Geister-
Krimi � Nr. 33 � 33
Faustus �
Bei Vollmond � kommt der � Werwolf � 2 �
Vollmond. Die Nacht war lau und sc...
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Geister-
Krimi � Nr. 33 � 33
Faustus �
Bei Vollmond � kommt der � Werwolf � 2 �
Vollmond. Die Nacht war lau und schwül. Ein dunkelblauer Samthimmel überspannte eine hügelige, felsige Landschaft. Der Mond warf sein mattes Licht auf die kahlen Felsen, eine Steinwüste leer und öde und scheußlich. Der kleine Wagen rollte langsam über die holprige Straße. »Bitte kehren Sie um«, bat Jenny Adams. »Sie wollten mich doch nach Hause fahren? Bitte seien Sie doch nett! Fahren Sie mich nach Hause.« »Aber ich fahre dich doch nach Hause, Kleine«, war die zynische Antwort. »Das ist aber nicht der Weg…« »Nicht?« Vance Wilson tat überrascht. »Na, dann werden wir ja wohl irgendwo umkehren müssen.« »Ja, bitte.« Vance Wilson grinste höhnisch. Er schaltete einen Gang herunter. Der Wagen wurde langsamer. Die Gegend war einsam. Ein paar vereinzelte Bäume, ein wenig Gebüsch sonst nur Steine und Felsen. »Ich muß erst einen geeigneten Platz zum Umkehren suchen«, sagte er. Seine Stimme klang plötzlich anders. Jenny schwieg. Sie warf ihm einen kurzen Blick zu. Angst kroch in ihr hoch. Sie ahnte, was er von ihr wollte. Er würde sicher nicht umkehren. Er wird anhalten und über sie herfallen. Er wird es von ihr wollen. Und ich habe ihm vertraut. Oh, hätte ich doch nie… Aber Vorwürfe halfen jetzt nicht mehr. Jetzt saß sie in seinem Wagen. Sie war ihm ausgeliefert. Hier konnte ihr niemand helfen. Weit und breit war kein Mensch, nirgends ein Haus zu sehen. War das nicht die Gegend, von der man sich so schlimme Sachen erzählte? Was hatte Oma erzählt? Das Tor zur Hölle! Ja, 3 �
das hatte sie gesagt. Und die schaurigen Geschichten, die sie erzählt hatte! Richtig zum Fürchten waren sie. Omas erzählen oft so Schauermärchen. Und die anderen? Was ist mit den anderen? Auch sie munkeln von Dämonen. Sicher war alles nur dummes Gerede. Die Leute müssen etwas zum Reden haben. Sie müssen klatschen und tratschen. Was soll man sonst auch tun in einem kleinen Dorf, das von der Umwelt abgeschnitten war. Warum fährt er gerade hierher? Ich will aussteigen. Ich will sofort aussteigen. Ich will nicht, daß er mich… Eine kalte, feuchte Hand legte sich auf ihr Knie. Sie erschrak zu Tode, zuckte zusammen, als hätte sie der Schlag getroffen. Ein kleiner, spitzer Schrei kam über ihre Lippen. Sie preßte die Beine zusammen, drückte sie eng an die Wagentür. Die Hand folgte nach. Eine Sekunde später lag sie wieder auf ihrem Knie. Jenny schob Wilsons Hand zur Seite. Aber er blieb hartnäckig. Seine Finger erfaßten ihren Rock, schoben ihn ganz zurück. Dann wurden sie fordernd. Es schmerzte. Da schlug Jenny Adams zu. Ihre kleine Faust knallte auf seinen Arm. Aber Vance lachte nur. Er zog seine Hand nicht zurück, im Gegenteil. Jenny schrie auf. In ihrer Verzweiflung kratzte sie. Ihre Nägel gruben sich tief in seine Haut. »Verdammte Katze!« schrie Vance jetzt wütend. Er trat ganz plötzlich auf die Bremse. Jenny schlug mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe. Der Motor starb ab, und der Wagen blieb ruckartig stehen. »So, du kleines Biest«, preßte Vance durch die Zähne. »Jetzt bist du dran. Das wirst du mir büßen. Ich werde dir helfen, mich zu kratzen. Du verdammte Wildkatze… Ich werde dich schon zähmen. Ich werde dich gefügig machen.« 4 �
Er warf sich auf sie, drang wild auf sie ein. Er zerrte und riß an ihrem Kleid. Seine Hand gelangte an ihren Ausschnitt. Ein schneller, harter Ruck, und das Kleid ging in Fetzen. Im hellen Mondlicht sah er ihre kleinen weißen Brüste. Das machte ihn noch rasender. Er versuchte, seine Lippen auf die ihren zu pressen. Jenny kämpfte wie verrückt um ihre Ehre. Sie schlug, kratzte, schrie und weinte. Verzweifelt versuchte sie, unter ihm hervorzukommen. Da öffnete sich auf einmal die Tür. Jenny fiel mit dem Oberkörper halb heraus. Sofort erkannte Sie ihre Chance und zog blitzschnell ihre Beine unter Vances Körper hervor. Dann stand sie auf dem harten, steinigen Boden. Ihre Schuhe lagen im Wagen. Aber in ihrer Angst achtete sie nicht darauf. Nur weg, schnell weg von ihm! Sie rannte panikartig davon. Tränenschleier lagen vor ihren Augen. Sie sah kaum, wohin sie lief. Es störte sie nicht. Sie lief und lief. Hinter sich hörte sie Wilson schreien. »Lauf nur, du blöde Kuh, lauf zu! Von mir aus kannst du hier verrecken! So was Blödes wie dich gibt es wohl nicht mehr. Blöde Ziege!« Wütend knallte er die Wagentür zu. Er startete schweratmend. Es krachte laut, als er den Gang einlegte, Die Pneus pfiffen und wirbelten Staub auf. Dann verschwand der kleine Wagen hinter einer Biegung. Jenny wurde langsamer. Sie blieb endlich stehen. Ihr Schluchzen wurde noch lauter. Ihre Schultern zuckten, ihr ganzer Körper bebte. Das schöne neue Kleid hing in Fetzen an ihr herunter. Sie drehte sich um und sah gerade noch die Rücklichter des Autos hinter der Biegung verschwinden. Mit zitternden Händen versuchte sie, ihre Blößen zu verdecken. Doch das Kleid hielt 5 �
nicht mehr. Es war an mehreren Stellen zerrissen. Bei jedem Schritt stöhnte sie leise auf. Der Boden war hart und steinig. Sie hatte keine Schuhe an. Ihre dünnen Nylonstrümpfe waren bald zerrissen. Scharfkantige Steine schnitten in ihre Fußsohlen. Es brannte wie Feuer. Sie hatte die holprige Straße erreicht. Mein Gott, was mache ich jetzt? Bis ins Dorf sind es mindestens fünf Meilen. Wenn ich den ganzen Weg laufe, habe ich keine Füße mehr. Dann werden es nur noch verdreckte, unförmige Fleischklumpen sein, aus denen die Knochen ragen. Jenny sah hinüber zu dem Felsmassiv. Hohe, spitze Felsen ragten wie riesige Stalagmiten in den dunkelblauen Nachthimmel. Dahinter, knapp eine Meile weit entfernt, begannen die hohen Berge. Dort müssen irgendwo Häuser sein. Jenny war noch nie dort gewesen. Man hatte es ihr verboten. Es soll dort Ungeheuer geben, Wölfe Werwölfe, die halb Mensch, halb Tier waren. So jedenfalls hatte Grand-Mama es erzählt, und sie redete ständig von all dem grausigen Zeug. Als Kind hatte Jenny oft Angst gehabt. Sie konnte nachts kaum mehr schlafen. Und wenn sie schlief, dann träumte sie von gräßlich aussehenden Tieren. Aber seit Jahren regten sie die Geschichten von Grand-Mama nicht mehr auf. Sie hatte sich daran gewöhnt, und sie wußte daß es keine Werwölfe gibt. Sie existierten sicher nur in der Phantasie der alten Frau. Jenny war jetzt zweiundzwanzig Jahre alt und ließ sich vom Geschwätz der anderen nicht mehr so leicht beeinflussen. Eine Meile ist weniger als fünf. Diese eine Meile schaffe ich vielleicht. Sicher finde ich jemanden, der mich dann nach Hause fährt. Ich kann doch nicht… Sie ging langsam den Weg entlang, in Richtung Berge. Ein kühler Wind wehte plötzlich um ihren halbnackten Körper. 6 �
Sie fror, Kälterschauer schüttelten sie. Fröstelnd schlug sie die Arme übereinander. Ihre Füße schmerzten und brannten. Leise weinte das Mädchen vor sich hin. Warum sind die Männer so schlecht? Sie wollen mich nur einmal haben, dann werfen sie mich weg wie einen abgenutzten Gegenstand. Von Liebe hat noch keiner gesprochen, von Heirat erst recht nicht. Vor ihr tauchten jetzt die bizarren Steingebilde auf. Die Bäume wurden spärlicher. Der aufgekommene Wind pfiff durch die Felsen. Seltsame Töne drangen an ihr Ohr. Es war wie der leiernde Singsang einer Gruppe von alten Negerfrauen. Die begleitenden Instrumente schienen aus Sirenen zu bestehen. Dann zuckte Jenny zusammen, Wie ein Pistolenschuß klang der Steinschlag durch die Stille der Nacht. Das Mädchen erschrak zutiefst, Grauenhafte Angst kroch in ihr hoch. Ein zweiter Stein folgte, ein dritter. Dann trat wieder Stille ein. Jenny hielt entsetzt den Atem an. Sie horchte in das Felsmassiv hinein. Nichts! Totenstille herrschte vor ihr. Ob jemand da drin steckte? Oder war es Zufall, daß drei Steine hintereinander… Ich weiß nicht. Zufälle sind so selten. Und wenn Vance Wilson hinter einem Felsen steckt? Nein, Wilson nicht. Ich habe ihn doch wegfahren sehen, in die entgegengesetzte Richtung. Er kann es nicht sein. Aber wer dann? Dunkel und drohend lag der Hohlweg vor ihr, der durch das Felsmassiv führte. Sie mußte hier hindurch, wenn sie zu den Häusern wollte. Über die Felsen zu klettern war zu gefährlich, besonders nachts. Ihren wunden Füßen konnte sie das auch nicht mehr zumuten. Wenn es nun aber eine Gestalt aus Grand-Mamas Erzählungen war? Aber so etwas existiert doch nicht! Als die alte Frau aufwuchs, gab es sicher noch Hexen und dergleichen, aber heute? In dieser modernen Welt existieren keine Ungeheuer. 7 �
Sie gab sich einen innerlichen Ruck und nahm ihren ganzen Mut zusammen. Forschen Schrittes, ging sie in den Hohlweg hinein, jedenfalls so schnell, wie es ihre wunden Füße zuließen. Das Singen verstärkte sich. Die riesigen Felsspitzen, die in den sternenübersäten Nachthimmel ragten, kamen ihr jetzt wie hohe Orgelpfeifen vor. Aber die Melodie wechselte nicht. Es blieb immer derselbe eintönige Singsang. Da! Ein Kratzen. Das Schaben von Krallen auf hartem Gestein. Oder hatte sie sich getäuscht? Sicher nicht. Es war doch ganz deutlich zu hören gewesen. Jetzt das feine Rieseln von Sand und von kleinen Steinen. Es war von der rechten Seite gekommen. Jenny Adams’ Blick bohrte sich in die Felsen. Mit weit aufgerissenen Augen versuchte sie, die Dunkelheit zu durchdringen. Sie sah nichts. Sie konnte nichts sehen, weil der Mond sein fahles Licht nur noch selten in die Schlucht warf. Die steinernen Orgelpfeifen versperrten ihm den Weg. Jenny wich zurück bis zur gegenüberliegenden Felswand. Dann hörte sie es wieder, diesmal lauter. Irgend etwas schleifte über hartes Gestein. Kratzen, Scharren, dazu dieser eintönige Sirenenklang. Jenny hielt sich die Ohren zu. Sie konnte es nicht mehr hören. Abgrundtiefe Angst ließ ihren Körper zittern und beben. Sie versuchte, das aufkommende Schluchzen zu unterdrücken. Nur keinen Lärm wollte sie machen, nur ruhig bleiben, nur nicht auf sich aufmerksam machen! Irgendwer steckte dort in den Felsen, ein Tier oder ein Mensch. Vielleicht war es auch beides. Oh, mein Gott, was ist das nur? Vance, Vance Wilson, hilf mir doch. Du hast mich hergebracht. Jetzt hol mich auch raus. Bitte, lieber Vance, hilf mir. Ich werde mich dir auch nicht mehr verweigern, ganz bestimmt nicht. Aber hilf mir bitte. Bring mich von hier weg. Ich mache ja alles… Aber Vance Wilson war nicht mehr da. Er war wütend, weil sie 8 �
sich so blöd angestellt hatte. Ich bin ja selbst schuld, klagte sie sich an. Warum mußte ich gerade bei ihm… O Gott, ich kann nicht mehr. Dort, wo ein schmaler Lichtschimmer die Felsen erhellte, erschien ein Schatten, dunkel und unheimlich. Ein böses Knurren erfüllte die Luft, Hecheln und Keuchen. Dann sah sie ihn. Ihr Herzschlag setzte aus. Ihr Körper erstarrte vor Schreck und wurde kalt und steif wie die Steine um sie herum. * Sie saßen schweigend am Tisch. Nur das rhythmische Ticken der alten Standuhr und das leise Klimpern von Stricknadeln durchbrachen die Stille. Dicke Rauchschwaden, die von Mr. Adams Pfeife stammten, hingen unter der niedrigen Decke. Laura Adams strickte Socken. In der Ecke saß eine alte, verschrumpelte Frau. Sie bewegte ununterbrochen die Lippen, ohne daß ein Ton herauskam. Clint Adams Hände spielten nervös mit einem Westenknopf. Er drehte ihn ständig hin und her. Der Knopf brach ab. Entgeistert blickte Clint drein. Er starrte auf den Knopf, als könne er es sich nicht erklären, wie das hatte passieren können. »Wo sie nur bleibt?« Clint Adams legte den abgerissenen Knopf auf den Tisch. »Sie ist noch nie so spät gekommen. Es ist gleich elf Uhr«, murmelte er. »Sie müßte schon längst… Der letzte Bus kam um zehn. Später ist sie noch nie…« Er verstummte. »Die Werwölfe«, krächzte die Alte. »Sie haben sie geholt. Ja, sie sind wieder da. Sie treiben sich in den Bergen rum. Sie sind immer dagewesen, waren noch nie fort. Jetzt reißen sie wieder. Junge Mädchen… Ja, junge Mädchen reißen sie am liebsten.« 9 �
Es schien, als würde sie in Trance reden. »Hör auf, Ma’«, wies Clint sie ärgerlich zurecht. »Du sollst nicht immer solchen Unsinn reden. Keiner von uns hat je einen Werwolf gesehen. Du auch nicht.« »Diejenigen, die nicht wiederkamen, haben ihn gesehen. Wer einen Werwolf sieht, muß sterben.« Die Stimme der Alten wurde hoch und schrill und keifend. »Sie wird nie mehr kommen. Jenny ist tot. Sie ist einem Werwolf begegnet. Und er hat sie…« »Schluß jetzt!« brüllte ihr Sohn wütend. Seine Mundwinkel zuckten. Seine grauen Augen verdunkelten sich, wurden fast schwarz. »Wenn du noch mal das Maul aufmachst…« »Clint!« unterbrach ihn Laura vorwurfsvoll. »Hör auf. Laß sie doch reden.« »Ich kann es einfach nicht mehr hören. Dauernd redet sie von Werwölfen und vom Sterben. Sie soll still sein.« Er wandte sich an seine Mutter. »Sei froh, daß du noch lebst.« »Ich lebe noch lange«, keifte die Alte zurück. »Ich werde euch alle überleben. Aber Jenny ist tot. Glaub es mir, mein Junge.« »Du verrücktes altes Weib!« schrie Clint unbeherrscht. »Willst du wohl endlich still sein!« Doch die alte Frau ließ sich nicht davon abbringen. »Geh doch hinein in die Berge«, sagte sie streitsüchtig. »Geh hin. Du wirst es sehen. Und danach wirst du auch tot sein. Warum gehst du nicht zu den alten Häusern in den Bergen? Warum warst du noch nie dort, ha? Soll ich es dir sagen? Weil du Angst hast. Du hast Angst, weil du weißt, daß ich recht habe. In den Bergen leben sie. Wenn man sie bei Tag sieht, sind sie ganz normal. Aber nachts, da verwandeln sie sich. Bei Vollmond werden sie zu Werwölfen. Sieh doch hinaus. Es ist Vollmond. Es ist die Nacht der Werwölfe.« Clint schwieg betroffen. Sie hatte eigentlich recht. Er war nie in den Bergen gewesen. Er hatte es nicht gewagt. Das Gerede seiner Mutter und der anderen Alten 10 �
im Dorf hatten ihn davon abgehalten. Alle im Dorf mieden die Berge. Laura legte ihr Strickzeug weg. »Ich gehe jetzt schlafen.« Sie gähnte laut. »Ich bin müde. Morgen ist wieder ein harter Tag.« Clint versperrte ihr den Weg. Dann sagte er vorwurfsvoll: »Ich verstehe dich nicht. Wie kannst du jetzt so ruhig sein und schlafen gehen, wenn unsere Tochter noch nicht zu Hause ist? Was bist du für eine Mutter?« »Hör zu«, hob Laura an. »Unsere Tochter ist zweiundzwanzig. Sie ist erwachsen. Wir können ihr nicht mehr vorschreiben, wann sie zu Hause sein muß. Du nicht und ich nicht. Als ich zweiundzwanzig war, bin ich oft nachts nicht heimgegangen. Das solltest du am besten wissen.« »Und wenn ihr was passiert ist?« »Was soll ihr schon passiert sein? Sie wird einen Mann kennengelernt haben. Sie werden im Mondschein Spazieren gehen. Bei Mondschein gehen alle Liebespaare…« »Aber nicht in einer so gefährlichen Gegend wie bei uns«, unterbrach sie Clint. »Nun hör aber auf«, erboste sich seine Frau. »Fängst du nun auch damit an! Hat dich deine Mutter schon angesteckt, dieses alte Klatschmaul?« »Ja, red nur so weiter«, krächzte die Alte aus ihrer Ecke. »Du wirst es schon noch sehen. Ich weiß, daß deine Tochter tot ist. Ein Werwolf hat sie gerissen.« Laura schob ihren Mann zur Seite. »Laß mich jetzt ins Bett.« Ihre Stimme klang resigniert. »Ich bin wirklich müde.« Clint trat stumm einen Schritt zur Seite. Er schwankte innerlich. Er wußte nicht, was er denken, was er glauben sollte. Laura war nicht vom Dorf. Sie war von auswärts. Er hatte sie in der 11 �
zehn Meilen entfernten Großstadt kennengelernt. Sie konnte nicht wissen, was in ihrem Dorf… Und er? Wußte er es? Noch nie hatte er etwas von Werwölfen gesehen. Woher wußte er also… Die Leute! Sie reden darüber, flüstern hinter vorgehaltener Hand, ziehen ängstlich die Köpfe ein, wenn ihr Blick die Berge streift. Manchmal war es schon etwas unheimlich. Er hatte in den letzten Jahren öfters ein Kalb vermißt oder auch mal ein Schaf. Er sagte sich, daß das ein ganz normaler Wolf gewesen sein mußte. Er redete es sich ein, weil er nicht an andere Wölfe denken wollte. Aber jetzt… »Gute Nacht«, murmelte Laura. Sie ging hinaus. Clint Adams lief nervös durchs Wohnzimmer. Der Gedanke ließ ihn jetzt nicht mehr los. Werwölfe in den Bergen! Die Leute, die dort wohnten… Er hatte einmal einen gesehen. Ein eisiger Schauder war über seinen Rücken gekrochen. Der Mann hatte wirklich zum Fürchten ausgesehen. Die Alte bohrte: »Geh, Clint! Geh in die Berge. Suche deine Tochter. Sie ist dort. Vielleicht kannst du sie noch retten. Geh, Clint, geh. Schnell!« Clint zögerte noch. Die Angst hielt ihn zurück. Furcht vor dem Ungewissen. Wenn es wirklich Werwölfe gibt? Und Jenny ist ihnen in die Hände gefallen, in ihre Krallen. Sie sollen schärfere Zähne als, Haie haben. Ich muß gehen. Sie ist in Gefahr. Ich spüre es. Er gab sich einen Ruck. »Ich gehe«, sagte er. »So ist es richtig, Clint«, krächzte die Alte. »Geh nur. Sieh sie dir an, die Werwölfe. Lerne das Gruseln.« Clint hörte ihre Worte kaum. Er legte sich die Jacke um und stampfte zur Tür hinaus. Es war fast taghell, eine herrlich schöne 12 �
Nacht gerade wie geschaffen für Liebespaare. Ob Laura recht hatte? Ob sie wirklich nur einen Mann kennengelernt hatte und mit ihm – Nein? Jenny ist nicht so. Sie würde es vorher sagen. Er zog sein Motorrad aus dem Schuppen, trat es an und schwang sich in den Sattel. Dann fuhr er in Richtung Gebirge davon. * Das Entsetzen schnürte ihr die Kehle zu. Sie bekam keine Luft mehr und glaubte zu ersticken. Was sie sah, war so unvorstellbar grausig, daß sie wie gelähmt an der Felswand stand. Vor ihr, auf einer Felsplatte, saß weder Mensch noch Tier. Es war beides. Es war zur Hälfte ein Wolf und zur anderen Hafte ein Mensch. Doch die Hinterbeine waren keine Tatzen, sondern Hufe das Zeichen des Satans. Es war ein Geschöpf von ihm. Heftiges, gieriges Knurren vermischte sich jetzt mit der sirenenhaften Musik. Die schrecklich aussehende Bestie setzte zum Sprung an. Das Maul öffnete sich weit. Scharfe, spitze Zähne ragten zwischen den schmalen Lippen hervor. Dann löste sich ein gellender Schrei von Jennys Lippen. Die Lähmung war wie weggeblasen. Noch bevor das Ungeheuer zum Springen kam, rannte sie weg. Sie schrie immer noch. Sie sah fast nichts. Alles verschwamm vor ihren Augen. Doch sie rannte, gepeitscht von schrecklicher Angst. Hinter ihr blieb das wütende Fauchen. Die Bestie brüllte und jagte dem Opfer mit langen Sprüngen nach. Die Hufe klapperten gespenstisch auf dem harten Boden, hallten in der Schlucht nach. Dazwischen erklang gieriges Jaulen und die Sirenenmusik. Jenny lief um ihr Leben. Zu spät merkte sie, daß sie die falsche Richtung eingeschlagen 13 �
hatte. Statt hinaus in die offene Landschaft zu laufen, rannte sie immer weiter in die Berge hinein. Der Weg stieg an und wurde noch steiniger. Doch sie verspürte keine Schmerzen in ihren blutenden Füßen. Die Panik ließ sie die Pein nicht wahrnehmen. Nur weg, weg von der Stätte des Satans! Rasselnder Atem drang an ihr Ohr. Er ist schon dicht hinter mir. Ich muß schneller werden, viel schneller. Aber dann stellte sie fest, daß es ihr eigener Atem war. Ihre Lungen pfiffen. Ihr Hals war völlig ausgetrocknet. Die Beine wurden ihr schwer wie Blei. Jenny stolperte. Sie fiel. Blitzschnell drehte sie sich auf den Rücken und wollte die Bestie abwehren. Doch da war nichts, nur Dunkelheit, unheimliche Dunkelheit. Kein Mond, kein Lichtschimmer. Schwarze Finsternis umgab sie, aber kein Werwolf. Vor ihren Augen flimmerte es. Stechende Schmerzen spürte sie in der Brust, Dröhnen in den Ohren. Ihr Herz schlug wild und pulsierte das Blut in schneller Folge durch die Adern. Ihr fast nackter Oberkörper war schweißbedeckt. Jenny Adams versuchte, sich aufzurichten. Aber es fehlte ihr die Kraft. Sie sank wieder zurück. Jenny tastete um sich. Steine fühlte sie, Felsen, Staub und Dreck. Sonst nichts. Dann sah sie ein glühendes Augenpaar, keine zwei Meter entfernt. Hektisches Hecheln und das hungrige Knurren eines Wolfes nahm sie wahr. Jenny erschrak nicht mehr. Sie hatte ja gewußt, daß er kommen würde. Sie spürte, daß sie sterben müßte. Es gab kein Entrinnen mehr. Ich darf mich nicht aufgeben. Noch hat er mich nicht, noch nicht. Erst muß er einmal näher rankommen. Er muß näher kommen, weil er nicht so beweglich ist wie ein richtiger Wolf. Er ist plumper. 14 �
Jenny versuchte, ihre Angst ganz abzuschütteln, eiskalt zu werden. Aber so leicht ist das nicht, wenn man von einem leuchtenden Augenpaar angestarrt wird. Sie rutschte langsam nach hinten. Ihr Rücken schleifte auf dem Boden. In der unheimlichen Stille war dieses Schleifen so laut, daß sie glaubte, das Knirschen einer sich eingrabenden Baggerschaufel zu hören. Es schmerzte in ihren Ohren. Das merkwürdige Singen war jetzt verstummt. Jenny Adams bekam einen Stein zu fassen. Sie hob ihn hoch. Er war schwer. Sie mußte ihre letzten Kräfte aufbieten, um ihn über ihren Kopf zu heben. Dann warf sie den Stein nach vorn. Sie zielte genau auf die glühenden Punkte. Ein seltsames Jaulen war zu hören. Es klang fast menschlich, wie der Schrei eines schmerzgeplagten Mannes. Auch irgend etwas anderes war noch herauszuhören. Sie konnte es aber nicht richtig deuten. Dann folgte ein mörderisches Brüllen. Die glühenden Augen flogen auf sie zu. Mit einem spitzen Schrei ließ sie sich nach hinten fallen, rollte sich blitzschnell zur Seite. Ein spitzer Stein bohrte sich in ihre Brust. Scharfe Krallen brannten über ihren Rücken. Ihr Kleid zerriß jetzt ganz, und irgend etwas Hartes traf auf ihr Steißbein. Jenny achtete nicht darauf. Sie rollte sich weiter seitlich ab, raffte sich hoch und wollte weglaufen. Aber sie stolperte und fiel wieder zu Boden. Weiter, weiter! hämmerte ihr Hirn. Ich muß hoch. Schnell. Ich schaffe es. Ganz sicher. Ich kann ihm entkommen. Sie versuchte sich einzureden, riesige Kräfte zu besitzen. Und sie schaffte es, auf die Beine zu kommen. Sie rannte blindlings nach vorn, stieß hart gegen einen Felsen. Ihr rechtes Knie knickte ein. Sie konnte sich gerade noch an der Felswand festhalten. Nur nicht wieder fallen. Sonst ist es aus. Wenn ich jetzt zu 15 �
Boden gehe, ist es vorbei. Dann komme ich nie mehr hoch. Sie wollte weiterlaufen, doch ihr rechtes Bein machte nicht mehr mit. Es trug sie nicht mehr. Jenny kippte um. Sie drehte sich auf den Rücken und sah genau in den weit aufgerissenen Rachen der Bestie. Von irgendwoher kam Licht in die Schlucht, und sie sah ihn in seiner ganzen Größe und Häßlichkeit. Der furchtbare Anblick versetzte ihr einen Schock. Ein harter Ruck ging durch ihren Körper. Sie hörte ein Singen und Jubilieren. Aber es war nicht mehr unheimlich wie zuvor. Es war schön, herrlich schön. Das Begleitinstrument hörte sich nicht mehr wie eine Sirene an, sondern wie eine von einem großartigen Könner gespielte Geige. Und vor ihr stand keine Bestie mehr. Vor ihr stand Vance – Vance Wilson. Über seinem Haupt schwebte ein Heiligenschein. »Hallo, Vance.« Jenny hob leicht die Hand. »Schön, daß du da bist. Ich freue mich, daß du mir nicht mehr böse bist. Ich habe auf dich gewartet. Willst du mich haben? Bitte, Vance, du kannst mich haben. Du willst mich doch, oder? Natürlich willst du mich. Ich dich auch, Vance. Komm, nimm mich. Bitte, Vance.« Plötzlich war ein schwerer Körper auf ihr. Jenny stöhnte. Aber sie fand es ganz selbstverständlich, daß sich lange, spitze Zähne wie Dolche in ihren Hals bohrten. Blut spritzte heraus, benetzte die Felsen und färbte sie dunkel. Ein letztes Gurgeln drang über ihre Lippen. Ihr Leib bäumte sich auf. Dann lag Jenny ganz ruhig. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Ihr Körper erschlaffte. Jenny Adams war tot. *
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Der Lichtkegel des Motorrades fraß sich den steinigen Weg entlang. Eigentlich hätte der Fahrer kein Licht gebraucht. Der Mond schien hell genug. Alles war ganz deutlich zu erkennen. Die Schlucht kam immer näher. Das komische Gefühl in Clints Magengegend verstärkte sich. Er hatte Angst, große Angst. Trotzdem fuhr er weiter. Er wollte sicher sein, daß Jenny nicht… Je näher er aber den Bergen kam, desto sicherer wurde er, daß solche Ungeheuer, von denen Ma’ sprach, sich hier aufhielten. Vor der Schlucht hielt er an. Er holte sein Klappmesser aus der Hosentasche, ließ es aufschnappen. Dann klemmte er es zwischen seine Hand und den Lenker, startete das Motorrad und fuhr mit grimmig entschlossenem Gesicht an. Soll mir nur einer kommen… Clint Adams fuhr langsam in den Hohlweg. Der Scheinwerfer beleuchtete nur den steinigen Weg. Zu mehr reichte es nicht. Die Felswände zu seiner Linken und Rechten blieben im Dunkeln. Das ungute Gefühl verstärkte sich. Eisige Kälte kroch durch seine Kleider. Es war aber nicht der Fahrtwind. Die Angst trieb ihm eine Gänsehaut über den Rücken. Dann sah er den Felsbrocken. Er lag mitten auf dem Weg. Die Straße war so schmal, daß er nicht daran vorbeikam. Er mußte anhalten. Clint stellte den Motor ab und horchte in das Dunkel hinein. Ein Gefühl sagte ihm, daß der Felsen nicht von selbst auf den Weg gestürzt war. Jemand hatte nachgeholfen. Er faßte das Messer fester. Langsam stieg er vom Krad, das er dann auf den Ständer kippte. Das Licht ließ er brennen. Sosehr sich Clint auch anstrengte, der riesige Brocken ließ sich nicht bewegen. Sollte hier sein Weg schon zu Ende sein? Er hatte jedoch nicht die Absicht, jetzt schon aufzugeben. Er 17 �
