Günther Robert · Kristin Pfeifer · Thomas Drößler (Hrsg.) Aufwachsen in Dialog und sozialer Verantwortung
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Günther Robert · Kristin Pfeifer · Thomas Drößler (Hrsg.) Aufwachsen in Dialog und sozialer Verantwortung
Günther Robert · Kristin Pfeifer Thomas Drößler (Hrsg.)
Aufwachsen in Dialog und sozialer Verantwortung Bildung – Risiken – Prävention in der frühen Kindheit
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Stefanie Laux VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16759-6
Inhalt
Günther Robert, Thomas Drößler, Kristin Pfeifer Einleitung ............................................................................................................. 7 Bruno Hildenbrand Welches sind günstige Rahmenbedingungen für die ersten Jahre des Aufwachsens? Wie können diese in Einrichtungen öffentlicher Sozialisation gefördert werden? Überlegungen auf der Grundlage eines laufenden Forschungsprojekts ................................................................. 21 Heiner Keupp Verwirklichungschancen von Anfang an: Frühe Förderung als Beitrag zur Befähigungsgerechtigkeit ............................................................... 49 Günther Robert, Stephan Hein Moderne Kindheiten – Funktionale Autonomie als paradox wirkende Zielbestimmung von Sozialisation und pädagogischem Handeln ..................... 71 Stephan Hein, Günther Robert, Thomas Drößler Sprachlose Pädagogik? – Zur Diskrepanz von Präventionsprogrammatik, pädagogischem Selbstverständnis und pädagogischer Arbeitspraxis ................ 95 Thomas Drößler, Günther Robert, Stephan Hein Präventive Skepsis oder: „Wo sind wir da hineingeraten?“ – Zur Diskussion neuer Anforderungen und Erwartungen an Einrichtungen der Kindertagesbetreuung ........................................................ 119 Bernhard Kalicki, Holger Brandes, Ina Schenker Strategien und Konzepte der Frühprävention in Kindertageseinrichtungen .... 153 Klaus Schäfer Frühförderung und frühe Prävention – Zum Aufbau und zur Praxis sozialer Frühwarnsysteme ............................................................... 169
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Sabine Grohmann, Birgit Glöckner Veränderte Bedarfslagen, gewandelte Aufgabenstellungen – Programmatik und Handlungsstrategien eines öffentlichen Trägers im frühpädagogischen Feld ................................................................ 187 Klaus Fröhlich-Gildhoff, Gabriele Kraus-Gruner Familienbildung und Resilienzförderung durch Vernetzung – Projekterfahrungen ......................................................................................... 203 Kristin Pfeifer Kindertageseinrichtungen im Kontext institutioneller und sozialräumlicher Vernetzung – Erfahrungen des Modellprojektes KiNET Dresden .................................................................... 217 Thomas Drößler, Annekatrin Lorenz, Andreas Wiere Wege zur chancengerechten Kita – Innovationsimpulse und Praxisdynamiken in einem gewachsenen Handlungsfeld ............................... 245 Dirk Nüsken Frühe Hilfen und Frühwarnsysteme – Strukturen, Zugänge und Modelle zum Kindesschutz und zur Früherkennung riskanter Lebenslagen ..................................................................................... 271 Ulrich Deinet Der sozialräumliche Blick auf Kindheit und Kindertageseinrichtungen .......... 291 Autorinnen und Autoren dieses Sammelbandes .............................................. 311
Einleitung Günther Robert, Thomas Drößler, Kristin Pfeifer 1
Die frühen Entwicklungsjahre von Kindern sind in der jüngeren Vergangenheit in zunehmendem Ausmaß ins Blickfeld der öffentlichen und fachlichen Aufmerksamkeit getreten. Neben der Familie richtet sich das Interesse insbesondere auf Einrichtungen der Kindertagesbetreuung. Das Spektrum der einschlägigen Diskussionen reicht dabei von der Neu- bzw. Wiederentdeckung der Kitas als Bildungseinrichtungen bis hin zu deren Eingliederung in neue Netzwerke des Kinderschutzes. Ein besonderes Gewicht erhalten dementsprechend Fragen der – auf das Lebensalter bezogen – frühen Förderung von Entwicklung und Bildung ebenso wie solche der Frühprävention von vermuteten Entwicklungsrisiken. Letztere werden etwa als mögliche Folgen besonders belasteter Lebenslagen der Eltern und/oder von Vernachlässigung der Kinder thematisch. Parallel geht es in anders akzentuierenden oder erweitert verstandenen Präventionsprogrammen unter dem Leitgedanken des Kindesschutzes auch um die Identifikation und Abwehr von weiteren, als potenziell daraus resultierend aufgefassten Risiken. Im Hintergrund stehen dabei heterogene Bezugnahmen und empirische Grundlagen. Wer heute unvorbereitet versucht, sich Gedanken über die Lage der Kinder in Deutschland bzw. in den westlichen Industrieländern sowie über die Diskussionen um diese und die daraus resultierenden öffentlichen, politischen und institutionellen Reaktionen zu machen, begibt sich auf ein nicht einfach zu überschauendes Terrain: Mit weitem Fokus operierende Beobachtungen, etwa zu einer Veränderung von Kindheit im historischen Maßstab, treffen in den einschlägigen Debatten auf solche, die sich punktualisierend auf – dramatische – empirische Fälle, insbesondere von weitreichenden Vernachlässigungen beziehen und dabei nicht selten dem „Versagen“ zuständiger behördlicher Instanzen große Aufmerksamkeit widmen. Eine vielfältige Besorgnisse erregende Platzierung bei den durch die PISA-Studien unternommenen internationalen Verglei1 Die Herausgeber danken den Autorinnen und Autoren und dem Verlag für die gute Zusammenarbeit sowie Herrn Moritz Siegel für das überaus hilfreiche und sorgfältige Lektorat des gesamten Bandes.
G. Robert et al., (Hrsg.), Aufwachsen in Dialog und sozialer Verantwortung, DOI 10.1007/978-3-531-92693-3_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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chen von Schulsystemen und deren Effekten wird in gleichem Maße als Anlass zum Handeln genommen wie Verweise auf zunehmende soziale Ungleichheit. Diese wiederum wird – zumeist gefasst als multiple und kumulierende Benachteiligungen – in ihren Folgen für Prozesse eines gelingenden Aufwachsens der nachfolgenden Generationen ebenso angesprochen wie als – ebenfalls damit verbundenes – Risiko sozialer Desintegration. Familie tritt in diesen Diskussionen vor allem als in ihrer Sozialisationskraft geschwächte auf, nicht selten wird bereits von ihr „Abschied genommen“. Einschlägige Institutionen wiederum, etwa diejenigen der Frühpädagogik, erscheinen hier oftmals als schlecht ausgestattet, unterqualifiziert und/oder zu gering vernetzt, vor allem aber als überfordert. Dabei bestimmen solche („neue“) Probleme betonenden und Aufgabenstellungen identifizierenden Stimmen die Debatte nicht allein. Zugleich wird mit Blick auf die Lage der Kinder, auch die der Familien, etwa im historischen Vergleich auf Positives verwiesen und manche Dramatisierung und Trendhypothese als unangemessen und nicht empirisch fundiert kritisiert. Nicht zuletzt werden gerade die vielfältigen initiierten Handlungsansätze in ihren Logiken und Wirkungen analytisch, auch skeptisch, auf Widersprüchlichkeiten und nicht intendierte Folgen hin untersucht. Besondere Bedeutung erlangt eine solche Betrachtung dadurch, dass es bei alldem zunehmend um Begründungen und Ansätze einer angemessenen Prävention geht. Prävention richtet sich auf die Zukunft, auf noch nicht eingetretene und zu verhindernde Phänomene. Präventive Ansätze beanspruchen daher mehr oder weniger explizit, über ein entsprechendes Wissen zu verfügen, Prognosen treffen zu können und Handlungsoptionen parat zu haben, die überprüfbar wirkungsvoll zu sein versprechen. Dies aber setzt vieles voraus, das aus kritischen Perspektiven aktuell vielfach noch als empirisch und fachlich besser fundierbar, konzeptionell weiter klärungsbedürftig, in Teilen widersprüchlich, bisweilen zu gering reflektiert und vielfach zu plakativ vorgetragen erscheint. Insbesondere die Hintergründe und Implikationen eines systematischen Verständnisses von Prävention im engeren Sinne werden – so lautet eine häufige Kritik – meist nicht hinreichend ausbuchstabiert. Diese Kritik fragt dementsprechend danach, was in Abgrenzung etwa zu Interventionen, Problemlösungen, Hilfen, Förderungen u. ä. mit „Prävention“ spezifisch gemeint sein soll und kann, sowie vor allem, welche Chancen eine solche im Rahmen und in Form von Bildungs- und Sozialisationsprozessen hat. Unbeschadet der lebendigen, nicht selten auch kämpferisch-emotional untersetzten Diskussionen hat sich in der jüngeren Vergangenheit zugleich eine ebenso große Vielfalt von auf Handeln ausgerichteten Ansätzen, Maßnahmen, Programmen und Projekten entwickelt. Diese beziehen sich in unterschiedlichem
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Ausmaß, zumeist allerdings noch recht selektiv, auf die genannten Diskussionen. Entsprechend findet sich auch hier die für den Diskurs im Allgemeinen beschriebene Heterogenität. Das Spektrum umfasst dabei problembezogene Interventionen ebenso wie allgemein, aber auch hoch spezifisch ansetzende Förder- und Bildungsmaßnahmen, Familien unterstützende Angebote, Personalentwicklungen, etwa im Sinne der Qualifizierung (vor allem in Einrichtungen der Kindertagesbetreuung), Verfahren der Institutionen- und Organisationsentwicklung und/oder Qualitätssicherung oder Versuche verbesserter und neuer institutioneller Vernetzung. Der vorliegende Band setzt in dem so skizzierten weiten Rahmen spezifische Akzente: Er nimmt einige der besonders wichtig erscheinenden und grundsätzlich zu diskutierenden Themenstellungen ausführlich auf. Diese werden etwa bearbeitet als Fragen nach den Rahmenbedingungen eines gelingenden Aufwachsens, nach einem angemessenen Verhältnis von familialer und öffentlicher Sozialisation oder nach den Implikationen des Begriffes der Prävention. Dabei stellen diese Beiträge in systematischer Weise aktuelle Bezüge her. So wird unter der jeweiligen Leitfrage z. B. diskutiert, ob die Gefahr besteht, Familien gerade aus der Sicht von Kompensations- und Präventionsprogrammen generell als defizitär zu betrachten und ob sie aus solcher Perspektive nicht alle und grundsätzlich unter einen „Verdacht“ geraten. An anderer Stelle werden Konstrukte von Kindheit in einen Zusammenhang gebracht mit paradox wirkenden Entwicklungen in dem in Rede stehenden Feld, welche als parallele „Funktionalisierung“ und „Autonomisierung“ beschrieben werden. Ein weiteres Beispiel ist der exemplarische Bezug der Diskussion des Begriffs und der Logik von „Prävention“ auf das Feld der Alphabetisierung. Auch die eher grundsätzlich angelegten Texte weisen mithin einen expliziten Gegenstandsbezug auf. Andere hingegen kehren die Gewichtung um und stellen etwa Praxismodelle und Projekte vor, welche sie anspruchsvoll und in Teilen grundsätzlich diskutieren. Rahmenbedingungen, Konzepte und praktische Handlungsmöglichkeiten werden z. B. auf wichtige Referenzen wie den Wandel von Lebenslagen und Entwicklungschancen bezogen. Aus diesem resultierende Risiken werden im Kontext institutionalisierter Bildung und Erziehung verortet und untersucht. Ansprüche und Anforderungen, solche Risiken fachlich ambitioniert aufzugreifen und zu bearbeiten, werden ventiliert. So konturieren sich vor dem Hintergrund einer Diskussion ausgewählter Problembestände und Aufgabenstellungen entsprechende Potenziale und Perspektiven der Frühpädagogik und ihrer Institutionen und Positionen, wie etwa im Rahmen von Netzwerken. Diesen Bezug auf die Institutionen der Regelversorgung erweitern Vorstellungen und Reflexionen verschiedener „Sondermaßnahmen“, wie beispielsweise der in NRW entwickelten „Frühwarnsysteme“.
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Mit Blick auf diese wird in weiteren Beiträgen aus dem Blickwinkel öffentlicher Verantwortung und Steuerung argumentiert. Dort werden bereits entwickelte Strategien thematisch – als Programme auf Landesebene oder als Umsetzungen eines kommunalen Trägers in seiner Funktion als Steuerungsverantwortlicher mit auf die Einrichtungen der Kindertagesbetreuung gerichtetem Fokus. Überblicke über methodische Ansätze ergänzen schließlich das präsentierte Spektrum um eine weitere wichtige Dimension. Sie formulieren fachliche Konsequenzen auf dieser Ebene ebenso wie im Bezug auf Entwicklungen im diskutierten Feld allgemein. Damit schließt sich zugleich der inhaltliche Spannungsbogen, der in der Reihung der Beiträge zum Ausdruck kommen soll. Im Folgenden werden die Beiträge der an diesem Band beteiligten Autoren einzeln und mit ihren inhaltlichen Schwerpunkten vorgestellt. Auf diese Weise soll der eben gezeichnete thematische Rahmen mit verschiedenen Zugängen unterlegt werden. Bruno Hildenbrand erinnert im ersten Beitrag dieses Buches an die Notwendigkeit der Explikation fachlicher Bezugspunkte. Diese entwickelt er zunächst aus einer strukturalistischen Perspektive. Familie als historisch gewachsener Rahmen des Aufwachsens weist aus seiner Sicht Merkmale und Qualitäten auf, die als evolutionäre Errungenschaften für Prozesse der Persönlichkeitsbildung und Sozialisation empirisch belegbar weiter Gültigkeit haben. Damit angesprochen sind etwa die Integration des leiblichen Vaters in die Familie, die Triade als eine Strukturbedingung sozialisatorischer Interaktion, die Autonomie der Familie, konkretisiert in unterschiedlichen Formen der Grenzziehung sowie in darauf basierenden spezifischen und vielfältigen sozialen Relationierungen, sei es im Verwandtschaftssystem, sei es gegenüber der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Derartige basale Strukturmerkmale können trotz allen sozialen Wandels aus strukturalistischer Sicht nicht ignoriert oder ins Belieben eines in oberflächlicher Weise einen vorherrschenden Modell-Pluralismus zur Norm erhebenden Diskurses gestellt werden. So bedeuten etwa unkonventionelle Formen der Familie für diese und ihre Mitglieder in jedem Falle eine zu bewältigende Herausforderung, bei der man sich mehr oder weniger explizit der Referenz der konventionellen Familienform vergewissert. Die strukturell notwendige Autonomie der Familie markiert zudem ein zentrales Kriterium nicht zuletzt für professionelle Angebote an diese. Und die Anerkennung dieser Autonomie kennzeichnet Professionalität im Umgang mit entsprechenden Aufgaben- und Problemstellungen allgemein. Auch dies wird an eingebrachten Fallbeispielen verdeutlicht. Im Anschluss daran entfaltet Heiner Keupp eine mehrschichtige und integrativ angelegte Sichtweise. Der Beitrag beginnt mit der Vorstellung zentraler Leitsätze des neusten, 13., Kinder- und Jugendberichtes, der sich speziell mit
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gesundheitsbezogener Prävention und Förderung befasst und dessen Kommission der Verfasser leitete. Dabei balanciert er die Bezugspunkte des fachlichen Diskurses mit denen politischer Fragestellungen sowie den (ethischen) Maßstäben einer zivilgesellschaftlichen Entwicklung aus. Im Sinne einer umfassend und differenzierend angelegten „Gerechtigkeitsperspektive“ ergeben sich so Handlungschancen, -aufträge und -notwendigkeiten. Neben Problemanzeigen, die insbesondere in der sozialstrukturellen Dimension und den Folgen von Disparitäten und Depravation für Heranwachsende und Kinder wurzeln, entwickelt er in Bezug auf Capability-Konzepte praxisrelevante, orientierende Maßstäbe und Kriterien für Voraussetzungen gesunden Aufwachsens etwa im Sinne von für eine „produktive Lebensbewältigung“ unverzichtbaren Ressourcen Heranwachsender. Unterschiedliche Zugänge früher Förderung werden darauf ausgerichtet diskutiert. Eine allgemeine Ressourcenförderung erweist sich dabei im Kontrast zu einer Reduktion früher Hilfen auf soziale Kontrolle oder eine nur auf Risiken ausgerichtete Prävention als das umfassendere Konzept. Vor solchen Hintergründen lassen sich die in Rede stehenden Aufgaben- und Problemverständnisse fachlich weiter präzisieren und Lösungsversuche – wie die präferierten sozialraumorientierten Ansätze von Kindertages- und Familienzentren – entwickeln, steuern und beurteilen. Günther Robert und Stephan Hein beginnen ihren Beitrag mit einer Betrachtung von Kindheit in einem allgemeinen Sinne. Dabei gehen sie von einem nicht essentialistischen Grundverständnis derselben aus. Die Vielzahl und Verschiedenheit von Kindheiten erschließt sich danach erst in Bezug auf deren jeweilige gesellschaftliche Rahmen und Kontexte. Umgekehrt betrachtet sagen Auffassungen von und Umgangsweisen mit Kindheit viel über jene selbst aus. Konstrukte, Praktiken und die Organisation von Kindheit erscheinen so als Chiffren gesellschaftlicher Verhältnisse, Grundverständnisse und Selbstbezüglichkeit. Vor diesem Hintergrund wird eine aktuell zu beobachtende Tendenz zur „Personalisierung“ für viele soziale Zusammenhänge behauptet und es wird versucht, diese in ihrer Bedeutung für soziale Integration einzuordnen. Für eine Kennzeichnung moderner Kindheiten sei nach der Entdeckung des Kindes als Persönlichkeit zunächst charakteristisch, dass dieses nun zunehmend auch als Person konzeptualisiert und adressiert werde. Es lerne, seine Individualität – als Person – sozial anschlussfähig zu halten und dabei auch im Hinblick auf die Notwendigkeit sozialer Integration zu entwickeln. Damit verbänden sich jedoch „Freisetzungen“ mit „Funktionalisierungen“, was überwiegend als widersprüchlich erlebt werde und entsprechende Anforderungen – etwa diejenige, nach (Bildungs-)Plan Individualität und Autonomie zu fördern – würden als paradox aufgefasst. In pädagogischen Konzepten werde daher häufig versucht, den Widerspruch in eine seiner Richtungen aufzulösen. Darin aber drücke sich ein Nicht-
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Verstehen der angesprochenen Logik von Personalisierungen aus, welche nicht zuletzt als Rahmenvorgabe moderner Kindheiten aufzufassen sei. Andere Ansätze hingegen reagierten mit einem veränderten Blick auf Sozialisation sowie mit Angeboten „inszenierter Naturwüchsigkeit“. Im daran anschließenden Beitrag befragen Stephan Hein, Günther Robert und Thomas Drößler die bildungs- und sozialpolitischen Präventionsdiskurse auf ihre stillen Prämissen, um sie mit den impliziten Selbstverständnissen pädagogischer Arbeit sowie strukturlogischen (Rahmen-)Bedingungen pädagogischer Arbeitspraxis zu kontrastieren. Sichtbar wird dabei eine fundamentale Diskrepanz, die durch die Pädagogik selbst jedoch nicht artikuliert wird. Illustrative Beispiele stammen aus so heterogenen Feldern wie der Jugendhilfe, der Alphabetisierung u. ä. Die Pointe des Beitrages skizziert einen möglichen Rahmen für Selbstreflexion, der seinen Ausgangspunkt in der pädagogischen Arbeitspraxis selbst nimmt. Dies wird im Beitrag „Präventive Skepsis“ von Thomas Drößler, Günther Robert und Stephan Hein aufgenommen. Im Feld der Frühpädagogik – insbesondere bei den Praktikern vor Ort – hätten die angesprochenen Entwicklungen und Diskurse bisweilen stärker für Irritationen gesorgt als orientierend gewirkt. Überblendung und Überformung der pädagogischen Perspektive im eigentlichen Sinne behinderten das Ziel der Entwicklung lernender Institutionen eher, als dass sie es beförderten. Tendenziell bestehe hier daher die Gefahr, die Dimensionen und Möglichkeiten des eigenen Handlungsfeldes aus dem Blick zu verlieren und sie den Spezifika und Eigenlogiken fachfremder Argumentationsmuster und nur teilweise reflektierter Grundannahmen zu opfern, welche gerade im Umfeld des Begriffs „Prävention“ die Diskurse allerorten durchziehen. Als Ausweg wird die Erarbeitung eines kontrolliert erfahrungsgesättigten neuen pädagogischen Wissens und dessen reflektierte Vermittlung mit den genannten multidisziplinären Sichtweisen vorgeschlagen. Die darin allgemein entwickelte Perspektive der Kindertagesbetreuung wird durch den Artikel von Bernhard Kalicki, Holger Brandes und Ina Schenker um eine fachlich-kritische Befragung von spezifischen Strategien und Konzepten für Prävention und Intervention in Kindertageseinrichtungen erweitert und konkretisiert. Ausgehend von einer exemplarischen Beschreibung zweier Projekte werden vielschichtige Ansätze, Erfahrungen und Potenziale von Präventionsprogrammen diskutiert. Die Vorstellung grundlegender Konzepte von Prävention und der Bearbeitung der Folgen von Armut dient dabei der thematischen Annäherung. Zugleich formulieren die Autoren im ersten Teil ihres Beitrages ein Plädoyer für ein neues Bild von Kindertageseinrichtungen. Gestärkt durch ein differenziertes, kontinuierliches und langfristig angelegtes Monitoring sollen etwa Veränderungsprozesse erkennbar und adäquate Angebotsstrukturen entwickelt
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werden können. Kritisch diskutiert wird dabei sowohl die Frage nach der Qualität von Sozial- und Bildungsberichterstattung und deren Nutzen für Kindertageseinrichtungen oder Projektplanungen, als auch das Veränderungspotenzial entsprechender Ergebnisse, ohne es zu versäumen, vor einer drohenden Funktionalisierung der Frühpädagogik zu warnen. Darüber hinaus werden im Beitrag Argumente dafür entwickelt, präventive Unterstützungsangebote für Kinder und Familien an Kita anzugliedern und Überlegungen dazu angestellt, wie dies (in der pädagogischen Praxis) realisiert werden kann. Dabei entstehen Anregungen für die Gestaltung und Umsetzung von Konzepten mit frühpräventivem Charakter im Elementarbereich. Vor dem Hintergrund der sich wandelnden Perspektive auf Kinder und ihre Entwicklung werden im zweiten Teil des Beitrages Thesen zu Entwicklung und Lernen im Kindesalter skizziert sowie daraus resultierende Veränderungen für Forschung und pädagogische Praxis eruiert: Das Kind wird zum Akteur, Beziehungen werden als Basis kindlicher Exploration und Entwicklung ausdifferenziert, die Rolle des Erwachsenen und pädagogische Settings angepasst und schließlich ein Sicheinlassen auf die Heterogenität kindlicher Entwicklung mit ihren Chancen und Risiken gefordert. Der Aufsatz endet mit einem optimistischen Ausblick und Empfehlungen für die frühpädagogische Praxis. Auf die allgemein und systematisch angelegten Beiträge folgen zunächst solche aus politisch-administrativer Perspektive. Klaus Schäfer nähert sich dieser über die Themenfelder der Prävention, Frühförderung und Frühwarnsysteme. Einleitend verweist er auf gesellschaftliche Entwicklungen sowie politische Hintergründe und entwickelt zugleich eine argumentative Basis für die Begründung frühzeitiger Maßnahmen und Interventionen. Offensiv werden von ihm die Grenzen von Hilfe- und Unterstützungssystemen skizziert. Am Beispiel des in Nordrhein-Westfalen entwickelten „Sozialen Frühwarnsystems“ bündelt er Leitgedanken, Ansatzpunkte und Vorgehensweisen für einen leistungsfähigen und passgenauen Kinderschutz. „Wahrnehmen – Warnen – Handeln“ sind die grundlegenden Elemente des Sozialen Frühwarnsystems für eine verbesserte Früherkennung von prekären Aufwachsenssituationen, eine zuverlässige und systematische Zusammenarbeit von Diensten und Institutionen und die Bereitstellung passgenauer Hilfen, so der Autor. Als Kernbedingung identifiziert Schäfer die Überwindung der Hürden zwischen Gesundheitssystem und Jugendhilfe durch professionelles Handeln. Werden die jeweiligen rechtlichen Grundlagen, Sprachen, Regeln und Kulturen sowie Wahrnehmungs- und Deutungsprobleme der Institutionen transparent und etablieren sich eine gemeinsam getragene Kooperationskultur sowie ganzheitliche Betrachtungsweisen von Risiken, so sind multiprofessionelle Lösungsansätze keine Zukunftsmusik. Neben einem neuen Profil von Hilfen und Unterstützungsangeboten wird auf diesem Weg auch eine sich
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verändernde Fachlichkeit professionellen Handels möglich, was Klaus Schäfer mit Erfahrungen des Modellprojektes unterlegt. Positive strukturelle Neuerungen und ein adäquates Risikomanagement stehen dann einer neuen, anschlussfähigen Fachlichkeit gegenüber, auf deren Fundament Hilfesysteme verbessert werden können. Sabine Grohmann und Birgit Glöckner thematisieren in ihrem Beitrag die gewandelten Anforderungen und Erwartungen an den Bereich der institutionalisierten Bildung und Erziehung in der frühen Kindheit aus der Perspektive eines gesamtverantwortlichen örtlichen Trägers der Kinder- und Jugendhilfe. Erläutert werden gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen sowie fachliche und gesetzliche Grundlagen der Arbeit von bzw. in Kindertageseinrichtungen. Dabei interessieren die Autorinnen vor allem die Möglichkeiten, aber auch Aufgaben, die dem örtlichen Träger in seiner Steuerungsverantwortung ebenso wie hinsichtlich seiner Anregungsfunktion zur Verfügung bzw. gegenüberstehen. Ausgehend von diesen grundsätzlichen Überlegungen stellen Grohmann und Glöckner eine Palette von Aktivitäten und Konzepten vor, die Kindertageseinrichtungen und deren Träger bei der Erfüllung gewandelter Aufgabenstellungen unterstützen sollen. Das Spektrum reicht dabei von grundlegenden konzeptionellen und strategischen Überlegungen zur Herstellung eines gemeinsamen Handlungsverständnisses über systematisierte Fortbildungsstrategien und die Entwicklung entsprechender Strukturen und Angebote bis hin zu konkreten Projekten. Der Beitrag zeichnet mithin ein Bild von den Aufgaben und Verantwortlichkeiten sowie den sich daran anschließenden Möglichkeiten eines örtlichen Trägers, Strukturen und Fachlichkeit der Kinder- und Jugendhilfe, hier des Bereiches Kindertagesbetreuung, im Sinne gestiegener Anforderungen zu begleiten, zu unterstützen und aktivierend fortzuentwickeln. Einen weiteren Teil des Sammelbandes repräsentieren mögliche Handlungsansätze, die durch Projektberichte illustriert bzw. konkretisiert werden. Eingeleitet wird dieser Teil des Buches mit einem Beitrag von Gabriele KrausGruner und Klaus Fröhlich-Gildhoff mit dem Titel „Familienbildung und Resilienzförderung durch Vernetzung“. Sie fragen nach Formen, Inhalten und Chancen der Vernetzung von Kindertageseinrichtungen mit anderen Institutionen. Ihrer Ansicht nach markieren Vernetzung und Kooperation eine dritte „Säule“ professioneller Frühpädagogik neben denen der Erziehung, Betreuung und Bildung. Vernetzung stellt für Frühpädagogik und Kindertageseinrichtungen einerseits eine aktuelle Herausforderung dar, die von Politik und Öffentlichkeit betont und eingefordert wird. Andererseits kann diese Säule auf eine erst kurze wissenschaftliche und institutionalisierte Tradition verweisen, besitzt eine nur „schmale Rezeptionsgeschichte“ und ist – mit Blick auf die Praxis – kaum empirisch untersucht worden. Kindertageseinrichtungen sehen sich vor erweiterte Aufgaben
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gestellt: Neben ihre gewissermaßen klassischen Zuständigkeiten treten Anforderungen der gesellschaftlichen Integration von Kindern und ihren Familien sowie der Prävention von Verhaltens- und Entwicklungsauffälligkeiten bei Kindern und nicht zuletzt die systematische Gestaltung von Übergängen zwischen Institutionen im Lebenslauf und im sozialen Umfeld der Kinder. Welchen Beitrag Netzwerke in diesem Kontext leisten können und unter welchen maßgeblichen Voraussetzungen sie realisierbar sind, wird im Beitrag – anhand von Vernetzung im Sozialraum, mit anderen Kindertageseinrichtungen, mit Forschungseinrichtungen und mit Ausbildungsstätten – diskutiert. Neben Potenzialen verweisen Kraus-Gruner und Fröhlich-Gildhoff zudem auf Hindernisse im Prozess. Hierin sehen sie auch wichtige Ansatzpunkte für eine systematische Fundierung und Qualifizierung von Strategien der Vernetzung von Kindertageseinrichtungen. Einer ähnlichen Thematik widmet sich der Beitrag von Kristin Pfeifer. Vernetzung wird auch hier zum zentralen Element. Der stetig wachsenden Popularität von Netzwerkkonzepten wird dabei ein praktischer Bezug verliehen. Eingeleitet wird der Beitrag über konstatierte Problemzuwächse im Stadtteil und im frühpädagogischen Feld. Der Leser erhält sowohl Einblick in die vorgefundenen Lebens- und Aufwachsensbedingungen von Kindern in einem Stadtteil mit besonderen Herausforderungen als auch in institutionelle Ausgangslagen. Zur Gestaltung der Entwicklungschancen von Kindern wurde in Dresden-Gorbitz das Modellprojekt „KiNET – Netzwerk für Frühprävention, Sozialisation und Familie“ initiiert. KiNET versteht sich als ein lebenswelt- und sozialraumorientiertes Projekt, dessen Fokus auf der Entwicklung eines Netzwerkkonzeptes für Frühprävention liegt. Im Unterschied zu „Sozialen Frühwarnsystemen“ fragt das Projekt zunächst danach, welche Bedarfe und Anliegen sich im Stadtteil ergeben und welche Ressourcen (bzw. Rahmenbedingungen) für Frühprävention relevant erscheinen und nutzbar gemacht werden können. Die Vernetzung von Akteuren im Stadtteil und die Weiterentwicklung der Handlungskompetenzen von Fachkräften und Institutionen spielen in KiNET eine besondere Rolle. Im Zentrum der Aufmerksamkeit des multiprofessionellen Dialoges stehen dabei Kindertageseinrichtungen im Stadtteil. Um dem komplexen Projektanliegen Rechnung zu tragen, wurden in der Praxis traditionelle und innovative Handlungsansätze gekoppelt, die Pfeifer für die Ebenen Sozialraum und Kindertageseinrichtung ausführlich beschreibt. Anschließend werden wichtige Ergebnisse und Erfahrungen vorgestellt und bilanzierend diskutiert. Die Potenziale institutioneller Kommunikation und Kooperationen für Frühprävention werden dabei ebenso thematisiert wie die Hürden im Vernetzungsprozess. Im Beitrag von Thomas Drößler, Annekatrin Lorenz und Andreas Wiere werden Erfahrungen aus dem Handlungsprogramm „Aufwachsen in sozialer Verantwortung“ vorgestellt und in verallgemeinernder Perspektive diskutiert. Im
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Rahmen des Projektes werden in 32 Dresdner Kindertageseinrichtungen Konzepte für die bedarfsgerechte Unterstützung und Förderung von Kindern aus sozial benachteiligten Lebensverhältnissen entwickelt und erprobt. Unterstützt werden die Einrichtungen dabei durch sozialpädagogische Mitarbeiter/-innen sowie ein Kompetenz- und Beratungszentrum. Ziel ist es, die Herstellung von Chancengerechtigkeit in der und durch die Regeleinrichtung Kindertagesstätte wirksam in die Praxis umzusetzen. In der Anfangsphase entwickelte sich dabei ein hochkomplexer und dynamischer Prozess, in dem neben dieser Zielstellung zunächst andere Aspekte und Entwicklungsbedarfe thematisch wurden. Im Beitrag werden in einem organisationstheoretischen Zugriff die Ursachen dieser Dynamiken und ihre Konsequenzen aufgezeigt und diskutiert, die die beteiligten Akteure vor neue Herausforderungen in Sachen Abstimmung, Reflexion und Koordination, aber auch hinsichtlich veränderter Themen und Aufgabenstellungen gestellt haben. Dabei wird deutlich, dass die Umsetzung des fachlichen Veränderungsimpulses „Herstellung von Chancengerechtigkeit“, wie er auch durch die Diskussion um die entsprechende Rolle und Verantwortung von Kindertagesstätten programmatisch formuliert wird, einerseits spezifischer Voraussetzungen bedarf und andererseits für die konkrete Praxis in den Einrichtungen anschlussfähig sein bzw. gemacht werden muss. Dafür reicht jedoch eine nur auf fachliche oder auf gesellschaftlich induzierte Bedarfslagen verweisende Begründung von Veränderungsnotwendigkeiten nicht aus – vielmehr geraten ggf. auch andere Themen und Entwicklungsschwerpunkte wie pädagogische Leitbilder, Arbeits- und Reflexionsformen oder die jeweilige Kultur einer Kindertageseinrichtung in den Fokus, deren Berücksichtigung und systematische Bearbeitung erst die Basis für Veränderungsprozesse herstellen. Gleichzeitig ist damit jedoch auch die Option verbunden, Chancengerechtigkeit nachhaltig in der Praxis zu verankern, indem bspw. Maßnahmen und Angebote fachlich, strukturell und konzeptionell mit den Einrichtungen verknüpft und nicht lediglich als Zusätze angelagert sind. Zudem wird im Beitrag auf Diskussionen eingegangen, die über konkrete Kindertagesstätten hinaus auf Selbstverständnis und Handlungsauftrag von Kindertageseinrichtungen als gesellschaftliche Institutionen Bezug nehmen. Damit sind (tradierte) Leitbilder, Orientierungs- und Legitimierungsfolien verbunden, die in der Praxis wirksam werden und auch die Rezeption von Innovationsimpulsen stark beeinflussen. In diesem Sinne sind, nach den Erfahrungen des Projektes, Organisations- und Institutionenentwicklung stets aufeinander bezogen. Insoweit sind konkrete Projekte immer auch mit einem Wandel der Institution „Kindertagesbetreuung“ konfrontiert und können wichtige Impulse für die Fachdiskussion und für deren Anschlussfähigkeit an die institutionelle Praxis liefern. Der letzte Bereich des Sammelbandes widmet sich stärker fachlichen und methodischen Konsequenzen. So befasst sich Dirk Nüsken in seinem Beitrag mit
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dem Themenkomplex um Frühe Hilfen und Soziale Frühwarnsysteme. Ausgehend von aktuellen gesellschaftlichen Debatten fragt er, was sich hinter frühen Hilfen verbirgt, welche theoretischen Ansätze, konzeptionellen Ansprüche und schließlich konkreten Handlungskonzepte beobachtet werden können. Dabei stützt er sich auf vorliegende Studien und praktische Erfahrungen, unter anderem aus dem Projekt „Frühe Hilfen für Familien“ in Nordrhein-Westfalen. Frühwarnsysteme und frühe Hilfen gehen davon aus, dass Krisen nicht plötzlich entstehen, sondern dass es Anzeichen und Risikofaktoren gibt, die – früh erkannt – frühes Handeln ermöglichen. Insofern stellen frühe Hilfen bzw. Frühwarnsysteme eine Möglichkeit dar, durch professionelle Unterstützung in erster Linie die Entwicklungsmöglichkeiten und Lebenssituationen von Kindern und ihren Familien zu verbessern. Um dies zu erreichen, so der Autor, müssen sie jedoch in ein umfassendes Kinderschutzkonzept integriert sein, das sowohl präventive Angebote als auch Interventionsmaßnahmen zum Schutz von Kindern umfasst. Anhand des Projektes in Nordrhein-Westfalen werden diese Anforderungen im Beitrag konkretisiert. Zudem stellt Nüsken weitere Zugänge und Praxiskonzepte vor und fragt kritisch nach deren Möglichkeiten, Grenzen und Realisierungschancen. Im abschließenden Teil widmet sich der Beitrag aus allgemeinerer Perspektive Strategien für die Schaffung von Systemen und Angeboten im Kontext der Frühprävention. Von Interesse sind dabei besonders die Voraussetzungen und Gelingensbedingungen für die Entwicklung tragfähiger Kooperations- und Netzwerkstrukturen, deren fachliche und konzeptionelle Fundierung und nicht zuletzt ihre Handlungsfähigkeit. Bilanzierend kommt Nüsken zu dem Schluss, dass angesichts der Vielfalt von Herausforderungen einerseits und bestehenden Praxismodellen andererseits sowie nicht zuletzt vor dem Hintergrund wachsender Unterstützungsbedarfe die Notwendigkeit fachlicher und struktureller Standards für die Ausgestaltung von Frühwarnsystemen und Netzwerken für frühe Hilfen zunimmt. Den Abschluss des Sammelbandes bildet ein methodischer Beitrag von Ulrich Deinet. Deinet nähert sich in seinem Beitrag der Frage nach der Bedeutung von Kindertageseinrichtungen als Bestandteil der Lebenswelt von Kindern und Familien und nach der Rolle, die Kindertagesstätten darin spielen (können), aus einer sozialräumlichen Perspektive. Im Mittelpunkt seines Aufsatzes steht die These, dass der je konkrete soziale Nahraum förderlich sein kann für das Aufwachsen von Kindern, dass er Handlungs- und Entwicklungschancen von Kindern und Familien mitbestimmt und bei entsprechender Berücksichtigung und Gestaltung präventive Potenziale aufschließen und verfügbar machen kann. Kindertageseinrichtungen sind Bestandteil des sozialen Lebensraums von Kindern und Familien und daher aufgefordert, sich in ihrer Arbeit auf diesen Nahraum zu beziehen. Im grundlegenden ersten Teil des Beitrages werden sozialökologische
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Konzepte vorgestellt, die das Verständnis der Lebenswelt und der Bedeutung des sozialen Nahraums als Erfahrungs-, aber auch Unterstützungsstruktur für Kinder und Jugendliche erläutern. Anhand des Konzeptes der räumlichen Aneignung wird sichtbar gemacht, dass Räume für die Entwicklung von Kindern eine wichtige Rolle spielen und aufgrund der in ihnen eingelagerten und/oder verfügbar zu machenden Möglichkeits- und Aneignungsstrukturen integrativ, aber auch desintegrativ und exkludierend wirken können. Insbesondere heute, so der Autor, entscheidet die soziale und strukturelle Qualität von sozialen Nahräumen mit darüber, ob Kinder frühzeitig Aneignungsprozesse gestalten können und ob sie in einem Klima der Sicherheit oder der Unsicherheit aufwachsen. Kindertageseinrichtungen können in diesem Zusammenhang unterstützend wirken, indem sie die konzeptionelle Ausrichtung ihrer Arbeit um Elemente des Sozialraumbezuges erweitern. Erforderlich dafür sind auf Seiten der Einrichtungen Kenntnisse des Sozialraums, seiner Strukturen, der Formen seiner Nutzung durch Kinder und Familien und nicht zuletzt der Möglichkeiten und Beschränkungen der Aneignung und (Um-)Gestaltung durch Kinder. Sozialraumarbeit als Element des Handelns von Kindertageseinrichtungen erweitert nach Auffassung Deinets die Möglichkeiten des Verstehens der Lebenswelt von Kindern und Familien und erschließt damit zugleich Anknüpfungspunkte für eine aktive Gestaltung dieser Lebensumfelder. Im dritten Teil des Beitrages werden dafür wichtige methodische Hinweise gegeben, die nicht nur die Kenntnis des Sozialraumes auf Seiten der Kindertageseinrichtungen vergrößern, sondern zudem zu einer Überwindung einer einrichtungszentrierten Praxisreflexion und -entwicklung beitragen können. Kindertagesstätten können auf dieser Grundlage auf mehreren Ebenen ihr Handlungsprofil ausgestalten: als Ausgangspunkt für die Erweiterung des Handlungsraumes von Kindern, im Sinne aktivierender Sozialraumarbeit zur Erschließung und Sicherung von Aneignungsmöglichkeiten und Handlungsräumen für Kinder, als Bestandteil einer Lobby für Kinder und Familien und nicht zuletzt als Teil eines Netzwerkes der sozialen bzw. sozialräumlichen Infrastruktur für Kinder und Familien. Darin liegt denn auch das präventive Potenzial nicht allein von Kindertageseinrichtungen, sondern vor allem eines so verstandenen und ausgestalteten Handelns im Stadtteil. Neben Strukturen und Netzwerken zur Bildung, Begleitung und Unterstützung von Kindern und Familien stellt die Qualität jenes Sozialraums, in dem Kinder aufwachsen – Sicherheit, Aneignungsmöglichkeiten, Bildungsorte sowie eine kinderfreundliche Atmosphäre dar – das wichtigste und größte präventive Potenzial. Die breite Diskussion um frühe Bildung, soziale Benachteiligung und deren Folgen, um den Wandel von Familie, Kindesschutz und Institutionenentwicklungen im Feld der Frühpädagogik, um Netzwerke der Frühprävention
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u. ä. m., die das Buch aufgreift, lässt sich aufgrund der einleitend angesprochenen Vielschichtigkeit der Themen und der Multiperspektivität der Debatten nur schwerlich bündeln. So stellen die in diesem Band versammelten Beiträge für sich genommen zunächst nur einige, aber u. E. wichtige Facetten dieser Diskussion vor. Dennoch stehen sie unübersehbar in einem engen Bezug zueinander und ergeben in der Gesamtschau ein sich konturierendes Bild. Wer allerdings versucht, diese Zusammenhänge im Detail und integrativ zu entwickeln, stößt vielerorts an Grenzen. Diese resultieren nicht zuletzt aus den differenten Herangehensweisen, Logiken, Gegenstandsbestimmungen und -verständnissen sowie zudem den unterschiedlichen Aufgaben und Zielsetzungen der Beteiligten – seien sie Vertreter unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen oder politischer und administrativer Verantwortung. Deren Perspektiven setzen sich oftmals zwar wechselseitig voraus, schließen dabei aber konzeptionell nicht hinreichend systematisch aneinander an. Manche der aktuellen Diskurse laufen unvermittelt parallel. Sie sind auch von ihren jeweiligen Anlagen her nicht ohne weiteres miteinander zu vermitteln2. Auch von daher scheint der Versuch einer Bilanzierung und Bewertung angesichts des gegebenen Standes der Entwicklungen verfrüht. Die in diesem Buch angerissenen Diskussionen markieren vielmehr deren bislang erreichten Stand ebenso wie einen Auftrag: In beidem geht es um Kindheiten in unserer Zeit und Gesellschaft, die Präzisierung unseres Blicks auf diese, die Entwicklung fundierter Praxis sowie die Schärfung der Begriffe für deren Reflexion. Nicht zuletzt aus diesen Gründen wählten wir den Titel des vorliegenden Buches. „Dialog“ erinnert bereits umgangssprachlich daran, dass es bei den diskutierten Themen wie Sozialisation, Bildung, Erziehung – und eben auch: Kindheit – zuvorderst um soziale Prozesse und Phänomene geht. Zugleich betonen wir damit den Umstand, dass diese permanent und in Kommunikation geschehen und sich herstellen. Dieser Verweis scheint uns insbesondere angesichts einer oft verengenden Anlage und eines technisch-maßnahmeförmigen Erscheinungsbildes mancher Programmatiken und Handlungskonzepte gerade in diesem Bereich besonders wichtig. Der Begriff der Verantwortung schließlich wurzelt, „Antwort“ beinhaltend, etymologisch ebenfalls in den Grundlagen sozialer Kommunikation. „Verantwortung“ lässt sich so betrachtet auch lesen als Auftrag zur Antwort auf Fragen gesellschaftlicher Entwicklung und Integration, im Hinblick auf Kindheiten nicht zuletzt in einer zeitlichen, generationellen Perspektive.
2 Zu daraus resultierenden Schwierigkeiten vgl. etwa die jeweiligen Fußnoten 1 der Beiträge Hein/Robert/Drößler sowie Drößler/Robert/Hein in diesem Band.
Welches sind günstige Rahmenbedingungen für die ersten Jahre des Aufwachsens? Wie können diese in Einrichtungen öffentlicher Sozialisation gefördert werden? Überlegungen auf der Grundlage eines laufenden Forschungsprojekts 1 Bruno Hildenbrand
Einleitung Weshalb bestimmt gerade jetzt, im ersten Jahrzehnt des laufenden Jahrtausends, das Thema der frühen Hilfen für Kinder die öffentliche Diskussion? Eine erste Antwort auf diese Frage lautet: Weil es skandalöse Todesfälle von Kindern gegeben hat, die auf Kindesvernachlässigung und Kindesmisshandlung zurückgingen. Bei genauerem Hinsehen stellt man aber fest, dass die Zahl der getöteten Kinder von 2000 bis 2006 um ein Drittel zurückgegangen ist (Polizeiliche Kriminalstatistik 2007, zitiert nach der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 9.12.2007). Dass demgegenüber die Zahl der Inobhutnahmen, die zwischen 1995 und 2005 bei 1.200-1.500 Fällen jährlich lag, 2006 auf 2.187 Fälle gestiegen ist, hat mit einer gesteigerten öffentlichen Aufmerksamkeit und mit einer verstärkten Bereitschaft der Jugendämter zur Intervention zu tun, nicht mit realen Veränderungen der Gewaltbereitschaft im familialen Umfeld von Kindern und Jugendlichen. So fällt es leicht, die Diskussion um die frühen Hilfen primär als Reflex auf die medienwirksame Präsentation von Kindesmisshandlungen mit Todesfolge zu sehen. Ob sich hinter der Debatte um die frühen Hilfen eine andere Absicht verbirgt, nämlich die, das Wohl der Kinder nachhaltig zu verbessern unabhängig davon, ob Kevin aus Bremen oder Lea-Sophie aus Schwerin andere gleichfalls
1 Projekt C 3 „Individuelle Ressourcen und professionelle Unterstützung bei Systemumbrüchen“ im Sonderforschungsbereich 580 „Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch: Diskontinuität, Tradition, Strukturbildung“ an den Universitäten Halle und Jena (www.sfb580.uni-jena.de), gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft 2001–2012.
G. Robert et al., (Hrsg.), Aufwachsen in Dialog und sozialer Verantwortung, DOI 10.1007/978-3-531-92693-3_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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dramatische Fälle folgen, ist die Frage, der wir in diesem Beitrag nachgehen wollen. Unsere Vermutung ist: Wo Entwicklungen aus dem Ruder zu laufen drohen, wird mit Zwang und Druck reagiert2. Dahinter steht ein spezifisches Menschenbild, dem zufolge dem Bürger3 und vor allem seinen Autonomiepotentialen nicht zu trauen ist.4 Dieses Menschenbild führt dazu, dass die Grenze zwischen Öffentlichkeit und Privatheit neu gezogen und dem Staat das Recht zugestanden wird, zunehmend in die privaten Verhältnisse der Bürgerinnen hineinzuregieren. Den Familien wird nicht mehr in einer Haltung der Anerkennung begegnet, sondern in einer Haltung des Verdachts (Winkler 2007). Für die Kinder- und Jugendhilfe hat das Bundesjugendkuratorium diese Problematik deutlich formuliert: „Die Frage, wann und in welcher Weise der private Lebensraum eines Kindes und einer Familie vom Staat beobachtet, bewertet und zum Gegenstand einer Intervention gemacht werden kann und soll, berührt die grundlegende Frage des Verhältnisses von Öffentlichkeit und Privatheit, von gesellschaftlicher Kontrolle und individueller Freiheit. Wie diese Frage in der Gesellschaft diskutiert wird, hat Auswirkungen für das Selbstverständnis und für die Handlungsmöglichkeiten der Jugendhilfe: Es geht darum, ob die Jugendhilfe die mittlerweile gefundene Balance zwischen einer modernen Dienstleistungskonzeption einerseits und dem Aufrechterhalten des Schutzgedankens andererseits wirkungsvoll und zum Wohle der Kinder und Jugendlichen ausgestalten kann“ (www.bundesjugendkuratorium.de, zitiert nach Helming 2008, S. 3).
Im ersten Teil dieses Beitrags werden wir zunächst unsere Auffassung von günstigen Rahmenbedingungen des Aufwachsens in der Familie darlegen. Wir werden zeigen, dass die vollständige sozialisatorische Triade das Modell darstellt, mit welchem sich die Familien, in welcher Gestalt auch immer sie jeweils ihr Leben bewältigen, auseinandersetzen. Auf der Grundlage dieser Befunde wenden wir uns der Förderung des Aufwachsens in Einrichtungen der öffentlichen Sozialisation zu und fragen, inwiefern diese Förderung eher durch eine Haltung des Verdachts oder durch eine Haltung der Anerkennung geprägt ist. Wir kommen zu dem Schluss, dass beide Haltungen nicht in einem gegenseitigen Ausschlussverhältnis, sondern in einem Rahmungsverhältnis stehen: Im Rahmen einer Hal2 Vergleichbare Entwicklungen beobachten wir bei Hartz IV und bei der Umstellung des Hochschulstudiums auf Bachelor- und Masterstudiengänge: Den Akteuren wird jeweils von vornherein nicht zugetraut, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen. 3 Wo im Folgenden die männliche Form genannt wird, aber beide Geschlechter gemeint sind, ist die weibliche mitzudenken und umgekehrt. 4 Zur Geschichte der Familienleitbilder in der Kinder- und Jugendhilfe vgl. Mierendorff/Olk 2007, v.a. S. 563.
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tung der Anerkennung kann oder muss fallweise auch der Frage nachgegangen werden, ob und wie das Kindeswohl in der jeweiligen Familie gefährdet ist bzw. ob und wie die Rahmenbedingungen des Aufwachsens in der jeweiligen Familie ungünstig sind. Abschließend skizzieren wir die Konsequenzen der Haltung der Anerkennung für die Struktur professionellen Handelns bei den frühen Hilfen. Das zentrale Risiko bei Kindeswohlgefährdung: die Triade fehlt Beate Galm (2007) nennt folgende Risiken, die das gedeihliche Aufwachsen von Kindern in der Familie gefährden können: Als erstes werden belastete elterliche Entwicklungs- und Lebensgeschichten, v.a. Bindungsprobleme, genannt, dem folgen elterliche Persönlichkeitsmerkmale (schnell überlastet, keine Planung, problemvermeidende Bewältigung, Mangel an Einfühlungsvermögen, unrealistische Erwartungen an das Kind, Sucht und Depression). Faktoren wie die familiale Lebenswelt oder eine Signalschwäche der Kinder hingegen betrachtet sie als für sich genommen wenig vorhersagestark. Manfred Cierpka (2009, S. 157 f.) nennt folgende Risikofaktoren: Scheidungen, Wechsel zu einer Stiefeltern- oder zu einer Einelternfamilie und Partnerschaftskonflikte bei den Eltern. Lebensweltliche Faktoren wie Armut und Arbeitslosigkeit wirkten sich ihm zufolge erst dann problematisch aus, wenn sie mit sozialem Rückzug einhergehen. Zahlreiche Studien zum frühen Tod von Kindern, zum Missbrauchsrisiko und zu Inobhutnahmen zeigen, dass Kinder, die mit beiden leiblichen Eltern aufwachsen, gegenüber Kindern aus Alleinerziehenden- oder aus Stieffamilien im Vorteil sind (Zahlen bei Funcke/Hildenbrand 2009, S. 38ff; S. 83). Aus diesen Befunden abzuleiten, dass alle Familien, die nicht aus Vater, Mutter und leiblichen Kindern bestehen und die wir unkonventionelle Familien nennen wollen, defizitäre Familien seien, wäre unzulässig. Zudem wäre eine solche Auffassung wenig hilfreich, wenn es darum geht, solche Familien zu unterstützen. Wir sind der Auffassung (Funcke/Hildenbrand 2009), dass ein Kind in konventionellen (leiblichen) wie in unkonventionellen Familienformen (in einer Alleinerziehenden-, Stieffamilie etc.) glücklich oder unglücklich aufwachsen kann. Allerdings stellen unkonventionelle Familienformen besondere Herausforderungen an die Beteiligten. Mit dieser Auffassung sprechen wir unkonventionellen Familienformen nicht die Möglichkeit ab, gedeihliche Orte für das Aufwachsen von Kindern zu sein. Die besonderen Herausforderungen rühren daher, dass Strukturmerkmale leiblicher Familien in unkonventionellen Familien aufgrund von Abwesenheiten (des Vaters, der Mutter, der Eltern) nicht gegeben sind. Diese Situation ist in geeigneter Form zu bewältigen. Die Strukturmerkmale sozialisatorischer Interak-
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tion sollen nun dargestellt werden. Wir widmen ihnen breiten Raum, da wir nicht davon ausgehen können, dass sie allgemein bekannt sind. Denn die jüngere deutsche Familiensoziologie (im Unterschied zur französischen, vgl. Segalen 1990) tendiert eher zu Theoriebildungen, in denen strukturale Betrachtungen in die Nähe zu konservativen Annahmen über die Familie gebracht oder gar gleich mit ihnen verwechselt werden (Lenz 2003). Strukturbedingungen sozialisatorischer Interaktion Universelle Charakteristika von Familien. Claude Lévi-Strauss (2005) schlägt vor, folgende Punkte als universelle Charakteristika von Familienleben zu betrachten: Der Ursprung der Familie liegt in der Ehe. Kinder werden demnach in bestehende Allianzen hinein geboren. Die Familie schließt den Ehemann, die Frau und die aus ihrer Verbindung hervorgegangenen Kinder ein und bildet einen Kern, dem sich evtl. noch andere Verwandte beigesellen. Es ist nicht zwingend notwendig, dass der leibliche Vater immer präsent ist. In Stammeskulturen kann an seiner Stelle auch der Bruder der Mutter stehen. Die Integration des leiblichen Vaters stellt eine zivilisatorische Leistung dar (Lacan 1980; Lipp 2000). Die Familienmitglieder sind geeint durch formale Bande. In Stammeskulturen gibt es mündliche Vereinbarungen, die ebenso verbindlich sind wie in der Moderne die vertraglich fixierten. Die Partner gehen Rechte und Pflichten religiöser, ökonomischer oder anderer Art ein. Und schließlich besteht ein genau beschreibbares Netzwerk von sexuellen Rechten und Verboten und ein variabler und vielfach geschichteter Gesamtkomplex von Gefühlen wie Liebe, Zuneigung, Respekt, Furcht usw. Die historische Perspektive: das westeuropäische Familienmodell.5 Bei der Entwicklung des westeuropäischen Familienmodells (Mitterauer 2003) geht es im Wesentlichen um Ausdifferenzierung und damit um Grenzziehungen – einmal um die Grenze zwischen Familie und Verwandtschaftssystem und sodann um die Grenzen zwischen Familie und Gemeinde. Des Weiteren geht es um die Grenzen innerhalb der Kernfamilie. Wir beginnen mit den Grenzen zwischen Familie und Verwandtschaftssystem. Die frühe westeuropäische Familie war eine Einheit von Produktion und Konsumption. Man lebte und arbeitete zusammen. Das damit verbundene Familienmodell ist durch vier Merkmale gekennzeichnet: durch die erwähnte Reduktion auf eine Zwei-Generationen-Familie und die entsprechende vertraglich gesicherte Ausgliederung der älteren Generation, damit verbunden die Gründung 5 Daneben bestehen, besonders in Einwanderungsgesellschaften wie der unseren, auch andere Familienmodelle, auf die einzugehen hier jedoch der Platz fehlt; vgl. hierzu z. B. Kaser (2009).
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eines eigenen Haushalts durch das junge Paar; durch ein relativ hohes Heiratsalter, weil die Heirat an die Hof- oder Geschäftsübergabe gekoppelt ist und die Alten in der Regel zögern, sich auf ihr Altenteil zurückzuziehen. Schließlich tendieren die Paare zu einer partnerschaftlichen Beziehung, denn die Altersabstände zwischen den Partnern sind relativ gering. Ein solcher Haushalt wird je nach Größe des Hofs oder Geschäfts durch Gesinde (Knechte, Mägde) erweitert. Dabei handelt es sich in der Regel um life cycle servants, also um Lebensabschnittsbedienstete, die diesen Status aufgeben, sobald sie genug Geld zusammen haben, um mit einem Partner bzw. einer Partnerin einen Hof zu kaufen oder den ererbten Hof zu übernehmen. Die im frühen Mittelalter begonnene Binnendifferenzierung der Kernfamilie wird weiter getrieben, als im 17./18. Jahrhundert ein Prozess beginnt, in dem Wohn- und Arbeitsstätten voneinander getrennt werden. Der Vater verschwindet für einen erheblichen Teil des Tages aus der Familie und geht auswärts seinen beruflichen Tätigkeiten nach. Die Mutter verschwindet allmählich aus der Arbeitsordnung der Familie, indem sie noch für den familialen Binnenbereich, aber nicht mehr für die innerhäusliche Produktion zuständig ist. Zwar verfügt die bürgerliche Familie bis ins 20. Jahrhundert hinein über Hauspersonal, aber dieses dient zunehmend den privaten Bedürfnissen der Familie. Während die Mutter also im Produktionsbereich an Bedeutung verliert, gewinnt sie im emotionalen Bereich an Bedeutung. Sukzessiv richtet sich eine Arbeitsteilung ein zwischen Emotionalität, die vorwiegend weiblich und Instrumentalität, die vorwiegend männlich kodiert ist. Verschärft wird dies durch die weitere Verlagerung von Tätigkeiten des Familienhaushalts in die Öffentlichkeit. Zunächst wären typische Hausarbeiten (Nähen, Einkochen etc.) zu nennen, die zunehmend durch Industrieprodukte ersetzt oder durch Maschinen erleichtert werden. Dann aber werden auch Kinderbetreuungsaufgaben zunehmend nach außen verlagert, von der Kindererziehung im Kindergarten bis zur Betreuung im Krankheitsfall. Auch die Schul- und Berufsausbildung werden zur öffentlichen Angelegenheit. Am Ende ist die Familie reduziert auf den „Hafen in einer herzlosen Welt“ (Lasch 1981), also auf einen Sozialzusammenhang, in dem es um (emotionale) Beziehungen und sonst um nicht mehr viel geht. Dieses Gebilde erlebte seine höchste Blüte in den 1950er Jahren und ist seit dem Ende der 1960er Jahre zunehmend der Kritik ausgesetzt. Weitere Veränderungen treten mit zunehmender Bildungs- und Erwerbsbeteiligung der Frauen ein. Dabei kommt es zu einer nachhaltigen und anhaltenden Geschlechterdifferenzierung. Weil aus männlicher Sicht weiterhin eine Arbeitsteilung in der Familie dergestalt besteht, dass der Mann für das außerhäusliche zu erwerbende Einkommen und seine Partnerin für Haushalt und Familie zuständig ist, kommt es für die erwerbstätige Partnerin zur Doppelbelas-
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tung mit der Konsequenz, dass „die Firma zum Zuhause wird und zuhause nur Arbeit wartet“ (Hochschild 2006). Grenzen zwischen dem Gemeinwesen und der Familie. In der modernen Familie, in der Familie jener Phase also, in die das „Goldene Zeitalter der Familie“ (Sieder 1987, S. 243) fällt, wird der Zwei-Generationen-Charakter der Familie in der öffentlichen Wahrnehmung und in den gesellschaftlichen Praktiken festgeschrieben. Aufgabe des bürgerlich-konservativen Staates seit dem 19. Jahrhundert ist es, die Familie zu schützen. Im Notfall sind die direkten Verwandten in auf- und absteigender Linie, die Eltern und die Kinder also, zu Unterstützungsleistungen gesetzlich verpflichtet. Die anderen Verwandten, auch die Großeltern und die Enkel, werden nicht herangezogen. Zwischen der Familie und der Außenwelt inklusive der Verwandten bestehen Grenzen nicht nur finanzieller Art: Haus- oder Wohnungstüren mit und ohne Schlüssel, aber mit Türklingel; Zeiten, in denen man anrufen darf, und Zeiten, zu denen sich das nicht gehört. Dies sind nur zwei Beispiele für das alltägliche Erzeugen und Erleben von Grenzen zwischen der Familie und der Verwandtschaft, der Nachbarschaft und der Gemeinde. Die Ehe (allgemeiner: die Paarbeziehung), so schreiben Berger und Kellner (1965), begründet einen nomischen Bruch, denn hier treffen zwei Fremde aufeinander, die aus verschiedenen – nicht zu weit voneinander entfernt liegenden – Welten kommen und nun ihre eigene soziale Welt erzeugen. Diese Welt macht sie dann wiederum in gewisser Weise zu Fremden ihrer eigenen Herkunftsfamilie und ihrer eigenen Verwandtschaft gegenüber. Dass aus dieser Distanz heraus rege Beziehungen zur Verwandtschaft unterhalten werden, ist damit nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern (fast) die Regel. Tatsächlich leben die meisten Familien heute in Deutschland in einem Gebilde, das Hans Bertram eine „multilokale Mehrgenerationenfamilie“ nennt (Bertram 2000). Konkret heißt das, dass 60 % der Deutschen, die erwachsene Kinder haben, im selben Ort wie ihre Kinder leben, und 90 % der Deutschen mit erwachsenen Kindern können diese innerhalb von zwei Stunden erreichen (Szydlik 2000). Das bedeutet, dass sich die Ausdifferenzierung der Kernfamilie und die Verdichtung von Verwandtschaftssystemen nicht gegenseitig ausschließen, sondern vielmehr Hand in Hand gehen. Die Binnenstruktur von Familien. Im abgegrenzten Raum bietet die Familie ihren Mitgliedern eine Reihe von modellhaften Erklärungen über sich und die Welt an, den David Reiss Familienparadigma nennt (Reiss 1981). Dabei geht es um drei grundlegende Themen: um die Betonung der graduellen Trennung der Familie von ihrer Umgebung, um den Erhalt einer über Generationen tradierten Familienkultur und schließlich darum, dass Familien in unterschiedlicher Weise ihre Beziehung zu ihrer Umwelt gestalten – die einen eher passiv, die anderen eher aktiv.
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Das Familienparadigma wird durch zwei Mechanismen aufrechterhalten: durch Zeremonien und durch Regulatoren des Familienmusters. Zu den Zeremonien des Familienlebens gehören formalisierte und repetitive Muster, die das Selbstbild der Familie formen. Sie werden sowohl den Familienmitgliedern als auch der Außenwelt gegenüber ausgedrückt. Einerseits geht es hier um Rituale, die die Kontinuität von Vergangenheit und Zukunft herstellen, andererseits gehören aber auch Zeremonien der Erniedrigung dazu, z. B. das Verfahren, jemanden in der Familie zum schwarzen Schaf zu deklarieren. Solche Zeremonien haben die Aufgabe, problematische Aspekte des Familienlebens zu verdecken. Sie vermitteln eine andere Zeitvorstellung als Rituale, denn sie frieren die Familienentwicklung an einem bestimmten Punkt in der Zeit ein. Regulatoren des Familienmusters sind hoch routinisierte Sequenzen, die zwei grundlegende Ressourcen des Alltagslebens organisieren: Zeit und Raum. Bei der Zeit geht es um Zeitregulierung im Familienablauf sowie um die Orientierung in der Zeit, sowohl kurz- wie auch langfristig. Beispielsweise stecken hinter den Handlungsmustern des Sparens bzw. Schuldenmachens je unterschiedliche Zeitmuster. Während das Sparen die Bedürfnisbefriedigung aufschiebt, wird beim Schuldenmachen der Konsum vorgezogen und das Begleichen der Kosten dafür aufgeschoben. Es geht also modellhaft um das Vermitteln von Planung, bis hin zur Lebensplanung. Beim Raum geht es um Regulationsprozesse an den innerfamilialen Grenzen sowie an jenen zwischen Familie und Außenwelt. Innerhalb der Familie bedeutet Grenzarbeit, Privatheit zu etablieren. Jenseits der Familiengrenzen geht es darum, wie sich die Familie den öffentlichen Raum erschließt, ob sie sich eher weltoffen oder eher weltabgewandt verhält, ob die Familie beispielsweise Geburtstage zu Hause oder in der Öffentlichkeit feiert. Reiss’ Überlegungen machen deutlich, wie Familien gegenüber der Außenwelt ihre relative Autonomie herstellen und aufrechterhalten: Sie bedienen sich der Ressourcen der sie umgebenden Welt, also der jeweiligen gesellschaftlichen Handlungs- und Orientierungsmuster, und passen diese der Spezifik ihrer eigenen Welt an. Was dabei im gelingenden Fall herauskommen kann, beschreibt Froma Walsh unter dem Stichwort der Resilienzfaktoren in Familien (Walsh 2006). Familien fördern die Entwicklung ihrer Kinder, wenn sie die folgenden Elemente einer Familienwelt entwickelt haben: Familiale Überzeugungssysteme, die Sinngebung und positive Zukunftsorientierung beinhalten, organisatorische Muster, die auf Flexibilität und Verbundenheit gerichtet sind, sowie innerfamiliale Kommunikationsprozesse, die von Klarheit, Offenheit und Kooperation geprägt sind. Diese drei Elemente bilden aus Walshs Sicht die Schlüssel zur Resilienz des Familiensystems, die sie benötigt, um innerfamiliale Krisen sowie Krisen, die von außen kommen und den Erhalt der Familie bedrohen, zu bewältigen.
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Gesichert wird dieser Rahmen durch eine Reihe von Familiensolidaritäten. Dauer und Verlässlichkeit der innerfamilialen Beziehungen, garantiert durch die Unendlichkeitsfiktion und durch die Nichtersetzbarkeit von Personen, stabilisiert durch die erotische und affektive Beziehung des Paares, festigt die Stabilität und Dauer der Familie als Ort sozialisatorischer Interaktion (Oevermann 2004). Die sozialisatorische Triade. Soviel zum Rahmen des Zusammenlebens in der Zwei-Generationen-Familie. Wir kommen nun zum zentralen Aspekt der Binnendifferenzierung, zur sozialisatorischen Triade. Überall dort, wo drei zusammen sind, kommt es zu unvermeidlichen Strukturierungsprozessen, in denen es um Gegensätze geht – sei es, dass diese Gegensätze erzeugt, sei es, dass sie aufgehoben werden. Die Zahl 3 ist die elementare Zahl des Sozialen (Simmel 1908). In der Familie heißt 3: Vater, Mutter und Kind. In diesem Beziehungsgeflecht, das bereits vor der Geburt des Kindes in Gestalt einer „Triade der Phantasie“ (Buchholz 1993) zu wachsen beginnt, kommt es kontinuierlich zu 2:1Konstellationen in wechselnder Zusammensetzung: Mutter + Kind : Vater; Vater + Kind : Mutter; Vater + Mutter (= Paar) : Kind. Diese Konstellationen bedeuten jeweils Einschluss und Ausschluss gleichermaßen. Weil sie aber ständig wechseln, ist es nicht immer dieselbe Person, die ausgeschlossen ist. Anders formuliert: Als Mitglied einer solchen Konstellation, die die Entwicklungspsychologinnen Elisabeth Fivaz-Depeursinge und Antoinette Corboz-Warnery (2001) die kooperative Allianz bzw. Familienallianz nennen, erlebt man ständig Prozesse des Ein- und des Ausschlusses in wechselnden Konstellationen (Rotation der Triade, vgl. Buchholz 1993): Der Sohn hat eine andere Beziehung zur Mutter als zum Vater und umgekehrt, er lernt die Vielfalt dieser Beziehungen durch entsprechende Konstellationswechsel regelmäßig kennen, und er kann beobachten, wie die jeweils ausgeschlossene Person reagiert: Zieht sie sich beleidigt zurück, greift sie ein, wo sie nichts zu suchen hat, schaut sie wohlwollend aus der Position der außen stehenden Dritten auf die Interaktion in der jeweils aktiven Dyade? Elisabeth Fivaz-Depeursinge und Antoinette Corboz-Warnery machen die Fähigkeit, in diesen drei 2:1-Konstellationen (zu denen noch eine vierte kommt: alle drei zusammen) zu agieren, zum Gradmesser dafür, ob ein Kind gut gedeihen kann oder nicht. Ihren Beobachtungen zufolge können Kinder ab dem dritten Lebensmonat die vier Konstellationen identifizieren, wenn die Eltern bei der Herstellung der jeweiligen Allianzen kooperieren. Ab dem neunten Monat kann ein Kind aktiv in diesen Konstellationen interagieren – wiederum vorausgesetzt, den Eltern gelingt es, eine stabile trianguläre Struktur mit wechselnden Konstellationen zu schaffen. Diese Struktur prägt das Familienleben nachhaltig durch alle Veränderungen hindurch, die die Familienentwicklung mit sich bringt. Zusammenfassung. Die Aufgabe der Familie besteht darin, ihre Kinder in eine Welt einzuführen, die in Bereiche unterschiedlicher Nähe und Distanz diffe-
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renziert und insgesamt recht komplex geworden ist. Dazu dienen die triadische Struktur familialer Sozialisation, die familienspezifische Vermittlung von Welt in eigenen Deutungssystemen sowie angemessene innerfamiliale Organisationsund Kommunikationsstrukturen. Dazu dienen des Weiteren angemessene Beziehungen zur Verwandtschaft und zur Nachbarschaft, zur Gemeinde etc. Zur Integration der Familie gehört unverzichtbar die Adaptation an die nähere und weitere familiale Umwelt dazu (Olsen/McCubbin et al. 1983). Ist die Familie am Ende? Und wenn ja: Was kommt danach? Und wenn nicht: Was folgt daraus? Für Deutschland stellt Rosemarie Nave-Herz (1998) folgende Diagnose zur Zukunft der Familie: Im Prinzip ändere sich nicht viel, denn fast alle Menschen in Deutschland würden in ihrem Leben irgendwann einmal eine Familie gründen. In Deutschland leben Kinder unter 18 Jahren zu 78,4 % mit Ehepaaren. Dazu kommen 6,2 % nichteheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern unter 18 Jahren sowie 15,4 % Alleinerziehende. Von Letzteren sind wiederum zwei Drittel geschieden, so dass lediglich 5 % der Kinder in Deutschland aus einem Kontext stammen, der von Anfang an als eine Zwei-Personen-Familie verfasst war (amtliche Statistik von 2003). Allerdings sind Verfallsdiagnosen in Deutschland populärer als ein Befund, der nahe legt, dass im Bereich des Familienlebens nichts dramatisch Neues geschieht. Geradezu grotesk ist der „Befund“ von Ulrich Beck, dem zufolge die „Meine-deine-unsere-Kinder“ Familie der Normalfall ist, während die Familie als „Zombie-Kategorie“ ausgedient hat (ZEITonline 2000). Beck spricht hier von (aktuell, d.h. 2009) weniger als 4 % der Familien, im zeitlichen Querschnitt betrachtet, die seinem „Normalmodell“ der Zukunft entsprechen. Während Ulrich Becks kreative Interpretation von Zahlen noch zur Heiterkeit beitragen kann, vergeht dem Beobachter das Lachen, wenn er von Politikern und Politikerinnen parteiübergreifend zu hören bekommt, dass das „Normalmodell“ von Familie nicht mehr zeitgemäß sei und Familie dort sei, wo Kinder sind. Entsprechend äußerte sich die ehemalige Bundesjustizministerin Zypries im Jahr 2009, als es um die Adoptionsberechtigung von gleichgeschlechtlichen Paaren ging. Anstatt sich auf empirische Befunde zu beziehen, denen zufolge Kinder in solchen Familienkonstellationen auch nicht schlechter aufwachsen als bei heterosexuellen adoptierenden Paaren, hat sie als Begründung für eine positive Haltung gegenüber der Adoption von Kindern durch schwule Paare eine soziologische Modernisierungstheorie Beck’schen Zuschnitts herangezogen. Hier wird eine Linearität von Veränderungsprozessen unterstellt, während die Empirie ein verschachteltes
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Verhältnis von Dauer und Veränderung zeigt. Dies bestätigen Befunde, denen zufolge
Kinder sehr dezidierte Vorstellungen davon haben, wer zur Familie und zur Verwandtschaft gehört und wer nicht, wobei sie strikt zwischen biologischer und sozialer Verwandtschaft unterscheiden (Mason und Tipper 2008) Kinder in Stieffamilien ihre Stiefväter mehrheitlich nicht zur Familie rechnen, wohl aber den abwesenden leiblichen Vater Stiefväter ihre Stiefkinder mehrheitlich nicht zur Familie rechnen (Hennon, Hildenbrand und Schedle 2008, S. 170 f.) Kinder, denen Wissen um und Beziehungen zum Vater vorenthalten werden, sich beharrlich auf die Suche nach ihm machen, was mitunter groteske Formen annehmen kann (Hildenbrand 2002)
Was die leibliche Zugehörigkeit zur Familie anbelangt, sind Kinder ausgesprochen „konservativ“: Konstrukte „sozialer“ Vaterschaft sind nicht nur dem Recht (Gröschner 2000), sondern auch Stiefkindern fremd. Wenn es gelingt, zum Stiefvater Beziehungen aufzubauen, die die nicht vorhandenen Beziehungen zum leiblichen Vater kompensieren können, dann ist dies ein günstiger Fall, aber eben nicht der Normalfall. Noch mehr sind Kindern Konstrukte fremd, die die Triade unter Verzicht auf den Vater eliminieren. Wie oben bereits ausgeführt, sind wir nicht der Auffassung, dass fragmentierte Triaden unausweichlich zu Pathologien führen. Wir betonen lediglich, dass es sich bei der Abwesenheit von Triaden um Strukturprobleme handelt, die nach Kompensation verlangen, anstatt auf die leichte Schulter genommen oder gar zum Normalfall erklärt zu werden. Abwesenheiten in der Triade sind, auch dann, wenn sie nicht zu lebenslangen Problemen führen, doch ein lebenslanges Thema, das es zu bewältigen gilt. Neuere Befunde zeigen bei bestimmten Populationen Sonderwege in der Familiengründung. So berichten Fachleute der Kinder- und Jugendhilfe, dass es in strukturschwachen Regionen Ostdeutschlands zunehmend zu einem Lebensziel junger Frauen werde, nach einem gescheiterten Schulabschluss ein Kind zu bekommen, sich diesem in einer gesellschaftlich anerkannten Rolle zu widmen und von staatlicher Unterstützung zu leben. So weist der Mikrozensus 2008 für die Region Vorpommern 31 % Alleinerziehende auf, während Ostwürttemberg mit 10 %, Ostholstein mit 11 % und Südthüringen mit 12 % Alleinerziehenden in der Statistik erscheinen. Männer sind in diesem Lebensentwurf als dauerhaft Anwesende (zunächst) nicht vorgesehen. Solche Prozesse wurden früher schon in den USA beobachtet. Dort zeigte sich, dass sozial depravierte junge Frauen in der Mutterschaft eine Möglichkeit sozialer Anerkennung suchten (Burkart 1993).
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Wir nehmen diese Befunde zunächst einmal hin, ohne daraus Konsequenzen hinsichtlich eines Hilfebedarfs o. Ä. zu ziehen.6 Öffentliche Erziehung als Krieg gegen die Familie oder als Familienunterstützung? Christopher Lasch schreibt in seinem seinerzeit viel diskutierten Buch über die „Bedrohung der Familie in der modernen Welt“ (Lasch 1981), dass der Familie seit weit über hundert Jahren aus unterschiedlichen Richtungen (Sozialpolitik, Wissenschaft) Mängel zugeschrieben würden, welche zu einer immer wirksameren Kontrolle (Lasch 1981, S. 233) derselben führe. In dieselbe Richtung argumentiert Michael Winkler, wie eingangs bereits erwähnt. Er kritisiert vor allem die „hinterhältigen, gemeinen Familienfreunde“ (Winkler 2007, S. 200): Diese würden die Familie und ihre Leistungen für die Sozialisation des Nachwuchses zwar loben, sie aber notorisch missachten. Anstatt nach einer sozialpolitischen Haltung der Sorge und Anerkennung zu trachten, würden die Familien dem Verdacht ausgesetzt, dass sie ihre Aufgaben nicht wahrnähmen. Diese Haltung des Verdachts führe zu einem immensen Anstieg an Frühinterventionen, Familienunterstützungsmaßnahmen, Elterntrainings etc., die die Familie als Risiko betrachteten. Daher sei sie zu disziplinieren (Winkler 2007, S. 207 f.). Eine „Logik der Anerkennung“ (Winkler 2007, S. 218) bedeutet demgegenüber zunächst, dass im Hilfeprozess alle Akteure ihre Integrität behalten. Bei der Familie bedeutet dies vornehmlich, dass ihre Grenzen gewahrt werden. Dazu kommt, dass das naturwüchsige Potential der Familie erkundet und respektiert sowie als Ressource eingesetzt und nicht durch „professionelle Elternpädagogik“ (Winkler 2007, S. 227) zerstört wird. Wir werden diese Ansprüche anhand der frühen Hilfen prüfen. Dabei werden wir die im vorigen Kapitel ausgeführten Strukturmerkmale von Familien heranziehen. Es sei daran erinnert, dass diese Strukturmerkmale aus unserer Sicht keine extern gesetzten normativen Vorgaben, sondern tradierte Modelle sind, welche sich die Akteure in ihren alltäglichen Handlungs- und Orientierungsmustern zum Leitfaden nehmen und mit denen sie sich, ob sie das wollen oder nicht, auseinandersetzen, wenn sie davon abweichen. Als extern gesetzte Modelle wären sie kritisierbar. Als Teil des kollektiven Unbewussten sind sie jedoch nicht zu kritisieren, sondern vielmehr zu rekonstruieren. Aus den Ergebnissen dieser Rekonstruktion sind sodann Schlussfolgerungen
6 Vor allem geht es uns hier nicht darum, diesen Frauen moralische Verwahrlosung oder Heteronomie zu unterstellen (Klein 2009). Im Gegenteil: Burkharts Argumentation zielt eher in Richtung eines eigenständigen Lebensentwurfs, wie immer dieser auch bewertet wird.
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für die Arbeit mit diesen Familien zu ziehen, während die eigenen normativen Vorstellungen von Familien keine Rolle spielen dürfen. Frühe Hilfen: Paradoxien der Prävention Elisabeth Helming weist in ihrem Beitrag zu den frühen Hilfen auf das Präventionsdilemma hin, welches folgende Aspekte beinhaltet: (1) Jede Prävention steht vor dem Dilemma, dass von den Empfängern erwartet wird, dass sie in Bezug auf ein Problem aktiv werden, welches noch nicht vorhanden ist. In anderen Worten: Leidensdruck muss simuliert werden (Hildenbrand 1996). (2) Prävention bezieht ihr Recht aus der Unterstellung, dass die fraglichen Eltern nicht in der Lage sind, angemessen für ihr Kind zu sorgen. Damit verbunden ist (3) die lebensgeschichtliche Erfahrung von Eltern, die aufgrund ihrer prekären sozialen Herkunft ihr Leben lang mit Ausgrenzung zu tun haben (Helming 2008, S. 4). Vor die Klammer zu ziehen ist allerdings die Frage, was denn verhütet werden soll. Helming weist zu Recht darauf hin, dass eine Prävention, die nicht sagt, was sie verhindern will, keinen Sinn hat. Wenn allerdings ausdrücklich formuliert wird, dass Vernachlässigung verhindert werden soll, wie der Münchner Stadtrat im Jahr 2007 beschlossen hat (ebd., S. 6), dann ergibt sich ein Problem, wenn breitflächig Prävention angeboten wird: Die Adressaten stehen dann ohne Ausnahme unter Verdacht und der Einzelfall spielt keine Rolle.7 Dieser Problematik entgeht ein Präventionsansatz, bei dem jeweils im Einzelfall prognostiziert wird, was vermutlich eintreten wird, wenn eine bestimmte Familie kein Angebot zur Prävention in Anspruch nimmt. Dies setzt jedoch eine gründliche Einzelfallkenntnis voraus, die schon daran scheitert, dass nicht jede Gebärende und ihre Familie daraufhin untersucht werden können, ob hinreichende Kriterien für eine drohende Kindeswohlgefährdung vorliegen. Eine Übersicht über vorliegende Präventionsprogramme hat Elisabeth Helming zu der Einschätzung veranlasst, dass diese Problemlagen individualisieren, indem aus riskanten Lebenslagen „Risikomütter“ etc. werden (ebd., S. 9), und auf der Grundlage eines absoluten Konzepts von Normalität (Blankenburg 1980) zu einer Ausgrenzung von Menschen führen, die nicht der Durchschnittsnorm (und das ist bei psychosozial Tätigen in aller Regel die Norm der Mittelschicht) entsprechen. Screening-Verfahren in Geburtskliniken stellen alle Gebärenden und ihre Familien unter einen Generalverdacht, dem sie sich nur durch Nachweis der Abwesenheit der einschlägigen Indikatoren entziehen können, und sie folgen 7 Betrachtet man z. B. die massenhafte Impfung als Prävention, dann wird die Vernachlässigung des Einzelfalls besonders deutlich: Zugunsten des Gesamtnutzens für die Bevölkerung werden unvermeidliche Impfschäden sowie Todesfälle in Kauf genommen.
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einer „Reparaturlogik“ (ebd., S. 5). Screening-Verfahren benutzen Checklisten, wie sie aus der Luftfahrt bekannt sind: Jede Pilotin ist gehalten, diese Liste Punkt für Punkt durchzuarbeiten, und das bei jedem Flug, unabhängig davon, wie erfahren sie ist und wie vertraut ihr das Flugzeug ist. Dem gegenüber können Professionelle wie etwa Beraterinnen und Therapeuten aufgrund ihrer Fähigkeiten des Fallverstehens (dazu weiter unten) Abkürzungsverfahren benutzen, die es ihnen erlauben, habituell Risikosituationen einzuschätzen, und zwar im Einzelfall. Weshalb ist man zu der Auffassung gelangt, dass Screening-Verfahren der professionellen Kompetenz von ärztlichem Personal, Krankenpflegepersonal und Hebammen überlegen seien? Eine mögliche Antwort lautet: Offenbar misstraut man dem professionellen Komplex, und in dem Maße, in dem die Professionellen bei der Entwicklung und Anwendung dieser Verfahren mitwirken, bestätigen sie dieses Misstrauen. Als Alternative fordert Elisabeth Helming, grundsätzlich von einer Hilfebeziehung auszugehen, die „Gefühlslagen von Familien in schwierigen Problemlagen“ (Helming 2008, S. 14) anzuerkennen, die Autonomie der Eltern zu stärken und sich insgesamt an einem Konzept der „Anerkennung“ zu orientieren. Kritische Anmerkungen zum Konzept von Elisabeth Helming. (1) Wenn eine Perspektive eingenommen wird, die die Lebenslagen der betreffenden Eltern ins Zentrum rückt, dann muss dies auch auf die fachliche Herangehensweise durchschlagen. Es kann dann nicht mehr nur um familienspezifische Hilfen gehen, sondern diese müssen in Gemeinwesenarbeit eingebettet sein. (2) Wenn aus einer Einstellung der Anerkennung heraus die Autonomie der Klienten gestärkt werden soll (auch: Selbstwirksamkeit, human agency genannt), dann muss sie ebenso fallspezifisch formuliert werden, wie die Autorin das zu Recht für den Normalitätsbegriff gefordert hat. Es gibt dann keine absolute Autonomie, sondern eine fallspezifische Autonomie, also eine Autonomie, die auf einem Kontinuum zwischen Autonomie und Heteronomie sich situativ hin und her bewegt und daher prozessual bestimmt ist (Blankenburg 1985). Dies herauszufinden ist Sache eines fachlichen Arbeitsbündnisses. Dies führt (3) dazu, dass frühe Hilfen zur Angelegenheit professionellen Handelns werden. Dann aber muss bestimmt werden, was professionelles Handeln ist. Bevor wir uns mit diesen Themen auseinandersetzen, werden wir ein konkretes Konzept früher Hilfen vorstellen und diskutieren.
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„Keiner fällt durchs Netz“: ein familienorientiertes Projekt früher Hilfen. Das Projekt: Es wurde von dem Psychiater und Psychotherapeuten Manfred Cierpka und seiner Arbeitsgruppe entwickelt (Cierpka 2009). Es basiert auf der Annahme, „dass positive Veränderungen beider Eltern, in deren Partnerschaft und in den Familien zur Förderung der Entwicklung bei den Kindern führen“ (ebd., S. 156).
Diese Annahme wird durch erste Ergebnisse der Prozessevaluation dieses Konzepts bestätigt, die u. a. ergeben haben, dass bei den Hausbesuchen der Familienhebammen in der Beratung zu 80 % psychosoziale Themen vorherrschen (ebd., S. 165). Das Konzept konzentriert sich auf Kinder in den ersten Lebensmonaten, die in „Hoch-Risiko-Familien“ leben, aus denen lt. einer OECD-Studie ca. 7–10 % aller Kinder kommen (ebd., S. 156 f.). Ähnlich wie bei Beate Galm (2007) werden folgende psychosoziale Problemlagen bei diesen Familien ausgemacht: Probleme in der Triade, schwierige Lebenslagen, welche aber erst brisant werden, wenn ein sozialer Rückzug dazukommt, und schließlich schwierige biografische Ausgangslagen der Eltern. Diese führen gemäß Cierpka zu Überforderung in der Erziehung und zu einer „maladaptiven Entwicklung“, die „nicht nur seelische, sondern auch körperliche Folgen“ (Cierpka 2009, S. 158) hat. Möglichkeiten der Prävention sieht Cierpka in der Stärkung der elterlichen Kompetenzen, ergänzt durch ökologische Interventionen i. S. Bronfenbrenners. Die angezielten Präventionsmaßnahmen reichen von der Sicherung basaler Bedürfnisse über die Stärkung kommunikativer und interaktiver Kompetenzen bis hin zur Vermittlung von Wertorientierungen und von Bildung. Als bevorzugter Ort des Einsatzes dieser Maßnahmen wird die Wohnung der Familie angegeben. Als Erfolgsbedingungen für dieses Konzept werden früher Beginn der Intervention, Einzelfallorientierung und professionelle Ausbildung der Helfer genannt. Im Rahmen des Programms „Keiner fällt durchs Netz“ werden folgende Schritte abgearbeitet: Ein Zugang wird hergestellt, Risikokonstellationen werden ermittelt und angemessene Interventionen werden vermittelt, dem Problem der Passivität und Resignation vieler dieser Familien wird Rechnung getragen und auf die Androhung von Sanktionen bei Nichtteilnahme wird verzichtet. Träger dieses Programms sind Familienhebammen, die ein Qualifikationsprogramm von 168 Stunden durchlaufen und zusätzlich Supervision erhalten. Die Inhalte dieses Programms beziehen sich auf Eltern-Kind-Interaktionen und Bindungsangebote, Einbeziehen der Väter, Einschätzung von Partnerschafts- und Familienkrisen, Gesprächsführung mit Schwerpunkt auf Wertschätzung und
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Ressourcenorientierung sowie auf Umgang mit Misstrauen und ambivalenten Gefühlen gegenüber dem Hilfsangebot. Alle Familien, nicht nur solche, die als Hoch-Risiko-Familien erkannt worden sind, werden in dieses Programm einbezogen, und es werden ihnen entsprechende Angebote gemacht. So soll vermieden werden, dass Familien sich dadurch benachteiligt fühlen, dass ihnen ein Angebot zur Prävention gemacht wird, anderen aber nicht. Bei den Familien, bei denen Risikokonstellationen entdeckt werden, wird die Frage gestellt, ob die Etikettierung der Familie als HochRisiko-Familie ein auf spezifischen Normalitätsvorstellungen der Fachperson beruhendes Artefakt ist, und es wird davon ausgegangen, dass „das Vorhandensein von Risikofaktoren nicht automatisch zu einer Kindesvernachlässigung“ (Cierpka 2009, S. 164) führt. Sodann wird die jeweilige Familie anhand von Kategorien der Heidelberger Belastungsskala eingeschätzt, aber es wird gleichzeitig „das Vorhandensein von kompensatorischen Schutzfaktoren berücksichtigt“ (ebd.). Die Tätigkeit der Familienhebammen hat bei belasteten Familien sensibilisierenden Charakter. Ziel ist es, diese Familien an geeignete Institutionen zu vermitteln. Zu diesen gehören neben dem Jugend-, Sozial- und Gesundheitsamt Beratungsstellen, Hebammen und ambulante wie stationäre medizinische Einrichtungen. Kritische Anmerkungen zum Heidelberger Programm „Keiner fällt durchs Netz“: Wir beginnen mit dem Begriff der Hoch-Risiko-Familie. Um dafür einen objektiven Maßstab zur Verfügung zu stellen, werden in diesem Programm die Familien anhand der „Heidelberger Belastungsskala“ eingeschätzt. Jedoch sind nach Manfred Cierpka, auch die „potentiell kompensatorischen Schutzfaktoren“ (Cierpka 2009, S. 164) zu berücksichtigen. Dafür werden aber, zumindest in dieser Veröffentlichung, keine Kategorien genannt – dem stehen 20 Kategorien für Belastung entgegen.8 Ob Kategorien für Schutzfaktoren im fraglichen Manual enthalten sind, können wir nicht prüfen, da dieses Manual nicht publiziert ist. Würden sie aber in diesem Manual eine bedeutende Rolle spielen, dann würde die entsprechende Skala vermutlich Heidelberger Belastungs- und Schutzskala heißen. Diese Beobachtung mag beckmesserisch klingen, aber wir vermuten hinter dem Missverhältnis von theoretischem Anspruch und praktischer Umsetzung ein strukturelles Problem. Dieses Problem besteht darin, dass auf der einen Seite Manfred Cierpka und seine Projektgruppe beanspruchen, ein differenziertes,
8 In einer regierungsamtlichen Publikation des Children’s Bureau der USA wird eine Liste „Allgemeiner Risiko- und Schutzfaktoren“ aufgeführt, die 36 Risikofaktoren und 26 Schutzfaktoren enthält. Vgl. www.childwelfare.gov/preventing/overview/commonfactors.cfm.
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komplexes Bild von „Hoch-Risiko-Familien“ zu zeichnen9, das nicht nur Schwächen, sondern auch Stärken beinhaltet, um auf der anderen Seite wieder in die übliche Defizitorientierung zurückzufallen, wie sie vor den Debatten um Salutogenese und Resilienz und damit zusammenhängend um human agency und Selbstwirksamkeit üblich war. Dass es sich um ein strukturelles Problem handelt, lässt sich auch daran erkennen, dass dieselbe Problematik an anderer Stelle wieder auftaucht. Einerseits ist das von Cierpka vorgelegte Konzept durchzogen von einer Haltung des Respekts gegenüber den Familien, denen frühe Hilfen bei der Geburt eines Kindes zukommen sollen. Diesem Respekt steht jedoch die Sprache gegenüber, die verwendet wird: So werden die Familien an eine Familienhebamme „angebunden“ (Cierpka 2009, S. 162). Dazu fällt uns ein Rentner ein, der seinen Hund anbindet, bevor er den Zeitungsladen betritt. Des Weiteren werden diese Familien einer Familienhebamme „vorgestellt“, und es fällt uns dazu ein, dass lt. Knigge der Rangniedere dem Ranghöheren vorgestellt10 oder in der alten Medizinersprache der Patient dem über allem thronenden Arzt vorgestellt wird. Es handelt sich dabei jeweils um Formulierungen, in denen aus der Familie ein passives, zu manipulierendes Objekt wird. Eine Alternative wäre folgende Formulierung gewesen: Die Familie trifft mit einer Familienhebamme zusammen, und beide, Familie und Hebamme, erkunden gemeinsam die Möglichkeiten einer künftigen Zusammenarbeit beim Bewältigen der nächsten Monate. Erst auf Grundlage einer solchen Formulierung könnte von einer Haltung der Anerkennung gesprochen werden. Zum Auftrag der Familienhebammen gehört es, bei der Gesprächsführung einen Schwerpunkt auf „Wertschätzung und Ressourcenorientierung“ (Cierpka 2009, S. 163) zu legen. Wenn aber die Familie-Familienhebammen-Beziehung von Anfang an als asymmetrische Beziehung gerahmt (Hildenbrand 1999) ist, wenn „angebunden“ und „vorgestellt“ wird, dann wird sich der Widerspruch zwischen der in der Sprache verborgenen Haltung und dem konzeptionellen Anspruch zumindest störend in der Zusammenarbeit auswirken. Zur fehlenden Bestimmung von Schutzfaktoren in diesem Konzept passt, dass die „Ökologie der menschlichen Entwicklung“ (Bronfenbrenner 1981) zwar als Bestandteil des Konzepts ausgewiesen wird, dem aber keine Konsequenzen folgen. Die in diesem Konzept ins Auge gefasste Familie ist eine Zwei9 Von diesem Begriff distanziert sich der Autor gleich doppelt, indem er ihn nicht nur in Anführungszeichen setzt, sondern ihm auch noch ein „sogenannt“ voranstellt (Cierpka 2009, S. 156). Allerdings fallen später beide Distanzierungen weg. 10 „Die Unterscheidung zwischen Vorstellen (der Rangniedrigere wird dem Ranghöheren vorgestellt) und Bekannt machen (zwei gleichrangige Personen werden bekannt gemacht) wird heute nicht mehr unbedingt verbalisiert; sie ergibt sich aber daraus, wer zuerst über die andere Person informiert wird“ (www.knigge.de).
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Generationen-Familie, bestehend aus Eltern und Kind(ern). „Ökologie der menschlichen Entwicklung“ heißt aber, dass die Familie in ihrem sozialen Umfeld (Verwandtschaft, Nachbarschaft, Gemeinde, Gesellschaft) gesehen wird, in dem nicht nur hemmende Faktoren (Arbeitslosigkeit, Ausgrenzung, Marginalisierung) zu finden sind, sondern auch Schutzfaktoren (siehe hierzu WelterEnderlin/Hildenbrand 2006). Manfred Cierpka bleibt wie Elisabeth Helming auf die Familie fokussiert, wenn es um die Identifikation von Belastungs- und Schutzfaktoren und um die Konzeption von Hilfen geht. Cierpka reduziert das „Netzwerk für Eltern“ (Cierpka 2009, S. 165) auf Ämter, Beratungsstellen und Arztpraxen. Wenn aber die soziale Isolation als kritischer Faktor in randständigen Familien erkannt worden ist (Cierpka 2009, S. 158), dann ist auch nach Möglichkeiten zu fragen, wie den fraglichen Familien ein gemeindeorientierter Ausweg aus dieser Isolation eröffnet werden kann. Solche Möglichkeiten bestehen z. B. darin, ausgehend von Kindergärten und Schulen Orte des Austausches und der Begegnung in Gemeinden zu schaffen. Auch Konzepte wie die „Multifamilientherapie“ (Asen 2009) gehören zu den gemeinwesenorientierten Familieninterventionen.11 Professionelles Handeln als Voraussetzung für eine Haltung der Anerkennung Einzelfallorientierung und Respekt vor den Wirklichkeitskonstruktionen der fraglichen Familien einschließlich fallspezifischer Normalitätsannahmen sind Eckpunkte fachlichen Handelns, die sowohl von Elisabeth Helming als auch von Manfred Cierpka ins Zentrum präventiver Maßnahmen gestellt werden. Prävention stellt aber ein Problem dar, wenn nicht definiert wird, was es denn zu verhindern gilt. Ein fachlicher Zugang kann daran scheitern, dass eine Krise und damit ein Leidensdruck nicht vorhanden ist (die Krise soll ja gerade verhindert werden). Dies sind jeweils Strukturprobleme, die nur von Helming und nicht von Cierpka gesehen werden. Prävention wird bei Cierpka so definiert, dass sie auf die allgemeine Bevölkerung oder auf Gruppen zielt, „die aufgrund verschiedener Faktoren im Vergleich zum Durchschnitt der Bevölkerung ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung von Störungen haben“ (Cierpka 2009, S. 158, Hervorh. von B. H.), oder aber es liegen bereits Symptome einer Störung vor, die „aber noch nicht die Kriterien für eine Diagnose erfüllen“ (Cierpka 2009, S. 158). In allen Fällen geht es darum, dass ein Arbeitsbündnis nur auf der Grundlage einer „alsob“-Konstruktion eines Leidensdrucks ausgehandelt werden kann. 11 Zur Replik auf diese Kritik vgl. Eickhorst und Cierpka (2010).
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Das ist das Dilemma jeder Prävention. Aber einmal angenommen, ein Arbeitsbündnis mit einer Hoch-Risiko-Familie kann dennoch geschlossen werden. Reicht dann die Installierung von Familienhebammen mit 168 Stunden Zusatzausbildung – das sind etwas mehr als vier Wochen Vollzeitausbildung – und Supervision aus? Um diese Frage zu beantworten, werden wir uns auf ein Konzept professionellen Handelns beziehen. Die fachliche Haltung, die bei professionellem Handeln vorausgesetzt wird, ist die einer jeweils neu ausgehandelten Zumutbarkeit von Autonomie (Blankenburg 1997; Hildenbrand 2005). Damit ist gemeint, dass Klienten und Professionelle gemeinsam nach dem rechten Maß zwischen Autonomie und Heteronomie, zwischen Selbst- und Fremdbestimmung suchen, und das nicht nur einmal, sondern kontinuierlich. Denn die autonome Lebenspraxis zeigt sich je nach Belastung in anderer Gestalt. Diese gilt es in einem Prozess des Fallverstehens in der Begegnung (Welter-Enderlin/Hildenbrand 2004) herauszufinden. Fallverstehen heißt im Hilfeprozess Diagnostik. Diese reicht aber nicht hin, um fachliches Handeln zu sichern. Es bedarf ebenso einer angemessenen affektiv sicheren Rahmung (Begegnung), und diese Rahmung ist in Situationen der Krise primär (Hepp 2009). Vorausgesetzt ist aber, dass eine Krise vorliegt. Und eine solche liegt bei Familien mit einem Neugeborenen, die im Rahmen eines ScreeningProgramms identifiziert worden sind, eben nicht vor – jedenfalls nicht aus Sicht der Familien, allerdings möglicherweise aus Sicht der Fachleute. Fallverstehen in der Begegnung habituell zu praktizieren bedarf langer Übung und großer Erfahrung. In einem Vier-Wochen-Zusatzprogramm ist dies nicht zu vermitteln. Das Curriculum, an welchem sich diese Ausbildung orientiert, enthält Ausbildungsinhalte, die ihrer Natur nach nicht an das anschließen, was Hebammen in ihrer Ausbildung lernen, gleichwohl aber unverzichtbar sind. Möglicherweise schließen sie aber an die fachliche Erfahrung an, die Hebammen in ihrer Arbeit mit Gebärenden und deren Kindern und Familien gemacht haben.12 Cierpkas Konzept gibt zu dieser Problematik jedoch keine Auskunft.
12 Elisabeth Helming (pers. Mitteilung) weist auf gelungene Konzepte dort hin, wo die Hebammen mit dem Allgemeinen Sozialen Dienst des Jugendamts kooperieren und von der fachlichen Kompetenz der dort tätigen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter profitieren (wir ergänzen: ob diese vorhanden ist oder nicht, muss im Einzelfall geprüft werden; vgl. dazu Bohler u. a. 2007). Für ein gelungenes Konzept der Zusammenarbeit von Jugendamt, einem freien Träger und Familien in krisenhaften Erziehungssituationen vgl. Helming 2002.
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Ein Fallbeispiel Wenn die Haltung der Anerkennung einer Haltung des Verdachts vorzuziehen ist, wovon sowohl Elisabeth Helming als auch Manfred Cierpka explizit oder implizit ausgehen, dann stellt sich die Frage: Wie lässt sich diese Haltung im Alltag der Arbeit mit belasteten Familien und mit Kindeswohlgefährdung realisieren? Wir nähern uns dieser Frage zunächst anhand eines Fallbeispiels. Bei diesem Fall handelt es sich um eine Familie, bestehend aus einem Neunjährigen, nennen wir ihn Max, der mit seinen Eltern zusammenlebt, welche nicht verheiratet sind. Die Großmutter väterlicherseits erstattete beim zuständigen Jugendamt eine Kindeswohlgefährdungsmeldung. Wir konnten das darauf folgende jugendamtliche Vorgehen im Mai 2009 teilnehmend beobachtend begleiten. Wir stellen diesen Fall vor als ein Beispiel für eine Haltung der Anerkennung in der Arbeit mit potentiell ihr Kind gefährdenden Eltern. Die Großmutter meldet sich anonym und zeigt eine Gefährdung des Wohls ihres neunjährigen Enkels an. Ihr Sohn sei Alkoholiker. Seine Partnerin entziehe ihm das Kind, allerdings wisse sie nicht, wer von den Eltern das Sorgerecht innehabe. Sie, die Partnerin, stamme aus einer Familie mit verrohten Sitten; sie wolle, dass ihr Partner sich totsaufe, und sie entziehe ihr, der Großmutter, das Kind. Max habe sich in der letzten Zeit sehr verändert, habe Heimlichkeiten und benutze Notlügen. Manchmal komme er hungrig zu ihr, die Mutter sorge nicht für ihn, sie komme morgens nicht aus dem Bett, vermutlich trinke sie ebenfalls. Ihr Sohn habe neulich eine Verletzung am Kopf gehabt und angegeben, er sei beim Pinkeln zwischen Badewanne und Waschmaschine gestürzt, aber das sei technisch nicht möglich. Das Kind werde von einer Tante der Mutter versorgt, die ebenfalls einen schlechten Ruf habe, manchmal auch von Nachbarn – sie selbst frage sich aber, weshalb man das Kind nicht zu ihr bringe. Die Jugendamtsmitarbeiterin hört sich die weitschweifenden Erzählungen der Großmutter geduldig an; das Gespräch dauert über eine Stunde. Zwischendurch zieht sie Erkundigungen bei der Suchtberatung ein, nachdem ihr die Großmutter die Erlaubnis dazu gegeben hat. Der Alkoholismus des Sohnes wird verifiziert, ein erneuter Behandlungsbedarf wird dem Suchtberater angezeigt. Das Gespräch abschließend lobt die Sozialarbeiterin die Großmutter für ihre Offenheit, klärt sie über ihre Rechte als Großmutter auf und sichert ihr für denselben Tag einen Hausbesuch bei Max zu. Im Anschluss an dieses Gespräch nennt mir die Sozialarbeiterin folgende Optionen: Ambulante Hilfe; Sohn zur Entgiftung; die Mutter soll ebenfalls vom Sozialpsychiatrischen Dienst des Gesundheitsamtes Hilfe annehmen; wenn der Junge nicht bei den Eltern bleiben könne, werde sie ihn zur Inobhutnahme in ein
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Heim in der Nähe seines Wohnorts bringen, so dass er weiter seine Schule besuchen könne. Dann fordert sie ein Dienstfahrzeug mit Kindersitz an – so hält sie die Option auf eine sofortige Kindesherausnahme offen. Im nächsten Schritt ruft die Sozialarbeiterin den Leiter von Max’ Schule an, der den Jungen auch unterrichtet, und sie erfährt, dass Max sich in der letzten Zeit nicht verändert habe. Unmittelbar im Anschluss an dieses Gespräch findet wie immer in solchen Fällen eine Teamberatung statt. Zunächst wird der Frage nachgegangen, ob diese Familie im Jugendamt bekannt sei. Eine ältere Kollegin erwähnt eine namensgleiche „bekannte Dynastie“: Wenn die Mutter dazu gehöre, dann habe sie eine sehr schwere Kindheit gehabt. Die Idee, Max gleich zur Großmutter zu bringen, wird geäußert, aber dem wird entgegengehalten, dass es sich um die Konstellation „böse Schwiegertochter“ handeln könne – möglicherweise sei die Großmutter ein „Schwiegermuttermonster“. Andere verweisen auf die Kopfverletzung und spielen auf mögliche Gewalt in der Partnerschaft an. Der allgemeine Ton deutet jedoch darauf hin, dass diese Äußerungen nicht als Tatsachenfeststellungen gemeint sind, sondern bewusst lediglich als Möglichkeiten in Betracht gezogen werden. Die Teamberatung wird mit folgendem Protokoll abgeschlossen, das verlesen und gebilligt wird: Großmutter väterlicherseits hat heute persönlich im Jugendamt vorgesprochen sie beschreibt, dass der Sohn Alkoholiker ist unklar, ob alleinige oder gemeinsame elterliche Sorge besteht Alkoholprobleme sollen auch bei der Mutter bzw. in der Herkunftsfamilie der Kindsmutter eine Rolle spielen psychische Störung bei der Kindsmutter wird vermutet die Mutter der Kindesmutter habe ebenfalls psychische Probleme Rücksprache seitens Frau P. (Sozialarbeiterin) mit Schulleiter am heutigen Tag ergab, dass es keine Auffälligkeiten in der Schule gibt Haushalt soll in Ordnung sein Gesundheitsamt wurde involviert, Herr M. (Suchtberater) wird Kontakt aufnehmen Bekannte der Familie haben Veränderungen bei Max bemerkt, er soll ruhiger geworden sein und Geheimnisse haben Von den in der Teamberatung eher spielerisch ins Gespräch gebrachten möglichen Problemen taucht keine in diesem Akteneintrag auf, und die Liste der Punkte enthält nicht nur Hinweise auf die Existenz einer möglichen Kindeswohlge-
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fährdung, sondern auch Gegenbelege. Als Ergebnis der Beratung wird festgehalten: sofortiger unangemeldeter Hausbesuch zur Abklärung einer möglichen Kindeswohlgefährdung Gespräche mit beiden Eltern und dem Jungen notwendig ggf. Inobhutnahme des Jungen Am Nachmittag findet die Kontaktaufnahme mit der Familie statt. Ein unangemeldeter Hausbesuch ist eine riskante Maßnahme, da er einem Überfall gleichkommt: Der Kontrollaspekt wird hier besonders deutlich. Andererseits hängt es vom Verhalten der Sozialarbeiterin ab, wie sie diesen „Überfall“ rahmt. Der Wohnblock, in dem die Familie lebt, ist der Sozialarbeiterin bekannt. Hier habe sie schon einmal mit einem Fall schwerer Kindeswohlgefährdung zu tun gehabt: „Frau H. (eine Kollegin) und ich haben geweint, als wir das Kind im Krankenhaus gesehen haben“. Niemand öffnet, als wir an der Wohnungstür der Familie S. klingeln, so auch bei den Nachbarn. Daraufhin beschließt die Sozialarbeiterin, Max’ Mutter an ihrer Arbeitsstelle, einer Fahrkartenverkaufsstelle, aufzusuchen (von dieser Arbeitsstelle hatte die Großmutter berichtet). Das Auto mit dem Amtskennzeichen lässt sie einige Meter entfernt von diesem Platz stehen und auch sonst unternimmt sie alles, um den Besuch nicht als Amtsbesuch kenntlich zu machen. Frau S. bringt eine laufende Arbeit zu Ende und stellt sich dann zu uns. Im Gespräch mit dieser nicht alkoholisiert oder verwahrlost, sondern besorgt wirkenden Frau kommt heraus, dass sie nicht aus jener Dynastie stammt, mit der man sie bei der Teamberatung provisorisch in Verbindung gebracht hat, und dass sie ihren Partner mit der Mitteilung konfrontiert habe, dass sie in den nächsten Tagen mit dem Kind ausziehe, wenn er nicht zum Alkoholentzug in die Klinik gehe. Eine Wohnung habe sie schon besorgt. Die Sozialarbeiterin bietet Frau S. zunächst eine sozialpädagogische Familienhilfe, später einen Erziehungsbeistand an, damit Max einen Ansprechpartner habe – Frau S. stimmt zu. Auf die Frage, was die Sozialarbeiterin vorfinden würde, wenn sie ihre Wohnung beträte, sagt Frau S.: Es ist sauber und ordentlich. Dann bittet die Sozialarbeiterin um die Erlaubnis, Max im Hort aufzusuchen, die sie erhält. Im Hort spricht die Sozialarbeiterin zunächst die Hortnerin an, bittet um Erlaubnis, Max sprechen zu können, kündigt an, eine schriftliche Genehmigung der Mutter nachzureichen, die mündlich bereits bestehe, und fragt die Hortnerin nach ihrer Erfahrung mit dem Jungen. Diese kann keine Auskunft geben, sie sei nur vertretungshalber anwesend. Auf Bitte der Sozialarbeiterin führt uns Max, der gerade alleine an einem Turngerät klettert, in einen ruhigen Raum. Er ist ein besonnen und bedacht formulierender Junge, der folgende differenzierte Beschreibung der Situation abgibt: Er wolle, dass die Oma nicht immer schimpfe.
