Atlan Im Auftrag der Kosmokraten Nr. 678
Flucht nach New Marion Die Begegnung mit den Celestern
von Falk-Ingo Klee
...
11 downloads
866 Views
358KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Atlan Im Auftrag der Kosmokraten Nr. 678
Flucht nach New Marion Die Begegnung mit den Celestern
von Falk-Ingo Klee
Nur unter großen Mühen schaffte es Atlan im Jahre 3808, die verlorengegangenen Koordinaten von Varnhagher-Ghynnst wieder in seinen Besitz zu bringen und danach das Generationenschiff SOL seiner Bestimmung als Spoodiesammler bei den Kranen zuzuführen. Anschließend trat Atlan im Jahre 3811 gemäß den Wünschen der Kosmokraten seine Aufgabe als Orakel von Krandhor an, um an der Entwicklung der Pufferzone zwischen den im Konflikt liegenden Superintelligenzen ES und Seth-Apophis mitzuwirken. Im Jahr 3818 wird Atlan jäh aus seinem beschaulichen Orakeldasein herausgerissen, denn die Kosmokraten benötigen seine Dienste an anderer Stelle viel dringender. Da der Arkonide erfährt, daß vom Erfolg oder Mißerfolg seiner Mission das weitere Schicksal der Mächte der Ordnung abhängt, geht er selbst das größte Risiko ein. Er läßt sich quasi in Nullzeit über weite Sternenräume in die Galaxis Alkordoom versetzen, wo er bereits in den allerersten Stunden seines Aufenthalts den ganzen Erfahrungsschatz seines nach Jahrtausenden zählenden Lebens einsetzen muß, um sich behaupten zu können. Der bestandene Todestest beweist Atlans Überlebenspotential, auch der Einsatz beim Kristallkommando. Doch als die Crynn-Brigadisten zurückschlagen, bleibt Atlan nur die FLUCHT NACH NEW MARION…
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan – Der Arkonide als Gefangener der Crynn-Brigade. Korptur und Wrza – Zwei von Atlans Mitgefangenen. Sarah Briggs – Ein schönes und energisches Mädchen. B. B. Briggs, Curt Gilling und Arien Richardson – Drei Celester.
1. Das Knirschen eines Riegels war zu hören. Mit einem Ruck wurde die Tür so heftig aufgestoßen, daß sie mit einem dumpfen Knall gegen die Wand schlug. Ein haluterähnlicher Thater erschien auf der Schwelle. Er hatte die Finger lässig hinter einem breiten Gürtel verhakt, an dem ein großkalibriger Strahler baumelte. Schon beim ersten Geräusch war Atlan von seinem Lager hochgeschnellt, dem einzigen Einrichtungsgegenstand in der primitiven Zelle. Lauernd stand er da, seine Rechte umklammerte das Kombimesser in der Tasche. Daß es unter diesen Umständen eine recht armselige Waffe war, hatten auch die Crynn-Brigadisten erkannt. Sie hatten ihn durchsucht, doch darauf verzichtet, ihm das Multiwerkzeug abzunehmen. Aus zusammengekniffenen Augen starrte der Arkonide den Riesen an, hinter seiner Stirn arbeitete es. Die Ankündigung, daß man ihm auf Crynn sein vermeintliches Psi-Potential abzapfen werde, hatte Atlan eine schlaflose Nacht bereitet. Vergeblich hatte er sich den Kopf darüber zerbrochen, wie er diesem Schicksal entgehen konnte. Nur ein Ausbruch konnte ihn retten, aber an ein Entkommen war nicht zu denken. Alles war massiv, das Gemäuer schien für die Ewigkeit gebaut zu sein, und dann waren da noch die zahlreichen Bewacher und Roboter. Nein, aus diesem Gefängnis konnte niemand entfliehen. Was wollte der Thater? Wollte er ihm nur Angst einjagen, ihn mit Worten quälen, wie er es bereit mehrfach getan hatte, oder war er gekommen, um ihn abzuholen? Er glaubte, die Stimme der Kosmokraten zu hören, als sie ihm den Auftrag erteilten. DU WIRST AUF DICH ALLEIN GESTELLT SEIN. DEIN LEBEN WIRD NICHT VIEL ZÄHLEN. »Was willst du?« fragte Atlan mit rauher Stimme. »Fürchtest du dich, Kleiner?« Der Koloß lachte grollend. »Los, komm raus!« Die Gedanken des Arkoniden überschlugen sich. Sollte er sich einfach weigern? Sollte er den in eine schwarze Lederkombination gekleideten Thater angreifen und versuchen, ihn zu überwältigen? Du mußt es versuchen! meldete sich beschwörend der Extrasinn. Du darfst die Gehirnwäsche nicht zulassen! Deine Existenz ist mit meiner untrennbar verbunden! »Was ist? Soll ich dir Beine machen?« Atlan zögerte, dem Rat seines Logiksektors zu folgen. Angesichts der Drohung, das vermutete PsiPotential zu entfernen, hatte er sich in den letzten Stunden mehr und mehr von der Position eines unbestechlichen Beobachters entfernt und urteilte subjektiv. Der Extrasinn hatte Angst, Angst nicht nur um den Trägerkörper und sein Bewußtsein, sondern um sich selbst. Ja, ich fürchte mich. Das, was man mit dir vorhat, ist für mich schlimmer als dein Tod. Es ist besser, im Kampf zu sterben, als diese geistige Folter zuzulassen. Greif an! Das ist Irrsinn. Selbst wenn ich ihn überwältigen könnte – ich würde nicht weit kommen. Dann denke intensiv an das Kodewort. Laß dich nach Krandhor zurückversetzen! Nein! Du kannst den Auftrag nicht erfüllen! Der Thater war des Wartens überdrüssig geworden und zog seinen Strahler. Atlan erfaßte die Bewegung, doch er war zu sehr mit sich und seinem zweiten Ich beschäftigt, um rechtzeitig reagieren zu können. Er versuchte noch, sich zur Seite zu werfen, aber da trafen ihn die lähmenden Energien schon. Der Hüne steckte die Waffe weg, stapfte zu dem Arkoniden und riß ihn hoch. Wie ein Bündel
Lumpen warf er sich den reglosen Körper über die Schulter und verließ den unwohnlichen Raum. * Die Nachwirkungen der Betäubung waren abgeklungen. Atlan fand sich in einem Verlies wieder, das noch heruntergekommener war als die Zelle. Nackte Betonwände umschlossen ein Geviert von etwa sechs mal acht Meter. Fenster gab es nicht, lediglich eine vergitterte Lüftungsöffnung dicht unter der Decke. Zwei verstaubte Leuchtplatten verbreiteten schummerige. Helligkeit, die den schmutzstarrenden Boden kaum erreichte. In einer Ecke war Unrat angehäuft, auf dem daumennagelgroße Käfer herumwimmelten. Es stank erbärmlich nach Fäulnis, Kot und Körperausdünstungen, vermischt mit dem stechenden Geruch von Urin. Was der Hygiene dienen sollte, verdiente nicht, sanitäre Einrichtungen genannt zu werden und erinnerte an das finsterste Mittelalter Terras. Ein langhalsiges Wesen mit Entenkopf und Krakenbeinen verrichtete seine Notdurft in ein Rinne, die von Wasser durchflossen wurde, unter einer altersschwachen Dusche, die mal sprühte und dann wieder nur tröpfelte, hockte ein grüngeschupptes, an einen riesigen Schwamm erinnerndes Geschöpf mit drei feuerroten Stielaugen. Abtrennungen oder Vorhänge gab es nicht, auch kein Mobiliar. Acht völlig unterschiedliche Lebewesen hatte man hier zusammengepfercht, ohne Rücksicht auf ihre durch Körperbau und Anatomie vorgegebenen Bedürfnissen zu nehmen. Die meisten lagerten auf fleckigen, dreckverkrusteten Matten von undefinierbarer Farbe. Angewidert erhob Atlan sich von seiner Matratze und ging zur Brause. »Rückst du mal etwas zur Seite? Ich möchte mir die Hände waschen.« Der Schwamm stieß ein unverständliches Glucksen aus, ohne sich von der Stelle zu rühren. Eins der Stielaugen drehte sich und musterte den Aktivatorträger eingehend. Ein wenig hilflos wiederholte er seine Bitte, doch der Grüngeschuppte reagierte erneut mit einem Gluckslaut. »Du kannst dich ruhig reinigen, Wrza macht das nichts aus. Er hält sich nämlich ständig unter der Dusche auf.« Atlan drehte den Kopf. Der Sprecher war nicht weniger exotisch als die anderen Fremden. Der Körper glich völlig dem eines Menschen, aber damit erschöpfte sich die Ähnlichkeit bereits. Auf dem muskulösen, S-förmig nach vorn gebogenen Hals thronte als Kopf so etwas wie ein vierarmiger Polyp, der seinerseits einen Aufsatz trug, der fatal an jenes Merkmal erinnerte, das dem Hammerhai seinen Namen gegeben hatte. Hier wie dort befanden sich die Augen links und rechts in stumpfen Ausläufern, dagegen war die Mund- und Sprechöffnung direkt über den vier Tentakeln, also im Schädel selbst. Er sprach alkordisch. »Warum sagt er mir das nicht selbst?« erkundigte sich der Arkonide leicht verärgert. »Wrza stammt von der Wasserwelt Aczyrb. Wer dort mehr als ein Wort am Tag von sich gibt, gilt als geschwätzig. Das müßtest du eigentlich wissen, Celester.« Unmerklich zuckte Atlan zusammen. Celester – man hielt ihn also für den Angehörigen dieses Volkes, das Terranern so ähnlich sein mußte wie die Solaner, doch nicht nur das, sie mußten auch noch die alten Sprachen Deutsch und Englisch kennen. Kurz nach seiner Versetzung nach Alkordoom, auf dem Planeten Puurk, hatte er einen solchen Menschengleichen zu Gesicht bekommen und gehört, daß er sich in diesen nicht mehr geläufigen Idiomen artikulierte. Sein damaliger Begleiter, der vielarmige Pazzon, wußte nur, daß es die Celester gab, doch das machte das Geheimnis eher noch größer. Daß die Natur bei gleichen Bedingungen stets auf Erprobtes zurückgriff, war ein uraltes Prinzip der Evolution. Überall gab es Humanoide, über selten zuvor waren ihm so exakte Kopien des Menschen
begegnet. Und nicht nur das: In seinem langen Leben waren ihm niemals zuvor Duplikate der Terraner untergekommen, die deren Dialekte beherrschten. Celester – irgendeine Erinnerung war damit verbunden, doch welche? Selbst das fotografische Gedächtnis konnte keine Verbindung dazu herstellen. Vielleicht wußte der Fremde mehr über dieses rätselhafte Volk, doch Atlan wagte es nicht, nachzufragen, denn es mußte den Dümmsten stutzig machen, wenn jemand sich nach Einzelheiten über seine eigene Art erkundigte. Und zu versuchen, sich als Arkoniden vorzustellen und den Irrtum aufzuklären, schuf nur Verwirrung und Mißtrauen, also beließ er es bei der Annahme, ein Celester zu sein. »Wie heißt du?« »Atlan. Und du?« »Korptur.« Der Hominide wedelte mit den fingerlangen Kopftentakeln. »Es ist merkwürdig, daß man dich hierhergebracht hat. Ihr Celester steht in dem Ruf, psionisch taub zu sein.« Das könnte die Rettung sein, kommentierte der Logiksektor freudig erregt. Vielleicht hat man dich verwechselt oder irrtümlich gefangen. Verschone mich mit deinem Wunschdenken und orientiere dich endlich wieder an der Realität, gab der Arkonide gedanklich zurück und wandte sich erneut an Korptur. »Warum hat man euch in dieses Loch gesteckt?« »Aus dem gleichen Grund wie dich.« Der Zweiarmige lachte freudlos. »Man vermutet bei uns PsiKräfte, die uns diese Schergen Zulgeas abzapfen wollen. Sie wird nicht umsonst die Hexe genannt.« »Kennst du sie?« »Nein, niemand weiß, wie sie aussieht. Bekannt ist nur, daß sie als Facette über den Sektor Kontagnat herrscht, der auch der Sumpf heißt, aber das weißt du ja selbst.« »Was hat es mit der Psi-Kraft auf sich? Wozu wird sie benötigt?« »Bist du wirklich so einfältig, oder stellst du dich nur so dumm?« »Warum sollte ich mich dumm stellen?« taktierte Atlan vorsichtig. »Ich kenne eine Unzahl von Gerüchten, aber ich habe noch niemanden getroffen, der die Wahrheit kennt.« »Die ganze Wahrheit dürften wohl auch nur sehr wenige wissen, möglicherweise nur einer.« »Der Erleuchtete?« riet der Aktivatorträger. »Ja, das Juwel. Er ist es letztendlich, für den die Psi-Jäger tätig sind.« »Ich verstehe den Zusammenhang nicht. Wir sind doch auf Crynn in den Händen der Zulgea von Mesanthor.« Korptur strich sich mit einer Hand über den lackschwarzen Hammeraufsatz und setzte sich aufrecht. Seine zweiteilige Kombination aus einer Art Folie war fleckig und zerknittert. »Jede Facette von Alkordoom ist verpflichtet, ständig bestimmte Mengen an Psi-Potentialen zu sammeln und an den Erleuchteten abzuliefern, dessen Machtbereich im Sektor Nukleus im Kern der Galaxis liegt. Wer immer in den Verdacht gerät, über Psi-Potential zu verfügen, wird festgesetzt. Die Hexe bedient sich dabei der Crynn-Brigade, mit der du ja Bekanntschaft gemacht hast. In Wirklichkeit sind die Brigadisten zum Teil selbst Mutanten, die ein großes Psi-Potential besitzen. Das hält Zulgea jedoch vor dem Juwel geheim, benutzt es aber als Druckmittel gegen diese Mutanten. Sie müssen also Psi-Potentiale aufspüren oder andere Dienste erfüllen, die der Machterweiterung der Facette dienen. Schaffen ihre Kreaturen nicht genug Psi-Träger heran, muß sie das Potential des geheimen Mutantenkorps angreifen und an den Erleuchteten liefern. Warum das alles so geschieht, weiß keiner.« Nachdenklich rieb Atlan sich die Hände trocken. Einiges erschien nun unter einem völlig neuen
Aspekt, verschiedene Dinge und Eindrücke bekamen jetzt erst einen Sinn, aber wirklich schlauer war er immer noch nicht. Von dem Juwel, dem Erleuchteten und seinen Facetten, den Leuchtenden, ging eine Gefahr aus, die selbst die Existenz der Kosmokraten bedrohte, und diese Gefahr hatte einen Namen: EVOLO. Wer oder was EVOLO war, wußten selbst seine Auftraggeber nicht. Er, Atlan, sollte dieses Rätsel lösen und die Macht des Juwels und seiner Facetten zerschlagen, damit die ordnenden Kräfte die Oberhand über das Chaos gewannen, das sich in der Galaxis Alkordoom breitgemacht hatte. In welchem Zusammenhang standen die Psi-Potentiale, der Erleuchtete und EVOLO? Welche Rolle spielten die Celester dabei? Spielten sie überhaupt eine Rolle, oder waren sie nur Randfiguren, denen er fälschlich Bedeutung beimaß, weil sie wie Terraner aussahen und sprachen? Offensichtlich unterstanden die Leuchtenden dem Erleuchteten, aber wie groß war ihre Abhängigkeit wirklich? Waren die Facetten eigenständige Fürsten, die ihrem Kaiser lediglich Tribut zollten, oder waren es nur seine Statthalter? Warum bekämpfen sie sich untereinander und versuchten, sich gegenseitig auszuspielen, wenn es am Thron des Herrschers ohnehin nichts zu rütteln gab? Oder saß das Juwel doch nicht so fest im Sattel, wie es den Anschein hatte? Wurde vielleicht schon um seine Nachfolge gerangelt? Die Gefahr, die in dieser Sterneninsel lauerte, war noch im Entstehen begriffen, EVOLO war also noch nicht fertig, unvollständig und demzufolge wohl noch unbrauchbar. In welchem Stadium befand sich EVOLO? Mit welcher Geschwindigkeit vollzog sich die Vollendung? Stand sie schon unmittelbar bevor? Wie ging dieser Prozeß vor sich, wozu wurden die Psi-Kräfte gebraucht, wie gespeichert und übertragen oder verwertet? Was plante das Juwel? Wollte es sich mit dem bestimmt gewaltigen Psi-Arsenal zu einem Überwesen aufschwingen mit dem Namen EVOLO? Es mußte einen triftigen Grund dafür geben, daß die Jagd nach Psi-Trägern mit solcher Intensität betrieben wurde. Warum zermarterst du dir das Hirn? Du kannst den Auftrag nicht ausführen. Du hast nur die Wahl, zu sterben oder nach Krandhor zurückzukehren. Vergiß nicht: Das Kodewort lautet VarnhagherGhynnst. Du scheinst dich immer noch zu fürchten, dachte der Arkonide ironisch. Warst du es nicht, der Angst als irrational bezeichnet hat, weil es dem Bangenden Schaden zufügt? Du hast den Nachsatz vergessen. Angst in deinem Sinn habe ich durch logisches Nachempfinden. Das klang vorhin zwar anders, aber ich fürchte mich nicht. Noch nicht, du Narr. Erkennst du denn nicht, daß du nur einen Aufschub erhalten hast? Dieses Verlies ist das Wartezimmer des Henkers. Worauf gründet sich eigentlich deine irrwitzige Hoffnung, mit dem Leben davonzukommen? Auf die zweite räumliche Versetzung, die die Kosmokraten angekündigt haben. Was sagst du dazu, Pessimist? Der Logiksektor zog es vor, zu schweigen. Atlan war das nur recht. »Was geschieht mit den Personen nach der Behandlung, ich meine, wenn ihr Psi-Potential entfernt wurde?« »Man munkelt, daß sie in die Sonnensteppe gebracht werden.« Korpturs Stimme klang verbittert. »Sie sind nur noch Wracks, hilflose, lallende Idioten, egal, ob sie Psi-Kräfte besaßen oder nicht. Nach dem Abzapfen sind alle gleich.« »Wie kannst du dann so ruhig bleiben, wenn du weißt, was dich erwartet?« »Wahrscheinlich sind Zulgeas Mutanten dafür verantwortlich. Gentile Kaz hätte die gleiche Wirkung mit Drogen erreicht, die Hexe macht es auf ihre Art. Im Endeffekt macht das keinen Unterschied. Einmal gefangen, lassen sie dich nicht mehr entkommen.« Korpturs Antlitz, das in
Farbe und Struktur Elefantenhaut glich, wurde eine Nuance heller. »Vermeintliche Psi-Träger sind ein kostbares Wild, dem nichts zustoßen und das sich nichts antun darf, doch sieh dich um. Hast du jemals in einem solchen Dreckloch gehaust?« Er gab die Antwort selbst. »Natürlich nicht, denn wer sich an einem solchen Ort länger als zwei Tage aufhält, zieht sich alle möglichen Krankheiten zu und geht daran zugrunde. Wie lange befindest du dich inzwischen in diesem Gefängnis?« Der Arkonide blickte auf sein Chronometer. »Seit knapp vierundzwanzig Stunden. Warum fragst du?« »Sie werden dich bald holen – und mich auch. Unseresgleichen werden auf Crynn nie länger verwahrt als dreißig Stunden. Wegen der Seuchengefahr, die nach dem Aufenthalt in dieser Luxusunterkunft von uns ausgeht.« »Könnt ihr nicht mal endlich still sein?« schrie der Langhals wütend. Er stakste zu Korptur und versetzte ihm mit einem seiner gelenklosen Krakenbeine einen Schlag vor die Brust. »Nehmt euch ein Beispiel an Wrza.« »Laß die beiden in Ruhe und verschwinde auf deine Matte, sonst bekommst du es mit mir zu tun. Hier kann jeder reden, so lange er will.« Drohend erhob sich ein Geschöpf, das gar nicht mehr aufhören wollte, zu wachsen. Knapp vier Meter groß und bestimmt mehr als zwei Tonnen schwer, blickte der Gigant auf die anderen herab. Der mächtige Leib wurde von vier stämmigen Säulen getragen, der muskulöse Stummelschwanz diente als zusätzliches Stützbein. Die beiden Armpaare wirkten eher schmächtig, aber die langen Krallen waren bestimmt furchtbare Waffen. Ein rehbrauner Pelz bedeckte Körper und Schädel des unbekleideten Wesens, dessen Kopf dem eines hornlosen Rindes mit langen Schlappohren glich. In den großen, ausdrucksvollen Augen spiegelte sich ein Hauch von Melancholie. »Spiel dich hier nicht auf«, giftete der Vielbeiner mit dem Entenkopf. »Warum wendest du dich gegen mich anstatt gegen die Bewacher? Habe ich dir etwas getan?« »Du mir? Nein, Swantee.« Der Koloß stieß ein brüllendes Gelächter aus. »Du bist ein Wicht, unbedeutsam zwar, aber gefährlich zugleich.« Die vorher so freundlich dreinblickenden Augen wurden starr, als wollten sie den anderen durchbohren. »Warum gibst du nicht zu, ein Spitzel zu sein? Du gehörst zur Crynn-Brigade!« »Das ist nicht wahr. Glaubst du, ich würde mich hier aufhalten und im Dreck wälzen, wenn ich zu Zulgeas Truppe gehören würde?« »Ja?« gurgelte Wrza. »Du selbst bist Dreck.« »Das ist eine gemeine Unterstellung«, sagte Swantee entrüstet. »Wie kommt ihr darauf, daß ich ein Greifer bin?« Bevor jemand antworten konnte, wurde die Stahltür aufgerissen. Die robotische Nachbildung eines Thaters betrat den Raum. In seiner Begleitung befand sich ein Bewaffneter, der im Eingang Posten bezog. Er war spindeldürr und ähnelte einer flügellosen, mumifizierten Fledermaus mit einem koboldhaften Greisengesicht. Was auf den ersten Blick wie ein zerlumptes Kleidungsstück aussah, entpuppte sich bei näherem Hinsehen als herabhängende Hautlappen, die den knochigen Körper wie Lumpen umhüllten. Kaum eineinhalb Meter groß, war er alles andere als respekteinflößend. »Mitkommen!« Die tiefe Stimme wollte so gar nicht zu dem Kerlchen passen. »Du, du und du!« Der Wächter deutete auf Atlan, Korptur und Swantee. Der Automat hatte wohl klare Anweisungen und auch seine Erfahrungen. Er wartete gar nicht erst ab, ob die Betreffenden der Aufforderung nachkamen, sondern packte sie mit eisernem Griff und stieß sie in Richtung Durchlaß. Der Schmächtige gab die Öffnung frei, stellte sich aber so, daß die drei ihm nicht zu nahe kommen konnten und er gleichzeitig freies Schußfeld hatte. Es war ausgeschlossen, ihn zu überrumpeln.
