Atlan Im Auftrag der Kosmokraten Nr. 682
Bomben auf New Marion Zulgea, die Hexe, gibt den Mordbefehl
von H.G. Ewers
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Atlan Im Auftrag der Kosmokraten Nr. 682
Bomben auf New Marion Zulgea, die Hexe, gibt den Mordbefehl
von H.G. Ewers
Im Jahr 3818 wird Atlan aus seinem Dasein als Orakel von Krandhor herausgerissen. Der Grund für diese Maßnahme der Kosmokraten ist, daß Atlans Dienste an einem anderen Ort des Universums viel dringender benötigt werden als im Reich der Kranen. Neuer Einsatzort des Arkoniden ist die Galaxis Alkordoom, wo eine Entwicklung im Gang ist, die das weitere Bestehen der Mächte der Ordnung in Frage stellt. Bereits die ersten Stunden von Atlans Aufenthalt in Alkordoom zeigen auf, wie gefährlich die Situation ist. Jedenfalls muß der Arkonide den gesamten Erfahrungsschatz seines nach Jahrtausenden zählenden Lebens einsetzen, um sich behaupten zu können. Der bestandene Todestest und der Einsatz im Kristallkommando beweisen Atlans hohes Überlebenspotential. Dennoch gerät der Arkonide in die Gewalt der Crynn-Brigadisten – und ihm droht die Auslöschung seiner Persönlichkeit. Doch Atlan wird rechtzeitig genug von Celestern gerettet, Nachkommen entführter Terraner, die den Arkoniden in ihre Heimat New Marion bringen. Und als Atlan von einer Gefahr erfährt, die den Bewohnern des Planeten droht, greift er ein. Eine ganze Welt soll ausgelöscht werden durch BOMBEN AUF NEW MARION…
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan – Der Arkonide in Gefangenschaft. Sarah Briggs – Atlans Mitgefangene. Arien Richardson – Der Celester versucht, Atlan zu befreien. Ofox – Kommandant des Spielhöllenschiffs. Das Minu-Cuzz – Die seltsame Weisheit hat großes Interesse an Atlan. ANIMA – Das lebende Raumschiff greift ein.
1. Die Anzeigen des Signalgeräts waren eindeutig. Der Celester Ubal Meesters hatte erst kürzlich in Kontakt mit der anderen Hälfte gestanden. Der Aufruhr der Gefühle, den diese Gewißheit auslöste, verwirrte meine Sinne. Wie lange war es her, daß die Hexe die Wesenheit ermordet hatte, zu der wir beide gehörten? Ich wußte es nicht, denn die Alptraumzeit danach war wie das Durchwandern eines finsteren Tales gewesen. Die Erinnerungen daran waren verblaßt oder ganz dahingeschwunden. Als ich mich allmählich von dem Schock erholte und mir meine Lage halbwegs nüchtern ins Bewußtsein rufen konnte, hatte ich den Entschluß gefaßt, nach meiner anderen Hälfte zu suchen und mich mit ihr zu vereinigen. Zwar vermochten wir das Cuzz nicht wiederherzustellen, denn wir beide waren ja nur Anteile der Facette gewesen, vergleichbar mit den Symbionten eines Wesens, aber das Cuzz hatte bei seinem Tode einen Teil seiner physischen und psychischen Fähigkeiten auf uns übertragen, so daß wir nach einer Vereinigung mehr sein würden als nur die Summe zweier Teile. Wir würden endlich Rache an Zulgea von Mesanthor nehmen können und ihr den Sektor wieder entreißen, über den sie sich durch die Ermordung unserer Facette die Macht angeeignet hatte. Doch vorher mußte ich das Fract-Cuzz wiederfinden, von dem ich so lange Zeit getrennt gewesen war. Ubal Meesters würde mir verraten müssen, wo und unter welchen Umständen er Kontakt mit ihm gehabt hatte. Aber kurz bevor ich ihn fassen konnte, hatte er sich freiwillig in die Gewalt des Kommandanten der ROULETTE begeben. Ich hatte noch versucht, ihn durch einen hypnosuggestiven Befehl zurückzuhalten. Aber das hatte aus unerfindlichen Gründen nicht funktioniert. »Du hattest mich früher benachrichtigen sollen«, wandte ich mich an den Voorndaner Comerlat, den ich vor einiger Zeit zu meinem Agenten gemacht hatte – wie zahlreiche andere Intelligenzen auch. »Entschuldige, Herr, aber ich war mir meiner Sache nicht sicher«, erwiderte Comerlat unterwürfig. »Die Emissionen sind nicht rein.« »Sie sind überlagert, aber für mich dennoch völlig eindeutig«, gab ich zurück. »Das konntest du allerdings nicht beurteilen. Dennoch hättest du dich früher melden müssen, dann befände sich Ubal jetzt in meiner Gewalt.« »Das sehe ich ein«, gab Comerlat zu. »Wenn du es mir befiehlst, werde ich alles versuchen, um den Celester zu befreien.« »Du wirst nichts dergleichen unternehmen!« befahl ich ihm. »Das Risiko für Ubal wäre zu groß. Nein, du verhältst dich vorläufig passiv und beobachtest die Hauptzentrale. Falls Ubal von dort weggebracht wird, stellst du mit dem Signalgerät seine neue Position fest und benachrichtigst mich. Ich werde mich unterdessen auf der ROULETTE umsehen und mich mit den Verhältnissen vertraut machen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, schwebte ich davon. Meine Aggregateplatte verlieh mir die Beweglichkeit und Schnelligkeit eines hochentwickelten Roboters und erhielt mich am Leben. Er war mehr als nur ein vollwertiger Ersatz für einen organischen Körper. Manche Leute bezeichneten diese Platte und mich als Cyborg, doch das traf nicht den wahren Kern der Sache. Ich durchquerte die Korridore und Antigravlifts der Hotelsektion. Hier und da gab es Spuren von Explosionen. Zahlreiche Smyrter waren dabei, die Schäden zu beheben. Andere Smyrter standen schwerbewaffnet auf den Kreuzungen. Sie sollten offenbar für Ruhe und Ordnung sorgen. Oberflächlich betrachtet, gelang ihnen das auch. Aber ich wußte, daß das nichts an den Strömungen und Gegenströmungen änderte, die an Bord des Spielhöllenschiffs herrschten. Es gab mehrere Gruppen mit gegensätzlichen Interessen, und jede Gruppe würde weiter ihre eigenen Ziele verfolgen.
Als ich die Kugelsektion mit den Spielkasinos und Vergnügungsräumen erreichte, wußte ich so gut wie alles über die Hotelsektion. Ich schwebte in einen Spielsaal, in dem neununddreißig vollautomatische Spieltische standen, jeder in einer optisch abgeschirmten Nische. Ich erfaßte sie nur mit Hilfe der Ortungsgeräte meiner Aggregateplatte – und ich erfaßte auch die elektronischen Feinheiten der Spieltische. Zwei bis sechs Personen saßen an jedem Tisch, die meisten Besucher, die gegeneinander spielten. Es waren Angehörige von neun Völkern der Galaxis Alkordoom vertreten. Ich erregte kein Aufsehen. Wo so viele unterschiedliche Intelligenzen verkehrten, war es selbstverständlich, daß jeder Besucher hin und wieder Vertretern einer Spezies begegnete, die er nicht kannte. Das ging den Smyrtern nicht anders als den Voorndanern und Celestern. Ich war beispielsweise auf Torrynx im Querssa-System mit elf Torrynxanern, vier Gursiitern und zwei Nogalln an Bord eines Nachschubschiffs der ROULETTE gegangen und von Anfang an als normaler Gast behandelt worden. An einem Spieltisch saßen zwei Thater einem Smyrter gegenüber. Sie spielten Zacch-Drei-Kron, ein kompliziertes und schnelles Würfelspiel mit Magnetwürfeln, die durch einen ganzen Komplex unterschiedlich gepolter Magnetfelder geworfen werden mußten. Ich sah eine Weile zu und stellte dabei fest, daß einer der Thater physikalisch unmögliche Würfe erzielte. Sie ließen sich eigentlich nur durch telekinetische Fähigkeiten erklären. Natürlich gewann er dadurch jedes Spiel. Mich interessierte es, wie die Spielbank darauf reagieren würde; deshalb blieb ich in der betreffenden Nische. Die Spieler machten von ihrem Recht, Gaffer wegschicken zu dürfen, keinen Gebrauch – und ich verhielt mich still, um ihnen nicht lästig zu werden. Wie ich vermutet hatte, wurde der Smyrter kurz darauf von einem anderen Angestellten des Kasinos abgelöst, ebenfalls einem Smyrter – und plötzlich wendete sich das Blatt. Die Thater gewannen noch ein Spiel, wenn mich sehr knapp; danach verloren sie jedesmal. Natürlich war ihr Gegner ein Mutant und ein etwas besserer Telekinet als der eine Thater. Verstimmt gaben die Gäste nach einer Weile auf. Ich wechselte das Etablissement. Diesmal geriet ich in ein Traumkabinett. Hier schwebten Sphären aus Formenergie in sich überschneidenden künstlichen Gravitationslinien. Elektronische Felder, Duftstoffe und Drogenstaub versetzten die Besucher ganz nach ihren individuellen Wünschen in Trance und gaukelten ihnen eine Scheinwelt mit Scheinerlebnissen vor. Es war widerlich, intelligente Lebewesen in den Sphären idiotisch lachen oder von Weinkrämpfen geschüttelt zu sehen, zu beobachten, wie sie sich eingebildeten Genüssen hingaben oder mit angstverzerrten Gesichtern und strampelnden Extremitäten vor eingebildetem Grauen flohen. Ich schwebte weiter und gelangte in eine Art Entspannungsraum. Hier wurde nicht gespielt, und es wurden auch keine dekadenten Vergnügungen geboten. Die Gäste standen, lagen oder saßen einfach entspannt herum und unterhielten sich zwanglos. Dieser Eindruck täuschte jedoch. Ich beobachtete eine Gruppe von sechs Voorndanern, die sich im Raum verteilt hatten und andere Gäste ansprachen. Sie redeten so leise, daß ich sie kaum verstehen konnte. Schon wollte ich ein Richtmikrophon aktivieren, da wandte sich einer der Voorndaner an mich. »Du hast Probleme, mein Freund«, flüsterte er. »Natürlich willst du es nicht zugeben, aber ich kenne mich aus. Es gibt keinen Cyborg, der keine Probleme hätte. Da ihr nicht organisch entstanden seid, werdet ihr euch oft des Trennenden zwischen Maschine und Lebendigem bewußt. Das führt zu Anfällen, die nicht sein müßten. Probiere etwas von diesem Disorgenan, und du wirst vergessen, daß du ein Cyborg bist!« Er hielt mir eine fingergroße Ampulle vors Gesicht, in der sich eine gelbliche Flüssigkeit befand. »Einfach zerbrechen und tief einatmen!« erklärte er. »Du wirst über die Wirkung entzückt sein.« »Zerbrich sie für mich; ich habe keine Hände«, erwiderte ich und erteilte ihm den hypnosuggestiven Befehl, die Ampulle vor seinem eigenen Gesicht zu zerbrechen und den Drogendunst einzuatmen.
Er gehorchte. Als die Ampulle zerbrach, verwandelte sich ihr eben noch flüssiger Inhalt in ein schnell verpuffendes weißes Gas. Der Voorndaner atmete tief ein, dann schwankte er, lehnte sich an eine Wand, schloß die Augen und sank langsam zu Boden. Seine Gesichtsmuskeln zuckten konvulsivisch. Ein älterer Voorndaner hatte die Szene beobachtet. Er kam mit argwöhnischem Blick auf mich zu. »Was hast du mit Drolyk gemacht?« erkundigte er sich und beugte sich über den auf dem Boden sitzenden Voorndaner. »Verdammt, er ist bewußtlos!« »Ich habe überhaupt nichts gemacht«, gab ich zurück. »Er hat mir nur gezeigt, wie Disorgenan eingenommen wird.« »Das kannst du mir nicht weismachen!« brauste der ältere Voorndaner auf. »Niemand, der bei Verstand ist, wird dieses Gift selber einatmen.« »Gift!« wiederholte ich. »Dachte ich mir’s doch. Ihr möchtet also das Ansehen der Konkurrenz untergraben.« Das Gesicht des Voorndaners verzerrte sich vor Wut. Er zog eine Nadelpistole unter seiner Kleidung hervor. Anscheinend wollte er mir eine Giftnadel ins Fleisch schießen, um zu verhindern, daß ich ihn und seine Gefährten als Agenten von Voorndan entlarvte. Ich wollte schon hypnosuggestiv zupacken, da tauchte Comerlat überraschend auf. Er sah, was sich anbahnte, eilte auf uns zu, packte den älteren Voorndaner am Arm und redete beschwichtigend auf ihn ein. Dabei erfuhr ich auch den Namen des älteren Mannes. Er hieß Huykers. Nach einer Weile steckte Huykers die Nadelpistole wieder weg. »Ich kann mich darauf verlassen, daß du schweigst?« erkundigte er sich verlegen bei mir. »Solange meine Interessen nicht gefährdet werden, mische ich mich nie in fremde Angelegenheiten ein«, versicherte ich ihm. »Du solltest aber niemals leichtfertig Fremde angreifen, von deren Mitteln und Fähigkeiten du keine Ahnung hast.« Ich wandte mich ab und schwebte davon, um Comerlat Gelegenheit zu geben, allein mit mir zu reden. Er hatte seinen Posten verlassen. Dafür mußte es einen wichtigen Grund geben. Als ich den Entspannungsraum verließ, warf ich einen Blick zurück. Huykers kümmerte sich um den Bewußtlosen, und Comerlat folgte mir. Draußen auf dem Korridor wartete ich auf ihn. »Die beiden Celester sind wieder aufgetaucht«, berichtete er aufgeregt. »Die dich gefangengenommen hatten, um Ubals Aufenthaltsort zu erfahren?« fragte ich, denn er hatte mir über diesen Vorfall berichtet, nachdem ich ihn aus der Abstellkammer befreit hatte, in die er von den beiden Celestern eingesperrt worden war. »Ja, die waren es«, bestätigte Comerlat. »Sie schleichen um die Hauptzentrale herum, als wüßten sie, daß Ubal sich dort befindet. Als sie mich entdeckten, versuchten sie, mich in die Zange zu nehmen. Ich zog mich vorsichtshalber zurück.« »Das war richtig«, lobte ich ihn. »Diese Burschen sind zu neugierig für meinen Geschmack. Außerdem hätten sie gar nicht wissen dürfen, daß du Ubals Aufenthaltsort kennst, es sei denn, sie wissen, daß du ihn orten kannst. Dann werden sie aber auch vermuten, daß du in fremdem Auftrag handelst. Wir werden den Spieß umdrehen und sie uns vornehmen.« *
»Da sind sie schon«, flüsterte Comerlat und blickte starr in die Tiefe des Korridors. »Jedenfalls habe ich einen von ihnen gesehen. Es ist der, der sich Traunich nennt.« »Wo hast du ihn gesehen?« fragte ich ungehalten, denn meine Ortungssysteme hatten kein fremdes Gehirnwellenmuster angemessen. »Dort hinten im Korridor«, behauptete Comerlat und blickte weiterhin starr in die gleiche Richtung. »Er kam aus einem Liftschacht und ist in einer Nische verschwunden. Deshalb siehst du ihn nicht, Herr.« »Ich muß ihn nicht optisch wahrnehmen, um ihn zu sehen«, erinnerte ich ihn an meine Fähigkeiten. »Aber da ist niemand außer uns in diesem Korridor. Du mußt dich getäuscht haben.« »Nein, Herr!« ereiferte er sich. »Ich weiß, daß ich Traunich gesehen habe.« »Dann ist Traunich kein Celester«, insistierte ich. »Aber ich habe doch Augen im Kopf!« brauste Comerlat auf. »Vergiß niemals den nötigen Respekt mir gegenüber!« wies ich ihn scharf zurecht. »Wenn ich sage, daß Traunich kein Celester ist, dann stimmt das. Er ist weder ein Celester noch sonst ein Wesen aus Fleisch und Blut.« »Aber was ist er dann?« fragte Comerlat. Dabei lag es auf der Hand. Nur wollte ich nicht voreilig etwas behaupten. Ich mußte meiner Sache sicher sein, und das war unter den gegebenen Umständen nicht so einfach. In den Wänden, Decken und Böden der Kugelsektion waren Tausende von Computern und Servoelementen installiert. Die elektronischen Systeme eines Roboters beziehungsweise deren Emissionen hoben sich gegen diesen Hintergrund ungefähr so ab wie ein Baum vom Wald. Jedenfalls, solange der Roboter auf einem Fleck stand und auch sonst keine besonderen Aktivitäten entwickelte. Doch es war nur eine Frage der Zeit, ihn dennoch zu lokalisieren. Ich brauchte nur die Bahnen der Impulsübermittlung zwischen Sensoren und Computern lange genug zu registrieren, dann hob sich für meine Ortung die Silhouette des Gesuchten gegen den Hintergrund scharf genug ab. »Es ist ein als Celester getarnter Roboter«, klärte ich Comerlat auf, nachdem ich meiner Sache sicher war. »Hervorragend durch emissionsschluckende Materialien gegen Ortung geschützt, aber nicht gut genug für die Geräte meiner Aggregateplatte.« »Ein Roboter?« wunderte sich Comerlat. »Mit dem Aussehen eines Celesters! Die Celester haben bisher noch nie solche Roboter eingesetzt.« Die Einfalt dieses jungen Voordaners regte mich auf, aber ich beherrschte mich. »Es ist unwahrscheinlich, daß die Celester einen Roboter einsetzen, der wie sie selber aussieht«, erklärte ich. »Du wirst jetzt an ihm vorbeigehen. Dadurch muß er entscheiden, ob er dir folgen oder mich weiter in der Ortung behalten soll. Das wird ihn ausreichend ablenken, um seine Positronik zu überwältigen.« »Ja, Herr«, erwiderte Comerlat. Zögernd setzte er sich in Bewegung. Wahrscheinlich fürchtete er sich vor dem Roboter. Doch dann schien er sich darauf zu besinnen, daß er mich mehr zu fürchten hatte als alles andere im Universum, denn er schritt entschlossener vorwärts. Ich hatte unterdessen verschiedene Schaltungen mit meiner Aggregateplatte vorgenommen, und während der Roboter namens Traunich den größten Teil seiner Sensoren auf Comerlat richtete und die Impulsübermittlungen zwischen ihnen und seiner Positronik hektisch wurden, griff ich fernsteuertechnisch in diese Rückkopplungsprozesse ein und veränderte sie so, daß ich nach einiger Zeit die Sensoren auf mich prägen konnte, das hieß, auf mein organisches Gehirn.
Die Positronik Traunichs begriff erst in diesem Augenblick, was vorgefallen war, doch da war es bereits zu spät für sie, um daran etwas zu ändern oder es gar rückgängig zu machen. Sie war von den Sensoren abgeschnitten und vermochte dadurch auch die Gliedmaßen des Pseudokörpers nicht mehr zu kontrollieren. Als ich in seine Richtung schwebte, trat er aus der Nische, in der er sich bisher verborgen gehalten hatte. »Bleib stehen, Comerlat!« rief ich dem jungen Voordaner nach. »Traunich ist in meiner Gewalt. Ich habe aber noch etwas mit ihm vor, wobei ich keine Zuschauer haben möchte. Führe mich in einen leeren Raum!« Comerlat musterte Traunich, als könnte er nicht begreifen, daß der »Celester« nicht mehr er selbst war, sondern von mir kontrolliert wurde, dann machte er eine Geste der Bestätigung und ging uns voran. Jede Bewegung des Roboters wurde von mir gesteuert. Das war natürlich beschwerlich, denn ich mußte ja gleichzeitig meinen organisch-mechanischen Komplex steuern und zwar auf andere Art und Weise als den Roboter. Darum wollte ich diesen Zustand so bald wie möglich beenden. Nach einer Weile blieb Comerlat vor einem Schott stehen. Es öffnete sich. Dahinter schaltete sich das Licht an und beleuchtete einen mittelgroßen Raum voller Gerumpel. »Das muß ein alter Schaltraum sein, der irgendwann das Opfer einer Modernisierung wurde«, meinte Comerlat und trat ein. »Was hast du mit Traunich vor, Herr?« Ich dirigierte den Roboter in den Raum und schwebte hinterher. Nachdem sich das Schott wieder geschlossen hatte, zwang ich den »Celester« mit Hilfe des Impulsumwandlers meiner Aggregateplatte dazu, seinen Kopf mitsamt dem Hals zu demontieren. Da die robotische Konstruktion mit blutversorgter Biohaut umhüllt war, schnitt ich sie rings um den Hals mit einem nadelspitzenfeinen Laserstrahl durch. Das versiegelte die Blutgefäße und verhinderte eine Besudelung des Körpers. Trotz der schonenden Behandlung des Materials verdrehte Comerlat die Augen. Er schien einer Ohnmacht nahe zu sein. »Das ist nur ein Roboter!« erinnerte ich ihn streng. Danach schwebte ich zum Halsansatz der Schultern des »Celesters«, setzte mich mit der Unterseite der Aggregateplatte dort fest und stellte die mechanischen und elektronischen Verbindungen und Kontakte zwischen dem Roboterkörper und der Platte her. Schalttechnisch wurden wir dadurch eine Einheit. Natürlich wies das Styling einen Bruch auf. Das wurde mir erst voll bewußt, nachdem ich eine Metallfläche blankgewischt und mich darin gespiegelt hatte. Bis zu den Schultern sah ich aus wie ein Celester, dann kam die 22 Zentimeter durchmessende und fünf Zentimeter starke Metallscheibe und darauf mein Kopf. Seine hellblaue Färbung stand in disharmonischem Kontrast zur hellbraunen Haut des übrigen Körpers. Doch das war ein geringfügiger Nachteil gegenüber dem Vorteil, den ich durch die Übernahme und Integration Traunichs gewonnen hatte. Mit ein wenig Phantasie konnte ich mir einbilden, mit dem Fract-Cuzz vereinigt zu sein. Das erinnerte mich an meine vordringliche Aufgabe. Ich mußte Ubal befreien, denn von ihm hoffte ich etwas über die andere Hälfte zu erfahren. Ich warf Comerlat den Kopf des »Celesters« zu. »Laß ihn verschwinden!« befahl ich. »Und halte dich in nächster Zeit von der Kugelsektion fern. Ich weiß aus der Positronik Traunichs, daß sich Kreaturen der Hexe auf der ROULETTE befinden. Sie werde ich vernichten. Es wird sich nicht vermeiden lassen, daß es dabei zu Schießereien kommt. Je größer das Chaos, desto leichter wird es mir fallen, Ubal zu befreien.« Comerlat wickelte den Kopf Traunichs in eine herumliegende Plastikplane und verdrückte sich
schweigend. Den Handkoffer trug er noch immer unter den rechten Arm geklemmt, obwohl er das Signalgerät voraussichtlich nie mehr brauchen würde. Dennoch, man konnte nie wissen. Die bisherige Handlungsweise Ubals verriet, daß er kein durchschnittlicher Celester war. An ihm war irgend etwas Besonderes. Er konnte mir durchaus noch Schwierigkeiten bereiten. Doch schlußendlich würde ich ihn fassen und aus ihm herausholen, was er über die andere Hälfte wußte – und sobald ich das Fract-Cuzz gefunden hatte, würde ich uns die Macht einer Facette zurückerobern. Ich, das Minu-Cuzz…
2. Alles in dem riesigen Saal war vergoldet: der Boden, die gewölbte Decke, die barocken Möbel – und sogar Sarah Briggs, die mit geschlossenen Augen auf einer Art Thron saß und den Sphärenklängen lauschte, die die Luft erfüllten. Ah, was für eine Luft! Ich atmete tief ein und genoß den würzigen Duft, der mich an die einst riesigen Tannenwälder Terras erinnerten, den Duft nach den Nadeln und dem Harz der Tannen. Er war stets dann besonders intensiv gewesen, wenn die Sonne nach einem durchdringenden Regenguß durch die Wolken gebrochen war und heiß vom Himmel gebrannt; hatte. Irgend etwas rumorte in einem Winkel meines Bewußtseins und machte mich nervös. Ich unterdrückte es. Zum erstenmal in meinem Leben war mir die ganze Schönheit des Universums bewußt geworden. Das wollte ich mir durch nichts vergällen lassen. Ich ging zu Sarah. Das heißt, ich wollte zu ihr gehen, aber kaum hatte ich diese Absicht gedanklich formuliert, als ich mich eine Handspanne hoch erhob und durch die Luft auf die Celesterin zuschwebte. Es war ein herrliches Gefühl, so zu schweben, ganz ohne Anstrengung, nur kraft meines Willens. Abermals rumorte etwas in meinem Hinterkopf. Wollte sich ein Telepath in meine Gedanken schleichen? Ärgerlich blockte ich mich ab. Wenn ich nicht wollte, konnte niemand meine Gedanken lesen. Schließlich war ich mentalstabilisiert. Doch das Abblocken hatte mich abgelenkt. Ich schwebte plötzlich nicht mehr auf Sarah zu, sondern stand auf einer Geröllhalde und blickte irritiert die steile Felswand hinauf, die über der Halde begann und von dort etwa dreihundert Meter aufstieg. Sie endete in einem Plateau, und dort oben stand die Burg, in deren Festsaal ich mich eben noch befunden hatte. Ich runzelte die Stirn. Wenn ich mich eben noch in dieser Burg befunden hatte, wie war ich dann hierhergekommen? Ich sah an mir herab. Meine Kleidung bestand aus einem ledernen Kilt, einer ledernen Weste, Ledersandalen mit Zehenund Fersenschutz und Wadenriemen sowie einem Metallhelm. Als ich ihn vom Kopf nahm und betrachtete, mußte ich unwillkürlich an einen galea, den Metallhelm der römischen Legionssoldaten, denken. Wie dieser, besaß auch mein Helm einen Busch aus roten und schwarzen Federn. Meine Irritation wuchs, als ich den Wurfspieß in meiner rechten Hand und den Schild an meinem linken Unterarm bemerkte, dazu das in einer schmucklosen Scheide steckende Schwert, das an meinem Gürtel hing. Es war doch unmöglich, daß ich in die Vergangenheit versetzt worden war und als römischer Zenturio irgendwo auf Terra herumlief. Ich befand mich ja nicht einmal auf Terra, sondern… Ja, wo befand ich mich überhaupt? Unwillkürlich suchte ich den Himmel nach dem Muttergestirn des Planeten ab, auf dem ich zweifellos stand. Ihr Aussehen konnte mir unter Umständen verraten, wie sie und dieser Planet hießen. Doch der Himmel enttäuschte mich. Er war zwar hell, aber so dunstig, daß mir nur eine besonders helle Stelle die Position der Sonne verriet, ohne mir die Sonne selbst zu zeigen. Ich faßte wieder die Burg ins Auge, denn ich hatte mich daran erinnert, daß sich dort Sarah befand. Sarah war nicht irgendeine Frau, sondern die Frau, die ich derzeit liebte. Warum also ging ich nicht zu ihr? Es mußte einen Weg hinauf zur Burg geben, falls sie nicht von Vogelmenschen erbaut worden war.
