sich übri gens recht vernünftig benommen, daß er in seinem Versteck geblieben ist.« »Was man von uns nicht behaupten kann«, grin ste Mr. Potter. »Wir haben uns übertölpeln lassen wie die Anfänger.« »Es waren zu viele«, sagte Ben, »sie hingen ja an Ihnen wie die Kletten.« »Trotzdem.« Ranny schüttelte den Kopf. »Kommt, wir wollen lieber hier verschwinden«, 125
sagte Mr. Potter und nahm das Brot, das man ih nen als Tagesration gegeben hatte. Sie legten die Baumstämme wieder über die Grube und gingen in den Wald, um dort erst ein mal zu beraten, was sie nun tun wollten.
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XIV Glück gehabt
Sie setzten sich ins dichte Gebüsch, Ranny so, daß er den Weg überblicken konnte, und Mr. Potter teilte das Brot aus, denn die Jungen waren sehr hungrig. Und dann erzählte Ben ausführlich, was gesche hen war, nachdem er allein in der Höhle zurück blieb. Daß sie sich nach seiner Rückkehr sofort auf den Weg machten, daß Tino ihnen geholfen hatte, den Stein zu bewegen, daß sie die Männer im Tun nel gesehen hatten und endlich von ihrer Fahrt mit dem Boot ins eingeschlossene Tal. Ranny und Mr. Potter hörten staunend zu, und dann fragte Chris: »Und wie wollen wir zurückkommen? Wieder auf demselben Weg?« »Keine Ahnung«, murmelte Ranny, »wenn sie erst gemerkt haben, daß wir verschwunden sind, werden sie natürlich den Tunnel bewachen.« »Aber irgendwie müssen wir hier doch wieder ’raus«, sagte Larry. 127
Mr. Potter zuckte die Schultern. »Wir wollen mal scharf nachdenken, und wenn uns nichts ein fallen sollte, müssen wir eben warten, bis wir her ausgeholt werden.« Alle schwiegen bedrückt, und dann sagte Ben nachdenklich: »Wohin der Fluß wohl fließt? Ir gendwohin muß er ja schließlich fließen.« Mr. Potter nickte. »Ich weiß, was du denkst. Du denkst, daß er vielleicht unterirdisch durch die Berge weiter führt und daß wir auf diese Weise ent schwinden könnten. Möglich ist es natürlich, wir müßten es eben versuchen.« »Einverstanden«, sagte Ranny. »Wenn wir ge gessen haben, sehen wir nach, ob euer Floß noch da ist, und …« Er schwieg, beugte sich plötzlich vor und gab ihnen ein Zeichen, sich ruhig zu ver halten. Zwei Männer kamen den Weg vom Lager her auf. Der eine trug einen Eimer in der Hand und der andere zwei von den runden Broten, die Ranny und Mr. Potter als Verpflegung bekamen. Atemlos starrten die Jungen zu den Männern hinüber. Gleich würden sie das Verschwinden ihrer Gefangenen entdecken! Die beiden schoben einen der Stämme ein wenig beiseite, knieten sich dann an den Rand der Grube, sahen hinunter, sahen sich an, starrten wieder hin unter und begannen aufgeregt miteinander zu reden. 128
Dann sprangen sie auf, warfen einen schnellen Blick in die Runde und liefen den Weg, den sie ge kommen waren, zurück. Anscheinend verspürten sie wenig Lust, nach den Verschwundenen zu suchen und es auf einen Zu sammenstoß mit ihnen ankommen zulassen. Sicher schien es ihnen ratsamer, damit bis zur Rückkehr der übrigen zu warten. Die fünf verhielten sich ganz still, so lange, bis von den beiden nichts mehr zu sehen war, und dann lief Ranny und holte Wasser und Brot, das sie vergessen hatten mitzunehmen. »Das kommt uns gerade recht«, grinste er, »das heben wir uns für später auf.« Mr. Potter nickte und meinte dann, die Jungen sollten sich noch etwas ausruhen, ehe sie aufbra chen. So legten sie sich also ins Gras, sahen hinauf in die Baumkronen, und es waren noch keine fünf Mi nuten vergangen, da waren sie schon eingeschlafen.