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Der Vater trinke oder schlafe, die Mutter arbeite, und er sei gerne bei der Oma. Dem Vorschlag einer Erziehungsbeistandschaft stimmt Max zu. Wir werfen also auf der Rückfahrt ein entsprechendes Antragsformular in den Briefkasten der Familie. Drei Monate später ist der Stand folgender: Der Vater hat einen „kalten“ Entzug gemacht und eine Stelle als Bauhelfer angenommen, allerdings habe er gerade dieser Tage wieder einen Rückfall gehabt. Im Hilfeplangespräch wurde die Erziehungsbeistandschaft durch eine Sozialpädagogische Familienhilfe ersetzt. Die Mutter und Max sind nicht ausgezogen, die Familie ist kooperativ. Dieser Fallverlauf zeigt, dass trotz schwieriger Ausgangsbedingungen (anonyme Meldung, unangemeldeter Besuch) es zu einer Zusammenarbeit zwischen Familie, Jugendamt und freiem Träger kommen kann. Maßgeblich verantwortlich dafür machen wir den spezifischen Einstieg der Sozialarbeiterin des Jugendamts in diesen Fall: Sie nimmt an den Sorgen der Beteiligten Anteil und bietet Hilfe an. Dabei wird, ungeachtet der rechtlichen Beziehungen, die Familie als eine Einheit und entsprechend die Triade als vorrangig behandelt. Es kommt nicht zu einer der einseitigen Koalitionsbildungen (mit dem Kind, mit Mutter und Kind, mit Großmutter und Sohn), die als Angebote im Raum stehen. Die Möglichkeiten der Kontrolle werden nicht außer Acht gelassen, sondern als Optionen in zweiter Linie mitgedacht und auch kommuniziert. Die Haltung der Sozialarbeiterin ist durchzogen von einem professionellen Habitus, der es ihr ermöglicht, ausgehend vom einzelnen Fall und auf der Grundlage einer angemessenen Beziehungsgestaltung nach spezifischen Indikatoren für Kindeswohlgefährdung zu forschen. Falls ihr dafür Checklisten aus Screening-Verfahren zur Verfügung stehen, so arbeitet sie diese nicht schematisch ab, sondern zieht sie fallspezifisch heran. Als wenig motiviert erscheint zunächst das Angebot einer sozialpädagogischen Familienhilfe oder einer Erziehungsbeistandschaft, denn es bleibt zunächst unklar, auf welchen spezifischen Hilfebedarf diese Angebote passen sollen. Es könnte allerdings um die Symbolik dieser Handlung gehen: Wenn die Eltern (oder ein Elternteil, z. B. die Mutter) den Antrag ausfüllen und dem Amt zurückgeben, kann daraus auf die Kooperationsbereitschaft der Eltern geschlossen werden.
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Professionelles Handeln statt Prävention? Oder eine andere Prävention? Butler County13 liegt nördlich von Cincinnati im US-Bundesstaat Ohio, zählt ca. 350.000 Einwohner und ist durch den Niedergang der Automobilindustrie in den USA ökonomisch schwer gezeichnet. Jene armen Bevölkerungsgruppen, die aus den spanisch sprechenden Ländern Mittel- und Südamerikas und aus den Bergregionen der Appalachen in dieses County gezogen sind, müssen sich nach einer Phase wirtschaftlichen Wohlstands nun erneut mit Armut auseinandersetzen. Entsprechend steigen die Risiken für das Wohlergehen der Kinder in diesem County. Eine Mitarbeiterin der Butler County Child Services, die die Abteilung leitet, die Kindeswohlgefährdungsmeldungen entgegennimmt und ihnen nachgeht, sagt sinngemäß: Wir haben keine Maßnahmen zur Prävention. Wir warten, bis die Krise da ist.14 Explizit oder implizit liegt dem eine Vorstellung zugrunde, der zufolge Wandel im Zusammenhang mit Krisen zu sehen ist (Hildenbrand 2007). Eine solche Haltung setzt voraus, dass ein Grundvertrauen in die Autonomie der Familien und der Verwandtschaftssysteme vorhanden ist, die es ermöglicht, Kindern einen angemessenen Rahmen des Aufwachsens zu bieten.15 Allerdings geht in Butler County wie in allen anderen Counties der USA16 mit dieser Autonomiezuschreibung ein rigides Kontrollsystem einher, welches in einem mandatory reporting (Berichtspflicht) besteht. Vom Hundefänger bis zum Kinderarzt sind alle Personen, die aufgrund ihres Berufes mehr oder weniger mit Kindern in Berührung kommen, verpflichtet, vermutete oder bestehende Kindeswohlgefährdungen bei den Butler County Child Services zu melden. Grundvertrauen in die Familien und Kontrolle gehen somit Hand in Hand. In Deutschland legen die verschärften Bemühungen um Prävention nicht nur ein Grundmisstrauen gegenüber den Familien offen, damit einher geht auch eine Ausweitung der Berichts-
13 Die Kinder- und Jugendhilfe in Butler County entspricht üblichen Standards in den USA. Wir stützen uns auf Informationen, die wir im Rahmen des Aufenthaltes von Prof. Dr. Charles B. Hennon, Miami University, Oxford/Ohio am Sonderforschungsbereich 580, Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch an den Universitäten Halle-Wittenberg und Jena, Projekt C 3, Individuelle Ressourcen und professionelle Unterstützung bei der Bewältigung von Systemumbrüchen in kontrastierenden ländlichen Milieus in Ost- und Westdeutschland im August 2009 erhalten haben. Für weitere Informationen vgl. www.bccsb.org 14 Mdl. Mitteilung von C. B. Hennon. 15 Ausdruck dieser Haltung ist z. B. eine 21-seitige Broschüre mit dem Titel „Kinder schützen, Familien respektieren – Ein Führer für Eltern und andere Sorgeberechtigte von Kindern, die ihre Rechte während einer Untersuchung von Kindesmissbrauch oder Kindesvernachlässigung betreffen“ (Protecting children, respecting families – A guide for parents and other children’s caregivers regarding their rights during an investigation of child abuse or neglect). 16 Es handelt sich um ein Bundesgesetz.
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pflicht. Der US-amerikanischen Formel Grundvertrauen und Kontrolle steht in Deutschland gegenüber: Grundmisstrauen und Kontrolle. Interessant ist der Vergleich der Anzahl der Kindeswohlgefährdungen in Butler County mit entsprechenden Verwaltungseinheiten in Deutschland. Wo Eltern ständig unter Überwachung stehen, müssten die Zahlen gemeldeter Kindeswohlgefährdungen höher liegen als in Gegenden, in denen die flächendeckende Überwachung erst anläuft. Das Gegenteil ist jedoch der Fall: In Butler County werden nur halb so viele Fälle von Hilfen für Erziehung gezählt wie im Landkreis Heidenheim, Baden-Württemberg, und nur ein Viertel der Fälle auf der Insel Rügen.17 Schluss In diesem Beitrag haben wir die sozialisatorische Triade als eine Rahmenbedingung für die ersten Jahre des Aufwachsens herausgestellt, und wir haben gezeigt, dass Abwesenheiten in der Triade nicht automatisch ein problematisches Aufwachsen nach sich ziehen, sondern zur besonderen Gestaltung der sozialisatorischen Beziehungen herausfordern. Des Weiteren haben wir darauf verwiesen, dass es einer Haltung der Anerkennung seitens der mit der Kinder- und Jugendhilfe befassten Professionen entspricht, wenn die Autonomie von Familien in ihren strukturellen Grundlagen respektiert, auf flächendeckende ScreeningVerfahren verzichtet und die professionelle Kompetenz der an der Sicherung des Kindeswohls schon immer beteiligten Berufsgruppen gestärkt wird. Wenn diese Grundsätze in der Kinder- und Jugendhilfe ernst genommen werden, wird es den Professionellen gelingen, auch gegen öffentlichen Druck im Zusammenhang mit Fällen wie denen aus Bremen, Schwerin und anderen Orten das zu tun, was den Kindern und ihren Familien hilft. Das heißt nicht, dass Formulierungen von Richtlinien für den Umgang mit Kindeswohlgefährdung unerheblich sind. Richtlinien sind in dem Maße handlungsentlastend, wie sie als Techniken in den professionellen Habitus integriert werden (Welter-Enderlin/Hildenbrand 2004). Sie ersetzen nicht den professionellen Blick, sondern unterstützen ihn.
17 Wir rechnen nicht pro Gesamtzahl der Kinder unter 18 Jahren, sondern mangels geeigneter Zahlen pro Gesamtbevölkerung. Weil der Anteil von Kindern und Jugendlichen an der Gesamtbevölkerung gerade in Regionen mit hohem Anteil an Hispanos deutlich höher ist als in Deutschland, zumal in Mecklenburg-Vorpommern, dürfte sich die Kluft zwischen Butler County und den beiden deutschen Landkreisen noch vergrößern, würden wir die Gesamtzahl der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren zugrunde legen. Vgl. Bohler/Funchal/Hildenbrand 2007.
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Dazu kommt der Ausbau von Einrichtungen der Gemeinwesenarbeit, die nicht nur auf eine lange Tradition in diesem Land zurückblicken können, sondern durch ihre bloße Existenz präventiv wirken. Begegnungsangebote im Stadtteil für junge Familien sowie Bildungs- und Freizeitangebote sind als Beispiele zu nennen.18 Wer sie in Anspruch nimmt, ist nicht etikettiert als potentieller Kindeswohlgefährder, sondern als Bürger eines Gemeinwesens. Literatur Asen, Eia (2009): Multifamilientherapie. In: Familiendynamik, Jg. 34, H. 3, S. 228-235 Berger, Peter/Kellner, Hansfried (1965): Die Ehe und die Konstruktion der Wirklichkeit. In: Soziale Welt, Jg. 16, S. 200-235 Bertram, Hans (2000): Die verborgenen familiären Beziehungen in Deutschland. Die multilokale Mehrgenerationenfamilie. In: Kohli, Martin/Szydlik, Marc (Hrsg.): Generationen in Familie und Gesellschaft. Opladen, S. 97-121 Blankenburg, Wolfgang (1980): Ein Beitrag zum Normproblem. In: Bräutigam, W. (Hrsg.): Medizinisch-psychologische Anthropologie. Darmstadt, S. 273-289 Blankenburg, Wolfgang (1985): Autonomie- und Heteronomiekonzepte in ihrer Bedeutung für die psychiatrische Praxis. In: Janzarik, W. (Hrsg.): Psychopathologie und Praxis. Stuttgart, S. 29-46 Blankenburg, Wolfgang (1997): „Zumuten“ und „Zumutbarkeit“ als Kategorien psychiatrischer Praxis. In: Krisor, Matthias/Pfannkuch, Harald (Hrsg.): Was du nicht willst, was man dir tut – Gemeindepsychiatrie unter ethischen Aspekten. Regensburg, S. 21-48 Bohler, Karl Friedrich/Funcke Dorett/Hildenbrand, Bruno (2007): Regionen, Akteure, Ereignisse. Die Entwicklung der Erziehungshilfen nach der Einführung des Kinderund Jugendhilfegesetzes 1990/91. SFB 580 Mitteilungen 23 Bronfenbrenner, Urie (1981): Die Ökologie der menschlichen Entwicklung. Stuttgart Buchholz, Michael (1993): Dreiecksgeschichten – Eine klinische Theorie psychoanalytischer Familientherapie. Göttingen Burkart, Günter (1993): Individualisierung und Elternschaft – Das Beispiel USA. In: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 22,H. 3, S. 159-177 Cierpka, Manfred (2009): „Keiner fällt durchs Netz“. Wie hoch belastete Familien unterstützt werden können. In: Familiendynamik, Jg. 34 H. 2, S. 156-167 Eickhorst, Andreas/Cierpka, Manfred (2010): Kommentar zum Kommentar von Bruno Hildenbrand. Familiendynamik, Jg. 35 H. 2, S. 187-189 Fivaz-Depeursinge, Elisabeth/Corboz-Warnery, Antoinette (2001): Das primäre Dreieck. Heidelberg Funcke, Dorett/Hildenbrand, Bruno (2009): Unkonventionelle Familien in Beratung und Therapie. Heidelberg
18 Vgl. etwa das Projekt „Mo-Ki – Monheim für Kinder“.
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Günstige Rahmenbedingungen für die ersten Jahre des Aufwachsens
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Verwirklichungschancen von Anfang an: Frühe Förderung als Beitrag zur Befähigungsgerechtigkeit Heiner Keupp
Im Titel des vorliegenden Beitrags tauchen drei Begriffe auf, die im 13. Kinderund Jugendbericht (Deutscher Bundestag 2009) einen zentralen Stellenwert haben: „Verwirklichungschancen“, „frühe Förderung“ und „Befähigungsgerechtigkeit“. Da im gegebenen Rahmen eines Aufsatzes dieser Bericht nicht noch einmal insgesamt vorgestellt werden kann, beziehe ich mich einleitend auf einige der 12 Leitlinien, in denen diese Konzepte als Teil der Basisphilosophie der Kommission programmatisch zusammengefasst wurden. Erste Leitlinie: Stärkung der Lebenssouveränität „Gesundheitsbezogene Prävention und Gesundheitsförderung von Kindern und Jugendlichen zielen auf eine Stärkung der Lebenssouveränität von Heranwachsenden durch die Verminderung bzw. den gekonnten Umgang mit Risiken und eine Förderung von Verwirklichungschancen, Entwicklungs- und Widerstandsressourcen“ (ebd., S. 250).
Aktivitäten zur Verbesserung der gesundheitlichen Situation können in zwei grundsätzlichen Pfaden entfaltet werden, die aber nicht in Konkurrenz zueinander stehen, sondern beide notwendig sind. Der eine geht von bekannten Risiken aus und versucht, sie zu reduzieren bzw. einen achtsamen Umgang mit diesen Risiken bei gefährdeten Bevölkerungsgruppen zu fördern – das ist der pathogenetische Pfad, der wirksamen Präventionsstrategien zugrunde liegt. Beispiele für diesen sind etwa: Wenn wir wissen, dass Adipositas bei Kindern zu einem erhöhten Diabetesrisiko im Erwachsenenalter führt, dann liefert dieses Wissen einen klaren Hinweis auf Präventionsaktivitäten; ähnliches gilt für die übermäßige Verschreibung von psychotropen Medikamenten bei Kindern, die die Gefahr der Drogenabhängigkeit im Erwachsenenalter erhöht. Der zweite Pfad folgt dem Modell der Salutogenese und fragt nach den positiven Entwicklungs- und Wider-
G. Robert et al., (Hrsg.), Aufwachsen in Dialog und sozialer Verantwortung, DOI 10.1007/978-3-531-92693-3_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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standsressourcen, die für ein gesundes und selbstbestimmtes Leben erforderlich sind. Hieran knüpft auch das Capability-Konzept an. In Deutschland wird von den „Verwirklichungschancen“ gesprochen – ein Ansatz, der nicht nur eine hervorragende Grundlage für ein transdisziplinäres Verständnis von gelingendem Leben und Gesundheit darstellt, sondern auch für eine intersektorale Politik. Auch die Armuts- und Reichtumsberichterstattung der Bundesregierung baut auf diesem Konzept auf. Die Frage lautet dann, wie es mit den durchschnittlich vorhandenen Verwirklichungschancen Heranwachsender in Deutschland aussieht. Vierte Leitlinie: Förderung positiver Entwicklungsbedingungen „Kinder und Jugendliche wachsen in ihrer großen Mehrheit gesund, selbstbewusst und kompetent auf. Sie dürfen nicht unter einer generalisierten Risikoperspektive gesehen werden; notwendig sind vielmehr der Blick auf die positiven Entwicklungsbedingungen der nachwachsenden Generationen und Antworten auf die Frage, wie solche Bedingungen für alle Kinder und Jugendlichen gefördert werden können bzw. welcher unterstützender Strukturen und gesellschaftlicher Investitionen es bedarf. Im Wissen, dass sich ein gesundes Leben und Aufwachsen nicht einfach ‚naturwüchsig‘ entwickelt, ist es ratsam, dass im Sinne von ‚good governance‘ die schon geleisteten gesellschaftlichen Anstrengungen verdeutlicht und bestehende Errungenschaften gepflegt und ggf. ausgebaut werden“ (ebd.).
Der 13. Kinder- und Jugendbericht und auch das in diesem Jahr vorgelegte Gutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklungen im Gesundheitswesen zeigen auf der Grundlage gesicherter empirischer Befunde, dass die gesundheitliche Lage von etwa 80 % der Heranwachsenden kein Anlass für eine allgemeine Katastrophendiagnose liefert. Das muss angesichts der öffentlichen „Lufthoheit“ von Notstandsverkündern wie dem Kinderpsychiater Michael Winterhoff (2008) deutlich betont werden. Für diesen sind die meisten Kinder in Deutschland gestört, etwa in ihren körperlichen Fähigkeiten, ihrer sprachlichen Entwicklung oder ihrem Sozialverhalten: Sie würden sich kaum noch bewegen und ihr schulisches Leistungsniveau sinke. Als Verursacher der Defekte macht Winterhoff Lehrer und Erzieher, aber vor allem die Eltern aus: Weil sie Konflikte scheuten und keine Grenzen mehr setzten, würden sie verhindern, dass die Kinder altersgerecht heranreifen. Bei 70 % der Kinder entdeckt der Autor gar pathologische Züge. Wenn diese Kinder – Winterhoff nennt sie „Monster“ – erwachsen würden, würden sie „die Existenz unserer friedlich zusammenlebenden Gesellschaft“ bedrohen. Es reicht aber nicht, diese Fehldeutungen zu dekonstruieren, sondern es bedarf einerseits der gezielten Weiterentwicklung einer gesellschaftlichen Infrastruktur, in der Kinder die Chance haben, die Kompeten-
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zen zu erwerben, die für eine selbstbestimmte souveräne Lebensführung in einer Gesellschaft dynamischer Veränderungen erforderlich sind. Andererseits ist danach zu fragen, wie die Lebenssituation derjenigen Kinder, Jugendlichen und Familien gesundheitsförderlich zu beeinflussen ist, deren Gesundheitsstatus deutlich gefährdet ist. Professionen der psychosozialen Arbeit sind mit ihrem Arbeitsauftrag in aller Regel auf Personengruppen fokussiert, die Probleme haben, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen – das liefert uns nicht nur eine Existenzberechtigung, sondern auch genügend Arbeit. Dabei sollten wir es aber tunlichst vermeiden, die fachliche Orchestrierung der angesprochenen Untergangsgesänge zu übernehmen. Es gibt gute Gründe, genau hinzuschauen und zu differenzieren. Martin Spiewak (2008) hat kürzlich in einem lesenswerten Beitrag in der Wochenzeitung DIE ZEIT vor einer Panikmache in Bezug auf die heranwachsende Generation gewarnt. Er kommt auf der Grundlage belastbarer Daten zu folgenden Aussagen:
Kinder von heute leben gesünder (Quelle: KIGGS-Daten) Kinder sind schlauer als früher Kinder leben heute sicherer die Kleinfamilie ist nicht tot zu reden Eltern erziehen – aber anders die Renaissance der Jugend-Tugend
Spiewak kommt zu der Schlussfolgerung: „Zu keiner anderen Zeit ging es der Mehrzahl der Kinder in diesem Land so gut wie heute, widmeten sich Eltern so intensiv ihrem Nachwuchs, lebten die Generationen so harmonisch zusammen wie im Jahr 2008. Vergleicht man die Lebensumstände von Familien mit denen von vor zwanzig oder fünfzig Jahren, so hat sich enorm viel verbessert“. Das mag man als einen Teil der Wahrheit ansehen, doch den anderen Teil vermag der Autor durchaus auch zu sehen und zu benennen: „Eine Gruppe profitiert kaum von den Fortschritten bei Bildung und Gesundheit, dem Zugewinn an Sicherheit und Lebenschancen – die Kinder am unteren Rand der Gesellschaft, die Familien, in denen sich Armut, Arbeitslosigkeit und Vernachlässigung ballen. Dort gibt es tatsächlich Neuntklässler, die laut Pisa-Test gerade einmal auf Grundschulniveau Lesen und rechnen können; Jugendliche, die morgens nicht aus dem Bett zur Schule kommen, weil der arbeitslose Vater bis mittags schläft; Migrantenkinder, deren Eltern versuchen, ihre bröckelnde Autorität mit Schlägen wiederherzustellen. Ein Viertel bis ein Fünftel aller Kinder gehört zu dieser Risikogruppe, bei denen die herkömmlichen Instrumente von Schule und Sozialarbeit immer häufiger versagen.“
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Eine Gerechtigkeitsperspektive erfordert spezielle Aufmerksamkeit und Handlungsbereitschaft, um der Tatsache Rechnung zu tragen, „dass ein Fünftel eines jeden Geburtsjahrgangs – das sind 140.000 Kinder pro Jahr – mit erheblichen, vor allem psychosozialen Belastungen und gravierenden Defiziten an materiellen und sozialen Ressourcen aufwächst“ (Sachverständigenrat (SVR) 2009, S. 37). In Übereinstimmung mit der Positionierung der WHO, dem Weißbuch zur psychischen Gesundheit der EU und der von Richard Wilkinson und Michael Marmot im Auftrag der WHO zusammengestellten „solid facts“ wird in dieser Formulierung des Gutachtens ein seit Jahren immer wieder benanntes Phänomen benannt, ein „nahezu monotoner Befund“ (ebd., S. 139). Hiermit ist die zentrale Herausforderung der Gesundheitsversorgung benannt. Auch der 13. Kinder- und Jugendbericht sieht hier die erste Priorität und hat sie auch durch die Formulierung mehrerer seiner Leitlinien in ihrer Komplexität zu umreißen versucht: Fünfte Leitlinie: Befähigungsgerechtigkeit „Es gibt gesellschaftliche Segmente, in denen ein gesundes Aufwachsen bedroht ist, weil in ihnen die erforderlichen Entwicklungs- und Widerstandsressourcen nicht vorhanden sind bzw. an Heranwachsende weitergegeben werden können. Hier ist vor allem die wachsende Armut zu nennen, die in überproportionaler Weise Kinder und Jugendliche betrifft. Die Orientierung am Ziel der Befähigungsgerechtigkeit verpflichtet zu Fördermaßnahmen, die allen Heranwachsenden die Chance zum Erwerb der Entwicklungsressourcen geben, die zu einer selbstbestimmten Lebenspraxis erforderlich sind. Dabei gilt es, aktiv an den vorhandenen Ressourcen gerade sozial benachteiligter Heranwachsender anzuknüpfen, statt diese implizit und explizit zu entwerten“ (Deutscher Bundestag 2009, S. 250).
Sechste Leitlinie: Bildungsgerechtigkeit „Alle verfügbaren Daten belegen einen engen Zusammenhang nicht nur zwischen Einkommensarmut, sondern auch zwischen dem Bildungsgrad von Eltern und ihren Kindern und dem Grad an objektiver und subjektiver Gesundheit. Es gilt daher, allen Kindern und Jugendlichen möglichst früh formelle und informelle Bildungsmöglichkeiten zu eröffnen, um damit sozialer Ungleichheit entgegenzuwirken und gesundheitliche Ressourcen zu stärken“ (ebd.).
Die Gerechtigkeitsperspektive berührt jedoch nicht nur die politische Prioritätensetzung, sondern ist auch durch eine Rechtsposition gefordert:
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Siebte Leitlinie: Inklusion „Im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention § 24 haben alle Kinder, unabhängig von ihrem Rechtsstatus, ein Recht ‚auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit sowie auf Inanspruchnahme von Einrichtungen zur Behandlung von Krankheiten und zur Wiederherstellung der Gesundheit‘. Insofern sind alle Maßnahmen an einer Inklusionsperspektive auszurichten, die keine Aussonderung akzeptiert. Inklusionsnotwendigkeiten bestehen vor allem für Kinder, die in Armut aufwachsen, für Heranwachsende mit Migrationshintergrund und das Aufwachsen mit behinderungsbedingten Handlungseinschränkungen. Sprach-, Status- und Segregationsbarrieren sind abzubauen und die Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung sind in allen Planungs- und Entscheidungsprozessen zu berücksichtigen (disability mainstreaming)“ (ebd..).
Bedeutsam für eine solche Förderperspektive ist, dass die gesundheitlichen Risiken und Kompetenzen in einer Lebensverlaufsperspektive analysiert werden und phasenspezifische gesundheitsrelevante Entwicklungsthemen benannt werden. Darauf bezieht sich auch eine weitere Leitlinie: Neunte Leitlinie: Lebensverlaufsperspektive „Gesundheitsförderung, die sich an einer Lebensverlaufsperspektive ausrichtet, wird der Förderung altersspezifischer Entwicklungsressourcen in den frühen Lebensphasen besondere Priorität einräumen, um möglichst gute Bedingungen für die weitere Entwicklung zu schaffen. Sie darf trotzdem die späteren Lebensphasen nicht vernachlässigen. Gerade das Schul- und Jugendalter zeigt einen besonderen Förder- und Unterstützungsbedarf im Sinne der Erhöhung von Verwirklichungschancen, um die anstehenden gesundheitsrelevanten Entwicklungsthemen für sich selbst und bezogen auf die gesellschaftlichen Anforderungen befriedigend bewältigen zu können“ (ebd.., S. 251).
Aufgrund spektakulärer Fälle von Kindesvernachlässigung mit Todesfolge hat Deutschland eine große politische Aufmerksamkeit für das Thema Kinderschutz entwickelt. Der öffentliche Eindruck, dass wir eine zunehmende Zahl von Fällen des Missbrauchs und der Vernachlässigung von Kindern hätten, ist empirisch nicht gesichert. Gleichwohl aber könnte die gewachsene Aufmerksamkeit für die Bedeutung der frühen Kindheit und der in ihr liegenden Risiken und Gefährdungsschwellen, die sich auch in der Gründung des „Nationalen Zentrums für Frühe Hilfen“ manifestiert, zu einer Stärkung der Angebote zur frühen Förderung beitragen. Gleichzeitig ist es aber zu einer Überbetonung des Kinderschutzauftrages gekommen, die dem systematischen Ausbau der frühen Förderung und
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angemessener Hilfesysteme die Aufmerksamkeit auch entziehen könnte. Hier ist dringend eine Gesamtstrategie erforderlich, um die frühe Förderung als umfassendes Unterstützungsangebot für Eltern von der Schwangerschaft über die Geburt bis zu den ersten Lebensmonaten/-jahren zu organisieren. Frühe Förderung: Unterschiedliche Zugänge Politische Differenzen zeigen sich oft in scheinbar minimalen Begriffsdifferenzen. Dazu soll zunächst ein kurzer Einblick in die Kommissionsarbeit dienen. Wir waren schon relativ weit in unseren Aktivitäten und es ging um die Vorbereitung der zentralen Empfehlungen. Bei der Frage, wie für uns die Überschrift zu Maßnahmen der Gesundheitsförderung in der Phase von 0 bis 3 Jahren lauten sollte, haben wir uns für die denkbar weiteste Form entschieden und den Begriff „frühe Förderung“ gewählt. Der Protest der anwesenden Repräsentantin des BMFSFJ kam sofort und war sehr heftig, denn die Bundesregierung hatte sich mit der Gründung des Nationalen Zentrums für Frühe Hilfen, der Verschärfung des § 8a im SGB VIII und dem geplanten Kinderschutzgesetz festgelegt: Frühe Hilfen und Kinderschutz sollten die absolute Priorität erhalten. Nun ist eine solche Kommission autonom und keiner ministeriellen Weisung unterworfen. Deshalb hat der Bericht sich eindeutig für eine Förderperspektive entschieden, ohne sich deshalb von der Notwendigkeit des Kinderschutzes zu verabschieden. In den letzten Jahren hat sich in der Öffentlichkeit ein erkennbarer Wandel vollzogen: Es wird über Kinder und über neue Formen der Kinderbetreuung gesprochen. Bislang hatte man den Eindruck, dass weder die geringe Geburtenrate in Deutschland noch die Lebenssituation der Kinder Themen mit politischer Priorität wären. Der ehemalige Kanzler Gerhard Schröder hatte vor den Adoptionen, zu denen sich seine Frau und er entschlossen hatten, Familienpolitik als „Gedöns“ bezeichnet. Die heißen ideologischen Debatten um den Wert der Familie haben zu einer gezielten Förderung von Kindern und ihren Familien nicht gerade beigetragen. Vielleicht funktioniert unsere Gesellschaft nicht anders: Es müssen wohl erst dramatische Dinge, wie etwa mit dem kleinen Kevin in Bremen, geschehen und in den Medien ausagiert werden, damit politischer Handlungsdruck entsteht. Erst dann und „auf einmal“ ist das „Kindeswohl“ in aller Munde. Nach meiner Einschätzung gibt es drei prinzipiell unterschiedliche Zugänge zur frühen Förderung, die sich durchaus auch überschneiden können:
Kindeswohl als staatliche Kontrollaufgabe Kindeswohl durch Risikoprävention Gesundheitsförderung als Ressourcenförderung
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Zu 1: Kindeswohl als staatliche Kontrollaufgabe Jeder Fall, in dem ein Kind misshandelt oder vernachlässigt wurde oder gar zu Tode kommt, berührt uns. Geradezu zwangsläufig stellt sich die Frage, ob eine solche Entwicklung nicht hätte verhindert werden können: Hätte man nicht eingreifen müssen und ist es nicht letztlich Aufgabe eines modernen Rechts- und Sozialstaates, die Würde und Unversehrtheit menschlichen Lebens zu sichern? Gegenwärtig konzentrieren sich der öffentliche und politische Diskurs und auch ein Teil des fachlichen Diskurses auf die Optimierung der staatlichen Eingriffsmöglichkeiten. Zwei Treffen der Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidenten haben dazu stattgefunden (am 17.12.2007 und am 12.06.2008). Am 13. Juni 2008 erklärte Frau Merkel vor der Presse dann: „Durch Verschärfung des § 8a im SGB VIII werden auch Schritte zur Konkretisierung der Pflichten des Jugendamtes eingeleitet. Hier sind auch sehr viele Gespräche geführt worden, damit besser sichergestellt wird, dass das Jugendamt das Kind und die Eltern sowie die persönliche Umgebung des Kindes besser in Augenschein nehmen kann“. Was dieser Beschluss im Einzelnen bedeutet, wird erst der entsprechenden Gesetzesnovellierung zu entnehmen sein – die Diskurse aber laufen weiter: Von Pflichtuntersuchungen mit Sanktionsdrohungen bei Nichtwahrnehmung über Frühwarnsysteme bis hin zu effektiveren Kooperationsformen der Jugendhilfe wird ein breites Maßnahmenbündel diskutiert. Es werden Pläne entwickelt, die kommunalen Ressourcen für Jugendhilfemaßnahmen schwerpunktmäßig zur Optimierung des Kontrollsystems zu nutzen und dafür an anderer Stelle Investitionen zu reduzieren. Diese Schwerpunktsetzung passt zu einer allgemeinen Umgestaltung des staatlichen Handelns, das sich immer mehr von Sicherheitsprinzipien leiten lässt und zunehmend von einer Weltsicht bestimmt ist, die überall Bedrohungen sieht. Zu 2: Kindeswohl durch Risikoprävention Neben dieser Perspektive einer eher repressiven Kontrolle von Familien, die man hier als potenzielle Entstehungsherde für Devianz versteht, gibt es Programme, die aus der Kenntnis spezifischer Entwicklungsrisiken vor allem in der frühen Kindheit gezielte Präventionsstrategien ableiten. Zu erwähnen sind etwa „Opstapje – Schritt für Schritt“ zur Verbesserung der Erziehungskompetenz oder „HIPPY“, ein Verein, welcher ein Programm zur Sprachförderung entwickelt hat. Das Projekt MAJA qualifiziert Hebammen für familienpädagogische Aufgaben und auch das Modellprojekt „Guter Start ins Kinderleben“ ist in diesem Zusammenhang zu nennen. In einer Presseerklärung zu diesem letztgenannten
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Bundesprojekt wird als Ziel genannt: „Kinder retten, bevor es zu spät ist. Deshalb sollen Familien von der Geburt des Babys an besser betreut werden. Damit es erst gar nicht zu Misshandlungen kommt – und Kevin aus Bremen ein Einzelfall bleibt“. Am konsequentesten ist der Ansatz der Stadt Dormagen: Dort ist jedes neu geborene Kind Anlass für den Besuch einer Sozialarbeiterin. Es geht hier um ein niedrigschwelliges Angebot, das möglichst nahe an der Lebenswelt der Familien angesiedelt ist. Zu 3: Gesundheitsförderung als Ressourcenförderung Die Ressourcenförderung von Kindern und Familien im Sinne der Salutogenese rückt hingegen Alternativen ins Zentrum, indem sie danach fragt, welche Rechte von Kindern auf Gesundheit, Bildung, materielle Grundsicherung, soziale Einbindung und ökologisch notwendige Lebensbedingungen gesichert werden müssen: Die UNO-Kinderrechte sollen verbindlich und nicht nur als Absichtserklärung ernst genommen werden. Bildungsarmut und mangelnde Gesundheit sind in hohem Maße an prekäre Lebensbedingungen geknüpft, die sich unter den Voraussetzungen einer neoliberal geprägten Politik ständig verschärfen. Erforderlich ist stattdessen eine Förderung von Kindern und ihrer Familien im Sinne materieller Grundsicherung für alle Kinder und umfassender früher psychosozialer Förderung entsprechend den Empowermentprinzipien und den sich bewährenden Strategien von Kindertageszentren, Early-Excellence-Projekten und MehrGenerationenhäusern, die neben der gezielten Förderung kindlicher Ressourcen auch zivilgesellschaftliche Prozesse in den Stadtvierteln und Regionen entwickeln, welche in einer individualisierten Gesellschaft nicht mehr problemlos gegeben sind. Gegen eine Reduktion früher Hilfen auf Kontrolle Die gegenwärtig dominierenden Diskurse zu frühen Hilfen und die Praxis früher Hilfen werfen mindestens so viele Probleme auf, wie sie zu lösen vorgeben. Wir können aktuell beobachten, dass durchaus legitime Überlegungen und Strategien zur Optimierung des Kinderschutzes, die sich von den Horrorbildern extremer Formen von Kindesvernachlässigung mit Todesfolgen leiten lassen, das Aufgabenfeld früher Hilfen perspektivisch gefährlich einengen. Die Konzepte bekommen eine defensive Logik: Es soll etwas verhindert werden und es sollen alle Möglichkeiten gebündelt werden, um dies zu erreichen. Die Abwehr von Terroranschlägen ist dafür ein Beispiel: Kein Mensch würde widersprechen, dass nach
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den Erfahrungen des 11. September 2001 und späterer Anschläge alle Maßnahmen zu prüfen waren, die sich zu einer Verringerung der Gefahren eigneten. Entstanden ist aber teilweise ein sicherheitspolitischer Tunnelblick mit einer unvorstellbaren Steigerungslogik: Heute werden Vorgehensweisen zur Debatte gestellt und zunehmend auch umgesetzt, die immer mehr Privatheits- und Freiheitsrechte auf dem Altar der Sicherheit opfern. Die Option Sicherheit wird aus einem tiefliegenden Angstpotenzial gespeist. Die gesellschaftlichen Strukturveränderungen, deren Folgen Ulrich Beck frühzeitig als „Risikogesellschaft“ beschrieben hat, haben uns Orientierungsverluste, Deregulierungen und viele Zukunftsängste beschert, die offensichtlich nicht nur vorübergehend aufkommen, bis wir wieder stabile gesellschaftliche Verhältnisse geschaffen haben – sie scheinen vielmehr zu einem Dauerzustand zu werden: Fast zwei Drittel der Bundesbürger haben das Gefühl, die gesellschaftlichen Entwicklungen nicht mehr zu begreifen oder gar beeinflussen zu können. Auf diese Weise wird aus der Risikogesellschaft eine „Sicherheitsgesellschaft“ (Singelnstein/Stolle 2008), die von einem neuen Typus sozialer Kontrolle bestimmt ist. Sie vertraut immer weniger sozialintegrativen Wohlfahrtsstrategien und legt ein Netz ständig erweiterter Überwachungs- und Monitoring-Technologien über unsere Gesellschaft. Jetzt sind es nicht nur Bundestrojaner, die uns drohen, sondern seit kurzem tatsächlich auch miniaturisierte Monitore. In einer Welt der Bilder wollen Sicherheitskräfte über laufende Bilder verfügen und so kommt es wohl zu einem Sicherheitsvoyeurismus. Auch dies gehört zu unserem Thema, denn auch in den Diskursen zu den frühen Hilfen zeigt sich die Logik der Sicherheitsgesellschaft, die den Blick auf das gesamte Feld notwendiger Ansatzpunkte für frühe Hilfen verstellen kann und deren fragwürdige Konsequenzen kaum thematisiert. Einige von ihnen sollen daher noch einmal benannt und zugespitzt werden: Alle Diagnose- und Interventionssysteme, die nicht durch das Hilfesuchverhalten betroffener Personen in Aktion treten, aber auch diese, gehen von „Normalitätsunterstellungen“ aus. Diese bleiben in den gegenwärtigen Diskursen weitgehend ungenannt, aber sie existieren und müssen auf ihre Implikationen hin befragt werden: Gehen sie von einer Pluralität möglicher Normalitäten in einer postmodernen Gesellschaft aus oder von der Figur des leistungswilligen und zuverlässigen Subjekts? Werden kulturelle Differenzen berücksichtigt? Wird auch die Resilienzforschung beachtet, die uns ja erstaunliche Biografien trotz teilweise dramatischer Lebensbedingungen aufgezeigt hat? Risikokonstellationen müssen diagnostiziert werden und wenn die Risiken – dem Anspruch nach – vollständig erfasst werden sollen, bedarf es eines lückenlosen Screenings. Hier kann auch das Prinzip der Freiwilligkeit nicht mehr gelten, denn dieses allein würde ja schon eine „Zone des Verdachts“ erzeugen: Wer sein Kind dem Screening vorenthält, hat sicher etwas zu verbergen. Aber auch
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wenn schließlich „Risikopopulationen“ definiert sind, ist die „Situation des Verdachts“ weiterhin gegeben. Aus der Psychologie wissen wir, dass Diagnostik und Intervention eng miteinander verzahnt sein müssen, ja eigentlich überhaupt nicht voneinander zu trennen sind. Wie aber sollen flächendeckende Interventionen aussehen, wenn nur eine Verdachtsdiagnostik vorliegt und kein Hilfeersuchen der betreffenden Personen oder Familien? – Wird das ein von der GSG 9 begleiteter Besuch werden? Eine Verdachtsdiagnostik birgt die Gefahr des „Labeling“ – mit Effekten auf der professionellen wie auch auf der Betroffenenseite: Einer Familie mit der Annahme zu begegnen, dass sie ein „Risiko“ darstelle, erzeugt eine spezifische professionelle Grundhaltung. Hier sind subtile Etikettierungsprozesse zu befürchten und auch die Betroffenen werden etwas von dieser Grundhaltung spüren. Ein solcher „labeling“-Effekt tritt natürlich auch dann ein, wenn auf eine begründete Verdachtsdiagnostik gar kein wirkliches Hilfsangebot folgt. Eine besondere Konsequenz der Selektion von „Problemfällen“ ist das, was im Englischen als „blaming the victim“ bezeichnet wird: Ein individualisierendes und pathologisierendes Wahrnehmungsraster birgt die Gefahr, dass eine komplexe gesellschaftliche Problemsituation – vor allem eine von Armut und mangelnder gesellschaftlicher Teilhabe geprägte – den Individuen selbst zur Last gelegt wird. Das fragwürdige Verhalten selbst erscheint dann als die Ursache der Probleme. Eine höchst relevante Fachdiskussion umkreist zurzeit das Thema Exklusion und Inklusion. Vom „abgehängten Prekariat“ spricht die Friedrich-EbertStiftung, von den „Ausgegrenzten der Moderne“ Zygmunt Bauman (Bauman 2005). Wie wir der soziologischen Auslegung des Exklusionsthematik entnehmen können, entsteht hier eine Konstellation auf neuem Niveau, die dadurch ausgezeichnet ist, dass neben der objektiven Prekaritätsdiagnose eine subjektive Seite beleuchtet wird, die von Bude und Lantermann (2006) als „Exklusionsempfinden“ bezeichnet wird. Diese „gefühlte Exklusion“ ist der Nährboden für Demoralisierung und Hoffnungslosigkeit. Ein solches „Exklusionsempfinden“ kann durch das Erfasstwerden von einem „Frühwarnsystem“ durchaus gefördert werden. Schließlich: Die „Sicherheitsgesellschaft“ stellt die defensive Variante des Ordnungstraumes der Moderne dar: Diese hatte und hat den Anspruch, alles Unberechenbare, Uneindeutige, Ambivalente, Fremde und Störende zu beseitigen und eine berechenbare und eindeutige Welt zu schaffen. Auch wenn dieser Traum der Moderne nur noch selten in naiver Emphase vorgetragen wird, gibt es ihn noch und die Sicherheitsgesellschaft lebt davon. Sie will möglichst viele Risiken eliminieren und verstärkt dafür ihre Sicherheitssysteme. Das Gesell-
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schaftsbild des früheren Innenministers (Schäuble) etwa lässt sich durchaus entsprechend einordnen. Auch die Reduktion früher Hilfen auf Frühwarnsysteme gehört in diesen Zusammenhang. Aus diesen Überlegungen wird deutlich, dass frühe Hilfen in Form eines perfektionierten Kontrollsystems nicht angemessen und akzeptabel sind. Elisabeth Helming vom Deutschen Jugendinstitut hat es auf den Punkt gebracht: „Alte Denk- und Handlungsmuster der Fürsorge scheinen in einer einseitigen Konzentration der Diskussion von Prävention in Form von Screening und Risikoeinschätzung auf: das gefährdete Kind, das vorrangig das Kind von armen Leuten und Außenseitergruppen ist, das Kind als Objekt der Sorge, statt es im Zusammenhang zu sehen mit den Müttern vor allem, aber auch den Vätern und deren Möglichkeiten und Lebensbedingungen“ (Helming 2008, S. 2). Frühe Förderung als synergiegestütztes Angebot Zu fordern ist vielmehr eine umfassende Förderung von Verwirklichungschancen, die bei den Lebensbedingungen der Eltern ansetzt und vor allem die frühen Entwicklungsphasen der Kinder beachtet. In diesem Rahmen kann die Erziehungsberatung einen hohen Stellenwert bekommen. Die Landesarbeitsgemeinschaft für Erziehungs-, Jugend- und Familienberatung in Bayern etwa hat hier eine überzeugende Positionierung vorgenommen: Sie sieht in den unterschiedlichen Formen der Elternbildung und in Programmen wie STEEP oder SAFE ein gut nutzbares Handwerkszeug. Auf dieser Basis werden dann wichtige strategische Aufgaben der Erziehungsberatung benannt (LAG-Bayern 2007, S. 3 f.):
„Erziehungsberatungsstellen sind ein wesentlicher Fachdienst der psychosozialen Grundversorgung von Eltern und Kindern. Sie sind flächendeckend in jeder Kommune […] vorhanden und haben ein hohes Expertenwissen“. „Erziehungsberatungsstellen können ihre Angebote in stärkerem Ausmaß als bisher im Bereich der frühen Hilfen ausbauen oder neu entwickeln. […] Neue Aufgaben erfordern aber auch neue Mittel.“ „Dazu ist weiter der kontinuierliche Ausbau des Expertenwissens bezüglich der frühen Hilfen an den Beratungsstellen erforderlich.“ „Erziehungsberatungsstellen haben ihre besseren Möglichkeiten nicht in einer flächendeckenden ‚Screeningaufgabe‘ bei der Erfassung von Risikofamilien, sondern ihr Schwerpunkt liegt im Bereich der frühen Hilfen selbst, also der Familienbildung, der beratend-therapeutischen Begleitung von Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern, aber auch der intensiven Beratung
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Heiner Keupp der Risikofamilien.“ Dazu ist eine „Gehstruktur in Erziehungsberatungsstellen“ erforderlich. „Damit diese Risikofamilien den Weg in die Beratung finden und entsprechend begleitet werden können, ist eine intensive Vernetzung mit Hebammen, Kinderärzten, dem Jugendamt, Tagesmüttern, Kinderkrippen und Kindergärten erforderlich.“
Gerade dieser letzte Punkt ist besonders wichtig: Benötigt werden systematische kommunal-regional ausgelegte Vernetzungen. Das neue Kinderschutzgesetz von Rheinland-Pfalz1 hat hier einen wichtigen Schwerpunkt gesetzt. Es geht hier vor allem um eine verbindliche Integration von Angeboten und Leistungen des Jugendhilfe- und des Gesundheitssystems in verbindlichen lokalen Netzwerken. Diese Vernetzung ist nicht zum Nulltarif zu haben: Das Land fördert ihren Aufbau und ihre Arbeit pauschal mit sieben Euro für jedes Kind im Bezirk des jeweiligen Jugendamtes, das das sechste Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Hier scheint mithin ein Weg beschritten zu werden, der auch von der Kinder- und Jugendberichtskommission deutlich eingefordert werden wird. Kinderschutz braucht also die Entwicklung tragfähiger Netzwerkstrukturen aus der Verknüpfung von Jugendhilfe und Gesundheitssystem, die ein systematisches Unterstützungsangebot für Risikosituationen entwickeln können und zielgenaue Hilfsangebote machen können. Dafür müssen Ressourcen bereitgestellt werden. Die Regie sollte bei den Jugendämtern (oder auch bei Erziehungsberatungsstellen) liegen. Selbstverständlich sind angemessene Finanzen auch erforderlich, um niedergelassene Ärzte für ihre zu investierende Zeit honorieren zu können. Wenn die hier vertretene These plausibel ist, dass sich die aktuelle Suche nach neuen Kooperationsformen zwischen dem Jugendhilfe- und dem Gesundheitssystem neben fachlich sinnvollen Begründungen vor allem einem veränderten Kontrollbewusstsein in unserer Gesellschaft verdankt, dann ist es notwendig, den analytischen Blick auch etwas genauer dorthin zu richten. Das gilt sicherlich nicht nur für die „frühen Hilfen“, aber an diesen lässt es sich im Augenblick am besten sichtbar machen: Den sanften Kontrollen, die die modernen Wohlfahrtsstaaten durch den Ausbau von Strategien der Therapeutisierung und Psychologisierung entwickelten, vertraut der moderne Sicherheitsstaat nicht mehr allein: Parallel wird eine zunehmend gewichtigere zweite Linie aufgebaut, die interventionistisch angelegt ist. Familienhebammen sind ein mögliches Angebot, aber nicht der Königsweg, weil sie in aller Regel keine umfassende Qualifizierung erfahren haben. Am 1 Landesgesetz zum Schutz von Kindeswohl und Kindergesundheit (LKindSchuG) vom 7. März 2008.
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besten geeignet scheinen da Early-Excellence-Projekte, Kindertageszentren (KiTZ), Einrichtungen wie das „Haus für Familien“, Mütter- und Familienzentren bis hin zu Mehr-Generationen-Häusern, die sozialraumbezogen ausgerichtet sind und ein komplexes Angebot machen können. Diese dürfen nicht in einer Kontrollperspektive wahrgenommen werden, sondern als abrufbare Assistenzen oder als Orte, an denen sich Familien treffen und austauschen können und die damit auch Selbstorganisationswünsche der Betroffenen erfüllen. Nach der wissenschaftlichen Begleitung eines KiTZ-Projektes in München-Ramersdorf (Straus et al. 2008), einem problembelasteten Stadtbezirk, sehe ich hier einen besonders innovativen Ansatz: KiTZ-Projekte versuchen, mit einer Ausweitung des Angebots über die reine Kindertagesbetreuung hinaus zu Nachbarschaftszentren bzw. familienorientierten Begegnungszentren (so genannten integrierten Angeboten) zu werden. Daran ansetzend geht es auch um eine stärkere Integration von benachteiligten Bevölkerungsgruppen sowie um die Frage, welchen Stellenwert vorschulische Einrichtungen einnehmen können, um möglichst frühzeitig bestimmten Benachteiligungen oder zumindest deren Chronifizierung entgegenzuwirken. Folgende Schlussfolgerungen lassen sich aus diesem Ansatz ziehen: Unterstützung gegen Kinderarmut: Armut verbaut Chancen, vergrößert gesundheitliche Defizite und ist einer der häufigsten Gründe für psychisches Leid. Für betroffene Familien wären Anlaufstellen hilfreich, die frühzeitig und mit einem breit gefächerten Angebot beraten, stützen und durch die Möglichkeit der gesicherten Betreuung von Kindern oft erst die Voraussetzung für einen Einstieg in die Arbeitswelt schaffen. Im Kampf gegen die Folgen der Kinderarmut haben KiTZe einen wichtigen Platz. Ihre niedrigschwelligen Angebote erlauben auch jenen den Zugang, für die Armut ein tabubeladenes Thema ist. Zentren der frühen Förderung: Armut ist einer von mehreren Gründen, aber beileibe nicht der einzige, warum das Thema der frühen Förderung eine solche Brisanz gewonnen hat. Auch andere Faktoren führen dazu, dass Kinder von ihren Eltern vernachlässigt, in ihrer Entwicklung nur mangelhaft gefördert oder sogar misshandelt werden. Die Fachwelt ist sich einig, dass Kinder, die unter schwierigen Lebensbedingungen aufwachsen, nur dann wirksam vor Vernachlässigung geschützt werden können, wenn Hilfs- und Unterstützungsangebote frühzeitig einsetzen. Die Erklärung der AGJ macht deutlich, dass wichtige Qualitätsmerkmale der frühen Förderung von einem KiTZ gewährleistet werden können. Ausgleich von Benachteiligung: Übereinstimmendes Ergebnis vieler Studien zur frühkindlichen Entwicklung ist, dass die Ergebnisse umso nachhaltiger werden, je früher ein Förderprozess ansetzt. Auch die beiden Forschungsrichtungen, die sich um den Aufbau von Widerstandskräften bemühen (Salutogenese- und Resilienzforschung), zeigen, dass die Förderung von Widerstandskräften und
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Invulnerabilitätsfaktoren in der (frühen) Kindheit ansetzen sollte. Kinder stark machen bedeutet, sie früh zu fördern. Integration von Migrantenkindern: Diese ausgleichende Wirkung gilt den Studien zufolge gerade auch für Kinder mit Migrationserfahrung. Das Erlernen von Sprache und von Werten und Regeln gelingt in der spielerischen Kultur der Kindertageseinrichtungen am besten. Auch kann hier einem eventuell vorhandenen zusätzlichen Förderbedarf am besten Rechnung getragen werden. Gerade die intensive Kooperation mit den Institutionen der Frühförderung und anderen Fördereinrichtungen für kleine Kinder sowie die – in dieser Altersphase leichter gelingende – Kooperation mit den Eltern können die Basis für eine Integrationsarbeit legen, die auch aus demografischen Gründen ausgebaut werden sollte. Nationaler und internationaler Trend: „Kinderbetreuung PLUS“. Es gibt europaweit eine breite Erfahrung, die für eine Integration von gemeinwesenorientierten Ansätzen mit Konzepten der Kinderbetreuung spricht. Insbesondere das Konzept des Early Exellence Centre, das von Neuseeland über England seinen Siegeszug angetreten hat, macht dies deutlich: Auf der Basis der offenen Grundidee „die Förderung des Kindes sollte von Anfang an exzellent sein“ wird eine stark kind- und elternzentrierte Angebotsstruktur in eine sozialräumliche Ausrichtung übersetzt. Diese Erkenntnis führt zu einem schrittweisen Ausbau von Eltern-Kind-Zentren auch in Deutschland. Fachliche Herausforderung und Weiterentwicklungspotenzial: Die Verknüpfung von verschiedenen Angeboten der Eltern-Kind-Zentren hat sich als innovative Praxis aus verschiedenen Hintergründen heraus entwickelt. Mütterzentren, Familienbildungseinrichtungen und Kindertagesbetreuungseinrichtungen haben sich dem mit ähnlichen Erkenntnissen zur Bedarfslage von Eltern von jeweils anderer Seite kommend angenähert. Dabei besteht die Herausforderung in einer neuen Stufe der Vernetzung: Nun geht es nicht mehr nur um Informationsaustausch und, darauf aufbauend, um Fallvermittlung – Kern der fachlichen Weiterentwicklung ist vielmehr die Koproduktion. Diese garantiert neue und passgenauere Angebote. Eine weitere Herausforderung besteht in der oft geforderten fachlichen Weiterentwicklung der Kitafachkräfte: Ein Teil der fachlichen Weiterqualifizierung geschieht durch den koproduktiven Alltag mit den Kooperationspartnern(inne)n und den hier vertretenen unterschiedlichen Qualifikationen, der andere Teil aber bedarf einer Weiterentwicklung der Aus- und Weiterbildung der pädagogischen Fachkräfte. KiTZe rechnen sich: Diese These kann empirisch noch durch keine KostenNutzen-Rechnung belegt werden, erscheint jedoch höchst plausibel: In einem KiTZ vereinen sich mehrere Einrichtungstypen, ohne dass diese in ihrer Infrastruktur (Miete, Verwaltung …) alle einzeln bezahlt werden müssten. Selbst wenn beispielsweise die Aufgaben einer heilpädagogischen Förderung neu hinzukom-
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men und entsprechend Personal hinzugeschaltet wird, ist dies immer noch billiger, als eine neue HPT-Gruppe aufzumachen. Der Bedarf an solchen Ansätzen wird steigen. Wir brauchen KiTZe und ähnliche Projekte vor allem in Quartieren mit besonderem Förderbedarf sehr dringend, wir brauchen sie aber mittelfristig auch als flächendeckendes Angebot. Viele Untersuchungen sprechen dafür, dass der nach wie vor tiefgreifende gesellschaftliche Wandlungsprozess einen wachsenden Unterstützungsbedarf junger Eltern generiert und diese jungen Eltern zudem auch offener als frühere Elterngenerationen sind, breitgefächerte Unterstützungsangebote, wie sie ein KiTZ bietet, rechtzeitig anzunehmen. In solchen stadtteilbezogenen Förderstrukturen ist auch die dringend erforderliche Kooperation der bislang getrennt operierenden Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe, des Gesundheitssystems und der Eingliederungshilfe sicherzustellen. Förderung des Kindeswohls: Verwirklichungschancen für einen guten Start ins Leben In ihrer gemeinsamen Stellungnahme „Gesundes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen – Kooperation von Gesundheitswesen und Kinder- und Jugendhilfe“ haben die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) und der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte festgestellt: „Der beste Weg, gefährdete Kinder vor einer Vernachlässigung und Gefährdung zu schützen, ist der einer Früherkennung und frühzeitigen Hilfe, die ansetzt, bevor sich ungünstige Entwicklungsverläufe stabilisiert haben, und die insbesondere den Abbau von Belastungsfaktoren in den betroffenen Familien vorsieht“ (AGJ 2006). In diesem Sinne müssen frühe Hilfen vor allem durch ein umfassendes Unterstützungsangebot für Eltern von der Schwangerschaft über die Geburt bis zu den ersten Lebensmonaten und -jahren der Kinder organisiert werden. Die vielfältigen Modellansätze der Familienbildung (von Opstapje, über Rucksack zu HIPPY, Elterntalk u.ä.) sind möglichst flächendeckend anzubieten und das darin enthaltene Prinzip der Selbsthilfe bzw. das „helper-principle“ scheint besonders gut dafür geeignet, auch Familien mit Migrationshintergrund und Prekariatserfahrungen zu erreichen. Verwirklichungschancen: Capability Widerstandsressourcen würde Amartay Sen, der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, als „Verwirklichungschancen“ oder „Capabilities“ be-
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zeichnen. Er versteht darunter die Möglichkeit von Menschen, „bestimmte Dinge zu tun und über die Freiheit zu verfügen, ein von ihnen mit Gründen für erstrebenswert gehaltenes Leben zu führen“ (Sen 2000, S. 108). Verwirklichungschancen sind aber nicht nur die Energien und Möglichkeiten, die eine einzelne Person mobilisieren kann – vielmehr geht es hier auch um die Gestaltungskräfte eines Gemeinwesens. Sen hat dies in einem Buch zur Überwindung von Armut und Ungerechtigkeit so ausgedrückt: „Letztlich ist das individuelle Handeln entscheidend, wenn wir die Mängel beheben wollen. Andererseits ist die Handlungsfreiheit, die wir als Individuen haben, zwangsläufig bestimmt und beschränkt durch die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten, über die wir verfügen. Individuelles Handeln und soziale Einrichtungen sind zwei Seiten einer Medaille. Es ist sehr wichtig, gleichzeitig die zentrale Bedeutung der individuellen Freiheit und die Macht gesellschaftlicher Einflüsse auf Ausmaß und Reichweite der individuellen Freiheit zu erkennen“ (ebd., S. 9 f.). Das auf Sen und M. Nussbaum zurückgehende „Capability“-Konzept erweist sich als anschlussfähig an die bisher ausgeführten Basiskonzepte der Gesundheitsförderung. Es rückt den inneren Zusammenhang der Handlungsbefähigung der Subjekte mit den objektiv gegebenen Verwirklichungschancen ins Zentrum – in dieser Verknüpfung ist es für die soziale Arbeit von Relevanz (vgl. die Beiträge im Sammelband von Otto/Ziegler 2008). Das Capability-Konzept bietet auch die Chance, eine Brücke zur Armutsforschung herzustellen (vgl. Volkert 2005) und ist zu einem wichtigen konzeptionellen Baustein der Armutsund Reichtumsberichte der Bundesregierung geworden. Schließlich ist auch die Gerechtigkeitsthematik in den sozialphilosophischen und politiktheoretischen Diskursen durch die Frage nach der Verteilung der Verwirklichungschancen im globalen wie auch im nationalen Rahmen neu thematisiert worden (vgl. Heinrichs 2006 und Nass 2006). Gesundheitsförderung als Befähigung Diese unterschiedlichen Zugänge konvergieren in einer spezifischen Sicht auf das Subjekt und einer damit verbundenen Leitidee von Gesundheitsförderung: ein möglichst selbstbestimmt entscheidendes, handlungsfähiges Subjekt, das bestimmte Ressourcen einsetzen kann, um Stressoren zu bewältigen und so die eigene Gesundheit zu erhalten oder wiederzugewinnen. In diesem Verständnis ist es die Aufgabe von Institutionen, Heranwachsende bei der Entwicklung dieser Ressourcen zu fördern, aber auch Strukturen zu schaffen, die Kinder, Jugendliche und Erwachsene im Sinne von Empowerment in der Wahrnehmung ihrer Rechte stärken und ihnen zu mehr Handlungsfähigkeit verhelfen.
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Die Grundidee von Gesundheitsförderung, die hier anklingt, ist in exemplarischer Weise in der Ottawa Charta formuliert worden: „Gesundheit wird von Menschen in ihrer alltäglichen Umwelt geschaffen und gelebt: dort, wo sie spielen, lernen, arbeiten und lieben. Gesundheit entsteht dadurch, dass man sich um sich selbst und für andere sorgt, dass man in die Lage versetzt ist, selber Entscheidungen zu fällen und eine Kontrolle über die eigenen Lebensumstände auszuüben sowie dadurch, dass die Gesellschaft, in der man lebt, Bedingungen herstellt, die all ihren Bürgern Gesundheit ermöglichen.“2 Hier wird Bezug auf die Norm des selbstbestimmten Handelns genommen, zugleich aber wird diese Norm an die strukturellen Bedingungen für die Ermöglichung von Selbstbestimmung gebunden. Hier geht es um eine Koppelung von Subjekt und Struktur, wie sie etwa Giddens (1997) in seiner Strukturationstheorie formuliert hat. Erforderlich ist eine handlungstheoretische Fundierung, die die Handlungen der Subjekte systematisch auf die gesellschaftlich-strukturellen Rahmenbedingungen bezieht. Wenn man in diesem Sinne danach fragt, was die Voraussetzung von Handlungsfähigkeit bildet, dann ist es sinnvoll, zunächst im Sinne der „Agency“Theorie von Albert Bandura (1997) u. a. die Relevanz von Selbstwirksamkeitserfahrungen herauszustellen. Sie entstehen für Heranwachsende in Alltagssituationen, in denen sie eigene Optionen entwickeln und erproben können. Sie können auf diese Weise in ihren Lebenswelten Grundlagen für ihre Handlungsfähigkeit und ein Vertrauen in die eigene Handlungswirksamkeit erwerben. Wenn die aktuelle Sozialisationsforschung von „Handlungsbefähigung“ spricht (vgl. Grundmann 2006; 2008), dann verweist sie damit über die persönlichkeitstheoretische Perspektive hinaus und fragt nach den Bedingungen der Möglichkeit des Erwerbs von Handlungsfähigkeit. In den Erfahrungsräumen unterschiedlicher Milieus und institutioneller Settings, in denen sich Heranwachsende bewegen, sind in Bezug auf die Verwirklichungschancen strukturelle Unterschiede gegeben. Insofern befähigen sie Subjekte auch auf unterschiedliche Weise zu selbstbestimmtem Handeln. Hier zeigt sich, „dass sich Agency- und CapabilityForschung hervorragend ergänzen, indem die personalen und gesellschaftlichen Dimensionen von Handlungsbefähigung systematisch aufeinander bezogen werden können“ (Grundmann 2008, S. 131 f.). Anschluss findet hier auch die Ungleichheits- und Differenzfragestellung. Materieller Status, Geschlecht, Migrationshintergrund und Behinderung beschreiben Konstellationen, die die Zugänge zu Wirksamkeitserfahrungen erschweren können. Solche Konstellationen werfen in der Perspektive von Prävention und Gesundheitsförderung Fragen nach einer „Befähigungsgerechtigkeit“ 2 Vgl.: http://www.euro.who.int/AboutWHO/Policy/20010827_2?language=German [aufgerufen am 11.03.2010]
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auf: Wie können Menschen in solchen Konstellationen Zugang zu Ressourcen bekommen, die sie zu einer souveränen Handlungsbefähigung benötigen? Wie könnten sie durch institutionelle Angebote des Bildungs-, Sozial- und Gesundheitssystems in ihrer Handlungsbefähigung systematisch unterstützt werden? Wie müssten professionelle Empowermentstrategien, die auf dieses Ziel ausgerichtet sind, in solchen Fällen aussehen? Wie können Partizipationserfahrungen die Handlungsmächtigkeit von Heranwachsenden fördern? Wie können solche Erfahrungen unterstützt werden, wenn die eigene Handlungsfähigkeit durch Behinderung eingeschränkt ist (supported living)? Befähigungsgerechtigkeit formuliert ein Ziel, das alle politischen, institutionellen und professionellen Strategien darauf ausrichtet, Heranwachsende zu befähigen, „selber Entscheidungen zu fällen und eine Kontrolle über die eigenen Lebensumstände auszuüben“ und essentiell ist ebenso, dass die Gesellschaft, in der man lebt, Bedingungen herstellt, die all ihren Bürgern Gesundheit ermöglichen“, um noch einmal die Ottawa Charta zu zitieren. Im Ansatz der Salutogenese mit der Herausarbeitung der Widerstandsressourcen und dem Kohärenzsinn als dem subjektspezifischen Organisationsprinzip der Handlungsfähigkeit findet die Subjekt-StrukturKoppelung eine gesundheitswissenschaftliche Ausformulierung. Welche Ressourcen brauchen Heranwachsende zur produktiven Lebensbewältigung? Welche Ressourcen benötigen Kinder, um selbstbestimmt und selbstwirksam ihre eigenen Wege in einer komplex gewordenen Gesellschaft gehen zu können? Ohne Anspruch auf Vollständigkeit lassen sich die folgenden Verwirklichungschancen nennen:
Urvertrauen zum Leben Dialektik von Bezogenheit und Autonomie Entwicklung von Lebenskohärenz Schöpfung sozialer Ressourcen durch Netzwerkbildung materielles Kapital als Bedingung für Beziehungskapital demokratische Alltagskultur durch Partizipation Selbstwirksamkeitserfahrungen durch Engagement
Lebensgeschichtlich ist in der Startphase des Lebens ein Gefühl des Vertrauens in die Kontinuität des Lebens eine zentrale Voraussetzung für die Gewinnung von Lebenssouveränität, ein Urvertrauen zum Leben. Es ist begründet in der Erfahrung, dass man erwünscht ist und dass man sich auf die Personen, auf die
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man existentiell angewiesen ist, ohne Wenn und Aber verlassen kann. Es ist das, was die Bindungsforschung eine sichere Bindung nennt, die auch durch vorübergehende Abwesenheit von Bezugspersonen und durch Konflikte mit ihnen nicht gefährdet ist. Eine Bindung, die nicht das Loslassen ermutigt, ist keine sichere Bindung – deswegen hängt eine gesunde Entwicklung auch von der Erfahrung der Dialektik von Bezogenheit und Autonomie ab. Schon Erikson hat aufgezeigt, dass Autonomie nur auf der Grundlage eines gefestigten Urvertrauens zu gewinnen ist. Die Psychoanalytikerin Jessica Benjamin hat in ihrem wichtigen Buch „Die Fesseln der Liebe“ deutlich gemacht, dass sich gerade im Schatten der Restbestände patriarchaler Lebensformen Frauen und Männer in je geschlechtsspezifischer Vereinseitigung dem Pol Bezogenheit oder Autonomie zuordnen und so die notwendige Dialektik zerstören. Heraus kommt hierbei dann das „Jammergeheul misslingender Beziehungen“: „Du verstehst mich nicht!“ Lebenskompetenz braucht einen Vorrat an „Lebenskohärenz“. Aaron Antonovsky hat in seinem salutogenetischen Modell nicht nur die individuelle identitäts- und gesundheitsbezogene Relevanz des „sense of coherence“ aufgezeigt, sondern auch Vorarbeiten zur Erforschung eines Familienkohärenzgefühls hinterlassen. Werte und Lebenssinn stellen Orientierungsmuster für die individuelle Lebensführung dar. Sie definieren Kriterien für wichtige und unwichtige Ziele und werten Handlungen und Ereignisse als gut oder böse, erlaubt oder verboten. Traditionelle Kulturen lassen sich durch einen hohen Grad verbindlicher und gemeinsam geteilter Wertmaßstäbe charakterisieren; individuelle Wertentscheidungen haben hier nur einen relativ geringen Spielraum. Der gesellschaftliche Weg in die Gegenwart hat zu einer starken Erosion bislang feststehender Werte und zu einer Wertepluralisierung geführt. Dies kann als Freiheitsgewinn beschrieben werden und hat dazu geführt, dass die Subjekte der Gegenwart als „Kinder der Freiheit“ charakterisiert werden. Die „Kinder der Freiheit“ werden meist so dargestellt, als hätten sie das Wertesystem der Moderne endgültig hinter sich gelassen. Dieses Wertesystem wird hierbei als „Wertekorsett“ beschrieben, von dem man sich befreit habe, so dass jede und jeder sich seinen oder ihren eigenen Wertecocktail zurechtmixen könne – das klingt nach unbegrenzten Chancen der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung. Aber diese Situation beschreibt keine frei wählbare Kür, sondern sie stellt eine Pflicht dar und diese zu erfüllen erfordert Fähigkeiten und Kompetenzen, über die längst nicht alle Menschen in der reflexiven Moderne verfügen. Wenn wir die sozialen Baumeister(innen) unserer eigenen sozialen Lebenswelten und Netze sind, dann ist eine spezifische Beziehungs- und Verknüpfungsfähigkeit erforderlich, die wir als soziale Ressource bezeichnen können: Der Bestand immer schon vorhandener sozialer Bezüge wird geringer und der Teil
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unseres sozialen Beziehungsnetzes, den wir uns selbst schaffen und den wir durch Eigenaktivität aufrechterhalten (müssen), wird größer. Nun zeigen die entsprechenden Studien, dass das moderne Subjekt keineswegs ein „Einsiedlerkrebs“ geworden ist, sondern im Durchschnitt ein größeres Netz eigeninitiierter sozialer Beziehungen aufweist, als es seine Vorläufergenerationen hatten: Freundeskreise, Interessengemeinschaften, Nachbarschaftsaktivitäten, Vereine, Selbsthilfegruppen, Initiativen. Es zeigt sich nur zunehmend auch, dass sozioökonomisch unterprivilegierte und gesellschaftlich marginalisierte Gruppen bei dieser gesellschaftlich zunehmend geforderten eigeninitiativen Beziehungsarbeit offensichtlich besondere Defizite aufweisen. Die sozialen Netzwerke von Arbeiter(inne)n z. B. sind in den Nachkriegsjahrzehnten immer kleiner geworden. Von den engmaschigen solidarischen Netzwerken der Arbeiterfamilien, wie sie noch in den 50er Jahren in einer Reihe klassischer Studien aufgezeigt und in der Studentenbewegung teilweise romantisch überhöht wurden, ist nicht mehr viel übrig geblieben. Ein „Eremitenklima“ ist am ehesten hier zur Realität geworden – unser „soziales Kapital“, die sozialen Ressourcen, sind ganz offensichtlich wesentlich mitbestimmt von unserem Zugang zu „ökonomischem Kapital“. Für offene, experimentelle, auf Autonomie zielende Identitätsentwürfe ist die Frage nach sozialen Beziehungsnetzen von allergrößter Bedeutung; hier werden die Menschen ermutigt, denn sie brauchen „Kontexte sozialer Anerkennung“. Da gerade Menschen aus sozial benachteiligten Schichten einerseits besonders viele Belastungen zu verarbeiten haben und andererseits die dafür erforderlichen Unterstützungsressourcen in ihren Lebenswelten eher unterentwickelt sind, ist die gezielte professionelle und sozialstaatliche Förderung der Netzwerkbildung bei diesen Bevölkerungsgruppen besonders relevant. Ein offenes Identitätsprojekt, in dem neue Lebensformen erprobt und eigener Lebenssinn entwickelt werden, bedarf materieller Ressourcen. Hier liegt das zentrale und höchst aktuelle sozial- und gesellschaftspolitische Problem: Eine Gesellschaft, die sich ideologisch, politisch und ökonomisch fast ausschließlich auf die Regulationskraft des Marktes verlässt, vertieft die gesellschaftliche Spaltung und begünstigt das Wachstum einer Ungleichheit der Chancen auf Lebensgestaltung. Hier holt uns immer wieder die klassische soziale Frage ein: Die Fähigkeit zu und die Erprobung von Projekten der Selbstorganisation sind ohne ausreichende materielle Absicherung nicht möglich. Ohne Teilhabe am gesellschaftlichen Lebensprozess in Form von sinnvoller Tätigkeit und angemessener Bezahlung wird Identitätsbildung zu einem zynischen Schwebezustand, den auch ein „postmodernes Credo“ nicht zu einem Reich der Freiheit aufwerten kann. Die intensive Suche nach zukunftsfähigen Modellen „materieller Grundsicherung“ ist von höchster Priorität. Die Koppelung sozialstaatlicher Leistungen an die Erwerbsarbeit erfüllt dieses Kriterium immer weniger.
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Nicht mehr die Bereitschaft zur Übernahme von fertigen Paketen des „richtigen Lebens“, sondern die Fähigkeit zum Aushandeln ist notwendig: Wenn es in unserer Alltagswelt mit Ausnahme einiger Grundwerte keine unverrückbaren allgemein akzeptierten Normen mehr gibt, wenn wir keinen Knigge mehr haben, der uns für alle wichtigen Lebenslagen das angemessene Verhalten vorgeben kann, dann müssen die Regeln, Normen, Ziele und Wege beständig neu ausgehandelt werden. Dies kann nicht in Gestalt von Kommandosystemen erfolgen, sondern erfordert demokratische Willensbildung und verbindliche Teilhabechancen im Alltag, in den Familien, in der Schule und Universität, in der Arbeitswelt und in Initiativ- und Selbsthilfegruppen. Dazu gehört natürlich auch eine gehörige Portion von Konfliktfähigkeit. Die „demokratische Frage“ ist durch die Etablierung des Parlamentarismus noch längst nicht abgehakt, sondern muss im Alltag verankert werden. Verwirklichungschancen hängen eng mit der Idee der Zivilgesellschaft zusammen. Diese lebt von dem Vertrauen der Menschen in ihre Fähigkeiten, im wohlverstandenen Eigeninteresse gemeinsam mit anderen die Lebensbedingungen für alle zu verbessern. Zivilgesellschaftliche Kompetenz entsteht dadurch, „dass man sich um sich selbst und für andere sorgt, dass man in die Lage versetzt ist, selber Entscheidungen zu fällen und eine Kontrolle über die eigenen Lebensumstände auszuüben sowie dadurch, dass die Gesellschaft, in der man lebt, Bedingungen herstellt, die allen ihren Bürgerinnen und Bürgern dies ermöglichen“ (WHO 1986). Literatur Antonovsky, A. (1997): Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen Bandura, A. (1997): Self-Efficacy: The exercise of control. New York Bauman, Z. (2005): Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne. Hamburg Bude, H./Lantermann, E.-D. (2006): Soziale Exklusion und Exklusionsempfinden. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 58, S. 233-252 Deutscher Bundestag (2009): Mehr Chancen für gesundes Aufwachsen. Gesundheitsbezogene Prävention und Gesundheitsförderung in der Kinder- und Jugendhilfe. 13. Kinder- und Jugendbericht. Berlin Geissler-Piltz, B./Mühlum A./Pauls, H. (2005): Klinische Sozialarbeit. München Grundmann, M. (2006): Sozialisation. Skizze einer allgemeinen Theorie. Konstanz Grundmann, M. (2008): Handlungsbefähigung – eine sozialisationstheoretische Perspektive. In: Otto, H.-U./Ziegler, H. (Hrsg.): Capabilities – Handlungsbefähigung und Verwirklichungschancen in der Erziehungswissenschaft. Wiesbaden, S. 131-142 Heinrichs, J.-H. (2006): Grundbefähigungen. Zum Verhältnis von Ethik und Ökonomie. Paderborn
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Helming, E. (2008): Alles im Griff oder Aufwachsen in gemeinsamer Verantwortung? Paradoxien des Präventionsanspruchs im Bereich Früher Hilfen. Vortrag im Rahmen der Fachtagung „Frühe Hilfen für Eltern und Kinder“ in Tutzing am 20.04.2008 Höfer, Renate (2000): Jugend, Gesundheit und Identität. Studien zum Kohärenzgefühl. Opladen Keupp, H. (1997): Ermutigung zum aufrechten Gang. Tübingen Kurz-Adam, M. (2007): Intimität und Verantwortung – Zukünftige Herausforderungen an die Erziehungsberatungsstellen. In: Erziehungsberatung aktuell, 2/2007, S. 7-15 LAG-Standpunkt (2007): Früherkennung von Risikofamilien und frühe Hilfen für Eltern von Säuglingen und Kleinkindern. In: Erziehungsberatung aktuell, 2/2007, S. 2-5 Nass, E. (2006): Der humangerechte Sozialstaat. Ein sozialethischer Entwurf zur Symbiose aus ökonomischer Effizienz und sozialer Gerechtigkeit. Tübingen Otto, H. U./Ziegler, H. (2008): Capabilities – Handlungsbefähigung und Verwirklichungschancen in der Erziehungswissenschaft. Wiesbaden Pauls, H. (2004): Klinische Sozialarbeit. Grundlagen und Methoden psycho-sozialer Behandlung. Weinheim Sen, A. (2000): Ökonomie für den Menschen. München Singelnstein, T./Stolle, P. (2008): Die Sicherheitsgesellschaft: Soziale Kontrolle im 21. Jahrhundert Wiesbaden Spiewak, M. (2008): Falsche Panik. DIE ZEIT, 01.10.2008, Nr. 41 Straus, F./Dill, H./Gmür, W./Höfer, R./Keupp, H. (2008): Die Entwicklung von KinderTagesZentren in München. München: Projektbericht Institut für Praxisforschung und Projektberatung Volkert, J. (2005): Armut und Reichtum an Verwirklichungschancen. Wiesbaden Winterhoff, M. (2008): Warum unsere Kinder Tyrannen werden: Oder: Die Abschaffung der Kindheit. Gütersloh World Health Organization – WHO (1986): Ottawa Charta of Health Promotion. In: Journal of Health Promotion, 1, S. 1-4
Moderne Kindheiten – Funktionale Autonomie als paradox wirkende Zielbestimmung von Sozialisation und pädagogischem Handeln Günther Robert, Stephan Hein 1
A Kindheiten Kindheit ist für moderne Gesellschaften mit Selbstverständlichkeit zu einem systematischen und zunehmend spezifizierten Teil von Lebenszyklus, Lebenslauf und Biografie geworden. Das war nicht immer und ist nicht überall so. Sogenannte einfache Gesellschaften kannten vielfach keine Kindheit etwa im heutigen Sinne. Für manche bezogen sich Unterscheidungen der Lebensalter z. B. allein auf Statusgruppen, nicht auf das biologische Alter Einzelner. Der Wechsel zwischen den Gruppen, also etwa von den „Noch-nicht-“ zu den „Erwachsenen“, war abhängig von der Verfügbarkeit „freier Plätze“, nicht vom chronologischen Alter der jeweiligen Individuen (vgl. Kohli 1985). Bestimmende Komponenten Neben solchen basalen Formen lebensalterbezogener Differenzierung lassen sich andere – zunehmend erweiterte und spezifischer werdende – Merkmale und Kriterien zeigen, die für die sich entwickelnden Besonderungen von Lebensphasen und, für unseren Zusammenhang, Kindheiten, jeweils ausschlaggebend sind, die als solche beginnen, Kindheitsverständnisse zu konstituieren2. In den Epo-
1 Die Argumentationen dieses Aufsatzes entstanden in ihren zentralen Teilen in Gesprächen zwischen den genannten Autoren. Für wichtige Anregungen und hilfreiche Hinweise sei zudem Thomas Drößler, Regine Gildemeister, Peggy Lippstreu und Kristin Pfeifer gedankt. Der vorliegende Text wurde verfasst von Günther Robert. 2 Die folgenden Ausführungen diskutieren zur Einführung historisches Material und werten es lediglich typisierend aus. Sie nehmen dabei vor allem Bezug auf etablierte Klassiker der Debatten um
G. Robert et al., (Hrsg.), Aufwachsen in Dialog und sozialer Verantwortung, DOI 10.1007/978-3-531-92693-3_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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chen der sog. europäischen Klassik, der frühen griechischen und römischen Gesellschaften etwa, waren die Vorstellungen von Kindheit zunächst noch überwiegend unbestimmt und diffus. Sie lassen sich durchaus nachweisen, waren aber – nach unserem heutigen Verständnis – weder konsistent noch elaboriert. Sie beinhalteten einzelne von deren Komponenten, aber in der Summe wenig von der Qualität, die wir heute als Charakteristikum von Kindheit verstehen. Ein ausgeprägtes Interesse an Kindern und Kindheit (etwa in literarischen Texten oder der bildenden Kunst, z. B. in Gestalt entsprechender Plastiken) ist nicht dokumentiert. Man vermutet, dass über Kinder nicht systematisch als etwas Besonderes und Differenziertes, etwa als „Teil der Gesellschaft“ oder gar deren „Zukunft“ nachgedacht wurde. Der Status von Kindern war dabei aus heutiger Sicht prekär. Für 374 n. Chr. ist die Wahrnehmung einer gesellschaftlichen Schutzfunktion für Kinder belegt, als in Rom die Kindstötung gesetzlich verboten wird: Erst ab diesem Zeitpunkt werden Kinder – im Gegensatz zu Sklaven – auch als Gesellschaftsmitglieder verstanden. Dennoch entstanden bereits in der Periode der griechischen Klassik für ausgewählte Teile der Bevölkerung Konzepte einer Bildung (vgl. etwa Jäger 1989) und Bildungsstätten als Generationen differenzierende Institutionen, die für eine Wahrnehmung von Unterschieden in Wissen und Handlungsbefähigungen sprechen Zugleich begann man, sich explizit mit Fragen der (richtigen) Erziehung bzw. der Beeinflussbarkeit (der „Tugend“) durch Erziehung allgemein zu befassen, begründet etwa aus den Notwendigkeiten der Beherrschung der „ungezähmten“ Natur sowie normativer Einpassung. Auch sozial anspruchsvolle Formen höherer Bildung im Dialog (ebenda S. 590 ff.) werden entwickelt, welche die in der herrschenden Oberschicht entfalteten dialogischen Formen des Verkehrs, etwa der Entscheidungs- und/oder Wahrheitsbegründung reflektieren. Ansätze von Kindheit und Jugend entstanden mithin in Gestalt einer Bildungsphase der Oberschicht. Die Römer übernahmen vieles davon und bildeten parallel weiter verfeinerte Vorstellungen von Lebensaltern aus, die zugleich mit differenzierten Charakterologien auftraten, welche die Beobachtung von Individuen als „Typen“, aber auch als Persönlichkeiten zuließen und entsprechende Reflexionen ermöglichten3. Erste Formen von biografischen Lebensbeschreibungen nehmen derartige Motive auf (vgl. Romein 1948). Zudem war insbesondere die römische Gesellschaft stärker als andere durch Literalität geprägt – ein zentrales Merkmal sowohl für die Notwendigkeit von Lernprozessen als auch für die Generalisierung Kindheit wie Aries (2007), de Mausse (2007), zudem neuere Standardwerke wie Corsaro (1997) und Zeitdiagnosen (Postmann 2009), ohne diese Referenzen im Einzelnen jeweils aufzurufen. 3 Auf dem dabei erreichten Niveau wurden entsprechende Konzepte erst Jahrhunderte nach dem Fall Roms, letztlich in der Renaissance, wieder aufgenommen.
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und (mögliche) Kanalisierung der Zugänge zu Wissen. Auch dies benennt besondere Ausprägungen von Differenz- und Übergangslinien zwischen den Status von Kindern und Erwachsenen, wie wir sie heute noch kennen und für „natürlich“ halten. Körperlichkeit gerät als Weiteres in ersten Ansätzen in den Fokus der Aufmerksamkeit von Kontroll- und Formungsprozessen. Dies geschieht v.a. im Zuge der Intimisierung von Triebäußerungen (etwa als „Schamgefühl“), mit der eine weitere Grenze zwischen der Welt der Erwachsenen und derjenigen der (insbesondere von Sexualität distant gehaltenen) Kinder gezogen wird (vgl. Elias 1997). Viele dieser hier als erste Kindheitskonzepte fundierende typisierten Merkmale verlieren sich mit dem Verfall des römischen Reichs. So konnte im europäischen Mittelalter kaum jemand, weder Volk noch Adel, lesen.4 Wissen wurde daher überwiegend in Face-to-Face-Interaktionen weitergegeben und entwickelt. Was ein Erwachsener als solcher sei, präzisierte sich im gesellschaftlichen Verkehr wie auch im Selbstbezug nur wenig. Von daher (!) gab es keine großen Unterschiede zwischen Kind und Erwachsenem, vor allem eben, weil Erwachsene „wie die Kinder waren“.5 Kinder hatten früh weitgehende Teilnahmerechte und -pflichten, dies allerdings auf einem niedrigen Entwicklungs- und Differenzierungsniveau des gesellschaftlichen Verkehrs. Von Personen im modernen Sinne (dort v.a. verstanden als selbstbezügliche Zentren der Organisation von Erfahrung, Kommunikation und Handeln sowie der Zurechnung von Motiven und Verantwortung, s. u.) kann für den Großteil der Bevölkerung im strengen Sinne nicht gesprochen werden: Mit der einfachen Sprachbeherrschung war der Status des Erwachsenen im Wesentlichen erreicht – also etwa im Alter von 7 Jahren. Aus Sicht der Kirche konnten Kinder in diesem Alter zudem „gut“ und „böse“ voneinander unterscheiden und galten auch von daher von nun an als erwachsen. Zur basalen Sprachbeherrschung kamen mithin als weitere Kriterien des Erwachsenseins die elementaren Formen moralischen Bewusstseins hinzu. „Natürliches“ Aufwachsen im sozialen Kontext Für ein gelingendes Aufwachsen war die Teilnahme am sozialen Leben ausschlaggebend und ausreichend. Bildung und Lernen geschahen gleichsam naturwüchsig, in alltäglichen praktischen Kontexten und lokalen, „primären“ sozialen Bezügen –in einer Form also, die man heute auch als „informelles Lernen“ be4 Eine systematische literale Wissenspraxis gab es v.a. in Klöstern und damit in einiger Distanz zu den gesellschaftlichen Zentren. 5 Postman (2009, S. 24) merkt an, es habe in keiner europäischen Sprache dieser Zeit einen spezifizierenden Begriff für ein Alter zwischen 7 und 16 Jahren gegeben, der Begriff „Junge“ galt für alle Lebensalter, auch die höheren, etwa die 50-Jährigen. „Kind“ bezeichnete kein Lebensalter, sondern die Abstammung.
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schreibt. Familien, Arbeit, häusliche und lokale Gemeinschaften waren vielfach und eng miteinander verbunden, nur in Wenigem voneinander abgeteilt. Die Gesellschaften des europäischen Mittelalters hatten – auch von daher – kein elaboriertes Konzept von Erziehung und Bildung. Ein methodisierter Erwerb von (generalisiertem, kontextunabhängigem) Wissen, Formungsnotwendigkeiten einer Persönlichkeit oder explizite Steuerungsmöglichkeiten von Sozialisationsvorgängen in einem reflexionsfundierten, etwa anthropologisch begründeten Sinne (Plastizität und Formungsnotwendigkeiten als menschliche Natur, vgl. etwa Plessner 1975) wurden in diesen Zusammenhängen i. d. R. nicht gesehen. Insbesondere fehlte eine Bewusstheit für die erst relativ spät „entdeckte“ und dabei u. a. durchaus ebenfalls anthropologisch abgeleitete Dimension des Sozialen (vgl. Honneth/Joas 1980) als gerade für Sozialisation konstitutive Dimension ebenso wie als deren Ziel. Insofern „fachliche“ Blicke auf Kinder und Kindheit gerichtet wurden, waren sie abgeleitet aus den Sinnwelten der bestimmenden, handlungsbezogen organisierten Wissenssysteme der damaligen Professionen (der Theologie, der Medizin oder des Rechts) und vor allem ethisch und normativ ausgelegt. Kindheit als Chiffre Solche hier nur kursorisch und unvollständig aufgerufene und nicht weiter systematisierte Komponenten6 geben allerdings nicht nur Auskunft über die Spezifika jeweiliger Kindheitskonzeptionen, sondern weisen zugleich auch auf deren Hintergrund zurück: Die Vielzahl und Verschiedenheit von unterschiedlichen Kindheiten erschließt sich erst in Bezug auf deren jeweilige gesellschaftliche Rahmen und Kontexte. Auffassungen von und Umgangsweisen mit Kindheit sagen mithin viel über jene selbst aus: Konzepte, Praktiken und die Organisation von Kindheit erscheinen so auch als Chiffren gesellschaftlicher Verhältnisse und Selbstverständnisse, denn in ihnen kommen nichtarbiträre Merkmale derselben zum Ausdruck ohne dass sie als solche thematisch werden7. Ihre jeweilige „Kindheit“ stellt daher nicht zuletzt eine Chiffre gesellschaftlicher Selbstbezüglichkeit dar8. Sie bezieht sich auf, moduliert und formt auf verschiedenen Ebenen gesellschaftliche (Kern-)Konzepte, seien sie ethischer, moralischer, normativer, 6 Wie diejenigen einer „einfachen“ Statusgruppe, des biologischen Lebensalters, der Mitgliedschaft und Inklusion, (Kontrolle der) Körperlichkeit, normativen Einpassung, Entfaltung moralischen Bewusstseins, des Erwerbs von (Handlungs-)Befähigungen und Wissen etc. 7 Chiffrierung beschreibt einen Vorgang des Verschlüsselns. Chiffren repräsentieren und verbergen das Repräsentierte zugleich. Die diese hier gemeinte Bedeutung des Begriffs erweiternde religionssoziologische Konnotation, die Luhmann für diesen entwickelt, wird in unserem Zusammenhang nicht aufgenommen. (Luhmann 2002) 8 Für ein Beispiel chiffrierender Kulturalisierungen von Kindheit vgl. Bühler-Niederberger (2005).
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sozialer oder etwa zeitlicher Art (Zukunft), wie soziale Regeln, Orientierungen, Prinzipien und Wertbezüge. Viele der Komponenten der angesprochenen Konzeptionen von Kindheit sind mit unterschiedlichen Gewichtungen auch heute noch wirksam und werden als gültig empfunden und behandelt. Ein gemeinsames Merkmal der bisher thematisierten Gesellschaftsformationen ist allerdings, dass Kindheiten zum einen in nur geringem Ausmaß beobachtet und die genannten Elemente und Merkmale nur wenig integriert und systematisiert wurden, etwa zu einem integralen Konstrukt von Kindheit. Hier liegt bereits eine wesentliche Differenz zu modernen Kindheiten. Des Weiteren wurden solche ersten wahrgenommenen Facetten einer Kindheit nur in der Ausnahme zum Gegenstand eines expliziten und gezielten Handelns, wie dies heute in vielerlei Weise der Fall ist. Neben deren fehlender Synthese war mithin der geringe Grad einer Organisierung von Kindheit als solcher charakteristisch. Institutionalisierung und Organisierung der Kindheit Dies verändert sich in der modernen Gesellschaft, mit der auch die „Entdeckung der Kindheit“ in Zusammenhang gebracht wird. Bereits in der oben illustrativ entwickelten vergleichenden Perspektive erweist sich Kindheit dabei allein schon aufgrund ihrer Heterogenität als kaum essentialisierbar, auch wenn das diesbezügliche Alltagsdenken bis in die heutige Zeit stark von Naturmetaphern durchsetzt ist. Seit geraumer Zeit ist es daher im Kontext entsprechend aufgeklärter, v.a. historischer und sozialwissenschaftlicher Diskurse zu einem Allgemeinplatz geworden, auf die große Variabilität dessen hinzuweisen, was in unterschiedlichen Gesellschaften und historischen Phasen unter Kindheit verstanden wurde und wird. Solche Argumente basieren auf vielfältigen, auch empirisch gut fundierten Bezügen. Bei den bereits genannten Klassikern ebenso wie in neueren Weiterentwicklungen aktueller und zeitdiagnostisch gewendeten Arbeiten stellt sich Kindheit als ein (dabei nicht beliebiges) Ergebnis jeweiliger und heterogener gesellschaftlicher Herstellung und Konstitution dar. Im Kontext weiterer gesellschaftlicher Entwicklungen lässt sich nun eine immer stärkere Konturierung, Kulturalisierung und Organisation von Kindheit als Komplex von Interpretationen, Verhaltensmustern und Erwartungen sowie als eigenständige, in den etablierten Lebenszyklus explizit einbezogene Lebensphase feststellen. Diese wird dabei zunehmend formiert in Bezug auf die und verstanden in den Gestalten der sie bestimmenden Institutionen. Das sind beispielsweise die Institutionalisierung von Lernprozessen als systematische und standardisierte Ausbildung, die besondere Berücksichtigung von Kindheit im positiven Recht (Mündigkeit), die Verfeinerung komplementärer Rollen der
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Elternschaft, die Genese neuer Sinnwelten und Interpretamente der Kindheit, etwa die (explizite) Betonung von deren „Zweckfreiheit“ (DJI 2009) sowie schließlich eine zunehmende Verfachlichung und Verwissenschaftlichung der Beobachtung von Kindheiten. B Sozialer Wandel, veränderte Vergesellschaftung, neue Anforderungen – die Entdeckung des Kindes als wachsende Persönlichkeit Letzteres geschieht und vertieft sich, wie bereits angedeutet, in gesellschaftlichen Situationen, die von tief greifenden sozialen Wandlungen und starken Entwicklungsschüben gekennzeichnet sind. Als vertraute Stichworte können Aufklärung, Säkularisierung, das Ende der feudalen Ordnung, Industrialisierung und Demokratisierung genannt werden. Die damit bezeichneten Strukturveränderungen sowie darin induzierte Komplexitätssteigerungen und Beschleunigungen, soziale Entwurzelungen und Orientierungsverluste bei gleichzeitig wachsender Orientierungsnotwendigkeit stellen zugleich die Lösung alter und die Genese neuer gesellschaftlicher Probleme dar, die zusehends auch als Anforderungen an Gesellschaftsmitglieder erscheinen und z. T. auch so artikuliert werden – Letzteres v.a. deshalb, weil diese Anforderungen nicht mehr ausreichend plausibel nach Traditionen, etwa religiös, interpretiert werden können, so z. B. die Fragen, wen man heiraten, was man als Beruf ausüben oder wie man leben, im 20. Jahrhundert schließlich, ob, wann und wie viele Kinder (!) man haben soll. Zugleich und in Zusammenhang damit wächst nun generell die Aufmerksamkeit für Ansätze einer dimensionalen Abgrenzung und inneren Differenzierung dessen, was als Persönlichkeit gefasst wird. Dies geschieht zunächst in einem allgemeinen Sinne, z. B. als Entdeckung der Seele und Psyche, der Auseinandersetzung mit (antiken/neuen) Charakterologien, der „Education Sentimental“9 u. ä., richtet sich dabei aber zunehmend auf beobachtete, oft aber auch auf nur vermutete oder behauptete Spezifika von Kindern als solchen. Es geht hier in ersten Ansätzen auch um die Entdeckung des Kindes als – wachsende – Persönlichkeit. Persönlichkeit verweist dabei auf Individualität, spricht die je besondere und spezifische Ausprägung von deren „wesentlichen“ Strukturierungsebenen an als „Eigenschaften“ wie etwa den „Charakter“, Motivationen und Temperamente, auch Latentes wie das Unbewusste oder ein „wahres Selbst“ (vgl. Elias 1984). Im Kontrast zu statischen Konzepten (in diesem Zusammenhang etwa der klassi9 Insbesondere mithilfe der neu entstehenden Gattung des Romans. Vgl. z. B. Peter Gay (1997).
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schen Temperamentenlehre oder Vererbungstheorien) wird Persönlichkeit dabei zunehmend dynamisiert.10 Vorstellungen von Wachstum, Entwicklung und Entfaltung gewinnen Oberhand. In der Folge wird Persönlichkeit insbesondere im Rahmen von Kindheit zum Gegenstand einer zunehmend systematisierten, nicht zuletzt verwissenschaftlichten Beobachtung und Theoretisierung sowie eines gezielten, insbesondere pädagogischen Handelns gemacht. Vor allem im Zuge der Industrialisierung werden etablierte Lebensmodelle in besonderer Radikalität obsolet. Weite Teile der Bevölkerung sind gezwungen, sich auf die Erfordernisse der rasch wachsenden und sich schnell verändernden industriellen Produktion auszurichten. Nicht zuletzt die „Bauprinzipien“ von Gesellschaften (in systemtheoretischer Sprache etwa von der stratifikatorischen zur funktionalen Differenzierung) und Modi sozialer Integration verändern sich (Verstädterung, Demokratisierung, Pluralisierung, Verallgemeinerung des Zugangs zu (wohlfahrts-)staatlichen Leistungen, Bürgerrechte u.s.w.). Integration muss neu und in Teilen anders hergestellt und fundiert werden (vgl. dazu z. B. Smelser 1967). Aus massenhaften Wanderungen etwa und strukturellen Innovationen erwachsen starke Anpassungszwänge. Häufig wechselnde soziale Bezugnahmen und (selektive) Beteiligungen an heterogenen Situationen und Systembezügen stellen neue und hohe Anforderungen. Die sich umformenden bzw. herausbildenden Gesellschaften und ihre Mitglieder sind oftmals und massiv mit Neuem konfrontiert, für das traditionelle Formen und etabliertes Rezeptwissen nicht ausreichen bzw. ungeeignet sind. Das gilt insbesondere auch für den Bereich der Bildung und Erziehung, der zunehmend entwickelt und dabei mit einer gesellschaftlichen Zukunft und den für diese antizipierten Anforderungen in einen Zusammenhang gebracht wird. Diese werden dabei auf der Ebene gesellschaftlicher Bedarfe ebenso angesiedelt wie auf derjenigen der zu fördernden persönlichen Fähigkeiten und Qualitäten der Individuen. Im Zuge der hier nur angedeuteten Prozesse werden, und dies mehr oder weniger explizit und systematisch, entsprechende „Funktionserfordernisse“ der Gesellschaft identifiziert und mit Kindheitskonzepten vermittelt bzw. auf diese und deren institutionelle Ausformungen und Organisation bezogen.11
10 Zur Geschichte von Persönlichkeitskonzeptionen und Charakterologien vgl. Allport 1949, Kap. 2 und 3. 11 Funktionserfordernisse benennen hier die systematische Angewiesenheit der Gesellschaft auf hochspezifizierte kognitive, materielle und soziale Ressourcen, die als solche thematisiert und in diesbezügliche Formen gesellschaftlicher Steuerung und Planung übersetzt werden. Dies kann man v.a. an der im 18. Jahrhundert beginnenden, im Zuge der Industrialisierung sich durchsetzenden statistischen Beobachtung von Gesellschaft (Demographie, Nationalökonomie) ablesen (vgl. dazu Kern 2001).
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Programmatische Anthropologien Solche „Funktionalisierungen“ und die zuvor genannte „Orientierung auf Persönlichkeit“ treten in den neuen Konzepten von Kindheit parallel auf, schlagen sich dabei aber zunächst unterschiedlich nieder. Zeigen lässt sich dies etwa in der differenten Gewichtung der Komponenten von Disziplinierung und Bildung in entsprechenden Institutionen, Pädagogiken und Erziehungsstilen. In der Frühpädagogik entstehen im 19. Jahrhundert z. B. parallel und – ähnlich der Etablierung eines dreigliedrigen Schulsystems – nach der sozialen Herkunft selegierende sog. Kinderbewahranstalten, die primär der normativen Einpassung der Kinder der unteren Schichten und der Formung ihres Arbeitsvermögens dienen (das Kind als – zukünftiger – Produktionsfaktor) sowie Kindergärten, die mit „philanthropisch-demokratischen“ Ansätzen auf die wechselhaften Zustände einer nicht mehr ständisch feudal vordefinierten, erwartbaren – gesellschaftlichen und individuellen – Zukunft vorbereiten, indem sie etwa die Fähigkeit zur Abstraktion durch entsprechendes Spielzeug fördern wollen. Pädagogiken, Entwicklungstheorien und die später sich profilierende Sozialisationsforschung bilden in diesen Zusammenhängen zunehmend komplexere Ansätze und Strategien aus, die zumeist verschiedene der weiter oben als Komponenten von Kindheit angesprochenen Ebenen und Dimensionen zu vermitteln suchen. Insbesondere in der Pädagogik sowie der praktisch gewendeten öffentlichen, politischen, aber auch fachlichen Diskussion entsprechender Fragen entwickeln sich dabei oftmals stark programmatisch ausgelegte Anthropologien, die mit universalisierenden Argumenten in paradoxer Weise und oftmals ungewollt essentialisierende Vorstellungen von Kindheit unterstützen, wie sie als Naturmetaphern bis heute das alltagsweltliche Verständnis von Kindheit dominieren. Im Ergebnis wirken solche Ansätze und Perspektiven dann mitunter wie die je einen der genannten Faktoren ausblendende Untersetzung entsprechend vereinseitigender Konzepte. Normative Einpassung, soziale Integration, die Ausrichtung entlang wirtschaftlicher, sozial- und bildungspolitischer Prämissen, eine (entkontextualisierte) Entwicklung und Entfaltung der Persönlichkeit kennzeichnen derartige, häufig polarisierend gesetzten Akzente. An anderen Stellen finden sich auf den ersten Blick überraschende Melangen, etwa wenn im 20. Jahrhundert Ansätze der Reformpädagogik Motive der Eugenik aufnehmen und/oder auf „Emanzipation“ gerichtete soziale Bewegungen Weiblichkeit als Mütterlichkeit im Sinne einer Betonung des Gesellschaftsbezugs der Mutterschaft aufzuwerten suchen und Mutterschaft so mit am „gelungenen Kind“ orientierten Leistungskomponenten verschmolzen wird, deren Maßstab gesellschaftliche Bedarfe und Erwartungen sind12. Vor allem in mittle12 Um 1900 veröffentlichte die Schwedin Ellen Key (Key 2006) das Buch „Das Jahrhundert des Kindes“, das programmatisch angelegt war und nachhaltige Wirkungen auf entsprechende Leitbilder
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ren Schichtlagen bildet sich eine spezifische Positionierung des Kindes in einer Familienform heraus, die geschlechterdifferente Elternpositionen (Rollen) im historischen Vergleich besonders stark betont. Die tief greifende Geschlechterdifferenzierung brachte zugleich ein nicht zuletzt an kirchliche Vorlagen anknüpfendes, nun vor allem um Komponenten der Erziehung erweitertes Frauenbild und Konzept von Mütterlichkeit hervor (Schütze 1991; Vinken 2001). Auch dieses veränderte wiederum das Bild des Kindes, nämlich von dem eines zu disziplinierendem Noch-nicht-Erwachsenen zu dem eines Objekts der Wertschätzung und Liebe. So wird das Kind deutlicher in seiner Eigenheit und individuellen Wertigkeit sichtbar, konzeptualisiert und behandelt. Verbunden mit dem Erziehungsgedanken wird damit das Eigene des Kindes, seine Individualität und Persönlichkeit, zugleich zum Ziel wie zum Risiko und für den privaten Bereich in eine komplementäre Position zum Konstrukt der Mütterlichkeit gebracht – ein auch aktuell wieder populäres Motiv und Deutungsmuster. Aus verschiedenen Perspektiven und in zunehmendem Maße gerät das Kind so als Persönlichkeit in den Blick und werden Konzepte der Kindheit entsprechend beeinflusst. Zugleich wächst das Bewusstsein für neu entstehende gesellschaftliche Anforderungen: Sozialer Wandel und verstetigte Innovationen rücken den Bedarf nach Entfaltung und Nutzung von Bildungsreserven ins Bewusstsein; Komplexität, Heterogenität und Widersprüchlichkeiten der gesellschaftlichen Verhältnisse lassen neue Formen der sozialen Integration und des gesellschaftlichen Zusammenhalts als erforderlich erscheinen. Parallel zu bzw. in kurzer Nachfolge von gesellschaftlichen Innovationsschüben lassen sich daher mehrfach Zunahmen der Beobachtung, Reflexion und Versuche der Beeinflussung neuer Dimensionen von Bildungsprozessen beschreiben. Forschungen zur Erklärung und Förderung z. B. von Leistung, Motivation oder Kreativität nehmen zu und konstituieren vielfältige neue fachliche Felder.13 Gesellschaftliche Vorgaben von Bildungs- und Erziehungszielen richten sich zunächst auf die Schule, zunehmend aber auch auf die Familie (vgl. Becker 2003) und schließlich auf die Einrichtungen für Klein- und Kleinstkinder im Vorschulalter. ausübte bzw. deren Wandel auf den Punkt brachte. Eltern, insbesondere Mütter, erscheinen darin zunehmend in einer Position des Verpflichtetseins für das gelingende Aufwachsen der Kinder. Dies reichte bis zu eugenischen Überlegungen. Es galt auch den Fortbestand der Gattung (bereits hier im Sinne einer „Veredelung“) im Auge zu behalten und dazu die Tauglichkeit der Kinder zu stärken. Entsprechend wurde für Frauen, analogisiert zum Wehrdienst der Männer, die Ausbildung in Säuglingspflege und Früherziehung gefordert. Frühpräventionskonzepte knüpfen, oft ohne das reflektiert einzuholen, an solche Gedanken an. (Eine Kritik soziobiologischer Ansätze der Prävention im Kontext einer aktuell dafür nicht untypischen diskursiven Konstellation etwa bei de Haan 2009.) 13 Solche fachlichen Differenzierungen verlaufen in langen Wellen. Höhepunkte hatten sie etwa in den 1920er Jahren (Taylorisierung) oder am Ende der Phase der Rekonstruktion, also ab Mitte der 1960er Jahre. Vgl Walter Busch (2006).
