GÜNTER GREGOR
Auf heimlichen Pfaden
DEUTSCHER MILITÄRVERLAG
Nach Tatsachen gestaltet
1.-70. Tausend Die Tatsachenr...
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GÜNTER GREGOR
Auf heimlichen Pfaden
DEUTSCHER MILITÄRVERLAG
Nach Tatsachen gestaltet
1.-70. Tausend Die Tatsachenreihe erscheint monatlich Deutscher Militärverlag • Berlin 1968 Lizenz-Nr. 5 Umschlag: Rudolf Grapentin Lektor: Rolf Dieter Burgdorff Vorauskorrektor: Ingeburg Zoschke Hersteller: Lydia Herkt Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden
Dick und prall wie Bauernbetten jagen dunkle Wolkenmassen über die Pyrenäen. Nur für Bruchteile von Sekunden läßt die schmale Mondsichel weiße Gipfel und Hänge gespenstisch aufleuchten. Schnee-und Regenschauer peitscht der Sturm in wildem Wechsel gegen die schroffen Felswände und heult in den Schluchten; dann wieder donnert es, als wolle das mächtige Gebirgsmassiv auseinanderspringen. Aber es sind nur Steinschläge und Lawinen, die irgendwo zu Tal poltern und brausen. Wer hört in diesem Höllenkonzert der Natur schon das schwere Keuchen menschlicher Körper, deren Lungen die Luft trotz des pfeifenden Windes langsam zu dünn wird ... Menschen in diesem Hexenkessel entfesselter Elemente? Und nicht nur zwei oder drei! Keine verirrten Bergbewohner oder Alpinisten - eine Kolonne von einigen Dutzend Männern ist es, die sich schweigend auf schmalen Felspfaden vorwärts kämpft, der spanischen Grenze entgegen. Es bleibt einem doch nichts erspart ..., denkt einer aus dieser stummen Reihe, der Fritz heißt und eigentlich in Berlin zu Hause ist, erbittert. Und seine Gedanken schweifen zurück und verfolgen noch einmal jenen schwierigen und abenteuerlichen Weg, der ihn nun bis hierher in diese unwirtliche Felswildnis geführt hat.
Im Schatten der Goldenen Stadt Die schmalen Fenster der kleinen Kaffeestube sind so stark beschlagen, daß das hastige Leben und Treiben draußen auf der Vinohradska, einer der Prager Hauptstraßen, nur schemenhaft vorübergleitet. Rauchbraune Vorhänge, holzgetäfelte Wände und spitzenbesetzte Tischlampen schaffen eine gemütliche Atmosphäre. Den Gästen am Ecktisch aber scheint es längst nicht so gemütlich zumute zu sein. Ihre heißen Debatten machen dem kleinen, grünen Kachelofen ernsthaft Konkurrenz. Um so kälter ist freilich inzwischen der Kaffee geworden, der seine aromatisch duftenden Dampffahnen längst eingezogen hat. Auch die Miene des Kellners, der gelangweilt neben dem Büfett sitzt, ist reichlich kühl. Immer wieder schielt er über seine Zeitung hinweg und pafft dicke Rauchwolken in die trockene, etwas muffige Zimmerluft. Ist er nur ärgerlich, daß er bei diesen vergeßlichen Kaffeetrinkern so wenig Kasse macht, oder ...? - Man wird sich wohl nächstens wieder mal woanders treffen müssen. Vorsichtshalber! In der Blanicka oder der Budecska und anderen kleinen Nebenstraßen ist man doch „weiter ab vom Schuß". Immerhin schreibt man das Jahr 1937. „Schon wieder Kohlsuppe", konstatiert Fritz, als ihm der sattsam bekannte Essengeruch in die Nase steigt, der ihm mittags aus der sogenannten Emigrantenküche in der „Zitna" entgegenschlägt. Doch man ist ja froh, überhaupt etwas Warmes in den Magen zu bekommen; dazu noch so billig. In die Restaurants am Wenzelsoder Karlsplatz, aus denen es wesentlich angenehmer
duftet, wagt man sich sowieso nicht hinein. Abgesehen von der feinen Garderobe fehlt es einem noch viel mehr im Geldbeutel. Oft kommt man sich wie ein Bettler vor in diesem fremden Land, in dem man auf die Unterstützung und Hilfsbereitschaft der Genossen angewiesen ist. Auch die Emigrantenküche ist eine Hilfe der Genossen der KPC für ihre deutschen Klassenbrüder. Wenn man selbst arbeiten dürfte und etwas verdienen könnte! Aber als Ausländer, als Flüchtling und dazu noch ohne Paß ist das einem von Amts wegen versagt. „Wir haben Sie aufgenommen und Ihnen Schutz gewährt", hat ihm der Registrierungsbeamte sachlich erklärt, „aber eine Beschäftigung können wir Ihnen als Emigranten und damit als ,Staatenlosen' nicht nachweisen." Und nach einer Atempause fügte er hinzu: „Wir haben zur Zeit selbst genug Arbeitslose." Das ist auch den Emigranten nicht unbekannt. Doch für den eigenen Unterhalt so gar nichts beitragen zu können ist wenig beruhigend. Noch beunruhigender ist aber für Fritz der Gedanke, daß er wegen seiner politischen Tätigkeit auch schon in seinem Gastland unerwünscht ist. Wenn er sich mit seinen Genossen im Park trifft, denkt er an die Bänke „Unter den Linden". Wenn er die Moldau unter sich dahinfließen sieht, denkt er an die Spree und die Brücke an der alten Friedrichsgracht. Jeder größere Platz erinnert ihn an den Alex und so manches Cafe an die kleinen Lokale in der Frankfurter. „Haben Sie 'ne Ahnung, wat der Hitler aus uns macht...", versicherte ihm noch eines Abends in Charlottenburg ein biederer Stammtischgast. Drei Tage
später — von Genossen hatte er erfahren, daß seine Wohnung von der SA auf den Kopf gestellt worden war — traf er schon in Prag ein. Doch viele Male noch wagte er sich als Kurier der illegalen Parteigruppen in sein geliebtes Berlin und riskierte seinen Kopf dabei. Aber auch das ist nun vorbei. Die Sache war immer gefährlicher geworden. Man hatte ihn nicht weiter reisen lassen können. Die Gestapo war ihm zu dicht auf den Fersen. Gefährliche Begegnung Fritz schlendert durch die Altstadt und betrachtet die Schaufenster. Er hat das schwere Zeitungspaket pünktlich in der Jakubska hinter dem Pulverturm abgegeben. Doch es zieht ihn noch nicht in sein Zimmer, das er in einem Hinterhaus bewohnt, zumal es auch so zeitig dunkel wird. Vielleicht geht er noch ins „Letka" und sieht sich den neuesten Film an. Oder ins Studenten-Cafe, wo man fast immer einige Genossen findet. Wenn nicht, so wird er seinen Kisch weiterlesen, von dem er in der letzten Zeit ständig ein Bändchen mit sich trägt. Vor dem Altstädter Rathaus bleibt er am Zeitungskiosk stehen. Hier gibt es immer etwas Interessantes zu lesen und außerdem umsonst. Auch wenn er mit manchen Wörtern nicht klarkommt, so kann er doch den Sinn der Artikel erfassen. In Berlin bereitet man also zum vierten Jahrestag von Hitlers Machtübernahme einen großen Rummel vor. Mit einem KdF-Schiff sind 1000 Legionäre nach
Spanien abgedampft. Im KZ im Teufelsmoor bei Bremen sind wieder achtzehn politische Häftlinge umgebracht worden.
Genosse Fritz Perlitz heute
Fritz ballt die Fäuste in den Manteltaschen. Er hat genug. Außerdem werden ihm beim langen Stehen in den ziemlich abgetragenen Schuhen die Füße kalt. Er will gerade rechts um das Büdchen zum Kinskypalais hinüber, als er plötzlich durch die Eckscheibe an der Ostseite einen Mann stehen sieht, der ebenfalls eifrig die aushängenden Blätter zu studieren scheint. Die Zeitungsfrau hat inzwischen das Licht angeknipst, so daß er das Gesicht des Lesenden deutlich erkennen kann. Verdammt, was macht der denn hier in Prag? geht es
Fritz durch den Sinn. Blitzartig wendet er sich nach links, überquert eilig den Platz und verschwindet in einer Seitenstraße. Im Schatten einer Anschlagsäule vergewissert er sich, ob ihm der Mann etwa folgt. Doch der steht noch im Lichtschein des Zeitungsstandes und liest. Erwin Tamm! - Irgend jemand hatte ihn damals in Berlin in die Parteigruppe mitgebracht. Angeblich war er gelernter Setzer. Man glaubte, ihn für den Druck von Flugblättern gebrauchen und in den illegalen Apparat einbauen zu können. Es dauerte mehrere Wochen, ehe man ihn mit seiner verantwortungsvollen Aufgabe vertraut machte. Er stellte sich bei der Arbeit auch durchaus geschickt an. Verwunderlich war freilich, daß selten ein Paket mit Drucksachen seine Adresse erreichte. Oft verschwand es unerklärlicherweise oder wurde beschlagnahmt. Und eines Tages flog sogar die kleine Geheimdruckerei in der Charlottenburger Pestalozzistraße auf. Erwischt wurde zwar niemand dabei, aber Erwin Tamm zog sich zurück. Entweder hatte er Angst bekommen oder seinen Auftrag erfüllt. Nachweisen konnte man ihm damals nichts. Aber nun taucht er hier auf. Ganz bestimmt nicht als Emigrant! Die frühere Vermutung scheint sich zu bestätigen: Tamm ist ein Spitzel und Verräter. Fritz ist die Lust nach Kino und Kaffee vergangen. Er muß die Genossen warnen. Endlich scheint auch in Prag der Winter einzuziehen. Mit großen, weichen Flocken entladen die bleigrauen Schneewolken ihre leichte Last über den Dächern und Straßen der Goldenen Stadt. In wenigen Stunden ist sie in ein Märchenreich verwandelt, wie es der alte Hof-
Konditor in der Nerudova mit Puderzucker und Sahne nicht besser hervorzaubern könnte. Doch die beiden Männer, die fröstelnd und mit hochgeschlagenen Mantelkragen am Ufer der Moldau entlangmarschieren, haben im Moment wenig Sinn für diese märchenhafte Pracht. Der Ältere des schweigsamen Paares verhält plötzlich seine Schritte und schaut seinem Gefährten fragend in die hellen Augen. „Hast du Lust, nach Spanien zu gehen? Du weißt ja, wer gegen Franco kämpft, kämpft auch gegen den deutschen Faschismus." Er braucht nicht lange auf Antwort zu warten. „Ja, natürlich", kommt es mit einer Bereitwilligkeit von den Lippen des schmalgesichtigen blonden Jungen an seiner Seite, als hätte er diese Entscheidung schon lange getroffen. Schweigend laufen sie nebeneinanderher. Der Fragesteller mustert das Gesicht seines Begleiters aus den Augenwinkeln. Das aber bleibt unverändert klar und offen, wie er es seit langem kennt. Erst als er - wie vor einer entscheidenden Eröffnung - tief und hörbar die Luft durch die Nase zieht, wendet sein Nebenmann verwundert den Kopf. „Ist dir klar, was sich da unten zur Zeit tut?" Die Stimme des Älteren klingt besorgt. Der Angeredete hält diese Frage für ein wenig überflüssig. Schließlich weiß er durch Zeitung und Radio und aus gemeinsamen Diskussionen über die spanischen Zustände Bescheid. Doch der andere redet bereits weiter. „Versteh mal recht! Knapp ein halbes Jahr nach dem Wahlsieg der Spanischen Volksfront fühlte sich die Reaktion schon wieder so stark, daß sie mit Hilfe der
Generale Molo und Franco einem Militärputsch inszenierte. So einfach wollten das Großbürgertum, der Feudaladel, vor allem aber der Klerus nicht auf die verlorengegangene Herrschaft verzichten. Nach den ersten vom Volk niedergeschlagenen Offensiven der Militär-Junta haben sich schließlich die deutschen und italienischen Faschisten in den Kampf eingemischt." Der junge Mann nickt. Er spürt das Bemühen des Älteren, ihm zu helfen, seine Entscheidung mit allen Konsequenzen zu überlegen. Er weicht dem forschenden Blick seines Weggefährten nicht aus, als dieser ihn eindringlich fragt: „Weißt du, daß es gar nicht so einfach ist, dorthin zu gelangen?" „Freilich! Diese Nichteinmischungskommission der Engländer, Franzosen und Amerikaner versucht jede Hilfe zu verhindern." Die Züge des Älteren glätten sich. „Da weißt du ja genau Bescheid, mein Junge. Ein Abenteuer für Hitzköpfe ist das nicht..." Zwei Tage später. Die weiße Zauberpracht ist wieder geschmolzen. Die blasse Wintersonne gießt all ihre Wärme über die blinkenden Dächer und winkligen Gassen der Moldau-Metropole. Die Bänke auf dem Karlsplatz sind schon wieder getrocknet und laden zum Ausruhen ein. Hier und da sitzen einige Leute und genießen die wärmenden Sonnenstrahlen. Drei Männer haben sich auf einer entfernter stehenden Bank niedergelassen. Sie sprechen deutsch miteinander. Selbst wenn die Touristensaison noch nicht vorbei wäre, würde man die kleine Gruppe ihrer dürftigen und abgetragenen Kleidung wegen kaum für Vergnügungsreisende halten. Und das sind sie wahrhaftig nicht. Der
eine der Männer, dem Aussehen nach älter als die beiden anderen, knöpft trotz der milden Temperatur seinen Kragen zu und erhebt sich. „Also, alles klar, Genossen? Morgen erhaltet ihr das nötige Reisegeld. Und seid pünktlich beim Komitee!" Die beiden Zurückbleibenden schauen ihm nach, bis er hinter dem Fontänenrondell in Richtung der Lazarskä verschwunden ist. Dann blicken sie sich an. Vor einer halben Stunde erst haben sie sich kennengelernt. Eine Bankbekanntschaft sozusagen. Fritz weiß nur, daß man den kleinen Genossen an seiner Seite, der von der Sozialistischen Arbeiterjugend kommt, Gerd nennt. Vielleicht heißt er auch wirklich so. Aber das ist im Moment unbedeutend. Wichtig ist allein die gemeinsame Aufgabe, die sie jetzt verbindet. „Wo wohnst du denn?" fragt Fritz. „In der Halkova ist mein Quartier", antwortet der andere. „Da können wir ja zusammen gehen!" Ihren Gedanken nachhängend, schlendern sie gemeinsam über den Platz. Touristen ohne Gepäck In den Büschen und Bäumen der Parkanlage vor dem Hauptbahnhof hängt dichter Frühnebel, der selbst die grelle Leuchtreklame des Hotels „Esplanade" hinter seinen grauen Schleiern verschwimmen läßt. In der weitgespannten Bahnhofshalle aber sorgen die abfahrbereiten Lokomotiven selbst für genügend Dunst. Ungeduldig erwarten zwei Fahrgäste die Abfahrt ihres
Zuges in Richtung Tabor. Ohne jegliches Gepäck sitzen sie im Abteil. Rasierapparat und Seife stecken in der Hosentasche. Man sieht es ihnen nicht an, daß sie gewissermaßen eine kleine Europareise vor sich haben. Immer wieder fühlen die beiden jungen Männer nach ihren Brusttaschen, um sich zu vergewissern, daß sie noch alles Nötige beisammen haben: Tschechische Kronen, österreichische Schillinge sowie Francs und Schweizer Franken. „Guck mal, der Dicke dort drüben an der Sperre mit dem Ulster und der Brille!" flüstert Gerd aufgeregt. „Wenn das kein Bulle ist..." „Der hat viel zuviel Gepäck bei sich", meint Fritz gelassen, „der wartet auf seine Frau, aber nicht auf uns." Er hat Erfahrung genug, um das behaupten zu können. „Wann fahren wir endlich?. Es ist doch schon längst..." „Stell mal deinen Wecker richtig, es sind noch drei Minuten Zeit." Doch die drei Minuten werden Fritz selbst zu einer Ewigkeit. Immer wenn ein neuer Fahrgast die Bahnsteigtreppen heraufhastet und am Zug entlangstürmt, bekommt er ein komisches Kribbeln in der Magengegend. Aber schnell werden die Nachzügler vom Schaffner in irgendeine Waggontür geschoben. Mit dem Ruck, der beim Anziehen der Lokomotive durch den Zug geht, scheint zugleich auch den beiden Männern ein Stein vom Herzen zu fallen. Die Räder rollen. Der Nebel ist dünner geworden. Doch die graugetünchten Brandmauern der Vorstadthäuser, die schmutzigroten Fabrikgebäude und der gelbe Qualm ihrer Schornsteine sind beinahe noch bedrückender.