Meine Augen suchten die Geröllhalde ab – und fanden die gewundene Linie, die sich durch ihre andersartige Färbung von der Umgebung abhob und dadurch verriet, daß auf ihr immer wieder Steine weggetreten wurden: der Pfad. Er endete oben unterhalb der Steilwand, und genau dort konnte ich bei genauem Hinsehen die Schattenstreifen schmaler Stufen erkennen. Eine in den Fels gehauene Treppe führte in zahlreichen Serpentinen hinauf und würde mich zur Burg führen. Ich ging den Pfad entlang und bemühte mich um ein mäßiges Tempo, denn der Aufstieg über die Treppe würde sicher viel Kraft kosten. Folglich mußte ich mit meinen Kräften haushalten. Mehrmals gaben Steine unter meinen Füßen nach. Ansonsten kam ich gut voran. Dann stand ich am Fuß der Treppe und lenkte meinen Blick, der bisher auf den Pfad gerichtet gewesen war, nach oben. Er erfaßte ein Paar Ledersandalen, geschnürte Waden, einen ledernen Kilt, eine Lederweste, in der eine breite Brust stak, einen Hals, einen Kopf, einen Helm mit Federbusch und ein Gesicht mit albinotisch rötlichen Augen, die mich wissend und ironisch ansahen. Es wunderte mich nicht, als ich sah, daß mein Gegenüber die gleichen Waffen trug wie ich. »Gib den Weg frei!« sagte ich höflich, aber bestimmt. Seltsamerweise kannte ich die Antwort, bevor sie über die Lippen meines Gegenübers gekommen war. Sie bestand in einem schlichten Nein. »Dann werden wir kämpfen müssen«, stellte ich fest. Er zuckte gleichmütig die Schultern. »Wer bist du eigentlich?« erkundigte ich mich aufgebracht. »Das weißt du nicht?« fragte er zurück. Ich dachte darüber nach, aber ich wußte wirklich nicht, wer mein Gegenüber war. »Nein«, sagte ich und faßte den Wurfspieß fester. »Ich bin Atlan«, erklärte er. »Atlan?« erwiderte ich verblüfft. »Aber das bin doch ich.« Er reagierte überhaupt nicht darauf. Ich spürte, wie es in mir zu kochen begann. Nicht nur, daß dieser Fremde (?) mir den Weg versperrte und mich dadurch zwang, gegen ihn zu kämpfen, behandelte er mich noch dazu mit einer Gleichgültigkeit und Herablassung, die für einen Mann aus uraltem Adel beleidigend war. Ich zwang mich dazu, den Zorn zurückzudrängen, damit er das Bewußtsein nicht trübte und mich dadurch im Kampf benachteiligte. Danach hob ich den Ger und täuschte einen Wurf vor. Der Fremde lachte nur. Er hob nicht einmal den Schild zur Abwehr, sondern blieb unbeweglich stehen. Dann zuckte seine Hand mit dem Ger hoch. Im ersten Moment dachte ich, er würde mein Täuschungsmanöver kopieren, doch plötzlich wußte ich, daß er werfen würde. Ich hob den Schild und führte eine halbe Körperdrehung aus. Dadurch traf der Ger in so flachem Winkel auf den Schild, daß er ihn nicht einmal ritzte, sondern abgelenkt wurde und summend weiterflog. Mein Gegner versuchte, mich zu überrumpeln. Anstatt zu warten, bis ich meinen Ger ebenfalls geworfen hatte, zog er sein Schwert und stürmte auf mich los. Aber ich hatte gleichartige Situationen zu oft erlebt, um dadurch gefährdet zu werden. Ich reagierte reflexhaft, steppte im Halbkreis um den Gegner herum und schleuderte den Ger schräg von oben. Er reagierte, wie es in meinen durch Erfahrungen programmierten Reflexen berücksichtigt worden war, indem er herumwirbelte, sich duckte und den Schild anhob. Mein Ger hätte eigentlich seinen linken Fuß durchbohren müssen, aber er mußte das geahnt haben, denn er wechselte die Fußstellung blitzschnell, so daß die Metallspitze meines Gers sich nutzlos in den Schotter bohrte.
Ein erfahrener Kämpfer! Da hatte ich aber bereits wieder gehandelt, denn es steckte mir im Blut, die Entscheidung so schnell wie möglich zu suchen – und das war oft allein schon dadurch möglich, daß man um eine Kleinigkeit schneller handelte als der Gegner. Meine Gerspitze bewegte sich noch im Schotter, als ich das Schwert aus der Scheide riß und über den Kopf hob, während ich vorwärts stürmte. Unsere Schilde prallten scheppernd zusammen. Seine Schwerthand tauchte überraschend an meiner Schwerthand auf und blockierte den Hieb im Ansatz. Ich drehte mich, um seiner Blockade zu entkommen und einen Hieb oder Stich anbringen zu können, doch er machte alle Bewegungen mit, als wäre er ein Teil von mir. Unsere Schilde rieben sich knirschend aneinander, und unsere Fäuste mit den Schwertern preßten sich gegeneinander. Ich probierte alle Tricks durch, die ich kannte. Mein Gegner parierte sie alle. Nach wenigen Minuten war mein Repertoire durchgespielt. Ich konnte mit nichts Neuem mehr aufwarten. Falls er ein paar Tricks mehr beherrschte, würde ich sehr aufpassen müssen. Doch ich sah in seinen Augen, daß auch sein Repertoire verbraucht war – und er erkannte das wohl auch in meinen Augen, denn wir brachen diese Runde in stillschweigender Übereinkunft ab. Nachdem wir uns getrennt hatten, senkten wir die Schwerter und setzten Pokermienen auf, wie das in solchen Fällen üblich war. Ich selbst wußte von mir, daß ich in dieser Hinsicht ziemlich gut war. Deshalb war ich eigentlich recht zuversichtlich, meinen Gegner zu einem ehrenvollen Rückzieher bewegen zu können. Doch der Kerl bewies eine unglaublich Sturheit. Seine Miene verriet auch nach Minuten noch nicht die geringste Unsicherheit, sondern drückte unerschütterliche Siegeszuversicht aus. »Letzten Endes werde ich doch durchkommen«, behauptete ich. »Meine Motivierung ist starker als deine.« »Genau umgekehrt ist es«, widersprach mein Gegner. »Deine Motivierung beruht auf bloßer Einbildung, meine aber auf Fakten. Früher oder später wirst du einsehen, daß du den falschen Weg gehen wolltest.« »Es gibt nur diesen einen Weg zu Sarah«, erklärte ich. Aber schon während ich das sagte, wurde es ad absurdum geführt, denn die Felsenwand und die Treppe verblaßten und schienen sich in hellen Rauch zu verwandeln, der sich nach kurzem Aufbrodeln verflüchtigte. Unwillkürlich zog ich den Kopf ein, weil ich erwartete, die Burg würde zusammenstürzen. Doch als ich hinaufsah, war sie ebenso verschwunden wie die Felswand. »Was ist das für Hexenwerk?« fuhr ich meinen Gegner an – und mußte feststellen, daß es auch ihn nicht mehr gab. Du Narr! sagte jemand spöttisch in meinem Gehirn. Im selben Augenblick begriff ich, daß mein Gegner niemals körperlich existiert hatte. Er war, genau wie der Kampf, nur in meinem Kopf gewesen. Er hatte sich auch völlig zu Recht Atlan genannt, denn schließlich bewohnten wir einen gemeinsamen Körper. Ob wir auch eine gemeinsame Persönlichkeit besaßen, war eine reine Definitionsfrage. Ich ordnete meinem Extrasinn eine eigene Persönlichkeit zu, die erst durch die ARK SUMMIA erweckt worden war. Andererseits wäre meine Persönlichkeit ohne ihn unvollständig gewesen. Ringsum verwandelte sich auch der Rest der Umgebung in hellen Rauch. Als er sich verflüchtigte, sah ich schräg über mir ein ovales hellbraunes Gesicht, halbverhangen von pechschwarzem, in der Mitte gescheiteltem Haar – und zwei dunkle, mandelförmige Augen sahen mich an. Sarah!
»Wie fühlst du dich, Atlan?« flüsterte sie. Ihre Stimme klang matt und besorgt. Erst dadurch wurde ich aufmerksam darauf, daß ihre Wangen eingefallen waren und sie dunkle Ränder unter fiebrig glänzenden Augen hatte. Plötzlich wußte ich wieder, daß ich mich freiwillig in die Gewalt des Kommandanten der ROULETTE begeben hatte, um Sarah zu retten, die von ihm gefangengenommen und unter Rauschgift gesetzt worden war. Ofox hatte mich von seinen Leuten gewaltsam mit Rauschgift vollpumpen und danach zu Sarah sperren lassen. Doch da war noch etwas gewesen, etwas, an das sich die Erinnerung nicht einstellen wollte. Ich dachte angestrengt nach, kam aber nicht darauf. »Warum sagst du nichts?« fragte Sarah. Ich versuchte, beruhigend zu lächeln. »Mir geht es gut«, antwortete ich. Gleichzeitig tastete ich mit der rechten Hand nach meiner Brust. Ich atmete auf, als ich unter meiner Kombination die eiförmige Erhebung des Zellaktivators fühlte. Ich hatte ihn auf Sarahs Brust gelegt, als die Wachen mich in ihre Zelle geworfen hatten. Nicht, weil ihr Zustand so schlimm gewesen wäre. Das hatte ich zu diesem Zeitpunkt infolge meines Drogenrauschs gar nicht beurteilen können. Ich hatte es getan, weil ich es mir fest vorgenommen hatte, als ich noch im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte gewesen war. Versuche bloß nicht, jede Kleinigkeit rekonstruieren zu wollen! wisperte mir der Extrasinn zu. Sarah geht es gut, sonst hätte sie dir den Aktivator nicht zurückgeben können. Sie weiß doch aber nicht, was er wirklich ist! dachte ich zurück. Sie weiß, daß er dir gehört – und sie hat ihn auf ihrer Brust gefunden, als sie wieder zu sich kam! erwiderte der Logiksektor. Folglich wird sie annehmen, daß es sich um eine Art heilkräftiges Amulett handelt. Ihre Vorfahren waren Südsee-Insulaner; da ist eine solche Annahme nicht abwegig. Das klingt logisch! spottete ich. Bildest du dir ein, Zeit für Wortgeplänkel übrig zu haben! raunte es in mir. Du solltest lieber überlegen, wie ihr verhindern könnt, daß Ofox euch durchschaut. Wenn dieser Raum überwacht wird, weiß er jetzt sowieso Bescheid. Ich setzte mich auf und sah mich um. Der Raum, in dem Sarah und ich uns befanden, war würfelförmig mit einer Kantenlänge von etwa fünf Metern. Die Wände und die Decke bestanden aus hellgrauem Metallplastik, der Boden war mit einem dünnen grünen Teppich bedeckt, in der Mitte der Decke befand sich ein rundes Loch, durch das gelbliches Licht fiel. Ich saß auf einer Art Liege. Vor dem Fußende standen ein runder Tisch und zwei Drehsessel, die zwar keine Rückenlehnen, dafür aber besonders große Armlehnen besaßen. An der gegenüberliegenden Wand waren die Umrisse eines Schottes zu sehen. Das war alles – bis auf die erfreuliche Tatsache, daß Sarah auf dem Rand der Liege saß und ihren Drogenrausch anscheinend überwunden hatte. Wenn Ofox Bescheid wußte, hatte er reagiert! dachte ich zurück. An Sarah gewandt, flüsterte ich: »Wir müssen die Süchtigen spielen – für den Fall, daß wir überwacht werden. Du legst dich am besten neben mich!« Sie folgte der Aufforderung so vehement, daß mir ganz seltsam zumute wurde. Ich rückte unwillkürlich ein Stück fort, schämte mich dessen aber sogleich, denn mir wurde klar, daß die
Celesterin in dieser Lage bestimmt nicht an ein Schäferstündchen dachte, ganz abgesehen davon, daß die Zeit der Drogensucht sie physisch zermürbt haben mußte, auch wenn sie nur relativ kurz gewesen war.
3. In einem Saal mit Computerspielen sah ich die beiden Thater wieder, die ich beim Zacch-DreiKron-Spiel beobachtet hatte. Diesmal verfügte ich jedoch über die Daten von Traunich und konnte feststellen, daß sie die wesentlichen Fakten über die Identität der beiden Thater enthielten. Sie hießen Cuur-Tok und Cuur-Bamyl und waren Crynn-Brigadisten. Ihr Auftrag lautete, die ROULETTE in ihren Besitz zu bringen – und damit in den Besitz Zulgeas von Mesanthor, denn die Hexe war ihre Auftraggeberin. Wie ich schon vor der Kaperung Traunichs beobachtet hatte, war einer von ihnen, Cuur-Tok, telekinetisch begabt. Falls er angenommen hatte, damit groß absahnen und vielleicht die Bank sprengen zu können, mußte ihm inzwischen aufgegangen sein, daß er das nicht schaffen würde. Unter den Smyrtern gab es bessere Mutanten. Warum die beiden Thater unter diesen Umständen überhaupt noch auf der ROULETTE blieben, erfuhr ich ebenfalls aus Traunichs Daten – jedenfalls insoweit der Thater, der die beiden Roboter geschickt hatte, es sich zusammenreimte. Cuur-Tok und Cuur-Bamyl waren längst in die Abhängigkeit von Drogen geraten, die ihnen auf dem Spielhöllenschiff zugänglich gemacht worden waren. Infolgedessen interessierte ihr Auftrag sie gar nicht mehr. Sie wollten nur noch den Rausch der Spiele und der Drogen genießen. Es gab weitere Thater, die ihre Helfer waren, aber die waren den Vergnügungen auf der ROULETTE noch stärker verfallen. Mir war es im Grunde genommen egal, wie dieser Stellvertreterkrieg zwischen Gentile Kaz und der Hexe ausging, aber die Hexe war meine Todfeindin, da sie die Facette Cuzz ermordet hatte. Folglich mußte ich auch alle ihre Helfer als Feinde behandeln. Ich verzichte noch darauf, offen zu kämpfen. Statt dessen zwang ich die beiden Thater unter Hypnose und erteilte ihnen den suggestiven Auftrag, zuerst alle ihre Helfer auf der ROULETTE und danach sich gegenseitig zu töten. Cuur-Tok und Cuur-Bamyl führten ihre Computerspiele noch zu Ende, dann verließen sie den Saal und begaben sich auf die Suche nach ihren Helfern. Ich folgte ihnen unauffällig, denn ich wollte beobachten, wie sie meine Befehle ausführten. Doch ich kam nicht weit. Als ich runter den beiden Thatern in einen Antigravlift stieg, fing meine Aggregateplatte einfallende Fremdortungsimpulse auf. Ich verzichtete darauf, die Ortungssysteme der Platte einzusetzen, um die Quelle der fremden Impulse aufzuspüren, denn ich ahnte, wo sie sich verbarg. Statt dessen wandte ich scheinbar gleichmütig den Kopf – und sah einen »Celester«, der genau wie Traunich gekleidet war, neben der Tür der Spielhalle stehen, die die beiden Thater und ich kurz zuvor verlassen hatten. Es konnte sich nur um Schau viel handeln. Offenbar hatte er seinen Gefährten gesucht. Er mußte sich über die Veränderung, die mit Traunich vorgegangen war, sehr wundern. Natürlich würde er Überlegungen anstellen, die der Wahrheit nahekamen. Es würde ihm allerdings wenig nützen, denn ich war ihm genauso überlegen wie allen anderen Wesen an Bord der ROULETTE. Immerhin hatte das Ur-Cuzz bei seinem Tode neben anderen seiner psychischen Fähigkeiten auch seine eigentliche Intelligenz auf mich übertragen – und gegen die Intelligenz einer Facette kam kein normaler Sterblicher an. Ich beschloß, mit Schauviel zu spielen. Zuerst aber wollte ich mich darum kümmern, daß die beiden Thater meinen Befehl ausführten. Aber als ich mich nach ihnen umsah, entdeckte ich sie nirgends. Sie mußten den Antigravlift unbemerkt verlassen haben. Ich begab mich auf die Suche nach ihnen. Es dauerte nicht lange, bis ich sie wiedergefunden hatte, denn sie machten schon bald selbst auf sich aufmerksam. Ich hörte die Entladungen mehrerer Strahlschüsse krachen, peilte die Richtung an und schwebte mit Hilfe der Aggregateplatte zum Ort
des Zwischenfalls. Wie ich erwartet hatte, waren Cuur-Tok und Cuur-Bamyl dafür verantwortlich gewesen. Sie verschwanden gerade durch die gegenüberliegende Tür, als ich den Raum betrat, in dem die Schüsse gefallen waren. Drei andere Thater waren ihnen zum Opfer gefallen. Doch auch zwei Unbeteiligte waren ums Leben gekommen, ein Smyrter und ein echsenartiger Doonakle. »Was ist hier passiert?« fragte jemand hinter mir. Als ich mich umdrehte, erkannte ich Schauviel. Er musterte die Toten und schien die Veränderungen an »seinem Gefährten« vergessen zu haben. »Anscheinend laufen ein paar Thater Amok«, erklärte ich. »Soviel ich weiß, heißen sie Cuur-Tok und Cuur-Bamyl.« Schauviel starrte mich an. »Du kennst ihre richtigen Namen, obwohl sie diesmal unter falschen Namen hier sind?« erkundigte er sich, während er versuchte, die Speicher meiner Aggregateplatte auszulesen, was ihm natürlich mißlang. »Ich muß ihre richtigen Namen wohl kennen, wenn Colo mich geschickt hat«, gab ich zurück. Schauviel wirkte verwirrt. »Aber bist du denn noch Traunich?« fragte er zögernd. »Ich bin das Minu-Cuzz«, antwortete ich in einem Anflug von Leichtsinn. »Das Minu-Cuzz?« wiederholte der Roboter. Er war demnach nicht über das Cuzz und dessen Ermordung durch Zulgea informiert, sonst wäre er jetzt alarmiert gewesen. »So ist es«, erwiderte ich und überlegte, ob ich ihn vollständig aufklären sollte. Meine Überlegungen wurden durch das Erscheinen dreier Celester unterbrochen. Es handelte sich um echte Celester, nicht um getarnte Roboter. Sie waren anscheinend völlig arglos in diesen Raum hereingeplatzt, denn der Anblick der Toten schockierte sie. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie mich und Schauviel bewußt wahrnahmen. Im nächsten Moment hatten sie Impulsstrahler unter ihrer Kleidung hervorgezogen und auf uns gerichtet. Ich zwangt sie hypnosuggestiv, Schauviel und mir gegenüber friedfertig zu sein. Inzwischen hatte ich zudem bemerkt, daß es sich um die drei Celester handelte, die zuletzt mit Ubal Meesters zusammen gewesen waren. Sie schienen ihrerseits zumindest Schauviel wiedererkannt zu haben. Mit mir wußten sie aber noch nichts anzufangen. Die drei Männer senkten die Waffen. Zwei von ihnen – die jüngeren – wurden passiv. Das war eine Folge der hypnosuggestiven Beeinflussung. Der ältere Celester jedoch hatte zwar auch gehorcht, aber er war nicht zur Marionette ohne eigenen Willen geworden. Ich erkannte es an dem wachen Interesse, mit dem er Schauviel und mich musterte. »Wie heißt du?« wandte ich mich an ihn. »Arien Richardson«, antwortete er ohne Zögern. »Aber wer bist du? Und was ist hier geschehen?« Die Art, wie er abwechselnd Schauviel und mich ansah, verriet mir, daß er Schauviel als einen der Celester wiedererkannte, die Ubal dazu überredet hatten, sich dem Kommandanten der ROULETTE zu stellen und daß er zumindest ahnte, wem der Körper unter der Aggregateplatte einmal gehört hatte. »Ich bin das Minu-Cuzz«, erklärte ich. »Und was hier geschehen ist, kann als Werk eines Rächers bezeichnet werden – eines Rächers, der nicht eher Ruhe geben wird, bis auch Zulgea von
Mesanthor gerichtet wurde.« Für kurze Zeit hatte ich nicht daran gedacht, daß Schauviel trotz seiner robotischen »Natur« ein relativ großes Maß Eigeninitiative besaß. Ich wurde daran erinnert, als ich einen Hyperfunkspruch von ihm auffing. Der Spruch war gerafft und hochwertig verschlüsselt, doch das bedeutete für die Instrumente der Aggregateplatte kein Problem. Sie dehnte den Spruch auf die richtige Länge, noch während sie ihn empfing – und sie dekodierte ihn mit dem Kode, dessen Daten ich aus Traunichs Positronik übernommen hatte. Mit Hilfe anderer Daten aus Traunichs Positronik überwältigte ich Schauviels Positronik innerhalb weniger Sekunden. Er verkrampfte sich, dann lockerte sich seine Haltung wieder. Schauviel war zu meinem Werkzeug geworden. »Du hast ihn umfunktioniert, nicht wahr?« erkundigte sich Arien und bewies dadurch eine ausgezeichnete Beobachtungsgabe. »Ja«, antwortete ich – und in diesem Augenblick traf ich die Entscheidung, die Celester zu meinen Hilfskräften zu machen. »Ich hätte es schon früher tun sollen, dann hätte er seinen Auftraggeber nicht über mich und die jüngste Entwicklung auf der ROULETTE informieren können.« »Du meinst den Thater Colo und sein Schiff?« fragte Arien. »Das ist richtig«, bestätigte ich. »Das Schiff heißt FLAMME und gehört zur Crynn-Brigade.« »Und was bedeutet es, daß Colo über dich informiert ist?« fragte der Celester hartnäckig weiter. »Eine Menge«, gab ich zurück. »Vor allem aber, daß meine Zeit auf der ROULETTE knapp bemessen ist. Colo wird über die neuen Erkenntnisse nach Crynn berichten – und sobald die Hexe seinen Bericht kennt, setzt sie alles in Bewegung, um mich zu vernichten, selbst wenn sie die ROULETTE dabei mit vernichten müßte. Arien, willst du freiwillig mit mir zusammenarbeiten, um Ubal zu befreien?« »Wenn du mir versprichst, auch Sarah Briggs zu befreien«, erwiderte Arien Richardson. »Und natürlich darfst du meine Söhne und mich nicht länger parapsychisch beeinflussen.« »Einverstanden«, erklärte ich und entließ seine Söhne aus meiner Beeinflussung. »Hört zu! Ich werde euch jetzt meinen Plan unterbreiten.« * Unsere Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Stunde um Stunde verstrich, ohne daß sich jemand um Sarah und mich gekümmert hätte. Normalerweise hätte ich die Zeit dafür genutzt, um mich umzusehen, zumindest aber unser Gefängnis genauestens zu inspizieren. In diesem Fall mußte ich darauf verzichten. Ich rechnete mit einer Fernüberwachung. Also mußten wir auf zielstrebige Aktivitäten verzichten, oder man hätte uns den geistigen Dämmerzustand nicht abgenommen. Aber endlich rührte sich doch etwas. Ich hörte, wie sich das Schott leise schleifend öffnete und zwei Personen das Gefängnis betraten. Neben mir bewegte sich Sarah. Wenn sie sich bloß nicht verriet! Ich rollte mit den Augen und stöhnte. Anschließend atmete ich heftig und stoßweise, als würde ich mich körperlich anstrengen. Danach entspannte ich mich und murmelte schläfrig unverständliche Worte beziehungsweise Wortfetzen. Ich kannte die Symptome der unterschiedlichsten Drogenräusche und war sicher, daß ich sie überzeugend simulieren konnte.