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Darin wird v.a. sichtbar, dass und in welcher Weise die Sicht auf das Kind und dessen Ansprache als zu formende Persönlichkeit maßgeblich auch sozialstrukturelle Hintergründe hat und nicht als Ergebnis einer rein geistesgeschichtlich zu fassenden Bewegung missverstanden werden darf. Solche Hintergründe sind vielfach benannt worden, etwa als die Freisetzung von Individualität aufgrund zunehmender gesellschaftlicher Differenzierung und die damit verbundenen wachsenden Anforderungen etwa im Bereich gesellschaftlicher Arbeit und gesellschaftlichen Verkehrs. Demokratisierte Bildung, Pluralität und Diversität sowie die genannten daraus resultierenden multiplen, wechselnden und selektiven Einbindungen und Bezugnahmen erfordern – und befördern zugleich – die Ausbildung und soziale Verankerung einer Instanz, die die damit verbunden Chancen nutzen und entsprechende Aufgaben bewältigen kann.14 Diese „Instanz“ muss aber als eine sich partiell autonomisierende und zugleich kontingent relationierende verstanden werden, die strukturell mehr ist und anderes meint als die bisher beschriebene Persönlichkeit. Sie soll in Abgrenzung zu dieser daher verstanden und entwickelt werden als die neu bzw. verändert gefasste „Person“. C Das Kind als Person Die genannten Polarisierungen, Melangen und programmatischen Anthropologien vor allem der pädagogischen und sozialisationstheoretischen Diskurse verstellen oftmals den Blick für die damit gemeinten Entwicklungstendenzen. Zugleich aber vollziehen sich diese nicht zuletzt auch in ihrem Namen, werden etwa pädagogisch begründet. Sie liegen ihrer Praxis zugrunde, werden aber weithin nicht sichtbar. Die Gleichzeitigkeit von Funktionalisierung und Persönlichkeitsorientierung, Freisetzung und Vereinnahmung, Ziel und Risiko (in der Person) verlangt nach Lösungen für so entstehende neue Formen und Schnittmengen sowie für deren strukturellen und pragmatischen Implikationen. Dabei wird in der Folge nicht zuletzt das Kind als Person entdeckt. Es „hat“ nicht nur eine individuelle Persönlichkeit sondern „ist“ zugleich eine – vor allem soziale – Person bzw. auf dem entsprechend auszustattenden Weg, eine solche zu werden. 14 Entsprechenden Aufgabenstellungen gerecht zu werden birgt insbesondere deshalb hohe Anforderungen an die Ausgestaltung, Ausstattung und Kompetenz der Individuen, als diese sich nicht mehr durchgängig der verselbstverständlichenden Stützen institutioneller Routinen und lebensweltlicher Gewissheit sicher sein können, vielmehr Flexibilität und kreative Lösungen gefordert sind. Es geht dabei dann weniger um Substanz oder strukturelle Stabilität als um Kompetenz im Umgang mit Emergentem, wechselnden Aggregatzuständen, Fließbalancen u. ä. m. Dies zu lernen ist ersichtlich voraussetzungsvoll.
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Das damit Gemeinte soll zunächst in einem Exkurs zur Begrifflichkeit erläutert werden. Exkurs zum Begriff der Person Persönlichkeit, Individualität und Person werden als Begriffe oftmals analog verwendet. Dies vergibt allerdings die Möglichkeiten zur weiteren Präzisierung darauf bezogener Analysen und Argumentationen. Der Begriff der Person verweist auf Individualität, auch auf die individuelle Persönlichkeit (für eine erste Bestimmung von Persönlichkeit vgl. o.), ist aber nicht mit dieser identisch. Zugleich formuliert der Begriff nämlich auch die Begrenzungen der Persönlichkeit durch soziale Erwartungen und Rahmungen. Diese treten in spezifizierter Form auf, etwa als Norm und Rolle, richten sich aber auch in generalisierter Weise an die Person, etwa als Erwartung der „adäquaten“ Selektion kommunikativer Anschlüssen, einer flexiblen Gewährleistung von Konsistenz, Kontinuität, sozialem Zusammenhalt und sinnhafter Integration und dies auch und gerade in offenen oder unterbestimmten Situationen. „Die Form der Person“, schreibt Luhmann (1991), „dient (…) der Lösung des Problems der Kontingenz durch Einschränkung des Verhaltensrepertoires der Teilnehmer.“ Person muss also im Hinblick auf Individualität verstanden werden als ein auf diese bezogenes, sie sozial potentiell zum Ausdruck bringendes aber dabei zugleich begrenzendes, selektives Konstrukt. Dieses soll sicherstellen, dass Individualität zwar sicht- und referierbar, aber zugleich – als eine entsprechend modulierte – sozial vermittelbar bleibt. Anders gesagt selegiert und bündelt Person (und dies v.a. auch im Selbstbezug, vgl. Goffman 1959) Elemente der Individualität so, dass sie sozial anschlussfähig und orientierungswirksam bleiben und Erwartbarkeit in sozialen Situationen gesichert bzw. gestärkt wird. Aus der anderen Richtung betrachtet geht es hier um Erwartungen, die in Abstimmung mit der Individualität gebracht werden. Solche Abstimmungen treten in komplexen Gesellschaften zunehmend in den Vordergrund und sind angesichts von deren oben angedeuteten Entwicklungstendenzen und Charakteristika dabei zugleich sichtbar anspruchsvoller geworden. Denn mit zunehmender Differenzierung wird Kontingenz in besonderer Weise virulent. Hier strukturell entstehende Anforderungen werden aber in besonderer Weise auf die Ebene der Individuen verlagert. Strukturelle Individualisierung löst mithin nicht zuletzt Integrationsprobleme komplexer Gesellschaften, sie ist also als „systemstabilisierend“ ausgelegt. Und Personalisierungen stellen dafür eine der „modernen“ Lösungen bereit. Dabei geht es nicht zuletzt
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um Zurechnung, Erwartbarkeit, Zurechenbarkeit und Verantwortlichkeit. Diese beziehen sich v.a. auf Wahrnehmungen, Entscheidungen und Handlungen15. Dabei ist die „moderne“ Person mit erheblich mehr Freiheitsgraden ausgestattet, als dies für traditionelle bzw. vormoderne Gesellschaften unterstellt werden kann. In Personalisierungstendenzen zeigen sich insofern Problembestände und Formwandlungen sozialer Integration ebenso an wie reziproke Freisetzungen von Individualität. Diese sind beschreibbar etwa als Zugewinne von Wahlmöglichkeiten und Aktualisierungschancen für individuelle Dispositionen, ohne dass dies negative Sanktionen und soziale Ausschlüsse zur Folge hat (vgl. etwa das Konzept der Patchwork-Identität, das die Chancen zum Thema macht, idealisierte Konsistenzerwartungen an die Person gleichsam zu unterlaufen (vgl. Keupp et al. 1999).16 Ein zentrales Kennzeichen moderner Gesellschaften ist es daher, dass sie ein Maximum an individuellen Besonderheiten, Persönlichkeitsstrukturen und Entscheidungen tolerieren können, ohne dass dies jeweils als Abweichung, etwa in Form von Devianz oder von Psychopathologien thematisch werden muss. Eine solche Diversifizierung insbesondere von Persönlichkeitsstrukturen ist für diese im Gegenteil eine strukturelle Voraussetzung (zu einer klassischen Formulierung dieser These vgl. Parsons 2001, S. 158). Die Erweiterung von Spielräumen und die ebenfalls erweiterte Autonomie lassen sich daher reziprok als gesellschaftliche Zugewinne an Chancen zur Bewältigung komplexer Zustände und diverser Situationen verstehen. Sie werden so betrachtet nicht „zugestanden“, sondern benötigt und gefordert, sie markieren die Gleichzeitigkeit von Autonomie, Integration und Funktionalitäten. Freisetzungen und Funktionalisierungen fallen mithin in der Form der Person zusammen. 15 Bereits für Kant ist „Person […] dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind“ (Kant 1990 A 22). Dies impliziert die (Unterstellung der) Fähigkeit zur Entscheidung. Voraussetzung für die Existenz kategorischer Imperative ist bei Kant daher die Autonomie der Person und nur auf diese Weise erscheint der Mensch als ein zur Sittlichkeit fähiges Wesen. Vgl. auch die „natürliche Person“ als Subjekt des Rechts mit ihren Implikationen der Entscheidung(-sfreiheit) und Verantwortung/Zurechenbarkeit. In der philosophisch geprägten klassischen Fassung des Begriffs wird die Person als autonomes Zentrum des Erlebens und Handelns verstanden. Während dies im erfahrungswissenschaftlichen Diskurs zunehmend zumindest skeptisch diskutiert wird (vgl. z. B. die v.a. von der Hirnforschung angeregte Diskussion um den „freien Willen“ (Vinken 2008)), setzt das gesellschaftlich vorherrschende Konstrukt Person dies weiterhin voraus. Die genannten, idealisierten Kriterien der Zurechnungsfähigkeit, der Zurechenbarkeit, des verantworteten Handelns, der integrativen Selbstzentrierungen, der Erwartbarkeit von Wahrnehmung, Orientiertheit etc. werden dabei unterstellt und dies v.a. auch aus funktionalen Gründen (ggf. auch kontrafaktisch). 16 Strukturelle Individualisierung ist dabei allerdings nicht deckungsgleich mit (etwa philosophisch verstandener, oft auf den Subjektbegriff bezogener) Autonomie. Letztere wird vielmehr im Konstrukt der Person idealisierend (etwa im Sinne einer Zurechenbarkeit z. B. von Verantwortung) zugeschrieben, da dies eine Basis von deren Funktionalisierung darstellt.
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Dialog – Das Soziale der Sozialisation Um die damit angesprochenen Besonderheiten und Qualitäten zu ermöglichen und zu gewährleisten sind spezifische Modi der Kommunikation erforderlich. Diese lassen sich als – in einem strukturellen Sinne – dialogische verstehen. In einer Kommunikation, etwa einer Interaktionssituation, meint die (reziproke) Bezugnahme auf den anderen als Person zunächst das in Rechnung stellen von Kontingenz sowie prinzipieller Autonomie des Gegenübers. Zugleich klingt in ihr der Bezug und die Verpflichtung der Beteiligten auf eine gemeinsame Interaktionsgrundlage, bzw. – und das ist besonders wichtig – auf deren kommunikative Aktualisierung bzw. innovative Herstellung an (Garfinkel 1984). Die wechselseitige Inrechnungstellung von Person(-alität) lässt sich definieren als Merkmal und zentrale Qualität des Dialogs. Dialoge sind mithin Kommunikationen, in denen sich die Beteiligten reziprok als Person wahrnehmen und anerkennen.17 Darin sowie in der – diesem impliziten – Verpflichtung auf eine Interaktionsgrundlage bzw. deren Herstellung und Sicherung ist wiederum Sozialität als nicht hintergehbare Gegebenheit angesprochen. Sie erscheint als Ergebnis kommunikativen sozialen Handelns und wird im Dialog als solches, reflexiv, sichtbar. Insbesondere der Dialog verweist so unausgesprochen auf ein zentrales Element der Conditio Humana, die Verwiesenheit auf Kommunikation zur Konstitution einer (kontingenten) Welt.18 Sozialität ist im Dialog gleichsam latent thematisch. Vor diesen Hintergründen aber steigen die Ansprüche an Sozialisation, Erziehung und Bildung und – im Zusammenhang der ebenfalls wachsenden, v.a. von Familien zu erfüllenden diesbezüglichen Leistungsansprüche – auch das Risiko des Scheiterns. Tendenzen zur Personalisierung indizieren so gesehen weniger Prozesse einer („entgrenzenden“) Individualisierung von Gesellschaft als Versuche sozialer Integration durch Reflexivierung des Sozialen selbst. Auf den ersten Blick wirken die genannten Merkmale und Hintergründe von Tendenzen zur Personalisierung (in ihrer nicht durchschauten Formbestimmtheit) allerdings eher paradox: Freigesetzte Individualität und autonome Selbstbestimmung, -steuerung, -sozialisation scheinen in Kontraposition zu stehen zu Funktionalisierung und funktionalisierenden Rhetoriken, ausgedrückt in Planung und Steue17 „Wortgeschichte Dialog, griechisch diálogos: Dahinter steht ein Verb dialégesthai, das die Wörterbücher zumeist übertragen mit ’sich unterhalten‚. Damit fällt aber Wesentliches unter den Tisch: Dialégesthai heißt genau: dass zwei miteinander ’sich etwas durchrechnen‚ und dies im Falle eines ernsthaften philosophischen, wissenschaftlichen Dialoges nicht nach Heller und Pfennig, sondern nach Grund und Gegengrund, Grund und Grundesgrund, und so pünktlich Schritt für Schritt, in Rede und Gegenrede, bis sie sich einig sind: übers Wissen oder übers Nichtwissen.“ (Bartels 2003) 18 Auf den wichtigen Aspekt der Bedeutung der Triade für die Konstitution des Sozialen sowie die Qualität des kommunikativen „Trialogs“ wird an dieser Stelle nicht eingegangen. Vgl. etwa Lindemann (2006), für die Familie Hildenbrand in diesem Band.
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rung und entsprechenden Konzepten wie etwa solchen, die die Entwicklung und Nutzung von eher sozialtechnischen Instrumenten und Verfahren denn sozialkommunikative Herangehensweisen befördern. Besonders augenfällig wird dies, wenn die beschriebenen Entwicklungen Kindheit tangieren: Kinder sind dann nicht mehr wie in traditionellen, vormodernen Gesellschaften „einfach“ Mitglieder der Gesellschaft, sondern sie werden zunehmend im oben entwickelten Sinne als Personen adressiert. Kinder als Personen zu adressieren, zu verstehen und zu behandeln bedeutet, dass Kindheit als alleinige Sammelkategorie ihrer Personalität nicht mehr hinreicht, in wichtigen Punkten überschritten wird. Zugleich wird dabei der Raum einer umfassenden Gewährleistung (Garantie) ihrer Individualität, wie ihn Primärbeziehungen bieten, tendenziell verlassen bzw. mit einem doppelten Boden unterlegt. Ihre Individualität wird verstärkt auf soziale Bezüge und Erwartungsfahrpläne ausgerichtet und dabei zugleich erwartet, diese zu personalisieren. Zurechnungen und Zentrierungen richten sich dann in unterschiedlichen Fokussierungen auf die Person des Kindes, nicht auf das Merkmal Kind (im Sinne einer generalisierten Zuschreibung wie „es sind eben Kinder“/„sono bambini“). Das gilt auch, wenn es vordergründig „allein“ um das Wachstum und die freie Entfaltung des Kindes zu gehen scheint. Solche, hier im Vorgriff auf die folgenden Ausführungen formulierten Beobachtungen und Hypothesen werfen damit Fragen auf, die das gesellschaftliche Feld der Erziehung und Sozialisation in zentraler Weise betreffen. D Ein neuer (?) Blick auf Sozialisation und Erziehung Die Gleichzeitigkeit der Freisetzung und Funktionalisierung von Individualität wirkt, verstanden mit traditioneller Begrifflichkeit, auf den ersten Blick widersprüchlich. Integriert werden sollen, nach unserer hier entwickelten These, diese heterogenen Komponenten in spezifischen Formen und Konzepten der Person. Entsprechend kombinieren Konzepte und Programme der gesellschaftlichen Organisation von Sozialisation, von öffentlicher Bildung und Erziehung (zunehmend aber auch viele Eltern, vgl. etwa die Klagen über die sog. „Terminkalenderkindheit“ Schweizer 2007) die Forderung, an der Individualität des Kindes anzusetzen bzw. diese kontinuierlich in Rechnung zu stellen, mit aus – als solche bestimmten – Funktionsnotwendigkeiten und projizierten biografischen Optionen abgeleiteten Strategien. Individualität als Ausgangspunkt und die Persönlichkeit des Kindes als Ziel werden gekoppelt mit biografischen Entwürfen,
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Personmodellen, Planvorgaben, maßnahmeförmigen Förderungen, Kompensationsprogrammen oder Präventionen im Rahmen von Bildungsprozessen. Die vorherrschenden Pädagogiken und Sozialisationstheorien fördern bzw. beobachten und konzeptualisieren dabei in gleichem Maße die Persönlichkeit wie einzelne von deren (Fähigkeits-)Dimensionen. Ihre Perspektive ist damit vielfach zugleich stark individualisierend und partikularisierend angelegt.19 Soziale Prozesse und Kontexte in einem grundlegenden Sinne geraten, wenn überhaupt, zumeist nur stark überformt in den Blick etwa wenn sie sich auf Detailfragen und isolierte Aspekte (wie geschlechterdifferente Fähigkeitsprofile, migrantenkinderspezifische Motivationen etc.) konzentrieren. Vor allem auf diese Weise entkontextualisieren und verflachen sie aber sowohl das Verständnis von Kindheit wie dasjenige von Sozialisation. Neuere Bildungsforschungen etwa ignorieren oder isolieren deren konstitutive Qualitäten, Merkmale und Bezugsgrößen und/oder führen sie (hoch selektiv, als gleichsam exteriore und korrelativ, nicht: systematisch) etwa in Form von Variablensets wieder ein. Der eigentliche Prozess und die Logik von Sozialisation werden auf diese Weise, so lautet neuere Kritik, konzeptionell nicht gefasst bzw. sachlich eigentümlich entleert. Insbesondere das Soziale, Sozialität als die hier unverzichtbare, konstitutive Dimension und ausschlaggebende Qualität werde gleichsam gelöscht und nachträglich erst, als technisch gewonnenes und verstandenes Destillat, wieder eingeführt. Man kann sagen […], daß es sich mit dem Sozialen ähnlich wie mit dem Geschmack in der amerikanischen Küche [...] verhält. Es gibt geradezu ein gigantisches Unternehmen zur Entwendung und Abschreckung des Geschmacks der Lebensmittel. Die Würze wird zunächst isoliert und aus den Lebensmitteln herausgezogen, anschließend wieder eingezogen, hinzugefügt in Form von Flavour oder burlesken und künstlichen Soßen. […] So wird das Soziale, dessen lebendige Determinierung sich in einer verzweifelten Programmierung verliert, als Überdeterminierung neu erfunden (Baudrillard 1982; zit. nach Hildenbrand 1991, S. 41).20
19 Vereinseitigungen in den vorherrschenden Sichtweisen der Erziehungswissenschaften und der Sozialisationstheorie werden seit langem moniert (Adorno 2003) und finden in jüngerer Zeit verstärkt Resonanz. So wird im Zusammenhang mit Fragen der Kindheit neuerdings kritisch vorgebracht, dass die Sicht auf den Gegenstand unzulässig verengt sei und eine erwachsenenzentrierte Sicht bevorzugt werde, wenn etwa das Kind auf eine Position reduziert wird, in der es allein als vieldimensionaler „Noch-nicht“(-Erwachsener) erscheine. Das Kind werde dabei vor allem in bildenden, aber auch in erziehenden Maßnahmen und Praktiken primär unter einem Zukunftsbezug thematisiert und Kindheiten entsprechend organisiert (vgl. Kelle 2006, zur „Biografisierung der Kindheit“ etwa Böhnisch 2004). 20 Ein für diesen Zusammenhang illustratives Beispiel liefert die Rede von der – zu trainierenden – „soziale Kompetenz“: Nicht nur werden basale soziale Vorgänge auf diese Weise verkünstlicht, vielmehr wird hier soziales Handeln v.a. als moralisches fehlkategorisiert und eingefordert so z. B. auch die Parteinahme für ein verprügeltes Kind als Ausdruck einer „Demokratiekompetenz“.
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So sei das Soziale aber in seinen entscheidenden Qualitäten (etwa der komplexen und sozial eingebetteten Kommunikativität der Sozialisation) nicht mehr zu identifizieren. Viele der theoretischen und empirischen Befunde seien daher gerade auch pädagogisch nicht anschlussfähig. Solche Dekontextualisierungen rissen mithin Zusammenhänge auseinander und führten in der Folge zu Fehldimensionierungen und -kategorisierungen. Viele der etablierten Auffassungen von Kindheit, Sozialisation und Bildung sind so gesehen selbst Teil der Probleme, die zu lösen sie vorgeben. Neuere Kindheitsforschungen und Konzepte von Sozialisation setzen deshalb gerade dort und anders an. An die Stelle der hier nur holzschnittartig skizzierten kritisierten Auffassungen treten zunehmend solche, die Sozialisation als einen nicht auf Kindheit begrenzten, in Kommunikation ablaufenden, vor allem interaktiven Prozess konzeptualisieren und untersuchen. Sozialisation ist danach kein unidirektionaler Vorgang mit komplementären Rollen und spezifizierten Grenzen, sondern vielmehr ein kontinuierlicher (und permanenter) kommunikativer Prozess, in den alle Beteiligten einbezogen sind. Dieser Prozess ist nicht auf Erwachsene-Kind-Konstellationen reduziert, sondern bezieht etwa Peers sowie in spezieller Weise auch Aspekte der Selbstsozialisation mit ein und beeinflusst diese zugleich. Auch das Kind sozialisiert seine Eltern (u. a. zu solchen). Wissensvorsprünge sind keineswegs einseitig verteilt, Kindheit und Elternschaft konstituieren sich reziprok. Veränderungen der Kindheit beziehen ihre Komplementäre (die Eltern, die Erzieher, die Lehrer) mit ein. Es geht mithin um ein Verständnis von Generationen (und deren jeweiliger rollenförmiger Ausprägungen) als Relationen, das weder falsch objektiviert noch reduktiv individualisiert („subjektiviert“) werden darf. Kindheit benennt damit mehr als „die Kinder“, sie hört nicht bei diesen auf, sondern bezeichnet umfängliche Ordnungs- und Handlungsprinzipien, soziale Arrangements, Interaktionsordnungen und Kulturalisierungen (Semantiken), die insbesondere an den Schnittstellen zu jeweiligen Lebensaltern gesellschaftlich hergestellt und aktualisiert werden. Eine solche De-Ontologisierung der Kindheitskategorie (vgl. Kelle 2006, S. 121) wird häufig auch formuliert in Begriffen eines „Doing Child“ (Solberg 1996). Kindheit soll damit sichtbar gemacht werden in den oben skizzierten Qualitäten ihrer praktischen und kommunikativen sozialen Herstellung, die gegen naturalisierende Konzepte abgegrenzt werden. Kindheit erscheint aus dieser Sicht zuvorderst als Ergebnis sozialer Praktiken und Konstruktionen. Entsprechendes Handeln bezieht sich auf soziale Bedeutungen, Rahmen und Struktur(ierungs)prinzipien, in denen Kindheiten entstehen, nicht auf eine vorgängige Essenz dessen, „was Kinder sind“, auch wenn dies im Selbstverständnis der Akteure oft so anklingt. Auf der Basis entwickelter Interaktionsordnungen (vgl. Goffman 2008) entsteht Kindheit als Relation. Auch und gerade die Formen der
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Herstellung von Kindheit und deren Hintergründe und Kontexte gilt es demzufolge zu betrachten (vgl. Gildemeister/Robert 2008, Kap. 4). 21 E Inszenierte Naturwüchsigkeit – veranstaltete Kindheit Neuere Arbeiten, die eine veränderte Sichtweise auf Sozialisation und Erziehung beanspruchen, kennzeichnen das Kind zunächst und in Kontrast zu dessen herkömmlichem Status als „Objekt von Prägungen“ oder „zu entwickelnde und zu formende Persönlichkeit“ nunmehr als „Akteur“22. Damit erscheint das Kind als ausgestattet mit wesentlichen von dessen (modernen) Eigenschaften. Spezifische Formen der Orientiertheit, Handlungsfähigkeit, Selbst- und Affektsteuerung etc. werden sichtbar bzw. werden ihm (implizit) zugeschrieben. Zugleich dominiert dabei zunächst noch eine stark individuumzentrierte Sichtweise, etwa in der Definition des zu sozialisierenden Kindes als eines „produktiv realitätsverarbeitenden Subjekts“ (Hurrelmann 1983). Die oben vorgestellten modifizierten Auffassungen von Kindheit und Sozialisation gehen aber über die Würdigung des Kindes als Subjekt, Persönlichkeit oder Akteur hinaus. Sie beschreiben Kindheit, wie gesehen, als ein komplexes gesellschaftliches Konstrukt, das sich in Interaktionsordnungen, Kommunikationen und Praxen konstituiere und realisiere. Beides, die auf den Akteur- sowie die erweiterte, auf das Soziale gerichtete Perspektive zusammengenommen, reflektieren dabei aber m. E., einen weiteren, in unserem Zusammenhang zentralen Aspekt. Denn wenn nunmehr die Bedeutung des Sozialen der Sozialisation, etwa als Interaktionskontext, herausgestellt wird, dann kann dies nicht als neues, „modernes“ Phänomen behauptet werden. Neu daran ist vielmehr zum einen, dass es Eingang in die Sozialisationstheorie findet, die sich damit den Zugang zu ihren sozialwissenschaftlichen Wurzeln neu erschließt, zum anderen, dass das Kind nunmehr auch im wissenschaftlichen Diskurs zunehmend als Person im vorgenannten Sinne konzeptualisiert wird.
21 Neben solche, das traditionelle Kindheitsverständnis gegen den Strich lesende und sie dabei durchaus ergänzende Positionen treten seit einiger Zeit eher sozialpolitisch akzentuierte Diskurse um eine Aufwertung des sozialen Status von Kindern und dessen Ausstattung mit mehr Freiheitsgraden, Teilhabeoptionen und Rechten (etwa Olk 200), die sich im Kontext der Thematisierung sozialer Ungleichheit ansiedeln und diese damit ebenfalls in den Zusammenhang von, hier anders gefassten, „Generationenordnungen“ einrücken. 22 Die Würdigung eines aktiven Anteils des Kindes an seinen eigenen Wachstumsprozessen ist dabei nicht eigentlich neu: Selbst epigenetische Entwicklungskonzepte (vgl. etwa Piaget 1980) betonen dessen Bedeutung seit langem.
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Was in vielen pädagogischen Diskussionen weiterhin als Widersprüchlichkeit – etwa von postmodernen Kindheitskonzepten und instruierenden Bildungsansätzen (vgl. Konrad 2009) – beschrieben und vor allem auch von der pädagogischen Praxis als solche erlebt und beklagt wird, ist so gesehen Ausdruck einer (neuen) Vergesellschaftungsmodalität, in diesem Sinne ein neues Ziel und eine neue Form. Neuere Sozialisationstheorien und pädagogische Konzepte bringen dies selten explizit, zumeist aber gleichsam symptomatisch zum Ausdruck, als Reflex der angesprochenen Entwicklungen. Dabei aber geht es, wie oben ausgeführt, darum, Individualität, Autonomie, soziale Integration und Funktionalität in spezifischer Weise miteinander zu vermitteln. Gerade dies wurde als zentraler Bezugspunkt einer Personalisierung der Kindheit beschrieben. Den Ausformungen kommunikativer Prozesse kommt dabei eine besondere Bedeutung zu: Sie sind, sollen sie dem formulierten Ziel gerecht werden, als dialogische angelegt. Dialog stellt in diesem Zusammenhang daher keine normative Prämisse, sondern eine strukturelle Voraussetzung dar. Die oben entwickelte Bestimmung von Dialog lässt sich also systematisch auf die Argumentation einer (funktionalen) Personalisierung von Kindheitskonzepten beziehen. Denn auch hier meint Dialog die reziproke Bezugnahme auf den anderen als Person und damit das in Rechnung stellen von Kontingenz und prinzipieller Autonomie des Gegenübers. Zugleich klingt dabei auch hier die (gemeinsame) Orientierung und/oder Verpflichtung der Beteiligten auf eine gemeinsame Interaktionsgrundlage an, etwa eine Definition der Situation. Ist diese nicht gegeben, offen oder unterbestimmt, bezieht sich die Verpflichtung auf das kommunikative Regelsystem zu ihrer Herstellung sowie auf dessen Anwendung. Alle Beteiligten sind aus einer solchen Perspektive betrachtet Teil eines gemeinsamen Bemühens um die Nutzung und Herstellung sozialer Rahmen, innerhalb derer Handeln und Kommunikation möglich sind und gelingen können. Sie stellen kommunikativ das Soziale her, das zugleich als Basis dieses Prozesses vorausgesetzt wird. Darin wiederum wird Sozialität in ihrer Qualität als nichthintergehbare Grundlage und Ziel auch und gerade von Sozialisation sichtbar. Dialogische Kommunikation bezieht sich dabei auf Personen als „moderne“, vermittelnde und verantwortende Foki und Instanzen der Herstellung des Sozialen, die sich selbstbezüglich als solche identifizieren (sollen). Weder die traditionellen konkreten Ausformungen des pädagogischen Bezugs (in der Frühpädagogik zumeist angesiedelt auf einem Kontinuum zwischen den Komplexen der Mütterlichkeit und der Staatserzieherin) noch die – einzelne Dimensionen (Sprache, Körper, Fähigkeiten, soziales Verhalten) fokussierenden – neueren Förderkonzepte werden den damit gegebenen Anforderungen gerecht. Vor dem Hintergrund der angesprochenen Einseitigkeiten pädagogischer Selbst-
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verständnisse sowie der – verbreiteten – Erfahrung manchen Scheiterns wird daher auch in pädagogischen Diskursen neuerdings zunehmend, bislang v.a. im Zusammenhang schulischer Instruktion, auf Dialogizität als Kriterium verwiesen. (Vgl. Arnett 1992). Dies aber verstehen wir im oben genannten Sinne als Reflex auf gesellschaftliche Entwicklungen. Dialogizität benennt so gesehen vor allem strukturelle Voraussetzungen für die impliziten Prämissen aktueller pädagogischer Handlungsansätze und Herausforderungen: Personalität als Ziel setzt die Personalisierung der Kommunikation voraus. Steht in neuen Sozialisationstheorien an systematisch zentraler Stelle der Dialog, so indiziert dies nicht zuletzt die (Wieder-)Entdeckung der Wege und Logiken der Sozialwerdung in den elementaren Formen und Prozessen der Herstellung von Sozialität. Der Auftrag an die Beteiligten zur selbstbezüglichen und verantworteten Herstellung des Sozialen im Sinne gelingender Kommunikation unterlegt nach unserer These zudem in zunehmenden Maße soziale Situationen, nicht zuletzt auch solche, die vordergründig durch Routine und die Gewissheiten lebensweltlicher Selbstverständlichkeit gekennzeichnet sind. Sozialisation, Erziehung und Bildung lassen sich von daher gerade in modernen Zeiten monologisch nicht realisieren. Programme und eine Praxis ohne Dialog sehen ab von der Person, so dass sich diese nicht konstituieren, konturieren und als Instanz sichtbar machen kann. Das gilt für Formen „technisch“ ausgelegter Bildung im Modus gleichsam monologischen Lernens. Aber auch das populär gewordene „offene“, selbstgesteuerte und „freigesetzte“ Lernen „kleiner (Selbst-)Konstrukteure“ und „Forscher“, ist von einer Umwelt gerahmt, die sich strukturell betrachtet dem Dialog entzieht und dies (sowie sich selbst darin) zugleich dementiert. Auch so werden die oben formulierten Zielen nicht erreicht: Denn auch die tendenziell entdialogisierten Konzepte der Selbstsozialisation und Selbstbildung bieten keine hinreichende strukturelle Grundlage für die Entwicklung der Person. Treffen unsere Thesen zu, so lautet ein zentrales Motiv moderner Pädagogik nämlich nicht zuletzt, auf gesellschaftliche Zustände und soziale Situationen vorzubereiten, die den Umgang mit Offenheit, Unterbestimmtheit, Kontingenzen und Unsicherheit fordern, dabei auch Doppelbödigkeit ausformen. Manche neueren pädagogischen Ansätze und Konzeptionen transportieren das hier Gemeinte – meist wenig expliziert – mit, z. B. in Konzepten gemeinschaftlichen Projektemachens der „Reggio Pädagogik“ (Dreier 1999) oder des Lernens und der Bildung in Erfahrungsfeldern und Gruppenprozessen (vgl. v. Hentig 2005). Hier wird entwickelt und auch trainiert, was im Vorstehenden angesprochen war: Individualitätskomponenten in solcher Weise zu entfalten bzw. sich entfalten zu lassen, dass Autonomie und zugleich die Fähigkeit und das Repertoire entstehen, wechselnde Situationen zu bewältigen, Sozialität auch in turbulenten Umwelten
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zu gewinnen, so dass personale und soziale Integration entstehen kann. Die „autonome“ Person wird aus gesellschaftlicher Sicht als „strukturelle Ressource“ konturiert und dabei zugleich in ihrer Individualität entfaltet und sichtbar gemacht. So gesehen kehren gerade Open Framework Ansätze konzeptionell zu den Wurzeln der Sozialisation zurück. Wo etwa auch die Sozialisationstheorie „die Lösung situierter Handlungsprobleme in sozialen Situationen als kleinste Einheit von Sozialisations- und Bildungsprozessen“ bestimmt (Kelle 2006, S. 133), knüpft sie – zumindest auf den ersten Blick – an deren elementarste Formen an. Für die Gesellschaften des europäischen Mittelalters etwa war eingangs die „Naturwüchsigkeit“ von Sozialisationsprozessen in alltäglichen praktischen Kontexten und lokalen, „primären“ sozialen Bezügen beschrieben worden – und nicht zuletzt darum scheint es zu gehen. Allerdings darf eine solche Betrachtung die jeweiligen Rahmen nicht ausblenden: Neu ist dabei die Ansiedlung solcher „Naturwüchsigkeit“ in Organisationskontexten.23 „Natürliche“ Situationen im Organisationskontext zu veranstalten, bedeutet aber strukturell deren „Inszenierung“ (vgl. für psychotherapeutische Organisationen Hildenbrand 1991; Gildemeister/Robert 1999). Sichtbar werden Inszenierungen und deren Folgen inzwischen an vielen Stellen, etwa in den bereits erwähnten „Patchwork-Identitäten“. Ein anderes Beispiel stellen hybrid wirkenden Institutionalisierungen dar, die situationsflexibel die Referenz von der Individualität auf die Organisation und zurück wechseln und so als Experimente mit neuen Vergesellschaftungsmodi verstehbar sind (vgl. z. B. die Diskussion um sog. Arbeitskraftunternehmer; Pongratz/Voß 2003). Die Kindheit im Mittelalter war beschrieben worden als nur in geringem Maße ausdifferenziert und organisiert. Auch im Vergleich damit zeigt sich in den angesprochenen pädagogischen Konzepten ein entsprechendes Anknüpfen an die „Naturwüchsigkeit“ von Sozialisation ebenso an, wie der erreichte hohe Grad der Reflexivierung des Sozialen, der sich in Inszenierungen zum Ausdruck bringt. Damit wiederum wird auch moderne Kindheit im oben entwickelten Sinne sichtbar als Chiffre: Sie verweist auf und spezifiziert selbst entsprechende Prozesse in der Gesellschaft (vgl. für die Diskussion um die sog. reflexive Moderne Beck/Lau 2004). Zugleich werden diese in den dominierenden Kindheitskonzepten zumeist nur in überformter Weise repräsentiert, so nicht gänzlich verdeckt Im Bezug auf Institutionen der Frühpädagogik ist aktuell oft die Rede von Verunsicherungen, Überforderungen, selbst von einer tief greifenden Krise. Vieles davon hat u. E. seinen Grund nicht zuletzt in Defiziten an einer eigenen Sprache, vor allem einer solchen, die zur institutionellen Selbstreflexion befä23 Auch Familien realisieren offenbar zunehmend stark rationalisierte und rationalisierende Muster.
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higt. Die entwickelten Bestimmungen von Person und Dialog sollten auch von daher verstanden werden, als eine Ressource und ein Werkzeug zur Beobachtung entsprechender Phänomene. Sie haben nicht den Charakter normativer Handreichungen; vielmehr geht es darum, einige u. E. für Konzepte der Sozialisation und Kindheit zentrale Begriffe zu schärfen – v.a. auch, um den Gegenstand angemessen zu dimensionieren. Dies sollte daher nicht als ein (etwa pädagogisches oder erzieherisches) „Besserwissen“ aufgefasst werden. Im Gegenteil wird die perspektivische und praktische Autonomie von Eltern und Erziehern systematisch betont. Die Nutzung des vorgestellten Reflexionsrahmens in den jeweiligen Feldern kann nur als deren eigene geistige Leistung verstanden werden und gelingen, vielleicht als Unterstützung der weiteren Entwicklung einer im richtig verstandenen Sinne „bescheidenen“ (Schütze 1992 ) Professionalität. Dialogizität liefert dafür eine u. E. hilfreiche strukturale Begrifflichkeit, ein Werkzeug für die Betrachtung von Sozialisation in ihrer ureigenen, im Begriff bereits anklingenden Dimension: als im Sozialen permanent stattfindende Konstitution und Vergesellschaftung. Personalität wiederum kennzeichnet ein wesentliches Strukturierungsmerkmal moderner Kindheiten, das als Chiffre auf übergreifende und durchaus Risiken freisetzende Entwicklungstendenzen der Gesellschaft aufmerksam macht. Literatur Adorno, Theodor W. (2003): Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie. In: Ders.: Soziologische Schriften I. Gesammelte Schriften Bd. 8, Frankfurt, S. 70-87 Allport, Gordon W. (1949): Persönlichkeit. Struktur, Entwicklung und Erfassung der menschlichen Eigenart. Stuttgart Ariès, Philippe/Hentig, Hartmut von/Neubaur, Caroline/Kersten, Karin (2007): Geschichte der Kindheit. München Arnett, Ronald C. (1992): Dialogic Education. Conversation about Ideas and Persons. Illinois Bartels, Klaus (2003): Trüffelschweine im Kartoffelacker. 77 neue Wortgeschichten. Mainz am Rhein Brandes, Holger (2008): Selbstbildung in Kindergruppen. Die Konstruktion sozialer Beziehungen. München/Basel Baudrillard, Jean (1982): Vom zeremoniellen zum geklonten Körper: Der Einbruch des Obszönen. In: Kamper, Dieter/Wulf, Christian (Hrsg.): Die Wiederkehr des Körpers. Frankfurt am Main, S. 350-361 Beck, Ulrich/Lau Christoph (2004): Entgrenzung und Entscheidung. Was ist neu an der Theorie reflexiver Modernisierung? Frankfurt am Main Becker, Gary S. (2003): Die Bedeutung der Humankapitalbildung in der Familie für die Zukunft von Wirtschaft und Gesellschaft. In: Leipert, Christian (Hrsg): Demogra-
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Sprachlose Pädagogik? – Zur Diskrepanz von Präventionsprogrammatik, pädagogischem Selbstverständnis und pädagogischer Arbeitspraxis Stephan Hein, Günther Robert, Thomas Drößler 1 „Eine große Aktivität entfalten bedeutet noch nicht notwendigerweise rational handeln.“ Basil Bernstein
Einleitung Betrachtet man die Art und Weise bzw. die argumentativen Stile, in denen das Modethema Prävention in einem Großteil der Literatur zur Familien- und Jugendhilfe, zur Schule oder zur Kinderbetreuung gegenwärtig aufgegriffen wird, so ist auffällig, dass man v.a. mit Optimismus und Kritik, mit befürwortenden oder warnenden Stellungnahmen (oder auch einer Mischung aus beidem) konfrontiert wird. Es entsteht vordergründig der Eindruck, als würde sich die Auseinandersetzung in Pro und Contra erschöpfen, denn im „Für und Wider“ gibt es hier für jede Position auch das entsprechende Argument. Im Vergleich dazu nimmt sich der Anteil an systematisierenden Argumentationen (auch innerhalb dieser Positionierungen), welche die mit dem Schlagwort „Prävention“ angesprochenen Fragen und Probleme in einem größeren gedanklichen Bogen, also unter Einbezug sozialer und fachlicher Voraussetzungen durchdenken, relativ gering aus. Dies steht zum einen in augenfälligem Gegensatz zu den jeweils positiven oder negativen Erwartungen, die an Prävention gerichtet und Bedeutungen, die ihr zugeschrieben werden; zum anderen steht es sozialwissenschaftlichen Forschungstraditionen entgegen, z. B. in den Bereichen der kritischen Kriminologie, der Bildungssoziologie, der Sozialisationsforschung u. dgl., in denen diesbezügliche reflexive Ressourcen verfügbar sind, also solche, die ein differenziertes, begrifflich-konzeptionelles Handwerkszeug zur Beschreibung und Analyse der entsprechenden Problemfelder bereitstellen. 1 Dieser Beitrag ist zusammen mit dem Text „Präventive Skepsis“ in diesem Band in vielen gemeinsamen Diskussionen und Arbeitspapieren mit Thomas Drößler und Günther Robert entstanden. Ursprünglich als ein gemeinsamer Beitrag konzipiert, sind die in beiden Texten entwickelten Argumentationen aufeinander bezogen und können bzw. sollen als sich wechselseitig illustrierend und ergänzend gelesen werden. Die vorliegende Textform wurde von Stephan Hein in Abstimmung mit den Genannten verfasst.
G. Robert et al., (Hrsg.), Aufwachsen in Dialog und sozialer Verantwortung, DOI 10.1007/978-3-531-92693-3_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Dass auf den Optimismus vordergründig mit einem kritischen, diesen Optimismus disqualifizierenden Impuls reagiert wird (z. B. ironisierend präventiv vor Prävention gewarnt wird; vgl. Lindner/Freund 2001) oder alternativ dazu Forderungskataloge hinsichtlich angemessener Konzepte aufgestellt werden (z. B. Schmitt 2008), lässt vermuten, dass fachliche Gesichtspunkte in der Realität eine zumindest nachgeordnete, wenn nicht gar nebensächliche Rolle spielen. So wird auch immer wieder ein zunehmendes Auseinanderklaffen von theoretischen/konzeptionellen Diskussionen auf der einen Seite und der pädagogischen Arbeitspraxis auf der anderen Seite konstatiert. Dieser kritische Impuls bleibt jedoch bei genauerem Hinsehen auf eigentümliche Weise dem Thematisierungsstil der befürwortenden Stellungnahmen ungewollt verhaftet, denn er lässt die Art und Weise der Problemstellung (und damit auch bestimmte ihrer latenten Prämissen) unberührt mit der Folge, eine ganze Reihe wichtiger Problembezüge auszublenden. Dazu gehört z. B. die Frage, wie der systematische Zusammenhang zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Beobachtungs- und Thematisierungsebenen auf der einen und der pädagogischen Arbeit selbst auf der anderen Seite beschaffen ist – eine nicht ganz unwesentliche Frage, will man den bemängelten Abstand zwischen Konzept und Realität füllen oder umgekehrt zeigen, dass er nicht zu füllen ist. Zu denken ist beispielsweise an das Problem, Anhaltspunkte für die Übersetzung extern gewonnener Konzepte zur Problembeschreibung in die Logik einer für pädagogisches Arbeiten typischen fallspezifischen Arbeitspraxis zu finden bzw. vor dem Hintergrund externer Problembeschreibungen (z. B. der Sozialberichterstattung) eine eigene Terminologie zur Dimensionierung der in Rede stehenden Phänomene zu entwickeln (siehe Abschnitt 3). Dies sind Fragen nach dem Verhältnis von Präventionsprogrammatik und den Spezifika (sozial-)pädagogischen Arbeitens, d.h., es geht nicht nur um eine passive Hinnahme von sozialpolitisch verankerten Präventionsaufträgen, um dann vor dem Hintergrund kritischer Stellungnahmen lediglich zu einer Art „Schadensbegrenzung“ aufzurufen.2 Denn zum einen bleibt die Unsicherheit angesichts der bestehenden konzeptionellen Unterbestimmtheit von Prävention bestehen, zum anderen bleibt mit einer gewissen Zwangsläufigkeit offen, wie kritische Orientierungsmaximen in handlungsleitendes Wissen einer pädagogischen Arbeitspraxis übersetzt werden können. Des Weiteren setzt man sich zu wenig mit der Frage auseinander, inwieweit Prävention als ein an spezifischen Beziehungsaspekten (z. B. an der Beziehung zwischen Pädagoge und Kind) orientiertes Handeln im Rahmen der als naturwüchsig unterstellten Prozesse des Aufwachsens funktionieren kann, wenn diese 2 Dieser Vorschlag findet sich in Schmitt 2008, S. 243.
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Naturwüchsigkeit zugleich zum Kernproblem gemacht wird, d.h. einer „professionellen Ergänzung“ bedarf. Denn für Familien und andere Formen primärer, d.h. bedingungsloser und umfassender Beziehungshaftigkeit (wie z. B. Freundschaften) ist ihr diffuser und affektiv-emotionaler Charakter konstitutiv.3 Dass bedeutet, dass eine pädagogische Praxis, die sich an einem – wie auch immer reflektierten, punktuellen oder anderweitig beschränkten – Eingreifen in solche Beziehungen orientiert, potentiell die Tendenz entwickelt, diese Primärbeziehungshaftigkeit – und damit die in anderen Kontexten als nachlassend konstatierte Sozialisationskraft von Familien – kontraproduktiv zu unterlaufen.4 Weitere Problembezüge ließen sich hier anführen. Hier soll zunächst festgehalten werden, dass die Frage nach solchen strukturlogischen Voraussetzungen bzw. Einschränkungen nur vereinzelt, am Rande und zumeist implizit aufkommt, denn im Vordergrund steht v.a. das Aufzeigen fragwürdiger (moralischer) Motive und latenter kontraproduktiver Folgen, wie sie bereits seit längerem beobachtbar sind.5 Damit wird zwar implizit auf wesentliche strukturlogische Zusammenhänge von Prävention verwiesen, die für die hier verfolgte Fragestellung anschlussfähig sind, aber dennoch sind die mit Prävention aufgerufenen oder denkbaren Problembezüge nicht hinreichend dimensioniert. Deshalb bleibt auch ein relevantes kritisches Potential ungenutzt, das (sozial)pädagogisch Tätige, die gegenwärtig immer öfter mit „Präventionsaufträgen“ konfrontiert werden, in die Lage versetzen könnte, in ihrer Arbeitspraxis selbst die Mittel für kritische Stellungnahmen zu entwickeln, d.h. auch: ihre in einem sehr weiten Sinne auf Ermöglichung und Entfaltung (und nicht auf präventive Einschränkung) gerichtete Arbeit6 gegen von außen herangetragene über- und fehldimensionierte Leistungserwartungen zu verteidigen. Das bedeutet dann auch – und darum soll es in diesem Beitrag vorrangig gehen – nach möglichen Reflexions- und Handlungsgewinnen im Rahmen der pädagogischen Arbeit zu fragen. 3 Im Gegensatz zur Spezifität bzw. Ausschnitthaftigkeit der Beziehungen in der pädagogischen Arbeit. Diese Unterscheidung zwischen Diffusität und Spezifität von Beziehungshaftigkeit geht auf Talcott Parsons zurück. Zur Entfaltung dieser Unterscheidung im Kontext von Sozialisationsprozessen vgl. Parsons 1951. 4 Diese Tendenz findet man durchaus in bereits programmatischer Form in dem Sinne, dass Kinder nicht erst vor dem Hintergrund unlösbarer Problembelastungen, sondern bereits unter Präventionsgesichtspunkten zumindest punktuell dem „entwicklungshemmenden Einfluss“ ihrer Herkunftsfamilien entzogen werden sollen, z. B. im Modus der vielerorts verbreiteten und oft entsprechend begründeten Sommerschulen für Migrantenkinder (vgl. etwa Zeit 2004; Ballis/Spinner 2008). 5 Prominent geworden sind v.a. das Präventionsdilemma (vgl. Bauer 2005) oder die Überformung von Handlungskontexten durch verdeckte Motive der sozialen Kontrolle (vgl. z. B. Bröckling 2008, Freund/Lindner 2001). 6 Unter pädagogischer Arbeitspraxis wird hier z. B. auch das „Lehren“ im engeren Sinne verstanden, so es sich nicht als reine „Informationsvermittlung“ gestaltet, sondern Bezüge zum diffusen alltagsweltlichen Repertoire an generativen Themen herstellt.
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Denn man kann nicht nur zeigen, dass und warum Ansprüche und Realitäten konstitutiv auseinanderklaffen (das sind sozialwissenschaftliche Gemeinplätze) oder dass sich in Präventionsmaßnahmen v.a. ein staatliches Kontrollinteresse camoufliert. Wenn man versucht, die angesprochenen Problembezüge in einem komplexeren Bogen zu durchdenken, kann an konkreten Kontexten und Fällen deutlich gemacht werden, welche sachlichen und strukturellen Ressourcen empirisch möglicherweise gegeben und für die Beteiligten aufgrund unangemessener Prämissen oder aufgrund des Fehlens dimensionierender Konzepte nicht greifbar sind, oder umgekehrt: von welchen Ressourcen etwa aufgrund fachlicher Selbstmissverständnisse oder überzogener realitätsferner Leistungserwartungen ausgegangen wird, die dann jedoch nicht verfügbar sind. Vielleicht am wichtigsten ist jedoch, dass die Orientierung an zu vermeidenden Belastungen und Risiken in viele Zusammenhänge pädagogischer Arbeit bereits eingelassen ist, jedoch unter ganz anderen Voraussetzungen und Prämissen, als in der Präventionsprogrammatik unterstellt wird. In diesem Beitrag geht es daher nicht darum, für oder gegen Prävention zu optieren, etwa den Optimismus zugunsten der Kritiken zu dämpfen oder umgekehrt. Vielmehr soll vor dem Hintergrund der stillen Prämissen gegenwärtiger sozialpolitischer Präventionsdiskurse einerseits sowie der organisatorischen und fachlichen Restriktionen (sozial-)pädagogischer Praxis andererseits nach einigen zentralen strukturlogischen Implikationen von Prävention gefragt werden, und das heißt gleichermaßen nach deren Voraussetzungen wie Einschränkungen. Nicht zuletzt wird dabei ihr Verhältnis zu den Prämissen und Formen pädagogischer Arbeitspraxis thematisch. Defizite in der Programmatik von Prävention Dieser Abschnitt dient zunächst einer groben, holzschnittartigen Charakterisierung zentraler Bezugsprobleme. In dieser soziologischen Dimensionierung geht es vordergründig um eine Parallelführung der verschiedenen beteiligten gesellschaftlichen Perspektiven und Beobachtungslagen und um die Herausstellung ihrer systematischen Zusammenhänge. Kennzeichnend für die gegenwärtigen Programmatiken und Diskurse scheinen im Wesentlichen drei ineinander verschachtelte Problemkomplexe, deren systematisches Ineinanderwirken und strukturelle Separierung nicht immer transparent sind.
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Unangemessenes Wirkungsverständnis In ihrer sozialpolitischen Programmatik nimmt Prävention ihren Ausgang in vielen Bereichen vordergründig bei der Konstatierung bereits als eingetreten beobachteter Phänomene, die dann v.a. nach administrativen Logiken als Probleme oder Aufgabenstellungen identifiziert und kategorisiert (sowie ggf. in Programme/Projekte übersetzt) werden. Dies ist auf verschiedenen Ebenen von Bedeutung. Zunächst ist augenfällig, dass nicht so sehr die latenten, der Sache nach vorstellbaren Phänomene im Vordergrund stehen, wie sie anhand von in pädagogischen Arbeitsfeldern konsolidierten Erfahrungen antizipiert werden können, also bevor entsprechende im Nachhinein als negativ bewertete Folgen eintreten. Das nämlich würde bedeuten, der Identifikation von Problemen eine an den Gegenstandsfeldern selbst orientierte Systematik zugrunde zu legen. In unserem Zusammenhang ist dies nicht zuletzt hinsichtlich der nur so zu beantwortenden Frage nach latenten Folgen der Durchsetzung sozial- und bildungspolitischer Programme/Reformen selbst von Bedeutung (z. B. nach den Folgen der gegenwärtigen Konfrontation von Kindertageseinrichtungen mit einem Bildungsauftrag). Offenbar stehen vielmehr, wie angesprochen, sozial- und bildungspolitische Präventionsdiskurse in vielen Bereichen und Diskussionen oftmals außerhalb von Relevanzen, Handlungslogiken und Wissensbeständen pädagogischer Arbeitsfelder. Oder es wird – durch den Zwang zur Legitimierung über fachwissenschaftliche Expertisen – in einer nur losen und unsystematischen Weise auf fachliche Ressourcen zurückgegriffen. Damit ist jedoch keine schlichte und deshalb kritikfähige Ignoranz gegenüber von fachlichen Stellungnahmen behauptet. Auch wird nicht unterstellt, die Sozialwissenschaften würden sich keine Aufmerksamkeit verschaffen, denn auf fachwissenschaftliche Positionen wird in politischen Kontexten vielfach Bezug genommen. Dass die in pädagogische Handlungsfelder eingelassenen sozialwissenschaftlichen Wissensbestände – die z. B. in den 1960er und 1970er Jahren eine maßgebliche Rolle in Zusammenhängen sozial- und bildungspolitischer Planung spielten (z. B. bei der Umsetzung neuer innovativer Schulkonzepte oder der Etablierung von Sozialarbeit in den verschiedensten Bereichen) – eine vergleichsweise geringe systematische Bedeutung in der gegenwärtigen politischen Entscheidungsfindung, aber auch bei der Konzeption von Programmen und im Rahmen von Organisationsentwicklung haben, ist auch auf die Sozialwissenschaften selbst zurückzuführen: In ihnen ist seit längerem ein Verlust an fachlichen Konturen dergestalt zu beobachten, dass extern (also politisch oder massenmedial) generierte Problemstellungen oft gar nicht nach Maßgabe fachwissenschaftlicher Bezugsprobleme geprüft oder auf diesbezüglich vorhandene
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Erfahrungen bezogen, sondern als gültige, angemessen dimensionierte Problemstellungen direkt übernommen werden. Parallel dazu lässt sich auch ein Stagnieren fachlicher Entwicklungen bzw. ein Zurückfallen hinter erreichte fachliche Niveaus beobachten, weil bedingt durch eine restriktive Forschungsförderungspolitik zunehmend nur „zeitgeistige“ Themen verfolgbar sind. Hinzu kommt, dass auch als sozialwissenschaftlich ausgewiesene Expertisen zunehmend eine unter fachlichen Gesichtspunkten fragwürdige Amalgamierung mit normativen Konzepten eingehen. So gelangte beispielsweise der begriffslose Terminus „Wissensgesellschaft“ zu großer Popularität oder auch das sog. „lebenslange Lernen“, welche beide nicht als deskriptive Konzepte gelten können, sondern vor dem Hintergrund des Strukturwandels von Arbeitswelt und Arbeitsmarktregime als sanktionsbewehrte Forderungen propagiert werden. Diese normative Aufladung bzw. Politisierung hat auch dazu geführt, dass fachlich wenig konturierte und kaum elaborierte Thesen in den Rang von Expertisen erhoben wurden, so sie sich der entsprechenden normativen Konzepte politisch überzeugend bedienten. Die geringe oder fragwürdige Bezugnahme auf Fachlichkeit resultiert – so scheint es – auch aus deren Inflationierung, die ihrer Selbstentwertung folgte. Auf diese normativen Bezüge der Präventionsprogrammatik wird weiter unten ausführlicher eingegangen. Von Bedeutung ist hier zunächst, dass man auf lange Sicht von einer fachlich abgesicherten, d.h. einer bescheidenen Prognosefähigkeit hinsichtlich der Wirksamkeit von sozialpolitischen Programmen bzw. Konzepten abgeschnitten ist. An deren Stelle ist zunehmend ein problematisches Wirkungsverständnis getreten, aus welchem – analog zur politischen Durchsetzung von Entscheidungen – eine Kompetenz zum externen invasiven Zugriff auf Problemzusammenhänge abgeleitet wird. Prognostische Kapazitäten sind aufgrund der Vielschichtigkeit und Interdependenz sozialer Sachverhalte ohnehin gering. Dies liegt allerdings nicht daran, weil man gegenüber der sozialen Realität einen als extern missverstandenen objektiven Standpunkt einnehmen könnte und die Wirksamkeit bzw. Adäquatheit von Programmen bzw. Konzepten dann nur eine Frage ausreichend verfügbarer Mittel wäre.7 Damit kommen wir auf eine weitere, oben bereits angesprochene Bedeutung der Bezugnahme auf „Folgen“ zu sprechen. Die prognostischen Beschränkungen ergeben sich v.a. aus dem Umstand, dass der Orientierung an bereits eingetretenen Folgen die Annahme einer Trivialität sozialer Zusammenhänge zugrunde 7 Dass dem keineswegs so ist, zeigen insbesondere gut ausgestattete „flächendeckende“, aber dennoch im Ansatz gescheiterte Versuche. Damit soll nicht behauptet werden, dass es auf entsprechende materielle und zeitliche Ressourcen nicht ankäme, denn diese stehen zum Umfang der abverlangten Leistungen oftmals in keinem angemessenen Verhältnis (zum „unmöglichen Auftrag der Sozialarbeit“ siehe Bourdieu 1997, S. 211).
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liegt.8 In den Präventionsdiskursen wird in einer bestimmten Weise im Rahmen von einfachen Kausalbeziehungen argumentiert, z. B. in der Form, dass die durch Statistiken rekonstruierten stochastischen (d.h. auf abstrakten Wahrscheinlichkeiten beruhenden) Zusammenhänge in deterministische, d.h. in eindeutig festgelegte übersetzt werden, um sie anschließend auf die Gegenstandsfelder abzubilden. Die Erklärung der registrierten Phänomene als „Folgen von“ bedeutet dann nicht mehr einfach nur eine Identifikation entsprechender Ursachen, sondern dass diese dann fall- und kontextunabhängig als generalisierte riskante bzw. risikogenerierende Faktoren aufgefasst werden. Illustriert wird dies durch die Praxis der Konstruktion von „Risiko-“ bzw. „Zielgruppen“ entlang statistisch aggregierter Daten, die dann als Pauschaladressaten für entsprechende Programme fungieren9 sowie durch das darin angelegte unterbestimmte und fehlgeleitete Fallverständnis. Diese Auffassung bzw. konzeptionelle Praxis hat oft den impliziten Sinn einer stillschweigenden Angleichung der reduktiv objektivierten Wirkungszusammenhänge an institutionelle Handlungsformen, also des Herstellens einer alltagsweltlich und politisch plausiblen Entsprechung von Problem und Problemlösung. Nach dieser Auffassung treten die Ursachen in einer Form auf, an die durch normierte Verfahren, also durch „soziale Technologien“ entsprechend angeknüpft werden kann.10 So wie das Risiko der identifizierten Faktoren als „kritische Masse“, als potentiell kettenreaktiv unterstellt wird, so wird komplementär dazu die Person als Summe von Einzelproblemen aufgefasst, die jeweils für sich einer technischen „Behandlung“ zugänglich sind. Die Formen der Bearbeitung der so unterstellten und fehldimensionierten Probleme werden wiederum primär an schulischen oder therapeutischen, d.h. an bereits existierenden Formen abgelesen im Sinne eines „mehr vom selben“. So ist z. B. im Bereich der Schulbildung zu beobachten, dass auf Leistungsund Motivationsprobleme von Schülern erneut mit schulischen Formen und damit mit der Fortsetzung und Verstärkung einer ohnehin restriktiven Selektions8 Bereits in die Analysepraxis statistischer Verfahren gehen oftmals unkontrolliert Vorannahmen über die einfache kausale Interaktivität von Variablen ein (zur Kritik des Kontrollvariablenansatzes in der sozialwissenschaftlichen Statistik durch einen quantitativen Sozialforscher vgl. Lieberson 1987). 9 Daraus folgt nicht, die Statistiken seien falsch. Die durch sie getroffenen Aussagen beziehen sich jedoch auf nach Merkmalsräumen abstrahierte Populationen, während es die Praxis (sozial-) pädagogischen Handelns mit Personen bzw. Fällen zu tun hat. 10 Diese Angleichung hat im politischen Kontext oftmals lediglich die Funktion einer praktischen Symbolisierung von Lösungen („es wird etwas getan“), die die Beteiligten vor Ort sich selbst überlässt, so dass in vielen Zusammenhängen von Verfahren oder sozialen Technologien gar keine Rede sein kann. Man denke hier z. B. an „Bewerbungstrainings“, die das Problem des Fehlens von Arbeit mit der Zuschreibung einer individuellen Verantwortung für das Risiko, arbeitslos zu werden, nicht einmal notdürftig verdecken.
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logik reagiert wird. Dies wird z. B. im Bereich des sog. „Übergangssystems“ deutlich, etwa in Form des Berufsvorbereitungsjahres, welches der Befähigung zum Hauptschulabschluss bzw. zu einer Berufsausbildung dienen soll. Weitere Beispiele ließen sich anführen, doch genügt es hier, festzuhalten, dass im Zentrum der Präventionsdiskurse keineswegs eine perspektivische Erweiterung steht – wie man vielleicht unterstellen möchte. Denn eine solche würde nicht zuletzt implizieren, dass man sich die Grenzen institutioneller Handlungsformen bzw. ihren systematischen Anteil an der Verursachung der in Rede stehenden Probleme vor Augen führt. Kennzeichnend ist vielmehr im Gegenteil eine perspektivische Verengung, die sich über ihre strukturbildenden Konsequenzen und latenten Folgen nicht aufklärt. Die bisherigen Erörterungen beschreiben nur einen, wenn auch entscheidenden Aspekt der Metaphorik der Präventionsdiskurse, nämlich ihre Wirksamkeitsunterstellung: die Suggestion der Möglichkeit eines externen mittel- oder unmittelbaren Durchgriffs auf Problemzusammenhänge ohne Berücksichtigung gegenstandskonstitutiver Bedingungen und Komplexitäten.11 Normalitätsfiktionen Ein wesentlicher Grund für die Prominenz des hier beschriebenen fragwürdigen Wirkungsverständnisses ist, dass es als solches gar nicht thematisiert wird und dies auch nur bedingt werden kann, da es von Ideologisierungen und Normalitätsfiktionen verdeckt ist. „Präventive Konzepte gehen gleichsam als Basis und auch als Zielkategorie von der Existenz einer verallgemeinerbaren, gesellschaftlich anerkannten Vorstellung aus, die konformes beziehungsweise abweichendes Verhalten voneinander trennt. Sie sind also explizit oder implizit immer auf eine Norm bezogen. Übersehen wird dabei, dass die gesellschaftliche Wirklichkeit von einer Pluralisierung, Individualisierung und Temporalisierung von Lebenskonzepten und Lebensstilen geprägt ist, die es immer weniger möglich erscheinen lassen, von allgemein verbindlichen Normen zu sprechen“ (Schmitt 2008, S. 236). Hinsichtlich der Prozesse und Rahmenbedingungen des Aufwachsens haben Normalitätsunterstellungen ein besonderes Gewicht, suggerieren sie doch eine 11 Zu diesem Aspekt gibt es noch eine ganze Reihe weiterer ergänzenswerter Punkte, die hier aus Platzgründen nicht weiter ausgeführt werden können. So finden sich in den Leitmotiven der aktuellen Diskurse neben dieser Vorstellung einer entgrenzten Wirkungslogik noch weitere Fehldimensionierungen, beispielsweise die Verpflichtung zur Nachhaltigkeit als Entgrenzung von Zeit: Die gesetzten Impulse sollen – kontextunabhängig und strukturübergreifend – ihre Wirksamkeit entfalten und erhalten mit dem oft anzutreffenden Widerspruch, dass die unterstellte Nachhaltigkeit gar nicht evaluiert wird.
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Standardisierung bzw. Standardisierbarkeit von Entwicklungsprozessen12 und geraten gerade dadurch in Widerspruch zu der strukturellen Voraussetzung von Sozialisation, nämlich Normabweichungen i.S. einer existentiellen Realitätsvergewisserung nicht nur zu tolerieren, sondern auch anzuregen. Diese Notwendigkeit ergibt sich zum einen in dem einfachen Sinne, dass Normen erst durch das beabsichtigte oder unbeabsichtigte Übertreten thematisch werden können, zum anderen (und viel bedeutsamer) im Sinne einer aktiven Erschließung der sozialen Umwelt. Ein präventives Vermeiden dieser Abweichungen kommt dann zwangsläufig einer Einschränkung von Erfahrungsräumen gleich und läuft somit der Kernprämisse des z. B. in der Kinder- und Jugendarbeit vertretenen pädagogischen Selbstverständnisses entgegen, welches auf Erweiterung und Entfaltung von Erfahrungsräumen abzielt (vgl. dazu Sturzenhecker 2000). Diese v.a. auf abweichendes Verhalten bezogene Beobachtung lässt sich in analoger Weise auch auf den Kontext von Bildungsprozessen übertragen. Auch hier werden allgemeinverbindliche Verhaltensnormen unterstellt, z. B. in der durch Schulklassen erzwungenen Homogenisierung von Lernniveaus, aber auch in der Festlegung von Entwicklungsniveaus im Rahmen des Aufwachsens von Kindern.13 Variationen des Lernverhaltens (z. B. beim Spracherwerb von Kindern) werden als Indikatoren für Entwicklungsrisiken und zum Anlass für Pathologisierungen genommen. Die so abgeleitete Förder- oder Therapiebedürftigkeit gerät nicht selten in Widerspruch zu strukturellen Voraussetzungen des Aufwachsens, da institutionelle Bildungsprozesse die familiären Bildungsprozesse tendenziell überlagern – so z. B. die unhinterfragte und deshalb dem Kind Sicherheit stiftende (stellvertretende) Weltdeutung durch die Eltern. Der normative Charakter präventiver Konzepte lässt sich unschwer an dem für viele konstruierte „Risikogruppen“ gebräuchlichen, zumeist diskreditierenden Vokabular ablesen. Die Bezeichnungen „bildungsferne Schichten“, „anregungsarme Milieus“, „gewaltbereite Jugendliche“, „sich nicht integrieren wollende Migranten“ etc. sind vielfach vertraut. Diese (v.a. massenmedial produzierten und tradierten) Kategorisierungen sind nicht nur in die Alltagssprache, sondern auch in pädagogische Arbeitsfelder eingesickert bzw. werden durch das Fehlen eigener dimensionierender Konzepte in diese importiert. Sie liefern aufgrund ihrer alltagsweltlichen Plausibilität griffige Interpretationsangebote, die dann zur ursächlichen Erklärung von beobachteten Phänomenen im Rahmen der pädago12 Vgl. dazu Kelle/ Tervooren 2008. 13 Um einem Missverständnis zuvorzukommen: In diesem Zusammenhang muss deutlich unterschieden werden zwischen entwicklungspsychologischen Befunden und Konzepten (etwa Piaget und die an ihn anschließenden Diskussionen) und deren Vereinnahmung durch soziale Kontrollmechanismen. Erst hier kommt es zu einem verengten Normalitätsverständnis, indem die (unüberschaubare) empirische Vielfalt von Entwicklungsprozessen zugunsten von Kontroll- und Steuerungsprämissen eingeebnet wird.
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gischen Arbeit herangezogen werden mit der Folge, offene (und vielleicht gänzlich neue) Problemstellungen von einer fachlichen Durchdringung abzuschneiden – oftmals noch bevor die Frage nach einer solchen überhaupt aufkommt. Solche Normalitätsfiktionen haben zumeist die Form der (empirisch nicht triftigen) Unterstellung in bestimmten sozialstrukturellen Segmenten sich chronisch kumulierender Persönlichkeitsdefizite.14 Nicht selten sind sie das Resultat einer den Sozialwissenschaften oder der Entwicklungspsychologie entlehnten, halbverstandenen und an alltagsweltliche Plausibilitäten angepassten Terminologie, die den Anschein von Fachlichkeit suggeriert. Typisch in diesem Zusammenhang ist etwa der psychologisierende Familialismus, der die Risiken (z. B. für negative Bildungskarrieren) in die Herkunftsfamilien und damit in abgegrenzte, von außen nicht einsehbare Bereiche definiert.15 Die Fremdheit von Lebenswelten, wie sie oft allein schon durch die unterschiedliche soziale Herkunft von pädagogischem Personal und „Klientel“ gegeben ist, wird auf diese Weise Gegenstand bestätigungsselektiver Lebensstilprojektionen seitens der Pädagogen. Das in der eigenen Primärerfahrung als selbstverständlich und normal Erlebte wird auf diese Weise zur Messlatte. Dergestalt wird der sozial- und bildungspolitische Normalitätsdiskurs in der pädagogischen Praxis verankert bzw. durch diese verlängert. Wie im obigen Zitat bereits anklingt, wird damit die Gesellschaft implizit in normale und defizitäre Segmente aufgeteilt, es wird somit also eine statische Ungleichverteilung von Risiken unterstellt. Das gesellschaftliche Risiko ergibt sich nach dieser Auffassung einzig aus dem Gefälle zwischen Normalität und Abweichung mit der Folge, dass Gesellschaft als eine umfassende Exklusionsbedrohung für diejenigen behauptet wird, die in die entsprechenden Milieus fallen. Dazu ein etwas ausführlicheres Beispiel: Exkurs: Prävention von Analphabetismus? Seit den 1990er Jahren, aber v.a. seit PISA, ist wiederholt von Analphabetismus und einer diesbezüglichen Dunkelziffer in Deutschland die Rede gewesen. In der daran anschließenden, medial vergleichsweise randständigen Programmatik einer sich außerhalb primär schulischer Kontexte verstehenden Alphabetisierung wird Gesellschaft – der allgemeinen diskursiven Linie folgend – als ein solches Ex14 Gerade die in den 1990er Jahren einsetzenden Forschungen und Diskussionen um „Resilienz“ zeigen (erneut), dass es keine determinierte Beziehung zwischen familiärem Milieu und individueller Entwicklung gibt. Zu dieser Diskussion und ihrer sozialwissenschaftlichen Reformulierung vgl. Welter-Enderlin/Hildenbrand 2006. 15 Diese Intransparenz der Familie als Interaktionsmilieu wird auch nicht durch die auf standardisierten Merkmalen und Indikatoren beruhende Beobachtung aufgebrochen.
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klusionsrisiko behauptet, aus dem dann unmittelbar die Programmatik von präventiver (Grund-)Bildung abgeleitet wird. Diese Dramatisierung literaler zu einer sozialen Exklusion findet sich zudem auch in der vermeintlich wertfreien praxisnahen Bildungsforschung,16 die insofern auch eine diese Programmatik stützende und legitimierende Funktion übernimmt. Der statistische Zusammenhang von Bildungserfolg und sozialer Herkunft ist hier in den Sog der ideologisierten Bedeutungszumessung von Schriftbeherrschung geraten. Letztere sei – so wird oft argumentiert – eine Grundvoraussetzung gleichermaßen für Persönlichkeitsentwicklung wie für Handlungsautonomie. Die alltagsweltliche Plausibilität dieser Behauptung beruht v.a. darauf, dass die kognitive Dimension des Schriftspracherwerbs bzw. des Schriftgebrauchs nicht nur für den Analphabeten, sondern auch für den erfolgreichen Leser und Schreiber konstitutiv unzugänglich bleibt, denn mit der Aneignung von Schriftkultur werden Wahrnehmungs- und Denkstrukturen, aber auch das Sprechhandeln selbst nachhaltig überformt: Vor dem Hintergrund eines erfolgreich angeeigneten und verinnerlichten literalen Weltverhältnisses ist ein nicht-literales nicht mehr nachvollziehbar. So erscheint der Schrifterwerb paradoxerweise als nahezu voraussetzungslos, während umgekehrt die in vielen Bereichen auf Schriftlichkeit beruhende gesellschaftliche Kommunikation als unendlich voraussetzungsreich erscheint, da man schließlich (auch unter Absehen von schriftbasierter Hochkultur) ständig mit schriftsprachlichen Anforderungen konfrontiert sei (vom Beipackzettel bis zum Behördenformular). An den an sich trivialen Umstand, dass eine basale Literalität Voraussetzung für viele Aspekte des Alltagslebens wie auch der Arbeitswelt ist (bzw. sein kann), wird direkt die überzogene Vorstellung geknüpft, Literalität sei gleichzusetzen mit dem Zugang zu Sozialität schlechthin.17 Dabei wird oft – wie in anderen Bereichen auch – mit dem Terminus der „gesellschaftlichen Teilhabe“ argumentiert, der zudem mit entsprechenden Normalitätsvorstellungen aufgeladen ist, was zu dieser Teilhabe gehört und was nicht. Die Dramatisierung, Analphabetismus sei ursächlich für seelische Belastungen und Defizite (i. S. der älteren Vorstellung von „kultureller Deprivation“), für Armut, für Gesundheitsrisiken usw., da einem die Teilhabe an Bildung sowie viele lebenspraktische Optionen verwehrt blieben, scheint dann fast unausweichlich.18 16 Insofern ist es von einiger Bedeutung, die Bildungsforschung „auf ihre Grenzen hinzuweisen beziehungsweise ihren methodischen Komplex auf versteckte Werturteile hin zu befragen“ (Kleint 2009, S. 90). 17 Auch die in diesem Kontext gängige Terminologie des sog. „funktionalen Analphabetismus“ kommt ohne einen Bezug zu den kognitiven Strukturmerkmalen von Literalität (im Sinne von Schriftkultur) aus, indem sie ein allgemeinverbindliches Mindestniveau an literaler Kompetenz schlicht suggeriert. 18 Siehe dazu die programmatische Schrift von Döbert/Hubertus 2000.
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So gerät auch nicht in den Blick, dass nicht-literale Lebenswelten und Alltagskulturen durch Veränderungen in der Arbeitswelt bzw. im sozialpolitischen Arbeitsmarktregime einer systematischen Delegitimierung ausgesetzt sind. Dafür spricht auch, dass geringe Lese- und Schreibkenntnisse vordergründig im Zusammenhang mit der Zumessung von Sozialleistungen, d.h. im Rahmen behördlicher Logiken thematisch zu werden scheinen, motivierende alltagspraktische und -kulturelle Relevanzen hingegen ausgeblendet bleiben.19 Analphabeten erscheinen dann vordergründig als mit „Vermeidungsstrategien“ ihr Defizit kaschierende Personen, die sich nicht länger von als legitim ausgewiesenen gesellschaftlichen Erwartungen zurückziehen können. Diese Delegitimierung wird dann unter dem Stichwort Prävention noch weiter fortgesetzt. Hierbei gehe es, wie eine Autorin in einem Band zur Prävention von Analphabetismus schreibt, „um die Bedürfnisse der Gesellschaft, der Demokratie, der Wirtschaft, der Verwaltung usw. nach Menschen, die in den existierenden Strukturen funktionieren“ (Kamper 1995, S. 65). In diesen Diskussionen, an denen neben Erziehungswissenschaftlern v.a. praktisch Arbeitende wie Grundschullehrer, Bildungspolitiker und auch Schulsozialarbeiter beteiligt sind, finden sich Vorstellungen, die bereits in den Diskussionen um die sog. „kompensatorische Erziehung“ der 1970er Jahre bestimmend gewesen sind.20 Diese haben zum einen die Tendenz, den Zusammenhang zwischen formellem Bildungserfolg und sozialer Herkunft zu verdinglichen, d.h. nicht in seiner gesellschaftlichen Reproduktions- und Prozesslogik aufzufassen, in der der Schule die Rolle einer parteilichen Selektionsinstanz zukommt,21 sondern als familiäre Brutstätte individueller Defizite, die dann durch entsprechende vorgängige oder begleitende Förderung kompensiert und ausgeglichen werden könnten. Auch hier ist auffällig, dass man sich oftmals außerhalb einer im engeren Sinne fachlichen Diskussion bewegt. Damit ist nicht gemeint, dass sprachwissenschaftliche und didaktische Beiträge um der Wissenschaftlichkeit willen zur Kenntnis genommen werden sollten, um damit lediglich die Kompetenzen an fachwissenschaftliche Autoritäten zu delegieren. Entscheidend ist vielmehr, vor dem Hintergrund eines explizierten Problemverständnisses, welches den Schrift19 Dies ist zumindest eine durch Befragungen und Interviews gestützte Impression, die der Autor gemeinsam mit Alla Koval im Rahmen der Arbeit in einem Alphabetisierungsprojekt gewonnen hat. Zu diesem Problemzusammenhang ist eine Publikation in Vorbereitung. 20 Bernstein reagierte damals sehr kritisch auf die pädagogischen Bemühungen, potentiell negativen Bildungskarrieren durch „Erziehung“ zu begegnen (besonders deshalb, weil sie sich auf seine Studien zur sprachlichen Sozialisation beriefen). Viele seiner Argumente, die er damals gegen die „kompensatorische Erziehung“ ins Feld führte, sind auch für die heutigen Diskussionen und Projekte in Bezug auf Prävention von Relevanz (siehe dazu Bernstein 1972). 21 Vgl. dazu die klassischen Untersuchungen von Bernstein (1981) sowie im Anschluss daran Oevermann (1977).
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spracherwerb in seinen kognitiven, sozialen und kulturellen Dimensionen zum Gegenstand macht, relevante fachliche Beiträge überhaupt identifizieren und dann auch entziffern zu können. Dass ein solches dimensionierendes Konzept weitgehend fehlt, zeigt gerade der Vorschlag, Prävention von Analphabetismus in die Familie vorzulagern (vgl. z. B. Nickel 2004). Gerade in der rekonstruktiv orientierten Schulforschung, der Schriftsprachdidaktik und der Schreibforschung wurde wiederholt gezeigt, dass die Risiken für essentielle Lernkrisen beim Schriftspracherwerb – und damit: das Risiko eines Scheiterns desselben – primär in den dominanten Formen des Schulunterrichtes zu suchen sind (vgl. z. B. Dehn 1990). Kennzeichnend für diese ist, dass das Erlernen der Schrift (im Lesen wie im Schreiben) einerseits von ihrem kommunikativen Gebrauch (und damit: von möglichen subjektiven und für den Schüler motivierenden Bedeutungen), andererseits von der aktiven Rolle des Lernenden abgeschnitten wird: Lesen und Schreiben wird in verschiedene als technisch aufgefasste Einzelaspekte partitioniert, die getrennt voneinander Gegenstand schulischer Evaluation sind (Orthographie, verstehendes Lesen, Grammatik, Ausdruck etc.). Diese Umstände setzen wiederum zweifelsfrei jene in Vorteil, die als elaborierte Sprecher in einer literalen Alltagskultur aufwachsen, d.h. verschiedene Komponenten einer literalen Alltagskultur bereits verinnerlicht haben. Der an Defiziten orientierte Familialismus und die Unterstellung eines (wie immer abgeschwächten oder diversifizierten) verbindlichen Niveaus an Literalität verdecken somit ein weiteres Mal den Zusammenhang zwischen Analphabetismus und schulischer Selektion. Kontexte Das metaphorische Wirkungsverständnis einerseits und die Unterstellung allgemeinverbindlicher personaler Voraussetzungen als „Partizipationsbedingung“ andererseits sagen für sich genommen nur wenig über die Realität der pädagogischen Arbeit aus (die der medialen Öffentlichkeit, aber auch den politischen Kontexten zu weiten Teilen ja verschlossen bleibt). Zu fragen ist daher auch, ob die in der Praxis angelegten Schwierigkeiten, Dilemmata und Widersprüche zu Bewusstsein gelangen und wie sie dann ggf. (auch erfolgreich) gehandhabt werden, kurz: was in den pädagogischen Arbeitskontexten tatsächlich geschieht. Diese sind in vielerlei Hinsicht vordergründig durch ganz andere Aufgabenfelder und Erwartungen strukturiert und geraten zudem mit den neuen Leistungsanforderungen an Präventionsarbeit substantiell in Konflikt. Genannt wurde bereits weiter oben die für die Kinder- und Jugendarbeit zentrale Prämisse, dass pädagogische Arbeit ihrem Selbstverständnis nach auf die Ermöglichung von
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Erfahrungsräumen abzielt und nicht auf deren Einschränkung durch die vorgreifende Vermeidung vermeintlich riskanter Entwicklungen. Eine Reihe weiterer Prämissen könnte hier hinzugefügt und hinsichtlich ihres Verhältnisses zur Präventionsprogrammatik beschrieben und analysiert werden – so z. B. die Verankerung von Lern- und Bildungsprozessen in einem Reservoir diffuser alltagsund lebensweltlicher Bezüge und Relevanzen bzw. in nicht auf Instruktion, sondern auf Informalität und Partizipation beruhenden Formen des Lernens (z. B. dem Spiel), die im Widerspruch zur weitgehend dekontextualisierten Vermittlung als allgemeinverbindlich propagierter „Kompetenzen“ steht. Diese meist impliziten Prämissen stehen – wie eingangs angedeutet – zur Vermeidung von riskanten/problematischen Entwicklungen gar nicht in Widerspruch. Dies ist im Rahmen pädagogischer Arbeit alles andere als ein außergewöhnlicher Gedanke: Nicht nur die Lösung bzw. Bearbeitung belasteter Lebenslagen ist Gegenstand z. B. sozialpädagogischer Arbeit, auch deren Vermeidung steht oft in ihrem Zentrum, jedoch unter ganz anderen Prämissen als jenen, die den gegenwärtigen Präventionsdiskursen zugrunde liegen. Die Orientierung pädagogischer Arbeit an der Vermeidung belasteter Lebenslagen bleibt jedoch oft unausgesprochen, was auch dazu führt, dass – wenn überhaupt eine Interpretation bzw. eine von praktischen (Sach- und Handlungs)Zwängen losgelöste Theoretisierung identifizierter Vorgänge erfolgt – dies wiederum zumeist nur implizit geschieht. Dies liegt sicherlich auch in den großen Handlungs- und Verpflichtungslasten bei gleichzeitig eng bemessenen materiellen und zeitlichen Budgets begründet sowie darin, dass über eine diesbezügliche Fachlichkeit oft nicht verfügt wird bzw. im Rahmen der ohnehin zumeist als „naturwüchsig“ aufgefassten Prozesse des Aufwachsens eine solche gar nicht als besonders relevant empfunden wird. Aber auch an Stellen wo eine Interpretation erfolgt, bleiben diesbezügliche Versuche auf die Kontexte beschränkt und gelangen darüber hinaus selten zu nachhaltiger Wirksamkeit, etwa in Konzeption und Korrektur von entsprechenden Programmen. Dies hängt einerseits damit zusammen, dass sich sozial- und bildungspolitische Programme durch ihre Projektförmigkeit bedingt oft nur auf die Herstellung zeitlich begrenzter Voraussetzungen beschränken und andererseits damit, dass die Wirksamkeit von Handlungskonzepten zeitnah (während der Projektlaufzeiten) und oftmals nach zuvor festgelegten Kriterien evaluiert wird – nicht selten mit der Folge einer Überformung von Handlungszusammenhängen zugunsten ihrer Evaluier- und (politischen) Legitimierbarkeit.
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Zwischenfazit Innerhalb der hier umrissenen reduktiven Gegenstandsauffassung bzw. im Rahmen der durch die Präventionsdiskurse propagierten Handlungslogik eines externen Durchgriffs auf Problemzusammenhänge kann das Problem der Vermeidung von potentiell riskanten Entwicklungen nicht adäquat und konstruktiv reflektiert werden. Zum einen bleibt die Beobachtung der Zusammenhänge als pauschalisierende Konstruktionsleistung (von Risiken und Folgen als Ursache-WirkungsZusammenhängen) bzw. ihre Stabilisierung in Ideologisierungen und Normalitätsfiktionen (gleichermaßen als Voraussetzungen und Zielvorgaben von Prävention) ausgeblendet. Zum anderen vermögen vor diesem Hintergrund die konkreten Kontexte pädagogischer Arbeit mit ihren strukturlogischen Voraussetzungen nicht genügend in den Blick zu rücken. In diesem Zuge werden die der pädagogischen Arbeit zugrunde liegenden Prämissen nicht artikuliert und somit dem Risiko ihrer Überformung ausgesetzt. Dem hier skizzierten Problemaufriss wurde bereits implizit eine Dimensionierung zugrunde gelegt, die – wie eingangs angekündigt – im Folgenden hinsichtlich einer in verschiedenen pädagogischen Zusammenhängen üblichen fallspezifischen Arbeitspraxis transparenter gemacht werden soll. Diese betrifft zum einen Verfahren der Übersetzung von extern generierten und generalisierenden Problembeschreibungen in Handlungszusammenhänge sowie, symmetrisch dazu, Verfahren der Herstellung von Fallbezügen vor dem Hintergrund eigener dimensionierender Konzepte. Implikationen/Fallbezug Kennzeichnend für den im letzten Kapitel behandelten Zusammenhang ist der Umstand, dass Risiken auf anderen Ebenen beobachtet und als gesellschaftliche Risiken generalisiert werden, als sie dann in konkreten Kontexten pädagogischer Arbeit registriert und bearbeitet werden. So erfolgt die Generalisierung für viele Zusammenhänge in unterschiedlichen Verfahren der Sozialberichterstattung, der Kriminalitäts- und Bildungsstatistiken etc. Gemeinsam ist ihnen, dass sie vordefinierte und formalisierte, d.h. von individuellen Bedingungen, Erfahrungen, von Verlaufskurven und subjektiven Bedeutungen bereinigte Ereignisse in ihren Ausprägungen messen, nach Häufigkeiten abbilden (z. B. Schulabschlüsse, Vergehen) und diese schließlich korrelativ auf sozioökonomische, d.h. ihrerseits abstrakte Sozialstrukturmodelle beziehen. Dieser weitgehend dekontextualisierten und der Natur ihrer Verfahren nach reduktiven Beobachtungsebene (auf der auch normative Prämissen Eingang
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finden) stehen die konkreten pädagogischen Handlungskontexte gegenüber, in denen das sich aus diesen externen Quellen speisende Wissen über soziale Zusammenhänge beobachtungsleitend wird, aber nicht in ein die Arbeitspraxis orientierendes Wissen transformiert werden kann. Dieser Mangel spiegelt sich in der oft anzutreffenden Schwierigkeit, eine fallbezogene, d.h. zunächst einmal: eine nicht pauschalisierende Problembeschreibung zu leisten.22 Das Problem, in der pädagogischen Arbeit nicht zu wissen, ob überhaupt und wann ein Problem im konkreten Fall eintritt, z. B. wann und unter welchen Bedingungen sich Lernschwierigkeiten zu Lernkrisen verdichten, bedeutet, dass man individuelles Verhalten durch ein vorgefertigtes symptomatologisches Raster nicht adäquat beobachten kann. Der Tendenz nach hätte dies zur Folge, diejenigen Probleme, die man vorgibt zu lösen, unbemerkt erst zu erzeugen und entsprechende „Problemkarrieren“ mit in Gang zu setzen – denn die Wahrnehmungsschwelle für entsprechende Symptome ist, da alle weiteren relevanten Sinnbezüge ausgeblendet werden, niedrig und breit angelegt:23 Symptome erscheinen hier als eindeutig und nicht als möglicher Ausdruck für etwas anderes. Diese Unmöglichkeit der ausschließlichen und damit reduktiven Orientierung an „Symptomen“ bedeutet, dass der Gegenstand bzw. der Kontext in seiner konkreten Struktur (d.h. auch: in seinem Potential, Probleme zu generieren) fremd und unberechenbar bleibt, obwohl man mitunter über ein diesbezügliches Wissen verfügt. Aus diesem Zusammenhang leitet sich die Notwendigkeit zu einer mehrschichtigen, generalisierenden und fallspezifischen Praxis ab, die es überhaupt erst ermöglicht, Problemlagen zu identifizieren und entsprechende Fehlkategorisierungen zu vermeiden. Man könnte auch sagen, dass der Sinn
22 Vgl. dazu Wohlgemuth 2009 mit Beispielen aus der Kinder- und Jugendhilfe, insbes. S. 180 ff. 23 Goffman illustriert diesen Zusammenhang im Rahmen seiner Arbeiten zu totalen Institutionen. Das Verhalten von Geisteskranken wird durchgängig als symptomatisch für die aktenkundige Pathologie beobachtet. So erscheint z. B. aggressives Verhalten, welches im Rahmen einer nichtpsychiatrischen Alltagssituation ganz anders (nämlich als Ausdruck von Normalität) interpretiert werden würde (z. B. weil man sich wiederholt ungerecht behandelt fühlt) hier als unmittelbarer Ausdruck einer psychopathologischen Disposition (vgl. Goffman 1961). Diese Form bestätigungsselektiver Wahrnehmungszirkel (vgl. Watzlawick 1991) wird auch anschaulich durch ein bekanntes Beispiel aus der Kriminalprävention: Durch erhöhte Polizeipräsenz an sozialen Brennpunkten wird versucht, ein Abschreckungspotential zu generieren, was aber dazu führt, dass jede Person unterschiedslos als potentiell kriminell wahrgenommen wird. Die Zahl der Leibesvisitationen steigt entsprechend an und geschieht dann doch etwas (und es muss etwas geschehen, da die Wahrnehmungsschwelle denkbar breit und niedrig angesetzt ist), so ist man vorbereitet: „Wir haben es ja schon immer gewusst“. Auf diese Weise können Präventionsmaßnahmen sich selbst in ihrer Notwendigkeit bestätigen, obwohl sie die Symptome, die sie vorgeben zu beobachten, permanent selbst erzeugen – in diesem Falle eine paradoxe Konstruktion: den Täter ohne Tat.
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einer fallspezifischen Arbeitspraxis darin besteht, nicht vor den (kontingenten) Ereignissen, sondern entlang von Prozessen zu operieren. Das bedeutet z. B. zu fragen, welche Prozesse an der Entstehung eines Problems real beteiligt sind (d.h. deren Wirksamkeit nicht einfach ungeprüft zu unterstellen) und zu prüfen, inwieweit die Lernschwierigkeiten eines Schülers tatsächlich in einer belasteten familiären Lebenssituation begründet sind oder inwieweit sie mit dem individuellen Lernverhalten des Schülers selbst, seinen Problemlösungsstrategien usw. zusammenhängen, die der Sache nach nicht defizitär zu sein brauchen, jedoch im Rahmen des Lehrplanes oder der didaktischen Ausgestaltung des Unterrichtes möglicherweise nicht anschlussfähig sind (z. B. deshalb, weil sie durch den Schüler nicht artikuliert werden können).24 Die oft anzutreffende pauschalisierende Fehlkategorisierung „familiäre Probleme“ hat dann ggf. zur Folge, dass zu den bestehenden Schwierigkeiten eine für den Schüler zusätzlich belastende Situation entsteht, weil er nun als „auffällig“ gilt. Nicht nur wird dadurch möglicherweise noch das Sanktionsverhalten der Eltern auf den Plan gerufen sondern ein unterbestimmtes, pauschalisierendes Fallverständnis setzt dann ggf. auch eine Logik der Stigmatisierung in Gang, die – so sie dem Pädagogen überhaupt zu Bewusstsein gelangt – nicht mehr rückgängig zu machen ist. An die Stelle einer Erfassung von Problemen setzt sich dann nicht nur die äußerliche Symbolisierung derselben, die in ihren Folgen als stigmatisierend erlebt wird (z. B. „Förderschulkind“), sondern diese wird von den Betroffenen sukzessive in ihr Selbstbild und als Lebensperspektive übernommen und damit langfristig auch – i. S. einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung – lebenspraktisch wirksam (vgl. dazu Goffman 1997).25 Das Fehlen einer solchen Übersetzungs- bzw. Re-Kontextualisierungsleistung ist für viele Kontexte kennzeichnend, die über keine (oder nur geringe) strukturelle Ressourcen hinsichtlich einer im pädagogischen Sinne fallbezogenen Arbeitspraxis verfügen.26 Dies gilt ganz allgemein für den Rahmen organisierter, auf institutionellen Routinen beruhender Arbeitsabläufe, wie sie z. B. für Ein24 Aus der Schulforschung ist hinlänglich bekannt, dass Schulkinder, die im Rahmen des Unterrichtes wiederholt defizitäre Problemlösungsstrategien anwenden, außerhalb der Schule durchaus auch über sehr komplexe Zugänge zu Lerngegenständen verfügen (vgl. z. B. Lehtinen 1994). 25 Zu denken ist beispielsweise an „Maßnahmekarrieren“. 26 Dies gilt aber auch für viele Präventions- und Förderprogramme, die an ihre Stelle von vornherein die Verlängerung extern generierter Beschreibungskategorien in die Struktur einer Handlungspraxis setzen. Prävention versteht sich in diesem Zusammenhang v.a. als programmförmige individuelle Förderung, die hochgradig voraussetzungsvoll bleibt, da hier auf eine Kooperationsbereitschaft gesetzt wird, welche die Akzeptanz externer Problemdefinitionen wenn nicht durch die Kinder, dann durch die Eltern nötig macht. Der Zusammenhang, dass durch entsprechende Programme zumeist nicht diejenigen erreicht werden, die davon am meisten profitieren könnten, ist als sog. Präventionsdilemma beschrieben worden (vgl. Bauer 2005). Ein Beispiel aus der Förderung des Lesenlernens bietet McElvany 2007.
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richtungen der Sozialverwaltung typisch sind (welche ebenfalls mit Präventionsaufträgen konfrontiert werden). Hier besteht zwangsläufig die Tendenz, Probleme an jene institutionell vorgegebenen Kategorien und Verfahrensweisen anzupassen, aufgrund derer die betreffenden Einrichtungen handlungs- und entscheidungsfähig sind, d.h. die Tendenz, Probleme im Rahmen eines administrativen (z. B. juristischen) Fallverständnisses zu behandeln und sie damit in ihren realen Bezügen zu überformen, sie im Wortsinne in „Formalitäten“ zu verwandeln.27 In diesem Zusammenhang darf auch nicht unerwähnt bleiben, dass präventives Handeln oftmals in genau jene Kontexte eingebettet werden soll, deren soziale Funktion gerade im Gegenteil dessen besteht, was Prävention leisten soll und die diese Funktion mit Mitteln durchsetzen, die einer fallbezogenen Arbeitspraxis gegenläufig sind. Um das Beispiel Schule nochmals aufzugreifen: So Prävention auf die Herstellung von Chancengleichheit abzielt, ist sie mit dem nicht lösbaren Widerspruch der schulischen Auslese konfrontiert. Die fallbezogene Arbeitsform, z. B. in Form einer systematischen individuellen und langfristigen Lernbeobachtung, läuft den Imperativen einer auf die Prozessierung von großen Schülermengen ausgerichteten Organisation zuwider – zum einen, weil sie schlicht Zeit und Fachlichkeit beansprucht, über die hier nicht verfügt wird, zum anderen aber, weil die Organisation der Schule – entgegen einer oft behaupteten Einzelfallorientierung individueller Förderung („vom Kind und seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten ausgehen“) – unabhängig von den erzielten Lernniveaus auf eine substantielle Homogenisierung bei gleichzeitiger hoher Selektivität abzielt.28 An dieser Stelle führt eine Diskussion um Prävention von negativen Bildungskarrieren schlicht nicht weiter, denn sie verdeckt die soziale Realität in den Schulen i. S. einer praktischen Symbolisierung von Lösungen, die der Tendenz nach das verlängert, was sie abzuschwächen vorgibt. Diese Überlegungen abschließend soll noch darauf hingewiesen werden, dass sich mit den hier benannten Bedingungen der Voraussetzungsreichtum nicht erschöpft. Die systematische Herstellung von Fallbezügen29 setzt – darauf wurde hier schon des Öfteren verwiesen – die Verfügung über angemessene dimensio27 Dies hat für die betreffenden Organisationen auch die Funktion, Probleme aus dem Bereich der eigenen Zuständigkeit ausschließen und in die Umwelt verlagern zu können. Dieses administrative Fallverständnis kann dann (und das ist oft zu beobachten) widerspruchslos hingenommen und im Rahmen pädagogischer Arbeit zugleich verstärkt werden, wie dies z. B. für die Sozialarbeit belegt wurde (vgl. dazu Schütze 1996). 28 Hier lassen sich Ähnlichkeiten zum Feld der Frühpädagogik finden – etwa in der Form, dass Kindertageseinrichtungen als Schutzraum vor negativen oder hemmenden Einflüssen (etwa der Eltern) behauptet werden, in der Realität sich aber an Defiziten orientieren und eine Praxis der Delegation betreiben. 29 Also die Rekonstruktion von Fallstrukturen und die Generalisierung von Problembezügen im Medium des Fallvergleiches.
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nierende Konzepte zur Beobachtung und Beschreibung der in Rede stehenden Handlungsfelder, Gegenstandsbereiche und Vorgänge voraus. Es geht also nicht darum, extern generierte Problembeschreibungen und die ihnen zugrunde liegenden konzeptionellen Prämissen (i. S. des oben benannten „symptomatologischen Rasters“) einfach zu übernehmen (etwa um einer vermeintlichen „Professionalität“ willen), sondern darum, eine eigene, d.h. den Kontext reflektierende Terminologie zu entwickeln und zu pflegen. Anders ausgedrückt bedeutet das, die in der pädagogischen Arbeit oftmals implizit bleibenden Erfahrungen und ihre Theoretisierungen verfügbar und damit diskussions- und anschlussfähig zu halten. Bezogen auf das weiter oben benannte Beispiel der Alphabetisierung meint dies etwa, Probleme beim schulischen Schriftspracherwerb zunächst vor dem Hintergrund von institutionell gerahmten sowie informellen Bildungsprozessen und nicht als Ausdruck eines vermeintlich schieflaufenden Sozialisationsprozesses aufzufassen (und damit die Verantwortung für adäquate pädagogische Umgebungen überall anders als in der Schule zu suchen). In diesem Zusammenhang ist z. B. die häufig anzutreffende Rede von „Lesesozialisation“, die v.a. von einer Ausstrahlungskraft der literalen Praxis der Eltern ausgeht, zumindest teilweise inhaltlich irreführend: Im Zentrum von „Lesesozialisation“ stehen die darin angelegten informellen Bildungsprozesse, die durch eine sanktionsfreie Partizipation an Schriftkultur freigesetzt werden, nicht das als sozialisierend unterstellte Kulturbedürfnis der Eltern. Hinzu kommt, dass die Aneignung von Schriftkultur im Kontext einer Vielfalt von Medien erfolgt, die nicht – wie die vielfach an Computerspielen, Fernsehprogrammen, Manga-Comics etc. geäußerte pädagogische Kritik glauben machen will – in einem Verhältnis des Gegensatzes und der Konkurrenz, sondern viel eher in einem der Komplementarität stehen.30 Unter diesen Voraussetzungen ein längst obsoletes bürgerliches Bildungsideal aufrechterhalten zu wollen, um sich dann darüber zu beklagen, „dass die Jugend immer weniger liest“, kommt einer Realitätsverweigerung gleich. In diesem Sinne ginge es um ein adäquates Verständnis von Bildungsprozessen, welches gleichermaßen die subjektive (kognitive, motivierende) Bedeutung von Medien wie die Möglichkeiten und Beschränkungen institutioneller Instruktionsformen reflektiert.
30 Dass Jugendliche heute nur noch selten mit Puschkin unter dem Kopfkissen einschlafen bedeutet nicht, dass Literalität bedeutungslos wird.
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Fazit/Ausblick Mit den Erörterungen dieses Beitrags wurde versucht, zentrale Prämissen der sozial- und bildungspolitischen Präventionsdiskurse sowie einen dadurch hervorgerufenen und in wichtigen Teilen kontraproduktiven Druck auf die pädagogische Arbeitspraxis transparent zu machen. Deutlich wurde zum einen, dass durch die in der Präventionsprogrammatik angelegten Fehldimensionierungen eine direkte Entsprechung von Problemen und den Mitteln zu ihrer Lösung (und damit eine restlose Lösbarkeit) suggeriert wird. Zum anderen wurde sichtbar, dass die Präventionsprogrammatik dabei in Widerspruch einerseits zu allgemeinen Prämissen der in vielen Zusammenhängen vertretenen pädagogischen Selbstverständnisse und andererseits zu strukturellen Voraussetzungen pädagogischen Handelns, hier v.a. einer ggf. fallbezogenen Arbeitspraxis, gerät. Diese Widersprüche werden gegenwärtig nur bedingt durch die Pädagogik selbst artikuliert und können vor dem Hintergrund der in ihre jeweiligen Arbeitsbögen31 eingelassenen Anforderungen an Selbstreflexion von dieser auch nur bedingt selbst artikuliert werden. Das meint, dass Selbstreflexion – im Rahmen der sich in vielen Bereichen als „verberuflichte Primärbeziehungshaftigkeit“ verstehenden pädagogischen Arbeit wie z. B. in der besonderen Konstellation der Frühpädagogik (Kindertageseinrichtungen), aber auch in der Grundschule – als ein berufliches Kernelement vielfach erst bestimmt werden müsste. Die defizitäre Programmatik von Prävention erzeugt somit „von außen“ ein Reflexionsdefizit der Pädagogik und macht zugleich sichtbar, was sich angesichts der mit Prävention verbundenen Zuwächse an Leistungserwartungen vielfach schlicht als Überforderung artikuliert. Abschließend soll hier noch andeutungsweise skizziert werden, welche Chancen und Ressourcen für Selbstreflexion denkbar sind. Eine konzeptionelle Antwort auf Reflexionsdefizite ist seit den 1960er Jahren für viele Bereiche der Ruf nach „Professionalisierung“ gewesen und Forderungen nach Professionalisierung sind auch gegenwärtig häufig anzutreffen. Professionalität wird dabei aber oft als bloße Akademisierung bzw. Expertisierung i. S. einer bloßen technischen Anwendung von Fachwissen missverstanden, von der man sich Steuerungs- und Kontrollgewinne erhofft. Ein dergestalt verengtes bzw. fehlgeleitetes Professionalitätsverständnis gerät damit unter genau diejenigen Prämissen der Präventionsdiskurse, die hier als problematisch oder gar kontraproduktiv vorgestellt wurden. Aber nicht nur aufgrund der Inflationierung eines verkürzten Professionalitätsverständnisses, sondern auch aufgrund der durch die Zuwächse an Leistungserwartungen hervorgerufenen aktuellen Verunsicherung und Belastung 31 Das Konzept des Arbeitsbogens wurde von Anselm Strauss et al. (1985) entwickelt zur Untersuchung komplexer Arbeitsabläufe in Dienstleistungsorganisationen.
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von Pädagogen ist eine Zurückhaltung hinsichtlich der Propagierung von großformatigen „Lösungen“ angemessen – zum einen weil dies die eine Verunsicherung durch eine andere ersetzten und sich damit als Verschärfung der Problematik erweisen könnte. Zum anderen ist es kennzeichnend für die Arbeitskontexte der Frühpädagogik, aber auch der Schulbildung, dass sie über wesentliche rahmende Voraussetzungen von Professionalität gar nicht verfügen können,32 so z.B. über ein auf freiwilliger Kooperation beruhendes Setting. Ein Kind verfügt über keinerlei Sanktionsmittel, um dem Pädagogen sein Vertrauen bzw. seine Loyalität zu entziehen. Das Kind ist von Beginn an zu einer Beziehung mit einer Person gezwungen, die es nicht gewählt hat und die zudem ihrerseits über verschiedene Mittel zur Disziplinierung, d.h. zur Durchsetzung von Gehorsam verfügt. Zudem beruht ein solches Setting – hinsichtlich der vordergründig nichtemotionalen und spezifischen Orientierung an einem kooperativ zu bearbeitenden Problem sowie einer dadurch implizierten distanzierten Haltung sich selbst und anderen gegenüber – auf Voraussetzungen, die im Rahmen primärer Sozialisations- und Bildungsprozesse erst hergestellt werden sollen. Aus der Einsicht in diese Nichtverfügbarkeit von Voraussetzungen ergibt sich jedoch – und das ist nicht gleichbedeutend mit einer strukturellen Überformung – eine mögliche Rahmung für Selbstreflexion, die zudem eine Entlastung von über- und fehldimensionierten Leistungserwartungen bieten könnte: Selbstreflexion könnte bescheidener – was nicht heißt: voraussetzungsloser – beschaffen sein und sich dabei unmittelbar aus dem Gegebenen, d.h. aus der alltäglichen Arbeitspraxis heraus entwickeln. Das meint v.a., sich der Bedeutung diffuser und emotionaler Beziehungshaftigkeit sowie des partizipativen (also des bedingungslosen und sanktionsfreien) Charakters informeller Lern- und Erfahrungsräume bewusster zu werden. Das bedeutet, den sozialisatorischen und bildungsbezogenen Komponenten der je spezifischen Handlungsfelder bzw. der die pädagogische Arbeit tragenden Beziehungen mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Diese Komponenten zu beschreiben und zu artikulieren böte einen Anhaltspunkt, um das eigene Handeln bewusster zu verorten. Darin läge eine Chance zur systematischen Vermeidung von Fehlkategorisierungen wie etwa der, dass Sozialisation lediglich in der Familie (und Bildung nur in der Schule, resp. in Kindertageseinrichtungen) stattfindet. Dies bedeutet zugleich auch, projektive Haltungen in den Blick zu bekommen, welche die eigenen Normalitätsvorstellungen zum Ausgangspunkt
32 So ist auch die Sozialpädagogik als „bescheidene Profession“ beschrieben worden, da sie über viele symbolische Rahmungen eines Professionellen-Klienten-Verhältnisses nicht verfügen kann (vgl. Schütze 1992).