wollte zu den Häusern in den Bergen. Und er würde sich durch nichts aufhalten lassen, auch wenn dieser Felsen hier lag, auch wenn er schon vor Angst zu schlottern begann. Ein einmal gefaßter Entschluß mußte zu Ende geführt werden. Clint blieb plötzlich stocksteif stehen. Er hielt den Atem an. Er glaubte, etwas gehört zu haben. Ein seltsames Prickeln überlief ihn, als er den eintönigen Singsang vernahm. Woher kamen diese Töne? War es der Wind, oder spielten ihm seine Sinnesorgane einen Streich? Er hob den Kopf, sah in den nachtblauen, sternenübersäten Himmel. Der Mond klebte wie eine gelbe, runde Scheibe am Firmament. Aber er verspürte keinen Wind. Vielleicht war es nur in der Schlucht so. Sicher, draußen ging bestimmt ein Wind. Wie sollte er ihn hier… Er erkletterte den Felsen. Das Singen schwoll an, wurde zu einer rauschenden Sinfonie. Clint Adams stand auf dem Felsen, der als Hindernis in seinem Weg lag, wie auf einem Präsentierteller, wie im Rampenlicht. Um ihn herum herrschte Dunkelheit. Das schreckliche, ohrenbetäubende Singen zerrte an seinem Trommelfell und peitschte seine Nerven. Er zitterte, drehte sich um. Geblendet schloß er die Augen, als er in den grellen Scheinwerfer seines Motorrades blickte. In dieses nervenzerfetzende Singen hörte er das drohende Fauchen und Knurren eines Wolfes. Es war von rechts gekommen. Blitzschnell drehte er sich um und hob gleichzeitig das Messer an. Ein riesiger grauer Körper flog auf ihn zu. Clint nahm gerade noch zwei gelb glitzernde Punkte wahr. Dann war das Tier über ihm. Der Mann fiel und schlug hart auf dem felsigen Boden auf. 18 �
Ein stechender Schmerz zuckte durch seinen linken Ellenbogen. Er zog hinunter bis in die Fingerspitzen und ließ sie pelzig werden. Sein rechter Arm aber war frei. Er jagte das Messer in den haarigen Körper über ihm. Die Bestie jaulte schmerzgeplagt auf. Aber es war nicht nur das Gebrüll eines verwundeten Wolfes. Menschliche Töne hatten sich eingeschlichen. Doch Clint hörte das nicht. Die Angst ließ ihn fast taub werden. Dafür verlieh sie ihm unheimliche Kräfte. Er zog das Messer heraus, stieß das Ungeheuer von sich herunter und erhob sich torkelnd. Dann erstarrte er. Der Scheinwerfer war genau auf die Bestie gerichtet. Er sah das häßliche Monster im vollen Licht. Eine eiskalte Hand schien nach seinem Herzen zu greifen. Kalter Angstschweiß trat auf seine Stirn. Seine Augen öffneten sich immer weiter. Mein Gott, es gibt sie wirklich! Ma’ hat es nicht erfunden. Sie sind da. Das darf doch nicht wahr sein. Das ist… Er kam nicht mehr dazu, seine Gedanken zu Ende zu führen. Der verwundete Werwolf raste vor Wut. Er sprang Clint an. Dieser trat einen Schritt zur Seite und rammte sein Messer zum zweitenmal in den verunstalteten Körper. Er hatte diesmal genau getroffen. Wie ein nasser Sack plumpste der Werwolf zu Boden. Reglos blieb er liegen. Clint stand schweratment über ihm, bereit, ihm bei der geringsten Bewegung das Messer zwischen die Rippen zu jagen. Die Bestie atmete noch. Doch es war nur noch ein letztes Hecheln. Es würde gleich zu Ende sein. Plötzlich packte Clint ein unbeschreiblicher Haß. Er ließ sich auf die Knie nieder und stach auf das Ungeheuer ein, immer wieder. Zehnmal, zwanzigmal und noch mehr. Warmes, klebriges Blut benetzte seine Hände, bespritzte seine 19 �
Kleidung. Seine Bewegungen wurden langsamer. Kraftlos fiel sein Arm mit dem Messer nach unten. Er vermochte ihn nicht mehr anzuheben. Der süße Geruch von Blut drang in seine Nase. Sein Magen drehte sich ihm um. Clint Adams wurde es schlecht. Flimmernde Sterne tanzten vor seinen Augen. Er lehnte sich zurück. Sein Atem ging rasselnd und pfeifend. Er schloß die Augen und versuchte zur Ruhe zu kommen. Die Stille um ihn war unheimlich. Die infernalische Musik war verstummt. Er hörte nur noch sein eigenes abgehacktes Atmen, sonst nichts. Clint wußte nicht, wie lange er so gelegen hatte. Er glaubte, es müßten Stunden gewesen sein. Doch es waren nur wenige Minuten. Der felsige Boden war kalt. Er spürte die Kälte, die von seinem Körper Besitz ergriff. Er fror. Das brachte ihn vollends zu sich. Er hob seinen Oberkörper an, versuchte sich zu erheben. Aber es fehlte ihm noch an Kraft. Seine Beine knickten wieder ein. Nochmals gönnte er sich eine kurze Atempause. Beim zweiten Versuch klappte es. Er kam auf die Füße. Clint Adam blickte genau in das Scheinwerferlicht seines Krades. Er drückte die Augen zu, wandte sich ab. Er taumelte ein Stück und fiel lang über die Bestie hin. Und dann weiteten sich seine Augen. Er glaubte, jeden Moment den Verstand zu verlieren. Neben ihm lag keine tote Bestie. Neben ihm lag ein Mensch, ein junger, gutaussehender Mann. Höchstens dreißig Jahre alt. Er blutete aus vielen Wunden. Sein nackter Körper war blutüberströmt. Aber ich habe doch… Das kann doch nicht wahr sein! Ich habe mit einer Bestie gekämpft. Ein Monster habe ich getötet, ja. Aber 20 �
keinen jungen Mann. Lieber Gott im Himmel, du hast es doch gesehen. Es war eine wilde, mordgierige Bestie, ein Werwolf. Er hat mich angegriffen. Ich mußte mich doch wehren. Er wich immer weiter zurück, bis er mit dem Rücken an die Felswand prallte. Er konnte nicht begreifen, was hier vorgegangen war. Dann fielen ihm die Menschen in den Bergen ein. Ma’ hatte erzählt, daß sie sich bei Vollmond in Werwölfe verwandelten, in reißende Bestien. Als er sie getötet hatte, verwandelte sie sich wieder in einen Menschen. Aber wer glaubt mir das? Wer glaubt, daß ich mit einem Ungeheuer gekämpft habe? Hier liegt ein Mann und keine Bestie. Es ist ein Mensch wie ich. Ich muß weg. Ich muß sofort verschwinden. Niemand weiß, daß ich hier war. Niemand außer Ma’. und sie wird nichts sagen. Sie wird froh sein, daß ich gesund nach Hause komme. Sie verrät mich ganz bestimmt nicht. Er wandte sich ab, schwang sich auf sein Motorrad, drehte um und brauste davon. * Sie kam langsam die Treppe herunter, ging ins Arbeitszimmer und trat dicht hinter ihren Mann. »Perry ist nicht in seinem Zimmer«, sagte sie. Brian Faylen hob den Kopf. »Ich weiß«, erwiderte er. Seine Augen leuchteten. »Du weißt…« Sophie hob überrascht die Augenbrauen. »Wo ist er? Ich habe nicht gesehen, wie er das Haus verließ.« »In seinem Zimmer steht sicher das Fenster offen, oder nicht?« »Ja. Aber…« 21 �
Ein diabolisches Grinsen zog über Brians Gesicht. Er mochte vielleicht sechzig Jahre alt sein, vielleicht auch jünger oder noch älter. Sein Alter war kaum festzulegen. Er war breit wie ein Kleiderschrank. Sein Kopf war übermäßig groß und rund wie eine Melone. Das Haar war dicht und schwarz und wies nur an den Schläfen ein paar graue Fäden auf. Sein Gesicht war von Pockennarben übersät, die Lippen dick und wulstig. »Perry wird auf der Jagd sein.« »Du meinst…« Entsetzen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Du hast mir nie gesagt, daß unsere Söhne…« »Du wirst dich damit abfinden müssen.« Seine Stimme klang hart und schneidend. »Natürlich werden auch unsere Söhne Werwölfe. Perry treibt es schon lange. Er ist ein echter Nachfolger. Harry dagegen macht mir Sorgen. Er schlägt zu sehr nach dir. Aber die Zeit wird kommen, daß auch er soweit ist.« »Und ich dachte, es wäre jetzt endlich alles vorbei.« Sophie war fassungslos. Sie war kreidebleich. »Hast du das wirklich geglaubt?« Wieder erschien dieses Grinsen, das sein Gesicht teuflisch wirken ließ. Es bereitete ihm eine satanische Freude, seine entsetzte Frau anzusehen. Sophie war nicht fähig, etwas zu sagen. In ihren Ohren begann es zu brausen und zu dröhnen. Um sie herum drehte sich alles. War es also doch wahr, was sie im stillen schon geahnt hatte! »Perry ist seit einem halben Jahr schon soweit«, klangen Brians zynische Worte in ihren Ohren, als kämen sie aus weiter Ferne. »Es geschah genau zum richtigen Zeitpunkt, zum fünfundzwanzigsten Geburtstag, wie ›Er‹ es sagte. Er weiß es. Und Er weiß auch, daß Harry aus der Art schlägt. Harry sträubt sich noch. Er hat sich in ein Mädchen verliebt, und das ist nicht gut. Ich werde mit ihm ein hartes Wort reden müssen. »Du wirst Harry in Ruhe lassen«, brachte Sophie mühsam über die Lippen. »Harry ist nicht Perry. Das wußte ich von Anfang 22 �
an. Er wird mich nicht enttäuschen.« Dann schrie sie laut: »Laß Harry in Ruhe! Hörst du? Ich warne dich. Wenn Harry von dir zu etwas gezwungen wird, dann ist es aus. Ich werde jemanden finden, der euch alle vernichtet.« Brian lachte laut und heiser. »Nichts wirst du tun! Nichts! Du kannst nichts unternehmen. Und wenn du es trotzdem tust, dann… Du kennst meine Macht. Du kennst auch die Macht Von ›Ihm‹. Er wird es niemals zulassen.« »Du täuschst dich«, gab Sophie leise zurück. »Die Macht des Teufels hat Grenzen. Du weißt das. Ich werde ihn in seine Schranken weisen. Weder du noch er werden mich daran hindern.« Brians Kopf rötete sich. Er wirkte noch aufgedunsener als vorher und ähnelte jetzt einer riesigen Tomate. »Dann bringe ich dich um!« stieß er hervor. Seine Hände zitterten, Seine Augen wurden dunkel. »Du kennst unsere Gesetze. Wer versucht, aus der Reihe zu tanzen, wird getötet. Niemand weiß, wie unsere Macht zu erschüttern ist. Nur du! Und du wirst…« »Du irrst dich schon wieder«, erwiderte Sophie unerschrocken. »Es gibt sicher noch mehr Menschen, die um eure schwache Stelle wissen, die auch die Kraft haben, es durchzustehen.« Brian bebte vor Zorn. Seine Adern schwollen an. »Du elendes Weibsstück!« brüllte er unbeherrscht. »Ich werde dich einsperren! Ja, ich werde dich einsperren. In den Zwinger werde ich dich stecken, und zwar sofort.« Sophies Augen weiteten sich für einen Augenblick, als sie das Wort »Zwinger« hörte. Sie kannte den Zwinger. Es war die schlimmste Strafe, die es bei der Faylen-Sippe gab. Doch dann lächelte sie wieder, verzog spöttisch die Mundwinkel. »Du kannst mir keine Angst machen.« Sie blieb völlig ruhig. »Selbst der Zwinger wird mich nicht daran hindern, das auszu23 �
führen, was ich für richtig halte.« »Du wirst keine Gelegenheit mehr dazu haben«, fauchte ihr Mann sie an. Das Lächeln von Sophie verstärkte sich. Sie war sich ihrer Sache ganz sicher. Brian verlor bei diesem seltsamen Lächeln seiner Frau die Beherrschung. Jeder der Faylen-Sippe brach in Angst und Entsetzen aus, wenn er vom Zwinger hörte. Nur sie nicht. Sie lächelte überheblich und siegessicher, als könne ihr niemand etwas anhaben. Brian Faylen stand auf. Er trat vor seine Frau. Dann holte er aus und schlug ihr mit seiner riesigen Pranke ins Gesicht. Sophie fiel von dem harten Schlag zu Boden. Blut lief ihr aus Nase und Mund. Aber sie weinte nicht. Sie zeigte nicht die geringsten Anzeichen von Schmerz. Nein, sie lächelte weiter. Es sah jetzt verzerrt und gezwungen aus. In ihren Augen blitzte es auf. Haß, unbeschreiblicher Haß leuchtete aus ihnen. Doch sonst blieb sie völlig ruhig und beherrscht. Langsam erhob sie sich wieder. »Du kannst mich ruhig noch einmal schlagen.« Sie hielt ihm die andere Wange hin. »Aber das bringt dich auch nicht weiter. Ich werde tun, was ich tun muß.« »Du weißt, daß ich auch anders kann«, antwortete ihr Mann gefährlich leise. »Ich verfüge über Mittel genug…« »Du wirst doch nicht wortbrüchig werden. Damals, als ich dahinter kam, leider viel zu spät hast du mir versprochen, mich aus dem Spiel zu lassen, meine Meinung zu respektieren, mich nie zu etwas zu zwingen und auch nicht deine unheimliche Macht an mir auszuprobieren, die du durch deinen Bund mit dem Satan erworben hast. Willst du jetzt dein Wort brechen?« »Sicher werde ich das, denn du bist eben dabei, dein Verspre24 �
chen, das du mir gegeben hast, nicht einzuhalten.« »Aber nur was dich betrifft«, brauste Sophie auf. »Und deine verdammte Sippe. Doch unsere Söhne waren nicht einbegriffen. Meine Söhne nicht.« »Sie gehören auch zu meiner Sippe«, konterte Brian. »Nein!« sagte Sophie hart. »Meine Söhne gehören nicht dazu. Ich bin eine Fremde. Ich gehöre nicht zu euch. Ich habe auch nie zu euch gehört. Unsere Söhne sind ebenso mein Fleisch und Blut wie deines. Perry ist nach dir geraten. Ich ahnte es schon lange. Aber Harry ist mein Sohn, und ich werde alles tun, um ihn zu retten.« »Du willst also uns alle vernichten, nur um Harry zu retten?« Brian lachte häßlich auf. »Ein Leben gegen das von fünfzehn. Du Würstchen willst es wagen, gegen uns den Kampf aufzunehmen? Du weißt doch ganz genau, daß du tot sein kannst, bevor du auch nur einmal den Mund aufgemacht hast.« Sophie schwieg. Brian sah sie mißtrauisch an. »Hast du vielleicht schon…« Er brach ab. Sophie schwieg beharrlich. Da schlug der schwergewichtige Mann wieder. Er schlug so lange auf sie ein, bis sie liegenblieb. Dann hob er sie hoch und trug sie hinaus. * Alan Cassidy schüttelte immer wieder ungläubig den Kopf. Er konnte es noch immer nicht fassen. Erst hatte er an einen makabren Scherz geglaubt, hatte den Brief zur Seite gelegt und versucht, ihn zu vergessen, den Inhalt aus seinem Gedächtnis zu streichen. Doch der Brief ließ ihn nicht mehr los. Er mußte ihn noch mal 25 �
lesen, und wieder und wieder. Mindestens zehnmal überflog er die Zeilen. Von Mal zu Mal wurde ihm bewußter, daß der Schreiber des Briefes es bitter ernst gemeint hatte. So etwas saugte man sich nicht aus den Fingern, um irgendwelche Leute damit zu erschrecken. Es mußte etwas daran sein. Und doch war alles so ungeheuerlich, so unfaßbar. Hätte ein anderer diesen Brief in die Hände bekommen, läge der Schrieb gewiß längst in einem Papierkorb oder wäre verbrannt worden. Aber Cassidy war einiges gewohnt. Er hatte sich dem Mystischen verschrieben. Sein Detektivbüro ging außerordentlich gut. Er hatte gelernt, daß es Dinge auf der Welt gab, die ein Normalbürger niemals für möglich halten würde. Was jedoch in dem Brief stand, war selbst für ihn neu. Es war so phantastisch, daß er es zuerst nicht hatte glauben wollen. Er glaubte es eigentlich noch immer nicht, doch seine Neugier war geweckt. Jetzt war er schon seit fünf Stunden auf der Achse. Es konnte nicht mehr weit weg sein. Die Gegend wurde einsam, öde, trostlos. Schlecht waren die Straßen. Die Ortschaften und Dörfer wurden seltener. Nur vereinzelt sah er Häuser, sonst überall Sand, Felsen und trockene Wüste. Cassidy hielt an. Er schaltete die Innenbeleuchtung seines Wagens ein. Dann zog er die Landkarte aus dem Handschuhfach. Daneben legte er den Brief, der mit zittriger Handschrift geschrieben worden war. Alan las ihn nochmals durch. Er sah auf der Landkarte nach. Die Beschreibung im Brief, wie er zu fahren hatte, war genau. Bis hierhin war der Weg auf der Karte auch noch eingezeichnet. Doch nun wurde es schwieriger, denn er konnte sich nur noch nach der Beschreibung richten. Er fuhr wieder an. 26 �
Die Stadt habe ich hinter mir, überlegte er. Als nächstes käme dieses kleine Nest. Aber so weit darf ich nicht fahren. Etwa fünf Meilen davor muß ich rechts abbiegen. Hoffentlich verpasse ich die Einfahrt nicht. * Alan fand den links und rechts mit Büschen bewachsenen schmalen Feldweg. Er fuhr über die holprige, vom Mond beschienene Straße und ärgerte sich, daß er seinen neuen Wagen genommen hatte und nicht den alten, den er zu Hause in der Garage stehen hatte. Er kam langsamer voran, weil er das neue Auto schonen wollte. Dann sah er vor sich die Felsen, dahinter die hohen Berge, die wie eine dunkle, drohende Wand wirkten. Ein erwartungsvolles Gefühl ergriff ihn. Was würde er finden? Im nächsten Moment bekam er die Antwort auf seine Frage. Die Lichtkegel seines Wagens erfaßten den Felsen, der mitten im Weg lag. Es gab kein Vorbeikommen, das sah er sofort. Es gibt nur diesen Weg zu dem kleinen Dorf in den Bergen, stand in dem Brief. Aber dieser Hohlweg war versperrt. Also mußte er zu Fuß weiter. Er hatte nicht die Strapazen einer sechsstündigen Autofahrt auf sich genommen, um jetzt kurz vor dem Ziel umzukehren. Sein Blick schweifte umher. Er suchte einen Platz, um seinen Wagen abzustellen. Plötzlich erstarrte er. Dicht an den Felsen des Hohlweges gedrängt lag eine dunkle Gestalt. Er konnte nicht genau erkennen, was es war. Alan legte den Rückwärtsgang ein, stieß ein Stück zurück und stellte den Wagen schräg. Vor ihm lag die bewegungslose, blutüberströmte Gestalt eines 27 �
jungen Mannes. Cassidy erschauerte. Dann kletterte er aus seinem Cadillac und zog seine Pistole aus dem Schulterhafter. Er blieb im Schatten seines Autos und pirschte sich vorsichtig nach vorn. Sein Blick huschte über die kahlen, spitzen Felsen. Aber die starren Lichtbündel seiner Autoscheinwerfer reichten nicht aus, um die dunklen Felsmassen zu erhellen. Er hörte nichts, er sah nichts. Eine unheimliche Stille lag über dem Hohlweg. Alan richtete sich hinter dem Wagen auf. Er ging auf den Toten zu. Als er vor ihm stand, lief ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken. Der Körper des Mannes wies mindestens dreißig oder mehr Stiche auf. Was war hier geschehen? Welcher Mensch beging solch einen brutalen Mord? Hatte die Frau in ihrem Brief wirklich nicht übertrieben? Nein. Die Frau schrieb von Werwölfen. Von Menschen, die sich in Vollmondnächten zu Wölfen verwandelten. Aber ein Werwolf würde und könnte keine Menschen mit einem Messer erstechen. Ein Werwolf reißt. Er fällt Menschen an und beißt ihnen die Kehle durch. Cassidy ging zum Auto zurück. Er klappte das Handschuhfach auf und holte eine große Taschenlampe heraus. Dann schaltete er das Licht seines Wagens aus, nahm seine kleine Tasche vom Rücksitz, schloß sorgfältig beide Türen ab und ging wieder zu dem von unzähligen Messerstichen Getöteten zurück. Er blieb noch einen Augenblick lang stehen, leuchtete in das Gesicht der Leiche, Seltsamerweise war dieser nicht blaß. Er hatte die gesunde Farbe eines jungen Mannes, kein wächsernes Gesicht, keine Leichenblässe, nichts… Vielleicht ist er noch nicht lange tot. Cassidy bückte sich und legte seine Hand auf die Stirn des Ermordeten. 28 �
Sie war eiskalt wie ein Eisbrocken. Sicher mußte der Mann schon über eine Stunde lang tot sein. Aber dann müßte er doch. Alan wandte sich ab. Ich muß jemanden zu Hilfe holen. Allein kann ich ihn hier nicht wegschleppen. Die Polizei muß den Fall untersuchen. Es handelt sich doch eindeutig um Mord. Vielleicht haben die Leute in den Bergen Telefon. Er ging weiter. Der Weg stieg an. Es wurde dunkler um ihn. Die hohen Felsen wirkten erdrückend und strahlten Kälte aus. Die Stille war unheimlich. Er war jetzt wirklich davon überzeugt, daß er der Briefschreiberin glauben konnte. Eine Minute später sah er Jenny. Das Blut gefror ihm in den Adern. Wenn er vorher noch leise Zweifel gehegt hatte, so waren sie jetzt verflogen. Die brutale Wahrheit lag vor ihm, in Gestalt eines jungen, nackten Mädchens mit durchbissener Kehle. Ihr schöner, jugendlicher Körper war blutüberströmt. Cassidy war fassungslos. Er beugte sich über sie, um in ihr Gesicht zu leuchten. Aber ihr war genauso wenig zu helfen wie dem jungen Mann, den er vorn am Eingang der Schlucht gefunden hatte. Sie war kalt und tot, und die Leichenblässe war schon über sie gekommen. Ein Werwolf! Er war plötzlich froh, daß er seiner Neugier nachgegeben hatte. Hier mußte gehandelt werden. Cassidy schwor sich in diesem Augenblick, nicht eher Ruhe zu geben, bis er mit diesem Ungeheuer aufgeräumt hatte. Ich muß weiter. Die Frau… Ich muß unbedingt mit ihr sprechen. Wie heißt sie noch? Faylen oder so. Ja, richtig, Sophie Faylen stand als Absender. Sie muß mir mehr erzählen. Er ließ das tote Mädchen liegen, wie es lag. Die Polizei sollte sie genau so finden. Dann stieg er langsam weiter. Es ging steiler bergauf. Der Weg wurde immer steiniger. Er 29 �
war mit kleinen und größeren Felsbrocken übersät. Eine Fahrt mit dem Wagen wäre hier sowieso unmöglich gewesen. Die Schlucht erhellte sich etwas. Die Wände zu seiner Linken und Rechten waren nicht mehr so hoch. Schwaches Mondlicht fiel in den Hohlweg. Alan fühlte sich wieder wohler. Er schaltete die Lampe aus und verhielt kurz, um sie in seine Reisetasche zu stecken. Dafür lockerte er die Pistole. Man konnte nie wissen. Die beiden Toten waren ihm Warnung genug. Der Hohlweg ging zu Ende. Er erreichte ein Plateau. Vorsichtig sah er sich nach allen Seiten um. Am östlichen Horizont wurde es langsam heller. Der Morgen kündigte sich an. Alan Cassidy atmete unwillkürlich auf. Er hatte das Gefühl, jetzt nicht mehr so aufpassen zu müssen. Wenn der Morgen graut, ziehen sich Werwölfe zurück. Dann verwandeln sie sich wieder in einen Menschen. Das wußte er jedenfalls. Weil er sich viel mit mystischen Dingen befaßte, hatte er auch über Werwölfe etwas gelesen. Glauben konnte er es allerdings nicht so recht. Es kam ihm doch etwas zu phantastisch vor. Er suchte nach einem Weg. Trotz des Morgengrauens blieb er vorsichtig. Langsam glitt er über die Felsplatte. Sie hatte einen Durchmesser von über hundert Metern und er kam sich wie auf einem Präsentierteller vor. Er brachte aber die freie Fläche unbeschadet hinter sich und blickte in ein Tal hinunter. Es war ein herrlicher Anblick. Mitten in dem Felskessel standen dicht gedrängt einige Häuser auf einer saftigen grünen Wiese. Mitten in seine Betrachtung hinein hörte er ein leises Scharren. Er zuckte zusammen, duckte sich und blickte in die Richtung, aus der die Geräusche gekommen waren. Er sah nichts. Die Geräusche aber blieben und verstärkten sich sogar. Jetzt hörte er Schritte, harte, feste Schritte, die von einem kraftvollen 30 �
Mann stammen konnten. * Er stand im dunklen Türrahmen. Seine massige Gestalt füllte die Türöffnung ganz aus. Besorgt war sein Blick gegen Osten gerichtet. Über den Bergkamm sah man einen hellen, breiten Schein. Sonnenaufgang! Wo er bloß bleibt? So lange blieb keiner aus. Er weiß doch, daß man bei Sonnenaufgang zurück sein muß. Fünf Minuten gebe ich ihm noch. Die Minuten verstrichen zäh. Aber niemand kam. Um die Häuser herum blieb es völlig still. Brian Faylen wurde unruhig. Er verließ sein Haus, ging langsam zwischen den anderen Häusern hindurch. Vor einem großen, leeren Platz blieb er stehen. In der Mitte des freien Platzes erhob sich ein seltsames Gebilde. Es war gut zwei Meter hoch und glich einer abgebrochenen Statue. Aber am oberen Ende war keine Bruchstelle, sondern ein glatt geformter Sattel. Am vorderen Ende stand ein umgekehrtes steinernes Kreuz, Das ganze Gebilde war aus Stein gehauen und schien uralt zu sein ein Pentagramm mit einem Teufelssattel. Am Rande des Platzes stand ein großes, viereckiges Haus, aus roten Ziegelsteinen gemauert. Ein hoher, runder Turm überragte alle anderen Gebäude. Auf der Spitze des Turmes befand sich ebenfalls ein umgekehrtes Kreuz. Es war die Kirche des kleinen Dorfes. Aber es war kein christliches Gotteshaus. Es war die Kirche der Teufelsanbeter. Brian blieb für einen Augenblick vor dem Pentagramm stehen. Er breitete die Arme aus. Sein Blick war starr auf die große Feuerstelle davor gerichtet. 31 �
Dann drehte er sich plötzlich um und rannte aus dem Dorf. Nach zwei Minuten hatte er den Talkessel durchquert. Vor ihm schlängelte sich ein schmaler Serpentinenweg nach oben. Hastig begann er mit dem Aufstieg. Kurz vor dem Plateau hielt er an und sah mit flackernden Augen hinauf. Er erkannte nichts und hörte nichts. Trotzdem spürte er, daß ihn jemand erwartete. Wie ein Tier hob er den Kopf und witterte. Es war jemand auf der Felsplatte. Ein Fremder! Brian zitterte. Aber es war nicht aus Angst. Es war die Wut über das Eindringen eines Fremden in sein Gebiet, in dem er der uneingeschränkte Herrscher war. Faylen sah keinen Fremden. Das Plateau war leer. Doch eine unwiderstehliche Kraft zog ihn nach links. Obwohl er nichts sah, wußte er genau, daß dort der Fremde verborgen sein mußte. Je näher er kam, desto unruhiger wurde er. Ein seltsames Gefühl ergriff von ihm Besitz. Er konnte sich nicht erinnern, jemals innerlich so aufgewühlt gewesen zu sein. Sein Schritt verlangsamte sich. Er zögerte. Sollte er weitergehen? Er war verwirrt. Was konnte es sein, das ihn so durcheinander brachte? Brian war noch knapp zwei Meter von der Felswand entfernt. Eine schmale Spalte befand sich im Gestein. Darin mußte sich der Fremde verborgen halten. Faylen ging nicht mehr weiter. »Du kannst rauskommen, Fremder!« rief er mit seiner tiefen, durchdringenden Stimme. »Ich weiß, daß du dort drin steckst. Komm raus!« Schweigen. Dann hörte er das Kratzen von Schuhen auf steinigem Boden. Ein Mann trat aus dem Schatten der Felsspalte Alan Cassidy. Er hatte die Pistole schußbereit. Sein Blick war unverwandt auf 32 �
die massige Gestalt gerichtet, Brian Faylen sah die Pistole kaum. Er sah nur das Gesicht des Fremden und spürte jetzt verstärkt die seltsame Ausstrahlung, die von dem Mann ausging. Plötzlich wußte er, was es war, das ihn an Cassidy störte. Es war das relativ große Holzkreuz, das dieser um den Hals trug, »Was willst du hier?« fragte er und konnte nicht verhindern, daß seine Stimme zitterte. »Ich habe mich verirrt«, war Alans Antwort. »Und dann hatte ich noch eine Panne. Mein Wagen steht am Eingang des Hohlweges. Ich brauche jemanden, der mir hilft.« Leicht kam ihm die Lüge über die Lippen. Instinktiv spürte er, daß er diesem Mann gegenüber nichts von dem Brief erwähnen durfte. »Ich werde meine Leute beauftragen, daß sie deinen Wagen flottmachen. Dann verschwindest du wieder, klar?« »Sicher.« Alan nickte. »Aber da ist noch etwas anderes.« »Ja?« »Am Eingang der Schlucht liegen zwei Tote. Ein junger Mann und ein junges Mädchen. Sie sind beide ermordet worden. Haben Sie Telefon? Wir müssen die Polizei anrufen.« Alan sah, wie es in den schwarzen Augen des Mannes vor ihm aufblitzte. Dann kam die Frage: »Wie sieht der junge Mann aus? Wie kam er ums Leben?« »Er hat ein rundes, schöngeschnittenes Gesicht, schwarze Haare und ist höchstens dreißig«, beschrieb Alan den Toten. »Er wurde von mindestens zwanzig Messerstichen getötet.« Einige Zeit herrschte Stille zwischen den beiden Männern. Dann sagte Brian: »Das ist mein Sohn Perry.« »Oh«, entfuhr es Alan. »Das tut mir leid.« Doch dann konnte er kaum seine Verblüffung verbergen. Der Vater atmete erleichtert auf, statt in Trauer auszubrechen. Ja, er lächelte sogar. Was ist das nur für ein Vater, der über den Tod 33 �
seines Sohnes erfreut ist? War er denn wirklich froh über den Tod des Kindes? War er am Ende selbst der Mörder seines Sohnes? Cassidy wurde es flau in der Magengegend. Er hatte die Pistole immer noch auf den Muskelberg gerichtet. Doch dieser beachtete die Pistole überhaupt nicht. Ohne ein weiteres Wort ging er auf die Schlucht zu. »He!« rief Alan ihm nach. »Wo wollen Sie hin?« »Ich hole meinen toten Sohn«, war die lakonische Antwort. »Warten Sie! Ich gehe mit.« Alan rannte hinter dem Mann her. Es war in der Zwischenzeit recht hell geworden. Das Licht der Morgendämmerung drang in die Schlucht. Seine Taschenlampe war nicht mehr notwendig. Cassidy versuchte Brian Faylen zu überholen. Er wollte vor ihm bei dem toten Mädchen sein. Aber er hatte Mühe, dem schnellausschreitenden Mann zu folgen. Er mußte regelrecht rennen, um ihn zu überholen. Dann hatte er die Tote erreicht. »Sehen Sie sich das an«, hielt er Brian Faylen auf. »Sie muß von einem Tier gerissen worden sein. Von einer wilden mordenden Bestie. Ein Wolf kann es nicht gewesen sein. Der hätte das Opfer nicht einfach liegen lassen. Er hätte es zumindest zum Teil gefressen. Diesem Mädchen wurde aber nur die Kehle durchgebissen. Haben Sie dafür irgendeine Erklärung?« »Nein!« Faylen drängte sich an ihm vorbei. Aber so schnell wollte ihn Alan nicht weglassen. Er hielt ihn am Jackenärmel fest und zog ihn zu sich her. Wie von einem elektrischen Schlag getroffen, zuckte der Muskelberg mit dem häßlichen Gesicht zusammen. Er schrie leise auf. Seine Augen glühten. Er riß sich von Alan los und sprang zurück. Cassidy war überrascht. Er sah, wie sich auf dem breitflächigen Gesicht seines Gegenüber unbeschreiblicher Haß ausbreitete. Er 34 �
hatte ihm doch nichts getan. Was war nur los mit ihm? Dann sah er dessen haßerfüllten Blick auf seine Brust gerichtet. Alan folgte dem Blick. Jetzt fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Das Kreuz! Sein Hemd stand ein wenig offen und gab den Blick auf das Holzkreuz, das er an einer Lederschnur um den Hals trug, frei. In diesem Moment wußte er, daß er einen Verbündeten des Satans vor sich hatte. Alan knöpfte ungerührt sein Hemd zu. Er ließ sich nichts anmerken. Der Mann sollte nicht wissen, daß er… »Kennen Sie das Mädchen?« fragte Cassidy. Statt einer Antwort stellte Faylen die Gegenfrage: »Wo ist mein Sohn?« Alan deutete hinunter. Sein Wagen war deutlich zu sehen, davor der riesige Felsbrocken. »Er liegt neben meinem Wagen«, sagte er. Faylen wandte sich um und ging den steinigen Weg hinab zu Cassidys Wagen. Alan blieb stehen. Er beobachtete ihn. Mit Entsetzen sah er, daß das rechte Bein des muskulösen Mannes stärker behaart war als das linke. Braune und schwarze Haare bedeckten das Bein wie ein Fell, so stark, daß kein Stück Haut zu sehen war. Es war das Zeichen des Satans. Jetzt wußte Alan, daß der Brief kein Scherz gewesen war. Seit Jahren beschäftigte er sich mit derartigen Dingen. Werwölfe und echte Diener des Satans waren ihm jedoch bis heute fremd gewesen. Er hatte zwar darüber gelesen, aber in der Praxis war ihm ein solches Wesen noch nicht vorgekommen. Cassidy setzte sich auf den Boden. Er sah hinunter zu seinem Wagen. Der Satansgehilfe war für einen Augenblick verschwunden. Doch er tauchte gleich wieder auf, mit seinem toten Sohn auf den Armen. Er stieg über den Felsen, kam langsam den Berg 35 �
herauf. Vor Alan blieb er stehen. »Nimm das Mädchen mit«, befahl er. »Wir sollten sie liegen lassen, bis die Polizei kommt«, antwortete Alan. »Ihren Sohn sollten Sie auch liegen lassen. Es erschwert der Polizei nur die Arbeit, wenn wir sie hier wegnehmen. Die Spuren, die eventuell vorhanden sind, werden verwischt.« »Hebe das Mädchen auf!« fuhr ihn Faylen barsch an. »Aber…« »Du sollst keine Reden halten, sondern tun, was ich dir sage. Du wirst es sonst bereuen.« Alan Cassidy zuckte mit den Schultern. Er glaubte, seine Rolle gut gespielt zu haben. Faylen würde keinen Verdacht schöpfen. Er wird ihn sicher für das halten, für das er sich ausgegeben hatte. Für einen harmlosen Reisenden, der von der Straße abgekommen war und noch dazu eine Panne hatte. Er bückte sich, nahm das fast nackte, tote Mädchen auf seine Arme und hob es hoch. Er versuchte, ein ängstliches Gesicht zu machen. Es fiel ihm nicht sonderlich schwer, wenn er in Faylens Augen sah, an den behaarten Fuß dachte und das Mädchen mit dem durchgebissenen Hals vor seinen Augen erblickte. Brian Faylen nickte befriedigt. Er ging langsam voraus. Alan folgte ihm mühsam. Schon nach einigen Metern begann er hart und keuchend zu atmen. Das tote Mädchen auf seinen Armen wurde immer schwerer. Aber er hielt durch. Als sie auf dem Dorfplatz angekommen waren, blieb Alan überrascht stehen. Das Pentagramm mit dem Teufelssattel trieb ihm einen kalten Schauer über den Rücken. Es sah uralt aus. Doch die frische Feuerstelle davor und die schwarzverbrannten 36 �
Kreise um das Monument zeigten, daß es immer noch benutzt wurde. Der viereckige Bau mit dem Turm, mit dem umgekehrten Kreuz auf der Spitze und dem Holzpodium davor machten es noch deutlicher. Teufelsanbetung! dachte Alan entsetzt. Er sah sich um. Der Muskelprotz war verschwunden. Er stand einsam vor dem Pentagramm, auf den Armen immer noch das tote Mädchen, als wolle er es zum Opferaltar tragen. Schnell verließ er die Stätte des Satans und ging auf eines der alten Backsteinhäuser zu. Er legte die Leiche dicht an die Hauswand. Suchend glitt sein Blick umher. Aber er fand nichts, womit er den Leichnam hätte bedecken können. Er mußte ihn wohl oder übel so liegen lassen. Mit schleppendem Schritt ging er auf die Kirche zu. Das Gebäude interessierte ihn. Er mußte es sich unbedingt genauer ansehen. Er wußte, daß in so einer Kirche richtige Gottesdienste abgehalten wurden, nur im umgekehrten Sinne. Davon zeugte schon das auf den Kopf gestellte Kreuz auf der Spitze des Turmes. Es diente zur Verhöhnung und Verspottung des Christentums. Kurz bevor er das Holzpodium, das aus alten, schweren Dielen zusammengefügt worden war, erreicht hatte, blieb er auf einmal stehen, als wäre er gegen eine Wand gelaufen. Sein Blick war starr nach vorn gerichtet. Auf dem Podium stand wie aus dem Boden geschossen eine vermummte Gestalt. * Der Schweiß lief über ihren alten, ausgemergelten Körper. Ihre Kleider waren schon so naß, als hätte sie darin gebadet. Die Hitze wurde immer unerträglicher. Ihre Augen brannten wie Feuer, und die grauen Haare hingen ihr in Strähnen ins Gesicht. 37 �
Sophie Faylen konnte ihre Hände nicht dazu benutzen, sich den Schweiß aus dem Gesicht zu wischen. Ihre Arme waren über ihren Kopf an einen in die Wand eingelassenen Haken gekettet. An ihren Beinen hing eine meterlange Kette, an deren Ende sich eine große, gut fünfzig Pfund schwere Stahlkugel befand. Der »Zwinger« hatte sich als eine Folterkammer mit mörderischem Saunaeffekt entpuppt. Der Raum stand voll mit Foltergeräten. Nur derjenige, der alle Foltergeräte überstand, durfte den Zwinger wieder verlassen. Bis jetzt hatte es jedenfalls noch niemand geschafft. Das Klappern von Schlüsseln war zu vernehmen. Ein Schlüssel wurde ins Schloß gesteckt und umgedreht. Die schwere Eichentür wurde aufgezogen. Brian Faylen stand unter der Tür. In der Hand hatte er einen Teller Hirsebrei, einen Löffel in der anderen Hand. Vor Sophie blieb er stehen. »Ich bringe dir etwas zu essen«, murmelte er leise. Er hat Kummer, schoß es Sophie blitzartig durch den Kopf. Sie kannte ihn lange genug. Seit dreißig Jahren war sie mit ihm verheiratet. Sie kannte alle seine Launen, seine Gesten. Wenn er so leise sprach, hatte er irgendeinen Kummer. Es mußte etwas passiert sein. Sie fragte ihn nicht. Sophie wußte, daß er von selbst anfangen würde. Brian Faylen stellte den Teller auf dem Streckapparat ab, wandte sich um und zog die Tür zu. Dann machte er Sophie von den Ketten frei. Ihre Arme fielen kraftlos nach unten. Sie vermochte nicht mehr, sie anzuheben. »Setz dich. Iß!« Seine Stimme klang ungewohnt niedergeschlagen. Es mußte etwas Furchtbares geschehen sein. So etwas wie Schadenfreude 38 �
kam in Sophie auf. Sie wollte den rechten Arm heben, um den Löffel zu nehmen. Aber der Arm gehorchte ihr nicht mehr. Brian sah ihr vergebliches Bemühen. Da griff er selbst nach dem Löffel. Er fütterte sie. Löffel für Löffel nahm Sophie zu sich. Sie wartete darauf, daß Brian anfangen würde. Aber er ließ lange auf sich warten. Dann, nach unendlich langen Sekunden kam es aus ihm heraus: »Perry ist tot.« Sophie verschluckte sich. Sie mußte husten. Ihre Augen weiteten sich. Entsetzen zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. Ihr graues, verschwitztes Antlitz wurde um einige Falten bereichert. »Wie ist das geschehen?« brachte sie mühsam und krächzend über die Lippen. Brian zuckte mit den Schultern. »Jemand war stärker als er«, versetzte er leise. »Es geschah, als er ein Werwolf war, nicht?« Ihr Mann nickte. Die alte Frau preßte die blaßblauen Lippen zusammen. Ihre Augen begannen zu leben, versprühten Haß, und ihre Blicke trafen ihn wie Dolche. »Du hast ihn umgebracht!« schrie sie ihm ins Gesicht. »Nur du. Dein Pakt mit dem Teufel hat es soweit gebracht. Jetzt ist es aus mit dir, Brian Faylen. Dein Lord Satan hat zugelassen, daß einer aus deiner Sippe getötet wurde. Dein eigener Sohn wurde umgebracht. Das ist der Anfang vom Ende. Du hast ausgespielt. Und er wird dir auch nicht mehr helfen können. Er will es auch nicht. Er hat dich verlassen.« »Sei still, du Ungläubige«, fauchte Brian zurück. »Du hast kein Recht, so zu reden. Er hat mich nicht verlassen. Du wirst sehen, er wird mir meinen Sohn wiedergeben.« 39 �
Sophie lachte ihm hämisch ins Gesicht. »Einen Dreck wird er! So weit reicht selbst seine Macht nicht. Perry ist tot. Aber ich schwöre dir, wenn du Harry dazu zwingst, ebenfalls als Werwolf sein Dasein zu fristen, dann bringe ich dich um und deine ganze Sippe dazu.« Sie spuckte Gift und Galle. Unbeschreiblicher Haß klang aus ihren Worten heraus und Sorge und Angst um ihren Sohn Harry. Brian Faylen erhob sich. »Ich werde ihn rufen«, sagte er leise, aber bestimmt. »Er wird kommen und mir sagen, was mit Perry wird. Wenn er mir meinen Sohn wiedergeben kann, dann wird mich dein Gezeter nicht davon abhalten, Harry auf seinen vorgeschriebenen Weg zu weisen.« * Alan ging ein Stück die Straße entlang und zählte die Häuser. Er kam auf sieben. Etwas außerhalb, dicht an das Bergmassiv gedrängt, stand ein alter, baufälliger Schuppen. Hundert Meter davon entfernt war eine knappe zwei Meter hohe Kuppe. Sie war mit Gras bewachsen. Doch auf der Seite des Dorfes war eine Tür zu sehen. Es könnte ein Bunker sein oder ähnliches. Langsam ging Alan zum Dorfplatz zurück. Er suchte nach der Toten, die er an einer Hauswand abgelegt hatte. Doch sie war verschwunden, als hätte sie sich in Luft aufgelöst. Cassidy zog die Stirn in Falten. Was haben die mit der Leiche vor? Wollten sie sie verschwinden lassen? Sicher, sie werden sie irgendwo vergraben. Ohne Leiche kein Mord! Er sah über den leeren Platz, ließ den Blick über die alten Häuser schweifen. Es war still wie auf einem Friedhof, unheimlich 40 �
still. Alan sah das Pentagramm in der Mitte des freien Platzes, stellte sich auf dem Sattel den Satan vor und bekam eine Gänsehaut. Er schüttelte die gräßlichen Gedanken ab, gab sich einen Ruck und ging auf das nächste Haus zu. Er drückte die Türklinke nach unten. Die Tür war offen. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, als er über die Schwelle trat und in den Flur kam. Es war dunkel. Er schob die Tür ganz auf, um mehr Licht zu haben. »Hallo! Ist hier jemand?« rief er halblaut. Nichts. Er ging einige Schritte weiter und betrat einen kleinen Raum. Es war die Küche. Sie war alt und primitiv eingerichtet. Ein alter, schwerer Holztisch, vier Stühle, ein Spülbecken aus Lehm und ein großer, vorsintflutlicher Herd. Ein grauer Küchenschrank hinter der Tür vervollständigte die Einrichtung. Aber keine Menschenseele war zu sehen. Er ging weiter, öffnete Tür um Tür. Nichts. Im Flur war eine Treppe. Er stieg einige Stufen hinauf. Dann rief er laut: »Hallo!« Das folgende Schweigen war erdrückend. Es mußte doch jemand im Haus wohnen. In der Küche lag schmutziges Geschirr herum. Im Flur standen ein paar alte Gummistiefel. Ob ich hinaufgehen soll? Alan ging nicht hinauf. Er verhielt sich plötzlich völlig ruhig. Er hatte von Kind an einen sechsten Sinn. Dieser wurde im Umgang mit dem Mystischen, mit den übernatürlichen Fällen, die ihn seit Jahren beschäftigt hatten, nur noch ausgeprägter. Er spürte, daß ihm Gefahr drohte. Dann wußte er auch, woher sie kam. Der Korridor hatte sich verdunkelt. Er erhellte sich und verdunkelte sich wieder. Leute kamen zur Tür herein. Aber er hörte keinen Ton, Langsam drehte er sich um und ging die Stufen hinunter. Ein 41 �
eisiger Schrecken durchfuhr seine Glieder. Fünf in weinrote wallende Gewänder gehüllte Gestalten standen vor ihm. Sie versperrten ihm den Ausgang, kamen schließlich auf ihn zu. Cassidy wich zurück. Was sollte er gegen fünf Mann machen? Ihre Absicht war eindeutig. Sie wollten ihm ans Leder. Er aber hatte nicht die geringste Lust, unter ihre Fäuste zu geraten. Alan konnte sich an fünf Fingern ausrechnen, wie groß seine Chance gegen die Kapuzenmänner war. Also half nur der Rückzug, die Flucht. Erst mal Abstand gewinnen, dachte er, dann würde man weitersehen. Er drückte mit dem Rücken eine Tür auf, verschwand blitzschnell dahinter und schlug sie krachend zu. Einen Schlüssel gab es nicht, auch keinen Riegel oder sonstwas. Cassidy sprang zum Fenster. Er riß es auf und warf sich hinaus. Ein weiterer Kapuziner kam auf ihn zu, schwang drohend die Fäuste über dem Kopf. Alan rannte ihm entgegen, vergrub seine Faust im Magen des Anstürmenden, daß diesem pfeifend die Luft entwich. Zwei Handkantenschläge warfen ihn zu Boden. Bewegungslos blieb er liegen, und Alan stieg über ihn hinweg. Dann sah er Brian Faylen und stürmte auf ihn zu. »Sagen Sie, was soll das?« rief er ihm keuchend entgegen. »Warum werde ich von den Leuten angegriffen? Ich habe niemandem etwas getan. Was wollen sie also von mir? Und warum diese Maskerade? Sind wir hier auf einem Faschingsball?« Faylen wartete, bis Alan heran war. Dann packte er mit seinen riesigen Pranken zu. Er preßte ihn an sich, und Alan hatte das Gefühl, in einen Schraubstock geraten zu sein. »Tut mir leid«, sagte er gepreßt. »Wir müssen dich einsperren. Wir können nicht zulassen, daß du zur Polizei gehst. Sie könnte zwar nichts beweisen, aber wir würden in Verdacht geraten. Ein 42 �
Makel würde auf uns lasten, und das ist wirklich nicht notwendig. Bisher konnten wir es immer hinbiegen. Das wird auch so bleiben.« Cassidy versuchte, sich zu befreien. Kalter Schweiß trat aus seinen Poren. Er ahnte, daß sie ihn umbringen würden. Aber er kam aus den Klauen des Mannes nicht frei. Wie zwei Fangarme hatte er sie um Alan geschlungen. Aus diesem Griff gab es kein Entrinnen. Sein Aufbäumen war sinnlos. Alan ergab sich für den Moment seinem Schicksal. Die Kapuzenmänner kamen heran. Hart packten sie ihn an den Handgelenken und drehten ihm die Arme auf den Rücken. Einer der Männer fesselte ihn. »Bringt ihn in den Bunker«, befahl Brian Faylen. Vier der Vermummten nahmen ihn in die Mitte und führten ihn aus dem Dorf. * Er wusch sich so gründlich wie jeden Tag, putzte sich die Zähne, rasierte sich, kämmte sich und ging nach unten. Harry wunderte sich, daß keiner da war. Zumindest Mutter hätte hier sein müssen, um ihm das Frühstück zu richten. Das hatte sie doch bis jetzt immer gemacht. Irgend etwas mußte geschehen sein. Doch noch bevor er nach draußen ging, kam ihm sein Vater entgegen. Er sah müde aus und besorgt. »Was ist heute los, Vater? Wo ist Mutter? Ich vermisse das Frühstück. Ich muß doch in die Stadt.« »Du wirst dir heute dein Frühstück selber machen müssen«, antwortete ihm sein Vater. »Deine Mutter ist nicht da. Sie wird überhaupt nie mehr da sein. Und…« »Was soll das heißen«, fiel ihm Harry erregt ins Wort. »Wes43 �
halb wird Mutter nie mehr da sein?« »Laß mich gefälligst ausreden und unterbrich mich nicht!« herrschte ihn der Alte an. »Es wird sich in nächster Zeit überhaupt einiges ändern. Du wirst nicht mehr in die Stadt fahren, um dort in irgendeinem lächerlichen Betrieb zu arbeiten. Du wirst zu Hause bleiben und deinen Vater entlasten. Ich habe keine Lust mehr, alles allein zu machen. Die Verwaltungsarbeiten werden mir zuviel.« »Aber das mußt du mir doch nur sagen«, lenkte Harry ein. »Ich habe nicht die Absicht, in dem Betrieb zu versauern, immer nur für andere zu arbeiten. Natürlich werde ich dich entlasten. Ich muß nur noch einmal in die Stadt, um zu kündigen.« »Das ist nicht nötig. Ein Faylen braucht nicht kündigen. Ein Faylen kommt und geht, wann er will.« »Aber Vater, ich kann doch…« »Du kannst!« brüllte ihn der alte Faylen an. »Wenn ich sage, du kannst es, dann kannst du.« »Wie du meinst, Vater«, beschwichtigte ihn Harry. »Dann werde ich eben nicht mehr gehen.« Harry war sehr folgsam. Er war immer ruhig und ausgeglichen, und es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, seinem Vater zu widersprechen. Er tat, was man von ihm verlangte. Er war ein erwachsener Sohn, wie ihn ein Vater nicht besser haben konnte. Doch Brian Faylen war mit seinem Sohn nicht zufrieden. Er war ihm zu feinfühlig, zu freundlich und zu weich. Er hatte die Kirche immer besucht, weil es der Vater befohlen hatte. Aber oft hatte er sich schaudernd abgewandt und war kreidebleich geworden. Einmal war er sogar ohnmächtig geworden. Ein elender, verdammter Weichling. Ich werde ihn zwingen müssen, dachte Brian Faylen. Er hat das Mal. Es ist verblaßt und kaum sichtbar. Aber es ist da. Es muß 44 �
nur in ihm geweckt werden. Wenn er einmal seinen nächtlichen Streifzug gemacht hat, wird er es immer tun. Keiner kann sich dem entziehen, auch er nicht. Er ist ein Faylen. Wenn er auch sehr viel von seiner Mutter hat, so ist er trotzdem ein Faylen. Der schwergewichtige Mann nickte grimmig vor sich hin. »Wo ist Mutter?« vernahm er die Frage seines Sohnes. Das Gesicht des Alten nahm harte Züge an. »Deine Mutter wird in Zukunft nicht mehr unter uns weilen. Sie ist eine Abtrünnige.« »Vater!« »Hör auf!« fuhr ihn dieser an. »Benimm dich endlich wie ein Mann, wie ein echter Faylen. Du hattest nie etwas dagegen einzuwenden, wenn ein Abtrünniger in den Zwinger kam. Jetzt ist es deine Mutter. Sie wird es genauso hinter sich bringen wie jeder andere auch. Sie muß sterben. Wer es wagt, unsere Gesetze zu mißachten, hat nichts Besseres verdient.« »Aber sie ist doch meine Mutter und sie ist deine Frau. Wie kannst du nur so grausam sein?« Harry war entsetzt. Bleich starrte er sein Gegenüber fassungslos an. Er wollte und konnte einfach nicht glauben, daß sein Vater so unerbittlich und brutal sein konnte. »Setz dich«, befahl der Alte. »Ich werde dir erzählen, wie deine Mutter und ich zusammenkamen.« Harry ließ sich langsam auf einen Stuhl nieder. Brian Faylen räusperte sich. »Ich lernte sie in der Stadt kennen. Sie war sehr hübsch und gefiel mir auf den ersten Blick. Ich wollte sie haben, und ich bekam sie auch. Wir Faylen sind verpflichtet, für Nachkommen zu sorgen. Seit Jahrhunderten leben wir hier. Es geht zurück bis ins 17. Jahrhundert. Einer unserer damaligen Vorfahren war sehr arm. Alles, was er anfing, um diesen Zustand zu ändern, ging schief. Da begann er alle und alles zu hassen, am meisten sich 45 �
selbst. Eines Tages bekam er durch Zufall ein altes Buch in die Hand. Darin stand eine Beschwörungsformel, mit der man den Satan rufen konnte. Erst wollte er es nicht glauben, daß der Teufel nach dieser Zeremonie erscheinen würde. Doch je länger er las, desto mehr glaubte er daran. Ja, der Gedanke ließ ihn nicht mehr los. Er fraß sich in ihn hinein, bestimmte sein ganzes Denken. Und dann versuchte er es.« Er hielt inne, wischte sich müde mit der Hand über das Gesicht. Dann fuhr er fort: »Es klappte. Der Satan erschien ihm persönlich. Er fragte ihn nach seinen Wünschen und versicherte ihm, daß alles, was er sich wünschte, in Erfüllung gehen würde. Er knüpfte nur eine Bedingung daran. Er wollte die Seele von Derek Faylen, so hieß unser Vorfahre, haben. In seinem Haß machte Derek alles. Es war ihm völlig gleichgültig, was nach seinem Tod mit ihm geschehen würde. Er wollte das Leben genießen, wollte reich sein wie andere. Ja, er wollte sogar noch reicher sein. Sie sollten alle zu seinen Füßen liegen. Derek wurde reich. Er wurde zu einem der mächtigsten Männer.« Wieder verhielt Brian. Harry starrte ihn atemlos an. Was er von seinem Vater hörte, war so furchtbar und grauenhaft, daß es ihm den Atem verschlug. Fünfundzwanzig Jahre war er alt geworden, hatte hier in den Bergen gelebt und es genossen, Geld zu haben, soviel er brauchte. Er hatte sich nie darüber Gedanken gemacht, weshalb sie so reich waren. Was ihn lediglich gestört hatte, war der Glaube der Faylen-Sippe, die Teufelsanbetung. Aber er nahm es hin. Er nahm auch hin, daß er manchmal ohnmächtig wurde in der Kirche. Es gehörte einfach zu einem Faylen, daß er bei dem Zeremoniell dabei war. Manchmal hatte er seinen Zwillingsbruder Perry beneidet, dem nie schlecht wurde. Im Gegenteil, er genoß diese fürchterlichen Prozeduren. Für Harry jedenfalls war es immer eine Qual. Da er aber von 46 �
Kind an nichts anderes kannte, beschwerte er sich nicht und nahm wie die anderen daran teil. Er war eben ein folgsamer Sohn. Doch was er nun hörte, war so entsetzlich, daß er nicht mehr fähig war, sich zu rühren. Es kam noch schlimmer. »Lord Satan stellte seine Ansprüche«, fuhr Brian Faylen fort. Seine Stimme klang fest wie immer. »Derek Faylen mußte dieses Dorf hier aufbauen, die Kirche und das Pentagramm. Er rief seine ganze Verwandtschaft zu sich und brachte es fertig, daß alle ihre Seele dem Teufel verschrieben. Sie mußten für Nachkommen sorgen und sie im Sinne Lord Satans erziehen. Er tat noch ein übriges. Er stattete alle Neugeborenen mit einem Muttermal aus. Es ist der dollar-große braune Fleck auf dem linken Schulterblatt, das auch du besitzt.« »Aber ich habe doch keines«, kam es leise und stockend über Harrys Lippen. »Doch, mein Junge. Auch du hast es. Es ist bei dir nur nicht so ausgeprägt. Es ist verblaßt und kaum sichtbar. Aber es ist auch bei dir vorhanden. Dieses Mal ist das Zeichen eines Werwolfes. Jeder, der es trägt, wird ab seinem einundzwanzigsten Geburtstag immer in Vollmondnächten zum Werwolf. Er kann sich nicht dagegen wehren. Es kommt plötzlich über ihn. Bei dir ist es bis jetzt jedoch ausgeblieben. Ich habe nichts dagegen unternommen, weil ich hoffte, es würde von selbst noch kommen. Doch dem ist nicht so. Ich werde mit dir etwas tun müssen.« Also ist es doch so, wie ich es schon geahnt habe, dachte Harry. Er war wie vom Donner gerührt und glaubte, jeden Augenblick tot umfallen zu müssen. Er, der in der Stadt ein recht gutes Ansehen besaß und sehr beliebt war, lebte unter Werwölfen, unter Bestien, die bei Vollmond Menschen anfallen, sie töten und ihr Blut trinken. Er soll auch einer von ihnen sein, zumin47 �
dest soll er einer werden. Ein Ruck ging durch Harrys Körper. Seine Gesichtszüge spannten sich. Die Sanftheit und Gutmütigkeit verschwand aus seinem schönen Gesicht. Von einer Sekunde zur anderen wurde aus einem weichen, fast mädchenhaft wirkenden Jüngling ein harter Mann. »Was willst du tun?« fragte er. Seine Stimme klang anders, und er erkannte sie selbst nicht mehr. Sein Vater tat, als hätte er die Frage gar nicht gehört. Er schien auch die plötzliche Veränderung seines Sohnes nicht bemerkt zu haben. Mit gleichbleibend fester Stimme fuhr er fort: »Derek Faylen ist mein unmittelbarer Vorfahre. Seine Söhne waren alle Werwölfe und deren Söhne wieder. Also werden es auch meine Söhne. Perry kam zum richtigen Zeitpunkt. Jetzt bist endlich du an der Reihe. Ich möchte nicht die Sympathien des Meisters verscherzen. Heute abend…« »Ich werde nicht mitspielen, Vater«, sagte Harry bestimmt. »Du wirst auf mich verzichten müssen.« Brian Faylen hob den Kopf. Er sah seinen Sohn mit stechendem Blick an. »Du hast gar keine andere Wahl.« Der alte Faylen grinste ihn an. Aber es war weder spöttisch noch ironisch. Es war einfach ein kaltes, teuflisches Grinsen, das Harry erschreckt zusammenzucken ließ. Dann sagte er ganz unvermittelt: »Du liebst doch deinen Bruder Perry, nicht wahr?« »Natürlich. Das weißt du doch.« »Er ist tot.« »Du lügst!« schrie Harry. Er sprang so abrupt auf, daß der Stuhl krachend umfiel. Dann hing er an seinem Vater, zerrte an seiner ergrauten Schafpelzjacke und funkelte ihn mit jäh aufblitzenden Augen an. Harry war so groß wie sein Erzeuger. Aber er war schmächtig 48 �
und wirkte fast wie ein Handtuch neben seinem Vater, der wie eine riesige Säule im Raum stand. Mühelos machte er sich von Harry frei. »Ich lüge nicht. Ich habe dich noch nie angelogen. Komm mit, ich zeige es dir.« Man hörte aus seiner Stimme keine Trauer heraus. Harry sah ihn unentwegt an. Wie war so etwas möglich? Vater hatte an Perry mehr gehangen als an ihm. Und jetzt sagte er in einem Ton, als würde er vom Wetter reden, daß Perry tot sei. Was hat dieser Mann vor? Er ging hinter seinem Vater her. Der Weg führte nach oben in den ersten Stock, dann weiter auf den Dachboden. Dort wußte Harry die kleine Kammer. Sicher hat Vater Perry dort aufbewahrt, weil dieser Raum hinter altem Gerümpel, versteckt war und von seinen Freunden wohl kaum gefunden worden wäre. Bis auf eine Pritsche war das Zimmer leer. Dann standen sie vor Perry. Er lag reglos und mit eingetrocknetem Blut bedeckt auf dem Feldbett. Die vielen klaffenden Wunden auf seinem Körper waren deutlich zu sehen. Harry krampfte sich das Herz zusammen. Sein Bruder war tot, bestialisch ermordet. »Wie konnte das geschehen«, flüsterte er. In seinem Gesicht zuckte es, und seine Augen füllten sich langsam mit Wasser, »Wer hat das getan?« »Er war heute nacht als Werwolf unterwegs. Dabei muß er auf jemanden gestoßen sein, der stärker war als er. Aber ich bin zuversichtlich, daß er wieder zum Leben erwachen wird. Heute abend werden wir Lord Satan anrufen. Er wird ihn uns zurückgeben. Er wird den Tod aus seinem Körper treiben.« »Du glaubst, daß das möglich ist?« »Ja. Ich glaube es nicht nur, ich weiß es. Luzifer kann es und macht es auch. Nur wird er verlangen, daß auch du endlich dei49 �
ner Aufgabe nachkommst.« Der Alte sah seinen Sohn durchdringend an. Dieser schwieg entsetzt. Er liebte seinen Bruder und wäre wirklich dankbar gewesen, wenn er ihn wieder lebend um sich haben könnte. Aber war das überhaupt möglich? Konnte der Satan das wirklich, einen Toten zum Leben erwecken? Harry zweifelte. Was steckte dahinter? Wollte der Alte ihn dadurch nur zwingen, daß er zustimmte? Er konnte sich zwar nicht vorstellen, was Vater tun wollte, um ihn dahin zu bringen. Aber er hatte sicher seine Mittel. Und wenn er sich sträubte? »Laß mir ein paar Stunden Zeit«, murmelte er. »Ich muß es mir erst noch überlegen.« »Da gibt es doch nichts zu überlegen. Du kannst damit deinen Bruder zum Leben erwecken. Außerdem bist du so oder so ein Gezeichneter. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch du soweit bist. Warum also überlegen?« »Du hast mir deine Geschichte noch nicht zu Ende erzählt«, wich Harry aus. »Erzähle sie weiter. Wie hast du meine Mutter kennengelernt? War sie einverstanden mit dem Leben, das du ihr hier in dieser Steinwüste zu bieten hattest?« »Natürlich war sie einverstanden«, brummte Brian Faylen. »Sie liebte mich. Als sie jedoch erfuhr, daß ich in Vollmondnächten zum Werwolf wurde und nachts durch die Berge streifte, wollte sie mich sofort verlassen. Aber nur im ersten Moment, dann blieb sie doch, weil ihr beide unterwegs wart. Sie nahm mir allerdings das Versprechen ab, daß sie nie an unseren Kirchgängen teilnehmen müsse. Außerdem mußte ich ihr versprechen, sie nie mit Luzifer zu konfrontieren. Dafür versprach sie mir, daß sie bei mir bleibt. Sie wollte auch nichts gegen uns unternehmen.« »Warum hast du sie dann eingesperrt?« »Weil sie wortbrüchig werden wollte«, war die harte Antwort. 50 �
»Sie wollte uns verraten. Wir genießen geschäftlich gesehen einen guten Ruf. Alle glauben zwar, daß wir Spinner seien, weil wir hier in diesem einsamen Tal wohnen, abgeschlossen von der Umwelt. Doch das ist uns nur recht. So lassen sie uns in Ruhe, Niemand weiß von unserer Teufelsanbetung, von unserem Pakt mit dem Satan. Die einzigen, die etwas ahnen, sind die Leute im Dorf, das keine fünf Meilen von hier entfernt ist. Sie sind jedoch ruhig, weil sie Angst haben. Außerdem würde ihnen kein Mensch glauben. Wenn deine Mutter allerdings ausplaudern würde, wäre es wohl anders.« »Deshalb also«, flüsterte Harry. »Ja, deshalb.« Harry drehte sich um und ging aus dem kleinen Raum. Er war unschlüssig, verwirrt und wurde zwischen seiner Mutter und seinem Bruder hin- und hergerissen. Er konnte nicht ahnen, daß sie für ihn kämpfen wollte. Das hatte Brian nicht gesagt. Er wandte sich wieder seinem Vater zu. »Kann ich zu ihr?« fragte er leise. »Nein! In den Zwinger habe nur ich Zutritt. Kein anderer darf ihn betreten, außer; er ist selbst der Betroffene.« »Sie ist doch meine Mutter.« »Ich kann dich nicht zu ihr lassen. Wenn dies jemand erfahren würde, wäre es aus mit meiner Herrschaft. Guy Faylen wartet schon lange auf einen Fehler von mir. Er will schon längst das Ruder an sich reißen. Und ich fühle, daß Lord Satan gar nicht abgeneigt wäre, denn er ist noch brutaler als ich. Er ist das Böse und die Schlechtigkeit in Person. Wenn er die Führung übernehmen würde, dann könntest du es dir nicht mehr überlegen. Überhaupt hätte er schon längst alles unternommen, um dich ebenfalls zum Werwolf werden zu lassen. Andeutungen hat er schon gemacht. Ich muß aufpassen, 51 �
daß er mich nicht eines Tages überrumpelt.« »Heißt das, daß du mir etwas Zeit gibst?« fragte Harry hoffnungsvoll. »Ich habe jetzt so lange gewartet, daß es auf die paar Stunden auch nicht mehr ankommt.« »Dann laß mich auch zu ihr. Ich verspreche dir, daß niemand etwas erfahren wird.« »Nein!« »Wenn du mich zu ihr läßt, damit ich ein letztes Mal mit ihr reden kann, verspreche ich dir, daß ich es mir nicht mehr überlegen werde. Ich sage sofort zu.« Brian Faylen schwankte. Er brauchte sein Versprechen. Durch Zwang konnte er nicht erreichen, was er wollte. Das wußte er genau. Außerdem war er, wie sein Vetter Guy Faylen richtig gesagt hatte, zu weich für die Führung der Faylen-Sippe. Er wurde langsam zu alt. Harry sah, wie sein Vater schwankte, und stieß sofort nach. »Wirklich, Vater, ich verspreche es dir.« Brian Faylen nickte. Er holte den großen Schlüssel aus der Tasche und reichte ihn seinem Sohn. »In einer Stunde rufe ich alle zusammen, um zu beraten«, erklärte er. »Dann kannst du zu ihr. Niemand wird dich vermissen, da du ja auch sonst nie anwesend warst. Daß Perry tot ist, wissen sie schon.« »Weshalb dann die Beratung?« Der Alte zögerte kurz. Dann sagte er: »Ein Fremder ist im Dorf. Wir mußten ihn einsperren, weil er zuviel herausbekommen hat. Jetzt wollen wir beraten, was mit ihm geschehen soll.« »Ihr werdet ihn doch nicht töten?« fragte Harry bestürzt. »Wir werden beraten«, antwortete ihm sein Vater kurz. »Geh jetzt hinunter und warte ab, bis wir uns im Dorfsaal treffen. Dann kannst du deine Mutter besuchen, aber nur für zehn 52 �
Minuten. Länger dauert die Beratung auch nicht.« »Ich werde nicht länger bleiben«, versprach Harry. Dann ging er hinunter. * Es war stockdunkel um ihn. Er konnte nicht einmal die Hand vor seinen Augen sehen. Hinzu kam dieser fürchterliche Gestank, der ihm den Magen umdrehte. Es stank nach Verwesung. Seit einer halben Stunde würgte Alan. Seit er in diesen Raum geworfen wurde, glaubte er, jeden Augenblick ersticken zu müssen. Dann war sein Magen leer, und es noch zusätzlich noch nach Erbrochenem. Er taumelte auf die Beine, verließ den Platz, den er bisher inne hatte, und torkelte durch die undurchdringliche Finsternis. Alan stolperte über irgend etwas. Er fiel zu Boden und schlug auf einen harten Gegenstand. Er tastete danach und spürte einen Knochen in seinen Fingern. Von Grauen gepackt ließ er ihn fallen und richtete sich wieder auf. Das Grausen trieb ihn vorwärts, weiter, weg von diesem furchtbaren Ort. Aber da war eine Wand. Er stieß mit dem Kopf gegen sie und schrie vor Schmerz auf. Langsam strich er daran entlang, rutschte in eine Nische und blieb für einige Sekunden stehen. Dann fiel ihm seine Flachtaschenlampe ein, die er für alle Fälle in das Jackenfutter genäht hatte. Nervös riß er daran. Das Futter ging in Fetzen, und die Taschenlampe fiel auf den Boden. Er bückte sich danach und suchte. Er fand sie zwischen zwei Knochen, hob sie auf, während es ihm eiskalt über den Rücken lief. Er schaltete die Lampe ein und ließ den schmalen, hellen Strahl 53 �
durch den Raum wandern. Der Anblick, der sich ihm bot, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Überall auf dem Boden zerstreut lagen die Gebeine und Gerippe von Menschen – Skelette, teilweise noch in der Verwesung. Ein Jahrzehnte altes Massengrab, oder Jahrhunderte? Alan Cassidy war es in diesem Augenblick egal, ob das Grab zehn oder hundert Jahre alt war. Er befand sich jedenfalls darin, mußte den fürchterlichen Gestank einatmen, hatte sich schon mindestens zehnmal übergeben und glaubte, daß ihm in diesem Augenblick der untere Teil seines Magens nach oben stand. Er mußte hier heraus. Wenn er noch länger diesen Verwesungsgeruch in seine Lungen sog, würde er daran krepieren. Die Wände waren aus dickem, hartem Beton, ebenfalls die Decke und der Boden. Die Tür war aus solidem Stahl. Es gab also keine Chance für ihn. Cassidy schlich langsam an der Wand weiter. Er wich einem Skelett aus. Das nächste lag quer über seinem Weg. Er wollte darüber steigen. Doch sein Körper war ausgelaugt und kraftlos. Er vermochte kaum den Fuß zu heben. Sein Schuh streifte das Gerippe. Mit einem lauten Geschepper fiel es in sich zusammen. Er blieb stehen, lehnte sich an die Wand und schloß die Augen. Dann zog er ein Taschentuch aus der Tasche und hielt es sich vor die Nase. Ein paarmal atmete er tief ein. Der Verwesungsgeruch drang nun etwas gedämpfter in sein Geruchsorgan, Alan behielt das Taschentuch vor der Nase. In der Rechten hatte er die kleine Taschenlampe. Er leuchtete die Wände ab. Die Aussparung unten in der Wand sah er zuerst gar nicht. Erst als er wütend mit der Schuhspitze gegen die Wand stieß, bemerkte er den Spalt. Er war gut dreißig Zentimeter hoch. Alan bückte sich. Der Strahl der Taschenlampe drang hindurch, beleuchtete kleine Löcher und Höhlen. Unzählige kreisrunde Löcher führten in das Erdreich. Dann sah er sie. 54 �
Sie streckten ihre häßlichen, aufgeschwemmten Köpfe aus den Löchern und starrten ihn mit roten Augen an. Ratten, riesige Ratten! Der Strahl der Taschenlampe mußte sie geweckt haben. Sie krochen heran. Sofort folgten die nächsten. Ihre fetten, grauen erregenden Körper wälzten sich langsam auf ihn zu. Sie schienen es gewohnt zu sein, das Opfer in aller Ruhe anzugehen, denn aus dieser Gruft gab es kein Entrinnen. Mit einem panikartigen Keuchen richtete Alan sich auf. Er wich zurück, achtete dabei nicht auf die am Boden liegenden Skelette und stolperte darüber. Aber er fing sich. Krachend zerbrach unter seinen Füßen ein Skelett. Doch unter dem Piepsen und Quieken der fast kaninchengroßen Ratten waren diese Geräusche kaum zu hören. Ein hohes, infernalisches Geschrei erfüllte die Gruft. Der schmale Lichtstreifen seiner Lampe wanderte schnell die Wand hinauf und hinunter. Die Öffnung zog sich an der ganzen Wand entlang. Überall wimmelte es von Ratten. Dicht aneinandergedrängt zwängten sie sich durch den Spalt. Zehn, zwanzig, hundert immer mehr. Wie eine graue, tödliche Lawine rollten sie auf ihn zu. Gehetzt wanderte sein Blick umher, dem Strahl der Lampe nach. Er suchte nach einer Möglichkeit, den schrecklichen, widerlichen Biestern zu entkommen. Aber noch hatte er nichts entdeckt. Die Ratten kamen immer näher. Die ersten hatten ihn schon fast erreicht. Und die Invasion fand immer noch kein Ende. Dann sah er den Haken hoch oben in der gegenüberliegenden Wand. Ein leiser Hoffnungsschimmer kam in ihm auf. Er rannte darauf zu und trampelte dabei die menschlichen Skelette in den Boden. Der Haken war sehr hoch angebracht. Er mußte springen. Das erstemal rutschte er ab. Beim nächsten Versuch sprang er höher. 55 �
Seine Finger krallten sich um den Vierkantstahl, schlossen sich. Er faßte mit der anderen Hand nach und zog sich hoch, keine Sekunde zu früh. Die grauen, quiekenden Leiber hatten ihn eingeholt. Als sie merkten, wie sich ihnen das Opfer entzog, schwoll das Geschrei noch mehr an. Die hinteren Tiere drängten nach vorn, stiegen über die anderen, fielen um und versuchten, wieder auf die Beine zu kommen. Die vordersten Ratten wurden an die Wand gedrängt. Sie erhoben sich auf die Hinterbeine und sprangen an der Wand hinauf. Doch selbst ihre scharfen Krallen vermochten sich an der glatten Wand nicht festzuhalten. Sie rutschten ab und landeten auf dem Rücken der Nachdrängenden. Vorläufig war Alan gerettet. Aber wie lange? Was würde sein, wenn ihn seine Kräfte verließen und er in die brodelnde, quiekende Masse Leiber hineinfiel? * Er schob den großen Schlüssel ins Loch, drehte ihn um, schob die Tür auf und trat ein. Entsetzt blieb er stehen. »Mutter«, kam es flüsternd über seine Lippen. »Mein Gott, Mutter.« Harry stand wie erstarrt unter dem Türrahmen und war keiner Bewegung fähig. Sophie Faylen war an ein großes Wagenrad gefesselt, das sich langsam drehte. Die Frau drehte sich mit. Mal hing sie aufrecht, mal mit dem Kopf nach unten. Jedesmal, wenn sie mit dem Kopf nach unten hing, verharrte das Rad einige Sekunden, und das Blut schoß in ihr Gesicht. Ununterbrochen ging das so, Minute für Minute, Stunde um Stunde. Und das nächste Foltergerät 56 �
hatte sie immer vor Augen – einen Streckapparat. Harry lief es eiskalt über den Rücken. Er war noch nie in dieser Folterkammer gewesen. Er hatte immer nur davon gehört. Aber er hätte sich nie träumen lassen, daß es so furchtbar war. Es schmerzte ihn, seine Mutter an das Rad gefesselt, sie leiden zu sehen. Er trat hinter das Rad und suchte nach dem Schalter, um den Motor, der das Rad antrieb, abzustellen. Er fand den Knopf. Harry trat vor sie und versuchte, sie vom Rad loszumachen. Doch um ihre Arme und Fußgelenke waren breite Stahlbänder gelegt und mit einer Schraube angezogen. »Mein Gott, Mutter, wie konnte Vater nur so grausam sein?« fragte er sie leise. Immer noch stand ihm das Entsetzen im Gesicht geschrieben. Doch die alte Frau antwortete ihm nicht. Sie war bewußtlos. Harry sah sich nach einem Schraubenschlüssel um. Er fand ihn in einem Regal. Mit zittrigen Fingern machte er sich daran, die fest angezogenen Schrauben zu lösen. Er wußte nicht, wie lange er dazu gebraucht hatte. Er merkte auch nicht, wie ihm der Schweiß in Strömen über das Gesicht lief. Er arbeitete wie ein Verrückter. Dann hatte er es geschafft. Vorsichtig legte er die Frau auf den Boden. Das Blut um ihren Mund und im ganzen Gesicht und die blauen, blutunterlaufenen Stellen auf ihrem ganzen Körper ließen einen unbändigen Haß in ihm auf kommen – Haß auf seinen Vater, auf die Bestie, die seine Mutter so gequält hatte. Aber er beherrschte sich. Notdürftig wischte er ihr Gesicht ab und tätschelte immer wieder ihre Wangen. Sie schlug die Augen auf. Zuerst erkannte sie Ihn nicht. Sie wußte nicht, wo sie sich befand. Doch dann brach alles wie eine riesige Welle über sie herein. 57 �
»Oh, mein Junge, mein lieber Junge«, kam es leise und stockend über ihre aufgeschlagenen Lippen. »Ich bin so froh, daß du bei mir bist. Ich…« »Sprich jetzt nicht, Ma’«, murmelte Harry und strich über ihre Stirn. »Du bist zu schwach. Du mußt dich schonen. Vor allen Dingen mußt du hier raus.« »Ich muß reden, Junge. Du mußt jetzt endlich wissen, wo du lebst und wo du aufgewachsen bist. Hör zu, dein Vater ist ein Werwolf, das heißt, er war einer bis zu dem Tag, an dem Perry für ihn loszog. Damit war seine Aufgabe fast erfüllt. Er hatte einen Nachfolger. Aber du bist sein zweiter Sohn. Er will, daß auch du…« »Laß, Mutter«, unterbrach Harry sie, »Ich weiß Bescheid. Vater hat mich vorher unterrichtet.« »Das ist gut, das erspart uns Zeit. Ich habe dir nämlich noch mehr zu sagen. Vor zwei Wochen habe ich an einen Mann geschrieben, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, solche Bestien wie deinen Vater und seine Sippe auszurotten, sie der Menschheit vom Hals zu schaffen. Er wird kommen. Ich weiß es. Wenn er da ist, dann…« »Ich glaube, er ist schon da, Ma’«, unterbrach Harry seine Mutter aufs neue. »Vater hat mir erzählt, daß sie heute morgen einen Fremden überwältigt und in den Bunker geworfen haben. Sie beraten jetzt, was mit ihm geschehen soll.« »Nein!« »Was ist los?« Harry sah grauenhafte Angst in ihren Augen aufleuchten. Ihr Gesicht verzerrte sich. »Hol ihn raus, hörst du? Hol ihn raus!« schrie sie. »Aber warum denn?« Harry zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Warum hast du Angst um ihn? Sie beraten doch erst, was sie mit ihm tun sollen.« 58 �
»Ja, weißt du denn nicht, was in dem Bunker ist?« flüsterte die Frau entsetzt. »Nein.« »Es ist ein Massengrab. Alle unsere Toten und die, die die Werwölfe gerissen und getötet haben, liegen darin. Es müssen Hunderte sein. Aber das Schlimmste sind die Ratten. Das ganze Erdreich um den Bunker ist unterhöhlt. Dort leben Tausende von Ratten. Sie leben von den Toten, die man in den Bunker wirft. Wenn man ihn nicht herausholt, ist er verloren. Sie werden ihn zerfleischen. Hörst du? Die Ratten werden ihn fressen!« »Das wußte ich nicht.« Entsetzen breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Das wußte ich wirklich nicht.« »Geh, hohl ihn raus!« »Wo ist der Schlüssel zum Bunker? Er ist doch immer verschlossen.« »Der Schlüssel liegt bei deinem Vater in der oberen Schreibtischschublade, Mach schnell, Junge. Kümmere dich nicht um mich. Hilf ihm. Versuche, ihn zu retten, sofern hoch etwas zu retten ist. Er ist der einzige Mensch, der uns helfen kann.« »Und was wird aus dir?« »Darüber mach dir keine Gedanken. Cassidy ist wichtiger.« »Wie heißt er?« »Alan Cassidy heißt der Mann.« »Ich gehe«, sagte Harry grimmig. »Ich hole ihn heraus. Aber ich komme zurück, und dann…« Er sprach nicht mehr zu Ende. Entschlossen drehte er sich um und verließ den Zwinger. * Der kantige Stahl schnitt ihm in die Finger. Es schmerzte, und er � 59 �
hätte schreien können. Aber ein Blick nach unten ließ ihn den Schmerz vergessen. Die Ratten saßen dichtgedrängt unter ihm. Sie waren jetzt ganz ruhig. Nur noch vereinzeltes Piepsen war zu hören. Sie schienen ganz genau zu wissen, daß ihnen das Opfer nicht mehr entkommen konnte. Geduldig warteten sie. Alans Arme erlahmten. Er stöhnte. Der Schweiß lief ihm in Strömen über das Gesicht und brannte in seinen Augen. Einige Ratten verliefen sich. Sie zogen sich in ihre Behausung zurück. Andere sprangen an der Wand hoch und versuchten, nach seinen Füßen zu schnappen, wenn er sie hinunterhängen ließ. Blitzschnell mußte er seine Beine anziehen, um dem Biß zu entkommen. Aber von Minute zu Minute wurde es Alan Cassidy klarer, daß sein letztes Stündchen geschlagen hatte, wenn nicht bald die Rettung kam. In seinem ganzen abenteuerlichen Leben hatte er dem Tod schon oft Auge in Auge gegenübergestanden. Doch waren es Situationen, in denen er seine Härte, Schnelligkeit und Intelligenz einsetzen konnte. Immer hatte er es geschafft, mit dem Leben davonzukommen. Aber hier half ihm nichts. Kraft und Ausdauer könnten sein Leben vielleicht verändern – mehr nicht. Das Ende war absehbar. Er könnte jetzt hinunterspringen, sich mitten in die graue Masse aus fetten Leibern werfen und wild um sich schlagen. Aber was hätte er damit gewonnen? Vielleicht könnte er zwanzig von ihnen töten, vielleicht auch dreißig oder vierzig. Doch dann hätten sie ihn. Es waren zu viel. Alan Cassidy hatte den grauenhaftesten Tod vor Augen, den sich ein Mensch je vorstellen kann. Er würde bei lebendigem Leib aufgefressen werden. 60 �
Dann hörte er es. Das klirrende Geräusch klang wie Musik in seinen Ohren. Ein Schlüssel wurde draußen ins Schloß gesteckt, wurde umgedreht. Licht fiel in das Dunkel. Die Ratten wurden unruhig. »Mr. Cassidy!« hörte Alan jemanden rufen. »Mr. Cassidy, kommen Sie raus! Schnell!« Woher weiß der meinen Namen? schoß es Alan durch den Kopf. Ich habe ihn doch keinem gegenüber erwähnt. Hat er… Egal. Er konnte jedenfalls raus, konnte diesem schrecklichen Massengrab den Rücken kehren und den Ratten… Es war die Rettung. Aber noch hatte er einen grausamen Weg vor sich. Fast bis zur Tür reichte das graue, wogende Meer der Ratten. Er mußte über sie hinweg. Ein häßliches, wütendes Geschrei hob an. Die Tiere schienen zu merken, daß ihnen das schon sicher geglaubte Opfer zu entkommen drohte. Sie wandten sich zur Tür, drehten um und sahen wieder an der Wand hoch. Alan sammelte seine letzten Kräfte. Er konzentrierte sich. Ein letzter Kraftakt, ein kräftiger Spurt, dann würde er es hinter sich haben. Er ließ sich fallen. Er plumpste auf die weichen, fetten Körper und verlor fast das Gleichgewicht. Dann hatte er sich gefangen und rannte los. Jetzt war seine Schnelligkeit und Behendigkeit entscheidend. Aber da verspürte er einen stechenden Schmerz in der Wade. Eine der widerlichen Ratten hatte sich festgebissen. Er kümmerte sich nicht darum, rannte, weiter, stampfte mit dem Fuß hart auf, und das Biest fiel ab. Weiter, weiter! Noch zehn Meter, noch acht, noch sechs. Sein Fußgelenk knickte um. Er war von einer Ratte abgerutscht. Blitzschnell reagierte er und versuchte, sich auf den Bei61 �
nen zu halten. Aber er mußte dazu im Laufen innehalten. Sofort hingen zwei, drei Ratten an seinem linken Bein und bissen sich fest. Eine vierte sprang an ihm hoch, krallte sich an seinem Hosenbund fest und schlug die spitzen Zähne in seine Hüften. Alan schrie auf. Schweiß floß in Strömen über sein Gesicht. Zwei weitere Nager hängten sich an ihn. Eine fiel herunter. Aber sie hatte, was sie wollte. Ein Stück Fleisch aus Alans Oberschenkel hing zwischen ihren Zähnen. Cassidy schlug wie wild um sich. Er warf die quiekenden und kreischenden Biester von sich, zerrte sie von seinem Körper, kämpfte sich vorwärts. Dann spürte er eine Hand an seinem Rockkragen. Er wurde durch die Luft gewirbelt und landete unsanft im Gras. Hinter sich vernahm er, wie eine Tür zuschlug. Er erhob sich schwankend auf die Beine und taumelte auf seinen Retter zu. Dieser zertrat eben mit verzerrtem Gesicht eine Ratte, kickte sie weg. Dann trat Stille ein. Nur noch das Keuchen der beiden Männer war zu hören. »Vielen Dank, Mister«, stieß Allen Cassidy hervor. »Das war sehr knapp« »Schon gut, Mr. Cassidy«, keuchte Harry. »Sie sind doch Alan Cassidy?« »Ja! Woher…?« »Meine Mutter hat Ihnen geschrieben«, unterbrach ihn Harry schnell. »Sie müssen sie mitnehmen. Hören Sie, Cassidy. Sie müssen meine Mutter sofort von hier wegbringen. Sie ist in Lebensgefahr. Mein Vater will sie umbringen. Er…« Harry hielt inne. Er packte Alan am Arm und zog ihn einfach mit. Er wurde immer schneller und fing dann an zu laufen. Alan folgte ihm wortlos. 62 �
Sie betraten eines der roten Backsteinhäuser und hetzten in den Keller hinunter. Vor einer halboffenen Tür blieb Harry stehen. »Los«, sagte er. »Schlagen Sie mich nieder! Meine Mutter ist da drinnen. Nehmen Sie sie mit. Bringen Sie meine Mutter in Sicherheit. Bitte, Mr. Cassidy, retten Sie Ma’.« »Natürlich bringe ich Ihre Mutter weg«, erwiderte Alan. »Aber ich verstehe nicht, weshalb…« »So schlagen Sie mich doch nieder!« schrie Harry verzweifelt. »Sie haben nur noch wenig Zeit. Ich kann Ihnen nicht erklären, warum. Tun Sie, was ich Ihnen sage. Bitte, Mr. Cassidy, schlagen Sie zu. Ich halte ganz still, bitte…« Alan wußte nicht, was sich in dieser Familie für eine Tragödie abgespielt hatte. Er hatte auch seinen Vater kennengelernt und glaubte zu ahnen, was der Junge wollte. Da schlug er zu, nicht zu hart, aber doch so, daß der junge Mann die Augen verdrehte, in die Knie ging und reglos liegenblieb. Dann riß er die Tür auf. Die Frau kam ihm entgegen. Alans Mund entrang sich ein Stöhnen. Die Frau sah schrecklich aus. Er wunderte sich, daß sie überhaupt noch lebte. Sie sah ihn mit ihren blutunterlaufenen Augen flehend an. »Ich gehe nicht ohne meinen Sohn«, brachte sie mühsam heraus. »Er muß mit. Er darf nicht hierbleiben.« »Kommen Sie, Mrs. Faylen. Ihr Sohn weiß schon, was er will. Wir müssen schnell verschwinden.« »Aber er…« »Wir lassen ihn nicht im Stich«, unterbrach er ihren Protest. »Ich komme zurück und hole ihn bestimmt. Aber jetzt kommen Sie.« Er ließ sie gar nicht mehr zu Worte kommen. Er lud sie einfach auf seine Schultern und stieg die Treppe hinauf.