Die beiden Personen – es handelte sich um Smyrter, wie ich bei meinem Augenrollen erkannte – machten ein paar ordinäre Bemerkungen, die es mir in den Fingern jucken ließ. Am liebsten hätte ich diese Flegel gezüchtigt und sie wenigstens das Fürchten gelehrt, wenn es schon vergeblich gewesen wäre, ihnen Manieren beibringen zu wollen. Doch zu den Verhaltensweisen, die ich schon vor mehr als zehntausend Jahren gelernt hatte, gehörte nicht zuletzt Selbstzucht. Ich beherrschte mich also. Wenn sie allerdings den Versuch gewagt hätten, sich an Sarah zu vergreifen, hätte ich ihnen die Hälse umgedreht. Doch sie kümmerten sich kaum um die Celesterin, sondern hatten offensichtlich den Befehl, mich abzuholen. Sie rollten mich auf eine Antigravplattform und schoben mich vor sich her. Während ich weiter simulierte, versuchte ich, soviel wie möglich von der Umgebung wahrzunehmen, durch die ich transportiert wurde. Zuerst ging es auf einem Korridor um drei Ecken herum, danach wurde ich in eine Art Labor gebracht und flüchtig untersucht. Was mir besonders auffiel, war das Fehlen jeglicher Roboter. In einer hochentwickelten, technisch orientierten Zivilisation – und das war notwendigerweise jedwede raumfahrttreibende Zivilisation ließen sich robotische Elemente in allen ihren vielfältigen Anwendungsbereichen und mit ihren ebenso vielfältigen Erscheinungsformen nicht mehr wegdenken. Auch auf der ROULETTE gab es zahlreiche Roboter unterschiedlicher Art. Seit meiner Gefangennahme hatte ich jedoch keinen einzigen gesehen. Also war es offenbar doch nicht übertrieben gewesen, als die Richardsons mir berichtet halten, alle Roboter des Spielhöllenraumschiffs seien deaktiviert worden, nachdem sie verrückt gespielt hatten. Mir konnte es nur recht sein. Diagnoseroboter hätten mich unter Umständen bei der ersten Untersuchung entlarvt. Die beiden Smyrter, die mich im Labor ebenso umständlich wie laienhaft untersuchten, hatten kaum eine Chance dazu. Das war kein Wunder, denn bis vor kurzem hatten sie sich voll und ganz auf ihre Spezialroboter verlassen können. Nachdem die »Fachleute« mich untersucht hatten, erhielt ich eine Injektion, die mich anscheinend vorübergehend »vernehmungsfähig« machen sollte, denn sie wirkte enorm aufputschend. Mir schoß der Schweiß förmlich aus allen Poren, und mein Herz hämmerte wild, bevor der Zellaktivator diese übertriebene Wirkung neutralisierte. Bis dahin war ich allerdings schweißgebadet. Ich merkte, daß ich wieder auf der Antigravplattform lag und erneut in einen anderen Raum verfrachtet worden war. Jemand legte mir reichlich unsanft Hand- und Fußfesseln an und stieß mich in eine Art Kontursessel. Ich blinzelte, um den Schweiß aus den Augen zu entfernen – und sah nach kurzer Zeit, wer vor mir stand und mich musterte: Ofox, Kommandant der ROULETTE. »Kannst du mich verstehen, Atlan?« Er sprach langsam und genau akzentuiert. Ich zuckte zusammen. Atlan! Mit einemmal wußte ich wieder, woran ich mich vergeblich zu erinnern versucht hatte, nachdem ich aus dem Drogenrausch zu mir gekommen war. Ofox kannte meine wahre Identität. Er hatte mich sofort mit meinem richtigen Namen angesprochen, als ich mich gestellt hatte. Aber wieso wußte er Bescheid? »Was’n los?« lallte ich, den Benommenen spielend. »Reiß dich zusammen!« schimpfte Ofox ungehalten. »Ich habe ein paar Fragen an dich, Atlan.« »Atlan?« echote ich fehlerhaft. »Du scheinst mich mit jemand zu verwechseln. Ich bin Ubal Meesters.« »Ich verwechsle dich nicht, Atlan«, erwiderte der Smyrter höhnisch. »Du besitzt Psi-Potential, deshalb ist die Crynn-Brigade hinter dir her. Ich weiß nicht, wie du ihnen entkommen konntest, aber ich weiß, daß auf deinen Kopf eine hohe Belohnung ausgesetzt ist.« »Es muß sich um ein Mißverständnis handeln«, erklärte ich. »Ich besitze nicht das geringste PsiPotential. Außerdem wüßte ich nicht, wie du eine Belohnung von der Crynn-Brigade kassieren willst, ohne bei Gentile Kaz auf die Abschußliste zu kommen.«
»Das laß meine Sorge sein, Atlan!« wiegelte Ofox ab. »Vielleicht verzichte ich auch darauf, die Belohnung zu kassieren. Es kommt darauf an, ob du mir mehr nützt, wenn du mir dienst oder mehr, wenn ich dich der Crynn-Brigade verkaufe. Du bist kein Celester, Atlan. Woher kommst du wirklich?« Sag ihm die Wahrheit! wisperte mein Extrasinn. Das verwirrt ihn am stärksten. Aber es würde mir nichts nützen! dachte ich zurück. »Ich habe es vergessen«, erklärte ich geheimnisvoll. Das würde Ofox ein Rätsel aufgeben, ohne seine Phantasie zu überfordern. »Du scheinst nicht zu wissen, was ich alles mit dir machen kann«, drohte der Kommandant. »Wir Smyrter sind das Führungsvolk der Facette Gentile Kaz.« »Einer Facette!« rief ich verächtlich. Der Grünton verschwand fast gänzlich aus Ofox’ Gesicht. Es war doch bei allen warmblütigen Säugetierabkömmlingen das gleiche: Wenn sie erschraken, strömte das Blut aus der Peripherie des Körpers zum Herzen und ließ ihre Gesichtsfarbe verblassen. Die verächtliche Betonung des Titels Facette mußte für Ofox den Gedanken nahelegen, ich könnte vielleicht vom Erleuchteten im Nukleus Alkordooms ausgesandt worden sein, um in den Außensektoren nach dem Rechten zu sehen. Er würde niemals zugeben, daß er Nachforschungen zu fürchten hatte, aber er würde auf jeden Fall vorsichtiger sein. Er könnte auf die Idee kommen, dich sang- und klanglos verschwinden zu lassen! gab der Logiksektor zu bedenken. Das würde er niemals wagen! hielt ich dagegen. Er weiß, daß ich nicht unbemerkt zu ihm gekommen bin. Ofox setzte zum Sprechen an, da summte ein Visiphon neben ihm. Er schaltete es ein. Ein anderer Smyrter in der Bordkombination der Besatzungsmitglieder wurde auf dem Bildschirm sichtbar. »Es wurde ein gerichteter Hyperfunkspruch aufgefangen«, meldete er. »Er ging aus der Vergnügungssektion direkt in Richtung Littoni, wo wir ein Schiff der Crynn-Brigade vermuten. Wir haben…« »Nicht jetzt!« unterbrach Ofox ihn. »Ich verhöre gerade einen Gefangenen.« »Aber wir haben den Spruch nicht entschlüsseln können«, erklärte der andere Smyrter. »Er war zu hochwertig kodiert. Nur das Wort Minu-Cuzz kam im Klartext herein.« Cuzz! »schrie« mein Extrasinn. Das ist es! Dieses Wesen hat dich die ganze Zeit über verfolgt. Ich erinnerte mich im gleichen Augenblick daran, was Comerlat geschrien hatte, bevor er nach einem Sturz das Bewußtsein verlor und ich von Cuur-Bamyl und Cuur-Tok durch einen Transmitter aus der ROULETTE befördert worden war. Es hatte sich damals für mich wie »Kuzz« angehört, und ich hatte keine Gelegenheit mehr gehabt, den Wortklang zu korrigieren und eine Assoziation zu finden. Mein Gehirn holte das nach, als ich das Wort »Minu-Cuzz« hörte. Ich mußte sofort an das seltsame und gefährliche Wesen denken, das sich in ANIMA eingeschlichen hatte. Es hatte sich allerdings nicht Minu-Cuzz, sondern Fract-Cuzz genannt, aber es bedurfte keiner großen Phantasie, um zwischen beiden Namen einen Zusammenhang zu erkennen. »Kommandant?« meldete sich der Anrufer nach einer Weile. Ofox schrak aus dumpfem Brüten hoch. »Es ist gut«, sagte er. »Ich danke dir. Veranlasse, daß ab sofort jeder Funkverkehr aus der ROULETTE heraus verhindert wird! Funksprüche dürfen nur noch mit meiner persönlichen
Genehmigung hinausgehen!« Er unterbrach die Verbindung und sah mich lauernd an. »Ich habe wohl gemerkt, wie du bei der Erwähnung des Namens Minu-Cuzz zusammengezuckt bist, Atlan. Warum?« »Warum bist du erschrocken, als du den Namen hörtest?« klopfte ich auf den Busch. Ich riet einfach, denn ich hatte mit mir selbst und mit meinem Extrasinn genug zu tun gehabt, als der Name fiel, um auf Ofox zu achten. »So kommen wir nicht weiter«, erklärte der Kommandant. »Deine Anwesenheit auf meinem Schiff hat etwas mit der ehemaligen Facette Cuzz zu tun. Was ist das? Was will Cuzz von mir?« »Laß Sarah und mich frei, dann wirst du es erfahren!« riet ich ihm. Für einen Moment schwankte er, und es sah so aus, als würde er meinen Rat befolgen. Doch dann siegten seine Bedenken. »Nein, ich werde euch nicht freilassen!« erklärte er. »Im Gegenteil, ich werde Sarah Briggs und dich diesem Minu-Cuzz als Köder hinhalten und dann sehen, was sich in meiner Falle fängt.« Ich zuckte die Schultern, enthielt mich aber eines Kommentars. Dazu blickte ich zu wenig durch. Ich hätte nicht gewußt, worauf ich mit Provokationen abzielen konnte, ohne Sarah und mich unnötig zu gefährden. Also versuchte ich, Ofox durch Schweigen weiter zu verunsichern. Sollte er ruhig eine Falle aufstellen! Mir war ein gefangenes Minu-Cuzz oder Fract-Cuzz lieber als eines das frei herumlief. Mir hatte es damals in ANIMA gereicht.
4. Mehrere heftige Erschütterungen verrieten uns, daß die Kämpfe an Bord der ROULETTE wiederaufgelebt waren. Ofox hatte mich in unser Gefängnis zurückbringen lassen. Ich fand Sarah fast schlafend vor und fürchtete im ersten Augenblick, sie wäre erneut unter Drogen gesetzt worden. Kaum war ich mit ihr allein, fühlte ich ihren Puls und zog ihre Lider hoch, um ihre Pupillen anzusehen. Beides schien völlig normal zu sein. Offenbar schlief sie den Schlaf der Erschöpfung. Verwunderlich war es nicht. Zum Glück hatte Ofox mich von meinen Fesseln befreien lassen, so daß ich mich bequem neben Sarah ausstrecken konnte. Ich überdachte meine Lage und kam zu dem Schluß, daß mir zur Zeit keine Gefahr drohte. Ich konnte unter diesen Umständen nichts Besseres tun als zu ruhen, vor allem, da ich wußte, daß uns noch einiges an Aufregung und Strapazen bevorstand. Es dauerte keine zehn Sekunden, da war ich fest eingeschlafen. Ich hatte es nicht einmal bemerkt, sondern konnte mich hinterher nur noch daran erinnern, daß ich mich lang ausgestreckt und entspannt hatte. Wie lange ich geschlafen hatte, wußte ich nicht. Ich erwachte, als Sarah meinen Namen rief und spürte im gleichen Moment die Erschütterungen, die sich über den Boden der Liege mitteilten, die dadurch gleich einem Nachen auf einem sturmgepeitschten See tanzte. Die Drehsessel und der Tisch am Fußende klapperten und ratterten wie bei einem mittelstarken Beben. »Damned!« schimpfte Sarah. »Was ist das für ein Rummel?« Ich mußte gegen meinen Willen lachen, doch ich wurde schnell wieder ernst, denn ich hörte aus bestimmten Charakteristika des Lärmes heraus, daß die ROULETTE harte Manöver flog. Die Erschütterungen wurden demnach nicht nur durch interne Kämpfe verursacht. Das Schiff befand sich außerdem in einem Gefecht mit einem anderen Schiff. »Es könnte sein, daß der Tanz wegen uns stattfindet«, erklärte ich. »Da sollten wir nicht stillhalten, sondern ein wenig mitmischen.« Eine neue, besonders heftige Erschütterung schleuderte sie über mich. Sie klammerte sich hilfesuchend an mir fest – und mit einemmal hielt ich sie ebenfalls in den Armen, und unsere Lippen suchten und fanden sich. Es war jedoch eine schlechte Zeit für Liebe. Im nächsten Augenblick verwandelte sich das Schott durch die Einwirkung eines Detonators in mittelfeines Schrot, das uns zweifellos durchsiebt hätte, wäre es mir nicht gelungen, die Liege mitsamt Sarah und mir blitzschnell umzukippen, so daß sie als Deckung auf uns zu liegen kam. Einmal in Aktion, folgte der einen Handlung fast automatisch die nächste. Ich stieß die Liege kraftvoll mit beiden Füßen von mir, riß Sarah hoch und zog sie mit mir an die Wand dicht neben dem zerschroteten Schott. Dort lauschte ich erst einmal, um die Lage zu sondieren. Ringsum krachte es in unterschiedlichen Tonlagen. Dazwischen waren Zurufe und Hilfeschreie zu hören. Wände, Türen und Decken barsten. Die Beleuchtung funktionierte nicht mehr. Es war dennoch nie völlig dunkel. Unablässig zuckten die Feuer von Explosionen und die Blitze von Strahlwaffenentladungen im Korridor jenseits der Schottöffnung auf. Aus dem Loch in der Deckenmitte drang unstetes Flackern. Es roch nach Brand, Tod und Vernichtung. Ein Smyrter in der stahlblauen Kombination der Raumfahrer stolperte rückwärts ins Gefängnis. Er hielt einen Impulsstrahler in der Hand und gab ab und zu einen Schuß ab. Ich legte meine linke Hand auf seine Schulter und preßte den Daumen hart auf den Punkt. Er erschlaffte augenblicklich und fühlte sich an wie ein Bündel Lumpen, als ich ihn mit einem Ruck in die Deckung der Wand zog und danach fallen ließ. Mit dem linken Fuß kickte ich die Waffe, die ihm aus den kraftlosen Fingern fiel, zu mir.
»Bleib hier!« flüsterte ich Sarah zu, dann nahm ich die Waffe auf und huschte gebückt durch die Schottöffnung. Im Aufblitzen von Strahlschüssen erkannte ich eine Kreuzung, über die hinweg sich die Kontrahenten beschossen. So, wie sie es taten, war es jedoch wenig effizient, wenn ich auch einsah, daß sie sich dadurch gegenseitig wenigstens nicht umbringen konnten. Aber die Kampfesweise keiner der beiden Parteien entsprach der meiner celestischen Freunde. Arien und seine Feuerwehr hätten sich nicht damit begnügt, viel Lärm zu machen. Da ich keine Lust verspürte, mich dem Kreuzfeuer auszusetzen, öffnete ich links und rechts die Türen im Korridor. Dahinter lagen meist verlassene Unterkünfte. Das war nicht das, was ich suchte. Hinter der fünften Tür gab es dann eine Abwechslung in Form von vier Robotern, an denen zwei Raumfahrer der ROULETTE mit elektronischen Geräten arbeiteten. Wahrscheinlich versuchten sie, die Ursache der Fehlfunktionen zu finden, wegen denen die Roboter des Spielhöllenschiffs hatten deaktiviert werden müssen. Logischerweise würde Ofox alle Hebel in Bewegung gesetzt haben, um dieses Handikap für ihn zu eliminieren. Bei meinem Anblick griffen die beiden Raumfahrer sofort nach den Waffen in ihren Gürtelhalftern. Sie hätten allerdings gegen mich nicht die geringste Chance gehabt, da meine Waffe bereits schußklar in meiner Hand lag. Ich fühlte mich jedoch nicht dazu berechtigt, meinen Vorteil auszunutzen, um sie zu töten. Andererseits durfte ich auch nicht zulassen, daß sie weiter mit den Robotern experimentierten. Ich schnitt ihnen deshalb Grimassen, während ich ihnen durch Wedeln der freien Hand zu signalisieren versuchte, daß sie ihre Waffen stecken lassen sollten. Gleichzeitig schoß ich auf die Roboter und zerstörte durch relativ energiearmen Punktbeschuß ihre Augenzellen. Zu meiner Erleichterung wurde ich von den Smyrtern verstanden. Sie warfen sich nach links und rechts zu Boden, ließen aber ihre Waffen in Ruhe. Nachdem alle Roboter geblendet waren, winkte ich den beiden Raumfahrern zu und zog mich wieder in den Korridor zurück. Ich setzte meine Suche ohne Zögern fort, denn noch immer hatte ich nicht gefunden, was ich suchte. Aber schon hinter der nächsten Tür fand ich es: einen Raum mit Monitoren, auf denen ich sehen konnte, was sich in meiner näheren Umgebung abspielte. Ich war jedoch nicht der einzige, der sich dafür interessierte. Es gab noch einen anderen Interessenten. Er drehte mir den Rücken zu, als ich eintrat, deshalb erkannte ich ihn nicht sofort. »Hände nach oben und umdrehen!« befahl ich. Er gehorchte. Überrascht blickte ich in Comerlats Gesicht. Er war ebenfalls ein wenig überrascht. Ansonsten schienen seine Gefühle gemischt zu sein. »Du kannst die Waffe wegstecken, Ubal!« sagte er. »Ich bin nicht dein Feind.« »Nein, das bist du nicht«, gab ich zu, schob aber die Waffe nicht ins Halfter, um für das mögliche Auftauchen eines Smyrters gewappnet zu sein. »Aber du bist auch nicht mein Freund. Wo hast du dein Ortungsgerät gelassen?« Comerlat zeigte nicht die geringste Verlegenheit. »Es wurde zerstört, als ich beschossen wurde«, berichtete er. »Deswegen versuchte ich, dich mit Hilfe der Monitoren zu finden.« Ich nickte. »Im Auftrag des Minu-Cuzz«, stellte ich fest. »Was ist das für ein Wesen und was will es von mir?« »Es ist Teil des Cuzz, einer ehemaligen Facette, die von Zulgea von Mesanthor ermordet wurde«, antwortete Comerlat bereitwillig. »Das Minu-Cuzz will sich mit dem Fract-Cuzz vereinigen, das
ebenfalls ein Teil der ermordeten Facette Cuzz ist.« Seine Miene verklärte sich. »Gemeinsam werden sie eine neue Facette sein und die Macht besitzen, alle Feinde zu zerschmettern.« Sein Gesicht verzerrte sich. Er schwankte und lehnte sich gegen die Wand. »Bist du verwundet?« erkundigte ich mich. »Oder bist du krank?« »Mir ist schwarz vor Augen«, klagte Comerlat. »Es ist Hunger, glaube ich. Kannst du mir etwas zu essen besorgen, Ubal?« »Dazu ist jetzt keine Zeit«, erwiderte ich. Unterdessen hatte ich die Richardsons entdeckt, die auf einem Monitor aufgetaucht waren und sich offenbar durch die von hier aus überwachte Sektion der ROULETTE vortasteten. Sie suchten Sarah und mich. Folglich mußte ich ihnen mit Sarah so bald wie möglich entgegengehen, damit sie nicht noch unter Beschuß gerieten. »Aber ich muß dich zum Minu-Cuzz bringen!« stieß Comerlat gequält hervor. »Es sucht dich, denn es weiß, daß du kürzlich Kontakt zum Fract-Cuzz hattest.« Er stöhnte und rutschte mit dem Rücken an der Wand herab. Ich musterte ihn argwöhnisch. Die Schwäche Comerlats war zu stark, um sich durch akuten Nahrungsmangel erklären zu lassen. Bis vor kurzem war es wieder relativ ruhig auf dem Spielhöllenschiff gewesen. Er hätte keine Schwierigkeiten gehabt, sich etwas zu essen zu beschaffen. Er konnte nicht so dumm gewesen sein, es nicht zu tun. In der Zeit seit dem Wiederaufleben der Kämpfe aber war er unmöglich vor Hunger so schwach geworden. Da spielte ein anderer Faktor mit hinein. Eine Krankheit! wisperte der Logiksektor. Eine Krankheit, die in kurzer Zeit jemanden so stark schwächt, ist gefährlich! dachte ich besorgt zurück. Vor meinem geistigen Auge tauchten die Erinnerungsbilder grauenhafter Seuchen auf, kaleidoskopartige Fetzen aus langen zurückliegenden Ereignissen, die ich niemals vergessen konnte. Es erschien mir unwahrscheinlich, daß Comerlat von einer Seuche gepackt worden war, aber ich würde mich vorsichtshalber auf Distanz halten, so gut es ging. »Ich werde das Minu-Cuzz suchen, sobald ich mit meinen Freunden zusammengefunden habe«, erklärte ich, während ich den Ort zu bestimmen versuchte, an dem sich die Richardsons gerade befanden. Meine Bemühungen wurden unterbrochen, als die Monitorschirme flackerten. Ohrenbetäubendes Tosen und Heulen überlasteter Aggregate verrieten mir, daß die ROULETTE ein überaus hartes Manöver flog. Anscheinend befand sie sich noch immer im Gefecht mit dem fremden Raumschiff. Es wurde jedoch bald wieder ruhiger. Kurz darauf zeigten die Monitorschirme abermals klare Bilder. Diesmal wurde ich Augenzeuge des Kampfes zwischen zwei Gruppen Thatern. Auf jeder Seite standen vier dieser haluterähnlichen Intelligenzen. Sie kämpften stur und erbarmungslos, aber ohne merkbare emotionale Beteiligung. Mir verschlug es fast die Sprache, denn ich hatte diese einfallslose und erschreckende Kampfesweise bisher nur bei Robotern erlebt. Diese Kämpfer hier zeigten nicht einmal Furcht vor dem Tode. Es schien sie nicht im mindesten zu berühren, wenn neben ihnen ein Gefährte fiel. Es dauerte keine Minute, da zeigte mir der betreffende Monitor acht tote beziehungsweise sterbende Thater. Erschüttert wollte ich mich abwenden, da erregte ein anderer Monitorschirm meine Aufmerksamkeit. Es zeigte eine Lagerhalle, durch die ein einzelnes Lebewesen huschte. Ich vermochte kaum Einzelheiten zu erkennen, so schnell bewegte es sich. Im nächsten Moment war es hinter einem Stapel Fässer verschwunden.