Erst als das Häusermeer der Sicht entschwunden ist und die Morgensonne als rote Scheibe über die östlich der Bahnstrecke gelegene Hügelkette emporsteigt, hebt sich auch die Stimmung der beiden ungewöhnlichen Touristen. „Wie schön das Land ist", staunt Gerd und drückt seine heiße Stirn an die leicht gefrorene Scheibe des Zugfensters. Fritz blickt ihn ein wenig schmerzlich lächelnd von der Seite an. „Kennst du denn Deutschland überhaupt?" Der Junge starrt in die Landschaft hinaus und schüttelt kaum merklich den Kopf. Er ist achtzehn Jahre alt und nur selten aus seiner kleinen Vaterstadt herausgekommen, höchstens mit seiner Jugendgruppe in die nähere Umgebung oder in die nächste Großstadt zu Kongressen. Nach seiner abenteuerlichen Flucht vor den Faschisten, die auch seine Eltern bedroht hatten, verschlug ihm das Leben in der Weltstadt Prag zunächst einmal die Sprache. Obwohl er kein Träumer oder Schwärmer ist und seine Lage richtig einzuschätzen weiß, erscheint ihm die begonnene Reise durch fremde Länder in ein fernes Land als einmaliges, nie zuvor geahntes Erlebnis. „Das Saaletal müßtest du mal gesehen haben mit seinen Bergen und Burgen." Fritz senkt die Lider, als sähe er in der Erinnerung alles noch vor sich. „... oder das Bodetal im Harz, oder das Schwarzatal in Thüringen ..." Er blickt wieder auf und sieht den Jüngeren eindringlich an. „Was glaubst du, wie schön unsere Heimat ist, aus der man uns verstoßen hat, gerade, weil wir sie so lieben ..." Der Zug rasselt über eine Brücke, unter welcher ebenso
eilig wie die Saale die Sazava, ein Nebenfluß der Moldau, dahinfließt. Schon wenig später sieht man in der Ferne die nordwestlichen Ausläufer der BöhmischMährischen Höhe auftauchen. Kurz hinter Benesov geht es dann ins Gebirge hinein. Durch die ständige Steigung verringert der Zug zwangsläufig seine Geschwindigkeit, was selbst den sonst recht schaulustigen Gerd ungeduldig macht. Erst wenige Kilometer vor Tabor geht es wieder mit Volldampf ins Flachland hinunter. „Halbzeit!" stellt Fritz aufatmend fest, als man in die Bahnhofshalle einfährt. „Wenn alles so glatt weitergeht ..." Es geht sogar sehr schnell weiter, denn man scheint Verspätung zu haben. Die Luznice, an deren Ufer man jetzt entlangfährt, kann trotz ihrer kräftigen Strömung der dahinbrausenden Bahn keinerlei Konkurrenz bieten. Der Zug rattert an einer reizvollen Seenplatte vorbei, dem Böhmerwald entgegen. Und obwohl dieser weitaus imposanter als die Bergkette vor Tabor ist, haben die beiden Reisenden plötzlich keinen rechten Blick mehr für die vielfältigen Schönheiten dieser Gebirgslandschaft. Doch als sie auf der rechten Seite den schmalen Silberstreifen der Moldau auftauchen sehen, wissen beide, daß sie sich der Grenzstation, ihrem ersten Etappenziel, nähern.
Auf Grenzwegen Pünktlich zur festgesetzten Zeit sind sie am vereinbarten Treffpunkt. Werner Brochnow, der Verbindungsmann zu den österreichischen Genossen, die den beiden „Ausflüglern" weiterhelfen sollen, atmet auf. „Na, endlich! Ruht euch ein Stündchen aus und eßt erst mal was. Das weitere besprechen wir nachher." Doch rechten Appetit haben beide nicht, und auch an Schlaf ist nicht zu denken. Dazu sind sie - bei aller Beherrschung - jetzt viel zu unruhig. Der schwierigste Weg über die Grenze steht ihnen ja noch bevor. „Ich glaube, wir gehen lieber, ehe es zu dunkel wird", meint Fritz, „um diese Jahreszeit muß man jede helle Stunde ausnutzen." Hier im bergigen Grenzland spürt man den Winter härter als in Prag. Der Temperaturunterschied beträgt immerhin fünf bis sechs Grad. Auch der Himmel sieht aus, als wollte er jeden Moment seine Schneekammern öffnen, um dem Januar zu seinem angestammten Recht zu verhelfen. Der dicke Laub- und Nadelteppich des Waldes ist naß und glitschig. Auch die dichte, noch nicht ausgeholzte Kiefernschonung, die man zwangsläufig durchqueren muß, hindert am Vorwärtskommen. Die normalen Waldwege und Schneisen haben die beiden Wanderer sicherheitshalber schon längst verlassen, um auch den Förstern möglichst nicht zu begegnen. Als Pilz- oder Beerensucher könnte man sich um diese Kalenderzeit ja auch wahrlich nicht ausgeben. Jetzt geht es einfach geradeaus, sozusagen querwaldein, der nahen Grenze zu.
Ein lautes Rascheln im Laub und Zweigeknacken läßt Fritz herumfahren. Etwa schon ein Grenzposten? Einen Fluch unterdrückend, rappelt sich Gerd eben wieder auf. Er ist über einen bemoosten Baumstumpf gestolpert. Wenig später schrecken beide heftig zusammen. Zwei aufgescheuchte Rehe springen vor ihnen hoch und brechen geräuschvoll durch das Gestrüpp. Schweigend hasten die beiden Männer weiter. Das flüchtende Wild könnte sie verraten. Plötzlich aber stehen sie vor einem Hindernis, mit welchem sie nicht gerechnet haben: ein Grenzbach! Wild und schäumend springt das Wasser über rundgeschliffene Steine und verklemmte Äste morscher Uferbäume, bildet Strudel und Stromschnellen. Zum Überspringen ist der Bach zu breit, aber es hilft alles nichts: Sie müssen hinüber! Schnell haben sie sich der wenigen Sachen entledigt. Mit den Bündeln auf dem Kopf wagen sie die ersten Schritte. Das Wasser ist eiskalt. Wenn sie anfangs noch geglaubt hatten, es an einer seichten Stelle durchwaten zu können, so sehen sie sich nun getäuscht. Das Bachbett wird immer tiefer, und als schließlich die Mitte erreicht ist, schäumen die Wellen schon in Brusthöhe. Nur nicht den Halt verlieren! Das Blut scheint ihnen vor Kälte zu erstarren. Doch dann ist es geschafft. Zum Abtrocknen hat man weder Handtuch noch Zeit. Schnell die Sachen über den nassen Körper und weiter! Nach einer kleinen Weile schon haben sie sich warmgelaufen. Fritz blickt auf die Taschenuhr. Zwei Stunden unterwegs! Jetzt gilt es, die alte Waldhütte der Holzfäller zu finden.
Wenig später stoßen sie auf einen Weg. Er ist zerfahren und mit Borke übersät, sicher ein Abfuhrweg für das geschlagene Holz. Sie sind gewiß, in seiner Nähe auch das kleine Blockhaus zu entdecken. Da ertönt plötzlich aus dem Walde vor ihnen ein langgezogener, eigenartiger Pfiff. Die einsamen Wanderer verhalten ihre Schritte. Nun pfeift es schon wieder und nach einer etwas bangen Minute zum dritten Mal. „Ein Vogel kann das kaum sein", wundert sich Fritz. Erstens hat man auf dem bisherigen Wege außer dem Klopfen der Spechte kaum einen Vogellaut gehört, und zweitens ist dieser Ton so seltsam, daß sie ihn beide nicht deuten können. Vorsichtig streifen sie am Wegrande weiter. „Halt, Junge!" Fritz greift hinter sich und packt seinen Gefährten am Ärmel „Dort vorn am Weg steht einer! Siehst du ihn neben der Birke?" Gerd bemüht sich erschrocken, seine Augen auf diesen Punkt zu konzentrieren. „Vielleicht ist es nur ein Baumrest vom letzten Windbruch", meint er zögernd. „Quatsch!" flüstert Fritz. „Ein Baumstubben winkt nicht!" Fritz springt auf den Weg und zieht seinen Kameraden mit sich. „Das ist sicher unser Mann!" Kurzentschlossen schwenkt er seine Mütze. „Ich befürchtete schon, ihr hättet euch verlaufen ..." Der Fremde mit dem abgegriffenen Hut und den buschigen, über der Nasenwurzel zusammengewachsenen, dunklen Augenbrauen verzieht den Mund zu einem schiefen Lächeln. „Aber gehen wir! Ihr habt's doch eilig." Er wendet sich um und schreitet schnell voran. Nach dem stundenlangen Marsch durch den unwegsamen Bergwald fällt es den beiden
Grenzgängern nicht gerade leicht, mit ihm Schritt zu halten. Aber sie haben es ja wirklich eilig, da hat er schon recht. Also weiter! Dieser Weg zu dritt verläuft schweigsamer als der gefährliche über die Grenze. Es ist so gut wie unmöglich, ein Gespräch zu beginnen. Außer einigen Vorsichtsmaßregeln, die lediglich den unbekannten Pfad betreffen, verliert der seltsame Grenzführer kaum ein Wort. Keiner sagt oder fragt etwas, zumal sie wissen, daß der Mann vor ihnen kein Genosse, sondern ein Schmuggler ist, der sich seine Kenntnis der Grenzwege bezahlen läßt. Trotz des frühen Nachmittags ist es bereits dämmrig Und es soll sogar noch länger dauern, als sie ahnen. In der ersten Woche werden sie an jedem zweiten Tag zur Vernehmung geführt. Das zermürbt mit der Zeit. Doch ihre Aussagen bleiben die gleichen. Wie beim ersten Verhör, so fängt es auch heute wieder an. „Seien Sie nicht so halsstarrig!" redet der Kriminalbeamte Apfelbauer auf Fritz ein. „Ich glaube Ihnen, daß Sie in Deutschland von der Gestapo verfolgt wurden und deshalb nach Prag emigrierten. Aber wie ist Ihre jetzige Handlungsweise zu erklären? Dort waren Sie doch in Sicherheit!" Diese ewig gleiche Fragerei geht Fritz auf die Nerven. „Wissen Sie denn überhaupt, Herr Kommissar, wie es einem Emigranten im Ausland ergeht? Wissen Sie, daß er praktisch Staaten- und damit rechtlos, also vogelfrei ist? Wissen Sie auch, daß man in dieser Rechtslage weder Arbeit bekommt noch Arbeit annehmen darf?" Apfelbauer wiegt bedächtig den Kopf. „Und wovon haben Sie bisher gelebt?"