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einer Bewertung hinsichtlich möglicher Gefährdungen macht.33 Unter einem anderen Gesichtspunkt ist eine so verstandene Reflexionsfähigkeit auch eine Voraussetzung dafür, hinreichend Sensibilität dafür zu entwickeln, was Kindern vor dem Hintergrund ihrer sich individuell differenzierenden Artikulationsfähigkeit als „Bildung“, als Autonomie in der Erschließung von Lerngegenständen usw. zugemutet werden kann und wo die Gefahr besteht, unter dem Vorwand der Förderung die ohnehin restriktive Selektivität des Bildungssystems zu verlängern. Selbstreflexion steht hier nicht vordergründig für eine angemessenere „bessere“ Pädagogik (im Sinne eines generalisierten Konzeptes) – Selbstreflexion und Artikulationsfähigkeit pädagogischer Arbeit sind vielmehr deshalb so bedeutsam, weil die Zusammenhänge diffuser Beziehungshaftigkeit und informeller Lernprozesse sozial ohne Alternative sind. Praktisch (und möglicherweise auch programmatisch) hieße dies etwa, die Aufmerksamkeit verstärkt darauf zu richten, Kinder und Jugendliche v.a. in die jeweils kennzeichnenden pädagogischen Primärprozesse bzw. -kontexte zu integrieren, anstatt sie unter dem Gesichtspunkt einer vermeintlichen individuellen Förderung bzw. Problemvermeidung aus diesen vorschnell „herauszudelegieren“. Literatur Ballis, Anja/Spinner, Kaspar H. (Hrsg.) (2008): Sommerschule, Sommerkurse, summer learning. Deutsch lernen in außerschulischem Kontext. Baltmannsweiler Bauer, Ullrich (2005): Das Präventionsdilemma. Potenziale schulischer Kompetenzförderung im Spiegel sozialer Polarisierung. Wiesbaden Bernstein, Basil (1972): Der Unfug mit der „kompensatorischen“ Erziehung. In: betrifft: erziehung – Redaktion, Familienerziehung, Sozialschicht und Schulerfolg. Weinheim, S. 21-36. Bernstein, Basil (1981): Studien zur sprachlichen Sozialisation. Frankfurt am Main Bourdieu, Pierre et al.(Hrsg.) (1997): Das Elend der Welt. Konstanz Bröckling, U. (2008): Vorbeugen ist besser … Zur Soziologie der Prävention. Behemoth. A Journal on Civilisation (1), S. 38-48. Dehn, Mechthild (1990): Akquisition of Writing and Reading Skills in School: Cultural Technique or Elemetary Writing Culture. In: Higher Education in Europe 15 (3), S. 35-47. Döbert, Marion/Hubertus, Peter (2000): Ihr Kreuz ist die Schrift. Analphabetismus und Alphabetisierung in Deutschland. Stuttgart 33 Gerade die die Präventionsdiskussionen gegenwärtig bestimmenden Themen des Missbrauchs oder der Vernachlässigung (Kindeswohlgefährdung) haben zur nachhaltigen Verunsicherung beigetragen, da lediglich einer Logik des Generalverdachtes Vorschub geleistet wurde (die auch massenmedial, z. B. durch großangelegte Fernseh- und Plakatierungskampagnen propagiert wurde).
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Freund, Thomas/Lindner, Werner (Hrsg.) (2001): Prävention. Zur kritischen Bewertung von Präventionsansätzen in der Jugendarbeit. Opladen Goffman, Erving (1997): Stigma. Frankfurt am Main Goffman, Erving (1961): Asylums. Essays on the Social Situation of Mental Patients and other Inmates. New York Kamper, Gertrud (1995): Praktische Konsequenzen zur grundlegenden Erweiterung der Lehrerkompetenz in freier Alphabetisierungsarbeit und Schule. In: Stark, Werner/Fitzner, Thilo/Schubert, Christoph (Hrsg.): Schulische und außerschulische Prävention von Analphabetismus. Stuttgart, S. 65-80 Kelle, Helga/Tervooren, Anja (Hrsg.) (2008): Ganz normale Kinder: Heterogenität und Standardisierung kindlicher Entwicklung. Weinheim Lehtinen, Erno (1994): Institutionelle und motivationale Rahmenbedingungen und Prozesse des Verstehens im Unterricht. In: Reusser, Kurt/Reusser-Weyeneth, Marianne (Hrsg.): Verstehen: Psychologischer Prozeß und didaktische Aufgabe. Bern, S. 143162 Lieberson, Stanley (1987): Making it Count. The Improvement of Social Research and Theory. Berkeley Lindner, Werner (1999): Zero Tolerance und Präventionsinflation. Jugendliche und Jugendarbeit im Kontext der gegenwärtigen Sicherheitsdebatte. In: Deutsche Jugend 47/4, S. 153-162 Kleint, Steffen (2009): Funktionaler Analphabetismus. Forschungsperspektiven und Diskurslinien. Bielefeld McElvany, Nele (2007): Förderung von Lesekompetenz im Kontext der Familie. Münster Nickel, Sven (2004): Neue Wege der Prävention von Analphabetismus in Kindergarten, Schule und Familie. In: Genz, Julia (Hrsg.): 25 Jahre Alphabetisierung in Deutschland. Stuttgart, S. 145-154 Oevermann, Ulrich (1977): Sprache und soziale Herkunft. Frankfurt am Main Parsons, Talcott (1951): The Social System. New York Schmitt, Christof (2008): Prävention – Zauberformel oder Irrweg für die Kooperation? In: Henschel, Angelika/Krüger, Rolf/Schmitt, Christof/Stange, Waldemar (Hrsg.): Jugendhilfe und Schule. Handbuch für eine gelingende Kooperation. Wiesbaden Schütze, Fritz (1992): Sozialarbeit als „bescheidene“ Profession. In: Dewe, Bernd/Ferchhoff, Wilfried/Radtke, Frank-Olaf (Hrsg.): Erziehen als Profession: Zur Logik professionellen Handelns in pädagogischen Feldern. Opladen, S. 132-170 Schütze, Fritz (1996): Organisationszwänge und hoheitsstaatliche Rahmenbedingungen im Sozialwesen: Ihre Auswirkung auf die Paradoxien des professionellen Handelns. In: Combe, Arno/Helsper, Werner (Hrsg.): Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns. Frankfurt am Main, S. 183-275 Strauss, Anselm/Fagerhaugh, Shizuko/Suczek, Barbara/Wiener,Carolyn (1985): The Social Organization of Medical Work. Chicago Sturzenhecker, Benedikt (2004): Zur Kritik von Prävention aus Sicht der Jugendarbeit in Deutschland. In: Ostendorf, Heribert (Hrsg.): Effizienz von Kriminalprävention – Erfahrungen im Ostseeraum. Lübeck, S. 24-34 Watzlawick, Paul (1991): Selbsterfüllende Prophezeiungen. In: ders.: Die erfundene Wirklichkeit. München: Piper, S. 91-110
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Stephan Hein, Günther Robert, Thomas Drößler
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Präventive Skepsis oder: „Wo sind wir da hineingeraten?“ Zur Diskussion neuer Anforderungen und Erwartungen an Einrichtungen der Kindertagesbetreuung. Thomas Drößler, Günther Robert, Stephan Hein 1
Einleitung oder: Prävention hat Konjunktur Die Vielzahl von Veröffentlichungen, Programmen, Handlungsmodellen und -projekten dokumentiert die seit einigen Jahren ungebrochene Attraktivität von theoretischen und praktischen Ansätzen, die auf „Prävention“ gerichtet sind. Angesiedelt sind sie nicht zuletzt und mit einer steigenden Tendenz in pädagogischen und sozialarbeiterischen Aufgabenfeldern. Ersteres gilt auch trotz des – durchaus öffentlich thematisierten – Umstandes, dass dabei konzeptionell manches als ungeklärt, widersprüchlich, bisweilen nur gering reflektiert, fast plakativ vorgetragen erscheint. Insbesondere die Hintergründe und Implikationen eines systematischen Verständnisses dessen, was mit Prävention im engeren Sinne – in Abgrenzung etwa zu Interventionen, Problemlösungen, Hilfen, Förderungen etc. – gemeint sein soll und kann, werden nach unserem Eindruck nicht immer hinreichend ausbuchstabiert. Bei einer solchen unverzichtbaren und gewissermaßen vorgängigen Beschäftigung mit den damit verbundenen Fragestellungen kann es daher hilfreich sein, die in den genannten Bereichen entstandene Situation in ihrer Vielschichtigkeit ebenso wie den tief greifenden Auswirkungen auf die erzieherischen und 1 Dieser Beitrag ist zusammen mit dem Text „Sprachlose Pädagogik“ in diesem Band in und aus vielen gemeinsamen Diskussionen und Arbeitspapieren mit Stephan Hein und Günther Robert entstanden. Ursprünglich als ein gemeinsamer Beitrag konzipiert, sind die in beiden Texten entwickelten Argumentationen aufeinander bezogen und können bzw. sollen als sich wechselseitig illustrierend und ergänzend gelesen werden. Die vorliegende Textform wurde von Thomas Drößler und Günther Robert verfasst.
G. Robert et al., (Hrsg.), Aufwachsen in Dialog und sozialer Verantwortung, DOI 10.1007/978-3-531-92693-3_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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die sozialpädagogischen Disziplinen und ihre Handlungsfelder genauer zu betrachten. Nicht zuletzt scheint es nützlich, sich Kontexte, Entstehungsbedingungen und Reichweite von Konzepten, Programmen und Projekten kritisch vor Augen zu führen. Angesichts der Heterogenität und Unübersichtlichkeit von Problembeschreibungen, Erklärungsmodellen, Zielen, Ansätzen und Ansprüchen ist es zusätzlich geboten, nach Gemeinsamkeiten und einem gemeinsamen Bezugsproblem zu suchen, das die Rede von präventiver Qualität und Logik ausmacht und rechtfertigt. Sehr allgemein lässt sich aus den Diskussionen und Praxen um bzw. von Prävention nämlich bereits ein wichtiger Befund ableiten, der zugleich als Rahmen für eine entsprechende Reflexion und für begrifflich-konzeptionelle Präzisierungen dienen kann: In gesellschafts- und sozialwissenschaftlichen Debatten der vergangenen Jahrzehnte wird vielfach ein deutlicher Wandel in Modus und Richtung der Beobachtung, Konstitution, Interpretation sowie Beeinflussung und Steuerung gesellschaftlicher Phänomene und Fragestellungen – insbesondere solcher, die als „soziale Probleme“ verstanden werden – konstatiert. Was wie wahrgenommen, was davon zu einer Aufgabenstellung gemacht, welche Zuständigkeiten konstruiert und insbesondere welche Lösungen gesucht und Handlungsmodelle entwickelt und umgesetzt werden, durchlief in den vergangenen Jahrzehnten einen aufschlussreichen Prozess der Veränderung, an dessen – vorläufigem – Ende die aktuelle Popularität (sozial-)pädagogischer Prävention erst steht. Für die damit zentrale Frage der Vermittlung von Theorie und Praxis in den Sozialwissenschaften etwa spricht Stefan Wolff eine bemerkenswerte Kadenz an als die eines Verlaufsmusters von der „Krisentheorie“, über eine „Theorie der Planung“, von der „Implementationsforschung“ hin zur „Verwendungsforschung“ (Wolf 2008, S. 235). Er schreibt: „In einer wissenschaftssoziologisch höchst aufschlußreichen historischen Abfolge entwickelt sich seit den 1960er Jahren zunächst die Krisentheorie, die auf gesellschaftliche Rationalitätsdefizite hinwies, dann eine Theorie der Planung, die deren gezielte Behebung als konsequente Umsetzung quasi technologischer Programme zum Ziel hatte. Nachdem sich diesbezügliche Illusionen über die Möglichkeit einer mehr oder weniger deduktiven Umsetzung wissenschaftlicher Ergebnisse zerschlagen hatten, folgte in den 1970er Jahren die Implementationsforschung, die Gründe für die fehlerhafte Umsetzung wohlgemeinter politischer und planerischer Vorgaben auszumachen suchte, und schließlich, sozusagen als Ausdruck und Inbegriff reflexiver Modernisierung, die empirische Verwendungsforschung.“ (ebd.)
Das damit angesprochene Muster einer Rücknahme von optimistischen, aber unangemessenen – u. a. weil unterkomplexen – Wirksamkeitsvorstellungen lässt
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sich in vielen gesellschaftlichen Bereichen aufweisen. Andere Beispiele dafür sind etwa die Paradigmen- und Strategiewechsel in der Entwicklungshilfe oder in den Versuchen einer „Transformation“ ehemals sozialistischer Länder des Ostblocks. Sichtbar wird daran zunächst, dass und in welchem Ausmaß die Sozialwissenschaften, die angesichts von Wissens- und Rationalitätsdefiziten als kognitive Ressource zur gesellschaftlichen Planung und Steuerung verstanden werden, in das Anziehungsfeld gesellschaftlicher Nutzungs- und Verwertungsinteressen geraten und welche Folgen dies hat. Auch (und gerade) wenn dies aus eigenem Antrieb und Interesse geschieht, setzt eine solche Entwicklung sie selbst zusehends mit den sehr grundsätzlich zu verstehenden Problemen der Anwendung und Umsetzung ihres Wissens jenseits gesellschaftlicher „Aufklärung“ aus. Zugleich konfrontieren die Wissenschaften sich darin immer auch mit sich selbst, hier mit den Ergebnissen und Effekten der eigenen, nun praktisch werdenden sozialwissenschaftlichen Expertise – mit entsprechenden Folgen, etwa für die Modi ihrer Selbstverortung und Bezugnahmen. Neben der Stärkung einer seit langem vorgetragenen Kritik an der Annahme einer gleichsam „exterioren Stellung“ der Sozialwissenschaften zu ihrem Gegenstand (exemplarisch Luhmann 1970; Matthes 1985) wird im Ergebnis entsprechender Untersuchungen insbesondere sichtbar, dass sozialwissenschaftliches Wissen sich nicht „einfach“, deduktiv und gleichsam technologisch verwenden lässt. Auch wenn eine entsprechende Aufklärung zu größerer Bescheidung und „Realismus“ führt (was allerdings keineswegs durchgängig der Fall ist), bleibt damit die Frage nach den Prämissen der Umsetzbarkeit sozialwissenschaftlicher Expertise in Praxis bis heute als zu bearbeitendes Thema bestehen und virulent. Wolff etwa konstatiert: „Gerade die in den einschlägigen empirischen Projekten eindeutig dominierenden qualitativen Studien zeigten bald, dass die direkte Anwendung im Sinne einer technologischen Umsetzung sozialwissenschaftlichen Wissens den unwahrscheinlichen Grenzfall von Verwendung ausmacht.“ (ebd.)
Die frühe Kindheit im Fokus: Bildung, Risiko und soziale Benachteiligung Scheinbar im Widerspruch zu diesem empirisch vielfach belegten, Präzisierung und ggf. Bescheidung nahelegenden Umstand nehmen, wie von uns eingangs konstatiert, auf Prävention gerichtete Perspektiven und Ansätze allerdings seit Jahren zu und dies überwiegend ohne dass die damit aufgeworfenen Fragestel-
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lungen systematisch bearbeitet und geklärt würden.2 Es herrscht bei aller geäußerten Skepsis und gut begründeten Kritik weiterhin „Präventionsoptimismus“, wenn nicht gar „-euphorie“. Gut illustrieren und veranschaulichend ausarbeiten lassen sich solche Überlegungen im Hinblick auf die im vorliegenden Band speziell fokussierte Lebensphase der frühen Kindheit. Diese ist in den vergangenen Jahrzehnten deutlich verstärkt ins Blickfeld der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit geraten. Dabei ließ sich die Konstatierung von „objektiven“ Problemzuwächsen ebenso verzeichnen wie parallele Veränderungen von Thematisierungsstilen, Erklärungsund Deutungsmustern sowie Handlungskonzepten und -modellen. In solchen Konstrukten und in daraus ggf. hergeleiteten gesellschaftlichen Reaktionen wird die frühe Kindheit aber insbesondere in Bezug auf – weit gefasste – Konzepte von Prävention betrachtet und thematisch. Es entsteht dabei zunächst der Eindruck, dass sie zunehmend als eine Lebensphase verstanden wird, in der (die Schaffung von Voraussetzungen für) Bildung bzw. Bildsamkeit in den Vordergrund rücken. Psychische, physische und soziale Entwicklungsprozesse werden in der Folge eng auf entsprechende Kriterien und „Indikatoren“ bezogen und in ihrem Verlauf in einem oftmals verkürzend funktionalisierenden Sinne auf anzustrebende Optimierungen „qualitativer Passungen“ bzw. die Vorbeugung negativer, „desintegrativer“ Entwicklungen hin interpretiert und bewertet. Gerade die frühe Kindheit entwickelt sich in ihren familiären, institutionellen und nicht zuletzt politischen Thematisierungen und Ausgestaltungen offenbar zu einer zentralen gesellschaftlichen Chiffre für personale Entwicklungs- und damit gesellschaftliche Integrations- und „Nutzungs“chancen bzw. -risiken. Trotz aller die Individualität des Kindes ins Zentrum setzenden Rhetorik etwa einschlägiger Bildungspläne (vgl. etwa Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen u. a. 2003; Schäfer 2005; Sächsisches Staatsministerium für Soziales 2006) und Interventionsprogramme (bspw. Ministerium für Gesundheit, Soziales, Frauen und Familie des Landes NordrheinWestfalen 2005; Nüsken in diesem Band) scheinen entsprechende Diskurse in erster Linie ausgerichtet auf prognostizierte und hoch generalisierte gesellschaftliche Bedarfe als „Funktionserfordernisse“, auf welche die Kindheit ausgerichtet ist, ohne einen eigenen Status und Wert als Lebensphase zu haben, der nicht in diesen Bestimmungen aufgeht. Dies gilt auch und gerade, wenn wachsende soziale Disparitäten darin einen zunehmend wieder wichtigen Bezugspunkt bilden. Angesprochen als soziale 2 Bemerkenswert ist dabei nicht zuletzt, dass diesbezüglich verfügbares Wissen – im Gegensatz zur Situation in den 1960er bis 1980er Jahren – auf der Steuerungsebene, v.a. also in politischen Zusammenhängen, kaum noch tradiert und entscheidungsrelevant zu werden scheint.
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Ungleichheit und soziale Benachteiligung sowie – wachsende – Armut werden diese Faktoren im Kontext von Bildungsprozessen in der frühen Kindheit zumeist und wenig differenzierend verstanden als Risikoverstärker, denen mit staatlichen Maßnahmen zuvorzukommen oder entgegenzuwirken ist. Wie in anderen Bereichen der Sozialen Arbeit und Pädagogik seit langem beobachtet (Münchmeier 1981) werden spezifische materielle soziale Lagen damit tendenziell von ökonomischen Phänomenen und Problemen zu pädagogischen Aufgabenstellungen transformiert, die wiederum in biografische und gesellschaftliche Zukunftshorizonte gestellt sowie in darauf bezogenen Risikoszenarien kontextualisiert werden. Legitimatorische Unterstützung für entsprechende semantische Überformungen und abgeleitete Maßnahmenpakete bieten dabei in Wellen auftretende öffentliche Skandalisierungen v.a. extremer Fälle von Missbrauch und sozialer Verwahrlosung. Bildung und Risiko sowie in einem engen, zumeist korrelativ erfassten Wirkungsbezug darauf Armut und soziale Benachteiligung, stellen mithin zentrale begriffliche und konzeptionelle Referenzen für die sich entwickelnden Auffassungen von Kindheit dar sowie für deren gesellschaftliche Konstitution und Organisation (vgl. Robert et al. in diesem Band). Etablierte „traditionelle“ Verständnisse hierfür, wie etwa das einer „Kindheit als Schonraum“ (vgl. DJI 2009), werden hierfür in maßgeblichen Teilen entsprechend modifiziert. Damit sind wesentliche Ausgangspunkte unseres Beitrags umrissen. Im Folgenden sollen daher zunächst in wenigen Stichworten einige gesellschaftliche Entwicklungen als historische Kontexte argumentativ in einen Zusammenhang mit den genannten Tendenzen gebracht werden (Kapitel 3).3 Empirische Bezüge werden im vorliegenden Text insbesondere hergestellt zum Feld der Frühpädagogik und ihrer Institutionen. Anders gerahmt diskutieren wir im Aufsatz „Sprachlose Pädagogik?“ in diesem Band verwandte Fragestellungen im Hinblick auf Programme der Alphabetisierung. Beide Felder sind aktuell nicht zuletzt auf die genannten Aspekte der Bildung und der Vorbeugung von Risiken ausgerichtet. Vorherrschend ist in ihnen ebenfalls ein weites Verständnis der zu bearbeitenden Aufgabenstellungen, das konzeptionell von der genannten Vorbeugung riskanter Entwicklungen über die Kompensation von Benachteiligungen bis zu „einfachen“ Fördermaßnahmen reicht. Vielfach bestehen auch kategoriale und konzeptionelle Überlappungen, wenn etwa die Lösung bereits vorliegender Probleme oder eine Förderung von Bildungsprozessen zugleich der Prävention (weiterer/sich verstärkender) negativer Entwicklungen dienen soll. All dies verlangt nach und ermöglicht Beobachtungen und Reflexionen, die der angestrebten 3 Auch wenn vergleichbare Tendenzen in anderen Industrienationen sichtbar werden, konzentrieren wir uns dabei auf die BRD.
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Schärfung der Begrifflichkeit entgegenkommen und dabei insbesondere auch dazu beitragen, Fragen und Beobachtungen angemessen zu dimensionieren. Die Parallelität einer Verengung und Erweiterung des Bildungsverständnisses In (beiden Teilen) Deutschland(s) hatte und hat Bildung traditionell einen hohen Stellenwert. Auf der einen Seite lassen sich dabei Rückgriffe auf historische, kulturelle (auch: nationale) Identität verbürgende Wurzeln konstatieren bzw. Bezüge auf klassische Formungskonzepte feststellen. Auf der anderen treten – aus der Reflexion auf gesellschaftliche Entwicklungen, wie z. B. diejenige zunehmender Differenzierungen (Industrialisierung) gewonnene – „funktionalistische“ Argumente auf, die in der deutschen Geschichte bereits früh auch aus Besonderheiten der Nationalökonomie, insbesondere aus der zu kompensierenden Knappheit natürlicher Ressourcen abgeleitet werden. Auffassungen von Bildung changierten damit in gesellschaftlichem Verständnis wie in privater und institutioneller Praxis zwischen humanistischen Idealen einer „ganzheitlichen“ Bildung von Person und Persönlichkeit einerseits und Formulierungen andererseits, welche Sozialität und Gesellschaft zum Thema machten und zentral sowie oftmals eng gefasst sich vor allem an Fragen der ökonomischen Entwicklung und – später – der sozialen Integration orientierten. Auch im Kontext von Entwürfen gesellschaftlicher Steuerung und Ökonomie (nicht zuletzt im (Vulgär-)Marxismus) wurde Bildung von Beginn an einerseits sehr reduktiv formuliert, etwa im Sinne eines reinen Produktionsfaktors, mithin einer eng verstandenen Ausrichtung auf gesellschaftliche Arbeit. Zugleich aber fanden zunehmend auch in diesem Rahmen Würdigungen weiterer Qualitäten Platz und Aufmerksamkeit: Bildung wurde sichtbar und anerkannt in ihrem Stellenwert für den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess als ganzen, als ein (nationale) Zukunft mit konstituierendes und beeinflussendes „Vermögen4“, etwa ein Kreativität und Innovation ermöglichendes Potenzial. Die Jugend insbesondere wurde im Zuge ihrer Konstitution und Institutionalisierung als Lebensphase des Lernens und der Bildung zu einer gesellschaftlichen Chiffre für „Zukunft“. Weitere, gegenständlicher gewendete Unterscheidungen und Zuschreibungen erfolgten dabei dann zumeist in Bezug auf soziale Merkmale wie die der Klasse, der Schicht oder des Geschlechts, später auch das Merkmal der ethnischen Zugehörigkeit.
4 Vergleiche dazu etwa Deutschmann (2008; 2001).
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Durchgängig aber zeigen sich darin die angedeuteten, bisweilen latenten Akzentverschiebungen. Untersetzt werden diese weiter mit Verweisen auf sich abzeichnende demografische Entwicklungen, insbesondere mit einer prognostizierten Verknappung qualifizierter Arbeitskräfte. Spätestens seit den 1990er Jahren stehen entsprechende Diskussionen zudem im Zusammenhang mit einer (verstärkten Wahrnehmung der) Ausweitungen des Referenzrahmens der (bislang primär als „national“ verstandenen) Ökonomie im Sinne zunehmender weltweiter Austauschprozesse (Globalisierung/Weltgesellschaft), innerhalb derer zum einen eine zunehmende Konkurrenz um (die Verwertung von) Qualifikation, Wissen, Kompetenz und Kreativität entsteht. Zum anderen erhält Bildung eine das oben angesprochene Defizit kompensierende Qualität. In diesem Prozess entstehen zudem auch in dieser Dimension neue Bezugspunkte der (gesellschaftlichen) Selbstbeobachtung, relationale Kriterien (internationale Meßlatten), ein entsprechend dimensioniertes nation- und bildungspolitisch bezogenes Ranking (Deutsches PISA-Konsortium 2001). Bildungsprozesse werden dabei nicht zuletzt verstanden (und konzeptualisiert) als die Herstellung von „Humankapital“ (Bourdieu 1994). Ein in diesem Zusammenhang ebenfalls prominenter, in seinem Gehalt wie seinen Implikationen aber ungeklärter Bezugspunkt ist die verbreitete Zeitdiagnose der Gesellschaft als einer Wissensgesellschaft. Hier wird versucht, die zunächst als postindustrielle bzw. Dienstleistungs-, dann als Informations-, schließlich mit dem – irreführenden – Titel der „Wissensgesellschaft“ bezeichnete Umstellung gesellschaftlicher Arbeit auf kognitive Ressourcen (Technisierung, Automatisierung, Informatisierung etc.) mit der Folge der auf Dauer gestellten und beschleunigten Entwertung von Berufsbildern (de-skilling) auf einen Begriff zu bringen.5 Trotz bisweilen anders lautender Rhetoriken bzw. diesen implizit setzte sich dabei in den Debatten um Bildung das Primat einer Argumentation und Perspektivik durch, welche Nutzungs- und Funktionserfordernisse als vorgängige Kriterien betont. Auch hinter Zitationen etwa Humboldtscher Ideale scheinen zunehmend primär als „funktional“ konstruierte Argumente zu stehen. Unter der Hand werden so aus Bildung (verwertbare) Ausbildung, aus Gerechtigkeit (Lebenswege implizit normierende) Chancengleichheit, aus sozialer Integration (Kontrolle und Intervention legitimierende) gesellschaftliche Sicherheitsbedarfe. Bildung erscheint in all dem in erster Linie nicht als ein chancenreich kontingenter, sondern vor allem auch als ein riskanter Prozess. 5 Auffällig dabei ist, dass diese Diskurse und „Diagnosen“ trotz der je unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen der Tendenz nach Gesellschaft vordergründig als ein allumfassendes Exklusionsrisiko bestimmen – eine paradoxe Konstruktion. Prominent dabei ist das aus den 1950er Jahren stammende, aber zu einem Exklusionsrisiko modifizierte Konzept des lebenslangen Lernens.
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Neue Bezugsrahmen der frühpädagogischen Diskussion In einem doppelten, aufeinander verweisenden Thematisierungszusammenhang richtete sich ein Fokus gesellschaftlicher Aufmerksamkeit zunehmend auf die frühe Kindheit, die bis dahin in diesen Zusammenhängen wenig Beachtung gefunden hatte. Medial angestoßen und zugleich forciert durch neuere Erkenntnisse der Säuglings- und Kindheitsforschung oder auch der Hirnforschung und deren Diskussion in pädagogischen Kontexten (vgl. hierzu bspw. Schäfer et al. 2005), nicht zuletzt aber durch die Diskussionen im Gefolge von Untersuchungen wie PISA, TIMMS oder IGLU rückten Bildungsprozesse im frühen Kindesalter, ihre Unterstützung, Förderung und Absicherung in den Fokus nicht nur einer informierten Fachöffentlichkeit. Hinzu traten Hinweise auf vermutete Tendenzen sozialer Desintegration, zunehmender Exklusionsrisiken und der damit einhergehenden Gefahr einer – weiter wachsenden – gesellschaftlichen Spaltung. Stichworte, aus denen entsprechende Debatten vor allem in Bezug auf die frühe Kindheit sich speisten und sich dabei in unterschiedlichem Ausmaß auf reale gesellschaftliche Entwicklungen bezogen und diese einzuordnen und zu interpretieren suchten, waren vielfältig. Veränderungen von Formen und Qualitäten der Familie wurden ebenso angesprochen wie das – als Folge des Wandels – konstatierte Nachlassen von deren Sozialisationskraft (Peuckert 2008, BMFSFJ 2002, 2006). Beobachtete Tendenzen sozialer Desintegration von Familien und Kindern wurden auf problematisch und insuffizient verlaufende Lern- und Bildungsprozesse zurückgeführt. Die beobachtete Zunahme sozialer Ungleichheit (v.a. als (Kinder-) Armut; vgl. bspw. Hurrelmann/Andresen 2007; Hock et al. 2000), verstärkt verstanden als (Bildungs-)Benachteiligung und darin als Folge eines Aufwachsens in prekären Lebenslagen bzw. dissoziierten Milieus sowie deren untersuchte, aber oft nur unterstellte Effekte auf Bildungs- und Sozialisationsprozesse (Anregungsarmut, Defizite im Gesundheitsverhalten, Sozialverhalten, Häufungen von Entwicklungsauffälligkeiten etc.) prägten in wesentlichen Teilen die Debatten um Prävention im frühen Kindesalter. Dies reichte bis hin zu Vermutungen direkter Zusammenhänge zwischen sozioökonomischen familialen Lebenslagen und der Vernachlässigung sowie dem Missbrauch von Kindern, wie sie sich bspw. in den einschlägigen Kindesschutzdebatten und den darauf ausgerichteten politischen Programmatiken sowie auch in konkreten Praxiskontexten manifestieren (vgl. Wohlgemuth 2009, S. 98 ff.). Ausgehend von dieser Situationsbeschreibung und ihren diskursleitenden Ausdeutungen hinsichtlich Ursachen und Folgen erfahren Bildung sowie (besondere) Anstrengungen der Förderung und Unterstützung kindlicher Bildungsprozesse nicht nur eine Aufwertung. Darüber hinaus werden sie als präventive Maßnahmen und Strategien zur Vermeidung von Risiken gesellschaftlicher Desinteg-
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ration auf der einen und individueller Exklusion (von Kindern) auf der anderen Seite akzentuiert. Bildung und Bildungsförderung erscheinen ebenso als probate Mittel, die (potenziellen) Auswirkungen des Lebens und Aufwachsens von Kindern in benachteiligenden Lebenslagen in einem kompensatorischen Sinne zu bearbeiten. Prävention und Bildung werden in einen mehr oder weniger unmittelbaren Zusammenhang gestellt: Möglichst früh einsetzende Einflussnahmen auf die nachwachsenden Generationen erscheinen als ein Mittel – wenn nicht gar das Mittel schlechthin – zur gesellschaftlichen Steuerung. Kindertageseinrichtungen sehen sich vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund sowohl mit einem akzentuierten Bildungsauftrag als auch mit Forderungen konfrontiert, präventiv wirksam zu werden – insbesondere im Hinblick auf die Herstellung von Chancengerechtigkeit bzw. die Kompensation (potenziell) negativer Auswirkungen benachteiligender Aufwachsensbedingungen auf die Entwicklung und – perspektivisch – die Teilhabechancen von Kindern. Stellvertretend für andere sozialpolitische Stellungnahmen findet sich beim Bundesjugendkuratorium BJK (2009) die Auffassung, dass „durch den konsequenten Ausbau von Angeboten und Einrichtungen der frühkindlichen Bildung, Erziehung und Betreuung und durch die konsequente Weiterentwicklung dieses Systems zur Elementarstufe des Bildungswesens […] ein Beitrag zur Förderung der Kinder geleistet werden [kann.] Bei diesem Ausbau geht es nicht nur um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, sondern um die Verbesserung von Bildungschancen von Kindern insbesondere aus sozial benachteiligten Familien und Familien mit Migrationsgeschichte [deren Kinder laut PISA und neueren Untersuchungen in überproportionalem Ausmaß von Bildungsbenachteiligung betroffen sind, Anm. d. A.], um die ‚Vererbung‘ von Bildungsbenachteiligungen und damit auch von Kinderarmut langfristig zu bekämpfen“ (Bundesjugendkuratorium (im Folgenden BJK) 2009, S. 29).
Angesichts solcher sozial- und fachpolitischen Engführungen ist die Frage von Interesse, in welche Diskurse das Handlungsfeld „Tageseinrichtungen für Kinder unter 6 Jahre“ geraten ist und mit welchen Forderungen, Erwartungen und Begründungen diese Diskurse aufwarten. Prämissen und Konzepte Bildung und Prävention bzw. die Bildungs- und die Präventionsfunktion von Kindertageseinrichtungen markieren zwei zentrale Säulen der aktuellen Diskussionen um Bildung und Erziehung im frühen Kindesalter. Die enge Verknüpfung von Bildung und Prävention im Sinne einer Strategie zur Vermeidung bzw.
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Kompensation negativer Auswirkungen eines Lebens und Aufwachsens von Kindern in sozial belasteten bzw. benachteiligten Lebenslagen wirft die Frage auf, von welchen Konzepten und Prämissen dabei ausgegangen wird und inwiefern diese neben den systematischen Implikationen in der fachlichen und wissenschaftlichen Diskussion aufgenommen, fortgeführt oder modifiziert werden. In der aktuellen Präventionsdebatte sticht die Arbeit von Katja Wohlgemuth hervor, die nicht nur systematische Fragestellungen aufgreift, sondern ebenso die politischen Dimensionen berücksichtigt, insbesondere auch in ihren Wirkungen in Soziale Arbeit, hier Jugendhilfe, hinein. So gibt sie in ihrer Arbeit „Prävention in der Kinder- und Jugendhilfe“ einen Überblick über die unterschiedlichen Thematisierungs- und Verwendungszusammenhänge von Prävention (Wohlgemuth 2009). Neben der Sozialen Arbeit, der Medizin und den Rechtswissenschaften bzw. dem Rechtswesen bedient sich auch die Politik intensiv des Präventionsbegriffes. „Der Präventionsbegriff ist Bestandteil diverser politischer Diskurse in den unterschiedlichsten Politikbereichen. Er findet sich in der Außen- und Sicherheitspolitik ebenso wie in Verbindung mit der Thematik ‚Innere Sicherheit‘, spätestens seit der letzten Gesundheitsreform in der Gesundheitspolitik, in der Familienpolitik, der Bildungspolitik und der Jugendpolitik. […] Prävention scheint ein probates politisches Argument und Legitimationsinstrument in diversen Kontexten zu sein“ (ebd., S. 89). Damit einher gehen spezifische Verständnisweisen von Prävention, die weniger zu einer systematischen konzeptionellen Klärung beitragen, sondern vielmehr Funktionszuschreibungen bzw. Strategien politischer Einflussnahme und Steuerung zum Ausdruck bringen. Wohlgemuth unterscheidet hier zwischen Prävention als Investition, Prävention als Kindesschutz und Prävention als Legitimationsinstrument politischer Herrschaft. An dieser Stelle sollen die Konzeptualisierungen von Prävention als Investition und Prävention als Kindesschutz näher betrachtet werden6. Mit Prävention als Investition ist zunächst ein Begriffsverständnis impliziert, das Prävention im Sinne eines positiv bestimmten kausalen Wirkungszusammenhangs begreift. Heute getätigte Investitionen oder unternommene Anstrengungen führen nach diesem Verständnis dazu, problematische Entwicklungen in der Zukunft zu vermeiden. Seinen spezifischen Bias bekommt dieses Präventionsverständnis, wenn es in den Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen und deren Beeinflussung und Steuerung bzw. Bewältigung gestellt wird. Wohlgemuth macht dies am Beispiel von Sozialleistungen deutlich: Die von uns oben bereits angesprochenen umfassenden gesellschaftlichen Veränderungen im 6 Das Konzept der Prävention als Legitimationsinstrument politischer Herrschaft nimmt Elemente der beiden anderen auf, betont aber eine noch weiter gehende Instrumentalisierung von Prävention sowie der ihre Notwendigkeit begründenden Ursachen und damit verbundener Steuerungserfordernisse durch die Politik.
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Gefolge der wirtschaftlichen Globalisierung haben zu einem Wandel des Verständnisses und der Zweckbestimmung von Sozialleistungen geführt. Bezugspunkt der Diskussion ist nach Auffassung von Wohlgemuth die Wettbewerbsfähigkeit der nationalen (deutschen) Ökonomie in einer globalisierten Wirtschaft. „Vorrangiges Ziel sozialinvestiver und damit (dem hier thematisierten Begriffsverständnis folgend) präventiver Leistungen ist die Sicherung bzw. der Ausbau der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit am Markt über Investitionen in das Humankapital bzw. in Employability“ (ebd., S. 93). Sozialstaatliche Leistungen dienen in dieser Logik der Sicherung künftiger wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit und damit gesellschaftlichen Wohlstandes und gleichzeitig durch die Betonung des Humankapitals in verhindernder Intention „der Vermeidung sozialer Exklusion aufgrund eines Scheiterns auf dem Arbeitsmarkt etc.“ (ebd.). In einem solchen Verständnis von Prävention geht es darum, durch gezielte Einflussnahmen in der Gegenwart künftige negative Entwicklungen zu vermeiden, worin sich die „Rendite“ der Investition ausdrückt (die ggf. und erhofftermaßen noch darüber hinausgeht, nämlich, indem Wettbewerbsfähigkeit für die Zukunft nicht nur gesichert, sondern möglicherweise sogar gesteigert werden kann). Dabei erfolgt Prävention in diesem Sinne selektiv, also entlang der Frage, in welchen Bereichen und gegenüber welchen Gruppen sich der Aufwand lohnt. Nun kann Bildung (bzw. Ausbildung) grundsätzlich (auch) als eine Investition in die Zukunft betrachtet werden. In der Jugendforschung ist dieser Aspekt auf der individuellen Ebene u. a. unter dem Stichwort des Bedürfnisaufschubs diskutiert worden: Um die Voraussetzungen für eine gelingende gesellschaftliche Integration in der Zukunft zu schaffen, sind Jugendliche angehalten, aktuelle Bedürfnisse hinter die Erfordernisse zur erfolgreichen Bewältigung von Entwicklungsaufgaben – im Rahmen eines gesellschaftlich eingerichteten Moratoriums – zurückzustellen, insbesondere eben für die schulische und berufliche (Aus-)Bildung und die damit einhergehenden Anforderungen (vgl. bspw. Zinnecker 1991; Hurrelmann 2004). Ihren „präventiven Charakter“ erhält Bildung bzw. erhalten Bildungsanstrengungen in einer solchen Sichtweise primär auf der gesellschaftlichen Ebene. In einem Land, das über vergleichsweise wenige natürliche Ressourcen wie bspw. Bodenschätze verfügt und das seine Perspektiven daher vor allen Dingen in der so genannten Wissensgesellschaft sieht, wird Bildung sozusagen naturgemäß zu einer zentralen Ressource. „Einer guten Bildung wird nachhaltiges Potenzial zugesprochen, so dass entsprechende Investitionen als besonders ertragreich eingestuft werden. Boden gewinnen derartige Forderungen zudem vor dem Hintergrund aktueller bildungspolitischer Debatten im Nachklang der PisaStudien“ (ebd., S. 94 f.). Auch die frühe Kindheit gewinnt dabei – als Bildungsphase – im fachpolitischen Raum an Stellenwert. Nunmehr rücken „Kinder […]
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vom marginalisierten Rand in das Zentrum wohlfahrtspolitischer Strategien, denn die entscheidenden Grundlagen für eine erfolgreiche Akkumulation des sozialen und kulturellen Kapitals werden in der Phase der frühen Kindheit gelegt“ (Olk 2005, S. 55). Neben diesem Verständnis charakterisiert Wohlgemuth in der Folge auch „Kindesschutz als Prävention“: Ausgehend von medial wirksam aufbereiteten Vorfällen wie dem Tod des Jungen Kevin in Bremen habe sich eine Diskussion darum entwickelt, wie Derartiges in Zukunft verhindert werden könne, zumal Kevin gewissermaßen unter der Obhut der Kinder- und Jugendhilfe ums Leben gekommen war (vgl. Salgo 2007). Unbenommen des Einwandes, dass in dieser Diskussion Kindesschutz und Prävention in eins gesetzt werden, geht es in deren Kern zunächst um die Frage, wie der gesellschaftliche Schutzauftrag gegenüber Kindern und Jugendlichen angemessen wahrgenommen werden kann. Prävention bzw. die Rede von ihr erlangt diesbezüglich insofern eine besondere Bedeutung, als entsprechende Strategien und Konzepte kindeswohlgefährdenden Situationen möglichst vorbeugen und sie – bspw. durch gezielte Unterstützung – verhindern sollen. Es geht also gerade nicht um Interventionen, die ja ein Eingreifen im Falle bereits eingetretener Gefährdungen darstellen und daher nur als „zweite Wahl“, als möglichst zu verhindernde „Notlösung“ erscheinen. Damit jedoch sind einige Schwierigkeiten verbunden, die systematischer Natur sind: „Allgegenwärtig ist in der sozialpolitischen Debatte zu einem verbesserten Kindesschutz die Frage, für welche Familien das Risiko einer Kindeswohlgefährdung besonders groß ist – also die Frage danach, auf welche Familien sich die Aufmerksamkeit konzentrieren muss“ (Wohlgemuth 2009, S. 100 f.). Als problematisch erscheint mithin die Identifizierung von Situationen und Kontexten des Aufwachsens, die ein Risiko für das Kindeswohl wahrscheinlich werden lassen, die aber offenbar in erster Linie mit den Herkunftsfamilien der potenziell betroffenen Kinder assoziiert bzw. dort vermutet werden. Hier werden unterschiedliche Einflussfaktoren diskutiert7, von denen sozioökonomischen (Arbeitslosigkeit, Armut), familienbezogenen (Alleinerziehende, kinderreiche Familien), lebenslagenbezogenen (aktuelle Krisen, Belastungen) und individuellen (junge Mütter/Väter) offenbar besondere Bedeutung zugemessen wird. „Diese Bestimmung von Risikofaktoren und -gruppen [aber] führt weg von der Adressierung aller Familien mit kleinen Kindern unter drei Jahren und hin zu einer Selektivität entsprechender Konzeptionen, die gleichzeitig als Stigmatisierungsprozess zu verstehen ist, indem Familien aus bestimmten sozialen Milieus, aus bestimmten Regionen oder aber Fami7 Wohlgemuth führt für die Diskussion exemplarisch an: ostdeutsche Familien, Familien aus unteren sozialen Schichten, Familien in besonderen Belastungssituationen bzw. -konstellationen, Modernisierungsverlierer, Familien ohne soziales und/oder verwandtschaftliches Netzwerk (vgl. ebd., S. 102).
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lien in besonderen Lebenslagen in den Verdacht geraten, möglicherweise ihre Kinder zu vernachlässigen“ (ebd., S. 103)8. Prävention durch (frühe) Bildung? In der Diskussion um den kompensatorischen bzw. präventiven Auftrag von Kindertageseinrichtungen finden sich nunmehr Elemente beider Verständnisweisen von Prävention, wobei die damit verbundenen Hoffnungen und Erwartungen offenbar noch weiter gefasst sind. Neben dem Aspekt des Kinderschutzes9 gewinnt dabei ein Präventionsauftrag zunehmend an Bedeutung, der unter dem Stichwort (der Herstellung von) Chancengerechtigkeit verhandelt und diskutiert wird. Bezug genommen wird dabei auf Forschungsbefunde, nach denen sozial benachteiligende Lebenslagen von Familien sich negativ auf die Entwicklungsund Bildungschancen von Kindern auswirken können, was wiederum für die Zukunft geringere Integrationschancen und damit wachsende Exklusionsrisiken der so identifizierten Bevölkerungsgruppen vermuten lässt (für einen aktuellen Überblick vgl. bspw. Walper 2008). Der Bereich der institutionalisierten Kindertagesbetreuung sieht sich in der Konsequenz nicht nur mit einem in seiner Bedeutung gewachsenen, sondern gleichzeitig mit einem spezifisch akzentuierten Bildungsauftrag konfrontiert, mit dem – präventiv gewendet – besondere Erwartungen und Hoffnungen sowohl in Bezug auf die Bekämpfung von Armut und sozialer Benachteiligung als auch auf die Vorbeugung negativer Folgen für die Entwicklungs- und Bildungschancen der betroffenen Kinder verbunden werden. Dafür fehlen aber oftmals die elementaren Voraussetzungen, was den Erwartungen entgegenlaufende Folgen mit sich bringt: „Wenn dann in den öffentlichen Einrichtungen weder Zeit noch Aufmerksamkeit für individuelle Förderung und Kompensation von Benachteiligungen vorhanden sind, kann dies zu einer nachhaltigen Beeinträchtigung der Lebenschancen der Kinder mit der Folge der Reproduktion des Armutsrisikos über die Generationen hinweg führen“ (BJK 8 Um dem Vorwurf der Stigmatisierung bestimmter Bevölkerungsgruppen und der Kontrolle derselben zu entgehen, wurden bspw. generalisierte oder auch „generalpräventive“ Konzepte in Szene gesetzt, wie die bekannten Begrüßungsbesuche des Jugendamtes bei unterschiedslos allen Familien mit neugeborenen Kindern. Allerdings kann der – von Fall zu Fall durchaus intendierte – Kontrollcharakter dadurch eher schlecht als recht übertüncht werden. Noch dazu erfolgt die „Selektion problematischer Familien“ dann u. U. aufgrund der Wahrnehmungen und Perspektiven der damit betrauten Sozialpädagogen/-innen, Hebammen/Entbindungspfleger oder Krankenschwestern/-pfleger. 9 Neben einem gewissermaßen manifesten Auftrag des Kindesschutzes (bei Eintreten einer Kindeswohlgefährdung) kann im Kontext der Debatte auch eine bildungsbezogene Akzentuierung desselben gesehen werden, wenn Kindeswohlgefährdungen durch die eingeforderten und in der Praxis vielfältig zu beobachtenden Aktivitäten bspw. der Familienbildung von vornherein zu vermeiden gesucht werden bzw. eine entsprechende Wirkung unterstellt wird.
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2009, S. 13). Rekurriert wird hier auf eine kindliche Lebenssituation, die als durch geringe Gestaltungsspielräume in Folge von Armut, eingeschränkte Teilhabemöglichkeiten und Entwicklungschancen, Überforderung der Eltern, fehlende materielle Ressourcen und mangelhafte soziale Einbindung gekennzeichnet beschrieben wird, was in der Folge als symptomatische und Folgenabschätzungen beinhaltende Erfassung einer Ausgangslage aufgefasst und zur Basis für die Bestimmung und Legitimierung entsprechender Handlungsanforderungen gemacht werden kann. Eine wichtige Rolle spielt dabei mithin der familiale Kontext des Aufwachsens: Die Herkunftsfamilien von Kindern und deren (prekäre und daher für die Bildungschancen der Kinder offenbar folgenreiche) Lebenssituation bilden einen wesentlichen Bezugspunkt der Debatte um den Präventionsauftrag und die darin auf die Spitze getriebene Frage nach der Bildungsfunktion von Kindertageseinrichtungen. Sichtbar wird dies vor allem in programmatischen Ausführungen, in denen eine besondere Aufmerksamkeit für Familien und familiale Erziehungsund Bildungsprozesse (oder -anteile) angemahnt wird. So wird etwa konstatiert und gefordert: „Kindertageseinrichtungen können nur dann wirkungsvoll durch pädagogisches Handeln zur Herstellung von ‚Chancengerechtigkeit‘ beitragen, wenn sie Benachteiligungen in den Lebensverhältnissen der Kinder wahrnehmen und durch gezielte Bildungsangebote aufzuarbeiten versuchen.“ (BJK 2008, S. 26 f.) und „Wenn im Sinne einer stärkeren Ausrichtung am Leitbegriff ‚Chancengerechtigkeit‘ die Eltern und das familiäre Umfeld intensiver in das Bildungsgeschehen in der Kindertageseinrichtung einbezogen werden sollen und dadurch familiäre und institutionelle Bildungsorte und Lernwelten besser miteinander verknüpft werden sollen, dann ist eine Perspektivenerweiterung auf die Familie als Adressatengruppe eine konsequente Entwicklung“ (ebd.). Nun sind Familienorientierung und Elternarbeit für (moderne) Kindertageseinrichtungen durchaus nichts Neues. Allerdings ist in dieser Akzentuierung eine Position formuliert, die Familien, insbesondere benachteiligte Familien, von Eltern oder auch Erziehungspartnern zu direkten Adressaten spezifischer Handlungsdispositionen von Kindertageseinrichtungen transformiert. Wie damit umzugehen sei, sei durch „systematische Projektentwicklungen und zu evaluierende Erfahrungen“ zu klären (ebd., S. 28). Ob die damit verbundenen Implikationen tatsächlich aber allein über Modellprojekte oder Evaluationsstudien aufzulösen sind, bleibt zumindest diskussionswürdig. Denn in einem derart eng mit Bildung, Bildungserwartungen und – zu forcierenden – Bildungsanstrengungen konnotierten Präventionsverständnis bündeln sich in ungeklärten Mischungen Erwartungen der Sicherung von (gesellschaftlicher) Zukunftsfähigkeit, Erwartungen hinsichtlich eines Durchbrechens des Reproduktionskreislaufes von sozialer Ungleichheit, Erwartungen der Verbesserung individueller Entwicklungs- und da-
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mit künftiger Teilhabechancen sowie solche des Kindesschutzes – und all dies ohne hinreichende Klärung der Eignung der jeweiligen Handlungsgrundlagen. Ursula Rabe-Kleberg fragt daher zu Recht, ob Kindertageseinrichtungen dies zu leisten bzw. einzulösen überhaupt im Stande seien (vgl. Rabe-Kleberg 2010). Ihre eigene Antwort darauf fällt eher zurückhaltend aus. Sie konstatiert zunächst, dass das Handlungsfeld aufgrund seiner Traditionen und seiner auf Kinder und Kindheit bezogenen Begriffsgeschichte darauf (noch) nicht vorbereitet sei (vgl. ebd., S. 47 ff.; vgl. auch Fried et al. 2003). Zudem sei mit Blick auf den – freilich ebenfalls in Traditionen wurzelnden – originären Handlungsauftrag von Kindertageseinrichtungen Skepsis gegenüber den vielfältigen Debatten, den dort formulierten Erweiterungen des Handlungsauftrages und den damit verbundenen bzw. damit geweckten Erwartungen angebracht. Zumindest jedoch bestehe Klärungsbedarf hinsichtlich der tatsächlichen Möglichkeiten von Kindertageseinrichtungen zur Prävention im Sinne einer Vermeidung bzw. Bekämpfung von (den Folgen) sozialer Benachteiligung von Kindern und deren Familien. Damit ist nicht allein auf das Problem der strukturellen Ressourcen und die Diskussion um die Qualifizierung des Fachpersonals verwiesen. Ebenso scheint eine kritische Überprüfung der laufenden Diskussionen selbst auf systematische Verkürzungen hin angebracht, verknüpft mit der Frage, inwieweit diese und andere Diskurse und Debatten in der aktuellen Form dazu beitragen, das Handlungsfeld als autonomes zu positionieren und zu entwickeln oder ob sie nicht vielmehr Gefahr laufen, einer Überformung der fachlichen und beruflichen Perspektiven des Feldes durch gesellschaftspolitische Erwartungen, wirtschaftlich gespeiste Motive und daraus resultierende Indienstnahmen von Kindertageseinrichtungen Vorschub zu leisten (vgl. auch Hein et al. in diesem Band). Was also sind die Prämissen im Handlungsfeld und gleichermaßen in den Fachdebatten? Implizite und explizite Voraussetzungen „Prävention durch Bildung“ basiert auf Prämissen und Vorannahmen, die bspw. in Bezug auf die politischen Verwendungskontexte oben herausgearbeitet wurden. In der Diskussion um den Präventions- und Bildungsauftrag, den präventiven Bildungsauftrag oder den bildungsfundierten Präventionsauftrag von Kindertageseinrichtungen kann eine Tendenz zur Übernahme politischer Argumentationslinien in den wissenschaftlichen und praxisorientierten Fachdiskurs beobachtet werden, die freilich bspw. über statistische Daten, eigene empirische Forschungen etc. wissenschaftlich transformiert und aufgewertet wird. Die Klärung von Prämissen und Vorannahmen erfolgt in der Regel unter Bezugnahme auf (allgemeine) Gefährdungsdiagnosen, Identifizierung und Definition (kategoria-
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ler) Gefährdungsfaktoren sowie Benennung (oder Konstruktion) von Zielgruppen, seien dies nun Kinder und/oder deren Familien(-kontexte). Ausgehend von Gefährdungsfaktoren wird auf Zielgruppen geschlossen, an die im Anschluss wiederum – ebenfalls unter Bezugnahme auf diese Faktoren, nämlich auf deren mittelbare oder unmittelbare Kompensation oder Bekämpfung – mehr oder weniger spezifische Anforderungen und Aufgaben für das Handlungsfeld formuliert werden. So fordert bspw. das Bundesjugendkuratorium die Ausweitung von „Lernzeiten [sic!] auf den ganzen Tag [sic!]“ (BJK 2009, S. 29), um benachteiligten Kindern angemessene individuelle Förderung zukommen zu lassen, betont aber auch die Bedeutung von Kooperationen zwischen Kindertageseinrichtungen und anderen Diensten usw. Ebenso geraten (betroffene) Familien in den Blick und werden zum konzeptionellen Eckpfeiler eines künftig entsprechend profilierten Handlungsfeldes. Denn „ohne [die] produktive Aufnahme und Verarbeitung [der] kompensatorischen Förderimpulse [der Kindertageseinrichtung] innerhalb der Familie werden die Impulse nur begrenzt die beabsichtigte Wirkung entfalten können, da der familiäre Lebens- und Erziehungsrahmen einen elementaren Erfolgsfaktor in einem kompensatorisch angelegten Förderkonzept darstellt“ (BJK 2008, S. 16; vgl. auch ebd., S. 27). Offen bleibt dabei jedoch, unter welchen Aspekten der familiale Erziehungsrahmen thematisch wird, ebenso wie die Frage, in welcher Art und Weise Kindertageseinrichtungen damit „hantieren“, also dafür Sorge tragen sollen, dass (und welche?) Förderimpulse die (und welche?) beabsichtigte Wirkung entfalten10. Hinzu kommt, dass die Betrachtung von Prämissen und Vorannahmen mit Bezug auf das Handlungsfeld selbst und seine innere Verfasstheit demgegenüber deutlich in den Hintergrund zu treten scheint bzw. sich auf konzeptionell gefärbte Defizit- bzw. Entwicklungsbedarfsfeststellungen und Forderungen nach einem strukturellen Ausbau des Handlungsfeldes reduziert sowie auf solche, die sich auf die Sicherung und Weiterentwicklung der Qualität der pädagogischen Arbeit bei Trägern und Einrichtungen beziehen. Nicht zuletzt ist die Diskussion um die Akademisierung der Ausbildung von Fachkräften für (Einrichtungen der) Bildung im frühen Kindesalter in diesem Zusammenhang zu nennen (bspw. Karsten 2005; Thole/Cloos 2006; Thole 2010). Kaum in den Blick geraten dabei die
10 Karin Esch liefert unter dem Stichwort der „neuen Kompensatorik“ diesbezüglich ein besonders prägnantes Beispiel. Ihre Aneinanderreihung von volkswirtschaftlichen und „modernen“ sozialpolitischen Argumentationsfiguren, Theorie- und Praxisansätzen der Sozialarbeit sowie Allgemeinplätzen zu Vernetzung und Qualitätsentwicklung soll Perspektiven für die „Lösung alter Bildungsprobleme“ liefern, wird jedoch lediglich durch eher latente als explizierte Zielgruppen- und Bedarfskonstruktionen zusammengehalten und ignoriert beinahe vollständig die gesellschaftlichen Zusammenhänge (vgl. Esch 2005).
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„aktuellen Verhältnisse“ in Kindertageseinrichtungen11. Ebenso wenig wird danach gefragt, inwiefern die genannten Diskurslinien, Programmatiken und Konzeptvorschläge tatsächlich zu einer systematischen Orientierung des Handlungsfeldes und seiner Fachkräfte bei der Einlösung des sozialpolitischen Handlungsauftrages und seiner Ausbuchstabierung vor dem Hintergrund einer gewachsenen fachlichen und strukturellen Tradition beitragen. Nachfolgend sollen daher exemplarisch einige Schlaglichter auf das „Bild vom Kind“ innerhalb der institutionalisierten Erziehung, Bildung und Betreuung im frühen Kindesalter sowie auf Implikationen des Bildungsdiskurses geworfen werden. Kindheiten und Kontexte Ursula Rabe-Klebergs Feststellung, dass Kindertageseinrichtungen heute kaum als hinreichend vorbereitet für die Bearbeitung von Armut und Armutsfolgen sowie die Kompensation von „Bildungsarmut“ bei Kindern eingeschätzt werden können, stützt sich unter anderem auf eine kritische Auseinandersetzung mit dem Bild vom Kinde in der institutionalisierten Früherziehung. Sie konstatiert eine konzeptionelle Gleichmacherei, die in einem „systematischen Übersehen“ (RabeKleberg 2010, S. 48) unterschiedlicher kindlicher Bildungsvoraussetzungen ihre Ursache habe und es gerade verhindere, dass auf die individuellen Besonderheiten von Kindern im Kontext ihrer jeweiligen Lebensbedingungen und Sozialisationserfahrungen eingegangen werden kann. Dieser von uns geteilten Ansicht nach wohnen unter anderem der Diskussion um die frühe Förderung und Bildung von Kindern sehr spezifische Vorstellungen von Kindern und Kindheit inne, ein „normative[s] Konzept einer richtigen und guten Kindheit […], dem schon aufgrund ihrer Herkunft nur bestimmte Kinder entsprechen können und andere eben nicht. So könnte es ja sein, dass mit der Forderung nach ‚Bildung für alle Kinder und von Anfang an!‘ der Blick auf die Folgen des familiären Aufwachsens unter den Bedingungen von Bildungsarmut eher ver- als scharf gestellt wird“ (ebd., S. 46). Ansatzpunkt ihrer Kritik sind dabei nicht – wie vielleicht anzunehmen – vordergründig für die bürgerliche Mittelschicht typische Bildungs- und Kindheitsvorstellungen, sondern die weitgehende Abstinenz gegenüber Vorstellungen von Kindern und Kindheit, die deren soziale Bezüge und Hintergründe aufneh11 Aktuelle, methodisch fundierte empirische Beschreibungen und Analysen des Alltages in Kindertageseinrichtungen, der damit einhergehenden organisatorischen und vor allem pädagogischfachlichen Anforderungen – gerade vor dem Hintergrund (unterstellter) gewandelter Bedarfslagen – und deren Bewältigung sowie der hier zum Tragen kommenden Einstellungen und Wissensbestände stehen trotz der umfänglichen und kontroversen Debatten nicht zur Verfügung.
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men und die damit verbundenen Wechselwirkungen im Prozess des Aufwachsens, der Bildung und Sozialisation von Kindern in Rechnung stellen können. Im Gegensatz zu – allmählich Einzug ins Handlungsfeld haltenden – umfassenderen Kindheitsbildern (vgl. dazu und zu den damit verbundenen systematischen Schwierigkeiten und Widersprüchen bspw. Konrad 2009) dominiere eine Vorstellung, die die Kindheit als Schonraum versteht, in welchem die Kinder geschützt vor gesellschaftlichen Einflüssen und begleitet von – spezialisierten – Pädagogen/-innen sich entwickeln und entfalten können. Damit geraten aber auch die sozialen und individuellen Besonderheiten von Kindern und Kindheiten aus dem Blick, verschwimmen (und verschwinden) die Bezugspunkte zu den Lebensrealitäten und damit die Grundlagen für die systematische Berücksichtigung der damit gegebenen Bildungsvoraussetzungen und -bedingungen von Kindern und für Kinder. An ihre Stelle treten Konstruktionen der „guten Kindheit“, die zur Messlatte eines pädagogischen Handelns werden, dessen Attitüde darin besteht, allen Kindern die gleichen Entwicklungsmöglichkeiten und Chancen eröffnen zu wollen. Individuelle Defizite und Beeinträchtigungen bei Kindern können so pädagogisch nicht aufgenommen und verarbeitet werden, da davon ausgegangen wird, „dass jedes Kind in seiner Individualität und Persönlichkeit, in seinen Stärken gestärkt werden müsse. Probleme, Behinderungen, Schwächen der Kinder werden – so die optimistische und positive pädagogische Sichtweise – dabei mehr oder weniger naturwüchsig geschwächt“ (ebd., S. 47). Doch die Konsequenzen reichen noch weiter und blockieren gewissermaßen auch einen professionellen, pädagogisch ergebnisträchtigen Blick auf das Handlungsfeld: „Eine solche Grundhaltung und eine entsprechende pädagogische Praxis finden sich in vielen Interviews mit Kleinkindpädagoginnen beschrieben, wonach das ‚Übel‘, die Unterschiede produzierenden Umstände, überall außerhalb des Kindergartens zu suchen ist. Zu diesem Außen gehört die Gesellschaft als Ganze, die Werbung und die Süßigkeiten, zumeist aber auch die Eltern mit ihren divergenten, in den Augen der meisten Erzieherinnen unzulänglichen Erziehungsvorstellungen. Gegen das Eindringen dieser Außenbezüge in ihre professionellen Claims wehren sie sich – oft mit sisyphosartigem Engagement“ (ebd., S. 50). Der Schonraum „Kindheit“ wird in dieser Perspektive zu einem Schutzraum „Kindergarten“ als letzter Bastion gegen die Flut medialer und konsumtiver Reize, als Fluchtpunkt bei „erziehungsunfähigen“ Eltern, als „bedrohte heile Welt“. Diese Diagnose verweist auf eine Reihe von wichtigen Fragestellungen wie z. B.: Wie tragfähig ist das „Bild vom Kind“ angesichts eines Kindes, dessen Probleme und Defizite – oder eben besonderen Förderbedarfe – den Alltag in
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einer Einrichtung „durcheinander bringen“?12 Wie können Familien zu „Erziehungspartnern“ werden, denen die Verantwortung für die Probleme, Defizite und Förderbedarfe des Kindes zugeschrieben wird und denen gegenzusteuern ist, weil sie „über´s Wochenende die Arbeit einer ganzen Woche zunichte machen“? Auf welche Voraussetzungen kann sich mithin eine Debatte stützen oder berufen, die explizit nicht nur benachteiligte und (daher – potenziell – in ihrer Entwicklung und in ihren Chancen) beeinträchtigte Kinder fokussiert, die Lebenslage von Kindern und ihren Familien als Verursachungszusammenhang betont und für die Bearbeitung von Benachteiligungen und Beeinträchtigungen (bzw. auch deren Ursachen) Kindertageseinrichtungen eine besondere Verantwortung zuweist? Dabei ist die Diskussion in dieser Hinsicht selbst derzeit nur wenig hilfreich, wenn in erster Linie die sozial benachteiligenden Lebenslagen und damit in Zusammenhang gebrachte Risiken und Förderbedarfe auf Seiten der Kinder in den Fokus gerückt werden. Zu fragen ist, ob solche Thematisierungsweisen nicht notwendigerweise eine defizitäre Sicht auf Familien implizieren, welche täglich mit unterschiedlichsten Belastungen zurande kommen müssen, wenn die damit verbundenen Bewältigungsanforderungen nicht in den Blick genommen werden. Zudem werden milieuspezifische Erziehungsstile und Sozialisationskontexte diskreditiert oder einfach ausgeblendet, die den gängigen Vorstellungen nicht entsprechen oder genügen (müssen), die für notwendig erachtete soziale und kulturelle Ressourcen nicht im selben Ausmaß wie andere bereit stellen (möglicherweise aber alternative), die deshalb jedoch nicht automatisch problematisch für das Aufwachsen und die Entwicklung von Kindern sein müssen. Erst das Wissen darum aber ermöglicht eine Diskussion und Einordnung von Risiken und Chancen kindlichen Aufwachsens in den jeweiligen sozialen Bezügen und macht pädagogisches – und ggf. auch präventives – Handeln diesbezüglich anschlussfähig und sensibel für die individuellen Voraussetzungen von Kindern, bspw. hinsichtlich der Bildungsprozesse in Kindertageseinrichtungen. Bildung in Kindertageseinrichtungen Im selben Kontext, wenn auch auf einer anderen Ebene, bewegen sich Diskussionen um den Bildungsauftrag von Kindertagesstätten und die daraus hervorgegangenen Konzepte und Verständnisweisen von Bildung in der frühen Kindheit. 12 Auch hierzu Rabe-Kleberg: „Von den meisten Erzieherinnen wird der diskriminierende und stigmatisierende Charakter einer solchen [auf Defizite und Probleme der Kinder gerichteten] Haltung nicht erkannt. Die Forderung, das Muster ihres Verhältnisses zum Kind grundlegend zu verändern, stellt die meisten Erzieherinnen vor nahezu unüberwindliche Schwierigkeiten bis hin zum irritierten Hinterfragen ihrer Aufgabe und ihres beruflichen Rollenverständnisses“ (ebd., S. 47).
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Sinnfälligster Ausdruck dafür sind die Bildungspläne der Länder, die – mit unterschiedlichen formalen Verbindlichkeitsgraden – eine wesentliche Grundlage für die pädagogischen Handlungsorientierungen in Kindertageseinrichtungen heute liefern. So stellt bspw. Dreyer fest: „Politischer Handlungswille zeigte sich insbesondere in der Entwicklung und Erprobung von so genannten ‚Bildungsplänen‘: Beim Bildungsplan handelt es sich um ein Instrument, das in der Bundesrepublik Deutschland bislang nicht angewendet wurde und damit ein Novum sowie gleichzeitig einen ‚Abschied von der Unverbindlichkeit‘ […] darstellt. […] Die vorliegenden Bildungspläne unterscheiden sich [allerdings] formal wie auch in ihrer Funktion und Implementierung ganz beträchtlich“ (Dreyer 2010, S. 348, Hervorhebung im Original). Zunächst ist festzuhalten, dass – auch in diesen folgenreichen, dabei bislang primär programmatischen Verlautbarungen – aktuell ein Verständnis dominiert, das Bildung als einen umfassenden, selbstgesteuerten Prozess der kindlichen Aneignung von Welt begreift, in dessen Verlauf sich die Persönlichkeit des Kindes entfaltet und es vielfältige Kompetenzen, Fähigkeiten und Fertigkeiten entwickelt. (Auch) Das kleine Kind erscheint heute nicht mehr als passiver Rezipient von Bildungsinhalten, sondern als ein sich aktiv mit seiner Umwelt auseinandersetzendes, sich diese zu eigen machendes Subjekt, das sich in diesen Prozessen ein Bild von der Welt macht, sich bildet. In der gewissermaßen konkreten Umsetzung in Hinblick auf die bspw. in den Bildungsplänen vorgestellten Konzepte (und Curricula) zur Förderung von Bildungsprozessen in der frühen Kindheit in Kindertageseinrichtungen zeigen sich jedoch mitunter beträchtliche pädagogische Differenzen, die auf unterschiedliche Auffassungen über die angemessene, d.h. zielgerichtete und wirkungsvolle Gestaltung dieser Bildungsprozesse in institutionalisierten Zusammenhängen verweisen. In einem Rückblick auf die jüngere bundesdeutsche Bildungsgeschichte zeigt Rahel Dreyer Parallelen zu den heutigen Diskurslinien auf. Bereits in den Diskussionen um die Rolle von Kindertageseinrichtungen als Orte der Bildung und Kompensation der Auswirkungen sozialer Benachteiligungen in den 1960er und 1970er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurden unterschiedliche Ansätze zur Unterstützung, Anleitung und Gestaltung von Bildungsprozessen in der frühen Kindheit vertreten. Sie identifiziert funktionalistische und offene Bildungsansätze, denen entsprechende Verständnisse von Bildung zu Grunde lagen. Gewissermaßen dazwischen ordnet sie den Situationsansatz ein, der von den kindlichen Interessen und Aktivitäten ausgeht, jedoch eine gezielte, pädagogisch und methodisch fundierte Unterstützung der sich darin ausdrückenden, der Lebenswirklichkeit der Kinder entspringenden und auf diese bezogenen Aneignungs-, Erkenntnis- und damit Bildungsbemühungen unterstreicht (vgl. ebd., S. 356 ff.).
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In der heutigen Diskussion lassen sich nunmehr zumindest einige wesentliche Elemente dieser unterschiedlichen Auffassungen wiederfinden, die insbesondere in den bereits angesprochenen – die Praxis anleitenden, zumindest jedoch beeinflussenden – Konzeptualisierungen von Bildungsprozessen in Kindertagesstätten ihren Niederschlag finden. So kritisiert bspw. Schäfer Fthenakis für seine funktionalistisch ausgerichtete Bildungskonzeption, die das Kind als eigenaktives Bildungswesen vernachlässige, seine Bildung vielmehr in funktionelle und entsprechend auszuprägende bzw. zu fördernde Elemente bzw. (eng begriffene) Bildungsbereiche zergliedere, welche zielgerichtet zu vermitteln seien. „Nach den Vorgaben des Bayerischen Bildungsplans gibt es […] keine Vorstellung darüber, wie man das individuelle Können von Kindern erfassen kann. Kinder werden kaum an Planungen von Vorhaben, Projekten oder anderen Bildungsaktivitäten beteiligt, denn sie sollen ja einem verbindlichen Lernweg folgen“ (Schäfer 2005, S. 51). Bildung bzw. Bildungstätigkeit in Kindertagesstätten dient hier aus Sicht Schäfers offenbar also weniger der Entfaltung der kindlichen Persönlichkeit und der Ressourcen des Kindes, als vielmehr einer funktional orientierten Zurichtung mit dem Ziel, am Ende ein auf die Anforderungen der Schule und des schulischen Lernens, d.h. der schulischen Wissensvermittlung und -assimilation, vorbereitetes Kind vorzufinden („das Lernen lernen“). Schäfer stellt dem ein Bildungsverständnis gegenüber, das die Selbstbildungsprozesse und Selbstbildungspotenziale von Kindern betont. „Als solche Potenziale werden die Wahrnehmungserfahrungen der Kinder, ihre innere Verarbeitung von Erlebnissen, ihre Gestaltung von Beziehungen zur sachlichen und sozialen Umwelt, ihr Umgang mit Komplexität und Lernen in Sinnzusammenhängen und ihre Neigung zu ‚forschendem Lernen‘ dargestellt. Aufgabe der Erzieherinnen ist es, diese Selbstbildungspotenziale durch die Bereitstellung einer geeigneten Arbeits- und Lernumgebung für die Kinder zu fördern“ (Leu 2005, S. 86). Hier steht mithin das Kind als aktiv und eigenständig lernendes, forschendes, sich bildendes Subjekt im Fokus. Erzieher/-innen kommt die Aufgabe zu, diesen aktiven Prozess zu begleiten und anzuregen sowie Potenziale und Interessen zu erkennen und zu fördern. Angesichts dieser Kontroverse stellt Rahel Dreyer fest: „Ein gemeinsamer ‚Kern‘ der deutschen Frühpädagogik ist aktuell schwer zu finden“ (Dreyer 2010, S. 366). Dies ist jedoch für die – eingeforderte – Umsetzung des Bildungs- und auch des Präventionsauftrages in die Praxis von Kindertageseinrichtungen ein mehr als unbefriedigender Zustand. Einem funktional orientierten Bildungsverständnis bzw. entsprechenden Konzepten steht das Handlungsfeld schon traditionell skeptisch bis ablehnend gegenüber. Umgekehrt entsteht bisweilen der Eindruck, die „Vorbereitung auf die Schule“ repräsentiere den einzigen identifizierbaren und damit relevanten Bezugspunkt praktischer Bildungstätigkeit in Kindertagesstät-
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ten (zum wissenschaftlichen Diskurs vgl. Konrad 2009). Andererseits besteht nicht selten Ratlosigkeit hinsichtlich eines offenen Bildungsverständnisses und dessen Übertragung in Konzept und Praxis. Frithjof Grell sieht die Ursache dafür in dem diesem zu Grunde liegenden Verständnis von Bildung als „Selbstbildung“ und dessen mangelnder Konkretisierung. „Angesichts der Bedeutung, die die klassische Elementarpädagogik der Auswahl und dem Arrangement der ‚Gegenstände‘ der frühkindlichen Bildung beigemessen hat, sind moderne Selbstbildungskonzepte in dieser wesentlichen Frage auffallend zurückhaltend. Natürlich fehlt es auch hier nicht an Hinweisen auf die Bedeutung von ‚Lernumwelten‘. Wie diese beschaffen sein sollen, darüber ist außer der Aufzählung einiger Gestaltungsprinzipien wie ‚Offenheit‘, ‚Vielfalt‘ oder ‚Abwechslungsreichtum‘ allerdings nur wenig Verwertbares zu erfahren“ (Grell 2010, S. 161). Wesentlicher sind für ihn jedoch theoretische Blindstellen eines Bildungsverständnisses, das Bildung als Selbstbildung begreift, welche ihrerseits zu einer „entscheidenden Verkürzung elementarpädagogischer Problemstellungen“ führen (ebd., S. 155). Unstrittig sei dabei die Tatsache, dass Lernen und Bildung aktive Vorgänge der Auseinandersetzung mit und Aneignung von Welt durch das Kind darstellen. Die pädagogische Problematik ist für ihn damit jedoch noch keineswegs gelöst oder auch nur beschrieben – vielmehr markiere dies nur den Ausgangspunkt, nicht jedoch Gegenstand, Zweck und Ziel pädagogischen Handelns. Daher gelte es, die sich in diesem Geschehen, Interesse und Tun manifestierende Bildsamkeit des Kindes (von Anfang an) zu verstehen, zu nutzen und – auch – zu lenken. Denn weder Erziehung noch Bildung geschehen für sich, gewissermaßen zweckfrei und richtungslos, sondern sie sind, wie das Aufwachsen und die Sozialisation des Kindes generell, in soziale und gesellschaftliche Zusammenhänge ebenso eingebettet, wie sie auf diese bezogen erfolgen. Deshalb gehe es neben der Begleitung, Anregung und Unterstützung „freier Entfaltung“ immer auch um Wissensvermittlung, Instruktion, Belehrung und Strukturierung. Und weil Erziehung und Bildung in sozialen Kontexten – auch außerhalb von Kindertageseinrichtungen – erfolgen, sind die Vorstellungen davon ebenso wie die Voraussetzungen, Potenziale, Interessen und Relevanzen auf Seiten der Kinder verschieden. In dieser „Verwechslung“ von Bildung mit Bildsamkeit liegen nach Auffassung von Grell grundlegende Probleme und Missverständnisse der aktuellen Diskussion um die Umsetzung des Bildungsauftrages in Kindertageseinrichtungen begründet. „Die Logik frühpädagogischer Selbstbildungskonzepte folgt der Logik des freien Marktes […] Freie Märkte sind gekennzeichnet durch offene Angebotsstrukturen, die prinzipiell allen Marktteilnehmern in gleicher Weise offen stehen. Gleichwohl sind die faktischen Chancen, am Marktgeschehen tatsächlich teilzunehmen, ganz und gar ungleich verteilt. Dazu benötigen die
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Marktteilnehmer Kapital“ (ebd., S. 164, Hervorhebung im Original). Bei Kindern sind dies nach Grell zunächst ihr Potenzial und ihre Bildsamkeit, aber eben nicht allein, sondern des Weiteren (gerichtete) Interessen, Erfahrungen und daraus erwachsende Ressourcen der Organisation und Strukturierung sowie nicht zuletzt Herausforderungen, etwas zu können, was noch nicht gekonnt wird, etwas zu wissen und zu erfahren, was zu wissen nötig und hilfreich ist. Ist dies nicht vorhanden bzw. im pädagogischen Alltag bspw. von Kindertageseinrichtungen nicht erfahrbar, werde zu viel von den Kindern verlangt und zwar gerade von solchen, die eben nicht über die Fähigkeiten und Ressourcen – außer eben ihrer Bildsamkeit – verfügen, Selbstbildungsprozesse, Interessen und (Eigen-) Aktivitäten auf einen Gegenstand, ein Ziel hin auszurichten, sondern hierfür einer strukturierenden und unterstützenden Begleitung und Anleitung bedürfen. Mitunter – und gar nicht so selten – zeigt sich dieses Missverständnis in der Praxis sehr deutlich, wenn in Kindertageseinrichtungen so genannte offene Konzepte eingeführt werden: Oftmals wird dann die Erfahrung gemacht, dass einzelne oder viele Kinder weniger die damit gegebenen Möglichkeiten nutzen können, sondern vielmehr mit den damit verbundenen Anforderungen überfordert sind. Freilich spielen hier allzu oft verkürzte Auffassungen von „offener Arbeit“ eine wichtige Rolle. Grell macht u. E. zu Recht auf systematische Verkürzungen aufmerksam, die auf die Praxis zurückwirken: „Ähnlich wie offene Unterrichtskonzepte stellen frühpädagogische Selbstbildungsansätze womöglich besonders für solche Kinder eine Erschwernis dar, die mit wenig vorstrukturierten Angeboten nicht gut umzugehen, freie Angebote für sich selbst nicht optimal zu nutzen und demzufolge nicht in ‚kulturelles Kapital‘ (Bourdieu) umzumünzen verstehen. Und das beträfe vor allem Kinder, die aus individuellen oder sozialen Gründen eher ungünstige Bedingungen des Aufwachsens und Lernens haben“ (ebd.). Nach Grells Auffassung besteht die Gefahr, dass Kindertageseinrichtungen damit unter der Hand zur individuellen und sozialen Selektion beitragen. Nun ist Grells Vorwurf einer gewissen Naivität in der Bildungsdiskussion insofern nicht mehr aktuell, als ein derartig „reines“ Selbstbildungsverständnis von keinem/-r der Protagonist/-innen mehr vertreten wird, vielmehr etwa der Bedarf an pädagogischer Begleitung und Unterstützung von Selbstbildungsprozessen und an Anregung derselben betont wird. In der Präventionsdebatte allerdings kulminieren die angeführten Problematisierungen dennoch, da hier auf der einen Seite das (Modell des) unter sozial belastenden Umständen aufwachsende(n), bildungsbenachteiligte(n) Kind(es) fokussiert wird und auf der anderen Seite diesen Lebensumständen bzw. deren Folgen durch besondere Bildungsanstrengungen begegnet und damit aktuelle und künftige Benachteiligungen vermieden werden sollen. Die Kindertageseinrichtungen und die dort tätigen Fachkräfte werden mithin in eine umfassend präventive Verantwortung genommen,
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Bildungsbenachteiligungen und die damit verbundenen biografischen Konsequenzen zu kompensieren. Auf beiden Ebenen jedoch, derjenigen des Kindes als „Präventionsobjekt“ wie derjenigen des Handlungsfelds, wird mit einem gewissermaßen doppelt halbierten Sozialisationsverständnis operiert, das auf der einen Seite ein in der Institution (kompensatorisch) zu erziehendes und zu bildendes Kind betont, auf der anderen Seite folgerichtig Prozesse der familialen Bildung, Erziehung und Sozialisation tendenziell ausgrenzt, wenn nicht gar ignoriert bzw., zu Ende gedacht, zu negieren sucht: Die Familie als Sozialisations- und Bildungsinstanz wird, insbesondere dann, wenn sie einem sozial randständigen, „bildungsarmen“ Umfeld „zugeordnet“ wird, ihrerseits aus einem defizitären Blickwinkel betrachtet, der sie ihrer Sozialisations- und Bildungsmächtigkeit tendenziell enthebt und diese der Kindertageseinrichtung oder anderen (öffentlichen) Bildungsinstitutionen zuweist. Abgesichert wird diese Sichtweise durch einen fachlichen, wissenschaftlich gestützten Diskurs, der (über Indikatoren gemessene) soziale Benachteiligungen von Familien mit Kindern mit Entwicklungsproblemen, Verhaltensund Lernschwierigkeiten und in der Folge mit Bildungsbenachteiligungen eben dieser Kinder in einen direkten, kausalen Zusammenhang stellt (vgl. exemplarisch und zusammenfassend: BJK 2009, aber auch bei Rabe-Kleberg 2010, S. 50 f.). Tietze, Rossbach und Grenner widmeten sich in einer umfassenden Untersuchung der pädagogischen Qualität von Kindertageseinrichtungen – freilich nicht ohne das soziale und familiale Umfeld mit in den Blick zu nehmen. „Gemessen“ wurde dessen „pädagogische Qualität“ mit einem umfassenden Testinventar, dessen seismografischer Fokus auf so etwas wie den Reichtum oder die Armut an Anregung für die Kinder im familialen Umfeld ausgerichtet und damit mehr oder weniger auf ein der Sache nach eher institutionell anschlussfähiges Bildungs- und Erziehungs(-qualitäts-)verständnis und -handeln hin geeicht war (vgl. dies. 2005). Hier stellt sich die Frage, erziehen Familien für den Kindergarten? Oder besser: Sollen Familien erziehen und bilden wie der (hoffentlich mit hoher pädagogischer Qualität ausgestattete) Kindergarten? Dies war sicher nicht gemeint, illustriert aber einmal mehr die Gefahr der Verkürzung in einem das Handlungsfeld fordernden Diskurs, der auf der einen Seite gesellschaftspolitischen, statistisch gestützten Semantiken zu folgen scheint, auf der anderen gesellschaftliche und nicht zuletzt soziale Problemlagen und deren Folgen in pädagogisch zu bearbeitende, noch dazu in Regeleinrichtungen, transformiert. Die angeführten Kritiken am „Bild vom Kinde und von Kindheit“ und den „Bildungsvorstellungen“ konvergieren in der Problematisierung ihres unzureichenden Rückbezuges auf die konkreten Sozialisationsbedingungen und -kontexte und damit auf die je individuellen Bildungs- und Entwicklungsvorausset-
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zungen von Kindern. Deren in der einschlägigen Debatte zu beobachtende Thematisierung als primär unzureichend, defizitär oder auch gefährdend führt nicht nur zu kaum oder nicht mehr rückgängig zu machenden Stigmatisierungsprozessen, sondern kann – trotz oder gerade wegen des von Rabe-Kleberg konstatierten „Draußen-Haltens“ familialer und damit gesellschaftlicher Problemlagen – zu einer Überforderung von Kindertageseinrichtungen führen. Hinzu kommt die Gefahr, dass damit dem Handlungsfeld und hier insbesondere der Praxis systematische Perspektiven auf die Sozialisation und die sozialen Kontexte von Kindern verloren gehen bzw. verdeckt werden, indem eben die in Rede stehenden familialen Aufwachsensbedingungen – Lebenslagen und Milieus mit ihren kulturellen Praktiken und Zukunftsorientierungen – als defizitär etikettiert und hinsichtlich ihrer Bildungs- und Erziehungspotenziale als kompensationsbedürftig eingestuft werden. Unter der Hand wird so einem „Schutzraum Kita“ das Wort geredet, wenngleich mit Hilfe von quasi spezifizierenden Indikationen und vermeintlich auf deren Bearbeitung oder Kompensation zugeschnittenen Konzepten und Handlungsorientierungen. Bereits an dieser Stelle tauchen einige weitere wesentliche Fragen auf. Was ist bspw. damit gemeint, wenn Familien zu Adressaten/-innen der pädagogischen Arbeit von Kindertageseinrichtungen werden und zwar zu solchen, die als „problematisch“, „bildungsfern“, „sozial benachteiligt“ etc. eingestuft werden? Geraten diese in ihren Erziehungs- und Sozialisationspotenzialen bzw. -defiziten in den Blick und wird der entsprechende familiale Rahmen zum Gegenstand pädagogischer (Be-)Arbeit(-ung) gemacht, so ist zu fragen, inwiefern es sich dabei tatsächlich noch um Pädagogik (in der frühen Kindheit) handelt und ob hier nicht vielmehr bereits das Feld der Sozialpädagogik oder der Sozialen Arbeit betreten ist – und zwar in einer Art und Weise, die, wie es für die Sozialpädagogik oder die Soziale Arbeit, aber keineswegs von vornherein für die (institutionalisierte) Bildung und Erziehung in der frühen Kindheit legitim und vorgesehen ist, in der Tat auf objektiv gegebene Probleme und Defizite in der Lebensführung ihrer Adressaten/-innen und deren Bearbeitung – und damit auf einen Fall – rekurriert. Es darf als durchaus strittig oder zumindest klärungsbedürftig angesehen werden, ob die – zweifellos in der Tradition gründende – Charakterisierung von Kindertageseinrichtungen als sozialpädagogisches Handlungsfeld auch diese Implikationen mit eingeschlossen hat bzw. mit einschließt. Die aktuelle – und hier insbesondere die programmatische – Debatte erweckt an vielen Stellen den Eindruck, genau dies zu unterstellen, indem auf (individuelle bzw. individualisierbare) soziale Problemlagen und deren Lösung durch Kindertageseinrichtungen abgestellt wird13 14; vom – der Sozialen Arbeit und der Sozialpädagogik stets inne13 Was an sich jedoch weit weg von diesen und hin zu Einrichtungen und Diensten der Sozialarbeit und Sozialpädagogik führt.
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wohnenden, aber eben (professionell ausgeführt) auch stets mitgedachten – Aspekt der sozialen Kontrolle ganz zu schweigen. Eine Bilanz Für Kindertageseinrichtungen wird mit der Thematisierung von sozialen Problemlagen in Familien zunächst auf einen sozialen Kontext verwiesen. Dieser soziale Kontext stellt einen wesentlichen Bezugsrahmen für die Erziehungs- und Bildungsarbeit in Kindertageseinrichtungen dar. Das pädagogische Handeln schließt idealiter daran an und stellt so sicher, „dass Kinder [in Kindertageseinrichtungen] in die Lage versetzt werden, trotz der Einschränkungen und Lasten, die sich aus ihren Sozialisations-, Entwicklungs- bzw. Lernrisiken ergeben, eigene Erfahrungen zu machen, Bedeutungen mit anderen sozial auszuhandeln und dabei z. B. ihre Interessen und Wissenskonstruktionen selbstaktiv weiter zu entwickeln“ (Fried 2002, S. 345). Problematisch erscheint es jedoch, wenn über die Thematisierung von sozialen Problemlagen in Familien – wie in der aktuellen Präventionsdiskussion – Kindertageseinrichtungen in die Pflicht genommen werden (sollen), diesen Problemlagen oder zumindest ihren potenziellen Folgen für Kinder (und ganze Generationenkohorten von Kindern) vorzubeugen bzw. entgegenzuwirken. Problematisch erscheint es zudem, wenn – wie ebenfalls in der aktuellen Präventionsdiskussion – im Zuge der Forderung nach forcierten Bildungsanstrengungen und der Entwicklung entsprechender Konzepte und Angebote, die bislang nur unzureichend für die Praxis ausbuchstabiert worden sind, denselben eine hinreichende präventive Wirkung in Hinblick auf Bildungsbenachteiligung und damit die „Vererbung“ von Armut zugeschrieben wird. Beide Erwartungen oder auch Forderungen überdehnen den Handlungsauftrag des Feldes und überstrapazieren dessen Ressourcen, strukturelle wie fachliche.15 In der politischen, aber auch in der wissenschaftlichen Debatte wird diesen Gefahren allzu oft mit Forderungen nach (mehr und neuen) strukturellen und fachlichen Ressourcen „begegnet“, ohne die systematischen Implikationen einer Diskussion in den Blick zu nehmen, die spezielle Bildungs- und Förderangebote 14 Mittlerweile liegen vielfältige Anregungen und Erfahrungsberichte zu Kooperation und Vernetzung vor. Auf diese soll hier nicht konkretisierend eingegangen werden, da es hier um die Thematisierung der diesen zu Grunde liegenden Verständnis- und Verständigungsweisen geht und nicht um Konzepte zur Planung und Umsetzung von Konzepten. 15 Daran kann ohne eine weitere systematische Klärung auch die Professionalisierungs- und Akademisierungsdiskussion in Bezug auf den Bereich der Bildung und Erziehung in der frühen Kindheit nicht viel ändern. Denn hier ist in Bezug auf das diskutierte Problem immer noch zu wenig geklärt, ob bspw. der Sozialpädagogik entlehnte Professionalisierungsfiguren (bspw. von Oevermann) mit den Handlungslogiken institutionalisierter Kindertagesbetreuung überhaupt kompatibel sind.
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in Kindertageseinrichtungen fordert und deren Handlungsauftrag um (fallbezogene) sozialpädagogische oder sozialarbeiterische Elemente erweitert um (den Folgen von) Bildungsbenachteiligungen von Kindern aufgrund belastender Aufwachsensbedingungen vorzubeugen bzw. diese zu kompensieren. Rabe-Kleberg hat mit ihrer Diskussion verbreiteter Kind(-heits-)bilder (und Elternbilder) klar gemacht, dass nicht nur innerhalb des Feldes eine kritische Reflexion von Ausgangsbedingungen und Voraussetzungen für einen wie auch immer gearteten „kompensatorischen Bildungsauftrag“ von Kindertageseinrichtungen vonnöten ist: Ebenso kritisch ist zu prüfen, welche Leitbilder, Orientierungsrahmen, Bezugsfolien und Legitimationsmuster in der wissenschaftlichen Diskussion entwickelt und zur Verfügung gestellt werden und ob diese – in Abwandlung des oben angeführten Zitats von Rabe-Kleberg – gegenwärtig nicht eher dazu führen, dass der Blick auf die Möglichkeiten und Grenzen des Feldes in Sachen „Chancengerechtigkeit durch Bildung“ und damit Prävention von Aufwachsens- und Exklusionsrisiken durch (mehr) Bildung in Kindertageseinrichtungen nicht eher verals scharf gestellt wird. Hilfreich und notwendig erscheint eine kritische Prüfung und Diskussion der Implikationen, die in den gegenwärtigen Debatten auftauchen, selten jedoch systematisch ausgeleuchtet werden. Dazu zählen bspw. Fragen nach dem Verhältnis von individueller Förderung und „Gruppenpädagogik“ unter den gegebenen Bedingungen, aber auch in Hinblick auf die Traditionen und den Handlungsauftrag des Feldes. Hinzu kommen Fragen nach den Handlungslogiken, Klientenbildern und Bedarfskonstruktionen (und nicht nur nach den – vermeintlich – notwendigen Wissensformen und Kompetenzbeständen), die sich zwangsläufig aus der Forderung ergeben, sozial benachteiligte oder so genannte „bildungsferne“ Familien, also Eltern, zu Adressaten/-innen von Kindertageseinrichtungen zu machen oder Fragen nach der – auch institutionell aufzugreifenden – Beziehung zwischen Sozialisation und Bildung. In der Diskussion zweier zentraler Bildungsauffassungen im Kontext der frühen Kindheit (aber auch der von „Modellkindern“) ist der unzureichende Bezug zu den Sozialisationskontexten von Kindern oben bereits herausgearbeitet worden. Möglicherweise trifft dies aber auch „nur“ auf die Rezeption dieser Auffassungen zu, insbesondere in der Debatte um die Rolle des Kindergartens bei der Herstellung von „Chancengerechtigkeit“. In der Bildungslastigkeit dieser Diskussion entsteht der Eindruck eines wiederum halbierten Sozialisationsverständnisses, wenn Sozialisationsrisiken durch vermehrte Bildungsanstrengungen und -angebote, individuelle Förderungen etc. entgegengewirkt bzw. deren Folgen präventiv vermieden werden sollen. Ohne Frage sind auch solche Maßnahmen erforderlich, zweifelhaft jedoch ist die Unterstellung einer umfassenden präventiven Wirkung derselben. Sozialisationsrisiken können einerseits nicht allein mit
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individuellem (familiärem) Handeln erklärt und begriffen werden und ebenso wenig können andererseits riskante Sozialisationsprozesse oder -kontexte allein durch Bildung „korrigiert“ und in ihren Folgen kompensiert werden. Dazu sind sie zu komplex, milieuspezifisch geprägt und nicht zuletzt sozialstrukturell überformt. Die Kindertageseinrichtung bildet eine Institution der Sozialisation neben und nach der Familie. In Hinblick auf soziale Problemlagen von Familien und einen damit verbundenen präventiven oder kompensatorischen Auftrag von Kindertageseinrichtungen sind Sozialisationsprobleme oder -defizite der wesentliche Ausgangspunkt. Bildungsprozesse (auch systematische) sind hiervon nicht ausgeschlossen. Vielmehr erscheinen sie (v.a. informelle) als spezifische Prozesse des Aufwachsens und der Entwicklung als der Sozialisation parallelgeführt. In den Fokus geraten Fragen der Sozialisation, hier insbesondere nach dem Verhältnis zwischen primärer, also familiärer, und institutioneller Erziehung und Sozialisation. Damit einher geht eine Perspektivenerweiterung, die das Reden von lebenslageninduzierten Bildungsrisiken seines defizitären, stigmatisierenden Charakters entkleidet und es damit pädagogisch anschlussfähig machen kann. Dabei stehen zunächst weniger bzw. nicht nur konkrete Konzepte und Projekte, bspw. von kompensatorisch gedachter Gesundheitserziehung, von Elterncafés, von Familienbildungsangeboten (die die avisierte Zielgruppe regelmäßig nicht erreichen) etc. im Vordergrund. Vielmehr ist das Verhältnis zwischen institutioneller – hier förderlicher und nicht nur vordergründig korrigierender und kompensierender – und familiärer Erziehung und Sozialisation – in ihrer Milieugebundenheit und in ihren sozialen Kontexten – kritisch zu thematisieren. Zudem sind die – im in Rede stehenden Kontext oftmals merkwürdig latent bleibenden – pädagogischen Prämissen zum Gegenstand der Reflexion zu machen: Zu fragen wäre dann, inwieweit ein Bildungsverständnis, das das Kind als selbstaktiv sich die Welt aneignendes Wesen begreift, operationalisiert werden kann vor dem Hintergrund heterogener Lebenslagen und individueller Entwicklungs- und Bildungsvoraussetzungen einerseits sowie entsprechenden Bedürfnissen andererseits. Hier sind nicht nur „Konzepte in der Praxis zu entwickeln und zu evaluieren“ – gefordert ist vielmehr eine wissenschaftliche Debatte, die sich kritisch mit den an das Feld und an sie selbst herangetragenen Erwartungen und Anforderungen auseinandersetzt. Dabei geht es um eine systematische Bestandsaufnahme hinsichtlich des Feldes, seiner Praxis und deren Grundlagen – dies gilt in einem umfassenden Sinne: nicht allein durch Forschungszugänge, die sich auf indikatorengestützte, die konkrete soziale Realität von Einrichtungen und deren Adressaten/-innen aber nur unzureichend erfassende Qualitätsmessungen und -zertifikate einerseits und (im Ergebnis stets defizitäre, die praktischen Anforde-
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rungen aber ausblendenden) Überprüfungen der Praxiswirksamkeit von fachlichtheoretischen Wissensbeständen andererseits beschränken. Ebenso scheint eine kritische Überprüfung der Debatte selbst auf Fragen hin angezeigt wie diejenigen, inwieweit in ihr gesellschaftspolitische Erwartungen in fachliche Diskurse umgemünzt werden und welche Konsequenzen dies für das Feld hat. Der aktuelle Präventionsdiskurs betont das Pädagogische, lässt dabei jedoch die Spezifika des Feldes tendenziell außer Acht, indem er soziale Problemlagen und deren Folgen(-bearbeitung) an pädagogische Institutionen verweist.16 Soziale Probleme werden so unter der Hand zu pädagogischen Problemen, ohne dass dabei die diese verursachenden gesellschaftlichen und sozialen Phänomene in den Blick genommen sowie – und das insbesondere – die Wege, auf denen sie zu pädagogischen werden sowie die Rahmen, in denen sie sich als solche manifestieren, mithin das eigentliche Feld pädagogischen Handelns, systematisch thematisch und darauf bezogen werden. Gerade dies scheint notwendige Entwicklungen eher zu blockieren als zu befördern. Nicht zur Diskussion steht dabei, dass sich die Anforderungen an das Feld der institutionalisierten Erziehung und Bildung in der frühen Kindheit und mithin an Kindertageseinrichtungen unübersehbar gewandelt haben und dies die Überprüfung von professionellen Wissensbeständen, fachlichen Konzepten, Aufgaben und Aufträgen sowie deren Weiterentwicklung erforderlich macht. Der Ausgangspunkt dafür liegt aber innerhalb des Feldes, in der Entwicklung einer eigenständigen Perspektive mit entsprechenden Prämissen und Fragestellungen – und zwar solchen, die die Autonomie des pädagogischen Feldes als solches stärken. Die im ersten Teil dieses Beitrags angesprochenen neuen Aufmerksamkeiten in Form von medialen, politischen und fachlichen Diskussionen haben, das sollte illustriert werden, zu Missverständnissen, Fehlkategorisierungen und Verwechslungen bzw. unklaren Vermischungen von Ebenen sowie zu Fehldimensionierungen geführt. In der Summe scheint der eigentlich pädagogische Blick dabei eher – und das in nicht unproblematischer Weise – überformt als in seiner Entwicklung befördert zu werden. Manche der darauf referierenden (bzw. basierenden) Entwicklungen von Konzepten und deren Umsetzung genügen zudem offenbar in ihren Ergebnissen den initialen Zielsetzungen nicht und bisweilen zeigen sich sogar den ursprünglichen Intentionen entgegenlaufende Effekte. Auf die darin indizierten Klärungsnotwendigkeiten sowie einige der wichtigsten 16 Damit sollen an dieser Stelle die – im Gefolge des Bedeutungszuwachses von Kindertageseinrichtungen entstandenen – Diskussionen um die Weiterentwicklung von Qualität und Niveau der Ausbildung von Fachkräften der Erziehung und Bildung in der frühen Kindheit nicht zurückgewiesen werden, im Gegenteil: Diese Diskussionen und die dort formulierten (An-)Forderungen sind notwendig und wichtig, da gerade sie die Lücken zwischen Anforderungen und Aufgaben, Praxis und fachlichen Voraussetzungen thematisieren.
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dabei zu berücksichtigenden Dimensionen sollte mit unseren Ausführungen hingewiesen werden. Die zuletzt konstatierte eigentümliche Sprachlosigkeit der Pädagogik in ihrem ureigensten Feld – und sei es auch angesichts von Neuem – ließe sich überwinden durch die Erarbeitung eines kontrolliert erfahrungsgesättigten neuen pädagogischen Wissens und dessen reflektierter Vermittlung in Verbindung mit anderen auf die angesprochenen Frage- und Aufgabenstellungen gerichteten Perspektiven, insbesondere solchen, in deren Fokus Fälle sich konstituieren, wie dies etwa bei Sozialberufen, Psychologen und Medizinern der Fall ist. Literatur Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen/Staatsinstitut für Frühpädagogik München (2003): Der Bayerische Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder in Tageseinrichtungen bis zur Einschulung. Entwurf für die Erprobung. Weinheim, Basel, Berlin Beher, Karin (2006): Die Fachkräfte: Aufgabenprofile und Tätigkeitsanforderungen. In: Diller, Angelika/Rauschenbach, Thomas (Hrsg.): Reform oder Ende der Erzieherinnenausbildung? Beiträge zu einer kontroversen Debatte. München, S. 79-94 Bonß, Wolfgang/Hartmann, Heinz (Hrsg.) (1985): Entzauberte Wissenschaft – Zur Relativität und Geltung soziologischer Forschung. Soziale Welt – Sonderband 3 Bourdieu, Pierre (1994): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, 7. Auflage. Frankfurt am Main Bundesjugendkuratorium (2008): Zukunftsfähigkeit von Kindertageseinrichtungen. München Bundesjugendkuratorium (2009): Kinderarmut in Deutschland: Eine drängende Handlungsaufforderung an die Politik. München Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2002): Elfter Kinder- und Jugendbericht. Berlin Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2006): Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit. Perspektiven für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik. Siebter Familienbericht. Berlin Deutsches Jugendinstitut (2009): Zweckfreie Kindheit. Berichte zur Fachtagung KIND/080. DJI Bulletin. München Deutschmann, Christoph (2001): Die Verheißung des absoluten Reichtums. Zur religiösen Natur des Kapitalismus. 2., überarbeitete Auflage. Frankfurt am Main und New York Deutschmann, Christoph (2008): Kapitalistische Dynamik. Eine gesellschaftstheoretische Perspektive. Wiesbaden Dreyer, Rahel (2010): Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung in Deutschland und Frankreich. Strukturen und Bedingungen, Bildungsverständnis und Ausbildung des pädagogischen Personals im Vergleich. Hamburg
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Strategien und Konzepte der Frühprävention in Kindertageseinrichtungen Bernhard Kalicki, Holger Brandes, Ina Schenker
Präventions- und Interventionsprogramme in Kindertageseinrichtungen – Bestandsaufnahme und Diskussion Präventions- und Interventionsprogramme in Kindertageseinrichtungen durchzuführen, findet derzeit bei Erzieherninnen1 und auch bei Eltern einen überraschend großen Anklang. Die Palette der neu aufgelegten Programme reicht von der Sprachförderung (Jampert et al. 2005, Küspert/Schneider 2008) und naturwissenschaftlichen Bildung (Lück 2007) über die Gesundheitserziehung (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 2002), den gezielten Aufbau sozialer Kompetenzen (Cierpka 2007, Faller/Faller 2002, Koglin/Petermann 2006) bis hin zu Resilienztrainings für Kinder (z. B. Fröhlich-Gildhoff/Dörner/Rönnau 2007) und Elternbildung in der Kindertageseinrichtung (FröhlichGildhoff/Rönnau/Dörner 2008). Diese Präventionsprogramme unterscheiden sich neben ihrer inhaltlichen Ausrichtung im Wesentlichen darin, ob sie grundsätzlich alle Kinder bzw. Familien erreichen wollen (universelle Programme), bei Risikogruppen verwendet (selektive Programme) oder nur bei bereits aufgetretenen Entwicklungs- oder Verhaltensauffälligkeiten eingesetzt werden sollen (indizierte Programme). Folgt man der gängigen Differenzierung in primäre Prävention, die das Auftreten von Symptomen und Problemen vermeiden will, sekundäre Prävention, die die Chronifizierung von Problemen zu verhindern sucht, und tertiäre Prävention, die die negativen Folgewirkungen einer Störung ausschließen will, so sind nur die universellen und selektiven Programme der Primärprävention zuzuordnen. Mit Caplan und Grunenbaum (1977) fassen wir unter Primärprävention sowohl umweltbezogene Maßnahmen zur Reduktion des schädli1 Laut Kinder- und Jugendhilfestatistik umfasste das pädagogische Personal in Kindertageseinrichtungen in Deutschland am 15.3.2007 insgesamt 363.115 Personen. Hierunter fielen 11.176 Männer, was einer Quote von 3,08 Prozent entspricht. Diese niedrige Männerquote rechtfertigt einen geschlechtseindeutigen weiblichen Sprachgebrauch; alle männlichen Erzieher sind mitgemeint.