Dennoch hatte ich genug gesehen, um an eine andere Beobachtung erinnert zu werden. Ich war auf dem Weg zur Hauptzentrale der ROULETTE gewesen, um mich dem Kommandanten zu stellen, da hatte ich in einer Touristengruppe unter anderen Voorndanern den jungen Comerlat entdeckt – und neben ihm einen Cyborg, der nur aus einem blauhäutigen, haarlosen Kopf bestand, der auf einer Metallscheibe saß. Genau das hatte ich an dem Lebewesen auf dem Monitorschirm ebenfalls gesehen, aber nicht nur das. Diesmal saß der Cyborg – und ich war sicher, daß es sich um denselben Cyborg handelte – auf den Schultern eines Celesters, dem der eigene Kopf fehlte. Ich wurde einen Moment abgelenkt, weil Comerlat Unverständliches lallte. Er stemmte sich mit erstaunlicher Zähigkeit an der Wand hoch. Seine Augen quollen ihm vor Anstrengung fast aus dem Kopf. Als ich wieder zum Monitorschirm sah, war die Cyborg-Celester-Kombination nicht mehr zu sehen. Dafür hatten drei Smyrter die Lagerhalle betreten. Sie hielten Detonatoren in den Händen und waren durch Individualschirme geschützt. Natürlich waren die Energieschirme selbst unsichtbar. Nur wenn man genau hinsah, war am vielfältigen schwachen Aufblitzen zu erkennen, daß es Schutzschirme gab. Das Aufblitzen kam von den Staubteilchen, die in der Luft schwebten und bei der Kollision mit der »Außenhaut« der Schirme vernichtet wurden. Die drei Smyrter blieben mitten in der Lagerhalle stehen und blickten sich suchend um. Im nächsten Augenblick taten sie etwas Unverständliches: Sie schalteten ihre Schutzschirme aus. Es war ein tödlicher Fehler. Nacheinander wurden sie von Impulsnadelschüssen getroffen, die so schnell kamen, daß sie fast keine Chance zur Gegenwehr hatten. Fast keine… Der eine Smyrter konnte noch seinen Detonator abfeuern. Die Wirkung verwandelte zirka acht Fässer und ihren Inhalt in nach allen Seiten auseinanderstiebende, aufkochende schwärzliche Flüssigkeit, die mit Metallsplittern vermischt war. Ich zweifelte nicht daran, daß in dieser Hölle auch das seltsame Zwitterwesen umgekommen war. Doch ich irrte mich. Sekunden später tauchte er auf einem anderen Monitorschirm auf. Er schwebte blitzschnell durch eine Verteilerhalle und tauchte in einen Korridor ein. Zur gleichen Zeit vernahm ich drängende geistige Impulse in mir. Ich reagierte mit Unwillen darauf. -46er ich war es nicht! meldete sich daraufhin mein Extrasinn. Er mochte mich manchmal verspotten oder auch verfluchen, aber belügen würde er mich nie. Jedenfalls hatte er es bisher noch nie getan, und ich war ziemlich sicher, daß er dazu gar nicht fähig war – und warum hätte er es in dieser kritischen Situation tun sollen. Ich öffnete mein Bewußtsein willentlich für die Impulse – und verstand sie plötzlich. Sie befahlen mir, gemeinsam mit Sarah Briggs auszubrechen und so schnell wie möglich Kontakt mit den Richardsons oder dem Minu-Cuzz aufzunehmen. Ich spürte, daß der Befehl hypnosuggestiv unterlegt war, aber ich bemerkte nicht den mindesten Drang, ihnen zu gehorchen. Die hypnosuggestive Kraft war nicht stark genug, meine Mentalstabilisierung zu brechen. Aber ich war ja ohnehin im Begriff, das zu tun, was die Impulse mir sagten, auch was die Kontaktaufnahme mit dem Minu-Cuzz betraf. »Du mußt gehorchen, Ubal!« keuchte Comerlat. »Ja, ja!« rief ich unwillig, denn ich konzentrierte mich auf die Beobachtung der Monitoren. »Ich will sowieso ausbrechen. Aber zuerst will ich feststellen, was dieses seltsame Zwitterwesen mit seinen mörderischen Aktionen bezweckt.« Als ich daraufhin so etwas wie ein stoßweises Lachen hörte, wandte ich mich nach dem Voorndaner
um. Comerlat hatte sich von der Wand abgestoßen, schwankte auf den Fußsohlen vor und zurück und starrte auf den Bildschirm, auf dem das Zwitterwesen zuletzt zu sehen gewesen war. Er lachte und schnappte röchelnd nach Luft. Dabei verzog er das Gesicht, als hätte er starke Schmerzen. Als das Zwitterwesen auf einem anderen Monitorschirm auftauchte, deutete Comerlat mit ausgestrecktem Arm darauf. »Das da…«, sagte er, von glucksendem Lachen unterbrochen, »…ist das Minu-Cuzz.« * Du bist ein sentimentaler Narrt wisperte mein Extrasinn. Ich schluckte den Vorwurf, obwohl ich ihn nicht für gerechtfertigt hielt. Mir war zwar klar, daß der Logiksektor mich kritisierte, weil ich Comerlat nicht seinem Schicksal überlassen hatte, aber ich hatte nicht anders handeln können. Wenn ich erst damit aufhörte, meine Handlungen nach anspruchsvollen ethischen und moralischen Gesichtspunkten auszurichten, konnte ich meine Mission gleich abbrechen. Natürlich erschwerte ich mir durch meine Handlungsweise alles. Comerlat war für mich in seinem Zustand nicht nur ein Klotz am Bein, sondern auch eine biologische Zeitbombe, falls er den Keim einer Epidemie in sich trug. Lange konnte ich mich allerdings mit solchen Überlegungen nicht aufhalten, denn vor mir lag ein Gewirr halbeingestürzter, teilweise zerfetzter oder zerschmolzener Korridore und Räume – und hinter mir schoß eine Gruppe von fünf Smyrtern wieder einmal auf mich ein. Es ging schon eine ganze Weile so, seit ich in diese Sektion der ROULETTE gekommen war. Die fünf Smyrter verfolgten mich nicht direkt. Sie schossen nur aus dem Hinterhalt auf mich, blieben aber in Deckung. Sobald ich jedoch weiterging, folgten sie mir, freilich, ohne mir so nahe zu kommen, daß ich gezielt auf sie schießen konnte. Natürlich traf das umgekehrt auch zu. Doch sobald ich wieder irgendwo anhielt, versuchten sie, mich einzukreisen und sich Stellungen zu suchen, aus denen sie mich unter Feuer nehmen, selbst aber relativ sicher sein konnten. Mit Comerlat als Schützling war ich dazu verurteilt, mich langsam und unbeholfen zu bewegen. Auch diesmal hatte ich meine liebe Not mit ihm. »Los, wir müssen weiter!« fuhr ich ihn an und deutete in das nach links abzweigende Trümmergewirr, das nur deshalb zu sehen war, weil die Verfolger unsere Umgebung mit LangzeitLeuchtkörpern beschossen hatten. »Dort hinein!« »Ich kann nicht«, jammerte der Voorndaner. »Ich komme keinen einzigen Schritt mehr voran.« »Du mußt ja nicht schreiten«, versuchte ich zu scherzen. »Es reicht völlig, wenn du kriechst.« Ich zog den Kopf ein, als es in nächster Nähe klickte und klackerte. Einer der Verfolger hatte eine ganze Salve Giftnadeln auf mich abgeschossen. Und natürlich steckte er wie üblich hinter einer Deckung, die für meinen Impulsstrahler undurchdringlich war. Es spielte keine Rolle, daß ich diese Deckung mit Dauerfeuer wegbrennen konnte, denn solange würde er darin nicht ausharren. Er würde einfach die Stellung wechseln. Doch meine Verfolger ahnten noch nicht, daß ich auf der letzten Strecke einen Bräter erbeutet hatte. So wurden derartige Waffen jedenfalls sinngemäß bei den Terranern genannt – zur Zeit des Solaren Imperiums. Es handelte sich um eine typische Roboter-Gefechtsfeldwaffe. Sie verschoß pro Schuß tausend »Schrotkörner«, die ausnahmslos im Ziel eine heftige Mikrowellenstrahlung emittierten. Sie schonte zwar das Fleisch von Lebewesen, erhitzte und zerpulverte aber dafür alles tote Material, angefangen von Stahlplastik bis hin zu Waffen, Kombinationen, Funkhelmen und so weiter. So
funktionierten zumindest die terranischen Bräter. Bald würde ich wissen, ob das hiesige Äquivalent dazu derselben Einschränkung unterlag. Ich hoffte es für den heimtückischen Giftnadelschützen. Ich feuerte drei »Schrotladungen« mit dem Bräter ab. Dort, wo sie aufgeprallt waren, zerbröckelten Sekundenbruchteile später Metallplastikwände und zerknallten Deckenleuchtplatten. Dann fing jemand an zu jodeln – und im nächsten Moment hüpfte ein grünhäutiger Hominide mit weiten Sprüngen durchs Gelände. Ein terranisches Känguruh wäre ob dieser Leistung ebenfalls grün geworden, aber vor Neid. Es hätte aber zweifellos mangels Masse nicht unterwegs die Kleidung vom Leibe gerissen und fortgeworfen. Ich wartete nicht ab, bis das Opfer des Bräters die Metamorphose vom Raumfahrer in einem Laubfrosch abgeschlossen hatte, sondern nutzte die gewonnene Frist und zerrte Comerlat mit mir in das Trümmergewirr hinein, das ich ihm bezeichnet hatte. Wir waren noch keine fünf Schritte weit gekommen, als ich das helle Summen einer Robotcirce vernahm. Ich warf mich hin und riß den Voorndaner mit mir zu Boden. Dort wartete ich erst einmal ab. Selbstverständlich wußte ich nicht, ob das Äquivalent einer Circe in dieser Galaxis ebenso hieß und exakt genauso funktionierte. In der Milchstraße waren entsprechende Waffensysteme zur Zeit der Konzilsherrschaft von Techniken der Widerstandsbewegung entwickelt worden. Sie sandten starke mentale Impulse aus, die nichts weiter bewirkten, als das potentielle Opfer in eine bestimmte Richtung zu dirigieren und seine Aufmerksamkeit so zu fesseln, daß es die Auslöser der Minen übersah, die irgendwo in der bestimmten Richtung lauerten. Was die Art und Weise solcher Minen betraf, so gab es Tausende von Variationen. Niemand kannte sie alle – und wer dem Einfluß der Circe unterlag, hatte keine Zeit mehr, seinen Nachlaß zu regeln. Ich unterlag diesem Einfluß natürlich nicht, da meine Mentalstabilisierung mich davor schützte. Doch ich sollte zumindest herausbekommen, wohin die Circen (denn es gab mit Sicherheit Dutzende von ihnen) ihre Opfer dirigieren wollten, damit ich eine andere Richtung wählen konnte. Leider schützte meine Mentalstabilisierung mich auch davor. Ich lockerte also meinen Griff um Comerlat und lag still. Irgendwo hinter uns schimpfte jemand, dann feuerten zwei Schützen mit Impulswaffen in unsere Richtung. Die grellen Strahlbahnen gingen weit über uns hinweg und riefen mit ihren Entladungen neue Zerstörungen hervor. In ihrer Nähe blitzten kurzfristig zwei oder drei Lichtpunkte auf: die unter Normbedingungen unsichtbaren Negagravhülsen von Circen. Comerlat rührte sich, blieb wieder still liegen und wartete auf eine Reaktion von mir. Er stand also schon unter dem Einfluß einer Robotcirce – und war sich des Irregulären seiner Handlungsweise bewußt. Sein Unterbewußtsein hoffte wahrscheinlich darauf, daß ich eingriff. Als ich mich nicht rührte, kroch er abrupt davon – und so schnell, daß ich Mühe hatte, ihn noch rechtzeitig einzuholen und aufzuhalten. Nachdem ich ihn mit einem leichten Dagorgriff »beruhigt« hatte, sah ich wenige Meter vor uns das hauchdünne silbrige Gespinst der Sensoren, die die wie immer gearteten Minen auslösen würden, sobald man sie berührte oder in ihre unmittelbare Nähe kam. Ich verspürte kein Verlangen nach irgendwelchen Experimenten, sondern schleppte Comerlat postwendend zurück und danach in eine andere Richtung. Als die Wirkung meines Beruhigungsgriffs nachließ, bewegte er sich sogar eine Strecke aus eigenem Antrieb. Dankbarkeit oder Schuldbewußtsein? Wer wußte das schon! Wir hatten gerade ein Gelände erreicht, das irgendwann einmal eine Verteilerhalle gewesen sein mußte, als ich den Todesschrei eines Smyrters hörte, gefolgt vom Todesschrei eines zweiten Smyrters. Comerlat lachte hysterisch, während Tränen über seine Wangen liefen. Da begriff ich erst.
Du mußtest doch annehmen, daß die Minen von Smyrtern gelegt worden waren! raunte mein Logiksektor. Irrtum! dachte ich zurück. Mir ist bekannt, daß die Voorndaner Sabotagetrupps in die ROULETTE eingeschleust haben und daß diese Leute skrupellos vorgehen. Ich hätte unbedingt damit rechnen müssen, daß diese Circen und Minen von ihnen stammten – und ich hätte die Smyrter warnen sollen. Damit sie dich hinterher wieder aus dem Hinterhalt beschießen konnten! hielt mir der Extrasinn vor. Das waren alles nur Geplänkel! entgegnete ich zornig. Ich wäre längst tot, wenn sie mich wirklich hätten töten wollen. Ich verabreichte Comerlat eine Ohrfeige, damit er aufhörte zu lachen. Sie schleuderte ihn quer über eine halbverbrannte Tür und flößte ihm soviel Respekt ein, daß er während der nächsten Minuten aus eigenem Antrieb weiterging. Diesmal kamen wir ohne Schwierigkeiten voran. Die überlebenden Verfolger rührten sich nicht. Wahrscheinlich hatte der Tod ihrer beiden Gefährten sie demoralisiert. Innerhalb weniger Minuten erreichten wir eine Sektion, in der es so gut wie keine Verwüstungen gab. Ich erkannte die Gegend an einigen Wand- und Schottbeschriftungen wieder. Ganz in der Nähe mußte sich die Hauptzentrale befinden. Ich überlegte, was ich tun sollte. Es durfte nichts sein, was mich lange aufhielt, denn Sarah wartete noch immer auf mich. Doch der Gedanke, der Hauptzentrale einen »Besuch« abzustatten und Ofox eine kleine Überraschung zu bereiten, war von unwiderstehlichem Reiz. Comerlat war für eine solche Aktion natürlich unbrauchbar. Seine rätselhafte Schwäche übermannte ihn bereits wieder. Er stolperte ständig über die eigenen Füße und mußte von mir ständig weitergeschubst werden, weil er alle paar Sekunden einschlief. Ich legte ihm die Hand auf die Schulter und drückte ihn zu Boden. Seufzend entspannte er sich. Als er sich lang ausstreckte, zitterten ihm die Beine. Ich preßte die Lippen zusammen. Das sah mir ganz nach einer schweren Erkrankung aus. Ich riß mich von diesen Gedanken los, nahm den Impulsstrahler wieder in die Hand und ging weiter. Schon von weitem sah ich, daß vor dem Panzerschott der Hauptzentrale zwei schwarzgekleidete Gestalten lagen. Als ich näher kam, sah ich, daß es sich um zwei Thater handelte – und dann erkannte ich sie. Es waren Cuur-Tok und Cuur-Bamyl. Sie sind ermordet worden! wisperte der Logiksektor. Sei vorsichtig! Der Mörder kann noch in der Nähe sein. Woher willst du wissen, daß es Mord war? dachte ich zurück. Ich sah mich dennoch aufmerksam um, während ich mich den beiden Haluterähnlichen näherte. Aber niemand ließ sich sehen oder griff mich an. Als ich die Thater erreicht hatte, kniete ich nieder und betrachtete nachdenklich die Verletzungen, die ihnen den Tod gebracht hatten. Ich erkannte ziemlich schnell, daß ich mich nicht nach ihrem Mörder umzusehen brauchte, denn sie hatten sich eindeutig gegenseitig umgebracht. Cuur-Bamyl hielt das Vibratormesser noch in der Hand, mit dem er seinen Artgenossen getötet hatte – und er selbst war dabei aus nächster Nähe mit einem Impulsstrahler vom Leben zum Tode befördert worden. Es ist dennoch Mord! raunte der Extrasinn. Wie kommst du darauf? dachte ich. Die Thater hätten keinen Grund gehabt, sich gegenseitig umzubringen! antwortete der Logiksektor.
Jemand hat sie dazu gezwungen, jemand mit parapsychischen Fähigkeiten. Das Minu-Cuzz! dachte ich impulsiv. Sehr wahrscheinlich! gab der Extrasinn zurück. Wir wissen, daß es mit hypnosuggestiven Parakräften arbeitet und Teil einer ehemaligen Facette ist, die von Zulgea von Mesanthor ermordet wurde. Diese Thater aber sind als Crynn-Brigadisten wertvolle Mitarbeiter der Hexe gewesen. Also Rache! überlegte ich. Primitive Rache als Motiv eines Wesens, das sich für etwas Besonderes hält. Ist das so ungewöhnlich? dachte der Extrasinn ironisch. Das gibt es sogar unter den Mächtigen der Milchstraße. In Alkordoom ist das alles nur viel stärker ausgeprägt. Seufzend richtete ich mich auf. Dieser ständige Kampf aller gegen alle, wie er sich in Alkordoom abspielte, ekelte mich an. Ich vermochte plötzlich nicht mehr einzusehen, warum ich mich dafür einsetzen sollte, daß die Macht des Juwels und seiner Facetten zerschlagen und die Ordnung in diesem Raumsektor wiederhergestellt wurde. Damit die Mächte des Chaos nicht gestärkt werden, denn sonst breiten sie sich über das gesamte Universum aus! beantwortete mein Logiksektor die unausgesprochene Frage. Und was sind die Mächte des Chaos? dachte ich zurück. Als der Logiksektor mir die Antwort schuldig blieb, lachte ich bitter. »Man muß schließlich nicht alles wissen!« rief ich zornig und fügte sarkastisch hinzu. »Es genügt, wenn man ein Ritter ohne Furcht und Tadel ist.« Ich packte die Waffe fester und ging näher an das Panzerschott heran. Als die Schotthälften zurückfuhren, duckte ich mich. Doch kein Strahlschuß fauchte über mich hinweg, und niemand stellte sich mir entgegen. Aber jemand sprach! Ich richtete mich wieder ein wenig auf und spähte in die Hauptzentrale hinein. Die Kontrollampen aller Schaltpulte leuchteten, auf den Datensichtschirmen wechselten die Anzeigen, aber alle Sessel waren leer. Kein einziger Smyrter war zu sehen. Ich huschte in die Zentrale hinein, dorthin, wo ein ständiger Lichtschein flackerte und woher die Stimme kam. Natürlich sprach sie Alkordisch (wer sprach diese Einheitssprache in Alkordoom nicht?), aber es war nicht die Stimme eines Smyrters, sondern die eines Thaters. Vorsichtig spähte ich um das Schaltpult des Astrogators herum. Wie ich erwartet hatte, war die Funkanlage aktiviert, und auf ihrem Bildschirm war das Abbild eines Thaters zu sehen. Nein, nicht eines x-beliebigen Thaters, sondern von Colo. »…nicht, warum du einfach weggelaufen bist, aber ich warte weiter«, sagte Colo. Anscheinend befand er sich in der Zentrale des Kugelschiffs der Crynn-Brigade. Jedenfalls erinnerte mich das, was hinter ihm auf dem Bildschirm davon zu sehen war, an die Zentrale der FLAMME. »Mir ist aber auch jeder andere Gesprächspartner angenehm«, fuhr Colo fort. »Falls mich also jemand hört, dann bitte ich ihn…« Ich hörte nicht nur ihn, sondern plötzlich auch noch etwas anderes, nämlich das Klicken eines Schottes. Schnell huschte ich weiter, wobei ich darauf achtete, nicht versehentlich in den Aufnahmebereich der Hyperfunkoptik zu geraten. In einem besenschrankgroßen Zwischenraum zwischen den Funktionsblöcken der Bordpositronik fand ich einen brauchbaren Unterschlupf.
Schritte und Wortfetzen ertönten, dann sagte die ölige Stimme von Ofox: »Entschuldige, daß ich unser Gespräch so abrupt unterbrochen habe, Colo. Da du den Waffenstillstand trotzdem eingehalten hast, bist du offenbar wirklich daran interessiert, daß wir uns irgendwie arrangieren.« »Selbstverständlich bin ich daran interessiert«, erklärte Colo. »Ich halte es für Unsinn, wenn wir versuchen, unsere Schiffe gegenseitig zu vernichten.« »Die Einsicht kam dir allerdings erst, als du merktest, daß die Schutzschirme der ROULETTE deinen Waffen unbegrenzt standhalten können«, gab Ofox spöttisch zurück. »Und warum warst du zu einem Waffenstillstand bereit?« hielt der Thater ihm entgegen. »Zugegeben, wir haben Schwierigkeiten mit einem Eindringling, der sich sehr schwer fassen läßt«, sagte Ofox. »Ich vermute, daß er über starke parapsychische Fähigkeiten verfügt. Du hattest angedeutet, daß du an seiner Vernichtung interessiert bist…« »Es handelt sich um das Minu-Cuzz«, erwiderte Colo. »Als ich erfuhr, daß ein Wesen mit diesem Namen in der ROULETTE aufgetaucht war, meldete ich das nach Crynn weiter. Ich bekam kurz darauf die Anweisung, alle anderen Aufträge hinter dem zurückzustellen, das Minu-Cuzz zu vernichten. Die Facette Zulgea hat es zum Staatsfeind Nummer Eins erklärt. Ich wurde dadurch in die Lage versetzt, dir ein Zweckbündnis anzubieten. Es heißt, auf den einfachsten Nenner gebracht: Wir verzichten darauf, unsere Feindseligkeiten wiederaufzunehmen und leisten uns gegenseitig Unterstützung bei der Jagd auf das Minu-Cuzz. Da ihr auf der ROULETTE anscheinend Schwierigkeiten habt, dieses Wesen zu eliminieren, biete ich dir an, eine Kampfgruppe von der FLAMME hinüber zu schicken.« Ofox dachte eine Weile nach, dann erwiderte er: »Ich nehme dein Angebot an – unter einer Bedingung. Das Minu-Cuzz arbeitet hier mit einer Gruppe Celester zusammen, die einen meiner Gefangenen befreien wollen, einen gewissen Ubal Meesters. Sollten die Leute deiner Kampfgruppe mit diesen Helfern des Minu-Cuzz zusammenstoßen, müssen sie Ubal unbedingt schonen und ihn mir übergeben.« »Ich bin einverstanden«, erklärte Colo. »Meine Kampfgruppe ist schon unterwegs.« Die Funkverbindung wurde unterbrochen, dann hörte ich, wie Ofox zu einem anderen Smyrter sagte: »Vielleicht kann die Kampfgruppe dieses Colo uns vom Minu-Cuzz erlösen, aber wir dürfen den Thatern nicht alles überlassen. Krootoor, du wirst dir ein paar Leute nehmen und nachsehen, ob Atlan und die Celesterin sich noch im Gefängnis befinden! Wenn nicht, müßt ihr sie wieder einfangen. Colo darf über Atlans wahre Identität vorläufig nichts erfahren.« »Da bin ich dir wirklich dankbar«, murmelte ich ironisch, während ich gespannt zuhörte, wie Krootoor Anweisungen erteilte und danach mit drei anderen Smyrtern aufbrach. Als der Trupp die Hauptzentrale verlassen hatte, befanden sich außer mir nur noch Ofox und zwei andere Smyrter darin. Diese krasse Unterbesetzung würde nicht lange bestehen bleiben. Ich entschloß mich, zu handeln, solange die Umstände so günstig waren wie jetzt.
5. Ich verließ mein Versteck und spähte um die Ecke eines Funktionsblocks der Bordpositronik. Ofox saß in einem Sessel vor den Kontrollen der Ortungssysteme und beobachtete einen großen Bildschirm, auf dem die Tagseite des Planeten New Marion beziehungsweise Voorndan zu sehen war. Das rote Sonnenlicht Littonis badete den Kontinent Palmwiese, dessen Umrisse in Dunst verschwammen, in himbeerfarbener Helligkeit. Auf einem zweiten Bildschirm war die Dunkelheit des Alls zu sehen. Einige wenige Sterne leuchteten blaß und waren von mehr oder minder ausgeprägter Halos umgeben, eine Folge der kosmischen Gaswolke UP-331, in die das Littoni-System eingebettet war. Die beiden anderen Smyrter saßen vor zwei anderen Schaltpulten und checkten offenbar Internsysteme der ROULETTE durch. Ihre Kontrollen zeigten zahlreiche Rotfelder an. Die Kämpfe im Spielhöllenschiff mußten schwere Schäden hinterlassen haben. Dennoch schien der eigentliche Spielbetrieb nur wenig gelitten zu haben. Die Smyrter hatten mich noch nicht entdeckt. Ich trat ganz aus dem Sichtschutz des Funktionsblocks hinaus, doch noch immer reagierte niemand. Statt dessen begann auf dem Bildschirm, der einen Ausschnitt des Weltraums zeigte, ein grüner Lichtpunkt zu blinken und zu wandern. Anscheinend handelte es sich um den Ortungsreflex des Beiboots, das die Kampfgruppe von der FLAMME zur ROULETTE brachte. Ich zielte mit dem Impulsstrahler auf die rechte Schulter des Kommandanten. »Es tut mir leid, daß ich die beschauliche Ruhe stören muß«, sagte ich. »Aber ich habe noch mehr zu tun, als hier herumzutrödeln. Laßt die Finger von den Schaltungen und Waffen und hebt die Hände über eure Köpfe!« Die Smyrter gehorchten, ohne Überraschung zu zeigen. Ofox wandte sich nach mir um, wodurch mein Impulsstrahler auf seine Brust zeigte. Ich wunderte mich darüber, daß er kein bißchen erschrak. Er wußte, daß du dich hier versteckt hattest! wisperte mein Extrasinn. Ich hatte selbst unmittelbar vor dieser Schlußfolgerung aus dem Verhalten der drei Smyrter gestanden und extrapolierte sie deshalb nicht nur blitzschnell, sondern setzte die Extrapolation auch gleich in Reaktion um. Ich warf mich nach links. Etwa eine Hundertstelsekunde später durchfuhr stechender Schmerz meine rechte Schulter und meinen rechten Oberarm: die Treffer von Giftnadeln. Fast im selben Augenblick wurde mein Körper gefühllos, aber ich wußte, daß mein Selbsterhaltungstrieb den Reflex zum Abfeuern des Impulsstrahlers ausgelöst hatte. Ich sah noch, wie Ofox starb, dann wurde es mir schwarz vor den Augen… Wie lange ich bewußtlos gewesen war, wußte ich nicht. Dergleichen Fragen interessierten mich auch nicht, als ich wieder zu mir kam. Im Grunde genommen konnte ich da überhaupt noch nicht beziehungsweise nur noch rudimentär denken. Eine Zeitlang war ich in völlige Stille eingebettet, aber ich wußte, daß das, was meine Augen sahen, ein Ausschnitt der Decke in der Hauptzentrale der ROULETTE war. Allmählich vermochte ich dann wieder etwas zu hören: Schrittgeräusche, schrille und gedämpfte Stimmen, Poltern, Schleifen und Murmeln. Zu diesem Zeitpunkt war mein Gehirn noch nicht wieder in der Lage, diese Wahrnehmungen zu verarbeiten und einzuordnen. Später überlegte ich mir, daß ich die Schritte und Stimmen der beiden Smyrter gehört hatte, die sich mit mir und Ofox in der Hauptzentrale befanden. Das Poltern und
Schleifen mußte daher gekommen sein, daß sie den Toten aus der Zentrale oder zumindest aus dem unmittelbaren Sichtbereich transportiert hatten. Um mich kümmerten sie sich nicht. Ich interessierte sie nicht mehr, weil sie mich für tot hielten – und da mein »Leichnam« nicht entstellt war, störte sie der Anblick nicht. Ebenfalls später reimte ich mir dann auch zusammen, wer mich mit Giftnadeln gespickt hatte. Ein Smyrter konnte es nicht gewesen sein, denn dessen Bewegungen wären mir in meinem Versteck nicht entgangen. Ein mobiler Roboter war es ebenfalls nicht, denn es funktionierte keiner mehr. Folglich konnte es sich nur um einen stationären, fest eingebauten, Roboter handeln. Blieb noch die Frage, ob er mich entdeckt und die Smyrter gewarnt hatte. Das erschien mir sehr wahrscheinlich. Ich war ihm sicher ahnungslos vor den Sensoren herumgelaufen. Er mußte die Warnung nicht laut aussprechen. Das hätte ich ja gehört. Aber er brauchte sie ja nur auf die Datensichtschirme einzublenden. Die Antworten auf diese Fragen interessierten mich nicht allzusehr. Aber ich hätte gern gewußt, wessen Idee es gewesen war, mich mit tödlich wirkenden Giftnadeln zu spicken. Eigentlich konnte es Ofox nicht gewesen sein, denn er hatte noch Nutzen aus mir ziehen wollen. Aber er vermochte diese Frage ebensowenig zu beantworten wie die beiden anderen Smyrter, denn er war tot – und sie starben ebenfalls, bevor ich in der Lage war, Fragen zu stellen. Der Überfall erfolgte unmerklich, denn er wurde mit geistigen Waffen vorgetragen. Ich bekam es erst mit, als zwei schmetternde Entladungen in der Nähe ertönten. Ein schwerer Körper polterte anschließend zu Boden. Danach ächzte jemand, und der zweite Körper stürzte. Ein Impuls drang in mein Bewußtsein ein und befahl mir, meine Deckung zu verlassen. Ich hätte ihn selbst dann nicht befolgen können, wenn ich es gewollt hätte, denn erstens war ich nirgends in Deckung gegangen und zweitens war ich gefühllos und mehr tot als lebendig. Dann hörte ich einen Schrei. Sekunden später wurde mein Gesichtskreis vom Oberkörper Ariens ausgefüllt. Schmerz und Verzweiflung sprachen aus seinen Augen. »Er ist tot!« rief er mit halberstickter Stimme. »Atlan ist tot!« In das aufbrandende Getrappel von Füßen mischte sich eine melodische, weder rein weibliche noch rein männliche Stimme. »Atlan?« Das Minu-Cuzz! wisperte mein Extrasinn. »Ja, Atlan«, hörte ich Arien antworten. »Jetzt kann ich es ja verraten, denn er ist tot. Ubal Meesters war sein Deckname. In Wirklichkeit hieß er Atlan, und er war auch kein Celester, sondern ein Arkonide.« Verzweifelt bemühte ich mich darum, irgend etwas zu tun, um Arien zu zeigen, daß ich noch lebte. Doch ich konnte nicht einmal blinzeln. Vielleicht war ich wirklich so gut wie tot. Mein Zellaktivator hatte wahrscheinlich nur verhindert, daß ich sofort starb. Aber wenn das Gift irreparable Schäden angerichtet hatte, konnte er mich nicht mehr lange am Leben erhalten. »Er ist noch nicht ganz tot«, sagte die melodische Stimme. »Ich spüre einen Rückkopplungseffekt, wenn ich ihn zu beeinflussen versuche.« Rettet Sarah! dachte ich intensiv und hoffte, daß das Minu-Cuzz auch ein wenig telepathisch begabt war. Krootoor ist zu ihr unterwegs. Wer weiß, was er mit ihr anfängt, wenn er mich nicht bei ihr findet. Doch meine Hoffnung erfüllte sich nicht. Das Minu-Cuzz war telepathisch nicht stärker begabt als ein Stein. Es hätte sich auch bestimmt nicht darum gekümmert, was aus Sarah wurde. Glücklicherweise war Arien Richardson eine treue Seele. Er hatte Sarah nicht vergessen.