„Jedenfalls nicht von Bettelei; die ist ja gleichfalls verboten." Auch diese Antwort klingt scharf. „Und woher haben Sie das bei Ihnen gefundene Geld, in vier verschiedenen Währungen sogar?" Trotz seiner Gereiztheit kann Fritz sich ein ironisches Lächeln nicht verkneifen. „Von internationaler Solidarität der Arbeiter haben Sie wohl noch nichts gehört, Herr Kommissar?" Der Beamte behält die Ruhe. „Wenn überall so für Sie gesorgt wird, warum wollen Sie dann nach Spanien?" Fritz erzählt wieder seine Geschichte: Sie hätten im „Prager Tageblatt" eine Annonce gefunden, wonach in der Republik Ecuador Eisenbahnarbeiter gesucht würden; und sie hätten daraufhin beide beschlossen, nach Südamerika zu gehen. In Bordeaux wäre die Meldestelle. Von Spanien sei nie die Rede gewesen. Die Sache mit der Zeitungsmeldung stimmt wirklich, bloß die Auswanderungsgeschichte ist eine vereinbarte Notlüge. Doch wer will ihnen das beweisen? „Angenommen, ich würde Ihnen das Märchen glauben." Apfelbauer sieht zum Fenster, blickt aber gleich darauf wieder zu Fritz. „Warum sind Sie dann schwarz über die grüne Grenze, gegangen?" Er schmunzelt bei dieser Frage, als amüsiere er sich selbst über sein farbiges Wortspiel. Fritz bleibt ihm die Antwort nicht schuldig: „Das müßten Sie eigentlich selbst wissen, Herr Kommissar, daß ein Emigrant, also ein Staatenloser, keinen Reisepaß bekommt." Der Fragesteller nickt verdutzt, aber zustimmend.
„Da haben Sie tatsächlich recht! So was gibt's nicht." Er fühlt sich irgendwie in die Enge getrieben und versucht nun, die Vernehmung möglichst rasch zu beenden. „Ihre Aussagen sind trotz allem ziemlich unglaubwürdig", meint er nach kurzer Pause und steht hinter seinem Schreibtisch auf. „Wir sprechen noch darüber. Gehen Sie jetzt!" „Nicht so schnell!" knurrt der Wärter, als Fritz ihm - leicht beschwingt von dem kleinen Triumph über den Kommissar — auf der eisernen Treppe vorauseilt. Und flüsternd fügt er hinzu: „Ich hab' da was für Sie." Der Häftling verlangsamt erstaunt seine Schritte. Nanu, überlegt er, sollte der graubärtige Brummbär, mit dem man sonst kaum ein Wort wechseln kann, insgeheim auf ihrer Seite stehen? - Etwa eine Mitteilung aus Prag? — Vielleicht hat man dort schon herausbekommen, wo sie hängengeblieben sind. Nachricht konnten und können sie ja leider nicht geben. Der Alte verschnauft einen Moment. Sein Schlüsselbund, das er am Handgelenk hängen hat, scheppert gegen das rostige Geländer. Fritz kennt dieses Geräusch aus einigen schlaflosen Nächten, wenn er den asthmatischen Aufseher bei seiner Kontrollrunde hörte. Vor der Zelle zieht der Wärter aus dem Ärmelaufschlag seiner Uniform einen zusammengefalteten Zettel, der mit einer Banderole zugeklebt ist. „Hier fehlt ein Knopf an Ihrer Jacke", räsoniert er und steckt seinem „Schützling" bei seiner unwilligen Bewegung das Papier zu. Das Türschloß rastet hinter Fritz ein. „Was war los? Was wird mit uns?" bestürmt Gerd seinen Kameraden, der immer noch verdutzt seine Hand auf die Brust
preßt, um das Blättchen nicht zu verlieren. „Was hat denn der Knurrhahn mit dir?" Beinahe gekonnt wie ein Taschenspieler zieht der Gefragte verschmitzt lächelnd das ihm soeben zugesteckte Briefchen hervor. „Ein Gruß von draußen!" Er ritzt den Klebestreifen auf und liest: „Hörte von Eurer Haft; möchte helfen. Seid gegrüßt von Eurem österreichischen Genossen F. M." „Wer ist dieser Genosse F. M.?" fragt der Junge mit hoffnungsvollem Blick, als könnte ihnen dieser Mann zur Freiheit verhelfen. „Keine Ahnung!" Fritz schüttelt den Kopf. „Unser Wärter wohl kaum, trotzdem er Felix Marschallek heißt, soviel ich weiß." Am nächsten Tag fällt durch den vergitterten Sehschlitz der Zellentür eine Zigarette. Die beiden Insassen blicken sich verwundert an. Sie haben den gleichen Gedanken: ein Kassiber, eine geheime Information! Trotz allen Drehens und Wendens aber bleibt es eine gewöhnliche Zigarette. Statt des vermuteten Zettels steckt lediglich ein Zündholz darin, das mit seinem roten Kopf aus der duftenden Füllung herausschaut. Gerd kratzt sich skeptisch hinter den Ohren. „Wenn wir mit dem Ding kein Feuer kriegen, wäre alles vergebliche Liebesmüh!" Aber Fritz hat schon Übung in dieser Methode. „Zeigt her eure Füßchen, zeigt her eure Schuh'.. .", pfeift er vor sich hin und entzündet mit erstaunlicher Sicherheit an der rauhen und schon recht dünnen Sohle seiner „Pantoletten" die Kuppe des zerbrechlichen Hölzchens. Schnell birgt er die Flamme in seinen hohlen Händen. Der Tabak glüht. „Fifty-fifty", meint Fritz und zieht genießerisch den Rauch ein. Doch schon nach einigen Zügen reicht er Gerd das Stäbchen. „Hier, mach weiter, obwohl
,Kinder' eigentlich nicht rauchen sollten." Es bleibt nicht die einzige Gunst, die ihnen erwiesen wird. Einmal sind es ein paar Fleischbrocken mehr im Eintopf, dann ist es eine zusätzliche Scheibe Brot. Und hin und wieder erfüllt Tabakduft die schmale Zelle. Der Wärter jedoch bleibt brummig wie zuvor, als hätte er mit der Sache nicht das Geringste zu tun. Bei jeder Frage dreht er sich wortlos um und geht. „Wer ist F. M.?" Diese ständig wiederkehrende Frage des blonden Deutschen verfolgt den Gefängniswärter Felix Marschallek beinahe Tag und Nacht. Ob er ihnen das Essen durch die Klappe schiebt oder sie zur Vernehmung führt, immer wieder flüstert es vor oder hinter ihm: „Wer ist F. M.?" Hätte er sich bloß nicht in diese Geschichte eingelassen! Nicht daß ihm die beiden Burschen unsympathisch wären... Sie benehmen sich anständig, sind vernünftig und ruhig; er hat keinen Ärger mit ihnen. Ja, er versteht nicht einmal, warum man sie noch festhält. Bloß wegen der dummen Grenzgeschichte. So hat er dann eben mal daheim beim Abendbrot - so ganz nebenbei - die Bemerkung fallenlassen, daß die beiden Reichsdeutschen immer noch bei ihnen säßen. Aber Berta, seine bessere Hälfte, hatte offenbar nicht dichtgehalten, denn als am Sonntag vormittag sein Schwager Franzl wieder mal vorbeigucken kam, fragte dieser ihn sofort: „Was habt ihr da für Leute bei euch? Wie heißen sie? Wo kommen sie her? Warum sind sie denn überhaupt schwarz über die Grenze gegangen? Wohin wollen sie denn?" Berta hatte sich vorsichtshalber in die Küche verzogen, was seine Vermutung bestätigte:
Sie hatte zu ihrem Bruder davon geplaudert. Natürlich hatte er, Felix, sofort an seine Verantwortung als Staatsbeamter gedacht und sich erst einmal ausgeschwiegen. Aber der Franzl, der ließ natürlich nicht locker, und zuletzt wußte er, was er wissen wollte. „Steck ihnen wenigstens mal einen Zettel zu", bedrängte ihn der Schwager, „damit sie nicht glauben, in Österreich gäbe es nur Wein- und Kaffeetrinker. Wir lassen keinen allein, auch wenn wir nicht immer helfen können." Eigentlich waren die Worte des Schwagers vernünftig. Und nun sitzt er in der Zwickmühle. Einerseits redet ihm Franzl zu, den beiden Inhaftierten alle möglichen Erleichterungen zu verschaffen. Andererseits bedrängen ihn die Häftlinge mit ihrer ewigen Fragerei und ihrem Versuch, Verbindung nach draußen aufzunehmen. Das aber kann er auf gar keinen Fall zulassen. Schließlich steht sein Posten auf dem Spiel. Wenn das alles bloß gut geht! Beruhigend ist für ihn, daß auch Kommissar Apfelbauer recht nachsichtig mit den beiden umgeht, also sie offenbar auch nicht für Staatsverbrecher hält. Freilich wäre ihm wohler, wenn sie endlich entlassen würden. Aber noch sind sie da, und er muß halt zwangsläufig seine Rolle als Schutzengel weiterspielen. Im Espresso in der Balbinova herrscht ausgesprochen trübe Stimmung. Draußen hängen die Schneewolken bleigrau und schwer über der Stadt. Die Wandlampen in dem kleinen Raum flackern beständig - wahrscheinlich durch einen Wackelkontakt -
hinter ihren tristen Milchglasschirmen und drohen manchmal zu verlöschen. Eine sentimentale Schnulze tönt aus dem verstaubten Radio. Die wenigen Gäste am Tisch vor dem Ofen sehen bedrückt vor sich hin.
Der Mann, der unmittelbar am Ofen sitzt, blickt schweigend in die Gesichter seiner Freunde. Er denkt daran, daß so wie sie hier in Prag sich in vielen Ländern Antifaschisten in Hilfskomitees für das republikanische Spanien zusammengeschlossen haben. Er erinnert sich eines Satzes aus dem Aufruf der Kommunistischen Internationale, den deren Generalsekretär Georgi Dimitroff unterzeichnete: Die Solidarität mit dem republikanischen Spanien sei die Pflicht aller ehrlichen Menschen. Von den Komitees wurde Geld für Lebensmittel, Kleidung und Medikamente gesammelt, sie mobilisierten die öffentliche Meinung gegen die Verbrechen der Intervention, und die Komitees halfen den Freiwilligen, die sich für die Internationalen Brigaden gemeldet hatten. „Haben sie immer noch nicht geschrieben, Hermann?" Der Mann am Ofen sieht den Sprecher an.
Längst hat er sich an „Hermann" gewöhnt. Nur wenige Genossen kennen ihn als Fritz Fugmann aus Berlin. Auch Fritz, der jüngere Genosse, von dessen Arbeit als illegaler Kurier er wußte, kannte ihn als „Nasen-Hermann", wie ihn die Genossen mitunter auch scherzhaft nannten. Hermann schüttelt den Kopf und wendet sich an .seine dunkelhaarige Nachbarin: „Die Burschen werden doch deinen ,Geburtstag' nicht vergessen haben, Anni?"
„Fritz bestimmt nicht", antwortet beinahe flüsternd die kleine Frau.
Solidaritätskundgebung Moskauer Werktätiger tut das heldenhaft kämptende spanische Volk
„Da muß irgend etwas schiefgegangen sein!" „Aber wieso?" wundert sich einer aus der Runde. „Mit Werner und den österreichischen Genossen war doch alles klargemacht!" „Auch für uns als Kommunisten gibt es eben noch .höhere Gewalten'." Hermann lächelt. „Wenn es auch nicht der ,liebe Gott' ist, dann ist es irgendein bezahlter Spitzel oder die politische Polizei!" Er mußte an das Gespräch mit Fritz an jenem Wintertag denken. Wie gern hätte er ihm gesagt, daß auch er sich
für den Weg nach Spanien entschlossen habe, aber er vorläufig hier seine Aufgabe erfüllen müsse. Als sich das Zentralkomitee der KPD im August 1936 in einem Aufruf an alle militärisch ausgebildeten deutschen Antifaschisten wandte, sie aufforderte, an der Seite der spanischen Volksarmee zu kämpfen, erhielt er den Auftrag, im Spanienkomitee mitzuarbeiten. Auch jüngere Genossen sollten für die Teilnahme am Kampf der spanischen Volksfront gewonnen werden. „Der Zeit nach müßten sie eigentlich schon in Basel oder Paris sein", wirft ein anderer ein. „Vielleicht kommt morgen eine Ansichtskarte." Doch es kommt keine, ganz abgesehen davon, daß es vom Linzer Polizeigefängnis noch nie Ansichtskarten gegeben hat. „Woher wußten Sie überhaupt, an welcher Stelle man so einfach über die Grenze kommen kann?" Mit dieser Frage beginnt zwei Tage später Apfelbauer erneut sein Verhör. „Diesen Weg hat man uns drüben im Grenzort verraten!" Fritz kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Den soll übrigens jeder Schmuggler benutzen, der von Ihnen offenbar nicht gefaßt und verhaftet wird." Der Beamte scheint den ironischen Unterton zu überhören. „Ich habe mich", so fährt er betont langsam fort, „an Berlin gewandt, um endlich genaue Auskunft über Sie zu erhalten. Sie müssen damit rechnen, daß man von dort Ihre Auslieferung verlangt." Gerd, den man diesmal mit hereingeführt hat, ist bleich geworden, und auch Fritz, dem einige Jahre älteren Genossen, scheint das spöttische Lächeln in den Mundwinkeln erstarrt zu sein.