G. Robert et al., (Hrsg.), Aufwachsen in Dialog und sozialer Verantwortung, DOI 10.1007/978-3-531-92693-3_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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chen Potentials gegebener Entwicklungsumwelten als auch Maßnahmen zur Entwicklung adaptiver Kompetenzen auf individueller Ebene. Widrigen familiären Entwicklungsbedingungen von Kindern entgegenzuwirken, indem Kleinkinder in Tageseinrichtungen betreut werden und hier eine kompensatorische Förderung erfahren, hat in Deutschland eine lange Tradition (Grossmann 1994). Die besondere Aufmerksamkeit von Forschung und Praxis erhielten in der Vergangenheit die mit dem sozioökonomischen Hintergrund der Familie verknüpften Entwicklungsrisiken für das Kind. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass Armut mit einem ganzen Bündel weiterer Risikofaktoren für die kindliche Entwicklung einhergeht (Rutter 1996, Weiß 2000). Konzeptuell unterscheidbare Facetten der Armut umfassen a) die strukturelle Gefährdung durch niedriges Einkommen und geringe materielle Ressourcen, Konsumbeschränkungen, Verschuldung, schlechte Ernährung, ungünstige Wohnbedingungen oder Obdachlosigkeit; b) die bildungsspezifische Benachteiligung durch geringe Lernanregung und Lernunterstützung in der Familie und niedrige elterliche Bildungserwartungen sowie c) entwicklungspsychologische Risiken wie Alkohol- oder Substanzenkonsum der Eltern, Paarkonflikte, elterliche Gewalt oder psychische Störungen der Eltern. In den USA wurden seit den 1960er Jahren zahlreiche Anstrengungen unternommen, Kinder zu fördern, die aufgrund sozialer und ökonomischer Benachteiligung besonderen Entwicklungsrisiken ausgesetzt sind. Dabei lassen sich kurzfristig durchführbare, in ihren Zielen spezifische und in ihrer Reichweite eher begrenze Programme von langfristig angelegten und in ihrer Zielsetzung umfassender konzipierten „large scale“-Projekten unterscheiden (Mayr 2000). Diese Perspektive lässt sich ausweiten durch das Konzept einer auf unterschiedlichen Politikebenen angesiedelten und handlungsleitenden Sozial- und Bildungsberichterstattung. Kompensatorisch angelegte Präventionsprogramme Das „High/Scope Perry Preschool Project“, das an dieser Stelle exemplarisch betrachtet werden soll, untersucht in einem Feldexperiment die langfristigen Auswirkungen der frühen Förderung von niedrig intelligenten Kindern aus einkommensschwachen afroamerikanischen Familien (Schweinhart/Barnett/Belfiled 2005, Schweinhart/Weikart 1993; zur Einführung: Shouse 2000). Zwischen 1962 und 1967 wurden 123 solcher Kinder im Alter von 3 bis 4 Jahren nach Zufall einer Interventionsgruppe und einer Kontrollgruppe zugeordnet. Die Kinder der Interventionsgruppe erhielten über zwei Jahre hinweg in der Tageseinrichtung eine tägliche 2½-stündige Förderung, die die Entwicklung kognitiver und sozialer Fähigkeiten durch stark individualisierte Lernprozesse und selbstreguliertes
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Lernen anstoßen sollte. Selbstreguliertes Lernen wird im High/ScopeCurriculum realisiert durch die autonome Planung von Lernaktivitäten und die systematische Reflexion von Lernerfahrungen im Nachgang; eigenaktives Lernen meint hier also nicht etwa ein unverbindliches Vertrauen auf spontane Lernaktivitäten der Kinder. Das Förderprogramm in der Einrichtung wurde ergänzt um wöchentliche 1½stündige Hausbesuche der Erzieher bei den Müttern und Kindern. Die programmgemäße Umsetzung des Curriculums wurde in diesem Projekt durch eine Reihe flankierender Maßnahmen gewährleistet. Die Effekte des Interventionsprogramms wurden während der Kindheit durch jährliche Erhebungen (im Alter von 3 bis 11 Jahren), durch mehrere Erhebungen im Jugendalter (14, 15 und 19 Jahre) und durch zwei Erhebungen im Erwachsenenalter (27 und 40 Jahre) erfasst. Armutsbelastete Kinder, die die frühe Förderung erhielten, wiesen im Erwachsenenalter im Vergleich zur Kontrollgruppe deutlich höhere Bildungsabschlüsse, höhere Einkommen und niedrigere Kriminalitätsraten auf. Erfahrungen aus „large scale“-Projekten Das wohl prominenteste „large scale“-Vorhaben zur Frühprävention und Entwicklungsförderung ist das US-amerikanische „Head Start“-Projekt (Opp/Fingerle 2000), das seit 1965 kontinuierlich durchgeführt und mit erheblichen Finanzmitteln des Bundes alimentiert wird. Als Vorschulprogramm richtet sich Head Start vorrangig an 3- bis 5jährige Kinder aus Armutsfamilien. Die Schwerpunkte liegen in der Schulvorbereitung (Vermittlung von Grundkenntnissen der Kulturtechniken des Lesens, Schreibens und Rechnens) und dem Aufbau von sozialen Kompetenzen des Kindes, in der Gesundheitsförderung (kostenfreie medizinische Versorgung und gesunde Ernährung), in der Einbindung der Eltern (Angebote der Elternbildung, Partizipationsmöglichkeiten und Mitbestimmungsrechte der Eltern im jeweiligen Head-Start-Projekt) sowie in der Kooperation und Vernetzung mit weiteren sozialen Diensten. Im Rahmen von Head Start werden recht unterschiedliche lokale Projekte durchgeführt, beispielsweise Projekte, die sich auf die Bildungseinrichtung konzentrieren, aber auch Projekte, die Hausbesuche in den Familien vorsehen. Die Bandbreite der realisierten und evaluierten Projekte ist dabei so groß, dass genuine Head-Start-Projekte von HeadStart-ähnlichen Programmen und Maßnahmen unterschieden werden können (Love et al. 2006). Zur Weiterentwicklung dieses „large scale“-Projektes wurden mehrere Veränderungen vorgeschlagen (Zigler 1994). Sie betreffen erstens die zeitliche Ausdehnung – eine Ergänzung der Halbtagesprogramme um entsprechende Angebote der Ganztagsbetreuung –, zweitens die Qualitätssicherung – gefordert wird
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insbesondere eine angemessene Bezahlung der Mitarbeiter –, drittens die Erweiterung der adressierten Altersgruppen von Kindern – neben 3-bis 5jährigen sollten auch unter-3-jährige Kinder erreicht werden – und viertens eine bessere Begleitung des Übergangs in die Schule. Die letzte Empfehlung schließlich berührt eine zentrale Frage jeglicher Präventionsansätze: Kritisch gesehen wird mittlerweile das selektive Vorgehen bei der Bestimmung der Zielgruppen. Erst bei einem inklusiven Ansatz haben Kinder mit unterschiedlichem sozioökonomischem und kulturellem Hintergrund die Möglichkeit, in der direkten Interaktion voneinander zu lernen. Außerdem fördert jedes selektive Programm Tendenzen der Stigmatisierung und Marginalisierung dieser sozial benachteiligten Kinder und Familien. Nachhaltig zu implementierende und kostenintensive Präventionsprogramme lassen sich nicht allein mit Verweis auf die Plausibilität der zugrunde gelegten Wirkungsannahmen rechtfertigen, sie benötigen vielmehr empirische Wirksamkeitsnachweise. Die Kernaussagen der inzwischen recht zahlreich vorliegenden Übersichtsarbeiten und Metaanalysen (z. B. Love et al. 2006, Reynolds 2005) zur Wirksamkeit solcher Hilfen, die bereits in der frühen Kindheit einsetzen, lassen mit Mayr (2000, S. 149) zwei allgemeine Schlussfolgerungen zu: „1. Viele Kinder aus armen und sozial benachteiligten Familien profitieren von der Teilnahme an Frühinterventionsprogrammen. 2. Mit robusten und zeitlich stabilen Effekten kann umso eher gerechnet werden, je höher die Qualitätsstandards der Programme sind und je besser die Interventionen implementiert werden.“ Die Nutzung der Sozial- und Bildungsberichterstattung Die Entwicklungsrisiken für Kinder sind ungleich verteilt, sie unterliegen darüber hinaus dem sozialen Wandel (Breen/Jonsson 2005). Um frühpräventive Maßnahmen sinnvoll planen zu können, bedarf es daher der kontinuierlichen Sammlung, Aufbereitung und Bereitstellung von Daten, die über die Lebenslagen von Familien und Kindern Auskunft geben und auch die Wirkungen von sozial- und bildungspolitischen Maßnahmen abbilden. Dies ist eine wesentliche Funktion der Sozialberichterstattung, die über die Erträge an individueller Wohlfahrt informiert und so die Wirksamkeit von Sozialpolitik überprüfen will (Noll 2003). Familienberichte, Gesundheitsberichte und gerade auch die derzeit in großer Zahl erscheinenden Bildungsberichte (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008, Bock-Famulla 2008, Landeshauptstadt München 2006, OECD 2006, Sächsisches Bildungsinstitut 2008) liefern zusätzliche Erkenntnisse zu den Entwicklungsbedingungen von Kindern.
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Indikatorenauswahl und Datenqualität dieser vorliegenden Bildungsberichte genügen allerdings noch nicht den Anforderungen, um diese Berichte zur empirischen Fundierung sozial- und bildungspolitischer Maßnahmen nutzen zu können. Insbesondere die Entwicklungsbedingungen und Entwicklungsresultate von Kindern in der frühen Kindheit werden mit den vorliegenden Berichten nur unzureichend beleuchtet, häufig sogar völlig ausgeklammert. Besonders dringlich erscheint daher zunächst eine Verständigung über zentrale Bildungsindikatoren. Aufbauend hierauf sollte die periodische Erhebung dieser Daten verbindlich geregelt werden. Das derzeit anlaufende Projekt eines Nationalen Bildungspanels (Blossfeld/Schneider/Doll 2009) verspricht, wichtige Erkenntnisse zu lebenslangen Bildungsverläufen, ihren Bedingungen und den zugrunde liegenden Prozessen zu liefern. Es kann zum Vorläufer eines auf Dauer angelegten Bildungsmonitorings werden. Wie die Daten der Sozial- und Bildungsberichterstattung als Entscheidungsgrundlage für die Steuerung des Bildungssystems genutzt werden können, zeigt das Beispiel der kommunalen Bildungsberichterstattung in München (von Kopp 2008). Hier werden die Leitlinien für kommunalpolitisches Handeln aufgrund der Erkenntnisse der Bildungsberichterstattung entworfen; die periodische Fortschreibung des Bildungsberichts gibt Auskunft über den Erfolg von eingeleiteten sozial- und bildungspolitischen Maßnahmen. Damit wird der Schritt von der Input-Steuerung (z. B. Verbesserung des Personalschlüssels, curriculare Vorgaben) hin zu einer Output-orientierten Steuerung (anhand von Kriterien wie Zurückstellungen vom Schulbesuch oder Übertritten von der Grundschule zum Gymnasium) vollzogen. Weiterentwicklung von Einrichtungsformen und programmatische Veränderungen der Frühpädagogik Die Stärkung der elterlichen Erziehungskompetenz geschieht traditionell über Maßnahmen der Familienbildung sowie der Erziehungsberatung. Mit den Fachdiensten in den Beratungsstellen kommen Eltern jedoch sehr spät in Kontakt, nämlich erst bei erlebter Überforderung oder bei manifesten Verhaltens- und Entwicklungsproblemen des Kindes (sofern diese Angebote überhaupt aufgegriffen werden). Die primär präventiv konzipierte Familienbildung kämpft hingegen mit dem Problem, dass sie die Zielgruppe sozial benachteiligter Familien nur sehr schwer erreichen kann (Tschöpe-Scheffler 2005). Gleichzeitig liegt der Anteil jener Kinder im Kindergartenalter, die keine Tageseinrichtung besuchen, unter 10 Prozent und nimmt weiter ab (Hüsken et al. 2008). Diese Fakten sprechen dafür, Unterstützungsangebote für Eltern und Familien verstärkt in solchen Kindertageseinrichtungen zu platzieren, die von vielen Kindern aus sozial be-
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nachteiligten Familien frequentiert werden. Das am stärksten elaborierte Konzept hierzu ist das der „Early Excellence Centres“, also von Familienzentren, die unterschiedlichste soziale Dienstleistungen für Familien unter einem Dach vereinen (Burdorf-Schulz/Müller 2006). Neben diesen Einrichtungen entwickeln sich andere innovative Einrichtungsformen mit jeweils eigener Charakteristik, die die gezielte Verknüpfung von Familienbildung und Erziehungsberatung mit Angeboten der frühkindlichen Bildung, Erziehung und Betreuung anstreben (Rauschenbach 2008). Doch auch an die klassischen Einrichtungsformen (Krippe, Kindergarten und Hort) wird der Anspruch gerichtet, Kinder in sozial benachteiligten Familien kompensatorisch zu fördern. Entsprechende Postulate finden sich in den landesspezifischen Bildungscurricula für die frühe Kindheit und auch in entsprechenden Landesgesetzen und Verordnungen. Tatsächlich sprechen von den wenigen vorhandenen Studien, die die Wirkungen des Besuchs einer vorschulischen Einrichtung auf die kindliche Entwicklung untersuchen, einige Befunde für (Sylva et al. 2004), andere jedoch gegen solche kompensatorischen Effekte (NICHD 2002). Während wir auf aussagekräftige Forschungsergebnisse für Deutschland weiter warten müssen, dringt ein verändertes Verständnis von frühkindlichen Lernprozessen bereits in die pädagogische Praxis durch. Bei besonderem Förderbedarf eines Kindes gezielt zu intervenieren, ist ebenso sinnvoll wie die schnelle Reaktion auf Anzeichen einer Kindeswohlgefährdung (Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik 2008, Kindler et al. 2006). Gleichwohl kann die selektive Förderung von Kindern nicht den Kern der pädagogischen Arbeit in Kindertageseinrichtungen bilden. Krippe, Kindergarten und Hort erfüllen vielmehr eine sozial-integrative Funktion, indem Kinder mit unterschiedlichsten biografischen, familiären und kulturellen Hintergründen gemeinsam lernen. Das übergeordnete pädagogische Ziel ist dabei nicht die Beseitigung von Unterschieden, Risiken oder Defiziten, sondern der Erwerb von Handlungsfähigkeit – und dies für jedes einzelne Kind. Vor diesem Hintergrund sind neuere Tendenzen einer Funktionalisierung der Frühpädagogik, wie sie in den Bereichen der Gesundheitserziehung, der Sprachförderung und des Kinderschutzes auszumachen sind, kritisch zu bewerten. Zum einen besteht grundsätzlich ein Spannungsverhältnis zwischen dem Konzept der Inklusion (Kinder mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen und Förderbedarfen verbleiben in der gemeinsamen Lerngruppe; Corazza 2005) und dem Anspruch auf Fachkompetenz (die pädagogischen Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen sind keine Experten für spezifische Entwicklungsauffälligkeiten und Entwicklungsstörungen; Schuck 2008). Zum anderen erscheint es problematisch, wenn beispielsweise eine so zentrale Aufgabe wie die Sprachförderung auf bestimmte Zeitfenster (letztes Kindergartenjahr) und auf bestimmte Gruppen von Kindern (Migrations-
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hintergrund) konzentriert wird.2 Selektive und indizierte Präventionsprogramme können allenfalls unterstützend durchgeführt werden, sie werden die umfassende Förderung und Lernbegleitung jedes einzelnen Kindes in der täglichen pädagogischen Praxis nicht ersetzen können. Bei einer fokussierten, d.h. nicht breit angelegten, nicht auf Selbstbestimmung fußenden und nicht im Verlauf bewusst offen gehaltenen Anregung und Begleitung des Kindes drohen die kindlichen Potentiale zum eigenständigen Lernen und zur Entfaltung unterschiedlichster Interessen und Begabungen vernachlässigt zu werden. Dies soll im Folgenden etwas näher erläutert werden. Die veränderte Perspektive auf Lernprozesse in der frühen Kindheit Die wissenschaftliche Sicht auf Kinder und Kindheit beginnt sich grundlegend zu wandeln. So werden Kinder nicht länger nur als – forschungsmethodisch schwer zugänglicher – Gegenstand der Untersuchung, sondern zunehmend als Subjekte und gesellschaftliche Akteure (Prout 2005, Schweizer 2007; siehe auch Bandura 2008, Brandtstädter 2006, Hitlin/Elder 2007) und als eigenaktive Forscher und Denker verstanden (Elschenbroich 2002, Ryan/Deci 2000). Das gewandelte Bild vom Kind, das die aktuelle frühpädagogische Debatte prägt, lässt sich in einer Reihe programmatischer Thesen skizzieren. „Kinder besitzen eine angeborene Neigung zu Neugierverhalten, Erkunden und Lernen“ Frühe Motivationstheorien erklären menschliches Lernverhalten dadurch, dass die lernend erworbenen Verhaltensweisen, Wissensinhalte und Kompetenzen zur Bedürfnis- oder Triebbefriedigung führen und insofern funktional sind. Neuere Motivationstheorien ersetzen das Bedürfnis- bzw. Triebkonzept durch das der Handlungsziele. Lernen dient demnach der Erreichung persönlich bedeutsamer Ziele und ist gleichzeitig Resultat zielgerichteter Problemlösungsversuche. Nicht erklärt werden kann mit diesen Theorieansätzen, dass Menschen und gerade auch schon Kleinkinder eine Reihe von Verhaltensweisen zeigen, die keinem direkten Bedürfnis zuordenbar und die nicht instrumentell zur Erreichung bestimmter Ziele dienen. Das neugierige Erkunden eines Gegenstands, das forschende Ausprobieren und insbesondere das Spiel sind gute Beispiele für solch spontane und 2 Das Programm „Sag’ mal was – Sprachförderung für Vorschulkinder“ der Landesstiftung BadenWürttemberg (http://www.landesstiftung-bw.de) kann als paradigmatisch für diesen Ansatz der Sprachförderung gelten.
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scheinbar zweckfreie Aktivitäten (Deci/Ryan 2000). Gleichwohl ist das spontane Erkunden an situative und soziale Bedingungen geknüpft. Wie die entwicklungspsychologische Bindungsforschung festgestellt hat, wird das Spiel- und Explorationsverhalten in der frühen Kindheit durch Irritation, Unsicherheit und Angst inhibiert. Sofern die externe Emotionsregulation durch eine feinfühlige erwachsene Bindungsperson greift, kann sich das zuvor alarmierte Kind jedoch schnell wieder neuen und anregenden Reizen zuwenden (Grossmann/Grossmann 2004). Hieraus lassen sich Anforderungen an die Kleinkindpädagogik in institutionellen Kontexten ableiten. So ist einerseits durch eine sinnvoll entworfene und konsequent realisierte pädagogische Konzeption der Einrichtung (Raumausstattung, Gruppengrößen, Personalschlüssel, Qualifikation des pädagogischen Personals, Eingewöhnungskonzept, Zusammenarbeit mit den Eltern etc.) zu gewährleisten, dass die Kinder feinfühlig betreut werden und sich entsprechend einlassen können auf die neue Lernumgebung. Andererseits sollten Kinder von frühester Kindheit an in ihrem Erkundungs- und Lerndrang unterstützt werden. Dies kann in der Tageseinrichtung insbesondere durch eine konstruktivistische Didaktik realisiert werden (MacNaughton/Williams 2004, Siebert 2005). „Nachhaltiges Lernen erfordert Eigenmotivation und Interesse“ Der Erwerb vertieften Wissens und spezifischer Handlungsexpertise geschieht durch die intensive, wiederholte und vielfältig variierte Beschäftigung mit Handlungsobjekten und Inhalten. Die Bearbeitungsdauer variiert nun aber stark mit dem Anreiz, den diese Aktivität für das Kind bietet. Intrinsische Motivation und Interesse wachsen dabei in dem Maße, in dem die Person – dies gilt für Kinder wie für Erwachsene – während der jeweiligen Tätigkeit die eigene Kompetenz (bzw. Kompetenzzuwächse) erlebt, persönliche Autonomie spürt und sich sozial eingebettet fühlt (Ryan/Deci 2000). Die Betonung von Selbständigkeit und Eigenaktivität im Lernprozess darf dabei nicht dazu verleiten, Kinder sich selbst zu überlassen und als Erzieherin bzw. Erzieher eine passive Rolle einzunehmen (Roßbach 2004). Auch hier zeigt eine konstruktivistische Didaktik auf, wie z. B. über individuelle Lernbegleitung oder Perspektivenwechsel die Lernsituation erzieherisch gestaltet werden kann.
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„Lernen kann verstanden werden als ein individueller und sozialer Konstruktionsprozess“ Wahrnehmen und Erinnern schaffen keine originalgetreue Abbildung der Realität, sondern gründen bereits auf subjektiven Urteilsprozessen, die systematischen Verzerrungen unterliegen. Ähnliches gilt für das schlussfolgernde und problemlösende Denken. Diese grundlegenden Denkprozesse sind Gegenstand der Psychologie, die traditionell das Individuum fokussiert. Die entsprechende entwicklungspsychologische Forschung steht in der Tradition von Jean Piaget, der allgemein gültige (universale) Stufen der Denkentwicklung postuliert. Doch bereits Lew Wygotski hat darauf hingewiesen, dass kindliche Lernprozesse auf sozialen Interaktionen gründen und stark von dem jeweiligen kulturellen Kontext geprägt werden (Palinscar 1998). So lernen Kinder im Umfeld des gerade anstehenden Entwicklungsschritts („Zone der nächsten Entwicklung“) sowohl von kompetenteren Altersgenossen als auch durch von Erziehern vorgegebene – und ihnen insofern zugemutete – kognitive Herausforderungen („dosierte Diskrepanzen“). Außerdem werden Bedeutungen im Symbolspiel ausgehandelt und auch begriffliches Wissen wird unter den Kindern selbst weitergegeben (Gelman 2009). In Kindergruppen können so, ähnlich wie in den Cliquen jugendlicher Peers oder wie in Familiensystemen, eigene Sprachcodes entstehen. Mit dem Erwerb der Schriftsprache erfolgt eine stärkere kulturelle Normierung des Sprachgebrauchs. Kindertageseinrichtungen werden daher zu Recht als Orte sozialen Lernens verstanden (Kalicki/Herzog 2009) und diese Tradition sollte gepflegt werden. „Lernen geschieht in sich wandelnden Beziehungen“ Die Bedeutung sozialer Beziehungen für Lernen, Entwicklung und Bildung wird in unterschiedlichen theoretischen Kontexten thematisiert und herausgearbeitet. Dass das Kleinkind in seiner Emotionsregulation angewiesen ist auf erwachsene Bezugspersonen, die in kritischen Situationen feinfühlig reagieren, wurde bereits angesprochen. Feinfühligkeit umfasst dabei die vier Komponenten der Wahrnehmung kindlicher Signale von Irritation, Verunsicherung oder Schmerz, der korrekten Interpretation dieser Hinweise, der prompten Reaktion und der Effektivität dieser Reaktion. Feinfühligkeit ist darüber hinaus auch in der Spielunterstützung funktional. Sie zeichnet sich einerseits dadurch aus, dass das Kind zum Spiel mit einem Spielobjekt angeregt und die Spielaktivität ggf. selbst demonstriert wird, wenn das Kind unkonzentriert oder gelangweilt ist. Andererseits beinhaltet die Spielfeinfühligkeit auch die Fähigkeit, sich als Erwachsener zurückzunehmen, wenn das Kind bereits in das Spiel vertieft ist (Gross-
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mann/Grossmann 2004; vgl. auch Largo/Benz 2003). Systematisch vernachlässigt scheinen im aktuellen frühpädagogischen Diskurs die Potentiale, die die Kindergruppe für das frühkindliche Lernen bietet (eingehender hierzu wie zu den nachfolgenden Ausführungen: Brandes 2008). Besonders im Kindergartenalter bilden sich innerhalb des institutionellen Betreuungssettings spontan Kleingruppen von etwa drei bis sechs Kindern, die bereits eine zeitliche Stabilität und eine gemeinsame thematische Ausrichtung oder Zielsetzung aufweisen. Die Kleingruppe ist besonders bedeutsam für das Lernen und den Kompetenzaufbau im szenischen Spiel, das Inhalte aus den Erfahrungswelten der Kinder aufgreift und die Innenwelten der einzelnen Kinder im Sinne eines kreativen „Übergangsraums“ mit der äußeren Wirklichkeit verbindet. Offenbar erleichtern die für Peer-Beziehungen typischen symmetrischen Beziehungen gleichberechtigte und ko-konstruktive Lernprozesse. Der Aufbau von Beziehungen zwischen den Kindern und die spontane Gruppenbildung benötigen jedoch Raum, sowohl im Tagesablauf wie in der räumlichen Gestaltung einer Einrichtung. „Entwicklung verläuft asynchron und diachron“ Alters- und Entwicklungsnormen (Bayley 1993, Beller/Beller 2000) zeichnen das Bild einer regelhaften, gleichförmigen und vorhersagbaren Entwicklung. Tatsächlich besteht jedoch hinsichtlich zahlreicher Entwicklungsschritte eine merkliche Variationsbreite. Und da Normalität ein positiv konnotiertes Attribut ist, unterliegt sie selbst subjektiven Konstruktionsprozessen (Kalicki 1996, Peitz 2004). Unregelmäßigkeit der Entwicklung begegnet uns neben dieser Asynchronität aber auch in einer weiteren Form: Von diachronen Entwicklungsverläufen sprechen wir, wenn Kinder in bestimmten Entwicklungsbereichen einen Entwicklungsvorsprung haben, in anderen Bereichen jedoch (bezogen auf deskriptive Altersnormen) in der Norm liegen oder gar Entwicklungsverzögerungen aufweisen. Im Kita-Alltag bedeutet dies, dass gleichaltrige Kinder zu unterschiedlichen Alterszeitpunkten bestimmte Entwicklungsschritte tun. Das Konzept der Altersmischung erhöht daher durchaus die Chancen, dass ein Kind im Entwicklungskonvoi von und mit anderen Kindern lernt. Zugleich zeigen diese Erkenntnisse sehr deutlich, dass die rigorose Taxierung von Kindern anhand von Entwicklungstabellen ungerechtfertigt ist.
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„Entwicklungsprozesse sind gekennzeichnet durch Kontinuität und Diskontinuität“ Entwicklung wird in traditionellen Entwicklungstheorien als ein kontinuierlicher und irreversibler Veränderungs- und Entfaltungsprozess verstanden, der in den unterschiedlichen Entwicklungsbereichen auf klar definierte Zielzustände zuläuft. Entgegen diesen Kernannahmen ist die menschliche Entwicklung jedoch geprägt durch ein beachtliches Maß an Diskontinuität und ist gerade in postmodernen Gesellschaften zunehmend fragil und reversibel (Brandtstädter 2007, Sennett 2006). Für die Pädagogik bedeutet dies, dass neben Handlungskompetenzen auch Bewältigungskompetenzen aufgebaut und gefördert werden sollten. Kritische Lebensereignisse, biografische Brüche und hierdurch ausgelöste Krisen bergen dabei nicht nur Entwicklungsrisiken, sie bieten auch Entwicklungschancen (Laucht/Schmidt/Esser 2000). Als wichtige Ressourcen, die die Krisenbewältigung erleichtern, wurden ein ausgeprägtes Selbstwertgefühl und die sozialen Beziehungen der Person identifiziert. Der Aufbau eines positiven Selbstbildes des Kindes und das Erlernen sozialer Kompetenzen tragen damit entscheidend zur Resilienzförderung in der Kindertageseinrichtung bei. „Unterschiede zwischen Kindern sollten beachtet und pädagogisch genutzt werden“ Alter und Geschlecht bilden die beiden wichtigsten Merkmale zur sozialen Kategorisierung von Personen (Parsons 1942). Diesen beiden Unterscheidungen wird seit jeher in sämtlichen Kulturen und in den unterschiedlichsten Lebensbereichen Rechnung getragen, auch in der Pädagogik. Darüber hinaus wurde die Heterogenität von Lerngruppen in pädagogischen Institutionen jedoch weithin vernachlässigt. Erst in jüngster Zeit wird die Vielfalt von Entwicklungsvoraussetzungen und Entwicklungsständen, von familienbiografischen, sozioökonomischen und kulturellen Entwicklungskontexten der Kinder als Realität zur Kenntnis genommen und als Ressource für gemeinsames Lernen begriffen. Dieser Wandel in der Wahrnehmung und Bewertung von Unterschieden lässt sich auch an der Weiterentwicklung der Integrationspädagogik hin zu einer inklusiven Pädagogik aufzeigen (Geiling/Hinz 2005). Wiederum liefert die konstruktivistische Pädagogik vielversprechende Ansätze und didaktische Konzepte, um der Individualität der Kinder gerecht zu werden. Tatsächlich genutzt werden die Unterschiede jedoch erst dann, wenn die unterschiedlichen Lebenswelten in spontan gebildeten Kindergruppen aufeinandertreffen und sich hier zeigen können.
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Schlussfolgerungen für die Prävention und Entwicklungsförderung In diesem Beitrag wurden die Möglichkeiten beleuchtet, spezifischen Entwicklungsrisiken für Kinder bereits in der frühen Kindheit mit Präventionsprogrammen entgegenzuwirken. Dabei zeigt sich, dass spezifische Präventionsprogramme und -projekte in ihrer Reichweite notwendigerweise begrenzt bleiben und schwer auszuräumende Problematiken ungewollter Exklusion und Diskriminierung beinhalten. Als übergreifende Strategie der Frühprävention im System der Kindertagesbetreuung sollte dagegen verstärkt auf die Nutzung der Sozial- und Bildungsberichterstattung zur Steuerung sowie auf die Weiterentwicklung von Einrichtungsformen zurückgegriffen werden. Ganz gleich, ob in einer Kindertageseinrichtung nun ein bestimmtes Sprachförderprogramm implementiert werden soll, ob sich die Einrichtung zu einem Eltern-Kind-Zentrum (Diller 2006) weiterentwickeln will oder ob geeignete pädagogische Ansätze gesichtet werden (Fthenakis/Textor 2000) – Grundlage der Konzeptionsentwicklung einer Einrichtung sollte in jedem Fall eine systematische Bedarfsermittlung sein (Hanssen 2003). Auch der Prozess der Bedarfsermittlung und Angebotsgestaltung wird sinnvollerweise gemeinsam (‚ko-konstruktiv‘) von Team, Trägervertretung und Elternschaft organisiert. Dem Träger kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Verantwortung zu (Kalicki/Schreyer 2009). Darüber hinaus scheinen pädagogisch-konzeptionelle Veränderungen, die auf einem gewandelten Verständnis frühkindlicher Lernprozesse fußen, auch besonders vielversprechend für die Frühprävention. Durch Individualisierung der Lernbegleitung, offenes Arbeiten (Gruber & Siegel 2005) und die Schaffung von Freiräumen für eigenaktives Lernen und für ko-konstruktives Lernen der Kindergruppe (Brandes 2008) können spezifische Entwicklungsbedürfnisse berücksichtigt und die individuellen Lernpotentiale des Kindes aktiviert werden. Dabei wäre es freilich notwendig, auf der Grundlage der oben angesprochenen Bedarfserhebung stärker als bisher üblich auf besondere Entwicklungsstände der Kinder Rücksicht zu nehmen und z. B. den Grad der Strukturierung bzw. der Offenheit des pädagogischen Angebots daran auszurichten, welche Entwicklungsstände und welche Kommunikationspotenziale die Kinder mitbringen. Auch müssten die Entwicklungsfortschritte der Kinder in zentralen Entwicklungsdomänen systematisch (i. S. v. verlässlich und regelmäßig) erfasst, dokumentiert und reflektiert werden. Die vorliegenden Studien, etwa zum „High/Scope Curriculum“, belegen grundsätzlich, dass sich frühe Bildung auszahlt. Dabei sollte jedoch klar sein, dass kompensatorische Leistungen der Kindertageseinrichtung besondere Investitionen erfordern. Erfolge auf dem Gebiet der Frühprävention werden sicher
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nicht erzielt, wenn allein der Katalog von Anforderungen an die Einrichtungsteams erweitert wird, ohne die Investitionen in frühe Bildung zu verstärken. Literatur Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2008): Bildung in Deutschland 2008. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Übergängen im Anschluss an den Sekundarbereich I. Bielefeld Bandura, Albert (2008): Toward an agentic theory of the self. In: Herbert Marsh/R. G. Craven/D. M. McInerney (Eds.): Advances in self research. Vol. 3: Self-processes, learning, and enabling human potential. Charlotte, S. 15-49 Bayley, Nancy (1993): Bayley Scales of Infant Development (2nd ed.). San Antonio Beller, Kuno/Beller, Simone (2000): Kuno Bellers Entwicklungstabelle. Berlin Blossfeld, Hans-Peter/Schneider, Thorsten/Doll, Jörg (2009): Die Längsschnittstudie Nationales Bildungspanel: Notwendigkeit, Grundzüge und Analysepotential. In: Pädagogische Rundschau, Jg. 63, Heft 2, S. 249-259 Bock-Famulla, Kathrin (2008): Länderreport Frühkindliche Bildungssysteme 2008. Gütersloh Brandes, Holger (2008): Selbstbildung in Kindergruppen. München Brandtstädter, Jochen (2006): Action perspectives on human development. In: Richard M. Lerner (Ed.): Theoretical models of human development (Handbook of child psychology, Vol. 1, 6th ed.) New York, S. 516-568 Brandtstädter, Jochen (2007): Das flexible Selbst. München Breen, Richard/Jonsson, Jan O. (2005): Inequality of opportunity in comparative perspective: Recent research on educational attainment and social mobility. In: Annual Review of Sociology, 31, S. 223-243 Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (2002): „Früh übt sich…“ – Gesundheitsförderung im Kindergarten. Impulse, Aspekte und Praxismodelle. Köln Burdorf-Schulz, Jutta/Müller, Renate (2006): Early Excellence Centres – Eine neue Form der Elternbildung? In: Martin Textor (Hrsg.): Erziehungs- und Bildungspartnerschaft mit Eltern Freiburg, S. 154-162 Caplan, G./Grunebaum, H. (1977): Perspektiven primärer Prävention. In: G. Sommer/H. Ernst (Hrsg.): Gemeindepsychologie. Therapie und Prävention in der sozialen Umwelt. München, S. 51-69. Cierpka, Manfred (2007): Faustlos – das Buch für Eltern und Erziehende. Wie Kinder Konflikte gewaltfrei lösen lernen. Freiburg Corazza, Rupert (Hrsg.) (2005): Inklusive Pädagogik. Beiträge zu einem anderen Verständnis von Integration. Ranshofen Deci, Edward L./Ryan, Richard M. (2000): The „what“ and „why“ of goal pursuits: Human needs and the self-determination of behavior. In: Psychological Inquiry, 11, S. 227-268 Diller, Angelika (2006): Eltern-Kind-Zentren. Grundlagen und Rechercheergebnisse. München
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Frühförderung und frühe Prävention – Zum Aufbau und zur Praxis sozialer Frühwarnsysteme Klaus Schäfer
Frühe Prävention ist notwendiger denn je Die Diskussionen über einen wirksamen Kinderschutz und eine fachlich gute frühe Prävention haben in den letzten Jahren angesichts dramatischer Einzelfälle an Intensität zugenommen. Immer wieder sind Einzelschicksale Anlass dafür, über eine Verbesserung des Kinderschutzes nachzudenken und entdeckte Lücken im Präventionssystem zu schließen. Die Debatte über das Bundeskinderschutzgesetz zeigt einerseits die wachsende politische und auch fachliche Sensibilität, andererseits macht sie auch die Kontroversen deutlich, die bei noch so guten Absichten entstehen. Insbesondere die beabsichtigten Änderungen des § 8a SGB VIII führten zu grundlegenden Kontroversen sowohl bei öffentlichen als auch bei freien Trägern. Insbesondere seitens der Träger wurden erhebliche Zweifel an den Gesetzesvorschlägen geäußert (Näheres siehe beispielhaft: Stellungnahme der AGJ vom 17.12.2008 sowie des Deutschen Vereins vom 05.02.2009). Um dem Ziel näher zu kommen, einen wirksamen Kinderschutz bereits in den Anfängen von Kindesvernachlässigung und Kindesmisshandlung zu erreichen, gibt es ohne Zweifel Handlungsbedarf. Denn die Zahl der Kinder, die misshandelt oder vernachlässigt werden, und die Zahl der Kindstötungen sind ein Beleg für den bestehenden Handlungsdruck: So weist die aktuelle Bundesstatistik zum Ende des Jahres 2008 aus, dass nahezu jedes 4. Kind im Alter von 0 bis 6 Jahren von Vernachlässigung bzw. Misshandlung betroffen ist. Schätzungen gehen zudem davon aus, dass in Deutschland rund 5 bis 10 % aller Kinder im Alter von bis zu 6 Jahren vernachlässigt werden. Die Fälle der Inobhutnahmen aus Gründen des Kinderschutzes sind nach den Daten des statistischen Bundesamtes nahezu um rund 40 % gestiegen. Bei Kindern unter drei Jahren müssen die Familiengerichte jedes Jahr in rund 2.200 Fällen das elterliche Sorgerecht entziehen (so die Website des Bundesministeriums für Familien, Frauen, Senioren und Jugend veröffentlichten Zahlen et. al. 2000).
G. Robert et al., (Hrsg.), Aufwachsen in Dialog und sozialer Verantwortung, DOI 10.1007/978-3-531-92693-3_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Es mag dahingestellt bleiben, ob diese Zahlen tatsächlich ein Anwachsen signalisieren oder ob „lediglich“ das Dunkelfeld heller geworden ist. Fakt ist, dass sie aufschrecken lassen und zugleich die Frage aufwerfen, wie diese Entwicklungen im familiären Raum von den Jugendämtern und anderen Stellen der öffentlichen Hilfen, z. B. von Gesundheitsdiensten, Kinderärzten etc., frühzeitiger erkannt und vor allem, wie rechtzeitig mit der richtigen und passenden Hilfe eingegriffen werden kann. Jedenfalls sind sie auch ein Indiz dafür, dass frühzeitige Prävention notwendiger ist denn je. Die Leistungsfähigkeit der verantwortlichen Stellen sichern In der öffentlichen und politischen Diskussion werden angesichts der dramatischen Einzelfälle immer wieder Zweifel an der Leistungsfähigkeit und vor allem der Passgenauigkeit der Hilfesysteme mit Blick auf ein abgestimmtes und umfassendes, vor allem aber synchron agierendes Handeln der beteiligten Institutionen hinsichtlich eines rechtzeitig wirkenden Schutzes von Kindern laut. Man wird dieser kritischen Einschätzung sicher nicht in toto zustimmen können, entziehen kann man sich ihr aber auch nicht. Dies wäre auch falsch, denn sie muss Motor dafür sein, an weiteren Verbesserungen des Systems zu arbeiten, da eine genauere Analyse der Einzelbeispiele auch immer wieder zeigt, dass es Verbesserungsbedarfe und strukturelle Schwächen im Hilfesystem gibt, die angegangen werden müssen. Dies trifft nicht nur für das Risikomanagement im konkreten Einzelfall zu – es geht auch um strukturelle Bedingungen und um fachliche Einschätzungen und Handlungsweisen. So zeigen vorliegende Befunde, z. B. zur Umsetzung und Ausgestaltung der Hilfen zur Erziehung in Nordrhein-Westfalen, dass die Inanspruchnahme der Hilfen neben soziostrukturellen Einflussfaktoren u. a. auch stark davon abhängt, wie die „Wahrnehmungs-, Definitions- und Entscheidungsprozesse der im Rahmen der Hilfegewährung und Fallsteuerung beteiligten Akteure“ (Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik/LWL-Landesjugendamt Westfalen/Landesjugendamt Rheinland 2008, S. 110) sowie die politisch-fiskalische Einflussnahme wirken. Dementsprechend ist zu berücksichtigen, dass die Suche nach wirksameren und vor allem frühzeitig ansetzenden Hilfe- und Unterstützungsformen auch von eben solchen Bedingungsfaktoren beeinflusst werden. Behindernd dürfte sich auch heute noch auswirken, dass im Regelsystem der Kinder- und Jugendhilfe und des öffentlichen Gesundheitswesens viele spezialisierte und hochwertige Hilfen nebeneinander stehen, die aber nicht miteinander arbeiten und nicht aufeinander abgestimmt werden (vgl. Böttcher et al. 2008).
Frühförderung und frühe Prävention
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Hinderlich dürfte auch sein, dass es immer schwieriger wird, die Leistungsfähigkeit der Systeme vor Ort so zu erhalten bzw. auszubauen, dass sie dem wachsenden Bedarf an präventiven Hilfen entsprechen. Die Kommunen sind dabei in einer schwierigen Lage, denn der Hilfebedarf scheint angesichts immer komplexer werdender Problemsituationen zu wachsen. Bereits 2004 wurde in der Erlangen-Nürnberger Entwicklungs- und Präventionsstudie aufgezeigt, dass rund 50 % der Eltern über erhebliche Entwicklungs- und Verhaltensschwierigkeiten ihrer Kinder klagen und ein Präventionssystem erforderlich sei, das frühzeitiges Erkennen und Handeln ermöglicht (BMFSFJ 2004, S. 8). Die Klage darüber, dass z. B. der Allgemeine Soziale Dienst (ASD) personell nicht ausreichend ausgestattet ist (ASD-Kongress im September 2008 in Köln) zeigt, dass es trotz des bestehenden differenzierten Hilfesystems neben subjektiven vor allem auch objektive Grenzen der Hilfe- und Unterstützungsleistung gibt, die u. a. auch auf eine zunehmende Belastung der Fachkräfte durch mehr Einzelfälle und geringer werdende finanzielle Möglichkeiten der Kommunen zurückzuführen sein dürften. Die Inanspruchnahme von Hilfen zur Erziehung – allein im Lande Nordrhein-Westfalen – zeigt dies auf: So haben sich die öffentlichen Ausgaben der Jugendämter von 1992 (rund 650.000 Mio. Euro) bis zum Jahr 2006 (rund 1,3 Mrd. Euro) verdoppelt. Dies spiegelt sich auch in der Zahl der Hilfemaßnahmen wider: 1991 insgesamt 95.443 Maßnahmen und 2006 insgesamt 162.193 Maßnahmen (HzE-Bericht 2008 auf der Grundlage der Datenbasis 2006). Zu diesen Hilfemaßnahmen müssen die rund 2.400 nordrhein-westfälischen Kindertageseinrichtungen, die als Familienzentren arbeiten, hinzugezählt werden. Neue Impulse wurden gegeben Inzwischen wurde eine Vielzahl von Empfehlungen entwickelt und Aktivitäten unternommen, die darauf abzielen, die fachlichen Strukturen und Kompetenzen zu stärken und ein engeres System frühzeitiger und wirksamer Hilfen aufzubauen. Hierzu gehören auch politische Entscheidungen im Bund, den Ländern und den Kommunen. Nordrhein-Westfalen hat als erstes Bundesland bereits 2001 begonnen, modellhaft ein „Soziales Frühwarnsystem“ zu entwickeln. Dies ist inzwischen bundesweit aufgegriffen worden. Heute stößt ein solcher Ansatz auf eine fast schon selbstverständliche Akzeptanz. Mit dem Ziel, die Prävention wirksamer zu gestalten, hat auch die Jugend- und Familienministerkonferenz auf einer Sondersitzung im Dezember 2006 einen breiten Katalog von Anregungen für die Verbesserung früher Prävention und für strukturelle und fachliche Weiterentwicklungen verabschiedet (www.JFMK.de). Ebenso hat die Konferenz der
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Ministerpräsidenten der Länder gemeinsam mit der Bundeskanzlerin in ihren Beratungen im Dezember 2007 und im Juni 2008 einen breiten Katalog von Handlungsansätzen beschlossen. Inhaltliche Schwerpunkte beider Konferenzen waren u. a.: die rechtliche Schärfung in § 8a SGB VIII der Austausch personenbezogener Daten die Vernetzung früher Hilfen sowie die Früherkennungsuntersuchungen. Mit der Gründung des „Nationalen Zentrums Frühe Hilfen“ (www.fruehehilfen.de) hat das Bundesjugendministerium eine bundesweite Plattform geschaffen, die den fachlichen Austausch ermöglicht. Beteiligt ist auch das Deutsche Jugendinstitut, München. Das vom Bundesjugend- und Familienministerium in Auftrag gegebene Forschungs- und Praxisprojekt „Aus Fehlern lernen. Qualitätsmanagement im Kinderschutz“ ist ebenfalls ein Schritt, der helfen kann, Erfahrungen zu sammeln und auszutauschen, Mängel zu identifizieren sowie Änderungen in den Strukturen und die Weiterentwicklung der fachlichen Kompetenz voranzutreiben. Evaluationsstudien zeigen zudem, dass es die Lösung nicht gibt – vielmehr sind die bestehenden Modelle sehr stark geprägt von den jeweiligen örtlich gegebenen Bedingungen. Darüber hinaus steht eine flächendeckende Einführung frühzeitig wirkender Hilfesysteme noch aus. Neue Prozesse vor diesem Hintergrund zu initiieren ist immer eine schwierige Aufgabe und gelingt nie ganz flüssig oder gar von selbst. Es erfordert viel Engagement, Durchhaltevermögen und Überzeugungskraft, denn es sind viele Institutionen und Organisationen zu beteiligen. Warum die Suche nach neuen Wegen? Im Kern verfügen nahezu alle Jugendämter über eine sehr differenzierte Struktur an Präventionsleistungen, Hilfen und Unterstützung – Strukturen, die in vielen Jahrzehnten gewachsen sind und vor allem in den 1980er- und 1990er Jahren einen enormen Auftrieb erfahren haben. Ihr Leistungskanon wurde erheblich ausgebaut und die Zahl der Fachkräfte in den Einrichtungen und Diensten wuchs. Dennoch wurde in den 1990er Jahren deutlich, dass das System offensichtlich überfordert war, dann rechtzeitig zu reagieren, wenn es um einen wirksamen und vor allem rechtzeitigen Kinderschutz ging. Sichtbar geworden ist dies in Nordrhein-Westfalen angesichts verschiedener Ereignisse. Soziale Frühwarnsysteme setzen an den gegebenen Strukturen an. Sie greifen auf, was an fachli-
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chen Bedingungen besteht und versuchen, diese näher an die Familien heranzubringen. Dabei haben sie auch Familien in besonders belasteten Alltagssituationen und Lebenswelten im Blick, aber nicht nur diese. Ihr Blick reicht darüber hinaus. Ausgangspunkt war eine vom Institut für soziale Arbeit in Münster (ISA) initiierte Untersuchung mit dem Titel „Kinder in Not“ (Schone et al. 1997). Diese identifizierte nicht nur Problemlagen von Kindern und Familien unter dem besonderen Aspekt der Vernachlässigung von Basisbedürfnissen bei Kindern, sondern vor allem auch Lücken im Regelsystem der Kinder- und Jugendhilfe hinsichtlich ihres Auftrags frühzeitiger Prävention. Sie wies auf Schwächen im professionellen Regelsystem hin, entsprechende Anzeichen höchster Gefährdung von Kindern im familiären Umfeld frühzeitig zu erkennen, die erforderlichen Schritte einzuleiten und eine handlungsfeldübergreifende Strategie einer frühen und passgenauen Reaktion zu entwickeln. Sie zeigte vor allem einen erheblichen Mangel an kooperativen Gemeinsamkeiten zwischen den Diensten auf und verwies auf den damit verbundenen Verlust an passgenauen und frühen Hilfen. Sie verwies vor allem darauf, dass eine gemeinsame Diskussion zwischen den Akteuren kaum stattfindet – obwohl die Zielgruppe häufig dieselben Kinder und Familien sind. Viele Probleme wurden (und werden vielleicht auch heute noch) erst behandelt, wenn die Ampel von gelb auf rot sprang. Das bedeutete für die Praxis: Es lag eine deutliche Präferenz vor, sich auf einen bestimmten als „Risikogruppe“ definierten Personenkreis zu konzentrieren. Dieser erhielt dann auch die erforderlichen Hilfen; zu kurz kam aber die Aufgabe einer breiter als bisher angelegten Sichtweise und Prävention. Dies war nicht allein eine fachliche, sondern auch eine Ressourcenschwäche (und ist es teilweise auch noch heute). Der Handlungsbedarf in Nordrhein-Westfalen bestand daher vor allem darin, Instrumente zu entwickeln, die das System der Hilfe so strukturieren, dass Gefährdungslagen von Kindern frühzeitiger erkannt und anschließend auch rechtzeitig und vor allem wirksam und nachhaltig gehandelt werden kann. Der Handlungsbedarf erstreckt sich aber nicht allein darauf, dass die individuellen Präventionsmaßnahmen und Hilfeleistungen, die sich direkt auf die Familien und ihren Alltag beziehen, verbessert werden. Das ist sicher eine richtige und wichtige Aufgabe. Angesichts der Komplexität der Probleme und der sozialen Kontexte, in denen Vernachlässigungen und Misshandlungen geschehen, ist es ebenso bedeutsam, die frühe Prävention so auszugestalten, dass alle beteiligten Akteure und Dienste in einem kooperativen und kommunikativen Verbund agieren.
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Auf dem Weg zu einem neuen fachlichen Profil Mit der Einrichtung von Frühwarnsystemen an sechs Standorten sollte ein professionelles Profil, eine strukturelle Grundlage und ein strategisch auf das Regelsystem aufbauendes Modell früher Prävention entwickelt werden. Ansatzpunkte waren Tageseinrichtungen für Kinder (Herne, Dortmund), ein Krankenhaus (Bielefeld), die Familienberatung bzw. der Allgemeine Soziale Dienst (Emmerich), der Sozialraum (Siegen) und das Kinderbüro (Kinderschutzbund Essen). Die Erfahrungen aus den Modellstandorten in Nordrhein-Westfalen zeigten insgesamt, dass es dabei weniger um neue Hilfeformen (häufig verbunden mit der Forderung nach mehr und neuem Geld und Personal) geht, sondern insbesondere um ein neues professionelles Verständnis des eigenen fachlichen Handelns und die Entwicklung neuer Sensibilitäten, das Zusammenführen von Basiselementen zu einer in sich geschlossenen handlungsfähigen Reaktionskette der unterschiedlichen Partner in lokalen Hilfesystemen und die Notwendigkeit eines strukturellen Miteinanders unter gleichzeitiger Abkehr von Zufälligkeiten oder Beliebigkeiten – was natürlich das Kennen der potenziellen Partner und die Pflege des Kontaktes zur Voraussetzung hat Allerdings wurde in Bielefeld mit dem Patientinnenmodell eine völlig neue Hilfe entwickelt – diese Notwendigkeit ergab sich aus der Besonderheit des Standortes. Zunächst hatte die Praxis sehr zurückhaltend auf neue Impulse reagiert und sich selbst dabei auch etwas „in Frage gestellt“ gesehen. So war häufig als erste Reaktion zu hören, dass bereits zahlreiche Bemühungen unternommen worden seien, das System zu verbessern und effizienter zu gestalten. Vielfach herrschte die Meinung vor, dass die Leistungsfähigkeit im Prinzip gegeben sei. Argumente waren vor allem: Wir haben ein gut funktionierendes Hilfesystem mit einem differenzierten Handlungskatalog. Wir haben zudem viel in Vernetzungsarbeit investiert und sozialräumliche Konzepte auf den Weg gebracht. Wenn wir die frühe Prävention stärken und ausbauen wollen, dann brauchen wir mehr personelle und finanzielle Ressourcen. Jedes dieser Argumente mag zutreffen und nachvollziehbar sein, dennoch war (und ist noch heute) auch erkennbar, dass einiges nicht funktionierte, wie man es
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sich vorstellte – und dies aus Gründen, die nicht immer an etwas Bestimmtes festgemacht werden konnten. Wenn es aber um eine bessere Früherkennung geht, dann sind es vor allem drei Elemente, die ein soziales Frühwarnsystem auszeichnen (nach ISA 2007): Basiselement Wahrnehmen In der Praxis sind inzwischen zahlreiche Impulse entstanden, die ein systematisches Wahrnehmen durch das Aufstellen von zuverlässigen Indikatoren ermöglichen. Viele Jugendämter verfügen über entsprechende Screeningverfahren. In den Tageseinrichtungen für Kinder werden im Rahmen der Bildungsdokumentation auch Beobachtungsbögen angewendet, die den Entwicklungsprozess der Kinder aufzeigen und so Entwicklungsverzögerungen, Beeinträchtigungen etc. erkennbar machen. Impulse durch Fortbildungen, in denen die Fachkräfte sensibilisiert werden, Gefährdungsmerkmale und familiäre Konflikte wahrzunehmen, zählen auch dazu. Hierbei liegt der Fokus nicht mehr nur auf augenfälligen Indikatoren wie z. B. soziale Isolation, Drogenabhängigkeit und psychische Erkrankung der Eltern. Einzubeziehen sind auch „kleine“ Merkmale wie z. B. Distanz zwischen Mutter und Kind, Anfälligkeit für emotionale Ausbrüche oder erkennbare Probleme mit der Bewältigung des Alltags. Gerade für Kindertageseinrichtungen und Schulen ist es wichtig, dass sie gemeinsam erkennen, ihre Kinder „anders“ wahrzunehmen und dabei auch mehr Sicherheit im Umgang mit Eltern erlangen. Entscheidend ist, dass jede beteiligte Institution zudem klar beschriebene Schwellenwerte kennt, die deutlich machen, wann gehandelt bzw. eingegriffen werden muss. Dabei muss es sich um Kriterien handeln, die zwischen schwachen und sehr starken Signalen unterscheiden. Erst dann wird fallscharf festgestellt werden können, wann und welche pädagogische Option gilt und wann der Bereich der frühen Hilfe verlassen und stattdessen eingegriffen werden muss. Basiselement Warnen Warnen heißt, sich an die eigene Kompetenz zu wenden oder aber an andere ebenfalls verantwortliche fachkundige Institutionen und Personen. Dies erfordert einen Überblick über die im sozialen Raum, der Kommune oder dem Kreisgebiet vorhandenen Träger. Denn – das hat sich in der Praxis gezeigt – es nutzt wenig und macht sogar hilfloser, wenn man zwar die Risikoabschätzung vorgenommen
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hat, dann aber kein Ansprechpartner bekannt ist oder dieser nicht zur Verfügung steht. Es bleibt dann die Unsicherheit bestehen, mit der Wahrnehmung von Signalen, die für eine Gefährdung sprechen, adäquat umgehen zu können. Das führt häufig dazu, dass man in seinem eigenen institutionellen Zusammenhang verbleibt. Es ist deshalb von entscheidender Bedeutung für die Wirkung einer frühen Prävention, dass die mögliche Reaktionskette für die beteiligten Institutionen und Fachkräfte auch tatsächlich erkennbar ist und alle Beteiligten zudem über eine „gemeinsame Sprache“ verfügen. Wenn z. B. von einer „Überforderung der Familie“ gesprochen wird, ist eine gemeinsame Definition notwendig, die alle verschiedenen Sichtweisen berücksichtigt. Auch bedarf es einer Verständigung darüber, was unter Überforderung zu verstehen ist. Hier mag es durchaus unterschiedliche Auffassungen geben. Daher war und ist es erforderlich, die Fachkräfte in ihrem Risikomanagement zu unterstützen. In diesem Sinne erweist es sich als hilfreich, z. B. Leiter(innen) von Kindertageseinrichtungen und andere Fachkräfte (auch aus der Schule) fortzubilden und vor allem sogenannte „Kinderschutzfachkräfte“ vor Ort einzusetzen. Basiselement Handeln Dieses Element umfasst das rechtzeitige, umfassende und vor allem frühe Handeln in alleiniger oder in gemeinsamer Verantwortung im Rahmen eines bestehenden Kooperationsverbundes. Leuchtet es noch ein, dass das Handeln auf der Grundlage vorhandener institutioneller, fachlicher und struktureller Ebenen erforderlich ist und können die notwendigen Schritte und Maßnahmen hierfür auch beschrieben werden, so ist es schon schwieriger, auf ein verbindliches Netzwerk auch tatsächlich zurückgreifen zu können. Denn es stellen sich gleich mehrere Anforderungsprofile: Wen brauche ich, um ein solches Netzwerk überhaupt zustande bringen zu können? Welche Institution ist für die erforderlichen Lösungsschritte zuständig? Wie verständige ich mich mit dem anderen, manchmal äußerst fremden System? Gibt es eine Grundlage für die verbindliche Zusammenarbeit, zu der sich alle Beteiligten verpflichtet haben? Das sind einige Fragen, deren Beantwortung für ein strukturell geregeltes und gemeinsam verantwortetes Handeln bedeutsam ist.
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Vernetzen: Die einzige Chance – aber auch die größte Herausforderung Zweifelsohne – und das zeigen alle Erfahrungen der sechs Modelle – besteht in einer verbindlichen Vernetzung die Notwendigkeit, eine inhaltliche Abstimmung zwischen allen Beteiligten zu erreichen. Dies ist nach nahezu allen Erfahrungen die größte Baustelle bei der Veränderung bestehender Hilfesysteme und ihrer Ausrichtung auf frühe Prävention – auch heute noch. Häufig sind zwar die geeigneten Hilfen vorhanden, sie sind aber nicht miteinander verbunden und werden nicht aufeinander abgestimmt. Wenn aber Familien, die in riskanten Situationen leben, im Konfliktfall frühzeitig erreicht werden sollen, ist eine engere Zusammenarbeit zwischen den Fachleuten der verschiedenen Dienste unerlässlich. Diese geht jedoch nicht von selbst und wächst auch nicht allein auf der Basis gut meinenden Wollens einiger Beteiligter. Beispiele vernetzten Handelns zeigen, dass es einer verbindlichen Struktur und abgestimmter gemeinsamer Ziele bedarf, damit ein Verbundsystem auch nachhaltig bestehen und wirken kann. Dass es nicht leicht ist, eine solche Struktur zu entwickeln, liegt vor allem an dem Fehlen einer Kooperationstradition. Die häufig immer noch mangelnde Fähigkeit zu einer systematischen und selbstverständlichen Kooperation liegt im Wesentlichen darin begründet, dass das professionelle Profil häufig im System der Versäulung fachlicher Zuständigkeiten verhaftet geblieben ist. Dies ist dadurch gefördert worden, dass in den letzten Jahrzehnten immer wieder neue sehr spezialisierte Teilsysteme entstanden sind, die das Hilfesystem zwar ausdifferenzierten und auch der zunehmenden Komplexität der Problemlagen entsprachen, sich aber mehr und mehr auf ihren jeweils spezifischen Handlungsteil zurückzogen. Dabei verloren sie den Blick für eine ganzheitliche Betrachtungsweise von Risiken und damit auch von multiprofessionellen Lösungsansätzen. Gefördert wurde dies auch dadurch, dass jede Säule ihre eigenen Regeln, ihre besondere Sprache und eigene rechtliche Grundlagen hat. Das gilt übrigens auch für Teilsysteme der Kinder- und Jugendhilfe, so z. B. für die Hilfen zur Erziehung, aber auch in Teilen für die Kindertageseinrichtungen. Zudem ist erkennbar, dass zwischen den für den Prozess eines gelingenden Aufwachsens verantwortlichen Akteuren und Institutionen nur wenige Brücken bestehen. Ein enges Abstimmen oder gar systematisches Kooperieren fällt angesichts der bestehenden Struktur schwer oder ist gar unmöglich. Gerade weil es sich um ein interdisziplinär gestaltetes Netz von Hilfen handelt, bedarf es besonderer Anstrengungen, denn häufig stellen Sprach-, Wahrnehmungs- und Deutungsprobleme noch erhebliche Hürden dar. Ein Beispiel zeigt sich in der Schwerfälligkeit des Zusammenwirkens des Öffentlichen Gesundheitsdienstes mit den Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. Gerade dies ist aber eine
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wesentliche Lücke in der frühen Prävention, denn Familien mit Kleinkindern und Säuglingen stehen zunächst allein im Blick der Gesundheitsdienste und der Ärzte. So zeigen die „Herner Materialien“, die aus der Entwicklung eines sozialen Frühwarnsystems heraus entstanden sind, „dass einzelne Institutionen für sich allein nicht zu einer adäquaten Problemlösung in der Lage sind, weil soziale Probleme in benachteiligten Stadtteilen nicht vor den Türen der Schulen, sozialen Einrichtungen oder der Ämter haltmachen, lassen sich die Probleme einzelner Agenturen des Sozialstaates nur adäquat im Rahmen organisationsübergreifender Leistungsprozesse bewältigen“ (Schridde 2005, S. 306). Die daraus resultierende Konsequenz für professionelles Handeln ist die Schaffung eines strukturellen verantwortlichen Miteinanders. Dies ist eine der Kernbedingung für das Wirken sozialer Frühwarnsysteme. Eine gut aufgestellte Gesundheitskonferenz ist ein gutes Bindeglied zwischen den Systemen. Trotz der von der Praxis immer wieder beschworenen Vernetzung von Hilfesystemen muss selbstkritisch festgestellt werden, dass es erst seit Kurzem gelungen ist, starre Formen aufzulösen und Kooperationsmöglichkeiten zu entwickeln. Dies sind aber immer noch Einzelfälle. Überwiegend dominieren eher noch Barrieren und auch in gewisser Hinsicht Gegensätzlichkeiten, die schwer zu überwinden scheinen. Hier gibt es noch viel zu tun, denn es fehlt bis heute an einer Selbstverständlichkeit der Kooperation im normativen Sinn. Vielmehr muss sie immer wieder eingefordert und (häufig neu) entwickelt werden. Für die frühe Prävention ist ein Netz von unterschiedlichen Professionen, das verbindlich zusammenwirkt, eine unverzichtbare Voraussetzung. Dabei ist ein Gelingensfaktor, dass es vor Ort einen „Motor“ für diesen Kooperationsprozess gibt. Kooperationsvereinbarungen und ein zentrales Kooperationsmanagement sind dabei hilfreich und unterstützend. Denn frühe Prävention kann nur dann gelingen, wenn die Isoliertheit der Fachkompetenz überwunden wird und das Frühwarnsystem gemeinsam gestaltet wird. Eine Übertragung gelungener Beispiele (z. B. das Modell „Zukunft für Kinder“ der Stadt Düsseldorf –http:// www.duesseldorf.de/gesundheit/zukunft_fuer_kinder/index.shtml oder der Stadt Monheim – Monheim für Kids MoKi – http://www.monheim.de/moki/) bietet sich in vielen Fällen an. Das wäre jedenfalls ein Ansatz. Kindertageseinrichtungen sind wichtige Ausgangsorte für frühe Prävention Eine frühe Prävention ist selbstverständlich die Aufgabe aller im System der Hilfen für Kinder und Familien tätigen Träger, Institutionen und Fachkräfte. Wichtig ist es, bestehende Einrichtungen zu nutzen, um geeignete Ansatzmög-
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lichkeiten zu haben. Dabei sollte an Orten angesetzt werden, mit denen die Familien vertraut sind, denen sie eine hohe Akzeptanz entgegenbringen und die eine besondere Nähe zur Wahrnehmung von besonderen Problemsituationen haben. Das sind ohne Frage die Kindertageseinrichtungen. Sie haben nicht nur das Vertrauen der Eltern und sind die erste und einzige Institution, die Kinder in frühen Jahren besuchen. Sie sind es umso mehr durch den massiven Ausbau der Plätze für unter dreijährige Kinder. Eltern versprechen sich nicht nur eine gute Betreuung ihrer Kinder, sie verbinden damit zugleich auch, dass die Einrichtung ein Ort der individuellen Förderung ihres Kindes ist, auf die sie bauen können. Andererseits nehmen Erzieherinnen und Erzieher früher als andere Institutionen Auffälligkeiten bzw. Signale wahr, die auf einen Hilfebedarf schließen lassen können. Ein Ausdruck ihrer Bedeutung ist die Weiterentwicklung der Kindertageseinrichtungen zu Familienzentren (MGFFI 2008). Sie sollen einen umfassenderen Ansatz der Förderung und Unterstützung wahrnehmen und ein interdisziplinäres Netz der Hilfe und Unterstützung sein. Kindertageseinrichtungen bringen sich in ein lokales Netzwerk ein oder sind selbst die Mitte eines Netzes, das alles zusammenhält. Die Verleihung eines Gütesiegels und die damit verbundene Zertifizierung sichern dabei die erforderlichen fachlichen Voraussetzungen. Daher sind sie wichtige Orte für einen wirksamen Kinderschutz im Sinne des § 8 a SGB VIII und für die Entwicklung sozialer Frühwarnsysteme. Der sozialräumliche Blick Das rechtzeitige Wahrnehmen von Risiko- und Gefährdungssituationen bei Kindern und Jugendlichen ist ohne den Blick auf den sozialen Raum undenkbar. Er würde – wenn überhaupt – sich ausschließlich auf die Entwicklung des Kindes konzentrieren und dabei die Verknüpfung dieser individuellen Notlage mit sozialen Rahmenbedingungen negieren. Denn es ist häufig der soziale Raum, der Gefährdungen begünstigt und Notlagen verstärken kann. Es ist – über ein Frühwarnsystem – möglich, Konstellationen/Indikatoren auszumachen, die Familien und Kinder zusätzlich zu ihrer individuellen Situation belasten und das Gefühl von Ausweglosigkeit manifestieren können. Daher führt der sozialräumliche Blick zu einer Angebotsstruktur, die zu einer Stabilisierung des sozialen Raumes beitragen kann. d.h., noch bevor Risiko- und Gefährdungsmomente entstehen oder sich verschärfen, beginnt bereits präventives Handeln und wird der Blick aller Beteiligten auf mögliche Notlagen sensibilisiert. Da Belastungsfaktoren immer auch vom sozialen Umfeld ausgehen können, gehört es heute zum fachlichen Profil der sozialen Arbeit, auch einen sozialräumlichen Blick zu haben und nach den Kontextbedingungen sozialer Probleme zu
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fragen. Denn wenn die auf die einzelne Familie bzw. das Kind bezogene Hilfe nachhaltig wirken soll, bedarf es auch der Veränderung in den Lebenswelten und im Alltag. Diese kann sich ergeben durch Veränderung der Wohnsituation, durch bauliche Veränderungen des Stadtteils, durch stärkere Einbindung der Institutionen Kindergarten und Grundschule in den Sozialraum, durch Begegnungsmöglichkeiten in sozialen Einrichtungen etc. So ist in der Wissenschaft längst unstreitig, dass ganz unterschiedlichen Bedingungsfaktoren einbezogen werden müssen, wie z. B. Wohnsituation, Zustand des Stadtteils, wirtschaftliche Situation der Familien etc. Gerade angesichts der wirtschaftlichen Krise und des Zusammenbrechens individueller beruflicher Perspektiven und Karrierewünsche werden auch die individuellen Notlagen sich verschärfen, denn es handelt sich um Faktoren, die sich – das wissen wir aus praktischen Erfahrungen – belastend auf die Familien auswirken und die Situation von Kindern verschärfen können. Zwischenergebnisse einer Evaluationsstudie über soziale Frühwarnsysteme in Nordrhein-Westfalen bestätigen die Bedeutung solcher Möglichkeiten der Veränderung und Begegnung (Böttcher u. a., 2008). Frühe Prävention kann nur gelingen, wenn die Akteure auch Zugang zum sozialräumlichen Umfeld haben. Nur dann ist es denkbar und möglich, Risiken für Kinder und in der Erziehung früher ausmachen zu können. Dies kann nur erfolgreich sein, wenn Prävention dort ansetzt, wo Menschen leben, wohnen, ihre Freizeit verbringen, ihren Freundeskreis haben etc. Erreichbar ist dies durch sozialräumliches Handeln. Sozialräumlich heißt in diesem Kontext, solche Faktoren einzubeziehen, die das Umfeld der Familien prägen und die sich belastend oder auch positiv auf Familien auswirken können. Deshalb sind Präventionsnetze, die so angelegt sind, dass sich alle Akteure „auf gleicher Augenhöhe“ verantwortlich einbringen, auch eher geeignet, diese sozialen Kontexte zu berücksichtigen und ein ganzheitlich ausgerichtetes Handlungskonzept nachhaltig zu realisieren. Dabei reicht es nicht aus, ein Netz zu schaffen, es kommt auch darauf an, es zu halten und die Maschen so eng zu ziehen, dass die Beobachtungs- und Wahrnehmungsmöglichkeiten tatsächlich dauerhaft verbessert werden. Denn Menschen in Risikolagen müssen sich darauf verlassen können, dass ihnen in schwierigen Situationen die richtige Hilfe zuteil wird. Gerade die Bedeutung des sozialen Umfeldes für den Prozess des Aufwachsens von Kindern und für die Herstellung eines positiven Erziehungsklimas kann genutzt werden, um den Zugang zu Familien in Risikolagen niederschwellig zu erreichen. Hierzu sind aber methodische Prinzipien und Werkzeuge erforderlich, die ein professionelles Handeln ausmachen. Dazu gehört das Wissen über die soziale Struktur des Stadtteils, Kenntnisse der Risiko- und Gefährdungslagen, die Wahrnehmungskompetenz hinsichtlich sozialer und individueller Problemlagen, das Kennen von Netzwerken und den darin agierenden Partnern etc. Und dazu
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gehört auch die Veränderung des Blicks in den sozialen Raum und auf seinen Einfluss auf das individuelle Agieren der Menschen. Das macht auch den Inhalt des § 1 Abs. 3 SGB VIII aus, der von der Kinder- und Jugendhilfe verlangt, einen Beitrag zur familienfreundlichen Gestaltung der Umwelt zu leisten und soziale Benachteiligungen abzubauen bzw. vermeiden zu helfen. Wenn man sich die aktuellen Entwicklungen anschaut, dann wird man Indikatoren erkennen können, die für die Bedeutung des sozialräumlichen Blicks sprechen. Allerdings gibt es ein Problem außerhalb von Ballungsräumen: Soziale Probleme werden hier kaum geballt sichtbar, sondern eher vereinzelt in der Fläche. Sie können sich damit auch besser verstecken. Indikatoren sind z. B.:
Zunahme prekärer Lebenslagen und zwar nicht nur in der ohnehin ausgemachten Risikogruppe, wachsender Anteil der Jobs im Niedriglohnsektor und Zunahme des Pendlerwesens, soziale Erosionsprozesse, wachsende Defizite in der Erziehungskompetenz, die durch das soziale Milieu verstärkt werden, Voraussetzung für eine soziale Berichterstattung – Festhalten der sozialen Dynamik des Stadtteils, Implementierung eines Sozialraum-Screenings.
Wichtig sind auch Sozialraumanalysen, die helfen, die soziale Struktur eines Stadtteils besser erfassen zu können und auch Hinweise geben, wo z. B. durch wirtschaftliche Einbrüche neue Belastungen für Familien entstehen und zielgruppenübergreifende Ansätze helfen, frühzeitig geeignete Angebote der Beratung und Unterstützung zu machen. Es gehört dazu auch ein sinnvolles und differenziertes Planungswesen, das systematisch Veränderungen im sozialen Alltag berücksichtigt und daraus erforderliche Schlüsse für das Hilfesystem zieht. Ein Risikobericht als Steuerungsinstrument In einem Risikobericht (KGST 2007), formuliert als eine gemeinsame Jugendhilfe- und Gesundheitsberichterstattung, wird über die Situationen von Kindern berichtet, die sich aus spezifischen Lebenslagen bzw. der Zugehörigkeit zu definierten Risikogruppen ergeben. Dies ist die Grundlage für den Aufbau eines Risikomanagements in den Kommunen. Ein Risikobericht wird dabei als kom-
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munale Analyse, als Lagebericht zum Wahrnehmen und Handeln bei Kindeswohlgefährdung verstanden, der insbesondere auch Armutsberichte auf der Ebene der Jugendhilfe und des Gesundheitswesen sinnvoll ergänzen kann. Es werden Fragen danach bearbeitet: welche möglichen Gefährdungen von Kindern identifiziert werden können, wie ein möglicher Risikoeintritt analysiert wird, welche Möglichkeiten bestehen, um dem Risikoeintritt durch geeignete Aktivitäten zu begegnen. Die Auswertung der Ergebnisse wird konkrete Aussagen über Entwicklungsbedarfe liefern, die die Risikoidentifikation oder -analyse, die vorhandenen Hilfen und Maßnahmen, die bestehenden Kooperationen, Fortbildungsbedarfe wie auch die verfügbaren Ressourcen (Sachausgaben und Personal) betreffen. Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch die Sicherung eines Risikomanagements. Dies bedarf ebenfalls einer systematischen Umgehensweise mit der Analyse von fachlichen Prozessen (MGFFI 2009). Die Ressourcenfrage Die Ressourcenfrage ist eine wichtige Frage, denn ihre Beantwortung beeinflusst die Rahmenbedingungen früher Prävention. So wichtig sie auch ist, sie ist aber nicht immer die erste Frage. Selbstverständlich muss der Aufwand des Zusammenwirkens, den die Träger und Institutionen, die Fachkräfte und andere beteiligte Personen leisten, entsprechend finanziell abgesichert sein. Angesichts knapper Ressourcen (insbesondere in Kommunen, die mit einer Haushaltssicherung leben müssen) wird dies aber nicht immer mit „neuem“ Geld erreichbar sein. Vielmehr muss der Blick auch auf die vorhandenen Ressourcen und ihre Verteilung gerichtet werden. Denn eine Nutzung vorhandener finanzieller und personeller Rahmenbedingungen, über die das Regelsystem verfügt, darf nicht ausgeschlossen werden. Die Ressourcenfrage muss so angegangen werden, dass ein Frühwarnsystem als eine „Win-win-Situation“ verstanden wird, in der ein erheblicher Nutzen für die öffentliche Hand – durchaus auch im monetären Sinn – erkennbar ist. Es ist unstreitig, dass die positiven Effekte – auch die ökonomischen – für eine Kommune enorm sind, wenn frühe Prävention gut funktioniert. Der Weg zu einer wirksameren frühen Prävention und einer optimaleren Frühförderung von Kindern gelingt allerdings nur dann, wenn die Grundlage stimmt – die personelle, die strukturelle und auch die rechtliche. Gerade weil diese Aufgabe keine kurzfristige ist, muss sie langfristig und nachhaltig angelegt sein und sich ständig weiterentwickeln. Hierzu gehören nicht nur eine konti-
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nuierliche Ergebnissicherung und die kritische Reflexion vorhandener Lücken. Hierzu gehört vor allem eine entsprechende personelle Ausstattung (je nach örtlichen Gegebenheiten auch durch eine Aufgabenkritik vorhandener Handlungsstrukturen erreichbar), die notwendige Weiterqualifizierung der beteiligten Fachkräfte aus allen Kompetenzbereichen, eine alle Beteiligten verbindende strukturelle Basis und für einzelne Handlungsfelder auch eine gesetzliche Grundlage auf Landesebene (z. B. Kinderschutz als Aufgabe der Schule). Zur Ressourcenfrage gehören auch institutionelle Veränderungen: unterschiedliche Zuständigkeiten bündeln (Stabsstelle frühe Prävention), Frühwarnmanager einrichten sowie Organisationskulturen entwickeln – partizipativer Ansatz. Identifikation der Politik Von entscheidender Bedeutung ist die Identifikation der Politik mit dem Aufbau von früher Prävention auf lokaler wie auf Landesebene. Denn die Verbesserung früher Präventionsansätze ist nicht auf eine rein fachliche Aufgabe zu reduzieren. Das zeigt nicht zuletzt die Berichterstattung in den Medien. Sie ist in besonderer Weise auch eine Herausforderung für die politischen Entscheidungsträger. Diese müssen die damit verbundenen Aufgaben, die Kooperationsverpflichtung der einzelnen Akteure, den Einsatz finanzieller Ressourcen und die Sicherung des strukturellen Miteinanders nicht nur wollen, sondern auch durchsetzen helfen. Die Erfahrungen zeigen, dass es dieser intensiven politischen Begleitung bedarf, um letztendlich erfolgreich zu sein. Daher sind die entsprechenden politischen Gremien vor Ort die Plattform, auf der über die strategisch erforderlichen Handlungsansätze beraten und entschieden werden muss, z. B. der Jugendhilfeausschuss oder die Arbeitsgemeinschaft nach § 78 SGB VIII, und selbstverständlich der Stadtrat bzw. der Kreistag. Für die Landesebene gilt, insbesondere in einem Flächenland, dass sie eine wesentliche Anregungs- und Initialfunktion wahrnimmt und – wenn erforderlich – auch die gesetzlichen Grundlagen schafft. Auf Bundesebene wird derzeit ein Bundeskinderschutzgesetz beraten, welches als Artikelgesetz Regelungen in einzelnen Spezialgesetzen schafft, so beinhaltet es z. B. auch eine Änderung des § 8 a SGB VIII (die allerdings in den Ländern und bei den freien Trägern weiterhin umstritten ist).
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Frühwarnsysteme lohnen sich Als Fazit aus der Entwicklung in Nordrhein-Westfalen kann festgestellt werden: Die Modellphase war eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass die Notwendigkeit der Implementierung eines in das Regelsystem zu übertragenden soziales Frühwarnsystems erkannt und anerkannt wurde. Wenngleich die Berichterstattung über dramatische Einzelschicksale immer auch einen gewissen Schub für einen Zuwachs an früher Prävention mit sich brachte, so haben die landesweiten Erörterungen der Erfahrungen und Ergebnisse in den Modellstandorten insgesamt überzeugend gewirkt. Auch zeigt sich, dass damit ein neues professionelles Bewusstsein gewachsen ist, welches alle beteiligten Akteure einschließt. Die Bereitschaft, handlungsfeld-übergreifend zu denken und zu handeln, wächst. Allerdings zeigt sich, dass der Prozess längst nicht abgeschlossen ist. Insgesamt wird aber deutlich, dass der eingeschlagene Weg neue Möglichkeiten eröffnet, das Hilfesystem so zu gestalten, dass es wirksamer als bisher agieren kann und vorhandene Stolpersteine für ein strukturelles Miteinander der unterschiedlichen Professionen überwindbar werden. Inzwischen haben sich in ganz Nordrhein-Westfalen die Kommunen auf den Weg gemacht, soziale Frühwarnsysteme zu entwickeln und auszubauen. Es entsteht ein breites, variantenreiches Feld an Frühwarnsystemen. Sicher ist es nicht in allen Modellen gelungen, eine verbindliche Hilfestruktur auf der Basis selbstverständlicher Zusammenarbeit zu schaffen: so z. B. beim Versuch, ein Frühwarnsystem im Krankenhaus zu installieren. Hier fehlt es an einer Verbindlichkeit der Kooperation und der Nachhaltigkeit von Strukturen. Heute ist das Wissen über Kindeswohlgefährdung deutlich gewachsen – nicht aber das Wissen über die tatsächliche Wirkung entsprechender Frühwarnsysteme und die sich ergebenen Handlungskonsequenzen für die verschiedenen Akteure bzw. Einrichtungen und Träger. Deshalb ist die wissenschaftliche Begleitung unverzichtbar. Eine Evaluationsstudie der Universität Münster dient vor allem dazu, einen genaueren Überblick über Implementierung und Durchführung sowie Ergebnisse und Wirkungen der einzelnen Projekte zu erhalten, um soziale Frühwarnsysteme in Nordrhein-Westfalen weiterzuentwickeln (Böttcher et al. 2008). Letztlich geht es um ein Konzept früher Hilfen aus einem Guss. Ein solches lohnt sich für jede Kommune immer.
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Literatur Arbeitsgemeinschaft der Jugendhilfe (AGJ) (2008): Referatsentwurf eines Bundesgesetzes zur Verbesserung des Kinderschutzes – Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ vom 17.12.2008 http://www.agj.de/pdf/5/Bundeskinderschutzgesetz.pdf [aufgerufen am 28.04.2010] Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik/LWL-Landesjugendamt Westfalen/ Landesjugendamt Rheinland (Hrsg.) (2008): HZE-Bericht 2008 – Datenbasis 2006 Böttcher, W./Bastian, P./Lenzmann, V. (2008): Soziale Frühwarnsysteme – Evaluation des Modellprojektes in Nordrhein-Westfalen. Münster Bundesministeriums für Familien, Frauen, Senioren und Jugend (Hrsg.) (2001): veröffentlichte Zahlen 2000, http://www.bmfsfj.de/[aufgerufen am 28.04.2010] Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.) (2004): Soziale Kompetenz für Kinder und Familien. Ergebnisse der Erlangen-Nürnberger Entwicklungs- und Präventionsstudie. Berlin Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.) (2007): Aus Fehlern lernen. Berlin Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.) (2007): Materialien zur Familienpolitik Nr. 19/2004 – Lebenslagen von Kindern, Überschuldung privater Haushalte. Berlin Hinte, W. (2003): Von der Gemeinwesenarbeit über die Stadtteilarbeit zur Initiierung bürgerschaftlichen Engagements. In: Thole, W. (Hrsg.): Grundriss Soziale Arbeit. Ein einführendes Handbuch. Opladen, S. 535-548 Institut für soziale Arbeit e.V. (Hrsg.) (2007): Soziale Frühwarnsysteme in NordrheinWestfalen. Die Herner Materialien zum Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten in Kindertageseinrichtungen. Münster KGST – Bericht 12/2007: Vermeidung von Kindeswohlgefährdungen bei der Stadt Bielefeld – Eine Risikoanalyse als konzeptionelles Steuerungsinstrument: http://www.kgst.de [aufgerufen am 28.04.2010] Ministerium für Frauen, Familie, Jugend und Gesundheit des Landes NordrheinWestfalen (Hrsg.) (2002): Modellprojekt Soziales Frühwarnsystem – Zwischenbericht. Münster Ministerium für Gesundheit, Soziales, Frauen und Familie des Landes NordrheinWestfalen (Hrsg.) (2005): Abschlussdokumentation. Soziale Frühwarnsysteme in NRW – Ergebnisse eines Modellprojektes: Münster Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes NordrheinWestfalen (Hrsg.) (2007): Handlungskonzept für einen besseren und wirksameren Kinderschutz in Nordrhein-Westfalen. Düsseldorf Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes NordrheinWestfalen (Hrsg.) (2008): Wege zum Familienzentrum Nordrhein-Westfahlen – Eine Handreichung. Düsseldorf Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes NordrheinWestfalen (Hrsg.) (2009): Risikomanagement bei Kindeswohlgefährdung – Kompetentes Handeln sichern. Düsseldorf
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Schone, R./Gintzel, U./Jordan, E./Kalscheuer, M./Münder, J. (1997): Kinder in Not – Vernachlässigung im frühen Kindesalter und Perspektiven sozialer Arbeit. Münster Schridde, H. (2005): Die Soziale Stadt und Ganzheitliches Regieren im aktivierenden Sozialstaat. In: Behrens, F./Heinze, R. G./Hilbert J./Stöbe-Blossey, S./Walsken E. M. (Hrsg): Den Staat neu denken. Band 2. Berlin, S. 289-314 Wiesner, R. (2002): Die Leitideen des KJHG und ihre Vereinbarkeit mit dem sozialräumlichen Planungsansatz. In: Merten, R. (Hrsg.): Sozialraumorientierung. Zwischen fachlicher Innovation und rechtlicher Machbarkeit. Weinheim/München, S. 167-181
Veränderte Bedarfslagen, gewandelte Aufgabenstellungen Programmatik und Handlungsstrategien eines öffentlichen Trägers im frühpädagogischen Feld Sabine Grohmann, Birgit Glöckner
Kindertageseinrichtungen haben in den letzten Jahren insbesondere als Orte frühkindlicher Bildung zunehmende gesellschaftliche Aufmerksamkeit gewonnen. Die Fähigkeit zum Lernen in der Wissensgesellschaft wird nun nicht mehr nur propagiert, sondern zunehmend als Schlüsselkompetenz bereits in den frühen Jahren beschrieben. Dies stellt vor allen Dingen die Kindertagesstätten vor umfassende fachliche Herausforderungen und strukturell-organisatorische Veränderungen. Exemplarisch dafür ist das so genannte Bildungscurriculum, ein speziell auf den Sächsischen Bildungsplan zugeschnittenes Fortbildungsangebot, dessen Absolvierung durch das Sächsische Kindertagesstättengesetz empfohlen wird. Dies und die Umsetzung seiner Inhalte und Anregungen und damit des Sächsischen Bildungsplans sind durch die Teams der Einrichtungen zu leisten. Zudem aber sind insbesondere die Träger gefordert, die dafür erforderlichen Rahmenbedingungen zu schaffen und die Einrichtungen bei der Weiterentwicklung ihrer Fachlichkeit wie ihrer Praxis zu begleiten und zu unterstützen. Dem kommunalen Träger kommen diesbezüglich aufgrund seiner Gesamtverantwortung spezifische übergreifende Aufgaben zu, die sich nicht allein in der Bereitstellung finanzieller und personeller Ressourcen erschöpfen dürfen. Vielmehr gilt es, einen Rahmen zu schaffen, der fachlichen Austausch, Reflexion und Diskussion ermöglicht und der Ressourcen für Fort- und Weiterbildung, für wissenschaftliche Begleitung sowie nicht zuletzt für spezielle Projekte bereitstellt bzw. vorhandene bündelt. Im nachfolgenden Beitrag wird das integrierte Fortbildungskonzept der Landeshauptstadt Dresden dargestellt, welches ein neues Leistungsprofil als Antwort auf veränderte Bedarfslagen und Aufgabenstellungen im Bereich der Erziehung und Bildung in der frühen Kindheit repräsentiert. Lernprozesse sind essenziell abhängig von der Qualität formeller und informeller Bildungsangebote. Um entsprechende Weiterentwicklungen von
G. Robert et al., (Hrsg.), Aufwachsen in Dialog und sozialer Verantwortung, DOI 10.1007/978-3-531-92693-3_9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Kindertageseinrichtungen zu fördern bzw. anzuregen, hat die Landeshauptstadt Dresden die Leitlinien aus dem Zwölften Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung als Orientierung und damit Planungsansatz aufgenommen. Diese sind: den Lebenslauf und die Bildungsbiografie der Kinder in den Mittelpunkt stellen die Trias von Bildung, Betreuung und Erziehung zum Ausgangspunkt machen ein erweitertes Bildungsverständnis mit einer Vielfalt von Orten, Gelegenheiten und Inhalten zugrunde legen öffentliche Gesamtverantwortung für eine „Bildung für alle“, den Anspruch auf Chancengerechtigkeit und ein partizipatives Bildungsverständnis verankern tragfähige Zukunftskonzepte von Bildung und Erziehung in einem verbesserten Zusammenspiel aller an der Bildungsarbeit Beteiligten zu entwickeln und zu verankern Neben diesen programmatischen Grundlagen und den unten dargestellten Strategien und Projekten ist in einem generellen, d.h. auch konzeptionellen Sinne die Verbesserung der Koordination und Kooperation von Lernorten erforderlich, um die Bildungschancen für Kinder weiter zu erhöhen. Große Bedeutung kommt dabei einer träger- bzw. einrichtungsübergreifenden Planung und Abstimmung der unterschiedlichen Lernangebote, Bildungsorte und Unterstützungsmöglichkeiten zu. Sozialraumorientierte Ansätze bieten die Chance, Bildungsorte, spezielle Angebote und soziale Dienstleistungen ebenso an den Bedarfen von Kindern, Jugendlichen und Familien auszurichten wie an ihren lebensweltlichen Erfahrungsräumen und Strukturen. Durch sozialraumbezogene Formen der Kooperation können sich die Bildungsorte wechselseitig ergänzen und unterstützen, sie können gemeinsame Arbeitsschwerpunkte und Handlungsfelder bestimmen und durch diese Form der Zusammenarbeit dazu beitragen, die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen zu gestalten. Sozialraumorientierung bedeutet ein Umdenken. Ansatzpunkt sind hier die Bedürfnislagen und Unterstützungsbedarfe von Kindern und deren Familien. Die neuen Formen des Denkens und Handelns basieren auf einer neuen Form der Beteiligung, der tatsächlich praktizierten Partizipation der Betroffenen. Die World-Vision-Kinderstudie hat explizit auf den Bedarf einer praktizierten Demokratie und Teilhabe von Kindern hingewiesen (vgl. Hurrelmann/Andresen 2007). Als zentrale Bausteine von Sozialraumorientierung werden immer mehr Empowerment, lokale Partnerschaften und die Vernetzung der Angebote sowie die Stärkung der Betroffenen benannt. Mittlerweile gibt es viele Beispiele von vernetzten Angeboten in den Dresdner Kindertageseinrichtungen. Die konkreten
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Chancen liegen nun darin, die sozialräumlichen Ressourcen im Stadtteil zu erschließen und zu nutzen und alte Strukturen zu überwinden. Es gilt zukünftig, durch gemeinsame Problembeschreibungen eine verbesserte und gesteuerte Angebotsstruktur zu erhalten, die mehr an den Bedürfnissen der Kinder und ihrer Familien ansetzt. Dazu bedarf es neuer Handlungsinstrumente und integrierter Verfahren der externen und internen Evaluierung. Eine wesentliche Voraussetzung neuer Ansätze ist allerdings, dass der Steuerungsebene die nötigen Kompetenzen und Ressourcen zur Verfügung stehen. Kontexte und Rahmenvorgaben In Reaktion auf die gewandelten Bedingungen und Herausforderungen des Aufwachsens in einer dynamischen, komplexen Gesellschaft und die gestiegenen Bildungsanforderungen sowie nicht zuletzt den gewachsenen Aufgaben für und Erwartungen an den Bereich der institutionalisierten Kindertagesbetreuung entsprechend hat die Sächsische Staatsregierung den Beschluss zur Entwicklung des Sächsischen Bildungsplans als fachlicher Leitlinie für alle pädagogischen Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen in Sachsen gefasst. Der Auftrag wurde an das Institut Sozialpädagogik, Soziale Arbeit und Wohlfahrtswissenschaften der TU Dresden unter der Gesamtleitung von Prof. Dr. Stephan Sting gegeben. Im Jahr 2006 wurde der Sächsische Bildungsplan im Rahmen einer sachsenweiten Fachtagung eingeführt. Es bestand für die Träger der Kindertageseinrichtungen die zentrale Aufgabe, bedarfsgerechte Unterstützungskonstrukte zu entwickeln, welche die Fachkräfte in den Kindertageseinrichtungen bei der Umsetzung des Sächsischen Bildungsplans unterstützen. In Zusammenarbeit mit dem Landesarbeitskreis „Bildungsauftrag in Kindertageseinrichtungen“ und unter Federführung des Sächsischen Landesjugendamtes wurde im Jahr 2004 das Bildungscurriculum zur Umsetzung des Bildungsauftrages in Kindertageseinrichtungen erarbeitet. Dieses war und ist bis heute wegweisend bei der Professionalisierung der Fachkräfte, insbesondere in Bezug auf die Ausübung ihrer Bildungsarbeit. Dabei liegt die besondere Herausforderung darin, die differenzierten Qualifikationsstände der Fachkräfte und die Qualitätsentwicklungen in den einzelnen Kindertageseinrichtungen zu berücksichtigen. Es geht darum, ein solides Grundlagenwissen in den Bereichen Kindheit und Bildung im gesellschaftlichen Kontext, Bindungen als Basis kindlicher Bildungsprozesse sowie kindliche Entwicklung aus konstruktivistischer Sicht zu vermitteln. Bildung und Weltaneignung, Verhalten und Lebensbewältigung von Kindern sind zu beobachten, zu analysieren, zu gestalten, zu reflektieren und zu dokumentieren. Dieser Prozess wird zur Herausforderung für Einrichtung,
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Teams als Lern-, Entwicklungs- und Kooperationsgemeinschaft, für Erziehungspartnerschaft und Kooperation bei der Gestaltung von Bildungsprozessen. Mit der Verabschiedung des Sächsischen Bildungsplans als verbindlicher Arbeitsgrundlage für alle Fachkräfte und der Einbettung des Bildungsauftrages in das Gesetz zur Förderung von Kindern in Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege war der Entwicklungsweg für den Bereich der frühkindlichen Bildung vorgegeben. Von der künftigen Bildungs- und Erziehungsarbeit wird es abhängen, inwieweit die heranwachsenden Generationen den Ansprüchen, Herausforderungen und Belastungen Rechnung tragen können. Die Bildungsarbeit muss den gesellschaftlichen Wandel bewusst wahrnehmen und Antworten für die vorschulische Erziehung bieten. Von vorrangigem Interesse ist es deshalb, die Förderung von übergreifenden Kompetenzen und Fähigkeiten, welche auf die Bewältigung zukünftiger Entwicklungen ausgerichtet sind, in den Blick zu nehmen. Bereits zu Beginn der neunziger Jahre fand auf internationaler Ebene eine Neubewertung der Bedeutung früher Lernprozesse statt (vgl. bspw. Fthenakis/Oberhuemer 2004; Esch/Mezger/Stöbe-Blossey 2005). Im Zuge diesbezüglicher Debatten wurde auch einem neuen theoretischen Rahmen für ein verändertes Verständnis der Qualität von Bildungsplänen Raum gegeben. Es wurde verstärkt begonnen, die Dimensionen kulturelle Diversität, soziale Komplexität und gesellschaftlicher Wandel mit ihren Auswirkungen auf den individuellen, familialen und kontextuellen Ebenen zu reflektieren. Dies legte auch ein anderes Verständnis von Bildung nahe, das bislang von einer Vorstellung von Bildung als Selbstbildung geprägt war, bei der die kontextuellen Rahmenbedingungen vernachlässigt wurden und Bildung primär als ein im Kind stattfindender Prozess verstanden wurde. Für Kindertageseinrichtungen und deren Träger bedeutet dies, dass Konzepte und Praxen in den Einrichtungen nicht allein in Hinblick auf die Förderung von Bildungsprozessen bei Kindern bis zum Grundschulalter zu reflektieren und fortzuentwickeln sind. Vielmehr kommt es ebenso darauf an, diese und weitere pädagogische Orientierungen und Handlungsweisen enger an die konkrete Lebenswirklichkeit von Kindern, an deren Aufwachsens-, Bildungs- und Sozialisationskontexte zu koppeln bzw. diese in den Blick zu nehmen. Pädagogische Fachlichkeit und Qualität und in der Folge Qualitätsreflexion und -entwicklung müssen folglich den Zusammenhang von institutionalisierter Praxis, gestiegenen Bildungsanforderungen und heterogenen Lebenslagen von Kindern und deren Familien systematisch(er) aufeinander beziehen. Im Rahmen der Novellierung des Sächsischen Gesetzes zur Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen (SächsKitaG) hat der Landesgesetzgeber diese neuen Anforderungen zur Qualitätssicherung und -entwicklung in Kindertages-
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einrichtungen unterstrichen. Es wurde dabei betont, dass insbesondere die Fachberatung der Träger und die vom Land Sachsen ausgebildeten Multiplikatoren eine wesentliche Unterstützung bei der Umsetzung darstellen werden. Die allgemeinen Erwartungen an Qualitätsentwicklung resultieren aus § 22 SGB VIII: „Die Einrichtungen sollen durch geeignete Maßnahmen die Qualität der Arbeit sicherstellen und weiterentwickeln“. Dazu gehört eine pädagogische Konzeption, die als Grundlage für die Erfüllung des Förderauftrages dient, inklusive einer ausführlichen Darstellung über den Einsatz von Instrumenten und Verfahren zur Evaluation der Arbeit in den Einrichtungen und bei den Trägern. Der Einsatz von Instrumenten der Qualitätssicherung und -entwicklung ist mittlerweile auch im Bereich der Kindertagesbetreuung ein unverzichtbarer Bestandteil der systematischen Qualifizierung der Arbeit geworden. Kommunale Strategien und Ansätze In Dresden gab es im Jahre 2006 insgesamt 259 Kindertageseinrichtungen, von denen sich etwa 51 % in Trägerschaft der freien Jugendhilfe befanden. Seitdem hat die Landschaft der institutionalisierten Kindertagesbetreuung auch hier eine sehr dynamische strukturelle Entwicklung genommen. Neben den Aufgaben, die sich aus der Nachfrage nach Plätzen in Krippen, Kindergärten und Horten – Dresden kann seit einigen Jahren auf einen Geburtenüberschuss verweisen – ergeben, stellen der beschriebene Wandel in den Lebenslagen, die gestiegenen Erwartungen und Anforderungen an Kindertageseinrichtungen und die damit verbundenen fachlichen Herausforderungen einen wesentlichen Bezugspunkt der Planungs- und Förderungstätigkeit des öffentlichen Trägers dar. Dabei verfolgt die Landeshauptstadt eine Strategie, die die Förderung von (Modell-)Projekten, auf einer grundsätzlichen Ebene angesiedelte Steuerungsaktivitäten sowie die systematische Nutzung und Weiterentwicklung von bei Trägern und Forschungseinrichtungen in der Stadt gegebenen fachlichen Ressourcen und Erfahrungen miteinander verbindet. In den nachfolgenden Abschnitten werden einige Elemente dieser strategischen Ausrichtung vorgestellt. Trägerübergreifende Qualitätsentwicklung in Kindertageseinrichtungen Das Thema Qualitätsentwicklung in der Kindertagesbetreuung ist in Dresden nicht erst durch die Empfehlung des Landes Sachsen auf die Agenda gerückt. Bereits seit mehreren Jahren haben die Träger von Kindertageseinrichtungen Qualitätssicherungs- und Qualitätsentwicklungssysteme – zum Teil selbst erar-
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beitete, zum Teil bereits wissenschaftlich evaluierte – zur Anwendung gebracht. Durch das Land Sachsen sind alle Träger von Kindertageseinrichtungen aufgefordert, nach den nachfolgend genannten Bestandteilen ihr träger- und damit einrichtungsbezogenes Qualitätsmanagement auszuwählen und anzuwenden. Die Bestandteile sind: Qualitätsfeststellung, d.h. Ist-Analyse und Bewertung der Arbeit in der Kindertageseinrichtung mit Hilfe eines Kriterienkataloges, Festlegung von Maßnahmen zur Zielerreichung, deren Realisierung sowie die Installierung von Evaluationsverfahren. Darüber hinaus wurde in Dresden 2005 das Konzept zur trägerübergreifenden Qualitätsentwicklung in Kindertageseinrichtungen initiiert. Kernstück dieses Konzeptes sind Qualitätsentwicklungsgespräche zwischen einer unabhängigen Qualitätsentwicklungsgruppe und Trägern von Kindertageseinrichtungen in Dresden. In mittlerweile fünf Jahren beteiligten sich ca. 40 Träger an diesem Prozess. Der Qualitätsdialog hat den konstruktiven Austausch über den jeweils aktuellen Stand und die Perspektiven der Qualitätsentwicklung beim Träger von Kindertageseinrichtungen zum Gegenstand. Ausgangspunkt ist eine mit den Trägern gemeinsam erarbeitete Bestandsaufnahme und Reflexion der gegenwärtigen Situation. Im Zentrum stehen dabei von Trägern und Einrichtungen entwickelte und realisierte Bestrebungen und Aktivitäten der Qualitätssicherung und entwicklung in Kindertageseinrichtungen. In diesen Kontext ist die Arbeit der Qualitätsentwicklungsgruppe eingebettet. Der Qualitätsdialog hat die Qualitätsentwicklung im Bereich Kindertagesbetreuung, die Reflexion und Bewertung sowie die Formulierung von Perspektiven und Handlungsschritten der Qualitätsentwicklung gemeinsam mit den jeweiligen Trägern zum Ziel. Die Dresdner Bildungsoffensive Die Landeshauptstadt Dresden hat mit dem verabschiedeten Fachplan 2006/07 eine Bildungsoffensive im Bereich der Dresdner Kindertageseinrichtungen und der Kindertagespflege gestartet. Damit wurde eine Schwerpunktsetzung im fachlich-inhaltlichen und strukturell-organisatorischen Aufgabenbereich vorgenommen. Die erste Stufe der Offensive war die Teilnahme aller pädagogischen Fachkräfte am Bildungscurriculum zur Umsetzung des Bildungsauftrages in Kindertageseinrichtungen und in der Kindertagespflege. Darauf aufbauend wurde eine Gesamtkonzeption für ein trägerübergreifendes Unterstützungssystem in Form einer Fortbildungskonzeption entwickelt. Darin sind vielfältige Angebote enthalten, beginnend beim fachlichen Austausch bis hin zur Ebene der Praxisreflexion. Die einzelnen Module sollen Impulse geben sowie Vergleiche und praxisorientierte Überlegungen ermöglichen, um Kindern eine exzellente frühkindliche
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Bildung in Kindertageseinrichtungen und in der Kindertagespflege zu ermöglichen. Die Strukturen sind vielfältig und auf eine kontinuierliche Weiterentwicklung ausgerichtet. Die Dresdner Bildungsoffensive wird von vielen Partner/innen aus Wissenschaft und Praxis getragen. Den Verantwortungsträgern ist es wichtig, dass sich das Feld der Kindertageseinrichtungen und der Kindertagespflege einschließlich der Verwaltung als lernende Organisation versteht. Damit sind Prozesse stetig zu reflektieren und durch die dafür eigens gegründete Steuerungsgruppe weiterzuentwickeln. Der Fachdiskurs soll auch in angrenzende Lernwelten hineinstrahlen. Im Rahmen einer ersten Bedarfserhebung bei Trägern von Dresdner Kindertageseinrichtungen und Tagespflegepersonen wurde explizit die Bündelung der Fortbildungsbedarfe durch den öffentlichen Jugendhilfeträger bis hin zur Angebotsstrukturierung gewünscht. Diese Erwartungen aufgreifend wurde im Rahmen einer Ausschreibung ein Bildungsträger als Kooperationspartner gebunden, welcher trägerübergreifende Fortbildungsmaßnahmen im Rahmen der Bildungsoffensive bedarfsgerecht anbietet. Ziel ist es, Erzieherinnen und Erzieher in Kindertageseinrichtungen zu befähigen, sich kontinuierlich mit den sich verändernden Anforderungen an ihre Arbeit auseinanderzusetzen, neue wissenschaftliche Erkenntnisse in ihrem Handeln umzusetzen und dabei Erfahrungen aus der Praxis zu integrieren. Das Curriculum zur Umsetzung des Bildungsauftrages in Kindertageseinrichtungen und in der Kindertagespflege stellt die leitende Orientierung dar. Dabei wird das Curriculum als ein Element betrachtet, welches der Qualifizierung der Fachkräfte zur Umsetzung des Bildungsauftrages dienen soll. Es soll den pädagogischen Fachkräften in den Einrichtungen und in der Tagespflege eine Hilfe für die professionelle Bildungsarbeit mit Kindern sein. Sie sollen angeregt werden, auf der Grundlage der eigenen Erfahrungen ihr berufliches Handeln zu reflektieren, sich handlungsorientiert Wissen anzuzeigen und dabei eigene Selbstbildungsprozesse zu erfahren und zu reflektieren. Die Arbeit mit den verschiedenen Instrumenten und Methoden bei der Umsetzung des Bildungsauftrages – und dies vor dem Hintergrund der Vielfalt der Träger- und Einrichtungskonzepte – stellt die Akteure vor anspruchsvolle Aufgaben, deren Bewältigung ebenfalls Bestandteil der Fortbildungsangebote sein soll. Im Jahr 2008 wurde die erste Evaluation des Fortbildungsangebotes durch den Kooperationspartner Evangelische Hochschule für Soziale Arbeit in Dresden durchgeführt. Die wissenschaftliche Begleituntersuchung wird die Wirksamkeit der Fortbildung bezüglich der Erwartungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die veränderte Sichtweise auf die Gestaltung der pädagogischen Arbeit mit Kindern sowie die Gestaltung des strukturellen, materiellen und organisatorischen Kontextes in den Blick nehmen. Dabei werden auch Aspekte wie Kooperationsnotwendigkeiten mit anderen Institutionen der pädagogischen Arbeit, die
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Unterstützung der persönlichen Lernprozesse der Erzieherinnen und Erzieher u. ä. m. während des Kurses untersucht. Die Ergebnisse fließen direkt in die Weiterentwicklung der Fortbildungsmaßnahmen ein. Die Dresdner Fortbildungskonzeption Die Fortbildungskonzeption des örtlichen Trägers schafft eine trägerübergreifende Plattform für die Professionalisierung und Weiterbildung von Fachkräften in Kindertageseinrichtungen. In der Konzeption werden verschiedene Bausteine formuliert und zusammengeführt. Im Kern geht es dabei darum, die Kompetenzen und Erfahrungen von Trägern und Einrichtungen, die bspw. durch die Teilnahme an Modellprojekten erworben wurden, für die gesamte Landschaft der Kindertagesbetreuung nutzbar zu machen. Daneben werden neue fachliche Ressourcen und Strukturen geschaffen, welche Einrichtungen und Träger bei der Umsetzung der anstehenden Aufgabenstellungen unterstützen und begleiten. Schließlich werden regelmäßig praxisnahe Foren zu Reflexion, Austausch und Information über aktuelle Entwicklungen geschaffen. Die Kooperation mit den Trägern sowie wissenschaftlichen Einrichtungen und Forschungseinrichtungen aus Dresden, aber auch aus anderen Städten spielt dabei eine herausragende Rolle. Den Fachkräften in Kindertageseinrichtungen stehen neben trägerspezifischen Angeboten der Fachberatung und Fortbildung Strukturen und Ressourcen auf einer trägerübergreifenden Ebene zur Verfügung. Aktuelle Entwicklungen, Diskurse und wissenschaftliche Erkenntnisse können somit zeitnah aufgenommen und praxisnah vermittelt und diskutiert werden. Die Dresdner Fortbildungskonzeption verfolgt folgende Anliegen: die pädagogischen Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen und in der Kindertagespflege bei der Umsetzung des Sächsischen Bildungsplans unterstützen die Vielfalt der Dresdner Angebotsstruktur als Ressource für die Vernetzung und den fachlichen Austausch nutzen die Lernerfahrungen aus der Praxis und den Modellprojekten sichern und in die Breite multiplizieren ein kooperatives, selbstgesteuertes und lebenslanges Lernen unterstützen und Entwicklungsprozesse in Kindertageseinrichtungen und in der Kindertagespflege befördern Die Zielgruppen sind die Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen und in der Kindertagespflege in der Landeshauptstadt Dresden, die Fachberaterinnen und
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Fachberater in Dresdner Kindertageseinrichtungen, die Beratungs- und Vermittlungsstellen für Kindertagespflege sowie die Trägervertreterinnen und Trägervertreter und Eltern. Die nachfolgend genannten Entwicklungsbausteine stehen aktuell besonders im Fokus: Teilnahme aller pädagogischen Fachkräfte am Bildungscurriculum zur Umsetzung des Bildungsauftrages in Kindertageseinrichtungen und der Kindertagespflege bis 2010 Etablieren der neuen Fortbildungsstruktur in der Angebotslandschaft und der Dresdner Fachpolitik Schaffen einer verlässlichen an den aktuellen Themen orientierten Angebotsstruktur für die „Dresdner Fachtage“ Einführen und Etablieren des Bildungsbausteins „Best Practice“ als Angebotsgröße Etablieren von festen Arbeitsstrukturen für Fachberaterinnen und Fachberater in der Landeshauptstadt Dresden thematisch angelegte, zum Teil zeitlich befristete Arbeitsgruppentätigkeit zu aktuellen Fragestellungen Aufbau von drei Kompetenz- und Beratungszentren mit unterschiedlicher inhaltlicher Schwerpunksetzung Das nachfolgende Strukturbild soll die Integration der Fortbildungskonzeption in die vorhandenen trägereigenen Angebotsstrukturen verdeutlichen:
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Die Dresdner Fortbildungskonzeption wurde im Juni 2008 mit allen veränderten Strukturen und Bildungsbausteinen im Rahmen einer trägerübergreifenden Veranstaltung pädagogischen Fachkräften, Leitungsteams, Trägervertreterinnen und Trägervertretern und weiteren Interessierten vorgestellt und mit ihnen diskutiert. Dabei stand insbesondere die Bildung von Kompetenz- und Beratungszentren im Vordergrund. Aufbauend auf den Bedarfsmeldungen der Fachkräfte nach einem kontinuierlichen Fachaustausch werden sich die Kompetenz- und Beratungszentren dieses Bedarfs annehmen und neben den pädagogischen Fachkräften auch Praxisinstitutionen und Träger bei spezifischen Fragestellungen beraten und bedarfsgerechte Unterstützungsleistungen entwickeln. Unter Rückgriff auf bereits erprobte Konzepte und vorhandenes Fachwissen stellen die neuen Zentren multiplikatorisch ihre Kompetenzen zur Verfügung. Dabei werden jeweils unterschiedliche Schwerpunktthemen durch die Kompetenz- und Beratungszentren abgedeckt. Kompetenz- und Beratungszentrum für Familienbildung in Kindertageseinrichtungen Die Aufgaben des Kompetenzzentrums für Familienbildung bestehen primär in der Beratung und in der Entwicklung von Angeboten und Projekten der Familienbildung in den Kindertageseinrichtungen und Horten. Als Zielgruppen werden die pädagogischen Fachkräfte in den Kindertageseinrichtungen und der Kindertagespflege, die Eltern und die Träger von Kindertageseinrichtungen sowie die FachberaterInnen der Stadt Dresden verstanden. Aufbauend auf den Erfahrungen des Trägers durch seine Mitwirkung im Projekt „Familienbildung im Netzwerk“, in der Implementierungsphase zum Landesmodellprojekt „Familienbildung in Kooperation mit Kindertageseinrichtungen“ und in dem Modellprojekt des Eigenbetriebes Kindertageseinrichtungen Dresden, „Familienbildung und Beratung in der Kindertagesstätte“, können Erfahrungen multipliziert und Unterstützungsleistungen wie z. B. die Begleitung, Beratung und Qualifizierung der Erzieherinnen bei der Weiterentwicklung der Erziehungs- und Bildungspartnerschaft sowie der Weiterentwicklung und Umgestaltung ihrer Einrichtung zu einem (Lern-)Ort für Familien angeboten werden.