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Nach einer Stunde weckte Ranny sie, und sie sprangen schlaftrunken hoch, doch sie fühlten sich trotzdem ein wenig erfrischt und gestärkt für den Weg, der nun vor ihnen lag. Nach einiger Zeit erreichten sie den Fluß. Die beiden Holzhäuser standen verlassen in der glü henden Sonne, kein Rauch stieg mehr aus dem Schornstein, und von den beiden Männern war nichts zu sehen. Sie beschrieben einen großen Bogen um die Häu ser und krochen dann im Schutze des dichten Ge büsches zum Ufer, bis zu der Stelle, an der die Jun gen das Boot zurückgelassen hatten. Es war noch da! Einer nach dem anderen sprang hinein, und im mer dicht am Land trieben sie langsam den Fluß hinab. Mr. Potter, der sich einen langen, dicken Knüp pel aus einem Ast geschnitten hatte, benutzte ihn als Paddel, dort wo das Wasser kein Gefälle mehr hatte. Ruhig und sicher, und ohne daß jemand sie be merkte, waren sie bald ein gutes Stück vorange kommen und hatten die Lichtung weit hinter sich gelassen. Hier in der grünen Dämmerung war es angenehm kühl, und die Jungen richteten sich so bequem ein, wie es die Enge eben zuließ. Sie dösten ein bißchen und waren nach einer Weile beim 130
gleichmäßigen Geräusch der gegen die Bordwand schlagenden Wellen eingeschlafen. Sie wurden erst wieder wach, als der Wald sich lichtete. Die Sonne drang nun hier und da durch das Laub der Bäume, und das Boot schwamm schnell mit der Strömung talabwärts. Und dann mußten sie für einige Sekunden die Augen schließen, so hell war es plötzlich um sie nach dem Halbdunkel im Walde. Doch nach einer Weile sah Ben sich um. »Ich möchte nur wissen, wohin der Fluß fließt«, murmelte er. Ranny zuckte die Schultern. »Nach dem Stand der Sonne und meiner Uhr zu urteilen, scheint er einen großen Bogen gemacht zu haben. Es sieht beinahe so aus, als ob wir in die Richtung fahren, aus der wir gekommen sind.« »Glaubst du das wirklich?« fragte Larry. »Hof fentlich landen wir nicht wieder in der Nähe der Häuser.« Ein Knacken im Gebüsch am Ufer ließ sie wenig später zusammenfahren. Und voller Entsetzen sahen sie einen der beiden Männer, und gleich darauf tauchte der zweite hin ter ihm auf. Sie grinsten beide breit, und dann rief der eine dem anderen etwas zu. »Was hat er gesagt?« fragte Ben atemlos. Ranny und Mr. Potter warfen sich einen beun 131
ruhigten Blick zu, und dann erklärte Mr. Potter zögernd: »Er hat gesagt: ›Laß sie nur fahren, dann sind wir sie auf alle Fälle bald los!‹« »Und was soll das bedeuten? Verstehen Sie das?« Mr. Potter schüttelte den Kopf. »Paßt nur gut auf«, sagte er, »und achtet auf alles, was vor und hinter uns und rechts und links passiert. Wer weiß, wie sie uns ’reinlegen wollen.« Sie kamen schnell voran, und plötzlich sahen sie die das Tal einschließenden Felsen vor sich.