Der Kommissar bemerkt diese Wirkung seiner Worte nicht ohne Genugtuung. Immerhin ist .er Staatsbeamter, der sich schon einen gewissen Respekt ausbitten kann. Irgendwo in seinem Inneren aber scheint ein Funken Sympathie für diese beiden verwegenen Burschen zu glimmen, denn wesentlich milder fährt er fort: „Eigentlich haben Sie noch Glück gehabt, daß gerade wir Sie festgenommen haben. Ich weiß, daß man eine Reihe von Reichsdeutschen, die man in Feldkirch vor dem Grenzübertritt in die Schweiz verhaftete, umgehend nach Deutschland ausgeliefert hat." Die beiden Gefangenen schweigen. Nur in Gedanken können sie sich die Folgen solcher Maßnahme ausmalen. Gestapo! Konzentrationslager! Und dann . ..? „Mir ist auch nicht unbekannt", berichtet Apfelbauer weiter, „daß schon verschiedene Leute beim Durchschwimmen des Rheins ertranken oder sich in den Schweizer Bergen verirrten und erfroren. Haben Sie das wirklich nötig?" „Was wir nötig haben, wird der Mann nie begreifen", meint Fritz später in der Zelle. „Nötig ist, den Faschismus zu schlagen, wo man ihn trifft, ob in Deutschland oder in Spanien. Damit jeder Mensch in Ruhe und Frieden dort leben kann, wo es ihm beliebt. Daß er sich nicht für vogelfrei erklärt, in der Weltgeschichte herumschlagen und überall Schlingen und Fallen vermuten muß! Daß ..." Er bricht mitten im Satz ab. Gerd, der sich erregt und erschöpft auf die Pritsche geworfen hat, atmet tief und gleichmäßig. Er ist eingeschlafen.
Fritz legt ihm behutsam die graue, kratzende Decke über. Dann streckt er sich ebenfalls auf seiner harten Lagerstatt aus. Doch schlafen kann er nicht. Zu viele Gedanken, Erinnerungen, Überlegungen und Befürchtungen wirbeln in seinem Kopf herum, so daß er Mühe hat, sie zu ordnen. Es ist Nacht geworden, aber Fritz liegt immer noch wach. Wenn sein Blick durch den knapp fußlangen Spalt des bretterverkleideten Zellenfensters schweift, sieht er gerade drei Sterne. Ihrer Stellung nach müßten sie zur Deichsel des „Großen Wagens" gehören. Ach ja, der „Große Wagen"... Bei mancher Nachtwanderung mit seiner Berliner Jugendgruppe und auf manchem geheimen Kurierweg ist er eigentlich immer gut mit ihm gefahren. Wie oft hat ihm dieses Sternbild die Richtung gewiesen. Eine gewisse Beruhigung überkam ihn immer, wenn er es am Himmel entdeckte. Jetzt aber scheint der Karren ziemlich verfahren zu sein. Mit einer Deichsel allein läßt sich doch verdammt wenig anfangen. Wenn man wenigstens irgendwie in die Speichen greifen könnte! Als Fritz die Augen öffnet, zwängen sich durch den Spalt des Zellenfensters die blassen Strahlen der winterlichen Morgensonne. Gerd sitzt bereits hinter dem schmalen Tisch und „frühstückt". „Ich hab' dich nicht wecken wollen", meint er entschuldigend. „In diesem Loch wird einem der Tag sowieso zu lang. Aber der Kaffee ist noch warm." Doch bevor der Langschläfer sich frischmachen und einen Bissen zu sich nehmen kann, nähern sich laute Schritte im Korridor, und der Schlüssel dreht sich quietschend im Schloß der Zellentür.
„Kommen Sie mit!" Der Wärter macht eine auffordernde Kopfbewegung zu Fritz hin. „Beeilen Sie sich, der Kommissar wartet auf Sie!" „Was soll denn das?" Gerd hält verwundert im Kauen inne. „Wir waren doch erst gestern dran." „Tja, und dann so früh am Tage." Fritz bricht sich schnell ein Stück vom Brotkanten ab. „Da muß doch etwas Wichtiges sein!" „Vielleicht...", Gerd wagt kaum, den Satz zu beenden. „Vielleicht Bescheid aus Berlin ..." Dieses letzte Wort, dieser so vertraute Name, läßt ihnen trotz der morgendlichen Kühle mit einem Mal siedend heiß werden. Als Fritz hinausgeht, steckt er das Brot in die Jackentasche. Auch Gerd, der mit gemischten Gefühlen zurückbleibt, ist der Appetit vergangen. Der Weg - die Treppe hinunter ins Erdgeschoß -scheint Fritz noch nie so kurz gewesen zu sein. Er findet kaum Zeit, seine sich überstürzenden Gedanken zu ordnen. Wenn ihnen beiden wirklich die Auslieferung nach Deutschland droht, was dann? Was dann? Was dann? - Die ausgetretenen metallenen Stufenplatten scheinen im Rhythmus der Schritte diese beängstigende Frage nachklingen zu lassen. Auch das rasselnde Schlüsselbund hinter ihm stimm kaum hoffnungsvoller. Jetzt muß alles auf eine Karte gesetzt werden! Hier können nur die österreichischen Genossen eingreifen ! Auf dem letzten Treppenabsatz gleitet Fritz wie aus Versehen aus und läßt sich auf die kantigen Stufen fallen. „He!" schreit der Alte hinter ihm erschrocken, „was
machen Sie denn für Sachen?" Sein Gefangener verzieht schmerzvoll das Gesicht. „Haben Sie sich was gebrochen, Mensch?" knurrt der Wärter und versucht, ihm auf die Beine zu helfen. „Dann müßten Sie nämlich ins Spital, und der ganze Spaß hier würde für Sie noch länger dauern!" Dieses Gefühlsmoment seines Begleiters hat Fritz sofort erfaßt und nutzt es aus. Als der Grauhaarige ihm unter die Arme greifen will, flüstert er dicht an dessen Ohr: „Warum denn so böse, Opa? Wer ist dieser F. M.? Sagen Sie's mir doch endlich!" Felix Marschallek läßt schockiert seinen helfenden Arm sinken. Na, so ein Kerl! murrt er innerlich, gibt aber derart überrumpelt wirklich Bescheid: „Damit Sie's genau wissen, F. M. ist mein Schwager Franz Meyhöfer - so einer wie ihr beide seid! Und nun lassen Sie mich in Ruhe!" Zu weiteren Fragen bleibt keine Zeit, denn Apfelbauer hat die Tür geöffnet. „Sie sind jetzt einige Wochen bei uns", beginnt Apfelbauer das Gespräch. „Für die Grenzverletzung eigentlich schon Strafe genug." Er macht eine Pause. „Obwohl ich Ihren Aussagen wenig Glauben schenke, habe ich Sie doch als ruhige, vernünftige Menschen kennengelernt. - Rauchen Sie?" Der Beamte steckt Fritz seine Zigarettenschachtel über den Schreibtisch entgegen und bietet ihm Feuer an. „Sehen Sie", fährt er fort, „Ihrer politischen Einstellung wegen kann ich Sie nicht verurteilen lassen." Er pafft eine Rauchwolke in die Luft. „Im Vertrauen gesagt, ich habe selbst mal dem österreichischen Schutzbund nahegestanden und kann täglich mit meinem Abschied von der Polizei rechnen. Was mein Nachfolger mit
Ihnen und Ihresgleichen machen würde, dafür kann ich nicht garantieren. Ich weiß wirklich nicht mehr, was ich mit Ihnen anfangen soll." „Dann lassen Sie uns doch laufen, Herr Kommissar!" Fritz hat seine Selbstsicherheit wiedergewonnen. Apfelbauer drückt seine Zigarette aus und lächelt. „So einfach ist das nicht mit dem Laufenlassen. Man würde Sie ohne Paa anderswo wieder schnappen, und dann hätten wir - da Linz Ihr Entlassungsort ist - vielleicht doch noch mal das Vergnügen. Nein, es hilft alles nichts. Sie müssen zurück nach Prag. Und sagen Sie um Himmels willen nicht ,auf Wiedersehn'." Es ist bereits Abend, als sie mit ihrem „Beschützer", der sie bis zur Grenze begleiten soll, vor dem hellerleuchteten Linzer Bahnhof stehen. Die Windfangtüren kommen nicht zur Ruhe; es ist ein ständiges Kommen und Gehen. In diesem Gewühl keimt auch in Fritz der leise Gedanke, dem Gendarmen zu entwischen und in der Menge unterzutauchen. Es ist aber unmöglich, sich mit Gerd zu verständigen und einen bestimmten Treffpunkt auszumachen. Man würde sich in dem Gedränge gegenseitig verlieren. Er aber trägt die Verantwortung für den Jüngeren. Und wenn die Sache schiefginge, könnten sie wohl auch von Apfelbauer keine Nachsicht mehr erhoffen. Der Bahnsteig ist jetzt ziemlich leer. Der Zug ' steht schon bereit. Die Fahrgäste haben längst Platz genommen. Hier und da stehen noch kleine Gruppen von Leuten, die ihren Besuch zum Bahnhof gebracht haben. Es fehlen nur noch drei Minuten bis zur Abfahrt. Ihr Ordnungshüter wird nervös. Er sucht das
Dienstabteil, das für sie offenbar reserviert worden ist. „Bleiben Sie hier stehen!" fordert er die beiden barsch auf und eilt die Zugfront entlang. „Macht's gut. Genossen", flüstert es da plötzlich hinter ihnen. „Leider konnten wir wenig für euch tun. Grüßt eure Prager Gruppe! Servus!" Der Sprecher, ein kleiner, schmächtiger Mann mit Joppe und Fellmütze, schlendert unauffällig weiter. Die beiden blicken ihm nach, bis er hinter dem nächsten Pfeiler verschwindet. „Das ist er bestimmt", meint Fritz erfreut, „unser geheimnisvoller F. M.!" Da ist auch ihr Begleiter schon heran: „Kommen Sie vor zum ersten Waggon!" Franz Meyhöfer ist ihnen langsam gefolgt. Er sieht sie am Fenster stehen. Als der Zug anruckt, hebt er die geballte Faust zum Arbeitergruß. „Nach Hause ist gut..." Sie wollen es noch nicht recht glauben, daß sie wieder im Zug sitzen, praktisch frei sind und sogar ihr Geld wieder in der Tasche haben. Es ist bereits später Abend, und nur von den erleuchteten Stationsschildern können sie ablesen, daß man sich der tschechischen Grenze nähert. Es ist mollig warm im Abteil. Der sie begleitende Gendarm hat sichtlich mit dem Schlaf zu kämpfen. Um so wacher aber sind die beiden jungen Männer, die insgeheim schon Pläne schmieden, wie sie ihren nächsten „Ausflug" besser unternehmen könnten. „Wir sind da!" Fritz legt ihrem uniformierten Mitreisenden, der tatsächlich eingenickt ist, die Hand auf
die Schulter. Das erschrockene Aufspringen des Verschlafenen gibt Fritz eine kleine Genugtuung für den Schock, den man ihm mit derselben Geste auf demselben Bahnhof vor Wochen eingejagt hatte. Offenbar froh, trotz des Nickerchens seinen Auftrag ordnungsgemäß erfüllt und seine „Schützlinge" noch vollzählig beisammen zu haben, legt der Polizist auf dem Bahnsteig grüßend die Hand an die Mütze und meint leutselig: „Und nun macht, daß ihr nach Hause kommt!" Fritz kann sich über diesen naiven Marschbefehl noch nicht beruhigen. „Ich glaube, der Mann kann sich gar nicht vorstellen, daß es Leute gibt, die kein Zuhause mehr haben."