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Kompetenz- und Beratungszentrum „Aufwachsen in sozialer Verantwortung“ In der Landeshauptstadt Dresden wurde ein Handlungsprogramm zur Förderung von Bildungschancen für alle Kinder verabschiedet. Neben der Auswertung von statistischen Daten (materielle Lage der Familienhaushalte, Familienbeziehungen und Familienqualität, Nutzung familienunterstützender Leistungen, Wohnsituation der Familienhaushalte, gesundheitliche Lage der Familienmitglieder und gesellschaftliche Teilhabe der Familienmitglieder) wurden qualitative Daten erhoben, um Wissen, Erfahrungen und Sichtweisen verschiedener Expert/innen in Bezug auf Probleme und Lösungsmöglichkeiten im Zusammenhang mit Frühprävention zu erhalten. Eine besondere Bedeutung hatte dabei die Problembeschreibung des Kinder- und Jugendärztlichen Dienstes, welche auf der Grundlage einer Untersuchung der Vierjährigen in allen Dresdner Kindertageseinrichtungen Bedarfe ermittelte und formulierte. Kindertageseinrichtungen als die erste kontinuierliche und öffentlich institutionalisierte Sozialisationsinstanz außerhalb des Familiensystems sind zu einem zentralen Ort des Aufwachsens, der Entwicklung und des Lernens der Kinder mit zahlreichen Chancen, aber auch Risiken geworden. In Kindertageseinrichtungen können z. B. Förderbedarfe und besondere belastende Lebenssituationen frühzeitig erkannt werden. Bei entsprechender Kompetenz und angemessenen Ressourcen besteht dann gerade hier eine große Chance, bedarfsgerechte Unterstützungsmaßnahmen frühzeitig und niedrigschwellig einzuleiten, um im besten Falle bereits hier präventiv zu wirken. Dabei kann jedoch nicht auf weithin erprobte und tradierte Konzepte zurückgegriffen werden – erforderlich sind daher neue Strategien und Handlungskonzepte. Als Unterstützungsinstrument für die fachliche Diskussion und die Implementierung von nachhaltigen Konzepten in die pädagogische Praxis von Kindertageseinrichtungen wurde im Sommer 2008 für die Kindertageseinrichtungen ein Kompetenzzentrum gegründet. Die Landeshauptstadt Dresden kooperiert mit der Arbeitsstelle für Praxisberatung, Forschung und Entwicklung e. V. (apfe) der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit Dresden (FH), welche die Leitung des Kompetenz- und Beratungszentrums und damit auch die fachliche Verantwortung für den Gesamtprozess übernimmt. Das Kompetenzzentrum ist Bestandteil des Handlungsprogramms „Aufwachsen in sozialer Verantwortung“. Im Rahmen dieses Projektes arbeiten 32 Kindertageseinrichtungen von insgesamt zehn Trägern in Dresden an der Entwicklung von Konzepten und Angeboten für die Förderung und Unterstützung von Aufwachsens-, Entwicklungs- und Bildungsprozessen bei Kindern aus sozial belasteten Lebenslagen. Das Projekt verfolgt das Ziel, ein Passungsverhältnis zwischen individuellen Bedarfslagen und
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konzeptionellen Grundlagen und Orientierungen in den Einrichtungen herzustellen. Ausgangspunkte sind mithin die Bedarfe von Kindern und Familien auf der einen, die pädagogische Praxis und deren fachliche Grundlagen auf der anderen Seite. Um die erforderlichen strukturellen und fachlichen Rahmenbedingungen für die Realisierung der Zielstellungen des Projektes zu gewährleisten, wurde in jeder der beteiligten Einrichtungen eine zusätzliche Stelle für eine/n sozialpädagogische/n Mitarbeiter/in geschaffen. Aufgabe des Kompetenzzentrums „Aufwachsen in sozialer Verantwortung“ ist die Begleitung und Unterstützung der am Programm beteiligten Einrichtungen sowie die Evaluation des Prozesses. Neben der Erbringung thematisch ausgerichteter fachberaterischer Leistungen informiert das Kompetenzzentrum über den aktuellen Diskurs, Ergebnisse und Erkenntnisse der wissenschaftlichen Forschung, „Best-Practice-Modelle“, Handlungsansätze und Angebotsformen. Es unterstützt die Einrichtungen bei der methodisch fundierten Analyse der Praxis und deren fachlicher Voraussetzungen, der Ermittlung von besonderen Bedarfslagen in den je konkreten Kindertageseinrichtungen, der Entwicklung von darauf bezogenen Handlungsstrategien und Angeboten und ggf. der Vernetzung mit anderen Einrichtungen und Diensten im Sozialraum. Konzentriert sich der Auftrag des Kompetenzzentrums gegenwärtig auf die am Handlungsprogramm beteiligten Einrichtungen, so ist für die nähere Zukunft eine schrittweise Öffnung seines Leistungsangebotes für alle Kindertageseinrichtungen in Dresden vorgesehen. Dresdner Fachtage Im Rahmen der Kooperationsvereinbarung des Eigenbetriebes Kindertageseinrichtungen Dresden mit der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit Dresden und mit einem weiteren Bildungsinstitut werden jährlich auf der Grundlage einer trägerübergreifenden Bedarfserhebung sowie aktueller bildungs- bzw. sozialpolitischer Schwerpunktsetzungen die Themen der Fachtage fixiert und mit den Kooperationspartnern durchgeführt. Bedarfslagen entstehen im alltäglichen Handeln der Fachkräfte. Sie zeigen den Unterstützungs- und Weiterentwicklungsbedarf an. Ein Fortbildungs- und Qualifizierungsbedarf entsteht aber auch durch von außen angestoßene Prozesse wie gesetzliche Neuregelungen, neue wissenschaftliche Erkenntnisse oder bundes- und landespolitische Entwicklungen mit Auswirkungen auf die Kindertagesbetreuung und Kindertagespflege. Der sich aus der Wahrnehmung und Bewertung dieser Neuerungen heraus entwickelnde Diskurs der Fachpraxis ist eine zentrale Quelle für die Bestimmung von Fachtagungsinhalten.
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Bildungsbaustein Best Practice Die Umsetzung des Sächsischen Bildungsplanes erfordert Innovationsprozesse in den Dresdner Kindertageseinrichtungen. Neben den breit angelegten Qualifizierungsmaßnahmen für die pädagogischen Fachkräfte bildet das Lernen von der Praxis für die Praxis eine wichtige Säule fachlicher Qualifizierung neben der Fachberatung und Fortbildung. Sachsenweite Erfahrungen mit der Umsetzung des Curriculums machen deutlich, dass diese eine unverzichtbare Voraussetzung für die Implementierung des Sächsischen Bildungsplanes in den Kindertageinrichtungen darstellt. Darauf aufbauend wurde der Bildungsbaustein „Best Practice“ konzipiert. Er versteht sich als ein Bestandteil des Fortbildungskonzeptes des Eigenbetriebes Kindertageseinrichtungen der Landeshauptstadt Dresden zur Unterstützung der pädagogischen MitarbeiterInnen in den Dresdner Kindertageseinrichtungen. Dazu wurden 8 Konsultationseinrichtungen in unterschiedlicher Trägerschaft ausgewählt. Diese bieten Konsultationen an. Auf der Grundlage eines pädagogischen Schwerpunktthemas haben sich diese Kindertageseinrichtungen mit der Umsetzung des Sächsischen Bildungsplans auseinandergesetzt und stellen ihr erworbenes Fachwissen vor dem Hintergrund der eigenen pädagogischen Praxis in Begleitung eines Referenten anderen Kindertageseinrichtungen multiplikatorisch zur Verfügung. Dabei orientieren sich die Themen der Konsultation auch am regionalen Bedarf und den trägerspezifischen pädagogischen Konzepten der Konsultationseinrichtungen. Folgende Konsultationsthemen werden angeboten: Lernen in Gruppen, Altersmischung, Spiel, Beobachtung und Dokumentation von Lernprozessen, Lernorte für Kinder als pädagogisches Angebot, Bindungsaufbau zu Kindern im Kontext der Kindertageseinrichtung, Familienbildung/Elternarbeit, offene Arbeit mit Kindergruppen. Den Fachkräften in den Kindertageseinrichtungen wird somit die Möglichkeit eingeräumt, ihre eigene Praxis unter einem selbst gewählten Schwerpunktthema zu reflektieren, um darüber hinaus weitere Inputs für ihr eigenes Arbeitsfeld zu erhalten. Fortbildungsangebote zu aktuellen Bedarfen Auf der Grundlage aktueller fachlicher Diskurse und fachpolitischer Schwerpunktsetzungen ergeben sich Positionierungsbedarfe von Seiten des öffentlichen Jugendhilfeträgers und der Praxisakteure. Dazu werden jährlich im Rahmen des Jahresprogramms Fortbildungsangebote für Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen, Fachberater/innen und Trägervertreter/innen entwickelt und vorgehalten.
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Arbeitskreise Am Beispiel Qualitätsentwicklung in Kindertageseinrichtungen mit Blick auf Integrationsarbeit soll im Folgenden diese Arbeitsform vorgestellt werden. Die Mitarbeit im Arbeitskreis wurde trägerübergreifend ausgeschrieben. Zielgruppen waren pädagogische Fachkräfte, Träger von Kindertageseinrichtungen sowie VertreterInnen des Kinder- und Jugendärztlichen Dienstes und des Sozialamtes. Auf der Grundlage einer Ist-Stands-Analyse der Arbeit in Integrationseinrichtungen und heilpädagogischen Kindertageseinrichtungen ist es den pädagogischen Fachkräften, den LeiterInnen der Kindertageseinrichtungen, den FachberaterInnen sowie VertreterInnen anderer Institutionen ein Anliegen, die fachliche Auseinandersetzung auch für die Dresdner Kindertageseinrichtungen intensiv weiterzuführen. So verfolgt der 2008 gegründete „Arbeitskreis zur Integrationsarbeit in Dresden“ das Anliegen, Qualitätsstandards zu definieren, um daraus ableitend konkrete Umsetzungsstrategien zu diskutieren und zu fixieren. Im Ergebnis dieser Auseinandersetzung sollen fachliche Positionierungen entwickelt werden, welche als ein gemeinsam formuliertes Anliegen und durch eine breite Fachöffentlichkeit gestützt in die pädagogische Praxis der Dresdner Kindertageseinrichtungen Eingang finden. Die neue Dresdner Fortbildungskonzeption wird ab dem Jahr 2009 bei der Umsetzung des Bildungsauftrages in Kindertageseinrichtungen auf Passgenauigkeit der Unterstützungsstrukturen erprobt. Parallel soll eine Neubestimmung der quantitativen und qualitativen Ausgestaltung von Fachberatungsstrukturen beim öffentlichen Träger erfolgen. Für die Weiterentwicklung stehen im Fokus die systematische Verknüpfung von Theorie und Praxis sowie die noch intensivere Verknüpfung von Fachberatung und Fortbildung. Projekte Die Kindertageseinrichtungen der Landeshauptstadt waren frühzeitig in die Fachdiskussion zur Bestimmung des Bildungsauftrages in Kindertageseinrichtungen involviert. Eine Dresdner Kindertageseinrichtung war Modellstandort im Bundesmodellprojekt zur Bestimmung des Bildungsauftrages in Kindertageseinrichtungen. Die Projektergebnisse wurden in der breiten Fachöffentlichkeit diskutiert und durch Multiplikatorensysteme transparent gemacht. Parallel wurden in den Jahren 2004 und 2005 zwei Modellprojekte in der Landeshauptstadt Dresden mit dem Ziel initiiert, die besonderen Lebenslagen von Kindern und deren Familien in den Blick zu nehmen, dabei die besonderen erzieherischen Bedarfe sozialpädagogisch zu bewerten und erste Handlungskon-
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zepte zu erarbeiten. Die Projekte hatten zum Ziel, die Sozialisationsbedingungen von Kindern in einem Stadtteil von Dresden in den Blick zu nehmen und zu verbessern. Es ging um die Entwicklung von bedarfsgerechten Unterstützungssystemen für die Familien im natürlichen Lebensraum der Kinder, der Kindertageseinrichtung und um die Umsetzung individueller Fördermaßnahmen für die Kinder. Aufgrund der Niederschwelligkeit des Betreuungsangebotes in einer Kindertageseinrichtung sollten die Chancen einer kombinierten Leistung unter Beachtung einer ausreichenden Einzelförderung und einer alltagsorientierten Beratung der Eltern entwickelt werden. Die beiden Projekte wurden evaluiert; die Ergebnisse wurden bereits in der Fachpolitik vorgestellt. Das beauftragte Institut apfe e. V. an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit in Dresden konnte den Nachweis erbringen, dass eine Entwicklung von bedarfsgerechten Unterstützungssystemen für Familien im natürlichen Lebensraum der Kinder sowie eine gezielte individuelle Förderung von Kindern einen tatsächlichen Beitrag zur Teilhabe und Verbesserung der Bedingungen zum Aufwachsen von Kindern leisten. Die Chancen, die Kindertageseinrichtungen durch ihren natürlichen Zugang für Kinder und Eltern bieten, konnten für die Kombination der folgenden Leistungen nachgewiesen werden: ausreichende individuelle Einzelförderung alltagsorientierte, unkomplizierte Unterstützung für Eltern und Stärkung der Ressourcen und Entwicklungspotenziale der Kinder Diese und andere in Dresden durchgeführte Modellprojekte in diesem Feld zeigen die Chance, durch den Lern- und Lebensort Kindertageseinrichtung herkunftsbedingten Benachteiligungen bereits in den frühen Lebensjahren entgegenzuwirken. Die Institution Kindertageseinrichtung wird von nahezu allen Gesellschaftsgruppen genutzt und stellt damit einen natürlichen Lebensraum für Kinder dar. Investitionen in die frühkindliche Bildung sind daher sinnvoll und unabdingbar. Gerade wenn es um Ziele wie Chancengleichheit geht, ist Bildungspolitik auch Sozialpolitik. Die Akteure in den Kindertageseinrichtungen brauchen Partner und kein Kompetenzgerangel innerhalb der Bildungsadministration. Kindertageseinrichtungen müssen ganz unproblematisch auf die Unterstützung weiterer Institutionen – u. a. der Kinder- und Jugendhilfe, des Gesundheitsdienstes und der Familienbildung – zurückgreifen können. Damit sind ehrgeizige Ziele und hohe Ansprüche formuliert. Die vorstehend skizzierten Ansätze und Maßnahmen stellen Schritte auf einem Weg dar, der in vielerlei Hinsicht Neuland betritt. Nicht zuletzt werden kontinuierliche Unterstützungsangebote und die Bereitschaft und Fähigkeit aller Beteiligten und Verantwortlichen zu kontinuierlicher Reflexion und vorbehaltsfreiem Lernen über den Erfolg dieses Weges entscheiden.
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Literatur Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2002): Zwölfter Kinderund Jugendbericht. Berlin Cook, Kieron/Förster, Antje (2008): Das KiNET Dresden. Ergebnisse, Berichte, Perspektiven. Bericht aus Praxis, Forschung und Entwicklung in der Sozialen Arbeit der Arbeitsstelle für Praxisberatung, Forschung und Entwicklung e.V. (apfe). Dresden Esch, Karin/Mezger, Erika/Stöbe-Blossey, Sybille (2005): Kinderbetreuung – Dienstleistung für Kinder. Handlungsfelder und Perspektiven. Wiesbaden Fthenakis, Wassilios E./Oberhuemer, Pamela (2004): Frühpädagogik international. Bildungsqualität im Blickpunkt. Wiesbaden Hurrelmann, Klaus/Andresen, Sabine (2007): Kinder in Deutschland 2007. 1. World Vision Kinderstudie, 2. Auflage. Frankfurt a. M. Sächsisches Staatsministerium für Soziales (Hrsg.) (2007): Der Sächsische Bildungsplan – Ein Leitfaden für pädagogische Fachkräfte in Krippen, Kindergärten und Horten sowie Kindertagespflege. Dresden
Familienbildung und Resilienzförderung durch Vernetzung in Kindertageseinrichtungen – Projekterfahrungen und -ergebnisse Klaus Fröhlich-Gildhoff, Gabriele Kraus-Gruner
Einführung Die Vernetzung von Kindertageseinrichtungen mit anderen Institutionen stellt, neben der Arbeit mit den Kindern und der Gestaltung von Erziehungspartnerschaft mit den Eltern, eine wichtige dritte Säule professioneller Frühpädagogik dar (vgl. z. B. Kasüschke/Fröhlich-Gildhoff 2008; Fried/Roux 2006). Diese Säule gilt als eine der aktuellen Herausforderungen, die im frühpädagogischen Arbeitsfeld in Deutschland auf der Tagesordnung stehen; sie hat zugleich jedoch die kürzeste Tradition und wird in der Fachliteratur entsprechend dürftig rezipiert. Zudem liegen kaum empirische Untersuchungen zu diesem Thema vor. Gleichwohl wird eine gute Zusammenarbeit zwischen Kindertageseinrichtungen und Schulen in vielen offiziellen Verlautbarungen besonders hervorgehoben; auch der Kooperation und Vernetzung von Kindertageseinrichtungen im Sozialraum ist eine gesonderte Stellungnahme beispielsweise der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter (Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter 2006) gewidmet. Diese betont, „den Kindertageseinrichtungen kommt im Sozialraum eine Schlüsselfunktion zu […]. Sie sind […] nicht nur geeignet, integrative Aufgaben im sozialen Umfeld des Kindes und seiner Familie zu übernehmen, sie bieten sich auch im Zuge der gemeinsamen Betreuung und Bildung von Kindern eines Sozialraums für die Nutzung der Vorteile einer frühen Integration von Kindern mit besonderem Förderbedarf an“ (ebd., S. 1). Auch in der Neufassung des § 22a des SGB VIII wird die Zusammenarbeit der Kindertageseinrichtung mit Institutionen und Initiativen im Gemeinwesen betont. Hier ist sogar ein gesetzlicher Auftrag formuliert. In der schon erwähnten Stellungnahme der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter lautet folgerichtig der Auftrag, dass die „kinder- und familienbezogene[n] Institutionen im Gemeinwesen neue Wege der Kooperation beschreiten, um Familien darin zu un-
G. Robert et al., (Hrsg.), Aufwachsen in Dialog und sozialer Verantwortung, DOI 10.1007/978-3-531-92693-3_10, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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terstützen, den vielfältigen Anforderungen des Zusammenlebens in der Familie und der Funktion der Familie gerecht zu werden“ (ebd., S. 4). Einen wichtigen Hintergrund für diesen Vernetzungs-„Auftrag“ stellen die im Lauf der letzten Jahrzehnte veränderten Ausgangslagen und damit Bedürfnisse von Familien dar (vgl. die zusammenfassende Erläuterung verschiedener Studienergebnisse z. B. bei Fröhlich-Gildhoff/Rönnau/Dörner 2008b, S. 9 ff.; zu den Auswirkungen der „pluralisierten“ Welt s. v.a. Keupp/Höfer 2006). Veränderte Familienstrukturen, Pluralisierung von Werten und Normen und damit vielfältige Ansichten über die „Richtigkeit“ von Erziehungsstilen, Veränderungen von Arbeitsverhältnissen (Flexibilität, Mobilität) und gestiegene „Eigenverantwortung“ führen zur Verunsicherung und nicht selten auch zur Überforderung von Familien. Folgen hiervon sind bspw. ein wachsender Beratungsbedarf bei Eltern und eine steigende Zahl von Verhaltensauffälligkeiten schon im Vorschulalter (vgl. Erhart et al. 2006; Ihle/Esser 2002; eine ausführliche Darstellung von Verhaltensauffälligkeiten findet sich z. B. bei Fröhlich-Gildhoff 2007a). Die gesellschaftlichen Strukturen sind diesen Veränderungen (noch) nicht wirklich gefolgt: Eltern und Sorgeberechtigte fühlen sich häufig allein gelassen und die Besorgnis um eine gute Entwicklung und um die Chancengleichheit ihrer Kinder nimmt zu. Kindertageseinrichtungen sind die ersten Einrichtungen, die (fast) alle Kinder und ihre Eltern erreichen. Hierin liegt eine große Chance, aber auch die Pflicht der Gesellschaft, frühzeitig ein Feld für Familien zu bieten, in welchem die Entwicklung der Kinder bestmöglich gefördert werden kann und in Einzelfällen die Familie und ihre Mitglieder unterstützt werden können. Kindertageseinrichtungen stehen somit vor der Herausforderung, ihre Arbeit stärker auf die gesellschaftliche Integration von Familien und Kindern zum einen und zum anderen auf die Prävention von Verhaltens- und Entwicklungsauffälligkeiten zu konzentrieren (vgl. Robert Bosch Stiftung 2006, S. 15; Kasüschke/FröhlichGildhoff 2008; Fried/Roux 2006). Dies ist nur zu erreichen durch stabile Netzwerke. Die systematische Kooperation und Vernetzung von Kindertageseinrichtungen mit anderen gesellschaftlichen Institutionen wie Beratungsstellen, Schulen, Sozialen Diensten, TherapeutInnen, ÄrztenInnen, Vereinen usw. steht fortan als Thema (wieder) im Rampenlicht. Wie eingangs dargelegt, wird eine engere lebensweltliche und sozialräumliche Verzahnung der Institution Kindertageseinrichtung zur zentralen Aufgabe. Ebenso bedeutsam sind systematisch gestaltete Übergänge zwischen den verschiedenen Umfeldern und Lernorten, in denen Kinder aufwachsen (Familie, Krippe, Kindergarten, Schule und Hort). Weiterhin ist es notwendig, die Zusammenarbeit zwischen Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe und der Schule zu institutionalisieren: Es müssen kooperative Strukturen auf lokaler und regionaler Ebene aufgebaut und gemeinsame Arbeitsfor-
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men und Kommunikationsprozesse zwischen Schulbehörden, der örtlichen Jugendhilfe sowie den örtlichen und regionalen Akteure entwickelt werden. Letztendlich sollten Eltern und Familien durch die Entstehung „multifunktionaler Eltern-Kind-Zentren“ oder „Familienzentren“ (bspw.: www.familienzentren.nrw.de) entlastet werden. Aus diesem Blickwinkel heraus werden auch die Fachkräfte in den Kindertageseinrichtungen mit steigenden Anforderungen konfrontiert; sie müssen entsprechende Vernetzungskompetenzen erwerben. Es bedarf einer qualifizierten Unterstützung der Fachkräfte in der Praxis sowie – in der akademischen Ausbildung – einer Weiterentwicklung der Ausbildungscurricula von ErzieherInnen und FrühpädagogInnen. Formen der Vernetzung Das Zentrum für Kinder- und Jugendforschung an der Evangelischen Hochschule Freiburg (ZfKJ) beschäftigt sich seit sechs Jahren mit der Weiterentwicklung der Forschung und Praxis der Kinder- und Jugendhilfe. Ein wesentliches Kennzeichen dieser Forschungsaktivitäten ist die enge Verbindung und Rückkoppelung mit Institutionen aus der Praxis wie Kindertageseinrichtungen, Schulen, Erziehungsberatungsstellen, Jugendhilfeeinrichtungen usw., um aktuell diskutierte und zukunftsweisende Themen aufzugreifen, die zur Entwicklung der körperlichen, seelischen und geistigen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen sowie deren Familien beitragen. Im Bereich der Frühpädagogik wurden zwei Projekte durchgeführt, in denen Aspekte der Vernetzung von Kindertageseinrichtungen mit Institutionen im Sozialraum gezielt aufgegriffen und evaluiert wurden (nähere Infos zum ZfKJ sowie die Abschlussberichte der Projekte unter www.zfkj.de, aufgerufen am 28.04.2010): Evaluation des Projektes „Stärkung der Erziehungskraft von Familien durch und über den Kindergarten“ In 137 Kindertagesstätten in Baden-Württemberg wurden von Mai 2004 bis September 2005 unterschiedliche Formen der Stärkung elterlicher Erziehungskompetenz durch Zielgruppen- und Angebotserweiterung sowie durch eine gezielte Vernetzungsarbeit der Einrichtungen erprobt. Die Effekte und Wirkfaktoren dieser Formen wurden im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung durch das ZfKJ analysiert. Das Projekt wurde von der LIGA der freien Wohlfahrtspfle-
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ge in Baden-Württemberg sowie von der Landesstiftung Baden-Württemberg finanziert. „Kinder Stärken!“ – Ein Programm zur Förderung der seelischen und körperlichen Widerstandskraft (Resilienz) von Kindern in Kindertagesstätten Mit gezielten Beratungs-, Unterstützungs- und Trainingsprogrammen wurde ein multimodales sozialraumbezogenes Konzept zur Stärkung der Resilienz von Kindern unter Einbeziehung ihrer Familien realisiert und evaluiert. Das Projekt hatte eine Laufzeit von zwei Jahren (August 2005 bis Juli 2007) und wurde von der Deutschen Behindertenhilfe, Aktion Mensch e. V., finanziert. Im Verlauf dieser Forschungsprojekte sowie auf der Grundlage von Erkenntnissen aus weiteren kleineren Projekten aus dem Bereich der Frühpädagogik konnten (bisher) vier grundlegende Formen der Vernetzung von Kindertageseinrichtungen mit anderen Institutionen und Anbietern identifiziert werden: 1) 2) 3)
Zusammenarbeit mit Institutionen im Sozialraum wie Erziehungsberatungsstellen, Sozialen Diensten, Schulen, Kirchen, Vereinen usw. Vernetzung von Kindertageseinrichtungen untereinander: kollegialer Austausch, interinstitutionelle Zusammenarbeit Zusammenarbeit mit Forschungsinstitutionen im Rahmen von Projekten Vernetzung mit den Ausbildungsstätten von Fachkräften der Frühpädagogik
Die Bedeutung dieser Formen der Vernetzung für die Arbeit der Fachkräfte wird im Folgenden anhand von Beispielen aus der Forschung näher erläutert. Zu 1) Vernetzung von Kitas mit Institutionen im Sozialraum Hier geht es um die Zusammenarbeit mit Schulen, Erziehungsberatungsstellen, Vereinen, Tagesmüttern, Sozialen Diensten usw. Im Projekt „Stärkung der Erziehungskraft von Familien“ konnten im Jahr 2005 bei einer Stichprobe von 137 Kindertageseinrichtungen in Baden-Württemberg häufiges Zusammenarbeiten zwischen den Institutionen identifiziert werden (vgl. Fröhlich-Gildhoff/Kraus/Rönnau 2005, S. 92 f.; Fröhlich-Gildhoff/ Kraus-Gruner/Rönnau 2006a). Dabei standen Schulen mit 79,8 % und Kirchengemeinden mit 65,4 % sowie Beratungsstellen für Frühförderung mit 50,9 % an der Spitze – unter dem Vorbehalt, dass die Form der Zusammenarbeit wie z. B. Häufigkeit von Treffen oder strukturelle Verankerung bei der Erhebung nicht
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berücksichtigt wurde. Es folgten Erziehungsberatungsstellen mit 39,4 %, sonderpädagogische Dienste mit 36 %, Jugendämter mit 29,8 % sowie Vereine mit 25 %. Weitere Akteure wurden weit weniger häufig genannt, z. B. Tagesmütter (3,8 %), Arbeitsamt (1,9 %) oder Selbsthilfegruppen (1 %) (vgl. ebd.). Im Rahmen des Projektes, welches die Hauptfaktoren für eine gute Zusammenarbeit zwischen ErzieherInnen und Eltern untersuchte und Vernetzung als einen Aspekt davon näher beleuchtete, stellte sich heraus, dass Eltern besonders diejenigen Angebote der Kitas annahmen, in welchen sie innerhalb der Einrichtung die Möglichkeit hatten, Kontakt zu anderen Institutionen des Sozialraumes zu knüpfen. Ein Beispiel dafür waren Deutschkurse für Eltern mit Migrationshintergrund oder auch der Zugang zu Beratungsstellen; dieser wurde eher genutzt, wenn der Erstkontakt innerhalb der Kindertageseinrichtung stattfand. In einem weiteren Forschungsprojekt, „Kinder Stärken! Resilienzförderung in der Kindertagesstätte“, spielte die Vernetzung mit den im Sozialraum vorhandenen Erziehungsberatungsstellen und dem jeweils zuständigen Jugendamt als einer von vier „Säulen“ (neben Kinderkursen, Elternkursen bzw. Einzelsprechstunden für Eltern und ErzieherInnenfortbildungen) eine wichtige Rolle. Die Kitas sollten sich zu Knotenpunkten für Einrichtungen im Quartier, die explizit für die Förderung von Kindern zuständig sind, weiterentwickeln. Es gelang, systematische Kooperationen mit Erziehungsberatungsstellen aufzubauen, sodass die Eltern im Rahmen des Projektes beispielsweise regelmäßige Sprechstunden der Erziehungsberatungsstellen in den Kitas in Anspruch nehmen konnten. Das so entwickelte niedrigschwellige Beratungsangebot wurde häufig genutzt und wertgeschätzt. Die Arbeit der Erziehungsberatung wurde somit transparenter und eventuelle Hemmschwellen, sie zu nutzen, wurden niedriger (vgl. Rönnau/Kraus-Gruner & Engel 2008, S. 139 ff.; Fröhlich-Gildhoff et al. 2008a, S. 102 f.). Eine angestrebte engere Vernetzung der Kitas mit dem ASD des Jugendamtes kam nur personenabhängig und nicht systematisch zustande; am schwierigsten erwiesen sich Kooperationen mit Kinderärzten (zu diesen beiden Punkten siehe Abschnitt 3 dieses Beitrags). Zu 2) Vernetzung von Kitas untereinander Die interinstitutionelle Zusammenarbeit im Rahmen der Projekte zeigte, wie sehr der kollegiale Austausch von ErzieherInnen geschätzt wurde. Es ergab sich ein MultiplikatorInneneffekt: Im Projekt „Stärkung der Erziehungskraft der Familie“ fanden z. B. regelmäßige Treffen von so genannten ProjektkoordinatorInnen, die häufig die LeiterInnen selbst waren, statt. Der kollegiale Austausch, die gegenseitige Beratung zu speziellen Fragen und die gemeinsamen Schulungen, die im
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Rahmen des Projektes durchgeführt wurden, führten zu einer Erweiterung des Blickwinkels und ermöglichten Einblicke in die Erfahrungen anderer mit denselben Themen. Diese Erfahrungen wurden in die Teams weitergetragen (vgl. Fröhlich-Gildhoff/Kraus/Rönnau 2005, S. 99 f.), ebenso wie die praxisnahen Inhalte der Fortbildungen (z. B. zu Themen wie „Erziehungspartnerschaft“ oder „Projektmanagement“), welche die ErzieherInnen und Eltern hier in Anspruch nehmen konnten. In dem Projekt „Kinder Stärken! Resilienzförderung in Kindertagesstätten“ ging die Entwicklung noch einen Schritt weiter: Diejenigen Erzieherinnen einer Einrichtung, die die im Projekt durchgeführten und evaluierten Trainings zur Resilienzförderung der Kinder und die Kurse für Eltern absolviert hatten, wurden selbst zu Fortbildnerinnen von KollegInnen aus weiteren Einrichtungen der Gemeinde, denen sie das Training in Form von Inhouse-Seminaren anboten. Auf diese Weise wurde ein empirisch bewährtes Modell zur Resilienzförderung erfolgreich in alle Kitas der Gemeinde weitergetragen (Rönnau-Böse/FröhlichGildhoff i. V.). Beachtlich ist das Engagement der Gemeinde, die zusätzliche Personalressourcen für dieses Transferprojekt finanzierte und sich eindeutig für Investitionen in die Zukunft der Kinder entschied. Ein indirekter Profit zeigte sich bald im verbesserten Image der kommunalen Kitas, in gestiegenen Anmeldezahlen und einer verbesserten Qualität der pädagogischen Arbeit. Diejenigen Erzieherinnen, die eine neue Rolle als Multiplikatorinnen übernommen hatten, gewannen deutlich an Selbstwert und die Arbeitszufriedenheit stieg in erheblichem Maße. Die Arbeit der Erzieherinnen erfuhr wiederum Anerkennung durch die Eltern und das weitere Umfeld, wodurch ein weiterer „positiver Kreislauf“ in Gang gebracht wurde. Zu 3) Vernetzung von Kitas mit Forschungsinstitutionen In immer mehr Forschungsprojekten in Deutschland fungieren Kindertageseinrichtungen als Durchführungs- und Kontrollgruppen. Dies stärkt die Zusammenarbeit von Forschung und Praxis und kann für beide Seiten eine große Bereicherung sein. In den oben genannten Projekten des Zentrums für Kinder- und Jugendforschung beispielsweise erhielten die Fachkräfte kostenlose Fortbildungen und Trainings zu verschiedenen Themen, z. B. zu „Resilienz“, „Zusammenarbeit mit Eltern“ oder „Vernetzung“ (vgl. Rönnau/Kraus-Gruner/Engel 2008, S. 124 f.; Fröhlich-Gildhoff et al. 2008a, S. 102 f.). Weiterhin assistierten sie bei Angeboten des Projekts (z. B. bei Elternkursen, die von externen ReferentInnen durchgeführt wurden).
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Die ErzieherInnen hatten außerdem die Möglichkeit, an projektspezifischen Fachtagen teilzunehmen. Die Tagungen boten eine Plattform der Begegnung und des Kennenlernens zwischen den Fachkräften der Kitas und weiteren Institutionen aus dem Sozialraum, mit denen die Zusammenarbeit bisher noch nicht vorhanden oder nur gering war. Durch die Erhebungsphasen und Rückmeldungen der Ergebnisse bekamen die ErzieherInnen einen konkreten Einblick in die wissenschaftliche Praxis. Sie profitierten nicht selten von den Erhebungsphasen, in welchen sie aufgefordert wurden, bestimmte Aspekte ihrer praktischen Arbeit über Fragebögen und Interviews systematisch zu reflektieren. Durch die Berührung mit konkreten Forschungsprojekten entwickelten die PraktikerInnen selbst Fragestellungen – z. B. hinsichtlich der Zusammenarbeit mit Familien mit Migrationshintergrund – , die dann in Forschungsvorhaben mündeten. Die Forschungseinrichtung wiederum profitierte ebenfalls auf vielfältige Weise von der Zusammenarbeit: Die Praxisnähe erlaubte einen unmittelbaren Blick auf die Chancen und Grenzen der Umsetzung von Modellen und ermöglichte eine zeitnahe Weiterentwicklung derselben. Die Fortbildungen konnten den Bedürfnissen der AdressatInnen entsprechend konzipiert und wissenschaftlich begleitet werden. Die Fachtage boten Foren, in welchen der direkte Austausch zwischen (institutionalisierter) Wissenschaft und Praxis erfolgte und die Ergebnisse der Wissenschaft durch die Praxis kritisch hinterfragt werden konnten. Häufig wurden dabei neue Fragestellungen für weitere Untersuchungen generiert. Für alle Beteiligten entstand so zunehmend der Eindruck, gemeinsam das Feld der Frühpädagogik weiterzuentwickeln. Zu 4) Vernetzung von Kitas mit Ausbildungsstätten Die Zusammenarbeit zwischen Kindertageseinrichtungen und Ausbildungsorten von ErzieherInnen bestand schon immer. Sie wird durch die aktuelle Entwicklung in der frühkindlichen Ausbildungslandschaft intensiviert: Hochschulen sind als weitere Akteure auf den bundesweiten Ausbildungsmarkt getreten und „entsenden“ zum einen ihre PraktikantenInnen in die Einrichtungen, zum anderen werden in den Einrichtungen kleinere Forschungsprojekte im Rahmen des Studiums durch Studierende initiiert. Die Qualifizierung von ErzieherInnen zu geeigneten AnleiternInnen muss in dieser Hinsicht überarbeitet werden, da Aspekte des forschungsorientierten Vorgehens während der Praxisphasen stärker in den Vordergrund treten (vgl. z. B. Fröhlich-Gildhoff/Nentwig-Gesemann/Schnadt 2007; Balluseck 2008). Die Hochschulen veranstalten immer häufiger Fachtage und Fortbildungen zu Themen der Frühpädagogik, welche die Begegnung und
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den Austausch zwischen den ExpertenInnen aus Wissenschaft und Praxis (siehe Punkt 3) ermöglichen. Hindernisse – als Chancen für Weiterentwicklung sehen Die oben beschriebenen vier Formen der Vernetzung sind eine Möglichkeit, unterschiedliche Aspekte der Zusammenarbeit von Kindertageseinrichtungen mit anderen Institutionen zu klassifizieren. Zugleich zeigten sich bei der genaueren Betrachtung dieser Kooperationen auch Probleme und Hindernisse, auf die nun näher eingegangen werden soll. 1) Fehlende klare Strukturen der Zusammenarbeit Vielfach wurde deutlich, dass Zusammenarbeit meistens auf persönlichen Kontakten oder Bekanntschaften basiert, die jedoch nicht strukturell – z. B. durch schriftliche Kooperationsvereinbarungen – verankert ist. Dies birgt die Gefahr, dass die Kooperation „einschläft“, wenn die aktiven AkteurInnen die Arbeitsstelle wechseln, in Ruhestand gehen o. ä. Dieses Phänomen ist nicht auf das Feld der Kindertageseinrichtungen begrenzt, sondern z. B. auch aus der Kooperation von Jugendarbeit und Schule bekannt (vgl. z. B. Fröhlich-Gildhoff et al. 2006b). Zudem erfolgt eine Zusammenarbeit oft nur „fallbezogen“ – und wird meist erst dann eingefordert, wenn eine Institution akut mit der Problematik eines Kindes oder einer Familie überfordert ist. Dann entsteht ein Handlungsdruck, der durch eine kontinuierliche, auch fallunabhängige Kooperation zumindest abgemildert werden könnte. Weiterhin ergeben sich Schwierigkeiten dadurch, dass Zuständigkeiten wechseln, z. B. wenn Bezirke des ASD im Jugendamt neu zugeschnitten werden. Besteht keine grundlegende Kooperationsvereinbarung, die bspw. regelmäßige Sprechstunden der ASD-MitarbeiterInnen in der Kita vorsieht, dauert es erfahrungsgemäß lange, bis sich Kontakte wieder neu aufbauen. 2) Fehlende Ressourcen und Kompetenzen Vielfach sind die MitarbeiterInnen der Kitas sowie die der anderen Institutionen durch die „direkte“ Arbeit mit ihrer Zielgruppe bereits ausgelastet oder gar überlastet – es fehlen dann die zeitlichen Ressourcen, fallunabhängige Kooperation und Vernetzung aufzubauen und am Leben zu erhalten. Hier müssen von Träger-
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seite Zeitkontingente zur Verfügung gestellt werden; eine deutliche Ausweitung der Vorbereitungs- bzw. „Verfügungszeiten“ ist dringend nötig (vgl. z. B. Fröhlich-Gildhoff 2007b). Vernetzung ist zunächst eine (Zeit-)Investition, die sich erst mittel- oder gar langfristig „auszahlt“. Erschwerend kommt hinzu, dass die Fachkräfte vielfach nicht ausreichend ausgebildet worden sind, um Kooperationen kontinuierlich gestalten zu können; hier fehlen nicht selten methodische Kompetenzen. Es bleibt zu hoffen, dass in den akademischen Ausbildungen von FrühpädagogInnen diese Kompetenzen vermittelt werden. 3) Gegenseitige Vorurteile Oftmals konnten in den dargestellten Projekten Vorbehalte und Vorurteile beobachtet werden, die nicht selten auf fehlenden Informationen über die Arbeitsweise der jeweils anderen Institution beruhten. So hatten ErzieherInnen beispielsweise häufig Ängste, durch die Einbindung des Jugendamtes einen „Stein ins Rollen zu bringen“, den sie nicht mehr kontrollieren könnten. Häufig war die Rede von „Schuld sein an etwas, was nicht beabsichtigt war“ und es wurde die Angst beschrieben, dass die Beziehung zu den Eltern sich daraufhin verschlechtern könnte. Den Fachkräften war die Arbeitsweise der Institution Jugendamt im Einzelnen oft nicht bekannt; so wussten z. B. einige nicht, dass sie grundsätzlich Anspruch auf eine anonyme Fallberatung haben. Auf Seiten der Erziehungsberatungsstellen und des Jugendamtes wurden Befürchtungen deutlich, mit Fällen „überhäuft“ zu werden, wenn sie kontinuierlich in den Kitas präsent seien. Im o. a. Projekt „Kinder Stärken!“ zeigte sich allerdings, dass diese Befürchtung nicht zutrifft: Eltern nehmen die Beratung vor Ort, in der Kita, in Anspruch und in den allermeisten Fällen können dadurch kurzfristige Unsicherheiten oder Krisen bewältigt werden, so dass eine langfristige Unterstützung durch die Erziehunsberatungsstelle bzw. das Jugendamt nicht notwendig wird. 4) Probleme der Begegnung auf gleicher Augenhöhe Bei Kontakten zu ÄrztInnen konnte beobachtet werden, dass ErzieherInnen sich im Dialog und beim Erkennen und Verstehen von Auffälligkeiten bei Kindern häufig nicht als gleichwertige PartnerInnen fühlten. Zugleich wurde von den ErzieherInnen berichtet, dass ÄrztInnen oft eine „medizinisch verengte“ Sicht auf das Kind hatten. Befragte ÄrztInnen wiederum gaben an, sich „zu wenig oder gar nicht gefragt“ zu fühlen. ÄrztInnen stehen in der Regel auch nicht fallunab-
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hängig für Anfragen zur Verfügung. Oftmals erschweren „parallele“ Arbeitszeiten den Kontakt: Während der Öffnungszeiten von Kindertageseinrichtungen und Arztpraxen sind längere Gespräche schwierig; so ist eine Zusammenarbeit oft nur außerhalb der Arbeitszeiten der Kita möglich. Diese Faktoren führen dazu, dass die in Netzwerkanalysen sichtbar werdenden Abstände zwischen der Institution Kita und „den“ KinderärztenInnen im Vergleich zu anderen Kooperationsbeziehungen oft am größten sind – hier besteht sicherlich Entwicklungsbedarf! Bei der Vernetzung mit Schulen gab es ebenfalls Hindernisse, die im Rahmen der Projekte beobachtet wurden und die es noch zu überwinden gilt: Schulen erwarten eher, dass Kindertageseinrichtungen auf sie zugehen und die Kooperation initiieren, d.h., es herrscht noch ein gewisses Hierarchiedenken. Weiterhin unterscheidet sich der Bildungsbegriff beider Institutionen durch die Verschiedenartigkeit der Systeme in der praktischen Umsetzung noch sehr stark. In vielen Fällen wird seitens der Schule z. B. erwartet, dass die Kinder in der Kindertageseinrichtung auf die Schule vorbereitet werden – die Kinder sollen dort sozusagen dem Schulsystem passungsfähig gemacht werden (vgl. hierzu z. B. Emmerl 2008). 5) Datenschutz Ein weiterer, manchmal schwieriger Aspekt ist der Umgang mit Daten: Für eine fallbezogene Zusammenarbeit ist eine Erklärung zur Schweigepflichtentbindung durch die Eltern notwendig – ein Schritt, der nicht umgangen werden darf. Teilweise bestehen Ängste, sich diese Schweigepflichtentbindung einzuholen. Dies zeigt, dass das selbstbewusste fachliche Arbeiten, zu dem auch eine Transparenz des eigenen Vorgehens gehört, in Aus- und Weiterbildungen noch (weiter) entwickelt werden muss. Unabhängig davon besteht ja auch die bereits erwähnte Möglichkeit einer anonymen Beratung, die sowohl bei ErzieherInnen als auch bei Eltern (noch) wenig bekannt ist. Fazit Aus den Projektergebnissen lassen sich sechs Schlussfolgerungen ziehen: 1. Vernetzung kann auf vielfältigen Ebenen erfolgen. Es lassen sich mannigfaltige und erfolgreiche Beispiele von Vernetzung und Kooperationen identifizieren. Diese genießen große Akzeptanz der KlientIn-
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nen/Zielgruppen und führen zur Weiterentwicklung nicht nur der Institutionen, sondern auch der einzelnen Fachkräfte. 2. Vernetzung benötigt strukturelle Verankerung. Vernetzung geschieht den beschriebenen Erfahrungen und Untersuchungen zufolge bisher noch zu sehr individuell und fallbezogen. Durch fehlende Strukturen ist sie abhängig vom persönlichen Engagement einzelner Personen und somit äußerst instabil. Die Implementierung solcher Strukturen ist eine Entscheidung, die nicht auf der Ebene der MitarbeiterInnen verbleiben kann, sondern auf Trägerebene getroffen werden muss. 3. Vernetzung benötigt Austausch und Information. Es muss noch mehr Aufklärungsarbeit geleistet werden, z. B. darüber, wie „staatliche“ Ämter wie das Jugendamt und der ASD funktionieren, damit die Anknüpfungspunkte besser erkennbar und ohne Bedenken nutzbar sind. Hierzu ist es nötig, kontinuierliche Formen des wechselseitigen Austausches zu etablieren. 4. Vernetzung benötigt Ressourcen. Vernetzung und Kooperation erfordern zunächst zusätzlichen Zeit- und damit Personalaufwand. Dieser muss klar definiert und mit entsprechenden Budgets in die Arbeitsaufträge der Fachkräfte integriert werden. 5. Vernetzung erfordert Kompetenz. Wie bereits dargestellt, müssen die Fachkräfte unterschiedlichster Institutionen und Systeme in Methoden der Kooperation qualifiziert werden; zudem scheint es bedeutsam, reflexiv die Thematik „Kooperation auf gleicher Augenhöhe“ zu bearbeiten. 6. Würdigung der kleinen Schritte. Gerade bei der Vernetzung ist es besonders wichtig, eine ressourcenorientierte Haltung einzunehmen und die kleinen Schritte wertzuschätzen. Für Kindertageseinrichtungen kann dies z. B. bedeuten, zu reflektieren, welches Netzwerk in der Einrichtung bereits besteht und welche Kooperation darin gut funktioniert – und sei sie noch so „selbstverständlich“. So kann das Team sich orientieren und ein Gespür dafür bekommen, wie die vorhandenen Kompetenzen weiter gestärkt und Schritte in bisher noch Ungewohntes selbstbewusster gestaltet werden können. Literatur Balluseck, Hilde (Hrsg.) (2008): Professionalisierung der Frühpädagogik. Perspektiven. Entwicklungen. Herausforderungen. Opladen Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter (2006): 101. Arbeitstagung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter vom 08.10. November 2006 in Kiel. In: M.R. Textor (Hrsg.) (2006): Kindergartenpädagogik – Online-Handbuch. Download: http://www.kindergartenpaedagogik.de/1559.html [aufgerufen am 11.05.2009]
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Ihle, Wolfgang/Esser, Günter (2002): Epidemiologie psychischer Störungen im Kindesund Jugendalter: Prävalenz, Verlauf, Komorbidität und Geschlechtsunterschiede. In: Psychologische Rundschau, 53. Jg., H. 4, S. 159-169 Kasüschke, Dagmar/Fröhlich-Gildhoff, Klaus (2008): Frühpädagogik heute. Herausforderungen an Disziplin und Profession. Köln Keupp, Heiner/Höfer, Renate (2006): Identitätsarbeit heute: Klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung. Frankfurt Robert Bosch Stiftung (Hrsg.) (2006): PiK – Profis in Kitas. Der Reformkatalog. Stuttgart Rönnau, Maike/Kraus-Gruner, Gabriele/Engel, Eva-Maria (2008): Resilienzförderung in der Kindertagesstätte. In: Fröhlich-Gildoff, Klaus/Nentwig-Gesemann, Iris/ Haderlein, Ralf (Hrsg.) (2008): Forschung in der Frühpädagogik. Freiburg, S. 117147
Kindertageseinrichtungen im Kontext institutioneller und sozialräumlicher Vernetzung Erfahrungen des Modellprojektes KiNET Dresden Kristin Pfeifer 1
Einleitung Seit den 1980er Jahren gewinnen Netzwerkkonzepte zunehmend an Bedeutung, wenn es darum geht, auf komplexe Problemlagen zu reagieren. Das anfängliche Leitbild einer vernetzenden Kooperation entwickelt sich somit zunehmend zu einem Postulat der Vernetzung. Im Grundverständnis von Netzwerken lehne ich mich an eine Definition von Schubert (2005) an: Wird im Folgenden von Vernetzung gesprochen, so bezieht sich dies auf die aktive Verbindung von Netzwerkknoten, d.h. von Akteuren und Institutionen gleicher oder unterschiedlicher Professionen bzw. Handlungsfelder, sowie auf die Pflege der daraus resultierenden Beziehungen als institutionelle, problembezogene, zielgerichtete und kontinuierliche Kommunikations- und Kooperationsstrukturen zwischen Fachkräften, Institutionen und Organisationen (vgl. Schubert 2005, S. 77; S. 187). Darunter können sowohl träger- und institutionsinterne als auch externe Formen von Vernetzung subsumiert werden. Nach Schubert befördern solche Verbindungen den Austausch von Informationen, Gütern oder Werten mit synergetischem Effekt (vgl. ebd.). Im vorliegenden Zusammenhang wird dies erweitert und Vernetzung stärker auf Kommunikation und Kooperation ausgerichtet. Kooperation wird dabei als gleichberechtigte, arbeitsteilige und ggf. formalisierte Zusammenarbeit von beteiligten Partnern betrachtet (vgl. Kardorff 1998, S. 210). Es wird zudem im Projekt zum Beitrag zwischen kommunikativem und operativem Netzwerk unterschieden. Treffen in 1 Für Anregungen und Unterstützung bei der Erarbeitung dieses Beitrages danke ich Günther Robert. Abschnitt 2 dieses Beitrages ist zudem in Zusammenarbeit mit Peggy Lippstreu entstanden - auch ihr sei an dieser Stelle gedankt.
G. Robert et al., (Hrsg.), Aufwachsen in Dialog und sozialer Verantwortung, DOI 10.1007/978-3-531-92693-3_11, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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KiNET Vertreter von Institutionen in Netzwerken aufeinander, so geschieht dies mit dem Ziel, Schnittstellen zu gestalten und durch die Koordination von themenrelevanten Unterstützungsangeboten Synergien herzustellen, also Ressourcen und Kompetenzprofile aus dem z. T. hoch spezialisierten Angebot von Dienstleistungen und Handlungsfeldern zu bündeln und so den veränderten Anforderungen an soziale Dienste und Institutionen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe gerecht zu werden (vgl. Bauer 2005, S. 15). In der Kinder- und Jugendhilfe ist die Vernetzung von unterschiedlichen Professionen und Institutionen besonders sinnbringend und bereits gesetzlich verankert. Im SGB VIII, § 81 Abs. 1 heißt es: „Träger der öffentlichen Jugendhilfe haben mit anderen Stellen und öffentlichen Einrichtungen, deren Tätigkeit sich auf die Lebenssituation junger Menschen und ihrer Familien auswirkt […] zusammenzuarbeiten“. Systematische Zusammenarbeit ist in der Kinder- und Jugendhilfe somit mehr als nur ein Qualitätsmerkmal – sie wird zum fachlichen Standard. In diesem Sinne empfiehlt auch die Sachverständigenkommission des 13. Kinder- und Jugendberichtes eine „bessere Vernetzung der vorhandenen Angebote und Strukturen von Jugendhilfe, Sozialhilfe und Gesundheitswesen“ (www.bmfsfj.de). Im Hinblick auf konstatierte Problemzuwächse im frühpädagogischen Feld, wie sie an anderer Stelle in diesem Buch konstatiert werden (bspw. bei Schäfer oder Nüsken), wird der Nutzen institutioneller Kooperationen besonders betont. Für den Stadtteil Dresden-Gorbitz ergeben sich daraus spezifische Handlungsansätze, die durch das Modellprojekt „KiNET – Netzwerk für Frühprävention, Sozialisation und Familie“ der Stadt Dresden initiiert und begleitet werden. Der vorliegende Beitrag versteht sich als eine Zwischenbilanz des „work in progress“ und will zentrale Elemente des Projektes benennen. Hierzu soll zunächst die Ausgangssituation im Stadtteil Dresden-Gorbitz geschildert werden, die zur Initiierung des Projektes führte. Neben der Analyse quantitativer Daten fließen dabei Wahrnehmungen von Akteuren und Ergebnisse aus Interviews mit in Gorbitz lebenden Müttern ein. Im Anschluss daran werden Zielsetzung und methodische Ansätze des Projektes beschrieben. Gern wird Netzwerken eine allheilende Wirkung zugesprochen, doch erleben zahlreiche Projekte, dass Netzwerke zwar hilfreich sind, jedoch oft nur schwer hergestellt werden können und sich dabei vielfach Hürden ergeben. Welche Erkenntnisse sich innerhalb von KiNET abzeichnen und welche Erfahrungen im Umgang mit der Komplexität von Strukturen, der Gestaltung von Schnittstellen sowie den Herausforderungen bei der Zusammenarbeit von Akteuren unterschiedlichster Professionen gemacht wurden, werde ich in den letzten Abschnitten des Beitrages skizzieren.
Erfahrungen des Modellprojektes KiNET Dresden
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Ein Stadtteil mit besonderen Herausforderungen – Ausgangslage und veränderte Anforderungen an Kindertageseinrichtungen in Gorbitz Die mit den politischen Umwälzungen von 1989/90 verbundenen sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen kennzeichnen auch heute noch in spezifischer Weise Prozesse der gesellschaftlichen Integration in Ostdeutschland. Der Stadtteil Gorbitz ist ähnlich wie vergleichbare Plattenbaugebiete Dresdens bzw. Ostdeutschlands geprägt von starken sozialstrukturellen bzw. demografischen Verschiebungen, die sich am spürbarsten seit Mitte der 1990er Jahre bis etwa in die Jahre 2002/03 vollzogen (vgl. SAS 2005). Deutlich wurden diese Veränderungen zunächst vor allem an sinkenden Bevölkerungszahlen, zugleich jedoch bspw. auch an einem erheblichen Anstieg des Anteils erwerbloser Personen (vgl. Landeshauptstadt Dresden 2008b). Als ehemaliges Prestigeobjekt der DDR erlitt dieser Stadtteil zudem einen enormen Status- und Imageverlust, der für die „gebliebenen“ Einwohner sowie für die neu Hinzuziehenden mit oftmals stigmatisierenden Zuschreibungen verbunden ist. Obgleich noch im Jahr 2002 eine für Dresden typische „soziale Mischung“ der Wohnbevölkerung in Gorbitz angenommen wurde (vgl. Landeshauptstadt Dresden 2002, S. 12), zeichneten sich in den letzten Jahren verstärkt Tendenzen sozialer Polarisierung und Ausgrenzung ab. Insbesondere die nicht sanierte Plattenbausubstanz entwickelt sich zum (fast ausschließlichen) Wohnort für Personen bzw. Familien in prekären Lebenslagen. Auf der Ebene sozialer Mikromilieus (Nachbarschaft oder institutionelle Zugehörigkeiten, z. B. zu Vereinen) spiegeln sich diese Veränderungen jedoch durchaus differenziert wider: Im Kontrast zu auffindbaren „entsolidarisierten“ Lebensformen sind in Gorbitz immer auch Bereiche anzutreffen, in denen sich gemeinschaftliche Sozialformen erhalten konnten. Nicht zuletzt die lange Entstehungsphase des Stadtteils zwischen 1980 und 1989 trug dazu bei: Diese war vor allem durch die permanente Einbindung der Einwohner in den Aufbau gekennzeichnet. Auf der Grundlage entstehender genossenschaftlicher Zugehörigkeiten bildeten sich dabei u. a. stark solidarisch und kooperativ geprägte Formen der Nachbarschaft heraus, welche mitunter noch heute Bestand haben und damit ein hohes Integrationspotenzial für den Stadtteil besitzen. Gestützt wird dieses nicht zuletzt durch „milieudurchlässige“ institutionelle Strukturen wie z. B. Familienzentren oder Nachbarschaftshilfevereine, die oftmals auf der Basis ehrenamtlichen Engagements agieren und ökonomische Defizite sowie soziale Benachteiligungen kompensieren. Dennoch sind mit den genannten Wandlungs- und Transformationsprozessen hohe und zudem meist komplexe Integrationsrisiken verbunden, die insbesondere Familien – und damit Kinder – in belasteten Lebenslagen betreffen können. Die angedeuteten Problemzuwächse werden in der allgemeinen Diskussion
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oft mit besonderen strukturellen bzw. sozioökonomischen Faktoren in Verbindung gebracht: Neben Armuts- und Gesundheitsrisiken etwa zählen dazu auch Gefährdungen, die durch veränderte Lebens- und Erziehungsstile von Eltern entstehen können. Die Palette reicht dabei von „familiärer Überforderung“ bis hin zur Vernachlässigung von Kindern. Relevant werden diese Beobachtungen insbesondere für Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen und Horten (im Weiteren: Kitas), wenn sich für das Aufwachsen und die Teilhabe von Kindern am gesellschaftlichen Leben konkrete Benachteiligungen bzw. Gefährdungen ergeben. Genauer betrachtet handelt es sich hierbei um Auffälligkeiten bei der Entwicklung von Fertigkeiten und Kompetenzen der Kinder, aber auch um fehlende Kraft oder mangelndes Interesse seitens der Eltern. Zugleich fordern Schwierigkeiten in der familialen Beziehungsgestaltung, kritische Eltern-KindInteraktionen oder gar drohende Vernachlässigung Pädagog(inn)en zunehmend heraus. Hier drängt sich unmittelbar die Frage nach möglichen Handlungsoptionen der Fachkräfte. Zudem stellt sich die Frage, welchen Beitrag die Kita im Kontext der beschriebenen Aufwachs- und Entwicklungsbedingungen leisten kann. Kindertageseinrichtungen reagieren auf solche Problemlagen in sehr unterschiedlicher Weise: Einige Kitas stellen sich den Herausforderungen, indem sie nach Bewältigungsmöglichkeiten suchen oder konzeptionelle Ansätze abwägen; andere Kitas sind eher gelähmt und beklagen gegebene Situationen, Strukturen und Rahmenbedingungen. In den seltensten Fällen jedoch wird Schnittstellenarbeit als Beitrag zu einer möglichen Lösung gesehen. Dies ist umso erstaunlicher, als gerade hier ein besonderes Potenzial verborgen liegt: Kinder und Familien in prekären Lebenslagen stehen meist mit anderen Institutionen in Kontakt. Da ist der Stadtteilsozialdienst (SSD) mit dem Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) und den Erziehungsberatungsstellen; darüber hinaus sind Kinderärzte, therapeutische Einrichtungen und Schulen im Stadtteil tätig. Dies zeigt, dass Kita im Feld der wahrgenommenen Problemzuwächse keineswegs isoliert agiert, sondern sich vielmehr in einem Bezugsrahmen mit anderen Institutionen im Sozialraum bewegt. Dieser Bezugsrahmen wird bislang nur sporadisch als Ressource erkannt. Bestehen entsprechende Kooperationen in Gorbitz bereits, so sind diese (ausgehend von der Kita) eher lose und punktuell angelegt und die Kooperationspartner sind kaum in systematischen Netzwerkstrukturen miteinander verbunden. Zielsetzung und konzeptionelle Ansätze des Projektes KiNET Arbeiten Jugendhilfe und Elementarpädagogik mit der gleichen Familie, so erscheint es nahe liegend, sie entsprechend ihrer Zuständigkeitsbereiche zusam-
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menzuführen. Dies verlangt jedoch u. a. nach Sensibilität für Veränderungen im Feld und gleichzeitig nach einem neuen Verständnis des Auftrages von Regeleinrichtungen. Um dies zu befördern, bedarf es mitunter der Entwicklung neuer Konzepte und Ansätze. Als mögliche Antwort auf die Entwicklungen in Gorbitz initiierte die Stadt Dresden im Rahmen des Städtebauförderungsprogramms „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – Soziale Stadt“ des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) das Modellprojekt „KiNET – Netzwerk für Frühprävention, Sozialisation und Familie“, das Kitas in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt. KiNET begegnet den oben beschriebenen Herausforderungen auf drei verschiedenen Wegen: 1.) durch die Vernetzung von Kindertageseinrichtungen und Horten mit für Frühprävention relevanten Akteuren im Sozialraum. Dies fordert 2.) eine Weiterentwicklung der Institutionen im Hinblick auf den zu realisierenden Vernetzungsprozess und schließt 3.) die Förderung der professionellen Handlungsfähigkeit von pädagogischen Fachkräften mit ein. Übergeordnetes Ziel von KiNET ist es, anhand der gesammelten Erfahrungen ein übertragbares Konzept zur Gestaltung und Förderung von Netzwerken für Frühprävention in Stadtteilen mit ähnlichen Ausgangssituationen zu entwickeln. Grundlegendes Anliegen ist dabei, ein abrufbares und doch flexibles Repertoire für situationsangemessenes Handeln pädagogischer Fachkräfte zu erarbeiten, welches Kita-interne und -externe Ansätze berücksichtigt, um riskanten Lebens- und Aufwachsbedingungen von Kindern entgegenzuwirken. Das Projekt will jedoch kein Frühwarnsystem aufbauen, wie es in anderen Bundesländern implementiert wurde, sondern vielmehr die Schnittstellenarbeit im Quartier verbessern. Warum gerade Kitas in einem Netzwerk für Frühprävention im Stadtteil besonders relevant sind, soll durch folgende Thesen verdeutlicht werden, über die zu Beginn des Projektes aus Sicht der Projektinitiatoren weitgehender Konsens bestand: Die Kita als Institution hat einen besonderen bildungs- und sozialpolitischen Auftrag, d.h., sie fördert Entwicklungs- und Bildungsprozesse und trägt dadurch zur Verbesserung der Chancengleichheit sowie der sozialen Teilhabe – insbesondere für Kinder aus benachteiligten Lebensverhältnissen – bei. Sie übernimmt zudem eine über ihren Regelauftrag hinausreichende kompensatorische Funktion. Die Kita ist zentraler Anknüpfungspunkt für den Kontakt mit Kindern und Eltern: Aufbauend auf vertrauensvolle Kontakte können Erzieher(innen) in Dialog mit Eltern treten und niedrigschwellige Zugänge zur Zielgruppe eröffnen. Im Kontext einer wirksamen „Frühprävention“ kann die Kita Problemsituationen und Veränderungen frühzeitig wahrnehmen und früh an
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Kristin Pfeifer familiale sowie sozialisations- und entwicklungsrelevante Lebensbezüge von Kindern anknüpfen („früh“ sowohl in der Lebensphase als auch in der Krisensituation). Die Kita ist ein Bindeglied zwischen Kinder- und Jugendhilfe, Institutionen im Stadtteil und Familien. Sie ist eine fest im Stadtteil verankerte Institution, pflegt Kontakte zu Akteuren im Sozialraum und übernimmt eine wertvolle Multiplikatorenfunktion.2 Durch die Nähe der Kita zum Sozialraum ist es sinnvoll, sich in einem Netz mit anderen Akteuren zu bewegen und sich als Bestandteil eines frühpräventiv agierenden Netzwerkes für Kinder und Eltern zu verstehen. Vernetzte Kommunikation und Kooperationen bieten Kitas dabei neue Handlungsoptionen3, um einerseits veränderte Bedingungen und Problemzuwächse aus verschiedenen Perspektiven zu reflektieren und andererseits Ressourcen zu erschließen, um im pädagogischen Feld besser auf veränderte Anforderungen reagieren zu können.
Zur Bewältigung der beschriebenen Anliegen werden Teilschritte notwendig: Wollen unterschiedliche Akteure in einem Stadtteil den Herausforderungen vor Ort gemeinsam begegnen, so bedarf dies eines geteilten Problem- und Aufgabenverständnisses. Dies setzt folgende 4 Punkte voraus: 1.) eine systematische und kontinuierliche Auseinandersetzung mit der Situation im Stadtteil, um Bedarfe vor Ort (lebensweltliche Orientierung) zu erschließen; dazu gehört auch, Veränderungen und Problemlagen von Kindern bzw. Familien wahrzunehmen, zu beschreiben und diese dem Kontext angemessen zu interpretieren, 2.) ein Bewusstsein für die eigene Rolle als Akteur bei der Bearbeitung der Bedarfe; damit einher geht die Reflexion des Selbstbildes – insbesondere der Kita –, des professionellen Handelns, der bestehenden Institutionskulturen sowie frühpräventiver Aufgaben, 3.) die Positionierung der Akteure im Handlungsfeld sowie 4.) die Förderung eines übergreifenden Dialogs. Nur auf diese Weise eröffnen sich Kooperationsfelder, wird systematisches professionelles Handeln befördert und lassen sich Angebote zur Verbesserung der Lebens- und Aufwachsbedingungen von Kindern gezielt an Bedarfen ausrichten. Vernetzungs- und Kooperationsbemühungen sind demzufolge nicht losgelöst von einer sich konsolidierenden feldspezifischen Fachlichkeit und insti2 Undiskutiert bleibt dabei einerseits die Frage nach der Grenzlinienverschiebung zwischen Privatem und Öffentlichem in der Sozialisation und andererseits die Frage nach der Belastbarkeit, denn mit dem sich wandelnden Auftrag von und den wachsenden Anforderungen an Kita erkennen pädagogische Fachkräfte zunehmend ihre persönlichen und professionellen Grenzen. 3 Handlungsoptionen verstehen sich in KiNET als vielfältige Handlungsansätze, nicht als bürokratisch umzusetzende Verfahren mit festen Ablaufmustern.
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tutionellen Weiterentwicklung zu denken. Die Erfahrungen von KiNET innerhalb dieses Prozesses werden im Projektverlauf kontinuierlich und systematisch aufbereitet und reflektiert, um sie für die weitere Ausgestaltung des sozialraumorientierten übertragbaren Netzwerkkonzeptes zu nutzen. Ausgangslage – Vernetzung im Stadtteil Kooperative institutionelle Beziehungen existierten in Dresden-Gorbitz bereits vor Beginn des Projektes. Hier schloss sich eine Kita mit dem Hort der benachbarten Schule zusammen, da besuchte eine Kindergartengruppe das Familienzentrum im Stadtteil. Jedoch war diese Zusammenarbeit vereinzelt initiiert und entstand eher zufällig als systematisch. Anknüpfungspunkt für Vernetzung und Kooperation im Rahmen von KiNET bildeten zu Beginn des Projektes die Anliegen, Kinder in belasteten Lebenslagen zu unterstützen und ihre Lebens- und Aufwachsbedingungen zu verbessern. Damit verbundene Themen wie Hygiene, Ernährung und Bewegung sollten mit möglichst raschem Erfolg bearbeitet werden. Dem gemeinsamen Interesse an frühpräventiven Themen standen zum Teil jedoch sehr unterschiedliche Problemwahrnehmungen und Problemverständnisse entgegen: Die Akteure betrachteten den Stadtteil und die Unterstützungsbedarfe aus ihrer jeweiligen institutionsspezifischen Perspektive und forcierten eher eigene statt kooperative Interventionsansätze. Auf der Ebene der Kita fanden wir ein besonderes Handlungsinteresse vor, welches jedoch weder Frühprävention noch Vernetzung explizit in Bezug zum alltäglichen professionellen Handeln setzte. Zudem wurde die Kita weder in der Selbst- noch in der Fremdwahrnehmung als relevanter Akteur und Ansprechpartner im Kontext von Frühprävention betrachtet. Dies lässt vermuten, dass die Rolle und der Einfluss der Kita noch nicht hinreichend berücksichtigt wird, obwohl ihr frühpräventive Aufgaben zugesprochen werden. Neben einer hohen Motivation, Kinder in Gorbitz zu unterstützen, waren in den Kitas Entwicklungspotenziale in den Bereichen Institutions-, Reflexionsund Lernkultur, welche als Voraussetzungen für gelingende Vernetzung gelten, erkennbar: Die Wahrnehmung von Herausforderungen im Alltag war eher problem- und defizit-, statt ressourcenorientiert. Hier sollten Kinder individuell gefördert und Eltern in erziehungs- und entwicklungsrelevanten Fragen unterstützt werden, man begegnete ihnen jedoch nur teilweise wertschätzend, zugleich teils ambivalent und teils normativ. Der Einfluss unbewusster und unreflektierter subjektiver Normen, die das Handeln beeinflussen, war hier sehr deutlich.
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Die Basis für eine gelingende Vernetzung für Frühprävention in einem Stadtteil bilden die Wahrnehmung von Problemen, die Beschreibung von Veränderungen, die Formulierung von Bedarfen, eine aktive Auseinandersetzung der Kita mit den Anforderungen vor Ort und die Suche nach möglichen Handlungsoptionen. Ist eine solche Basis nicht gegeben, so kann Vernetzung schwerlich realisiert werden. Räume und Zeiten, in denen sich das Team systematisch über Herausforderungen und mögliche Handlungsansätze im pädagogischen Alltag austauschen kann, gehörten nur in wenigen Kitas zum Standard professionellen Handels. Daher wurde die Unterstützung bei der (Weiter-)Entwicklung der pädagogischen Fachlichkeit und einer Institutionskultur, die Angst vor Kontrolle oder Kritik durch eine wertschätzende, reflektierte und interessierte Haltung ersetzt, zum impliziten Ziel und ist noch weit vor der Bearbeitung frühpräventiver Themen oder vernetztem Handeln anzusetzen. Um eine gelingende Schnittstellenarbeit mit anderen Institutionen im Stadtteil zu etablieren, bedarf es weiterhin der inhaltlichen Abgrenzung der Zuständigkeiten möglicher Kooperationspartner und der Entwicklung einer eigenen professionellen Perspektive auf die Problemlagen vor Ort. Dies scheint besonders für das Feld Kita relevant, da hier bislang ein diffuses professionelles Selbstverständnis auf ein handlungsunsicheres professionelles Feld trifft. Darüber hinaus waren wenige Informationen über Aufgaben, Handlungsfelder und Zuständigkeitsbereiche der für Frühprävention relevanten Institutionen und potenziellen Kooperationspartner präsent. Kooperierten Akteure aus dem Stadtteil bereits miteinander, so war diese Kooperation meist durch bestehende Kontakte – vorwiegend auf persönlicher Ebene und mit großem Engagement von Einzelpersonen – zustande gekommen. Akteure arbeiteten vereinzelt an gemeinsamen Projekten, meist anlassbezogen oder in krisenhaften Situationen und kooperatives Handeln entstand eher spontan und unsystematisch. Für Außenstehende waren jene Prozesse undurchsichtig und unzugänglich, so dass sich nur begrenzt gemeinsame Gestaltungsmöglichkeiten (für Angebote oder strukturelle Rahmenbedingungen) eröffneten. Das Verhältnis der Institutionen zueinander reichte von Offenheit für Kooperationen über Indifferenzen bis hin zu latent wahrgenommener Konkurrenz. Über die benannte Bereitschaft zur Beteiligung an einem Netzwerk für Frühprävention hinaus waren die Interessen der Akteure nicht immer transparent, sie divergierten oder wurden von Interessen weniger dominanter Beteiligter überlagert. Somit trafen sehr heterogene Erwartungen an das Netzwerk aufeinander, von denen sich einige zerschlugen und andere sich in der Bearbeitung konkreter Einzelanliegen verloren. Hierbei blieben konsequente Analysen der vielschichtigen Problemdimensionen sowie ein Abstimmen von Zielen und Handlungsansätzen weitestgehend aus.
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Methodische Ansätze KiNET begegnet der oben beschriebenen komplexen Anlage des Projektes und den vorgefundenen Ausgangsbedingungen auf verschiedenen Wegen und mit vielfältigen Methoden. Zentrale methodische Ansätze auf den Ebenen Kita und Sozialraum sollen an dieser Stelle aufgezeigt und konzeptionell gerahmt werden. Dimensionen von Vernetzung Das Sinnbild des „Mannschaftsspiels“ kann die Netzwerkinteraktion illustrieren. In diesem Sinne lässt sich die Frage stellen, was relevant ist, wenn man sich gemeinsam für ein Anliegen einsetzt. Da ist zunächst eine gemeinsame Grundorientierung wichtig, die ein gemeinsames Ziel erkennen lässt – im Ballspiel kann es bspw. das Ziel sein, ein Tor zu schießen. Dementsprechend muss die Mannschaft untereinander klären, welche Verantwortungsbereiche jeder Spieler arbeitsteilig im Feld übernimmt. Im gemeinsamen Training werden experimentell Spielsituationen erprobt, kompetenzbasierte Teamstrukturen gebildet und Routinen einstudiert, um im Spiel schnell, situationsangemessen und sicher agieren zu können. Für KiNET galt es einen ähnlichen Weg zu nehmen und einen entsprechenden Dialog und Aushandlungsprozess zwischen den Akteuren zu befördern. In Anlehnung an die Systematisierung von Bauer (2005) sollen im Folgenden charakteristische Merkmale aufgezeigt werden, die Netzwerke und Netzwerkaktivitäten auf verschiedenen Ebenen aufweisen. Mit Hilfe der folgenden Differenzierungen der Kommunikations- und Arbeitsformen können die verschiedenen Ebenen bzw. methodischen Ansätze in KiNET systematisiert werden: informeller Austausch oder formelle Kommunikationsformen (bspw. über Handlungsvereinbarungen) unmittelbare oder mittelbare Kommunikation und Kooperation der Partner im Netzwerk fallspezifische oder fallunspezifische Bearbeitung von Anliegen. Adressaten und Akteure Vor dem Hintergrund der institutionellen und sozialräumlichen Vernetzung von Akteuren im Projekt KiNET drängt sich zunächst die Frage nach den Adressaten im „Sozialraum“ auf. Kinder und deren Familien in belastenden Lebenssituationen und Milieus, wie sie bereits in Abschnitt 2 dieses Artikels beschrieben wur-
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den, sind mittelbare Adressaten des Projektes. Der Weg, sie zu erreichen, wird über für Frühprävention relevante Institutionen und Akteure4, als Multiplikatoren und unmittelbare Adressaten des Projektes, realisiert. Zentrales Anliegen ist es, Akteure auf unterschiedlichen Ebenen des Helfersystems, d.h. Institutionen, Organisationen, Vereine, Ämter und Fachberatungsstellen des Sozial- und Gesundheits-Sektors, zusammenzuführen. Die am Projekt beteiligten elf Kitas haben dabei einen besonderen Stellenwert. „Sozialraumorientierung“ bezieht sich in KiNET zunächst auf die territorialen Grenzen des Stadtteils. Darüber hinaus werden Akteure einbezogen, die mit Familien oder Kindern aus Gorbitz arbeiten oder im weiteren Sinne (früh-) präventiv in Gorbitz aktiv sind. Dieses erweiterte Verständnis von Sozialraum, über die gegebenen Grenzen des Stadtteils und das spezifische Milieu hinaus, stellt zugleich eine qualitative Erweiterung des Raumgedankens dar, es fördert den Aufbau komplexerer Kooperationsstrukturen mit Ämtern, Organisationen und Institutionen und eröffnet lokale sowie regionale Ressourcen in verschiedenen Kompetenz- und Verantwortungsbereichen. Sind Zielsetzung, Adressaten und Aktionsradius des Vernetzungsanliegens geklärt, werden geeignete Partner ausgewählt und einbezogen. Frühprävention war zu Projektbeginn jedoch – trotz thematischen Zuspruchs wie bereits beschrieben – zunächst kein Anlass für Akteure im Stadtteil, sich eigenständig zu vernetzen. Daher übernahm die Initiierung des Netzwerkes das Koordinationsteam, welches das Projekt begleitet. Über persönliche Gespräche wurden die Interessen der Akteure und ihre Erwartungen an das Netzwerk ermittelt und flossen in die weitere Netzwerkgestaltung ein. Das Koordinationsteam übernimmt im gesamten Projektverlauf vielschichtige Aufgaben. Sie reichen von der Organisation, Koordination und Unterstützung beim Aufbau der Netzwerk-Strukturen über fachliche Inputs, Moderation und Mediation bei Netzwerktreffen bis hin zur Dokumentation und Evaluation. Das Koordinationsteam dient demnach sowohl als Motor des Vernetzungsprozesses, als „Sprachohr“ oder Katalysator von Anliegen, als auch als Multiplikator zwischen den im Projekt involvierten Partnern – d.h. zwischen Politik, Wissenschaft und Praxis.
4 Akteure in KiNET sind elf Kindertageseinrichtungen und Horte in öffentlicher und freier Trägerschaft, der Stadtteilsozialdienst Cotta (SSD) mit dem Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) sowie Erziehungsberatungsstellen, andere Fachberatungsstellen, der Kinder- und Jugendärztliche Dienst, Kinder- und Jugendhäuser, Familienhelfer, Therapeuten, Kinderärzte, das Quartiersmanagement, die Stadtteilarbeit und Wohnungsbaugenossenschaften.
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Kontakt-, Kommunikations- und Kooperationsformen Um den bei der Netzwerkarbeit bekannten „Verpuffungseffekten“ und der euphorischen Erwartung, schneller als möglich spürbare Veränderungen durch KiNET bewirken zu können, entgegenzuwirken, galt es zunächst, eine systematische Grundlage für eine kontinuierliche und langfristig angelegte Zusammenarbeit zu schaffen. Gesteuert und begleitet wurde dies durch die Koordinationsstelle des Projektes. Die regelmäßigen Treffen der für KiNET relevanten Akteure bildeten einen basalen Bestandteil der Netzwerkarbeit, indem sie Kontakt- und Kommunikationsräume boten und verlässliche Strukturen herstellten. So entstandene „Räume“ wurden als themenspezifische Foren und Arbeitsgemeinschaften auf Stadtteilebene arrangiert, um über den Rahmen informeller Gespräche hinauszureichen; auf der Ebene der Kitas erfolgte dies zusätzlich über ein Kita-Netzwerk als Teil-Netzwerk, welches sich aus Leiter(inne)n von Kitas zusammensetzt. Beide Formen dienten anfänglich der Kontaktaufnahme, der Gewährleistung eines kontinuierlichen Informationsaustausches und der Vertrauensbildung. Ebenso wichtig war es, über jene Kommunikationsanlässe im Weiteren auch erfahrungsbezogenes Praxiswissen zu teilen bzw. zu systematisieren, gemeinsames Wissen aufzubauen und Diskussionen über Handlungsmodelle anzuregen. Da jedoch das Netzwerk im Sinne von KiNET nicht allein der Beförderung von Kommunikationsstrukturen dienen soll, sondern explizit auf kooperatives Handeln abzielt, galt es im nächsten Schritt, die Problem- und Aufgabenverständnisse der beteiligten Akteure zu klären sowie Leistungsbereiche, Ressourcen und deren Anschlussfähigkeit abzustimmen. Wollen Vertreter unterschiedlicher Institutionen für Frühprävention zusammenarbeiten, so treffen auch verschiedene Perspektiven, Erwartungen und Handlungslogiken aufeinander. Hier galt es zunächst, vorgefundene Übersetzungs- und Kommunikationsprobleme zwischen den beteiligten Akteuren und Institutionen zu überwinden, um nachstehend gemeinsame Ziele zu entwickeln. Mittels interdisziplinärer Werkstätten und Seminare wurden thematische Impulse zur Wissensvermittlung eingespeist und ein übergreifender Dialog zwischen den Akteuren zu Themen wie dem Präventionsbegriff in KiNET angeregt. Mit dieser Bündelung von Perspektiven können einseitige Wahrnehmungen von Bedingungen, Veränderungen oder Problemlagen überwunden und übergeordnete Bedarfe innerhalb des Stadtteils herausgefiltert werden. Neben der Auseinandersetzung mit der Lebenswelt und den Lebenslagen aus familien- bzw. fallbezogener Perspektive rücken feldbezogene Aspekte in den Vordergrund, denen alle Akteure in unterschiedlichen Kontexten begegnen. Einen feldspezifischen Zugang zu ermöglichen, war einerseits damit verbunden, sich mit Konzepten der Sozialraum- und Gemeinwesenorientierung auseinander-
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zusetzen und andererseits damit, übergeordnete Bedarfe zu erschließen. Dies konnte in thematisch orientierten Arbeitsgemeinschaften bearbeitet werden. Um darüber hinaus Ressourcen und Grenzen der Beteiligten zu sichten, wurden in Werkstätten Fallbeispiele diskutiert, gemeinsam Situationsanalysen durchgeführt und bereits etablierte Handlungsansätze der Institutionen transferiert. Ein weiterer Weg war es, unterschiedliche Kooperationsmodelle (wie Handlungsvereinbarungen) zwischen den Akteuren zu betrachten. Darauf aufbauend sollten im Dialog lösungsorientierte, situations- und fallangemessene sowie routinierte und flexible Handlungsoptionen entwickelt und erprobt werden. Quer zu den zentralen methodischen Ansätzen des Projektes liegt der Ansatz, Einzelprojekte in Kitas zu implementieren. Je nach Anliegen der Einrichtungen konnten eigene Ideen realisiert werden, um der Problematik im Feld auf pädagogischem Weg zu begegnen. Diese Einzelmaßnahmen bezogen sich beispielsweise auf konventionelle Sprachförderprogramme (KonLab), auf Kitainterne Beratungen oder auf Angebote zur gesunden Ernährung (Kinderküchen). Einige dieser Einzelprojekte richten sich konkret an Eltern von Kindern im Kindergartenalter in Gorbitz. Familie wird in KiNET als Teil eines sozialräumlichen Netzwerkes betrachtet und Vernetzung somit um die Facetten der Partizipation von Eltern erweitert. Ziel der Einzelprojekte zur Elternberatung und Elternbildung ist es, Mütter und Väter in die Verantwortung für das Aufwachsen ihres Kindes zurückzuholen und so der Dysbalance zwischen Privatem und Öffentlichem entgegenzuwirken. Gleichzeitig bietet dies die Chance, Eltern in Erziehungs- und Entwicklungsfragen individuell zu begleiten. Darüber hinaus wird es Erzieher(inne)n auf diese Weise möglich, Eltern in anderen Kontexten zu erleben, um unterstützende Angebote besser an deren Bedürfnissen ausrichten zu können. Neben intensiven Einzelgesprächen zwischen Erzieher(in) und Eltern wurden daher spezielle Angebote für Mütter und Väter in Gorbitz bereitgestellt: Elterncafés und Tauschbörsen sollten Eltern zusammenführen, um sich auf Augenhöhe zu begegnen; thematische Elternnachmittage oder die Gorbitzer Elternbibliothek folgten dem Ansatz der Elternbildung; Eltern-Kind-Veranstaltungen im Rahmen von KiNET wollten zudem positive gemeinsame Erlebnisse als Familie schaffen. Wege zur fachlichen Weiterentwicklung KiNET als Modellprojekt versteht sich als lernendes Projekt, das über den Weg der professionellen Weiterentwicklung – insbesondere der Kitas – Netzwerkstrukturen befördert. Als Voraussetzungen für interdisziplinäre Vernetzung und
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Kooperation werden – neben rahmengestaltenden Ressourcen (zeitliche, personelle, finanzielle) und einem gemeinsamen Anliegen für Frühprävention – eine solide fachliche Basis, professionelle Kompetenzen und eine institutionsinterne Reflexionskultur erachtet. Durch sie kann Vernetzung und Kommunikation zwischen aussagekräftigen Partnern im Netzwerk gestaltet werden. Wird es zudem möglich, eigenes Wissen zu explizieren und Erfahrungen gemeinsam zu diskutieren, so ist geteiltes Wissen generierbar und es können sich neue Handlungsansätze erschließen. Besonderes Augenmerk lag bei diesem Prozess nicht auf der Akademisierung und Übernahme von fachspezifischen Termini bzw. Diskursen, sondern darauf, die Anschlussfähigkeit eigener Erfahrungen in Auseinandersetzung mit dem fachlichen Feld zu fördern. Dies ermöglicht es, in der eigenen Logik des Handlungsfeldes zu bleiben und das professionelle Selbstverständnis weiterzuentwickeln. Für Kita bedeutet dies, eine eigene Sprache für im Alltag wahrgenommene Herausforderungen zu festigen und die institutionsinterne Reflexionskultur auszubauen, um ihre Wahrnehmungs-, Reflexions- und Handlungskompetenzen zu erweitern. Innerhalb dieses Prozesses benötigen Leiter(innen) und Erzieher(innen) Anregung, Unterstützung und Beratung. Mit KiNET konnten Einzelprojekte in Kitas initiiert werden, die sich dieser Herausforderung in dreifacher Weise annahmen, mit dem Anliegen 1. über thematische Workshops mit Erzieher(inne)n und Leiter(inne)n Wissen zu vermittelt, 2. über Reflexionseinheiten Erfahrungen zu bündeln und 3. über fachliche Beratungen sowie Supervision Anregungen für die Praxis zu eröffnen. Sind Erzieher(innen) aufgefordert, sich mit prekären Aufwachs- und Lebensbedingungen von Kindern und Familien im Stadtteil auseinanderzusetzen, so gilt es, sich mit den Gegebenheiten vor Ort vertraut zu machen und Problemsituationen wahrzunehmen. Besonders intensiv gestaltete sich – neben der Arbeit mit allen Kitas über die jeweilige Leitung der Einrichtung – die Zusammenarbeit des Koordinationsteams mit zwei Kitas (Fokus-Kitas). In thematischen Workshops zu sozialer Benachteiligung, zu Risiken und Schutzfaktoren für die Entwicklung von Kindern, zur Beschreibung des Sozialraumes oder zur Beobachtung von Kindern im pädagogischen Alltag begegnete KiNET diesem Anliegen. Neben dem Einspeisen dieser fachlich-inhaltlichen Impulse war es Ziel, u. a. die Wahrnehmungs- und Reflexionskompetenz von pädagogischen Fachkräften zu stärken. Dies bedeutet sowohl Risiken sensibel in den Blick zu nehmen als auch Lebenslagen nicht allein auf Risiken zu reduzieren, Ressourcen zu erschließen und einen Bezug zum Kontext der Situation herzustellen (Kontextualisierung). Hierzu wurden Kollegiale (Fall-)Beratungen initiiert. Angeleitete Reflexionseinheiten mit fester zeitlicher Verankerung im Dienstplan der Kita-Teams sollten einen Zugang über die Fallarbeit ermöglichen, um die Reflexion der eigenen
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Wahrnehmung und persönlicher Interpretationsmuster sowie den Austausch über Perspektiven zur Entwicklung von Handlungsalternativen anzuregen. Pädagogischen Fachkräften dient hier das Team als Spiegel für das eigene professionelle Handeln in einem geschützten Raum. Darüber hinaus wurden fachliche Beratungen für Erzieher(innen) beispielsweise zum Umgang mit herausfordernden Situationen mit Kindern und Eltern, Konflikten im Alltag oder besonderen Entwicklungsgesprächen durch externe Fachkräfte durchgeführt, die im Rahmen von KiNET als „Elternberater“ eingesetzt werden. Alle drei Ansätze bieten ferner die Möglichkeit, ausgehend vom konkreten Einzelanliegen Entwicklungstendenzen innerhalb des Stadtteils zu notieren, Kita-intern Lösungsansätze zu durchdenken und übergeordnete Bedarfe abzuleiten. Von einer derartigen Herangehensweise verspricht man sich, einer Problematisierung von Einzelfällen und dem Verfall in delegative5 Strukturen entgegenzuwirken. Stattdessen ist es, wie bereits mehrfach erwähnt, zentrales Anliegen des KiNET-Netzwerkes, sozialraumorientierte Kommunikations- und Kooperationsstrukturen zu fördern, die eine ganzheitliche, kontextbezogene und systematische Problembeschreibung eines Phänomens im Stadtteil ermöglichen und zugleich die Handlungskompetenzen der Akteure im jeweiligen professionellen Feld weiterentwickeln. Wege zur institutionellen Weiterentwicklung Eng mit den bereits benannten Ansätzen verbunden ist die Weiterentwicklung der Institution Kita als Voraussetzung für die Gestaltung von Schnittstellen im Netzwerk. Ansatzpunkte sind dabei beispielsweise die Präsentation der Anliegen nach außen, das Selbstbild der Institution im Themenfeld sowie die Bereitschaft, interne Prozesse zu reflektieren, um Handlungsansätze zu verbessern. Dies setzt zunächst die Offenheit eines jeden Einzelnen im Team voraus und die Bereitschaft, Routinen und institutionsspezifische Eigenlogiken zu überdenken, Reflexionsräume innerhalb der Kita zu verstetigen und eine angemessene Kultur im Umgang mit Fehlern zu etablieren. KiNET hat dafür folgende methodische Vorgehensweisen gewählt: Den Raum hierfür stellt in KiNET die Kollegiale (Fall-)Beratung bereit, die durch externe Mitarbeiter(innen) angeleitet bzw. begleitet wird und sukzessiv in die Eigenverantwortung der Ein5 Unter delegativen Strukturen werden Handlungsmuster verstanden, die darauf abzielen, eine Auseinandersetzung mit der Herausforderung im eigenen professionellen Feld zu umgehen, indem beispielsweise bestimmte Aufgaben anderen Akteuren zugesprochen werden.
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richtung übergehen soll. Hier eröffnet sich für das Team einer Einrichtung die Möglichkeit, in regelmäßigen Abständen oder in krisenhaften Situationen systematisch Fälle zu diskutieren und gemeinsam nach Handlungsoptionen zu suchen. Zugleich bietet das oben benannte Kita-Netzwerk als intraprofessionelles Podium für Themen aus der Kita und dem Sozialraum neben dem informellen Austausch die Option zur Beratung und zur Analyse bestehender Strukturen bzw. zur Diskussion von Handlungsansätzen. Die Öffnung der Kita nach außen und der interprofessionelle Dialog mit verschiedenen Institutionen und Professionen eröffnen einerseits konkrete Anknüpfungspunkte für nachhaltige und tragfähige Unterstützungsstrukturen für Kitas und ermöglichen andererseits den Transfer von Bedarfen: Findet ein Thema nicht bei allen Akteuren Zuspruch und besteht dennoch nachdrücklich Handlungsbedarf im Sozialraum, so liegt es in der Verantwortung der Beteiligten, zu eruieren, wie mit dem Thema im Weiteren verfahren wird. Die Positionierung im Feld der Frühprävention und die Öffnung der Kita nach außen fordern ein Überdenken sowohl des Selbstverständnisses als auch des Handlungsauftrages ein und knüpfen somit an die oben genannten Punkte an. Beteiligen sich Kitas hinreichend an den beschriebenen Prozessen, so bricht ihr traditionelles Handlungsfeld in gewisser Weise auf und integriert neue (sozialpädagogisch orientierte) Ansätze. Der damit einhergehende Verlust an tradierten Handlungsgrundlagen von Kita (als Logik des primären Feldes) kann einen Identitätswandel herbeiführen, der eine Renovierung der ursprünglichen fachlichen Identität mit sich bringt. Ergebnisse und Bilanzen Bislang existieren nur wenig gesicherte Erkenntnisse in einem empirisch kaum bearbeiteten Handlungsfeld zur Vernetzung von Kitas mit anderen Institutionen. Anhand des Modellprojektes KiNET lassen sich Erfahrungen und damit verbundene Entwicklungen bzw. Veränderungen notieren, die im Kontext sozialraumorientierter Netzwerke beachtenswert sind, aber nicht als generalisierte Aussagen über institutionelle Netzwerke für Kita gelten sollen. Die im Abschnitt 3 beschriebenen Ziele (hinsichtlich Vernetzung und Handlungsrepertoire sowie Wahrnehmungs- und Reflexionskompetenz von pädagogischen Fachkräften)
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sollen als Anknüpfungspunkte dienen, um die Erfahrungen auf den Ebenen Kita und Sozialraum gebündelt darzustellen. Zur Weiterentwicklung von Kitas An den oben beschriebenen Zielen von KiNET wird deutlich, dass die fachliche Weiterentwicklung des frühpädagogischen Feldes nicht alleine ein Qualitätsmerkmal professionellen Handelns ist, sondern zugleich auch Voraussetzung für den adäquaten Umgang mit neuen Herausforderungen im Arbeitsalltag. So wird eine gestärkte Fachlichkeit auch zur Voraussetzung für Vernetzung. „Frühprävention“ ist für Erzieher(innen) nach wie vor ein schwer beschreibbares und vielschichtiges Konstrukt, das jedoch zunehmend Anknüpfungspunkte in alltäglichen Situationen findet. Am Beispiel eines von einer Erzieherin eingebrachten Themas soll dies verdeutlich werden: In der Kollegialen Fallberatung wurde von einem sprachauffälligen Mädchen berichtet, das bilingual aufwächst, wobei die Mutter neben Russisch kaum Deutsch spricht. Die Erzieherin beschrieb zunächst die wahrgenommene Situation im Gruppenalltag und gemeinsam erschloss sich das Team den Hintergrund der Sprachauffälligkeit des Mädchens, es wurde Wissen über die Sprachentwicklung von Kindern aufgetauscht, hinterfragt, ob und wie die Mutter des Kindes beteiligt werden könnte und nach diesbezüglich geeigneten Optionen gesucht. Auf diese Weise konnten sichere Sprachräume und Sprachanlässe für das Mädchen sowohl in der Kita als auch zu Hause eröffnet werden. Als besonders positive Entwicklung auf der Ebene der Kitas gilt der veränderte bzw. neue Prozess der Bearbeitung von Herausforderungen, denen sich Erzieher(innen) aus fachlich zunehmend elaborierter Sichtweise nähern: Da sind zunächst die gestärkte Kommunikationsbereitschaft und der Dialog im Team zu nennen: Besondere Herausforderungen aus dem pädagogischen Alltag werden zunehmend offener mit Hilfe der erlernten Methoden im (Klein-)Team oder im Gespräch mit Berater(inne)n thematisiert. Kollegiale Beratungsstrukturen etablieren sich mit im Dienstplan verankerten Reflexions- und Beratungszeiten und werden vom Team eingefordert. Erzieher(innen) begegnen Situationen, über die zuvor eher punktuell und zufällig gesprochen wurde, systematischer. Deutlicher als zuvor beziehen pädagogische Fachkräfte die Perspektive der Eltern mit ein, bemühen sich, Auffälligkeiten bei Kindern differenzierter wahrzunehmen, von einer Problemzentrie-
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rung abzusehen und das Verhalten von Kind und Eltern in den jeweiligen Kontext einzubetten. Sich im Team gemeinsam Wissen zu erschließen und mögliche Handlungsansätze zu diskutieren, eröffnet neue Perspektiven, ist fachlicher Zugewinn und aktiviert interne und ggf. auch externe Ressourcen, um der Situation zu begegnen. Betrachten wir die Generierung von Bedarfen, so zeigt sich, dass Teams – noch im moderierten Prozess, doch zunehmend eigenständiger – Themen und konkrete „Fälle“ in Gespräche einbringen, Konflikte und Krisen ansprechen oder Beratungen einfordern. Das Ableiten übergeordneter Anliegen, die für den Stadtteil spezifisch sind oder für das veränderte Aufwachsen von Kindern sprechen und damit ein für Elementarpädagogik relevantes Problembewusstsein deutlich machen, ist ansatzweise erkennbar, hier wird jedoch weiterhin Entwicklungspotenzial gesehen. Elternberatung und Kollegiale (Fall-)Beratung sind keine natürlichen Bestandteile des (früh-) pädagogischen Feldes, sondern aus dem Bereich der Kinder- und Jugendhilfe entlehnte Unterstützungsangebote. Die Idee, im Rahmen von KiNET beides miteinander zu verzahnen, d.h. Handlungsansätze aus der Jugendhilfe aufzugreifen und in abgewandelter Form in den pädagogischen Alltag zu integrieren, zeigte sich als große Herausforderung: Hier begegnen sich zunächst zwei kontroverse Handlungstypen, da der Arbeitsansatz der Kinder- und Jugendhilfe eher problemorientiert und intervenierend ist, während Kita und Frühpädagogik eher Aspekte der Bildung, Betreuung und Erziehung in den Fokus rücken und hierfür einen Rahmen bereitstellen. Diese Problematik wurde in Gesprächen mit Trägern, Leiter(inne)n und der Projekt-Koordination immer wieder aufgegriffen und diskutiert. Neben den positiven Veränderungen lassen sich nach wie vor Entwicklungspotenziale auf der Ebene der Kitas benennen: Über die Reflexion der Wahrnehmungsmuster bzw. Haltungen von pädagogischen Fachkräften hinaus ist es empfehlenswert, beispielsweise auch etablierte Routinen im Alltag der Kita und bestehende Institutionskulturen zu hinterfragen. Dafür benötigen die KitaTeams jedoch adäquate institutionelle und strukturelle Bedingungen wie eigens hierfür reservierte Räume und Zeiten. KiNET konnte dies anregen und hat somit einen Prozess angestoßen, der perspektivisch in kleinen und begleiteten Schritten realisierbar ist. Die Institution Kita wächst mit ihrem Beitrag zu Frühprävention im Stadtteil über ihren Basisauftrag hinaus. Man könnte auch sagen, dass die am Projekt beteiligten pädagogischen Fachkräfte sich auf den Weg begeben, ein erweitertes
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berufliches Selbstverständnis zu entwickeln, hin zu einer autonomen Professionalisierung, was besonders in vernetzten Kontexten relevant wird. Die Anregung zur Reflexion bestehender Routinen, Kulturen und Bedingungen ist aber nicht allein an Kitas gerichtet: Für die Qualität professionellen Handelns in anderen Institutionen sind herausgeforderte Entwicklungsprozesse, die sich jenseits einer akademischen Verfachlichung bewegen sondern vielmehr Fachlichkeit, Bezug und Setting mit berücksichtigen, ebenso förderlich. Zur Gestaltung eines Netzwerkes Betrachten wir nun den Sozialraum, so zeigt sich, dass viele der zuvor beschriebenen Anliegen des Projektes auf den Weg gebracht werden konnten – was nicht ausschließt, dass weiterhin Entwicklungspotenziale bestehen. Ist es das Ziel eines Netzwerkes, kommunikative Strukturen zu etablieren, so scheint dies KiNET durchaus gelungen; als operatives/handelndes Netzwerk bleibt es aber hinter den Erwartungen der Initiatoren zurück. Sowohl die Qualität der Kommunikations- und Kooperationsstrukturen innerhalb des stadtteilorientierten Netzwerkes als auch das Aktivieren übergeordneter politischer und administrativer Strukturen stellt nicht alle Akteure hinreichend zufrieden. Auf Bedingungen, die innerhalb des Projektes immer wieder neue Hürden aufwarfen, werde ich im letzten Abschnitt des Beitrages näher eingehen. Nachhaltige Netzwerkstrukturen für Frühprävention zu etablieren und dabei an bereits bestehende Strukturen wie das Quartiersmanagement oder die „Stadtteilrunde Gorbitz“ anzuknüpfen, war im Laufe des Prozesses nur vereinzelt möglich. Gerade im Bereich der Jugendhilfe war es schwierig, dauerhaft Anknüpfungspunkte für Kitas einzuflechten. An dieser Stelle zeigt sich, wie wichtig thematische Überschneidungen in Netzwerken sind. Positive Entwicklungen hinsichtlich der institutionellen Vernetzung für Frühprävention in Gorbitz lassen sich zahlreich finden: Anhand der Ergebnisse der Netzwerkanalyse können konkrete Entwicklungen innerhalb des sozialräumlichen Netzwerkes abgebildet werden. So werden ein Anstieg des Bekanntheitsgrads der Akteure für Frühprävention im Stadtteil und eine verdichtete Kommunikation mit ausgewählten Partnern wie Mitarbeiter(inne)n von Kitas, Schulen, Kinderarztpraxen, SSD, Beratungsstellen und „insofern erfahrenen“ Fachkräften, deutlich. Zudem sind die vielseitig gelagerten Fachkompetenzen der Institutionen im Stadtteil bekannt und werden je nach Anliegen aktiviert. Besonders wichtig erscheint es mir, an dieser Stelle auf qualitative Entwicklungsschritte zu verweisen, die aus Netzwerk-Aktivitäten des Projektes hervorgegangen sind und die für eine sich verändernde Rolle der Kita im interprofes-
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sionellen Dialog stehen: Werden sowohl Auffälligkeiten und Entwicklungstendenzen bei Kindern als auch Kita-interne Prozesse differenzierter erschlossen und besitzt Kita ein entsprechendes professionelles Selbstverständnis, so kann sie ihre Anliegen sicherer nach außen kommunizieren und eine eigene Position im Netzwerk der Akteure beziehen. Somit wird die Basis für eine gelingende Kommunikation und Kooperation mit anderen Institutionen oder Professionen gelegt und innovative sowie lösungsorientierte Handlungsoptionen werden erschließbar. Im Folgenden möchte ich näher auf die in KiNET etablierten Kooperationen von Kitas mit anderen Kitas, dem ASD Cotta sowie Kinderärzten im Stadtteil eingehen. Kooperation mit anderen pädagogischen Einrichtungen Auch wenn die Kitas sich selbst (wie im oberen Abschnitt bereits beschrieben) weniger als relevante Netzwerkpartner für Frühprävention im Geflecht der Institutionen im Stadtteil sehen, erwachsen aus anlassbezogenen Dialogen übergreifende Kooperationen, die (früh)präventives professionelles Handeln befördern. Dies lässt sich beispielsweise anhand des entstandenen Kita-Netzwerkes aufzeigen: Neben dem durch KiNET implementierten Verbund aller am Projekt beteiligten Kinderkrippen, Kindergärten und Horte schlossen sich vier Leiter(innen) von Kitas in öffentlicher Trägerschaft6 kooperativ zusammen. Beide Foren etablierten sich auch über KiNET hinaus als Medien für Austausch, Reflexion/Supervision und Organisation von Veranstaltungen. Kooperation mit dem ASD Cotta Verbunden mit sich wandelnden Herausforderung im Stadtteil werden durch KiNET neue institutionsübergreifende Kooperationsmodelle angeregt und bisherige Aufgabenprofile der Institutionen überdacht. So entstand beispielsweise 2008 eine Handlungsorientierung zwischen Kitas und dem ASD Cotta als formalisierte Grundlage der Zusammenarbeit. Gorbitzer Kitas stehen nun feste Ansprechpartner(innen) des Jugendamtes zur Seite, um fallspezifische oder fallunspezifische Anliegen gemeinsam zu bearbeiten. In regelmäßigen Arbeitstreffen werden über das Projekt hinaus aktuelle Entwicklungen im Stadtteil diskutiert und Informationen ausgetauscht. Zudem wird von Mitarbeiter(inne)n des ASD berichtet, dass Erzieher(innen) und Leiter(innen) mit präzisen Anfragen an den 6 Durch den Träger wird die Kooperation der Einrichtungen mit Hilfe einer formalisierten Grundlage unterstützt.