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Das Gefälle wurde stärker und stärker, und mit großer Geschwindigkeit näherten sie sich ihnen, und plötzlich begriffen sie, warum die beiden Männer so zuversichtlich gewesen waren, sie bald los zu sein. Die Öffnung im Felsen war so niedrig, daß sie nur hindurchkommen würden, wenn sie sich tief duckten, und an dem immer stärker werdenden Brausen erkannten sie, daß der Fluß als Wasserfall in den Berg stürzte. »Springt!« schrie Mr. Potter, und eine Sekunde später schoß das leere Boot mit immer größer wer dender Geschwindigkeit auf den Berg zu, während die fünf zum Ufer schwammen. »Versteckt euch hinter den Büschen«, befahl Ranny leise. »Wahrscheinlich kommen sie gleich, um zu sehen, ob ihre menschenfreundliche Hoff nung in Erfüllung gegangen ist.« Und kaum hatten sie sich hinter den Sträuchern verborgen, als die beiden Männer am Rande des Waldes auftauchten. Sie mußten gerade noch beob achtet haben, wie das Boot in dem Spalt ver schwand. Die fünf sahen, wie der eine dem anderen auf die Schulter schlug und wie sie dann langsam zurück gingen. »Diese gräßlichen Kerle«, flüsterte Chris, »nun glauben sie, daß wir alle ertrunken sind.« 133
»Um so besser«, grinste Ben. »Dann brauchen wir wenigstens keine Angst zu haben, daß sie den Eingang zum Tunnel bewachen.« »Das stimmt!« Larry seufzte erleichtert auf. »Jetzt möchte ich nur, daß es einen Bums gäbe und ich in meinem Bett läge.« »Ein recht verständlicher Wunsch«, lachte Ran ny, »leider mußt du erst einmal mit dem Felsen hier vorliebnehmen.« Sie lehnten sich alle gegen das warme Gestein, um in der prallen Sonne trocken zu werden, und Mr. Potter sagte: »Wir ruhen uns noch ein bißchen aus, und dann gehen wir hier an den Bergen entlang bis zurück zum Tunnel.« Und ein wenig später, als sie an dem Spalt vor überkamen, in dem das Boot verschwunden war, blieben sie einen Augenblick stehen, starrten auf das gurgelnde Wasser, und Larry sagte langsam: »Glück gehabt!«
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XV Wären sie doch schon hier
Unterdessen hatten Lissy und Peggy, wie die Jun gen es ihnen aufgetragen, Herrn und Frau Sandros geweckt und natürlich auch Adam. Voller Entsetzen hörten die drei dem Bericht der Mädchen zu, und schon nach den ersten überstürz ten Sätzen begann Herr Sandros sich in größter Ei le seine Stiefel anzuziehen, um sofort ins Dorf hin unterzugehen und von dort aus die Polizei zu ver ständigen. Seine arme Frau aber war völlig kopflos und jammerte unentwegt: »Nein, diese Jungen! Nein, diese Kinder! Sie hätten doch nicht alleine gehen dürfen!« Seltsamerweise verlor Adam die Ruhe nicht, da für aber viel von seiner gemessenen Vornehmheit, und staunend sahen Lissy und Peggy, wie er eilig zwischen Küche und Diele hin und her lief, den Tisch deckte, Teewasser aufsetzte und ihnen hin und wieder beruhigende und aufmunternde Blicke zuwarf. Derartig beruhigende und aufmunternde, 135
daß sie sogar auf Frau Sandros, der sie ja wohl nicht galten, ihre Wirkung nicht verfehlten. Und es dauer te nicht lange, so folgte sie seinem Beispiel und ging in die Speisekammer, um für ein gutes Frühstück zu sorgen, das sie jetzt wahrhaftig alle nötig hatten. Draußen dämmerte es schon, als sie endlich um den Tisch versammelt saßen, und Lissy und Peggy waren sehr erstaunt darüber, daß sie trotz ihrer Aufregung etwas essen konnten. Aber sich noch einmal hinlegen, wie Frau Sandros es ihnen vor schlug, wollten sie auf keinen Fall. Statt dessen hockten sie sich in die großen Sessel vor dem Ka min, und nachdem sie noch eine Weile miteinander geflüstert hatten, schliefen sie ein. 136