Über die Grenze müssen sie zwar wieder schwarz, aber gewissermaßen mit behördlicher Genehmigung. Das macht sie sicherer. So schlagen sie sich nicht mehr quer durchs Gebüsch, sie benutzen, wenn auch mit ent-sprechender Vorsicht, schmale Waldwege. Es ist eine herrliche Winternacht. Die dünne, glitzernde Schneedecke macht den sonst dunklen Hochwald hell und licht. Der Himmel ist sternenklar. Fritz läßt seine Blicke durch die Baumwipfel schweifen. Er sucht sei-nen „Großen Wagen". Aber erst auf einer kleinen Lichtung öffnet sich die Sicht, und nun sieht er ihn wieder, strahlend in seiner ganzen Größe. Ein ruhiges, ja leichtes Gefühl überkommt ihn und beschleunigt unwillkürlich seine Schritte, so daß ihn Gerd verwundert von der Seite anschaut. Nach etwa zwei Stunden rauscht wieder der Grenzbach
vor ihnen. Diesmal aber folgen sie dem gewundenen Wasserlauf und stoßen tatsächlich nach knapp zwei Kilometern auf eine schmale, schon reichlich morsche Brücke, die wohl nur noch von Schmugglern benutzt wird. Still liegt das Grenzdörfchen vor ihnen. Selbst die Schenke hat schon ihre Lichter gelöscht und die Fensterladen geschlossen. „Pech!" meint Fritz und zieht fröstelnd die Schultern hoch. „Einen schönen, steifen Grog könnten wir jetzt schon vertragen." Da beginnt plötzlich hinter einem Hoftor ein Hund anzuschlagen; von der anderen Seite her antwortet einer, und schon setzt sich die Bellerei die lange Dorfstraße hinunter fort. Hier und da flammt Licht in den Häusern auf. Das Dorf scheint wach geworden zu sein. Ein Knirschen der leichten Schneedecke hinter ihnen verrät, daß ihnen jemand mit dem Fahrrad folgt. Sollten sie etwa jetzt mit den tschechischen Grenzern noch Schwierigkeiten haben? Fritz beginnt mit einem Male zu torkeln und hängt sich schwer bei Gerd ein. Der kapiert sofort und mimt den helfenden Freund. Da ist der Radfahrer auch schon heran. Er trägt Uniform. Verdammt, wenn das man gut geht...! Ein paar fremde Sprachbrocken tönen ihnen in die Ohren und... der Radler ist vorbei. Nun erkennen die beiden, daß es ein Landjäger war. Sie bleiben erst einmal aufatmend stehen. „Was mag er gesagt haben?" fragt Gerd. Fritz lächelt. „Sicher dasselbe wie der Gendarm in Freistadt: Macht, daß ihr nach Hause kommt!"
Drei Dörfer weiter haben sie die Bahnstrecke erreicht. Endlich! - Ihr Zug fährt erst in zwei Stunden. Der verschlafene, mürrische Stationsvorsteher, der ihnen die Fahrkarten verkauft, mustert ziemlich skeptisch die zwei Gestalten. Mit hochgeschlagenen Mantelkragen und über die Ohren gezogenen Baskenmützen machen sie es sich auf der einzigen Wartebank bequem. Als der Morgen über den Böhmisch-Mährischen Höhen heraufdämmert, sind die Scheiben des Bummelzuges nach Tabor schon wesentlich stärker gefroren. Indem Fritz wie in einem Zeitlupenfilm das Wachsen der Eisblumen an dem unterschiedlich temperierten Glas bewundert, haucht Gerd große Löcher in das eisige Filigran. Er will endlich wieder etwas sehen und genießt die wiedergewonnene Freiheit. Wenige Stationen vor der Stadt ist ihr Bähnle voll geworden. Das Landvolk strebt dem Wochenmarkt zu mit Kiepen und Körben, Kisten und Kästen. Und obwohl die beiden Nachtwanderer die Sprache ihrer Banknachbarn nur wenig oder gar nicht verstehen, fühlen sie sich doch hier heimischer als im Linzer Polizeigefängnis, auch wenn man dort Deutsch mit ihnen redete. Ein trüber Sonntag „Na, da seid ihr ja wieder. ..", sagt Hermann, der Organisator ihrer Reise, als die beiden „SpanienTouristen" gegen Mittag vor der Tür seines bescheidenen Prager Quartiers stehen. „Nachdem wir keine Karten von euch erhielten, wie es verabredet war, ahnten wir ja schon, daß etwas passiert sein mußte.
Aber kommt erst mal 'rein, trinkt einen Kaffee und erzählt." Doch noch während ihr Gastgeber an dem kleinen Spirituskocher hantiert, fallen seinen erschöpften Besuchern schon die Augen zu. Es ist bereits dämmrig in dem kleinen Zimmer, als sie mit steifen Gliedern auf dem durchgesessenen Plüschsofa erwachen. Hermann ist nicht mehr da. Fritz sucht den Lichtschalter und entdeckt auf dem Tisch ihre verpaßte Vesper, ein paar Scheiben Brot, eine Schale mit Butter sowie den mit einem Kissen zugedeckten Kaffeekrug. Daneben liegt ein Zettel mit der flüchtigen Mitteilung: „Bin beim Komitee. Warte dort auf euch." Die abendliche Stadt hat ihre besonderen Reize. Die hellerleuchteten Schaufenster, die Lichtreklamen, die Autos und Straßenbahnen und dazu der glitzernde Schnee, den ein kalter Wind von den Dächern bläst. Fritz muß an Berlin denken, aber dabei wird es ihm plötzlich und erschreckend bewußt, daß sie auch in Prag wachsam sein müssen. Schlagartig erinnert er sich an seine Begegnung kurz nach Neujahr mit diesem Erwin. Was hat dieser Bursche hier zu suchen? fragt er sich erneut und beschließt, gleich bei den Genossen zu horchen, ob sie schon etwas über dessen verdächtige Mission hier in Prag herausbekommen haben. Gerd, der schweigend neben ihm geht, wird von Hustenanfällen geplagt. Die glänzenden Augen des Jungen verraten, daß er Fieber hat. Die Luft in den zwei Räumen des Hilfskomitees für Spanien ist rauchgeschwängert. Auf dem hellgebeizten
Tisch, der zur Feier des Tages eine weiße Decke trägt, steht eine angebrochene Flasche Slibowitz. Anni, die heute wirklich ihren Geburtstag feiert, hat sie mitgebracht. Die kleine schwarzhaarige Frau nickt zu Hermann hinüber: „Was hab' ich dir damals gesagt? Fritz vergißt meinen Geburtstag nicht. Er ist sogar nach Prag gekommen, um mir zu gratulieren. Wo bleibt er übrigens?" Hermann schmunzelt verständnisvoll, obwohl es ihm lieber wäre, Fritz und Gerd in Spanien zu wissen, wo man sie dringend braucht. „Sie scheinen allerhand hinter sich zu haben, daß sie so lange schlafen", meint er entschuldigend. „Hager und mager sind sie in den letzten Wochen geworden. Aber wir werden ja hören ..." Es wird eine lange Nacht. Nicht allein wegen Annis Geburtstag; Fritz und Gerd haben wirklich viel zu erzählen. Wenn sich der Junge auch nicht sehr wohl fühlt, so hat ihn der Slibowitz doch ein wenig auf die Beine gebracht und munter gemacht. Auch über Erwin Tamm erhält man Gewißheit. Er wohnt seit Wochen im Hotel „Axa", treibt sich häufig auf den vier Bahnhöfen der Stadt herum und ist schon zweimal auf dem Weg zum Polizeipräsidium beobachtet worden. Offenbar leistet er weiterhin Spitzeldienste. Vorsicht ist also geboten. „Wir treffen uns am Montag gegen achtzehn Uhr im ,U Fleku' ", meint Hermann, als man sich nach Mitternacht trennt. „Schlaft euch über Sonntag erst mal richtig aus." Es kommt nicht zum Ausschlafen. Fritz hat Gerd, dessen Zimmer inzwischen belegt worden ist, in sein Stübchen mitgenommen. Er macht ihm sein Bett zu-
recht und bereitet sich selbst auf der schmalen Couch ein Lager. Die Wirtin - Witwe eines tschechischen Genossen schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als er, wie verabredet, dreimal geklingelt hatte und sie ihn unverhofft wiedersah. Er erklärte ihr kurz, wie es ihnen ergangen war und wen er da mitbrachte. Sie wollen sich gerade ausstrecken, als es noch einmal zaghaft klopft. Die besorgte Frau bringt noch zwei Decken zum Warmwerden, wie sie meint. Schon nach wenigen Stunden, es muß gegen vier Uhr morgens sein, fährt Fritz aus einem unruhigen Traum empor. Irgend jemand hat ihn angesprochen und gefragt, wie weit es denn noch nach Spanien sei. Er richtet sich auf. Von der Fensterwand her, wo das Bett steht, hört er dumpfes Stöhnen. Das altmodische Nachttischlämpchen mit seinem verstaubten Schirm und der schwachen Glühbirne erhellt notdürftig das Zimmer. Gerd wälzt sich unruhig hin und her. Auf seiner Stirn stehen dicke Schweißtropfen. Die Augen sind geschlossen. Er spricht stockend und undeutlich vor sich hin. Fritz versteht nur Brocken davon. „Komm doch!" ... „Stell dir vor, die Alpen ..., der Rhein..., die Schweiz..." und nach einer qualvollen Pause: „Kennst du denn Deutschland überhaupt...?" Fritz hockt sich fröstelnd auf die Bettkante. Der Ofen ist nicht geheizt, denn Frau Pfefferova konnte ja ihr Kommen nicht ahnen, dazu noch so spät in der Nacht. Er schaut auf den fiebernden Jungen, der leise den Kopf schüttelt wie damals, als er ihm im Zuge diese Frage gestellt hatte. Doch dann fallen auch ihm wieder die Augen zu. Sitzend nickt er ein.
Fritz erwacht vor Kälte. Die fahle Morgendämmerung wetteifert mit dem blaßgelben Licht der kleinen Nachttischlampe. Der Junge schläft wieder und atmet ruhig. Da kriecht auch Fritz noch einmal unter die ausgekühlten Decken ... zum Warmwerden. Als er später draußen die leisen Schritte der Wirtin vernimmt, erhebt er sich schnell und öffnet die Tür zum Korridor. „Sie sollten sich doch ausschlafen", meint sie gutmütig, als sie ihren übernächtigen Untermieter erblickt. „Mein Freund ist krank", antwortete dieser leise, „er hat offenbar hohes Fieber. Wissen Sie, was man da tun kann?" Die Pfefferova ist erschrocken. „Was Sie nicht sagen! Es ist ja aber auch kein Wunder bei diesen Strapazen und bei dieser Jahreszeit." Beruhigend jedoch fügt sie hinzu: „Machen Sie sich keine allzu großen Sorgen. Ich lauf nachher schnell zu Swobodas. Die Mila kennt sich in solchen Fällen gut aus." Noch während Fritz seinen Morgenkaffee trinkt und ohne großen Appetit ein Stück Sandkuchen ißt, kommt die Wirtin schon mit ihrer Freundin zurück. Gerd ist inzwischen wach geworden und verlangt zu trinken: „Etwas Kühles bitte; mir ist so heiß!" Frau Pfefferova eilt schon in die Küche. Ein Glas mit eingeweckten Kirschen ist schnell geöffnet. Der Saft scheint den Kranken zu erfrischen. Die beiden Frauen beraten leise in ihrer Muttersprache, was weiter zu tun sei: Fliedertee, Brustpackung, Wadenwickel... „Es tut mir leid, daß wir Ihnen den Sonntagsfrieden stören", meint Fritz entschuldigend, während er den
Mantel überzieht. „Aber seien Sie so freundlich und kümmern Sie sich ein wenig um ihn. Ich werde inzwischen versuchen, die Genossen von diesem Zwischenfall zu benachrichtigen. Gegen Mittag bin ich wieder hier." Als er an der Husitska die Bahnstrecke unterquert und gerade ein Zug über die Brücke donnert, fällt ihm ein, daß er Hermann gar nicht antreffen wird. Wie er nachts aus den Gesprächen entnommen hatte, wollte er mit Anni und Karl heute nach Lochovice, um ein paar deutsche Genossen zu besuchen, die schon seit Jahren dort unten angesiedelt waren. Wohin nun? Reinhold und Heinz haben inzwischen das Quartier gewechselt; die neuen Adressen sind ihm noch unbekannt. Auch im Komitee dürfte sonntags kaum jemand zu finden sein. Trotzdem marschiert er kurzentschlossen zu Hermanns Wohnung. Vielleicht ist doch noch jemand daheim. Aber sein Klopfzeichen bleibt ohne Resonanz. Auf dem Treppenabsatz notiert er auf einem Zettel ein paar kurze Zeilen. „Gerd erkrankt. Komm bitte vorbei, wenn du kannst. Wir kümmern uns um ihn. G. S." - Die Stufen wieder hinabsteigend, kann er sich eines bitteren Lächelns nicht erwehren. Vor wenigen Tagen noch rätselten sie an einem F. M. herum, und nun schreibt er selber: G. S. Der Unterschied ist dabei freilich der, daß Hermann weiß, daß er, Fritz, diese Worte geschrieben hat, der hier in der Emigration Georg Sandmann heißt und Gerry genannt wird. Er schüttelt sinnierend den Kopf. Eine verrückte Welt ist das doch, wo man ohne Gefahr seinen Namen nicht nennen darf! Prag ist schön wie immer, auch an diesem Sonntagvormittag, der einem zu so trüben Gedanken Anlag