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ASD herantreten und über die Zuständigkeitsbereiche des ASD deutlich besser informiert sind als zu Projektbeginn oder als Fachkräfte aus nicht am Projekt beteiligten Einrichtungen. Auffälligkeiten bei bzw. riskante Entwicklungsbedingungen von Kindern werden deutlich differenzierter wahrgenommen, der normativ orientierte Blick auf Familien wird in gemeinsamen Gesprächen überwunden und die Kita wird als eine Beförderin der Zusammenarbeit von Eltern und Behörde erlebt. Kooperation mit Institutionen im Gesundheitswesen Der über Sektoren hinausreichende interdisziplinäre Dialog zwischen Gesundheitswesen und Kita wurde durch KiNET wesentlich verbessert. Anhand zweier Beispiele soll dies verdeutlicht werden: Der Dialog zwischen Erzieher(inne)n und Kinderärzt(inn)en wird mit dem Kita-Vorsorgebogen7 gefördert und von beiden Seiten als qualitativer Zugewinn verstanden. Erzieher(innen) begrüßen die Möglichkeit, Erfahrungen mit einem Kind und Beobachtungen aus dem pädagogischen Alltag mit Eltern zu besprechen und ihnen die Verantwortung zur Übermittlung des Bogens an den Kinderarzt oder die Kinderärztin bei den Vorsorgeuntersuchungen U8/U9 zu überlassen. Aus Sicht der Mediziner(innen) ist der Vorsorgebogen ein Medium, um die Entwicklung eines Kindes besser beurteilen zu können und Anhaltspunkte für Rückfragen zu finden. Der direkte oder über die Eltern vermittelte Rückfluss an Informationen zur Kita war jedoch häufig unterbrochen. Zu berücksichtigen ist zudem, dass der Vorsorgebogen nicht delegierende Handlungsmuster in den medizinischen Bereich unterstützen sollte, um Erzieher(innen) zu entlasten, sondern Kita pädagogische Fachlichkeit zugesteht. Als zweites Beispiel für gelingende Kooperation ist die Zusammenarbeit von Kita und Kinder- und Jugendärztlichem Dienst zu nennen: Erzieher(innen) begleiten die Kinder ihrer Gruppe nun zur Schuleingangsuntersuchung und stehen den Ärzt(inn)en als kompetente Partner(innen) und Expert(inn)en zur Seite.
7 Der Kita-Vorsorgebogen ist angelehnt an ein von „Fit von klein auf“ entwickeltes Instrument zur Früherkennung von Entwicklungsauffälligkeiten zur U8/U9. Beobachtung und Dokumentation gehören zum Standard in Kitas. Werden Instrumente, die zur Analyse des Entwicklungsstandes des Kindes gedacht sind, mit jenen gekoppelt, die qualitative Aussagen über Entwicklungsprozesse, Kompetenzen und Interessen des Kindes treffen, kann der Kita-Vorsorgebogen zum Kommunikationsmedium und -anlass werden, um mit Eltern und Kinderärzt(inn)en ins Gespräch zu kommen. Der Bogen wurde im Rahmen einer AG diskutiert sowie angepasst und von Erzieher(inne)n, Eltern und Kinderärzt(inn)en gut angenommen.
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Kooperation mit Eltern Neben Institutionen und Akteuren war es – wie in den Abschnitten zu Zielen und Methoden bereits näher beschrieben – Ziel von KiNET, Mütter und Väter zu erreichen. Angebote auf der Basis des Milieus auszurichten ist Ziel vieler Projekte, doch ohne adäquate Reflexion der spezifischen Bedarfe und einem milieuspezifischen Zugang nur begrenzt realisierbar. Als erster Schritt zu Veränderungen der Zusammenarbeit mit Eltern lässt sich festhalten, dass es für pädagogische Fachkräfte zunächst eine Herausforderung war, zu klären, welche Anliegen Eltern mitbringen und wie neue Ideen generiert werden können. Die besondere Herausforderung bestand dabei darin, den eigenen Anspruch den Interessen der Eltern unterzuordnen. Im Projektverlauf wurden z. T. Angebote implementiert, die mitunter an den benannten Hürden scheiterten. Niedrigschwellige Veranstaltungen für Eltern (wie Tauschbörse oder Elterncafé) wurden wenig in Anspruch angenommen und haben gerade „schwierige Eltern“ nicht erreicht. Hier bleibt die Frage offen, ob die angewandten Methoden geeignet waren. Auch der Versuch, Erzieher(innen) zu Elternberater(inne)n auszubilden, scheiterte bereits in der ersten Projektphase. Demgegenüber fanden Kita-interne Beratungsmöglichkeiten großen Zuspruch – ganz gleich, ob sie als Elternberatung durch externe Fachkräfte oder als Beratung durch Erzieher(innen) angeboten werden: Eltern nutzen sie heute sehr viel intensiver als noch zu Projektbeginn. Die Präsenz der Berater in der Kita, der gefestigte Kontakt sowie die wachsende Gesprächsführungskompetenz und Sensibilität für die Anliegen der Eltern waren aus Sicht des Koordinationsteams dafür ausschlaggebend. Zudem werden Veranstaltungen für Eltern, in denen es konkret um Belange „ihres Kindes“ geht, stärker besucht. An diesen Erfahrungen knüpfen die am Projekt beteiligten Kitas nun an und sind bestrebt, mit diesem Wissen weitere Zugänge zu den Eltern zu eröffnen. Markante Punkte im Vernetzungsprozess Die Realisierung von Vernetzungsanliegen gestaltet sich nicht ohne Hürden und Reibungen. Welche Aspekte den sozialräumliche Vernetzungsprozess in KiNET immer wieder besonders herausforderten und die Vernetzungsaktivitäten wesentlich beeinflussten, soll im Folgenden herausgearbeitet werden. Dabei handelt es sich mit Sicherheit um keine KiNET-spezifischen Herausforderungen, sondern um Hindernisse, die sich im Kontext institutioneller Vernetzung auch in anderen Zusammenhängen benennen lassen. An dieser Stelle möchte ich – in Ergänzung
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zu den bereits ausführlich beschriebenen methodischen Ansätzen – aufzeigen, wie auf jene markanten Punkte im Projektzusammenhang eingegangen wurde. Grundlagen für Vernetzung Aus den vielseitigen Erfahrungen im Rahmen des Projektes wurde deutlich, dass auferlegte Vernetzungsbemühungen weitaus weniger nachhaltig sind als gewachsene und begleitete Strukturen. Als besonderer Motor und Anknüpfungspunkt, um nachhaltige Netzwerkstrukturen zu etablieren, werden die jeweiligen Interessen der Akteure gesehen, die mitunter aus einem Handlungsdruck im professionellen Alltag erwachsen. Immer wieder galt es im Prozess, Akteure zu aktivieren, für ihren Nutzen im Netzwerk selbst einzustehen. Nicht Delegation und Konsum, sondern eigenverantwortliche Mitarbeit, sind hier zielführend. Darüber hinaus darf es zu keim Ungleichgewicht von eingebrachten und bearbeiteten Anliegen beteiligter Akteure entstehen, denn bleibt eine für die Akteure spürbare Weiterentwicklung an den für sie relevanten Themen aus, so stagnieren konstruktive Prozesse und zerbrechen bereits entstandene Strukturen. Auch wenn Kitas im Netzwerk eine besondere Rolle zugesprochen wird und sie ihre Anliegen und Forderungen vermehrt einbringen, gilt es, eine gewisse Balance der bearbeiteten Themen herzustellen. Die anfängliche Themenvielfalt musste daher einer kleinen, aber von allen Beteiligten getragenen Menge von Anliegen weichen. Eine hinreichende Bedarfs-, Netzwerk- und Institutionsanalyse hätte dazu beitragen können, bereits zu Beginn des Projektes Schwachstellen aufzudecken, die eigene Rolle und Funktion im System zu reflektieren und bestehende Strukturen aufzugreifen. Zudem hätte sie konkrete Ansatzpunkte für die Netzwerkarbeit geboten. Entsprechende Analysen im Projektverlauf durchzuführen war dann kaum noch realisierbar. Ein weiterer markanter Punkt liegt in der Gestaltung von Veranstaltungen: Möglichst viele Akteure aus unterschiedlichen institutionellen Kontexten gleichzeitig zu beteiligen und diese in Großveranstaltungen zum Dialog einzuladen, hemmte eher, als dass es den Prozess befördert. Im Projekt wurden daher gerade in der Initialphase parallel zum Plenum kleinere thematische Räume zur Verfügung gestellt, in denen wenige Akteure gemeinsam an konkreten Anliegen arbeiten konnten. Tendenzen zur Informalisierung von Kontakten stellen zudem ein Verstetigungsproblem oder Stabilitätsrisiko für das Netzwerk dar. Verbindliche Vereinbarungen schufen ein formalisierte Grundlagen für die Zusammenarbeit und halfen, Statusdifferenzen auszugleichen.
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Während des gesamten Prozesses nahm das Koordinationsteam eine anregende, spiegelnde und vermittelnde Rolle als Moderator, Impulsgeber und Koordinator ein. Es versuchte, seine Aktivitäten zwischen diskursiver Koordination (im Sinne einer gleichberechtigten Beteiligung aller an den Netzwerkprozessen), systemischer Steuerung (als Zielorientierung) und Unterstützung bei der Entwicklung selbstständig tragfähiger Strukturen auszutarieren, um die Qualität der Diskussionen, die Autonomie, Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit von Akteuren sowie deren Motivation und Aktivität innerhalb des Netzwerkes zu befördern. Werden die Organisation von Veranstaltungen oder die Anregung von Aktivitäten ausschließlich durch externe Personen geleistet, so entwickelt sich zunehmend eine konsumierende statt eine konstruktiv gestaltende Haltung seitens der Akteure. Die externe Koordination sichert zwar die Kontinuität der sich etablierenden Kontakt- und Kooperationsstrukturen, birgt jedoch zugleich die Gefahr in sich, die Verantwortung zur Aufrechterhaltung der Netzwerkaktivitäten zu delegieren. Erst im letzten Jahr des Projektes konnten erste Verselbständigungsprozesse notiert werden. Hier wird deutlich, dass eine externe Steuerung zu Beginn notwendig ist, um den Nutzen von Vernetzung erlebbar zu machen und Eigenaktivität zu provozieren. Später sollte die externe Begleitung die Verantwortung hierfür jedoch schrittweise abgeben. Herausforderungen eines institutionsübergreifenden Ansatzes Ungeklärte Begrifflichkeiten wie „Frühprävention“, „Sozialraumorientierung“, „Vernetzung“ bzw. unpräzise Verwendung derselben führten zu Irritationen. Ebenso lag eine Hürde im Umgang mit differenten Grundvorstellungen über riskante Entwicklungsbedingungen (Problemverständnis): Ein dominanter defizitorientierter Blick auf bereits manifestierte Probleme stand mitunter einem ressourcenorientierten Präventionsansatz gegenüber und drohte die Perspektiven zu verengen, statt sie zu öffnen. Ähnliches lässt sich hinsichtlich der Ziele formulieren: Treffen in einem interdisziplinär angelegten institutionellen Netzwerk Vertreter verschiedener Professionen aufeinander, fallen mitunter auch die Ziele weit auseinander. Zudem waren die Ziele und Erwartungen der Projektinitiatoren als auch die der beteiligten Akteure lange Zeit diffus und vielschichtig. Die in Abschnitt 3 beschriebenen Thesen waren darüber hinaus eher von außen an das Projekt und an die Kitas herangetragen, so dass die beteiligten Akteure zwar mit dem globalen Anliegen – Kinder und Familien in belastenden Lebenslagen zu unterstützen – konform gingen, in ihren Teilzielen jedoch voneinander abwichen und durch die Perspektive der jeweiligen Institution geprägt waren. Die hier zu bewältigende
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Komplexität an Zielen, Erwartungen und Interessen führte mitunter zu Konflikten und gekoppelt mit strukturellen Herausforderungen z. T. zum Ausscheiden von Netzwerkpartnern aus der unmittelbaren Kooperation. Eine vollständige Deckungsgleichheit oder umfassende Übereinstimmung der Netzwerk-, Institutionen- und persönlichen Interessen, darf nicht erwartet werden. Ziel kann nur sein, eine hinreichende Schnittmenge sowie eine angemessene Balance8 herzustellen. Bereits dies stellt in KiNET, trotz vielfältiger methodischer Ansätze, eine große Herausforderung dar. Zu Beginn der zweiten Projektphase wurde noch einmal besonderer Wert darauf gelegt, konkrete Ziele und Teilziele zu differenzieren, die gewählten Ansätze zu hinterfragen und durch deren Justierung einen qualitativen Sprung hin zur Vernetzung zu ermöglichen. Weitere Ziele waren u. a., Transparenz zu fördern, Ressourcen zu erschließen und neben den bestehenden Handlungsoptionen der Institutionen neue zu generieren, die es v.a. Kitas ermöglichen sollten, auf veränderte Bedingungen im Sozialraum besser zu reagieren. Hier hemmten unterschiedliche Handlungslogiken der Institutionen die Bearbeitung der Anliegen in bereits angestoßenen Prozessen, sorgten für Irritationen und Unverständnis in Bezug auf die Vorgehensweise und damit letztendlich für erhebliche Spannungen. Zudem führten unterschiedliche Entscheidungsbefugnisse der Teilnehmer der Veranstaltungen oder Legitimationsprobleme9 seitens der Kita, zu weiteren Reibungsverlusten im Prozess. Darüber hinaus blockierten Statusunterschiede zwischen Professionen wie beispielsweise Kinderärzt(inn)en und Erzieher(inne)n den Austausch als gleichberechtigte Partner und beförderten delegative Handlungsmuster seitens der Frühpädagogik. Ein intensiver vermittelter Dialog, beispielsweise zwischen Leiter(inne)n und Ärzt(inn)en oder ASD-Mitarbeiter(inne)n, bot hier die Möglichkeit zum Transfer auf Akteursebene, eröffnete einen Perspektivwechsel in kleinen Kreisen und half, Differenzen auszugleichen. Der dabei anfänglich konstatierte Mehraufwand durch kontinuierliche Treffen, der sowohl personelle als auch finanzielle Ressourcen von Akteuren einforderte, wird nun durch zahlreiche Akteure als mittelbarer sowie unmittelbarer Zugewinn benannt.
8 Jene Balance wird bei Schubert (2005) als „Koopkurrenz“ und bei Santen und Seckinger (2005a) als „multiple Adhärenz“ bezeichnet. 9 Bezogen auf ihren Kernauftrag gilt die Kita auch und gerade in sozialräumlicher Perspektive als wichtiger (und ernstzunehmender) Akteur. Im Kontext von Ansätzen und Maßnahmen einer Frühprävention gilt dies nicht oder nur in eingeschränkter Weise. Hier wird der Kita nur eine nachrangige Bedeutung und Position zuschrieben. Bemühungen seitens der Kita dies zu überwinden und als kompetenter Ansprech- und vollwertiger Netzwerkpartner anerkannt zu werden, führte mitunter zu Konflikten und Widerständen.
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Wandel mit Spannung Zeitlich knappe Ressourcen und permanent überlastetes Personal, Spannungen im Team oder Krisensituationen im pädagogischen Alltag führten zudem immer wieder zu stagnierenden Projektverläufen. Dies konnte durch Beratungen, Supervisionen und hierfür vorgesehene „kindfreie“ Zeiten bearbeitet werden. Die Projekterfahrungen zeigen zudem, dass mit Widerständen zu rechnen ist – gerade dann, wenn es um den angestrebten Wandlungsprozesses von Kitas geht. Der frühpädagogischen Praxis wird durch die ihr zugesprochene Rolle innerhalb von „Prävention“ ein erweitertes Aufgabenprofil zugemutet und Vernetzung zum Bestandteil pädagogischer Aufgaben ernannt. Zudem kann mit der eingeforderten Reflexion und dem Infragestellen von Routinen ggf. ein Verlust von tradierten Handlungsgrundlagen einhergehen, der Desorientierung und Unsicherheit im Feld mit sich bringt. Hier wird die Unterstützung bei der Gestaltung einer adäquaten Fachlichkeit besonders wichtig. Dem anfänglich hohen Anspruch hinreichend gerecht zu werden, war nicht in allen Bereichen möglich. Dennoch verdeutlichen die benannten zentralen Elemente zur Weiterentwicklung der Kitas (im Sinne sowohl interner als auch netzwerkorientierter Handlungsoptionen) und der Netzwerkstrukturen, dass das Netzwerk durch Qualifizierung der Schnittstellen und Erhöhung der Anschlussfähigkeit sowie durch Verbesserung der inhaltlichen Arbeit befördert wurde. Beides trägt aus meiner Sicht dazu bei, mit KiNET feste Kommunikations- und Kooperationsstrukturen zu etablieren und darüber hinaus flexibles und situationsangemessenes Handeln in einem Verbund von Institutionen, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, zu ermöglichen. Literatur Bauer, Petra (2005): Institutionelle Netzwerke steuern und managen. Einführende Überlegungen. In: Bauer, Petra/Otto, Ulrich (Hrsg.): Mit Netzwerken professionell zusammenarbeiten. Band 1: Soziale Netzwerke in Lebenslauf- und Lebenslagenperspektive. Tübingen, S. 11-54 Bauer, Petra/Otto, Ulrich (Hrsg.) (2005): Mit Netzwerken professionell zusammenarbeiten. Band 1: Soziale Netzwerke in Lebenslauf- und Lebenslagenperspektive. Tübingen. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2010): 13. Kinder- und Jugendbericht bestätigt Kurs der Bundesregierung. www.bmfsfj.de/BMFSFJ/kinderund-jugend,did=121936.html, letzter Zugriff am 10.06.2010
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Cook, Kieron/Förster, Antje (2008): Das KiNET Dresden. Ergebnisse, Berichte, Perspektiven. Bericht aus Praxis, Forschung und Entwicklung in der Sozialen Arbeit der Arbeitsstelle für Praxisberatung, Forschung und Entwicklung e.V. (apfe), Dresden Diller, Christian (2002): Zwischen Netzwerk und Institution. Eine Bilanz regionaler Kooperationen in Deutschland. Opladen Kardorff, Ernst v. (1998): Kooperation, Koordination und Vernetzung. Anmerkung zur Schnittstellenproblematik in der psychosozialen Versorgung. In: Röhrle, Bernd/Sommer, Gert/Nestmann, Frank (Hrsg.): Netzwerkinterventionen. Tübingen, S. 203-222 Kooperation und Vernetzung von Kindertageseinrichtungen im Sozialraum. Beschluss der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter. Jugendhilfe 45, 1/2007 Kuper, Harm (2004): Netzwerke als Form pädagogischer Institutionen. In: Böttcher, Wolfgang/Terhart, Ewald (Hrsg.): Organisationstheorie in pädagogischen Feldern. Analyse und Gestaltung. Wiesbaden, S. 237-252 Landeshauptstadt Dresden (2002): Stadtteilkonzept Gorbitz. Dresden Landeshauptstadt Dresden (2008a): Lebenslagenbericht der Stadt Dresden. Landeshauptstadt Dresden (2008b): Statistische Mitteilungen. Stadtteilkatalog. Dresden Merchel, Joachim (2000): Kooperation und Vernetzung in der Jugendhilfe. In: Dahme, Hans-Jürgen/Wohlfahrt, Norbert (Hrsg.): Netzwerkökonomie im Wohlfahrtsstaat. Wettbewerb im Sozial- und Gesundheitssektor. Berlin, S. 91-118 Projekt „Netzwerke im Stadtteil“ (Hrsg.) (2005): Grenzen des Sozialraums. Kritik eines Konzepts – Perspektiven für Soziale Arbeit. Reihe DJI-Jugend, Wiesbaden Rietmann, Stephan (2008): Das interdisziplinäre Paradigma. Fachübergreifende Zusammenarbeit als Zukunftsmodell. In: Rietmann, Stephan/Hensen, Gregor (Hrsg.): Tagesbetreuung im Wandel. Das Familienzentrum als Zukunftsmodell. 2., durchgesehene Auflage. Wiesbaden, S. 39-57 Röhrle, Bernd/Sommer, Gert/Nestmann, Frank (Hrsg.) (1998): Netzwerkinterventionen. Tübingen Santen, Eric van/Seckninger, Mike (2005): Sozialraumorientierung ohne Sozialräume? In: Projekt „Netzwerke im Stadtteil“ (Hrsg.): Grenzen des Sozialraums. Kritik eines Konzeptes – Perspektiven für Soziale Arbeit. Wiesbaden, S. 49-71 SAS – Reginal-, Verkehrs- und Umweltforschung GbR (2005): Soziale Stadt Gorbitz. Struktur und Wohnortbindung. Dresden Schefold, Werner (2005): Sozialräumlichkeit von Hilfeverfahren. In: Projekt „Netzwerke im Stadtteil“ (Hrsg.): Grenzen des Sozialraums. Kritik eines Konzeptes – Perspektiven für Soziale Arbeit. Wiesbaden, S. 145-163 Schöning, Werner (2008): Sozialraumorientierung. Grundlagen und Handlungsansätze. Schwalbach/Ts Schubert, Herbert (2005): Netzwerkmanagement. In: Schubert, Herbert (Hrsg.): Sozialmanagement. Zwischen Wirtschaftlichkeit und fachlichen Zielen. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Wiesbaden, S. 187-209 SGB – Sozialgesetzbuch Achtes Buch (VIII), Kinder- und Jugendhilfe. http://www.sozialgesetzbuch-sgb.de, letzter Zugriff am 10.06.2010
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Weber, Susanne (2005): Netzwerkentwicklung als Lernprozess. In: Bauer, Petra/Otto, Ullrich (Hrsg.): Institutionelle Netzwerke in Sozialraum- und Kooperationsperspektive. Tübingen, S. 127-181
Wege zur chancengerechten Kita – Innovationsimpulse und Praxisdynamiken in einem gewachsenen Handlungsfeld Thomas Drößler, Annekatrin Lorenz, Andreas Wiere
In der Diskussion um Möglichkeiten und Strategien zur Prävention und Kompensation potenziell benachteiligender bzw. beeinträchtigender Folgen eines Aufwachsens unter belastenden Lebensumständen – Stichwort: „Herstellung von Chancengerechtigkeit“ – wird Kindertageseinrichtungen eine zentrale Bedeutung zugeschrieben. Sie sind die erste kontinuierliche und öffentlich institutionalisierte Sozialisationsinstanz außerhalb des Familiensystems. Entsprechend sind sie zu einem zentralen Ort des Aufwachsens, der Entwicklung und des Lernens der Kinder geworden. In Kindertageseinrichtungen können daher z. B. Förderbedarfe und besondere belastende Lebenssituationen frühzeitig erkannt werden. Bei entsprechender Kompetenz und angemessenen Ressourcen besteht dann die große Chance, bedarfsgerechte Unterstützungsmaßnahmen frühzeitig und niedrigschwellig sowie lebensweltnah einzuleiten. Praxisbezogene Diskurse, in welchen die fachpolitisch-programmatischen Setzungen und Forderungen dieser Debatten hinsichtlich ihrer Umsetzungsmöglichkeiten und Voraussetzungen thematisiert oder empirisch ausgearbeitet werden, kommen dabei gegenwärtig jedoch kaum zum Zuge. Wenig kann man darüber in Erfahrung bringen, was in Kindertageseinrichtungen „passiert“, die sich mit schwierigen Lebenslagen und deren Folgen im Sinne „akuter“ Benachteiligungen von Kindern sowie künftiger Risiken der Benachteiligung und Exklusion konfrontiert sehen und versuchen, diese unter den fachlichen und strukturellen Rahmenbedingungen einer Regeleinrichtung Kindertagesstätte pädagogisch zu bearbeiten. Der nachfolgende Beitrag basiert auf den ersten Erfahrungen aus einem Projekt, das sich dies zum Ziel gesetzt hat. Es geht um den Versuch einer ersten systematischen Darstellung, Kommentierung und Einordnung von Beobachtungen, die auf Voraussetzungen und Handlungsbedarfe hindeuten, welche in erster Linie die Kindertageseinrichtungen betreffen, wenn diese vor die Aufgabe der
G. Robert et al., (Hrsg.), Aufwachsen in Dialog und sozialer Verantwortung, DOI 10.1007/978-3-531-92693-3_12, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Prävention von lebenslageninduzierten Benachteiligungen von Kindern oder positiv gewendet: der Herstellung von Chancengerechtigkeit gestellt sind – ob nun durch ein Projekt oder die alltägliche Situation bspw. in einem Kindergarten. Dabei ist deutlich geworden, dass die „Probleme“ der Kinder und Familien, die Bedarfskonstellationen und Förderbedarfe etc. zwar eine wichtige Rolle spielen – dem vorgelagert aber zeigten sich Thematisierungs- und Vergewisserungsnotwendigkeiten, die auf weitaus grundlegendere Dimensionen und Fragestellungen zu verweisen scheinen. Zu nennen sind hier vor allen Dingen einrichtungsbezogene Charakteristika, die sich gleichermaßen als wesentliche Grundlage wie Bezugspunkt fachlicher Entwicklungsprozesse herauskristallisiert haben. Diese werden aus einer organisationstheoretischen Perspektive herausgearbeitet und diskutiert. Es geht darum, exemplarisch aufzuzeigen, dass inhaltliche Veränderungsimpulse – insbesondere dann, wenn diese von außen an eine Organisation herangetragen werden – weitreichende Irritationen provozieren (können). Dabei spielen das Selbstverständnis sowie fachliche Orientierungen und Praxiserfahrungen auf Seiten der Kindertageseinrichtungen eine wichtige Rolle. Anhand des Konzeptes der Organisationskultur werden im Folgenden die Dynamiken und Konsequenzen aufgezeigt, die durch das Projekt (mit) ausgelöst wurden und die beteiligten Akteure vor neue Herausforderungen in Sachen Abstimmung, Reflexion und Koordination, aber auch hinsichtlich veränderter Themen und Aufgabenstellungen gestellt haben. Darüber hinaus verweisen die Erfahrungen auf Aspekte der Institutionenentwicklung und des Institutionenwandels. Dieser Wandel wird auf der einen Seite durch die Diskussionen um den sozialpolitischen Auftrag von Kindertagesstätten befördert. Auf der anderen stößt Letzterer jedoch nicht nur im strukturellen wie fachlichen Zuschnitt des Handlungsfeldes (zunächst) an Grenzen, sondern auch hinsichtlich des Selbstverständnisses und damit der Geschichte und Traditionen von Kindertagesbetreuung. Analogien zur Organisa-tionenebene ergeben sich aus der Beobachtung, dass der in den entsprechenden Debatten formulierte Veränderungsimpuls mit Blick auf die konkrete Verfasstheit und Praxis des Feldes ebenfalls zunächst ein äußerlicher ist, das Feld aber nichtsdestoweniger oder gerade deshalb in seinem Grundverständnis tangiert und irritiert. Organisationsentwicklung auf der Ebene der Kindertageseinrichtungen erweist sich in der Folge auch als Institutionenentwicklung „im Kleinen“. Das bedeutet aber auch, dass Unklarheiten in den Debatten auf der einen Seite ausgehalten werden müssen, scheinbare Klarheiten auf der anderen jedoch leicht relativiert werden können, was mit hohen Anforderungen für alle Beteiligten verbunden ist. Insofern stehen im Fokus des Beitrages weniger die angesprochenen Kindertageseinrichtungen als vielmehr der Veränderungsprozess sowie die dabei zu berücksichtigen Dynamiken, systematischen Blindstellen und Verkürzungsgefah-
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ren. Die daraus resultierenden Spannungen werden herausgearbeitet und handhabbar zu machen versucht im Hinblick auf die Planung, die Umsetzung und die potenziellen Ergebnisse künftiger Projekte. Am Schluss des Beitrages werden die entwickelten Ergebnisse und Argumente knapp mit Überlegungen zu dem sich in den einschlägigen Debatten um Frühprävention und Chancengerechtigkeit manifestierenden Prozess des Institutionenwandels im Bereich Kindertagesbetreuung in Beziehung gesetzt. Mit beiden Perspektiven – Organisationen- und Institutionenentwicklung – scheint die Frage verbunden nach den Voraussetzungen, Chancen und Grenzen einer substantiellen und nachhaltigen Entwicklung von Einrichtungen und Handlungsfeld der Bildung und Erziehung in der frühen Kindheit. Das Handlungsprogramm „Aufwachsen in sozialer Verantwortung“ Seit 2008 läuft in Dresden ein Projekt mit dem Titel „Aufwachsen in sozialer Verantwortung“. An dem Projekt sind 32 Kindertageseinrichtungen beteiligt, die sich aufgrund der Lebenssituation von Kindern und Familien besonderen fachlichen Herausforderungen gegenübersehen. Das Anliegen des Projektes besteht in einem umfassenden Sinne darin, Prozesse einer lebenslagenbezogenen Qualitäts-, Konzept- und Angebotsentwicklung in und – vor allem – mit den betreffenden Kindertageseinrichtungen zu initiieren und zielorientiert zu gestalten. Dabei geht es nicht nur um die „Bearbeitung“ spezifischer Bedarfe, sondern vielmehr um die Beachtung aller Kinder mit ihren jeweiligen Bedürfnissen und Interessen. Dies wirkt nicht nur der Gefahr einer Stigmatisierung als „Benachteiligtenprogramm“ und Unterstützungsangebot für „schwierige Fälle“ entgegen, sondern nimmt ernst, dass sich alle Kinder mit unterschiedlichsten Situationen auseinandersetzen. Ebenso wenig geht es darum, spezialisierte Angebote und Leistungen, bspw. durch Vernetzungs- und Kooperationsstrategien, für Einrichtungen zu erschließen und an diese „anzulagern“. Auch wenn die im Rahmen des Projektes weiterzuentwickelnde pädagogische Praxis allen Kindern zugute kommt, geht der Impuls des Handlungsprogramms vor allem von Situationen aus, in denen Kinder von (den Folgen von) sozialer Benachteiligung bedroht oder betroffen sind. Dabei beeinflussen gesellschaftliche Bedingungen, unter denen Kinder aufwachsen, deren Entfaltung ebenso wie die konkreten Lebenslagen, in denen sich die Kinder dauerhaft oder situativ befinden. Aber auch die institutionellen Bedingungen selbst sind als Verursacher oder Verstärker von Benachteiligung nicht außer Acht zu lassen. Kindertageseinrichtungen bzw. die dort tätigen Fachkräfte sind angehalten, diese Lebenslagen wahrzunehmen, den Bedarf zu erkennen und zu beschreiben, der
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sich aus den Lebenslagen von Kindern für deren Aufwachsen ergibt und im Sinne der Kinder adäquate pädagogische Antworten zu finden. Hauptanliegen des Handlungsprogramms ist mithin die Sicherstellung eines Passungsverhältnisses von Bedarfslage und pädagogisch-konzeptionellem Angebot einer Kindertagesstätte und damit eine an den Lebenslagen und individuellen Bedürfnissen von Kindern orientierte Bildungs- und Entwicklungsbegleitung1. In gewissermaßen praktischer Hinsicht geht es um: das Ausrichten der pädagogischen Arbeit an solchen Hintergründen im alltäglichen und „natürlichen“ Lebensfeld der Kinder die entsprechende und individuelle Förderung von Kindern durch Mitarbeiter/-innen der Einrichtungen im Rahmen derselben die Entwicklung von Unterstützungssystemen für Kinder und deren Familien in prekären, belasteten und/oder benachteiligenden Lebenslagen und -situationen die Entwicklung passgenauer Angebote der Unterstützung und Hilfe für Eltern in Fragen des Aufwachsens und der Erziehung in den Einrichtungen den Aufbau von neuen Formen der Kombination von bedarfsgerechten kinder- und jugendhilflichen Leistungen mit dem Regelangebot von Kindertageseinrichtungen sowie entsprechenden institutionellen Schnittstellen und Vernetzungen Dies in der Praxis zu realisieren kann nur gelingen, wenn die Akteure in den Einrichtungen sich der Verschiedenheit der Situationen, in denen Kinder leben, bewusst werden und methodisch-konzeptionelle Antworten darauf finden, was Kinder für ihre Entwicklung brauchen (vgl. Krenz 2005, Brazelton/Greenspan 2002). Hierbei sind vor allem professionelle Antworten in Hinblick auf die Folgen bestimmter Lebenssituationen von Kindern im Rahmen der Möglichkeiten der Einrichtung nötig. Es kann also nicht darum gehen, dass Erzieher/-innen in der Regeleinrichtung Kindertagesstätte bestimmte Dimensionen der Lebenslagen von Kindern verändern. Was im Rahmen der Kindertagesstätte aber getan werden kann, ist, dem Kind mit wachsamer Aufmerksamkeit zu begegnen, Bedarfe zu erkennen und sich damit bewusst auseinanderzusetzen. Dann geht es darum, pädagogisch auf diese Bedarfe zu reagieren, d.h., eine Handlungspraxis und ggf. Angebote zu entwickeln und zu etablieren, die einen ausgleichenden und fördernden Charakter mit Blick auf das Kind haben und ggf. auch Familien in ihrem 1 Die Notwendigkeit, dass sich Kindertageseinrichtungen mit Bedarfslagen bei Kindern und Familien auseinandersetzen, diese erfassen und ihr pädagogisch-konzeptionelle Angebot daran ausrichten, wird als grundlegendes fachliches und Qualitätserfordernis im SGB VIII betont. Hier wird auf spezifische Anforderungen rekurriert, wie sie sich aus (den Folgen von) sozial benachteiligten familialen Lebenslagen bei Kindern für die Arbeit der Einrichtungen ergeben.
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Erziehungshandeln unterstützen können. Unter Angeboten firmieren dabei (eben) nicht allein methodisch-didaktische Settings, die bspw. den thematischen Modulen der Bildungspläne folgen. Gefragt sind auch und zunehmend die mit Haltungen gegenüber Kindern verbundene Präsenz der Erzieher/-innen sowie weitere, die Einrichtungskultur betreffende Merkmale kindorientierter Organisationsstrukturen und -prozesse. Manchmal besteht das Angebot auch darin, etwas nicht mehr oder anders als bisher zu tun. Der Schwerpunkt des Projektes liegt mithin auf der Handlungs- und Reflexionsebene der Kindertageseinrichtung bzw. der dort tätigen PädagogInnen. Seinen zentralen Bezugs- und damit Zielpunkt bilden die Kinder, d.h. deren – gezielte wie umfassende – pädagogische Förderung und Begleitung. Insofern zielt das Vorhaben auf die Entwicklung der Organisation „Kindertageseinrichtung“ im Sinne einer lernenden Organisation. Im Rahmen des Projektes sind bei den beteiligten 32 Einrichtungen zusätzlich Sozialpädagogen/-innen im Umfang von je einer vollen Stelle tätig. Deren Auftrag besteht primär in der Organisations-, Konzept- und Angebotsentwicklung. Gleichermaßen sind sie in ihrer fachlichen Kompetenz hinsichtlich sozialer Probleme, belastender Lebenslagen und deren möglicher Folgen sowie deren professionellem Verstehen und ggf. daraus abzuleitenden Möglichkeiten der Hilfe und Unterstützung gefragt. Zudem werden die Einrichtungen durch ein Kompetenz- und Beratungszentrum „Aufwachsen in sozialer Verantwortung“ an der Arbeitsstelle für Praxisberatung, Forschung und Entwicklung (apfe) e. V. an der Evangelischen Hochschule Dresden begleitet und unterstützt. Das Kompetenz- und Beratungszentrum sieht seine vorrangige Aufgabe in der Erkundung, Bündelung und Nutzbarmachung der Kompetenzen von Akteuren im Rahmen des Programms (Fachkräfte in den Einrichtungen, Träger und Fachberatung sowie externe Ressourcen). Der einrichtungsübergreifende Blick auf die Entwicklungsprozesse ermöglicht die Bündelung einzelner Erfahrungen und die Identifizierung zentraler Handlungskomponenten und Bedarfslagen. Daran anknüpfend nehmen die Mitarbeiter/-innen des KBZ einen komplementär angelegten Beratungs- und Steuerungsauftrag wahr: In enger Verzahnung mit der Prozessbegleitung (Moderation, Initiierung von Reflexionsprozessen, methodisches Rüstzeug für zielorientierte Planung, Steuerung und Selbstevaluation) stellt das Team den pädagogischen Fachkräften in den Kindertageseinrichtungen auch fachlich-inhaltliche Unterstützung zur Seite. Die einrichtungsbezogene Steuerungsverantwortung und der praktische Gestaltungsauftrag im Rahmen des Handlungsprogramms bleiben in der Hand der jeweiligen Leitung und ihres Teams. Zudem zeichnet das Kompetenzzentrum für die wissenschaftliche Begleitung des Prozesses in den Einrichtungen sowie auch für den Prozess als Ganzen verantwortlich. Gefördert wird das Projekt durch die Landeshauptstadt Dresden sowie mit Mitteln des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus.
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Erste Erwartungen der Kindertageseinrichtungen Das Projekt konkretisiert aus der Perspektive der Kindertageseinrichtungen zunächst einmal einen (bislang) vor allen Dingen auf der programmatischen bzw. einer allgemeinen fachpolitischen und fachlichen Ebene thematisierten Handlungs- und Entwicklungsauftrag an das Feld. Damit werden jedoch für diese Einrichtungen nicht nur die gestellten Aufgabenstellungen virulent; ebenso werden eigene Ansprüche und Erwartungshaltungen mit dem Projekt verbunden bzw. aktualisiert. Pointiert kommen diese in den Erwartungen zum Ausdruck, die seitens der Kindertageseinrichtungen bzw. deren Teams an die – zusätzliche – sozialpädagogische Fachkraft gerichtet wurden. Diese Erwartungen richteten sich auf: die strukturelle Verstärkung der Teams durch die Sozialpädagogen/-innen im Sinne einer/eines zusätzlichen (Gruppen-)Erziehers/-in die Zuständigkeit der Sozialpädagogen/-innen für und Bearbeitung von besonderen Problemfällen – schwierige Kinder, schwierige Eltern – als dafür, fachlich und methodisch, offenbar besonders qualifizierte Experten/innen2 die Zuständigkeit für und Übernahme von Aufgaben, die auf der einen Seite zum Aufgabenkatalog von Kindertagesstätten zu zählen sind, für die aber auf der anderen Seite im Alltag keine ausreichenden Ressourcen zur Verfügung stehen und die zudem (vermeintlich) eine relativ große „Nähe“ zur sozialpädagogischen Profession aufweisen (bspw. Elternarbeit) die Beratung und Unterstützung von Teams/Teammitgliedern bei konkret beobachteten Problemen („Fällen“) bzw. in als schwierig antizipierten Situationen (Elterngespräche) als Professionelle mit spezifischen diagnostischen und kommunikativen Kompetenzen das Angebot konkreter Hilfestellung bzw. die Vermittlung von Hilfen insbesondere für Familien, bei denen Hilfebedarf beobachtet oder vermutet wird die Erschließung und Ankopplung von Hilfeangeboten, Einrichtungen und Diensten für besondere Förder- und Hilfebedarfe (Pädiatrie, Frühförderstellen, Erziehungsberatungsstellen, Therapeuten) an die Einrichtungen als Kooperations- und Vernetzungsexperten/-innen die Entwicklung von Angeboten und Projekten, die spezifische Aufgabenstellungen in Verbindung mit – beobachteten – besonderen Förderbedarfen
2 Alle sozialpädagogischen Mitarbeiter/-innen verfügen über einen entsprechenden Hochschulabschluss und Berufserfahrung.
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bei Kindern verknüpfen oder sich an Familien mit besonderen (Beratungs-) Bedarfen richten3 die Entwicklung von Handlungs- und Kooperationsstrategien für den Umgang mit und die Bearbeitung von spezifischen Problemen auf einer „fallübergreifenden“ Ebene die Beobachtung und Reflexion sowohl der Praxis in den Einrichtungen respektive Teams als auch von einzelnen „Fällen“
Hinter diesen Erwartungshaltungen der Teams, die insbesondere in der Anfangsphase des Projektes auch einen großen Einfluss auf den Integrations- und Rollenfindungsprozess der Sozialpädagogen/-innen in den Einrichtungen hatten, werden verschiedene Motive sichtbar. Insbesondere die ersten drei Erwartungen machen eine Sichtweise deutlich, aus der die sozialpädagogischen Mitarbeiter/innen in erster Linie als eine zusätzliche personelle Ressource, eine „Verstärkung“ betrachtet werden. Der formulierte Auftrag zielt primär auf eine Entlastung der Teams in ihrem Alltag. Dabei wiederum zeigen sich Unterschiede dergestalt, dass Entlastung innerhalb der tradierten Arbeitsabläufe und Handlungsroutinen (Gruppendienst), der Gruppenarbeit qua – separierter – Betreuung von „schwierigen Kindern“ oder durch die Übernahme von Aufgaben, für deren Erfüllung nicht genügend Zeit zur Verfügung steht, erreicht werden soll bzw. erhofft wird. Wenngleich auch in diesen Erwartungshaltungen Vorstellungen von spezifischen sozialpädagogischen Fähigkeiten und Kompetenzen mitschwingen, so stehen diese hier jedoch nicht im Vordergrund. Primär soll die pädagogische Arbeit mit den Kindern und somit die Umsetzung des eigentlichen Handlungsauftrages von Kindertagesstätten abgesichert werden. (Potenziell) Gegebene erweiterte fachliche Ressourcen, die bspw. in Hinblick auf die „schwierigen Kinder“ für eine Klärung ihrer „Schwierigkeiten“, also der sich darin möglicherweise manifestierenden Bedarfe, sowie für deren Aufarbeitung und Reflexion werden (zunächst) nicht erkannt. Ebenso wenig werden dann Möglichkeiten zur daran anschließenden Veränderung bspw. des pädagogischen Handelns, zur Überarbeitung der Konzeption etc. (zunächst) nicht gesehen oder eben im Sinne einer weiteren Belastung interpretiert (s. u.). Des Weiteren lassen sich Erwartungen beobachten, die die Sozialpädagogen/-innen gewissermaßen in ihrer spezifischen professionellen Kompetenz bzw. ihrem originären beruflichen Profil – oder den Vorstellungen davon – ansprechen: Diagnostik, Hilfe und Unterstützung im Einzelfall zu leisten bzw. zu vermitteln, auch über die Herstellung gesi3 Beispielhaft und gewissermaßen analog zu einschlägigen Programmatiken und/oder Projektbeschreibungen wurden hier genannt: Sprachförderung, Bewegungsförderung, Beschäftigungsangebote, Angebote entlang verschiedener Bildungsdimensionen und Familienbildungsangebote, bspw. zu Ernährung, Gesundheitserziehung oder auch Erziehungsproblemen.
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cherter Arbeits- und Kommunikationsbeziehungen zu spezialisierten Einrichtungen und Diensten lassen sich diesem Komplex zuordnen4. Auf die spezifischen professionellen Kompetenzen von Sozialpädagogen/-innen verweisen schließlich auch Vorstellungen, die als fachliche Monitoring-, Reflexions- und Beratungsfunktion beschrieben werden können und noch am ehesten das mit dieser neu geschaffenen Rolle gegebene fachliche Potenzial in einem umfassenderen als unmittelbar praxiswirksamen Sinne aufnehmen. Dieses Bild gewinnt vor dem Hintergrund der aktuellen Situation von Kindertageseinrichtungen – und im Grunde genommen des gesamten Handlungsfeldes in Deutschland – eine gewisse Plausibilität. Diese ist gekennzeichnet durch gestiegene fachliche Anforderungen auf der einen Seite und nahezu unveränderte strukturelle und, bezogen auf einzelne Einrichtungen, finanzielle und personelle, aber auch fachliche Rahmenbedingungen (z. B. hinsichtlich der Ressourcen für und von Fachberatung, vgl. bspw. SMS 2008) auf der anderen. In der Praxis resultiert dies in einer als (schnell) wachsend erlebten Diskrepanz zwischen den Anforderungen an die pädagogische Arbeit und den eigenen Handlungsauftrag und den dafür zur Verfügung stehenden Ressourcen. Hinzu treten eigene Beobachtungen und Erfahrungen bspw. einer spezifischen Sozialstruktur in Bezug auf die Kinder und deren Familien (z. B. ein erhöhter Anteil von Kindern aus Familien mit Migrationshintergrund, mit arbeitslosen Eltern/Elternteilen usw.), damit verbundener Verhaltens- und Entwicklungsprobleme und/oder spezifischer Förderbedarfe bei Kindern, die zusätzliche Herausforderungen bzw. Belastungen mit sich bringen. Vor diesem Hintergrund kann das Vorhaben durchaus und nachvollziehbar als zusätzliche Belastung begriffen werden. Da mit dem Projekt nunmehr aber zusätzliche strukturelle und fachliche Ressourcen den beteiligten Einrichtungen unmittelbar und mittelbar zur Verfügung standen, erscheint eine eingehendere Auseinandersetzung mit strukturellen Argumenten ebenso wie mit den Erwartungen an die sozialpädagogischen Mitarbeiter/-innen von Interesse. Dahinter, so kann aus den Erfahrungen im Projekt geschlossen werden, verbergen sich Problematisierungsebenen, die in einem grundlegenderen Sinne sowohl auf die Praxis als gegebene, als auch auf deren
4 Dem können noch solche Erwartungen der „Delegation“ von besonderen Förderbedarfen bei Kindern an spezialisierte Fachkräfte und Dienste, wie z. B. Sprachförderung durch Logopäden/-innen, die ihre Leistungen in der Kindertagesstätte erbringen, strukturell an diese angelagert werden, hinzugerechnet werden. Hier kommt offenbar ein allgemeinerer Bezugshorizont zum Tragen: Ein Projekt, in dem auf gewissermaßen konkrete und spezifizierbare Bedarfe mit entsprechenden Maßnahmen und Aktivitäten – niedrigschwellig, weil in der Einrichtung zugänglich – reagiert wird.
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angestrebte umfassende Veränderung im Kontext des Projektzusammenhangs5 sowie auf deren Möglichkeiten und Grenzen verweisen. Dazu sollen nachfolgend mittels organisations- und institutionentheoretischer Überlegungen Erfahrungen und Befunde aus dem Projekt eingehender analysiert und diskutiert werden. Im Fokus stehen dabei zunächst Praxisabläufe und diese beeinflussende Faktoren in den Einrichtungen selbst. Ausgehend davon werden in einem weiter gehenden Schritt möglicherweise verallgemeinerbare Ableitungen in Bezug auf das Projekt getroffen sowie einige kritische Überlegungen zu – u. E. durchaus relevanten – Spannungsverhältnissen zwischen Innovationserwartungen und dem historisch gewachsenen Status quo des Feldes formuliert. Kindertageseinrichtungen als Organisationen Theoretischer Bezugsrahmen Das Handlungsprogramm ist als Organisationsentwicklungsprogramm konzeptualisiert worden. Dies impliziert auf der Handlungsebene einen umfassenden Entwicklungszusammenhang, der sich nicht in Einzelproblemen und deren tendenziell isolierter Bearbeitung erschöpft. Die analytische Betrachtung von Kindertageseinrichtungen aus organisationstheoretischer Perspektive bietet den Vorteil, zunächst nicht (nur) die fachlichen und strukturellen „Probleme“, wie sie implizit sowohl in den einschlägigen Debatten als auch im Projekt formuliert sind, in den Vordergrund zu stellen. Vielmehr wird ein direkter und vergleichsweise unvoreingenommener Blick auf das Feld ermöglicht. Die Organisationstheorie untersucht Entstehung und Funktionsweise von Organisationen, wobei ihr Gegenstandsbereich sehr weit ist und prinzipiell sehr unterschiedliche Aspekte von Organisationen aus verschiedenen Perspektiven in den Blick nimmt. Organisationen sind allgegenwärtig. „Menschen erleben Organisationen als Systeme von impliziten und expliziten Regeln, die auf einen (oftmals unausgesprochenen) Zweck ausgerichtet sind und Erwartungen sowohl an Organisationsmitglieder als auch an Nichtmitglieder kommunizieren, sich in einer bestimmten Art und Weise zu verhalten“ (Scherer 2006, S. 19, Hervorhebung im Original). Kindertageseinrichtungen können entsprechend als Organisationen verstanden und betrachtet werden. In diesem Sinne „sind [sie] Instrumente zur Erreichung spezifischer Ziele, d.h. von bestimmten Zuständen oder Ergeb5 „Projektzusammenhang“ meint hier nicht nur das konkrete Projekt, sondern auch die mit diesem, auch in den Kindertageseinrichtungen, assoziierten sozialpolitisch-fachlichen Thematisierungs- und Problematisierungskontexte.
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nissen, die durch das bewusst geregelte Zusammenwirken von Menschen und die Nutzung von Mitteln erreicht werden“ (Gukenbiehl 1993, S. 105). Als zweckrationale Struktur, die auf geregelter Kooperation beruht und durch ihre Mitglieder hergestellt und konstruiert wird, ist sie auf die Erfüllung gesellschaftlicher Aufgabenstellungen ausgerichtet, hier auf die Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern unter sechs Jahren außerhalb ihrer Familie. Struktur und Funktion wiederum sind Ergebnis eines gesellschaftlichen Differenzierungsprozesses, im Zuge dessen das System „Kindertagesbetreuung“ entstand. Der Handlungsauftrag von Kindertageseinrichtungen kann jedoch nicht allein von seiner zweckrationalen Seite her betrachtet und mithin auf die Organisationsperspektive reduziert werden, da er sich im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung tendenziell verselbständigt und in der Kindertageseinrichtung institutionalisiert hat. Wenn in diesem Sinne von Kindertageseinrichtungen oder besser, wenn auch nicht mehr treffend: von Kindertagesbetreuung die Rede ist, ist damit nicht mehr allein deren strukturelle oder organisatorische Ausprägung gemeint, sondern ebenso deren gesellschaftlicher Zweck oder ihre gesellschaftliche Funktion und die Art und Weise, wie diese in den gewachsenen Strukturen realisiert werden bzw. realisiert werden sollten und zwar sowohl vom Standpunkt der Gesellschaft als auch von dem der Kindertagesbetreuung selbst aus gesehen. Institutionen sind gesellschaftliche Übereinkünfte zur Lösung von Problemen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Sie entstehen einerseits naturwüchsig und kumulativ in der Lösung von Problemen durch soziales Handeln, das sich schließlich routinisiert und darin verlässlich wird. Sie können aber auch „bewusst entworfen und geschaffen“ werden, wobei auch darin die Lösung gesellschaftlicher Probleme mit denselben Folgewirkungen der Routinisierung und Verlässlichkeit auf der Handlungs- und Orientierungsebene zum Ausdruck kommt. Im Verlauf der Geschichte entstehen Institutionen somit als objektive Handlungsverpflichtungen und -strukturen, die sich ihrerseits verselbständigen und eigene Traditionen und Überlieferungsformen entwickeln und etablieren (vgl. Luckmann 1992). In diesem Prozess werden innerhalb der Institutionen selbst Vorstellungen über Zweck und Funktion sowie über die Voraussetzungen und Wege ihrer Wahrnehmung – Wissen, Routinen und Aufgabenverständnisse sowie deren Weitergabe – ausgebildet und tradiert; damit wird Struktur und Handlungssicherheit erzeugt. Die institutionelle Idee beinhaltet nicht nur den Handlungsauftrag, die strukturellen Ausprägungen sowie die daran geknüpften rechtlichen und fachlichen Regeln und Normen, sondern darüber hinaus Vorstellungen darüber, was wie getan wird bzw. werden sollte (vgl. ebd.). Institutionen wie die Kindertageseinrichtungen sind darin ebenfalls historisch determiniert, bspw. durch Traditionen, die sich in der Geschichte des Handlungsfeldes entwickelt haben und die die Auffassung und das Verständnis von Kindertageseinrich-
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tungen heute prägen.6 Veränderungsimpulse wie der der Erweiterung des Handlungsauftrages von Kindertageseinrichtungen um eine sozialpolitische Komponente berühren daher nicht nur die konkrete Kindertageseinrichtung, sondern immer auch deren institutionelle Verfasstheit bzw. Grundlage. Die im Projekt von den Teams formulierten Erwartungen bringen dies zum Ausdruck: Sie verweisen nicht nur auf die Organisationsebene mit Strukturproblemen, Alltagsbelastungen und daraus resultierenden Entlastungswünschen, sondern eben auch auf individuelle wie kollektive berufsbezogene Wahrnehmungs-, Interpretations- und Selbstverständnisweisen, denen ein „Begriff“ vom – fortschrittlichen, originären oder auch traditionellen – Handlungsauftrag von Kindertagesstätten zu Grunde liegt, welcher in unterschiedlicher Weise durch das Projekt und nicht zuletzt durch die Rezeption (und Reflexion) der in Rede stehenden Fachdiskussion beeinflusst wird. Da nunmehr Traditionen, Berufsverständnisse etc., die mit der Institution Kindertageseinrichtung verbunden sind, diese auf der Organisationsebene (mit-)strukturieren, aber nicht so ohne Weiteres verändert werden können,7 scheint zunächst ein Blick auf die Organisation im Projektkontext und damit gegebene Ausgangsbedingungen und Voraussetzungen für konkrete Veränderungsprozesse vor Ort von Interesse. Kontexte und Ausgangsbedingungen in Kindertagesstätten Das Vorhaben intendiert einen mehr oder weniger umfassenden fachlichen Reflexions- und Entwicklungsanspruch, der innerhalb von und durch Organisationen zu bearbeiten ist. Organisationsentwicklung trifft jedoch auf Organisationen, die nicht nur als – zu optimierende – funktional strukturierte Systeme begriffen werden können: Veränderungsimpulse lösen, insbesondere dann, wenn sie von außen kommen, nicht selten Dynamiken aus, die sich einem bloß strukturellorganisatorischen und/oder fachlich-adminstrativen Bearbeitungsmodus entziehen.
6 Diese „institutionellen Auffassungen“ von Kindertagesbetreuung werden im Übrigen durchaus nicht allein von den „Insidern“ getragen, sondern ebenso in Öffentlichkeit und Politik vertreten. Die jahrzehntelange Auseinandersetzung um das Verhältnis von Familien und Kindergärten als „geeignetes“ Sozialisationsumfeld für kleine Kinder in der BRD oder auch die aktuellen Diskussionen um die Zukunft der Ausbildung von Fachkräften sowie der Bildung und Erziehung in der frühen Kindheit geben davon ein beredtes Zeugnis. 7 Dies betrifft offenbar vor allen Dingen die so genannte Praxis, da sich bspw. die wissenschaftlichen und auch politischen Diskussionen um den veränderten Handlungsauftrag von Kindertagesstätten für die Bundesrepublik bis in die 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts zurück verfolgen lassen (vgl. etwa: Dreyer 2010).
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In den Kindertageseinrichtungen stellte sich die Ausgangssituation hinsichtlich des Komplexes Chancengerechtigkeit bzw. Auswirkungen und Folgen sozialer Benachteiligung bei Kindern sehr heterogen dar. Ungeachtet vielfacher konkreter Erfahrungen aus dem pädagogischen Alltag konnten nur in wenigen Einrichtungen explizite Thematisierungsformen beobachtet werden. In den betreffenden Kindertagesstätten existierten konkrete Formen der Reflexion und Bearbeitung lebenslagenbezogener Probleme und damit verbundener Auswirkungen auf die pädagogische Arbeit. Beispielhaft dafür sind Regelungen der Vermittlung und Beratung bei Essenssperrungen aufgrund von Zahlungsausfällen sowie integrierte Formen der Familienbildung und Familienberatung, der kollegialen Beratung, auch der Fallberatung etc. Kennzeichnend waren zudem Arbeits- und Teamstrukturen, die von den Kollegen/-innen als sichernd und entlastend in der Arbeit mit den Kindern beschrieben wurden und darüber hinaus regelmäßigen Austausch und beständige Reflexion ermöglichten. Konzeptionen mit einem erkennbaren und fachlich hergeleiteten Zielbezug bildeten dafür den Bezugsrahmen, indem die Bedarfe – der Kinder und der Fachkräfte – mit den pädagogischen und organisatorischen Möglichkeiten wechselseitig in Einklang gebracht wurden. Bei der Mehrzahl der Einrichtungen jedoch konnte dies nicht oder nur in Ansätzen beobachtet werden. Bedeutsam sind mithin offenbar nicht nur die objektive Situation in den Kindertageseinrichtungen, die damit verbundenen Strukturprobleme und Belastungen sowie die Herausforderungen im Umgang mit besonderen Bedarfslagen auf Seiten der Kinder und der Eltern. Von den grundsätzlichen systematischen Problemen der Vergleichbarkeit der konkreten Einrichtungen einmal abgesehen, sind zwischen ihnen deutliche Parallelen bei den sozialstrukturellen Belastungsindikatoren und den damit korrespondierenden fachlichen Herausforderungen8 zu konstatieren: Auf einer ganz praktischen Ebene treten in den (meisten) Einrichtungen gleichlautende Einschätzungen der KollegInnen zu Überlastung, Alltagsstress, „schwierigen“ Kindern, familiären Problemen und deren Folgen für die Kinder, unbefriedigenden Elternkontakten, Zeitmangel, fehlenden Möglichkeiten des kollegialen Austauschs usw. hinzu. Zeitmangel, eingeschränkte personelle und strukturelle Ressourcen, daraus resultierender Stress einerseits und mangelnde Gelegenheiten zu Austausch und Reflexion andererseits repräsentieren mithin Rahmenbedingungen des alltäglichen pädagogischen Handelns in vielen Kindertageseinrichtungen. Treten dann noch pädagogische Herausforderungen hinzu, wird die Situation schnell unübersichtlich. Die Auswirkungen dieser Konstellation auf das Handeln von Kinderta8 Zu nennen sind hier: Lage in sozial belasteten Stadtteilen, großer Anteil entwicklungsauffälliger Kinder, großer Anteil von Beitragsübernahmen, großer Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund, i. d. R. kumulierend.
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geseinrichtungen hängen jedoch nicht allein von ihrer – nachweisbaren – Faktizität ab, sondern werden durch andere Faktoren noch maßgeblich mit beeinflusst. Exemplarisch gemacht werden kann dies an den beschriebenen Rahmenbedingungen und deren Wahrnehmung. Das Urteil, dass die gegebenen Ressourcen und Rahmenbedingungen in Kindertageseinrichtungen für die Bewältigung des pädagogischen Alltagsgeschäfts und der damit verbundenen Aufgaben kaum ausreichend sind, stellt sicher keine Besonderheit Dresdner Kindertageseinrichtungen dar, gerade vor dem Hintergrund der gestiegenen Anforderungen. Die praktische Umsetzung neuer Aufgaben wie der in den Bildungsplänen formulierten bindet zusätzliche Ressourcen ebenso wie die alltägliche Konfrontation mit besonderen Herausforderungen und Bedarfen auf Seiten der Kinder und Familien. Im Projekt konnte beobachtet werden, dass dieses Missverhältnis bzw. dessen Wahrnehmung als primäres Problem für die Kindertageseinrichtungen in ein Dilemma münden kann. Werden die Rahmenbedingungen schon für die Bewältigung der originären, alltäglichen pädagogischen Aufgabenstellungen als unzureichend wahrgenommen, bleiben für – durchweg und gerade vor diesem Hintergrund als notwendig erachtete – Prozesse des kollegialen Austausches und der Reflexion (scheinbar) keine oder nur unzureichende Kapazitäten mehr übrig, denn die wenigen verbleibenden werden durch anderes – bspw. verpflichtende Aufgaben im Rahmen des Qualitätsmanagements – aufgezehrt. Möglichkeiten der alltagsbezogenen Selbstthematisierung, Reflexion und Analyse stehen mithin nicht mehr oder nur unzureichend zur Verfügung. Gleiches gilt für die Wahrnehmung von und Auseinandersetzung mit Anforderungen, wie sie sich bspw. aus besonderen Problematiken oder Bedarfen bei Kindern ergeben, die zudem das Dilemma noch zusätzlich verstärken. Denn besondere Probleme und Förderbedarfe bei Kindern (und Familien) werden natürlich gesehen und als bedeutsam für das pädagogische und organisatorische Handeln der Einrichtung erkannt. Zudem werden sie nicht selten auf der Verhaltensebene virulent. Ressourcen jedoch stehen nicht zur Verfügung, so dass die Bearbeitung im Rahmen bereits entwickelter Strategien und Routinen erfolgt, wodurch sich Arbeitsprozesse auf der einen Seite weiter verdichten und die Situation sich dadurch auf der anderen weiter verfestigt. Erkennbar wird dies an den Auswirkungen nicht nur auf die Zeiten und Formen der Kommunikation und des Austausches, sondern auch auf die Inhalte derselben. Etablierte Kommunikationsformen – formelle wie informelle – werden für die Thematisierung und Bewältigung des pädagogischen Alltags gewissermaßen verbraucht und stehen als reflexive Ressource nicht (mehr) zur Verfügung bzw. werden in dieser Hinsicht durch obligatorische und daher unumgängliche Aufgaben – administrative Aufgaben, Bildungscurriculum, Qualitätsmanagement – in Beschlag genommen.
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Diese Situation wirkte in verschiedener Hinsicht auf das Projekt zurück. Zunächst repräsentierte das Projekt selbst eine zusätzliche Belastung für die betreffenden Einrichtungen, obwohl es mit gegenteiligen Intentionen angetreten war. Auch die zusätzliche Ressource „sozialpädagogische/r Mitarbeiter/-in“ wurde ambivalent wahrgenommen – als fachfremd und zumindest einarbeitungsbedürftig auf der einen Seite, als pädagogisch qualifiziert und mithin als potenzielle Verstärkung und/oder Entlastung im Alltag auf der anderen (s. o.). Das Projekt wurde, pointiert formuliert, den sonstigen „Belastungen“ zugeschlagen, ebenfalls die sozialpädagogische Fachkraft – gewissermaßen mit einer Hälfte, um mit der anderen in die Struktur der Kindertageseinrichtung, als Organisation, eingeordnet zu werden. Daneben hatte die Fachkraft jedoch, gemeinsam mit dem in anderer Funktion tätigen Kompetenz- und Beratungszentrum, gewissermaßen die Rolle eines Repräsentanten des Entwicklungsimpulses und des Entwicklungsauftrages gleichermaßen inne. In dieser Hinsicht wurde einerseits ihre Integration in die Struktur der Einrichtung prekär, da den Fachkräften ja eine spezifische Rolle zugedacht war. Des Weiteren und darüber hinaus wurden andererseits nicht nur der Projektgegenstand, sondern auch die Strukturen und Handlungsroutinen selbst in den Kindertageseinrichtungen thematisch, da sie zu beidem, den Sozialpädagogen/-innen (wie auch dem Kompetenz- und Beratungszentrum) und dem Veränderungsansinnen in Beziehung gesetzt werden mussten. Die Organisationskultur als Handlungs- und Aushandlungsrahmen Die heterogene Ausgangssituation kann mit der Organisationskultur von Kindertageseinrichtungen begründet werden. Dafür sprechen ebenso die Darstellungen zu anderen Einrichtungen, die mit ähnlichen Rahmenbedingungen und Anforderungen konfrontiert sind (s. o.) wie auch die Art und Weise, in der die sozialpädagogischen Mitarbeiter/-innen in die Einrichtungen integriert wurden.9 Organisationen zeichnen sich nicht nur durch ihre Funktion und die auf ihre Erfüllung hin ausgerichtete Struktur, sondern darüber hinaus durch eine spezifische Organisationskultur aus, die nicht allein durch Funktion und Struktur bestimmt wird. Organisationskulturen entstehen nach Schein (2003, S. 31) durch das Zusammen- bzw. Wechselspiel dreier Dimensionen. Er unterscheidet zwischen „Artefakten“, in denen Organisationsstrukturen und -prozesse sichtbar, d.h. für die Öffentlichkeit beobachtbar sind und „öffentlich propagierten Wer9 Die unterschiedliche Situation in den Einrichtungen ist hier pointiert dargestellt. „Graduelle Abstufungen“ (Probleme und Potenziale) sind hier im Interesse einer transparenten Argumentation nicht berücksichtigt.
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ten“, also gewissermaßen offiziellen, wenn auch nicht unbedingt bis ins Detail spezifizierten oder bekannt gegebenen Orientierungen, Strategien, Zielen und Philosophien einer Organisation, wie sie sich bspw. in Konzepten, Leitbildern, verlässlichen Routinen etc. ausdrücken. Zu diesen beiden Dimensionen treten schließlich „grundlegende, unausgesprochene Annahmen und Prämissen“, selbstverständliche Überzeugungen, Wahrnehmungen, Gedanken und Selbstverständnisse hinzu. Diese zeigen sich bspw. in der Geschichte und den Traditionen einer Organisation (in die neue Mitarbeiter/-innen einsozialisiert werden), daran gekoppelten Handlungsroutinen und „ungeschriebenen Gesetzen“, geteilten Wahrnehmungen, Haltungen und Deutungen in Hinblick auf das Handeln (in) der Organisation (worin neue Mitarbeiter/-innen ebenfalls einsozialisiert werden; vgl. Gildemeister 1984), nehmen aber auch Bezug auf den Auftrag und die Funktion von Kindertageseinrichtungen im Allgemeinen (und darauf bezogener Anforderungen und Veränderungsimpulse). Organisationskulturen sind Ergebnisse kollektiver Übereinkünfte und sorgen damit für die spezifische Prägung einer Organisation (vgl. Steinmann/Schreyögg 1993). Wie andere Organisationen sind auch konkrete Kindertageseinrichtungen durch eine je spezifische Organisationskultur geprägt. Das Projekt, seine Zielstellungen und seine Anlage berührten diese Kultur der Organisation Kindertageseinrichtung in allen Dimensionen. Organisationsstrukturen und -prozesse waren in einer doppelten und dabei ambivalenten Art und Weise betroffen (Sozialpädagogen als neue „Artefakte“; Veränderungsbedürftigkeit von Strukturen und Prozessen in Hinblick auf das Anliegen der Herstellung von Chancengerechtigkeit). Öffentlich propagierte Werte waren insofern tangiert, als die Diskussion um die kompensatorische, soziale und (damit einhergehend) Bildungsbenachteiligungen ausgleichende Funktion bzw. entsprechende Erwartungen der Gesellschaft bekannt waren und somit – auch aufgrund des eigenen Erlebens – im Grundsatz nicht zurückgewiesen werden konnten und sollten. Auf grundlegende Annahmen und Prämissen verweisen schließlich u. a. Handlungsroutinen sowie die Art und Weise, wie Herausforderungen begegnet wird und wie Belastungen beurteilt und bewältigt sowie Einrichtung und Team dazu in Beziehung gesetzt werden. Damit wird aber auch deutlich, dass Veränderungsansinnen, Entwicklungsimpulse etc. in institutionellen und organisatorischen Kontexten potenziell auf komplexe Ausgangsbedingungen treffen – Ausgangsbedingungen, die möglicherweise nur indirekt in Zusammenhang mit den angetragenen Intentionen, Motiven und Begründungen stehen, nichtsdestotrotz aber wichtige Anhaltspunkte für gelingende und nachhaltige Veränderungsprozesse liefern, indem gewissermaßen auf grundlegende, dem eigentlichen Ziel vorgelagerte Handlungsnot-
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wendigkeiten aufmerksam gemacht wird. Auch dies kann vor dem Hintergrund des Projektes illustriert werden. Auf einer allgemeinen pädagogischen und sozialpolitischen Ebene erwiesen sich Intentionen und Zielstellungen des Vorhabens für die Einrichtungen insofern als begründungsbedürftig, als die „Passung“ der damit prinzipiell konkretisierten Diagnose für die einzelne Einrichtung ggf. überprüft bzw. hinterfragt wurde. Einer grundsätzlichen Begründung bedurfte es hingegen lediglich in Hinblick auf das thematisierte „soziale und pädagogische“ Problem. Anders verhielt es sich hinsichtlich des organisatorischen bzw. institutionellen Bezugsrahmens des Projektes – insbesondere, als es für die Einrichtungen „konkret wurde“. Als günstig haben sich für den Start und die weitere Umsetzung des Vorhabens, wie oben dargestellt, bereits vorliegende Erfahrungen im Problemkontext des Handlungsprogramms erwiesen – konkret befanden sich also solche Einrichtungen „im Vorteil“, die bereits Konzepte, Projekte oder Verfahren für die Bearbeitung entsprechender Probleme und Bedarfe in ihren Einrichtungen entwickelt und in die Praxis umgesetzt hatten. Damit waren nicht nur bereits konkrete Anschlussmöglichkeiten für die praktische Projektrealisierung gegeben – noch entscheidender im Sinne „günstiger“ Voraussetzungen war die Art und Weise, in der die Teams mit dem Projekt umgingen: Sie standen dem Anliegen wie den Anforderungen des Projektes vergleichsweise offen gegenüber, konnten dies offenbar relativ unproblematisch mit dem Handlungsprofil und dem Selbstverständnis der Einrichtung verknüpfen und entwickelten nicht zuletzt schon sehr früh recht präzise Erwartungen an die Aufgaben und die Rolle der zusätzlichen sozialpädagogischen Mitarbeiter/-innen. Nicht nur entwickelte funktionale Strukturen, sondern vor allem deren Zustandekommen und ihre Begründung markierten dabei den wesentlichen Unterschied zwischen den verschiedenen Einrichtungen. Als bedeutsamster Faktor hat sich diesbezüglich eine spezifische Organisationskultur in den betreffenden Einrichtungen erwiesen. Prägende Merkmale waren vor allem entwickelte, strukturell etablierte und in das Handeln der Einrichtungen integrierte Formen der Praxisreflexion sowie eine Leitungsebene, die das fachliche und organisatorische Handeln der Einrichtung im Blick hat, Probleme und Herausforderungen thematisiert bzw. deren Thematisierung fördert, in Reflexionsprozesse überführt und die dafür erforderlichen Ressourcen „organisiert“. Damit sind zunächst freilich zeitliche und personelle Freiräume angesprochen. Ebenso wichtig ist jedoch in diesem Zusammenhang die Stärkung der Mitarbeiter/-innen und ihre Beteiligung an der Entwicklung der Einrichtung. Dazu gehört eine offene, geschützte und von unmittelbaren Praxiszwängen (bewusst) frei gehaltene Reflexions- und Diskussionskultur, die es erlaubt, Problematiken, Befindlichkeiten etc. anzusprechen und kritisch-systematische Praxisreflexion und Selbstthematisierung fördert und
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fordert, die Zeit einräumt für die Analyse von Schwierigkeiten und Herausforderungen und so die Basis schafft für die Entwicklung passender und nachhaltiger Lösungen. Mit Blick auf den Gegenstand des Projektes war es so (erst) möglich, in den pädagogischen Handlungskontext von Kindertageseinrichtungen hineinragende Probleme im Zusammenhang mit den Folgen sozialer Benachteiligung für das Leben, das Aufwachsen und die Entwicklung von Kindern aufzunehmen, zu analysieren und praxiswirksam zu bearbeiten. Beobachtungen und Wahrnehmungen resultierten in Reflexions- und Diskussionsprozessen, der daran anschließenden Entwicklung konkreter Lösungsstrategien, deren konzeptioneller Rückbindung und damit Integration in den Handlungs- und Strukturzusammenhang Kindertageseinrichtung. „Spezielle“, tragfähige und vom Team nicht nur akzeptierte, sondern mit getragene Angebote und Handlungsstrategien und die (passende) Organisationskultur bedingen sich gegenseitig. Eine solcherart entwickelte Arbeitsweise bzw. Organisationskultur schafft mithin die Basis und sichert die Möglichkeiten für eine systematische Auseinandersetzung mit dem pädagogischen Handeln in der Einrichtung. Gleiches gilt auch auf einer grundsätzlichen, fachlichen Ebene in Hinblick auf neue pädagogische Aufgabenstellungen und darauf gerichtete gewandelte öffentliche Erwartungen wie fachliche Herausforderungen. Da durch das Projekt und seine Akteure, insbesondere das Kompetenzzentrum und die Sozialpädagogen/-innen in den Einrichtungen, solche fachlichen Herausforderungen formuliert wurden, mussten sich Kompetenzzentrum und Sozialpädagogen/-innen folglich selbst in Beziehung zu den verschiedenen Organisationskulturen in den Einrichtungen setzen. Nur scheinbar vordergründig galt dies für die erforderliche inhaltliche und methodische Neujustierung des Entwicklungsprozesses und seiner Begleitung und Unterstützung. Hier verlagerte sich der Schwerpunkt zunächst weg von „besonderen Lebenslagen, daraus resultierenden Bedarfen und deren Bearbeitung in und durch Kindertagesstätten“ hin zu den Einrichtungen und deren Teams selbst. Weitaus folgenreicher und schwieriger war jedoch, dass sich das Vorhaben gewissermaßen selbst in die jeweiligen Organisationskulturen „einfädeln“ musste, da damit ja unterschiedliche diesbezügliche Wahrnehmungen und Interpretationen verbunden waren, welche von konstruktiver Mitarbeit und vorsichtiger Öffnung über Zweifel am Projektanliegen, seiner Begründung, Konzeption und Strategie bis hin zur Delegitimierung des Vorhabens10 bzw. zu verdeckter oder 10 Delegitimierung in dem Sinne, dass die dem Projekt innewohnende Situationseinschätzung als nicht zutreffend für die konkrete Einrichtung angesehen wurde und/oder die Ziele des Projektes generell oder aufgrund verschiedener Faktoren als zu ambitioniert oder gar als praxisfremd betrachtet wurden.
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offener Zurückweisung desselben und/oder seiner Akteure reichten. In der Folge waren neuerliche und z. T. kontroverse Aushandlungs- und Klärungsprozesse erforderlich, hinsichtlich des (Zusammen-)Wirkens der Beteiligten und deren Rollen sowie hinsichtlich der (neuen) Ziele und Themen sowie ihrer Bearbeitung. Wechselseitige Aufladungen – Potenziale und Impulse Dies als Misserfolg des Projektes oder als problematisch mit Blick auf die Einrichtungen zu werten, griffe allerdings deutlich zu kurz. Denn eine solche Perspektive implizierte ein quasi-technologisches Verständnis von inhaltlichen Entwicklungsvorhaben in dem Sinne, dass die Praxis durch sie „nur ergänzt“ werden müsse, wobei die Kontexte, Logiken und Rationalitäten der Praxis jedoch ignoriert würden. Das Projekt löste jedoch eine komplexe Dynamik aus, indem mit und über den fachlichen Veränderungsimpuls auch die jeweilige Kindertageseinrichtung und ihr Handeln thematisch wurden. Organisationskultur und Entwicklungsressourcen stehen in einem Zusammenhang: Eine gut entwickelte fachliche Organisationskultur schafft die Basis und sichert die Möglichkeiten für eine systematisch-reflexive Auseinandersetzung mit dem pädagogischen Handeln in der Einrichtung und den dafür gegebenen Ressourcen ebenso wie mit neuen Anforderungen oder auch Problemen. Gleiches gilt auch auf einer grundsätzlichen fachlichen Ebene in Hinblick auf neue pädagogische Aufgabenstellungen und darauf gerichtete gewandelte öffentliche Erwartungen wie fachliche Herausforderungen. Organisationskulturen jedoch erweisen sich gegenüber gezielten Einflussnahmen und Steuerungsbestrebungen von außen als vergleichsweise beharrlich. Insofern bestand die Notwendigkeit, das Handlungsprogramm für die Teams in den Einrichtungen so umzugestalten, dass es anschlussfähig war an die jeweilige Organisationskultur und eine erkenn- und greifbare Entwicklungsperspektive eröffnen konnte. Anschlussfähigkeit heißt dabei zum einen, einer eigenständigen, fachlich-reflexiven Auseinandersetzung mit den Zielen und Anforderungen, hier zusammengefasst als „Herstellung von Chancengerechtigkeit“, auf der Folie eigener Erfahrungen und Orientierungen Raum zu geben. Zum anderen waren Inhalte und Arbeitsformen anzupassen an die Ausgangsbedingungen und die Erwartungen vor allem in den Einrichtungen, was auch bedeuten kann, dass zunächst scheinbar „projektfremde“ Themen in den Fokus rücken (Zeitmanagement, Entwicklung und Etablierung verlässlicher Reflexionsformen wie kollegialer Beratung etc.). Die organisationstheoretische Betrachtung hat gezeigt, dass weder eine Strategie, die den Fokus auf die Entwicklung von Deutungs- und Handlungs-
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kompetenzen in Bezug auf das Erkennen von lebenslageninduzierten Schwierigkeiten und Bedarfen bei Kindern und darauf gerichteten Angeboten und Maßnahmen legt, noch eine, die als – dafür – günstig identifizierte Handlungsformen und Rahmenbedingungen mit dem Ziel ihrer Übertragung fokussiert, angemessen wäre. Im ersten Fall würden die Ziele lediglich oktroyiert, ihre Realisierung erfolgte gewissermaßen technisch und würde aller Voraussicht nach eben nicht zu einer nachhaltigen Veränderung von Fachlichkeit und Praxis beitragen. Im zweiten Fall bestünde ebenfalls die Gefahr einer halbierten, weil lediglich quasimethodisch fundierten Entwicklung. Zwar eröffnen im referierten Beispiel etablierte Formen einer distanzierten, reflektierenden Betrachtung des pädagogischen Alltags in den Einrichtungen alternative Perspektiven und Zugänge, schaffen damit die Voraussetzungen für die Erweiterung des eigenen Handlungsrepertoires und Möglichkeiten fachlich-professioneller (Selbst-)Reflexion. Solche Formen lassen sich praxiswirksam jedoch nicht allein strukturell etablieren, ebenso wenig wie sie nur fachlich begründet werden können. Vielmehr sind sie als Element einer fachlichen Kommunikations- und Reflexions-, mithin Teamkultur in den Einrichtungen und mit den Teams systematisch zu entwickeln. Damit steht in Zusammenhang, dass der Veränderungs- und Entwicklungsbedarf von Kindertageseinrichtungen zwar von sozialpolitischen Fragestellungen und – durch die Einrichtungen ja selbst – beobachteten und empirisch gesicherten Veränderungen bei den Bedarfslagen auf Seiten von Kindern und deren Familien her definiert, nicht jedoch in alleinigem Bezug auf diese pädagogisch und institutionell bewältigt werden kann. Dazu bedarf es systematischer Reflexionsund Entwicklungsprozesse, die zeitliche, aber auch fachliche Ressourcen erfordern und die Einrichtungen zudem in konstruktiver, d.h. Perspektiven aufzeigenden, Weise in ihren tradierten – aber deshalb nicht zwangsläufig als befriedigend erlebten – Deutungs- und Handlungsroutinen irritieren. Ebenso kann jedoch auch ein Projektzusammenhang – Planung, Zielstellungen, Konzeption, beteiligte/steuernde Fachkräfte – irritiert werden. Insofern geben die Erfahrungen und ihre Analyse Auskunft über die Tragweite des inhaltlichen Anspruchs des Projektes und damit möglicherweise hilfreiche Anhaltspunkte für die Planung und Realisierung ähnlicher Vorhaben. Zudem werden in dieser Tragweite, die ja für die Debatte um die präventive Funktion von Kindertageseinrichtungen und die Einlösung der damit verbundenen Anforderungen und Erwartungen im Allgemeinen kennzeichnend ist, Relevanzen sichtbar, die nicht nur auf der Folie eines sozialen Problems und Möglichkeiten zu seiner institutionellen Bearbeitung diskutiert werden können, sondern in Bezug gesetzt werden müssen zum angefragten Handlungsfeld „Kindertagesbetreuung“.
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Neuartige und komplexe Problematiken und Handlungsanforderungen wie die der „Herstellung von Chancengerechtigkeit“ im Kontext von Kindertagesstätten als Regeleinrichtungen erfordern daher gerade auf der Ebene – immer wieder eingeforderter – konkreter Praxisentwicklungen einen Zugang, der verschiedene Dimensionen gleichermaßen berücksichtigt und integriert. Die vorstehenden Darstellungen indizieren einige dieser Dimensionen. Neben objektivierbaren, das gesamte Feld betreffenden strukturellen Unzulänglichkeiten und deren Konsequenzen ist besonders auf die Organisationskultur von Kindertageseinrichtungen im Sinne eines je spezifischen, kollektiv entwickelten Deutungs- und Handlungsrahmens eingegangen worden. Innerhalb dieses Rahmens werden operative und strategische Aufgaben bzw. Anfragen verarbeitet und bewältigt. Zugleich geraten andere Aspekte in den Blick, die gewissermaßen auf deren Hintergrundstrukturen, – kollektiv-tradierte – Orientierungen bei den Fachkräften, verweisen. Gegenstandsbezogen, also mit Blick auf den sozialpolitischen Handlungsauftrag und dessen Realisierung, ist dann zu fragen: Was verbinden Erzieher/-innen mit sozialer Benachteiligung und wie setzen sie bspw. individuelle Auffälligkeiten von Kindern etc. dazu in Beziehung? Welches Wissen haben Erzieher/-innen in Kindertageseinrichtungen von den Folgen sozialer Benachteiligung bei Kindern? Wo sehen sie Ansatzpunkte und Möglichkeiten pädagogischen Handelns, wo Grenzen und wie wird dies begründet? Welche Wissensbestände, aber auch – und möglicherweise wichtiger – Haltungen, Leitbilder und Alltags-Theorien kommen diesbezüglich zum Tragen? Mit welchem pädagogischen Aufgaben- und damit Berufsverständnis operieren Erzieher/-innen in Kindertageseinrichtungen? In der aktuellen Diskussion um den Veränderungsbedarf im Feld Kindertagesbetreuung spielen viele dieser Fragestellungen eine wichtige, wenn auch z. T. implizit bleibende Rolle. In der Diskussion um die gestiegenen Anforderungen an die Ausbildung der Fachkräfte werden bspw. regelmäßig spezifische Kompetenz- und Wissenskataloge formuliert, die vor dem Hintergrund komplexer werdender Aufgabenprofile für erforderlich erachtet werden (vgl. z. B. Thole/Cloos 2006; Leu 2005; Karsten 2005). In praktischer Hinsicht, und das meint in diesem Zusammenhang vor allen Dingen noch (Modell-)Projekte, ist den laufenden Diskursen jedoch wenig zu entnehmen hinsichtlich der institutionellen wie individuell-fachlichen Bedingungen, Chancen und Schwierigkeiten einer die Folgen sozialer Benachteiligung kompensierenden Pädagogik der frühen Kindheit in konkret gegebenen, gewach-
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senen Praxiskontexten.11 Hier dominieren Darstellungen von Ergebnissen, Konzepten, Fortbildungsstrategien etc. (vgl. etwa Bertelsmann-Stiftung 200712) – dabei können möglicherweise gerade in der systematischen Untersuchung und Darstellung dieser gegebenen Bedingungen und ihrer Veränderungen hilfreiche Fragestellungen, wenn nicht gar Erkenntnisgewinne für die Planung und Umsetzung von Projekten und nicht zuletzt für die diesbezügliche Debatte vermutet werden. Denn die Praxis ist durch eine eigene Komplexität gekennzeichnet, die prinzipiell fachlich vermeintlich evidente Anforderungen und begründbare Zielstellungen relativieren, zweckmäßig erscheinende Strategien und Methoden umformen, (neues) Wissen umdeuten oder für wenig hilfreich befinden kann etc. Damit ist keinesfalls eine grundsätzlich oder grundlegend defizitäre Praxis diagnostiziert, sondern vielmehr auf (die stärkere Beachtung von) deren Rationalitäten und Logiken hingewiesen. Fazit In den organisationstheoretischen Betrachtungen ist der Versuch unternommen worden, einige Elemente dieser Rationalitäten und Logiken herauszuarbeiten. Ihre Bedeutung gewinnen diese vor allem in Bezug auf das Projekt bzw. die darin zum Ausdruck kommende allgemeine Erwartung/Anforderung an Kindertageseinrichtungen, den Folgen sozialer Benachteiligung für das Aufwachsen von Kindern im Sinne der Herstellung von Chancengerechtigkeit entgegenzuwirken bzw. sie zu kompensieren. Dafür stehen Kindertageseinrichtungen jedoch in der Regel (noch) nicht das nötige Fachwissen und die geeigneten Konzepte und Angebote bzw. Maßnahmen und Strategien zur Verfügung. Die einschlägigen Diskussionen legen hiervon Zeugnis ab. Gerade aber mit Blick auf die diesbezüglich vielfach geforderten „Entwicklungen in der Praxis“ scheinen Fachwissen, Angebote und Maßnahmen allein nur die „halbe Miete“ zu sein: Ebenso wichtig, wenn nicht wichtiger ist die Frage danach, in welchen konkreten strukturellen und fachlichen Kontexten die reklamierten Veränderungen realisiert werden sollen, welche Voraussetzungen dabei gegeben bzw. zu entwickeln sind 11 Wissenschaftliche Untersuchungen bspw. zur Bedeutung von in der Ausbildung erworbenem Fachwissen für die Praxis weisen oftmals ein „erstaunliches Vergessen“ nach, geben jedoch nur selten Auskunft darüber, worin dies seine Ursache haben kann (vgl. bspw.: Jopp-Nakath 2002, der entsprechende Fragestellungen in Ansätzen beleuchtet). 12 Bedauerlich ist, dass den Praxisbeschreibungen in dieser Veröffentlichung keine Informationen zur je konkreten Realisierung bspw. einiger zentraler Bewertungskriterien entnommen werden können, wo doch gerade diese Auskunft geben könnten über den Prozess der Konzept- bzw. Organisationsentwicklung und dabei thematisierter/thematisch gewordener Aspekte (Begriffe, Orientierungen, Haltungen etc.).
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und wie sich darauf fußend schließlich Fachwissen, Konzepte, Angebote und Maßnahmen zur „Herstellung von Chancengerechtigkeit“ anschließen und einfädeln lassen. Der vorliegende Beitrag hat gezeigt, dass die Möglichkeit (oder das Risiko) besteht, dass zunächst Schritte erforderlich werden können, die (scheinbar) keinen direkten Gegenstandsbezug im engeren Sinne aufweisen. Das Spektrum beinhaltet diesbezüglich u. a. die „Optimierung“ organisatorischer und zeitlicher Strukturen, Kompetenzen und Methoden der fachlichen Steuerung, die Zusammenarbeit mit Eltern aus unterprivilegierten Milieus, Methoden bspw. der Reflexion oder der Zielentwicklung, konkretes Wissen um Lebensbedingungen und Bewältigungsformen, die kritische Auseinandersetzung mit pädagogischen Orientierungen, den Vorstellungen von Kind und Kindheit sowie mit den Aufgaben- und Handlungsverständnissen bezogen auf die Institution „Kindertageseinrichtung“ (vgl. Rabe-Kleberg 2010). Dabei kommen dann durchaus auch strukturelle und fachliche Defizite zum Vorschein, die im Alltag „nicht aufgefallen“ sind oder kompensiert werden konnten. Eine produktive Irritation der Einrichtungen als Organisationen mit eingeschliffenen, tradierten Handlungs- und Rezeptionsroutinen scheint insofern generell von Zeit zu Zeit eine gewisse Berechtigung zu haben. Mit Blick auf die Zielstellungen des Handlungsprogramms „Aufwachsen in sozialer Verantwortung“ reichte diese Irritation allerdings über die sozusagen „klassische Kindertageseinrichtung“ hinaus: Die Spezifik des Projektes berührte vielmehr grundlegende Vorstellungen von institutionalisierter Bildung und Erziehung in der frühen Kindheit und die damit verbundenen praktischen Erfahrungen, bewährten Deutungsmuster und kollektiven Leitorientierungen sowie schließlich die Auffassungen von pädagogischen Aufgaben und Zuständigkeiten (siehe oben zu den Erwartungen an die sozialpädagogischen Mitarbeiter/-innen). Mit dieser (grundlegenden) Irritation sind aber auch konstruktive Impulse, Perspektiven und Chancen für das Anliegen „Herstellung von Chancengerechtigkeit“ und – vor allem – für die Einrichtungen verbunden. Deren aktive, wenn auch kritische Auseinandersetzung mit den Zielstellungen des Projektes hat die dahinter liegenden umfassenden Herausforderungen an die eigene Arbeit deutlich werden lassen. Den Unterschieden der konkreten Kindertagesstätten entsprechend liegen die künftigen Arbeitsschwerpunkte (zunächst) auf verschiedenen Ebenen bzw. nehmen (zunächst) unterschiedliche Entwicklungsziele in den Blick (s. o.). Konzeptionell wird es daher zunächst darum gehen, diese konkreten Prozesse zu forcieren, zu begleiten und breit – Kompetenzzentrum, Sozialpädagogen/-innen, Fachberatung, Träger – zu unterstützen. Das inhaltliche Anliegen des Vorhabens, die Unterstützung und Förderung von Kindern aus sozial benachteiligen Lebensverhältnissen im Sinne der Herstellung von Chancengerechtigkeit
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durch Kindertageseinrichtungen, fungiert dabei gleichermaßen als Bezugspunkt wie als Katalysator. Alltagsbeobachtungen, pädagogische Leitbilder und Grundpositionen, die Zusammenarbeit mit den Eltern, Formen der kollegialen Beratung und nicht zuletzt konkrete Konzeptentwicklungen werden durch die Teams in den Einrichtungen in Beziehung gesetzt zu den Zielstellungen des Handlungsprogramms bzw. zu den Lebenslagen und (festgestellten oder vermuteten) Bedarfen bei Kindern und Familien. Verfahren bzw. die etablierte Praxis der Beobachtung und Dokumentation werden kritisch diskutiert und so weiterentwickelt, dass sie dabei helfen, die Kinder in ihrer Entwicklung und ihren Bedürfnissen vor dem Hintergrund lebensweltlicher Probleme und Herausforderungen zu sehen und zu fördern. Voraussetzung dafür ist eine erhöhte fachliche Sensibilität der Pädagogen/ -innen für die Bedarfslagen von Kindern und Eltern, die durch entsprechendes Wissen zu den unterschiedlichen Lebenslagen von Kindern und Familien, die damit verbundenen Belastungen und Risiken sowie Bewältigungsformen fundiert werden muss. Darüber hinaus werden spezifische Themen wichtig, die einer gezielt vermittelnden Bearbeitung bedürfen wie z. B. Interkulturalität/Diversität, Übergänge und Übergangsbegleitung oder Vernetzung. Hier liegen neben der kontinuierlichen Prozessbegleitung wichtige Schwerpunkte der Arbeit des Kompetenzzentrums. Schließlich ist auf innovative und erprobte Konzepte und Verfahren einzelner Einrichtungen für den Umgang mit besonderen Anforderungen zu verweisen, die im Sinne von best-practice vorgestellt und diskutiert werden. Einrichtungsübergreifende Diskussionen und Reflexionen nehmen mithin – und nicht nur dabei – einen wichtigen Stellenwert in der Projektarbeit ein. Die Erfahrungen, Diskussionen und „Irritationen“ aller Beteiligten im Rahmen des und im Bezug auf das Projekt haben dafür im Ergebnis eine konstruktive Basis geschaffen, indem hier konkrete und tragfähige Anknüpfungspunkte für kritische Reflexionen und Entwicklungsprozesse in den einzelnen Einrichtungen herausgearbeitet, Begleitung und Unterstützung darauf zugeschnitten werden konnten. Dazu gehörte auch und zunächst vor allem die Frage, was Kindertageseinrichtungen selbst benötigen, um dem Handlungsauftrag „Herstellung von Chancengerechtigkeit“ gerecht werden zu können. In diesem Sinne hat der Beitrag zu zeigen versucht, dass (schon) die Veränderung der konkreten Praxis auf der Ebene der Organisation ein komplexes Unterfangen darstellt – und dies vor dem Hintergrund der referierten inhaltlichen Zielstellungen nicht allein aufgrund der Verschiedenheit von Kindertageseinrichtungen, sondern wesentlich auch aufgrund der institutionellen Geschichte und Verfasstheit des Handlungsfeldes, welche Leitideen und Leitorientierungen hervorgebracht haben, die vor allem in der Praxis wirksam sind.
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Damit sind Tatbestände angesprochen, die nicht allein die einzelne Kindertagesstätte und ihre „Kultur“, sondern vielmehr die Institution Kindertagesbetreuung als solche betreffen. Die Forderung bspw., von sozialer Benachteiligung betroffene Kinder individuell zu fördern, ihre Familien zu unterstützen und zu begleiten, führt viele Einrichtungen nicht nur mit Blick auf die strukturellen Rahmenbedingungen und fachlichen Möglichkeiten an ihre Grenzen. Vielmehr sind damit Erwartungen und Anforderungen markiert, die scheinbar nicht ohne Weiteres mit dem „überkommenen“ Verständnis von Erziehung, Bildung und Betreuung in Kindertageseinrichtungen in Einklang zu bringen sind. Eine gewisse generelle Reserviertheit, bspw. gegenüber dem Projekt, die referierten Erwartungen an die sozialpädagogischen Fachkräfte und nicht zuletzt eine Reihe von beobachteten und sicherlich verallgemeinerbaren Vorstellungen über den Umgang mit besonderen Bedarfslagen – spezielle Dienste, Experten/-innen, Verweisungsnetzwerke, speziell ausgebildetes Personal – deuten darauf hin, dass Kindertageseinrichtungen ihren Auftrag, ihre Zuständigkeiten und ihre Möglichkeiten hauptsächlich an anderer Stelle sehen. Diesbezüglich sind einige kritische Anfragen an das Pädagogik- und Professionalitätsverständnis des Feldes sicherlich berechtigt und notwendig (vgl. Rabe-Kleberg 2010; Rosken 2009). Diese und andere in der umfänglichen Diskussion verhandelten Erwartungen und (Veränderungs-)Perspektiven sind jedoch in Beziehung zu setzen mit der (Institutionen-)Geschichte des Bereiches Kindertagesbetreuung, den dabei herausgebildeten Handlungsroutinen und Orientierungsmustern sowie den Rationalitätskriterien und Geltungskontexten (vgl. Lepsius 1997). Konkrete Projekte wie das hier in Rede stehende haben es mithin nicht nur mit Prozessen der Organisationsentwicklung, sondern eben auch mit solchen der Institutionenentwicklung zu tun. Ebenso wie Organisationsentwicklung kann aber auch Institutionenentwicklung nicht allein von den beobachteten Problemen und diesbezüglich „konstatierten“ Bedarfen und Begründungen für Veränderungs-, eben Entwicklungsnotwendigkeiten ausgehen, sondern muss beides systematisch aufeinander beziehen. Ansonsten besteht die Gefahr einer Überformung des Handlungsfeldes durch „konjunkturelle Diskurse“. Die alleinige Konzentration auf die identifizierten, zweifellos relevanten Probleme und davon ausgehend formulierte (programmatische) Erwartungen und Anforderungen bergen jedoch das Risiko, den grundsätzlichen Thematisierungs- und Veränderungsbedarf und die Diskussion um das Pädagogische an der Institution Kindertagesbetreuung in den Hintergrund zu drängen. In der Folge stünde zu befürchten, dass die angestrebten und ggf. auch erreichten Entwicklungen nicht wirklich anschlussfähig sind, keine substanziell fachlichen Wandlungen provozieren und insofern gewissermaßen technisch, strukturell bleiben.
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Frühe Hilfen und Frühwarnsysteme – Strukturen, Zugänge und Modelle zum Kindesschutz und zur Früherkennung riskanter Lebenslagen Dirk Nüsken
Einführung Die Schärfung des Blicks durch medial aufbereitete Fälle, in denen Kinder nachweislich zu Schaden oder gar zu Tode gekommen sind, führte gleichsam auch zum Ruf nach verbesserten Handlungskonzepten. Im Mittelpunkt standen dabei insbesondere die Kinder- und Jugendhilfe und das Gesundheitswesen. Der Ruf verhallte nicht ungehört, wie die zahlreichen Initiativen bei Bund, Ländern und Kommunen zeigen. Zentraler Gedanke vieler dieser Aktivitäten ist es, so genannte frühe Hilfen zu leisten bzw. Frühwarnsysteme zu installieren. Was aber verbirgt sich hinter diesen Begriffen? Welche theoretischen Ansätze und konzeptionellen Ansprüche lassen sich ausmachen und vor allem: Wie lassen sich gelingende Handlungskonzepte entwickeln? Diesen Fragestellungen widmet sich der vorliegende Beitrag und skizziert auf Grundlage vorliegender Studien und Erfahrungen erste Antworten. Hintergründe von Kindeswohlgefährdung Kindeswohlgefährdung und deren öffentliche Betrachtung sind keine neuzeitlichen Phänomene. Bereits 1874 entbrannte anlässlich der Befreiung der 10jährigen Mary Ellen McCormack aus dem Kellerverlies ihrer Stiefmutter in New York eine öffentliche Diskussion zum Thema Kindesmisshandlung (vgl. Baumgärtner 2008, S. 26). Trotz einschlägiger Gesetze und zahlreicher Handlungskonzepte kommt es jedoch auch in jüngster Zeit zu tragischen Fällen von Misshandlung und Vernachlässigung. Interpretiert werden müssen diese neben der Betrachtung von individuellem Versagen auch vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Verände-
G. Robert et al., (Hrsg.), Aufwachsen in Dialog und sozialer Verantwortung, DOI 10.1007/978-3-531-92693-3_13, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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rungen. Durch Verstädterung der Lebenswelten, zunehmende Mobilität und eine ersichtliche Fragilität familialer Sozialstrukturen sind Mütter und Väter – anders als großen Teilen des letzten Jahrhunderts – heute in ihren Erziehungsaufgaben vielfach deutlicher auf sich selbst gestellt. Unterstützungssysteme der Herkunftsfamilie, also etwa Großeltern oder Verwandte, die im Haushalt oder in der unmittelbaren Nähe wohnen, oder nachbarschaftliche Gemeinschaften, die bei der Bewältigung von Krisen helfen können, existieren vielfach nicht mehr oder sie erfüllen diese Funktion häufig nicht mehr. Das aus einem afrikanischen Sprichwort vielzitierte Dorf, das es braucht, um ein Kind großzuziehen, hat sich insbesondere in großstädtischen Umgebungen des Aufwachsens schlicht verflüchtigt. Risikofaktoren Kumulieren zudem aus der Forschung bekannte Risikofaktoren (vgl. Reinhold/Kindler 2006) für eine Vernachlässigung wie psychische Erkrankungen der Eltern (z. B. Depressionen, Suchtmittelabhängigkeiten, erhebliche Belastungen der elterlichen Lebensgeschichte etwa in Form von häufigen Beziehungsabbrüchen in der Kindheit) und selbst erlebte Vernachlässigung oder Misshandlung oder auch eigene Überforderung der Eltern mit der alltäglichen Lebensbewältigung, mit materieller Armut oder der Behinderung eines Kindes, so steigt das Vernachlässigungsrisiko eines Kindes statistisch gesehen sprunghaft an. Die zuletzt in den Medien präsentierten Fälle entstammten deshalb nicht zufällig solchen Kontexten. Dies lässt sich auch empirisch bestätigen: Die groß angelegte amerikanische Längsschnittstudie von Wu et al. (2004) hat gezeigt, dass sich in der Gruppe der Familien mit drei oder mehr Risikofaktoren mehr als 50 % aller bekannt gewordenen Gefährdungsereignisse der Kinder in den ersten drei Lebensjahren ereigneten, obwohl diese Gruppe nur 13 % der untersuchten Eltern mit einem neugeborenen Kind umfasste. Nimmt man diese Befunde ernst, so geraten rasch Handlungskonzepte in den Blick, die es ermöglichen, Vernachlässigungsrisiken möglichst früh zu erkennen und frühe Hilfen anzubieten. Damit sollen ungünstige Entwicklungsverläufe bereits in einem frühen Stadium erkannt werden und Hilfen bereits ansetzen, bevor sich Krisen so weit zugespitzt haben, dass nur noch akute Eingriffe das Kindeswohl schützen können.
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Kindeswohlgefährdung – Ein zunehmendes Phänomen? In Anbetracht der breiten medialen Berichterstattung und der zahlreichen politischen Initiativen bleibt die Frage, ob Kindesvernachlässigungen in Deutschland tatsächlich zunehmen, jedoch weitgehend offen. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass die Bundesrepublik bislang keine nationalen Statistiken zur Häufigkeit von Vernachlässigung und anderen Formen der Kindeswohlgefährdung erhebt (vgl. Rauschenbach/Pothmann 2008). Am ehesten geeignet, um der Entwicklung der Fallzahlen in den letzten Jahren auf die Spur zu kommen, sind deshalb die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) und die Jugendhilfestatistik (KJH-Stat).
Aus: KomDat Jugendhilfe, Heft 3/2008 Die polizeiliche Kriminalstatistik bildet die angegebene Zahl der zur Anzeige gebrachten Körperverletzungen sowie – darunter – die der Kindesmisshandlungen (Misshandlung von Schutzbefohlenen) ab. Auf den ersten Blick nehmen demnach Fälle von Körperverletzungen von unter 6-Jährigen zu, wie die wachsende Zahl der registrierten Fälle von Misshandlungen von Schutzbefohlenen (Gewalt gegen Kinder im familiären Raum) seit dem Jahr 2004 zeigt. Allerdings muss dieser Anstieg von Fallzahlen vorsichtig interpretiert werden, denn damit ist nicht geklärt, ob es eine tatsächliche Zunahme der Fälle gegeben hat: Die PKS dokumentiert zunächst nur eine Zunahme der Anzeigebereitschaft, die vermutlich einer gesteigerten öffentlichen Aufmerksamkeit geschuldet ist. Von einer spürbaren Zunahme dieser Fälle kann jedenfalls nicht ausgegangen werden (vgl. Rauschenbach/Pothmann 2008).
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Aussagekräftiger sind dagegen die (nicht in der Grafik aufgeführten) Zahlen der PKS zu den Mord-, Totschlags- und Tötungsopfern: Bei den unter 6-Jährigen weist die Statistik für 2006 0,4 tote Kinder pro 10.000 der 0- bis 6-Jährigen im Bundesgebiet aus und damit weniger als in den Vorjahren. 2006 waren dies 182 Opfer. Das sind im Vergleich zu 1996 fast 27 % und gegenüber 2000 nicht ganz 15 % weniger (vgl. Fendrich/Pothmann 2007). Die Häufigkeit entspricht damit in etwa den im Straßenverkehr (2005: 159) zu Tode gekommenen Kindern und liegt etwas deutlicher über den Todesfällen von Kindern durch Haushaltsunfälle (2005: 121) (vgl. Jordan/Nüsken 2008). Auch wenn jeder einzelne dieser Fälle schrecklich und ein Fall zu viel ist und damit Handlungsbedarf in Sachen Kinderschutz signalisiert, so sprechen diese Daten zumindest deutlich gegen eine Zunahme von Kindstötungen und damit auch gegen ein prinzipielles Versagen des staatlichen Wächteramtes und gegen ein umfassendes Unvermögen der mit dem Kindesschutz befassten Systeme, im Wesentlichen der Kinder- und Jugendhilfe und des Gesundheitswesens. Ein Blick in die Kinder- und Jugendhilfestatistik In Bezug auf die öffentliche Verantwortung, wie sie durch die Kinder- und Jugendhilfe ausgeübt wird zeigt sich durch die Daten der Kinder- und Jugendhilfestatistik (Tab. 1), dass sich eine offenbar gestiegene Sensibilität gegenüber Kindeswohlgefährdungen vor allem auch durch eine Zunahme gesellschaftlich organisierter Hilfen dokumentiert. Sowohl bei Interventionen (Sorgerechtsentzüge, Inobhutnahmen) als auch bei den – bezogen auf eine Kindeswohlgefährdung zumeist eher präventiv ausgerichteten – Hilfen zur Erziehung sind der gesteigerten Aufmerksamkeit – ggf. auch der gesteigerten Verunsicherung, nicht zu intervenieren – zufolge steigende Fallzahlen zu erkennen. Beruhigen dürfen diese Zahlen dennoch nicht, denn eine ganze Reihe der Fälle, die in den letzten Jahren publik wurden, zeigt sehr deutlich nicht nur das individuelle Versagen der jeweiligen zuständigen Fachkräfte, sondern auch das Versagen der Prävention und Intervention vonseiten der zuständigen Organisationen und darüber hinaus auch die fehlende Kooperation insbesondere des Gesundheits- und des Jugendhilfesystems.
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Vor dem Hintergrund fehlender systematischer Kooperation wurden in Nordrhein-Westfalen bereits seit 2001 soziale Frühwarnsysteme auf den Weg gebracht. Im Koalitionsvertrag von 2005 hat auch die seinerzeit amtierende Bundesregierung beschlossen, den Aufbau sozialer Frühwarnsysteme und die Förderung früher Hilfen zu stärken und dazu ein Aktionsprogramm auf den Weg gebracht. Was aber ist unter diesen frühen Hilfen zu verstehen und wodurch zeichnen sich soziale Frühwarnsysteme aus? Frühzeitige Hilfen Dass frühzeitige Hilfen (bevor das Kind sprichwörtlich in den Brunnen gefallen ist) die Entwicklungsmöglichkeiten und Lebenssituationen von gefährdeten Kindern und Eltern sogar mit vergleichsweise geringem Aufwand verbessern und negativen Entwicklungen vorbeugen können, ist freilich keine neue Erkenntnis und eine ganze Reihe von Konzepten folgt diesem Paradigma, wie eine Zusammenfassung in einem Werkstattbericht des DJI zeigt (Sann et al. 2007). Innerhalb des Gesundheitssystems sind etwa Früherkennungsuntersuchungen schon während der Schwangerschaft und in den ersten Monaten nach der Geburt eines Kindes, aufsuchende Angebote durch Familienhebammen und auch Schwangerschaftsberatungsstellen, die Eltern bei der Bewältigung der Veränderungen, die ein Kind hervorruft, begleiten, relevant. Im Rahmen der Frühförderung werden oft hoch spezialisierte Hilfen von Ärzten, Psychologen, Ergo- und Logopäden erbracht. Diese Förderungen widmen sich zumeist behinderten oder von Behinderung bedrohten Kindern. Auch die Kinder- und Jugendhilfe setzt mit einer Reihe ihrer Angebote auf frühe Hilfen und greift mit ihren präventiven Leistungen nicht zuletzt eine zentrale Strukturmaxime des Achten Kinder- und Jugendberichtes auf. Zu nennen sind hier etwa sozialpädagogische Familienhilfen, die sich auf die Betreuung von Eltern mit Säuglingen spezialisieren, oder stationäre Hilfen für jugendliche Mütter mit ihren Kindern. Darüber hinaus bieten einige Beratungsstellen, etwa im Kontext der Familien- oder Erziehungsberatung, mit so genannten Schreiambulanzen oder entwicklungspsychologischen Beratungsangeboten spezielle Angebote für Eltern mit Säuglingen oder Kleinkindern an. Auch Angebote der Familienbildung, wie z. B. Elterbriefkonzepte oder Elterntrainings, repräsentieren schließlich deutlich die präventive Ausrichtung der Kinder- und Jugendhilfe und nicht zuletzt sind an dieser Stelle die frühkindlich-pädagogische Förderung in Kindertagesstätten oder durch Angebote der Kindertagespflege zu nennen.