Sie holen euch ab! Du mußt intensiv an das Kodewort denken! Das ist deine letzte Chance! Ich habe den Auftrag freiwillig angenommen, gab der Arkonide gedanklich zurück. Du kommst hier nicht mehr heil heraus! Willst du als Wahnsinniger in der Sonnensteppe enden! Noch ist es nicht soweit. Verbittert schwieg der Extrasinn. Während der Roboter die Tür schloß, wandte sich der Brigadist an das Krakenwesen. »Hast du etwas herausfinden können, was telepathisch nicht spähbar ist?« »Der Bursche, der die silberne Kombination trägt, war noch nicht lange genug in der Zelle, aber der andere Kerl scheint ein guter Fang zu sein, der mehr weiß, als für ihn und uns gut ist.« »Also doch!« stieß Korptur hervor. »Von Anfang an hatte ich dich in Verdacht, ein Verräter zu sein. Hexenknecht! Abschaum!« »Niemand beleidigt ungestraft einen Crynn-Brigadisten!« fauchte Swantee. »Noschrut, zieh ihm eins mit dem Strahler über.« »Er wird noch gebraucht«, lehnte der Angesprochene ab. »Du weißt, daß die Gefangenen vor geistigen Schäden zu bewahren sind.« »Nun gut, er bekommt ja ohnehin noch die Behandlung.« Der Langhalsige stieß ein gackerndes Lachen aus. »Weißt du, Korptur, es ist so, daß die Mutanten nicht immer erfolgreich sind, besonders dann nicht, wenn ein Inhaftierter selbst über Psi-Kräfte verfügt, was bei dir wahrscheinlich der Fall ist – man kann die Gedanken nicht lesen. Da die Leuchtende von Kontagnat es aber nicht mag, wenn jemand vor ihr Geheimnisse hat, werde ich dann bei den Gefangenen als Geheimwaffe eingesetzt. Und das hat bisher auch immer geklappt – so wie diesmal. Trage es mit Fassung. In Kurze wirst du ohnehin so verblödet sein, daß du dich an mich nicht mehr erinnerst.« Die letzten Worte klangen so roh und gefühllos, daß der Aktivatorträger erschauerte. Er blickte zu Korptur, der Anstalten machte, sich auf Swantee zu stürzen, sich plötzlich jedoch versteifte und dastand wie eine Puppe. Erfahren im Umgang mit Mutanten und ihren oft geradezu unglaublichen Fähigkeiten, wußte Atlan, was mit seinem Leidensgenossen geschehen war: Ein Hypno oder ein Suggestor hatte die Kontrolle über den Geist des Hominiden übernommen, und es war nicht ausgeschlossen, daß dieser Jemand der Knöcherne war. »Genug geredet! Los jetzt, wir werden erwartet!« Wieder trat der mächtige Roboter in Aktion und trieb die beiden Gefangenen wie Vieh vor sich her. Sie mußten ja nur geistig gesund bleiben – bis ihr Bewußtsein untersucht worden war. Und das sollte nun erfolgen. * Die Gänge und Flure, durch die man den Arkoniden und seilen Mitgefangenen geführt hatte, waren nicht minder archaisch und heruntergekommen wie die Zellen, und die technischen Einrichtungen – soweit erkennbar – waren so armselig und spärlich zugleich, als wäre eben erst die Glühlampe erfunden worden. In Atlans Augen war dieses Gewölbe dazu angetan, selbst die Wächter gemütskrank zu machen, obwohl sie wahrscheinlich nur mehrere Stunden am Tag hier Dienst taten. Ganz anders dagegen der Raum, in den sie dann gelangten. Sonderlich groß war er nicht, aber vollgestopft mit glitzernden Einrichtungen, Instrumenten, Aufzeichnungsgeräten, Bildschirmen und Kontrolleinheiten. Hier schien der Fortschritt Triumphe zu feiern. War im Gefangenentrakt und den
Korridoren an allen Ecken und Enden gespart worden, so hatte man hier weder Kosten noch Mühe gescheut, aber wohltuend war diese Umgebung auch nicht. Kalt, abweisend und steril war alles, schmucklos, eine Technik, die nur Selbstzweck schien, dabei war sie Mittel zum Zweck. Das maschinelle Arsenal war dazu angetan, jeden das Fürchten zu lehren, und selbst der Arkonide schluckte. Gegen diese Ansammlung von Apparaturen war ein Medo-Center geradezu spartanisch ausgestattet. Das eigentliche Laborpersonal bestand aus zwei bronzefarbenen Robotern, die sich auf breiten Walzen fortbewegten. Ihre pyramidenförmigen Körper besaßen unzählige Auswüchse, Aufsätze und Tentakelarme, die teils vierfingrige Hände, teils unterschiedliche große Zangen aufwiesen. Sie unterstanden dem Kommando eines rothäutigen Hominiden mit zartem Körperbau, der einen schneeweißen Overall trug. Atlan wußte, daß es sich um einen Voorndaner handelte, denn auf dem Rekrutierungs- und Schulungsplaneten Garzwon im Sektor Ordador, der von Gentile Kaz beherrscht wurde, hatte er einen Angehörigen dieses Volkes kennengelernt. Im Hintergrund hielten sich drei Bewaffnete auf – zwei Thater und ein Artgenosse Swantees. »Ein Celester!« rief der Voorndaner erstaunt aus. »Welch eine Überraschung!« »Ja, die Welt ist klein«, sagte der Aktivatorträger sarkastisch. »Es ist noch gar nicht so lange her, daß ich deinesgleichen getroffen habe.« »Das glaube ich dir gern.« Der Hominide war sichtlich erheitert. »Schließlich sind wir fast so etwas wie Nachbarn.« Atlan runzelte die Stirn. Was wollte der Mann, der Ähnlichkeit mit einem terranischen Indianer hatte, damit andeuten? Nachbarschaft mußte nicht unbedingt etwas mit Entfernung oder räumlicher Nähe zu tun haben, es konnte auch Interessengleichheit bedeuten, Unterstützung und Zusammengehörigkeit. War es eine verschlüsselte Formulierung, ein Angebot, zu helfen? Auch Lulutka, der bei den Auslesekämpfen auf Garzwon umgekommen war, hatte ihn für einen Celester gehalten. Gab es eine Verbindung zwischen den Menschengleichen und den Voorndanern? »Hör endlich auf zu reden und beginne mit deiner Arbeit, Fittings«, grollte Noschrut. »Welchen willst du zuerst?« »Den Ospitschol. Mir wurde gemeldet, daß er ergiebig sein soll.« Wieder einmal mehr zeigte sich, daß die Crynn-Brigadisten ein eingespieltes Team waren. Während der Arkonide von dem mumienähnlichen Wesen und dessen Roboter zu einer transparenten Kabine geführt und dort eingeschlossen wurde, traten die drei Bewaffneten hervor und geleiteten Korptur zu einem Gestell, das sich – vermutlich durch Funkbefehle eines der Automaten – in einen Sitz verwandelte, der anatomisch richtig geformt war für einen Humanoiden. Die Bewegungen des Ospitschols waren immer noch steif und mechanisch, als er zu dem Sitz stakste und sich darin niederließ. Sofort schnellten aus verborgenen Halterungen elastische Bänder, die den Körper, Arme und Beine und den Kopf an das provisorische Möbel fesselten und keinen Millimeter Bewegungsspielraum mehr ließen. Der Voorndaner ließ sich vor einem Terminal nieder und nahm mehrere Schaltungen vor. Die Rückenlehne des Sessels sank nach hinten, so daß er jetzt eine waagrechte Liegefläche bildete. Von der Decke herab senkte sich ein vierzig Zentimeter durchmessendes schüsselförmiges Gebilde, das eine Handbreit über Korpturs Gesicht zum Stillstand kam. Ein Display erhellte sich und zeigte in zartem Grün die Zackenkurve der Gehirnströme, dazu noch eine zweite, gelbe Linie, die schwächer gezeichnet war und in gleichförmigen Wellenlinien verlief. Fittings veränderte die Stellung einiger Schieberegler. Das Gelb wurde heller, die Kurve verstärkte sich. Nun war deutlich zu sehen, daß sie oszillierte. Der Hominide nickte. Auf dieses Zeichen schienen die Roboter gewartet zu haben. Einer rollte einen fahrbaren Kasten heran, der metallisch glänzte und vollständig verkleidet war. Rückschlüsse auf seine Funktion ließen sich auch nicht aus der Apparatur an der Oberseite des Quaders ziehen.
Der andere Automat befestigte ein halbes Dutzend unterschiedlich geformter Drähte am Schädel und dem Aufsatz am Kopf des Ospitschols, die wie exotische Antennen anmuteten. Ihre Spitzen waren kugelförmig verdickt oder spreizten sich wie Regenschirmgestelle auseinander, ohne sich zu berühren. Die eine Maschine zog sich zurück, die andere machte sich an den Armaturen des truhengroßen Kastens zu schaffen. Aus der Frontseite wuchs ein armdickes Rohr hervor, das sich zu einem Fächer mit filigranen Verstrebungen entfaltete, gleich darauf entstand um die Liege herum ein Gitternetz aus bläulich schimmernder Energie, das nach oben offen war. Nur Korptur befand sich noch innerhalb dieses abgegrenzten Feldes. »Die Anzeigen sind stabil, es kann mit der Prozedur begonnen werden«, meldete der Roboter, der das mobile Gerät bediente. Der Voorndaner schaltete weitere Bildschirme und Kontrolleinheiten zu. Sie zeigten graphische Daten und Meßwerte an, die Atlan unverständlich blieben, dann wurde ein nervtötendes Geräusch hörbar, das den Arkoniden fatal an einen hochtourigen Zahnarztbohrer erinnerte, der bei den terranischen Dentisten des 20. Jahrhunderts zum Handwerkszeug gehört hatte. Sein Gehör hatte ihn nicht getrogen. Tatsächlich schob sich aus der Multifunktionsliege ein solch winziges Marterinstrument und bewegte sich zielsicher auf den Hinterkopf des unglücklichen Korptur zu, bohrte sich kreischend durch die Schädelkapsel und verstummte dann. Wie von Geisterhand bewegt, verschwand der Bohrer wieder, gleich darauf wurde ein scharfgebündelter Lichtstrahl sichtbar. Das Laser-Skalpell schuf eine winzige Öffnung in dem organischen Anhängsel, das einem Hammer ähnelte. Der Hominide stöhnte leise. Was bisher mit ihm geschehen war, bereitete ihm wahrscheinlich keine Schmerzen, denn sonst hätte er seine Pein schon herausgeschrien. Der Aktivatorträger wußte, daß auch ein Mensch einen solchen Eingriff relativ leicht und ohne Betäubung überstand, denn nur die Kopfhaut selbst besitzt entsprechende Reizpunkte und Nervenzellen, die allerdings recht dünn gesät sind, dagegen sind die Schädelkapsel und das Gehirn absolut schmerzunempfindlich. Dennoch war diese Untersuchung bestimmt alles andere als angenehm und Fittings Tun verwerflich. Selbst Nervenärzte und Neurochirurgen taten so etwas nur, wenn es sein mußte und der Wiederherstellung oder Erhaltung der Gesundheit diente, aber der Voorndaner hatte keine Skrupel, das ohne zwingenden Grund zu tun. Aus dem Kopfende der Sesselliege fuhren zwei sehr dünne, biegsame Sonden aus, die sich in die stecknadelkopfgroße Löcher im Schädel des Ospitschols senkten. Der Roboter berührte eine Sensortaste. Korptur stieß einen markerschütternden Schrei aus, sein gefesselter Körper bäumte sich auf. »Aufhören!« Seine Stimme überschlug sich? »Hört auf!« Die Folterknechte Zulgeas dachten nicht daran, die Quälerei zu beenden. Ungerührt las Fittings Anzeigen und Daten ab, pegelte Skalen ein und trimmte Meßgeräte neu. Er schien das Geschrei des Gepeinigten gar nicht zu hören. Atlan konnte nicht länger mitansehen, was die Brigadisten seinem Leidensgenossen antaten. »Hört auf! Ihr bringt ihn ja um!« Der Voorndaner drehte sich um. »Hier wird niemand getötet!« sagte er scharf akzentuiert. »Dein Freund hat nicht einmal das Bewußtsein verloren. Er ist ein Jammerlappen, nichts weiter.« Er wandte sich an die beiden Automaten. »Abschalten. Der Ospitschol besitzt eindeutig Psi-Potential.« Die Maschinen kamen dem Befehl nach. Die Sonden zogen sich zurück, das Energiegitter verschwand ebenso wie der spinnennetzähnliche Fächer. Wimmernd lag Korptur auf der Bahre,
noch immer schüttelte sich sein Körper, röchelnd rang er nach Luft. Der zweite Roboter entfernte die Antennen und setzte winzige kupferfarbene Elektroden in die künstlich geschaffenen Kopföffnungen, die er zuvor mit einer Paste bestrichen hatte. Die Fesseln schnellten zurück, und die Liege verwandelte sich wieder in einen Sessel. »Aufstehen!« Korptur versuchte es, doch er war so geschwächt, daß er einknickte und in das Gestell zurücksank. Die Beine und Muskeln versagten ihm ihren Dienst. Die Thater packten den Hominiden bei den Armen und schleiften ihn zu einer etwas abseits stehenden Bank, auf die sie ihn betteten. Dabei gingen sie nicht zimperlich mit ihrem Opfer um, dessen Bewachung der Langhals übernahm, während die haluterähnlichen Gestalten zu dem Marterstuhl zurückkehrten. Der greisenhaft wirkende Noschrut öffnete die Tür der Box, in die der Arkonide eingesperrt worden war. »Komm, du bist an der Reihe.« Nein, du darfst nicht! der Logiksektor war in heller Aufregung. Du darfst dich dieser Tortur nicht unterziehen. Es könnte mein Ende sein und bei dir irreparable Schäden anrichten. Du mußt die Untersuchung um jeden Preis verhindern. Glaubst du, mir ist wohl bei dem Gedanken, das durchzumachen, was man Korptur angetan hat? dachte der Aktivatorträger. Du wirst es nicht durchstehen. Laß dich zurückversetzten. Und mein Auftrag? Hast du vergessen, wie wichtig diese Mission ist? Nicht nur für die Kosmokraten, sondern für das Universum überhaupt. Perry Rhodan kämpft für die gleiche Sache, er im Kern, ich an der Peripherie. Wenn einer von uns versagt, bekommen die Mächte des Chaos das Übergewicht. Willst du das? Nein, aber vielleicht ist dein Freund just in diesem Augenblick gescheitert. Er ist auch nur ein Mensch. Du hattest Erfolge, was Hidden-X, Anti-Es und die Namenlose Zone betrifft, doch was ist mit ihm? Er hat die Chance, den Status eines Ritters der Tiefe zu erlangen. Seit mehr als zehntausend Erdenjahren wurden nur zwei Personen aufgerufen, für die Kosmokraten tätig zu werden, und ES hat Perry und mich ausgewählt. Keiner von uns hat bisher entscheidend versagt, gab der Arkonide gedanklich zurück. »Schlafen kannst du später, Celester!« zeterte der Fledermaustyp. »Los, Robby, mach ihn flott!« Der mächtige Automat trat vor, packte Atlan am Arm und zerrte ihn unsanft aus der Kabine. Der Extrasinn geriet in Panik. Wehr dich! Kämpfe! Du mußt verhindern, daß man dick zu diesem Folterstuhl schleppt! Greif an, sonst bist du verloren! Der Verstand des Arkoniden wurde von Impulsen des Logiksektors überschwemmt, die Angst und Entsetzen verbreiteten. Das sonst so kühl abwägende Hirn reagierte mit Kopflosigkeit, Drüsen und Stoffwechsel wurden mobilisiert, der Körper für den Kampf vorbereitet. Der Selbsterhaltungstrieb schaltete das logische Denken ab und übernahm die Regie, aufpeitschende Symbolketten gingen über das vegetative Nervensystem und die organischen Leitungen an Muskeln und Organe. Und dann griff Atlan an. Wie jedes Geschöpf in Not entwickelte er Kräfte, die über das normale Maß hinausgingen. Er riß sich los und versetzte dem Thaternachbau die geballte Faust in den hageren Körper. Der Dürre klappte zusammen wie ein Taschenmesser und ging ächzend zu Boden. Blitzschnell bückte sich der Aktivatorträger nach der Waffe, die der Brigadist verloren hatte und nahm sie an sich, machte einen
Sprung zur Seite und richtete sich auf. Der Griff des Automaten ging ins Leere. Bevor er erneut zupacken konnte, hielt Atlan ihm drohend die Waffe entgegen. Die Wächter hatten sich von ihrer Überraschung erholt und näherten sich mit angeschlagenen Strahlern von zwei Seiten. »Stopp! Keinen Schritt weiter, sonst jage ich den Automaten in die Luft!« warnte Atlan. »Und dich ebenfalls.« Der Thater grinste. »Ein Roboter ist eine sehr schlechte Geisel. Ein Wort von mir, und er geht auf dich los. Er fürchtet sich nämlich nicht vor dem Ende.« »Wenn er explodiert, ist es auch mit euch aus.« »Das käme auf einen Versuch an«, sagte der Wächter lauernd. »Nicht schießen, Celester!« rief Fittings aufgeregt. »Zurück, Ihr Idioten! Hier wird nicht gekämpft, dazu ist die Einrichtung zu wertvoll. Nichts in diesem Labor darf beschädigt werden.« »Halt’s Maul. Psi-Schnüffler«, gab der Hüne grob zurück. »Kümmere dich um deine Angelegenheiten, das hier ist unser Job.« »Die Leuchtende läßt euch hinrichten, wenn durch eure Schuld Geräte zerstört werden!« kreischte der Voorndaner. »Also gut. Was willst du, Celester?« »Werft eure Waffen weg und geht in die Kabine – auch Swantees Artgenosse.« Der Arkonide ließ die beiden Wächter und die Maschine nicht aus den Augen. »Er soll Korptur zu mir bringen – und du kommst auch her, Fittings.« »Du mußt verrückt sein«, grollte der Thater, der sich zum Sprecher gemacht hatte. »Glaubst du wirklich, daß du hier herauskommst?« »Das laß nur meine Sorge sein.« Atlans Aufmerksamkeit wurde abgelenkt. Der Vielbeiner hatte versucht, den Ospitschol aufzurichten und wegzuführen, doch der Hominide mußte nicht mitbekommen haben, was der Aktivatorträger verlangt hatte. Wahrscheinlich fürchtete er, erneut gequält zu werden. Mit einer Wildheit, die nur durch die erlittene Pein zu erklären war, stürzte er sich auf seinen Bewacher, bekam dessen dünnen Hals zu fassen und würgte ihn. Von Todesangst erfüllt, versuchte der CrynnBrigadist, den Griff der Hände zu lockern, die ihn wie Schraubstöcke umklammert hielten. Seine Beinarme schlangen sich um den Gefangenen und rissen ihn von der Liege. Ineinander und miteinander verschlungen, wälzten sich beide am Boden. »Überwältige ihn, Robby!« Atlan reagierte zu spät. Zwar gelang es ihm noch reflexhaft, den Strahler auszulösen, doch er traf nur den linken Arm der Maschine, weil diese die Waffe zur Seite schlug. Polternd fiel das Mordinstrument zu Boden. Die Verkleidung war verschmort, doch die Extremität war noch zu gebrauchen. Der Arkonide bekam das sofort zu spüren. Bevor er zurückweichen konnte, packte der Roboter seine Handgelenke, zog ihn zu sich heran und umklammerte seinen Brustkorb. Atlan strampelte und wehrte sich verzweifelt, versuchte, den Automaten auszuhebeln; aber der hob ihn einfach hoch und schleppte ihn zu der Liege. Hilflos wie eine Puppe hing der Aktivatorträger in den Armen der Maschine, die er vergeblich mit Händen und Füßen traktierte. Er bekam kaum noch Luft. Das Kodewort! hämmerte der Extrasinn panikerfüllt in sein Bewußtsein. Denke an VarnhagherGhynnst! Varnhagher-Ghynnst! Der Griff des Roboters war unbarmherzig. Er preßte ihm die Lungen zusammen, der Sauerstoff
wurde knapp, die Umgebung verschwamm, vor seinen Augen tanzten bunte Kreise, in den Ohren rauschte es. Atlan hörte Stimmen, ohne sie zu verstehen. Schon halb benommen, formulierte er Worte und schrie sie hinaus. »Luft! Ich ersticke!« Sein Schädel dröhnte, immer ärger wurde die Atemnot. Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Varnhagher-Ghynnst! Sonnensteppe! Hexe! Juwel! Facette! Kosmokraten! Orakel! Alkordoom! Wie farbige Blasen tauchten die Begriffe in seinem Bewußtsein auf. Sie vermengten sich zu einem Gedankenbrei, der nur durchgerührt wurde und keine Informationen freigab. Lethargie überkam ihn, er war unendlich müde. Schon längst hatte er nicht mehr die Kraft und den Willen, sich zu wehren. Plötzlich lockerte sich der Griff, er fühlte, daß er abgesetzt wurde. Atlan schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen, füllte seine Lungen mit Sauerstoff, bis ihm fast schwindelig wurde. Seine Lebensgeister kehrten zurück, die Wahrnehmungsorgane erfüllten ihre Aufgaben wieder. Um ihn herum wurde gekämpft! * Eine Handvoll Menschengleicher war in das Labor eingedrungen und lieferte sich mit den CrynnBrigadisten einen erbitterten Kampf, in den auch der Voorndaner und seine Pyramidenroboter eingegriffen hatten. Ein Strahlenschuß zischte knapp an seinem Kopf vorbei. Der Arkonide rutschte von dem Gestell herunter und suchte Deckung hinter einem Terminal. Aus den Augenwinkeln heraus sah er, daß Korptur sich auf Händen und Knien auf ihn zubewegte. Ein Datenschirm zerplatzte und ging in Flammen auf, gleich darauf explodierte irgendein Speicherelement. Die Wächter setzten rücksichtslos ihre Waffen ein und feuerten auf alles, was sich bewegte. Da sie nicht – wie ihre Gegner – auf Paralysebeschuß umgestellt hatten, waren die Zerstörungen, die sie anrichteten, entsprechend groß. Im Schutz seiner beiden Automaten schob Fittings sich auf einen Mann zu, der hinter einem massiven Block hockte und von der haluterähnlichen Maschine so mit Salven eingedeckt wurde, daß der Eindringling seinen Platz nicht verlassen konnte. Hilfe von seinen Leuten hatte er im Augenblick kaum zu erwarten, denn die Thater hatten sich an zwei Stellen verbarrikadiert, von denen aus sie den ganzen Raum überwachen konnten. Swantees Artgenosse lag blutend neben der Kabine. Ein Metallsplitter war in seinen Hals eingedrungen. Von Noschrut war nichts zu sehen. »Achtung! Hinter dir!« schrie Atlan, um das Fauchen der Waffen zu übertönen. Der Celester – denn um einen solchen mußte es sich handeln – fuhr herum. Noch aus der Drehung heraus feuerte er seinen Paralysator ab. Als er erkannte, daß er es mit Maschinen zu tun hatte, löste er die andere Waffe aus. Gleißende Energien trafen den links befindlichen bronzefarbenen Automaten und hüllten ihn ein. Für Sekunden sah es so aus, als stieg Rauch aus einer faustgroßen Öffnung, eine Stichflamme schoß empor, und eine Detonation zerfetzte ihn regelrecht. Die Druckwelle riß den Voorndaner von den Beinen und schleuderte ihn gegen den anderen Roboter, der Mühe hatte, nicht von den breiten Walzen gerissen zu werden. Gliederteile und Bruchstücke flogen durch die Luft, Trümmer prallten gegen Wände und Geräte, verwüsteten Apparaturen oder sausten als Querschläger davon. Ein Hagel von Splittern ergoß sich über Freund und Feind.
Knallend gingen mehrere Bildschirme zu Bruch, Qualm breitete sich aus, Funkenregenwetter leuchteten, es kam zu Entladungen und Kurzschlüssen. Schreiend schoß der Knöcherne aus seinem Versteck. Flammen leckten an seinen Hautlappen empor. Rasend vor Schmerz wälzte er sich auf dem Boden, um das Feuer zu ersticken. Der unbewaffnete Pyramidenautomat eilte ihm zu Hilfe. Fittings lag zusammengekrümmt neben einer Konsole, der Blick seiner Augen war leblos. Er mußte sich das Genick gebrochen haben, als er gegen seinen Laborautomaten geprallt war. Atlan robbte zu ihm und angelte sich seinen Strahler. Sofort griff er aktiv in die Auseinandersetzung ein und nahm den Thaternachbau aufs Korn. Der Celester bekam dadurch etwas Luft, und er nutzte die Gunst der Stunde. Von zwei Seiten rasten die Tod und Verderben bringenden Strahlen auf den Koloß zu. Er verging in einer gewaltigen Explosion. Kreischend und jaulend rasten die Trümmerstücke davon und deformierten krachend anderes Gerät. Mit wütendem Gebrüll sprang ein Thater aus seiner Deckung und rannte auf den Arkoniden zu. Der Ausfall kam so überraschend, daß Atlan kaum noch Gelegenheit gehabt hätte, auszuweichen, um der Salve zu entgehen, aber Korptur warf sich in den Schuß und deckte den Aktivatorträger mit seinem Körper. Der Koloß kam nicht dazu, noch einmal zu feuern. Von einem Paralysestrahl getroffen, brach er zusammen. Ohne sich um seine eigene Sicherheit zu kümmern, hetzte Atlan zu dem Ospitschol und kniete neben ihm nieder. Er lebte noch, doch die Wunde in der linken Brustseite sah böse, aus. Es stand kaum zu erwarten, daß er diese Verletzung überstehen würde. »Warum hast du das für mich getan?« »Ich… verfüge tatsächlich über… Psi-Kraft«, stieß der Sterbende mühsam hervor. »Manchmal sehe… Ich… einen vagen Ausschnitt… aus der… Zukunft.« Das Sprechen fiel ihm zunehmend schwerer. »Du mußt für… diese vage Zukunft… leben, denn auf dir… ruhen…Hoffnungen.« Korpturs Kopf rollte zur Seite. Er war tot. Erschüttert erhob sich Atlan. Ein Celester näherte sich ihm. »Komm, wir müssen weg.« »Seid ihr nur wegen mir gekommen?« »Für Fragen ist jetzt keine Zeit. Beeil dich!« Der Mann eilte auf den Ausgang zu, an dem die anderen bereits ungeduldig warteten. Schnell folgte Atlan. Hinter ihnen blieb das verwüstete Labor zurück.