gibt. In sich versunken, ist Fritz weitermarschiert und sieht plötzlich durch den Spitzbogen des östlichen Torturms die Karlsbrücke vor sich. So weit wollte er eigentlich gar nicht, bleibt aber doch staunend stehen. Die Brückenfiguren haben über Nacht flimmernde Hermelinmäntel angelegt. Der Hradschin scheint sich in das Zauberschloß der Schneekönigin aus Andersens Märchen verwandelt zu haben. Die Dämmerung kriecht schon über die Dächer der Stadt. Bei Gerd scheinen auch die bewährten Hausmittel nicht angeschlagen zu haben. Er beginnt wieder zu phantasieren. Wahrscheinlich träumt er von Spanien, von Olivenhainen und maurischen Palästen. „Wann fahren wir endlich?" flüstert er erschöpft. „Junge, wenn du wüßtest, wie Spanien heute aussieht", denkt Fritz erschüttert, der mit den beiden hilfreichen Frauen besorgt auf der schmalen Couch hockt. Sie warten auf Antonin, Milas Mann, einen Fabrikarbeiter und Genossen. Er ist unterwegs, um einen Arzt zu holen. „Wenn er nur bald käme!" Frau Pfefferova erhebt sich. „Ich brühe uns schnell einen Kaffee. Man wird müde bei diesem Dämmerlicht." Dann ist Antonin endlich da und mit ihm der Arzt. Er wiegt bedächtig den Kopf, während er den Kranken untersucht. Offenbar keine leichte Sache! Frau Swoboda übersetzt seine Anordnungen: „Auf alle Fälle im Bett bleiben. Schwere Grippe." Sie nickt sich selbst anerkennend zu: „Meine Wadenwickel waren richtig, um das Fieber herunterzutreiben ...", und an ihren Mann gewendet, fügt sie hinzu: „Du mußt noch einmal in die Apotheke!" Der Doktor schreibt ein Rezept aus. „In der Skolska ist heute eine offen", und
Antonin zieht nochmals los. Für ihn ist es klar: Dem Jungen muß geholfen werden. Es ist schon recht spät am Abend - Gerd ist nach den verschriebenen Tropfen wieder eingeschlummert -, als es erneut dreimal kurz klingelt. Hermann und Anni sind da. Fritz berichtet ihnen in knappen Sätzen den Verlauf des Tages. Immer wieder muß er das Gähnen unterdrücken. Er ist hundemüde. „Da wirst du wohl oder übel allein reisen müssen", sagt Hermann. „Den Kleinen behalten wir erst mal hier, bis er auskuriert ist. Ansonsten bleibt es dabei: Morgen abend um sechs Uhr im ,U Fleku'." Neue Reisepläne Fritz ist schon lange vor dem verabredeten Zeitpunkt im Lokal, um den Ecktisch mit den Bänken frei zu halten. Hier sitzt es sich am besten und ruhigsten. Doch sein Vorhaben ist nicht einfach. Immer wieder steuern Gäste auf seinen Tisch zu. Das alte, stilecht eingerichtete Brauhaus „U Fleku" in der Kremencovä ist ein beliebter Treffpunkt sowohl der Prager selbst als auch vieler Ausländer. Als die Kellnerin vorbeieilt, bestellt er ein Bier. Wie mag die Sache jetzt weitergehen? Fritz ist gespannt, welche neuen Reisepläne die Genossen vorbereitet haben. Wie soll er über die Grenzen kommen? Wird er noch einmal wochenlang irgendwo als Häftling sitzen müssen? Könnte er nicht doch noch von irgendeinem verbohrten Polizeibeamten nach Deutschland ausgeliefert werden? - Nach Deutschland ... Ach, wie er an diesem Land hängt, wie oft er Heimweh
nach ihm hat! Er denkt an Fürstenwalde zurück, wo er 1908 zur Welt kam, im wahrsten Sinne des Wortes mit Spreewasser getauft wurde und zur Schule ging. Jede Ecke dieser märkischen Kleinstadt kennt er wie seine Westentasche. Er lächelt bei diesem Gedanken; eine Weste hat er nie besessen. Sein Vater, der Metallarbeiter war, hatte eine. Aber die gehörte zu seinem Sonntagsanzug. Zwar erlernte Fritz nach der Schulzeit einen „nahrhaften" Beruf bei einem benachbarten Bäcker, doch zur Ernährung der Familie konnte er mit seinen paar Mark herzlich wenig beitragen. Erst nachdem er zum Bau überwechselte, hatte er die Möglichkeit, etwas mitzuverdienen. Als seine Eltern - er war gerade siebzehn Jahre alt nach Berlin übersiedelten, blieb er dem neuen Beruf treu. Hoch oben auf den Gerüsten in der frischen Luft war es doch schöner als vor dem heißen Backofen, über dem nur eine trübe Lampe brannte. Sein Polier, Arno Müller hieß er, hatte ihm damals erst klargemacht, was es bedeutete, Arbeiter zu sein. Nach den ersten erfolgreichen Streiks wußte er es genau und erkannte die Macht, die in ihren und damit auch in seinen Händen lag. So fand er den Weg zur Partei. Er war kein Mitläufer und Beitragszahler. Mit seinem ganzen jugendlichen Elan setzte er sich für die große Sache und die ihm gestellten Aufgaben ein. Um so schwerer empfand er das Unheil, das die gespaltene Arbeiterklasse 1933 nicht aufzuhalten vermochte. Ein Jahr später schon schickte man ihn in die Emigration. Bei den Nazis stand er mit auf den ersten Seiten ihrer „schwarzen Liste". Trotzdem hat er ihnen als geheimer Kurier auch später noch so manche
Rechnung durchkreuzt. Und nun bietet sich ihm erneut die Möglichkeit... Er schreckt auf. „Sind diese Plätze noch frei, mein Herr?" fragt eine wohlklingende Frauenstimme. Hochblickend schaut er in Annis verschmitztes Gesicht, hinter dem Hermann, Karl und Heinz auftauchen. Seine verdutzte Miene reizt alle zum Lachen, in das auch er schließlich mit einstimmt. Um so ernster ist das folgende Gespräch, denn jeder von ihnen weiß, was von dem geplanten Unternehmen abhängt. „Wo es nicht einfach geht, muß man's umständlich machen", meint Hermann. „Die Strecke über Linz, Feldkirch, Basel wäre glatter und billiger gewesen, aber leider! Diesmal wirst du fliegen, mein Junge. Da erwischt dich kein Apfelbauer oder wie er sonst heißen mag, wenn du nicht gerade herunterfällst!" Er fährt sachlich fort: „Deine neue Route heißt Prag Rotterdam - Paris, verstehst du? Und dann natürlich weiter .. ." Fritz ist von dieser Eröffnung überrascht. Daran hätte er nie gedacht! Er versucht, kurz zu überschlagen, wieviel Kronen und Heller die tschechischen Genossen gesammelt haben mögen, um solchen „Ausflug" zu ermöglichen, kommt aber nicht weiter. Hermann beendet die kurze Atempause. „Wir haben alles gut überlegt. Es noch einmal über Österreich zu versuchen, wäre zu gewagt; es ginge nicht anders, als wieder über Linz. Aber den Knast dort kennst du ja schon zur Genüge. Na, und über Nürnberg" - der Sprecher senkt die Stimme -, „die Stadt der Naziparteitage", dürfte wohl auch nicht die richtige Strecke für dich sein."
„Aber wie komme ich hier 'raus ohne Papiere? Das war ja die Hauptursache der letzten Panne!" Hermann schiebt Fritz ein kleines, blaues Büchlein zu. „Damals glaubten wir, über Österreich ginge es so, aber diesmal haben wir an alles gedacht." Er schmunzelt über die erstaunte Miene seines Gegenübers. „Hier ist dein Reisepaß, damit du nicht als blinder Passagier im Kofferraum mitfliegen mußt! Das nötige Kleingeld bekommst du übermorgen vor dem Abflug." Der künftige Luftreisende beschaut sich seine Legitimation, seine „handfesten Papiere", wie sich Hermann ausdrückt. „Geschickt gemacht", muß er zugeben, „einschließlich Schrift und Stempel." Nur sein Paßbild ist mit Schusterösen im Dokument befestigt. Ein aufmerksamer Betrachter würde es merken. Hoffentlich passiert das nicht! Karl, der die Musterung beobachtet hat, zieht entschuldigend die Schultern hoch. „Besser ging's nicht, mein Lieber." Die Kellnerin kommt. „Feierabend, meine Herrschaften; ich muß abrechnen!" Ein Stückchen geht man noch zusammen an den verschneiten Büschen und Bänken des Karlsplatzes entlang, ehe Fritz nordöstlich in die Krakovska einbiegt. „Wir sehen uns ja noch." Hermann klopft ihm freundschaftlich auf die Schulter. „Komm gut nach Hause", fügt Anni hinzu. Seine Gedanken laufen schneller als seine Beine. Übermorgen wird er fliegen. Er ist schon viel gereist, doch noch nie im Flugzeug. Als er rechts vom Hauptbahnhof her den Lärm der ein- und ausfahrenden Züge vernimmt, glaubt er beinahe schon das
Motorengedröhn seines Flugzeuges zu hören. Aber noch ist es nicht soweit. Jedenfalls wird er Deutschland sehen, wenn auch nur von oben. In Gedanken zieht er eine Luftlinie über seinen alten Schulatlas. In Geographie war er eigentlich immer recht gut. Der Fichtelberg wird gewissermaßen der Grenzstein sein. Wenn die Wolkendecke nicht zu dicht sein würde, müßte er über Rudolstadt die Heidecksburg und über Eisenach die Wartburg sehen können. Kassel wird rechts liegenbleiben, aber Dortmund, Recklinghausen und Gelsenkirchen, die gesamten nordrheinischen Industriegebiete mit ihren Schloten und Schlotbaronen werden ihm zu Füßen liegen. Sicher winken ihm die Rauchfahnen dann noch über den Rhein hinweg ein „Lebewohl" und „Auf Wiedersehen" nach. Ja, er will und wird dieses Land wiedersehen, wird darin reisen können, aber erst, wenn die Macht des Faschismus gebrochen ist. Um diesem schneller ein Ende zu bereiten, wird er ihm bald in Spanien offen entgegentreten, nicht mehr in geheimer Mission, sondern mit der Waffe in der Hand. „Wie heißen Sie jetzt?" Die Fahrt zum Flughafen scheint länger zu dauern als der gesamte Flug bis Rotterdam. Bevor man in der Velvarska angelangt ist, der Straße, die geradewegs westlich zu dem weiten Landefeld hinausführt, muß man zweimal umsteigen. Und an diesem Morgen sind sogar noch irgendwo die Weichen eingefroren. Bis zur nächsten Umsteigestation ist Fritz
mit seinem Köfferchen schon getrabt - und er nicht allein. Als er schließlich in dem kleinen, gut durchwärmten Zubringerbus sitzt, der ständig zwischen Stadtgebiet und Flugplatz hin- und herpendelt, tastet er nach seiner Brusttasche, in der sein Paß steckt. Irgendwie fühlt er sich damit sicher, trotz der Schusterösen in seinem Foto. Die Zollkontrolle hat Fritz mit seinem wenigen Gepäck schnell passiert. Sein Paß erregte keine besondere Aufmerksamkeit. Schon steht er am Rande der breiten Betonpiste und beobachtet die Maschine, die langsam herangerollt kommt. Da aber fühlt er sich plötzlich beobachtet und dreht sich instinktiv um. Verdammt! schießt es ihm durch den Sinn. Ein alter Bekannter und noch dazu von der politischen Polizei.. . Da kommt der andere auch schon mit einem schiefen Lächeln auf ihn zu. „Na, wie heißen Sie denn diesmal, Herr Sandmann?" fragt er auf deutsch mit hörbarem Akzent. „Zeigen Sie mir doch mal Ihren Paß!" Fritz zieht seine Papiere aus der Brusttasche und reicht sie zögernd dem Beamten. Es ist derselbe Mann, der ihn schon einmal nach einer Festnahme in Prag verhörte. Damals wollte er alles über die illegale Tätigkeit im sogenannten Dritten Reich wissen, und er war sehr hartnäckig. Es ist auch derselbe Mann, der ihm einige Zeit später seine Ausweisung aus der Tschechoslowakei mitteilte. Aus politischen Gründen, wie es hieß. Und nun taucht er plötzlich hier auf! Soll die so gut vorbereitete Reise schon wieder ein vorzeitiges Ende finden? Der Vierschrötige im gut gefütterten Ledermantel
blättert noch immer in dem blauen Heftchen herum. Dann schüttelt er den Kopf. „Was soll denn das nun wieder?" fragt er beinahe belustigt und läßt das Dokument zwischen Daumen und Zeigefinger wippen. Das Flugzeug ist inzwischen auf der leicht mit körnigem Schnee überzogenen Startbahn zum Stehen gekommen. Die Zeiger der großen Uhr am Turm des Empfangsgebäudes rücken unerbittlich vor. Nur noch knapp zehn Minuten fehlen bis zum Start der Linienmaschine. Jetzt heißt es handeln! Fritz faßt den Beamten scharf ins Auge. Dann stellt er ihm betont langsam die Frage: „Können Sie mir vielleicht verraten, wie ich als Staatenloser aus Ihrem Lande wieder herauskomme?" Der andere ist einigermaßen verdutzt, beinahe wie Apfelbauer damals in Linz. Es entsteht eine peinliche Pause. Doch der im Ledermantel ist auch kein Anfänger. „Warum helfen Ihnen denn Ihre Genossen nicht?" kommt es in spöttischem Ton zurück. Der Paß wippt immer noch zwischen den fleischigen Fingern. „Sie tun's ja! Sehn Sie es denn nicht selbst?" Das blaue Büchlein kommt zur Ruhe. Der Ledermantel knarrt in der frostklaren Morgenluft. Seinem Besitzer hat es erneut die Sprache verschlagen. Aber er faßt sich schnell und fragt gezwungen ruhig zurück: „Was machen Sie denn später mit dem Ding?" Das Wort „Reisepaß" kommt nicht über seine Lippen. „Sobald ich in Paris bin", erklärt Fritz – wieder selbstsicherer geworden -, „gebe ich das ,Ding' ab! Irgendwie gelangt es dann schon wieder nach Prag zurück, vielleicht sogar in Ihre Hände!"