Sie erwachten durch Stimmengewirr vor dem Hause, und als sie zum Fenster liefen, sahen sie Tino und mehrere Bauern zusammen mit Herrn und Frau Sandros und Adam vor der Tür stehen. Sie stürzten hinaus, und von Tino erfuhren sie, daß er und die Jungen tatsächlich den Eingang ge funden hatten und daß sie in den Berg hinunterge stiegen waren, während er ins Dorf lief, um Hilfe zu holen. »Wir wollen gleich weiter«, schloß er, und als die Mädchen baten, mitgehen zu dürfen, meinte Adam, daß es ratsamer wäre, wenn sie es in seiner Begleitung täten. So stiegen sie also hinter Tino und den Bauern den Berg hinauf, und Adam nahm seine Aufgabe als Betreuer der beiden Kinder so genau, daß er sie fest an der Hand hielt und sie nicht eine Sekunde lang aus den Augen ließ. Und wenig später sahen nicht nur Lissy und Peg gy, sondern auch er atemlos zu, wie Tino den Stein unter der Brust des Büffels bewegte und sich die dunkle Öffnung in der Felswand vor ihnen auftat. Tino wollte sofort mit dem Abstieg beginnen, wurde aber von einem der Männer daran gehin dert. »Das ist nichts für so einen Jungen«, erklärte er, während er schon nach dem Seil griff. Es kostete Adam viel Überredungskunst, die 137
Mädchen zu bewegen, wieder mit ihm ins Jagdhaus zurückzukehren, da es, wie er meinte, viel zu lange dauern würde, bis die Männer wieder heraufkä men. »Wir können ebensogut unten auf sie warten«, sagte er ungewöhnlich streng. Und so verabschiedeten sie sich von Tino, der vor der Höhle auf einem Felsen hockte und ihnen versprach, sofort Bescheid zu sagen, wenn er etwas Neues erführe. Langsam und schweigend gingen die drei zum Jagdhaus zurück, und je höher die Sonne stieg, de sto größer wurde die Hitze. Es war außergewöhn lich drückend und vollkommen windstill. Als sie zu der Tanne gelangten, in die der Blitz geschlagen hatte, blieb Adam einen Augenblick stehen und fuhr sich mit dem Taschentuch über die Stirn. »Man wird mit einem Gewitter rechnen müs sen«, sagte er und zeigte auf eine schwarze Wol kenwand, die über den Bergen stand. »Wirklich?« fragte Peggy. »Glauben Sie wirk lich?« Sie fürchtete sich sehr vor Gewittern, und außerdem dachte sie sofort an die Jungen und Mr. Potter und Ranny. Hoffentlich fanden die Bauern sie, ehe das Unwetter losbrach. Auch Frau Sandras empfing die drei mit einem Stoßseufzer: »Gut, daß ihr da seid!« und mit der 138
Prophezeiung: »Heute gibt’s noch was. Es ist so schwül, daß man kaum noch atmen kann.« Und nach einem besorgten Blick in die erhitzten Gesich ter der beiden Mädchen fügte sie hinzu: »Ich habe eine Obstschale für euch, und Eis steht auch noch im Kühlschrank.« Dankbar löffelten Lissy und Peggy die kalte, er frischende Suppe, und wäre nicht der Gedanke an die anderen gewesen, so hätten sie sich jetzt sehr wohl gefühlt. Auch Adam schien sich noch immer große Sor gen zu machen. »Ich halte es für unbedingt erfor derlich, ein warmes Essen zu bereiten«, sagte er plötzlich. »Die Jungen und die Herren werden hungrig wie die Wölfe sein, wenn ich mich so aus drücken darf.« »Natürlich!« rief Frau Sandros eifrig. »Natür lich, Sie haben recht, Adam, wir müssen ein gutes, kräftiges Essen kochen. Die Ärmsten müssen gleich etwas Ordentliches in den Leib kriegen.« Sie bat die Mädchen, ihr in der Küche zu helfen und flüsterte im Vorübergehen Adam zu: »Wenn sie etwas zu tun haben, kommen sie wenigstens auf andere Gedanken.« »Sehr richtig«, nickte er, der, eine große, weiße Schürze vorgebunden, mit der Zubereitung einer Mayonnaise beschäftigt war. Inzwischen wurde es dunkler und dunkler, der 139