2. Atlan blieb noch nicht einmal Zeit, sich bei seinen Befreiern zu bedanken. Es handelte sich um fünf Männer, deren Alter zwischen dreißig und vierzig Jahre betragen mochte. Alle waren schwarzhaarig und braunhäutig, schlanke, sehnige Gestalten, die dem Aussehen nach Polynesier sein konnten. Einer von ihnen war verwundet worden. Sein linker Arm hing kraftlos herab, der provisorische Schulterverband war blutdurchtränkt. Wie Schemen huschten sie über den tristen Gang. Sie mußten über genaue Ortskenntnisse verfügen, denn selbst an den sich sehr ähnlich sehenden Abzweigungen hatten sie keinerlei Orientierungsprobleme. Der kleine Trupp hatte, den Arkoniden in die Mitte genommen. Er trug Fittings’ Strahler mit sich, doch auch die anderen hatten ihre Waffen nicht weggesteckt. Noch war von Verfolgern nichts zu bemerken, aber das konnte sich schlagartig ändern. Die Männer verhielten sich schweigsam, Atlan forschte in ihren Gesichtern. Sie spiegelten weder Furcht noch Triumph wider, aber auch keine Todesverachtung. Die Züge verrieten eine innere Zufriedenheit, zugleich Wachsamkeit und Anspannung der Sinne. Das waren keine Haudegen, die ihn da aus der Folterkammer herausgehauen hatten, sondern bodenständige Menschen, die ihren Verstand zu gebrauchen wußten. Was mochte sie dazu veranlaßt haben, sich einem solch gefährlichen Unternehmen anzuschließen? Warum war ein solches Kommando überhaupt zusammengestellt worden? Weil ihn alle Welt für einen Celester hielt? Ging es wirklich nur um die Befreiung eines Artgenossen, oder steckte mehr dahinter? War der wahre Grund nicht vielleicht dieser teils offen, teils versteckt ausgetragene Machtkampf der Facetten gegeneinander? Wollte jemand Zulgea nur eins auswischen? Hatte Gentile Kaz diese Aktion gestartet, weil er einen guten Söldner zurückhaben wollte?. Oder ging es nur um das bei ihm vermutete Psi-Potential, das in dieser Galaxis das Maß aller Dinge zu sein schien? In wessen Diensten standen die Celester, welche Rolle spielten sie? Handelten sie aus eigenem Antrieb? Oder waren sie nur Handlanger? Was hatten sie mit ihm vor, wohin brachten sie ihn? Kam er möglicherweise nicht vom Regen in die Traufe? Der Logiksektor, der vermutlich auf diese oder jene Frage eine Antwort geben konnte, schwieg. Offensichtlich war er noch zu sehr mit sich selbst und den jüngsten Ereignissen beschäftigt. Zum Jubeln war ohnehin kein Anlaß, schließlich befand er sich noch immer im Gefängnis, so daß man von Rettung nicht sprechen konnte. Ein durchdringender Heulton erfüllte die Flure des bedrückenden Gemäuers. Atlans Begleiter schritten noch schneller aus, verhielten sich jedoch weiterhin diszipliniert. Ohne daß es eines Kommandos bedurft hätte, beschleunigten sie ihre Gangart und veränderten die Formation. Derjenige, der den Arkoniden zum Mitkommen aufgefordert hatte, übernahm die Spitze, der Verletzte ließ sich zurückfallen, bis er an der Seite des Aktivatorträgers war. Das Jaulen der Sirene verstummte. Gebrüllte Befehle und das Getrappel von Stiefeln war zu hören. Alarmiert blickte Atlan zurück, und auch die Menschengleichen drehten die Köpfe. Ein ganzer Pulk von Wächtern war hinter ihnen her. Schon eröffneten die Fremdwesen das Feuer, doch die leuchtenden Energiebahnen erreichten die Flüchtenden nicht. Noch war der Abstand zu groß. Die Männer rannten los, der Arkonide mit ihnen. Zu allem Unglück erschienen vor ihnen zwei der bereits bekannten Thaterroboter. Urweltlichen Kolossen gleich, stürmten die Maschinen heran. Sie waren mit schweren Waffen ausgerüstet, deren Reichweite beachtlich war. Wo immer die Strahlen auftrafen, wurde der Beton verflüssigt, unerträgliche Hitze breitete sich aus. Linker Hand tauchte ein Korridor auf, in den die Celester sofort einbogen. Der Aktivatorträger hielt das für eine Falle, doch seine Befreier waren wohl anderer Ansicht. Meter um Meter legten sie im Laufschritt zurück, und es hatte den Anschein, daß ihnen hier tatsächlich nicht aufgelauert wurde. Unerwartet stellte sich ihnen ein Hindernis entgegen in Form einer schweren Stahltür, die den Gang abriegelte. Zeit, um sie mit den Strahlern aufzuschweißen, blieb nicht, denn schon hallten Stimmen
der Verfolger durch den Flur. Erneut wunderte sich Atlan darüber, wie blind sich die fünf verstanden. Zwei sausten ein Stück zurück und schleuderten Blendbrandkapseln in den Gang, um die nachrückenden Crynn-Brigadisten aufzuhalten, gleichzeitig preschte der Verwundete vor. Er zog eine Stange knetbarer Masse aus einer Tasche seiner hellgrünen Kombination und preßte mit dem Daumen der unversehrten rechten Hand münzgroße Stücke davon an beide Seiten der massiven Absperrung. Kaum, daß er ein paar Schritt zurückgewichen war, nahmen die anderen diese Punkte unter Beschuß. Mit donnerndem Getöse wurde, das Schott aus der Verankerung gerissen und fiel wie bei einer gezielten Sprengung nach hinten. Der Weg war frei. Hastig stiegen die Männer über die tonnenschwere Platte hinweg. Der aufgewirbelte Staub reizte die Schleimhäute und legte sich wie ein tarnender Schleier auf die Kleidung, Haut und Haare färbten sich grau und nahmen die Farbe des Baumaterials an. Wutschreie waren zu hören, lautstarke Kommandos und Gejohle, aber auch Gezeter und mißmutige Äußerungen. Anscheinend hatten die relativ harmlosen Blendbrandkapseln die Verfolger überrascht und zeigten Wirkung. Kaum aufhalten würden die Lichtblitze die Maschinen, wenn sie nicht ausschließlich auf ihr optisches System angewiesen waren. Die Flucht ging weiter. Ein sternförmiger Verteiler wurde sichtbar, den zwei skurril geformte Roboter bewachten, die fast von einem Künstler verfremdeten Tannen glichen. Die nußbraunen Ungetüme griffen sofort an. Eine grelle Energiewand raste auf die Menschengleichen und ihren arkonidischen Begleiter zu. In ihren Reihen entstand Unordnung, als die ersten zurückwichen und sich einfach fallen ließen. Einer stolperte und fiel rücklings hin, der Verletzte kämpfte stolpernd um sein Gleichgewicht. Auch Atlan warf sich zu Boden, doch er war kaltblütig genug, den Verwundeten mit sich zu ziehen und auf den harten Untergrund zu pressen. Er schrie auf, als er mit der angeschlagenen Schulter aufprallte, doch das war dem Arkoniden in diesem Moment egal. Brausend tobten die vernichtenden Strahlen über sie hinweg. Noch im Liegen richtete der Anführer eine großkalibrige Waffe auf die Automaten und feuerte sie mehrmals ab. Singend verließen Festgeschosse den Lauf. Sie explodierten beim Auftreffen und entwickelten eine solche Sprengkraft, daß die Synthowesen zu Schrott verwandelt wurden. Eine Zwischenwand geriet aus dem Lot, tellergroße Stücke wurden aus Decke und Wänden gerissen und prasselten auf die Wracks herab, einige Leuchten gingen zu Bruch. Heiße Luftmassen orgelten durch die Korridore und nebelten sie ein. Hustend, Mund und Nase mit den Händen schützend, sprangen die Verfolgten auf. Der Zwischenfall hatte sie Zeit gekostet, die den Wächtern zugute kam. Sie hatten aufgeholt, vereinzelte Strahlerschüsse zuckten gleich Blitzen durch den Dunst, Rufe vermischten sich mit dem Fauchen der Waffen. Selbst unter diesen Umständen schienen die Celester genau zu wissen, welchen Weg sie zu nehmen hatten. Zielstrebig steuerten sie die zweite, nach links führende Abzweigung an. Im Eiltempo ging es vorbei an mehreren geschlossenen Türen, dann stoppten sie vor einer Pforte ab. Sie öffnete sich automatisch durch eine im Boden eingelassene Kontaktplatte. Hastig drängten sich die Männer über die Schwelle. Das Portal schloß sich wieder. Sofort nahmen zwei Leute es unter Feuer und verschweißten die Flügel miteinander. Der Raum, in dem sie sich befanden, enthielt nur ein wesentliches Element – einen Transmitter. Er war eingeschaltet und sendebereit, neben ihm stand ein Bewaffneter, der Ähnlichkeit mit einem Europäer hatte. Er zeigte sich genauso schweigsam wie die anderen Menschengleichen. Ohne etwas zu sagen, deutete er auf den Schlund des Entmaterialisationsgeräts. Der Verletzte vertraute sich als erster dem Transportfeld an und wurde abgestrahlt, schon folgte der nächste. In einer Ecke entdeckte der Arkonide einen zerstörten Thater-Roboter und einen paralysierten Knöchernen. Außer einigen Brandflecken an den Wänden gab es so gut wie keine Kampfspuren.
Das deutete darauf hin, daß die Bedienungsmannschaft überrascht worden war. Wahrscheinlich hatte sich nur der Automat zur Wehr gesetzt. Jemand schob Atlan vorwärts. »Du bist an der Reihe.« »Wohin bringt ihr mich?« »Du wirst es noch erfahren. Geh endlich!« Von draußen drang Gebrüll herein, Schläge wie von einer Dampf ramme erschütterten das Schott. Die Crynn-Brigadisten versuchten, sich gewaltsam Zutritt zu verschaffen. Nun war Eile geboten. Mit gemischten Gefühlen ging der Aktivatorträger auf den Transmitter zu. Er verschwand, rasch folgten die letzten, dann erlosch das Feld. Als die Wächter in den Raum stürmten, fanden sie als einziges Lebewesen den Fledermausähnlichen vor. Es war das erstemal, daß ein Ausbruchversuch aus dieser Gefängnistrutzburg geglückt war. * Die Gegenstation, die Atlan und seine Befreier verließen, stand in einem Zimmer von etwa dreißig Quadratmetern Fläche. Es schien nicht oft benutzt zu werden, denn die Einrichtung machte einen verwahrlosten Eindruck. Selbst auf Konsolen und den inaktiven Bildschirmen lag eine dünne Staubschicht. Auch hier hatte ein Celester Wache gehalten. Er schaltete den Transmitter ab und setzte sich an die Spitze des kleinen Trupps, ohne ein Wort zu verlieren. Allmählich kam dem Arkoniden der Verdacht, es fast ausnahmslos mit Stummen zu tun zu haben. »Wo sind wir hier?« fragte er. »Auf einem Mond Crynns«, lautete die lapidare Antwort. Atlan verzichtete darauf, weitere Fragen zu stellen. Offensichtlich war die Flucht noch nicht zu Ende, doch über das eigentliche Ziel wollten seine Entführer aus welchen Gründen auch immer keine Angaben machen. Aber warum taten sie so geheimnisvoll? Waren es am Ende gar keine Celester, trotz ihrer verblüffenden Ähnlichkeit mit Terranern und der Person, die er auf Puurk gesehen hatte? Drei Sätze hatte er von dem Alten damals gehört, und drei Sprachen hatte er dabei benutzt: deutsch, englisch und alkordisch. Die, die ihn aus der Folterkammer befreit hatten, benutzten nur das letztere Idiom, zumindest bisher. Hatte er es mit anderen Wesen zu tun, die nur in diese Verkleidung geschlüpft waren, um eine falsche Spur zu legen? Konnte es nicht auch in Alkordoom Molekülverformer geben? Oder ein Amöbenvolk, das jede beliebige Gestalt annehmen konnte? Auf einmal war er gar nicht mehr so sicher, es tatsächlich mit Celestern zu tun zu haben. Und noch immer hüllte sich der Extrasinn in Schweigen. Mittlerweile bewegten sie sich durch einen engen Gang. Altertümliche Leuchtröhren hingen an der Decke, die Luft war stickig und verbraucht. In diesem Schacht mußte seit Jahrzehnten weder ein Reinigungsautomat noch ein Wartungsroboter tätig gewesen sein. Im Gänsemarsch legten sie Meter um Meter zurück, dabei wurde es merklich kühler. Nachdem sie eine Strecke von etwa einem halben Kilometer hinter sich gebracht hatten, gabelte sich der Stollen. Die Menschengleichen wählten die rechte Einmündung, die sich als eine steil ansteigende Rampe entpuppte. Der nach oben führende Stollen war noch primitiver als der waagrechte Teil der Röhre. Auf eine Auskleidung war völlig verzichtet worden, nur jede dritte oder vierte Lampe war noch intakt. Im Gegensatz zu dieser archaischen Technik mußte es auf dem Trabanten aber auch
hochmoderne Einrichtungen geben, denn die Gravitation war mit der Crynns nach subjektivem Empfinden identisch. Erneut wurde der Aktivatorträger von Zweifeln geplagt. Konnte der Sprecher nicht schlichtweg gelogen haben, was den gegenwärtigen Aufenthaltsort betraf? Seine Angaben ließen sich nicht nachprüfen, und derjenige, der einen Transmitter benutzte, war nicht in der Lage, die Dauer des Transportvorgangs zu eruieren. Er konnte örtlich um wenige Meter versetzt worden sein oder um Millionen von Kilometern. Was, wenn sie sich in Wahrheit noch auf dem Planeten befanden, was, wenn er einer Untergrundorganisation in die Hände gefallen war, die ihn nur als Geisel mißbrauchte, um im Austausch gegen ihn einen der Ihren freizupressen? Was, wenn er nur als Köder diente oder zur Ware geworden war für eine Bande von skrupellosen Geschäftemachern, die mit Psi-Potentialen handelten? Nach dem, was er von Korptur wußte, mußte Psi-Kraft in dieser Galaxis eine bedeutende Rolle spielen. Da sich der Logiksektor nach wie vor beharrlich weigerte, das eigentliche Trägerbewußtsein mit zusätzlichen Informationen und Hinweisen zu versorgen, dachte Atlan mit Wehmut an Blackbox. Jetzt und hier wäre der lebende Rechner, den er auf dem Rekrutierungsplaneten Garzwon kennengelernt hatte, sicherlich eine wertvolle Hilfe gewesen. Unsicher geworden, gewann zunehmend das Mißtrauen die Oberhand, und der Arkonide beschloß, ein wachsames Auge zu haben, was seine Befreier betraf. Der Vormarsch geriet ins Stocken. In Gedanken versunken, wäre Atlan um ein Haar gegen seinen Vordermann geprallt, der auf einmal stehenblieb. Das Ende der Röhre war erreicht. Der Vorausgehende zog einen Kodegeber aus der Tasche und betätigte die Signaltaste mehrmals in einem bestimmten Rhythmus, dann steckte er das Gerät wieder weg und stemmte sich gegen die Schachtabdeckung. Die Metallplatte glitt zur Seite und gab den Weg frei in eine Schleusenkammer. Nacheinander kletterten die Männer in den kleinen Raum ohne Fenster, der fast so schäbig war wie der Gang. Zwei der Menschengleichen machten sich an einem primitiven Gestänge zu schaffen und legten gemeinsam einen mächtigen Hebel um, der für Thaterhände gebaut zu sein schien. Zeitlupenhaft öffnete sich das Panzerschott und gab den Blick nach draußen frei. Außer einem milchigen Energieschlauch, der in die Höhe führte und wenig mehr als zwei Meter Durchmesser hatte, war nichts zu erkennen. Die Leute, die sich vor dem Aktivatorträger befanden, schwebten empor, und plötzlich fühlte sich auch Atlan von einer unsichtbaren Kraft gepackt, die ihn mit ziemlicher Geschwindigkeit innerhalb der weißlichen Röhre nach oben beförderte. Ein Traktorstrahl! durchzuckte es ihn. Das Tempo verminderte sich. Über, sich gewahrte er einen Einstieg, wie er für ein Raumschiff typisch war. Langsam passierte er die Öffnung, sehnige Hände griffen nach ihm und halfen ihm auf die Beine. Atlan wich zurück um Platz zu machen für die nachfolgenden Personen. Als alle wieder zusammen waren, schloß sich die Luke, Triebwerke brüllten los. Erst jetzt hatte der Arkonide Gelegenheit, sich genauer umzusehen. Erstaunt registrierte er, daß sie sich in einer Personenschleuse befanden, die verblüffende Ähnlichkeit mit der eines arkonidischen und später auch von den Terranern gebauten Kugelraumers hatte. Konnte das ein Zufall sein? Erneut wurde er wankelmütig, sein Mißtrauen legte sich etwas. Seine schweigsamen Entführer nahmen ihn in die Mitte und führten ihn aus der Kammer. Über ein System von Gängen und Antigravlifts gelangten sie zu einem Rund, das fast mit der Zentrale einer Korvette identisch war. Für einen Moment verschlug es dem Unsterblichen die Sprache. Mit wem hatte er es nun wirklich zu tun? Mit Celestern, Arkoniden, Solanern, Terranern? Sein Blick wanderte durch den Raum und blieb am Platz des Piloten hängen. Daß das Schiff von einer Frau gesteuert wurde, regte ihn nicht auf, aber die Frau selbst war aufregend. Sie war – so schätzte Atlan – etwa fünfundzwanzig Jahre alt, eine Schönheit, die direkt von der Insel Hawaii
kommen konnte. Sie trug eine Kombination in einem warmen Gelbton, die in ihrer Schlichtheit die Weiblichkeit des schlanken Körpers unterstrich, ohne aufreizend zu wirken. Ihre Haut war von einem hellen Braun, die schulterlangen Haare dagegen pechschwarz und in der Mitte gescheitelt. Das Antlitz war so ebenmäßig, als hätte es ein begnadeter Künstler modelliert. In einem feingeschwungenen Bogen liefen die dunklen Brauen aus und überspannten dabei ausdrucksvolle, schokoladenfarbene Mandelaugen. Die hohen Wangenknochen verliehen dem Gesicht exotische Lieblichkeit, die Nase – gerade und schmal, aber nicht scharfrückig – verriet europäischen Einschlag. Voll und weich zugleich waren die Lippen, ein roter Mund, der zum Küssen förmlich einlud. Küssen? Ärgerlich über sich selbst wandte sich der Arkonide ab. Ein Mann in seiner Lage hatte momentan wahrlich andere Sorgen, als über die Reize und Vorzüge des anderen Geschlechts ganz allgemein und die einer bestimmten Person im besonderen nachzudenken. Schönheit war keine Charaktereigenschaft, Sympathie beruhte nicht unbedingt auf Gegenseitigkeit und konnte als Schwäche ausgelegt und ausgenutzt werden. Die Frau drehte nur kurz den Kopf, musterte Atlan und widmete sich wieder ihren Instrumenten. »Gibt es Probleme, Sarah?« »Yes, four spaceships in pursuit. – Ja, vier Raumschiffe verfolgen uns.« Unmerklich zuckte der Aktivatorträger zusammen. Die Frage war auf Alkordisch gestellt worden, und die Antwort wurde in englischer Sprache gegeben. Auf einmal waren seine Zweifel wie weggewischt, für ihn stand fest, daß er es mit Celestern zu tun hatte. Was sie allerdings mit ihm vorhatten, wußte er immer noch nicht. »Wasps? – Wespen?« »Right. Spacecrafts of the witch. – Richtig. Raumer der Hexe.« »We must shake them off – Wir müssen sie abschütteln.« »Of course. I shall try my best – Natürlich, werde ich mein Bestes versuchen.« »Ich werde die Geschütze einsatzbereit machen und den Kampfstand besetzen.« Der kräftige Mann, dessen Körpergröße nur wenig unter der Zwei-Meter-Marke lag und der sich aktiv an der Befreiung des Arkoniden beteiligt hatte, sprach deutsch. »Stehen die Schutzschirme?« »Wann hörst du endlich auf, mich wie eine Anfängerin zu behandeln, Feuerwehrmann?« Die Stimme der Pilotin klang zornig, und auch sie bediente sich jetzt des Deutschen. »Zugegeben, du bist der Kommandant dieses Unternehmens, aber für die Steuerung des Schiffes bin ich zuständig – ich, Sarah Briggs.« »Das habe ich weder bestritten noch in Abrede gestellt, doch da ich die Verantwortung trage, wirst du dich damit abfinden müssen, daß ich mich um alle Belange persönlich kümmere, die unsere Sicherheit betreffen.« Der Hüne blieb ruhig und gelassen. »Welchen Kurs fliegst du?« Sarah Briggs rasselte eine Buchstaben-Zahlenkombination herunter. Der »Feuerwehrmann« nickte zustimmend und studierte die eingeblendeten Daten auf einem Bildschirm, der die torpedoförmigen Schiffe der Verfolger zeigte. »Es ist höchste Zeit, um abzuhauen. Höchste Beschleunigung. Hol alle Energie aus den Kraftwerken heraus.« Wie selbständige Lebewesen huschten die Finger der Pilotin über die Tastatur der Eingabekonsole. Einige Anzeigen schnellten nach oben; Kontrollichter veränderten ihre Farbe, der Geräuschpegel stieg an. Unterschwellig war das Tosen der Meiler und das Brüllen der Triebwerke zu hören. »They attack! – Sie greifen an!«
Mehrere Salven trafen den Kugelraumer, aber die Schirmfelder verkrafteten die Energien, ohne instabil zu werden. Das sprach für eine starke Defensivbewaffnung des Flugkörpers – eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Celestern und Terranern, wie der Aktivatorträger vermerkte. »Jetzt werde ich ihnen mal einen Schuß vor den Bug verpassen!« tönte der Hüne und drückte auf den Feuerknopf. Vor den achtzehn Meter langen Jeta entstand eine Miniatursonne, die sich rasend schnell aufblähte. Die geordnete Keilformation geriet durcheinander, weil die Piloten der wenigen Raumjäger ihre Maschinen hochzogen oder nach unten drückten, um dem Zentrum des künstlichen Sterns auszuweichen. Mit leuchtenden Schutzschirmen stießen sie durch den Glutball hindurch. Sie nahmen die ursprünglichen Positionen nicht mehr ein, sondern fächerten auseinander. »Sie haben anscheinend Respekt vor unserer guten alten ABRAHAM LINCOLN bekommen«, brummte der kräftige Mann zufrieden. Der Arkonide glaubte, nicht richtig gehört zu haben. Wie um alles in der Welt kamen die Menschengleichen dazu, ein Raumschiff nach dem 16. Präsidenten der Vereinigten Staaten zu nennen? Sein fotografisches Gedächtnis lieferte gleich Details dazu: Während der Amtszeit von Abraham Lincoln kam es zum sogenannten Sezessionskrieg zwischen den industrialisierten Nordstaaten und den südlichen Agrarstaaten, die sich abspalten wollten. Einer der Kernpunkte dieser Auseinandersetzung war die Abschaffung der Sklaverei, die Lincoln durchsetzte. Am 15. 4.1865 wurde er in Washington von einem Südstaatler ermordet, dem jungen Schauspieler John Wilkes Booth, der im selben Jahr auf der Flucht erschossen wurde. Abraham Lincoln. Daß die Celester diesen Namen nicht nur kannten, sondern sogar einen Raumer so getauft hatten, bedeutete, daß es sich um eine Persönlichkeit handeln mußte, die es ihnen wert war, derart geehrt zu werden, deren Name und Werk also der Nachwelt erhalten bleiben sollte. Der 16. Präsident der früheren Vereinigten Staaten war solch eine Persönlichkeit, und es konnte kein Zufall sein, daß die Menschengleichen dieses Schiff ABRAHAM LINCOLN genannt hatten. Atlan ahnte, daß er einem Geheimnis auf der Spur war, doch eine Lösung des Rätsels zeichnete sich noch nicht ab, im Gegenteil, die Sache wurde immer mysteriöser, je mehr Übereinstimmung sich zwischen Celestern und Terranern/Solanern ergab. Ein Unterschied war gravierend, zugleich jedoch auch merkwürdig: Die Menschen benutzten Interkosmo, kaum jemand – von einigen Wissenschaftlern abgesehen – verstand noch die Sprachen, die bis ins dritte Jahrtausend auf der Erde gesprochen wurden. Das gängige Idiom in dieser Galaxis war Alkordisch. Die Celester benutzten es, doch bei ihnen waren auch Deutsch und Englisch noch lebendig, und es waren keine tote Sprachen wie etwa das Latein auf Terra. Es mußten Umgangssprachen sein, denn der Alte auf Puurk hatte sie ganz selbstverständlich gebraucht. »Macht Platz, ihr Idioten«, hatte er auf Deutsch geschrien, und dann hinzugefügt: »Open the door! – Tür auf!« »Sie fallen zurück!« meldete die Pilotin in deutscher Sprache. »In sieben Sekunden wechseln wir in den Linearraum hinüber.« Obwohl die Verfolger erkennen mußten, daß sie zumindest vom Beschleunigungsvermögen her der ABRAHAM LINCOLN unterlegen waren, gaben sie nicht auf. Wieder erhielt der Kugelraumer mehrere Treffer, und diesmal zeigte er Wirkung. Wahre Energiegewitter tobten durch die Schirmfeldhüllen, sie schimmerten in allen Farben des Spektrums. Die Anzeigen kletterten in den Rotbereich, das Material ächzte und stöhnte, ein eherner Klang übertrug sich von der Außenhaut auf Decks und Zwischenwände. Schlagartig wechselte das Bild von der Umgebung, die Geräusche verstummten. Das Schiff hatte das Einsteinuniversum verlassen und eilte in einer unbegreiflichen Dimension seinem Ziel entgegen – gefolgt von den Wespen. *
Es war Sarah Briggs gelungen, die Crynn-Brigadisten abzuschütteln. Atlans Befreier wirkten aufgeräumt und waren guter Laune. Sie zeigten sich nicht mehr so wortkarg wie zuvor, sondern unterhielten sich angeregt in einem Kauderwelsch aus Alkordisch, Deutsch und Englisch. Da der Arkonide aller drei Sprachen mächtig war, konnte er die Plauderei mitverfolgen. Weltbewegende Dinge wurden nicht erörtert, und auf seine Person wurde kaum eingegangen, dennoch bekam er einige Informationen, die ihm nützlich waren. Die Celester hatten nichts Böses mit ihm vor, ihr Motiv war uneigennützig. Sie hatten ihn aus dem Gefängnis entführt, weil er so aussah wie sie selbst. Das bedeutete, daß sie – zumindest bei der zurückliegenden Aktion – nicht für irgendeine Facette oder einen anderen Auftraggeber gehandelt hatten, und das wiederum ließ den Schluß zu, daß sie sich eine gewisse Eigenständigkeit bewahrt hatten. Der Raumer fiel aus dem Überraum in sein eigentliches Medium zurück. Die Außenoptiken zeigten eine kleine rote Sonne, dann rückte ein Planet ins Bild, dessen Aussehen und Farben den Aktivatorträger stark an Terra erinnerten. Noch waren keine Einzelheiten zu erkennen. Die ABRAHAM LINCOLN wurde stark abgebremst. Der Hüne nahm das Hyperfunkgerät in Betrieb. Das Gesicht einer Frau, die polynesischer Abstammung sein konnte, erschien auf dem Monitor. »New Marion Raumkontrolle«, meldete sie sich auf Alkordisch. »Arien Richardson meldet sich zurück.« Der »Feuerwehrmann« grinste breit. »Operation C ist erfolgreich verlaufen. Keine Verluste. Du kannst dem Alten ausrichten, daß seine schöne Enkelin ihre Sache ganz ordentlich gemacht hat.« »Blöder Hammel!« fauchte Sarah Briggs ganz undamenhaft. Richardson Grinsen wurde noch breiter. »Hast du gehört, Betty, wie dieses kleine Biest mit ihrem Kommandanten umspringt?« Die Lotsin der Bodenstation lächelte. »Wir hören grundsätzlich keine Gespräche der Besatzung untereinander ab.« Sie wurde dienstlich. »Einflugschneise 7 wird für euch freigehalten. Tower II übernimmt euch. Landequadrat A 1.« »Donnerwetter! Wie kommen wir zu dieser Ehre, wie Staatsgäste behandelt zu werden?« »Anordnung von Drei-B. Jegliches Aufsehen soll vermieden werden, die Landung muß heimlich erfolgen.« »Verstehe. Bis später.« Auch Atlan verstand. Die Celester hatten sich mit einer der mächtigen Facetten angelegt, nur um jemanden zu retten, der so aussah wie sie selbst. Das konnte zu Komplikationen oder sogar zu einem Rachefeldzug Zulgeas führen, wenn publik wurde, daß es sich nicht um das Husarenstück einer kleinen Gruppe handelte, sondern daß das. Kommando sozusagen offiziell losgeschickt worden war und von den Verantwortlichen unterstützt wurde. Das, was die Celester getan hatten, entsprach völlig dem Naturell und der Mentalität der Terraner. Auch sie hatten sich stets gegen Fremdherrschaft aufgelehnt, und wenn der Feind zu mächtig war, um ihn offen zu bekämpfen, hatten sie sich als Partisanen betätigt. Und oft genug hatte Perry Rhodan oder er – Atlan – diese berühmtberüchtigten Vorstöße selbst angeführt und Kopf und Kragen dabei riskiert. Wie war die Identität der Charaktere und der äußeren Gestalt zu erklären? Plötzlich hatte der Arkonide das Gefühl, beobachtet zu werden. Er sah sich um – und war angenehm überrascht, wer ihn da musterte. Die Person, die ihn versonnen betrachtete, war weiblichen Geschlechts und hieß – Sarah Briggs. Atlans Blick kreuzte sich mit dem ihren. Sie wurde verlegen und wandte sich abrupt um.