»Wenn er lebt, muß er uns sagen, wo Sarah ist«, erklärte er. Ich versuchte es. Ich kämpfte mit aller Willenskraft gegen die Lähmung an, aber ich erreichte nichts. Es war ein Wunder, daß ich überhaupt noch atmen konnte. »Wir haben Comerlat gesehen, als wir hierherkamen«, warf Volkert ein. »Wenn er mit Atlan gekommen ist, weiß er vielleicht, wo sich Sarah befindet.« »Er schien mir bewußtlos zu sein«, wandte Spooner ein. »Er ist krank«, sagte das Minu-Cuzz. »Aber er besitzt noch Kraft genug, um uns zu Sarah zu führen, falls er weiß, wo sie sich befindet.« Das wußte er allerdings, denn ich hatte es ihm gesagt, bevor wir nach hier aufgebrochen waren. Aber ich bezweifelte, daß er weiter als ein paar Schritte gehen konnte. Da irrte ich mich jedoch. Ich erkannte es, als ich Comerlats Stimme hörte. Der Voorndaner war auf eigenen Füßen in die Hauptzentrale gekommen, allerdings wohl kaum mit eigener Willenskraft. »Ich führe euch«, erklärte er angestrengt. »Wir dürfen Atlan nicht zurücklassen«, sagte Arien. »Das werden wir auch nicht«, erwiderte das Minu-Cuzz. »Schließlich soll er mir sagen, wo er das Fract-Cuzz getroffen hat. Schauviel, du wirst Atlan tragen!« Arien verschwand aus meinem Blickfeld. Dafür tauchte Schauviel auf. Der als Celester getarnte Roboter hob mich mühelos auf seine Arme. Das Minu-Cuzz mußte seine Positronik elektronisch überwältigt haben. Während er mich aus der Hauptzentrale trug, überlegte ich, was das Minu-Cuzz tatsächlich von mir wollte. Wenn es nur zu erfahren suchte, wo es sich zuletzt aufgehalten hatte, hätte es nicht unbedingt mich fragen müssen. Schließlich war ANIMA nicht nur ein Raumschiff, sondern auch ein intelligentes Lebewesen – und die Aktivitäten des Fract-Cuzz hatten sich in ihm abgespielt. Doch anscheinend ahnte das Minu-Cuzz nichts von der wahren Natur ANIMAS – und ich hatte nicht vor, es darüber aufzuklären. Ich blieb hellwach, obwohl ich in Schauviels Armen wie in einer Sänfte gewiegt wurde. Aber ich mußte immer an die Smyrter denken, die Comerlat und mich auf dem Weg zur Hauptzentrale verfolgt hatten. Drei von ihnen lebten noch, und falls sie irgendwo auf der Strecke lauerten, würden wir in einen gefährlichen Hinterhalt geraten. Comerlat hatte nicht vor dieser Gefahr gewarnt. Wahrscheinlich vermochte er nicht mehr klar zu denken und war nicht mehr als eine Marionette an den hypnosuggestiven Fäden des Minu-Cuzz’. Doch der befürchtete Feuerüberfall blieb aus. Dafür rückte eine andere Gefahr immer näher. Krootoor war schließlich mit drei anderen Smyrtern aufgebrochen, um nach mir und Sarah zu sehen. Ich nahm an, daß sie das Gefängnis inzwischen erreicht hatten und sich mit Sarah auf dem Rückweg zur Hauptzentrale befanden. Wir mußten unweigerlich mit ihnen zusammentreffen – und das bedeutete Kampf. Doch wieder einmal kam es anders als ich dachte. Die Salve von Strahlschüssen erfüllte den Korridor von einem Moment zum anderen mit ohrenbetäubendem Krachen und Donnern. Schauviel warf sich in Deckung. Aber ich hörte, daß die Schüsse nicht uns galten, sondern in mindestens hundert Metern Entfernung abgegeben wurden – und sich in noch größerer Entfernung entluden. Nach einer Pause von wenigen Sekunden hörte ich aus zirka zweihundert Metern Entfernung kurz hintereinander drei Abschüsse – und praktisch im gleichen Augenblick die Entladungen. Die erfolgten allerdings nur in etwa hundert Metern Entfernung. Gleich darauf ertönte der Schmerzensschrei eines Smyrters.
Ich ahnte, was da vorging. Sarah mußte während meiner Abwesenheit ihr Gefängnis verlassen haben und hatte sich eine Strahlwaffe beschafft. Als Krootoor mit seinen Leuten eintraf, würde sie irgendwo in Deckung gegangen sein und hatte sich die Smyrter mit der Waffe vom Leibe gehalten. Einer von ihnen mußte gerade wieder versucht haben, sie auszuschalten, während seine »Kollegen« ihm Feuerschutz gaben. Er hatte sein Ziel nicht erreicht. Sarah war kaltblütig genug gewesen, um zu warten, bis seine »Kollegen« ihr Feuer einstellen mußten, um ihn nicht zu gefährden und ihn dann mit ein paar Schüssen in Deckung zu treiben. Der Smyrter war dabei verwundet worden. Ich verwünschte meine Lähmung, die mich zur totalen Passivität verurteilte. Sarah brauchte Entsatz – und zwar schnell. Wenn die Smyrter ihr »Spielchen« konsequent weitertrieben, kam einer von ihnen früher oder später doch durch. Ich kannte das aus eigener Erfahrung. Das Minu-Cuzz dachte offenbar genauso, aber es handelte ganz seiner Natur entsprechend. Dort, wo die Smyrter in Deckung lagen, krachte es ein paarmal, dann war es still. Ich begriff, daß sie sich unter hypnosuggestivem Zwang gegenseitig umgebracht hatten. Gleich darauf krachte es noch einmal. Der Verwundete! kommentierte der Logiksektor. Er hat sich selbst getötet. Ich hörte das Trappern von Füßen und wußte, daß es die Richardsons waren, die vorstürmten. Gleich darauf rief Arien nach Sarah – und Sarah antwortete. Sie hatte also alles heil überstanden. Ich war erleichtert. Dann rief Sarah meinen Namen und kam angerannt. Arien hatte ihr wohl berichtet, wie es um mich stand. Sekunden später tauchte sie in meinem Blickfeld auf. Im nächsten Moment hatte sie sich über mich geworfen. »Oh, Atlan, sag’ etwas!« stammelte sie. »Du darfst nicht sterben!« Es war, als hätte sie ein Zauberwort gesprochen und damit einen Bann von mir genommen. Ich spürte, daß ich einige Muskeln bewegen konnte und merkte, daß ich mit ein bißchen Anstrengung ein paar Worte hervorbringen würde. In diesem Augenblick sagte das Minu-Cuzz: »Rede ihm weiter zu, Sarah Briggs! Je früher er wieder sprechen kann, desto besser. Wir haben nicht mehr viel Zeit.« Diese Worte hätten meinen Argwohn nicht erregt, wäre ich nicht mehrmals Zeuge der Skrupellosigkeit des Minu-Cuzz geworden und hätte ich nicht gewußt, daß es völlig frei von ethischen Beweggründen war. So aber begann ich zu ahnen, daß wir für dieses Wesen nur noch lästiger Ballast sein würden, sobald es erfahren hatte, was es wissen wollte. Von diesem Moment an würden wir in höchster Gefahr schweben. Ich entschloß mich deshalb dazu, den vollständig Gelähmten zu spielen und zumindest nicht eher zu reden, als bis wir alle wohlbehalten nach New Marion zurückgekehrt waren.
6. Das Minu-Cuzz hatte sich damit zufriedengegeben, daß ich weiterhin gelähmt war und nicht reden konnte. Es erklärte, daß es sich mit uns zu den Rettungszylindern der ROULETTE durchschlagen wollte und daß wir uns in einem dieser Zylinder aus dem Spielhöllenschiff katapultieren würden. Ich begriff, daß das Minu-Cuzz das Funkgespräch zwischen Ofox und Colo mitgehört haben mußte. Anders ließ sich sein Bestreben, sich abzusetzen, kaum erklären. Ich begriff aber auch, daß dieses Relikt einer Facette meine Freunde und mich niemals mitnehmen würde, wenn es von mir alles erfahren hatte, was es wissen wollte. Aber wenn wir mit dem Minu-Cuzz nach New Marion flüchteten, was würden dann Colo und der Nachfolger von Ofox unternehmen? In mir keimte die dunkle Ahnung, daß mit unserer Flucht auf den Planeten noch längst nicht alles ausgestanden sein würde. Waren meine Freunde der Sache überhaupt gewachsen, wenn ich nicht aktiv in die Entwicklung eingriff? Arien Richardson bewies mir wenig später, daß ich ihn unterschätzt hatte. »Nein!« sagte er scharf. »Das werden wir nicht tun, Minu-Cuzz. Das wurde ein fürchterliches Gemetzel geben. Wir dürfen nicht massiv und gewaltsam dorthin vorstoßen!« Ich begriff, daß das Minu-Cuzz ihm hypnosuggestiv befohlen hatte, unter massiver Anwendung von Waffengewalt mit ihm zu den Rettungszylindern durchzubrechen – und daß es die Anweisung zwar verstanden hatte, jedoch nicht gezwungen war, sie auszuführen. Im übrigen war sein Einwand berechtigt. Dieser Befehl bewies wieder einmal mehr die Skrupellosigkeit des Facetten-Relikts. »Und überhaupt!« fuhr Arien fort. »Du hattest mir versprochen, keine parapsychischen Mittel mehr gegen uns einzusetzen.« »Aber das war nicht gegen euch gerichtet«, erwiderte das Minu-Cuzz. »Ich wollte dadurch nur Zeit gewinnen.« »Das ist eine Ausrede«, erklärte Arien. Beinahe hätte ich beifällig gelacht, denn er benahm sich goldrichtig. »Wir machen es anders. Die Nachfolger von Ofox und Krootoor wissen mit großer Wahrscheinlichkeit nicht, daß Ofox hinter Atlan und Sarah her war. Wir erregen also kaum Aufsehen, wenn wir durch die Hotelsektion friedlich zur Kugelsektion gehen. Du darfst natürlich nicht bei uns bleiben, denn du bist zu oft im Zusammenhang mit Gewalttaten gesehen worden. Folglich gehst du außen entlang. Wir werden uns bei den Rettungszylindern treffen.« »Das gefällt mir nicht«, sagte das Minu-Cuzz. »Ich kann Comerlat nicht mit nach draußen nehmen, und bei euch würde er mangels Antrieb zusammenbrechen.« »Wir lassen ihn einfach hier zurück«, warf Sarah ein. »Über kurz oder lang wird er auffallen und in die Krankenstation gebracht werden. Dort ist er besser aufgehoben als bei uns.« »In Ordnung«, erwiderte das Minu-Cuzz. »Aber beeilt euch! Wir müssen auf New Marion sein, bevor der Trupp von der FLAMME ankommt.« Aha! dachte ich bei mir. Da hatte ich also richtig vermutet, daß es das Funkgespräch mitgehört hat! Ich sah noch, wie das Minu-Cuzz in einen Seitengang hineinschwebte und wie Comerlat sich an eine Wand lehnte und an ihr hinabrutschte, bis er auf dem Boden saß, dann brachen auch die Celester auf. Ich wurde weiterhin von Schauviel getragen. Wenn er nicht gewesen wäre, hätte ich mich jetzt meinen Freunden offenbart, doch so schwieg ich lieber. Der Roboter hätte seinen neuen Herrn zweifellos sofort über Funk informiert. Als wir den Hauptkorridor der Hotelsektion betraten, herrschte helle Aufregung. Im ersten Moment fürchtete ich, wir wären mitten in neue bewaffnete Auseinandersetzungen geraten, doch dann
bemerkte ich das Fehlen jeglicher Kampfgeräusche. Ich war dennoch nicht beruhigt, denn die Aufregung mußte einen gewichtigen Grund haben. Leider konnte ich kaum etwas sehen, da Schauviel mich in einer dafür sehr ungünstigen Stellung trug. Ich hörte nur hektisches Getrappel vieler Füße, vereinzelte laute Zurufe und ängstliches Getuschel. Dazwischen ertönte das Schleifen, Klappen und Zischen von Schotten. »Da kommt ein Mediker«, sagte Arien nach einiger Zeit. »Ich werde ihm schnell sagen, wo wir Comerlat gelassen haben, damit er sich um ihn kümmern kann.« »Er hat es eilig, Paps«, wandte Spooner ein. Arien hörte nicht darauf. Sekunden später schrie der Mediker, Arien solle ihn gehen lassen. Er habe keine Zeit. Der Stimme nach war es ein Smyrter. »Du wirst dir die Zeit nehmen!« schrie Arien zurück. »Rund dreihundert Meter hinter uns lehnt ein bewußtloser Voorndaner an der Wand. Er ist schwerkrank. Jemand muß sich um ihn kümmern.« Der Mediker lachte hysterisch. »Schwerkrank!« zeterte er anschließend. »Was glaubst du, wie viele Schwerkranke wir auf der ROULETTE haben. Jeder Voorndaner hat die Hungerseuche.« Beinahe hätte ich mich eingemischt, denn es war meiner Meinung nach durchaus wichtig, daß wir mehr über diese »Hungerseuche« erfuhren, bevor wir nach New Marion zurückkehrten. Beispielsweise mußten wir absolut sicher sein, daß wir den Erreger der Epidemie nicht verbreiten konnten. Doch ich wollte mich nicht verraten, und Arien verpaßte den richtigen Augenblick, indem er den Mediker laufen ließ. Danach setzten wir unseren Weg fort. Ich lauschte konzentriert allen auf mich eindringenden Geräuschen. Nach und nach entnahm ich ihnen, daß die Hotelsektion teilweise in ein Krankenhaus umfunktioniert worden war. Es schienen allerdings nur Voorndaner an der Hungerseuche erkrankt zu sein, und es hatte einige Todesfälle gegeben. Nachdem wir von der Hotelsektion in die Kugelsektion übergewechselt waren, setzte sich Schauviel an die Spitze. Das Minu-Cuzz hatte ihn offenbar über den Standort der Rettungszylinder informiert. Dadurch war er der einzige von uns, der den richtigen Weg kannte. Innerhalb der Kugelsektion kümmerte sich niemand um uns, obwohl überall schwerbewaffnete Raumfahrer der ROULETTE patrouillierten. Doch sie sorgten nur dafür, daß der Spiel- und Vergnügungsbetrieb einigermaßen reibungslos weiterlief. Es schien an Bord keine Kämpfe und Sabotageakte mehr zu geben. Demnach waren beide Agentengruppen, die in das Spielhöllenschiff eingeschleust worden waren, weg vom Fenster: die Voorndaner durch die rätselhafte Hungerseuche und die Thater der Crynn-Brigade infolge des Rachefeldzugs des Minu-Cuzz. Als Schauviel stehenblieb, hatte ich nicht die geringste Ahnung, warum. Ich konnte mir jedoch ausrechnen, daß wir uns zumindest in der Nähe der Rettungszylinder befinden mußten. Meiner Schätzung nach hatten wir die beiden oberen Drittel der Kugelsektion durchquert. Viel tiefer konnten wir nicht mehr gehen. »Warum gehst du nicht weiter?« fragte Arien den Roboter. »Die Rettungszylinder werden von Posten bewacht«, antwortete Schauviel. »Ach, was!« wiegelte Spooner ab. »Überall im Schiff stehen Posten.« »Diese hier werden uns den Zugang verwehren«, erklärte der Roboter und legte mich einfach auf den Boden.