Donner kam näher und näher, die ersten Blitze zuckten, und es begann zu regnen. Zuerst in gro ßen, schweren Tropfen, doch dann stürzten die Wassermassen vom Himmel, wie keiner von ihnen es je zuvor erlebt hatte. Sie saßen in der Diele und starrten durch die Scheiben, vor denen der Regen wie ein grauer Vor hang herniederrauschte. Beinahe pausenlos zerrissen die Blitze die Dun
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kelheit, und der Donner krachte und hallte von den Bergen wider. Peggy hatte den Kopf in ein Kissen vergraben, Lissy saß dicht an Frau Sandros gedrängt, und Adam stand am Fenster, noch immer die große Schürze vorgebunden. Alle schwiegen, und alle dachten dasselbe. Wo mochten die anderen wohl sein? Und dann richtete Peggy sich plötzlich auf, starr te hinaus in das tobende Unwetter und flüsterte: »Was sie jetzt wohl machen? Oh, ich wollte, sie wären hier!«
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XVI Der Rückweg ist abgeschnitten
Nein, sie saßen keineswegs im Trocknen, das Un wetter überraschte sie auf ihrem Weg zum Tunnel. Plötzlich wurde der Himmel schwarz über dem Tal, Blitze zuckten, der Donner krachte, und ein Wolkenbruch stürzte hernieder, während der Sturm mit rasender Gewalt große Bäume entwurzelte. Die fünf standen ganz nahe am Eingang des Tunnels. Sie hatten gehofft, ihn noch vor dem Ge witter zu erreichen, aber es war unmöglich gewe sen. Sie standen dicht an den Felsen gepreßt unter einem schmalen Vorsprung und wurden trotzdem in wenigen Sekunden naß bis auf die Haut. Es war unvorstellbar, welche Unmengen von Wasser vom Himmel herabströmten, und Ranny und Mr. Potter dachten mit Sorge daran, daß es wohl ein recht schwieriger Rückweg auf dem schmalen Felsensims entlang des Flusses werden würde. Doch genauso plötzlich, wie das Unwetter ge kommen war, verzog es sich wieder. Die schwarzen 142
Wolken zerrissen, und unter den Strahlen der Son ne begann das Tal zu dampfen. Die Jungen schüttelten sich. »Wir sind schnell wieder trocken«, sagte Ben und lachte ein bißchen. »Aber nicht lange«, meinte Ranny. »Im Tunnel werden wir sofort wieder naß sein von der Gischt. Seht nur, wie der Fluß angestiegen ist.« »Hoffentlich kommen wir überhaupt noch zu rück«, sagte Chris plötzlich und starrte auf die den Abhang hinunterstürzenden Wassermassen. »So schlimm wird es schon nicht sein«, beruhig te Mr. Potter. 143
»Ja, dann können wir uns also auf den Weg ma chen«, sagte Ranny, trat plötzlich einen Schritt bei seite und schob die Jungen hastig hinter das Ge büsch. Mit ein paar langen Schritten war Mr. Potter bei ihnen und teilte vorsichtig die Zweige. Dort drüben aus dem Eingang des Tunnels tauchte ein Mann auf, und einer nach dem anderen folgte ihm. »Das sind die Kerle, die wir auf dem Weg hier her gesehen haben«, flüsterte Ben. »Und nun müssen sie wissen, daß jemand ihr Versteck entdeckt hat, weil das Boot weg war«, sagte Chris leise. »Hoffentlich fangen sie nicht an, nach uns zu suchen.« In diesem Augenblick kamen die beiden anderen Männer vom Lager her den Abhang hinuntergelau fen, und ein eifriges Hin- und Herreden begann. »Jetzt erzählen sie bestimmt, daß wir alle er trunken sind«, sagte Ben. »Seht mal, der eine zeigt dorthin, wo der Fluß in den Berg stürzt.« Sie sahen, wie die Männer nickten und dann zu sammen zum Lager zurückgingen. »Die sind wir los«, murmelte Chris. »Und jetzt brauchen wir keine Angst mehr zu haben, daß wir ihnen noch einmal begegnen.« Es wurde ein schwieriger und gefährlicher Rück weg, denn der schmale Steg wurde ständig vom 144