»Du brauchst dringend Wasser und Seife und deine Kleidung ebenfalls. Du siehst aus wie ein Tramp«, sagte die junge Frau anzüglich. »Ich war Gefangener in einem dreckigen Loch«, gab Atlan verärgert zurück. »Du an meiner Stelle würdest auch nicht nach Rosen duften.« Die Pilotin schwieg und beschäftigte sich angelegentlich mit ihrer Konsole, obwohl es nichts zu schalten gab. Wie den Funksprüchen zu entnehmen war, erfolgte die Landung vollautomatisch durch die Bodenkontrolle. Der Planet füllte mittlerweile den ganzen Hauptbildschirm aus. Ein riesiger Ozean bedeckte den Globus. Es gab nur zwei Kontinente. Der größere entsprach flächenmäßig Europa, der andere war nur halb so groß. Zahllose Inseln wuchsen aus dem Meer, die beiden Pole trugen eine Eiskappe. Selbst aus dieser Höhe waren Städte und Raumhäfen zu erkennen. Über dem großen Erdteil herrschte reger Flugverkehr. In geringen Abständen starteten und landeten die unterschiedlichsten Raumertypen. Die ABRAHAM LINCOLN senkte sich auf den kleinen Kontinent herab. Hier schien der Raumhafen in einem Dornröschenschlaf zu liegen. Kein anderes Schiff steuerte ihn an oder erhob sich von dort in den klaren Himmel, an dem rosig überhauchte Wölkchen dahinsegelten. Das Landefeld lag am Rand einer riesigen Ansiedlung, die gut und gern zwanzig Kilometer durchmessen mochte. Die Mehrzahl der Gebäude entsprach dem Baustil des 30. Jahrhunderts auf der Erde. Obwohl Wohnkomplexe, Fabriken und Produktionsstätten sich zusammendrängten, war die Natur nicht völlig aus der Stadt verbannt worden. Es gab Parks und Vegetationsinseln, baumbestandene Alleen und buschbestandene Rasenflächen. Das Ortszentrum kam ins Bild. Der Aktivatorträger glaubte zu träumen. Altmodische zweistöckige Holzhäuser standen hier, wie sie für das 19. Jahrhundert im amerikanischen Westen typisch waren. Zu den meisten gehörte ein Garten. Knorrige Baumriesen, die uralt sein mußten, reckten ihre mächtigen Kronen über die Dächer und beschatteten die schmalen Straßen. Alles machte einen sehr ordentlichen und sauberen Eindruck, nichts war heruntergekommen oder verfallen. Was hatte es mit dieser Stadt in der Stadt auf sich, welche Bedeutung hatte diese anachronistische Idylle für die Celester? Mit einem kaum merklichen Ruck setzte der Kugelraumer auf. Richardson schnallte sich los, trat neben Atlans Sessel und gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter. »Hier bist du in Sicherheit.« Er wandte sich an seine Mitstreiter. »Endstation, alles aussteigen!« Der Aufforderung hätte es nicht bedurft. Die ersten verließen bereits die Zentrale, während Sarah Briggs noch damit beschäftigt war, alle Systeme zu desaktivieren. Der Arkonide löste den Sicherheitsgurt und erhob sich. An der Seite des Hünen marschierte er zum Ausgang. Die Pilotin huschte an ihnen vorbei. »Ich wollte dich vorhin nicht kränken«, sagte sie leise und lief leichtfüßig davon. »Obwohl du aussiehst wie das Gesindel, das sich in Dotterblume-Heidesenf herumtreibt, mußt du auf Sarah Eindruck gemacht haben.« Arien schmunzelte. »Es ist sonst gar nicht ihre Art, sich einfach zu entschuldigen.« »Vielleicht hat ihr nur noch nie jemand widersprochen.« »Von ihren zahlreichen Verehrern bestimmt nicht.« Der Celester lachte. »Einer Schönheit wie ihr liegen die Männer in Scharen zu Füßen, zumal sie auch noch intelligent und aufgeschlossen ist.« Er faßte Atlan am Arm und dirigierte ihn zu einem Antigravschacht. »Doch lassen wir erst einmal das Thema ›Frauen‹. Ich werde dich zu einem Versteck bringen, wo du dich erst einmal frischmachen kannst und etwas zu essen bekommst.«
»Ich habe eine Menge Fragen. Erhalte ich dort auch Antworten?« »Das soll der Alte selbst entscheiden.« Schweigend ließen sie sich nach unten tragen und verließen den Raumer durch eine geöffnete Personenschleuse. Sie kamen in einem subplanetaren Hangar heraus, der die Größe vom mehreren Fußballfeldern hatte. Weit und breit war kein Lebewesen zu sehen, lediglich einige Roboter eilten geschäftig hin und her. Ein Transportband brachte sie zu einem anderen Antigravschacht, der sie zu einer Transmitterhalle an der Oberfläche des Planeten beförderte. Ein auf Empfang gestelltes Gerät spie einen Passagier aus. Es war ein zerbrechlich wirkender rothäutiger Hominide. Er trug einen türkisfarbenen Kittel, dessen Taschen prall gefüllt waren. Es hielten sich nur wenige Leute in dem Raum auf, die auf eine Verbindung warteten. Der Voorndaner musterte sie abschätzend und wieselte dann zu Atlan und Richardson, die ihre Schritte zu einem Buchungsterminal lenkten. »Wie wäre es mit einem kleinen Spielchen, Freunde?« Er grinste verschlagen. »Den Einsatz könnt ihr selbst bestimmen.« Mit einer schnellen Bewegung, der das Auge kaum zu folgen vermochte, griff er in seinen Umhang und öffnete die Hand. Ein fluoreszierender grüner Würfel mit zwölf Flächen lag darin. Der Arkonide erinnerte sich, mit einem solchen Dodekaeder zum erstenmal auf Puurk Bekanntschaft gemacht zu haben. »Kein Interesse«, brummte der Hüne und wollte weitergehen. »Wartet!« Der Schmächtige ließ den Würfel verschwinden und förderte ein flaches Kästchen zutage. »Was haltet ihr hiervon? Das ist jetzt der letzte Schrei – alles spielt Snappzu. Die Regeln sind ganz einfach. Jeder wählt eine Zahl und…« »Laß uns mit deinem Teufelszeug in Ruhe. Du weißt, daß das auf Hain verboten ist«, sagte der Celester ungehalten. »Aber, aber, wer wird denn etwas gegen ein solch harmloses Vergnügen haben?« Flink wie ein Taschenspieler steckte der Voorndaner das Kästchen weg und zauberte zwei in Klarsichtfolie’ verpackte Dragees hervor. »Vielleicht wollt ihr euch lieber etwas entspannen und dem Alltag entfliehen? Das ist erstklassige Ware, die ihr nur bei mir bekommt. Ich mache euch einen Sonderpreis.« »Was ist das?« »Tnost – ist ganz neu auf dem Markt. Diese Stimulanz übertrifft alles, was bisher da war. Meine Kunden sind voll des Lobes. Probiert es mal aus.« »Also handelt es sich um Rauschgift«, stellte Arien fest. »Welch ein häßliches Wort für ein Mittelchen, das lediglich der Bewußtseinserweiterung dient.« Der Hominide blickte die Männer lauernd an. »Oder habt ihr spezielle Wünsche? Asder? Esthitsi? Rejave? Ich bin gut sortiert.« Aus den Augenwinkeln heraus sah er, daß ein Uniformierter aufmerksamgeworden war, der herangeschlendert kam. »Ich muß verschwinden. Wenn ihr nach Dotterblume-Heidesenf kommt, fragt nach Peteros. Jeder kennt mich dort.« Der Voorndaner wollte sich davon’ stehlen, doch Richardson hielt ihn am Kittel fest. »Hiergeblieben, Freundchen!« Zeternd versuchte der Hominide, sich aus dem Umhang herauszuwinden, aber der Hüne packte ihn am Arm und zerrte den sich Sträubenden zu dem Ordnungshüter. »Rauschgift?« fragte der knapp. Richardson nickte.
»Na, dann werden wir dich erst einmal in einer gemütlichen Zelle unterbringen, bis entschieden ist, ob du abgeschoben oder angeklagt wirst. Komm!« »Ich bin unschuldig!« jammerte der Voorndaner. Anklagend deutete er auf den Riesen. »Er hat mich herbestellt und mir das ganze Zeug in die Taschen gesteckt. Ich sollte es für ihn schmuggeln und in Dotterblume-Heidesenf bei einem gewissen Peteros abliefern. Sperrt ihn ein, er hat mich zu der Tat angestiftet. Ich bin ein ehrlicher Geschäftsmann!« »Deine Geschichte ist so alt wie dieser Planet und so falsch wie die Spiele, die ihr auf Palmwiese betreibt.« Ohne sich auf weitere Diskussionen einzulassen, führte der Wächter den lamentierenden Rauschgifthändler ab. Die Celester, die den Zwischenfall beobachtet hatten, wandten sich ab. Offensichtlich gehörte es zum Alltag, daß Kriminelle versuchten, hier ein schnelles Geschäft zu machen. Auch Richardson schien sich nicht darüber aufzuregen. Mit dem Arkoniden im Schlepp marschierte er zum Schalter und buchte zwei Passagen zur Station Celeste-Downtown. Sie brauchten nicht lange zu warten. Hintereinander verschwanden die beiden Männer im Schlund des Transmitters und wurden abgestrahlt.
3. Man hatte Atlan ein geräumiges Zimmer im ersten Stock eines der doppelgeschossigen alten Häuser zugewiesen. Er hatte sich vergewissert: Die Gebäude bestanden tatsächlich aus Holz, und sie waren so gut erhalten, als wären sie erst vor wenigen Jahren errichtet worden. Das Mobiliar war modern und bequem, aber es gab einige Stücke, denen man ansah, daß sie keine Massenanfertigung waren. Das war gute alte Handwerkskunst, und sie mußten aus eine Zeit stammen, die etwa dem Baustil entsprach. Sie gaben den Räumen eine ganz eigenartige Atmosphäre und vermittelten jene Gemütlichkeit, die ein Mensch brauchte, um sich wohlzufühlen. Die Celester waren aufmerksame Gastgeber. Während er ausgiebig duschte, waren seine Kleider gereinigt worden, dann hatte man dem Arkoniden ein reichhaltiges Mahl serviert, das ihm ausgezeichnet geschmeckt hatte. Dazu war ein weinhaltiges Getränk gereicht worden, das angenehm erfrischte. Der Abschluß des Menüs bestand aus exotischen frischen Früchten, die er mit Behagen verzehrt hatte. Seit seiner Ankunft in Alkordoom hatte er sich nicht mehr so wohl gefühlt wie hier auf New Marion. Es klopfte. »Herein!« Ein Mann betrat den Raum, den er bisher noch nicht zu Gesicht bekommen hatte. Er war grauhaarig und trug einen kurzen grauen Vollbart, seine Haut war von goldbrauner Farbe, die einen lebhaften Kontrast zu der blütenweißen Kombination bildete. Der Blick der dunklen Augen war streng, fast stechend, dagegen spiegelte sich im Antlitz Warmherzig und Güte wider. Eine natürliche Autorität ging von ihm aus, der sich auch der Aktivatorträger nicht entziehen konnte. Er erhob sich von der Liege, auf der er es sich bequem gemacht hatte. »Ich hoffe, ich störe dich nicht.« Die Stimme des Celesters klang dunkel und volltönend. »Sag nur, wenn ich dir ungelegen, komme, dann verschwinde ich wieder.« »Nein, bleib nur. Bist du der Alte, von dem Arien gesprochen hat?« »Genau der.« Schmunzelnd reichte der Bärtige dem Arkoniden die Hand und schüttelte sie. »Außerdem pflegt man mich noch ›Drei-B‹ zu nennen. Mein wirklicher Name ist Benjamin Boz Briggs.« »Es freut mich, dich kennenzulernen, Ben. Ich heiße Atlan«, stellte der Unsterbliche sich vor. »Bist du etwa mit Sarah verwandt?« »Ja, sie ist meine Enkelin. Seit ihre Eltern nicht mehr leben, kümmere ich mich ein bißchen um sie.« »Ein hübsches Mädchen – und tüchtig dazu. Sie ist eine ausgezeichnete Pilotin«, lobte der Arkonide. »Ich bin auch stolz auf sie, lasse es mir aber nicht anmerken. Sie bekommt ohnehin schon zu viele Komplimente. Auf die Dauer schadet das dem Charakter.« Drei-B ließ sich in einen Sessel sinken. »Schönheit ist ein vergängliches Gut. Gottesfürchtig, ehrlich und aufrecht muß ein Mensch sein, rechtschaffen und hilfsbereit. Nur das sind Werte, die wirklich zählen auf dieser Welt.« Auch Atlan setzte sich. Nachdenklich betrachtete er Briggs. Seine Worte entsprangen einer puritanischen Haltung. Er hatte Alkordisch gesprochen, doch für »Mensch« hatte er das deutsche Wort benutzt. Warum? Der Arkonide beschloß, gezielt zu fragen und sich als Nicht-Celester zu erkennen zugeben. »Ist New Marion eure Heimat?« »Natürlich.« Der Alte – nach Atlans Dafürhalten etwa sechzig bis fünfundsechzig Terrajahre alt – wackelte verwundert mit dem Kopf. »Warum fragst du?«
»Ich habe diesen Planeten heute zum erstenmal gesehen.« »Das ist nicht nur bei dir der Fall. Es ist durchaus nicht so selten, daß die Kinder derjenigen in den Schoß ihres Volkes zurückkehren, die ausgezogen sind als Missionare.« Die Stimme des Celesters bekam einen traurigen Unterton. »Leider ließen sich nicht alle von solch edlen Motiven leiten. Andere verließen diese Welt, um an Orten der Sünde zu leben oder einem vermeintlichen Glück nachzujagen, um Besitz und Reichtum anzuhäufen, ohne an ihr Seelenheil zu denken. Viele erlitten Schiffbruch und kehrten reumütig zurück, andere erlagen den weltlichen Verlockungen vollkommen. Wie Strandgut wurden sie in alle Winde verteilt. Auch heute noch kehren einige New Marion den Rücken. Wir lassen sie ziehen, denn es hat sich gezeigt, daß der Wille des Herrn unergründlich ist, seine Liebe überwindet Haß und Teufelswerk, und er lebt in den Nachkommen der Ausgewanderten fort.« Der Mann strich sich über den Bart. »Deine Rettung war weder ein Zufall noch ein Wunder. Tatsache ist, daß wir einen Informanten auf Crynn haben, der uns von deiner Festsetzung berichtet hat, aber das spricht durchaus nicht gegen unseren Glauben. Der Herr teilt sich so mit, daß wir ihn auch verstehen – er bedient sich unserer, wir sind seine Werkzeuge. Wir streiten im Auftrag des Schöpfers für das Gute, und wir werden unsere Pflicht an jedem Ort erfüllen, den er uns zuweist.« So kann nur ein Puritaner sprechen, meldete der Logiksektor, der sich wieder beruhigt hatte. Briggs und seine Mannen kämpfen für dieselben Ideale wie du. »Alle Welt hält mich für einen Celester, aber ich bin keiner«, sagte der Arkonide bedächtig. »Ich stamme aus einer anderen Galaxis.« Drei-B wölbte die Brauen, eine steile Falte entstand über der Nasenwurzel. Seine Miene drückte Unglauben aus. »Wie kommt es dann, daß du aussiehst wie wir und unsere Sprachen sprichst?« »Deutsch und Englisch?« Als sein Gegenüber nickte, zuckte der Aktivatorträger die Schultern. »Mir ist es rätselhaft, warum ihr diese Idiome sprecht. Es sind alte terranische Dialekte.« »Ich weiß nicht, ob es Dialekte sind, Tatsache ist, daß es die Sprachen unserer Vorfahren sind.« Was sagt dir der Name MARY CELESTE? Mußt du mich ausgerechnet jetzt solchen Unsinn fragen? dachte Atlan ungehalten. Es gibt wahrlich schon genug Probleme, die gelöst werden müssen. Denk nach! beharrte der Extrasinn. Es ist hilfreich. Die MARY CELESTE war ein amerikanischer Zweimaster, der unter mysteriösen Umständen am 5. 12. 1872 aufgefunden wurde, erinnerte sich der Unsterbliche. Die Mannschaft unter dem Kommando von Kapitän Briggs war spurlos verschwunden, ohne… Genug. Erkennst du nun Zusammenhänge? Atlan hatte das Gefühl, sich festhalten zu müssen, ihm schwindelte förmlich, so einleuchtend und abenteuerlich zugleich war die Assoziation seines Geistes, deren Auslöser der Logiksektor war. MARY CELESTE – CELESTER, Kapitän Benjamin Spooner Briggs – Drei-B hieß Benjamin Boz Briggs, der Seefahrer war ein neuenglischer Puritaner – der Alte gehörte der gleichen Glaubensrichtung an. Ein Teil der Besatzung waren Amerikaner, die vier Matrosen Deutsche – das erklärte, warum die Celester diese Sprachen benutzten, aber wie und wodurch waren die Menschen in die Galaxis Alkordoom gelangt? Die Nachkommen von Terranern hatte er getroffen – ausgerechnet in diesem Teil des Universums. War das Zufall oder ein Zeichen? Er wußte es nicht. »Weißt du etwas über die Vergangenheit eurer Ahnen? Gibt es Hinweise, Aufzeichnungen oder Überlieferungen, was ihre Herkunft betrifft?« »Ja, wir besitzen sogar ein sehr altes Dokument darüber. Warum interessiert dich das?« »Weil ich sicher bin, daß eure Vorväter von der Erde stammen.«
Benjamin Boz Briggs hielt es nicht mehr in seinem Sitz. Seine Mimik ließ erkennen, wie aufgewühlt er innerlich war. Erregt ging er auf und ab und blieb dann vor Atlan stehen, ganz abrupt, mitten im Schritt. Nervös knetete er seine Hände. »Ja, unsere Vorfahren wurden von der Erde zu diesem Planeten gebracht.« »Gebracht?« »So ist es. Der Wille des Herrn ist unergründlich.« Der Mann nahm seine unterbrochene Wanderung wieder auf. »Die Ankunft unserer Ahnen ist schon längst Vergangenheit, aber ein Teil unserer Geschichte. Woher weißt du davon, der du nach eigenem Bekunden kein Celester bist?« »Bevor es mich nach Alkordoom verschlagen, hat, habe ich lange Zeit auf der Erde gelebt.« Der Arkonide benutzte absichtlich den Ausdruck »Verschlagen«, um den Celester nicht noch mehr zu’ verwirren und um sich langatmige Erklärungen zu ersparen, die ohnehin von niemandem geglaubt werden würden. »Selbst einhundert Jahre nach dem geheimnisvollen Verschwinden von Kapitän Briggs und seiner Crew hat man sich noch mit deren Schicksal und ihrem Schiff, der MARY CELESTE, beschäftigt.« »Erzähle mir davon – alles. Nein, warte, ich werde Sarah und ein paar andere holen. Sie müssen hören, was du zu berichten hast.« Aufgeregt eilte der Alte zur Tür. »Ich bin gleich zurück. Die werden Augen machen, daß du ein Mann von der Erde bist.« Es scheint dein Schicksal zu sein, daß man dich in dieser Sterneninsel stets für einen anderen hält, ließ sich der Extrasinn ein wenig ironisch vernehmen. Erst vermutete man in dir einen Celester, und nun einen Terraner. Bereitet es dir keinen Verdruß, als Arkonide stets verkannt zu werden? Nicht im mindesten, gab Atlan lautlos zurück. Ich segle oft unter falscher Flagge. Fatal ist allerdings, daß man dich, organische Rechenmaschine, irrtümlich für Psi-Potential hält. Ein weiteres Manko ist deine Ängstlichkeit. Du sollst mir raten, nicht aber Angst und Schrecken einjagen. Nur Verrückte kennen keine Furcht, lautete die bissige Erwiderung des Logiksektors. Pessimisten wie du sind von Natur aus Feiglinge, konterte der Aktivatorträger gedanklich. Gutgelaunt goß er sich noch ein Glas Cidre ein und trank genüßlich in kleinen Schlucken. Er genoß den Aufenthalt in Briggs’ Haus, denn es war abzusehen, daß ihm derartige Ruhephasen bei der Erfüllung seines Auftrags nur selten vergönnt sein würden. * Da saßen sie nun und starrten Atlan erwartungsvoll an. Sarah, Enkelin des dreiundsechzigjährigen Alten, achtundzwanzig Jahre alt, ledig. Arien Richardson, 1,92 Meter groß, vierundvierzigjährig, verheiratet, 2 Söhne, die ebenfalls für die »Feuerwehr« arbeiteten, deren Chef ihr Vater war. Es handelte sich dabei um eine Organisation, die Licht in das Rätsel der Vergangenheit und der Vorgänge in Alkordoom bringen sollte, aber auch Einsätze wie auf Crynn durchführte. Mit von der Partie war natürlich auch Drei-B. Curt Gilling sah der Arkonide zum erstenmal. Sarahs zweiundvierzigjähriger Halbbruder war blondhaarig und damit einer der wenigen Celester, deren europäisches Erbmaterial dominant war. »Bitte berichte über das, was du von der MARY CELESTE weißt?« bat Briggs, nachdem sich das Staunen über die vermeintliche Herkunft des Aktivatorträgers gelegt hatte. Atlan kam dem Wunsch nach und erzählte ausführlich, wann, wo und unter welchen Umständen man den Segler auf See treibend gefunden hatte. Er schloß mit den Worten:
»Drei Theorien wurden aufgestellt, um das Verschwinden der Mannschaft zu erklären, dabei wurde die des Haupteigners James Winchester für die wahrscheinlichste gehalten. Wie gesagt, die Fracht bestand aus 1.700 Fässern vergällten Alkohols, eine tückische Ladung, die Kapitän Briggs vorher noch nie befördert hatte. Sturm und hoher Seegang hatten den Behältern arg zugesetzt, und man vermutete, daß dabei einige Fässer leck geworden seien. Bei der Fahrt geriet das Schiff von der Kälte heimatlicher Gefilde in die wärmeren Breiten der Azoren, der Inhalt der Fässer dehnte sich aus, oder es bildeten sich Dämpfe aus den undichten Fässern und drückten die Luken auf, die man wegen der Gasbildung aber auch vielleicht vorsorglich geöffnet hatte. Es bestand jedenfalls die Gefahr, daß die Ladung explodieren könnte, und Briggs, der um das Leben von Frau und Kind und um das seiner Männer bangte, befahl das Beiboot zu wassern und von Bord zu gehen. Sicherheitshalber wurden Navigationsinstrumente mitgenommen, Segler und Boot blieben durch eine Schleppleine miteinander verbunden. Als starke Böen aufkamen und die Wellen immer höher wurden, auf der MARY CELESTE jedoch alles ruhig blieb, beschloß Briggs, an Bord zurückzukehren. Aus einem unbekannten Grund – es kann Materialermüdung gewesen sein – riß das Verbindungstau, der Wind füllte die Segel und trieb das Schiff so schnell über das Wasser, daß es der Besatzung in dem Boot nicht mehr möglich war, den Zweimaster noch einzuholen. Durch Sturm und Wellengang kenterte das Beiboot schließlich, und seine Insassen ertranken in der rauhen See. Nach Angaben der Ponta-Delgado-Station auf den Azoren tobte dort tatsächlich ein Sturm zur fraglichen Zeit. Es sind Mutmaßungen, doch es spricht einiges dafür, daß es so war oder hätte sein können.« »Gewiß, es klingt plausibel, aber es war ganz anders. Wenn du erlaubst, kommen wir später darauf zurück«, sagte Gilling, der ein famoser Geschichtskenner und ein enger Berater von Drei-B war. »Ich bin begierig darauf, zu erfahren, was sich seitdem auf der Erde getan hat, und ich glaube, da spreche ich für alle.« Die drei anderen nickten zustimmend, so daß sich der Arkonide genötigt sah, seine Fragen erst einmal zurückzustellen. Angesichts so aufmerksamer Zuhörer, die ihm die Worte förmlich von den Lippen ablasen, fiel ihm das nicht einmal so schwer. Diesmal war das Thema natürlich weniger kompakt als vorher, und da er keinen ganztägigen Vortrag daraus machen wollte, beschränkte er sich auf wesentliche Dinge und gab einen groben Abriß darüber, wie sich die Menschen von Planetariern zu Raumfahrern entwickelt hatten, denen dann sogar ihre eigene Galaxis nicht mehr ausgereicht hatte, um Neugier und Wissensdurst zu stillen – oder um sich vor fremden Eroberern zu verbergen. Dabei schilderte er auch in groben Zügen, welche Katastrophen über die Erde und die Milchstraße hereingebrochen waren wie etwa die Verdummung, und er scheute sich auch nicht, von den anfänglichen Schwierigkeiten zu berichten, die Perry Rhodan und die Dritte Macht hatten, bis die Menschheit geeint war, bis sich die Planetarier nicht mehr als Völker, Rassen und Nationen verstanden, sondern als Einheit, als Terraner. Eher beiläufig erwähnte er die Umweltangepaßten wie die Oxtorner, Ertruser und Siganesen, deren Vorfahren Auswanderer von der Erde waren. Die Reaktionen darauf waren unterschiedlich – teils ungläubiges Staunen, teils Heiterkeit. Niemand schien sich so recht vorstellen zu können, wie etwa aus einem Menschen binnen weniger Generationen ein grünhäutiger Zwerg werden konnte, wie es bei den Leuten von Siga der Fall war. Da Atlan sich als Chronist gefordert sah, konnte er nicht umhin, den Auseinandersetzungen und Kämpfe, in die die Terraner verwickelt wurden, breiteren Raum zu geben, als es Kriege und Gewalt verdienten. Leider waren diese oft leidvollen Erfahrungen Teil der Geschichte, zugleich aber auch eine Art Reifeprozeß, der die anfangs recht ungestümen Bewohner des Solsystems und seiner Kolonialwelten formte, sie abgeklärter werden ließ und sie kosmisches Denken lehrte. Es war ein steiniger, dornenreicher Weg; eine harte Schule, deren Sinn erst später deutlich wurde, nämlich die Terraner einer Bestimmung zuzuführen, die sich dem menschlichen Geist eigentlich entzog.