Ich ahnte, was kommen würde, konnte aber nichts tun, ohne damit unser aller Leben zu gefährden. Zum Glück für die Posten war Schauviel weniger skrupellos als das Minu-Cuzz. Das lag wahrscheinlich an einem Rest seiner Grundprogrammierung. Ich atmete auf, als ich zweimal das Singen eines Lähmstrahlers vernahm. Gleich darauf hob Schauviel mich wieder hoch und trug mich durch den Zugang eines Rettungszylinders, den die Richardsons unterdessen geöffnet hatten. »Hierher!« hörte ich Sarah rufen und wußte, daß sie den Roboter meinte. »Leg’ ihn hier ab!« Schauviel legte mich in einen Sessel, den Sarah in die Waagerechte geklappt hatte. Dann tauchte Sarahs Gesicht in meinem Blickfeld auf. Sie musterte mich besorgt. Ich konnte nicht anders, ich mußte ihr zublinzeln. Da verklärte sich ihr Gesicht zu einem glücklichen Lächeln. Ich war gerührt. Diese Frau liebte mich alten Weltraum-Haudegen tatsächlich! Weltraum-Haudegen! entrüstete sich der Logiksektor. Du mußt dich nicht noch selber abqualifizieren. Das werden schon die Medien der Milchstraße erledigen, sobald sie etwas über deine Abenteuer in Alkordoom erfahren. Na, und! dachte ich spöttisch zurück. Sollen sie sich doch die Mäuler zerreißen. Ich bin nicht auf Lob und Lorbeer angewiesen. Ein meisterhaft zubereiteter Wildschweinbraten, ein spritziger Sekt und eine feurige Frau stellen mich völlig zufrieden. Und ich; als Logiksektor muß das alles jedesmal miterleben! entrüstete sich der Extrasinn. Aber »Lob und Lorbeer« klingt gut. Kannst du nicht mal ein Buch mit diesem Titel schreiben? Verdammt, du willst mich ablenken! erschrak ich, als ich Lunte zu riechen begann. Ich soll zulassen, daß wir auf New Marion landen! Mein Extrasinn hatte mir tatsächlich einen Streich gespielt, indem er mich in ein telepathisches Streitgespräch verwickelte und dadurch verhinderte, daß ich alles mitbekam, was sich in meiner Nähe tat. In erster Linie war das die Ankunft des Minu-Cuzz – und in zweiter Linie seine und Schauviels Bemühungen, den Rettungszylinder startklar zu bekommen, ohne daß es jemand merkte. Und niemand außer mir nahm Anstoß daran! Aber wir durften auf keinen Fall starten und schon gar nicht auf New Marion landen, bevor wir nicht sicher wußten, daß wir die Hungerseuche nicht auf dem Planeten einschleppten. Ich tat, als fiele die Lähmung just in diesem Moment von mir ab, indem ich mich stöhnend streckte. »Er kommt zu sich!« jubelte Arien, und seine Söhne fielen in sein Jubelgeschrei ein. Im nächsten Moment tauchte das Minu-Cuzz vor mir auf. Die Augen des blauhäutigen Kopfes starrten mich verlangend an. »Wo hast du das Fract-Cuzz getroffen?« fragte er mit seiner melodischen Stimme. »Was hat sich zwischen euch abgespielt?« Ich seufzte und sagte mit kaum hörbarer Stimme: »Das sage ich dir, wenn wir in Sicherheit sind. Aber ich verrate dir kein Wort, wenn du einfach mit uns startest und wir die Epidemie nach New Marion verschleppen.« »Es ist keine echte Seuche«, entgegnete das Minu-Cuzz. »Ich habe Informationen eingeholt. Demnach handelt es sich um eine Mangelkrankheit, die darauf zurückzuführen ist, daß bei den befallenen Voorndanern die symbiotischen Mikroorganismen abgestorben sind, die in ihrem Darm das Nahrungseiweiß aufgeschlossen haben.« »Nur bei Voorndanern?« erkundigte sich Volkert. »Nur Voorndaner besitzen diese symbiotischen Mikroorganismen«, erklärte das Zwitterwesen. »Diese Leute haben sich das übrigens selber zuzuschreiben. Es waren voorndanische Agenten, die
auf der ROULETTE ein heimtückisches Rauschgift verteilten. Zahlreiche Gäste starben daran. Bei anderen veränderten die Abwehrkräfte ihrer Körper die chemische Struktur des Rauschgifts. Als Dämpfe daraus über die Klimaanlage verbreitet wurden und die Voorndaner sie einatmeten, veränderte sich der Metabolismus ihrer Mikrosymbionten. Sie starben am zugeführten Nahrungseiweiß, anstatt es für ihre Wirte aufzuschließen – und die Voorndaner sterben am Eiweißmangel ihres Körpers. So schließt sich der Kreis.« »Demnach wirkt der Faktor, der den Metabolismus der Symbionten verändert, ansteckend auf alle Symbionten?« hakte ich nach. »Das heißt, daß jeder erkrankte Voorndaner die Hungerseuche auf alle anderen Voorndaner überträgt?« »Das ist richtig«, bestätigte das Minu-Cuzz. »Angehörige anderer Völker sind nicht gefährdet.« »Aber wir könnten versehentlich infizierte Symbionten von einem Voorndaner auf den anderen übertragen«, insistierte ich hartnäckig. »Beispielsweise von Comerlat auf jeden Voorndaner dort unten auf dem Planeten.« »Ja«, gab das Minu-Cuzz zu. »Dann dürfen wir nicht auf New Marion landen!« erklärte ich. »Falls du es dennoch tust, wirst du nie von mir erfahre, was du wissen willst.« »Du bist klug«, stellte das Minu-Cuzz fest. »Aber deine Vorsicht kommt zu spät. Die Hungerseuche wütet längst auf dem Kontinent Palmwiese. Sie wurde von Voorndanern eingeschleppt, die hier oben erkrankten und sich zum Planeten zurückbringen ließen, ohne ihre Erkrankung zu melden, wie es Vorschrift ist.« »Um Gottes willen!« entfuhr es mir. »Dann müssen Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt werden, um eine erfolgversprechende Behandlungsmethode herauszufinden, sonst stirbt ein ganzes Volk aus.« »Es wäre nicht das erste«, gab das Minu-Cuzz kalt zurück. »Aber wir können uns darum nicht kümmern, denn uns wird man jagen, solange man weiß, daß wir noch am Leben sind. Habe ich jetzt deine Erlaubnis, unseren Rettungszylinder zu starten und auf dem Planeten zu landen, Atlan?« »Ich habe nichts mehr dagegen einzuwenden«, erklärte ich resigniert. »Nur eines noch: Wir werden auf Palmwiese landen und keineswegs auf Hain. Ich will nicht das geringste Risiko für die Celester eingehen.« »Akzeptiert«, sagte das Facetten-Relikt. * Es gab einen harten Schlag, als unser Rettungszylinder abgesprengt und in den Raum katapultiert wurde. Ich lag in meinem Sessel, und Sarah kauerte neben mir und hielt meine Hand. Die drei Richardsons hingen erschöpft in anderen Sesseln. Es war bewundernswert, was sie in den letzten Tagen alles geleistet hatten. Aber was hatten wir eigentlich wirklich erreicht? Wir wußten jetzt, daß das Spielhöllenschiff ROULETTE von der Facette Gentile Kaz nach New Marion geschickt worden war, um die Zivilisationen der Voorndaner und Celester moralisch aufzuweichen und dadurch das strategisch wichtige Littoni-System entweder seinem Sektor einzuverleiben oder zur Bedeutungslosigkeit zu verurteilen. Wir wußten außerdem, daß sich sowohl die Spielhöllenbesitzer vom Kontinent Palmwiese als auch
die Facette Zulgea von Mesanthor diesen Bestrebungen entgegengestemmt hatten: die Voorndaner, indem sie Sabotagetrupps in die ROULETTE einschleusten, die mit Gift und Sprengstoffanschlägen arbeiteten – und die Hexe, indem sie ein Raumschiff der Crynn-Brigade ins Littoni-System schickte und einen Agententrupp damit beauftragte, das Schiff in seinen Besitz zu bringen. Beide Vorhaben waren gescheitert. Die Voorndaner hatten sich mit ihren tückischen Giftanschlägen selbst zum Tode verurteilt – und die Crynn-Brigadisten waren dem Rachedurst des Minu-Cuzz zum Opfer gefallen. Doch auch die Pläne des Gentile Kaz waren undurchführbar geworden. Die ROULETTE hatte ihre Aufgabe nicht erfüllt. Zwar war die Zivilisation der Voorndaner verloren, aber die der Celester existierte weiter. Der Anschlag hatte ein paar Individuen in den Untergang treiben können, das Volk ansonsten aber nicht im geringsten erschüttert. Statt dessen hatte sich die bizarre Situation ergeben, daß die ROULETTE ein Hilfsangebot ihrer Widersacher annehmen mußte. Doch auch für die Crynn-Brigadisten war das kein Zeichen von Stärke. Im Gegenteil. Nur die Furcht der Hexe vor der Rache des Minu-Cuzz hatte sie dazu bewegen können, der Crynn-Brigade ein Bündnis auf Zeit mit den Leuten ihres Widersachers Kaz zu befehlen. Sie würde nicht eher ruhen, als bis sie wußte, daß der Rächer tot war. Damit aber stellte sich für die Celester das Problem, ihre eigene Existenz zu retten. Falls die Besatzung der ROULETTE und die Crynn-Brigade erfuhr, daß das Minu-Cuzz auf New Marion Zuflucht gefunden hatte, würden sie die Jagd auf den Planeten ausdehnen. An die Folgen mochte ich am liebsten nicht denken, aber ich mußte es, denn die Celester waren nicht nur meine Freunde, sondern im Grunde genommen Terraner – und außerdem hatte ich ganz bestimmte, weitgespannte Hoffnungen mit der Existenz dieses Völkchens und ihres Planeten verbunden. Ich richtete mich auf, als ich auf einem der Bildschirme ein zylindrisches Objekt sah, das durchs All wirbelte. Die Antwort darauf, worum es sich handelte, lag zwar auf der Hand, aber ich wollte sie einfach nicht wahrhaben, weil sie mir so wahnwitzig erschien. Doch als ich noch zwei gleiche Objekte auf den Schirmen der Außenbeobachtung erblickte, konnte es keinen Zweifel mehr geben. »Hast du veranlaßt, daß alle Rettungszylinder abgestoßen wurden?« wandte ich mich an das MinuCuzz. »Selbstverständlich«, antwortete das Zwitterwesen. »Ich mußte verhindern, daß man uns mit den übrigen Zylindern verfolgt.« Ich lachte bitter. »Das war genial«, erklärte ich sarkastisch. »Indem du diese Möglichkeit vereitelt hast, zwingst du unsere Gegner, mit Kanonen auf Spatzen zu schießen.« »Ich verstehe nicht«, erwiderte das Minu-Cuzz. »Sobald wir erst einmal auf New Marion gelandet sind und den Rettungszylinder verlassen haben, gibt es keine Möglichkeit mehr für unsere Feinde, uns ortungstechnisch wiederzufinden. Nachdem wir also in Sicherheit sind, fordere ich dich erneut auf, mir meine Fragen zu beantworten.« »Ich denke nicht daran«, erklärte ich zornig. »Dazu werde ich erst bereit sein, wenn sowohl die ROULETTE als auch die FLAMME abgezogen sind.« »Sie werden nicht eher abziehen, als bis die Kommandanten glauben, ihre Probleme gelöst zu haben«, entgegnete das Minu-Cuzz. »Eben!« sagte ich bedeutungsschwer. »Ich verstehe das alles zwar nicht ganz«, warf Arien Richardson ein. »Aber ich stehe selbstverständlich auf deiner Seite, Atlan. Deshalb schlage ich vor, daß wir so schnell wie möglich auf Hain landen und uns der Unterstützung ANIMAS versichern.«
»ANIMAS?« tönte das Minu-Cuzz unmelodisch und anscheinend völlig überrascht. »Wer oder was ist ANIMA?« »Es ist mein Raumschiff«, erklärte ich. »Aber wir werden nicht auf Hain landen, sondern auf Palmwiese.« »Warum nicht auf Hain?« wandte das Relikt einer Facette unwillig ein. »Auf Palmwiese gibt es nur Tod und Zerfall.« »Genau deshalb bestehe ich darauf, daß wir auf Palmwiese landen«, erwiderte ich. »Dort ist nicht mehr viel zu verderben.« Mit Ausnahme der Natur! raunte mein Extrasinn vorwurfsvoll. Ich preßte die Lippen zusammen. Dieser Einwand traf mich tief, aber ich hatte gar keine Wahl. Wenn das geschah, was ich nicht offen auszusprechen wagte, aber insgeheim befürchtete, wurde auf New Marion eine Holle entfesselt werden. Dann mußte ich froh sein, wenn sie sich auf ein Gebiet beschranken ließ, in dem es keine intelligenten Lebewesen gab, außer den Richardsons, Sarah und mir natürlich – und dem Minu-Cuzz.
7. Schauviel landete den Rettungszylinder in der Nähe der Zwillingsstadt Dotterblume-Heidesenf. Es war später Abend, und die rote Sonne Littoni versank soeben hinter der Krümmung des Horizonts. Ein kühler Wind fiel von den nahen Bergen herab und strich über die Felder, Wiesen und Auen des Tales, in dem die Zwillingsstadt lag. Die Luft war angenehm warm, und wenn es still war, konnten wir weithin das Zirpen von Myriaden grillenähnlicher Insekten hören. Nur war es selten still. Dotterblume-Heidesenf war schon immer von hektischem Leben erfüllt gewesen. Heute hatte sich die Hektik zur Hysterie gesteigert. Der große Raumhafen der Doppelstadt war hell erleuchtet. Starke Scheinwerfer richteten ihre grellen Lichtkegel nach innen, vor allem aber nach außen, denn von dort wogte eine nach Hunderttausenden zahlende Menge auf den Raumhafen zu: Voorndaner und Touristen, die vor der auf Palmwiese grassierenden Hungerseuche ins All zu fluchten versuchten. Knatternde Salven von Strahlschüssen bewiesen, daß die Ordnungskräfte resolut gegen die Massen vorgingen. Etwas anderes blieb ihnen wahrscheinlich gar nicht übrig, wenn Starts und Landungen nicht unmöglich gemacht werden sollten. »Oh, Gott!« entfuhr es Sarah. »Die armen Menschen!« Soeben dröhnten und zitterten Boden und Luft, als fünf Raumschiffe gleichzeitig starteten. Ich kannte den Typ. Es waren Schiffe, die die Voorndaner immer eingesetzt hatten, um auf den anderen Welten in Zulgeas Machtbereich vergnügungssüchtige Touristen einzusammeln, damit sie auf Palmwiese ihr Geld loswurden. Auf den ersten Blick sah es deshalb aus, als hatten die Voorndaner noch einmal Glück gehabt. Mindestens die Hälfte von ihnen wurde den Planeten verlassen können. Aber wenn auch nur ein geringer Teil von ihnen infiziert war, nutzte ihnen die Flucht letzten Endes nichts. Sie wurden im Weltraum oder auf anderen Planeten statt in ihrer Heimat sterben. Kaum waren die fünf Schiffe als leuchtende Punkte im All verschwunden, als zwei andere Schiffe zur Landung ansetzten. Diesmal handelte es sich um einen anderen Typ. »Es sind Schiffe der K’hoor«, erklärte Arien. »Sie landen normalerweise nicht bei uns. Wahrscheinlich hat Zulgea eine Rettungsaktion edler anderen Völker ihres Sektors veranlaßt.« »Sie hatten lieber medizinische Hilfe veranlassen sollen«, erwiderte ich bitter. »Dazu fehlen die Voraussetzungen«, warf das Minu-Cuzz ein. »Es gibt in Alkordoom keine interstellare medizinische Forschung, sondern nur planetarisch-lokale Behandlungszentren.« »Ein Gleiter!« rief Spooner Richardson und deutete schräg nach oben. Mir wurde plötzlich heiß, denn ich erinnerte mich zum erstenmal wieder an die KORALLE, unseren Gleiter, der auf einer Etage eines Parkhauses der Zwillingsstadt stand – wenn wir Glück hatten. Bei den chaotischen Zuständen, die auf Palmwiese herrschten, war es gut möglich, daß die KORALLE zerstört worden war. Gegen unbefugte Benutzung gab es eine perfekte Sicherung, aber genau das konnte in Panik geratene Voorndaner dazu verleitet haben, ihre Aggressionen an dem Fahrzeug abzubauen. Der Gleiter, der sich uns näherte, war allerdings nicht die KORALLE. Er war einer der Luxusschlitten, mit denen vor noch nicht allzu langer Zeit die Erfolgreichen des Spielhöllengeschäfts geprotzt hatten. Schlingernd setzte er auf einer Wiese auf, bremste ab und kam wenige Meter vor dem Rettungszylinder zum Stehen. Die Türen öffneten sich. Ungefähr ein Dutzend rothäutiger Hominider wieselte heraus und hastete heftig gestikulierend auf den Rettungszylinder zu. »Sie verwechseln den Zylinder mit einem Raumschiff«, sagte ich. »Öffnet ihnen, damit sie sich
davon überzeugen können, daß es zwecklos wäre, sich um den Besitz dieser Metallhülse zu streiten!« Das Minu-Cuzz erteilte Schauviel einen entsprechenden Befehl. Sofort strömten die Voorndaner herein. Sie stockten nur kurz, als sie das Zwitterwesen sahen. Laut lärmend verteilten sie sich im Innern des Zylinders. »Er gehört euch!« rief Arien ihnen zu. »Meinetwegen könnt ihr euch häuslich darin einrichten. Nur fliegen tut das Ding nicht. Es ist nämlich ein Rettungszylinder, also ein Einwegfahrzeug.« Die Voorndaner schwiegen, dann schrien sie nur noch lauter durcheinander. Kein Zweifel, sie waren hochgradig hysterisch und hatten sich kaum noch unter Kontrolle. »Wir gehen!« sagte ich und stand auf. Schauviel eilte herbei, um mich wieder zu tragen. Ich winkte jedoch ab. Zwar spürte ich die Nachwirkungen der Giftnadeln noch in sämtlichen Knochen, aber ich hoffte, daß sie schneller abgebaut wurden, wenn ich mir Bewegung verschaffte. Die Voorndaner blieben lärmend im Rettungszylinder zurück. Nur einer folgte uns, ein älterer Mann. »Ist es wirklich wahr, daß das kein Raumschiff ist?« rief er uns kläglich nach. »Du kannst es uns glauben«, versicherte ich ihm. »Wir sind damit von der ROULETTE geflohen.« »Die ROULETTE!« echote er. »Von ihr ist unser ganzes Unglück gekommen.« Ich schüttelte den Kopf. »Euer Unglück ist aus euch selbst heraus gekommen. Hättet ihr nicht mit heimtückischen Giften gegen die Konkurrenz gekämpft, wäre euer Volk nicht zum Tode verurteilt.« »Das ist nicht wahr!« lamentierte er. »Wir können nichts dafür. Die Machenschaften des Gentile Kaz haben uns das Unheil gebracht. Aber wir werden nicht aussterben, sondern im Weltraum überleben und eines Tages zurückkehren.« Wimmernd sackte er zusammen. Ich spürte Mitleid mit ihm und mit dem ganzen Volk der Voorndaner. Aber es hätte weder ihm noch seinen Artgenossen etwas genützt, wenn ich mich um sie gekümmert hätte. Sie waren verloren. Daran ließ sich nichts mehr ändern. Ich mußte mich darauf konzentrieren, wenigstens den Planeten New Marion zu retten – und die Celester. Das Minu-Cuzz und Schauviel wollten einfach in die Wildnis flüchten. Aber die Richardsons, Sarah und ich wandten uns dem verlassenen Gleiter zu, als hätten wir uns entsprechend abgesprochen. »Wo wollt ihr hin?« erkundigte sich das Zwitterwesen. »Wir wollen meinen Gleiter holen, der in der Zwillingsstadt steht«, antwortete ich. »Zu Fuß sind wir nämlich nicht so flink wie du und dein Robotgehilfe. Ihr könnt mit uns kommen oder auch allein gehen. Entscheidet euch!« Wie ich nicht anders erwartet hatte, entschieden sie sich dafür, bei uns zu bleiben. Das heißt, Schauviel entschied eigentlich gar nichts, denn das Minu-Cuzz traf seine Entscheidungen für ihn mit. Natürlich fiel seine Entscheidung so aus, weil es von mir Informationen über das Fract-Cuzz erwartete. Ich nahm mir vor, es noch eine Weile warten zu lassen, denn wir würden es noch brauchen, wenn mich meine Ahnung nicht trog… *
Dotterblume-Heidesenf bot einen trostlosen Anblick. Die Straßen waren voller Unrat und Gleiterwracks. Dazwischen lagen tote und sterbende Voorndaner. Den beherrschenden Hintergrund aller Szenen aber bildete der hellerleuchtete Raumhafen mit dem unentwegten Toben und Schreien der Massen, den grellen Lichtfingern der Scheinwerfer und den Salven der Lähmstrahler. Es wirkte fast gespenstisch, daß in diesem Weltuntergangschaos hier und da noch die bunten Reklamefassaden von Spielhöllen und Vergnügungspalästen flimmerten und Lautsprecher hämmernde Rhythmen und Speicherdurchsagen hinausbrüllten. Als wir an einer solchen Fassade vorbeifuhren und versuchten, uns zu orientieren und das Parkhaus wiederzufinden, in dem wir die KORALLE abgestellt hatten, jaulten uns aus dem offenen Portal plötzlich Robotbekämpfungsraketen entgegen. Sie schlugen in den Bug des Gleiters ein und rissen ihn auseinander. Es war unser Glück, daß wir mit Minimalgeschwindigkeit wenige Zentimeter über der Straße geschwebt waren. Nur deshalb kamen wir mit dem Leben davon. Die Celester und ich sprangen aus dem Wrack und suchten erst einmal im dunklen Portal des Nebengebäudes Schutz. Das Minu-Cuzz und Schauviel reagierten langsamer. Das Zwitterwesen konnte sich das erlauben, denn es aktivierte einfach den Schutzschirmprojektor der Aggregateplatte. Schauviel dagegen verhielt sich schlichtweg falsch. Er wurde denn auch prompt von einer Robotbekämpfungsrakete getroffen. Die Explosion verwandelte ihn in davonfliegende Splitter und einen Klumpen glühenden Metalls. Es war ein unrühmliches Ende, wie ich es ihm nicht gegönnt hatte. Die Richardsons verständigten sich mit Blicken, dann stürmten sie in bewährter Manier den Vergnügungspalast, aus dem der Beschuß gekommen war. Ich war noch zu schwach, um mich daran zu beteiligen. Sarah stützte mich, als ich den Richardsons folgte. Das Abschußgestell für die Raketen stand leer hinter dem Portal. Der Heckenschütze, der es per Fernsteuerung bedient hatte, war ein Voorndaner. Er bezog von Spooner und Volkert eine Tracht Prügel, bevor ihr Vater ihnen Einhalt gebot. Ein Roboter glitt auf Laufrollen heran. »Darf ich den verehrten Gästen die Attraktionen des Hauses zeigen?« erbot er sich. Wütend schoß Volkert ihn zum Wrack, dann feuerten die Richardsons wild in die elektronischen Anlagen der riesigen Halle, in der sich ehedem Tausende von Gästen gleichzeitig vergnügt haben mochten. Ich versuchte nicht, sie davon abzuhalten. Die Einrichtung wurde sowieso nie mehr gebraucht. Außerdem verstand ich den Zorn dieser puritanisch eingestellten Menschen über das dekadente Beiwerk einer moralisch heruntergekommenen Zivilisation. Als die Richardsons das Feuer einstellten, hatte sich die Halle in einen Schrottplatz verwandelt. Nur noch einige nachglühende Teile verbreiteten ungewisse, flackernde Helligkeit und bewiesen, wie vergänglich aller Flitter war. »Gehen wir weiter!« sagte ich, als ich sah, daß die Richardsons ernüchtert und betreten herumstanden. Als wir ins Freie kamen, sahen wir uns nach dem Minu-Cuzz um. Doch es war nirgends zu sehen. Wir konnten allerdings nicht warten. Zudem erkannte ich in einem der benachbarten Gebäude das Parkhaus wieder, in dem wir die KORALLE zurückgelassen hatten. Wir stürmten hinein. Meine Befürchtung, die Massen könnten alle Parkhäuser gestürmt und die geparkten Gleiter gestohlen oder zerstört haben, erwies sich glücklicherweise als unbegründet. Das Parkhaus war noch zur Hälfte belegt, und die abgestellten Fahrzeuge schienen unbeschädigt zu sein. Richtig aufzuatmen getraute ich mich aber erst, als wir vor der KORALLE standen und sahen, daß
sie unversehrt war. Sie war mit den üblichen Gleitern nicht zu vergleichen, denn sie verfügte nicht nur über erheblich stärkere Antriebsaggregate, sondern konnte auch als Beiboot der ANIMA im Weltraum operieren. Außerdem besaß sie ein Normal- und ein Hyperfunkgerät, ein hervorragendes Nahortungssystem und auch sonst eine aufwendige technische Ausstattung. »Wohin fliegen wir?« fragte Arien, kaum daß wir eingestiegen waren. Ich setzte mich hinter die Steuerung und überlegte. Mitten in meine Gedanken platzte der Melder des Normalfunkgeräts mit seinem aufdringlichen Summen. Ich schaltete das Gerät ein. »Bist du dort, Atlan?« fragte eine sanfte Stimme. ANIMAS Stimme. Unwillkürlich holte ich tief Luft, dann erwiderte ich: »Ja, hier Atlan. Wie sieht es bei dir aus, ANIMA?« »Trostlos – ohne dich«, antwortete meine seltsame Partnerin. »Ich habe seit Stunden versucht, dich zu erreichen.« »Wir sind eben erst in die KORALLE zurückgekehrt«, erklärte ich. »Ich hoffe, Hain hat sich gegen Palmwiese abgeriegelt.« »Total«, sagte ANIMA. »Aber hier wartet seit ein paar Minuten ein strenger alter Mann, der ziemlich nervös zu sein scheint.« Ich lachte, denn mit dem »strengen alten Mann« konnte ANIMA eigentlich nur das Oberhaupt der Celester gemeint haben, Benjamin Boz Briggs, Sarahs Großvater. »Nervös ist gar kein Ausdruck!« hörte ich jemand poltern. Auf dem Schirm des Funkgerätes tauchte das Abbild von Drei-B auf, wie Benny Briggs auch genannt wurde. »Ich verzehre mich vor Sorge um dieses Lumpenpack, das mit meiner Enkelin losgezogen ist, um sich zu verlustieren.« »Jetzt reicht es aber, Alter!« bremste ich sein Temperament. »Von ›verlustieren‹ konnte überhaupt nicht die Rede sein. Wir sind froh, daß wir die Sache überlebt haben.« »Wenigstens etwas!« knurrte Briggs. »Kommt sofort herüber, Atlan!« »Nein!« lehnte ich ab. »Wir würden Hain nur unnötig gefährden, denn die Büttel zweier Facetten sind hinter uns her. Außerdem müssen wir erst einmal abwarten, ob die unter den Voorndanern grassierende Hungerseuche uns tatsächlich verschont oder ob sie bei uns nur später ausbricht.« »Das ist alles Unsinn und überhaupt!« schrie Briggs. Er schien aufgeregter zu sein, als ich zuerst angenommen hatte. Mir schwante plötzlich Schlimmes. »Gifhorn Claimes, der ebenfalls verschwunden war, hat sich vor ein paar Minuten von der ROULETTE aus gemeldet und mir mitgeteilt, daß der neue Kommandant des Spielhöllenschiffs die Vernichtung New Marions plant.« »Was?« entfuhr es mir. »Hat er Einzelheiten durchgegeben?« »Er starb, bevor er dazu kam«, sagte Briggs. »Wir hörten die Schüsse und seinen Todesschrei. Du siehst also, daß es sinnlos wäre, wenn ihr euch von Hain fernhieltet. Ihr müßt hierhergekommen, damit wir die Abwehr des Angriffs vorbereiten können.« »Nein!« entschied ich. »Wir bleiben auf Palmwiese. Die ROULETTE ist nämlich nicht das einzige Schiff, das uns alle bedroht. Es gibt auch noch die FLAMME, ein Raumschiff der Crynn-Brigade. Das ist allerdings speziell hinter einem unserer Begleiter her – und wir dürfen schon deshalb nicht nach Hain kommen, weil wir es dann hinter uns herziehen würden.« »Das verstehe ich nicht«, erwiderte der Alte. »Ich erkläre es dir später«, gab ich zurück und hoffte, daß es ein Später geben würde.
»Jetzt ist es genug«, mischte sich ANIMA ein. »Atlan, ich habe aus dem, was du gesagt hast, herausgehört, daß du dich in großer Gefahr befindest. Ich werde kommen und dich dort herausholen. Im Weltraum sind wir sicher.« »Das kommt nicht in Frage«, widersprach ich. »Wir werden die Celester nicht einem ungewissen Schicksal überlassen. Du bleibst, wo du bist. Ich melde mich demnächst wieder.« Ich schaltete einfach ab, denn ich hatte gesehen, daß das Minu-Cuzz auf unserem Parkdeck aufgetaucht war und ich ahnte, daß es unerfreuliche Neuigkeiten mitbrachte. Sekunden später war es bei uns und schwebte in die KORALLE hinein. »Das ist ein gutes Fahrzeug«, stellte es anerkennend fest. »Wo warst du die ganze Zeit über?« fragte Arien unwirsch. »Ich habe nachgesehen, was die ROULETTE in der Atmosphäre von New Marion wollte«, antwortete das Zwitterwesen. »Meine Ortungsgeräte zeigten nämlich an, daß sie in die Atmosphäre dieses Planeten eingetaucht war.« »Und was wollte sie?« erkundigte sich Sarah. »Ich zeige es euch«, erklärte das Minu-Cuzz und wandte sich an mich. »Starte, Atlan! Nimm Kurs auf Edelkraut, aber fliege nicht bis ganz zur Hauptstadt der Voorndaner!« Ich gehorchte. Die KORALLE schwebte aus dem Parkhaus und schoß lautlos in den Nachthimmel von Palmwiese. Auf dem Raumhafen von Dotterblume-Heidesenf herrschte noch immer Hochbetrieb. Alle paar Minuten startete beziehungsweise landete ein Raumschiff. Wahrscheinlich hatten zahlreiche andere Zivilisationen aus Zulgeas Machtbereich Raumschiffe geschickt, damit so viele Voorndaner wie möglich evakuiert werden konnten. Es stimmte mich traurig, daß alle diese Anstrengungen letztendlich zum Scheitern verurteilt waren. Mit den Zivilisationen des Universums ist es wie mit den Pflanzen- und Tierarten eines Planeten! wisperte mein Extrasinn. Sie kommen und gehen, und mit ihnen wird weder etwas gewonnen noch verloren. Das ist blanker Zynismus! dachte ich zurück und wußte doch, daß es stimmte. Nicht der Kommentator war zynisch, sondern das Universum. »Du mußt den Kurs korrigieren!« sagte Arien zu mir und deutete schräg nach unten. »Dort ist Edelkraut.« Ich folgte der angezeigten Richtung mit den Augen und sah in zirka zwanzig Kilometern Entfernung eine helle Lichtglocke in der nachtdunklen Landschaft. Der Bug des Gleiters zielte allerdings nicht darauf, sondern daran vorbei. »Das kann nicht Edelkraut sein«, erklärte ich. »Es ist auch nicht Edelkraut«, bestätigte das Minu-Cuzz. »Aber die Hauptstadt ist ja auch nicht unser Ziel. Geh näher heran, Atlan! Ich bin sicher, daß du bald wissen wirst, was dort unten geschieht.« Ich richtete den Kurs der KORALLE auf die Lichtglocke aus und spürte, wie meine Augen sich mit wäßrigem Sekret füllten, denn ich hatte sofort gewußt, was diese Lichtglocke bedeutete. Ich hatte es nur nicht wahrhaben wollen. Doch wenn jemand dieses Grauen so oft gesehen hat wie ich, dann kann er sich nicht selber etwas vormachen. »Was ist das?« flüsterte Sarah mit bebender Stimme. »Das Feuernest einer gezündeten Atombrandbombe«, antwortete ich wahrheitsgemäß.