Wasser überspült. Sie gingen hintereinander, und einmal rutschte Larry ab, doch Ranny zog ihn so fort wieder herauf. Am schlimmsten waren die Stellen, an denen sich die Decke dermaßen senkte, daß sie sich tief duk ken und manchmal sogar über das schmale Sims kriechen mußten. Endlich gelangten sie dorthin, wo sich der Steg zu der Plattform erweiterte. Doch sie ruhten sich nur für kurze Zeit aus, da Mr. Potter drängte wei terzugehen, denn seltsamerweise stieg das Wasser, je höher sie kamen. Der Fluß schäumte und brauste, und vorsichtig tasteten sie sich an der Felswand entlang, um nicht auszugleiten. Mr. Potter ging voran und überlegte unruhig, in welchem Zustand sie die Höhle mit dem Wasserfall
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wohl vorfinden würden. Wenn ihnen nur dort nicht der Weg abgeschnitten würde, wenn sie nur dort erst vorbei wären! Er beschleunigte sein Tempo, und die Jungen stolperten erschöpft hinter ihm her. Das Wasser reichte ihnen nun schon bis zu den Knien, und im mer reißender wurde der Fluß, je mehr sie sich der Höhle näherten. Und als sie sie beinahe erreicht hatten, hörten sie plötzlich ein Krachen und gleichzeitig ein ohrenbe täubendes Brausen. Mr. Potter hastete die letzten Schritte bis zum Ende des Steges und blieb dann wie erstarrt stehen bei dem Anblick, der sich ihm nun bot. Ein Teil der Decke hatte nachgegeben, und der Wasserfall stürzte mit doppelter Gewalt herab. Auch die anderen starrten stumm auf die vom schäumenden Wasser angefüllte Höhle. »Unmöglich, da durchzukommen«, murmelte Ranny und sah mit zusammengezogenen Brauen hinüber zu dem rettenden Gang, den sie nun nicht erreichen konnten. »Und was jetzt?« flüsterte Chris. »Wir müssen warten«, sagte Ranny und versuch te seiner Stimme möglichst viel Zuversicht zu verlei hen. »Tino ist ja ins Dorf gegangen, um die Bauern zu holen, und Herr Sandros verständigt die Polizei. Bis die hier ist, kann es natürlich noch eine Weile dauern, aber die Bauern kommen sicher bald.« 146
Nach diesen Worten wurde es den Jungen ein wenig leichter ums Herz, aber Mr. Potter machte sich immer größere Sorgen. Eigentlich hätte schon nach ihnen gesucht werden müssen. Warum kam niemand? Und dann fuhr ihm plötzlich der Gedan ke durch den Kopf, daß man vielleicht schon hier unten gewesen war, den Steg am Fluß nicht ent deckt und so die Suche aufgegeben hatte. »Ich werde versuchen hinüberzukommen«, sag te er schnell und leise zu Ranny gewandt. »Wenn ich es schaffe, besorge ich mir ein Seil. Wahr scheinlich werde ich da oben jemanden treffen. Sonst hole ich es mir aus Tinos Hütte. Ich werfe es euch zu und ziehe einen nach dem anderen her über.« Ranny schüttelte den Kopf. »Die Strömung ist zu stark!« »Egal, ich sehe keinen anderen Ausweg«, sagte Mr. Potter, und unter den Blicken der ihm atemlos Zusehenden ließ er sich, mit den Füßen den Grund abtastend, ins Wasser gleiten. Er tat ein paar Schritte, wurde plötzlich von der Strömung erfaßt und schlug mit dem Kopf gegen den Felsen. Entsetzt packte Ranny den Bewußtlosen, den der Sog mitzureißen drohte. Mit vereinten Kräften zo gen er und die Jungen ihn auf den Steg, und alle starrten verstört auf ihn hinunter. 147
»Er wird bald wieder zu sich kommen«, tröstete Ranny endlich. »Wir wollen rufen«, sagte Chris plötzlich, »viel leicht hört uns jemand da oben.« »Ach, das hat ja doch keinen Zweck«, murmelte Larry, und während Ben und Chris schon schrien: »Hallo, hallo!« klimperte er unruhig mit ein paar Geldstücken in seiner Hosentasche. Und plötzlich fühlte er einen harten Gegenstand zwischen den Fingern. Seine Trillerpfeife! Die Trillerpfeife, die er sich in einer Bude am Strand gekauft hatte, die Adams ganzes Entsetzen bedeutete und die Tino so bewunderte, so sehr, daß er sich vorgenommen hatte, sie ihm zu schenken. Er setzte sie an die Lippen, und der schrille, durchdringende Pfiff ließ die anderen zusammen fahren, und Mr. Potter öffnete die Augen.