Alles, was diese Bestimmung betraf, ließ der Aktivatorträger offen. Er benutzte ausweichende, nebulöse Formulierungen und vermied es geschickt, ES, Super-Intelligenzen und die Kosmokraten ins Spiel zu bringen, um die Celester nicht vollends zu verwirren. Es hakte auch niemand nach, um die schwammigen Passagen, die Atlan eigentlich zuwider waren, in konkrete Begriffe umzusetzen. Fast zweitausend Jahre terranische Vergangenheit im Schnellkursus zu bewältigen, überforderte das Gehirn, strapazierte es über die Aufnahmefähigkeit hinaus. Als der Arkonide geendet hatte, machte sich nachdenkliches Schweigen breit. Was auf der Erde längst Geschichte war, waren für die Celester Neuigkeiten, die erst einmal verarbeitet werden mußten. Ihren Gesichtern war anzusehen, wie sehr sie der Bericht beschäftigte. Dabei spielte natürlich eine Rolle, wie und durch wen man die Informationen über Terra bekommen hatte. Der Mann, der auf Crynn im Gefängnis saß und der befreit worden war, weil er für einen Celester gehalten wurde, entpuppte sich als jemand, der von der Erde wußte und dort gelebt hatte, was er sagte, stammte aus erster Hand. Hätte einer so etwas prophezeit, wäre er wohl in psychiatrische Behandlung gekommen. Einen solch schier unglaublichen Zufall konnte sich selbst ein Phantast in seinen kühnsten Träumen nicht vorstellen. »Welches Datum schreibt ihr jetzt auf der Erde?« erkundigte sich Gilling. Ein wenig verblüfft blickte der Arkonide auf sein Chronometer. Jede Frage hatte er erwartet, nur nicht die eben gestellte, weil sie nach seinem Dafürhalten eigentlich belanglos war. »Den 17. August 3818. Warum willst du das wissen?« »Es hat für mich mehr einen statistischen Wert.« Der Blondschopf lächelte. »Wie ihr haben wir einen Großteil unserer Technik nicht selbst entwickelt, sondern übernommen. Nach deiner Schilderung zu urteilen, seid ihr uns in dieser Hinsicht deutlich voraus, dafür haben wir einen Vorsprung, was die Jahreszahl betrifft.« »Ich weiß – das Jahr 5.000 des Erleuchteten.« »Das mag für Alkordoom gelten, wir haben unsere eigene Zeitrechnung. Wir leben im Jahr 6123.« »Wie das?« »Seit ihrer Ankunft auf New Marion haben unsere Vorfahren die Zeit fortgeschrieben, also nicht bei Null begonnen, sondern bei 1872. Da ein Jahr hier nur vier Monate und insgesamt 116 Tage hat, sind wir auf diese stattliche Zahl gekommen. Du wirst deshalb viele Leute hier treffen, die bereits ihren dreihundertsten Geburtstag gefeiert haben. Unser guter Drei-B wird auch schon 200.« »Dennoch gehöre ich noch lange nicht zum alten Eisen.« B. B. Briggs drohte schelmisch mit dem Finger und wandte sich an seinen Gast. »Atlan, wenn es dir recht ist und du noch nicht zu müde bist, möchte ich dich mit unserer Geschichte vertraut machen.« »Nur zu, Ben. Curt hat mich mit seiner Andeutung vorhin richtig neugierig gemacht.« »Aber vorher trinken wir noch einen Schluck, sonst verdurste ich. Schwesterherz, schenk nach!« rief Gilling übermütig. »Ich bin weder ein Dienstroboter noch dein Hanswurst, großer Bruder. Du mußt dich schon selbst bedienen«, gab Sarah zur Antwort. »Das ist typisch für sie«, sagte Gilling zu dem neben ihm sitzenden Arkoniden. »Schön ist sie ja, unsere Kleine, und klug dazu, aber manchmal auch ein richtiges kleines Biest, doch das scheint von den Freiern, die sie umwerben, niemand zu bemerken.« »Wie redest du denn von mir?« empörte sich die junge Frau. »Das klingt ja so, als war ich ein durchtriebenes Biest, das sich einen Spaß daraus macht, Männern den Kopf zu verdrehen. Und was du über meinen Charakter gesagt hast, ist eine Frechheit. In psychologischer Hinsicht bist du ein Laie, wie kannst du es dir da anmaßen, eine Beurteilung über mich abzugeben?«
»Schon gut, schon gut.« Der Celester gab sich zerknirscht und blinzelte dabei vergnügt. »Ich nehme meine Worte mit dem Ausdruck des Bedauerns zurück.« Er beugte sich vor, um nach der Flasche zu greifen, doch seine Hand ging ins Leere. Sarah hatte ihm den Behälter weggeschnappt. »He, was soll das?« »Wo bleibt deine gute Kinderstube, Curt? Zuerst ist der Gast an der Reihe.« Sie stand auf und ging zu dem Aktivatorträger. »Möchtest du noch ein Glas, Atlan?« »Gem. Das Getränk schmeckt ganz ausgezeichnet.« Sarah Briggs goß ein, stellte die Karaffe auf den Tisch und kehrte zu ihrem Sessel zurück. Atlans Blick folgte ihr, blieb an ihrer schlanken Gestalt hängen. Sie war eine wirkliche Schönheit von exotischem Reiz, ihr Gang und ihre Bewegungen waren anmutig, aber nicht aufreizend, eine Vollblutfrau, durch und durch weiblich, dazu intelligent und nicht auf den Mund gefallen. Es war nicht allein der makellose Körper und die tadellose Figur, die jedes männliche Wesen in ihren Bann schlug, sondern auch die Ausstrahlung, die von ihr ausging. Auch der Arkonide konnte sich dem nicht entziehen, er fühlte sich seltsam berührt. »Die Flasche ist ja leer.« »Dann wirst du eine neue besorgen müssen, Curt. Du weißt doch, wo der Wein aufbewahrt wird.« Gilling warf seiner Halbschwester einen verdrossenen Blick zu und verließ den Raum, um Nachschub zu holen. Unterdessen hatte Briggs, unbeeindruckt vom Geplänkel seiner Enkel, eine Kassette in ein Abspielgerät geschoben und per Fernsteuerung einige Einstellungen vorgenommen. Ein großer Wandbildschirm hatte sich erhellt und zeigte in blauen Lettern die Schrift DIE GESCHICHTE DER AHNEN. »Wir sind im Besitz eines Dokuments von unschätzbarem Wert«, sagte Drei-B. »Albert G. Richardson hat ein Tagebuch hinterlassen, so daß wir ziemlich genau wissen, was sich damals abgespielt hat. Nicht alles wurde exakt festgehalten, doch es ließ sich anhand der Überlieferungen rekonstruieren. Das Tagebuch des Ersten Offiziers der MARY CELESTE befindet sich seit einigen Jahrhunderten in einem klimatisierten Tresor unter Verschluß, denn der Zahn der Zeit und der Sauerstoff der Luft haben dem alten Material ziemlich zugesetzt. Der Film, den wir gleich sehen werden, ist nach Richardsons Aufzeichnungen gedreht worden, du kannst also davon ausgehen, daß die Szenen authentisch sind.« »Tja, was wären wir ohne meinen Urahn«, scherzte Arien Richardson. Der Blonde kehrte mit einer Batterie von Flaschen zurück, die er auf den Tisch stellte. Die letzten Worte mußte er noch mitbekommen haben. »Nicht zu vergessen Andrew Gilling, den Zweiten Offizier, dessen Nachfahre ich bin.« Curt ließ sich in einen Sessel sinken und berührte den Arkoniden am Arm. »Der Streifen dürfte schon ein Jahrtausend auf dem Buckel haben, also achte weniger auf die Bandqualität und mehr auf den Inhalt. Jedes Kind bei uns kennt ›Die Geschichte der Ahnen‹, denn dieser Film ist Bestandteil des Geschichtsunterrichts. Ich glaube, ich sehe ihn jetzt zum fünfundzwanzigstenmal.« »Dann auch diesmal gute Unterhaltung«, meinte Briggs ironisch und betätigte die Starttaste. Nacheinander wurden die Schauspieler vorgestellt, Einblendungen verrieten, wen sie darstellten. Da war zuerst Benjamin Spooner Briggs, der Kapitän. Er war hager, vielleicht 1,80 Meter groß. Die wachen blauen Augen lagen unter buschigen Brauen, ein brauner Backenbart umrahmte das knochige, von Wind und Wetter gegerbte Gesicht. Sarah Elisabeth, seine Frau, hielt ein Kleinkind mit blauen Kulleraugen auf dem Arm. Sie selbst hatte grüne Augen, die braunen Haare waren
gescheitelt und zurückgekämmt zu einem Kranz geflochten. Sie war eine herbe Schönheit, kleiner und zierlicher als ihr Mann, aber von ähnlicher Gestalt. Albert G. Richardson war ein ernst dreinblickender Mann mit langen Koteletten und etwas schütterem aschblonden Haupthaar. Der Erste Offizier war einen halben Kopf größer als sein Kapitän, dazu von einer Feingliedrigkeit, die eher zu einem Künstler als zu einem Seemann passen wollte. Seine braunen Augen spiegelten einen Hauch von Melancholie wider. Ganz anders dagegen Andrew Gilling. Er war der typische Nordländer mit wasserblauen Augen und semmelblondem Haar, breitschultrig und muskulös, ein Bild von einem Mann, zugleich aber auch ein großer Junge, der gern lachte. Ihm sprach die Ehrlichkeit förmlich aus dem Gesicht. Edward W. Head, Koch und Steward in einer Person, war rothaarig mit einem Antlitz voller Sommersprossen. Die Stupsnase war etwas zu klein geraten, der Mund ein wenig zu breit und die abstehenden Ohren zu groß. Eine Schönheit war der untersetzte Smutje wahrlich nicht. Volkert und Boz Lorenzen, die beiden Brüder, waren von derb-bäuerlicher Statur, Männer, die gewohnt waren, zuzupacken. Das struppige Blondhaar hing ihnen bis auf die Schulter herunter. Die Augen – beim einen grau, beim anderen grün – verrieten Offenheit und ein gesundes Selbstvertrauen. Arien Martens war ein stiernackiger Hüne mit mächtigen Pranken, der selbst den Klabautermann nicht zu fürchten schien. Ein schwarzer Vollbart ließ nur wenig von dem Antlitz erkennen, das ein Holzschnitzer mit seinem Schnittmesser gestalten haben konnte. Der jüngste der vier Matrosen war Gottlieb Goodschaad. Der braunhaarige Lockenkopf machte einen verschlossenen Eindruck, so, als habe er trotz seiner Jugend schon viel Leid erlebt. Er war schlank und sehnig, doch sein durchtrainierter Körper bewies, daß er harte Arbeit gewohnt war. Nach der Mannschaft wurde die MARY CELESTE vorgestellt. Die Angaben über den Segler, der über Fock- und Großmast verfügte, die mit Rahen getakelt waren, waren so detailliert wie eine Nachbauanleitung. Dann endete der Vorspann, die Szene wechselte. Man sah Wasser, so weit das Auge reichte, dann geriet ein Zweimaster ins Bild. Mehrere Personen, die nach der Mode des 19. Jahrhunderts gekleidet waren, hielten sich an Deck auf. Die Brigg war die MARY CELESTE, und die Männer Kapitän Briggs und seine Leute.
4. Mit gefüllten Segeln jagte die Brigantine dahin. Die Sonne, die immer mal wieder durch die dichte Wolkendecke lugte, spiegelte sich im bleigrauen Wasser. Wie ein Ball tanzte das Schiff auf den schaumgekrönten Wellen auf und ab. Briggs stand achtern an der Reeling und beobachtete mit zusammengekniffenen Augen den Himmel, blickte auf die Dünung des Atlantiks und starrte wieder nach oben. Richardson trat an seine Seite. »Wir machen achtzehn Knoten Fahrt, Sir. Ich habe Gilling gesagt, er soll hart am Wind bleiben, damit wir die zwei Tage wieder aufholen, die wir wegen des Sturms bei Staten Island vor Anker gelegen haben.« Der Kapitän nickte und spie ins Meer. »Das Wetter gefällt mir nicht, Mister Richardson. Eine Weile werden wir wohl noch mit Vollzeug segeln können, aber dann müssen wir Segel einholen. Es brist auf. Sagen Sie den Männern, sie sollen an Deck bleiben und sich bereithalten.« »Aye, aye, Sir.« Der Erste Offizier wollte sich entfernen, doch der Miteigner der MARY CELESTE rief ihn noch einmal zurück. »Mister Richardson!« »Sir?« »Sehen Sie noch einmal nach, ob die Ladung gut befestigt ist.« »Wird gemacht, Sir.« Wie ein Akrobat bewegte sich der Seemann über die schwankenden Planken und entschwand hinter Aufbauten. Briggs sah noch einmal zu den zusammengetürmten Wolken empor und verließ dann seinen Platz. Gegen den Wind gestemmt, das Schaukeln des Schiffes ausbalancierend, marschierte ein Stück nach vorn zum Ruder, das der Zweite Offizier bediente. »Alles in Ordnung, Mister Gilling?« »Besser kann es gar nicht laufen, Sir.« Der Däne lachte. »Wenn es weiter so stetig bläst und der Wind sich nicht dreht, sind wir früher als erwartet in Genua.« »Als Rudergänger sind Sie ein Teufelskerl, Mister Gilling, aber übertreiben Sie nicht.« »Ich könnte noch etwas luven, Sir.« »Nein, auf keinen Fall. Dies ist ein Frachtschiff und nicht der Fliegende Holländer.« »Glauben Sie eigentlich daran, Sir?« »Glauben, Mister Gillings, tue ich nur an Gott und an das, was in der Heiligen Schrift steht.« Mit schwerfälligen Schritten stapfte Briggs davon und verschwand unter Deck. Der Smutje hörte das Poltern auf der hölzernen Stiege und spähte aus seiner Kombüse. »Soll ich mit der Vorbereitung der Mahlzeit noch warten, Sir? Ich habe das Gefühl, daß die See rauher geworden ist, und wenn die Mannschaft reffen muß, bleibt ihr wohl keine Zeit, sich den Bauch vollzuschlagen.« »Das schätze ich an Ihnen, Head: Sie denken mit. Leider bleibt Ihre Kochkunst hinter den Leistungen Ihres Verstandes doch etwas zurück.« »Das ist nicht meine Schuld, Sir. Das einzige, was ich frisch auf den Tisch bringen kann, ist Fisch, und der hängt den meisten, mit Verlaub gesagt, mittlerweile schon zum Hals heraus.«
»Ich weiß, Head. Lassen Sie das Essen einstweilen Essen sein und machen Sie sich anderweitig nützlich. Ich denke, daß in einigen Stunden jede Hand an Deck gebraucht wird.« Er ging weiter, blieb jedoch noch einmal stehen und drehte sich um. »Was steht für heute eigentlich auf dem Küchenplan?« »Weiße Bohnen und Pökelfleisch.« »Hatten wir das nicht erst vor zwei Tagen?« »Vor drei, Sir.« Der Rothaarige hüstelte. »Es ist eine Speise, die sättigt. Und haben Sie nicht selbst gesagt, daß wir für alles dankbar sein müssen, was der Herr uns gibt?« »Sie brauchen mir meine eigenen Worte nicht vorzuhalten, Head. Habe ich mich etwa beschwert?« »Ich hatte den Eindruck… Nein, Sir«, korrigierte sich der Koch/Steward schnell, als die blauen Augen des Kapitäns ihn durchdringend ansahen. »Na also. Verschwinden Sie in den Laderaum und melden Sie sich bei Mister Richardson. Vielleicht kann er jemanden gebrauchen, der ihm zur Hand geht.« »Ja, Sir. Bin schon unterwegs.« Froh, so glimpflich davongekommen zu sein, hastete Edward H. Head davon, während Briggs seine Kajüte aufsuchte. Ein wenig ungehalten schloß er die Tür hinter sich heftiger, als es eigentlich seine Art war. Seine Frau Sarah, die mit einer Handarbeit beschäftigt war, blickte auf und legte einen Finger auf den Mund. »Pst, Sophia schläft.« »Entschuldige, Sarah.« Auf Zehenspitzen schlich er zu der Koje, in der die Kleine lag. Sie schlummerte friedlich, die Bäckchen in dem rosigen Gesicht glichen reifen Äpfeln. Zärtlich fuhr ihr Vater ihr über die blonden Locken und ging leise zu seinem Tisch, auf dem Karten und Navigationsinstrumente lagen. Sie rutschten im Rhythmus der Wellen hin und her. Briggs ließ sich auf seinen Stuhl sinken und studierte die an der Wand aufgehängte Logtafel. Vor einer guten Stunde, am 25. November 1872 um acht Uhr früh, hatte er die letzte Eintragung gemacht. Etwa sechs Meilen nordöstlich der Insel Santa Maria hatte die MARY CELESTE die Azoren passiert, nun lag eine gewaltige Wasserwüste vor ihr, denn das portugiesische Festland war noch über tausend Meilen entfernt. Es war kein Problem, den Kurs zu halten, denn New York und Genua lagen fast auf demselben Breitengrad, doch der Ozean hatte seine Tücken – und die Luftmassen auch. »Die See ist unruhig geworden, nicht wahr, Benjamin?« »Ja, es brist auf. Noch machen wir gute Fahrt, aber ich denke, daß ein Unwetter heraufzieht.« »Sturm?« »Das ist nicht auszuschließen.« »Willst du dann nicht lieber umkehren und bei den Inseln Schutz suchen?« »Nein, Sarah, wir haben schon zuviel Zeit verloren, und Santa Maria liegt bereits mehr als zwanzig Seemeilen hinter uns.« Bedächtig fuhr sich der Kapitän über den Bart. »Die MARY CELESTE ist ein grundsolides Schiff und kein Seelenverkäufer. Mit Gottes Hilfe werden wir auch einen Sturm heil überstehen.« »Ja, Benjamin. Möchtest du einen Tee?« »Danke, im Augenblick nicht. Ich werde noch ein wenig in der Heiligen Schrift lesen, bevor ich Gilling in zwei Glasen ablöse. Er ist ein ausgezeichneter Steuermann, aber wenn es stärker bläst, stehe ich lieber selbst am Ruder.«
Während sich die Frau wieder ihrer Handarbeit widmete, holte Briggs aus der Lade, in der er seine persönliche Habe verwahrte, eine abgegriffene Bibel hervor. Ohne nachdenken zu müssen, schlug er Vers 27, 1, der Apostelgeschichte auf und vertiefte sich in den Text. * Es klopfte. Der gottesfürchtige Puritaner aus Neuengland wurde in seinem Bibelstudium unterbrochen und schreckte hoch. »Herein!« Der Erste Offizier betrat die Kapitänskajüte und grüßte. »Guten Tag, Madam.« »Guten Morgen, Mister Richardson.« »Verzeihen Sie die Störung, Sir, ich wollte nur Vollzug melden. Die Ladung ist gesichert, Head hat zusätzlich noch ein paar Seile gespannt, so daß ausgeschlossen ist, daß die Ladung verrutschen kann.« »Danke, Mister Richardson. Gibt es sonst noch etwas?« »Wir haben hochgehende Dünung, Sir, und die Böen werden stärker. Ich bin der Ansicht, daß wir Klüver und Stagsegel reffen sollten. Das Schiff macht zwar mittlerweile fast neunzehn Knoten Fahrt, doch es droht, aus dem Ruder zu laufen.« »Teilt Mister Gilling Ihre Meinung?« »Nicht direkt, Sir. Er will die Takelung so lange belassen, wie es ihm vertretbar erscheint. Seiner Auffassung nach ist jede Meile ein Gewinn für uns, bevor die Brigg lenzt vor Topp und Takel.« »Wenn tatsächlich ein Sturm aufkommt, wird es sich nicht umgehen lassen, die Besegelung völlig einzuholen.« Briggs fixierte Richardson. »Sie haben Mister Gilling gegenüber Weisungsbefugnis.« »Das ist mir bekannt, Sir, doch ich weiß auch, daß er der geborene Seemann ist. Noch ist er jung und ein wenig hitzköpfig, aber er wird seinen Weg machen.« »Jetzt stellen Sie Ihr eigenes Licht aber unter den Scheffel, Mister Richardson. Sie sind kaum älter als der Zweite Offizier und doch beherrschen Sie die Nautik kaum schlechter als ich.« »Ihr Kompliment verwirrt mich ein wenig, Sir. Ich stamme zwar aus einer Seefahrerfamilie, aber Sie haben mir ein Jahrzehnt Erfahrung voraus.« Die Gestalt des Ersten Offiziers straffte sich. »Sir, darf ich auf das bereits erwähnte Problem zurückkommen?« »Also gut. Was schlagen Sie vor?« »Ich bitte Sie, mit an Deck zu kommen und selbst eine Entscheidung zu treffen.« »In Ordnung, ich begleite Sie. Mister Gillings Wache ist ohnehin gleich um, und ich werde ihn als Rudergänger ablösen.« Mit einem Nicken verabschiedete sich der Kapitän von seiner Frau und folgte seinem Stellvertreter nach oben. Es hatte weiter aufgebrist, ein schneidender eisiger Wind, der durch die Kleidung drang, ließ die beiden Männer frösteln. Himmel und Wasser schienen eins geworden zu sein, ein riesiger grauer Sack, der alles verschlingen wollte. Es war düster geworden, von der Sonne war nichts mehr zu sehen. Dunkle Regenwolken jagten so tief über das Firmament, daß die Mastspitzen sie fast berührten. Das Meer war aufgewühlt, meterhohe Wogen klatschten wuchtig gegen den mit Kupferplatten verkleideten
Schiffsrumpf. Nickend und schlingernd durchpflügte die Brigg das nasse Element, doch es war mehr ein Tanz auf dem Wasser, zu dem heftige Turbulenzen die Musik machten. Heulend und orgelnd tobten sie über den Zweimaster hinweg, verfingen sich in der knarrenden Takelage und peitschten die MARY CELESTE vorwärts. Ihr Ächzen und Stöhnen mischte sich mit dem hohlen Brausen der Luft und mit dem donnernden Anbranden des Atlantiks gegen die Bordwände. Gilling hatte eingesehen, daß das heraufziehende Unwetter dem Schiff den Garaus machte, wenn es mit voller Takelage weiterlief. Die vier Matrosen und der Steward waren dabei, ein Segel nach dem anderen einzuholen. Unter den herrschenden Bedingungen war das die reinste Knochenarbeit. Schreie und Flüche waren zu hören, die Männer feuerten sich gegenseitig an, zogen zu zweit oder zu dritt an den Tampen. Nur widerwillig reagierte das schwere Tuch aus steifer Leinwand auf die Anstrengungen der Seeleute. »Alle Segel reffen, nur das obere Vormarssegel bleibt gesetzt!« schrie Briggs, um das Tosen zu übertönen. »Aye, aye, Sir!« kam es lautstark zurück. Vorbei an herumliegenden Tauen balancierten der Kapitän und sein Erster Offizier zum Ruder. »Ich hoffe, daß ich die richtige Entscheidung getroffen habe, Sir«, brüllte der Zweite Offizier. »Sie haben sehr umsichtig gehandelt, Mister Gilling. Sie können mir jetzt das Ruder überlassen. Beaufsichtigen Sie mit Mister Richardson die Männer und lassen Sie die Fenster der Deckkabinen mit Segeltüchern und Planken zunageln. Ich will einen Wassereinbruch vermeiden, wenn schwere Brecher überkommen. Gehen Sie anschließend alle von Deck.« »Geht klar, Sir!« Mit einem Hanfseil band Briggs sich an der Steuersäule fest, um zu verhindern, daß er von Bord gespült wurde. Unter den gegebenen Umständen würde selbst der beste Schwimmer in kürzester Zeit ertrinken, denn bei diesem Seegang war auch keine Rettung durch die Besatzung zu erwarten. Der Sturm war stärker geworden. Nur mit Mühe konnten sich die beiden Offiziere auf den Beinen halten. Halt suchend und sich an Aufbauten festklammernd, tief geduckt, stemmten sie sich gegen die Böen und kämpften sich Schritt für Schritt vorwärts. Haushohe Wellen rollten wie Rammböcke krachend gegen die Bordwände an, wuchsen daran empor und ergossen sich gischtsprühend über die schon glitschigen Planken. Im Nu waren die Seeleute bis auf die Haut durchnäßt. Wie eine Nußschale wurde der Segler hin und her geworfen, dümpelnd bewegte er sich durch die rauhe See, wurde in Wellentäler geschleudert und wieder hochgewirbelt und ritt dann auf den Kämmen. Mehrmals holte er über, richtete sich jedoch immer wieder auf. Die Matrosen hatten ihre Arbeit inzwischen beendet und die Takelung bis auf das obere Vormarssegel eingeholt. Die Brigg lenzte, dennoch hatte der Kapitän Mühe, das Schiff auf Kurs zu halten. Krampfhaft umklammerte er die Ruderpinnen, weil die entfesselten Naturgewalten ihm das Steuerrad aus den Händen zu schlagen drohten. Luft und Wasser schienen miteinander zu wetteifern, wer die größere Zerstörungskraft besaß, die MARY CELESTE war zu ihrem Spielball geworden. Es grollte und grummelte, ein Blitz tauchte das horizontlose Grau für Sekundenbruchteile in fahles Licht, dann war es wieder dämmrig, als ginge es auf den Abend zu. Das urweltliche Getöse eines Donners übertönte für mehrere Augenblicke alle anderen Geräusche. Übergangslos begann es, zu regnen. Erst fielen nur ein paar Tropfen, aber dann öffnete der Himmel seine Schleusen. Es goß wie aus Kübeln, die Sicht wurde noch schlechter. Einsam und verloren wirkend stand Briggs auf seinem Posten. Riesige Brecher schlugen über dem Schiff zusammen, zentnerschwere Wassermassen trafen ihn und zwangen ihn fast in die Knie.