8. Natürlich bestürmten mich die Celester, ihnen genau zu erklären, was eine Atombrandbombe sei. Ich versuchte, ihnen schonend beizubringen, daß der von einer solchen Bombe ausgelöste Atombrand absolut unlöschbar war. Aber versuchen Sie mal, jemandem schonend beizubringen, daß sein Heimatplanet und seine Spezies unweigerlich zum Untergang verurteilt sind! Dementsprechend herrschte nach meiner Erklärung auch betroffenes Schweigen, und auch ich vermochte nicht gleich weiterzusprechen, weil mir die Scham darüber, daß es in der Milchstraße ausgerechnet mein Volk gewesen war, das diese gnadenlose Massenvernichtungswaffe entwickelt und manchmal auch eingesetzt hatte, die Kehle zuschnürte. »Wir sind also alle verloren?« fragte Sarah schließlich. »Das sind wir nicht«, widersprach das Minu-Cuzz. »Mit diesem Gleiter können wir fliehen, und außerdem besitzt Atlan ja ein eigenes Raumschiff, mit dem wir New Marion verlassen werden.« Wenn ich nicht inzwischen schon gewußt hätte, wes Geistes Kind das Facettenrelikt war, diese Aussage hätte mir endgültig die Augen geöffnet. »Niemand von uns wird fliehen«, erklärte ich schroff. Ich schaltete das Funkgerät ein und rief nach ANIMA. Nachdem ich ihr von der Atombrandbombe berichtet hatte, sagte ich: »Wir dürfen die Celester nicht einem grauenvollen Schicksal überlassen. Ich möchte deshalb, daß du hierherkommst und dir das Feuernest ansiehst. Es muß vom Planeten entfernt werden, bevor es sich zu tief eingefressen hat.« »Ich komme sofort«, erklärte ANIMA nach einigen Sekunden schweigsamen Nachdenkens. »Deine Rechnung geht nicht auf, Atlan«, wandte das Minu-Cuzz ein. »Ich will gar nicht davon reden, wie außerordentlich schwierig es sein dürfte, das Feuernest eines Atombrands aus der Oberfläche eines Planeten zu entfernen. Nein, ich setze einmal voraus, dieses geheimnisvolle Raumschiff mit dem Namen ANIMA würde das wirklich schaffen.« Es legte eine Pause ein, und ich wußte genau warum. Das Minu-Cuzz hätte zu gern mehr über die Natur von ANIMA erfahren. Es ahnte bestimmt, daß ANIMA nicht bloß ein Raumschiff war, aber es kam sicher nicht von selbst darauf, daß es sich um ein intelligentes Lebewesen handelte, das die Kosmokraten nach Alkordoom geschickt hatten – und daß sie früher einmal der Orbiter eines Ritters der Tiefe gewesen war und sich heute wieder für einen hielt. Aber einem skrupel- und gewissenlosen Fragment einer Facette wollte ich das nicht verraten. Ich würde dem Minu-Cuzz niemals über den Weg trauen. Als es merkte, daß ich mich in Schweigen hüllte, fuhr das Minu-Cuzz fort: »Aber was wäre damit gewonnen? Auf der ROULETTE würde man sofort merken, daß der Atombrand von New Marion verschwunden ist. Möglicherweise werden die Smyrter an einen Blindgänger denken. Sie setzen also eine zweite Bombe ab. Aber wenn ihr Feuernest ebenfalls verschwindet, werden die Smyrter sich denken können, daß wir ihren Plan verhindern wollen. Sie werden also viele Atombrandbomben auf New Marion abwerfen – und sie alle rechtzeitig zu entfernen, wird auch ein Wunderraumschiff nicht schaffen.« Das klang natürlich einleuchtend, und die Celester blickten mich dementsprechend bestürzt an. Aber ich lächelte ihnen beruhigend zu und wandte mich dann an das Zwitterwesen. »Du hast sehr beredt argumentiert, aber mich konntest du nicht überzeugen, Minu-Cuzz«, sagte ich kalt. »Ich dachte bisher, du wärest daran interessiert, mehr über das Fract-Cuzz zu erfahren. Aber das wirst du nicht, wenn du dir nicht etwas einfallen läßt, um New Marion vor dem Atombrand zu retten.«
»Wie soll ich denn New Marion retten?« entgegnete das Minu-Cuzz unschuldig. »Ganz einfach«, antwortete ich. »Indem du die Smyrter auf der ROULETTE in Hypnose versetzt und ihnen danach suggerierst, daß sich auf New Marion ein Atombrand ausbreitet, der nicht mehr gelöscht oder entfernt werden kann. Und sage mir nicht, die Ortungsgeräte des Spielhöllenschiffs seien unbestechlich! Du mußt eben die Besatzung dazu bringen, sie zu manipulieren.« »Und mehr verlangst du nicht von mir?« brauste das Facetten-Relikt auf. »Ich soll nur diesen schmutzigen Planeten retten?« »Das ist der Preis für die Information über das Fract-Cuzz«, erwiderte ich unerbittlich. »Bist du bereit, ihn zu bezahlen?« »Ich bin bereit«, gab das Minu-Cuzz zurück. Mir kam es vor, als hätte es dabei mit den Zähnen geknirscht. Aber das war natürlich nur Einbildung. Dinge wie diese reagierten nicht wie Menschen oder Arkoniden. Ihre und unsere Mentalität waren durch Abgründe voneinander getrennt. * Es war natürlich ein Vabanquespiel, das ich von ANIMA verlangte. Ein Atombrand war etwas ganz anderes als ein gewöhnliches Feuer. Er ähnelte nur deshalb optisch einem normalen Feuer, weil die von ihm erzeugte Hitze alle Stoffe der näheren Umgebung entflammte, so daß der eigentliche Atombrand den Augen verborgen blieb. ANIMA wußte das natürlich. Sie versuchte erst gar nicht, die Flammen zu löschen, die rings um das Nest des Atombrands mehr als hundert Meter hoch in den Nachthimmel loderten. Sie hatte sich in ein silbergraues Gebilde von zirka hundert Metern Länge mit einem Durchmesser von fünfzehn Metern verwandelt, besaß also ungefähr die Form einer Zigarre. In dieser Gestalt kreiste sie einmal um die KORALLE, dann ging sie schnell tiefer und flog direkt in das Flammenmeer hinein. Sarahs Fingernägel gruben sich erschrocken in meinen Arm, doch ich lächelte der Celesterin beruhigend zu. Die Flammen konnten ANIMA nichts anhaben. Sie hielt selbst schwerem Strahlbeschuß stand. Gefährlich vermochte ihr nur der eigentliche Atombrand zu werden, wenn er schon so groß war, daß sie sich im wahrsten Sinne des Wortes übernahm, wenn sie ihn »schluckte«. Wurde ihre Hülle überdehnt, würde sie dem Druck der expandierenden Kernbrandmaterie nicht standhalten. Ob ANIMA dann vernichtet wurde beziehungsweise starb, wußte ich nicht. Ich konnte mir aber nur schwer vorstellen, daß sie eine so weitgehende Zerstörung überstand. Deshalb hielt auch ich schließlich den Atem an, als die Schlummernde vom Flammenmeer verschlungen wurde. Nur undeutlich waren Teile ihrer Außenhülle zu sehen. Ich steuerte den Gleiter tiefer und hielt ihn etwa dreißig Meter über dem Gipfeldach einer ausgedehnten Waldfläche an. Zirka fünfhundert Meter vor uns lohte die brüllende Feuerwand in den Himmel. Unter der KORALLE bogen sich die Baumwipfel im Sog des Feuersturms. Nach einer Weile schien es mir, als verdunkle sich das Innere des Flammenmeers. Gleich darauf stieg der silbergraue zigarrenförmige Körper ANIMAS daraus hervor gleich dem Phönix aus den Flammen. Er schwankte. Anscheinend kostete es ANIMA alle Kraft, die Kernbrandmaterie zusammenzuhalten. Sie nahm sich dennoch die Zeit, den Waldbrand, der nunmehr tatsächlich nur noch ein gewöhnlicher Waldbrand war, zu überfliegen und dabei energetisch zu löschen. Ich atmete
erleichtert auf, denn ich hatte schon befürchtet, gemeinsam mit den Richardsons und Sarah diese Aufgabe übernehmen zu müssen. Es wäre sehr schwierig und gefährlich gewesen, den Brand mit unseren Impulsstrahlern einzudämmen, aber wir hätten ihn nicht sich selbst überlassen dürfen. Es war wirklich sehr nett von ANIMA, uns diese Arbeit abzunehmen. Als die Flammen erloschen waren, schoß ANIMA mit großer Geschwindigkeit nach oben und war schon Sekunden später unseren Blicken entschwunden. Nur die Ortungsgeräte der KORALLE zeigten sie noch für längere Zeit an. Dadurch erkannte ich auch, daß ANIMA Kurs auf die Sonne Littoni genommen hatte. Wahrscheinlich wollte sie die Kernbrandmaterie dort abladen. Es war die sauberste Lösung des Problems. Ich erkannte auf den Ortungsschirmen aber plötzlich noch etwas anderes. Ein zweites Objekt bewegte sich durch den interplanetarischen Raum. Der Form nach konnte es sich nur um die ROULETTE handeln. Ich berechnete anhand der Ortungsdaten ihre voraussichtlichen nächsten Manöver und merkte, daß sie nach dem Wiederaustritt aus der Atmosphäre New Marions einen elliptischen Orbit um den Planeten eingeschlagen hatte und in zirka einer Stunde das Gebiet überqueren würde, auf dem sie die Bombe abgeladen hatte. Ich blickte das Minu-Cuzz fragend an, und es verstand, was ich wissen wollte. »Ich bin bereit«, erklärte es. »Beim nächsten Anflug der ROULETTE werde ich der Besatzung einen ausgedehnten Atombrand suggerieren. Ich denke, daß sie sich daraufhin zurückzieht.« Das dachte ich auch. Nicht nur, weil feststand, daß ein Atombrand, sobald er sich einmal über eine bestimmte Fläche ausgebreitet und sich dabei in eine bestimmte Tiefe gefressen hatte, den betroffenen Himmelskörper unweigerlich vernichtete, sondern auch, weil die Smyrter ganz sicher nicht von Angehörigen anderer Zivilisationen in unmittelbarer Nähe eines Planeten angetroffen werden wollten, dessen Materie zum Atombrand angeregt worden war. »Aber damit sind noch nicht alle Probleme für uns gelöst«, fuhr das Zwitterwesen fort. »Die Ortung zeigt ein Kugelschiff, das sich dem Planeten sehr schnell nähert. Seine Vektorwerte schließen aus, daß es sich um ein Hilfsschiff zur Evakuierung von Voorndanern handelt.« Ich widmete mich erneut den Ortungsschirmen. Natürlich war die ROULETTE nicht das einzige angezeigte Raumschiff über New Marion. Es fanden noch immer Landungen und Starts von Schiffen statt, die Voorndaner evakuieren sollten – und zwar nicht nur auf dem Raumhafen von Dotterblume-Heidesenf, sondern auf allen Raumhäfen des Kontinents Palmwiese. Unter den entsprechenden Ortungsreflexen konnten natürlich solche untergehen, die von anderen Schiffen kamen. Aber nicht, wenn man sie genau überprüfte. Ich hatte schnell festgestellt, daß die Meldung des Minu-Cuzz stimmte – und genauso schnell konnte ich ermitteln, daß es sich bei dem georteten Kugelraumschiff nur um die FLAMME der Crynn-Brigade handeln konnte. »Die FLAMME ist hinter dir her«, wandte ich mich an das Minu-Cuzz. »Es ist logisch, daß Zulgea von Mesanthor nichts unversucht läßt, um eine Reorganisation ihres Opfers aus den Überresten zu verhindern.« »Aus den Überresten!« entrüstete sich das Minu-Cuzz. »Ich bin immer noch mächtig genug, um mit den Kreaturen der Hexe fertig zu werden. Gemeinsam mit dem Fract-Cuzz könnte ich die Hexe selbst vernichten.« »Zur Zeit sieht es aber eher danach aus, als könnten die Kreaturen der Hexe dich vernichten – und uns mit«, erwiderte ich ironisch. »Ich möchte wissen, was du dagegen zu unternehmen gedenkst.« »So einfach wie bei der ROULETTE ist es nicht«, wandte das Zwitterwesen zögernd ein. »Das dachte ich mir«, sagte ich. »Wahrscheinlich gibt es dort Mutanten, die dich aufspüren können
und die du nicht alle hypnosuggestiv beeinflussen kannst.« »Du hättest eben dein Schiff gegen die FLAMME einsetzen und sie vernichten sollen«, erklärte das Facetten-Relikt. Ich ging nicht darauf ein, denn genau diese Möglichkeit hatte ich nicht gehabt, es sei denn, ich hätte dafür New Marion und die Celester geopfert. Das aber hatte für mich jenseits aller Überlegungen gestanden – und je eher das Minu-Cuzz einsah, daß es mit meinen ethisch-moralischen Grundsätzen rechnen mußte, desto besser und effektiver würden wir zusammenarbeiten können. »Wir müssen nach Edelkraut fliegen«, sagte das Zwitterwesen schließlich. »Nur in einer Stadt kann ich die Mutanten der FLAMME irreführen und vielleicht dazu bringen, daß sie landen und Jagd auf mich machen. Dann werden wir sie nacheinander ausschalten.« »Einverstanden«, erwiderte ich, wenn auch innerlich widerstrebend. Aber noch durfte ich hoffen, die Art und Weise des »Ausschaltens« in meinem Sinn beeinflussen zu können. Ich beschleunigte und nahm Kurs auf die Hauptstadt der Voorndaner, die allerdings niemals die Bedeutung gehabt hatte, die einer Hauptstadt normalerweise zugemessen wird. Möglicherweise würde sich das schon bald ändern – zumindest in geschichtlichem Sinn…
9. Die FLAMME drang in die Atmosphäre New Marions ein, bevor wir Edelkraut erreicht hatten – und ihre Besatzung gab sogleich zu erkennen, wie ihr Auftrag lautete. Vor, hinter und neben der KORALLE pflügten schenkeldicke, ultrahell gleißende Strahlbahnen den Boden und schleuderten gewaltige Massen glutflüssiger Schmelze in die Luft. Der Beschuß war ebenso brutal wie kompromißlos. Ich hatte alle Hände voll zu tun, um den Gleiter mit maximaler Geschwindigkeit über Hügel springen und durch enge Schluchten und gewundene Täler rasen zu lassen. Es gehörte dennoch eine Menge Glück dazu, nicht in eine Strahlbahn zu fliegen oder mit Felswänden und Berghängen zu kollidieren, denn ein Gehirn vermochte die Menge der Fakten, die sich bei einer solchen wilden Jagd ergeben, gar nicht alle bewußt zu verarbeiten. Das Minu-Cuzz begriff das, denn es verhielt sich völlig passiv. Es hätte allerdings auch nicht wagen dürfen, sich aufzuspielen. Die Blicke der Richardsons verrieten allzu deutlich, was sie am liebsten mit diesem Zwitterwesen getan hätten. Wenn wir es einfach aus der KORALLE warfen, waren wir die Verfolger los. Ich verstand das nur zu gut. Doch so ging es nicht. Es war nicht nur, daß wir ein Zweckbündnis mit dem Minu-Cuzz eingegangen waren und es noch brauchten, um die ROULETTE zu täuschen. Es ging um den Sinn der Existenz intelligenten Lebens. Als wir aus den Schluchten der Berge in die Schluchten der Straßen von Edelkraut einflogen, stellte die FLAMME ihren Beschuß ein. Sie hatte deswegen noch lange nicht aufgegeben. Im Gegenteil, sie kam tiefer und erfüllte die Luft in der Hauptstadt mit unheilverkündendem Dröhnen und Orgeln. Doch sie konnte den Gleiter nicht mehr ortungstechnisch erfassen, da in der Stadt noch so viele Energieerzeuger und -Verbraucher arbeiteten, daß die Emissionen der KORALLE in ihren Emissionen untergingen. Solange wir uns in Edelkraut aufhielten, waren wir relativ sicher, es sei denn, die Mutanten an Bord der FLAMME vermochten das Minu-Cuzz selbst irgendwie anzupeilen. Ich steuerte den Gleiter mit minimaler Geschwindigkeit durch möglichst schmale Straßen, um die energetischen Emissionen niedrig zu halten und auch eine optische Erfassung zu vermeiden. Die Hauptstadt war zum größten Teil hell beleuchtet, so daß diese Gefahr durchaus bestand. Wie in Dotterblume-Heidesenf hatten auch hier die überlebenden Voorndaner ihre Häuser verlassen, und wie in der Zwillingsstadt war auch der Raumhafen von Edelkraut von einer Masse umlagert, die darauf wartete, von New Marion beziehungsweise Voorndan evakuiert zu werden. Ansonsten unterschied sich die Hauptstadt ziemlich kraß vom Spielerzentrum und auch von den übrigen Städten auf Palmwiese. Edelkraut war die einzige Stadt der Voorndaner, in denen Glücksspiele nicht öffentlich betrieben wurden. Hier hatten sich bis zum Ausbruch der Hungerseuche rechtschaffene Voorndaner darum bemüht, den moralischen und sittlichen Verfall ihres Volkes einzudämmen, für Recht und Ordnung zu sorgen und den Handel und Wandel so zu organisieren, daß die Zivilisation nicht in völligem Chaos versank. Nach außen hin hatte das alles wunderbar funktioniert. Edelkraut präsentierte sich im Glanze unzähliger Prachtbauten, die nicht nur die Verwaltung beherbergen, sondern auch Museen, Theater, Bibliotheken, Schulen, Universitäten und so weiter. Das alles war gut durchwachsen mit ausgedehnten Parks und Freizeitanlagen. Man mußte schon sehr tief schürfen, um als Außenstehender dahinterzukommen, daß diese ganze schöne Kulisse von den Spielhöllenbetreibern, Drogenhändlern und den Bossen der anderen sündigen Branchen finanziert und gesteuert wurde, um zu vertuschen, daß sie die voorndanische Zivilisation in den Abgrund steuerten. Den ersten Hinweis darauf, daß die Mutanten auf der FLAMME das Minu-Cuzz zumindest teilweise anpeilen konnten, erhielten wir, als ich die KORALLE über eine Kreuzung steuerte.
Plötzlich jagte ein diskusförmiger Schatten aus der Dunkelheit über Edelkraut in die Helligkeit der Stadt, überflog vor uns die Kreuzung und bremste dann mit vollem Gegenschub ab. An den benachbarten Bauwerken gingen wahre Sturzbäche zerbrochener Glassitfronten nieder. Ich riß die KORALLE aus dem bisherigen Kurs und jagte sie in eine Nebenstraße hinein. Als ich rechter Hand einen Torweg erblickte, bremste ich ab und lenkte den Gleiter hindurch. Wir gelangten in einen weiten Innenhof mit Bäumen, Sträuchern und Springbrunnen. Die Idylle wurde nur dann gestört, wenn wir zu den reglosen Körpern hinsahen, die überall neben den Springbrunnen und in einem Wandelgang lagen. Diese Leute schienen nicht einmal versucht zu haben, zum Raumhafen zu kommen, um ihren Planeten zu verlassen. Lange konnte ich mich mit solchen Gedanken allerdings nicht aufhalten, denn draußen auf der Straße donnerte und dröhnte es. Das Beiboot der FLAMME, denn nur das konnte es sein, war uns auf den Fersen. Ich steuerte die KORALLE in den Wandelgang, ließ sie auf einen freien Fleck sinken und schaltete die Triebwerke sowie die Tasterortung aus. Die Bildschirme der Passivortung verrieten mir, daß das Beiboot am Torweg vorbeiflog. Etwa dreihundert Meter weiter bremste es jedoch ab und landete. »Sie haben uns«, stellte Volkert fest. Ich schüttelte den Kopf. »Dann wären sie hierhergekommen. Ich denke, daß sie nur ungefähr feststellen können, wo sich das Minu-Cuzz befindet.« Wieso haben sie euch dann an der Kreuzung beinahe erwischt? fragte mein Extrasinn. Das war ein Einwand, der mir zu denken gab. Die Verfolger aus der FLAMME hatten das MinuCuzz vorhin zweifellos besser orten können als jetzt. Vielleicht gab es etwas in der Nähe, das die Ortung mit Hilfe psionischer Fähigkeiten erschwerte. Es reizte mich, das festzustellen. Aber ich mußte auch bedenken, daß die Besatzung des Beiboots eventuell ausgestiegen war und die Gegend durchsuchte. »Arien, ich schlage vor, du gehst mit Volkert und Spooner zum Torweg!« sagte ich. »Haltet Ausschau nach Angehörigen der Crynn-Brigade! Wenn welche in unsere Richtung kommen, kehrt zurück! Ich werde mich unterdessen in dem Gebäude hier umsehen. Einverstanden?« »Einverstanden«, antwortete Arien, ohne zu zögern. »Aber ich komme mit dir«, sagte Sarah. »In Ordnung«, gab ich zurück. »Aber auch das Minu-Cuzz kommt mit mir. Ich möchte die KORALLE behalten.« »Hältst du mich für so dumm, daß ich mit dem Gleiter starte und mich abschießen lasse?« fragte das Facetten-Relikt. »Natürlich nicht«, erwiderte ich. »Aber ich möchte nicht, daß du einem Überfall von CrynnBrigadisten zum Opfer fällst. Wir brauchen dich nämlich noch.« »Es ist gut, daß du das nicht vergessen hast, Atlan«, gab das Minu-Cuzz zurück. »Hoffentlich denkst du auch noch daran, daß ich etwas von dir wissen will.« »Ich habe es nicht vergessen«, erklärte ich, während ich mit Sarah den Gleiter verließ. Die drei Richardsons entfernten sich inzwischen bereits in Richtung Torweg. Das Minu-Cuzz folgte uns. Sarah und ich bemühten uns, die Toten nicht so genau anzusehen, die draußen herumlagen. Sie wiesen zwar keine Verletzungen auf, erinnerten aber immer wieder daran, daß eine ganze Zivilisation zum Untergang verurteilt war, weil sie in ihrer Entwicklung den falschen Weg eingeschlagen hatte.
Durch eine offene Tür gelangten wir ins Innere des Hauptgebäudes. Überall brannte die Beleuchtung. Wahrscheinlich schaltete sie sich automatisch ein, wenn kein Sonnenlicht mehr auf die Sensoren fiel. Wir gingen durch verschiedene Korridore und Räumlichkeiten. Alles war ziemlich unpersönlich ausgestattet. Als wir eine große und hohe Halle erreichten, wußte ich plötzlich, wo wir uns befanden. Es handelte sich um eine Art Tempel, in dem die Voorndaner ihre Religion oder eine ihrer Religionen ausgeübt hatten. Das Innere der Halle erinnerte an terranische Dome. Allerdings gab es keine Fenster, durch die Tageslicht hereinfallen konnte. Dafür hingen zahlreiche kostbare Leuchter von der Decke. Die Wände waren mit Teppichen behangen, und der Boden war mit dicken Platten aus korkartigem Material bedeckt. Auf einem erhöhten Podest an einem Ende des Saales stand ein schwarzer Würfel von etwa einem Meter Kantenlänge. Aus einer Öffnung in seiner Oberseite drang flackerndes blaues Licht. Neugierig geworden, stieg ich auf das Podest und ging zu dem Würfel. Ich zuckte zurück, als ich hinter ihm den toten Voorndaner sah, der dort anscheinend im Sterben zusammengebrochen war. Seine Finger waren noch um die hintere Kante der Oberseite gekrallt. Ich blickte in die Öffnung hinein und sah in einer hellblau schimmernden Schale einen wasserklaren, faustgroßen Kristall. Im ersten Moment hielt ich ihn für irgendeinen Kristall, bis ich entdeckte, daß er ein paar Zentimeter über dem Boden der Schale schwebte. »Was ist das?« flüsterte Sarah. Ich zuckte die Schultern. »Wer weiß! Auf jeden Fall gibt es keine Vorrichtung zur Erzeugung von Antischwerkraft. Entweder verfügt der Kristall über psionische Kräfte oder er wird von einem Mutanten durch psionische Kräfte in der Schwebe gehalten. Es interessiert mich nur insofern, als es eventuell die Irritation der nach dem Minu-Cuzz suchenden Mutanten verursacht.« Ich griff vorsichtig durch die Öffnung, schob meine Hände unter die Schale und hob sie an. Sie löste sich widerstandslos, und der darin schwebende Kristall veränderte seine Position zu ihr nicht. Spiel nie mit etwas herum, das du nicht kennst! mahnte mein Logiksektor. Manchmal lernt man etwas nur kennen, wenn man damit herumspielt! dachte ich ironisch zurück. In unserer Lage haben wir für alles Verwendung, was uns irgendwie helfen könnte. Es ist eine Schande! wisperte der Extrasinn. Jedenfalls dachte ich, daß er es war. Wer hätte es sonst sein sollen! Als ich mich umdrehte, blickte ich genau in die geweiteten Augen des Minu-Cuzz, das mir auf das Podest gefolgt war. »Wir gehen zur KORALLE zurück!« sagte ich. Das Minu-Cuzz rührte sich nicht. Erst da bemerkte ich, daß es nicht mich ansah, sondern daß sein Blick anscheinend in weite Ferne gerichtet war. Kurz gesagt, er wirkte geistesabwesend. »Was ist mit dir los?« erkundigte ich mich und stieß mit der Fußspitze gegen den Stiefel des »Celesters« Traunich. »Du wirst doch hier keine Wurzeln schlagen wollen.« Das Minu-Cuzz schien aus einer Art Traum zu erwachen. Allmählich bekamen die Augen in dem blauhäutigen Gesicht wieder einen lebendigen Schimmer. Dann drehte sich das Zwitterwesen um und lief davon. Sarah und ich beeilten uns, um es nicht aus den Augen zu verlieren. Wir fürchteten beide, es könnte einfach davonlaufen. Aber es kehrte einfach nur zum Gleiter zurück und stieg ein.