Die Gangway ist bereits leer; die Fluggäste haben schon ihre Plätze eingenommen. Die Aggregate der Maschine laufen sich warm. Soll sie ohne ihren letzten Passagier abfliegen? Fritz schielt verzweifelt nach der großen Normaluhr. Noch drei Minuten! Der hartnäckige Frager folgt seinem Blick und scheint auch seine Gedanken zu erraten. „Hier haben Sie Ihre Papiere!" stößt der Dicke schließlich hervor und drückt Fritz energisch den Paß in die Hand. „Gehen Sie - und kommen Sie nicht wieder! Sonst werden wir mit den Vernehmungen überhaupt nicht fertig!" Die blonde Stewardeß steht schon ungeduldig an der Kabinentür, als ihr verspäteter Fluggast auf die fahrbare Einstiegtreppe zustürmt. Auf der ersten Stufe aber verhält er noch einmal seine Schritte, denn „Viel Glück in Spanien!" schallt es ihm lautstark hinterher. Fritz atmet erleichtert auf, als sich die schmale Luke hinter ihm schließt. Die Motoren dröhnen auf; die silberglänzende Maschine rast über die Rollbahn, erhebt sich ... Noch erregt von dem eben überstandenen Zwischenfall und übermüdet durch die beinah schlaflose Nacht, sinkt Fritz in den weichen Polstersitz. Mechanisch lutscht er seinen Startbonbon. Der Blick auf die surrenden Propeller wirkt einschläfernd. Als er nach kurzem, traumlosem Schlummer wieder erwacht, haben sie die Bergkette des Erzgebirges bereits überflogen. Unter ihnen liegt Deutschland, dessen Boden er seit fast einem Jahr nicht mehr betreten hat. Sehen kann er es freilich noch nicht.
Erst über der Saale reißt die bleigraue Wolkendecke plötzlich auseinander. Sein Herz scheint schneller zu schlagen. Linker Hand erstrecken sich die verschneiten Höhen des Thüringer Waldes, von den Strahlen der winterlichen Morgensonne rosig überhaucht. Das seriöse Ehepaar auf den Plätzen vor ihm scheint von dem Anblick gerade so begeistert zu sein wie er. „Schau nur, Tony", macht die Frau ihren Mann aufmerksam, „die hohe, weiße Kuppe dort vorn!" „Das ist der Inselsberg", entfährt es Fritz. In diesem Moment wird ihm bewußt, daß sich die beiden ja deutsch unterhalten. Was mögen das für Reisende sein? Da dreht sich die Dame auch schon nach ihm um. „Oh, ein Landsmann", meint sie überrascht. „Wollen Sie auch nach Holland?" „Ja, geschäftlich", murmelt Fritz und bereut beinahe, das Stichwort zu einer unvermeidlichen Unterhaltung gegeben zu haben. Die temperamentvolle, attraktive junge Frau fängt sofort lebhaft zu plaudern an, und als nach einer knappen halben Stunde rechts der „Hohe Meißner" sein verschneites Haupt durch die wieder dichter gewordene Wolkendecke reckt, weiß Fritz, daß die Leute vor ihm nach Den Haag wollen, wo in den nächsten drei Tagen ein Kongreß der Archäologen stattfindet. Es stellt sich heraus, daß der Mann ein bekannter tschechischer Wissenschaftler ist. Seine charmante Frau war Anfang der dreißiger Jahre als wissenschaftliche Assistentin von Dresden nach Prag übergesiedelt. Die gemeinsamen beruflichen Interessen hatten die beiden zusammengeführt. Sie begleitet ihn nun als Ehefrau und Mitarbeiterin auf
seinen Reisen. Die Unterhaltung wendet sich nochmals dem Reiseziel zu. Fritz weiß aus Zeitungsmeldungen, daß die dänischen Butterlieferungen seit einiger Zeit stagnieren. Er gibt deshalb vor, in den Niederlanden entsprechende Verhandlungen führen zu wollen, da er Handelsvertreter sei. „Warum wollen uns denn die Dänen keine Butter mehr liefern?" fragt seine Gesprächspartnerin verwundert. „Das haben wir den Deutschen zu verdanken." „Aber Sie und ich, wir sind doch auch Deutsche." „Sicher", Fritz kann nicht an sich halten, „aber andere als die in der Berliner Reichskanzlei!" „Was haben denn die gegen die Butter?" fragt liebenswert naiv die junge Frau. „Gegen die Butter nichts, aber gegen die Tschechen!" „Die müssen doch aber auch Butter essen." Sie schüttelt verständnislos den Kopf. In diesem Augenblick schaltet sich ihr Gatte, der eine Weile seine Blicke über das winterliche Land hatte schweifen lassen, wieder ein: „Um was du dich alles kümmerst, Nanni... Was soll der Disput? Die Wissenschaft ist unpolitisch." Fritz wendet ihm leicht den Kopf zu. „Wenn sogar die Butter zur Politik gehört, Herr Professor, dann dürfte wohl auch die Wissenschaft keine Ausnahme darstellen." Der Angeredete lehnt sich schweigend in seinen Sessel zurück. Er schaut zu der mattglänzenden, metallenen Kabinendecke empor, als könne er von dort die Lösung dieses heiklen Problems ablesen. Die blonde Frau an seiner Seite aber möchte noch mehr wissen, und der junge Mann hinter ihr bleibt keine Antwort schuldig.
Über ihnen weitet sich wie eine glasklare Glocke strahlend blauer Himmel. Unter ihnen aber wetteifern jetzt die grauen Wolken mit den Rauchschwaden von Fabrikessen, Hochöfen und Kühltürmen. Sie überfliegen bereits das Ruhrgebiet Wenn Ignaz, der kleine drahtige Bergmann aus Oberschlesien, den es vor zehn Jahren hierher verschlagen hat, wüßte, wer jetzt über ihm schwebt! Fritz wird still. Wie mag es ihm ergehen, dem alten Kumpel, mit dem man mehr als einmal illegal zusammentraf? Ob ihn die Braunen schon erwischt haben? Wenn man ihn jetzt nach Spanien mitnehmen könnte ... Bei aller Freude, Deutschland wiedergesehen zu haben, atmet der „Handelsvertreter" doch erleichtert auf, als die nette Stewardeß bekanntgibt, daß man eben die holländische Grenze überflogen habe. Die Sicht ist wieder klar. Rechts in der Ferne erkennt man die gotischen Kirchtürme von Nijmegen. Wenig später setzt die Maschine langsam zur Landung an. Das Ehepaar schaut ein wenig verwundert auf das schmale Köfferchen, das Fritz mit sich führt. Man verabschiedet sich schnell, aber freundschaftlich. „Vielleicht begegnen wir uns in Prag wieder mal", lächelt die junge Frau. Auch der Professor reicht ihm die Hand. „Na, sehen Sie mal zu, was sich mit unserer Butter machen läßt!" Anlaufstelle: Hotel Konstantinopel Erst in einer halben Stunde hat Fritz Anschluß nach Paris. Im Flughafenrestaurant kauft er eine Ansichtskarte. Die Prager Genossen sollen schnell er-
fahren, daß er gut gelandet ist. Ein leichtes Schneetreiben hat eingesetzt, welches den Start verzögern könnte. Eine Tasse Kaffee erwärmt und beruhigt ihn zugleich. Es klappt aber alles auf die Minute. Hungrig und ziemlich verschlafen spürt er nach kurzem Flug bald wieder festen Boden unter den Füßen. Im Schein der zwar noch blassen, doch schon wieder wärmenden Mittagssonne liegt die französische Metropole vor ihm. Scharf hebt sich die Silhouette des Eiffelturms gegen den .zartblauen Winterhimmel ab. Obwohl er als letzter und beinahe unbeachtet die quietschende Gittertür der Zollkontrolle passiert, erwischt er draußen noch ein zwar recht klappriges, aber immerhin dienstbereites Taxi. Kaum daß Fritz den Wagenschlag hinter sich geschlossen hat, gibt der schnauzbärtige Chauffeur schon Gas und braust davon, ohne seinen Fahrgast gefragt zu haben, wohin er möchte. Jedenfalls geht die Fahrt in Richtung Stadtmitte. Doch so eine Fahrt kostet Geld. Man kann sich auf keinen Fall eine Stadtrundfahrt oder Umwege leisten. Irgendwie muß man sich verständlich machen. Doch die Vokabeln des mühsam erlernten Schulfranzösisch reichen dazu offenbar nicht aus. Der Fahrer zuckt nur die Schultern und antwortet etwas in seinem Pariser Jargon. Fritz lächelt krampfhaft und sucht weiter nach Worten. Die einfachsten Begriffe fallen einem gewöhnlich erst zum Schluß ein. Fritz tippt seinen „Steuermann" an. „Hotel Konstantinopel, s'il vous plait!" Der Mann vor ihm nickt eifrig. „Oui, oui!" Er hat verstanden, sogar mehr, als Fritz ahnt. Vor der nächsten Kreuzung müssen sie halten. Der Schnauzbärtige mit der Lederjacke nützt die kleine Pause und dreht sich
fragend nach ihm um: „A l'Espagne? Monsieur?" Die Frage ist deutlich. Fritz nickt nur. Das genannte Hotel scheint ein bekannter Treffpunkt Von „Touristen" seiner Art zu sein. Die Verkehrsampel zeigt grün. Der Fahrer tritt aufs Pedal. Fröhlich und lautstark beginnt er die Marseillaise zu pfeifen. An Notre-Dame vorbei geht es über die Seine-Brücke. Wenig später kreischen die Bremsen des alten „Renault". Man ist am Ziel. Der Chauffeur steigt mit aus. Fritz greift nach seiner Brusttasche, doch der andere legt ihm die Hand auf die Schulter. „Non, non, Monsieur!" Schon knallt der Wagenschlag zu. Aus dem geöffneten Fenster streckt sich winkend eine kräftige Hand. „Au re-voir!" schallt es dem einsamen Fahrgast in die Ohren. Sekunden später ist die altersschwache Limousine mit erstaunlichem Tempo und einer dicken Auspuffwolke um die nächste Ecke verschwunden. Der Hotelboy öffnet die breite Glastür. Das Zimmer liegt im dritten Stock des doppelt so hohen Hauses. Fritz verzichtet auf den schmalen Lift und steigt langsam die Treppen empor. Durch die verregneten, blinden Fensterscheiben des Treppenaufgangs fällt sein Blick in einen öden Hinterhof. Unwillkürlich denkt er an sein Prager Domizil, das auch keine bessere Aussicht bot. Lebhaft sieht er Gerd vor. sich. Warm und traurig zugleich wird ihm ums Herz, wenn er an den Jungen denkt. Wie schön wäre es, ihn jetzt an seiner Seite zu wissen. Hoffentlich geht es ihm wieder besser. Aber wenn die Pfefferova und ihre Freundin Mila sich um ihn kümmern, wird er wohl seine schwere Grippe bald überstanden haben. Ob der Junge immer noch von
Spanien träumt, von dem Lande, dem er, Fritz, nun schon so nahe ist? Immer noch versponnen in seine Gedanken, langt der neue Gast auf dem Treppenpodest des dritten Stockwerkes an. Bisher war sein Sinnen so sehr auf das Zukünftige gerichtet, dafj ihm die Tage mit Gerd und die Geschehnisse in Prag wie etwas weit Zurückliegendes vorkommen. Ein reizendes, knicksendes Zimmermädchen weist ihm den Weg über einen langen Gang zu einem kleinen, aber hellen und freundlichen Raum. Nachdem er sich ein wenig frisch gemacht hat, zieht es ihn schon in die Stadt. Trotz der frühen Nachmittagsstunde, in der die Marktfrauen vor sich hin zu dösen pflegen und Arbeiter sowie Beamte noch keinen Feierabend haben, quirlt der Verkehr nur so durch die Straßen und Gassen. Fritz läßt sich von der Menge schieben bis hinunter an das Ufer der Seine, die leichten Eisgang führt. Er hätte es sich nie träumen lassen, daß er einmal unter den berühmten Brücken von Paris spazieren gehen würde. Freilich sähe er die Stadt lieber unter günstigeren Umständen, aber nun ist man schon einmal hier und muß ihre Schönheiten genießen. Viel Zeit hat er sowieso nicht dafür. Morgen früh wird ihn sein erster Weg zur Meldestelle führen. In Spanien wartet man ja auch auf ihn. Es ist gar nicht so einfach, auf dem Montmartre die richtige Straße, geschweige denn eine bestimmte Hausnummer zu finden. Die Menschen, die die Treppen hinauf- und hinabeilen, scheinen wenig Zeit zu haben. Bei aller gepriesenen Höflichkeit der Franzosen würde er wahrscheinlich auf seine Frage
nach dem richtigen Weg eine wohl freundliche, aber knappe Antwort bekommen, die er sicher noch nicht einmal richtig verstehen würde. Fast eine halbe Stunde schon streift er durch diesen weltbekannten Stadtteil, ohne bisher die gesuchte Ecke gefunden zu haben. Als Vergnügungsreisender mit dicker Brieftasche könnte er sich jetzt einen Stadtplan kaufen und entsprechend orientieren. Aber schade um's Geld bei diesem kurzen Aufenthalt! An einer Straßenecke steht fröstelnd ein Harmonikaspieler, der eben eine Pause macht und sein Geld aus dem Hut in die Tasche zählt. Den wird man fragen können, denn er hat es sicher nicht so eilig wie die anderen Passanten. Als der kleine, verwachsene Mann seine Kassenprüfung beendet hat, tritt Fritz an ihn heran und stellt ihm langsam und betont die vorbereitete Frage. Der Musikant hört ihn mit schief gehaltenem Kopf aufmerksam an, dann verzieht er sein Gesicht zu einer freundlichen Grimasse. „Ah - un Allemand!" Und nun spricht er mit Mund und Händen zugleich. Aus der temperamentvollen Zeichensprache entnimmt Fritz jedenfalls, daß er auf dem zweiten Treppenabsatz links einbiegen muß, um seinen Treffpunkt zu erreichen. Er fingert ein paar Centimes aus seiner Tasche und läßt sie mit dankbarem Kopfnicken in den wieder aufnahmebereiten Hut des Spielers klimpern. Die Stufen hinaufeilend, hört er plötzlich Töne hinter sich, die ihn seinen raschen Schritt verhalten lassen. Der kleine Franzose hat wieder in die Tasten gegriffen und schickt ihm als Gruß eine unverkennbare Melodie hinterher: „Untern Linden, untern Linden, gehn spaziern die