Japsend rang er nach Luft, doch schon war die nächste Welle heran. Das Salzwasser brannte in den Augen und auf der Haut. Selbst der sintflutartige Regen vermochte keine Linderung zu bringen, weil Woge auf Woge folgte. Und auch das Gewitter nahm an Heftigkeit zu. Jeden Moment konnte das Schiff kentern, und das bedeutete, daß es die Mannschaft mit in den nassen Tod reißen würde, denn bei dieser Dünung war es unmöglich, das Beiboot zu wassern. Schmerzlich wurde dem Kapitän bewußt, daß er überfordert war, seine Steuer- und Navigationskünste vermochten gegen ein solches Inferno kaum etwas auszurichten. Erneut traf ihn ein Schwall kalten Wassers, er verschluckte sich. Hustend und prustend spie er die Brühe aus. Alle Glieder schmerzten, das Seil schnitt ins Fleisch, er fror erbärmlich. Wie ein Stück Treibholz trieb die Brigg in den aufgepeitschten Fluten. * Gegen drei Uhr mittags war der Spuk vorbei. Die Sonne lachte vom blauen Himmel, und das Meer war so ruhig, als hätte es nie einen Sturm gegeben. Die MARY CELESTE hatte etliche Schäden davongetragen, doch sie war noch seetüchtig. Sie lief wieder unter Segeln, allerdings mußte ein Teil der Takelung erst wieder instand gesetzt werden. Völlig erschöpft hatte Briggs seine Koje aufgesucht und war sofort in einen totenähnlichen Schlaf gefallen. Er merkte nicht, daß seine Frau sich liebevoll um ihn kümmerte, die Salzkruste von der Haut abwusch und kleine Wunden und Prellungen versorgte. Richardson hatte das Kommando übernommen. Zusammen mit Gilling inspizierte er das Schiff und registrierte, welche Reparaturen nötig waren. Trotz des Unwetters war die Abdrift relativ gering. Der Erste Offizier hatte den Segler wieder auf Kurs gebracht und das Ruder kurzerhand festgezurrt. Der Kompaß funktionierte noch, lediglich das Glas war zerbrochen. Überkommende Brecher hatten zu einem Wassereinbruch im vorderen Laderaum geführt. Richardson hatte mit einem Handlot nachgemessen und festgestellt, daß eine Gefahr durch Sinken nicht gegeben war. Eine Pumpe war an Ort und Stelle gebracht worden, die Brüder Lorenzen waren zum Lenzen eingeteilt worden, während der Rest der Mannschaft damit beschäftigt war, die Segel in den ursprünglichen Zustand zu versetzen. Insgesamt hielten sich die Zerstörungen in Grenzen. Rumpf, Masten und Aufbauten waren so gut wie unbeschädigt, nur einige Fässer der Ladung waren in Mitleidenschaft gezogen worden. Eins war ausgelaufen, aber das ließ sich verschmerzen. »Wir haben ausgesprochenes Glück gehabt.« Andrew Gilling nickte zustimmend. »In zwei, drei Tagen sind alle Schäden beseitigt. Ich habe nicht geglaubt, daß wir so glimpflich davonkommen würden. Es ist fast ein Wunder, daß das Schiff nicht gekentert oder auseinandergebrochen ist.« »Unsere MARY ist eben ein gutes Mädchen.« Beinahe liebevoll klopfte der Erste Offizier gegen eine Bohle. »Wäre sie nicht so solide gebaut, hätte es leicht sein können, daß wir für ewig abgemustert hätten.« In das Knarren der Takelung und das Schlagen der Rahen mischte sich ein merkwürdiges Geräusch, ein helles Singen, das weder der Wind noch das Meer verursachen konnte. Alarmiert blickten die Männer zum Himmel – und erstarrten. Hoch über ihnen schwebte eine silbrig schimmernde Walze, die sich langsam herabsenkte. Sie war riesig – bestimmt so groß wie der Zweimaster, der zehn Knoten Fahrt machte. Auch die Matrosen
waren aufmerksam geworden. Mit schreckgeweiteten Augen und offenen Mündern starrten sie auf das unheimliche Gebilde über ihnen. Head, der sich am Bug aufhielt, erholte sich als erster von dem Schock. Er bekreuzigte sich, lief schreiend nach achtern und verschwand unter Deck. Auch in die anderen kam Bewegung. Goodschaad warf sich zitternd vor Angst auf die Knie, Martens wich zurück und preßte sich furchtsam gegen den vorderen Mast. Gillings Hände umkrallten Richardsons Oberarm, als könnte der ihn schützen, dabei graute es auch dem Ersten Offizier vor dem Ding, das sich auf unerklärliche Weise in der Luft halten konnte. Aus seinem Gesicht war alle Farbe gewichen. »Was… was ist… das?« stieß der Zweite Offizier hervor. Richardsons Kehle war wie zugeschnürt, er war unfähig, sich zu rühren. Seine Lippen bewegten sich, doch er brachte nicht einmal ein Krächzen zustande. »Der… der Kapitän«, stotterte Gilling, heiser vor Aufregung. »Wir… wir… müssen ihn… wecken.« Der Erste Offizier gab keine Antwort. Wie hypnotisiert folgte sein Blick der Walze, deren Schatten drohend auf das Deck fiel. Der Blondschopf riß sich gewaltsam von dem Anblick los. Dieses unbekannte Ding signalisierte eine Gefahr, die größer war als alle Stürme zusammen. Das war nicht der Klabautermann und auch nicht der Fliegende Holländer, auch kein Spuk, der sie narrte, nein, das Gebilde war echt, nur – woher kam es, wer konnte etwas aus Metall bauen, das fliegen konnte wie ein Vogel? Mehr stolpernd als laufend erreichte Gilling die Kapitänskajüte. Ohne anzuklopfen, riß er die Tür auf und stürmte in die Kammer. Er kümmerte sich nicht um das erstaunte Gesicht von Frau Briggs, sondern eilte zur Koje des Schlafenden und rüttelte ihn. »Aufwachen, Sir, es ist etwas Furchtbares draußen. Sir, wachen Sie auf.« Der Kapitän grunzte nur und drehte sich auf die andere Seite. In seiner Not wußte sich der Seemann keinen anderen Rat mehr, als seinen Vorgesetzten am Arm zu packen und aus der Nische zu ziehen. Derart unsanft behandelt, öffnete Briggs die Augen und erkannte, was mit ihm geschah. »Was erlauben Sie sich, Mister Gilling? Sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen?« »Verzeihung, Sir, es mußte sein. Über dem Schiff schwebt ein unheimliches Gebilde, so groß wie die MARY CELESTE. Sie müssen mit mir an Deck kommen, Sir.« »Zuerst lassen Sie mich einmal los.« Der Zweite Offizier tat es. Gähnend streckte sich der Kapitän. »Was reden Sie denn da für einen Unsinn, Mann? Haben Sie etwa getrunken?« »Nein, Sir. Das Ding hat die Form einer riesigen Zigarre. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Es kann fliegen.« »Sie scheinen mir etwas verwirrt zu sein, Mister Gilling.« »Sir, ich schwöre, daß ich die Wahrheit sage. Kommen Sie mit mir«, flehte der Offizier. »Also gut, aber wenn Sie mir einen Bären aufgebunden haben, bekommen Sie eine Strafwache aufgebrummt, darauf können Sie sich verlassen«, sagte Briggs. Eher widerstrebend folgte er Gilling – und blieb abrupt stehen, als er die Walze erblickte. Unglauben und Entsetzen zeichneten sich auf seinem Gesicht ab. »Das ist Teufelswerk!« rief Briggs erregt. Seine Müdigkeit war wie weggeblasen. »Blendwerk des Satans!« Aus seiner Kleidung zog Briggs ein schlichtes kleines Holzkreuz, das er immer bei sich trug. Es wie
ein Schild über sich haltend, streckte er es dem gefährlich schimmernden Koloß entgegen. Seine Erwartung, daß das Gebilde angesichts des christlichen Symbols verschwand oder sich in Luft auflöste, erfüllte sich nicht, auch nicht, als er ein kurzes Gebet sprach. Ein wenig ratlos steckte er das Kreuz weg. Der langgestreckte Körper hatte seine Geschwindigkeit der Fahrt der Brigg angepaßt und war längsseits gegangen. Zwei Meter über dem Wasser schwebte er so dicht neben dem Schiff, daß man die silbrige Hülle mit der ausgestreckten Hand berühren konnte, wenn man an der Reling stand. Das unheilvolle Summen war noch durchdringender geworden. Eine Erklärung für das Phänomen hatte Benjamin Briggs auch nicht, aber da er weder an Spuk noch an Zauberei und Magie glaubte und zugleich sicher war, es nicht mit dem Gehörnten zu tun zu haben, beruhigte er sich eher als seine angeheuerte Crew. »Auftakeln!« brüllte er. »Setzt jeden Fetzen Segel! Mister Richardson, Mister Gilling, Sie legen auch mit Hand an. Wo sind Head und die beiden Lorenzen-Brüder?« »Unter Deck. Volkert und Boz lenzen«, antwortete der Zweite Offizier. »Kann die Pumparbeit für ein paar Glasen warten?« »Ja, Sir.« »Dann herauf mit den Burschen. Wir werden diesem Ding davonsegeln, doch dazu brauchen wir jede Hand. Es lebe die christliche Seefahrt!« »Es lebe die christliche Seefahrt!« riefen die Männer im Chor. Das Beispiel ihres furchtlosen Kapitäns machte ihnen Mut. Zwar fühlten sie sich noch immer unbehaglich, aber die Furcht hielt sie nicht mehr wie eine eisige Faust umklammert. Mit Feuereifer machten sie sich an die Arbeit. Gillings Kommandos hallten über das Deck, und er packte selbst ordentlich mit an, während der Erste Offizier davoneilte, um den Smutje und die beiden Matrosen zu rufen. Briggs stürmte zum Ruder, löste das Reep, mit dem es fixiert war, und wirbelte das Rad herum. Er wollte das Schiff luven, mehr in den Wind bringen und gleichzeitig Abstand zu der schimmernden Zigarre gewinnen. Nur ganz allmählich reagierte der Zweimaster, behäbig drehte der Bug nach Steuerbord. Rauschend füllten sich die Segel, die Brigg gewann an Fahrt und wurde schneller. Die Mannschaft johlte siegessicher, als das fremde Gebilde um einige Meter zurückfiel, Zuversicht machte sich breit. Der Jubel verstummte augenblicklich, als das Ding aufholte und den ursprünglichen Zustand wiederherstellte. Das Katz-und-Maus-Spiel ging weiter. Die Besatzung schuftete wie eine Horde Berserker, um selbst den letzten Fetzen Tuch als Segel zu setzen, aber es nützte nichts. Die Zigarre ließ sich nicht abhängen. Und dann, ganz unerwartet, entstand in der silbrigen Hülle eine Öffnung, so groß wie eine Ladeluke. Mehrere zartgliedrige Gestalten mit roter Haut waren zu erkennen. »Indianer!« rief Richardson spontan. »Vorsicht, sie sind mit Colts bewaffnet!« Wer konnte, ging in Deckung. Niemand machte sich in diesen Sekunden Gedanken darüber, wie die Rothäute zu einem solchen Gefährt gekommen waren und was sie, die landbewohnenden Ureinwohner Amerikas, hier draußen auf dem Atlantik zu suchen hatten. In den Städten und Staaten der amerikanischen Ostküste wurde immer wieder von Greueltaten der unzivilisierten Wilden berichtet. Sie brandschatzten und plünderten, vergewaltigten, mordeten, marterten und überfielen Siedler, Farmer und Dörfer. Als blutrünstige Bestien waren sie verschrien, denen weder das eigene Leben noch das anderer etwas galt. Ihr ganzes Sinnen und Trachten war darauf abgestellt, Beute zu machen: Skalps, Feuerwaffen, Feuerwasser. Nur als Piraten auf See hatten sie sich bisher noch nicht betätigt – bis heute.
»Was wollt ihr?« fragte Briggs mit schallender Stimme. »Wir haben nichts an Bord, was für euch nützlich wäre. Und niemand von uns hat je einem Indianer etwas zuleide getan.« Eine Antwort blieb aus, statt dessen entstand aus dem Nichts heraus ein flexibler Schlauch, der bläulich schimmerte und so transparent war wie Eis. Er reichte von der Öffnung der Walze bis auf das Deck der MARY CELESTE. Zeit, um über das merkwürdige Material zu staunen, blieb den Seefahrern nicht. Schon bewegten sich die ersten Rothäute durch die Rohre, die sanft im Rhythmus der Wellen schaukelte. Schreckensrufe erklangen. »Sie entern!« »Drängt sie zurück!« schrie der Kapitän, der Ruder Ruder sein ließ und nach vorn hastete, um seinen Männern beizustehen. Beherzt griff sich Arien Martens ein Stück abgeschnittenes Tau von Unterarmstärke, wirbelte es mehrmals herum und schleuderte es dem Enterkommando entgegen, das in seinen Augen nur aus halben Portionen bestand. Ein Feuerstrahl zuckte aus der großkalibrigen Waffe des Anführers hervor, traf das Seil in der Luft und löste es auf. Nicht einmal Asche oder Faserpartikel blieben übrig. Völlig perplex starrte der Hüne dorthin, wo sich eben noch das Tau befunden hatte, dann fixierte er den merkwürdigen Colt, der keine Kugeln verschoß, sondern Flammen. Plötzlich hüllte ein eigentümliches Flimmern den Matrosen ein. Lautlos, wie vom Blitz gefällt, brach er zusammen. Entsetzt wichen die anderen zurück. Keiner zweifelte daran, daß Arien tot war. Niemals zuvor hatten sie mit solch teuflischen Waffen Bekanntschaft gemacht. Polternd fielen die Werkzeuge und das Flickzeug, mit dem sie sich bewaffnet hatte, auf die Planken zurück, die Mienen der Seeleute verrieten Furcht. Ihr Entsetzen steigerte sich noch, als sie erkennen mußten, daß sie es nicht, mit Indianern zu tun hatten, sondern mit wirklichen Fremden, von denen noch nie berichtet worden war. Sie gehörten keiner bekannten Rasse an und waren auch keine Mischlinge wie Mestizen oder Eurasier. So zerbrechlich war kein Mensch gebaut, und so schnell konnte sich auch kein Mensch bewegen. Wieselflink huschten sie über das schwankende Deck und nahmen dabei Positionen ein, die so gewählt waren, daß sie gegen einen Überraschungsangriff gefeit waren, zugleich aber alles überblicken und im Auge behalten konnten. Die furchtbaren Waffen waren in Futteralen verschwunden, die am Gürtel baumelten. Das Verhalten der Rothäutigen irritierte Offiziere und Mannschaften. Piraten pflegten gewöhnlich anders vorzugehen, zielstrebiger, brutaler. Sie bedrohten die Überfallenen, versuchten, sie einzuschüchtern, um jeden Widerstand von Anfang an zu unterbinden, während die Fremden offensichtlich davon ausgingen, daß eine Machtdemonstration ausreichte. Dank seines unerschütterlichen Gottvertrauens gewann Briggs seine Fassung rasch zurück, zumal die schmächtigen Gestalten alles andere als furchteinflößend waren. »Wer sind Sie, was wollen Sie und wo kommen Sie her?« Anklagend deutete er auf Martens. »Warum haben Sie ihn getötet?« »Du stellst viele Fragen auf einmal.« Der Mund des Wesens bewegte sich zwar, doch die Stimme kam aus einem kleinen Kästchen, das das Wesen an einer Kette um den Hals trug. Es sprach Englisch mit amerikanischem Einschlag. »Bist du der Kommandant dieses Schiffes?« »Ich bin der Kapitän und Miteigner der MARY CELESTE«, stellte der Puritaner richtig und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen wie verwundert er darüber war, daß dieses Kästchen redete und sogar seine Sprache sprach. Förmlich setzte er hinzu: »Sie haben mir noch nicht geantwortet, sondern lediglich eine Gegenfrage gestellt. Dürfte ich nun wissen, was dieser Überfall zu bedeuten
hat?« »Du bist ungewöhnlich mutig für einen Erdenbewohner, Kapitän.« »Erdenbewohner?« Der wackere Briggs schluckte. »Was soll das heißen?« »Ich könnte versuchen, es dir zu erklären, aber du wurdest es kaum begreifen. Wir kommen von einem anderen Planeten.« Dem Kapitän schwindelte förmlich. Er verstand etwas von der Himmelskunde, denn anders war Navigation nicht möglich, aber da war auch sein von der Bibel geprägtes Weltbild. Die Existenz anderer Sterne und die Schöpfungsgeschichte war für ihn kein Widerspruch in sich, doch daß Menschen noch woanders leben sollten als auf der Erde, erschütterte den Puritaner zutiefst. »Stammen Sie vom Mond? Sind Sie… Mondmenschen?« kam es stockend über seine Lippen. »Nein, unsere Heimat liegt in einer anderen Galaxis.« Der Sprecher kicherte. »Der Mond ist nämlich kein Planet, sondern nur ein Satellit der Erde. Ihr seid wirklich sehr rückständig hier, Kapitän.« Benjamin Briggs verstand nichts. Galaxis – Satellit – Mond – in seinem Kopf drehte sich alles. Mit hängenden Schultern stand er da. »Was wollen Sie? Das Schiff? Die Ladung? Beides? Oder sind Sie nur gekommen, um uns zu verwirren?« »Du wirst es noch früh genug erfahren. Befindet sich außer euch noch jemand auf dem Schiff?« »Nur meine Frau und meine kleine Tochter. Sie dürfen den beiden nichts tun«, sagte Briggs beschwörend. »Machen Sie mit mir, was Sie wollen, aber lassen sie meine Familie und meine Männer ungeschoren. Sie bekommen alles, was es an totem Inventar auf der Brigg gibt.« »Uns interessiert weder dieser alte Kahn noch der andere Plunder. Los, hol die beiden her, ihr anderen stellt euch in einer Reihe auf. Den da«, der Rothäutige deutete auf Martens, »nehmen wir auch mit. Du und du«, er zeigte auf die Lorenzen-Brüder, »ihr hebt ihn auf.« Widerspruchslos kamen die Matrosen dem Befehl nach. Auch Briggs sah sich gezwungen, der Anordnung Folge zu leisten. Mit schleppenden Schritten ging er auf seine Kajüte zu und kehrte mit Frau und Kind zurück. Die Kleine weinte. Sarah Briggs betrachtete die Fremden furchtsam und preßte Sophia so fest an sich wie einen kostbaren Schatz, den sie nie mehr hergeben wollte. Ein kleines Gerät, das aussah, wie ein Kompaß und das der Kommandant der Schmächtigen am Handgelenk trug, summte vernehmlich. Er hob es an den Kopf und lauschte, dann sprach er hinein und benutzte dabei ein unbekanntes Idiom, das niemand von den Seeleuten verstand. »Wir müssen unseren Plan ändern«, erklärte der Anführer. »Ihr bleibt einstweilen auf dem Schiff und steuert den bisherigen Kurs. Einige meiner Leute werden bei euch bleiben, damit ihr nicht auf dumme Gedanken kommt.« Wieder sagte er etwas in der unverständlichen Sprache, dann ging er, gefolgt von zwei Artgenossen, auf die Röhre zu und verschwand in der silbernen Zigarre. Der Schlauch löste sich in Nichts auf, die Öffnung schloß sich. Schon nahm die Walze Fahrt auf und entfernte sich mit einer Geschwindigkeit von dem Segler, die unglaublich war. Mit offenen Mündern blickten die Männer dem langgestreckten Körper nach, der in den blauen Himmel hinaufschoß und nur noch als Glitzerpünktchen zu erkennen war, dann war er verschwunden. Der Kapitän kam sich auf einmal klein und unbedeutend vor. Deutlicher hätten ihn die Fremden ihre Überlegenheit nicht spüren lassen können. Wie lächerlich war angesichts dieser Demonstration der Versuch gewesen, mit der MARY CELESTE entkommen zu wollen, wie aberwitzig das Wagnis, Werkzeuge als Waffen einzusetzen. Martens hatte es mit dem Leben bezahlt, und er hatte ihn auf
dem Gewissen. »Sir!« Boz Lorenzens Stimme klang aufgeregt. »Sir!« Schwerfällig drehte Briggs sich um. Die Verantwortung lastete wie Zentnergewichte auf ihm, nie zuvor hatte er seine Stellung als eine so schwere Bürde empfunden. »Ja, was gibt es?« »Ein Wunder, Sir! Arien lebt! Er ist nicht tot!« »Warum sollte er tot sein?« fragte ein Rothäutiger verwundert, der auch ein sprechendes Kästchen trug. »Er wurde nur paralysiert.« »Er wurde was?« »Paralysiert, für eine kurze Zeit bewegungsunfähig gemacht.« Ungläubig fixierte der Kapitän den Fremden, ließ ihn einfach stehen und lief zu dem reglosen Matrosen. Hastig beugte er sich nieder und legte eine Hand auf dessen linke Brust. Deutlich war der Herzschlag zu spüren, der Atem ging gleichmäßig, als würde Martens schlafen. Von einer schweren Last befreit, unendlich erleichtert, richtete Briggs sich wieder auf. Offenbar waren die Rothäutigen doch nicht solche Teufel, wie es den Anschein gehabt hatte. Insgeheim leistete er Abbitte. »Ich weiß nicht, wie Sie das angestellt haben, aber ich danke Ihnen, daß Sie sein Leben geschont haben.« »Das gehört zu unserem Auftrag, Kapitän.« Der Rothäutige, der nun das Sagen hatte, schien mitteilsamer zu sein als der, der wieder in der Walze verschwunden war. »Du und deine Leute sind nur nützlich, wenn ihr lebt. Leichen können wir nicht gebrauchen, aber das bedeutet nicht, daß ihr uns auf der Nase herumtanzen könnt, merk dir das.« »Inwiefern sind wir für Sie nützlich? Sollen wir Sie nach Genua bringen oder zu einem anderen europäischen Hafen?« Der Schlanke wollte sich ausschütten vor Lachen. »Du bist wirklich naiv, Kapitän. Meinst du im Ernst, daß wir auf dein museumsreifes Gefährt angewiesen wären? Hast du nicht unser Raumschiff vorhin gesehen?« »Raumschiff? War das diese silbrige Walze?« fragte Briggs verunsichert. »Genau. Mit einem solchen Flugkörper legen wir in einer Stunde auf der Erde eine größere Strecke zurück als du mit deinem Kahn in einem Monat, ganz zu schweigen davon, welche Geschwindigkeit unsere Raumer im Weltall erreichen.« »Aber was sollen wir dann für Sie tun?« »Im Augenblick nicht viel – nur den Kurs halten. Benehmt euch wie immer und folgt unseren Anweisungen, dann werden wir gut miteinander auskommen, bis wir abgeholt werden.« »Und wir können dann unbehelligt weitersegeln?« »Nein, ihr werdet mit uns kommen. Das ist der Auftrag, von dem ich sprach – wir bringen euch nach Voorndan. So heißt unser Heimatplanet. Es wird euch dort bestimmt gefallen.« »Sie wollen uns also verschleppen!« empörte sich Benjamin Briggs. »Verschleppen und vielleicht als Sklaven verkaufen, wie man es mit den Negern getan hat, die nach Amerika gebracht wurden. Niemals werde ich zulassen, daß…« »Du wirst das machen, was wir dir sagen!« fuhr ihn der Voorndaner an. »Geh jetzt zu deinen Leuten und instruiere sie in unserem Sinn. Und falls es euch einfallen sollte, Widerstand zu leisten, so werden wir euch damit schnell zur Vernunft bringen.« Demonstrativ klopfte er auf seine Waffe.