Als ich die Ortungsschirme musterte, sah ich, daß das Beiboot der FLAMME wieder gestartet war. Die FLAMME selbst kreiste über Edelkraut und schien abzuwarten. Vom Raumhafen der Hauptstadt starteten kurz nacheinander drei Schiffe. Danach trat Ruhe ein. Aber die ROULETTE hatte inzwischen auf ihrem elliptischen Orbit die größte Annäherung an den Ort erreicht, an dem sie die Atombrandbombe abgesetzt hatte. Ich blickte das Minu-Cuzz auffordernd an. Es mußte aktiv werden, um die Besatzung der ROULETTE zu täuschen. Einige Minuten verstrichen, dann sah ich, daß der Ortungsreflex des Spielhöllenschiffs sich schnell von New Marion entfernte und sich dann in der Tiefe des Alls verlor. »Sie fliegen ab«, sagte das Zwitterwesen. »Ich habe ihnen einen Atombrand suggeriert, der sich bereits auf einen großen Teil von Palmwiese ausgebreitet hat.« Ich wollte etwas darauf erwidern, doch da wurde die Umgebung des Gleiters schlagartig in so grelles bleiches Licht getaucht, daß ich die Augen schließen mußte. Als ich sie wieder öffnete, toste der Lärm einer Detonation. Die Säulen des Wandelgangs flogen einfach weg, die Decke brach zusammen, und ihre Trümmer begruben die KORALLE unter sich. Ich startete das Fahrzeug. Mit aufheulenden Triebwerken wühlte es sich durch die Trümmer. Die Mauern des Innenhofs wankten, während hinter ihnen Staub und Trümmersand in hohen Wolken aufgewirbelt wurde. Drei Männer duckten sich an die Innenseite der Mauer neben dem Portal: die Richardsons. Ich ließ die KORALLE einen Satz vollführen, bremste sie wieder ab und wartete nur solange, bis die Richardsons durch die Schottöffnung hereingestürmt kamen, dann jagte ich sie schräg in den Himmel hinauf. Hinter beziehungsweise unter uns stürzten die Mauern und der Tempel zusammen. Ich hatte vorgehabt, den Gleiter in einem Gewaltstart hochzuziehen und aus der Stadt hinaus zu steuern, aber ich kam nicht einmal ansatzweise dazu, diese Absicht zu verwirklichen. Ganz Edelkraut wurde von ständigen Explosionen erschüttert, die, wie ich jetzt erkannte, von Detonatorbomben verursacht wurden. Dazwischen griffen immer wieder die grellen Strahlenfinger der Bordkanonen nach den Gebäuden, Straßen und Plätzen. Ganz offenkundig hatte die Besatzung der FLAMME es aufgegeben, mit psionischen Fähigkeiten nach dem Minu-Cuzz zu suchen. Sie mußte jedoch wissen, daß das Facetten-Relikt sich in Edelkraut aufhielt – und so mußte Colo sich dazu entschlossen haben, die gesamte Stadt zu vernichten, um den Gegner mitzutreffen. Das Minu-Cuzz aber konnte ebenso offenkundig nicht helfen. Zwischen ihm und den Mutanten der Crynn-Brigade schien eine Pattsituation zu bestehen. Sie konnten es nicht finden und es vermochte ihnen nichts vorzugaukeln. Aber es war ein Patt mit unterschiedlichen Auswirkungen. Für die Crynn-Brigadisten war es schlimmstenfalls deprimierend. Für uns war es tödlich. * Die KORALLE wurde zum Spielball der entfesselten Kräfte. Die Druck- und Sogwellen, die Edelkraut verwüsteten, schleuderten sie gleich einem welken Blatt hin und her. Ich versuchte, den Gleiter immer in einer Höhe von mindestens fünfzig Metern zu halten, damit er nicht in einem Explosionszentrum zerrissen oder von zusammenstürzenden Bauwerken begraben wurde. Die meiste Zeit über gelang mir das auch. Doch ich gab mich keinen Illusionen hin. Früher oder später würde uns ein Schuß aus den Strahlkanonen der FLAMME treffen und uns verdampfen. Wenigstens durften wir uns damit trösten, daß unsere Vernichtung Colo davon abhalten würde, den
Kontinent Hain und die dort lebenden Celester anzugreifen. Soeben hatte ich die Lage des Gleiters in rund hundertzwanzig Metern Höhe wieder einigermaßen stabilisiert, als direkt unter uns ein Teppich von zirka dreißig Detonatorbomben hochging. Die Gleiterzelle dröhnte, als wäre sie von einem Schrotschuß aus hundert Zehn-Kilo-Stahlkugeln getroffen worden. Sämtliche Sensoren und die Stabilisierungsflächen wurden abgerissen; die Kontrollen spielten verrückt, und durch die Sichtflächen war nichts als eruptiv hochschießender glühender Sand und Staub zu erkennen. Ich verlor die Orientierung und versuchte, eine Kollision mit dem Boden oder mit Gebäuden dadurch zu verhindern, daß ich ihn höher zog. Eine das Dach nur knapp verfehlende sonnenheiße Strahlbahn zwang mich zur Aufgabe dieses Vorhabens. Anscheinend war die FLAMME so tief gegangen, daß sie uns mit Horizontalbeschuß treffen konnte. Wir mußten von ihrer Ortung deutlich zu erkennen sein, deshalb zögerte ich keine Sekunde, sondern drückte die KORALLE tiefer. Ein dicht am Heck vorbeizuckender Strahlschuß erhärtete die Richtigkeit meiner Handlungsweise. Doch es war noch lange nicht gesagt, daß diese Aktion uns das Leben retten würde. Der Gleiter geriet in die grauenvollen Turbulenzen, die von den aus allen Richtungen zusammenprallenden Druckwellen hervorgerufen wurden. Er wurde herumgeschleudert wie das Surfbrett eines Wellenreiters an der Peripherie eines Hurrikans. Aufgewirbelter Sand erzeugte am Unterboden schauerliche Geräusche, und alle paar Augenblicke tauchte vor uns ein Computerturm, die Fassade eines Bauwerks oder eine Ruine auf. Ich hätte ein Dutzend Augen, Gehirne und Hände haben müssen, um alles rechtzeitig zu sehen, einzuordnen und entsprechend zu schalten. Deshalb war es nur logisch, daß es uns schließlich doch erwischte. Ich war gerade einem Computerturm ausgewichen und überlegte, wie ich zwischen zwei Trümmerhaufen hindurchsteuern sollte, als der Gleiter von den Druckwellen wieder einmal aus dem Kurs geworfen wurde. Von einem Herzschlag zum anderen tauchte vor dem Bug die schwankende Silhouette einer Ruinenfassade auf. Die KORALLE schoß durch eine leere Fensterhöhle, zertrümmerte die Ränder und brachte die Fassade dadurch endgültig zum Einsturz. Eine neue Druckwelle warf sich dem Gleiter entgegen, trieb ihn wieder zurück und hätte ihn unter die Trümmer der einstürzenden Fassade »gekehrt«, wenn diese nicht ebenfalls durch sie zurückgeworfen worden wäre. So landeten wir auf statt unter den Trümmern und kamen mit Prellungen und Abschürfungen davon – und mit der Gewißheit, daß wir noch ein paar Sekunden zu leben hatten. Diesmal hatte ich endgültig mit dem Leben abgeschlossen. Die letzte halbe Stunde hatte mich physisch und psychisch so zermürbt, daß ich sogar ein schnelles Ende herbeisehnte. Sarah und die Richardsons jammerten und klagten nicht, aber in ihren Augen stand ebenfalls die flehentliche Bitte um Erlösung. Ob das Minu-Cuzz etwas fühlte oder ersehnte, wußte ich nicht. Es hatte die Augen geschlossen und schien in eine Art Schockstarre verfallen zu sein. Als das weißglühende riesige Etwas durch die Sand- und Staubfahnen über der geschundenen Stadt jagte, reagierte ich überhaupt nicht darauf. Erst allmählich nahm meine Aufmerksamkeit zu. Doch es war bereits wieder verschwunden, als ich darüber nachdachte, was es gewesen sein könnte. Im gleichen Augenblick registrierte mein Bewußtsein, daß die tobenden Kräfte sich nach und nach beruhigten. Das war ANIMA! schrie mir der Extrasinn zu. Sie versucht, euch zu helfen. Du mußt das Minu-Cuzz zwingen, noch einmal die Besatzung der FLAMME zu kontrollieren! Ich riß mich gewaltsam zusammen und fuhr mir mit der Hand über die Augen, um die Nebel zu verscheuchen, die sich davor drehten. Jemand sagte etwas. Erst nach Sekunden erkannte ich meine eigene Stimme. »Du mußt es noch einmal versuchen!« wandte ich mich an das Minu-Cuzz. »ANIMA hat ihre
größte Form angenommen und sich äußerlich in einen weißglühenden Materiebrocken verwandelt. Ihr Anblick muß der Besatzung der FLAMME einen Schock versetzt haben. Vielleicht kannst du das ausnutzen und ihnen den Untergang New Marions suggerieren.« »Ich versuche es schon«, gab das Zwitterwesen zurück. Seine Stimme war noch so melodisch, wie ich sie anfangs kennengelernt hatte. »Es ist schwer, aber vielleicht geht es doch. Sag ANIMA, sie soll ihr Manöver wiederholen. Ich will versuchen, sie in meine Beeinflussung einzubauen, so daß der Feind denkt, es handle sich um einen Materiebrocken, der durch den Atombrand und das Auseinanderbrechen von Palmwiese aus dem Planeten gebrochen ist.« Ich schaltete das Funkgerät ein und versuchte, ANIMA zu erreichen. Doch sie reagierte nicht. Ich sprach dennoch auf sie ein, in der Hoffnung, daß sie mich irgendwie hörte. Gleichzeitig bearbeitete ich die Reparaturschaltungen der KORALLE, damit wir wieder starten konnten beziehungsweise überhaupt wieder eine Ortung möglich wurde. Endlich zeigten die Bildschirme der Ortung etwas: ein kugelförmiges Raumschiff, das sich langsam von New Marion entfernte – und einen flammenden Materiebrocken, der vom Planeten aus auf das Schiff der Crynn-Brigade zu stürzte. Als bei dem Schiff mehrere Lichtpunkte aufblitzten, wären sie beinahe das letzte gewesen, das ich in meinem Leben sah, denn praktisch im gleichen Augenblick schlug die Salve aus den Impulskanonen der FLAMME in den Trümmern der Stadt ein. Eine Strahlbahn verkochte die Hälfte der zerschlagenen Fassade, auf der die KORALLE lag. Durch die Hitze verzog sich die Zelle dermaßen, daß die Sichtflächen platzten und die Schotte aufsprangen. Rauch, Staub und Sand fegten herein und gaben uns den Rest. In meinem Gehirn gingen die letzten Lichter aus. Irgendwann kam ich wieder zu mir. Ich wollte von dem ganzen Grauen, das den Kontinent Palmwiese heimgesucht hatte, nichts mehr sehen, deshalb ließ ich meine Augen geschlossen. Meine übrigen Sinne arbeiteten jedoch weiter und teilten mir nach und nach mit, daß ich eine reine Luft ohne Beimengungen von Sand, Staub und Rauch atmete, daß meine Haut glatt und sauber und nicht mehr verschwitzt und dreckverkrustet war und daß ich frische Wäsche und Kleidung trug. Das alles summierte sich in meinem Kopf, bis ich zu dem Entschluß kam, daß ich doch einen Blick riskieren könnte. Ich war nicht einmal allzusehr überrascht darüber, mich innerhalb der KORALLE wiederzufinden und festzustellen, daß sie aufgeräumt, sauber und offenbar auch repariert war. Das galt sinngemäß auch für mich. Ich war frisch gewaschen, meine Prellungen und Abschürfungen waren mit einem kühlenden und heilenden Gel behandelt, ich trug frische Wäsche – und meine silberfarbene einteilige Kombination. Als ich mich in dem Sessel, in dem ich halb lag, aufrichtete, sah ich Sarah Briggs und die Richardsons, die anscheinend auch eben erst zu sich gekommen waren und sich verwundert umsahen. »Willkommen daheim!« rief eine bekannte Stimme. ANIMA! »Danke!« sagte ich mit leichter Verlegenheit, denn ich mußte daran denken, wer mich entkleidet, gewaschen und neu eingekleidet hatte – und nicht nur mich, denn auch die Celester waren entsprechend bedient worden. »Wie kommen wir hierher?« wollte Arien wissen. »Wie kommt der Wurm in den Apfel?« stellte ANIMA spöttisch die Gegenfrage. »Könntest du uns die Umgebung zeigen?« fragte ich. »Selbstverständlich, Atlan«, antwortete ANIMA. Im gleichen Augenblick wurde die Innenwandung des Hohlraums, in dem die KORALLE stand, an mehreren Stellen durchsichtig. Ich erkannte, daß wir uns einige Kilometer über der Oberfläche von
New Marion befanden – und dabei hatte ich angenommen, wir würden uns noch in Edelkraut aufhalten. »Wo ist das Minu-Cuzz?« fragte ich beunruhigt, denn das Zwitterwesen befand sich weder im Gleiter, noch vermochte ich es draußen irgendwo zu sehen. »Ich weiß nicht, was du meinst«, erwiderte ANIMA unschuldsvoll – zu unschuldsvoll. »Ich spreche von dem Zwitterwesen oder Cyborg, der sich in der KORALLE aufgehalten hat«, erklärte ich ungeduldig. »Das sich auf der Suche nach dem Fract-Cuzz befindet?« erkundigte sich ANIMA. »Ja«, bestätigte ich. »Ich habe es hinausgeworfen«, sagte meine Partnerin grimmig. »Nachdem es mir erklärt hatte, daß es und das Fract-Cuzz zusammengehören, konnte ich es nicht länger in mir dulden. Das Fract-Cuzz hat damals schon genug Unfug gestiftet, und das Minu-Cuzz führte sich kaum besser auf.« Ungläubig blickte ich einige Kontaktknoten an der Innenwandung des Hohlraums an. »Das Minu-Cuzz führte sich nicht besser auf? Das kann ich mir schlecht vorstellen. Es will etwas von mir wissen, deshalb sollte es eigentlich alles tun, um hierbleiben zu dürfen. Und es soll sich so schlimm aufgeführt haben, daß du es hinauswerfen mußtest?« »Willst du damit sagen, ich würde dich anlügen, Atlan?« Ich schüttelte den Kopf. »Daran hatte ich nicht einmal gedacht, ANIMA. Ich fürchte eher, es braucht meinen Bericht über die Begegnung mit dem Fract-Cuzz nicht mehr, weil es schon von anderer Seite informiert wurde. Das gefällt mir gar nicht.« »Ich weiß nicht, was du auszusetzen hast!« erwiderte ANIMA schmollend. »Ich habe die FLAMME verscheucht, nachdem das Minu-Cuzz der Besatzung vorgaukelte, Palmwiese sei größtenteils vom Atombrand erfaßt und bräche auseinander. Als es dem Schiff nicht gelang, mich abzuschießen, ergriff es die Flucht. Ahnst du überhaupt, was du gewonnen hast, Atlan! Sowohl im Sektor von Gentile Kaz als auch im Sektor der Hexe wird Voorndan beziehungsweise New Marion als vernichtet gelten. Offiziell sind Voorndaner und Celester ausgestorben.« Plötzlich wurde mir klar, was ANIMA meinte – und mein Puls ging schneller. New Marion würde zu einer vergessenen Welt werden, und durch die kosmische Gaswolke UP-331 wurde das LittoniSystem so gegen seine »Umwelt« abgeschirmt, daß es aus größerer Entfernung nicht beobachtet werden konnte. Das bedeutete, daß der Planet der ideale Stützpunkt für meine Operationen in der Galaxis Alkordoom geworden war – und für mich persönlich würde er durch die Celester im allgemeinen und Sarah Briggs im besonderen eine neue Heimat werden. Sarah mußte das im gleichen Augenblick begriffen haben wie ich, denn sie eilte mit glücklichem Lächeln auf mich zu und fiel mir in die Arme. Oh, ja, ich hatte sehr viel gewonnen! Dennoch wurde ich die dunkle Ahnung nicht los, daß das Minu-Cuzz uns nicht verlassen hatte, weil es sich nicht mehr für mich interessierte, sondern daß es dafür einen Grund gab, der mir nicht gefallen würde, wenn ich ihn erführe. *
Bald ist es soweit. Diese Celester und dieser Atlan, der kein Celester ist, haben keine Ahnung, warum ich mich von ihnen getrennt habe. Das liegt daran, daß sie sich bisher nie wirklich für meine Natur interessierten. Sie bilden sich tatsächlich ein, alles im Universum nach ihren eigenen Maßstäben beurteilen zu können. Diese Narren! Sie haben nicht bemerkt, daß ich über den psionisch behandelten Kristall aus dem Tempel der Voorndaner Signale empfing, die mir die baldige Ankunft des Fract-Cuzz auf New Marion ankündigten. Glücklicherweise war Atlan bei der Ankunft ANIMAS bewußtlos, so daß ich leichtes Spiel mit dem lebenden Raumschiff hatte. Es glaubt, mich losgeworden zu sein, aber es irrt sich. Ich werde hierbleiben, in der entvölkerten ehemaligen Hauptstadt der Voorndaner, während Atlan und ANIMA sich bei den Celestern auf dem Kontinent Hain niederlassen. Doch nicht für lange. Bald wird das Fract-Cuzz hier sein, dann werden wir uns vereinigen. Ursprünglich sollten die Voorndaner uns als Hilfstruppe dienen. Das ist nicht mehr möglich. Aber die Celester sind sogar noch brauchbarer. Sie werden sich gegen meine Macht aufzulehnen versuchen, doch das wird nur ein kurzes Aufbäumen sein. Danach rekrutiere ich aus ihnen meine Truppen, mit denen ich Zulgea besiegen und die Macht im Sektor Kontagnat übernehmen werde. Bald. ENDE
Von den Celestern unbemerkt, spielt sich auf dem weitgehend entvölkerten Kontinent Palmwiese eine entscheidende Entwicklung ab: Das Minu-Cuzz erwartet die Ankunft des Fract-Cuzz. Sie wollen Rache üben an Zulgea von Mesanthor. Beide zusammen bilden Cuzz, das Fragmentwesen… DAS FRAGMENTWESEN – so lautet auch der Titel des nächsten Atlan-Romans. Der Band wurde von H. G. Francis geschrieben.
ATLANS EXTRASINN Eine neue Heimat Nach vielen hektischen Wochen ist erstmals eine Phase der Ruhe eingetreten, ich weiß, daß es sich um eine trügerische Ruhe handelt, denn vieles ist ungewiß. Sicher ist nur, daß Atlan bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit mit ANIMA aufbrechen wird, um mit der gewohnten Hartnäckigkeit den Auftrag der Kosmokraten zu verfolgen. Daran wird auch Sarah Briggs nichts Andern, wenngleich ein Blinder sehen muß, daß sich zwischen den beiden mehr als eine herzliche Freundschaft entwickelt hat. Die Erfüllung des Auftrags stellt in seiner Gesamtheit weiterhin den entscheidenden Impuls für Atlan dar. Ich meine, er hat noch zu wenig erreicht, um sich auch nur ein dürftiges Bild der Galaxis Alkordoom machen zu können. Er kennt ein paar Gefahren, ein paar Rätsel, ein paar Figuren dieser kosmischen Bühne, aber er weiß nicht, was sich dahinter verbirgt. Und doch hat er etwas Großartiges erreicht. Er hat eine neue Heimat gefunden. Nicht nur das. Er kann wieder unter Menschen leben, unter Menschen der Erde. Zudem handelt es sich bei den Celestern fast ausschließlich um selbstbewußte, tatkräftige und grundanständige Burschen. Die anfängliche Einsamkeit ist von Atlan gewichen. Er hat ein Zuhause, einen Platz, an dem man auf ihn warten wird, wenn er seine weiteren Nachforschungen nach dem Erleuchteten oder nach dem geheimnisvollen Objekt EVOLO durchgeführt hat. Ich bezweifle, daß Sarah Briggs ihn bei diesen Exkursionen begleiten wird. Sie ist eine tüchtige Frau, aber kein abenteuersuchender Kämpfertyp. Sie wird lieber in der Stille von New Marion warten. Die Ereignisse der letzten Tage haben Atlan in die Hände gespielt. Die von den Celestern wenig geliebten Voorndaner haben diese Welt verlassen oder sie sind an der Seuche umgekommen, die sie selbst in frevelhafter und unüberlegter Welse angezettelt haben. Den Namen Voorndan benutzt nun niemand mehr. New Marion gehört den Menschen. Es mutet fast komisch an, daß diese Welt nun den Namen einer amerikanischen Stadt trägt, der Stadt, aus der der Ur-Celester, Kapitän Benjamin Spooner Briggs, stammte. Die Zukunft für die Celester sieht nicht schlecht aus. Der Planet gilt als tot oder zerstört. Die galaktische Gaswolke UP-331 trägt weiter dazu bei, daß sich so schnell niemand mehr an diesen Ort nahe der unsichtbaren Grenze zwischen den Herrschaftsbereichen von Gentile Kaz und Zulgea von Mesanthor verirren wird. Crynn, die Hauptwelt des Sektors Kontagnat, ist 882 Lichtjahre entfernt. Um nach Ordardor, dem Gebiet Gentiles, zu gelangen, müssen ganze 22 Lichtjahre überwunden werden. Für ANIMA mit ihrem unbegreiflichen Antrieb ist das ein Katzensprung. Atlan kann so sehr schnell in zumindest zwei der acht äußeren Herrschaftsbereiche von Alkordoom wechseln. Die Stadt Celeste mit dem Kern Downtown (auch hier hat sich eine alte terranische Bezeichnung erhalten) stellt einen reizvollen Gegensatz in sich selbst dar. Downtown mit seinen Holz- und Fachwerkbauten wird auf angenehme Weise von der fortschrittlichen Technik der umgebenden Hochhäuser, Fabriken und Raumhäfen eingerahmt. Durch die aufgelockerte Bauweise mit vielen Wäldern, Grünflächen und Seen besitzt Celeste mit über zehn Millionen Einwohnern immerhin einen Durchmesser von gut 22 Kilometern. Hier ließe es sich angenehm leben. So denkt auch Atlan in diesen Stunden: Aber in ihm nagen die Worte des Auftrags. Sie sind ein Teil seines Ichs geworden.
Er überprüft seinen Kenntnisstand. Er hat einen ersten und klaren Eindruck von den Machtverhältnissen zweier Facetten bekommen. Er weiß, wie diese agieren. Zulgea von Mesanthor, die man auch die Hexe nennt und die durch die Beseitigung eines Wesens namens Cuzz an die Macht gelangt, bevorzugt psionische Mittel. Diese Leuchtende muß eine Mutantin sein. Das besagen nicht nur Gerüchte. Wie anders hätte sie sonst Cuzz, dessen Reste schon ein erhebliches Psi-Potential besitzen, überwältigen können. In ihrer Crynn-Brigade sind wir schon mehrfach auf Wesen mit Psi-Fähigkeiten gestoßen. Auch das deutet darauf hin, daß die Hexe »hexen« kann. Läßt sie aus diesen Gründen ständig nach Psi-Potentialen suchen? Oder verbirgt sich dahinter ein ganz anderes Ziel? Ich tendiere zur zweiten Annahme. Und Gentile Kaz, den wir als Riesenkristall erlebt haben? Er geht ganz andere Wege. Seine Waffen heißen Rauschgift, Förderung der Spielsucht, Schiebergeschäfte und dergleichen. Bei ihm ist ganz offen erkennbar, daß er mit diesen Methoden seine Nachbarn »aufweichen« will, um die eigene Macht auszudehnen. Beiden gemeinsam ist aber auch, daß sie nicht davor zurückschrecken, mit roher Gewalt ihre Ziele zu erreichen. Es gibt also noch eine Skrupellosigkeit, die über den psionischen Methoden oder dem Bestreben, andere Völker zum Verfall zu führen, steht.