Mägdelein ..." Irgend etwas würgt Fritz im Hals, als er - den verklingenden Tönen nachlauschend - auf der ausgetretenen Treppe weiter nach oben steigt. Der Melde- und Sammelpunkt der Freiwilligen ist in einem ehemaligen Laden untergebracht. Die Ladentür ist verschlossen, doch man sieht Licht durchschimmern. Über den Hausflur gelangt man auf einen mit schmutzigen Schneeresten bedeckten Hof. Fritz ist nicht der erste „Kunde" an diesem Morgen. Mehrere Männer sitzen bereits in dem kleinen, düsteren Hinterzimmer. Lebhaft unterhalten sie sich in verschiedenen Sprachen. „Bonjour!" Er tippt ein wenig verlegen an den Rand seiner Baskenmütze, klopft an die gläserne Zwischentür und tritt in den Ladenraum, in dem eine Schreibmaschine eifrig klappert. An der Wand hängt die Fahne der Spanischen Republik. Ein schmächtiger Mann, mit einer Tabakspfeife zwischen den Zähnen und in Listen blätternd, lädt den neuen Gast mit einer Handbewegung zum Sitzen ein. In einem Kaufhaus, in dem er sich ein wenig aufgewärmt hat, überprüft Fritz auf einer Automatenwaage sein Gewicht. Was wird die Untersuchung ergeben? Ob er etwa zu ausgehungert, zu schwach und damit untauglich ist, die Reise nach Spanien fortzusetzen? Der hagere Genösse im Meldebüro ließ keinen Zweifel darüber offen, daß Spanien zwar jeden Freiwilligen brauche, aber nur, wenn er auch kräftig genug sei, die unvermeidlichen Strapazen durchzustehen. Aber schließlich ist man noch jung, voller Tatendrang und
vor allem: Man weiß genau, wofür man das Gewehr in die Hand nehmen wird. Das dürfte doch einige fehlende Kilo an Gewicht aufwiegen. Ja, und was würden die Prager Genossen dazu sagen, wenn er wieder zurückkäme - wenn sie das Geld umsonst für ihn aufgebracht hätten! Seine Stimmung ist trübe wie das naßkalte Winterwetter. Aber er will und muß nach Spanien. Über die Pyrenäen Zwei Tage später - der kurze Februar neigt sich seinem Ende zu - steht Fritz mit seinem schmalen Köfferchen schon wieder auf einem Bahnhof, diesmal allerdings auf dem „Gare du nord" und nicht allein. Ein paar Amerikaner und Engländer, ja sogar ein großer, kräftiger Ire, sind seine Begleiter, mit denen er schon im Hotel zusammen wohnte. Sie sprechen alle ein wenig Deutsch, so daß er schnell Kontakt zu ihnen gefunden hat. Während des kurzen Aufenthaltes in Paris waren sie zweimal ärztlich untersucht worden. Wer nicht ganz gesund war, durfte nicht mit. Immer wieder wurde man ermahnt, möglichst viel zu ruhen, da man zu Fuß die Pyrenäen überschreiten müsse. Aber wer hatte schon ernsthaft an Ausruhen gedacht? Dazu waren alle viel zu erregt und erwarteten sehnlichst ihren schnellen Abtransport. Nun aber ist es soweit. Die gesamte „Reisegesellschaft" besteht aus 280 jungen und alten Antifaschisten. Ihren Erzählungen nach kann man bruchstückweise entnehmen, daß viele von ihnen auch auf recht
seltsamen und abenteuerlichen Wegen nach Paris gekommen sind. Nicht wenige haben ihre Heimat, ihre guten Stellungen aufgegeben, Eltern, Frauen und Kinder zurückgelassen, einfach von dem Gedanken beseelt, dem spanischen Volk helfen und den Faschismus schlagen zu müssen. Wie langsam der Zug nur durch die Gegend schnauft! Bei Dijon beginnt die Landschaft zwar schon recht bergig zu werden, aber Ungeduld kennt wenig Nachsicht. Warum geht es nicht schneller? Selbst das herrliche Rhönetal ist grau und nebelverhangen und scheinbar nicht bereit, seine Reize zu offenbaren. Das Bier, das der Speisewagenkellner anbietet, hat einen faden Geschmack. Schon beim ersten Schluck verzieht Fritz das Gesicht und denkt an das würzige Schwarzbier im Prager „U Fleku". Aber die Franzosen sind ja Weintrinker. Jedoch das ist im Moment alles unwichtig. Der nächste Morgen beginnt bereits wieder zu grauen man hat mehr oder weniger gut geschlafen -, als es aussteigen heißt. Die vorläufige Endstation ist Montpellier, dicht am Ufer des Golfs du Lion. Der halbe Ruhetag mit dem Bummel durch die reizvolle Mittelmeer-Hafenstadt entschädigt sie für die nächtlich durchfahrenen Stationen Lyon und Avignon. Auf dem Platz vor der Kathedrale lassen die Fahrer der Omnibusse, welche die Männer weiterbringen sollen, schon die Motoren warmlaufen. Eine Stunde später geht es den Pyrenäen, der spanischen Grenze zu. Wenige Kilometer vor den östlichen Ausläufern der mächtigen Gebirgskette zerreißen plötzlich Gewehrschüsse das monotone
Summen der Motoren. Francois, ihr Begleiter, ein lebhafter, beweglicher Mann, der von jeder Sprache einige Brocken beherrscht, erklärt ihnen die Situation. Die in London gebildete Kommission für die Nichteinmischung in den spanischen Krieg ließe zwar deutsche und italienische Truppen zur Hilfe Francos einschleusen, wende sich aber streng gegen jegliche Unterstützung des kämpfenden Volkes. Die französischen Soldaten freilich dächten nicht daran, den Franco-, Hitler- und Mussolini-Faschisten Beihilfe zu leisten, und hätten zwar pflichtgemäß, aber doch nur in die Luft geschossen. Jedenfalls landen alle unbeschadet in einer kleinen südfranzösischen Grenzgemeinde, dem geplanten Startpunkt ihrer „Bergtour". Die „Reisegesellschaft" wird in mehrere große Gruppen geteilt. Zwei Männer in dicken Schaffelljacken, Bergbewohner aus Katalonien, übernehmen das Kommando der Gruppe, zu der Fritz gehört. Sie lassen alle in einer langen Reihe aufstellen und erklären eindringlich, daß niemand seinen Vordermann verlieren dürfe. Wenn die Kette abrisse, könne es ein Unglück und größere Verzögerungen geben. Der Ältere der beiden Katalanen geht voran. Der andere bleibt am Ende der ausgedehnten Kolonne. Der Marsch über die Pyrenäen beginnt. Der Tag neigt sich bereits seinem Ende zu, als man das Vorgebirge hinter sich gelassen und die hohen Berge vor sich hat. Immer wieder von kleinen, reißenden Gebirgsbächen durchzogen, steigen sie sehr steil an. Der größte Teil der Männer trägt Halbschuhe, die sich schlecht zum Klettern eignen. Die Gegend, die man
durchquert, steht in keinem Prospekt für Touristen. Sie ist in ihrer Schroffheit auch kein Wintersportgebiet. Kaum daß man eine Höhe erklommen hat und glaubt, es geschafft zu haben, taucht ein noch höherer Gipfel auf. Langsam lassen die Kräfte nach. Übersprang man die schmalen Bäche anfangs mit Leichtigkeit, so wird jetzt jedes feuchte Hindernis zum Problem. Manche Männer springen mitten hinein und müssen durchnäßt ihren Weg fortsetzen. Die Landschaft wird immer unwirtlicher. Auf einem gefahrvollen Schmugglerweg, den selbst die Grenzposten nur unter Schwierigkeiten bezwingen, geht es weiter. Die Luft wird immer kälter und dünner. Ruhepausen gibt es nicht. „Vorwärts!" heißt die Parole. Es ist bereits dunkel geworden. Jetzt gilt es, dem Vordermann noch dichter auf den Fersen zu bleiben. Niemand spricht mehr ein Wort. Jeder hat jetzt mit sich selbst zu tun, bemüht, den Anschluß nicht zu verlieren. Als schließlich die Regionen des ewigen Schnees erreicht sind, wird die Sicht zwar besser, aber der Aufstieg noch schwieriger. Auf dem verharschten Schnee kommen die Männer ins Rutschen. Manche fallen und stoßen sich an den harten Felsbrocken. Nach Mitternacht verdüstert sich der Himmel. Ein starker Sturm kommt auf und peitscht Regen- und Graupelschauer der schweigsamen Kolonne entgegen. Von Minute zu Minute wird die Situation schlimmer. Wenn man nur aus diesem Hexenkessel wieder heraus wäre! Und hier schließt sich der Kreis der Erinnerungen, die Fritz in dieser wilden Nacht durch den Kopf ziehen. Gerd, sein junger Gefährte; dann der alte
Gefängniswärter in Linz und dessen Schwager Meyhöfer; die Pfefferova und Mila mit ihrem Antonin; der Pariser Taxifahrer und nun seine Genossen hier, in deren langer Reihe er über das Gebirge marschiert — was für warmherzige, kameradschaftliche Menschen haben doch in diesen wenigen Wochen seinen Weg gekreuzt! Gegen Morgen ist endlich die Höhe des Gebirgspasses und damit die Grenze erreicht. Der führende Katalane verhält den Schritt und berührt mit der Rechten behutsam, wie streichelnd, einen klobigen Stein. Die ihm folgen, tun das gleiche. Trotz der nächtlichen Strapazen ist es für alle ein erhebendes Gefühl: Sie haben spanischen Boden betreten! Es wird sehr schnell hell. Überwältigt von einem unvergeßlichen Naturschauspiel unterbricht die Truppe erneut ihren Marsch. Über dem in der Ferne blinkenden Mittelmeer geht die Sonne auf. Wohl noch keiner der Männer hat je solch natürliche Farbenpracht bewundern können. Doch lange ist ihnen dieser Genuß nicht vergönnt. Es heißt: Weiter, weiter! Der Abstieg ist noch schwieriger als der Aufstieg. Viele können sich kaum auf den Füßen halten. Streckenweise rutschen sie auf dem Hosenboden und benutzen Hände und Füße zum Bremsen. Jetzt am Tage sieht man erst, was einem bei diesem Nachtmarsch für Gefahren drohten. Tiefe Schluchten gähnen neben oft nur meterbreiten Pfaden. Noch im Mittelgebirge wird die Kolonne von spanischen Carabineros übernommen. Sie bieten den erschöpften Männern Wein und Speisen an. Die aber sehen nur die Lagerstätten mit dem weichen Stroh. Schlafen, schlafen,
das ist ihr einziger Wunsch! In den frühen Stunden des nächsten Tages weckt Motorenlärm die Schläfer. Eine Lastwagenkolonne ist eben eingetroffen, um sie weiter zu befördern. Schnell sind alle auf den Beinen. Schon eine halbe Stunde später rollen die Wagen vollbesetzt vom Hof. Was sie gestern vor lauter Müdigkeit unbeachtet auf den gastlichen Tischen stehenließen, ziehen sie jetzt nach und nach aus den Taschen und stärken sich. Man hat wieder Appetit. Die kleine Festung Figueras, dicht am Golfo de Rosas gelegen, ist die erste Zwischenstation. Man vertritt sich ein wenig die steif gewordenen Füße und findet ersten Kontakt mit der spanischen Bevölkerung. Dann geht es mit der Bahn weiter nach dem Süden. Auf allen kleinen und großen Stationen, besonders in Valencia, empfangen die Einwohner die opferbereiten, aus aller Welt zu Hilfe eilenden Männer mit dankbarer Herzlichkeit. „Salud, cameradas!" tönt es ihnen in Sprechchören, leuchtet es ihnen von zahlreichen Transparenten entgegen. So manchem amerikanischen oder englischen Freiwilligen, der aus seiner Heimat derartige Gefühlsäußerungen kaum gewöhnt ist, treiben diese Begrüßungsszenen Tränen der Rührung in die Augen. Auch Fritz ist ergriffen von diesen Eindrücken. Für dieses Volk lohnt es sich zu kämpfen! Das sind seine Gedanken, die wohl auch alle Kameraden neben ihm bewegen. Die Fahrt geht an den Ufern des Golfs von Valencia entlang, ständig mit dem Ausblick auf das tiefblau schimmernde Mittelmeer.
Albacete, schon wieder mitten im Gebirge gelegen, ist die Endstation, die Basis der Internationalen Brigaden. Hier heißt es, voneinander Abschied zu nehmen, wenn man nicht gerade derselben Einheit zugeteilt wird. Doch jeder Blick, jeder Händedruck spricht für sich: Wir halten zusammen! Die Faschisten dürfen nicht durchkommen! No pasaran!