»Denk an deine Familie.« Wie ein geprügelter Hund schlich der Kapitän zu seinen Leuten, die sich neben Martens auf dem vorderen Deck niedergelassen hatten. Auch Sarah und die Kleine hielten sich dort auf. »Sir, es sieht so aus, als wenn Sie schlechte Nachrichten hätten.« »Das kann man wohl sagen, Mister Richardson.« Mit Grabesstimme berichtete Briggs, was er in Erfahrung gebracht hatte. »Sie wollen uns also von der Erde entführen und zu ihrem Planeten verschleppen. Wie es scheint, haben sie tatsächlich die Möglichkeit dazu. Sie wollen es mit Hilfe der riesigen Zigarre bewerkstelligen, die sie Raumschiff nennen. Als wenn dieses Ding tatsächlich ein Schiff wäre – ohne Mast und ohne Segel!« Erregtes Gemurmel wurde laut, doch die Besatzung war diszipliniert genug, sofort zu verstummen, als ihr Kapitän erneut das Wort ergriff. »Ich habe nicht alles begriffen und verstanden, was ich gehört habe, aber ich weiß, daß kein Mensch des anderen Sklave sein darf, weil wir alle die Kinder Gottes sind, denn ihm zum Bilde schuf er uns.« Gedämpft sprach der Puritaner weiter. »Wir müssen mit dem Beiboot fliehen, und zwar nach Einbruch der Dämmerung. Auch unsere Aufpasser müssen schließlich mal schlafen.« »Aber was passiert mit dem Schiff und der Ladung, Sir?« wandte der Zweite Offizier ein. »Das kümmert mich nicht. Kein Gut ist so kostbar wie die Freiheit eines Christenmenschen, Mister Gilling. Hören Sie jetzt alle genau zu.« Mit Verschwörermiene trug Briggs seinen Plan vor. »Vor allem dürfen wir uns nichts anmerken lassen. Gehen Sie ihrer gewohnten Arbeit nach und versuchen Sie, Kräfte zu sammeln. Fordern Sie die Besatzer weder durch Worte noch durch Taten heraus, verhalten Sie sich, als wären sie überhaupt nicht an Bord. Wir müssen sie in Sicherheit wiegen. Gehen Sie, bevor diese Halunken Verdacht schöpfen.« Die Runde löste sich auf, nur Head blieb bei Martens zurück. Boz und Volkert Lorenzen sollten erneut lenzen, Goodschaad die Verhaue an den Fenstern der Deckkabinen entfernen. Gilling hatte Freiwache, um sich auszuruhen, Richardson war als Rudergänger eingeteilt. Sich selbst hatte der Kapitän die Aktualisierung der Logtafel und Positionsbestimmung verordnet. Das wirkte unverfänglich, sollte vor allem aber dazu dienen, um festzuhalten, in welche Richtung sie zu skullen hatten, um in kürzester Zeit unter Berücksichtigung von Wind und Strömung Festland zu erreichen. Eine beschwerliche Reise würde es ohnehin, denn die Tragfähigkeit des Rettungsboots erlaubte es nicht, unbegrenzt Proviant mitzunehmen. Eine Tonne mit Trinkwasser und ein paar Pfund Schiffszwieback mußten reichen. Betont lässig, begleitet von Frau und Tochter, schlenderte Briggs auf seine Unterkunft zu, öffnete die Tür seiner Kajüte und blieb überrascht stehen. Auf seinem Platz saß, über Karten gebeugt, der Fremde mit dem Kästchen um den Hals. Er hielt einen handflächengroßen Quader in der Hand, der nicht dicker war als ein Finger. Die flache Schachtel wies mehrere Erhebungen mit merkwürdigen Symbolen auf, und immer, wenn der Rothäutige eine dieser Tasten berührte, huschten seltsame leuchtende Zeichen über eine eingelassene Tafel – schneller, als ein Mensch schreiben konnte. »Was machen Sie da?« »Ich programmiere diese Minipositronik mit den Kurskoordinaten. Falls es dir einfallen sollte, von der vorhergesehenen Route abzuweichen, schlägt das Gerät Alarm.« Der Voorndaner lächelte überlegen. »Dieser Kleinstrechner macht dich und deine Vertreter überflüssig. Selbst ein Laie kann mit seiner Hilfe das eingegebene Ziel ansteuern, ohne die Route ändern zu müssen, natürlich vorausgesetzt, man kann die Angaben lesen und umsetzen.« »Ich will mit Ihnen weder diskutieren noch streiten. Hätten sie nun vielleicht die Güte, meinen Sessel zu räumen? Ich habe zu arbeiten.« »Und was willst du hier tun?«
»Es gehört zu meinen Aufgaben, die Logtafel zu führen und die derzeitige Position zu bestimmen. Das Schiff bleibt nämlich nicht von sich aus auf Kurs, Korrekturen sind unumgänglich.« »Das versteht sich von selbst, aber was du bisher mit dem altmodischen Kram da getan hast, kann diese Miniaturpositronik viel besser, schneller und genauer.« »Nie und nimmer!« sagte Briggs im Brustton der Überzeugung. »Ich werde es dir beweisen. Komm mit!« »Lassen Sie mich vorher noch einen Blick auf die Karte werfen und die Kursbestimmung auf meine Art vornehmen.« »Gut, ich gebe dir zwei Minuten.« »Aber in dieser kurzen Zeit ist das überhaupt nicht zu schaffen.« »Mein Rechner benötigt dazu nicht einmal eine Sekunde, Kapitän. Versuche es, ich erwarte dich beim Steuermann.« »Narr«, grollte Briggs und beugte sich über die Karte. Er machte sich gar nicht erst die Mühe, das Besteck zur Hand zu nehmen, denn es war illusorisch, in der vorgegebenen Zeit exakte Daten zu ermitteln. Die ungefähre Position war bekannt, und so maß er mit den Augen den Abstand zu den Azoren. Er kam auf eine Entfernung von rund einhundert Seemeilen, die sie rudernd zurücklegen mußten – eine ziemlich große Strecke für ein Boot, aber es war die einzige Möglichkeit, um der Sklaverei zu entgehen. Rasch nahm er das Chronometer, den Sextanten und die Schiffspapiere und verbarg sie unter seiner Kleidung. Mehr konnte er nicht mitnehmen, denn jedes weitere Gramm war zusätzlicher Ballast, der früher oder später ohnehin über Bord geworfen werden mußte. »Sarah, du siehst nach, ob das Faß mit Trinkwasser im Beiboot noch unversehrt ist und ob die Notrationen noch genießbar sind. Nimm Sophia mit, das wirkt unverfänglicher.« »Ja, Benjamin. Gott möge uns schützen.« Ihr Mann nickte ihr aufmunternd zu und eilte nach draußen. Der Voorndaner erwartete ihn bereits ungeduldig. »Nun?« »Zwei Minuten sind einfach zu kurz.« »Nicht für mich und dieses Gerät.« Der Rothäutige wandte sich an den Ersten Offizier. »Zieh das Schiff scharf nach links.« Fragend blickte der Seemann seinen Vorgesetzten an. Der verzog das Gesicht, als hätte er Zahnschmerzen. »Hart backbord, Mister Richardson.« »Aye, aye, Sir.« Der schlanke Mann griff nach den Pinnen und drehte am Steuerrad, als würde er eine Prämie dafür bekommen. Knallend schlugen Segel und Rahen, als die Brigg behäbig in die neue Richtung driftete. Sofort gab die flache Schachtel durchdringend jaulend Alarm. »Steuerbord, Mister Richardson.« Träge kehrte der Zweimaster auf den alten Kurs zurück. Das nervtötende Geräusch verstummte. »Na, Kapitän, habe ich dir zuviel versprochen?« fragte der feingliedrige Fremde überheblich. »Nein.« Der Puritaner drehte den Kopf, damit der andere nicht sah, wie betroffen er war. Ihm wollte es nicht
in den Kopf, daß dieses unscheinbare Kästchen ihn und seine Offiziere überflüssig machte, daß es etwas konnte, was er in langen Jahren gelernt und sich mühsam angeeignet hatte. Bitterkeit stieg in ihm auf, blicklos starrte er auf den unendlichen Ozean. »Sir?« Brigg hörte die Worte wie aus weiter Entfernung. Langsam, als wäre er unendlich müde, wandte er sich um. »Warum ruhen Sie sich nicht aus, Mister Gilling? Sie haben Freiwache.« »Ich weiß, Sir, aber mir wurde verwehrt, meine Kabine zu betreten, also bin ich auf Deck gegangen. Als ich Goodschaad zur Rede stellte, weil er entgegen Ihrer Anweisung einfach herumlungerte, erklärte er mir, daß die Mannschaft daran gehindert worden sei, ihre Pflicht zu erfüllen. Das wollte ich Ihnen nur sagen, Sir.« »Danke, Mister Gilling.« Der Kapitän musterte den Überschlanken unfreundlich. »Warum lassen Sie meine Männer nicht arbeiten?« »Die Tätigkeiten, die sie verrichten sollen, sind überflüssig. Und außerdem haben wir alle besser unter Kontrolle, wenn sie hier oben sind.« »Das klingt ja fast so, als hätten Sie Angst vor uns«, meinte der Seefahrer spöttisch. »Wir sind nur vorsichtig, denn ihr Erdlinge seid unberechenbar.« »Diese Erfahrung habe ich noch nicht gemacht.« »Aber wir. Geh jetzt zurück zu deinen Leuten. Und du auch, Steuermann. Wir brauchen euch nicht mehr – erst wieder auf Voorndan.« Hämisches Gelächter verfolgte die Seeleute, als sie auf die Matrosen zugingen, die sich auf dem Achterdeck niedergelassen hatten. Auch Martens war inzwischen wieder einsatzbereit. Ihr werdet euch noch wundern, dachte Briggs grimmig. * Die Nacht war hereingebrochen, nur das fahle Licht des Mondes und der schwache Schein der Sterne beleuchteten die MARY CELESTE, die einsam ihre Bahn zog. Am Ruder stand ein Voorndaner, und ein Voorndaner war es auch, der die zehn Menschen bewachte, die in Decken gehüllt auf dem Achterdeck übernachten mußten. Regelmäßige Atemzüge und gelegentliche Schnarcher waren zu hören, doch die Besatzung täuschte den Schlaf nur vor und war in Wirklichkeit hellwach. Sarah Briggs schlug das grobgewebte Tuch zurück, nahm ihre Tochter hoch und stand auf. »Was ist los?« erkundigte sich der Wächter halblaut. »Sophia muß Wasser lassen.« »Dann geh, aber sei leise.« Der Rothäutige ließ die Waffe wieder sinken und blickte den beiden nach. Diesen Moment der Unachtsamkeit nutzten Briggs und sein Zweiter Offizier. Die Decken von sich zu werfen und aufzuspringen, war eins. Mit zwei gewaltigen Sätzen waren sie bei dem Fremden und fielen gemeinsam über ihn her. Gilling hielt ihm sofort den Mund zu, und der Kapitän trat ihm die Waffe aus der Hand, aber der Überfallene gab nicht so einfach auf. Geschmeidig wie ein Raubtier und flink wie ein Wiesel rollte er sich herum, stieß mit den Ellenbogen und schlug mit Händen und Knien, dabei versuchte er, sich der Umklammerung zu
entziehen. Briggs erhielt einen Tritt vor die Brust und stöhnte unterdrückt. Bevor der Voorndaner eine weitere Attacke starten konnte, machte Gilling kurzen Prozeß. Ein gezielter Haken ans Kinn machte den Aufpasser auf der Stelle kampfunfähig. Sanft ließ der Zweite Offizier den Bewußtlosen auf die Planken gleiten. Sicherheitshalber bekam er einen Knebel zwischen die Zähne geschoben und wurde gefesselt. »Alles in Ordnung, Sir?« »Ja, es geht schon wieder. Weiter!« Die anderen Männer hatten sich lautlos erhoben. Unter Richardsons Führung schlichen sie im Schatten der Masten und Aufbauten davon, um das Beiboot zu wassern, während Briggs und Gilling den Rudergänger unschädlich machen wollten. Auf leisen Sohlen tappten sie über das Deck und tasteten sich im Schutz der Dunkelheit vorwärts. Schwach hob sich die Silhouette des Voorndaners von den Segeln im Hintergrund ab. Er gähnte laut und vernehmlich. Die Schläfrigkeit des Fremden kam den beiden Seeleuten natürlich sehr gelegen, war doch ein müder Rothäutiger nicht mehr so schnell in seinen Reaktionen wie ein wacher. Dennoch gingen die beiden Männer kein Risiko ein. Sie huschten so nah wie möglich heran und sprangen ihn von hinten an. Unter dem Gewicht ging der überraschte Voorndaner ächzend zu Boden. Briggs preßte dessen Beine fest gegen die Planken, Gillings sehnige Hände schossen vor und umklammerten wie Schraubstöcke den Hals, um dem selbsternannten Skipper die Luft abzudrücken. Der Überfallene wehrte sich nicht, sein Körper war schlaff. Sofort lockerte der Zweite Offizier den Griff, und auch der Kapitän ließ los. Gemeinsam wälzten sie den Reglosen auf den Rücken. Eine schillernde Beule zierte seine Stirn. »Der ist außer Gefecht gesetzt«, raunte Gilling. »Bei dem Sturz muß er sich den Kopf angeschlagen haben und ohnmächtig geworden sein.« »Fesseln und knebeln Sie ihn auch.« »Soll ich seine Taschen durchsuchen, um zu sehen, ob er dieses Kästchen bei sich hat, das navigieren kann?« »Nein, lassen Sie. Wir können damit ohnehin nichts anfangen, zudem ist jede Sekunde kostbar. Machen Sie schnell!« Gekonnt verschnürte der Offizier den Bewußtlosen und eilte dann gemeinsam mit seinem Vorgesetzten zum Boot. Auch Richardson und seine Begleiter hatten ganze Arbeit geleistet. Zwei Ballen hingen an der Hauptluke, damit das Beiboot nicht gegen die Bordwand stieß. Die Laufplanken des Schiffsgeländers waren bereits entfernt worden, die Kräne, an denen der Kahn hing, konnten ausgeschwenkt werden. »Sarah, du und das Kind zuerst«, zischte Brigg, »dann wie besprochen die anderen. Martens, die Offiziere und ich lassen das Boot zu Wasser. Beeilt euch!« Goodschaad hob die Frau mit dem Kind auf dem Arm wie eine Puppe ins Boot, die Matrosen folgten rasch. Schon wurden die Winde in Betrieb genommen. Ihr Knarren ging im Flattern der Takelung und dem Ächzen des Schiffsrumpfes unter, dennoch sahen sich die Männer an Deck immer wieder um, um nicht überrascht zu werden. Meter um Meter wurde das Beiboot herabgelassen, der schimmernden Oberfläche des Atlantiks entgegen, der still dalag. »Stopp!« Wie ein Peitschenknall durchzuckte dieses »Stopp!« die Nacht. »Kapitän, hast du dir tatsächlich eingebildet, daß du uns so einfach überlisten kannst? Du bist ein ausgemachter Dummkopf! Ich habe dir gesagt, daß wir vorsichtig sind. Denkst du, ich belasse es da bei einer Wache, Erdennarr? Lös, zieht das Boot wieder hoch!« Briggs wußte, daß er verloren hatte – und er mußte die Rache des voorndanischen Kommandanten fürchten. Dennoch klang seine Stimme gefaßt, als er befahl:
»Hievt das Boot zurück an Bord.« Quietschend wurden die Winden erneut in Betrieb genommen, schaukelnd tauchte der Kahn wieder auf. »Raus mit euch!« Mittlerweile waren drei andere Rothäutige aufgetaucht, die ihre Waffen drohend auf die Seeleute richteten. Einer hielt eine merkwürdige Fackel in der Hand, die nicht brannte, aber fast so grell war wie die Sonne und die Nacht zum Tag machte. Blinzelnd, von unguten Gefühlen erfüllt, kletterten die Bootsinsassen an Deck zurück. Wie arme Sünder standen sie da. »Eigentlich hättet ihr eine empfindliche Strafe verdient, denn zwei meiner Leute sind durch euren brutalen Angriff gesundheitlich zeitweise geschädigt worden!« rief der Voorndaner mit Donnerstimme, die wie immer aus dem Kästchen kam, das er um den Hals trug. »Du, Kapitän, bist der eigentliche Schuldige, denn nur du hast Einfluß genug, um die Mannschaft aufzuwiegeln. In Zukunft wirst du getrennt von deiner Familie und deinen Männern in deiner Unterkunft unter Arrest gehalten. Und ihr anderen laßt euch das Mißlingen dieser Aktion eine Lehre sein. Meine Großmut ist nicht unerschöpflich.« Aus seiner Waffe rasten flammende Blitze auf das Boot zu. Bevor die Besatzung des Seglers wußte, wie ihr geschah, war der Kahn spurlos verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. Vergeblich rieben sich einige die Augen, aber da war tatsächlich nichts mehr. Boot, Proviant, Wasser – alles war weg. »Damit ihr nicht noch einmal auf dumme Gedanken kommt.« Abermals erklang das hämische Lachen. »Und nun schafft Stangen herbei, um die Kräne zu halten und zu fixieren.« Ziemlich konfus liefen die Matrosen davon, und auch die Offiziere hielten nach Stöcken und Rahen Ausschau, die verwendbar waren. Einer der Fremden führte Sarah und die jammernde Kleine weg, ein anderer nahm sich des Kapitäns an und dirigierte ihn zu seiner Kajüte. Briggs leistete keinen Widerstand, denn er fürchtete, daß seine Familie und die, Crew dafür büßen mußten. Illusionen machte er sich nicht mehr, doch aufzugeben, widersprach seiner Mentalität. Er mußte etwas unternehmen, um die zu retten, die sich ihm anvertraut hatten, doch er durfte nichts tun, was Frau, Kind und Mannschaft gefährdete und zu Mitwissern und Helfershelfern machte. Er allein mußte handeln. Verzweifelt suchte er nach einer Möglichkeit, eine entsprechende Lösung zu finden. Ziemlich unsanft wurde er in seine Koje gestoßen, Rücken und Wirbelsäule machten Bekanntschaft mit einem harten Gegenstand, der unter Kissen und Laken verborgen war. Briggs wußte sofort, daß es sich nur um sein in der Scheide steckendes Schwert handeln konnte. Bemüht, sich nichts anmerken zu lassen, nahm ein neuer Plan Gestalt an. Der Puritaner war sich darüber im klaren, daß dies die letzte Möglichkeit war, um die Verschleppung zu verhindern. * Im Verlauf der Nacht war es Briggs gelungen, das in der Scheide steckende Schwert unter seine Kleidung zu schieben. Wie er gehofft hatte, führte ihn sein Bewacher am Morgen zu einem kurzen Spaziergang an Deck. Es versprach, ein schöner Tag zu werden. Die See war ruhig, am strahlend blauen Himmel segelten flache Haufenwolken dahin. Mitfühlende, aber auch aufmunternde Blicke trafen ihn, wann immer er seinen Leuten begegnete, doch Gespräche mit der Mannschaft oder seiner Frau wurden ihm untersagt. Keine Einwände hatte dagegen der Voorndaner, der ihn begleitete, als er den Wunsch äußerte, für ein paar Minuten am Ruder stehen zu dürfen. Der Anführer der Rothäutigen betätigte sich selbst als Steuermann. Er grinste, als die zwei
auftauchten. Der Kapitän bemerkte es kaum. Er hatte nur Augen für die flache Schachtel, die neben dem Ruder auf dem Oberdeck lag. »Darf ich es auch einmal versuchen?« bat Briggs mit rauher Stimme. »Du scheinst vernünftig geworden zu sein, Kapitän.« Bereitwillig machte der Fremde Platz. »Bitte sehr.« Briggs stellte sich so, daß er den beiden Voorndanern den Rücken zuwandte. Mit der linken Hand griff er nach einer Ruderpinne, mit der anderen nestelte er an seiner Jacke herum. Er bekam den Schwertgriff zu fassen. Langsam und so unauffällig wie möglich zog er den blanken Stahl hervor, dann explodierte er förmlich. Ein mit voller Wucht geführter Hieb traf das Kästchen, die Abdeckung des Sichtfelds zerplatzte, eine braune Flüssigkeit spritzte auf die Planken. Den nächsten Schlag richtete er gegen die Verkleidung, doch sie wiederstand der scharfen Schneide. Bevor er erneut ausholen konnte, rissen ihm die Rothäutigen mit wütendem Geschrei das Schwert aus der Rechten und versuchten, ihn festzuhalten. Vom Mut der Verzweiflung getrieben, entwickelte er Bärenkräfte, und es gelang ihm, die Fremden abzuschütteln. Sein Blick fiel auf eine alte Axt, die sich nur wenige Schritte von ihm entfernt befand. Mit einem mächtigen Schritt nach vorn schnellte er sich dorthin, wo sie lag, bekam den Stiel zu fassen, wirbelte herum und war mit einem Satz wieder an der Stelle, an der er eben noch gestanden hatte. Vom eigenen Schwung getragen, holte er aus und ließ das Beil nach unten sausen. Der keilförmige Stahl verfehlte die Schachtel nur um Haaresbreite und bohrte sich wuchtig ins Holz. Bevor Briggs die Axt freibekam, traf ihn der Kolben einer voorndanischen Waffe am Hinterkopf. Benommen ging der Seefahrer zu Boden. Zornige Rufe und aufgebrachtes Gezeter hallte über Deck, doch für den Puritaner klang es so gedämpft, als hätte er Werg in den Ohren. Sein Schädel dröhnte, vor seinen Augen verschwamm alles. Nervige Fäuste griffen nach ihm und zerrten ihn hoch. Mit weichen Knien stand er da, nur mühsam konnte er das Gleichgewicht bewahren. »Ich hätte nicht übel Lust, dich über Bord werfen zu lassen, du hinterhältiger Bastard«, fauchte ein Voorndaner. »Du hast die Miniaturpositronik unbrauchbargemacht.« Der Blick des Kapitäns klärte sich, er erkannte, daß der Anführer der Rothäutigen vor ihm stand und ziemlich aufgebracht war. Trotz seiner Schmerzen brachte Briggs ein Lächeln zustande. »Das freut mich, denn nun seid ihr auf uns angewiesen.« Ein Schlag mit der flachen Hand traf ihn mitten ins Gesicht. Blut schoß aus seiner Nase und tropfte auf die Planken. »Ich werde dir deine Frechheiten noch austreiben, Kapitän. Sieh her, was ich mit deinem Schiff mache!« Der Fremde richtete seine großkalibrige Waffe auf die Takelung. Ein Feuerstrahl raste auf den Klüver zu und löste ihn auf, dann verschwanden Stagsegel, Focksegel und das obere Segel am Hauptmast, als hätten sie nie existiert. Mit unbeweglicher Miene verfolgte Briggs den Vorgang. Nur die Gewißheit, daß sein Plan Erfolg gehabt hatte und die Rothäutigen wieder auf seine Navigationskunst angewiesen waren, er also unbemerkt Kurs auf die Azoren nehmen konnte, ließ ihn den Anblick ertragen, doch der Voorndaner zerstörte seine Illusionen. Er griff in eine Tasche und förderte ein weiteres Kästchen zutage. »Wir sind nicht auf dich angewiesen, Kapitän, denn wir verfügen über Ersatz«, sagte der Kommandant triumphierend. Wut und grenzenlose Enttäuschung schlugen wie eine riesige Woge über Briggs zusammen. Er wollte sich auf den Fremden stürzen, doch diesmal waren die Rothäutigen auf der Hut. Ein Flimmern hüllte seinen Körper ein. Paralysiert brach den Kapitän zusammen.
* Die Seeleute bekamen keine Gelegenheit mehr, noch einmal etwas gegen die Voorndaner zu unternehmen. Zusammengepfercht auf dem Achterdeck standen sie Tag und Nacht unter Bewachung, wer nicht parierte, wurde paralysiert. Briggs wurde in Einzelhaft in seiner Kajüte gehalten, nur die kleine Sophia durfte zum Schlafen zu ihm in ihre Koje. In den Vormittagsstunden des 4. Dezembers 1872 kehrte das Raumschiff zurück. Zuerst war nur das eigenartige Summen zu hören, dann wurde die Brigg von einem Ruck erschüttert. Eine unerwartete Bö hatte die MARY CELESTE gegen die silbrige Zigarre geworfen. Wie Vieh wurden die Seefahrer durch den seltsamen Schlauch getrieben und in einen Raum gesperrt, der merkwürdige Möbel enthielt, die nicht aus Holz bestanden. Niemand durfte seine persönliche Habe mitnehmen, alles blieb auf dem Segler zurück – außer einem Chronometer, dem Sextanten und den Schiffspapieren, die der Kapitän vorher heimlich an sich genommen hatte. Mit dem Kind auf dem Arm verließ Briggs als letzter den Zweimaster. Er registrierte, daß die Vorderluke und die Luke der Krankenstation offen war, ebenso die vordere Einstiegsklappe. Als er nach dem Grund dafür fragte, bekam er keine Antwort. Trauer und Wehmut erfüllten ihn, als er einen Blick zurückwarf. Die Öffnung schloß sich, und damit war er endgültig ein Gefangener der Voorndaner. Welches Schicksal mochte sie erwarten?