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*
Der Blutgeruch machte ihn schwindlig. Er hatte schon ein paarmal gegen eine Ohnmacht ankämpfen müssen. Aber Harry blieb hart und hielt durch. Er wußte nicht, wie lange er sich schon in der kleinen Kammer befand, in der sein toter Bruder lag. Seinem Gefühl nach müßte es schon dunkel werden. Bald würde es soweit sein. Harry hatte Angst. Was hatte er vor? Würde er Luzifer gegenüberstehen? Sicher. Vater hatte gesagt, daß er ihn rufen würde. Warum hatte er nichts gesagt, als er sah, daß Mutter weg war? Was geht in seinem Kopf vor? Er warf einen Blick auf den Toten. Er lag ruhig und still und bleich auf der Pritsche, aber nicht wie eine Leiche. Irgendwie hatte Harry das Gefühl, als sei er nicht richtig tot. Plötzlich hatte Harry das Gefühl, als würde er seinen Bruder bald wieder lebendig vor sich sehen. Sein Verstand sagte ihm, daß das nicht möglich sein konnte. Aber sein Gefühl… Er hörte einen Schlüssel rasseln. Harry richtete sich auf. Die Tür wurde geöffnet. Im Türrahmen stand Brian Faylen. Er sprach lange Zeit kein Wort, starrte seinen Sohn nur durchdringend und prüfend an. Dann fragte er: »Bist du bereit, Harry?« Harry antwortete ihm nicht. Der stechende Blick seines Vaters beunruhigte ihn. Er ahnte nichts Gutes. »Ich habe dich etwas gefragt!« herrschte ihn Brian Faylen an. »Sicher, Vater«, sagte Harry tonlos. »Ich bin bereit.« Wenn Mutter in Sicherheit ist, bin ich beruhigt. Soll er doch mit mir machen, was er will. Es ist mir egal. Letztlich wird das doch nach meinem Willen entschieden. Wenn ich mich innerlich dagegen wehre, kann er mir nichts anhaben. »Komm jetzt«, unterbrach der Alte seine Gedanken. »Sie war64 �
ten alle schon.« Harry erhob sich. Er ging hinter seinem Vater hinaus. Draußen standen zwei Kapuzenmänner. In ihren weinroten Kutten sahen sie aus wie vermummte Mönche. »Tragt ihn vorsichtig hinunter«, befahl Brian ihnen. Die beiden nickten nur zum Zeichen, daß sie ihn verstanden hatten. Dann gingen sie in den kleinen Raum, hoben Perry Faylen samt Pritsche hoch und trugen ihn die Treppe hinunter. Es war schon Nacht. Harry hatte es richtig vermutet. Aber es war keineswegs stockdunkel. Der Himmel war dunkel blau und sternenübersät. Der Mond war eine große gelbe Kugel und warf sein fahles Licht in das Tal. Harry sah einige weitere vermummte Gestalten vor dem Pentagramm stehen. Sie standen völlig bewegungslos da, hatten die Arme vor der Brust verschränkt und harrten der Dinge, die da kommen würden. Er ging langsam näher. Dann entdeckte er das Reisigbündel auf dem Boden. Um das Pentagramm herum waren drei verschiedenfarbige Kreise zu sehen. Der innere Kreis, der ganz dicht um das Monument gezogen war, bestand aus gelbem Pulver. Der zweite, etwas größere Ring war aus rotem Pulver. Der dritte, äußere Kreis war am deutlichsten zu sehen. Er war dick gestreut. Und das Pulver war grün. Das war neu für Harry. Bis jetzt war immer alles in der Kirche abgewickelt worden, diesmal hier draußen, direkt vor dem Pentagramm, das immer eine so seltsame Wirkung auf ihn ausgeübt hatte. Wenn es irgendwie ging, war er diesem teuflischen Ding ausgewichen. Jedesmal hatte es ihm einen kalten Schauer über den Rücken gejagt, wenn er ihm zu nahe kam – wie auch jetzt. Er zuckte schaudernd zusammen, wurde durchgeschüttelt, als sei es eisig kalt. 65 �
Doch er überwand sich, nahm sich zusammen und ging unaufhaltsam weiter. Vor dem grünen Kreis blieb er stehen. Zwei Kapuzenmänner lösten sich aus der Gruppe. Sie gingen auf Harry zu und zogen ihm Jacke und Hemd aus. Harry wirkte ruhig und gelöst und zu allem bereit. Doch hinter seiner Stirn sah es anders aus. Er versuchte, seine Gedanken in andere Bahnen zu lenken, sich von der unheimlichen Statue loszureißen. Doch was ihm auch in den Sinn kam, es half alles nichts. Erst als er an Melanie dachte, an das Mädchen aus der Stadt, das er über alles liebte, gelang es ihm, sich auch innerlich zu beruhigen. Er wußte, daß auch Melanie ihn liebte. Und das war gut. Ein leichtes Lächeln legte sich um seine Lippen. Sie liebte ihn. Die Liebe war etwas, gegen das selbst der Satan machtlos war. * Sie lag entspannt und völlig angezogen auf ihrem Bett und starrte nachdenklich gegen die gelb getünchte Decke. Zwei steile Falten hatten sich über ihrer Nasenwurzel gebildet. Warum ist er heute nicht gekommen? Nicht mal angerufen hat er. Das ist doch sonst nicht seine Art. Er war auch nicht im Büro, ist einfach weggeblieben. Warum macht er das? Erst hatte sie Angst, daß etwas passiert sein könnte. Sie rief bei der Polizei an, dann im Krankenhaus. Aber nirgends war ein Unfall gemeldet. Dann schalt sie sich eine Närrin. Harry würde sicher krank sein. Vielleicht war auch zu Hause etwas passiert. Jemand klopfte an ihre Tür. Bevor Melanie etwas sagen konnte, wurde sie geöffnet, und die Mutter betrat das Zimmer. »Julia ist da«, sagte sie. »Sie will dich mit zum Tanzen neh66 �
men.« »Julia.« Melanie zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Ich war doch nicht mit ihr verabredet.« »Sie sagt, die tolle Band, die du so gern magst, spielt in der Hatsch-Bar. Das würdest du dir sicher nicht entgehen lassen, meinte sie.« Melanie sprang vom Bett auf. »Sag ihr, ich komme gleich«, erwiderte sie erfreut. »Ich will mich nur noch schnell umziehen.« Aber ihre Mutter zögerte. Sie war eine kleine, gutmütig aussehende Frau mit silbergrauen Haaren. »Ich weiß nicht«, meinte sie gedehnt. »Ob es wohl richtig ist, wenn du zum Tanzen gehst? Harry wird das sicher nicht gern sehen. Du weißt doch, wie eifersüchtig er ist.« »Ach, Mutter«, entgegnete Melanie lächelnd. »Was du nur wieder denkst! Ich werde ihm schon nicht untreu. Du weißt doch, daß ich ihn liebe. Aber eine kleine Strafe hat er verdient. Schließlich hat er mich heute versetzt.« »Du weißt nicht, welche Gründe ihn bewogen haben, heute nicht zu kommen. Er könnte krank sein, oder seine Mutter ist krank oder sonstwas.« »Ich werde nicht lange bleiben.« Melanie schob ihre Mutter sanft zur Tür hinaus. »Es ist doch meine Lieblingsband. Außerdem tanze ich doch so gern. Sage Julia, daß ich gleich komme, ja?« Ihre Mutter ging hinaus, zuckte mit den Schultern und murmelte etwas Unverständliches vor sich hin. Einige Minuten später waren Melanie und ihre Freundin Julia auf dem Weg in die Bar. Vor dem Lokal wartete Julias Freund Humphry. Er hatte noch einen Bekannten bei sich. Er hieß Sam und sah blendend aus. Dieser hakte sich einfach bei Melanie ein und führte sie in die Bar. 67 �
Es wurde ein herrlicher Abend. Sam war ein blendender Unterhalter, und Melanie amüsierte sich großartig. Sie vergaß Harry, jedenfalls für diesen Abend, Und sie verliebte sich sogar ein bißchen in Sam. * Seine Glieder wurden langsam steif und begannen zu schmerzen. Aber er konnte sich nicht erheben, konnte nicht umhergehen, um die Starrheit abzuschütteln. Das Versteck, das er gewählt hatte, war sehr eng. Aber es war in nächster Nähe vom Pentagramm. Er wollte alles mit ansehen. Von seinem jetzigen Standort aus konnte er es auch. Alan Cassidy hatte sich viel vorgenommen. Er wollte diesen Teufelsanbetern ein Ende bereiten. Was er im Bunker gesehen hatte, war so furchtbar gewesen, daß er die übrige Menschheit vor einem solchen Schicksal bewahren wollte. Daß noch mehr Menschen daran glauben müßten, wenn er jetzt nicht eingriff, war ihm völlig klar. Was ihm Mrs. Faylen erzählt hatte, reichte aus, um seinen Tatendrang zu schüren. Es war das Schlimmste, was er je gehört und gesehen hatte. Dieser Brian Faylen war kein Mensch, sondern eine Bestie der leibhaftige Satan. Kein Wunder, wenn er einen Pakt mit dem Herrscher der unteren Regionen hatte. Aber Guy Faylen, Brians Vetter, sei noch schlimmer, hatte Sophie Faylen gesagt. Er sei die Ausgeburt der Hölle. In ihm hätte sich alles Böse und alle Schlechtigkeit dieser Welt vereint. Und er hätte schon fast alle damit angesteckt. Die meisten der Sippe stünden hinter ihm und nicht mehr hinter Brian Faylen. Es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis Guy Faylen für immer das Ruder an sich reißen würde. Was dann auf die Menschheit 68 �
zukäme, sei nicht auszudenken. Doch dazu wird es nicht mehr kommen, dachte Alan Cassidy grimmig. Vorher werde ich dazwischenfahren. Er sah jetzt gespannt auf die Szenerie. Vor dem Pentagramm standen die ihm schon bekannten Kapuzenmänner. Sie bewegten sich kaum, warteten darauf, daß sie gebraucht wurden. Doch vorläufig hatte es nicht den Anschein. Brian Faylen schien alles allein zu machen. Ebenso bewegungslos und stumm stand der junge Mann da, der Alan das Leben gerettet hatte. Alan hatte inzwischen erfahren, daß er Harry hieß und nicht zu den anderen gehörte, familiär natürlich schon – er war ja der Sohn des Alten. Aber er war nicht zum Werwolf verdammt wie die anderen. Zwei Kapuzenmänner trugen eine Bahre heran. Ein junger Mann lag darauf. Alan kannte ihn. Es war Perry Faylen, den er in der Schlucht tot aufgefunden hatte. Die Vermummten setzten die Bahre neben Harry nieder. Sie stellten sich dann zu den anderen. Zwei andere traten vor. Es waren die gleichen, die vorher Harry die Kutte übergestreift hatten. Dasselbe taten sie jetzt mit dem Toten. Perry sah deutlich die blutverkrusteten Wunden, die vielen Messereinstiche. Er war tot, darüber bestand kein Zweifel. Aber was sollte das? Wozu die Kostümierung? War es vielleicht das Totenhemd der Faylens? Das konnte doch nicht sein. Alle hatten sie diese dunkelroten, seltsam weiten Kutten an. Es schien zur Beschwörung zu gehören. Weshalb aber bei einem Toten? Hat er am Ende vor… Alan kam nicht mehr dazu, seine Gedanken zu Ende zu führen. Brian Faylen war mit den letzten Vorbereitungen fertig. Er richtete sich steil auf und hob kurz die Arme. Dann bückte er sich und nahm das Reisigbündel auf. Er zün69 �
dete es an und ließ es kurz anbrennen. Danach entzündete er die Pulverkreise, von innen nach außen. Zuckende, knisternde Stichflammen schossen in den Himmel, erst gelb, dann rot, und am Schluß der grüne Kreis. Über dem Platz lag ein seltsam gefärbtes Licht. Es schien aus allen Farben zu bestehen. Ein merkwürdiger Geruch erfüllte die Luft und stieg Alan in die Nase. Im selben Augenblick glaubte er, daß der Mond dunkler geworden wäre. Brian Faylen hob die Arme, die Handflächen gegen das Pentagramm gerichtet. Sein Blick lag starr auf dem Teufelssattel. »Lord Satan, höre mein Flehen! Du großer Meister des Bösen, der Arglist und der Spitzfindigkeit! Du Herr über Schrecken und des Sadismus! Herrscher der Niederen Regionen! Höre mich, du großer Meister und Herrscher über den siebenten Teil der Erde und den siebenten Teil der Menschheit! Schicke mir deinen Diener. O Herr, der mir helfen kann!« Seine Stimme war überaus laut. Fast wie Donnergrollen rollte sie durch das kleine Tal. Er verstummte für einen Augenblick. Seine Hände und Arme bogen sich in seltsamen Bewegungen durch die Luft. Es schienen Zeichen zu sein, die er in den freien Raum malte. Alan starrte wie gebannt auf den Alten. Eigentlich wollte er eingreifen, wenn sich alle auf Brian Faylen konzentrierten. Aber seine Neugier war größer. Er mußte einfach wissen, ob es Brian Faylen gelänge, den Diener des Satans zu materialisieren. Der Mund des Beschwörers öffnet sich wieder. Er sang. Eine unheimliche, obszön klingende Melodie drang über seine Lippen. Es waren Töne, wie sie Alan noch nie in seinem Leben gehört hatte. Auch die Worte, die Brian ausstieß, klangen fremd und fast unartikuliert. Sie glichen keiner irdischen Sprache. Brians Gesang wurde immer lauter und war bald nur noch ein 70 �
Dröhnen in den Ohren der Anwesenden, die alle starr zum Teufelssattel blickten. Alan war keiner Bewegung fähig. Das Geschehen hatte ihn restlos in seinen Bann gezogen. Ihm war, als sei er hypnotisiert. Ich muß etwas tun, signalisierte sein Unterbewußtsein. Ich wollte doch Harry rausholen und dann die ganze Teufelsbande ausräuchern. Ich muß es tun! Ich muß! Ich muß! Doch so sehr er sich auch anstrengte, er schaffte es nicht. Er konnte sich nicht einmal rühren und wurde zum Nichtstun verurteilt. Dabei fand er es gar nicht so schlimm. Im Gegenteil, er fand es schön, hier festzusitzen und unentwegt auf Brian Faylen und den Teufelssattel auf dem Pentagramm zu starren. Ein unbeschreiblicher wilder Schrei ertönte plötzlich über dem Teufelssattel. Es begann zu flimmern und dann zu glühen. Eine Kontur über dem Sattel wurde sichtbar, die in lauter kleine Flämmchen gehüllt war. Der Schrei wiederholte sich lauter, wilder und voller Haß und Wut. Zwischen den kleinen Flämmchen bildete sich jetzt ein Dunstschimmer wie leichter, durchsichtiger Nebel. Die Kontur nahm die Form eines buckligen Körpers an. Dann fiel plötzlich eisige Kälte über den Platz. Ein heftiger Schauer schüttelte Alan. Jetzt war er erst recht nicht mehr fähig, sich zu bewegen. Ihm war, als sei er ein einziger Eisklotz. Das Dunstgebilde auf dem Teufelssattel materialisierte sich langsam zu einem furchterregenden Wesen. Noch war alles etwas unklar. Noch konnte man nicht genau erkennen, was es war. Wenige Sekunden später sah man es. Der Kopf war der eines Menschen. Aber das Gesicht war häßlich und entstellt und hätte selbst ein wildes Tier in Angst und Schrecken versetzt. Über sei71 �
ner Stirn traten zwei kleine Höcker hervor, die wie abgebrochene Hörner wirkten. Sein weitgeöffneter Mund, aus dem ein fürchterliches, höhnisches Lachen drang, sah aus wie die offene Tür eines Schmelzofens. Doch seinem aufgerissenen Maul entströmte keine Hitze, sondern beißende, stechende Kälte. Der Körper war von unten bis oben mit kleinen Schuppen bedeckt, ebenfalls sein riesiger Buckel, über den sich ein glühender roter Kamm zog, der in seinem verlängerten Rückgrat als Schwanz endete. Seine Arme waren so lang wie die eines Gorillas. Die Hände waren Pranken mit langen, spitzen Krallen. Seine kurzen, gedrungenen Beine endeten in Tatzen. Alan Cassidy glaubte zu träumen. Das kann doch nicht wahr sein. Das ist doch einfach unmöglich. So etwas kann und darf es doch nicht geben. Sein Mund stand offen, und in seine Augen trat ungläubiges Staunen. Vor ihm offenbarte sich eine Welt, wie er sie sich in seinen schlimmsten Träumen nicht hätte vorstellen können. Ein Mensch hatte es fertiggebracht, den Diener des Satans zu materialisieren, ihn auf diese Welt zu rufen. Im ersten Moment würde ihm die Tragweite dieses Geschehens gar nicht richtig bewußt. Er sah nur diese teuflische Gestalt, die höhnisch lachend im Teufelssattel saß. Brian Faylen trat unerschrocken einen Schritt nach vorn. »Ich begrüße dich, oh, Friscopal, und danke deinem Herrn für dein Übersenden!« Der Dämon erhob sich in die Lüfte. Langsam, immer höher stieg er, bis er über dem Sattel schwebte. Dann bewegte er sich auf den Boden zu. Wo seine Füße die Erde berührten, begann sie zu zittern und zu dröhnen wie bei einem Erdbeben. Dicht vor Brian Faylen blieb er stehen und machte eine höhnische Verbeugung vor ihm. »Was willst du?« dröhnte seine Stimme durch das Tal, als 72 �
käme sie direkt aus der Hölle. »Sieh, oh, Friscopal«, begann Brian laut. Es klang theatralisch. Aber das war es nicht. Es war alles bitterer, schauriger Ernst. Er deutete mit beiden Händen auf seinen toten Sohn. »Ein Ungläubiger hat meinen Sohn getötet. Ich möchte, daß du ihn wieder ins Leben rufst, Noch heute.« Das laute, schaurige Gelächter, das der Dämon daraufhin ausstieß, ließ die Luft erzittern und klirren, als spränge eine dünne Eisschicht in lauter kleine Teile. Urplötzlich verstummte das Lachen. Sein schon überaus häßliches Gesicht verzerrte sich noch mehr. Zorn loderte in seinen rotglühenden Augen. »Du unfähiges Häufchen Dreck!« brüllte er, und Brian Faylen zuckte zusammen wie unter einem Peitschenhieb. »Was fällt dir ein, mich deshalb zu rufen! Hättest du das Buch, das dir Derek Faylen hinterlassen hat, genauer gelesen, dann wüßtest du, daß dein Sohn in wenigen Tagen wieder so lebendig ist wie vorher. Solange einer von euch die Fähigkeit hat, sich zum Diener Luzifers zu verwandeln, wird keiner sterben. Er ist kein Sterblicher wie ein anderer. Er ist ein Diener Luzifers. Erst wenn er dein Stadium erreicht und für Nachkommen gesorgt hat, wird er zum Sterblichen. Hast du das jetzt kapiert, du verdammter Erdenwurm?« Brian Faylen war bei seinem Gebrüll, das in den Bergen nachhallte, immer kleiner geworden. Er duckte sich tiefer und tiefer, als wolle er in die Erde kriechen. Der Dämon hatte teuflische Freude daran, Faylen immer kleiner werden zu sehen. Sein erneut ausbrechendes Lachen brach sich an den Felswänden des kleinen Tales und hallte als furchterregender Donner wider. Dann straffte sich Brians Körper. Sein Kopf ruckte hoch. »Ich wußte es, oh, Friscopal«, erwiderte er. Aber seine Stimme war nicht mehr so fest. »Ich wußte es wirklich. Doch ich möchte, 73 �
oh, Friscopal, das du ihn sofort zurückholst. Er soll sich an dem Ungläubigen rächen. Nur er weiß, wer es war.« »Ist das wirklich alles, was du willst?« fragte der Dämon, und das Feuer der Hölle brannte in seinen Augen. »Nein, oh, Friscopal!« Brians Stimme wurde jetzt wieder lauter. »Hier steht mein zweiter Sohn. Er ist ein Unwürdiger. Er hat sich bisher seiner Aufgabe widersetzt, unbewußt. Aber er tat es. Ich möchte, daß du ihn in die richtigen Bahnen lenkst. Er ist vom Weg abgekommen. Du sollst ihm seinen Weg zeigen, den er zu gehen hat. Er ist bereit dazu.« »Du hast lange gewartet mit deiner Entscheidung,« Der Dämon sprach in gemildertem Ton. Aber das hörte sich nur so an. In Wirklichkeit sprühte er vor Zorn. Kleine, glühende Funken stoben aus seinem Maul. Aber sie verbreiteten keine Hitze, sondern eisige Kälte. Wenn die Funken über seine Lippen kamen, wurden sie zu kleinen Eisbrocken. Sie schlugen in Brians Gesicht, der bei jedem Aufschlag zusammenzuckte. »Ich…« versuchte sich Faylen zu verteidigen. Doch der Dämon fuhr ihm hart über den Mund. »Sei still«, fauchte er. »Dafür gibt es keine Entschuldigung. Luzifer weiß alles. Er hat darauf gewartet, daß du etwas unternimmst. Aber du bist unfähig. Du hast es nicht fertiggebracht, deine Hauptaufgabe zu erfüllen. Du hast versagt. Luzifer läßt es noch einmal durchgehen. Er gibt dir noch einmal eine Chance. Wenn du jetzt aber noch einen einzigen Fehler machst, wird er dich holen, und dein Vetter Guy wird dein Nachfolger.« Brian Faylen stand mit gesenktem Kopf vor dem Dämon. Es dauerte lange, bis er sich wieder gefaßt hatte. In der Zwischenzeit herrschte eisige Stille. Nur die fürchterliche Kälte, die über dem Platz lag, knisterte laut. * 74 �
Alan Cassidy hatte alles mit ungläubigem Staunen verfolgt. Er sah alles, er hörte alles. Aber er konnte nichts tun. Er war gekommen, um Harry herauszuholen. Und jetzt… Er war ein Gefangener, der Gefangene des Satans, und dessen unheimlicher, lähmender Macht. Alan versuchte, Kräfte zu mobilisieren, um seinen Willen zu stärken. Doch er war zu schwach. Er war fähig, das Geschehen vor sich aufzunehmen. Aber er konnte es nicht verarbeiten. »Richte deinem Herrn aus, daß ich ihm für seine Nachsicht sehr dankbar bin. Ich weiß, was es bedeutet, wenn er mir die letzte Chance gibt. Sag ihm, oh, Friscopal, daß ich diese Chance zu nutzen weiß und mir sicher kein Fehler mehr unterlaufen wird.« »Ich hoffe es für dich!« scholl es aus dem feurigen Rachen des Dämons, und ein höhnisches Grinsen zog über seine häßliche Fratze. Das schuppige Monster lachte noch einmal schallend und donnernd. Dann drehte es sich um und stellte sich neben die Bahre. Durch seinen gedrungenen Körper ging ein leichter Ruck. Seine Haltung änderte sich. Er wurde steif. Sein Gesicht wurde durch die angespannte Haltung noch häßlicher. Aus seinen glühenden Augen schossen feurige Blitze. Seine krallenartigen Hände krümmten sich und bewegten sich langsam auf den Toten zu. »Lebe!« fauchte er. »Steh auf, du Erdenwurm! Lebe und tue weiter deine Pflicht, bis Luzifer es für richtig hält, dich von deiner Erde abzurufen!« Seine Arme sanken schlaff nach unten. Dann geschah es. Von einer Sekunde zur anderen schlossen sich die unzähligen Wunden auf Perrys Körper. Das Blut verschwand. In sein blei75 �
ches Gesicht trat wieder Farbe. Sein Körper wurde rein und glatt, und nichts deutete mehr auf die großen, blutigen Löcher in seinem Körper, die ihm irgend jemand zugefügt hatte. Noch einige Sekunden dauerte die Stille. Dann bewegte sich Perry. Er schlug die Augen auf, sah sich verwundert um und wußte nicht, was die Leute um ihn herum wollten. Dann sah er den Dämon. Angst trat in seine Augen. Er zuckte zusammen und schien sich zu fürchten. Doch nach und nach glättete sich sein Gesicht wieder. Er lächelte. Mit einem Ruck stand er auf und trat nackt, wie er war, vor den gräßlichen Dämon. »Ich war tot?« Er sah sein Gegenüber fragend an. »Ein Werwolf ist nie richtig tot«, bekam er zur Antwort. »Solange du im Dienste Luzifers stehst, kannst du hundertmal umgebracht werden. Du wirst immer wieder auferstehen, manchmal schon nach wenigen Stunden, manchmal erst nach Tagen. Das kommt ganz auf die Verwundungen an.« Perry fiel auf die Knie, hob beide Hände an und streckte ihm die Handflächen entgegen. »Ich danke dir, oh, Friscopal. Ich werde immer bemüht sein, deinem Herrn ein guter Diener zu sein.« Der Dämon lachte auf. Es klang hämisch und höhnisch zugleich. Doch aus einem Unterton hörte man deutlich heraus, daß es ihm gefiel. Es tat ihm gut, diesen jungen Menschen vor sich auf den Knien zu sehen. Harry hatte die ganze Zeit über reglos dagestanden. Die Szene hatte ihn völlig in den Bann gezogen. Aber es war nicht nur das Geschehen, das ihn reglos verharren ließ. Ihm war, als spanne sich ein enger, unsichtbarer Ring um seinen Körper. Seine Füße schienen auf dem Boden festgenagelt zu sein. Als sich der Dämon jedoch an ihn wandte, war er plötzlich frei 76 �
von der Umklammerung. Er konnte sich bewegen, sah alles noch deutlicher als zuvor. Das höhnische Gelächter schlug ihm ins Gesicht, als hätte er eine Ohrfeige bekommen. Er zuckte zusammen. Das Grauen, das er vorher nur im Unterbewußtsein gespürt hatte, überfiel ihn jetzt wie eine riesige Lawine. Sie schien ihn zu überrollen, und er glaubte, tot umfallen zu müssen. Doch er fiel nicht um. Er stand vor dem Dämon und wartete wie ein Opferkalb darauf, geschlachtet zu werden. Diese schuppige Bestie hatte seinen Bruder ins Leben zurückgerufen. Harry hatte versprochen, daß er dann alles tun würde. Was war jetzt? War er jetzt immer noch dazu bereit? Er hatte gesehen, wie sein Bruder vor dem Dämon auf die Knie gefallen war. Aus Dankbarkeit? Natürlich nur aus Dankbarkeit oder auch aus Ehrfurcht? Harry begann zu zweifeln. Die Liebe zu seinem Bruder war plötzlich wie weggewischt. Ehrfurcht vor dem Satan, vor diesem furchtbaren Ungeheuer! Wie tief waren sie denn alle gesunken? Warum bin ich anders geworden? Ist es, weil ich zuviel von Mutter habe? Oder ist es Melanie? Es kann nur wegen Melanie sein. Ich liebe sie, und sie liebt mich. Liebe ist eine Gottesgabe. Wo sie ist, hat der Satan seine Macht verloren. Ich muß nur immer fest an sie denken. Aber es hilft nicht, wenn sie nicht… O Gott, sie wird doch an mich denken. Sie wird doch an mich glauben, auch wenn ich heute nicht zu ihr gekommen bin. Ich konnte doch nicht weg. Die Bestie stand jetzt dicht vor ihm. Sein häßliches Gesicht veränderte sich, wurde zur Visage, in der nur noch das Böse zu sehen war, gepaart mit Arglist und Tücke. In seinen Augen loderte das Feuer der Hölle. »Es ist soweit, du Sohn einer räudigen Hündin!« spuckte er 77 �
Harry ins Gesicht. »Du wirst fortan so leben wie dein Bruder. Du wirst wie er deinem Herrn dienen und deine Aufgabe auf dieser Erde erfüllen.« Seine Krallen stachen auf Harry zu. Blitze zuckten aus seinen feurigen Augen. Harry erstarrte für einen Moment zu einem Eisklotz. Nur über seinem linken Schulterblatt brannte ein kreisrunder Fleck wie Feuer, wurde heißer und heißer. Er hatte das Gefühl, als müsse sich dort irgend etwas durch seinen Körper brennen. Dann war es vorbei. Der Dämon wandte sich von ihm ab, verfiel wieder in sein donnerndes Lachen. Er bewegte sich schneller, tanzte auf die Gruppe der Vermummten zu und verteilte Fußtritte. Wo er einen Körper traf, begann es zu zischen. Unter seinen Sprüngen bebte die Erde. Die Menschen um ihn herum wurden durchgeschüttelt, fielen um. Die Häuser zitterten bedrohlich und drohten einzustürzen. Der Tanz des Dämons wurde immer verrückter. Die kleinen Flämmchen um seinen Körper erhellten sich, wurden größer und vereinigten sich zu einem einzigen Flammenmeer. Seine Körperformen innerhalb des Flammenkreises festigten sich. Er wuchs sogar noch. Der Bann war von den Anwesenden genommen. Sie spritzten ängstlich auseinander. Einige, die von den flammenden Tatzen getroffen wurden, schrien auf. Brian Faylen trat ihm entgegen. Unsicherheit war in seinen Augen zu lesen. Kleine Schweißperlen standen auf seiner Stirn, obwohl immer noch eisige Kälte über dem Tal lag. Er sagte heiser: »Kehre zurück, oh, Friscopal! Bei der Macht der Winde, des Blitzes, des Donners und des Feuers, kehre zurück in die Hölle. Begib dich wieder zu deinem Meister. Geh, oh, Friscopal, geh!« Der Dämon schien etwas zusammenzuschrumpfen. Er wurde 78 �
kleiner. Die Kälte, die er ausstrahlte, klang etwas ab. Die Flämmchen gingen zurück. Brian beging nun den Fehler, nicht sofort nachzusetzen. Er glaubte, genug getan zu haben, um das Scheusal wieder in die Hölle zurückzubeordern. Aber er hatte sich getäuscht. Als aus Brians Mund nichts mehr zu hören war, formte sich der Dämon wieder zu seiner vorhergehenden Figur. Sein Brüllen wurde lauter. Er erwischte einen Kapuzenmann am Kragen und schleuderte ihn hoch in die Luft, als sei er ein Ball. Dann fing er ihn wieder auf. Er ließ ihn zu Boden gleiten, trat ihm aber nochmals ordentlich in den Hintern, bevor er ihn weglaufen ließ. Der Vermummte brüllte wie am Spieß. Am rückwärtigen Teil seiner Kutte befand sich ein riesiges Loch. Brian Faylen erkannte seinen Fehler. Er sagte sein Sprüchlein von neuem auf und fügte laut hinzu: »Oh, mächtiger Satan, du Herrscher über alles Böse! Nimm zurück, was du mir gesandt hast.« Der Dämon hielt inne. Er erstarrte. Das Feuer um seinen Körper ging zurück. »Geh, Friscopal, geh! Fliege zurück zu deinem Herrn. Du hast getan, was er dir aufgetragen hat. Geh jetzt. Verschwinde! Dein Herr erwartet dich, damit du ihm berichten kannst.« Das häßliche, furchterregende Wesen wurde noch kleiner. Sein Lachen erstarb. Was jetzt über seine Lippen kam, war ein wütendes Heulen. Brian ging auf den Dämon zu. Er hob die Hände und spreizte die Finger. »Geh zurück, Friscopal, geh zurück!« Das Monster wurde noch kleiner. Es schrumpfte zusammen, hob sich vom Boden ab und schwebte zum Teufelssattel empor. Wie ein mickriger, böser Zwerg saß er auf der Statue. Das 79 �
Lachen war ihm vergangen. Nur noch Haß stand in seinem Gesicht. »Verschwinde!« schrie Brian. Mit einem unbeschreiblich wütenden Schrei verschwand der Dämon im Nichts. Brian Faylen schwankte. Er war völlig ausgepumpt. Der Dämon war weg. Aber es hatte ihn eine Menge Substanz gekostet. Er mußte sich an seinen Söhnen fest halten, um nicht umzufallen. Dann schritten sie langsam auf ihr Haus zu. Die Männer und Frauen in den Kutten stoben ebenfalls auseinander und verliefen sich. Sie strebten ihren Betten zu. * Ein seltsam flaues Gefühl ergriff ihn. In seinem Inneren tat sich etwas. In seinen Eingeweiden gluckste und rumorte es. Kommt die Ohnmacht diesmal erst nachher? Ich habe die ganzen schrecklichen Minuten überstanden, ohne umzufallen. Rächt sich das jetzt? Wird es nun noch schlimmer als sonst? Oder werde… Nein, um Gottes willen, nein! Ich will nicht. Ich kann nicht in dem Bewußtsein leben, einen Menschen oder auch mehrere auf dem Gewissen zu haben. Ich kann nicht leben mit der Gewißheit, nachts als Bestie durch die Berge zu streifen, auf ein Opfer wartend. Nein, lieber sterbe ich. Das flaue Gefühl in seinem Magen, in seinen Eingeweiden, in seinem ganzen Inneren machte leichten Schmerzen Platz. Ihm wurde heiß. Er begann zu schwitzen, immer mehr. Im Nu troff seine Kleidung vor Nässe. Dann sagte ihm irgendeine Stimme, er solle sich ausziehen, solle sich die Kleider vom Leibe reißen. Sein Körper fühlte sich 80 �
jetzt wie ein glühender Ofen an. Ohne daß er es merkte, knöpften seine Hände das Hemd auf. Nein! schrie es in ihm, nein! Er sperrte sich, versuchte die aufkommende Verwandlung zu verhindern. Aber er war zu schwach. Melanie! Oh, mein Gott, Melanie, hilf mir doch! Doch Melanie war weit weg und im Augenblick auch anderweitig beschäftigt. Sie dachte im Moment nicht an ihn und an ihre Liebe. Sie war sogar im Begriff, sich in den gutaussehenden Sam zu verlieben. Ein unheimliches Zerren, Jucken und Ziehen erfaßte Harrys Glieder. Seine Füße bildeten sich zurück. Sie wurden steif und hart und nahmen die Form von Hufen an. Die Hitze in seinem Körper steigerte sich ins Unerträgliche. Er konnte einfach nicht anders, als sich die Kleider vom Leib zu fetzen. Auf dem Boden bildete sich eine kleine Wasserlache. Dann hörte er das leise Klopfen an seinem Fenster. Er erschrak und blieb einige Sekunden lang unbeweglich stehen. Wieder das Klopfen, diesmal, fester. Eine unerklärliche Angst beschlich ihn. Die schon fest geformten Hufe wurden weich. Die Hitze in seinem Körper ließ nach und wich großer Kälte. Die Angst wuchs. Er wußte nicht warum. Sein Verstand sagte ihm, daß er ans Fenster gehen sollte, um zu sehen, wer draußen war. Aber sein Körper gehorchte den Befehlen seines Gehirnes nicht. Er kam nicht vom Fleck. Harry glaubte, in zwei Personen gespalten zu sein. Die eine Hälfte wollte sein wie immer – nett und zuvorkommend, ohne Mißtrauen. Die andere Hälfte war böse und zwielichtig. Und diese böse Hälfte war der stärkere Teil. In ihr steckte auch die Angst, die ihn überfiel, als es am Fenster klopfte. Es klopfte ein drittes Mal, noch fester, noch lauter. Dann ein 81 �
Zerren und Rütteln! Jemand drückte am Fensterrahmen. Die Scheiben klirrten leise. Jetzt hörte er eine Stimme. »Harry! Machen Sie auf, Harry! Ich bin es, Alan Cassidy!« Harry? Wer ist Harry? Wer ist Alan Cassidy? Ich kenne keinen Alan Cassidy. Er soll verschwinden. Er stört. Was hat er an fremden Fenstern zu suchen? Und Harry? War er mit Harry gemeint? Verdammt, was ist los? Natürlich bin ich dieser Harry. Ich heiße doch Harry Faylen. Wie konnte ich meinen Namen vergessen? Oh, was ist das nur? Er sah an sich herunter. Seine Füße waren wieder normal. Auch das Zerren an seinen Gliedern hatte nachgelassen. Dafür ergriff ihn jetzt eine unheimliche Schwäche. Er glaubte, jeden Augenblick zu Boden zu stürzen. Der Mann am Fenster ließ nicht locker. Er drückte immer stärker gegen den Rahmen. Es knackte laut. Einer der beiden Riegel war gebrochen. Es war jetzt nur noch eine Frage der Zeit, bis auch der zweite aus seiner Halterung reißen würde. Harry versuchte, ihm zuzurufen. Aber es schien, als wären seine Stimmbänder völlig gelähmt. Er brachte keinen Ton heraus. Er bewegte nur stumm und schwach die Lippen. Harry Faylen kämpfte gegen die Schwäche an. Der Schweiß lief ihm in Strömen über das Gesicht. Dann schlugen die beiden Fensterflügel nach innen. Alans Kopf erschien. Er sah Harry an. »Kommen Sie, Harry! Wir müssen hier weg. Ihre Mutter erwartet Sie.« Seine Stimme klang wie aus weiter Ferne an Harrys Ohren. Er 82 �
hörte die Worte, begriff aber nicht ihren Sinn. Vor seinen Augen flimmerte es. Er sah alles nur noch verschwommen vor sich. Das ganze Zimmer drehte sich um ihn. Dann spürte er zwei hilfreiche Arme. Aber wo sie auch hingriffen, Verursachten sie ihm Schmerzen. Doch er konnte nicht schreien. Nur sein Gesicht verzerrte sich. Alan Cassidy achtete nicht darauf. Er hatte Sophie Faylen versprochen, ihren Sohn herauszuholen. Er wollte sein Versprechen halten. Er machte sich Vorwürfe, daß er nicht schon vorher eingegriffen hatte. Doch die eisige Lähmung, die sich seiner bemächtigt hatte, hinderte ihn daran. Es war alles so unheimlich gewesen. Noch nie hatte er etwas so Furchtbares erlebt, obwohl er sich gerade mit solchen Dingen beschäftigt hatte. Alan legte Harrys Oberkörper über die Fensterbrüstung. Der junge Mann war schwer, und Alan hatte seine liebe Mühe mit ihm. Die frische Luft tat Harry Faylen gut. Er erholte sich zusehends. Alan sprang aus dem Fenster und half ihm hinaus. Draußen konnte Harry schon wieder auf seinen eigenen Beinen stehen. Er wußte auch wieder, wer Alan Cassidy war, und er dachte an seine Mutter. »Wo ist sie?« stieß er über die Lippen. »Wo ist meine Mutter?« »Kommen Sie, wir gehen zu ihr.« »Wie geht es ihr?« wollte Harry wissen. Alan schwieg. Er schritt aus und zog Harry mit. Dieser verhielt für einen Augenblick und sah zum Hause zurück. Das Fenster neben dem seinen stand auch offen. Perry! Sein Bruder! Alan sah seinen Blick, sah das Entsetzen in seinem Gesicht. 83 �
Und er ahnte, was es war. Der Werwolf war unterwegs, um sich zu rächen, wie es der Dämon gewollt hatte. * Mit Riesensätzen jagte die Bestie über die freie Fläche. Ihr untrüglicher Instinkt führte sie geradewegs zu dem Haus der Adams. Der Werwolf wollte morden, wollte den Mann, der ihn umgebracht hatte, zerfleischen, ihn in Stücke reißen und dann den Ratten zum Fraß vorwerfen. Seine ganze Familie würde er ausrotten. Alle würden sie seine Zähne zu spüren bekommen. Von weitem sah er schon das Dorf. Er wurde langsamer. Sein hechelnder Atem ging hart und stoßweise. Je näher er dem Dorf kam, desto langsamer wurde er. Sein Instinkt sagte ihm, daß er aufpassen müsse, langsam an sein Opfer heranschleichen müsse, wie dies ein Wolf tut. Aber er war nicht nur ein Wolf. Er war ein Werwolf. Eine reißende Bestie, die das Blut eines Menschen braucht. Er war ein Geschöpf des Satans. Das Dorf lag im tiefsten Schlaf. Nirgends brannte Licht. Trotzdem war alles deutlich zu erkennen, die Häuser, die kleine, schmale Straße, die sich durch den Ort schlängelte. Der Mond schien so hell, daß weiteres Licht überflüssig war. Das Monster mit dem häßlichen Menschenkopf, dem Körper eines Wolfes und den Hufen an den Hinterläufen hätte keines Lichtes bedurft. Es sah auch im Dunkeln. Mit instinktiver Sicherheit fand das Ungeheuer das Haus der Adams. Es schlich um das Haus herum und suchte nach einem Eingang. Doch alle Leute im Dorf hatten Angst. Nachts wurden immer sämtliche Fenster und Türen geschlossen. 84 �
Die Bestie begann wutentbrannt zu knurren. Sie fand keinen Eingang, kein offenes Fenster, keine angelehnte Tür, nichts. Immer wieder umkreiste sie das Haus, suchte haßerfüllt nach einer Nachlässigkeit der Bewohner. Aber es war einfach nichts zu finden. Da griff die Bestie zu einer List. Winselnd wie ein junger Hund legte sie sich vor die Haustür und kratzte mit den Vorderpfoten daran. Danach verhielt sie sich einige Zeit ruhig und horchte angespannt. Im Haus blieb es still. Das Monster wiederholte sein Winseln, diesmal lauter. Es kratzte noch stärker an der Tür. Schlurfende Schritte erklangen im Haus, das leise Schlagen einer Tür. Irgend jemand gähnte und murmelte unverständliche Worte vor sich hin. Die Bestie drückte sich eng an die Wand. Die glühenden Augen waren starr auf die Eingangstür gerichtet. Die Muskeln waren angespannt, zum Sprung bereit. Ein Schlüssel rasselte, wurde ins Schloß gesteckt und umgedreht. Laura Adams öffnete. »Komm das nächste Mal früher…« Weiter kam sie nicht mehr. Mit einem pantherhaften Satz war ihr die Bestie an den Hals gesprungen. Laura konnte nicht einmal mehr schreien. Der Schreck lähmte ihre Glieder und ihre Stimme. Mit weitaufgerissenen Augen stürzte sie zu Boden. Die Bestie lag auf ihr. Mit einem einzigen Biß trennte sie Lauras Kopf vom Rumpf. Es knackte laut. Laura Adams war tot. Blut spritzte durch den Korridor und färbte das häßliche Gesicht der Bestie dunkelrot. Das Ungeheuer eilte weiter. Noch war sein Rachedurst nicht 85 �
gestillt. Der, dem eigentlich seine Rache galt, lebte noch. Ihn suchte die Bestie. Sie hetzte hechelnd durch die Wohnung, warf Stühle und Tische um. Eine Blumenvase zerbarst klirrend auf dem Boden. Gleich darauf splitterte Glas. Irgendwo wurde eine Tür aufgerissen. Licht flammte auf. Hastende Schritte kamen näher. »Laura! Laura, was ist denn los?« Es war Clint Adams. Er stand unter der Tür zum Schlafzimmer und sah sich um. Aber er konnte nichts entdecken, weder seine Frau noch sonst jemanden. Auf einmal war auch Totenstille um ihn. Angst beschlich ihn. Clint riß sich zusammen und ging in die Küche. Ein wüstes Durcheinander bot sich seinen Augen dar. Auf dem Boden lagen ein zerbrochenes Glas, zwei umgestürzte Stühle. Der alte Tisch mit der schweren Platte stand quer. »Laura!« wiederholte er seinen Ruf. Doch er bekam keine Antwort. Es blieb alles still, unheimlich still. Er ging ins Wohnzimmer. Die schöne große Vase lag zersplittert am Boden. Daneben dunkelrote Flecken Blut! In seinen Ohren begann es zu brausen und zu toben, als befände er sich direkt unter einem Wasserfall. Vor seinen Augen drehte sich alles. Er taumelte, schwankte hin und her und mußte sich am Türrahmen festhalten. Der Werwolf, er war da! O Gott, er hat Laura… Ich brauche eine Waffe. In der letzten Nacht habe ich ihn auch geschafft. Aber ich hatte ihn doch getötet. Warum ist er dann jetzt hier? Sicher gibt es mehrere, eine ganze Horde. Die Leute in den Bergen… Er drehte sich um, rannte in sein Schlafzimmer. Im Kleiderschrank war die Winchester. Wo habe ich die Patronen? Im Nachtschrank. 86 �
Clint fand die angebrochene Schachtel. Mit zitternden Fingern lud er das Gewehr. Er ging zur Tür, das Gewehr im Anschlag. Vorsichtig sah er nach links und rechts. Nichts. Nur tödliche Stille. Clint trat in die kleine, dunkle Vorhalle hinaus und bewegte sich auf das Bad zu. Als er das Geräusch hinter sich hörte, war es schon zu spät. Er wirbelte herum. Ein großer, langgestreckter Körper flog auf ihn zu, warf ihn zu Boden. Clint Adams hätte noch eine Chance gehabt, wenn er nicht mit dem Hinterkopf auf die harten Dielen aufgeschlagen wäre. So aber verlor er augenblicklich das Bewußtsein. Er spürte nicht mehr, wie sich die langen, spitzen Zähne in seinen Hals bohrten. Er fühlte auch nicht mehr, wie das Monster seinen warmen Lebenssaft schlürfend in sich aufnahm. Diesmal gab sich die Bestie aber nicht damit zufrieden, ihm wie bei Laura den Hals durchzubeißen. Clint Adams galt seine Rache. Das Monster rächte sich auf eine bestialische Weise und zerfleischte den Mann regelrecht. * Ihr Gesicht war eingefallen und blaß und faltig. Die blutunterlaufenen Flecken auf ihrem Antlitz, auf ihrem Körper waren schwarz. Das dünne graue Haar lag strähnig und fächerartig um ihren Kopf. Ihre Augen blickten stumpf, müde und glanzlos auf ihren Sohn, der neben ihr auf dem Bett saß. Der Hauch des Todes lag auf ihr. Am Fußende des Bettes stand Alan Cassidy. Sie wird nicht mehr lange leben, dachte er. Vielleicht noch 87 �
Minuten, vielleicht noch eine Stunde oder zwei… Eigentlich müßte sie längst tot sein. Diese tief ins Fleisch gehenden Wunden, die Schläge –, und dann der hohe Blutverlust. Arme Frau! »Ich habe viel zu lange gewartet«, flüsterte sie leise. »Viel zu lange. Ich hätte schon eher reden sollen. Aber er hat auf mich aufgepaßt…« »Sprich jetzt nicht, Mutter«, sagte Harry. Er strich ihr über die feuchte Stirn. Der Blick der Todgeweihten traf Cassidy. »Kommen Sie näher, Mr. Cassidy, kommen Sie. Ich muß Ihnen noch etwas sagen.« Alan setzte sich neben sie. »Ich will Ihnen sagen, wie man sie töten kann. Alle, auch diejenigen, die noch unter dem Schutz von Luzifer stehen. Danach werden sie nicht mehr… So wie Perry. Sie werden nicht mehr leben.« »Ich weiß es, Mrs. Faylen, ich weiß es. Ich habe auch schon die nötigen Vorbereitungen getroffen…« »Woher wissen Sie…«, unterbrach ihn die Sterbende. In ihre Augen schien für einen Moment Leben zu kommen. Aber es war nur ein kurz aufflackernder Funke, der sofort wieder erlosch. »Nachdem ich Harry in der vergangenen Nacht hierhergebracht hatte«, antwortete Alan, »bin ich nochmals zurückgegangen. Ich habe das Buch im Schreibtisch Ihres Mannes gefunden, die Chronik.« Mrs. Faylen nickte. »Dann ist es gut«, hauchte sie. »Dann wissen Sie ja über alles Bescheid. Das erspart mir…« Ihre Stimme war zuletzt immer leiser geworden. Die letzten Worte hatte keiner mehr verstanden. Man sah nur an den leichten Bewegungen der Lippen, daß sie sprach. Dann bewegten sich auch die Lippen nicht mehr. Ihr Gesicht erstarrte, die Augen verloren den letzten Glanz. 88 �
Mrs. Faylen war tot. Um ihren Mund aber lag ein leichtes Lächeln. Sie hatte erreicht, was sie schon ihr Leben lang gewollt und es aus Angst immer wieder verschoben hatte, aus Angst um ihren Sohn Harry, den sie mehr liebte als alles andere auf dieser Welt. * Melanie hatte nur wenige Stunden geschlafen. Aber sie war seltsamerweise frisch und munter. Ihr erster Gedanke galt Sam. Nicht Harry, wie sonst immer, nein, er galt Sam, den sie in der vergangenen Nacht kennengelernt und sich sogar in ihn verliebt hatte. Was war dagegen Harry! Ein ernster, selten lachender junger Mann. Mit ihm hatte sie nie viel Spaß gehabt, immer nur ernste Reden und Diskussionen, nüchterne Geschäftsprobleme, sonst nichts. Aber Sam war anders. Noch nie hatte Melanie soviel gelacht. Sie war jung, noch sehr jung. Sie brauchte diese Lustigkeit. Das hatte sie in der vergangenen Nacht gemerkt. Sie war richtig aufgelebt. Sam hatte ihr bewußt gemacht, was für ein Trauerkloß Harry eigentlich war. Melanie verließ das Haus und ging ins Büro. Harry war nicht erschienen, und er kam auch später nicht. Sie machte sich nun doch wieder Sorgen um ihn. Wenn auch nun Sam in ihr Leben getreten war, so konnte sie Harry doch nicht einfach sitzen lassen, ihn einfach vergessen, als wäre nie etwas gewesen. Melanie wurde nachdenklich. Ich werde mich entscheiden müssen. Harry oder Sam, Sam oder Harry. O Gott, ist das schwer! Harry kenne ich nun schon drei Jahre. Er ist lieb und gut und sicherlich auch sehr reich. Genau weiß ich es nicht. Er spricht nicht von zu Hause. Er hat 89 �
mich auch nie mit nach Hause genommen, wollte mich nie seinen Eltern vorstellen. Er sprach oft von seiner Mutter, aber nie von seinem Vater. Weshalb eigentlich nie von seinem Vater? Fürchtete er ihn? Hatte der ihm verboten, sich mit ihr zu treffen? Es war schon schlimm mit Harry. Sie wußte nie, woran sie bei ihm war. Und Sam? Würde Sam auch sol… Nein, Sam war anders. Er war lustig und unterhaltsam und… Das Telefon klingelte auf ihrem Schreibtisch. Sie hob ab und meldete sich. Sam! »Hallo, Liebes«, klang es aus dem Hörer. »Wie geht es dir? Hast du gut geschlafen? Also ich nicht. Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan. Ich mußte immer nur an dich denken. Hörst du? Immer nur an dich.« »Hallo, Liebes, hatte er gesagt, jubelte es in Melanie. Hast du gut geschlafen? Und ich denke immer an dich. Hatte Harry das jemals gesagt? Nein, nie. Er war immer nur freundlich und höflich und steif und…« »Hallo, Sam. Tut mir leid, daß ich an deiner Schlaflosigkeit schuld bin. Soll nicht mehr vorkommen.« Lachen ertönte am anderen Ende der Leitung, nette, liebe Worte, Süßholzgeraspel, Komplimente, alles, was eine Frau gern hört. Dann kam eine Einladung zum Mittagessen. Soll ich es annehmen? Ich möchte schon. Ich möchte sogar furchtbar gern. Aber… »Wann holst du mich ab?« kam es wie von selbst über ihre Lippen. Sie hatte es nicht sagen wollen, noch nicht. Sie wollte ihn noch etwas zappeln lassen. Wie sieht das aus, wenn sie… Aber die Worte waren heraus. Sam hatte sie gehört. »In einer Stunde stehe ich mit meinem Wagen vor deinem Büro 90 �
und warte auf dich«, vernahm sie. Unverkennbare Freude war aus Sams Stimme herauszuhören. Er freute sich auf das Zusammensein mit ihr. Und sie? Freute sie sich ebenfalls? Und wie ich mich freue! Am liebsten würde ich sofort aufstehen und gehen zu ihm, ihn in die Arme nehmen, ihn küssen, ihn streicheln und… Einfach bei ihm sein. Aber es war erst elf Uhr. Um zwölf ist Mittagspause. Also muß ich warten eine Stunde, sechzig Minuten, dreitausendsechshundert Sekunden. Es wird mir wie eine Ewigkeit vorkommen. Sie stürzte sich auf ihre Arbeit. Die Minuten vergingen. Dann fiel ihr Harry ein. O Gott, Harry! Was mach’ ich bloß? Ich kann doch nicht einfach… Drei Jahre. Man hat sich aneinander gewöhnt. Sicher, er ist langweilig. Er lacht nie so wie Sam. Aber drei Jahre Zusammensein einfach über Bord werfen? Ich kann das nicht. Er war immer anständig zu mir. Andererseits, was ist schon dabei, wenn ich mit Sam essen gehe? Nichts, überhaupt nichts. Oder doch? Sam wird sich einiges ausrechnen. Er wird denken, wenn sie mit mir essen geht, dann… Ich sollte ihn anrufen und sagen, daß ich nicht komme. Aber sie rief nicht an. Um zwölf Uhr stürzte sie aus dem Haus. Sam wartete schon. Sie setzte sich neben ihn. Er küßte sie. Und Melanie war glücklich. * »Wann ist der nächste Götzendienst?« »Heute abend.« »Um welche Zeit findet er statt?« »Genau um einundzwanzig Uhr. Warum? Was haben Sie vor? 91 �
Sie wollen doch nicht etwa…« Harry verstummte. Er sah Alan Cassidy mit großen Augen an. Dann wurde er blaß. »Kümmern Sie sich nicht darum, was ich mache. Nehmen Sie Ihre Freundin und fahren Sie weg, weit weg. Freuen Sie sich Ihres Lebens! Das Mädchen liebt Sie doch, oder?« »Ich glaube ja«, antwortete Harry zögernd. »Sie glauben? Wissen Sie es denn nicht?« Harry sah ihn erstaunt an. »Doch, doch«, beeilte er sich zu sagen. »Sie liebt mich. Aber was geht Sie das an? Ich finde, das ist meine Privatangelegenheit.« »Meinen Sie?« fragte Alan gedehnt. Er nahm ihn am Arm und zog ihn hinaus. Sie befanden sich in dem kleinen Dorf, in dem auch die Familie Adams wohnte. Das Haus, in dem Alan Cassidy Mrs. Faylen untergebracht hatte, gehörte dem Dorfschmied. Vor dem Haus hatte sich eine Menschenansammlung gebildet. Sie schrien durcheinander, und man sah ihren Gesichtern an, daß sie Angst hatten, große Angst. Als sie Alan und Harry aus dem Haus kommen sahen, verstummten sie. Ein alter Mann mit schlohweißen Haaren und langem, wild wucherndem Bart kam auf Cassidy zu. »Die Adams sind tot!« stieß er hervor. »Sie wurden bestialisch umgebracht… Ermordet… Zerfleischt, als wären sie durch einen Fleischwolf gedreht worden.« Er hielt einen Augenblick inne. Seine Lippen zitterten. Sein struppiger Bart wippte auf und ab. Dann fuhr er mit tonloser Stimme fort: »Die Werwölfe… Jetzt kommen sie schon ins Dorf. Das war noch nie…« »Beruhigen Sie sich«, sagte Alan. Er legte dem Alten die Hand auf die Schulter. »Es wird bald vorbei sein, bald. Ab morgen wird keiner mehr… Wo ist das Haus der Adams?« wollte er 92 �
dann wissen. Der Alte zeigte die Straße hinunter. »Dort, drei Häuser weiter. Das kleine, graue Haus.« Alan nickte ihm zu, ging langsam die Straße hinunter und betrat das angegebene Häuschen. Wenige Minuten später kam er heraus, er war blaß und schwankte ein wenig. Neben ihm tauchte ein uniformierter Polizist auf. Er war im Haus gewesen, um auf das F.B.I. zu warten? Dann kamen sie. Selbst diesen Männern, die bestimmt viel gewohnt waren, war diese grausame Tat zuviel. Nur mit Mühe konnten sie ein Würgen unterdrücken. Alan Cassidy ging mit dem Leiter der Kommission ein Stück zur Seite und unterhielt sich lange und eingehend mit ihm. Die Unterhaltung bestritt in erster Linie Alan. Der Beamte machte nur große Augen und starrte Cassidy ungläubig an. Was er zu hören bekam, wollte einfach nicht in seinen Kopf. Als Alan fertig war, schüttelte Gart Harrington, der Beamte, energisch den Kopf. »Ich kann das alles nicht glauben«, meinte er skeptisch. »Das ist zu phantastisch, einfach unmöglich. Das kann nicht sein.« »Und wie erklären Sie sich dann das Blutbad in dem Haus?« fragte Alan. »Wer so etwas tut, kann kein Mensch sein. Nur eine Bestie bringt das fertig.« »Teufelsanbeter und so’n Zeug, das gibt es doch nicht, Mr. Cassidy. Wir leben doch nicht mehr im Mittelalter, sondern im 20. Jahrhundert.« »Kommen Sie heute nacht mit?« »Natürlich komme ich mit.« »Gut«, entschied Cassidy, »dann werde ich es Ihnen beweisen. Sie werden es mit eigenen Augen sehen.« Damit war für Alan die Sache erledigt. Jetzt konnte man nur noch den Abend abwarten. 93 �
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Es dunkelte bereits, als sie durch die Schlucht gingen. Alan hatte einen Rucksack auf dem Rücken. Er war vollbepackt. Harrington trug ebenfalls ein großes Paket. »Wollen Sie mir nicht endlich sagen, was da drin ist?« fragte Harrington schweratmend. Er war ein untersetzter, ziemlich beleibter Mann, und der Aufstieg fiel ihm sichtlich schwer. »Können Sie sich das nicht denken?« antwortete Alan. Harrington sah ihn mit seinen kleinen, wieselflinken Augen an. »Brandbomben?« »Ja.« Gart Harrington blieb stehen. »Aber das ist doch Mord, was Sie vorhaben.« »Mord?« Alan hob die Augenbrauen an. »Ist es Mord, wenn ein Jäger ein reißendes Wild tötet? Wenn sich eine Bestie im Revier eines Försters befindet, dann knallt er es ab, um die anderen von dieser Geißel zu befreien. Das gleiche machen wir. Die Menschen, die in diesem Dorf leben, haben einen Pakt mit dem Satan geschlossen. Man kann sie nicht einsperren. Es sind keine gewöhnlichen Mörder. Sie morden, weil sie von Luzifer dazu bestimmt werden, vom Satan persönlich.« Das Wetter war schlecht. Dicke schwarze Wolken hatten sich vor den Mond geschoben und machten die Nacht zur schwarzen Finsternis. Sie konnten in der Schlucht nicht einmal die Hand vor Augen sehen. Alans kleine Taschenlampe spendete gerade so viel Licht, daß sie sehen konnten, wohin sie traten. Dann erreichten sie das Plateau. Alan machte die Lampe aus und schlich vorsichtig an den Rand, um ins Tal hinunter zu sehen. Aber er sah nichts, nicht den kleinsten Lichtschimmer. 94 �
Am Horizont leuchtete es kurz auf. Ein Gewitter war im Anzug. Hierzulande konnte ein Gewitter sehr schlimm werden. Sie begannen mit dem Abstieg. Alan ging voran. Harrington blieb immer dicht hinter ihm. Die Dunkelheit legte sich wie ein schwarzer Mantel um sie und machte den Abstieg gefährlich. Harrington versuchte, immer auf Tuchfühlung zu bleiben. Er spürte, daß er hinter Cassidy sicher war. Er hatte plötzlich unbegrenztes Vertrauen zu dem Privatdetektiv. Irgendwie hatte er das Gefühl, als hätte dieser Mann die Augen einer Katze. Cassidy ging den Weg hinunter, als wäre es taghell, die Taschenlampe konnte er nicht einschalten, denn sie wollten nicht gesehen werden. Dann waren sie unten. Cassidy hielt den FBI-Mann an der Jacke fest und bedeutete ihm, sich ruhig zu verhalten. Er horchte in das Dunkel hinein. Der Privatdetektiv zog Harrington weiter. Es ging jetzt langsamer voran. Sie achteten darauf, möglichst keine Geräusche zu verursachen. Sie schafften es, so leise zu sein, daß sie ihre Schritte selbst kaum hörten. Dann standen sie vor einem der Backsteinhäuser. »Hören Sie’s?« fragte Alan flüsternd. »Was?« »Das Spiel der Flöte.« Gart Harrington horchte. Nein, er vernahm nichts, nur das leise Grollen des Donners. Oder war das gar kein Donner? War es vielleicht eine Trommel? »Ich höre keine Flöte, nur eine Trommel. Oder ist es der Donner? Ich bin nicht sicher…« »Es ist eine Trommel«, klärte ihn Cassidy auf. »Doch dazwischen hört man auch eine Flöte. Luzifer liebt dieses kleine, hölzerne Blasinstrument.« Alan konnte nicht sehen, wie Harrington ungläubig den Kopf 95 �
schüttelte. »Verrückt«, murmelte er vor sich hin. »Kommen Sie.« Cassidy zog ihn mit. »Gehen wir näher heran. Vielleicht können wir etwas sehen.« Sie schlichen zu dem viereckigen Bau. Immer noch waren sie darauf bedacht, möglichst keine Geräusche zu verursachen. Alan war sich nicht sicher, ob man nicht doch Wachen aufgestellt hatte. Harry sagte zwar, daß alle in der Kirche seien, aber man konnte ja nie wissen. Sie umkreisten den viereckigen Backsteinbau einmal und suchten nach Ausgängen. An der Rückfront fanden sie eine kleine Tür. Alan drückte die Klinke nach unten. Langsam schob er die Tür auf. Leise, seltsame Flötentöne drangen an ihre Ohren. Dazwischen hörten sie den dumpfen Klang einer Trommel. Es ging einige Stufen hinauf. Dann trafen sie auf eine weitere schwere Tür. Sie war ebenfalls offen. Die Musik wurde lauter. Noch nie hatten die beiden Männer so seltsame, hohe Flötentöne gehört. Die Musik zerrte an ihren Nerven, zog sie in ihren Bann…. Dann sahen sie die Vermummten in ihren weinroten Kutten. Sie standen alle dichtgedrängt um ein Podium, auf dem ein nacktes Mädchen tanzte. Das Mädchen war von einer seltenen, fast exotischen Schönheit. Schwarzes, langes Haar umrahmte ein schmales, blasses Gesicht. Ihr schlanker Körper wirkte wie der einer Schlange. Es schien, als seien ihre Knochen aus Gummi. Sie tanzte nach dem Flötenspiel von Brian Faylen. Dieser riesige, bärenstarke Mann, dessen Hände wie Baggerschaufeln aussahen, handhabte das kleine Holzinstrument perfekt. Er entlockte ihm Töne, die wohl kaum ein normaler Mensch zu hören bekommen hatte. 96 �
Irgendwo im Hintergrund, nicht sichtbar für Cassidy und Harrington, erklangen die dumpfen, rhythmischen Schläge einer Trommel. Der Rhythmus wurde schneller. Rasanter wurden auch die Bewegungen der jungen, schönen Tänzerin. Sie geriet in richtige Ekstase. Schwacher Kerzenschein und eine Fackel beleuchteten das Podium und den Flötenspieler. Dann war es ganz plötzlich vorbei. Das Mädchen lag wie tot auf dem Podest. Lähmende Stille erfüllte den Raum. Dann erhob sich Brian Faylen. Er nahm eine Kerze aus der Halterung und trug sie durch den Raum. Er zündete einige andere Kerzen an. Eine Art Altar wurde sichtbar, ein kleiner Opfertisch, ein großes schwarzes, auf die Spitze gestelltes Kreuz. Sonst nichts. Brian Faylen stellte sich davor auf, hob die Hände mit den Innenflächen gegen das Kreuz. Er begann, scheinbar unzusammenhängende Worte zu murmeln. Als Faylen geendet hatte, kam auf einmal Leben in die unheimliche Stille. Eine tiefe, donnernde Stimme erfüllte den Raum. Man sah deutlich, wie der riesige Mann vor dem schwarzen Kreuz den Kopf einzog, wie er sich duckte, als wären die Worte Schläge. »Brian Faylen! Du bist ein Versager! Du elender Wicht hast jämmerlich versagt!« Ein Zittern lief durch den riesigen Körper des Anführers der Faylen-Sippe. Er duckte sich immer tiefer. Auf einmal stand wie aus dem Boden gewachsen Luzifer persönlich neben ihm. Lord Satan machte nicht mehr viele Worte. Er packte Brian Faylen mit seinen behaarten Pranken und schleuderte ihn zur Decke, als sei er ein Gummiball. Dumpf schlug Faylen auf dem harten Steinboden auf und blieb reglos liegen. Der Anführer war tot. 97 �
Luzifer wandte sich um. Sein schwarzer, krallenartiger Finger stach nach vorn und zeigte auf einen der Kapuzenmänner. »Guy Faylen!« donnerte seine Stimme durch den kahlen Raum. »Du bist ab heute der neue Anführer. Ich hoffe, du bist endlich ein echter Nachfolger von Derek Faylen, mit dem ich den Pakt geschlossen habe. Ich hoffe auch, daß du den abtrünnigen Sohn dieses Bastards hier…« Er zeigte auf den am Boden liegenden Brian Faylen, »zurückholen wirst, um ihr seiner gerechten Strafe zuzuführen.« »Ich verspreche dir, großer Meister, daß ich alles tun werde, um dein in mich gesetztes Vertrauen zu rechtfertigen«, antwortete der Angesprochene mit fester Stimme. »Ich werde den Abtrünnigen zurückholen und den alten Zustand zu Derek Faylens Zeiten wieder herstellen. Wir werden die Menschheit in Angst und Schrecken versetzen. Wir werden ihnen zeigen, daß es nur einen Herrn gibt: dich, o großer Meister.« Über das fast schwarze und häßliche Antlitz des Satans, in dem jeder Zoll aus Bosheit und Arglist und Schlechtigkeit bestand, zog ein hämisches Grinsen. Er begann zu lachen, laut und immer lauter. Die kahle leere Halle begann zu dröhnen. Die Wände erzitterten, und die Trommelfelle der Anwesenden schienen jeden Augenblick zu platzen. Abrupt brach das Gelächter ab. Lähmende Stille lag über, den Menschen. Luzifer war verschwunden, so schnell und so plötzlich, wie er aufgetaucht war. Zurück blieb nur der tote Brian Faylen und die Versammlung der Kapuzenmänner. Die Starrheit fiel von ihnen ab, und leises Gemurmel kam auf. Alan Cassidy hatte genug gesehen und gehört. Es wurde jetzt wirklich Zeit zum Handeln. Er packte Harrington am Arm und zog ihn mit. Dieser ließ sich fast willenlos mitziehen. Er hatte etwas gesehen, was einfach 98 �
über seinen Verstand ging er hatte den Satan gesehen. Gart Harrington glaubte zu träumen. Wie ein Schlafwandler taumelte er aus dem Raum, die kleine Treppe hinunter und hinaus ins Freie. »Glauben Sie mir jetzt?« fragte Alan. »Was?« fragte Harrington abwesend zurück. »Ob Sie mir nun endlich glauben?« wiederholte Cassidy. »Glauben?« Harrington wirkte immer noch etwas geschockt. Was er eben gesehen hatte, ließ sich so gar nicht mit seinem Realismus vereinbaren. »Ich weiß nicht. Irgendwie habe ich das Gefühl, einen bösen Alptraum erlebt zu haben. So etwas kann es doch nicht wirklich geben. Der Satan persönlich erscheint und…« »Wachen Sie auf, Harrington«, mahnte Cassidy ungeduldig. »Sie träumen nicht. Was Sie gesehen haben, ist Wirklichkeit. Reißen Sie sich jetzt zusammen. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Wir müssen handeln.« Harrington schwieg. Er starrte versonnen zu Boden. »Verrammeln Sie die Tür«, drängte Alan. »Und bleiben Sie hier stehen, damit uns auch ja keiner entwischt. Keiner von ihnen darf davonkommen. Es wäre nicht auszudenken, was alles passieren könnte, wenn einer übrig bleibt!« Es war verständlich, daß Cassidy so drängte. Er wußte, zu welchen Untaten diese Männer und Frauen in dem quadratischen Steinbau fähig waren. Es war höchste Eile geboten. Wenn sie erst das Haus verlassen hatten, war es vorbei. Dann müßten sie wieder zwei Tage bis zur nächsten Zusammenkunft der Teufelsanbeter warten. Wer weiß, was diese Bestien bis dahin alles angestellt hatten. Wer weiß, wie viele Menschen in diesen zwei Tagen ihr Leben lassen mußten. »Machen Sie schon«, sagte Cassidy gehetzt zu Harrington. 99 �
»Tun Sie, was ich Ihnen sagte.« Wortlos begann Gart Harrington mit seiner Arbeit. Er trug zusammen, was er finden konnte und stellte es vor die Hintertür des Backsteinbaues. Das Gewitter kam näher. Blitze zuckten vom Himmel zur Erde und erleichterten den beiden Männern ihre Arbeit. Der kurz danach folgende Donner zeigte an, daß es nur noch wenige Minuten dauern würde, bis das Unwetter hereinbrechen würde. Alan Cassidy hetzte zur Vordertür. Er versuchte die Tür zu öffnen. Aber sie war von innen abgeschlossen. Der Schlüssel steckte im Schloß. Er bückte sich, nahm ein Stück Draht aus seiner Hosentasche und fummelte es in das Schloß. Er drehte den Draht und versuchte, immer mehr hineinzuschieben. Mit dem Draht im Schloß wollte er verhindern, daß sie den Schlüssel umdrehen konnten, um aufzuschließen. Dann suchte er zur Sicherheit noch nach Steinen und Balken. Er fand einen Pfahl, den er unter die Türklinke klemmte. Einen langen Balken, der an der Längswand des Nebenhauses lag, stemmte er gegen die Tür und grub ihn in den Boden. Er fand noch einen zweiten und machte mit ihm dasselbe. Danach türmte er Steine vor der Tür auf. Es folgte jetzt Blitz auf Blitz. Der Donner ließ die Erde erzittern. Der Weltuntergang schien nahe. Cassidy ging zu Harrington. Dieser kam ihm schon entgegen. »Alles verrammelt?« fragte Alan. Harrington nickte. »Da kommt keine Maus mehr heraus«, antwortete er grimmig. »Nicht mal ein Stier könnte die Tür einrennen.« »Gut«, sagte Alan, »kommen Sie jetzt. Wir müssen aufs Dach.« Harrington hatte schon fragen wollen, wie er denn die Brandbomben hineinwerfen wollte, wenn sie doch alles verrammelt 100 �
hatten. Doch nun begriff er. Das Dach! Sie würden in aller Ruhe aufs Dach klettern, ein paar Platten abheben und… Cassidy begann mit dem Aufstieg. »Kommen Sie, Harrington!« rief er leise. »Wir müssen oben zu zweit sein.« Es war nicht besonders schwer, das Dach zu erklettern. Überall ragten kleine Mauervorsprünge heraus, und zwischen den Backsteinen waren tiefe Ritzen. Lediglich das schwere Gepäck, das die beiden Männer trugen, hinderte sie ein wenig. Dann hatten sie es geschafft. Sie setzten sich beide schweratmend auf den Dachfirst. Es erübrigte sich, Platten abzuheben. Seitlich des Firstes befand sich eine Dachluke. Sie ließ sich öffnen. Genau unter ihnen befand sich der Altar. Sie sahen das Kerzenlicht, die Fackel, die Gruppe der Vermummten, vor denen ihr neuer Führer stand. »Mein Gott, was wir hier machen, ist doch glatter Mord«, begann Harrington an der Richtigkeit ihres Tuns wieder zu zweifeln. »Wir können doch nicht einfach Brandbomben in den Raum werfen und die Menschen dort unten bei lebendigem Leibe verbrennen. Das können wir doch nicht.« »Sollen wir zusehen, wie diese Bestien andere Menschen umbringen?« fragte Cassidy. Er begann, seinen Rucksack auszupacken. »Was Sie da unten sehen, sind keine Menschen. Es sind Geschöpfe des Satans. Wenn wir sie nicht vernichten, tun sie es mit uns. Wir erweisen der gesamten Menschheit einen Dienst, wenn wir diese Monster da unten töten.« »Aber bei lebendigem Leibe…« »Es geht nicht anders«, sagte Cassidy knapp. »Hier, halten Sie mal!« Er reichte ihm eine der Brandbomben. Harrington nahm sie schweigend entgegen. 101 �
Alan nahm sein Feuerzeug aus der Tasche. Der Wind, der vorher noch durch das Tal gezogen war, ließ plötzlich nach. Dann war er ganz weg. Völlige Windstille herrschte. Auch sonst war alles ruhig. Kein Blitz, kein Donner, nur Stille. Unter ihnen flackerte schwacher Kerzenschein. »Los!« befahl Cassidy. Er zündete die erste Bombe an und warf sie hinunter. Der Raum unter ihnen erhellte sich. Gellende Entsetzensschreie hallten zu ihnen herauf. »Weiter! Die nächste! Zünden Sie doch auch welche an! Verdammt, hören Sie! Sie sollen auch…« »Ja, natürlich«, hörte es Alan schwach zwischen den panischen Schreien. »Natürlich.« Cassidy warf jetzt eine Brandbombe nach der anderen hinunter. Harrington zündete die erste zögernd an. Dann ließ er sie schnell fallen. In immer kürzeren Abständen sausten jetzt die todbringenden Bomben hinunter. Sie verteilten die feuerspeienden Bündel im ganzen Raum. Die Flammen breiteten sich aus, griffen um sich, erfaßten das hölzerne Podium. Das Feuer fraß sich immer weiter, bekam in Tischen und Bänken reiche Nahrung. Wenig später war unter ihnen ein einziges Flammenmeer. In Alans Rucksack befanden sich noch einige Brandbomben. Er warf sie einfach hinunter, ebenso die von Harrington. Dann schloß er die Luke. Doch die Schreie hörten sie trotzdem. Sie wurden immer lauter und klangen in ihren Ohren, daß es schmerzte. Das Dach wurde heiß, Funken stoben durch die Ritzen und verglühten im Dunkel der Nacht. Der Lärm der prasselnden Flammen vermischte sich jetzt mit 102 �
den Schreien. »Runter!« brüllte Cassidy. Sie beeilten sich, das heißer werdende Dach zu verlassen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis es zu glühen anfangen und dann einstürzen würde. Kaum waren sie unten, als das Gewitter mit einer solchen Gewalt anfing zu toben, daß die Erde bebte. Ein heftiger Sturm fegte durch das Tal. Der Himmel öffnete seine Schleusen, und es goß wie aus Kübeln. Blitz folgte auf Blitz. Der nachfolgende Donner ließ die Häuser erzittern. Es war, als wollte Gott dem Satan zeigen, wer der wirklich Stärkere ist. Für die Teufelsanbeter und Werwölfe war es ein Abgang von dieser Welt, wie sie es sich nicht besser hatten vorstellen können – begleitet von den Urgewalten der Natur, die von Gott erschaffen wurden. * Sie saß vor ihrer Schreibmaschine und starrte auf die Tasten. Das eingespannte Blatt, war völlig weiß. Sie hatte noch kein Wort geschrieben. So ging das nun schon seit Tagen. Im Büro nebenan saß Harry und büffelte wie ein Verrückter. Er arbeitete ununterbrochen, brachte den Kopf kaum einmal hoch. Er nahm nicht wahr, was um ihn herum geschah. Für ihn gab es nur noch die Arbeit, sonst nichts oder nur wenig. Ab und zu ging er mit ihr aus. Dann aber saß er stumm wie ein Fisch neben ihr. Er hat sich sehr verändert, dachte Melanie. Er ist noch schweigsamer, stiller und ernster geworden. Es war vorher schon 103 �
schlimm mit ihm. Aber jetzt… Manchmal, wenn Harry sich ganz abgekapselt hatte, ging sie auch mit Sam aus. Dann wurde ihr der Unterschied zwischen den beiden Männern noch bewußter. Sam hatte seine Heiterkeit beibehalten. Er würde sich auch nicht ändern. Würde aber Harry sich im Laufe der Zeit ändern? Wenn ich nur wüßte, was ihm Schlimmes widerfahren ist. Er spricht nicht darüber. Wie oft hatte sie ihn schon danach gefragt. Seit drei Wochen war Harry wieder da. Er war dann für immer in der Stadt geblieben. Er fuhr nicht mehr nach Hause wie früher. Am Stadtrand hatte er sich ein kleines Häuschen gemietet und wohnte dort völlig allein. Warum sagt er mir nicht, was los ist? Es muß doch irgend etwas geschehen sein, sonst wäre er doch nicht so verändert. Er rührt mich nicht einmal mehr an. Einmal hat er mich in sein kleines Haus mitgenommen. Als ich zärtlich werden wollte, da… Er hat mich richtig abgewiesen. Bei Sam ist es umgekehrt. Ihn muß ich manchmal sogar abwehren. Aber ich kann Harry doch nicht einfach… Ob ich zu ihm rübergehe? Sie entschloß sich schnell, stand auf und verließ ihr Büro. Harry arbeitete wie immer ohne aufzusehen. Er verglich einige Listen. »Harry?« Harry Faylen schien sie gar nicht gehört zu haben. »Harry! Hörst du mich nicht?« Er hob langsam den Kopf und sah sie etwas verwundert an. »Ist etwas, Melanie?« fragte er. »Ja, es ist etwas!« fuhr sie ärgerlich auf! »Ich will endlich wissen, was mit dir los ist. Seit du wieder aufgetaucht bist, kapselst du dich ab. Seit drei Wochen hast du mich nicht mehr angerührt, 104 �
hast nicht mehr mit mir gesprochen oder nur das Allernotwendigste. Das einzige, was du immer von mir wissen willst, ist, ob ich dich liebe. Nicht einmal hast du mir gesagt, daß du mich auch liebst oder sonst was Nettes. Glaubst du nicht auch, daß das für eine Frau auf die Dauer langweilig ist?« Harry sah sie entsetzt an. »Bitte, Melanie, bitte. Laß mir noch etwas Zeit. Ich kann jetzt nicht darüber sprechen. Es ist alles so… Habe Vertrauen zu mir, ja? Eines Tages wirst du alles erfahren.« »Eines Tages«, meinte Melanie bitter. »Eines Tages. Wann ist das? In zwei Jahren, in fünf? Oder gar erst, wenn du auf dem Sterbebett liegst?« »Melanie.« »Ja, ja, ist schon gut. Ich sage ja schon nichts mehr.« Enttäuscht drehte sie sich um und ging zur Tür. Dann wandte sie nochmals den Kopf. »Gehen wir heute abend aus?« fragte sie leise. Harry schüttelte schnell den Kopf. Sein Gesicht war blaß, und unter seinen Augen befanden sich dunkle Ringe. »Nein«, antwortete er heiser. »Nein, ich kann nicht.« Melanie ging hinaus. Sie schlug hart die Tür hinter sich zu. Sie war jetzt richtig verärgert. Mit dem bin ich verlobt, dachte sie. Was habe ich von einem Verlobten, der nicht mal mit mir ausgeht? Der seit Wochen nicht mehr zärtlich und nett zu mir ist und der fast nichts mit mir redet? Ich brauche keinen solchen Verlobten. Soll er sich doch in sein Häuschen verkriechen. Es ist mir völlig egal. Schließlich bin ich ja nicht auf ihn… An ihrem Arbeitsplatz angekommen, nahm sie den Hörer ab und wählte. »Sam? Hier ist Melanie.« »Hallo, Liebes!« klang es aus der Hörmuschel. »Willst du mit 105 �
mir am Telefon flirten? Herrlich finde ich das.« Ein Schnalzen rauschte durch die Leitung. Melanie lachte. Der Ärger mit Harry war vergessen. »Treffen wir uns heute abend? Natürlich treffen wir uns. In der Bar, wie damals. Wie damals wie das klingt. Ist doch erst drei Wochen her. Ist doch egal… Ich liebe dich. Du bist die schönste Frau der Welt, und ich sterbe fast vor Sehnsucht nach dir. Und noch ein Kuß aus der Ferne und noch einer.« »Bis heute abend dann.« Melanie legte auf. Sam weiß, was eine Frau gern hört. Er versteht es. Er hat einfach alles. Und er versteht auch das andere und so einfach Klasse. Oh, ich liebe ihn. * Es war die kleinste Kammer des kleinen Häuschens. Sie war völlig leer. Kein Stuhl, kein Tisch war vorhanden. Nichts. Er saß auf dem Boden, blaß, zitternd und voller Angst. Was würde auf ihn zukommen? Es war die erste Vollmondnacht. Was wird passieren? Wird die Verwandlung kommen? Wird er zum Werwolf werden? Harry hatte Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Die Tür war abgeschlossen, das Fenster verriegelt. Von außen waren die Fensterläden zugemacht und vernagelt. Vielleicht war alles umsonst gewesen, und er würde gar nicht… Aber sicher ist sicher. Wenn Melanie mich liebt, dann kann ich mich wehren. Doch tief im Herzen spürte er, daß dies nicht der Fall war. Sie liebte ihn nicht mehr. Er wußte, daß er selbst daran schuld war. Aber er konnte einfach nicht anders. Sollte er ihr sagen, daß seine Familie und er… 106 �
Die Hitze kam, dann die Schweißausbrüche. Ihm wurde heißer und heißer. Dann hörte er die Stimme, die ihm sagte, er solle sich die Kleider vom Leibe reißen. Er spürte das Kribbeln, Zerren und Ziehen in seinem Körper, die Schmerzen. Immer stärker wurde die Hitze. Seine Füße schrumpften. Sie behaarten sich. Hufe formten sich in seinen Schuhen. Er zog sie aus und starrte an sich herunter. Eigentlich hätte er jetzt entsetzt sein müssen. Aber er war es nicht. Sein Fühlen, Denken und Handeln war anders geworden. Er war nicht mehr der Harry von vorher. Er freute sich über seine Verwandlung. Ein böses, mordlüsternes Leuchten trat in seine Augen. Seine Gesichtszüge veränderten sich. Seine Zunge wurde kleiner und flacher. Die Zähne wuchsen, wurden zu großen, scharfen Hauern. Er riß sich die klitschnassen Kleider herunter, warf sie einfach zu Boden. Dann ließen die Schmerzen nach. Die Verwandlung war vollzogen. Harry Faylen war ein Werwolf. Ganz tief in seinem Unterbewußtsein regte sich sein Verstand, der ihm sagte, sich ganz still zu verhalten. Aber sein verwandelter Körper gehorchte diesen Signalen nicht. Er wurde nur von einem Instinkt beherrscht. Und dieser befahl ihm zu morden. Mit haßerfülltem Blick stand Harry Faylen, der sich soeben in eine Bestie verwandelt hatte, mitten in dem kleinen, engen Raum. Sein Blick ging gehetzt von der Tür zum Fenster. Es war abgeschlossen. Alles war abgeschlossen und verriegelt. Ein wutentbranntes Knurren drang aus seinem Maul. Er warf sich gegen die Tür. Die Wände erzitterten. Aber die Tür gab nicht nach. 107 �
Das Monster versuchte es am Fenster. Scheiben klirrten. Holz barst knirschend. Die Fensterläden wackelten bedenklich. Beim zweiten Anlauf gaben sie nach. Sie flogen auf, und die Bestie stürzte ins Freie. * Sie ging immer wieder auf und ab, sah auf die Uhr und stampfte ärgerlich mit dem Fuß auf. Wo bleibt Humphry heute bloß? Solange kann das doch auch wieder nicht dauern. Auf diese Männer ist doch wirklich kein Verlaß. Er hat gesagt, um zehn Uhr wolle er sie treffen. Jetzt war es viel später. Julia war ärgerlich. Seit fünfzehn Minuten stand sie vor dem großen Schulgebäude und wartete auf ihren Freund Humphry. Er besuchte hier die Abendschule, weil er weiterkommen wollte. Jeden Donnerstagabend. Julia holte ihn immer ab. Bisher hatte es ja auch jedesmal geklappt. Pünktlich um zehn Uhr war Humphry aus der Schule herausgekommen. Doch heute wartete sie schon eine Viertelstunde, und er war noch immer nicht da. Vielleicht feiern sie noch ein wenig. Er hatte etwas von einer Vorprüfung gesagt. Wenn er sie bestanden hat, dann… Hinter ihr raschelte etwas im Gebüsch. Erschrocken drehte sie sich um, sah um den Baum herum, an den sie sich gelehnt hatte, und starrte in das Dunkel. Lauschend hielt sie den Atem an. Aber sie vernahm nichts mehr. Es blieb alles ruhig. Wird irgendein Tier gewesen sein, versuchte sie sich zu beruhigen. Aber so ganz gelang es ihr nicht. Angst kroch in ihr hoch. Obwohl eigentlich Vollmond war, war es doch recht dunkel. Dicke schwarze Wolken hatten sich vor die gelbe Scheibe 108 �
geschoben. Und der Wind jagte immer mehr Wolken heran. Ich sollte weggehen, einfach nach Hause gehen. Aber dann ist mir Humphry böse. Er ist es schon gewohnt, daß ich ihn am Donnerstag abhole. Sie zündete sich eine Zigarette an, rauchte nervös, trat ein Stück vom Baum weg auf die Straße hinaus. Ein Auto jagte heran, mit aufgeblendeten Scheinwerfern. Julia trat wieder zurück und schloß geblendet die Augen. Lärmend raste das Auto an ihr vorbei, wirbelte Staub auf. Julia mußte niesen. Blöder Kerl! Rast hier vorbei wie ein Idiot. Anzeigen sollte man diese Rowdies. Gerade als das Motorengeräusch verklungen war, hörte sie tapsende Schritte hinter sich. Mit einem leisen, erschrockenen Aufschrei fuhr sie herum. Sie sah geradewegs in den weitaufgerissenen Rachen einer Bestie. Ein rotglühendes, funkelndes Augenpaar starrte sie an. Ihr Herz stand vor Schreck still. Sie öffnete den Mund, wollte schreien. Aber kein Ton kam über ihre blaßgewordenen Lippen. Mit weitaufgerissenen Augen und offenem Mund stand sie wie gelähmt vor der Bestie. Das Ungeheuer zögerte nicht lange. Es sprang sie an. Die Vorderpfoten krallten sich in ihre Schultern und warfen Julia zu Boden. Der schwere Körper der Bestie folgte und erdrückte sie fast. Dann löste sich der Klumpen in ihrem Hals. Ihre Todesschreie erfüllten die stille, nächtliche Straße. Sie versuchte, sich unter dem häßlichen, furchterregenden Ungeheuer hervorzuwälzen. Aber sie schaffte es nicht. Der auf ihr liegende, ekelerregende Körper war zu schwer. Dann biß die Bestie zu. Der Schrei erstarb auf ihren Lippen. Ein leises Gurgeln war 109 �
noch zu hören. Dann floß das Blut und benetzte die Straße. In diesem Augenblick rannten eine Menge junger Männer aus dem Schulgebäude. Ihre Schreie schreckten die Bestie auf. Sie sah sich einer riesigen Übermacht gegenüber. Zögernd ließ sie von ihrem Opfer ab. Für einen Moment stand das Monster unschlüssig am Straßenrand. Als dann die ersten Steine niederprasselten, gab es fluchtartig Fersengeld. Mit langen Sprüngen hetzte das Ungeheuer durch die Nacht und versuchte, das rettende Gebüsch zu erreichen. Da peitschte ein Schuß durch die Nacht. Mitten im Sprung wurde die Bestie erwischt. Sie überschlug sich einmal in der Luft. Krachend fiel sie zu Boden, überschlug sich ein weiteres Mal und blieb dann für eine Sekunde wie tot am Boden liegen. Doch dann erhob sie sich blitzartig und verschwand mit wenigen Sätzen im Gebüsch. * Melanie stand im Hausgang und wartete, bis Sam weggefahren war. Als das Motorengeräusch verstummt war, trat sie wieder auf die Straße hinaus. Es muß jetzt endlich sein. Ich werde es Harry sagen, noch heute nacht. Er muß es einfach verstehen. Ich werde ihm den Ring auf den Tisch legen und sagen, daß es aus ist. Ich kann nicht mit einem Mann leben, der stumm ist wie ein Fisch, der mich nicht streichelt, zärtlich zu mir ist und mich nicht lieb hat. Sie kannte den Weg zu Harrys Haus. Einmal war sie ja dort gewesen. Melanie vermied die belebten Straßen und ging die dunklen Gassen entlang. Man konnte nie wissen… Sam konnte ja auch noch unterwegs sein. Er sollte sie nicht sehen. Es wird 110 �
sowieso schon zuviel gemunkelt. Vielleicht erfahre ich heute, was ihm widerfahren ist. Eigentlich tut er mir ja leid. Ja, er tut mir leid. Mitleid aber ist keine Liebe mehr. Wahrscheinlich liebe ich ihn schon längst nicht mehr. Ich wußte es nur bis jetzt noch nicht. Aber seit Sam… In der Ferne hörte sie Rufe, laute Schreie von mehreren Menschen. Ist sicher wieder irgend etwas passiert, ein Autounfall oder so. Die Kerle rasen ja auch wie verrückt. Nur Sam nicht. Er ist anders. Er ist überhaupt anders. Ich liebe ihn. Sie war jetzt kurz vor Harrys Haus. Harry muß das verstehen. Er muß einfach. Ich bin nicht so wie er. Wir passen einfach nicht zueinander. Dann stand sie vor dem kleinen dunklen Haus, und die Angst kam. Wenn er es aber nicht versteht? Wenn er wütend wird und sich vergißt und… Sie riß sich zusammen, drückte auf den Klingelknopf, horchte und wartete. Nichts rührte sich. Noch einmal klingelte sie, länger, anhaltender… Er muß doch da sein. Wo sollte er sonst sein? Oder hat er vielleicht eine andere? Auf diesen Gedanken war sie bis jetzt noch gar nicht gekommen. Harry eine andere? Nein, niemals. Das traue ich ihm eigentlich nicht zu. Melanie klingelte nochmals. Wieder nichts. Sie trat einige Schritte zurück und sah am Haus hinauf. Dann warf sie einen Blick auf das Leuchtzifferblatt ihrer Uhr. Kurz vor Mitternacht war es. Harry geht doch nie vor zwölf schlafen. Wenn ich das nicht gewußt hätte, wäre ich doch nicht mehr gekommen. Sie ging langsam um das Haus herum. An der Hinterfront des Häuschens blieb sie plötzlich stehen. Ein Fenster stand weit 111 �
offen. Sie trat langsam näher. Dann sah sie, daß die Scheiben zerschlagen waren. Der Fensterrahmen war zerbrochen, und die Läden hingen schief in den Angeln. Auf dem Boden lag zerborstenes Glas. Seltsam, dachte sie. Es sieht so aus, als hätte es jemand von innen zerschlagen. Aber warum? Sie trat dicht an das Fenster heran und spähte hinein. Es war zu dunkel, um etwas zu sehen. Im Haus war es totenstill. Nur ein Fensterladen wurde vom Wind hin und her bewegt und quietschte. Melanie gab sich einen Ruck. Sie kletterte durchs Fenster. Sie wollte der Sache auf den Grund gehen. Im Dunkeln tastete sie nach dem Lichtschalter und knipste ihn an. Der Raum war völlig kahl und leer. Sie hatte ihn noch nie gesehen. Aber schließlich war sie nur einmal hier gewesen, und Harry hatte sie nicht durch das ganze Haus geführt. Sie sah sich nach der Tür um. Der Schlüssel steckte von innen. Sie drehte ihn um und trat in den Korridor hinaus. Sie lief durch das ganze Haus und suchte nach Harry, aber er war nicht da. Nachdenklich ging sie ins Wohnzimmer. Sie setzte sich in einen Sessel und wartete. Ich werde warten, bis er kommt. Einmal muß er ja kommen. Ist mir sowieso unbegreiflich, weshalb er nicht da ist. Hat er vielleicht doch eine andere? Nun begann sie doch zu zweifeln. Sie ärgerte sich. Das sie einen Grund hatte, einen anderen zu suchen, war klar. Aber er doch nicht. Sie konnte sich jedenfalls nicht vorstellen, daß sie sich jemals etwas zu Schulden hatte kommen lassen. Sie stand auf und suchte etwas zum Trinken. Aber es war nichts im Haus, nicht einmal Limonade. Melanie zündete sich eine Zigarette an. Um die aufkommende Müdigkeit zu überwinden, rauchte sie eine nach der anderen. 112 �
Bald lagen zehn Zigarettenkippen im Aschenbecher, und Harry war immer noch nicht da. Gegen drei Uhr morgens übermannte sie der Schlaf. Sie döste leicht ein. Ein dumpfes fallendes Geräusch riß sie aus dem Schlaf. Sie fuhr hoch und horchte angestrengt. Da, ein Kratzen! Das Schleifen eines Körpers auf dem Boden. Dann ein Stöhnen. Nein, es war mehr das Jaulen eines schmerzgeplagten Tieres. Oder war es doch… Mit klopfendem Herzen trat Melanie auf den Korridor hinaus. Jetzt hörte sie es ganz deutlich. Es kam aus dem kleinen Zimmer, durch dessen Fenster sie eingestiegen war. Die Tür war nur angelehnt. Ein schmaler Lichtstreifen fiel auf den Korridor hinaus. Sie hatte vergessen, das Licht zu löschen, als sie es sich im Wohnzimmer bequem gemacht hatte. Langsam ging sie auf den Lichtspalt zu. Sie zitterte leicht, und ihre Knie wurden verdächtig weich. Das Wimmern verstummte plötzlich. Melanie blieb stehen und hielt den Atem an. Eine unerklärliche Angst beschlich sie. Sie wußte nicht, warum. Die Angst war einfach da. Zögernd, im Schatten des Türrahmens bleibend, drückte sie die Tür ganz auf. Sie spähte um die Ecke und das Blut gefror ihr in den Adern. Vor ihr auf dem Boden lag ein Ungeheuer, eine häßliche, furchterregende Bestie, halb Mensch, halb Wolf, überall sah sie Blut! Blut, Blut! * Mitten in der Nacht wachte er auf. Um ihn herum war völlige Stille. Kein Geräusch, das ihn geweckt haben könnte. Trotzdem wußte Cassidy, was ihn geweckt hatte sein sechster Sinn. Es mußte etwas geschehen sein, und zwar mit Leuten, mit denen er 113 �
erst vor kurzem zu tun gehabt hatte. Entweder ist ihnen etwas zugestoßen, oder sie haben selbst etwas… Harry! Harry Faylen! Nur um ihn konnte es sich handeln. Die Werwölfe waren sein letzter Fall gewesen. Er ahnte, was passiert sein konnte. Melanie wird ihn verlassen haben, und er hatte jetzt keine Abwehrwaffe mehr gegen den Satan. Sicher, so mußte es sein. Er schlug die Bettdecke zurück und stand auf. Ich muß zu ihm. Wenn es so ist, daß Melanie ihn verlassen hat und er jetzt ebenfalls als Werwolf sein Unwesen treibt, dann muß ich auch ihn töten. Während er sich wusch und rasierte, dachte er an das kleine Dorf in den Bergen, an die furchtbaren Todesschreie, die noch immer in seinen Ohren klangen. Es waren die schlimmsten Minuten seines Lebens. Er hatte bewußt und kaltblütig vierzehn Menschen umgebracht, sie bei lebendigem Leibe verbrannt. Doch es hatte sein müssen. Hätte er es nicht getan, wäre eine furchtbare Katastrophe über die Menschheit hereingebrochen. Nicht auszudenken, was alles passiert wäre. Er war fertig mit seiner Toilette, zog sich an und ging hinüber in sein Büro. Er legte einen Zettel auf den Schreibtisch, der für seine Sekretärin bestimmt war. Sie sollte wissen, wo er sich aufhielt und wo er unter Umständen zu erreichen war. Dann ging er hinunter und setzte sich in sein Auto. Hoffentlich komme ich nicht schon zu spät, dachte er noch. Dann fuhr er mit quietschenden Reifen an. * Melanie stand wie gelähmt. Mit weitaufgerissenen Augen starrte sie auf das Ungeheuer, 114 �
das reglos vor ihr auf dem Boden lag. Der schrecklich aussehende Körper war völlig mit Blut besudelt. Wo konnte diese entsetzliche Bestie herkommen? Warum hatte sie sich gerade dieses Haus ausgesucht, um zu sterben? Dem vielen Blut nach zu urteilen, müßte sie eigentlich längst verblutet sein. Melanie überwand langsam ihren Schrecken. Sie wagte sich über die Schwelle, trat vorsichtig an das blutüberströmte Monster heran. O Gott, das ist ja ein Werwolf, ein richtiger Werwolf. Sie hatte einmal ein Buch über Werwölfe gelesen. Es war schauderhaft, was da alles dringestanden hatte. Jetzt sah sie einen leibhaftigen Werwolf vor sich. Genauso, wie er im Buch beschrieben war: Die Hufe, die Vorderpfoten, der Körpers eines Wolfes, den Kopf eines Menschen mit einem überaus häßlichen und bösen Gesicht. Kein Zweifel, es war ein Werwolf. Aber das Buch handelte vom vierzehnten Jahrhundert. Jetzt leben wir im zwanzigsten Jahrhundert. Das kann es doch nicht wirklich geben, dachte sie. Sie schloß langsam die Augen, atmete einmal tief durch und öffnete sie dann wieder. Das Monster blieb. Es lag noch immer still und ruhig vor ihren Füßen. Dann erschrak sie aufs neue. Sie glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Vor ihren Augen verwandelte sich die Bestie. Das Haarkleid ging zurück, machte einer glatten Haut Platz. Die Hufe verformten sich, bildeten sich zu menschlichen Füßen aus. Der Kopf wurde kleiner, die Gesichtsform änderte sich. Wenige Sekunden später lag kein Monster mehr vor ihr, sondern Harry Faylen. Ein erstickter Schrei entrang sich Melanies Kehle. 115 �
Was sich da eben vor ihr abgespielt hatte, konnte doch einfach nicht wahr sein. Sie mußte das alles nur geträumt haben. Sie war ja eingeschlafen. Der Krach eines fallenden Körpers hatte sie geweckt. Im Halbschlaf war sie dann aufgesprungen und hatte statt Harry eine Bestie gesehen. Vielleicht hatte das viele Blut ihre Phantasie angeregt. Das Blut… Harry war verwundet. Das Blut war echt. Hoch in seiner linken Schulter war ein Loch, eine Schußwunde! Mein Gott, was ist da bloß passiert? Was mache ich jetzt? Ich muß einen Arzt benachrichtigen. Harry braucht einen Arzt. Aber es ist vier Uhr früh. Wo bekomme ich jetzt… Ihre schon überstrapazierten Nerven wurden nun einer neuen Belastung ausgesetzt. Das zum Teil geronnene Blut, das sich fast über seinen ganzen Körper verteilte, löste sich plötzlich auf. Es verschwand in Nichts, löste sich in Luft auf. Die Wunde schloß sich. Melanie glaubte, einen Zeitrafferfilm vor sich abspielen zu sehen. Es war alles so unwahrscheinlich und unheimlich, daß ihr ein eisiger Schauder über den Rücken rann. Entsetzt drehte sie sich um und lehnte sich an die Wand, das Gesicht auf die angewinkelten Arme gestützt. Wilde, wirre Gedanken schossen durch ihr Gehirn, und sie glaubte, jeden Moment wahnsinnig zu werden. Sie hörte ein Stöhnen hinter sich, ein Scharren. Langsam und zögernd wandte sie den Kopf. Harry hatte die Augen geöffnet. Er richtete sich halb auf und sah an seinem nackten Körper hinunter. Dann erblickte er Melanie. Grenzenloses Staunen machte sich auf seinem Gesicht breit. In seinen Augen war Angst zu lesen. »Melanie, du?« Doch Melanie konnte ihm nicht antworten. Zuviel Unheimliches war in den letzten Minuten auf sie eingestürzt. Sie war krei116 �
debleich im Gesicht. Mit einem leisen Seufzer auf den Lippen stürzte sie ohnmächtig zu Boden. * Schweigend fuhren sie durch das kleine Städtchen. Vor einem Zeitungskiosk hielt Harry an. Er kaufte eine Zeitung und sah kurz hinein. »Bestialischer Mord vor dem Schulhaus«, stand in großen Lettern auf der Titelseite. Und darunter: »Geht ein Ungeheuer durch die Stadt?« Harry wurde blaß, als er die Überschrift gelesen hatte. Siedendheiß stieg es in seinem Innern auf. Er schluckte krampfhaft, faltete die Zeitung zusammen und ging zum Auto zurück. Melanie sah ihn stumm und ängstlich an. Doch Harry bemerkte es überhaupt nicht. Er setzte sich hinter das Steuer und fuhr mit zusammengepreßten Lippen an. Sein Blick wirkte müde und traurig, und seine Augen glänzten verdächtig feucht. In Melanie stieg heißes Mitleid auf. Armer Junge, dachte sie. Aber dann dachte sie an die Bestie der vergangenen Nacht und an Harrys Erzählungen, und Ekel ergriff sie. Sie zuckte erschaudernd zusammen und schüttelte sich. »Du hast Angst vor mir?« fragte Harry heiser. »Ja und nein«, antwortete Melanie leise. »Ich glaube, es ist Angst. Und dann…« Sie zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich weiß es nicht«, sagte sie, »Ich weiß es wirklich nicht.« »Du brauchst keine Angst zu haben«, beruhigte sie Harry. »Am Tag bin ich ein ganz normaler Mensch. So wie früher auch. Ein Mensch wie jeder andere. Nur…« Er verstummte. Aber Melanie wußte, was er hatte sagen wollen. Schweigend fuhren sie weiter. 117 �
Einige Minuten später fragte Melanie: »Wohin fahren wir eigentlich?« »Irgendwohin.« Irgendwohin. Wo ist das? Was hat Harry vor? Will er mich zwingen? Nein! Das glaube ich nicht. Oder… Harry fuhr in den nahen dunklen Wald. Er kurvte durch die schmalen Waldwege und ließ den Blick ringsum schweifen. Er suchte nach etwas Bestimmtem. Aber nach was? Dann schien er gefunden zu haben, was er suchte. Sie hielten auf einer kleinen Lichtung. In der Mitte der freien Fläche stand ein etwa fünf Meter hoher, dünner Baum. Er war hohl, und dürr, und nur noch wenige Äste waren daran. Um den Baum herum lag eine Menge dürres Holz und viel Reisig. Harry stieg aus. Er öffnete den Kofferraum und nahm ein Beil heraus. »Harry! Nicht, Harry!« Ein panischer Schrei löste sich von Melanies Lippen. »Harry fuhr herum. Er sah Melanies entsetzten Blick, der auf das Beil gerichtet war, und versuchte ein Lächeln, was ihm jedoch gründlich mißlang. Es wurde nur ein Verzerren seiner Lippen.« »Keine Angst«, beschwichtigte er sie. »Es ist nicht für dich.« Er reichte ihr das Beil. »Nimm du es.« »Was hast du vor?« »Frage jetzt nicht. Tu, was ich dir sage.« Harry schwieg einen Moment lang. »Versprichst du mir, daß du von nun an tun wirst, was ich dir sage? Versprichst du’s mir?« Melanie nickte stumm. Harry suchte nach zwei Pfählen. Er trug sie zu dem Baum. »Reich mir die Axt!« Melanie gab sie ihm. Harry spitzte die Pfähle zu. Dann schlug er sie links und rechts des Baumes in den Boden, so daß sie gerade noch fast einen 118 �
Meter herausschauten, Danach ging er zum Auto und holte ein langes Seil und die Zeitung. Melanie verfolgte sein Tun mit verständnislosem Blick, Sie konnte sich nicht vorstellen, was Harry damit bezwecken wollte. Dann wurde es ihr mit einem Schlag klar. Sie riß die Augen auf und rannte auf Harry zu. »Nein, Harry, nein! Das darfst du nicht… Bitte, Harry, tu das nicht. Das ist… Das ist…« Harry stieß sie brutal von sich. Er stellte sich auf die beiden Pfähle, mit dem Rücken zum Baum. Dann wickelte er das Seil um den Baumstamm und seine Brust, machte vorne eine Schlaufe und zog fest an dem Rest des Seiles und die Zeitung warf er Melanie zu. »Los, fessele mich an den Baum«, sagte er schroff. »Nein!« Melanie hatte Tränen in den Augen. »Nein, ich kann es nicht.« »Du mußt!« brüllte Harry sie an. »Ich bin ein Ungeheuer. Du mußt mich töten. Ich habe dir erzählt, was mein Bruder getan hat. Ich bin nicht besser, keinen Deut besser. Wenn du mich nicht tötest, werden noch viele Menschen sterben müssen, und du vielleicht auch. Also los!« Melanie schüttelte den Kopf. Sie sah stumm zu ihm auf. Da griff Harry in die Tasche und zog eine Pistole heraus. »Wenn du nicht tust, was ich dir sage, erschieße ich dich«, sagte er kalt. Melanie bewegte sich nicht. Ihr Gesicht war tränenüberströmt, und sie sah Harry wie durch einen Schleier. Harry drückte ab. Die Kugel fuhr vor Melanies Schuhe in das weiche Erdreich. Erschreckt wich sie zurück, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Wird’s bald?« hörte sie Harry sagen. 119 �
Melanie zögerte noch immer. »Nimm die Zeitung und lies, was auf der ersten Seite steht«, sagte Harry. Nun bewegte sich Melanie. Sie griff das Blatt und vertiefte sich in die vordere Seite. Als sie las, wer die Ermordete war, schrie sie leise auf. »Julia«, flüsterte sie. »O Gott, Julia!« Sie hob den Kopf und sah Harry mit vor Grauen verzerrtem Gesicht an. »Das war ich«, erklärte dieser mit zitternden Lippen. »Willst du nun tun, was ich von dir verlange?« Wortlos nahm Melanie das Seil auf und wickelte es um Harry und den Baum. Das Seil war lang, und sie mußte mindestens dreißigmal um ihn herumgehen, bis es endlich zu Ende war. Dann zerrte sie es an einem der beiden Pfähle fest. »Jetzt sammelst du Holz, soviel du finden kannst, und legst es um mich herum«, befahl Harry. Scheiterhaufen! Ich soll einen Seheiterhaufen errichten und ihn bei lebendigem Leibe verbrennen. O Gott, hilf mir doch! Warum läßt du nur zu, daß er so wurde? Ich kann ihn doch nicht… Ich kann es doch nicht. Dann fiel ihr ihre Freundin Julia ein. Sie dachte, an ihren schrecklichen Tod. Harry hatte es getan. Plötzlich lief sie los und trug Holz zusammen. Sie schichtete es unter Harry auf. Der Haufen wurde immer größer, und Melanie hörte noch immer nicht auf. Schweiß lief über ihr Gesicht und vermischte sich mit ihren Tränen. Sie weinte und schluchzte unaufhörlich vor sich hin. Doch sie arbeitete wie von Sinnen weiter. Manchmal stolperte sie, stürzte zu Boden, weil sie fast nichts sah. Der Tränenschleier vor ihren Augen war so dicht, daß alles nur ganz verschwommen vor ihr zu sehen war. Ihre Kleidung war zerrissen, ihre 120 �
Hände und Beine blutig. Aber sie hörte erst auf, als sie kein Holz mehr fand Dann knickte sie vor dem riesiger Scheiterhaufen in die Knie. »Reiß dich zusammen«, hörte sie Harry mit brüchiger Stimme sagen. »Du bist noch nicht fertig. Geh zum Wagen und hol den Benzinkanister. Hörst du, Melanie?« Melanie stammelte unverständliche Worte vor sich hin. Ihre Schultern zuckten ununterbrochen. Mühsam kam sie wieder auf die Beine taumelte zum Auto. Sie hob den Kanister aus dem Kofferraum und trug ihn zum Scheiterhaufen. Sie öffnete ihn, nahm ihre ganze Kraft zusammen und rannte mit dem geöffneten Kanister um den Reisighaufen herum. Aus ihrem Weinen war ein abgehacktes Wimmern geworden. Ihr langes blondes Haar war zerzaust und hing ihr strähnig ins Gesicht. Als der Benzinkanister leer war, starrte sie mit blicklosen Augen zu Harry hinauf. Dieser warf ihr wortlos eine Streichholzschachtel zu. Melanie hob sie auf. Ganz mechanisch strich sie ein Streichholz an und entzündete den Scheiterhaufen. Eine Stichflamme schoß hoch. Melanie konnte gerade noch einige Schritte zurücktreten, bevor sie ohnmächtig zusammenbrach. Sie hörte nicht mehr den Schuß, mit dem Harry sich die Qualen einer Verbrennung ersparen wollte. * Den Schuß hörte Cassidy, der suchend durch den Wald streifte. Er hatte sich in der Stadt durchgefragt und erfahren, daß die beiden in den Wald gefahren wären. Sofort rannte er in die Richtung, aus der der Schuß gekommen 121 �
war. Schon von weitem hörte er das Knistern des Feuers. Er fand das Mädchen dicht bei den rasselnden Flammen. Er hob es hoch und trug es zum Auto. Dort kam Melanie zu sich. Sie schlug die Augen auf, sah das Feuer und fing wieder hemmungslos zu weinen an. »Beruhigen Sie sich«, sagte Alan leise und strich ihr über die von der Hitze geröteten Wangen. »Es ist vorbei, es ist jetzt alles vorbei.« »Ich bin schuld an seinem Tod«, klagte Melanie stockend. »Machen Sie sich keine Vorwürfe. Sie mußten es doch tun!« »Er hat mich – mit der Pistole bedroht. Er – sagte, er würde mich erschießen, wenn, ich nicht… O Gott, es war so furchtbar. Ich…« »Schon gut«, sagte Cassidy. »Ich glaube es Ihnen.« Er richtete sich auf und zog Melanie mit hoch. Sie lehnte sich müde ans Auto und versuchte, nicht in die Flammen zu sehen. »Harry hätte noch eine Chance gehabt«, sagte Alan leise. »Wenn seine Mutter überlebt hätte, dann hätte er noch eine Chance gehabt. Sie liebte ihn wirklich über alles. Nur ihrer Liebe hatte er es zu verdanken, daß er nicht schon viel früher zum Werwolf geworden war. Aber nach ihrem Tod…« Er verstummte und sah zum Feuer hinüber. »Vielleicht ist es besser so. Es ist das endgültige Ende der Teufelsanbeter und Werwölfe, und die Menschheit kann wirklich wieder aufatmen. Der Satan ist besiegt.« Dann ging er, um Holz zu sammeln und das Feuer zu schüren. ENDE
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