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XVII Ein Tau fliegt durch die Höhle
Wie verabredet, hatte Tino vor der Höhle gewar tet. Nach einiger Zeit erschien Herr Sandros mit drei Polizisten, stieg mit ihnen zusammen hinunter, doch den Steg am Fluß entdeckten auch sie nicht. Dann war das Gewitter heraufgezogen, und Tino hatte sich in die Höhle geflüchtet. Später, als der blaue Himmel wieder zwischen den Wolken hervorkam, sprach er mit den Bauern, die nun von einer ergebnislosen Suche im Gebirge zurückkehrten. In Gedanken versunken sah er ihnen nach. Er wunderte sich nicht, daß sie die fünf auch dort nicht gefunden hatten, denn er war fest davon überzeugt, daß sie irgendwo unten im Berge gefan gengehalten Wurden. Man mußte ihnen doch helfen! Es ließ ihm keine Ruhe mehr! Er sprang auf, lief in die Höhle und mit Hilfe des Taues gelangte er hinunter und lief weiter durch den schmalen Gang. Er hörte das ohrenbetäubende Brausen des Was 149
serfalles und stand endlich am Eingang zu der überfluteten Höhle. Und dann hörte er plötzlich durch das Tosen ei nen anhaltenden Pfiff. Er wußte sofort, was es war, Larrys Trillerpfeife! Er kniff die Augen zusammen und starrte durch den feuchten Nebel und die Gischt dorthin, wo er den Fluß vermutete, denn er wußte aus den Erzäh lungen der Bauern und Herrn Sandros’, daß er der einzige Weg war, der aus der Höhle führte. Und dann sah er auf der anderen Seite schemen hafte Gestalten, die etwas Weißes über ihren Köp fen hin und her schwenkten. Tino winkte zurück und überlegte fieberhaft, was er tun könnte, um zu helfen.
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Ob es ihm gelingen würde, sein Tau bis dort hin über zu werfen? So groß war die Entfernung schließlich nicht. Hastig wickelte er es ab und warf es dann mit kräftigem Schwung hinaus in die Höhle. Es erreichte sein Ziel nicht, und er versuchte es von neuem. Und dieses Mal schien es einer gefaßt zu haben. Er merkte es daran, daß es sich straffte. Er täuschte sich nicht, es war Ranny, der es hielt. Voll ungeheurer Aufregung hatten sie Tino in der Öffnung zum Gang auftauchen sehen. »Wenn er nur an sein Tau denkt!« stöhnte Ben. Und dann sahen sie zu ihrer unsagbaren Erleich terung, wie etwas auf sie zugeflogen kam, bildeten nach dem ersten mißglückten Wurf eine Kette, und Ranny stieg ins Wasser und hielt nach einigen Se kunden das Tau fest in der Hand. »Geh du zuerst, Ben«, sagte er schnell. »Du bist nicht so schwer wie Mr. Potter oder ich, und du kannst Tino helfen, das Tau zu halten.« Ben griff danach, und schon begann Tino, es wieder hinüberzuziehen. Das Wasser reichte Ben beinahe bis zum Hals, und manchmal schlugen die Wellen ihm über dem Kopf zusammen. Aber dann war es geschafft! Atemlos ließ er sich auf den Felsen sinken, und Tino grinste ihn an, schlug ihm auf die Schulter und warf das Tau von neuem. Und dann zogen sie mit vereinten Kräften Chris 151
und Larry in den Gang und endlich Ranny und Mr. Potter. Es ging alles sehr schnell, und das war gut. Im mer wieder hatten die beiden Männer mit besorg tem Blick hinauf zur Decke gesehen, denn sie konnte jeden Augenblick vollends einstürzen. Und tatsächlich, erst ein paar Schritte waren sie den Gang hinuntergelaufen, als sie von neuem ein ohrenbetäubendes Krachen und ein noch stärkeres Brausen hörten. »Jetzt hat der Rest der Decke nachgegeben!« rief Mr. Potter. »Beeilt euch, wer weiß, vielleicht wird der Gang auch noch überflutet!« Sie hasteten weiter und merkten plötzlich, wie das Wasser ihnen nachströmte, aber nur ihre Füße wurden naß. Und einige Sekunden später zog Tino sich schnell und gewandt als erster am Seil hinauf, und die anderen folgten ihm etwas langsamer, denn sie waren alle sehr müde. Und als sie dann endlich das Sonnenlicht durch den Eingang der Höhle mit dem steinernen Büffel fallen sahen, stürzten die Jungen hinaus und ließen sich erschöpft ins Gras fallen. »Keine zehn Pferde bringen mich jetzt noch ei nen Schritt weiter«, sagte Chris atemlos. »Kinder, Kinder, bin ich froh, daß wir das hinter uns haben! Oh, Tino, wenn du nicht gekommen wärst!« 152