5. Drei-B stoppte das Abspielgerät. »Das ist also die Geschichte unserer Vorfahren, soweit sie auf der Erde spielte.« Es ist die Wahrheit, bemerkte der Extrasinn. Sogar die Details stimmen. »Sie wurden tatsächlich nach Voorndan gebracht, also zu diesem Planeten, den wir Celester ›New Marion‹ nennen, aber sie waren nicht die ersten Menschen hier.« »Nicht?« erkundigte sich Atlan überrascht. »Nein. Kapitän Briggs und seine Leute fanden eine große Zahl von Artgenossen vor, die mehr schlecht als recht unter primitiven Umständen lebten. Es handelte sich um rund zweihundertfünfzig Amerikaner, die von dem Kriegsschiff U.S.S. Levant stammten. Die Herkunft der restlichen achttausend Menschen konnte nicht genau geklärt werden, denn sie waren kaum zivilisiert, zudem hatte der gute Briggs Verständigungsprobleme. Er hielt sie für Polynesien.« Auch das ist richtig, bestätigte der Logiksektor. Der Arkonide erinnerte sich. Das amerikanische Kriegsschiff war im Jahr 1860 spurlos verschwunden, als es von Hawaii nach Panama unterwegs war, und in den Jahren 1823 bis 1842 waren tatsächlich aus ungeklärter Ursache mehrere polynesische Inseln mitsamt ihren Bewohnern verschwunden. Erst jetzt und hier, zweitausend Jahre später und in einer anderen Galaxis, klärte sich ihr Schicksal. Es war wirklich verblüffend, wie verzahnt doch das Geschehen im Universum war. »Zwischen beiden Gruppen waren Streitigkeiten und Übergriffe an der Tagesordnung, dabei spielten vor allem die Frauen eine zentrale Rolle. Eigentlich verständlich, denn die Soldaten waren alle männlichen Geschlechts.« Der Alte lächelte fein. »Es ging aber auch um andere Dinge wie Nahrungsmittel und Fischfang, um Trinkwasser und Landbesitz. Automatisch wuchsen Briggs und seine Mannschaft in eine Art Führungsrolle, indem sie vermittelten und schlichtend eingriffen, wenn sich beide Volksgruppen wieder einmal in die Haare gerieten.« »Wißt ihr, aus welchem Grund die Menschen auf dieser Welt angesiedelt wurden?« »Nein, weder wir selbst noch unsere Ahnen konnten das herausfinden. Vermutlich handelten die Voorndaner im Auftrag der damaligen Facette von Kontagnat, die aber heute keine Bedeutung mehr hat.« »Ich könnte mir vorstellen, daß die frühere Facette erkannt hat, daß Menschen Para-Sinne entwickeln können«, gab der Aktivatorträger seiner Vermutung Ausdruck. »Schließlich dreht sich hier ja alles um Psi-Potentiale, und es hat sich gezeigt, daß die Erde Mutanten hervorgebracht hat.« »Das ist möglich«, stimmte Richardson zu, »obwohl es auf New Marion bisher noch nicht dazu gekommen ist.« »Nachdem die Verschleppten eine gewisse Zeitlang sich selbst überlassen wurden, erschienen später erneut die Voorndaner«, griff Briggs den Faden wieder auf, »Sie betätigten sich als Lehrer, machten unsere Vorfahren mit der Einheitssprache von Alkordoom vertraut und gaben technische Erkenntnisse weiter, mischten sich ansonsten jedoch nicht ein und ließen die Menschen in Ruhe und Frieden leben. Es gab keine Probleme mit der Natur, Klima, Flora und Fauna müssen den Aufzeichnungen nach sehr erdähnlich sein.« Atlan nickte bestätigend. »Die zivilisatorischen Fortschritte waren sehr groß, es entstand ein neuer Staat, der traditionsgemäß von den Nachkommen der MARY CELESTE-Crew geführt wird. Der Regierung zur Seite steht ein Volksthing, dessen Mitglieder durch offene Wahlen bestimmt werden.« Drei-B trank einen Schluck. »Während es mit den Celestern bergauf ging, ging es mit den Voorndanern steil bergab. Ihre
Zivilisation besteht praktisch nur noch aus Spielhöllen, Rauschgifthandel und was der üblen Dinge mehr sind. Auf Palmwiese, dem größeren Kontinent, leben etwa acht Millionen Voorndaner und eine Million andere Wesen – Spieler, Süchtige, Drogenhändler und Schieber. Zentrum dieser Machenschaften ist die Zwillingsstadt Dotterblume-Heidesenf, die Hauptstadt heißt Edelkraut. Dort mühen sich ein paar rechtschaffene Voorndaner, die Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten, doch ihre Gesetze zur Eindämmung des Verfalls werden kaum beachtet.« »Die Verhältnisse sind ziemlich undurchsichtig«, fuhr Curt Gilling fort. »Die Regierung der Voorndaner besteht aus einem Verwaltungsrat, der ursprünglich einmal demokratisch gewählt wurde. Heute hat niemand mehr ein Interesse an Wahlen, deshalb ist dort eine Art Nachfolgeprinzip eingetreten, eine Mischung aus Erbfolge und sogenannter ›freiwilliger Beteiligung‹. Mit politischer Machtausübung hat das nichts zu tun, die Aufgaben des Verwaltungsrats erschöpfen sich lediglich darin, die Versorgung aufrechtzuerhalten. Nach unseren Erkenntnissen wird das von freiwilligen Abgaben der Spielhöllenbetreiber und der Händler finanziert, die natürlich ein Interesse daran haben, daß sich am derzeitigen Zustand nichts ändert. Wir auf Hain kapseln uns von dem Geschehen auf Palm wiese ab, so gut es geht, und wir haben eine Art stillschweigendes Übereinkommen getroffen, uns gegenseitig nicht ins Gehege zu kommen, auch wenn wir auf dem gleichen Planeten leben.« »Trotzdem kommt es immer wieder zu Übergriffen. Die Transmitterverbindungen nach Palmwiese werden von uns scharf kontrolliert, aber nicht immer haben wir Erfolg«, sagte Arien Richardson, Atlan zugewandt. »Du bist ja selbst Zeuge eines solchen Zwischenfalls in der Transmitterstation geworden.« Bestätigend senkte der Arkonide den Kopf. Das, was er an Informationen bekommen hatte, war mehr, als er erhofft hatte, und auch ein Mann mit einem fotografischen Gedächtnis mußte diese Datenfülle erst einmal einordnen und verarbeiten. »Wenn es euch recht ist, möchte ich mir draußen noch ein wenig die Beine vertreten.« »Gut. Was hältst du davon, wenn Sarah dir den Garten zeigt?« fragte Briggs. »Eine angenehmere Begleitung kann ich mir nicht vorstellen«, gestand Atlan lächelnd. »Möchtest du, Sarah?« Ein sanftes Leuchten trat in ihre Augen, als sie den Aktivatorträger ansah. Als ihr das bewußt wurde, schlug sie verschämt den Blick nieder. »Ich gehe vor und zeige dir den Weg«, sagte die junge Frau ein wenig linkisch. »Was ist los mit dir, Schwesterherz? Du bist doch sonst nicht so schüchtern.« »Du bist ein richtiges Ekel, Curt«, fauchte Sarah Briggs und verließ hocherhobenen Hauptes das Zimmer. Der Arkonide folgte ihr und schloß die Tür hinter sich. Hintereinander gingen beide die Treppe hinunter. »Manchmal ist mein Bruder einfach unausstehlich. Du darfst nicht alles ernst nehmen, was er von sich gibt.« »Mir scheint, daß er ein rechtschaffener Bursche ist, der Humor besitzt«, meinte Atlan schmunzelnd. »Streit dieser Art ist zwischen Geschwistern üblich. Auch das ist etwas, was die Menschen so sympathisch macht.« »Ein bißchen weniger Ironie stände Curt ganz gut zu Gesicht«, entgegnete sie. »Schließlich ist er der Traditionshüter und nicht der Spötter New Marions. Übrigens«, sie drehte den Kopf, »möchtest du die Dinge sehen, die von der MARY CELESTE stammen? Curt bewahrt sie auf.« »Später vielleicht, Sarah. Zuerst möchte ich wirklich nur ein wenig Spazierengehen. Der Wein, das gute Essen, der ausführliche Bericht – der Körper wird träge, wenn er nur ausgezeichnet verpflegt
und nicht bewegt wird.« »Du siehst aus, als wenn du viel Sport treiben würdest.« »In gewisser Weise kann man es so nennen.« »Wie meinst du das?« »Meinen trainierten Muskeln habe ich es unter anderem zu verdanken, daß wir uns jetzt und hier unterhalten können. Ich wurde zu einem Spezialkommando der Söldnertruppe der Facette Gentile Kaz gepreßt. Die Ausbildung überlebt nur jemand, der körperlich und geistig auf der Höhe ist.« Sarah Briggs schwieg. Mit nachdenklichem Gesicht öffnete sie die Tür, die’ nach hinten führte, und trat hinaus. Es roch nach frischgeschnittenem Gras, vermischt mit dem Duft unzähliger Blüten. Als Atlan die Schwelle überschritten hatte, blieb er stehen und atmete tief die würzige Luft ein. Es war angenehm warm. Irgendwo zwitscherte ein Vogel, Insekten, Bienen ähnlich, summten geschäftig hin und her, farbenprächtige Schmetterlinge gaukelten wonnetrunken im Sonnenlicht des lauen Spätnachmittags dahin. Die streng geometrisch gehaltenen Rasenflächen leuchteten in saftigem Grün. Blumenrabatte, die sie umrahmten oder auflockerten, wetteiferten miteinander an Schönheit und Leuchtkraft. Unterschiedliche Sträucher, zu gefälligen Buschgruppen angeordnet, erfreuten das Auge mit ihrem verschwenderischen Flor. Kaskaden gelber Dolden schmückten die Gehölze, rosa. Blütentrauben, weiße Kerzen, tiefblaue Rispen und rote Glockenbecher wiegten sich im kaum wahrnehmbaren Lufthauch. Ein zierlicher, verspielt wirkender Springbrunnen schickte plätschernd seine Wasserfontänen in die klare Atmosphäre. Uralte Bäume mit mächtigen Stämmen spendeten lichten Schatten, ihr Blattwerk rauschte sanft wie das Meer an südlichen Gestaden. Es war eine Oase der Ruhe und des Friedens, eine Idylle, die zum Ausruhen und Verweilen einlud. »Welch ein herrliches Fleckchen«, sagte der Arkonide überwältigt. »Es freut mich, daß dir der Garten gefällt.« Vorsicht! warnte der Logiksektor. Gefühle können sehr verhängnisvoll sein, zumal Sarah dir gefällt! Was weißt du Griesgram schon von Lebensfreude? dachte der Aktivatorträger belustigt. Beschäftige dich mit den Informationen, die ich erhalten habe, und versuche nicht, mir die gute Laune zu verderben. Ich werde wachsam bleiben! Atlan verzichtete auf eine geistige Erwiderung. Mit gemächlichen Schritten schlenderte er über einen gepflegten weißen Kiesweg, dessen Steinchen unter seinen Stiefeln knirschten. »Wie kommt es, daß man euch ungeschoren läßt? Ich meine, warum tummeln sich hier keine PsiJäger oder Rekrutierungskommandos wie auf anderen Planeten, die ich kennengelernt habe?« Die samthäutige Schönheit ging dicht neben dem Arkoniden her. Als sich ihre Arme zufällig berührten, zuckte sie fast unmerklich zusammen. Auch der Unsterbliche an ihrer Seite spürte ein merkwürdiges Kribbeln auf der Haut, dennoch ließ sich keiner etwas anmerken. »Abgesehen davon, daß es noch nie Mutanten auf New Marion gegeben hat, sind wir wohl zu unbedeutend, um zu einem Tummelplatz von Agenten zu werden. Und die Gestalten, die Palmwiese bevölkern, dürften wohl weder als Söldner noch als Psi-Spender in Frage kommen.« »Da habe ich andere Erfahrungen gemacht. Etliche Völker scheinen die Celester zu kennen, und auch die Voorndaner sind nicht unbekannt. Einen traf ich auf dem Ausbildungsplaneten Garzwon im Machtbereich von Gentile Kaz, einem anderen begegnete ich auf Crynn, und er stand in dem Dienst von Zulgea von Mesanthor. Beide sind umgekommen.« »Daß die zwielichtigen Voorndaner immer wieder auf sich aufmerksam machen und ins Gerede kommen, ist uns bekannt, Arien Richardson und seine ›Feuerwehr‹ haben Anhaltspunkte dafür, daß
von den Betreibern der Spielhöllen Propagandisten und Vermittler bezahlt werden, die Kunden anlocken sollten, doch Beweise dafür haben wir nicht. Es hat seinen guten Grund, daß wir uns von den Voorndanern abschotten.« Die Wortwahl amüsierte den Arkoniden ein wenig. Die hübsche junge Frau sprachdeutsch, doch auch in anderer Hinsicht war das Erbe der Vorfahren lebendig, denn wie sonst war es zu erklären, daß sie den seemännischen Ausdruck »abschotten« für »abgrenzen« benutzte? »Auch die Aufmerksamkeit, die jemand von uns erregt, ist erklärlich. Wir Celester sind ein exotischer Import. Es gibt eine Menge Hominide, doch eben keine Menschen. Man kann uns nicht mit anderen verwechseln. Es liegt uns nichts daran, Aufsehen zu erregen, doch es ist schier unmöglich, alle Auswanderer unter Kontrolle zu halten. Es würde zudem unseren Grundsätzen widersprechen, denn jeder ist ein Kind Gottes, frei und nur ihm verantwortlich für Gedanken und Taten.« Atlan hörte schweigend zu. »Es ist eigentlich nicht verwunderlich, daß man dich für einen von uns gehalten hat und du mehrfach auf die Voorndaner gestoßen bist. Obwohl New Marion oder Voorndan zu Kontagnat gehört, ist Ordador viel näher. Diese Welt ist fast so etwas wie eine Pufferzone zwischen beiden Sektoren. Auch das hat Arien herausgefunden.« »Wie soll ich das verstehen?« »Unsere Welt ist der einzige Planet der kleinen roten Sonne mit Namen Littoni. Wie einige Dutzend andere Sterne liegt Littoni in der Nähe der Äquatorebene von Alkordoom und dort wiederum in einer galaktischen Gaswolke mit der Bezeichnung UP-331. Die Gaswolke selbst existiert nicht in unmittelbarer Umgebung unseres Gestirns, da dessen Strahlungsdruck für normale Verhältnisse bis weit über die Bahn von New Marion hinaus sorgt, aber sie verbirgt unser kleines System weitgehend. So konnten sich hier Dinge entwickeln, die von den Facetten kaum beachtet wurden.« Sarah Briggs beugte sich über eine trichterförmige Blume und roch daran. »Das Littoni-System gehört zum Einflußbereich von Zulgea von Mesanthor, aber Crynn, deren Hauptwelt, ist 882 Lichtjahre entfernt. Der Abstand New Marions zur Äquatorebene beträgt nur 22 Lichtjahre, so daß wir dem Herrschaftsgebiet von Gentile Kaz eigentlich näher sind als dem der ›Hexe‹. Wenn du es genau nimmst, befindest du dich also hier im sogenannten Sumpf, falls dir das etwas sagt.« »Ich weiß, wovon du sprichst, aber noch nie habe ich mich in einem Sumpf so wohl gefühlt wie auf dieser Welt.« Der Arkonide wirkte heiter und entspannt. »Es muß wohl auch an dir liegen. Dies ist ein Paradies und du bist die schönste Blume darin.« »So etwas darfst Du nicht sagen, Atlan.« Verlegen knetete Briggs’ Enkelin ihre Hände. »Ich bin wie jede andere unseres Volkes, und wir alle tun nur unsere Pflicht.« »Da du gerade von Pflicht redest – auch ich habe eine Aufgabe zu erfüllen.« Der Aktivatorträger ließ sich auf dem Rasen nieder. Wie selbstverständlich setzte sich Sarah zu ihm. »In dieser Galaxis ist etwas im Entstehen begriffen, etwas, das den Mächten des Chaos im Kampf gegen die ordnenden Kräfte ein solches Übergewicht gibt, daß zumindest ein Teil des Universums dem. Bösen verfällt und selbst die Existenz jener bedroht ist, die mich beauftragt haben. Jene, das sind die Kosmokraten, Wesen, die uns in allen Belangen so unendlich überlegen sind, daß die Vorstellungskraft nicht ausreicht, um das auch nur in Worte zu fassen.« Atlan wollte weitersprechen, als er spürte, daß etwas nach ihm griff, sein Innerstes abtastete wie ein unsichtbarer Energiestrahl. Er kannte die Symptome. Gleich wird die angekündigte zweite räumliche Versetzung einsetzen, wisperte der Logiksektor. Der Arkonide wußte, daß der Extrasinn recht hatte, und er ahnte, daß er nun endlich zu ANIMA
gelangen würde – so, wie die Kosmokraten es angekündigt hatten. Der Sog, der aus ihm selbst heraus zu kommen schien, wurde stärker. »Sarah, bitte wundere dich nicht über das, was du gleich sehen und miterleben wirst. Es hängt mit meinem Auftrag zusammen, und ich werde New Marion verlassen, aber ich verspreche dir, daß ich so bald wie möglich hierher zurückkommen werde. Leb wohl!« Das Gefühl, aufgelöst und davongewirbelt zu werden, nahm an Intensität zu, die Umgebung verschwamm. Farben und Formen stürmten auf ihn ein, etwas schien in seinem Kopf zu explodieren. Und dann riß es ihn fort in die Dimensionen – und in die Ungewißheit… ENDE
Aus den Händen der Crynn-Brigadisten befreit, die ihn im Namen der Zulgea von Mesanthor seines angeblichen Psi-Potentials berauben wollten, gelangte Atlan durch eine kühne Befreiungsaktion auf die Welt der Celester. Dort erlebt der Arkonide eine erneute Ortsversetzung. Ziel dieses Transfers ist der unbedeutende Planet Thorrat – denn dort warten Anima und der Sternentramp… DER STERNENTRAMP – so heißt auch der von Hans Kneifel verfaßte Atlan-Band der nächsten Woche.
ATLANS EXTRASINN Fakten zur Mary Celeste Eine uralte Geschichte aus dem 19. Jahrhundert der terranischen Geschichte wird durch die jüngsten Ereignisse und insbesondere durch das Auftauchen der Celester in meine Erinnerung gerufen. Es ist auch für mich verblüffend, daß Menschen der Erde hier in Alkordoom leben. Die MARY CELESTE, ein Segelschiff mit zwei Masten, also eine Brigantine, mit gut 30 Metern Länge, wurde 1861 auf Spencers Island, das zum Nordamerikanischen Kontinent gehört, gebaut und zunächst auf den Namen AMAZON getauft. Nach einer wenig erfolgreichen Anfangsgeschichte mit Besitzerwechsel, Renovierungen und der Umbenennung in MARY CELESTE, verließ sie am 5. November 1872 den Hafen von New York mit dem Ziel Genua in Italien. Die Fracht bestand aus 1700 Tonnen ungenießbaren Handelsalkohols. 18 Tage lang hielt das Schiff seinen Kurs. In dieser Zeit geschah außer einem Sturm kurz nach dem Auslaufen nichts Besonderes. Am 5. Dezember 1872 wurde die MARY CELESTE zwischen den Azoren und der portugiesischen Küste entdeckt. Sie trieb steuerlos im Meer. Die letzte Eintragung im Logbuch, das der Erste Offizier führte, stammte vom 24. November und wies als Position »100 Meilen südwestlich der Azoreninsel San Miguel« aus. Der Erste Offizier hatte den gesamten Weg des Schiffes auf einer Karte eingezeichnet, die über seiner Koje hing. Die letzte Eintragung des Kapitäns auf dessen Logtafel, die in seiner Kabine gefunden wurde, stammte vom 25. November und zeigte, daß das Schiff am 25. November um 08.00 Uhr früh etwa sechs Meilen nordöstlich der Insel Santa Maria die Azoren passiert hatte. Was von da an in den nächsten elf Tagen bis zum Auffinden geschah, blieb auf der Erde unbekannt. An Bord befanden sich beim Auffinden weder Tote noch Lebende. Die Besatzung bestand aus mindestens zehn Personen. Der Kapitän war Benjamin Spooner Briggs, 37 Jahre alt, aus Marion im US-Staat Massachusetts. Er war ein gottesfürchtiger Puritaner und galt als ruhiger und erfahrener Seemann. Ein Drittel der MARY CELESTE gehörte ihm. Seine Frau Sarah Elisabeth Briggs, eine geborene Cobb, und die zweijährige Tochter Sophia Matilda nahmen an der Reise teil. Der Erste Offizier, Albert G. Richardson. 28 Jahre, stammte aus einer Seefahrerfamilie aus Stockton Springs, Maine, USA. Der Zweite Offizier, Andrew Gilling, 25 Jahre, war ein Däne. Der Steward und Koch, Edward W. Head, 23 Jahre, kam aus New York. Die vier Matrosen waren ausnahmslos Deutsche. Da waren die Brüder Volkert und Boz Lorenzen, sowie der 35jährige Arien Martens und der 23jährige Gottlieb Goodschaad. Die Mannschaft galt als loyal und zuverlässig. Folgende Tatsachen, die beim Auffinden der MARY CELESTE festgestellt wurden, konnten letztlich nicht geklärt werden: Klüver (Vorsegel) und Stagsegel (Hilfssegel zwischen den beiden Masten) fehlten, ebenso das Focksegel (Segel am vorderen Mast) und das obere Segel am Hauptmast. Die andere Takelage war noch vorhanden und nur von Stürmen beschädigt. Im Lagerraum stand nur wenig Wasser, so daß eine Gefahr durch Sinken nicht gegeben war. Es war kein Rettungsboot mehr an Bord. Über einer Pumpe war das Gehäuse abgezogen. Daneben lag ein Handlot. Über den Bordkränen, an denen normalerweise das Rettungsboot hing, waren Stangen befestigt, um sie zu halten. An der Hauptluke hingen zwei Ballen. Hier hatte man offensichtlich das Beiboot bereitgehalten. Oder es hatte hier »etwas« angelegt? Die Laufplanken waren hier vom Schiffsgeländer entfernt, offenbar, um das Beiboot herabzulassen. Die Vorderluke und die Luke der Krankenstation waren offen. Die vordere Einstiegsklappe war nach außen gekippt, etwas, was kein Seemann tut. Dies konnte z.B. von einer Explosion im Innern herrühren. Das Steuer war unbeschädigt und nicht befestigt. Das Glas des Kompasses war zerbrochen. Die sechs Fenster der Deckkabinen waren mit Segeltüchern und Planken zugenagelt.
Der Ausgang nach oben war allerdings offen. Die Betten in der Kapitänskajüte waren nicht gemacht. Eins zeigte noch den Eindruck vom Körper eines Kindes. Es gab keine Anzeichen, daß zuletzt noch gegessen oder gekocht worden war. Im Vorratsraum lagerten Lebensmittel und Trinkwasser für sechs Monate. In den anderen Kabinen sah es aus, als hätte man alles in größter Hast zurückgelassen. Im Vorderdeck, wo die persönliche Habe der Mannschaft aufbewahrt wurde, lagen noch alle Dinge, selbst Pfeifen und Tabak, von denen sich ein Matrose nur unfreiwillig trennt. Es fehlten das Chronometer, der Sextant und die Schiffspapiere. Die Fracht war unversehrt. Sie stellte einen erheblichen Wert dar. Durch das wohl elftägige Treiben waren Seeschäden entstanden. Es wurde festgestellt, daß das Wasser, das man vorgefunden hatte, zu gering war, als daß es durch die Planken in das Schiff gesickert sein konnte. Es mußte also irgendwie Wasser bei den ungeklärten Ereignissen durch offene Luken hereingekommen sein. Etwa einen Meter oberhalb der Wasserlinie fanden sich am Bug Furchen oder Schnitte in der Schiffsaußenwand, die sehr neu waren. Auf dem Oberdeck fand sich ein tiefer, frischer Spalt. Eine alte Axt wurde gefunden. Neben dem Spalt fanden sich braune Flecken, die nicht unbedingt von Menschenblut stammen mußten. Wenn die braunen Flecken auf dem Deck Menschenblut gewesen wären, hätte das Salzwasser diese längst weggespült! In der Koje des Kapitäns wurde ein Schwert mit Scheide entdeckt, an dem mehrere kleine, braune Flecken waren. Die MARY CELESTE blieb aus ungeklärten Gründen nach dem »Geschehen« bis zum Auffinden elf Tage lang trotz ständigem Nordwind auf ihrem Kurs und legte mehr als 800 Kilometer zurück. Mit einer neuen Besatzung wurde sie später nach Genua gebracht, wo sie ihre Ladung ordnungsgemäß löschte. Die MARY CELESTE sank 1885 bei einem geplanten Versicherungsbetrug bei Haiti. Niemals hätte ich gedacht, daß sich ihr Schicksal auf eine Art klären würde, wie es hier auf New Marion geschehen ist. Und das gilt auch für die Besatzung des U.S.S. LEVANT und die vielen im 19. Jahrhundert verschwundenen Polynesier.