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Der kurze Überblick zeigt, wie unterschiedlich „herkömmliche“ frühe Hilfen sind. Was meint der Begriff frühe Hilfen aber in den aktuellen Diskussionen und was unterscheidet die frühe Hilfe von einem sozialen Frühwarnsystem? Frühe Hilfen und Frühwarnsysteme in der aktuellen Diskussion Die Arbeitsdefinition des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen (NZFH) beschreibt frühe Hilfen (im Idealfall) als „Bestandteil eines integrierten Kinderschutzkonzeptes, das sowohl präventive Angebote als auch Interventionen zum Schutz des Kindeswohls umfasst“ (NZFH, 2008). Deutliches Gewicht wird damit auf die Integration einer frühen Hilfeleistung in ein Gesamtkonzept und damit organisatorisch auch auf die Einbindung in ein Netzwerk zum Kindesschutz gelegt. Methodisch konkreter – ohne jedoch ausschließlich auf Aspekte des Kindesschutzes ausgerichtet sein zu müssen – zielt ein soziales Frühwarnsystem auf die systematische Verbindung verschiedener Hilfeinstanzen ab. Gemäß der Definition des Instituts für soziale Arbeit beinhalten soziale Frühwarnsysteme alle systematisch erfolgenden Aktionen der Wahrnehmung, Sammlung, Auswertung und Weiterleitung von Informationen bzw. Fakten, um damit die zielgerichtete Planung und die Realisierung von zeitnahen Reaktionsstrategien zu ermöglichen (vgl. Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes NordrheinWestfalen 2005). Ein soziales Frühwarnsystem ist demnach eine Form des verbindlichen, kooperativen, sozialraumbezogenen, präventiven Handelns. Es bedeutet nicht den Aufbau einer neuen Angebotspalette, sondern besteht in der systematischen, verbindlichen Kooperation der Hilfeanbieter vor Ort. Ziel ist es, riskante Entwicklungen von Kindern und ihren Familien bereits in ihrer Entstehung zu erkennen und zu bearbeiten und damit einer Verfestigung von Problemlagen entgegenzuwirken bzw. sie abzumildern. Dazu wird eine Reaktionskette eingerichtet. Diese besteht (gemäß dem NRW-Modell) aus den drei Basiselementen Wahrnehmen, Warnen und Handeln. „Wahrnehmen“ meint in diesem Zusammenhang die Wahrnehmung, Bewertung und an Schwellenwerten ausgerichtete Überprüfung von Gefahrenpotentialen anhand von Indikatoren. Eine „Warnung“ besteht aus einer systematischen Information einer handlungsverpflichteten Institution oder Person. „Handeln“ steht für das verbindliche und zeitnahe Reagieren. Theoretischer Hintergrund ist die Annahme, dass Risiken für Kinder und Jugendliche nicht „von heute auf morgen“ entstehen, sondern dass es Signale gibt, die entstehende Gefährdungen lange vor der Verfestigung von Problemen ankündigen. Viele Probleme werden bislang jedoch erst dann bearbeitet, wenn gemäß der Ampellogik das Signal von Gelb auf Rot übergeht oder bereits ein
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rotes „Dauerlicht“ zu erkennen ist. Ziel eines sozialen Frühwarnsystems ist es deshalb, Problemlagen bereits im Vorfeld, gewissermaßen also bereits im Übergang von „Grün“ nach „Gelb“, zu erkennen und zu bearbeiten (vgl. ebd.). Zentral erscheint vor diesem Hintergrund die Bestimmung von Schwellenwerten und Indikatoren, d.h. die Beantwortung der Frage, an welchen Merkmalen es sich feststellen lässt, ob eine wahrgenommene Situation einem „Normalzustand“ (grüne Ampel) entspricht und ab wann es sich um eine latente Krise (gelbe Ampel) handelt. Beispielhaft sei hier auf das Frühwarnsystem des Kreises Mettmann in Nordrhein-Westfalen hingewiesen (vgl. Lange 2008). Im Fokus eines Elementes des dortigen Frühwarnsystems stehen so genannte „Beobachtungskinder“ in einer Geburtsklinik. Als Beobachtungskinder werden in diesem Konzept Kinder definiert, bei denen aufgrund von Abweichungen vom normalen Verlauf der Schwangerschaft, der Geburt, der Neugeborenen- und/oder der Kleinkindzeit medizinische Indikationen vorliegen, die erfahrungsgemäß zu Schwierigkeiten in der Entwicklung führen können und im ungünstigsten Verlauf auch zu intensiviert betreuungsbedürftigen Behinderungen. Weiterhin können auch soziale Indikatoren wie z. B. Drogenabhängigkeit, junge Mütter unter 18 Jahren, psychische und physische Erkrankungen der Eltern, sozial benachteiligte Familien, Eltern mit sehr geringem Bildungsniveau, Alleinerziehende und Familien mit Migrationshintergrund für eine gezielte „Beobachtung“ der Kinder ausschlaggebend sein. Wahrgenommen werden diese „Beobachtungskinder“ primär durch Geburtskliniken, Kinderkliniken, Kinderärzte und Hebammen. Als Schwellenwert dient in diesem Fall das Vorliegen mehrerer Indikatoren, damit in Absprache mit den Eltern das Kind in der sozialpädagogischen Beratungsstelle des Gesundheitsamtes angemeldet wird. Die Information (Warnung) erfolgt konkret durch Ärzte, Krankenschwestern, Krankenpfleger oder Mitarbeiter/ -innen des Sozialdienstes des Krankenhauses und das „Handeln“ erfolgt durch die Mitarbeiter/-innen der sozialpädagogischen Beratungsstelle des Gesundheitsamtes. Deren Aufgabe ist dann u. a. die bedarfsgerechte Beratung, Unterstützung und Begleitung der Eltern in allen medizinischen und sozialen Angelegenheiten. Dazu zählt auch die Kooperation mit anderen Institutionen wie dem Jugendamt. Früh2: Frühe Hilfen für die frühe Kindheit Neben dem allgemeinen Bestreben, frühe Signale für Krisen zu erfassen und frühzeitig Hilfen anzubieten, legt das Aktionsprogramm „Frühe Hilfen“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend den Schwerpunkt auf Hilfen für unter 3-Jährige. Die Formel lautet gewissermaßen Früh2: Frühe Hilfen für die frühe Kindheit.
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Ziel des Aktionsprogramms ist die Prävention von Vernachlässigung und Misshandlung bei Säuglingen und Kleinkindern unter drei Jahren durch: Früherkennung von familiären Belastungen und Risiken für das Kindeswohl (und) die frühzeitige Unterstützung der Eltern zur Stärkung ihrer Erziehungskompetenz Als Hintergrund für diese Schwerpunktsetzung können u. a. entwicklungspsychologische Studien und bindungstheoretisch fundierte Analysen ausgemacht werden, die deutlich darauf hinweisen, dass etwa desorganisierte Bindungsmuster, die sich in den ersten beiden Lebensjahren bilden, ein deutlicher Risikomarker für eine drohende Kindeswohlgefährdung sind (vgl. Hensen/Rietmann 2008). Ergebnisse der neurobiologischen Forschung (vgl. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 2007) stützen diesen Befund, indem sie darauf hinweisen, dass Störungen der frühkindlichen Verhaltensregulation wie etwa exzessives Schreien, Fütterprobleme oder Schlafstörungen oftmals Vorläufer späterer Verhaltensauffälligkeiten darstellen. Die Vermeidung dieser Störungen und die Sicherung der Eltern-Kind-Bindung stellen deshalb das erste Ziel früher Prävention und Intervention in der frühen Kindheit dar. Die besondere Bedeutung der frühen Kindheit rechtfertigt sich aber auch durch die Tatsache, dass Säuglinge und Kleinkinder eben in besonderer Weise auf die Fürsorge ihrer Eltern oder der Pflegepersonen angewiesen sind und deshalb erstaunt es nicht, dass vor allem unter 3-Jährige besonders häufig von Vernachlässigung und Misshandlung betroffen sind (vgl. Münder et al. 2000). Als förderlich für eine Intervention in dieser frühen Phase erweist es sich zudem, dass die Zeit der Geburt und frühen Elternschaft für Mütter und Väter zahlreiche Fragen aufwirft und somit für Fachkräfte gute Gelegenheiten bestehen, mit den Eltern ins Gespräch zu kommen. Zum größten Teil selbstverständlich sind solche Gesprächsanlässe bei Gynäkologen, in Geburtskliniken, bei Hebammen und in Kinderkliniken. Trotz der recht deutlichen Befunde standen solch systematisch- und kooperativ erbrachten frühen Hilfen bis vor wenigen Jahren jedoch noch vergleichsweise wenig im Fokus der beteiligten Systeme insbesondere der Jugendhilfe und des Gesundheitswesens. Hinzu kommt, dass sich die beiden Systeme historisch gesehen getrennt voneinander entwickelten und bislang in der Praxis oftmals noch wenige regelhafte Berührungspunkte haben. Dem Brückenschlag zwischen Jugendhilfe und Gesundheitswesen (vgl. Meysen/Schönecker 2009) kommt deshalb eine besondere Bedeutung zu, will man die jeweiligen Ressourcen nutzen und miteinander verzahnen.
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Konzeptionelle Ansätze Der Blick in die Projektlandschaft durch den Überblick der DJI-Kurzevaluation (Helmig et al. 2007) zeigt, dass es in Deutschland eine große Vielfalt an Modellen und Arbeitsansätzen gibt, mit denen Kindesvernachlässigung und Kindesmisshandlung frühzeitig begegnet werden soll. Die Projekte unterscheiden sich im Setting, im Zeitrahmen und in der Frequenz der Angebote, in den methodischen Ansätzen, den beteiligten Professionen wie auch in den Strukturen, der Trägerschaft und der Finanzierung. Sie entsprechen nur in Teilen der als „frühe Hilfen“ und „soziale Frühwarnsysteme“ bezeichneten systematischen Verknüpfung von Hilfsdiensten oder sind gar in umfassende Gesamtkonzepte des Kindesschutzes eingebunden. Der Vielzahl der in der Praxis zu findenden Ansätze stehen zudem bislang nur wenige Erkenntnisse darüber gegenüber, welche Modelle sich bewährt haben und welche nicht. Aus diesem Grund hat das BMFSFJ 2007 mit dem Programm „Frühe Hilfen für Eltern und Kinder und soziale Frühwarnsysteme“ neben der Projektförderung auch entsprechende Evaluationen in Auftrag gegeben (NZFH 2008). Trotz – oder auch aufgrund – verschiedenster Modellprojekte unterscheiden sich Anzahl und Merkmale der Angebote regional bedingt sehr deutlich. Der Stellungnahme des Deutschen Jugendinstituts e.V. zur öffentlichen Anhörung der Kinderkommission zum Thema „Neue Konzepte Früher Hilfen“ (DJI 2009) zufolge ist in den neuen Bundesländern und in strukturell benachteiligten Regionen die Diskrepanz zwischen der Versorgungsrate und den Prävalenzzahlen besonders hoch. Die meisten Leistungserbringer befinden sich demnach in Nordrhein-Westfalen, gefolgt von Bayern, Baden-Württemberg, Niedersachsen und Berlin. Von einer Unterversorgung ist dagegen in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Thüringen auszugehen. Bisherige Praxiskonzepte Der Kurzevaluation des DJI zufolge (Helming et al. 2007) lassen sich bisherige Konzepte früher Hilfen und Frühwarnsysteme insbesondere anhand des gewählten Zugangs zur Zielgruppe unterscheiden. Die Autorinnen und Autoren unterscheiden breite und/oder systematische Zugänge, die alle oder fast alle Familien erfassen wollen und dabei anhand weniger Indikatoren den möglichen Hilfebedarf einzuschätzen versuchen und eher fokussierte und/oder spezifische Zugänge, die sich von vorne herein an bestimmte Teilpopulationen wenden (vgl. ebd., S. 29).
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Breite Zugänge Breite und/oder systematische Zugänge sind z. B. systematische Vollerfassungen in Kliniken, Besuchsdienste, U-Untersuchungen oder allgemeine Informationsdienste. Im Rahmen von Screeningverfahren in Geburtskliniken sollen z. B. mit Hilfe einfacher Indikatorenbögen solche Familien identifiziert werden, die eventuell einen über die medizinische Versorgung hinausgehenden Hilfebedarf haben (vgl. ebd., S. 37). Zur Erkennung solcher (möglicher) Hilfebedarfe dienen Items wie etwa „Die Mutter bekommt keinen Besuch auf der Wochenstation.“ Zweck dieser Verfahren ist die Erkennung von Risikofaktoren, die statistisch gesehen die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass in einer Familie ein Hilfebedarf vorliegen könnte. Als Vorteil kann bei solchen Zugängen gesehen werden, dass eine bestehende, etablierte Infrastruktur für einen Erstkontakt bereits zur Verfügung steht. Fraglich erscheint jedoch, ob das medizinische Personal in den Kliniken ausreichend qualifiziert ist, auch psycho-soziale Belastungsfaktoren in Familien wahrzunehmen und zu beurteilen. Darüber hinaus steht angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer der Frauen (der durchschnittliche Klinikaufenthalt im Rahmen einer Geburt beträgt drei Tage) nur wenig Zeit zur Verfügung, um einen Eindruck von einer familiären Situation zu gewinnen. Darüber hinaus gilt es zu bedenken, dass ein Klinikaufenthalt und eine Geburt stets eine Ausnahmesituation darstellen (vgl. ebd., S. 30) und damit in mancherlei Hinsicht nur bedingt Aussagen über familiäre Alltagssituationen zulassen. Messen lassen müssen sich screeningorientierte Verfahren letztendlich nicht nur daran, ob es mit ihnen gelingt, Risiken allein festzustellen, sondern insbesondere daran, ob die Familien tatsächlich in Hilfen zu vermitteln sind. Dies erfordert zusätzliche Kompetenzen der beteiligten Fachkräfte und vor allem tatsächlich zur Verfügung stehende und von den Familien akzeptierte Hilfen. Zu den breiten, systematischen Zugängen lassen sich auch so genannte Besuchsdienste anlässlich der Geburt zählen. Durch Fachkräfte oder auch durch Laien erhalten hierbei prinzipiell alle Eltern eines bestimmten Einzugsgebietes das Angebot eines Hausbesuchs in den ersten Wochen nach der Entbindung. Im Rahmen solcher Hausbesuche können Familien in ihrer Wohnumgebung aufgesucht und es können dabei Informationen über deren Lebenssituation gewonnen werden. Offen bleibt allerdings, ob nicht gerade Familien in schwierigen Lebenssituationen einen solchen Besuch – der nur freiwillig geschehen kann – eher ablehnen. Die flächendeckende Einführung eines solchen Angebotes dürfte zudem sehr kostenintensiv sein, da nicht auf einen bereits existierenden Dienst zurückgegriffen werden kann. In der DJI-Kurzevaluation wird davon berichtet, dass bei ca. 40 % der Besuche Familien mit Problemen sich auf diese Weise
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erstmals identifizieren ließen und in das Hilfenetz übergeleitet werden konnten (vgl. ebd., S. 31). Spezifische Zugangsformen Den oft im Gesundheitswesen zu findenden breit und/oder systematisch ausgerichteten Zugängen stehen spezifische Zugangsformen zu frühen Hilfen gegenüber. Dazu zählen etwa Offene Treffs, Beratungsstellen, aufsuchende Modelle, Elternkurse und auch der Allgemeine Soziale Dienst des Jugendamtes lässt sich hierunter fassen. Gemeinsam ist diesen Modellen, dass sie sich bestimmten Zielgruppen zuwenden und zumeist in einer Komm-Struktur organisiert sind. Die Autonomie der Familien bleibt durch solche Selbstauswahlprozesse weitgehend gewahrt und auch die Nutzung der Eigenmotivation der Adressaten/-innen kann als positive Ausgangsbasis für eine weitergehende Zusammenarbeit gewertet werden. Eine Ambivalenz besteht jedoch darin, dass genau diese Selbstauswahl einen starken Einfluss auf den Zugang dieser Familien zu Hilfeleistungen hat und möglicherweise gerade Familien mit bestimmten Hilfebedarfen durch spezifische Zugangsformen eben nicht erreicht werden können, da diese Angebote Eigeninitiative und Mobilität voraussetzen. Aufsuchende Modelle für bestimmte Zielgruppen setzen zudem die Zugangsschwellen zwar herab und erreichen durch die Vernetzung im Sozialraum auch wenig mobile Familien, zugleich haben sie jedoch eine leicht stigmatisierende Wirkung und erzeugen so auch die Ablehnung von Hilfe. Während sich für die screeningorientierten Modelle deutlich die Frage nach dem Eingriff in die Persönlichkeitsrechte als Herausforderung zeigt, fehlt in den stärker kommunikativ ausgerichteten jugendhilfeorientierten Modellen dagegen oftmals die systematische Betrachtung und Analyse von Belastungen und Risiken der Familien. Grundlegend erscheint jedoch in beiden Ansätzen die empirisch fundierte und im Diskurs reflektierte Bestimmung von Indikatoren, von Kriterien, die auf Risikolagen bereits im Entstehen hinweisen, also zu einem Zeitpunkt, zu dem einer Familie aus guten Gründen Hilfen angeboten werden sollten, die aufgrund des Freiwilligkeitscharakters jedoch auch abgelehnt werden können. Indikatoren weisen in diesem Zusammenhang zwar auf eine (zumindest statistisch betrachtet) reale Gefährdungssituation bzw. deren Entstehung hin, sind aber tatsächlich nur Hinweise auf ein mögliches Risiko, so dass Interventionen nicht zwingend notwendig sind. In Konsequenz bedeutet dies für die beteiligten Fachkräfte, dass sie die betreffenden Familien motivierend auffordern müssen, Hilfen freiwillig in Anspruch zu nehmen, eine Ablehnung jedoch akzeptieren müssen, solange keine
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reale Gefährdungslage für das Kind gegeben ist (vgl. Böttcher et al. 2008, S. 139). Modellüberlegungen und Strategien Ein ideales Modell besteht für die AutorenInnen der DJI-Kurzevaluation aus einer mehrstufigen Kette von Einschätzungsverfahren, die von einem allgemeinen, breiten Screening mittels einiger weniger Indikatoren über ein differenzierendes Bewertungsgespräch mit allen Beteiligten bis hin zu elaborierten Instrumenten zur Feststellung und Dokumentation von Kindeswohlgefährdung gem. § 8a SGB VIII und schließlich der Überprüfung des Sorgerechts nach § 1666 BGB reichen würde (vgl. Helmig et al. 2007, S. 37). Grundsätzlich stellt der Aufbau eines Systems früher Hilfen oder eines sozialen Frühwarnsystems kommunale Partner vor hochkomplexe Herausforderungen der Netzwerkbildung, des Projektmanagements und der Entwicklung neuer Instrumente. Zentrale Aufgabenstellung ist es, die bestehenden und – potentiell – zuständigen sozialen Systeme systematisch und verbindlich zu vernetzen und zur Bereitstellung niedrigschwelliger präventiver Hilfen zu veranlassen. Aus den Praxiserfahrungen mit sozialen Frühwarnsystemen in NordrheinWestfalen und mit den Koordinierungszentren Kindesschutz in Niedersachsen lassen sich zum Aufbau von lokalen Netzwerken früher Hilfen eine Reihe von Schlüssen ziehen, die in einer Sieben-Punkte-Strategie systematisch dargestellt werden können. Sieben-Punkte-Strategie 1.
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Initiative – einer muss beginnen: Ein Akteur wie das Jugendamt, eine Klinik oder das Gesundheitsamt muss aktiv werden und einen Start für ein Netzwerk initiieren (zunächst zumeist als Top-down-Strategie). Dies gilt insbesondere in Kommunen, in denen die Akteure erstmalig aktiv werden. Selbst wenn es in einer Kommune schon eine Reihe von Initiativen im Bereich früher Hilfen gibt, ist neben der Initiative der Akteure für alle Beteiligten wichtig, dass das Netzwerk von den politisch und verwaltungstechnisch verantwortlichen Personen und Strukturen getragen und aktiv unterstützt wird. Steuerung: Klärung der Verantwortung – wer ist federführend? Jugendamt, Gesundheitsamt, beide oder andere? Aufgrund der Primärzuständigkeit der Jugendhilfe für die Förderung der Entwicklung von jungen Menschen, für
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den Abbau von Benachteiligungen und den Schutz vor Kindeswohlgefährdung gem. § 1 SGB VIII sprechen zwar gute Gründe für eine Federführung durch das Jugendamt, nach den bisherigen Erfahrungen gibt es hier jedoch keine Universallösung. Allerdings sollte die Hauptverantwortung für die Steuerung eindeutig festgelegt und von den Beteiligten akzeptiert sein. Sozialraumanalyse: Vor Aufnahme der Arbeit eines Netzwerkes früher Hilfen sollte in jedem Fall die genaue Analyse der lokalen Gegebenheiten (Zielgruppen, bestehende Angebote, aktuelle Probleme) erfolgen, damit identifizierte Schwachstellen gezielt verbessert und Lücken bedarfsgerecht gefüllt werden können. Akteursanalyse: Die potentiellen Netzwerkpartner/-innen in den bisher getrennten Bereichen müssen ausfindig gemacht und aktiviert werden. Dazu bieten sich gemeinsame Auftaktveranstaltungen an. Klärung der Ressourcen: Sowohl den Netzwerkpartner/-innen als auch der Koordinationsstelle müssen ausreichende Ressourcen (Zeit, Geld, Personen) für die Netzwerkarbeit zur Verfügung gestellt werden: Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Netzwerkarbeit neben dem Tagesgeschäft geleistet werden kann. Stehen keine zusätzlichen Ressourcen zur Verfügung, bleibt es oft dem überdurchschnittlichen Engagement einzelner Personen überlassen, wie gut und tragfähig ein solches Netzwerk geknüpft werden kann. Scheiden diese Personen, aus welchen Gründen auch immer, aus dem Arbeitsfeld aus, steht die gesamte bis dahin aufgebaute Struktur in Frage. Die Kontinuität der Arbeit in einem Netzwerk ist also auch vom gezielten Ressourceneinsatz abhängig. Öffentlichkeitsarbeit: Das Netzwerk als Ganzes, aber auch seine Teile müssen vielen unterschiedlichen AdressatenInnen bekannt gemacht werden. Dies sind zunächst die NutzerInnen selbst, die nur von Angeboten Gebrauch machen können, welche ihnen auch bekannt sind – aber auch die allgemeine Öffentlichkeit sollte informiert sein, damit eine breite Akzeptanz für die Angebote hergestellt werden kann. Die Fachöffentlichkeit sollte detailliertere Informationen erhalten und zur Mitgestaltung des Netzwerks eingeladen werden. Auch überörtliche Gremien und Entscheidungsträger (Nachbarkommunen, Bezirke, Landesministerien usw.) sollten in geeigneter Form auf die Aktivitäten aufmerksam gemacht werden, da sie oft als Vermittler nützlicher Kontakte dienen können. Evaluation: Die Arbeit des Netzwerks sollte laufend überprüft und reflektiert werden, um es den sich verändernden Bedarfen rechtzeitig anpassen zu können.
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Die Evaluation der sozialen Frühwarnsysteme aus der Pilotphase in NordrheinWestfalen durch die Universität Münster konnte zudem wesentliche Gelingensbedingungen zum Aufbau verbindlicher Netzwerke früher Hilfen aufzeigen. Gelingensbedingungen Neben potenziellen Problembereichen zeigte die Untersuchung der NRWModelle aus der Pilotphase durch die Universität Münster (Böttcher et al. 2008) auch Herausforderungen und Wirkfaktoren, gemeint sind Gelingensbedingungen von Netzen früher Hilfen, hier von sozialen Frühwarnsystemen, auf (vgl. ebd., S. 128 ff.). Als erster Wirkfaktor zeigt sich demnach die Aufdeckung der Bedarfe und Ressourcen in dem betreffenden Sozialraum. Gemeint ist damit die klare Bestimmung und Begrenzung des Gegenstands- bzw. Problembereiches. Zielgruppe, Ziele und Erfolgskriterien stehen im Mittelpunkt dieser Bestimmung. Dies kann, bspw. durch Befragungen von Fachkräften und möglichen Adressaten/ -innen (z. B. Eltern von Kindern in Kindertagesstätten) oder durch gemeinsame Workshops mit den Akteuren in einem Stadtteil stattfinden. Hilfreich kann dabei externe Unterstützung sein, wie sich in einigen Modellkommunen des niedersächsischen Modellprojektes Koordinierungszentren Kindesschutz – Kommunale Netzwerke früher Hilfen (Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Familie, Frauen und Gesundheit 2008) zeigte. Frühzeitig zu beteiligen sind in diesem Zuge die Fachkräfte, die später die im Rahmen eines Frühwarnsystems entwickelten Instrumente in der Praxis anwenden sollen. Darüber hinaus dient die Bedarfsermittlung auch zur fachpolitischen Legitimation im Zusammenhang mit der Akquise von Projektmitteln. Als vorteilhaft für eine erfolgreiche Startphase zeigte sich an mehreren NRW-Standorten zunächst eine Beschränkung (Wirkfaktor 2). Die frühzeitige und intensive Beteiligung der Kooperationspartner bei der Entwicklung und Pflege eines Netzwerkes früher Hilfen ist wichtig und zugleich sehr aufwendig. Die Beschränkung auf zunächst eine Teil-Zielgruppe, einen bestimmten Stadtteil oder bestimmte Einrichtungen reduziert die Herausforderungen umfassender und sehr komplexer Netzwerke deutlich. Als wirksamer Schritt zur Vernetzung zeigte sich das Bilden einer fachübergreifenden Projektgruppe (Wirkfaktor 3). Die zur Kooperation aufgerufenen verschiedenen Professionen verfügen über spezielles Expertenwissen, über verschiedene Sichtweisen auf soziale Probleme und über organisatorische und fachspezifische Interessen. Diese müssen in die Entwicklungsarbeit einfließen. Zum Aufbau verbindlicher Kooperationen haben sich in diesem Zusammenhang gerade informelle Treffen (Wirkfaktor 4) als hilfreich
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erwiesen. Kooperation bedarf selbstverständlich der institutionellen Verankerung, jedoch ist sie niemals wirklich personenunabhängig. Aufbau und Pflege von Kooperation besteht deshalb weitgehend darin, regelmäßige Treffen der wichtigsten Akteure zu gewährleisten. Im Gegensatz zu „Arbeitstreffen“, in denen bedeutende Punkte zur Weiterentwicklung bearbeitet werden sollten, können informelle Treffen ohne konkreten Arbeitsauftrag im Vorfeld eine spätere Zusammenarbeit fördern, da sich die verschiedenen Fachkräfte hier „beschnuppern“ können, wie es ein Akteur im Interview ausdrückte. Gemeint ist damit insbesondere, sich gegenseitig erste Einblicke in die jeweils eigene Arbeit und die eigenen Sichtweisen zu gewähren. Kooperationsbeziehungen sollten allerdings nicht auf der informellen Ebene verharren. Für den Aufbau verbindlicher Kooperationsstrukturen (Wirkfaktor 5) zeigt sich vor allem der Abschluss von Kooperationsvereinbarungen als relevant. Diese sind trotz der notwendigen Schriftform weniger als rechtliches Mittel mit Sanktionscharakter anzusehen (vgl. Münder 2008), sondern dienen der Selbstvergewisserung über Beschlüsse, Vereinbarungen und Arbeitsprinzipien. Zumindest teilweise kann auf diesem Weg auch eine größere Personenunabhängigkeit der zu realisierenden Kooperation erzielt werden. Neben den wichtigsten Kriterien und Schwellenwerten sollten Vereinbarungen auch die Rechte und Pflichten der jeweiligen Partner enthalten. Die Schaffung einer Stelle oder eines Stellenanteils zur Koordination erscheint nach den vorliegenden Ergebnissen der Evaluation der wohl bedeutsamste Wirkfaktor zu sein (Wirkfaktor 6). Notwendig ist eine Koordinationsperson, um ein Netzwerk früher Hilfen zum Laufen zu bringen und als „Konstante“ auch zur Sicherung des Netzwerkes beizutragen. Als wichtigste Aufgaben eines solchen „Frühwarnmanagers“ benennt die Evaluation:
Implementierung und Pflege des Netzwerkes und der Kooperationspartner Koordination und Moderation regelmäßiger Kooperationstreffen Beratung der Fachkräfte (und evtl. Eltern) bezüglich der Frühwarnhilfen und -instrumente ggf. Organisation von Schulungen regelmäßige Evaluation, Überprüfung und Anpassung der Instrumente Ausbau des Frühwarnsystems und Gewinnung neuer Partner evtl. Funktion eines Bindeglieds und als zentrale Vermittlungsinstanz zwischen den Hilfesystemen Organisation des Erfahrungsaustauschs mit anderen Kommunen und Frühwarnansätzen
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Die Inhaber von solchen Stellen benötigen neben den nötigen formalen Kompetenzen insbesondere Führungsqualitäten, Verfügungsrechte und Ressourcen. Deshalb erscheint es sinnvoll, eine solche Stelle bei einem öffentlichen Träger anzusiedeln. Als weiterer Wirkfaktor hat sich eine umfassende Implementierung der Verfahren und Instrumente in die Teams und Kollegien der beteiligten Institutionen herausgestellt (Wirkfaktor 7). Zur Implementierung tragen insbesondere der frühzeitige Einbezug der Fachkräfte durch Bedarfsbefragungen und gemeinsame Workshops zur Zielfindung, das gemeinsame Ausarbeiten von Kriterien innerhalb der Teams und die Schulung und Fortbildung der Fachkräfte bei. Hinsichtlich der Klärung der adressatenbezogenen Leistungen müssen (wenigstens) grundlegende und begründete Ideen für die folgenden drei Dimensionen vorliegen: Wie gestalten sich Selektion und Kontaktaufnahme? Welche Indikatoren und Schwellenwerte werden formuliert? Welche pädagogischen (und medizinischen) Hilfen sind möglich? Indikatoren und Schwellenwerte sollten dabei empirisch gesichert sein. Praktisch muss in diesem Zuge in einer gemeinsamen Projektgruppe festgelegt werden, welches „soziale Problem“ im Stadtteil bearbeitet werden soll und was die gemeinsamen Ziele des Projektes sein sollen (Wirkfaktor 8). Entscheidend kann im Zusammenhang der Ziel- und Gegenstandsbestimmung die Entwicklung einer „gemeinsamen Sprache“ sein, d.h., wenn etwa von „Auffälligkeiten“ gesprochen wird, muss über alle beteiligten Professionen hinweg eine gemeinsame Definition derselben gefunden werden. Auf bestimmte Zielstellungen gerichtete Indikatoren und Schwellenwerte bilden dann einen über die Kooperationspartner hinweg verbindlichen Institutional Pathway (Wirkfaktor 9). Die eingangs bereits beschriebene Reaktionskette eines sozialen Frühwarnsystems (Wahrnehmen – Warnen – Handeln) beschreibt diesen Weg, den ein „Frühwarnfall“ durchlaufen sollte. Dabei wird die entwickelte Gegenstands- und Zielbestimmung konsequent in handhabbare Indikatoren (was soll wahrgenommen werden?) und Schwellenwerte (wann genau soll gewarnt werden?) übersetzt. Letztlich hat sich auch das Bemühen um die ständige Zielüberprüfung und Weiterentwicklung eines sozialen Frühwarnsystems als Wirkfaktor erwiesen (Wirkfaktor 10). Wie beschrieben kann ein soziales Frühwarnsystem zunächst in einem überschaubaren Rahmen, d.h. in einem Sozialraum und zunächst mit wenigen Kooperationspartnern, beginnen, um dann weiter ausgebaut zu werden. Neben diesem Ausbau nach einer Gründungs- und Implementationsphase müssen zudem die entsprechenden Instrumente regelmäßig auf ihre Handhabbarkeit, ihre Nützlichkeit und „Schärfe“ (werden alle „Risikofamilien“ erkannt oder sind
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die Instrumente übersensibel?) überprüft und entsprechend weiterentwickelt werden. Dazu ist ein fortlaufendes Controlling nötig. Nach dem Anspruch an entwickelte Netzwerke früher Hilfen gemäß den Qualitätskriterien, wie sie im Rahmen des Aktionsprogramms für „Frühe Hilfen und soziale Frühwarnsysteme“ genannt werden, müssen diese frühen Hilfen schließlich (DJI 2007): umfassend und systematisch Zugang zur Zielgruppe finden Risiken frühzeitig, systematisch und objektiviert erkennen Familien zur Inanspruchnahme von Hilfen motivieren Hilfen an den Bedarf von Familien anpassen ein Monitoring des Verlaufs der Hilfeerbringung und der Sicherung des Kindeswohls gewährleisten Möglichkeiten der Implementation der Hilfen ins Regelsystem erschließen Fazit Frühe Hilfen und soziale Frühwarnsysteme beschreiben Handlungskonzepte, die sich im Wesentlichen auf zwei Grundüberlegungen stützen: Sie sollen erstens Belastungen von Familien frühzeitig wahrnehmen und durch passende Unterstützungsangebote rechtzeitig bearbeiten. Dazu sollen sie zweitens verbindliche und systematische Netzwerke von Fachkräften und Institutionen insbesondere der Kinder- und Jugendhilfe und des Gesundheitswesens herstellen. Beantworten müssen solche Konzepte dabei die Frage nach Indikatoren für latente Gefährdungen, nach tatsächlich zur Verfügung stehenden Hilfeleistungen und nach der Balance von Hilfe und Kontrolle. Notwendig sind in diesem Zusammenhang differenzierte Konzepte, die Prävention, von den Adressaten/-innen akzeptierte Unterstützung und rechtzeitige Intervention bei sich zuspitzender Kindeswohlgefährdung integrieren. Im Hinblick auf die Nachhaltigkeit des Kindesschutzsystems insbesondere im Bereich der frühen Hilfen lassen sich primär insbesondere drei Entwicklungsfelder ausmachen (vgl. DJI 2009). Entwicklungsfelder 1.
Ressourcenausstattung: Sollen frühe Hilfen mit dem Fokus auf dem frühzeitigen und niederschwelligen Zugang zu Familien in Risikolagen funktionierende Regelpraxis werden, setzt dies entsprechende personelle Kapazitä-
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Dirk Nüsken ten und Kostentragung im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe und des Gesundheitssystems voraus. Qualifizierung: Die Arbeit im Bereich der frühen Hilfen verlangt von allen Beteiligten ein erhöhtes Maß an Fachlichkeit, das durch einschlägige empirische Forschung und entsprechende Weiterbildung sichergestellt werden muss. Kooperation: Zum Gelingen von hilfesystemübergreifenden Ansätzen früher Hilfen sind verbindliche und konkrete Arbeitsabsprachen in Form von Kooperationsvereinbarungen oder Leitlinien notwendig. Diese sind durch multiprofessionelle Gremien zu erarbeiten.
Zu allen drei Entwicklungsfeldern sind konkrete Lösungen auf der jeweiligen kommunalen Ebene zu entwickeln. Angesichts der festgestellten regionalen Disparitäten und auch im Sinne einer Vorbild- und Entlastungsfunktion erscheint es jedoch sinnvoll, Instrumente und Verfahren zur Ressourcenausstattung, zur Qualifizierung und zur Kooperation im Rahmen von Netzwerken früher Hilfen zu entwickeln. Idealtypisch stellt deshalb die Entwicklung und Veröffentlichung von „Standards zum Qualitätsmanagement für Netzwerke früher Hilfen“ eine wichtige Aufgabe dar. Mit dem Vorliegen der Ergebnisse der Evaluationen im Rahmen des Programms „Frühe Hilfen für Eltern und Kinder und soziale Frühwarnsysteme“ 2010 steht hierfür eine weitere empirische Grundlage zur Verfügung. Literatur Baumgärtner, Irina (2008): Kindeswohlgefährdung in Familien mit Migrationshintergrund. Hamburg Böttcher, Wolfgang/Bastian, Pascal/Lenzmann, Virginia (2008): Soziale Frühwarnsysteme. Evaluation des Modellprojekts in Nordrhein-Westfalen. Münster Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (2007): Expertise zum Stand der Prävention/Frühintervention in der frühen Kindheit in Deutschland. Köln Deutsches Jugendinstitut e.V. (2009): Stellungnahme des Deutschen Jugendinstituts e.V. zur öffentlichen Anhörung der Kinderkommission zum Thema „Neue Konzepte Früher Hilfen“ am 2. März 2009. Verfügbar unter: http://www.fruehehilfen.de/fileadmin/fileadminnzfh/pdf/Stellungnahme_des_DJI_be i_der_Kinderkommission_des_Bundestages.pdf [23.03.2009] [aufgerufen am 2.06.2010] Fendrich, Sandra/Pothmann, Jens (2007): Kleine Kinder – große Sorgen. Zunehmende Sensibilisierung für Gefährdungen von Kleinkindern in der Familie. In: KOMDAT Jugendhilfe, Nr. 03/2007. Dortmund, S. 2-3
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Helmig, Elisabeth (2008): Alles im Griff oder Aufwachsen in gemeinsamer Verantwortung? Paradoxien des Präventionsanspruchs im Bereich Früher Hilfen. Schriftliche Fassung des Vortrags auf der Fachtagung „Frühe Hilfen für Eltern und Kinder“ der Evangelischen Akademie Tutzing in Kooperation mit dem Nationalen Zentrum Frühe Hilfen. Verfügbar unter: http://www.fruehehilfen.de/fileadmin/fileadminnzfh/pdf/Helming_Paradoxien_der_ Pr_vention_240408.pdf [19.03.2009][aufgerufen am 2.06.2010] Helmig, Elisabeth/Sandmeir, Gunda/Sann, Alexandra/Walther, Michael (2006): Kurzevaluation von Programmen zu Frühen Hilfen für Eltern und Kinder und sozialen Frühwarnsystemen in den Bundesländern. Abschlussbericht. München Hensen, Gregor/Rietmann, Stephan (2008): Systematische Gestaltung früher Hilfezugänge – Entwicklungspsychologische und organisationstheoretische Grundlagen. In: Bastian, Pascal/Diepholz, Annerieke/Lindner, Eva (Hrsg.) (2008): Frühe Hilfen und soziale Frühwarnsysteme Münster, S. 35-58 Jordan, Erwin/Nüsken, Dirk (2008): Kinderschutz in Nordrhein-Westfalen. In: ISAJahrbuch zur Sozialen Arbeit. Münster, S. 199-223 Lange, Rudolf (2008): Die Identifikation und Betreuung von Kindern mit gesundheitlichen (und sozialen) Belastungsfaktoren durch das Kreisgesundheitsamt Mettmann. In: Bastian, Pascal/Diepholz, Annerieke/Lindner, Eva (Hrsg.) (2008): Frühe Hilfen und soziale Frühwarnsysteme Münster, S. 221-228 Meysen, Thomas/Schönecker, Lydia (2009): Kooperation für einen guten Start ins Kinderleben – der rechtliche Rahmen. In: Meysen, Thomas/Schönecker, Lydia/Kindler, Heinz (2009): Frühe Hilfen im Kinderschutz. Rechtliche Rahmenbedingungen und Risikodiagnostik in der Kooperation von Gesundheits- und Jugendhilfe. Weinheim und München. S. 25-158 Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes NordrheinWestfalen (2005). (Hrsg.): Soziale Frühwarnsysteme – Frühe Hilfen für Familien. Arbeitshilfe zum Aufbau und zur Weiterentwicklung lokaler sozialer Frühwarnsysteme. Institut für soziale Arbeit e.V. Münster Münder, Johannes (2008): Kooperationsvereinbarungen – rechtlicher Rahmen. Vortrag am 04.11.2008 in Braunschweig im Rahmen des Projektes Koordinierungszentren Kindesschutz – Kommunale Netzwerke Früher Hilfen in Niedersachsen Münder, Johannes/Mutke, Barbara/Schone, Reinhold (2000): Kindeswohl zwischen Jugendhilfe und Justiz. Münster Nationales Zentrum Frühe Hilfen (Hrsg.) (2008): Frühe Hilfen – Modellprojekte in den Ländern. Köln Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Familie, Frauen und Gesundheit (2008): Koordinierungszentren Kindesschutz – Kommunale Netzwerke Früher Hilfen in Niedersachsen. Zwischenbericht 2008. Hannover Rauschenbach, Thomas/Pothmann, Jens (2008): Im Lichte von ›KICK‹, im Schatten von ›Kevin‹. Höhere Sensibilität – geschärfte Wahrnehmung – gestiegene Verunsicherung. In: KOMDAT Jugendhilfe, Nr. 03/2008. Dortmund, S. 2-3 Reinhold, Claudia/Kindler, Heinz (2006): Gibt es Kinder, die besonders von Kindeswohlgefährdung betroffen sind? In: Kindler, Heinz/Lillig, Susanna/Blüml, Herbert/Meysen, Thomas/Werner, Annegret (Hrsg.) (2006): Handbuch Kindeswohlge-
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fährdung nach § 1666 BGB und Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD). Deutsches Jugendinstitut e.V., München, Kapitel 17 Reinhold, Claudia/Kindler, Heinz (2006): Was ist über Eltern, die ihre Kinder gefährden, bekannt? In: Kindler, Heinz/Lillig, Susanna/Blüml, Herbert/Meysen, Thomas/Werner, Annegret (Hrsg.) (2006): Handbuch Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB und Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD). Deutsches Jugendinstitut e.V., München, Kapitel 18 Reinhold, Claudia/Kindler, Heinz (2006): Was ist über familiäre Kontexte, in denen Gefährdungen auftreten, bekannt? In: Kindler, Heinz/Bastian, Pascal/Lenzmann, Virginia (2008): Soziale Frühwarnsysteme. Evaluation des Modellprojekts in NordrheinWestfalen. Münster Kindler, Heinz/Lillig, Susanna/Blüml, Herbert/Meysen, Thomas/Werner, Annegret (Hrsg.) (2006): Handbuch Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB und Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD), Deutsches Jugendinstitut e.V. München, Kapitel 19 Sann, Alexandra/Schäfer, Reinhild/Stötzel, Manuela (2007): Zum Stand der Frühen Hilfen in Deutschland – ein Werkstattbericht. In: Kindesmisshandlung und -vernachlässigung, Heft 2 (2007). Lengerich, S. 3-23 Wu, Samuel S./Ma, Chang-Xing/Carter, Randy L./Ariet, Mario/Feaver, Edward A./Resnick, Michael B./Roth, Jeffrey (2004): Risk factors for infant maltreatment: A population-based study. In: Child abuse & neglect, vol. 28 (2004). Orlando, S. 12531264
Der sozialräumliche Blick auf Kindheit und Kindertageseinrichtungen Ulrich Deinet
Der erste Teil des Beitrags befasst sich mit den sozialräumlichen Grundlagen auf der Subjektebene und dem Begriff der sozial-räumlichen Entwicklung von Kindern. Hier geht es, ausgehend von den sozialökologischen Ansätzen und dem Aneignungskonzept der kritischen Psychologie, um die Bedeutung des Nahraums für Kinder und deren Familien. Die Bedeutung des öffentlichen Raumes wird besonders hervorgehoben sowie die Auswirkungen der Verinselung von Kindheit. Der zweite Teil beschäftigt sich mit unterschiedlichen Ebenen einer Sozialraumarbeit und zeigt exemplarisch sozialräumliche Analysen und Beteiligungsmodelle, bei denen Kinder und ihre Familien als Experten ihrer Lebenswelt an der qualitativen Analyse von Sozialräumen beteiligt werden können und diese auch im Rahmen der Methoden ein Stück weit aktiv gestalten bzw. sich aneignen. Stadtteilbegehungen oder die Aneignung von Räumen um die Kindertageseinrichtung sind Beispiele solcher Methoden. Deren Einsatz macht auch die Ressourcen und Probleme eines Sozialraums sichtbar. Die strukturelle Ebene sozialräumlicher Entwicklungen wird unter dem Stichwort einer sozialräumlichen Konzeptentwicklung thematisiert und zeigt, welche Möglichkeiten durch den Einsatz der skizzierten Methoden entstehen, um die gewonnenen Erkenntnisse einzusetzen im Sinne einer Netzwerkbildung, die nicht nur an Institutionen und Einrichtungen orientiert ist, sondern auch den öffentlichen Raum und das Wohnumfeld als wichtige Räume mit einbezieht. Der dritte Teil des Beitrags befasst sich mit den Konsequenzen der beschriebenen Sozialraumarbeit für eine sozialräumliche Orientierung von Tageseinrichtungen: Sozialräumliches Arbeiten kann so verstanden werden, dass die unterschiedlichen Ressourcen in einem Stadtteil im Sinne der frühen Förderung von Entwicklung und Bildung in sehr unterschiedlicher Weise miteinander verbunden und genutzt werden können. Der spezifische Ansatz der sozialräumlichen Konzeptentwicklung geht daher nicht von den institutionellen Vorgaben aus,
G. Robert et al., (Hrsg.), Aufwachsen in Dialog und sozialer Verantwortung, DOI 10.1007/978-3-531-92693-3_14, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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sondern versucht, von den sich verändernden Lebenslagen von Kindern und Familien konzeptionelle Anforderungen an Einrichtungen und Projekte abzuleiten. Am Ende des Beitrags geht es auch um die Frage, inwieweit eine Sozialraumarbeit auch präventive Wirkungen entfalten kann. Die sozial-räumliche Entwicklung von Kindern Um die Bedeutung der Kindertageseinrichtung als Bestandteil der Lebenswelt von Kindern besser verstehen zu können, sind die sozialökologischen Ansätze geeignet, die den Zusammenhang zwischen den Räumen, in denen Kinder leben, und deren Entwicklung thematisieren. Die Modelle von Baacke (1984) und Zeiher (1983) beschreiben die sozialräumliche Entwicklung von Kindern und Jugendlichen bzw. die Strukturen subjektiver Lebenswelten. Baacke geht es darum, „den Handlungs- und Erfahrungszusammenhang Heranwachsender – zunächst ohne weitere theoretische Prätentionen – zu ordnen nach vier expandierenden Zonen, die der Heranwachsende in bestimmter Reihenfolge betritt und die ihn ihrem räumlich-sozialisatorischen Potential aussetzen“ (Baacke 1980, S. 499). In Anlehnung an Bronfenbrenner beschreibt Baacke vier sozialökologische Zonen, die im Laufe der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen Bedeutungen erhalten. Neben dem ökologischen Zentrum der Familie ist der Nahraum, das Wohnumfeld, von besonderer Bedeutung für jüngere Kinder, aber auch für Jugendliche, die in ihrem Nahraum wesentliche Unterstützungsstrukturen finden. Die ökologischen Ausschnitte thematisieren Bereiche wie Kindertageseinrichtung und funktionsspezifische Zusammenhänge in Institutionen, die sich Kinder und Jugendliche im Rahmen ihrer Entwicklung aneignen müssen. Die ökologische Peripherie schließlich beschreibt aus dem Alltag herausgehobene Situationen und Räume, die gerade deshalb, weil sie nicht alltäglich sind, einen besonderen Einfluss auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen haben (z. B. Freizeiten, Fahrten). Vom ökologischen Zentrum über den ökologischen Nahraumausschnitt bis hin zur ökologischen Peripherie beinhalten diese Raumzonen unterschiedliche Erfahrungselemente, die sich Kinder und Jugendliche im Laufe ihrer Entwicklung erschließen. Dem ökologischen Sozialisationsmodell liegt die Grundannahme des sich im Laufe der Entwicklung vergrößernden Handlungsraumes zugrunde. Das Zonenmodell darf nicht zu statisch aufgefasst werden, d.h., die einzelnen Zonen werden nicht in einem ganz bestimmten Alter betreten, sondern es geht um ein dynamisches Modell, das verschiedene Bereiche der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen systematisch erfasst. Die einzelnen Zonen bieten verschiedene Erfahrungs- und Erlebnismöglichkeiten und stellen unterschiedli-
Der sozialräumliche Blick auf Kindheit und Kindertageseinrichtungen
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che Anforderungen an das Kind oder den Jugendlichen (vgl. dazu auch Krisch 2009). Die Vorstellung einer Struktur des kindlichen und jugendlichen Lebensraumes als Zonenmodell von konzentrischen Kreisen, die nach und nach erobert werden, konnte nach Überlegungen von Zeiher so nicht aufrecht erhalten werden. Wohl bestätigte auch Zeiher die Bedeutung des „ökologischen Nahraums“. Für die Erweiterung des Handlungsraumes über diesen Nahraum hinaus jedoch entwarf Zeiher eine Theorie, die die Struktur des großstädtischen Lebensraumes von Kindern und Jugendlichen mit einem Inselmodell beschreibt: „Der Lebensraum ist nicht ein Segment der realen räumlichen Welt, sondern besteht aus einzelnen separaten Stücken, die wie Inseln verstreut in einem größer gewordenen Gesamtraum liegen, der als ganzer unbekannt oder zumindest bedeutungslos ist“ (Zeiher 1983, S. 187). Die Wohninsel ist das ökologische Zentrum, von dem aus die anderen Inseln wie der Kindergarten, die Schule, das Kinderzimmer eines Freundes in einem anderen Stadtteil etc. aufgesucht werden. Die Entfernungen zwischen den Inseln werden mit dem Auto oder anderen Verkehrsmitteln zurückgelegt. Dabei verschwindet der Raum zwischen den Inseln und wird von den Kindern nicht wahrgenommen: „Im Extrem versinkt der ,Zwischenraum‘ sogar, nämlich in Großstädten mit U-Bahnen, wo er zur Röhre wird, durch die man befördert wird, um anschließend auf einer anderen Insel wieder aufzutauchen“ (Rolff 1985, S. 152). Die Erweiterung des Handlungsraumes vollzieht sich demnach nicht mehr in konzentrischen Kreisen, sondern entsprechend der Inselstruktur. „Die Aneignung der Rauminseln geschieht nicht in einer räumlichen Ordnung, etwa als allmähliches Erweitern des Nahraums, sondern unabhängig von der realen Lage der Inseln im Gesamtraum und unabhängig von ihrer Entfernung“ (Zeiher 1983, S. 187). Das Inselmodell ist auch geeignet, subjektive Lebenswelten im ländlichen Raum darzustellen, besonders den Zusammenhang zwischen dem Wohnort, dem Ort der Tageseinrichtung, später der Schule und anderen Rauminseln in einem über den Nahraum weit hinausgehenden Raum. Um die Raumqualitäten einzelner Orte, Zonen oder Inseln besser beschreiben zu können, sind weitere theoretische Bausteine erforderlich, wie der dynamische Raumbegriff der Raumsoziologie oder der Aneignungsbegriff (s. u.). Viele Tageseinrichtungen liegen im Wohnumfeld der Familien und sind für die Kinder fußläufig zu erreichen. Diese sind für die Kinder wichtige Bereiche ihres ökologischen Nahraums und sind auch Spiel- und Streifraum, insbesondere dann, wenn Außengelände und Spielplätze als Aneignungsräume zur Verfügung stehen. Je nach sozialräumlicher Situation gehört die Tageseinrichtung im etwas ländlicheren Raum auch schon zu den ökologischen Ausschnitten, ihr Besuch führt die Kinder aus ihrem Nahraum heraus, sie verlassen ihr enges Wohnumfeld
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und erobern sich mit dem Besuch ihrer Kindertageseinrichtung auch neue Räume. Die sozialökologischen Modelle, insbesondere das ökologische Zonenmodell von Baacke, betonen die Bedeutung des Nahraums wie etwa die Bedeutung der Wege zwischen Wohnung und Kindertagesstätte, die Nutzung von Spielflächen und Freiflächen etc. Die sozialökologischen Modelle betonen besonders die Bedeutung des sozialen Nahraums für Kinder. Sozusagen im Sinne eines Resilienzfaktors schafft die Möglichkeit der gefahrlosen Nutzung des Wohnumfeldes Sicherheit und Aneignungsmöglichkeiten, die Kinder für ihre Entwicklung benötigen – insbesondere auch im motorischen Bereich. Kinder können in einem intakten Wohnumfeld relativ früh in Maßen selbstständig agieren und dadurch wichtige Entwicklungsschritte vollziehen. Im Gegensatz dazu steht eine frühe Verinselung der Lebenswelt in einem weniger intakten Wohnumfeld, wo Kinder und Eltern den öffentlichen Raum kaum nutzen (auch weil dieser als gefährlich erscheint), sondern längere Wege in Kauf nehmen, um bestimmte Erfahrungsräume und Orte gefahrlos zu erreichen. Diese frühzeitige Verinselung der Lebenswelt schafft für Kinder eine deutliche Abhängigkeit von ihren Eltern als „Transportmedium“ und gewährt ihnen kaum eine selbstgestaltete Aneignung ihrer Räume. Der Ertrag der sozialökologischen Modelle besteht vor allen Dingen darin, eine Verbindung zwischen subjektivem Raumerleben von Kindern und Jugendlichen und ihrer realen Umwelt in Form von Stadtteilen, Stadtbezirken etc. herzustellen: „Das Ziel der sozialräumlichen Verfahren ist es demnach, Verständnis dafür zu entwickeln, wie die Lebenswelten Jugendlicher in engem Bezug zu ihrem konkreten Stadtteil oder ihrer Region, zu ihren Treffpunkten, Orten und Institutionen stehen und welche Sinnzusammenhänge, Freiräume oder auch Barrieren Jugendliche in ihren Gesellungsräumen erkennen. Der Fokus des Erkenntnisinteresses richtet sich auf die Deutungen, Interpretationen, Handlungen und Tätigkeiten von Heranwachsenden im Prozess ihrer Aneignung von Räumen“ (vgl. Krisch 2009). Die Schlussfolgerungen Krischs, in Bezug auf das sozialräumliche Verhalten von Jugendlichen, lassen sich durchaus auch auf die Situation von jüngeren Kindern übertragen, auch wenn diese noch nicht über selbstbestimmte Treffpunkte verfügen. Entwicklung als sozialräumliche Aneignung Die räumliche Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen besitzt in ihrer strukturellen und sozialen Qualität eine wichtige Bedeutung für deren individuelle und soziale Entwicklung. Das Konzept der Aneignung ist mithin nicht nur geeignet, das sozialräumliche Verhalten von Kindern und Jugendlichen zu beschreiben,
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sondern schlägt, anders als verbreitete Entwicklungstheorien, etwa von Erikson und Piaget, die sich auf die Identitätsbildung bzw. die moralische Entwicklung beziehen, eine Brücke zwischen der Entwicklung von Kindern und den Räumen, in denen sie leben. Das Aneignungskonzept der kritischen Psychologie ist dafür geeignet, die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen als aktive Erschließung ihrer Lebenswelt zu begreifen. Die Ursprünge des Aneignungskonzeptes gehen auf die sogenannte kulturhistorische Schule der sowjetischen Psychologie zurück, die vor allem mit dem Namen Leontjew verbunden ist. Die grundlegende Auffassung dieses Ansatzes besteht darin, die Entwicklung des Menschen als tätige Auseinandersetzung mit seiner Umwelt und als Aneignung der gegenständlichen und symbolischen Kultur zu verstehen. Die Umwelt präsentiert sich dem Menschen in wesentlichen Teilen als eine Welt, die bereits durch menschliche Tätigkeit geschaffen bzw. verändert wurde. In der materialistischen Aneignungstheorie von Leontjew (1973) wird der Begriff der „Gegenstandsbedeutung“ in den Mittelpunkt gestellt. Genauso wie im Prozess der Vergegenständlichung Personen und Gegenstände durch das Ergebnis produktiver Arbeit miteinander verbunden sind, geht es im umgekehrten Prozess der Aneignung für das Kind oder den Jugendlichen darum, einen Gegenstand aus seiner „Gewordenheit“ zu begreifen und sich die in den Gegenständen verkörperten menschlichen Eigenschaften und Fähigkeiten anzueignen. Im Gegensatz zu klassischen entwicklungspsychologischen Ansätzen, entwickelt Leontjew damit ein Konzept, das die Entwicklung des Menschen nicht nur als innerpsychischen Prozess begreift, der mehr oder weniger von „außen“ beeinflusst verläuft, sondern das die Entwicklung vielmehr als tätige Auseinandersetzung mit der Umwelt begreift. Als tätigkeitstheoretischer Ansatz wurde das Aneignungskonzept insbesondere von Klaus Holzkamp (1983) weiterentwickelt und auf heutige gesellschaftliche Bedingungen übertragen. In der Individualentwicklung geht es unter diesem Aspekt u. a. um zwei Dimensionen, die biografisch nie abschließbar sind: Die Fähigkeiten der „Bedeutungsverallgemeinerung“ und der „Unmittelbarkeitsüberschreitung“ (Braun 1994, S. 108). Der Begriff der Bedeutungsverallgemeinerung meint „zunächst die subjektive Erkenntnis, positive emotionale Bewertung und alltagspraktische Umsetzung der Tatsache, dass die gegenständliche Welt nicht zufällig so ist, wie sie ist, sondern dass in sie eingehen die Erfahrungen und Erkenntnisse einer tendenziell verallgemeinernden und optimierenden Gebrauchsfähigkeit der Gegenstände (vom Besteck über die Möbel und Werkzeuge bis hin zu den Verkehrsmitteln und Massenmedien)“ (ebd., S. 109). Der Leontjewsche Begriff der Gegenstandsbedeutung (als Vergegenständlichung gesellschaftlicher Erfahrung, die im Aneignungsprozess erschlossen werden muss) wird von Holzkamp bis auf die gesell-
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schaftliche Ebene komplexer sozialer Beziehungen abstrahiert, die in der individuellen Entwicklung ebenfalls von einfachen (gegenständlichen) Formen bis zu hochkomplexen Zusammenhängen verallgemeinert werden müssen. Der klassische tätigkeitsorientierte Ansatz kann allerdings nicht so einfach in die heutige Zeit übertragen werden – sind doch die gesellschaftlichen Bedingungen, vor deren Hintergrund diese Theorien entwickelt wurden, heute ganz andere. Dennoch lassen sich interessante Bezüge herstellen: Sprachentwicklung, Sozialverhalten, Motorik, Bewegung und Gesundheit (vgl. 13. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung) sind Aspekte, die mit dem Aneignungskonzept in einer sozial-räumlichen Dimension aktuell gefasst und beschrieben werden können. Hier ergeben sich Bezüge zum aktuellen Bildungsdiskurs: Schlüsselkompetenzen wie Handlungsfähigkeit, Risikoabschätzung, Neugier und Offenheit als personale Dimensionen, die auch für (schulisches) Lernen bedeutsam sind, werden von Kindern und Jugendlichen an den Orten und in den Räumen der Lebenswelt erworben. Die Aneignung ihrer jeweiligen Lebenswelt als schöpferischer Prozess der eigentätigen Auseinandersetzung mit der gegenständlichen und symbolischen Kultur der Gestaltung und Veränderung von Räumen und Situationen – sozusagen die Bildung des Subjektes im Raum – wird wesentlich beeinflusst, gefördert oder eingeschränkt durch die sozial-strukturellen Bedingungen von Dörfern, Wohnquartieren und Stadtteilen. Diese Aneignung als eine der wesentlichen Grundaussagen dieses Konzeptes bezieht sich heute allerdings auch auf eine Umwelt, die sich zum Teil in einem tiefgreifenden Umbruch befindet, in der sich Milieus auflösen und auch Sozialräume sich stark verändern. Aneignung gegenständlicher und symbolischer Kultur kann heute eben auch bedeuten, dass Kinder in sozial benachteiligten Stadtteilen die „Verräumlichung der sozialen Frage“ direkt erleben und sich ihre Exklusion somit sozialräumlich aneignen. Der emphatische Begriff der Raumaneignung besitzt deshalb nicht nur positive Konnotationen, sondern muss auch verstanden werden im Sinne von Ausgrenzung und Desintegration unter sozialräumlichen Aspekten. Bewegung, Veränderung, Verknüpfung von Räumen – Raumaneignung heute Wie Martina Löw beschreibt, lernen Kinder und Jugendliche heute, mit unterschiedlichen Raumvorstellungen umzugehen. Der Aneignungsbegriff bezieht sich heute einerseits auf die tätige Auseinandersetzung des Individuums mit seiner Umwelt. Bezogen auf die Raumveränderungen meint der Begriff aber auch die Fähigkeit der Kinder und Jugendlichen, eigentätig Räume zu schaffen (spacing) und die (verinselten) Räume ihrer Lebenswelt zu verbinden. Insofern
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schließt der Begriff der Aneignung gut an die von Löw besonders herausgehobene Bedeutung der Bewegung und der prozesshaften Konstituierung von Raum im Handlungsverlauf an. Diese „Tätigkeit“ ist aber heute nicht mehr (nur) als gegenständlicher Aneignungsprozess in dem klassischen Sinne von Leontjew zu verwenden (s. o. Gegenstandsbedeutung etc.): Die von Kindern und Jugendlichen heute zu leistende Verbindung unterschiedlicher (auch virtueller und symbolischer) Räume, kann in den Aneignungsbegriff als aktive prozesshafte Form eingebunden werden. Aneignung der Lebenswelt bedeutet heute, Räume zu schaffen (spacing) und nicht nur, sich vorhandene Räume gegenständlich anzueignen. Zusammenfassend kann man den Aneignungsbegriff wie folgt operationalisieren: Aneignung für Kinder und Jugendliche ist
eigentätige Auseinandersetzung mit der Umwelt (kreative) Gestaltung von Räumen mit Symbolen etc. Inszenierung, Verortung im öffentlichen Raum (Nischen, Ecken, Bühnen) und in Institutionen Erweiterung des Handlungsraumes (neue Möglichkeiten in neuen Räumen) Veränderung vorgegebener Situationen und Arrangements Erweiterung motorischer, gegenständlicher, kreativer und medialer Kompetenz Erprobung des erweiterten Verhaltensrepertoires und neuer Fähigkeiten in neuen Situationen
In der Konsequenz bedeutet also „Raumaneignung“ für Kinder und Jugendliche nicht nur die Erschließung schon vorhandener und vorstrukturierter Räume, sondern im Sinne von Martina Löw auch die Schaffung eigener Räume als Platzierungspraxis (spacing). Gerade der öffentliche Raum hat im Hinblick auf die hier dargestellten Prozesse eine wichtige Funktion als „Bühne“ für Aneignungsprozesse außerhalb von Institutionen. Diese für Kinder und kindliche Aneignungsprozesse so wichtigen Bühnen sind neben der eigenen Wohnung die Kindertageseinrichtungen, aber auch der öffentliche Raum: Gerade dessen Qualität entscheidet darüber, ob Kinder frühzeitig in der Lage sind, selbsttätige Aneignungsprozesse zu gestalten, oder ob der Nahraum dafür kaum Räume bietet. Infrastrukturelle Voraussetzungen wie die Überwindbarkeit von Straßen und das Vorhandensein von Spielplätzen und Freiflächen entscheiden mit darüber, ob Eltern in der Lage sind, ihren Kindern gewisse Freiräume zu überlassen, so dass diese sich ansatzweise ihre Umwelt eigentätig aneignen können, oder ob das Gefühl von Unsicherheit und Angst im öffentlichen Raum überwiegt, so dass die Kinder ständig unter Aufsicht sind
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bzw. im Sinne des Inselmodells von einer Institution zur anderen bewegt werden. Das „Be-Greifen“ von Welt, die Entwicklung eigenständiger motorischer Aneignungsprozesse etc. sind nur denkbar in einem Umfeld, das entsprechende Rahmenbedingungen aufweist. Unsere These lautet, dass ein lebendiger Nahraum sowohl die wichtige Entwicklungsaufgabe der Erschließung der sozialen Umwelt und der allmählichen Erweiterung des Handlungsraumes fördert, als auch dazu beiträgt, dass Kinder und Familien ihr Verhaltensrepertoire in einem intakten Nahraum entwickeln können und Kinder dadurch auch Anerkennung und Selbstwirksamkeit erfahren. Insofern hat eine intakte sozialräumliche Umwelt auch präventiven Charakter (s. u.). Auf dieser sozial-räumlichen Grundlage kann die Arbeit einer Kindertageseinrichtung auch konzeptionell breiter gefasst werden und muss sich stärker auf die skizzierten sozial-räumlichen Bedingungen beziehen. Es geht dabei nicht nur um die Arbeit mit den Kindern und deren Eltern in der Einrichtung, sondern auch um eine sozialräumliche Erweiterung des Handlungsraums von Kindern und Eltern, bei der die Fachkräfte der Einrichtung wichtige Hilfestellungen leisten können. Auch die konzeptionelle Entwicklung der Einrichtung kann auf dieser Grundlage sozialräumlich ausgelegt werden (s.u.). Mit dem Aneignungskonzept können die subjektiven Handlungsmöglichkeiten stärker in die Planung und Gestaltung von Bildungsprozessen mit einbezogen werden. Dazu ist es erforderlich, dass Einrichtungen Kenntnisse sowohl über die sozialräumlichen Strukturen und Nutzungskonzepte ihres näheren räumlichen Umfeldes als auch über die kindlichen Formen und Möglichkeiten der (bestehenden) Nutzung und Aneignung dieses Umfeldes besitzen. Krisch fasst (jugendliche) Raumaneignung in Anlehnung an Simmel auch als einen Prozess der Wechselwirkung zwischen subjektiver Erschließung der Welt und den gesellschaftlich vorgegebenen Strukturen auf, der mit qualitativen Methoden erschlossen werden kann: „Um Aneignungsprozesse als Wechselwirkung zu beschreiben, braucht es qualitative Verfahren. Diese müssen die Wechselwirkung zwischen gesellschaftlich Gewordenem und individueller Aneignungsfähigkeit zu beschreiben versuchen. Das Aufeinandertreffen von z. T. divergenten Raumbestimmtheiten – da die Aneignungsformen von Heranwachsenden, dort gesellschaftliche Funktionszuschreibungen, Regelungen und Gebote – lassen sich schwer quantitativ in Erfahrung bringen oder abfragen. Sie müssen verstanden werden als die Botschaften, die in den Räumen sind und als die Deutungen und Interpretationen von Jugendlichen im Prozess ihrer Aneignung“ (Krisch 2009, S. 123).
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Ebenen einer Sozialraumarbeit Die im Folgenden skizzierte Vorgehensweise einer sozialräumlichen Konzeptentwicklung hat sehr viel mit dem von Kessl und Reutlinger geprägten Begriff der Sozialraumarbeit zu tun: „Sozialraumarbeit meint die Einnahme einer reflexiven räumlichen Haltung. Diese konkretisiert sich durch eine systematische Kontextualisierung des jeweiligen Handlungsraumes, d.h. eine systematische und möglichst umfassende Inblicknahme des Erbringungszusammenhangs“ (Kessl/Reutlinger 2003, S. 126). Indem sich Konzepte nicht aus den institutionellen Gegebenheiten, sondern aus den sozialräumlichen Bedarfen, d.h. den Blickwinkeln der verschiedenen Zielgruppen, Institutionen sowie anderer Akteure im Sozialraum ableiten, findet so etwas wie eine systematische Kontextualisierung des jeweiligen Handlungsraumes statt. Die Analyse der sozialräumlichen Bedingungen, der Blick in die subjektiven Lebenswelten, stellt einen wichtigen Schritt in der umfassenden Inblicknahme des Erbringungszusammenhangs dar, wie von Kessl und Reutlinger angedeutet. Damit kann die sozialräumlich orientierte Arbeit einer Kindertageseinrichtung ein Methodenrepertoire und eine Kompetenz zum Verstehen der Lebenswelten von Kindern und Familien einbringen, die weit über die klassischen Betreuungsfunktionen hinausgehen und sich somit zu einem wichtigen Bestandteil einer sozialräumlich orientierten Jugendhilfe weiterentwickeln. Mit der Einführung des Begriffs Sozialraumarbeit ist allerdings kein neuer methodischer Ansatz gemeint, sondern eher eine Haltung. Der Einsatz von Analyse- und Beteiligungsmethoden Aufbauend auf einem subjektorientierten Verständnis versucht eine sozialräumliche Lebensweltanalyse, Einblicke in die unterschiedlichen Lebenswelten und Sozialräume von Kindern und Familien zu erhalten und Aneignungsmöglichkeiten und -einschränkungen zu analysieren. Qualitative Methoden einer Lebensweltanalyse ermöglichen die erforderlichen differenzierten Einblicke: Stadtteilbegehung mit Kindern Nadelmethode Cliquenraster strukturierte Stadtteilbegehung Autofotografie subjektive Landkarten Zeitbudgets (vgl. Deinet/Krisch 2002).
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Nach dem Schritt der Sozialraumanalyse mit der Verwendung von statistischem Material zur Bevölkerungsstruktur und anderen relevanten Daten des jeweiligen Sozialraums, werden in einer Lebensweltanalyse qualitative Methoden aus dem Reservoir der empirischen Sozialforschung im Rahmen einer „kleinen“ Feldforschung eingesetzt. Teilweise können Methoden der Jugendhilfeplanung oder auch Aktionsformen der Jugendarbeit selbst eingesetzt werden (z. B. Videostreifzüge). Die Anwendung solcher Methoden soll helfen, Lebenswelten von Kindern besser zu erfassen und die in der Praxis immer noch vorhandene Einrichtungsbezogenheit zu überwinden. Diese Methoden lehnen sich zum Teil an qualitative ethnografische oder biografische Forschungsmethoden an und versuchen, diese für die Praxis der Jugendarbeit anwendbar zu machen, auch mit starkem Bezug auf das oben skizzierte Aneignungskonzept. Ein Beispiel: Stadtteilbegehung mit Kindern Eine typische Methode, die das subjektive Aneignungsverhalten in den Vordergrund stellt, ist die Stadtteilbegehung mit Kindern. Das Erkenntnisinteresse besteht darin, den Stadtteil aus der Perspektive von Kindern kennen zu lernen, ihre Nutzungen und Bewertungen, ihre Wege, Plätze und Straßen nachzuvollziehen und Informationen zu erhalten über Cliquenkonflikte, Gefahrenbereiche etc. Wie bei anderen Methoden werden Kinder als Experten ihres Lebensraumes angesprochen; die Methode ist eine aktionsorientierte Arbeitsform, die durchaus auch im normalen Betrieb einer Kinder- und Jugendeinrichtung als Projekt durchgeführt werden kann. Solche Streifzüge durch den Stadtteil aus der Sicht von Kindern schaffen dann sehr verschiedene Einblicke, wenn sie wiederholt werden mit unterschiedlichen Altersgruppen, nach Geschlecht differenziert etc. Kameras, Karten und Diktiergeräte dienen den Fachkräften als Medien, um die wichtigen Informationen festzuhalten. Wenn vorher z. B. strukturierte Stadtteilbegehungen durch die Fachkräfte durchgeführt worden sind (eine Methode, die bewusst darauf verzichtet, Kinder einzubeziehen, sondern die Fachkräfte selbst in ihrer Beobachterrolle in den Vordergrund stellt), entstehen nun bei der Stadtteilbegehung mit Kindern interessante Wahrnehmungen und Interpretationen von Orten und Räumen, die aus der jeweiligen Sichtweise durchaus unterschiedlich wahrgenommen und genutzt werden. Ergebnisse solcher Stadtteilbegehungen sind oft Hinweise auf informelle Treffs von Kindern und auf Orte und Räume, die vorher unbekannt waren und mit anderen Methoden untersucht werden können. Mit der Stadtteilmethode als typisch qualitativer Methode kann man auch interessante Einblicke gewinnen in das Erleben von Kindern in Bezug auf Institutionen und den öffentlichen Raum.
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Regina Rätz-Heinisch und Nina Blankenburg haben anhand von Praxisbeispielen beschrieben, wie eine Analyse der Lebenswelten von Kindern und deren Familien – ausgehend von einer Kindertageseinrichtung – aussehen kann (Blankenburg/Rätz-Heinisch 2009). Sie beschreiben u. a. eine Stadtteilbegehung mit Kindern, in der es um einrichtungsnahe Ausflugsziele im Stadtteil ging, die auch mit kleinen Kindern im Alter von zwei bis drei Jahren während der Vormittagsstunden besucht werden können. Die Begehung wurde in zwei Schritten durchgeführt, zunächst als Erkundungstour durch das Forscherteam selbst und danach als Begehung gemeinsam mit den Kindern: „Interessant war das Ergebnis der Stadtteilbegehung: Die Kinder dieser Altersgruppe interessierten sich vor allem für den Weg und die situativen Gegebenheiten, die sie erkunden wollten. Eine wichtige Erkenntnis, die wir während des Projektes gewonnen haben, ist die Beobachtung, dass Kinder nicht unbedingt ein konkretes Ausflugsziel brauchen. Sie suchen sich meistens selber Themen und Aufgaben, die sie interessieren und setzen sich somit selbständig ihr Ziel“ (Blankenburg/Rätz-Heinisch 2009, S. 175). Die Kindertageseinrichtung erhält so die wichtige Funktion einer Anregung und Unterstützung tätiger Aneignungsprozesse im Sozialen Raum. Das Beispiel zeigt das Aneignungsverhalten der Kinder, ihre eigensinnige Sichtweise, ihre subjektive Bewertung und ansatzweise auch, wie sie eine Veränderung der Situation bewirken. Sozialraumarbeit als professionelle Haltung Der Begriff der Haltung ist geeignet, um die persönliche Seite des Akteurs, des handelnden Sozialpädagogen, zu beschreiben, der mit einer gewissen Grundeinstellung an eine Sozialraumanalyse herangeht. Auf der Grundlage einer persönlichen Haltung, etwa indem die Menschen in einem Sozialraum als die Experten ihrer Lebenswelten wahrgenommen werden, benötigt man dann eine Operationalisierung dieser Haltung als praktische Umsetzung und Beantwortung der Frage, wie die jeweilige Haltung das Handeln bestimmt. Arbeitsprinzipien betonen eher die methodische Seite, bei der es darum geht, Haltungen handhabbar zu machen, also auch zu fragen, wie bestimmte Haltungen etwa in der Praxis einer Sozialraumanalyse umgesetzt werden können. Auf dem Hintergrund dieser begrifflichen Diskussion werden im Folgenden einige sozialräumliche Haltungen und Arbeitsprinzipien dargestellt. Eine grundlegende Haltung besteht darin, eine Beobachter- und Forscherperspektive einzunehmen, was insbesondere für Fachkräfte, die schon jahrelang in bestimmten Stadtteilen arbeiten, sicherlich eine Herausforderung
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Ulrich Deinet darstellt. Dazu werden entsprechende Methoden vorgestellt, wie eine solche Haltung eingenommen und eingeübt werden kann. Auf der Grundlage der Einnahme einer Beobachter- und Forscherperspektive, geht es um Beobachten und Verstehen, die Vorrang haben vor Kontaktaufnahme und Intervention. Eine weitere Zugangsweise besteht darin, sowohl Einschränkungen als auch Möglichkeiten der Raumgestaltung verschiedener Gruppen wahrzunehmen. Der Blick auf die Ambivalenz sozialräumlicher Aneignungsprozesse öffnet die Augen sowohl für Barrieren und Hindernisse als auch für (verborgene) Möglichkeiten, die sich Kinder und Jugendliche, aber auch andere Gruppen aneignen. Mit Blick auf die zu aktivierenden Menschen, geht es im weiteren darum, diese als Experten ihrer Lebenswelten wahrzunehmen, dabei geschlechtsspezifische Dimensionen nicht zu übersehen, mit den durchgeführten Projekten aber insbesondere bei Kindern und Jugendlichen auch keine unrealistischen Erwartungen zu wecken, was die Gestaltung ihrer Stadtteile etc. angeht.
Den Ertrag für die pädagogische Arbeit der Fachkräfte von Tageseinrichtungen beschreiben Blankenburg und Rätz-Heinisch folgendermaßen: „Die sozialräumliche Perspektive erweitert jedoch die Wahrnehmung auf die Eltern, Familien, weiteren Bewohner und verschiedenen Generationen, die in einem Stadtteil leben. Auch sie bilden die sozialräumliche Umwelt der Kinder. Gelingt es, die Familien und die Bewohner des Stadtteils in die Arbeit der Kindertageseinrichtung einzubeziehen, können dadurch Synergieeffekte für die Arbeit mit den Kindern und Familien entstehen. Es können Bildungsprozesse bei den Eltern und in den Familien angeregt werden“ (ebd., S. 3). Sozialraumarbeit als Konzeptentwicklung Auf der Grundlage der Einblicke in subjektive Lebenswelten und das Erleben von Kindern in ihrem Sozialraum, verdeutlicht die Anwendung weiterer Methoden wie z. B. der Institutionenanalyse oder der Interviews mit Schlüsselpersonen externe Sichtweisen auch auf die eigene Institution (hier die Kindertageseinrichtung), und auf Institutionen, die im gleichen Sozialraum arbeiten, aber auch auf Schlüsselpersonen, d.h. auf Menschen, die einen interessanten Bezug zum Sozialraum haben.
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Schritte einer sozialräumlichen Konzeptentwicklung Eine sozialräumliche Konzeptentwicklung geht nicht wie die klassische Konzeptentwicklung von den institutionellen Rahmenbedingungen aus, sondern fragt auf der Grundlage der Analyse der Lebenswelten von Kindern nach Bedarfen und Anforderungen an die Kindertageseinrichtungen oder andere Institutionen. Diese Vorgehensweise steht im Gegensatz zu einer institutionellen Konzeptentwicklung, die sehr stark von den Institutionen und Trägern, deren Ausstattung und den verfügbaren Ressourcen ausgeht. Dennoch übersieht eine sozialräumliche Konzeptentwicklung nicht die institutionellen Rahmenbedingungen, sondern versucht, durch eine konsequent sozialräumliche Herangehensweise die institutionell bedingten blinden Flecken einer klassischen Konzeptentwicklung zu überwinden. Die Schritte einer sozialräumlichen Konzeptentwicklung lauten: 1. Sozialraum- und Lebensweltanalyse (mit Methoden wie oben skizziert und unter Einbeziehung sozialstruktureller Daten für den jeweiligen Sozialraum) 2. Analyse der Erwartungen von anderen Institutionen und des Bildes der eigenen Institution im Stadtteil (auch hier werden Methoden wie die Fremdbilderkundung oder die Institutionenbefragung angewandt) 3. Auf der Grundlage der beiden ersten Analyseschritte werden Zielsetzungen formuliert, die sich als Erwartungen an die Institutionen und Projekte/Angebote richten. Im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit sprechen wir auch gerne von konzeptionellen Differenzierungen, d.h. spezifischen, sozialräumlich orientierten, konzeptionellen Spezialisierungen, die auf die jeweiligen Bedarfslagen zugeschnitten sind. 4. Evaluation: Zahlreiche der oben skizzierten Methoden sind auch als Evaluationsmethoden in dem Sinne zu verstehen und anzuwenden, dass sie Einblicke geben in die Lebenswelten von Kindern und Familien und damit auch die Frage beantworten lassen, wie Institutionen wie Kindertageseinrichtungen und deren Angebote in den Lebenswelten von Kindern und Familien wirken. Methoden innerhalb der Konzeptentwicklung: Institutionsanalyse, Erwartungen, „der Blick von außen“ In einem ersten Schritt geht es darum, einen Überblick über relevante Institutionen zu erhalten, die sowohl für die Kinder als auch für die Kindertageseinrichtungen wichtige Rollen spielen und ggf. als Kooperationspartner gesehen werden. Oft besteht die Annahme, dass eine solche umfassende Darstellung der Institutionen bereits bestehe, aber die Wirklichkeit zeigt, dass diese immer wie-
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der neu erfolgen muss, weil vorhandene Wissensbestände veralten und Institutionen sich verändern und neu entstehen, etwa im Bereich der kommerziellen Angebote für Kinder und Familien. Auf der Grundlage einer solchen Erhebung kann es in einem zweiten qualitativen Schritt nun darum gehen, die Sichtweisen der Vertreterinnen und Vertreter dieser Institutionen in Bezug auf die Situationen von Kindern, auf den Sozialraum mit seinen Veränderungen, aber auch auf die Einrichtungen der Kindertageseinrichtungen zu eruieren und sie im Rahmen der Sozialraumarbeit zu nutzen. Die Institutionenbefragung versucht, solche Einschätzungen aufzunehmen und zu dokumentieren. Gewinnt man mit Hilfe dieser Methode unterschiedliche Einschätzungen zum Sozialraum und verschiedene Erwartungen an die Kindertageseinrichtungen aus der Sicht von Institutionen, so sollte man nicht darauf verzichten, auch Schlüsselpersonen mit einzubeziehen, die keine institutionellen Sichtweisen, sondern ganz eigene Perspektiven mitbringen: In zahlreichen Projekten wurden gerade Sichtweisen von Schlüsselpersonen als besonders interessant empfunden, etwa ein Interview mit einer „Büdchenfrau“ (Kioskbesitzerin), der pensionierten Leiterin eines Allgemeinen Sozialen Dienstes, dem im Winter im Stadtteil ansässigen Nichtsesshaften, dem schon 25 Jahre im Stadtteil praktizierenden türkischen Kinderarzt usw. Als „Schlüsselpersonen“ gelten solche Menschen im Stadtteil, die aufgrund ihres Berufes, ihrer Position und ihrer Erfahrungen über spezifische Wissensvorräte über Strukturen, Veränderungen und Entwicklungen des Stadtteils verfügen“ (Ortmann in Deinet/Sturzenhecker 1996, S. 78). Auf keinen Fall sind von solchen Personen direkte Zielsetzungen und Bedarfe hinsichtlich des Konzeptes einer Kindertageseinrichtung zu erwarten, aber sie bringen zusätzlich zu den o. g. Institutionen interessante Einblicke aus ihrem jeweiligen Blickwinkel ein. Für die meisten Einrichtungen und Projekte der Kindertageseinrichtungen beginnt die Sozialraumarbeit nicht bei null, sondern sie ist meist eine Weiterentwicklung des bestehenden Konzeptes. Oft arbeiten Kindertageseinrichtungen schon lange in Stadtteilen und müssen sich nun fragen, inwieweit sie ihre Konzepte aufgrund von Veränderungen im Sozialraum weiterentwickeln und verändern müssen. Dafür ist der „Blick von außen“, d.h. die Analyse der Sichtweisen und Wahrnehmungen der Kindertageseinrichtung aus dem Blickwinkel unterschiedlicher Gruppierungen und Institutionen, von großem Interesse, da oft eine große Differenz zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung besteht. Die analytischen Möglichkeiten der skizzierten Methoden liegen in der Gewinnung von qualitativem Material zu den Lebenslagen und -welten von Kindern und ihren Familien; gleichzeitig werde diese als Experten(innen) ihrer Lebenswelten in den Prozess aktiv einbezogen und an ihm beteiligt. Zahlreiche
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Methoden aus diesem Repertoire sind auch als direkte Beteiligungsmethoden einsetzbar. Aus den Daten und Informationen können Aussagen zur Qualität des Sozialraums und zu dessen Verbesserung abgeleitet werden. Diese sind sowohl für die klassische Arbeit der Tageseinrichtungen nutzbar als auch für eine zu entwickelnde Sozialraumarbeit im Stadtteil. Konsequenzen für eine sozialräumliche Orientierung von Tageseinrichtungen Wie können die unterschiedlichen Vorgehensweisen nun so zusammengebracht werden, dass die unterschiedlichen Sichtweisen einer Sozialraum- und Lebensweltorientierung miteinander verbunden werden können? – Wir schlagen vor, dies in einem dialogischen Prozess zu tun, d.h. auf die Karte eines Sozialraums unterschiedliche Folien aufzulegen, die bestimmte Themen und Beobachtungsdimensionen angeben, in welche qualitative und quantitative Daten eingebracht werden können. Man kann sich dieses Verfahren ganz praktisch anhand eines großen Stadtteilplans vorstellen, auf den unterschiedliche Klarsichtfolien aufgelegt werden, die jeweils spezifische Blickwinkel und Daten zeigen und insgesamt ein vielfältiges Bild des Sozialraumes ergeben (natürlich geschieht dies heute meist in einer elektronischen Variante). Zu den einzelnen Folien bzw. Themen und Blickwinkeln soll es dann jeweils eine dialogische Diskussion geben, in der versucht wird, den qualitativen und quantitativen Blick zusammenzuführen. Mögliche und sinnvolle Ebenen/Perspektiven zur Erschließung und Beschreibung des Sozialraumes, seiner Struktur und Qualität können sein:
Struktur des Sozialraums: Welche Raumtypen finden sich im Sozialraum (Siedlungsgebiete, öffentlicher Raum, Industriegebiete, Konsum- und Freizeiteinrichtungen) und welche Nutzungsvorgaben bzw. -gelegenheiten bieten sie (kommerzielle Nutzung, gewerbliche Nutzung, Hauptverkehrswege, Einkaufsmöglichkeiten, öffentlicher Personennahverkehr, informelle Treffs)? Wo bestehen (welche) Grenzen und Abgrenzungen innerhalb des Sozialraumes (große Verkehrsstraßen)? Gibt es besondere – räumliche – Bedingungen für Kinder und Familien, für deren Mobilität etc.? Angebotsstruktur des Sozialraums: Welche Institutionen sind im Stadtteil vorhanden? Wer macht welche Angebote für welche Zielgruppen mit welchen Öffnungszeiten etc.? Welche Angebote gibt es für Kinder und deren Familien in Institutionen oder auch im kommerziellen Bereich? Kooperationen im Sozialraum: Welche Einrichtungen arbeiten wo und wie zusammen? Welche Kooperationsstrukturen und Netzwerke bzw. welche
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Ulrich Deinet Gremien (runde Tische, Ordnungspartnerschaften, Stadtteilkonferenzen, Quartiersmanagement) sind vorhanden? Gibt es besondere Kooperationsformen mit Bezug auf die Themen und Probleme von Kindern und Familien? Konflikte im Sozialraum: Wo gibt es immer wiederkehrende Konfliktorte, informelle Treffpunkte oder Angsträume, die von entsprechenden Gruppen thematisiert werden? Wo werden Kinder, Jugendliche und andere Bevölkerungsgruppen ausgegrenzt und durch wen? Wo stehen sich unterschiedliche Nutzungskonzepte konflikthaft gegenüber? Wo werden Kinder aus dem öffentlichen Raum verdrängt (Shopping-Malls etc.), wo werden Freiflächen und Rückzugsräume wegen anderer (z. B. kommerzieller) Nutzungen aufgegeben? Aneignungsorte und -räume im Sozialraum: Wo gibt es Hinweise auf Umnutzungen, (kreative) Gestaltungen durch Kinder im öffentlichen Raum oder in Institutionen, im halböffentlichen Raum, in Sportanlagen? Welche Möglichkeiten bestehen für die Erweiterung des Handlungsraums der Kinder? Schlüsselpersonen im Sozialraum: Wo leben die Schlüsselpersonen des Stadtteils (z. B. Vertreter der Kommunalpolitik oder Vorsitzende von Vereinen oder Initiativen)? Welche Organisationen sind in diesem Feld überhaupt vorhanden?
Die Ergebnisse der oben skizzierten Methoden sowie bereits vorliegende Daten (z. B. aus der Jugendhilfeplanung) werden einbezogen, um als Grundlage für die Arbeit der Einrichtung ein umfassendes Bild der Situation von Kindern und Familien zu erhalten. Es werden immer wieder „neue Netze ausgeworfen“, um Informationen über den Sozialraum zu erhalten, z. B. in Form von Fragen nach informellen Treffs, nach Aneignungs- und Veränderungsräumen, nach Mobilitätssträngen und -wegen im Sozialraum und außerhalb sowie nach unterschiedlichem Mobilitätsverhalten von Mädchen und Jungen. Von der Analyse zur Entwicklung konzeptioneller Differenzierungen Auf der Grundlage der Anwendung der oben beschriebenen qualitativen Methoden und der Interpretation der zur Verfügung stehenden sozialstrukturellen Daten, können im Rahmen einer sozialräumlichen Konzeptentwicklung für Kindertageseinrichtungen und andere Institutionen sogenannte konzeptionelle Differenzierungen entwickelt werden. Der Begriff geht davon aus, dass ein Konzept in der Praxis bereits besteht, dass es aber darum gehen muss, dieses nach sozial-
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räumlichen Kriterien hin weiterzuentwickeln und zu differenzieren. Wichtige Fragen für die Entwicklung konzeptioneller Differenzierungen lauten:
Was müsste unter Berücksichtigung der Analyse der Lebenswelten von Kindern und Familien im Stadtteil geschehen? Welche Maßnahme/Einrichtung kann welche neue Funktion und Rolle übernehmen? Welche alten Funktionen und Angebote können verändert oder evtl. abgebaut werden? Welche Rahmenbedingungen der Einrichtungen (z. B. Lage im Stadtteil, räumliche Ressourcen) machen welche Schwerpunktsetzungen möglich?
Eine sozialräumlich orientierte Konzeptentwicklung für eine Kindertageseinrichtung schafft eine breite Grundlage, die weit über die klassische Arbeit mit den Kindern in der Einrichtung hinausgeht. Die Kindertageseinrichtung sieht sich selbst als eine Institution in einem Geflecht von unterschiedlichen Einrichtungen und Anbietern in dem jeweiligen Sozialraum. Mit ihrem Blick auf die Räume von Kindern und Familien im Stadtteil überwindet sie auch die vielfach verbreitete „Komm- Struktur“ und bringt sich selbst als handelnde Akteurin in die Entwicklung des Sozialraums ein. Eine sozialräumlich orientierte Kindertageseinrichtung kann auf drei Ebenen arbeiten:
Durch eine Arbeit mit den Kindern, die sich an den sozialräumlichen Bedingungen der Lebenswelt der Kinder und Familien orientiert und Aneignungsprozesse möglich macht, die sich aufgrund von Veränderungen in der Lebenswelt quasi nicht mehr natürlich einstellen. Dies können Projekte sein, in denen sich Kinder ihre Umwelt erschließen und in denen die Kindertagesstätte so zum Ausgangspunkt der Erweiterung des Handlungsraumes von Kindern, aber auch von Familien wird. Durch ein Engagement über die Arbeit in der Kindertageseinrichtung hinaus, um z. B. mit Kindern und Familien Räume im Stadtteil zu erhalten, zu verteidigen oder zu schaffen, sich in Planungsprozesse bezüglich Freiraumund Spielplatzgestaltung sowie auch Verkehrsgestaltung einzumischen und Kinder und Familien direkt daran zu beteiligen. Dies birgt auch den Aspekt einer lokalpolitisch aktivierenden Sozialraumarbeit, die versucht, die Menschen für ein Engagement in ihrem direkten Lebensumfeld zu motivieren. Dabei haben die Fachkräfte eine entscheidende Funktion und übenernehmen oftmals die Rollen von Vorbildern oder zumindest Orientierungspersonen. Dazu gehört eine regelmäßige Präsenz im Stadtteil, etwa durch Stadtteilbe-
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Ulrich Deinet gehungen, Projekte im Umfeld der Tageseinrichtung und Mitarbeit bei Stadtteilprojekten. Durch den Aufbau einer Lobby für die Interessen von Kindern und Familien in der Öffentlichkeit: Dafür haben die Kindertageseinrichtungen das sozialräumliche Wissen und Mandat, d.h. die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter können als Expertinnen und Experten für die Interessen von Kindern und Familien im Sozialraum auftreten, Politik und Verwaltung beraten und sich in Stadtteilkonferenzen und anderen Institutionen einmischen. Die Kooperation und Vernetzung mit anderen Institutionen ist hier kein Selbstzweck, sondern verfolgt das eindeutige Ziel, die Lebensbedingungen von Kindern und Familien zu verbessern.
Das Fachkonzept der Sozialraumorientierung erweist sich als große Chance für eine kommunale Förderung von Kindern und Familien. Zum einen führt es zu einer Beschreibung der sozialen Strukturen, die Sozialräume Stadtteile, Regionen, Dörfer etc. auszeichnen und die als planerische Rahmenbedingungen auch für die Entwicklung kinderfreundlicher Maßnahmen von Bedeutung sind. Die subjektorientierte Seite der Sozialraumorientierung zum anderen zeigt insbesondere mit dem Aneignungskonzept die Wahrnehmungen und Raumdeutungen von Kindern und Familien in ihren Sozialräumen auf und ist deshalb sehr gut geeignet für die Konzeptentwicklung kinderfreundlicher Projekte, die durch einen „sozialräumlichen Blick“ besser an die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen anknüpfen können. Sozialraumarbeit als Prävention Die hier beschriebene sozialräumliche Orientierung richtet ihren Blick zum einen auf den Zusammenhang zwischen der Entwicklung von Kindern und deren Familien und den Sozialräumen, in denen sie leben. Der andere Fokus richtet sich auf das sozialräumliche Arbeiten von Institutionen, insbesondere von Kindertageseinrichtungen, in ihrem jeweiligen Umfeld. Beide Aspekte können auch mit einer Frühprävention in Zusammenhang gebracht werden: Die aktive Gestaltung eines Stadtteils, die Bildung von Netzwerken zwischen Institutionen, der Blick auf den öffentlichen Raum mit seinen Gefahren und Möglichkeiten und die Sozialraumarbeit ausgehend von den Einrichtungen können zur Verbesserung des Klimas in einem Stadtteil beitragen und damit auch präventive Wirkungen entfalten. Im Gegensatz zu einem engen Präventionsbegriff gehen wir allerdings nicht von den präventiven Wirkungen einzelner Methoden oder Angebote aus, sondern
Der sozialräumliche Blick auf Kindheit und Kindertageseinrichtungen
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sehen die sozialräumliche Entwicklung von Kindertageseinrichtungen insgesamt als Beitrag dazu, die Lebenslagen von Kindern und Familien zu verbessern und diese damit zu stärken im Sinne der Entwicklung präventiver Potenziale. Dort, wo sich Kinder und Familien in ihrem Wohnumfeld sicher fühlen können, wo sie einen intakten Nahraum nutzen und die Kinder auch ohne Gefährdung selbstständig ihren Handlungsraum erweitern können, wo durch gezielte Förderung und die Entwicklung unterschiedlicher Bildungsorte eine breit gefächerte Entwicklung der Kinder besonders im Sinne informeller und nonformaler Bildung gefördert wird, entsteht insgesamt eine kinder- und familienfreundliche Atmosphäre, der man präventive Wirkungen durchaus zuschreiben kann. Literatur Blankenburg, Nina/Rätz-Heinisch, Regina (2009): Kindertageseinrichtungen im sozialen Raum – sozialräumliche Methoden in der Arbeit mit Kindern, Familien und Nachbarn. In: Deinet, Ulrich (Hrsg.): Methodenbuch Sozialraum. Wiesbaden, S. 165-188 Braun, Karl-Heinz (1994): Schule und Sozialarbeit in der Modernisierungskrise, In: Neue Praxis, 2/1994, S. 107-124 Deinet, Ulrich (2005) (Hrsg.): Sozialräumliche Jugendarbeit. Grundlagen, Methoden, Praxiskonzepte, 2., völlig überarbeitete Auflage. Wiesbaden Deinet, Ulrich (2009) (Hrsg.): Methodenbuch Sozialraum. Wiesbaden Deinet, Ulrich/Icking, Maria/Leifheit, Elisabeth/Dummann, Jörn (2010): Jugendarbeit zeigt Profil in der Kooperation mit Schule. In der Reihe: Soziale Arbeit und Sozialer Raum, Bd. 2. Leverkusen. Deinet, Ulrich/Krisch, Richard (2006): Der sozialräumliche Blick der Jugendarbeit. Methoden und Bausteine zur Konzeptentwicklung und Qualifizierung. Opladen 2002, Nachdruck, Wiesbaden Deinet, Ulrich/Okroy, Heike/Dodt, Georg/Wüsthof, Angela (Hrsg.) (2009): Betreten erlaubt! Projekte gegen die Verdrängung Jugendlicher aus dem öffentlichen Raum, soziale Arbeit und sozialer Raum Bd. 1. Opladen und Farmington Hills Deinet, Ulrich/Reutlinger, Christian (Hrsg.) (2004): „Aneignung“ als Bildungskonzept der Sozialpädagogik. Beiträge zur Pädagogik des Kindes- und Jugendalters in Zeiten entgrenzter Lernorte. Wiesbaden Holzkamp, Klaus (1973): Sinnliche Erkenntnis. Frankfurt a. M. Kessl, Fabian/Reutlinger, Christian (2003): Sozialraum. Eine Einführung. Wiesbaden Krisch, Richard (2009): Sozialraumanalyse als Methodik der Jugendarbeit. URL: http://www.sozialraum.de/sozialraumanalyse-als-methodik-der-jugendarbeit.php, aufgerufen am 09.10.2009 Krisch, Richard (2009): Sozialräumliche Methodik der Jugendarbeit. Aktivierende Zugänge und praxisleitende Verfahren. Weinheim/München Leontjew, Alexei Nikolajewitsch (1973): Problem der Entwicklung des Psychischen, Frankfurt a. M.
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Ulrich Deinet
Löw, Martina (2001): Raumsoziologie. Frankfurt a. M. Ortmann, Norbert (1996): Methoden zur Erkundung der Lebenswelt. In: Deinet, Ulrich/Sturzenhecker, Benedikt (Hrsg.): Konzepte entwickeln. Weinheim/München Rauschenbach, Thomas (2009): Zukunftschance Bildung, Familie, Jugendhilfe und Schule in neuer Allianz. Weinheim/München Reutlinger, Christian (2002): Unsichtbare Bewältigungskarten von Jugendlichen in gespaltenen Städten. Sozialpädagogik des Jugendraums aus sozialgeografischer Perspektive. Opladen Reutlinger, Christian (2009): Bildungslandschaften – raumtheoretisch betrachtet. In: Böhme, Jeanette. (Hrsg.): Schularchitektur im interdisziplinären Diskurs. Territorialisierungskrise und Gestaltungsperspektiven des schulischen Bildungsraums. Wiesbaden Rolff, Hans-Günter/Zimmermann, Peter (1985): Kindheit im Wandel. Eine Einführung in die Sozialisation im Kindesalter. Weinheim/Basel Schubert, Herbert (2000): Städtischer Raum und Verhalten. Zu einer integrierten Theorie des öffentlichen Raumes. Opladen
Autorinnen und Autoren dieses Sammelbandes
Holger Brandes ist seit 1996 Professor für Psychologie an der Evangelischen Hochschule Dresden. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Entwicklungspsychologie, frühkindliche Bildung sowie Gruppenprozesse und -leitung. Ulrich Deinet ist Professor für Didaktik/Methoden, Verwaltung und Organisation der Sozialpädagogik an der Fachhochschule Düsseldorf. Schwerpunkte seiner Arbeit sind Kooperation von Jugendhilfe und Schule, Sozialräumliche Jugendarbeit, Sozialraumorientierung sowie Konzept- und Qualitätsentwicklung. Thomas Drößler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Evangelischen Hochschule Dresden. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Praxis und Forschung in der Kinder- und Jugendhilfe, Sozialberichterstattung sowie Bildung, Erziehung und Sozialisation in der frühen Kindheit in institutionalisierten Kontexten. Aktuell ist er u. a. als Leiter des Kompetenz- und Beratungszentrums „Aufwachsen in sozialer Verantwortung“ tätig. Klaus Fröhlich-Gildhoff ist hauptamtlicher Dozent für Klinische Psychologie und Entwicklungspsychologie an der EH Freiburg, Leiter des Zentrums für Kinder- und Jugendforschung an der EH Freiburg, Co-Leiter des BA-Studiengangs Pädagogik der frühen Kindheit an der EH Freiburg und Projektleiter des Programms „Profis in Kitas“ (Robert Bosch Stiftung). Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Jugendhilfe, Pädagogik der Frühen Kindheit sowie Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen. Birgit Glöckner ist Sachgebietsleiterin im Bereich der Förderung freier Träger im Eigenbetrieb Kindertageseinrichtungen Dresden und dort neben der finanziellen Förderung der Träger von Kindertageseinrichtungen in freier Trägerschaft mitverantwortlich für die trägerübergreifende Qualitätsentwicklung sowie die Projektsteuerung und -förderung.
G. Robert et al., (Hrsg.), Aufwachsen in Dialog und sozialer Verantwortung, DOI 10.1007/978-3-531-92693-3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Autorinnen und Autoren
Sabine Grohmann ist stellvertretende Betriebsleiterin im Eigenbetrieb Kindertageseinrichtungen Dresden und dort verantwortlich für die Jugendhilfeplanung. Sie befasst sich seit Langem mit einer neuen und komplexeren Ausrichtung von Jugendhilfeplanung speziell im Leistungsfeld der Kindertagesbetreuung. Stephan Hein ist Soziologe bei der Arbeitsstelle Praxisberatung, Forschung und Entwicklung (Dresden). Langjährig beschäftigte er sich mit Theorie und Geschichte der US-amerikanischen Soziologie (bes. Talcott Parsons). Derzeitige Arbeitsschwerpunkte sind Soziale Ungleichheit im und durch das Bildungswesen mit besonderem Fokus auf Literalisierung sowie soziale Bewegungen und die Artikulation kollektiver Erfahrungen. Bruno Hildenbrand ist seit 1994 Professor für Sozialisationstheorie und Mikrosoziologie am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Laufende Arbeitsschwerpunkte sind Transformationsprozesse der Kinder- und Jugendhilfe in ländlichen Regionen Ost- und Westdeutschlands, Notfallkommunikation, Klinische Soziologie sowie fallrekonstruktive Verfahren in den Sozialwissenschaften. Bernhard Kalicki ist Professor an der Evangelischen Hochschule Dresden und Wissenschaftlicher Referent am Staatsinstitut für Frühpädagogik (IFP) München. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte sind das Zusammenspiel von familiärer und institutioneller Sozialisation in der frühen Kindheit sowie Bildungsberichterstattung und Bildungssteuerung. Heiner Keupp ist Professor für Sozial- und Gemeindepsychologie an der Universität München mit Gastprofessuren an Universitäten in Innsbruck, Klagenfurt und Bozen. Seine Arbeitsinteressen beziehen sich auf Soziale Netzwerke, gemeindenahe Versorgung, Gesundheitsförderung, Jugendforschung, individuelle und kollektive Identitäten in der Reflexiven Moderne und Bürgerschaftliches Engagement. Gabriele Kraus-Gruner ist als Systemische Beraterin und Coach tätig. Bis Mai 2008 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Kinder- und Jugendforschung an der EH Freiburg. Schwerpunkte ihrer Arbeit sind Medienpädagogik in der Frühpädagogik, Fortbildung pädagogischer Fachkräfte und Prozessbegleitung von Einrichtungen. Annekatrin Lorenz ist Pädagogin und als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Arbeitsstelle Praxisberatung, Forschung und Entwicklung an der Evangeli-
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schen Hochschule Dresden im Kompetenz- und Beratungszentrum „Aufwachsen in sozialer Verantwortung“ tätig. Arbeitsschwerpunkte liegen u. a. in den Bereichen Migration und Diversity. Dirk Nüsken ist Professor an der Evangelischen Fachhochschule RheinlandWestfalen-Lippe in Bochum im Bereich Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Themenfeldern Hilfen zur Erziehung, Jugendsozialarbeit, Kindesschutz und Frühe Hilfen sowie Evaluation. Kristin Pfeifer ist als Pädagogin wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Arbeitsstelle Praxisberatung, Forschung und Entwicklung an der Evangelischen Hochschule Dresden. Ihre Arbeitsschwerpunkte richten sich u. a. auf Prävention, Kindheit, Professionalisierung in der Elementarpädagogik und Netzwerke. Günther Robert ist seit 1997 Professor für Soziologie und empirische Sozialforschung an der Evangelischen Hochschule Dresden. Aktuelle Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Institutionenanalysen in arbeitsweltlichen und pädagogischen Feldern, Konzepte zur Relation von Arbeit und Person, Neuere Sozialisationstheorie und -forschung, Kindheit und Gesellschaft sowie Soziologie der Geschlechterverhältnisse. Klaus Schäfer ist Professor und Staatssekretär im Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen. Ina Schenker ist Erziehungswissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Evangelischen Hochschule Dresden. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte sind Bildung und Erziehung in der frühen Kindheit, Spiel sowie konstruktivistische Didaktik in der Elementarpädagogik. Andreas Wiere ist als Pädagoge wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Evangelischen Hochschule Dresden und im Kompetenz- und Beratungszentrum „Aufwachsen in sozialer Verantwortung“ beschäftigt. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte sind Lernen in Organisationen, Organisationsentwicklung und Kooperation Grundschule – Hort.