Einen Augenblick lang schwiegen sie alle bei die sem Gedanken, doch dann griff Larry in seine Ho sentasche, drückte Tino die Trillerpfeife in die Hand und sagte: »Nimm die erst mal, von Vater kannst du dir bestimmt dann etwas wünschen.« Tino strahlte, und dann zeigte er plötzlich den Weg hinunter, auf dem mehrere Männer heranka men. Es waren Herr Sandros, ein paar Bauern und die drei Polizeibeamten. Beim Anblick der Verschwundenen blieben sie wie angewurzelt stehen, und dann berichtete Mr. Potter kurz, was alles geschehen war, und schloß breit grinsend mit den Worten: »Wenn die Jungen hier jetzt nichts zu essen bekommen, machen sie zu guter Letzt doch noch schlapp.« »Aber ja, aber ja«, rief Herr Sandros, »meine Frau und Adam warten schon seit Stunden mit ei ner besonders guten Mahlzeit auf sie.« Und obwohl Chris vor kurzem noch behauptet hatte, daß ihn keine zehn Pferde weiterbekämen, war er der erste, der nun aufsprang und auch der erste, der die Tür zum Jagdhaus aufriß und in die Diele stürmte. Peggy und Lissy, die für kurze Zeit ihren Platz am Fenster verlassen hatten, kamen, gefolgt von Frau Sandros und Adam, aus der Küche gelaufen und stürzten mit einem Begeisterungsschrei auf die Jungen zu. 154
Nach der stürmischen Begrüßung, bei der Frau Sandros Tränen vergoß und Adams Vornehmheit dahinschmolz wie Butter in der Sonne, eilten die beiden in die Küche, kamen schwerbeladen zurück, und kaum hatten sie die Schüsseln auf den schon seit Stunden gedeckten Tisch gestellt, da beluden die Jungen ihre Teller derartig, daß Adam unter normalen Umständen einen Herzschlag bekommen hätte. Endlich ließen sich die Jungen aufseufzend in ih ren Stühlen zurücksinken. »Das Beste, was ich bis jetzt in meinem Leben gegessen habe«, stöhnte Chris. »Frau Sandros, Adam, Sie haben sich selbst übertroffen!« Die beiden strahlten voller Freude und Wohlwol len, doch ehe nun auch noch die anderen in Lobes hymnen ausbrechen konnten, beeilten sich die Poli zeibeamten, endlich ihre Fragen zu stellen. »Und die Bande ist also vollzählig dort unten im Tal?« fragte der eine. Mr. Potter nickte. »Ja, und Sie können ganz be ruhigt sein, die sind dort sicherer als hinter schwe dischen Gardinen. Ich nehme an, daß der Weg durch den Berg seit heute unpassierbar geworden ist. Die ganze Decke der Höhle mit dem Wasserfall ist nämlich hinter uns heruntergekommen.« »Wahrscheinlich wird Ihnen nichts anderes üb rigbleiben, als den sauberen Verein mit dem Hub 155
schrauber herauszuholen«, fügte Ranny grinsend hinzu. Später erfuhren die Kinder, daß die Polizei die sen Rat tatsächlich beherzigt hatte. Aber da hatten sie das Jagdhaus schon verlassen, lagen im weißen Sand am Strand und aßen Eis, das bei Töff-Töff gekauft war. »Hört mal zu!« schrie Chris plötzlich und schwenkte die Zeitung, die ihnen der Eismann mit dem Hinweis, daß etwas Interessantes für sie dar instünde, gegeben hatte. »Hört mal zu! Sie haben sie aus dem Tal geholt, per Hubschrauber! Und die Kerle haben extra Bäume gefällt, damit er landen konnte! Stellt euch vor, sie haben sich abholen las sen, um eingesperrt zu werden und müssen dafür noch dankbar sein.« Er ließ die Zeitung fallen, und ein leichter Wind stoß erfaßte sie und trieb sie den Strand entlang.
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